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Full text of "Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur"

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ZEITSCHRIFT 


KUH 


DEUTSCHES  ALTERTUM 


UND 


DEUTSCHE  UTTERATUR 


hekausgegew-.n 


VON 


EDWARD  SCHROEDER  UND  GUSTAV  ROETHE 


NEUNUNDVIERZIGSTER  BAND 

DER  NEUEN  FOLGE  SIEBENUNDDRE1SS1GSTER  BAND 


BERLIN 

W  KIDÄ1ANNSCHE    BUCHHANDLUNG 
1908. 


->'    La>- 


3003 

2 


INHALT. 

Seite 

Ulrich  von  Lichtenstein  als  lyriker,  von   Brecht 1 

Tübinger  Parzivalbraehstöck  von  Bohnenberger  und  Benz     ....  123 

Kin  Winsheke-frnijmeiit  der  Universitätsbibliothek  Münster,  von  Bömer  135 

Ein  Ulfilas-stempel,  von  Henning 146 

\Valtheriaii3,  von  Fischer 154 

Arolser  bruchstück  vom  i  buche  des  Passionais,  von  Schröder  .     .     .  I.V.) 

Eine  Vagantenliedersammlung  des  14  jh.s  in  Herdringen,  von  Bömer  .  161 

Ragnarök  in  der  Völuspa,  von  Niedner 239 

Ein  Göttinger  Wigaloisfragment,   von  Schaall's 298 

Winileodes,  von  Jostes       306 

Aisl.  edda  'urgrofsmulter',  von  Neckel 314 

Handgenial  und  Schwurbruderschaft,  von  Schönhoff 321 

Zu  s.  353 IF  (hantgemal  in  der  Kaiserchronik)  von  Schröder      .  3G2 

Mittelhochdeutsche  frauengebete  in  Upsala,  von  Psilander      ....  363 

Mitteldeutsche  wechselstrophen  und  Scherzlieder,  von  dems.       .     .     .  :'>"ti 

Posener  bruchstück  der  Ghristherre-chronik,  von  Wundrack   .     .     .     .  381 

Walthers  zweites  tagelied,    von   RMMeyer 386 

Zwei  ungedruckte  mystiker-reden,  von  Pahncke 395 

Über  Wolframs  ethik,  von  Ehrismann 405 

Arolser  bruchstück  des  Willehalm,  von  Schröder 466 

Parzival  399,  1,  von   Wilmanns 467 

Zum  Alexanderlied,  von  dems 468 

Nnnnenstöl  und   Brunhildenstuhl,  von  Henning 46!) 

Lückenbüfser  :  balkon,  von  Schröder 484 

Über  die  herkunft   und   bedeutung  der  german.  bildungssilben  ag,  ig 

und  Hk,  von  PSchmid 485 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  ALS  LYRIKER. 

Das  material  der  vorliegenden  Untersuchung  bilden  die 
5S  lieder  Ulrichs  von  Licntenslein ,  die  in  seinen  Frauendienst 
eingelegt  sind,  überliefert  sind  sie  in  der  einzigen  FD-hand- 
BCbrift  L  (in  München,  daher  auch  als  M  bezeichnet)  und  in  der 
grofsen  liederhandschrift  C.  C  gibt  die  Strophen  in  derselben 
reihenfolge  wie  L,  hat  also  höchst  wahrscheinlich  aus  einer 
FD-hs.  geschöpft l.  für  wenige  liederstrophen  (lied  xu)  kommen 
controllierend  die  Heidelberger  hs.  A  (357)  und  die  Naglerschen 
fragmenle  C"  in  belracht.  aufser  den  liedern  bah  ich  ge- 
legentlich Ulrichs  lyrisch- didaktische  3  hilchlein  herangezogen, 
die  ebenfalls  in  den  KD  eingefügt,  aber  nur  in  L  überliefert  sind. 

Ich  habe  den  teil  zu  gruncle  gelegt,  den  Lachmann  in 
seiner  gesamtausgabe  Ulrichs  (Berlin  1841)  gegeben  hat.  die  von 
Bechstein  in  seiner  commentierten  ausgäbe  des  FD  (Leipzig  188S) 
vorgeschlagenen  änderungen  sind  so  gut  wie  durchweg  zu  ver- 
werfen. 

Die  aufgäbe  der  Untersuchung  ist  die  erkenntnis  der  lyrik 
Ulrichs  in  ihrem  individuellen  kunstcharakter.  was  hat  er  für 
eine  Vorstellung  von  einem  gedichte  gehabt?  das  ist  die  general- 
frage, welcher  Stoff  erscheint  ihm  poetisch?  wie  sieht  er,  durch 
seine  natur  und  begabung  determiniert,  diesen  —  meist  unbe- 
wußt ausgewählten  —  sloff  an?  welche  formen  der  anordnung 
des  Stoffes,  welche  gedankenketten  und  empfindungsreihen  liegen 
ihm  am  nächsten  und  werden  allmählich  für  die  disponierung 
seiner  gedichte  mafsgebend?  welche  stilmitlcl  stelin  ihm  zu  ge- 
böte, um  durch  nilancierung  der  rede  und  durch  enlfallung  einer 
von  innen  heherschten ,  streng  stilisierten  dichtersprache  seine 
lieder  im  einzelnen  zu  dem  zu  machen,  was  sie  geworden  sind? 
nach    allem  :  wie    ist   die   menschlich-dichterische  persönlichkeit 

1  C  enthält  einige  lieder,  die  in  L  fehlen  :  xxxvn,  von  dem  in  L  nur 
Überschrift  und  erste  zeile  erhalten  sind,  stand  mit  auf  zwei  verloren 
gegangenen  blättern  der  hs. ,  die  aufserdem  den  anfang  der  Artusfahrt  von 
1 24t)  enthielten,  vgl.  Lachmanns  anm.  zu  FD  449,  12;  Bechstein  n  172  aom. 
lvii  und  lviii  dagegen  sind  in  L  ohne  äufsere  erkennbare  lücke  ausgefallen, 
während  die  vorläge  von  C  an  dieser  stelle  sie  bewahrt  haben  muss.  vgl. 
Lachmann  zu  582,  3  und  Bechstein  n  311  anm.  —  über  zwei  in  C  fehlende 
Strophen,  die  unrechtmäfsig  in  das  xxiv-lied  geraten  sind  (FD  421,17  f),  siehe 
unten  in  cap.  n  s.  38. 

Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  1 


2  BRECHT 

beschaffen,  die  sich  in  diesen  58  gedienten  aus  den  jähren  1222 
bis   1255  vor  uns  entwickelt? 

Die  Untersuchung  richtet  sich  demgemäfs  auf  die  motive,  die 
compositiou,  den  stil  des  poetischen  ausdrucks,  die  literarhisto- 
rische Stellung  Ulrichs  und  seinen  Charakter. 

Wenn  man  vom  ersten  und  letzten  teil  absieht,  die  vom  in- 
halt  ausgehn  und  zum  gehalt  zurückkehren,  ist  es  wesentlich  die 
innere  form  der  lyrik  Ulrichs,  mit  der  sich  die  gegenwärtige 
arbeit  beschäftigt,  daher  fehlen  hier  die  behandlung  der  metrik  l 
und  die  Untersuchung  der  spräche  als  solcher,  auch  die  schwie- 
rige frage  nach  den  gattungen  seiner  lyrik,  die  nur  im  zusammen- 
hange mit  metrischen  und  musikalischen  erwägungen  zu  lösen 
ist,  ist  nicht  beantwortet  worden,  nur  um  den  lyriker  Ulrich 
handelt  es  sich,  nicht  um  den  autobiographischen  erzähler;  daher 
sind  die  vielen  probleme,  die  sein  äufseres  leben  und  dessen  einr 
seitige  darstellung  im  FD  bietet2,  nur  insoweit  angerührt  worden, 
als  sie  für  die  entwicklung  seiner  lyrik  in  betracht  kommen. 

Fragen  der  einzelinterpretation  werden  bei  gelegenheit  im 
zusammenhange  der  Untersuchung  behandelt,  auch  hier  hat  Bech- 
steins  ausgäbe  nicht  geleistet  was  man  von  einer  commentierenden 
edition  erwarten  darf3,  eine  gesonderte  ausgäbe  der  lieder  würde 
dem  nicht  immer  gleichmäfsig  verständlichen  lyriker  erst  sein  volles 
recht  gewähren. 

ERSTES    CAPITEL. 

MOTIVE. 

i  Lieder  der  ersten  m  i  n  n  e. 

1222/23 — 1231/32. 

Die  ersten  lieder  zeigen  Ulrich  in  pagenhafter  Verehrung 
seiner  dame,  wie  es  bei  seiner  Jugend,  22  jähren,  nicht  anders 
zu   erwarten    ist  :  er   gelobt   sich  für  immer  ihrem  dienste.     am 

1  beträchtliche  vorarbeiten  sind  namentlich  von  Knorr  (Zu  Ulrich 
vLichtenstein  QF  ix,  Abschn.  n  2)  und  Weifsenfeis  (Der  daktylische  rhythmus 
bei  den  minnesängern  §§   103.  120.  415  uö.)  geliefert  worden. 

2  vgl.  v Falke  Geschichte  des  fürstl.  hauses  Liechtenstein  i,  abschn.  n. 
RBecker  Wahrheit  u.  dichtung  in  UvL.s  Frauendienst.  Schönbach  in  der  ADB, 
der  Zs.  26,  307  (T  und  in  den  Biographischen  blättern  n  15  ff. 

3  allerlei  vorschlage,  die  gröstenteils  widerherstellung  Lachmannscher 
laa.  gegenüber  Bechstein  bezwecken,  macht  (neben  vielen  sacheiklärungen) 
Schönbach  Zs.  f.  d.  ph.  28,  198 ff. 


ULIUCII  VON  LICHTENSTEIN  3 

schluss  des  ersten   lietles  fällt   schon  das  Blichwort,  das  bis  zum 
letzten   für  seine  lyrik   bezeichnend   bleibt: 

Höhen  muot  ich  von  ilir  hän  —  (18,  26). 
hochgefühl,  beschwingte  Beelenstimmung  ist  »bis  erste  und  das 
letzte,  das  er  von  der  miune  verlangt,  dessen  wert  zu  preisen  er 
niemals  müde  wird  (schon  im  in  liede  58,  30  widerum).  gleich- 
falls einen  bis  zuletzt  bedeutsamen  zug  bringt  das  n  lied  hinzu: 
lebhafte  Sinnlichkeit,  die  anmutig  verhüllend  den  letzten  wünsch 
ausspricht,  er  muss  den  tag  loben,  an  dem  er  einzig  die  ge- 
lieble sieht  :  wie  gern  priese  er  die  nacht!  '  sucht  er  hier  wie 
ein  erfahrener  zu  sprechen,  so  offenbart  das  m  lied  die  ganze 
kindlichkeit  seiner  höfischen  Verehrung: 

Dö  ich  erste  sin  gewan, 

dö  riet  mir  daz  herze  »tin, 

Ob  ich  immer  umrd  ein  man, 

so  solle  ich  ir  ze  dienste  sin  —  (58,  12), 
gerade  wie  das  in  seiner  jünglinghallen  Unsicherheit  liebenswür- 
dige i  büchlein  (47, 1  mine  tumben  jungen  tage;  47,6;  55,22).  jetzt 
ist  er  endlich  so  weit,  seinen  vorsalz  ausführen  zu  können,  und 
von  vornherein  zeigt  sich  seine  streng  aristokratische  auffassung: 
mit  aufserster  Verachtung  spricht  er  sich  gegen  die  niedere  minne 
aus,  und  in  deutlicher  anlehnuug  an  den  classiker  der  hohen 
minne,  Reinmar  den  alten,  preist  er  die  freudenreiche  sorge,  die 
sie  gebe  (59,  5). 

Diese  vier  productionen  sinil  die  ausbeute  seines  ersten 
dichterjahres  (1222/23).  drei  wichtige  elemente  seiner  lyrik  sind 
darin  schon  deutlich  ausgeprägt  vorhanden,  es  fehlt  noch  ein 
sehr  bedeutsames,  das  Verhältnis  zur  natur. 

Dies  bringt  das  nächste  jähr  1224,  in  dem  Ulrich  ein  früh- 
lingslied  und  ein  winterlied  gedichtet  hat.  beide  gehören  inhalt- 
lich und  formal  als  pendants  zusammen,  das  vierte  lied  —  es 
ist  das  berühmte  In  dem  wähle  süeze  dorne  —  geht  nach  alter 
weise  sogleich  von  der  ganz  kurzen  nalurschilderung  zu  dem  ihr 
parallelen  seelenzusland  des  dichters  über,  der  sich  glück  dazu 
wünscht,  wenigstens  die  hoffnung  auf  erhörung  sein  eigen  nennen 
zu  dürfen,    und  sich  davor   fürchtet,    vielleicht  aus   der   illusion 

1  vgl.  in  ßotenlaubens  iv  tageliede  slr.  2  vers  7: 
JSahl  git  senfte,  we  tuot  tac. 
(Bartsch  Liederdichter  s.  125  v.  61.     .MSH  i  32). 


4  BRECHT 

gerissen  zu  werden;  der  mai  gilt  ihm  nichts  ohne  die  liebe  guole. 
in  der  tat  verbittet  sich  schon  zu  anfaug  des  winters  seine  dame 
die  hotensendungen,  durch  die  er  ihr  bisher  seine  lieder  hat  zu- 
kommen lasseu  (FD  102,  22  f).  traurig  reitet  er  weg  und  dichtet 
das  fünfte  lied,  in  dem  er  den  nahenden  winter  verflucht,  aber 
die  hoffnung  noch  nicht  aufgibt,  bekümmert  fragt  er: 
Vrowe,  liebiu  vrowe  min, 
warwnbe  bistu  mir  gehaz? 
und  erinnert  sie  an  seine  stete  Verehrung  von  kindesbeinen  an. 
Im  sommer  des  nächsten  Jahres  (1225)  reitet  er  von  einem 
Brixener  turnier  mit  zerstofsenem  finger  zu  einem  arzte  nach 
Bozen,  im  saltel  tröstet  er  sich  durch  ein  lied  (vi),  in  dem  er 
sein  misgeschick  beklagt  und  um  Gottes  willen  —  ein  ihm  stets 
naheliegender  zug  —  um  erhörung  fleht,  sein  leid  hindert  ihn 
jedoch  nicht,  auf  dem  krankenlager  in  Bozen  einer  unbekannten 
dame  zuliebe,  die  ihm  leclüre  (vier  büechelhi)  zusendet,  einen 
deutschen  text  zu  einer  von  ihr  ebenfalls  überschickten  auslän- 
dischen (wol  italienischen)  melodie  zu  dichten,  der  im  lebhaftesten 
allegro,  fast  ausgelassen,  sein  liebliugsthema,  lebensfreude  durch 
frauenliebe,  behandelt  (vn).  endlich  treibt  er  auch  wider  einen 
boten  auf,  den  er  an  seine  herrin  sendet,  mit  der  mitteilung,  er 
habe  ihretwegen  einen  finger  verloren,  und  mit  einem  ihrer 
standhaften  Weigerung  gegenüber  recht  unverschämten,  aber  in 
seiner  leidenschaftlichkeit  starken  liede  (vin).  er  habe  sie  ja  schon 
längst  gefangen  und  in  den  kerker  seines  herzens  gelegt,  dort 
behandle  er  sie,  wie  ein  ritler  seinen  vornehmen  gefangenen  be- 
handelt, zwei  andere  gefangene  liegen  da  mit  ihr  zusammen,  sein 
smerze  und  sein  klagende  leit.  nur  wenn  sie  lösegeld  bezahlt,  hat  sie 
aussieht,  mit  diesen  beiden  zusammen  freizukommen;  aber  nicht 
silber  unde  golt  kann  sie  erlösen:  ich  wil  nihl  wan  ir  minnen 
soll  (vm).  diese  deutliche  spräche  hat  die  entgegengesetzte  wür 
kung  :  mit  zorn  weist  die  dame  den  boten  von  sich. 

Er  ist  weit  entfernt,  sich  dadurch  beirren  zu  lassen,  auf 
dem  rückwege  von  Born,  wo  er  (im  winter  1225/26)  mit  dem 
knappen  der  ihm  als  böte  dient  zwei  monate  geweilt  hat,  singt 
er  ihr  widerum  ein  lied,  dem  man  anmerkt,  wie  recht  ihm  ihre 
sprödigkeit  kommt,  um  mit  seiner  unerschütterlichen  treue  zu 
glänzen,  an  den  bei  den  minnesingern  obligaten  gedankeu,  der 
mai  tröste  alle,  nur  nicht  den  liebeskranken  dichter,   knüpft  er 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  5 

die  nochmalige  dringende  bitle,  die  litrrin  möge  sieh  besser  be- 
denken, der  fromme  schluss  verrät,  auf  welcher  fahrt  er  sich 
befindet  :  auf  'Gottes  wege'  solle  man  frauenlob  nicht  siegen, 
heifst  es;  so  wendet  er  sich  denn  zum  gebet  und  empfiehlt  sie 
der  mutter  Gottes  (ix,  gedichtet  nach  19.  4.  26).  aber  auch  dies 
lied  hat  ebenso  wenig  erfolg  wie  ein  im  herbst  desselben  Jahres 
gedichtetes,  ein  dialog  zwischen  Ulrich  und  der  frau  Minne,  die 
den  klagenden  beschwichtigt,  ermahnt  und  vertrustet  (x;  frau 
Minne  schon   114,  15f,  in  vn,  erwähnt). 

Diese  poetische  Vorstellung  muss  in  Ulrich  volle  dreiviertel 
jähre  lang  sehr  lebendig  gewesen  sein,  noch  im  herbst  1226 
sendet  er  seiner  dame  ein  biichlein  (das  zweite,  FD  s.  142),  das 
wider  um  einen  dialog  zwischen  ihm  und  frau  Minne  darstellt  und 
im  wesentlichen  gedankengang  und  gesprächsverlauf  des  vorher- 
gehnden  liedes  widerholt  (vgl.  bes.  146,  31  — 148,  2  mit  lied  x, 
str.  4  u.  6).  am  1  juni  dichtet  er  eine  singweise  (xi),  deren  an- 
fang  sich  unmittelbar  auf  das  x  lied  zurückbezieht.: 
Vil  salic  Minne,  hab  ich  nu  getdn 
Den  dienest  den  din  gewalt  mir  gebot  — . 
zwischen  dem  zweiten  biichlein  und  dem  xi  liede  ligt  Ulrichs 
ritterfabrt  von  Mestre  bis  ins  Mährische  (25  märz  bis  26  mai  1227), 
bei  der  er  als  frau  Venus  verkleidet  speerebrechend  zur  ehre 
seiner  herrin  durchs  land  zog.  der  einfall  muss  wol  mit  den 
gediebten  die  seine  ausfiihrung  umgeben,  zusammengebracht 
werden,  jedoch  ist  kaum  anzunehmen,  dass  der  gedanke  der 
Venusfahrt  schon  lange  in  ihm  vorgespukt  habe;  wol  aber  ist 
einem  so  phantastischen  köpfe  zuzutrauen,  dass  er  eine  solche 
idee  fasste,  wenn  er  einmal  sein  innenleben  einige  zeit  intensiv 
auf  die  personification  der  frau  Minne  (vgl.  lied  x  u.  biichlein  n) 
gerichtet  hatte1,  hatte  ihm  im  x  liede  frau  Minne  das  klagen 
verwiesen,  da  sein  bisheriges  ausharren  noch  nicht  der  rede  wert 
sei,  und  ihn  zu  weiterer  geduldiger  Pflichterfüllung  ermahnt,  die 
ihm  noch  den  erhofften  lohn  einbringen  werde,  so  fordert  Ulricb 
jetzt,  nach  der  Venusfahrf,  im  xi  liede  nachdrücklich  diesen  lohn 
von  ihr,  da  er  alles  getan  habe,  was  sie  verlangte,  gleichzeitig 
wendet  er  sich  an  alle  frauen,  deren  sache  er  soeben  —  nämlich 
auf  der  Venusfahrt  —  vertreten  habe,  sie  möchten  ihm  das  gemüt 


(Reinm 


1  lvro  Minne  und   vro  Venus   wurden   als  identisch   gefühlt'   Roethe   I 
nar  vZweter  s.  215,  mit  beispielen). 


6  BRECHT 

seiner  herrin  geneigt  machen,  von  der  er  niemals  zu  lassen  sich 
fest  vorgenommen  habe,  er  fasst  hier  zum  ersten  male  echt  höfisch 
seine  liebesangelegenheit  als  sache  des  ganzen  weihlichen  ge- 
schlechtes auf,  dessen  corpsgeist  schon  seine  erhörung  erheische: 
auch  dies  offenbar  eine  nachwürkung  der  Venusfahrt,  die  allen 
miunegewährenden  frauen  zur  ehre  ergangen  war  (vgl.  FD  163 
zeile  4 — 10);  der  hegriff  aller  guoten  wibe  (FD  164  zeile  13)  war 
ihm  von  daher  geläufig. 

Dies  lied  macht  nach  Ulrichs  Schilderung  (FD  323,  8(T)  nun 
doch  eiudruck  auf  die  herrin,  sodass  sie  ihn  zu  sehen  hegehrt, 
und  ihn,  als  armen  aussätzigen  verkleidet,  auf  ihre  hurg  lädt, 
was  ihm  dort  alles  zuslöfst  (14.  6.  27.) ,  wird  hier  als  hekannt 
vorausgesetzt,  wie  weit  auch  die  romanhafte  einkleidung  gehn 
möge,  der  kern  der  erzählung,  eine  raffinierte  ahvveisung,  bleibt 
beslehn.  als  bald  darauf  trotzdem  wider  eine  anknüpfung  ge- 
lungen ist,  und  die  dame  als  weiteren  treuebeweis  —  in  Wahrheit 
vvol,  um  ihn  loszuwerden  —  eine  kreuzfahrt  von  ihm  verlangt, 
setzt  er  sich  hin  (381,  5 ff)  und  verfasst  wider  ein  (drittes)  büch- 
lein,  und  ein  lied,  die  er  zusammen  an  sie  gelangen  lässt.  beide 
gehören  in  der  tat  eng  zusammen,  mit  den  drei  letzten  fröhlichen 
versen  des  liedes  schliefst  auch  das  büchlein,  gedanken  des  liedes 
sind  mehrfach  im  büchlein  näher  ausgeführt,  spielende  Wendungen 
werden  widerholt 1.  freudigen  herzens  wünscht  er  sich  selbst 
glück  zu  seinem  ausharren  trotz  aller  abweisungen,  versichert 
von  neuem  seine  treue  und  lässt  die  hoffnung  nicht  fahren. 

Trotz  allen  tiraden  bemerkt  mau  aber  von  jetzt  an  sehr 
deutlich,  ohne  dass  Ulrich  es  im  märe  irgendwie  ausspräche,  dass 

1  394,  26  Min  hende  ich  valde ,  vgl.  im  Büchlein  389,  5  Min  hende 
valde  iu,  vrowe  min,  ich  — ;  395,  1  Und  also  griieze  vgl.  393,  2 — 23  :  ez 
ist  ein  tugentlicher  gruoz  —  den  er  mit  dem  küsse  als  ihren  segen  für 
die  kreuzfahrt  ersehnt,  die  ehrenden  attribute,  mit  denen  er  höchst  reizvoll 
die  fünf  Strophenschlüsse  seines  liedes  ziert,  kehren  viermal,  doch  in  per- 
mutationen,  im  büchlein  als  abschlüsse  von  Sinnesabschnitten  wider,  die 
attribute  der  fünften  Strophe  bringt  er,  indem  er  am  schluss  des  büchleins 
die  drei  schlussverse  des  liedes  ganz  widerholt.  also  :  384,  18  si  liebe,  si 
reine,  si  here  :  394,  20  si  reine,  si  scelic,  si  here.  —  386,  21  si  liebe,  si 
reine,  si  guote  :  394,  25  si  liebe,  si  aotc.  —  389,  4  si  liebe,  si  reine,  si 
siieze  :  395,  3  si  liebe,  si  siieze.  —  391,  19  st  liebe,  si  guote,  si  reine 
:  395,  8  si  guote,  si  liebe,  si  reine.  —  394,  7  si  schäme,  si  cläre  :  395,  13 
si  schcene,  si  cläre.     (394,  5 — 7  =  395,  11 — 13). 


ULIWCIl  VON  L1CHTEINSTE1N  7 

sein    heroischer  eifer   der  herrio  zu  dienen    und   Beine   böflft  hi 
Deigung  allmählich  nachlassen. 

Im  winler  1227  auf  1228  findet  ihn  sein  böte,  der  von  der 
geliebten  zurückkommt,  unerwarteterweise  in  Wim,  wo  er  sich 
in  vornehmer  damengesellschafl  bewegt  dl»  3!)t>,  7(T);  und  die  ihm 
sehr  erfreuliche  botschafl,  die  dame  wolle  ihn  Behen,  hält  ihn 
nicht  ab,  von  Wien  ;his  frowcu  sehen  in  diu  laut  zu  reiten,  nur 
aus  diesen  erlebnissen  erklärt  sich  die  eigentümliche  vierte  Strophe 
des  bald  darauf  im  früliling  122s  lilr  die  herrin  gedichteten 
mailiedes: 

Ob  ich   nilit  geniezen   kan 

dflner  gilete  und  der  langen  statte  min, 

So  lä  mich  vil  sehenden  man 

der  geniezen  den  ich  durch  den  willen  dtn 

Sol  und  muoz  yedienen  vil. 

daz   sint    eil  in    guotiu   tcip,    der   Hp    ich    immer 

e'ren  wil, 
und  die  folgende  schlussslrophe,  in  der  der  dame  die  güle  aller 
guolen  wibe  als  vorbild  liiu gestellt  wird;  ihnen  zuliebe  möge  sie 
ihn  erhören,  hiermit  wird  das  motiv  des  xr  liedes,  dessen  ent- 
Btehung  ich  vorhin  erklärt  zu  haben  glaube,  mit  stärkerer  be- 
lonung  wider  aufgenommen;  es  entwickelt  sich  von  nun  an  in 
fast  allen  folgenden  liedern  seines  ersten  minneverhältnisses,  wie 
denn  die  lieder  bis  zum  herbste  1231  untereinander  und  mit 
seinem  leben  in  enger  beziehung  slebn. 

Auf  sein  gleichzeitiges  höfisches  leben,  dessen  alleiniger  in- 
balt  in  fröhlichen  lurnieren  und  in  der  höfischen  Unterhaltung 
mit  frauen  bestellt,  spielt  unverkennbar  sogleich  der  anfang  des 
nächsten  liedes,  einer  lanzweise  (xiv),  wieder  an: 

Oae  daz  ich  bi  den  wolgemuoten  (nämlich  d.  gesellscbafl) 

also  lange  muoz  beliben  ungemuot, 
sowie  der  scbluss  sieb  widerum  an  seine  jetzige  Umgebung,  guotiu 
wip,  wendet,  vor  der  Ungnade  seiner  herrin  llüchlet  er  sieb 
trotzig-resigniert  in  das  ihr  unzugängliche  reich  des  Wunsches. 
was  er  sieb  im  gründe  von  ihr  wünscht,  verschweigt  er  :  nur 
ihren  kuss  und  ihren  grufs  wünscht  er  sieb  (die  balle  er  schon 
im  in  büchlein  s.  392,  221'  ersehnt),  und  dass  sie  ihm  endlich  ins 
beiz  seben  möge,  zwar  gibt  er  sieb  (letzte  Strophe)  den  anschein, 
als  ob  er  immer  noch    an  ihre  gute   glaube,   aber  schon  kommt 


8  BRECHT 

ihm  der  wünsch,  anderswo  Iröst  für  truren  zu  suchen;  hastig 
unterdrückt  er  ihn  (401,  9  f).  doch  schon  im  nächsten  liede  (xv, 
frühling  1229)  ist  er  wider  da  (403,  l)1.  es  hat  seine  cavaliers- 
eitelkeit  verletzt,  dass  man  ihn  nicht  mehr  so  munter  (fruot  402,28) 
findet  wie  vordem,  sein  ewiges  klagen  beginnt  zu  langweilen,  da 
ihm  bezeichnenderweise  alles  daran  ligt,  froh  zu  erscheinen,  so 
kann  er  den  gedanken,  sich  ein  ander  Uz  zu  suchen,  nicht  mehr 
so  ganz  verwerfen,  natürlich  sind  es  wider  die  damen  der  ge- 
sellschaft  (ir  guolen  reiniu  wip),  denen  er  diesen  entschluss  zu 
billiger  begutachtung  vorlegt,  ihnen  ist  auch  das  feurig-kräftige 
marschlied  (uzreise,  xvi)  gewidmet,  das  in  denselben  sommer  fällt 
(str.  5).  erst  in  den  beiden  letzten  Strophen  gedenkt  er  resigniert 
seiner  unbarmherzigen  herrin,  gegen  die  er  sich  mit  der  gedul- 
digen treue  eines  guten  gewissens  wappnet,  noch  einmal  flammt 
seine  empfindung  für  sie  auf  (xvn,  frühling  1230),  der  treu- 
geblieben zu  sein  er  sich  selbst  beglückwünscht  (s.  o.  xn).  aber 
schon  die  beiden  nächsten,  eng  zusammengehörigen  lieder  (xvm 
u.  xix,  herbst  1230,  frühjahr  1231)  zeigen  ihn  wider  in  der 
atmosphäre  ganz  allgemein  gesellschaftlicher  frauenverehrung. 
beide  preisen  in  paradoxer  weise  die  sonst  verhasste  huote  und 
die  merkcere,  indem  sie  diese  so  geläufigen  höfischen  begriffe,  die 
Ulrich  bei  seiner  starken  geselligen  betätigung  gerade  in  jenen  jähren 
besonders  nahe  liegen  mochten  2,  spielend  verändern  :  das  merken 
wird  zum  interessiertsein,  wie  es  den  frauenkenner,  die  männer- 
kennerin  auszeichnet,  huote  zur  vorsichtigen  gesellschaftlichen 
haltung  der  frau  (huote  vereinzelt  schon  126,  28 — 30,  vin).  seiner 
dame  gelten  im  xvm  liede  nur  die  beiden  letzten,  die  nutzanwen- 

1  hier  ligt  eine  art  disharmonie  zwischen  Med  und  später  gedichtetem 
märe  vor.  402,  12 — 15  gibt  Ulrich  an,  in  jenem  sommer  immer  hohes 
mutes  gewesen  zu  sein  :  aber  gleich  die  erste  Strophe  des  folgenden  liedes 
(xv)  zeigt  ihn  klagend,  der  weitere  verlauf  und  das  xvi  lied  nicht  über- 
mäfsig  fröhlich,  der  grund  ist  klar  :  er  will  damit  renommieren,  wie  er 
durch  den  blofsen  vorsalz,  wider  uro  zu  werden  (xv,  str.  2),  es  in  der  tat 
geworden  sei.  dem  entspricht  die  gewollte  fröhlichkeit  der  lieder  xvu, 
xviii,  xix  (1230  u.  31).  es  gibt  eben  nichts  weniger  cavaliermäfsiges  als 
duckmäuserei.  dies  wollte  er,  als  er  später  den  FD  dictierte,  noch  schärfer 
hervortreten  lassen,  als  es  lied  xv  str.  2  tut.  grund  zu  ernsthaftem  ver- 
dacht gegen  die  sachliche  und  chronologische  richtigkeit  seiner  erzählung 
seh  ich  nicht.  —  anstofs  hat  auch  Bechstein  n  119  anm.  genommen. 

3  möglicherweise  hat  ihn  auch  die  ausgesprochene  furcht  der  dame 
vor  dem  merken  396,  1  angeregt. 


ULIUCII  VON  LICHTENSTEIN  9 

dllDg  auf  sie  bringenden  Strophen,  das  xix.  das  die  gesellschaft- 
lichen Spitzfindigkeiten  des  vorhergehnden  ziemlich  trivial  wider- 
holt, ist  directer  an  sie  gerichtet,  er  wirbt  noch  einmal  —  aber 
in  der  letzten  Strophe  verspricht  er  aller  weit  kundzutun,  wie 
alle  freude  für  ihn  zu  ende  sei,  wenn  sie  ihn  zwänge,  sich  ihrer 
ininne  zu  entschlagen. 

Bald  danach  tritt  die  lange  drohende  Wendung  ein,  im 
herbst  1231  verlä'sst  der  bis  zur  Unvernunft  treue  rilter  nach 
dreizehnjähriger  vergeblicher  Werbung  den  dienst  der  herrin.  was 
ihn  dazu  bewogen  hat,  deutet  er  nur  dunkel  an  (411,  Uff);  er 
hatte  wol  seine  gründe  dazu,  es  kann  nicht  ein  einzelnes  ver- 
gehen, sondern  muss  ein  widerholtes  oder  fortgesetztes  unrecht 
gewesen  sein,  was  sie  ihm  antat  (aao.  und  413,  lOff.  25) ',  eine 
wider  besseres  wissen  böslich  aufrecht  erhaltene  Verleumdung 
oder  dergleichen. 

Der  dichterische  ertrag  dieses  Umschwunges  sind  sieben 
scheltlieder,  die  Ulrich  aus  dem  lebhaften  gefühl  der  erlittenen 
krankung  heraus  vom  herbst  1231  bis  zum  frühjahr  1232  ge- 
dichtet hat-,    sehr  natürlicherweise  sind  die  ersten  die  schärferen, 

1  hiernach  sind  die  ansichten  von  Becker  und  von  Bechstein  zu 
berichtigen,  die  verse,  die  Bechstein  (s.  xxix)  auf  einen  zornigen  wortstreit 
zwischen  beiden  deutet,  413,  17 — 27,  beziehen  sich  vielmehr  auf  die  schelt- 
lieder, die  U.  soeben  mitzuteilen  sich  anschickt  und  die  er  jetzt  bereut: 
413,  21  an  disem  buoch.  zum  beweise  diene  ferner  der  reuige  ausruf 
415,30—41(3,  11.  Beckers  auffassung  (Wahrheit  u.  dichtung  in  UvL.s  FD 
s.  89  IT)  wird  der  Wahrheit  näher  kommen,  wenn  auch  127,  18  —  voraus- 
gesetzt, dass  man  diese  stelle  überhaupt  noch  hier  heranziehen  darf — und 
411,  17  nicht  gerade  so  handgreiflich  interpretiert  zu  werden  brauchen,  das 
swache  leit  kann  auch  ein  erniedrigender  klatsch  gewesen  sein.  Schön- 
bachs ansieht  (Biogr.  bll.  n  s.  31)  :  'U.  kam  dahinter,  dass  die  herrin  einen 
andern  bevorzugte'  passt  gar  nicht  zu  den  textstelleu.  seinen  folgenden 
satz  versteh  ich  nicht;  wo  handelt  es  sich  denn  beim  ersten  minneverhältnis 
um  einen  'glücklichen  ausgang?'  —  viell.  ist  statt  swachez  /.  411,  17  sivwrez 
leit  zu  lesen,  die  Verbindung  swachez  leit  mit  der  hier  geforderten 
proleptischen  bedeutung  des  adj.  (noch  dazu  stark  betont  :  ein  so  siv.  /.) 
scheint  sonst  nicht  belegt.  W'igalois  795  :  swenne  dehein  swachez  leit 
truoble  ir  feindete  hat  eine  andere  bedeutung.  der  folgende  vers  411,  18 
passt  besser  zu  swwrez;  in  der  Schrift  sind  beide  Wörter  leicht  zu  ver- 
wechseln. 

a  Ulrich  selbst  rechnet  xx  — xxvi  als  scheltlieder,  vgl.  427,  17  f;  xxiv 
—xxvi  sind  aber  eigentlich  keine  scheltlieder  mehr,  da  in  ihnen  das  positive 
des  frauendienstes  weit  überwiegt. 


10  BRECHT 

in  den  späteren  überwigt  die  Stilisierung  in  die  verallgemeinernde 
reflexion',  wodurch  die  persönliche  gehässigkeit  gemildert  wird. 
Im  ersten  'klageliede'  (xx)  mäfsigt  er  sich  zwar  noch,  mit 
merklicher  anstrengung.  es  ist  gewissermafsen  erst  die  ofücielle 
aukündigung  der  drohenden  feindschaft,  in  form  einer  rechts- 
klage vor  dem  gerichtshofe  aller  trauen  —  das  alte  motiv,  sich 
an  die  gesamtheit  zu  wenden  K  in  nachdrücklicher  widerholung 
klagt  er  seine  hisherige  herrin  schäches  tinde  roubes  an.  was  sie 
ihm  geraubt  hat,  ist  seine  lebensfreude  in  der  ganzen  schier  end- 
losen zeit,  die  er  ihrem  diensle  gewidmet  hat2,  mehr  von  seinem 
leide  zu  sagen  geniert  er  sich;  auch  will  er  sich  als  cavalier 
nicht  vom  zorn  übernehmen  lassen,  so  hält  er  denn  noch  den 
vermiltlungsweg  offen,  falls  sich  jemand  findet,  der  ihn  beschreiten 
will ;  sonst  droht  er  mit  dem  schlimmsten 3.  da  die  dame  ihr 
verhalten  nicht  ändert  (413,  10),  sieht  er  sich  genötigt,  seine 
drohungen  wahr  zu  machen,  viel  energischer  beklagt  ein  zweites 
klagelied  (xxi)  den  Verlust  seines  lebensglückes  und  weist  der 
vrowe  alle  schuld  daran  zu.  hätte  er  doch  noch  die  illusion  der 
hoffnungl  aber  auch  die  ist  hin.  wie  gut  war  die  herrin,  als 
er  sie  kennen  lernte  1  inzwischen  hat  sie  sich  ganz  verändert4, 
in  der  äufseren  haltung  ungleich  ruhiger,  im  inhalt  das  schärfste 
von  allen    ist   das   folgende   (xxn).     mit  einer  sachlichen  minne- 

1  Vgl.    XI.    XIII.    XIV.    XV. 

2  vgl.  schon  xiv  399,  13  :  St  nimt  mir  wende,  diu  mich  sorgen  solle 
machen  vri.  nu  läls  also  rouben  — .  ähnlich  wie  Ulrich  klagt  Walther 
53,  1  ff  wesentlich  über  die  verlorene  zeit,  in  der  form  wol  beeinflusst  durch 
Morungen  MFr.  128,  15  ff  (citat  von  Wilmanns). 

3  vgl.  das  vierte  lied  des  von  Buwenburg,  str.  3  : 

iuonl  ir  niht  den  willen  min, 
ich  sprich  iu  ein  wörtelin, 
dar  an  hanget  siuften  unde  weinen. 
(Bartsch  Die  Schweizer  minnesänger  s.  260). 

4  gerade  so  macht  es  Buwenburg  aao.  st.  2  : 

Ich  wände  ein  wip  von  Iper  haben  funden, 
dö  ich  erst  ersach  die  minneclichen  : 
nü  swachet  si  an  eren  zallen  stunden  usw. 
auch  Neidhart  findet,    dass   sich   die  geliebte   in    der  Zwischenzeit  verkeret 
habe  (82,  25 ff),     er  schimpft  unflätig  auf  sie,   viel  stärker  als  Ulrich  —  es 
ist  nämlich  nur  eine  allegorische  figur,  die  frau  Werltsüeze  (82,  15  ff,  erster 
Werllsuezenton;  vgl.  RMMeyer  Die  reihenfolge  der  lieder  Neidbarts  s.  147). 
—  gedankengang  und  diction  dieses  liedes  erinnern  lebhaft  an  Walther. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  n 

theoretischen  auseinandersetzt! Dg,  dem  lobe  widerum  aller  guoten 
wibe,  beginnt  es,  scheidet  aber  unerwartet  die  falschen  von  den 
guten  und  macht  sofort  die  rückhaltloseste  nutzanwenduog  aul 
die  verlassene  dame.  kein  ausdruck  ist  ihm  der  schamlosen  gegen 
über,  deren  wille  daber  fuhr  wie  aprilwetler,  stark  genug,  aber 
der  schluss  halt  sich  wider  objecliv,  indem  er  zu  dem  im  anlang 
gemachten  unterschiede  zurückkehrt;  unrecht  tut,  wer  zwischen 
trauen  nicht  unterscheidet '.  die  beruhigung  schreitet  im  vierten 
schellliede  (xxiii)  fort,  hier  sind  von  fünf  Strophen  nur  die  zwei 
letzten  seinem  Unglück  gewidmet,  auch  in  ihnen  trauert  er  mehr 
als  er  schilt,  die  drei  ersten  tun  in  der  sentenziösen  weise  von 
minnereden  dar,  dass  triuwe  und  stiele  unbedingt  zur  minne  ge- 
hören :  woraus  sich  das  folgende  widerum  als  ausgesprochen 
(419,  22)  persönliche  nutzanwendung  ergibt. 

Nach  kurzer  zeit  kann  der  von  natur  mit  unvertilgbarem 
luslbedürfnis  ausgestaltete  Sanguiniker  die  catonische  miene  und 
das  leben  ohne  minne  nicht  mehr  aushalten,  aus  wintersnot  und 
altmachender  sorge  sieht  er  keinen  andern  ausweg  als  durch 
wibes  güete  (xxiv,  str.  4)  :  irgendwo  muss  es  doch  noch  guotiu 
xcip  geben  !  der  wünsch  eines  zweiten  minneverhällnisses  spricht 
sich  offen  aus.  das  ganze  lied  ist  nur  ein  vorklaug  jener  wdn- 
wisen,  denen  —  wo  ein  wille  ist  auch  ein  weg  —  die  reale 
zweite  minne  bald  folgen  sollte,  womöglich  noch  deutlicher  er- 
scheint das  bedürfnis  Ulrichs  in  seinem  leiche  (xxv),  den  er  in 
derselben  zeit  gesungen  hat  (winter  1231/32),  und  der  mit  dem 
letzten  liede  in  engster  beziehung  steht,  hat  er  nämlich  in  xxiv 
seinen  festen  vorsatz  ausgesprochen,  sich  wider  der  freude  (zb. 
str.  2)  zuzuwenden,  so  rät  er  dies  im  leiche,  gleich  zu  aufang, 
nun  allen  mäunern  (werende  freude  423,  3).  und  er  hat  sich  schon 
so  weit  über  sein  misgeschick  und  seine  rachegefühle  erhoben, 
dass  er  als  einzige  quelle  jener  freude  nur  wider  anraten  kann  — 
guotiu  wip  zu  miunen.    der  gesamte  erste  teil  des  leichs  enthalt 

1  Knorr  (s.  44 ß)  conslatiert  entlehnung  dieses  niotivs  von  Walther 
58,  35.  48,  35.  —  vielleicht  hat  es  daher  auch  Buwenburg,  der  das  schon 
zweimal  angeführte  heftige  scheltlied  so  beginnt: 

Sang  ich.  hiure  ?iihl  von  guolen  wioen, 
so  sing  aber  ich  nu  von  den  swache?i  usw. 
diese  Scheidung  ligt  aber  bei  solchem  anlass  wol  so  nahe,  dass  jeder  selb- 
ständig darauf  kommen  konnte. 


12  BRECHT 

demgemäfs  nur  rein  sachliche  minnelehre,  die  sich  in  inhalt  und 
tendenz    sowol   im    ganzen  wie   an  einzelnen  stellen  eng  an  das 
vorige  lied  anschliefst  (423,  21  stcer  e'ren  scelic  welle  sin,  vgl.  xxiv: 
420,  24  dd  fand  ich  ouch  ere  bi,  27  und  erwirbe  ich  freude  und 
ere;  422,  10  vinde  ich  die,  so  vinde  ich  ere;  ferner  424,  6,  vgl. 
422,  9).     auf  sein    persönliches   misgeschick  kommt  er  erst  im 
zweiten  teile  zu  sprechen,     er  trüstet  sich  (424,  7  ff): 
Min  muot  von  wiben  hohe  sldt. 
waz  danne  ob  mir  ir  einiu  hdt 
Erzeiget  hohe  missetdt? 
hat    es    also    innerlich    überwunden,     wante   er   sich    im  ersten 
teile  an  die  männer,  so  gilt  der  zweite  ausschliefslich  den  frauen. 
auch  wenn  er  von  ihnen  in  der  dritten  person  redet,    ist  doch 
alles  an  ihre  adresse  gerichtet,    der  inhalt  dieses  teiles  ist  nicht 
neu.     er   ist   ein    verschmelzender  cento   von    motiven    früherer 
lieder,  deren  entstehung  und  entwicklung  wir  beobachtet  haben. 
424,  1 1 : 

Swaz  si  gegen  mir  hdt  getdn     fconstr.  anö  v.olvov) 

daz  wil  ich  gerne  wizzen  Idn 


uf  gendde  guotiu  w/p  — 
worauf  die  erzählung  ihrer  schuld  folgt,  was  ist  dies  im  grund- 
motiv  und  in  der  form  anders  als  die  grofse  anklagerede  des 
xx  liedes,  vor  demselben  tribunal,  an  das  zu  allererst  zu  denken 
er  seit  der  Venusfahrt  und  seit  dem  geselligen  winler  1227/28 
gewöhnt  war  (lied  xm  str.  4,  insbes.  397,  24)?  —  424,  7 — 31  des 
leichs  widerholt  geradezu  lied  xx  str.  1 — 4 ,  man  vgl.  speciell 
die  anfangsapostrophe,  und  ist  nur  eine  neue  Variation  des  haupt- 
inhaltes  aller  bisherigen  scheltlieder.  —  im  einzelnen  entspricht 
424,  15 — 21  der  zweiten  Strophe  von  xx.  die  beiden  bilder  mit 
denen  er  die  launenhaftigkeit  der  herrin  verklagt,  424,  25 — 31, 
verfolgen  in  anderer  sphä're  denselben  zweck  wie  das  bild  vom 
aprilwetter  xxn  str.  5: 

Nu  vert  enwer  ir  habedanc,       Als  aberillen  weter  vert  ir  wille, 
Reht  als  ein  rat  daz  umbe  gdt     daz  nie  wind  es  prüt  als  swinde 
etc.  enwart  etc. 

Die  gegenüberstellung  der  guoten  und  falschen  wibe  425,  1 — 2 
schlägt  noch  einmal  das  thema  von  xxu  für  einen  augenblick  an, 
die  beiden   folgenden    verse    bringen    mit  dem   widerholten  State 


ULRICH  VON  LICUTENSTE1N  13 

das  hauptstichwort  von  xxm  wider  in  crinncrung.  die  zweite 
hallte  des  zweilen  teiles,  in  die  diese  motive  bereits  gehören, 
drückt  dasselbe  aus  wie  die  letzten  Strophen  des  vorhergehndeu 
liedes  xxiv,  den  wünsch  eines  neuen  Verhältnisses,  aber  un- 
wandelbar muss  die  neue  herrin  sein,  das  betont  der  durch 
erfahrung  gewitzigte  zum  Schlüsse  nochmals  nachdrücklich 
(425,  26—426,  3). 

Gleichzeitig  mit  dem  leich  hat  Ulrich  nach  seiner  eigenen 
angäbe  (426,  8f)  das  xxvi  lied  gedichtet,  es  erweist  sich  als  eiu 
kurzer  auszug  des  leichs  in  inhalt  und  einkleidung  (rat  an  die 
männer,  guoliu  wip  zu  minnen);  der  erste  teil,  str.  1 — 3,  ent- 
spricht genau  dem  ersten,  der  zweite,  str.  4 — 7,  dem  zweiten 
teile  des  leichs.  auch  der  Übergang  zwischen  beiden  teilen 
(426,24 — 25)  ist  ganz  der  gleiche  wie  dort  (424,  711).  die  letzten 
Strophen  (5  u.  6)  von  xxiv,  die  den  zweiten  teil  des  leichs  mit 
bilden  halfen  ,  haben  mithin  auch  die  drei  letzten  von  xxvi  be- 
fruchtet, die  Ähnlichkeit  erstreckt  sich  bis  auf  die  worte  (zb. 
vinden  427,  1.10  vgl.  425,  24.  422,  6.  10).  —  der  wünsch  eines 
zweiten  aussichtsreicheren  Verhältnisses  ist  zu  voller  klarheit  ge- 
diehen, nur  der  würdige  gegenständ  fehlt  noch,  die  schlussstrophe: 
Ich  wil  gerne  sin  ein  vrowen  vrier  man, 
al  die  wile  ich  niht  ein  guote  vinden  kan  usw. 
bildet  bereits  den  directen  Übergang  zu  den  wdnwisen. 

ii   Die  wänwisen.     1232/33. 

Ulrich  begründet  seine  hinwendung  zu  wdnwisenx  mit  der 
ausdrücklichen  bitte  einer  hervorragenden  dame  an  ihn,  er  möge 
um  aller  frauen  und  um  seiner  selbst  willen  die  rachedichtuug 
der  scheltlieder  aufgeben  (427,  13 — 28;  lyrischer  niederschlag  im 
nächsten  liede  428,  26.  27).  auch  ohne  solche  auffordern ug  würde 
Ulrich  das  getan  haben ,  da  die  bisherige  entwicklung  an  sich 
schon  dazu  führen  muste. 

Zusammenhang  der  wdnwisen  mit  geist  und  inhalt  der  letzten 
lieder  ist  unverkennbar,  die  erste  wdnwise  (xxvn)  bleibt  im  ge- 
dankengange  des  vorhergehenden  liedes  xxvi,  dessen  inhalt  sie 
gewissermafsen  umdreht,  hatte  Ulrich  dort  behauptet,  wenn  man 
höhen  muot  erwerben  wolle,    brauche   man    nur  guotiu   wip   zu 

1  wdnwisen  ist  nach  wie  vor  als  'freie  phantasieproduete  ohne  realen 
gegenständ'  aufzufassen  und  ßechsteins  seltsame  Übersetzung  'freudenklänge' 
(anm.  zu  str.  1376,  8.  L.  427,  28)  zu  verwerfen. 


14  BRECHT 

minnen,  und  dies  allen  mänueru  geraten,  so  sagt  er  jetzt:  wer 
erfolg  in  der  minne  werter  flauen  haben  wolle,  müsse  hochgemut 
sein  (428,  7.  8),  und  erteilt  sich  selbst  diesen  rat  (428,  25  ff)  —  es 
ist  ein  zirkel.  nach  der  verirrung  der  ihm  garnicht  anstehnden 
scheltlieder  hat  er  sich  damit  zu  seiner  wahren  natur  und  zu 
seinem  lyrischen  grundgedanken  zurückgefunden  :  freude,  nichts 
als  freude  soll  die  ritterliche  minne  geben. 

Dieser  gedanke  wird  in  der  zweiten,  sangbar-anmutigen 
wdnwise  (xxvui)  nur  weiter  ausgeführt,  zum  teil  spielend,  vor 
der  staien  liebe,  die  minne  heifst  (430,  1),  schwindet  alles  trauern; 
sein  geheimes  verlangen  nach  ihr  kann  er  in  einem  seufzer  zum 
Schlüsse  nicht  verbergen. 

Bei  stiller  Sehnsucht  bleibt  es  nicht;  schon  das  nächste  lied 
(xxix),  ein  sommerreie,  der  das  glück  erhörter  liebe  fast  neidisch 
preist,  wird  sehr  kühu  :  die  höchste  seligkeil  ist  die  Umarmung, 
das  bigeligen,  das  als  schlusspointe  bis  an  die  grenzen  der  mittel- 
alterlichen discretion  ausgemalt  wird,  natürlich:  gerade  der  'frauen- 
freie' mann  (427,  24)  muss  in  der  phantasie  geniefsen,  was  ihm 
das  leben  zur  zeit  versagt. 

Eine  Illustration  zu  den  bisher  gegebenen  minnelehren,  die 
dabei  noch  einmal  in  lebendiger  Unterweisung  kurz  zum  Vortrag 
kommen,  zugleich  eine  praktische  anwendung  bildet  die  sechste 
wdnwise,  ein  dialog  Ulrichs  mit  einer  vrouwe  über  das  berühmte 
thema  :  waz  ist  minnel  in  dessen  verlauf  der  belehrende  ritter 
keck  wird  und  ganz  unerwartet  einen  allerliebsten  korb  bekommt 
(winter  1232). 

Es  fällt  auf,   dass  Ulrich    in   den   zwei    Strophen   des  märe, 
die    den    Übergang   vom    vorhergehnden   liede  zu   diesem  dialog 
bilden,  gerade  von  einem  besuche  spricht,    den  er  damals  jener 
befreundeten  dame,  die  ihm  von  den  schellliedern  abgeraten,  ge- 
macht habe,  und  von  der  Unterredung  mit  ihr.     die  Schilderung 
sieht  ganz  nach  minueconversation  aus.     434,  14: 
ich  reit  mit  ir  sus  unde  so: 
des  antwurt  mir  diu  lugend  rieh 
mit  süezen  Worten  minneclich. 
mit  speeher  rede  ich  von  ir  schiet. 
davon  so  sang  ich  disiu  liet  (=  xxx). 

Er  versichert  also  ausdrücklich,  aus  einer  derartigen  Unter- 
haltung sei  sein  dialog    über  die  minne  hervorgegangen,     sollen 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN 


15 


wir  ihm  hier  mistrauen,  etwa  weil  die  lieder  das  ursprüngliche 
sind,  aus  denen  das  märe  nachher  in  freier  phantasie  geschöpft 
sein  konnte?  da  sich  die  beziehungen  zwischen  er  Zählung  und 
liedein1  bisher  als  ganz  unverdächtig  erwiesen  halten,  da  der 
dichter  ganz  naiv,  unironisch,  unhumoristisch,  sachlich-trocken 
berichtet,  sogar  beschämendes  nicht  verschweigt2,  so  halt  ich  uns 
für  durchaus  berechtigt,  hier  den  Zusammenhang  /wischen  leben 
und  lyrik  festzustellen,  dann  wären  wir  auch  berechtigt,  anzu- 
nehmen, dass  Ulrich,  der  Mine  freiwillige  Verlassenheit  so  schwer 
ertrug,  jener  d.uiie  uiirklich  seine  minne  angetragen  und  einen 
korh  bekommen  hat.  sie  verschwinde!  Dämlich  jetzt  stillschwei- 
gend .ms  dem  FD.  die  an,  mit  der  Ulrich  sehr  bald  danach 
(439,14)  seine  neue  herrin,  die  des  zweiten  Verhältnisses,  frisch 
in  die  erzählung  einführt,  verbietet  anzunehmen,  dass  jene  dame 
mit  dieser  identisch  sei. 

Die  tendenzen  der  wdnwisen  finden  sich  in  der  tünlten 
(xxxi),  welche  die  letzte  hleihen  sollte,  unabsichtlich  noch  einmal 
zusammengestellt  :  preis  des  frühlings  und  der  frauen,  deren  liebe 
den  mann  glücklich  macht. 

Diese  wenigen  gedanken  in  den  wenigen  liedern  sind  im 
gründe  Ulrichs  ganze  liebeslehre.  die  wänwlsen  liehen  sich  nicht 
so  sehr  von  den  bisherigen  minneliedern  ab,  als  man  bei  dem 
Wegfall  einer  bestimmten  Persönlichkeit,  an  die  sie  sich  richteten, 
erwarten  sollte,  gerade  hier  wird  recht  klar,  dass  Ulrichs  lieder 
bisher  eigentlich  alle  schon  wänwtsen  waren,  db.  dass  im  »runde 
auf  die  vereinte  herrin  wenig  dabei  ankam,  sie  ist  nur  eine 
stell  Vertreterin  des  ganzen  geschlechtes,  dem  Ulrichs  Verehrung 
gilt,  mag  auch  —  woran  ich  nicht  zweifle  —  sein  herz  hei  der 
ersten  minne  nicht  unbeteiligt  gewesen  sein,  ihre  wahre  Ursache 
war  das  artistische  phantasiebedürfnis,  das  für  die  dem  menschen 
Ulrich  einmal  innewohnende  hinneigung  zur  frau  einen  bestimmten 
äufseren  anhält  suchte,     in   den  wänwlsen   liel   auch  dieser  vor- 


1  der  aasdrack  'eingestreute  lieder',  an  den  man  sieli  gewöhnt  hat, 
nimmt  in  dem  falle  Dlrichs  zum  mindesten  unsicheres  als  sicher  an.  denn 
mag  auch  Ulrich  für  das  märe  gleichzeitige  aufzeichnungen  benutzt  haben 
(s.  Schönbath  Biot;iaph.  Matter  u  32,  33),  so  bleibt  doch  bestelm,  dass  die 
lieder  das  in  der  vorliegenden  festen  form  ältestesind,  um  das 
die  erzählung  heru  mgegosse  n  ist.  sie  sind  das  prius,  nicht  die  erzählung. 

a  vgl.  Schönbach  aao.  s.  23  ff. 


16  BRECHT 

wand  fort  :  insofern  kommt  in  ihnen  seine  natur  am  reinsten  zum 
ausdruck. 

in  Lieder  der  zweiten  minne.  1233  <C  >  1255. 
Da  Ulrich  im  sommer  1233  nachgerade  seihst  darilher  klar 
geworden  ist,  dass  er  für  ein  neues  minneverhältnis  reif  sei, 
zögert  er  nicht,  sich  nach  einer  würdigen,  dem  einzigen,  das  ihm 
dazu  noch  fehlt,  umzusehen  (439,  llf).  seine  erste  minne  ist  für 
ihn  innerlich  schon  so  lange  her,  dass  die  erinnerung  sie  ihm 
hereits  golden  zu  färben  beginnt  (438,  14 — 24).  bald  hat  er  eine 
herrin  gefunden;  und  dass  er  kein  blöder  page  mehr  ist,  sieht 
man  an  der  sachlichen  art,  in  der  er  das  Verhältnis  in  die  wege 
leitet  :  er  reitet  einfach  zu  der  dame  (deren  namen  er  natürlich 
nicht  nennen  darf)  hin  und  'tut  ihr  seinen  willen  kund'  (440,  9). 
ihre  antwort  fällt  so  aus,  dass  er  davon  in  freudenüberschwang 
gerät  und  seiner  ältesten,  im  gründe  einzigen  liebe,  dem  hohen 
muoty  das  erste  lied  seiner  neuen  minne  (xxxn)  widmet,  für 
deren  abstractere  art  ist  die  adresse  an  einen  personifizierten 
begriff  von  vornherein  charakteristisch,  der  minnephilosophische 
ton  der  wänwisen  bleibt,  nur  mit  schwindender  frische,  in  geltung. 
xxxii  ist  ein  rechtes  beispiel  für  ein  absichtlich  gemachtes  ge- 
legeuheitsgedicht.  mit  vollem  bewustsein,  ganz  unnaiv,  wird  die 
neue  Verbindung  begrüfst  und  unter  etwas  künstlichem  jubel  ein- 
geläutet, das  gefühl  der  erleichterung  freilich ,  nun  nicht  mehr 
einsam  trüren  zu  müssen,  mag  wol  wahr  daran  sein,  hier  wie  in 
den  folgenden  liedern.  das  einzige  thema  ist  zunächst  natürlich 
der  preis  der  neuen  herrin.  die  einzelmolive  sind  grofsenteils 
nicht  neu.  so  greift  Ulrich  auf  das  hauplmotiv  des  vm  liedes, 
beschreibung  der  Insassen  seines  herzens  (s.  o.),  zurück,  wenn  er 
in  der  vorletzten  Strophe  den  höhen  muot  als  vogt  im  hause  seines 
herzens  auffasst,  dem  die  f'rau  und  die  minne  dort  gesellschaft 
leisten;  angedeutet  ist  die  metapher  schon  in  den  ersten  beiden 
versen  des  liedes.  durch  seine  freude  klingen  reminiscenzen  an 
die  von  der  früheren  herrin  ihm  angetane  untdt  (s.  o.),  denn 
es  ist  als  reaction  darauf  zu  erklären,  wenn  er  jetzt  so  viel  von 
der  ere  seiner  herrin  spricht,  halle  er  in  den  scheltliedern  die 
erste  dame  eines  vergebens  bezichtigt,  dessen  nennung  sie  scham- 
rot machen  müste  (412,  25  ff),  von  ihr  gesagt: 

diu  ist  wibes  eren  gram  (417,  17) 
und  von  einer  zukünftigen  herzensherrin  verlangt,  sie  müsse 


LI.IUCII  VON  LICHTENSTEIN  17 

—  wiplich  sin  gemuot, 

eren  rieh,  vor  allem  wandel  <jar  behuut     127,  711), 

so  frohlockt  er  jetzt : 

Höher  muot,  dich  hat  gesendet 
nur  ein  wip  diu  ere  hat  (4-11,5); 

das  ist  das  allererste,  was  er  überhaupt  im  liede  von  ihr  s;i. 
(dritte  stroplie).  begreiflicherweise  kommt  er  noch  ol't  darauf 
zurück,  der  uumittelbare  Zusammenhang  seiner  neuen  poesie  mil 
den  eben  verklungenen  wdnwlsen  wird  in  dein  folgenden,  eben- 
falls noch  einleitenden  liede  (xxxm)  bemerklich,  einem  dialoge 
Ulrichs  mit  der  neuen  geliebten  über  bedingungea  und  lohn  seines 
dienstes.  die  elegante  minneconversalion  endet  unerwartet  damit, 
dass  sie  seine  immer  schmeichelhafteren  complimente  scheinbar 
entrüstet  als  ironie  zurückweist,  unverkennbar  ist  die  grofse 
ahnlichkeit  mit  dem  kurz  vorhergehndeo  dialoge  xxx  :  auch  dort 
gesprach  Ulrichs  mit  einer  dame;  er  beginnt,  wird  von  Strophe 
zu  Strophe  kecker  und  erlebt  zum  schluss  eine  —  dort  offenbar 
ernsthaftere  —  kokette  abweisuug,  die  ebenfalls  ganz  kurz  (dort 
zwei,  hier  drei  verse)  in  die  letzte,  eigentlich  ihm  gehörende 
dialogstrophe  als  letzte  pointe  einbricht  (ebenso  schon  im  ersten 
dialog  mit  frau  Minne,  x  136,  51.).  dazu  kommt,  dass  die  enl- 
stehung   beidemale    die    gleiche    ist.     wie  xxx    nach  des  dichters 

1  die  widerholung  in  der  zwtitfolgenden  Strophe  (441,21)  besagt 
vielleicht  nicht  viel,  da  reimschlendrian  vorliegen  kann  (lere  :  ere  :  here ; 
vgl.  437,  9 — 11  im  vorhergehnden  liede).  aber  weiterhin  sprechen  noch 
mehrere  stellen  von  der  ere  der  dame,  in  den  nächsten  fünf  liedern  vier  : 
145,  24  (xxxiv),  449,  9  (xxxvi),  449,  22  :  wol  mich  —  des  daz  si  htil  tugent 
und  ere,  und  besonders  450,  1 1  fT :  ich  bin  vrö  des  daz  ir  ere  hat  behuot 
sich  als  si  sol  (xxxvii;  vgl.  508,  14).  vor  dem  Umschwung  nach  lied  xix 
i»t  von  ere  der  herrin  in  allen  liedern  nur  an  folgenden  stellen  die  rede  : 
111,  3  (vi).  131,  25  (ix).  394,  18  (xn).  406,  14  (xvn).  408,  20  (xvm),  und 
höchstens  an  der  ersten  mit  einiger  betonung.  jetzt  hat  U.  diese  eigen- 
schaft  ganz  anders  einzuschätzen  gelernt.  —  auch  von  ere  der  männer  wird 
jetzt  häufiger  gesprochen,  und  es  ist  vielleicht  kein  ganz  äufserlicher  zufall, 
dass  nicht  allzulange  danach,  bei  der  Artusfahrt  1240,  herr  Kadolt  Weis 
dem  Lichtensteiner  eine  Jungfrau  als  botin  der  fruuw  Ere  entgegenreiten 
lässt,  um  ihn  zum  turnier  einzuladen  (477,  5  (T),  ein  scherz,  den  Roethe  mil 
dem  jenen  rittern  im  Südosten  sicherlich  wolbekannten  Reinmar  von  Zweter 
zusammenbringt  (Die  gedichte  Reinmars  von  Zweter  s.  168.  217);  nach  ili#i 
stammt  auch  das  adj.  eregernde  bei  Lichtenstein  (zb.  423,  1.  424,  1.  45ii,  25) 
von  demselben  Reinmar. 

Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXXVII.  2 


18  BRECHT 

eigener  aussage  (s.  o.),  ist  auch  xxxru  als  unmittelbare  wilrkung 
einer  minuiglichen  Unterredung  entstanden.    Ulrich  versichert  es 
widerholt  vor  und  nach  mitteilung  des  dialoges: 
swaz  ich  des  tages  gegen  ir  sprach, 
zehant  dö  ich  da  von  ir  schiel, 
ich  sanc  von  ir  sd  disiu  liet    (442,  29  IT) 


ich  redet  drinn  mit  der  frowen  min  (444,  15), 
und  ich  sehe  keinen  grund,  ihm  nicht  zu  glauben. 

xxxiv  ist  eine  gesteigerte  widerholung  von  xxxn;  das  gleiche 
gilt  von  xxxvn.  leider  ist  über  die  entstehungszeit  all  dieser 
lieder  genaueres  nicht  zu  sagen,  als  dass  Ulrich  sie  (von  xxxiu 
an)  zwischen  1233  und  40  verfasst  hat.  xxxiv — xxxvn  können 
in  ihrer  abfassungszeit  nicht  allzuweit  auseinanderliegen,  sonst 
würde  er  sie  schwerlich  zusammen  angekündigt L  und  ohne  jeden 
verbindenden  text  widergegeben  haben. 

xxxiv  ist  ein  frühlings-,  xxxv  ein  winterlied,  doch  wol  aus 
demselben  jähre  (wie  oben  iv  und  v),  beider  inhalt  durchaus  der 
übliche  :  das  kommen  des  frühlings  wird  mit  dem  der  neuen  liebe 
identificiert,  als  bestes  mittel  gegen  das  leid  des  winters  aber 
empfohlen,  mit  frauen  in  den  warmen  Stuben  sich  zu  erfreuen, 
auf  derselben  conlrastieruug  von  draufsen  und  drinnen  beruht 
das  nächste  winterlied  (xxxix,  1240);  nur  dass  hier  der  grund 
seiner  bei  der  harten  Jahreszeit  verwunderlichen  freudenstimmung, 
die  Schönheit  seiner  herrin,  nicht  nur  erwähnt,  sondern  in  län- 
gerer unanschaulicher  Schilderung,  bei  der  leibliche  und  charakter- 
vorzüge  durcheinandergehn,  vorgeführt  wird.  Schönheiten  der 
form  erwähnt  Ulrich  nicht;  nur  ihre  färben,  braun,  rot  (mund), 
weifs,  sind  es,  die  ihm  eindruck  gemacht  haben. 

In  dasselbe  jähr  fällt  ein  zweites  marschlied  (üzreise,  xxxvm). 
es  ist  auf  der  Artusfahrt  gedichtet  worden;  Ulrich  glaubte  wol, 
seiner  zweiten  herrin  auch  eine  üzreise  schuldig  zu  sein,  es  hat 
ihn  nun  offenbar  gereizt,  über  den  gleichen  gegenständ  ein  ganz 
gleiches  gedieht,  das  doch  keine  copie  sein  sollte,  mit  gleichsam 
benachbarten  vvorten  zu  machen,  beide  lieder  umfassen  je  sieben 
Strophen,   von  diesen  sind  nur  je  die  zwei  letzten,    die  sich  an 

•         '  444,  16  Da  nach  ze  rehler  zit  ich  sanc 

vier  wise,  als  mich  min  wille  twanc, 
Ab.  wol:  jedes  einzelne  bei  passender  gelegenheit,  wie  mich  mein  herz  trieb. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  19 

die  jeweilige  dame  richten,  aus  aufseien  gründen  insofern  ver- 
schieden, als  sie  das  erste  mal  die  misgunst  der  berrin  beklagen, 
das  zweite  mal  den  ruf  nach  Bchild  und  speer  zum  rühm  der 
herrin  voll  wirksamen  Ungestüms  erklingen  lassen,  alle  andern 
Strophen  der  ersten  Azreise  linden  in  denen  der  zweiten  ihre 
entsprechung,  nur  in  verschiedener  reilieul'olge l.  der  einzige 
sachliche  unterschied  ist  der,  dass  im  zweiten  marsehliede  die 
ritterliche  hetatigung  ausdrücklicher  auf  den  lohn  xoerder  toibe 
bezogen  wird,  wahrend  im  ersten  der  schilt  auch  in  sich  seihst 
schon  ehre  hat.     die  widerholung  ist  entschieden  matter. 

Wichtiger  ist  eiue  andere  specielle  gatlung,  die  tagelieder. 
von  ihnen  hat  Ulrich  ebenfalls  nur  zwei  gedichtet,  das  erste  zwi- 
schen 1233  und  1240  (xxxvi),  das  zweite  im  winler  1240/41  (xu; 
mau  darf  ihre  entstehungszeil  wol  nicht  allzuweit  auseinander- 
rücken, sie  haben  noch  einige  lieder  nach  sich  gezogen  :  es  sind 
die  unmittelbar  auf  das  zweite  tagelied  folgenden  :  xli,  XLii  und 
xi. in,  die  in  derselben  phantasierichtung  weitergeh n  uud  unter  sich 
und  mit  xl  durch  anklänge  und  auknüpfungen  verbunden  sind,  alle 
fünf  bilden  zusammeu  eine  gruppe,  liebeslieder  sinnlicher  Färbung. 

An  vorklängen  fehlt  es  nicht,  der  reie  (xxix,  1232)  malt 
bereits  die  Situation  der  liebenden  in  ganz  ähnlicher  weise  aus 
wie  xxxvi,  die  reiheufolge  der  liebesbezeugungen  ist  dieselbe,  bis 
in  den  einzelausdruek  geht  die  äiinlichkeit.  die  erste  liebkosung 
ist  der  kuss  (433,6  :  448,2),  dem,  schön  beobachtet,  das  liebevolle 
sichanblicken   folgt: 

1  str.  1  in  xvi  entspricht  str.  1  in  xxxvni  :  frauendienst  ehrt  ritter. 
-     2    -    xvi  -  -    4    -    xxxvni : 

S wer    volget   dem    schilde,   der       Swer  mit  sckilt  zieh  decken  wil 

sol  ez  enblanden  vor  schänden, 

Dem  libe  —  Der   sol    ez   dem   libe  wol  en- 

/>  landen. 
reimwörter  ere  :  lere  :  sere.  reimwörter  ere  :  si'-re. 

str.  3  in  xvi  entspricht  str.  2  in  xxxvni  :  diese  zählt  die  tugenden  auf,  die 

jene  404,  17  verlangt, 
str.  4  in  xvi  entspricht  str.  5  in  xxxvni  :  mut  und  feigheit  constrastiert. 
gleiche  reimwörter  :  wilde  :  schilde,  decken  :  blecken  =  schilde 
:  wilde,  blecket  :  decket. 
str.  5  in  xvi  entspricht  str.  3  in  xxxvni  :  Ir  siilt  gedenken —  =  Denket  — : 
trauen  sollen  an  helohnung  der  männer,  männer  an  frauenlohn 
denken.  —  die  n  üzreise  drückt  vieles  nur  anders  herum  aus. 

2* 


20  BRECHT 

433,  12  f     ob  dd  iht       448, 6  f  dö  si  in  den  ougen  reht  ersähen 
ougen  liht  ir  lieplkh  minnevarwen  schln, 

liepltch  sehen  einander  an?1 

das  weitere  wird  in  beiden  liedern  mit  denselben  worten  bezeichnet: 
minne  freudenspil,  minnespil,  spü  (432, 16.  433,  8  :  448,  4.  9.  28); 
die  arme  der  frau  erhalten  das  gleiche  attribut  :  von  linden  armen 
blanc  (433,  2),  mit  linden  wizen  armen  (449,  1),  uam.  nur  dass 
Ulrich  im  reien  in  der  ausmalung  der  Situation  noch  nicht  so 
weit  geht  wie  im  tageliede,  sondern  das  letzte  nur  mit  schalk- 
hafter frage  andeutet,  im  stil  des  tageliedes,  wie  er  sich  seit 
Wolfram  in  Deutschland  gebildet  hatte,  war  dergleichen  ange- 
brachter, ja  fast  uuerlässüch. 

Das  zweite  tagelied  (wiuter  1240/41)  steht  mit  dem  ersten 
in  eigentümlicher  beziehung.  es  stellt  eine  spätere  stufe  der 
Situation  dar  :  denn  es  beginnt  erst  mit  dem  eintreten  der  zofe, 
während  das  erste,  schon  auffallend  genug,  mit  der  begrüfsung 
des  rilters  durch  die  frau  anfängt;  und  der  ritter  .nimmt  nicht 
abschied  nach  der  Warnung,  sondern  wird,  weil  es  zu  spät  ge- 
worden, noch  einen  tag  und  eine  nacht  heimlich  dabehalten,  die 
Verhandlungen  hierüber  und  die  erzählung  dieses  herganges  sind 
die  hauptsache  in  diesem  gedieht,  das  der  aparten  neuerung  wegen 
gemacht  ist  (vgl.  510,  23 — 511,  6).  für  das  minnespil  (513,  14) 
bleibt  nur  eine  ganz  summarische  angäbe  (513,  15 — 18)  übrig  :  im 
ersten  liede  war  seine  ausmalung  geradezu  thema  gewesen,  in- 
sofern sind  Ulrichs  zwei  tagelieder,  die  gewöhnlich  als  einheit 
behandelt  werden,  unter  sich  durchaus  charakteristisch  ver- 
schieden. 

Beiden  gemeiusam  ist  die  eiuführung  der  maget  au  stelle 
des  Wächters,    über    die    mehrfach   gehandelt    worden   ist2,     im 

1  mit  rücksicht  auf  diese  stelle  stimme  ich  Beckstein  bei,  wenn  er 
s.  155  anm.  zu  v.  63  ohne  begründung  gegen  Lachmanns  interpunetion  vor- 
schlägt, 433,  30.  31  zu  lesen  :  ob  da  niht      mer  geschiht? 

2  de  Gruyter  Das  deutsche  Tagelied  s.  18.  20.  25.  112.  122.  Schlaeger 
Studien  über  das  Tagelied  s.  88.  —  ich  glaube  nicht,  dass,  wie  de  Gruyter 
s.  20  möchte,  die  von  ihm  verglichene  stelle  des  Grafen  Rudolf  (s.  112) 
Ulrich  beeinflusst  hat.  Beatris  spielt  eine  ganz  andere  rolle  als  Ulrichs 
dienerin.  die  einzige  Übereinstimmung  ist,  dass  der  graf  den  nächsten  tag 
noch  da  bleibt,  und  dieses  motiv  ligt  bei  der  gefährlichkeit  der  Situation 
(vgl.  Alwin  Schultz  Höfisches  leben  i1  1472 ff)  nicht  so  fern,  dass  Ulrich 
nicht  allein  darauf  gekommen    sein   könnte,     weitere   ähnlichkeiten   vermag 


ULMCH  VON  LICHTENSTEIN  21 

augenblicklichen  zusammenhange  interessiert  uns  Dicht  <lie  — 
zweifelhafte  —  geschichte  des  molivs,  Bondera  nur  das  moliv 
selbst  in  seiner  persönlich  charakterisierenden  bedeulung.  dass 
der  Lichlensteioer  Beine  epigonenhaft-rationalistische  neueruog 
zu  gunsten  eines  der  archaischen  stilstrenge  (U^  alten  lageliedes 
gar  oicht  anstehndea  realismus  selbständig  und  ohne  Bich  eines 
eioflusses  bewusl  zu  sein,  unternahm,  geht  aus  seiner  tiftelndeo 
irgumentatioa  509,9 — 511,0  klar  hervor,  aullallend  ist  nur,  dass 
er  sie  erst  vor  dein  zweiten  lageliede  bringt,  da  er  doch  schon 
vor  eioiger  zeit  im  ersten  die  magd  eiogeführt  hat.  dass  das 
zweite  Med  vor  dem  ersten  gedichtet  wäre,  wird,  abgesehen  von 
der  bisher  immer  stimmenden  Chronologie  der  anordnung,  da- 
durch ausgeschlossen,  dass  es  mit  dem  secundären  einlall,  den 
rilter  den  tag  auch  noch  dableiben  zu  lassen ,  klar  die  an  der 
ursprünglichen  gestall  der  lageweise  (wie  sie  das  ersle  lied  dar- 
stellt) weilerdichtende  phantasie  verrät,  man  kann  nur  annehmen: 
er  hat  das  erste  lied  mit  einl'ührung  der  magd  naiv  gedichtet, 
einem  einfall  folgend,  über  dessen  herkunft  und  berechligung 
er  sich  keine  sorgen  machte,  später  ist,  wie  es  bei  Sanguinikern 
mit  pedantischer  ader  zu  gehn  pflegt,  die  reflexion  hinlerher- 
gekommen,  die  ihn  veranlasste  sich  nachträglich  gründe  klar  zu 
machen,  hiermit  würde  sich  auch  erklären,  dass  er  gerade  im 
zweiten  lageliede,  wider  erwarten,  den  ignorierten  Wächter  wider 
erwähnt,  mit  seinem  verschwinden  von  der  ziooe  das  auftreten 
der  zofe  geschickt  motiviert  :  nachdem  sich  die  reflexion  ein- 
gestellt bat,  ist  mau  eben  gewissenhafter. 

Oder  aber  es  ist  ihm  erst  später  bei  der  redaction  des  FD, 
als  er  bereits  bis  zum  zweiten  tageliede  dictiert  hatte,  klar  geworden, 

ich  nicht  zu  entdecken,  ist  es  übrigens  irgendwie  wahrscheinlich,  dass 
Ulrich  den  schwerlich  sehr  verbreiteten  Grafen  Rudolf  gekannt  hat?  —  — 
Schlaeger  (aao.)  meint,  Ulrich  hätte  sich  unwissentlich  'mit  der  einführung 
der  zofe  der  ursprünglichen  form  [des  Tageliedes]  wider  genähert';  er  geht 
dabei  von  seiner  von  s.  83  an  entwickelten  ansieht  aus,  dass  pseudo- 
ovidische  stellen,  an  deren  einer  (!)  die  amme  der  herrin  auftritt,  den  aus- 
gangspunet  für  das  Tagelied  gebildet  hätten,  ja  unmittelbar  die  eben  hervor- 
gehobene, die  liier  zugrunde  liegende  anschauung  über  das  entstehen  von 
dichtungsgattungen  kann  ich  mir  nicht  zu  eigen  machen.  —  die  gründe, 
die  Schlaeger  s.  6011'  gegen  Roethes  erklärung  von  der  entstehung  des  Tage- 
liedes aus  dem  'geistlichen  wächterliede'  (Anz.  xvi)  anführt,  scheinen  freilich 
beweisend. 


22  BRECHT 

dass  seine  neuerung  erklärungsbedürftig  sei,  und  er  holt  nuu  die 
erklärung  an  dieser  sehr  geeigneten  stelle  nach,  wo  er  so  wie 
so  etwas  an  einem  tageliede  zu  erklären  hatte,  hierher  ge- 
hören nämlich  von  rechtswegen  nur  die  heiden  letzten 
Strophen  der  auseinandersetzuug,  510,23 — 511,6,  in  denen  er 
die  zweite  neuerung  :  der  ritter  bleibt  den  tag  über  bei  der  frau, 
in  ganz  derselben  tendenz  zum  realismus  begründet  wie  die 
erste.  — 

Die  anregung,  die  sich  Ulrich  selbst  mit  diesen  liedern  gibt, 
würkt  in  verschiedener  arl  weiter,  den  sinnlichen  kern  der 
tageliedsituation  nimmt  das  unerfreuliche  lied  xli  (sommer 
1241 0 1245)  heraus,  es  ist  aber  nicht  er  selbst,  der  seine 
vrowe  Hriutet1,  sondern  —  sein  höher  muot;  und  wo?  in  seinem 
herzen,  der  situationsbeschreibung  dienen  allein  vier  Strophen 
(4 — 7),  die  sich  in  allen  bezeichnenden  ausdrücken  an  das  vor- 
hergehnde  zweite  tagelied  anschliefsen  (516,9.  11.  13.  14.  21-23). 
da  die  tageliedsituation  leider  in  würklichkeit  Illusion  bleibt,  muss 
er  sie  sich  in  der  phantasie  ausmalen l.  es  ist  dieselbe  uner- 
quickliche erscheinung  wie  bei  der  dritten  wdnwise  (xxix,  reie), 
nur  dass  er  jetzt  auf  eine  absurde,  unanschauliche  allegorische 
einkleidung  verfallen  ist,  deren  Vorstellung  schon  widerwärtig 
berührt. 

Ihre  genesis  können  wir  genau  feststellen,  von  jeher  war 
es  seine  lieblingsvorstellung,  die  herrin  in  sein  herz  gelegt  zu 
denken,  gelegentlich  auch  sich  in  das  ihre  (vm,  s.  o.,  der  körper- 
lichste ausdruck  dafür  in  dem  später  geschriebenen  märe,  511,  20: 
und  sich  ietweders  herze  hept ,  ze  springen  in  des  andern  lip). 
schon  das  vm  lied  hatte  der  ersten  dieser  Vorstellungen  gegolten, 
im  xxxu  hatte  er  sie  wider  aufgenommen  {in  minem  herzen 
441,27),  am  Schlüsse  auch  schon  das  toben  der  liebe  in  seinem 
herzen  mehr  drastisch  als  geschmackvoll  beschrieben  (442,5).  beide 
Vorstellungen  fasst  er  zusammen  im  ersten  tageliede  (449,7): 

du  bist  vogt  in  dem  herzen  min: 

sam  bin  ich  in  dem  herzen  din, 
beide  Vorstellungen  hintereinander  verwertet  er  im  xli  liede; 
str.  1 — 3: 

1  er  spricht  das  noch  spät  im  märe  ganz  offen  aus  (515,  2): 
ich  hän  mit  ir  da  freuden  spil 
mit  gedanken  sivie  ich  wil. 


UL1ÜCI1  VON  LICHTENSTEIN  23 

—  mich  jdmert  sc're 

in  daz  reine  herze  diu ; 

dii  solt  du  mich  hüsen  in. 
der  inhalt  von  str.  1 — 7,  sie  in  seinen)  herzen,  wird  dadurch 
modificiert,  dass  er  an  seine  eigene  stelle  seinen  genossen,  den 
höhen  muot  '  setzt,  seinen  allen,  seit  xxxu  nicht  mehr  ans  dem 
äuge  gelasseneu  liebling.  dazu  die  gerade  jetzt  in  ihm  lebendige 
tageliedsituation :  und  alle  demente  des  allegorisch  kalten  und  doch 
sinnlich  schwülen  gedichles  sind  beisammen. 

Im  nächsten  liede  (xlii,  aus  derselben  zeit)  folgt  der  bild- 
lichen ausfuhrung  i\er  allegoric  die  dialektische,  ihr  leih  ist  in 
seinem  herzen,  ihr  herz  dahei  in  ihrem  leihe;  gleichzeitig  trägt 
sein  leih  ihr  herz  iu  sich;  sein  leih  will  aher  —  und  darin 
gipfelt  diesmal  das  gedieht  —  in  ihr  herz  :  das  sind  die  spilz- 
findigen  einfalle,  mit  denen  jongliert  wird,  unter  gleichzeitigem 
fortwährenden  Wortspiel  mit  lip,  liep,  liebe. 

Lied  xliii  endlich  zeigt  die  nachwürkung  der  tageliedsituation, 
insofern  es  in  eine  körperschilderung  ausläuft,  die  den  wünsch 
heimlichen  küssens  erweckt  und  mit  der  hindeutung  auf  das 
minnespil  (522,  4,  letztes  wort)  pointiert  schließt,  die  Schilderung 
widerbolt  zt.  die  des  ersten  tageliedes,  zh.  brüstel,  kinne, 
udngel,  munt  (521,32)  :  ir  ourjen,  kinne,  wengel,  munt  (448,24). 
der  gröfsere  teil  des  gedichtes  verherrlicht  seiner  vrowe  ver- 
schiedenartiges lachen ;  auch  dies  kein  ganz  neues  moliv  :  schon 
die  zweite  üzreise  (xxxvihj  hatte  mit  dem  preise  ihres  lachens 
wirkungsvoll  geschlossen:  —  daz  kan  si  süeze  machen  (458,  7). 
Was  dieser  ganzen  gruppe  von  liedern  zu  gründe  ligt,  verrät 
Ulrich  an  der  zum  letzten  liede  gehörigen  stelle  des  märes  (522,  14): 
daz  wolde  got,  nnd  keemez  so  daz  ich  ir  gelcege  bi\  schon  hieraus 
konnte  man  ersehen,  dass  das  zweite  Verhältnis  nicht  glücklicher 
war  als  das  erste;  er  wagte  nur  nicht  mehr  so  viel  zu  verlangen. 

Erfreulicher,  wenn  auch  poetisch  vielleicht  niedriger  stehend, 
sind  die  drei  folgenden  lieder,  die  sich  ebenfalls  als  eine  — 
unheahsichtigte  —  gruppe  dadurch  erweisen,  doss  sie  dasselbe 
grundthema  in  der  gleichen  lendenz  und  mit  vielfacher  Ähnlich- 
keit im  einzelnen  behandeln.  Ulrich  muss  damals  (c.  1245 — 47) 
eine  gute  zeit  gehabt  haben,  trotz  des  Unglücks,  das  die  Steier- 

1  er  klopft  mit  Ulrich  an  die  herzenslür  515,  27. 


24  BRECHT 

mark  in  jenen  jähren  betraf  (1246  schlachl  an  der  Leitha,  tod  herzog 
Friedrichs,  geschildert  FD  525 — 530),  denn  alle  drei  lieder  prei- 
sen den  höhen  muot  (524,14.  534,9.  536,17). 

Das  erste  (xliv)  beginnt  damit  programmatisch,  wie  früher 
xxxii  :  Ich  bin  hohes  muotes  —  durch  ein  wort,  das  die  herrin 
gelegentlich  zu  ihm  gesprochen  hat;  ihm  gilt  das  ganze  lied.  im  dazu- 
gehörigen stück  des  mä'res  spricht  er  ebenfalls  ausführlich  von  der 
Seligkeit  die  es  ihm  gegeben  (522,  29  ff),  ohne  dass  wir  jedoch  von 
der  veranlassung  oder  von  dem  Wortlaute  etwas  erführen,  dies 
minneverhältnis  bestand  ja  zur  zeit  der  redaction  des  FD  noch  fort. 

Das  zweite  lied  (xlv)  ist  ganz  von  xliv  abhängig,  in  der 
tendeuz  erscheint  es  noch  gesteigert  :  er  polemisiert  jetzt  gerade- 
zu, gleich  zu  anfang,  gegen  die  unfrohen,  dh.  nach  seiner  an- 
sieht schlechten  —  im  märe  bezieht  er  das,  wol  sehr  nachträg- 
lich, auf  die  damals  auch  in  Steiermark  aufkommenden  raubritter 
(532,  5 ff);  im  Hede  findet  sich  davon  keine  spur,  ihr  worl  be- 
zaubert ihn  immer  noch  (533,  26  diu  kan  sprechen  süeziu  wort, 
vgl.  525, 7  dö  si  sprach  daz  sileze  wort,  9  mit  ir  Worten  süezen), 
desgleichen  ir  urloup  und  ouch  ir  grüezen  (534,  7,  vgl.  ir  urloup, 
ir  grüezen  525, 11,  in  demselben  reim :  süezen)  und  ir  güete  (534, 10, 
vgl.  ir  güete  525,  3).  sie  kroenet  ihn  (534,  13),  wie  er  sie  denn  eben 
erst  in  xliv  als  gewaltic  küneginne  (525,  26)  über  sich  erkannt 
hatte,  auch  ihr  lachen  533,21  macht  ihm  noch  denselben  ein- 
druck  wie  zur  zeit  des  xliii  liedes  (s.  o.). 

Das  dritte  lied  (xlvi),  von  ihm  'Frauentanz'  genannt  (536,  9), 
fasst  die  bisherigen  tendenzen  des  höhen  muotes  summarisch  zu- 
sammen {Truren  ist  ze  wäre  niemen  guot,  wan  dem  einen  der 
sin  sünde  klaget  536,  15),  vergisst  nicht,  den  wol  redenden  munt 
wider  als  freudenquelle  zu  loben  (536,  21,  vgl.  xlv  u.  xliv)  und 
verbindet  mit  alldem  eine  Variation  seines  alten  preises,  den  er 
den  färben  seiner  dame,  braun,  rot  und  weifs  im  xxxix  liede  ge- 
sungen hatte;  ja,  fast  möchte  man  glauben,  er  habe  sich  bewust 
copiert :  denn  schon  dort  (508,  26)  hatte  er  an  die  farbenschilde- 
rung  den  —  damals  noch  nicht  so  trivialen  —  vergleich  seiner 
dame  mit  einen   engel   angeschlossen,    gerade   wie  hier  (537,8). 

Es  wird  aufgefallen  sein,  dass  von  den  liedern  des  zweiten 
Verhältnisses  sich  so  wenige  an  Ulrichs  würkliches  leben  an- 
knüpfen liefsen,  im  gegensatz  zum  ersten,     seine  dichtung  wird 


ULRICH  VON  L1CI1TENSTE1N  25 

mit  zunehmenden  jähren  immer  abstracter.  seit  1240  schon 
haben  die  frühlings-  und  winterlieder  aufgehört,  das  wxix  lied, 
gleich  nach  der  Arlusfahrt,  ist  das  letzte  winterlied;  von  da  an 
wird  der  Wechsel  der  Jahreszeiten,  der  bisher  ein  festes  gerippe 
für  die  crzählung  abgab,  immer  seltner  und  schliefslich  gar  nicht 
mehr  erwähnt,  ja  gerade  auch  mit  dem  zum  xxxix  liede  gehörigen 
stück  des  märes  beginnt  Ulrich  dessen  text  nur  noch  aus  den 
paraphrasen  der  längst  vorliegenden  lieder  zusammenzustöppeln, 
die  eigentliche  erzählung  des  FD  hört  auf. 

Nur  episodisch  kommt  noch  zweimal  handelndes  leben  in 
das  werk,  in  den  berichten  von  der  schlacht  an  der  Leilha  1246 
(525, 27-530, 12) J  und  von  Ulrichs  gefangenschaft  in  seiner  eignen 
Frauenburg  1248/49  (537,10—547,32).  dieses  Unglück  ist,  soweit 
die  Überlieferung  erkennen  lässt,  das  einzige  lebensereignis,  das 
seine  dichtung  noch  unmittelbar  angeregt  hat;  ein  so  kleines 
Vorkommnis  wie  jene  bejubelte  äufseruug  der  dame  zu  ihm 
(xliv)  wird  man   nicht  mitrechnen  wollen. 

Im  kerker  angeschmiedet  dichtet  Ulrich  ein  lied  (xlmi; 
ende  sommer  1248).  findet  ein  mann  in  solcher  hedränguis 
poetische  Stimmung,  so  dürfen  wir  gewis  auf  Wahrheit  des  ge- 
füblsausdrucks  rechnen,  und  an  wen  wendet  er  sich?  an  alle 
frauen  (Nu  hilf,  wibes  güele  545,3;  7.  12.  18);  dann  erst  gedenkt 
er,  allerdings  ausführlich,  der  seinen  (545,  24  ff)  :  durch  si  ere  ich 
elliu  wip.  er  fühlt  sich  als  den  berühmten  frauendiener  (545, 10), 
dessen  Verehrung  dem  ganzen  geschlechte  gilt  (545,  18);  seine 
vrowe  hat  nur  als  specialfall  wert  —  damit  ist  eins  seiner  ältesten 
und  wahrsten  motive  wider  an  der  Oberfläche  seines  Schaffens 
(vgl.  bes.  xi,  xiu,  xiv  ,  xv,  xx,  xxn,  xxiv,  xxv,  xxvi,  xxvu).  — 
den  verlassen  vor  sich  hinbrütenden  tröstet  das  bild  der  geliebten 
(546,  3f)  :  hier  nun  stellen  sich  mit  den  reminiscenzen  die  motive 
der  letzten  lieder  ein  :  ihre  färben  rot,  weifs,  braun  (xlvi, 
xxxix);  von  gepurt  ein  vrouwe .  .  .  von  lugenden  wip  546,  15  (vgl. 
508,28,  537,3);  ihr  lachen  (xliii),  ihr  mund  und  ihre  äugen 
(xliii;  536,  27  in  xlvi). 

1  527,  3  ist  Lachmanns  lesart  vor  (L)  gegen  Wackernagels  conjeetur 
von  (Gesch.  d.  deutsch,  litt,  i2  285  anm.  2)  zu  halten,  wäre  das  lied  von 
der  Leilhaschlacht  'von'  Ulrich  e  getihtet,  so  läge  so  wenig  wie  bei  all 
seinen  andern  liedern  ein  grund  vor,  es  jetzt  mangelnder  niuwe  wegen 
dem  leser  vorzuenthalten,    die  Leithaschlacht  hat  ihn  nicht  lyrisch  angeregt. 


26  BRECHT 

Dieselben  elemenle  bilden  das  nächstfolgende  lied  (xlvin), 
das  noch  unter  dem  eindruck  der  einjährigen  gefangenschafl  und 
der  erlittenen  ]besitzvcrluste  (549,  25)  entstanden  ist  (nach  dem 
September  1249).  sein  anfang  knüpft  unmittelbar  an  den  schluss 
des  vorhergehnden  an]: 

ir  muni  unde  ir  ougen  lieht, 
so  mich  diu  anlachent  —  (546,  21  ff): 
lind  mich  iwer  ougen  lachent  an  (549,20), 
dasselbe  ferner  549,27.  550,1.2.4;  so  mich  munt  und  ougen  lachent 
an  550,6.     ältere  motive  treten  hinzu  :  die  geliebte  gefangeniu 
seinem  herzen  550,  7  (xli,  xxxn,  viii),  mit  der  stcele  also  verrigelet 
550,9  vgl.  448,  16  im  ersten  tageliede  xxxvi  denselben  ausdruck; 
ihre  süeziu  wort  550, 17,  vgl.  xliv,  xlv  (beide  male  :  hort)und  xlvi. 

Die  lieder  xlix — lviii  (1249  <C  >  1255)  zeigen  keinerlei 
erkennbare  heziehung  mehr  zu  Ulrichs  leben,  sie  enthalten 
durchweg  reflexionen  ilher  die  minne,  meist  didaktisch  als  minne- 
lehre eingekleidet,  und  bezeichnen  so  als  gesamlheit  wie  in  vielen 
einzelheiten  den  inneren  Übergang  zum  'Frauenhuch'  (1257),  mit 
dem  die  entwicklung  des  jungen  liebeslyrikers  zum  alten  minne- 
didaktiker  abgeschlossen  ist. 

Diese  zehn  letzten  lieder  zeigen  mannigfache  zusammenhänge 
unter  sich  und  mit  früheren  liedern.  neue  motive  treten  kaum 
mehr  auf. 

'Nur  der  höfisch  gebildete  mann  hat  aussieht  auf  erfolg  hei 
einer  wahren  dame;  möchte  also  meine  hoffnung  sich  erfüllen!' 
ist  der  grundgedanke  des  xlix  liedes.  die  hehandlungsmotive 
entstammen  kurz  vorhergehnden  liedern.  so  ist  die  spielende  an- 
wendung  der  worte  liehen  —  lip  —  liep  —  übe  (554,7.  8.  10.  11) 
eine  reminiscenz  aus  lied  xlii;  ir  gebeerde  und  ir  güete  (554,17) 
hatte  er  schon  im  xlvii  liede  (546,20.  545,24),  ihr  lachen  zuletzt 
im  vorhergehnden  xlviii  gerühmt,  das  wünschen  in  der  schluss- 
strophe  (554,  20)  erschien  ihm  seit  dem  xiv  liede  (1228)  poelisch 
(s.  o.).  er  könne  sich,  wenn  er  gefragt  würde,  kein  besseres 
weih  vorstellen  als  seine  herrin:  mit  einem  ähnlichen  gedanken 
schloss  schon  xxxiv,  wo  behauptet  wurde,  auch  das  urteil  eines 
dritten,  wenn  er,  gleich  ihm,  ein  guter  frauenkenner  sei,  würde 
seine  dame  allen  andern  voranstellen,  und  xxxvn  (450,  3)  :  Wol 
wol  wol  mich,  daz  die  wisen  müezen  si  von  rehte  prisen.  — 


ULIUC1I  VON  LICHTENSTEIN  2 


1 1 


Den  ersten  teil  (slr.  1—3)  des  l  liedes  kOnole  man  Ulrichs 
elegie  nennen  :  es  ist  die  bei  so  vielen  minnesingern  übliche 
zeitklage,  deren  unerreichten  prolotypns  Wallhers  elegie  darstellt. 
Ulrich  ist  freilich  mehr  nur  verwundert,  dass  die  jungen  leute 
und  die  besitzenden  nicht  mehr  fröhlich  sind,  und  auch  den 
frauendienst,  das  beste  mittel  dazu,  verschmähen,  dies  mag  sich 
wilrklich  (anders  als  lied  xi.v,  s.  o.),  schon  als  es  gedichtet  wurde, 
auf  das  aufkommende  raubrittertum  bezogen  haben  (vgl.  das 
inilre  dazu  554,  27  II).  ihm  aber  —  sein  ältester  gedauke  —  atät 
durch  ein  guot  icip  sin  muot  hö. 

Dass  das  lied  im  herbst  entstanden  ist,  wird  in  der  ersien 
zeile  nur  noch  ganz  obenhin  angedeutet. 

Die  nächsten  fünf  lieder  (li — lv)  hängen  insofern  unter- 
einander zusammen,,  als  in  ihnen  allen  ein  moliv  eine  wesent- 
liche rolle  spielt,  der  nicht  neue1  gedanke  nämlich,  dass  die 
scheene  nur  wenn  sie  mit  der  güete  vereinigt  ist,  eine  frau 
liebenswert  machen  könne,  isoliert  kam  er  schon  früh,  im  vi 
liede,  vor  (110,  17  :  schwne  bi  der  güete  sldl  vil  wol  den  wiben). 
er  bildet  nun  durchaus  nicht  das  thema  der  fünf  lieder,  sodass 
man  etwa  an  absichtliche  Zusammenstellung  daraufhin  denken 
konnte,  durchdringt  sie  vielmehr  nur  in  abnehmender  geltung, 
die  sein  auftauchen  und  allmähliches  abklingen  in  der  seele  des 
dichters  verfolgen  lassen. 

Im  u  liede  entwirft  Ulrich  in  form  eines  ratschlages  sein  weib- 
liches und  männliches  ideal,  jenes  besteht  in  der  Vereinigung  von 
Schönheit  und  gute,  dieses  in  der  makellosen  ehrenhafligkeit.  beide 
sind  für  einander  bestimmt;  darauf  beruhtauch  Ulrichs  hoffnung. 

Im  lii  liede  stellt  Ulrich  fest,  dass  seine  herrin  diese  theore- 
tischen anforderungen  an  das  ideal  erfüllt  (ist  envollen  schwne 
und  dar  zuo  guot  563,16).  die  ausführungsmotive  in  beiden,  so 
eng  zusammengehörigen  gedichtet!  sind  älteren  dalums,  der  preis 
ihres  lachens  und  ihres  mundes  560,  19.  20  (vgl.  zb.  xlix,  xlmii, 
xliii),  die  huote,  im  Lichtensleinschen  specialsinne,  563,  17  (vgl. 
xvin,  408,  20  ff,  vom  jähre  1230),  ein  ausdruck  wie  küssen  hundert- 
tüsent  tnsent  slunt  563,22  (derselbe  522, 1.  2,  in  xliii.  entstanden 
1241  <>45). 

1  ähnlich  bei  Wallher  83,  6 ff.  86,  11  ff.  die  gleichen  anschauungen 
über  tugend  und  Schönheit  92,  21  ff.     vgl.  Wilmanns  Leben  Walthers  s.  185. 


28  BRECHT 

Der  gedanke,  Schönheit  und  gute  gehören  gleichermafsen  zur 
frau,  ziemlich  äufserlich  comhiniert  mit  dem  ehenfalls  im  minne- 
sange  nicht  seltenen  :  eine  vrowe  muss  wiplich  sein,  ergibt  das 
doppelthema  des  liii  liedes  (slr.  3,  str.  4).  —  das  zweite  dieser 
motive  hat  sich  aus  früheren  ausätzen  entwickelt: 
445,  20  ff  (xxxiv): 

sist  ein  frowe  von  gehurt;  so  ist  ir  süezer  Itp 
von  ir  lugenden  ein  vil  wiplich  wip. 
508,  14  ff  (xxxix): 

Si  hat  ir  wipheit  vil  wol  behüetet 
vor  unvr owenlicher  tat  — 
Vgl.  ferner  in  demselben  liede  508,  28  und  509,  1  (sie  ist 
vrowe;  sie  ist  wip) 

546,  15 ff  (xlvii),  vgl.  445,  20 ff: 
von  gepnrt  ein  vrouwe 
ist  si,  und  von  fugenden  wip  — . 
dies,  früher  nur  seiner  herrin  gellend,  wird  jetzt  verallgemeinert: 
hier  566,  17  ff  (liii); 

Wip  und  fr owen  in  einer  wcele 
sol  man  gerne  schouwen. 
swd  ein  vrowe  unwiplich  tccte, 
wer  mbht  der  getrouweti  ?  usw. 
Von  all  den  andern  dagewesenen  motiven  des  centonenhaften 
gedichtes  sei  nur  das  eren  Mieten  566,  23,    das  erst  im  vorher- 
gehnden  liede  vorkam  (s.  d.),  erwähnt. 

Auf  der  güete  neben  der  schodne  ligt  der  hauptton  im  fol- 
genden liede  (liv,  1252).  den  meisten  räum  im  gedieht  aber 
beansprucht  die  einkleidung  :  Wizzel  alle  daz  ich  kan  guoten 
wiben  in  diu  herzen  sehen  —  die  consequente  weiterführung  von 
Ulrichs  alten  lieblingsvorstellungen ,  die  ihn  sehen  liefsen,  was 
in  seinem,  was  in  seiner  frauen  herzen  beschlossen  lag  oder 
vorgieng  :  lied  vm,  xxxn,  xli,  xlii,  xliii  (s.  o.;  tugenden  in  ihrem 
herzen  schon  519,  3).  was  er  dort  findet,  sind  eben  güete  und 
tugent  (571,  21.  22);  darum  wird  er  nicht  müde  sie  mit  seinem 
augenblicklichen  lieblingsprädicat  immer  wider  als  ein  wiplich 
wip  zu  preisen  (572,  12.  15,  vgl.  561,20  in  Li,  549,23  in  xlviii; 
wiplich  572,  22.  26.  554,  18.  545,  14.  525,  3;  wipheit  534,  14. 
515,  19.  508,  14;  unwiplich  566,  19;  umeipheü  546,6). 

Dieses  eine  gedieht  genügte  Ulrich  noch  nicht,  um  die  vor- 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  29 

Stellung  der  tilgenden,  die  er  im  herzen  seiner  lierrin  erblickte, 
genügend  auszumalen;  daher  schliefst  das  lv  lied  in  seiner  zwei- 
ten slrophe  (richtiger  ersten,  vorher  nur  einleitung)  unmittelbar 
an  den  gedanken  von  liv,  im  anfang  seiner  dritten  sogar  im 
ausdruck  an  die  letzte  Strophe  von  liv  an  (zuht  572,  22  :  576,  17). 
die  aufzählung  ihrer  lugenden  geht  von  der  letzten  Strophe  von 
liv  ohne  weiteres  in  die  dritte  und  vierte  von  i.v  Ober,  der  aus- 
druck seiner  Sehnsucht  in  ihr  herz  zu  kommen  576,  23  stammt  aus 
dem  xli  liede  (s.  d.).  uiplich  576,  17  zweimal,  wipliclt  wtp  576,22. 
Schoene  und  güete ,  die  im  vorhergehnden  liede  noch  be- 
deutsam zusammen  genannt  wurden,  sind  hier  nur  noch  als 
nehenmotive,  und  gleichsam  latent,  vorhanden  (schoene,  guot  577,2, 
schoene  577,  3,  giiete  577,  20). 

Der  Zusammenhang    der    letzten  lieder  reifst  auch  weiterhin 
nicht  ah.     das  lvi  lied  ist  ganz  aus  alten  moliven  zusammengesetzt. 
Der  anfang  führt  einen  gedauken  des  lv  liedes  weiter: 
lv,  576,  213:  lm,  580,  17: 

—  ein  lip  so  minneclich  der  vil  reinielich  gemuoten 

der  n  fe  wandelmeil  gexcan   —      lip  begie  nie  missetdt. 

sist  ein  ivip  gar  wandelsvri  — 
Gleich  darauf  erweist  sich  ein  altes  motiv,  das  im  letzten 
liede  wieder  leise  angeklungen  war,  auch  hier  brauchhar  :  sein 
herz  will  aus  seinem  leibe  zu  ihr  580,  21  f,  vgl.  576,  23  f.  der  ge- 
danke,  in  dieser  form  aus  dem  xli  liede  (s.  o.)  stammend,  bat 
sich  nach  einer  vom  vm  liede  ausgehnden  Vorgeschichte  bis 
hierher  entwickelt,  wo  er  seine  stärkste  und  endgiltige  ausprägun^ 
erfährt  :  das  herz  will  aus  der  brüst  zu  ihr  springen,  ihr 
lachen  spielt  dabei  die  alte  rolle  (zuletzt  lvi  560,  19).  drei  Strophen 
sind  hiermit  bestritten;  was  folgt  ist  spielende  Verherrlichung 
des  kusses,  die  in  discrete  andeutung  noch  höherer  wonne  aus- 
läuft (5S0,  22  ff),  hiermit  sind  wir  wider  in  der  atmosphäre  (\c> 
tageliedes  angelangt. 

Die  hier  nur  schüchtern  bezeichnete  Situation  wird  im 
nächsten  liede  (lvii)  ausgeführt,  in  demselben  Stile,  den  das  tage- 
lied  dafür  ausgebildet  hat  (str.  4  u.  582,  17-23  :  das  in  die  äugen 
sehen,  vgl.  im  ersten  tageliede  448,6,  s.  o.);  dass  der  Zusammen- 
hang mit  lvi  bewusst  war,  zeigt  der  gleicherweise  verhüllende 
schluss  (583,26,  vgl.  581,22),  der  nach  diesem  liede  würklich  nicht 


30  BRECHT 

mehr  nölig  war.  von  lvi  zu  lvii  ligt  mithin  eine  deutliche  Stei- 
gerung des  gedankens  zu  grösserer  kühnheit  vor,  ähnlich  wie 
von  xxvm  zu  xxix,  in  den  wdnwisen.  und  wänwisen,  in  denen 
sich  die  unbefriedigte  phantasie  ergehn  muss,  sind  dies  auch, 
das  beweist  zum  überfluss  die  einkleidung  des  liedes  lvii  :  sein 
wünsch  (vgl.  wdn)  bewürkt  das  'wunder',  dass  er  seine  dame 
plötzlich  wie  mit  leiblichen  äugen  vor  sich  sieht  (582,  15  ff)1. 
wünsch  und  wünschen  füllen  die  zwei  einleitungsslropheu.  also 
auch  dieses  motiv  aus  der  frühzeit  seiner  lyrik  (schon  18,  14.  16 
in  i,  1222—23;  50,  5.  12  im  i  büchlein,  1223;  385,  17  ff  im  in, 
1227;  xiv,  1228;  s.  o.)  findet  jetzt  — zwischen  1252  und  1255 
—  seinen  höchsten  und  letzten  ausdruck. 

Der  anfang  des  letzten  liedes  (lviii)  könnte  im  ersten  augen- 
blicke  den  eindruck  hervorrufen,  als  ob  es  absichtlich  für  den 
abschluss  gedichtet  sei.  aber  da  die  ersten  Zeilen  nur  das  haupt- 
motiv  des  liedes  einleiten  sollen,  so  kann  Ulrich  sie  so  gut  wie 
alle  andern  einleitenden  verse  im  gleichmäfsigen  verlaufe  seiner 
zweiten  minne  gedichtet  haben: 

Ich  bin  her  bi  minen  stunden 

ofte  worden  minne  wunt  — 
aber  es  geht  weiter: 

dd  für  hdn  ich  helfe  funden: 

des  siht  man  mich  wol  gesunt. 
Im  folgenden  kommt  er  würklich  noch  einmal  auf  ein  wenig- 
stens für  seine  lyrik  neues  grundmotiv,  das  er  dann  aber  mit 
lauter  alten  nebenmotiven  behandelt  :  die  arzenie2  für  seine 
minnewunden  ist  der  anblick  seiner  herrin,  ihrer  liehten  färbe 
(584,11,  vgl.  zuletzt  xlvii),  das  hören  manches  süfsen  Wortes 
(584,16,  vgl.  zuletzt  xlviii);  da  tut  sein  herz  manchen  sprung 
(584,24,  vgl.  lvi;  auch  584,  26.  27,  vgl.  mit  liv,  insbes.  mit  572,7 
herzen  gründe),  wenn  ihm  dann  doch  die  schoene  und  guote 
(584,29,  vgl.  zuletzt  lv)  in  sein  herz  sehen  könnte  (585,1, 
vgl.  liv,  früher  xiv  und  xviii,  408,  29  Ql  Gott  weifs,  ihre  ere  ist 
ihm  lieber  als  die  seine  (585,  7,  vgl.  567,  11.  12;  bes.  561,  1. 
7.  14),  sein  leben  lang  will  er  ihr  dienen.  —  mit  ihrem  ältesten 

1  eine  minnewunder  schon   119,  22  (im  maere). 

2  vgl.  ESchmidt  Reinmar  von  Hagenau  und  Heinrich  von  Rugge 
s#  Hl  ff.  —  min  arzdt  ist  min  munt  Walther  von  Metze  HMS  i  307. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  31 

uutl   grundmotiv  (18,  8  io  i,  s.  o.),    das  vor  3:>  jähren  Ulrichs 
freudebedürftiger  seele  entsprang,  schliffst  auch  seine  lyrik: 

sist  min  tröst  für  (rüren1  und  min  freuden  (jebe. 
Ob  dieses  letzte  lied  des  Fl)  würklich  sein  letztes  lied  ge- 
blieben ist,  ist  freilich  nicht  sicher,  er  selbst  glaubte,  als  er 
sein  memoirenwerk  beendigte,  er  würde  noch  mehr  singen,  denn 
er  fordert  zugulerlelzt  freunde  seiner  kunst  auf,  künftige  lieder 
von  ihm  am  eüde  des  FD  nachzutragen  (592,221).  erhalten  hat 
sich  aber  aus  der  zeit  von  1255  bis  zu  seinem  mutmaßlichen 
todesjahre   1275  2  nur  das  didaktische  'Frauenbuch'  von    1257. 

Überschauen  wir  die  gesamtheit  von  Ulrichs  liedern,  so 
sehen  wir  eine  anzahl  niotive  auftauchen,  wenige  davon  wider 
verschwinden,  weitaus  die  meisten  nach  kleineren  oder  grösseren 
Zwischenräumen  in  veränderter  gestalt  wider  auftreten  und  mit 
anderen  wechselnde  Verbindungen  eingehen,  einige  lassen  sich 
durch  die  gesamte  lyrik  hindurch  verfolgen,  von  ihrer  einfachsten 
erscheinungsform  im  anfang  bis  zur  endgiltig  ausgebildeten  am 
schluss.     es  ligt  eine  deutliche  entwicklung  von  motiven  vor. 

Mehrfach  liefs  sich  sogar  die  entwicklung  vorzüglich  eines 
motivs  während  eines  engumgrenzlen  Zeitabschnitts  beobachten, 
solche  lieblingsmotive  brachten  dann  natürliche  gruppen  auf- 
einanderfolgender lieder  hervor,  die  wählend  einer  bestimmten  zeit 
ein  älteres  oder  neues  thema  vorderhand  oder  endgiltig  er- 
schöpften :  lieder  an  frau  Minne  (x ;  H.  büchlein;  xij,  Scheltlieder 
(\x — xxvi),  wdmcisen  (xxmi — xxxi),  liebeslieder  sinnlicher  färbung, 
vom  tageliede  ausgehend  (xxxvi;  xl — xlik);  lieder  auf  den  höhen 
muot  (xliv — xlm);  kerkerlieder  (xlvh,  xlmii);  lieder  auf  die 
schoene  und  güete  (u — lv);  sinnliche  lieder  (lvi — lvii).  ähnliche 
grundstimmung  zu  ein  und  derselben  zeit,  die  beliebtheit  ähnlicher 
slichworte,  vor  allem  die  häufig  festzustellende  enlstehung  der 
lieder  aus  erzählten  Situationen  heraus  erwiesen  den  Zusammen- 
hang der  lieder  unter  sich   und  mit  dem  leben. 

Aus  alledem  geht  hervor,  dass  die  lieder  in  der 
historisch  richtigen  reihenfolge   im  FD  stelin*,    natilr- 

1  derselbe  ausdruck  401,9  (xiv). 

-  vgl.  vFalke  Geschichte  des  fürstl.  hauses  Liechtenstein  (1868)  i  123. 

3  der  gleichen  ansieht  sind  Scherer  (Zs.  17,  575  fT;   Gesch.  d.  deutsch. 

litt.3  211)   und   Schönbach   (Biograph,  blätter  n  35/36).     Roethes    bedenken 


32  BRECHT 

lieh  im  ganzen  genommen ;  geringfügige  Umstellungen  mögen, 
der  besseren  wilrkung  wegen,  hier  und  da  vorgenommen  sein  ' ; 
doch  nicht  so  viele  oder  so  starke,  dass  sie  die  folgerichtige 
entwicklung  irgendwie  zu  beeinträchtigen  vermocht  hätten. 

Ohne  den  anschluss  an  die  würkliche  entstehungsfolge  der 
lieder  wäre  niemals  eine  fortschreitende  Seelenschilderung  von 
soviel  innerer  Wahrscheinlichkeit,  menschlicher  wie  poetischer, 
zu  erreichen  gewesen,  wie  das  lyrische  gesamtwerk  im  FD  sie 
darstellt,  und  wie  ich  sie  vereinfacht  nachzuzeichnen  ver- 
sucht habe. 

Schon  das  scharfe  auseinandertreten  der  drei  grofsen  lieder- 
gruppen,  deren  jede  ja  einem  andern  seelischen  zustande  evident 
entspricht,  wäre  sonst  undenkbar,  am  erkennbarsten  ist  die  ein- 
heit  des  inneren  und  äufseren  Zusammenhanges  bei  den  wdn- 
wisen,  die  alle  dasselbe  grundthema,  psychologie  des  'frauen- 
freien' mannes,  behandeln  und  alle  in  dasselbe  jähr  fallen,  aber 
auch  die  lieder  der  ersten  und  der  zweiten  minne  bilden  einheilen 
für  sich,  die  sich  deutlich  voneinander  abheben,  in  deren  jeder 
zusammenhänge  und  gleichartigkeiten  zu  constatieren  sind  2. 

Die  sechsundzwanzig  lieder  der  ersten  minne  fallen  vom 
23  (oder  25)  lebensjahre  des  dichters  bis  ins  32  (oder  34) 3,  und 
repräsentieren  würklich  eine  ausgesprochene  jugendlyrik.  schon 
ihre  gegenstände  zeigen  das.  hier  findet  sich  die  hauptmasse  der 
frühlings-  und  winterlieder,  die  noch  variationsfähigen  treue- 
gelöbnisse,  die  temperamentvollen  scheltlieder.  die  lieder  gehn 
wesentlich  auf  persönliches,  nicht  auf  allgemeines,  der  ton  der 
behandlung  wechselt  mit  der  Stimmung  des  dichters,  beide  mit 
der  Situation,  in  der  sich  der  bewegliche  gerade  befindet. 

Auch  den  wdnwisen  steht  lebhaftigkeit,  feuer,  wechselnder 
ausdruck  für  die  Stimmung  noch  ungeschwächt  zu  gebole.  jedoch 
der  trocknere  ton  minnetheoretischer  didaktik  kündigt  sich  schon 
daneben  an;  in  den  siebenundzwanzig  liedern  der  zweiten  minne 

gegen  die  chronologisch  richtige  folge  der  lieder  (Die  gedichte  Reinmars 
von  Zweter  s.  112)  vermögen  mich  nicht  zu  überzeugen. 

1  tatsächlich  seh  ich  keinen  grund  zu  dieser  annähme. 

8  auch  Schönbach  betont  den  unterschied  der  lieder  der  ersten  und 
der  zweiten  minne,  Zs.  26,  318. 

3  vgl.  vFalke  aao.  s.  59;  Knorr  s.  9;  Schönbach  aao.  s.  17;  Bechstein 
s.  xxiv  dagegen  setzt  Ulrichs  geburt  schon  1198  an. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  33 

(vom  34  bis  zum  56  lebensjahre)  verdrängt  er  mit  Beinen  spitz- 
liudigkeiteu  allmählich  den  alten  ton  der  lebensfrische,  die  pro- 
dnetion  lässt  nach,  die  lieder  werden  durchschnittlich  länger, 
dabei  leerer,  der  ton  gesuchter,  die  bis  zum  Bberdruss  betonte 
fröblichkeit  immer  gemachter,  man  glaubt  ihm  seine  lyrlk  nicht 
mehr  recht,  das  erste  Verhältnis  hatte  doch  leben,  wenn  auch 
ungesundes;  das  zweite  ist  nur  der  dichtung  wegen  da.  gesuchte 
metapbern,  oft  ohne  bildkraft,  treten  an  die  stelle  der  einfach- 
anmutigen« wenn  auch  traditionellen  vergleiche  der  ersten  periode. 
von  der  virtuos  stilisierten  empfind ung  bleibt  schließlich  nur  noch 
der  stil  übrig,  er  allerdings  in  unverminderter  kraft,  die  Sicher- 
heit der  band  bleibt  die  alte,  ja  sie  nimmt  noch  zu,  bis  zum  ende. 

Dagegen  schwindet  immer  mehr  die  kraft  der  erfindung,  und 
dies  ist  das  bezeichnendste  für  die  zweite  periode.  Ulrichs  lyrik 
lebt  schliefslich  ganz  von  alten  moliven. 

Sehr  viele  waren  es  von  vornherein  nicht  gewesen,  dafür 
entschädigte  manchmal  Originalität,  aber  auch  sie  wird  seltener, 
immer  be wuster,  gegen  ende  gar  fühlbar  angestrengt,  was  sind 
zb.  alle  formen,  in  denen  Ulrich  sein  hausen  im  herzen  der 
herrin,  das  ihre  in  dem  seinen,  ausdrücken  will,  anderes  als 
überdeutlich-geschmacklose  Übertreibungen  des  alten  einfachen : 
du  bist  beslozzen  in  minem  herzen  — ? 

In  der  erfindung  neuer  motive,  überhaupt  im  stofflichen  kann 
milbin  Ulrichs  bedeutung  nicht  liegen,  eine  andere  frage  ist  es 
mit  der  behandlung  des  gewonnenen  rohstoffes,  mit  seiner  Zu- 
sammenfassung und  Verteilung  im  einzeluen  gedieht  —  hier  be- 
ginnt eigentlich  erst  der  künstler  — :  mit  der  composition. 


ZWEITES    CAPITEL. 

COMPOSITION. 

Der  erste  schritt  der  form  zur  bewältigung  des  rohen  Stoffes 
ist  die  composition,  die  bewuste  oder  unbewuste  anordnung  der 
gedanken  und  empfindungen  nach  bestimmten  gesetzen. 

Darauf  hin  angesehen  lassen  sich  Ulrichs  üeder  in  fünf 
gruppen  teilen,  vier  davon  sind  rein  lyrisch,  ihre  Untersuchung 
im  folgenden  steigt  von  der  gruppe  der  lieder  mit  eiofachstem 
bis  zu  denen  mit  complicierteslem  aufbau  empor  :  eine  reihen- 
folge,  die  mit  der  anordnung  der  gruppen  nach  wachsender  an- 
zabl  der  zugehörigen  lieder  bezeichnenderweise  zusammenfallt. 
Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  3 


34  BRECHT 

die  fünfte  gruppe,  episch-lyrische  gedichte,  ist  isoliert  und  um- 
fasst  nur  zwei  lieder. 

A.    Lieder  mit  gleichmäfsiger  structur. 
Die  einfachste  art  des  liedes  ist  die,  in  der  ein  einziges  motiv 
ausgeführt  wird,  ohne  differenzierung  in  sich,  ohne  comhination 
mit  associierten  motiven,    sodass    das   gedieht  ein  gleichmäßiges, 
ununterbrochenes,  relativ  unbewegtes  ganzes  darstellt. 

Gleich  das  n  lied  drückt  in  allen  Strophen  nur  den  einen 
gedanken  aus  :  die  nacht  ist  Ulrich  lieber  als  der  tag.  nur  die 
erste  und  die  letzte  Strophe  sind  ein  wenig  herausgehoben,  in- 
sofern die  erste  natürlich  den  gedanken  mit  lebhafterem  einsatze 
ankündigt,  die  letzte  in  ihrem  beginne  sich  auf  den  anfang  der 
ersten  zurückbezieht,  und  den  schluss  des  ganzen  durch  sehnsüch- 
tigen ausruf  markiert;  die  drei  Strophen  dazwischen  haben  nur 
die  aufgäbe,  den  in  der  ersten  gegebenen,  in  der  letzten  aus- 
klagenden gedanken  dreimal  kunstvoll  zu  variieren. 

In  gleicher  weise  führt  das  vi  lied  den  einen  gedanken,  der 
dichter  ist  durch  seine  dame  unglücklich,  aus.  nur  noch  ein- 
facher :  anfangs-  und  schlussslrophe  fallen  als  solche  fort,  nur 
die  beiden  ersten  und  die  letzte  Zeile  des  ganzen  machen  durch 
ausruf  und  aufforderung  eiuigermafsen  beginn  und  ende  kennt- 
lich, in  jeder  der  drei  Strophen  erscheint  der  grundgedanke  in 
neuer  form  (110,7.  8;  26.  27.  111,  10.  11).  eiu  zu  beginn  jeder 
struphe  widerkehrendes  Stichwort  (yüete)  hält  aufserdem  die  Strophen 
zusammen. 

Das  genaue  gegenstück  hierzu  bildet  das  xxxvn  lied,  in  dem 
der  entgegengesetzte  gedanke,  er  ist  froh  durch  seine  dame,  eben- 
falls in  deu  langen  Strophen  dreimal  wechselnd  ausgedrückt  wird, 
die  Strophen  sind  durch  anaphorischen  beginn  (klimax  :  i  tcol 
mich,  ii  wol  mich  wol  mich,  in  tcol  wol  wol  mich)  und  durch 
widerkehrende  stichworte  (freude,  truren)  verbunden. 

In  allen  fünf  Strophen  variiert  das  zweite  scheltlied  xxi  nur 
den  traurigen  gegensatz  :  einst-jelzl ..  jedoch  zeigt  sich  eine  leise 
modificierung  darin,  dass  je  ein  stiophenpaar  den  Vorfall  mehr 
vom  jetzt,  ein  anderes  mehr  vom  einst  aus  ansieht;  beide  paare 
siud  ineinander  verschränkt  (str.  ii  iv,  str.  m  v;  n  ist  414,  16 
iv  müet  415,  5  :  in  begie  414,  23  v  was  415,  15).  die  erste  Strophe 
ist  im  ausdruck  allgemeiner,  was  nicht  wunder  nehmen  kann, 
der   schluss   ist    nur    äufserlich    durch    ein    ganz     kurzes    envoi 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  35 

(415,25.  26)    markiert,     gegen    die    gleichartigkeit   des    ganzen 
kommen  diese  leichten  ilnfseren   Veränderungen   nicht  auf. 

Das  xlviii  lied  endlich  verherrlicht  das  aussehen  und  die 
ballung  der  geliebten,  insbesondere  ihr  lachen,  in  fünf  Btrophen, 
denen  keinerlei  gedankenanordnung  zugrunde  ligt,  aufser  dass 
das  lachen  ausdrücklich  nur  in  den  drei  ersten  erwähnt  wird, 
das  eigentümlich  wirre  durcheinandergehn  der  motive  ist  vielleicht 
aus  seiner  eutslehung  zu  ei  klären  :  es  ist  das  erste  lied  das 
Ulrich  seiner  herrin  auf  das  widersehen  nach  der  mehr  als  ein- 
jährigen kerkerhaft  gemacht  hat;  in  der  freudigen  erregung  mag 
er  seine  offenbar  sehr  lebhaften  eindrücke,  die  interessanterweise 
sämtlich  reminiscenzen  früherer  eindrücke  darstellen  (s.  o.  s.  27 
0.  vgl.  FD  548,  1 — 5),  so  ungeordnet  ausgesprochen  haben. 

Diese    fünf   lieder   fallen    in    die   jähre    1223,    1228,   1231, 

1233  ff,  1249.     schon  früh  also,  und   noch  spät,   zeigt  sich  die 

freude  des  virtuosen  am  kuustmäfsigen  variieren  eines  themas.    am 

anl'ang  der  mhd.  lyrischen  kunstsprache  wären  sie  nicht  zu  denken. 

B.    Sich  steigernde  oder  zuspitzende  lieder. 

Element  der  gliederuug  eines  gedichtes  ist  die  gedanken- 
(oder  gefühls-)entwicklung.  die  einfachste  form,  in  der  sich  ein 
gedieht  von  gleichnuifsiger  struetur  dem  gegliederten  aulbau  an- 
nähern kann,  ligt  also  vor,  wenn  das  grundmoliv  vom  anfang  bis 
zum  schluss  sich  gleichmäfsig  entwickelt,  um  auf  der  hübe  ab- 
zubrechen, dazu  kann  drängendes  gefühl  treiben,  dann  hat  man 
es  mit  einer  Steigerung;  oder  dialektischer  verstand,  so  hat  man 
es  mit  einer  Zuspitzung  des  gedaukens  zu  tun;  beides  kann  auch 
zusammentreffen. 

Lieder  dieser  art  hat  Ulrich  zu  allen  Zeiten  seiner  lyrischen 
produetion  gedichtet  (sechs:  1222/23,  1226,  1232/33,  1233  ff, 
1241  <<  >  45,  1252  <C  >  55),  ein  beweis,  dass  diese  form 
einer  grundrichtung  seines  talentes  entsprach,  gleich  sein  erstes, 
jugendlich  reizvolles  lied  beginnt  mit  dem  lobe  der  trauen  in 
schüchterner  allgemeinheit  und  steigert  sich  mit  guter  würkung 
in  vier  Strophen,  deren  dritte  unerwartet  mit  directer  anrede 
einsetzt,  zu  liebeserklä'rung  und  dienstgelobnis.  iu  hastigen  kurz- 
versen  steigert  der  reie  xxix,  von  der  frühlingsschilderung  aus- 
gehend, die  empündung  ungestümer  lust,  von  Strophe  zu  Strophe 
deutlicher  werdend,  über  zwei  allgemeinere  miunestrophen  hin- 
weg, zur  Verherrlichung  des  kusses  (str.  4)  und  zur  umarmung, 

3* 


36  BHECHT 

in  der  fünften  slrophe,  die  er  mit  schalkhafter  frage  und  ganz 
kurz  daraufgesetzter  verhüllender  antwort  schliefst  (strophen- 
anfangsanapher  str.  2  u.  3,  responsion  des  artikellosen  Stich- 
wortes am  anfang  str.  4  u.  5).  ruhiger  als  dieses  brillante  bravour- 
stück  stellt  das  minuiglich  gespreizte  lied  lvi  genau  die  gleiche 
gefühlsentwicklung  dar.  heftige  Sehnsucht  erweckt  die  Vorstellung 
des  lachens  der  geliebten  (str.  2 — 3),  steigert  sich  zum  wünsche 
des  küssens  (str.  4 — 6)  und  der  diesmal  in  züchtigem  ernst  nur 
angedeuteten  umarmung  (str.  7).  nicht  soweit  geht  xlii,  das 
sich  über  Wortspiele  und  absurde  einfalle  hinweg  (s.  o.  s.  24)  zu 
der  pointiert  vorgetragenen,  durch  besonderes  envoi  noch  ver- 
stärkten schlüsselte  erheht,  ihn  in  ihr  herz  einzulassen. 

Es  leuchtet  ein,  wie  vorteilhaft  solche  art  des  gedanken- 
fortschrittes  für  ein  gespräch  sein  muss,  das  darauf  ausgeht,  einen 
einzigen  gegenständ  durch  rede  und  gegenrede  zur  höchsten 
wüikung  zu  bringen,  würklich  sind  alle  drei  dialoge  Ulrichs 
gleichmäfsig  nach  dieser  weise  gebaut,  der  erste,  x,  in  dem  er 
sich  über  die  hartherzigkeit  seiner  herrin  bei  frau  Miune  be- 
schwert, steigt  von  der  klage  zum  verlangen  nach  trost  auf,  und 
gipfelt  im  lebhaften  ausdruck  neuer  Vorsätze  und  frischer  hoff- 
nung.  Ulrichs  drei  Strophen  drängen  vor,  die  anlwortstrophen 
der  frau  Minne  halten  zurück  :  beide  unterredner  vereinigen  sich 
in  der  siebenten  Strophe  :  eine  sehr  anmutige  form  der  Steigerung 
durch  retardationen  hindurch  bis  zur  Schlusshöhe,  mehrverstandes- 
mäfsig  zugespitzt  ist  Ulrichs  dialog  mit  einer  dame  (xxx),  der  in 
eleganter  dialektik  der  conversation  das  wesen  der  minne  ausein- 
andersetzt, um  mit  plötzlich  hervortretender  Werbung  und  ebenso 
plötzlich  erfolgendem  korbe  witzig  pointiert  zu  schliefsen.  ein 
gleiches  ende  nehmen  die  übertriebenen  complimente  Ulrichs  in  dem 
charakteristisch  höfisch-gezierten  dritten  dialog  xxxn.  auch  hier  wie 
in  x  und  xxx  haben  die  Strophen  der  dame  retardierende  geltung, 
auch  hier  ist  die  letzte  Strophe  auf  beide  gesprächspartner  verteilt. 

Offenbar  hat  die  kunstvolle  Steigerung  zu  Ulrichs  Vorstellung 
vom  lyrischen  dialog  gehört,  in  den  anders  gearteten  dialog- 
partien  der  tagelieder  ist  er  durch  tradition  gebunden. 

C.    Lieder   die  allgemeines  und  specielles 
zusammenstellen. 

Die  bisherige  entwicklung  der  composition  lässt  sich  weiter 
verfolgen,     die  erste   möglichkeit   war,   den    gedanken   eines   ge- 


ULIUC1I  VON  LIECHTENSTEIN  37 

dichtes  ungegliedert,  höchstens  durch  variierung  nuanciert,  hin- 
zustellen, die  zweite,  ihn  durch  Steigerung  oder  Zuspitzung  am 
ende  schlagkraftiger  zu  machen.  nun  setzt  die  wirkliche  glie- 
derung  ein;  die  einfachste,  die  in  zwei  teile,  da  zeigt  sich,  dass 
alle  zweigeteilten  gedichte  L.s  nach  demselben  princip  geteilt 
sind  :  ein  allgemeiner  zustand  oder  ein  allgemein  gütiger  s;it/. 
wird  vorangestellt,  an  ihn  als  specialfall  analog  oder  antithetisch 
des  dichters  persönlicher  zustand  angeschlossen;  fast  immer  mit 
bewust  markiertem  ühergang.  der  Zusammenhang  mit  den  (be- 
grifflich) früheren  compositionsarten  verleugnet  sich  nicht  :  noch 
immer  handelt  es  sich  nur  um  einen  grundgedanken,  noch  immer 
spielt  das  variieren  eine  nicht  seilen  wesentliche  rolle  für  die  Pro- 
portionen des  gedichts. 

a.   Minnelehre  und  Ulrichs  persönliche  minne. 

Neigung  zur  minnedidaktik  zeigt  sich  bei  Ulrich  schon  früh, 
gleich  das  i  lied  beginnt  mit  einem  allgemeinen  minnesalze: 

Wibes  güete  niemen  mac 
volloben  an  ein  ende  gar  l. 

was  hier  nur  zwei  Zeilen  füllt,  wird  später  ausgeführt  und  bildet 
einen  eignen  teil  des  gedichtes,  der  mit  zunehmendem  lebens- 
alter  und  zunehmender  neigung  zur  didaktik  so  stark  an- 
schwellen kann,  dass  er  gelegentlich  den  allergrösten  teil  des 
liedes  ausmacht,  hinter  dem  die  darstellung  des  persönlichen  ganz 
zurücktritt. 

Das  wechselnde  Verhältnis  beider  teile  bildet  die  grundlage 
einer  systematischen  betrachtung. 

10  liedern,  in  denen  der  zweite  teilMes  gedichtes  gröfser  ist 
als  der  erste,  stehn  7  gegenüber,  in  denen  der  erste,  didaktische 
leilüberwiegt. 

Als  grundform  ergibt  sich  das  Schema: 
2  str.  -f-  3  str.: 

xlv  :  Ein  mann  ist  verloren,  wenn  er  nicht  durch  frauen 
froh  wird  (str.  1  u.  2)  :  Ich  bin  vrö  von  einer  rösen  —  (str. 
3 — 5,  mit  preis  der  rose). 

xlvi  :  Frauen  wollen  fröhliche  männer  sehen  (str.  1,  str.  2 
bis  zum   vorletzten    vers)  :  ich   will    immer  noch  mehr  froh 

1  aufserhalb  dieses  compositionstypus  findet  sich  der  sentenziöse  ein- 
gang  in  i.  xvi.  xxii.  li,  minnedidaktik  in  x.  x\x.  xlii. 


38  BRECHT 

sein  durch  die  meine   (bis  zum  schluss;    der   Übergang   fällt 
hier  schon  in  den  schluss  der  zweiten  Strophe). 

xlix  :  Nur  der  höfische  mann  hat  aussieht  auf  erfolg  bei 
frauen  (str.  1  u.„2);  dessen  getröstet  sich  auch  Ulrich  bei  der 
seinen  (str.  3 — 5;  ich  vers  554,  6;  kenntliche  anknüpfung 
mit  Und  — ). 

Lii  :  Man   soll    frauenlob    singen ,    denn    sie    verstehn    es, 
gut  zu  lohnen  (str.  1  u.  2);   so  sieht  man  auch  Ulrich  voller 
freuden,  wegen  einer  frau,  deren  lob  er  nun  singt  (str.  3  —  5).  — 
deutlicher  Übergang  563,13  ( — mich — ). 
Beide  teile  wachsen  um  je  eine  Strophe: 
3  str.  -f-  4  str.: 

xxm  :  Der  dichter  rät  allen  männern,  sich  durch  frauen- 
liebe höhen  muot  zu  gewinnen  (str.  1 — 3)  :  er  selbst  (Ich 
—  426,  24)  will  es  darin  nicht  an  sich  fehlen  lassen  (str.  4 — 7). 

Das  xxvi  lied  ist  ein  auszug  des  xxv,  des  leiches,  bei  dem 
der   zweite    teil    der    ausfuhrung    desselben    grundgedankens 
gar  doppelt  so  lang  geworden  ist  als    der  erste  :  14  gesätze 
gegen  7  gesätze,   die    grenze    befindet  sich  bei  424,  7    (Min 
muot  von  wiben  höhe  stdl);  von    da    an    ist  alles   darstellung 
persönlichen  glucks   und  Unglücks,  bis  dahin  alles  sachlicher 
minnerat  (423,  1  f:  Ich   rät   im,    ere  gerende,  man  —  —  Ob 
ir  weit  teerende  frext.de  hin,  so  sit  den  wiben  undertdn). 
Der  erste,  sachliche  teil  überwiegt  den  zweiten,  persönlichen, 
geringster  umfang  des  ersten  teils: 
3  str.  -f-  2  str.: 

xviii :  Die  bedeutung  von  huote  und  merken  im  allgemeinen, 
Ulrichs  vrouwe  kann  (ihrer)  hüeten,  aber  offenbar  kaun  oder 
will  sie  (seine  liebe)  nicht  merken,  stark  betonter  Übergang 
40S,  20  (Min  vrouwe—). 

xxm  :  Minne  kann  nicht  bestehn  ohne  triwe  und  steete: 
seine  dame  hat  keine  triwe  an  ihm  erzeigt,  ausdrücklich 
nutzanwendender  Übergang  419,22  (dd  bi  kius  fcÄ,  daz 
diu  he're  — ) l. 

1  möglicherweise  ist  dies  lied  um  zwei  Strophen  zu  vermehren,  es 
finden  sich  nämlich,  wie  schon  Lachmann  (zu  Walther  116,  33)  bemerkte, 
zwei  Strophen  seines  tones  zwischen  slr.  4  und  str.  5  des  folgenden  liedes 
xxiv  ungehörig  eingeschoben,  aber  nur  in  L.  Lachmann  folgerte  daraus: 
'ohne  zweifei  waren  sie  auf  dem  rande  nachgetragen,  und  fehlen  daher  der 


ULKICII  VON  LICHTENSTEIN  39 

Der  zweite  teil  wird  um  eine  Strophe  verkleinert: 

3  str.  +  1  slr. : 

vii  :  Freude  soll  man  durch  frauenliebe  haben;  dem  dichter 
aber  ist  we.    liier  erscheint  der  zweite  teil  bereits  zur  blofsen 
schlussslrophe  zusammengeschrumpft. 
Die  andre  möglichkeil  ist  die,  den  ersten  teil  zu  vergrößern  : 

4  s  t r.  +  2  str. : 

xxvu  :  Nur  frohgemute  mSnner  machen  eindruck  auf 
Trauen  :  darum  will  auch  Ulrich  seinen  zornmul  lassen,  be- 
tonter Übergang  428,  25  (Ich  wil  hohes  muotes  sin  — 
usw.). 

Die  anschwellung  des  ersten  teiles  ist  hier  durch  gekreuzte 
parallelslrophen,  also  durch  Variation  des  ausdrucke,  erreicht: 
str.  2  und  4  sagen  negativ  eingekleidet  dasselbe,  was  str.  1  und 
3  affirmativ  ausgedrückt  hatten. 

lis.  G  gänzlich',  es  fragt  sich  nun,  ob  dieser  nachtrag  unter  U.s  autorisation 
stattgefunden  hat  oder  nicht;  dass  die  Strophen  von  ihm  stammen,  ist  nach 
Stil  und  metrum  zweifellos,  findet  man  grund  genug,  das  erste  anzunehmen 
(es  könnten  auch  Strophen  sein,  die  aus  einem  frühern  liederliche  unerlaubt 
nachgetragen  worden  Bind,  während  Ulrich  selbst  sie  bei  der  von  der  ab- 
fassung  des  liedes  durch  24  jähre  gelrennten  redaction  des  FD  etwa  aus 
poetischen  gründen  unterdrückt  halte),  so  ist  man  verpflichtet,  die  Strophen 
wider  einzustellen.  Lachmann  wölke  sie  aao.  zwischen  str.  3  u.  4  von  xxm 
einschieben;  er  hatte  sich  in  seiner  ausgäbe  begnügt,  sie  am  alten  orte  ein- 
geklammert stehn  zu  lassen.  Beckstein  s.  141  anm.  hat  die  Umsetzung 
bestritten;  und  in  der  tat  geht  es  nicht  an,  den  scharfen  Übergang  vom 
allgemeinen  minnesalz  des  ersten  teiles  zur  persönlichen  anwendung  des 
/weiten  419,  22  {da  Li  kius  ich  usw.)  durch  einschub  zu  unterbrechen, 
dagegen  passen  die  Strophen  vorzüglich  an  den  schluss,  hinter  str.  5;  in 
der  responsion  des  strophenanfanges,  die  Ulrich  zur  kennzeiclmung  von 
zusammengehörigen  gedichtteilen,  auch  Schlüssen,  liebt  (s.  u.  cap.  m),  wie 
auch  im  gedankengang.  wir  hätten  dann  nämlich  eines  jener  gedichte  vor 
uns,  die  den  compositionstypus  C  (allgem.  -f-  spec.)  durch  hinzufügung  eines 
dritten,  widerum  allgemeinen  teiles  ganz  oder  nahezu  symmetrisch  abrunden  ; 
vgl.  unten  unter  D  zb.  das  xxu  lied,  das  aus  2  allgemeinen  -4-  3  speziellen 
-f-  2  allgemeinen  Strophen  besteht,  das  Schema  von  xxm  wäre  dann: 
typus  D  (3  -f-  2  -f-  2).  —  der  einwurf  Bechsteins  aao. ,  durch  die  end- 
anfügung  würde  'der  eindruck  der  Schlusswendung  beeinträchtigt',  ist  nicht 
ausschlaggebend,  es  wäre  ja  möglich,  dass  U.  um  des  persönlich  pointierten 
Schlusses  420,  7  Milien  die  fraglichen  Strophen  später  weggelassen  hätte, 
im  allgemeinen  legt  gerade  er  gar  keinen  wert  auf  würkungsvolle  Schlüsse, 
das  moderne  bedi'ufnis  am  schluss  raketen  steigen  zu  lassen  ist  ihm,  ver- 
schwindende ansalze  abgerechnet,  noch  ganz  fremd. 


40  BRECHT 

Der  erste  teil  wächst  noch  weiter: 
5  str.  -j-  2  str.: 

xxxvni  (2.  uzreise)  :  sachliche  anweisung  zur  rittertugend 
im  turuier;  ruf  nach  den  waffen,  um  die  lehre  gleich  selbst  zu 
betätigen.  Übergang 457, 27  {—mansol  mich  hiute  schouwen—). 
liv  :  Der  dichter  sieht  allen  frauen  in  die  herzen;  er  hat 
auch  seiner  herrin  ins  herz  geseheu.  markierter  Übergang 
572,  12  (Ich—). 

In  den  letzten  zwei  fällen  würkt  der  zweite  teil  vollends  nur 
als  abschliefsende  nutzanwendung. 

b.  Zustand  der  natur  oder  menschen  weit  und 

Ulrichs  persönlicher  zustand. 
Die  rolle  des  allgemeinen  braucht  nicht  ein  minnesatz,  eine 
geltung  beanspruchende  reflexion  zu  spielen;  an  seine  stelle  tritt 
in  einigen  fällen  ein  anderes  allgemeines,  natur  oder  menschen- 
weit  oder    beides   zusammen.      mit    ihm  wird   dann    ebenso   des 
dichters  persönlicher  zustand  zusammengestellt. 
Auch  hier  ist  das  grundverhälinis: 
2  str.  -f-  3  str.: 

xxxi  :  Die  vöglein  singen  im  frühling;  so  singt  auch  er  — 
nämlich  von  guoten  wiben.  ausdrücklicher  Übergang  437,  3 
(—ich—). 

Dieser  fall,  dass  Ulrich  sich  allein  mit  der  natur  vergleicht, 
ist  bei  seiner  überwiegenden  richtung  auf  menschliches  Sin- 
gular, in  den  folgenden  liederu  vergleicht  er  sich  mit  beidem 
zusammengenommen. 

v  :  Der  sommer,  die  zeit  des  frauendienstes,  ist  vergangen, 
der  verhasste  winter  kommt  :  was  soll  vollends  er  mit  dem 
winter,  da  schon  der  sommer  nicht  gebracht  hat,  was  er 
wünschte?  —  markierter  Übergang  104,  23  (betontes  mir). 
xvii  :  Der  sommer  ist  gekommen;  in  dieser  freudenzeit 
preist  man  die  frauen  :  damit  preist  er  die  seine,  ausdrück- 
licher Übergang  406,  15  (ja  mein  ich  die  frowen  min). 

xxxiv  :   Der  winter  weicht,  mit  ihm  sorge  und  angst  der 

menschen   :  so    will    auch    er   hohes    muotes   sein    (445,  1 1 

—  ich  — ). 

Der  erste  teil  wächst  an,    weil    sein   inhalt   vom  dichter  als 

besonders  traurig  empfunden  wird;  dem  gegenüber  schrumpft  der 

zweite  teil  zusammen: 


ULHICII  VON  LICHTENSTEIN  11 

3  s  t  r.  -f  2  s  t  r. : 

l  :  Der  sommer  ist  verschwunden,  was  ligt  viel  daran? 
viel  trauriger  ist  der  beklagenswerte  zustand  der  Zeitgenossen, 
die   nicht    mehr    frühlichen    minnedienst   treiben    wollen  \  er 

selber  allerdings  ist   frohgemut  durch  eine  frau.    —    schule 
grenzscheide  zwischen  556,8  und  9  (betontes  mir — ). 

Zu  einer  würklich    ausgeführten    naturschilderung   kommt 
es  in  den  drei  letzten  liedern  nicht,  das  l  lied  zeigt  den  grund 
da  für  mit  besonderer  deutlichkeit  :  die  natur  war  ihm  wesent- 
lich doch  nur  litterarisches  motiv.  — 
Auch    die    soeben    besprochene    compositionsweise    ist   nicht 
an  eine  bestimmte  periode  in  Ulrichs  leben  gebunden,    die  nach 
ihr   gebauten   lieder   finden   sich    vielmehr   von  dem  (vermutlich) 
dritten  jähre  seines  dichtens    1224    an,   bis  1252.     nur  dass  <Jie 
lieder  mit  ungewöhnlich  angeschwollenem  lehrhaften  teil  in  spätere 
jähre  fallen  —  xxxu,  xxxviii,  liv  in  die  jähre  1233,  nach  1233, 
und  1252  —  ist  wol  nicht  zufällig. 

D.  Symmetrisch  gebaute  lieder. 
Die  letztbehandelte  composilionsart  war  geeignet,  einen  ge- 
danken  zweigliedrig  auszudrücken;  der  gedanke  tat  damit  gleich- 
sam einen  Listen  schritt  aus  sich  hinaus,  aber  es  war  nur  eine 
Ode  vergleichung,  die  damit  erreicht  wurde,  noch  fehlte  die 
Möglichkeit,  dass  der  gedanke  wider  zu  sich,  zu  seinem  aus- 
gangspuncte,  zurückkehrte;  geschlossene  gedankenreihen,  ge- 
fühlscomplexe  konnten  nicht  ausgedrückt  werden,  ebensowenig 
war  es  der  Zweiteilung  möglich,  den  gedankengang  eines  ge- 
dichtes  aufwärts  zu  einer  pointe  und  wider  herunter  zu  einem 
allgemeinen  gedanken,  die  gefühlsentwicklung  zu  einem  höhepunct 
intensivsten  ausdruckes  empor  und  wider  zurück  in  die  ruhe 
zu  führen,  all  diese  müglichkeiten  erreicht  erst  die  drei-  — 
oder  mehr-  —  teiluug.  sie  vervollständigt  die  beiden  vorher- 
gehnden  composilionsarten,  die  gewissermafsen  nur  ein  halbes 
oder  zweidrittel  gedieht  zustandebringen  :  der  einteilung  allge- 
meines -|-  specielles  fügt  sie  abrundend  das  allgemeine  wider 
an;  die  gedichte,  die  nur  eine  Steigerung  zu  einem  höhepunete 
darstellen,  macht  sie  geschlossen,  indem  sie  den  abstieg  dem 
anstiege  zugesellt. 

Das     schon     hierin     sich     aussprechende     bedürfnis     nach 
harmonie   der   teile   ist  die   Ursache,   dass   alle  drei-  und  mehr- 


42  BRECHT 

geteilten  gediente  Ulrichs  sich  als  symmetrisch  gebaut  heraus- 
stellen *. 

Diese  Symmetrie  kann  so  beschaffen  sein,  dass  sich  ein 
markierter  höhepunet  vorfindet,  der  consequentenveise  häufig 
in  der  mathematischen  mitte  des  gedichtes  ligt;  an  ihm  wird 
dessen  hauptinhalt  in  der  kürzesten  form  als  quintessenz  aus- 
gesprochen (achse  des  gedichts).  oder  das  lied  entbehrt  eines 
solchen  höhepunetes  und  begnügt  sich  damit,  in  genau  corre- 
spondierenden  gleichen  teileinheiten  sich  zu  entfalten. 

a.   Dreiteilige  li  eder. 
Die  einfachste  form    des   dreiteiligen  liedes  ist  natürlich  die 
nach  dem  Schema: 

1  s  t  r.  +  1  s  t  r.  -}-  1  s  t  r. 
dh.  jede  Strophe  enthält  einen  nur  ihr  eignen  teilgedanken.  nach 
ihm  ist  nur  ein  lied,  das 

xv.  gebaut,  str.  1  sucht  bei  allen  guten  frauen  freundes- 
rat  gegenüber  seiner  dame,  um  die  der  dichter  so  klagen 
muss,  dass  er  in  den  ruf  des  kopfhängers  kommt;  str.  2  spricht 
den  vorsatz  aus,  sich  gegebenenfalls  anderswo  umzutun; 
str.  3  wendet  sich  wider  an  die  guten  frauen  und  kehrt  zum 
anfangsgedanken  zurück  :  erhöre  ihn  seine  dame  doch  noch, 
so  würde  er  ohne  jenes  gewallmittel  seinen  alten  frohsinn 
zurückgewinnen,  die  hauplsache  im  gedieht,  zugleich  der 
höhepunet  der  Stimmung,  befindet  sich  genau  in  der  mitte, 
der  auf  einen  die  halbe  zweite  Strophe  füllenden  conditional- 
satz  folgende,  energisch  prononcierte  vers  403,6: 

so  muoz  ich  suochen   durch  not  mir  ein  ander  Uz. 
bis  dahin  ist  alles  langsamer  aufstieg,  von  dort  an  lässt  die  er- 
regung  nach  und  langt  in  derselben  zeit  wider  beim  anfäng- 
lichen   zustande   an.     um    diese  achse  gleichsam  dreht  sich 
das  lied. 
Diese  grundform  lässt  sich  weiter  entwickeln,    anfangsstrophe 
und  schlussstrophe  zwar  erweitern  sich  nicht  leicht,   da   sie  re- 
spondieren,  ihre  vergröfserung  also  schon  eine  beträchtliche  Ver- 
änderung   des   gedichtes  bewürkt.     desto  entwicklungsfähiger  ist 
der  mittlere  hauplteil,    der  den  grundgedanken  trägt,     es  ergibt 
sich  zunächst  das  schema 

1  mit  ausnähme  von  drei  liedern,  bei  denen  es  durch  erkennbare  Ursache 
nicht  zur  mathematisch  genauen  Symmetrie  gekommen  ist.     s.  u. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  r.\ 

1  str.  +  2  str.  +  1  slr. : 

IX.  Schilderung  des  niais  als  ei  nleitu  ng  :  str.   1;   Ulrich 
ist  unglücklich  trotz  des  mais,  in  zwei  parallelstrophen  ausge- 
drückt: ßtr.  2  und  3;  als  scbluss  erwabnung  des  augenblick- 
lichen zeitpunctes  (Romfahrt)  und  fUrbitte  für  die  dame:  str.  l. 
Der  mittelteil  wird  weiter  vergrößert: 
1  s  t  r.  +  3  s  t  r.  +  1  s  t  r. : 

iv.  Erste  Strophe,  ein  I  e  i  tun  g  :  Schilderung  des  maien; 
zweite,  dritte,  vierte  Strophe,  ha  u  p  tteil  :  schwankende  hoff- 
nungen  auf  erhörung  durch  seine  dame;  fünfte  Strophe, 
schluss:  preis  des  maien.  quintessenz  und  böhepunct  des 
inhalts,  das  ziel  seiner  sehnsüchtigen  holTnungen,  in  der 
zweiten  hallte  der  mittelsten  (dritten)  atrophe,  durch  drei- 
malige anaphora  gekennzeichnet: 

Daz  diu  vrewle  lange  wer, 
daz  ich  weinent  iht  erwache, 
daz  ich  gegen  dem  tröste  lache, 
des  ich  von  ir  hulden  ger. 
xix.    str.    1  :  der  dichter  ist  froh  im  gegensatz  zur  (herbst- 
lichen)    well;    Strophe    2,  3,  4  :  grund   seiner  freude  :  seine 
dame  'lullet'  ihn  vor  traurigkeil;  Strophe  5  :  verhüllte  angäbe, 
wodurch  etwa  seine  freude  aufhören  könnte  ;   und  was  daraus 
entstünde.  —  hauptsache  und  höhepunct  in  der  mittelsten 
Strophe,  410,  9—11  : 

Hueten  ist  den  seilenden  leil: 
also  wünneclichiu  huote 
wäre  mir  ein  swlikeit. 
Der  ganze  mittelteil,  dh.  also  eigentlich  das  lied,  spielt  näm- 
lich   mit    dem    als    Stichwort    aus    dem    vorhergehnden    liede 
übernommenen  begriff    der   huote   (in    Lichlensteinischer  Um- 
bildung, s.  s.  8).   hier  zeigt  sich  zum  ersten  male  die  leitende 
bedeutung  des  Stichworts  für  die  composilion  :  anfangs-  und 
schlussstrophe  haben  es  nicht,  die  drei  hauptleilslrophen  da- 
gegen sind    erfüllt  von  hueten  und  huote,  die  mittelste  hat  es 
drei-,  die  zweite  und  vierte  je  eiumal. 
Die  erweiterung  des  mitlelteiles  schreitet  fort: 
1  str.  -4-  4  str.  -f-  1  str. 

xiv  :  auch  hier  leitet  schon  das  Stichwort  auf  die  richtige 
erkenntnis  der  composilion.    eine  einleituugsstrophe,  unglück 


44  BRECHT 

durch  seine  dame,  am  ende  mit  Vorbereitung  auf  das  Stich- 
wort (399,  13 — 15),  das  aber  —  raffiniert  —  auch  am  anfaug 
der  zweiten  Strophe  noch  nicht  erscheint,  sondern  diese  holt 
noch  einmal  aus  und  kommt  erst  in  ihrer  mitte  auf  das 
wünschen,  das  nun  die  vier  mittelstrophen,  bis  zur  mitte 
der  vierten  Strophe,  erfüllt,  intensivster  ausdruck  des  lied- 
inhaltes,  also  höhepunct,  genau  an  der  mittelachse, 
400,  10.  11; 

er  [der  wünsch)  wünschet  dar  [an  ir  munt]  wol  tüsent  stunt, 
näher  unde  naher  baz  und  aber  baz. 
Eine  schlussstrophe  :  sie  verlassen?     nein  1  — 

Dasselbe  Schema  der  Symmetrie  ligt  trotz  anderem  an- 
schein  vor  in  xliii.  Strophe  1  :  einleitung,  freude  durch 
seine  dame;  Strophe  2 — 5  :  der  grund  davon  :  ihr  lachen  — 
Stichwort,  nur  in  diesen  Strophen  vorkommend,  dieser  mittel- 
teil  ist  durch  übergreifen  eines  Strophenpaares  über  das 
andre  weiter  modificiert.  Strophe  2  kündigt  der  herrin 
zweier  hande  lachen  (521,  1)  an,  Strophe  3  preist  einez  (521,7) 
davon,  Strophe  4  das  andere,  Strophe  5  nimmt  das  motiv  von 
Strophe  2  ausleitend  wider  auf. 

Der  schluss   sollte   nun    der  Symmetrie  wegen  nur  6ine 
Strophe  umfassen,  es  sind  aber,    da  er  gerade  die  Schönheit 
der  dame  preist,    unversehens  zwei  daraus  geworden   (str.  6 
u.  7)  :  ein  fall,  der  noch  öfter  begegnet.     Schema: 
1  str.  4-  4  str.  +  2  str. 

Die  Symmetrie  ist  also  nicht  fehlerlos  zum  ausdruck  ge- 
kommen; die  structur  des  gedichts  ist  deswegen  doch  sym- 
metrisch, und  zwar  ohne  höhepunct  :  Strophe  3  und  4  bilden 
gleichmäfsig  den  gipfel,  Strophe  2  steht  5,  Strophe  1  steht 
6  und  7  gleich,     um  es  einmal  als  curve  darzustellen : 

III — IV 

/  \ 

n  v 

/  \ 

I  VI — VII. 

Die  vergröfserung  des   mittelteiles   erreicht,   da  Ulrich  über 
siebenstrophige  lieder  nicht  hinausgeht,  ihren  gipfel  in  der  form: 

1-1-5  +  1: 

xx.  Strophe  1  :  klagender  anruf  aller  edeln  frauen  ;  Strophe  2 
bis    6    klage    über   seine    dame,    mit   höhepunct  an   der    ge- 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  45 

natien  mittelachse,  in  der  ganzen,  hoch  pathetischen 
vierten  Strophe  :  Si  rouberinne  etc.  Strophe  7  guter  ab- 
sclilnss  :  drohung.  —  das  ansteigen  der  erregung  in  Strophe  2 
und  3,  ihr  nachlassen  in  den  nur  nachtrage  gebenden,  mühsam 
verschweigenden  Strophen  5  und  6  ist  unverkennbar,  be- 
sonders charakteristisches  gedieht,  um  so  hervorragender,  als 
es,  nach  dem  wahren  ausdruck  der  empfindung  zu  schliefsen, 
offenbar  im  affect  gemacht  ist.  die  subjeetive  Wichtigkeit  des 
hauptteiles  erklärt  natürlich  hier  seine  grofse  ausdehnung. 

Lvii.  str.  1  :  einleitung  :  wünschen  macht  dem  dichter 
freude.  str.  2 — 6  :  sein  wünsch  führt  ihm  die  vision  vor,  die 
in  der  mittelsten,  vierten  Strophe,  als  hauptin  halt  des 
gedichtes,  geschildert  wird  : 

Zuo  uns  kam  diu  werde  Minne 
unde  slöz  uns  beide  vaste  in  ein  usw. 
str.  2  und  3  führen  zu  dieser  Strophe  hin,  indem  2  ihren 
Inhalt  ankündigt,  3  ihn  mit  verhüllenden  Worten  andeutet, 
das  Stichwort  wünschen  behalten  beide  noch  bei.  nachdem 
das  ziel  des  wünschens  aber  offen  beschrieben,  leiten  5  und  6 
wider  zurück,  indem  5  im  allgemeinen  die  umarmung  preist, 
6  im  besondern,  auf  Ulrich  (Ich  583,  13)  und  seine  hoffnung 
bezogen,  als  schluss  (str.  7)  dient  hier  einmal  ein  allgemeiner 
minnesatz  (der  sich  aus  dem  vorhergehnden  ergebende),  wie 
er  sonst  gelegentlich  den  a  usgangsp  u  net  bildet;  das  ganze 
gedieht  bis  dahin  ist  ja  rein  persönlicb.  wäre  nicht  der 
deutlich  symmetrische  aufbau  mit  seinen  proportionen,  so 
würde  man  das  lied  gewissermafsen  als  nach  dem  schema 
6  Strophen  specielles  +  1  Strophe  allgemeines  (umkehrung 
der  compositionsart  C)  gebaut  aulfassen  können,     curve: 

/,V\ 

/UI  \ 

i.  vi 

v  VII 


Der  erweiterung  fähig  sind  natürlich  auch  anfang  und  schluss. 
in  vier  fällen  findet  die  erweiterung  statt,  ohne  dass  der  mittel- 
teil  ebenfalls  vergröfsert  wird,  infolgedessen  wird  die  Vorwärts- 
bewegung eine  gauz  andere,    der  mittlere  teil  gerät  als  haupt- 


teil in  gefahr. 


46  BRECHT 

Die  einfachste  ervveiteruug  bietet  das  Schema  : 

2  +  1  +  2: 

xin.  str.  1  und  2  enthalten  als  einleitung  den  preis  des 
maien  und  den  vergleich  der  dame  mit  ihm;  wie  er  möge  sie 
dem  dichter  trost  gewähren,  welcher  trost  dies  sein  soll, 
deutet  die  dritte,  mittelste  Strophe  an ;  sie,  und  mit  ihr  das 
ganze  gedieht,  gipfelt  in  den  sehnsüchtig-pathetischen  fragen 
(mittela  chse) : 

Wenne  kumt  mir  freuden  schin? 

wenne  wiltu,  soelic  frowe,  gefreun  daz  sende  herze  min? 
str.  4  und  5  gehören  zusammen  wie  1  und  2.  sie  schliefsen 
ab,  indem  sie  die  dame  bitten,  den  dichter  allen  guten  frauen 
zu  lassen,  oder  besser,  nach  dem  vorbilde  guter  frauen  ihn 
zu  erhören,  an-  und  abstieg  sind  besonders  deutlich  ab- 
gesetzt. 1  und  2  sind  parallelstrophen,  in  denen  doch 
dadurch,  dass  die  einzelnen  Wendungen  deutlicher  werden  und 
widerholten  fragen  widerholte  autwort  folgt,  sich  eine  unauf- 
dringliche Steigerung  zur  miltelhöhe  vollzieht  :  ein  hauptkunst- 
mittel  Ulrichs. 

xxxv    ist    genau    entsprechend    gebaut,     die  beiden  ersten 
Strophen,  parallelen   inhalts,  warnen  vor  dem  winter,  die 
mittelste  (3)  rät  das  hauptmiltel  gegen  ihn,  man  solle 
—  in  die  Stuben  wichen, 
da  mit  iciben  wesen  vrö. 
dies  ist  der  kern  des  gedichts,    genau  in  der  mitte  (achse). 
gleichzeitig  stellt  die   Strophe   den    Übergang  zu  str.  4  und   5 
dar,    die    mit   dem    nun    allgemeiner   gefassten  gedanken,    die 
frau  sei  des  mannes  trost,  den  naheliegenden  abschluss  bilden, 
eine    leichte    Verengerung   lässt  sich   in    den    beiden  parallel- 
strophen 1  und  2  bemerken  —  das  hiuser  splsen  der  zweiten 
Strophe  446,  11   führt  schon  auf  die  stuben  der  hauptslrophe, 
während    die    Warnungen    der    ersten    ganz    allgemein   waren; 
eine  deutlichere  findet  von  4  zu  5  statt  :  4  gilt  Ulrichs  liebe 
aller  frauen,  5  der  liebe  speciell  seiner  dame.  — 
Beginnen  schon  bei  diesem  Schema  anfang  und  schluss  den 
Charakter  selbständiger  gedichtteile  anzunehmen,  so  wird  bei  noch 
gröfserer  ausdehnung  dieser  partieen  gar  die  aufteilung  des  gedichts 
auf  zwei  gedanken  erreicht,  die  mittelste  Strophe  verliert  ihren 
Charakter  als  rest  des  hauplteils  und  erhält  einen  neuen  sinn. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  47 

3  +  1  +  3 : 

XLI.  slr.  1  —  3  :  der  dichter  sehnt  sich  in  das  herz  der 
dame,  mit  ihm  sein  höher  muot  (erstes  motiv);  slr.  5 — 7  : 
sein  höher  muot  ist  bereits  mit  ihr  in  seinem  herzen  (zweites 
motiv):  str.  4  verbindet  nun   beide  motive  : 

ich  hän   in   [nämlich    den   höhen  muot]  zuo  dir  geslozzen 

in  min  herze  — , 
genau  in  der  mitte  des  gedichts  (516,  3.  4,  m  ittelachse); 
der  hauptteil  ist  zur  übergangsstrophe  herabgesunken,  in  der 
allerdings  noch  die  quiniessenz  des  gediente,  aus  der  Ver- 
schmelzung beider  motive  hervorgegangen,  enthalten  ist.  geuau 
ebenso   verbindet  in 

xl\ii  die  mittelste  Strophe  (4)  die  zwei  motive  des  gedichts, 
den  preis  des  ganzen  weiblichen  geschlechts  (str.  1 — 3),  mit 
dem  speciellen  lob  seiner  herrin  (slr.  5 — 7),  in  sehr  geschickler 
weise  : 

durch  si  e're  ich  elliu  wip, 
so  verschmilzt  der  mittelste  vers  der  Strophe,  der  den  gedank- 
lichen   höhepunet    des    gedichts    darstellt    (genaue    m  ittel- 
achse   545,  27),    das   miner  vrowen   güete    im    ersten   mit 
allen  vrouwen  im  letzten  verse  derselben  Strophe.  — 
Eine    normalere    entwickluug    fiudet   statt,    wenn    mit    dem 
anfangs-  und  schlussteil  zugleich  auch  der  miniere  erweitert  wird, 
hierbei  wird  der  hauplteil  geschützt,  und  die  allen  proporlionen 
geraten  nicht  ganz  in  Vergessenheit. 

Alle  drei  teile  schwellen  um  je  eine  Strophe  an  : 
2  +  2  +  2: 

xxrv.  dem  einleitungsgedauken,  der  die  Sehnsucht 
nach  freude  und  ehre  ausdrückt  (str.  1—2),  folgt  als  haupt- 
teil die  anküudigung  des  enlschlusses,  der  sorge  valet  zu 
sagen  und  sich  der  freude  zu  ergeben  (str.  3 — 4).  den 
schluss  bildet  die  schon  am  ende  des  hauptteils  (421,  15) 
angedeutete  angäbe  des  mittels  zu  künftiger  freude  :  ein  guot 
wip  (str.  4 — 5).  —  die  drei  Strophenpaare  sind  analog  gebaut. 
1 — 2  und  3 — 4  respondieren  geradezu,  indem  1  wie  3  einen 
allgemeinen  satz  ausführt,  dem  in  2  wie  in  4  der  eigene 
speciallall  folgt  (ich  erst  am  ende  von  1  und  3,  420,  22. 
421,8;  dagegen  in  2  und  4  vom  ersten  verse  ab  durch- 
gehend) :  der   alte    compositionslypus,   allgemeiner  satz    und 


48  BRECHT 

persönliche  nutzanwendung,   hier  wird   also  einmal  zur  glie- 

derung  von  gedichtteilen   verwant.     aber    auch  von  5  zu  6 

fiudet,  wenn  auch  weniger  ausgeprägt,  eine  gewisse  speciali- 

sierung  in   den  hezeichnungen  für  die  erhoffte  freundin  (von 

guotiu  wip  bis  die)  statt,    der  schluss  knüpft  mit  ere  (422,  10), 

die  triiren  verhindert  (422,  10),  an  den  eingangsgedanken,  die 

gleichsetzung  von  freude  und  ere  (420,  23.  24),  wider  an.  — 

Der  hauptteil  wird  um  eine  Strophe  mehr  erweitert  als  anfang 

und  schluss.     es  entsteht  der  schön  proportionierte  aufbau 

2  +  3  +  2: 

xxii.  einleitung:  preis  der  guten  frauen  (str.  1 — 2); 
hauptteil  :  Scheidung  der  guten  von  den  falschen  (Übergang 
str.  3  v.  1 — 3),  polemik  gegen  seine  falsche  herrin  (str.  3 — 5); 
schluss  :  rückkehr  zum  preis  der  guten  frauen,  denen  die 
trennung  von  den  falschen  nur  zum  segen  gereichen  kann 
(str.  6 — 7).  —  dies  lied  ist  ein  prototyp  der  gedichte,  deren 
bau  man  als  Vervollständigung  des  typus  C  auffassen  kann  : 
str.  1 — 2  allgemein,  3 — 5  speciell,  persönlich,  6  —  7  wider 
allgemein,  str.  1 — 5  allein  wäre  als  Lichtensteinscb.es  lied 
nach  schema  C  2  +  3  durchaus  möglich  gewesen. 

xxxii.  begrüfsung  des  höhen  muotes  im  herzen  des  dichters 
(str.  1 — 2,  einleitung).  preis  der  frau,  die  ihm  den  höhen 
muot  gesendet  hat  (str.  3 — 5,  hauptteil),  sie  mit  ihm  zu- 
sammen in  des  dichters  herzen,  ausdruck  der  freude  wie  zu 
anfang  (str.  6 — 7,  schluss). 

xxxix.  der  winter  ist  widergekommen;  das  schadet  nichls: 
dem  dichter  hat  ein  weih  höhen  muot  gesendet  (vgl.  xxxn; 
str.  1  —  2,  einleitung).  preis  ihrer  vornehmen  und  huld- 
voll-anmutigen haltung  (str.  3 — 5,  hauplteil).  Schilderung 
ihres  äufseren,  ihrer  färben  braun,  rot,  weifs,  ihrer  art  sich 
zu  bewegen  (str.  6 — 7,  schluss). 

xliv.  dem  gewöhnlichen  einleitungsgedanken  :  höher 
muot  des  dichters  durch  ein  wip  (str.  1 — 2),  folgt  als  haupt- 
teil die  Schilderung  seiner  freude  über  ein  wort  der  dame 
zu  ihm  (str.  3 — 5,  das  Stichwort  wort  wider  nur  in  diesen 
drei  Strophen,  deren  letzte  in  ihrer  Verallgemeinerung  bereits 
den  Übergang  zum  folgenden  vorbereitet),  den  schluss 
macht  die  schon  in  den  letzten  zwei  versen  der  dritten  Strophe 
angekündigte  aufzählung   alles   guten,     was   er  von    ihr    hat 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  40 

(str.  6 — 7,  durch  anfangsanaphora  der  ersten  zeile  zusammen- 
gehalten). 

Diese  vier  lieder  haben  sämtlich  keinen  markierten  höhe- 
punct.  in  den  anmutigen  Verhältnissen  der  compositum  beruht 
ihre  ganze  würkung.  wol  nicht  zufällig  sind  bei  ihnen  die 
teile  besonders  deutlich  abgesetzt,  man  vergleiche  die  schallen 
teilgrenzen  des  xxn  liedes,  anfang  von  str.  3  und  6;  des 
xxxix  desgl.,  507,  27  und  508,  22;  und  namentlich  des  xliv, 
in  dem  die  eiusätze  Mit  rölsüezem  munde  —  524,  26  und 
Ich  hdn  von  ir  ere  —  525,  15  besonders  Irisch  würken.  die 
lieder  gehören  in  vieler  hinsieht  zu  den  gelungensten  Dlrichs. — 
Nach  demselben  Schema  gebaut,  aber  im  einzelnen  etwas 
anders  behandelt  ist  das  lied 

vhi.  thema  ist  hier  ein  metaphorisches  bild  :  der  dichter 
hat  seine  herrin  in  sein  herz  gelegt  (vgl.  soeben  xxxn  und 
s.  oben  s.  22).  dieser  gedanke  wird  in  der  ersten  ein- 
lei  tungsstrophe  (1)  sogleich  als  bild  angedeutet  (gevangen 
—  in  fanden),  die  zweite  einleitungsstrophe  führt  nur  den 
bildlosen  nachsatzgedanken  der  ersten  Strophe  aus.  erst  die 
dritte  nimmt  das  bild  wider  auf,  und  beginnt  so,  indem  sie 
zunächst  nur  die  Werkzeuge  der  fesselung  namhaft  macht,  den 
hauptteil,  dessen  mitte  in  str.  4  erst  den  höhepunet  des 
gedachtes  darstellt,  hier  sagt  der  dichter  endlich,  in  welches 
gefängnis  er  die  herrin  gelegt  hat  und  wer  dort  ihr  loos  teilen 
muss  (126,12 — 15,  mittelachse,  hervorgehoben  durch 
pathetische  anfangsanapher  zweier  verse).  den  hauptteil 
schliefst  die  erörterung  der  freilassungsaussichten  in  str.  5. 
die  Strophen  6  und  7  verraten  zum  schluss  in  nüchterner 
rede,  welcher  gedanke  hinter  dem  bilde  steckte;  nämlich, 
dass  die  dame  den  dichter  nicht  verhindern  könne,  so  oft 
und  so  herzlich  an  sie  zu  denken,  wie  er  wolle. 

Die   teilmotive   sind   also    hier   nicht   verschiedene    unter- 
gedanken    wie   bei  den  vorhergehnden  liedern  desselben  auf- 
baues,   sondern   nur  verschiedene  arten   den   einen,   sogleich 
vorgebrachten  grundgedanken  auszudrücken  :  angedeutet-bild- 
lich,  in  voller  ausführung  des  bildes,  unbildlich,     dabei  lässt 
sich  natürlich  ein  höhepunet  in  die  mitte  legen, 
b.  Vierteilige   lieder. 
Einige  lieder  sind   vierteilig   gebaut,     der  grund  ligt  darin, 
Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXXVII.  4 


50  BRECHT 

tlass   sie   sämtlich  zwei,  mehr   oder  weniger  selbständige,  motive 
behandeln;  dadurch  wird  der  hauplteil  in  zwei  weitere  teile  zerlegt. 
Das  einfachste  schema  ist 
l-f-2  +  2  +  1: 

in.    str.  1  :        huldigung  an  die  herrin  (einlei tung). 

-  2 — 3  :  seine  bisherige  pagenhafte  Verehrung,!  — 

-  4 — 5  :  sein  jetziger  minnezustand  und  seine/  s  "Z 

zukünftige  hoffnung.  |£, 

-  6  :        ablehnung  der  niederen,   preis   der  hohen 

minne  (schluss). 

Es  handelt  sich  hier  also  noch  nicht  um  nebeneinauder- 
stellung  zweier  selbständiger  motive;  vielmehr  kommt  die 
zwiefältigkeit  des  hauptteils  dadurch  zustande,  dass  das  eine 
grundmotiv  des  gedichts,  die  nunmehr  offen  bekannte  minne 
des  dichters,  von  zwei  seiteu  angesehen  wird,  vom  standpunct 
der  Vergangenheit  und  von  dem  der  gegenwart  aus  (ebenso 
wie  oben  beim  zweiten  scheltliede  xxi  sein  ungliick).  jedes 
der  hierdurch  entstandenen  teilmotive  wird  in  einem  strophen- 
paar  parallelen  inhalts  ausgeführt,  str.  3  variiert  nur  im 
ausdruck  den  Inhalt  von  2,  str.  5  den  von  4  (vgl.  zb.  58, 
11.  12  mit  58,  5.  6;  58,  15  mit  58,  8;  58,  29  mit  58,  21). 
str.  2  wird  mit  3  durch  die  nur  ihnen  gemeinsamen  slichworte 
rät  und  riet  (58,  5.  9.  13)  und  durch  die  charakteristischen 
präterita  formal  zusammengehalten,  4  und  5  durch  das  über- 
gehn  der  rhetorischen  fragen  gleichen  sinnes  mit  anfangs- 
anapher  von  einer  Strophe  in  die  andre,  als  Übergang  zum 
Schlüsse  bringt  schon  der  letzte  vers  der  fünften  Strophe  das 
neue  Stichwort,  das  die  sechste  sogleich  stark  betont  aufnimmt, 
um  so  das  einsetzen  des  finales  zu  markieren. 

Genau  entsprechend  ist  der  bau  des  liedes 

xxvni,  nur  dass  hier  würklich  zwei  selbständige  motive 
nebeneinandergestellt  sind. 

Strophe  1  :  der  mai,  die  paarzeit  (einleitung). 

^   parallel-  2 }  .         ..  ,         .  . ,  ,.  .  . 

.„  >  zu  "Zweien  gibt  es  kein  leid  (l.motiv). 
Strophen  3/  D 

parallel-  4)    stete   liebe    heifst  minne,    sie  gibt  stete   freude 

Strophen  5  /  <2.  motiv). 

Strophe   6  :  Verschmelzung    der    motive    und    weudung    aufs 

persönliche  :  wünsch  des  dichters,  stete  liebe  zu 


- 


s 

CS 


ULRICH  VON  LICIITENSTEIN  51 

linden    und    damit    alle    sorge    zu    Überwinden 

(s  c  I)  I  u  s  s). 

str.  2  drückt  ihren  gedauken  affirmativ  und  negativ,  Btr.  3 

denselben  nur  affirmativ  aus.     beide  werden  Bürgerlich  durch 

Strophenanapher  (Swd  — ;  dasselbe  wort  zur  markierung  des 

atrophen  Übergangs  aufserdem  429,  22)    und   durch  widerkehr 

derselben    stichworte    liep,    liebe    zusammengehalten,      ebenso 

str.  4  und  5  durch  widerholte  spielende  anwendung  des  neuen 

Stichworts  stiete.  — 

Anfang  und  schluss  schwellen,  aufserlich  unsymmetrisch,  an, 

wahrend  iler  miltelteil  auf  die  halfte  des  umfangs  reduciert  wird  : 

2  +  1  +  1  +  3: 

liii.  str.  1 — 2  :  die  einleitung  ist  auf  zwei  Strophen 
angeschwollen,  weil  sie  den  (nur  angedeuteten)  natureingang 
(frühling)  mit  Ulrichs  alter  lieblingsvorstellung,  dem  höhen 
inuot,  verschmilzt. 

hauptteil.  str.  3  :  erstes  motiv  :  güete  und  stiele  sind 
die  besten  schminkfarben  für  eine  frau,  die  schoene  bleiben  will, 
str.  4  :  zweites  motiv  :  wip  und  frowe   gehören    zusammen. 

str.  5 — 7  :  der  schluss  bringt  wider  die  Wendung  aufs 
persönliche,  ohne  den  (allerdings  wol  aussichtslosen)  versuch 
zu  machen,  die  heterogenen  motive  des  hauplteils  zu  ver- 
schmelzen, vielmehr  betont  der  dichter  nur  seine  eigene  lieh 
566,  24)  frauenverehrung,  und  zwar  zuerst  die  aller  frauen 
(str.  5),  dann  die  seiner  herrin  (str.  6 — 7).  die  letzte  Strophe 
vereinigt  widerholt  die  stichworte  des  gedichts  :  höchgemüete, 
güete,  scheene,  e're. 

Dass  Ulrich  zuletzt  auf  das  lob  seiner  herrin  kommt,  hat 
hier  wie  in  xliu  (s.  oben)  den  schlussteil  um  eine  Strophe 
zu  grols  gemacht. 

Das  lied  zeichnet  sich  durch  einen  bei  Ulrich  auffallenden 
mangel   an    übergangen   zwischen    den    einzelnen   teilen   aus. 
der  roh  zusammengeflickte  cento  ist  offenbar  in  einer  schlechten 
stunde  entstanden  l.  — 
Die   durch   die   doppelheit   der   motive   hervorgerufene   vier- 
teiligkeit dieser  lieder  ist  die  Ursache,  dass  sie  alle  keinen  höhe- 

1  wenn  die  beiden  mit  ihren  motiven  hart  nebeneinandergesetzten 
Strophen  3  und  4  nicht  auch  dann  störten,  könnte  man  das  lied  auch  nach 
dem  Schema  :  4  str.  allgem.  +  3  str.  persönl.  (ich  566,  24)  gebaut  auffassen. 

4* 


52  BRECHT 

punct  halien.  die  motive  des  mittelleils  stehn  unverbunden  neben- 
einander, werden  sie  durch  eine  Strophe  verbunden  (wie  oben, 
abschnitt  b,  beim  Schema  3  -+-  1  -f-  3 ,  lied  xli  und  xlvii),  so 
entsteht  ein  neuer,  bei  weitem  besser  rhythmisierter,  fünfteiliger 
gedicbttypus. 

Die  funfleilung  ist  aber  auch  auf  anderem  wege  möglich, 
c.    Fünfteilige  1  i  e  d  e  r. 

Derselbe  gedanke,  von  Strophe  zu  Strophe  anders  gewendet, 
ergibt  bei  einfacherer  ausfiihrung  das  Schema  1  +  1  +  t  (s.  o.), 
bei  kunstvollerer 

l  +  l  +  l+l  +  l: 

xr.  das  gruudmotiv  ist  des  dichters  wünsch,  die  frauen 
möchten  ihm  endliches  gelingen  seiner  hoffnungen  bei  seiner 
herrin  wünschen,  seine  bebandlung  von  str.  2 — 4  würde  an 
sich  vollkommen  hinreichen  :  str.  2  apostropbe  an  die  frauen. 
mit  Zurückbeziehung  auf  die  eben  beendigte  Venusfahrt  (322,  9) 
und  ankündigung  des  themas,  str.  3  mit  dem  thema  selbst, 
dessen  breiter  ausdruck  in  der  mitte  des  gedichts,  spec.  322, 
17 — 21,  den  höhepunct  darstellt  (mittelachse),  str.  4  als 
abschluss  mit  dem  ausdruck  der  unerschütterlichen  hoffnung, 
in  eine  volltönende  metapher  auslaufend,  um  dies  corpus 
von  drei  Strophen  ist  nun  aber  noch  eine  Umrahmung  von 
zweien  herumgelegt :  eine  allererste  einleitu  ngsstrop  he  (1), 
die  eine  Verbindung  mit  dem  vorhergehnden  liede  (x),  vor 
der  Venusfahrt,  bersteilen  soll,  indem  sie  frau  Minne  apo- 
strophiert wie  lied  x  und  auf  ibren  nun  vollzogenen  befebi 
hinweist  (s.  oben  s.  5),  und  eine  endgiltige  seh luss Strophe 
(5),  die  nur  eine  wortreiche  widerholung  der  vorhergehnden 
ist.  beide  Strophen,  1  und  5,  sind  vom  dichter  als  zusammen- 
gehörig empfunden  worden,  denn  der  schluss  von  5  (ir  güete 
ist  so  guot  323,  5)  nimmt  den  von  1  mit  seinem  sticbwori 
{ir  sit  doch  guot  322,  7)  wider  auf.  kommt  durch  den  anfang 
von  str.  1  mit  seiner  Wendung  an  frau  iMinne  schon  eine 
doppelte  apostrophe  in  den  eingang  des  liedes,  so  durch  ihren 
schlussvers,  dem  das  letzte  citat  entnommen  ist,  gar  eine 
dreifache :  er  fasst  nämlich  frau  Minne  und  seine  dame  in 
neuer  anrede  zusammen;  die  würkung  ist  barock,  viel- 
leicht sind  die  erste  und  die  fünfte  Strophe  würklich  erst 
später  hinzugedichtet. 


ULKICI1  VON  LICHTENSTEIN 

[t,is  \ii  lied,    eine   technische   glanzleistung,    zeigl    einen 
wundervoll  ansteigenden  und  absinkenden  symmetrischen  auf- 
liau.     in  slr.  I   beglückwünsch!    sich  Ulrich    selbst  zu    Beiner 
minne,    in  sir.  2  denkl  er  an  das  ziel    seines  Wunsches,    in 
str.  3  bittet  er  flehentlich  (Min  liende  ich  valde  394,26)  um 
die    erfüllung    dieses    Wunsches    (pathetischer    ausdruck    der 
quintessenz  des  gedichts,   mit  eindringlicher  anfangsanaphora 
395,2.  3;  höbepunet  an  der  mittelachse),  in  str.  1  macht 
er  sich  sorgen,   wie   er  ihr  seinen   langjährigen    Irenen    dienst 
würdig  kundtun  soll,    in  der  schlussstrophe  5    kehrt  er  zum 
ausdruck  der  hoffnung  (395,  9)    und   seines   schon  jetzt  vor- 
handenen liebesglückes  (395,  11,    vgl.  den   anfangsgedanken) 
zurück.  — 
Der  mittlere  teil  schwillt,  der  Wichtigkeit  seines  inhalts  ent- 
sprechend, an,    die    zweite  und  fünfte  Strophe  werden  als  über 
gangsslrophen   zu    und    von    dem    massiver  gewordenen  hauptteil 
ausgebildet,    aus    einem    schon    früher    würksamen    seeundären 
gründe  (vgl.  oben  xliii  und  lui)  gerät  der  schluss  zu  lang,  zum 
schaden  der  genauen  Symmetrie  : 
H-H-2  +  1  +  2  (stall    1   : 
xvi  (erste  üzreise). 

eingangsstrophe     1),    allgemeiner   minnesalz  :   euip- 

fehlung  der  minne  um  iler  ere  willen, 
überga  ngsstrop  he  (2),  Übergang  von  der  minne  zum 
schildesamt    (schilde   404,  4)   :   minne    als    lohn    des 
schiidamtes. 
hauptteil   (3 — 4)  :  ethik    des   schildesamtes,    in    zwei 

parallelstropheu,  objeetiv-didaktisch  vorgetragen. 
übergangsstrophe  (5)  :  Übergang  vom  Schildesamte 
zur  minne  zurück  :  nur  den  ehrenhaften  rilter  sollen 
die  trauen  minnen. 
schluss  (6 — 7)  :  Wendung  aufs  persönliche  :  trotz  seines 
langen  Schilddienstes  erhört  ihn  die  herrin  nicht;  ei 
waffnet  sich  mit  geduld  und  treue. 
Die  tendenz,  seiue  persönlichste  angelegenheit  an  den  schluss 
zu  legen,    hängt    sicher   mit   der   eingewurzelten  neigung  seines 
denkens   zur    teilung    in    allgemeines    und    specielles    zusammen, 
iusofern    schimmert    sogar    in    den    bestgebauten    symmetrischen 
gedichten  jener  compositionstypus  durch. 


54  BRECHT 

Da  in  diesem  Hede  zwei  gleichgeordnete  Strophen  die  mitte 
bilden,  entbehrt  es  eines  bestimmten   höhepunctes. 

Die  beiden  zwischenstrophen  (2  und  5)  hatten  liier  den 
zweck,  den  Übergang  zum  hauptteil  und  von  ihm  zum  schluss  zu 
vermitteln,  eine  einzelne  zwischenstrophe  kann  aber  auch  selbst 
in  die  mitte  treten;  wenn  es  sich  nämlich  darum  handelt,  zwei 
grundmotive  eines  gedichts  zu  verbinden,  damit  sind  wir  bei 
dem  am  ende  des  letzten  abschnittes  (b)  entwickelten  typus  wider 
angelangt. 

Das  in  seiner  iibergangslosigkeit  harte  Schema  1  -}— 2  -f-  2  -f-  1 
erweitert  sich  also  zum  Schema 

1  +  2  +  1  +  2  +  1, 
nach    dem    drei,    sämtlich  der  spätzeit  angehörige   lieder   analog 
gebaut  sind. 

LI. 

1  einleitungsstrophe:  trauen  sollen  vrö  mit  zühten  sein. 

2  Strophen  mit  dem  ersten  motiv :  das  weibliche  ideal. 
1  Strophe  (2)  :  hauptsache  ist  die  güete, 

1  Strophe  (3)  :  der   womöglich    die    schoene   sich    gesellen 
soll;  das  beste  ist  die  Vereinigung  güete  bi  schoene. 

1  Verbindungsstrophe  (4):  welchen  mann  soll  nun  solch 
weih  lieben?  es  gibt  so  viel  falsche  mänuer  —  (Sied  ein 
guot  wip  minnen  wil,  diu  sol  minnen  usw.)1. 

2  parallelstrophen  mit  dem  zweiten  motiv  (5  u. 6): 
antwort  :  den,  der  seine  mannesehre  gehütet  hat.  die 
Strophen  sind  zusammengehalten  durch  Stichwortübergang, 
guot  wip  561,  8  u.  9,  und  durch  chiastischen  gedanken- 
ausdruck  in  den  beiden  Strophen  :  derselhe  gedanke  geht 
in  str.  5  von  Swelch  man  —  bis  guot  wip  — ,  in  slr.  6 
von  Ein  guot  wip  —  bis  swelch  man  —  561,  13. 

1  schlussstrophe  (7)  :  die  übliche  wendung  aufs  persön- 
liche :  Ulrich  bemüht  sich,  diesem  ideal  nahe  zu  kommen, 
höchstes  lob  der  herrin  :  wiplich  wip. 

Die  verbinduug  beider  motive  wird  also  hier  durch  ein- 
fache Überleitung  bewürkt.    — 

1  ich  schlage  nach  neme  560,  28  fortlassung  des  interpunetionszeichens 
vor.  561,1.  2  gibt  noch  nicht  die  antwort,  die  vielmehr  erst  mit  dem  ein- 
satz  der  nächsten  Strophe  beginnt,  der  561,  1  bezieht  sich  auf  xoen  560,  28 
zurück;  man  beachte  die  attrahierten  conjunetive  hüele,  si  561,  1.  2. 


ULIU<  II  VON  LICHTENSTEIN 

Organischer  ist  die  Verbindung  im 

lv.  liede.   das  erste  grundmotiv  tritt  wider  von  vornherein 
als  metapher  auf  (vgl.  vni). 

1  ei nleitungss troph e  mit  ankündigung  des  ersten 
motivs  (I)  :  der  dichter  ist  froh,  ein  himmelreich  auf 
erden  gefunden  zu  haben. 

2  Strophen  mit  ausführung  des  ersten  motivs: 
damit  meint  er  das  herze  seiner  dame,  in  dem  alle  lugen* 
den  hausen. 

1  Strophe  (2)  :  allgemeine  angäbe, 

1  Strophe  (3)  :  specielle   bezeichnung    dieser    tilgenden. 

1  Verbindungsstrophe  (4)  :  des  dichters  Sehnsucht  nach 
diesem  himmelreiche  von  herzen  ist  um  so  berechtigter, 
als  es  von  einem  so  liebreizenden  leibe  umfangen  ist. 

2  Strophen  mit  dem  zweiten  motiv  (5  und  6)  :  preis 
dieses  leihes  und  seine  würkung  auf  den  dichter. 

1    schlussstrophe  (7)  :  vergleich  :  wie  der  hausen  in  der 

Donau  von  der  süfse  des  wassers,  so  lebt  Ulrich  von  dem 

hauche  ihres  mundes. 

Die  Verbindung  beider  grundmotive  in  der  vierten  Strophe 

ist  so  eng,  dass  man  sie  als  Verschmelzung  betrachten  kann. — 

lviii    beginnt    ebenfalls    mit    einer    metapher    als    erstem 

grundmotiv. 

1  einleitungsstrophe  mit  dem  ersten  motiv  (1)  :  für 
seine  minnewunden  hat  der  dichter  eine  gute  arzenei. 

2  Strophen  mit  ausführung  des  ersten  motivs  :  die 
arzenei  für  seine  herzenswunden  besteht  in  zwei  dingen, 

dem  anblick  der  herrin  mit  ihrer  Wehten  varwe  (1  Str.,  2), 
der  salbe  manches  süezen  %oortes  (1  Str.,  3). 

1  verbiudungsstrophe  (4)  :  wenn  der  dichter  diese  salbe 
brauchen  will,  sucht  er  sich  den  anblick  der  herrin  zu  ver- 
schaffen, der  ihn  denn  sogleich  vor  freude  wider  jung  macht. 

2  Strophen  mit  dem  zweiten  motiv  :  Schilderung  des 
anblicks  der  herrin, 

ihres  mundes  (1  Str.,  5) 
und  ihrer  äugen  (1  Str.,  6). 
1  schlussstrophe  (7)  :  gelöbnis  des  dienstes  für  alle  zeit. 
Die  Verbindung  der  grundmotive  ist  wider  äufserlicher,  ja 
gewaltsam.  — 


56  BRECHT 

Unzweifelhaft  ist  durch  die  eioführuog  der  mittleren  ver- 
bindungsstrophe  der  typus  des  gedichts  mit  doppelmotiv  glücklich 
verbessert  worden,  hebung  und  Senkung  des  gedaukens  wechseln 
viel  angenehmer  mit  einander  ab,  als  bei  dem  harten  aufeinander- 
prallen der  beiden  hauptmotive  in  dem  Schema  1  ■+-  2  +  2  -f-  1. 
ihrer  l'unclion  gemäfs  wird  man  die  verbiuduugsstrophe  kaum  als 
hohepunct  ansehen  dürfen,  sondern  die  gedichte  mit  doppelmotiv 
als  zweigipflig,  aber  mit  communication  zwischen  den  gipfeln, 
betrachten  müssen. 

Die  vier  letzten  lieder  sind  das  complicierteste,  was  Ulrichs 
formverstand  und  architektonische  phantasie  hervorgebracht  haben, 
der  anleil  des  gemüts  an  diesen  Schöpfungen  wird  nicht  allzu 
grofs  gewesen  sein,  als  technische  leistung  aber  bezeichnen  sie 
einen  hohen  grad  von  gewautheit.  — 

Die  symmetrisch  aufgebauten  lieder  stellen  sowol  der  zahl 
als  der  künstlerischen  bedeutung  nach  die  hauptgruppe  von 
Ulrichs  gedichten  dar.  es  sind  fast  die  hälfte  aller  58  lieder, 
27  symmetrische  gegen  31  anders  gebaute  :  5  mit  gleichmäßiger 
structur,  7  mit  Steigerung,  17  aus  allgemeinem  und  speciellem 
zusammengesetzte,  2  lyrisch-epische  (s.  unten),  dass  der  differen- 
ziertesle  gedichttypus  die  einzelnen  andern  typen  so  sehr  über- 
wiegt, ist  für  Lichtenstein  bezeichnend,  je  einfacher  die  form, 
desto  weniger  sagt  sie  ihm ;  er  ist  in  der  dichtung  wie  im  leben 
der  mann  des  complicierten,  eigensinnigen,  hochentwickelten,  der 
symmetrische  aufbau  liefs  von  allen  ihm  geläufigen  typen  die 
gröste  maunigfaltigkeit  der  behandluug  innerhalb  einer  festen 
stillbrm  zu;  eine  aufgäbe,  die  gerade  den  würklicheu  künstler 
immer  gereizt  hat;  und  man  muss  zugeben,  dass  Ulrich  eine 
grofse  fülle  von  varialionsmöglichkeiten  gefunden  hat. 

In  wie  verschiedenen  formen  saheu  wir  nicht  das  Verhältnis 
der  gedichtteile  zueinander  wechseln  1  auf  wieviel  verschiedene 
arteu  wurde  der  höhepunct  erreicht  und  verlassen;  molive  in 
parallel-  und  correspondierenden  Strophen  auseinandergezogen,  in 
Schlüssen,  in  Verbindungsstrophen  verschmolzen;  doppelmotive 
eingeführt  und  nach  bedarf  so  oder  so  behandelt,  allein  hierfür 
hat  Ulrich  vier  möglichkeiten  ausgebildet  :  er  stellte  die  moliv- 
strophen  unverbunden  nebeneinander,  entweder  breit  als  haupt- 
argumente  (1  -f-  2  -J-  2  -(-  1)  oder  zusammengeschoben  als  blofse 
poinlen  (2  — f-  1  — J—  1  -f-  3) ;  oder  er  verband  sie  durch  eine  über- 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  57 

gangsstrophe,  indem  er  sie  das  eine  mal  als  anfangs-  und  schluss- 

teil  verwertete  (3  -f  1  -f- 3)*  bei  anderer  gelegenheit  als  innere 
hau pt teile  angemessen  herausarbeitete  (1  +  2+1-4-24-1) 
solche  aufgaben  vorwiegend  sind  es,  in  deren  bewälligung  Ulrichs 
lyrische  kunst  sich  kaum  genugtuu   kann. 

Um  so  verdienstlicher,  als  er  sich,  wol  unbewust,  den  räum 
dazu  sehr  eng  abgesteckt  hat.  mehr  als  sieben  Strophen  bat  er 
nie  zu  einem  gedieht  vereinigt  l,  mit  gutem  tact,  denn  ein  sym- 
metrisches system  von  mehr  als  sieben  gliedern  zu  übersehen, 
wird  schon  schwierig,  fünfslrophigkeit  und  siebenstropbigkeit 
sind  ihm  so  gut  wie  gleich  lieb  —  jene  kommt  23 mal,  diese 
22 mal  vor  — ,  begreiflicherweise,  denn  sein  lypus  des  sieben- 
slrophigen  gedichts  ist  ja  in  den  weitaus  meisten  lallen  nichts 
als  ein  erweitertes  fünfstrophiges ,  die  grundanlage  ist  genau  die 
gleiche,  dreistrophigkeit  begegnet  nur  in  drei  liedern,  die  alle 
lauge  Strophen  haben,  kurze  ausdehnung  der  gedichte  ligi  eben 
seiuem  an  eiufallen  reichen  uud  dialektisch  gliedernden  geiste, 
Beiner  um  worte  nie  verlegenen  redegabe  nicht,  des  einstrophigen 
gedichtes,   des  Spruches  hat  er  sich  gänzlich   enthalten. 

Charakteristisch  ist  auch  das  entschiedene  bevorzugen  der 
uugeraden  slrophenzahl.  49  liedern  mit  ungerader  stropbenzahl 
stehu  9  mit  gerader  gegenüber,  unter  denen  wider  der  längere 
typus,  der  sechsstrophige,  Zweidrittelmehrheit  besitzt  gegen  den 
kürzeren,  vierslrophigeu.  die  Vorliebe  für  ungerade  Strophenzahl 
ist  sicherlich  ebenfalls  Ulrichs  gutem  formgefühl  entsprungen,  das 
gleichlange  gedichtabschnitte,  wie  sie  bei  gerader  stropbenzahl 
leicht  vorkommen,  perborrescierte 2.  gerade  stropbenzahl  kommt 
denn  auch  nur  bis  zum  jähre  1228  (xxvm)  vor,  von  da  an  gibt 
es  noch  einmal  ein  dreistrophiges ,  sonst  nur  fünf-  und  sieben- 
strophige  lieder.  an  der  siebenstropbigkeit  bat  Lichtenstein  immer 
mehr  geschmack  gefunden  :  von  den  2ö  liedern  der  ersten  minne 
(1222 — 32)  sind  nur  5  siebenstrophig,  von  den  5  in  6in  jähr 
lallenden  wdmeisen  nur  eine,  von  den  27  liedern  der  zweiten 
minne  (1233  <>  1255)  aber  16.  oder  auf  Jahrzehnte  bezogen, 
so  leidlich  sie  sich  bei  der  nur  ungleicbmäfsig  construierbaren 
Chronologie    bersteilen    lassen  :  von   1222 — 32    sind    von  29  ge- 

1  abgesehen  natürlich  vom  leich. 

2  bis  auf  eine  ausnähme,  lied  xxiv,  in  dem  einleitung,  hauptteil  und 
schluss  gleichermafsen  je  zweistrophig  sind. 


5S  BRECHT 

dichten  nur  5  siebenstrophig,  von  1232/33  —  1240/41  (lied  xl) 
schon  gut  die  hälfte,  nämlich  von  11  liedern  6;  genau  die  hälfte, 
7  von  14,  in  den  jähren  1241 — 52  (lied  liv);  und  der  rest  von 
drei  jähren,  der  noch  übrig  ist,  lässt  sich  gut  an,  denn  die  vier 
währenddessen  producierten  lieder  sind  sämtlich  siebenstrophig. 
das  heifst  :  auch  Ulrich  ist  mit  zunehmendem  alter  redseliger 
geworden,  die  wachsende  neigung  zur  didaktik,  von  den  wdn- 
wisen  an,  hat  bei  ihm  nicht  zur  prägnanz  geführt,  wie  bei  manchen 
andern,  sondern  zur  breite,  die  Symmetrie  ist  ihrem  wesen  nach 
natürlich  meist  an  die  ungerade  zahl  gebunden  :  von  27  symmetrisch 
gebauten  liedern  haben  nur  5  gerade  strophenzahl  (1  vier,  4  sechs 
Strophen);  1  ist  drei,  6  sind  fünf,  15  sieben  Strophen  lang. 

Die  zunehmende  neigung  zur  siebenzahl  der  Strophen  hängt 
ersichtlich  mit  der  entwicklung  des  Verhältnisses  Ulrichs  zur 
Symmetrie  zusammen,  geht  aber  nicht  von  vornherein  parallel 
mit  ihr,  sondern  ist  mehr  auf  rechnung  des  erwähnten  senil- 
werdens  zu  setzen. 

Seine  neigung  zum  symmetrischen  aufbau  war  von  anfang 
an  grofs,  von  1222 — 32  ist  reichlich  die  hälfte  aller  producierten 
lieder,  15  von  29,  symmetrisch  gebaut  (davon  nur  4  sieben- 
strophig); von  1232/33 — 1240/41  wird  sie  erheblich  schwächer, 
baut  von  11  producierten  liedern  nur  3  symmetrisch  (davon  2 
siebenstrophig);  bemächtigt  sich  aber  in  den  jähren  1241 — 52 
fast  der  hälfte  aller  lieder,  6  von  14  (alle  6  siebenstrophig),  und 
steigt  noch  von  da  an,  wie  der  noch  übrige  rest  von  vier  jähren 
beweist,  in  dem  von  4  producierten  liedern  3  symmetrisch  aus- 
fallen (alle  3  siebenstrophig;  das  anders  gebaute  vierte  auch). 

Man  ersieht  daraus,  dass  die  hauptsächliche  Vorstellung,  die 
Ulrich  von  formaler  harmonie,  auch  für  den  aufbau  von  gedanken, 
besafs,  von  anfang  an  die  symmetrische  war,  und  dass  diese  dis- 
position  der  phantasie  sich  trotz  Schwankungen  mehr  und  mehr 
befestigte,  selbst  die  neigung  seines  denkens,  nach  den  kate- 
gorieen  allgemein  und  speciell  zu  scheiden,  war  weit  entfernt  da- 
gegen aufzukommen,  obwol  auch  sie  schon  vom  vierten  dichtungs- 
jahre  an  vorhanden  war. 

E.   Episch-lyrische  lieder. 

Neue  compositionstypen  sind  also  im  laufe  von  Ulrichs  leben 
nicht  mehr  aufgetaucht;  die  vorhandenen  sind  schon  in  den 
ersten  7  liedern  (bis  1225)  alle  mindestens  einmal  vertreten. 


I'LRICII  VON  LICHTENSTEIN  59 

Nur  eine  ausnähme  ist  festzustellen :  der  isolierte  lypui 
der  beiden  tagelieder,  xxxvi  und  il,  die  mitten  in  Ulrichs 
poetische  periode  lallen,  in  die  zeit  nach  1233  und  in  den 
winter  1240  auf  41.  aber  auch  sie  sind  nicht  durch  äufeere 
oder  spürbare  innere  lebensereignisse  hervorgerufen.  Bondern 
durch  litterarische  tradition  vermittelt;  seihst  die  nttance,  die  Ulrich 
an  ihrem  stil  angebracht  hat  (s.  cap.  i  s.  20),  ist  trotz  aller  be- 
tonten tendenz  zur  lebenswahrheil  nur  dem  bedttrfnis  i\t%^  artisten 
entsprungen. 

Da  das  tagelied  sich  aus  lyrischen  und  epischen  bestandteilen 
zusammensetzt,  ist  auf  eine  rein  durchgeführte  einheitliche  com- 
position ,  wie  sie  der  gleichmäßig  lyrische  slolT  nahelegt,  nicht 
zu  rechnen,  trotzdem  ist  eine  gewisse  gruppierung  des  epischen 
und  lyrischen  darin   nicht  zu   verkennen. 

Entgegen  der  üblichen  art,  das  tagelied  mit  einer  kurzen 
epischen  Situationsandeutung  oder  dem  gleichwertigen  wächterruf 
einzuleiten,  lässt  Ulrich  das  erste  seiner  tagelieder  (xxxvi)  mit  der 
begruTsung  des  ritters  durch  die  frau  heginnen  (str.  1),  der  die 
antwort  des  ritters  folgt  (str.  2):  die,  übrigens  neue  (vgl.  cap.  i), 
Situation  ergibt  sich  erst  hieraus,  dieser  dialog  von  zwei  Strophen 
länge  entspricht,  auch  der  inhaltsbedeutung  nach,  etwa  dem 
einleitenden  teile  seiner  grösseren  lieder.  an  ihn  schliefsen  sich 
zwei  rein  erzählende  Strophen,  in  denen  die  kernsituation  zur 
darstell ung  kommt,  hierauf  widerum  zwei  aus  erzählung  und 
je  einmaliger  kurzer  rede  gemischte,  in  denen  zweimal  die  warnende 
zofe  aultritt,  die  (um  zwei  verse  verlängerte)  schlussstrophe  lässt 
uach  kurzer  situationsschilderung  erst  die  frau  klagen,  dann  den 
ritter  abschied  nehmen,  in  der  herkömmlichen  weise.  —  der 
dichter  hat  gut  für  abwechslung  gesorgt,  den  beiden  einheitlichen 
Strophenpaaren,  deren  erstes  nur  lyrischen  dialog,  deren  zweites 
nur  erzählung  enthält,  folgt  ein  strophenpaar,  in  dem  erzählung 
die  kürzeren  reden  überwigt,  und  eine  Strophe,  die  nach  zwei 
versen  erzählung  wider  acht  verse  dialog  bringt,  die  frau  beginnt, 
der  ritter  schliefst  das  lied. 

Im  zweiten  tagelied  (xl)  umfasst  die  einleitung,  rede 
der  zofe  (str.  1),  rede  des  ritters  (str.  2),  mit  kurzer  Situations- 
schilderung, zwei  Strophen,  es  folgt  zwischen  der  frau  und  dem 
ritter  das  eigentliche  gespräch,  das  das  hauptmoliv  des  gedichts 
bringt,    nämlich    den  Vorschlag,   den    ritter  den  tag  über  in  der 


60  BRECHT 

kemenate  zu  verstecken,  dieser  dialog  ist  zweistrophig,  wie  im 
ersten  tagelied,  und  wie  dort  folgen  ihm  entsprechende  zwei 
stropheu,  in  denen  rein  episch  der  hergang  heschrieben  wird, 
die  schlussstrophe  (7)  schildert  in  der  gewöhnlichen  weise  erst 
die  letzten  Zärtlichkeiten,  dann  die  abschiedsworte  des  ritters  (also 
kein  dialog  mehr  wie  in  xxxvi).    die  zofe  heginnt,  der  ritter  schliefst. 

Nur  in  der  höfischen  form  des  tageliedes  gibt  es  bei  Ulrich 
mischung  epischer  und  lyrischer  elemente.  auch  in  diesem 
punete  folgt  er  der  strengeren  tradition,  indem  er  sich  richlungen 
seiner  zeit,  die  ihm  stillos  scheinen  mochten,  fernhält. 

Ergebn  is. 

Ich  glaube  erwiesen  zu  haben,  dass  Ulrichs  besondere  stärke 
.  im  kunstvollen  aufbau  von  gedichtmotiveu  bestand,  bei  weitem 
mehr,  als  in  der  erfindung  solcher  motive,  in  der  er,  wie  sich 
im  i  capitel  herausstellte,  nicht  ilbermäfsig  viel  geleistet  bat. 
es  fragt  sich  nun,  wenn  man  auf  die  vielen  typen  und  Schemata 
seiner  composition  zurückblickt:  in  wie  weit  ist  sie  bewust,  in 
wie  weit  unbewust  gewesen?  wieviel  beruht  davon  auf  künst- 
lerischer absieht? 

Die  frage  ist  schwer;  denn  nirgends  ist  man  so  iu  gefahr, 
moderne  anschauungen  in  alte  Verhältnisse  zu  tragen,  als  bei 
der  absebätzung  der  grenzen,  die  bei  dem  dichter  einer  fern- 
liegenden eulturperiode  kunstgefühl  und  kunstverstand  trennten. 
ist  schon  das  selbstbewustsein  des  mittelalterlichen  menschen 
überhaupt  für  uns  schwer  nachzufühlen  und  unsere  einfühluug 
ohne  irgendwelche  gewähr  der  richligkeit,  um  wieviel  mehr  das 
eines  dichters,  bei  dem  bewustes  und  unbewustes  immer  mehr 
durcheinander  spielen  als  bei  anderen  menschen. 

Wenn  man  freilich  die  darieguugen  dieses  capitels  durchgeht, 
so  sieht  alles  sehr  bewust  aus.  allein  ich  brauche  wol  nicht 
darauf  hinzuweisen,  dass  es  nötig  ist,  begrifflich  zu  systematisieren, 
wenn  man  formen  verständlich  machen  will,  deren  werden  uns 
nur  immanent  in  eiuer  mannigfaltigen  fülle  fertiger  gebilde  voiligt. 

Die  grofseu  compositionstypen  zb.  sind  in  ihrer  Unter- 
schiedlichkeit Ulrich  selbstverständlich  nicht  völlig  klar  bewust 
gewesen,  die  lieder  gleichmäfsiger  struetur  etwa  werden  sich 
ihm  nicht  so  herausgebobeu  haben  wie  uns.  bei  den  liedern 
mit  zugespitztem  aufbau  ligt  es  schon  anders.  hier  ist  die 
Steigerung    so    augenfällig,    gar    in    den    dialogen   so    kühl    und 


I  LR1CH  VON  LICHTENSTEIN  61 

technisch  raffiniert  mit  der  messerscharfen  Bchlusspointe,  dass 
man  genötigt  ist,  dichterische  absieht  anzunehmen,  nicht  ganz 
>o  sicher  isl  die  bewuste  technik  bei  den  aus  allgemeinem  and 
s[it'cicllt'i!i  Bich  zusammensetzenden  liedern.  «loch  moste  Ulrich 
ja  blind  gewesen  sein,  wenn  er  nicht  gelegentlieh  wenigstens 
gemerkt  haben  sollt*' ,  dass  er  hin  und  wider  ein  lied  dichtete, 
in  dem  nach  einigen  allgemeinen  Strophen  ein  ich,  sein  ich, 
kam,  oder  etwa-  gleichwertiges,  an  eine  vorbedachte  composition 
glaube  icli  bei  der  großen  leichtigkeil  der  entwicklung,  die 
namentlich  in  den  ungezwungenen  Übergängen  deutlich  wird, 
lner  nicht;  wol  aber  au  eine  eingewurzelte  denkgewohnheit,  die 
jedesialls  mit  der  bestimmtheil  einer  klaren  absieht  würkte, 
sollte  sie  es  auch   nicht   gewesen   sein. 

Solche  gewöhnlich  erklart  wol  auch  die  massenhafte  produetion 
der  symmetrischen  lieder.  wessen  künstlerische  anläge  auf  formale 
harmonie  ijleichgrofser  teile  gerichtet  ist,  der  wird  immer  auf 
das  prineip  der  Symmetrie  geführt  werden,  sei  es  von  anfang 
an  bewusl  oder  nicht,  und  es  müste  seltsam  zugehn,  wenn  er 
nicht,  hei  immer  ausschließlicherer  produetion  in  dieser  form 
(s.  o.),  allmählich  selost  etwas  davon  bemerken  sollte,  der  höhe- 
I » n  11*1  in  der  mitte,  die  miltelachse,  auf-  und  ahslie^'  werden 
sich  dabei  wol  meist  von  >tlhst  ergehen  haben,  aber  gedichte  so 
complicierten  bau  es,  wie  wir  deren  viele,  namentlich  aus  den 
spateren  jähren  kennen  gelernt  haben,  mit  sorglich  abgesetzten 
anfangen  und  Schlüssen,  respondierenden  motiven,  fast  un- 
merklich den  gedanken  weiterführenden,  durch  rhetorische  Bguren 
zusammengeschlossenen  parallelstrophen,  mit  bildlichen  und  bild- 
losen teilen,  Übergangsstrophen,  vollends  solche  mit  <lc»pj>el- 
motivea  und  ausgesuchter  Verbindungsstrophe  —  deren  ent- 
slehung  kann  nur  hewust  gedacht  werden.  höchst  bewust 
sogar,  unter  aufbietung  alles  kunslverstandes  und  aller  kraft 
der  phantasie. 

Dass  einige  male  in  symmetrisch  gebauten  liedern  ein  früherer 
composilionslypus ,  allgemeines  und  specielles,  durchschimmert 
—  durch  das  ganze  zh.  in  xvi  und  LVH,  durch  teile  in  xxu  und 
xxiv  — ,  kann  nur  den  beschrankten  systematiker  stören,  wer 
gewohnt  ist,  formen  dynamisch,  als  Functionen  des  kunsttriel 
aufzufassen,  wird  solche  scheinhare  Unregelmäßigkeit  gerade  als 
bestätigung  und  als  beweis  des  lebens  ansehen. 


62  BRECHT 

Ulrich  gibt  sich  in  eingäugen,  Schlüssen,  einzelnen  Wendungen 
häufig  den  anscheiu  des  aristokratisch  sorglosen  improvisators, 
der  eigentlich  nur  aus  gesellschaftlicher  liebenswürdigkeit  dichtet, 
ist  aber  ein  bewuster  künstler.  als  solchen  zeigen  ihn  auch  die 
stellen  des  Frauendienstes,  in  denen  er  vom  hergang  bei  seinem 
dichten  spricht,  oder  ästhetisch  räsonniert.  es  ist  allerdings 
auch  vieles  in  seinen  liedern,  namentlich  in  ihrer  flüssigen  diction, 
was  wiirklich  auf  freiheit  und  leichtigkeit  der  production  schliefsen 
lässt  :  das  schliefst  aber  eine  bewuste  kunstübung  keineswegs  aus. 
bedarf  doch  gerade  der  improvisator  am  meisten  der  einsieht  iu 
die  mittel  der  dichtkunst  und  ihrer  sicheren  beherschungl  — 

Inwiefern  nun  die  technik  Lichtensteins  in  der  composition, 
speciell  der  symmetrische  typus,  sein  eigentum  ist,  oder  auch 
nur,  in  wiefern  sie  etwa  bei  ihm  besonders  ausgebildet  ist,  liefse 
sich  nur  sagen,  wenn  Untersuchungen  über  die  composition 
anderer  mittelhochdeutscher  lyriker  in  genügender  anzahl  vorlägen, 
der  vergleich  würde  dann  über  das  mafs  der  persönlichen  leistung 
Ulrichs  wie  über  seine  individuelle  anläge  in  hinsieht  auf  dichte- 
rische architektonik  entscheiden,  vielleicht  ist  das  allgemeine 
kunstgefühl  der  höfischen  zeit  auch  auf  diesem  punete  feiner 
ausgebildet  gewesen,  als  man  gewöhnlich  annimmt;  vielleicht  ver- 
langte hier  das  aristokratische  publicum  in  ähnlicher  weise 
leistungen,  wie  es  sie  in  hinsieht  auf  die  klarheit  der  sprachlichen 
form  verlangte  und  befriedigt  in  Hartmanns  versen  anerkannte, 
deren  'krystallklarheit'  unsere  gröberen  ohren  auch  nicht  mehr 
ganz  so  würdigen  können. 

Man  müste  die  compositionsweise  Ulrichs  mit  der  Wallhers, 
Reinmars  und  anderer  eingehend  vergleichen,  es  liefse  sich  eine 
arbeit  denken ,  die  aus  der  gesamten  höfischen  lyrik  eine  art 
durchschnittlicher  Vorstellung  der  dichtenden  und  vielleicht  auch 
der  geniefseuden  Zeitgenossen  von  den  aufbaumöglichkeiten  eines 
gedichts  festzustellen  suchte,  durch  vergleichung  der  compositions- 
arten  liefse  sich  vielleicht  ein  neues  kriterium  für  den  Zusammen- 
hang von  dichtem  unter  einander,  einfluss  und  abhängigkeit, 
finden,  das  geeignet  wäre,  im  eigentlich  künstlerischen  weiter  zu 
führen  als  blofse  parallelstellen,  entlehnungen  einzelner  motive 
oder  gelegentliche  berührungen  im  Wortschatz. 

Vielleicht,  ja  wahrscheinlich  teilt  zb.  Ulrich  seinen  sym- 
metrischen   typus    mit  manchem    seiner   dichtungsgenossen.      es 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  63 

handelt  sich  liier  wol  vielfach  Überhaupt  um  Uberpersönlicbe 
dinge,  um  unbewuste  lyrische  kunstgeselze. 

Es  sind  im  gründe  einfache  compositionstypen,  die  Ulrich 
hat.  auch  in  den  symmetrischen,  seinen  differenziertesten  ge- 
dichten  steigt  er  von  den  einfachsten  Verhältnissen  zu  com- 
plicierteren ,  aber  immer  noch  Übersichtlichen  auf;  daher  die 
kleinen  Strophenzahlen.  warum  lieht  er  nun  die  ungeraden 
zahlen?  weil  sie  den  auf-  und  absteigenden  gang  begünstigen, 
warum  gerade  die  untersten  primzahlen?  die  teilung  in  gleiche 
teile  —  wenn  dies  nicht  die.  einzelnen  Strophen  seilet  sein 
sollen  —  wird  durch  sie  erschwert,  hei  neun  Strophen  zh.  wäre 
man  versucht,  die  üeunteiligkeit  als  dreiteiligkeit  aus  je  drei 
zusammengehörigen  Strophen  aufzufassen.  die  höheren  un- 
geraden zahlen  sind  also  als  grundlage  der  gedichtproportionen 
ehenso  ungeeignet  wie  die  geraden  zahlen,  und  aus  demselben 
gründe.  — 

Warum  hat  das  drama  fünf  acte?  oder  drei?  warum  hahen 
die  versuche,  das  vieractige  drama  einzuhürgern,  keinen  erfolg 
gehabt?  weil  3  und  5  die  untersten  Zahlenverhältnisse  geben, 
die  anstieg,  höhepuuet,  abstieg,  oder  stofs,  gegenstol's,  syuthese 
in   teileinheiten   übersichtlich  auszudrücken   vermögen  '. 

Es  ligt  hier  wol  ein  ganz  allgemeines  und  eingeborenes 
istbelisches  bedürfnis  zu  gründe. 

DRITTES    CAPITEL. 

STIL  DES  POETISCH EN  AUSDRUCKS. 

Kunstreiche  composition  von  gedienten  bedarf,  um  augemessen 
zur  erscheiuung  und  zur  würkuug  zu  kommen,  ebenso  kunstreich 
ausgebildeter  ausdrucksmittel  im  einzelnen,  je  complicierter  die 
composition ,  um  so  höhere  anfordungen  stellt  sie  an  die  ge- 
schmeidigkeit  des  poetischen  Stils,  als  des  Werkzeuges  mittels 
dessen  die  phantasie  den  rohen  Stoff  in  die  Sphäre  des  freien 
spiels  erhebt,  das  bedürfnis,  diese  aufgäbe  zu  bewältigen,  hat 
auch  bei  Ulrich  eine  beträchtliche  anzahl  speciellei  redefornien 
(üguren  und  tropen)  geschaffen. 

Ich    beginne    mit    einem    in    verschiedenen    formen   bei    ihm 

1  von  'abmessung  des  raunies  im  drama'  spricht  EGeiger  (Hans  Sachs 
als  dichter  i  A  1);  auch  im  lyrischen  gedieht  gibt  es  derartiges. 


64  BRECHT 

wie  bei  anderen  mhd.  lyrikein  namentlich   der  spätzeit  besonders 
cultivierten  Stilmittel,  der 

Ana  pher. 
Die  von   hause  aus  strengere  form  der  anfangsanapher 
lindet  sich  bei  Ulrich  weniger  ausgebildet,  als  die  innere. 
Beispiele  einfacher  anfange  dieser  figur  sind : 
Daz  mir  noch  an  ir  gelinge, 
daz  ich  scelde  an  ir  bejage      (97,  19). 

da  ligt  ouch  al  min  smerze, 

da  ligt  ouch  al  min  klagende  leit    (126,  14). 

Tuot  dir  den  tot 

so  süeziu  not, 

so  senfliu  swcere, 

so  lieplich  twanc  —     (134,  23  f). 

Ähnlich  419,  12.  13  (ez  si  —  ez  si) ,  420,  16.  20  (Owe  — 
owe).  erster  und  zweiter  Stollen  durch  anfangsanapher  verbunden 
572,  13.  15  :  Ich  hdn  —  Ich  gesach  —  (liv);  Mich  lat  niht  — 
Mich  kan  —  niht  —  323,  1.  3  (xi).  in  demselben  liede  xi  anfangs- 
anapher des  zweiten  Stollens  und  des  abgesanges,  322,  10.  12  (Daz 
—  Daz  — ).  anfangsanapher  des  dritten  und  sechsten  (letzten)  verses: 
da  für  hdn  ich  helfe  funden  —  da  für  hdn  ich  arzenie  (lvm:  584, 
3.  6).  anfangsanapher  in  parallelsätzen,  deren  zweiter  an  bestimmtheit 
gewinnt  (ein  haupikunstmittel  Ulrichs)  : 

Wenne  kumt  mir  freuden  schin? 

wenne  wil  du,  stelic  frowe,  gefreun  daz  sende  herze  min? 

(397,  17). 

In  anapho  ri  sehen  reihen  tritt  die  anfangsanapher 
paradigmatisch  auf  in  lied  xvii.  str.  1:  Freut  iueh  —  vers  1  und  3 
Strophe  2  lässt  alle  verse  mit  Wip  beginnen.  Strophe  3,  die 
mittelste  und  hauptstrophe,  ist  anaphernfrei  (dafür  bekräftigende 
erklärung:  ja  mein  ich  —  406,  15,  einziges  beispiel).  Strophe  4 
hat  in  den  ersten  fünf  versen  anfangs-,  in  den  beiden  folgenden 
innenanapher  desselben  Wol,  Strophe  5  am  anfang  der  ersten 
vier  verse  Got,  der  zwei  letzten  daz. 

Anfangsanapher  durch  alle  Strophen  hindurch,  zt.  in  genauer 
responsion,  begegnet  in  xii. 

Strophe   1. 

vers  2.  da:  — 
-  3.  daz  — 
slrophe  2. 

vers  5.    daz  — 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN 


slrophe  3. 

Vi'!  - 

dax  — 

-        4. 

duz    — 

5. 

dax  — 

Strophe    1. 

vera    1. 

daz   — 

slroplu-   5. 

Vi'IS     -1. 

daz  — 

Man  bemerkt  die  Bteigeruog  Ins  zur  mitte  und  das  absteigen, 
_:-■  ii;ui  entsprechend  der  composition  dea  liedes,  die  symmetrisch 
ist  (s.  o.).  die  gehäufte  anapher  bezeichnet  hier  durchgehends 
parallelsalze,  die  in  eiliger  häufung  alle  nur  6inen  gedanken,  das 
ziel  seiner  Sehnsucht,  gewaltig  zum  ausdruck  bringen,  gleich- 
zeitig bilden  sie  das  feste  gerilst  des  mit  blühender  phantasie 
der  roimkunst  und  Synonymik  verzierten  liedes. 

Genau  respondierende  anapher  des  abgesanges,  auch  dem 
sinne  nach,  zeigt  das  xr  lied  :  Daz  diu  vil  süeze  —  Daz  der 
vil  (juoten  —  Daz  si  vil  liebe  (322,  5.  12.  19),  in  den  ersten 
drei  Strophen,  die  aufstieg  und  mitte  des  symmetrischen  gewichtes 
umfassen;  die  mittlere  hohe  ist  durch  rascheste  widerholung  des 
versbeginnenden  daz  in  synonymen  s.'itzen  (322,  18.  19)  bezeichnet. 

Kespondierende  ungenaue  Strophenanfangsanapher,  aber  in 
metrisch  nicht  genau  entsprechenden  gesätzen,  im  leich  (xxv): 
Ich  rat  tu  —  (423,  1);   Daz  rate  ich  —  (423,  20). 

Reicher  ausgebildet  und  zum  ausdrucksfähigsten  kunstmittel 
erhöhen  hat  Ulrich  die  sonst  vielfach  als  kunstloser  angesehene 
(vgl.  Roethe  aao.  s.  296),  gefährliche,  weil  bequemere  innere 
anapher. 

Einfachste  beispiele  : 

rieh   an  freuden,   rieh   an  aller  sailikeil     (397,  2). 

wes  ich  mir  von  ir  ze  guote,  wes  ich  mir  von  ir  ze  diensle  — 

(400,  6). 
Widerholung  der  anrede: 

Vrowe,  miner  freuden  vrouwe, 

vrowe  min  übr  allez  daz  ich  hdn  —  (549,  17) 
Widerholung  desselben   Stammes  in  verschiedenen  ablautstufen : 

si  muoz  mir  gepunden  sin. 

bant,  dd  mü  ich  si  binde  —  (126,  6). 
Nachdrückliche  oder  spielende  anaphern  nehmen  den  Charakter 
der  ep  izeuxis  an  : 

dd  von  ist  daz  herze  min, 

Swie  ez   uileret,   vrd   nö   vrö     (507.  2 

Z.  F.  u.  A.  XLIX.     N,  V.  XXXVII.  5 


66  BRECHT 

Uz  ir  kleinvelrötem  munde 

süeze  süeze  süeze  gdt     (5S4,  25). 

da  ein  liep  mit  liebe  umbegdt     (583,  12). 

Wibes  schcene,  wibes  ere, 

ivibes  güete,  wibes  zuht  —     (437,  9). 

In  dem  üblichen   turnierruf: 

nu  tuo  her 

sperd  sper!     (458,  4). 
Zur  hervorhebung  eines  hauptgedankens: 

vinde  ich  die,   so  vinde  ich  ere     (422,  10). 
In  dringender  aufforderung  : 

nu  küsse  lüsent  stunden  mich: 

so  küsse  ich  zwir  als  ofte  dich     (447,  19). 
In  lieblingsworten  wie.  süeze,  guot,  wip  und  ihren  ahleitungen: 

Du  bist  süeze,  da  von  ich  dich  suoze  grüeze  (436,  22). 

Süeziu  wort,  diu  künnen  süezlich  süezen 

ir  vil  süezen  röten  munt     (508,  8). 

—  mit  süezen  worlen  suoze  süezen  —     (534,  8). 

—  güellich  si  mir  güelet       (508,  16.  524,  22.  556,  12. 

566,  22). 
ir  güete  ist  so  guot     (323,  5). 
ir  guot  wiplich  güete     (525,  3). 
wibes  güete,  du  bist  guot     (545,  7), 
si  ist  schcene,  reine,  güellich  guot      (584,  29). 
si  ist  so  reht  güetlichen  guot, 
daz  ir  güete  mir  git  höhen  muot     (556,  14). 
Wil  diu  minnecliche  guote 
minneclichen  hüeten  min     (4 1 0,  5). 
liebe  lieblich     (104,  29). 

wiplich  wip     (zb.  445,  21.  447,  8.  561,  20). 
röte  rösen  roete      (508,  30). 

Auch  Verbindung  eines  verbums  mit  einem  näheren  object  gleichen 
Stammes  (Roethe  s.  299)  findet  sich  mehrfach,  zb.  rat  ich  einen  rät 
(422,  26.  560,  8),  ir  spil  minne  wil  spiln  (433,8),  springen 
manegen  sprunc  (584,  24). 

Zur  hervorhebung  eines  Vergleichs : 
mit  ir  kleinvelröten  munde 
ziuhet  si  mir  trüren  gar  uz  herzen  gründe. 

Schouwet  wie  diu  pie  ir  süeze 
üz  den  bluomen  ziehen  kan, 
also  ziehen t  mir  ir  grüeze 
trüren  von  dem  herzen  dan  (534,  1). 
ähnlich  566,  5.   8   (lere  —  leret). 

Anfaugsanapher  allein  oder  innen-  und  anfangsanapher 
gemischt  werden  zur  stroph  e  n  ank  niipfu  ng  verwendet: 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN 

—  der  meie  si  getröstet  hat. 

Der  meie  Iroeslel  al  du:   lebl  —    (131,  5) 

—  sied  man  liep  l>t  liebe  riht.' 

Sud  zuri  Uep  ein  ander  meinenl  —  |  129,  22). 
ähnlich  437,  7.  9. 

—  erst  dir  holt  mit  (rttoen,  duz  geloube  mir. 

Er  hat   sin    oil   ivol  genossen   —    (515,  29), 

—  ictutz  ie  die  nidern  minne  fläch. 

Nideriu   minne,   an  freuden  tut  —  (58,  32). 

Bei  weitem  am  meisten  anlass  zur  aunphora  gibt  die  aus- 
geprägte liebe  zu  stichwor  leu.    Ulrichs  poesie  ist  erfüllt  davon. 

einige  beispiele  müssen  genügen. 

Im  leicli  (ixv)  werden  drei  gesätze  hintereinander  fast  ganz 
gebildet  von  den  stichworten  scheene,  guot ,  güete  (423,  23  f.), 
besonders  423,  25  f: 

i(7  guot   vor  allem  guole 

Ist    der    wibe    güete,    und    ir    schoene    schxne    ob   aller 

schoene. 
Ir     scheene,    ir    güete,    ir    werdikvit    ich    immer    gerne 

kroene  etc. 
//•  scheene,  ir  güete,  ir  werdikeil 

wird  gleich  darauf  424.  5  Dach  art  des  Iridis  am  ende  des  ersten 
teiles  resümierend  widerholt,  ähnlich  steete  124,21  bis  425,4 
viermal  widerholt. 

Das  Stichwort  rät,  dreimal  widerholt,  hilft  den  zweiten  teil 
des  in  liedes  (schema:  1+2  +  2+1)  tragen,  Strophe  2  uud  3. 
ähnliches  gilt  von  xlvii,  dessen  einleitung  und  mittelteil  (im 
schema  3  +  1  +  3)  auf  dem  begriff  der  güete  (sechsmal)  auf- 
gebaut ist. 

Die  beiden  Strophen  des  allgemeinen  teiles  von  xlv  (schema 
2  +  3)  werden  als  besonderer  teil  auch  dadurch  markiert,  dass 
am  anfang  und  gegen  ende  der  ersten  Strophe  Waffen  widerholt 
wird,  im  ersten  und  letzten  verse  der  zweiten  niht  vrö  gemachen  — 
gemuchent  nimmer  vrö. 

Die  gehäuften  stichworte  wert,  werdikeit,  güete,  wip,  wol, 
constituieren,  abgesehen  noch  von  den  in  den  anaphorischen 
reihen  befindlichen,  das  ganze  spielerige  lied  xvn;  huole,  hüelen, 
merken  mit  unglaublicher  technik  22  mal  gehäuft  in  33  versen, 
xvih,  von  dem  xix  auch  in  dieser  beziehung  ein  schwacher  ab- 
klatsch  ist,  jedoch  dadurch  merkwürdig,  dass  die  stichworte  nur 
im  hauptteil  des  nach  dem  schema   1  +  3  +  1  gebauten  liedes 


68  BRECHT 

vorkommen,  in  der  mittelsten  Strophe  am  häufigsten,  in  Strophe  3 
und  4  nur  je  einmal,  so  wird  die  composition  unterstützt. 
höher  muot,  höchgemuot,  wolgemuot,  höchgemüete  werden  in  allen 
siebeu  Strophen  des  xliv  liedes,  das  jubelnde  freude  ausdrücken 
soll,  vorgebracht,  dasselbe  wort,  in  derselben  absieht,  erscheint 
viermal  (wenn  man  445,14  mitrechnet)  in  der  mittelsten1 
Strophe  von  xxxiv,  einmal,  stark  betout,  in  der  zweiten,  die  sonst 
ihr  eignes  Stichwort,  truren,  hat,  neben  sorg  und  angest,  das 
sie  mit  der  ersten  teilt;  die  vierte  spielt  mit  wip,  icipheit,  wiplich, 
die  fünfte  mit  lip,  wip,  lieplich.  xxm  hat  für  die  drei  ersten 
Strophen  das  Stichwort  steete,  für  die  vierte  triwe,  die  fünfte 
bant  pl.  (compositionsschema  3  +  2);  aufserdem  wird  minne  in 
Strophe  2,  3,  5  widerholt. 

Principiell  und  in  klarerer  durchführung  durch  das  ganze 
dient  die  innere  anapher  von  Stichworten  der  com- 
position in  folgenden  fällen: 

Im  xiv  liede  (1  +  44-1)  füllt  das  hauptstich  wort  des  ge- 
dichtes,  wünsch,  wünschen,  die  vier  hauptteil-strophen,  die  sich 
dadurch  deutlich  herausheben,  in  der  anfangs-  und  der  schluss- 
strophe  kommt  es  nicht  vor;  jene  ist  aus  autithesen  (s.  u.)  ge- 
bildet, diese  hat  ihre  eignen  anaphorisch  verwanten  stichworte, 
guot,  güete,  senede,  tröst. 

xxvm  betrachtet  seinen  symmetrischen  aufbau  (1  -f- 2  — |—  2  — (—  1) 
in  hinsieht  auf  innere  anapher  als  zweiteilig,  indem  es  die  erste 
hälfte,  Strophe  1 — 3,  mit  dem  Stichwort  liep ,  liebe,  die  zweite, 
Strophe  4 — 6,  analog  mit  stCBte  ausstattet.  dabei  entspricht 
symmetrisch  Strophe  2  der  Strophe  5,  insofern  in  jener  das  erste, 
in  dieser  das  zweite  Stichwort  am  stärksten  gehäuft  erscheint. 

In  xlvii  tritt  das  eine  Stichwort  lip  in  der  einleitenden  und 
in  der  pointierenden  schlussstrophe  nur  je  einmal  auf,  während 
die  drei  mittleren  Strophen,  in  denen  die  Steigerung  des  liedes 
vor  sich  geht,  unablässig  mit  lip,  liep  spielen. 

xlix  markiert  seinen  aufbau  2  +  3  dadurch,  dass  es  den 
allgemeinen  Strophen  1  und  2  das  zweimal  widerkehrende  Stich- 
wort ungefüege  (dazwischen  gefüege)  verleiht,  den  specialisierenden 
Strophen  3 — 5  die  stichworte  lip,  liep  (3  u.  5),  guot,  güete  (3,  4,  5). 

1  hier  wie  in  einigen  andern  fällen  scheint  in  liedern  des  typus  C 
(allgemeines  und  specielles)  eine  art  Symmetrie  durch;  die  mitte  wird  immer 
gern  betont. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN 

li  (14-2+1  +  2  +  1)  verwendel  guot,  güete  zur  ein- 
leitung  (nur  zweimal  in  >ir.  1  |,  zum  aufbau  des  ersten  hauptleiles 
(1  motiv;  Gmal),  zur  verbindungsslrophe  (einmal),  chiastiscb  mit 
einem  andern  Stichwort  (s.  u.)  zur  Formierung  des  zweiten  haupl- 
teils  (2  motiv).  die  scblussstrophe  mit  ihrer  Wendung  aufs 
persönliche  meidet  es  ganz. 

In  i.vi  (typus  15)  werden  stufen  der  Steigerung  bezeichnet, 
phe  2  und  3,  allgemeinerer  ausdruck  der  Sehnsucht,  wider- 
holen das  springen  i\v>  herzens  zur  dame;  4 — 6  das  Lassen;  die 
höhe  am  schluss  und  die  ruhe  am  anfang  (sir.  1  u.  1)  ver- 
schmähen beide  das  Stichwort. 

lvii  (1  +  2  +  1  +  2+1)  füllt  die  einleitungsstrophe  und 
den  ersten  hauptteil  mit  wünschen,  wünsch;  den  zweiten  bauptteil 
und  die  scblussstrophe  mit  lip,  liep,  liepliclt,  wip,  die  schon  am 
ausgang  der  Verbindungsstrophe  anklingen. 

Nicht  ganz  so  rem  geglückt  ist  das  nach  demselben  Schema 
ante  lied  LViti,  in  dem  zwar  einleitungsstrophe  und  erster 
bauptteil  das  Stichwort  tount,  wunden,  haben,  der  zweite  bauptteil 
und  die  schlussstrophe  aber  nicht  entsprechend  einheitlich  be- 
handelt sind,  indem  Strophe  5  siieze,  guot,  Strophe  G  und  7  aber 
iip,  liep  widerholen;  Strophe  7  dazu  noch  für  sich  allein  e're. 

Gelegentlich  bequemt  sich  die  äufsere  oder  innere  anapher 
zur  geregelten  responsion.  so  in  xxwu,  das  Strophe  2,  3 
und  5  mit  Swä  beginnen  liisst;  in  x,  wo  die  vorletzte  zeile  der 
zweiten  wie  der  dritten  Strophe  mit  der  interjectiou  we  anlangen, 
ein  im  dialog  reizvoller  parallelismus.  versgruppen  respondieren, 
allerdings  nicht  genau  anaphorisch: 

/i»  isl  so  kranc 

ir  Ion   und  ir  habedanc  —  (415,  1   mitte). 

nu  ist  ir  danc 

cd  ze  Juane  —  (415,  23,  schluss  von  xxi). 

Es  ist  nur  folgerichtig,  wenn  auch  stichworte  in  ge- 
nauer responsion  die  gliederung  des  gedichls  hervorheben 
helfen,  im  v  liede,  das  nach  dem  typus  C  (2  +  3)  gebaut  ist, 
wird  der  erste,  allgemeine  teil  durch  doppelle  responsion  am 
anfang  scharf  von  dem  zweiten,  speciellen  abgegrenzt:  Strophe  1 
vers  1  :  Sumer,  Strophe  2  vers  1  :  Sumers;  Strophe  1  vers  5: 
Winder,    Strophe  2    vers  5  :  Winder.     der    zweite    teil   spielt    mit 


70  BRECHT 

lip,  liep  und  leit.  —  im  xxxn  liede  beginnen  alle  sieben  Strophen 
sehr  eindrucksvoll  mit  Höher  muotx. 

Innere  responsion  des  Stichworts  naht  zeigt  lied  11  :  an 
metrisch  gleicher  stelle,  auf  der  ersten  silbe  des  zweiten  fufses  2, 
in  Strophe  1,  2,  3,  5,  in  Strophe  3  allerdings  im  vierten,  statt 
im  zweiten  verse;  in  Strophe  4  des  Jugendgedichtes  steht  un- 
regelmäfsig  nahtes  als  erstes  wort  des  zweiten  verses.  — 

Anapher  tritt  in  chiastischer  form  auf: 

—  mir  von  ir,  ir  von  mir  —  (400,  6). 
Schcene  von  ir  güete  ist  min  vrouwe, 

si  ist  von  ir  scha>ne  guot  (507,  27). 
bislu  vro,  so  bin  ich  hohes  muoles. 
mirst  ze  hohem  muole  niht  so  guotes, 
so  daz  du  sist  herzenlkhen  vro  (518,  5  f.). 

Chiasmus  von  verschiedenen  Worten  desselben  Stammes  und 
synonymen  bezeichnet  den  eingang  von  li: 

—  daz  si  vrö  mit  zühlen  sin. 
zuhl  bi  freu  den  vrowen  schöne  sldl. 
swelch  wip  ist  mit  zühlen  höchg emuot.  — 

in  demselben  liede  ist  chiasmus  zur  Unterstützung  der  composition 
verwant  in  str.  5  und  6  (ii  hauptteil)  :  Swelch  man  —  guot  wip, 
Ein  guot  wip  —  swelch  man  (vgl.  o.  s.  54). 

Das  gegenstück  der  anapher,  die 

E  p  i  p  h  e  r 
fehlt  Ulrichs  lyrik  nicht,  ist  aber  natürlich  wegen  des  reims  un- 
vergleichlich schwächer  entwickelt,  der  durchgeführte  grammatische 
reim  von  lii  streift  zwar  die  epipher  und  erreicht  gewis  ihre 
würkung,  ist  aber  nicht  eigentlich  epiphorisch,  da  sich  nie  die- 
selbe wortform  widerholt. 

Epipher  von  guot  in  xi,  322,  7.  18.  323,  5  (neben  innerer 
anapher  von  güele),  als  unvollständige  responsion  in  vi,  110,  5 
guote,  110, 17  entsprechend  güete,  je  am  ende  des  ersten  Strophen- 
verses; 111,2  güete,  aber  im  zweiten  verse. 

Epipher  zum  Strophenübergang,  gleichzeitig  zur  Ver- 
knüpfung der  mittleren  verbiuduugsstrophe  mit  dem  zweiten 
hauptteil  in  lvii,  583,  3.  5.  7.  9  :  wip  —  lip  —  wip  —  lip. 
dieselbe  epipher  am  Strophenübergang,  zu  analogem  zweck,  findet 

1  wie  stolz  Ulrich  und  seine  dame  auf  diese  responsion  waren,  zeigt 
FP  442,  8  f.  2  vgl.  Roethe  aao.  s.  304  unten. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  71 

sich  beim  Übergang  des  allgemeinen  teils  in  den  speciellen,  liv, 
572,  11.   12.  13.   l.">  :  lip  —  wip  —  lip  —  wip. 

Weniger   verbreite!    als  die  anapber  ist  bei  Dlrich,    wie  bei 
den  meisten  Zeitgenossen,  ihr  gegenteil,  die 

\  ii  i  i  i  h  ese. 
Einfache  beispiele: 
In  wenden  wdne 
bin  ich    creuden   (ine   (134,  S). 
freude  ist  süeze,  sorge  ist  süre  (421,  7). 
—  slt  ich  bin  ir  leides 
in'irii-  undr  ii    .'/'-/(   vrö  (545,  22). 
Sinnlich  herze  rindet  man  bi  Schilde: 
Zegltch  muot  tnuos  sin  dem  schihle  wilde  (457,  21). 

Mit  allitteration: 

lieben    wdn   und   leiden   wanc  (421,28). 

.Mit  anapher: 

ez  si  fr  um  odr  ungeteilt, 

ez  si   liep   odr   ez  si   leit  (419,  12). 

Cbiastisch: 

daz  er   tveer  ir  und  si  wter  sin  (448,  8). 

im  und  ir,   ir  unde  mir, 

hin    und  her,   SUS    unde   also   (51(J,  22) 
am  end-  und  hühepunet  des  ansteigenden  liedes  xlf.    in  derselben 
absiebt    ist   eine   zierlich  pointierte  doppelantithese  ans  ende  des 

pointenreicheu  dialoges  xxx  gesetzt: 
'wis  du   min,  so   bin   ich   din\ 


'sit   ir  iteer,   so   bin  ich   min'  (436,  7  f.). 

Antithesen  zur  einleitung  benutzt: 
xiv,    1  str. : 

—  icolgemuulen  —  —  ungemuol, 

—  —  grözen  —  —  kranc. 

—  —  minnen hazzel lieben leide  tuoi. 

—  —   ireude  —  —  sorgen  —  — 

(399,  9—13,  ähnlich,  nur  einfacher  553,  25.  27.   31). 

Beim  abschluss: 

—  süezen  gedingen,  da  bi  jdmers  vil  (408,  32). 

Als  Grundlage  des  ganzen  gediebts: 

xxii  :  ausdrücklich    betont    in    der    mitte,    zugespitzt    und 

spielend  widerholt  am  schluss  (str.  3.  6.  7): 

Daz  lop  ist  der  guolen  wibe  al  eine : 

da  ist  der  valschen  kleine  mü  gedüht 
(417,  13,    ferner  418,  1 — 14),  doeb  auch  sonst  vorkommend,     die- 
selbe antilhese  425,  1.  2. 


72  BRECHT 

Spielende  autitheseu; 

v,  vierte  Strophe  :  liep  und,  leit  (105,  1 — 7),  an  ihrem  Schlüsse 
noch  freuden  —  jämer,  426,  25  wip  unwiplich.  ähnlich  in  liii  : 
Wip    und   fr owen    in    einer    wcete   —  —  —  —   vrowe    unwiplich 

(566,  17  f.). 

Anaphorisch: 

din  lieber  man,  min  liebez  wip, 

daz  si  wir  beidiu,  und  ein  lip  (447,  27). 

Die   autithese   steigert  sich  zum  oxymoron  (vgl.  Burdach, 

s.  69  I). 

II Helen  ist  den  senenden  leit: 

ako*  wünneclichiu  huote 

wcere  mir  ein  swlikeit    (410,  9  f.). 

—  da  von  ist  ir  ratsch  den  guolen  guol  (418,  14  in  xxu, 

sclilusspointe,  s.  o.). 
si  ist  übel,  si  ist  guol, 
wol  und  we  si  beidiu  luot    (nämlich  die  minne,   435,  10). 

Häufung,  synonyme,  asyndelon. 
Die  gegen  ende  der  mhd.  lyrischen  entwicklung  so  stark 
hervortretende,  schliefslich  gefährliche  neigung  zu  häufungen 
macht  sich  schon  bei  Lichtenstein  in  hohem  mafse  geltend,  die 
häufung,  fast  durchgehends  asyndetisch,  ist  ein  wesentliches 
element  seiner  poesie.  mit  Vorliebe  verbindet  sie  synonyme, 
und  bringt  so,  womöglich  noch  in  Verbindung  mit  andern  rede- 
formen, virtuosenhafte  parallelismen  hervor,  für  eigentliche  auf- 
zählungen  gröfseren  umfanges  ist  Ulrich  zu  geschmackvoll. 

Einfache  asyndetische  häufu  n  gen  :  tanzen,  singen, 
lachen  (113,21),  ougen  wunne,  herzen  spil  (417,  10),  heide,  vell, 
anger,  wall  (431,  21),  heide,  velt,  wall,  anger,  ouwe  (436,  24),  deren 
färben  wiz,  röt,  bld,  gel,  briin,  grüen  (431,  24,  in  xxix,  das  als 
reie  asyndelische  häufung  liebl).  —  körperleile  der  geliebten  :  ir  ougen 
kinne  wengel  munt  (448,  24),  dasselbe  in  asyndelischer  liäufung  von 
sechs  gliedern  521,  25  und  gleich  darauf  521,  31;  an  diesen  stellen 
sind  je  die  beiden  ersten  glieder  des  asyndelons  durch  anapber  des 
possessivums  (ir  hals,  ir  ougen)  nuanciert.  —  ritlerlicbe  forderung: 
Ir  sült  hochgemuot  sin  under  schilde, 
Wolgezogen,  küene,  blide,  wilde  —  (457,  3). 
segensreiche  gaben  der  geliebten  :  wende,  xounne,  rillers  leben 
(525,  19),  lip,  guol,  eregernden  sin  (525,  22,  xliv  beschwerung  des 
dritten  gliedes;  ähnlich  425,  8  und  426,  20,  je  vier  glieder.  — 
liebkosung  :  Güetlich  triulen,  küssen  suoze,  drücken  brüst  an 
brüstelin  (516,  13).  —  ihre  lugenden  :  sist  noch  bezzer  danne  guol, 
schoene,   dd  bi  tvol  gemuot  (400,  17,    sehr  ähnlich  415,  15),   drei- 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  73 

gliedrig  427,  7;  449,  22  f;  508,  24;  509,  5;  537,  1;  577,2  *ier- 
gliedriges,  546,  S  fiinfgliedriges  asyndeton  mit  swei  vorbergelmden, 
gleichfalls  asyndetischen,  anaphorischen  parallelsätzchen,  572,  25.  26 
gar  ein  sechsgliedriges ;  576,  17;  5S4,  29.  30.  mit  anapher  400,  I: 
ir  vil  lieben,  ir  vil  guolen,  höehgemuolen,  desgl.  12:;.  j  7 ;  554,  17  f. 
(4  glieder).  —  desgl.  fiir  leilt  und  seile  :  an  dem  Ube,  an  dem 
muote  (554,  24),  als  gesamlausdruck  der  exislenz.  für  kommen  und 
gehn  :  ir  urloup,  ir  grüesen  (525,  1 1). 

Den  gipfel  erreichen  folgende  fälle:  dreigliedriges  asyndelon  mit 
innerer  anapher,   nebst  synonymen  im  ersten  glied: 

Heize  und   aller   min   tjedane, 

Irine   an    allen    kraue, 

rekÜU    sldl    du    allen    leanr   (126,  9  f) 

und  fiinfgliedriges  asyndeton  mit  viermaliger  anapher  und  adjeelivischer 
beschweruog  des  ersten,  vorletzten,  und  namentlich  des  letzten  gliedes: 

Mit  staslem  muote, 

mit  libe,  mit  guole, 

mit  reiner  fuoge,   an  alle  arge  sile  (136,  5  f.). 

Das  hauptgebiel  der  asyndetischen  bäufung  aber  bilden  die 
synonyme,  in  denen  Ulrichs  phanlasie  und  sprachkuast  sich 
Dicht  genug  tun  kann,  eine  fülle  von  formen  tritt  uns  hier 
entgegen  —  schon  die  bisher  angeführten  beispiele  zeigten  mehr- 
fach lendenz  zur  synonymie  —  :  sie  alle  anführen,  hiefse  Ulrich 
halb  ausschreiben,  er  zeigt,  durcheinander,  alle  stufen  der  ent- 
wicklung;  die  neiguug  zu  dieser  ßgur  aber  nimmt  beständig  zu. 

liebe,  minne,  ist  al  ein  (430,  2).  behalte,  behüele  (404,  29). 
min  [riunl,  geselle,  lieber  man  (,4  4  7,  14).  süeze,  reine,  vil  guot 
(404,  1),  si  vil  guole,  süeze,  reine  (441,  30).  die  zit  wol  ver- 
triben,  ze  scp.lden  sich  ke'ren,  bi  freuden  beliben  (403,  25).  uf  e're 
sich  pinen,   in   lugnden   ersehinen  (404,  16,   beides  in  xvi). 

Mannigfaltigster  ausbildung  labig  ist  diese  figur  durch  ver- 
schiedenartige Verwendung  der  anapher. 

Zweigliedrig  :  der  guolen,  der  reine  gemuolen  (134,  20). 
so  sunder,  so  se're  (394,  19).  slcele  liebe ,  slcelen  muol  (430,  8). 
uiplich  zuhl  und  uiplich  güele  (576,  17).  mit  liebe,  mit  güele 
(404,  30).  er  hazzel,  er  schiuhel  etc.  (404,  12  analog  400,  6). 
ir  merken,  ir  Jiüelen  (40S,  1).  ir  aller  güele,  ir  aller  wünschen 
(398,  6).  vor  unfreuden,  vor  unmuote  (410,  7).  mit  ir  triulen, 
mit  ir  lachen  (533,21).  der  vil  guolen,  der  vil  werden  (322,  12). 
rieh  an  freuden,  rieh  an  aller  seclikeit  (397,  2).  trösl  für  iriiren, 
trösl  und  rät  für  senediu  leil  (397,  4). 

Dreigliedrig  :  si  reine,  si  scelic,  si  höre  —  st  guole,  si 
liebe,  si  reine  mit  si  liebe,  si  guole  —  st  liebe,  si  süeze  —  si 
scheene ,    si  cldre  respondierend  als  integrierender  bestandteil  von  xn. 


74  BRFXHT 

so  süeziu  not,  so  senfliu  sucere,  so  lieplich  twanc  (134,24).  Min 
tröst ,  min  wünne,  miner  sirlden  keiserin  (322,  26).  Für  sin 
stürmen,  für  sin  suchen,  für  sin  ungefüege  drö  (446,  17). 

Asyndetische  anaphorische  synonymenpaare:  den 
minnet,  den  meinet,  mit  herzen,  mit  muole  (404,  27). 

Viergliedrige  anaphorische  asyndeta  von  syno- 
nyme n : 

vrowe  schoene,  frotoe  reine, 

frowe  S(BÜc,  frovoe  guot  —  (434,  19). 

Wibes  schoene,  wibes  ere, 

wibes  (jüete,  wibes  zuht  —  (437,  9). 

—  miner  freuden  wunne, 
mines  herzen  spilndiu  meyen  sunne, 
min  freuden  geb,  min  stelden  wer  (513,  24). 

Folgerichtig  überträgt  Ulrich  die  stilform  vom  einzelausdruck 
auf  den  satz.  es  entstehen  die  rhetorisch  oft  sehr  würksamen 
kurzen  parallelsätze  mit  anapher  und  synonymen. 

ich  wünsche,  ich  dinge  (395,  9).  si  ist  schoene,  si  ist  guot 
(546,  7).  diust  min  wunne,  diust  min  frouwe  (449,  14).  Wil  si 
guole,  wil  si  reine,  wil  si  süeze  —  (410,  12).  si  git  freude,  si 
git  ere,  si  luot  höher  lugende  rieh  (435,  22).  Si  hat  schoene,  si 
hat  ere,  sist  ein  reine  süeze  wip  (441,  21).  Ich  hdn  von  ir  ere, 
ich  hdn  von  ir  höhen  muot.  dannoch  hdn  ich  mere  von  ir 
(525,  15 f.).  —  Ich  hdn  von  der  guolen  —  (525,  21).  Ich  dähte 
dort,  ich   ddhle  hie,  Ich  ddhl  an  dise,  ich  ddht  an  die  (439,  22). 

Beliebt  ist  die  art,  asyndetisch  gehäufte  parallelsätze  inhaltlich 
im  letzten  parallelsatz  zusammenzufassen: 

Herre,  kan  diu  minne  swenden 

Irüren   und  ouch  senediu  leit, 

höchgemüel  in  herze  senden 

füegen  zuht  und  werdekeil, 

hat  si  alles  des  gewall  —  (435,  13  f.). 
Aus  solchem  material  zimmert  Ulrich  seine  parallelstrophen, 
deren  bedeutung  für  die  composition  im  zweiten  capitel  besprochen 
worden  ist.  die  Vorstufe  zu  ihnen  bilden  die  häufigen  parallel- 
sätze aus  scheinbar  ganz  gleichwertigen  synonymen  zusammen- 
gesetzt, die  aber  doch  allmählich  bestimmter  oder  nachdrücklicher 
werden,  und  so  den  gedanken  oder  das  gefühl  weiterführen, 
womöglich  noch  anaphorisch: 

Daz  diu  vreude  lange  wer, 

daz  ich  weinenl  iht  erwache, 

daz  ich  gegen  dem  tröste  lache, 

des  ich  von  ir  hulden  ger  (98,  1 — 4). 


ULHICI1  Vi»  LICHTENSTEIN  7:. 

Und  also  grüt 

ilnz  ir  gebasre  min  swaere  mir  büexe, 
duz  si  mich  scheide  von  leide,  ri  liebe, 
Wenne  hunU  mir  freuden  schin? 

wenne  wil  du,  soßlic  frowe,  gefreun  duz  sende  herzt  min? 

(397,  17). 

/Uyndetische    bäufung  liebt  Ulrich  endlich  beim  attributiven 

adjectiv,    besonders    bei   epithetis   für   sein»'   dame   oder    ihre 

enschaften.     die    hierfür    traditionelle  zweigliedrigkeit   genügt 

ihm  nicht. 

ir  reinen  süezen  lip  (445,  22),  mit  linden  nizen  armen 
(449,  1).  Wil  SO  reinem  süezen  trihe  (449,  17,  d.'iss.  580.21). 
guot  wipllch  irip  (537,3).  dise  liebe  süeze  unmuose  (516,  15). 
iwer  minneclichen  süexiu  wart  (550, 17).  diu  eil  siiezer  minneclicher 
lip  (518,23),  ir  ril  liepllch,  güellich  lösen  (533,  27).  ir  Hehlen 
spunden  süexen  ougen  (525,  2).  ir  ril  liepltch  güellich  lossllch 
grüexen  (511b,  6).  durch  die  reinen  süezen  guoten  herxenlieben 
werden  vrowen  min  (556,  16). 

Substantivierte  adjeetive  als  träger  dieser  häufung  sind  ganz  ge- 
wöhnlich, zb.  diu  süexe  minnecUche  (513,  10),  diu  ril  reine  süeze 
(520,  29),   diu  reine  süeze  guote  (554,  25). 

Die  neigung  nimmt  gegen  ende  mit  der  wachsenden  künst- 
lichkeit  der  lieder  zu. 

Polysyndeta  kommen  bei  Ulrich  kaum  vor.  über  drei 
glieder,  deren  drittes  er  auch  hier  beschwert,  geht  er  nicht 
hinaus   :    Erge   und   unfuoge    um!  unfuore  diu  wilde    (404,  18)  l. 

Mit  den  zuletzt  besprochenen  erscheiuungen  nahe  verwant 
ist  der  syntaktische  parallelism  us;  aucli  er  ist  bei  Ulrich 
nicht  selten,  sehr  häufig  tritt  er  als  congruenz  auf.  irgend- 
welche regel  für  die  beschwerung  der  glieder  (vgl.  Joseph  Klage 
der  Kunst  s.  43  und  bes.  44)  lässt  sich  nicht  finden. 

Co ngrue u  z  :  Erdenken  und  erwünschen  (417,  11).  unfuoget 
und  gewaldel  (419,  20).  wunne  und  freude  (5S1,  24).  ir  mimte 
—  und  ir  gruox  (457,  29).  ir  sil  unde  ir  muol  (572,  3).  min 
tröst  l"ur  (raren  und  min  freuden  gebe  (585,  12),  für  klagendiu 
teil  und  ouch  für  senede  not  (403,  15).  min  heil  und  ouch  min 
wünne  (423,  23).  mit  hohem  muote  und  ouch  mit  ritterlichem 
leben  (429,  6).     ir  urloup  und  ouch  ir  grüezen  (534.  7). 

Incongruenz  :  daz  herze  und  aller  min  gedanc  (399,  12). 
scelde  und  al  der  vreuden  min   (399,  17,   beides  xiv).     eines  werden 

1  in  der  lelirdichtung  kennt  er  dies  stilmittel  :  3S  verse  langes  Poly- 
syndeton im  relativsatz  FB  637,  5  bis  638,  10.  ein  noch  längeres  642,  2  his 
643,  28  (59  verse). 


76  BRECHT 

wibes  hulde  —  und  ir  minne  (553,  22).  werdes  uibes  minne  und 
ouch  ir  friundes  gruoz  (42S,  20).  Iruren  und  ouch  senediu  leil 
(435,  14).     in  hohem  muote  und  ouch  bi  freuden  (445,  12). 

Breite. 
Verschiedene  der  behandelten  redeformen  führten  schon  ein 
elemeut  der  breite  mit  sich,  das  häufig  zur  äufseren  Zierlichkeit 
der  lieder  ungemein  beitrug,  ihren  iuhalt  aber  verdünnte;  so  die 
verschiedeneu  formen  deranapher,  die  synonyme,  die  parallelismen. 
noch  andere  redeformen  haben  diese  würkuug,  die,  weniger 
zierlich,  häufig  nicht  auf  künstlerischer  absieht,  sondern  auf 
lässiger  gewohuheit  beruhen. 

Künstlerische  geltung  haben  am  ersten  noch  die  spielen- 
den Variationen  von  vorhergehndem.  so  überflüssig  sie 
meist  für  den  inhalt  im  grofsen  sind,  ganz  still  steht  der  gedanke 
in  ihnen  doch  nicht  (s.  o.) 

Hier  ist  ein  hauptgebiet  des  chiasmus,  zb.  419,  17 — 21 
(swer —  swer),  der  auch  manchmal  zur  schlusspointieruug  dient: 
509,  2 — 5  {Ir  lip  —  —  ir  rot  wiz  prnner  schin). 

Die  Variation  bringt  ein  notwendiges  moment  in  den 
gedanken;  statt  vieler  beispiele: 

swer  mil  zühlen  Ireil  der  freuden  kränz, 
und  dem  sin  muol  stäl  von  wiben  ho  —  (536,  11). 
In    das    letzte    glied    der   Variation    kommt  das  im  folgenden 
weiterführende  motiv: 

holten  lop   erwirbel  höher  muol. 

guolen   wiben  höchmuot  wol  behagl: 

du  ton  wil  ich  immer  mere  sin 

höchgemuol  durch  dich,  guot  vrowe  min. 

Yreude  gibt  mir  di  n  wol  redender  munl  etc. (536, 17 — 20). 

Ganz  dasselbe  am  Übergang  der  vierten  zur  fünften  Strophe 
desselben  variationenreichen  gedichts  xlvi,  aufserdem  mit  breiter 
widerholung  (537,  3.  4).  sehr  instrucliv  für  die  technik  ist 
schließlich  das  beispiel  der  letzten  Strophe,  in  der  die  Variation 
(537,  6.  7)  des  vorhergehnden  (537,  4.  5)  an  ihrem  ende  das 
Stichwort  himel  bringt,  das  dann  den  betonten  gedichtschluss 
herbeiführt,  und  in  xlv  der  Übergang  von  Strophe  2  zu  3  (zwei 
Variationen,  Stichwort  rösen),  von  Strophe  3  zu  4  (drei  Variationen, 
Stichwort  zinhet). 

Eine  eigentümliche  art  der  Variation  zeigen  die  verse  520,29. 
30,  die  520,  25—28;  521,  5.  6,  die  521,  1—4;  521,  11.  12,  die 


ULRICH   VON   LICHTENSTI  IN  77 

.Vi l,  7— 10;    521,17.   18,    die  521,  13— 16;   521,  >.   die 

521,25 — 2s  in  bewustem  parallelismus  variierend  zusammenfassen; 
521,21  variiert  521,21.  zwei  drittel  der  Btrophe  werden  im 
letzten  drittel  repetiert,  das  ganze  lied  (.xlmi)  ist  daraufhin  an- 
gelegt; nur  der  pointierende  schlug«  macht  eine,  wol berechnetet 
ausnähme. 

Für  il  i  e  composition  wichtig  sind  die  Variationen 
im  xliv  liede,  wo  sie  den  hauplteil  <lrs  gedichtes,  Strophe  3 — 5, 
wQrkung  des  wortes  der  dame,  formieren;  in  den  anfangs-  und 
Bchlussstrophen  (schema  :  2  +  3  +  2)  fehlen  sie. 

Variationen  ohne  wert  für  den  gedankengang  bieten 
dagegen  die  Strophen  i  in  7  im  Verhältnis  zu  6,  lvi  3  zu  2,  5 
zu  4;  die  verse  572,3—5  in  bezug  auf  571,  28.  29.  21.  22. 
11 — 13.  7 — S:  im  liede  liv,  dessen  Variationen  von  Strophe  zu 
Strophe  sonst  geradezu  paradigmatisch  >ind  für  die  unvermerkte 
weiterführung  durch  scheinbar  absichtslosen  Stichwortwechsel.  — 

l»ie  eigentliche  tautologie  dient  -eilen  der  prachl  der  rede : 
Salden  ich   wäre    vil  rieh  und  au  ireuden  der  fruote  — 

(394,  21), 
oder  ihrem  nachdruck : 

je  und  unfuoge  und  unfuore  diu  wilde] 
geximl  nilit  dem  helnn  und  toue  nihl  dem  schilde  (104,  19), 

ist  vielmehr  meist  zwecklos: 

daz   tuot  herzenlichen   icol  und  machet  vrö  (516.  24). 
Wol  ir  kleinvelrötem  mundet 
immer  scelic  si  ir  süezer  munl  (563,  19). 
Der  letzte  fall  ist  wie  563,  7  und  13  durch  die  grammatischen 
reime  des  gedichtes  (ui)  hervorgerufen. 

Besonders  lieht  es  Ulrich,  einen  gedanken  erst  affirmativ, 
dann   negativ  auszudrücken,  auch  wol  umgekehrt: 

vreude  bringen  und  unfreude  scheiden  dan  (417,  4). 

den   muot  durch  iueh  höhe  tragen 

und  an  freuden  nihl  verzagen    (443,  18). 

ich    verlribe 

(Türen  mit  ir  minem  libe. 

höhen  muot  ich  da  zir  hol 
(449,  13  f.    Variation    davon    an    entsprechender    stelle    «ler    nächsten 
strophe    449,  2S  f.)-    —    über    eine    ganze    strophe    ausgedehnt  :  liii 
slrophe  5.  — 

Zu  pleonasmen,  füllworten  und  flickversen  kommt 
es  leicht  unter  dem  zwange  des  künstlichen  metrums  oder  des  reims. 


78  BRECHT 

st  kan  troeslen  sere  (404,  10,  ere  :  lere),  bequemsten  reim  bringender 
versscliluss  :  —  daz  weis  ich  wol  (561,  7  :  sol);  dest  also  (577,  13: 
vrö).  fast  traditionelle  pleonasmen  als  notwendige  verschen  im  leicli, 
423,  13.  425,  17;  und  sonst,  567,  3.  abrundende  zusätze  am 
strophenschluss  435,12.26.  566,30.  567,12;  als  notwendige 
Überleitung  zur  folgenden  strophe  567,  5  (guote,  obwol  eben  vorher 
schon  beste  l).  es  ist  bezeichnend  für  den  Charakter  der  zweiten 
minne,  dass  gerade  in  dem  persönlichen  schlussteil  dieser  letzten  lieder 
solche  füllsei  gedeihen. 

Zur  breite  der  rede  tragen  schliefslich  die  anknüpfungen 
mit  ouch  (30,5),  die  bekräftigungen  mit  Jd  (111,  1.  126,  19. 
135,  4;  zur  einleitung  des  Wunsches  :  Jd  herre  —  401,  9;  zum 
betonten  gedichtschluss  401, 12;  bei  der  Zusammenfassung  553,24), 

die   erklärungen  bei  (Jd  mein  ich  406,  15; ich  meine 

576,11).  ganz  vereinzelte  constructioneu  äitö  y.oivov  (404,  21. 
424,11.  521,22 — 24  lachen)  kommen  mit  ihrer  raumersparnis 
dagegen  nicht  auf. 

A  llitteration  und  assonanz. 

Es  wird  aufgefallen  sein,  dass  manche  der  mitgeteilten  stil- 
beispiele  aufser  durch  die  eigenheit  der  repräsentierten  figur 
auch  durch  eine  lautliche  Übereinstimmung  gekennzeichnet  waren, 
nämlich  durch  die  allitteration ;  schon  durch  die  anapher 
kommt  ein  starkes  alliterierendes  dement  in  Ulrichs  verse. 
aber  auch  die  würkliche  allitteration  verschiedener  Wörter  ist 
ihm  ein  vertrautes  hilfsmittel  der  eleganten  rede,  dabei  zeigt 
er  eine  eigentümliche  Vorliebe  für  die  weichen,  schmeichelnden 
anlaute  w  und  l. 

wünschen  unde  wol  gedenken  (98,  5). 

—  so  daz  si  mit  willen  günne 

mir  von  ir  so  werder  wünne  —  (98,  10). 

ivolgemuotes  werdes  wibes  sirme(576, 19,  ähnlich  576, 17.21), 
xiv  strophe  5  (400,  20  f.)  :  14  mal  w-anlaut  in  acht  versen, 
derselbe  in  kleinerem  mafsstabe  403,  22 — 24.  ferner  406,  23. 
428,  20.  513,  17  f. 

—  lieben  wdn  und  leiden  wanc  (421,  28). 
so  si  mit  der  liebe  lose 

ist  nach  ir  vil  süezen  sit  (581,  19). 

freude  ist  süeze,  sorge  ist  süre  (421,  7). 

ir  höchgemuotes  herzen  rdt  (428,  17).  — 

Lvni  str.  6  :  liehten  —  liebe  —  liep  —  lieber  —  lip 
str.  7  :  lieber  —  lip  —  lere  —  lebe  (585,  lf.) 
beide    Strophen    werden    so    durch   l   für   die   Stimmung    gleichmäfsig 
gefärbt,  die  letzte  aufserdem  durch  widerkehrenden  tc-anlaut  weiz  — 


ILIUCH  VON   LICHTENSTEIN  79 

wenden  —  volle;  der  Bchlussvers  erhält  seinen  Charakter  durch  eine 
hüriere  lautgruppe  :  trösl  für  frtfren.  die  stimmungmalende  allitteralions- 
kunsi  des  xvii  Jahrhunderts  war  nichts  neues. 

Von  Dblichen  allitterierenden  form  ein  trifft  man  aufser 
der  eben  erwähnten  tröst  für  trüren  (zb.  401,  9.  585,  12),  leit 
mich  liebe,  Ziep  nach  leide  (105,  1),  min»  unde  meine  (394,  20. 
UH,  27),  wol  und  we  (435, 11),  mm  unde  so  (zl>.  513,  15.  582,21). 

Die  assonanz  spielt  eine  weit  geringere  rolle,  gelegentlich 
unterstützt  sie  die  allitteration  :  der  nähen  bi  hl  liehe  lieplich  Ut 
(104,29),  lief  Hebe  Ut  (433,  10).  ein  beispiel  wie  Diu  inioi 
an  den  iciben,  diu  tuot  mich  so  frö  (408,  13)  leitet  über  zu  den 
eigentlichen  bi  n  u  eurei  men,  die  aus  Ulrichs  verskunst  nicht 
wegzudenken  sind  und  zb.  das  zierliche  lied  xu  wesentlich  ge- 
stallet  haben  (vgl.  auch  423,  27;  ungenau  567,  7).  nicht  selten 
trelen  sie  in  der  form  der  schlagreime  auf;  zb.  zecjlkh  muot 
muoz  sin  dem  schilde  wilde  (457,  22).  als  ungenaue  schlagreime 
sind  falle  wie  in  ir  munde  wunder  Ut  (5S1,  16),  e'ren  lere 
(zb.  5S5,  9)  aufzufassen. 

Lebhaftigkeit  der  rede. 
Ist  Lichtensteins  lyrik  vielfach  breit  und  manchmal  leer,  so 
ist  sie  doch  last  nie  schleppend  monoton,  einschläfernd  gleich- 
mafsig,  wie  die  manches  Zeitgenossen,  der  auch  nur  ein  thema, 
die  minue,  kennt,  dies  ligt  an  der  lebhaftigkeit  seiner  rede,  die 
vorwiegend  durch  den  reichlichen  gebrauch  einiger  Stilmittel 
bewilikt  wird  :  voranstellung,  ausruf,  frage  und  anrede,  durch 
ihre  betrachtung  muss  der  eindruck  blofsen  wortreichtums 
corrigiert  werden. 

Voranstellung  und  parenthese. 

Ulrichs  naturell  ist  so  lebhaft,  dass  es  mit  der  hauptsache 
nicht  warten  kann,  sondern  sie  so  rasch  als  es  irgend  geht, 
vorbringt,  diesen  eindruck  empfangt  man  von  den  zahlreichen 
voraustellungen,  die  seine  gedichte  von  allen  andern  unter- 
scheiden, dies  mittel  der  heraushebung  erscheint  in  den  ver- 
schiedensten  formen. 

Unterstreichende  voranstellung  des  subjects  im  absoluten 
nominativ,  wider  aufgenommen  durch  ein  pronomen  in  irgend- 
welchem casus,     an  beispielen  herscht  überfluss: 

5t  reine  guot 

swie  si  mir  luot  —  (136,  11). 


80  BRECHT 

St  rouberinne,  si  hat  —  (412,  14). 

diu    huol  an  den  wiben,    diu  luot  mich  so  frö  (408,  13). 

freude  und  mine  besten  tage 

die  sinl  hin  mit  seilender  klage  (414,  6). 

Das  vorweggenommene  subject  wird  als  subject  eines  folgen- 
den relativsatzes  oder  verallgemeinernden  relativsatzes  recapitnliert: 
Nideriu  minne,  an  freuden  tot 
ist  er  dem  si  an  gesigl  (59,  1). 
Guoliu  wip  süez  unde  reine, 
derst  noch  wunder,  swd  si  sin  (421,  31). 

Es  wird    mit  dem  Possessivpronomen  eines  folgenden  frage- 
satzes  aufgenommen: 

Si  vil  minneclichiu  guole  —  —  —  —  — , 
wd  hat  mir  ir  güete  vor  verborgen  sich? 
(401,  5;  ähnlich  399,  17,  in  demselben  Hede  xiv). 
Es  besteht  aus  parallelen  infinitiven: 

ir  merken,  ir  hüelen,  daz  trosstet  noch  baz  (408,  l  ähnl.  6). 
Ellipse  des  subjectinfinitivs: 

mit  zühten  vrö  [seil,  sin],    daz  ist  ein  leben  —  (428,  5). 
Auffallend     nachdrückliche      recapitulation     des     mit     ver- 
allgemeinerndem relativsatz  eingeführten  subjeets  zu  überdeutlicher 
Strophenanknüpfung  560,  19  f.  :  Swelch  wip  güetlich  lachen  kan,  — 
hdt  diu  röten  munt  — . 

Zwecklos  gewordene  manier  der  recapitulation: 

Min  lip  der  lac  niulich  eine  —  (582,  11). 
Betonende  voranstellung  des  objeets: 
Im  absoluten  nominativ  (?): 

schdeh  unde  roup,  diu  beidiu  klage  ich  —  (412,  9). 
In  dem  vom  folgenden  verbum  regierten  casus : 
lieben  wdn  und  leiden  xcanc, 
swaz  si  des  ein  ander  tcelen  —  (421,  28). 

Voranstellung  des  logischen  objeets: 
Mit  relativsatz  umschrieben: 

Daz  si  heizent  klagende  not, 

solde  ich  dd  mit  immer  ringen  —  (409,  23). 
In  dem  vom  folgenden  verbum  regierten  casus: 

Rehler  freuden,  swer  der  waldel  —  (421,  3). 
In  zweieinhalb  langen  versen  :  400,  12  f. 

Voranstellung    des    entfernteren   objeets   im    absoluten 

nominaliv: 

Alle  die  in  hohem  muote  wellen  sin, 
den  wil  ich  daz  raten  —  (426,  12). 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  81 

Dasselbe  mit  Umschreibung  des  entfernteren  objects  durch  ver- 
allgemeinernden relalivsatz,  zu  dispositiontmifsiger  strophenanknüpfung, 
wie  oben  :  Steeleh  man  rieh  —  hdi  behuot  —  -  .  m>4  ein  wip 
sich  an  den  hii  - —  der  lip  darf  etc. ,  eine  recapitulatioo  in  die 
andere  geschachtelt  (561,  3  1'.,  u;  vgl.  560,  1 9 f.). 

Voranstelluog  des  prädicatsnomens  im  absoluten  oomi- 
nativ,  um  anfang  der  Strophe: 

Ein  höhe  mt'nne  gernder  man 
mit  slatem  muote,  das  piu  ich  (131,  13). 
S.lii    eindrucksvoll  am  liedschluss: 
Trost  miner  jdre, 
daz   ist  ir  scliouwe,  st    rrouwe,   zewdre  —  (395,  llj. 

Voranstellung  der  apposition  (absol.  nomin.)  am  gedieht- 
anfang: 

Der  iverlde  iröst  und  al  ir  werdikeit, 
ir  guolen   reiitiu  xcip  —  (402,  17). 

Vorziehen  des  abhängigen  s  atz  es,  sehr  beliebt: 
Daz  ieman  die  lugende  scheide, 
des  teil  rehtiu  minne  niht  —  (419,  8). 
Wie  si  si  gevar,  diu   wol  gemtiote, 
da:  wil  ich   iueh  wixzen  lau  (50S,  22).  — 

Zur  eigentlichen  prolepsis  mit  ihrem  constructiouspreugendeu 
ungestüm  kommt  es  also  nicht. 

Der    gleichen    momentanen    Unfähigkeit  des  abwartens  wie 

die  voranstelluog  entspringt  die  pareuthese,  von  der  ich  jedoch 
bei  dem  correcten  Ulrich    nur  ein   beispiel  finde  :  546,  13. 

Ausruf. 
Schon  die  voranstellung  des  subjeets  nähert  sich  manchmal 
dem  ausruf  (zb.  136,  4;  412,  14)  :  zum  ausruf  drängt  Ulrichs 
ganze  persönlichkeit,  trotzdem  sind  epitheta,  im  ausruf  appositioneil 
an  personalpronomina  angeschlossen,  oder  ausrufe  in  ganzen 
Sätzen  ohne  interjeetion  nicht  so  häufig,  als  man  erwarten  sollte. 

Er  töre  vil  Lumber  —  (407,  27). 

Neiz  waz  ich  singe 

von   der  naht  :  —   (30,  1). 

Zur  bezeichnung  des  Wunsches: 
Wer  weer  ich  dan, 
ich  scelic  man  1     (31,  5). 

Jd  herre,   fünde  ich  iender  iröst  für  Irüren  anderswd, 
e  daz  ich  verdürbe  miner  freuden,  miner  besten  zit!  (401,9). 
min  Up  si  vrö  :  —  (403,  7). 
Immer  müeze  scelic  sin 

Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  6 


82  BRECHT 

ir  vil  eren  rieher  werder  lip  (406,  13). 

Die  ganze  Strophe  xvu  5  (406,  25  f.). 

het  ich  doch  noch  wdn  als  e  —  (414,  20). 

Desto    häufiger    ist    die    anknüpfung   eines   satzes,    Satzteils 
oder  wortes  an  eine  interjection. 
Wie  kanstu,  Minne, 
mit  sorgen  die  sinne, 

den  muot  betouben  mit  sender  clage!  (anf.  x). 
wol  dir  tac,  vil  scelic  si  din  nam     (30,  21). 
Wol  dir,  sumer,  diner  süezen  —  —  zil  (anf.  xxxi). 
wol  dem  manne,  wol  dem  tvibe!     (583,  8). 
Wol  her,  danket  —  (anf.  xxn).  —   Wol  her  alle  —  (anf.  lu). 
Wol  ir  kleinvelrötem  munde!     (563,  19). 
wol  ir  —  (508,  16;  534,  13;  560,  24  u.  ö.). 
wol  im  —  (113,  17).   —   doch  wol  im,  der  —  (59,  3) 
wol  uns  des  —  (445,  5), 
Wol  ufl  ez  taget     (512,  9). 

Nicht  selten  ist  die  selbstbeglückwünschuug: 

Wol  mich  der  sinne  —  (anf.  xu). 

Wol  mich,  ez  ist  ergangen  —     (auf.  vui). 

wol  mich,  wol  mich  —     (441,  3) 

Wol  mich,  wol  mich,  wol  mich  des  —     (anf.  lv). 

wol  mich,  wol  —     (515,  23). 
Als  respondierende  Strophenanfangsanapher: 

Wol  mich  immer!  —  ^ 

Wol  mich,  wol  mich  iemer  mere  —  >  xxxvn,  alle  str. 

Wol  wol  wol  mich  —  J 

Fast  ebenso  häufig  we: 

we  daz  mirs  diu  guote  niht  engan!     (schluss  u,   31,  7) 

We  daz  mir  diu  guote 

verret  so  ir  minne!     (anf.  vi,  110,  5). 

We  warumbe  sul  wir  sorgen?     (anf.  vu,  113,  13). 

Owe  owe  frowe  Minne  —     (114,  9). 

Owe  daz  ich  —  —  muoz  —     (anf.  xiv,  399,  9). 

Owe  sold  ich  —  (400,  4,  xiv). 

Owe  des  —     (412,  21). 

Owe  des  —  414,  3,  anf.  xxi,  widerholt  ach  oice    414,  8, 

we  der  klage  und  owe  414,  18.  19  :  klimax. 
Owe  der  so  sceUc  wcere  —     (420,  16). 

Anderes: 

heg  fünd  ich  der  guolen  eine!     (422,  1) i. 
heg  waz  lieber  dinge  bringent  mir  —  —  die  wünsche  min! 

(400,  1). 

1  vgl.  Roethe  s.  326  mit  anm.  361.     Borchling  Der  jTiturel  s.  122. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN 

hey  was  im  sin  dienest  salden  bringet  l 
wie  fraltchen  endet  sielt  sin  tednl     (117. 

Waffen     über    dir    gar    unyuolen    —      (auf.    xlv,    533t    13, 
wiilciliull:    iv äffen   über  si   immer   mrrr     :,:<3,  17). 
Frage. 
Ziemlich  Bellen  ist  die  echte  frage: 

Vroioe,    liebin    i  rmve   min, 

U>ar    uinhe   bislu    mir  geliaz't      (105,  8). 

ui   durch  welch   wunder 

nimpl   si   des    nihl    war?      (135,   11,    \,    ilialog). 

Mar  si  ril  reine 

besunder  duz   eine 

um    tut  bescheiden,  was  ir  uille  sl?     (135,  25,  x). 

—  sage,  wie  teil  du  treesten  mich?     (397,  6,  xin). 

W'enne   huml    mir   freuden   schin? 

wenne   wil  du,  scelic  frowe,  gefreun  daz  sende  herze  m/n? 

(397,  17,  xiii). 
Ferner  im  n  dialog,  Strophe  2  und  ü,  zh.  434,26: 

Herre,  saget  mir,  waz  ist  minne? 

ist  ez   wip   odr   ist   es  man?  — 

waz  hat  si  dar  zuo   betwungen, 

daz  in  wip  noch  jugent  freude  yii?     (556,  6). 
Schüchterne    frage    als  vorsichtiger  ausdruck  des  Wunsches: 

Was  obe  si  daz  wünschen  lieze  lihle  sunder  haz?    (400,  8). 
Frage  mit  sogleich  erfolgender  antworl: 

Sol  ich   da   bi  In'iric  sin? 
neind,  frowe,    treu   mich  —      (397,  9). 
Ob  ich  des  iht  innerclichen  wünsche?    jd  —     (400,  14). 
Formelhafte  frage  des  volksepischen  Stils,  mit  antwort: 
Wie  pflac  sin  den  tac  diu  süeze  minnecliche? 
so   daz  er  wart  hohes  muotes  riche. 
so  kurzen   lac  gewan  er  nie      (513,  10  f,  u  tagelied). — 

Sehr  gewöhnlich  sind  auch  hei  Ulrich  rhetorische  fragen. 
Wie  möhl  ir  mir  vreude  geben 
dne  die  vil  lieben  guolen?     (98,  17). 
uä  hdl  freude  sich  verborgen?     (420,  21). 
ifo:  danne  ob  mir  ir  einiu  hat 
Erzeigel  höhe  misseldl?     (424,  8). 
swd  ein  vrowe  unwiplich  la?le, 
wer  möhl  der  gelrouwen?     (566,  19). 

Als  gedichtanfang: 

W4  war   umbe  sul  wir  sorgen?     (vu). 
Was  darumbe,  ist  verswunden 
uns  der  sumerl  —  (l). 

6* 


84  BRECHT 

Zum  anfang  des  leichschlusses: 

Nu  waz   bedarf  min  seneder  lip  —  tuot?   (425,  11 — 15). 
Als  Übergang  zum  hauplteil  eines  liedes  (typus  C): 

Zwiu  sol  mir  des  winders  zit 

und  ouch  dar  zuo  sin  langiu  naht?     (104,  23). 

Als  gedichtschluss: 

Wd  von  sold  ich  wesen  vrö, 
swenne  von  ir  mine  sinne 
noch  min  muot  niht  stüende  hö?     (410,  23). 
Beim  Strophenanfang : 

Si  vil  ungencedic  wip  — 

waz  mac   ir  gewall  mir    liebes    mer   benemen?     (399,  17, 
ebenso  401,  5   in  dem  fragenreiclien  liede  xiv). 

Als  strophenschluss: 

waz   bedarf  der  lugende  mere, 

swer  die  lugende  beide  hdl?     (419,  6). 

Sehr  beliebt  sind  gehäufte  parallelfragen,  deren 
nachdrücklich-  oder  Zudringlichkeit  zu  Ulrichs  ungestümem  werben 
sehr  gut  passt. 

Vier  derartige  fragen,  von  denen  die  dreiletzten,  anaphorisch 
mit  wd  beginnend,  unmittelbar  auf  einander  folgen,  als  klimax: 
58,22 — 27;  zugleich  als  Strophenübergang. 

Ebenfalls  ununterbrochen,  als  würkungsvoller  strophen- 
schluss: 

waz  bedarf  ich  scelden  mere? 

wie  kan  mir  gelingen  baz?     (421,  1). 

Durch  kurzen  zwischenvers  gegliedert,  um  Jibn  herum 
symmetrisch  zu  einer  Strophe  ausgedehnt: 

viii  Strophe  6:  126,  26—28.  30—32. 

An  entsprechenden  stellen  zweier  aufeinanderfolgender,  eine 
klimax  darstellender  Strophen  (nicht  in  genauer  responsion): 

—  ob  da  iht 
ougen  lihl 

lieplich  sehen  ein  ander  an?     (433,  12 f). 

—  ob  da  niht 

mer  geschiht?     (433,  30), 
beide  male  mit  unerwarteter,  schalkhaft  verhüllender  antwort. 

Dasselbe  Stilmittel,  nur  sehr  verstärkt,  bei  aufeinander 
folgenden  parallelfragen : 

Sol    ab    ich  si  minnen    diu  mich   hazzet?     sol   mir  lieben 
diu  mir  also  leide  tuot? 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  85 

Jedermann  halt  dies  für  rhetorische  fragen  mit  der  selbst- 
verständlichen stillschweigenden  antwort  :  nein  —  es  folgt  aber: 
jd,  so  teil  daz  herze  und  aller  min  gedanc     (399,  11,  xiv). 

Ulrich  nimmt  also  plötzlich  die  rhetorische  frage  als  echte, 
und  beantwortet  sie  mit  überraschender  paradoxie. 

Apostrophe. 

Die  haupterscheinung  in  Ulrichs  Stil,  sowol  ihrer  ausdehnung 
als  ihrer  charakteristischen  bedeutung  nach,  ist  die  anrede 
(apostrophe). 

Sie  ist  so  sehr  ein  integrierender  bestandteil  seiner  lyrik, 
dass  es  nicht  genügen  würde,  nur  einzelne  beispiele  mitzuteilen, 
die  entwicklung  —  denn  eine  solche  ist  vorhanden  —  muss 
vollständig  überschaut  werden. 

Menschen  und  dinge  redet  Ulrich  an,  auch  personiiicierte 
abstracta  :  den  tag  (n) ,  den  mai  (iv) ,  den  sommer  (xxxi) ,  den 
winter  (v);  die  männer  (xvn,  xxv,  xxvn),  die  frauen  (xi,  xiv,  xv, 
xvi,  xx,  xxv),  die  ritter  (xxxviu),  den  knappen  (xxxvm),  jung  und 
alt(xxxv);  frau  Minne  (vir,  ix),  den  'hohen  mut*  (in,  xxxn),  sorge 
und  angst  (xxxiv),  weibesgüte  (xlvii),  truren  (liii);  am  häufigsten 
aber  seine  dame  (i,  in,  v,  vi,  ix,  xm,  xi.i,  xi.n,  xlvi,  xlyiii)  und 
das  zuhörende  publicum  (vii,  ix,  xvm,  xxii,  xxxix,  xlv,  lii,  liv, 
lv,  lvi).  als  entwickelte  apostrophensvsteme  können  die  dialoge 
gelten;  in  x  reden  der  dichter  und  frau  Minne,  in  xxx  uud  xxxm 
herr  und  dame,  in  xxxvi  und  xl  ritter  und  dame,  zofe  und 
herrin ,  zofe  und  liebespaar  einander  an.  unter  diesen  adressen 
ist  kaum  eine  durch  irgendwelche  besonderheit  auffallend,  nur 
ihre  menge  erscheint  bemerkenswert,  sie  zeugt  von  lebhaftigkeit 
des  geistes  und  von  technischer  gewantheit.  sich  selbst  redet 
er  niemals  au,  so  oft  er  auch  von  sich  spricht. 

Hinsichtlich  ihrer  Verteilung  auf  die  entstehungszeiten  der 
lieder  ist  es  wol  nicht  zufällig,  dass  die  anreden  an  die  er- 
scheinuugen  der  natur  und  an  die  frau  Minne  dem  anfang  und 
rund  der  ersten  hälfte  des  gesamtwerkes,  die  an  die  männer  und 
frauen  der  kritischen  zeit  seiner  ersten  minne  und  den  wdnwisen, 
die  an  die  personificierten  höfischen  abstracta  wesentlich  der 
zweiten  hälfte  der  lyrischen  production  angehören,  während  die 
anreden  au  die  geliebte  und  an  das  publicum  durchgehends  an- 
zutreffen sind. 


86  BRECHT 

Da  sich  Ulrich  stets  als  meuschen  unter  menschen  fühlt, 
so  ist  der  trieb  zur  apostrophe  immer  bei  ihm  vorhanden,  unter 
umständen  bleibt  er  latent,  aber  doch  spürbar,  dies  ist  überall 
da  der  fall,  wo  er  sich  mit  bericht,  erlaubnis,  Vorschrift,  rat  an 
eine  bestimmte  adresse  wendet,  ohne  dass  die  innere  Spannung 
stark  genug  wäre,  um  sich  geradezu  in  der  rhetorischen  form 
der  apostrophe  zu  entladen,  zb.  im  beginn  des  zweiten  leichteiles 
(424,  12f. ,  parallel  mit  der  ausgesprochenen  apostrophe  an  die 
männer  im  ersten  teil,  423,  1): 

daz  wil  ich  gerne  wizzen  Idn 

mit  zühten,  als  ich  beste  kan, 

tif  gendde  guoliu  wip. 

in  der  ersten   Strophe  von  xl\i,  die  bestimmt,  wer  im  publicum 

das  lied  'Frauentanz'  siugen  dürfe  (536,  9  f,  bes.  12.  13): 

—  dem  sin  muol  sldt  von  iciben  ho, 
dem  erloube  ich  si  ze  singen  wol  — . 

das    ganze    xvi   lied    (i   iizreise),    mit    ausnähme    höchstens    der 

fünften    Strophe,   ist  von   einem    ritter   an  ritter  gerichtet;   dass 

sie   nicht   ausdrücklich  angeredet  werden  —  wie  im  beginn  der 

ii  üzreise,  xxxvm  —  ist  zufall;  vgl.  FD  405,  15.  16. 

Zu    anfaug    des    den    frauen    geltenden    liedes  u    heilst    es 

(str.  1,  560,  7f): 

Ich  wil  durch  die  vrowen  min 

guoten  wiben  rdlen  einen  rat  —     usw. 

entsprechend  xxvi  strophe  1  (426,  12  f.),  an  die  männer: 
Alle  die  in  hohem  muole  wellen  sin, 
den  wil  ich  daz  raten  bi  den  triuwen  min  —    usw. 
fälle    wie    diese    beiden    könnte    man    geradezu   als   verdeckte 
apostrophe  bezeichnen. 

Unvergleichlich  häufiger  kommt  es  zur  ausgesprochenen 
apostrophe.  diese  hat  verschiedenen  Ursprung  und  dient  den 
verschiedensten  zwecken. 

In  manchen  fällen  dient  sie  würklich  einer  echten  gemüts- 
bewegung,  die  sich  mit  der  objectiven  rede  in  der  dritten  person 
nicht  mehr  begnügen  zu  können  meint,  dahin  gehört  der  Über- 
gang aus  der  dritten  person  in  die  zweite  in  der  zweiten  hälfte 
des  i  liedes,  das  ganz  seiner  dame  gilt  {Diner  reine  trcest  ich 
mich  —  IS,  19  ff.),  oder  lied  xx,  das  erste  scheltlied,  in  dem 
echte  erregung  über  die  untreue  der  dame  in  erbitterte  klagen 
an   das   ganze   geschlecht   ausbricht  (411,  27);    die   eindringliche 


ULRICH  VON  LICUTENSTEIN  s; 

lehre    an    dieselbe    adresse,    mitten    in    der  rede  au>  der  3   perg, 

heraus  :  guoliu    wip,    geloubet    daz  —  (41 S,  5.    xxu);    der    sehr 

begreifliche,  wenn  auch  über  die  nalur  hinaus  künstlich  gesteigerte 

freudenausbruch   im  ersten  liede  der  zweiten  minne  (xxxn): 

Höher  muut,  nu  wis  empfangen 
in  min  herze  tusenl  stunt. 

weit    überwiegen   jedoch    die  lalle,    in  denen  apostrophe  nur  als 

litterarisch    überkommene    Stilverzierung    angewant    wird,      nicht 

mehr    als    dies    bedeuten    zb.    die    anreden    am    Strophenanfang 

Guotiu  wip  xiv,  Strophe  5  (mutmafslicher  grund  siehe  oben  s.  7), 

Höchgemuote  frowen  xvi,   strophe  5,    oder   am   strophenschluss: 

wol  dir  tac,  vil  scelic  si  din  nam  (30,  21). 

Am  meisten  liebt  Ulrich  apostrophe  als  gedieh  tan  fang 

(meist  durch  die  erste  strophe  durchgeführt),    dies  ist  eine-  seiner 

charakteristischsten  eigentümlichkeiten.   26  lieder  von  5S,  also  fast 

die  hälfte,  beginnt  er  mit  apostrophe,  desgl.  seine  drei  büchlein. 

Apostrophe  nur  am  aufaug:  Freut  iueh,  minnegernde 
man  (xvn).  Wol  her,  danket  allen  guoten  wiben  —  —  des  freut 
iueh,  ir  freuden  geraden  man  (xxu,  str.  1  v.  1  u.  5).  Nu  freut 
iueh,  minnegernde  man  (xxvu,  vgl.  xvn;  nebenbei  wideniufgenonunen 
in  str.  4,  vers  428,  23).  Wol  dir,  sumer  —  (xxxi).  Wichet  umbe 
balde,  sorge  und  angest  —  (xxxiv).  Warnet  iueh  gar,  junge  und 
aide  (xxw,  apostr.  durch  zwei  str.).  dreifache  anfangsapostrophe  an 
die  Minne,  die  geliebte,  die  frauen  in  strophe  l  und  2  von  xi.  Nu 
hilf  ic/bes  güete  (xlvii)  ;  das  Stichwort  wibes  güete  wird  im  siebenten 
vers,  gegen  ende  der  ersten  strophe,  widerholt;  so  grenzt  Ulrich  die 
eingangsslrophe  mit  apostrophe  ab  (ähnlich  z.  b.  in  v,  104,  20).  vliueh, 
vliueh,   truren,  von  uns  verre  (lui). 

Apostrophe  ausdrücklich  nur  am  an  fang,  aber  für 
das  ganze  lied  gellend:  Wol  her  alle,  helfet  singen  (lh). 
Wichet  umbe,  lät  der  guoten  nigen  mich  —  (lv0-  wideraufnahme 
der  apostrophe  in  der  mittelsten  strophe  (572,  1.  2  nach  571,  7  f)  : 
Wizzel  alle,  daz  ich  kan  guoten  wiben  in  diu  herzen  sehen  (liv). 

Apostrophe  nur  amschluss  ist  selten,  sie  erfüllt  die 
ganze  schlussstrophe  des  berühmten  iv  liedes  :  Scelic  meie,  du  alleine 
troeslesl  al  die  weide  gar  — .  analog,  zu  ähnlicher  wilrkung,  die 
schlussstrophe  von  lied  vi  :  Jd  man  ich  vil  sere,  vrowe,  dine  güete  — 
— ;  der  letzte  vers  bringt  noch  einmal  die  kurze  apostrophische  pointe: 
guol  wip,  wende  daz  (111,  12).  zur  einführuug  eines  bildes  am  aufang 
der  schlussstrophe  :  Schouwet  wie  der  hüsen  an  der  Tuonouw  gründe 
lebt  des  tröres  süeze  gar  (lv). 

Apostrophe  am  an  fang  und  am  schluss,  die  ent- 
wickeltere form,  zeigen  mehrere  lieder.    sie  kann  an  beiden  stellen 


BRECHT 

derselben,  sie  kann  verschiedenen  personen  gelten,  das  in.  lied  : 
Vrowe,  liebiu  vroive  min  (57,  25)  —  —  Frowe  (58,  2)  —  geht 
in  der  zweiten  Strophe  recht  unnatürlich  in  die  3  pers.  der  herrin 
über,  kehrt  aber  in  den  zwei  letzten  versen  zur  anrede  :  frowe  —  zu- 
rück, gegen  ende  eine  Zwischenapostrophe  :  Höher  muot  —  (58,  30); 
die  handhahung  der  figur  ist  noch  unsicher. 

Am  schluss  des  zweistrophigen  einleitungsteiles  von  v  (siehe  unter 
'responsion')  abgrenzende  apostrophe  an  den  Winder  nebst  lob  der 
sumerivunne  (104,  20  f);  sumer  und  winder  waren  die  stichworte 
des  ersten  teiles.  am  beginn  des  liedschlusses  zweimalige  eindringliche 
anrede  an  die  geliebte  (105,  5  f.  8f). 

Am  liedanfang  apostrophe  an  das  publicum,  am  schluss  ebenfalls 
zweimalige  anrede  an  die  vrowe,  und  zwar  wiilerum  bereits  in  der 
mitte  der  vorletzten  Strophe,  zeigt  das  zwei  jähre  nach  v  entstandene 
ix  lied  (vgl.  den  parallelen  einzelausdruck  131,  17  und  105,  5, 
131,  22  und   105,  8). 

xxxviu  richtet  sich  am  aufang  an  die  ritter  :  Erengernde  riller, 
1dl  iuch  schouwen  —  (456,  25),  zu  beginn  und  ende  des  Schlusses 
zweimal  an  den  knappen  :  Tuo  her  schilt  —  (457,  27),  nu  tuo  her 
sperd  sper!     (458,  4.  5). 

Mehr  oder  minder  durch gehnde  apostrophe,  wo- 
möglich an  dieselbe  person  gerichtet,  ist  natürlich  das  ziel  der 
entwicklung,  entsprechend  einem  tief  in  Ulrichs  natur  gegründeten 
wesenszuge.  diese  Verwendung  der  figur  ist  daher  die  häufigste 
bei  ihm,  und  die  am  bevvustesten  und  kunstreichsten  ausgebildete. 

So  wenden  sich  alle  fünf  Strophen  des  xni  liedes  mit  ausge- 
sprochener, zt.  respondierender  (slr.  2,  3)  apostrophe  an  seine  vrowe. 
häufig  widerholte  dringende  anrede  der  dame  lag  nahe  in  dem  erregten 
xli  liede,  dem  ausdruck  seiner  Sehnsucht,  in  ihr  herz  zu  kommen  : 
Guot  wip,  miner  fr  enden  lere  (anfang,  desgleichen  apostrophe  in  jeder 
Strophe;  besonders  lebhaft  in  der  dritten,  vierten  und  sechsten;  ge- 
häufte imperative  am  Strophen-  und  versanfang  515,  24 — 26).  ähn- 
lich XLviii  :  anrede  an  die  herrin  durch  das  ganze  lied,  stark  betont 
zu  anfang  mit  dreifacher  apostrophe  :  Vrowe,  miner  freuden  vrowe, 
vrowe  min  usw.,  der  am  anfang  der  zweiten  Strophe  noch  einmal 
Wiplich  wip  folgt. 

Allen  guten  frauen  gilt  das  xv  (402,  18,  anfang,  403,  7.  13) 
und  das  lange  xx  lied  (411,  27  f,  anfang,  412,  4.  25.  413,  1).  den 
höhen  muot  begrüfst  das  xxxn  im  beginn  aller  Strophen  (responsion), 
zu   des  dichters  eigner  befricdigung  (FD   442,  8). 

Hierher  gehören  auch  die  anreden  an  das  publicum, 
obwol  sie  niemals  ein  gauzes  gedieht  durchziehen,  vielmehr  stets 
nur  vereinzelt,  manchmal  sogar  nur  wie  gelegentlich,  vorkommen, 
aber    gerade    die   nebensächlichkeit,    in    der   sie   nicht   selten  er- 


l'LHICll  VON   LICHTENSTEIN 

scheinen,  lässl  erkennen,  wie  sehr  das  ganze  lied  apostrophisch 
gedacht  ist;  das  isl  so  selbstverständlich,  dass  es  nur  beiher  an« 

gedeutet  wird.  so  das  beidiu  wir  sint  diu  mare,  ir  hcBret  m 
etc.  (114,  1—8),  unmittelbar  vor  der  grofeen  schlussstrophen- 
apostropbe  an  vruwe  minne  (vu).  ebenso  verräterisch  isl  das 
unscheinbare  seht,  das  dun  mitten  in  dem  liebesdialektischeo 
prachtgedicbt  xvin  entschlüpft  (408,  6)  :  wir  seilen  jetzt,  es  i-t 
eine  Vorführung  vor  geladenem  publicum,  charakteristisch  in 
dieser  hinsieht  ist  ferner  das  ein  wenig  mehr  rhetorische :  daz 
teil  ich  iueh  wizzen  län  508,  23  (xxxix),  das  man  kaum  als 
gegensatz  zu  dem  vielen  wir  und  uns  des  liedes  empfindet,  weil 
Ulrich  sich  seihst  mit  dem  publicum  ins  wir  so  gänzlich  ein- 
bezieht, dass  man  die  bei  ihm  so  häufigen  wir  und  uns  beinahe 
auch  als  apostrophen  auffassen  könnte,  ja,  er  ist  so  dramatisch- 
lebendig, dass  dem  leser  die  vielen  Wol  mich  und  dergl.  fast 
wie  selbstanreden  vorkommen.  —  ähnlich  zei^t  das  ganz  ge- 
legentliche Schouwet,  wie  diu  pie  ir  süeze  etc.  (534,  3),  dass  xi.v 
durchgehends  auf  zuhOrer  berechnet  war.  auch  im  lii  liede  hat 
man  es  mit  beständiger  anrede  ans  publicum  zu  tun,  obwol  die 
feierliche  allocutio  nur  die  erste  Strophe  formiert;  ebenso  im 
Hl,  in  dem  aufser  dem  anlang  nur  das  Gerne  ich  von  dem  seihen 
spräche  (581,  23 1   verrät,  dass  es  sich   um  einen  Vortrag   handelt. 

Zwei  lieder  endlich  lassen  erkennen,  wie  auch  die  apostrophe, 
gleich  der  anapher  und  andern  figuren,  von  Ulrich  herangezogen 
wird,  um  die   gliederung  der  gedieh  te  zu  unterstützen. 

Das  lied  xlh  (typ us  B)  beginnt  mit  der  apostrophe  Vrowe 
min,  got  gebe  dir  guoten  morgen,  die  anrede  geht  durch  das 
ganze  lied.  die  specielle  apostrophe  aber  erscheint  wider  im 
vorletzten  verse  der  zweiten  Strophe  (anfaugsanapher): 

vrowe,  mines  herzen  hüneginne, 
dh.  am  schluss  der  einleituug  und  der  eng  zu  ihr  gehörigen 
zweiten  Strophe,  in  der  der  gedanke  des  liedes  zuerst,  und  in 
einfachster  form,  angekündigt  wird,  die  folgende  zweite  stufe 
der  gedichtklimax ,  Strophe  3  und  4,  die  mit  dem  bisherigen 
gedauken  spielen,  wirdwiderum  durch  grofse  apostrophe  eingeleitet: 

Liebiu  vrowe,  liebest  aller  wibe, 
der  in  der  gleichstehenden  vierten  Strophe  nur  ein  kurzes  vrowe 
am  ende  des  ersten  verses  zu  entsprechen  braucht,    die  schluss- 
strophe   aber    beginnt    wider  mit  Guot  wip  und  schliefst  im  vor- 


90  BRECHT 

letzten  verse  (abgesehen  vom  envoi)  mit  vrouwe.  —  so  markiert 
apostrophe  die  gedichteinschnilte. 

Ähnlich  steht  es  mit  xlvi  (typus  C  2  +  3).  der  sentenziöse 
allgemeine  teil  (str.  1 — 2)  ist  apostrophenlos  bis  auf  die  letzten 
worte : 

höchgemuot  durch  dich,  guol  vrowe  min. 

von  hier  an  herscht  anrede  an  die  vrowe  durch  deu  ganzen 
speciellen  teil  (str.  3 — 5).  innerhalb  seiner  ist  die  seelen-  und 
körperschilderung  (str.  3 — 4)  nochmals  nach  dem  Schlüsse  hin 
abgegrenzt,  und  zwar  widerum  durch  apostrophe  am  ende  des 
letzten  Strophenverses: 

lugende  hdslu  vü,  guot  wiplich  wip. 

dann  erst  folgt  die  ausdrücklich  hieran  anknüpfende  schluss- 
strophe.  die  composition  wird  durch  apostrophen  gewant  ver- 
deutlicht, und  mit  vortrefflicher  würkung.  — 

Von  den  58  liedern  Ulrichs  sind  nur  17,  also  weniger  als 
ein  drittel,  ganz  ohne  apostrophe;  und  bei  allen  kann  mau 
sagen,  warum  es  in  ihnen  nicht  zur  apostrophe  gekommen  ist. 
es  sind  nämlich,  mit  nur  drei  ausnahmen,  sämtlich  auffallend 
ruhige  lieder  gröfserer  austlehuung,  die  einen  gedanken  ohne 
leidenschaft  ausführen,  oder  minnedidaktische  überleguogeu  an- 
stellen; mit  einem  worte  :  persönlich  gefärbte  reflexionspoesie. 
der  unterschied  ist  so  handgreiflich,  dass  man  Ulrichs  gesamte 
lyrik  danach  einteilen  konnte,  diese  lieder  führen  mit  kokettem 
ausmalen  einen  einfall  durch  (vra,  lviii),  erwägen  eine  paradoxe 
(xix),  predigen  erfahrungssatte  minnelehre  (xxm,  xxvi,  xxvm, 
xlix,  li),  preisen  in  ausführlichem  panegyrikus  das  lachen  oder 
einen  ausspruch  der  geliebten  (xliii,  xliv),  drücken  sicheres 
glücksgefühl  (l)  oder  gehaltene  trauer  und  hoffnung  aus  (xxiv); 
sie  geben  ein  freudenreiches  Selbstgespräch  wider  (xxxvn),  und 
sie  erzählen  redselig  einen  glückstraum  (lvii).  von  den  drei 
lebhaften  liedern  aber  schliefst  sich  xn  eng  an  das  m  büchlein 
an,  das  mit  absichtlicher  bescheidenheit  von  der  geliebten  nur 
in  der  3  pers.  zu  sprechen  wagt;  xxi,  das  zweite  scheltlied,  ver- 
schmäht es,  wie  alle  scheltlieder,  sich  an  die  treulose  dame  selbst 
zu  richten;  xxix,  der  reie,  stellt  ganz  objectiv,  ohne  jede  persön- 
liche beziehung  auf  den  dichter,  jauchzende  liebeslust  dar  :  zur 
anrede  bieten  sie  alle  keiue  gelegenheit. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  9] 

Person  ificatio  n. 
Die   apostrophe   setzt   eine  person  oder  ein  für  den  augen- 
blicklichen zweck  personificiertes  abstractum  voraus.    ;ils  momentan 

peraonißciert  erschienen   durch   sie  :  der  tag  m),   der  höhe  muot 

(ii,  xwiii,  der  meie  (i\),  der  winder  (v),  frowe  minne  (vu,  x,  m; 
vgl.  Roethe  s.  265),  der  sumer  (xxxi),  sorge  und  äugest  (uxiv), 
icibes  güete  (xlvii),  das  traten  (liii). 

Alier  auch  aufserhalb  der  anrede  kommt  es  bei  Ulrich  zur 
personificierung.     solche  ecbten  personificationen  sind: 

Minne  hei  mich  ir  gebunden  —     (420,  1). 

Zuo  uns  kam  diu   werde  Minne 

unde  slöt   uns  beide  vaste  in  ein  —     (582,  25). 

swa:   diu   Minne   mir  mit   dringen  tuot   —      (5S4,  5). 

—  der  Minnen   rose     (581,  1 7  f). 

Iied  xli  str.  3 — 7  :  zwei  männer  klopfen  ans  herzeustor: 
bi  mir  hie  ist  höher  muot, 
der  auch  gerne  dienet   dir: 
erst   dir  holt  mit  tri  wen ,    da:    geloube   mir      (515,  2711). 

ähnlich   565,  27    Hoher  muot,    diu  rehler  herre,    dei 

Limit   mit  gewalde   (liii,   str.   1 — 2). 

zweifeln   kann   man  aus  formalen  gründen  bei  xxxvi,  str.  4  (448,  13llj: 
Ir   vil   liiter   liebe  sh'tz   diu   minne 
mit  der  iriw  e   vaste  ze  einem  sinne, 
innerhalp   ir  herzen    lür  : 
dd  rigelt  sich   diu  State  für. 

In    mimt  e  n  parad/sr 
ir  beider  lip   mit   vreuden  lac  — . 

noch  mehr  im  xvi  liede  (i   üzreise) : 

Erge   und   unfuoge  und  unfuore  diu   wilde 

geziml   niht  dem  helme  —     (404,  18 f), 
und   kurz  vorher  : 

—  diu  «7  werde  minne. 

diu  git  freud  und  vre     (404,  7). 

im  letzten  falle  könnte  die  analogie  diu  werde  Minne  (582,  25,  s.o.) 
zur  annähme  der  personificalion  (die  Bartsch  setzt)  führen ;  dies  ist 
jedoch  durchaus  nicht  notwendig;  und  die  kurz  darauf  folgenden  Erge 
und  unfuoge  und  unfuore  diu  wilde  halt  ich  mit  Bechstein  und  Lach- 
mann bestimmt  für  keine  personificationen.  sodsI  müste  man  auch 
404,  12  schänden  (statt  schand)  erwarten  (vgl.  Benecke  zum  [wein 
v.  1579,  und  Bechstein  z.  st.). 

Das  gebiet,  aus  dem  die  wenigen  personificationen  genommen 
siud,  ist  das  ganz  obligate,  ritterlich- minnigliche;  auch  die 
persoDiticierende  apostrophe  von   xxxiv: 


92  BRECHT 

Wichet  umbe  balde,    sorge  und  angest,  von  der  slrdze  — 
strichet  von  dein   lande,  sam  der  winder,  von  uns  hin: 

ist  wol  nicht  auf  die  Vorstellung  fahrenden  volkes  (dringet  an 
der  lür  445,  1),  sondern  auf  ungebetenen  ritterlichen  besuch 
auf  der  bürg  zu  beziehen. 

Personilication  ist  Ulrichs  starke  seite  nicht,  an  Walthers 
anschaulichkeit  *,  an  die  fülle  und  kraft  Reinmars  von  Zweier2, 
die  Originalität  und  den  reichlum  Wolframs3  darf  man  nicht  denken. 

Bilder. 
Auf    der    vermenschlichung     der    natur    beruht,    wie     die 
personification,  die  bildliche  redeweise,  das  dement  der  poesie4. 
Den   Übergang  von  der  personilication  zum  bilde  zeigt  noch 
ein  ausdruck  wie  des  herzen  ougen  (5S2,  17),  den  Bock  (aao.  s.  35 
nebst  aum.)   in   der   geistlichen  bildersprache,   bei  Otfrid,   dann 
im    miunesange,    bei   Wolfram    und   Walther    nachweist,      diese 
personilication    des    herzeus,     die    bei    Lichtensteiu    eine    grofse 
rolle  spielt,  führt  dann  zu  so  entsprechenden  metaphern  wie  der 
schon  von  Uhland  (Schriften  v  236)  gerühmten: 
duz  herze  sihl  mich  weinent  an, 
und  giht  ez  si  vil  ungesunt  —     (131,  10). 

aus  der  geistlichen  Sphäre  stammt  wol  auch  die  Triwe  —  slöz 
ob  aller  werdikeü  (419,4),  und  die  State  als  kam  flieh  gewate 
(405,  12),  von  der  Vorstellung  des  miles  christianus. 

Die  bilder  Ulrichs  hat  Knorr  (Zu  UvL.  cap.  in)  gesammelt 
und  besprochen,  und  zwar  nicht  nur  die  der  lieder,  sondern 
auch  die  des  märes;  darauf  sei  hier  verwiesen.  Knorr  stellt,  in 
Übereinstimmung  mit  meinen  ergebnissen  bei  der  personification, 
fest,  dass  riltertum  und  minne  die  einzigen  gebiete  sind,  die 
Ulrichs  bildsinn  anregen;  dass  seine  bilder  einfach  und  ungelehrt 
sind  (das  einzige  bild ,  bei  dem  er  s.  76  zweifelt  :  Schouwet  wie 
der  husen  an  der  Tuonouw  gründe  lebt  des  tröres  süeze  gar,  also 

1  vgl.  zb.  Wilmanns  Leben  s.  197. 

2  Roethe  s.  271. 

3  Bock  Bilder  und  Wörter  Wolframs,  abschn.  i,  §§  1 — 2. 

4  auch  Knorr  (aao.  s.  72 ff)  hat  noch  die  alte  mechanische  auffassung 
von  der  bildlichen  rede,  als  ob  es  etwas  sei,  das  der  wirkliche  dichter  tun 
oder  lassen  könnte;  er  spricht  von  den  gründen,  weshalb  jener  'einen  ver- 
gleich nimmt',  vom  'bildlichen  schmucke',  mit  dem  er  'die  dinge  umkleide' 
udglm.  gegenüber  solchen  schulmeisterten  beherzige  man  den  protest 
Hugo  vHofmannsthals  in  den  Blättern  f.  d.  kunst  (auswahl,  Berlin  1899,  s.  91). 


ULRICH  VOiN  LICHTENSTEIN 

lebt  ich  uol  des  htftes  von  ir  munde  (T>77,  15)  enthält  gewig 
kein  gelehrtes  element,  Bondetn  mir  allgemeine  anschauung); 
dass  seine  metaphern  'selbstschöpferischer  Willkür*  entbehren. 

Erstaunlich  ist  in  der  tat  die  'verritterung'  der  weit,  <l ie 
auch  aus  Ulrichs  bildern  Bpricht;  allein  fast  ebenso  grofs  dabei 
sein  mangel  an  ursprünglichkeit,  gegenüber  der  beliebten  art, 
einzelne  originelle  bilder  Dlrichs  (zb.  bei  Uliland  aao.)  wie  andrer 
mini,  dichter  auszuheben,  muss  betont  werden,  dass  er  Originalität 
gewöhnlich  nur  auf  dem  wege  der  geschmacklosigkeil  erreicht, 
bezeichnenderweise  aber  mehr  im  märe,  wo  er  manchmal  an 
den  rücksichtslosen  Wolfram  (Scherer,  Litteraturgesch.3  s.  172) 
erinnert,  als  in  den  liedern;  hier  band  eine  festere  Bliltradition 
seine  in  geschmacksdingen  nicht* immer  sichere  phantasie.  bilder, 
die  ihm  ausgiebige  molive  liefern,  liebt  er  freilieb  auch  in  den 
liedern  zu  tode  zu  hetzen  (zb.  vm,  xi.i,  liv). 

Neben  so  überzeugenden  vergleichen,  wie  dem  viel  angeführten 
vom  an  fang  des  iv  liedes: 

In  dem  walde  süeze  dame 
singent  cleiniu  vogelin, 
neben  so  starken  bildern,  wie  am  schluss  von  vn: 

Ali  grif  her,  wie  sdre  ich   brinne. 
haller  i 

Müesle  von  der  hilze  brinnen, 
diu  mir  an  dem  herzen  l/t  — 

stehn  so  trockene  wie  das  bild  vom  spiel  408,  33;  so  un- 
anschauliche wie  Küsseii  ist  der  minnen  rose  usw.  (581,  17  f.); 
so  schiefe  wie  das  bild  von  der  biene  534,  3  f.,  bei  dem  im 
tertium  comparationis  zwei  contradictorische  gegensätze,  trüren 
und  süeze,  stecken;  so  geschmacklos  deutliche  wie  alle  die 
bilder  vom  herzen,  das  aus  dem  leibe  zur  geliebten  springen 
will  (xlii,  lv,  lvii;  s.  cap.  ii  schluss).  hier  sehen  wir  wider 
eine  grenze,  die  den  alternden  Lichtenstein  vom  jungen  scheidet: 
die  Vorstufe  zu  diesen  letzten  bildern  :  das  herz  stöfst  mit  un- 
gestümem klopfen  an  die  brüst,  vor  der  liebe,  die  in  ihm  pocht 
(xxxn;  1233),  ist  für  die  anschauung  noch  nicht  verletzend, 
die  bilder  seiner  Jugend  sind  durchweg  besser,  wenn  auch 
weniger  originell,  als  die  seiner  spätzeit.  Uhlands  gesamturteil  : 
'niemals  ist  er  gezwungen  oder  geschmacklos'  ist  jedesfalls  viel 
zu  günstig. 


94  BRECHT 

Weitaus  die  meisten  seiner  bilder  sind  litterarisch  über- 
lieferte, im  minnesang  übliche,  neu  sind  wol  nur  der  wegen 
seiner  zarten  Schönheit  so  berühmt  gewordene  vergleich: 

—  —  ir  güele, 
diu  mir  richet  min  gemüele, 
sam  der  troum  den  armen  luot     (97,  14  f), 

der  erwähnte  husen  auf  der  Tuonouw  gründe,   und  allenfalls  der 
vielleicht  heimatlicher  anschauung  entsprungene  vergleich: 
Nu  vert  enwer  ir  habedanc 

—  als  ein  mar  der,  den  man  hat 
in  eine  lin  gebunden     (424,  25). 

der  einzige  vergleich,  der  unzweifelhaft  den  gebirgsmenschen,  den 

Steirer  verrät,  steht  nicht  in  den  liedern,  sondern  im  märe: 

—  daz  sd  uf  sligel  mir  der  muol, 
reht  als  diu  Hellte  sunne  tuot, 

so  si  uf  den  bergen  gdl     (519,  26). 

Den  epigonen  merkt  man  an  den  vielen  bildern,  die,  ur- 
sprünglich schlagkräftig  oder  gar  'sonderbar',  jetzt  gar  nicht 
mehr  als  bilder  empfunden  werden,  hierhin  gehören  viele,  die 
Knorr  (s.  90.  91.  96.  98)  noch  als  bewuste  metaphern  rechnet, 
so  wird  küneginne  zwar  noch  als  ein  vergleichsweise  starkes 
wort  empfunden  (doch  nicht  mehr  so  stark,  dass  es  nicht  noch 
ein  synonymes  epitheton  brauchte),  sonst  würde  es  nicht  den 
pointierten  schluss  von  xliv  bilden: 

sist  gewallic  küneginne  immer  über  mich; 
ebenso    wie    keiserin,    das    gegen    schluss   von   xi    (322,  26)   an 
höchster  stelle   einer   anaphorischen ,    asyndetischen   synonymen- 
klimax  steht: 

min  tröst,  min  wünne,  miner  scelden  keiserin  — , 
aber  gewis  nicht  mehr  als  bild.    518,  13  heifst  es  ganz  phrasenhaft: 

vrowe,  mines  herzen  küneginne  — . 
noch  abgegriffener  sind  kröne  und  lercenen  (zb.  521,  21;  Tgl. 
die  stellen  bei  Knorr  s.  90).  dass  tou  eigentlich  eine  metapher 
für  'tränen'  war,  ist  vergessen ;  Ulrich  braucht  das  wort  ständig 
als  poetischeres  synonym  :  als  ir  ougen  touwes  vol  werdent  üz  ir 
reines  herzen  grünt  (521,  22);  noch  deutlicher: 

vreuden  tou  mir  iaz  des  herzen  grünt 

kuml  von  dir  in  elliu  miniu  lil     (536,  23). 

hier  ist  das  gesamtbild  deshalb  für  unser  gefühl  so  verunglückt, 
weil   das   vom    dichter   nicht   mehr  empfundene  bild  vom  tou  in 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN 

ein  neues  bild,  das  vom  herzen  in  die  glieder  Bteigende  kraft- 
behagen, einbezogen  werden  sollte.  Lichtenslein  freilich  wird 
vreuden    tou    einfach    als    vreude    gefohlt    und    darum    die   bild- 

\ermenguug  garniclit  bemerkt  haben. 


Dies  sind  die  wesentlichen  formen  des  poetischen  ausdrucke 
in  Ulrichs  liedern.  erwagt  mau  die  nicht  übergroße  zahl  seiner 
gedichte,  so  wird  man  linden,  dass  die  anzahl  der  redeflguren 
in  ihnen,  der  arten  ihres  gehrauches,  ferner  die  geschmeidigkeil, 
mit  der  sie  sich  dem  wechselnden  gedanken  der  jeweilig  ver- 
schiedenen composilion  anschmiegen,  respectabel  gtmug  isl. 
dank  ihnen  isl  die  uüance  nicht  der  letzte  vorzug  seiner  lyrik. 

Das  wird  erreicht,  ohwol  Ulrich  die  bemerkenswerte  neigung 
zeigt,  ein  kunstmittel,  wenn  er  es  einmal  verwant  hat,  in 
demselben  gedieht  gleich  noch  ein  oder  mehrere  male  anzubringen, 
daher  zb.  im  xvi  liede  die  vielen  Synonyma,  der  grund  ligt 
hier  im  Strophen-  und  reimschema ,  wie  man  überhaupt  bei 
Ulrich  noch  auffallend  gut  sehen  kann,  wie  der  reim  zunächst 
den  verwanten  begriff  hervorlockt1. 

Nicht  minder  charakteristisch  als  die  vorhandenen  redeformen 
sind  für  einen  dichter  die  fehlenden,  bei  Ulrich  sucht  man 
vergebens  alle  stilmittel  gewollter  oder  ungewollter  incorreclheit: 
anakoluth,  aposiopese,  formlose  polysyndeta.  für  indirecte  rede 
ist  er  zu  lebhaft,  für  die  revocatio  zu  unbekümmert2,  hyperbeln 
(eine  ganz  obligate  447,  19)  würden  sicher  mehr  hervortreten, 
wäre  der  höfisch-lyrische  stil  ihnen  überhaupt  günstiger;  sie 
gehören  mehr  in  die  spruchdichtung  und  ins  volksepos.  am 
markantesten  bezeichnet  den  sentimentalen  pathetiker  der  gänz- 
liche mangel  an  ironie  und  humor. 

Weitere  ergebnisse  verspar  ich  bis  zur  endgiltigen 
Charakteristik. 

1  andere  fülle  auffälliger  widerholung  de9  Btilmittels  :  in  xvm  die 
recapitulation  mit  dem  demonstrativpronomen,  mit  dem  die  vielen  relaliv- 
pronomina  und  die  conjunetion  daz  effectvoll  zusammenklingen,  in  xxxvn 
die  affirmation  und  negation  und  die  anrufung  Gottes  in  jeder  der  beiden 
ersten  Strophen,  das  spielen  mit  verschiedenen  ableitungcn  gleichen  Stammes 
in  XXXU. 

2  einziges  beispiel  401,  9 f.  beliebte  form  der  revocatio  (neind,  frowe) 
ohne  ihren  sinn  397,  10. 


96  BRECHT 


VIERTES    CAP1TEL. 

ULRICHS    LITTERARGESCHICHTLICHE  STELLUNG 
UND  SEIN  DICHTERISCHER  CHARAKTER. 

Bevor  die  gewonnenen  ergebnisse  zu  einer  Charakteristik 
des  dichters  zusammengefasst  werden,  erscheint  es  vorteilhaft, 
ihn  zur  vorläufigen  Orientierung  mit  den  hauptsächlichen  seiner 
dichtenden  Zeitgenossen  kurz  zu  vergleichen. 

Einzelne  stellen  in  Ulrichs  liedern  und  im  FD  überhaupt 
sind  oft  mit  stellen  anderer  dichter  parallelisiert  worden.  Erich 
Schmidt  hat  Ulrich  mit  Reinmar  dem  Alten  und  Walther  ver- 
glichen, daneben  einige  parallelen  mit  Morungen,  Hausen,  Rugge 
angemerkt  (Reinmar  von  Hagenau  und  Heinrich  von  Rugge 
s.  116 ff.),  Knorr  seine  bekanntschaft  mit  lyrikern  und  besonders 
mit  epikern  und  didaktikern,  wie  den  Verfassern  des  König  Tirol 
und  des  Winsbeken,  mit  Walther,  Spervogel,  Thomasin,  Eilhart1, 
Wolfram,  Hartmann,  Ulrich  von  Zatzikhoven  festzustellen  gesucht 
(s.  21 — 48).  Wilmanns  hat  Ulrichs  lieder  häufig  zur  erklärung 
Walthers  herangezogen,  sowol  in  seinem  'Leben  Walthers'  als  in 
seiner  ausgäbe,  Roethe  gegenseitige  anspielungen  bei  Ulrich  und 
Reinmar  von  Zweter  (s.  112.  168.  217.  231.  579.  583),  Burdach 
nachahmung  Reinmars  des  Alten  durch  Ulrich  (Reinmar  d.  A.  und 
Walther  v.  d.  Vogelweide  s.  74)  constatiert. 

Blofse  parallelstellen  —  und  manches  angeführte  namentlich 
bei  Knorr  ist  nicht  mehr  —  liefsen  sich  beliebig  häufen,  aber 
wenn  es  nicht  besonders  viele  und  ähnliche  sind,  die  den  dichter 
einem  andern  nähern,  was  würden  sie,  bei  der  bekannten  natur 
des  minnesingerlichen  motivschatzes,  besagen?2 

1  mit  recht  stellt  Knorr  (s.  28 — 32)  fest,  dass  die  art,  wie  U.  Tristramen 
und  Ysalde  394,  27  nennt,  auf  bekanntschaft  mit  der  Eilhartschen  fassung 
der  sage  schliefsen  lässt.  —  394,  27  hat  JY1  Tristramen  (so  Lachmann), 
AC*  iristranden,  G  tristanden,  465,  24  haben  alle  hss.  Tristram;  an  beiden 
stellen  im  innern  des  verses.  488,  2.  20;  489,  27  bieten  alle  hss.  Tristram 
in  unreinen  reimen  (:  Gdwdn,  :  län,  :  gewan),  503,1  aber  Tristran :  man. 
da  unreine  reime  jedoch  im  FD  ganz  gewöhnlich  sind,  glaub  ich  503,  1  an 
reimbesserung  nur  durch  den  Schreiber,  und  halte  488,  2.  20  und  489,  27 
an  Tristram  fest,  da  endlich  die  Gottfriedische  namensform  Tristan  nur 
in  jener  vereinzelten  la.  von  C  vorkommt,  halt  ich  eine  bekanntschaft  U.s 
mit  dem  gedichte  Gottfrieds  nur  aus  den  namensformen  nicht  für  erweislich. 

5  vgl.  Rurdach  s.  54. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN                       97 

Man  vergleiche  zb: 

Utiniicli  von  ftforungen  Ulrich  von  Lichtenstein 

MFr.  130, l.  Ml  FD  412,  Uli 

Sin  hiez  mir  nie  widersagen,  — da*  «  mich  höhet  mmtet  äne 

-  —  —   —    —  —   —  —  widersagen  beheri 


trau  »i  wil  ie  uodi  —    —    —    —   —   —  —  — 

eliiit  lant  beheren  als  ein  roubwrin.     Si  rouberinne  usw. 

ich  gl.mbe  nicht,  dass  ans  diesem  zusammentreffen  topisch  ge- 
wordener Wendungen  irgend  welcher  einlluss  .Morungens  auf 
Ulrich  zu  erschließen  ist.  am  eude  einer  lyrischen  hlilteperiode 
ligt  dergleichen  in  der  lull. 

Ich  unterlasse  daher  die  mitteilung  weilerer  parallelstelleu 
und  suche  nur  das  Verhältnis  L.s  zu  seinen  unbezweifellen  haupl- 
meisteru,  Heinmar  dem  Allen  und  Walther,  klarer  zu  macheu. 

An  folgenden  stellen  hat  ESchmidt  einlluss  Reinmars  auf 
Ulrich  festgestellt: 

Reinmar:  19S,  351  =  Lichtenstein  113,  13  f,   428,  2f 
15S,  31     =  54,22 

17«),  15  f  =  56,  15  1 

17<i.21     =  56,23 

i    61,  20 
199,  20fT  =^  J  121,  30 

l<»57,  4 
176,  5      =  383,  15 

176,  11     =  105,  10 

159.  37     =  387.  15 

179,  16    =  55,  10 

179,  181T  =  55,  15 

178,  2S    =  3S7,  12 

162,  34     =  105,  1  f 

178.1       =  47,  171  ,b;.chle> 

ditecte 


178,  14    =  50 


",  171" 
.2  /ö 


bernalmi> 


Wechselredeu  zwischen  d.  mannl         136,20;    136,27;   324,7;   350,8; 
oder  der  frau  und  dem  boten  j  357,  18.  20   U.  a. 

169,11     —  555,21 

155,5      =  30,8 

Knorr  (s.  44)  hat  hinzugefügt: 

194,  22    =  281,  21 

199,  8      =  432,  2 11 

199,  11     —  429,  21 

164,  1  fvgl.  177,  21)  =  227,  21  {  ^gj^1«  ' 
Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVI).  7 


98  BRECHT 

Meiner  naehprüfung  haben  sich  folgende  ähnlichkeiten  im 
einzelnen  ergeben. 

Das  schwanken  Reinmars,  ob  er  seine  dame  verlassen  solle, 
nebst  der  folgenden  selbstbeglückwünschung  zu  seinem  ausharren 
159,  19  ff  erinnert  im  gedankengang  an  die  gleichen  reflexionen 
Ulrichs  401,  9;  403,6  und  das  dreifache  wol  mich  406,  19  f  (zb. 
wol  mich  daz  ich  nie  gebrach  mine  stcete  an  ir!  daz  tuot  mir  wol). 
die  Versicherung  des  dienstes,  zu  dem  er  geboren  sei,  159,251, 
findet  sich  ähnlich  oft  bei  L.,  zb.  58,  8.  15;  105,  10 ff. 

Reinmar  :  159,  37  und  ist    daz   mirs   min    scelde    gan    vgl. 
Lichtenstein  387,  15    (in  Büchlein)  :  —   des    ich,    ob  mirs    min 
celde  gan.  — 

Reinmars  hastig  unterdrückter  wünsch  sich  eine  andere 
dame  zu  suchen  160,  35  f  erinnert  lebhaft  an  den  gleichen  Vor- 
gang bei  L.  401,  9  f.  beide  male  ein  optativischer  ausruf  in  zwei 
versen,  dessen  inhalt  durch  den  folgenden  vers  schroff  abgelehnt 
wird.  R.s  —  jö  ist  si  so  guot  hat  aufserdem  bei  anderer,  ähn- 
licher gelegenheit  L.  im  ohr  gelegen  :  —  ir  sit  doch  guot  32*2,  7. 

R.  161,  38  f  :  innerhalb  der  tür  hdt  [fehlt  synonym  für  gendde 
161,  32]  leider  sich  verborgen  —  vgl.  L.  bei  ähnlicher  gelegen- 
heit der  minneallegorie  448,  13  f  :  ir  vil  luter  liebe  slöz  diu 
minne  etc.  —  innerhalp  ir  herzen  tür  :  dd  rigelt  sich  diu 
stcete  für. 

R.  162,  16  f  :  War  umbe  vüeget  diu  mir  leit,  von  der  ich  höhe 
solde  tragen  den  muot?  vgl.  L.  399,  13  (u.  ö.)  :  Si  nimt  mir 
vreude,  diu  mich  sorgen  solde  machen  vri. 

R.  163,  23  :  Mich  hoehet  — ,  daz  ich  nie  wip  mit  rede  ver- 
los, sprach  in  anders  ieman  danne  wol,  daz  was  ein  schult  diech 
nie  verkös  —  vgl.  L.  571,  25  Hdn  ich  iender  missetdn  gegen  den 
guoten  [seil,  vrowen],  de'st  mir  leit  etc. 

Reinmars  selbstvorwürfe,  dass  ihm  in  der  langersehnten 
gegenwart  seiner  dame  der  mund  verschlossen  geblieben  sei  (im 
liede  164,  3 ff,  bes.  164,  21  f),  erinnern  an  das  würkliche  be- 
nehmen Ulrichs  bei  gleichem  anlass,  und  seine  klagen  über  sich 
selbst  FD  36,  17—39,  17. 

Güete  und  gebeerde  der  dame  (R.  167,  3)  spielen  überall 
auch  bei  Ulrich  eine  grofse  rolle,  ein  beispiel  statt  vieler  :  guot 
gebeerde  vrowen  schöne  stdt.  wol  ir  diu  bi  scheene  güete  hdt 
560,  23. 


ULRICH  VON  LICHTK.NSTEIN  99 

R.  168,  35:  —  hoher  muot,  der  mich  niht  innen  Idt  — 
diese  gegendberstellung  dos  höhen  muotea  mit  dem  truren  ist 
vollends  in  allen  möglichen  formen  des  ausdrucks  so  gewöhnlich 
bei  L. ,  dass  citate  wol  unnötig  sind,  vgl,  .uicli  ir  guet  mich 
zürnen  niht  enldt  429,  10. 

Der  schlagenden  parallele  im  natureingang  R,  169,  911= 
L.  555,  21  (beiden  ist  der  herbst  gleichgiltig  :  Waz  dar  umbe?) 
schliefs  ich  noch  L.  507,  Hfl'  an  :  auch  hier,  im  eingang  von 
\xxix,  tröstet  er  sich  über  den  schwindenden  sommer  —  der 
nächste  mai  bringt  ihn  wider  (507,  16  f  vgl.  555,23). 

R.  169,  27  :  Wol  den  ougen  dm  so  welen  künden  und  dem 
herzen  duz  mi>-  riet  —  vgl.  L.  406,  19  f:  Wol  mich  daz  ichs  ie 
gesach  etc.,  ferner  besonders: 

Wol  mich  der  sinne,  die  mir  ie  gerieten  die  lere, 
daz  ich  si  minne  —  (394,  16 f) 
und  Min   herze  gibt    mir   wisen   rät  —  58,  5,    dö   riet    mir   daz 
herze  min  58,  13  u.  o. 

R,  172,  15  :  ir  gewaltes  wird  ich  grd  —  vgl.  L.  395,  9  :  Ich 
wünsche,  ich  dinge,  des  einen  daz  vor  grdwem  hdre  mir  da  ge- 
linge baz  dann  ir  gen d de  gebdre  — . 

lt.  172,  3<»  ff :  Swer  dienet  dd  mans  niht  verstdt,  der  verliuset 
al  sin  arebeit  —  ein  gedanke,  der  oft  bei  L.  widerkehrt  :  412,  17, 
xxi  427,  1.  arebeit  bei  L.  im  gleichen  specialsinne  zb.  58,  27. 

Der  verbissene  vorsatz,  der  berrin  trotz  aller  abweisung  un- 
beirrt treu  zu  bleiben,  R.  zb.  173,  9  f,  findet  sich  bei  L.  überall 
in  den  liedern  der  ersten  minne. 

R.  175,  16  wan  des  einen  dd  man  lönen  sol  —  vgl.  L.  581,  22 
wan  daz  eine  des  man  nennen  niht  ensol. 

R.  175,  24  we  war  umbe  —  vgl.  L,  113,  13  We  war  umbe 
sul  wir  sorgen? 

R.  175,  33  si  was  endelichen  guot  —  vgl.  L.  415,  15  Si  was 
endelichen  guot  — . 

R.  182,  14:  Höhe  alsam  diu  sunne  stet  daz  herze  min  — 
vgl.  L.  437,  18  :  des   muot   muoz  geliche   stdn   Hoch  der  sunne. 

R.  184,  38:  Ich  wil  bi  den  wolgemuoten  sin  —  vgl.  L.  399,  9: 
Oice  daz  ich  bi  den  wol  gemuolen  also  lange  muoz  beliben  un- 
gemuot  — . 

Reinmar  werden  vorwürfe  gemacht  wegen  seines  beständigen 
trauerns  :  si   sagent    mir    alle,    trüren   ste   mir   jeemerlichen   an 


100  BRECHT 

185,  32;  ebenso  geht  es  L.  :  Ich  hdn  geklaget  so  sere  miniu  leit, 
daz  manic  tumber  lip  die  langen  klage  mir  ze  guot  niht  gar 
vertat  etc.  (402,  20,  xv).  R.  will  sich  selben  guoten  tröst  geben 
185,  29.  L.  vermisst  mehrfach  den  tröst  seiner  dame  und  spricht 
mit  den  frauen  von  dem  rat,  den  ich  mir  selben  hdn  gegeben 
403,  13  (xv). 

si  hat  tugent  und  e're  R.  190,  18  :  das  gleiche  rühmt  L.  von 
seiner  zweiten  dame  ;  Wol  mich,  wol  mich  iemer  mere  des  daz  si  hdt 
tugent  und  ere  —  449,21 ;  erenbernde  spü  mit  den  tugenden  515,21. 

Das  hausen  im  herzen  des  anderen,  als  Reinmarsches  bild 
194,  18  ff  von  Burdach  s.  113  ff  ausführlich  besprochen,  hat  sich 
bei  L.,  wie  oben  mehrfach  gezeigt  worden,  reich  und  zuletzt  ins 
absurde  entwickelt;  vgl.  die  vielen  von  Rnorr  s.  95  aufgezählten 
stellen  (auch  Burdach  s.  116).  besonders  in  den  zwei  auf- 
einanderfolgenden liedern  xli  und  xlii  hat  L.  das  motiv  verwertet, 
der  von  Burdach  citierten  parallelstelle  Parz.  433,  1  tuot  uf  etc. 
vergleicht  sich  L.  515,  24  ff  (xli)  Tuo  uf :  ich  klopf  an  etc.  das 
motiv  B.s  194,  31  f  min  herze  —  ez  sohle  sin  bi  mir;  nust  ez 
bi  dir  wird  von  L.  518,  29  ff  (xlii,  vgl.  lvi)  nur  als  hoffnung 
ausgesprochen,  xlii  zeigt  die  ergänzende  Situation  zu  R.s  gedicbt: 
R.  wehrt  sich  vers  26  f  nur  noch  schwach  gegen  den  einfall  der 
herrin  in  sein  herz;  von  dieser  besitzergreifung  geht  Ulrich  be- 
reits aus.  die  behaudlung  des  motivs  ist  bei  ihm  noch  spinti- 
sierender als  bei  R.  zeigt  dies  schon  den  epigonenhaften  zug  L.s, 
so  noch  mehr  die  talsache,  dass  das  bild  bei  ihm  schon  so  zur 
phrase  geworden  ist,  dass  die  ursprünglich  sehr  notwendig  hinein 
gehörenden  ougen,  durch  die  die  geliebte  in  sein  herz  dringt, 
ganz  in  Vergessenheit  geraten  sind,  die  enge  des  herzens  (R.  u. 
'»Yolfram,  vgl.  Burdach  aao.)  fehlt  übrigens  auch  bei  ihm.  — 
ein  minneclichez  wunder  dö  geschach  R.  194,  21  :  ein  solches 
lounder  hat  auch  L.,  582,  15;  ein  minnewunder  mir  geschach 
FD  119,  22. 

Reinmars   Strophe    195,  3ff  mag    Ulrich    im   ohr   geklungen 
haben,  als  er  die  erste  Strophe  seines  vn  liedes  dichtete: 
R.  195,  3ff  L.  113,  13ff 

Swem   von   wiben    liep   ge-     We  war  umbe  sul  wir  sorgen? 
schiht,  vreud  ist  guot. 

der    hat    aller   scelde   wol    den      Von  den  wiben  sol  man  borgen 
besten  teil.  höhen  muot. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  101 

!!.  195,  3  IT  L.  113,  130 

wd  sack  ie  man  so  guotes  ihtl     Wol  im  der  in  Man  ge- 
a n  in  lit  iler  wer l de  wunne  und  w  innen 

ouch  ir  heil.  von  in!    der  st  ein  scelir 

wol  im,  erst  ein  swlic  man  man. 

der  wol  an  in  erwirb  et  p/liht      fr  ende  sol  man  durch  si 

der  fr  ö  i d e  n  minnen : 

der  ir  gürte  wunder  geben  kan.     wan  dd  lit  vil  eren  an. 

Einen  ähnlichen  anfaog  wie  dies  R.sche  lied  :  Der  mir  gäbe 
sinen  rät!  hat  Ulrichs  xxi\ : 

0  ue  der  so  scvlic  wcere,  der  uns  künde  geben  rät .' 

R.  (doch  vgl.  die   mini.  MFr.«  313)  201,  16:   dd  ich 

herzeswcne  trage,  mere  denne  ich  ieman  sage  —   vgl.  L.  412,  19 
Xoch  lide  ich  von  ir  leides  mere  dan  ich  iemen  sage.  — . 

R.  202,  6  :  ich  hoere  sagen  daz  si  [seil,  diu  wip]  niht  alle 
haben  einen  muot  bat  vielleicht  riehen  Walther  5S,  35  f  L.s  lied 
xxn,  das  die  guoten  wip  von  den  Ixxsen  scheidet  (der  ausilruck 
418,1),  heeinflusst.  directe  Übernahme  im  Frauenhuch(Fß)615,26: 
j'l  hob  wir  all  niht  einen  muot,  sagt  die  dame. 

Desgleichen  uia,-  der  bei  L.  so  häufige  gedanke  :  der  dichter 
will  alle  guten  frauen  der  seinen  wegen  ehren,  zb.  515,27  durch 
si  e're  ich  elliu  wip  etc.,  durch  ähnliche  äufserungen  R.s,  wie  zb. 
202,  35  und  e're  gerne  guoliu  wip,  durch  die  einen  etc.  mit  be- 
stimmt worden  sein.   — 

Ich  glaube  nun  nicht,  dass  Ulrich  irgend  eine  der  ange- 
rührten stellen  bewust  kopiert  hat.  vielmehr  hat  er  oll'eubar 
gerade  Reinmars,  des  im  Südosten  bekannten  dichters,  lieder  so 
im  gedächtnis  gehabt,  dass  er  unwillkürlich  auf  Wendungen  in 
ihnen  verfiel,  oder  sie  doch  streifte,  auch  ausdrücke,  die  im 
minnesang  allgemein  üblich  waren,  —  absichtlich  hab  ich  solche 
mit  notiert  —  mögen  ihm  vorzugsweise  aus  dieser  hauptquelle 
höfischer  kunstsprache,  vielleicht  schon  in  früher  Jugend  (vgl. 
FD  3,  5  IV;  Schönbach  Biogr.  blätler  n  17),  zugeflossen  sein,  leider 
erzählt  Ulrich  nicht,  nach  welchen  muslern  ihn  markgraf  Heinrich 
von  Istrien  in  der  dichtkunst  unterrichtete  (FD  9,13  ff  j  ;  auch 
von  dem  lehrer  selbst  ist  nichts  erhallen. 

Reinmars  einwürkung  auf  Ulrich  kann  mit  äufseren  eiuzel- 
parallelen  nicht  eingeholt  werden,  auch  wenn  man  die  Unter- 
suchung,  was  sehr  nötig  wäre,   auf   composition,    syntax,    vers- 


102  BRECHT 

kunst  ausdehnte,  von  Reinmar  stammt  Ulrichs  ga.nze  miune- 
auffassung,  sie  beherscht  die  lieder  und  namentlich  die  büchlein 
seines  ersten  minneverhältnisses  :  aber  nicht  ohne  beträchtlich 
umgeformt  zu  werden. 

Die  elemente  in  Ulrichs  natur,  die  hierzu  beitrugen,  liegen 
nach  derselben  seite,  die  der  kunst  Walthers  einfluss  auf  ihn 
gestaltete,  auch  hier  reicht  es  nicht  aus,  einzelne  stellen  zu 
vergleichen. 

Parallelen  Ulrichs  und  Walthers  hat  widerum  Schmidt  ge- 
sammelt; er  betont  mit  recht,  wieviel  geringer  hier  der  nach- 
weisbare einfluss  ist. 

FD  240,  17  ff :  Ir  sült  sprechen  willekomen  (citat  von  6  versen). 
Walther  42,  6  :  ohne  negation  FD  51,  29  (Wilmanns) 

8,  12  vgl.  FD  587,  27  fT 

8,  15  vgl.  .    FD  587,  31 

Knorr  fügte  folgendes  hinzu: 
Walther  20,  25  ff  vgl.  FD  589,  3  ff 

46,  10—12  | 

46,  15— 17(27, 17ff)/  T«L  L'  18'  S~ ll"  16-  1T 

.         26,  10  vgl.  L.  399,  11       taber ,mÜ  ^^7- 

gesetzter  antwonj 

42,  31  ff  vgl.  L.  556,  4  ff 

-         fzlll]  'gl-  L.418,lff(vgl.FB615,24;616,5f.8f) 

47,  1  ff  [bes.  5]  vgl.  L.  59,  1  ff 

48,  38 ff  vgl.  L.  566,  10-23   (FD  564,  17— 

565,  20) 

Knorr  bemerkt  selbst,  nicht  überall  sei  entlehnung  sicher,  ich 
möchte  auch  hier  am  liebsten  unbewuste  eriunerung  annehmen, 
die  'entlehnung'  wird  überhaupt  bei  einem  dichter,  der  nicht 
lesen  kann  (FD  60,  lf),  meist  auf  dem  wege  des  gedächtnisses 
vor  sich  gehn,  besonders  bei  einem  lyriker,  der  unter  umständen 
auch  im  sattel  dichtete. 

Von  solchen  anklängen  an  Wallher  hat  eine  sorgfältige  nach- 
lese folgende  ergeben: 

Wallher  63,  20: 

Friundin  unde  frowen  in  einer  wate 
wolle  ich  an  dir  einer  gerne  sehen  — 


UL11K  II  V(»N  LICHTENSTEIN  L03 

vgl.  566,  17: 

Wip  und  frowen  in  einer  wate 

sol  man  gerne  schouwen  — 

Schon  Wilmanns  (Wallher1   159)   bat  die  parallel«  _•  in  . 

W.  69,  I  ••  Saget  mir  ieman,  wetz  ist  minne?  mit  L.  134,26: 
Rerre,  saget  mir,  waz  ist  minne?  ohne  bei  der  'beliebtheil  des 
ihemas'  direclen  eiofluss  anzuDebmeo. 

Aoaphorische  Spielereien  gerade  mit  stiete,  wie  sie  Walther 
'.»7.  1—11  enthalt,  liebt  auch  L.,  zb.  430,7—13. 

Die  ougen  des  herzen  5S2,  17  (s.  o.)  bat  Ulrich  vielleicht 
von  W.  99,  '22  mtnes  herzen  ougen  und  99,  27.  —  die  stelle 
Wolframs  5,  18  (Bock  s.  35  aiim.  1)  bietet  nicht  die  charakte- 
ristische kürzeste  form  der  metapher. 

Walther  102,  12  iuwer  minneclichez  ja  =  L.  401,  2  ir  vil 
minneclichez  jd. 

Walthers,  nach  Wilmanns1  125  vielleicht  von  Hartmann  MFr. 
215,  14  beeinflusster,  liedanfang  :  Wol  mich  der  stunde,  daz  ich 
si  erkande  110,  13  mag  L.s  liedanfang  Wol  mich  der  sinne,  die 
mir  ie  gerieteji  die  lere,  daz  ich  si  minne  394,  16  mit  hervor- 
gerufen haben. 

Das  gleiche  gilt  von  einein  andern  liedanfang  Walthers: 
Got  gebe  ir  iemer  guoten  tac  (119,  17), 
der  mit  L.s  liedanfang  518,  1   zu  vergleichen  ist: 

Vroioe  min,  got  gebe  dir  guoten  morgen, 
guoten  tac,  vil  freude  riche  naht. 

zeigt  die  hybride  ausgestaltung  mit  ihren  auf  einmal  eigentlich 
sinnlosen  drei  wünschen  den  nachahmer? 

Nachahmung,  absichtliche  oder  unabsichtliche,  lit:t  jedes- 
falls  vor  gegenüber  einem  der  bekanntesten  motive  Walthers: 
W.  53,  35  IT: 

got  hat  ir  wengel  höhen  ßiz, 

er  streich  so  tiure  varwe  dar  (rot  und  weifs)  — 

vgl.  L.  536,  25: 

got  hat  sinen  vliz  an  dich  geleit  — 
u.  a.  die  färben  weifs,  braun,  rot  (536,  27  f). 

Eine  ähnliche  Vorstellung  zeigt  576,  20  :  an   daz  herze  hdt 
geleit  got  so  minneclichen  lip  (Wilmanns1  s.  141,  anm.  z.  st.  \ 
gleicht    die    früher    Heinzelin    zugeschriebene   Minnelehre  639  ff). 


104  BRECHT 

Dagegen  ist  wol  nur  zufällige  berührung  bei  ähnlichem  au- 
lass  die  gedankenparallele: 

W.  53,  17  ff:  L.  397,  19 ff  (vgl.  oben  s.7): 

Miner  frowen  darf  niht  wesen  leit,     Ob  ich  niht  geniezen  kan 
daz  ich  rite  und  frage  in  frömediu     diner  güete  und  der  langen  stcete 

lant  min, 

von  den  wiben  die  mit  werdekeit     So  Id  mich  vil  senenden  man 
lebent.    der  ist  vil  mengiu  mir     der  geniezen,  den  ich  durch  den 
erkant  —  willen  din 

Vgl.  auch  W.  49,  16  ff:  Sol  und  muoz  gedienen  vil. 

Swd  ich  niht  verdienen  kan  daz  sint  elliu  guotiu  wip  — . 

einen  gruoz  mit  mime  sänge  etc. 
Allerdings  ist  die  vergleichung 
insofern  nicht  genau,  als  er  hier 
nicht  von  seiner  dame  spricht, 
sondern  von  allen  spröden  frauen. 

Einen  vollbewusten  anschluss  Ulrichs  an  Walther  erblicke 
ich  nur  in  seinen  dialogen.  es  handelt  sich  um  Walthers 
dialoge  100,  24ff  und  85,  34ff,  mit  denen  Ulrichs  x,  xxx, 
xxxiii  lied  zu  vergleichen  ist. 

Alle  drei  dialoge  Ulrichs  schneiden  die  letzte  Strophe  in  zwei 
teile  für  die  gesprächspartner,  während  sie  ihnen  vorher  Strophe 
um  Strophe  abwechselnd  zuteilen  :  ganz  ebenso  macht  es  W.  in 
den  angeführten  liedern  (vgl.  auch  Wilmanns1  144  anm.  zu  v.  37). 

Walthers  lied  100,  24  ff  ist  ein  gespräch  des  dichters  mit 
Frö  Welt,  Ulrichs  134,  5 ff  (x)  eines  mit  der  frau  Minne,  in 
beiden  beklagt  sich  der  dichter,  die  angeredete  sucht  ihn  mit 
gründen  zu  beschwichtigen,  der  ausgang  freilich  ist  verschieden: 
Walther  sagt  mistrauisch  der  frau  gutenacht  und  vert  ze  herberge, 
Ulrich  lässt  sich  zu  neuer  begeisterung  entflammen. 

Viel  weiter  geht  die  Übereinstimmung  zwischen  W.  85,3411 
und  L.  434,  19  ff  (xxx).  beide  male  ein  gespräch  zwischen  dem 
dichter  und  einer  dame.  beide  male  verhält  sich  die  dame  spröde, 
und  der  dichter  gibt  minnigliche  lehre,  in  beiden  liedern  von  der 
dritten  Strophe  an,  auf  ersuchen  der  dame  (W.  86,  13  lert  mich 
—  Frowe,  daz  wil  ich  iuch  leren  86,  15,  L.  435,  2  saget  an  — 
Vrowe,  ich  wil  iu  von  ir  me're  Sagen  —  435,  20).  bei  Ulrich 
ist  von  vornherein  von  minne  die  rede,  bei  Walther  gibt  erst  der 
herr  dem  thema  die  verfängliche  spitze,     dafür  geht  W.  sogleich 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  LOS 

in  der  mionelehre  der  dritte d  Btrophe,  der  Ulriche  dritte  Strophe 
im  inhalt  entspricht,  stärker  aufs  persönliche  los  und  bringt  schon 

hier  den  effect,  den  Ulrichs  raffinierterer  Bpätlingsverstand  Ins 
zum  sclduss  aufspart  :  der  herr  bezeichnet  sich  selbst  als  ge- 
eignetes object  für  die   soeben    vorgetragenen   minnevorschriften : 

froice,  wollet  ir  den   mtnen, 

den  gceb  ich  um  ein  so  schiene  wtp, 

worauf  die  dame  ihn  nur  als  redegesellen  gelten  lassen  will,  der 
herr  wagt  noch  einen  vorstofs  und  wird  erst  dann  von  der  dame 
zierlich  und  schnippisch  abgefertigt,  wahrend  W,  so  mit  uider- 
holungsmotiv  und  klimax  wilikl,  sucht  Ulrich  seine  stärke  in  der 
ausdehnung  des  immer  verfänglicher  werdenden  gesprächs,  das 
bei  ihm  noch  doppelt  so  viele  (kürzere)  Strophen  zählt  als  bei  W. 
hei  ihm  kommt  der  herr  erst  zu  beginn  der  letzten  Strophe,  von 
der  dame  fast  provociert,  mit  seinem  antrage  heraus,  dann  aller- 
dings kurz  und  bestimmt:  Vrowe,  da  soltu  mich  meinen  etc. 
noch  kürzer,  dabei  schnippischer  als  hei  W.  und  schärfer,  ist  die 
antwort.  —  bei  Ulrich  ist  alles  logischer,  pointierter,  eleganter, 
weniger  gutmütig  :  in  dieser  üherschärfung  des  tones  glaub  ich, 
wie  in  der  der  motive,  wider  den  copisten  zu  erkennen,  pedan- 
terie  des  uachahmers  ist  wol  auch  die  ergänzung  der  bei  vV. 
fehlenden  Herre  zu  beginn  der  frauenstrophen.  bei  W.  gehl  die 
dame  im  scherz  auf  die  befürchlung  ein,  ihre  minne  werde  den 
ritter  toten  (86,  29);  bei  Ulrich  fürchtet  sie  sich  selbst  vor  dem 
minnekummer  (435, 27f),  ebenso  schalkhaft,  aber  mit  erkünstelterer 
naivetät.  die  gesellschaftliche  haltung,  der  leicht  frivole  salonton, 
ansteigen  und  abbrechen  des  gesprächs  ist  in  beiden  liedern 
ganz  gleich. 

Die   Ähnlichkeit   des  Waltherschen    liedes   mit   dem  xxx  des 

Lichtensteiners  besteht  in  der  gleichen  anläge,  die  hier  auch  die- 
selbe strophenzahl  hervorgebracht  hat,  und  in  der  parallehtät 
der  eingänge.  Strophe  1  bei  \V.  entspricht  durchaus  der  ersten 
Strophe    bei    L.  443,  1  ff,    ankündigung   der    neigung   des    ritters 

(Frowe'n    lät   iuch    niht   verdriezen   Miner   rede Wizzet 

daz  ir  schaene  sit  —  vgl.  Wizzet,  frowe  wolgetdn,  etc.).  was  W.s 
dame  schon  in  ihrer  ersten  rede  ausspricht  (86,  7  f ) : 

Ich  wil  iu  ze  redenne  gunnen, 

(sprechent  swaz  ir  xceli),  obe  ich  niht  tobe. 


106  BRECHT 

daz  hat  ir  mir  an  gewunnen 

mit  dem  iuwern  mitinec/ichen  lobe, 

dies  uiotiv  hat  L.  wider  zum  pointierten  abschluss  aufgehoben, 
verschärft  und  negiert,  seine  dame  verbittet  sich  gerade  die 
übertriebenen  complimenle  (443,  26),  und  als  der  ritter  uoeb 
nicht  aufbort,  wird  sie  empfindlich  und  bricht  das  gespräch  ab 
(444,  5-7). 

Affinitäten  im  ton  begegnen  häufig,  so  klingen  das  xxviii 
und  das  xxxi  lied  Ulrichs  sehr  waltheriscb  iu  ihrer  einfachen 
natürlichkeit  und  frische,  mit  ihrer  klaren  naluranschauung,  ihrer 
leicht  sentenziösen  spräche,  ihrem  sich  dem  metrum  anschmiegen- 
den satzbau  (vgl.  zb.  W.  51,  13  ff),  xxxi  schliefst  mit  einem 
bildchen,  wie  Walther  es  liebt: 

Swd  ein  werdez  wip  anlachet 

einen  minnegernden  man 

Und  ir  munt  ze  küssen  machd  — . 

kurz  vorher  (437,  14)  steht:  alles  guotes  Überguide,  vgl.  W.  8,  17: 
der  zweier  Überguide;  lieblingsworte  \Y.s,  wie  gedinge,  gern,  sind 
auch  bei  Ulrich  nicht  selten,  unter  Walthers  liedern  erinnern 
109,  1  ff;  110,  13ff;  110,  26  ff  am  meisten  an  Lichtenstein.  — 
Geschichtlich  folgt  Ulrich  auf  Walther,  den 
schüler  Reinmars,  in  seiner  kunst  steht  er  zwischen 
beiden,  auch  er  ist  nicht  bei  R.s  ton  geblieben,  aber  er  war 
weit  entfernt  von  Walthers  bewuster  und  radicaler  abkehr.  die 
wendung  zur  natur,  zur  'niederen  minne',  war  bei  ihm  undenkbar, 
der  Reinmarische  ausschnitt  W.s  bleibt  seine  Sphäre, 
i  Die  dialektische  disposition,  den  gespreizten  ernst,  die  humor- 

,  losigkeit  teilt  Ulrich  mit  Reinmar,  aber  nicht  seine  schwere  und 
seine  oft  zaghafte  baltung.  er  könne  von  wiben  niht  übel  reden, 
erklärt  Reinmar  (171,  3);  so  weit  versteigt  sich  Ulrich  nicht:  er 
verstand  sich  auch  auf  scheltlieder. 

Ulrich  hat  mehr  natur,  mehr  sinne  als  Reinmar,  er  schaut 
nicht  nur  in  sich,  auch  in  die  ritterliche  weit,  er  zeigt  sich  als 
unverbesserlichen  Sanguiniker,  als  ein  kind  das  nur  im  augen- 
blicke  lebt  :  in  all  dem  erinnert  er  lebhaft  an  Walther.  nur  dass 
die  natur  bei  ihm  eine  viel  geringere  rolle  spielt;  Reinmar  igno- 
riert sie,  Ulrich  sieht  mehr  den  ritter,  Walther  sind  natur  und 
mensch  gleich  vertraut. 


ULRICH   VON  LICHTENSTEIN  107 

Ulrichs  naturell  mag  Walther  ähnlicher  gewesen  Bein; 
vielleicht  gerade  darum  hat  Reinmar  spürbarer,  wenn  auch  nicht 
tiefer,  aul  ihn  gewttrkt.  wie  reinmarisch  sind  die  wdnwl 
;ils  conception,  aber  wie  gani  unreinmarisch,  in  ihr«  r  vorwiegen 
den  munterkeit,  isl  die  ausführungl  bei  ihnen  wird  es  am 
klarsten  :  der  einfiuss  Reinmars  aul  Ulrich  war  Urin  mensch- 
licher, vielmehr  nur  ein  litterarischer,  gerade  wie  er  es  bei 
Wallher  gewesen  war. 

Irgendwie  beträchtliche  einwürkungen  anderer  erscheinen 
ausgeschlossen,  geringfügige  reminiscenzen  ;ms  Wolframs  dich- 
lungen  —  »leren  liefe  Ulrich  sicher  nicht  verstand  —  hat  Knorr 
s.  13  notiert,  ich  halte  nur  die  erste  von  ihnen  für  erwiesen: 
und  müht  ich  dich  bergen  in  den  ougen  min  512,  21  (n  tagelied) 
vgl.  Wolfram  8,  4.  die  stark  sinnlichen  tagelieder  (wxvi,  xi.) 
stehen  natürlich  auf  der  von  Wolfram  ausgehnden  linie.  im 
einzelnen  hat  Roelhe  (Anz.  xvi  96)  14S,  3«>  :  mit  armen  und 
leinen  lac  geflöhten  usw.  als  'wttrkliche  nachahmung'  W.s  (4,  1  f ) 
angesprochen;  vielleicht  ist  auch  näher  unde  näher,  bazundabei 
haz  -Km),  1 1  ixiv),  vgl.  Wolfr.  5,  11  urloup  nah  und  näher  baz  — . 
hierher  zu  rechnen,     endlich  der  anfang  des  xi.wi  liedes: 

Nu  hilf,  ic i hes  gilete. 
mir  ist  not  der  helfe  din. 
lässt  an  Wolfr.  7,  24  denken  :  —  güetlich  wip  :  nu  hilf,    sit  helfe 
ist  worden  not.     aber  der  ausdruck  ligt  allgemein  nahe.  — 

Überall  folgt  Ulrich  der  strengen  höfischen  tradition.  natur 
und  leben  legten  ihm  dies  nahe,  sein  meister  Reinmar  ist  höfisch 
par  excelleuce;  und  die  andersartigen  demente  Walthers  ver- 
schmäht er.  nur  an  zwei  stellen  scheint  mir  ein  unhöfischer 
ton  leise  anzuklingen  :  in  zwei  tanzweisen,  dem  frühlingsliede 
xxxiv  und  namentlich  in  dem  winterliede  xxxv  (beide  nach  12: 

Der  eingang  des  ersten  liedes  weist  sorge  und  angest  von 
der  strdze  :  strichet  von  dem  lande,  sam  der  winder,  von  uns  hin 
—  er  spricht  im  uamen  aller,  auch  noch  in  der  nächsten  Strophe: 
es  klingt  wie  Neidharts  nalureiugänge  vor  seinen  sommer- 
liedern.  sie  haben  dieselbe  tendenz,  häufig  auch  zwei  Strophen 
läuüe.  strichen  isl  ein,  nicht  ilbermäfsig  höfisches,  lieblingswort 
.Neidharts  (vgl.  12,  18;  13,  21;   IS,  15;  19,  1;  22,  20). 

Sehr  viel  grofser  ist  die  Ähnlichkeit  im  zweiten  liede.  Warnet 
iuch  gar,  Junge  und  aide,  gegen  dem  winder  —  (44i>,  l  f).   junge 


108  BRECHT 

und  alte  (bei  Ulrich  aufserdem  555,  28 ;  565,  29)  :  der  typische 
gegensatz  bei  Neidhart;  in  derselben  Zusammenfassung  8,  12; 
41,  34,  beide  male  ebenfalls  im  liedanfang.  —  am  ende  der  ersten 
und  in  der  zweiten  Strophe  gibt  Ulrich  vorsichtsmafsregeln  gegen 
den  wiuter  :  Sit  iu  selben  kleider  milde  —  weit  ir  vor  im  sin 
behuot,  so  sult  ir  diu  hiuser  spisen  — .  ratschlage  gegen  die 
winterkälte  gibt  auch  Neidhart  iu  einem  winterliede  :  beidiu  vinger 
unde  zehen  sol  ein  ieslich  man  vor  disen  winden  wol  bewarn  etc-, 
(76,  21  f).    —   in    der    dritten    Strophe    kommt   Ulrich   auf   seine 

pauacee  :  Für  sin   stürmen sul  wir  in   die  Stuben  wichen, 

da  mit  wiben  wesen  vrö  —  vgl.  Neidhart  zb.  wir  müezen  in  die 
stuben  60,  9;  Winder,  uns  wil  din  gewalt  in  die  Stuben  dringen 
35,  1,  vgl.  auch  35,  20.  es  ist  die  den  winterliedern  zu  gründe 
liegende  Situation;  und  das  vrö  wesen  mit  iciben  ist  auch  hier  die 
hauptsache,  wenn  auch  in  anderer  form. 

Auch  ein  singulärer  liedanfang,  wie  Ulrichs 
Alle  die  in  hohem  muote  wellen  sin, 
den  %dü  ich  daz  rdten  bi  den  triwen  min  —  (426,  12) 
stammt    wol    aus    neidhartscher   Sphäre.     Neidharts   lied    16,  38 
beginnt: 

Alle  die  den  sumer  lobeliche  weint  enphdhen, 
die  Idzen  in  ze  guote  mine  lere  niht  versmdhen. 
ich  rate  daz  — . 
Natürlich  mein  ich  nicht,  dass  Ulrich  sich  gerade  au  die 
angeführten  stellen  angeschlossen  habe,  aber  dass  er  Neidhartsche 
lieder  gekannt  hat,  ist  sicher,  hielt  sich  doch  Neidhart  selbst  einige 
zeit  in  der  Steiermark  auf;  war  er  doch  der  bevorzugte  dichter 
am  Wiener  hofe  unter  herzog  Friedrich  dem  Streitbaren,  Ulrichs 
lehnsherrn.  bei  Ulrichs  aufenthalte  in  Wien,  im  winler  1227 
auf  28  —  damals  regierte  noch  Leopold  vn  —  war  Neidhart  zwar 
schwerlich  schon  dort  (HMS  iv  437  f) ;  aber  dass  er  ihn  später 
nicht  kennen  gelernt  haben  sollte,  ist  kaum  denkbar  (vgl.  Roethe 
s.  35  und  36).  wie  dem  auch  sei,  ein  leichter  anflug  Neid- 
hartscher drastik  kann  den  Verehrer  des  hohen  stils  damals  sehr 
wol  betroffen  haben,  die  tendenz  zum  realismus  lag  iu  der 
luft,  im  märe  zeigt  Ulrich  sie  selbst  deutlich  genug,  niemand 
kann  sich  seiner  zeit  ganz  entziehen  *.  — 

1  die   gleichheit    eines    tones    bei   Ulrich  (xxvi)    und   Rubin  (xiii),    bei 
Ulrich  ixxx)  und  Walther  (im   kreuzlied  14,  35  ff),    halt  ich  mit   Bechslein 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  109 

Von  [einer  Qachwürkung  Lichtenstein  s  kann  man  nur 
in  seiner    engeren  beimat   reden.     Kummer  (Die   poetischen  Er- 
zählungen  des    Herrand    von   Wildonie    und  die   kleinen   inner- 
Österreichischen  minnesingei  i  hat  zahlreich  elemente  Ulrichscher 

lynk  bei  dem  ihm  eng  befreundeten  Wildonie  (vgl.  s.  23 f. 
47 — 52.  99f)  m  hinsieht  auf  metrik  und  Wortschatz  festgestellt, 
Um  dem  von  Suneck  (s.  1 05 f)  in  einzelnen  ausdrucksparallelen, 
bei  dem  von  S  lad  eck  auch  im  metrischen  hau  eines  liedes 
(Stadeck  m  =  Ulrich  v;  s.  1101).  die  meiste  Ähnlichkeit  mit 
Lichtenstein,  mich  syntaktisch,  zeigen  die  drei  lieder  Sunecks. 

Eines  der  schönsten  bilder  Ulrichs,  vom  herzen,  das  wie  ein 
kleines  kind  weint  nach  der  huhl  Aev  geliebten  (149,  7,  ir  büch- 
lein),  hat  Hadamar  von  Laber  nachgeahmt  (str.  2:5,3;  Bur- 
dach s.  26). 

Eine  gewisse  Ähnlichkeit  mancher  Sittenschilderungen  des  sogen. 
Seifried  Helblrng  mit  Ulrichs  frauenbuch  und  den  schluss- 
partieen  des  FD,  die  Knorr  auffiel  (s.  21  anm.),  beruht  wol  nur 
auf  der  verwantschaft  des  slofTes  und  der  örtlichen  und  zeitlichen 
nähe.  Seemüller  (Studien  zum  kleinen  Lucidarius,  Wiener  sitziu 
berichte  cu  661  f,  Seifr.  Helhl.  xxxiii)  hat  'keine  deutliche  spur' 
gefunden. 

Die  lieder  Hugos  von  Moni  (ort  und  Oswalds  von 
Wolkenstein  hab  ich  auf  Lichtensteinische  einflösse  hin  unter- 
sucht, jedoch  vergeblich. 

In  den  ersten  drei  capiteln  hatte  die  Untersuchung  folgen- 
des ergehen,  die  motive  der  lyrik  Ulrichs  waren  an  zahl  gering. 
uur  sehr  wenige  von  ihnen  entnahm  er  dem  leben,  die  meisten 
der  hofischen  tradition,  die  er  zt.  durch  übersteigern,  combi- 
nieren,  rationalistische  neuerungen l  epigonenhaft  weiterbildete, 
sein  produetiver  kunstverstand  entfaltete  sich  vorzüglich  in  der 
composition ,  in  der  vielfach  eine  dialektische  Veranlagung  des 
geistes  zu  tage  trat,  sein  formsinn  im  einzelnen  bewies  seine 
kraft  hauptsächlich  in  kunstvollen  widerholungen,  parallelismen, 
synonymen,  Variationen;  vorwaltende  Orientierung  seiner  phan- 
lasie  nach  aufsen  verriet  die  ausgeprägte   neigung  zur  anrede. 

s.  xvf  für  zufall.  zum  daenediep  war  Ulrich  zu  reich  an  erfindung.  vgl. 
Lachmann  zu  Waltbei  IG,  35,  Liliencron  Zs.  6,  86,  Kummer  s.  74  anm.,  Bei  b- 
slein  s.  147  anm.  und  s.  156  anm.  '  vgl.  auch  Burdach  s.  116. 


HO  BRECHT 

Als  was  lassen  diese  eigeuschaften  den  dichter  erkennen? 
der  geringe  gedankengehalt;  das  vorwiegen  der  form;  die  Sicher- 
heit in  allem  technischen  des  aufbaus  und  der  ausführung;  die 
liebe  zu  Stilmitteln,  die  mehr  als  alle  andern  geläufige  kenntnis 
des  wortreichtums,  heherschung  aller  ausdrucksmöglichkeiten  einer 
gehildeten  dichtersprache  voraussetzen  :  alles  erweist  den  vir^ 
tuosen  am  ende  einer  lyrischen  blüteperiode. 

Einen  virtuosen,  dessen  lehhaftigkeit  zuhörer  nicht  entbehren 
kann,  apostrophe  ist  die  seele  seiner  dichtung.  er  ist  nie  mit 
sich  allein,  das  unterscheidet  ihn  am  meisten  von  Reinmar.  er 
steht  immer  vor  leuten,  denen  er  vorsingt,  seine  lyrik  ist  laut, 
es  ist  immer  geslus  dahinter. 

Der  vortragende  hört  sich  reden,  man  merkt  Ulrichs  Worten 
au,  dass  sie  alle  ajiljwi^rkung  hin  ausgewählt  sind,  namentlich 
am  anfang  der  lieder1.  ostentative  mitteilung,  die  imponieren 
soll,   ist   seine    ganze   poesie.     er   ist  eitel  auf  sein  Seelenleben. 

Er  weils,  dass  es  adelich  ist.  nicht  umsonst  reizt  ihn  immer 
wider  die  Vorstellung  des  hohen2,  erfüllen  ihn  hochgespannte 
ideale  von  e're,  werdekeit,  tugent  und  dergleichen,  darum  ist  es 
ein  kleiner  kreis,  au  den  er  sich  wendet;  der  aristokrat  weifs, 
dass  er  nur  von  seinesgleichen  verstanden  wird 3. 

Als  mitglied  der  ritterlichen  gesellschaft  fühlt  sich  Lichten- 
siein  vor  allem,  in  der  dichtung  nicht  anders  als  auf  dem  turnier- 

1  die  anfange  sind  ausnahmslos  gut,  voller  elan;  die  schlösse,  auf  die 
der  moderne  virtuose  besondern  wert  legen  würde,  fast  durchgängig  matt. 

2  hoher  muot,  hochgeniiiete  überall,  hohgedinge  zb.  30,  3.  diu 
hohe  minne  59,  3.  minnet  ho  457,  7.  min  gemüete  stdl  ho  400,  3 ;  556,  21, 
desgl.  410,  25;  566,  13  (muot).  diu  herze  stigent  ho  423,  12.  stet  min 
herze  unho  110,  16.  junge  und  aide  hebt  unhohe  566,  1.  mir  muoz  ho 
an  ir  gelingen  425,  25.  des  muoz  min  muot  hohe  sweben  534,  12.  des 
muot  muoz  geliche  stdn    Hoch   der  sunne  437,  18,    und  vieles  andre  dgl. 

3  dass  ritterlich  höfische  art  die  einzige  ist,  die  in  betracht  kommt, 
ist  L.  überall  selbstverständlich,  bei  seinem  aufenthalte  als  trau  Venus  in 
Wien  1227  sind  die  bürger  gut  genug,  um  die  ritler  in  quartier  zu  nehmen 
(charakteristischer  ausdruck  250,  28);  die  Wienerinnen  werden  als  deco- 
ratives  strafsenpublicum  angenehm  empfunden  (251,  26).  —  unterschied 
zwischen  edeler  art  und  geburen  art  509,  26  ff,  bes.  510,  5  f.  —  andere 
charakteristische  lieblingsworte  :  herze,  minne,  dienen,  dienest,  freude, 
Irüren,  wünsch,  wdn,  wip,  vrowe,  rät,  wunder,  enget,  rose,  vro,  guol, 
sueze,  fruole,  lachen  und  munl  der  geliebten,  das  absonderliche  kleinvel- 
hitzeröl  (vgl.  Knorr  s.  82).  an  der  geliebten  sieht  er,  wie  wol  die  meisten 
mhd.  lyriker,  ausschliefslich  die  färbe,  nicht  die  form. 


ULRICB  VON  LICHTENSTEIN  111 

platz,  vornehmer  sport  ist  das  eine  wie  das  andere,  dass  ihm 
der  sport  des  minnedienstes  zum  notwendigen  pbantasiebedQrfnis 
uird,  ist  das  Verhängnis  Beines  cbaraktei 

Den  forderungen  der  höfischen  Gesellschaft  ist  sein  stil 
völlig  angemessen,  als  gesellschaftlichen  dichter  zeigl  ihn 
Bchon  die  grofse  neigung  zur  apostrophe.  wesentlich  von  ihr 
stammt  der  eindruck  der  lebbaftigkeit,  den  seine  poesie  von  jeher 
gemacht  bat  (zb.  Uhland  b.  236).  seine  natur  ist  nicht  übermäfeig 
ursprünglich ;  hergebrachte  minnedialeklik  hat  er  genug  —  trotzdem 
wflrkl  er  lebendig  und  Irisch,  die  apostrophe  macht  alles  mindestens 
erträglich,  neben  der  pointierten  diction,  dem  reichtum  an  rede- 
ßguren,  »lern  öberlegten  satzbau  trägt  sie  das  meiste  bei  zu  dem 
declamatoriscben  Charakter  seiner  lyrik. 

Wer  sich  immer  an  die  gesellscbaft  wendet,  bei  dem  isi 
ungewöhnliche  tiefe  der  empfindung  und  des  gedankens  von  vorn- 
herein ausgeschlossen,  aber  reichtum  an  abwechselung  und  eine 
gewisse  Urbanität,  eleganzund  geistreiche  einfalle  werden  geradezu 
verlaugt,     mit  alledem   konnte   Ulrich  dienen. 

Die  gesellscbaft  verlangt  mafsvolle  munterkeit  :  er  dichtet 
muntere  Lieder '.  die  gesellschaft  kokettiert  im  stillen  mit  der 
leidenschaft  :  er  dichtet  leidenschaftliche  lieder.  ein  wenig  Sinn- 
lichkeit erlaubt  sie  :  er  macht  sinnliche,  die  er  gerade  au  der 
grenze  desseD  halten  lässt,  was  erlaubt  ist  —  und  gefällt2,  sie  hat 
Verständnis  für  schwierige  kunstgedichte  :  er  verfertigt  prunk- 
stflcke3.  schmachtende  Sentimentalität  ist  ihr  interessant:  davon 
hat  er  überfluss.  und  die  minnigliche  verstiegenheit  wird,  solange 
sie  nicht  lästig  fällt,  von  dem  mafsgebenden,  weiblichen  teile  der 
Gesellschaft  nur  als  schmeichelhafte  consequenz  empfunden. 

Gelegentlich  verrät  Ulrich  den  her  gang  bei  seinem 
dichten  oder  äufsert  sich  in  einer  art  von  räsonnement  über 
poetische  fragen,  psychologisch  lässt  sich  manches  aus  diesen 
bemerkungen  gewinnen,  die  naiv  bleiben,  auch  wo  sie  rationa- 
listisch werden. 

Die  antriebe  zum  dichten  sind  bei  ihm  sehr  verschieden. 
manchmal  folgt  er  sichtlich  dem  augenblicklichen  bedürfnis,  er 
dichtet  im  sattel  (109,  29  f),  auf  dem  wege  (131,  29),  in  der  nol 

1    zb.    IV.    VIII.    XII.    XIX.    XXVIII.    XXXI.    XXXV.    XLVIII.    L. 

1    Zb.    XXIX.    XXXVI.    XL.     XLI.    LVI.    LVII.       / 

S    Zb.    XIV.     XVIII.     XXV.    XXX.    XXXII.    XXXIII.    XXXIV.    XI.II.     M.III.    LI. 


112  BRECHT 

des  kerkers  (545,  1).  viel  häufiger  setzt  er  sich  in  positur.  aber 
bereit  ist  er  immer  :  der  virtuose  versagt  nie.  er  kann  auch 
würklich  sehr  viel,  das  zeigt  sich  glänzend,  als  er  krank  in  Bozen 
ligt,  und  eine  dame  ihm  eine  welsche  melodie  schickt,  mit  der 
bitte,  ihr  einen  deutschen  text  unterzulegen  (1225,  FD  112,  22  ff), 
er  willfahrt  sofort;  und  gerade  dieses  lied  ist  vortrefflich  :  sehr 
lebendig,  feurig,  im  ausdruck  das  schwierige  metrum  der  drei- 
teiligen Strophe  aufs  gewanteste  verwertend. 

Ein  innerlich  wahrer  ausdruck  für  den  unmittelbaren  drang 
zu  dichten,  äufserungen  wie  Zehant  ich  tihten  dö  began,  als  mir 
min  senedez  herze  riet  (104,  6)  —  min  zornic  herze  mir  dö  riet, 
ze  singen  disiu  sioinden  liet  (416,  26)  —  in  dirre  not  min  herze 
riet  mir  ze  singen  disiu  liet  (545,  1)  sind  dem  entsprechend  selten, 
der  virtuos  ist  gewöhnt,  die  poesie  zu  commandieren.  die  Situation 
lässt  es  ihm  einmal  vorteilhaft  erscheinen,  seiner  ersten  herrin 
möglichst  bald  wider  ein  lied  zu  senden,  er  sagt  dies  seinem 
boten.  Alzehant  dö  huob  ich  an,  von  herzen  tihten  ich  began  liet 
sd  von  der  vrowen  min  (318,  5  f).  unterdessen  wartet  der  böte, 
kaum  ist  das  lied  aufgeschrieben,  reitet  er  mit  ihm  ab.  und 
dies  lied  (xi)  ist  nicht  schlecht,  es  hat  keinen  leichten  strophen- 
bau,  doppelte  eingangsapostrophe,  anaphern,  parallelismen. 

Ähnlich  ad  hoc  dichtet  er  bald  darauf  das  xii,  überaus  kunst- 
volle lied  und  das  m  büchlein. 

Da  mit  ich  von  dem  boten  schiet 

und  tiht  zehant  guot  niuwiu  liet 

und  ouch  ein  kleinez  büechelin  —  — 
diu  liet  und  büechel  wart  bereit, 

al  zehant  min  böte  reit  — .  (381,  5) 

Leistet  Ulrich  in  der  tat  viel,  so  ist  er  auch  stolz  auf  seine 
geschicklichkeit : 

nie  buoch  so  tninneclichen  wart 

getihtet  so  daz  büechelin, 

daz  ich  dö  tiht  —  (381,  10). 

schon  der  junge  dichter  betont  die  Originalität  der  melodie,  die 
Schönheit  und  gefühlswahrheit  des  textes: 

diu  wise  ist  niuwe  und  höchgemuot, 

diu  wort  sint  süeze  und  dar  zuo  wir  (98,  24), 
und  das  letzte  empfinden  wir  bei  diesem  liede  (iv)  heute  noch. 
'■diu   wort  sint  guot,   diu   wise  niu  ,    lässt   er   seinen   boten   von 


ULRICH  Vi».\  LICHTENSTEIN  ll ., 

seinem  vir:  liede  sagen  (125,  13) '.  dies  Bind  nur  «* i 1 1 1 _ . -  proben 
seines  selbslbewustseins.  virtuosen  pflegen  ruhmredig  eu  sein. 
Nicht  selten  misversteht  der  auf  die  tecbnik  eingeschworene 
routinier  den  Klassischen  Stil,  und  wähnt  ihn  durch  kleinliche 
Schnörkel  zu  verbessern,  so  negiert  Lichtenstein  in  seiner  ein- 
zigen gröTseren  ästhetischen  argumenlation  509,  6  IT  den  bisherigen 
stil  «les  tageliedes  mit  naturalistischen  gründen,  wie  sie  dem 
epigonen  naheliegen,  nur  um  diese  theoretische  erwägung  zu 
illustrieren,  dichtet  er,  nach  seiner  angäbe,  seine  beiden  tage- 
lieder.  der  blofse  vorsatz,  wider  einmal  etwas  effectvoll-origi- 
nelles  zu  machen,  ist  das  primäre. 

—  min  herze  mir  <I6  riet 
singen  aber  niuwen  sin. 
ich  ddhte  her,  ich  ddhte  hin: 
ich  (Iaht  an  der  minncBre  klage  — 
damit  leitet  er  seioe  rationalistischen  erwägungen  ein. 

Wäre  die  gesellschaft,  für  die  Lichtenstein  sang,  noch  so 
gewesen,  wie  er  sie  sich  vorstellte,  noch  dieselbe,  dereu  letzte 
blute  er  in  seiner  ersten  Jugend  noch  miterlebt  hatte,  so  halle 
er  viel  mehr  beifall  linden  müssen,  als  es  geschehen  zu  seiu 
scheint'2.  denn  er  erfüllte  in  seiner  dichtuug  eigentlich  alle 
ausprilche,  die  man  an  das  ideal  des  rein  höfischen  miunesanges 
stellen  konnte,  ohne  dass  er  irgend  welche  ausprilche  stellte, 
die  über  das  geistige  vermögen  des  guten  durchschnitts  hinaus- 
gingen, was  Gottfried  als  epiker,  bedeutete  er  als  lyriker  :  das 
getreue  Spiegelbild  der  anschauungen  seiner  kreise. 

Das  ritterliche  elemen  t  im  höfischen  ideal  tritt  so  mächtig 
bei  ihm  hervor,  dass  man  nur  darauf  hinzuweisen  braucht,  die 
ethik  des  schildesamtes  ist  die  einzige,  die  er  kennt,  das  turnier 
ist  fast  eine  heilige  angelegenheit  (vgl.  die  beiden  üzreisen).  im 
übrigen  ist  er  der  mann  der  Convention,  der  Verehrer  der  zuht 
(xx),    der  es  fertig  bringt,    sogar  die  huote   und   die   merker  zu 

1  die  musikalische  composition  scheint  seine  starke  seite  gewesen  zu 
sein,  auch  ohne  bemerkungen  wie  die  erwähnten  könnten  wir  dies  aus 
dem  kunstvollen  bau  seiner  sehr  verschiedenen  Strophen  udgl.  schliefsen. 
vgl.  Scherer  Deutsche  Studien  i  48  anm.  1. 

2  und  doch  war  gerade  die  Steiermark  schon  sehr  früh  der  nährboden 
einer  ausgebildeten  ritterlichen  gesellschaft  gewesen,  vgl.  Schönbach  Die 
anfange  des  deutschen  minnesanges  s.  SO  ff. 

Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  S 


114  BRECHT 

preisen  *.  verlieren  diese  begriffe  bei  seiner  spielenden  Um- 
formung auch  ihren  alten  sinn,  so  ist  der  neue,  den  er  ihnen 
unterlegt,  erst  recht  ein  Zugeständnis  an  die  zuht,  und,  wie  man 
zugeben  muss,  eine  art  Vertiefung  der  tbeorie  von  der  huote 
(xvm).  praktisch  verhält  er  sich  gelegentlich  ganz  anders, 
ohne  sich  aber  irgendwie  eines  Widerspruchs  bewust  zu  werden, 
prachtvoll  naiv  wie  er  ist.  äufserlich  von  mehr  als  standes- 
gemäßer frömmigkeit,  macht  es  ihm  doch  gar  nichts  aus,  in 
seiner  frauenverkleidung  mit  dem  friedenskuss  bei  der  messe 
schnödes  spiel  zu  treiben  (179,  1  f).  er  preist  allen  segen  der 
kreuzfahrt  —  und  bleibt  zu  hause. 

Das  element  des  frauendien  stes  war  im  höfischen 
ideal  dem  ritterlichen  so  eng  verbunden,  dass  es  praktisch  kaum 
zu  scheiden  war.  nach  dieser  seite  hin  ist  erst  recht  nichts  zu 
denken,  was  über  Ulrichs  leistung  hätte  hinausgehn  können, 
die  fraueuverehrung  als  sittliche  tat  war  so  oft  von  den  dichtem 
empfohlen,  die  idealgestalten  der  heldenromane  so  nachdrücklich 
als  muster  aufgestellt  worden  2,  dass  man  sich  gar  nicht  wundern 
kann,  wenn  endlich  einem  phantastischen  köpfe  die  grenzen 
zwischen  poesie  uud  würklichkeit  verschwammen;  zumal  wenn 
er  wie  Ulrich  von  klein  auf  die  luft  der  chevalerie  geatmet 
hatte  3. 

"Wie  weit  hatte  doch  die  deutsche  lyrik  weggeführt  von  jener 
naiv-gesunden  auffassung  der  geschlechter,  wie  sie  beim  Küren- 
berger  begegnet  1  jener  hatte  lieber  'das  land  räumen'  wollen, 
als  sich  von  der  vrouwe  minnen  lassen,    jetzt  erklärt  der  Lichten- 

steiner: 

Der  diene  ich  also  miniu  j'dr  — 

swaz  so  ir  an  mir  missehaget, 

dem  ist  von  mir  gar  widersaget. 

geviel  ir  niht  min  zeswiu  hant, 

ich  slüeg  si  ab  bi  got  zehant. 

ich  wil  davon  niht  sprechen  vil  —  (27,  13f). 

Was  er  in  würklichkeit  ihretwegen  abschneidet,  ist  der  kleine 
finger  der   linken  hand,    der   doch    unbrauchbar    geworden    war. 

1  vgl.  Scherer  Littgesch.  s.  211. 

2  zb.  Thomasin  Welscher  gast  1041.  773.  1029.  6325.  vgl.  Scherer 
aao.  s.  223. 

3  vgl.  Schönbach  in  den  Biograph.  Blättern  u  33  ff. 


L'LHICll  VON  LICHTENSTEIN  US 

auch  dies  ist  schon  verstiegen  genug.     m)  selben  Btil  Bind  Be 

übrigen  Laien  für  seine  dame. 

Man  kann  deutlich  erkennen,  wie  die  kokett  abweisende 
baltung  der  dame ,  der  widerstand  der  anders  gewordeoea  w  «U 
ihn  auf  der  betretenen  bahn  nur  um  so  energischer  vorwärta- 
treibt.  ein  normaler  mensch  wäre  er  nur  im  reiche  des  kön 
Artus  gewesen;  in  einer  noch  ganz  höfischen  gesellschaft  wl 
er  immerhin  nicht  so  unterscheidend  aufgefallen;  der  umstand, 
dass  er  zwei,  drei  Jahrzehnte  zu  spät  auf  die  weit  gekommen, 
macht  ihn  zum  rom antiker,  zwar  hat  er,  wie  sich  aus  seiner 
aufserdichlerischeu  täligkeit  ergibt,  das  handelnde  leben  nie  aus 
deu  äugen  verloren;  im  privalleben  aber  wird  der  naive  versuch 
gemacht,  poesie  und  würklichkeit  zu  verschmelzen. 

Hierbei  kommt  es  in  der  tat  zu  einer  argen  verbiegung  der 
psyclie.  die  germanische  mafslosigkeil  macht  den  minneapostel 
zum  pedantischen  doctrinär.  der  rein  egoistische  kern  seiner 
minne  indessen  und  sein  doch  nicht  zu  ertötender  gesunder 
menschenverstand  bewahren  ihu  vor  dem  blindesten  fanatismus: 
von  der  versprochenen  kreuzfahrt,  durch  die  ihn  seine  dame  nur 
los  werden  will,  weifs  er  sich  in  der  artigsten  weise  zu  drücken, 
winkt  aber  nur  die  leiseste  hoffnung  auf  erfolg,  so  fasst  er  die 
abenteuerlichsten  entschlösse  ohne  weitere  Überlegung,  ohne  jeden 
seelischen  kämpf  (zb.  138,  25  f.  328,  1  t).  das  beständige  be- 
dürfnis  pathetischer  Steigerung  des  lebens  ermöglicht  alles,  schickt 
ihm  die  dame  einen  brief  mit  der  unzweideutigsten  absage,  so 
bringt  ihn  das  nur  zu  noch  trotzigerer  selbstqual :  nu  dar!  nu  dar! 
nu  dar!  swie  mir  diu  reine  süeze  tuot,  daz  muoz  von  rehl  mich 
dünken  guot  (61,  4 ff),  über  das  geringste,  zweifelhafteste  zeichen 
von  huld  gerät  er  in  unnatürliche  freude  (zb.  156,  G IT),  die 
einzige  ideale  lebensmacht,  die  er  kennt,  ersetzt  alles  andere,  er 
bringt  sie  mit  dem  höchsten  in  Verbindung  :  Got  hdt  mich  in  ir 
dienert  brüht,  so  begründet  er  seine  Venusl'ahrt  (156,  29);  Gott 
will  den  minnedienst  (379,  21—  30)  K 

1  die  anrufung  Gottes  spielt  bei  L.  die  gröste  rolle,  von  der  nichts- 
sagenden redensart  angefangen  bis  zum  poetischen  wünsch  und  zur  naiven 
Überzeugung,  nu  helf  mir  got,  daz  ich  ir  tuo  den  dienest  schin  58,  17. 
daz  wetz  got  wol  105,  11;  Got  weiz  wol  585,  7.  got  vor  sorgen  mich 
oehüele  421,  14;  vor  ir  zürnen  mich  behüete  got  446,  27.  Got  füege 
mirz  ze  guole  422,  21.  449,  25.     got  den  grozen   kumber  wende  555,  29. 


116  BRECHT 

Wahres  und  falsches  gefühl  gehen  scliliefslich  ununlerscheid- 
bar  durcheinander,  selten  ist  die  empfindung  so  unzweifelhaft 
echt  wie  bei  der  erzählung,  wie  er  im  kerker  zum  letzten  male 
den  leib  des  herrn  nimmt  (543,  27  f). 

Reminiscenzen  an  Situationen  hotischer  romane  spielen  so 
häufig  auch  an  nebensächlichen  stellen  in  die  erzählung  des  FD 
hinein,  dass  ich  es  für  verfehlt  halte,  überall  absichtliche  fälschung 
zu  wittern,  der  versuch  des  hyperkritischen  Becker,  hier  'Wahr- 
heit und  dichtung'  scheiden  zu  wollen,  war  einer  so  phantasie- 
vollen natur  gegenüber  von  vornherein  aussichtslos,  auch  waren 
die  romane  in  vieler  beziehuug  ja  nur  verklärte  Spiegelbilder  des 
würklichen  ritlerlebens,  das  für  uns  genug  sonderbares  enthält: 
wer  will  da  genaue  grenzen  ziehen?1 

Am  rätselhaftesten  bleibt  für  uns  das  Verhältnis  L.s  zu  seiner 
gatlin.  man  hat  oft  anstofs  daran  genommen,  wie  nebensäch- 
lich er  von  ihrer  existenz  künde  gibt,  indem  er  bei  erzählung 
der  Venusfahrt    auch    den    zweitägigen    besuch    bei    ihr   erwähnt 

got  in  [den  hohen  muot]  uns  behüete  566,  6  ;  got  beMiete  mir  ir  lip  usw. 
567,  10.  Din  er  hab  got  in  siner  pßege  131,  25.  Got  geb  daz  ich  si 
noch  vinde  422,  6f.  got  gehe  dir  guolen  morgen  518,  1.  got  der  hat 
mich  wol  beddht  mit  so  reinem  siiezen  wibe  449,  16.  got  hat  sinen  vliz 
an  dich  geleit  536,  25,  ähnlich  576,  20.  das  stärkste  :  Got  si  mir  als  ich 
ir  s({!)  406,  25  f. 

1  hat  zb.  Ulrich  bei  erzählung  der  lehren,  die  ihm  markgraf  Heinrich 
von  Istrien  gibt  (9,  13 ff),  an  den  edeln  Gurnemanz  gedacht  oder  nicht?  — 
Das  zuverlässigste  sind  immer  die  lieder.  es  lässt  sich  bemerken,  dass  er 
auch  die  Charaktere  der  erzählung  im  sinne  der  lieder  färbt.  374,23(1, 
nach  dem  burgabenteuer,  legt  er  seiner  ersten  dame  seine  eigenste  an- 
schauung  in  den  mund: 

Ich  weiz  daz  wol,  sivie  lump  ich  bin, 

daz  trüriges  rillers  lip 

erwirbet  nimmer  werdez  wip. 

sivelch  wip  ir  Iwt  ertrüren  an 

ir  minn,  dest  vasle  misseldn. 

vgl.  zb.  428,  13  ff  (xxvn): 

Wie  sol  ein  ungemuoler  man 

erwerben  höchgemuoles  wibes  habedanc? 

wil  er  ir  daz  ertrüren  an, 

daz  si  in  minne,  so  ist  sin  lumber  wdn  vil  kraric. 

ir  höchgemuoles  herzen  rät 

sin  trüren  hat  für  misseldt     usw. 


ÜLItlt  II    VMN   LH'in  i:\SH. L\  l  17 

(222,  1 11' j.     nicht   laoge  danach   kommt  er  auf   zeho  tage  wider 

zu  ihr: 

Zuo  der  vil  lieben   honen   min. 

diu  künd  mir  lieber  nilit  yesin, 
swie  ich  doch  hei  ilbr  minen  Up 
ze  vrowen  du  ein  ander  wip  (318,  25  f). 
wie  s.di  es  eigentlich  in  ihm  aus?  es  müssen  zwei  ganz  ver- 
schiedene gefühle  gewesen  sein,  die  er  in  sich  nii^.  denn  wir 
haben  gar  keinen  grund,  der  widerholten  Versicherung  seiner 
galtenliebe  zu  mistrauen  (die  zwei  eisten  verse  schon  bei  dem 
ersten  besuch),  noch  einmal  kommt  er  bei  der  erzählung  seiner 
gefangennebmung  auf  seiner  eignen  bürg  kurz  auf  diu  guote  zu 
sprechen.  Freytag  (Bilder  a.  d.  deutschen  vergangenheil5  u  30) 
hat  ihm  sehr  verdacht,  dass  er  in  der  ludesangst  des  kerk 
an  seine  dame  ein  lied  dichtet,  wahrend  seine  Trau  das  llilcht- 
lingsbrot  verzehren  muss.  in  der  tat  spricht  er  von  ihr  mit 
keinem  worte;  dass  er  ihrer  nicht  gedacht  habe,  wird  dadurch 
iu  keiner  weise  erwiesen,  hier  ist  eine  der  vielen  stellen  des 
Fl»,  wo  die  macht  des  höfischen  Stiles  in  anschlag  ge- 
bracht werden  muss.  die  gedanken  an  die  gattin  sind  unhöGsch; 
darum  hat  er  keinerlei  Veranlassung,  sie  hier  mitzuteilen,  ebenso 
nie  er  überhaupt  von  seinem  eheleben  schweigt,  wie  er  im 
ganzen  FD  nur  die  höfische  seile  seines  reichen  lebens  dar- 
stellt, zu  leicht  ist  moderne  Vorstellung  geneigt,  seine  von 
strengem  Stilgefühl  dictierte  aus  wähl  als  vollständige  memoiren 
aufzufassen. 

Aber  gesetzt  auch,  es  wäre  kein  herzliches  Verhältnis  ge- 
wesen was  er  verschweigt  :  so  ist  es  doch  wider  nur  modern, 
daran  anslofs  zu  nehmen,  auch  Freytag  ist  hier  einer  uu- 
historischen  aulfassuug  erlegen,  er,  der  uns  gerade  das  wesen 
der  mittelalterlichen  ehe  und  ihre  Vertiefung  durch  die  reformatio!» 
so  schon  auseinandergesetzt  hat.  neben  einer  miuniglichen 
Schwärmerei  kann  bei  Ulrich  sehr  wol  eine  ehrliche  neigung 
zu  seiner  hausfrau  hergegangen  sein,  übrigens  ist  seine  theorie 
consequent  genug,  der  frau,  die  sich  schlecht  behandelt  (nicht 
etwa  'ungeliebt')  fühlt,  den  ehebruch  zu  erlauben,  falls  sie  es 
nicht  lieber  um  Gottes  willen   lässl  iFil  623,  5  ff). 

Unter  dem  einflusse  seines  ideals  und  seiner  eignen  dich- 
terischen tätigkeit  entwickelt  sich  Lichtenstein  immer   mehr  zum 


HS  BRECHT 

artisten,  der  erlebt  um  zu  dichten,  er  leistet  alles  was  der 
stil  des  liebesromans  von  ihm  verlangt,  in  der  lyrik  wie  im 
leben,  wahrend  des  ersten  Verhältnisses  singt  er  muntere  und. 
ernste,  hoffende,  schmachtende,  ängstliche  lieder,  alle  mehr  oder 
minder  von  gesellschaftlicher  hallnng.  nachdem  die  dame  ihn 
endgiltig  abgewiesen,  benutzt  er  das  Unglück  gleich  zu  einer 
reihe  obligater  schell-  und  klagelieder;  während  seiner  erotischen 
vacanz  nimmt  er  die  gelegenheit  zu  wdnwisen  wahr,  beim  ein- 
zug  der  neuen  herzenskonigin  darf  das  begrüfsungsgedicht  (xxxn) 
nicht  fehlen,  gespräche  mit  ihr  werden  sofort  lyrisch  verwertet 
(s.  o.).  kleine  huldbeweise  der  dame,  ein  wort  von  ihr,  ihr 
lachen  dürfen  nicht  unbedichtet  bleiben,  das  kerkerlied,  bei  ein- 
fallender gelegenheit,  versieht  sich  fast  von  selbst,  als  im  laufe 
der  jähre  das  neue  Verhältnis  mit  seiner  frische  auch  seine  an- 
regende kraft  allmählich  einbüfst,  muss  es  zu  minnedidaktischen 
belrachtungen  und  litterarischen  experimenten  (tagelieder)  her- 
halten, ihm  verdanken  wir  schliefslich  —  wenn  Ulrich  anders 
keine  fiction  vorbringt  —  die  abfassung  seiner  beiden  bücher. 

Auf  was  es  bei  alledem  schliefslich  ankam,  sagt  er  selbst 
deutlich  genug: 

Min  minne  gernder  höher  muot  — 
er  machet  mir  die  teile  unlanc  (515,  4f). 
die  grundlage  dieser  auffassung  ist  schon  früh  vorhanden,  be- 
reits i.  j.  1225  betont  er,  wie  gleichgiltig  es  ihm  sei,  ob  ihn 
die  herrin  gut  oder  schlecht  behandle  (129,  1  f ).  er  gibt  sich 
damit  den  anschein  uneigennütziger  treue  :  in  würklichkeit  ist 
—  man  denke  an  die  scheltlieder  —  seine  'minne'  durchaus 
egoistisch. 

Denn  von  vornherein  war,  aller  pathetischen  beteuerungen 
ungeachtet,  seine  minne  ein  spiel  gewesen,  ein  sport  der  ritter- 
lichen phantasie.  er  macht  sich  frei,  als  er  die  Unmöglichkeit 
einsieht,  das  recht  sinnlich  gedachte  ziel  zu  erreichen,  unter- 
dessen aber  war  ihm  die  ausfüllung  des  innern  durch  ein  minne- 
verhältnis  —  ob  eingebildet  oder  nicht  —  zum  bedürfnis,  die 
von  der  minnetheorie  fast  geforderte  verstiegenheit  zur  natur  ge- 
worden, er  ist  so  glücklich  eine  zweite  dame  zu  finden,  im 
laufe  des  jahrzehntelangen,  offenbar  ganz  platonischen  Verhält- 
nisses entwickelt  sich  sein  verstiegener  idealismus  allmählich  zur 
harmlosen    schrulle,    die    von    den    unhöfisch    gewordenen    zeit- 


ULB1CU  VON  LICHTENSTEIN 

lossen  gewis  viel  belachl  worden  ist,  wie  schon  seine  Jugend- 
streiche l. 

Ks  ist  leicht,  Ulrich  einen  narren  eu  schelten;  Beine  kraft 
das  leben  zu  stilisieren  ist  bewundernswürdig.  Bein  minne- 
leben ist  recht  ein  beweis  för  den  ungeheuren  culturwerl  der 
mini,  poesie.  auch  in  der  absurden  Qbertreibung  verleugne!  Bich 
die  beneidenswerte  gescblossenheil  der  höfischen  Weltanschauung 
nicht,  wie  unbeschränkt  muste  ihre  macht  sein,  wenn  sie  einen 
formbegabten  menschen  am  ende  ihrer  blötezeil  so  beherrschen 
konnte,  dass  er  wie  selbstverständlich  sein  lebensgeföhl  nach  ihr 
einstellte;  wie  grofs  der  wert,  den  ihre  Vorstellung  vom  vornehmen 
menschen,  <lie  sich  in  <ler  litteratur  ihren  ausdruck  und  ihr  Werk- 
zeug geschaffen,  1'iir  eine  einheitliche  lebensauffassung  besafs2. 

Es  ist  sitte  geworden,  Lichtenstein  den  mittelhochdeutschen 
Don  Quichote  zu  nennen;  aber  der  naheliegende  vergleich  be- 
zeichnet nur  eine  seile  seines  wesens.  seine  hohe  eultur  und 
sein  strenger  stil  kommen  darin    nicht  genügend    zum  ausdruck. 

Noch  viel  weniger  aber  seine  politische  persönlichkeit. 
sein  uns  wolbekanntes  wflrken  zeigt  ihn  als  das  gegenteil  eines  Don 
Quichote,  als  einen  realpolitiker  von  gefährlicher  Verschlagenheit3. 

Wie  ist  das  möglich?  der  rubrer  (\cs  frondierenden  stei- 
rischen ' adels,  tler  landesbauptmann  und  oberste  landriebter  die- 
selbe  persönlichkeit  wie  der  fast  pathologisch  zu  nennende  phan- 
tastische minnesinger?  verschiedene  antworten  auf  diese  fr 
sind  versucht  worden.  Falke  meinte  (aao.  s.  58)  :  'das  phan- 
tastische rilterlum  bildet  die  erste  halfte  seines  lebens,  das  prak- 
tische die  zweite,  und  der  dichter  ligt  allenfalls  dazwischen', 
wie  wenig  diese  erklärung  zutrifft,  hat  Becker  gezeigt,  indem  <t 
(Wahrheit  und  dichtung  etc.  s.  102)  darauf  hinwies,  dass  die  an- 
fange von  Ulrichs  politischer  täligkeit  schon  in  seine  Jugend 
lallen,  ferner  lä'sst  sich  Ulrichs  dichtung  keineswegs  nur  auf 
eine  Zwischenperiode  seines  lebens  beschränken;  die  lieder  der 
/weiten  minne  fallen  grofsenteils  gerade  in  politisch  sehr  be- 
wegte jähre,  ebenso  die  abfassung  seiner  beiden  grofseren  werke. 
Beckers  eigene  erklärung  freilich  bietet  noch   weniger  einen  aus- 

1  vgl.  Roethe  s.  36  nebst  anm.  72.  2    wieviele    dichter   sind   im 

19jh.  bei  un9  am  mangel  solcher  einheitlichen  eultur  zu  gründe  gegangen! 

3  vgl.  vFalke  Geschichte  des  fürstl.  hauses  Liechtenstein  i,  abschn.  ii; 
Schönbach  Biograph.  Blätter  ii;  Walther  vdVogel weide  s.  44. 


120  BRECHT 

weg;  das  'bild  des  überspannten  minnetoren'  einfach  für  eiu 
'reines  phantasiegebilde,  ersonnen  zu  scherzhafter  (!)  Unterhaltung' 
zu  erklären,  heifst  einen  starken  psychologischen  irrtum  begehn. 
wo  bleibt  dabei  allein  das  von  Becker  (s.  95,  96)  selbst  für  un- 
verdächtig erklärte  Zeugnis  der  lieder? 

Ich  glaube,  die  lösung  oder  richtiger  die  aufhebung  des 
problems  ligt  in  zwei  von  mir  bereits  hervorgehobenen  momenten. 

Das  eine  ist  die  intensität  der  litterarischen  cultur, 
die  Ulrich  als  ein  erbe  der  zu  ende  gelinden  blüteperiode  vor- 
fand, ihre  gewaltige  würkung  im  einzelnen  haben  wir  gesehen, 
culturwerte  um  die  der  grofsvater  gerungen,  erleichtern  dem 
eukel  das  leben  ohne  dass  er  es  merkt,  als  Ulrich  zu  dichten 
begann,  lag  die  formenweit  der  höfischen  lyrik  um  ihn  herum 
zum  gebrauch  fertig  da;  war  die  dichtersprache  durch  vielfältige 
Übung  so  ausgebildet,  dass  sie,  ähnlich  wie  am  ende  des  goelhi- 
schen  Zeitalters,  fast  selber  für  den  poeten  dichtete,  war  der 
poet  gar  ein  formtalent  von  der  stärke  Lichlensteins,  so  ist  es 
klar,  dass  zur  hervorbringung  einer  lyrik  wie  der  seinigen  keine 
aufwühlung  des  gesamten  innenlebens  nötig  war,  die  alle  seelen- 
kräfte  absorbierte,    dergleichen  konnte  nebenher  gemacht  werden. 

Hier  greift  als  zweites  der  begriff  des  vornehmen  Sportes 
ein.  dies  ist  nicht  so  zu  verstehn,  als  ob  nicht  ein  teil  von 
Ulrichs  seele  an  diesem  sport  gehangen  hätte;  aber  sport  ist 
nicht  die  haupttätigkeit  im  leben  eines  ernsthaften  manues. 
Lichtenstein  dichtete  seine  verse  —  die  ihm ,  wie  wir  gesehen 
haben,  so  leicht  wurden  — ,  weil  es  vom  höfischen  standpunct 
aus  für  einen  ritter  neben  dem  turuieren  die  standesgemäfs  vor- 
nehmste beschäftigung  war.  wer  es  irgend  vermochte,  für  den 
war  es  nur  anständig. 

Dem  philologen,  der  von  allen  taten  Lichlensteins  nur  noch 
den  Frauendienst  greifbar  vor  sich  sieht,  ligt  die  Versuchung 
nahe,  seinen  Verfasser  ausschliefslich  oder  doch  in  erster  linie 
als  dichter  aufzufassen,  dies  entspricht  aber  keinesfalls  der  würk- 
lichkeit.  unsere  Vorstellung  vom  künstler  der  nur  künstler  ist, 
ist  dem  mittelalter  fremd;  sie  stammt  aus  der  renaissance,  in 
ihrer  modernen  panegyrischen  auspräguug  gar  erst  aus  der  genie- 
zeit1.  Ulrich  war  ein  grand  seigueur,  der  feudale  Standespolitik 
trieb  und    sich    in    ernsten    und    nichtigen    fehdeu    herumschlug 

1  vgl.  auch  Burdach  s.  27  f. 


ULRICH  VON  LICHTEINSTEIIS  121 

wie  jeder  seiner  Bundesgenossen,  von  denen  <■!•  sich  kaum  unter- 
schieden gefühlt  haben  wird;  liehen  den  geschälten  dichtete  er 
seine  zierlichen  lieder,  aus  privater  liebhaberei,  auch  liier  als 
vornehmer  herr,  der  weil  entfernt  ist ,  dergleichen  für  seine  wich- 
tigste  tätigkeit  zu   halten,      dass   er  in   seiner  Jugend   mehr  mufse 

und  Inst  dazu  halte  als  später,  ist  nur  natürlich,  immerhin  kann, 
wer  so  verschiedene  Lätigkeilen  so  lebensvoll  zu  vereinigen  ver- 
stand, kein  unbedeutender  mensch  gewesen  sein. 

Ohne  das  gefilhl  eines  inneren  Zwiespaltes,  freilich  in  ganz 
anderer  richtung,  ist  auch  diese  unbekümmerte  nalur  nicht  ge- 
blieben, schon  den  55 jahrigen  mann  packt,  wie  die  schluss- 
partien  des  FD  (589,  19 — 591,  2,  ähnlich  auch  im  FB)  zeigen, 
die  reue  des  mittelalterlichen  menschen  über  sein  verfehltes 
weltliches  leben,  eine  folge  des  schroffen  dualistischen  supra- 
uaturalismus  der  kirche  l.  die  merkwürdigen  bekenntnisse  kliugen 
zu  überzeugend  in  ihrer  naivetat,  als  dass  sie  nur  für  litterarische 
bescheidenheitsphraseu  gellen  könnten,  er  spricht  von  den  mafs- 
losen,  die  alle  vier  guter  zusammen  haben  wollen,  yotes  hulde, 
ire,  gemach  und  yuot ,  und  damit  nur  das  fünfte  erwerben  — 
daz  versümte  leben  :  derselben  bin  ich  einer  gar.  und  er  klagl 
über  sein  schrankenlos  wünschendes  heiz,  er  halte  wol  recht 
sich  so  zu  beurteilen. 

Aber  er  setzt  auch  das  geständnis  hinzu: 

der  selbe  wdn  mich  triuget  noch, 
und  bin  dd  mit  geeffet  doch, 
er  fühlt,    dass    er   vom    höfischen    ideal    nicht    mehr    loskommen 
wird,     und  in  der  tat  ist  das  zwei  jähre  spater  gedichtete  Frauen- 
buch wider  voll  davon. 

Hier  fällt  uns  wüiklich  Don  Quichole  ein,  aber  als  widerspiel, 
nicht  als  analogou.  den  kastilischen  miuneriller  lässt  Cervantes 
vor  dem  tode,  nach  einer  schweren,  läuternden  krankheit,  die 
nichtigkeit  aller  ideale  einsehen,  denen  er  sein  leben  geweiht  hat. 

1  Freytag  hat  (aao.)  bei  seiner  entgegengesetzten  behauplung  diese 
confessionen  übersehen,  seine  lebendige  Charakteristik  (in  bd  i  u.  n)  wird 
Liehtenstein  überhaupt  nicht  ganz  gerecht,  wenn  sie  auch  längst  nicht  so 
einseitig  ist  wie  die  ganz  verunglückte  von  Gervinus  (Gesch.  d.  poet. 
nationalütt.8  i  342iTj.  —  zu  obigem  vgl.  i.  allg.  vEicken  Gesch.  u.  System 
der  mittelalterlichen  Weltanschauung,  jene  typischen  reuezustände  als  folgen 
des  von  ihm  so  consequent  dargestellten  dualismus  hat  vEicken  übersehen.  — 
Lichtensteins  weltliche  auffassung  der  kreuzfahrt  weist  er  s.  71011'  treffend  nach. 


122  BRECHT  ULRICH  VON  LICHTENSTEIN 

Der  vollkommenste  gegensatz  dazu  ist  Casanova,  der  be- 
rühmte frauenverehrer  des  ancien  regime,  in  rein  erotischer 
sphäre  vielleicht  der  vollkommenste  ausdruck  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  (1725  —  1798).  er  stirbt  als  der  der  er  gewesen. 
völlig  versteint,  verhöhnt  von  den  kindern  einer  von  grund  aus 
veränderten  weit. 

Zwischen  beiden  steht  Ulrich  von  Lichtenstein. 

INHALTSVERZEICHNIS. 

Einleitung 1 

Erstes  capitel  :  motive. 

i  Lieder  der  ersten  minne       2 

II  wdnwisen 13 

in  Lieder  der  zweiten  minne 16 

Gruppen  aufeinanderfolgender  lieder  :  xxxiv — xxxvn  s.  18.  lie- 
beslieder  sinnlicher  färbung  s.  22.  hoher  mwoMieder  s.  23. 
lieder  von  der  gefangenschaft  s.  25.  lieder  über  schaene  — 
giiete  s.  27.     sinnliche  lieder  s.  29. 

Ergebnis 31 

Zweites  capitel  :  composition. 

A.  Lieder  mit  gleichmäßiger  structur 34 

B.  Sich  steigernde  oder  zuspitzende  lieder 35 

C.  Lieder,  die  allgemeines  und  persönliches  zusammenstellen  .     .     36 

a.  Minnelehre  und  Ulrichs  persönliche  minne 37 

b.  Zustand   der  natur  oder  menschenweit  und  Ulrichs  persön- 
licher zustand 40 

D.  Symmetrisch  gebaute  lieder 41 

a.  Dreiteilige  lieder 42 

b.  Vierteilige  lieder 49 

c.  Fünfteilige  lieder 52 

E.  Episch-lyrische  lieder 58 

Ergebnis 60 

Drittes  capitel  :  Stil  des  poetischen  ausdrucks. 

Anapher 64 

Epipher 70 

Antithese 71 

Häufung,  synonyme,  asyndeton 72 

Breite 76 

Allitteration  und  assonanz 78 

Lebhaftigkeit  der  rede 79 

Voranstellung  u.  parenthese  s.  79.  ausruf  s.  81.  frage  s.  83. 
apostrophe  s.  85. 

Personification 91 

Bilder 92 

Ergebnis 95 

Viertes    capitel   :   Ulrichs    litterargeschichtliche    Stellung 
und  sein  dichterischer  character. 
Ulr.s  litterargeschichtl.  Stellung  s.  96,  Verhältnis  insbes.  zu  Reinmar 
s.  97,  zu  Walther  s.  102,  zu  andern  s.  107.     nachwürkung  s.  109. 
Charakteristik 109 

Göttingen,  im  sommer  1906.  WALTHER  BRECHT. 


TÜBINGEN  PARZIVALBRUCHSTUCK. 

i    EINLEITI  NG. 
Unser  bruchstück  füllt  ein  pergamenldoppelblatt.    die  höhe  des 

Itlatles  ist  23'/„  cm,   die   breite  I.V..  cm.     die  seile  ist  zweispaltig 
geschrieben  mit  regelmd/sig  40  abgesetzten  versen  in  der  spalte,    die 

verse  steh»  zwischen  linien.  je  in  der  linken  spulte  siml  die  ini- 
tialen durch  senkrechte  linien  von  den  folgenden  buchstaben  getrennt 
und  hiezu  etwas  abgerückt,  die  initialen  sind  rot  bei  ">7,  29; 
58,  27;  59,  27;  60,  27;  Gl,  29;  62,  29;  63,  27;  64,  27; 
65,  2'.»:  67,  5.  das  fragment  stammt  aus  dem  an  fang  des  \\  j'h.s, 
ist  gut  erhalten  und  deutlich  geschrieben,  es  war  eingehlebt  auf 
die  innenseite  des  hinteren  deckeis  einer  folioausgabe  der  Sermoues 
de  tempore  des  Jacobus  de  Voragine,  s.  I.  e.  a.,  vermutlich  aus  dem 
anfang  des  16  jh.s.  dort  wurde  es  von  stud.  Benz  aufgefunden 
und  sorgfältig  losgelöst,  der  decket  zeigt  noch  reichlichen  al>- 
klatsch.  der  foliant  gehurt  heute  der  bibliothek  des  k.  (kath.  theol.) 
Wilhelmsstifts  in  Tübingen  (Signatur :  Gb  676)  und  war  laut  ver- 
merk auf  dem  titelblatt  früher  im  besitz  des  Carmeliterklosters  in 
Heilbronn,  dessen  bibliothek  muss  einmal  recht  beträchtlich  gewesen 
stin  (s.  Phil.  With.  Gerekens  reisen  durch  Schwaben,  178'!,  i  31). 
ihre  bände  sind  an  mächtigen  schwarz  umrandeten  initialen  auf  dem 
rücken  kenntlich,  teile  der  bibliothek  sind  heute  der  k.  landes- 
bibliothek  in  Stuttgart,  der  Universitätsbibliothek  und  der  bibliothek 
des  Wilhelmsstifts  in  Tübingen  einverleibt,  in  keinem  der  dort 
befindlichen  bände  war  aber  ein  weiteres  stück  unserer  Handschrift 
aufzufinden,  die  blätler  gehören  auch  mit  keinem  der  in  Martins 
ausgäbe   beschriebene)!  bruchstücke  zusammen. 

Da  der  lext  von  einer  hälfte  des  doppelblatts  zur  anderen  fort- 
läuft, so  war  dieses  das  innerste  einer  läge,  waren  die  voraus- 
gehnden  blätler  in  gleicher  iceise  beschrieben,  so  verteilten  sich  die 
vorausgehenden  1684  verse  auf  10  blau  (1600  v.)  -f-  1  volle 
seile  (80  v.)  -4-  1  seile  mit  4  versen,  also  1 1  blatt.  zusammen 
mit  dem  ersten  blatt  des  bruchslücks  ergeben  sich  12  blatt ,  die 
läge  enthielt  somit  8  blatt  =  4  doppelblatt. 

Zur  Orthographie  und  lau  tlehre. 

1)  Zum  rocalismus.    ii  ist  als  a  geschrieben :  harmin  64.29, 

massenie  65,  13  gegen  e  in  hermen  59,  8,    mernere  58,  24.    — 

se  erscheint  durchweg  als  e  :  were  58,  19,   queme   61,  21,  swere 

62,  13,     mere    60,  18.    62,  14   usw.    —    statt   ie   mehrfach  i  : 


124  BOHNENBERGER  UND  BENZ 

iglich  59,  7;  61,  25;  04,  30,  banir  :  fir  59,  7,  wi  59,  21, 
idoch  03,  7,  tloytiren  63,  8,  schire  03,  30,  lichten  04,  4,  tyr  : 
soldir  64,  19,  licht  64,  29,  lichte  65,  14.  umgekehrt  ie  vereinzelt 
für  j,  I :  geziembret  65,  1,  Hardiez  :  fliez  65,  5.  —  statt  üu  regel- 
mäßig oi  :  toifeo  57,  7,  froide  57,  10,  soymer  60,  4;  Gl,  14. 
hierzu  auch  hoibz  03,  22,  zoiber  00,  4.  —  ou  erscheint  als  ou, 
ü,  o  —  uo  ist  in  der  regel  als  ü  oder  mit  weglassung  des  über- 
geschriebenen Zeichens  als  u  geschrieben,  letztere  Schreibung  überwigt 
beträchtlich  (58,  6.  11.  12.  15.  16.  21;  59,  30;  61,  2.  9. 14.  20  usw.). 
umgekehrt  mehrmals  ü  für  u  :  wünders  57,  17,  kümt  02,  26,  Ga- 
uiüret  64,  15,  je  1  mal  üe  und  o  für  uo  :  mtiemen  64,  22,  armote 
62,  24.  ob  beeinßussung  der  ausspräche  durch  den  benachbarten 
nasal  oder  nur  nachlässige  Schreibung  vorligt,  ist  nicht  zu  ent- 
scheidend   üe  als  ue  (64,  27.  28;  66,  14)  häufiger  als  u  (63,  23; 

64,  15.  25;  65,  28;  66,  22),  dafür  ü  :  snüre  61,  17.  —  iu,  alter 
diphthong,  meist  als  iu  (liuteu  59,  17  usw.) ;  u  (du  57,  19,  uch 
59,  26).     auch   der  timlaut   von  ü   einmal  als  u  :  truden  59,  18. 

—  ei  aus  egi  Amol:  geiu  66,  12.  13,  seile  58,  20;  62,  17  {aber 
sagete  02,15;  64,1;  60,21,  legete  63,13.  vgl.  dazu  Zwierzina 
Zs.  44,  355). 

Totale  der  nebensilben,  synhope  und  apokope.  die 
ursprünglichen  Verhältnisse  sind  vielfach  durch  Umbildungen  aus  ana- 
logie  gestört,  darüber  nachher  bei  der  declination.  vortoniges  e  ist 
unterdrückt  in  glich  60,13,  bleip  64,17.  im  verbum  ist  die  apokope 
bewahrt  in  verkur  :  verlur  58,  9,  synkope  in  geuarn  61,  28,  gegen 
gerent  :  werent  67,  3.  fälschlich  steht  e  in  trüge  58,  21.  neben 
ec  erscheint  vielfach  ic,   vorhersehend  in  manic  (manegen  60,  12; 

65,  29),  dagegen  öfter  kuuec  als  kunic  und  durchweg  kunegin. 
adjeelivisches  en  <  in  :  sideu  58,  5,  hermeu  59,  8  gegen  barmio 
64,29.  im  Substantiv  nur  1  mal  kunegeo  61,29  gegen  Amal 
kunegin  57,  19;  60,  9;  62,  25;  64,  12  und  dazu  kuueginue  61,  3; 
67,  10,  kuneginnen  04,  5.  —  vortoniges  i  in  inein  57,  17  und 
irkande  58,  28,  sonst  :  ubir  03,  6,  zobil  63,  24.  an  sonstigen 
vocalen  a  in  btrival  63,  15  und  mit  neuer  anlehnung  an  mau 
nieman  62,  2.    statt  agelsler  wie  auch  anderwärts  ageleisler  57,  27. 

—  mit  ze  wechselt  zu. 

2)  Zum  consonantismus.    t  und  d  sind  in  der  mehrheit 

der  fälle  richtig  geschieden,  aber  auch  mehrfach  verwechselt  :  turtel- 

[r  der  g rund  ist  die  graphische  Jiachbarschaft  eines  nasals!   Seh.] 


TÜBINGER   PARZIVALBRÜCHSTÜI  K 

dube  57,  11,  dateo  58,  4;  60,  23;  61,  7:  irudeü  5'.).  18,  beiden 
05,  20,    dochter  66,  9,    lach  60,  0.    i«./  03,  3,  ton  03.  7.  legen 

63,  13;  04,7;  lach  63,22.  —  I'.  pf,  g,  k  sind  im  «miaut 
und  infaiit  nach  ostfrdnkischer  weise  behandelt,  im  auslaut  ist 
forlis  regel.  «loch  erscheinen  einige  l>  statt  p  ■.  lil»  57,  5;  63,  19; 
65,  3,  gab  63,  24,  wib  00,  8.  unter  <lm  consonantengruppen  wird 
ulirl.  Il  nh  ll  geschrieben,  nt  meist  als  ml,  nur  mantel  63,  23  und 
bei  ursprünglich  doppeltem  i  gante  59,20,  sanier  05,  11.  —  mbr 
aus  mr  :  geziembrel   65,  1.  —  h  zwischen  vocalen  :  frühe  66,  22. 

Zu  den   namen  und  fremd  Wörtern. 

Gabmurel  regelmä/sig  ohne  h  :  Gamuret.  Belacane  mit  ch  -. 
Belachane  58,  S;  Gl,  12.  Brabanl  mit  p  und  u  :  Prauanl  07,  23. 
ili  in  Pathelamunt  04,  17,  Cilhegast  07,  15.  —  au  in  paulun 
regelmdfsig  (59,  25;  02,  18;  05,  10).  —  oi,  oy  in  Logroys  : 
Ponturtoys  07,  15,  tournoy  00,  11,  kurloys  :  franzoys  02,  3, 
avoy  02,  18;  05,  2,  Qoytiren  03,  8.  —  weiter  notier  ich  Fereßez 
57.22,  Kauoleis  59,24,  Razaliges  64,  10,  Britun  05,29,  Nor- 
man 05,  12,  Gawen  66,  15.  in  zost  für  tjost  (57.  24;  05,9) 
könnte  z  für  li  lese/eitler  sein,  es  ist  aber  wahrscheinlicher,  dass 
/n>t   den   anderwärts  belegten  formen   schust,    tsebusehl   entspricht. 

Zur  flexion  sie  Inc. 

Substantiv,  im  nominaliv  des  Singulars  ist  <•  hinter  nach- 
tonigem er  stets  entfernt  (ritter  03,  28;  04,  18.  21  ;  07,  5)  außer 
in  der  correclur  ritlere  05,  24.  neben  herre  59,  29;  63,  11  ein- 
mal her  00,  1.  —  dative  ohne  e  zu  ebensolchen  nominativen  auch 
nach  haupltoniger  silbe  verschiedener  Quantität  beliebigen  auslaut s  : 
got  57,17,  plan  (ace.)  :  wao  (dat.)  59,  20,  Gamuret  04,15, 
iar  :  uorwar  60.  7,  lor  00,  29,  auch  bei  6-stamm  !»et  (:  Gamuret) 

64,  10  gegen  mernere  58,24.  —  genetiv  mit  e  :  speres  59,  12, 
aber  hinter  nachtonigem  er  ohne  e  :  ritters  00,  23;  06,  21,  wumlers 
57,  17,  wazzers  00,  28,  sonst  hoibz  03,  22.  —  im  plural  für 
nominativ  und  aecusativ  hinter  nachtonigem  er  formen  ohne  e  die 
regel  :  anker  59,  S  (acc),  soymer  00,  4  (acc),  61,  14  (nom.),  ritter 
05,27  (nom.),  entsprechend  striual  63,  15  (acc),  aber  mit  e  videlere 
03.  12  (nom.).  genetiv  rilter  05,  28,  dativ  ven Stern  01,  4  und 
unmittelbar  hinter  dem  ton  spern  00,  8  gegen  speren  59,  5;  Gl,  24. 
00,  24.  —  bei  den  femininen  \-st.  die  genetiv-,  dativ-  und  aecusativ- 
formen  zt.  vermengt,  genetiv  mit  e:  botschefte  58,  19;  dativ  mit  e: 
rilterschefte  57,  13;  06,  10,  bende  57,  24,  sigenunfte  58,  2  usw., 


126  BOHNENBERGEB  UND  BENZ 

aber  auch  rilterscbaft  59,  1,  flust  60,  21,  hant  60,  14,  craft 
67,  4  wie  bat  :  slat  (dat.)  60,  2;  67,  9.  accusaliv  mit  e  :  ritter- 
schei'ie  66,  17.  bei  den  femininen  auf  in  :  inne  erscheint  als  nomi- 
nativ  des  Singulars  aufserhalb  des  reims  einmal  kunegiune  67,  10 
wie  kuneginne  :  inne  61,  3,  dreimal  in  :  kunegin  57,  19;  60,  9, 
kunegin:  wirtin  64,12  wie  kunegin  :  drin  62,25.  ebenso  wechselnd 
daliv  kune^innen  64,  5  und  kunegen  61,  29.  zu  frouwe  vor  dem 
eigennamen  als  accusativ  virn  58,  8. 

Pronomen,  diu  ist  in  der  mehrheit  der  fälle  bewahrt,  mehr- 
fach dafür  auch  die  (58,  16;  64,  9  als  nom.  s.  fem.,  67,  5  als 
neutr.  pl.).  sie  stets  in  dieser  form,  nie  siu  oder  si.  —  ir  ist  als 
possessivum  ßectiert  in  im,  acc.  s.  62,  27.  e?  und  es  sind  mehr- 
fach verwechselt  (59,  7.  26;  60,  14.  19;  64,  1;  65,  4;  67,  3). 

Adjectiv.  die  endung  -iu  ist  überall  durch  -e  ersetzt.  — 
Zahlwörter  :  zwo  58,  13,  zwene  63,  5,  zwei  als  masc.  63,  15, 
drie  59,  8  gegen  dri  64,  29. 

Verbum.  1  phir.  vor  pronomen  -e  :  ensule  wir  63, 10,  heize 
wir  66,  27.  —  3  pl.  ind.  praes.  vorhersehend  -ent,  vereinzelt  -en  : 
jenen  62,  11.  zu  komen  praeter  Hol  formen  ausschlief slich  mit  qu  : 
quam  61,  28,  queme  (conj.  praet.)  61,  21.  im  ablaut  u  statt  o 
unvergulten  61,  10.  —  regelmäßig  -ond  statt  -und  in  konde 
(59,19),  begonde  (61,6;  62,29;  64,2).  zu  hän  ind.  praet. 
baten  61,  8  gegen  hete  57,  12;  58,  8;  59,  7  usw.,  zu  wellen, 
3  pl.  ind.  praes.  wollent  66,  28. 

W ort  formen. 

selih  60,  20;  63,  29  —  nit  durchweg  —  oft  do  für  da,  auch 
swo  60,  13. 

Die  heimat  des   bruchstücks. 

Dem  bruchstück  fehlen  alle  oberdeutschen  merkmale.  es  enthält 
auch  keine  ausgesprochen  rheinfränkische  form,  die  Verwechslung 
von  t  und  d  geht  nicht  über  das  im  ost fränkischen  des  14  jh.s 
übliche  mafs  hinaus,  zum  ostfränkischen  und  südlichen 
thüringischen  stimmt  auch  der  übrige  lautbestand  und  die  be- 
handlung  der  flexion.  bemerkenswert  ist  nur  oi  <  öu.  ich  kann 
dies  aus  dem  Hennebergischen  urkundenbuch  und  den  Thüringischen 
geschichtsquellen  fürs  14  jh.  nachweisen,  so  koyfen  1357  (Abt 
vBreitungen  Henn.  ÜB.  m  10),  vorkoyfen,  widerkoyfen  1357  (Herr 
vBreitungen  Henn.  ÜB.  m  8),  verkoifTen,  vorkoitTeu  (mehrmals), 
gekoyft  1352.  1362  (Arnstadt  Thür.  geschichtsquellen  iv  156.  163). 


TÜBINGER  PARZ1VALBRUCHSTÜCK  12/ 

Ahst  ii  in  in  im  ij   und  tex  lij  est  alt. 

Der  texi  gehörl  zur  reich  vertretenen  tippe  (1.  bei  dem  ttand 
unserer  ausgaben  ist  aber  weder  die  Stellung  des  bruchstücks  um 
halb  der  sippe  zu  erweisen  noch  über  die  Herkunft  und  die  Ver- 
wendung der  einzelnen  lesarten  befriedigendes  zu  sagen,  ich  ver- 
zichte darauf  die  Variantenliste,  die  ich  schon  hergestellt  halte,  neben 
dem  text  des  bruchstücks  selbst  auch  nach  ausdrücklich  zum  abdruck 
zu  bringen. 

Tübingen.  K.  BOHNENBERGER. 

ii  TEXT. 

1  seile,    1  spalte. 

.">7,  5  Immer  (wiegen  minen  lib. 

Si nein  gote  ze  eren  sprach  daz  wip 

Gerne  ich  mich  loifen  solle 

Vn  leben   swie  er  wolte. 

Der  iamer  ^ap  ir  herzen  wie 
10  Ir  fluide  uant  den  dürren  /wie 

Alse  noch  die  turteldube  im 

Sie  hete  hie  den  seilten  müt 

Swenne  ir  an  ritterschefte  gebrast 

lr  triwe  kos  den   dunen   ast, 
15  Div   frowe  an  rechter  zit  genas 

Eines  sunes  der  zweier  uarwe'  was. 

An  dem  got  wünders  wart  in  ein 

Wiz  vh  swarz  an   uarwe  er  schein. 

Du  kunegin  kuste  in  suuder  twal 
20  Vil  dicke  an  sine  hlauke  mal. 

Div  müter  hiez  ir  kindelin 

Ferefiez  Anscheuin. 

Der  wart  eiu  walt  swende 

Die  zost  zu  siner  hende 
25  Vil  manic  sper  zehrachen 

Die  schilte  durkel  stachen. 

Als  ein  Ageleisler  wart  geuar 

Sin  har  vu  ouch  sin  uel  vil  gar. 

Nv  was  ez  ouch  über  des  iares  eil 

Daz  Gamuret  gepriset  uil 
58,  1   Was  uon  den  uon  zazamauc 


128  BOHNENBERGER  UND  BENZ 

Sin  haut  ze  sigenunfte  ranc. 

Dannoch  swebeter  uf  dem  se 

Die  snellen  winde  im  daten  we 
5  Einen  siden  segel  sacb  er  roten 

Den  truc  ein  kocke.     vn  boten 

Die  uon  schotten  (Tridebrant 

Virn  Belachanen  hete  gesant. 

Er  bat  sie  daz  sie  nf  in  verkur 
10  Swie  er  den  mac  durch  sie  verlur 

Daz  sie  uon  im  gesuchet  was. 

Do  fürten  sie  den  Adamas 

Ein  swert.  einen  halsperc.  zwo  hosen. 

Hie  muget  ir  groz  wunder  losen 
1  s.,  2  sp.  15  Daz  im  der  kocke  widerfur. 

Als  mir  die  Auentivre  swur 

Sie  gabens  im  do  lop  vn  er. 

Sin  munt  der  botschefte  wer 

Were  er  so  wider  komen  zu  ir. 
20  Sie  schieden  sich  :  man  seite  mir 

Daz  mer  trüge  in  in  eine  habe 

Zu  Sibilien  kerte  er  abe. 

Mit  golde  galt  der  kuene  man 

Sinem  mernere  san 
25  Vil  harte  wol  sin  arbeit 

Sie  schieden  sich  daz  was  dem  leit. 

Zv  Spanie  in  dem  lande  [n  buch] 

Den  kunec  er  irkande 

Daz  was  sin  neue  kaylet 

Nach  dem  kerter  zu  Dolet. 
59,  1  Der  was  nach  ritterschaft  geuarn 

Do  man  nit  schilte  dorfte  sparn. 

Do  hiez  ouch  er  bereiten  sich 

Sus  weret  div  auentivre  mich 
5  Mit  speren  wol   genialen. 

Von  gfuenen  zindalen 

Igliches  hete  ein  banir 

Drie  hermen  anker  so  fir 

Daz  man  ir  iach  vor  riche[rt] 
10  Sie  waren  lanc  vn  breit 


TÜBINGER  PARZIVALBRÜCHSTOCK  120 

Vn  reichten  miste  uf  die  hanl 

So  in. ms  zu  Bperee  isen  baut 

[in  oidertalb  eine  spanne. 

Der  wart  dem  kuenen  manne 
15  Hundert  do  bereitet 

Vü   will  hin   nach  geleitet 

Von  siih's  neuen  livten. 

Eren  vn  truden 

Konden  sie  in  mil  werdekeit 
20  Daz  was  ir  herren  nit  zeleit. 

Er  streich  in  ich  enweiz  wi  lauge  nach 

Ynz  er  geste   herherge  sach 

In  dem  lande  zu  waleis. 

Di»  was  geslageo  uor  Kauoleis 
2  s.,  1  sp.  25  Manie  paulun   uf  den   |dan 

Ich  sages  uch  nit  uo[nJ  wan. 

Gehietet  ir  so  ist  ez  war 

Sin   volc  hiez  uf  halten   gar. 

Der  herre  saute  uor[h]iu   in 

Den  clugen  meister  knappen  sin. 
60,  1    Er  wolte  als  in  sin  her  bat 

Herberge  uemen  inder  stat 

Do  was  im  snelliche  gach 

Man  zoch  im  soymer  nach 
5  Sin  ouge  nirgen  hus  da  sach 

Schilte  waren  sin  ander  tach 

Vn  wende  alsam  behängen. 

Mit  spern  gar  vmbe  uangen 

Div  kunegin  uon  Waleys 
tO  Gesprochen  bete  zu  Kanuoleys 

Einen  turnoy  also  gezilt 

Des  manegen  zagen  noch  beuilt 

Swo  er  dem  glich  werben  siebt 

Von  siner  haut  ez  nit  geschieht. 
15  Sie  was  ein  maget  nit  ein  wip 

Div  bot  zwei  lant  vü  ir  lip 

Swer  den  pris  bezalte. 

.  .  .  mere  manigen  valte 

.  .  .  ders  ors  uf  den  samen. 
Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXWII.  9 


130  BENZ  UND  BOHNENBERGER 

20  Die  selich   gevelle  namen 

Der  schanz  ze  flust  wart  gesaget 
Des  pflagen  hekle  vnuerzaget 
Si  daten  ritters   eilen  scliin. 
Mit  hurteclicher  rabiu 

25  Wart  do  manic  ors  ersprenget 
Vn  swerte  vil  erclenget. 
Ein  schifbrucke  an  einen  plan 
Gienc  über   eines  wazzers  trän 
Mit  einem  tor  beslozzen 
Ein  knappe  vuuerdrozzen 
61,  1  Tet  ez  uf  als  im  ze  mute  was 
Do  über  stunt  der  palas 
Da  saz  div  kuneginne 
Zu  den  venstern  dar  inne 
2  s„  2  sp.    5  Mit  maniger  werden  frowen. 
Die  begonden  schoweu 
Waz  dise  knappen  daten. 
Sie  baten  sich  beraten 
Vii  slugen  uf  ein  gezelt 

10  Vmbe  vnuergulteu  minnen  gelt 
Wart  ez  ein  kunec  ane 
Des  twanc  in  Beiachane. 
Mit  arbeite  was  uf  geslagen 
Daz  drizec  soymer  musteu  tragen 

15  Ein  gezelt  das  erzeigete  ricbeit 
Do  was  der  plan  wol  so  breit 
Daz  sich  die  snüre  wol  stracten  dran. 
Gamuret  der  werde  man 
Die  selbe  zit  dort  vze  enbeiz 

20  Dar  nach  uil  sere  er  sich  fleiz 
Wie  er  houeliche  queme  geriten 
Des  enwart  do  langer  nit  gebiten. 
Sine  knappen  anden  stunden 
Ir  sper  zesamene  bunden 

25  Iglicher  fivnue  an  ein  bant 
Daz  sechste  furter  ander  hant 
Mit  einer  baniere 
Sus  quam  geuarn  der  fiere. 


TÜBINGER  PARZIVALBRUCHSTÜCK  131 

Von  «1er  kunegea  warl  vernomeo 
Wie  ein  gast  do  solte  komea 

62,  1  Vz  gar  uerrem  lande 

Den  oieman  erkande. 

Sin  uolc  daz  ist  kurtoys 

Beide  lieideD8ch  vfi  rranzoys. 
5  Etlicher  mac  ein  Anscheuin 

Mit  siner  spräche  vil  wol  sin. 

Ir  mut  ist  stolz  ir  wat  ist  dar 

Wol  gesniten  al  nur  war. 

Ich  was  sinen  knappen   bi 
in  Die  sint  non  missewende  fri. 

Vn  ielien  swer  habe  geruche 

Ob  der  ir  berren  suche 

Den  scheide  er  non  swere 

Von   in   Iragete  ich  der  mere 
3  "J.  1  gp.         Do  sageten  sie  mir  sunder  wanc 
16  Ez  were  der  kunic   nun  Zazamaoc 

Dise  mere  seite  ein  garznn. 

Auoy  welch  ein  paulun 

Iwer  crone  vli  iwer  lant 
20  Weren  d[er]fur  nit  balbez  pfant 

Du  solt  mir  ez  so  loben  nicht 

Min  munt  hin  wider  dir  des  gichU 

Ez  mac  wol  sin  eines  werden  man 

Der  nit  mit  armote  kan. 
25   Also  sprach  div  kunegin 

Owe  wanne  körnt  er  drin 

Irn  garzun  sie  des  fragen  bat. 

Houeliche  durch  die  stat 

Der  helt  begonde  treken 

Die  slafenden   wecken.  • 

63,  1   Vil  schilte  sach  er  schinen 

Die  hellen   businen 
Vor  im  mit  crache  gaben  toz. 
Von  würfen  vn  uon  siegen  groz 
5  Zwene  tamburre  gaben  schal 
Der  galm  nbir  al  die  stat  erhal. 
Der  ton   idoch  gemischet  wart 


132  BENZ  UND  BOHNENBERGER 

Mit  floytiren  uf  der  vart. 

Eine  reisen  sie  Miesen. 
10  Kv  ensule  wir  nit  Verliesen 

Wie  ir  herre  komen  si 

Dem  riten  videlere  bi. 

Do  legete  der  legen  wert 

Ein  beiu  für  sich  uf  daz  pfert 
15  Zwei  striual  über  bloze  bein. 

Sin  munt  als  ein  rubin  schein 

Vor  roete  als  ob  er  brunne 

Er  enwas  ze  dicke  noch  zedunne. 

Sin  üb  was  allentalben  clar 
20  Sieht  reitelechte  was  sin  har. 

Swaz  man  uor  dem  hüte  sach 

Daz  was  ein  tivr  hoibz  tach. 

Grüne  samit  was  der  mantel  sin 

Ein  zobil  da  uor  gab  swarzen  schin 
3  s.  2  sp.  25  Ober  einem  hemde  daz  was  blanc 

Von  schowen  wart  da  groz  gedranc. 

AI  dicke  do  gefragei    wart 

Wer  were  der  ritter  ane  bart. 

Er  fürte  al  selich  richeit 

Vil  schire  wart  daz  mere  breit. 
CA,  1   Si  sagetens  im  uor  vngelogen. 

Do  begonden  sie  über  die  bruke  zogen 

Ander  uolc  vrf  daz  sine. 

Von  dem  lichten  schine 
5  Der  uon  der  kuneginnen  schein 

Er  zucte  neben  sich  daz  bein 

Vfrichte  sich  der  tegen  wert. 

Rechte  alse  ein  uederspil  daz  gert. 

Die  herberge  duchte  in  gut 
10  Also  stunt  des  heldes  mut. 

Sie  dolle  ouch  wol   div  wirtin 

Von  waleis  div  kunegin. 

Nv  friesch  der  kunec  uon  Spanie 

Daz  uf  der  Lewe  plauie 
15  Stunt  ein  gezelt  daz  Gamüret 

Durch  des  kuneges  kazaliges  bet 


TÜBINGER  PARZ1VALBRUCUST0CK  133 

Bleip  iini  Patbelamunl 

I),i/.  ict  hu  ein   ritter  kunl. 

Do  lur  er  springende  als  eio  i >  r 
20  Vn  was  der  frowen  Boldir. 

Der  Belbe  rilter  aber  sprach 

Iwer  müemen  sud  ich  sach 

Kornea  als  er  was  fier. 

Ez  miii  hundert  baoier 
25  Zi   einem  6chilte  uf  grüne  uell 

Gestochen  für  sin  hoch  gezell 

Die  sint  ouch  alle  gruene 

Ouch  hat  der  hell  kuene 

Dri  barmin  anker  licht  gemal 

Vi    iglicheu  zimlal 
65,  l   Ist  geziembret  hie. 

Auoy  nu  sol  man  schoweo  wie 

Sin  lib  den  poynder  irrel 

Wie  fers  mit  hurte  wirrel 
1  s,    ;  5  Der  stolze  kunic  Hardiez 

Her  hat  mit  zorne  sinen  Qiez 

Nv  lauge  uaste  an  mich  gewant. 

Den  sol  hie  Gamuretes  bant 

Mit  siner  zu>ii    neigen. 
lo  .AI in  selde  ist  nit  der  ueigen. 

Sine  boten  santer  sau 

Do  Gatschier  der  Norman 

Mit  grozer  massenie  lac 

Vn  der  lichte  Killiriakac 
15  Die  waren  da  durch   sine  bet. 

Zem  paulune  sie  mit  Kaylet 

Füren  mit  geselleschnft 

Do  enpuengen  sie  durli  liebe  craft 

Den  weiden  kunic  uou  Zazamanc 
20  Sie  duchte  ein   beiden  gar  zelanc 

Daz  sie  in  e  nit  sahen 

Des  sie  mit  triwen  iahen. 

Do  fragete  er  sie  der  inere 

Wer  der  ritter(e) '   were. 
1  -e  später  angefügt. 


134  BENZ  UND  BOHNENBERGER 

25  Do  sprach  siner  mümen  kint 
Vz  uerrcn  landen  hie  sint 
Ritter  die  div  minne  iaget. 
Vil  kuuer  ritter  vnuerzaget. 
Sie1  hat  mauegeu  britUD 
Roys  Vterpandraguu. 

66,  1  Ein  mere  in  suchet  als  ein  dorn 

Daz  er  siü  wip  hat  nerlorn 

Div  Artuses  müler  was. 

Ein  pfaffe  der  zoiher  las 
5  Mit  dem  div  frowe  ist  hin  gewant 

Dem  ist  Artus  nach  gerant. 

Ez  ist  in  dem  dritten  iar 

Daz  er  sun  vü  wib  verlos  uorwar. 

Hie  ist  ouch  siner  dochter  man 
10  Der  wol  mit  ritterschefle  kan. 

Lot  uor  Norwege 

Gein  valscheit  der  trege 

Vn  der  snelle  gein  dem  prise. 

Der  kuene  helt  wise 
4  s.,  2  sp.  15  Hie  ist  ouch  Gawen  des  sun 

So  cranc.  daz  er  nit  mac  getuu 

Ritterschefte  deheine. 

Er  was  bi  mir  der  deine 

Vn  gicht  mochter  einen  schaft 
20  Zebrechen.  tröste  in  des  sin  craft 

Er  wurchte  gerne  ritters  tat. 

Vil  frühe  sin  ger  begunnen  hat. 

Hie  hat  der  kunic  Patrigalt 

Von  speren  einen  grozeu  walt 
25  Des  füre  ist  wider  den  ein  wint. 

Die  uon  Portigal  hie  sint 

Die  heize  wir  die  frechen 

Sie  wollent  durch  schilte  siechen. 

Sie2  hant  die  Prouenzale 

Schilte  wol  gemale. 

67,  1  Hie  sint  die  waleise 

1  jüngere  hand  setzt  auf  dem  rande  neben  dem  roten  S  mit  schwarzer 
tinte  bei  :  H  2  wie  bei  65,  2'J. 


II  ULM, Kl;   PARZlVALBRUCHSTl  CK  135 

Daz  sie  behabent  ir  reise 

Durch  den  poynder  >\\a  siz  gerenl 

Vod  der  craft  irlandes  sie  des  werent. 
5  Bie  ist  iii.iiiic  ritter  darcfa  die  \\i|» 

\u>  int  erkennen  mac  min  lip 

W.iii  die  ich  dir  benennet  han. 

Wir  ligeo  mit  warheil  sunder  wan 

Mil  grozen  fureu  in  der  stat 
10  Als  viis  div  kuneginne  bat. 

Ii  li  sage  dir  swer  zu  uelde  liget 

Die  unser  wer  vil  deine  wigel 

Der  werde  kunec  uon  Ascalun 

Vn  der  Freche  uon  Arragun. 
l ;.  Do  ist  Cilhegast  uon  Logroys 

Vn"  der  kunic  uon  Ponturtoys 

Der  heizet  Brandlidelin. 

Do  ist  der  kune  Lehelin 

Da   ist   Moidli  uon   liiani 
20  Der  bricbel  ms  abe  gebe  plant. 

Da  ligent  ul  dem  plaue 

Die  stolzen  Alimane 

Der  herzöge  uon  Prauant 

Der  ist  gestrichen  in  diz  lant. 
Tübingen.  JOS.  BENZ. 

EIN  WINSBEKE-FRAGMENT 

DER  UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK  MÜNSTER. 

Als  wir  im  herbst  d.  j.  mit  der  münsterischen  Universitäts- 
bibliothek in  ein  neues  heim  übersiedelten,  kam  beim  transport 
ausgeschiedener  dubletten  ganz  durch  zufall  ein  alter  quartband 
aus  dem  kluster  W'edinghausen  bei  Arnsberg  in  meine  hände,  gegen 
dessen  vorderdeckel  ein  pergamentblatl  mit  mittelhochdeutschen  versen 
geklebt  icar,  in  denen  ich  an  dem  beginne  sämtlicher  vorliegenden 
Strophen  mit  dem  worte  Suu  auf  den  ersten  blick  ein  fragment 
des  Winsbeken  erkannte,  der  band  selbst  enthält  eine  beliebte 
klosterhclüre,  Jakob  Others  lateinische  ausgäbe  von  Geiler  von 
Kaisersbergs  predigten  über  Sebastian  Brants  JS'arrenschiff  (Navicula 
sive  speculum  fatuomm  Johannis  Geyler  Keysersbergii.  Argentorati 


136  BÖMER 

1511).     auf  dem  oberen  rande  des  titelblaüs  steht  von  alter,  gleich- 
zeitiger   hand    geschrieben:    Liber   Monasterii    Wediochusen.     das 
21  cm   lange   und   14'/2C»t    breite  per gament stück  ist  ein  ausein- 
ander   gefaltetes   octavdoppelblalt ,    von    dessen    zweitem    teile  fast 
die  hälfte   in  senkrechter  richlung  abgeschnitten  ist.     ich  habe  das 
fragment   sorgfältig  vom   decket  abgelöst,   gründlich   gereinigt  und 
mit   gallustinctur  behandelt,    so  dass   die   abgeblasste  schrift  wider 
durchgängig  lesbar  geworden  ist.    die  ränder  der  blätter  sind  stark 
beschnitten,  doch  ist  der  text  hier  unversehrt  geblieben,     die  grö/se 
des  ersten   vollständigen  octavblatts,  wie  es  vorligt,  beträgt  l43/.i: 
13  cm,  die  des  schrift feldes  133/4  :   10 cm;  die  grö'fse  des  zweiten, 
defecten  143/4  :  lil2cm,   die  des  schrift  feldes  133/4  :  6V2  cm.    jede 
seite   weist  28  Zeilen  auf.     die  nicht   besonders  sorgfältige,  kleine 
aber  kräftige  cursivschrift  gehört  der  1  hälfte  des  14  Jahrhunderts 
an.     die   verse  sind  nicht  abgesetzt,    aber  in  üblicher  weise  durch 
puncte   getrennt,     die  anfange   der   Strophen  sind  durch  ein  rotes 
paragraphenzeichen  kenntlich   gemacht,   ihr  erster  buchstabe   zeigt 
strichelung.    von  abkürzungen  hat  der  Schreiber  spärlichen  gebrauch 
gemacht;  sie  beschränken  sich  auf  den  strich  über  einzelnen  bnch- 
staben,    ein   häkchen   für  er  und  hohes  t  für   et.     das   i    hat   in 
gewissen  Verbindungen,  die  es  nötig  erscheinen  liefsen,  einen  strich 
erhalten,    blatt  1  beginnt  mit   dem  9  verse  der  2  Strophe  und  endet 
im  3  verse  der  14  Strophe  des  Hauptschen  textes.    die  Vorderseite  hat 
2  verse  -j-  4   ganze  Strophen  {von  10  versen)  -\-  6  verse,  die  rück- 
seite  4  vv.  -\-  4  strr.  +  2^2  vv.      bl.  n   hebt  an  mit  dem  4  verse 
der    33  Strophe   und    schliefst    mit    dem  6   verse    der  49  Strophe. 
auf  der  vorderen  seite  stehn  hier  7  vv.  +  3  strr.  -f-  8V2  vv.,  auf 
der  hinteren  1 1/i  vv.  -f-  4  strr.  -(-  6  vv.    zu  der  textbestimmung  des 
fragments  muss  bemerkt  werden,  dass  die  Strophenfolge  der  münste- 
rischen handschrift,  die  ich  fortan  mit  M  bezeichne,  von  der  aller 
anderen  hss.  wesentlich  abxceicht,   und   die  stücke,  welche  zwischen 
den    angegebenen   anfangen  und  Schlüssen   der  beiden  textpartieen 
stehen ,   sich  keineswegs  mit  denen  der   gewöhnlichen  Überlieferung 
decken,     es  darf  angenommen  werden,  dass  die  lücke  zwischen  den 
beiden    teilen  des   fragments  19 — 20   Strophen  betragen  hat.     für 
diese  zahl  spricht  auch  der  umstand,  dass  rund  20  Strophen  gerade 
ein  doppelblatt  gefüllt  hätten,     da  das  fragment  mit  dem  9  verse 
der   2    Strophe    beginnt,   also   vorne   nur   1    Strophe  und   8  verse 
fehlen,    muss   das    gedieht   auf   der    rückseite   des    vorhergehenden 


EIN   WINSBEKE-FRAGMEN1  137 

blattes  ziemlich  unten  angefangen  haben  M  ist  demnach  wol,  wie 
die  übrigen  Handschriften  in  denen  der  Winsbekt  Überliefert  ist, 
eine  tammeJhandschrift  gewesen. 

Die  oberdeutsche  spräche  des  Originals  ist  in  M  ins  mitteldeutsche 

übertragen,  das  md.  charakterisiert  sich  durch  die  Vorliebe  /ür 
o  gegen  u  (do  statt  du,  im,  holden  Logen l),  durch  die  abneigung 
gegen  uo  für  u,   her  statt  er,  iz   statt  ez,  das   mehrfach   fehlend* 

aushiut  - 1,  bot  a&n  '///er  </m/t/<  das  i  stall  e  in  den  endsilben 
(andir,   gutin,    vorcbtin,  lebist,    ^'otis,    recbür,    beydir,    scheydin 

usw.).  die  hochdeutsche  lautversehiebung  ist  durchgeführt,  wenn 
Arnsberg  auch  schon  dem  niederdeutschen  Sprachgebiet  augehörte,  so 
lag  es  doch  immerhin  in  dessen  südlichstem  teile,  nahe  der  hoch- 
deutschen grenze,  der  schreiber  von  M  konnte  das  md.  seiner  vor- 
läge entnommen  haben;  es  konnte  ihm  von  einem  frühem  aufenthaits- 
orte  her  geläufig  sein ;  er  mochte  geflissentlich  die  gebildetere  hoch- 
deutsche sprachform  wählen,  die  spräche  der  handchrift  würde  also 
eine  anfertigung  im  kloster  Wedinghausen  wol  nicht  direct  aus- 
seidie/'sen;  aber  wahrscheinlich  itt  sie  nicht  grade. 

Das  beste  kriterium  für  die  bestimmung  des  Verhältnisses 
zweier  hss.  zu  einander  bildet  bei  dem  Winsbeken  die  zahl  und 
anordnung  der  Strophen,  schon  nach  dieser  richtung  hin  steht  M 
völlig  selbständig  da.  ich  beschränke  mich  darauf,  zum  vergleich 
ihre  Strophenfolge  und  die  <les  Bauptschen  textes  nebeneinander 
zu  stellen,  wobei  ich  annehme,  dass  die  Strophe,  in  welcher  unser 
fragment  beginnt,  auch  würklich  die  zweite  der  hs.  gewesen  ist. 
für  die  erste  Strophe  des  2  blattes  von  M  setz  ich  die  zahl  33  an, 
da  die  Strophe  bei  Haupt  diese  nummer  trägt,  die  wievielte  sie 
tatsächlich  gexcesen  ist,  lässt  sich  mit  Sicherheit  nicht  bestimmen, 
doch   dürfte  die  zahl  33  ziemlich  zutreffen. 

Blatt  i. 
M:     2  3  4  5  6  7  8     9  10  11   12 
Haupt:     2  4  3  5  6  7  S  11   12  13   14 

Blatt  n. 
M:  33  34  35  36  37  3S  39  40  41  42 
Haupt:  33  42  43  27  45  46  47  48  51  49 
icir   sehen,    die   abweichungen    sind   sehr   beträchtlich,     auf  sei    de\ 
spätem  Gothaer  hs.  (g)  entfernt  sich  keine  der  andern  hss.1  so  weit 

1  in  betracht  kommen  die  bekarmten  liederhss.  ß  und  (',  die  Berliner 

^ibelungenhs.  I  und  die  h'olmnrer  liederstvnmlung  A. 


13S  BÖMER 

von  der  gewöhnlichen  Überlieferung,  oder  sagen  wir  genauer  von  B 
tmd  I,  die  in  diesem  puncte  bis  zur  58  Strophe  völlig  überein- 
stimmen, es  erhebt  sich  nun  die  frage,  worauf  sich  die  ab- 
weichungen  von  M  gründen,  versehen  des  Schreibers  scheinen  mir 
ausgeschlossen,  es  müssen  also  bewuste  änderungen  vorliegen. 

Besonders  bemerkenswert  scheint  mir  die  auslassung  der  Strophen 
9  und  10  in  M.  sie  fehlen  in  keiner  anderen  hs.  in  BCIK 
stehn  sie  an  derselben  stelle,  nur  in  g  sind  sie,  getrennt  von  ein- 
ander, viel  weiter  unten  eingereiht,  mit  der  8  Strophe  beginnen 
die  auf  den  frauendienst  bezüglichen  mahnungen  :  ivem  Gott  ein 
weih  gegeben,  der  soll  ihr  allzeit  in  treuen  anhängen.  Strophe  11 
verallgemeinert  den  frauendienst  :  nicht  nur  sein  ehliches  weib. 
sondern  alle  guten  frauen  soll  man  ehren  und  lieben,  sie  sind  die 
engel  der  erde,  die  Gott  zugleich  mit  denen  des  himmels  geschaffen, 
dazwischen  stehn  in  Strophe  9  und  10  mahnungen,  keinen  ver- 
ständnislosen in  das  liebesgeheimnis  einzuweihen,  sich  vom  weine 
nicht  übermannen  zu  lassen,  nichts  auf  die  Schwätzer  zu  geben, 
keinem  beim  erzählen  in  die  rede  zu  fallen,  sich  der  bekümmerten 
zu  erbarmen  und  endlich  sich  allen  frauen  gegenüber  schöner  reden 
zu  beßeifsigen  :  denn  möge  auch  einmal  eine  weniger  wolgeartete 
darunter  sein,  so  stünden  ihr  tausend  tugendsame  gegenüber,  welche 
bedenken  können  die  auslassung  veranlasst  haben?  wider  drängt  sich 
die  frage  auf,  ob  die  hs.  im  kloster  Wedinghausen ,  wo  sich  das 
fragment  befunden  hat,  geschrieben  und  hinterher,  als  das  interesse 
an  dem  stücke  geschwunden,  zerschnitten  und  zum  einbinden  neuer 
bücher  verwendet  sei1,  vor  einiger  zeit  hob  ich  bereits  in  einem 
gleichfalls  aus  Wedinghausen  stammenden  bände  das  bruchstück  einer 
deutschen  poetischen  Übersetzung  des  Boethius  aus  dem  anfang  des 
15  jh.s  gefunden,  sollten  die  manche  des  klosters  würklich  neben  der 
lateinischen  auch  die  heimische  dichtung  in  ehren  gehalten,  vielleicht 
gar  die  ihnen  zur  erziehung  anvertraute  Jugend  in  sie  eingeführt 
haben?  beim  Boethius  wird  uns  dieser  gedanke  nicht  schwer,  aber 
wird  im  kloster  auch  eine  statte  für  lehren  des  frauen-  und  ritter- 
dienstes  gewesen  sein?"1    das  in  der  zweiten  hälfte  des  12  jh.s  ge- 

1  gegen  den  hinter  decket  unseres  Landes  ist  ein  stück  eines  latei- 
nischen Schulbuchs  geklebt,   der  schluss  eines  '■Scriptum  super  Aoianum'. 

2  in  dem  gedieht  'Des  Teufels  JSetz'  aus  der  1  hälfte  des  15  jh.s 
wird  klage  darüber  geführt,  dass  manche  geistlichen  in  den  alten  deut- 
schen mären  beschlage?ier  wären  als  in  den  episleln  und  evangelien,  und 


EIN  WINSBEKE-FRAGMENT  139 

gründete  kloster  Wedinghausen  vom  eine  niederlastung  de»  I 
monstratenserordens.  die  NorbertinermOnehe  haben  auch  der 
jugendbildumj  ihr  interesse  zugewant,  und  man  nimmt  an, 
dass  in  Wedinghausen  bereits  zu  anfang  des  14  jh.s  eine  ort 
von  höherer  schule  bestanden  hat  (Feaux  de  Lacroix  Geschichte 
Arnsberg»  \  lb'.)5]  8.1 1 1).  es  ist  eine  notiz  erhalten  :  'Karl  von  Alinck- 
bofen  aul  Laer  bei  Bfeuden  geboren  1314,  gestorben  132G  zu 
Arnsberg  auf  der  Schule.'  dieser  junge  adliche  wird  für  einen  Zög- 
ling des  klosters  Wedinghausen  gehalten,  wenn  die  manche  aber 
nicht  nur  geistliche  herangebildet  haben,  sondern  überhaupt  als  Jugend- 
erzielter  tatig  gewesen  sind,  könnte  vielleicht  bei  ihnen  ebensogut 
wie  auf  anderen  schulen  neben  lateinischen  silten-  und  anstands- 
lehren,  neben  dem  Calo  und  Schriften  dieser  art,  auch  ein  didak- 
tisches hochdeutsches  gedieht  wie  der  Winsbeke  in  revidierter  gestalt 
beim  Unterricht  verwendet  sein,  es  wäre  dann  nicht  unmöglich, 
dass  die  Strophen  9  und  lo  pädagogischen  bedenken  zum  opfer 
fiele)!,  etwa  wegen  der  mahnung  zum  geheimhalten  der  liebe, 
wer  freilich  so  engherzig  die  ihm  anvertraute  Jugend  gehütet  hätte, 
würde  wol  auch  noch  manche  andere  stelle  ausgemerzt  haben  die 
in  M  zu  lesen  ist,  ja  er  hätte  vielleicht  den  ganzen  frauendienst 
gestrichen,  da  obendrein  die  Herkunft  aus  Wedinghausen  sehr 
zwei/elha/t  und  eine  blofse  Umstellung  der  beiden  strr.  (wie  in  g) 
möglich  ist,  so  lässt  sich  eine  entscheidung  nicht  treffen. 

In  der  fassung  des  lextes  steh'  M  deutlich  der  gruppe  Clg 
nahe,  besonders  oft  der  hs.  g  (zb.  gleich  2,  9),  und  häufiger  stellt 
es  sich  zu  C  als  zu  I,  das  doch  9  (11),  8  allein  zu  M  stimmt, 
daneben  hat  M  aber  auch  ganz  ihm  eigne  Varianten  :  in  klein  ig  - 
keiten  weicht  es  auf  schritt  und  tritt  von  den  andeien  hss.  ab, 
34  (42),  8 — 10  sogar  3  ganze  verse  hindurch,  wo  es  freilich  nicht 
im  rechte  sein  wird,  wie  M  denn  besondere  Sorgfalt  nicht  verrät: 
Schreibfehler  und  metrische  härten  sind  häufig. 

Bei  der  grofsen  zahl  von  abweichenden  lesarlen  in  M  hielt 
ich  es  für  ratsam,  einen  vollständigen  abdruck  des  fragments  zu 
geben,  fehlerhafte  stellen  sind  nicht  berichtigt,  sondern  durch  ein 
ausrufungszeichen  gekennzeichnet,  doch  sind  lücken  des  lextes  auf 

dass  sie  solche  dinge  auf  der  schule  lernten  [vgl.  Mitteilungen  d. 
ges.  f.  deutsche  erz.  u.  schnlgesch.  16,  :i7ü  /*).  wo  aber  die  deutsche 
heldensa^v  ein  gegenständ  des  Unterrichts  war,  da  konnte  sehr  wol  auch 
ein  höfisches  gedieht  mit  den  schillern  vorgenommen  werden. 


140  BÖMER 

dem  1  blatte  (wo  sie  auf  einem  versehen  beruhen),  ebenso  nach  der 
Hauptschen  ausgäbe  ausgefüllt,  wie  auf  dem  2  defecten  blatte,  eckige 
klammern  und  cursiver  druck  heben  die  zufügungen  gegen  den 
text  von  M  ab.  beim  einsetzen  des  Hauptschen  textes  wurde  von 
dem  versuche,  den  Originaltext  dem  dialekte  von  M  anzupassen,  ab- 
gesehen. 35,  9.  10  ist  nach  I  ergänzt,  41,  7  nach  C,  da  dieses  hier 
mit  M  übereingestimmt  zu  haben  scheint,  wo  M  ganz  eigene  wege 
geht,  muste  ich  bei  den  fehlenden  stücken  von  bl.  ii  puncte  machen. 

Text  nach  .)/. 

[bl.  i']  2  (2). 

9  der  ir  noch  willen  volgen  wil, 
daz  ist  libes  unde  der  sele  tot. 

3  (4). 

Sun,  gip  im  der  dir  hat  gegeben 
und  an  der  gäbe  hat  gewalt  : 
her  gipt  noch  eyn  immerleben 
und  andir  gäbe  manicvalt, 
5  [me  danne  loubes  hat  der  walt.] 
wiltu  no  koufen  synen  hurt, 

in  sinen  hulden  dich  behalt 
unde  sende  gute  boten  vor, 
di  dir  durt  vahen  gulin  rum, 

er  daz  der  wirt  vorsla  di  dor. 

4  (3). 

Sun,  merke  wi  daz  kertzenliech, 
di  wile  is  brinnet,  is  swindet  gar  : 
no  gloube,  daz  dir  sam  geschit 
von  tage  tzu  tage  ;  ich  sage  dir  war. 
5  dez  nym  in  dinen  sinnen  war 
unde  richte  hi  din  leben  also, 

daz  durt  di  sele  wol  gevar. 
äwi  hoch  an  gute  wirt  din  nam, 
so  wirt  dir  nicht  wan  also  vil, 

eyn  linin  thuch  vor  dine  schäm. 

5  (5). 

Sun,  alle  wiseyt  ist  eyn  wicht, 
di  hertzen  sin  irtrachte  kan, 


EIN  WINSBEKE-FRAGMEN1  1  m 

bat  er  izu  gote  myone  nicht 
und  sihel  in  Dicht  mit  vorchtin  ao. 
is  sprach  hir  vor  eyn  wiser  man. 
daz  «Iure  werlde  wysheil  si 

vor  gut»'  eyn  torlieyt  Blinder  wan  : 
do  tzn  so  richte  « 1  i  11**11  sin, 
daz  do  in  einen  holdi-n  lebist, 

und   la   dich   aller  dinge   an   in. 

6  (6). 

Sun,  geyslich  leben  in  ere  habe  : 
daz  wirt  dir  gut  unde  ist  ein   sin. 
dez  willen  kume  durch  niman  abe, 
bieugen  tzu  diner  gruben  hin: 
5  is  wirt  an  Salden  din  gewin. 
enruche,  wi   di  phaffen  leben: 

do  salt  dini'ii  gote  an  in. 
sint  gut  ir  wort,  ir  werc  tzu  crump, 
so  volge  do  den  worte  nach, 

irn  werken  nicht,   oder  do  bist  tump. 

->   (7). 
Sun,  is  waz  ie  der  leyen  sete, 
daz  si  den  p hallen  trugen  haz  : 
do  suude  si  sit  sere  mitte, 
ich  kau  nicht  wiszen  umme  waz. 
5  ich  wil  dir  raten  verre  baz  : 
do  salt  im  [!]  holt  mit  trüben  sin 
[6/.  iv]  und  sprich  suu  schone,  tustu  daz, 

so  mac  din  eude  werde  gut 
unde  wirt  tzu  lone  dir  beschert 
gotis  licham  unde  siu  reynez  blut. 

8  (6). 
Sun,  so  dir  got  gefuget  eyn  wip 
noch  syme  lobe  tzu  rechtir  e, 
di  saltu  haben  als  dinen  lip, 
unde  fuges,  daz  is  also  ste, 
daz  uer  beydir  wille  irge 
itz  eyme  hertzen  unde  drin. 


142 


BÖMEH 

waz  wiltu  denne  wunne  nie, 
ob  tas  geschit  in  truer  phlege? 
sehet  abir  di  werre  iren  samen  dar, 

so  muzen  scheydin  sich  di  wege. 

9  (11). 
Sun,  wiltu  tziren  dinen  lip, 
so  daz  her  si  unvugen  gram, 
so  mynne  unde  ere  gute  wip  : 

ir  togent  uuz  ie  von  sorgen  nam. 
5  si  sint  eyn  wunnenbernder  stam, 
do  von  wir  alle  sint  geborn. 

her  hat  nicht  tzucht  noch  rechten  schäm, 
der  daz  nicht  irkennet  an  in, 
her  muz  der  thoren  eynir  sin, 

unde  helle  her  Salomonis  sin. 

10  (12). 

Sun,  si  sint  der  wunne  eyn  berndez  licht 
an  eren  unde  an  wirdekeit, 
der  werlde  vrouden  tzuvorsich  : 
ni  wiser  man  daz  widerstreit. 
5  ir  nam  der  eren  cronen  treit  : 
die  ist  gemezzin  unde  gewurcht 

mit  togenden  ho  wit  unde  breit, 
genada  got  an  unz  begie, 
do  her  im  eugele  durt  geschuf, 

daz  her  si  gap  vor  engil  hi. 

11  (13). 

Sun,  du  [mäht]  noch  nicht  wizzen  wol, 
waz  eren  anden  wiben  lit. 
ob  iz  dir  salde  vugen  sol, 
daz  do  gelebiz  di  liebe  tzit, 
5  daz  dir  ir  gute  vroude  gip, 
[so]  mac  dir  immer  baz  gesehen 

zu  dirre  werlde  sunder  strit. 
do  salt  in  holt  mit  truen  sin 
sprich  in  wol  :  tustu  dez  nicht, 

so  muz  ich  mich  getrosten  din. 


EIN  WINSBEKE-FRAGMENT  |  13 

12  (14). 
Sun  wiltn  artzedye  nemyn, 
ich  wil  dich  leren  eynin  tranc ; 
lezet  || 
["■   nr|  33  (33). 

der  mochte  deste  wera  d. 

5  d/ir  ist  der  visen  lop]  vortzigen, 
willu  izu  gahes  mutia  [sin] 

[an  allen  rat  und]  unvortzigen  [l 1 ; 
so  kumit  dir  gar  d[az  Sprichwort  icol.J 
[dazj  mutis  altzu  gaher  man 
vel   \[raegen  esel  riten  sol.] 

34  (42). 

Sun,  wilm  liebin  gut  gemach, 
[so  muost  du  eren  dich]  bewegin  : 
an  iungem  inaun/"e  ich  nie  gesachj 
[diu]  tzwey  in  glicbir  wagen  wegen. 
5  wa/a  tone  ein  junger]  liep  vorlegen 
der  ungemach  im,/;/  liden  kau) 

[noch]  sinneclich   noch  eren  Stegen  ? 

der  is 

waz  her  unvrouden  vor  im  sieht 

vrouden  hat  irkorn. 

35  (43). 

Sun,  \shi[est  daz  Verlegenheit] 
isl  gar  eym   jungen  man  eyn  slac. 
[ez  si  dir  offenlich  gejsait, 
daz  oimant  eren  haben  inac 
5  [noch  herzeliebe]  sundir  slac  [!] 
gar  ane  kummir  untle  [an  not.] 

[der  louch  gat]  so   nicht  in  dez  [!]  sac. 
der  sich  v<»r  seb [anden  wil  bevriden,] 
der  mac  geborgen   nicht  dem  h[bej 

[noch  dem  gut]  noch  den  liden 

36  (27). 

Sun,  merke  reßte,  wie  daz  rot] 
daz  isen  vulet  unde  den  stal  : 


144  I5ÜMER 

also  [tiiot  unbescheiden]  spot 
der  manues  hertzen  sundir  qua/7y. 
5  fez  ist  ein  sföl/denvluchtik  mal 
und  suchet  umme  [und  umbe  entwerj 

von  deine  tzu  deme  alz  eyn  swal. 
s[un,  da  solt  du  dich]  hüten  vor  : 
do  macht  nicht  samft/e  von  im  komenj 

ab  her  dich  brengit  in  sinen  spor. 

37  (45). 
[Sun,  beidiu  luoder]  uude  spil 
sint  libes  unde  der  sele  [ein  val,J 
[der  anej  mase  in  volgin  wil, 

si  machin  im  [breite  huoben]  smal. 
5  swer  lebit  an  ere  an  vrie/r  wal,[ 
[der  wirt]  der  werlde  schir  unwert 

unde  [huset  in  dem]  affeutal. 
der  also  vorlusit  sine  h[abe] 
/mit  disen  swachen  vuoren  zwei][bl.  ny]n 
der  lege  baz  in  eyme  grabe. 

38  (46). 

Sun,  swen  sin  sin  vejileylel  so, 
[daz  er  unrehte  im  selben  tuotj 
ist  her  bi  wysen  luten  [vro,] 
[da  sol  man  kieseja  toreu  [muojt. 
5  di  ruwe  ist  noch  der  [schulde  guot,] 
[ob  si  vo]ü  hertzen  rechte  verth. 

eyn  vole  uz  [einer  wilden  stuot] 
ende  uzgevangen  [!]  wirt  e  tzam, 
e  [daz  ein  ungeraten]  lip 

gewinne  eyn  herlze  daz  sich  schäm, 

39  (47). 

[Sun,  twinc  des  dineja  vrien  mut  [!], 
daz  do  tzu  huze  richtist  [dich.] 
[ein  teil  ich  wn/gereysic  bin; 
man  tut  uud  lazet  un[vil  durch  mich.] 
5  [dem]  armen  snide  unde  brich 
mit  willen  [diner  reinen  hab]e  : 


EIN  W1NSBEKE-FR  AG  MEIST  1  1:, 

ob  allen  raten  rate  daz  icb. 
iz  [ist  dir  guot   und  »/irl   oucb   nur  : 
ich  habe  in  eren  her  [geleitet;/ 

fze  husj  werfe  ich  den  slegil  dir. 

10  (48). 
[Sun,  ob  ich  ungerüejmel  wol 
und  .in  ungufuge  sprecbin  [mac,/ 
/mit  liebe  ich]  dich  bescheynde  /.'/  sol  : 
sint  ich   von  [erste  huses  phlajc, 
5  <la  von  ich   nacht  unrie  tac  [!]. 
[min  umbescezen  wizzjen  wol 

\\i  min  wert  in  eren  lac. 
[ich  hete  no/ch  vil  guten  mut 
und  willic  hertze,  [wan  daz  mir] 

daz  aldir  grozen  schaden   tut. 

41  (öl). 

[Sun,  husere  ist[  eyn  wirdekeyt, 
di  hi  den  hoeslen  [lugenden  vert;] 
[swer  si]  mit  schonen  siten  treit, 
wi   wol  [sich  der  in  eren]  nert. 
'■>  daz  gut   wirt  rnineclich  vorfzert,] 
[daz  niht  eiju  schade  gebeyszen  mac. 

und  lz\ve[n  from  sint  da] von  beschert, 
gotis  Ion,  der  werl/fe  habedanc:] 
[der  d]\  twey  wol  halden   kan, 

den  rieh  et  [wol  sin  ackerganc] 

42  (49). 

Sun,  swer  daz  huz  wol  habin  [teil,] 
[der  muoz  driu  di]nc  tzu  sture  han, 

milde  demut  true 

[i]sl  her  da  by  eyn  vrolich  man, 
5  der/s  wol  den  Hüten  biete]n  kan, 
so  tut  sin  brot  den  nemyndin  [wol] 

Münster  i.W.  A.  BÖMER. 

Z.  F.  D.  A.  XL1X.    N.  F.  XXXVII.  10 


EIN  ULFILAS-STEMPEL. 

Der  broncestempel,  den  unsere  figur  1  und  2  in  natürlicher 
gröfse  widergibt,  befindet  sich  im  besitze  des  herrn  ESchlum- 
berger,  membre  de  l'lnstitut  in  Paris,  wurde  von  ihm  in  der 
silzung  vom  17  juli  1878  der  Socißte  nationale  des  antiquaires 
de  France  vorgelegt  und  im  Bulletin  desselben  Jahres  s.  I82fmit 
einigen  bemerkungen  veröffentlicht,  er  neunt  ihn  'un  grand 
sceau  ou  cachet  .  .  en  bronce,  de  l'epoque  byzantine'  .  .  und  be- 
merkt über  die  inschrift  'La  legende  circulaire,  preced6e  d'une 
croix  initiale,  nous  donne  le  nom  du  proprieHaire  :  OYP0IAA, 
evidemment  pour  OYAcplAA,  Ulfila,  Ulfilas,  nom  goth'.  im 
übrigen  ist  das  denkmal  völlig   unbeachtet  geblieben,     da  es  für 


Fig.  1. 


■B 


die  germauisten  noch  ein  besonderes  interesse  hat,  wird  ein  er- 
neuter hinweis  darauf  in  einer  facbzeitschrift  am  platze  sein, 
nachdem  ich  durch  die  gute  des  herrn  Schlumberger  es  hier  in 
Strafsburg  selber  habe  untersuchen  können. 

Nach  einer  brieflichen  mitleilung  des  besilzers  hat  er  den 
Stempel  im  jähre  1875  von  einem  bändler  in  Korfu  erworben, 
woher  dieser  ihn  hatte,  ist  unbekannt,  über  die  echtheit  des 
Stückes  kann  kein  zweifei  sein,  mit  ausnähme  einer  ausge- 
sprungenen raudstelle  und  einiger  kleiner  Verletzungen  ist  es 
wolerhalten.  die  runde  platte  hat  einen  horizontaldurchmesser 
von  fast  84  mm.  und  ohne  den  nach  unten  übergreifenden 
rand  eine  dicke  von  3,5  mm.  um  den  rand  herum  sind  oben 
als  Verzierung  fünf  gröfsere  knöpfe  angebracht,  ein  sechster  wird 
an  der  ausgesprungenen  stelle  verloren  gegangen  sein,  zwischen 
dem  tiere  und  dem  rande  sind  etwa  in  der  höhe  der  beiue  vier 
kleine  concentrische  kreise    eingraviert,     als  handgriff  diente  ein 


HENNING   EIN   ULF1LAS-STEMPI  l 


1 1: 


vierfOfsiges  tier  mit  gestrecktem  leib,  bis  buI  den  boden  herab- 
hängendem schwänz  und  einem  köpf  mil  kurzen  emporslehnden 
ohren  und  langer  spitzer  schnauze,  durch  eine  Verletzung,  deren 
riss  im  nackeu  klafft,  kann  die  kopfsteliung  nur  unbedeutend 
verändert    sein,      der    schwänz     und     die    pföteo    bSngen    mit    der 

platte  zusammen,  während  die  schnauze  sie  knapp  berührt  nb- 
wol    in    der  ganzen  haltung  eine   gewisse    realistische  aufTassung 


I 


Fig.  2. 

nicht  zu  verkennen  ist,  lässt  sich  das  tier  doch  schwer  ideutiü- 
cieren.  die  auffallend  lange  spitze  schnauze  ist  in  jedem  falle 
übertrieben,  da  sie  hei  keinem  liere,  das  zur  vergleichung  heran- 
gezogen werden  kann,  so  vorkommt,  die  Stilisierungen  ägyp- 
tischer tiere  (etwa  des  ichueumons  oder  des  schakals)  lassen 
ähnliche  übertreihungen  zu.  bei  unserem  Stempel  erklärt  sie 
sich  besonders  leicht,  da  der  griff  dabei  auch  vorne  nach  dem 
boden  hin  eine  stütze  erhielt.  Schlumberger  nennt  das  tier  einen 
kleinen  hund,  und  wie  mir  von  zoologischer  seile  bemerkt  wird, 
soll  66  wol  auch    ein  canide  sein,    aber  kein  haushund,  sondern 

10* 


14S 


HENNING 


ein  wildes  tier,  uud  zwar  der  dicken  beine  etc.  halber  am  ehesten 
ein  junges,  diese  ansieht  wurde  mir  voo  dem  herrn  collegen 
sjeäufsert,  bevor  ich  ihm  den  auf  der  riiekseite  stehnden 
nameu  sagte,  so  könnte  wol  ein  wildhund  oder  ein  schakal 
(canis,  lupus  aureus)  gemeint  sein,  bei  dem  die  schnauze  'spitzer 
als  die  des  wolfes,  aber  stumpfer  als  die  des  fuchses'  ist  und 
dessen  schwänz  bis  zum  »ersengelenk  herabhängt  (Brehm  2,  s.  41), 


Fig.  3. 


vielleicht  auch  ein  fuchs,  da  der  besitzer  unseres  stempeis  aber 
'Wölfle'  hiefs,  wird  man  eher  noch  an  einen  ebensogut  mög- 
lichen jungen  wolf  zu  denken  geneigt  sein. 

Auf  der  rückseite  des  stempeis,  die  unsere  flg.  2  in  ihrer 
wirklichen  form,  flg.  3  im  Spiegelbild  widergibt,  stehn  die  er- 
habenen zeichen,  die  ebenso  wie  der  sie  umschliefsende  rand 
eine  höhe  von  etwa  4  mm  erreichen,  die  oberste  stelle  über 
dem  monogramm  nimmt  das  christliche  kreuz  ein.  rechts  neben 
demselben  beginnt,  nach  links  sich  fortsetzend,  die  zusammen- 
hängende schrift,  die  im  abdruck  (flg.  3)  also  rechtsläufig  heraus- 


EIN  ULFILAS-STEMPEL 

kam.  alle  bucbstabeu  sind  griechisch  und  babeo  die  normale 
Stellung,  auch  das  letzte  A  steh!  wo!  nur  etwas  schief,  wil 
erbalten  die  iweifellose  lesuog 

OYP0IAA 
OvQipt'/.a,  Urfila.  'die  buchslabenformen  gewähren',  wie  ben 
College  Keil,  der  mir  seine  rreundlicbe  Unterstützung  gewahrte, 
bemerkt,  'mit  ihrem  vulgärjungen  Charakter  keine  zeitlichen  an- 
haltspuncte.  die  buchstaben  stehen  bis  auf  das  letzte  zeichen 
richtig1,  zu  den  jüngeren,  der  cursive  näher  stehndcn  formen 
gehören  das  abgerundete  P  und  das  A. 

Die  lautgebung  Ovg<pt).a  für  Ov/.rpi'/.a  ist  gleichfalls  vulgär, 
aber  gerade  für  den  namen  des  Golenbischofs  bezeugt,  der 
Arianer  Philostorgius  ans  Kleinasien,  der  wichtigste  unter  den 
griechischen  herichterslallern,  schlich  um  440  nach  dem  auszugt 
des  f'hotios  Ovgrpi'/.ac,  ebenso  die  Acta  S.  ISicetae  Ovgq~>ilog. 
Luft  nennt  das  g  rätselhaft >,  aber  der  vulgärgriechische  Über- 
gang von  /.  zu  g  kommt  nicht  nur  als  dissimilalion ,  sondern 
auch  in  Beitreibungen  wie  ddegcpoi  für  dde'/.rpoi  schon  in  spät- 
griechischen inschriften  vor'2,  dem  namen  des  Golenbischofs 
scheint  die  entstelhmg  also  angehaftet  zu  haben,  und  es  ist  sehr 
merkwürdig,  dass  sie  auf  unserem  Stempel  gerade  so  widerkehrt, 
germanisch  ist  sie  nichl.  wenn  der  besitzer  des  Stempels  dein 
vulgärgriechischen  aber  einen  solchen  einlluss  gewährte,  so  ist 
kaum  anzunehmen,  dass  er  mit  Ovgcpi'/.a  trotzdem  die  ger- 
manische form  Wullila  widergebeu  wollte,  nachdem  man  sich 
neuerdings  fast  übereinstimmend  dahin  geeint  hat,  den  Goten- 
bischof Wullila  zu  nennen,  tritt  unser  Stempel  der  ältesten  Über- 
lieferung Ulfüa  wider  bestätigend  zur  seite.  ja,  es  fragt  sieb, 
ob  er  nicht  überhaupt  der  Stempel  des  Gotenbischofs  gewesen  ist. 

Unser  Stempelname  ist  sprachlich  gotisch  oder  wenigstens 
ostgermanisch.  Oigcpi/.a-lJlfila  hätte  die  reguläre  endung  des 
gotischen  nom.  singul.  da  aber  die  antiken  Stempelnamen  gewöhn- 
lich im  genetiv  stehn,  bemerkt  Keil  iOvgrpüä  ist  der  regel- 
mäfsige  genetiv  zu  Ovgrpi/.äg;  ergänzt  wird  orpgctyig  oder 
ornuior.  aber  auch  Ovgrpi/.äg  weist  auf  einen  gotischen  nomi- 
nativ  Ulfila,  nicht  auf  einen  deutschen  Wulfilo  zurück,  bezeugt 
ist  der  uame  aulser  für  den  Gotenbischof  nur  noch   für  den  feld- 

1  Zeitschrift  für  vergleichende  Sprachforschung  36,  357. 

2  Schulze  ebendort  33,  224  ff.  vgl.  B.  I22f. 


150  HENNING 

herrn  des  Honorius,  der  i.  j.  411  Arles  belagerte,  iü  der  form 
Ov/itpiXäg  (bei  Olympiodor,  Sociales,  Sozom.)  oder  Ulphula,  Ulfila 
(Prosper  Tir.  Chr.  min.  i  466,  Frigeridus  bei  Gregor  etc.).  dieser 
wird  niemals  OvQcpi).äg,  aber  auch  ebensowenig  wie  der  des 
bischofs  in  den  voritalischen  quellen  Wulfila  geschrieben,  natür- 
lich können  andere  ebenso  geheifsen  haben,  aber  ein  mann  von 
Stellung  und  ansehen  hat  einen  solchen  Stempel  wie  den  unsern 
sicher  geführt,  und  das  kreuz  weist  überdies  in  die  christliche 
Sphäre,  aus  der  es  seit  dem  zweiten  Jahrhundert  im  Orient  und 
etwas  später  auch  in  Europa  bezeugt  ist. 

Der  Stempel  als  solcher  gehört  nicht  zu  der  bekannten 
abendländischen,  sondern  zu  der  mehr  orientalischen  gattuug. 
Schlumberger  nennt  ihn,  worauf  ja  auch  die  griechische  schrift 
deutet,  byzantinisch,  seinem  ganzen  habitus  nach  wird  man  ihn 
kaum  für  älter  als  das  vierte  Jahrhundert  halten,  aber  die  byzan- 
tinischen Stempel  sind  noch  wenig  beachtet  und  nicht  unter- 
sucht, die  mir  bekannt  gewordenen  bieten  für  den  unseren  hin- 
reichende analogien.  sie  sind  im  allgemeinen  ziemlich  grofs, 
rund  oder  länglich,  gewöhnlich  mit  einfachem  länglichen  griff 
und  erhabenen  oder  vertieften  buchstaben.  das  Kaiser-Friedrich- 
museum besitzt,  wie  ich  höre,  einen  solchen  mit  der  durch 
zwei  kreuze  getrennten,  am  rande  herumlaufenden  erhabenen 
inschrift  KYPlOY-f  KAPllOI  +  und  einem  mittleren  monogramm. 
einen  anderen  broncestempel  in  sohlenlorm  mit  den  erhöhteu 
namensbuchstaben  (pOlBOY  aus  Membidsch  (Hierapolis  Bombyce) 
hat  herr  prof.  Euting,  einen  runden  broncestempel  mit  der  er- 
habenen lateinischen  Umschrift  BARB.\ER.  und  einem  mittleren  C 
herr  dr  Forrer,  vgl.  auch  Forrers  Achmim -Panopolis,  taf.  ix, 
tig.  3—6,  Kraus  Realencyclopädie  n,  tig.  236.  416  u.  a.  ein 
tier  als  griff  haben  diese  Stempel  nicht,  nur  ein  lamm  habe  ich 
gelegentlich  bemerkt,  doch  werden  auch  andere  tiere  schwer- 
lich gefehlt  haben ,  da  sie  noch  im  fernsten  osten  sich  finden, 
die  aus  China  übernommenen,  bis  in  die  sassanidische  zeit  zurück- 
reichenden japanischen  Stempel  —  die  einzigen  über  die  mir 
eine  zugängliche  Untersuchung  bekannt  ist1  —  verwenden  vielfach 
tierfiguren  aus  dem  Zodiacus,  aber  auch  andere  als  griffe,  sie 
sind  auch  sonst  zu  vergleichen  mit  ihren  am  rande  herum- 
laufenden inschriften,  den  mouogrammärtigen  zeichen  in  der  mitte 

1  Hans  Spörry  Das  slempelwesen  in  Japan.     Zürich  1901. 


EIN  ULFILAS-STEMPEL  151 

und  ihren  gleichfalls  erhabenen  Bchriftzeicbeo,  die  mit  roter  oder 
schwarzer  färbe  aul'  den  zu  stempelnden  gegenständ  abgedrückt 
wurden,  die  vertieften  'byzantinischen'  oder  rrühcbrisllichen 
Stempel  wurden  m  eine  weiche  masse  (eucharislische  broti 
gedrückt,  für  einen  speciellen  cultzweck  scheint  unser  kleiner 
anide  allerdings  nicht  gerade  zu  sprechen. 

So  haben  wir  als  anhaltspunkte  :  das  > i > k- k  selbst,  das  etwa 
dem  vierten  oder  einem  etwas  späteren  Jahrhundert  entstammt, 
die  griechische  schrifl  mit  dem  'vulgärjungen'  Charakter,  den 
gotischen  namen  des  Ulfila,  die  vulgäre  lautgebung  desselben,  die 
gerade  so  für  den  namen  des  bischofs  bezeugt  ist,  und  das  christ- 
liche kreuz,  alles  dies  passt  für  die  lebenszeii.  des  Gotenbischofs 
und  aul  ihn  seihst,  unerorlert  ist  noch  das  monogramm  in  der 
milie  des  Stempels,  dass  vielleicht  die  entscheidung  bringen  kann, 
leider  aber,  wie  so  viele  andere,  gröfsere  Schwierigkeit  macht. 

Die  zeichen  selbst  sind  deutlich,  in  der  mitte  steht  ein 
grofses  H,  an  welches  die  anderen  buchstaben  angehängt  sind, 
oben  links  im  abdruck  (lig.  3)  ein  O,  daneben  an  der  anderen 
seile  wahrscheinlich  eine  ligatur  von  T  und  Y.  gegen  ein  blofses 
Y  spricht  die  gröfse  des  querslriches  und  ein  liegendes  hori- 
zontales K  scheint  gleichfalls  ausgeschlossen,  dagegen  wird  der 
buchstabe  in  der  mitte  der  zweiten  hasta  ein  aufrechtes  K  sein, 
von  den  beiden  untern  ist  das  zunächst  folgende  O  erst  nachträg- 
lich an  der  einen  seile  ausgesprungen,  im  übrigen  aber  gesichert, 
das  letzte  zeichen  unten  liuks  endlich  kann  ein  umgekehrtes  P  sein 
von  der  form  des  unmittelbar  daneben  stehnden  der  randschrift, 
doch  wären  über  die  Verwertung  solcher  umgekehrter  zeichen  noch 
Untersuchungen  nötig,  die  reguläre  bleibt  die  aufrechte  Stellung, 
sodass  auch  au  ein  aufrechtes  C  gedacht  werden  kann,  das  seit  den 
ersten  Jahrhunderten  in  Inschriften  und  auf  münzen  in  der  gellung 
von  Z  häutig  ist.  so  erhallen  wir  oben  liuks  beginnend  in  der 
augeführten  reihenfolge  um  das  H  herum  die  lesuug  OYTKOP 
oder  OYTKOC.  es  läge  nah,  das  letztere  aus  dem  sonstigen 
monogramm  heraus  zu  TOYTIKOC  zu  ergänzen,  aber  wenn  es  ein 
genetiv  sein  muss,  passt  die  endung  nicht,  uud  das  H,  das  sicherlich 
kein  blofses  gerüst,  sondern  der  buchstabe  ist,  bliebe  noch  unerklärt, 
die  singulare  geltung  von  C  =  l~  '   möcht  ich  nicht  herbeirufen. 

1  so  auf  einem  .Menasfläschchen  von  Achmim  mit  guter  schrift  ACIOY 
für  AflOY  (Forrer  laf.  viu  3). 


152  HENNING 

Doch  ist  natürlich  auch  eine  andere  ordnuug  der  buch- 
staben  möglich,  von  dem  genetiv  OvqcpÜM  ausgehend  meint 
herr  College  Keil,  dass  man  dazu  jedesfalls  eine  genetivform  zu 
suchen  habe,  'tatsächlich  erscheint  eine  genetivendung  -ov 
am  Schlüsse  des  mouogramms,  natürlich  im  Spiegel  gelesen  :  oben 
das  Y,  unten  das  jetzt  etwas  ausgebrochene  O.  jetzt  ist  das  O 
im  anfange  des  monogramms  frei  und  man  list  :  O,  dann  um- 
gekehrtes P,  das  grofse  H,  nun  von  oben  nach  unten  TK, 
woran  sich  die  schon  ausgeschiedene  endung  OY  schliefst,  man 
list  so  OPHTKOY.  jetzt  erkennt  man,  dass  in  der  rechten 
längshasta  des  H  noch  ein  I  zu  suchen  ist.  also  steht  da  OQTqriy.ov 
d.  i.  oqs.ixiv.ov  mit  der  gewöhnlichen  späten  Schreibung^  stattet. 
ÖQeiTiy.ög  ist  einer,  der  zu  den  öqsitcci,  den  bergbewohnern  ge- 
hört, also  lese  ich  '(Stempel  des)  Urfilas,  des  der  bergbewohner'. 
ich  bin  zu  dieser  lesung  gekommen,  ohne  daran  zu  denken 
(worüber  mich  allerdings  vorher  pro  f.  Henning  belehrt  hatte),  dass 
Ulfilas  würkungskreis  als  'in  montibus'  durch  die  älteste  Über- 
lieferung bezeichnet  wird  l.  aber  mir  scheint',  fährt  Keil  fort,  'dass 
nun  Überlieferung  und  lesung  so  einander  stützen,  dass  an  der 
beziehung  auf  den  grofsen  Gotenbischof  nicht  gut  gezweifelt 
werden  kann,  das  kreuz  auf  dem  Stempel  tritt  bestätigend  hinzu, 
dass  das  adjectiv  in  den  Wörterbüchern  fehlt,  kann  natürlich  nicht 
befremden,  die  adjectivische  bezeichnung  für  den  würkungskreis 
eines  bischofs  ist  solenn'. 

Vielleicht  könnte  noch  jemand,  des  umstaudes  eingedenk, 
dass  der  Stempel  auf  Korfu  erworben  ist,  KOPKYPHOY  für 
v.oqv.vqcüov  herauslesen  wollen,  aber  dass  das  monogramm  hinten 
in  der  mitte  der  zweiten  hasta  begann,  ist  unwahrscheinlich,  die 
ligatur  TY  müste  überdies  ein  blofses  Y  mit  einem  übergrofseu 
zierstrich  sein,  den  das  Y  des  namens  nicht  hat.  aufserdem 
wäre  das  erst  später  folgende  O  doppelt,  die  vorhergeheuden 
P  und  K  nur  einfach  gesetzt  und  die  zeichen  sprängen  nach 
den  ersten  buchstaben  unnötig  hin  und  her. 

Keils  erklärung  6or]Tr/.ov~  findet,  wie  mir  scheint,  noch  eine 
weitere  stütze  und  die  allgemeine  angäbe  des  Auxentius  'in  monti- 
bus' einen  bestimmteren  hintergrund  durch  eine  lat.  iüschrift 
vom  jähre  256  n.  Chr.:  [burgum  constitui  iussit]  unfde  latrunculos 

1  nach  Auxentius.  dass  Ulfilas  bischof  von  Dorostorum  gewesen  (Pauls 
Orundriss2  n  s.  7  anm.  2),  ist  unbezeugt,  vgl.  auch  Vogt  Anz.  xxvm  213. 


EIN  ULFILAS-STEMPEL  15^ 

ojbservarent  [projpter  tuteiam  [c]<utre(n)num  et  [cjivium  Monta- 
nmrium  aus  Kullovica  (Ferdinandovo)  am  nordabhange  des  Balkan 
zwischen  Sofia  und  Lom  am  obem  laufe  des  Ogost1,  Kutlovica 
war  also  das  castrum  der  noch  3<)  km.  weiter  nordöstlich  nach- 
weisbaren regio  Monlanensium ,  und  dieser  technischen  bezeicb- 
DUng  halber  wird  man  hier,  wo  wol  schon  seit  dem  Gotensiege 
des  Claudius  a.  269  gotische  colonisten  angesiedeil  waren  (\l»n- 
maszewski  s.  197),  auch  eher  als  in  dem  'kleingolischen'  Niko- 
j)olis  (Jord.  51)  die  heimat  des  Ulfilas  zu  suchen  haben,  öorii/.oi 
aber  wäre  nichts  als  die  griechische  Übersetzung  des  officiellen 
römischen  Montanensis. 

Es  fragt  sich  noch,  wie  der  Stempel  nach  Korfu  gekommen 
Bein  kann,  zufalle  sind  unberechenbar  und  Korfu  war  ein  Stapel- 
platz mittelalterlichen  handeis.  aber  andrerseits  möchte  man  bei 
einem  für  den  nichlkenner  wertlosen  stück  die  zufällige  herkunlt 
aus  der  ferne  nicht  ohne  not  in  anspruch  nehmen,  in  dem 
gegenüberliegenden  Italien  ist  er  schwerlich  angefertigt,  denn  die 
dortigen  Goten  würden  sich  wol  der  lateinischen  schrift  und  über- 
dies nicht  der  vulgärgriechischen  lautgebung  bedient  haben,  der 
Balkanhalbinsel  oder  dem  Orient  wird  er  also  entstammen  und 
dann  kann  zeillich  auch  nur  das  4  oder  5  Jahrhundert  in  frage 
kommen,  dass  der  Stempel  später  zufällig  aus  Müsien  nach  Korfu 
verschleppt  wurde,  ist  nicht  gerade  wahrscheinlich,  ihn  haben 
wol  würkliche  Gotenverbindungen  dahin  gebracht,  aber  an  die 
heerzüge  des  Alarich  ist  schwerlich  zu  denken,  scheinen  die 
Westgoten  doch  ganz  unbeteiligt  an  der  forlführung  der  ultila- 
nischen  Überlieferungen  geblieben  zu  sein,  diese  sind  vielmehr 
den  Ostgoten,  vor  allem  des  Theodorich  zugefallen,  und  das  hat 
seine  geographischen  und  historischen  gründe,  als  der  junge 
konigssohn  aus  Konstantinopel  zu  seinen  Goten  zurückkehrte, 
hatten  diese  gleichfalls  in  Müsien,  der  heimat  des  Ulfilas,  ihre 
sitze,  mit  Theodorich  setzte  sich  dann  die  gotische  volksmasse 
in  bewegung,  an  verschiedenen  stellen  Wohnsitze  suchend,  in 
Macedonien  und  auch  in  Epirus.  seine  expedition  nach  Epirus 
und  die  ansiedlungsversuche  daselbst,  wahrscheinlich  i.j.  479/80 
beschreibt    eingehend    Malchus2.      in    Epirus    hatte    er   einen    in 

1  die  ergänzungen   und   die   inschrift  selbst  nach  vDomaszewski  Neue 
Heidelberger  Jahrbücher  m  (1893)  s.  195  f. 

2  Historici  Graeci  minores  i  s.  411  ff,   vgl.  Wietersheim-Dahn  u  3:5111. 


154  HENNING  EIN  ULF1LAS-STEMPEL 

byzantinischen  dienslen  sehr  begütert  gewordenen  vervvanten, 
wo!  aus  dem  geschlechte  der  Amaler,  den  Sidimundus,  mit  dem 
er  gemeinsame  sache  zu  machen  und  Epirus  an  sich  zu  bringen 
wünscht.  Sidimund  nimmt  die  Goten  auf,  wobei  er  die  küsteu- 
stadt  Epidamnus  (Dyrrhachium)  für  sie  möglichst  räumen  lässt. 
auch  der  bruder  und  die  multer  des  Theodorich  mit  einem  grofsen 
gotischen  tross  stofsen  hier  zu  ihm,  werden  aber  von  dem  byzan- 
tinischen beere  besiegt  und  eine  grolse  anzabl  gefangen  ge- 
nommen. Epirus  muss  er  aufgeben  und  erhält,  nachdem  er  483 
wider  zur  macht  gelangt,  vom  kaiser  das  alte  Niedermösien  an- 
gewiesen, hier  wird  Novae  an  der  Donau  nördlich  Nikopolis  (Zeuss 
s.  426  f)  sein  hauptsitz,  bis  er  offenbar  mit  seiner  ganzen  dispo- 
nibeln  macht  nach  Italien  aufbricht,  so  ist  er  der  erbe  der  alten 
ulfilanischen  traditionen  geworden,  von  denen  auf  der  Balkan- 
halbinsel keine  handschriftlichen  reste  erhalten  sind  K  hierzu  wird 
auch  die  für  den  gottesdienst  in  lectionen  eingeteilte  gotische 
bibel  gehört  haben,  deren  Codex  Argenteus,  wie  man  annimmt,  in 
Unteritalien  unter  seiner  herrschaft  geschrieben  ist.  er  hat 
diese  traditionen  gewis  schon  von  anfang  au  für  seine  Goten 
beansprucht,  zu  dem  literarischen  besitz  mag  aufser  den  Hand- 
schriften auch  der  Stempel  des  bischofs  gehört  haben,  der  sehr 
gut  während  des  aufeuthalles  und  der  wechselfälle  in  Epirus  da- 
selbst zurückgeblieben,  aber  auch  von  Koustantiuopel  auf  der  alten 
via  Egnatia  oder  aus  Unteritalien  nach  Korfu  gelangt  sein  kann. 

1  über  die  auf  Tomi  bezüglichen  nachrichten  des  Walal'rid  Strabo, 
welche  Tomaschek  anzweifelte,  handelt  zuletzt  RLoewe  Die  reste  der  Ger- 
manen am  Schwarzen  meer  s.  253  f. 

Strafsburg.  R.  HENNING. 


'  D 


WALTHERIANA. 

1)    Her  Wicman.     Lachm.  18,  1. 

Der  grobe  spruch  gegen  einen  concurreuten  in  Walthers 
kunst  ist  schon  von  mehreren  seiten  Walthern  abgesprochen 
worden,  zuletzt  von  Saran  ßeitr.  27,  203  f.  seine  metrischen 
gründe  will  ich  nicht  diskutieren;  er  hat  sie  mehr  als  neben- 
sache  vorgebracht,  und  man  könnte  ihnen  gegenüberstellen,  dass 
doch  die  bildliche  manier  und  vor  allem  der  schluss  des  Spruchs 
Walthern  recht  ähnlich  sieht,     mehr  besagt  der  gruud,  dass  von 


FISCHER   WALTHER1ANA  155 

W.  in  dritter  person  geredet  wird,  die  von  Wilmanns  dafQr 
ebene  motifierung  will  mir  allerdings  auch  nicht  einleuchten, 
und  ein  zweiter  fall,  wo  \Y.  su  von  sich  geredet  hatte,  läset  sich 
niclii  anfuhren,  aber  es  ist  doch  gar  kein  zweifei,  dass  die 
stroplic  direct  auf  eine  gegnerische  antwortet,  und  am  alier- 
wahrscheinlichsten  ist  da  widerum  —  ich  glaube,  man  hat  damit 
uocli  ülters  zu  rechnen  — ,  ilass  die  replik  dem  angriff  direcl 
gefolgt  ist;  diese  annähme  würde  nebenbei  auch  leichte  metrische 
mlngel  erklären,  da  ist  es  denn  sehr  wol  mOglich,  dass  der 
angriff  gegen  W.  in  einer  form  gebalten  war,  die  die  rede,  in 
dritter  person  herausforderte  :  es  dürfte  ja  nur  ein-  oder  mehr- 
mals von  /«'/•  Wallher  ironisch-höflich  die  rede  gewesen  sein, 
die  Strophe  steht  in  AC,  ist  also  nicht  schlecht  bezeugt  ' ;  auch 
die  abweichungen  der  texte  sind  nicht  erheblicher  als  anderswo. 
Aber  gegen  die  weitere  bemerk ung  Sarans  inuss  ich  mich 
wenden  :  "auch  darf  man  billig  bezweifeln,  ob  sich  W.  den  derben 
vergleich  von  v.  10  gestattet  halle'-,  ich  weifs  nicht,  ob  jener 
cynismus  in  der  feder  eines  andern  Sängers  wahrscheinlicher  ist 
als  in  der  VV.s;  ein  cultus  der  cc7cÖQQt]rcc  ist  doch  überhaupt  nur  in 
gewissen  gattungen  unserer  mhd.  lyrik  zu  linden,  aufserhalb  deren 
aber  ist  ein  derartige.-  wort  bei  einem  berühmten  dichter  kein 
jota  unwahrscheinlicher  als  bei  einem  obscureu,  der  ja  leicht 
denken  konnte  :  quod  licet  Jovi  usw.  der  cynismus  ist  doch 
auch  sehr  harmlos,  in  männergesellschaft  noch  heute  geduldet, 
es  kommt  aber  dazu,  dass  wir  hier  offenbar  eine  anspielnng  auf 
etwas  allgemein  bekanntes  vor  uns  haben,  noch  heute  heilst  es 
schwäbisch3  :  das  reimt  sich  (passt)  wie  arsch  und  Friderich. 
diese  wendung  ist  aber  schon  alter,  die  Zimmerische  Chronik1 
ii  40S  erzählt  :  Bei  unsem  zeiten  war  ain  procurator  am  hof- 
gericht  .  .  .  der  wolt  ainsmals  seins  gegentails  .  .  .  procurator  die 
argumenta  .  .  .  ablainen  und  verklainem,  darumb  spracht  er 
unverdechtlichen  uf  sein  guet  schwarzweldisch  :  'Es  reimpt  sich 
meins  gegenthails  furbringen  gleich  als  salzmessen  und  ich  waiss 
nit  was',  damit  wolt  er  ain  grobs  wort 4  haben  laufen  lassen,  aber 

1  ed.  Wilmanns-  19  :  die  Sammlungen  AC '    und  AC2  enthielten  noch 
keine  nachweislich  unechten  Strophen. 

-  rgl.  Pfeifler  Freie  Forschung  357  f. 

3  s.  mein  Schwäbisches  Wörterbuch  i  328. 

4  offenbar  arschlecken. 


156  FISCHER 

er  beschul  es  dannost  mit  ainer  offengabel.  Es  wardt  sein  %col 
gelacht,  denn  es  wolt  sich  gar  nit  reimen  sein  spruchwort  .  .  .  so 
wenig,  als  ainest  graf  Heinrich  von  Hardeck  .  .  .  der  wolt  vor 
kaiser  Friderrichen  dem  dritten  ein  schöne  redt  thon,  under  anderm 
aber  Hess  er  sich  sein  gegenlhail  also  ufbringen,  das  er  unverholen 
sagt  :  'Es  reimpt  sich  das  gar  nit,  so  wenig  als  ars  und  Fri- 
derrich'.  unser  dichter  bat  den  witz  der  vergleichung  mit  dem 
(voll-)mond  hinzugetan,  aber  vorgefunden  bat  er  eine  solche 
redensart  gewis,  und  war  damit  doppelt  entschuldigt,  wenn  er 
sie  verwante1.  sie  passte  auch  besonders  gut  in  ein  gedieht, 
wo  vom  versemachen  die  rede  ist.  denn  sie  gebt  ganz  deutlich 
von  der  Wahrnehmung  aus,  dass  es  auf  ars  keinen  reim  gibt, 
wenigstens  keinen  natürlichen,  bequem  liegenden;  das  volk  achtet 
auf  solche  dinge,  ich  habe  das  für  das  wort  bnndschuh  nach- 
gewiesen2. 

Ich  bin  aber  damit  noch  nicht  zu  ende,  wer  ist  her  Wic- 
man,  wie  er  in  A  heifst,  her  Volcnant  nach  C?  man  kennt 
keinen  minnesänger  oder  überhaupt  dichter  solchen  namens,  das 
würde  nicht  hindern,  dass  es  einen  gegeben  haben  könnte,  denn 
beide  namen  sind  um  Wallhers  zeit  bezeugt,  das  auseinander- 
gehn  der  handschriften  könnte  mit  Wilmanns  so  erklärt  werden, 
dass  der  spruch  einmal  gegen  einen  Volcnant  (oder,  wenn  C  recht 
hat,  Wicman)  henutzt  wurde,  oder  was  er  auch  zulässt,  so,  dass 
eine  form  aus  der  andern  verlesen  wäre,  zumal  wenn  mau  etwa 
ein  Wicnant  zu  gründe  legte,  was  es  auch  gibt3,  aber  es  ist 
noch  eins  möglich  :  beide  namen  oder  der  ursprüngliche  davon 
kann  ein  deckname  für  einen  sein,  den  der  dichter  uicht  direct 
nennen  oder  dessen  namen  er  humoristisch  entstellen  wollte, 
wie,  wenn  der  mann  Wolfram  geheißen  hätte?  ich  gesteh 
gerne,  es  ist  ein  einfall.  aber  dass  man  nichts  positives  dagegen 
sagen  kann,  muss  ich  doch  behaupten,  was  Walther  über  seinen 
gegner  sagt,  ist  sehr  allgemein  und  passt  auf  jeden;  der  tou,  in 
dem  die  polemik  zwischen  Wolfram  und  Gottfried  geführt  ist,  ist 
nicht  viel  höflicher;  den  ars  konnte  gerade  Wolfram  kaum  per- 
horrescieren;    dass   Walther   und    er    ihre    kleinen    Wortgefechte 

1  Schröder  citiert  mir  zwei  verse  eines  couplets  oder  gassenhauers,  ohne 
ihre  herkunft  bestimmen  zu  können  :  lPolz  himmel,  arsch  und  wölken  — 
wie  reimt  sich  das  zusarnrnenP  -  Schwab.  Wörterbuch  i  1525. 

[3  Klage  778  Wicnant  hat  D  die  Variante  Volchnant.     E.  S.] 


WALTHERIANA  157 

gehabt  habeo,  wird  aucb  der  zugeben,  dem  Burdachs  Vermutungen1 
in  manchem  zu  weit  gehn;  und  diese  plänkeleien  sind  doch, 
zumal  wenn  wir  aonehmen,  dass  die  gegner  einandei  io  persoo 
gegenüberstanden,  gewis  nicht  tragisch  zu  nehmen,  «In-  zwischen 
Wolfram  und  Wallher  jedesfalls  viel  weniger  als  die  gegen  <.i»ii- 
Fried.  von  positiven  momenten  aber  mOcht  ich  doch  ein  paar 
anführen,  die  namen  Wictnan  und  Volcnant  bezeichnen  beide 
einen  kriegsmann;  das  passt  bowoI  zu  Wolfram  als  zu  den  stolzen 
hehlen  auf  der  Wartburg,  der  iegeslieher  wul  ein  kempfe  wcere 
(20,  11  I)-.  dass  das  waz  obe  her  Walther  krache  usw.  (18,  61) 
au  das  bekannte,  von  Wolfram  und  Gottfried  herüber  und  hinüber 
diene  bild  vom  hasen  (als  gegenteil)  gemahnt,  ist  wol  zufällig, 
denn  das  kriechen  wird  aus  dem  gegnerischen  gediente  genommen 
sein,  aber  der  leitehunt  (IS,  14),  der  nach  wdne  jaget,  gemahnt  doch 
sehr  an  jenen  hasen  hei  Gottfried  (Mafsm.  117,  3811);  vgl.  18,  13 
sfa  märet  er  der  weite  spil  mit  G.  118,  3911'  dane  gdt  niht  (juotes 
inuotes  van,  dane  lit  niht  herzelustes  an,  ir  rede  ist  niht  also 
<jevar,  daz  edele  herze  iht  lache  dar.  doch  genug;  für  einen 
zwingenden  beweis  soll  das  nicht  gelten;  ex  ingenio  suo  quisque 
demal  »el  addat  ßdem. 

2)    Ouch  hiez  der  fürste  durch  der  gemden  hulde 

Die  malhen  von  den  stellen  leeren.  Laclun.  25,  35  1. 
so  bietet  C,  welches  diesen  Spruch  allein  hat.  man  hat  daran 
anstofs  genommen  und  ändern  wollen.  Haupt  zu  Erec  7122  las 
die  stelle  von  den  malhen  leeren,  Pfeiffer-Bartsch  die  malhen  sam 
den  stellen  laren,  Wilmanus1  die  malhen  und  die  stelle  leeren. 
aber  das  alles  ist  nicht  nur  nicht  überliefert,  sondern  Wilm.a 
sagt  richtig  :  'seltsam  bleibt  die  erwahnuug  der  reisetascheu 
neben  den  stallen',  und  er  sowie  Paul  haben  sich  begnügt  mit 
einem  'was  überliefert  ist,  gibt  keinen  sinn',  'unverständlich', 
andere  haben  anderes  vermutet.  Schonbach  Zs.  39,  346  list  von 
den  setelen  :  der  inhalt  der  satteltaschen  sei  zuletzt  noch  an- 
gegriffen worden;  ob  mau  aber  wol  in  ihnen,  wenn  man  nicht 
unterwegs  war.  viel  gehl  und  geldeswert  aufbewahrt  hat?  Bech 
Germ.  32,  1171V  und  A  Wallner  Zs.  39,  429  f   nehmen  den  plural 

1  Deutsche  rundschau   113,  244  ff. 

2  natürlich  kann  man  sich  auch  an  die  graphische  und  lautliche  ähn- 
lichkeit  mit  Wolf'ravi  halten. 


158  FISCHER 

von  stelle,  nicht  von  stal  an;  jener  denkt  an  das  gesteil,  auf  dem 
der  dem  pferd  abgenommene  sattel  ruht,  wogegen  dasselbe  wie 
gegen  Schönbach  zu  sagen  wäre;  dieser  an  ein  repositorium,  auf 
dem  die  malhen  aufbewahrt  worden  seien. 

Das  alles  stimmt  schlecht  zum  Zusammenhang,  es  ist  29 — 34 
erzählt,  man  habe  im  grösten  ilberfluss  gegeben,  silber  und  riche 
\cdt.  darauf  folgen  unsere  zwei  verse  und  fernerhin  :  ors,  als  ob 
ez  lember  waren,  vil  maneger  dan  gefüeret  hdt.  das  ouch  in  z.  35 
hat  keinen  guten  sinn,  wenn  mit  Schönbach  und  Wallner  von 
weiteren  geldgaben  oder  ähnlichem  die  rede  sein  soll,  denn  das 
ist  schon  vorher  gesagt;  vortrefflich  aber  passt  es,  wenn  damit 
auf  das  hergeben  von  pferden  übergegangen  werden  soll  :  z.  36 
muss  ihrem  ganzen  inhalt  nach  sich  darauf  beziehen. 

Schon  Lachmaun  mag  das  gefühlt  haben,  als  er  schrieb : 
'die  meinung  wird  sein  die  stelle  von  den  märhen  leeren'.  Wil- 
maoos  hat  dagegen  erinnert,  das  sei  eine  änderung  des  über- 
lieferten; aber  ich  kann  auch  märhen  oder  marhen  nicht  zugeben: 
letzteres  nicht,  weil  marc  ausschliefslich  ein  streitross  ist,  ersteres 
nicht,  weil  die  erwähnung  von  Stuten  im  sinne  des  mittelalters 
etwas  verächtliches  gehabt  hätte  und  Walther  nicht  gehindert 
war,  rossen  oder  pferden  zu  schreiben,  vielmehr  lasse  ich  die 
lesart  zu  recht  bestehn  und  versteh  unter  den  malhen  die  ein- 
zelnen 'stände'  des  Stalles,  das  passt  genau  her  und  würkt  mit 
dem  leeren  zusammen  höchst  concret,  wie  wirs  bei  Walther  ge- 
wohnt sind,  dass  die  mittelalterlichen  stalle  abgeteilte  stände 
gehabt  haben  müssen,  ist  auch  dann  klar,  wenn  sie,  was  ja  wahr- 
scheinlich ist,  nirgends  erwähnt  sein  sollten1;  denn  die  pferde 
waren  damals  gewis  nicht  minder  geneigt  als  jetzt,  sich  zu  beifsen 
und  zu  schlagen. 

Kann  malhe  diese  bedeutung  haben?  am  meisten  über  das 
wort  gibt  Zarnckes  Narrenschiff  s.  364.  die  dort  angeführten 
lateinischen  synonyma  bezeichnen  alle  einen  gröfsern  sack  2  oder 
dgl.  für  irgend  welchen  inhalt,  das  darunter  erscheinende  zaberna 
meint  eine  kiste  oder  dgl.  eine  elymologie  des  wortes  ist,  so 
viel  ich  sehe,  nie  versucht  worden;  aber  sie  sei  welche  sie  wolle: 
wenn  aus  pyxis  'buchsbaumholz,  büchschen'  ein  engl,  box  wurde, 
das  neben   allem    möglichen    andern   auch    einen  reisekoffer  und 

1  bei  Pfeiffer  und  bei  Jahns  findet  sich  nichts. 

2  vgl.  'Sackgasse'. 


WALTHERIANA  L59 

•■inen  pferdestand  im  Blall  bedeutet,  so  ist  dasselbe  bei  malhe 
auch  möglich,  auch  engl,  crib  vereinigt  ganz  ünnliche  bedeu- 
luogeo.  dass  aber  malhe  in  dieser  bedeulung  nirgends  sonsl 
nachzuweisen  ist,  wird  jeder  rerstehn;  es  würde  niemand  wun- 
dern, «renn  ein  worl  für  fliesen  begriff  aus  alter  zeit  Oberhaupt 
nicht  auf  uns  gekommen  wäre,  ilie  eonstruclion  von  den  stellen 
braucht  ja,  um  niemand  zu  bindern,  blofs  prägnant  genommen 
zu  werden  'aus  den  stallen   heran-'. 

Tübingen,  20  februar  1907.  HERMANN  FISCHER. 


ARO LS KR  BRUCHSTÜCK 
VOM  ERSTEN  BUCHE  DES  PASSIONALS. 

Beim  ordnen  waldeckischer  archivalien  fand  mein  verehrter 
freund  G  Könnecke  na.  ein  stattliches  blalt  von  einer  hs.  des  Passio- 
nals,  das  im  klosier  Hei  ich  ao.  1500  zum  Umschlag  einer  rech  nun g 
verwant  worden  ist.  das  blalt  ist  340  mm.  hoch,  220  mm.  breit, 
der  zweispaltig  beschriebene  räum  entsprechend  270x174  mm.; 
die  einzelspalte  79  mm.  breit,  die  38  Zeilenanfänge  slehn  genau 
untereinander  und  beginnen  mit  rot  durchstrichener  minuskel;  am 
beginne  jeder  columne  steht  eine  majuskel  mit  roter  arabeske.  es 
kommt  ein  capitelanfang  (Hahn  180,  42)  mit  rotblauer  initiale  vor, 
die  durch  fünf  Zeilen  geht,  ein  kleinerer  blauer  inilialbuchstabe 
eröffnet  einen  abschnitt  (181,  32).  die  hs.  gehört  der  ersten  hdlfte 
des  14  jh.s  an.  um  die  Zugehörigkeit  weiterer  fragmente  zu  be- 
stimmen, heb  ich  noch  hervor,  dass  die  vocale  u,  il,  uo,  üe,  in 
gleichmäßig  als  u  geschrieben  sind,  wobei  das  kleine  o  mit  feinerem 
federzug  nachträglich  angebracht  scheint. 

Das  angebot  von  neuen  fragmenten  des  Passionais  {und  der 
Weltchronik !)  gehört  zu  den  schrecken  des  redacteurs  :  zumeist  frei- 
lich handelt  es  sich  dabei  um  bruchslücke  des  von  Köpke  heraus- 
gegebenen dritten  teils,  wahrend  die  Überlieferung  des  ersten  und 
zweiten  sehr  viel  spärlicher  ist.  hier  haben  wir  den  schluss  des 
Petrus  und  den  anfang  des  Paulus  aus  dem  ersten  teile  :  Hahn 
179,80 — 181,47;  immerhin  genügt  die  mitleilung  der  lesarlen, 
wobei  ich  vom  orthographischen  soviel  gebe  als  mir  zur  Charak- 
teristik der  hs.  wünschenswert  scheint,  textkritisch  wichtige  Varianten 
druck  ich  gesperrt. 


160         SCHRÖDER  RRUCHSTÜCK  DES  PASSIONALS 

179,80  Da  hin  v.  81  vnd  möge  in  follem  friede 
wesen  82  vil  fehlt  83  volg  immer  84   was  immer 

85  irhangen      S6  widirwart      87  waren      88  hoübit      90  güder 
lüde         91    waren    aller    froüden  92    yre    weinende 

93  vnsir        irbot  (so  meist)         94  zu  eime 

180,  1  myde  he  2  hatte  immer  3  offenlich  5  vnde 
fehlt  henden  schapele  6  vnd  immer  8  lieplich  en  ir  leit 
wart  11  büchstaben  12  durch  seh  rieben  13  froüden 
14  dise  worte  der  15  lieber  herre  16  allez  immer 
17  an  nicht  18  ane  genügen  wolle  19  danken  liebir 
20  mime  22  daz  23  myde  immer  24  vnd  leben  25  eme 
stets  froflden  30  godis  giouben  haden  31  raden  32  weg 
34  in  godis  n.      36  wörtzten  en      38  he  (so  und  her  abwechselnd) 

werdikeit  39  grap  40  midewist  vor  42  keine  Überschrift 
42  faz  43  vsz  dem  gnaden  44  eme  stets  45  er  were 
fehlt  46  he  an  tzuifel  47  want  en  selber  48  he 
49  vfz  scheiden  50  vngloüben  51  an  en  52  aptgode 
53  bode  54  eme  hatte  55  konneschafft  58  mit  meister- 
lichir  60  blozlich  61  vol  fehlt  62  vff  den  64  an 
65  miteiehen]  meinde  iehende       66  gap  da       sine       67  beging 

»charpen  68  dem  güden  69  dem  70  da  xpus  gemartelet 
74  zu  eime  boden  godis  75  gebodes  76  daz  w.  künde]  hat 
daz  wol  77  sichz  78  he  wart  vmme  80  ee  dau  he 
S2  dem  83  eine  85  zu  samene  86  gnüg  87  vorthe  sie 
züslüg       88  ygelicher  virbarg      89  want       en  was  noch  zu  starg 

181,  1  hatten  2  dem  3  dar  an  v.  5  durch  got 
6  edel  hüder  7  wüder  8  eme  sin  blintheit  9  gloübigen 
10  her  vmb  fpflrte  11  wol  fehlt  12  wise  fehlt  13  nüwiu 
14  giouben  v.  15  virbrechin  vnd  beroüben  16  sin  betrübete 
17  he  daz  oüch  vbete  18  he  20  swo  eme  21  do  hin 
hüb  her  22  her  üff  24  iz  odir  25  he  27  gefenkenüsse 
28  biz  30  si]  yn  31  gelouben  fehlt  32  Paulus  godis 
33  harte  spotis  34  mit]  an  treip  35  stede  bleip  v.  36 
als  he  wol  irtzoügete  37  her  die  güden  38  gloüben  39  zu 
eimale  vil  her  40  he  42  verlieren  43  widir  weren 
44  began  en       45  he  ging  zu       46  sagete 


Göttingen. 


EDWARD  SCHRÖDER, 


EINE  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 
DES   !  I  JAHRHUNDERTS 

IN  DER  SCHL0SSBJBL10THEK  ZI    HEUDRINGEN  (KR.  ARNSBERG). 

Als  ich  im  vergangenen  jähre  dank  drin  freundlichen  e»J- 
gegenkommen  des  herrn  grafen  von  Fürstenberg  und  seiner  kunst- 
sinnigen gemahlin  die  handschriftenschätze  der  Schlossbibliothek  :n 
Herdringen  für  du-  deutsche  commission  der  Berliner  akademie  de* 
Wissenschaften  inventarisieren  durflet  stieß  ich  in  einer  miscellan- 
handschrift  des  14  Jahrhunderts  avf  eine  20  nnmmern  zählende 
Sammlung  von  vaganlenliedern.  der  glückliche  fund  muste  mich 
umsomehr  überraschen,  als  in  dem  gedruckten  kataloge  der  biblio- 
thek  (h'üln  1895J  der  gedichte  Leine  erwähnung  geschieht,  vielmehr 
nur  '.\  gröfsere  stücke  des  codex  titelmäfsig  aufgeführt  weiden. 
es  ist  abermals  ein  benedictinerkloster,  dem  wir  die  neue  vaganten- 
lieder-auslese  zu  verdanken  Italien  :  SJacob  zu  Lüttich.  manche 
dieses  Stifts  hohen  wahrscheinlich  den  ganzen  band  zusammen- 
geschrieben,  sicher  gehören  <lie  13  und  1-1  läge  dorthin,  denn 
von  derselben  hand,  welche  «He  stücke  dieser  beiden  lagen  auf  ge- 
ebnet und  zahlreiche  andere  nummein  mit  Überschriften  ver- 
sehen hat,  ist  auf  der  rückseite  des  1,  nicht  gezählten  blatte»  der 
besitzvermerk  von  SJacob  eingetragen  :  Liber  mouaslerii  saneti 
incolti  leodiensis.  auch  mitten  im  bände  (bl.  i.xviv  kehrt  diese 
notiz  noch  einmal  wieder,  unter  dem  ersten  vermerk  steht  in  roter 
schrift  die  alte  Signatur  :  II.  104;  auf  dem  oberen  runde  des  1  ge- 
zählten blatls  ist  sie  widerholt  und  hinzugefügt  :  A  x  60.  auj  der 
mneuseite  des  ziemlich  defecten  pergament  Umschlags  ist  die  Hand- 
schrift im  17  oder  IS  Jahrhundert  N.  l\'-\  in  .Imisiis  signiert. 
in  der  bibliolhek  des  l'ilrstenb ergischen  Schlosses  Adolfsburg  [kr. 
Olpe),  von  wo  die  Handschriften  erst  vor  wenigen  jähren  noch  dem 
prächtigen  Herdringen  überführt  siml  (während  die  grofse  druck- 
schriflensammlung  noch  auf  der  Adolfsburg  aufbewahrt  wird),  tmg 
das  manuscript  die  nummer  Ms.  51.  fast  über  den  ganzen  rücken 
des  bandes  ist  ein  langer  wei/ser  zelte!  geklebt  mit  der  aufschrift : 
Ms.  51.  Varia.  Tbomae  Anglici  Psalterium.  Expositio  Bibliac. 
Egidii  versus  de  Urinis.  diese  kurze  Inhaltsangabe  ist  auch  in 
den  gedruckten  kalalog  übergegangen,  in  dem  der  band  unter 
nr.  57  verzeichnet  ist. 

Z.  F.  D.  A.   NLIX.     N.  F.  XXX Vli.  11 


162  BUMER 

Die  erhaltung  der  Handschrift  lässt  viel  zu  (ethischen  übrig, 
das  papier  hat  unter  dem  augenscheinlich  sehr  fleifsigen  gebrauche 
und  dazu  noch  unter  feuchtigkeit  slaik  gelitten,  die  heftung  ist 
so  schadhaft  geworden,  dass  die  meisten  lagen  lose  in  dem  bände 
liegen,  von  mehreren  leeren  blättern  sind  grofse  teile  abgerissen» 
aber  auch  ein  beschriebenes  (124)  ist  von  einer  solchen  beschädignng 
betroffen.  4  blätter  sind  ganz  ausgerissen,  doch  war  lxlvi  sicher, 
cxlv— cxLvii  wahrscheinlich  leer. 

Im  bände  finden  sich  zwei  alle  foliierungen: 

1)  auf  der  Vorderseite  der  blätter  mit  arabischen  zahlen,  bis 
133  reichend  (das  vorderste  blatt  nicht  mitgezählt); 

2)  auf  der  rückseite  der  bll.  mit  römischen  zahlen,  mit  dem 
vierten  von  4  leeren  bll.  zwischen  SO  und  52  (von  denen  nur 
das  erste  [81]  foliiert  ist)  beginnend,  bis  133  (=  lii)  neben  der 
ersten  herlaufend  und  bis  clv  reichend,  dazu  kommen  am  schluss 
noch  2  nicht  gezählte  bll. 

Ich  gebe  bis  bl.  133  die  erste  foliierung  mit  arabischen,  von 
da  ab  die  zweite  mit  römischen  zahlen  wider. 

Die  Handschrift  besteht  aus  23  lagen,  die  sich  auf  9  ver- 
schiedene cursivhände  folgendermafsen  verteilen: 

1)  läge  1—7  (bl.  1  —  80,  [81,  Sl1" 3  leer]);  2)  läge  8—10 
(bl.  82—103);  3)  läge  11  —  12  (bl.  104—124  [125  leer]);  4)  läge 
13.  14  (bl.  126  [=  xlv] — lxvi);  5)  läge  15  (6/.  lxvh — lxxviii); 
6)  läge  16  (bl.  lxxix — lxxxv);  1)  läge  17  (bl.  lxxxvi — l\l\t,  [lxlvv 
leer,  lxlvi  ausgerissen,  lxlvii  leer]);  8)  läge  18 — 22  (bl.  lxlmii 
—  cliii);  9)  läge  23  (bl.  cliv,  clv  und  2  ungez.  bll.,  von  denen 
jedoch  cliv1,  die  rückseite  des  1  ungez.  und  das  ganze  2  ungez. 
blatt  bis  auf  eine  kleine  notiz  leer). 

Während  die  8  ersten  hünde  in  die  2  hälfte  des  14  Jahr- 
hunderts zu  setzen  sind,  gehört  die  9,  die  sich  auch  durch  aufser- 
ordent/iche  ßüchtigkeit  und  Sorglosigkeit  von  den  übrigen  abhebt, 
erst  der  mitte  'des  15  jahrh.  an.  das  von  ihr  niedergeschriebene 
niederländische  stück  ist  das  einzige  nicht  lateinische  in  dem  bände, 
abgesehen  von  einer  ganz  kurzen,  gleichfalls  nl.  und  gleichfalls 
von  dem  letzten  [schreiber  aufgezeichneten  notiz  auf  der  Vorder- 
seite des  1  nicht  gez.  Mattes,  die  vagantenlieder  verdanken  wir  der 
8  hand.  sie  ist  steil,  kräftig,  in  der  gröfse  etwas  wechselnd,  im 
allgemeinen  aber  ziemlich  sorgfältig  und  gut  lesbar. 


HERDRINGER   VAGANTENLIEDERSAMMLUNG         IC 

Die  höhe  des  bände*  beträgt  '2  2,  die  breite  l.">  cm',  die  gröfu 
des  schriftfeldes  wechselt  bei  den  einzelnen  stücken  beträchtlich,  bei 
den  vagantenliedern  bewegt  sich  seine  hohe  zwischen  17  und  2<>, 
seine  breite  zwischen  12  und  I5ctn.  die  Zeilenzahl  dei  seifen 
variiert  hier  von  28  6m  42.  die  einzelnen  verse  find  um  zu  un- 
fang  des  umfangreichsten  gedichts  über  einige  seiten  hin  abgesetzt, 
gewöhnlich  fafst  die  zeile  2,  bei  geringerer  ausdehnung  auch  '■>.  ja 
seihst  4,  meist  durch  einen  schrägen  strich  von  einander  abgetrennte 
verse.  am  Schlüsse  der  Zeilen  p/legt  ein  punct  zu  stehn.  bei 
einigen  nummem  ist  der  erste  buchstabe  jedes  verses  rot  gestrichelt, 
öfter  aber  nur  der  jeder  zeile.  der  dann  in  der  regel  als  majuskel 
erscheint.  Strophenanfänge  situ!  bei  den  meisten  liedern  durch  ein 
rot  gestricheltes  paragraphenzeichen  markiert,  die  Überschriften 
sind  entweder  rot  unterstrichen  oder  rot  eingefasst. 

Den  inhalt  des  band/es  bildet  ein  buntes  gemisch  von  grofsen 
und  kleinen  stücken  der  verschiedensten  ort.  auf  der  Vorderseite 
iles  1  nicht  gez.  blatts  stehn  aufser  der  erwähnten  nl.  notiz 
:;  lateinische  hexameter  über  die  knechtschajt  (servilium)  und  eine 
schreibübung  mit  dem  ersten  der  hexameter.  die  eigentliche  hand- 
schrift  setzt  sich  aus  folgenden  stücken  zusammen: 

\j    Thomas  Anglicus1,   Expositio  psalterii. 

I  nt er  den  oben  mitgeteilten  besitzvermerk  von  S Jacob  hat 
dieselbe  hand  (4)  geschrieben  :  Thomas  anglicus  [folg.  wort  ver- 
wischt] psalterii,  sed  nou  est  nisi  usque  ad  xxwu  psalmum. 

Auf  dem  oberen  rande  von  bl.   lr  hat  sie  vermerkt: 
Quere  post  2.  folium  expositio  Dem  psalierii. 

Beginn  des  textes  (einleitung)  von  hand   1    bl.   lr: 

Nota  quoniam  homo  non  viilet  viam  per  quam  debei  redire 
qua  vix  superveuiens  viam  aperit  .  .  . 

2 )   Sermon  es  vari  i.    (zweispaltig.) 

Auf.  bl.  82r  :  Sermo  de  purificatioue  beale  marie  virginis. 
[zugefügt  von  hand  4:]  Et  plures  alii  sermones.  teuet  xxu  folia. 
Luce  ii  Cum  inducereot  puenim  ihesum  parentes  eius  et  t'acerent 
secuudum  consuetudinem  leiiis  .  .  . 

3)  Expositio  quaedam  supra  totam  bibliam 

Anf.  bl.   104*:   [Überschrift  von  hand  4  wie  angeführt.] 

DE  prologo  in  geoesi  q  Prologus  est  proloqutio  .  .  . 

1  =  Thomas  Jorsüu  {de  Jort)  oder  ThWalleruis  {Waleyt\\  vgl. 
Dictionary  uf  nat.  biography  s.  >•.  Joyz  h.  WaUensit. 

11" 


164 


BÖMER 


4)  Versus  Egidii  de  urinis.    mit  kurzen  randbemerkungen 

und  angehängter  gfosse  zu  den  ersten  100  »o.1.    (verse  abgesetzt.) 

An  f.  bl.  126 r :  [Überschrift  von  hand  4  wie  angeführt.] 

lciiur  urina  quoniam  sit  reoibus  una  .  .  . 
Auf.  der  glosse  bl.  130y  [=  xlix].    [Überschrift  von  hand  4]: 
glossa  super  versibus  egidii  de  urinis  usque  ad  C.  versum. 

]On   intellecti  nulla  est  curatio  morbi  propositio  est  anti- 
ciaudiani  .  .  . 

5)  De  grammatica. 
Anf.  bl.  lix1  :  De  gramatica  tenet  sex  lolia. 
Orthograpbia  est  una  pars  principalis  gramatiche  .  .  . 

6)  Di  versa  medicamina.   (zweispaltig.) 
Anf.  bl.  Lxvra  :   Diversa  medicamina 
Si  hu  mores  fervidi  habundaul  .  .  . 

7)  Expositio  passionis  Ihesu   Christi.    Item  sermo 
in  adventu  domini.   Item  expositio  epistolae  dominica 
in  passione.    Item  epistolae  in  ramis  palmarum.    Item 
expositio  epistolae  in    die  sanctae  pascae.     (zweispaltig.) 

Anf.  Lxvnra  :  [Überschrift  von  hand  4,  wie  angeführt.] 

principes  litus  et  vespasianus  .  .  . 

8)   Quaedam  de  regimine  nominalivi  et  genitivi. 
Anf.  lxxix1  :  [Überschrift  von  hand  4,  wie  angeführt.] 
Videamus  quomodo  una  dictio  regitur  ab  alia  .  .  . 

9)    Godefridus  de  Tenis-.     (unvollständig.) 
V.    1 — 14   mit    interlinearglossen.     zu    an  fang   und   ende  des 

sliicks  am  rande  commenlar  in  kleinerer  schrift,  von  derselben  hand. 

(verse  abgesetzt.) 

Anf.  Lxxxr     [Überschrift   von  hand  4]:     Godefridus  de  teuis 

sed   non   est  completus. 

Clirisle  regis  qui   nos  in  nie  sensus  rege  quinos. 

10)  Lebensregeln  in  versen.    (zweispaltig,  verse  abgesetzt.) 
Anf.  Lxxxira; 

Dogmala   legitima   vir   mente  sagax   legit   yma. 

48  verse. 

1  vgl.  zb.  Schum  Beschreib,  verz.  der  A  m  ploni  anischen  hss.-sammiung 
zu  Erfurt  (1837),  fol.  nr  238  (1Ü)  //.  od.  nr  62b  (9);  zu  den  glossen  : 
Verz.  der  tat.  h$s.  d.  kgl.  bibl.  zu  Berlin  H  nr  907  (2). 

2  =  Godefridus  de  At/ierüs,  Carmen  cui  Omne  punctum  inscribilur. 
vgl.  Schum,  qu.  nr  49  (2i. 


HERDRINGER  VAGANTENLIKDKIISA.MMU  X.         165 
II)    Cisioja » us,  mit  interlinearglossen. 

Auf.   i.xxxi'1': 
circum  ianui  phaoia  a?a  li  i 

cisio  ianus  epi.     s.  vendicat  oct.     feli    marcel 

2  1   verse. 

1 2)  S  chül  errege  In.    [dreispaltig ;  verse  abgesetzt. ) 
\n/.  i\wiy'1  [Überschrift  von  hand  -\\:  Rigmata. 
Armes  lili  peclora  doclrinarum  iculis 
1 1 1  oierxeilige  ttrophen. 

13.)  Catonis  Disticha  in  rythmische  verse  umgesetzt. 
{dreispaltig;  verse  abgesetzt.) 
An  f.  i.xxxiiv  :  llic  iocipit  chalo  rigmale  dalus 
Ciini  animadverterem  quam  plurimos  errare. 

130  rierzeilige  Strophen. 

1  h  Hymnus  auf  S jV icolaus. 
Vgl.   Chevalier  Repertorium   hymnologicum  i  254. 
(bl.  i.xxxvv  vierspaltiij :  verse  abgesetzt.) 
Auf.  ixxxvva:  de  sancto  oicholao 

De  pns  miraculis  .  .  . 
1 1   Strophen. 

15)  Hymnus  auf  S Katharina. 
Vgl.   Chevalier  Rep.  hymn.  u   15t>. 

(verse  abgesetzt.) 
Auf.  i.xxxvvl'  [Überschrift  von  hand  1]:  Item  de  saocta Kaiherina 
Nove  laudis  studio  .  .  . 
S  Strophen. 

16)     Rigmata  de   figuris  grammaticae.     (verse   abgesetzt.) 
Anf.  lxxxvvc  :  [Überschrift  von  hand  4,  wie  angeführt.] 
Methaplasmus  dicitur  liec  prima  flgura 

108  verse. 

17)  De  f leubot homiaK     (verse  abgesetzt. | 
Anf.  i.xxxvir;  De  fleunolhomia 

Lumina  clarilicat  sincerat  tleubolhomia. 
44  verse. 

IS)  De  septem  horis  canonicis. 
Anf.  lxxxvii1  ;  De  septem  horis  Canonicis 
i  Epties  in  die  laudem  dixi  tibi  .  .  . 

*  =  ftebutomia  i.e.  venae  seclione. 


166  BÖMER 

19)   De  quibusdam  dictionibns  utrum   supra  paennlti- 
mam  aut  siipra   antepaenultima  m   principalem   accen- 

tum  debeant  habere. 

Anf.  lxlviii1  :  [Überschrift  von  hand  4,  wie  angeführt.) 
Sapientis  est  desidie  non  succumbere  marcessenti  .  .  . 

2<>)   De  monacho  infortunato. 
Auf.  cir  :  De  Monacho  iulorlunato 

De   cuiusdam    clausiralis    vita    et   moribus   fratres   Karissimi 
paiumper  disserere  cupiens  .  .  . 

(21-24.27— 38)  Vagantenlieder,  1  teil,  (nr  1—4.  5-15.) 

Von  2  prosastücken  (25.  26)  unterbrochen. 

21   (1).    De  vestium  transformatione. 

{In  den  ersten  10  Zeilen  keine  bestimmte  versverteilung ;  von 
z.  11  an  3  verse  in  der  zeile;  zeilenanf.   in  rot  gestr.  majuskeln.) 
Anf.  eil*  :  De  vestium  transformatione. 
q  In    nova    fer[!j  animus    mutatas   dicere   formas    Corpora. 

dij  ceptis  |  uam  vos  mutastis  et  illas 
aspirate  meis.    Ego  dixi  dij  estis  |  que  dicenda  sunt  in  festis, 
quare  prelermitterem? 
78  Zeilen. 

22  (2).    Comoedia  goliardorum. 
(verse  nicht  abges.;  strophenanf.  rot  gestr.) 

Anf.  ciur r :  Comedia  goliardorum. 

Talis  versus  facio  quäle  viuum  bibo  |  nicbil    possum   lacere 
nisi  sumpto  cibo  |  nichil  valet  penitus. 
7  zeilen. 

23  (3).   lnvectio  contra  sacerdotes. 
(4  verse  in  d.  z.;  zeilenanf.  rot  gestr.) 
Anf.  cuiir  :  lnvectio  contra  sacerdotes. 
q  Sacerdotes  mementote  |  nichil  maius  sacerdote  |  qui  dotatus 
sacra  dote  |  dei  servit  et  devote. 
14  zeilen. 

24  (4).    lnvectio   contra   praelatos. 
(2  verse  in  d.  z.;    zeilenanf.  rot  gestr.;    vor  jed.  str.  para- 
graphenzeichen.) 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLl  NG 

Anf.  «im  * :  q   luveclio  contra  prelatos. 
q  Estuaus  iotriusecus  ir<«  vehemeoli     m  amaritudine  loquar 
mee  meoli. 
Hier  zunächst  <i  zeilen, 
Daruntei  :  Kequire  lale  sign  um  io  Polio  sequeute  :  •     s.  stück  2 

25J   Oratio  Matnelii*  archiepiscopi  Rothomagensit  ail 

b  ea  ta  in  v  ii  g  i  »  t  m. 
Anf.  ciiii T  :  Oratio   mamelij  [1]  archiepiscopi    rothomageusis 

ad  bealam  virgioem  mariam. 
Siogularis    meriti    sola  sine  exemplo  |  mater  t-t  virgo  sancta 
maria  .  .  . 

26)    Virtutes   speculi   ardentis  facti    ex  pura   materia 

Lnnae  et  Met  c  u r i i. 
Auf.  r.v*  :  Incipiuot  virtutes  >|)«'culi  ardentis  .  .  . 

27   (Forts,  von  24  C4)). 
Auf.  cvT;q  Ail  lerrorem  omnium  verum  locuturus  |  nichil 
esl  quod  limeara  valde  sum  securus. 

Noch  l'.t  zeilen. 

28  (ö).    Tractatus  de  partu  beatae  virginis. 
(3  verse  in  <i.  z.;  zeilenanf.  rot  gestr.) 
Auf.  iv'  :  q  Tractatus  de  partu  beate  virginis 
q  Graluletur   nmnis    muodus  |  »•(  festioet  »><e  muudus  |  ab 
immundo  crimine. 
28    zeilen. 

2'.»  ((*>).    Principium   magistrale. 
(3  verse  in  d.  z.;  zeilenanf.  rot  gestr.) 
Anf.  cvir  :  q  Priocipium  magistrale 

q    l»»>ctur    ave    flos   docturum  |  preces    audi    puerorum     tibi 
supplicantinm. 
20  zeilen. 

3<>  (7j.     Rhythmus  goliardorum. 
(2  verse  in   d.z.;  zeilenanf.  rot  gestr.;    vor  jed.  str.  par.-z.) 
Anf.  cviT  :  q  Ritmus  goliardorum 

q  Tempus  acceplabile  tempus  est  salutis  |  tempus  est  excu- 
tere  jugum  servitutis. 
26  zeilen. 

1  wut  statt  Maurilii,  lo55 — 67. 


168 


BUMEK 


31   (S).    Evangelium  de  illo   qui  incidit  in  latrones. 
(2  verse  in  d.  z.;  zeilenanf.  rot  gestr.;    vor  jed.  str.  par.-z.) 
An/.  cviir  :  q  Ewangelium  de  illo,  qui  incidit  in  latrones 
q   Lettin    sancti    ewangelii    secundum    lucam  |  ut  vice    pres- 
bileri   nescientes  ducam. 
40  zeilen. 

32  (9).    Altercatio  vini  et  cerevisiae. 
(2  verse  in  d.  z. ;  zeilenanf.  rot.  gestr. ;    vor  jed.  str.  par.-z.) 
An  f.  cvuv  :  q  Altercalio  vini  et  cervisie 
q  Lmlens  ludis  miscebo  seria  |  ne  l'atiseant  mentes  per  ledia. 

31  zeilen. 

33  (10).    Principium  magistrale. 
(2  verse  in  d.  z. ;  auf.  jed.  v.  rot  geslr.;  vor  jed.  str.  par.-z.) 
An  f.  c  v  1 1 1 r  :  q  Principium  magistrale. 

q  Summe    »lator    munerum    dominans    in    celo   |  ad  le  salus 
pauperum  tumidus  anhelo. 
4(3  zeilen. 

34  (11).    Castigatio  presbyterorum. 
(2  verse  in  d.  z.;  an  f.  jed.  v.  rot  gestr.;  vor.  jed.  str.  par.-z.) 
An  f.  ux1  :  Castigatio  presbiterorum. 

q    Viri    beatissimi    sacerdoles    dej        piecones    altissimi    lu- 
cerue  die]. 
34  zeilen. 

35  (12).     Versus  Primatis   contra  praelalos  et  clericos. 
(2  yer.se  in  d.  z.;  an  f.  jed.  v.  rot  gestr.) 
An  f.  cix¥  :  q   Versus  primatis  contra  prelalos  et  clericos. 
q    Cur   ultra    studeam    probus   esse    probusque    videri.    Aul 
inier  socios  i'amam  cum  laude  mereri. 
56  zeilen. 

36  (13).    De  victoria  Parmensi. 
(2  verse  in  d.  z. ;  auf.  jed.  v.  rot  gestr. ;  vor  jed.  str.  par.-z.) 
An  f.  cxv  :  De  victoria  parmensi. 

q   Cum  ad  verum  veutuin  est  veros  per  rumores  |  papa  paler 
dominum   laudes  et  bonores 
70  zeilen. 

37  (14).    Conquestio    Primatis  expulsi  de  domo   lepro- 

s  o  r  n  m. 

(meistens  3  verse  in  d.  z.;  zeilenanf.  rot  gestr.;  vor  jed.  str.  par.-z.) 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMU  NG         169 

Auf.  cxi"  :  Conquestio  primaria  expulai  de  domo  leproaorum. 

q    Dives    eram    el    dilectua  |  Inter   parea   preelectua  |  i lo 

curvat  me  seoeclua  | 
15  teilen. 

38  (15).   Petitio  Primatis  porrecta  papae  pro  beneficio 

obtinen  do. 
(4  oder  -\  verse  in  d.  s.;    xeilenanf.   rot  geslr.;   vor   fedet 
str.  par.'Z.) 

\nf.  i  \n r  :  Petitio  primatis  porrecta  pnp«;  pro  beneficio  ob- 

tinendo. 
q  Tanto  viro  locuturi     sludeamus   esse  puri       sed  el  loqiii 
sobrie.     Carinii  decet  veoerari. 
56  Zeilen. 
!'.»)    Hymnus  :  Dulcis  Jesu    memoria    [gew.:  Jesu  dulcis 

memoria  |. 
Vgl.  Chevalier  Repertorium  hymnologicum  i  294. 
Auf.  cxm1  :  q  De  booilate  «lei  [zugeschr.  von  band  4  :J    est 
melodia  sancii  Beroardi  sed  qod  est  Im-  compleia 
q  Dulcis  ibesu  memoria  .  .  . 

6  Zeilen. 

Jih   Allerlei  kurze  med  icin  ische  rat  schlage,  recepte  etc. 
Auf.  cxm1  :  q  l>*'  regimine  sanitatis. 

q  All  regendum  sanitalem  corporis  scieodura    quod  «liyestio 
per  desiderium  mullura  iuvatur  .  .  . 

62  zeilen.     (forts.  :  nr  49.) 

41 — 45)  Vagantenlleder.    2  teil  (nr  10— 20). 

41  (16).    Apocalypsis  Goliar dorum. 

a)  Die  30  ersten  Strophen  des  gedicktes. 

dreispaltig;  jeder  vers  abgesetzt;  keine  rote  strichelung.  die  6  ersten 

und  in  letzten    der  30  Strophen    in    einer  der    bücherschrift    sich 

nähernden  cursive.) 

Anf.  cxiui™  :  Apocalipsis  Galiardorum  [1] 

A   Tauro  torriila  lampade  cinlhii 

1*20  verse. 
■  \iiii  v  leer. 

I>)  das  ganze  gedieht. 

(bl.  cxv-  :  dreispaltig;   cxv*,  cxvi"  :  zweispaltig,  hier  die  ein- 
zelnen verse  abgesetzt.  —  cxui"  :  einspaltig.  2  verse  in  der  zeile. 


I7i) 


130MEK 


die  33  ersten  slrophen  wie  anfang  und  ende  von  a)  in  einer  aer 
bücherschrifl  nahe  kommenden  cursive.  —  zeilenanf.  rot  gestr., 
vor  jeder  str.  par.-z.) 

Auf.  cxvra  :  In   nomine  domiui  nostri  ibesu  christi  amen. 

A   Tauro  torrida  lampade  cinthii 

108  Strophen. 

42  (17).    Principium  magistrale. 

(2  verse  in  d.  z.;    cxviur  die  anf.  der  zeilen,     cx\myf.  die 
anf.  der  verse  rot  gestr. ;  vor  jed.  str.  par.-z.) 
Anf.  cxviiir:q  Principium  magistrale 
cj  Cunctipotens  genitor  princeps  maiestatis  |  occultorum  cog- 
nitor  ime  deitatis. 
70  zeilen. 

43  (18).    De  transfretantibus. 

(2  verse  in  d.  z.;  zeilenanf.  rot  gestr.;   vor  jed.  str.  par.-z.) 
Anf.  cxixT:  cj  De  transfretantibus. 

cj  Amore  summj  judicis  crucem  debemus  tollere  |  atque  rerum 
opificis  uomine  derelinquere. 
16  zeilen. 

44  (19).    Comoedia  de  adventu  Antichristi. 

(2  verse  in  d.  z.;   zeilenanf.  rot  gestr.;   vor  jed.  str.  par.-z.) 
Anf.   cxix"  :  q   Comedia  de  adventu  anticristi. 
c)    Dum    contemplor    animo    seculi    tenorem       reproborum 
gaudia  proborum  merorem. 
54  zeilen. 

45  (20).    Comoedia  magistralis  redarguens  vitia. 

(2  verse  in  d.  z.;  anf.  der  verse  rot  gestr.;  vor  Jed.  str.  par.-z.) 
Anf.  cxxv  :  q  Comedia  magistralis  redarguens  vitia. 
q    Elicouis    rivulo    modice    respersus  |   vereor    ne    pondere 
sim  verborum  pressus. 
60  zeilen. 


46)     Die    unter    Alkuins    nanien  gelinden    rechenrütsel 
(Propositiones  ad  acuendos  juvenes). 

(Weichen  vom  dem  druck  in  Alcuini  Opera  ed.  Frobenius  ii, 
440 ff  sowol  in  der  reihenfolge  der  stücke  als  auch  in  einzel- 
heiten  ab.) 


HERDRINGER   VAGANTENL1EDERSAMMLI  NG         171 

Im/",  cxxii    [übenchr.  von  hand   1    :  aduinaliooes  [/]  per  mo- 

iliiiu  Imli. 
q  Questio  <lt*  limace. 
q  Limax  fuil  ab  hirundioe  invilalus  ad  praodium  .  .  . 

17  *>      /'/  0  ji  n  s  1 1  io  n 

17. 
\n/.   i  \x\ii    : 

q  Propositio  ad  inveuieodum  quanlum   quis   proposueril 

aoimo  mim  se  velle  habere. 

q  Assumatur  numerus  quilibet  at  Lriplicetur  .  .  . 

39  zeih' n. 

18. 
Auf.  cxxviii'  :  lit'in  aliter. 

Quomodo  divioandum  sil  qua  feria  septimane  quilibet  homo 

rem  quamlibet  fecisset. 

12   Zeilen. 

üxxviu'   oben   ist   noch  eine  Quaestio   von   3   Zeilen   nachgeholt. 

19)   Forts,  der  in edici ni sehen  ratschlage,  stück  40. 
Anf.   cxwiii    : 

q  Albertus.  Qui  habueril  dolorem  deolium  et  posuerit  dentem 
leporis  io  loco  doloris  auferet  dolorem  .  .  . 

5<»)  Belehrung  über  heilkraut  er,  heilsame  getränke  etc. 
Anf.  cxxx'  ;  De  Menta. 
Meuta  est  calida  et  sicca  .  .  . 

51)  Oratio  St.  Augustini. 

Anf.  cxxxn1  :  Oratio  beati  augustini.    quam  scripsit  dietaute 

angelo. 

q  Domioe  deus  omnipotens  qui  trinus  et  uinis  .  .  . 

18  zeilen. 
■  wxiii  leer. 

52)  Gesundheitsregeln  in  versen. 
Anf.  cxxxiv'  :  Si  vioum  rubrum  oimium  quaudoque  bibatui 

4S  zeilen. 

53)  Regt  tuen  sanitalis.     Das  bekannte,    häufig  gedruckte  lehr- 
gedicht  der  schule  von  Salerno. 
Auf.  cxxxvr  [überschr.  von  hand  4]: 
De  regimine  et  conservalione  sauitatis  jdures  versus 


172 


BÖMER 


Beginn  des  texies: 

Si  vis  incolumem  si  vis  te  reddere  sanum  .  .  . 

cxlv — vii  ausgeschnitten. 

~)A\    Disputatio  inter  daemones  et  genus  humanuni. 
An  f.  cxLvmr  [unten  auf  dem  rand  des  blattes  von  hand  4j : 
Disputatio  inter  demones  et  genus  humanuni. 
Beginn  des  texies: 

NUstis    karissimi    qualiter    salhanas    subiectus    viscera   lüde 
procurnvit  .  .  . 

55)    Erzählung  von  einem  Verehrer  der  Jungfrau 

M  aria. 
Anf.  cliv  :  Relatum    fuit    aurelianis  a  quodam    fratre    in  die 
purificationis  beatissime  virginis  marie  quod  quidam  fuit  sedulus 
in  servicio  beate  virginis  peccalor  lamen  .  .  . 

28  zeilen. 

56)  Brief  des   evangelisten  Lukas  an  Galenus  mit  ein- 

leitung. 
Anf.  clit  :  Galienus  summus  medicus  petiit  a  sancto  luca  ewan- 
gelista.  quatenus  inluitu  pietatis  et  amore  summe  divinitatis  totius 
corporis    et   anime    sanitatem    in    epistola   brevissima    ei  scribere 
non  dedignaretur  .  .  . 

13  zeilen. 

57)  Bemerkenswerte  ausspräche  von  Augustinus, 

Sokrates,  Heraklit,  Pythagoras  uaa. 

Anf.  cur  :  Augustinus.  Ebrittas  aufert  memoriam  .  .  . 

54  zeilen. 

5S)  De  natura  apium. 
Anf.  cliiv  :  Apes  unitissima  quedam  volatilia  sunt.  .  . 

22  zeilen. 

59)  De  atomis. 
Anf.  cLiir  [überschr.  von  hand  4]  :  De  athomis 
Athomorum  genera  sunt  quinque  .  .  . 

7  zeilen. 

60)  Ausspräche  von  Augustinus. 

Dicit  tibi  cristus.     Da  mihi 
ex  eo  quod  dedi  tibi  .  .  . 

8  zeilen. 


Anf.  clih 


Augustinus  ad  avarum. 


HERDRINGER  VAGANTEN  LIED  ERSAMMLI  NG         17:; 

61/2).    Vadu  mori.    '1  gedichte  in  verschiedenen   netren 

61. 

Auf.  i  i.in"  :  Vado  mori  dives  |  aurum  vel  copia  rerum 

(17    Zeilen. 

62. 

.1/'/.  ei  in     :  Sequilar  de  eodem  ;ili;i  Bpecies  metri. 

Vado  mori  |  1 1  ii. Hur''  cedo  i  ecedo 

l  l  teilen. 
63)    De  avaro. 
An/.  cLin,b  :  De  avaro.    fbrluna  avaro. 
Pone  modum  |  pooaro  |  pele  quid  vi-  .  .  . 

4    Zeilen. 
CLilii '  leer. 

6 1)  Brief  des  papstes    Pins  n    medicin.  inhalts.  in  nd. 

übersetz  ung. 
In/,  cliiii'  :  Dil   eeu  epislel    des    paus    pius    ghenoeml    « 1  i  *  - 

iwt-ili'   |im>  medecyu    iheglieu  der....    unleserliches  wort. 

Unterzeichnet  :  Ini  iaer  ons  heren  duseot  vierhonderl  enn  xlvj 

Amen  '. 
clv1     ii.  i  i.\-r  leer. 

*  i.\  -    ton  späterer  band  kurze  lateinische  notizen. 
Misse  saneli  Gregorii 
Di*  Siincla   liinitale   ii] 
9  Zeilen. 


Die  Vagantenliede. / s "  //'  m  I u  n  <j . 
Von  den  20  in  der  beschriebenen  hs.  vereinigten  vaganlen- 
liedern  sind  (.l  meines  wissens  bislang  noch  nicht  gedruckt:  nr  1. 
4.  6.  & — 10.  13.  17.  1^.  der  ausdruck  vagantenlieder  ist  hier  im 
weitesten  sinne  zu  verstehen,  insofern  als  einige  der  stücke  zwai 
sicher  nicht  aus  dem  kreise  der  fahi enden  hervorgegangen  sein  werden, 
aber  ganz  im  tone  der  vagantenpoesie  gedichtet  sind  und  deshalb 
auch  in  der  vorliegenden  Sammlung  mitten  zwischen  eckten  Vertretern 
dieses  litteraturzweiges  platz  gefunden  haben,  zwei  der  ungedruckten 
gedichte,  nr  13  und  IS,  beziehen  sich  auf  historische  ereignisse  und 

1  Aeneas  Siloiut   bestieg    145*5    den   päpstlichen   stuhl,     da    er    hier 
schon    papst    Pius  li    genannt   wird,    fällt    die    kaum    lesbare,    lliich 
niederschrift  des  sli/ckes  nach   14ö->. 


174  HUMER 

lassen    sich    zeitlich    ziemlich    genau    filieren,     nr  13  hesinyt   den 
siey  der  Stadt  Parma  über  das  belayerunysheer  kaiser  Friedrichs  u 
im  jähre  1248   und  ist  offenbar  kurz  nach  der  glänzenden  waffen- 
tat  gedichtet,     nr  18  ist  ein  werbelied  für  den  unglücklichen  kr euz- 
zug  des  französischen    königs  Ludwig  des  Heiligen,  der  gleichfalls 
124S  unternommen  wurde,     die  beiden  gedichte  gehören  also  schon 
der  zeit  des  niederganges  der  vagantenpoesie  an.     als  ein  späteres 
erzeugnis  verrät  sich  durch  die  aufser gewöhnlich  grofse  menge  ein- 
gemischter nationalsprachlicher  Sätze  und  Satzteile  vielleicht  auch  nr  l, 
eine  klage  über  den  geiz  der  reichen,  der  sich  in  mannigfaltigen  Ver- 
änderungen aller  kleidunysstücke  offenbare,    die  heimatliche  spräche 
des  dichters  ist  die  französische,     toie    bei  ihm  die  form,   so  weist 
bei  dem  Verfasser  des  krenzzugsliedes  der  inhalt  seines  sanges  nach 
Frankreich,     drei  stücke,  nr  6,  10  n.  17,  sind  Principia  magistralia. 
Principium  hiefs  ein  feierlicher  act,  der  auf  der  Universität  Paris 
zur  erlangung  der  doctorwürde  im  gebrauch  war.     unsere  principia 
haben  wir  uns   als   vortrage  von   magister-candidaten    zu   denken, 
bei  nr   10  u.   17  tritt  dieser    Charakter  ganz    deutlich  hervor,     in 
10  entwickelt  der  dichter  die  grnndsätze,  nach  denen  er  das  magister- 
amt  zu  verwalten  gedenkt,  während  er  in  17  erzählt,  wie  er  dazu 
gekommen   ist,   sich   um   die  würde   zu  bewerben,     beide   neulinge 
berufen  sich  auf  Weisungen,  die  ihnen  in  Visionen  zuteil  geworden 
sind,     in  nr  6  ist  von  dem  ursprünglichen  charakler  des  principium 
nichts  mehr  zu  bemerken,  das  wort  führt  hier  gar  nicht  der  magist  er 
selbst,   sondern  schüler  eines    lehrers,    die   urlaub   für   das   bevor- 
stehnde    weihnachtsfest    begehren.      nr  8    ist   theologischer  natur  : 
die  versißcierung  eines  beliebten    evangelienlextes.     nr  9  gehört  in 
die  während   des  mittelalters   besonders  beliebte    und  auch  von  den 
vaganten  eifrig  gepflegte  gattung  der  Wettstreite,     hier  sind  es  bier 
und  wein,    die  mit   einander  concurrieren.     nr  4    endlich  ist  dem 
gegenstände  gewidmet,  mit  dem  sich  fast  sämtliche  bereits  gedruckten 
lieder  der  Herdringer  sammhing  befassen  :  der  Verderbnis  der  weit, 
die  sich,  wie  in  einem  stücke   ausgeführt   wird,   in  dem  tief  stände 
der  sitten  als  reif  für  den  Antichrist  erweise,     die  vaganten  fassten 
natürlich   zunächst   bei  den   Verhältnissen   an,   die  sie  aus  eigener 
er  fahrung  am  genausten  kannten  :  den  kirchlichen,  die  demoralisation 
des    clerns    mit    all   ihren    gro/sen   und  kleinen    charakteristischen 
Merkzeichen    ist    der  mütelpunct   ihrer   invectiven.     sie  haben  das 
thema    in   den  mannigfaltigsten    Variationen   behandelt,   ohne   aber 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLl  NG         175 

jemals  irgend  einer  lehre  oder  einriehtung  ihrer  kirehe  zu  nahe 
irrten,  die  kritik,  zu  der  sie  sich  als  sachkundige  Vertreter  dei  Offent- 
lichen  meinung  berufen  fühlten,  galt  immer  nur  unwürdigen  \ 
sonen  bezw.  classen  von  personen,  dem  papst  und  der  römischen 
eurie,  prälaten,  manchen  und  priestern,  niemals  aber  der  sache, 
die  ihnen  heilig  war.  in  die  nulluni/  dieser  satirischen  gedichte 
gehören  nicht  weniger  als  10  der  Herdringer  handschrift,  aufsei  der 
erwähnten  nr  1  :  3.  7.  11.  12.  14—16.  19.  i<>.  weil  die  klagen, 
welche  im  12  und  1".  jh.  erhöhen  waren,  auch  im  II  und  1  ."> 
jh.  noch  ihre  berechtigung  hatten,  wurden  die  wirkungsvollen 
stücke,    als    die    vaganten    seihst    längst    nicht    mehr    durch    die 

lande  ziehend  ihre  warnende  stimme  erhohen,  noch  uniua  widei 
abgeschrieben  und  verbreitet,  jetzt  aber  meistens  fern  dem  getriebe 
dei  weit  in  einsamer  klosterzelle.  so  hat  sie  denn  muh  dei  Lüttichei 
henedictinermünch  seiner  bunten  anthologie  einverleiht.  solche 
sauren  wurden  besonders  gern  an  den  namen  des  Schutzheiligen 
der  vaganten,  des  seiner  bedeutung  nach  vielumstrittenen  'Colins 
geknüpft,  als  dessen  jünger  die  fahrenden  selbst  sich  'Goli- 
arden'  miauten.  zwei  dei  Herdringer  gedichte  führen  letztere 
collectivbezeichnung,  während  sie  in  anderen  Handschriften  untei 
dem  namen  des  'Golias'  geh»,  meistens  mit  dem  zusatz  ponlit'ex 
oder  episcopus  :  nr  7  (Tempus  acceptabile)  überschnellen  -.  Kit- 
mus goliardorum  und  nr  16  (A  tauro  torrida)  betitelt  :  Apo- 
calipsis  goliardorum.  ein  gedieht  trägt  im  IIa  dringer  codex  diesen 
namen,  das  keinesicegs  satirischer  natur  ist,  vielmehr  die  wunder- 
bare kraft  des  weins  besingt,  ein  ausschnitt  aus  der  berühmten 
'Generalbeichte',  nr  2  :  Comedia  goliardorum  (Tales  versus  facio). 
tnnklieder  finden  sich  aufser  diesem  und  dem  rangstreite  zwischen 
hier  und  wein  sonst  nicht  in  der  handschrift.  minnelieder  fehlen 
■tanz,  der  manch,  dem  wir  die  stücke  verdanken,  hat  eben  mn 
solche  aufgezeichnet,  die  für  ihn  und  seine  milbrüder  in  ihrem 
etlichen  stunde  passend  erschienen,  das  trifft  auch  auf  das  au 
5  stelle  stehende  weihnachtslied  zu.  woher  der  schreibet-  seine  anlüge 
hatte,  darüber  sind  natürlich  nur  Vermutungen  möglich,  da  die 
lütticher  gegend  viel  von  den  fahrenden  aufgesucht  worden  ist, 
so  viel,  dass  die  geistlichen  12S7  durch  ein  synodalstatut  dam, 
gewarnt  werden  musten,  das  leben  der  Goliarden  mitzumachen 
(vgl.  Giesebrecht  in  der  Allg.  monalschrift.  IS53,  33  j,  ist  es  seht 
wahrscheinlich,  dass  dort  damals  auch  die  lieder  der  vaganten   auf- 


176  BÖMEK 

gezeichnet  sind,  aus  einer  Lütticher  hs.  hat  ja  auch  Mone  (An- 
zeiger v  [1836]  447)  zwei  lateinische  minnelieder  mitgeteilt. 

Die  meisten  der  bereits  bekannten  stücke  haben  schon  wider- 
holte druck  legung  erfahren,  acht  von  ihnen  sind  von  Wright  nach 
englischen  hss.  veröffentlicht ,  sechs  von  Haureau ,  vier  von 
Müldener  und  eines  von  Fierville  nach  Pariser  vorlagen,  eines 
endlich  von  J Grimm  nach  einer  Brüsseler,  von  Schindler  nach 
der  Münchener  und  von  Werner  nach  einer  Züricher  hs.  unter 
vergleichung  von  zwei  valicanischen.  in  der  Züricher  ist  außer- 
dem  auch  noch  der  an  fang  einer  anderen  nummer  überliefert. 
Haureau  stand  in  einem  falle  neben  den  Parisern  gleichfalls  ein 
vaticanischer  codex  von  hohem  alter  zur  Verfügung,  mehrere  der 
gedickte  sind  auch  in  den  Sammlungen  von  Flacius  lllyricus,  Wolf  und 
Eccard,  eines  bei  Leyser  und  ein  anderes  in  einer  der  Du  Meril- 
schen  yublicationen  gedruckt. 

Das  Herdringer  manuscript  bestätigt  die  alte  erfahrung,  die 
noch  jedesmal  nach  dem  funde  einer  vagantenliederhandschrift 
gemacht  xcorden  ist  :  dass  bei  diesem  beweglichen  kleingute  der  litte- 
ratur  jede  neu  entdeckte  aufzeichnung  eines  Stückes  geioissermalsen 
eine  neue  recension  desselben  repräsentiert,  sicher  nur  bei  wenigen 
schriftstellerischen  erzeugnissen  hat  die  mit-  und  nachweit  so  xoenig 
fremdes  eigenlum  respecliert,  icie  bei  diesen  gedickten,  die  größten- 
teils ohne  den  namen  ihres  Urhebers  als  herrenloses  out  im  kreise 
der  fahrenden  umliefen,  gleichwie  die  Volkslieder  unter  der  grofsen 
nii'nge  des  volkes.  iveit.  bald  keine)-  mehr  wüste,  icem  ein  stück 
angehörte  und  in  welcher  fassung  es  von  ihm  ausgegangen  war, 
fühlten  vortragende,  Schreiber  und  wer  sonst  die  lieder  verbreitete, 
sich  berechtigt,  mit  den  texten  nach  belieben  zu  schallen,  dh.  nicht 
nur  wenn  eine  stelle  aus  irgend  einem  gründe  einer  änderung 
bedurfte,  bessernde  hatid  atizulegen,  sondern  auch  ganz  einwand- 
freie worle,  ausdrücke  und  salze  mit  anderen  zu  vertauschen,  die 
mehr  nach  ihrem  geschmacke  waren,  bei  besonders  beliebten  stücken 
ligt  eine  fülle  von  Varianten  vor,  und  wer  vor  die  aufgäbe  gestellt 
ist,  zu  entscheiden,  welches  die  ursprüngliche  lesart  gewesen,  wird 
öfter  vergebens  zu  ermitteln  versuchen  als  zu  einem  sicheren 
lesultate  kommen. 

H  —  so  soll  die  Herdringer  niederschrift  fortan  bezeichnet 
werden  —  zeigt  mit  keiner  der  bislang  ausgenutzten  hss.,  soweit 
die  drucke  und  ihr  apparat   eine  controlle  gestalten,  eine  besonders 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLI  NG         177 

mihi-    verwantschaft.      wol  scheint   sie   sich   das  eine   oder  </»/*'' 
nuil  cm  •paar  Strophen  hindurch  einer  bestimmten  von  unseren  vor- 
lagen anzuschliefsen,  aber  gleich  darauf  weicht  sie  von  dieser  toi 
ab  und  stimmt  m/t  einer  anderen  gegen  die  erste  überein  odei 
ganz  eigene  woge,     das  gilt  sowol  im  grofsen  von  der  auslassung 
und  zufügung  ganzei  Strophen  und  ihm  anordnung,  wie  im  kleinen 
von  der  Stellung  der  reis?  und  der gestaltung  des  textet  im  einseh 
Der  wert  der  Überlieferung  von  II  ist  bei   den  einzelnen 
dichten  ein  ganx  verschiedener,     ihr  Schreiber   dürfte   dafür  kaum 
verantwortlich  zu  machen  sein,  denn  es  ist  nicht  einzusehen,  wes- 
halb   er  hier   völlig   oder  nahezu   correct    abgeschrieben    und  dort 
auf  schritt  und  tritt  gefehlt  Indien  sollte,     offenbar   ist    die  Quali- 
tät    der    vorläge  entscheidend  gewesen,      bei    dem    einen   stücke   nur 

sie  ijut  und  die  Berdringer  abschrift  ermöglicht,  irrtümer  unsere) 
bisherigen  Überlieferung  zu  corrigieren,  bei  dem  andern  wider  sind 

fehlerlm/te  oder  minderwertige  lesarten  von  II  nach  unseren  alten 
texten  zu  berichtigen. 

Zu  einer  durchgehende  sicheren  feststellung  des  urspünglichen 
textes  dei  gedickte,  soweit  sie  nach  dem  oben  ausgeführten  über- 
haupt möglieh,  ist  natürlich  auch  nach  dun  j unde  von  II  die  zeit 
noch  nicht  gekommen,  dazu  müste  das  handschriftenmaterial  noch 
weit  mehr  vervollständigt  werden,  höchst  bedauerlich  ist  aufser- 
dem,  dass  Haureau  nicht  die  lesarten  jeder  einzelnen  von  ihm  ein- 
gesehenen handschrift  verzeichnet,  sondern  nur  auf  grund  einer 
anzahl  von  aufzeichnungen  einen  nicht  controllierbaren  texl  recon- 
slruiert  hat.  bei  neueren  systematischen  nachforschungen  nach 
handschriftlichem  material .  vor  allen  in  den  Übrigen  bibliotheken 
Frankreichs,  stünde  zu  hoffen,  dass  auch  noch  altere  nieder- 
schriflen  zu  tage  kommen  würden,  a/s  uns  jetzt  zu  yebote  steint, 
die  älteste  der  Wriyhtschen  englischen  handschriften  ist  erst  in  der 
zweiten  hülfle  des  13  jahrh.  heryestellt  und  die  Pariser  gehören 
fast  sämtlich  dem  14  und  15  jahrh.  an,  sie  sind  zum  grofsen 
teil  noch  jünyer  als  II.  jedesfalls  liyt  zwischen  der  entstehung 
der  yedichte  und  der  ältesten  uns  bis  jetzt  bekannten  copie  eine 
yanz  beträchtliche  spanne  zeit,  welche  an  den  Heilem  nicht  sinn- 
los vorübergegangen  ist.  der  von  Werner  benutzte  Züricher  co>le.r 
i  eicht  zwar  l-is  in  das  ende  des  12  Jahrhunderts  zurück,  aber  bei 
dem  yedichte,  dessen  an  fang  in  ihm  überliefert  ist,  entspricht  die 
gute  des  textes  keineswegs  dem  alter,  und  bei  dem  anderen  handelt 
Z.  F.  l>.  A.  XL1X.     N.   Y.  XXX VII.  12 


178  BÜMEK 

es  sich  nur  um  ein  paar  Strophen,  der  Züricher  hajulschrift 
kommt  die  von  Haureau  für  eines  der  stücke  benutzte  vaticanische 
au  alter  am  nächsten;  sie  ist  gleichfalls  am  ende  des  12  oder 
doch  sicher  am  an  fang  des  13  jahrh.  geschrieben,  deshalb  ist  bei 
ihr  ganz  besonders  zu  bedauern,  dass  der  herausgeber  den  text 
nicht  in  einem  kritischen  af parate  festgelegt  hat. 

Ich  habe  mich  bei  der  aufstellung  der  lesarten-verzeichnisse 
nicht  damit  begnügt,  die  abweichungen  H.s  von  irgend  einer  unserer 
ausgaben  anzumerken,  sondern  um  in  jedem  einzelnen  falle  ihr 
Verhältnis  zu  der  anderweitigen  Überlieferung  aufzuweisen,  sind 
die  lesarten  sämtlicher  collationierten  Codices  und  vorliegenden 
ausgaben,  oder,  wo  deren  zahl  au fser gewöhnlich  grofs  war,  wenigstens 
die  der  mafsgebenden  unter  ihnen  zusammengestellt,  beim  citieren 
wend  ich  der  gleichmäfsigkeit  wegen  bei  strophischen  gedichten 
stets  die  praktischere  Zählung  nach  Strophen  an,  auch  wenn  unsere 
gedruckten  texte  nur  die  verse  numerieren,  die  noch  gar  nicht 
oder  nur  teilweise  bekannten  stücke  von  H  bring  ich  vollständig 
zum  abdruck,  und  zwar  unter  auflösung  der  abkürznngen  und  mit 
modernisierter  interpnnction ,  aber  unter  beibehaltung  der  Ortho- 
graphie der  vorläge  mit  der  einzigen  ausnähme,  dass  n  und  v, 
i  und  j  in  der  jetzt  üblichen  weise  verwendet  werden  sollen. 

1)  De  vestium   transformatione. 

Von  den  eingangsversen  der  Metamorphosen  Ovids  ausgehend 
besingt  der  dichter  die  mannigfaltigen  xounderbaren  Verwandlungen 
alter  kleidungsstücke  in  neue :  wenn  die  cappa  schäbig  geworden  ist. 
wird  aus  ihr  ein  mantellus  zurechtgeschnitten,  aus  dem  femininum 
wird  ein  masculinum.  das  zur  winterzeit  über  dem,  mantel  getragene 
caputium  geht  über  in  ein  sackartiges  almutium.  das  ist  bei  allen 
nationen  so,  bei  Engländern,  Deutschen,  Franken  und  Normannen, 
auch  der  manlellus  erfährt  wunderbare  Veränderungen,  wenn  er 
hübsch  neu  ist,  wird  er  sorgfältig  im  schranke  aufgehoben,  beginnen 
die  haare  aber  spärlicher  zu  werden  und  die  fäden  zu  reifsen,  dann 
wird  der  pelz  abgetrennt  und  zu  einem  sorcotium  verwendet, 
der  mantel  selbst,  der  beschnittene  Jude  (apella),  wird  durch  eine 
gründliche  wassertaufe  von  allem  makel  gereinigt  und  geht  mit  einem, 
neuen  pelz  eine  neue  ehe  ein.  dadurch  macht  er  sich,  weil  der 
alte  pelz  noch  am  leben,  des  Verbrechens  der  bigamie  schuldig,  erst 
ist  aus    dem   haarigen   Esau   ein   Jakob   geworden,   nun   aus    dem 


HERDRINGER  VAGANTEN  LI  EDERSA  MM  LI  NG    IT'.» 

Jakoh  wider  ein  Haan,  ist  der  mantel  b  jähre  alt  und  nicht  mehi 
mit  anstund  zii  tragen,  dann  nehmen  die  klugen  leule,  gelehrige 
schaler  des  Bryson,  nur  qusdratura  circuli  vor.  aus  dem  runden 
mantel  machen  sie  ein  Viereck,  und  es  ersteht  eine  colta.  diese  geht 
wliler  vi  ein  Borcotium  über,  und  so  werden  die  oenoandlungs- 
kunststilcke  noch  in  mannigfacher  weise  fortgesetzt,  dabei  kommen 
die  wunderbarsten  verwantsehaftsverhältnisse  heraus,  als  im  höchsten 
grade  bedauerlich  bezeichnet  es  der  dichter,  dass  ohne  alle  bedenken 
ehen  gebrochen  würden,  und  er  fordert  deshalb  zum  schlnss  die 
mantel  auf,  zu  ihren  ersten  frauen  zurückzukehren,  widrigenfalls 

ihnen  dei  kiichenbesuch  verboten  Würde.  iei  nntwoi  tlich  sind  natür- 
lich die  träger,  der  ist  fluchwürdig  —  führt  er  aus  — ,  der  seine 
kleider  einen  ehebruch  begehen  Uisst.  abgebrauchte  stücke  sollen 
den  armen  yegeben  werden  mich  den  warten  Christi  Dispereil  el 
detlit  pauperibus.  dem  reichen,  der  sich  keine  neuen  kleider  an- 
schafft, soll  es  gehen  wie  Dathan,  den  die  etile  verschlungen,  das 
ist  die  quintessenz  des  gedichts.  es  wird  die  arbeit  eines  armen 
vaganten  sein,  der  kleidernot  am  eigenen  leibe  erfahren  hat  und, 
als  frucht  seiner  gelehrten  Studien,  mit  kirchenrechtlichen  gründen 
gegen  das  verändern  und  weitertragen  aller  kleidun gsstücke  seitens 
der  i  eichen   vorzugehn   vermag. 

Das  gedieht  steht  in  naher  beziehung  zu  Carmina  Burana 
\<  iv  (ed.  Schindler  7  1  ff),  macht  schon  die  beiden  stücken  gemein- 
same tendenz  der  Verspottung  des  in  den  kleiderverwandlungen 
sich  bekundenden  geizes  der  reichen  eine  abhangigkeit  wahrschein- 
lich, so  wird  diese  durch  mehrere  auffallende  Übereinstimmungen 
in  der  ausführung  zur  yewisheit.  der  kürze  halber  bezeichne  ich 
im  folgenden  das  gedieht  der  Carm.  Bur.  mit  A,  das  unsrige  mit 
B.  gleich  der  eingang  von  B,  das  Metamorphosen-citat,  ist  auch 
m  A  str.  9  angewant;  während  jedoch  in  B  die  verse  wörtlich 
citiert  werden,  hat  der  dichter  von  A  Ovids  worte  umgesetzt  und 
mit  den  seinigen  verschmolzen: 

Forma,  cum    in  varias 
i'ormas  siut  mutata 
vestimenta  divitum 
vice  variata  — 

In   nova   feit  animus 
dicere  mutata 
vetera,  vel  potius 
sint  ioveterata  : 

12* 


180  BÖMER 

Wo  es  B  str.  4  keifst,  dass  die  Kleidungsstücke  mit  der  Um- 
wandlung ihr  geschlecht  änderten,  wird  auf  das  geschieh'  des 
Tiresias  hingewiesen,  dessen  kennlnis  der  dichter  gleichfalls  der 
leelüre  Ovids  (cfr.  Melam.  in  322  //)  verdankt  haben  wird,  der- 
selbe himeeis  findet  sich  auch  A  str.  12.  endlich  ist  die  androhung 
der  exeommnnication  für  alle  reichen  geizhülse,  die  Veränderungen 
an  den  kleidem  vornehmen  liefsen,  anstatt  sich  neue  anzuschaffen, 
beiden  gedichten  gemeinsam,  diese  drei  Übereinstimmungen  setzen 
meines  erachtens  eine  gewisse  abhängigkeit  der  stücke  von  einander 
aufser  allen  zwei  fei.  im  übrigen  aber  gehn  die  beiden  dichter  selb- 
ständig ihre  eigenen  wege.  der  von  A  beruft  sich  nur  auf  drei 
kleidnngsstücke  :  cappa,  pallium  und  iuppa.  indem  er  die  von  den 
beiden  ersten  abgeleiteten  verben  cappare  und  palliare  recht  glück- 
lich und  wirkungsvoll  in  der  bedeutung  von  'smt  cappa  bezw.  zum 
pallium  machen'  gebraucht  und  von  diesen  Zeitwörtern  wider  neue 
Substantive  bildet  zur  bezeichnung  der  personen,  welche  jene  tätig- 
keit  vornehmen,  deutet  er  die  Verwandlungen  nur  in  aller  kürze 
an.  B  exemplificiert  auf  eine  größere  anzahl  von  kleidern  und 
veranschaulicht  auch  die  art  und  weise,  wie  die  mannigfaltigen 
Veränderungen  vor  sich  gehn.  ein  nicht  unbedeutender  vorzug 
B.s  vor  A  ligt  in  der  motivierung  der  exeommnnication.  in  A 
wird  ein  neues  decret  des  subpriors  Walter  verkündet,  dass  keiner 
sich  untersteht  solle,  alte  mäntel  aufzubügeln  oder  mit  kreide  zu 
färben,  und  dann  ohne  weitere  begründung  acht  und  bann  ausge- 
sprochen über  alle,  welche  sich  dagegen  vergehn  sollten,  und  gegen  die 
recappaiores,  capparum  veterum  repalliatores  et  omnes  huiusmorli 
reciprocatoies.  ganz  anders  würkt  das  anathema  in  B.  hier  wird 
str.  33  unter  glücklicher  fortführung  der  früher  begonnenen  per- 
sonification  der  kleider  diesen  selbst  die  kirche  verboten,  und  zwar 
weil  sie  sich  durch  den  ehebruch  eines  Verbrechens  schuldig  gemacht, 
für  welches  nach  canonischem  recht  die  schwerste  der  kirchenstrafen 
z%i  gewärtigen  war.  natürlich  wird  hernach  auch  über  die  verant- 
wortlichen träger  der  kleider,  deren  geiz  an  ihrem  ganzen  sünden- 
leben  die  schuld  trage,  der  bannslrahl  herabgerufen,  wir  dürfen 
annehmen,  dass  die  einfachere  fassung  von  A  die  ältere  ist,  die  den 
grnndgedanken  angegeben  hat,  welcher  dann  in  B  eine  geschicktere, 
freilich  auch  etwas  künstlichere  ausführung  gefunden  hat.  — 

Von    dem    vergleiche    des    pelzgefütterten    und    pelzberaubten 
mantels  mit  Esau  und  Jakob   (str.   17,  2j    ist  auch   in  einem  von 


EIERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLI  XG         181 

Wright  (The  laiin  poems  commonly  attributed  to  Walte)  Ma\ 
London  1841,  S5)  mitgeteilten  Epigramms  de  mantello  .1  ponlifice 
dato  gebrauch  gemacht,  ein  knauseriger  pontifex  hat  dem  dichter 
bei  bitterer  kälte  einen  manlellus  sine  pluma  gegeben,  der  neue 
besitzet  redet  den  mantel  an  und  bittet  ihn,  regen  und  stürme  fern" 
zuhalten,  der  mantel  erwidert,  das  würde  ei  gerne  tun,  aber  leider 
hulte  er  weiter  pilu*  noch  vellus,  ei  fei  ein  Jakob,  kein  Esau.  — 
zur  bedeutung  des  namens  Berodes  {str.  'itij  ist  Rabanus  Maurus, 
De  11  mm  so  Mii/ne  Patrologia  ser.  hat.  111,  sp.  83)  zu  > 
gleichen  (Herodes  ioterpretalur  pellicius  etr.).  die  in  den  latei- 
nischen text  eingemischten  französischen  Wörter  und  Sätze,  welche 
in  einigen  Strophen  so  reichlich  verwendet  sind,  dass  das  latei- 
nische 'in  ihnen  zurücktritt  oder  gar  verschwindet,  lassen  in  dem 
Verfasser  einen  Franzosen  erkennen,  das  gedieht  besieht  uns  38 
sechszeiligen  Strophen,  von  denen  jede  durch  eine  zweimalige  ver- 
bindung  von  '2  trochäischen  achtsilblem  mit  1  trochäischen  sieben- 
silbler  in  der  reimfolge  aabccb  gebildet  wird,  es  ist  die  flotte  form, 
welche  zb.  auch  Carm.Bur.  \\\\\  (Prnpter  Sion  non  lacebo)  und 
17:'.  (Deoudata  verilate)  aufweisen,  sog.  'tactwethseV  (WMeyer) 
hat  der  dichter  'Initial  angewendet ,  doppelst/Inge  Senkung  1  mal 
35,  5).  hiatus  im  inncm  des  veises  ist  Ins  auf  2  Julie  (1,  1 
u.  27,  4  6««  französ.  lorture  mit  folgendem  appellalur)  gemieden, 
der  reim  ist  einmal  unrein  il2,  3  U.  •  >),  doch  hat  es  mit  dieser 
stelle  eine  besondere  bewantnis,  indem  französisches  Ibrnicalion 
auf  lateinisches  enniugium  reimt.  —  bei  feststellung  des  franz. 
'es  hat  mich  herr  pro  f.  dr  Mettlich  in  liebenswürdigster  weise 
unterstützt. 

Ue    v  es  tiu  in    transformatione1. 

In   Qova  feiY  animus  mutatas  dicere  formas 
Corpora;  di  ceptis,  nam  vos  mutastis  et  illas, 
Ispirate  meis! 

:.  1    (1  vers  des  Ovid-citdU)  hs.  fehl  er  haß  :  fer, 

['  während  ich  die  correctur  obiger  Zeilen  lese,  geht  mir  von  Inrm 
pro/.  Wilhelm  Mei/er  in  Göttingen  die  dankentwerte  Mitteilung  zu,  das» 
15  stmphen  untres-  gedieht*  (1 — 4.  0—14.  17.  IS)  gedruckt  sind  l>ei  Wfight 
The  political  songs  of  England  1S79,  51//.  indem  ich  die  tan.  dieser 
fastung  hier  kurz  nachtrage,  liemerk  ich,  data  WMeyer  in  einer  arbeit 
über  die  nnoni/men  lieder  des  Primas  das  nach  seinen  ermittelungen  unter 
diese  gehörende  stück  ausführlich  behandeln  wird,  sobald  er  die  eben 
begonnene    ausgäbe    der    von    ihm    aufgefundenen    'Otcforder   lieder   des 


182 


BÖMER 


Cappa  fit  mantelli  deus, 
ergo  potest  esse  reus 
utriusque  veneris. 

6  Bruma  tandem   revertente 
tost   ont   sor  le  mautial  ente 
plerique  caputium. 
Alioquiu  disquadratur, 
de  quadrato  rotondatur, 
transil  in  almulium. 

7  Si    qui    restant    de    morsellis 
cesi  panni  sive    pellis, 
non  vacant  officio: 
Ex  hiis  fiuüt  manuthece, 
mauutheca  quidem  grece 
manuura  positio. 

8  Sic   ex  veste  vestem  forma  nt 
anglois,  thiois,  franchois,  nor- 
omnes  generaliter;        [mant, 
Ut  vix  unus  excludatur ; 
ita  cappa  decliuatur, 
sed  mantellus  aliter. 

9  At  hie  primo  recens  anno 
nova  pelle,  novo  panno, 
in  archa  reconditur. 
Raresceule  tandem  pilo 
iuneturarum  rupto  filo 
pelle  circumeiditur. 

4,  2  hs.  fehlerhaß  refutaut. 

Primas  (des  7/iagister  Hugo  von  Orleans)'  beendigt  haben  wird,  ich  be- 
daure  lebhaft,  dass  ich  auch  diese  mit  manchen  hergebrachten  urteilen 
aufräumende  lehrreiche  publication,  deren  erster  teil  kürzlich  erschienen 
ist  (Göltinger  nachrichlen  1907,  75  ff),  für  meine  arbeit  nicht  mehr  habe 
benutzen  können,  an  letzter  (23)  stelle  steht  unter  den  Oxforder  Primas- 
liedern unsre  nr  14.  eine  commenlierte  ausgäbe  dieses  der  erklärung 
manche  schwierigkeilen  bietenden  gedichts  wird  die  forlselzung  von 
Meyers  Veröffentlichung  bringen.  —  abweichungen  des  Wrighl- 
schen  textes  :  1,  6.  Transmutare.  2,  1.  et  st.  vel.  5.  Transmutatur. 
6.  mutatis  [!].  3,  4.  Demutantur.  5.  recenter.  4,  2.  Prius  luptam  .  .  . 
reciutant.  4.  donatur.  5.  sit.  6,  2.  unt  sur  !a  chape  ente.  4.  de- 
quadratur.  5.  ittundatui.  7.  1.  quid  lestat.  3.  vacat.  9,  1.  Adlnu. 
4.  Recedente.         6.  pellis. 


1  Ego  dixi  :  dii  estis; 

qne  diceuda  sunt  in  festis, 
quare  pretermitterem  ? 
l)ii  revera,  qui  potestis 
in   figuram  nove  vestis 
transformare  veterem! 

2  Pannus  receus  vel   novellus 
fit  vel  cappa  vel  mantellus, 
sed  seeundum  tempora. 
Primum  cappa,  post  pusillum 
transformatur    hec    in    illum: 
sie  mutantur  corpora. 

3  Anliquata  decollatur, 
decollata  manlellatur, 
sie  in  modum  protlieos 
Transformantur  vestimenta, 
uec  recentis  est  inventa 
lex  melhamorphoseos. 

4  Cum  figura  sexum  mutant, 
rupta  prius  clam  rec/utant 
primates  ecclesie. 

ISee  donantur,    res  est  certa, 
nisi  prius  sint  experta 
form  na  m  tyresie. 

5  Cappam   quidem   feminini, 
sed  mantellum  masculini 
eonslat  esse  generis. 


IIKlUim.MJKK  VAGANTENLlEKKHSAM.MI.l  M. 


LS3 


in  Sic  mantellus  fii  apella, 

Chi   ^ isl   li   dras   ft   la   pel  la 
posl  primum  divortium; 
\  priore  Beparata 
(um  Becuodu  reparata 
ir.uisit  im  Borcoliuro. 

11  QllOil    delirium    iliees   maius? 

illii'l  palaro  est  cootra  ni>, 
naiii  si  oupsit  .dien, 
Cooiugium  violavit, 
(Uni)  se  novo  copulavil 
reclamante  veleri. 

12  M'est  de  coQCÜle  ne  de  seone 
d'espouser  deus  dras  une 


L6  S'ilh  est  de  saie  dunt  l'endrois 

emble, 

l'eovers  pur  ce  feit,   i  e   moi 
semble, 

cooverti  Bimpliciter. 

Kar  asseis  est  simple  convei  se, 

ki  ce   dedeos  defors   enverse 

por  üser  dupliciter. 
17  l'ilis  expers,  usu  l'raclus, 

ex  esau  iacob  factus, 

quanl   tuit   li   poilh   en   sunt 

Inversatur  vice  versa     [chaü, 

rursus  idem  ex  cooversa, 

ex  iacoli  fii  esau. 


qu'ilh  i  ai  loi  nicalion.  [penne,      18  Pars  pilosa  foris  paret, 
Peirailtuut  liec  decreia ?  oon ;         seil  iutrorsus  jnh>  carel 


sed  leslalur  omuis  cauon 

QOQ    esse   CODlUgium. 

13  P.iiiiui>   primus   circumeisus, 
viduatus  et  divisus 
a  sua  pellicula 
l.im  experlus  Judaismum 
emuodalur  per  baptismum 
a  quacumque  macula. 

14  Circumeisus  mundatusque 
esi   adeptus    utiiusque 
le^'is  lestimonium. 
Quem    baptismus    emuudavit, 
cum  seeuuda  federavit 
pelle  matrimonium. 

l  .  Bigamus  est,  quod  amavit, 
more  suo  bigamavit, 

m     se    revestenl    noslre  amis. 
Prudentis  e>t  et  astuti 
decollatis  cappis  uti 
et  maotellis  bigamis. 

Hi,2.  Ci  git  li  drap.  6.  consortium.  11,2.  Istud.  -1.  est  \iolHlum. 
5.  I'uin  fit  novo  copulalum.  12,2.  Deus  dras  espuser  ä  une  pene.  3.  E  si  nus 
lejuggium.  4.  hoc.  5.  reclamat.  13,  1.  primum.  14,  5.  seeundavit.  17,'}. 
Quant  li  peil  en  e*t  chaü.     IS,  4.  lamen.     k'il  n'i  eit  perle.     5.  pur  deserte. 


veiusias  abscoodita.    [aperte, 
Dalur  landein,  c'esl  chose 
M'ivienli   por   sa   desserle 
mantellus  ypoerita. 
l!)  I>e  laneis  liec  dixisse, 
sed   uti  Dam   et  lecisse 
ad  preseos  sutTiciat. 
De  sericis  nunc  dicenuuin, 
nun  est  iir  mais  reliceudum, 
quas  ex  hiis  elliciuut. 

20  Ut  mautellus  lii  quinquenuis 
nee    videtur    iam    sollempni>, 
diem  peremptorium 
nun-   assiguant,    ut  mactetur 
et  maetatus  trausformetur 
in   coopertorium. 

21  Quidam  ita  sunt  autiqui; 
hei  afeubler  onL  relenqui 
in  couspeclu  populi,    [pointe, 
Willi  translatent  en  coute 


1S4 


BÜMER 


cnr    de    laine    le    coute    l'iint 
örisonis  discipu/i.         [pointe 

22  Scibilis  est,  scita  nundum 
quadratura  hec  secundum 
verba  Aristotelis. 

Modo  tarnen   non  est  ita, 
est  a  multis  enim  scita, 
que  tunc  erat  scibilis.    (rem, 

23  Formant,  quadrant  manlella- 
transforniantes  circularem 

in   modum   quadranguli. 
Gratuleotur  hec  persone 
invenisse  cum  brisone 
quadraturam  circuli. 

24  Item  quod  est  per  se  notum, 
cottam  vertunt  in  sorcotum 
mutilatum   primitus; 

Cum    manlellj«s    ex    irequenli 
et  impulsii  vehementi 
perforavit  cubitus, 

25  Arte  mira  translatoris 
transportalur  in  sororis 
locum  soror  altera. 
Locus  enim  altercatur, 
dum  sinistra  dexteratur, 
sinistratur  dextera. 

26  Nunc  dicendum   de  herode, 
que  diceuda  sunt  de  Code  (?): 
lierodes  pellicium 

Sonat,  idem  fit  pylatus 
circa  pannos,  circa   latus 
sortitus  calvitiuni. 

27  Fit  pilatus,  sed   pylato 
ab  herode  mox  sublalo 


generatur  filia, 
que  forture  appellatur, 
que  sorcoto   copulatur, 
kar  aguilh'  et  61h   i  a. 

28  Intercedit  parenlela, 

nest  pas  loiaus  hom  ki  tel  a, 
nam  in  gradu  proximo 
Sunt  affines  contra   iura, 
celebratur  hec  iunctura 
ritu   nefandissimo. 

29  Est  sorcoti  cotta  mater, 
f'orrature   numquam   pater 
negalur  pellicius. 

Hec  est  uxor,  hie  maritus; 
ergo  iuris  imperitus 
et  vir  legum   nescius, 

30  Hui  sorcotum  forature 
maritavit  geniture: 
coutra   clamat  regula. 
Inter  tales   nunwjuarn   talis, 
quia  non  est  maritalis, 
intercedat  copula. 

31  Hiis  sorcotis  clericorum 
interdico  prorsus  chorum 
propter   hoc  incommodum. 
Non   nascantur  nisi   patre 
ceso  sive  cesa  matre, 
quod  est  contra  synodnm. 

32  Pater  primum   detruncatur, 
ut  ex  patre  mox   nascatur 
filia  manieiis. 

Maler  pannis   decurtata 
natam   parit  mulilala 
utrobique  braohiis. 


21.  6.  der  erste  buchstabe  des  Verses  ist  in  der  hs.  verwischt,  über- 
geschrieben über  .  .  .  risonis  :  bris,  in  elench.  [sc.  Aristotelis/,-  hs.  disci  [ver- 
stiimmeU).  22,  2.  übergeschrieben  über  quadratura  :  s.  circuli.  22,  3. 
übergeschrieben  über  Aristotelis  :  in  libro  predicamenlorum.  22,  5.  über- 
geschrieben über  scita  .•  s.  quadratura  circuli.  24,  4.  hs.  fehlerhaft 
mantella-.           "Jy.  2.  hs.  fehlerhaft  ne  statt  ne  =  nrst.J 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLI  NG 


18; 


De  mantellis  mandatum  do, 
ad  incestas  qui  Becundo 
Iransieruol  oupti 
Revertaotur  ad  uxores 
aul  mandata  transgressores 
non  in  Iren  I  ecclesias. 
:;i  Je  iuge  par  droit  el  par  voir, 
k'eglise  ne  <loii  recivoir, 
qui  \  i vis  uxoribus 
Criminale  comiserunt, 
dam  aecundis  adheserunl 
relictis  prioribua. 
Vestea  in  se  iaoi  mechantur, 
i.-iii)  .'id  illas  derifantur 
noslre  carnis  vitia. 
Homo  mechus,  vestis  mecha, 
quia   hominis  mens  esl   ceca, 
Facil  avaritia. 

Vir  dampnate  quidem  mentis, 
qui  de  suis  indumenti9 
format  adulterium! 


Si  nec  crimen  perhorrescit, 
saltem  frequens  erubescal 
plebis  improperium. 

37  Semper  oo»a  constal  • 
t'i^o  numquam  esl   uec< 
renovari  vetera. 
Cum  boc   li;«t    per    incestum, 
nirliil  magis  inhonestum 
quam  vestis  adullera. 

58  Hoc  mandatum   do  personis: 
veslimentis  uti  bonia 
relictis  veteribus. 
Ei  deotur,  iini  pauper  sit, 
quia  scriptum  est :    'dispersil 
et  dedit  pauperibus'. 

39  Mo  decretum  ad  extrema, 
(juoil  sii  «lives  analberaa, 
qui  lias  vestes  iuduit 
Ouasi  satus  sit  per  sathao, 
sii   illius  pars  cum  dathau, 
quem  tellus  absorbuit. 


2)  Co moedia  goliar  darum. 

Anfang  :  Tales  versus  facio,  quäle  vioum  lulio. 

Die  außerordentliche  beliebtheit,  deren  sich  das  glanzstück  der 
vagantenlitteratur,  die  Generalbeichte  des  Erzpoeten,  zu  erfreuen  ge- 
habt hat,  kommt  zum  ausdrnck  in  den  zahlreichen  aufzeichnungen, 
die  ihr  zuteil  geworden  sind,  damit  ist  das  gedieht  aber  auch  in 
einem  ma/'se  wie  nur  wenig  andere  willkürlichen  Veränderungen 
nach  dem  geschmacke  des  einzelnen  ausgesetzt  gewesen,  der  neu- 
•Iruck  des  oft  veröffentlichten  Stückes  bei  J Weiner  (Beitr.  z.  künde 
der  tat.  litt,  des  ma.s,  2  auf!.,  1905,  "200//")  mit  dem  Varianten- 
apparat von  1 1  verschiedenen  abschriften  veranschaulicht,  wie  die 
sangeslustigen  gelehrten  lenle  des  mittelalters  mit  dem  Hede  um- 
gegangen sind,  am  meisten  gefielen  die  verse,  welche  die  freuden  des 
kneipenlibens  und  die  unndeiliaren  würkungen  des  weins  besingen. 
sie  wurden  deshalb  aus  dem  rahmen  des  ganzen  ausgelöst  und 
dosierten  als  besondere  stücke,  in  dem  codex  Venetns  SMarci 
lat.  cluss.  \iv,  nr  cxxvm,  aus  dem  J Grimm  (Kl.  sehr,  in  7s//)  v,'r" 


186  BÜMER 

sus  primatis  presbiteri  mitteilt,  erscheinen  im  ansclduss  an  diese 
verse  die  Strophen  11 — 14  des  Sckmellerschen  textes  (67/f),  in 
der  französischen  handschrift,  ans  der  Du  Meril  (Poesies  popul. 
tat.  205)  geschöpft  hat,  strophe  12 — 17  als  selbständige  stücke. 
in  H  sind  die  Strophen  16,  17,  12  und  11  als  'Comedia  goliar- 
dorum'  zu  einem  gedieht  vereinigt,  die  beiden  ersten  Strophen 
singen  das  lob  der  eigenartigen  kraft,  welche  der  wein  und  ein 
gutes  mahl  den  dichtem  und  —  so  hei f st  es  hier  —  propheten 
zu  verleihen  pflegen,  in  dem  'Meuni  est  propositum'  (str.  12) 
wird  alsdann  das  kneipenleben  überhaupt  gepriesen,  uach  dieser 
strophe  fällt  die  sonst  voranstehende  elfte  nicht  nur  bedeutend  ab, 
sondern  es  verrät  gradezu  eine  gedankenlosigkeit  des  redaclors, 
nachdem  die  kneipe  bereits  gepriesen  ist,  noch  singen  zu  lassen 
'Ultimo    [statt  Terlio]  capiiulo  memoio  tabeinani'. 

L  es  arten  von   H. 

Für  die  lesarlen-verzeichnisse  von  H  bedien  ich  mich  hiei 
wie  auch  bei  den  folgenden  gedichlen  im  anschluss  an  Werner 
folgender   chiffern  für  die  hss.: 

Z  =  hs.    C    58/275    der   sladlbibliolhek   Zürich:    sie    bietet  nur 

die  beiden  ersten  Strophen  von  H  als  12  u.  13  ;  Werner  200/7". 

B  =  cod.    lat.    Monac.    4660    (Benediclbeuern   170);    Schmeller 

67/r. 

P  hier  =  bibl.  nat.  paris.  ms.  11867;  Haureau  in  Nolices  et 
Exlrails  xix  2,  266/7'.  Haureau  hat  die  3  ersten  Strophen 
von  H  auch  hintereinander  als  str.  17 — 19,  die  vierte 
aber  an  1 1  stelle  wie  Schmeller. 
S  =  hs.  aus  Stablo  in  Brüssel  2071;  J Grimm  Gedichte  des 
Mittelalters  auf  könig  Friedrich  i  den  Slaufer  (1844), 
67  ff  =  Kl.  sehr,  in  70  ff.  die  4  Strophen  von  H  stehlt 
hier  als  16.  17.  12  u.  11. 
V  =  cod.  Val  Christ,  reg.  344;  nach  einer  für  Werner  ausge- 
führten   collalion.     vgl.   über  die  hs.   Haureau  aao.   231  ff. 

...  „     ,  .         „_0  von  Wriahl  (The  Latin  poems  com- 

a    —  fiarleian.   9  /8 


£/«  ==  Harleian.   2851 
H3  ==  Harleian.   3724 
C  =  Collon.    Vesp.  A.  xix 
6'2  =  Collon.    Vesp.   B  xm 


monly  allribuled  lo    Waller  Mapes 

71/7)  zur  herslelluug  seines   textes 

benutzt.       hier    die    beiden    ersten 

Strophen  von   H  als   18  w.  19,  die 

beiden  leisten  als   12   u.    11. 

F  =  cod.    Valic.    7260;    nach    einer    für    Werner    ausgeführten 

collalion. 

str.l  (=  Schmeller  16),    v.  5.  valet.     6.  quoi)    mtf  &IPEPPV 

stall  valeiil — quae.       7.  talices  m.  PSV  st.  calicem.       2(17),  1.  Nuu- 

quain  mihi  spiritus  st.  Mihi  niinquam  spiritus.        2.  prophetie  st.  poetrie 


HERDRINGER  VAGANTENL1EDERSAMMLI  NG         187 

(poesiae  C).  nach  II  verleiht  ein  gulet  mahl  auch  die  gäbe  den 
prophelie,  nachdem  ttr.  I  i  <>n  der  poetischen  anregung  die  rede  ge- 
wesen ist,  wird  hier  dem  essen  und  irini.ru  eine  neue  kraß  beigelegt, 
au/  die  das  miranda  falur  im  leisten  verse  der  Strophe  bezogen  werden 
könnte.  5.  dum  m.  IIXS  st.  cum. — aula  st.  arce.  3  (12),  1.  esl 
fehlt  hinter  Heum.  ::.  vinaque  sint  proxima  //.  ut  sinl  vina  proxima 
/■'//'.  nt  sii  viii u in  perennum  S,  nbi  vina  proxima  II,  vinum  sit  ;•[>[>>•- 
siiiiin  Grimm,  Wright  (wich  r1  •-//-'•'),  vinum  sil  opposilum  /.  5.  el 
descendanl  celilus  //.  tunc  cantabunt  lelius  HS,  lunc  occurrent  cicius 
t\  ii l  dicant  cum  veneria t  iibr.  7/5.  decantantes  canlicum  Mihi 
polalori  st.  Deus  sil  (sii  deus  FS)  propitius  isti  (tanto  /',  huic  CM  // 
H*H*SV,  michi  F)  potatori.  4(11).  1.  Ultimo  st.  lertio.  3.  quam 
ine  iilln  //.  banc  in  nullo  ('~  illam  nullo  übr.  7.  pro  bibulis  // 
pro  mortuis  BC*FS,  pro  mortuo  übr. 

3)  Invectio  contra  sacerdotes. 

Anf.  :  Sacerdotes  memenlote. 

Das  gedieht  ist  von  Wright  Mapes  48  ff  nach   C1  unter  dem 

titel  'Goliae  versus  de  sacerdotibus'  veröffentlicht,  es  hat  in  diese) 
durch  zahlreiche  versehen  entstellten  fassang  'M)  Strophen,  von 
denen  jedoch  die  fünfte  7 zeilige ,  nach  II  um  einen  fehlenden 
vers  vervollständigt)  ebenso  in  zwei  zu  zerlegen  ist  wie  die  sechste 
^  zeilige.  auch  in  der  bei  Wright  nur  3  verse  zahlenden  S  Strophe 
kann  die  fehlende  zeile  auf  grund  von  11  eingesetzt  werden,  im 
ahrigen.  ist  das  gedieht  in  II  um  nicht  weniger  als  IS  Strophen 
gekürzt.  es  ist  ein  kühner  mahnruf  an  die  unwürdigen  Ver- 
treter des  geistlichen  Standes,  sie  werden  an  die  hohe  würde  und 
heiligkeil  ihres  amtes  erinnert  und  doppelt  strafwürdig  für  jedes 
abweichen  von  ihrer  pflicht  befunden,  ihr  verachten  der  armen 
(bezw.  der  keuschheit),  ihr  erkaufen  des  amtes,  ihr  weiblicher  ver- 
kehr, der  sie  wagen  lässt,  die  hl.  messe  zu  lesen  und  den  leib 
Christi  zu  segnen,  nachdem  sie  sich  eben  aus  den  armen  der  buh- 
lerinnen losgerissen,  und  andere  Schandtaten  mehr  werden  in  aller 
scharfe  gegei /'seit,  die  10  Strophe  des  Wrightschen  lextes,  die  letzte. 
welche  C  und  H  gemeinsam  ist.  führt  den  gedanken  aus,  dass 
solche  unreinen  priest er ,  wenn  sie  es  wagten  vor  den  altar  zu 
treten,  mit  raten  geschlagen  zu  werden  verdienten,  in  den  20 
weiteren  Strophen  malt  Cl  zunächst  jene  sträfliche  Handlungsweise 
des  näheren  aus,  um  dann  noch  weitere  Versündigungen  des  priester- 
lichen Standes  zu  brandmarken  und  zum  schluss  den  geistlichen 
selig  zu  preisen,  der  seinen  von  kälte  und  hunger  gequälten  mit- 


L88  BÖMER 

menschen  mit  nahrnng  und  kleidnng  zu  hilfe  komme.  H  hat  statt 
dieser  20  Strophen  nur  folgende  zwei  mit  einer  erinnerung  an 
das  wort  der  hJ.  schrift  vom  unwürdigen  genusse  des  leibes  Christi 
und  der  mahnung  alsbald  umzukehren  und  durch  die  beichte  Ver- 
gebung der  schuld  zu  erlangen: 

Nonne  legis,  qui  indigne  Ad  cor  ergo  revertere, 

edit  vel  tractat  maligne  coufitearis  propere, 

corpus  cristi  tarn  insigne,  deus  enim  remitiere 

quod  eterno  perit  igne?  cupit,  si  velis  petere! 

Die  abweichende  form  der  letzten  Strophe  hat  offenbar  dem 
ganzen  einen  marcanten  abschhiss  geben  sollen  :  statt  reiner  trochü- 
ischer  achtsilbler  in  allen  4  versen  trochäisch-daklylischer  rhythmus. 
2  mal  (1.  3)  mit  dem  daktylus  an  zweiter  und  2  mal  (2.  4) 
an  erster  stelle. 

Lesarten   von  H   zu    den   10   ersten  Strophen 
des  Wrightschen   textes  (v.  1 — 46). 

1,  4.  deo  servit  et  devote.  2,  4.  este  st.  Estis.  3,  2.  conformari, 
besser  zu  mihi  und  zum  sinn  der  stelle  passend  als  confortari  bei 
Wright.  4,  1.  Obedile  suromo  vali;  hiernach  Wr.s  sinnloses  0  beati 
summonati  zu  verbessern.  5,4.  corde  ore;  Wr.s  ore  corde  ver- 
meidet den  hialus.  5,  5.  [vielmehr  5a,  l]  habilalis  st.  el  Lentis. 
nach   5,7   [5a,  3]   fehlt   bei    Wr.   der  schlussvers  der  slr.   5a : 

si  bene  hoc  faciatis. 

ö,  5.  [vielmehr  6a,  1]   vobis,  wirkungsvoller  als  Wr.s  nobis,  da 

den   prieslern   selbst    der    ausspruch    der    schrift    bekannt  sein  soll. 

est  st.  Iinec.       0,  7  [6a,  3].  est  st.  sil.        7,  1.   Castilalis  st.  Miserorum. 

8,  1.    hie    st.    haee.        2    (bei    Wr.    fehlend):    euius   manus  sunt 

immunde        9,  3   amplexum. 

10,  l — 3.  Scire  velim,   missam  quare 

sacrosanetum  ad  altare 
stanti  vadis  immolare 
Wr.:      Scire  vellem   tarnen   quare 
sacrosanetum   ad   altare 
stanli  velut  immolare,  (?) 
Wr.    selbst    setzt    hinler    den  3   fers    ein   /ragezeichen,      seine 
lesart   gibt  in  der  tat  keinen  sinn,    vor  allem  fehlt  das  verbum  zu 
quare.     H  bringt  dieses  in  vadis.     unklar  bleibt  nur  das  stanli,   es 
sei  denn,  dass  dieses  im  obseönen  sinne  gemeint  ist.     man  vergleiche 
die    vorwürfe    der  Schamlosigkeit  in  der  folgenden  Strophe  bei    Wr. 

4)  Invectio  contra  praelatos. 
Die  beiden  eingangsstrophen  der  Generalbeichte  sind  hier  zur 
einleitung   eines   neuen    mahnrufes   an    die   geistlichkeit   verwendet. 


HERDRINGER   VAGANTENLIEDERSAMMLl  M. 

die  kid e\  ersten  verse  mochten  die  Stimmung  des  erbitterten  diditi 
so  vortrefflich  schildern,   dass  er  einen    besseren  ausdruck  füi 
zu  finden    nicht    im   stände   gewesen  wäre,    und    ihn    deshalb 
übernähme    der  Strophen   veranlasst   haben,     die  folgenden   teilen 
jedoch,  in  denen  er  sah  einem  vom  winde  getriebenen  blatte  i 
einem  ruhelos  durch   die   lande   fließenden    buche    vergleicht,    um 
dann  in  der  dritten  Strophe  zu  verkünden,  dass  er  zum  /ist? 
kommen  sei,  um  zu  richten  aber  Innre  und  sündet   und  du 

ron    den    schufen    zn    sondern  ,     trinken    in     diesem     zusammenhange 

geradezu  störend,     der  hinweis   auf  die  eigene  unstätigkeit  Lonnir 
den  eindruck  der  rede  des  Strafpredigers  doch  nur  herabsetzen,    die 

Situation  des  gedicktes  haben  wir  uns  so  zu  denken,  dass  der 
dichter  eine  festversammlung  von  geistlichen  dazu  benutzt,  Urnen 
ins  gewissen  zu  reden,  ähnlich  wie  im  ersten  gediente  des  Archi- 
poeta  in  der  Göttinger  hs.,  an  das  auch  die  betrachtungen  über 
die  Vergänglichkeit  der  weh  erinnern  {J Grimm  Kl.  sehr,  in  49 ff). 
diesmal  sind  es  ihr  geiz,  ihr  törichtes  hängen  an  irdischen  schätzen 
und  abermals  ihn-  Herzlosigkeit  gegenüber  den  unnen,  über  welche 
die  geifsel  geschwungen  wird,  die  dritte  Strophe  leitet  mich  ein 
mehr  jach  mit  alt  französischen  dementen  durchsetztes  gedieht  em, 
das  Wright  [Aneedota  literaria  [1844]  \'-'<  f  >  nach  einer  Oxforder 
hs.  in  sehr  verderbtem  zustand  mitgeteilt  hat.  wenn  s<ch  mich  die 
tendenz  dieses  Stückes  mit  der  des  unsrigen  deckt,  so  sind  doch 
nennenswerte  Übereinstimmungen  aufserhalb  dei  bezeichneten  Strophe 
nicht  zu  entdecken,  und  selbst  diese  weicht  in  der  englischen  hs. 
darin  ab,  dass  die  eingangsworte  in  französischer  fassung  gegeben 
sind  :  A  la  feste  sui  venue,  et  osten dam  quare  etc.  str.  1 — 11 
stecken  auch,  jedoch  mit  mannigfachen  Variationen,  in  einem  von 
Blume  tlllume-Dreves  Anulecla  hijmn.  wxin  289 /f)  veröffentlichten 
gedieht  als  str.  1 — 6,  11  und  9;  str.  4 — 9  au/'serdem  auch  noch 
in  dem  stücke  'Sur  le  jugement  dernier'  bei  Du  Meril  Poes.  \>o\>. 
122//'  als  str.  8 — 12,  jedoch  ist  hier  12  eine  irrtümliche  Zu- 
sammensetzung je  einer  hälfte  von  7  und  8  im  H.  die  letzte 
strophe  (12)  ist  wörtlich  übernommen  aus  dem  gedieht  Tempus 
aeceutabile,  wo  sie  an  dritter  stelle  steht  (Wright  Mapes  Ö2ff', 
auch  in  11  als  nr  7).  mit  ihrem  offendimus  [v.  1),  duich 
der  dichter  auf  einmal  mit  einschliefst  in  die  sünderschar,  ist  sie 
Iner  ebensowenig  passend  wie  der  gröste  teil  der  zn  anfang  ent- 
lehnten verse.    wie  im  eingang  des  ersten  Stückes  dieser  sammlun 


190 


bü.mi;r 


au/ serhalb  des  strophengefüges  Ovid-verse  hergesetzt  waren,  so  hängt 
der  dichter  hier  der  nennten  Strophe  ein  kurzes  citat  aus  einem 
cyrographum,  wie  er  sich  ausdrückt,  an  :  es  ist  psalm  61,  11  di- 
vitie  si  affluant,  nolile  cor  apponere.  vgl.  unten  nr  9  dieser 
Sammlung  str.  1 1 .  der  regelmä/'sige  fluss  der  vagantenstrophe  ist 
an  mehreren  stellen  unterbrochen.  2,  1  fehlt  die  Senkung  des 
2  fu/'ses,  doch  ligt  hier  sicher  ein  versehen  in  H  vor  (s.  nuten). 
4,  4  hat  der  2  fufs,  falls  nicht  mit  der  sonstigen  Überlieferung  clerus 
zu  lesen  ist,  eine  zusalzsilbe.  10,  3  stört  im  zweiten  teile  der 
hiatus,  doch  ist  die  lesung  si  ziemlich  unsicher,  da  die  hs.  hier 
undeutlich  geschrieben  ist.  vielleicht  ist  ein  anderes  einsilbiges  wort 
dafür  einzusetzen  oder  statt  si  et  :  etsi  zu  schreiben,  vom  tact- 
wechsel  ist  in  8  fällen  gebrauch  gemacht. 


Invectio   contra    prelatos. 

1  Estuans  iotrinsecus  ira  vehementi 
in  amaritudioe  loquar  niee  menti: 
factus  de  maleria  vilis  elementi 

folio  sum  similis,  de  quo  ludunt  venti. 

2  Semper  est  [!]  vitium  [!]  viro  sapienti 
super  petram  pouere  pedem  fundamenti; 
miser  ego  comparor  fluvio  labenti 

sub  eodem  aere  nunquam  remanenti. 

3  Ad  hoc  festum  venio  et  ostendam,  quare 
Singulorum  singulis  mores  explicare, 
reprobare  reprobos  et  probos  probare 

et  edos  ab  ovibus  veoi  seggregare. 

1,1.   Estuans  H  mit  der    mehrzahl    der    hss.,     Aestuo  C2,     Aestuor 
ClH3.       intrinsecus  H  u.  d.  meisten,  interius  B.  2.   loquar  mee  H  mit 

BC%H*H*H*F,  loquor  mee  C*FPS,  mee  loquor  Z.  vilis  H  m.  FZ,  levis 
CXC-H^H^H^PFS,    cinis    B.  4.  folio  sum  similis  H  mit  der  mehrzahl 

der  hss.,  similis  sum  folio  (Z'.-filio)  C3H-P.  2,  1.  Semper  est  vitium  H. 
abgesehen  von  der  oben  besprochenen  Störung  des  rhylhmus,  die  durch 
Wandlung  des  est  in  enim  leicht  gehoben  werden  könnte,  gibt  die  lesart 
auch  keinen  sinn;  sie  sagt  das  gegenteil  vo?i  dem  was  erwartet  wird. 
Cum  sil  michi  proprium  C,  Cum  sit  modo  pr.  H3,  Cum  enim  sit  pr.  (mit 
taclwechsel)  U'riglit  nach  //2,  Cum  sit  enim  pr.  besser  die  übr.  viro  H 
richtig  mit  dtr  mehrzahl  der  hss.,  vero  PS.  2.  pedem  H  (mit  petram 
ponere  allilterierend)  sl.  sedem.  fundamenti  //  richtig  mit  den  übrigen 
gegen  fiimamenti  F.  3.  miser  //  sl.  stultus.         fluvio  H  richtig  m.  d. 

meisten,  folio  Z.         4.  aere  H  mil  den  übr.  gegen  tramite  B. 


HERDRINGEN  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG         191 

4  All  terrorem  omoium  ?eni  locuturus  : 

oichil  esl  < |  n <>d  limeam,  valde  sum  Becurus. 

Sermo  meus  percutit  velul  »-ums  durus, 

(iiiniis  clrrn  us  audial  Bim p lex  el  matorua  ! 
"»  Puuiendi  presules  sunt  el  cardioales, 

abbates  el  monacbi  sunt  symoniales; 

Sacerdotes  emuli,  clerici  veoales 

coogregaotes  iugiter  opea  temporales. 
6  Quanto  plus  accumulant,  tanto  plus  marcescunt, 

sunt   vclut  ydropici,  qtiorom  membra  crescunt  ; 

qui  plus  bibunt,  sitiunt  magis  et  arescuot: 

>ic  av;iri  miseri  ounquam  requiescuat. 
:  Quid  est  avaritia  nisi  vilis  cultus, 

vaoitatum  vanitas,  cordium  tumultus? 

pereunt  divitie,  perit  homo  stultus, 

miser  postquam  moritur,  statim  lii  sepultus. 
s  In  sepulcro  Legitur  vili  tegumento, 

deportatur  postea  miser  in  tormenlo; 

quatitur  suppliciis,  ut  arundo  vento, 

redimi  non  poterit  anro  vel  argeoto. 
fi  Igitur  apponere  cor  dod  deberetis 

in  mundanis  opibus,  quas  vos  possidetis; 

cuncta  transitoria  sunt  her,  que  videtis, 

legite  cyrographum  el   invenietis: 

divitie  si  affluant,  oolite  cor  apponere. 
10  Quare  dum  in  prandio,  clerici,  sedelis, 

hostia  pauperibus  claudi  vos  iubetis? 

4,  1.  veni  //,  Surgam  Du  M(rril),  Bhuim).  2—4  bei  Du  3/.,  BL  in 
der  folge  3.  4.  2;  2.  timeam  /////.,  timeo  Du  M.  3.  Sermo  meus  H  mit 
cod.  I  nravien.  374(306)  cfr.  die  Varianten  bei  BL,  meus  sermo  DuBt., 
Noster  germo  BL         4.  clericns   //,  clerus  Du  M.,  Bl.         5,  1.  sunt  fehlt  IL 

2.  sunt  symoniales//,  nigrae  moniales  Du  JH.,  sanclimoniales  ///.  4.  iu- 
giter /////.,     insimul  Du  M.  6,  2.  merobra  //BL,     mala  fehlerh.   Du  '/. 

3.  qui  //,  dum  Du  M.,  Cum  BL  et  arescunt  //  mit  cod.  Varav.  und  Du  •/., 
exarescunt  Bl.  8,  2.  deportatur  ff,  deputatur  ///.  4.  poterit  //,  prae- 
valet  BL  vel  //,  nee  ///.  9,  l.  Igitur  apponere  cor  non  deberetis  //. 
Ergo  cor  apponere  magis  non  debetis  Du  M.;  bei  BL  fehlt  dieser  vert, 
dafür  ist  statt  des  in  II  angehängten  psnlmeu-citats  als  r.  4  in  die  slr<>i>h<- 
eingefügt  ;  Nihil  horam  proprium  est,  que  vos  tenetis.  10,  1.  rlerici  //. 
praesules  HL        2.  claudi  vos  //,  ilaudeie  Bl. 


192  BÖMER 

pauper  ciamal  fortiter,  si  et  vos  siletis, 
vix  ei  de  reliquo  datur,  quod  habetis. 

11  Nunc  in  lectis  mollibus,  clerici,  iacetis 
cortiuis  circumdati  simulque  lapetis ; 
unde  vobis  uuncio  :  si   modo  gaudetis, 
in  i'uturo  seculo  kve,  ve,  ve!'  dicetis. 

12  Graviter  ollendimus  regem  maiestalis, 
sed  nos  indulgentia  summe  trinilatis 
suam  nobis  gratiam  afferendo  gratis 
sauet  a  languoribus,  mundet  a  peccalis! 

Amen. 

10,  3.  fortiter  si  et  vos  siletis  //,  vocibus  admodum  quietis  Bl. 
4.  vix  ei  H,  Cui  vix  Bl.  11,  1.  Nunc  in  lectis  mollibus  //,  Vos  in  torreu- 
matibus  Bl.  2.  circumdati   simulque   H,    et  palliis,  verneis  Bl.         3.  si 

modo  H,  modo  si  ohne  lactwechsel  Bl.  12,  3.  afferendo  //,  conferendo 

ff'r.  und  H  nr  7. 

5)  Tractatus  de  partu  beatae  virginis. 

Anfang:  Gratuletur  omnis  muudus. 

Du  Meril  Poesies  inedites  (1854)  297  ff  hat  das  stück  nach 
einer  Pariser  handschrift  (P)  als  zweites  von  3  schaler-  weihnachts- 
liedern  veröffentlicht,  von  Blume  ist  es  darnach  in  die  reichhaltige 
Sammlung  von  'Cantiones  scholasticae'  aufgenommen  (Anal.  hymn. 
xlv  82/")  tinter  Zuziehung  eines   collect,  ms.  Victorinum  saec.  13. 

Lesarten  von  H.  1,  2.  esse  mundus.  3,  5.  salval,  wie 
schon  Du  Meril  richtig  stall  selvat  von  P  vermutet  hat.  4.  4.  Ad 
iil  H,  audit  Bl(ume),  wie  Du  Meril  bereits  statt  des  fehlerhaften 
audet  von  P  conjicierte.  5.  6.  P  Usl  justo  carni  munere.  niunere 
reimt  jedoch  nicht  auf  virgine  (v.  3).  Du  Meril  dachte  an  semine. 
H  richtig  numine,  doch  bleibt  das  auch  hier  Überlieferle  carni  in 
Ci.rnis  zu  bessern  oder  es  ist  mit  Bl.  iunclo  st.  iusto  zu  lesen. 
6.  1.  Riibus,  wie  Du  Meril  schon  aus  Hübet  von  P  besserte. 
4.  Ardet  rubus,  richtig  mit  Bl.  P  hat  stall  rubus  :  iubel,  was 
sinnlos  ist.  Du  Meril  schlug  rubel  vor.  7,  2.  mundi  venit  decus. 
4—6  ganz  abweichend :  IS'atus  sine  semine 

de  maria   virgine 
partus  liie  mirabilis. 

8,  5.  earo  nullit  nuliini  P.  Du  Meril  conjicierte  statt  des  sinnlosen 
nubiui  :  luinini.  Bl.  hat  richtig  :  Caro  nubit  numini,  H  mit  Um- 
stellung nubit  caro  numini.  6  fehlt  in  P  u.  bei  Bl. ;  Du  Meril  hat 
den  vers  et  nascilur  deiias  mit  lactwechsel  eingesetzt,  Bl.  :  Naeettur 
divinitas.     es  ist  zu  lesen  mit  U  :  nubit  carni  deiias.     10,  2.  dignuin. 


ÜERDRINGER   VAGANTENLIEDERSAMMLI  NG         193 

4.  in  te  Hill.,  inde  /':  ersleres  vorzuziehen.       12.6.  voto  flau  de» 
rinnlosen  vice  /'.   Voci  ///. 

13.  »'"/'   /'.•  Aures  tuas  aperi ; 

da  quod  pelunl  pueri 

ludendi  licenliam, 

aostra  quod  infantia 

inaiii  laudel  gratiam ! 
In  die  Strophe   1  vers   tu  wenig  zahlt,  hat  Du  ftfe'ril  muh  >.  \ 
die    seile   summa    cum   laetitia,    />'/.  Pro   tali    licentia    eingesetzt,     in 
Wirklichkeit   fehlt   der    1   vers   der  Strophe;    er  lautet  nach   II  data 
sii  licenlia. 

6)  Principium  magistrale. 
ihis  gedieht  ist  ebenso  wie  das  vorige,  mit  dem  es  auch  m  der 
fort))  übereinstimmt,  ein  schüler-weihnachtslied.  es  ist  knaben  in  den 
iinim!  gelegt,  die  ihren  lehrer  begrüfsen  und  als  die  blute  dei 
docioren  preisen,  ihn  daran  erinnern,  dass  'Ins  weihnachtsfest  vor 
der  türe  stehe  [dessen  wunderbares  geheimnis  sie  hübsch  besingen), 
und  ebenso  wie  in  dem  vorhergehenden  stärk  mit  der  bitte  schliefsen, 
ihnen  freizugeben,  ihr  ijeist.  der  vom  vielen  studieren  abgespannt 
sei,  bedürfe  der  erhotung.  der  könig  des  himmels  solle  dem  lehre) 
alle  seme  sündtn  vergeben,  trenn  er  ihre  hitto  erfülle,  sie  versprechen 
dafür  reinen  herzens  dem  feste  entgegenzugehn.  vgl.  zn  dem 
thema  Haureau  Not.  et  extr.  n  30  ff  und  vor  ollem  die  'Cantiones 
scholasticae'  bei  Blume  Analecta  hymn,  (vgl.  oben  nr  5).  in  den 
hier  mitgeteilten  liedern  finden  sich  zahlreiche  anklänge  an  das 
unsrige.     in  2  versen  (2,  3  u.  S,  3)  ist  tactwechsel  angewant. 

Principium    m  a  g  i  s  t  r  a  1  e. 

1  Doctor,  ave,  flos  doctoruin,  3  Ecce,  dies  est  propinqua, 
preces  auili  puerorum  dies  felix,  dies  in  qua 
tibi  supplicantium!  virgo  cristum  peperil ! 
Tu  facetus,  tu  i'aeundus,  Cuius  partus  puellaris, 
uulli  par  es  aut  seeundus,  regis  ortus  salutaris 
imniit  primus  omninm.  vite  portam  aperit. 

2  Sunt  lionesti  tibi  mores,  I  Mundo  prius  desolato 
semper  vires,  semper  flores  primi  patris  pro  peccato 
per  eunetos  scientia.  venit  pacis  ountius. 

In  te  virtus  nulla  tabet,  Prodit  proles  virginalis 

suum  in  te  locum  habet  summo  patri  coequalis, 

multiformis  gralia.  summi  patris  tilius. 
Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXWII.  13 


194 


BÖMEH 


5  Verbum  patris  incarnatur 
neque  virgo  violatur 
propter  puerperium. 
Servus  esse  non  dedignans 
fuit  honio  se  designans 
nostre  carnis  socium. 

6  Luua  soli  copulatur, 
oeuler  tanien  eclypsatur 
aut  clefectum  patitur. 
Virgo  parit  mundo  ducem, 
regem  celo,  cecis  lucem, 
dum  rex  regum  nascitur. 

7  Fecundata  celi  rore 
pretermisso  partus  more 
virgo  parit  hominem. 
Virgo  profert  ex  se  florem, 
creatura  creatorem, 

lucis  plenitudinem. 


8  Sensus  noster  iam  marcescit, 
et  in  nobis  refrigescit 

iam  fervor  ingenii. 
Si  queratur,  quis  hoc  fecit, 
respondemus  :  nos  affecit 
labor  frequens  studii. 

9  Quia  vero  nos  labore 
pressi  sumus,  in  honore 
iesti  da  licentiam ! 

Sic  dignetur  rex  celorum, 
exoptatam  peccatorum 
tibi  dare  veniam. 
10  Regi  regum  occursuri 
studeamus  esse  puri 
sana  conscienlia, 
ut  in  sede  maiestatis 
gaudeamus  cum   beatis 
in  celesti  patria  !     Amen. 


7)  Rhythmus  goliardorum. 

Anfang  :  Tempus  acceptabile,  tempus  est  salutis. 

Wir  besitzen  von  dieser  mahnung  zur  umkehr  auf  dem  wege  der 
sünde  zwei  alte  ausgaben,  die  erste  von  Flacius  Ilfyricus  Varia 
doctorum  piorumque  virorum  de  corrupto  ecclesiae  statu  poemata 
([1556],  neudruck  1754;  nach  letzterem  citier  ich)  145/f  und 
dann  einen  neudruck  von  JWolf  Lectionum  memorabilium  et  recon- 
ditarum  centur.  xvi  (1600)  i  441  ff",  der  text  des  Flacius  Illyricus 
ligt  auch  der  ausgäbe  von  Wright  'olff  zu  gründe,  auf  welche  ich 
mich  im  folgenden  beziehe,  der  titel  lautet  hier  :  Praedicatio  goliae 
ad  terrorem  omnium. 

Lesarten  von  H  in  der  folge  des  Wrightschen  textes. 
Die  ab  weichungen  der  hs.  H  sind  sehr  beträchtlich,  sie  hat  nicht 
nur  6  Strophen  iveniger,  sondern  auch  Umstellungen  ganzer  Strophen 
und  einzelner  verse ,  sowie  lexl-varianlen  in  erheblicher  zahl.  H 
scheint  die  ältere  fassung  zu  repräsentieren,  slr.  1,  2.  excutere. 
3.  gladium  als  accus,  graec.  2,2  u.  3  umgestellt.  3  animam. 
3  u.  4  umgestellt.  4,  1.  lora,  was  als  object  von  reslringamus 
passender  ist,  als  das  vielleicht  auf  einem  versehen  beruhende  ora. 
2.  si  qua.  3.  erigamus  igilur  ad  honesliora,  als  object  zu  erigamus 
müsle  aus  dem  folg.  vers  nos  ergänzt  werden;  oder  sollte  erigamur 
zu  lesen  sein .'        4.  interilum.         5,1.   Torte  quidam   rogitat;  rogilat 


iii;m>m.\(.KK  vai.am i:\liedersahmli  ng 

verschrieben  st.  cogilat.  2.  durioribus,  tu  castigabo  bessei  passend 
als  vilioribus.  3.  et  induar.  1.  donec  (luat  mit  besserem  rhytitmut 
als  das  uns  Horan  Epist.  i  2,  12  entlehnte  dum  deflual  amois, 
♦j,  1.  lies  infelicissima  :  cur  non  confiteris?  1.  ezpectas.  craa  Forle 
iimi  eria  mit  tactwechsel.  7.  1.  Quidquid  ergo  cogitaa.  8 — I" 
fehlen;  11  hat  folgende  fassung: 

iiaie,  cleriei,  qui  e!  qualea  silis ' 

\rl  quod  in  iudicio  dicere  poteatia: 

mm  eril  hie  aliquis  locus  in  digestis, 

idera  ent  dominus  auetor,  iudex,   ii'sti>. 

Gegen  die  echtheil  von  s — 10  erhellt  sich  ein  sweifel.  von 
thi  beschreibung  des  gerichls  in  11  —  l.'l.  die  durchaus  genügt,  und 
in  s — 10  schon  manches  vorweggenommen,  der  gedanke  von  12  bei- 
spielsweise, dost  et  in  im  gerichte  Lein  ansehen  der  person  gibt,  ist 
in  9  in  etwas  andern-  form  schon  ausgeführt.       L2,  2.  dignilaa  papalis. 

14.  \i)    fehlen:     der    hieb     auj     die    lichter    der    damaligen   zeit    (14). 

mit  denen  der  urheber  der  Strophe  vielleicht  schlechte  erfahrung 
gemacht  hatte,  macht  ganz  den  eindruch   eines   einschiebsels. 

16.    1.  2.    Veslros,  ait  dominus,  renes  accingatis, 

hoc  est  sine  dubio  zona   castilatis 

Die  bibelstelle  steht  Exod.  12,11  (Renes  veslros  acciogelis). 
der  ausdruck  renes  accingere  kommt  nur  dieses  eine  mal  in  der 
schrifl  vor.  ganz  geläufig  dagegen  ist  in  der  Bibel  die  redenaart 
lumboa   accingere.     deshalb  ist   Wr.s  lumbos  accingatis  vielleicht  ein 

späterer  ersatz  des  selteneren  renes  acc.  3.  lucernam  manibua  etiam 
feraiis.  zu  anfang  fehlt  eine  silbe;  Wr.  :  banc.  17  fehlt.  18.  2. 
dedit.  3.  informare  moribus,  richtig  statt  des  unverständlichen  in 
[ervore,  moribus  bei  Wr.  4.  ut  vos  et;  UV.  besser  ui  el  vos. 
das  letzte  wort  des  cerses  in  II  undeutlich ,  es  scheint  laureare  zu 
heißen.  19  fehlt.  20  un(er  abweichender  anordnung  der  haupt 
beslandteile  der    Wr. sehen   Strophe   in  folgender  fassung: 

Sacri  vos  presbiteri,  sacri  vos  propbele, 
quod  vobis  paratum  est,  regnuin  possidHf, 
quod  vobis  paratum  est  sine  meta  niete; 
benedicti  filii,  mecum  congaudele! 
Hier     ist    das    quod     vobis    paralum    est    wirkungsvoll    widerholt, 
nährend    bei    Wr.    das    benedicti   filii    von   r.    1    in    v.    1    widerkehrt. 
die    worte    dieser    Strophe    ruft   Gott    den    guten  prieslern   zu.       wir 
müssen  also  in  II  aus   dem  laureare  —  wenn  so  zu  lesen  ist  —  von 
lv  l   ein    verbum    des    verkündens  heraushören,      weil  ihm  das  zu 
kühn  erschien,  hat  vielleicht  der  redacleur  des  Wr. sehen  textes  str.  19 
eingeschoben .     dabei    aber     wider    insofern    eine    unglückliche    band 
bewiesen,  als  das  moribus  erudire  von  19,  2  schon  in   IS.  3  voraus- 
gegangen nur.    auch  diese  möglichheit  bestärkt  mich  in  der  annähme, 

1  übergetchr.  eslis,  was  durch  den  reim  gefordert  wird. 

13* 


196  BÖMER 

dass    H   einen    ursprünglicheren   lext   bietet   als    Wrighls   bezw.    des 
Flacius   Illyricus  vorläge  *. 

8)    Evangelium  de  illo  qni  incidit  in  latrones. 

Der  vulgatatext  von  Lucas  x  25 — 37  mitsamt  einer  mystischen 
uuslegung,  wie  sie  das  mittelalter  neben  der  historischen  und  mora- 
lischen erklärung  liebte,  in  die  poetische  form  der  vagantenstrophe 
gebracht.  der  dichter  will  wie  ein  geistlicher  die  unwissenden 
belehren  und  solche,  welche  sich  an  der  vollen  börse  ihrer  mit- 
menschen zu  vergreifen  wagten,  durch  den  biblischen  appell  an  die 
nächstenliebe  auf  den  rechten  xoeg  führen,  als  vorläge  für  die 
mit  der  12  Strophe  beginnende  mystische  inier pretation  des  evan- 
geliums  scheint  die  Expositio  in  SLucae  Evangelium  des  Beda 
Yenerabilis  gedient  zu  haben  (Migne  Palrolog.  s.  L.  92  (1S50) 
468 ff).,  wo  es  heifst:  Homo  iste  Adam  iutelligitur  in  genere 
humano.  Jerusalem  civilas  pacis  illa  coelestis  a  cuius  beati- 
tudioe  lapsus  in  haue  mortalem  miseramque  vitam  deveuit.  Quam 
bene  lericho  .  .  .  significat  .  .  .  Latrones  diabolum  et  angelos 
eius  intellige  .  .  .  Plagae  peccata  sunt  .  .  .  Sacerdos  et  levita 
.  .  .  sacerdotium  et  ministerium  Veteris  testamenti  est,  ubi  per 
legis    decreta    mundi    languentis    vulnera    monstrari  tantum,    uou 

[*  herrn  pro  f.  WilhMeyer  verdank  ich  den  hinweis,  dass  das  gedieht 
auch  von  Blume  (Analecta  hymn.  xxxiii  292/7)  veröffentlicht  ist.  diesem 
texte  steht  H  näher  als  dem  Wrightschen,  wofür  vor  allem  der  umstand 
spricht,  dass  dort  auch  die  verdächtigen  strr.  8  —  10,  14  und  17  fehlen, 
die  in  H  nicht  überlieferten  strr.  15  und  19  hat  Blume.  19  ist  also 
doch  vielleicht  ursprünglich  und  in  //  irrtümlich  ausgelassen.  4 — 6  er- 
scheinen bei  Blume  in  der  folge  :  5.  6.  4.  am  schluss  hat  er  noch  eine 
slrophe  mehr,  in  einzelheilen  stimmt  H  mit  Blume  gegen  Wright  überein 
in  den  oben  angeführten  lesarten  zu  1,  2.  2,  2  und  3  (xtellung).  4,  1.  3 
(aber :  Erigamur).  5,2.3.4.  6,1.  11,1 — 4  (mit  folgenden  kleinen  ab- 
weichungen  :  1.  qui  vel  .  .  .  estis.  2.  Et  quid.  3.  aücui.  4.  iudex,  actor, 
testis).  12,  2.  16,  1.  2  (mit  der  abweichung  :  Quod  est  absque).  18,  3.  4 
(laureare).  20,  1 — 4  (nur  3  metu).  Blume  steht  mit  ff  rigid  gegen  H : 
1,  3.  6,  4  (forte  cras  non  eris).  7,  1.  18,  4.  endlich  weicht  Blume  von 
Wright  und  H  an  folgenden  stellen  ab  :  1,  2.  regnum  st.  iugum.  3,  2.  Qni 
nos  per  clementiam.  4,  4.  Ne  nos  ad  interitum  (so  auch  H)  trahat.  7,  2.  El 
corde  et  opere.  13,2.  sive  ianjtori.  18,  3.  in  spe.  an  soJistigen  laa.  von 
Blume  sind  noch  zu  verzeichnen  :  2,  3.  animos.  2,  4.  miseros.  4,  2.  Si 
quae.  5,  1.  Forte  tarnen  cogitas.  6,  4.  Exspectando  Senium.  16,  3.  Ac 
lucernam  etiam  manibus  feratis.     18,  2.  iubet.] 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG         197 

auiem  curari  poterant  .  .  .  Samaritanus  .  .  .  dominum  significal 
.  .  .  I  ii  in  *' n  t  ii  in  eius  esl  caro,  in  qua  ad  mos  venire  dignatus 
♦■st  .  .  .  Stabulum  autem  est  Ecclesia  praesens.  .  .  .  Duo  denarii 
muh  duo  Testamenta.  —  von  den  S<>  versen  weisen  nicht  weniger 
als  "21  im  doch,  siebensilbler  und  8  im  sechesilbler  tactwechsel  auf, 
der  eigenartige  bau  des  1  verses  ist  durch  das  beibehalten  de% 
stereotypen  Wendung  gerechtfertigt.  s,  3  fehlt  in  der  ersten  hulfte 
eitie  silbe;  wenn  nicht  ein  versehen  angenommen  wird,  ligt  die 
/onn  _^w-w_  (videns  et  aüdiens)  vor.  12,  1  hat  im  zweiten 
fufs  doppelsilbiye  Senkung,  aufser  dem  1  verse,  der  aus  dem 
genannten  gründe  eine  besondere  Stellung  einnimmt,  findet  sich  3  mal 
hiatus  im  innern  der  vershälften  (7,  3.  9,  2.  13,  4). 

Ewangelium  de  i  1 1 o ,  q u i  i n c i d it  in  I a t r o n e s. 

1  Lectio  saneti  ewangelii  seeundum  Lucam, 
ut  vice  presbiteri  nescientes  ducam 

El  illos  ab  invio  ad  viam  reducam, 

qni  bursani   pre  pondere  faciunt  caducarn. 

2  Quidam  venil  ad  ibesum  legisperilorum 
temptans  et  inlerrogaus  viam  mandatorum: 
•tu  qui  solus,  domine,  deus  es  deorum, 

quid  agam,  ut  partieeps  regni  sim  celoruni  ?  ' 

3  Respondit  :  'ut  per  te  sint  leges  adimplete, 
primum  deum  dilige,  fruetus  dei  mete: 
Secundo  de  pioximo  cura  sicut  de  te, 
biis  duobus  lota  lex  pendet  et  prophete.' 

4  '(Juis  est  mens  proximus?'  'quidam',  ait,  'forte 
bomo  de  iberusalem  descendens  consorte 
careos,  cui  niiserie  patueruut  porle, 

in   latrones  ineidit  miseranda  sorte. 

5  Latrones  buic  obviam  bornini  venerunt, 
quem  veslibus  propriis  expoliaverunt, 
Et  plagis  impositis  eum  reliquerunt 
tamquain  semimortuum ;  post  hoc  abierunt. 
Semivivum  deserunt  illum  vulneratum 
deseruntque  spoliis  suis  spulialum. 
Presbiter  lmnc  transiens  vidit  sauciatum 
indignansque  preterit  eius  et  affatum. 


198  BÖMER 

7  Accidit  et  preteril  postea  levita, 

nudum  panois  vidit  liunc  nudum  fere  viia 
videtque,  quod  illius  viia  est  invita ; 
sicut  primus  fecerat,  secundus  et  ita. 

8  Traoseunlem  repperit  virumque  prophanum 
venieDtem  legimus  et  samaritanuin; 
videns  et  audiens  clamautem  in  vanum 
misertus  auxilii  porrexit  luiic  maoum. 

9  Huius  vino  vulnera  oleoque  lavit 
et  misericordiler  Iota  alligavit; 

In  iumentnm  positum  secum  apportavil 
et  hunc  stabulario  pie  commendavit. 

10  Excrutatur  viscera  proprie  crumene, 

duos  nummos  repperit  dicens  :  "irater,  tene! 
Et  huc  cum  rediero,  reddam  tibi  pene 
et  laboris  prelium  expensasque  plene." 

11  Quis  eorum  proximus  iudicatur  a  te? 
Respondes  :  in  pauperem  motus  pietate. 
Vade,  fac  similiter,  iudicasti  rate ! 
Magnum  est  misterium  pagine  narrate. 

12  Adam  fuerit  homo  hie,  civis  preelectus 
caelestis  ierusaiem,  Jbei  ico  deiectus  ; 
multa  mala  passus  est  ad  terrena  vectus, 
primo  mundus  sordibus  post  bec  est  infectus. 

13  Lairones  sunt  demones,  plage  sunt  peccata, 
que  nobis  peccantibus  ab  hiis  sunt  illata; 
Immortalitatis  est  ade  vestis  data, 

sed  per  eulpam  modo  est  bec  vestis  sublata. 

14  Presbiler  significat  gentilem  obtusum, 
levita  Judaicum  populum  confusum; 
neuter  ade  coutulit  pietatis  usum 

neque  malum  illius  per  hos  est  exclusum. 

15  Tertius  misericors,  qui  samaritanus, 

id  est  cristus  porrigens  pietatis  manus. 
Miseri  misertus  est  nee  est  labor  vanus, 
quo  medico  factus  est  semivivus  sanus. 

16  Vinum  peniteutie  dieimus  rigorem 
et  mysericordiam  olei  liquorem  ; 

1 1,2.  hs.  fälschl.  Respondens.    12,1.  doch  wol  fuit?   14, 2.  hs.  fälschl.  levitam. 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLl  NG         199 

Jumeolum  significal  carnero,  qua  merorem 

cristus  DOBtrum  suatulit,  onus  el  laoguorem. 
n  Stabulum  ecclesia  rede  uuncupatur, 

rede  stabularius  presbiler  vocatur ; 

iah  stabulario  eger  commendatur, 

a  cuius  auxilio  eger  recreatur. 
L8  Eique  deoariis  duobua  oblatis, 

duobus  videlicet  testamentis  datis, 

Jussit  eum  pascere,  ut  sie  vos  credatis, 

lins,  pastores,  epulas  dalas  ut  pascatis. 
19  In(|uit  :  'ego  veoiam  vobis  redditurus, 

quidquid  equum  fuerit,  super  hoc  faciurus. 

()  qui  male  pascitis,  index  est  veoturus 

rationem  asperam  vobis  positurus] 
jii  Ad  cor  coDverlimioi  criatum  conhientes, 

verbis  et  operibus  vobis  referenles; 

laciat  vos  dominus  gregem  sie  pascentes, 

ut  sitis  per  omnia  secula  viventes.' 
Explicit. 

9)  Altercatio  vini  et  cerevisiae. 
In  der  vagantenliteratur  bekannt  sind  zwei  rangstreite  zwischen 
ic ein  und  wasser:  1)  ein  ernsterer,  lehrhafter,  beginnend:  Ctim 
lenerent  omnia  medium  lumultum  [Wright  ST//',  Bömer  in  Zeitschr. 
/.  vgl.  litt.- gesch.  n.  f.  6,  123//).  in  dem  der  berauschte  dichter  sich 
im  träume  in  den  dritten  himmel  versetzt  sieht  und  hier  einer 
auseinandersetzung  zwischen  Thetis  (aqua)  und  Lyaeus.  (vinum)  vor 
dem  throne  Gottes  beiwohnt;  2)  ein  jugendlich  kecker,  anhebend 
Deoudata  veritate  {Du  Meril  Poes.  ined.  du  moyen  dge  303,  brwh- 
stück  bei  Schneller  232/"),  in  dem  der  wein  sich  in  köstlicher 
yrobheit  gegen  eine  Vermischung  mit  dem  wasser  verwahrt,  natürlich 
fällt  der  streit  beide  male  zu  gunsten  des  weines  aus.  vor  ihm  muss 
auch  das  bier  stets  zurückstehen,  dus  ist  auf  serhalb  der  vaganten- 
litteratur  der  fall  in  zwei  lateinischen  gedichten  Feters  von  Blois 
(f  1198)  (Migne  Patrolog.  s.  L.  207,  1155/f),  und  so  lautet 
dus  urteil  auch  in  unserem  stücke,  das  übrigens  mit  Jenen  keinerlei 
Übereinstimmungen  aufweist,  dort  werden  namentlich  gesundheitliche 
gründe  gegen  das  bier  und  für  den  wein  ins  fehl  geführt,  hier 
sin 4  andere  eiwägungen  entscheidend,     dem  biere  wird  seine  weite 


200  BÖMER 

verbreit uny  zu  gute  gehalten,  in  Alemannien,  im  Hennegau,  in 
Brabant  und  in  Flandern,  im  reiche  Friedrichs  —  die  angäbe  wirft 
einiges  licht  auf  die  entstehnngszeit  des  gedicktes:  es  wird  sich  um 
Friedrich  i  handeln  —  und  in  Sachsen,  überall  wird  es  getrunken; 
alle  stände,  classen  und  geschlechter  der  menschen  laben  sich  an  ihm., 
dem  weine  aber  werden  besondere  wunderbare  kräfte  zugeschrieben, 
es  sind  die  allen  oft  besungenen:  er  gibt  den  äugen  doppeltes  licht, 
macht  greise  wider  jung,  nimmt  dem  herzen  die  sorgen  usw. 
natürlich  wird  auch  seines  woltätigen  einflusses  auf  die  ausübung 
der  künste  und  Wissenschaften  gedacht,  der  dichter  bemüht  sich  mög- 
lichst unparteiisch  zu  erscheinen,  indem  er  jedem  der  beiden  getränke 
fünf  Strophen  des  lobes  zuweist,  in  der  13  Strophe  —  zwei  waren 
als  einleitung  vorausgeschickt  —  beginnt  das  urteil,  sicher  hätten 
beide  teile  ihre  Vorzüge,  wenn  man  die  dinge  jedoch  richtig  betrachte, 
wäre  der  irdische  trank  dem  göttersohn  Bacchus  gar  nicht  vergleichbar, 
verf.  xcollte  lieber  über  die  meere  fahren,  als  im  bierkeller  sitzen 
und  den  geruch  der  fässer  dort  ertragen.  Bacchus  dagegen  duftete 
schöner,  als  Weihrauch,  rosen  und  lilien;  ihm  also  wäre  lob  und 
und  alleluja  zu  singen.  —  an  poetischem  wert  überragen  die  beiden 
rangstreite  zwischen  wein  und  icasser  unser  gedieht  bei  weitem, 
hier  stellt  der  dichter  selbst  von  an  fang  bis  zu  ende  in  ziemlich 
trockenem  tone  betrachtungen  über  den  wert  der  getränke  an  und 
zählt  erst  die  Vorzüge  des  einen,  dann  die  des  andern  auf,  um 
darauf  ein  gar  nicht  einmal  besonders  gut  motiviertes  urteil  zu 
sprechen,  dort  werden  die  streitenden  persönlich  auf  den  kampf- 
plalz  geführt,  um  in  rede  und  gegenrede  ihre  sache  zu  verfechten, 
das  belebt  die  darstellung  au fser ordentlich.  —  auch  die  versform 
unseres  gedichtes  besitzt  nicht  die  frische  und  lebendigkeit  der  beiden 
anderen,  es  sind  15  Strophen  aus  je  4  sämtlich  untereinander 
reimenden  zehnsilblem  mit  2  trochäen  als  basis  (vgl.  W  Meyer  Ges. 
abh.  z.  miltellat.  rhythmik  i  300  f).  str.  11  ist  ein  Ovid-vers  (Ars 
am.  i  237)  als  citat  angefügt ;  vgl.  oben  nr  1  dieser  Sammlung,  ein- 
gang  und  nr  4,  str.  9. 

Altercatio  vidi  et  cerevisie. 

1  Ludens  ludis  miscebo  seria, 
ne  fatiscant  mentes  per  tedia  : 
nunc  de  haclio,  nunc  de  cervisia 
traetans  lites  traetabo  iurgia. 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG        201 

_■  Assil  ergo  vestra  inlentio, 

DOQ    tllliliillli,    sed    ciiin    sileutio, 

explicelur  hec  disputatio, 
ad  boc  tendil  mea  petitio. 

Mutti  quidem  laudaol  cervisiam, 
parvipenduot  baclii  potentiam  ; 
laudant,  inquam,  fesluce  lih.nn 
el  coDtempnunt  deorum  gloriam. 

4  Nam  quia  credunt  summum  exisiere 
—  oe  vt'liniiis  verum  deprimere  — 
aquam,  credunt  oasci  <ie  feiere 

et  de  claro  oeptuoi  genere. 

5  Kius  regnum  e>t  alemaonia, 
baouooia,  brabantis,  Qaodria, 
frederici   regnum,  saxonia, 
terra  ponlus  predives,  omuia. 

6  lnde  bibiuit   reges,  pontifices, 
beremite,  archipontifices, 
Continentes,  matrone,  pelices, 
lnde  summas  recundat  calices. 

7  Piacet  letis,  placet  dolentibus, 
placet  parvis,  placel   maioribus, 
placet  sanis,  placet  languentibus. 
Quid  euarrem?  hec  placet  omuibus. 

E  Vestre  quidem  palet  notitie, 

que  sit  virins,  que  laus  cervisie  ; 

videamus  cum  mentis  acie, 

quante  bachus  sit  efficacie. 
9  Bachus  multis  pollet  miraculis  : 

bachus  duplex  dat  lumen   oculis  ; 

bachus  reddit  iuventam   vetulis, 

bachus  oummos  refert  a  loculis. 

10  Bachus  mentes  a  curis  liberal, 
bachus  omne  latens  considerat ; 
bachus  usus  semper  desiderat, 
bachus  nexus  doloris  lacerat. 

11  Bachus  est  fons  totius  «audii, 
bachus  semper  vult  tempus  otii; 


202  BÖMEIi 

bachus  levat  pondus  supplicii 
iuxta  versus  istos  ovidii: 
'Vina  parant  animos    faciuntque  coloribus  aptos.' 

12  Bachus  rethor,  bachus  est  phisicus, 
Est  legista,  est  dyaleticus, 
Gramancans  et  astrouomicus, 
<ieometer  et  bouus  musicus. 

13  Satis  probat  bunc  et  haue  ratio, 
sed  si  veri  hat  discussio, 
parum  valet  hec  comparatio 

de  hoc  potu  cum  dei  Glio. 

14  Ego  mallem  transire  maria, 
quam  sedere  iuxta  cellaria, 
ubi  iacet  festuce  filia: 
tantum  feteut  illius  dolia. 

15  Bachus  vero  viueit  flagranti* 
thus,  aroma,  rosam  et  lilia; 
bacho  demus  laudes  cum  gloria, 
decantemiis  omnes  alleluya! 

Explicit. 

15,  1  hs.  irrtümlich  :  fraglantia.  vgl.  nr  12  dieser  Sammlung,  v.  100 
verschrieben  :  faglantia. 

10)  Principium  magistrale. 

Der  neue  magister  bittet  den  vater  im  himmel,  seinem  gebrech- 
lichen schifflein  günstigen  wind  zu  senden  und  es  vor  dem  drohenden 
Schiffbruch  zu  bewahren,  damit  er  mit  seinem  kindlichen  sinn  nicht 
zum  gespötte  der  mitweh  werde,  auch  den  hl.  geist ,  den  doctor 
praeoius,  und  die  Jungfrau  Maria  ruft  er  um  beistand  an.  neider 
braucht  er  bei  seiner  unbedeutend  hei t  nicht  sm  fürchten,  wenn 
er  bescheiden  ist  und  nicht  mehr  begehrt  als  eben  notwendig,  getreu 
dem  Horazischen  cupias  quodeuuque  necesse,  so  folgt  er  damit 
einer  höheren  Weisung,  die  ihm  im  träume  zu  teil  geworden  ist. 
wie  das  zugegangen,  will  er,  wenns  den  Zuhörern  beliebt,  erzählen  : 

An  einem  schönen  frühlingstage  ist  er  zum  studieren  auf  eine 
blühende  wiese  hinausgegangen,  aber  der  süfse  gesang  der  vögel 
hat  ihn  die  bücher  bald  vergessen  und  in  schlaf  sinken  lassen,  da 
ist  eine  Jungfrau  von  wunderbarer  Schönheit  an  ihn  herangetreten 
und  hat   ihm   die   lehre   gegeben,   wenn   er  jetzt    die   doctorwürde 


HERMUNGER  VAGANTENLIEDERSAMMLI  NG         203 

erlangte,  nicht  stolz  zu  werden  wie  so  viele  andere,  damit  et  ihm 
nicht    erginge  wie    dem    Pirneos    (str.   17;    16,  i  :  uovus  ardei 
der  geglaubt  habe,  den  muten  gleichkommen  zu  können,  abei   elend 

zu  (jrunde  gegangen  sei.  herablassend  :"  sein  gegen  die  jüngeren, 
seine  tchüler,  und  ehrfurchtsvoll  gegenüber  den  alteren,  dahin  möge 
erstreben,  dannkönne  er  das  übrige  getrost  dem  Schicksale  überlassen, 

Es  ist  bekannt,  mit  welcher  vorliebe  die  dichter  des  mittelaltert 
solche  erscheinungen  fingiert  haben,  wie  hier  eine  erzählt  wird,  m 
tlcm  nächsten  prineipium  magistrale  dieser  Sammlung  (nr  \1>  wird 
uns  eine  ganz  ähnliche  anlaye  des  ganzen  entgegentreten. 

Die  form  unseres  gedichtet  ist  eigenartig  :  Strophen  der  seit 
W  alther  von  Lille  bekannten  art,  in  denen  3  rhythmische,  verse  der 
Vagantenstrophe  mit  einem  yern  aus  der  classischen  litteratur  ent- 
lehnte)! hexameter  als  schluss-  und  recapitulationsvers  —  der  sog. 
auetoritas  —  durch  den  reim  verbunden  sind,  wechseln  mit  Strophen 
aas  4  hexametern.  die  der  ersten  art,  xcelche  das  stück  eröffnen 
und  beschliefsen,  weisen  neben  dem  endreim  yröstenteils  auch  cäsur- 
reim  in  der  form  aaaa  auf;  ausgenommen  sind  die  Strophen  .">. 
11.  17.  19  und  23,  in  denen  die  cäsur  des  Hexameters  nicht  mit 
ileuen  der  rhythmischen  verse  reimt,  bei  den  letzteren  hab  ich  m 
der  ersten  hüljte  12 mal,  in  der  zweiten  'Smal  tactwechsel  gezählt. 
die  vier  hexameter  der  geraden  Strophen  sind  leonini,  die  zugleich 
auch  durch  den  endreim  paarweise  verbunden  (caudati)  sind,  also 
sog.  unisoni  t\V Meyer  Ges.  abh.  z  mittellat.  rhythmik  i  1905,84). 
unregelmdfsigkeit  :  4,  '1.  —  zu  einer  solchen  mischuny  von  accen- 
tuierenden  und  quantitierenden  stücken  in  ein  und  demselben 
gedickte  vgl.   \Y Meyer  i  333. 

Pr i  n  ci  p i  u  m   magistrale. 

1  Summe  clator  munerum  domiuans  in  celo, 
ad  te,  salus  paupemm,  Limidus  anhelo: 
Datum  pande  prosperum  naufraganli  Felo, 
teque  salutiferum  fragili  concede  pliaselo. 

2  Da  imclii  divioam,  deus  alme  pater,  medicinam, 
ne  michi  vicinam  possim  sentire  ruinam. 
Cum  sim  res  humilis,  ue  sim  derisio  vili>, 

Esto  michi  lacilis,  quia  sensu  sum  puerilis] 

3  Veni,  doclor  previe,  salus  generalis, 
virtutis  et  glorie  dator  specialis, 


204 


BÖMEH 


donum  michi  gratie 
Cesset  ut  invitlie 

4  Plena  pudicitia, 
tu  lenis  esto  michi 
0  venie  veoa, 
cor  tene,  cor  frena 

5  Iovidi  non  debeo 
humilis  sum  adeo, 
Livoris  aculeo 
Ingeuium  magnum 

6  Sicut  habel  res  se, 
nam  legis  expresse  : 
Cur  dissentire 

Si  placet  audire, 

7  Sol  wundum  adduxerat 
Sed  iam  relegaverat 
verque  novum  venerat 
terraque  protulerat 

8  Tempus  tarn  gratum 
impulit  in  pratum 
huic  dabat  humorem 
Nulli  maiorem 

9  Dum  crederem  studio 
pulcri  loci  gaudio 
dum  volucres  audio, 
harum  modulatio, 

10  Ut  datus  est  sopor  a 
afluit  absque  mora 
banc  ubi  spectavi, 
Cunctaque  laudavi} 

11  Tanta   pulcritudine 
quod  se  celi  semine 
ratioois  nomine 
atque  loquens  mecum 

12  lTu,  qui  doctor  eris, 
si  michi  credideris 

5,  4  Ovid  Remed.  am.  365. 
müdü,  verschrieben  statt  nüdü,  wir 
10,  2  hs.  :  afbq^. 


dona  spiritalis, 

vis  et  timor  exilialis! 

mundi  spes,   virgo  maria, 

nie  precedente  sophia! 

lux  mundi,  virgo  serena, 

cum  sobrietatis  hahena ! 

morsum  revereri, 

quod  non  licet  queri. 

magna  solent  teri: 

livor  detractat  homeri. 

me  sie  humilem  decet  esse, 

cupias  quodeuuque  necesse. 

michi  non  licet  ex  humili  re, 

cupio  vobis  aperire: 

nimios  calores, 

hyemis  algores, 

terre  pandens  flores, 

natos  sine  semine  flores. 

studio  me  sollicitatum 

redolenti  flore  beatum; 

fons  proximus,  herba  nitorem, 

tribuit  natura  decorem. 

primo  me  teneri, 

cepi  commoveri; 

dum  applaudit  veri 

potui  dormire  videri. 

volucrum  michi  voce  canora, 

coram  me  virgo  decora  ; 

faciern  eultumque  notavi 

quia  dignam  laude  probavi. 

verbo  preminebat, 

natam  ostendebat; 

fungi  se  dicebat 

tali  me  voce  monehat: 

doctoris  honore  frueris, 

et  si  mea  iussa  sequeris, 

6,  2  Horaz  Epist.  i  2,  46.         7,  1  hs. 
der  codex  stets  für  nondum  hat. 


HERDRINGER  V AGANTEN LIEDERSAMM LI  NG 


201 


Subditus  errori 

Meute    teile    metimri 

t::  .Mnlt(»s  magisterio 

superbie  vitio 

|i/(/s  quam  essel  ratio 

Vidi  priocipio 
lt  Hoc  manifeslari 

Musis  laude  pari 

Stliltll>    iter    lernen- 

ipse  mit  propere, 

15  Pyeriaa  dicitur 

per  quem  oovi  traditur 
qui  oimis  aggredilur 
Pennis  ipse  careos 

16  Si  quis  scrutelur, 
Equivalens  rletur : 
A  me  iion  oritur, 
Seil  sicu(   le^itur, 

1"  Pir  boc  idem  i mlicat 
quod  ignis  siguificat 
neu-  in >\  u in  predicat, 
Signatur  oovitas 

i^  Ne  profectura 
Mota  cui  cura, 
Ut  per  te  moniti 
doctores  soliti 

19  Duas  tibi  seniitas 
prior  est  bumilitas, 
Superbie  vanitas 

Esl  via  que  sequitur 

20  Ut  vivas   licite, 
Cures  sollicite 
Cunclis  dedecorem 
haDC  fugiendo  rem 

21  Sis  gralus  minorihus 
et  supplex  maioribus 

13,  3  hs.  fälschlich  :  puls. 
15,4  hs.  fehlerhaft  :  Pennis 
piecipitatu/-  in  den  text  geraten] 


ne  vivas  atque  pudori, 
tibique  succedel   liouori. 

rede   utentes 

\idi  coberentes  ; 

de  se  presumentes, 

tumidos  in  üne  ruentes. 

per  eum  valel  atque  probari, 

qui  credidit  equiparari. 

posl  haa  dum  vellel  abire, 

confractaque  membra  fuere. 

niiisas  imitatus, 

magistrantis  Status, 

appeteos  volatus, 

ad  terram  precipitalur. 

hoc  quod  per  Domen  habetur, 

novus  ardens  invenietur. 

quod  nomeo  sie  aperitur. 

scriptum  libris  reperitur. 

in  lingua  grecorum, 

seosu  latioorum; 

per  quod  magistrorum 

studiumque  fervet  ein  um. 

fugiendo  petas  nocitura, 

venio  te  premooitura, 

sint  te  mediante  periti 

uimis  ad  sublimia  nili. 

mooslro  nee  ignores : 

haue  sequi  labores. 

iuvisa  deo  res, 

niaculans  meritos  sibi  mores. 

iniclii   credas,   ac  humili   te 

semper  supponere  vite, 

mentis  depone  tumorem  ; 

queres  tibi  semper  honorem. 

eos  ioformando 

eos  veneraudo; 

ipse  carens   labitur  fwol   von  glosse   zu 
ad  terram  preeipilatus. 


206  BÖMER 

Sic  placebis  omnibus  laudeoi  tibi  dando. 

Hec  sunt  pre  manibus,  fortune  cetera  mando.' 

22  Verbis  fiue  dato,  monitu  michi  notificato, 
virgo  de  prato  somni  torpore  fugato, 
nescia  virgo  more  fugiens  fugiente  sopore 
Miraudo  more  miro  loca  fudit  odore. 

23  Ergo  te  suppliciter,  divina  maiestas, 
precor  :  michi  iugiter  per  te  sit  bonestas, 
que  bonis  beniguiter  bona  cuncta  prestas, 

Cui   l'uit,  est  et  erit  virtus  et  summa  potestas. 

11)   Castigatio  presbyterornm. 
Anfang:  Viri  beatissimi,  sacerdotes  dei. 
Von  diesem  in  zahlreichen  handschriften  erhaltenen  appell  an 
die  geistlichkeit  liegen  fünf  drucke  vor: 

1)  Flacius  Illyricus  143  ff.  titel  :  Golias  ad  Christi  sacer- 
dotem. 

2)  Wolf  Lect.  memorab.  i  439/f',  nach  Flac.  Illyr. 

3)  Wright  Ab  ff,  gleichfalls  nach  Flac.  Illyr.  (im  folgenden  nur 
Wright  citiert). 

4)  Du  Meril  Poes,  popul.  15/f,  als  teil  eines  gröfseren  gedichts, 
in  stark  abweichender  form. 

5)  Haureau  Not.  et  extr.  vi   13^".     ohne  Überschrift. 

Nachdem  Haureau  Not.  et  extr.  m  306  neun  französische  und 
zwei  deutsche  handschriften  nachgewiesen  (Paris  Bibl.  nat.  1093. 
2962.  3473.  3480.  8259:  Bibl.  de  V Arsenal  950,  Auxerre  23, 
Cambrai  250,  College  Ballice  349,  München  3591.  5015),  trägt 
er  Not.  et  extr.  vi  13  noch  eine  sechste  der  Bibl.  nat.  Paris  nach 
(18082),  um  auf  grund  von  dieser  und  nr  1093-  3473  und  3480 
einen  neudrnck  zu  veranstalten. 

Lesarien  von   H.     Abweichungen  von  Wright  und  Haureau. 

1,1.  Viri  beatissimi HWr.,  Viri  venerabiles  Haur.  3.  Caritate  radii 
fulgentis  H  fehlerh.  st.  Caritatis  radio  (Haur.)  od.  charitatis  radiis  (Wr.) 
fulgentis.  2,  2.  vera  vitis  HWr.,  als  apposition  zu  Christus  mindestens 
ebenso  gut,    wie   Haur.s    verae  vitis,    das  zu  palmites   zu   ziehen  ist. 

3.  avari  H  (näl  Du  Meril),  amari  Wr.,  inanes  Haur.  3,  1.  prolectores 
HHaur.,  portatores    Wr.       4,  3.  nescietur  HHaur.,  non  scietur   Wr. 

4.  Et  ni  pastor  vigilet,  caula  confringelur  H,  Nisi  (Nee  si  Haur.)  paslor 
vigilet,  ovile  frangetur  Wr.Haur.  (mit  laclwechsel  im  2  teile),  5,  3. 
spinas  atque  HHaur.,  et  spinas  et   Wr.         6,  2.  a  palea  grana  sepa- 


HERDRINGER  VAGANTEN  LIEDERSAMMLUNG         207 

ranles  H  (cäsurreim  mit  v.  1),  a  paleis  granum  separantes  Haur..  i 
paleis  grana  segregantes  Wr.  4.  Laicos  corripere  debetis  errantes  H, 
Laici,  i|in  Fragiles  sunt  el  inconstantes  Wr.Haur.  7,2.  credunl 
HWr.,  dicuot  Haur.  ."..  quidquam  H  fehlerhaft  st.  quidquid.  I.  ^< >lli - 
citum    //    falsch   st.    licitum.  s.  :;.  vobis    dod    deficiaui    BHaur., 

sHiiuiii  vestrum  meluanl  Wr.  4.  1  n »^i i um  /dlsclt  st.  ovium.  9j  2.  cibus 
fehlerhaft  st.  ßdes,  vielleicht  durch  ciho  v.  I  veranlasst.  3  ul  // 
UV.,  quod  Haur.  10,  I.  Ovibus  lenemini  veslria  HBaur.,  Omnibus 
tenemini  viris  UV.  2.  quid  quibus  HHaur.,  quibus  quid  Wr.  (m. 
tactwechsel).         11.  2.  dona  dare  BHaur.,  dar«  dona    Hr. 

3/4.     qunsi  sauet»*  fidei  regula  versalis 

vos  lepra  miserrimi  sin  santialis  (/)  // 
mehrfach  verderbt;    Wr.  gibt  die  richtige  lesari  von  dieser  fassung: 

quae  si  contra  fidei  regulas  vendatis, 

vos  lepram  miseriae  ferre  sentiatis 
Baur.  ganz  abweichend: 

Seil  si  cuiquam  fidei  munera  vendatis, 

[neursuros  Giesi  leprain  vos  sciatis. 
12,  2.  Gralisque  conficite,  gratis  baplisate  // 
im  ersten  teil  Wr.  nahekommend  (et  gratis  conficile  m.  tactwechsel 
Wr.,  gratis  confilemini  Haur.),  im  zweiten  mit  Baur.  Übereinstimmend 
(^r.-itis  consecrate  UV.)  '.).  omnia  probate  II  Wr. ,  eunetis  gratis 
dale  Harn.  4.  id  quod  HHaur.  gegen  Imc  quod  Wr.,  aber  bonum 
approbate  HWr.  gegen  vestrum  conservate  Haur.  L3,  3.  vita  H 

aal  fehlerhaft  st.  rania,  vielleicht  durch  viia  v.  2  reraulasst.  in 
der  folge  der  3  nächsten  Strophen  stimmt  II  mit  Wr.  überein,  Haue. 
!/ilit  sie  in  der  Ordnung  16.  1").  11.  14.  1.  paeifici  HWr.,  benevoli 
Haur.     15,  1 — 3.  //  m.  Haur.   übereinstimmend: 

Eistote  breviloqui,  ne  vos  ad  realura 

protrahal  loquacitas,  nutrix  vanitatum. 

Verbum  quod  proponitis  sit  abbrevialum; 

Wr.   beträchtlich  abweichend   und  mehrfach  fehlerhaft: 

Estote  benevoli  [!],  ne  vos  ducat  ad  reatura,  [vers!] 
verbum  quod  proponitis  sit  abbreviatum, 
per  vos  inter  siniplices  bene  adaptatum, 
Iti,  l.    Nulluni    faslum    expriniat    H,    Nullus   fastus    deprimat    Baur., 
Nullus    rastos   expriniat   Wr.        2.  gravitatis    veslium    HRV.,   Paritalis 
mentium  Haur.         4.  regni  sunt   HWr.,    sunt  regni  m.  tactwechsel 
Haur.        Haur.    hat    nach    16    noch    zwei   Strophen,   von  denen  die 
erste   (17)    dem   wünsche  ausdruck  gibt,  itass  die  priester  hur  auf 
erden  ihr  seelsorgeramt  so  versehen  möchten,   dass   Gott  sie  dereinst. 
wenn   sie    die   cblamys  caroalis  ausgezogen,   mit  der  stola  aeternalis 
bekleidete,    während  die  zueile  (18)  weiterhin  ausführt,    dass  Gott 
sie   von   Sünden   reinigen  möge,   damit  sie   in   Abrahams  scho/'s  aul- 
genommen   werden    könnten.      Wr.    bietet    nur  die  erste  der  beiden 
Strophen,   mit  geringfügigen  textvarianlen,    II  keim-  von   beiden,   viel- 


208  BÜMER 

mehr    stall    ihrer    folgende    andere,    die    den  gedanken  von   17  mit 
anderen  Worten  ausdrückt : 

Sic  ergo  vos  singulis  oruaie  virtutibus, 

ut  deduclos  misere  carnis  e  carceribus 

civitatis  supere  vos  iungat  civibus 

rex,  qui  sine  termino  regnal  in  celeslibus. 
die  abweichende  form  der  Strophe  legt  die  Vermutung  nahe,  dass 
sie  anderswoher  entlehnt  sei,  andernfalls  dürfte  angenommen  werden, 
dass  der  dichter  ähnlich  wie  in  stück  3  den  abschluss  des  gedichles 
auch  äuCserlich  hat  hervorheben  wollen,  wie  dem  auch  sein  mag, 
jedes  falls  ist  der  unregelmäCsige  bau  der  verse  wenig  glücklich, 
in  der  zweiten  hälfle  der  zeilen  1.  2  und  4  slehn  siebensilbler 
statt  der  üblichen  sechssilbler,  während  z.  3  eitlen  siebensilbler  mit 
lactwechsel  hat,  den  auch  der  siebensilbler  von  v.    I   aufweist. 

12)  Versus  Primatis  contra  praelatos  et  clericos. 

Anfang  :  Cur  ultra  studeam   probus  esse  probusque  videri. 

Das  einzige  rein  metrische  stück  der  Sammlung.     Flacius  Ilhj- 

ricus  hat  es  nach  einer  hs.  der  Dominicaner  zu  Basel  (B)  zweimal 

publiciert  :  im  Auctarium  zum  Catalogus  testium  veritatis  46  und  in 

Varia  doctorum  piorumque  virorum  .  .  .  poemata  365  ff.     Wolf  Lect. 

memorab.  i  742    reproducierte  diesen  text.     Fierville  in  Notices  et 

extraits  xxxi  1,  129  ff  iceist  das  gedieht  in  ms.  115  der  bibliothek 

von  SOmer  nach,  zerlegt  es  jedoch  in  zicei  teile  :  1)  die  46  ersten 

verse    (nr  lvi);    2)  v.  41ff,  beginnend  Temporibus  nostris  mutari 

secula  ceruo  {nr  lvh).     für  den  ersten  teil  verweist  Fierville  auf 

den   ab  druck   bei  Flacius   Illyricus,   wogegen    er   den  zweiten  für 

ungedruckt   hält,   obwol  er  als  fortsetzung   des   ersten   bei  Flacius 

III.  veröffentlicht  ist.     auch  ms.  710  der  bibl.  von  SOmer  enthält 

eine   copie   der   satire.      abdruck  auf  grund  dieser  beiden  mss.  bei 

Fierville  ao.   130  ff.     Haureau  hat  in  zwei  Pariser  hss.  aufzeich- 

nungen  des  gedichtes  gefunden  :  ms.  14193  (das  ganze  gedieht,  auch 

hier  wider  in  zwei  teile  zerlegt)    (vgl.  Not.  et  extr.  u  349/)  und 

ms.   16699  (der  zweite  teil)  (vgl.  Not.  et  extr.  \2l\ff).     die  69 

ersten  verse  stehn  auch  in  ms.  C  58/275  der  stadibibl.  zu  Zürich  (Z) 

und  sind  nach  dieser  plötzlich  abbrechenden  und  überhaupt  ziemlich 

nachlässigen  niederschrift  von  Werner  ao.  139 /f  mitgeteilt  worden. 

Lesarten  von  H. 
In  der  folge  des   lexles  von  Flacius  lllyr.  (BJ. 

V.  3  fehlt.  6.  probos  HB,  bonos  Z.  10.  Hos  quia  Sublimat  U, 
Hos  fert  sublimes  B,  Hos  quos  Sublimat  Z.  das  unhaltbare  quos  wol 
fehlerhaft  st.  quia,  wie  11  lisl.     stercora  HB,  slercore  Z,  ersteres  vor- 


HERDRINGER  VAGANTENL1EDERSAMMLI  NG         209 

tuxiehen.  11.  me  penitel  esse  poelam  ///  tu  v. 
poemtfi  esse  peritum  li.  12.  quielam  ///.  quietuui  li.  ll./  Pin 
die.  uuj  grund  dieses  Piogo,  das  auch  in  Paris  ms.  L4193  überliefert 
ist,  schreibt  Haureau  das  gedieht  dem  Petrus  Picloi  u.  II  lisl 
statt  Pingo  :  Fingu,  hat  also  die  beziehung  auf  den  urhebei  ■ 
Stückes  [allen  lassen  und  die  stelle  verallgemeinert,  in  II  ligl 
demnach  eine  redigierte  fassung  vor,  ebenso  wie  in  />',  die  /«/■  P 
ein  unhaltbares  1 1 1 <!•■  eingesetzt  hat.  am  schluss  des  verses  hat  II 
mit  /  und  der  Pariser  hs„  aus  der  Haure'au  ciliert,  operari,  während 
in  />'  ein  unglücklicheres  venerari  überliefert  ist.  17.  Natu  mihi 
quid  prosunt  versusque  slilusque  labella  HZ,  Nam  modo  oon  prosunl 
versus  Stylus  atque  labella  />'.  L8.  studiis  ///.  studio  li.  mille 
//.  dura  BZ.  11).  si  loquar  Uli,  colloquar  Z.  20.  leneam  magni  Uli. 
magni  teneam  /.  24.  lurbine  HZ,  11111111111'  li.  2H.  El  pro  ///,  Ah  pro 
li.  valuere  ///.  valvere  li.  27.  ista  quidem  ///,  I ^ t ;•  mihi  B. 
sola  lubons  //.  i>t.i  laboris  li/.  28.  Quid  prosunt  duri  //,  Quem 
[auf  laboris  v.  -1  bezüglich)  faciunt  duri  li,  Que  faciuut  seni  Z 
(kaum  haltbar).  29.  iueudi  HZ,  ;nl  ineudem  B.  30.  relegaul 
HZ,  relegunt  B.  31.  Me  remonetari  Uli  richtig  statt  des  fehler- 
haften Me  1:1111  monetam  Z.  .'!2.  nummicola  HZ,  nummiculus  ß. 
Varro  //,  sicher  versehentlich  statt  Maro  /,  Naso  B.  .'15  prius  //, 
magis  HZ.  .'!ti.  nimirum  IIB,  uon  mirum  /.  .'i7.  miser  esse  |><>iest 
//.  miser  esse  eupit  B\  letzteres  vorzuziehen  und  auch  von  Wernei 
eingesetzt  st.  des  fehlerhaften  cupit  unser  esse  Z.  infatuari  HB 
infamari  Z.  40.  n.imium  studeat  semper  piger  esse  ff,  minimum  studeat, 
discal  piger  esse  B,  uimium  studeat  discal  piger  esse  /;  diese  combi.- 
nation  von  11  u.  B  naht  haltbar,  deshalb  e<>u  Werner  auch  minimum 
gelesen.  41.  homines  ...  perdueunt  HB,  animos  ...  produeunt  Z. 
4."!.  bodie  pigros  //,  hodie  slultos  B,  hominem  pigrum  Z.  44.  Cum 
de  pigritia  fasius  //,  Cui  de  pigrica  [!]  fasius  Z,  Queis  de  pigrilia 
fruetus  B.  [2  teil.  v.  47//'/  4s.  Ecce  veius  //,  Nonne  vetus  B,  Omne 
veius  Fi  (=  Fierville),  Nonne  veius  Z;  Werner  hat  Omne  st.  des  fehler- 
haften Nonne  übernommen.  50-  famam  sine  Iahe  HB,  laudem  sine  labe 
Z,  ramam  cum  laude  Fi.  52.  studel  HBFi,  soletZ.  54.  nunc  H,  modo 
B,  lioc  FiZ.  atque  probavi  //,  gegen  den  reim  verstoCsend,  hoeque 
probatur  FiZ,  brobalur/7j  B.  50.  cito  HFi,  liic  BZ.  57.  Hoc  bodie 
haculus  H,  Huic  bodie  baculus  B.  Hoc  studio  baculus  Fi,  Hoc  hs  ole 
baculo  Z,  wofür  Werner  die  lesarl  von  Fi  übernommen  hat.  58-  ven- 
ilitur  hoc  HFi,  Venditur  hinc  B,  Uiitnr  hoc  Z.  59.  arismeticam  HZ, 
Aerismaticam  B,  erismalicam  Fi.  60.  Hoc  HBFi,  Hinc  Z.  ell'ecii 
potiores  HB,  affeeli  poiiorus  Fi,  facti  posteriores  .'"  Z.  lil  2  von  B 
Fi  fehlen  in  HZ;  die  verse  dürften  zur  erhlürung  des  Aeris- 
maticam  v.  59  eingeschoben  sein.  63.  Esl  gravius  HBFi,  Est  quamvis 
Z,  nach  den  übrigen  zu  rerbessern.  (J4.  Discere  richtig  HBFi 
gegen  Discat  Z.  prudenter  //#Ft  j/e^en  prudenlia  Z.  philosopbari 
//#Z,  versificari  Fi.  65.  nummis  nummos  in  chiaslischer  Stellung 
z.  d.  folg. :  libras  libris  //,  nummos  nummis  ZJ/-7Z.  67  N  feWew  in  / 
Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  U 


•21i>  BÖMER 

der  dichter  gebraucht  hier  und  im  folgenden  den  ausdruck  Dominus 
vobiscum  (Domnus  vobiscum  Fi),  den  der  priester  während  der  messe 
widerholl  an  die  gläubigen  richtet,  mit  komischer  würkung  zur 
bezeichnung  des  geistlichen  selbst,  der  Schreiber  von  Z  bezw.  seine 
vorläge  hat  den  ausdruck  offenbar  nicht  verslanden  und  deshalb 
v.  67/8,  sowie  r.  72 ff,  in  denen  jene  worle  immer  iciderkehren, 
forlgelassen,  nur  ein  einziger  der  verse  (77)  ist  noch  verständnislos 
angeflickt.  67.  qui  HB,  quia  Fi.  69.  Et  quia  HFi,  Atque  liic 
B.  71.  bos  HFi,  et  B.  72.  Dum  sua  facta  facit  H,  His  sua  festa 
canit  (facit  Fi)BFi.  H.s  facta  zu  verbessern  in  festa. 
73/4.     Dominus  vobiscum  bbros  quos  devoral  ore 

Nou  sapit  intro,  lamen  regitur  falo  meliore  H, 
Fi  mit  H  übereinstimmend  bis  auf  Domnus  und  fato  regitur; 
Dominus  vobiscum,  pingui  cum  murmurat  ore, 
Iam  sapit  intus,  quotl  regitur  fato  meliore  B. 
78.  cum  sit,  sibi  vilis  babetur  HB,  sibi  cum  sit,  nullus  babetur  Fi, 
kaum  hallbar.  79/80  fehlen  HFi.  sie  passen  auch  keineswegs 
zwischen  die  grammalischen  erörterungen.  81.  quaiuloque  H,  ali- 
quando  BFi.  Fi  hat  die  schlussworle  von  81/2  gegenüber  BH 
verlauscht.  83.  nefas  H,  nefasque  BFi,  besser.  84.  non  HB,  nil 
Fi.  85/6  fehlen  HFi.  87.  Est  HFi,  En  B.  89/90  fehlen  H. 
91.  negotia  HB,  pericula  Fi.  93-  meliora  .  .  .  pretiosa  H  (gegen  den 
reim  verstoCsend),  pretiosa  .  .  .  meliora  BFi.  96-  gingiuer  HFi, 
zinziber  B  (verschrieben  st.  zingiberj.  97/8  fehlen  HFi.  98  in  der 
fassung  von  B  kein  vers  u.  sinnlos.  99.  Huuc  pigmenla  favent 
secumque  H,  zu  verbessern  in  Huic  pigmenta  favent,  servitque  Fi; 
Hunc  unguenta  fovent,  servitque  B.  100.  Huius  et  ad  nares 
HB,  Huic  etiam  ad  nares  Fi.  faglantia  H  [ähnlich  wie  nr  9, 
slr.  15,  1  :  fraglantia /,  verschrieben  st.  flagrantia  Fi;  fragranlia  B. 
von  101  an  gehn  die  Überlieferungen  besonders  stark  auseinander. 
B  hat  den  längsten  lexl,  Fi  20  vv.  weniger  als  B,  und  H  wider  10 
weniger  als  Fi.  in  der  versfolge  zeigen  H  und  Fi  Übereinstimmungen 
gegenüber  B  (s.  die  folgende  tabelle),  die  auf  ein  näheres  ver- 
wanlschaftsverhällnis  zwischen  II  und  Fi.s  vorläge  schlieCsen  lassen, 
während  sie  vorher  freilich  in  einzelheiten  des  lexles  häufig  aus- 
einandergiengen  und  H  oft  mit  B  gegen  Fi  übereinstimmte. 


B 

H 

Fi 

101/152 

127/8 

127/8 

— 

129/32 

103/4 

103/4 

101  2 

101/2 

105/6 

105/6 

— 

107/8 

117/20 

117  20 

141  46 

133/40 

121/22 

147  52 

125  26 

— 

HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG        211 

101-  Cuius  HFi,  Huius  /;.  noveril  //.  doctua  BFi.  102  oullum 
facit  ullo  //.  iiiilln  facit  illimi  BFi.  104.  in  unda  //.  ab  unda  BFi. 
105-  pascunl  Mi;  hiernach  poscunl  Fi  sti  verbessern.  L06.  gratis- 
sima  //,  pinguissima  Bl  117.  Ha  quotiea  reseral  //.   Fi   $1.  reseral 

fehlerhaft  referal;  Sed  cum  vult,  reseral  B.  119.  in  illa  HFi  niht,,/ 
$t.  el  illa  /)'.       12.1.  valeal   //,  possil  B. 

127.  Oninis  gramaticus  laceris  paucia  quoque  pannia  // 
Grammaticus  vero  teouis,  laceris  quoque  pannis  BFi 
128.  Visis  eril  studits  //  (gihi  keinen  rechten  sinn),   Ah  obit  in  stodiia 
B,  Immoritur  studiis  Fi.       141.  est  hodie  //.  esl  aeris  li.        1  Vi 
II.  hie   B.      144-  laus  insipienti  //,  laus  omnis,  habenti  B.      14ti.  I'i 
de  gramaticis  plures  faciat  //,  Et  moi  nobilium  plures  faciel  H. 

13)  De  victoria  Parmensi. 

Den  ruhmvollen  sieg  der  Stadt  Parma  über  das  belagerungsheer 
kaiser  Friedrichs  u  im  jähre  1248  feierte  vermutlich  kurz  nachher 
ein  Parmenser  magister  scholarum  und  canonicus  in  drei  lateinischen 
gedickten,  die  in  einer  Münchener  hs.  des  13  jk.s  erkalten  und 
zuerst  von  Hoe/ler  in  der  Bibl.  d.  litt.  ver.  16,  2  ( 1 847)  123//", 
nachher  an  verschiedenen  an/leren  orten,  na.  auch  in  den  Man. 
Germ.  Scr.  xviu  790/^  im  anschluss  an  die  Annales  Parmenses 
maiores  abgedruckt  sind.  der  Verfasser  unseres  Stückes  verrat 
über  seine  person  nur,  dass  er  ein  begeisterter  anhänger  des  papstes 
und  bitterer  kasser  des  kaisers  gewesen  ist.  er  hat  weder  die  dinge 
an  ort  und  stelle  miterlebt,  noch  auf  grund  mündlicher  berichte 
geschrieben,  sondern  eine  schriftliche  aufzeichnung  als  quelle  benutzt, 
str.  22,  1  beruft  er  sich  ausdrücklich  auf  den  Wortlaut  einer  solchen 
(sicut  vere  didici  ex  tenore  carte),  dieses  Schriftstück  ist  uns 
erhalten,  ein  vergleich  ergibt,  dass  es  nicht  nur  an  der  bezeichneten 
stelle,  sondern  das  ganze  gedieht  hindurch  als  vorläge  gedient  hat. 
es  ist  ein  schreiben,  in  dem  'Potestas,  mililes  et  populus  Parmensis' 
der  stadt  Mailand  die  künde  von  ihrer  waffentat  übermitteln  und 
um  beistand  für  den  weiteren  lauf  der  ereignisse  bitten  (gedr.  bei 
Matthaeus  Paris  Hist.  maj.  Anglor.,  Addit.  107;  hiernach  bei 
HuiÜard-Breholles  Hist.  diplom.  Friderici  Secundi.  vi  2  ( 1 861 J 
591  fi.  da  sich  die  abhdngigkeit  des  dichters  von  diesem  briefe 
bis  auf  die  einzelnen  ausdrücke  erstreckt,  führe  ich  den  in  betracht 
kommenden  teil  der  vorläge  im  Wortlaut  an  und  verweise  in  eckigen 
klammern    auf  die   verse   des  gedicktes,  bei  denen  eine  entlehnung 

stattgefunden  hat  : 

14* 


212  BÖMER 

Slrenuis  et  prudentibus  viris  domino  ßonefacio  de  Sal  .  . . 
potestati,  mililibus  et  populo  Mediolanensi,  Philippus  Vicedominus 
potestas,  milites  et  populus  Parmensis  salutem  cum  gloria  et 
honore.  Laudes  retribuimus  [5,  1]  Deo  Patri  Filioque  suo  Domino 
noslro  Jesu  Christo  et  Spiritui  Sancto  trino  Deo  et  uni  majestati 
et  Virgiui  gloriose  que  non  propter  noslrorum  exigentiam  meri- 
torum,  sed  propter  suam  clementissimam  pietatem  civitatem  nostram 
protegil  et  defendit,  regit,  visitat  et  gubernat,  sicut  manifeste 
conspicimus  in  victoria  triumpbali  quam  die  inartis  duodecimo 
februarii  exeuntis  [10,  l]  contulit  nobis  Deus  sue  genitricis  inter- 
ventu  [6  u.  7],  Quamvis  enim  mille  quingenti  de  nostris  ivissent 
inter   Colornum  et  Bersellum   [11,  1.2]  et  preterea  due  porte  in 

integrum et  ille  seviens  draco  [11,  3]  qui  per  tantum 

temporis  obsederat  [8,  1]  terram  nostram,  nos  omuino  crederet 
deglutire  [12,  2],  jam  extra  sua  moenia  eunctis  militum  et  peditum 
suorum  agminibus  ordinatis,  nos  invocato  Dei  auxilio  et  Virginis 
gloriose  [17,  1],  cernentes  quod  potens  est  Deus  deponere  superbos 
et  humiles  exaltare  protinus  exivimus  contra  ipsos  populos  et 
milites  universi,  nequaquam  nostra  vestigia  retardantes  quoad 
usque  dimicantes  junximus  nos  cum  eis,  precedente  vexillo  cum 
forma  Virginis  pretiose  [17,  2/3],  cujus  regebamur  semita  et  ducatu. 
Et  quamvis  duritera  principio  restitissent  [21,  3],  nos  tarnen  iovales- 
centes  durius  in  eosdem  confregimus,  contrivimus  et  proslravimus 
ipsos  omnes.  Et  descendens  impius  Fredericus  per  subterfugia 
[24,  4]  tanquam  latro  [25,  1]  dimisit  suos  et  spolia  sua  prorsus 
[25,  2;  34,  3],  ex  quibus  tria  millia  [34,  2]  cepimus  et  plures. 
Cepimus  quoque  carrochium  [33,  1]  Cremonensium.  Cepimus 
etiam  menia  [33,  2]  que  fecerat  et  omnia  castra  [33,  2]  sua 
cepimus  et  habemus  omnia  sua  que  habebat.  Interfecimus  quoque 
Thadeum  judicem  suum  [29,  3/4.  30],  cubicularios  [29,  2]  et 
camerarios  [29,  1],  omnes  nostros  banneratos  [31,  1]  .  . .  Tandem 
in  civitatem  regressi  cum  Dei  laudibus  et  honore  noslre  disposuimus 
negotia  civitatis,  confidentes  in  illo  qui  est  vera  salus  omnium 
atque  virtus  [35]. 

Nicht  etwa  nur  den  bericht  übe?"  den  gang  des  ereignisses, 
sondern  selbst  die  einleitung  des  Schreibens,  das  lob  Gottes  und  der 
Jungfrau  Maria,  durch  deren  fürbüte  der  sieg  gewonnen,  hat  der 
dichter  übernommen,  indem  er  nach  einer  längeren  apostrophe  an 
den  papst   zum   lobe  .des  herrn  und  seiner  jungfräulichen  mutter 


herdringer  vaganteisliedersammh  ng      213 

auffordert,    die   noch   niemals  einen   im   stich  gelassen,   der  sich 

vertrauensvoll  an  sie  gewendet ,  und  jetzt  auch  wider  die  stmlt 
Parma    aus  grOster   not  errettet  habe,     ah   datum  des   siege»  gibt 

er  dm  12  tag  rar  ende  fehruar  (Fine  februarii  die  duodeoo)  1217 
an  \i),  1 — 3j.  12  17  ist  ein  iritum  statt  12  1\  der  nicht  vor- 
gekommen sein  würde,  nenn  der  In  ief  das  Jahr  verzeichne!  hatte. 
,i  hat  aher  nur  den  tag  der  schlncht  /estgehalten,  und  in  der 
Bezeichnung  desselben   (<li»'  duodeeimo  februarii  exeuntisj   ist  ihm 

der  autor  getreulich   gefolgt,      es   handelt  sich    um   den    1^   jebruar, 

der  12  1^  würklich  der  12  tag  vor  schluss  des  fehruar  nur  [vgl. 
die  anm.  bei  Huiüard-Breholles).  die  beiden  namen  Coloroum  und 
Berseilum  erscheinen  im  gedickte  [11,  1]  als colluvium  und  bessillum; 
statt    carrochium    ist  33,  1  ;  cartbocium    gelesen.  —  übrigens    ist 

der  drief  nicht  die  einzige  quelle  des  dichten  gewesen,  die  poetische 
ausschmÜekung  der  erzählung  mag  seiner  phantasie  entsprungen 
tein,  alter  er  berichtet  auch  über  tatsuchen,  deren  kenntnis  ihm 
anderweitige  quellen  übermittelt  haben  müssen,  dahin  gehören  vor 
allen  die  in  dem  schreiben  nicht  erwähnten,  sonst  aber  vielgepriesenen 
taten  des  päpstlichen  legalen  tiregorius,  denen  die  13  Strophe  der 
dichtung  gewidmet  ist.  von  den  drei  triumphliedern  des  Parmenser 
canonicus  schildert  keines  so  genau  den  verlauf  des  kampfes  wie 
das  unsrige.  <las  erste  ergeht  sich  in  ziemlich  allgemein  gehaltenen 
auf  forder  ungen  zum  siegesjubel,  wahrend  die  beiden  anderen  umfang 
reicheren  und  weiter  ausholenden  mehr  betrachtungen  über  den 
ji  endigen  erfolg  anstellen  oder  bemerkenswert  erscheinende  einzel- 
heiten  des  geschehenen  herausgreifen.  alle  drei  sind  in  reinen 
Vagantenstrophen  gedichtet,  wohingegen  in  dem  vorliegenden  stücke, 
wie  in  nr  10  der  Sammlung,  mit  3  versen  der  vagantenstrophe  ein 
hexameter  bezw.  pentameter  (str.  3.  16.  20.  30.  31.  33)  verbunden  ist, 
der  widerholt,  namentlich  in  den  eingangsstrophen,  als  echte  auetoritas 
erscheint.  in  den  rhythmischen  Zeilen  ist  so  häufig  tactwechsel 
angewant ,  dass  nur  wenige  Strophen  von  ihm  freigeblieben,  viele 
aber  mehrfach  betroffen  sind. 

De  victoria   parmensi. 

1  Cum  ad  verum  ventum  est  veros  per  rumores, 
papa  pater,  dominum  laudes  et  lionores 
Superbos  et  emulos  pellens  detraclores: 
[nquinat  egregios  adiuneta  superbia  mores. 

1,  4  vgl.  nr  20  dieser  Sammlung  51,4. 


214  BÖMER 

2  Gaude,  pater  omoium,  et  clementer  ora, 
quia  per  te  dominus  regens  altiora 
Subvenit  ecclesie  facta  tarnen   mora: 

Grata  supervenit,  quam  nou  speravimus,  hora. 

3  Sancte  pater,  sanctior  adhoc  certe  fies, 
Dum  tu   pati  gravia  patieuter  scies; 
post  laborem  dabitur  tibi  longa  quies: 
Non  faciunt  anni,  quod  facit  una  dies. 

4  Nutu  cuius  oritur  et  occultat  pbebus, 
frederico  nocuit  paucis  in  diebus, 

(jui  mundum  turbaverat  multis  speeiebus: 
Ludit  in  humanis  divina  potentia  rebus. 

5  Laudes  retribuere  domino  debemus, 
falsus  cesar,  decius,  romulus  et  remus, 
perdidit  victoriam,  quam  nos  retinemus: 
Viclorem  a  viclo  superari  sepe  videmus. 

6  Licet  sit  brevissimus  nostre  vite  cursus, 
Graviter  nos  opprimunt  hostium  in  cursus, 
Sed  regina  virginum  nobis  est  succursus: 
Ultimus  est  ad  eam  post  omnia  fata  recursus. 

7  Dum  ad  hanc  recurritur  matrem  pietatis, 
opem  uulli  denegat,  sed  succurrit  gratis; 
nuper  prece  populum  parme  civitatis 
faucibus  eripuit  pia  virgo  draconis  hiatis. 

S  Hanc  nuper  obsederat  hie  draco  versutus, 
fredericus  nomine,  vir  labe  pollutus; 
per  bunc  in  imperio,  quo  est  destitutus, 
Vivitur  ex  rapto,  nou  hospes  ab  bospite  tutus. 

9  Huic  draconi  perfido,  crudeli  et  crudo, 
non  est  ulla  pietas  neque  mansuetudo; 
dici  potest  verius,  breviter  concludo: 

Non  missura  entern  uisi  plena  cruoris  yrudo. 

10  Fine  l'ebruarii  die  duodeno 

In  anno  millesimo  atque  ducenteno 
quadrageno  septimo  vir  plenus  veneno 
preeipit  arma  capi,  satietur  ut  ex  alieno. 

2,  4  Horaz  Epist.  i  4,  14.  4,  4    Ovid  Ex  Ponto  iv  3,  49. 

5,  4  Cato  Dist.  n  10,  1.  9,  4  Horaz  Ars  \ioet.  476. 


EIERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG        215 

u  Cum  inier  colluvium  et  besaillum  forte 
Ivissent  cum  pluribus  parme  »J n«*  porle, 
ille  draco  seviens  sua  ductus  Borte 
lemptat,  ut  haue  capiat  magua  comilante  coborte. 

12  Viso  parme  populus,  quod  haue  maledicius 
rieglulire  satagit  el  eorum  victus, 

cum  iotrare  oequeal  aliler,  cooflictus 

se  paral  ad  pugoam,  couculcet  ut  ictibus  ictus. 

13  Vir  prudens  gregorius,  patrie  legatus 
a  papa  gregorio  quondam  destinatus, 
procuraos  fideliter  honorem  papalus 

affuil  inter  eos,  vir  ad  inclita  facta  paratus. 
L4  Assunt  vicedominus  ei  potestas  ville, 
milites  et  populus  mentis  oon  pusille; 
quilibet  se  reputat  maiorem  achille. 
Omnibus  uiiiis  erat  prineeps  gregorius  ille. 

15  Ilic  ortalur  populum  prudenti  sermone, 
excilent  ut  virginem  laudum  actione, 
Corde,  volo,  lacrimis  et  oratione, 

Martis  ut  bos  dubii  dubio  cooservet  agone. 

16  Ad  bec  totus  populus  clamat  'deus  meus, 
amedeus,  bodie  oon  sis  pbariseus, 

nunc  iil)i  confiteor  quasi  miser  reusl' 

Qeclitur  iratus  voce  roganle  deus. 
IT  Virginia  auxilio  demum  invocato 

rt  eius  ymagine  vexillo  signato 

precedente  aciem  legali  mandato 

Se  minime  dubio  metuunt  exponere  lato. 
IS  Populus  parmensium  utriusque  sexus 

permanet  inlrepidus,  tutus,  uon  perplexus, 

dum  ad  preces  virgiois  matris  et  amplexus 

lilius  uuicus  est  ad  eorum  comoda  flexus. 
l't  Urbem  cives  exeunt  et  lolum  commune, 

In  hoslilcs  acies  instant  oportune; 

qui  regit  expositos  dubie  fortune, 

Ille  dedit  pbebo  radios  et  cornua  lune. 

11,2   zur   bedeutung    von   j>orte   vgl.  Du  Cangr  s.  v.  porta   1,   zusatz 
(porla  pro  milium  turba  videtur  aeeipi). 


216  BÖMER 

20  Sicut  ordinatum  est,  vexillum  precedit, 
armata  per  ordinem  acies  incedil, 

Clamat  :  Miostem  deslrue,  deus,  qui  nos  ledit  I 
Materiam  venie  sors  tibi  nostra  dedit.' 

21  Tunc  in  hostes  irruunt  ac  si  sint  securi 
ex  eventu  dubio  triumphi  futuri; 

hiis  resistuot  duriter  hostes  valde  duri, 
Ignari  penitus,  quod  denique  sint  perituri. 

22  Sicut,  vere  didici  ex  tenore  carte, 
pugna  gravis  extitit  ex  utraque  parte; 
alterum  persequitur  alter  in  hoc  marte: 
hostis  obest  hosti,  sie  ars  deluditur  arte. 

23  Ilic  opus  est  gladiis,  ense  vel  cutello, 
nou  est  opus  legibus,  nota  vel  libello; 
non  auditur  aliquis,  si  dicit  'apello!' 
Non  bene  conveniunt  in  tali  talia  bello. 

24  Diu  dimieaverant  in  bello  fatali, 
needum  locus  aderat  fato  triumphali, 
quando  draco  seviens  plenus  doli  mali 
Cepit  adire  fugam  subnixus  equo  speciali. 

25  Tamquam  latro  latuit  meute  manens  fieta 
sua  supellectili  tota  derelicta 

genteque  multiplici  graviter  afflieta, 
Et  sua  falsa  i'uit  demum  victoria  vieta. 
20  Attendens  astrologos,  signa  et  planetas, 
persequens  apostolos  sanetos  et  prophetas 
hie  senex  non  cogitat,  quod  inter  dietas 
labitur  oeculte  i'allilque  volubilis  etas. 

27  Parva  gens  parmeusium  hostium  respectu 
diniicant  viriliter  et  cordis  affeclu, 

quod  patet  ad  ultimum  ex  rei  effectu; 
Quod  periere  viri  nece  nescio  dicere  nee  tu. 

28  Hostes  parme  populus  persequens  attente 
fugat,  necat,  destruit  duce  fugiente 

et  vindietam  reeipit  ab  hostili  gente; 

Que  resupina  iacet  parma  victrice  manente. 

29  Duces,  camerarios  necat  in  pressura 
nee  cubiculariis  parcit  gens  secura; 


HERDR1NGFR  VAGANTENLIEDERSAMMLI  NG         217 

tbadeus  occiditur  iudex  uece  dura, 

Nil  silii  (udc  valuil  civilia  aoscere  iura. 

30  De  morte  dolendum  est  iudicis  Lbadei, 
qui  profectum  publice  procurabal  i«*i . 
Invictus,  ul  dicitur,  adherebal  ei, 

Qui  luil  ecclesie  pestis  amara  dei. 

31  Banneratos  gladius  ultos  quosdam  ferit, 
(|uiluis  parma  parcere  nee  cural  oec  querit; 
ciiiii  istis  ml, iim.i  mortuis  oon  perit: 

pena  potesl  demi,  culpa  perhennia  erit. 

32  Quos  teoebat  viuculis  vd  captivitate 
de  viris  parmeusibus  carens  pietate, 
liberavil  doroiDus  sua  potestale: 

villa  cremata  fuit  peuilus  parme  feritate. 

Cremona  cartbocium  perdidit  iuvita, 

fredericus  menia  el  castra  munita, 

villas,  loca.  spolia  male  acquisita; 

Perderel  el  vitam,  ni  laluissei   ita. 
i  I><-  suis  railitibus  el   gente  privata 

Parma  iria  milia  teoel  captivata 

preter  >n;i  spolia  uundum  esümata: 

Sic  deus  hec  statuil  ßeri  cum  matre  beata. 
>  Obtenta  victoria  per  summum  viclorem 

Panne  gens  ad  propria  redit  post  laborem 

Et  ad  laudem  virgiois  caotat  et  lionorem: 

'Stirps  Jesse  virgam  produxit  virgaque  Qorem.' 

31,  1  (Ins  durch   correetur  in   der  hs.  verunstaltete  erste  ivort  des 

verses,    von   dem   nur  Ba  .  .  .  tos  deutlich  sichtbar,    ist   an   der  hand  des 

briefes  Banneratos  tu  lesen.            31,  4  Ovid  Ex  Pont,  i  7,  20.  35,  4 
hymnenanfang.     vgl.  Chevalier  Repert.  hymnol.  in  583. 

I  h  Conquestio  Primatis  expulsi  de  domo  leprosorum. 

[»fang  :  Dives  eram  et  dilectus. 

Wiight  Mapes  64  ff  hat  von  diesem  klagegedtcht  nach  ms. 
Huri.  '.i7s  (//')  eine  sehr  unvollkommene  ausgäbe  geliefert  unter 
dem  titel  'Golias  de  suo  infortunio'  statt  des  in  der  vorläge 
überlieferten  kurzen  'Golias'.  einen  besseren  text  bot  Haureau, 
\ot.  et  extr.  vi  128  ff  nach  zwei  Pariser  hss.  (nr  16208  und 
18570).     als  den   Primas,   der  sich  in  den  versen  widerholt  selbst 


•218  BÖMER 

nennt  und  auch  in  der  Überschrift  unserer  hs.  als  Verfasser  bezeichnet 
ist,  ermittelte  Haureau  einen  canonicus  von  Orleans  namens  Hugo 
(primicier  ou  primat  des  ecoles  d' Orleans)  aus  dem  2  viertel  des 
12  jh.s,  der  nach  dem  berichte  des  canonicus  Franc.  Pippino  von, 
Orleans  und  nach  eigener  er  Zählung  (hs.  von  Tours)  eines  lages 
seines  canonicats  beraubt  wurde,  einzelheilen  dieses  misgeschicks 
werden  in  dem  gedichte  weitläufig  erzählt,  doch  vermögen  wir  uns 
kein  klares  bild  von  dem  Sachverhalt  zu  machen*. 

Lesarien  von  II.  In  der  folge  des  lexles  von  Haureau. 
Der  in  diesem  nicht  strophisch  gegliederten  gedichte  besonders 
naheliegenden  Versuchung ,  nach  belieben  verse  auszulassen  und 
einzuschalten,  ist  in  den  verschiedenen  Überlieferungen  häufig  nach- 
gegeben, v.  7.  quibus  HHl,  Quorum  Haur.  8  fehlt.  9.  quis 
uro  HHl,     quibus  Haur.  10.    sed    horr.  HHaur.,     et  horr.  H*. 

12.  infidelis  HHaur.,    homo  procax  H\  13   fehlt  HH\  14  5 

umgestellt.  17.  Dacianus  HIV,  Daciscanus  Haur.  20.  Iransvexit 
HHaur.,  invexil  Hl.  25.  honus  erat//,  erat  bonus  H\  eram  bonus 
Haur.  30.  sed  emunclus  ab  argen to  H,  ut  emunclus  suin  argento 
H^IIaur.  32.  proieclus  H,  dejeetus  Hx,  depulsus  Haur.  lormento 
fehlerhaft  st.  monienlo ,  durch  das  lormento  v.  31  veranlasst,  ein 
solches  versehen  noch  mehrmals  in  diesem  gedichte  (v.  93.  122). 
35.    primas    HH\    prima   Haur.  37.    amplion  HHaur.,    graviori 

Hl.  40.  diguiiale  digniori  auf  traditori  (39J  bezüglich,  vielleicht 
ersalz  für  das  durch  vestri  etwas  anslöCsige,  aber  doch  wol  zu 
haltende    dignilatem    vestri    ebori    WHaur.  41.    honesta    fehler- 

haft st.  honesli  Haur.,  in  H1  fehlt  d.  vers.  42.  viliori  HHaur., 
meliori  Hl  fälschlich.  44.  HHaur.,  fehlt  H*.  50.  collum  mihi  H, 
mihi  Collum  HxHaur.  52.  I'edo  H,  aegro  H*Haur.  56.  Aberravi, 
sed  pro  deo  HHaur.,  Oberravi  eorarn  Duo  Hl.  61  fehlt  H.  62 
fehlt  HH\  63.  vestrae  memor  HHl,  memor  vestrae  Haur.  sanctilalis 
HHaur.,  charilatis  H\  66—68  fehlen  H.  69  vri  (undeutlich) 
H  st.  veslris.  i'atis  H  (wie  es  scheint,  jedoch  das  1"  undeutlich)  H\ 
dalis  Haur.  74.  |)ererro  HH\  purcurro  Haur.  75.  quondam 
HHaur.,  olim  //'.  S4.  et  edoctus  //,  Eruditus  WHaur.  S7.  tarn 
in    brevi    iam    despero    H,      jam    in    brevi,    quod    despero    HlHaur. 

93.  parvo  H  st.   brevi,    wol    wider   durch    parvo    v.   94    veranlasst. 

94.  ero  H,  erit  WHaur.  95.  quod  si  HH\  Et  si  Haur. 
97 — 100    fehlen    HHl;     sie   sind    nicht    unverdächtig,    da    sie    zur 

[1  herr  pro  f.  WilhMeyer  halle  die  gute,  mir  soeben  einen  abdruck 
des  in  den  nächsten  lagen  erscli einenden  zweiten  leiles  seiner  arbeil  über 
'Die  Oxforder  gedickte  des  Primas  magisler  Hugo  von  Orleans'  (Göltinger 
nacltrichten  1907,  113//')  zu  übersenden,  ich  bedaure  auf  die  hier  (158  ff) 
veranstaltete  neuausgabe  untres  gedichts  mit  reichem  commentar  nur 
noch  hinweisen  zu  können.} 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLI  NG        219 

einleilung  der  folgenden  erxählung  eingeschoben  tein  dürften. 
]  i»2.    passus    //  fehlerhaft   st.  pulsus.  106.   a  minislro  ganimede 

//  in.  einer  der  beiden  Pariser  hss.,  vielleicht  eingesetzt  statt  da 
bestimmten  namens:  ;i  Willelmo  Palimede  //'.  A  Guillelmo  Palamede 
Haur.  |  in.  der  zweiten  Pariser  hs. ).  1  07  fehlt  dann  ////'.  1  1 2.  man- 
tl;ii;i  ////',  mandalum  Haur.  117  fehlt  clamanlem  IL  dum  adjulo 
IUI, im.  Deus  ndjuto  //'.  118.  nie  pulabara  //.  li  putabam  Hau\ 
rebar  esse  //'.  122.  comes  fui  //  st.  pulsus  rui,  abermals  durch  ihn 
aüsgang  des  vorhergehenden  verses  verursacht.  124  fehlt,  i  2$  fehlt 
////'.  130.  dum  adiulo  HHaur.,  Deus  adiuto  //'  (fälschlich,  wie 
,-.  ii7  I.  132  — ")  fehlen  in  11  wie  in  den  Pariser  hss.,  Haur.  hat  sie 
Wrighl  entnommen,  obgleich  er  sie  auch  für  wenig  klar  hält.  \'M. 
scelus  HHaur.,  opus  Hl.  L39  11  fehlen  II.  143.  dum  HHaur., 
qui  //'.  1  11.  appellarel  HHaur.,  appellabal  //'.  1  15.  aduocar;  ver- 
schrieben st.  adiutorera.  15u.  quo  HHaur.,  qua  //'.  ferre  //.  rcrrel 
ll'Hintr.  151.  Accusalus  •■>!  per  faclurn  //.  besser :  Accusabam  turpem 
actum  ll'Utiiu.  155.  accusalus  (so  auch  156)  //,  judicalus  HlHaur. 
156—60  in  der  reihenfolge:  156.  157.  ir>'.t.  158.  160.  156  fehlt 
in  IV.  1",7.  magis  dou  obedi  (?)  //;  intus  dou  resedi  WHaur, 
Hin.  quidquid  sacre  dedit  eili  //,  qui  quod  sacrae  dalur  aedi  IP  Haur. 

mit  160  Schliefst  das  gedieht  in  II  wenig  glücklich  ab  (darunter: 
ExplicilJ,    nährend    nnrh    dm    anderen    Überlieferungen    161-       1    nmli 

weitere  vorwürfe  gegen  den  verräterischen  caplan  erheben  und  muh 
d<r  Palaraedes  (Palimedes)  von  v.  106  wider  genannt  wird.  ab  der 
Schreiber    tun   II  bexw.  seine    vorläge   wegen  dieser  anspielung  auf 

eine     bestimmte    peTSÖ  iiliehl,  eil  ,     über    die    er    sieh    vorher    durth    eine 

conjeetur   hinweghalf,    die  verse  jetzt  </anz  forlgelassen  hat.      /«' 
ein    streichen    des  /tilgenden    appells    an    die  mitbrüder   (165  —  77 
lag    eigentlich   kein   grund  vor,    dagegen    ist    es    sehr  wol  möglich, 
dass  diese  verse  erst  nachträglich  angeflickt  sind. 

15)  Petitio  Primatis  porrecla  papae  pro  benefit 

obtinendo. 

Anfang  :  Tau  tu  viro  locuturi. 

Den  ersten  druck  dieses  klagerufs  an  den  heiligen  vater  in 
Born  lieferte  Flacins  Illi/ricus  1  //'  unter  dem  langatmigen  titel  : 
'Querela  eruditi  et  pii  hominis,  qua  alloquitur  Papam  ostendens 
Praelaluras  \'  bona  Ecclesiastica  teneri  ab  indoctis  avaris  \"  igna- 
ris  ventribus  :  contemptis  Interim  \  esuhentibus  its,  qui  se  doc- 
trinae  studiis  dediderunt  :  petüque  hör  malum  n  Papa  emendari. 
issignari  tarnen  possunt  hi  rythmi  Gualtero  Mapes  .  .  .'  für  die 
Zuteilung  des  gedichls  an  Mapes  stützte  sieh  Flacius  auf  dessen 
Vita  von  Johannes  Baleus,  die  er  s.  121//'  zum  abdruck  bringt. 
bereits    PLeyser   [Bist,   poetarum    et   poematum  medii  aevi  779 ff) 


220  BÖMER 

konnte  nach  einer  Leipziger  hs.  zahlreiche  versehen  des  textes 
von  Flacius  berichtigen.  später  nahm  Wright,  auf  Flacius 
fufsend,  das  stück  unter  die  gedichte  des  WMapes  (blff)  auf. 
neben  den  drucken  bei  Flacius  und  Leyser  zog  er  Hart.  ms.  978 
(//')  heran,  in  der  Pariser  hs.  8359,  jetzt  3245  erscheint  das 
gedieht  mit  dem  kurzen  titel  Domino  Papae  unter  den  10  stücken 
des  Gualterus  de  Insula,  die  Mütdener  veröffentlicht  hat  (Die  zehn 
gedichte  des  Walther  von  Lille  genannt  von  Chatillon.  [1859]  45/f). 
gegen  die  Verfasserschaft  des  Walther  v.  Chatillon  sind  von  Haureau 
(Not.  et  exlr.  vi  302/)  bedenken  geltend  gemacht,  die  sich  jedoch 
in  der  hauptsache  auf  acht,  nur  in  einer  Pariser  hs.  (Nouv.  acqui- 
sitions  11567)  überlieferte  Strophen  stützen,  welche  sehr  wahr- 
scheinlich ein  späterer  zusalz  sind  (s.  unten  das  lesarten-verz., 
nach  str.  15).  Paris  hat  aufserdem  noch  2  hss.  :  Nouv.  acquis. 
1544  n.  11412.  das  in  H  dem  Primas  zugeteilte  gedieht  ist  hier 
überall,  wie  auch  in  der  Leipziger  und  Londoner  hs.,  anonym. 
Haureau  hat  zwei  ausgaben  geliefert: 

1)  Not.  et  extr.  u  ob  ff,  auf  grund  der  drucke  von  Flacius, 
Leyser.  Müldener  u.  der  2  Pariser  hs.  Nouv.  Acq.  11412  u.  11 867 
(unten  Haur.  i  citiert) 

2)  Not.  et  extr.  vi  299  ff,  unter  Hinzuziehung  von  Paris 
Nouv.  Acq.   1544  (Haur.  u). 

Lesarten  von  H. 

In  der  folge  des  textes  von  Haur.  u.  die  zahlreichen  fehler 
von  Flacius,  die  bereits  von  Leyser  verbessert  sind,  werden  nicht 
angemerkt.  IVright  hat  zu  anfang  nach  Hl  eine  sonst  nicht 
überlieferte  Strophe:  Noslri  nioris  esse  solet  elc ,  auf  die  zunächst 
str.  3  u.  4,  dann  1.  2.  5  ff  der  gewöhnlichen  Überlieferung  (der 
sich  auch  H  anschliefst,)  folgen.  1,  4.  Carinii  ilecet  H  st.  Carinii 
care,  unter  aufgäbe  der  würkungs vollen  allilleralion.  5.  simus  coro 
H,  Legs.,  Müld.,  Haur.  (i  u.  nj,  caro  simus  Fl.,  Wr.  2,  1.  quitleni 
H  st.  eniui.  5.  Homo  novus  H,  Legs.,  Wr.,  Haur.,  Alque  novus 
FL,  et  vir  novus  Müld.  3,  1.  mundi  mores  H,  FL,  Legs.,  Müld., 
bonos  mores  Wr.,  Haur.  4.  reprehendam  H,  Wr.,  Müld.,  Haur., 
non  defemlam  FL,  Legs.  5.  et  eis  non  condescemlnm  H  u.  die 
meisten,  Aut  eos  jam  reprehendam  Fl.  4,  2.  veritatis  H  u.  d.  übr., 
st.  lenitalis  Leys.  5,  2.  coram  tanto  quis  ego  qui  H,  Leys.,  Müld., 
coram  tantis?  quis?  pgo  qui  Wr.,  Coram  Papa  quis  est  [!]  qui 
jrers/]  FL,  Coram  papa?  Quis  ego,  qui  Haur.  6,  1.  Quid  nisi 
desertum  mundus  H  (mit  laclwechsel),  Quid  desertum  nisi  niundus? 
Leys.,  Wr.,  Müld.,  Haur.  i,  Quid  desertum  mihi?  Mundus  Haur.  n. 
3.  respuit  H,    FL,   Leys.,    Wr.,  polluit  Müld.,  Haur.        4.  dici  solet 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMML!  NG         221 

//.  Fl.,    Hr..  Müld.,  Haur,\(xu   verbessern  in:    dici  doletj,   üoci  I 
dolei    Leys.,    esse    dolel    Haur,  u.       .">.    quia    qui    iui  >1<  i    // 

Quia  qui  vernare  solel    UV.,  Müld.,  Haur.',    Nam  quod  fruclum  dare 
solet   Ft.,  Leys.       7,  I.  Qui  solebal   //.  Müld.,  Quis  s.  Leys.    feh 
haß),  Quod  s.  FFr.,  Haur.,  Debel  mundus  /•'/.     5.  afferl  /7  m.  //.  üftr. 
gegen  praeferl  Haur.  u.      s.  1.  Cum   //  »<.  </.   üftr.  gegen  Qu    /■ 
9,  2.  Canes,  catti  //  sf.  canes  muti.       3.  gigantum  Iralerculi  //.  n 
Müld.,  Haur,  fgigantium  m.  tactwechsel  Leys.),   El  Gigantes  efferi  Fl., 
ronservanl    //.    fälschlich    st.   caocervant.        lu.  2.    Nil  //   sc.    Non. 
:;.  id  ipsum  quod  //    (lactwechset)  m.  d.   übr.  gegen    M  quod   prius 
Haur.  li.     (i.  Haur.  n  /<</(  oucA   nundum  st.  aondum,  e/V  //  durch- 
gehends.      12,  1.  Ipsi  //  st.  isti.      1.1.  I.   Vivunl  leno  H,  Müld.,   Vivil 
leno    /•'/.,    Leys.,    Hr.,    Müld.    (als    conjectur),    Vivil  palpo  Haur.  \, 
Vive,   palpo  Haur.  u  fund  dann  im  foiy.  r.   tuis  sJ.  suis,'.     14,  3.  ferl 
7/.   Leys.,    Hr..    Müld.,    Dal  F/.,    Danl   Haur.        1.  quod  esl  //.  oec 
esl  /•/.,  Mahl..  Haur.  1,   uod  est  Leys.,  Hr..  Haur.  11.     5.  provehebanl 
H,  Wr„  Müld.,  Haur.,  provehebal   /•'/.,   Leys.  15.  1.  Anliquilus  el 

//.  Müld.,  Haur.  i.  AntiquilUS  nam  Leys.,  Aiilnjiim  uni  et  MV.,  Anli- 
quoruui  nam  y/</«c.  ii.  3.  Declamantes  yy.  Leys.,  UV.,  Müld.,  Haur.  i, 
Disputantes  Haur.  n  [1 — 3  fehlen  in  Fl.].  die  achi  von  Haur. 
i  u.  n  nacA  Paris,  ms.  Nouv.  acq.  1 1 867  ;»•.  [5  u.  lii  eingesetzten, 
aber  sehr  verdächtigen  Strophen,  auf  welche  oben  schon  hingewiesen 
wurde,  führen  den  ^edanfcen  aus,  dass  in  d»w  Wissenschaft  die  Juristen 
gegenwärtig  völlig  die  Oberhand  gewonnen  hätten,  dass  die  arles  von 
den    leges    überwunden    wären.  in.  I.    Opulenii    solenl    H,Wr., 

Müld.,  Harn.  i.  Opulenii  solebanl  mit  doppelsilbiger  Senkung)  /•'/.. 
gloriosi  solenl  Haur.  u.  4.  Si'ii  //  fehlerhaft  st.  Sive.  6.  rore 
vitreo  JJ,  UV.,  Mahl..  Haur.i,  rore  niveo  /•'/..  Haur.  u.  bei  Leys. 
/i7(/;    16_/.       17,  I.  Super   aquas  //.    /•'/.,    UV..    Si    per    aquas   A-eys., 

Müld.,  Haur.       4.  Sil  7/,    UV.,  Mahl..   Hau:.,    seil    /'/.,  /,<•//.*.        5.    iiik'Iii 

scire  /y.  /.'•//<..  scire  nnlii  /'/.,  UV.,  Müld.,  Haur.  18, 2.  scissus 
//.  Leys.,  Müld..  Haur.,  caesus  /•'/.,  sumptus  UV.  de  altari  y/. 
/'/.,  /.•//>..  UV.,  Müld.,  ab  alt.  7/'*i/r.  19,  5.  Jacob  ooslre  (meae 
Haar.  1 1 >  liberlatis  7/.  /,ey->..  Müld.,  Haur.  i.  n,  Jacob  terrae  liberlalis 
/7.,  Iiniiiii  »erae  libertatis  UV.  6.  prefigurat  H.  Fl.,  Leys.,  UV.. 
praesigoare  Müld.,  Haur.  20,  5.  quia  nostras  y/.  Leys.,  Müld.. 
Jlaur..  Nostras  enim  Fl.,  sie  et  noslras  UV.  21,  1.  sareptene  H, 
Leys.,  UV..  Saraplenae  Müld..  Sareptanae  FL,  Haur.  5.  tli^ne  deo 
digna  H.  UV..  Müld..  Haur..  richtig  st.  dora  <ligne  digna  F/.,  dooo 
iligne  digna  Leys.  22.  2.  per  quod  sanetus  H,  zu  verbessern  in  et 
ler  sanetus  UV.,  Müld.,  Haur;  Pater  sanetus  Fl.,  Leys.  4.  iriuni 
77  fehlerhaß  si.  trinum.  5.  ul  77  fehlerhaft  st.  Ruth.  23,  1.  Sic 
involvit  rota  rotarn  7/,  Müld.,  Haur.,  richtig  st.  rotam  lolam  /-7.. 
rola  lolam  Le»/.>-.,  Secum  volvit  rotam  rola  UV.,  der  sfr.  22  u.  23 
umgestellt  hat,  4.  sie  amictum  par.vipendit  7/,  F/.,  Leys.,  UV..  Haur. 
>u-  vinciri  parvipendit  iUü/'/.  24.  2.  a  geniili  77  in.  d.  üi/r.  richtig 
gegen  a  gentibus  UV.        5.  diserto  H,    UV.,   Müld.,  Haur.   richtig  st. 


222  BÖMER 

deserlo  FL,  Leys.  25,  3.  plus  v;icasse  sludio  H,  Leys.,  vacasse  tali 
sludio  (mit  laclwechsel)  FL,  se  vacasse  studio  Wr.,  Müld.,  Haur. 
5.  et  labore  H,   FL,  Leys.,  Müld.,  Haur.  n,   et  in  ipso  Wr.,  Haur.  i. 

26,  3.  credilur  post  aspera  H,  Credilur  plus  aspera  Leys.,  Reddilur 
post  aspera  übr.  4.  ad  romani  sedem  patris  H  m.  d.  übr.,  ad  istius 
sedein  patris  Wr.  5.  ad  sinus  sancle  matris  H  (unhaltbar,  da  so 
das  ubera  im  folg.  v.  in  der  luft  schwebt),  ad  sacrosanctae  matris 
FL,  Leys.,  Haur.  n,  ad  sanctae  Sion  matris  Wr.,  Müld.,  ad  Sion,  sanctae 
matris  Haur.  i.      6.  reversus  sum  H  mit  taclicechsel  st.  Sum  reversus. 

27,  1.  pastor  H  m.  d.  übr.  gegen  Papa  Fl.  28,  2.  si  prebenda 
muneralus  H  m.  d.  übr.  gegen  Si  sim  ego  muneratus  Fl.  3.  redditu 
H,  Wr.,  Haur.,  reditu  Leys.,  Müld.,  praebenda  (mit  laclwechsel)  FL 
4.  Vivain  licet  H  m.  d.  übr.  gegen  Licet  detur  FL  5.  ut  sie  mihi  H 
st.  Saliern  mihi.  6.  studeam  de  proprio  H  m.  d.  übr.  gegen  Perse- 
verem  sludio  Leys.  am  schluss  hat  Haureau  n  nochmals  eine  sonst 
überall  fehlende  Strophe,   deren   echlheit  widerum  verdächtig  ist. 

16)  Apocalypsis  Go/iardorum. 
Anfang  :  A  tauro  lorrida  lampade  ciutbii. 

Die  apokalypse  gehörte  trotz  ihrer  übermäßig  großen  länge, 
trotz  allen  dichterischen  schwächen  und  dunkelen  stellen  zu  den 
beliebtesten  stücken  der  vagantenlitteratur,  so  sehr  entsprach  die 
Schilderung  der  himmel fahrt  des  dichters  dem  geschmacke  der  zeit, 
und  so  ausgiebig  war  hier  das  Sündenregister  der  geistlichkeit,  vom 
papst  herab  bis  auf  den  einfachen  manch,  geraten. 

Bei  Flacius  Ulyricus  IIb  ff,  der  seinerseits  wider  auf  JohBaleus 
fußt,  trägt  das  werk  den  namen  Walther  Mapes : ' Apocalypsis  Goliae 
pontificis,  super  corrnpto  sni  temporis  Ecclesiae  statu,  edita  rythmis 
facetis,  per  Gualtherum  Mapes  Oxoniensem  archidiaconum,  circa 
annum  domini  1200'.  Flacius  sind  gefolgt  in  älterer  zeit  J  Wolf  Lect. 
memorab.  i  430 ff  und  Eccard  Corpus  hist.  medii  aevi  u  l&blff. 
in  neuerer  zeit  Wright  Mapes  1  ff,  der  16  englische  hs.  nachweist 
und  von  7  derselben,  3  Harleian  mss.  (ff13)  u.  4  Cotton  mss.  (C1"4), 
Varianten  verzeichnet,  in  den  meisten  derselben  lautet  der  titel 
Apocalipsis  Goliae  episcopi,  den  Wright  auch  für  seine  ausgäbe 
übernommen  hat.  in  der  Pariser  hs.  8359,  jetzt  3245,  steht  das 
gedieht  als  viertes  unter  den  10  stücken  des  Gualtherus  de  Insula 
( Müldener  19  ff)  unter  dem  titel  :  Contra  Ecclesiaslicos  iuxla 
visionem  Apocalypsis.  gegen  die  Verfasserschaft  der  drei  ver- 
schiedenen Wallher,  die  für  den  von  Müldener  auf  Walther  von 
Chatillon  gedeuteten  namen  Gualtherus  de  Insula  in  betracht  kommen 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG        223 

könnten ,  wendet  sich  Bauriau  in  Not.  et  exlr.  \\\\  2,  '-".»:■://', 
und  liefen  zugleich  den  nachweis,  dass  die  10  gedickte  weder 
inhaltlich   noch   stilistisch   ein    und  demselben  Verfasser  angehören. 

unser    StÜck    möchte    er    um    eisten    noch   dem    dichter  dir   General 

beichte    zuschreiben,    dem    Cölner  canonicus   im   dienste  Beinaldi 

von    Hasset,     für   seine   ausgäbe   (au.    Tl&ff)   stund    lliiiireuii    nie 
den    drucken  die  l'ni  iser  hs.   11864    zu)    Verfügung  >owie  vor  allen 

die  ihres  alters  wegen  (ende  des  12  oder  an/,  des  \'A jh.s)  besonders 
beachtenswerte  vaticanische  hs.  Christ,  reg.  344,  deren  beschreibung 
sein  au /satz  gewidmet  ist.  eme.  Münchener  hs.  (nr  416),  in  der 
das  gedieht  als  ein  werk  des  Alanus  \de  Insulis]  erscheint,  verzeichnet 
Wattenbach  Zs.   15,  173. 

Die  Überschrift  von  II  teilt  das  stück  keinem  bestimmten 
Verfasser  zu,  auch  nicht  dem  Holms  episcopus,  der  schliefslich  nur 
ein  gattungsname  ist;  sie  macht  es  vielmehr  ausdrücklich  zum 
allgemeingut  des  Goliarden,  indem,  sie  ihm  den  titel  Apocalipsis 
Goliardorum   (jiht. 

I.  es  a  r  i  en   v  o  n   //. 

Es   sollen    hier    nur    die    almeiehuugen     con     ihn    drei    neueren 

ausgaben  con  Wright  (bexw.  den  von  ihm  verglichenen  englischen 
hss.  C1  '. //,Jj,  Müldener  und  llam.  au  verzeichnet  werden,  während 
tu  diesen  drei  texten  das  gedieht  llo  in  der  folge  genau  überein- 
stimmende  Strophen   hat,    weicht   //   sowol  in  der  zahl  wie  in  der 

Stellung  derselben  wesentlich  ab.  str.  60.  98  und  99  fehlen,  dafür 
ist  nach  103  eine  wenig  glücklich  um  anklängen  an  105  ein- 
geschoben,     die  anordnung  der  übrigen  Strophen  ist  gegenüber  der 

gewöhnlichen  Überlieferung  folgende :  1 — 9.  12.  13.  10.  II.  14 — 29. 
32.  30.  31.  33—59.  61—97.  100—103.  104—110.  was  den 
redaclor  zur  Umstellung  veranlasst  haben  mochte,  ist  in  den  meisten 
fällen  nicht  zu  ermitteln.  bei  10 — 13  hat  es  offenbar  seinem 
geschmacke  mehr  entsprochen ,  unter  den  männern  des  alterlums, 
die  dem  dichter  bei  seiner  himmelfahr t  begegnen,  erst  alle  poeten, 
dann  alle  prosaiker  zu  nennen,  er  lässl  demgemüfs  Lueau,  Virgil,  (hui. 
Persius  (12),  Statins  und  Terenz  (13,1 — 3)  vorangehn  und  den 
in  der  eulgata  hinter  den  dichtem  nachhinkenden  Uippocrales  (13,  4) 
Überleiten  zu  Priscian,  Aristoteles,  Cicero,  Plolemaeus  (10).  Boethius 
und  Euclid  (11).  das  mochte  etwas  für  sich  haben,  dagegen  verrät 
die  Umstellung  der  str.  30 — 32,  wenn  sie  beabsichtigt  ist  und  nicht 
auf  einem  versehen  beruht,  eine  durchaus  unglückliehe  band,  da 
30  31  sich  unmittelbar  an  26 — 29  anschliefsen  müssen,  indem  sie 
gründe  für  die  vorher  geschilderte  beschaffenheit  der  vier  wesen 
anführen.  auch  für  die  auslassung  um  60.  98  und  99  ist 
plausibeler  grund  nicht  zu  entdecken,      da  die  niederschrifi  gerade 


224  BÖMER 

dieses  Stückes  auch  im  einzelnen  bei  H  eine  aufsergewöhnlich  groCse 
anzahl  von  versehen  aufweist,  durfte  das  fehlen  der  Strophen  gleich- 
falls auf  einen  irrlum  des  Schreibers  oder  seiner  vorläge  zurück- 
zuführen sein.  die  30  ersten  Strophen  des  gedichles  liegen  in  II. 
wie  oben  bei  der  beschreibung  des  näheren  angegeben,  in  zwei 
aufzeichnungen  vor.  wo  diese  von  einander  abweichen,  soll  die 
erste  mit  H3,  die  zweite  schlechtere  mit  Hh  bezeichnet  werden. 
3,  1.  iuspicio  HClC2,  Müld.,  aspicio  Wr.  (nach  d.  übr.  engl,  hs.), 
Haur.  4,  1.  niicuit  HWr.,  Müld.,  uituit  Haur.  4.  confusis  (in 
H3  aus  fufusis  hergestellt)  verlesen  st.  concussis.  labiis  HWr.,  Haur., 
labris  C\  Müld.  5,  1.  Est  HMüld.,  Haur.,   Mine    Wr.       4.  venit 

H  fehlerhaft  st.  vernat.  6,  3.  el  tolum  HCXC",  qui  tolum  UV., 
Müld.,  Haur.  4.  respice  HC2,  Müld.,  besser  :  inspic»-  Wr.,  Haur. 
7,  1.  aperuit  HC2,  Müld.,  Haur.,  exposuii  Wr.  2.  perspexeram 
HWr.,  JJaur.,  statt  des  unpassenderen  prospexerain  Müld.  4.  eya 
nie.  H  st.  et  tu  nie.  8,  3.  devolviraur  HMüld.,  divolvimur  übr. 
In,  1.  üinc  H  fehlerhaft  st.  Hie.  in  Hh  planis  verschrieben  st. 
palmis,  wie  H"  richtig  hat.  3.  demulcet  H  m.  d.  engl,  hss.,  Müld. 
u.  Haur.,  vi  muleet  Wr.  nach  Flac.  III.  11,  1.  Taxat  H  st.  traclat. 
numerabilia  HMüld.,  Haur.,  innumerabilia  Wr.  4.  taxat  H  fehler- 
haft st.  trahit.  12,  2.  euneos  H  fehlerhaft  st.  aeneas.  4.  procacem 
H3,  dicacem  Hb,  auf  Persius  bezüglich,  besser  :  dicaces  übr.  13,  2. 
delinuit  nie  H.,  detinuit  (deleniit?)  res  Haur.,  Müld.,  delinuil  res  Wr. 
14,  2.    prefulgens    sideri    HC2,    Müld.,    Haur.,       vullus    siderei     Wr. 

3.  suspice  HWr.,  Müld.,  suseipe  Haur.  m.  Flac.  Hl.  oculos  aperi 
HMüld.,  Haur.,  et  coelos  aperi  Wr.  15,  4.  ceolorum  Hb,  fehlerh. 
st.  eelonim  Ha  m.  d.  übr.  auditu  Hh  fehlerh.  st.  adilu  H*  m.  d.  übr. 
16,  1.  qui  HMüld.,  quod  Wr.,  Haur.  2.  reverberaverat  H,  mihi 
reverberat  Müld.,  Haur.,  inde  reverberal  Wr.  17,  1  Sed  visa  scripserat 
HClC2,  Visa  conscripserat  Wr.,  Müld.,  Haur.  3.  scribis  H  st.  scribes. 
eadem  HOC2  st.  eliam.  18,  4.  vox  tube  duet.  H  st.  vel  tube  duet. 
19,  3.  vix  Hh  fehlerhaft  st.  vir  H3  m.  d.  übr.  20,  3.  instar  justitie 
HWr.,  Müld.,  formam  justiciae  Haur.  21,  3.  respieias  HHaur., 
aspicias  Wr.,  adpicias  [!]  Müld.  4.  vota  H  fehlerhaft  st.  nota.  facies 
HC2Haur.;  facias  Wr.,  Müld.  22,2.  Quod  H  st.  quae.  23,2. 
apparuit  H  fehlerhaft  st.  aperuit.  24,  3.  et  fehlt  Hh,  H3  m.  d.  übr. 
richtig.  25,  3.  viluli  ü  fehlerh.  st.  intuli.  4.  perlegens  H  st. 
praelegens.       26,  3.  decorat  Hh  fehlerh.  st.     dedecoral  Ha  m.  d.  übr. 

4.  in  imis  H  ohne  sinn  st.  nummis.  27,  1.  iste  H  st.  ilie.  4.  sagnatus 
Hh  fehlerh.  st.  saginalus  H3  m.  d.  übr.  28,  1.  quod  H  fehlerh.  st. 
quae.  2.  dicil  Hh  fehlerh.  st.  dieitur  H3  m.  d.  übr.  4.  vescitur, 
natürlicher  als  vivilur.  29,  1.  Est  quod  HWr.,  Haur.,  Est  qui  Müld. 
2.  dicamus  H  fehlerh.  st.  decanus.  3.  reputat  opus  iuslitie  H  st.  operil 
forma  iustilie.  30,  1.  Isli  H  fehlerh.  st.  Isla.  2.  inter  H  st.  renun. 
4.  perspiciunt  H,  besser  :  prospiciunl  ClC2,  respiciunt  Wr., Müld.,  Haur. 
31,  3.  mirabili  HCXC1  st.  mulabili.  33,  1.  genti  HWr.,  Haur.  besser 
als  gentis  Müld.     niulilae  HWr.  st.   miserae.       2.  mulilos  HWr.  st. 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG         225 

vilulos.      !!4.  1.  miseriis  //  fehlerh.  st.  miseris.      4.  tiefen  //  st.  refert, 
:;."),  1.  mulgeos  //  Müld.  st.  mungens.     36i  2.    previus  //  il.  de> 
riucens  HWr.,  Müld,  ducit  Haur.      .'17.  .'1.  qui  solo  EP,  cum  solo  Wr.t 
Müld.,  ein  Solu  Ilmir.     penduni  //  st.  pendent      ,'!\  2  3  umgestellt  11. 
39,2.  viribus  IUI1,  viribus  MV,  ETaur.,  faucibus  MO/d.      3.  de  //  s(.  >. 
4(>,  4.  Sed  Polyphemus  esl  iuris  ad  methodum   //  (bis  auf  die  Umstel- 
lung von  iuris  und  ad  m.  TT-//'-,   Haur,  übereinstimmend),  et  Pol. 
psl    ;nl   .utis    metodum    UV.,    sed    Pol.    esl    ad  veri    methodum  Müld. 
-41.  i* .    esl    levius    HC1,   levius  esl    f*mtl   tactto.)  Haur..     >^\    pondus 
Wr.,    Müld.         3.   qui    unuiu    HC1   (mit   hiatus)    st.    unuiii   qui.        esl 
reus  //  st.  reus   est        4.    uisi  qui   solveril  //  st.  des   besseren  oisi 
krni.     42,  2.  rormans  //MV.,  Afüid.,  ffaur.,  formal  C'fl1.      blla- 
ciam  //6'3//',  fallacias   MV..  Müld.,  Haur.      beim   zweiten  aort  also 
gerade   das    umgekehrte  Verhältnis  icie  beim  erSien.        43,  3.    UOtal    //. 
vocat   MV..   Haur..  vacat  Müld.       4.  quoil  autem   veneat  venil   //  st. 
quam   uon    inveniens  venil    ecclesia,    beides   nicht  recht  klar.     Miild. 
vermutet  st.  venil  :  vendit.    44,  2/3.  per  .  .  .  fortunam   HWr..   Haur., 
besser  als  prae  ...  forluna  Müld.     3.  habeat  HWr.  Haur.,  haurial  Müld. 
4.  oiiicii  //MV.,   Haur..  causam  Müld.    45,2.  per  genitivos  seil  //MV.. 
Müld.,  Genitivos  sciat  (mit  tactir.)   Haur.      delictum  st.  dalivos,  mit 
aufhebung  des  Wortspiels  genitivos  .  .  .  dalivos.       4.  fratribus  //MV., 
Müld.,    frucÜbus   Haur.        47,  2.    qui    HWr.  st.   des    besseren    Ouae. 
iiiif  //  fehlerh.  st,  viro.    4S.  1.  iuris  //  st.  viri.      2.  facie  [vgl.  o.  4] 
//  st.  sanie.        3.  virens  //  Haur.,   furens    MV..  Müld.       4!*.  3.  est 
fehlt  HU2.       4.    datis  fi    venditis  est  Concors  Simoni  HWr.,  Müld., 
Dandisque   venditis  eoncors  est  Simo-ii  Haur.       50s  1/2.  sequens  und 
lucri    vertauscht   II.         3/4    umgestellt    H.        magistri   //  fehlerh.    st. 
magister.     ."il.  2.  in  fal>is  habilat   //  st.  falsis  inhabitat.       4.  que  pie 
H  Müld.,    qui  pie   MV.,    dum  pie  Haur.  52,  2.  sie    rerum  //  st. 

nrumque.  3.  sedaverit  monenle  zu  verbessern  in  sedaveris  monete. 
53.  2.  sed  cum  //  Haur.,  sed  si  MV.,  Müld.  3.  prurigine  //  fehlerh. 
st.  pruriginem.  54.  1.  promovet  H  Müld.,  Haur,  prnmovit  MV. 
ersleres  besser  zu  content  passend.       2.  cum  //MV.,  Müld.,  si  Haur. 

3.  Tirii  //  fehlerh.  st.  Tilii.  55,  2.  aperuit  H  Haur.,  arripuit  Wr., 
Müld.  4.  Sicque  II  st.  Ad  hoc.  aperuit  H  fehlerh.  st.  apparuit, 
durch    d.  ausgang   von  v.    1    veranlasst.  56,  2/3.  umgestellt  H. 

4.  qui  H  falsch  st.  que.  57,  3.  dum  in  montibus  rodope  H ;  Wr., 
Haur.  haben  st.  montibus  das  wol  ursprünglichere  colihus  bezic. 
cautibus.  in  C2  ist  zur  erläulerung  von  caulibus  :  vel  montibus 
an  d.  rand  geschrieben.  dura  Rodope  cotibus  Müld.  4.  sceleris 
//,  scelerum  Müld.,  Haur.,  scelorumfl]  Wr.  58.  1.  in  sibimet  in 
tanto  H,  zu  verbessern  in  :  ex  sibimet  innato  MV.,  Haur.,  erraverint 
innato  Müld.  2.  possunt  II  st.  possint.  3.  quid  H  fehlerhaft 
st.  quis.  scribet  //  Müld.,  scrihae  Wr.,  Haur.  511.  2.  namque  // 
st.  nempe.  lit,  1.  adiungunt  //  st.  lucrantur.  62,  1.  ecclesie 
venduntur   //  st.  ecclesias  venantur.           2.  mentio   //  st.  quaestio. 

3.  in   rums   II  Haur.  st.  si    cuius.       fit  H  st.  sit.         63,  1.   In   HC2 
Z.  F.  r».  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  15 


226  BÖMER 

>7.    Hoc.  2.    serael   H  st.    semper.        fit  HWr.,    Müld.,    sit  Haur. 

3.  dicitur  H  st.   ilucitur.         4.    fehlt    H.         64,  1.    Tunc  H  Haur., 
Tum    Wr.,  Müld.       2.   inlonat  H  st.   inlonans.        65,  1.   Viso  capitulo 
legi    proverbium    (prooemium     Wir.,   Haur.)   H  (Wr.,  Haur.),    Viso 
prooemio   perlegi  folium  Müld.  2.  rerum  //  st.  morum.         3.   ul 

H  st.    vae.        verum   H   fehlerh,    st.    rerum.       67,  2.    rede  st.  bene. 

68,  3.   discat  a  populis  H,   diseit  a  populo    Wir.,  Müld.,     Discit  a  pluri- 
mis  Haur.       4.  commissa   minima  II Wr.,  Haur,,  mala  levissima  Müld. 

69,  1.  est  vor  «leo  fehlerh.  H.       2.  necem  H  st.  mortem.       3.  puer- 

peram    HWr.,    Müld.,      puellulam    Haur.  70,  1.    lurpiter    H  st. 

presbiter.       71,  2.  quod  rerum  animam  persolvant  decimam  H  st.  quod 

rerum  decima  non  salvat  animam.       4.  suo  det  HWr.,   Haur.,  solverit 

Müld.       72,  1.   Seit    qne    vulpecula    foveas  H,    zu  verbessern  in  Seit 

quae  vulpeculas  fovea  H3  Haur.,   Sic<|iie   vulpeculas  fovea  Wr.,    Ulque 

vulpeeulas  fovea  Müld.        2.  nee  HWr.,  Haur.,  non  Müld.       3.  in- 

fantes  H  fehlerh.  st.  animas,   durch  d.  ausgang   von  v.  3   veranlasst. 

74,  1.    Hlud    //  st.  Islud.        3.    sublinearibus  H,    inlerliuearibus    Wr., 

Müld.,    inlerlinanbus    Haur.    mit  Vermeidung   doppelsilbiger  Senkung 

im   1  fufs.       75,  3.    voluntas  H  fehlerh.  st.  voluptas.       4.  conlagio 

HC2H3,  Müld.,  Haur.,  eollegio  Wr.        76,  2.   iut  //  fehlerh.  st.  iura. 

3.   reddilus  HWr.  st.   redilus.        77,  2.   aut  H  st.  vel.         3.   singulis 

subjeclis   HWr.,  Müld.,      subiectis  singulis  [ters.'J  Haur.         insidens 

HWr.,    praesideus  Müld.,  Haur.  78,  4.   opelorium   H  fehlerh.  st. 

opertorium   C2,  opertoria   übr.        79,  1.  indagines  HWr.,  Müld.,  ima- 

gines  Haur.         80,  1.  fovet  H  st.  regit.         3.  admitlat  H.    fehlerh. 

st.  amiltat.        4.  prebenda   H  fehlerh.  st.  perdenda.        81,  4.  rerum- 

que  H  st.  et  rerum.         82,  4.  sie  suo  quilibet  HHl,  sie  sors  cuius- 

libet  Wr.,  Müld.,  L't  sors  euiuslibet  Haur.      83,  1.  mensuram  H  fehlerh. 

st.  lonsuram.       respuit  H  m.  d.  übr.  gegen  despicit  Wr.       3.  librans 

liberos  HWr.,  Müld.,   liberos  librans  Haur.        84,  1.  Ad  liaec  HWr., 

Müld.,  Post  baec  Haur.        3.   ex  agmine  H  st.  examine.       85,  3.  fuil- 

que  H  (noch  auf  dux    bezüglich)  st.  stetique.  86,  2.  est    quisque 

(lux  HWr.,  Müld.,   besserer  vers  als  Haur.s  quisque  dux  est.      87,  2. 

ratio  H  st.  passio.        88,  4.  prona  H  fehlerh.,  pronis  Müld.,  pronus 

Wr.,  Haur.        89,  1.  babeant  cor  trilum  H  st.  cor  babent  conlritum. 

Dil,  2.   creberrime  H  st.  celerrime.  4.  spumosus  H  st.  spumoso. 

91,  1.  tenam  HClH'2H3  st.  cenas.       3.  atlolbt  H st.  extollit.      4.  quam 

dissouis  acclamat  H  st.  grandisonis  exclamat.        92,  3.  0  ho  H,  he  o 

If'r.,   Müld.,   Hae  Haur.  4.  stirpi  H  st.  stirpis.         nos  prole  H, 

prole  nos  Wr.,  Müld.,  proles  nos  Haur.        93,  4.  ha  sie  H  st.  ha  hi. 

94j  1.  ulla  H  fehlerh.  st.  illa.        3.   sie  nulla  est  lis  vel  conlentio  H 

(m.  hialus),   hinc  esset  lis  et  conlradiclio    Wr.,   Haur.  (Müld.  cessat 

st.  esset).  '         4.    totum    HHaur.    [der    aber    st.   ad  :  sed    und    st. 

bibilur  :  bibatur  [facJic. /]  hat)  st.  plenum.  95,  1.  faciunt  H  st. 

slatuutit.  3.  sed  sine  HFlac*  (cfr.  Wr.),     sie  sine    Wr.,  Müld., 

Et    sine  Haur.  4.    et    replent    HWr.,  Müld.,      replenlque   Haur. 

96,  3.  sicut  piea  pice  H,  ut  pica  picae  ul  (vel)    Wr.  (Müld.),  ut  picae 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLI  NG 

pica  vel  Haut.  I.  cui  HWr»  Müld.,  queis  Haur,  incendium  // 
fehlet  lt.  st,  ingeniura.  '.)7,  I.  Hanc  //  fehlerh.  st.  Bis.  ileniiuni 
mola  //  [mit  laclwechsel)  st.  mola  Jenlium.  I.  calorem  //  st.  colorem. 
Doiium  H Wr.,  Müld.,  noclium  Haur.  98/9  fehlen  II.  100, 
si  dalur  //  st.  qui  si  quid  datur  (ileiur).  I02i  l.  De  ilie  decies  // 
U.  Die  Iripudians.  I.  dei  vir  II  Müld.,  vir  dei  (mit  imtic.  n 
Haur.  L03i  '-•  wi  anfang  lücke,  dann  :  in  manibua  //.  dux  meus 
manibus  ü /v /• .  3.  describens  //  st.  discerpens.  nach  ur,  ln.'i  in  H ganz 
unpassend  folgende  Variation  von  l""».  die  trotzdem  noch   nachfolgt: 

Oni  raplus  rueram  ad  celum  terlium, 

lins  gestia  deferor  ad  sunimum  oubium, 

Et  quod  mirabile  vidi  misterium, 

salia  aperui  cuique  mortalium. 
vielleicht  hat  sie  in  eilirr  vorläge  als  ersatx  für  105  am  randi 
■  luden  und  der  betreffende  abschreiber,  der  überhaupt  in  dem 
ganzen  stücke  kein  allzu  grofses  Verständnis  verrät,  —  es  wurdi 
schon  daran/  hingewiesen,  dass  der  fehlerhafte  text  nicht  auf  den 
Schreiber  von  II  geschoben  zu  werden  braucht  —  sie  als  mit  zugehörig 
betrachtet. 

In.").  2.   adusque    lerlium  //  st.    usque   ad    lertium    (mit  hiatus). 
I06i  3.   cousilia    HWr.,   Müld.,    magnalia  Haur.  In7,  1.   vidi 

HWr.  st.  noveram.  2,  magni  consilii  II  Wr.,  Müld.,  sancli  palatii 

Haur.  3.  proponunl  HWr.,  Müld.,  appoounl  Haur.  1.  lelhea  // 
fehlerh.  st.  lelhei.  laticem  HWr.,  Müld.,  calicem  Haur.  propo- 
ount  (vgl.  v.  3)  //  fehlerh.  st.  propinant.  los,  l.  papaveram  // 

(fehlerh.)  st.  palpaveram  Müld.,  comederam  Wr.,  Uaur.  2.  infumli 
//   l-'lac*  st.   infudi.  4.   stire   de  //,   oosse  de   Haur.,   üosse   cum 

Wr.,  Müld.       In!),  2.  conscius  //  st.  uuntius.  scripserit  //  (mU 

tactu-.)  st.   inscripsit.  1.  hec  . . .    securius  //  st.   hoc...   Gdelius. 

Unterschrift  in  II  :  Explicit  apocalypsis  goliardarum. 

17)  Principium  Magistrate. 
Wie  in  dem  princ.  mag.  nr  10  dieser  Sammlung  bildet  auch 
hier  <len  miltelpunct  des  gedicktes  die  erzählung  von  der  erscheinung 
einer  beraterin  im  träume  des  neuen  magisters.  wider  ruft  der 
dichter  zu  beginn  Gott  vater,  Gott  söhn,  den  hl.  geist  und  die 
Jungfrau  Maria  um  beistand  an,  diesmal  auch  noch  das  hl.  kreuz 
Christi,  nachdem  er  hierauf  den  erlauchtesten  der  Versammlung 
besonders  angeredet  positis  pro  nomine  signis,  wendet  er  sich  an 
die  gemeinschaft  der  anwesenden  doctoren  und  bittet,  ihm  gewogen 
zu  sein  und  anzuhören,  weshalb  er  sich  um  das  magisterium 
beworben  habe  :  er  ist  an  einem  sommertage  in  der  frühe  in  einen 
prächtigen  hain  gegangen  und  durch  den  lieblichen  gesang  der 
nachtigall    in    schlaf  versenlct  —  dasselbe   motiv    wie    in  dem  oben 

15* 


228  BÖMER 

genannten  stücke,    wie  er  aber  einmal  aufgeschreckt  um  sich  geblickt, 
hat   er  die  grammalik  auf  sich  zukommen  sehen,     er  ist  indessen 
icider   eingeschlafen  —  ein  nicht   besonders  glücklicher  gedanke,  bei 
dem  man  fast  an  einen  fehler  der  Überlieferung  glauben  sollte  — 
und  hat    weitergeruht  bis  zum  ende  der  nacht,     da  endlich  ist  er 
völlig   erwacht   und  hat   nunmehr  die  grammatik  an  seinem  lager 
erblickt,     'sei  gegrüfst,  o  bruderV  hat  sie  ihn  freundlich  atigeredet 
und   ihm  die  frohe   botschaft  verkündet,  dass  sie  ihm  das  regimen 
scholarum  zu   übergeben  gedenke,   in  dessen  besitz  er  schon  längst 
hätte  sein  können,     nach  ehrfurchtsvollem  grufse  hat  er  versichert, 
dem   officium  magistrale    nicht    gewachsen    zu   sein,    sondern   erst 
noch  weiter  lernen  zu  müssen,    diese  furcht  hat  jedoch  die  grammatik 
leicht  zu   verscheuchen  gewust,   und    nachdem    sie  dem    zaghaften 
vorgehalten,    wie  töricht  es  sei,  immer  als  armer  schlucker  weiter- 
zuleben, anstatt  ein  einträgliches  amt  zu  übernehmen,  hat  er  endlich 
den   entschluss   gefasst ,    sich   um   die  magisterwürde  zu  bewerben, 
wie   der  vortragende    des   früheren  princ.    mag.   betonte,    dass   er 
misgwist   nicht   zu   fürchten    hätte,    so   nimmt   auch   der   unsrige 
nach  beendigung  der  erzählung  veranlassung,  sich  mit  einem  neider 
abzufinden  (slr.  31 — 33),  um  hierauf  zu  erklären,  dass  es  an  der 
zeit  sei  finire  ludibria  (34).    es  folgt  dann  noch  eine  schlussstrophe 
(35),  deren  erklärung  Schwierigkeiten  macht,    sie  beginnt  :  Hiis  clictis 
subticuit  (s.  unten  den  text).     es  fragt  sich,   wer   hat   gesprochen 
und  was  hat   er  gesagt?     die  Sätze   Finire  ludibria  —  mea   uatat 
prora  gehören   sicher   noch    dem  magister  an,   loahrscheinlich  auch 
dazu  das  :  hacteuus  invidiae  respondimus  in  dem  gedankenlos  Ovid 
Rem.  am.  397  entlehnten  vierten  verse  von  34.    es  bleiben  also  nur 
die  beiden  worte  Altrabe  lora!  übrig,    wir  müssen  uns  notgedrungen 
denken,  dass  jemand —  aber  wer?  —  dem  dichter  diese  a%t  ff  orderung 
zugerufen   hat   in  dem  sinne,   dass  er  die  zügel  des   magisteriums 
nunmehr   anziehen    solle,      wenn    nicht   der   4    vers    von   slr.  35 
mit    dem   ausgang:    cur   excusatus   abirem    auf  den  abschluss  des 
ganzen  deutete,  läge  die  annähme  nahe,  dass  die  Strophe  oben  nach 
der   ersten  rede  der  grammatik  (slr.  18)  einzufügen  wäre,    sollten 
die  verse  überhaupt  nicht  in  dieses  gedieht  gehören?  —  wie  in  nr  13 
sind  wider  3  verse  der  vagantenstrophe  mit  einem  hexameler  oder 
penlameter  vereinigt,   doch   sind  hier  die  ersten  künstlicher  gebaut, 
indem    sie   mit  2    ausnahmen    (17,  2,    xeo   aber   vielleicht  spalium 
in  spalio  zu  ändern  ist.  u.  26,  3)  neben  dem  endreim  auch  cäsur- 


HERDRINGER   VAGANTENLIEDERSAMMLl  NG         229 

reim    aufweisen,     may   tactwechsel,    mit    mafs    angewendet,    eine 
willkommene  abwechslung   in   den    gleichmäfsigen  /luss   der    tu 

bringen,  der  dichter  dieses  Stückes  hat  sirli  m  seinem  gebrauche 
derartig  gehn  lassen,  dass  die  zeilen  zum  grofsen  teile  wenig 
ansprechen.  man  lese  zl>.  '.»,  'A.  [0,  1.  19,3  "•  27,:'»,  100  tu 
beiden  vershdlften  der  tact  wechselt.  29,  2  hat  im  zweiten  teile 
nur  ■>  silben.  vielleicht  ist  hier  me  ausgefallen. 
Principi  u  in  m  ;i  gisl  r;i  I  ••. 

1  CuDCtipoteos  genitor,  prioeeps  maiestatis, 
oecultorum  cognitor  ime  deitalis, 

tu  mee  dispositor  esto  voluotatis, 

liuc  adeß  et  dubie  dirige  vela  ratis ! 

2  Consolalor  optime,  criste,  tili  dei, 
dulcis  bospes  anime,               dulcis  requiei, 

da  michi,   piissime,  donum  huius  rei, 

([iioil  possim  cepta  pondera  rerre  meil 
Veoi,  sanete  Spiritus,  quia   in   venu 

null  auderem  penitus  tantas  aggredi  res; 

rege  meos  aditus,  michi  nunc  aspires 

dans  michi  te  placidum,  dederis  per  cetera  vir« 
i  Virgo  dei  tilia,  malcr  salvatoris, 

parem,  paris  uescia  virgo  singulare, 

Sensuni  et  eloquia  michi  largiaris: 

Alma  fave  ceptis  Stella  maria  marisl 

5  0  crux  admirabilis,  o  crux  triumphalis, 
arbor  uua  oobilis,  u u IIa  fuit  lalisl 
Spes  incomparabilis,                s|>es  inuodialis, 
Me,  precor,  attollas  virlulum  quatuor  aus. 

6  Doctor  pollens  inoribus  preconio  dignis, 
cuius  lucet  actibus                    caritatis  ignis, 

fave  meis  preeibus,  prudens  et  insignis, 

Scis  bene,  cui  dicam  posilis  pro  nomine  signis  1 
:  Vos,  doctores  nobiles,  vos  affectu  vero 

satis  precor  faciles,  nam  quod  precor  spero, 

este  favorabiles,  nil  aliud  quero 

perpeluusque  anime  debitor  buius  ero. 
-  Cur  regimen  capio,  forte  michi  quedam 

fiel  prius  «juestio,  quam  ultra  procedam; 

2,  4  /.  cepti  R. 


230  BÖMEK 

ergo  magisterio  quare  sie  attenilam, 

Si  vacat  et  placidi  ratiouem  ammillitis,  edam. 
9  In  estalis  tempore  matulinis  horis 

spaliabar  nemore  quodam  pleno  roris; 

Ludebai  sub  arbore  fons  vivi  decoris, 

Temperie  cuius  capior  specieque  liqtioris. 

10  Fluebat  murmuribus  fons  ille  ioewndis, 
ludebat  in  partibus                   calculus  profundis; 
capris,  feris,  avibus                   non  tactus  iramundis 
fons  erat  illimis,  nitidis  argenteus  undis. 

11  Hunc  ab  omni  latere  silva  precingebat, 
que  sole  tepescere  locum  probibebat. 
Me  iuvabat  visere                      locum,  qui  virebat; 
Gramen  erat  circa,  quod  proximus  bumor  alebat. 

12  Locus  erat  avium  circumcirca  plenus 
dulciter  cantantium                   cantus  omne  geuus; 
omnibus  boc  Studium,               nullus  alienus: 
Me  subicit  sompno  philomene  cantus  amenus. 

13  A  me  motw  penitus  curarum  eiecto 
sompno  fui  deditus  in  cespitis  lecto; 
a  quo  postquam  concitus         buc  et  illuc  speclo, 
Gramaticam  vidi  venientem  tramite  recto. 

11  Noctis  erat  medium,  luna  relucebat 

et  in  meo  radium  tboro  dirigebal; 

nulla  me  tunc  anxium  cura  faciebat, 

publica  me  requies  curarum  sompnus  babebat. 

15  Me  noctis  ad  ultimum  tandem  experreclo 
quendam  motum  minimum      subaudivi  recto 
instansque  quam  plurirnum      buc  et  illuc  speclo: 
Gramalicam  vidi  sensique  accedere  lecto. 

16  Hec  existens  cominus  miebi  dixit  :  'ave, 
o  frater,  quem  dominus  tueatur,  ave! 
audire  me  protinus                   non  sit  tibi  grave 
Et  quod  non  opus  est  neve  loquere,  cave  1 

IT  Gramatice,  fluvio  trium  specierum 

Me  percuim  spalium  mullorum  dierum; 

10,  1  jocondis  H :    der    reim    erfordert    ioeundis.  13,  1  molo  H. 

14,  4  Ovid  Ex  Pont,  m  3,  7.  17,  2  pcur9  //,  aber  undeutlich. 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLI  m.        231 

Cur  te  visaiii,  senio  dicam  tibi  verum: 

1  -ii  ego  letarum  venio  libi  nuntia  rerum. 

IS  Cum  sis  dignus  spargere  Bemen  doctrinarum, 

lilii  volo  tradere  regimen  scolarum, 

Bonus  quondam  sumere  debuisses  liarum: 
Propaganda  etenim  est  rerum  doctrioa  booarum. 

19  40  lux  el  Ions  artium,  decus  triviale, 
aptuin  ;nl  officium  non  Bum  magistralel 
revereor  nimium  incipere  lale, 

de  quo  I .uiia  volans  murmurel  iode  male. 

20  Doctorum  ofßciis  hiis  est  iosistendum, 
quorum  dogma  oesciis            est  proficiendum, 
seil  michi  de  aliis                    quid  sit  lacicndum, 
Non  mich i  sunt  vires  adimo  michi  iusque  regeodum. 

21  (Jnis  regimen  capiat,  in  quo  labores  seit, 
si  male  sufßciat,  si  doecre  nescit? 
armis  ahrenunciat,  qui  non  convalescil 
[ndoctusque  pile  deeiique  trocique  quiescit. 

22  Multum  est  decenlius  non  doctorem    geri, 
quam  regentera  cilius  iuste  derideri; 
liinc  est  michi  melius  adbuc  edoceri, 
quam  merear  doctor  delirus  inhersque  videri.' 

23  Tunc  ait  gramatica:  'frater,  quid  vereris, 

j»ro  re  feie  moilica  cur  sie  deterreris? 

hec  in  corde  publica  verba  recorderis, 

fac  tarnen   ineipias  :  sponte  disertus  eris. 

21  Fiicli,  cum   ineipies,  medium  halieliis. 

ergo  semper  audies  et  nunquam  docebis? 

Sis  audax!  quod  cupies,  tolum  adimplebis: 

Grande  aliquid  si  velle  tenes,  et  posse  lenebis. 
25  Tu  multum  deprimeris  iugo  paupertatis, 

qui  regendo  poteras  acqnirere  salis. 

Cur  igitur  pateris  dampnum  egestatis? 

tolle  moras  :  semper  noeuit  differre  paralis  ! 
■ii'  Nullus  habet  pretium,  nisi  lucro  vacet, 

pauper  parit  tedium.  dives  autem  placet; 

ilives  multum  loquitur,  pauper  vero  tacet, 

dives  honoralur.  pauper  ubique  iacet. 


232  BÖMER 

27  Pauperlatem  fugias,  que  te  diu  pressit, 
magistratum  capias :  multum  lucrum  gessit! 
Sic  laudo,  quod  facias,  sie  volo  quod  res  sil!' 
linierat  monitus  uec  plura  locuta  recessit. 

28  Iuter  omnes  monitus  postquam  recollegi, 
quod  eram  suppositus  paupertatis  legi, 

de  lucro  sollicitus  ultra  noo  auibegi : 

Sumpsi  aoimum  gratesque  deo  dou  territus  egi. 

29  Patet  ergo  ratio,  quare  representem 
iu  doctoris  solio  nimis  egentem; 
honoris  ambitio  nou  allicit  mentem: 
Noo  honor  est  sed  ho  aus  species  lesura  ferentem. 

30  Scolarum  presumere  nollem  nie  rectorem 
adhuc  ita  propere,  nisi  pauper  forem; 
fruetum  volo  querere                lucri  vel  honorem: 
Non  habet  unde  suum  paupertas  pascat  amorem. 

31  Invide,  te  miserum  alloquor  extreme: 
nie  reputas  stolidum,                 malum  dicis  de  nie. 
0  venenum  aspidum,  liuguam  tuam  preme! 
Et  tua  perpetue,  livide,  dampua  gerne! 

32  Invidus  nie  lanial  deute  fraudulento, 
alterius  inhiat  seniper  detriniento; 
ob  hoc  catho  nunciat  suo  docuniento: 
lnvidiam  nimio  cultu  vitare  memento. 

33  Lividus  invidia  semper  limet  niniis, 
ne  quis  ad  sublimia  veniat  ab  imis; 

sed  eius  malitia  torquet  hunc  a  primis: 

Invidus  alterius  rebus  macrescit  opimis. 

34  Finire  ludibria  tenipus  est  et  hora, 
ne  vobis  fastidia                         gignat  longa  mora, 
aqua  iam  in  alia                        mea  natat  prora; 
hactenus  invidie  respondimus.    'attrahe  loral' 

35  Hiis  dictis  subtieuit;  que  cum  exaudirem, 
mihi  cor  intremuit,  quia  pauca  scirem. 

25,  4  Lucan.  i  2S1.  29,  4  Ovid  Her.  9,  31.  30,  4  vgl.  Wright 
Mapes  s.  159  (Missus  sum  [nr  20  dieser  Sammlung]  v.  200).  32,  4  Calo 
Dist.  II  13,  1.     vgl.   Carm.  Dur.  Lxxiva  5.  33,  4    IJoraz  Epist.  I  2,  57. 

vgl.  Carm.  Bur.  lx\i\3  2.  34,3  vacat  H. 


HERDRINGER  VAGANTENL1EDERSAMMH  NG 

Me  «1  u L>i  11  tu  teouit,  utrum  coosentirem, 

l>t.i  tarnen  dixi,  cur  excusatus  abirem. 

Explicit. 

1  ^;  De  transfretantibus. 
Die   meerfahrer   sind   die   teilnehmer  an   item    unglücklichen 
kreuzzuge  Ludwigs  des  Heiligen,     da  der  aufbrach  des  könig»  alt 
unmittelbar  bevorstehend   bezeichnet   wird,   inuss   das  gedieht  kurz 
vor  augutt  1248  ent stunden  sein,    bereits  ende   1211  hatte  Ludwig, 
von  schwerer  krankheit  genesen,  das  gelübde  des  kreuzzuget  getan, 
aber  fast  4  Jähre   lang  zogen  sich  die  Vorbereitungen  hin.    diesmal 
aar     eben    wenig     allgemeine    begeisternng     für     eine     kreuzfahrl 
vorhanden,  und  es  bedurfte  eifriger  Werbung,   um  sie  zustande  zu 
bringen,     diesem    zwecke  ist  auch  unser  lied  gewidmet,     der  dichter 
war  Franzose,    denn    er  nennt  den    könig  6,2  :  o oster  dominus, 
7,  1   :   Qoslrura   dominum,      die    gründe   seiner   aufforderung  sind 
geistliche    erwägungen,    denen    auch    der  papsl    und   seine   prediger 
autdruck  zu  geben  pflegten  :   um  Vergebung  für  unsere  sündenschuld 
zu   erlangen,  müssen  wir  das  kreuz  erheben.     Christus  ist  für  uns 
geboren    und  um  unterer  fehler  willen  am  kreuze  gestorben,     für 
ihn    sollen    wir  also   einmütig   ins  fehl  ziehen!    zu  diesen  beweg- 
gründen  kommt  diesmal  noch  ein  ganz  besonderer  :  Frankreichs  be- 
rühmter könig  ist  von  Christus  selbst  ermahnt  worden,  übers  meer  zu 
fahren,     durch  göttliche  Vorsehung  war  er  bis  auf  den  tod  erkrankt, 
jedoch    der   herr  hat    ihn    in    seiner  barmherzigkeit  gerettet,     nun 
befiehlt    unser  könig,    dass   wir   ihm    folgen   sollen  :  diesem   rufe 
müssen    wir  gehorchen,     sollte  nicht  jeder  dahin  eilen  wollen,   wo 
Christus    vom    tode   erstanden   und   zum   himmel  aufgefahren  ist? 
Die    verstechnik    des   liedes    steht   au/sergewöhnlich  tief.      die 
struphen    bestehen    aus    4    durch   die   cäsur   in   zwei   gleiche   teile 
zerlegten,   durch  end-  und  (mit  ausnähme  von  Str.  1   [aabb])  auch 
durch  cäsurreim   verbundenen  langzeilen,  deren  grundschema  zwei 
jambische  achtsilbler  sind;  indessen  xcerden  die  regelmäfsig  gebauten 
halbzeilen  vvn  solchen  mit  taclwechsel  in  der  form  -v^-^^-w- 
oder   _^w-^-w-    an    zahl    übertrofj'en,    so    dass    die    technik 
fast  auf    Silbenzählung   hinausläuft,    wie    sie    dem     franziisischen 
dichter    von    seiner    nationalen   poesie   her   geläufig  war.     dreimal 
hat  er  sich,  so  vorsichtig  die  Homanen  auch  sonst  in  diesem  punete 
waren,    hiatus  in   der  zeile  gestaltet  :  5,  2.   7,  :;  (mag  das  ue  der 


234 


BÖMER 


hs.,  tcekhes  einen  siebensübler  ergibt,  zu  hallen  oder  noune  zu 
lesen  sein)  und  7,  4.  die  lelzte  stelle,  an  der  mit  dem  hiatus  auch 
noch  doppelsilbige  Senkung  zusammentrifft ,  ist  jedoch  nicht  auf 
rechnung  des  dichters  zu  setzen,  da  er  hier,  wie  iciderliolt  in  den 
vorhergehenden  sti'ophen  als  2  halbzeile  des  verses  den  anfang 
eines  bekannten  hymnus  wirkungsvoll  eingesetzt  hat  (1,  4.  2,  4. 
3,  3.  4,  4.  6,  4.  7,  4.    vgl.  Chevalier  Bep.  hymn.). 

Die  1  halbzeile  des  gedichts  klingt  an  die  eingangsworte  des 
hymnus  Amore  summi  nnminis  an;  mit  Eya  fralres  (6,  4)  beginnt 
eine  ganze  anzahl  beliebter  hymne.n. 


De    transf 

1  Amore  summi  iudicis 
al(|ue  rerum  opificis 
Et  parenles  et  patriam 
culpe  querendo  veniam 

2  Reges,  principes,  comiles, 
duces,  barones,  milites, 
Cives,  burgenses,  pedites, 
Crucem  levando  comites 

y,  Pro  nobis  crislus  nascitur 
Cristus  in  cruce  patitur 
Kos  unanimes  igitur 
viiidicemus,  qui  morilur 

4  Rex  iraucorum,  rex  inclitus, 
dei  gratia  preditus 
transfrelare,  qui  monitus 
crucem  sumpsit  divinftus, 

:>  Rex  lrancorum  dignissimus 
egrotavit,  ut  novimus, 
Sed  cristus  rex  piissimus 
suscitavit,  ut  credimus, 

<i  Adest  en  ecce  terminus; 
quibus  rex,  nosler  dominus, 
templum  crisli,  qui  protinus 
eya,  fratres,  cominus    . 

7  Ergo  nos  plebs  indomila 
per  colles  et  per  compila, 
3,  3  ortu  H.         4.  4  süpcit  H, 


retantibus. 

crucem  debemus  tollere 
uomine  derelinquere 
et  iberusalem  petere 
iam  lucis  orlo  sydere. 
dominalores  gentium, 
ad  exemplar  fidelium, 
suscipite  remedium 
primo  dierum  omnium. 
matre  manenle  virgine; 
pro  solo  nostro  crimine. 
a  solis  orlus  cardine 
pro  bumana  propagine. 
vile  pretiosissime, 
j)arat  elegantissime 
a  te,  criste  piissime, 
eterne  rex  altissime. 
divina  providenlia 
usque  ad  mortis  hostia; 
sua  mysericordia 
beata  nobis  gaudia. 
tempus  diesque  subeunt, 
et  fratres  eius  adeunt 
oceanum  pretereunt; 
vexilla  regis  prodeuntl 
regem  nostrum,  qui  properat 
sequamur,  nam  sie  imperat; 

divitus  //. 


HERDRINGER  VAGANTENUEDERSAMMLUNG 

omnis  mente  composita  illuc  nonne  accelerat, 

unde  \i\  vita  reddita  iam  cristus  astra  ascenderal? 

Explicit. 

7,  3  ne  //. 

19)   Comoedia  de  advcntu  A  nt  ich  i  isti. 

Anfang  :  Dum  conlemplor  auimo  seculi  leitorem. 

Auch  diese  satire  auf  die  Schlechtigkeit  der  zeit  ist  in  die 
form  einer  vision  gekleidet,  der  dichter  wohnt  im  geiste  einer  Ver- 
sammlung der  furien  und  dämonen  bei  und  hört  den  Antichrist 
mit  Alecto  und  Tisiphone  über  den  Untergang  der  weit  verhandeln, 
der  englische  künig  Heinrich  n,  der  einen  Thomas  Hecket  löten 
licfs,  und  der  deutsche  kaiscr  Friedrich  i  werden  als  würdige 
Vorläufer  des  Antichrist s  gebrandmarkt.  in  einem  schlusswort 
fordert  der  herr  der  Unterwelt  die  furien  auf,  sich  in  die  winkel 
der  weit  zu  zerstreuen  und  alle  mit  sich  hinabzuziehen  in  die  tiefen 
der  hülle;  er  werde  ihnen  nachfolgen,  wie  er  es  gelobt  habe. 

Das  gedieht  stellt  in  der  schon  mehrfach  angezogenen  Pariser 
lis.  nr  324ä  unter  den  10  gediehen  des  Guallherus  de  Insula 
und  ist  von  Müldener  1<>//'  abgedruckt.  II  liefert  eine  kürzere 
fassung,  indem  sie  die  Müldenerschen  Strophen  4,  IS  und  25,  welche 
alle  drei  nicht  nur  entbehr/ich  sind,  sondern  auch  den  verdacht 
einer  unglücklichen  interpolation  erregen,  übergeht,  mag  II  muh 
durch  mehrere  versehen  entstellt  sein,  so  bietet  sie  dafür  anderseits 
an  zahlreichen  stellen  die  richtige  lesart,  xeo  Müldeners  vorläge  einen 
fehlerhaften  text  aufweist. 

Lesarien  von  II. 

2,  1.  2.  ylem  und  iubes  umgestellt.  3.  comparas  st.  copulas.  .">,  3.  et 
iiuiiilu  st.  soniluque.  li,  4.  licuii  insanire  mit  doppelsilbiyer  Senkung 
st.  libuit  coire.  7.  1.  furenlum  st.  silentum.  2.  soronini  irinitas 
st.  soror  Trinacria.  3.  que  st.  <|iii.  8.  1.  nee  st.  non.  elealionis 
fehlerh.  sl.  elalionis.       2.  nequilie  Ulms  m.  laclw.  st.  Qlius  nequitie. 

3.  secabat  sl.  secabit.  9.  1.  lacic  prominens  armala  richtig  st.  faciem 
prominens  armata.  3.  unde  quasi  lonilrus  verständlicher  als  verum 
ul  tonilruum.  4.  vos  interrumpens  mtl  doppelsilbiyer  Senkung  st. 
des  vorzuziehenden  vox  erumpens.  1(>,  1.  Pape  richtig  sl.  Papa. 
2.  slatum  fehlerh.  st.  fatum.  3.  pando  fehlerh.  st.  pande.  exi- 
turum  richtig  sl.  exiiiiirnm.  4.  beelsebu  sl.  Beelzebub.  11.  'i.  dissenlio 
fehlerh.  sl.  dissensio.  3.  lumucrunt  richtig  st.  limuerunt,  für  das 
Müld.  irruerunl  conjicierte.  4.  crislum  richtig  st.  ipsum.  nimis 
richtig  st.  minis.  12.1.  Miserens  misereor  recolens  sl.  Miseranler 
imseror    miseros.       4.    instiluam    st.    resliluam.       imlea    iiuleos    mit 


236  BÖMER 

doppelsilbiger  Senkung  st.  Juda  Jiulaeos.  13,  2.  feras  sl.  seras. 
federa  richtig  st.  sidera.  14,  1.  excita  sf.  accita.  15,  1.  el  demomim 
sl.  demonium.  16,  1.  Ut  fehlerh.  st.  Et.  quaeris  fehlt.  2.  reprobum 
st.  perversum  mtl  laclic.  3.  Iriplici  qui  st.  qui  triplici  mit  tacltc. 
17.  1.  sinone  st.  Simone.  2.  quis  .  .  .  veulilat  st.  quid  .  .  .  ventilas. 
4.  rex  vere  st.  re  vera.  19,  2.  3  umgestellt.  2  defricala  s<.  desic- 
cata.  4.  quo  sf.  quod.  20.  4.  hoc  s(.  haec.  debachare  (vgl. 
Du  Cange)  st.  debachari.  21,  1.  Cui  sl.  0  cui.  cruciare,  wie  Müld. 
schon  statt  des  fehlerhaften  conciare  seiner  hs.  vermutete.  2.  in- 
sipientem  mit  auftacl  st.  impotentem.  3.  Cum  sl.  dum.  22,  1.  noslre 
st.  tuae.  3.  Cum  prelatis  principes,  dem  praelali  cum  reprobis  vor- 
zuziehen. 23,  3.  Caput  mundi  st.  mundi  caput.  scismata  fehlerh. 
sl.  schismate.  4.  et  pluraliter  gut,  während  Müld.s  a  veritate  keinen 
richtigen  vers  ergibt.  24,  1.  novisli,  besser  als  vidisli.  3.  scis- 
maticam  gentem  perfecisti  st.  seismaticae  genli  praefecisti.  26,  1.  auditis 
sl.  commota.  2.  post  tumultum  sl.  prae  tumultu.  27,  1.  eahos 
absortum,  gegen  den  reim  verslofsend  st.  chaos  austerum.  2.  discerne 
sl.  disserere.  4.  panditur,  durch  panditur  in  v.  4  veranlasst,  sl. 
cognitus.  28,  2/3  umgestellt.  2.  Suft'ocabo  penitus  sl.  cum  terris 
abstulero.  4.  Micbi  rachel  sl.  Rachel  mihi.  30,  1/2  umgestellt. 
2  ( =  1  in  H)  He  mei  complices  ite  gentium  dii  (einsilbig)  sl.  ad 
vos  omnes  trabite  in  centrum  profundi.  3.  factus  richtig  sl.  des 
unsinnigen  sanclus. 

20)   Comoedia  magistralis  redarguens  vitia. 

Anfang  :  Eliconis  rivulo  modice  respersus. 

Es  gibt  zwei  ältere  ausgaben  :  1)  Wright  Mapes  159/f  unier 
dem  titel  :  'De  pravitate  saeculi ' ;  2)  Müldener  37  ff :  'Contra  statum 
ecclesiae  depravatum'.  für  dieses  stück  trifft  nach  den  Untersuchungen 
Haureaus  Not.  et  exlr.  vi  295/  die  von  Müld.  angenommene 
Verfasserschaft   Walthers  vChatillon  zu. 

Paris  besitzt  aufser  der  von  Müld.  benutzten  noch  3  copieen 
des  gedichtes ,  sämtlich  ohne  nennung  des  Verfassers  :  nr  11412. 
1186"  und  Nouv.  acquis.  1544.  vgl.  Haureau  Not.  et  extr.  n 
42/,  vi  292  ff.  unter  Zuziehung  dieser  3  hss.  hat  Haureau  vi 
293//"  eine  neue  ausgäbe  veranstaltet. 

Das  erste  der  10  von  Müld.  veröffentlichten  Pariser  gedickte 
des  Gualtherus  de  Insula  ist  :  Missus  sum  in  vineanl,  das  zweite  : 
Multiformis  homiDum,  das  sechste  unser  :  Heliconis  rivulo.  diese 
drei  stücke,  die  sowol  im  inhalte  (dem  gedanken,  dass  die  xoelt 
aus  den  fugen  sei  und  die  Sünden  der  geisllichkeit  die  schuld  daran 
trügen)  als  auch  in  der  form  (3  zeilen  der  vagantenstrophe  -f-  tnetr. 
vers)    übereinstimmen,   sind   in    den   verschiedenen  Überlieferungen 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 

häufig  durcheinandergemengt,  so  sind  zb.  in  Harleian-ms.  978  ua. 
M issns  sinn.  Helicoois  rivulo  und  mehrere  Strophen  anderer  gedichte 

zu  einem  stück  von  .Vi  stn\  vereinigt  (Wright  1V2//.  anf.  :  Missus 
Bum).  dieselbe  he.  hat  aber  aurh  Heliconis  rivulo  allein  als  besondere 
nummer  (s.  oben,  Wright  l.v.)//".  in  Sloane  ms.  1580  sind  aus 
den  :',  gedickten  -1  gemacht,  indem  die  Strophen  bunt  durcheinander 
gewürfelt  und  sogar  ein  und  dieselbe  in  Variation  an  zwei  oder 
mehr  stellen  verwendet  wurde  (vgl.  Hubatschl2).  in  der  ganzen 
vagantenlitteratur  yebn  die  Überlieferungen  nur  sehr  selten  so  weit 
auseinander,  wie  in  diesen  '6  voller  Interpolationen  steckenden 
dichtungen.  der  text  von  Baureau  stimmt  in  der  strophenfolge 
mit  dem  Müldenerschen  überein,  nur  hat  er  nach  der  achten  eine 
strophe  eingeschoben  und  zahlt  somit  ihrer  IS  statt  17.  von  dei 
englischen  Überlieferung  weicht  die  französische  indessen  vollständig 
ab.  Müld.-Ilaur.  haben  nur  die  (.i  eisten  von  Wright. s  2  1  Strophen 
lies  Eliconis  rivulo  und  zwischen  diesen  b  bezw.  '.»  andere  Strophen, 
zt.  mit  anspielnngen  auf  ganz  bestimmte  Zeitverhältnisse,  die 
erwähnte   herschaft    zweier   päpste   traf  zu   für  die  zeit  zwischen 

I  159  und  117  7,  der  das  gedieht  somit  zuzuweisen  ist.  die  franzö- 
sischen aufzeichnungen  repräsentieren  ohne  zwei  fei  die  ursprüngliche 
fassung,  aus  der  man  spater  unter  auslassung  der  nicht  mehr  zeit- 
gemäßen   Strophen    ein    allgemeines   klagelied   zurechtgemacht   hat. 

II  kommt  der  überaibeiteten  englischen  Überlieferung  am  nächsten, 
und  zwar  bis  str.  S  einschl.  dem  Eliconis  rivulo  (Wright  159 ff),  von 
da  dem  combinierten  Missus  sinn  (Wr.  \h1ff),  das  jedoch  nicht 
nur  stark  gekürzt,  sondern  auch  in  beträchtlich  abweichender  folge 
der  Strophen  erscheint,     die  anordnung  ist  folgende  : 

If'r.s  Eliconis   1  —  5  Wr.s  Missus    38—43 

5a,  bei  ff  r.  fehlend,  46 

= '.I  t>.  Müld.Hel.  44 

45 

47—51 

51a  m.  an  kl.  an  str.  1  7 

v.  ff'r.s    Elicc 
52 

Lesarten  von  H. 
1)  Die  ersten  acht  Strophen  von  Wrighls  Eliconis  159/7".  m>1 
einschub  nach  str.  5.  1.  2.  pressus  //  (gegen  den  reim  verstoCsendJ 
si.  mersus.  3.  Et  quoniam  (übergeschrieben  :  besseres  quia  i.uni 
scriptital  //.  quem  uec  scriptitat  (keinen  vers  ergebend)  Wr..  Sed 
quia    illabilur   bezw.    tarn    labitur  Mi'/Id..  Haut.       'i.  '1.  video   //,  ms. 


6—8 
//  r.s  Missus      1 

2 
22 


23S     HOMER  HERDRINGER  VAGANTENL1EUERSAMMLUNG 

Sloane  15S  (S)  st.  videro.  3.  vilia  deslrui  iubebo  H;  nahekommend: 
viiiiiin  destrui  videbo  S,  siquidem  vitio  delebo  Wr.  (vitia  Muli.,  Haut.) 
'.).  2.  mentes  avarilia  nun  premebal  horum  //  ( völlig  abweichend  von 
der  sonstigen  Überlieferung),  quia  ncc  simonia  dilatabat  lorum  Wr., 
quia  Dec  simonia  vendicabat  cliorum  Müld.,  Quando  nee  simonia  vend. 
chor.  Haur.  3.  in  II  fehlerh.  st.  vi.  4,  1.  vineani  amodo  H 
Wr.,  admodo  (amodo)  vineam  Müld.  (Haur.)  5,  1.  quam  diu  II 
Müld..  Haur.,  quanlum  nunc  Wr.  2.  trahit  H,  Wr.,  rapit  Müld., 
Haur.  scismatis  impetus  umgestellt  II.  3.  per  quem  mens  hie 
lenietur  UHaur.  (relevelur  st.  lenietur  Müld.),  per  quem  aeneus 
illimelur  [!]  Wr.  es  folgt  in  H  slr.  9  (v.  33— 36J  von  Müld., 
10  von  Haur.  1.  bbet  HHaur.,  licet  Müld.  2.  delicit  H  fehlerh. 
st.  defecit.  3.  eclipsi  H  fehlerh.  st.  eclipsim  (eclipsin).  (j,  2.  sanrla 
HHaur.,    sacra    Wr.  7,  3.  scoria  HMüld.,  Haur.,     sordido    Wr. 

vel  lulo  H  st.  est  luto.  4.  prineeps  provinciarum  faeia  est  [vers!] 
HWr.,  Est  prineeps  provinciae  facta  (factus)  Müld.,  Haur.  8,  2.  caput 
mundi  HHaur.,  mundi  caput  Wr.,  Müld.  3.  ubi  non  H  fehlerh. 
st.  ubinam.  —  2)  slr.  1  —  3.  22.  38  —  52  des  combinierlen  Missus 
von  Wrighl  152/7*.  reihen  folge  der  slr.  in  H  s.  oben,  hier  die  Wr.sche 
folge  innegehalten.  1,  4.  nunquamne  m.  Müld.  (Missus  sum  s.  1), 
besser  als  numquam  me  Wr.  2,  3.  quainvis  st.  licet,  nee  st.  veL 
3,  1.  riihmis  st.  risu.  22,  1.  veterum  sl.  magnatum.  2/3  umgestellt. 
3.  rilhmulis  st.  lalibus.      38,  1.  Qui  virtutes  appetit,  labitur  in  imum. 

2.  querens  sapienliam  irruit  i'n  limum.  3.  bec  st.  sie.  39,  1.  consi- 
dendo  st.  conhdenler.  41.  2.  Sciat  quia  st.  et  scial  quod.  42,  1.  Scias 
artes  quaslibet.  sis  sl.  sit.  2.  fueris  st.  vixerit.  3.  Cum  te  st. 
illum.      plenus  st.  des  vorzuziehenden  penus.     43,  2.   fugio  sl.  fugiens. 

3.  feret  st.  ferret.  4.  Tuitius  fehlerh.  st.  Tulius.  et  nach  toro 
fehlt.  44,  1.  figurat  fehlerh.  st.  praeßgurat.  45,3.  arclia  fehlerh. 
sl.  archam,  4lj,  2.  cornicanlur  st.  commentantur.  47,  3.  ein  heu 
fehlt,  menlis  st.  menles.  4.  dicere  lucanum  st.  quod  semper  multum. 
48,  4.  satur  richtig  st.  des  fehlerhaften  salus.     50,  4.  pascit  sl.  pascal. 

51,  2.  inflali  hier  besser  als  infiala,  das  v.  4  am  platze  ist.  respuunt 
st.  reprimunt.  3.  Sic  ergo  impletum  mit  hialus  sl.  ex  hoc  iam 
impl.  dieunt  st.  canunt.  4.  Inquirat  fehlerh.  st.  Inquinat.  adiuneta 
st.  inflala.  so  auch  nr  13  dieser  Sammlung  1,  4.  die  in  II  nach 
51  folgende  slr.,  welche  im  combinierlen  Missus  sum  bei  Wr.  fehlt, 
stimmt  im  1  vers  und  dem  anfang  des  2  ten  mit  der  defeclen  drei- 
zeiligen  str.  17   von    Wr.s  Eliconis  überein.     sie  lautet  : 

Sit  pauper  de  nobili  genere  giganlum, 
Sciat,   quantum   currat  sol  et  saturnus  quanlum, 
per  se  solus  babeat  totum  ferme  cantum  : 
Gloria  quanlalibet  quid  erit  nisi  gloria   lanlum? 

52,  2.  Indulgeas,  si  sapis  mit  laclwechsel  sl.  miser  vaca  potius.  3.  quid 
st.  quod.        nolles  sl.  non  vis. 

Münster  i.  W.  A.  RÖMER. 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA. 

Bekanntlich  besteht  auch  heute  noch  hinsichtlich  der  hand- 
schriftlichen Dberlieferung  der  Völuspa  die  zuerst  von  Bugge  in 
seiner  kritischen  ausgäbe  (Fortale  s.  xxiuf)  aufgestellte  und  wol- 
begründete  annähme  bei  den  krilikern  im  princip  zu  recht,  dass  die 
beiden  bauptnss.,  in  denen  das  gedieht  überliefert  ist,  der  codex 
I i »■_; i us  und  die  llauksbok,  an  sich  als  gleichwertig  anzusehen  sind, 
wenn  auch  die  Trage,  in  welchem  gegenseitigen  Verhältnis  sie  zu- 
einander stehn,    ob   sie   auf  ein  und  dieselbe  schriftliche  quelle 

weisen    oder   oh  sie    eine    ganz    oder    nur    teilweise    gemeinsa 

quelle  mündlicher  Dberlieferung  voraussetzen,  verschieden  beant- 
wortet wird,  nachdem  in  der  letzten,  scharfsinnigen  zergliederun.: 
des  gedichts  durch  Boer  (Zs.  f.d.ph.  36,  363)  die  erste  ansieht  mit 
nachdruck  verfochten  wurde,  hat  sich  Sijmons  in  seiner  vor- 
trefflichen Einleitung  zur  Edda  (s.  xxxi)  im  entgegengesetzten 
sinne  entschieden,  und,  wie  mir  scheint,  vorläufig  ein  wahres  und 
durchaus  abschließendes  wort  gesprochen,  wenn  er,  gestützt  auf 
das  Verhältnis  jeder  der  beiden  handschriften  zu  dem  fragmen- 
tarischen Voluspatext  der  Snorra-Edda,  für  beide  Codices  das 
ergebnis  zieht,  dass  sie  auf  verschiedene  schriftliche  aufzeich- 
nungen  zurückgehn.  von  diesen  erweckt  die  II  zugrunde  liegende 
schon  deswegen  das  grüfsere  vertrauen,  weil  sie  offenbar  auf 
einen  selbständigen  und  einheitlichen  sträng  mündlicher  Über- 
lieferung weist,  während  der  11  zugrunde  liegende  urtexi  zwischen 
dem  mündlichen  Überlieferungsapparat  von  II  und  der  Snorra- 
Edda  schwankt. 

Indes  unabhängig  von  dieser  beantwortung  der  schwierigen 
frage  darf  von  vornherein  hervorgehoben  werden,  dass,  wenn 
auch  R  ja  sicher  keine  musterhandschrift  ist  und  sich  im  einzelnen 
bekanntlich  in  der  eddischen  Überlieferung  auch  sonst  grobe  irr- 
tümer  und  fiüchtigkeiten  zu  schulden  kommen  lässt,  hei  der 
Völuspa  doch  in  zweifelhaften  fällen  naturgemäfs  der  verdacht 
der  schlechtem  Überlieferung  entschieden  auf  H  ruht.  schon 
weil,  mag  man  nun  den  ansichten,  die  den  codex  Regius  um  1270 
oder  erst  gegeu  das  ende  des  Jahrhunderts  verlegen,  folgen,  der  in 
der  Haukshok  niedergeschriebene  Voluspatext,  der  um  die  mitte 
des  vierzehnten  Jahrhunderts  gesetzt  wird,  auf  alle  fälle  mindestens 
ein  halbes  Jahrhundert  später  ist.     sodann  aber,  weil  sie  nur  dies 


240  IS1EDNER 

eine  Eddalied  überliefert  und  in  ihm  der  lückenanteil  bedeutend 
gröfser  als  in  R  ist,  und  weil  überhaupt  die  Überlieferung  eddischer 
dichtung  keineswegs  wie  bei  dem  codex  Regius  Selbstzweck  dieser 
sammelhandschrift  war.  endlich  vornehmlich,  weil  auch  ein  ver- 
gleich im  einzelnen  zu  einer  reihe  von  Vorzügen  in  R  führt,  die 
uach  widerholt  angestellten  einzelbeobachtungen  heutzutage  nie- 
mand mehr  bezweifelt. 

Zunächst  die  anordnung  der  Strophen  in  H,  in  der  der  ganze 
mittlere  teil  des  gedichtes  lückenhaft  ist  und  daneben  eine  arge 
Verwirrung  im  einzelneu  zeigt,  die  nur  mit  hilfe  der  Überlieferung 
in  R  beseiligt  werden  kann,  auch  sonst  ist  v.  R  49  Hvat's 
mep  ösom,  hvat's  mep  glfom?  gnyr  allr  jgtonheimr,  äser'  o  ä 
pinge,  stynja  dvergar  fyr  steindurom,  veggbergs  viser  :  vitop  enn 
epa  hvat?  die  einzige  im  gedieht,  die  in  R  nach  der  bisherigen 
auffassung  ihren  richtigen  platz  gewechselt  hat  und  die  man  mit 
hilfe  von  H  nach  Rugges  vorgange  (Edda  s.  8)  an  ihre  angeb- 
lich richtige  stelle  vor  v.  46  in  den  ausgaben  brachte,  ich  hoffe 
später  zu  zeigen,  dass  die  gründe,  welche  Rugge  zu  dieser  Um- 
stellung veranlassten,  bei  näherer  prüfung  nicht  standhalten  :  in- 
des, auch  wenn  man  hier  dem  allgemeinen  urteil  beipflichtet,  so 
kann  dieser  einzelfall  auf  zufall  beruhen  und  könnte  nur  als  aus- 
nähme die  regel  bestätigen. 

Sodann,  fast  in  gleichem  umfange,  und  umsomehr,  als  die 
lexikalische  forschung  in  den  Eddaliedern  vorgedrungen  ist,  ver- 
dient R  den  vorzog  in  der  Überlieferung  des  Wortlauts  im  ein- 
zelnen —  auch  hier  liegen,  wo  einmal  H  würklich  das  bessere 
bietet,  wie  in  der  langzeile  22,  3  seip ,  hvars  kunne,  seip  hug- 
leikenn,  nur  ausgesprochene  schreibflüchligkeiten  in  der  altern 
har.dschrift  vor,  dass  dem  tatsächlich  so  ist,  zeigt  sich  zunächst 
darin,  dass  die  fälle,  in  denen  nach  der  früheren  annähme  R 
mit  H  gemeinsame  fehler  aufweisen  sollte,  immer  mehr  zusammen- 
schrumpfen, ich  erwähne  hierfür  als  besonders  charakteristisch 
das  vel  valtivar  (v.  62),  was  durchaus  mit  unrecht  von  Rask  in 
ve  valliva  gebessert  worden  ist,  eine  besserung,  die  den  guten  sinn, 
der  in  der  handschriftlichen  Überlieferung  ligt,  gewaltsam  heraus- 
interpretiert und  dadurch  nicht  blofs  für  den  Zusammenhang  unsrer 
stelle,  sondern  auch  für  die  ganze  heidnisch-germanische  grund- 
auffassung  des  alten  gedichtes  verhängnisvoll  geworden  ist  (vgl. 
Zs.  41,  42.  307  und  Kauffmann  Ralder  s.  26).     und  in  gleicher 


RAGNARÖK  IN  DKli  VÖLUSPA  241 

weise  den  Zusammenhang  störend  und  den  gesamlaufbau  der 
eigentlichen  Ragnarökepisode  verdunkelnd  ist,  wir  wir  Bpäter 
seilen  werden,  die  beanstandung  der  handschriftlich  beidemal 
durchaus  correct  überlieferten  v.  51,  11  Kjötl  ferr  anstatt,  koma 
mono  MuspdU  of  log  lyper.  dass  hier  durch  die  Buggesche 
besser ung  von  anstatt  in  ttorpan  und  lMnspel/s  in  IJeljar  (Edda  s.  9) 
Snorris  mythiscbgeograpbischem  system  zu  liehe,  der  gesamten 
Überlieferung  zum  trotz,  der  ursprüngliche  sinn  zerstört  ist,  da- 
für kann  ich  mich  einstweilen  auf  Olriks  ausgezeichnete,  von 
gerechter  indigoation  des  mylhenforschers  getragene  bemerkung 
in  seinem  aufsatz  Om  Ragnarok  (Arbeger  n.  r.  17,  222)  be- 
rufen, aher  auch  die  fälle  verschiedener  Überlieferung  in  R  und  II 
andern  an  diesem  fast  grundsätzlichen  Verhältnis  nichts,  mit  recht 
hat  Gering  in  seinem  grofsen  Wörterbuch  die  in  R  überlieferte 
lesart  v.  46,  2  at  eno  (jalla  Gjallarhorne,  die  Wadstein  (Arkiv  15, 161) 
vortrefflich  verteidigt  hat  und  die,  wie  man  auch  die  schwer  ver- 
ständliche halbstropbe  auffasst,  einen  viel  prägnanteren  sinn  gibt, 
als  die  lesart  von  II  at  eno  gamla,  als  selbständigen  wortartikel 
verzeichnet  (s.  316),  und  gewis  hat  Sijmons  nicht  mit  recht  in 
v.  9  die  lesart  von  R  hverr  skylde  dverga  drötten  skepja,  die  allein 
in  das  Dvergalal  einen  einigermafsen  verständigen  sinn  hinein- 
bringt, hinter  die  von  II  zurückgestellt  (aao.  s.  xxvm;  vgl.  Ileiuzel 
Edda  ii   19). 

Auch  was  endlich  die  Überlieferung  ganzer  langzeilen  an- 
langt, darf  man  H  gegenüber  in  der  regel  zum  mistrauen  geneigt 
sein,  noch  niemand  hat  sich  beispielsweise  der  Überlieferung  von 
H  7,  2  afls  kostopo,  alls  freistopo  gegenüber  R  peirs  horg  ok  hof 
hUimbropo  angenommen,  und  es  ist  daher  auch  in  fällen,  wo 
wir  R,  da  durch  Flüchtigkeit  eine  langzeile  ausgefallen  ist,  nicht 
mehr  controlieren  können,  wie  60,  3,  naheliegend  zu  zweifeln, 
ob  II  in  der  langzeile  ok  minnask  par  d  megendöma,  die  merkwürdig 
an  den  regendömr  (v.  65)  erinnert,  der  ebenfalls  nur  in  ihr 
überliefert  und  inhaltlich  höchst  bedenklich  ist,  das  ursprüng- 
liche bietet. 

Es  ist  demnach  bei  aller  anerkeunung  der  principiellen  gleich- 
berechtigung  der  beiden  Codices  auf  grund  des  einzelkritischen 
Studiums  des  handschriftlichen  materials  doch  in  praxi  seit  Müllen- 
hoffs  grundlegender  darstellung  der  Völuspa,  deren  ergebnisse 
sich  auch  praktisch  noch  mit  der  durch  Bugge  inaugurierten  hand- 
Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXXVII.  16 


242  NIEDNER 

schriftlichen  auffassung  deckten  (vgl.  DA.  v  10),  schrittweise,  aher 
sicher  eine  Verschiebung  der  beurteilung  zu  gunsten  von  R  ein- 
getreten, erfahrungsgeschichllich  —  wenn  auch  die  theoretische 
annähme  bisher  hestehn  blieb,  somit  ist  es  nur  ein  natürliches 
und  durchaus  methodisches  verfahren,  diese  prüfung  principiell 
einmal  auch  auf  die  für  die  höhere  kritik  so  wichtige  frage  des  in 
II  überlieferten,  entweder  variantenhaft  parallelen,  oder  R  gegen- 
über überschüssigen  Strophenmaterials  auszudehnen. 

Ligt  doch  hier  ein  sicheres  classisches  beispiel,  das  zu 
gunsten  von  R  spricht,  nach  dem  einstimmigen  urteil  der  fach- 
genossen bereits  vor,  nämlich  die  Zeilen  II  30  pd  knä  Vdla 
vigbgnd  snüa,  heldr  vgro  harpggr  hgpt  6r  pgrmom  gegenüber  R  35 
Hapt  sd  liggja  und  hvera  binde  leegjarnlike  Lohn  öpekkjan.  ein- 
stimmig nimmt  man  jetzt  an,  dass  wir  es  hier  mit  Varianten  zu 
tun  haben,  und  dass  nur  R  oder  H  das  ursprüngliche  im  zu- 
sammenhange des  gedichtes  bewahrt  haben  kann,  beide  Versionen 
neben  einander  hat  keine  der  neuern  mafsgebendeu  kritischen 
ausgaben  in  den  text  aufgenommen,  alle  herausgeber  und  er- 
klärer  aber  haben  hier  der  fassung  von  R  den  vorzug  gegeben 
aufser  Müllenhoff.  es  ist  aber  auch  wol  sicher,  dass  dieser  bei 
dem  heuligen  stände  der  forschung  aus  den  von  ihm  in  der 
DA.  v  9f  aufgestellten  erwägungen  heraus  schwerlich  noch  jetzt 
für  den  principiellen  Vorzug  von  H  an  dieser  stelle  plaidieren 
würde,  wie  dem  auch  sei,  auf  jeden  fall  kann  heutzutage,  wo 
durch  ßiürn  Magnüsson  Olsen  (Timarit  15,  1  ff .  16,  42ff.  Um 
Kristnitökuna  56 ff)  die  isländische  herkunft  des  gedichtes  über- 
haupt discutabler  als  jemals  vorher  geworden  ist,  der  isländische 
charakter  der  visa  an  sich  gewis  keinen  ausschlaggebenden  grund 
für  ihre  Zurückstellung  aus  dem  texte  zu  gunsten  von  H  ergeben 
—  ganz  abgesehen  davon,  dass  hvera  lundr  nicht  notwendig 
auf  eine  vulcanlandschaft  deuten  muss  (vgl.  Heinzel  Edda  n  46). 
die  fassung  von  H  stellt  sich  in  jedem  falle,  mag  man  sie  nun 
aus  sprachlichen  oder  stilistischen  erwägungen  heraus,  aus  grün- 
den des  engern  Zusammenhanges  im  gedieht  oder  aus  allgemein- 
mythologischen gesichtspuneten  betrachten,  als  eine  jüngere  dar, 
vermutlich  entstanden  mit  bewusler  anlehnung  an  die  mit  unrecht 
von  Müllenhoff  und  andern  gestrichenen  vv.  32,  3.  4;  33,  1.  2.  die 
von  der  rede  Valis  handeln. 

Dasselbe   Verhältnis,    dh.    dieselbe   bewuste   späte  Varianten- 


RAGNARÖK   IN  DER  VÖLUSPA 

zudichlUDg,   ligt  nun  aber   bei  allen   Übrigen   io   II    überlieferten 
plusstrophen  vor,    auch    wo  dies   die   handschriftliche    Überliefe- 
rung nicht  so  unmittelbar  greifbar  veranschaulicht,     gelegentlich, 
aber  niclit  in  grundsätzlicher  durchfuhrung  isi  darauf  schon   \<>n 
Boer  und  Heinzel  in  den  genannten  arbeiten  mehr  oder  wenig 
ausführlich  hingewiesen  wordeu.    übereinstimmend  isl   bei  beiden 
der  im  gegenwärtigen  Zusammenhang  unursprüngliche   Charakter 
der  v.  40,  .'>.  I  hrdpask  aller  d  helvegom,  <i/ir  Surtar  pann  sef< 
of  gleyper  erörtert    worden,     auch   vv.   48  f  (die  in   II   ganz  frag- 
mentarisch überliefen  sind),  die  Boer  ebenfalls  nachdrücklich  als 
spätere  zudichlung  bezeichnet,  sind  in  Heinzeis  überaus   conser- 
vativer  ausgäbe  nicht  in  den  laufenden  Vüluspatext  aufgenommen. 
dagegen  gelm  beide  gelehrte  in  der  beurleilung  der  für  die  höhere 
kritik  des  gedichtes  allerwichligsten  H-strophe,  der  v.  65  Komr  enn 
rike  at  regendöme,  Qfloyr  ofan,  sds  pllo  räpr  denkbar  auseinander. 
während  Boer  die  überschüssige  halbstrophe  ausdrücklich  als  not- 
wendiges  eigentum    der   Vüluspa,    wenigstens   des   in   ihr  ange- 
nommenen    zweiten    überarbeitenden    dichters,    proclainierl  (aao. 
s.  31311),  hat  Heinzel  gerade  ihr  hinsichtlich  des  beweises  ihrer 
unursprünglichkeil    in   seinem    Bddacommentar  (s.  81  f)  ganz  be- 
sondere Sorgfalt    zugewant.     schon,    dass   die  kühnste   und  sub- 
jectivste  behandlung  der  Vüluspa,  die  im  gedicbte  alles  vom  stand- 
puncl  der  höhern  kritik  allein  betrachtet,   und    die    allerzurück- 
haltendste  und  objectivste,  die  sonst  die  höhere  kritik  als  solche 
principiell  auszuschliefsen  scheint,  in  der  athelese  der  plusstrophen 
in   II  teilweise  zusammentreffen,  ledweise  sich  widersprechend  er- 
gänzen, macht  die  obeu  berührte  systematische    vergleichung  des 
gesamten  II-mehrmateriales,  nämlich  der  vv.  30,  1.  2.  40,3.  4.  4SI' 
und  58,    zu    einer    kritischen    notweudigkeil.      sollte   sich   dabei 
herausstellen,  dass  sie  in  ihrer   unursprünglicbkeit   völlig   gleich 
zu  beurteilen    waren,    so  würde    sich    ein    fesler    kritischer  aus- 
gangspunct  hergeben,  von  dem  aus  eine  neusichtuug    des    über- 
lieferlen    lexles,   zunächst  der   vielumstrittenen    Ragnarökepisode, 
vorgenommen   werden   könnte,  wie  diese  als  grundlage   und  vor- 
trage für  die  psyche  des  gedichtes  und  seiner  allgemeinen   cultur- 
bistorischen    auffassung  unbedingtes   erfordernis  ist.    wir  werden 
aber  diese  nachprüfung  des  wertes  der  H-slrophen  im  zusammen- 
hange nicht  besser  vornehmen  können,  als,  indem  wir  uns  zunächst 
an  der  obengenannten  allgemein  als   Variante   anerkannten   halb- 

1G* 


244  MEDINER 

Strophe  v,  30,  1.  2  den  typischen  Charakter  dieser  varianten- 
dichtung  noch  einmal  greifbar  vergegenwärtigen,  dann  zu  zeigen 
suchen,  wie  in  vv.  40,  3,  4  und  48  f  dieser  erweiterungsprocess 
eine  vollständige  beslätigung  findet,  und  endlich,  wie  in  der  halb- 
strophe  65  und  ihrer  ergänzung  in  den  papierhandschriften,  die 
immerhin  als  solche  relativ  all  sein  kann,  diese  nachdichtenden 
Wucherungen   ihren  höhepunct  erreichen. 

Mislich  ist  in  der  Valistrophe  in  erster  linie,  dass  man  ohne 
besserung   überhaupt  zu  keiner  erklärung  kommen  kann,  da  der 
sprachliche  ausdruck  verderbt  ist,  und  dass  selbst  bei  der  besten 
emendation,  von   Vdla  in    Vdli,  die  wenigstens  in  der  bessern  der 
prosadarstellungen,  die  von  Lokis  söhn  handeln,  der  Gylfaginning, 
eine  stütze  zu  finden  scheint,    der  ausdruck   'der  wolf  dreht  die 
kriegsbande',  wie  Boer  (aao.  s.  337)  richtig  bemerkt,  immer  etwas 
gezwungenes  behält,  wie  denu  überhaupt  die  visa,  wie  ebendort 
mit  recht  betont  ward,  in  ihrer  gekünstelten  construclion  als  uui- 
cum    selbst    unter   den  jüngsten   Zusätzen    der  Völuspa   dasteht, 
ebenso  zeigt  der    Zusammenhang,     dass    eine   andre   Stellung   der 
Strophe,  etwa  als  eingang  der  Vorgänge  von  Lokis  Fesselung,  oder 
als  voregov  tiqötsqov  im  stil  der  Völuspa  hin  skamma  hinter  der- 
selben  bei    der   schonen    geschlossenheit  der  visa  35  in  R  Hapt 
sd  liggja  und  hvera   lunde   Iwgjarnlike   Loka   öpekkjan.   par  sitr 
Sigyn  peyge  umb  sinom  ver  velglyjop  :  vitop  enn  epa  hvat?    ein- 
fach unmöglich  ist.     eudlich  aber  erweckt  die  Strophe   auch  aus 
gründen    des    mythologischen    zusammenbanges    verdacht,     denn 
wenn  auch  in   den    andeutungen    wahrscheinlich    die    darstellung 
der  Snorra-Edda  oder  der  prosa  zur  Lokasenna  hindurchschimmert 
und    die   hgpt   durch    hapt  in    der  R-strophe  äufserlich    zunächst 
veranlasst  scheinen,  die  möglichkeit,  dass  sie  doch  auf  Vali,  den 
rächer   Baldrs,    geht,    die  Heinzel   (Edda  n  48)  an    erster  stelle 
bringt,  ist  nicht  bestimmt   von  der  band  zu    weisen,    zumal  wir 
ja  das  mythologische  Verhältnis  der  beiden    Vali   keineswegs    klar 
überschauen  und  möglicherweise  Kauffmann  recht   behält,    wenn 
er  den  nur  in  Jüngern   quellen    erwähnten  söhn  Lokis   als  mis- 
verständlich  aus  dem  söhn  Odins  entstanden  ausmerzt  (vgl.  Gollher 
Handbuch  s.  396).     übrigens  würde   auch   in   diesem  falle  v.  35 
ihren  charakler  als  variantenstrophe  behaupten  uud   könnte   erst 
recht  nicht  neben  der   echten  Valistrophe  (R  33,  3.  4.  34,  1.  2) 
bestehn,    sich    auch   in    ihrer    überlieferten    Stellung   vollständig 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLÜSPA  245 

dem  charakter  ih'i  gleich  zu  besprechenden  reinen  plusslrophen 
des  gedichtes  nähern,  auf  jeden  rall  bleibt  der  typische  gruod- 
zu^r  dieser  dichtungsart  der  gleiche  :  'minderwertige  Fassung  Dach 
inhalt  und  form  gegenüber  der  in  unmittelbarer  nähe  slehnden 
echten  in  R,  deren  ausdrucksweise  gleichzeitig  benutzt  wird". 

Pen  gleichen  charakter  zeigen  nun  die  beiden  zudichtungen, 
die  Boer  aao.  s.  3331  und  305  f  behandelt  hat,  von  denen  die 
letztere  (vv.  4SI)  widerum  unmittelbar  neben  der  von  ihr  nach- 
geahmten und  benutzten  v.  53  K  (der  Strophe  von  Thors  kämpf 
mit  der  Midgardsschlange)  steht,  also  sich  v.  30  II,  falls  man 
diese  im  landläufigen  sinne  auf  Lokis  söhn  deutet,  bis  auf  ihren 
jdatz  in  der  Überlieferung  vergleicht,  die  erstere  (v.  40,  3.  4) 
zwar  an  ihrer  jetzigen  stelle  in  den  ausgaben  von  ihrer  urbild- 
strophe  in  H  (v.  51)  entfernt  gerückt  erscheint,  aber,  wie  ihre 
engste  Verbindung  mit  15  40  zeigt  (lival's  mep  ösom,  hvat's  me/t 
glfom,  gnyr  allr  jplonheimr,  d-sero  ä  /ringe)  nach  meiner  festen  Über- 
zeugung durch  dieselbe  handschriftliche  Verwirrung,  die  II  auch 
sonst  beherscht  und  der  unbegreiflicherweise  die  obengenannte 
R-slrophe  in  ihrer  fälschlichen  Umstellung  durch  die  kriliker 
zum  opfer  fiel,  an  ihren  jetzigen  laischeu  platz  geriet,  gerade, 
dass  sie  nur  dort  passend  stehn  kann  (v.  51),  wo  nach  dem  Zer- 
klagen t\r*  himmels  mit  der  tat  des  wolfes  der  Weltuntergang  be- 
ginnt, ist  für  mich  ein  gewichtiger  grund  mit,  warum  ich  glaube, 
dass  auch  in  diesem  einzigen  falle,  wo  nach  dem  allgemeinen 
sich  an  Bugge  anschliefseuden  urleile  eine  R-strophe  ihren 
platz  gewechselt  haben  sollte,  II  die  richtige  reihenfolge  nicht 
darstellt. 

Es  ergibt  sich  denn  auch  in  den  Zusätzen  von  40,  3.  4  und 
48  f  ein  deutlicher  parallelismus,  der  sie  widerum  30,  1.  2  nähert, 
wie  jene  nämlich  den  für  den  mittleren  teil  des  gedichtes  so 
wichtigen  act  von  Lokis  fesselung  oder  den  ebenso  bedeutsamen 
von  Valis  räche,  so  paraphrasieren  diese  beiden  visur  die  beiden 
wichtigsten  und  entscheidendsten  götterkämpfe  der  Ragoarük,  die 
mit  dem  tode  Odins  und  Thors  enden,  der  eine  Zusatz  holt  das 
verschlingen  Odins  durch  Fenrir  nach,  was  in  v.  53  nicht  aus- 
drücklich ausgesprochen  ist,  der  zweite  schildert  in  geuauerm 
detail  das  gebahren  der  Midgardsschlange  bei  ihrer  tat,  was  in 
v.  56  ebenfalls  nur  angedeutet  wurde,  sprachlich  und  stilistisch 
aber  widerholen  sich  dieselben  Ungeschicklichkeiten  und  bedenk- 


246  N1EDNER 

Henkelten,  wie  sie  oben  bei  v.  30  hervorgehoben  wurden,  die 
letzte  zeile  40,  4  öpr  hann  Surtar  sefe  of  gleyper  ist  widerum 
nur  unter  Voraussetzung  dieser  Muchschen  besserung,  die  Gering 
in  seinem  grolsen  glosser  (s.  342)  mit  recht  acceptiert  bat,  ver- 
ständlich, und  der  ausdruck  Surtar  sefe  ist  offenbar  au  v.  50 
angelehnt,  übrigens  ein  weiterer  beweis  dafür,  dass  die  halbstrophe 
einmal  in  deren  nähe  ihren  platz  gehabt  hat.  paraphrasiert  doch 
auch  der,  wie  Boer  mit  recht  hervorhebt,  einen  recht  schiefen 
gedanken  enthaltende  ausdruck  hrd'pask  aller  d  heloegom  das 
tropa  haier  helveg  derselben  Strophe,  nur  dort  im  gedieht  ist 
bei  beginn  des  Weltunterganges  dieser  ausdruck  recht  am  platze, 
und  ßoer  hatte  vollkommen  recht,  wenn  er  ihn,  wie  hier  als 
verfrüht,  so  53  R  als  verspätet  ausscheidet  und  dort  (vgl.  mono 
haier  aller  heimslgp  rypja),  worauf  wir  später  zurückkommen,  als 
kriterium  für  die  uuechtheit  des  visuhelming  3  f  in  dieser 
Strophe  verwertet1,  und  ähnlich  ist  es  bei  visa  48  f  H,  die, 
wie  Boer  (aao.  s.  305)  und  Heinzel  (aao.  s.  75)  zeigten,  teils 
aus  der  echten  siropbe  der  Völuspa,  teils  aus  andern  liedern, 
wie  Hymiskvida  und  Ilyndluljod,  ihre  ausdrücke,  die  besonders  in 
ersterem  liede  viel  besser  am  platze  sind,  entlehnten,  in  den 
Zusammenhang  der  Völuspa  aber  passt,  streng  genommen,  weder 
die  zudichtung  vom  verschlingen  des  Fenriswolfes  noch  die  Situation, 
in  der  uns  die  Midgardsschlange  im  einzelnen  vorgeführt  wird, 
jene  zerstört  plump  die  Veredelung,  die  der  Vüluspadichter  in 
der  darstellung  der  Ragnarökkämpfe  mit  seinen  mythischen  motiven 
vorgenommen  hat  —  er  erzählt  nach  Olriks  feinsinniger  bemerkuug 
(aao.  s.  278 f)  absichtlich  nur,  dass  der  göttervater  durch  den 
wolf  fiel,  wie  er  in  der  gleich  folgenden  Strophe  von  seinem 
gegner,  das  unästhetische  des  landläufigen  mythologischen  beriebtes 
vermeidend,  mitteilt,  dass  er  durch  Vidars  schwert  ins  herz  getroffen 
wurde,  wenn  aber  von  der  Midgardsschlange  erzählt  wird,  dass  sie 
hoch  empor  aus  dem  meere  gähnt,   so  entspricht  das  schwerlich 

1  zu  der  slrophenordnung,  die  Much  (Zs.  37,  417  ff)  vornimmt,  um  die 
v.  40,  3.  4  an  der  in  den  ausgaben  üblichen  stelle  zu  halten,  kann  ich  mich 
nicht  entschliefsen,  obwol  sie  Gering  in  seiner  neubearbeitung  von  Hilde- 
biands  Edda  (s.  160  befolgt  hat.  abgesehen  davon,  dass  an  jener  stelle  der 
ausdruck  hrcepask  aller  ä  lielvegom  noch  weniger  am  platze  wäre,  werden 
in  v.  46  die,  wie  die  parallele  v.  27  zeigt,  untrennbaren  Vorgänge  von  Heim- 
dalls  liornblasen  und  0<tins  ausspräche  mit  Mimir  bei  dieser  anordnung  un- 
passend auseinandergerissen. 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA        247 

dem  bilde,  das  der  Völuspadichter  in  seiner  nurdiscret  andeutenden 
Strophe  von  dem  vorgange  gemacht  hat,  da  ein  solches  gebahreo, 
wie  richtig  bemerkt  worden  ist,  wo]  dem  geköderten  ungelüm, 
aber  nicht  dem  freiwillig  herangeschwommenen  zustand,  beidemal 
isl  also  der  künstlerisch  leinen  auffassung  des  dichters  aufdringlich 
die  übliche  Vorstellung  von  dem  zudichter  entgegengestellt,  und 
dasselbe  Verhältnis  spiegelte  sich  ja  auch,  wie  man  sie  nun  aucli 
deuten  möge,  in  der  unechten  Valistrophe  wider,  auf  jeden  fall 
aber  verraten  alle  drei  besprochenen  visur  engste  verwantschaft 
und  lassen  eine  solche  an  sich  auch  schon  für  die  letzte  H-strophe, 
v.  (iö,  die  von  lleiuzel  so  energisch  verworfen  winde,  vermuten. 
.Nach  Heinzeis  Vermutung  wäre  die  visa  das  werk  eines 
christlich  gesinnten  Uberarbeiters  des  gedichts,  'während  der  um- 
gekehrte weg,  dass  jemand  diese  religiös  so  wichtige  Strophe  wi 
gelassen,  vergessen  oder  ausgemerzt  habe,  fast  —  ich  würde 
getrost  sagen  'ganz'  —  undenkbar'  sei.  schon  diese  allgemeine 
erwägung  ist  für  mich  vollkommen  ausschlaggebend  für  die  alhe- 
tese  von  v.  65.  noch  mehr  die  begründung  der  inisverstiiudnisse 
des  christlichen  interpolators  hinsichtlich  der  gesamten  Situation, 
wie  sie  vv.  64  und  66  voraussetzen,  auf  die  wir  unten  bei  der 
besprechung  dieser  visur  zurückkommen,  so  überzeugend  diese 
motivierung  aber  auch  ist,  sie  gibt  keineswegs  den  einzigen  grund 
für  die  lilgung  der  bisher  immer  für  den  gipfelpunct  des  gedichts 
erklärten  visa  ab.  sie  bestätigt  nur  in  höchst  willkommner  weise, 
was  an  bedenklichkeiten  in  sprachlicher  und  stilistischer  hinsieht, 
ferner  aus  gründen  ihrer  Stellung  in  der  tradition  und  dem  Zu- 
sammenhang der  Überlieferung  auch  sonst,  vor  allem  aber  in 
mythologischer  beziehung  von  den  verschiedensten  Seiten  über 
sie  bemerkt  worden  ist.  in  alledem  reiht  sie  sich,  um  dies  gleich 
vorweg  zu  betonen,  den  bisher  behandelten  drei  varianteuzusätzen 
würdig  an,  selbst  in  dem  punet,  dass  auch  sie  in  unmittelbarster 
nähe  der  zu  paraphrasierenden  visa  steht:  es  ist  nur  ein  gradueller, 
kein  principieller  unterschied,  der  sie  diesen  visur  ferner  zu  rücken 
seheint,  denn  offenbar  umschreibt  sie  —  nur  in  bewust  christ- 
lich gefärbtem  sinne  —  v.  62  bols  mon  alz  balna,  vxon  Baldr 
koma,  die  den  wahren  gipfelpunct  des  gedichtes  darstellte,  so  dass 
also  in  ihr  der  unheilvolle  einlluss,  den  II  durch  ihre  zudichtungs- 
stropben  ausgeübt  bat,  sich  am  nachdrücklichsten  offenbart,  dieser 
parallelismus  wird  aber  leicht  begreiflich,  wenn  wir  an  das  äugen- 


24S  NIEDNER 

scheinlich  (freilich  sicher  nicht  io  einem  so  weiten  umfange, 
wie  dies  Kauffmann  aao.  s.  58  annimmt)  durch  Christus  beein- 
flusste  bild  Baldrs  bei  Snorri  denken,  und  im  hinhlick  darauf 
mag  man  gern  über  die  vorliegende  halbstrophe  —  aber  auch 
nur  über  sie  —  das  urteil  fällen,  das  Björn  Magnusson  Olsen 
aao.  s.  81  ff.  85  f.  88  über  sie  aussprach,  sicher  bemerkt  er  über 
sie  ebenso  mit  recht,  wie  über  die  umstehnden  vv.  64.  66  mit 
unrecht,  dass  sie  nichts  weiter  als  Christus  beim  jüngsten  gericht 
ausmalen,  sie  entspricht  tatsächlich  in  ihren  Wendungen  christ- 
lichen ausdrücken,  wie  denen  des  Stockholmer  homilienbuches  aus 
dem  anfange  des  13  jh.s  mep  gope  almötkom  i  himinsrikis  dyrp, 
und  mit  fug  hebt  Olsen  hervor,  dass  in  der  nichtnennung  des 
namens  des  höchsten  gottes  nur  die  —  allerdings  nach  unsrer 
auffassung  durch  den  interpolator  falschlich  —  der  Seherin  in 
den  mund  gelegte  scheu  sich  ausspreche,  den  namen  Christi  zu 
nennen,  wie  dies  ja  in  den  Worten  der  die  Völuspa  nachahmenden 
Völuspa  hin  skamma  :  pd  kernr  annarr,  enn  mötkare,  pö  porek  eige 
pann  at  nefna  direct  und  ohne  jede  Verschleierung  zu  tage  tritt. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  nun  im  detail  die  erdrückende 
fülle  von  längst  schon  an  zerstreuten  stellen  und  in  verschie- 
denstem Zusammenhang  von  gelehrten  beobachteten  kriterien  für 
die  bedenklichkeit  dieser  halbvisa. 

Zunächst  erwecken  die  beiden  substantivierten  adjectiva,  die 
bei  der  Charakteristik  des  neuen  unbekannten  gottes  verwant 
werdeu,  die  grösten  bedenken,  er  heifst  enn  rike  (der  mächtige), 
es  at  gllo  rwpr  (der  über  alles  herscht).  diese  farblos  umschrei- 
bende adjectivische  bezeichnung  für  die  Charakteristik  eines  gottes 
von  so  weittragender  bedeutung  hat  in  der  guten  alten  eddischen 
dichtung  sicher  keine  aualogie.  wol  aber  kehren  jene  ausdrücke, 
wie  oben  angedeutet,  reichlich  in  der  christlichen  litteratur  wider, 
und  ebenso  der  ganz  singulär  dastehnde  ausdruck  regendömr,  der, 
wie  oben  bemerkt,  den  nur  in  H  überlieferten  ausdruck  d  megen- 
döma  (v.  50,3)  möglicherweise  verschuldet  hat,  vielleicht  aber  auch 
erst  durch  misdeutung  der  dortigen  Situation  die  plötzliche  ein- 
flechtung  des  jüngsten  gerichts  durch  Jesus  in  v.  65  mit  veranlasste, 
daneben  werden  in  der  Strophe  aber  echte  worle  des  gedichtes  nach- 
geahmt, so  gflngr  aus  v.  17,  wo  der  ausdruck  als  bezeichnung  der 
drei  menschenschaffenden  Äsen  verwant  wird,  so  lehnt  sich  auch 
enn  rike  an  enn  dimme  an  (v.  66);  nur  dass  dort  der  ausdruck  ord- 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA  249 

nungsmäfsig  durch  das  substaDtivum  dreke  ergänzt  wird,  endlich 
zeigt  der  ganze  Strophenanfang  komr  enn  rike  bewusle  anlehnuog 
nicht  nur  an  den  anfang  eben  dieser  visa  kemr  enn  (limine  dreke 
fljhyande,  sondern  auch  an  v.  53  pd  komr  Hlinar  harmr  annarr 
fram,  v,  54  komr  enn  mikle  mggr  Sifgopor  und  v.  55  kemr  enn 
untre  mogr  Illöpynjar,  ist  übrigens  schon  aus  diesem  gründe, 
worauf  noch  nirgends  mit  genügendem  nachdruck  hingewiesen  ist, 
für  einen  besonders  prägnanten  stroplfenanfang,  wie  ihn  das  er- 
scheinen des  höchsten  goltes  als  bedeutsamster  schlussact  des 
gedichtes  doch  erfordert,  denkbar  ungeeignet. 

Zu  diesen  sprachlichen  und  stilistischen  harten  und  un- 
gereimtheilen tritt  nun  die  unvollständige  Überlieferung  in  metri- 
scher hinsieht,  wir  haben  es  mit  einer  halbslrophe  zu  tun,  und 
die  ergänzung  der  papierhss.,  die  in  diesem  schlussabschnilte  gern 
und  nicht  unglücklich  lücken  auszufüllen  suchen  (vgl.  auch  v.  Gl) 
semr  hann  dumar  ok  sakar  leggr  :  veskpp  selr,  paus  vesa  skolo, 
zeigt  deutlich  dasselbe  fortwuchern  der  christlichen  zudichtung, 
dem  wir  vielleicht,  wie  bemerkt,  auch  zeile  60,  3  verdanken,  je 
besser  die  ergänzung  der  papierhss.  aber  ist  und  je  weniger  sie 
sich  an  dieser  stelle  von  dem  ganzen  tenor  der  halbvisa  unter- 
scheidet, so  dass  sich  der  sonst  so  behutsame  Müllenboff  sogar 
zu  ihrer  aufnähme  in  den  Völuspatext  entschließen  konnte,  um 
so  mehr  bestätigt  sie  die  müglichkeit  einer  spätem  entstehuugs- 
zeit  dieser  ergänzung  in  II,  wie  der  ihr  so  nahe  verwanten  oben 
besprochenen  parallelslrophen. 

Aber  auch  in  den  überlieferten  Zusammenhang  fügt  sich  die 
visa  in  keiner  weise,  schon  Heinzel  (s.  81)  hob  hervor,  dass 
es  nicht  begreiflich  erscheint,  welche  rolle  die  neuen  gülter 
von  w.  59.  60.  61  —  und  wir  können  hinzufügen  auch  von 
v.  62  —  dem  obersten  richter  und  heirn  gegenüber  spielen 
sollen,  man  muss  doch  wol  annehmen,  dass  die  gülter,  die  sich 
so  eifrig  an  Fimboltys  fornar  rünar  erinnern,  ihren  herscher  in 
ihrer  eignen  mute  finden  werden,  auch  Olrik  hat,  wenn  er  auch 
von  seinem  staudpunet  aus,  da  er  den  ganzen  schluss  des  gedichts 
zwar  zum  teil  für  christlich  gefärbt,  aber  künstlerisch  für  einheit- 
lich hält,  von  einer  athetese  der  v.  65  nichts  wissen  will,  doch  den 
episch  wertlosen  Charakter  desselben  klar  erkannt,  und  es  ligt 
ganz  in  der  richlung  Heinzeis,  wenn  er  (aao.  s.  283)  zusammen- 
fassend über  das  erscheinen  des  höchsten  goltes  urteilt  :  ll  VoJospQ 


250 


NIEDNER 


kommer  han  med  stör  dramatisk  virkning;  men  episk  set  er  han 
ganske  overflodig,  da  den  unge  gudeslaegt  selv  mä  kunue  ordne 
den  fornyede  verlden  og  allerede  bar  gjort  det\ 

Das  allerschwerste  bedenken  ligt  doch  aber  sicher  darin, 
dass  dieser  oberste  gott  und  die  art  seiner  erscheinung  sich 
weder  mit  den  mythisch-geographischen  noch  mit  den  mythisch- 
historischen Vorstellungen  des  nordisch-heidnischen  altertums,  wie 
es  uns  sonst  in  den  Eddaliedern  begegnet,  irgendwie  verträgt, 
dass  der  höchste  gott  von  oben  {ofan)  kommen  soll,  was  auf- 
fallend an  die  genannte  stelle  des  Stockholmer  homilienbuches 
erinnert,  ist  ein  unicum  in  der  ganzen  mythischen  geographie 
des  gedichts,  das  nur  in  dem  vindheim  vipan  der,  wie  wir 
später  sehen  werden,  ebenfalls  bedenklichen,  wenn  auch  nicht 
gleichfalls  notwendig  christlich  gefärbten  v.  63  seine  entsprechung 
hat.  wol  können  der  Idavöllr  (v.  60)  und  die  neue  Valhöll  (v.  62 
flröpts  sigtopter)  ohne  Widerspruch  neben  einander  in  der  apo- 
theose  des  gedichts  bestehn,  da  während  seines  ganzen  Verlaufs 
ebenso  wie  götter  und  menschen,  consequent  auch  götterweit  und 
meuschenwelt,  die  ja  ohnehin  so  viel  beziehung  haben,  nicht 
streng  geschieden  werden,  ist  doch  auch  im  ersten  teil,  in  voll- 
kommen genauer  entsprechung,  die  locale  entfernung  des  Ida- 
feldes, wo  die  gölter  zuerst  auf  der  erde  wohnen,  und  der 
Walhallburg,  die  sie  sich  in  Asgard  errichtet  haben,  nirgends 
angedeutet  (vv.  7.  24) :  auch  hier  fehlt  jede  mythisch-geographische 
differenzierung  von  götter-  und  menschenweit,  dass  aber  über 
dem  neuen  Idavöllr  und  der  neuen  Valhöll  (vv.  60.  64)  noch  eine 
neue  oberweit  da  sein  soll,  hat  nirgends  eine  parallele,  das  ofan 
ist  offenbar  ganz  mechanisch  dem  nepan  in  v.  66  nachgebildet, 
das  aber,  da  uns  Nidhöggs  heim  unter  der  erde  schon  aus  vv.  37. 
39  genugsam  bekannt  ist,  dort  sehr  wolverständlich  erscheint, 
und  was  nun  endlich  die  erscheinung  eines  solchen  höchsten 
unbekannten  gottes  an  sich  anlangt,  so  weifs  sie  bekanntlich 
keine  andre  ältere  eddische  quelle,  nur  in  jüngster  dichlung, 
wie  in  der  von  der  Völuspa  abhängigen  Völuspa  hin  skamma,  ist 
davon  die  rede,  seihst  die  doch  christlichen  einfliissen  nicht  un- 
zugängliche darslellung  Snorris  kennt  wol  Gimle,  aber  nicht  diesen 
Üeög  dyvioTog.  nur  die  Vorstellung  von  der  widerkehr  aller  ehe- 
maligen götter  oder  einer  Jüngern  generalion  derselben  kehrt  auch 
sonst  wider,  wenn  auch  die  biirger  des  neuen  olymps  nicht  immer 


RAGNARÖK  UN  DER  VÖLl  SPA  251 

die  gleichen  sind,  von  einem  bestimmten  oder  mehreren  herschern 
dagegen  ist  zwar  direct  auch  nirgends  die  rede,  wol  aber  deutet 
die  alte  bekannte  rälselfrage,  die  Odin  in  Baldrs  ohr  (lästerte, 
eh  man  ihn  auf  »Ion  holzstofs  hob,  die  Vafbr.  54  und  Hervarar- 
i  c.  II  bekanntlich  doppelt  berichtet  wird,  deutlich  genug, 
wie  schon  oben  hervorgehoben  wurde  und  wie  schon  Müllenhofl 
so  nachdrücklich  betonte,  auf  die  in  v.  6*2  erzählte  widerkebi 
Baldrs  in  der  zukünftigen  rolle  Odins. 

Müssen  wir  somit  sämtliche  Zusätze  in  II  für  spätere  ziem- 
lich gleichartige  willkürliche  erQndungen  hallen  und  stellte  sich 
dabei  ebenfalls  schon  vorübergehend  heraus,  dass  auch  das  letzte 
privileg,  was  II  bisher  noch  über  R  hinsichtlich  der  stropben- 
ordnung  betreffs  v.  49  zu  behaupten  schien,  ebenfalls  sehr  ver- 
dächtig erscheint  —  ein  ergebnis,  das  spater  weitere  bestätigung 
erhalten  wird  — ,  so  verliert  diese  jüngere  handschrift,  soweit 
die  höhere  kritik  dabei  in  frage  kommt,  für  uns  praktisch  jeden 
wert,  nur  auf  dem  boden  der  Überlieferung  in  R  betrachten 
wir  daher  nunmehr,  von  der  letztgenannten  alhetese  von  v.  65 
ausgehend,  die  Ragnartikepisode  (vv.  45 — 66)  in  ihrer  gesamlheit, 
um  einen  klaren  blick  über  ihre  anordnung  und  künstlerische 
composition  zu   gewinnen. 

Unzweifelhaft  ist  nämlich  von  den  ergebnissen  unserer  zu- 
gammenfassenden  betracblung  über  die  Wertlosigkeit  der  hs.  II 
das  wichtigste  und  lorderndste  die  erkennlnis  von  der  unechlheit 
der  v.  65.  denn  es  kann  keinem  zweifei  unterliegen,  dass  ihre 
bisher  immer  im  rahmen  des  gedichts  als  berechtigt  und  sogar 
als  notwendig  behauptete  exislenz,  wie  verschieden  sich  auch  die 
gelehrten  zu  ihrem  Charakter  sonst  stellen  mochten,  das  haupt- 
hindernis  bildete  für  die  einheitlichkeit  der  schönen  schlussparlie 
vom  emportauchen  der  neuen  weit  aus  dun  fluten  (vv.  59 — 66). 
besonders  für  alle  die,  die  in  Müllenhofls  sinne  an  die  erklärung 
lies  gedichts  herantraten,  um  es  als  echt  heidnisches  und  alt- 
germanisches  erzeugnis,  wie  es  sich  dieser  im  Zusammenhang 
seiner  Deutschen  allerlumskunde  dachte,  weiter  zu  analysieren, 
bat  die  glanzende  Verteidigung  dieser  Strophe  durch  ihn  (DA.  v 
331)  und  ihre  ergänzung  durch  IlolTory  (Eddastudien  s.  L40) 
immer  etwas  erschweremies  gehabt,  laisächlich  stört  sie  allein 
die  harmonie  des  welterneuerungsabschnittes.  auch  hier  ist  es 
zum  mindesten  zweifelhaft,  oh  Müllenhoff  seine  zuversichtlichkeit 


252  NIEDNER 

in  der  betonuug  des  heidnischen  Charakters  der  Strophe  noch 
heule  festhalten  würde,  wo  der  junge  isländische  Charakter  der 
Völuspa  hin  skamma  feststeht,  deren  v.  65  nachgebildete  visa 
(Hyndl.  44)  pä  komr  annarr  enn  mötkare  : pö  pore  ek  eige  pann 
at  nefna  unter  der  falschen  Voraussetzung  von  dem  hohen  alter 
dieses  gedichls  eine  hauptslülze  seiner  beweisführung  bildete, 
schwerlich  hätte  er,  auf  den  oben  charakterisierten  Wortlaut  der 
Strophe  allein  gegründet,  bei  der  entscheidenden  Wichtigkeit,  die 
auch  er  der  widerkehr  ßaldrs  für  die  gestaltung  des  neuen  lebens 
beimafs,  einer  Untersuchung  unter  der  Voraussetzung  Baldrs  als 
des  gottes  der  neuen  weit,  für  die  durch  die  wolbegründete  tilgung 
von  v.  65  bahn  ward,  principiellen  widerstand  entgegensetzt, 
wenn  wir  Müllenhoff  so  stark  die  widerkunft  ßaldrs  als  nächst 
dem  erscheinen  des  höchsten  gottes  wichtigstes  ereignis  betonen 
sehen,  auch  bei  der  betrachlung  der  Vafbrudnismal  (DA.  v  245), 
und  anderseits  seine  geistvollen,  aber  nirgends  an  sich  beweisenden 
versuche  beobachten,  eine  Charakteristik  und  psychologische  er- 
klärung  des  neuen  herschers  zu  geben,  die  in  Hofforys  annähme 
(Eddastudieu  s.  140),  dass  in  ihm  der  alte  himmelsgolt  lrmintiu 
widerkehre,  ihren  sinnigsten,  aber  auch  unwahrscheinlichsten 
ausdruck  gefunden  haben,  dann  zeigt  sich  uns  selbst  in  seiner 
tiefdurchdachten  darstelluug  ein  riss.  zwischen  Baldr  und  dem 
obersten  herscher  klafft  eine  unüberbrückbare  lücke. 

Genau  dieselbe  Schwierigkeit  tritt  aber  ein,  wenn  man  v.  65 
im  Zusammenhang  des  gedichtes  für  die  darstellung  des  jüngsten 
gerichts  in  auspruch  nehmen  und  mit  den  umgebenden  vv.  64 
und  66  verknüpfen  will,  hier  kann  ich  mich  auf  Heinzel  be- 
rufen (Edda  s.  82).  mit  recht  bemerkt  dieser,  dass  die  vv.  64 
und  66  in  v.  65  keine  stütze  für  ihre  erklärung  finden  können, 
da  hier  der  gegensatz  nicht  ist,  dass  die  menschen  der  gegen- 
wärtigen unvollkommenen  weit  beim  jüngsten  gericht  nach  ihrem 
verdienst  strafe  oder  lohn  erhalten,  wie  es  die  christliche  lehre 
verlangt,  sondern  dass  alle  bewohner  der  gegenwärtigen  weit 
strafen  zugeführt  werdeu ,  wie  sie  v.  38  in  den  höllenstrafen 
schildert  —  wir  können  hinzufügen,  wie  sie  v.  45  brepr  mono 
berjask,  ok  at  bgnont  verpask,  mono  syslrunyar  sifjom  spilla  auch 
für  alle  zu  gründe  gegangenen  menschen  voraussetzt  —  :  alle 
menschen  der  neuen  weit  aber  sollen  in  ewiger  wonue  leben- 
und  der  schlagendste  beweis,  wie  wenig  sich  v.  65  in  dem  gegen- 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLI  SPA 

wärtig   überlieferten    zusammenhange   mit   w.  64    und  66   unter 
der  Voraussetzung  des  jüngsten  gericbts  zusammenfindet,  zeigt 
Notwendigkeit,   in  die  sich  Boer  aao.  s.  315  »ersetzt  siebt,   eine 
gewaltsame   Umstellung   vorzunehmen,     in    <I<t   tat   eine  seltsame 
reihenfolge   :    die    guten    werden    belohnt,    der    oberste    ricbter 

k 1 1 1    zum    gericht,    die    schuldigen    werden    bestraft!      wenn 

Boer,  um  die  von  ihm  gewünschte  Interpretation  der  stelle  zu 
erreichen,  diese  Umstellung  vorgenommen  hat,  hat  er  auf  eine 
erklärung  oder  molivieruog  ihrer  falschen  Stellung  in  II  ohne 
weiteres  verzichtet,  immerhin  seltsam,  da  er  doch  sonst  die  autorität 
dieser  hs.  nicht  principiell  verwirft  und  bei  der  schon  mehrfach 
erwähnten  v.  R  49.  II  11  dieselbe  nach  Bugges  Vorgang  ohne 
bedenken  acceptiert.  ich  meine  gerade  :  in  einem  so  entschei- 
denden falle,  wo  es  sich  um  die  frage  heimischen  sagengutes  oder 
christlicher  einflösse  handelt,  wäre  sie  unbedingt  notwendig  ge- 
wesen, indes,  ich  glaube,  sie  wäre  ihm  kaum  gelungen,  denn 
gerade  unter  der  Voraussetzung  des  gesamtchristlichen  Charakters 
von  w.  64.  65.  66  war  wol  eine  bewuste  Umstellung  oder  auch 
nur  nachlässige  Verwirrung  in  II,  die  den  christlichen  sinn  so 
töricht  entstellt  hätte,  so  unwahrscheinlich  wie  nur  möglich. 

Alle  die  —  von  welchem  gesichlspunct  auch  immer  —  die 
Schlusspartie  ^\c>  gedichts  in  ihrer  totalität  als  christlich  bezeich- 
neten, haben  diesen  durch  Hein/.el  aufgedeckten  liefgreifenden 
unterschied  zwischen  v.  65  und  ihrer  unmittelbaren  Umgebung 
nicht  gesehen,  von  den  drei  hauptversuchen  nach  dieser  richtung 
-eheidet  der  von  EHMeyer  (Voluspa  s.  218  ff)  für  uns  aus,  da  er 
in  dem  mit  seinem  gesamtstaudpuncte  zusammenhängenden  streben, 
das  ganze  gedieht  als  das  werk  eines  gelehrten  Christen  des  12  jh.s 
darzustellen,  soweit  ich  sehe,  in  der  Forschung  allein  geblieben 
ist  (s.  253  f).  ist  er  doch  selbst  Bugge  gerade  in  dieser  letzten 
partie  des  gedichts  in  seiner  mythischen  Christianisierungssucht 
zu  radikal  vorgegangen,  sehr  vielmehr  zu  denken  geben  natürlich 
dessen  einwände  gegen  den  heidnischen  Charakter  (The  home  of 
the  eddic  poems  s.  xxvinll).  aber  irgendwie  überzeugen  können 
sie  ebenfalls  nicht.  zunächst  sind  die  combinationen  von 
angeblich  christlichen  einflössen  alle  gewonnen  durch  das  medium 
einer  reihe  aus  dem  christlichen  England  entlehnter  fremdwörter, 
die  zum  teil,  wie  lüavöllr  und  Nitiavöllr,  strittig  sind,  zum  teil 
allerdings,    wie   'der   fliegende   drache'   in    v.  60    und   'die    halle 


254  N1EDNER 

Gimle'  der  v.  64,  diesen  einfiuss  verraten  :  aber  wie  kann  daraus 
in    diesen    beiden    letzten    lallen    (s.  xxxivf  und  xxxvif)   gefolgert 
werden,    dass  auch  die   in  den  einem  schon  christlichen  stamme 
angehörenden  Fremdwörtern  liegende  bedeulung,  selbst  wenn  sie 
dort   reiuehristlich    wäre,    nur    als   solche    entlehnt    sein  könnte. 
und  dann  sind  die  Zusammenstellungen    des  offenbar  neuen  Val- 
höllsaales  und  des  alten  heidnischen   Zerstörers  Nidhögg,    dessen 
auch  v.  37  erwähntes  beim  in   dieser  selbst  von  den  christlichen 
beanstandern  der  nachbarvisur  nicht  angefeindeten  Strophe  sicher 
nicht  christlich  gedacht  ist,    mit  dem  neuen  Jerusalem  uud  dem 
drachen  der  apokalypse  doch  würklich  nicht  so,  dass  sie  die  Über- 
zeugung notwendigen  Zusammenhanges  erweckten,    vor  allem  aber 
beweisen  sie  gewis  nichts  für  die  herkunft  dieser  Schlusspartie  als 
christlichen  gesamtbesitzes  aus  England,   da  sowol  Norweger  wie 
Isländer   auf   ihren    vikingerzügen   jenen  wortvorrat  —  das   ent- 
scheidende   beweismaterial    Bugges    —    sich    flüchtig    angeeignet 
haben    konnten    (vgl.    auch    Sijmons   Edda  i    s.  cclxxxvi).      wird 
doch  dasselbe  argument  angeblichen  christlichen  Charakters  dieser 
Schlusspartie  von  dem  dritten  der  hauptgegner  ihres  heidnischen 
Ursprungs    Björn    Magnüsson    Olsen    gerade  —  ebensowenig  an 
sich  überzeugend  —  für  die  isländische  heimat  des  ganzen  gedichts 
angeführt,    im  gruude  genommen  bleiben  von  seinen  ausführungeu 
(Timarit  15,  80 ff)  ja  nur  die  dyggvar  drötter  und  die  ynpe,   die 
sie  in  Gimle  geniefsen  sollen,  als  äufserlich  ausdrücken  in  christ- 
lichen   Zeugnissen    vergleichbar,     aber   es  wird    sich   nun    einmal 
nicht   beweisen    lassen,    dass    dyggr,   das   an  der  einzigen  stelle, 
wo    es    sonst    noch    in    der  Edda    vorkommt    (Beginsmal   v.  20), 
von  der  treuen    folge   des  doch  gewis  nicht  in  seinem  beabsich- 
tigten   werk    christlich    gesinnten  raben    «ebraucht  wird,    absolut 
den   prägnant   christlichen   sinn    'rechtschaffen',    den    ihm    Snorri 
unterlegt,  haben  müsse,    und    dass   die  drottar  dyggvar  dieselben 
wie  die  'guten  menschen'  im  glaubensbekenntnis  des  Stockholmer 
homilienbuches  sein  müssen,    oder  dass  die  ynpe,   die  an  andrer 
stelle  (Havamal  96)  die  jarlswonne,    die    der   höchste   heidnische 
gott    bei    seinem    Billingsmädcben    genoss,    darstellt,    hier    nur 
durchaus  die  wonue  der  rechtschaffenen  seelen  im  paradiese  sollte 
darstellen  können. 

Es  wird  vielmehr  die  alte  ansieht  Müllenhoffs  (DA.  v  30 — 37) 
hier  wol   zu    recht   bestehn    müssen  —  falls   man   nur  die  oben 


RAGNARÖK   l.N   DER   VÖLUSPA 

besprochene  parlie  ober  \.  65  ausscheide!  — ,  dass  echl  heid- 
oische  Vorgänge  in  diesem  neuen  götterheime  geschildert  werden, 
immerhin  hal  auch  er  Dach  meiner  aufrassung  noch  dem  dyggr 
eine  allzu  wenig  heidnisch  gefärbte  nebenbedeutung  beigemessen, 
und  auch  das  oben  genannte  törichte  vi  valtiva  von  Hask  be- 
lassen, indem  er  allzueifrig  «l.is  friedliche  m  dem  Charakter  der 
neuen  weit  urgierte.  ich  habe  mich  in  früheren  arbeiten  schon 
nachdrücklich  nach  jener  riebtun g  ausgesprochen,  und  merk- 
würdigerweise werden  die  typisch  heidnischen  züge  gerade  in  der 
ilcn  christlichen  Charakter  der  Schlusspartie  bezeugen  sollenden 
darstellung  Olsens  ins  rechte  licht  gestellt,  auch  er  erwähnt,  dass 
Schlachtengötter  in  der  neuen  Valhöll  wohnen  und  weisl  auf  den 
ausdrücklich  kriegerischen  namen  Bods,  i\w  nur  in  der  Ragnarök- 
darstellung  dieses  liedes  widerkehrt;  ja  er  gehl  sogar  so  weit,  in 
dem  adler,  der  auf  den  bergen  der  ueuentstandenen  weit  fische 
weidet,  eine  kriegerisch-unchristliche  Vorstellung  zu  erblicken,  er 
lieht  ferner  den  von  der  Snorra-Edda  so  stark  helonten  kriege- 
rischen  Charakter  von  Thors  söhn  Magni  hervor  und  fragt  mit  recht, 
was  denn  Magni  und  .Modi  in  den  Valihiudnismal  eigentlich  mit 
dem  bammer  ihres  vaters  in  der  neuen  friedlichen  well  anlangen 
sollen,  freilich,  um  den  unterschied  zwischen  beiden  gedichtet) 
zu  erweisen,  in  würklichkeil  sind  eben  die  kriegerischen  Odins- 
söhne in  der  Völuspa  und  die  kriegerischen  Thorssühne  in  den 
Vaflhrdunismal  vollkommene  parallelen,  und  der  Völuspadichter 
hat  sich  die  neue  bürg  Baldrs  nicht  anders  gedacht  wie  die  alle 
Odins  und  die  mannen  in  Gimle  eben  als  einherjar,  die  in  wonne 
leben,  wie  die  krieger  in  Ueowulfs  Ilrodgarhalle,  und  gewis  vom 
Waffenhandwerk  nicht  zu  trennen  sind,  soll  man  einem  harten 
schlecht,  wie  den  mannen)  der  Egils-  und  Njalssaga,  denen 
ßoer  (aao.  s.  358)  mit  recht  seinen  ersten  dichter  an  die  seite 
stellt,  nur  dass  mau  diese  Vorbilder  getrost  als  cullurelle  Voraus- 
setzung für  die  ganze  Völuspadichtung  in  anspruch  nehmen  kann, 
jedes  gefühl  für  weichere  Vorstellungen  absprechen?  sollte  auch 
bei  ihnen,  gerade  als  coulrast,  vorübergehnde  friedenssehnsucht, 
wenn  auch  gleich  wider  von  neuer  tatkraft  begraben,  nicht  zu 
denken  sein?  wol  kann  ein  bedeutender  dichter  dies  gefühl 
einmal  in  den  gedanken  des  künftigen  heidnischen  paradieses 
taghell  leuchtend  projiciert  haben,  aber  eine  schar  waffenloser 
heiliger   haben    sich   seine   landsleule  sicher  nicht  dabei  gedacht. 


256  NIEDRER 

alle  schuld,  alle  verderblichen  würkungen  des  kriegshandwerks 
wurden  weggedacht;  alle  wonneu,  alle  den  freien  mann  im  kriegs- 
spiel  ergötzende  beseligung  blieb,  die  form  des  alten  lebens  blieb 
in  der  phantasie  ßls  selbstverständliche  Voraussetzung  :  aber  die 
in  den  einherjarkämpfen  längst  vorbereitete  Vorstellung  eines  hei- 
teren, glücklichen  spiels  war  das  neue,  was  nun  ewig  sein  sollte, 
bei  dem  kurzen  prägnanten  stil  der  Völuspa  kommt  dies  daher 
allein  in  v.  64  zum  ausdruck  :  in  der  tat  keine  abschwächung 
der  in  Vafprudnismal  41  geschilderten  Vorgänge,  wie  Wilken  (Zs. 
f.  d.  ph.  33,328)  meint,  sondern  die  denkbarste  Steigerung,  gewis 
ist  in  all  diesem  kein  Widerspruch  in  der  dichterischen  phan- 
tasie. und  ein  reiner  logiker  ist  der  Vüluspadichter  eben  seiner 
ganzen  pythischen  Veranlagung  nach  ebensowenig  gewesen,  wie  die 
Vulva,  der  er  seine  tiefsinnigen  anschauungen  in  den  mund  legt. 

Ich  kann  demnach  auch  Björn  Magnüsson  Olsen  in  seiner 
polemik  gegen  FJönsson  (Literaturhislorie  s.  131  f)  insofern  nur 
völlig  beistimmen,  wenn  er  sich  gegen  dessen  auffassung  wendet, 
dass  die  heiden  sich  eine  ganz  unkriegerische  weit  consequent 
im  jenseits  aus  ihren  anschauungsbedingungen  heraus  hätten 
denken  müssen!  ja,  wenn  sie  abstracte  logiker  gewesen  wären, 
aber  unbewust  empfunden  haben  diese  überkriegerischen 
männer  als  contrast  eine  solche  weit  der  ruhe  gewis  tausendmal, 
und  so  konnte  ein  derartig  kriegerisch-unkriegerisches  jenseits  denn 
in  ihrer  phantasie  sehr  wol  die  Voraussetzungen  abgeben  für  ein 
bild,  dem  danu  ihr  gröster  dichter  in  der  Gimlestrophe  plastische 
gestalt  verlieh,  überhaupt  scheint  es  mir  doch  eine  verkennung 
des  künstlerischen  Charakters  des  gedichts,  wenn  FJönsson  es  als 
eine  bewuste  tendenzdichtung  hinstellt;  dass  die  Völuspa  dem 
Unglauben  entgegentreten  sollte,  kann  ich  ebensowenig  mir  vor- 
stellen, wie  dass  die  Lokasenna  eine  pädagogische  waruung  vor 
demselben  enthielte  (aao.  s.  135.  185). 

Ebensowenig  wie  der  tiefgreifende  unterschied  in  religions- 
philosophischer hinsieht  ist  aber  das  misverhältnis  zwischen  der 
v.  65  und  anderseits  den  vv.  64.  66  in  bezug  auf  die  technik  des 
aufbaues  genügend  gewürdigt,  die  dramatisch  abschliefsende  wür- 
kung  nämlich,  die  v.  66  beherscht  und  sie  geradezu  notwendig 
im  gedieht  macht,  wurde  durch  die  unechte  visa  vom  erscheinen 
des  höchsten  gottes,  die,  wie  ich  oben  hervorhob,  selbst  einen 
dramatischen  höhepunet  darstellte,   abgeschwächt   und  unpassend 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLÜSPA 

vorweggenommen  —  ein  grund  mit  für  mich,  seinerzeit,  unter 
der  Voraussetzung  der  ursprünglichkeil  von  v.  (>."..  die  würksame 
ausgangsstrophe  dem  gedicble  unberechtigter  weise  abzusprechen 
(Zs.  36,  282CT.  41,35). 

Einen  weitern  beweis  für  den  anders  zu  beurteilenden  Cha- 
rakter von  vv.  64.  00  und  v.  r>">  bildet  der  von  Wilken  (Zs.  f.  d.  ph. 
30,  45S)  mit  unrecht  geleugnete  parallelismus  von  vv.  iii — 66  mit 
37 — 39  des  zweiten  leiles  des  gedichts,  der  nach  Müllenhofl  dir 
gegenwarl  schildert,  dass  der  der  sonne  ferne  saal  in  Naströnd 
und  der  mit  gold  gedeckte  saal  auf  Gimle,  dass  ferner  die  durch 
die  eiskalten  ströme  watenden  Verbrecher  und  die  treuen  scharen, 
die   in   Gimle    hausen,     bewusle    ^re»ens.:il/.e    bilden,    darin    treffen 

uer  wie  HolTory  (aao.  s.  133)  und  Boer  (aao.  s.  314),  die 
doch  ganz  andre  beweisführungen  verfolgen,  zusammen,  auch 
dass  der  draehe  Nidhögg  in  v.  39  seine  entsprechung  hat  und 
dass  hier  ebenfalls  ein  hewuster  parallelismus  vorliegen  muss, 
ward  schon  hervorgehoben  und  ward  längst  heohachtet.  es  ist 
indes  völlig  unstatthaft,  aus  diesem  »runde  nur  vv.  3S  1  mit 
w.  64.  66  in  eine  engere  gruppe  zu  rücken,  die,  ohwol  sie  doch 
als  charakteristische  scene  die  vom  slandpunct  des  Germauen 
so  notwendige  wasserhölle  enthalten  (Müllenhoff  DA.  v  120), 
durch  den  christlichen  Charakter  auch  wider  den  besprochenen 
beargwöhnten  Strophen  dir  Schlusspartie  entsprechen  sollen,  denn 
der  parallelismus  von  v.  G4  wie  v.  66  ist  notwendig  auch  auf  die 
von  Boer  streng  von  v.  38  f  geschiedene  v.  37  auszudehnen,  und 
zwar  nicht  hlofs  in  dem  contrast  der  leichentäligkeit  ISidhöggs. 
der  nicht  gegensätzliche  parallelismus  von  v.  64  und  v.  37  ist  nicht 
zu  verkennen,  da  der  goldne  saal  von  Sindris  geschlecht  mit 
dem  goldgedeckten  saal  auf  Gimle  correspoudiert,  wie  der 
'biersaal  des  riesen'  offenhar  auf  ähnliche  Ireuden  deutet,  wie  sie 
in  der  idealisierten  weit  die  hewohuer  der  neuen  Walhall  erwarten 
werden,  fest  und  unauflöslich  schliefst  endlich  auch  beide 
Strophengruppen  in  ihrer  gegenseitigen  totalität  die  gleichuug 
Niüavellir  —  Nifiafjoll  zusammen. 

Damit  ist  nun  aber  auch  eine  feste  brücke  geschlagen  von 
den  endvisur  64  und  66  zu  den  eingangsvisur  (vv.  59 ff)  der 
schönen  schlusspartie,  da  diese  gauz  in  derselben  weise  auf  die 
eingangspartie  des  ganzen  gedichtes  (311)  zurückgreifen  und  auch 
hier    offenbar    lauter    bewusle    gegensätze  sich  finden,     hier  wir 

Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  17 


258 


MEDNER 


dort  treffen  die  Äsen  auf  dem  Idafelde  zusammen,  liier  wie  dort 
treiben  sie  das  fröhliche  bretspiel,  hier  wie  dort  gibt  es  ein 
goldnes  Zeitalter,  dieselben  ausdrücke  umschreiben  beidemal  die 
alte  wie  die  neue  olympische  Seligkeit/  und  der  parallelismus 
würde  noch  weiter  gehn,  wenn  wir  in  der  unvollständigen  v.  61 
statt  des  mit  Jöusson  in  seiner  ausgäbe  sicher  zu  streichenden 
elenden  lückenbüfsers  pars  i  drdaga  dltar  hofpo  den  ver- 
lorenen visuhelming  halten,  der  offenbar  das  goldne  Zeitalter 
weiter  ausmalte,  denn  der  schon  im  rhyibmus  wuchtige  nach- 
haltige ausdruck  mon  Baldr  koma  scheint  entschieden  mehr 
vorauszusetzen  als  die  andeutende  allerdings  sehr  charakteristische 
noiiz,  'dass  die  ä'cker  fortan  unbestellt  frucht  tragen  sollen', 
auch  die  scheinbare  abweichung  im  eingang  von  v.  59,  wo  er- 
zählt wird,  dass  die  erde  von  selbst  wider  aus  den  fluten  empor- 
taucht, während  sie  im  eingang  der  Völuspa  (v.  4)  von  Burs 
söhnen  aus  den  fluten  emporgehoben  wird,  ist  nicht  imstande, 
diesen  parallelismus  zu  zerstören,  wie  Olrik  (aao.  s.  279) 
richtig  bemerkt,  ist  das  naturphänomen  nur  so  zu  sagen  an 
zweiter  stelle  nackt  widergegeben,  während  es  an  erster  in  mytho- 
logischer umkleidung  auftrilt.  genau  derselbe  Vorgang  widerholt 
sich  ja  v.  57  in  der  mit  v.  59  correspondierenden  darstellung 
vom  untergange  der  weit,  wo  ebenfalls  nur  gesagt  wird,  dass  die 
sonne  zu  dunkeln  beginnt  und  die  hellen  Sterne  vom  himmel 
schwinden,  während  in  der  proleptischen,  dichterisch  so  würksamen 
v.  41  derselbe  nalurvorgang  {svgrt  verpa  sölskin)  unter  dem  bilde 
des  die  sonne  verschlingenden  Ungetüms  in  mythologisch  aus- 
führlicher Umschreibung  dargestellt  wird  (aao.  s.  272). 

Es  gehört  schon  eine  ziemliche  Voreingenommenheit  da- 
zu, wenn  Boer,  dem  bei  seiner  hypothese  von  einem  doppelten 
dichter  der  Völuspa  nach  seinem  eignen  geständnis  gerade  in  dieser 
farbenprächtigen  Schlusspartie  des  liedes  nicht  wol  wird  (s.  33S) 
bei  der  nicht  wegzuleugnenden  ähnlichkeit  der  Strophen  64.  66 
mit  w.  59 ff  in  der  absieht,  in  bewusten  gegensatz  zu  den  ab- 
schnitten des  liedes  vor  der  katastrophe  zu  treten,  sich  mit  dem 
auswege  hilft,  der  jüngere  dichter  (w.  62  ff)  habe  hier  eine  figur 
des  älteren  (w.  59  ff)  nachgeahmt,  für  jeden  unbefangenen  wird 
die  auffassung  die  nähere  sein,  dass  der  ganze  abschnitt  von 
w.  59 — 66  —  mit  ausnähme  natürlich  von  v.  65  und  auch  von 
v.  63,  auf  die  wir  gleich  zurückkommen  —  das  werk  desselben 


RAGNARÖK  IN  DER   VÖLUSPA 

dichlers  und  aus  einem  guss  isl  und  ebenso  einheitlich  auf  die 
vor  dem  Ragnarökabschnilt  liegenden  teile  des  gedieh tes,  den 
Müllenhoffschen  vcrgangenheiis-  und  gegen  war  tsabschniit,  zurück- 
!i.  denn  auch  v.  62  \> « ■  i s t  um  dem  kurzen  prägnanten  aus- 
druck  »ton  lUildv  koma  deutlich  auf  die  als  bekannt  voraus- 
gesetzte breil  und  liebevoll  ausgemalte  miltelpartie  des  liedes 
(vv.  31  —  35),  die  die  ganze  Baldrgeschiclite  umfasst,  —  insbesondre! 
wenu  die  von  uns  später  versuchte  ergänzung  ^ry  unvollständigen 
v.  36  das  richtige  triffl  — ,  als  die  Beele  und  den  Lebensnerv  des 
ganzen  liedes  zurück,  wenn  es  bei  diesem  wichtigsten  ereignis 
vor  dem  Weltuntergang  heilst  'Frigg  beweint  das  weh  Valhölls', 
und  wenn  hier  bei  dem  wichtigsten  ereignis  nach  der  well- 
erneuerung  Baldr  al>  einer  der  'Valtivar'  ausdrücklich  auf- 
gerührt wird,  so  isl  unschwer  zu  erkennen,  dass  auch  dii 
Wendungen  in  fester  und  bewusler  sprachlicher  correspondenz  stehn. 

Ebenso  verlang!  aber  Boer  meiner  auffassuog  nach  viel  be- 
dingungslose oachgiebigkeit,  wenn  mau  ihm  unter  der  Voraussetzung 
seiner  eben  genannten  hypolhese  in  der  annähme  folgen  soll 
dass  sein  sonst  streng  epischer  und  jede  lyrische  anwandlung 
verschmähender  erster  dichter  hier  plötzlich  am  schluss  in  v.  Gl 
empfindsam  weich  und  idyllisch  geworden  sein  soll  (aao.  s.  3441;, 
und  man  fragt  unwillkürlich,  wenn  der  schluss  dieses  älteren 
liedes  hinter  v.  61  unterdrückt  sein  sollte,  in  welcher  Stilart 
dieser  nun  eigentlich  gelautet  haben  möchte?  empfindet  da 
nicht  Olrik,  der  die  souveräne  meisterschaft  des  dichlers  seinem 
Stoff  gegenüber  widerholt  so  treffend  darstellt,  viel  richtiger,  wenn 
er  die  Schaffensfreude,  welche  die  ganze  schlusspartie  durch- 
zieht, in  den  schönen  worten  charakterisiert  (s.  280):  'Her 
hvor  de  andre  kilder  forslumme,  pä  tserskelsen  til  det  nye 
verldensliv,  synes  Voluspädigteren  fortrolig  med  all;  bans  ilemle 
stil  ombyltes  med  rolig  udmaling;  her  elsker  haus  fantasi  at 
dvaele'.  sicher  ligt  grade  die  Stilverschiedenheit  hier  am  seh! 
in  der  sache  seihst,  und  bei  aller  einheitlichkeil.  des  mythologischen 
Zusammenhangs  erfordert  diese  gradezu  eine  mannigfach  abgetonte 
stilistische  darstell ung.  und  wie  hatte  der  dichter  kunstmittel, 
über  die  er  nach  dieser  seite  so  überreich  gebietet,  nicht  ver- 
schwenderisch gebrauchen  sollen! 

Ein  solches  und  zwar  besonders  virtuoses  mittel  ist  meiner 
Überzeugung  nach  auch  das  häufige  fulurische  mon,  das  Boer  (s.341) 

17* 


260 


iMEDiNER 


hauptsächlich  als  beweisrailtel  für  die  partieen  des  jüngeren  dichlers 
verwertet,  mir  scheint,  gerade  in  seiner  verschiedenartigen  Ver- 
wertung zeigt  sich  eine  besonders  weise  Ökonomie  der  dichtung. 
es  tritt  im  gedieht  zum  ersten  male  auf,  wo  tatsächlich  zum 
erstenmal  von  der  Zukunft  berichtet  wird  (v.  45  brepr  mono 
berjask),  und  bildet  für  mich  mit  eine  der  festesten  stutzen  für 
die  allein  berechtigte  dreileilung  des  gedichls,  die  Müllenhoff  so 
glänzend  begründet  hat.  und  wenn  es  der  dichter  hier  zum 
ersten  mal  ausgiebiger  bei  dem  erscheinen  ßaldrs  verwendet,  so 
hat  dies  seinen  sehr  guten  und  wolerwogenen  grund.  denn  das  er- 
scheinen des  höchsten  gottes  Baldr,  des  Odin  der  neuen  weit, 
der  sich  gleich  darauf  mit  seiner  saldrött,  der  elite  der  neuen 
gotter-  und  menscheuwelt,  wie  Valhölls  bewohner  in  der  alten, 
einrichtet,  stellt  allerdings  eine  Zukunft  in  der  Zukunft  dar. 
sehr  fein  eingeleitet  wird  dieser  Übergang  durch  das  prägnante 
mono  epter  (v.  61),  das  aus  der  Zukunft,  die  mit  v.  45  begann, 
und  deren  letztes  bild  die  nach  der  Zerstörung  der  weit  wider- 
kehrenden und  wol  noch  halb  traumhaft  von  der  Vergangenheit 
redenden  götter  (v.  60)  waren,  zu  der  zukunft  in  der  zukunft 
hinüberführt,  in  der  sie  bereits  wider  zu  in  alter  olym- 
pischer ruhe  dahinlebenden  göttern  (v.  61)  geworden  sind,  ich 
werde  auf  die  ungeheure  differeuzierungsfähigkeit  des  Yöluspa- 
dichters  in  der  Zeitendarstellung  noch  in  anderm  zusammenhange 
zurückzukommen  gelegenheit  haben  :  für  die  hypothese  eines 
älteren  und  jüngeren  dichters  scheint  sie  mir  einen  sehr  geringen 
stützpunet  abzugeben,  da  gerade  die  angeblichen  disharmonieen 
der  schlusspartie  bewundernswerte,  ja  die  bewundernswertesten 
künstlerischen  leistungen  im  ganzen  gedieht  überhaupt  darstellen. 
Ist  es  doch  auch  kaum  möglich  einen  riss  oder  eine  naht, 
wie  Boer  sich  auszudrücken  pflegt,  festzustellen,  wo  diese  doppelte 
dichtertätigkeit  oder  auch  zwiefache  recension,  wie  man  es  nun 
am  bezeichnendsten  nennen  mag,  sich  deutlich  verriete,  der  beste 
beweis  ist,  dass  eine  solche,  wo  sie  aufzudecken  versucht  wurde, 
bald  vor,  bald  hinter  die  Baldrstrophe  gerückt  ward,  ich  selbst 
habe  (Zs.  41,  39  f)  bei  meiner  damaligen  annähme  einer  doppelten 
recension,  die,  wie  schon  bemerkt,  die  irrtümliche  annähme  des 
heidnischen  Charakters  von  v.  65  zur  Voraussetzung  halte,  die 
Baldrstrophe  62,  1 — 4  noch  zur  ersten  fassung  gezogeu,  in  dem 
instinktiv  richtigeu  gefühl,    dass  Baldrs  herschaft  einmal  ein  be- 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLI  SPA  261 

sondrer  liedabschluss  gewesen  sein  müsse  —  was  nunmehr,  \\<> 
die  interpolatioa  vom  höchsten  unbekannten  gölte  beseitigt  ist, 
durch  das  gedieht  selbst  erhärtet  ward.  Boer  hat  den  einschnitt 
vor  der  Baldrstrophe  versucht,  andere  endlich,  besonders  die 
Vertreter  der  apokalyptischen  oder  sibyllinischen  bypolhesen, 
haben,  wenn  sie  die  jüngere  zudichtung  nicht  auf  den  ganzen 
abschnitt  vv.  59 — 66  ausdehnten,  auch  wol  erst  von  v.  64  ai> 
ihren  beginn  datiert,  ein  einheitlicher  trennungspunet,  der 
kritisch  überzeugend  wäre,  ist  aber  nie  nachgewiesen  worden, 
weil  er  eben  nicht  existiert,  v.  62  schliefst  sich,  mag  immerhin 
einiges  aus  der  Schilderung  des  neuen  goldnen  Zeitalters  dort  aus- 
gefallen sein,  dem  sinne  nach  doch  vortrefflich  an  das  folgende  an, 
und  mein  früheres  bedenken,  dass  ein  mis Verhältnis  obwalte  zwischen 
der  angäbe,  die  Baldr  erst  schlechthin  kommen  lässt  und  dann 
ihn  nehen  oder  gar  nach  IIOiI  erwähnt,  vermag  ich  nicht  mehr 
aufrecht  zu  erhalten,  dass  Baldr  zunächst  als  herscher  allein 
tannt  wird  und  dann  zusammen  mit  dem  bruder,  mit  dem  er, 
wie  alle  andern  gülter  bekanntlich  in  den  Ragnaröküberlieferungen, 
paarweise  widerkehrt  —  und  mit  wem  als  diesem  sollte  er  sonst 
paarweise  widerkehren  —  dann  ligl  gewis  nichts  auffallendes. 
würde  man  denn,  wenn  etwa  die  drei  allen,  mythologisch  so  oft 
zusammengestellten  gotter  Odin,  Thor.  Frey  in  irias  wider- 
kehrten, und  dabei  Odins  berschaft  in  ahnlicher  weise  vorher 
angekündigt  würde,  darin  etwas  absonderliches  erblicken 7  ich 
kann  daher  weder  wie  in  meiner  genannten  frühem  arbeit  jelzt 
noch  mit  der  gangbaren  Vorstellung  ein  ärgernis  daran  nehmen, 
dass  der  loter  Baldrs  mit  diesem  in  der  neuen  weit  in  eintracht 
widerkehrt,  noch  auch  mit  Boer  gerade  darin  eine  so  tiefpoetische  auf- 
fassung  des  gedichts  linden,  dass  nach  ihm  der  schuldig-unschuldige 
Hüd  mit  dem  unschuldigen  Baldr  dieselbe  herscherehre  geniefseu 
soll  —  beidemal  ist  ein  reflectierender  accent  auf  das  Verhältnis 
der  beiden  gölter  gelegt,  der  dem  Völuspadichtcr  sicher  fremd 
war  :  wie  sonst  die  beiden  radier  Vidar-Vali,  wie  die  beideu 
Thorssohne  Magni  und  Modi,  so  gehören  naturgemäfs  auch  die 
beiden  Odinssöhne  in  der  neuen  weit  zusammen,  bildet  doch 
die  bemerkung,  dass  Baldr  mit  Viid  Hropts  siegreiche  gehöfte 
bewohnt,  zugleich  die  beste  und  unauffälligste  Überleitung  zu 
seiner  'saldröll',  die  dann  in  v.  64  des  genaueren  geschildert  wird. 
An  die  echlheit  des  visuhelmings  btia  Bgpr  ok  Baldr  Hröpts 


262 


MED.NEJt 


sigiopler,  vel  valtivar  :  vitop  enn  epa  Jwatl  ist  also  nicht  zu 
tasten,  und  wenn  Boer  ihn  aus  der  Strophe  ausscheidet  und 
v.  63,  3-  4  ok  burer  byggva  bre'ßra  tveggja  vindheim  vipan;  vilop 
enn  epa  hoat?  als  augebliche  Variante  au  ihre  stelle  setzt,  so  dass 
die  worte  bedeuten  'die  sühne  der  beiden  hrilder,  dh.  Hüds  und 
Baldrs'  sollten  den  himmel  bevölkern,  so  hegeht  er  einen 
doppelten  schweren  irrtum.  zunächst  sind  es  die  auch  nach 
seiner  aulTassung  durchaus  älteren  Zeilen,  die  er  zugunsten  jener 
angeblich  jüngeren  Variante  aus  dem  Völuspatext  ausscheidet, 
mit  der  seilsamen  motivierung,  dass  die  ältere  Variante 
nachträglich  aus  einer  andern  darstellung  der  Völuspa  wider  auf- 
genommen sei.  eine  sehr  unwahrscheinliche  für  mich  den  ein- 
diuck  der  höchsten  künstelei  machende  annähme,  die  dadurch 
kaum  glaubhafter  wird,  dass  er  sich  für  sie  auf  einen  angeblich 
zweiten  fall  dieser  art  in  der  mitte  des  gedichtes  bei  der  dar- 
stellung der  Odin-Yggdrasil-Mimir-episode  (s.  294 ff.  36Sf.),  auf  die 
wir  später  zurückkommen,  berufen  zu  können  meint,  auf  derartige 
unwahrscheinliche  hypothesen  hin  eine  gute  alte  halbstrophe  im 
überliefertem  zusammenhange  zu  beseitigen,  erscheint  mir  aber 
eine  arge  gewaltsamkeit.  sodann  aber  setzt  sich  Boer  durch 
diese  erklärung  mit  der  noch  immer  besten  erläulerung  unsres 
visuhelmings  in  Widerspruch,  die  die  Grundtvigsche  auffassuug 
des  Tveggja  als  genetiv  des  eigennamens  Tveggi-Odin  zur  Vor- 
aussetzung hat,  in  der  Müllenhoff  mit  recht  (DA  v  156)  eine 
erlösende  tat  sah.  ihr  gegenüber  erscheint  mir  die  deutuug 
von  byggva  burer  brepra  tveggja  in  dem  sinne,  dass  die  söhne 
der  beiden  hrilder  (dh.  Baldrs  und  Höds)  nunmehr  den  himmel 
•bevölkern,  gewis  ebenso  künstlich,  wie  Olriks  annähme  (aao. 
s.  264),  die  ebenfalls  tveggja  als  genetiv  pluralis  des  Zahlwortes 
voraussetzt,  die  beiden  brüder  mit  Hönir  zusammenbringt  und 
demnach  an  söhne  Lodurs  und  Odins,  welch  letzterer  dann  Vidar 
sein  soll,  denkt  —  was  schon  deswegen  unwahrscheinlich  ist,  weil 
Vidar  bekanntlich  sonst  in  Hagnarökmythen  mit  Vali  zusammen 
widerkehrt. 

Immerhin  hat  die  erklärung  Olriks  doch  der  engen  Zu- 
sammengehörigkeit der  beiden  helmingar  der  v.  63  rechnuug 
gelragen,  wenn  er  auch  die  echlheit  der  einzigen  langzeile  der 
ersten,  defecten  halbstrophe  pd  knä  Honer  hlautvip  kjösa  dabei 
voraussetzt,     dass    diese    aber    der    ganzen    anläge    und  idee  des 


RAGNARÖK  IN  ULK  VÖLÜSPA 

1  jedes  oach  hier  niemals  ursprünglich  gewesen  seiu  kann,  darin 
stimm  ich  Boer  durchaus  bei  :  nur  mein  ich,  dass  die  be- 
hauptete unechtheil  auf  die  ganze  visa  auszudehnen  ist.  beide 
hallten  sind  augenscheinlich  ergänzungen  eines  interpolalurs,  und 
zwar  glaub  ich,  ist  es  beidemal,  auch  unabhängig  von  der  fraj 
<>li  sie  ursprünglich  seihst  zusammenhängen,  oichl  schwer  zu 
verstehn,  nach  welchem  musler  dieser  die  beiden  gölierpaare 
Iner  einfügen  zu  müssen  glaubte,  das  vorbild  war  für  ihn,  der 
offenbar  durch  die  erwähn ung  von  Baldr  und  Höd  (v.  62)  auf 
den  irrtümlichen  gedanken  gebracht  wurde,  dass  hier  eine  kata- 
logisierung  von  götlern  beabsichtigt  sei,  die  erwähnung  von 
Burs  Bühnen  (v.  1).  was  lag  für  ihn  näher,  als  nach  dein  aus- 
scheiden Odins  durch  den  Weltuntergang  an  dieser  stelle  die 
reste  der  beiden  triade'n  Odin-Hönir-Lodur  und  Odin-Vili-Ve, 
die  beide  schon  im  gedichte  vorher  angedeutet  waren,  bei  der 
widerkebr  der  gölierpaare  in  erinnerung  zu  bringen,  es  kann 
dabei  an  sich  ganz  dahingestellt  bleiben,  ob  er  etwa  die  ebenfalls  aus 
ähnlichem  gründe  sicher  interpolierten,  wenn  auch  gewis  nicht 
jungen  w.  171' von  der menschenschüpfung  schon  vor  äugen  hatte: 
in  diesem  falle  würde  es  doppelt  begreiflich  sein,  dass  er  die 
gültertrias  in  ihrer  altern  und  Jüngern  form,  die  in  zwiefacher 
Bchüpfertätigkeit  bereits  eine  so  grundlegende  rolle  in  der  alten 
weit  gespielt  hatte,  nun  auch  bei  der  constituierung  der  neuen 
Würdig  vertreten  sein  lassen  wollte  indes  v,  1,  also  der  echte 
teil  des  gedichts,  genügte  doch  schon  völlig  für  diese  seine  ab- 
sieht ,  und  nichts  hindert  uns  anzunehmen,  dass  in  v.  63  eben- 
falls wie  in  v.  17  reste  eines  alten  kosmologisch-eschatolngischeu 
gedichtes  in  den  gang  des  alten  liedes  aufgenommen  wurden. 
auf  keinen  fall  gehören  die  gölterpaare  hier  in  die  neue  weh 
hinein,  wenigstens  nicht  mit  namen.  denn  in  dem  punet  hat 
Boer  natürlich  recht,  dass  eine  aufzäblung  von  dem  dichter,  der 
w.  59  ff  die  widerkehr  der  götter  im  allgemeinen  schilderte, 
hier  unmöglich  beabsichtigt  sein  konnte,  erst  zu  erzählen,  dass 
die  götter  zurückkommen,  dann  ihr  treiben  zu  schildern,  darauf, 
dass  Baldr  zurückkehre  zur  herschaft,  und  dann,  dass  eine  be- 
stimmte reihe  gölter  widerkomme,  ist  ein  unding,  und  eine 
solche  Stümperei  hat  mau  kein  recht  dem  Völuspadichter  zu- 
zutrauen, es  bleibe  dabei  dahingestellt,  inwieweit  solche  zusätze, 
besonders    die  hindeutung  auf  Vili  und  Ve,    die  ja  aufsei  lieh  an 


264  MEDNER 

die  christliche  trinilät  erinnern,  durch  misverständliche  aulfassung 
mit  der  ausgangspunct  geworden  sind  für  derartige  christliche 
Wucherungen,  wie  sie  in  II  65  und  der  Fortsetzung  der  papierhss. 
vorliegen,  der  ausdruck  vindheim  vißan  gibt  nach  dieser  richtung 
zu  denken. 

Es  kommt  übrigens  hinzu,  dass  auch  die  auswahl  der 
gölter,  die  v.  63  widerkehreu  lässt,  trotzdem  diese  im  gedieht 
genannt  waren,  wenn  schon  einmal  eine  katalogisierung  beab- 
sichtigt war,  sicher  vom  Völuspadichter  ganz  anders  eingerichtet 
worden  wäre,  der  für  die  frage  der  composition  so  fein  ver- 
anlagte halte  sicher  Thors  sühnen  Modi  und  Magni  nach  dem 
eben  geschilderten  Schicksal  des  vaters  eher  einen  platz  angewiesen, 
als  dem  unglücklichen  Hönir,  der  für  die  echten  teile  des  ge- 
dichts  gar  keine  rolle  spielt,  wenn  auch  seine  widerkehr  im 
Ragnarökmylhus  an  sich  durch  eine  merkwürdige  parallele  ge- 
stützt sein  mag  (Olrik  aao.  s.  281).  geradezu  gefordert  muste 
dann  aber  werden  das  neuerscheinen  Valis  und  Vidars.  beide 
treten  an  entscheidenden  wendepuneten  des  gedichts  (vv.  33  u.  55) 
in  visur,  die  gewis  mit  unrecht  von  Müllenhoff  getilgt  wurden, 
als  rächer  der  höchsten  götter  Baldr  und  Odin  auf,  und  wenn 
überhaupt  andre  Äsen,  so  hatten  sie  das  recht  neben  Baldr  und 
Hod  zu  erscheinen,  aber  der  dichter  überliefs  eben  das  bild 
des  neuen  olymps  sich  auszumalen  seinen  hörern.  nur  das  mag 
noch  hervorgehoben  werden,  dass  er  sich  kaum  eine  so  um- 
fassende widerkehr  gedacht  haben  wird,  wie  sie  ßoer  annimmt, 
der  nur  die  gefallenen  hauptgölter  Odin,  Thor  und  Frey  abzieht 
(aao.  s.  341).  er,  der  nie  einen  strengen  unterschied  zwischen 
göttern  und  menschen  machte,  wird  bei  dem  Strafgericht,  das 
nach  den  v.  45  geschilderten  Vorgängen  hereinbricht,  wonach 
alle  menschen  den  Helweg  antreten  müssen,  kaum  eine  Schuld- 
losigkeit der  götter  in  solchem  umfauge  angenommen  haben. 

Das  gemälde  der  schlusspartie  (vv.  59.  60.  61.  62.  64.  66) 
entrollt  uns  so  in  grofsartiger  weise,  wie  wir  gesehen  haben,  die 
erneuerung  der  weit  vom  auftauchen  der  verjüngten  erde  bis 
zum  ewig  glücklichen  leben  in  der  neuen  Walhall,  und  wir 
sehen  jetzt,  nach  tilgung  der  lästigen  interpolation  v.  63,  erst, 
wie  voi treulich  dieses  leben  in  der  neuen  götterburg,  wo  widerum, 
wie  in  Odins  halle  einst,  götter  und  menschen  zusammenhausei), 
in  den  vorausgehenden  echten  Strophen  vorbereitet  wird,    wie  das 


RAGNARÖK  I.N  DER   \<>LISI'\ 


265 


ni'iie  goldoe  Zeitalter  der  götter  unmittelbar  zu  dem  neuen  goldnen 
Zeitalter  der  menschen  überleitet,  wo  die  Felder  uogesäel  tragen, 
—  so  leitet  das  Walhall-Iebeo  der  ueuen  götter  in  v.  62  ebenso 
unmittelbar  und  ungezwungen  das  Walhall-leben  der  neuen 
menschen  in  ».64  ein.  in  der  mitte  beider  partieen  ahn-,  alles 
überragend,  stein  die  gestall  Baldrs,  dessen  bedeutsamkeit  für  die 

neue   weit   in    der   mittelpartie   des   gedichtes   SO   glücklich   und  mit 

ungewöhnlicher  epischer  breite  vorbereitet  ist:  seine  gestall  knüpft 

die    vv.    ,")'.l  — lil     und    04 — 6(3     unveräufserlich    aneinander,      und 

dann  der  prachtvoll  düstere  und  doch  heitere  abschlussl  zu  den 
Ragnarök  will  der  dichter  eben  auch  diese  partie  gerechnet  wissen. 
der  ausdruck  passt  an  sieh  zur  Weiterneuerung  wie  zur  kata- 
strophe.  auch  jene  gehurt  ja  'zu  dem  grofsen  geschicke  der 
gülter  und  menschen'. 

Dass  der  dichter  tatsächlich  die  besprochene  Schlusspartie  des 
gedichts  noch  in  den  Ragnarökabschnitt  einbegriffen  wissen  wollte 
und  somit  nicht  nur  die  Ragnarökepisode  im  eigentlichen  sinne 
(R  17 — .">1),  —  db.  den  abschnitt,  der  durch  die  sonst  landläufige 
auffassung  des  namens  (Olrik  aao.  s.  203)  charakterisiert  und 
und,  mit  dem  zusammenstofs  der  götter  und  riesen  anhebend,  in 
der  Vernichtung  der  weit  endete  —  unter  diesem  begriff  zu- 
sammenfasste,  vielmehr  diesen  sogar  noch  auf  die  unheilkündende 
Vorgeschichte  (R  41 — 16)  ausdehnte,  zeigt  klar  und  deutlich  die 
Überlieferung  von  R  selbst,  an  die  wir  uns  allein  zu  halten  haben, 
wenn  wir  uns  jetzt  zur  betrachtung  des  gesamtabschnittes  von 
v.  11  an  wenden,  die  Strophe  nämlich  Geyr  Garmr  mjok  fijr 
Gnipahelle  :  festr  mon  slitna,  en  freke  riiina,  fjolp  veit  frepa, 
fram  sek  Jengra  umb  ragna  rok ,  rgmm  sigliva  kehrt  dreimal, 
und  zwar  genau  an  den  stellen  wider,  wo  diese  Ragnarök  im 
weitem  sinne  entscheidende  gedankliche  abschnitte  aufweisen,  das 
erste  mal  (v.  43)  leitet  sie  die  unheilkündenden  aufruhrscenen  in 
der  sittlichen  weit  und  der  natur  ein,  die  der  kataslrophe  un- 
mittelbar vorangeht),  das  zweite  mal  eröffnet  sie  die  Vernichtungs- 
episode selbst  (v.  46).  das  dritte  mal  endlich  leitet  sie  den 
besproebnen  schlussact  des  grofsen  Zukunftsbildes  ein  (v.  5ü). 
das  kann  kein  zufall  sein,  sondern  es  war  die  planmäfsige  ab- 
siebt des  dichter?,  durch  diese  jedesmalige  hindeutung  auf  den  ge- 
fährlichsten  und,  so  zu  sagen  mythisch-populärsten  feind  der  gölter 
und    menschen    die    kommende    wie   die  überwundene  gefabr  in 


266  MEDNER 

diesem  plastischen  momentbilde  auch  im  ersten  und  dritten  teil 
des  erweiterten  Raguarökabschnittes  gegenwärtig  zu  halten ,  um 
durt  die  Spannung  auf  die  kommende  tragödie  möglichst  zu  er- 
höhen, hier  durch  nochmalige  hervorhehung  des  düsteren  gegen- 
satzes  im  schönsten  eiuverständnis  mit  v.  66  den  wert  und  das 
glück  der  erneuerten  weit  um  so  nachdrücklicher  und  greifbarer 
hinzustellen.  sie  ist  also  keineswegs  ein  hlofses  ornament, 
als  das  sie  II  zu  verwenden  scheint,  die  sie  nicht  nur  vor 
v.  41  R  unpassend  vorwegnimmt,  wo  vom  wesen  der  Ragnarök 
überhaupt  noch  nicht  die  rede  ist,  sondern  sie  auch  dann  noch 
einmal  zwischen  R  51  und  53,  wo  von  den  beiden  grofsen 
götterkämpfen  mit  den  Ungetümen  die  rede  ist,  an  möglichst  un- 
passender stelle  einflicht  :  vielmehr  ist  sie  in  dem  erwähnten  sinne 
ein  integrierender  teil  der  handlung  selbst,  nirgends  scheint  mir 
Roer  bei  der  lilgung  von  stefstrophen,  die  er  ja  überall  im  ge- 
dieht vorzunehmen  sucht,  so  unglücklich  zu  sein  wie  gerade  hier, 
denn  seine  beiden  hauptgründe,  warum  er  die  Strophe  nur  vor  v.  50, 
wo  sie  natürlich  als  einleitung  zur  katastrophe  selbst  stehn  muss, 
lassen  will  (aao.  s.  331  fj,  stützen  sich  einerseits  auf  die  hand- 
schrift  H,  wo  die  nur  an  einer  stelle  vollständig  mitgeteilte 
Strophe  aber  keinesfalls  beweisen  kann,  dass  nicht  auch  ihr 
zweiter  teil  als  stef  verwant  wurde,  anderseits  auf  die  behauptung, 
dass  die  visa  kein  typisch  zusammenfassender  ausdruck  für  die 
katastrophe  sein  könne,  die  durch  unsere  obigen  ausführungen 
widerlegt  ist. 

^'ir  haben  gesehen,  wie  Roers  versuche  in  der  Schlusspartie 
auf  grund  von  allgemein  cullurhistorischen  gesichtspuneten  das 
schöne  schlussbild  in  die  werke  zweier  dichter  zu  zerreifseu, 
weder  in  den  ergebnissen  seiner  einzelkritik  noch  in  seinen 
stilistischen  erwägungen  eine  überzeugende  Unterstützung  fanden, 
auch  hier  kann  ich  seinen  athetesenversuchen,  soweit  sie  mit 
seiner  theorie  eines  älteren  und  jüngeren  dichters  zusammen- 
hängen, in  keiner  weise  zustimmen,  dass  Roer  neben  der  oben 
erwähnten  prachtvollen  malerischen  refrai  u Strophe  auch  die 
v.  47,  1 — 4  dem  ältesten  teil  des  gedi'chtes  abspricht,  ligt  in 
derselben  richtung  einer  Unterschätzung  der  bedeutsamkeit,  die  der 
fesselung  und  befreiung  des  wolle»  auch  sonst,  als  landläufig-typi- 
sches ereignis  der  Ragnarök,  beigemessen  wird,  die  worle  Skelfr 
Yggdraseh   askr  standande,    ymr  et  aldyia  tre,    en  jgionn  losnar 


RAGNARÜK   l.\    DER   \«>l.l  SP.A 


gelin  in  der  handschriftlichen  Überlieferung  \<>n  |;  unmitleibai 
der  katastrophe  voraus,  enthalten  also  genau  dieselbe  prägnante 
tendenz  wie  die  slefstrophe,  die  sie  vorbereiten,  und  dass  \.  15 
dem  einheitlichen  gefüge  der  RagnarOkpartie  nicht  fehlen  kann, 
ist  Bchon  widerholl  hervorgehoben:  die  schluss-strophen  des 
ganzen  gedichtes  stebn  ja  mit  ihr  im  engsten  Zusammenhang 
übrigens  erleiden  auch  di«'  gegen  den  heidnischen  Charakter  dei 
Btrophe  erhobenen  bedenken  eine  weitere  wesentliche  eio- 
schränkung,  wenn  man  sich  vergegenwärtigt,  dass  es  lediglich 
die  heiligsten  familieninstitutionen  der  alten  Germanenwelt  sind, 
en  die  hier  gefrevelt  wird  (Müllenhoff  DA.  v  140),  und  dass 
alle  bedenken  fortfallen,  wenn  man  von  der  eingeschränkten  be- 
deutung,  die  dem  mono  systrungar  sif/om  spilla  im  hinblick  auf 
die  verbotene  verwantenehe  beigelegt  ist1,  absiebt,  was  mir  durchaus 
natürlich  erscheint. 

Anders  ligts  für  mich,  wie  ich  schon  früher  angedeutet 
habe,  hei  einer  alhelese  Boers,  die  einen  würklichen  späteren 
znsatz  ans  dem  gefüge  des  eigentlichen  Ragnarökabschnitts,  nicht 
zu  dessen  schaden,  ausscheidet  :  ich  meine  seine  reconstruetion 
von  \.  53  K  (s.  306).  mit  recht  hebt  er  hervor,  dass  dort  die 
worte  drepr  kann  af  mö/ie  mijijnrps  veor  sich  weder  stilistisch 
noch  inhaltlich  im  überlieferten  zusammenhange  erklären  lassen, 
und,  wenn  sie  lallen,  trotzdem  der  sinn  bleibt,  dass  Thor  die 
schlänge  tütete,  aber  spater  selbst,  von  ihrem  gift  gelotet.  Bei, 
ohne  jede  misdeutung.  ja  der  ausdruck  gewinnt  unzweifelhaft 
an    prägnanz,    wenn    gerade  der  zug,    der  unterstrichen  werden 

1  besonders  nachdrücklich  von  'Olsen  Um  Krislnilöliuna  s.  5S,  wo  diese 
deutung  neben  den  oben  hervorgehobenen  angeblich  christlichen  einflüs! 
fiir  die  späte  daüening  der  Völuspa,  zwischen  997  und  1000,  wo  die  ent- 
scheidenden Vorgänge  für  den  sieg  des  Christentums  sich  abspielen,  verwant 
wird,  so  sehr  ich 'Olsen  in  der  annähme  isländischen  einflusses  in  den  vul- 
kanischen Anspielungen  des  gedieh ts  beipflichte,  so  wenig  glaub  ich,  dass 
auch  diese  für  eine  so  späte  abfassungszeit  des  liedes  sprechen,  wo  jene 
kirchlichen  verböte  besonders  acut  wurden,  die  seine  deulung  unserer  zeile 
voraussetzte,  du^s  sif/om  spilla  im  Müllenhoflschen  sinne  aufzufassen  ist 
als  parallele  zu  brv]>r  mono  berjask  halt  ich  für  durchaus  wahrscheinlich. 
die  sittliche  Verwirrung  nach  jener  andern  seite  gibt  hördömr  tnikell  viel  bes 
und  drastischer  an.  die  Schlusszeile  mon  nigi-  mapr  pprom  Pyrma  zi  a  . 
dass  die  Vernichtung  des  gcschlechts  durch  gewalttal  die  leitende  auf- 
iung  war.  wie  bedeutsam,  dass  auch  Snoni  (vgl.  Heinzel  5  die  stelle 
auf  den  mord  an  verwanten  deutete! 


26^  INIEDKEIl 

muss  (Olrik  aao.  s.  20S),  dass  nämlich  Thor,  als  die  schlänge  fällt, 
noch  leht  —  da  er  keinen  rächer  im  gedieht  hat  — ,  so  einseitig 
hervorgehoben  würde.  Boer  selbst  vergleicht  aufserdem  aao.  mit  recht 
die  kürze  und  prägnanz  der  darstellung,  die  nach  der  athetese  von 
z.  3  f  eintreten  würde,  mit  der  des  ersten  teiles  in  den  vv.  25  und 
26,  die  ja  von  einem  parallelen  ereignis  aus  der  vorzeit,  dem  kämpf 
der  gütter  gegen  die  riesen,  aus  anlass  der  erbauung  der  Asen- 
burg,  handeln,  es  darf  vielleicht  noch  ergänzend  hinzugefügt 
werden,  dass  der  bedeutsame  gott,  wie  es  ihm  nach  dem  mythus 
zukam,  zwar  beidemal  stark  und  charakteristisch  hervorgehoben 
wird,  aber  doch  verhältnismässig  kurz,  da  das  interesse  des  dichters 
in  der  alten  weit,  nächst  Baldr,  durchweg  zunächst  auf  Odin  und 
seiner  fürsorge  ruht,  dort  wie  hier  spielt  dieser  handelnd  ja  die 
erste  rolle,  deswegen  sind  ihm  in  den  Ragnarük  auch  zwei 
Strophen  gewidmet,  und  es  wird  ausdrücklich  noch  durch  die 
Vöiva  seine  räche  durch  Vidar  berichtet1,  nicht  nur  in  der  bei- 
behaltung  dieser  visa,  sondern  in  dem  ganzen  engern  Raguarök- 
abschnitt  überhaupt,  befind  ich  mich  mit  Boer,  da  hier  die 
theorie  seiner  beiden  dichter  in  seine  darstellung  nicht  eingreift, 
soweit  er  die  conservierung  des  überlieferten  textes  verlangt,  meist 
in  erfreulicher  Übereinstimmung,  nicht  freilich  in  einer  doppelten 
rectificierung  des  codex  Regius,  die  ich  entgegen  der  allgemeinen 
ansieht  für  falsch  halte,  im  Wortlaut  bei  v.  48  und  in  der  strophen- 
ordnung  bei  v.  49.  in  beiden  fällen,  auf  die  ich  nun  ausführ- 
licher eingeh,  muss  ich  unbedingt  für  die  autorität  der  älteren 
haudschrift  eintreten. 

1  dass  diese  Strophe,  die  MüllenhofF  ja  im  letzten  gründe  nur  aus 
gründen  strophischer  gliederung  ausgeschieden  hatte,  beibehalten  werden 
muss,  dafür  hab  ich  mich  schon  widerholt  ausgesprochen,  gewis  mit  recht 
fand  Boer  in  der  bezeichnung  Fi'pars  bröj>er  in  der  oben  besprochenen 
unechten  H-strophe  48,  die  v.  53  R  paraphrasiert,  einen  neuen  indirecten 
beweis  für  ihre  echtheit,  da  sie  diese  offenbar,  die  in  unmittelbarer  nachbar- 
schaft  stand,  ganz  ihrem  früheren  von  uns  besprochenen  verfahren  gemäfs 
ebenfalls  im  sprachlichen  ausdruck  plündert,  wenn  endlich  'Olsen  (Timarit 
15,  S3f)  in  scharfer  polemik  gegen  .MüllenhofT  (DA.  v  152)  und  FJönsson 
(aao.  i  136)  auf  Vafbr.  53  verweist,  wo  die  antwort  erhärtet,  dass  Odins  und 
Vidars  räche  mythisch  unlöslich  zusammengehören,  so  ist  ja  auch  dies  eine 
weitere  stütze  für  unsere  aufl'assung  der  stiophe.  ich  versteh  aber  bei  dem 
stand  der  dinge  nicht,  wie  'Olsen  dann  die  Valistiophe  der  Völuspa,  die  mit 
dem  tode  Baldrs  mythisch  ebenso  unlöslich  zusammengehört,  in  unserem 
gedieht  als  interpolation  ausmerzen  kann. 


RAGNARÖK  IN  DEH  VÖLUSPA 

Es  ligt  ja  nah«- .  bei  den  drei  visur,  die  den  Weltuntergang 
einleiten  (w.  47.  48.  50  !<).  in  dem  anrücken  dreier  riesischer 
beere  vollständig  parallelgebaute  Strophen  zu  sehen,  und  gewig 
ist  der  besonders  in  Müllenhofls  glänzender  darstellung  (DA  i  1  I9ff. 
so  bestechend  commentierte  aufmarsch  riesischer  scharen  von 
osten,  norden  und  Süden  ein  in  den  weiten  rahmen  dreiei 
himmelsrichtungen  gespanntes,  grofsartiges  und  des  Völuspadichters 
durchaus  würdiges  gemitlde,  «Ins  man  ungern  zerstörl  sieht, 
und  es  lässt  sich  wol  dafür  anführen,  dass  die  dreiheil  auch 
sonst  im  gedichte  unläugbar  eine  gewisse  rolle  spielt  \\ ic  in  den 
drei  unlerwellssälen  der  w.  37 — 39  oder  den  drei  den  welt- 
untergangprophetisch herbeikrähenden  hähnen  vv.  27 f  —  selbst 
die  vielbesprochene  ebenfalls  die  phantasie  nach  drei  seilen  hin 
machtig  beschädigende  Nornenscene  (Helgakv.  Hundb.  i  4)  isi  von 
[leinzel  (s.  71  und  318,  vgl.  mich  Bugge  The  homeofthe  Eddie 
poems  s.  81.  96  IT)  ;ils  parallele  herbeigezogen,  auch  dass  die 
drei  visur,  wie  Heinzel  (aao.  s.  76)  zeigte,  in  ihrem  ähnlichen 
Strophenanfang  {Hrymr  ehr  austan,  Kjött  ferr  norpan,  Surlr  ferr 
sunnan)  in  der  gangbaren  lesart  einen  ähnlichen  parallelismus 
zeieen  wie  die  früher  erwähnten  mit  der  anapbora  Kemr  be- 
beginnenden  visur  des  götterkampfes  seihst  (51.  52.  53).  indes 
stimmt  schon,  auch  wenn  man  von  der  handschriftlichen  Über- 
lieferung in  v.  4S  vorläufig  absieht,  dieser  parallelismus  äufser- 
lich  nicht  ganz,  und  dass  sie  alle  drei  inhaltlich  parallel  waren, 
kann  ich  Heinzel  auf  keinen  fall  zugeben,  in  doppelter  be- 
ziehung  nämlich  hängen  bei  näherer  betrachtung  vv.  47  und  4S 
unter  sich  gegenüber  50  enger  zusammen,  sowol  wenn  man  auf 
die  in  den  malerischen  Strophen  dargestellten  gruppen  als  wenn 
man  auf  die  lortschritte  der  dramalisch  bewegten  Handlung,  die 
sich  in  ihnen  abspiegelt,  achtet. 

Was  zunächst  den  ersten  puuet  anlangt,  so  erscheinen  in 
vv.  47  und  48  vollkommen  parallel  die  beiden  bauptungetümi 
der  Ragnarök.  der  wolf,  dessen  typisebes  haften  im  Ragnarök- 
mylhus  unzweifelhaft  feststeht  und  dessen  tat,  wie  Olrik  (aao.  s.  206) 
zeigte,  öfter  als  alle  andern  Vorgänge  desselben  in  Edda-  und 
skaldenpoesie  berührt  wird,  der  also  das  älteste  heimatrecht  in 
ihm  geniefst,  wie  uns  ja  auch  die  dreimal  widerkehrende  stef- 
strophe  v.  43  in  der  betonung  seines  loskommens  typisch  ver- 
anschaulicht,     und    die    schlänge,    der    Midgardsorm,    die   zwar 


270  NIEDRER 

sonst  in  den  RagnarökdarstelluDgen  und  den  anspielungen  darauf 
nicht  erwähnt  wird,  indes  nicht  nur  in  parallelen  mythischen 
kämpfen  eschatologischen  Charakters  wie  im  Beowulf  und  andern 
dracheüsageu  alte  gegenslücke  hat,  sondern  durch  ihr  häufiges 
rencontre  mit  Thor,  wie  es  uns  die  Hymiskvida  uml  die  skalden- 
poesie  widerholt  schildert,  auch  in  diesem  Vorspiel  zur  grofsen 
katastrophe  ihre  berechligung  dort  erweist  und  somit  von 
Olrik  auch  unbedenklich  zum  ursprünglichen  bestand  des 
Ragnarökmylhus  gezahlt  wird  (aao.  s.  207).  mit  recht  hebt  dieser 
hervor,  dass  schon  die  Verwechslungen,  die  wolf  und  schlänge, 
Odin-  und  Thorkampf  nicht  nur  in  unserm  gedieht  in  der  Über- 
lieferung des  codex  Regius,  sondern  auch  in  der  Lokasenna  er- 
fahren, ein  untrügliches  Zeugnis  für  ihre  enge  Zusammen- 
gehörigkeit abgeben,  sicher  sind,  wie  der  gleich  darauf  folgende 
kämpf  lehrt,  sie  die  entscheidenden  kräfte  in  diesen  scharen, 
die  in  vv.  47.  48  gegen  die  götter  anrücken,  indes  sie  sind 
umgeben  von  andern  riesischen  wesen.  neben  der  schlänge  er- 
scheint der  adler  Hräsvelg,  neben  dem  wolf  Loki.  und  führer 
ist  im  ersten  falle  der  riese  Hrym,  im  zweiten  falle  sind  es  je 
nachdem  Muspells  oder  Hels  leute.  dagegen  in  v.  50  tritt  Surt 
ganz  allein  auf,  dessen  hohe  bedeutung  für  den  Ragnarökmylhus 
in  allen  übrigen  quellen  Olrik  (s.  227)  erweist,  zweimal,  in  den 
Fafnismal  14 f.  und  in  den  Vafthrudnismal  17 f,  erscheint  er 
ausdrücklich  nicht  als  einer  unter  den  gegnern  der  götter,  son- 
dern als  gegner  der  götter  schlechthin  :  beidemal  geht  aus  der 
form  der  frage  wie  der  antwort  hervor,  dass  er  die  feindliche 
Widerstandskraft  gegen  die  Asengesamtheit  dort  an  sich  verkörpert, 
keineswegs  aber  hat  er  im  kämpfe  eine  correspondierende  präg- 
nante Stellung  inne  wie  die  beiden  andern  unheimlichen  mächte, 
in  der  Völuspa  selbst  wird  er  mit  der  ziemlich  nichtssagenden 
parenlhese  en  bane  Belja  bjartr  at  Surle  (v.  51)  abgetan,  die  Loka- 
senna aber  nimmt  ihm  sogar  diese  charakteristische  tat  ab,  indem  sie 
den  streit  mit  Frey  auf  Muspells  sühne  überträgt  (v.42).  im  schroffen 
gegensalz  zu  seiner  uncharakteristischen  und  unlypischen  kampfes- 
art  aber  ist  seine  zerstörende  würkung  doch  in  würklichkeit  weit 
gröfser  als  die  der  beiden  ungelüme  :  denn  wenn  er  med  sviga 
laeve  erscheint,  so  kann  das  geisar  eime  ok  aldmare,  leikr  hör 
Itite  vip  himen  sjalfan  (v.  54),  also  der  definitive  weltbraud,  auch 
nur    sein    werk    sein,     sonach    nimmt    die  Surtslrophe  (v.  50) 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA         271 

auch  ihrem  mythischeu  hau  nach  schon  eine  Sonderstellung  ein 
gegenüber  den  völlig  einander  parallelen  vv.  47.  48. 

Ebenso  aber  besteht  der  dreifache  parallelismus  in  diesen 
Strophen  nicht,  wenn  man  auf  den  fortschritt  der  bandlung  in 
ihnen  achtet,  in  den  beiden  ersten  paradiert  lediglich  drohend 
ein  riesisches  beer,  wenn  in  der  ersten  'der  adler  krächzt,  der 
schnabelfahl  leichen  zerreifst',  so  ist  das  vvol  mehr  eine  Charak- 
teristik des  nicht  genannten  namens  Hrsesvelgr  als  eine  hin- 
deutung auf  den  tod  der  menschen,  da  die  zweite  visa  nach 
dieser  richtung  keine  parallele  aggressive  handlung  bringt,  beide- 
mal sind  die  begleiter  in  den  beiden  ersten  Strophen  nur  der 
die  furchtbare  erscheinung  verstärkende  poetische  rahmen  für  die 
noch  nicht  in  tätigkeit  getretenen  wasser-  und  feuerverwanten 
gestalten  der  schlänge  und  des  wolfes,  und  der  tatsächliche 
Untergang  der  menschen  tritt  erst  v.  50,  dort  aber  würklich  ein 
{tropa  haier  helveg).  ganz  anders  dementsprechend  für  die  be- 
deutung  der  handlung  der  Inhalt  dieser  dritten  visa I  hier  schlagen 
aufserdem  steinfelsen  zusammen,  bergriesinnen  stürzen,  und  der 
himmel  spaltet,  hier  haben  wir  kein  blcfses  paradieren  riesischen 
Übermutes  mehr,  hier  hat  die  Zerstörung,  deren  endergebnis 
v.  57  darstellt,  bereits  begonnen,  ja  sie  ist  im  besten  zuge. 

Aus  diesem  doppelten  gründe  kann  ich  die  übliche  gleich- 
stelluug  der  visur  47.  48.  50  nicht  mitmachen1,  nimmt  aber 
v.  50  nun  würklich  eine  deutlich  erkennbare  Sonderstellung  ein, 
dann  kann  ich  auch  durchaus  nicht  verstehn,  weshalb  die 
Buggescbe  änderung,  die  das  austan  der  v.  48  in  norpan 
bessert,  so  durchaus  notwendig  sein  soll,  da  die  beiden  parallelen 
scharen  riesischer  mächte  beidemal  passend  aus  der  gewohnten 
riesengegend,  dem  osten,  kommen,  und  ebensowenig  seh  ich 
ein    Hindernis,    die    Überlieferung  von  R  im  jetzigen  zusammen- 

1  auch  Heinzel  (aao.  s.  76)  hat  dies  misverhältnis,  das  bei  der  Voraus- 
setzung eines  völligen  parallelismus  der  drei  visur  obwalten  würde,  wol 
erkannt,  wenn  er  betont,  dass  v.  50  eine  Steigerung  der  beiden  folgen  in 
vv.  47.  48  darstellt,  also  doch  keine  genaue  parallele  mehr!  und  mit  recht 
hebt  er  hervor,  dass  bei  der  gangbaren  ansieht  die  composition  hier  meik- 
würdig  wäre,  wenn  erst  von  wassersnot,  dann  von  feuersnot  und  dann  noch 
einmal  von  feuersnot  die  rede  sei.  er  hat  daher  sogar  die  athetese  von 
v.  48  in  frage  gezogen,  diese  Möglichkeit  scheint  mir  aber  eben  an -dem 
unzweifelhaft  in  form,  Inhalt  und  mythischem  gehalt  conformen  charakter 
der  vv.  47.  48,  die  sich  notwendig  ergänzen,  zu  scheitern. 


272  NIEDNER 

hange,  die  sich,  wie  wir  gelegentlich  mehrfach  schon  früher 
zeigten,  auch  aus  andern  gründen  empfahl,  beizubehalten,  gewis 
würde  v.  49  mit  ihrer  bemerkung  cesero  d  pinge  und  der  Schil- 
derung der  Zerfahrenheit  in  allen  wellen  hinter  v.  46  f  passen, 
wo  Heimdall  ins  hörn  geblasen  hat,  der  welthaum  wankt  und 
Odin  mit  Minis  haupte  redet,  aber  sie  ist  sicher  nicht  weniger 
am  platze  vor  der  entscheidenden  Surtstrophe  50,  wo  die  kata- 
strophe  beginnt  und  wo  sie  doch  die  beste  handschrift  nun  einmal 
überliefert,  ja  nach  meiner  auffassung  sogar  weit  besser,  zunächst 
iuhaltlich.  denn  die  fürsorge  und  orientiertheit  der  götter  war 
in  v.  46  in  den  Worten  mceler  'Openn  vip  Mims  hgfop  gewis 
genügend  ausgedrückt,  das  gegenstück  ist  die  heranwälzung  der 
riesischen  scharen  in  vv.  47.  48.  v.  49  aber  fasst  dann  die 
ungeheure  aufregung,  die  in  alle  weiten  kam,  noch  einmal  in 
einem  emphatischen  ausruf  zusammen  1  in  zwiefacher  weise  aber 
aus  gründen  der  anknüpfung.  einmal  nämlich  rückt  dadurch, 
doch  gewis  sehr  passend,  die  schlusszeile  (R  45)  en  jgtonn  losnar 
unmittelbar  vor  die  verwante  kehrstrophe  an  zweiter  stelle  (R  46). 
prägnant  will  der  ausdruck  also  sagen  'die  sache  ist  im  gange', 
sodann  aber  correspondiert  v.  49  in  diesem  falle,  in  dem  die  end- 
giltige  bereitschaft  der  götter  und  riesen  noch  einmal  in  dem  gegen- 
satz  gnyr  allrjnonheimr  und  äser  'o  d  pinge  zusammengefasst  wird, 
vortrefflich  auch  darin  mit  v.  50,  dass  das  stöhnen  der  armen 
zwerge  dort  sofort  die  drastischste  motivierung  erhält,  da  durch 
das  grjölbjgrg  gnata  ihr  tröstliches  attribut  veggbergs  viser  voll- 
kommen illusorisch  wird,  und  dass  gewis  die  einzige  nachdrück- 
liche erwähnung  von  der  Vernichtung  aller  menschen  an  keine 
passendere  stelle  kommen  konnte,  als  wiederum  in  v.  50,  wenn 
eben  in  v.  49  unmittelbar  vorher  die  allgemeine  aufregung  und 
Zerfahrenheit  aller  weiten  geschildert  war. 

Wenn  Heinzel  (aao.  s.  69)  hervorhebt,  'dass  eine  solche  gefühl- 
volle betrachtung  über  den  zustand  der  weit  unmittelbar  vor  der 
grösten  gefahr,  der  sie  erliegen  soll,  in  der  altgermanischen  dichtung 
zu  den  grösten  seltenheilen  zählt',  so  kann  diese  trefl'endebeobachtung 
auch  unsrer  ansieht  von  der  beibehaltung  der  Strophe  in  ihrem 
gegenwärtigen  handschriftlich  überlieferten  Zusammenhang  nur 
günstig  sein,  es  ist  wol  klar,  dass  wenn  der  begabte  dichter, 
der  ja  auch  sonst  in  vielen  puueten  singulär  dasteht,  für  die 
Verstärkung  der  poetischen  würkung  zu  diesem  seltenen  stilmiltel 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA         273 

griff,  er  keinen  kritischeren  und  geeigneteren  zeitpunct  wühlen 
konnte,  als  den,  bevor  die  grofse  Vernichtung  unmittelbar  in 
scene  gieng.  denn  erst  die  aus  den  eben  geschilderten  beziehungea 
der  beiden  nachbarvisur  sich  ergebenden  zustände  machen  es 
plastisch  anschaulich,  dass  der  augenblick  der  allgemeinen  auf- 
lösung  bereits  da  ist.  und  so  erscheint  gerade  in  diesem 
mittelpunct  der  gesamten  Ragnarökepisode  dieser  elementare  ge- 
füblsausbruch  nicht  nur  als  vvilrksamer  lyrischer  accent,  sondern 
er  bereichert  gerade  hier  zugleich  durch  die  gedrängte  fülle  der 
contrastierendeu  mythischen  bilder  am  zweckmäfsigsten  das  epische 
detail. 

Wenn  ich  nach  diesen  ausführuugen  der  Ruggeschen  Um- 
stellung nicht  beipflichten  kann,  so  muss  doch  wenigstens  her- 
vorgehoben werden,  dass  sie  in  der  Übereinstimmung  von  H  mit 
der  Snorra-Edda  äufserlich  zunächst  besser  fundiert  war,  als  die 
schon  widerholt  von  uns  berührte  änderung  in  v.  48  Heljar  lyper 
statt  Müspells  lyper'  :  hier  stehts  bekanntlich  so,  dass  nicht  nur  H, 
sondern  auch  sämtliche  handschriftliche  Versionen  der  Snorra- 
Edda  in  der  Überlieferung  im  einklang  mit  dem  codex  Regius 
stehn,  die  änderung  also  eine  handschriftliche  grundlage  über- 
haupt nicht  besitzt,  ich  kann  Olrik  (aao.  s.  222)  nur  vollkommen 
beistimmen,  wenn  er  betont,  dass  es  vollkommen  unzulässig  sei, 
hier  Snorris  mythisch-geographischem  System  zu  liebe,  der  im 
gegensatz  zu  allen  älteren  quellen  Müspells  söhne  und  Surt  zu- 
sammenwirft, eine  so  tiefgreifende  änderung  vorzunehmen,  sie 
eliminiert  die  im  Ragnarökmythus  auch  sonst  wolbezeugten 
Müspells  sühne  —  Lokasenna  42,  3  en  es  Müspells  syner  ripa 
Myrkvip  yfer  —  aus  dem  gedankengange  der  Völuspa.  und 
wenn  auch  ihre  einführung  dort  eine  andere  ist,  indem  sie  zu 
lande  reitend  dargestellt  werden,  und  anderseits  dort,  wie  oben 
bemerkt,  die  rolle  Surts  im  kämpfe  mit  Frey  auf  sie  übertragen 
wurde,  so  kann  man  doch  ihre  Zugehörigkeit  zum  mythus  nicht 
bezweifeln,  ja  die  parallele  Stellung  zu  Surt  spricht  für  ihre 
bedeutung  in  demselben,  anderseits  weist  die  Ruggesche  besse- 
rung  den  scharen  Hels  in  einem  der  mächtigsten  riesenanstürme 
eine  rolle  zu,  die  denkbar  ungeeignet  ist,  da,  wie  Olrik  richtig 
bemerkt,  die  bleichen  toten  den  Äsen  kaum  einen  besondern 
schrecken  eingeflösst  haben  können,  man  wird  ihm  recht  geben 
müssen,  wenn  er  sich  dahin  resümiert,  dass  durch  eine  solche 
Z.  F.  D.  Ä.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  18 


274  NIEDNER 

besserung    der    poetische    charakter    der    stelle    geradezu    zer- 
stört wird. 

In  welchem  innern  Verhältnis  Muspells  söhne  überhaupt  zu 
Surt  stehu,  ist  ja  eine  sehr  schwierige  frage,  die  selbst  Olrik 
nicht  völlig  zu  lösen  vermochte,  auf  jeden  fall  sind  sie  im 
gedieht  streng  differenziert,  und  ihre  Identifizierung  und  gemein- 
same localisierung  mit  Surt  ist  eine  willkürliche  construetion 
Snorris,  wol  begünstigt  durch  Verwechslungen,  wie  sie  die  oben 
genannte  stelle  der  Lokasenna  hinsichtlich  des  kampfes  mit  Frey 
bot.  dieser  ist  uns  indes  doch  viel  zu  undurchsichtig,  als  dass 
daraus  Schlüsse  auf  die  mythische  verwantschaft  der  ihm  an- 
gedichteten geguer  gezogen  werden  könnten,  in  unserm  gedieht 
spielen  sie  eine  gänzlich  verschiedene  rolle.  Muspells  söhne  sind 
ja  nur  nebenfiguren  im  vernichtungsdrama  neben  dem  wolfe,  wie 
ihre  durch  Hrym  geführten  brüder  aus  dem  riesenreich  hinter 
der  schlänge  als  hauptperson  zurücktreten.  Surt  dagegen  ist  der 
bedeutendste  Zerstörer  mit  feuer  und  schwert,  dessen  furchtbares 
werk  schliefslich  in  den  weltbrand  ausmündet. 

Überblicken  wir  nun  das  ergebnis  unserer  besprechung  der 
Buggeschen  Umstellung  und  änderungen,  so  scheint  uns  dadurch 
dem  weltbrand  im  gedieht  sowol  seine  durchaus  dominierende  stelle 
im  zerstörungswerk  wie  sein  nordisch-volkstümlicher  charakter  ge- 
rettet,    ich  glaube,   dass    ihm  Olrik  im  verlauf  seiner  trefflichen 
Untersuchung  beides  mit  unrecht  abgesprochen   hat,  und  dass  er 
ihn  (aao.  s.  290)  am  Schlüsse  seines  aufsatzes  in  der  Übersichts- 
tabelle  über  die  heidnischen  und  christlichen  einflösse  unbedingt 
unter  die  letzteren  verweist,  will  mir  nicht  einleuchten,    ich  denke, 
aus  der  Stellung  von  v.  50  im  gedieht  geht  deutlich  hervor,  dass 
die  Zerstörung  durch  Surt  mit  feuer  keineswegs  hinter  der  Ver- 
nichtung durch  die  Wasserflut  in  der  Völuspa  zurücktritt,  sondern 
einen    gleichen   mythologischen    rang    mit    dieser   und    den   ver- 
herungen  des  Fimbulvetr  an  sich  behauptet,     er  wurzelt  meiner 
Überzeugung  nach  (vgl.  'Olsen,  Timarit  15,  100  f)  durchaus  in  der 
lebendigen    anschauung    localer    isländischer    natur1    und    nötigt 

1  wenn  Olrik  («.  195  IT)  hervorhebt,  dass  die  feuerzerstörung  nicht  den- 
selben natürlichen  boden  gehabt  haben  könne  im  norden,  wie  das  versinken 
der  erde  im  wasser  und  der  Fimbulvetr,  so  nimmt  er  natürlich  immer  Island 
aas,  das  eben  für  ihn  gar  nicht  in  betracht  zu  kommen  scheint,  ich  glaub 
aber  mit 'Olsen,  dass  die  darstellung  in  v.  57  allerdings  auf  die  vulcanische 


RAGNARÜK  IN  DER  VÜLUSPA 


275 


ebenso  wenig  dazu,  christliche  Vorbilder  anzunehmen,  wie  das  ver- 
schwinden der  sonne  und  das  stürzen  der  Sterne  in  derselben 
v.  57  oder  gar  Ileimdalls  Gjallarhornsignal,  die  Olrik  neben  den 
oben  besprochenen  vv.  45.  64  und  66  ebenfalls  auf  christliche 
einflüsse  zurückführt  (vgl.  auch  s.  275  ff). 

Haben  wir  somit  in  der  Raguarökepisode  im  engern  sinne 
eine  wolgeordnete  darstellung,  die  nach  der  einleitenden  kehr- 
strophe  mit  dem  ansturm  der  beiden  parallelen  riesischen  scharen 
mit  wolf  und  schlänge  anhebt,  nach  einer  emphatischen  betonung 
der  allgemeinen  Verwirrung  (dem  hühepunct  des  ganzen  ab- 
schnittes),  Surts  himmelzertrümmerude  tätigkeit  schildert,  dann 
die  grofsen  kämpfe  folgen  lässt  und  endlich  in  der  Vernichtung 
der  erde  durch  wasser  und  vor  allem  durch  feuer  gewaltig  aus- 
mündet, —  so  ist  in  den  einleitenden  visur,  die  diese  katastrophe 
vorbereiten  (vv.  45 — 47),  noch  eine  Schwierigkeit  in  der  text- 
gestaltung  zu  überwinden,  nämlich  die  im  Vollständigkeit,  die  da- 
durch entsteht,  dass  wir  II  40,  3.  4  tilgen  musten.  die  be- 
ängstigenden Vorgänge  in  der  uatur  schildert  nunmehr  noch 
folgende  überfüllte  Strophe  in  R  :  Leika  Mims  syner,  en  mjgtopr 
kyndesk  at  eno  gallo,  Gjallarhorne;  holt  blcess  Heimdallr,  hom's 
d  lopte  :  mwler  Openn  vi[>  Mims  hofop.  Skelfr  Yggdrasels  askr 
standande;  ymr  et  aldna  tre,  en  jolonn  losnar.  es  ist  klar,  dass, 
wenn  der  parallelismus  zu  v.  45,  in  der  die  memorialverse  z.  3f 
(die  auf  einen  deu  Vafthrudnismal  verwanten  Ragnarökmythus 
deuten)  längst  ausgeschieden  sind,  wie  er  inhaltlich  besteht, 
auch  der  form  nach  da  sein  soll,  eine  der  drei  halbstrophen 
fallen  muss.  dass  dabei  nicht  mit  Roer  an  die  letzte  zu 
denken  ist,  da  sie  in  ihrem  schluss  durch  die  erwähnung  vom 
loskommen  des  wolfes  direct  auf  die  katastrophe  weist,  war  bereits 
bemerkt,  und  wird  jetzt,  nachdem  wir  v.  49  R  wider  an  ihren 
alten  platz  gebracht   haben,    um  so  mehr   einleuchten,     dagegen 

eruptionslätigkeit  dieses  landes  deutet  und  dass  diese  partie  der  Völuspa 
wenigstens  isländischen  einfluss  verrät,  dass  damit  aber  nicht  auf  einen  be- 
stimmten vulcanausbrucii  im  jähre  1000  gedeutet  zu  sein  braucht,  ist  ohne 
weiteres  klar,  ein  indicium  temporis,  das  die  übliche  datierung  des  gedichts 
um  950  verschöbe,  ist  also  nicht  daraus  abzuleiten,  auf  Surt  weisen  auch 
die  isländischen  orlsnamen,  die  Olrik  s.  288  ff,  'Olsen  Um  Kristnitökuna  s.  60 
anführen,  sie  beweisen  zugleich,  dass  Surt,  der  feuerdämon,  sich  wol  mit 
einem  unterweltsgotte,  den  Olrik  darin  lindet,  verträgt,  vgl.  übrigens  Brimir 
in  der  unterweit,  den  Heinzel  als  unterirdischen  Surt  bezeichnet  (Edda  s.  54). 

18* 


270  N1EDNER 

die  beiden  ersten  stelin  in  einem  ganz  auffälligen  tautologischen 
Verhältnis  zu  einander,  und  schon  Olrik  (aao.  s.  274)  hat  be- 
obachtet, dass  die  darstellung  hier  ungewöhnlich  breit  ist.  im 
gegensatz  zu  dem  kurzen  und  markigen  ausdruck  der  übrigen 
Ragnarökstrophen  füllt  das  motiv  des  Gjallarhornblasens  in  brei- 
tester ausmalung  fast  die  ganze  Strophe,  und  wenn  man  die 
beiden  visuhelmiugar  im  einzelnen  vergleicht,  so  kann  man  wol 
keinen  augenblick  zweifeln,  dass  sich  der  -zweite  als  der  mytho- 
logisch und  dichterisch  höher  stehnde  erweist.  'Odin  spricht  mit 
Wims  haupte',  in  welchem  sinne  man  es  auch  deuten  mag,  ist 
hier  im  Zusammenhang  einfach  uicht  zu  missen  :  es  ist  der  natur- 
gemäfse,  den  Vorgängen  v.  29  entsprechend  notwendig  geforderte 
Vorgang,  der  ausdruck  leika  Mims  syner,  der,  wie  er  auch  auf- 
gefasst  wird,  auf  jeden  fall  eine  der  götterfreundlichen  handlung 
in  z.  4  entgegengesetzte  täligkeit  darstellt,  ist  aber  neben  Mims 
hpfop  hart  und  kaum  zu  dulden;  auch  hat  er  zu  dem  doppel- 
sinnigen ausdruck  mjoiopr  kyndesk,  der,  wie  Heinzel  (aao.  s.  62) 
richtig  bemerkt,  'der  weltbaum  entbrennt'  oder  'das  ende  kündigt 
sich  an'  bedeuten  kann,  kaum  eine  innere  beziehuug.  dass  ferner 
die  entscheidung  hereinbricht  oder  der  weltbaum  sich  entzündet 
'beim  gellenden  Gjallarhorn',  ist  weder  eine  geschickte  noch  be- 
sonders poetische  ausdrucksweise,  selbst  wenn  sich  der  ausdruck 
zur  not  mit  Gering  im  grofseu  glossar  s.  61  temporal  er- 
klären lässt. 

Dagegen  wird  nun  der  gleiche  Vorgang  in  den  worten  'laut 
bläst  Heimdali,  das  hörn  ist  erhoben'  höchst  dichterisch  anschau- 
lich dargestellt  und  entspricht  völlig  v.  27,  wo  es  unter  dem 
weltbaum  verborgen  wird,  es  bildet  hier  mit  dem  befragen  von 
Mims  haupte  die  naturgemäfse  einleitung  zu  dem  ceser'  o  d  pinge 
(v.  49).  dieser  zweite  visuhelming  hätte  schwerlich  allein  jemand 
auf  den  gedanken  gebracht,  Heimdalls  blasen  durch  die  Zusammen- 
stellung mit  der  posaunentäligkeit  des  erzengels  am  jüngsten 
gericht  als  christlichen  zusatz  zu  verdächtigen,  einen  solchen 
stellt  ja  nun  auch  das  erste  zeilenpaar  in  v.  46  gewis  nicht  dar: 
aber  zugegeben  muss  Olrik  werden,  dass  die  bemerkung,  dass 
sich  der  weltbaum  beim  schalle  des  hornes  entzünde  oder  gar 
dass  das  weltende  sich  bei  seinem  klänge  ankündige,  einen  sinn 
in  die  stelle  hineinbringt,  der  unmöglich  im  plane  des  alten,  auf 
heidnisch-mythologischer  grundlage  stehnden  dichters  liegen  konnte. 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA        277 

Ich  glaube,  die  erste  halbslrophe  ist  das  werk  eines  inter- 
polators,  wie  wir  ihn  auch  aufserhalb  der  unechten  H- Strophen 
schon  in  der  Schöpfung  der  v.  63  und  der  erweiterung  von  v.  53  R 
tätig  sahen,  er  liefs,  wie  an  jenen  beiden  stellen,  den  alten 
dichter  mehr  beabsichtigen,  als  es  in  würklichkeit  der  fall  war. 
denn  das  blasen  Heimdalls,  wo  den  göttern  gefahr  droht,  halt 
sich  allein  noch  ganz  in  den  grenzen  der  rolle,  die  dieser  gott 
sonst  in  kritischer  läge  der  götterweit,  wie  etwa  in  der  alten 
Thrymskvida,  spielt,  heifst  es  dort  (v.  14),  wo  er  den  entschei- 
denden rettenden  rat  gibt:  senn  vgro  ceser  aller  d  pinge  ok  äsynjor 
allar  d  male,  so  ist  dieser  thingversammlung  sicher  wie  der  in 
v.  49  die  berufung  Heimdalls  durch  das  hörn  vor  der  dräuenden 
riesengefahr  vorausgegangen,  auch  hier  ist  das  hornblasen  also 
nur  die  warnung  vor  der  riesenmasse ,  die  gleich  darauf  über- 
mütig paradierend  einherzieht. 

Das  entscheidende  für  die  athetese  von  v.  46 ,  1.2  ist  für 
mich  aber,  dass  offenbar,  wie  schon  oben  angedeutet,  das  Mims 
syner  ganz  in  der  art  oberflächlicher  interpolationen  durch  den 
äufserlichen  gleichklang  an  den  schönen  dichterischen  ausdruck 
Mims  hpfop  anknüpft,  ich  muss  gestehn,  dass  all  die  zweifei 
und  bedenken  derer,  die  diesen  ausdruck  mit  der  in  Völuspa  29 
vorliegenden  form  des  Mimirmyihus  in  einklang  zu  bringen  nicht 
vermochten,  mich  nie  überzeugt  haben,  wenn  man  allerdings 
dabei  an  die  später  in  den  Vanenmythus  verflochtene  gestalt  des 
mythus  denkt,  wie  ihn  die  Ynglingasaga  repräsentiert,  dann  lässt 
sich  ein  solcher  Widerspruch  und  sogar  weiter  ein  Widerspruch 
in  jener  wunderbaren  tiefsinnigen  visa  des  ersten  teiles  des 
gedichts,  wie  dies  Gering  in  seiner  Eddaübersetzung  s.  12  tut,  allen- 
falls wol  construieren.  fasst  man  aber  'mit  Mims  haupte  reden' 
in  dem  ursprünglichen  sich  eng  an  den  volkstümlichen  Sprach- 
gebrauch und  die  volkstümliche  anschauungsweise  anlehnenden 
sinn  Müllenhoffs  (DA.  v  106),  wonach  der  ausdruck  nichts  weiter 
bedeutet  als  'die  äufserste  quelle  der  Weisheit  und  voraussieht, 
die  eben  in  dem  elementargeist  beschlossen  ist,  aufsuchen',  dann 
ist  von  einem  Widerspruch  beidemal  nichts  zu  bemerken,  aber 
eben  mit  dem  uns  aus  Müllenhoffs  tiefsinniger  erklärung  (DA.  v 
101  ff)  geläufigen  bilde  des  welterhaUenden  elementargeistes  lassen 
sich  'die  spielenden  Mims  söhne'  auf  keine  weise  vereinigen,  was 
heifst    überhaupt   Mims  syner  ?     in  Vigfussons    Übersetzung   'die 


27S  MEDKER 

winde'  (Dictionary  s.  432 b),  die  sich  sprachlich  kaum  recht- 
fertigen lässt,  spiegelt  sich  jedesfalls  wol  die  richtige  erkenntnis, 
dass  mau  hei  dem  folgenden  beben  und  ächzen  des  allen  well- 
haumes  doch  an  diese  zuerst  denken  sollte,  bezeichnend  ist  über- 
haupt, dass  dieser  doch  sonst  so  kühne  änderer  des  Völuspatextes 
in  seiner  reconstruction  des  gedichts  (Corp.  Poet.  Bor.  n  626)  mit 
dem  ausdruck  schlechterdings  nichts  anzufangen  wusle  und  ihn 
nicht  einmal  in  den  text  aufzunehmen  wagte,  'die  gewässer' 
übersetzt  es  Gering  im  ausführlichen  glossar  (s.  1324)  :  aber  die 
einsame  bemerkung  'die  gewässer  spielen,  dh.  geraten  iu  be- 
wegung',  bevor  irgend  ein  beginn  der  katastrophe  da  ist,  ist 
gewis  merkwürdig  genug,  und  wollte  man  sich  auch  mit  einem 
solchen  präludium  eines  Ragnarökereignisses  schon  an  dieser 
stelle  befreunden,  was  ja  im  hinblick  auf  andere  schon  erwähnte 
pioleptische  hindeutungen  im  gedieht  an  sich  möglich  wäre,  sollte 
man  dann  nicht  eher  einen  ausdruck  wie  'Rans  tüchter'  erwarten? 
denn  das  Weltmeer  ist  es  doch,  in  dem  später  die  erde  versinkt, 
nicht  die  überquellenden  wasser  des  naturdämonen  Mimir,  die 
im  gegenteil  den  weltbaum,  die  weit,  erhalten1. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  nun  aber  noch  einmal  die  Zu- 
sätze in  R  in  der  Ragnarökepisode,  so  sind  sie  doch  wesentlich 
andrer  natur,  als  die  nur  iu  H  bewahrten,  von  einer  flickarbeit 
mit  benutzung  echter  ausdrücke  des  gedichts  ist  hier  keine  rede, 
man  könnte  sich  alle  drei  wol  als  reste  paralleler  lieder  denken, 
so  v.  63  aus  einem  gedieht,  wo  das  aufzählen  von  göllern  in  der 
neuen  weit,  vielleicht  noch  schematischer  als  in  den  Vafthrudnis- 

1  Heinzel  in  seinem  commentar  s.  61  liebt  hervor,  dass  Mims  syner 
die  riesen  darstellen,  und  vergleicht  die  ausdrücke  Ymes  nipjar,  Sultungs 
syner,  jptna  syner;  er  meint  also,  dass  die  stelle  bedeute  'die  riesen  ge- 
raten in  hewegung'.  mir  erscheint,  wenn  man  den  worten  einen  sinn  bei- 
legen will,  dies  tatsächlich  auch  die  einzige  möglichkeit.  denn  der  ganze 
Zusammenhang  erfordert  diese  deulung.  dies  ist  aber  für  mich  ein  grund 
mehr,  weshalb  ich  mir  die  Strophe  nicht  im  Zusammenhang  des  folgenden 
helmings,  der  von  Mims  haupte  redet,  denken  kann,  denn  den  grösten  er- 
halter  der  götter  neben  Oilin  unmittelbar  neben  seine  söhne  als  Zerstörer 
zu  stellen,  wäre  ein  unglaublicher  contrast  und  stimmte  nicht  mit  der  auf- 
fassung  Mimirs  als  quelldämon.  wol  aber  könnte  man  sich  in  einem  liede 
parallelen  Inhalts  einen  derartigen  ausdruck  in  ähnlicher  Situation  denken, 
und  das  bestärkt  mich  nur  darin,  den  visuhelming  vom  Gjallarhorn  als  ver- 
sprengtes stück  aus  einem  solchen,  das  hier  unter  dem  eindruck  der  gleich- 
klänge von  Mims  syner  und  Mims  lipfo]>  eingefügt  wurde,  mir  vorzustellen» 


RAGNARÜK  IN  DER  VÖLÜSPA  279 

mal,  zum  vorwarf  des  dichters  gehörte,  so  die  überschüssigen 
zeilen  in  der  Thorstrophe  56  als  bruclislilcke  eines  Raguarük- 
liedes,  in  dem  die  tat  Thors  noch  eine  entscheidende  rolle  spielt' 
so  dass  sein  tod  dort  tatsächlich  veranlasste,  dass  'alle  menschen 
die  heimstatt  räumten'  —  die  wichtige  rolle,  die  die  Thorssöhne 
mit  dem  hammer  in  der  neuen  weit  nach  den  Vafthrudnismal 
spielen,  lässt  die  einstige  exislenz  eines  solchen  liedes  wol  ver- 
muten, so  die  letztbesprochene  visa,  die  gleichfalls  aus  einem 
parallelen  eschatologischen  gedichte,  das  den  Weltuntergang  in 
andrer  form  schilderte,  stammen  mag  und  dessen  misverstandener 
torso  vielleicht  ähnlich  wie  die  heidnischen  göttertrinitäten  in 
v.  63  die  oft  genannten  christlichen  zusätze  in  H  und  den  papier- 
hss.  mit  verschulden  halfen,  zu  all  diesen  drei  eingefügten  lied- 
resten  hüte  dann  die  überschüssige  halbstrophe  in  v.  45,  die 
längst  von  der  forschung  ausgeschieden  ist,  ein  treffliches  ana- 
logon  :  skeggpld,  skalmgld,  sküder'o  klofner;  vindgld,  vargpld,  äpr 
vergld  steypesk.  die  ausdrücke  'wiudalter',  'wolfsalter'  hat  schon 
Müilenhoff  (DA.  v  141)  auf  den  letzten  grofsen  winter  bezogen, 
der  dem  Weltuntergänge  voraufgieng.  und  stellte  dieser  nach 
Olriks  nachweis  in  andern  Ragnarükversionen  selbst  die  endgillige 
Zerstörung  dar  —  wofür  die  überlieferten  Vafthrudnismal  widerum 
ein  deutliches  beispiel  abgeben  — ,  so  könnten  eben  diese  zeilen 
der  Völuspa  sehr  wol  bruchstück  eines  auf  jenem  mylhenboden 
erwachsenen  eschatologischen  gedichts  sein,  da  es  ihnen  an  selb- 
ständigem poetischen   gehalte  nicht  gebricht. 

Nachdem  wir  nunmehr  den  künstlerischen  aufbau  der  ganzen 
Ragnarökepisode  nach  abzug  aller  zusätze,  die  wir  auszuscheiden 
uns  genötigt  sahen,  in  ihrer  gesamtheit  überblicken,  lohnt  es  wol, 
ihn  noch  einmal  in  seiner  gedanklichen  gliederung  innerhalb  des 
in  R  überlieferten  Strophenschemas  zusammenfassend  zu  ver- 
anschaulichen. 

i.  Die  einleitung,  und  zwar  1.  die  kehrstrophe  (v.  43 
=  Rugge  44).  2.  die  beiden  parallelen  Strophen  von  den  unheil- 
kündenden anzeichen  (vv.  44.  45,5—12  =  R.  45,  1 — 6.  11  —  12. 
46,5—8.  47,1 — 4).  n.  die  hauptpartie  (die  Ragnarökepi- 
sode im  engern  sinne),  und  zwar  1.  die  kehrstrophe  (v.  46  = 
R.  49).  2.  die  beiden  parallelen  Strophen  von  den  anrückenden 
riesenheeren  (vv.  47.  48  =  B.  50.  51).  3.  der  angstschrei  des 
tiefinnerlich  an  seinem  Stoffe  anteilnehmenden  dichters  (v.  49  = 


2S0  NIEDNER 

B.  48).  4.  der  beginn  der  Zerstörung  durch  Surt  (v.  50.  =  B.  52). 
5.  die  drei  parallelen  Strophen  von  den  entscheidenden  götter- 
kämpfen  (w.  51.  52.  53,  1—4.  8—12  =  B.  53.  55.  56,  1—4. 
8 — 12).  6.  der  abschluss  der  zerstöruug  (v.  54  =  B.  57).  in.  der 
Schlussabschnitt,  und  zwar  1.  die  kehrstrophe  (v.  55  =  B.  58). 
2.  die  drei  Strophen  von  der  welterneuerung  und  der  widerkehr 
der  götter  und  menschen  (vv.  56.  57.  58  =  B.  59.  60.  61).  3.  der 
neue  herscher  Baldr  (v.  59  =  B.  62).  4.  die  beiden  parallelen 
Strophen  von  der  neuen  Walhall  und  Nidhögg,  des  Helrepräsen- 
tanten,  endgiltigem  verschwinden  (vv.  61.  62  =  B.  64.  66). 

Unzweifelhaft  ist  die  Ragnarökpartie  innerhalb  des  gedichts 
ein  bewundernswertes  künstlerisches  ganze  für  sich  :  inhaltlich 
geschlossener,  formell  feiner  gegliedert  und  stilistisch  reizvoller 
variiert  als  alles  vorhergehnde,  konnte  man  sie  fast  für  ein  selb- 
ständiges kunstwerk  zu  halten  versucht  sein. 

Trotzdem  ist  dies,  wie  schon  unsere  bisherige  erörterung 
widerholt  zeigte,  sicher  nicht  der  fall,  und  die  episode  ist  gewis 
nur  in  jenem  festen  Zusammenhang  mit  dem  ganzen  denkbar, 
wie  ihn  Müllenhoff  in  seinem  gedanklichen  aufbau  und  seiner 
äufseren  gliederung  der  beiden  ersten  teile  des  gedichts,  die  die 
Vergangenheit  und  gegenwart  umfassen,  so  meisterhaft  darlegte, 
nirgends  treten  die  ergebnisse  unserer  Ragnarökbetrachtung  mit 
seiner  kritischen  sichtung  der  beiden  ersten  abschnitte  des  liedes, 
wo  seine  forschung  im  eigentlichsten  sinne  aufbauend  genannt 
werden  kann,  in  Widerspruch,  im  gegenteil,  sie  erhalten  gerade 
durch  sie  ihre  beste  bestätigung.  dies  im  einzelnen  erschöpfend 
darzulegen  und  auf  die  neuerlichen  versuche,  über  seine  kriti- 
schen ergebnisse  hinaus  umfangreiche  athetesen  in  diesen  beiden 
abschnitten  vorzunehmen,  principiell  hier  einzugehn,  fiele  aus 
dem  rahmen  dieser  arbeit  heraus,  dass  ich  hier  nicht  nur  dem 
radicalsten  jener  vorschlage,  dem  von  Wilken  (Zs.  f.  d.  ph.  30,  464. 
477.  481  und  33,  290),  der  den  ganzen  ersten  abschnitt  bis  zur 
Völuspastrophe  27  ausscheidet,  sondern  auch  den  vorsichtigeren 
kritischen  eingriffen  Boers  (aao.  s.  291  ff)  nicht  beipflichten  kann, 
ergibt  sich  naturgemäfs  aus  den  engen  beziehungen,  die  wir 
überall  im  verlauf  unsrer  darstellung  mit  den  ersten  beiden  ab- 
schnitten des  gedichtes  fanden,  unabhängig  aber  von  einer  solchen 
erschöpfenden  erörterung,  die  ja  im  gründe  einer  gesamtbetrachtung 
des    gedichts    gleichkäme    und   allein  die  innerste  seele  desselben 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLÜSPA  281 

enthüllen  könnte  —  und  mit  der  Ragnarökepisode  als  mit  der 
verhältnismäßig  bestüberlieferten  und  übersichtlichsten  milste  eine 
derartige  Untersuchung  immer  einsetzen  — :  scheint  es  mir  doch 
zum  schluss  angebracht,  ja  notwendig,  auf  die  hauptsäch- 
lichen Übereinstimmungen  zwischen  dem  letzten  teil  der  Völuspa 
und  den  beiden  ersten  abschnitten  noch  einmal  zurückzukommen, 
um  durch  ihre  etwas  eingehendere  betrachtung  die  tatsache  der 
engen  Zugehörigkeit  des  Ragnarökabschnitts  zum  ganzen  gedieht 
unbeschadet  ihrer  künstlerischen  Sonderstellung  im  liede  noch 
einmal  scharf  zu  beleuchten  und  die  bisher  dafür  vorgefundenen 
gründe  zu  vertiefen   und  zu  verstärken. 

Es  ist  zunächst  bei  besprechung  der  interpolalionen  in  R 
im  ersten  teil  schon  auf  die  verwantschaft  hingewiesen  worden, 
die  vv.  17  f  von  der  menschenschöpfung  mit  der  von  uns  ge- 
tilgten Strophe  v.  63  von  der  widerkehr  bestimmter  götter  ver- 
band, ob  sie  nun  aus  demselben  oder  verschiedenen  liedern 
kosmogonisch-eschatologischen  inhalts  stammen,  ihr  charakler  ist 
beidemal  derselbe,  wie  er  sich  auch  in  den  übrigen  inR  interpolierten 
visur  des  Ragnarökabschnitts  zeigt  :  eine  variantenhafte  weiter- 
ausführung  des  vom  dichter  angeschlagenen  themas,  die  aber 
über  das  ziel  hinausgeht,  das  sich  dieser  gesteckt  hat.  dass  der- 
selbe Charakter  auch  in  den  übrigen  visur  des  grofsen  inter- 
polationenstockes  (vv.  5.  6.  9 — 16.  19.  20),  wie  ihn  Müllenhoff 
(DA.  v  91  IT)  zuerst  im  gedichte  nachwies,  widerkehrt,  ergibt 
sich,  wie  eine  kurze  vergleichende  betrachtung  zeigen  wird,  un- 
schwer auf  grund  von  Müllenhoffs  einschneidender  athetese,  die 
mir  durch  Boers  abweichende  kritik  weder  eine  schmaleruug 
noch  eine  bereicherung  erfahren  zu  haben  scheint. 

An  zweiter  stelle  handelt  es  sich  um  die  frage,  ob  der  früher 
beobachtete  parallelismus  der  vv.  59.  60.  61  und  4.  7.  8,  der 
unmöglich  auf  zufall  beruhen  konnte  und  der  deutlich  zeigte,  dass 
beide  partieen  ursprünglich  im  bewusten  gegensatz  gedichtet  waren, 
sich  nicht  in  gleicher  weise  auf  die  abschnitte  der  Zukunft  und 
der  Vergangenheit  in  ihrer  gesamtheit  ausdehnen  lässt.  da  die 
inhaltliche  correspondenz  für  den  dritten  abschnitt  des  ersten 
teiles  (vv.  27 — 30)  und  den  ersten  des  dritten  (vv.  44 f)  ohne 
weiteres  in  die  äugen  springt,  indem  beide  von  der  fürsorge 
Odins  für  die  erhaltung  der  bedrohten  weit,  das  erste  mal  nach 
dem  verhängnisvollen  eidbruch  gegenüber  dem  riesen,  das  zweite 


2S2  NIEDIS'ER 

mal  vor  dem  drohenden  heranrücken  des  riesischen  heeres  han- 
deln, —  so  ist  diese  frage  aus  dem  nachweis  des  engsten  Ver- 
hältnisses der  Gullveig-Heid-Freyja-episode  (w.  21  —  27  R)  zu 
dem  Ragnarökmythus  im  engem  sinn  (vv.  47 — 54  R)  zu  erhärten, 
wozu  ebenfalls  wider  am  natürlichsten  die  Müllenhoffsche  auf- 
fassung  dieser  alten  partie  uns  verhelfen  wird. 

Am  wichtigsten  und  entscheidendsten  für  die  frage  der  Zu- 
sammengehörigkeit ist  aher  unzweifelhaft  eine  weitere  eingehnde 
hetrachtung  der  mittleren  partie  des  gedichts,  die  nach  Müllenhoff  die 
gegenwart  darstellt,  mit  dem  schlussabschnilt  der  Ragnarök.  in  dop- 
pelter hinsieht  war  uns  hier  früher  engste  innere  correspondeuz  her- 
vorgetreten, einmal  in  der  charakteristischen  gegenüberstellung  der 
schönen  endvisur  vv.  64.  66  und  der  unterwellspartie  vv.  37 — 39. 
sodann  in  der  offenbar  engen  beziehung  der  Raldrpartie  (vv.  31 — 35) 
mit  der  Strophe  von  seiner  widerkehr  (v.  62).  es  wird  sich 
hier  bei  näherer  hetrachtung  zeigen,  dass  die  abschnitte  von  den 
unterirdischen  sälen  und  dem  vorgange  bei  Baldrs  tode  ursprüng- 
lich in  einem  engern  Verhältnis  zueinander  standen  —  entsprechend 
den  vv.  62.  64  —  und  dass  dieses,  das  den  eigentlichen  mythischen 
und  dichterischen  ausgaugspunet  des  gedichts  darstellt,  offenbar 
durch  die  empfindliche  lücke  in  v.  36  verdunkelt  worden  ist. 

Um  nun  mit  dem  vergleich  der  interpolationen  zu  beginnen, 
so  waren  vv.  17  f  im  gedieht  zunächst,  wie  früher  bemerkt,  genau 
wie  v.  63  veranlasst  durch  die  echte  Strophe  4  :  äpr  Bors  syner 
bjgpom  of  yppo,  peir  es  mipgarp  moeran  sköpo.  die  schöpferische 
tätigkeit  der  drei  Borssöhne,  denen  hier  die  drei  Äsen  Odin- 
Hönir-Lodur  entsprechen,  wie  v.  63  die  doppelte  trinität,  indem 
Odin-Vili-Ve  hinzutreten,  wurde  hier  auch  auf  die  erschaffung 
der  menschen  hin  erweitert,  der  zusatz  vergleicht  sich  also  auf 
diese  weise  am  ersten  mit  dem  Dvergatal  vv.  9 ff,  nur  dass  nicht 
etwa  ein  reeiprokes  Verhältnis  mit  diesem  hier  vorligt,  wie  es 
Golther  (Handbuch  s.  526 f)  annimmt,  dass  die  zwerge  hölzerne 
menschenbilder  schnitzten  und  die  götter,  die  diese  dann  am 
meeresstraude  vorfanden,  sie  beseelten,  wie  Golther  unter  com- 
bination  der  beiden  Voluspainlerpolationen  mit  Gylfaginning 
c.  9  annimmt,  ist  im  höchsten  grade  unwahrscheinlich,  es  sind 
ollenbar  zwei  ganz  getrennte,  auf  andern  Voraussetzungen 
beruhende  schöpfungsmythen,  die  in  den  beiden  Zusätzen  vor- 
liegen :  schon  dass,  'wie  Müllenhoff  zeigt,    v.   17  f  offenbar    als 


RAGNARÜk  IN  DER  VÖLÜSPA  283 

allerer    zusatz    sich     durch    die    anknüpfung    verrät   (unz   [>rir 
kvömo  ör  pvi  lipe),  spricht  dagegen,     mit  dieser  gleichklang,  der 
durchaus  nicht  dem  interpolator  zugeschrieben  zu  werden  braucht, 
souderu    vermutlich    dem    allen    liedrest  ursprünglich  angehörte, 
hat  die  einfilgung  erleichtert,  wie  ja  in  v.  46  der  ausdruck  Mims 
syner  offenbar  die  anfügung  des  parallelen  helmings  vom  gellen- 
den    Gjallarhorn    vermitteln    half,     anderseiis   gehört  aber  unser 
zusatz    von    der  menschenschöpfung    in    die   kategorie  jener  er- 
weiterungen,    die    im  liede  das  bestreben  zeigen,    die  menschen- 
weit auch  äufserlich  mehr  zur  geltung  zu  bringen,  und  vergleicht 
sich    daher   dem    oben    berührten  zusatz  R   53    mono  haier  aller 
heimstop  rypja,  übrigens  auch  dem  in  R.  44,  der  vermutlich  aus 
einem  den  Vafthrudnismal  analogen  liede  slammt,  wo  der  menschen- 
welt    beim    Welluntergang    viel    directer  erwähuung    getan  ward, 
die  weise  Ökonomie  des  Völuspadichters,  die  trotzdem  die  menschen- 
schicksale    durchaus    gegenwärtig  hielt,    indem  sie  sie  gerade  an 
den  entscheidendsten    stellen  des  liedes  erwähnte,  —  vgl.  aufser 
v.44  noch  vv.  50.  59.  61  R,  wozu  auch  die  ausdrückliche  hindeutung 
durch  das  krähen  des  hahns  in  Walhall  in  v.  42  tritt  —  wurde 
schon    durch   jene  erweiterungeu  zerstört,  in  diesem  zusatz    des 
ersten  teils  aber  hat  sie  die  empfindlichste  beeinträchtigung  erfahren. 
Ganz  ähnlich  ligt  die  sache  nun  bei  dem  unmitlelbar  voraus- 
gehndeu  Dvergalal,    das  ja    in    seiner    gesamtheil   selbst    von    so 
ängstlich  auf  die  einheit  des  überlieferten  Völuspatextes  bedachten 
forschem  wie  Heinzel  (Edda  s.  25)  und  Rjörn  Magnüsson   'Olsen 
(Timarit  15,  102)   ausgeschieden    wird,     aber  auch  in  einer  ur- 
sprünglich  kürzern    form,   die    etwa  den  umfang  des  Valkyrjatal 
(v.  31)    gehabt   hätte,    wie  Heinzel  meint,    kann  das  gedieht  aus 
denselben    gründen,    nur   in  verstärktem  mafse,    nie  ein  teil  des 
ursprünglichen  liedes  gewesen  sein,    tatsächlich  hat  die  zwergen- 
welt  für  den  gang  der  handlung  ja  nicht  die  geringste  bedeutung. 
das   eiuzige  mal   wo  sie  nachdrücklicher  erwähnt  werdeu,  in  dem 
emphatischen  ausruf  (v.  49),  haben  sie,  die  armen  bestürzten,  nur 
eine    ornamentale    bedeutung  :  auch    wenn    in   v.  37   der  goldne 
saal  der  zwerge  aus  Sindris  geschlecht  neben  den  saal  Rrimis,  Okol- 
nir,  in  der  Unterwelt  gestellt  wird,  kann  ich  darin  eine  bange  frage 
und  bedenkenerregende  hiudeutung  auf  die  katastrophe  mit  Müllen- 
hoff  (DA.  v  119)    nicht   finden,     auch   hier  dienen  sie  nur,   wie 
sich    später  zeigen  wird,    mitsamt  dem   bierfröhlichen  riesen,  als 


284  MEDNER 

würksamer  contrast  zu  dem  (lüstern  verbrecliersaale.  wol  aber 
hat  dieser  ursprünglichste  und  echteste  kern  des  Dvergatal,  wie 
er  übereinstimmend  von  forschem  wie  Müllenhoff  (DA.  v  93) 
und  Heinzel  (Edda  s.  19)  angenommen  wird,  widerum  genau 
dieselbe  erweiternde  tendeuz  wie  die  zusätze  der  Ragnarökpartie, 
die  über  das  ziel  des  dichters  hinausschiefsen,  und  auch  darin 
zeigt  sich  das  variantenhafte  wider,  dass  die  nach  Heinzeis  vor- 
schlagen probate  erklä'rung  der  vv.  9f  widerum  einen  mythus 
ergibt,  der  schwerlich  mit  den  Voraussetzungen  der  echten 
schöpfungsstrophe  der  Völuspa  in  einklang  gewesen  ist.  das 
zwergenpaar  nämlich,  Motsognir  und  Durin,  das  nach  Heinzeis 
auffassung  durch  seine  kuustfertigkeil  nur  zwergenbilder  schmiedet, 
nicht  durch  zeugung  die  menschenbildende  Schöpfung  fortführt, 
ist  schwerlich  sehr  alte  Vorstellung,  und  die  art,  wie  die  götter 
dieses  ahnenpaar  der  zwergenwelt  erschaffen,  erinnert  an  eine 
dem  Ymirmythus  der  Snorra-Edda  verwante  auffassung,  die  sicher 
ebensowenig  wie  dieser  unserem  Hede  eigentümlich  war.  aber 
auch  die  art  der  äufseren  anknüpfung,  die  diesen  ältesten  zusatz 
veranlasste,  ist  der  der  vv.  17  f  und  v.  46  im  letzten  teil  durchaus 
verwaut.  es  ist  der  gleichklang  durch  die  kehrstrophe  gengo 
regen  oll  d  rekstöla,  ginnheilog  goß,  ok  of  pat  gcettosk,  die  Boer 
allerdings  auf  kosten  eines  einheitlich  redigierenden  schöpfungs- 
dichters  setzt,  der  die  alten  liedfragmente  durch  rahmenzudichtungen 
anflickte  :  aber  schon  FJönsson  (Litteraturhistorie  i  136)  deutet  an, 
dass  diese  formelhafte  halbstrophe  dem  parallelen  liede  ursprünglich 
eigentümlich  war,  und  es  ist  wol  das  nächstliegende,  anzunehmen, 
dass  sie,  wie  auch  v.  6  zeigt,  in  liedern  kosmogonischen  inhalts  gern 
refrainartig  verwant  wurde,  haben  wir  doch  eine  vollkommene 
analogie  in  der  dem  sinne  nach  ziemlich  synonymen  visa  der 
Thrymskvida  Setin  voro  dser  aller  d  pinge  ok  dsynjor  allar  d 
male  (v.  14),  die  in  Baldrs  draumar  bekanntlich  wörtlich  wider- 
kehrt, auch  wenn  man  mit  Sijmons  (Edda  s.  cccxlviii)  und  Kauff- 
mann  (Balder  s.  26)  die  annähme  eines  älteren  Vegtamliedes,  aus 
dem  die  Völuspa  wie  die  jetzige  Vegtamskvida  gemeinsam  schöpften, 
die  mir  noch  immer  wahrscheinlich  ist,  leugnet,  könnte  der 
formelhafte  anfaug  als  altererbtes  dichtergut  sehr  wol  auch  ohne 
bestimmte  nachahmung  eines  liedes  dem  jüngeren  gedichte  eigen- 
tümlich gewesen  sein,  dort  wie  hier  handelt  es  sich  ja  um 
typisch    widerkehrende    Situationen,   die  eine  bestimmte  fürsorge 


RAGNARÜK  IN  DER  VOLUSIW  285 

oder  Vorsorge  erheischen,  und  die  Wahrscheinlichkeit,  das>  nicht 
erst  der  iuterpolator  die  formelhaften  Zeilen  zur  anknüpl'ung  be- 
nutzte,  würde  um  so  gröfser,  wenn  würklich,  wie  MüllenholT  an- 
nahm, vv.  9f  aus  demselben  alten  liede  stammten,  dem  v.  5f  an- 
gehörten, in  diesem  falle  würde  ja  auch  in  jenem  hruckstück 
eines  Schöpfungsliedes  die  halhstrophe  darin  stef-artig  verwendet 
sein,  wie  der  Völuspadichter  dies  so  würksam  in  dem  prägnanten 
gegensatz  von  vv.  24  und  26  getan  hat. 

Dass  dies  in  der  tat  der  fall  ist,  scheint  mir  die  glänzende 
deutung,  die  Hoffory  dem  unzweifelhaft  alten  Strophenpaar 
vv.  5f  gegeben  hat,  nur  zu  bestätigen  (Eddastudien  s.  73 ff): 
und  diese  erklärung  wird  ja,  da  ihr  sachlich  nichts  widerstreitet 
und  sie  die  einzige  ist,  die  ein  wahrhaft  grofsarliges  dichterisches 
gemälde  in  v.  5  vor  uns  entrollt,  noch  immer  last  allgemein 
geteilt,  gewis  ist  es,  worauf  Olsen  (Timarit  103 IT)  mit  recht 
hinwies,  nicht  so  ungeschickt  in  das  gedieht  eingefügt,  wie 
MüllenholT  und  nach  ihm  Hoffory  annahmen,  aber  zum  gedieht 
selbst  kann  die  hochpoelische  visa  von  der  mitternachtssonne  nie 
gehört  haben,  und  anderseits  ist  der  innerste  Zusammenhang  mit 
der  allerdings  weit  weniger  dichterischen  v.  6  durch  Hoflbrys  aus- 
führungen  (s.  83)  durchaus  gesichert,  wider  ist  aber  bei  dieser  er- 
klärung der  typische  Charakter,  der  sämtlichen  R-zusätzen  eigen  zu 
sein  pflegt,  klar,  die  uuregelmäfsigen,  unsern  dichter  erschreckendeu 
naturvorgänge  bei  der  mitternachtssonne,  die  ein  neues  chaos 
heraufzu führen  scheinen  (v.  5),  entsprechen  der  echten  v.  3;  die 
Strophe,  die  Ordnung  in  die  natur  durch  die  götler  wider  hinein- 
bringt (v.  6),  entspricht  völlig  v.  4.  also  auch  hier  wird  dem 
gedanken  des  Völuspadichters  eine  erweiterung  gegeben,  die 
seine  absieht  überschreitet,  und  die  ähnlichkeit  des  ideenganges 
im  alten  liedfragmente  war  neben  der  gemeinsamen  kehrstrophe 
der  innere  grund  der  anknüpfung. 

Auf  jeden  fall  hat  man  es  in  vv.  5f.  91,  wenn  sie  zusammen- 
gehören, dem  mythischen  Charakter  nach,  kaum  mit  einem  Jüngern 
zusatz  zu  tun  als  vv.  17  f,  wenn  auch  die  ausführungen  Ilofforys 
zeigen,  dass  heziehungen  zum  VVessobrunner  gebet  in  den  worten 
söl  ne  visse,  hvar  sale  alle,  mäne  ne  vüse,  hvat  megens  alte,  bei 
der  bestimmten  Situation,  die  diese  verse  hier  zeigen,  nicht  liegen 
können,  und  es  ist  daher  keineswegs  richtig,  wenn  Roer  (aao. 
s.  299)   den  zusatz  mit  der  echten  v.  4  in  Zusammenhang  bringt, 


286  NIEDNEK 

die  er  aus  dem  gedieht  ebenfalls  ausscheidet,  v.  4  zeigt  diese 
gemeingermanischen  Beziehungen  und  die  übrigen  von  Bugge 
(The  home  of  the  Eddie  poems  s.  xxxm)  hervorgehobenen  zu  alt- 
englischen gedichten  allerdings  deutlich,  wie  dies  auch  der  alten 
Völuspa  ganz  natürlich  ist,  und  hat  mit  unsrer  auf  einem  singu- 
Iären  mythenbilde  aufgebauten  Strophe  nichts  zu  tun.  im  übrigen 
ähnelt  das  interpolierte  strophenpaar  dem  letzten  der  grofsen 
Müllenhoffschen  interpolation  (vv.  19 f)  äulserlich  insofern  auf- 
fällig, als  auch  dies  mit  einer  hochpoetischen  Schilderung  des 
weltbaums  einsetzt,  der  die  folgende,  unzweifelhaft  dazugehörige 
nornenpartie  nicht  gleichkommt. 

Auch  dieser,  wie  die  sachliche  beziehung  zu  den  drei  nornen 
(v.  8)  zeigt,  sicher  älteste  zusatz  zeigt  ganz  den  Charakter  der 
übrigen  erweiterungen,  indem  er  in  doppelter  weise  erst  das  bild  der 
nornen  näher  ausmalt,  dann  aber  eine  paralleldarstellung  zu  der 
echten  Völuspastrophe  vom  weltbaum  v.  27  bringt,  die  Boer  zu 
einer  transposition  der  v.  18  B.  an  jene  stelle  veranlasste,  um 
auf  diese  weise  eine  ungemein  complicierte  erklärung  der  eut- 
stehung  des  strophencomplexes  vv.  28 — 30  zu  gewinnen,  die  mir 
indes  noch  künstlicher  erscheint  als  die  früher  besprochene 
Charakterisierung  der  visur  62  f  (vgl.  die  tabellarische  übersieht 
s.  368  f).  indes  auch  den  versuchen  'Olsens  (Timarit  15,  391) 
und  Heinzeis  (aao.  s.  18),  durch  annähme  eines  verschollenen 
mythus  in  der  echten  v.  8,  oder  slatuierung  einer  kühnen  pro- 
lepsis,  durch  die  die  nornen  an  jener  stelle  im  voraus  angekündigt 
wurden,  steh  ich  im  hinblick  auf  MüllenholTs  vortreffliche  aus- 
führungen  (DA.  v  103)  skeptisch  gegenüber,  der  echte  kern 
des  strophenpaares,  zu  dem  freilich  die  aufzählung  der  nornen 
kaum  gehört,  steht  nämlich  offenbar  in  seiner  gesamt heit  in 
parallele  zu  vv.  28  ff.  mit  recht  weist  Müllenhoff  jeden  gedanken 
einer  combination  der  beiden  mythenformen  vom  wellenbaum, 
wie  sie  in  widersinniger  weise  die  Gylfaginniug  versuche,  als 
unnötig  zurück,  nirgends  wie  hier  zeigt  sich  der  so  oft  beob- 
achtete Vorgang,  dass  eine  echte  partie  der  dichtung  ausgiebiger, 
als  im  plane  der  dichtung  ligt,  zu  illustrieren  versucht  wird, 
dass  der  weltbaum  über  dem  Mimirbrunnen,  aus  dem  der  quell- 
dämon  diesen  durch  stete  bewässerung  pflegt,  nach  Müllenhoff 
die  ältere  nordische  Vorstellung  des  mythus  darstellt,  macht  die 
jüngere,  die  in  dem  Wortlaut  unsrer  interpolation  vorligt,  deshalb 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA  2S7 

nicht  wertlos,  als  schöne  dichtung  bezeichnet  er  sie  ebenfalls 
und  weist  ihr,  die  den  hohen  bäum  immergrün  Ober  dem  Urdar- 
brunnen  stehn  lässt,  wo  die  nornen,  die  der  Zeiten  wallen,  seine 
pflegerinnen  sind,  eine  durchaus  selbständig  berechtigte  poetische 
Stellung,  nur  nicht  im  zusammenhange  des  gedichts,  an.  nirgends 
wie  bei  diesem  R-zusatz  wird  aber  das  zusammentreffen  rein 
äufserlicher  und  innerlicher  anknüpfungsmotive  so  deutlich,  wie 
gerade  hier,  war  die  äufsere  anknüpfung  durch  den  gleichklang 
in  vv.  8  und  20  (drei  mä'dchen)  einmal  gegeben,  so  wurde  sie 
durch  die  denkbar  naturgemäfse  Verknüpfung  der  nornen  mit 
dem  Schicksal  des  weltbaums,  wie  eine  solche  in  parallelen  liedern 
vorlag,  aufs  würksamste  unterstützt. 

Worauf  es  uns  hier  lediglich  ankam  :  wir  sehen  in  allen 
Zusätzen  der  grofsen  interpolation  denselben  Charakter  wie  in  der 
Ragnarükpartie.  an  eine  einheitliche  interpolierung  möcht  ich 
indes  hier  wie  dort  nicht  glauben,  schon  die  anordnung  in 
den  erweiterungen  spricht  in  den  Zusätzen  des  ersten  teils  gegen 
einen  einheitlichen  schöpfungsdichter. 

Interessant,  wenn  auch  nicht  irgendwie  von  beweisender 
kraft,  ist  das  Verhältnis  zu  der  Überlieferung  der  Snorra-Edda. 
fast  sämtliche  Zusätze  in  R  nennt  oder  kennt  diese  wenigstens: 
die  ausnähme  mit  v.  63  kann  auf  zufall  beruhen,  da  hier  die 
quelle  der  Vafthrudnismal  ausgiebig  ausgebeutet  wurde  und  die 
Überlieferung  beider  gedichte  sich  durch  contamination  schwer 
vereinigen  liefs.  von  den  H-strophen  aber  kennt  die  Gylfaginning 
v.  65  und  40,  3.  4  sicher  nicht,  kaum  auch  hat  sie  v.  48  f  und 
30,  1.  2  vor  äugen  gehabt,  auch  dies  spricht  für  den  späten 
litterarischen  Charakter  dieser  zusätze  im  gegensatz  zu  den  my- 
thisch-organischen der  R-zusalzstrophen. 

Spricht  so  die  gleichartigkeit  des  interpolationengewächses, 
das  allmählich  das  alte  gedieht  umrankt  hat,  für  die  einheitlichkeit 
des  Völuspakernes,  so  ergibt  schon  eine  oberflächliche  belrachtung 
der  anläge  auch  den  völligen  parallelismus  der  abschnitte,  die  die 
Vergangenheit  und  die  Zukunft  darstellen,  in  ihrer  gesamtheit.  die 
entsprechung  der  früher  besprochenen  visur,  die  das  goldene  Zeit- 
alter der  götler  in  der  alten  und  in  der  neuen  weit  schildern,  würde 
sicher  noch  lebendiger  hervortreten,  wenn  nicht  die  halbstrophe 
v.  61,  3.  4,  die  offenbar  eine  weitere  ausmalung  der  glücklichen 
neuen   ära   enthielt,    verloren    wäre,     hervorgehoben   zu    werden 


288  N1EDNER 

verdient  auch,  dass,  genau  wie  der  blick  des  dichters  im  neuen 
götterreiche  nach  ßaldrs  erscheinen  in  eine  unendliche  ferne 
zukuuft  schweift,  er  vor  der  weltschöpfung  und  dem  seligen 
Zeitalter  der  Äsen  sich  in  die  unermessliche  urzeit  verliert,  und 
eine  ähnliche  differenzierung  der  zeit  findet  noch  einmal  in  den 
abschnitten  vor  den  gölterfehden  statt,  die  beidemal  den  kern- 
puuct  des  vergangenheits-  und  Zukunftsabschnittes  bilden,  die 
partieen,  die  von  Odins  Verhältnis  zu  Mime  und  seiner  göttlichen 
fiirsorge  handeln,  ragen,  obvvol  der  dichterischen  einkleidung 
nach  zu  Vergangenheit  und  Zukunft  gehörig,  doch  in  ihrer  actu- 
ellen  bedeutung  beidemal  hart  in  den  gegenwartsabschnitt  hinein, 
die  beiden  partieen  aber,  die  den  eigentlichen  kern  der  ver- 
gangenheits- und  zukunflsepisode  enthalten,  correspondieren 
ebenfalls  in  der  anläge  auf  das  glücklichste,  stellen  hier  die 
götterfehden  in  der  tötung  des  riesischen  baumeisters  durch  Thor 
das  entscheidendste  document  der  machtstellung  der  Äsen  dar, 
enthalten  sie  jedoch  in  dem  bruch  der  beschworenen  eide  schon  den 
keim  ihres  Unterganges,  so  war  dort  der  riesenkampf  das  end- 
giltige  zeugnis  ihrer  Zertrümmerung,  indes,  da  auch  die  riesen 
fallen,  zugleich  die  vorbedinguug  für  ein  neues  mächtiges  Asen- 
reich.  und  dem  bedeutsamsten  ereignis  vor  dem  neuen  goldnen 
Zeitalter  dort  entspricht  hier  gleichfalls  das  folgenschwerste,  die 
Verkettungen  unglücklicher  fehden,  die  in  v.  26  ihren  höhepunct 
erreichen. 

Sind  auch  die  Vorgänge,  die  in  fortschreitender  Steigerung 
zur  entscheidenden  Verschuldung  der  götter  führen,  complicierter 
als  der  riesenkampf  im  zweiten,  und  die  drastik  und  kürze  des 
ausdrucks,  die  uns  schon  die  beiden  Thorstrophen  R  27  und  53 
vergleichen  liefs,  hier  noch  stärker,  der  beherschende  grund- 
gedanke,  wie  er  in  Müllenhoffs'ausführungen  (DA.v95 — 99)  zutage 
tritt,  verbreitet  doch  über  das  ganze  durch  die  identiücierung 
der  Gullveig-Heib-Freyja  vollkommene  klarheit,  die  Boers  athetesen 
nirgends  notwendig  erscheinen  lassen.  Boers  bedenken  sind  im 
wesentlichen  dreierlei  art.  zunächst  sieht  er  eine  unerträgliche 
tautologie  darin,  dass  es  in  v.  21,  wo  von  der  mishandlung  der 
Gullveig  die  rede  ist,  heifst:  pat  man  folkvig  fyrst  i  heime,  und  v.  24, 
da  von  Odins  speerwurf  geredet  wird,  noch  einmal:  pat  vas  enn 
folkvig  fyrst  i  heime  (s.  300).  sodann,  dass  die  Gullveig- Heid- 
geschichte nicht  nur  nach  der  absieht  des  dichters,  sondern  auch 


RAGNAKÖK  IN  I»EK  VÖLÜSPA  239 

des  angeblichen  interpolators  mit  dem  Vaneukriege  nichts  zu  tun 
habe,  wodurch  die  tiefsinnige  iuterpi etation  dieses  mythus  durch 
Mülleuhoff  verurteilt  sei  (s.  303).  endlich  aber,  dass  auch  v.  23 
im  gegebenen  Zusammenhang  interpoliert  sein  müsse,  da  offenbar 
die  beratungen  in  ihr  vor  dem  Vanenkrieg  eine  ganz  andre  form 
des  Vanenmythus  voraussetzen  als  v.  24,  indem  im  ersten  fall 
die  gölter  sieger  blieben  wie  in  der  darslellung  der  Ynglingasaga, 
während  im  letzten  die  Vanen  den  sieg  davon  trugen  (s.  304  f). 
keines  dieser  drei  argumente  scheint  mir  indes  stichhaltig,  wenn 
man  sich  nur  die  souveräne  art  vergegenwärtigt,  wie  der  dichter 
die  überlieferten  mythen  seinen  zwecken  auch  sonst  dienstbar 
macht  (Olrik  aao.  s.  270),  so  dass  er  sowol  den  Vanenkrieg  wie 
die  episode  mit  dem  riesischen  baumeister  anders  als  die  land- 
läufige Überlieferung  vorträgt,  um  sie  zu  verknüpfen,  anderseits 
aber  die  beabsichtigte,  offenbar  auf  höchste  Spannung  der  Zu- 
hörer berechnete  kunst  erwägt,  mit  der  er  das  voteqov  nQÖreqov 
doppelt  (w.  21  f.  23  f)  verwendet. 

Der  gedanke  von  der  verderblichen  macht  des  goldes,  der 
ja  gerade  in  germanischer  phantasie  und  dichtung  von  jeher  eine 
so  groi'se  rolle  gespielt  hat  und  insbesondere  in  den  Eddaliedern 
auch  sonst  spielt,  ist  das  einigende  band,  das  diese  ganzen 
Strophenreihen  ungezwungen  aneinander  schlielst.  kann  man 
doch  darin  eine  deutliche,  sich  immer  dramatischer  steigernde 
scala  verfolgen,  in  den  worten  vas  peim  vcetterges  vant  ör  golle 
sehen  wir  das  gold  noch  in  seiner  unschuldigen  würkung  auf 
die  phäakenhaft  sorglos  dahinlebenden  götter,  die  sich  an  der 
anfertigung  goldener  Schmiedearbeiten  ergötzen,  die  v.  21  leitet 
danu  allmählich  aus  der  Vorstellung  des  metalls  zu  der  auffassung 
einer  persönlichen,  verführerisch  würkenden  dämonischen  gottheit 
über,  anders  kann  ich  mir  den  sinn  nicht  erklären,  wenn  die 
mishandlung  der  göttin  durch  die  götter  auch  in  der  darslellung 
des  gedichts  in  derselben  weise  erfolgt,  wie  von  altersher  die 
procedur  der  goldläuterung  vor  sich  gieng  (Müllenhoff  aao.  s.  36. 
Heinzel  aao.  s.  31).  in  den  nach  dieser  richlung  doppelsinnigen 
worten  prysvar  brendo,  prysvar  borna  ist  das  deutlich  zum  aus- 
druck  gebracht,  die  nächste  Steigerung  finden  wir  dann  in  der 
gestalt  der  Heid,  die  als  Zauberin  spuk  treibt,  wie  sie  kann: 
hier  ist  die  personification  bereits  vollendet,  und  mit  recht  sehen 
Müllenhoff  und  Heinzel  in  ihr  eine  hypostase  der  Freyja,  die  ja 
Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXXVII.  t9 


290  N1EDNER 

auch  sonst  als  zauberin  gedacht  ist.  durch  sie  wird  die  Ver- 
knüpfung mit  dem  Vanenabenteuer  vorbereitet:  von  den  Vanen  näm- 
lich, aus  denen  Freyja  stammt,  kommt  den  Äsen  das  weitere  unheil, 
das  dann  zum  moralischen  eidbruch  führt,  einerseits  wird  näm- 
lich durch  die  aufnähme  der  Vanen,  der  reichen  handelsgütter, 
die  olympische  naivelät  des  alten  göttergeschlechts  endgiltig  er- 
schüttert, anderseits  wird  widerum  die  Vaniu  Freyja  das  streit- 
object  bei  dem  ganzen  vertrag  mit  dem  riesen,  das  dann  in  v.  27 
zur  Verschuldung  führt. 

Hält  man  diesen  gedaukengang  fest,  dann  schwinden  alle 
gegen  die  innere  einheit  der  parlie  erhobenen  bedenken  leicht, 
nimmt  man  nämlich  eine  solche  kette  von  würkungen  der  Gullveig 
an,  so  ist  es  ganz  natürlich,  dass  auf  den  ersten  kämpf  zweimal 
hingewiesen  wird,  das  erste  mal  an  der  stelle,  wo  die  unheil- 
volle würkung,  die  streit  und  Zerwürfnis  heraufbeschwört,  beginnt, 
das  zweite  mal,  wo  sie  in  dem  tatsächlichen  kämpfe  Odins  ihren 
höhepunct  erreicht  und  wo  dann  zugleich  das  folgenschwerste 
ereignis  des  ersten  teils,  der  Zwiespalt  mit  den  riesen,  einsetzt, 
das  enn  (v.  24)  ist  also  von  der  gröslen  Wichtigkeit,  der  un- 
gemein prägnante  sinn,  der  in  ihm  ligt,  wird  vielleicht  durch 
Gering  (grofses  glossar  s.  211)  noch  treffender  als  Müllenhoffs 
'ferner'  durch  'immer  noch'  übersetzt,  die  vorausdeutung  an 
erster  stelle  aber  gehört  in  dieselbe  kategorie  würksamer  pro- 
lepsen,  die  wir  schon  widerholt  im  verlauf  unserer  darstellung 
fanden,  gerade  bei  dem  sprunghaften  und  sich  fast  durchweg 
nur  in  andeutungen  ergehenden  Stile  dieser  ganzen  episode  war 
eine  hindeutuug  auf  den  kernpunct  des  mythischen  Zusammen- 
hangs hier  besonders  erwünscht. 

Ebenso  ist  bei  unserer  auffassung  an  einer  Zusammengehörig- 
keit des  Gullveig-Heid-mythus  mit  dem  vom  Vanenkriege  nicht 
zu  zweifeln,  die  worle  Heipr  —  seip,  hvars  kanne,  seip  hug- 
leikenn  und  knötto  vaner  vigskö  vgllo  sporna  bedeuten,  wenn 
würklich  Heid-Freyja  eine  abgesante  der  Vanen  ist,  wie  Müllen- 
hoff,  gestützt  auf  die  parallele  von  Ynglingasaga  c.  4  annimmt, 
inhaltlich  genau  dasselbe,  nämlich  den  verderblichen  einfluss,  den 
das  neue,  den  reichtum  darstellende  dement  auf  die  götter  ausübt, 
einen  weitem  Zusammenhang  freilich,  wie  ihn  Olsen  zwischen 
w.  22  und  23  ansetzt  (Timarit  15,331),  im  hinblick  auf  die 
beratungen  der  götter,  kann  ich  nicht  annehmen. 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLÜSPA  291 

Vor  allen  dingen  aber  :  die  behauptete  uneinheitlichkeit  der 
vv.  23-  24  besteht  in  keiner  weise,  wenn  in  der  Ynglingasaga 
e.  4  ausdrücklich  die  Äsen  als  die  angreifer  der  Vanen  bezeichuet 
werden,  die  dort  ihr  land  verteidigen,  und  wenn  von  längeren»  krieg 
und  wechselndem  kriegsglück  gesprochen  wird,  so  weicht  unsere 
Völuspadarstellung  zwar  ab,  indes  doch  nur  gerade  so  weit,  als 
die  Verbindung  mit  dem  Gullveig-mythus  dies  notwendig  machte, 
naturgemäfs  muste  die  initiative  der  Vanen  hier  urgiert  werden, 
so  dass  die  worte  brotenn  vas  borpveggr  borgar  dsa,  knötto  vaner 
vigskö  vgllo  sportia  sie  nicht  nur  in  die  rolle  der  angreifer  rücken, 
sondern  auch  als  endgiltige  sieger  erscheinen  lassen,  genau  auf 
diesem  boden  des  abgeänderten  mythus  aber  stehn  die  angaben 
der  visa  23.  was  die  götter  dort  beraten,  kann  sich  unmöglich 
auf  die  Vorgänge  in  v.  22  beziehen,  wie  Olsen  (Timarit  15,  3311) 
meint,  so  dass  es  sich  um  die  frage  gehandelt  hätte,  ob  die  Äsen 
allein  oder  zusammen  mit  den  Vanen  die  bufse  für  den  tod  der 
Gullveig-Heid  entrichten  sollten,  von  einer  bufse  für  deren  tod 
konnte  füglich  überhaupt  keine  rede  sein,  da  v.  21  deutlich  zeigt, 
dass  sie  wol  mishandelt,  aber  nie  getötet  wird  und  immer  in 
anderer  gestalt,  ganz  ihrer  symbolischen  bedeutung  gemäfs,  wider 
auflebt  :  die  ervveiterung  opt  ösjaldan  :  —  pö  enn  Ufer  bringt 
diesen  selbstverständlichen  gedankeu  überflüssiger  weise  noch 
zum  ausdruck.  es  kann  sich,  und  in  diesem  puncte  stimmen  ja 
Müllenhoff  (aao.  s.  98)  und  Heinzel  (aao.  s.  33)  völlig  zusammen, 
durchaus  nur  um  mafsnahmen  handeln,  die  die  einrichtung  des 
neuen,  gemeinsamen  götterstaates  betreffen  :  unter  dieser  Voraus- 
setzung aber  scheint  mir  die  Mülleuhoffsche  erklärung,  dass  die 
Aseu  und  Vanen  gemeinsam  erwogen,  'ob  die  Äsen  schoss  zahlen 
sollten,  oder  die  götter  alle  sollten  opfer  haben',  noch  immer  die 
natürlichste,  die  dem  Zusammenhang  am  meisten  gerecht  wird, 
auch  die  sprachlichen  einwände,  die  gegen  die  deutung  von 
afrdp  gjalda  im  norwegischen  sinne  als  'abgäbe,  tribut  zahlen' 
und  gegen  gilde  eiga  als  'anrecht  auf  opfer  haben'  erhoben  sind, 
und  die  zu  anderer  erklärung  der  Situation  anlass  gaben,  können 
sein  ergebnis,   glaub  ich,   sachlich   kaum  verändern  *.     denn  das 

1  Heinzel  entscheidet  sich  an  erster  stelle  für  die  erklärung  'ob  die 
Äsen  hier  bufse  erleiden  und  alle  götter  (Äsen  ebenso  wie  Vanen)  opfer  er- 
halten sollen'  und  bezieht  die  erwägung  auf  einen  entsprechenden  ansprucli, 
den    die  Vanen    an    sie    gestellt  haben.     Boer  (aao    s.  304)  denkt   an  eine 

19* 


292  NIEDNER 

ergebnis,  dass  es  zu  einer  Vereinigung,  zu  einem  göücrstaate 
kam,  worauf  der  vielbesprochene  visuhelming  23,3-4  abzielt, 
war  ja  nicht  neuerung  des  Yöluspadichters,  sondern,  wie  der 
vergleich  der  Ynglingasaga  zeigt,  eigeutum  des  mylhus  selbst. 

Ist  so  die  genaue  entsprechung  der  ganzen  vergangenheits- 
uod  zukuuflsparlie  in  vollem  umfange  zu  tage  getreten,  so  können 
daran  die  nachdrücklichen  erwähnungeu  der  Vojva  in  v.  lf  und 
vv.  28 ff,  die  im  dritten  teil  kein  gegensliick  haben,  natürlich 
nichts  ändern,  denn  noch  in  diesem  ersten  teil,  bevor  sie  mit 
der  Vergangenheit  abschloss,  muste  sie  sich  ja  als  prophetin 
legitimieren,  hier  ist  eben  deutlich  die  stelle,  wo  noch  das  muster 
der  Völuspä ,  das  alte  Vegtamslied  ,  klar  hindurchschimmert, 
'vv.  28 ff  lassen  noch  ganz  deutlich  das  alte  vorbild  erkennen', 
ich  freue  mich,  diese  worte  Wilkens  (Zs.  f.  d.  ph.  33,  328),  mit 
dem  ich  sonst  so  wenig  berührungspuncte  habe,  voll  unter- 
schreiben zu  können. 

Treff  ich  in  der  auffassung,  dass  der  dichter  der  Völuspa 
durch  ein  solch  älteres  Vegtamslied  angeregt  wurde,  die  zukuufts- 
prophezeiungen,  die  sich  dort  auf  Baldrs  Schicksale  allein  be- 
zogen, auf  die  gesamtentwicklung  der  götter-  und  menschen- 
geschicke  auszudehnen,  vollkommen  mit  Wilken  zusammen,  so 
kann  ich  ihm  doch  schon  darin  nicht  mehr  folgen,  wenn  er  die 
mittlere  partie  des  gedichts,  zu  der  wir  uns  ja  zum  schluss 
wenden  wollten,  als  gegenwartsabschnitt  im  sinne  Mülleuhoffs 
läugnet.    ich  meine,  dass  dies  im  hinblick  auf  das  alte  Vegtams- 

musterung  vor  dem  kämpf,  die  Äsen  erwägen,  ob  sie,  wenn  der  krieg  aus- 
breche, eine  niederlage  erleiden  {af'raü  =  afhroü)  oder  endlieh  den  !«ieg 
davontragen  werden.  'Olsen  endlich  (Timarit  15,  33  ff)  erklärt  gilde  eiga 
für  gjalda,  afräp  prjalda  =  ferJ5a  firir  nkada.  in  seiner  beziehung  auf 
v.  22  steht  er,  wie  oben  bemerkt,  einsam  da,  ebenso  in  der  auffassung  von 
gilde  eiga,  die  Boer  sprachlich  nicht  völlig  mitmachen  kann.  Boers  auf- 
fassung selbst  steht  aber  sachlich  überhaupt  nicht  notwendig  in  Widerspruch 
mit  der  form  des  Vanenmythus  in  v.  24:  diese  erwägungen  konnten  die 
Äsen  doch  auch  anstellen,  wenn  sie  einen  angriffskrieg  der  Vanen  befürchteten. 
Heinzeis  erklärung.  endlich  würde  —  da  die  Äsen  doch  die  besiegten  sind  — 
ebenso  gut  auf  die  Situation  nach  dem  kämpfe  passen,  seine  auffassung  des 
afräp  gjalda  ist  ja  augenscheinlich  die  jetzt  ziemlich  allgemein  angenom- 
mene, und  ich  meine,  dass,  wenn  man  sie,  die  'Olsen  von  seinem  isländischen 
standpuncte  aus  eingehend  verteidigt  hat,  acceptiert,  kann  Mülleuhoffs  iots- 
qov  tiqoxeqov  doch  ruhig  bestehn. 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA         293 

lied  ebensowenig  notwendig  ist,  wie  jene  umfangreiche  atlietese, 
die  er  mit  dem  ganzen  ersten  teil  des  gediclits  vornahm,    soweit 
der  anfang   unseres  liedes  durch  die  oil'enhare  verwanlschaft  vou 
v.  28  ff   mit   dem    älteren    gedichte,    die  wir  ja    beide   annehmen, 
festgelegt  werden  soll,    kann  ich  ihm  in  keiner  weise  mehr  bei- 
stimmen,    wenn    ich    in    meiner    frühern    arbeit  (Zs.  41,  38)  an- 
nahm, dass  der  Völuspadichter  durch  das  ältere  gedieht  angeregt 
wurde,  die  Weltschicksale  nicht  nur  in  die  Zukunft  hinein,  sondern 
auch  tief  zurück  in  die  Vergangenheit  durch  die  Seherin  beleuchten  zu 
lassen,  so  glaub  ich  dem  künstlerischen  Charakter  des  dichters,  wie 
er  auch  sonst  hervortritt,  gerechter  geworden  zu  sein  als  Wilken. 
unterstützt  wird  meine  Voraussetzung  schon  durch  den  eben  be- 
handelten vollkommenen  parallelismus  der  abschnitte  der  Vergangen- 
heit und  zukunft  aufs  würksamste.    ich  meine  aber,  eine  eingehnde 
betrachtung  der  mittelpartie,    die  Wilken  als  gegenwart  verwirft, 
dürfte   sie   noch    fester   begründen,     es  ergibt  sich  nämlich  hier 
innerhalb    des    gegenwartsabschuittes    sofort   die  gleiche,    bewust- 
kunstvolle    auordnung    hinsichtlich    der    zeit,    wie  bei    der    ver- 
gangenheits-  und  zukunflsschilderung,  und  die  eigentlichste  gegen- 
wart,   von  der  der  dichter  ausgeht,    ligt  offenbar  in  vv.  36 — 39. 
Es  sind  deutlich  drei  gruppen  von  Strophen  zu  unterscheiden. 
die  erste  (vv.  31 — 35)  erzählt  die  tragodie  von  Baldrs  tode.    die 
zweite  (vv.  36 — 39)  gibt,   äufserlich  zunächst  scheinbar  ganz  zu- 
sammenhangslos, eiue  Schilderung  der  verschiedenen  säle  hei  Hei. 
die  dritte  (vv.  40 — 43)  beschäftigt  sich  mit  hindeutungen  und  zum 
teil  auch  prokptischen  erürterungen  der  Zukunftstragödie,  für  die 
Wichtigkeit,    die    dem    gegenwartsabschnilt    als    kernpunet   seiner 
dichtung  vom  dichter  beigemessen  wird,  spricht  schon  die  breite 
der  ausmalung,    die  in  allen  teilen  dieser  partie  in  keinem  ver- 
hiillnis    zu   dem    sonst   rapiden   fortgang    der   handlung    im   liede 
steht,     die    eigentliche    Baldrpartie   umfasst    fünf  visur,    die    dar- 
stellung  der  Unterwelt,  falls  man  v.  36,  wie  man  muss,  als  defect 
betrachtet,  vier  visur.    zwei  Strophen  nimmt  der  sonnenwolf,  zwei 
die  hähnepartie  in  anspruch  (40  f.  42  fj.    von  diesen  abschnitten 
fällt  der  tod  Baldrs,  streng  mythisch  genommen,  noch  in  die  Ver- 
gangenheit :  das  letzte,  bedeutsamste  ereignis  derselben,  das  durch 
seine  actuelle   hedeutung   aber  ein  lebendiger  teil  der  gegenwart 
wird,     die  saalparlie  schildert,  wie  schon  ein  vergleich  von  vv.  38  f 
mit  45  zeigt,  einfach  gegenwärtige  zustände,    dagegen  greift  der 


294  N1EDNER 

letzte  abschnitt  —  das  bedeutungsvolle  krähen  der  bahne '  — 
schon  hart  in  die  Zukunftsereignisse  über,  der  innere  Zusammen- 
hang, der  die  drei  teile  verbindet,  ist  im  ganzen  vollkommen 
klar,  naturgemäfs  führt  Baldrs  tod  auf  das  reich  Hels,  und  ebenso 
uaturgemäfs  schliefst  sich  die  kündung  kommenden  Unheils  an 
die  verbrecherscenen  im  höllischen  saale.  nur  in  der  äufseren 
anknüpfung  klafft  nach  v.  35  eine  lücke.  hier  ist  die  defecle 
v.  36  verhängnisvoll  geworden. 

Dass  die  ergänzung  des  zweiten  helmings  von  v.  36  nach 
der  erwäbuuug  des  höllenflusses  Slip  —  so  fasst  mau  diesen  ja 
jetzt  allgemein  auf  —  eine  bedeutsame  bemerkung  enthalten 
haben  muss,  die  über  die  gesamte  höllensaalpartie  licht  verbreitete, 
zeigt  die  Ungereimtheit  der  ganzen  Vorstellung,  die  sich  bei  der 
jetzigen  Überlieferung  ergibt,  dass  erst  der  reifsende  fluss  mit 
messern  und  Schwertern,  der  durch  gifttäler  strömt  und  schon 
dem  wortlaut  nach  au  den  INaströudsaal  in  v.  39  erinnert  (vgl. 
d  feür  aiislan  um  eilrdala  und  fello  eitrdropar  inn  of  Ijöra),  so 
drastisch  ausgemalt  wird,  dann  plötzlich  zwei  unterweltliche 
Phäakenheime  erwähnt  werden,  und  dann  widerum  die  fürchter- 
lichste höllenlandschaft  geschildert  wird,  darin  ligt  ein  mis- 
verhältnis.  FJönsson  hat  dies  misverhältnis  wol  empfunden, 
wenn  er  (Literaturhistorie  l  136)  die  Strophe  von  den  Phäaken- 
sälen  glatt  streicht,  jedesfalls  nicht  weniger  gewaltsam  als  diese 
atbetese,  die  ja  widerum  nur  unter  der  annähme  derselben  lehr- 
haften tendenz  des  Verfassers  dieser  Strophe  verständlich  würde, 
die  Sijmons  dem  echten  Völuspadichter  beimessen  wollte,  ist  doch 
wol  der  versuch  der  inhaltlichen  ausfüllung  unsrer  lücke,  zu  der, 
wie  ich  meine,  am  besten  widerum  das  zurückgreifen  auf  das 
vorbild  des  Völuspadichters,  jene  alte  Vegtamskvida,  verhilft. 

1  an  die  ursprünglichkeit  dieser  darstellung  ist  trotz  Boers  einwänden 
durchaus  nicht  zu  tasten  :  in  treffender  weise  wird  in  diesen  mythischen  not- 
signalen  noch  einmal  am  schluss  auf  den  ganzen  abschnitt  vv.  40  f  (götter- 
weit), v.  36  ff  (unterweit)  und  v.  31  ff  (Äsen weit)  zusammenfassend  zurück- 
gewiesen, ich  treffe  in  dieser  beibehaltung  des  überlieferten  mit  Sijmons 
(Edda  s.  cccxlvii)  zusammen,  nicht  aber  in  der  begründung.  denn  mit  dem 
mafsstab  didaktischer  dichter  darf  die  Völuspa  sicher  nicht  gemessen  werden, 
nur  die  Überlieferung  ist  offenbar  daran  schuld,  dass  die  bedeulung  der  drei 
säle,  die  Sijmons  als  parallele  für  die  lehrhafte  neigung  des  Völuspadichters 
herbeizieht,  verdunkelt  wurde,  und  in  der  charakteristischen  auf- 
zühlung  von  walkürennamen  (Müllenhoff  DA.  5,111)  ligt  ebenfalls  kein  heitatal 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA  295 

Retrachtet  man  die  jüngere»  'Raldrs  draumar',  die  ja  ebenfalls 
aus  jener  schöpften,  so  ergeben  sich  —  wie  bekannt  —  zwischen 
diesem  gedieht  und  der  Völuspa  die  auffallendsten  sachlichen  Über- 
einstimmungen, nahezu  alle  motive  des  jüngeren  liedes  kehren  in 
unserm  gediebte  wider,  nämlich  die  Völva  in  ihrem  Verhältnis  zu 
Odin,  das  Heireich,  der  hölleuhund,  die  episode  von  Raldrs  tötuog, 
seine  räche  durch  Vali  und  endlich  die  beziehung  auf  die  Rag- 
uarök  selbst,  ja  wenn  die  rätselhafte  anspielung  in  v.  12  auf 
Fiiggs  äugen  gedeutet  werden  könnte  (Edzardi  Germ.  27,  337) 
—  eine  unbestrittene  erklärung  fehlt  noch  — ,  würde  selbst  das 
weinen  der  götlermutter  nicht  fehlen,  auf  keinen  fall  haben  wir 
grund,  auch  dieseu  letzten  zug  wie  alle  übrigen  genannten,  dem 
alten  Vegtamsliede  abzusprechen,  wenn  auch  jenes,  worauf 
FJönssou  (aao.  s.  147)  mit  recht  weist,  sicher  mit  einer  würk- 
samereu,  dem  schluss  der  Vafthruclnismal  ähnlichen  rätselfrage 
schloss. 

Sicher  nicht  correspoudiert  mit  dem  vorliegenden  text  der 
Vüluspa  Vegtamskvida  7,  wo  von  Raldrs  verweilen  in  der  unter- 
weit gesprochen  wird,  und  wo  es,  nachdem  vorher  (v.  3)  von  dem 
hoben  gemach  der  Hei  die  rede  war,  heifst  :  'hier  steht  für  Raldr 
gebraut  das  mahl,  der  schimmernde  trank,  ein  schild  ligt  darüber', 
kann  es  nun  eine  passendere  ausfüllung  der  lücke  in  v.  36  geben, 
als  eine  einfügung  dieses  bildes  dem  sinne  nach  in  unsre  paitie? 
dächte  man  sich  die  visa  36  mit  bezug  auf  Vegtamskvida  3.  7 
etwa  so  hergestellt  :  A  fellr  austan  um  eidrdala  spxom  ok  sverpom, 
Slipr  heiter  sü.  pytr  at  hövo  Heljar  ranne:  par  stendr  Baldre 
of  bruggenn  mjopr,  so  wäre  jedesfalls  in  dreifacher  hinsieht  eine 
dem  sinne  nach  angemessene  anknüpfung  gefunden. 

Zunächst  ist  die  härte  des  äufseren  Zusammenhangs  ge- 
mildert, die  reihenfolge  'hölleufluss  —  unterweltselysium  — 
unterweltstartarus'  wird  nun  erst  recht  verständlich,  da  auf  der 
einen  seite  ein  hüllenstrom,  der  von  Raldr  überritten  werden 
muss,  ehe  er  in  sein  unterweltliches  domicil  gelaugt,  auch  in  der 
Gylfaginuing  c.  43  erwähnt  wird,  also  zur  mythischen  tradilion, 
die  der  Völuspadichter  vorfand,  gehörte,  auf  der  andern  seite 
aber  die  phäakenhaften  riesen-  und  zwergensäle  in  v.  37  äufser- 
lich  zunächst  den  guten  zweck  verfolgen,  die  andeutung  von 
Raldrs  elysäischer  wohnung  würksam  zu  unterstützen,  der  gold- 
saal  Siudi  is  wie  der  biersaal  des  jöten  Rrimir  schliefsen  sich  eng 


296  NIEDNER 

au  diese  Vorstellung  vou  Baldrs  behausung  an,  wie  sie  nach 
der  weiten  ausführung  Vegt.  6  vorausgesetzt  werden  muss. 

Sodann  fällt  aber  bei  der  vorgeschlagenen  ergänzung  auch 
auf  den  inuern  Charakter  der  visa  37  erst  das  richtige  licht,  es 
ist  höchst  bedeutsam  und  der  anläge  des  liedes  durchaus  ent- 
sprechend, wenn  im  gegensatz  zu  den  menschen,  die  vernichtet 
werden  sollen  und  deren  schon  vernichtete  exemplare  uns  in 
vv.  3Sf  vorgeführt  werden,  in  v.  37  der  triumphierende  riese 
Brimir  sein  leben  ebendort  in  walhallischer  wonne  verbringt 
und  in  seinem  saal  in  Unkühlbeim  symbolisch  die  zunächst  ja 
auch  siegende  vßqig  der  riesen  widerspiegelt,  aber  erträglich 
wird  dieses  bild  doch  erst,  wenn  gleichzeitig  der  künftige  herscher 
der  erneuten  well  hier  schon  als  tröstendes  gegenbild  in  der 
unterweit  daneben  steht,  wie  in  einem  schattenhaften,  aspho- 
delischen  Vorspiel  erscheinen  hier  also  die  drei  hauptmotive  der 
kommenden  Ragnarök  :  'die  zunächst  die  Zerstörung  herbeiführen- 
den, dann  aber  selbstfallendeu  riesen,  die  vernichteten  menschen,  die 
aber  der  Verjüngung  der  götter  entsprechend,  neue  glückliche  nach- 
folger  in  der  widererstandenen  weit  erhalten,  und  endlich  der  künf- 
tige herscher  der  neuen  weit,  der  bei  Hei  seiner  widerkehr  wartet'. 

Endlich  —  und  dies  erscheint  nach  vornähme  unserer  er- 
gänzuug der  v.  36  das  wichtigste  —  wird  auch  die  oben  er- 
wähnte centrale  Stellung  der  vv.  36 — 39  innerhalb  der  gegenwarls- 
partie  vollkommen  in  ihrer  berechtigung  deutlich,  denn  nicht 
die  Vorgänge  bei  der  tötung  stellen  ja  recht  eigentlich  den  aus- 
gangspuuet  der  betrachtung,  die  gegenwart,  von  der  die  Seherin 
ausgeht,  dar,  sondern  der  zustand,  dass  Baldr  bei  Hei  weilt, 
er  erst  vervollständigt  das  gegenbild,  das  vv.  36  ff  zu  vv.  62.  64. 
66  darstellen  und  lässt  mon  Baldr  koma  dort  wolvorbereitet  und 
verständlich  im  gedichte  erscheinen. 

Obwol  ich  meine,  dass  eine  ergänzung,  ungefäbr  wie  die 
vorgeschlagene,  auch  unabhängig  von  der  annähme  einer  älteren 
Vegtamskvida  als  anregende  quelle  des  Völuspadichters,  aus  der 
anläge  des  ganzen  gedichtes  wahrscheinlich  wird,  bin  ich  doch, 
wie  ich  schon  oben  hervorhob,  durch  die  ansichten,  die  eine 
solche  ältere  vorläge  verwerfen,  bisher  in  meiner  auffassung  nicht 
erschüttert  worden,  am  wenigsten  durch  die  ganze  bebandlung, 
die  der  für  diese  frage  in  betracht  kommende  teil  des  Völuspa- 
textes  durch  die  letzte  ausführliche  Untersuchung  des  Baldrmylhus 


RAGNARÜK  IN  DER  VÖLÜSPA  297 

vou  Friedrich  Kauffmaun  (1902)  gefunden  hat.  erschöpfend  auf 
seine  singulare  auffassung  Raldrs  einzugehn,  ist  hier  nicht  der 
ort,  und  es  wird  dazu  gelegenheit  sein,  wenn  ich  einmal,  wie 
dies  meine  absieht  ist,  die  Untersuchung  über  den  Ragnarökmy- 
thus,  auf  den  ich  mich  hier  beschränkte,  principiell  auf  die 
ganze  Völuspa  auszudehnen  unternehme,  dass  aber  KaulTmanns 
erklarung  von  dem  wesen  Raldrs  in  dieser  unsrer  besten  und  ältesten 
erhaltenen  quelle  ohne  gewaltsame  zurechlschneidung  des  Völuspa- 
textes  keine  stütze  findet,  darauf  hat  ja  schon  Heusler  in  seiner 
kurzen,  aber  inhaltsreichen  recension  (PLZ.  1903,  488 ff)  hinge- 
wiesen, der  ich  mich  in  allen  hauptpuneten  nur  anschliefsen  kann. 
Ich  hebe  hier  nur  zum  schluss  meine  hauptsächlichsten 
einwände  noch  kurz  hervor,  es  erscheint  mir  unrichtig  und  gekünstelt, 
in  die  worte  blöpgom  tivor  (32,  1)  nach  Rugges  Vorgang  (The 
home  of  the  Eddie  poems  s.  xxxrxff),  wenn  auch  mit  andrer 
gruudauffassung,  den  sinn  'blutiges  opfer'  hineinzutragen  (s.  240). 
es  erscheint  mir  gezwungen  und  sprachlich  keineswegs  not- 
wendig (vgl.  Atlakv.  17,  4),  aus  dem  ausdruck  erlog  folgen  zu 
schliefseu ,  dass  Raldrs  Schicksal  hier  in  Sicherheit  gebracht 
werde  wie  Odins  äuge  und  Heimdallar  hljop ,  das  noch  immer 
mit  Müllenhoff  gegenüber  KaulTmanns  erklarung  'Heimdalls 
stimme'  oder  Heinzeis  (aao.  s.  36)  'Heimdalls  gehör'  am  natür- 
lichsten als  'Heimdalls  hörn'  gedeutet  wird,  was  bei  der 
im  Geringschen  Wörterbuch  (s.  450)  aus  dem  altdänischen  bei- 
gebrachten parallele  sehr  wol  möglich  ist  (s.  23).  es  erscheint 
mir  weiter  ebenso  unnotwendig  und  gekünstelt,  unter  dem  ein- 
drucke der  Detterschen  sagenauffassung  (Reitr.  19,  495  ff)  die 
änderung  meer  in  mjö  (v.  33,  1)  vorzunehmen,  da  einerseits  die 
auffassung  der  mistel  als  bäum  bei  der  geringen  bekauntschaft 
der  pflanze  in  nordischen  landen  sich  ungezwungen  erklärt,  ander- 
seits die  Stellung  des  relativsatzes  bei  der  beziehung  auf  härm- 
flaug  haettlig  immerhin  sehr  auffällig  bleibt  (s.  25).  endlich  er- 
scheint mir  ebensowenig  überzeugend  die  begründung  der  athetese 
der  Valistrophe,  die,  wie  wir  widerholt  schon  hervorgehoben  haben, 
in  unserem  gedichte  auf  keinen  fall  fehlen  darf,  nicht  weil  Snorri 
sie  bei  seiner  paraphrase  der  Völuspa  nicht  vorfand,  fehlt  sie  bei 
ihm,  sondern  einfach  deshalb,  weil  er  sie  bei  seiner  redactions- 
tätigkeit,  dieLokis  schuld  urgierte,  nicht  brauchen  konnte,  widerholt 
hat  Kauffmann  auch  sonst  die  älteste  und  beste  quelle  des  Raldr- 


298  MEDNER  RAGNARÖK  IN  DER  VÖLl'SPA 

mythus,  wie  sie  uns  in  der  mitlelparlie  der  Voluspa  vorligt,  nicht 
genügend  gewürdigt  und  Snorris  Zuverlässigkeit  zu  sehr  vertraut. 
Dass  trotzdem  selbst  die  Völuspa  in  6inem  wichtigen  puncte 
ihre  vorläge,  das  alte  Vegtamslied,  misverstaud,  diese  'seltsame 
combination',  wie  sie  KaufTmann  (s.  25)  nennt,  halt  ich  auch 
heute  uoch  aufrecht,  erst  dann  werde  ich  mich  davon  über- 
zeugen lassen,  dass  das  schwert  'Misteltein'  im  mythus  nicht 
das  ursprüngliche  auch  im  norden  war,  wenn  der  charakter  der 
mistel  als  unglückspflanze  in  der  volkstümlichen  Überlieferung 
wahrscheinlicher  gemacht  wird,  als  durch  die  wenigen  bei  Bugge 
(The  home  of  the  Eddie  poems  s.  xlv)  verzeichneten  christlichen 
combinationen. 

Berlin,  1 1  Juni   1907.  FELIX  MEDNER. 

EIN  GÖTTINGER  WIGALOISFRAGMENT. 

Am  4  august  1820  bedankt  sich  FJMone  bei  GFBenecke  für 
die  anzeige  seiner  Einleitung  in  das  Nibelungenlied,  schickt  ihm 
umgekehrt  eine  solche  des  im  vorhergehnden  jähre  erschienenen 
Wigalois  und  legt  einige  pergamentblätter  'der  in  der  anzeige  er- 
wähnten handschrift'  bei :  'ich  glaubte  dieses  geschenk  meines  freundes 
von  Lassberg  nicht  ehrenvoller  verwenden  zu  können,  als  wenn  ich 
es  dem  herausgeber  des  Wigalois  zustellte'.  —  es  sind  dieselben 
blätter,  die  8  jähre  später  nach  angäbe  des  accessionsjournah  der 
Göttinger  Universitätsbibliothek  'von  hm  hofrat  Benecke  verehrt' 
wurden  und  die  jetzt  die  Signatur  cod.  ins.  philol.  1S7  tragen. 
WMejer  hat  sie  1893  kurz  beschrieben  (Verz.  d.  hss.  i.  pr.  st.: 
Gott.  univ.  i  47).  aber  trotzdem  sie  früher  als  alle  andern  Wigalois- 
bruchstücke  bekannt  waren,  sind  sie  meines  Wissens  noch  nicht  zu- 
gänglich gemacht.  Mone  in  der  oben  erwähnten  anzeige  in  den 
Heidelberger  Jahrbb.  der  litteratur  xm  Jahrgang  1  hälfte  p.  475 — 6 
beschränkt  sich  nur  auf  wenige  mitteilungen. 

Die  beiden  blätter,  die  Lassberg  von  einem  bucheinband  gelöst 
hat,  gehörten  zu  einer  hs.  in  kleinquart  von  ungefähr  19  cm  höhe, 
14  cm  breite,  sie  sind  abgesetzt  geschrieben  und  enthielten  auf 
jeder  seite  zwei  columnen:  bl.  2  enthält  30  Zeilen  auf  der  spalte; 
von  bl.  1  ist  ein  stück  oben  abgerissen,  so  dass  nur  26  zeilen 
erhalten  sind:  merkwürdigerweise  schliefst  gleichwol  sp.  \c  glatt 
an  sp.  1  b  an  und  auch  an  sp.  1  b  vermissen  wir  oben  nur  eine 
zeile  des  textes!   zwischen  bl.  1  und  2  werden  16  blätter  fehlen.  — 


EIN  GÖTTOGER  WIGALOISFRAGMENT  299 

vom  ersten  blatt  —  jetzt  verkehrterweise  nach  dem  andern  und 
so  eingeklebt,  dass  die  zweite  seile  der  ersten  vorausgeht  —  ist 
am  obem  und  innern  rande  je  ein  stück  weggerissen,  so  dass  von 
den  ursprünglich  auf  diesem  blatt  enthaltenen  vv.  201,  11  bis 
204,  13  vollständig  nur  in  der  2  sp.  :  202,  7 — 33,  in  der  3  sp. 

202,  39—203,  23  erhallen  sind,  auch  202,  6  und  202,  38  sind, 
obwol  etwas  beschädigt,  noch  deutlich  zu  lesen,     von   den   vv.  der 

1  sp.  sind  201,  16 — 40  und  2<)2,  4  immer  nur  in  ihrem  letzten 
teile  erhalten,  201,  30  ist  ganz  verloren,  201,  23  bis  auf  wenige 
striche,  in  der  4  sp.  sind  203,29  —  204, 13  immer  zum  gröfsern  ersten 
teil  erhalten,  von  203,  28  nur  wenige  striche,  das  blatt  ist  an  einer 
stelle  (202,  25.  26  und  203,  14 — 17)  durch  moder flecke  verdorben, 

2  löcher  im  pergament  (202,  32  und  203,  22)  sind  vom  Schreiber  vor- 
sichtig umgangen,  die  linienstriche  sind,  wie  auch  beim  zweiten  blatt, 
nur  noch  undeutlich  zu  erkennen.  « —  bl.  2  ist  am  innern  rande 
beschnitten,  von  den  versen,  die  es  enthält,  252,  25 — 255,24  ist 
die  ganze  2  :  253,  15 — 254,  4  und  3  sp.  :  254,  5 — 33  vollständig 
erhalten,  von  254,  34  ist  das  erste  wort  abgerissen,  von  den  vss. 
der  1  sp.  :  252,  25 — 253,  14  sind  infolge  des  beschneidens  nur  die 
zweiten  hälften,  in  der  4  sp.  :  254,  35 — 255,  24  immerhin  die 
weitaus  großem  ersten  vershälften,  kürzere  verse  zuweilen  ganz 
erhalten  (254,  35.  40 — 255,  17.  19).  auch  dies  blatt  hat  zwei  vom 
sein  eiber  vermiedene  löcher  (253,  2  und  255,  12).  die  erste  seite 
ist  stellenweise  unleserlich  (252.  25 — 30  besonders).  —  im  ganzen 
sind  also  von  den  240  vv.,  die  wir  auf  den  beiden  blättern  erwarten, 
16  ganz,  111  teilweise  verloren  gegangen,  während  113  vollständig 
erhalten  sind,  ich  gebe  nun  unten  einen  genauen  abdruck  und 
bemerke  dazu  folgendes  :  die  schreibtechnik  beider  blätter  ist  die- 
selbe, die  zweiten  Zeilen  der  reimpaare  sind  uneingerückt.  jeder 
vers  fängt  mit  großem,  rot  gestrichnem  buchstaben  an,  die  ab- 
schnitte werden  zuweilen  (202,  40.  254,  2),  aber  nicht  immer 
(204,  13)  durch  große  rote  initialen  markiert,  einmal  ist  ein  a 
(klein)  mit  tinte  markiert,  aber  nicht  ausgeführt  (255,  7).  die  namen 
sind  immer  klein  geschrieben  (201,  17.  31.  40-202,  15.  38 
—  203,4.  5.  6—252,30.  31.  34—253,26.  30-254,25.  33. 
37),  nur  ein  einziger  groß  mit  rot  gestrichnem  anfangsbuchstaben: 

203,  3  LAPJE  (sie),  die  abbreviaturen  sowie  die  übrigen  gra- 
phischen lind  vor  allem  die  sprachlichen  eigentümlichkeiten  sind  im 
abdruck  genau   widergegeben,     lediglich    graphische    bedentung    hat 


300  SCIIAAFFS 

die  Schreibung  ü  für  u  in  der  nachbarschaß  von  nasal :  gebunden, 
Wunsches,  an  verschiedenen  stellen  finden  sich  offenbare  fehler, 
icie  201,  33  :  doas  —  202,  21  schie  —  253,  23  sichereil  —  254, 
IS  volgel  —  253,  30  wider. 

bl.  la 

201,  15 burglor. 

l'i  vor. 

vou  alarie. 

rii*. 

sins  hant. 

20 sin  laut. 

alt  gegeben. 

leben. 

e. 

ere. 

25 erheit. 

g  erslagen. 

iche  solte  trage. 

mendoue. 

30 

or  doas. 

or  lange  was. 

eut  gewesen. 

e  lie  er  in  genesen. 

35 n  do  er  in  vie. 

orte  hie. 

ne  tot. 

hcit  gebot. 

getan. 

40 ge  ds  graue  adä. 

202,  4  .  .  .  •  uf  getan. 

bl.  lb 

6  Do  vant  er  de  gesiude  gar. 

In  iamerlicher  rüwe. 

Ir  klage  du  was  nüwe. 

Vinb  den  wirt  der  da  wc  erslage. 
10  0Tch  müsen  sü  mit  trüwe  klage. 

Die  reine  wirtinne. 

Div  gutes  wibes  miue. 


EIN  GÖTTWGER  WIGALÖISFRAGMENT  301 

Bracht  vns  an  ir  ende. 

Ane  missewende. 
15  Lag  ilü  viöwe  iaphite  lot. 

Des  twang  si  gaucer  trüwe  not. 

Vn  hszeliche  n.Ine. 

Sele  lip  vn  sinne. 

Schie  dii  hszekit. 
22  Wie  wirt  de  yezelich  geseit. 

Sit  ich  sin  nit  gesagen  kan. 

Wa  ist  nü  en  wiser  man. 
25  Der  mir  den  stril  bescheide. 

Starp  si  vö  hszeleide. 

De  iiiüs  vö  hs/.eliel>e  sin. 

Dil  gab  ir  hscen  solchen  pin. 

Da  vö  ir  schöner  lip  uMarp. 
30  Ich  wene  si  vö  den  beiden  starp. 

Anders  ich  mich  nit  usstan. 

Solle  ich  dem  strite  nache  gä. 

So  wurde  ds  rede  licht  ze  uil. 
bl.  1°  38  Genist  vro  iaphite  wol. 

Wan  si  was  gancer  trüwe  uol. 

HJe  ist  du  auelur  geholt. 
Wa  ist  nü  ds  miue  solt. 

Des  Wunsches  amye. 

Du  schöne  LARJE. 

Hie  lit  ir  frünt  her  wigoleis. 
5  Den  der  milte  hritoneis. 

Der  küng  artus  hat  gesant. 

Zer  auentur  de  er  de  lant. 

Solt  erwsben  vn  die  magt. 

Owe  de  den  nieman  sagt. 
10  Er  lit  hie  leider  ane  craft. 

Der  mit  rechter  ritlsschaft. 

Vn  mit  gancer  manheit. 

Als  vns  dii  auenture  seit. 

Vil  mangeu  höhen  pris  gewan. 
15  Er  lag  da  als  en  toter  man. 

Ane  craft  vn  ane  sin. 

Die  iungvröweu  halten  in. 


302  SCHAAFFS 

Vö  dem  höpt  eutwafenl  gar. 

Vn  uame  des  uil  rechte  war. 
20  Ob  er  lepti  oder  were  tot. 

Do  waren  im  du   hüfel  rot. 

Vn   aller  lebelieh  getan. 
23  Do  wolten  in  erslage  hau. 
bl.  ld  28  Ey 

De  ir  diseni   r 

Sine  lip  nem 

Der  ritterlich 

Die  auenture   

De  ist  en  gröz 

Wan  er  durch 

35  Lip  vn  gut 

Hatte  uil  nach 

Nu   nemet  ed 

Wa  ein  so  gut 


Wie  mangen   .  .  . 

40  Lat  mich  in  ne  . 

Ja  wen  ich  de  ie 

Bezzer  ritter  d  .  . 


Nu  gebent  sine 

Vnz  eren  uslies 

204,  5  Jo  chan  er  wol. 

Ritterlich  den  t 

würd  er  vö  w 

Des  lip  ane  mi    

Sine  zit  geleb 

10  VIT  der  mit  siu    

Den  aller  hochs 

De  wer  en  iemsl    

IR  mugent  in 

bl.  21  252,  25 enit  (?)  nicht. 

bieten. 

do  rieten. 

nie  baz. 

hsrre  wissent  de. 

30 e  seruie. 

urchie. 


EIN  GÖTTLNGEIt  VV1GAL01SFRAGMENT  303 


I  manig  ntter  yut. 

in  vil  holden  um!. 

vn  die  kriechen. 

35  ....  maogeo  siechen. 

gewineu. 

r  vi!  innen. 

tnme  vil. 

....  ame  des  todes  spil. 

40 pris  beiagen  wil. 

253,     1 sin  geselleschaft. 

.  .  .  .  r  nu  zwifelhaft. 

reise  wil  besten. 

asier  nit  ensten. 

vn  im  geschieht. 

ensumet  üch  nicht. 

aweiu  der  degen. 

des  rechten  enphlege. 


het  getan. 


o 


10 s  nit  geschaden  kan. 


o 


e 


gute  ritterschaft. 

ir  trüwe  kraft. 

e  erzeigen  hie. 

ekein  küng  nie. 

bl.  2b  15  In  disem  lande  so  mange  hell. 

Dise  ritter  siut  erweit. 

Vs  .mange  küngriche. 

Do  lopt  im  geliche. 

Helfe  an  der  stünde. 
20  Mit  gemeine  münde. 

Die  sin  vn  och  die  geste. 

Dil  sichseit  wart  veste. 

Vbs  den  vngetrüwe  man. 

Der  dis  mort  het  getan. 
25  Vü  iu  de  laster  het  erbotten. 

Hs  wigoleis  do  sine  botten 

Mit  dem  garzün  saute  dar. 

Vö  im  vn  von  den  fürsten  gar. 

Wider  bot  er  indie  stat. 
30  Lion  dem  fiirsten  wids  mat. 


304 


SCI1AAFFS 


Mochte  er  nach  sine  schache  get  .  .  . 

Sus  schiet  der  botte  vö  im  da. 

Dem  karzun  wold  er  kleius  gebe. 

Do  sprach  er  nein  ich  wil  leben. 
35  Mit  hszeleide  uns  an  die  zit. 

De  gottes  gerichte  räche  git. 

Nach  sine  wsken  vbs  in. 

Der  mir  vröde  viT  gewin. 

Ane  schulde  genome  hat. 
40  Owe  der  grozen  meintat. 
254,     1  De  si  noch  ungerochen  stat. 

Cus  nam  er  urlop  vö  schiet  d  .  . 
Wider  zv   dem  toten  man. 

Der  dan  noch  uf  dem  uelde  lag. 
bl.  2C     5  Des  got  mit  siner  bäte  phlag. 

Vor  uogeln  vn  vor  hünden. 

Sin  ors  de  wc  gebunden. 

Vil  uaste  an  eius  linden  ast. 

Also  gewafent  lag  ds  gast. 
10  Sin  schilt  wc  ubs  in  geleit. 

Nach  des  landes  gewonheit. 

De  swert  vnds  sine  höhte  lag. 

Dis  wc  der  sibende  tag. 

De  der  helt  wart  erslagen. 
15  Man  sach  in  iemslichen  clagen. 

Zwene  winde  die  bi  im  lagen. 

Des  heldes  si  da  phlagen. 

Vor  uolgel  vü  vor  wilde 

Vngas  uf  dem  geuilde. 
20  Dolton  si  des  hungers  not. 

Vns  si  da  bi  im  lagent  tot. 

De  ors  vü  sine  winde. 

Schatten  gab  im  du  linde. 

Mit  ir  lobe  de  wc  bereit. 
25  Min  viöwe  liamere  erleit. 

Nach  dem  helde  grozze  pine. 

Im  waren  die  sinen. 


254,  24  bereit  vielleicht  schon  in  breit  gebessert. 


EIN  GÖTTINGER  WIGALOISFRAGMENT  305 


Gar  geuangen  vü  erslagen. 
De  begonde  si  hszeklige  clagen. 
30  Mit  wiplicher  swere. 
Ir  wart  der  lip  unmere. 
De  si  ir  trüt  het  u'loren 
Do  het  abs  lion  si  erchoren. 
.  .  fründin  siue  lihe. 
bl.  2d  35  Disem  reine  wibe. 

Erslüg  er  ir  liebe  m  .  .  .  . 

Mit  eine  sper  vö  ä 

Ir  »rozze  schöne  ga  

Der  iamer  ir  nach  im  g  .  .  . 
40  Vil  pinliche  swere. 
255,     1  Swie  schöne  ir  va  .  .  . 

Du  erlasch  nü  gar  n  .  .  .  . 

Ir  vröde  ir  so  gar  g  

De  si  uit  wau  iamss  .... 
5  Beidü  nacht  vil  la  .  .  .  . 

Des  libes  si  sich  gar 

a       ls  ir  der  trüwe  .... 

Ir  schöne  zoph  

Die  wäre  lang  ze  r  .  .  .  . 

10  Der  rege  vö  ir  öge 

An  die  wägen  vü  .  .  .  . 

Der  bitter  t 

De  er  zeigte  si  der  .... 

Si  zarte  vö  ir  den 

15  Der  vö  golde  gab  1  .  .  .  . 
Vü  eine  beltz  herm  .... 
Vö  ir  schone  übe. 
Dem  uil  reine  wib  . 
Wart  vö  hszeleide. 
20  De  si  ir  ogen  weid  . 

Ane  schulde  stachen 

Vö  disem  leide  ir  hsz  .  . 
Da  vö  si  och  den  lip  .  .  . 
Ir  gäze  sinne  si  och  .  .  . 

Göttingen,  juni  1907.  GEORG  SCHAAFFS. 

Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  20 


WINILEODES. 

In  dem  capitulare  Karls  d.  Gr.  vom  23  märz  789  findet 
sich  folgende  bestimmung:  De  monasteriis  minutis  ubi  nonnanes 
sine  regula  sedent,  volumus  ut  in  unum  locum  congregatio  fiat 
regularis,  et  episcopus  praevideat,  nbi  fieri  possint.  Et  nulla 
abbatissa  foras  monasterio  exire  non  praesumat  sine  nostra  ius- 
sione  nee  sibi  subditas  facere  permittat;  et  eamim  claustra  sint 
bene  firmata  et  judlatenns  ibi  winileodos  scribere  vel  miltere 
praesumant:  et  de  pallore  earum  propter  sanguinis  minuationem 
(Boretiiis  i  p.  63).  ich  glaube  der  bisherigen  auffassung  dieser 
slelle  getreu  zu  bleiben,  wenn  ich  sie  so  übersetze:  'bezüglich 
der  kleinen  klöster,  wo  die  nonnen  ohne  regel  leben,  wollen 
wir,  dass  eine  regelrechte  Vereinigung  an  einem  platze  stattfinde 
und  der  bischof  zusehe,  wo  das  geschehen  könne,  und  keine 
äbtissin  soll  sich  unterstehn,  ohne  unsern  befehl  das  kloster  zu 
verlassen,  noch  es  ihren  untergebenen  zu  gestatten,  und  in  ihren 
klöstern  soll  strenge  clausur  gehalten  werden,  und  in  keiner 
weise  sollen  sie  sich  dort  unterfangen  liebeslieder  zu  schreiben 
oder  zu  schicken:  der  bleichsucht  infolge  von  blutarmut  (ader- 
lass)  wegen'. 

Es  findet  sich  zwar,  soviel  ich  weifs,  diese  Übersetzung  oder 
eine  andere  nirgends,  aber  das  was  man  aus  dem  texte  herausgelesen 
hat,  fordert  sie.  von  denen  welche  sich  über  die  winileodi  geäulsert 
haben,  will  ich  hier  zweien  das  wort  geben.  Kögel  schreibt  in 
seiner  Geschichte  der  deutschen  litteratur  bis  zum  ausgange  des 
mittelalters  (i  s.  61  f):  'es  sind  erzählende  lieder  erotischen  in- 
halts,  die  man  den  nonnen  vorzuenthalten  für  zweckmäfsig  hielt .  . . 
da  den  nonnen  verboten  wird  dergleichen  zu  schreiben  (dh.  wol 
abzuschreiben  oder  aufzuschreiben)  oder  zu  schicken,  so  müste 
man  schon  die  Verhältnisse  des  ausgebildeten  minnedienstes,  wo 
in  der  tat  die  lieder  zwischen  den  liebenden  auf  losen  blättern 
oder  streifen  hin-  und  herflogen,  auf  diese  alte  zeit  übertragen, 
wenn  man  die  winiliod  von  einer  eigentlichen  liebeslyrik  ver- 
stehn  wollte'.  Kögel  selbst  tut  das,  denn  in  Pauls  grundriss 
schreibt  er:  'ich  halte  es  für  zweifellos,  dass  unter  den  winileod 
zunächst  nur  liebeslieder  verstanden  werden  können:  es  wird 
den  nonnen  verboten  dergleichen  zu  schreiben  oder  zu  schicken, 


0 


WINILEODES  307 

auch    vvol    sich    schicken    zu    lassen,    und  ihre  bleichsucht  wird 
damit  in  Zusammenhang  gebracht'. 

Etwas  vorsichtiger  urteilt  Kelle  (Gesch.  d.  d.  litt,  i  78):  'ein 
capitulare  vom  jähre  789  verordnete  in  can.  3,  dass  die  nonnen, 
deren  leben,  wie  man  aus  den  beschlossen  der  concilien  sieht, 
vielfach  anstofs  erregte,  strenge  clausur  halten  und  sich  nirgends 
unterstehn  sollten,  winileodos  zu  verfassen  oder  zu  versenden,  in 
glossen  des  9  und  lOjahrh.  steht  der  ausdruck  gleichbedeutend 
mit  rustigiu  sanc,  mit  scofleod  .  .  .  winileod  hatte  also  damals 
entschieden  die  ganz  allgemeine  bedeutung:  volkstümlicher  welt- 
licher gesang.  später  (bei  Neid  hart)  wird  das  wort  zur  bezeich- 
nung  von  liedern  gebraucht,  welche,  wie  es  scheint,  zum  spiel 
oder  tanz  gesungen  wurden.  zur  zeit  des  capitulares  muss 
winileod  aber  ausschliefslich,  oder  speciell:  liebeslied  bedeutet 
haben,  das  ergibt  der  Zusammenhang.  ...  die  grundbedeutung  des 
ersten  teiles  scheint  nämlich:  geliebter,  geliebte  gewesen  zu  sein, 
wie  später  hieng  schon  damals  die  ganze  lyrik  mit  dem  leben 
zusammen,  die  liebesliedchen  waren  liebesbriefe,  die,  wie  sie  von 
bestimmten  personen  ausgiengen,  an  bestimmte  personen  ge- 
richtet waren',  ähnlicher  ansieht  sind  die  meisten  gelehrten, 
während  es  allerdings  auch  nicht  an  solchen  fehlt,  welche  den 
begriff  von  winileod  weiter  gefasst  haben,  wenn  und  solange  man 
indes  den  ersten  worlteil  mit  wini  freund,  geliebter  zusammen- 
stellt, werden  diese  einen  schweren  standpunet  haben  und  be- 
halten, eine  ganz  andre  auffassung  aber  hat  nach  dem  berichte  in 
der  Zs.  f.  d.  ph.  bd  38  (1906)  s.  123  auf  der  letzten  Versammlung  der 
deutschen  philologen  und  schulmänner  in  Hamburg  Uhl  vertreten, 
indem  er  wini-leod  als  'gemeinsames  arbeitslied'  erklärte  und  das 
erste  compositionsglied  mit  gewinnen  zusammenstellt;  es  sei 
kein  Substantiv-  sondern  ein  verbalstamm,  wie  er  auch  in  rü- 
geliet,  twingeliet  vorliege,  ob  diese  deutung,  die  augenscheinlich 
unter  dem  einfluss  von  ßüchers  'Arbeit  und  rhythmus'  entstanden 
ist,  beifall  finden  wird,  muss  man  abwarten,  ich  meinerseits 
muss  gestehn,  dass  mir  das  wini  wenig  kopfzerbrechen  machen 
würde,  wenn  ich  die  hergebrachte  deutung  von  leodes  oder  leodos 
für  richtig  halten  könnte  1  gegen  sie  habe  ich  aber  schwere 
bedenken,  die  mir  noch  mehr  ins  gewicht  zu  fallen  scheinen, 
wenn  mau  den  canon  einer  gründlichen  prüfung  auf  seinen  In- 
halt hin  unterzieht,    von  der  'bleichsucht'  der  fränkischen  nonnen 

20* 


308  JOSTES 

will  ich  nicht  reden,  auch  nicht  voü  ihrer  Ursache,  die  der  grofse 
Karl  gegebenenfalls  doch  schwerlich  dem  schreihen  und  schicken 
von  liebesliedern  zugeschrieben  haben  würde,  sondern  nur  fragen: 
traut  man  denu  Karl  eine  derartig  sonderbare  Verfügung  über- 
haupt zu?  und  wenn  schon,  würde  man  hier  nicht  an  erster 
stelle  das  verbot  des  singen  s  von  liebesliedern  erwarten  müssen? 
und  endlieh:  müsle  man  nicht  winileoda  oder  winileod  stall 
tcinileodes  und  winileodos  erwarten,  wenn  es  hier  sich  um  lieder 
handelte?  lied  ist  doch  von  je  ein  neutrum  gewesen!  ich  glaube 
jeder,  der  das  capitulare  gelesen  hat,  wird  die  bisherige  auf- 
fassung  gerne  preisgeben,  wenn  sich  eine  andere  auch  nur  als 
möglich  ergibt;  und  meines  erachtens  lässt  sich  in  der  tat  eine 
linden,  die  erheblich  annehmbarer  erscheinen  dürfte,  das  will 
ich  zu  zeigen  versuchen. 

Wer  leodes  oder  leodos  als  den  acc.  plur.  von  leod  auf- 
fasst,  geht  über  das  schwere  grammatische  bedenken,  welches 
dabei  das  geschlecht  des  wortes  bildet,  leicht  hinweg,  wenn 
überhaupt,  würde  das  aber  nur  in  dem  falle  als  statthaft  geduldet 
werden  können,  dass  eine  andere  erkläruug  überhaupt  gram- 
matisch und  logisch  unmöglich  wäre,  nun  sind  aber  leodos  und 
leodes  durchaus  richtig  gebildete  accusative  von  leodi  (oder  leudi) 
und  leodes  =  'vasalli,  subditi',  und  diese  Wörter  kommen  (oft  in 
der  Zusammenstellung  mit  fideles)  in  den  Schriften  der  mero- 
wingischen  und  karoliugischen  zeit  geradezu  unzähliche  male  vor. 
nur  eine  stelle  aus  dem  sog.  Fredegar  möge  hier  angeführt 
werden,  weil  sie  ein  zweites  in  uusre  Untersuchung  hinein- 
spieleudes  wort  enthält1  :  Rex  Pippinus  in  qualtuor  partes 
comites  suos,  scaritos  et  leudibus  suis2  ad  persequendum  Waio- 
farium  transmissit.  die  bedeutung  des  Wortes  schillert  etwas: 
am  treffendsten  dürfte  es  sich  im  allgemeinen  durch  'mannen' 
widergeben  lassen.  dazu  passt  sehr  gut  das  erste  compo- 
sitionsglied  wini,  von  dem  eine  reihe  von  ableitungen  usw. 
sich  im  latein  der  fränkischen  zeit  finden,  so  xoinegiator3 ,  gui- 
niator,    guinitor,    das    Du    Cange    als    'judex  viarum'    seu  qui 

1  Script,  rer.  Merov.  n  cap.  135. 

2  für  leudes  suos.  die  belege  für  das  wort  hat  Krusch  in  den  lexica 
zu  den  einzelnen  bänden  der  SS.  rer.  Merov.  zusammengestellt. 

3  das  merovingische  latein  einmal  generell  auf  seine  deutschen  besland- 
teile  hin  zu  untersuchen,  wäre  eine  dankenswerte  aufgäbe. 


WINILEODES  309 

itinerautium  securitati  invigilabal,  atque  adeo  wiona- 
gii  exactor'  erklärt,  dementsprechend  heifst  wionagium,  guio- 
naghtm:  'praestatio  a  tenentihus  facta  pro  tutela  et  pro- 
tectione  personarum'.  wer  mehr  heispiele  wünscht,  möge 
unter  deu  Stichwörtern  (sowie  unter  guiare,  guidare,  missi  dis- 
currentes)  bei  Du  Cange  nachsehen,  winileodi  ist  also  eine  ganz 
natürliche  Zusammensetzung,  deren  erstes  glied  die  bedeutung 
des  zweiten  ein  wenig  specialisiert:  die  winileodi  sind  schutz- 
oder  sicherhei  tsman  nen! 

Kann  aber  dieses  wort  als  object  zu  scribere  und  mütere 
gedacht  werden?  zu  mütere  selbstverständlich,  aber  auch  zu 
scribere;  denn  dieses  wort  heifst  bereits  im  classischen  latein 
nicht  blos  'schreiben',  sondern  auch  'einschreiben',  'anwerben, 
einstellen',  und  diese  bedeutung  hat  es  auch  hier,  es  gibt  das 
altdeutsche  scerian  wider,  das  latinisiert  scarire  lautet,  von  dem 
das  oben  bereits  angeführte  substant.  pari,  scaritus  gebildet  ist. 
wenn  Hildebrand  zu  seinem  söhne  sagt:  dar  man  mih  eo  scerita 
in  folc  sceotantero,  so  heifst  das:  'wo  man  mich  einstens  als 
bogenschützen  eingestellt  hatte'. 

Karl  verbietet  also  den  nonnen,  'sicherheitsmannen'  anzustellen 
oder  auszusenden,  im  folgenden  interpungiere  ich  den  text  an- 
ders als  die  herausgeber,  indem  ich  vor  et  statt  des  doppelpunctes 
ein  komma  setze  und  (was  freilich  nicht  gerade  nötig  ist)  nach 
earum  einen  doppelpunct,  also:  et  de  pallore  earum:  propter 
sanguinis  minuationem  lese,  dass  pallor  'bleichsucht'  heifsen 
kann,  finde  ich  nicht,  wol  aber  kann  es  'furcht'  bedeuten;  und 
da  sanguis  auch  'blutvergiefsen'  heifst,  so  ist  der  sinn  klar, 
dass  das  latein  nach  wie  vor  barbarisch  bleibt,  ist  nicht  meine 
schuld ;  wer  aber  in  den  quellen  der  Merowingerzeit  belesen  ist 
—  uud  in  diese  zeit  scheint  mir  der  von  Karl  wahrscheinlich  nur 
wider  aufgefrischte  canon  zurückzugehn  —  wird  sich  daran  nicht 
stofsen.  meine  Übersetzung  der  ganzen  stelle  lautet  demnach 
folgendermafsen : 

'Hinsichtlich  der  kleinen  klöster,  wo  die  nonnen  ohne 
regel  (in  einzelwohnungen)  leben,  wollen  wir,  dass  ein  gemein- 
sames leben  an  einem  platze  eingerichtet  werde,  und  der  (zu- 
ständige) bischof  soll  zusehen,  wo  das  geschehen  könne,  und 
keine  äbtissin  soll  sich  unterstehn  ohne  unsern  befehl  das  kloster 
zu    verlassen    oder    ihren    untergebenen    es    zu   gestatten;    und 


310  JOSTES 

ihre  klöster  sollen  gut  befestigt  sein,  und  unter  keiner 
bedinguug  sollen  sie  sich  unterslehn  dort  schutzmannen  an- 
zunehmen oder  auszusenden,  seihst  nicht  ihrer  furcht 
wegen:  zur  Verminderung  des  blutvergiefsens'  (verordnen  wir  das), 
nach  meiner  auffassung  haudelt  es  sich  hier  also  um  die  Um- 
wandlung der  offenen  klöster  in  geschlossene  und  befestigte,  die 
das  halten  einer  bewaffneten  schutzmannschaft  überflüssigmachten, 
ob  diese  auffassung  ansprechender  ist  als  die  bisherige,  mag 
dem  leser  zu  beurteilen  überlassen  bleiben,  jedesfalls  haben  wir 
hier  kein  palliativmittel  vor  uns,  wie  es  das  verbot,  liebeslieder 
zu  schreiben  oder  zu  schicken,  zur  minderung  der  sittenlosigkeit 
in  frauenklöstern  immerhin  gewesen  wäre,  selbst  wenn  es  sich 
aus  der  Verordnung  herauslesen  liefse.  es  fragt  sich  nur  noch, 
ob  für  das  verbot  in  dem  von  mir  angenommenen  sinne  die  tat- 
sächlichen Verhältnisse  jener  zeit  einen  anlass  gaben,  dafür 
verweise  ich  auf  folgende  stelle  in  der  Vita  Columbani  :  Paratque 
deinde  (Brunichildis)  insidias  moliri :  vicinus  monastirii  per  nun- 
tios  imperat,  ut  nulli  eorum  extra  monastirii  terminos 
iter  pandatur,  neqae  receptacula  monachis  eius  vel  qnaelibet 
subsidia  tribuanlur1.  die  merowingischeu  klöster  besafsen  also 
würklich  bewaffnete  mannschaften  zur  gewährung  freien  geleiles; 
dass  sie  auch  zu  anderen  zwecken  gehraucht  und  misbraucht 
wurden,  lehrt  uns  eiue  erzählung  Gregors  von  Tours  :  im  jähre 
589  entbrannte  zwischen  Chrodechilde,  der  tochter  des  königs 
Charibert,  und  ihrer  äbtissin  eine  heftige  feindschaft,  die  dahin 
führte,  dass  die  mannen  der  beiden  uonnen  sich  schlachten 
lieferten;  selbst  nach  schliefslicher  aussöhnung  war  die  fehde 
noch  nicht  zu  ende  :  Postea  vero  multi  inter  has  scolas  inimicitiae 
ortae  sunt;  vel  quis  unquam  tantas  piagas  tantasque  strages  vel 
tanla  mala  verbis  poterit  explicare,  ubi  vix  praeteriit  dies 
sine  homicidio,  hora  sine  iurgio  vel  momentum  ali- 
quod  sine  fletu?"1  solche  zustände  bestehn  zu  lassen,  war 
Karl  nicht  der  mann;  es  ist  aber  leicht  einzusehen,  dass  sie  nur 
dann  dauernd  beseitigt  werden  konnten,  wenn  die  nonnen,  que 
in  proprios  domus  resedent  (wie  es  in  dem  edicie  Chlotars  vom 
18  oct.  614  heifst),    in  feste   klöster  zusammengezogen  wurden; 

1  Script,  rer.  Alerov.  iv  s.  87  (über  i  cap.  19). 
8  Script,  rer.  Merov.  i  s.  425  (über  x  cap.  15). 


W1NILE0DES  311 

anders  konuteu    sie    bei  den  damaligen    Verhältnissen    der   'wini- 
leodes'  einfach  nicht  entraten. 

Damit  ist  das,  was  ich  über  die  wiuileodes  zu  sagen  habe, 
erledigt,  es  ist  aber  begreiflich,  dass  mich  das  ergebuis  meiner 
Untersuchung  reizte,  nun  auch  die  so  oft  angeführten  leodes  des 
Venautius  Fortuuatus  auf  ihren  Charakter  hin  zu  prüfen,  es  ist 
nicht  überflüssig  gewesen  1  ich  führe  hier  die  beiden  stellen  in 
vollem  umfange  an,  so  wie  sie  in  den  Mon.  Germ.1  abgedruckt 
sind,  die  bemerkuugen  dazu  verdanke  ich  der  liebeusvvürdigkeit 
meines  collegen  Souneuburg. 

Quid  inier  haec  extensa  viatica  consulte  dici  potuerit,  censor 
ipse  mensura,  ubi  nie  non  urguebat  vel  metus  ex  iudice  vel  pro- 
babat  usus  ex  lege  nee  iiwitabat  favor  ex  comite  nee  emendabat 
lector  ex  arte,  ubi  mihi  tantundem  valebat  raueum  gemere  quod 
cantare  apud  quos  nihil  disparat  aut  Stridor  anseris  aut  canor 
oloris,  sola  saepe  bombicans  barbaros  leudos  arpa  reli- 
dens;  ut  inier  illos  egomet  non  musicus  poeta,  sed  muricus  deroso 
flore  carminis  poema  non  canerem  sed  garrirem,  quo  residentes 
auditores  inier  acernea  pocula  salute  bibentes  Baccho  iudice  de- 
baccharent. 

'Fortunat  entschuldigt  die  mangelhaftigkeit  seiner  gedichle 
mit  den  umständen,  unter  deuen  sie  entstanden  :  alles,  was  in 
seiner  Umgebung  sonst  den  dichter  fordert,  muste  er  hier  ver- 
missen (ubi  nie  ...  arte),  und  die  Umgebung,  die  er  hier  hatte, 

besafs  kein  Verständnis  (ubi  mihi oloris).    trotzdem  schweigt 

er  nicht,  sondern  trägt,  wie  der  schluss-satz  zeigt,  seine  den 
umständen  angepassten  lieder  den  zechenden  vor,  und  dass  er 
so  handelt  (ut  inter  illos  etc.),  dazu  veranlasst  ihn,  was  in  den 
wurlen  sola  saepe  ....  relidens  ausgedrückt  ist.  Sola  saepe 
bombicans  arpa  kann  wol  nur  harfenspiel  ohne  text  bedeuten; 
würde  nun  barbaros  leudos  relidens,  wie  man  annimmt,  heifsen: 
'barbarische  lieder  ertönen  lassend',  so  wäre  entweder  mit  leudos 
auch  nur  'musikalischer  Vortrag'  bezeichnet,  so  dass  bombicans 
und  relidens  parallel  stünden  und  ein  verbindendes  et  fehlte,  oder 
leudos  bezeichnete  eben  text  im  gegensatz  zur  musik.  ersteres 
ist  undenkbar,  weil  jedesfalls  seine  sonstigen  gedichte  (dh.  texte) 
in  gegensatz  gestellt  werden  zu  denen,  die  seine  zuhürer  gewohnt 

1  Auetor.  antiquissimi  iv  p.  2  und  ib.  Carm.  üb.  vn  8,  61  ff. 


312  JOSTES 

sind  und  die  ihrem  geschmack  oder  vielmehr  ungeschmack  ent- 
sprechen, und  weil  bei  dieser  auffassung  die  beiden  participien 
ganz  in  der  lufl  schweben  und  der  gedanke  weder  an  das  vor- 
hergehende noch  an  das  folgende  sich  natürlich  anschliefsen 
würde;  und  letzteres  scheint  ausgeschlossen,  weil  dann  ein  gegen» 
satz  zwischen  instrumentalmusik  (sola  bombicans  arpa)  und  lieder- 
texten  (barbari  leudi)  vorläge,  der  doch  irgendwie  ausgedrückt 
sein  müste.  fasst  man  aber  leudi  in  der  bedeutung  'mannen', 
und  relidere  nicht  in  der  für  diese  stelle  besonders  angenommenen, 
sondern  in  der  gewöhnlichen  'zurückstofsen',  und  nimmt  man  an, 
dass  die  participien  entsprechend  dem  fehlen  einiger  verbindungs- 
partikel  im  Verhältnis  der  unter-  und  Überordnung  stehn,  so 
ergibt  sich  mit  der  unbedenklichen  ergänzung  von  est  der  ein- 
fache sinn  :  'wenn  die  harfe  oft  allein  ertönt,  stöfst  sie  die  bar- 
barischen mannen  ab,  so  dass  trotz  der  vorher  angegebenen 
mängel  ich  als  verschlechterter  poet  mein  lied  herleierte,  um 
ihren  beifall  zu  finden'. 

Und  nun  die  andere  stelle: 

Sed  pro  me  reliqui  laudes  tibi  reddere  certent, 

et  qua  quisque  valet  te  prece  voce  sonet, 

Romanusque  lyra,  plaudat  tibi  barbarus  harpa, 

Graecus  Achilliaca,  crotta  Britanna  canat. 

Uli  te  fortem  referant,  hi  iure  potentem, 

ille  armis  agilem  praedicet,  iste  libris. 

et  quia  rite  regis  quod  pax  et  bella  requirunt, 

iudicis  ille  decus  concinat,  iste  ducis. 

nos  tibi  versiculos,  dent  barbara  carmina  leudos: 

sie  Variante  tropo  laus  sonet  una  viro. 

Hi  celebrem  memorent,  Uli  te  lege  sagacem: 

ast  ego  te  dulcem  semper  habebo,  Lupe1. 
'Würde  hier  leudos  lieder  bedeuten,  so  wäre  es  neben  bar- 
bara carmina  unverständlich,  da  nun  aber  zum  ersten  gliede 
des  verses  aus  dem  zweiten  ein  demus  (oder  damus)  ergänzt 
werden  muss,  so  ist  offenbar  ein  gegensatz  gewollt  zwischen 
versiculi,  dh.  verseu  classischer  art,  wie  sie  Fortunatus  widmet, 
und  barbara  carmina.  dann  aber  muss  im  zweiten  gliede  ein 
gegenstück    vorhanden   sein  zu   dem   nos  am  anfang  des  verses, 

1  Lupus  war  unter  Sigebert  herzog  in   der  austrasischen  Champagne 
und  ein  freund  Fortunats. 


WINILEODES  313 

dli.  es  muss  gesagt  sein,  wer  die  barbara  carmina  spenden  soll, 
und  dies  ist  der  fall,  wenn  das  letzte  wort,  das  dann  leudes  zu 
schreiben  wäre,  eben  bedeutet  :  die  mannen  germanischen  slamms; 
so  stimmt  der  vers  genau  mit  vers  3  :  Romannsque  lyra,  plaudat 
tibi  barbarus  harpa'. 

Wir  werden  demnach  künftig  in  der  lilteraturgeschichte 
sowol  auf  die  winileodes  des  karolingischen  capitulares  wie  auf 
die  einfachen  leodi  des  Fortunatus  verzichten  müssen,  aber  hat 
es  denn  überhaupt  keine  'winelieder'  gegeben?  zweifelsohne  1 
doch  ist  das  worl  für  die  Karolingerzeil  nicht  belegt  und  damit 
die  sache  nicht  bezeugt,  die  späteren  glossatoren  haben  bereits 
die  stelle  des  capitulars  misverstanden,  und  wenn  ihnen  auch 
das  wort  selbst  bekannt  gewesen  sein  mag,  so  beweist  doch 
schon  ihre  eigene  Übersetzung,  dass  sie  den  begriff  'liebeslied' 
damit  nicht  verbanden,  ebensowenig  wie  esNeidhart  getan  hat.  die 
ursprüngliche  bedeutung  von  wineliet  erkennen  wir  vielleicht  am 
deutlichsten  im  friesischen,  in  den  allgemeinen  gesetzen  des  westerl. 
Frieslands1  heifst  es  c.  22:  Hweerso  ma  claget  om  een  aeft  dat 
hit  tobrüsen  se,  end  ma  hit  riucht  greta  schil,  soe  schilma  hit 
aldus  greta,  dat  dio  frie  Fresinne  coem  oen  dis  fria  Fresa  wald 
mit  hoernes  hluud  ende  mit  bura  oenhlest,  mit  bakena  brand  ende 
mit  winna  sang,  ende  hio  breydelike  sine  besma  op  stoed,  ende 
op  dae  bedde  herres  lives  netta  mitte  manne,  ende  an  moerne  op 
stoed,  to  tzierka  ging,  kerkstal  stoed,  alter  arade,  da  prester  offa- 
rade,  ende  dal  aeft  also  bigingh,  alsoe  di  fria  Fresa  mitter  frie 
Fresinne  schulde. 

Sonst  finde  ich  das  wort  nur  noch  in  'Het  Freeske  rym', 
einem  werke,  das  Siebs  und  andere  zwar  nicht  mit  unrecht  sehr 
hart  beurteilen,  dessen  urheber  aber  jenes  wort  doch  noch  ge- 
kannt zu  haben  scheint: 

To   Ulracht  in  thine  dorn 

AI  thet  herscip  him2  to  ghins  com 

And  habbad  him  blidelike  ontfan: 

Tha  basuna  dedense  blian, 

Tha  clocka  dedense  hluda 

End  tha  liacht  tho  gins  him  cruda 

1  vRichthofen  Friesische  rechtsquellen  s.  409. 

2  SWillibrord. 


314  .         JOSTES  WLMLEODES 

End  mit  grata  winnena(l)  sang 
Ont [engen  hia  him  tha  strata  lang1. 

Hier  wie  dort  ist  au  einen  erotischen  cliarakter  des  'winne- 
liedes'  nicht  zu  denkeu:  der  Zusammenhang  fordert  vielmehr  die 
bedeulung  :  'jubel-,  freudenlied',  ursprünglich  wol  'siegessang', 
und  diese  bedeutung  schliefst  nicht  einmal  einen  religiösen  iuhalt, 
noch  auch  eine  fremdsprachliche  form  aus.  wenn  die  glossen 
das  wort  durch  secularis  cantilena,  psalmus  vulgaris,  secularis, 
ylebejus,  canticum  rusticum  widergeben,  so  beweist  das  nichts 
anderes,  als  dass  der  erste  urheber  das  karolingische  capitular  vor 
äugen  gehabt,  aber  nicht  verstanden  und  den  sinn  des  wortes 
an    der   stelle   aus   dem    Zusammenhang  zu  erraten  versucht  hat. 

1  Het  Freske  Rijm  (Werken,  uitgeven  door  het  Friesch  genootscliap 
van  geschied-  oudheit-  en  taalkunde.     Leeuwarden  1853)  v.  1344 fl". 

FRANZ  JOSTES. 


AISL.  EDDA  'URGROSSMUTTER'. 

EIN    BEITRAG    ZUR    GESCHICHTE    VON    URGERM.    AI. 

Augenscheinlich  hängt  aisl.  edda  'urgrofsmutter'  zusammen 
mit  aisl.  eida,  got.  aipei  'mutier'  (Noreen  Au.  gramm.  l  95.  153; 
anders  Kluge  Stammbildung  22);  die  laulform  begreift  sich  aus 
*aißifiön.  aber  diese  ableitung  ist  keine  erkläruug;  *aipipön  ist 
so  dunkel  wie  edda.  das  formans  -ipa  kann  nicht  darin  stecken, 
denn  die  T^a-bilduugen  sind  von  haus  aus  stark,  und  überdies 
würde  es  der  vorauszusetzenden  funclion  des  sufüxes  an  jeglicher 
aualogie  fehlen  :  *aipipa  könnte  nur  'mutlerschafl'  oder  'mütter- 
lichkeil'  oder  'Versetzung  in  den  zustand  der  mutterschaft'  be- 
deuten, niemals  'urgrofsmutter'  (vgl.  die  beispiele  JGrimms  Gr.  n 
242 ff),  hat  also  das  wort  jemals  *aipipdn  gelautet,  so  kann  es 
nicht  durch  eindringen  des  formans  -ipa  entstanden  sein;  die 
lautliche  gleichheit  mit  diesem  muss  secundär  sein,  wir  erklären 
laulform  und  bedeutung  gleichmäfsig,  wenn  wir  von  einem  com- 
positum *aip-aipön  'mutler-mutter'  ausgehn.  der  sinn  dieser 
bildung  war  ursprünglich  etwa  'mutier  v.ut'  iioyvrjv,  mutler  aller 
mutier'  (wie  'buch  der  buchet'),  dh.  sie  bezeichnete  die  älteste 
frau  der  familie,  die  stamm-multer.    diese  bedeutung  stand  nicht 


NECKEL  A1SL.  EDDA  'URGROSSMUTTER'  315 

im    wege,    dass    *aipaipön   sich    vou    seinem  grundworl  lautlich 
isolierte,     es  wurde  üher  *aipipön  zu  edda. 

Eine  solche  entwickhing  hätte  m.  e.  für  lautgesetzlich  zu 
gelten,  und  zwar  hauptsächlich  wegen  der  Verhältnisse  in  der 
sog.  vierten  schwachen  verhalclasse.  mau  hat  formen  wie  hafbi, 
hafat  bisher  falsch  heurteilt.  sie  sind  mit  den  got.  tri-bildungen 
habaida  usw.  hmt  für  laut  identisch,  es  ist  schon  au  sich  be- 
denklich, hier  durchweg  von  'bindevocallosen'  formen  auszugehn, 
wie  man  seit  Sievers  Beitr.  8,  90 ff  allgemein  zu  tun  scheint, 
bei  dieser  hypothese  bleiben  die  parlicipia  wie  lifat,  hafat,  sagadr 
(EJönsson  Skjaldesprog  109),  aschw.  saghaper  u.  dgl.  unerklärt. 
Pauls  annähme  (Beitr.  7,  145),  dass  hier  ueubildungen  vorliegen, 
stufst  auf  die  ernstesten  Schwierigkeiten,  das  Vorbild  konnte  nur 
die  ö-classe  hergegeben  haben,  aber  diese  ligt  sehr  fern,  sie  ist, 
soweit  wir  sehen  können,  ohne  jeden  einfluss  auf  die  flexion 
unsrer  gruppe  geblieben,  viel  näher  ligt  die  /a-classe.  wie  eine 
ganze  reihe  von  präsentien  zwischen  der  ai-  und  /a-flexion 
schwankt  (Noreen  i  321),  so  zweifle  ich  nicht,  dass  auch  die 
kurzen  parlicipia  wie  haftir,  sagbr  dieser  analogie  ihr  dasein 
verdanken,  gegenüber  Paul  muss  betont  werden,  dass  zwar  hafa 
und  segja  zu  den  häufigst  gebrauchten  verben  gehören,  dass  aber 
von  allen  ihren  Stammformen  das  part.  prät.  die  seltenste  ist. 
je  häufiger  präsens  und  präteritum  waren,  um  so  leichter  konnten 
diese  von  der  ja-classe  groslenteils  nicht  zu  unterscheidenden 
lempora  das  participium  nach  sich  ziehen,  (dasselbe  ist  bei 
lujggja  der  fall  gewesen  :  hugür  neben  hugat  in  der  alt  aussehndeu 
redensart  hugat  mcßla.)  die  somit  für  lautgesetzlich  zu  haltenden 
participialformen  mit  a  entsprechen  genau  den  got.  auf  -ai/js; 
ai  ist  über  3  zu  a  geworden,  wahrscheinlich  unter  denselben 
Bedingungen  wie  in  'Olafr,  Hröarr.  Lifat  verhält  sich  aber  zu 
lißa  nicht  anders  als  taliftr  zu  talüa;  vor  langer  silbe  wurde 
ai  >  e  >  i  (wie  in  endsilben  :  imper.  lifi  =  got.  libai)  und 
schließlich  syncopiert. 

Beweisend  sind  vor  allem  prälerita  wie  mürifti  'gedachte' 
und  unüi  'war  zufrieden',  sie  können  uicht  auf  bindevocallose 
formen  zurückgehn  (AKock  Beitr.  18,  4461)  wie  etwa  mundi 
'wurde1  =  got.  munda,  unni  'liebte'  <<  *unttpe.  Noreens  hülls- 
couslruclion  eines  urnord.  *munföe  (Grundr.  i2  635)  schwebt 
aber   angesichts  des  got.  munaida  völlig  in  der  luft.     ganz  ahn- 


316  NECKEL 

lieh  verhält  es  sieh  mit  vakpi  gegeniiher  den  sicher  biodevocal- 
losen  sötti,  pötti,  orti,  ae.  weahle,  genahte  (Sievers  Beitr.  5,  100. 
Ags.  gramm.  256).  solauge  keine  tatsachen  dagegen  sprechen  — 
und  solche  scheint  es  in  der  tat  nicht  zu  geben  — ,  sind  wir 
gezwungen,  munfti  =  munaida ,  utibi  =  *u>unaida  (ahd.  woneta, 
vgl.  got.  unwunands)  usw.  zu  setzen  und  zu  schliefsen,  dass 
ai  in  mitlelsilben  vor  langer  ultima  im  nordischen  syn- 
kopiert wird. 

Vsp.  22,  4  begegnet  ein  nicht  befriedigend  erklärtes  Prä- 
teritum vitti  in  dem  halbvers  vitti  hon  ganda.  die  stelle  wird 
alsbald  klar,  wenn  wir  vitti  zu  got.  witan  'auf  etw.  sehen,  beob- 
achten' stellen  und  auf  *uitaiüe  zurückführen,  die  zauberin  tut 
dasselbe,  was  die  Hymiskvida  von  den  göttern  berichtet  :  hristu 
teina  ok  d  hlaut  sdu.  gandr  'stab'  hat  also  hier  die  specielle 
bedeutung  'runenstab'.  —  die  form  vitti  ist  sicher  schon  früh 
verdunkelt  gewesen.  aber  auch  in  dem  gebrauch  des  ver- 
bums vita  'wissen'  zeigen  sich  spuren  des  einst  lebendigen 
schwachen  vita.  Alv.  8  hefik  .  .  .  vitat  vetna  hvat  bedeutet 
'alles  habe  ich  gesehen',  ähnlich  in  der  Vojundarkvicta  :  vissi 
ser  ä  hpndum  hofgar  naufiir  ('bemerkte').  Egilsson  880  führt 
an  :  vissu  hjpltin  nibr  ('wies',  im  sinne  von  'speetabat'  mit 
richtungsadverbium;  got.  witan  übersetzt  auch  öoäv).  weil  in 
manchen  formen  beide  verben  zusammenfielen,  sind  sie  vermischt 
worden. 

Die  abstraeta  hgfn,  sogn,  pggn,  tign,  die  zu  verben  der  ai- 
classe  gehören,  stehn  in  dringendem  verdacht,  die  got.  bildungen 
ßulains,  libains  zu  reflectieren,  also  hpfn  aus  *haiainö  (ae.  heefen). 
ebenso  lausn,  vorn  =  got.  lauseins,  *wareins  (vBahder  Verbal- 
abstraeta  84,  vgl.  Noreen  i  §  148  a.  1).  dagegen  ist  ursprüng- 
liches 5  als  a  bewahrt  in  der  sehr  produetiven  classe,  zu  der  an. 
laftan  (Igüun?  Fritzner  n  391),  got.  lapöns  gehört,  ganz  ent- 
sprechend den  präteritis  der  ö-classe.  es  gab  urgerm.  auch 
m'-bildungen  ohne  mittelvocal,  zb.  got.  sökns.  wie  Kluge  Stamm- 
bildung §  147  sehr  richtig  bemerkt,  liefert  allein  das  got.  sichere 
belege,  spärlich  wie  diese  sind,  können  sie  doch  die  Vermutung 
stützen,  dass  fehlen  des  mittelvocals  bei  n-  und  ^-ableitungen, 
bei  abstractum  und  präteritum  zusammenging,  man  vergleiche 
nicht  nur  sökns  mit  urgerm.  *söhte,  sondern  auch  got.  siuns,  an. 
sjön,   syn    mit   ae.   gesiehü   und  mhd.  siht.     zu  urgerm.  *haiJai<Se 


AISL.  EDDA  'URGROSSMUTTER'  317 

gehörte  demnach  nicht  ein  *hatni,    sondern  ein  *hatjaini.     doch 
hleibt  dies  natürlich  Vermutung. 

Nunmehr    bedarf    auch    die    zurückführung    von    blindrar, 
blindri,  blindra  auf  *blindiRöR  usw.  gegenüber  got.  blindaizos  usw. 
einer    revision.     Sievers   hat  Beilr.  2,  110,    gestützt   auf  das  ai., 
als  urgerm.  erschlossen  :  gen.  dat.  sg.  fem.  *blindizüs,   blindizai, 
gen.  pl.  masc.  ntr.  blindaize ,   fem.  blindaizö.     das    got.  hat  den 
diphthong   auch  in  den  gen.  sg.  eingeführt  (blindaizos).     ebenso 
haben    nach    Sievers    die    andern    dialecte   das   i  verallgemeinert, 
letztere  auffassung  erregt  aber  bedenken,    das  e  der  as.  und  ahd. 
formen    (ahd.  blinlera,  -u,  -6)    verträgt   sich    besser   mit  got.  ai 
als   mit  i  :  dieses   hätte    bei    dem   starken  übergewicht  der  lang- 
und  mehrsilbigen  stamme  auch  im  continentalgermanischen  syn- 
kopiert   werden    müssen1,    andererseits    spricht  nichts   dagegen, 
dass    e  <1  ai   in    mittelsilben    wie    im    absoluten    auslaut    (ahd. 
blinte  <C  blindai)    gekürzt   wurde;    verbalformen    wie    ahd.   lebeta 
können    sich    nach    den    zweisilbigen    typen    lebet,  leben  (=  got. 
libains)  gerichtet  haben,    sicher  war  auch  das  kurze  e  von  blin- 
tera   usw.    eng    associiert    mit    den    kurzvocalischen    formen    des 
artikels  (dera  usw.),  ebenso  wie  blintem  mit  dem.    vielleicht  sind 
diese  associationen  bei  der  kürzung  des  e  von  blintera  winksam 
gewesen;    lautgesetz    und   analogie  fliefsen  hier,    wie  so  oft,    in- 
einander,    was  das  nordische  betrillt,   so  spricht  hier  das  fehlen 
des    t-umlauts,    der  bei  vielen  lang-  und  kurzsilbigen  adjectiven 
zu    erwarten    wäre,    gegen    i.     allerdings   kann  ausgleichung  im 
spiele    sein,     und    die    pronominalformen    hennar,   henni  lassen 
sich    nur    aus  *häniR~öR,   *häniRe   ableiten,     sie    bezeugen  das  i 
aber  nur  für  den  sing.,  in  dem  es  schon  vorgerm.  zu  hause  war. 
ein    sichereres  Zeugnis  haben  wir  für  ai  im  gen.  plur. ,    nämlich 
den    nom.    plur.    blindir  <1  *blindaiR.     das    secundäre   r  dieses 
casus    leitet    man    heute    wol    durchweg    aus    der    'allgemeinen 
nominalivendung  des  plurals  der  substantiva'  (Sievers  Beitr.  2, 114) 
her.    aber  das  ist  weit  entfernt,  überzeugend  zu  sein,    sämtliche 
nominalclassen  weisen,  neben  blindir  gehalten,  weit  gröfsere  Ver- 
schiedenheit als  ähnlichkeit  auf;  einen  substantivischen  nom.  plur. 
auf    urnord.    -aiR    gibt   es    nicht,     wir    verstehn  *blindaiR  ohne 

1  einmal  as.  mahligro,  Sievers  Beitr.  5,  83.  das  ahd.  allein  beweist 
hier  übrigens  nichts;  Notker  hat  noch  abstracta  wie  bemeineda  mit  als  e 
bewahrtem  ?,  vgl.  Sievers  aao.  89  ff. 


31 S  NECKEL 

weiteres,  wenn  wir  von  einem  alten  paradigma  blindai  — 
HlindaiRe  (*blindaiRö)  —  blindaim  ausgehe  (vgl.  ai.  sdrve,  sdr- 
veshdm,  sdrvebhyas).  das  R  ist  in  den  nom.  gedrungen,  wie  um- 
gekehrt in  fallen  wie  erlr,  ertra  in  den  gen.  dabei  werden 
allerdings  die  substantivischen  nom.  pl.  mitgewirkt  haben,  und 
zwar  durch  Vermittlung  des  Femininums  *blindöR;  aber  sie  allein 
hatten  ein  -aiR  nicht  herbeiführen  können. 

Halten  wir  daran  fest,  dass  die  westgerm.  formen  auf  ai, 
nicht  auf  i  weisen  —  das  ae.  kann  wie  das  nord.  synkopiert 
haben  (vgl.  Sievers  Beitr.  5,  74)  —  so  erhalten  wir  ein  urgerm. 
paradigma  mit  ai  in  allen  hierher  gehörigen  formen,  ein  solches 
paradigma  ist  an  sich  wahrscheinlich,  der  plural  hatte  von  an- 
fang  an  die  besten  aussiebten,  vorbildlich  zu  werden,  denn  nur 
hier  greifen  die  anformen  auch  in  das  masc.  und  ntr.  hinüber: 
blindaize,  blindaizö,  blindaim  waren  sicher  bei  weitem  häufiger 
als  *blindizös,  *blindizai.  dieselbe  entwicklung  zeigt  das  pro- 
nomen  :  an.  peirar,  peiri,  ae.  paire  nach  peira,  pdra.  durch- 
gehnde  ae-formen  setzt  auch  das  got.  voraus,  mau  begreift  näm- 
lich die  rückkehr  des  got.  dativs  blindai  zur  nominalflexion  kaum, 
wenn  man  die  Vorstufe  *blindizai  annimmt,  letztere  form  hätte 
mit  gibai ,  maujai,  anstai  in  ebenso  gutem  einklang  gestanden 
wie  *blindizös,  blindaizös  mit  gibös,  maujds.  und  doch  soll  nur 
der  gen.  seine  längere,  vom  nom.  abweichende  form  bewahrt 
haben,  während  der  dat.  den  nomina  vollends  angeglichen  wurde, 
denken  wir  uns  dagegen  ein  *blindaizai ,  so  enthielt  diese  Form 
das  charakteristische  dativ-ai'  zweimal,  und  es  konnte  durch 
eine  art  haplologie  Verkürzung  zu  blindai  eintreten.  —  der  von 
Sievers  Beitr.  2,  111  als  analogon  angeführte  dat.  plur.  an.  ae. 
as.  blindum  verlangt  eine  besondere  beurteilung.  im  nord.  wurde 
blindaim  (*blindaimiz)  zu  *blindim  und  trat  dadurch  in  parallele 
mit  den  /-stammen  (got.  gastim).  als  der  dat.  plur.  der  «'-stamme 
der  analogie  der  consonantischen  und  andrer  flexionen  unterlag 
(gestumR,  torumR  auf  dem  vermutlich  um  700  zu  setzenden  stein 
von  Stentofta),  bekamen  auch  die  adjeetiva  die  endung  -um. 
der  nominale  dat,  plur.  der  nordischen  adjeetiva  beruht  also  auf 
lautlichem  zusammenfall  mit  einer  nominalen  endung,  und  ähn- 
liches darf  mit  Wahrscheinlichkeit  auch  für  das  ae.  und  as.  ver- 
mutet werden,  wo  es  jedoch,  so  viel  ich  sehe,  an  directen 
anhaltspuncten  fehlt. 


AISL.  EDDA  'URGROSSMUTTER'  319 

Setzen  wir  also  für  das  urgerm.  starke  adjectivum  durch- 
geh öden  ersatz  des  mittleren  i  durch  ai  an,  so  stell t  nicht  blofs 
an.  bh'ndra,  sondern  auch  blindrar,  blindri  weitere  fälle  der 
synkope  des  ai  dar.  bei  mehrsilbigen  formen  wie  mikillar  ligt 
wahrscheinlich  nicht  rein  lautgesetzliche  entwicklung  vor  — 
diese  hätte  «loch  wol  *miklirar  ergehen  —  sondern  es  ist  die 
proportion  heil :  heillar  =  mikil :  x  im  spiele  gewesen.  die  iso- 
lierten singularformen  urn.  *häniäöR,  *häniRe  erscheinen  als  ein 
letzter  rest  des  ursprünglichen,  sie  waren  vor  dem  eintluss  des 
plurals  durch  die  Stammverschiedenheit  geschützt  (aisl.  hön  .' peer, 
hennar  :  peira). 

Es  wurde  oben  angenommen,  dass  mittleres  ai  vor  kurzer 
ultima  nordisch  zu  a  wird  :  daher  sagaür  «<.  *sagaipall.  aber  im 
aschwed.  stehn  neben  saghaper,  havaper  parlicipia  wie  doghit, 
und  got.  arbaips  erscheint  als  aisl.  erfvSi,  aschwed.  wrvipi  (da- 
neben anorw.  cerfaüe,  aschwed.  cervadhe  und  andre  formen), 
hier  ist  also  älteres  ai  bald  durch  a  bald  durch  i  vertreten,  es 
ist  geboten,  nach  einer  gemeinsamen  erklärung  für  alle  falle 
dieser  art  zu  suchen,  beginnen  wir  mit  erfifti.  gehn  wir  von 
einem  nom.  acc.  sing,  mit  synkopiertem  i  aus,  wie  die  formen 
im  got.  und  somit  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auch  im  urnord. 
einmal  lauteten,  so  erhalten  wir  isl.  *arfiü(r)  wie  2  plur.  lifift  = 
got.  libaip.  der  gen.  got.  arbaidais  und  die  andern  casus  mit 
langvocalischen  endungen  ergaben  *arfüis  usw.;  der  umlaut 
stammt  wol  aus  dem  nom.  plur.  got.  arbaideis  >  *arßis  ^> 
erßir,  wäre  übrigens  ohne  die  synkope  des  ai  schwerlich  ein- 
getreten (das  aschwed.  kennt  auch  formen  mit  ar~).  aus  den 
formen  mit  und  ohne  synkope  entstand  durch  contamination  der 
nom.  acc.  erftüi  nebst  der  /a-flexion.  an  sich  hätten  der  gen. 
und  dat.  leichter  zu  *<?r/ö«  führen  können,  aber  der  teilweise 
zusammenfall  der  synkopierten  casus  mit  denen  von  er/3  'be- 
erbung' halte  zur  folge,  dass  die  formen  mit  bewahrtem  vocal 
obsiegten,  wenn  gleichwol  die  endungen  -is,  -i  ausschlaggebend 
wurden,  indem  sie  das  wort  in  die  /a-flexion  hinüberleiteteu,  so 
ist  der  grund  jedesfalls  der,  dass  man  es  als  compositum  empfand; 
schon  urgerm.  hat  sich  bekanntlich  der  typus  der  zusammen- 
bildungen  mit  -Ja  festgesetzt,  die  a- formen  entstanden  bei  kurz- 
vocalischer  endung  :  got.  arbaidim,  arbeidins.  —  eine  stütze  für 
die   vorgetragene   auffassung   liefert   das   wort   erfiüi  somit  nicht. 


320  NECKEL  AISL.  EDDA  'URGROSSMUTTEFV 

man  kommt  hier  eben  ohne  annähme  von  contaminationen  nicht 
durch,  doch  denk  ich  so  viel  annehmbar  gemacht  zu  haben, 
dass  das  wort  sich  der  theorie  fügt. 

Ein  interessantes  gegenstück  zu  erfibi  bildet  das  wort  ertr 
*erbsen'  (gen.  plur.  ertra  mit  secundär  stammhaft  gewordenem  r). 
es  kann  nicht  als  bekräfligung  dafür  dienen,  dass  as.  erit,  mhd. 
erwiz  eine  alte  ablautform  neben  ahd.  araweiz  (arawiz)  dar- 
stelle (so  Noreen  Urgerm.  lautl.  92),  sondern  erlaubt  herleitung 
aus  einer  grundform  *arbait-.  der  umlaut  ist  die  folge  des 
Übertritts  in  die  analogie  von  mgrk,  merkr. 

Ganz  entsprechend  wie  bei  erfvbi  müssen  wir  uns  die  Vor- 
gänge denken,  die  zu  dem  adj.  erfvSr  'beschwerlich'  und  den 
partic.  wie  doghit  geführt  haben,  auch  hier  hat  der  diphthong 
ai  schon  urnord.  in  gewissen  casus  in  der  ultima  gestanden 
und  ist  dann  zu  i  geworden,  so  im  nom.  sing.  masc.  (got. 
*dugaips)  und  besonders  ntr. ,  soweit  nämlich  letztere  form 
nominal  gebildet  wurde,  und  dies  war  höchst  bemerkenswerter- 
weise gerade  im  ostnord.  verhältnismäfsig  häufig  der  fall,  zumal 
bei  participieu  (Noreen  n  344).  wenn  im  westnord.  die  parti- 
cipia  dugat,  unat  usw.  lauten,  so  hängt  das  damit  zusammen, 
dass  hier  der  typus  blindata  den  kürzeren  typus  blind  so  gut 
wie  vollständig  verdrängt  hat;  dugat  beruht  auf  einer *gruudform 
*dugaipata,  die  urnord.  noch  dreisilbig  war,  als  ursprüngliches 
*dugaipam  längst  auf  zwei  silben  reduciert  war.  die  Wichtigkeit 
dieses  Unterschiedes  erhellt  daraus,  dass  die  verben,  um  die  es 
sich  hier  handelt,  überwiegend  intransitiva  sind  und  das  part. 
prät.  fast  ausschliefslich  in  neutraler  form  gebrauchen,  anders 
hgt  die  sache  natürlich  bei  erfibr,  wo  auch  mit  dem  einfluss 
des  substantivums  erfifti  zu  rechnen  ist.  aschwed.  doghit,  livit 
stehn  analogisch  für  *doghip,  *Hvit  nach  livat  udgl.,  man  ver- 
gleiche sagp. 

In  mehreren  casus  hätte  lautgesetzlich  synkope  eintreten 
müssen,  doch  ist  diese  theoretische  nolwendigkeit  wol  sicher 
ohne  praktische  folgen  geblieben,  weil  diese  casus  eben  kaum 
vorkamen,  höchstens  das  fem.  (spgft  für  *sagfi)  mag  bei  einigen 
verben  eine  rolle  gespielt  haben,  i.  a.  beruht  die  synkope  in 
den  participien  der  a?-classe,  wie  oben  hervorgehoben,  auf  dem 
muster  des  Präteritums. 

Breslau,  5.  october  1906.  G.  NECKEL. 


HANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCHAFT. 

1  CAP1TEL.     DIE  LITTERATUR. 

Der  mittelalterliche  Zeichner,  der  zu  ende  des  12  jh.s  den 
prächtigen  codex  des  grafen  Sihoto  vFalkensiein  mit  illustrationen 
versah,  inalte  neben  dem  capitel  'de  cyrografo'  auf  fol.  2a  an  den 
rand  eine  offene,  flache  band,  die  nach  dem  texte  hinweist,  in 
dieser  Zeichnung  finden  wir  den  ersten,  schüchternen  versuch, 
das  Jahrhunderte  hindurch  viel  umstrittene  wort  hantgemahele 
wenigstens  nach  seinem  ersten  bestandteil  etymologisch  zu  erklären. 

Im  zweiten  viertel  des  14  jh.s  tritt  ein  zweiter  interpret  auf, 
Johann  vBuch,  der  glossator  des  Sachsenspiegels,  der  zu  III  26 
hemerkt  :  hantmal  dat  is  dat  gerkhte,  dar  he  schepen  tu  is  eder 
wesen  scholde  ....  unde  het  darumme  syn  hantgemal,  dat  he  eder 
syne  olderen  met  der  hant  up  dy  hilgen  tu  deme  rechte  gesworeti 
hebben  unde  dat  sy  des  noch  mal  hebben,  dat  is  warteiken,  an 
deine  stule,  dar  sy  up  hir  mede  schepen  sin.  —  ihm  folgen  die 
glosseu  zum  Weichbildrecht  (14  jh.,  ed.  Zobel,  1589,  hl.  Lxvba) 
und  zum  niederländischen  Sachsenspiegel  (15  jh.)  in  wörtlicher 
Übereinstimmung. 

Als  die  deutschen  gelehrten  vom  16  jh.  ab  sich  wider  dem 
Studium  des  Sachsenspiegels  widmeten,  suchten  sie  auch  den  be- 
griff des  haudgemals  festzulegen  und  etymologisch  zu  erklären, 
wobei  sie  meist  auf  die  alte  glosse  zurückgriffen.  Christoph 
Zobel,  der  herausgeber  des  Sachsenspiegels  (1535  und  1537), 
übersetzte  im  glossar  :  forum  competens  unius  cuiusque,  und  er- 
klarte es  von  der  schwörenden  hand  und  vom  mahl  =  Gerichts- 
stand, seine  auffassung  teilten  JGWachter  (Glossar.  German., 
1737,  s.  v.  mahl),  ChrGHaltaus  (Glossar.  Germanic.  medii  aevi, 
1758,  s.  v.  handyemal)  und  Scherz-Oberlin  (Glossar.  Germanic.  med. 
aevi,  bd  i,  1781,  s.  v.  handgemahl).  demgegenüber  hatten  Schilter- 
Scherz  im  Thesaurus  aut.  Teut.  (bd  in,  glossar,  1728)  das  wort  mal 
dem  alten  mallus,  gerichtsplatz,  gleichgesetzt  und  die  hand  als  die 
gewaltige,  mächtige,  erklärt,  sie  übersetzten  also  :  'mallus  juris- 
diclionis,  de  jure  et  sede  scabinali'.  ihnen  folgte  nur  ChrUGrupen 
Deutsche  altert,  d.  sächs.  u.  schwäb.  land-  u.  lehnr.,  1746,  p.  91sqq. 

Diese  beiden  etymologieen,  die  -mal  entweder  mit  dem  ahd. 
mal  'zeichen'  oder  dem  lat.-fränk.  mallus  'gericht'  zusammen- 
brachten, waren  es  bis  in  die  mitte  des  19  jh.s  allein,  die  den 
Z.  F.  D.  A.  XLIX.     i\.  F.  XXXVII.  21 


322  SCHÖNHOFF 

begriff  des  handgemals  erklären  sollten,  indessen  fügte  Andreas 
Schmeller  zu  der  bisher  allein  bekannten  Sachsenspiegel-steile 
im  jähre  1828  (Bayerisches  Wörterbuch  u  s.  560  f)  noch  zwei 
stellen  aus  den  Monumenta  Boica  vu  434  (codex  Falkensteiueusis) 
und  xiv  361  (Rihni),  sowie  aus  dem  damals  noch  ungedruckten 
Windberger  psalter  :  hantgemahele,  testamentum,  und  im  jähre  1840 
(Glossar  zum  Heliand)  die  drei  stellen  der  altsächsischen  bibel- 
dichtung  und  eine  glosse  aus  einem  codex  Emmeram.  :  hant- 
gemehele,  mundiburdium.  im  Glossar  zum  Heliand  (s.  74  s.  v. 
mahal)  übernahm  er  Zobels  alte  Übersetzung  'forum  competens' 
aus  dem  Sachsenspiegel  auch  für  den  Heliand1.  —  1849  u.  folg. 
wurden  durch  Mafsmanns  und  Diemers  gleichzeitige  ausgaben 
der  Kaiserchronik,  1849  durch  Diemers  ausgäbe  der  Vorauer 
Genesis  (in  den  Deutschen  gedienten  des  11  und  12  jh.s)  neue 
Zeugnisse  für  die  weitere  Verbreitung  des  handgemals  bekannt. 
JosDiemer  aao.  (anm.  s.  10  zu  z.  3)  erklärte  das  hantgemahele 
der  Genesis  als  handmahl,  versprechen,  vom  got.  meljan,  scri- 
bere,  während  Schmeller  aao.  das  wort  entschieden  zum  ahd. 
mahal  'concio,  pactio'  zog.  nachdem  endlich  Chabert  in  den 
Denkschriften  der  Wiener  akademie  1852,  bd.  4,  s.  4  noch  das 
vorkommen  des  handgemals  aus  Kleimayrns  Nachrichten  der 
gegenden  und  Stadt  Juvavia  (Salzburg  1784,  dipl.  anh.  s.  145 — 
146.  155 — 156.  175 — 176;  ohne  das  wort  selbst  194)  nachgewiesen 
hatte,  stellte  im  selben  jähre  1852  der  Jurist  GHomeyer  in  der 
classischen  schritt  'Über  die  heimat  nach  altdeutschem  recht, 
insbesondere  über  das  hantgemal'  (Berlin  1852;  Sonderdruck 
aus  den  Abhandlungen  der  Berliner  akademie,  phil.-hist.  cl., 
s.  17 — 104)  die  bedeutung  dieses  interessanten  rechtsinstitutes  aus 
den  verschiedenen  quellen  fest  —  ohne' rücksicht  auf  die  mannig- 
fachen namensformen,  zu  den  schon  bekannten  stellen  fügte  er 
noch  s.  56  die  beiden  extravaganten  der  Lex  Salica  hinzu  (zu- 
erst gedruckt  1846,  dann  in  Merkels  Lex  Salica  1850),  sowie 
Parzival  6,  19.  bekanntlich  sieht  er  als  ausgangspuncl  des  hand- 
gemals ein  handzeichen  des  freien  besitzers  an,  das  an  dem  grund- 
eigen haftet  (hausmarke)  und  seinem  herru  die  freiheit  garantiert. 
Homeyers  darstellung  des  tatbestandes  ist  (aufser  für  den 
Sachsenspiegel)   mit  einigen  modificationen   bis  auf  den  heutigen 

1  diese   Übersetzung   bietet  nach   ihm   OSchade    Altdeutsches    Wörter- 
buch s.  v.  handmahal. 


HANDGEMAL  UND  SCHWUBBBUDERSCHAFT         323 

tag  als  endgültig  angesehen  worden;  auch  gegen  seine  sprach- 
liche herleitung  hat  man  von  Seiten  der  deutschen  Sprachwissenschaft 
last  keine  einwendungen  erhoben,  obgleich  schon  im  jähre  1856 
Gustav  Eschmanu  (f  1906  als  Oberlehrer  a.  d.  in  Bürgst  ein  fürt) 
in  der  6  these  hinter  seiner  Bonner  disserlation  *  behauptete  :  'quam 
Homeyerus  statuerit  vocis  handgemal  interpretationein  cum  forma 
saxouica  handmahal  aut  mesotheotisca  hantgemahele  nequaquam 
convenire'.  Eschmanns  einwand  blieb  aber  weiteren  kreisen  un- 
bekannt, und  nur  gegen  Homeyers  theorie  über  das  handgemal 
im  Sachsenspiegel  traten  nach  mehr  als  30  jähren  Zallinger,  Wittich 
und  Heck  mit  neuen  hypothesen  auf.  inzwischen  hatte  GWaitz 
(Deutsche  verf.-gesch.  bd  iv  [1861]  s.  282,  1)  die  stelle  Juvavia 
194  (partem  unam  pro  libertate  tuenda),  die  Chabert  bereits  an- 
geführt, llomeyer  aber  übergangen  hatte,  von  neuem  ans  licht 
gezogen,  und  JStrnadt  (Reuerbach  [1868]  s.  43)  noch  aus  einem 
urbar  von  1608  ein  handtgemähl  nachgewiesen  (angeführt  bei 
Sigmund  Adler  Zur  rechtsgesch.  des  adeligen  grundbes.  in  Öster- 
reich [Leipzig  1902]  s.  12  fufsn.  2).  1870  meinte  Waitz  in  den 
Urkunden  zur  deulschen  Verfassungsgeschichte  (s.  39 — 45,  später 
in  der  Verf.-gesch.  v,  2  auf).  [1893]  s.  509—515)  das  handgemal 
in  einer  reihe  von  deutschen  urkundlichen  quellen  widerzufinden, 
wo  aber  meist  nur  von  freiem  stammgut  die  rede  ist;  mit  Sicher- 
heit wenigstens  kann  keine  der  dort  angeführten  stellen  auf  das 
handgemal  bezogen  werden,  zu  dem  anthmallus  der  Lex  Salica 
brachte  eine  neue  erklärung  1871  RudSohm  Altdeutsche  reichs- 
und  gerichts- Verfassung  i  316  ff.  auch  Zöpfl  in  der  recen- 
sion  von  Homeyers  Haus-  und  hofmarkeu  (Rerlin  1870),  in  den 
Heidelberger  Jahrbüchern  64,  161  ff  (janre-  1871),  lieferte  zum 
anthmallus  (s.  179 ff)  wie  zum  Sachsenspiegel  (s.  175 ff)  mehr- 
fache anregungen;  nach  Waitz  (Verf.-gesch.  iv)  machte  er  s.  174 
von  neuem  auf  das  handgemal  des  Luidolf  (Juvavia  s.  194)  auf- 
merksam (auch  Quilzmann  Oberbayer,  archiv  32  bd  1873,  s.  118 
und  Stobbe  Zs.  f.  deutsche  rgesch.  15,  329).  1880  folgte  die 
authentische  ausgäbe  des  codex  Falkenstein,  durch  Hans  Petz 
(Drei  bayr.  traditionsbücher  aus  dem  12  jh.,  München,  i),  die  end- 
lich die  la.  hantgemalehe  feststellte;  die  Mon.  Boica  hatten  hant- 
gemalchen  gelesen,  was  schon  Schmeller  (aao.)  in  hantgemahele 
hatte  bessern  wollen,  ein  neues  handgemal  wollte  1885  AHeusler 
1  Ad  linguae  Germanicae  historiam  symbolae. 

21* 


324  SCHÖNHOFF 

Institutionen  des  deutschen  privat  rechts  i  232  u.  17  in  dem 
gemeinsamen  besitz  des  Scheyrischen  geschlechtes  erblicken, 
der  bürg  Scheyern,  die  1119  dem  Benedictinerorden  als  kloster 
eingeräumt  wurde.  HGGengler  Beiträge  zur  rechtsgeschichte 
Bayerns,  1  heft  (Erl.  u.  Lpz.  1889)  s.  135 ff  nahm  diese  Ver- 
mutung auf  und  suchte  die  hypothese  weiter  auszubauen,  neuere 
lorscher  sind  dann  auf  dies  interessante  capitel  anscheinend  nicht 
zurückgekommen,  dagegen  wies  ALuschin  vEbengreuth  Öster- 
reichische reichsgeschichte  (Bamberg  1896)  s.  79,  30,  zum  letzten 
male  auf  das  handgemal  des  Luidolf  hin,  und  1899  machte  Ernst 
Mayer  Deutsche  und  franz.  verfassuugsgesch.  vom  9  bis  zum 
14  jh.,  bd  1  s.  47,  139  aus  einem  oberbairischen  urbar  um 
1280  (Mon.  boica  xxxvi  1,  s.  135  0)  ein  hantgemahil  in  Argolt- 
zingen  namhaft. 

Besonders  durch  OvZallingerDie  schöffenbarfreien  des  Sachsen- 
spiegels (Innsbruck  1887)  und  PhHeck  Der  Sachsenspiegel  und 
die  stände  der  freien  (Halle  1905;  über  das  handgemal  s.  500 — 515) 
wurde  die  frage  nach  dem  stände  der  schöffenbarfreien  und  der 
bedeutung  des  handgemals  im  Sachsenspiegel  wider  in  fluss  ge- 
bracht, bis  durch  die  beiden  publicationen  von  WWittich  und 
PhHeck  in  Belows  Vierteljahrschr.  für  social-  und  Wirtschafts- 
geschichte !  ein  vorläufiger  stillstaud  eingetreten  ist,  da  beide 
entgegengesetzte  theorieen  vertreten  :  Wittich  setzt  an  stelle  von 
Homeyers  ständischem  geschlechtsgut  das  ständische  einzelgut, 
Heck  das  historische  stammgut.  durch  diese  discussion  angeregt, 
erschien  dann  ende  1906  in  dem  Archiv  für  culturgeschichte  bd  4, 
s.  393 — 402  die  abhaudlung  von  Aloys  Meister  Zur  deutung 
des  hantgemal,  die,  freilich  unvollständig,  ähnlich  wie  Homeyer 
das  inzwischen  erweiterte  material  zusammenstellt  und  handmahal 
und  hantgemdl  wider  vom  ahd.  mal  'zeichen'  trennt. 

2  CAPITEL.     DAS  SPRACHLICHE. 
Übersicht  über  die  sprachlichen  formen  für  handgemal2. 
A.  anthmallus. 

i.  Zwei  extravaganten  zur  Lex  Salica  (Karl,  rechlsbuch 
C)  im  codex  33  des  domcapitels  von  Ivrea.  —  9  jh. 
(Amedeo     Peyron     in    Memorie     della    R.    accademia 

1  bd  4,  s.  1  — 127  :  Witticli  Allfreiheit  und  dienstbarkeit  des  uradels 
in  Niedersachsen  (auch  als  buch  erschienen);  ebda  s.  356 — 364  :  PhHeck 
Die  neue  hantgemallheorie  Wittichs.       2  *  fehlt  bei  Homeyer,  f  bei  Meister. 


HANDGEMAL  UND  SCIIVVURBRUDERSCHAFT         325 

delle  scienze  di  Torino,  1846,  p.  129  IT.  JohMerkel 
Lex  Salica,  1850,  s.  99  IT.  JFrBehrend,  Lex  Salica, 
2  aufl.  von  RBehrend,  1897,  s.  165  ff). 

B.  handmahal,  —  gemdl  (mudd.);  —  gimahili,  —  gemdhel(e). 
a.  Niederdeutsch. 

n.  Heliand  v.  346  Mon.  Colt.  360  Mon.  4127  Mon.  Cott.: 

handmahal.  —  9  jh. 

in.  Sachsenspiegel  i  51    §  4.     m  26    §  2    (und   glosse); 

29   §  1    (u.   gl.)  :  hantgemal,   GL   auch  hantmal.   — 

13  jh.     darnach: 

•fina.  Spiegel   deutscher  leute    1,  243  (ed.  Ficker   s.  129) 

=  Ssp.  in  29  §  1  :  hant  gemal.  —  mitte  des  13  jh.s. 

tmb.  Distinctionen  iv  23    dist.   16    (ed.  Ortloff  s.  231)  = 

Ssp.  i  51  §  4:  hantgemal.  —  14  jh. 
-j-inc.  Weichbild    art.  33    (ed.  Zobel    bl.  Lxva2)  =  Ssp.  m 

29  §  1  (und  glosse)  :  handmal.  —  14  jh. 
find.  Niederl.    Sassenspiegel    i    89,    159     (und   glosse)   = 
Ssp.  m  26  §  2;  i  89,  160  =  Ssp.  m  29  §  1  :  hant- 
ghemael.  —   15  jh. 

ß.  Hochdeutsch. 

iv.  Juvavia  155:  hantkimahili  (1.  hantkimahili).  —  Gagan- 
hard, 925. 
v.  Juvavia   175:  hantkimahili.  —  Odalhard,  935. 

weiterhin  mit  bewahrung  des  a: 

vi.  Mon.  Boica   vn   434;     Cod.  Falkenstein,    fol.    2  a  (ed. 

Petz  s.  3)  :  hantgemalehe   (1.   hantgemahele).  —  1180 

bezw.  1193. 
vii.  Diemer  Deutsche  gedichte  des  11  und  12  jh.s,  s.  15,  3: 

hantgemahele.  —  Vorauer  Genesis,  hs.  um  1163 — 1185. 
-j-viu.  Windberger  psalter  (ed.  Graff)  24,   17  :  hantgemahele. 

—  1187. 
•fix.  Münchener  hs.  des   Parzival   (ed.  Lachmann  6,  19)  : 

hantgemahele. 
fx.  Schwabenspiegel   ed.  Wackernagel    402,   5  =  Ssp.  i 

51   §  4  :  hantgemahel.  —  um  1273—1282. 
mit  ä  (e) : 

fxi.  Ahd.  glossen   iv  342,    1 — 2  :  hantgemehele.    —    Cod. 

Emmeram.  (München,  Clm.   14  628),  12  jh. 


326  SCHÖNHOFF 

*xn.  Mon.  Boica  xxxvi  1,  235   :  hanlgemaehü.  —  scherge 
von  Schneitsee  1280  (Oberbair.  urbar). 
fxiu.  Münchener  hs.  (2)  der  Kaiserchronik  (ed.  EdwSchröder 
v.  7142):  hant  gemähel.  —  aus  SNicola    bei  Passau, 
14  jh. 
fxiv.  eine  hs.  des  Parzival  (s.  oben  ix)  :  hantgemcehel. 
*fxv.  JulStrnadt i  Peuerbach.    ein  rechtsbist,  versuch   (Linz 
1868)  s.  43  n.  2  :  handtgemäkl.  —  Peuerbacher  urbar 
von  1598—1608. 
C.  -gimäli,  -gemcele,  -gemcelde. 

xvi.  Mon.    Boica    xiv   361 ;    Juvavia    145  :  hantgimali.  — 

Rihni,  927. 
xvn.  Kaiserchronik  (ed.  Schröder  v.  7142)  :  hantgemcele.  — 
nach  derVorauer  hs.  (vgl.vn);  gedichtet  bald  nach  1147. 
xviii.  Parzival    ed.    Lachmann  6,  19  :  hantgemcelde   (SGaller 

hs.  :  -gemeide).  —  um  1204. 
fxix  Wolfenbütteler  hs.  der  Kaiserchronik  (oben  xm  und 
xvn)  :  hant  gemeld.  —  14  jh. 
Wenn  wir  von  dem  ersten  componenten  des  wortes  hand- 
gemal  (auch  anth-  in  nr  i  ist  nur  die  romanische  Schreibweise 
für  hanlh-)  abseben ,  so  tritt  uns  der  zweite  bestandteil  schon 
in  alter  zeit  in  drei  verschiedenen  lautformen  entgegen  :  -mallus 
(nr  i),  -mahal,  -mahili  (n  —  xv)  und  -mdli  (xvi  —  xix).  das 
fränk.-Iatein.  mallus  ist  schon  früh  als  lautverwaut  mit  dem 
got.  mapl,  ahd.  mahal  erkannt  worden,  und  seit  JGrimm  galt 
-die  entwicklungsreibe  mapl  ^>  mal  (wie  altnord.  mal  und  möl, 
und  lat.  mallus)  >  mahal.  —  das  11  in  mallus  erklärte  zuerst 
richtig  ESievers  ldg.  furschungen  4,  335 — 340  als  aus  dl  ent- 
standen; er  setzte  als  grundform  ein  german.  *madläm  neben 
dem  herschenden  *mäplam  an.  auch  das  Verhältnis  des  ahd. 
mahal  (anord.  mal,  aengl.  mcedel)  zum  got.  mapl  stellte  Sievers 
Beitr.  5,  531 — 535  fest,  german.  pl  wird  darnach  im  inlaut  zu 
yl  (hl),  das  in  den  nordgermau.  sprachen  weiter  in  stimmloses  l 
übergeht  unter  deiiuung  des  voraufgehnden  vocales  (anord.  nöl 
'nadel'  aus  *neplö;  mcela  'sprechen'  zu  got.  mapljan);  im  ahd. 
und  alts.  entwickelt  sich  wenigstens  teilweise  ein  hl  (ahd.  alts. 
mahal).    das  altengl.  erhält  das  pl  durchgehends  (mcedel,  nddl  usw.). 

1  Strnadt   bezieht  das  handtgemäkl  auf  das  asylrecht    (pro  übertäte 
tuenda,  Juvavia  s.  194). 


HANDGEMAL  UND  SCHWURßRUDERSCHAFT         327 

das  altniederfränk.  {ndlda  'nadel'  aus  *nahalda)  und  allfries. 
(nelda)  kennen  anscheinend  nur  hl,  doch  tritt  im  mal.  auch  ein 
madelare  =  'zaakwaarnemer'  (Mul.  wörterb.  iv  945)  auf,  wie 
ahd.  Madal-  in  eigennamen  (Forstemanu  i  920  h°).  neben  mahal 
ist  ahd.  ndlda  (Tatian  106,  4),  rnndd.  ndlde  (Sachsensp.  i  24,  3; 
Kilian  und  Dieffenh.)  der  einzige  beleg  für  den  deutschen  laul- 
wandel  pl  ^>  hl1,  sonst  erscheint  immer  -thal  und  -dal, 
ahd.  wedil  'schweif  (anord.  vele),  alts.  tanstuthlia  'zahnreihe' 
(anord.  stäl  'parenthet.  satz  in  einer  halbsirophe'),  bodlös  n.  pl. 
häuser  (anord.  bot). 

Diese  lautgesetze  stellen  die  identität  des  fränk.-latein. 
anthmallns  und  des  altsächs.  handmahal  aufser  jeden  zweifei. 
die  ahd.  form  -gimahili  (german.  *-gamapliam)  weist  als  svara- 
bhaktivocal  ein  i  auf  gegenüber  dem  a  in  mahal  (aus  *mahl), 
beeinflusst  durch  das  i  der  endsilbe;  vom  12  jh.  ab  dringt 
auch  hier  der  (secundäre)  /-umlaut  durch,  der  bislang  durch  das 
unmittelbar  voraufgehude  h  verhindert  worden  war.  secun- 
därer  t-umlaut  wird  meist  d  geschrieben  (xii — xv),  seltener  e 
(xi),  daneben  bleibt  auch  das  alte  a  unverändert  erhalten  (vi — x). 
—  das  hantgemdl  des  Sachsenspiegels  (in)  und  der  von  ihm  ab- 
geleiteten darstellungen  .  ist  die  lautgesetzliche  fortsetzung  des 
altsächs.  handmahal]  schon  in  altsächs.  deukmälern  schwindet 
intervocal.  h  unter  dehnung  des  voraufgehnden  vocals,  zb.  sld 
'schlag'  (Eltener  glossen),  mdl  'iusticia  ac  census'  (Heliand: 
mahal;  Urkunde  Ottos  i  von  959  in  MGDiplI.  i   205). 

Eine  eingehndere  besprechung  erheischt  ahd.  hantgimdli 
(Juvavia  145),  mhd.  hantgemcele.  da  ein  ahd.  -aha-  (mhd. 
•ahe-)  auf  bajuvarischem  boden  erst  im  ausgange  des  mittel- 
alters  zu  d  contrahiert  wird,  legte  diese  abweichende  form  die 
verwautschaft  mit  ahd.  mdl  sehr  nahe.  in  der  recension  von 
Sievers  Tatian,  2  aull.  (Anz.  xix  [1893]  235 — 244)  wies  nun 
RKögel,  an  das  tatianische  sinu  (aus  sih-nu)  anknüpfend,  aao. 
s.  244  zuerst  nach,  dass  german.  h  vor  /,  r,  n,  w  auch  im  inlaute, 
selbst  in  der  composilionsfuge  schwinde.  neben  ahd.  fihala 
steht  fila  'feile',    neben   uuihrouch    (anal,    nach   uuih)  unirouch, 

1  nnl.  naald,  groning.  nal,  nalle  (aus  nälde),  drenth.  naold  (Moleina 
Groning.  wb.  275),  nordemsländ.  und  bentheim.  nule  beweisen,  dass  das 
niederländische  als  der  ausgangspunct  für  diese  worlfonn  anzusehen  ist. 


32S  SCHÖNHOFF 

ueben  Hhlauui  'cieatrix'  likwi  (Ahd.  gloss.  iv  258,  3  aus  dem 
12  jh.);  selbst  h  aus  ch  (germ.  k)  schwindet  öfters,  zb.  chir- 
uuarta  'ecclesiarum  provisores'  (Ahd.  gloss.  n  342,  9).  auch 
an  unserer  stelle  findet  sich  ein  beleg  für  dies  lautgesetz:  neben 
Rihni  (i.  e.  Rich-ni)  wird  auch  Rhini  (Juv.  145)  geschrieben, 
demnach  stellt  ein  ahd.  -gimdli  aus  -gimahli  die  natürliche 
fortsetzung  des  german.  *-gamapliam  dar,  während  ein  -gima- 
hili  nur  durch  analogische  entwicklung  eines  svarabhaktivokals 
(der  in  tnahal  lautgeselzlich  eintrat)  sein  h  intact  erhielt,  ahd. 
-gimdli  muste  zu  mhd.  -gemcele  werden,  wie  ein  voraus- 
zusetzendes -gimdlidi  mit  angehängtem  ■  ipi -  suiiix  die  Vorstufe 
des  Wolframschen  -gemalde  bildet. 

Was  ist  nun  die  ursprüngliche  bedeutung  von  *-gamapliam! 
—  got.  mapl  n.  (Marc.  7,  4)  übersetzt  das  griech.  dyoqcc  (lat. 
forum,  Tatian  84,  4  strdza),  'kaufmarkt'.  —  ahd.  mahal  ist  in 
den  glossen  contio1  (9  jh.  Ahd.  glossen  ii  260,  12;  11  jh. 
Tegernseer  codex,  aao.  i  368,  29);  pactum  (8  jh.  Keron.  glossen, 
i  256,  19;  9—10  jh.  Reichenauer  hs.,  ii  349,  1);  pactio 
0  225,  16);  foedus  (nuptiarum,  n  147,  30)  und  forum  (niederd. 
10  jh.,  Oxforder  Vergilglossen,  n  717,  58).  auch  der  SPetrier 
codex  (Glosse  zur  lex  Ripuaria  tit.  36  §  11,  Ahd.  gl.  ii  354,  7) 
meint  wol  den  gesamten  kaufverlrag,  wenn  er  die  worte  : 
'spatham2  cum  scogilo  pro  7.  solid,  tribuat.  spatham  absque 
scogilo  pro  tribus  solidis  tribuat'  —  mit  mahal  glossiert.  — 
im  Heliand  v.  1312  (Moo.),  2891  (Mon.),  3834  und  4710  (Cott.) 
kann  mahal  überall  Versammlung  (concio,  samenunga,  Gloss.  i 
473,  22.  iv  272,  14)  bedeuten,  obgleich  Brunner  Rechtsgesch. 
i  144  in  v.  1312  gerichtstätte,  Rückert  in  v.  2891  gericht  über- 
setzt, diese  bedeutung  hat  das  wort  sicherlich  im  Muspilli  v.  31. 
63  uud  im  lied  vom  hl.  Georg  (Georio  fuor  ze  malo).  an  letzterer 
stelle  findet  sich  wider  ein  beleg  für  das  Kogelsche  geselz  : 
*mahl  >>  mahal,  *mahlö  (instrum.)  >  mdlu{o).  wenn  Muspilli 
v.  61  ze  demo  mahale  lautet,  so  ist  dies  eben  eine  analog,  neu- 
schöpfung  nach  dem  nomiuativ.  —  in  den  Edden  ist  mal  in  der 
bedeutung   'gericht'    nirgendwo    überliefert;    spräche,   rede,  wort, 

1  auch   mallus   wird    als    Übersetzung   von   concio    gegeben.     MGScr 
rer.  Meroving.  iv  165,  1  ff. 

2  spata  twert.  Gloss.  m  258,  2.  289,  12.  309,  12.  623,  8  u.  ö.  668,  26. 
zu  scogilum  (scheide)  vergl.  alts.  sköh  'schuh'. 


HANDGEMAL  UIND  SCHWURBRUDERSCHAFT         329 

beratung,  spruch  in  gebundener  rede,  Vortrag  sind  die  gewöhn- 
lichen  Übersetzungen,     der  plur.  möl  ist  gedieht,  Lied. 

Denselben  bedeutungsinhalt  zeigt  das  zugehörige  verbum  got. 
mapljan  (Joh.  14,  30  Xalelv,  loqui;  Tatian  167,  7  sprehhan); 
mapleins  (Juli.  8,  43)  ist  lalia  (loquela;  Tat.  131,  18  sprdhha); 
fauramapieis  =  ccq%cov  u.  ä.  (Matth.  9,  34;  Luc.  8,  41  u.  a.). 
neben  altnord.  mwla  'sprechen'  steht  alts.  mahlian,  gimahlien 
Micere,  loqui,  confiteri'  (Heliand  v.  139.  165.  914  u.  ö.  =  Luc.  1, 
18.  20.  Joh.  1,20;  dixit,  gimdlda,  Coli.  v.  3993,  Joh.  10,  16). 
im  Hildebrandsliede  :  Hillibrant  gimahalta;  in  deu  glosseu  paclus 
gimahlida  (n  718,  37;  vgl.  ir  16,  34;  407,  5.  467,  27);  hei 
INotker  mälön  'arguere'  (Ps.  49,  8  im  Cod.  Sangall.;  der  Cod. 
Vindob.  hat  an  dieser  stelle  frdgen). 

Das  übereinstimmende  Zeugnis  des  got.,  anord.,  ahd.  und  alts. 
beweist,  dass  wir  in  dem  german.  *maplam  eine,  etwa  rhythmisch 
gegliederte  und  mit  starkem  accente  vorgetragene  rede  zu  sehen 
haben,  wie  sie  der  thinggenosse  bei  der  volksversammluüg  zu 
halten  pflegte,  in  den  Edden  ist  aus  der  poetischen  seite  dieser 
ursprünglichen  bedeutung  das  mal  'vers,  Strophe'  und  die  möl 
'gedieht,  lied'  erwachsen,  im  ahd.  und  alts.  die  Volksversammlung, 
das  volksgericht ]  überhaupt,  daneben  auch  (wie  im  got.)  wegen 
des  innigen  Zusammenhanges  von  Volksversammlung  und  markt 
der  kaufmarkt,  forum.  —  Leo  Meyer  Die  got.  spräche  §  344, 
s.  402  verglich  zuerst  das  aind.  manlram  'Zauberspruch',  man- 
trayati  'berät,  spricht'  (awest.  mqOra  'wort,  heiliges  worl')^ 
das  sich  mit  dem  german.  *maplam  in  der  gemeinsamen  be- 
deutung 'rhythmisch  gebaute,  pathetische  rede'  zusammenfindet, 
die  lautliche  form  (aind.  mantram  geht  etwa  auf  *montlom,  got. 
mapl  auf  *motlom  zurück)  macht  dagegen  Schwierigkeiten,  die 
man  zt.  aus  dem  wege  schafft,  wenn  man  aind.  mantram  von 
manas  (griech.  (xevog)  trejint  und  statt  dessen  zur  wurzel  me 
'messen'  stellt2.  — 

1  mahal  ist  über  die  ahd.  zeit  hinaus  nicht  mehr  gangbar  in  der  deutschen 
Sprache,  an  seine  stelle  tritt  das  ding  (got.  peihs  =  %qövos,  xaigöq,  urver- 
want  mit  latein.  lempus;  langobard.  Ihinx),  das,  wie  mahal  die  rede  auf 
der  Versammlung,  ursprünglich  nur  den  zeitpunet  des  gerichtes  bezeichnete. — 
mallum  dinc  Ahd.  gloss.  m  124,  41.  209,  50. 

2  lat.  mo-dius,  griech.  fie-roor,  (ti-di/tvos,  got.  mi-tan  ;  latein.  me-liri\ 
griech.  //>,'»',  got.  mena,  lat.  mensis;  got.  mels  zeigen  ebenso  mannigfache 
suflixe  wie  aind.  ma-nlram,  got.  ma-pl. 


330  SCHÖNHOFF 

Um  das  resultat  kurz  zusammenzufassen,  so  ist  germ. 
*-£amapliam,  ahd.  gimahili,  gimdli  der  Inhalt  einer  rede,  eines 
Vertrages,  der  etwa  auf  einer  Volksversammlung  (mahal)  geschlossen 
wurde;  bei  dieser  deulung  bleibt  kein  Zweifel,  dass  der  erste 
component  des  handgemals  (wie  schon  der  glossator  des  Sachsen- 
spiegels will)  hier  nur  die  schwörende  hand  bezeichnen  kann, 
die  als  wichtigstes  glied  des  menschlichen  körpers  symbolisch 
den  vertrag  bekräftigt  und  seine  erfüllung  garantiert,  noch  der 
Windberger  psalter  (1187;  oben  nr  vih)  fasst  das  handgemal  in 
diesem  sinne  (testamentum  =  bundesvertrag;  Notker  ps.  82,  6  : 
ioh  iegelich  kezumft  ioh  einunga  heizzet  testamentum.  Also  iacob 
unde  laban  testamentum  {des  einunga)  taten,  daz  sie  ioh  Jebinde 
uueren  solton);  und  der  codex  Falkenstein.  (1180;  oben  nr  vi) 
spricht  klar  und  deutlich  von  dem  cyrographum  (in  glossen: 
hantfesti,  hantgiscrip),  quod  teutonica  lingua  hantgemahele  voca- 
tur,  also  einem  schriftlich  niedergelegten  bundesvertrag  über  den 
gemeinsamen  besitz  (tiobilis  viri  mansus).  im  einzelnen  vgl.  die 
betr.  abschnitte  im  dritten  capitel. 

3  CAPITEL.  DAS  SACHLICHE. 
Das  handgemal  —  um  die  mannigfachen  gestalten  des  namens 
in  dieser  durch  den  Sachsenspiegel  berühmt  gewordenen  form  zu- 
sammenzufassen —  tritt  vom  9  bis  zum  13  jh.  in  drei  verschiedenen 
landschaflen  auf  :  in  Oberitalien,  Baiern  südlich  der  Donau  und 
Sachsen,  speciell  Ostfalen.  festere  wurzeln  hat  es  nur  in  Ober- 
baiern  und  Salzburg  geschlagen,  denn  das  sächsische  handgemal 
ist  nur  dadurch  in  den  Vordergrund  des  historischen  interesses 
getreten,  dass  Eike  vRepgow  diesem  institut  einen  bevorzugten 
platz  in  seinem  Sachsenspiegel  gönnte,  im  allgemeinen  sind  die 
forscher  bei  der  erklärung  des  handgemals  vom  Sachsenspiegel 
ausgegangen  und  haben  die  übrigen  stellen,  an  denen  es  erwähnt 
wird,  nur  secundär  herangezogen;  erst  Meister  (aao.)  strebt  eine 
individuelle  und  landschaftliche  sonderung  an,  geht  aber  dabei 
noch  immer  zu  wenig  radical  vor.  der  Untersuchung  der  ein- 
zelnen stellen  seien  hier  zum  besseren  vergleiche  die  definilioneu 
des  handgemals  von  Homeyer,  Gengier,  vAmira,  Adler,  Heck  und 
Wittich  vorangestellt. 

Homeyer  (s.  43  f)  definiert  es  als  :  'das  freie,  mit  einem  etwa 
wehrhaften  Wohnsitze  versehene  grundstück  eines  vollfreien, 
welches  als  haupt-  und  stammgut  des  geschlechtes  ungeteilt  auf 


HANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCI1AFT         331 

den  ältesten  der  schwertseite  sich  vererbt.'  —  Gengier  (aao 
i  176;  aus  d.  j.  1889):  kdas  durch  anbringuog  der  geschlechts- 
niarke  gekennzeichnete  Sondergrundstück,  woran  für  eine  lamilie 
das  allen  sippegenosseo ,  auch  den  weiblichen,  jederzeit  zu  gute 
kommende  Zeugnis  ihres  freienslandes  haftete,  und  welches  darum 
unveräufserlich,  unteilbar  und  nur  im  manusstamme  vererblich 
erschien,  so  dass  in  dasselbe  lediglich  eine  individual-erbfolge 
mit  vorzug  des  ältesten  von  der  schwertseite  platz  greifen  konnte.' 
—  vAmira  (Pauls  Grundriss  2  aufl.,  in  s.  172)  :  'Unteilbarkeit  und 
Vererbung  des  stammgutes  auf  den  ältesten  schwertmagen  zeich- 
neten ....  diejenige  erscheinungsform  des  erbgutes  aus,  die  ...  . 
als  haut gern ahele  ....  vollfreier  uud  in  der  regel  ritterbiirtiger 
leute  auftritt.'  —  Adler  (aao.  s.  8;  a.  d.  j.  1902)  :  'handgemal, 
als  das  von  jeder  abhängigkeit  freie,  insbesondere  auch  steuer- 
freie, oft  mit  dem  Wohnsitze  des  herrn  verbundene  dominicalland 
eines  vollfreien,  das  vielleicht  schon  in  dieser  epoche  das  wesen 
eines  stammgutes  annimmt.'  —  Heck  (Der  Sachsenspiegel  s.  504): 
'heimat  im  geschichtlichen  sinne,  ort  der  herkunft.'  —  Wittich 
(aao.  s.  42.  49)  :  'ein  minimales  bauerngutchen  im  besitz  jedes 
geschlechtsgenossen  ....  die  rechtswürkung  bestand  vor  allein 
in  dem  nachweis  der  schöffenbarkeil ,  der  durch  ihren  recht- 
mäfsigen  besitz  geführt  wurde,  und  ferner  darin,  dass  sie  für 
ihren  inhaber  eine  heimat  im  rechlssinn  begründete.'  —  in  ähn- 
lichem sinne  —  meist  nach  Homeyers  definition  —  wird  das 
handgemal  aufgefasst  bei  FWalter  Deutsche  rechtsgesch.  (Bonn 
1853,  §  417,  s.  477  0,  HZöpfl  Deutsche  rechtsgesch.  (3  aufl., 
Slultg.  1858,  s.  320 ff),  AQuitzmann  Die  älteste  reichsverfassuug 
der  Baiwaren  (München  1866,  s.  40),  HSchulze  Das  erb-  und 
familienrecht  der  deutscheu  dyuastieen  des  miltelalters  (Halle  1871, 
s.  24 — 27.  56),  HPetz  (aao.  s.  xxvi),  AHeusler  Institutionen  des 
deutschen  privalrechts  (Leipz.  1885,  i  16611),  HSiegel  Deutsche 
rechtsgesch.  (2  aufl.,  Leipz.  1894,  s.  12.  57.  424  n.  5.  432  n.  38. 
625  n.  9),  ELagenpusch  Das  germanische  recht  im  Heliand 
(Breslau  1894,  s.  29 — 32)  uud  wider  AHeusler  Deutsche  Ver- 
fassungsgeschichte (Lpz.  1905,  s.  165). 

i  Das   handgemal    bei    den  Langobarden. 

In  zwei    extravaganten    zum    texte  C  (Karlisch,  rechtsb.)    der 
Lex  Salica,  die  Amedeo  Peyron  im  codex  33  des  domcapilels  zu 


332  SCHÖNHOFF 

Ivrea,  einem  alteu  langobardischen  herzogssitze,  entdeckte,  wird 
das  haudgemal  unter  dem  nameu  anthmallus  erwähnt  (Merkel 
s.  99 ff;  Behrend2,  s.  165  ff),  der  Schreiber  der  extravaganten, 
die  aus  dem  9  jh.  stammen,  fühlt  sich  als  Italiener  den  Franken 
gegenüber  (exlr.  v  :  ita  tenent  Franci.  nos  tarnen  in  Italia  propter 
Hludouuici  et  Lotharii  capüulare  ....),  w'e  schon  der  fundort 
für  oberitalischen,  dh.  langobardischen  Ursprung  spricht,  die  zweite 
extravagante  ist  klar  :  wenn  jemand  einen  andern  als  seinen 
sclaven  anspricht,  so  hat  der  beklagte,  falls  er  ausländer  ist,  in 
suo  anthmallo  seine  freie  geburt  nachzuweisen.  Si  quis  quemlibet 
mallaverit  ad  servitium  .  .  .  qui  in  alia  regione  fuit  natus  aut 
longe  infra  patria,  et  ille  diät  quod  ipsius  servus  non  sit  et  suam 
libertatem  in  suo  anthmallo  proportare  possit,  tunc  comes  faciat 
illutn  dare  uuadium  ad  suam  libertatem  proportandam.  weun  nun 
der  beklagte  keinen  eideshelfer  stellen  kann,  so  hat  ihn  der  graf 
unter  bewachung  des  klägers  in  anthmallo  suo  zu  führen,  dass 
er  dort  seine  freiheit  nachweise,  dann  folgen  genaue  angaben 
über  die  wähl  der  eideshelfer. 

Der  text  der  ersten  extravagante  ist  verderbt,  es  heifst  dort: 
Si  quis  aliquem  ad  servitium  mallaverit,  et  ille  uuadium  dederit, 
et  fideiussorem  posuerit,  ut l  anthmallo  legitimos  in  patria  de  qua 
est  festes  sue  libertatis  dare  debeat,  faciat  tunc  comes,  in  cujus 
[praesentia  mallatio  facta  est,  duas  epistolas  uno]  tenore,  et  unam 
habeat  ille  qui  mallat,  alteram  similem  ille  qui  mallatur.  es  folgen 
bestimmungen  über  das  erscheinen  des  klägers  ad  constitutum. 
RSohm  (Altdeutsche  reichs-  und  ger.-verf.  i  316,  note  77)  list 
anthmallo  legilimo ,  dh.  also  :  wenn  jemand  einen  anderen  als 
seinen  sclaven  anspricht,  und  der  beklagte  stellt  einen  eideshelfer, 
dass  er  anthmallo  legitimo,  in  seiner  heimat,  zeugen  für  seine 
freiheit  aufweisen  könne,  dann  hat  der  graf  zwei  Urkunden  an- 
fertigen zu  lassen,  gleichen  Wortlautes,  eine  soll  der  kläger,  eine 
gleichlautende  der  beklagte  erhallen. 

Homever  erklärte  den  anthmallus  als  die  durch  das  stamm- 

m 

gut  bestimmte  heimat  (ebenso  Zöpfl  Heidelb.  jbb.  64,  179 — 180); 

1  nach  Peyron  (von  dem  auch  die  in  eck.  kl.  gesetzte  ergänzung 
stammt).  —  Merkel  las  :  aut,  was  Homeyer  (s.  56,  note  93)  wider  in 
ut  verbesserte,    und  interpretierte   :   ut   legitimos  [in]   anthmallo  [i.  e.]   in 

patria  de  qua  est,  testes Zöpfl  will  lesen  (Heidelbgei  jahrb.  64,  179f.): 

ut  in  patria,  de  qua  est,   aut  aJithmallo 


IIANDGEMAL  UND  SCIIWURimUDERSCHAFT         333 

HSulini  (aao.  s.  318 IT)  trennte  den  anthmallus  vom  bandgemal 
und  zog  es  zu  mallus,  also  'echte  dingslälte  =  legitimus  sui  sa- 
cramenti  locus.'  GelTcken  Lex  Salica,  erlaut.  285  fasste  es  eben- 
falls als  gericht  auf  (auch  Meister  aao.  s.  398  und  note  l)1,  da 
anthmallo  in  patria,  wenn  anthmallus  auch  heimat  wäre,  die  un- 
sinnige bedeutung  hätte  :  in  der  heimat  in  der  heimat.  diese 
bemerkuDg  ist  aber  nicht  ganz  unanfechtbar,  da  patria  (wie  Sohm 
aao.  316  ff  nachweist)  hier  wie  an  andern  stellen,  so  im  capitu- 
lare  Ludwigs  des  frommen  (in  aliena  patria),  einfach  land  be- 
deutet, also  longe  infra  patria  'fern  im  lande',  in  patria  de  qua 
est  'im  lande,  aus  dem  er  stammt'. 

Aus  dem  vereinzelten  auftreleu  des  anthmallus  in  dieser  spät- 
langob.  quelle,  wo  überdies  noch  der  name  selbst  eine  fränkische 
form  trägt  (dem  fränk.  mallus  entspricht  ein  langob.  mahal),  kann 
für  die  bedeutung  des  wortes  mit  Sicherheit  nichts  geschlossen  wer- 
den, die  allgemein  angenommene  erklärung  'gerichlsstätte'  basiert 
nur  auf  der  secundären  bedeutung  des  fränk.  mallus  und  der  Zobel- 
Schmellerscheu  Übersetzung  'forum  competens'  (für  Sachsenspiegel 
und  Heliand).  der  anthmallus  isuus  a.,  a.  legitimus),  wo  der  be- 
klagte seine  freie  gehurt  nachweisen  soll,  kann  jedesfalls  nicht 
das  heimatland  sein,  da  er  iu  patria  de  qua  est  ligt,  also  ge- 
ringeren umfanges  ist.  die  freie  geburt  eines  mannes  war  aber 
an  den  freien  landbesitz  des  vaters  geknüpft,  kann  also  in  unserm 
falle  nur  auf  dem  väterlichen  erbgute  nachgewiesen  werden,  wie 
bei  dem  altsächs.  handmahal  und  den  bairischen  handgemalstellen 
gezeigt  werden  wird,  hat  dort  das  handgemal  einen  weitern 
inhalt  als  das  nodal  'erb-  oder  stammgul';  ob  dies  auch  hier 
zutrifft,  ist  unklar,  möglich  ist,  dass  diese  ältere  bedeutung  für 
die  vorliegende  späte  zeit  der  langobardischen  rechtsverhältnisse 
schon  zu  der  eines  eiufachen  stammgutes  abgeblasst  ist.  weiter 
aber  —  bis  zur  gerichtsslätte,  die  für  den  beklagten  zuständig 
ist  —  darf  aus  den  extravagauten  nichts  geschlossen  werden. 

Ein  indirectes  Zeugnis  für  die  existenz  eines  langobardischen 
handgemals  aus  dem  7  jh.  wird  erst  bei  gelegenheit  der  bai- 
rischen stellen  aufgezeigt  werden,  da  sich  zwischen  ihm  und  dem 
anthmallus  des  9  jh.s  keine  brücke  schlagen  lässt. 

1  Meister  schreibt  Sohm  fälschlich  die  Übersetzung  'stammgut'  zu, 
während  dieser  nur  sagt :  wenn  anthmallus  =  hani%ema\  wäre,  könnte  es  nur 
'stammgut'  bedeuten. 


334  SCHÖNHOFF 

ii   Das   ha  od  genial    bei    den  Sachsen  (Thüringern). 
Hier   kommen    vor  allem  die  beiden    stellen  Heliand    v.  346 
und  360  (Mon.)  in  betracht,  aus  denen  mit  Sicherheit  auf  eiuen 
grundbesitz   geschlossen    werden  kann,    wenn  auch  in  der  land- 
läufigen Interpretation  der  umfang  desselben  falsch  bestimmt  wird1. 
Hei.  v.  345  IT: 
Hiet  man  that  alla  thea  elilendiun  man       iro  ödil  söhtin, 
helidos  iro  handmahal       angegen  iro  he'rron  bodon, 
qudmi  te  them  ciiösla  gihue,      thanan  he  cunneas  icas, 
giboran  fon  them  burgiun. 

Hei.  v.  358  ff: 

[Joseph]         söhta  im  thiu  wdnamon  he'm, 
thea  bürg  an  Bethleem,       thar  iro  beidero  was 
thes  helides  handmahal       endi  öc  thera  helagun  thiornun, 
Marinn  thera  gödun. 

Joseph  und  Maria  gehören  nun  nach  altdeutschem  begriffe 
nicht  nur  zu  den  freien  (gemeinfreien),  sondern  auch  zu  den 
edelen  (nobiles),  wie  aus  der  mittelalterlichen  lilteratur  genugsam 
bezeugt  ist;  zb.  Otfrid  i  11,  19 ff,  an  der  stelle,  die  unserer  nach 
dem  inhalte  entspricht  : 

Ein  bürg  ist  thar  in  laute,       thar  wdrun  io  genante 
hüs  inti  wenti       zi  edilingo  henti: 


want  ira  anon  wdrun  thanana       gotes  drütthegana,  .... 
vdHagen  Gesamlabenteuer  n  331  (niederd.) : 

und  de  edelen  vrien 
de  milden  möder  Marien. 
ebda  in  428  :  Diu  edele  und  diu  frie  Maria. 

Der  lateinische  text,  der  dem  Helianddichter  an  dieser  stelle 
vorlag  (Lucas  2,  4)  lautet : ...  in  civitatem  .  .  .  Bethlehem,  eo  quod 
esset  de  domo  et  familia  David,  was  Tatian  (5,  12)  übersetzt: 
in  Dauidesburg  .  .  .  bithiu  uuanta  her  uuas  fon  huse  inti  fon 
hiuuiske  Dauides  (hiwisc  'familia!,  Glossen  m  68,57.  177,42). 
das  haus  David  (domus  David)  ist  ebenso  wie  nach  dem  heutigen 
Sprachgebrauch  die  dynastie,  die  sippe  Davids,  familia  =  hiwisc  die 

1  meist  wird  nach  Schindler  'forum  competens'  übersetzt  (auch  bei 
Meister  aao.  s.  398).  Martin  im  comm.  zu  Parzival  6,  19  (s.  17)  erklärt  schon 
richtiger  'heimat'. 


HANDGEMAL  UND  SCHWUKBHUDERSCHAFT         335 

hausgenossenschaft'(got.  AcJica-'liaus'),  die  schar  der  nächsten  bluts- 
verwanten  —  ähnlich,  nur  in  umgekehrter  reihenfolge,  Hei.  v.  347: 

qudmi  te  them  cnösla  gihue,  thanan  he  cunneas  was. 
denn  cunni1  ist  die  sippe,  der  weitere  stamm,  kndsal  die  engere 
familie  (Lagenpusch  Das  german.  recht  im  Heliand  [Breslau  1894] 
s.  22  f).  dem  entsprechend  stehn  sich  auch  die  parallelen  öilil 
(v.  345)  und  handmahal  (346),  wie  ciiösal  und  cunni,  als  engerer 
und  weiterer  erbbesilz  einauder  gegenüber,  ödil,  altengl.  edel, 
afries.  e'thel,  ahd.  uodal,  ist  das  erb-  oder  stammgut,  über  dessen 
besitz  der  eigentümer  nur  beschränkt  verfügen  konnte,  auf  das  dem 
mannesstamme  der  familie  die  Vorhand  eingeräumt  war.  wenn 
also  das  handmahal  einen  weitern  verwantschaftskreis  angeht,  so 
kann  es  nur  der  stamm-  und  erbbesitz  mehrerer  familien  (bzw. 
einer  sippe)  sein,  die  zum  stände  der  edeln  zählten.  Joseph  und 
Maria,  deren  gemeinsames  handmahal  (iro  beidero  was  .  .  .  hand- 
mahal) in  Bethlehem  gelegen  war,  gehörten  in  der  tat  wol  zu 
6iner  sippe,  aber  sie  waren  doch  nicht  aus  einer  hausgemeiu- 
schaft,  familie,   entsprossen. 

Die  dritte  Heliandstelle  (v.  4127),  deren  text  in  den  beiden 
handschriften  verschieden  überliefert  ist,  weist  wenigstens  in  einer 
hinsieht  einen  klaren  sinn  auf;  dort  wird  das  handgemal  des 
gesamten  Judenvolkes  in  Jerusalem  localisiert,  was  zu  der  aus 
v.  346  und  360  erschlossenen  bedeutung  eines  sippengutes  (bezw. 
mehreren  familien  eigeuen  besitzes)  aufs  trefflichste  stimmt, 
v.  4125  ff:  söhtun  im  liudi  ödra 

an  Hierusalem,       thar  Judeono  was, 
heri  endi  handmahal'2       endi  hööidstedi, 
gröt  gumskepi       grimmaro  thioda. 
Weder    die    bedeutung    noch    die    quantität   noch   der  casus 
des  heri  stehn  unumsloTslich  sicher  fest.    Grein  zog  es  als  »enitiv 
sing,  appositionell  zu  Judeono  (Germ.  11,  214),  er  list  heri  hand- 
mahal;  Piper  folgt   ihm  in  der  construclion ,    list  aber  heri  und 
nimmt  dies  als  geniliv  der  mehrzahl.    da  aber  in  diesem  falle  der 
artikel    nicht   fehlen   dürfte    (Sievers),    so  muss  heri  als  nominal, 
sing,   angesehen    werden,     ob    das  e  in    heri  lang  oder  kurz  ist, 

1  gmiis  chunni;  Glossen  in  68,  48.  177,  39. 

2  conj.  von  Heyne;  Mon.  hereo  endi  handmahal,  Coü.  hevi  huand 
mahal.  Heyne  folgen  Rückert  und  Sievers  (vgl.  auch  Zs.  19,  68).  Piper 
list  :  heri  handmahal,  Behaghel  :  heri  handmahal. 


336  SCHÖNHOFF 

ist  ebenfalls  nicht  sicher,  metrisch  ist  beides  zulässig  (FKauff- 
manu  Zur  rhythmik  des  Heliand  ßeitr.  12,283 — 355;  besonders 
s.  349).  heri  m.  würde  menge,  umstand  bedeuten  (Lagenpusch 
aao.  s.  49ff.  53  ff),  heri  f.  maiestas,  magnitudo,  magistratus  * 
(Ahd.  glossen  n  388,41.  439,17.  491,26.  507,28.  541,70. 
5SS,  51.  611,  54),  und  dies  ist  Heliand  v.  1898  Mon.  for  thea  heri 
(=  Lucas  12,  11  :  ad  magistratus),  3526  te  theru  heri  (—  Marc. 
10,  33   :  principibns  sacerdolum) ,   5413    Cott.   thiu   heri    (Matth. 

27,  20   :  princeps  .  .  sacerdohim),    und    5876   thero   heri    (Matth. 

28.  11  :  principibus  sacerdotum)  mit  Sicherheit  einzusetzen,  höbid- 
stedi'2  bezeichnet  nach  Sievers  die  residenzstadt  (in  glossen 
toparchas  houbitsteti),  eher  wol,  wenn  man  heri  als  Volksmenge 
auffasst,  die  hauptstätte,  dh.  die  statte,  wo  die  hauptmasse  der 
Juden  safs,  denn  in  Jerusalem  konnte  doch  nicht  die  residenz- 
stadt sein  (thar .  .  .  was  .  .  .  heri  endi  handmahal  endi  hötidstedi). 
aus  diesen  erwägungen  heraus  ist  zu  übersetzen  :  'in  Jerusalem, 
wo  der  Juden  Volksmenge,  Stammesbesitz  und  hauptstätte  war, 
und  eine  grofse  schar  böswilligen  volkes',  eine  Übersetzung,  die 
weder  grammatisch  noch  inhaltlich  anstöfsig  ist. 

Für  das  Ostfalen  des  9  jh.s,  wo  höchstwahrscheinlich  der 
Heliand  entstand,  kann  also  das  handmahal  definiert  werden  als 
gemeinsames  erbeigen  mehrerer  edlen  familien,  die  vielleicht  im 
sippenverband  standen  und  ihre  edel-freie  herkunft  aus  diesem 
ihrem  besitze  beweisen  konnten  —  wenn  damals  wie  bei  den 
Langobarden  und  vielleicht  auch  im  Sachsenspiegel  diese  gewohn- 
heit  juristisch  festlag. 

Die  auffassung  des  Sachsenspiegels,  der  nicht  weit  von  der 
wahrscheinlichen  heimat  des  Heliand  zu  hause  ist,  wird  sich  von 
der  eben  entwickelten  bedeutung  schwerlich  stark  entfernt  haben, 
charakteristisch  ist  nur,  dass  an  stelle  der  edlen,  dh.  der  freien 
(ritterbürtigen)  herren,  die  vielleicht  im  Heliand  nur  zufällig  ein- 
geführt waren  (beim  langob.  handgemal  kommen  ja  nur  freie 
überhaupt  in   belracht),  hier  der  gemeinfreie,  der  schepenbar  vri 

1  zu  der  letzten  bedeutung  kann  man  eine  ganz  ähnliche  stelle  Hei. 
v.  4214 ff  vergleichen: 

innan  Hierusalem,     thar  Judeono  uuas 

hetelic  hardburi  (=  magistratus;  Glossen  I  207,  12). 

2  Wittich  list  hier  hobistedi  'hofesstätte';  ist  das  absichtlich,  also  con- 
jectur?  oder  nur  ein  lesefehler?  —  das  letztere  ist  wahrscheinlicher. 


HANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCHAFT         337 

man  als  hesitzer  oder  anteilhaber  des  handgemals  erscheint,    dann 
auch   tritt  hier   die   bezieht! Dg  des  handgemals   zum  zuständigen 
gerichte  —  ähnlich  wie  in  der   langohardischen    extravagante  — 
stark  hervor,  wie  sie  im  Heliand  noch  völlig  latent  ist.    oh  nun  im 
einzelnen  die  auffassung  Hecks  oder  Witlichs  die  zutreffende  ist, 
kann    dahingestellt    bleiben,     sicher  ist,   dass  das  handgemal    des 
Sachsenspiegels  —  weil   später   als  der  Heliand  —  eine   weitere 
entwickhing  desselben  darstellt;  wie  weit  diese  im   13  jh.  bereits 
gegangen  ist,  ob  noch  geschlechtsgut  nach  Homeyer  (legitimations- 
deutun»),  oder  bereits  einzelgut  nach  Wittich  (viudicationsdeutung) 
oder  einfach  heimat  nach  Heck  (hist.  deutung),  kann  nur  durch  die 
eingehnde    erforschung   der  damaligen  rechtsverhältnisse   und  die 
fruchtbare   discussion    der  fachjjelehrten  entschieden  werden,     da 
jede  der  drei  genannten  auffassungen  nur  verschiedene  stufen  einer 
gradlinigen  entwicklung  darstellt,    und   alle  aus  der  von  mir  für 
den  Heliand  ermittelten  bedeutung  abgeleitet  werden  können,  so 
ist  hier  eine   weitere   Untersuchung    überflüssig.  —  dem    nieder- 
deutschen   glossator,   der,  durch   den  gleichklang  der  worte  mdl 
'zeichen'  und  mdl  'gerichl'  geteuscht,  eine  dementsprechende  etymo- 
logie  (vom  Schöffenabzeichen)    gibt,    war  das  handgemal   offenbar 
nicht  mehr  etwas  lebendiges,  sondern  schon  im  absterben  begriffen. 
Die  rechtsbücher,  die  in  den  fufsstapfen  des  spieglers  wandeln 
und   das  wort  hantgemdl  von  ihm  übernommen  haben,    scheinen 
den  begriff  meist  nicht  mehr  zu  kennen  (Rechtsbuch  nach  distinc- 
tionen  iv  23    dist.  16,    ed.  FOrtloff  s.  231  ff;    Magdeburg,  weich- 
bild    ed.    ChrZobel  art.  33).      charakteristisch    ist   hier   das    ver- 
schiedene verhalten  des  Deutschen-  und  Schwabenspiegels,  während 
dieser  für  das  niederdeutsche  hantgemdl  das  entsprechende  hoch- 
deutsche   hantgemahel    einsetzt,    behält    jener   die    nordd.   form1 
bei,  ein  zeichen,  dass  sein  bearbeiter,  der  etwa  um  die  mitte  des 
13  jh.s  in  Augsburg  (Schwaben)  schrieb,  den  begriff  nicht  kannte, 
dem  Verfasser  des  Schwabenspiegels,  der  vielleicht  aus  der  diöcese 
Bamberg  stammte  und  in  Baiern  oder  Schwaben  schrieb  (s.  unten 
in  Das  handgemal  bei  den  Baiern),   war  dagegen  das  rechtsinstitut 
wenigstens  dem  namen  nach  aus  hochdeutschen  landeu  bekannt. 


■e* 


1  dass  es  nicht  die  fortsetzung  des  ahd.  hanlgimdli  sein  kann,  beweist 
das  Wolframsche  hanlgemwlde ,  Kaiserchron.  hantgemcele ,  mit  ihrem  um- 
laut,  die  umlauttose  form  -gemahel  verdankt  die  erhaltung  des  a  eben 
dem  folgenden  k  (s.  oben  2  cap.). 

Z.  F.  D.  Ä.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  22 


338  SCHÖNHOFF 

Zum  schluss  ist  noch  die  Überschrift  zu  rechtfertigen  :  'das 
handgemal  bei  den  Sachsen  (Thüringern).'  es  ist  nicht  uner- 
heblich für  die  geschichte  des  handgenials,  dass  es  beide  male, 
da  es  auf  sächsischem  boden  vorkommt,  dort  erscheint,  wo  die 
Sachsen  erst  nach  der  Vernichtung  des  thüringischen  reiches  im 
jähre  531  sich  angesiedelt  haben  (pagus  Nortthuringowe  Saxoniais). 
selbst  die  —  freilich  sehr  unsichern  —  stellen  aus  Urkunden, 
die  Heck  (aao.  s.  509.  510)  und  Wittich  (aao.  s.  42.  45)  aus  dem 
Hildesheimschen  urk.-b.  beigebracht  haben,  beschränken  sich  fast 
ausschliefslich  auf  Ostfalen.  diese  bevorzugung  eines  neueroberten 
landesteiles  in  der  erhaltung  alter  rechtsverhältnisse  gegenüber 
den  erbsilzen  der  Sachsen  im  westen  und  norden  weist  darauf 
hin,  dass  die  Institution  des  handgemals  nicht  sowol  den  Sachsen, 
als  den  von  ihnen  unterworfenen  Thüringern,  den  enkeln  der 
Ermunduren,  eigen  war.  dann  erklärt  sich  —  wie  bei  den  viel- 
gewanderten Langobarden,  deren  reich  im  9  jh.  auch  schon  längst 
vernichtet  war  —  sehr  leicht  die  schwache  erhaltung  des  hand- 
gemals entgegen  dem  viel  zahlreicheren  vorkommen  desselben  auf 
altbairischem  gebiete,  aber  auch  seine  schnelle  bedeutungsent- 
wicklung.  bezeichnet  doch  anthmallus  sowol  wie  handmahal  und 
hantgemdl  ausschliefslich  einen  grundbesitz,  während,  wie  in  in 
gezeigt  werden  soll,  das  bairische  hantgemahele  in  der  mehrzahl 
der  belege  noch  die  alte  bedeutung  des  Vertrages  durchblicken 
lässt,  ja  zt.  noch  (wie  im  Windbeiger  psalter)  mit  bundesvertrag 
übersetzt  wird. 

in   Das  handgemal  bei  den  Baiern. 

Wie  sehr  auch  Heliaud  und  Sachsenspiegel  das  handgemal 
in  weiten  kreisen  bekannt  gemacht  haben,  so  ist  es  doch  bei 
einem  anderen  stamme  zu  hause,  nämlich  bei  den  Baiern.  hier 
wird  es  vom  10  bis  zum  14  (17  ?)  Jahrhundert  oftmals  urkundlich 
und  litterarisch  erwähnt,  und  zwar  in  einer  bedeutuugsentwicklung, 
die  man  gleich  von  anfang  an  deutlich  verfolgen  kann,  testa- 
mentum,  lex,  mundiburdium,  cyrografum  wird  es  genannt  —  gleich- 
zeitig aber  auch  im  letzten  falle  nobilis  viri  mansus  und  weiterhin 
curtilis  locus,  particula  proprietatis  und  pars  una  pro  libertate 
tuenda.  erst  später  tritt  es  als  feodum,  noch  später  als  haus 
und  gärtel  auf,  und  in  einem  auf  römische  Verhältnisse  über- 
tragenen sinne  wird  ein  amphitheater  in  Rom  (spilhtis)  zum 
hantgemale  gerechnet. 


HANDGEMAL  UND  SC11WURBRUDERSCHAFT         339 

A.    'Testamentum,   lex,    mundiburdium,    cyrografum.' 

An  der  spitze  dieses  abschnittes  steht  billich  die  versiou 
des  wortes  testamentum  mit  hantgemahele,  die  der  Windberger  * 
psalter  von  1187  (psalm  24,  17  ed.  GralT)  bietet,  ps.  24,  14: 
Firmamentuni  est  dominus  timentibus  eum,  et  testamentum  ipsius 
ut  manifestelur  Ulis  =  Wiudb.  ps.  :  Ein  ueste  ist  der  herro  den 
furhtenten  inen,  unde  daz  hantgemaltele  sin  selbes,  daz  iz  eroff'e- 
net  werde  in. 

Die  in  betracbt  kommende  stelle  übersetzt  INotker  :  unde  er 
tuöt  daz  in  geöffenot  uuerde  sin  ea  die  er  in  beneimda.  Du  Hamel 
merkt  zur  erklärung  des  psalmverses  an  (i  648  fufsn.)  :  'Deus 
quasi  pactum  init  cum  timentibus  se  .  .  .'  testamentum  ist  ein 
vertrag,  nicht  nur  wie  der  erblasser  ihn  zu  gunsteu  seiner  erben 
aufsetzt,  sondern  auch,  wie  zwei  lebende  ihn  mit  einander 
schliefsen,  wie  Augustinus  zu  ps.  82,  6  bemerkt  :  testamentum 
sane  in  scripturis  non  illud  solum  dicitur  quod  non  vatet,  nisi  testa- 
toribus  mortuis  :  sed  omne  pactum  et  placitum  testamentum  vocabant. 
nam  Laban  et  Jacob  testamentum  fecerunt,  quod  utique  etiam  inter 
vivos  valeret.  diese  erklärung  übernimmt  auch  Notker  (ed.  Piper 
ii  343)  :  testamentum  .  .  .  einunge.  Testamentum  heizzet  peidiu  ioh 
daz.  daz  dir  netoüg.  dne  töten  peneimedarin.  ioh  iegelich  kezumft 
ioh  einunga  (placitum)  heizzet  testamentum.  Also  iacob  unde  laban 
des  e'inwiga  täten,  daz  sie  ioh  lebinde  uueren  solton.  und  zu 
ps.  77,  10  schreibt  Notker  :  Si  nehuötun  Gotes  eo.  Testamentum 
(pineimeda)  ist  lex.  also  ouch  därföre  testimonium  (sin  ürchunde)2. 
man  sieht,  dass  die  Übersetzung  von  hantgemahele  im  Windberger 
psalter  durch  ;bund,  vertrag,  vertragsurkuude'  genau  mit  der  oben 
etymologisch  entwickelten  bedeutung  'schwurvertrag,  pactum'  über- 
einstimmt. 

Die  gleichsetzung  Notkers  (aao.)  :  Testamentum  ist  lex  wirft 
ein  klares  licht  auf  die  stelle  in  der  Juvavia  s.  145,  wo  es  heifst: 
excepta   lege  sua,   quod  vulgus  hantgimali6  vocat.     es  ist  dies  in 

1  das  prämonstratenserkloster  Windberg,  gestiftet  1141  vom  grafen 
Adalbert  i  vBogen  und  seiner  gattin  Hedwig,  ligt  am  Bogenbach,  nördl. 
des  Schlosses  Bogen,  noch  im  bairischen  Donaugau.  —  Mon.  Boica  xiv  1  —  110; 
Mon.  Windbergensia,  i  teil  :  Verh.  des  bist.  Vereins  für  Niederbaiern  bd  23 
(1884),  s.  137—179. 

a  testamentum  und  ürchunde  setzt  Notker  auch   zu  ps.  24,  10  gleich. 

3  Mon.  Boica  xiv  361  lesen   hier  :  hantigimali. 

22* 


340  SCHÖNHOFF 

einer  tauschurkunde  zwischen  erzbischof  Uodalbert  n  von  Salz- 
burg (923-935)  und  der  edlen  frau  Rihni,  datiert  Rohrdorf  (im 
Chiemgau)  vom  jähre  924,  und  Salzburg  vom  1  april  927.  Rihni 
übergab  in  diesem  tauschvertrage  dem  erzbischof  durch  ihren 
bevollmächtigten  Deotrich  ihre  besitzungeninSeeon,  ferner Zeidlarn, 
Kirnbach,  Pietelbacb,  Schönberg,  Hörlsheim  und  Holzhausen1  — 
aufser  ihrer  'lex',  die  auf  deutsch  hantgimali  hiefs.  reichlich 
siud  die  bislang  versuchten  erklärungen  —  Homeyer  (aao.  s.  18): 
'die  unter  dem  namen  hantgemal  bekannte  parlicula  und  das 
daran  hängende  recht';  AQuitzmann  (Oberbayr.  archiv  32,  1 1 8 f ) : 
'das  vom  geselze  sauctionierte  zeichen  der  vollen  Standesfreiheit'; 
Gengier  Ein  blick  auf  das  rechtsleben  Rayerus  unter  herzog  Otto  i 
vWittelsbach  (Erlangen  1880,  s.  8)  :  'sein  stammrecht';  EMayer 
(Verf.-gesch.  i  417)  :  'berechtigung  =  markgenossenschaftsrecht'; 
SAdler  (aao.  s.  6,  note  6)  :  'standesrecht  i.  e.  dingliche  gruudlage 
für  dasselbe'.  — 

Zum  rechten  Verständnis  dieser  clausel,  die  offenbar  den 
vorbehält  eines  (vertragsmäfsigen  oder  urkundlich  festgelegten) 
rechts  2  darstellt,  muss  vorerst  auf  stand  und  geschlecht  der  Rihni 
eingegangen  werden,  worauf  bislang  keine  Untersuchung  rücksicht 
genommen  hat3.  Homeyer  uud  seine  nachfolger  erklärten  es 
trotz  des  prädicats  'nobilissima  femina\  das  ihr  in  der  Urkunde 
beigelegt  wird,  für  fraglich,  ob  sie  zu  einer  edlen  familie  gehörte 
(s.  32,  note  36);  zu  der  auffallenden  erscheinung,  dass  eine  frau 
besitzerin  des  handgemals  war,  vermutete  Homeyer  (s.  43  note  66), 
es  sei  entweder  nach  schwertmagen  an  sie  gefalleu,  oder  was 
wahrscheinlicher,  dass  sie  aus  ihrem  früheren  besitzt  um  ein  stück 
aushob,  das  ihren  stand  und  ihr  heimatsrecht  in  dem  bezirke  für 
sie  und  ihre  nachkommen  festhalten  sollte.  —  die  sache  ligt  völlig 
anders.  Rihni  (auch  Rihina  genannt)  war  die  gattin  des  grafen 
im  Chiemgau  Uodalbert  (residenz  :  Rohrdorf?),  der  von  seiner 
grafschaft  aus  923  auf  den  erzbischöflicheu  stuhl  von  Salzburg 
berufen    wurde    und    nach  12  jähriger  regierung,    in    der  er  sich 

1  wol  Grofs-Holzhausen  im  bezirksamt  Rosenheim. 

2  der  anthmallus  legitimus  geht  sicherlich  aus  demselben  grund- 
gedanken  hervor. 

3  über  Rihnis  bezw.  Uodalberts  familie  handeln  Seb.  Dachauer  Ober- 
bayr. archiv  für  vaterl.  gesch.  bd  2  (München  1840),  s.  367—369;  AQuitz- 
mann, ebda  bd  32  (1872—1873),  s.  104. 


HANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCHAFT         341 

besonders  eifrig  um  die  mehrung  des  kirchlichen  grundhesitzes 
und  seine  arrondierung  bemühte,  am  14  novemher  935  starb, 
er  hatte  mit  seiner  gattin  zwei  söhne  :  Diotmar  (930  'D.  filius 
Odalberti',  Juv.  153.  161;  4D.  et  filius  eius  Paldrih',  ebda  170; 
927  4D.  o  filio  Rihni',  ebda  147)  und  Beruhard  (931  'consauguineus 
archiepiscopi',  ebda  164  f;  931  'Diotmar  et  Peru  hart  frater  eius', 
ebda  165  uö.)  —  der  letztere  war  schirmvogt  der  salzburgischen 
stiftsgüter  im  Chiemgau  —  und  drei  töchter  :  Heilrat  (verm.  mit 
dem  früh  verstorbenen  grafen  Dietrich  zu  Tüssling),  Alte  (verm.  mit 
dem  gaugralen  Olachar  zu  Hohenaschau;  nobilis  vir  0.,  verm.  mit 
Alte,  Juv.  162;  tochter  Rihni,  ebda  164)  und  Susanne  (verm.  mit 
dem  grafen  Rafolt).  aus  welchem  geschlechte  Rihni  selbst  stammte, 
ist  nicht  bekannt,  jedesfalls  hatte  sie  aber  eine  gleichnamige 
Schwester  :  Rihni  monialis  (Juv.  160  f,  von  938).  vor  938  ist 
sie  gestorben.  * 

Hieraus  folgt,  dass  Rihni  nur  dadurch  in  den  besitz  der 
familiengüter  sowie  des  handgemals  gekommen  war,  dass  ihr  gatte 
durch  den  nachträglich  gewühlten  geistlichen  stand,  durch  den  er 
zu  lebzeiten  von  seiner  familie  getrennt  war,  seinen  stammbesilz 
nicht  verwalten  konnte,  diese  aufsergewöhnliche  rechtslage  legt 
freilich  einen  anderen  sinn  des  wortes  lex  nahe,  nämlich  = 'gesetz- 
licher anteil',  wie  er  aus  den  Leges  Grimoaldi  reg.  Langobard. 
cap.   5    (MGLeges    iv    401 a)    erhellt   :   simililer  et   si  filiae    legi- 

timae et   si  filii  naturales  ....  fuerint,    habeant    legem 

suam  usw.  indessen  ist  doch  die  oben  gegebene  deutung  'lex  =» 
testamentum'  wahrscheinlicher,  da  sie  der  Übersetzung  hantgimali 
eher  entspricht,  dazu  vergleiche  man  noch  die  erklärung  Augustins 
zu  ps.  77,  5  (et  suscitauit  testimonium  in  lacob  et  legem  posuit  in 
Israhel)  :  ila  lex  et  testimonium  duo  sunt  nomina  rei  unius,  was 
Notker  übernimmt  :  selbiu  diu  ea  (lex)  uuas  daz  ürchünde  (testi- 
monium). — 

Eine  schwierige  glosse  in  einem  codex  des  ehemal.  bene- 
dictinerklosters  SEmmeram  zu  Regensburg  aus  dem  12  jh. 
(München,  cod.  latin.  14  628)  bringt  zu  einer  stelle  im  Correclor 
des   Burchard   vWorms    (cap.  46  =  Burchards   Decrete   xix  39) 

1  MGNecrol.  n  14  (nr  35,  z.  11),  40  (nr  100,  z.  5.  8)  und  41  (nr  101, 
z.  2)  werden  im  ältesten  verbrüderungsbuch  von  SPeter,  9—10  jh.,  vier 
frauen  des  namens  Rihni   verzeichnet. 


342  SCHÖNHOFF 

ebenfalls  unser  wort,  der  betreffende  Canon  Poeniteut. 1  lautet: 
'Rapuisti  uxorem  tuam  et  vi  sine  vohmtate  mulieris  vel  parentum, 
in  quorum  mundiburdio  tenebatur,  illam  adduxisti?'  mundiburdio 
ist  glossiert  mit  hantgemehele  (Ahd.  Glossen  iv  342,  1 — 2);  am 
rande  steht  dann  noch  :  hantgemehele  (-hele  übergeschrieben)  mun- 
dicia  libertatis.  vel  liber  a  Servitute,  da  rmmdiburdmm,  eigent- 
lich =  tuitio,  schütz,  vogtei  überhaupt,  an  unserer  stelle  in  der 
präcisen  bedeutung  'Vormundschaft  der  eitern'  gebraucht  ist,  kann 
der  glossator  das  wort  nicht  im  Zusammenhang  des  satzes  als 
hantgemehele  aufgefasst  haben  ;  dagegen  spricht  auch  die  weit- 
läufige anmerkung  am  rande,  die  die  undeutliche  glosse  offenbar 
erklären  soll,  mundicia  libertatis  ist  die  ungetrübte,  unanfecht- 
bare freiheit  (eig.  'reinheit  der  freiheit'),  wie  in  der  Lex  Salica, 
2  Variante  (ed.  Behrend2  s.  166)  mundus  vom  freien  in  gleicher 
bedeutung  angewant  wird2,  der  glossator  muss  aiso  mundi- 
burdium,  das  er  aufser  dem  Satzzusammenhang  nahm,  als  schütz 
bezw.  Schutzurkunde 3  i.  e.  der  freiheit  genommen  haben,  in 
diesem  sinne  freilich  scheint  mundiburdium  in  der  mittellateinischen 
litteratur  nicht  vorzukommen;  wol  aber  kennt  die  mittelalterliche 
geschichte  das  mundiburdium  als  vogtei,  gerichtsbarkeit,  wie  zb.  den 
Stiftern  Salzburg  und  Passau  das  mundiburdium,  dh.  die  weltliche 
gerichtsbarkeit  über  ihre  Untertanen  in  Österreich  und  Steiermark 
von  Karl  dem  Dicken  und  Aruulf  (9  jh.)  verliehen  worden  war. 
wäre  hantgemehele  gleich  diesem  mundiburdium,  wofür  aber  kein 
beweis  gegeben  werden  kann,  umsoweniger,  als  die  anderen  stellen 
nicht  zu  dieser  bedeutung  stimmen,  so  könnte  hierher  vielleicht  das 
hantgemahele  der  edlen  in  der  Vorauer  Genesis  gehören,  die 
natürlich  —  im  gegensatz  zu  den  gemeinfreien,  die  nur  freien 
landbesilz  haben  —  die  gerichtsbarkeit  ausüben.  dass  diese 
gerichtsbarkeit  hier  —  wie  beim  anthmallus  und  mndd.  hantgemdl  — 
hereinspielt,  ist  wol  möglich. 

1  FWHWasserschleben  Die  bufsordnuDgen  der  abendländ.  kirche  nebst 
einer  rechtsgeschichtl.  einleitung  (Halle  1851)  s.  64t. 

2  ....  si  ex  paterna  genealogia  mallatur,    adhibeat   ex  materna 

progenie  [septem]   testes  .  ...  et  ex  paterna  quattuor  (und  umgekehrt) 

[ita  ex  q]ua  parte  mundior  est,  ex  ipsa  parte  plus  dabit  testes. 

3  auch  Homeyer  (s.  8)  stellt  mundiburdium  mit  'handfeste'  gleich, 
freilich  ohne  den  Zusammenhang  der  stelle  zu  kennen,  als  beleg  führt  er 
aus  iMabillon  einen  autor  des  11 — 12  jh.s  an  :  praecepla  vel  mundiburdia 
magnatum  et  saecularium  potestalum. 


HANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCHAFT         343 

Während  die  bislang  besprochenen  stellen  auf  bairischem 
boden  ausschliefslich  den  vertrag  bezw.  die  vertragsurkunde  beim 
handgemal  betonen,  weist  der  Falkensteiner  codex  von  1193  bereits 
den  Übergang  zum  inhalte  des  Vertrages,  dem  gemeinsamen  stamm- 
besitze, auf.  die  darslellung  dieses  wertvollen  traditionsbuches 
lässt  uns  einen  tieferen  blick  in  das  wesen  und  die  bedeutung 
des  handgemals  tun,  als  es  bei  den  erwähuungen  in  glossen, 
Urkunden  und  litterarischen  Schriftwerken  möglich  ist;  hier  setzt 
eben  der  Schreiber  beim  publicum  eine  genauere  kenntnis  voraus, 
während  graf  Siboto  vFalkeustein  und  INeuburg  lür  die  folgezeit 
schrieb,  also  dies  rechtsinstitut  genauer  bezeichnen  musste.  der 
Wortlaut  ist  folgender  (fol.  2a1;  Mon.  Boica  vn  434  ;  Drei  bair. 
traditionsbücher  aus  dem  12  jh. ,  festschr. ,  edd.  Hans  Petz, 
dr  Hermann  Grauert  uud  JohMayerhofer,  München  1880,  s.  3): 

De  predio  libertatis  sue  notutn  sit  omnibus,  qualiter  actum 
sit,  quomodo  illud  testimonio  optimal  coram  Ottone  palatino  situm 
apud  Giselbach  possidendum  iure  perenni,  eo  quod  senior  in 
generatione  illa  videatur.  Hnius  rei  testes  sunt  :  Ruodpreht  Wolf 
de  Pochsberch,  Chuono  de  Megelingin,  Pabo  de  Eringen,  Alber  de 
Brucgeberc1,  Sigiboto  de  Antwrte,  Gebehardus  comes  Hallensis, 
Dielricus  de  Slibingen,  Otto  de  Mösen,  Ortolf  de  Kekingen  et  alii 
nobiles  viri  shefen  scilicet  et  dinclüte.     Acta  sunt   hec  Möringin3. 

De  cyrografo. 

Ne  igitur  posteros  lateat  suos  cyrographum,  quod  teutonica 
lingua  hantgemalehe  vocatur,  suum  videlicet  et  nepotum  suorum 
filiorum  scilicet  sui  fratris,  ubi  situm  sit,  ut  hoc  omnibus  palam 
sit,  hie  fecit  subscribere  :  cyrographum  illud  est  nobilis  viri  mansus, 
sittus  est  apud  Giselbach  in  cometia  Morsfuorte;  et  hoc  idem 
cyrographum  obtinent  cum  eis  Hunespergere  et  Prucchepergere. 

Für  die  Interpretation  unseres  documentes  kommen  vor 
allem  vier  stellen  in  betracht:  1)  De  cyrografo.  Ne  igitur  pos- 
teros  lateat  suos  cyrographum  ...  —  2)  De  predio  libertatis  sue 

1  am  rande  des  blatles  ist  eine  offene,  flache  hand  (mit  ärmel) 
gezeichnet,  die  nach  dem  texte  hinweist. 

2  im  codex  :  Brungeber.  —  die  Verbesserung  stammt  von  FChrHöger 
Kleine  beitrage  zur  bestimmung  und  erklärung  der  im  cod.  Falkenst.  etc. 
vorkommenden  personen-  und  Ortsnamen  (progr.  Freising,  1882)  s.  1 
(Brucceberc), 

3  etwa  um  1180. 


344  SCHÖNHOFF 

.  .  .  nobilis  viri  mansus.  —  3)  sittus  est  apud  Giselbach  in  cometia 
Morsfuorte.  —  4)  et  hoc  idem  cyrographum  oblinent  cum  eis 
[der  familie  der  Falkeosteiner]  Hunespergere  et  Prucchepergere. 
die  gemeine  deutuüg  vou  1  und  4,  die  von  Homeyer  herstammt 
und  nach  ihm  trotz  vereinzelten  hedenken  einiger  forscher  immer 
festgehalten  ist,  wird  sich  im  verlaufe  der  Untersuchung  als  ver- 
fehlt herausstellen. 

Was  ist  cyrografum?  seiner  theorie  zu  liehe,  die  das  hand- 
gemal  von  der  hausmarke  ableitete,  erklärte  es  Homeyer  für  das 
handzeichen  des  grafen  vFalkenstein,  das  an  dem  nobilis  viri 
mansus  angebracht  war  und  sein  eigentumsrecht  an  diesem  kenn- 
zeichnete, auch  Gengier  (Ein  hlick  auf  das  rechtsleben  Bayerns 
usw.  s.  8)  schreibt  :  'marke,  am  gute  angebracht,  ist  cyrografum', 
—  obgleich  er  anderswo  (ebda  s.  27,  note  47)  richtig  bemerkt  : 
'der  ausdruck  cyrographum  begegnet  übrigens  in  anderen  stellen 
des  salbuchs  in  der  gewöhnlichen  bedeutung  von  Urkunde',  um- 
gekehrt stellt  AQuitzmann  (Oberbayr.  arch.  32,  119)  diese  anderen 
erwähnungen  des  cyrografum  der  an  unserer  stelle  in  der  be- 
deutung 'hantgemahele'  gleich,  während  Meister  (aao.  s.  399) 
cyrografum  (=  hantmal)1  für  eine  falsche  Übersetzung  von 
hatitgemahele  hält,  die  durch  die  ähnlichkeit  der  beiden  deutschen 
worte  hervorgerufen  sei. 

Chirographum  (ciro-,  cyrografum)  wird  in  allhochdeutschen 
glossen  widergegeben  mit  hantkiscrip  —  edho  hantmal2  — (Glossen i 
170,  17 — 18;  ii  302,  29  :  hantgiscrip)  und  hantfesti  (ebda  i  773, 
7.  in  163,  34.  414,  79.  iv  307,  1);  auch  die  Murbacher  Hymnen 
(9  jb.)  bringen  die  gleiche  Übersetzung  :  a  chirographo,  fona 
luzzilemu  kascribe  (x  3,  4  ed.  Sievers  41) 3.  eine  glosse  um  1300 
setzt  die  bedeutung  des  chirographum  weitläufiger  auseinander: 
cirographum  cautio  manu  debitoris  scripta  uel  cirographum  est 
scriptum  quo  confirmatio  pacti  certa  manet.  uulgariter  hantfesti. 
exemplar  huius  scripti  dicitur  antigraphum  (A  Holder  Zs.  f.  d. 
wortf.  v  6).  im  hochstift  Würzburg  wurden  die  hochstiftischen 
zinsbauern  (SKiliausleute)  in  besondere  Verzeichnisse,  cyrographa, 

1  über  kantmal  vergl.  den  excurs  am  ende  des  capitels. 

2  edho  hantmal  nur  im  Sangaller  codex  9 LI  (8  Jh.).  der  Pariser  und 
Reichenauer  codex  haben  nur  hantcascrip  (hentikdcrip). 

3  Dieffenbach  123 a;  Nov.  gloss.  92  b.  93 a  aufserdem  noch  Schuldbrief. — 
vergi.  Du  Cange  n  308 b  ff. 


HANDGEMAL  ILND  SCiHYURDRUDERSCHAFT         315 

eingetragen  (Geogler  Die  verfassungszustäude  im  bayeriscfaeo 
Franken  bis  zum  beginn  des  13  jh.s  [Erlangen  und  Lpz.  1894] 
s.  78).  eine  Urkunde  biscboi'  Embricbos  von  1141  bringt  folgende 
stelle  :  servicio  beati  Kyliani  marliris  mancipati  sunt  in  vetu- 
stissimo  cyrographo  suo  .  .  .  (Mon.  Roica  xxxvn  59.  60).  der  Falken- 
steiner codex  endlich  kennt  das  wort  in  gleicher  bedeutuog 
'urkunde,  handfeste'  auf  fol.  21 a  (Mon.  Roica  vn  469.  Traditions- 
bücher s.  24)  :  Sciant  ttniversi  scire  cupientes,  ubi  reposita  sint 
noslra  cyrographa  de  advocatiis  nostris  conscripta  :  quod  unum 
videlicet  est  apud  senatum  Pelrum  Maderane  de  advocalia  Chimis- 
sensis  monaslerii  conscriptum ;  illud  autem  cyrographum,  quod  est 
de  aduocatia  monasterii  saneli  Petri  Maderane  conscriptum,  in 
monasterio  Chimissensis  ad  clerkos  querendnm  est.  am  reebten 
rande  findet  sich  hier,  mit  der  feder  gezeichnet,  die  abbildung 
eines  länglichen  zetteis,  mit  eingeschriebenem  cyrographa  und 
aufgelegter  band.  Aventinus  gibt  als  deutsche  fassung  :  Hantuesti 
ubir  des  grauin  Siboti  vogitaigi  :  der  ist  ainu  uf  santi  Petersbergi 
von  der  vogitaigi  zi  Kiemisse;  diu  hantveste  von  der  vogitaigi 
santi  Petirsbergi  diu  ist  zi  Kiemisse. 

Wenn  also  auf  fol.  21a  cyrografum  wie  überall  im  mittel- 
alterlichen lateiu  'urkunde'  bedeutet,  so  muss  es  auch  an  unserer 
stelle  fol.  2a  in  diesem  sinne  gefasst  werden  und  steht  nun  der 
bedeutung  nach  dem  testamentum,  lex  und  mundiburdium  gleich, 
es  ist  eine  Vertragsurkunde  über  den  besitz  des  freien  gutes  und 
den  rang  eines  freien  bezw.  edlen  herrn.  wenn  es  dann  weiter 
lautet  :  cyrographum  illud  est  nobilis  viri  mansus,  so  kann  dies 
nichts  anderes  heifsen,  als  dass  der  in  der  Vertragsurkunde 
(hantgemahele)  charakterisierte  besitz  eben  der  edelhof  in  Geisel- 
bach ist  —  hier  zeigt  sieh  deutlich  der  bedeutungsübergang  vom 
schwurvertrag  {testamentum)  und  der  darüber  aufgesetzten  Urkunde 
{lex,  mundiburdium,  cyrographum)  zum  freien  gruudbesitz,  stamm- 
bezw.  sippengut  (nobilis  viri  mansus),  den  die  Urkunde  verzeichnet, 
und  der  seinerseits  wider  die  freiheit  des  besitzers  sicherstellt 
(predium  Über  tat  is  swe). 

Graf  Sibotos  handgemal  —  um  auch  den  grundbesitz  so 
zu  nennen  —  befand  sich  zu  Geiselbach  in  der  grafschaft  Mors- 
fuorte  (-fuorte  bair.  form  für  -fürte),  diese  fast  unbekannte 
grafschaft  —  Otto  v  vWittelsbach  safs  in  der  grafschaft  Morsfuorte 
zu  gericht    (Heigel    und    Riezler   Das    herzogtum  Rayern    zur  zei1 


346  SCHÖNHOFF 

Heinrichs  lies  Löwen  und  Ottos  i  vWittelsbach  [München  1867] 
s.  296 f)  —  verlegt  man  meist  in  das  gebiet  der  beiden  orte 
Moosen  a.  Vils  uud  Furten  a.  Isen,  östl.  von  Erding  (im  Wester- 
gau),  und  identificiert  Giselbach  mit  einem  der  beiden  dörfer 
Ober-  und  Unter-Geiselbach  (zwischen  Erding  und  Dorfen  a.  Isen)  K 
Die  wertvollste  aussage  des  Falkensteiner  salbuches,  die  den 
angelpunct  dieser  Untersuchung  darstellt,  bedeuten  die  schluss- 
worte  des  capitels  'De  cyrografd :  hoc  idem  cyrographum  obtinent 
cum  eis  Hunespergere  et  Prucchepergere.  die  forscher  giengen  von 
der  Voraussetzung  aus,  dass  das  handgemal  im  besitz  6iner 
familie  sei,  uud  schlössen  aus  dieser  —  völlig  unbewiesenen  — 
prämisse,  dass  die  beiden  genannten  familien  nebenlinien  der 
Falkensteiner  sein  müsten  :  so  Homeyer  (s.  19)  und  Wittich  (aao. 
s.  38).  auch  Zöpfl  (Heidelberger  jahrb.  64,  173)  gibt,  wenn  auch 
zweifelnd,  zu  :  'gemeinsames  stammgut  mehrerer  adeliger  familien, 
die  sonach  alle  demselben  stamme  entsprossen  zu  sein  scheinen'. 
—  die  beiden  in  betracht  kommenden  familien  sind  die  edlen 
herren  vllaunsperg2  (bei  Laufen,  Salzburg)  und  vBruckberg3  (a.  d. 
Isar,  grafsch.  Moosburg),  der  erste  urkundlich  erwähnte  Hauns- 
perger  ist  Fridericus  dellounsperch,  1093  unter  den  nobiles 
zeuge  einer  tradition  des  erzbischofs  Thiemo  vSalzburg  an  das 
kloster  Admont   (Juvavia   113);    zur   zeit   des    codex   Falkenstein. 

1  Freudensprung  Die  im  i  tomus  der  Meichelbeck.  hist.  Frisiog.  auf- 
geführten ....  örtlichkeiten,  (Freising  1856)  s.  20;  Gengier  Ein  blick  auf 
das  rechtsleben   Bayerns  s.  24  note  11;   Höger  aao.  s.  1. 

2  litteratur  :  Bucelinus  Germania  topo-chrono-stemmatographica  sacra 
et  profana  n  (1662)  pars  3,  p.  153;  Zedlers  Univ.-lexikon  xii  815;  Gauhe  Adels- 
lexikon i  793.  794;  Kneschkes  Adelslexikon  iv  246;  vStramberg  in  Ersch  und 
Grubers  Encyklop.,  n  sect.,  3  teil,  s.  151;  wappen  im  neuen  Siebmacher 
vi  1,  s.  15  (tafel  12,  13).  —  alt.  quellen  :  Juvavia  s.  113;  Tradit.-bücher  3. 
18.  28  (Minist.),  39  (dass.),  49  (im  cod.  tradd.  Garz.);  Necroll.  Germ,  n  103. 
130.  150.  183;  Deutsche  Chroniken  in  720,  12.  —  über  die  herschaft  Hauns- 
perg  :  Juvavia  s.  427  anm.  i. 

3  litteratur.  a)  Bruckberg  :  Mon.  Boica  i  365.  399  ;  Trad.-bücher  3; 
Necroll.  Germ,  m  203.  209.  212  (Weihenstephan).  303  (SEmmeram).  362  f. 
363.  365.  367  (Säldental);  Quellen  und  erörterungen  zur  bair.  geschichte 
i  216 f.  217  f.  (Trad.  d.  Stiftes  Obermünster  in  Begensburg).  270  (Berchtesgad. 
tradd.);  Oberbayr.  archiv,  bd  n  tradd.  Moosb.  20.  23.  24.  25.  28.  34.  53.  56. 
99.  135.  138.  148.  214  (Minist.);  vLang  Baierns  alte  Grafschaften  s.  39.  149.— 
b)  Wolf  von  Bocksberg  :  Trad.-bücher  3.  34.  35.  37  f.  38  (sämtl.  Falkenst. 
cod.);  Quellen  und  erörter.  i  90  (SEmmeram.  tradd.).  270.  340  (Berchtesgad. 
tradd.)  ;  Oberbayr.  archiv  aao.  14.  20.  24.  25.  34.  56.  148. 


HANDGEMAL  UND  SCI1WURBRUDERSCHAFT         347 

blühte  Gotescalch  de  Hunsperch,  der  unter  den  nobiles  als  zeuge 
einer  tradition  des  graten  Siboto  vor  1174  auftritt  (fol.  17  a, 
Trad.-büclier  s.  18).  der  letzte  des  freiherrlichen  geschlechtes 
ist  Gotascalcus  .  .  .  liber  homo,  1211  in  einer  Urkunde  erzbischof 
Eberhards  n  vSalzburg  (Juvavia  s.  427  anm.  i).  der  1266  er- 
scheinende Heinrich  vllaunsperg,  mit  dem  die  ununterbrochene 
stammreihe  beginnt,  gehört  dem  ministerialengeschlechte  an,  das 
mit  Witigo  de  Hunsperch  um  1182  zuerst  urkundlich  bezeugt 
ist  (codex  Falkenstein,  fol.  23 r,  33 a  =  Trad.-bücher  28.  39) l. 
1654  wurde  die  familie  in  den  grafenstand  erhoben,  erlosch  aber 
bereits  am  9  jan.  1724  in  weiblicher  linie  mit  Maria  Katharina 
gräfin  vKönigsfeld,  geb.  gräfin  vllaunsperg,  auf  deren  grabstein 
das  familienwappen  gestürzt  eiugemeifselt  ist.  —  die  Bruck- 
berger  sollen  mit  den  Wolf  vBocksberg  eines  Stammes  sein 2. 
Friedrich  vBruckberg  (1140 — 1150)  und  sein  bruder  Albero  (um 
1180;  verm.  mit  Ephemia),  wie  Adelbero  Wolf  vBocksberg  (1133 — 
1140;  verm.  mit  Mechlildis)  und  sein  bruder  Ruprecht  scheinen 
die  ältesten  beider  familien  zu  sein,  deren  namen  uns  in  Urkunden 
überliefert  sind,  bis  in  das  14  und  15  jh.  hinein  treten  uns 
mitglieder  der  familie  vBruckberg  in  nekrologen  bairischer  klöster 
entgegen.  —  aus  diesen  kurzen  bemerkungen  geht  klar  und 
deutlich  hervor,  dass  die  grafen  vFalkenstein  und  Neuburg3,  die 
zuerst  im  11  jh.  mit  namen  genannt  werden,  unmöglich  eines 
Stammes  mit  den  freiherru  vllaunsperg  und  vBruckberg  sein 
können  :  ihre  Stammsitze  in  drei  verschiedenen  gauen,  verschiedene 
wappen  und  verschiedene  personennamen  sprechen  gegen  eine 
solche  annähme.  —  wenn  nun  aber  die  drei  geschlechter,  die 
an  dem  handgemal  zu  Geiselbach  teil  hatten,  in  keinerlei  verwaut- 
schaft  zu  einander  stehn,  so  muss  daraus  die  notwendige  folgerung 
gezogen  werden,  dass  das  handgemal,  wie  schon  oben  aus  der 
anwendung  des  wortes  im  Heliand  geschlossen  wurde,  nicht  im 
besitz  einer  familie  ist,  sondern  das  gemeinsame,  urkundlich  be- 

1  vStramberg  aao.   machte  zuerst  auf  diese  tatsache  aufmerksam. 

2  vgl.  Quellen  und  erörterungen  i  216 ,  note  2  (1856)  und  Höger  aao. 
s.  1  (1882). 

3  Genealogia  Comitum  de  Neuburg  et  Falkenstein  (Tegernsee  18U2). 
widerholt  bei  Petz.  —  manche  gelehrte  setzen  unser  grafengeschlecht  mit 
den  grafen  vAndechs  und  Diessen  in  verwantschaft,  was  nicht  wahrschein- 
lich ist. 


348  SCHÖNHOFF 

siegelte  Vorrecht  mehrerer  edler  lamilien  darstellt,  die  verschiedenen 
sippeu  angehören,  sich  aber  in  einem  schwurvertrage  zu  be- 
stimmten zwecken  —  wobei  der  gemeinsame  besitz  eine  wichtige 
rolle  spielte  —  vereinigt  haben,  die  definition  entspricht  ebenso 
wie  die  Übersetzung  'teslamentum  —  lex'  vollkommen  der  etymo- 
logischen bedeulung  des  wortes  hantgemahele. 

Die  aus  dem  codex  Falkenstein,  ermittelte  ursprüngliche  form 
des  handgemals  führt  uns  durch  den  langobardischen  anthmallus 
des  9jh.s  und  eine  stelle  im  Langobardischen  gesetzbuch  des  7  jh.s 
auf  eine  ausschliefslich  germanische  sitte,  die  neben  dem  natür- 
lichen sippenverbande  noch  einen  eidlichen  treuverband  von 
männern  verschiedener  sippen  kannte,  die  bundes-  oder  schwur- 
bruderschaft.  auf  nordischem  boden  reich  entwickelt  (föstbrüpralag) 
und  bei  den  Angelsachsen  wenigstens  bekannt,  war  sie  bislang 
bei  den  übrigen  germanischen  stammen  nur  für  die  Langobarden 
dem  namen  nach  bezeugt,  also  für  das  volk,  das  nach  dem 
zeugnis  der  extravaganten  von  Ivrea  noch  im  9  jh.  die  letzten 
reste  des  handgemals  kannte,  die  leges  Rothari  regis  cap.  362 
(MGLeges  iv  389 b)  haben  uns  die  benennung  der  durch 
Schwurbruderschaft  verbundenen  männer  erhalten  :  Si  aliquis 
de  .  .  .  sacramentalibus  mortnus  fuerit,  potestatem  habeat  ille  qni 
pulsat,  in  loco  mortui  similem  twminare  de  proximis  legitimus, 
aut  de  naturalibus,  aut  de  gamalis  i.  e.  confabulatis.  fabula  ist 
pactum,  cotwentio;  confabulati  sind  zb.  die,  qui  ex  fabula  seu 
foedere  nuptiali  orti  sunt  (Du  Cange  n  493c  und  m  387 a).  der 
name  gamahalos l  für  'schwurbrüder'  entspricht  dem  namen  für 
den  zwischen  ihnen  eidlich  geschlossenen  treu-  und  schutzvertrag, 
hantgimahili,  der  den  gemeinsamen  besitz  der  vertragsgenossen 
sicherte,     über  die   Schwurbruderschaft  im  einzelnen  vgl.  cap.  4. 

Durch  diese  Verknüpfung  der  germanischen  schwurbruder- 
schaft  mit  den  laugobardischen  gamahalos  und  den  bislang  be- 
sprochenen bairischen  stellen  ist  die  definition  des  Falkensteinschen 

1  zu  gamahalos  vgl.  Brückner  Sprache  d.  Langobarden  §  10,  QF.  75,4t 
und  Wörterb.  s.  v.  ga?nahal.  die  hs.lichen  formen  gamaalos  und  gamalos 
mögen  zt.  aus  der  Vulgärlatein.  Orthographie  stammen,  die  ein  h  regellos 
setzte,  zt.  auch  spätere  langobard.  Sprachentwicklung  sein.  Brückner  aao. 
§  82,  s.  160 ff;  Diez  Roman,  gr.  i  275  f. 


IIANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCHAFT  349 

handgemals  gegeben  als  :  'das  zwei  oder  mehr  durch  schwur- 
bruderscbaft  vereinigten  edlen  gescblechlern  gemeinsame  eigen 
von  der  mindestgröfse  einer  hufe1,  dessen  Verwaltung  dem  jeweilig 
ältesten  jedes  geschlechtes,  bezw.  eines  bevorzugten  geschlechles 
unter  den  vertragsgenossen,  auf  lebenszeit  obligt,  und  dessen 
urkundlich  fixiertes  eigentumsrecht  den  beteiligten  familien  die 
volle  herrenmäfsige  Freiheit  sichert'.  — 

Das  gleiche  schwanken  zwischen  Urkunde  und  urkundlich 
garantiertem  besitz  bezw.  freiheit  wie  der  codex  Falkenstein, 
zeigt  auch  die  stelle  in  der  Vorauer  Genesis2  (JDiemer  Deutsche 
gedichte  des  11  und  12  jh.s  [Wien  1849]  s.  15,3),  wo  von  den 
söhnen  Noes  als  den  ahnherrn  der  drei  stände  (edle,  freie  und 
ministerialen)  gesprochen  wird  : 

daz  sin  deu  dreu  geslahte, 

den  gestellt  mit  durnahte: 

einez  daz  ist  edele, 

di  hont  daz  hantgemahele; 

di  andere  frige  lüte 

di  tragent  sich  mit  gute; 

di  driten  daz  sint  dinestman, 

also  ich  uirnomen  han, 

darunder  tourden  chnehte. 
Die  Verwendung  des  bestimmten  arlikels  (di  haut  daz  hant- 
gemahele) beweist,  dass  der  Verfasser  nicht  an  das  einzelne  gut 
dachte,  sondern  an  das  gesamte  institut,  an  das  —  für  einen 
teil  Baierns  wenigstens  —  der  stand  der  edlen  gebunden  war. 
die  Genesis  mag  in  Kärnten  entstanden  sein  (JGrimm  Kl.  sehr,  v 
280;  Scherer  QF  i  60);  woher  aber  der  dichter  stammte,  ist 
fraglich,  der  erste  prälat  von  Vorau,  Luitpold  (f  1185),  war  früher 
domherr  in  Salzburg  gewesen,  und  vor  seiner  berufung  in  das 
neugegrilndete  stift  dechant  in  Seckau.  sicherlich  stammt  die 
kenntnis  des  handgemals  in  unserer  Genesis  aus  bairischen  oder 
salzburgischen  landen. 

1  viansus  huoba;  Ahd.  glossen  in  117,  43.  212,  46. 

2  erhalten  in  einer  Vorauer  hs.,  die  unter  dem  ersten  prälaten  Luitpold 
(1164—1185)  geschrieben  wurde.  —  über  Vorau  vgl.  Augustin  Rathofer  Das 
chorherrenstift  Vorau  in  Steiermark,  in  SebBrunners  Chorherrenbuch  (Würz- 
burg und  Wien  1883)  s.  638—680. 


350  SCHÖNHOFF 

B.    'Nobilis     viri     mansus,     curtilis    locus,     particula 

proprietatis'. 
Falkensteiner  und  Vorauer  handgemal  schillern  noch  zwischen 
der  bedeutung  des  Schwurvertrages  und  des  durch  ihn  gewähr- 
leisteten gemeinbesitzes.  dagegen  scheinen  drei  salzburgische 
Urkunden  aus  dem  10  jh.  (Juvavia  155.  175.  194),  tauschverträge 
aus  der  zeit  erzbischof  Uodalberts  n  (923 — 935)  und  eb.  Friedrichs 
(963 — 976),  nur  das  sippen-  bezw.  stammgut  zu  meinen,  wenn 
auch  wegen  der  knappen  Schilderung  kein  sicheres  urteil  gegeben 
werden  kann,  am  27  märz  925  tradiert  der  edle  Gaganhard  dem 
erzbischöflichen  stuhle  seinen  besitz  im  Isengau  bei  Beriesheim, 
ldger.  Mühldorf :  proprietatem  suam  quam  in  hnagouue  ad  Pal- 
drichesheim  totam  quam  habere  Visus  est;  nur  einen  teil  seines 
gutes  nimmt  er  aus,  der  auf  deutsch  'handgemal'  heifst  :  verum 
etiam  quod  pre?nisit  sibi  particulam  proprietatis  quod  hanikimahili i 
vulgo  dicitur.  zum  ersatz  überträgt  der  erzbischof  ihm  eine  ver- 
lassene hufe  in  aquiloni  plaga  montis  Hegilonis  (zwischen  dem 
Staufen  und  Salzburg).  —  zur  selben  zeit  ungefähr  überträgt  der 
edle  Uodalhard  dem  erzbischof  in  einer  undatierten  Urkunde 
sieben  hufen  in  Ergoldsbach  :  ad  Ergeltespach  hobas  vn,  in  recompen- 
sationem,  et  omne  videlicet  territorium  quod  ibidem  visus  est  habere, 
aufser  einer  hofstalt  im  westen,  die  auf  deutsch  'handgemal* 
heifst,  exceptis  in  unaquaque  parte  quam  celga  vocamus  jugeribus 
tribus  et  uno  curtili2  loco  ad  occidentalem  partem  quod  vulgo 
hanikimahili  vocamus.  als  ersatz  tradiert  der  erzbischof  seine 
besilzungen  in  Weidenbach  a.  Isen.  —  endlich  erscheint  das 
handgemal  —  wenn  auch  nicht  ausdrücklich  mit  namen  genannt 
—  in  einer  tauschurkunde  aus  der  zeit  erzbischof  Friedrichs 
vSalzburg  (963 — 976),  wo  der  edle  Luidolf  dem  erzbischöflichen 
stuhle  sein  gut  in  Hüttich  (am  Wallersee,  Salzburg)3  überträgt, 
sich  aber  einen  teil  zum  schütze  seiner  freiheit  vorbehält  (tale 
praedium  quäle  habuit  in  loco,  qui  dicitur  Uticha  .  .  .  et  dempsit 
partem  unam  pro  libertate  tuenda).  die  auffassung  des  hand- 
gemals  als  schütz  der  freiheit  und  die  wähl  des  wortes  tueri 
decken  sich  mit  der  glosse    mundiburdium-hantgemehele  (mundib. 

1  hs.  hantkirnahili. 

2  curtile  houestat;  Ahd.  glossen  in  124,  67.  209,  60.  229,  61.  —  vgl. 
Kleimayrn  Juvavia  s.  294;  Homeyer  s.  34 f;   Zöpfl  Heidelberger  jbb.  64,  174, 

3  Luschin  vEbengreuth  aao.  s.  79,  note  30. 


HANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCHAFT         351 

=  tuitio),    sodass  die  bei    der  besprechung  der  glosse  versuchte 
erkläriiDg  noch  durch   unsere  Urkunde  bekräftigt  wird. 

Es  ist  wol  wahrscheinlich,  dass  auch  andere  bairische  edel- 
geschlechter,  zb.  der  weitverzweigte  stamm  der  Scheyern,  siel» 
eines  handgemals  rühmen  konnten;  die  bürg  Scheyern  aber 
(mons  et  castrum  Scltyren  non  ab  uno  vel  duobus  prineipibus,  seil 
a  pluribus  communis  habilabatur  MGScriptores  xvn  620,  29 IT), 
die  Heusler  (aao.)  als  handgemal  des  geschlechtes  in  anspruch 
nehmen  will,  scheint  nicht  diesen  Charakter  gehabt  zu  haben, 
zur  zeit  der  Stiftung  von  kloster  Scheyern  (11 19) 1  war  das 
handgemal  in  Baiern  noch  lebendig,  und  die  edelherren  jener 
tage  behalten  sich  vorsichtig  die  garantie  ihres  herrenstandes  vor, 
wenn  sie  auch  aus  ökonomischen  gründen  andere  guter  um  das 
handgemal  herum  veräufsern.  Stammburg  ist  eben  nicht  = 
'handgemal',  sondern  bei  der  freude  des  mittelalters  an  Symbolen 
genügte  das  mindestmafs  von  landbesitz,  das  ein  freier  sein  eigen 
nennen  muste,  nämlich  eine  hofstatt  und  eine  hufe  landes  — 
wie  die  lex  Baiwar.  xvn  2 2  bestimmt,  und  auf  niederdeutschem 
gebiet  Ssp.  i  34,  §  1  3. 

Diesem  Sprachgebrauch  der  salzburgischen  Urkunden  mag 
nahekommen  die  erwähnung  des  handgemals  in  Wolfram  vEschen- 
bachs  Parzival  6,  19  (ed.  Lachmann): 

sie  gerten,  als  ir  triwe  riet, 

rieh  und  arme,  gar  diu  diet, 

einer  kranken  ernstlicher  bete, 

daz  der  künec  an  Gahmurete 
15.  bruoderliche  triwe  vierte 

und  sich  selben  erte, 

daz  er  in  niht  gar  verstieze, 

unde  im  sines  landes  lieze 

hantgemcelde,  daz  man  möhte  sehen 
20.  da  von  der  herre  müese  jehen 

sins  namen  und  siner  vriheit. 

1  F.  H.  graf  Hundt  Kloster  Scheyern,  seine  ältesten  aufzeichnungeu 
und  seine  besitzungen  (München  1862);  Gengier  Beiträge  z.  rechtsgeschichte 
Bayerns  i  135—139. 

2  Der  eideshelfer  debet  habere  6  solidorum  peeunia  et  similem  agrum 
(MGLeges  m  426,  40  f). 

3  [Der  freie  mann]  behalde  ene  halve  hove  unde  ene  word,  dar  man  enen 
■wagen  uppe  wenden  möge;  dar  af  sal  he  deine  richtere  sines  rechten  plegen. 


352  SCHÖNHOFF 

Das  hantgemcelde  im  lande  des  königs  von  Anschouwe  soll 
dem  jungen  Gahmurel  also  stand  (i.  e.  des  edlen)  und  freiheit 
garantieren,  name  ist  'rang',  nicht  =  nhd.  'name',  auch  nannte 
sich  kein  adlicher  nach  dem  handgemal,  das  ja  in  der  regel  nur 
eine  kleine  hofstatt  und  hufe  darstellte,  nicht  unmöglich  ist  es, 
dass  Wolframs  hantgemcelde,  wie  dem  hanlgemahele  der  Vorauer 
Genesis,  teilweise  noch  die  ältere  hedeutung  innewohnt :  'urkund- 
liche garantie  des  grundhesitzes',  doch  kann  man  dies  mit  Sicher- 
heit nicht  behaupten,  wahrend  die  SGaller  handschrift  das  für 
den  urlext  anzusetzende  hantgemcelde  (-gemeide)  bringt,  haben 
die  Münchener  handschrift  (hantgemahele)  und  eine  andere  der- 
selben classe  (hantgemcehel)  abweichende,  aber  weiter  verbreitete 
formen,  ein  beweis,  dass  ihren  Schreibern  das  in  frage  stehnde 
institut  nicht  unbekannt  war.  leider  ist  die  heimat  der  betreffen- 
den handschriften  nicht  festgestellt,  sodass  die  abweichenden 
namensformen  nicht  localisiert  werden  können.  —  woher  hat 
aber  Wolfram  selbst  namen  und  begriff  des  handgemals?  obwol 
Franke  von  geburt,  hat  Wolfram  seine  sporen  vermutlich  in 
Baiern  verdient,  so  dass  er  sich  selbst  einmal  geradezu  einen 
Baiern  nennt,  die  erwähnung  der  marcgrdvin  .  .  .  vonme  Heit- 
stein  (Parz.  404,  1),  Elisabeth,  der  gattin  markgraf  Bertholds  n 
vVohburg,  tochter  herzog  Ottos  i  von  Baiern  (verwitwet  1204 
oder  1209)  weist  darauf  bin,  dass  unser  dichter  den  Vohburgern 
nahegestanden  hat  —  nicht  unwahrscheinlich,  dass  er  bei  ihnen, 
die  noch  auf  altbairischem  boden  safsen,  das  handgemal  kennen 
gelernt  hat.  seine  fränkische  heimat  konnte  ihm,  nach  allem 
was  wir  von  der  Verbreitung  des  namens  wissen,  diese  kenntnis 
nicht  geben. 

Nur  ein  bekanntsein  des  begriffes  setzt  die  namensform  des 
handgemals  im  Schwabenspiegel  voraus,  dessen  Verfasser,  der  sonst 
seine  vorläge,  den  Sachsenspiegel,  wörtlich  übersetzt,  das  bekannte 
hantgemdl  durch  das  entsprechende  hochdeutsche  hantgemahel 
ersetzt,  der  Schwabenspiegel  soll  von  einem  augehörigen  der 
Bamberger  diözese  in  Baiern  oder  Schwaben  verfasst  sein,  etwa 
im  letzten  viertel  des  13  jh.s. 

C.   'Feodum,    haus    und  gärtel.' 

Mit  dem  1899  von  EMayer  (aao.)  nachgewiesenen  handgemal 
des  'preco'  (schergen,  gerichtsdieuers)  von  Schneitsee  im  Chiem- 


HANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCHAFT         353 

gau  haben  die  letzten  Forschungen  ziemlich  fleifsig  operiert  >. 
die  stelle  lautet  :  [In  officio  Wazzerburch  ex  altera  parle  pontis.} 
—  Argoltzingen.  i  feodum  habet  preco  de  Sneitse  a  duce  pro 
Hantgemaehil.  Secundum  feodum  sentit  xxu  denarios  rat[is- 
ponenses],  agnum  ualentem  v  denarios  (urbarium  von  Oberbaiern 
ca.  1280;  Mon.  Roica  xxxvi  1,  s.  235).  die  befremdende  tatsache, 
dass  es  nur  ein  leben  ist,  wurde  von  Heck  gegen  die  alte  aul- 
fassung  von  freiengut  ins  feld  geführt,  während  Meister  (aao. 
s.  401  und  note  1  und  2)  die  späte  zeit  zur  erklärung  heran- 
zieht, dass  diese  methode  nicht  richtig  ist,  beweist  die  fast 
gleichzeitige  aulliihrung  des  handgemals  im  Schwabenspiegel  nach 
niederdeutschem  Vorbild,  aber  in  erinnerung  an  oberdeutsche 
tatsachen. 

Das  handtgemähl2  von  Langen-Peuerbach  im  Iunviertel  gibt 
uns  in  seinem  späten  vorkommen,  noch  dazu  in  dem  so  ab- 
geblassten  sinne  haus  und  gärtet  eine  sichere  deutuug  des  hand- 
gemals von  Argoltzingen  (Assling  a.  Attel?)  au  die  hand,  die  auch 
Meister  (aao.  s.  401)  streift,  aber  zu  gunsten  einer  anderen  wider 
aufgibt.  natürlich  kann  in  beiden  fällen  nur  das  handgemal 
(haus  und  garten,  wie  oben  hofstatt  und  hufe)  eines  erloschenen 
edelgeschlechtes  in  betracht  kommen,  das  nach  dem  aussterben 
seiner  besitzer  an  den  landesherru  —  etwa  als  verwanten  oder 
anderweitigen  erben  —  gefallen  war  und  wegen  seiner  ehemals  so 
hohen  rechtlichen  Stellung  von  dem  neuen  herren  als  zinsfreies 
lehen  ausgetan  wurde.  —  die  grafschaft  Wasserburg,  in  der 
Argoltzingen  ligt,  wurde  1247  vom  herzog  Otto  von  Baiern  in 
besitz  genommen  :  nach  der  ächtung  graf  Konrads  (f  nach  1255), 
dessen  Schwester  Agnes  mit  herzog  Otto  i  vermählt  war.  viel- 
leicht handelt  es  sich  hier  um  das  handgemal  der  Wasserburger 
grafen  3. 

D.    Römisches  a  m  p  h  i  t  h  e  a  t  e  r. 

Schon  im  Heliand  fanden  wir  das  handgemal  auf  nicht- 
germanische Verhältnisse  übertragen,  und  beim  gemeinsamen  hand- 
mahal  der  Juden  in  Jerusalem  sogar  eine  in  der  gesamten  litteratur 
unbekannte  form  des  instituts,    die  nur  aus  poetischen  absiebten 

1  EMayer  aao.  i  47;  Adler  aao.  s.  8;   Heck  Sachsensp.  s.  504  anm.  1. 

2  Peuerbacher  urbar  von  1598  —  1608;  JStrnadt  Peuerbach  (1868) 
s.  43  note  2. 

3  vLang  ßaierns  alte  grafschaften  s.  107  ff. 

Z.  F.  D.  A.  XL1X.    N.  F.  XXXVII.  23 


354  SCHÖNHOFF 

heraus   erklärt   werden    kann,     ähnlich  steht  es  mit  dem  hantge- 
mcele  der  Kaisercbronik  *  (v.  7 1 3 6 fT.  ed.  EdwSchröder): 

daz  buoch  chundet  uns  daz, 

Helms  Pertinax 

der  besaz  dö  daz  riche. 

iz  chom  dar  zuo  wunderliche. 
1140  der  site  was  so  getan  : 

ze  Röme  was  luzel  dehain  edel  man, 

er  neworht  im  ain  hantgemcele, 

daz  man  iemer  von  im  sagete  ze  mcere. 
Dö  chom  iz  alsus 
45  daz  der  kunic  Helius 

ain  spilhiis  worhte, 

so  er  baz  nedorfte  : 

von  guotem  marmelstaine, 

mit  golde  gezieret  claine. 
Homeyer  sieht  (s.  24)  in  dem  handgemal,  das  der  römische 
edle  baut,  einen  privatpalasl,  und  diese  auffassung  ist  auch  auf 
den  ersten  blick  die  nächstliegende,  wenn  man  aber  die  partie 
vom  handgemal  des  edlen  mit  der  folgenden  über  das  spilhüs 
(theatrum,  Ahd.  Glossen  in  262,  25.  721,  48.  —  gimnasium  i 
689,  31.  m  361,  38)  des  Pertinax  zusammenhält,  so  kann  hant- 
gemcele nichts  anderes  bedeuten  als  ein  öffentliches  gebäude, 
wie  es  eben  ein  amphitheater  (spilhüs)  ist.  die  ganze  erzählung 
von  7136 — 7143,  die  die  regierung  des  kaisers  Pertinax  ein- 
leitet, wäre  völlig  zwecklos  und  unverständlich,  wenn  nicht  die 
folgende  Schilderung  des  kaiserlichen  amphitheaters  die  specielle 
ausführung  der  einleitung  darstellte,  dh.  wenn  nicht  das  hant- 
gemcele eine  allgemeine  beneunung  des  spilhüs  wäre,  das  terlium 
comparationis  ist  der  dem  ganzen  römischen  volke  gemeinsame 
besitz  des  amphitheaters,  wobei  freilich  ein  solches  gebäude  mit 
der  freiheit  des  einzelnen  nicht  das  geringste  zu  tun  hat.  indessen 
war  ein  im  mittelalter  herschender  glaube,  dass  jeder,  der  römisches 
bürgerrecht  besafs,  persönlich  frei  war  —  offenbar  eine  christliche 
reminiscenz  aus  den  Acta  apostolorum  (16,  37.  22,  25.  25,  10). 
so  berichtet  ein  westfriesisches  gedieht  aus  dem  15  jh.  von  den 
Friesen,  die  Rom  eroberten  (Richthofen  Friesische  rechtsquellen, 

Rerlin  1840,  s.  438 a)  v.  4  ff: 

1  verfasst  bald  nach  1147  von  einem  Regensburger  geistlichen. 


IIANDGEMAL  UND  SCIIWURBRUDERSCHAFT         355 

Dase  da  burich  wonnen, 

due  werense  burcheren  toe  Roem, 

dae  eamense  mit  riuchta  ordel  toe  fridome, 

want  hit  een  ald  riucht  was, 
(5)  dat  dy  man  fry  was  in  alle  landen, 

deer  toe  Roem  burgher  was; 

dat  een  man  onder  da  galga  stoed, 

ende  coem  et  htm  to  moed, 

dat  hi  op  da  roemsche  burgerschip  teghe, 
(10)  ende  hyt  aller  xoirdic  leghe, 

hi  moste  icessa  ontbonden, 

al  ont  hit  toe  Roem  worde  onderfonden. 
'denn  es  war  ein  altes  recht,  dass  der  durch  alle  lande 
frei  war,  der  römischer  bürger  war;  wenn  einer  unter  dem 
galgen  stand,  und  es  kam  ihm  in  den  sinn,  dass  er  sich  auf  das 
römische  bürgerrecht  bezog  l  —  und  wenn  er  auch  jedes  wort 
{aller  werde  ek)  log  —  er  muste  losgebunden  bleiben,  bis  es 
in  Rom  untersucht  wurde'.  —  sicherlich  spielt  der  gedanke, 
dass  das  römische  bürgerrecht  frei  mache,  in  der  Kaiserchronik 
unausgesprochen  mit,  sodass  die  beiden  charakteristischen  merk- 
male  des  handgemals  (garantie  der  freiheit  und  gemeinsamer  be- 
sitz mehrerer  familien)  auch  hier  vorhanden  sind. 

Die  Vorauer  (12  jb.)  und  Wolfenbütteler  handschrift  (14  jh.) 
der  Kaiserchronik  bringen  die  contrahierte  form  {hanlgemcele 
bezw.  hantgemeld;  Diemer  Die  Kaiserchronik  s.  219,  v.  5;  Mafs- 
mann  ad  v.  7161,  Schröder  ad  v.  7142),  die  des  reimes  wegen 
(hantgemosle  :  mcere)  für  den  urtext  anzusetzen  ist;  die  Münchener 
handschrift  des  14  jh.s,  die  aus  dem  ehemaligen  chorherrenstift 
SNicola  bei  Passau  stammt,  list  hantgemähel.  wie  bei  der 
änderung  des  Schwabenspiegels  (hantgemal  zu  hantgemähel)  und 
der  Münchener  handschrift  des  Parzival  (hantgemcelde  zu  hant- 
gemahele),  muss  auch  aus  der  Schreibweise  der  Münchener  hand- 
schrift der  Kaiserchronik  geschlossen  werden,  dass  dem  mönch 
zu  SNicola,  der  unsere  handschrift  herstellte,  das  handgemal 
aus  seiner  heimat  oder  seinem  würkungskreise  nicht  unbe- 
kannt war. 

1  man  vgl.  die  darstellung  mit  der  extravagante  der  Lex  Salica  (Unter- 
suchung an  ort  und  stelle)  und  dem  Sachsenspiegel  (sik  .  .  .  to  sime  hani- 
gemale  ....  tien). 

23* 


356  SCHÖNHOFF 

iv    Hantmdl   und  anemdl. 

Cirographum  (Urkunde)  glossiert  der  Sangaller  codex  911  aus 
dem  8  jh.  mit  hantkiscrip  edho  hantmal  l.  das  ärca'%  elqr^ievov 
hantmal  (in  den  übrigen  Handschriften  der  Keronischen  glosseu 
fehlt  es)  bildete  für  Homeyer  den  ausgangspuoct  zu  seiner  theorie 
vom  haudgemal,  und  auch  Meister  glaubt  (aao.  s.  399),  dass  die 
Übersetzung  graf  Sibotos  vFalkenstein  :  chirographum  'hantgemahele' 
einer  Verwechslung  mit  hantmal  ihr  dasein  verdankt,  aufser 
sachlichen  gründen  spricht  schon  dagegen,  dass  der  illustrator 
des  cod.  Falk,  beim  hantgemahele  (toi.  2  a)  nur  eine  hand  zeichnet  — 
-gemahele  war  ihm  jedesfalls  unverständlich  —  während  beim 
chirographum  auf  fol.  21a  die  abbildung  einer  Urkunde  mit  der 
schreibenden  hand  erscheint,  in  der  ausgesprochenen  bedeutung 
'Urkunde'  erscheint  das  wort  hantmal  in  der  ganzen  deutschen 
litteratur  nicht  wider,  dagegen  ersetzt  es  vom  11  jh.  ab  zt.  ein 
ähnlich  klingendes  wort  des  gleichen  Stammes  (zu  ahd.  mal,  got. 
mel)  :  anamdli,  mhd.  anemdl,  nhd.  Anmal,  Anmahl  (Ammal)  'cica- 
trix,  Stigma,  nevus'  2. 

Zuerst  erscheint  es  in  dieser  neuen  bedeutung  in  den 
Kölner  Prudentiusglossen  (11  jh.)  :  Stigma  hantmali  (Ahd.  gl.  ii 
564,41;  ebenso  in  den  Brüsseler  aus  derselben  zeit,  ebda  ir 
573,  67),  wo  aber  der  Schreiber  das  h  nachträglich  hinzugefügt 
hat;  augenscheinlich  dachte  er  zuerst  an  das  bekanntere  ammal. 
zu  ende  des  13  jh.s  gebraucht  der  niederdeutsche  Hermann  der 
Damen  hantgemele  in  der  sichern  bedeutung  'Stigmata'  :  do  er 
(Christus)  die  hant  gemele  enpfienk  (MSH  m  161a,  ur  26). 

Beide  bedeutungen:  Urkunde  bezw.  urkundliches  handzeichen' 
und  'narbe,  wunde'  vereinigt  der  gebrauch  des  wortes  in  dem 
mitteldeutschen  (thüringischen)  gedichte  von  Alexander  und  Anti- 
loye  (nach  der  Dresdener  handschrift  aus  dem  14  jh.)  ?.  540  ff 
den  stis  her  ane  sorgin  und  gab  im  ein  hantmal,  das  von  Rome 
ein  cardenal  des  nicht  vulschriben  künde  (Haupt  Altdeutsche 
blatten  250  ff). 

1  Ahd.  glossen  i  170,  17—18. 

2  cicatri.r,  Ahd.  glossen,  i  275,  43.  353,  28.  49.  —  n  409,  16.  498,  32.  — 
in  695,  23.  stigma,  ebda  i  351,  9.  768,  26.  —  n  556,  71.  564,41.  — 
III  221,  5.  256,  19.  307,  64.  —  iv  256,  46.  AHolder  Zs.  f.  d.  wortf.  1,  111. 
nevus,  Dieffenbach  Gl.  379  b;  Schindler  Bair.  wb.  n  563.  stigmarit  ani- 
malid,   Ahd.  glossen  n  410,  18.  455,  23.  511,  29.  —  vgl.  DWb.  i  405. 


HANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCHAKT         357 

Dass  das  wort  in  der  ersten  bedentung  (Handzeichen) 
nicht  recht  bekannt  war,  beweist  die  änderung,  die  in  Heinz 
Sentlingers  Weltchronik  von  1394  mit  der  stelle  vorgenommen 
worden  ist  :  415  daz  twerc  gap  im  ein  hantmal,  daz  er  lac 
uf  dem  wol.  daz  tcart  im  da  künde  (Zingerle  Germania  18, 
223  ff),  hält  man  dem  hantmal  des  thüringischen  gedichtes 
die  gleiche  form  hantmal  gegenüber,  die  Joh.  vBuchs  Glosse  (ca. 
1330—1340)  und  das  Weichbild  (14  jh.)  für  das  handgemal  des 
Sachsenspiegels  bieten,  so  scheint  es  nicht  unmöglich,  dass  dem 
dichter  von  Alexander  und  Antiloye,  der  zur  selben  zeit  und  in 
derselben  gegend  lebte,  das  handgemal  wol  bekannt  war,  so  dass 
er  in  seinem  gedichte  darauf  anspielen  konnte,  die  bedeutung 
'handzeichen,  Urkunde',  wie  sie  in  der  ahd.  glosse  belegt  ist, 
kommt  ja  das  ganze  mittelalter  hindurch  nicht  mehr  vor,  so  dass 
kein  leser  die  anspielung  würde  verstanden  haben. 
4  CAPITEL.    DIE  SCHWÜRBRUDERSCHAFT. 

In  deutschen  landen  hat  das  handgemal  wol  niemals  eineu 
weitern  bedeutungsinhalt  gehabt,  als  oben  für  das  hantgemahele 
des  cod.  Falkenst.  festgestellt  wurde,  soweit  wir  kenntnis  von 
ihm  haben,  ist  es  nach  inhalt  und  Verbreitung  im  steten  ab- 
nehmen begriffen,  bis  im  17  jh.  in  einem  österreichischen  Spätling 
uns  nur  ein  'haus  und  gärtel'  entgegentritt,  diese  überraschende 
Verengerung  des  begriffes  ist  bei  genauerem  zusehen  wol  er- 
klärlich, da  die  grundlage  des  institutes,  aus  der  es  in  vor- 
historischer zeit  erwuchs,  schon  zu  beginn  unserer  quellen 
verschwunden  ist  —  wenn  wir  das  vereinzelte  auftreten  der 
langobardischen  'gamahalos'  als  eideshelfer  ausnehmen,  die  ger- 
manische Schwurbruderschaft,  die  in  den  verschiedenen  dialekten 
verschiedene  namen  trägt,  also  wol  erst  nach  der  ausbildung 
der  einzelnen  germanischen  sprachen  entstanden  ist,  hat  sich 
nur  auf  nordischem  boden  zu  eiuer  volkstümlichen  und  rechtlich 
bedeutenden  einrichtung  entwickelt  (ahn. der  vertrag:  föstbropralag; 
die  teilnehmer  :  föstbrepr,  stallbröpr ,  eipbrepr,  svarabrdpr)1, 
während  in  England  (alteng],  wedbröder)  uud  Deutschland  meist 
nur  die  nachwürkungen  auf  andern  gebieten  (handgemal,  confra- 

1  MPappenheim  Die  altdänischen  schulzgilden.  ein  beitrag  zur  rechts- 
geschichte  der  germ.  genossenschaft.  Breslau  1SS5;  ders.  Ein  altnorweg. 
schutzgildestatut  nach  seiner  bedeutung  für  die  geschiente  des  nordgerm. 
gildewesens.     Breslau  1888. 


358  SCHÖMIOFF 

ternitas  und  gilde)  zu  spüreu  sind,  auch  der  schütz  der  freiheit, 
der  von  den  ältesten  Zeiten  an  zu  den  wesentlichen  merkmalen 
des  haudgemals  gehörte  und  in  späteren  epochen  nur  an  ein 
symbol  (urkunde,  mansus)  geknüpft  war,  konnte  allmählich  das 
handgemal  entbehren,  da  die  freiheit  des  edlen  —  der  hier  vor 
allem  in  frage  kommt  —  auf  andere  weise  viel  sicherer  gewähr- 
leistet werden  konnte,  und  zudem  die  ritterwürde,  die  ja  auch 
den  unfreien  ministerialen  nicht  verschlossen  war,  für  das  spätere 
mittelaller  eine  höhere  schranke  gegen  das  niedere  volk  aufrichtete, 
als  die  blofse  freiheit. 

Die  germanische  Schwurbruderschaft  war  ein  ersatz  für  den 
indogermanischen  sippenverband,  wo  er  durch  äufsere  oder  innere 
Ursachen  gelockert  war.  bei  primitiven  Völkern,  wo  söhn  und 
enkel  des  ahnen  seine  siedelstätte  in  der  nähe  des  Stammsitzes 
wählt,  bildet  eine  solche  Vereinigung  der  nächsten  verwanten,  die 
sippe  (gol.  sibja  =  aind.  sabhü),  die  natürliche  arbeits-,  fehde-  und 
culigenossenschaft,  die  sich  gegen  fremde  sippen  abschliefst  und 
ihren  mitgliedern  die  persönliche  freiheit  sichert  (aind.  priyäs 
'lieb'  =  got.  freis  'frei';  vgl.  alts.  friund  'verwanter').  gegenseitige 
Unterstützung  im  kriege,  räche  für  den  ermordeten  sippengenossen 
und  eintreiben  des  wergeldes  für  den  mord,  gemeinsamer  toten- 
cult  (opfergelage)  und  Unterstützung  der  witwen  und  waisen, 
eideshilfe  vor  gericht  und  zuletzt,  aber  nicht  als  geringstes,  der 
gemeinschaftliche  grundbesitz l  —  alle  diese  charakteristischen 
merkmale  des  geschlechtsverbandes  finden  sich  auch  bei  dem 
eidlich  geschlossenen  bundesvertrage  der  schwurbrüder.  wo  ein 
mann  durch  erlöschen  der  sippe  oder  frühes  sterben  der  nächsten 
verwanten  oder  auch  durch  auswanderung  in  spärlicher  besiedelte 
länder  einem  sippenverbande  entfremdet  wurde  und  gefahr  lief, 
seiner  freiheit  verlustig  zu  gehn,  da  tat  er  sich  mit  gleich- 
gesinnten  und  gleichaltrigen  männern,  mit  denen  er  vielleicht  im 
kämpfe  Schulter  au  schulter  gegen  einen  gemeinsamen  landesfeind 
gelochten  halte2,   zu  einem   treubunde  zusammen,  der  durch  ein 

1  dieser  gehörte  freilich  nicht  wesentlich  zur  Schwurbruderschaft,  wurde 
aber  oft  als  bekräftigendes  moment  hinzugefügt. 

2  in  der  späteren  nordischen  entwicklung  sind  es  meist  pflegebrüder 
(föstbr6j>r),  die  nach  weit  verbreiteter  sitte  einem  pflegevater  (föslre)  über- 
geben waren  und  dann  mit  dessen  söhnen  unter  dem  aufgestochenen  rasen 
die  föstbrfjpralag  eingiengen. 


HANDGEMAL  UND  SCIIWURBKUDERSCUAFT  359 

symbol,  die  aufhebung  der  rechten  hand,  als  des  wichtigsten 
körpergliedes,  bekratligt  wurde,  durch  die  darreichung  der  hand 
gab  und  nahm  der  Vertragsgenosse  die  treue,  die  den  neuen 
bund  halten  sollte.  —  ein  solcher  vertrag,  german.  *maplam  oder 
*gamapliam,  der  die  teilnehmer  einander  gleichstellte  (subordi- 
nierend war  die  adopliou  an  sohnes  statt  und  die  gefolgschaft  unter 
einem  forsten),  wurde  auch  eingegangen,  wenn  zwei  sippen  durch 
die  ehe  zweier  Mitglieder  einander  nähertraten ;  daher  auch  der 
gleiche  uame  für  Schwurbruderschaft  und  ehe:  ahd.  mahal  'pactum' 
und  'foedus  (nupliarum)',  langobard.  gamahalos  'schwurbrüder' 
und  ahd.  gimahalo  'gälte'1,  ahd.  ewa,  e  (eigentlich  gesetz)  und 
mlatein.  testamenhim,  lex  als  bairische  bezeichnung  für  das 
handgemal.  —  wie  der  sippenverbaud  dem  gesibbo  (consanguineus ; 
Ahd.  gl.  in  67,  32.  176,  42),  so  gab  die  Schwurbruderschaft  dem 
gamahat  (confabulatus)  die  garantie  der  freiheit,  und  diese  als 
wertvollste  eigenschaft  von  den  versippten  und  schwurbrüdern 
empfundene  würkung  der  besitz-  und  Standesgemeinschaft  ist  es 
auch  gewesen,  die  am  längsten  am  handgemal  haften  blieb,  der 
Laugobarde  wie  der  niederdeutsche  schölle,  der  bairische  graf 
und  der  salzburgische  edle  —  sie  alle  führen  ihre  freiheit  auf 
das  handgemal  zurück,  das  in  ihrem  geschlechte  seit  alters  her 
vererbt  worden  ist.  daneben  bildet  das  handgemal  auch  die 
rechtliche  grundlage  der  heimat,  wo  sein  besitzer  sich  vor  ge- 
richt  zu  verantworten  hat. 

An  dieser  stelle  mag  auch  noch  eine  kirchlich-mittelalterliche 
eiurichtung  erwähnt  werden,  die  offenbar  aus  der  germanischen 
Schwurbruderschaft  hervorgegangen  ist  und  noch  heute  in  den 
monchsorden  der  katholischen  kirche  blüht,  die  confraternilas 
oder  gebetsverbrüderung.  Adalbert  Ebner,  dem  wir  die  um- 
fassendste darstellung  dieser  Verhältnisse  verdanken  (Die  klöster- 
lichen gebets-verbrüderungen  bis  zum  ausgang  des  karolingischen 
Zeitalters,  eine  kircheugeschichtliche  Studie.  Münchener  theol. 
dissert.,  Regensburg  1890) 2,  widmet  der  entstehung  der  coofra- 
teruitas  nur  auffallend  wenige  worte;  ihreu  Ursprung  sieht  er  — 
nicht   ganz    richtig  —  in    der   alten  kirchlichen  anschauung  von 

1  vgl.  hier  das  spätmhd.  hantgemahel  'gattin  zur  linken  hand.' 

2  dort  reiche  litteralur.  von  älterer  ist  noch  immer  wichtig  :  GZappeit 
in  den  Sitzungsber.  d.  Wiener  akad.  x  (1853),  s.  417  —  463;  xi  (1854), 
s.  5-42. 


360  SCHÖNHOFF 

der  bruderschalt  der  gemeinde  (Tertullian  ad  uxorem  n  3  :  stupri 
reos  esse  constat  et  arcendos  ab  omni  communicatione  fraternitatis). 
wol  ist  die  idee  von  der  fraternitas  aller  Christen  eine  altkirch- 
liche, aber  die  bis  ins  einzelne  gelinde  durchbildung  der  gebets- 
brüderschaft,  die  noch  dazu  in  der  hauptsache  auf  Deutschland 
beschränkt  ist,  beruht  auf  germanischer  grundlage.  die  confra- 
ternitas  (auch  fraternitas)  erscheint  zuerst  im  ausgang  des  7  jh.s 
bei  den  benedictinern  in  England,  wo  so  viele  christliche  begriffe 
durch  aufpfropfung  einheimischer  sitten  den  Germanen  mund- 
gerecht gemacht  worden  sind,  und  wurde  durch  ßonifatius  in 
Deutschland  *  bekannt;  von  dort  aus  verbreitete  sie  sich  bald  über 
die  fränkischen  und  italischen  länder,  die  unter  deutschem 
einflusse  standen  (Ebner  aao.  s.  27  ff.  30.  35  ff),  die  wichtigste 
pflicht  der  germanischen  Schwurbruderschaft,  dem  toten  bundes- 
bruder  den  vorgeschriebenen  cult  durch  opfergelage  (alts.  geld, 
altengl.  gild2  'convivium')  und  blutrache  zu  besorgen,  wurde  bei 
der  confraternitas  in  messopfer  und  gebetspflicht  umgewandelt, 
noch  heute  wird  der  tod  eines  mönches  allen  mit  dem  couvente 
durch  confraternitas  verbundenen  klöstern  mitgeteilt  (eine  vor- 
läufige anzeige  geht  schon  dem  tode  voraus),  worauf  jeder  bruder 
für  den  verstorbeneu  die  messe  list.  auch  bei  gegenseitigen 
besuchen  gilt  ein  mönch  in  einem  bruderkloster  für  die  zeit 
seines  aufenthaltes  als  rechlmäfsiges  mitglied  des  conventes  und 
geniefst  alle  rechte  eines  solchen,  in  grofsen  verbrüderungs- 
büchern  (libri  vitae),  die  ehemals  auf  kostbare  weise  ausgestattet 
wurden,  stehn  noch  heute  die  confratres  verzeichnet. 

Handgemal  und  Schwurbruderschaft  sind  auf  dem  deutschen 
continente  nur  bei  drei  benachbarten  volksstämmen  nachgewiesen, 
bei  den  Langobarden,  Thüringern  (vor  dem  4/5  jh.  Ermunduren) 
und  Baiern  (Markomannen),  deren  sitze  Tacitus  an  der  mittleren 
und  unteren  Elbe  kennt,  es  waren  kriegerische  und  politisch 
hochentwickelte  Völker,  die  in  der  germanischen  Staatengeschichte 

1  in  der  älteren  deutschen  litteratur  erscheint  sie  zb.  bei  Otfried  (Ad 
monachos  SGalli  149)  :  bruederscaf,  und  Otloh  (Denkmäler3,  nr  S3,  65): 
bruderscaft  (lat.  .  .  .  ex  fraternitatis  communione). 

2  daher  der  name  der  gilden,  die  gleich  den  confraternitäten  ihren  Ur- 
sprung ebenfalls  von  der  germanischen  Schwurbruderschaft  herleiten.  —  über 
die  französ.  communiae  und  conjurationes  des  12 — 14  jh.s  vgl.  Hefele  Kon- 
ziliengesch.  v  665.  765.  8761".  919.  959.  vi  543;  Histor.-polit.  Matter  51,  507ff; 
EMayer  Verf.  gesch.  i  524 — 554. 


HAJNDGEMAL  UND  SCHWUBBUUDEBSCHAFT         361 

eine  bedeutende  rolle  spielen:  das  Markomannenreich  des  Maro- 
boduus  im  alten  Bojerlande,  Irmiufrids  thüringischer  Staat,  der 
von  der  Elbe  bis  zur  Donau  reichte  und  im  jähre  53t  dem  ver- 
einten anstürme  der  Franken  und  Sachsen  unterlag,  das  Lango- 
bardenreich Alboins  und  Rolharis  in  Oberitalien,  das  erst  durch 
den  grofsen  Karl  vernichtet  wurde;  sie  alle  beweisen,  dafs  in 
diesen  verwanten  Völkern  entgegen  germanischer  Unsitte  ein  zu- 
sammenhaltender und  staatenbildender  geist  lebte,  dem  sicherlich 
auch  die  ausgestaltung  der  schwurbruderschaft  und  des  hand- 
gemals  zugeschrieben  werden  mufs.  Tacitus  rechnet  Langobarden, 
Ermunduren  und  Markomannen  zu  der  grofsen  suebischen  völker- 
gruppe,  deren  religiösen  und  staatlichen  mittelpunct  der  Sem- 
nonenhain  bildete;  dort  wurde  der  regnator  omnium  Dens1 
(Tac.  Germ.  39),  Mars,  der  germanische  Thiaz  (altnord.  Tyr, 
alts.  Tio,  ahd.  Ziu)  verehrt,  der  gott  des  krieges  und  der  Volks- 
versammlung, wenn  auch  die  Zugehörigkeit  der  Langobarden 
und  Ermunduren  zu  den  Sueben  bestritten  wird  —  der  haupt- 
gott  der  Langobarden  war  in  der  tat  Wodan  —  so  kann  doch 
auch  die  alte  nachbarschaft  der  drei  stamme  den  übereinstimmen- 
den brauch  der  schwurbruderschaft  erklären,  wol  verliefse  ndie 
Markomannen  im  1 ,  die  Langobarden  im  4  jh.  ihre  Stammsitze, 
aber  fortwährend  blieben  sie  einander  benachbart,  wie  auch  ihre 
spräche  die  gleiche  entwicklung  nahm;  und  als  die  Baiern  im 
6  jh.  in  Noricum,  die  Langobarden  ein  halbes  Jahrhundert  spater 
in  Oberitalien  einwanderten ,  grenzten  widerum  ihre  Staaten  an- 
einander, nur  dass  sie  in  umgekehrter  reihenfolge  safsen  als  zu 
Tacitus  Zeiten,  vor  das  4 — 5  jh.,  die  Zeiten  der  Völkerwanderung, 
wird  schwerlich  die  ausbildung  der  schwurbruderschaft  zu  setzen 
sein,  aber  gerade  jene  kriegerischen  Zeitläufte ,  als  die  Baiern 
noch  in  Bojohaim,  die  Langobarden  in  Pannonien  safsen,  waren 
der  Vereinigung  zu  treubünden  besonders  günstig. 

Anmerkung.  Handgemal  und  schwurbruderschaft  hatte 
ich  bereits  miteinander  combiniert,  als  ich  um  Weihnachten  1906 
die  skizze  von  AMeister  las.  im  juli  1907  war  meine  Studie  in 
der  vorliegenden  gestalt  vollendet ,  als  ich  kenntnis  von  der  ab- 
haudlung    Philecks    erhielt  :  Das   hantgemal    des    codex    Falken- 

1  praecipuus  deorum  Mars  Tac.  Hist.  iv  64.  —  praesul  bellorum 
Jord.  Get.  c.  5. 


362     SCHÖNHOFF  IIANDGEMAL  U.  SCHWURBRUDERSCHAFT 

steinensis  und  andrer  fundstellen  K  Heck  bringt  zum  handgemal 
der  Rihni  und  der  Falkensteiner  einige  neue  tatsachen  bei,  in- 
dessen wird  die  vorliegende  Studie  durch  seine  darstellung  in 
keinem  puncte  verändert,  zu  s.  340  n.  3  (Ribnis  familie)  ist  zur 
litteratur  nacbzutrageu  :  Hautbaler  Salzburger  traditionsurk.,  Cod. 
Odalbert.  ur  63;  Egger  Das  Aribonenbaus,  Arcbiv  f.  üsterr.  gesch. 
83,  s.  409.  10. 

1  Mitteilungen   des  instituts  f.  Österreich,  geschichtsforschung,   28  bd, 
1  heft  (Innsbruck  1907)  s.  1 — 51  (ausgegeben  märz  1907). 

Münster  i.  W.  HERMANN  SCHÖNHOFF. 


Zu  s.  353  ff. 
(hantgem.ele  in  der  kaiserchromk.) 

leb  übersetze  die  oben  abgedruckte  stelle,  über  die  ich  mich 
im  glossar  s.  z.  nicht  ausgelassen  bähe,  jetzt  so  :  'Damals  herschte  in 
Rom  die  sitte,  dass  sogut  wie  jeder  edelmann  bestrebt  war,  ein 
denkmal  zu  schaffen,  das  sein  gedächtnis  für  alle  zeit  festhalten 
sollte.  Helius  Pertinax  (der  diesem  brauch  folgte)  wählte  sich 
dafür  den  bau  eines  prächtigen  spielhauses'.  Schünhoff  begeht 
zunächst  den  fehler,  dass  er  das  hantgemcele  des  ersten  absatzes 
mit  dem  spilhüs  des  zweiten  gleichsetzt,  während  doch  deut- 
lich von  dem  allgemeinen  zum  speciellen  fortgeschritten  wird,  für 
spühüs  aber  gibt  das  glossar  noch  eine  frühere  stelle  an  die  hand, 
wo  ein  Zusammenhang  mit  hantgemcele  uicht  vorligt;  unter  Titus 
heifst  es  v.  5485  f  :  Bi  den  ziten  was  ze  Körne  ain  spilhüs,  gehaizen 
was  iz  asilus.  beide  erzählungen  gehu  auf  jene  quelle,  eine 
fahulose  Sammlung  von  'Mirabilia  urbis  Romae'  zurück,  die  ich 
in  der  einleitung  s.  66  erschlossen  habe  :  an  der  früheren  stelle 
ist  dorther  der  ausdruck  asilus  mit  falscher  form  (*theatrum  quod 
vocabant  asylum)  entnommen,  an  der  späteren  erblick  ich  die 
spur  des  lateinischen  Wortlauts  eben  in  dem  deutschen  worte 
hanige  male',  denn  dies  übersetzt,  wie  ich  oben  andeutele,  eiufach 
ein  lateinisches  monumentum,  des  weitern  sinnes  wie  die  Römer 
diesen  ausdruck  brauchten  :  'alles  was  das  andenken  an  eine 
person  oder  sache  erhält  :  gebäude,  tempel,  Statuen,  galerieen'. 
dass  dabei  eine  eutstellung  oder  etymologie  (*manumentum)  mit- 
wirkte, ist  möglich  aber  nicht  notwendig,  die  berührung  dieses 
hantgemcele  mit  wort  und  sache  im  rechtlichen  sinne  (soviel  die 
spätere  zeit  überhaupt  davon  bewahrte)  ligt  darin,  dass  beide  in 
irgend  einer  sichtbaren  form  die  Zugehörigkeit  einer  person  fest- 
halten oder  beweisen,  man  vgl.  insbesondere  die  Parzivalslelle: 
hantgemcelde,  daz  man  mähte  sehen  usw.  und  in  der  Kaiserchronik: 
hantgemcele,  daz  man  iemer  von  im  sagete  ze  mcBre.  E.  S. 


MITTELHOCHDEUTSCHE  FRAUENGEBETE 

IN  UPSALA. 

Die    Universitätsbibliothek    zu     Upsala    besitzt    einige    brück- 
st ticke  zum  teil  gereimter  mittelhochdeutscher  gebete,   die  wol  noch 
aus    dem   12    oder  13  jh.   stammen   und   deren   verwantschaft  mit 
der    durch    die    Vorauer    und    Milstätter    sündenklage    u.  ä.    ver- 
tretenen gattung  unverkennbar  scheint,    toie  die  bei  Diemer  s.  37  5  ff 
abgedruckten    Vorauer  gebete   und  verschiedene   von   den   uns   er- 
haltenen prosabitten  werden  sie  einer  frau  in  den  mund  gelegt ;  es 
geht  dies  aus  mehreren  stellen  soicol  in  dem  gereimten  wie  in  dem 
prosaischen  text  hervor,     in  ihrer  ganzheit  mögen  die  bruchstücke 
reste    einer    für    den    gebrauch    eines    nonnenklosters    abgefassten 
gebet  ssammlung  darstellen,    ihr  nebeneinander  von  bitten,  in  denen 
Gott  und  Clnistus   und   neben   ihnen   um   ihre  hilfe  oder  fürbitte 
die  heilige  Jungfrau,  SMichael  und  die  enget,   der  täufer  und  der 
apostel  Petrus  angerufen  werden,  mahnt  an  den  aufbau  von  sünden- 
bekenntnis  und  litanei  oder  an  ein  gebet  an  Gott  und  alle  heiligen 
(zb.  Anselm  Cant.  nr  36).    als  teile  einer  gereimten  litanei  (s.  zb. 
Mone  Hymn.  625.   627.  628)    können   wenigstens   die    dicht    auf- 
einanderfolgenden   bitten    an    SMichael,    SGabriel  usw.    und    den 
Johannes  Baptista  gelten,    wie  in  Heinrichs  litanei  in  ihrer  jüngeren 
fassung  befindet  sich  unter  den  angerufenen  heiligen  auch  Johannes 
der  evangelist  und  die  Maria  Magdalena,     ähnlich  oder  zum    teil 
ähnlich  angelegte  gebetssammlungen  werden  aus  dem  12  jh.  mehr- 
fach überliefert  sein,     es  gentige  die  lateinischen  frauengebete  mit 
deutschen   reimtiberschriften    in   dem    Zs.  20,184/f   beschriebenen 
SLambrechter   gebetbuch   zu   erwähnen ,    oder   die   neuerdings    von 
Schönbach  veröffentlichten  Klagenfurter  gebetbruchstücke,   in  denen 
das  gemisch  von  reim  und  prosa  an  die  vorliegenden  erinnert. 

Die  Matter,  4  doppelbll.  perg.,  stammen  aus  der  incunabel 
35  :  63,  nr  1196  des  jetzt  fertiggedruckten  katalogs  (JCollijn  Die 
incunabeln  der  kgl.  Universitätsbibliothek  in  Upsala),  gr.  folio, 
Nürnberg,  Andreas  Frisner  et  Johann  Sensenschmid,  7.  10.  1476, 
früher  im  besitz  der  domeapitularbibliothek  in  Olmütz  (inhalt: 
Petrus  de  Monte  Brixiensis,  Repertorium  utriusque  juris  P.  1,  2); 
sie  sind  neuerdings  von  dem  vorder-  und  hinterdeckel  derselben,  wo 
sie    zu    zwei    freien    Vorsatzblättern    in    der    ungefähren   grö/se 


364  PS1LANDER 

41*/2  x30  cm  zusammengeklebt  waren,  abgelöst  und  der  bruchstück- 
sammlung  der  bibliolhek  beigelegt  worden. 

Von  den  vier  doppelblättern  gehören  drei,  die  ich  unten  i  1 — 6 
bezeichne,  unziceifelhaft  inhaltlich  zusammen;  sie  haben  die  drei 
inneren  blälter  einer  und  derselben  läge  gebildet,  von  dem  vierten 
doppelblatt,  unten  n  bezeichnet,  kommt  hier  nur  die  eine  hälfte  n  1 
in  betracht,  die  andere  enthält  lateinische  gebete  (Protege  usw.). 

Erhalten  in  der  urspr.  gröfse  oder  wenig  beschnitten  sind  von 
den  acht  blättern  nur  i  5  und  i  6  ;  sie  haben  eine  höhe  von  ca. 
24  cm.  und  eine  breite  von  I6V2  bis  17  cm.  die  schriftcolumne 
beträgt  19' ,'■> x  12  > 2  cm.;  die  inneren  und  äufseren  ränder  sind 
je  2  cm  breit;  20  Zeilen  gehn  auf  die  seite.  —  bl.  1  1  und  1  2 
sind  in  ihrer  höhe  vollständig,  aber  am  äufseren  rande  schräg 
beschnitten,  so  dass  die  breite  der  schriftcolumne  von  oben  nach 
tinten  gerechnet  auf  bl.  1  ca.  10,  9  bis  10,  8  cm.  beträgt,  auf  bl.  2 
etwa  12,  2  bis  11,  7  cm.  —  6/.  1  3  ist*  in  der  breite  vollständig, 
unten  abgeschnitten ,  die  schriftcolumne  16,  2  cm.  hoch;  die  drei 
unteren  Zeilen  fehlen.  —  bl.  1  4  ist  sowol  unten  wie  am  äufseren 
rande  beschnitten;  beschriebener  räum  16,  2x11,  2  bis  11,  5  cm.; 
vier  zeilen  fehlen.  —  bl.  n  1  unten  abgeschnitten ,  beschriebener 
räum   16  72  cm.  hoch;  drei  zeilen  fehlen. 

Die  schrift,  ca  4  mm.  hoch,  ist  deutlich  und  gut  erhalten, 
nur  an  icenigen  stellen  etwas  abgegriffen,  ihre  züge  weisen  rcol 
auf  das  ende  des  12  oder  den  beginn  des  13  jh.s.  die  anfangs- 
buch staben  der  abschnitte  sind  rot-grün  (bl.  1  1.  2),  rot-blau  (1  3. 
4.  5)  oder  rot- grün-blau  (bl.  11  1.  2)  zu  sinnbildlichen  figuren, 
tierbildern  usw.  ausgemalt,  von  kleineren,  rot,  grün  oder  blau 
fingierten  initialen  ohne  Verzierung  stehn  drei,  unten  z.  116,  141 
und  149,  am  beginn  neuer  gebete  oder  abschnitte,  an  der  ersten 
stelle  ohne  absatz,  nur  vom  vorausgehnden  abgerückt,  die  verse 
der  reimgebete  sind  nicht  abgesetzt,  sondern  durch  reimpuncte 
getrennt,  eine  —  ziemlich  tcülkürUche  —  interpunction  findet 
sich  auch  in  den  prosagebeten. 

Die  spräche  der  bruchstücke  ist  oberdeutsch,  wol  bairisch.  ich 
verzeichne  bair.  eu  für  in  :  n.  sg.  f.  ellev  z.  178,  armev  z.  182. 
225;  weitere  beispiele  51.  130;  n.  pl.  n.  sibinev  z.  105;  a.  pl.  n. 
disev  z.  218;  ferner  ch  für  c  in  lach  %.  29,  lach  z.  105,  mach 
z.  211,  Bair.  gr.  §  186;  prät.  kom  usw.  z.  44.  62.  146.  155. 
236.  237.    —    bairisch  oder  vorzugsweise   bair.  lichname   z.  99. 


M11D.  FRAUENGEBETE  IN  UPSALA  365 

106;  part.  präs.  -unde,  z.  115;  2  sg.  prät.  braehte  z.  150; 
obd.  prät.  bildot  z.  74.  —  </e<7CH  bairischen  dialekt  spricht  nicht 
molite  ».31.  123.  130  als  gemeinmhd.  form  für  echtbair.  mähte. 
im  ganzen  ist  die  mundart  wenig  ausgeprägt  gegenüber  der  gemein- 
mhd. Schreibweise,  durchgängig  steht  für  den  alten  diphthongeu  ei 
gegen  (überwiegendes)  ei  neben  ai  im  bair.  des  12  nnd  13  jh.s, 
Weinh.  MM.  gr.  §  123,  Bair.  gr.  §  76.  ebenso  im  anlaut  überall 
b,  niemals  p,  für  germ.  b,  un'e  »6.  a»/c/j  m  der  Vorauer  5(/A7. 
(Vorauer  hs.  bl.  125a— 12Sb)  :  Weinh.  Mhd.  gr.  §  159,  Bair.  gr. 
§  121  führt  eine  reihe  von  bair.  hss.  des  12  und  13  jh.s  an,  in 
denen  b  üfter  p  überwigt,  als  beispiele  der  Seltenheit  des  p  besonders 
Windberg,  ps.,  Benedictb.  pred.,  Wernh.  Maria  A.  weniger  zum 
bairischen  schreibgebrauch  stimmt  die  regelmäfsige  Verwendung  von 
k  statt  ch  als  beginnlelter  in  worten  und  selbständigen  wortteilen : 
kom,  kini,  künden,  dckein,  erkenueu  usw.  (echtbair.  chom  usw.) 
gegenüber  werchin  ».  30,  gedenche  ».  221.  233  usio.  (nur  einmal 
im  fremdwort  cliore  z.  119  neben  köre  z.  169).  vielleicht  darf 
aus  dem  gesamtcharakter  der  spräche  gefolgert  werden,  dass  die  hs. 
eher  aus  dem  norden  oder  westen  als  aus  dem  Südosten  des  bair. 
dialektgebietes  stamme. 

Unter  den  auf  unseren  bruchstücken  enthaltenen  gebeten  mag 
das  reimgebet  an  die  heilige  Maria  Magdalena,  unten  ».  14 — 69, 
eine  besondere  aufmerksamkeit  verdienen,  es  entstammt  in  seinem 
zweiten  teile,  z.  42 — 69,  dem  74  gebete  des  Anselm  von  Canter- 
bury.  der  beginn  von  Ansehn s  gebet  :  sancta  Maria  Magdalena, 
quae  cum  fönte  lacrimarum  ad  loutem  misericordiae  Christum 
venisti,  de  quo  ardenter  sitiens  abundaoter  es  refociliata,  per 
quem  peccatrix  es  justificata,  a  quo  amarissime  dolens  dulcissime 
es  consolata;  tu  domiua  mea  carissima,  per  temet  ipsam  es  ex- 
perta,  qualiter  peccatrix  anima  creatori  suo  reconcilietur,  quod 
consilium  miserae  animae  expediat,  quae  mediciua  languenti  salu- 
tem  reslituat.  satis  enim  scimus,  cara  amica  dei,  cui  dimissa 
sunt  peccata  multa,  quoniam  dilexit  multum  kehrt  offenbar  bei- 
nahe wort  für  wort  in  dem  deutschen  gedieht  wider,  von  dem 
Wortlaut  bei  Anselm  entfernen  sich  erheblicher  erst  die  Zeilen  59 
bis  62  ;  sie  gemahnen,  freilich  etwas  entfernt,  an  die  Vorauer 
Sündenklage  v.  62  ff  (Diem.  296,  19).  das  in  z.  61  unvollständig 
erhaltene  wort  mag  irgend  eine  der  Sünden  bezeichnen,  die  nach 
den  kirchlichen  Schriftstellern  zusammen  die  erbsünde  —  den  siech- 


366  PS1LANDER 

Uiom  z.  62  —  constituieren ,  demnach  die  avaritia,  die  luxuria 
oder  gula  —  die  Vor.  Sdkl.  nennt  v.  76  (Diem.  296,  29)  die 
chelgitecheit  als  die  sünde  Adams  —  oder  auch  die  superbia,  die 
vaua  gloria.  der  zusatz  gegenüber  dem  lateinischen  gebet  z.  65 
entspricht  den  in  der  Maria  Magdalenenlitteratur  —  vgl.  zb.  Hart- 
manns Credo  v.  2123,  Mone  Hymn.  1054  —  typischen  worten 
in  domo  Simonis  leprosi  Matth.  26,  6,  Marc.  14,3;  die  beiden 
schlussverse  z.  68/"  knüpfen  an  Luc.  10,39  an.  der  rest  des 
gedichtes,  z.  14 — 41,  steht  in  keiner  näheren  beziehung  zu  Anselms 
gebet  und  bewegt  sich  in  herkömmlichen  gedanken  und  ausdrücken, 
z.  28 — 34  in  deutlicher  anlehnung  an  die  römische  beichtformel. 
dem  herkömmlichen  gehört  auch  an  die  bitte  um  hilfe  gegen  den 
teufel,  der  die  ungebeichteten  Sünden  verzeichnet,  um  im  jüngsten 
gericht  als  zeuge  gegen  den  sünder  aufzutreten  :  z.  16  ff,  vgl.  Milst. 
Sdkl.  330//;  Heinr.  Lit.  Fundgr.  n  227,  11  ff. 

Bei  dem  formelhaften  Charakter  der  stücke  finden  sich  überall 
anklänge  an  andere  erzeugnisse  der  geistlichen  dichtung  des  12  und 
\Z  jh.s ;  es  wäre  eine  leichte  mühe,  aus  ihr  gleichlautende  Wen- 
dungen zu  fast  jedem  verse  anzuführen,  vielleicht  ist  eine  engere 
beziehung  zu  der  Vorauer  Sündenklage  nicht  zu  leugnen,  aller- 
dings gelten  die  Übereinstimmungen  meist  ausdrücken  und  gedanken, 
die  als  gemeingut  der  gattung  angesehen  werden  können  oder  sonst 
von  geringer  beweiskraft  sind,  von  stellen,  die  vielleicht  in  unsern 
reimgebeten  nachklingen,  verzeichne  ich  aus  der  Sündenklage  v.  18  ff 
{Diem.  295.  14//"):  du  wis  hiute  eio  böte  ao  dioeo  eiuboro 
sun  .  .  .  der  allez  maochuDoe  enbant,  trüt  frouwe,  mit  dir 
zu  sineo  hulden  hilf  du  mir.  —  'SO ff  (295,  22  ff)  :  du  bevilhe 
ich,  frouwe,  miueo  geist  zu  [diner]  helve,  wäriu  maget,  ...  ja 
getrüwe  ich  dir  verre,  himelisgiu  chuDigione!  wie  verre 
ich  ao  dich  diüge  daz  heil  miner  sßle!  —  44 ff  (296, 
8ff):  ze  s6le  unde  ze  Übe  gelrüwe  ich  vil  wol  dir,  ein 
böte  wis  hiute  mir  an  den  heiligen  Crist;  ein  teil 
du  mirs  sculdig  bist  daz  du  mir  helvest  umbe  got.  —  62 /f 
(296,  19/f)  :  du  verdilige  mioe  sunde  unde  heile  miner  sßle, 
die  hulde  mines  hörren  di  hilf  mir  gewinnen,  damit 
vgl.  unten  reimgebete  z.  Sff  :  des  hilf  du  mir,  hßrre  (=  des  hilf  du 
mir,  trehtin  Sdkl.  734,  Diem.  313,  3)  want  ich  getrüwe  dir 
vil  verre  in  allen  minen  dingen,  ich  wil  an  dich  gedingen 
daz  du  mir  behalte ft  s6le  unt  lip.  —  21  ff:  wir  sundaere 


MHD.  FRAUENGEBETE  IN  UPSALA  367 

hau  des  guten  gedingen,  frouvve,  ze  dir,  niht  ne  zulvelen 
wir.  —  56//":  wie  da  sol  gewinnen  diu  sundige  s6le  die 
huld    ire    hörren         nu    soltu    miner    armen    söle 

gewinnen   ir   hßrren    buhle,      unt  irvvirf  mir  den um 

da  von  kom  uns  der  siechlum.  —  128  :  du  wis  min  böte  ze 
dem  heiligen  krisle;  aufserdem  findet  sich  noch  manches  überein- 
stimmende in  formelhaften  Wendungen  und  reimen,  im  ganzen  aber 
zu  wenig,  um  einen  directen  Zusammenhang  ohne  vorbehält  zu 
behaupten. 

Den  gereimten  stücken  ist  wol  auch  das  z.  2[\  ff  endende 
gebet,  wahrscheinlich  ein  reimgebet  an  Gott,  zuzuzählen,  von  den 
prosabitten,  die  gelegentliche  reime  und  rhythmische  sätze  aufweisen, 
wie  sie  die  geistliche  prosa  der  reimpredigt  entlehnt,  ist  das  gebet 
an  den  heiligen  Petrus  z.  70 — 109  bereits  aus  anderweitiger  Über- 
lieferung bekannt,  es  ist  das  nämliche  gebet,  das  WWackernagel 
zuerst  Altd.  leseb.  275  ff  (==  Altd.  pred.  u.  geb.  nr  77  s.  211  f)  aus 
der  gleichfalls  franengebete  enthaltenden  hs.  von  Muri  (12  jh.)  ver- 
öffentlichte; auf  einen  näheren  vergleich  zwischen  der  alemanni- 
schen fassung  und  der  vorliegenden  darf  ich  hier  verzichten; 
beide  gehn  wol  auf  das  gleiche  lateinische  gebet  zurück,  aus  latei- 
nischen vorlagen  stammen  gewis  auch  die  Mariengebete  und  das 
gebet  an  Christus  z.  181  ff,  das  letztere  aus  irgend  einer  oratio 
ad  deum  et  omnes  sanctos  (vgl.  Anselm  15  und  39,  Otlohs 
gebet  usw.). 

Die  gebete  unserer  Sammlung  könnten  im  einzelnen  verschie- 
dener Herkunft  sein,  die  reime  der  poetischen  bitten  entbehren 
ausgeprägter  dialektformen,  widersprechen  aber  nicht  dem  bairisch- 
ö  st  er  reichischen  des  12  jh.s.  der  reim  harte  :  worte  s.  67  könnte 
sogar  ein  beweis  bairischer  herkunft  sein,  wenn  er  nicht  eher  als 
technisch  unvollkommen  zu  gelten  hätte,  nach  Baiern  oder  Oster- 
reich weisen  sowol  Vorauer  Sdkl.  wie  sonstige  reimgebete  der 
gattung  bis  auf  die  aus  jüngerer  zeit  stammende  sog.  Bair.  Sünden- 
klage Zs.  18,  137 — 144,  in  der  Schönbach  einen  sicheren  anklang 
an  seine  Klagenfurter  gebete  feststellt,  unter  den  märtyrern,  die 
im  gebet  an  Christus  und  alle  heiligen  z.  205  ff  angerufen  werden, 
finden  sich  auch  heilige,  die  besonders  in  Baiern  verehrt  wurden, 
mit  der  märtyrerliste  in  Otlohs  gebet  trifft  die  auf  Zählung,  abge- 
sehen von  den  traditionell  an  der  spitze  stehnden  Stephan  und 
Laurentius  noch  in  acht  namen  :  Hippolitus,   Vincentius,   Kilianus, 


368  PSILANDER 

Georgias,  Vitus,  Mauritius,  üionysius  und  Sebastianus  zusammen; 
sieben  von  den  märtyrern  :  Georgins,  Blasius,  Vitus,  Dionysius, 
Pantahon,  Chrisloforus,  Eustachius  sind  unter  den  später  als  not- 
helfer  verehrten  heiligen,  deren  cultus  sich  allmählich  von  der  oberen 
Maingegend  aus  über  Deutschland  verbreitet  haben  soll,  aus  alledem 
eine  besiehung  zu  Baiern,  spec.  SEmmeram,  dem  classischen  ort 
für  ahd.  gebete,  zu  folgern,  wäre  kaum  statthaft,  da  ausführliche 
heiligenlisten  wie  die  vorliegende  aus  verschiedenen  gegenden  mehrere 
gemeinsame  namen  aufweisen  können  oder  müssen. 

Die  altertümliche  metrik  :  übergewicht  klingender  ausgänge, 
häufigkeit  vierhebig  klingender  verse,  ungenügende  reime,  weist  wol 
auf  die  zweite  hälfte  des  12  jh.s.  allerdings  ist  die  enge  anleh- 
nung  an  die  lateinische  vorläge  schuld  an  denjenigen  reimen,  die 
am  meisten  gegen  eine  spätere  verskunst  verstofsen  :  z.  42.  45. 
59.  65  und  wol  z.  6. 

In  dem  folgenden  abdruck  sind  ergänzungen  des  fortgeschnit- 
tenen in  klammern  gegeben,  unsichere,  nur  in  spuren  erhaltene 
buchstaben  und  worte  cursiv  bezeichnet,  lücken  im  text  bei  fehlen- 
den zeilen  der  hs.  durch  puncle,  bei  iveggeschnittenen  buchstaben  durch 
doppelpuncte  angedeutet,  die  gröfseren  abschnittsinitialen  sind  fett, 
kleinere  farbige  initialen  halbfett  gedruckt,  die  Zeilenschlüsse  durch 
senkrechte  striche  kenntlich  gemacht. 

i 

l  la     llerre  fce  Johannes  ewngelifte, 
ein  [heili]|ger  gotes  trut  du  bift. 
nu  hilf  mi[r  umbe]  |  den  heiligen  krift, 
daz  er  fich  erbarme 

[über]  |  mich  uil  arme  5 

unt  mich  befchirme 
[5]     uo[r  den]  |  ubelen  raeten  miner  uiende; 
des  hilf  d[u  mir]  |  herre, 
want  ich  getruwe  dir  uil  uerre. 

[in  al]|len  miuen  dingen,  10 

ich  wil  an  dich  gedi[ngen]  |  , 
daz  du  mir  bebalteft  feie  unt  lip, 
wan[t  ich]  |  bin  din  uil  armez  dieneft  wip. 

4/ 'formelhaft  und  häufig  wie  auch  16  f.  24/"  ua.  9  wände  ich 

dir  getruwe  verre  Vor.  frauengeb.  Diem.  377,  2,  vgl.  auch  Vor.  Sdkl.  34, 
Diem.  296,  1,   Greg.  596  usw. 


MHD.  FRAUENGEBETE  IN  ÜPSALA  369 

[10]     J.^  rowe  fcä  Maria  magdalena, 

ich  [beuilhe]  |  dir  minen  lip  unt  mine  feie.  15 

(lurc[h  die]  |  dine  guete 

uor  dem  tieuel  mich  behüt[e. 

er  uir]|hrieuet  mine  funde: 

er  wil  fi  ze  urkun[de 

ze]  |  iungeft  füre  bringen.  20 

[15]     wir  fundaere  ha[n  des]  |  uil  guten  gedingeu, 

frowe,  zu   dir. 

niht  [ne  zui]  |  uelen  wir; 

want  got  dich  erlofte 

uns  a[rmeu]  |  ze  Irofte  25 

uon  den  feibin  dingen, 

da  wi[r  mite]  |  ringen. 

min  unreht  ift  maneger  flach[t, 

michel]  |  funde  tach  unt  nacht 
[20]     mit  willen  un[t  mit]  |  vverchin.  30 

wie  mohlich  armiv  gemerc[hen] 
i  1  b     [die  fu]nde  hovbelhafte, 

die  ich  han  gefrumet  |  [ofte] 

mit  hure  unt  mit  meineiden? 

minner  |  [dan  e\]n  heidin  35 

forhtich  der  feie ; 

der  funden  |  [du  d]ich  heele. 

nu  riwet  iz  mich  ze  fpate, 
[5]     nu  |  [iz  wir]*  uil  drate, 

daz  ich  den  lip  fol  uirenden  j  40 

[in  di]fem  eilende. 

Nu  frowe  fcä  Maria  mag|[dalen]e, 

du  mit  brunnen  der  zacheren 

kome  |  [ze  unf]erme  herren, 

der  da  ift  ein  brunne  der  |  [gnade]n;  45 

da  du   wurde  enphangen, 

15  formelh.   Lit.  fundgr.  n  234,  18.  25    oder    allen;    formelh. 

23/7"  vgl.  beichtformel  multa  quidem  et  innumerabilia  sunt  peccata  mea, 
quae  recordari  nequeo  in  factis  in  dictis  et  in  cogitationibus.  36  forhuch  ? 
38  Rödiger  zu  Milst.  Sdkl.  167  (Zs.  20,  285)  usw.  40  swenne  ich  disen 
lip  verende  Vor.  Sdkl.  187  (üiem.  299,  15);  unze  wir  disen  lip  verenden 
Lit.  fundgr.  n  230,  17. 

Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXXVII.  24 


370  PSILANDER 

[10]     do  du  dur|[ftend]e  hiceliche 

gelabet  wurde  genuhtecliche  |   ; 

[da  du]  der  funden  inne 

gewafcheu  wurde  |  [uzen]  unt  inne;  50 

da  du  geferigetev  biterliche  | 

[gefrov]et  wurde  fuzecliche. 

Frowe  fcä  Maria  |  , 
[15]     :  :  :  :  Zeft  gotes  trutinne, 

du  haft  felbe  befun|[den  55 

w]ie  da  fol  gewinnen 

div  fundige  feie 

die  |  [hulde  i]r  berreu. 

nu  foltu  miner  armen  feie 

ge|[winne]n  ir  herren  hulde,  60 

unt  irwirf  mir  den  |  :  :  :  :  :  um, 

da  uon  kom  uns  der  fiechtum|; 

[dannejn  ich  erkenne 

die  gotes  friundinne  |  , 
[20]     [der  in]  des  mifelfuchtigen  hufe  65 

i  2a     uirgaebin  wur|)din  ir  funde, 

want  fi  minnete  got  uil  harte: 

e[r]  |  fi  dicke  mante 

mit  werchin  unt  worten  |  . 

Oerre  fce  petre,    din  gnade  fuchich  fun[di]  |  giv;    dines  gewae-  70 
gedes   unt  dines  geding[es]  |  bitich  dich  unwirdige  umbe  die  not 
unt  u[m]|be  die  angeft,  da  ich  bin  mit  beuangen.    Geh[uge]  |  wol, 
herre    fce  petre,    der  gnaden,   die  unfer  h[erre]  |  über  dich  tet, 
do  er  dich  uon  erde  ze  mennef[chen]  |  bildot,   fam  er  uns   fun- 

49  /.  dev  sunderinne?  54  oder  :  :  :  :  rfeft  ?  —  bei  Anselm  im  fol- 
genden electa  dilectrix  dei;  zum  reim  vgl.  Marien  :  kuninginne  Glouben  1964 

60  hulde   gewinnen   Rüdiger  zu  Milst.  Sdkl.  315  61    irwirf   mir 

ldepelle  a  me'  —  :  :  :  :  tum  oder  :  :  :  :  rum  ?  vgl.  Bamb.  beichte  133  :  ich 
habe  gesundot  in  üppiger  guotlichi,  in  ruome  etc.,  und  spuan  er...inan 
. . .  zi  gire  ioh  zi  ruame  etc.  Otfr.  n  5.  1  ff  =  hunc  videlicet  gula  et  ava- 
ritia  et  vana  gloria  tentavit   Hab.  Maur.  zu  Malth.  4,  3  ff  70  ich  bitte 

gewegedes  unte  gedinges  .  .  .  minen  herren  sancte  Petrum  etc.  Benedictb. 
beichte  i  31  74  formelh.  und   rhylhm.  =  als  er  uns   alle   hat  getan 

Muri,  Wackernagel  nr  77,  7.  so  auch  92  :  der  ich  nu  gemanit  han 
#\  77,  28;  vgl.  also  du  si  alle  hast  getan  der  ich  dich  gemant  han 
Klagenf.  Geb.  5. 


6 


MHD.  FRAUENGEBETE  IN  UPSALA  371 

digen  hat  getan,  daz  [du]  |  mir  gnadeft,  als  dir  unfer  herre  gna-  75 
dete,  d[o]  |  er  dich  im  felbem  nande  muler  unt  fwefi[er]  |  unt  dar 
nach  friunt.  Hill'  mir  herre  fce  pe[tre]  |  ,  uon  allen  minen  noten 
uon  allen  minen  a[ngel'J|ten,  all'  du  den  gwalt  enphangen  haft  uon 
[un]|ferme  herren  dem  almehtigen  gole.  Gehug[e]  |  wol,  herre  fce 
petre,  der  gnaden  die  unler  [her]|re  ubir  dich  tet,  darnach  do  80 
du  fin  uir  lovg[netes]  |  eines  nahtes  driftuut  unt  dar  nach  diu 
he[rze]  |  mit   fere    uut  mit  fmerzen  beuienge  umb[e]  |  den  tivren 

i  2 b  tot    unfers    herren    unt    umbe   d[ie]  || /unte,    die  du  an  im  getan 
bete,  wie  er  dir  do  |  gnadete  in  allen  dinen  angelten  unt  in  allen  | 
[d]inen  noten.    alfo  hilf  du  mir,   herre  fce  petre  j  ,  [djurch  minne  85 
des    heiligeu    cruces   unfers   herren  |  [d]es  almehtigen  gotes,  uon 
den    noten    unt    uon  |  [d]en    angiften,    da  ich  mit  beuangen  bin. 
Gehu|[g]e,  herre  fce  petre,  der  mandunge  do  din  heili|[g]ez  herze 
mit  getroftet  wart,   do   unfer  herre  J  [ujou  dem  tode  erflunt  unt 
dir    daz    künden  |  [hijez    mit  den    heiligen    apfis,  wie   er   hin    in  90 
»alileä  J  fl'ujre,    wie  er  in   da   gefaehin   folde.     Herre  fce   petre  |, 
[ic]/j  bite  dich  unt  befwer  dich  durch  der  gna|[denj  der  ich  gemant 
hau,  daz  du  mir  umbe  un|[fejren  herren  helfeft,  daz  er  min  |  fer 
unt   min    angeft  |  [un]t   alle   mine   not   gefemfle,    da   ich    nu    mit 
be|[ua]ngen    bin.     Ich    bite    dich,    herre    fce   petre,    in  j  [unjferes  95 
herreu    namen  unt  in  der  minne  des  |  [heijligen  kriftes,   daz  du 
gehugende  fift  der  gna|[de]n,   die    unfer   herre  got  über  dich  tet, 

i  3a  do  dich  |  [hejrodes  gebant  in  fibin  fteten,  den  dinen  üil  |  hei- 
ligen lichnamen  mit  den  ifenen  keten.  |  Gehuge  wol,  herre  fce  petre, 
wie  dich  unfer  j  herre  enbant  uut  erlofte  uon  der  uiende  ge|walt.  100 
Nu  erbite  mir  uon  dem  feibin  urlofaerej,  daz  er  mich  erlofe  durch 
fine  gnade  unt  durch  |  dine  minne  uon  den  noten  da  ich  mit  be- 
uan|gen  bin,  alfo  dich  unfer  herre  got  erlofte  uon  |  der  uinfterniffe 
des  karcksres  unt  uon  den  |  gebenden  herodis.  De  gebende  waren 
fibinev  J  :  der  lach  einez  umbe  den  dinen  uil  heren  hals,  |  einezlOS 
umbe  den  dinen  lichnamen,  zwei  umbe  j  dinen  ellebogen,  einez 
umbe  dine  hende,  einez  j  umbe  dine  (uze.  uon  den  gebenden  allen 
famen  |  erlofte  dich  unfer  herre.  alfo  erlofe  du  mich  |  uon  allen  man- 
nen unt  wiben,  die  mir  dekein  |  not  tun  ode  dekeiner  freife  uaren  |. 

93  herren  fehlt  98  do  d.  h.  g.  in  sibin  stetin  .  mit  isinin  chetin 
Muri  W.  77,33;  auch  sonst  reime  :  enbant  :  gewalt  100,  kint  :  enphienc  152, 
sunterinne  :  willen  182,  dir  :  mir  227        99  mit]  unt?        104  de]  /.  der? 

24* 


372  PSILANDER 

i  3b  Herre  hilf  mir  umbe  alle  mine  not  :  :  :  :  :  |  .  .  .  ||  fei  petri  110 
gnade  unt  der  heiligen  zwelf  bo|ten  unt  aller  gotes  heiligen 
umbe  alle  die  |  not  unt  umbe  alle  die  angeft,  da  ich  nu  |  mit 
beuangen  bin.  Jch  bite  dich  |,  herre  got,  diner  gnaden  unt  aller 
diner  hei|ligen,  gewegedes,  daz  miner  uiende  wille  |  au  mir  icht 
irfullet  werde;  des  bitich  al  [  waltunder  got.  115 

J£erre  fee  michael  |, 

fee  raphael,  fee  gabriel, 
[10]     wegit  miner  armen  |  feie. 

alle  himelifche  chore, 

die  muzen  mich  |  erhören.  120 

ia  ne  wart  ich  nie  getriwe  uoch  |  gewaere 

dem  minem  feephaere. 

wie  moh|tich  armiv  denne  genefin, 

ir  en  woldit  min  |  helfere  waefin. 

helfet  mir  alle  gotes  holden  |  ,  125 

[15]     daz  er  mir  werde  unerbolgen  |  . 

lierre  fee  Johannes  baptifte, 
du  wis  min  |  böte  ze  dem  heiligtn  krifte, 
daz  er  mich  j  .  .  . 
i4a     wie  mohtich  fundigev  widir  zu  im  ged[ingen]|,         130 
ir  ne  woldet  mich  widir  bringen, 
nu  h[ilf],  |  tovfaere  here, 
daz  ich  mich  bekere, 
daz  [ich]  |  durch  mine  funde 
icht  geualle  in  daz   [abe]|grund[e].  135 

ileiligeu    frowe  fcä  Maria  |  ,  ich  bite  dich  durch  die  frovde  die 
[du]  |  hete,  do  dir  fei  gabriel  der  heiliger  eng[el]  |  erfchein,  unt 

110   halb  weggeschnitten  114   daz   inheinis    minis   uiendis    wille 

iemir  an  mir  irvullit  werde  Muri  W.  85,  35  =  Vor.  frauengeb.  Diem.  376,6: 
e  ane  mir  werde  ervullet  deheines  mines  uiendes  wille  116  nu  bevilch 

sanet  Michaele  die  angest  diner  sele  etc.    SLambr.  gebete,  Zs.  20,  185 
119/-  formelh.    vgl.  Lit.  fundgr.  n  232,  15  und  bes.  SLambr.  geb.,  Zs.  20, 
186  :  diz  gebet  ist  von  allen  himeüschen  chören      nu   ruofe  wir  si  an  daz 
si  uns  erhören         123^  er  seol  unser  helfere  wesen     daz  wir  alle  genesen 
Adelbr.  Joh.  Bap.  262  128    von   böte   in   der  halb    weggeschnittenen 

zeile  nur  geringe,   aber  wol  sichere   spuren  —  der  ausdruck  ist  formel- 
haft :  Vor.  Sdkl.  18.  46.  216  {Diem.  295,  14.  296,  9.  300,  9),  Arnst.  Ml.  222 
MO  f  vgl.  123/". 


MHD.  FRAUENGEBETE  IN  UPSALA  373 

durch  den  gru[z  da]  |  da  mite  er  dich  gruzte,  do  er  dir  die  bote- 
fchaft  6[rah]|te,  daz  du  gotes  muter  foldeft  werdin;  d[u]  |  trofte 
mich  in  difen  noten.  |  140 

Qaude  di  genitrix  uirgo  immaculata,  [gaujlde  que  gaudium 
eterni  luminis  claritat[is]  |  fufefpifti,  gaude  mater,  gaude  fcä  di 
gen*'[trix]  |  ,  uirgo  tu  fola  mater  innupta,  te  laudat  o[mnis]  | 
i  4b  creatura  genit'cem  luminis;  fis  p  nobis  gl  :  :  :  |  .  .  .  .  ||  [die] 
hirte  heten  an  der  nacht,  do  in  die  en|[gel]  kunten  den  fride  untl45 
die  gnade,  div  allen  |  [men]nefken  kom  ze  fride  unt  ze  gnaden 
uon  |  [krifte]s  geburte;  fo  erhöre  mich  unt  gefrowe  |  [mic]h  in 
minen  angeften  .  AMeN. 

Frowe   fcä  Maria  durch  |  [die    fjrovde   die   du  hete,   do   du 
dinen  trut  fun  |  [ze  d]em  bethufe  brsehte,  fo  getrofte  mich  al|[fam]l50 
der  faelige  fymeon  getroftet  wart  unt  |  [gefrjowt,  do  er  daz  heilige 
kint  an   finen  arm  |  [enp]hiench,    des  er  lange  gegert  hete;  alfo 
[mu]ze  ich  irhoret  werdin  unt  gefrowt  in  |  [min]en  noten. 

lleiligiv  frowe  fcä  Maria,  |  durch    die    frovde    die    du    hete,    do 
i  5a  die  |   kunige    uon    ir   lande    komen    unt    die  |  .  .  .  .   ||    mich    in  155 
difen  noten  | 

Jprowe  fcä  Maria,  durch  |  die  frovde  die  du  hete,   do  din  |  trut 
fun    uon    dem    tode    erftunt,    an    des    mar|ter   din    feie   gewundit 
wart,  unt  als  himel  |  unt  erde  unt  alle  gotes  gefchephede  gefrovt  | 
wart  uon  finer  urftende;    alfo  muze  ich  uon  |  diuer  helfe  gefrovt  160 
werdin  an  difen  angeften. 

£  rowe  fcä  Maria,  durch  die  frovde  die  du  |  hete,  do  din  uil 
liebir  fun  uon  dem  tode  erftunt  mit  dem  men]nefclichen  lich- 
namen,  den  er  uon  dir  enphan|gen  hete,  unt  ze  himel  für;  unt 
do  du  mit  |  dinen  ovgen  faehe,  daz  div  mennefcheit  erho|het  wart  165 
ubir  die  köre,  die  du  nitin  manode  |  in  dinem  übe  getragen  hete; 
fo  gelichet  mir  |  dife  angeft  unt  gefrow  mich  nach  dinen  gna|den. 

Xleiligev  frowe  fca  Maria,  durch  die  frovde  |  die   din  heilige  feie 
i  5b  hete,    do    fie   erhöhet  ||  wart    ubir   die    köre    der   heiligen    engel; 
durch  |  die   frovde    die    du    hete    unt   iemir   an  ende  mit  |  dinem  170 

140   magnificat  etc.    aue  etc.  hier  und  nach  den  folgenden  Marien- 

gebelen         141  vgl.  174  ff         145  in]  im  152  er]  es         155   von  der 

folgenden  hsl.  zeile  ist  nur  das  letzte  wort  durch  in  spuren  erhallen 
163  uon  dem  lode  erftunt  fehlt. 


374  PSILANDER 

heiligen  kinde  haben  folt,  der  uon  dine  |  magellichem  übe  geborn 
wart,  mit  dem  du  |  iemir  folt  richfen;  du  gefrov  mich  in  difie 
anjgeften  unt  in  allen  minen  noten  mines  libes  |  unt  miner  feie. 

(jrotes  muter,  frowe  dich,  |  umbewollenev  maget,  du  die  frovde 
en|phangen  haft  uon  dem  engel,  frowe  dich  daz  |  dir  geborn  ift  175 
der  fchin  des  ewigen  liehtes  |  ;  frowe  dich  muter,  frowe  dich 
ewige  maget,  |  gotes  muter;  du  bift  ein  beflozene  muter;  dich  | 
lobet  ellev  gotes  gefchephede,  als  uon  rehte  [  eine  muter  des 
ewigen  libes;  du  wis  uns  wi|dir  dinen  fun  ein  ewige  helferinne. 
AMeN.  |  180 

Jrierre  ihu  xpe,  troft  aller  der  die  dich  |  in  noten  unt  in  angeften 
fuechint,    ich  |  armev  lunterinne  bite  dich  durch  diner  |  heiligen 

i  6a  geburle    willen    unt   durch    dine  ||  marter  unt   durch   din  heiligez 
cruce.     Ich  bite  [  dich  durch  die  not   unt  durch  die  angeft  |  die 
du  hete  do  du  diner  marter  uahenteft  |.    Ich  bite  dich  durch  deslS5 
gebetes  willen  daz  |  du  bsete  dinen  uater,  daz  er  dich  der  mar|ter 
ubir  hübe,  obez  fin  mohte.    Ich   bite  dich  |  durch  den  fweiz  der 
in    blutes    wife   uon   dir  ran  |   ,   unt  durch  den  ruf  den  du  riefe 
an  dem  hei|ligen  cruce,  do  du  riefe  :  herre  got,  herre  got  |  ,  wie 
hafte    mich    fo   uirlazen.     Ich    bite   dich   her|re   durch   dinen  tot,  190 
durch  diu  blut,  durch  diu  |  urftende,  durch  din  uf  uart.    Ich  bite 
dich  |  durch   alle    die   gnade    unt   barmunge,   die   du  |  dem  men- 
nefchen  erzeiget  haft,  daz  du    mich  |  getrofleft   unt  mir  min  un- 
frowde  fchiere  |  ze  frowden  uirwandeleft,  unt  mir  mine  not  |  unt 
min    angeft    zefüreft,    alf    du   zefurteft  |   die    helle    floz    an    der  195 
nacht,    do   dine    erwellen  |  da    uznseme,    unt  alf  du  zefurteft  die 

i  6b  gebeude  |  fei  pet1;  alfo  bite  ich  dich  herre,  daz  du  durch  ||  din 
underdige  min  angeft  zefüreft  unt  |  benemift.  Ich  bite  dich  herre 
durch  willen  diner  heiligeu  muter  miner  frowen  |  fee  Mserien  unt 
durch  willen  der  heiligen  |  erzengele  Michaelis,  gab^lis.  raphaelis.  |  200 
unt  alles  engelifchen  heres.  Ich  bite  dich  |  herre  durch  den  willen 
diner  heiligen  pal'archen  unt  durch  den  willen  diner  heili|gen 
wiffagen.  Ich  bite  dich  durch  den  wil|len  diner  heiligen  zwelf 
boten  fei  petri.  |  pauli.  andree.  iohannis.    unt  aller  diner  iuu|geren. 

172  /.  disen         174  die  tat.  vorläge  dieser  bitte  ist  nach  dem  ersten 
Mariengebet   z.  141  ff  in    den   deutschen   text    hineingeraten  175    en- 

phangeft         179  /.  liehtes  nach  144  182  mir  armen  sundarinne     durch 

diner  geburte  willen   Vor.  frauengeb.  Diem.  375,  15. 


MHD.  FRAUENGEBETE  IN  UPSALA  375 

Ich  bite  dich  durch  den  willen  diner  |  heiligen  marteraere  flephani  2o:> 
laurentij :  |  liippoliti.  Vincentij.  Kyliani.  Blafij.  Georij.  |  Cofme 
damianj.  Viti.  Mauricij.  Dyonifij  |  pantaleymouis.  agapitj.  xpofori. 
Johannis  |  &  pauli.  ofwaldi  euftachij.  Fabiani.  Sebafti|aui.  unt 
durch  aller  der  willen,  die  ie  dekein  |  marter  erliten  in  dinem 
namen.    Ich  bite  dich  |  herre  durch  den  willen  diner  babifte  unt  1 210 

II 

ii  la  mit  ir  minne  niemen  mach  dine  hulde  gwinne.  |  Ds  miferereatur 
ort.  Pater  Ilr  .  Credo  in  dnu  |  gci  fpc  quefumus  domine  corda 
nrä  mundet  [  infufio.     &  fui  roris  intima  afpfione  fecuudet.  p  | 

IVlifericors  dne  qui  chananeam  et  publicanü  |  uocafti  ad  peniten-215 
tiam  et  petrum  lac'mante  |  fufcepifti,   J)u  uirggebe  fco  petro,  do 
er   weinde,    daz    er    din    het   uirlovgent  unt  dich  uir|fworn  hete. 
Du    uirgebe   dem    publicano    alle   fine  |  funde    durch    difev   wort, 
die  er  zu  dir   fprach  |  :    £)s  «ppicius  efto  m1  peccatori.     mit  den 
feibin    wor|ten    fo   gnade   du  mir  uil   funtigen  mennefchen;  |  unt 220 
gewer  mich  miner  bete  in  nomine  dni  aM.  |  JJerre  gedenche  an 
die   chananeam,    div    dich  |  bat    umbe    ir  tohter  daz  du  fi  gefuut 
mahteft  |  .  fiv    rief    zu    dir   mit    difen    Worten  :  ltiu    fili    dauid,  | 
ii  lb  miferere  mei.     die  erhortiftu    do,  die  gewertes  d : :  |  .  .  .  ||  herre, 
nu    bin    ich    din  uil  armev  div  für  dich  ko|nien  unt  han  hie  für  225 
dich    braht   mine    tohter  (  ,    die    mine  uil    armen  feie  unt   andir 
min  angeft  |  .    Nu  rufe  ich  zu  dir:   ltiu  fili  di  gnade  mir:   gewer  | 
mich   miner   bet.     daz   werde    war   in    nomine  dni  .  aM  |.     Alfo 
du   zir   fpraeche,   alfo   fprich  du  zu  mir  :  deftu  |  gebetin    habeft, 
des  fiftu  gewert,  uade  in  pace  |.    Herre  du  gewertes  den  lat°nem'-30 
dines   himelriches  j  umbe  daz  er   fprach  :  Memento  mei   dne,    du 
uensis  |  in  regnum  tuum.    Do  antwurteft  du  im  hie  mite|:    Amen 
dico  t1:  hodie  mecü  eris  in  paradyfo.    Geden[che  min,   herre,  in 
dinem  riche  unt  gewer  mich  |  des  ich  dich  bile.     daz  werde  war 
in    nomine  dni  .  aM  [.     Herre,   du    uirgeebe   Marien    magdalenen 235 
uil    michel  |  ir  funde.     div   kom   zu  dir  in  des  mifelfuhtigen  fy  | 
monis   hus,   der  dich  geladet   het  ze  finer  wirt|fchefte.     Div  kom 
uile  fchamende  undir  die  mene.  | 

208  unde  dur  allir  der  willen  die  ie  dihein  itewiz  odir  diheine  martire 
dur  dine  minne  irliten    Muri,  ff.  85,  31/'  212   Sancti  spiritus  domine 

corda  nostra  mundet  etc.  auch  Muri,  IV.  s.  286  231   /.  cum. 

Upsala.  HJ.  PS1LANDER. 


MITTELDEUTSCHE  WECHSELSTROPHEN 
UND  SCHERZLIEDER. 

Unter  den  deutschen  Handschrift fragmenten  der  königlichen 
bibliolhek  in  Stockholm  finden  sich  zwei  ursprünglich  zusammen- 
hängende, jetzt  von  einander  losgerissene  papierblätter,  zweispaltig, 
in  der  gröfse  35  lfe  x  25  cm,  die  nach  den  auf  ihnen  enthaltenen 
Zeichnungen  und  den  schriftzügen  des  reimtextes  ins  ende  des  \hjh.s 
gehören,  dazu  stimmt  auch,  wie  mich  Boethe  belehrt,  der  charakter 
der  stücke,  die  zuweilen  an  den  ton  der  fastnachtspiele  erinnern, 
und  vielleicht  die  erwähnung  der  Eussiten  (in  3).  nach  einer  blei- 
stiftnotiz  auf  dem  umschlage  ist  das  fragment  1884  aus  dem 
reichsarchiv  in  die  königliche  bibliolhek  gekommen,  die  mundart 
des  textes  ist  offenbar  die  westmitteldeutsche ;  das  eigentliche  nieder- 
rheinische und  mosel fränkische  bleibt  ausgeschlossen,  so  dass  vielleicht 
am  ehesten  der  rheinpfälzische  oder  rheinhessische,  jedes  falls  ein 
rhein fränkischer  dialekt  in  betracht  kommt. 

Die  Strophen  in  stück  i  sind  zweizeilig  in  verspaaren  {lang- 
zeilen)  geschrieben ;  die  verse  der  beiden  lieder  (ii.  in)  sind  abgesetzt. 


Bl.  lr  und  lv  :  acht  bilder,  frauen  in  nonnentracht  darstellend; 
unter  jedem  bild  der  name  der  Schwester:  lra  Lyfe,  Bio  gel; 
lrb  Konigunt,  Cristin;  lvi  Anna,  Yfendrut;  \yb  Hille,  Hiliegart. 
bl.  2ra  und  2va,  oben  :  zwei  mönchsbilder ;  unter  den  bildern: 
R udoin",  Bruder  eheudin.  alle  zehn  figuren  links  oder  rechts  von 
einem  streifen  umgeben,  worauf  die  unten  folgenden  wechselstrophen 
stehn  1.  man  denkt  bei  diesem  gegenüber  von  männem  und  frauen 
alsbald  an  fastnachtspiele  wie  Kellers  nr  11.  59.  95.  102,  nament- 
lich aber  an  61,  wo  auch  zuerst  die  reihe  der  frauen,  dann  die 
der  männer  zu  worte  kommt;  üblicher  ist  es  in  der  technik  des 
fastnachtspiels  allerdings,  dass  nur  auf  der  einen  seite  eine  anzahl 
von  personen  steht,  während  die  andere  nur  durch  einen  Sprecher 
vertreten  ist.  —  vielleicht  führt  von  derartigen  wechselgesprächen 
zwischen  mönchen  und  nonnen  eine  brücke  zu  dem  spätem  gesell- 
schaftsspiel,  über  das  Bolle  Zs.  d.  v.  f.  Volkskunde  6,  98  einiges  bei- 
gebracht hat. 

1  die  folgenden  bemerkungen  verdank  ich  Roelhe. 


MD.  WECHSELSTROPIIEN  UND  SCHERZLIEDER      377 

Lyfe. 
lra         1.    Ich  fohle  dich  wyfen  uff  gude  fart; 
Defz  weifz  ich  nit,  es  liget  mir  hart: 
Dan  ganck  zu  bruder  lodeman, 
Der  kan  dir  wol  die  warheyt  gefan. 

Bingel. 
2.    Ich  se  gerne  wer  mich  kuffen  wolde, 
Dz  ich  inne  zertlich  byffen   fohle: 
Dar  von  ich  nit  vil  fagen  wil; 
Dan  ganck  zu  bruder  eychen  flyl. 

Kouigunt. 
lrb         3.    Ich  fede  dir  gerue  gude  mere, 
Die  dir  gar  fuffze  were: 
Defz  kau  ich  mich  nit  verften; 
Du  falt  zu  bruder  rudolff  gen. 

C  rifun. 
4.    Ich  mercken  dz  dir  gar  vil  gebrift, 
Wan  du  gar  node  von  dir  gibft: 
Defz  ganck  von  mir  uff  dyfer  fart 
Vnd  ganck  zu  bruder  ruockart. 

Anna. 
lva         5.    Mir  liebet  ufz  ganczem  herczen 
Hubfcher  lüde  fcherczen: 
Doch  mag  ich  dir  nit  vil  gefan; 
Dan  ganck  zu  bruder  gardian. 

Yfendrut. 
6.    Ich  folde  furen  eyn  geiftlich  leben; 
Vil  lieber  wer  mir  eyn  man  gegeben: 
Auch  mag  ich  dich  nit  erfchrecken ; 
Dan  ganck  zu  bruder  Ecken. 

Hille. 
lvb         7.    Dafz  ich  dich  wol  gewyfen  könne, 

Alfz  ich  dir  von  herczen  wol  gönne, 
Dz  dede  ich  gerne  in  guder  begir: 
Zu  bruder  gerhart  rade  ich  dir. 

Hillegart. 
8.    Ich  han  zu  kuffzen  gude  geluft, 
Dan  ich  myns  liebgyns  han  gebruft: 


378  PS1LANDER 

Ich  kan  dich  nit  befcheyden  recht; 
Dan  ganck  zu  bruder  Eckebrecht. 

RudolfT. 
2ra         9.    Recht  vnd  eben  baftu  gewendet1, 
Din  heil  dz  wirt  dir  nit  verzucket, 
Die  jungfrauw  vnd  fwefter  kynigüt 
Du  den  gut  zu  dyfer  ftunt.  * 

Bruder  ebendin. 
2Ya       10.    Ruwet  dich  din  wenden, 

So  clag  von  dynen  henden. 
Der  fteybock  ift  dir  hertte; 
Er  gert  dy  geferte. 

n 
2ra         1.    Trureu  faltu  gar  begeben 

Vnd  nem  an  dich  eyn  fanfftes  leben; 
Dir  wirt  ufz  fchiffen  vnd  von  wage 
Gutt  mit  fecken  zu  gedragen. 

2.  Du  weift  nit  eben  wer  fy  fint, 
Die  da  fynt  diner  eien  fynt, 

Vnd  fuchen  fchande  uff  dich  zu  laden ; 
Ewig  fy  mögen  dir  nicht  gefchaden. 

3.  Stant  uff  geringe  vnd  birge  dich  fnelle, 
Dafz  dich  keyn  hunt  nit  ane  belle; 
Wan  din  gluck  wirt  zu  dir  fliehen; 
Aber  billt  der  hunt,  fo  mufz  efz  wiche. 

4.  Dir  wirt  entreume  fremde  wife, 
Wie  dafz  du  fiezeft  uff  eyme  ryfe 
Vnd  fingeft  nachtegallen  gefang; 
Defz  faltu  haben  ymer  danck. 

2rb         5.    Du  blibeft  gerne  uff  guder  fart. 

Du  haft  din  truwe  gar  wol  bewart 
Geyn  dynem  werden  frundgin  zart; 
Dir  wirt  fyn  truwe  auch  nit  verfpart. 
6.    Eyn  lieplich  menfehe  ift  dir  vereynet, 
Dafz  dich  in  groffzer  dugent  meynet. 
Syn  liebe  ift  nit  von  dir  zu  keren; 
Efz  wil  fyn  liebe  mit  flyffe  beweren. 
1  /.  verrucket. 


MD.  WECHSELSTROPHEN  UND  SCHERZLIEDER       379 

7.  Mich  duncket  efz  wolle  lieh  eben  fugen, 
Dafz  dir  wol  wirt  eyn  grofz  benugeu. 
Dan  gib  dineo  armen  frunden  auch; 

Du  weift  doch  wol:  fye  byffet  der  rauch. 

8.  Dir  ift  au  rechter  eren  gach; 
Die  folget  dir  auch  billich  nach. 
Nu  faltu  fingeu,  efz  ift  zyt; 

So  wurftu  uit  der  eren  qwit. 

9.  Gelobet  fy  golt  der  guden  ftunden: 
Efz  wirt  in  kurezer  zytt  befunden, 
Dafz  dir  men  l  gluckefz  zu  handen  gett 
Dan  dir  harefz  uff  der  zungen  fielt. 

10.  Dir  wirt  eutreumen  von  muffen, 
Wie  dz  fye  lauffen  in  rufen: 

Dafz  dudet  dz  dyns  frundchens  munt 
Dich  kuffen  fal  zu  mancher  ftunt. 

11.  Din  hercz  fwebet  in  rechten  truwe; 
Dafz  wirt  dich  uymer  beruwen. 
Nyemant  fal  dich  anderfz  ziheu, 
Von  truwe  wirt  dir  gutt  gedyhen. 

12.  Etwau  biftu  in  dem  wane, 
Dalz  din  liebgiu  wolle  abelone; 
Dafz  gleube  uit  an  keyne  ftucke: 

Efz  halt  dich  lieber  wan  allefz  vngluck. 

in 

lva         1.    Vntruw  vnd  arges  mutes, 

Selten  ganfiu  yemans  gutes. 
Wafz  nu  do  von  gedyhet  dir, 
Dafz  faltu  deilen   uit  mit  mir. 

2.  Ich  mufz  in  züchten  mit  dir  feherezen: 
Dir  gett  die  liebe  alfo  lere  zu  herezen, 
Dz  du  fuckeft  fo  manchen  fluch; 

Vor  liebe  rüpelt  dir  der  buch. 

3.  Die  hülfen  werden  dich  bedaften 

Vff  durnftag  zu  nacht  in  der  fron  faften, 
Vnd  wollen  dir  noch  me  befcheren, 
Dafz  du  dich  armus 2  falt  ernere. 

1  /.  mer  2  /.  armuts 


380     PSILANDER  WECHSELSTROPHEN  U.  SCHERZLIEDER 

4.    Dio  ere  ift  gar  fere  gekrencket; 
Du  haft  fye  an  den  zun  gehencket. 
Dar  an  ift  fye  verworren; 
Sy  mufz  alda  verdorren. 
2vb        5.    Hetteftu  uff  fant  Johannes  nacht 

Elff  werhe  byfufz  vmb  dich  gemacht 
Vnd  zwelffwerbe  durch  dz  füre  gerant; 
Noch  were  din  vngluck  nit  verbrant. 

6.  Du  fageft  nit  gerne  zu  dyfer  frift, 
Wafz  dir  nu  entreumet  ift: 

Du  fochteft l  eyn  fchanden  blafter; 
Zwar  efz  dudet  uff  dich  eyn  lafter. 

7.  Svver  dir  gleubet  guder  truwen, 
Den   fal  efz  wol  werde  beruwen. 

Du  magft  nit  truw  vmb  truw  geben2; 

Du  bift  wol  vngetruw  zu  fchelten. 

8.  Du  haft  din  liebgin  gar  erichrecket: 
Efz  ift  uffz  fuffzem  flalTe  erwecket. 
Da  dir  der  arfz  ift  utf  gegangen, 
Da  hat  efz  füre  lufft  enphangen. 

9.  Du  fugeft  wol  in  eyn  folich  laut, 
Do  man  gerne  gebe  zu  hant. 

Du  woldeft  gerne,  wuftu  wie, 
Rieh  werden ;  dz  helffet  nit  hie. 

10.  Du  haft  der  eren  bach  durch  waden 
Vnd  haft  doch  nuft  uff  dich  geladen: 
Du  bift  alfo  drucken  durch  gegäge, 
Dz  ir  keyn   bleib  an  dir  hangen. 

11.  Dz  gluckratt  ift  vmb  gegangen; 
Eyn  vngluck  ift  daran  gehangen. 
Dz  felbe  wartet  dir  gar  eben: 

Ich  föchte  fere,  efz  blibe  dir  kleben. 

12.  In   fwerem  draum  du  nu  lege, 

Da  duchte  dich  din  ganck  fo  drege; 

Nit  nymfz  von  mir  übel  dafz 

Efz  dudet  uff  dich  eyn  groflzen  hafz. 

1  =  forchteft        2  /.  gelten, 
üpsala.  HJ.  PSILANDER. 


POSENER  BRUCHSTÜCKE 
DER  CHRISTHERRE -CHRONIK. 

Die  von  dem  herm  museumsdirector  dr  Erzepki  in  Posen 
aufgefundenen  bruchstücke ,  jetzt  eigentum  der  Gesellschaft  der 
freunde  der  Wissenschaften  in  Posen,  bildeten  die  rückeneinlage 
eines  zur  bibliothek  des  ehemaligen  Bernhardiner-klosters  zu  Kobylin 
(prov.  Posen)  gehörenden  lateinischen  folianten.  sie  bestehn  atis 
zwei  pergamentstreifen,  die  zusammen  ein  I8V2  cm  hohes  und 
16  72  cm  breites  doppelblatt  darstellen,  die  Seiten  sind  zweispaltig 
beschrieben,  der  obere  rand  hat  durch  beschneiden  gelitten,  so  dass 
etwa  6  zeilen  in  Wegfall  gekommen  sind,  aufserdem  sind  die  vers- 
ausgänge  der  zweiten  spalte  auf  der  ersten  blattseite  und  die  vers- 
anfänge  der  ersten  spalte  auf  der  zweiten  blattseite  verstümmelt, 
ferner  einzelne  verse  in  der  mitte  des  textes  durch  überkleben 
unlesbar  geworden,  die  verse  stehen  auf  linien,  die  zweiten  verse 
der  reimpaare  sind  etwas  eingerückt,  während  die  anfangsbuchstaben 
der  ersten  reimverse  durch  eine  senkrechte  linie  abgetrennt  sind, 
die  hs.  gehört  dem  xiv  Jahrh.  an.  der  text  gehört  der  Pseudo- 
Rudolf sehen  Weltchronik  (christherre-chronik)  an  und  etitspricht 
nach  einer  mitteilung  des  herm  professor  dr  Ehrismann  in  Heidel- 
berg, dem  ich  mich  für  seine  bemühungen  zu  lebhaftem  danke 
verpflichtet  fühle,  cod.  Pal.  germ.  321  fol.  144  b  —  145  a.  in 
Schützes  auszug  aus  dieser  Chronik  (Die  historischen  bücher  des 
Alten  Testaments  etc.  Hamburg  1779)  findet  sich  die  partie  der 
Posener  fragmente  nicht  vor. 

Bl.  ir 
a  b 

(oben  abgeschnitten)  (oben  abgeschnitten) 

1  rubenes  kinden  unde  gad  ein  ewart  vö  gotes  geböte 

manasses  wart  galaad  von  selben  ern 

tes  suns  kunne  hiez  maebir  .  .  in  ter 

von  ten  geborn  was  iair  daz  keinem  mau  gezeme 

5  und  ter  da  in  sinem  lande  daz  er  immer 

nah  im  stete  uü  torler  nante  von  in  sins  geslehtes  fruht 

darüber  sin  gewalt  geriet  durh  al  solher  genuht 

kurtzlich  darnah  beschiet  und  durch  al 

got  moyses  die  lant  daz  sich  verm . 

10  die  sin  geheiz  im  het  benant  zem  anter  die 

nach  ir  vier  enden  gelegeuheit  wan  daz  under 

mit  vor  gerihter  uuterscheit  belibe  in  siner 

un  nant  im  die  hobsten  gar  ein  gesieht 


382 


WUNDRACK 


von  isliches  geslehtes  schar 
15  uü  wie  die  sollen  sin  genant 
die  in  teilen  solten  die  lant 
mit  iosue  uil  eleazar 
er  hiez  in  al  die  schar 
verteilen  den  leviten 
20  un  in  ten  selben  geziten 
aht  un  vierzig  stete  nemen 
da  nider  laz  in  solt  gezemen 
ter  solten  sechse  wesen  vri 
dise  sit  des  iordanes  bi 
25  un  iensit  ouch  also  vil 

die  ich  her  nach  bescheitde  vvil 
TTon  machir  daz  kunne  sprah 
(blau)  ze  moyses  to  ditz  geschach 
in  unserm  erbe  teile  sint 


Darnach  vil 


von  egipie 

moyses  sich 

als  die  wisen  noch 
daz  sin  ende  tac  im 
un  mit  kunste  zu  . 
er  samente  zein  and 
al  die  israhelischen  . 
zem  iordanne  in  ein 
reht  an  die  stat  .  .  . 


ein  groze  stat  ist 


alda  kündet  in  .  . 
mit  gotes  lere  die 
als  sie  vor  tem  .  . 


Bl.  i\ 


1 


(abgeschnitten) 

.  vö  basam 
.  geborn 


schribe  stat 

.  .  .  ere  in  rabat 
5 da  maus  phlac 

lac 

was 

als  ich  las 

clafter  wit 

10 zit 

sich  bewac 

lac 

nach  beschiet 

israhelische  diet 

15 die  lagen  über  ten  iordan 


(abgeschnitten) 
ieman  durch  hazzens  .  .  . 
ob  er  des  uberwunten  wart 
so  was   daz  vil   lutzel   ungespart 
er  muste  lip  un  leben 
vor  rehte  dar  zu  buze  geben 
unte  in  half  an  ter  gescbiht 
dirre  stete  vriheit  niht 
YVie  dise  stete  warn  genant 
(/,/(,„)    daz  tut  die  schrift  erkant 
in  rubens  teile  bosor 
der  im  ze  teile  wart  davor 
uü  ramod  in  galaad 
in  tem  geslehte  von  gad 
un  golam  in  basan 


20 


...  ter  iordan 
was  also  getan 


einen  man 

ter  dar  entran 

vil  sicher  sa 

25 ten  magen  da 

uzwendic  erslagen 

mage  in  ten  tage 


ir  stift 

hat  niht  genennet  die  schrift 
dar  umbe  laze  ichs  ungenant 
moyses  ter  gotes  wigant 
ander  malte  in  aber  sa 
gotes  gebot  mit  lere  alda 
uude  seit  in  waz  got  durh  sie 
grozer  wunder  vil  begie 
unde  in  der  wüste  manigs  not 
in  sine  helfe  vil  dicke  bot 


POSENER  BRST.  DER  ClIRISTHERRE-CHRONIK      383 


nieman  an  im  do 

beleip  er  also 

30 mit  sune  sich  bot 

oder  im  die  zit  daz  tot 


uode  wie  von  alter  ir  gewant 
nie  swacher  wurde  erkant 
danne  als  ez  was  to  siz   an 
zem  ersten  tage  to  sie  dan 


Bl. 


IV 


a 


(abgeschnitten) 

1  von  bösen  wurmen  fiurin 
un  wie  in  got  vil  manige  pin 
ringerte  mit  siner  phlege 
biz  an  ten  tac  uf  tem  wege 

5  T)ar  nach  beschiet  er  in  mere 
(ro()  daz  sie  dme  gotes  lere 
wolten  vil  sere  halten 
unde  durch  not  steter  walten 
in  dem  geheizen  lande  alda 

10  danne  in  egipte  ods  anderswa 
daz  seit  er  in  mit  beschaft  do 
un  beschiet  ez  in  also 
daz  egiptus  daz  lant 
genuhtsamer  were  erkant 

15  danne  daz  land  dar  sie  wolten 
unde  ....  besitzen  solten 
wan  ez  die  ....  befluzzen 
un  in  mit  rehter  zit  beguzzen 
die  ez  wol  mähten  fruhtic 

20  gut  berhaft  un  genuhtic 
so  musten  die  geheizen  laut 
die  in  got  het  henant 
ir  fruht  nach  rehten  ziten 
des  himelregene  biten 

25  wanne  in  den  sante  gotes  gebot 
un  durh  daz  so  solten  sie  got 
baz  eren  in  dem  lande 
daz  er  in  regen  sande 
un  gemein  weter  in  rehter  zit 

30  darnah  der  iare  zil  geht 


(abgeschnitten) 


u 

{blau)   

die  sie  besitzen  solten  do 

un  sprah  witer  sie  also 

iglich  stat  iu  werte  muz 

die  noch  betritet  iwer  fuz 

von  eufraten  dem  wazzer  groz 

daz  oster  daz  lant  under  vloz 

gein  sudert  als  die  wüste  lit 

un   do   lac   uh  sider  an  dise  zit 

Hindert  als  libanus 

lit  ein  berc  geheizet  sus 

westert  anz  mittel  mer 

die  lant  iu  wertent  ane  wer 

als  sie  got  het  benant 

ouch  beschiet  in  gotes  wigant 

wer  die  .  .  .  solten  wesen 

die  gotes  segeu  solten  lesen 

über  die  .  .  behielten  .  .  . 

dise  e  un  sie 

uIT  gotes  vluch  über  die 
die  gotes  6  versmaehte  hie 
an  weihen  steten  ull  wa 
ditz  solt  sin  ouh  lert  er  sa 
wie  gotes  wille  daz  wolte 
daz  man  den  zehente  solte 
geben  un  in  teilen  gar 
wem  un  weihe  uz  der  schar 
der  zehente  solle  .  .  leben 
den  man  in  do  solte  geben 
JTurbaz  gebot  er  mere 
(ro()  mit  sines  gebotes  lere 


Bl.  iv 


(abgeschnitten) 
daz  man  in  dan  versteinte 
mit  gerihte  un  vermeinte 
durch  dieselbe  missetat 
und  den  ds  im  gebe  den  rat 


(abgeschnitten) 
un  swelher  ds  solte  geben 
durch  gerihte  sin  leben 
daz  im  daz  nieman  neme 
6  mans  in  uberquaeme 


384  WUNDRACK  POSEINER  RRST.  D.  CHRISTHERRE-CHRONIK 

5  durch  den  sinnlichen  wan  mit  zwein  geziugen   oder  drin 

un  alsus  tet  man  gein  man  die  mit  rehte  verteilte  in 

stat  gein  stat  ubs  al  daz  laut  und  die  so  warhaft  waren 

die  hieran  schuldic  werd  erkant  daz  sie  allen  falsch  verberen 

und  die  fürte  gar  die  solten  über  in  einen  eit 

10  dabi  gebot  er  ouch   der  schar  gein  himel  swern  mit  warheit 

swelch  fleisch  also  verturhe  darnach  die  schulte  wsere 

daz  ez  von  dem  selber  stürbe  un  ob  die  rihtere 

daz  sie  des  niht  sezen  daz  rehte  urteil  künden  niht 

un  swenne  sie  gesaezen  daz  man  umbe  die  geschiht 

15  in  ir  lant  un  sie  furwar  den  ewart  vragen  solte 

begiengen  ir  sibende  sauk  iar  svvaz  der  sprechen  wolte 

und  daz  ir  dehein  unds  in  ze  rehte  dar  über  daz  wer  sieht 

durch  deheiner  hande  gewin  uTI  swer  versprah   daz  reht 

eische  an  siuen  genoz  daz  er  san  den  lip  verlur 

20  gulte  kleine  weder  groz  unde  drumbe  sin  ende  erkur 

sin  gulte  moht  er  wol  dan  ]Vü  hat  von  dem  gerillte  sus 

eischen  einen  vremden  man  (rot)  geschriben  der  wise  iosephus 

Tn  dem  sibende  iare  mau  lie  daz  bi  den   rihtaeren 


(blau) 


sunde  abe  die  ieman  begie     in  den  elichen  steten  weren 


'D 


25  uü  was  als  die  warheit  seit  siben  helfaere  volkomen 

daz  lant  mit  riwe  an  arbeit  an  tugenden  uzgenommen 

danne  von  hiez  ez  sus  die  rehtes  sich  versinneten 

annus  iubileus  uü  reht  uü  warheit  minneten 

daz  frolich  sanc  iar  nach  sichtlichem  rehte 

30  dabi furwar  wibe  un  eigen  kuehte. 

Die  blätter  erlauben  wegen  ihres  geringen  umfangs  keine 
sichere  localisierung  der  mundart  des  Schreibers,  die  vorläge  wird 
wol  obd.  sein,  in  die  jedoch  ein  md.  Schreiber  einige  md.  eigen- 
heiten  gebracht  hat.  zu  den  letzteren  gehören  einige  e  für  ae,  so 
in  steter  (comp.)  ur,  a,  8.  were  nr,  a,  14.  rihtere  nv,  b,  12;  qu 
für  k  in  quaeme  nv,  b,  4;  td  in  bescheitden  i,  a,  26.  weiter  das 
fehlen  der  umlautszeichen  (u  =  ü,  uo,  ue)  und  der  häufige  ge- 
brauch von  t  =  d  zb.  torfer  i,  a,  6 ;  witer  nr,  b,  2 ;  schulte  nv,  6, 1 1 ; 
verturbe  nv,  a,  11;  wertent  nr,  b,  12.  dieses  t  für  d  hat  wol 
ein  md.  Schreiber  gesetzt,  der  obd.  schreiben  wollte  :  er  setzte 
dann  das  obd.  t  auch  da  ein,  wo  es  nicht  hingehörte,  dh.  für 
obd.  d.  das  anlautende  t  im  artikel  (ter  ir,  a,  23;  tes  ir,  a,  3; 
ten  ir,  a,  4)  kann  allerdings  auch  obd.  sein,  ein  alter  Überrest 
des  nicht  mehr  verstandenen  Notkerschen  anlautgesetzes.  wo  der 
Schreiber  zu  haus  war,  ist  nicht  sicher  zu  bestimmen,  wahrschein- 
lich in  Thüringen. 

Tremesseu,  im  sommer  1907.  A.  WUNDRACK. 


WALTHERS  ZWEITES  TAGELIED. 

Man  pflegt  das  gedieht  88,  9  schlechtweg  als  Walthers  tage- 
lied  zu  bezeichnen,  diese  Singularität  macht  das  lied  unter  denen 
unseres  grösten  mittelalterlichen  lyrikers  noch  isolierter  —  sein 
'einziges  tagelied',  in  dem  er  nach  Lachmanus  geistreichen  ausfüh- 
ruugeu  (z.st.)  'sich  selbst  ganz  unähnlich'  ist  und  im  stil  Wolframs 
gedichtet  hat  —  'ganz  das  sehnsüchtige  ahnungsvolle,  die  Verbindung 
entfernt  scheinender  gedanken,  die  unverknüpften  sätze,  wie  über- 
all bei  diesem  dichter',  kurz  ganz  in  dessen  romantischem  ton. 
diese  Sonderstellung  wird  dem  gedieht  Friwentlkhen  lac  niemand 
bestreiten,  als  etwa  der,  der  es  Walther  überbaupt  abspricht, 
wofür  ich  so  wenig  stimmen  würde  wie  die  editoreu,  biographen 
und  commentatoreu  des  dichters  es  getan  haben,  aber  die  andere 
eiuzelstellung  scheint  mir  fraglicher,  ist  würklich  88,  9  Wallhers 
'einziges  tagelied'?  ich  glaube  nicht;  ich  meine,  dass  wir  in  die 
so  merkwürdige  und  verwickelte,  trotz  Bartsch  und  Scherer,  trotz 
de  Gruyter  und  Roethe,  Jeauroy  und  Schläger  noch  keineswegs 
vollständig  aufgeklärte  geschichte  des  tageliedes  noch  eines  der 
berühmtesten  gedichle,  ja  dasjenige  einfügeu  müssen,  das  nach  all- 
gemeinem urteil  'das  schönste  ist,  das  er  je  gesungen  hat'  (Schün- 
bach  Wallher  v.  d.  Vogelweide  s.  129)  :  das  lied  Under  der  lindenl 

Was  sind  die  keunzeichen  eines  tageliedes  und  in  welchem 
mafse  besitzt  sie  W.  39,  11? 

Zunächst  :  dass  es  hier  feste  kriterieu  gibt,  ist  nicht  wol  zu 
bezweifeln  (Schläger  s.  36).  denn  tageliet  ist  eiue  feste  bezeichnuug 
(vgl.  Bartsch  Vortr.  u.  aufs.  s.  264),  die  als  solche  schon  eine  genau 
umschriebene  gattung  voraussetzt  —  die  natürlich  der  Indi- 
vidualität noch  Spielraum  zur  genüge  bietet  (Burdach  Beinmar 
und  Walther  s.  82  anm.).  aufserdem  wissen  wir,  dass  Ulrich 
vLichtenstein  sich  mit  dieser  gattung  auch  theoretisch  beschäftigt 
hat  (vgl.  de  Gruyter  tagelied  s.  25);  sie  besitzt  ihre  speciali- 
sten  in  Wintersteten,  Hadloub,  Botenlouben,  Wissenlo  und  dem 
grofsen  Wolfram;  sie  hat  ihre  eigene  vor-  und  nachgeschichte. 
ja  es  gibt  überhaupt  in  der  mhd.  poesie  keine  liederart,  die  sich 
so  selbständig  wie  diese  heraushübe  (in  der  provenzalischen  sind 
tenzone  und  sirventes  nicht  minder  deutlich  charakterisiert). 

Das  wichtigste  kennzeichen  ist  natürlich  die  Situation:  zwei 
liebende  im  liebesgenuss;  in  der  regel,  beim  strenghöfischen 
Z.  F.  D.  A.  XL1X.    N.  F.  XXXVII.  25 


386  R.M.MEYER 

tagelied  immer,  bildet  das  bett  im  gemach  (es  ist  wol  an  ein 
turmzimmer  zu  denken)  die  ausstattung  des  raumes.  die  lieben- 
den werden  im  seligsten  beisammensein  von  dem  Wächter  ge- 
stört; zumeist  einem  dazu  angestellten  vertrauten,  doch  kann  auch 
die  natur  selbst  durch  vogelgesang  oder  einlach  durch  den  auf- 
gang  des  morgensterns  als  hilfreicher  wecker  eintreten  (vgl.  bes. 
de  Gruyter  s.  9f).  darauf  erfolgt  ein  abschied,  der  jedoch  nicht 
notwendig  ausdrücklich  vorgeführt  oder  erzählt  wird,  es  bleibt 
als  kern:  der  heimliche  (und  darum  von  gefahr  bedrohte)  liebes- 
genuss  in  höchster  dramatischer  Spannung  geschildert. 

Formelle  merkmale  sind  die  häuügkeit  des  refrains,  die  in 
der  (geistlichen  und  volkstümlichen)  grundlage  der  gattung  ihre 
Ursache  hat;  dann  eine  aufgeregte  spräche,  gern  in  kurzen  salzen 
und  versen  (worin  eben  Wallher  dem  classiker  der  gattung  Wolfram 
folgt);  sinnlicher  ausdruck,  wenn  auch  oft  euphemistisch  ver- 
hüllt (de  Gruyter  s.  33).  diese  beiden  sprachlichen  eigenheiten 
sind  natürlich  in  der  silualion  begründet;  sie  können  bis  zu 
dramatischer  lebhaftigkeit,  ja  bis  zu  eigentlich  theatralischer  ge- 
staltung  gesteigert  werden. 

Nur  das  materielle  kennzeichen:  die  Schilderung  des  ge- 
fährdeten und  in  der  erregung  der  angst  nur  um  so  süfseren 
liebesgenusses  ist  unentbehrlich,  der  Wächter  kann  fehlen  (gegen 
Schläger  s.  39),  der  wecker  ersetzt  werden;  der  refrain  fehlt  oft, 
zb.  auch  W.  88,  9;  die  spräche  weifs  nicht  jeder  dichter  mit 
Wolframs  glut  oder  Reiumars  anschaulichkeit  zu  beherschen.  auch 
kann  das  dramatische  absichtlich,  in  parodistischer  tendenz,  umge- 
bogen werden,  wie  wider  bei  Reinmar  (vgl.  de  Gruyter  s.  23).  im 
ganzen  machen  solche  abweichungen  keine  Schwierigkeit:  ob  ein 
gedieht  noch  eiu  tagelied  zu  nennen  sei,  ist  in  so  wenigen  fällen 
fraglich  wie  etwa  —  um  in  eine  ganz  andere  richtung  zu  weisen  — 
ob  ein  lied  ein  vaterlandslied  heifsen  dürfe. 

Betrachten  wir  nun  Walthers  berühmtes  Under  der  linden 
im   licht  dieser  kriterien. 

Drei  abweichungen  fallen  sofort  ins  licht,  die  ich  deshalb 
vorweg  nehme:  wir  haben  einen  episch-lyrischen  bericht  über 
vergangenes  statt  dramatischer  Vorführung  der  Situation;  der 
liebesgenuss  ist  nicht  durch  die  dringende  gefahr  gewürzt;  es 
fehlt,   was  mit  diesen  beiden  puncleu  zusammenhängt,   die  cha- 


WALTHERS  ZWEITES  TAGELIED  387 

rakteristische  angäbe  des  anbrechenden  tages,  die  doch  auch  bei 
dem   nacherzählenden  Vortrag  anzubringen  gewesen  wäre. 

Vor  allem  das  erste  momenl  hat  wol  zumeist  die  eingliederung 
des  gedichtes  unter  die  tagelieder  verhindert,  man  wird  denn 
auch  jetzt  sofort  erwidern,  es  fehle  dem  lied  Under  der  linden 
mit  der  dramatisch  bewegten  Schilderung  des  liebesgenusses  der 
kern  des  tageliedes.  aber  mangelt  denn  würklich  diese  Schilderung? 
ist  sie  nicht  vielmehr  nur  durch  den  lyrisch-epischen  Vortrag 
gedämpft?  mit  der  heschreibung  der  bettestat  und  dem  vers  40,  10 
rückt  doch  jedesfalls  das  gedieht  an  jene  Situationsschilderungen 
viel  näher  heran  als  irgend  ein  anderes  minnelied.  nun  aber 
kommt  die  Umwandlung  der  dramatischen  in  epische  Vorführung 
ja  auch  bei  ganz  zweifellosen  tageliedern  vor.  grade  bei  ganz 
kurzen  volkstümlichen  tageliedern  hab  ich  diese  form  schon 
früher  nachgewiesen  (Zs.  29,  232): 

Bei  der  liebsten  hab  ich  gelegen, 

Bei  der  liebsten  hab  ich  geschlafen; 

Wie  der  habn  hat  gesungen, 

Bin  ich  nach  hause  gegangen  — 
ein  bericht,  hier  vom  manne  gegeben,  durch  den  hahnenkraht 
besonders  deutlich  als  tagelied  signiert,  und  doch  ohne  dra- 
matische rollenverteilung  auch  nur  in  indirecter  redel  so  hat 
denn  auch  Botenlaubens  letztes  gedieht  (MSH  i  32)  immer  als 
tagelied  gegolten,  obwol  nur  die  frau  spricht,  worauf  dann  ein 
epischer  bericht  folgt,  und  obwol  obendrein  dies  gedieht  der 
typischen  Situation  —  die  bei  W.  39,  11  gegeben  ist  —  voraus- 
ligt.  auch  Winli  (MSH  n  30;  nr  vm)  hat  ein  —  schwerlich  un- 
vollständiges —  gedieht,  in  dem  nur  die  liebende  spricht,  aller- 
dings in  dramatischer  vergegenwärtigung  der  Situation. 

Besonders  nah  aber  steht  —  in  dieser  hinsieht  —  dem 
gedieht  Walthers  das  schöne  Volkslied  bei  Unland  nr  27  (Volks- 
lieder i  68).  es  ist  der  lyrische  bericht  eines  liebhabers,  bei 
dem  aber  der  liebeslohn  nur  als  erträumt  geschildert  wird, 
übrigens  mit  dem  liebesgenuss  im  gärtelein,  dem  kosen  und 
der  zurückdrängung  der  preeären  Situation,  die  immerhin  mit 
tagelied mäfsigen  euphemismen  (sie  het  mich  freundlich  umbfangen, 
sie  gab  mir  vil  der  frewd)  gezeichnet  ist. 

Dass  aber  jenes  ominöse  wort  von  der  bettestat  nicht  als 
zufall    aufgefasst   wurde,    beweist  Hadloub   in   seinen   schon  von 

25* 


388  R.M.MEYER 

Uhland  (Schriften  v  279)  erkannten  nachahmungen  von  Walthers 
lied  (nr  xxxvi  und  xxxvnr,  MSH  11  295  und  298),  in  denen  das 
blumenbett  zur  eigentlichen  hauptsache  wird,  die  Situation  des 
liebesgenusses  trat  also  schon  den  Zeitgenossen  in  den  Vorder- 
grund, wenn  sie  das  lied  hörten,  und  ein  tageliederdichter  be- 
mächtigte sich  des  neuen  motivs,  etwa  wie  in  dem  'säculum  der 
Gleime'  das  kanapee  (im  reim  auf  'grünem  klee')  ein  lieblings- 
requisit  der  minnepoesie  wurde. 

So  ist  es  denn  auch  mit  der  gefahr  nicht  anders,  auch 
dies  ingrediens  ist  vorhanden,  nur  eben  dem  stil  des  ganzen 
liedes  entsprechend  gemildert,  pastell  statt  greller  färben: 

daz  er  bi  mir  leege, 

wessez  iemen 

(nu  enwelle  gotl),  so  schämt  ich  mich! 

Nicht  mord  und  totschlag  steht  vor  der  tür,  aber  die  be- 
schämung,  ja  die  schaude. 

Und  so  ist  denn  auch  das  nahen  des  tages  vorhanden,  aber 
discret  ersetzt  und  verschoben,  das  singen  der  nachtigall  steht 
für  den  morgen  verkündenden  vogelsang  (de  Gruyter  s.  29);  aber 
weil  eben  die  dramatische  Spannung  vermieden  werden  soll,  wird 
dies  element  des  tageliedes  statt  an  das  ende  an  den  anfang  ge- 
stellt :  statt  zum  'Wächter'  wie  bei  Dietmar  (MFr.  39,  20)  ist  das 
vöglein  auf  der  linde  zum  vorboten  geworden;  nicht  den  abschied 
kündigt  es  an,  wie  bei  Shakespeare,  sondern  den  empfang:  es 
ist  das  naturorchester,  dessen  tusch  die  dame  bewillkommnet. 

Aber  damit  hab  ich  schon  ausgesprochen,  was  mir  der 
Schlüssel  zum  Verständnis  dieser  composition  scheint,  wie  Wolfram 
seineu  'abschied  vom  tagelied'  (Lachmann  5,  34)  sang,  so  hat, 
glaub  ich,  Walther  bewust  die  gefährliche  gattung  umgesetzt, 
es  könnte  sogar  der  grofse  freund  auch  bei  diesem  zweiten  tage- 
lied Walther  beeinflusst  haben:  ist  es  doch  gerade  die  aufregende 
dramatische  Spannung,  die  der  epiker  an  dem  tagelied  misfällig 
empfindet: 

swer  pfliget  odr  ie  gepßac 

daz  er  bi  liebe  lac 

den  merkern  unverborgen, 

der  darf  niht  durch  den  morgen 

dannen  streben  .... 


WALTHERS  ZWEITES  TAGELIED  389 

Freilich,  ein  offen  süeze  toirtes  wip  schildert  auch  Walther 
nicht  —  die  ehelicheu  Freuden  im  stil  des  lageliedes  zu  ver- 
herlichen  wäre  denn  doch  würklich  'der  gipfel  der  geschmack- 
losigkeit.'.  aher  es  war  an  eine  der  vielen  bedenklichen  Seiten 
der  gattung  gerührt. 

Das    tagelied    dient    dem    starken    erotischen    bedürfnis   der 
mittelalterlichen    sänger    zur    entladung.      in    dem    eigentlichen 
minnelied    müssen    sie   sich    streng   höfisch  halten,    je  länger  je 
mehr    den    minnelohn    zart    umschreiben    und    als  etwas  ideales 
hinstellen,    aber  die  volkstümliche  gattung,  die  diese  rücksichten 
nicht  kannte,  nirgends  kannte,   liefs  den  eigentlichen  wuusch  der 
sänger    in    dramatisch-epischer    Verhüllung    sich    ausleben,     nun 
aber  bot  eben  diese  realistische  enclave  im  minnesang,  diese  volks- 
tümliche einlage  in  die  höfische  dichtung  einen  doppelten  grund 
zum    einspruch.     erstens:    eben  dass  die  unverhüllte  Schilderung 
mit   ihrer   auFregung   und    Wildheit    von    dem  ton  des  geduldigen 
miunedienstes    so    gefährlich    abstach  :   und    dies  Fühlt  Wolframs 
unverdorbenes  Stilgefühl  heraus,     zweitens:   dass  die  eine  grofse 
fiction,  auf  der  die  minnepoesie  beruht,  die  nämlich  einer  weit  aus 
lauter  höfischen  gestalten,  mit  einemmal  durch  das  einbrechen  des 
Wächters  bedroht  wird:  und  dies  fühlte  (wie  Oswald  vWolkenstein: 
vgl.  de  Gruyter  s.  53)  Ulrich  vLichlenstein,   gerade    weil    er  mit 
dem  ganzen  minnewesen  ernst  machen  wollte,     er  war  im  gründe 
doch    ein    rationalist,    und   weil  er  die  von  Reinmar  geschilderte 
romanweit  nicht  sah,  suchte  er  sie  realistisch  herzustellen,    dabei 
muste    er   sich    denn   auch  die  inscenierung  des  tageliedes  über- 
legen und  sich  fragen,  ob  würklich  das  alles  so  zugehn  köune? 
aber    auch    diese    frage    muste    schon    früher    aufgetaucht    sein. 
Steinmar    freilich   kann  in  Österreich  in  diese  discussion  hinein- 
gezogen   sein,    an    der    er    theoretisch    teilnimmt,    um  sie  dann 
praktisch   durch  die  naturalistische  parodie  des  tageliedes  zu  be- 
enden,    und  Konrad  von  Würzburg   theoretisiert  über  das  tage- 
lied (vgl.  Bartsch  s.  283)  als  rechter  epigone.     aber  bewegt  sich 
nicht  der  ganze  'gegensang'  (Uhland  v  244  f)  in    ähnlicher   rich- 
tung?     ist    nicht    vor  allem  eben  W.  39,  11  ein  zarter  vorklang 
jener  dörperlichen  tagelieder  der  Schweizer  naturalisten? 
Dies  mein  ich  allerdings. 

Mit  vollstem  recht  hat  Burdach  seiner  glänzenden  Charakte- 
ristik Walthers  (ADB  41,  83)  den  satz  vorangestellt  :  'Wallher  ge- 


390  R.M.MEYER 

winnt  allmählich  der  sinnlichen  weit  in  der  lyrik  einen  räum, 
wie  es  bis  dahin  im  minnesaug  nicht  erhört  war',  auf  ihn  kann 
man  würklich  Theophile  Gautiers  defiuition  des  dichters  anwenden: 
für  ihn  'existiert  die  sichtbare  weit'  —  die  zb.  für  seinen  lehrer 
Reinmar  kaum  vorhanden  ist.  so  ringt  er  sich  mehr  und  mehr 
dazu  durch,  die  poesie  mit  gröfserem  gehalt  zu  erfüllen,  nicht 
er  allein  —  die  gleiche  tendenz  zeigen  schon  vor  ihm  die  Thü- 
ringer, fast  gleichzeitig  mit  ihm  andere  Österreicher,  und  das 
tagelied  verbürgt  sie  für  die  ganze  ausdehnung  des  minnesangs; 
er  aber  mit  der  grösten  genialität  —  und  wol  auch  dem  klarsten 
bevvustsein. 

Hier  muste  er  sich  mit  der  poesie  des  volkes  berühren,  der 
eben  auch  das  tagelied,  auch  Hamle  und  Lichlenstein  ihre  gröfsere 
anschaulichkeit  entnehmen,  er  muste  auch  dem  offkieüen  Ver- 
treter der  volkspoesie  innerhalb  der  miunedichtung  begegnen : 
eben  dem  tagelied.  er  konnte  es  versuchen,  Wolfram  die  kraft 
der  sinnlichen  Schilderung  abzulernen,  aber  die  leidenschaft, 
die  dieser  in  erotischen  Schilderungen  miterlebte,  fühlt  Walther 
nur  wo  sein  politisches  interesse  erregt  wird,  das  lied  88,  9 
blieb  eine  geistreiche  copie.  um  seinem  liederschatz  jene  gattung 
einzuverleiben,  muste  Walther  sie  ganz  eigenartig,  ganz  persön- 
lich anfassen,  wol  hebt  Burdach  an  jener  stelle  mit  recht  das 
dramatische  in  seinen  dichtungen  hervor,  und  unser  lied  selbst 
zeugt  für  diese  begabung  und  neiguug  Walthers,  wie  sorgfältig 
ist  die  scene  vorbereitet,  das  auftreteu  der  hauptpersonen  ein- 
geleitet, die  Steigerung  durchgeführt!  aber  dramatische  Spannung 
von  der  hefligkeit  Wolframischer  tagelieder  ist  da  nicht,  wie 
auch  nicht  88,  9  —  wo  im  gegenteil  Walthers  vergebliche  an- 
streugung  eher  zu  einer  gewissen  lahmheit  führt,  vielmehr  be- 
sitzt 39,  11  gerade  wie  etwa  74,  20  oder  auch  54,  17  dasjenige 
mafs  unmittelbarer  vergegenwärtigung,  das  sich  mit  lyrisch- 
epischem Vortrag  noch  verträgt.  Nemt  frowe  disen  kränz  ist  in 
der  ganzen  anläge  zu  vergleichen:  lyrisch-epischer  bericht  des 
liebenden,  leise  Steigerung  der  handlung,  das  liebliche  bild  der 
errötenden  Schönheit  als  höhepunct  (man  denke  nur  an  GKellers 
'j'imgedicht'  und  seine  vorläge  bei  Logau!),  und  die  betonuug 
der  tougen  minne  als  abschluss. 

Diese  richtung  nun  auf  die  lyrisch-epische  milderung  des 
allzu    grellen    tageliedes    gehört    ja    wider    nicht  Walther   allein  1 


WALTHERS  ZWEITES  TAGELIED  391 

Lichtenstein  lässt  (Lachmann  s.  447;  ur  xxxvi)  ein  wolframisie- 
rendes  situationshild  episch  ausklingeu;  könig  Wenzel  bringt 
novellistische  neuerungen:  die  trau  geht  zum  fenster  und  besticht 
den  Wächter  aufs  neue;  ein  anonymus  (Bartsch  s.  273;  Lieder- 
dichter 98,  305)  dehnt  diese  epischen  zutaten:  die  frau  bringt 
dem  ritler  die  kleider.  endlich  gipfelt  diese  episierung  des  tage- 
liedes  in  der  ballade  Günthers  vdVorste  (ABD  40,  311,  vgl.  Roethe 
Anz.  xvi  78  und  Reinmar  von  Zvveter  anm.  165),  wo  die  volkslied- 
mäfsige  Sentimentalität  und  die  mehr  als  epische  breite  (23  Stro- 
phen 1  eine  INibelungen-aventiure  lang!)  den  dramatischen  kern 
völlig  aufgezehrt  haben. 

So  hat  also  bei  Günther  vdVorste,  und  vielleicht  auch  schon 
bei  Lichtenstein  die  epische  tendenz  sich  am  Volkslied  genährt 
und  gestärkt,  diesen  riickhalt  müssen  wir  auch  bei  Walther 
suchen,  war  doch  all  den  dichtem,  die  aus  der  leere  des  'reinen' 
miunesangs  nach  greifbarem  Inhalt  strebten,  ein  anschluss  an  die 
volkstümliche  dichtung  selbstverständlich:  Neidhart  wie  dem 
dichterkreis  des  prinzen  Heinrich,  den  späteren  Österreichern, 
den  letzten  Schweizern;  hat  doch  gerade  für  Walther  Burdach 
schon  in  seinem  ersten  buche  diese  entwicklung,  von  Reinmar 
fort  zu   volkstümlicher  poesie  hin,  aufgewiesen. 

Utider  der  linden  ist  ja  schon  längst  mit  der  volkspoesie  in 
unmittelbaren  Zusammenhang  gebracht  worden.  Marlin  (Zs.  20,  66) 
sah  in  CBur.  125a  das  unmittelbare  'freilich  unendlich  über- 
troffene'  vorbild.  dem  widersprach  Burdach  (Reinmar  und  Walther 
s.  169)  mit  der  begründeten  einschränkung:  'ist  aber  damit  nur 
gemeint,  Walther  habe  ähnliche  lieder  wie  CB  125  a,  die  denselben 
gegenständ  behaudelten,  gekannt  und  auf  sich  würken  lassen,  so 
ist  nichts  dawider  einzuwenden',  so  vergleicht  er  denn  auch 
selbst  (aao.  s.  15)  Under  der  linden  mit  MFr.  34,  3,  'wo  eine 
ähnliche  Situation  dargestellt  ist'  :  der  vogelsang  auf  der  linde  als 
präludium,  die  rosenbedachte  statte,  ebenso  habe  ich  (Zs.  29,  223) 
au  eine  französische  paslourelle  eriunert,  in  der  es  heifst: 

du  liebes  gras, 
verrate  nicht,  wer  auf  dir  safs  — 

wie  bei  Walther: 

bi  den  rösen  er  wol  mac 
merken  wd  mirz  houbet  lac. 


392  R.M.MEYER 

In  der  tat  ist  an  der  volkstümlichen  grundlage  des  liedes 
nicht  gut  zu  zweifeln,  der  dreiklang  linde  :  rose  :  nachtigall  ge- 
hört dem  Volkslied  (zb.  Uhland  nr.  15;  i  49),  linde  und  nachtigall 
wenigstens  begegnen  auch  würklich  in  episch-lyrischen  volks- 
tümlichen tageliedern.  dahin  gehört  das  gedieht,  das  Uhland 
selbst  wol  mit  anspielung  auf  Wallhers  gedieht  'Unter  der  linde* 
überschrieben  hat  (nr  116,  i  263):  linde  und  nachtigall  als  prä- 
ludium  (vgl.  auch  Bartsch  s.  297),  kurze  andeutung  von  liebes- 
genuss,  abschied,  epische  fortführung  mit  neuem  dramatischen 
dialog.  die  nachtigall  wenigstens  fehlt  auch  in  einem  andern 
tagelied  —  mit  dem  Wächter  an  der  zinneu,  der  den  hellen  tag 
anbläst  —  nicht  (ebda  nr  81;  i  176),  in  dem  (wie  bei  Walther) 
das  singende  vöglein  den  abschluss  bildet,  dagegen  ist  die 
nachtigall  für  das  höfische  tagelied  im  allgemeinen  schon  zu  be- 
stimmt (vgl.  de  Gruyter  s.  29),  während  später  neben  ihr  auch 
lerche,  drossel  und  andere  vögel  sich  melden  (ebda  s.  59). 

Aber  auch  die  ganze  tendenz,  die  wir  in  Walthers  zweitem 
tagelied  vermuteten,  ist  an  sich  volkstümlich,  gerade  im  volks- 
tümlichen tagelied  greift  das  epische  um  sich  (de  Gruyter  s.  55); 
hier  haben  wir  die  episch-lyrische  auflösung,  entweder  rein  wie 
in  dem  schon  erwähnten  volksliede  (Uhland  nr27;  i  68),  oder  mit 
epischem  einschub  (ebda  nr  73;  i  137),  wo  denn  auch  die  für 
Walthers  dichtung  so  besonders  charakteristische  erwähnung  des 
errötens  (vgl.  auch  Burdach  ADB  40,  84)  nicht  fehlt: 
Und  neckten  da  ich  bei  ir  war, 
ir  angsicht  shind  voll  röte. 

So  glaube  ich  in  39,  11  denn  auch  sonst  noch  züge  volks- 
tümlichster art  zu  treffen,  ist  der  getreue  vogel  nicht  eine 
Variation  des  'stummen  (dh.  nicht  in  menschensprache  redenden) 
zeugen',  wie  wir  ihn  widerholt  im  märchen  treffen,  zb.  als  singen- 
den knochen  (KHM  nr  28)  und  als  sprechenden  vogel  (bund, 
frosch)  in  den  'drei  sprachen'  (ebda  nr  33);  und  deutlicher  noch 
in  der  heldensage  (Fäfnismäl  31  f)? 

Und  schließlich  :  wenn  Wallher  den  refrain  im  tagelied  er- 
neuert, betont  er  nicht  auch  damit  das  volksliedmäfsige?  denn 
es  ist  ja  doch  kein  höfischer  alba-refrain  wie  bei  Morungen 
(vgl.  Bartsch  s.  265). 

Ich  glaube  :  schon  der  refrain  beweist  für  unsre  hypothese. 
fehlt    ja    auch    das    stilistische    moment    der   kurzen  verse  nicht; 


WALTHERS  ZWEITES  TAGELIED  393 

die  reime  aber  wie  io  88,  9  in  Wolframs  art  zu  verstecken, 
verbot  die  aulehnuug  an  die  einfache  art  des  Volkslieds. 

So  ist  denn  das  tageliedartige  des  gedichts  auch  schon  früher 
gefühlt  worden.  Wilmauns  (Leben  Walthers  s.  280)  bringt  wenig- 
stens 'die  kunst  in  der  behandlung  des  gegenständlichen,  zuerst 
geübt  im  tagelied'  in  die  nahe  unsres  liedes;  und  die  törichte 
herleitung  von  (Inder  der  linden  aus  dem  Hohenlied,  die  Gelbhaus 
(nach  Michael  Geschichte  d.  deutschen  Volkes  iv  269  anm.)  ver- 
sucht hat,  kann  sich  immer  noch  am  ersten  auf  'jene  tagelied- 
situation  des  Hohenliedes'  (Roethe  Anz.  xvi  89  anm.)  berufen. 

So  kam  also  durch  einen  grofsen  dichter  'der  einheimische 
kern  des  tagelieds'  (ebda  s.  92)  wider  zu  ehren,  um  die  gattung, 
die  seinem  (mit  Herder  zu  reden)  'sachenvollen'  geiste  genehm 
sein  muste,  dem  eignen  ton  anzueignen,  führt  Walther  sie  dahin 
zurück,  von  wo  sie  kam  :  in  die  volkstümliche  Schilderung  des  liebes- 
genusses,  doch  ohne  die  dramatisch  erregende  nähe  des  bestellten 
Wächters  (wenn  auch  nicht  ohue  angäbe  des  nahenden  morgens, 
wie  ihn  das  volkstümliche  mit  dem  geistlichen  tagelied  teilt: 
Bartsch  s.  277),  ohne  turmgemach  und  ohne  lüsternes  ausmalen 
der  Situation,  dafür  aber  mit  linde  und  blumen,  vogelsang  und 
refiain  (welche  beiden  dinge  Walther  glänzeud  zusammenfasst : 
die  nahtigal  39,  19  kehrt  40,  16  refrainartig  wider,  und  der 
kehrreim  klingt  wie  vogelgezwitscher).  sein  eigener  episch- 
lyrischer stil,  am  Volkslied  gebildet,  schuf  ein  ganz  neues,  ein- 
ziges werk ,  das  kaum  noch  den  alten  gattungen  anzugehören 
schien,  wie  Goethes  letzte  anacreontica  kaum  noch  so  heifsen 
dürfen. 

Aber  die  kühnheit  brachte  doppelte  gefahr.  gröbere  naturen 
konnten  nur  das  heraushören,  was  am  aulfälligsten  war  :  Hadlaub 
das  bett  auf  der  wiese,  Steiumar  (MSH  n  157,  vgl.  de  Gruyter 
s.  23)  das  lachen  statt  der  trähnen.  ferner  aber  war  auch  das 
tagelied  nun  einmal  so  stark  in  die  dramatische  rollenteilung 
aufgegangen,  dass  es  sich  kaum  noch  in  einen  lyrischen  monolog 
zurückverwandeln  liefs.  daher  jene  Schwierigkeit,  die  Scherer 
(Gesch.  d.  d.  litt.  s.  208)  zuerst  hervorhob  :  'ein  mädchen,  so 
beschaffen  wie  dieses  gedacht  ist,  wird  ein  solches  erlebnis  über- 
haupt nicht,  oder  nicht  so  erzählen.'  zwar  meint  Wilmauns 
(gr.  ausgäbe,  2  aufl.  s.  203),  Wallhers  kunst  täusche  über  die 
innere     uuwahrscheinlichkeit    hinweg,     und     'conventionell'    ist 


394       R.M.MEYER  WALTHERS  ZWEITES  TAGELIED 

schliefslich  die  grundvoraussetzuüg  jedes  lyrischen  berichts;  aber 
bezeichnend  bleibt  es  doch,  wie  auch  dieser  versuch,  aus  der 
Convention  herauszukommen,   wider  in  sie  hineinführte! 

Dieser  zwang  nähert  denn  Walthers  zweites  tagelied,  wenn  wir 
es  nun  so  nennen  dürfen,  andern  volkstümlich  gehaltenen  liedern 
des  minnesangs.  aber  seine  Originalität  kann  das  nicht  zerstören, 
das  tagelied  dient  ja  gleichsam  als  ein  mittel,  den  Spielraum  freier 
ausbildung  auszumessen,  der  für  gegebene  Stoffe  dem  mittelalter- 
lichen lyriker  gegönnt  war.  die  geschichte  des  tageliedes  über- 
haupt ist  für  die  mittelhochdeutsche  liüeraturgeschichte  deshalb 
so  bedeutend,  weil  hier  drei  wichtige  probleme  sich  treffen : 
die  berührung  von  höfischer  manier  und  volkstümlicher  tradition, 
von  conventionellem  uud  anschaulichem  inhalt,  endlich  von  epos 
und  lyrik.  die  letzte  frage  freilich,  wie  sich  das  Wechselverhältnis 
epischer  und  lyrischer  minnedichtung  stellt  —  wol  nicht  minder 
verwickelt  als  das  Verhältnis  der  deutschen  und  lateinischen 
Strophen  in  den  CR!  —  ist  noch  gar  nicht  ernstlich  angerührt 
worden;  wir  wissen  erst  das  äufserlichste,  obwol  die  lieder  der 
dichtenden  epiker,  Veldeke,  Hartmann,  Wolfram,  Rligger,  Gott- 
fried, Konrad  vWürzburg  immer  neue  rätsei  aufgeben,  an  eine 
einseitige  befruchtung  nur  der  lyrik  aus  dem  epos  glaube 
wenigstens  ich  nicht  —  schon  weil  die  mischgattuugen  wie  das 
büchlein  oder  eben  das  halb  dramatische  tagelied  vom  sang- 
baren lied  noch  stärker  als  vom  vorzulesenden  roman  beein- 
flusst  sind. 

Ist  so  das  tagelied  überhaupt  in  gewissem  sinn,  nicht  seiner 
äufseren  sondern  seiner  inneren  bedeutungen  wegen,  die  cen- 
trale gattung  des  minnesangs,  so  kommt  in  Walthers  beiden 
gedienten  88,  9  und  39,  11  —  denn  so  müssen  wir  sie  wol 
ordnen  —  noch  das  moment  seiner  persönlichen  genialität  hinzu, 
fast  wie  in  Wolframs  tageliedern  spielt  sich  ein  dramatischer 
kämpf  ab:  das  ringen  mit  der  ihm  eigentlich  fremden  form,  die 
Überwältigung,  das  eiutaucheu  in  den  eigenen  stil  —  und  die 
Verabschiedung,  etwa  wie  Goethe  mit  der  form  des  versepos 
gerungen  hat.  und  auch  Walther  liefs  den  geist,  mit  dem  er 
gerungen  hat,  nicht  eh  er  ihn  gesegnet  hatte. 

Rerlin,  5.  1.  07,  RICHARD  M.  MEYER. 


ZWEI  UNGEDRÜCKTE  DEUTSCHE 
MYSTIKER-REDEN. 

Da  ein  werk,  das  auch  nur  die  wichtigsten  predigten  und 
Schriften  der  sogenannten  'deutschen  mystiker'  umfasste,  bei  dem 
stand  der  dinge  wol  noch  in  weiter  feine  ligt,  ist  es  nötig  und 
•nur  nützlich,  wenn  wichtigere  unbekannte  mystikerstücke,  wo 
sie  auftauchen,  provisorisch  bekannt  gemacht  werden,  damit  die 
forschung  auf  sie  aufmerksam  werde. 

Die  beiden  reden,  die  ich  hier  folgen  lasse,  sind  m.  w.  un- 
gedruckt und  so  gut  wie  unbekannt,  es  sind  die  —  wie  mir 
scheint  —  wichtigsten  (unbekannten)  stücke  aus  der  handschrift 
nr  972  a  in  4°  der  Stiftsbibliothek  zu  S G allen1 ,  deren  benutzung 
mir  die  Verwaltung  der  bibliothek  in  freundlichster  weise  verstattete. 

Ich  gebe  die  texte  getreu  nach  der  handschrift.  nur  die  üb- 
lichen abkürzungen  der  handschrift  löse  ich  auf.  auch  alle  zeichen, 
als  puncte,  kommata,  gedankenstriche,  klammern,  auslassungszeichen 
—  sowie  die  einteilung  nach  abschnitten  —  stammen  natürlich  von 
mir.  einziger  anhält  für  die  Zeichensetzung  in  der  handschrift 
sind  grofse  buchstaben,  die  meist  den  beginn  eines  neuen  satzes 
anzeigen;  wo  sie  (wie  Öfter)  unmotiviert  erscheinen,  tilge  ich  sie. 
einige  besserungen  und  erläuterungen  geb  ich  unter  dem  text; 
nicht  für  alle  verderbten  stellen  hab  ich  rat  gewust. 

i 
(cod.  972  a  p.  260—276.) 

Es  ist  ain,  got  bekennen  vnd  von  got  bekant  ze  sinde,  got 
sehen  vnd  von  got  gesehen  ze  sind.  An  dem  erkennent  wir  got 
vnd  sehen  in,  das  er  vns  sich  machet  bekennend  vnd  sehend. 
Als  der  luft  erliichtet,  ist  nüt  anders  ist  vvan  daz  er  erlüchtet2; 
da  von  erlüchtet  er,  vvan  er  erlüchtet  ist.  Alsus  bekeunent  wir,  5 
daz  wir  bekant  sind,  vnd  er  vns  sich  machet  bekennend.  Da 
von  sprach  Christus  :  'ander  werb  ir  sehend  mich  (daz  ist  in 
dem  daz  ich  (ich  mach  sehend  vnd  bekennend  dar  nach  volgend), 
vnd  üwer  hertz  sol  werden  erfröwet  (daz  ist  in  der  gesicht  vnd 
in  der  bekantniss  mines),  vnd  üwer  fröd  nimet  niema»  von  üch3.'  10 

1  vgl.  die  kurze  beschreibung  bei  GSchercr  Verzeichnis  der  hss. 
der  Stiftsbibliothek  von  SGallen  (Halle  1875)  s.  365. 

2  lis  :  anders  wan  daz  er  eriülitet  ist.  3  citat  —  ohne  das  in  klammern 
geschlossene  —  aus  Job.  ev.  16,  v.  16  und  22. 


396  PAHNCKE 

Es  sait  Iohannes,  vvel  minn  vns  got  gegeben  hat,  daz  wir 
gotes  kind  gehaissen  werdent  vod  sin1.  So  sprich  ich  :  also 
wenig  der  mentsch  mag  sin  wis  an  witz,  also  wenig  mag  der 
mentsch  gesin  der  sun  gottes  an  daz  sünlich  wesen  des  sunes 
5  gottes.  Nuwan  er  enhab  denn  daz  selb  wesen  des  sunes  gottes, 
daz  der  sun  gottes  selber  hat,  ane  daz  mag  er  als  wenig  gesin 
der  sun  gottes,  als  wenig  er  mag  gesin  wis  an  witze.  Da  von 
sprich  ich  :  solt  du  sin  sun  gotes,  des  enmacht  du  nit  gesin,  du 
enhabist  dann  daz  selb  wesen  gottes,  daz  da  het  der  sun  gottes. 

10  'Dis  ist  vns  noch  verborgen.'  Darnach  ist  geschriben  :  'vil  lieben, 
ir  sind  gottes  sün.'  Waz  wissen  wir2,  daz  ist,  daz  er  zu  lait  vod 
ir  werdent  im  gelich,  daz  ist  daz  selb  wesen  vnd  smaken  vnd 
verstan  vnd  alles  daz  selb,  daz  denn  ist,  so  wir  in  sehen  als  er 
got   ist.     Her   umb  sprich  ich,    daz  got  nit  machen  mocht,    daz 

15  ich  war  der  sun  gottes  vnd  nit  bette  daz  selb  wesen  des  sunes 
gottes,  daz  der  sun  gottes  selber  hat;  als  wenig  er  macheu  mocht, 
daz  ich  war  wis  an  witzes  wesen.  ^>Vie  werden  wir  der  sun 
gottes?  Daz  wissen  wir  noch  nit,  es  ist  uns  noch  nit  offen. 
Wan  als  vil  wissen   wir  von  disem ,    daz  er  spricht  :  'ir  werdent 

20  im  gelich.' 

Es  sind  etlichü  ding,  die  vns  dis  verbergent  in  vnsern  seien 
vnd  vns  bedekent  dis  bekantuiss.  Du  sei  het  etwas  in  ir,  ain 
^ünkli  der  beschaidenhait,  daz  niemer  erlöschet.  In  daz  fünkeli 
setzen  wir  daz  bild  der  sei  als  in3  oberste  tail  des  genitales.    Och 

25  han  wir  ain  bekennen  in  unsren  seien  ze  ussren  dingen,  als  daz 
sinnelich  verstandeulich  bekennen,  daz  da  ist  nach  glichniss  vnd 
nach  beschaidenhait,  daz  vns  dis  verbirget.  Wie  werden  wir  der 
sun  gottes?  Daz  ist,  daz  wir  ain  wesen  habent  mit  im.  Doch 
daz    wir    etwas    verstand   von  disem,    daz  wir  sin  der  sun  gotes, 

30  daz  ist  ze  verstänne  von  dem  usserlichen  iurlich  verstenne.  Daz 
inrlich  bekennen  daz  ist  daz,  daz  sich4  vernünfteklich  sunder 
mass  ist  in  vnsere  sei  wesen  vnd  enist  doch  nüt  der  sei  wesen, 
mer  es  ist  dar  in  gewitzelt  vnd  ist  etwas  lebens  der  sele.  Wan 
wir   sagen,    das    daz    verstan    si  etwas  lebens  der  sele,    daz  ist: 

35  vernünftiges  leben.  In  disem  leben  wird  der  mentsch  geborn 
gottes    sun    vnd  zu  dem  ewigen  leben.     Dis  bekennen  ist  an  zit 

1  1  Juh.  III  v.  1  (und  2)  (==  Ihema  der  rede),  woraus  die  meisten  der 
folgenden  citate.  2  /.  wir  wissen  3  /.  in  daz  4  tilge  sich  — 

oder  ist  für  ist  s.  32  setzet  (leit)  einzustellen? 


ZWEI  MYSTIKER-REDEN  397 

vnd  an  stat,    an  hie  vnd  an  nu.     In  disem  leben  sind  ällü  ding 
ain  gemain,  vnd  ällü  ding  al,  vnd  al  in  al  al  ain  geainiget. 

Des  gib  ich  ain  gelichnuss  :  In  dem  lib  sind  alle  tail  des 
libes  geainiget  vnd  ain.  Als  des1  füss  ist  des  ogen  vnd  daz  og 
ist  des  füsses.  Möcht  der  füss  reden,  er  sprach,  daz  das  age  5 
als  aigenlich  sin  wäre  (daz  an  dem  hopt  stat),  als  ob  es  an 
dem  füss  stund.  Daz  selbe  sprach  daz  oge  hin  wider  von  dem 
lüss.  Alsus  main  ich:  alle  die  gnade,  die  Maria  het,  die  ist  des 
engeis,  vnd  ist  me  vnd  aigenlicher  sin  vnd  in  ime,  dann  ob  es2 
in  im  war.  Dir  sin  ist  noch  ze  grob  vnd  ze  liplich,  wan  er  hanget  10 
an  liplicher  glichniss.  Herumb  wil  ich  ain  ander  sin  sprechen, 
der  lutere  vnd  gaislicher  ist.  Ich  sprich,  daz  in  dem  rieh  der 
himel  al  in  al  ist  al  ain  al.  Was  Maria  het  der  gnade,  daz  ist 
in  mir,  ob  ich  da  bin.  Und  ist  me  in  mir  vnd  min  aigen  die 
gnad,  die  da  ist  in  unser  frowen,  denn  ob  si  in  mir  war.  IN i t  15 
als  usquelle  noch  als  usfliessen  von  Maria,  mer  :  in  ir  —  vnd 
min  aigen;  nüt  als  frümdes  abkomen.  Da  von  sprich  ich  :  was 
da  ainer  hat,  daz  hat  och  der  ander,  nüt  als  von  dem  andern3 
noch  als  in  dem  andren.  So  die  gnad,  die  in  aim  ist,  die  ist 
ze  mal  in  dem  andren,  als  sin  aigen  gnad  in  im  ist;  alsus  ist,  20 
daz  der  gaist  ist  in  dem  gaist.  Herumb  sprich  ich,  daz  ich  nit 
sin  enmag  der  sun  gantzes4  an  das  sünlich  wesen  gotes  sunes, 
nuwan  ich  enhab  denn  daz  selb  wesen  gotes  sunes,  daz  gotes 
sun  selber  hat.  Und  von  habung  des  selben  wesens  werden  wir 
im  gelich  vnd  ir5  sehen  in  als  er  got  ist.  25 

'Aber  daz  enist  noch  nit  offen,  waz  wir  werden'.  Herumb 
sprich  ich,  daz  in  disem  sinde  kain  gelich  ist  noch  kain  vnder- 
schaid;  wan  an  allen  vnderschaid  werden  wir  daz  selbe  wesen 
vnd  substanci  vnd  natur,  daz  er  selber  ist.  Des  enist  uns  nun 
nit  offen,  denn  wirt  es  vns  offen,  so  wir  in  sehen,  als  er  got  30 
ist.  Got  machet  vns  sich  selben  bekennen,  vnd  bekennend 
machet  er  vns  sich  seihen,  vnd  sin  wesen  ist  sin  bekantnuss; 
vnd  daz  ist  das  selb,  daz  mich  machet  bekennent,  vnd6  daz  ich 
daz  ain  bekenne.  Herumb  ist  in  dem  maister,  daz  er  1er,  vnd 
in  dem  sun,  daz  er  geleret  wirt.  W7an  dann  sin  bekennen  min  35 
ist  vnd  sin  wesen  sin  bekennen  ist  (vnd  sin  substanci  vnd 
sin  natur),  da  von  so  ist  sin  substanci  sin  natur  vnd  sin  wesen 

1  /.  der         2  /.  si  ?         3  /.  andern  4  /.  gotes  oder  gotes  ganlz  ? 

8  /.  wir  6  str.  vnd 


398  PAHNCKE 

min.  Wao  dann  sin  substanci  vud  sin  wesen  vnd  sin  natur  min  ist, 
herumb  so  bin  icb  der  suu  gottes.  'Nu  sehend',  brüder,  'weihe  minn 
uns  got  gegeben  hat,  daz  wir  gotes  kind  gehaissen  sind1  vnd  sind'. 
Wa  von  sin  wir  der  sun  gottes?  Daz  ist  da  von,  daz  wir 
5  daz  selbe  wesen  hand,  daz  der  sun  gottes  selber  hat.  Wie  mag 
dis  sin,  daz  wir  daz  selb  wesen  habend,  daz  der  sun  gottes  selber 
hat,  vnd  daz  wir  der  sun  gottes  selber  sind?  Got  ist  doch  nie- 
man  gelich  ! 

Daz  ist  war;  Ysaias  spricht:  'wem  habend  ir  in  gelichet  oder 

10  waz  bildes  gebend  ir  im'?  Sit  denn  gottes  natur  ist,  daz  er 
nieman  gelich  ist,  so  müss  daz  von  not  sin,  daz  wir  nieman 
sin,  daz  ist,  daz  wir  nibt  sin;  so  mugen  wir  gesalzt  werden  iu 
daz  selb  wesen  gottes,  daz  er  selber  ist.  Wenn  ich  dar  zu  kom, 
daz  ich  mich  gebild  in   niht,    vnd  niht  gebild  in  mich,   vnd  us- 

15  getribe  vnd  usgewirfe  alles  daz  in  mir  ist,  so  mag  ich  gesatzt 
werden  in  daz  bloss  wesen  gottes,  daz  got  selber  ist,  daz  ist  in 
daz  bloss  wesen  des  gaistes,  da  enkain  gelich  ist  nach  dem2 
vuderscheid.  Da  müss  es3  gelriben  werden  vnd  us  geworfen 
alles   gelich    vnd  alle  vnderschaid,    daz  ich  über  gesatzt  werd  in 

20  got  vnd  ain  werd  mit  im  :  ain  substauci  vnd  ain  wesen  vnd  ein 
natur,  ain  wishait  vnd  ein  fröde,  —  vnd  der  sun  gottes.  Und 
nach  dem  daz  dis  geschehen  ist,  so  enist  nit  in  got,  daz  mer4 
verborgen  si,  vnd  daz  mir  nit  offen  si,  vnd  daz  nit  min  ensi. 
Da  bin  ich  wis,  mähtig,  vnd  ällü  ding  als  er,    vnd  ain  vnd  daz 

25  selbe  mit  im.  Da  wirt  syon  ain  wares  sehen,  daz  ist  ain  sehen 
der  masse  gottes,  dem  enist  nit  verborgen  in  der  gothait;  da 
wirt  der  mentsch  in  got  geborn. 

Aber  daz  mir  nit  werd  verborgen  in  got,  es  werd  mir  offen, 
so  müss  kain  gelich  in  mir  sin  offende  noch  kain  bild;  wan  kain 

30  bild  ist  vns  offen5  dii  gothait  noch  sin  wesen.  Belibe  kain  bild 
in  dir,  du  enwirdest  niemer  ain  mit  got.  Aber  darumb,  daz  du 
ain  sigest  mit  got,  so  sol  niht  in  dir  sin,  weder  in  gebiket  noch 
us  gebiket6,  daz  ist,  daz  nüt  in  dir  si  bedeket,  daz  nit  offen 
werde  noch  nit  us  getriben  werd. 

35  Merk,  was  gebrest  si.     Der  ist  von  niht.     Darumb  was  des 

niht    es7  in    dem    mentschen   ist,    daz    müss  usgetriben  vnd  us- 

1  /.  sund  (=  sullent)    -  l.  noch  kein  ...     3  /.  us    *  /.  mir     5  /.  offende 

6  vermutlich  ist  zu  lesen  :  ingebildet   noch  usgebildet  .  .  . 

7  vielleicht  zu  bessern  :  .  .  von  iht.     Darumb  waz  des  ihtes  .  . 


ZWEI  MYSTIKER-REDEN  399 

geworfen  werden.  Wan  als  lang  der  gebrest  in  dir  ist,  so  enbist 
du  nit  der  sun  gottes.  Wiltu  wissen,  ob  din  kind  geborn  werde 
vnd  ob  es  enplösset1,  daz  ist,  ob  du  der  sun  goltes  gemachet 
siest,  daz  merk  :  als  lang  du  laid  hast  in  dinem  hertzen  umb 
din  siind2  kaiu  ding,  es  sige  noch  umb  sünd,  so  enist  din  kind  5 
nit  geborn.  Hest  du  hertzlaid,  du  enbist  nit  müter;  veliht  bistu 
in  der  geberung  vnd  nahend  der  geburt.  Darumb  zwil'el  nit, 
ob  du  laidig  bist  für  dich  oder  für  din  fründ  :  ist  es  nit  geborn, 
es  ist  doch  nahend  der  geburt.  Aber  denn  ist  es  volkomenlicb 
geborn,  so  der  mentzsch  laid  von  hertzen  nit  bevindet  vmb  kain  10 
ding,  es  si  dis  oder  das.  Denn  het  der  mentzsch  daz  wesen  vnd 
subslanci  vnd  natur,  vnd  alles  daz  got  hat.  So  wirt  daz  selb 
wesen  gottes  sunes,  daz  gotes  sun  selber  hat,  vnser  vnd  in  vns, 
vnd  koment  in  das  selb  wesen  gottes,  daz  got  selber  ist.  Cristus 
sprach  :  'wer  mir  volgeu  welle,  der  verlogen  sin  selbs  vnd  nim  15 
uf  sin  crütz  vnd  volge  mir';  daz  ist  :  ällü  herzelaid  wirf  us,  daz 
nitwan  statu  fröd  in  dinem  hertzen  si.  So  ist  daz  kind  in  dir 
geborn.  Und  wenn  daz  kind  in  dir  geborn  ist,  seheslu  du3  denn 
dinen  vatter  vnd  dine  müter  vnd  din  geschwüstergit  vnd  din 
kind  vnd  diu  fründ  liplich  vnd  gaistlich  von4  dinen  ogen  toten,  20 
darumb  werd  din  hertz  niemer  bewegt.  Werd  aber  din  herlz 
da  von  bewegt,  so  enwär  daz  kint  nit  geborn;  aber  viliht  war 
es  in  der  geberung  vnd  nahet  der  geburt. 

Ich  sprich,  daz  got  vnd  alle  engel  so  gross  fröd  hand  von 
ainem  iekliclvn  werk  aines  guten  mentschen,  daz  sich  kain  fröd  25 
der  fröd  geliehen  mücht.  Dis  sprich  ich  darumb  :  komest  du 
dar  zu,  daz  dis  kind  in  dir  geborn  wird,  so  gewinnest  du  so 
gross  fröd  von  ainem  ieklichen  guten  werk,  daz  geschult  in  dirre 
weit,  daz  din  fröd  wirt  die  aller  gröst  stätikait,  daz  si  sich  nit 
euändret.  Da  von  sprach  er  :  'vnd  üwer  fröd  nimet  nieman  30 
von  üch'5. 

Bin  ich  wol  übergesatzt  in  got,  so  ist  got  min  vnd  ällü 
sin  gothait,  vnd  ich  wird  gesatzt  in  daz  gütlich  wesen;  daz  ist, 
daz  ich  wird  gesatzt  in  das  bloss  wesen  gotes,  das  got  selber  ist, 
da  enkain  statt  laid6  hat;  wan  wir  sehen,  das  in  got  betrübde  35 
noch  beswärde,  pin  noch  laid  nit  enist.  Wie  es  doch  schine, 
daz  er  etwenn  zürne  über  den  sunder  :  es  enist  nit  zorn,  es  ist 

1  /.  enplösset  si         2  str.  din  sünd  3  str.  du         4  /.  vor 

5  ev.  Joh.  16,  22  6  /.  laid  statt 


400  PAHNCKE 

minne,  es  komet  von  grosser  gütlicher  minn.  Die  er  minoel, 
die  straffet  er,  wan  er  ist  die  minn,  die  da  ist  der  hailig  gaist. 
Hierumb  gat  der  zorn  gottes  us  der  minne,  wan  er  an  liden 
zürnet.    Körnest  dar  zu,    daz  du    in  dinem  hertzen  nit  hau  mäht 

5  betrübde  noch  beswärde,  pin  noch  laid  vmb  iht,  es  si  dis  oder 
das,  also  daz  dir  laid  nit  laid  ist,  vnd  daz  dir  ällü  ding  ain  luter 
frid  sind,  so  ist  daz  kind  in  der  warbait  geborn.  Und  alsus 
main  ich,  daz  ir  üch  flissent  nit  allein,  daz  das  kint  geborn 
werd,   mer   geboru    si,   als    in  got   ällü   zit  der  sun  geborn  ist 

10  vnd  ällü  zit  geborn  wirt. 

Daz  wir  komen  zu  diser  lutren  warheit  vnd  zu  diser  vol- 
kommehait,  also  daz  alle  gütlich  warhait  vnd  alle  volkomen  war- 
bait, du  got  ist,  an  uns  werd  volbracht,  also  daz  gottes  ere  vnd 
sin  lob  daran  si,  —  des  belf  vns  die  ie  wesend  warhait,  du   got 

15  ist.     Amen. 

ii 

(cod.  972  a.  p.  316—328.) 

'Homo  quidam  nobilis  abiit  in  regionem  longinquam  accipere 

regnum  et  redire  etc.1'    Dis  wort  ist  geschriben  in  dem  ewangelio 

vnd  spricht  in  tütsch  :  'es  waz  ain  edel  mentsch,    der  gieng  us 

in  frömde  land  von  im  selber  vnd  kam  richer  wider  hain'.    Und 

20  liset  man  in  aim  ewangelio,  daz  cbristus  sprach  :  'nieman  mag 
min  iunger  gesin,  er  volg  mir  denn  nach'2  vnd  hab  sich  selber 
gelassen  vnd  hab  im  niht  behalten;  vnd  der  hat  ällü  ding,  wan 
niht  enhaben  daz  ist  ällü  ding  haben.  Aber  mit  begerung  vnd 
mit   hertzen    sich    vnder   geworfen3  got,    vnd  sinen  willen  al  ze 

25  mal  setzen  in  gottes  willen,  vnd  enhain  gesicht  haben  uff  die 
geschaffen  hait  :  der  alsus  us  gegangen  war  sin  selbes,  der  sol  im 
selber  aigenlich  widergeben  werden. 

Güti  in  sich,  güti,  daz  stillet  die  sele  nit  :  si  loket  der  sele 
vnder,  si  bestat,  vnd  lüget4  herus.    Gäl  beraitschaft  in  alles  daz 

30  göt  ist  in  ainer  gemaiusami,  vnd  gnad  belibet  bi  der  bigerung. 
Und  geb  mir  got  dehain  ding  uswendig  sines  willen,  ich  achtete 
sin  nit;  wan  daz  minst,  daz  mir  got  in  sinem  willen  git,  daz 
machet  mich  sälig. 

1  Luc.  19,  12,  wonach  die  letzten,  ziemlich  unleserlichen  textworte 
verbessert  sind.  2  Luc.   14,  27,   frei    widergegeben,     der   redner    er- 

weitert das   citat   durch   einen  eigenen  zusatz.  3  /.  gewerfen 

4  /.  luget,  das  voranstehnde  unklar. 


ZWEI  MYSTIKER-REDEN  401 

Alle  creaturen  sint  usser  gottes  willen  geflossen,  kund  ich 
allain  gottes  güti  begeren?  Der  will  ist  als  edel,  daz  der  hailig 
gaist  sunder  mitel  dar  us  fliessend  ist.  Alles  gut  flüsset  us  der 
uberflüssigkait  der  gothait  gottes.  Ja  vnd  smakt  mir  der  will 
gottes  allain  in  der  ainikait,  da  die  gottes  rüw  der  gothait  in  5 
allen  creaturen  ist.  In  dem  si  da  rüwet  vnd  alles  daz  wesen  vnd 
leben  ie  gewan  als  in  ir  lesten  end,  da  soll  du  den  haiigen  gaist 
minnen  als  er  da  ist  in  der  ainigkait;  niht  an  im  selber,  sunder 
da  er  smelzet  mit  der  gothait  goltes  allain  in  der  ainikait,  da 
ällü  güti  us  flüsset  uss  der  überflüssikait  der  gothait  gottes.  10 
Dirre  mentsch  kumet  richer  wider  hain,  denn  er  usgegangen 
was.  Der  alsus  usgegangen  wäre  sin  selbes,  der  sölti  im  selber 
aigenlicher  widergeben  werden.  Und  ällü  ding,  als  er  sü  gar 
gelassen  hat  in  der  manigualtikait,  daz  wir1  im  alzemal  wider2 
in  der  ainualtikait,  vvan  er  sich  selber  vnd  ällü  ding  in  dem  15 
gegenwürtigen  nu  der  ainikait  vindet.  Und  der  alsus  usgegangen 
wäre,  der  kam  vil  adelicher  hain,  denn  er  usgegangen  was. 
Dirre  mentsch  lebt  nu  in  ainer  ledigen  frihait  vnd  in  ainer 
lutern  bloshait,  wan  er  enhat  sich  enkainer  ding  ze  underwinden, 
noch  an  ze  nemende  lützel  noch  vil;  wan  alles  daz  gottes  aigeu  20 
ist,  daz  ist  sin  aigen. 

Die  sine  antwurtend  got  nach  sinem  höchsten  tail :  in  siner 
grundlosen  tieffi,  in  siner  treffender3  demütikait.  Ja  der  demütig 
mentsch  bedarf  darumb  nit  bitten,  suuder  er  mag  im  wol  ge- 
halten4. Wan  die  höhi  der  gothait  kan  es  anders  nit  angesehen  25 
denn  in  der  tieffen  der  demütikait;  wan  der  demütig  mentsch 
vnd  got  sind  ain  vnd  nit  zwai.  Dirre  demütig  mentsch  ist  gottes 
also  gewaltig,  als  er  sin  selbs  gewaltig  ist;  vnd  alles  daz  gut,  daz 
in  allen  engein  vnd  iu  allen  haiigen  ist,  daz  ist  alles  sin  aigen, 
als  es  goltes  aigeu  ist.  Got  vnd  dirre  demütig  mentsch  sind  30 
alzemal  ain  vnd  nit  zwai;  wan  waz  got  würket,  daz  würket  och 
er,  vnd  waz  got  wil,  das  wil  och  er,  vnd  waz  got  ist,  daz  ist 
och  er  :  ain  leben  vnd  ain  wesen.  Ja  bi  got  :  war  dirre  mentsch 
in  der  hell,  got  müst  zu  im  in  die  hell,  vnd  die  hell  müst  im 
ain  himelrich  sin.  Er  müss  dis  von  not  tun,  er  wurdi  he-  35 
zwuugen  dar  zu,  daz  er  es  tön  müsti;  wan  da  ist  dirre  mentsch 
gotlich  wesen,  vnd  gütlich  wesen  ist  dirre  mentsch.  Wan  hie 
so    geschult    von    der    ainikait    gottes    vnd    von    dem   demütigen 

1  /.  wird     2  viell.  widergeben  ...     3  /.  der  tieffen  siner . .     4  gebieten?  R 
Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXXVII.  26 


402  PAHNCKE 

mentschen  der  kuss.  Wan  die  tugend  die  da  haisset  demütikait, 
du  ist  ain  wurtzel  in  dem  grund  der  gothait,  dar  in  si  gepflantzet 
ist,  daz  si  allain  ir  wesen  in  dem  ewigen  ain  hat  vnd  niena 
anderswa.    Ich  sprach  ze  Paris  in  der  schul,  daz  ällü  ding  sond 

5  volbracht  werden  in  dem  reht  demütigen  mentschen.  Vnd  da- 
rumb  sprich  ich,  daz  dem  reht  demütigen  mentschen  enkain 
ding  geschaden  mag  noch  geirren  mag.  Wan  es  ist  enkain 
ding,  es  flihe  daz,  daz  es  ze  niht  möhte  gemachen.  daz 
fliehen    ällü    geschaffnen    ding,    wan    sü    sind     nihtes    niht    an 

10  in  selber.  Und  darumb  so  flühet  der  demütig  mentsch  alles, 
daz  in  gottes  geierren  mag.  Darum  so  fluch  ich  den  kolen, 
wan  er  mich  ze  niht  machen  wolt,  wan  er  wolt  mir  min  wesen 
benemen. 

Aristotiles    nam    ain    buch    für   sich   vnd  wolt  sprechen  von 

15  allen  dingen.  Und  sprach  :  'ain  mentsch  gieng  us'.  Nu  merkent, 
waz  aristotiles  spricht  von  disem  mentschen.  Homo  daz  ist  als 
vil  gesprochen  als  ain  mentsch,  dem  forme  zügefüget  ist,  vnd 
git  im  wesen  vnd  leben  mit  allen  creaturen ,  mit  redlichen 
vnd   mit  unredlichen,    mit  allen  liplichen  creaturen  —  vnd  red- 

20  lieh mit   den    engein.     Und   er   sprichet   also  :  als    alle 

creaturen  mit  bilden  vnd  formen  in  den  engein  begriffen  sind 
vernünfteklichen,  vnd  die  eugel  bekennent  vernünfteklich  ain 
ieglich  ding  mit  vuderschaid  —  dar  an  der  engel  so  grossen 
lust   hat,    daz   es  ain  wunder  wäre  den  di  es  nit  befunden,  vnd 

25  netten  si1  sin  nit  gesmeket  —  :  also  verstat  der  mentsch  ver- 
nünfteklichen aller  creatur  bild  vnd  form  vnd  vuderschaid.  Dis 
gab  Aristotiles  dem  mentschen,  daz  der  meutsch  da  von  ain 
mentsch  si,  daz  er  ällü  bild  in2  form  verstat  :  darumb  si  ain 
mentsch    ain    mentsch.     Und   daz  was  die  höchst  bewisung,   dar 

30  an  Aristoteles  bewisen  moht  aiuen  mentschen. 

Nu  wil  ich  och  wiseu,  was  ain  mentsch  si.  Homo  sprichet 
als  vil  als  ain  meutsch,  dem  substanci  zugeworfen  ist,  vnd  git  im 
wesen  vnd  leben  vnd  ain  vernünftiges  wesen.  Ein  vernünftiger 
mentsch   ist,    der  sich  selber  vernünfteklichen  verstat  vud  in  im 

35  selber  ab  geschaiden  ist  von  allen  materien  vud  formen.    Ie  nie 
er  abgeschaiden  ist  von  allen  dingen  vnd  in  sich  selber  gekeret, 
ie   me   er   ällü   ding   clarlich  vnd  vernünfteklich  bekennet  in  im 
selber,  sunder  uskeren  :  —  ie  me  es  ain  mentsch  ist. 
1  slr.  si  ?         2  /.  vnd 


ZWEI  MYSTIKER-REDEN  403 

Nu  sprich  ich:  wie  mag  das  gesin,  daz  abgeschaidenhait  des 
verstentniss  sunder  form  vnd  bild  in  im  seiher  ällü  ding  verstat 
sunder  uskeren  vnd  Verwandlung  sin  selbes?  Ich  sprich,  es  kum 
von  siner  ainualtikait.  Wan  ie  luter,  ainualtiger  der  mentsch  sin 
selbes  in  im  selber  ist,  ie  ainualteklicher  er  alle  mauigualtikait  5 
in  im  selber  verstat  vnd  belibt  vnwandelber  in  im  selber.  Boecius 
sprichet  :  got  ist  ain  vnbevveglich  göt,  in  im  selber  stillstand, 
vnberüret  vnd  vnbewegl  vnd  ällü  ding  bewegend.  Ain  ainualtig 
verstantniss  ist  so  luter  in  im  selber,  daz  es  begriffet  daz  luter 
blos  gütlich  wesen  sunder  mittel.  Und  in  dem  influss  enpfahet  10 
es  göllich  natur  glich  den  engein  (dar  an  die  engel  enpfahend 
gross  fröd,  daz  mau  möcht  gesehen  am  eugel).  Darumb  möcht 
man  in  der  hell  sin  tusend  iar,  —  dis  verstantniss  ist  so  luter 
vnd  so  clar  in  im  selber,  was  man  in  disem  Hecht  sähi,  es  wurd 
ain  engel!  15 

Nu  merket  mit  flisse,  daz  Aristotiles  spricht  von  den  ab- 
geschaidnen  gaisten  in  dem  buch,  daz  da  haisset  mechaphisika. 
Der  höhst  vuder  den  maistero,  der  von  natürlichen  künsten  ie 
gesprach,  der  nennet  dis  abgeschaideu  gaist  vnd  sprichet,  das  si 
enkainer  ding  form  sien,  vnd  si  nemend  ir  wesen  sunder  mittel  20 
von  got  usfliessend;  vnd  also  Diessend  si  och  wider  in  vnd  en- 
pfahend den  usfluss  von  got  suuder  mittel,  obweodig  den  engein, 
vnd  schowent  daz  bloss  wesen  gottes  sunder  vnterschaid.  Dis 
luter  bloss  wesen  nennet  Aristoteles  ain  'was'.  Daz  ist  daz  höchst, 
daz  Aristoteles  von  natürlichen  künsten  ie  gesprach,  vnd  über  25 
das  so  enmag  kaiu  maister  höher  gesprechen,  er  sprach  dann  in 
dem  haiigen  gaist.  Nu  sprich  ich,  daz  disem  edlen  mentschen 
genüget  nit  an  dem  wesen,  daz  die  engel  begriffent  vnformlicheu 
vnd  dar  an  hangent  sunder  mittel;  im  begnüget  nit1  an  dem 
aiuigen  ain.  30 

Ich  hab  och  nie  gesprochen  von  dem  ersten  begin  vnd  von 
dem  höhsten  end.  Der  vater  ist  ain  begin  der  gothait,  wan  er 
begriffet  sich  selber  in  im  selber.  Us  dem  gat  daz  ewig  wort 
inne  belibend,  vnd  der  hailig  gaist  flüsset  von  in  beiden  inne 
belibend  vnd  gebirt  in  nit,  wan  er  ein  ende  ist  der  gothait  35 
(inne  belibend)  vnd  aller  creaturen,  da  ain  luter  rüvv  ist  vnd 
ain  rasten  alles  des,   daz  wesen  ie  gewan.     Daz  begin  ist  durch 

1  es  ist  wol  nit  wan  oder  ähnlich  zu  lesen. 

26* 


404 


PAHNCKE  ZWEI  MYSTIKER-REDEN 


des  endes  willen,    wan  in  dem  lesten  end  rüwet  alles,  daz  daz1 

vernünftig   wesen    ie  gewan 2  des  wesens  ist  daz 

vinsterniss  oder  daz  unbekantniss  der  verborgenen  gothait.  Dem 
dis  lieht  schinet3,  vnd  dis  vinsterniss  enbegraiff  daz  nit.    Darumb 

5  sprach  Moyses  :  'der  da  ist,  der  hat  mich  gesant,  der  da  sunder 
namen  ist,  der  ain  logenung  aller  namen  ist  vnd  der  nie  namen 
gewan.'  Vnd  darumb  sprach  der  prophet  :  'wärlich,  du  bist  der 
verborgen  got  in  dem  grund  der  sele,  da  gottes  gruud  vnd  der 
sele    grund  ain  grund  ist.     So  man  dich  ie  me  suchet,   so  man 

10  dich  ie  minder  vindet.'  Du  solt  in  soeben,  also  daz  du  in  niena 
vindest.  Suchest  du  in  nit,  so  vindest  du  in.  Daz  wir  also  sü- 
chent,  daz  wir  ewenklich  bi  im  belibent,  des  helf  vns  got 
amen. 

Die  beiden  reden  sind  ausführlich  und  verhällnismäfsig  gut 
überliefert,  verfassernamen  nennt  die  handschrift  nicht,  für  das 
zweite  stück  haben  wir  indes  eine  spur,  der  radner  sagt:  Ich 
sprach  ze  Paris  in  der  schul,  daz  ällü  ding  sond  volbracht 
werden  in  dem  reht  demütigen  mentschen.  und  Pfeiffer  Deutsche 
mystiker  n  306,  40 f  (in  nr  94)  heifst  es:  Dar  umbe  seile  ich  zuo 
Paris,  daz  an  dem  gerechten  mentschen  erfüllet  ist,  swaz  diu 
heilige  schrift  und  die  propheMen  ie  gesehen,  beide  male  der- 
selbe gedanke  (nur  in  ein  wenig  verschiedenem,  gewande)  mit  dem- 
selben rückverxoeis  verbunden,  diese  beiden  letzteren  stucke  haben 
also  den  gleichen  Verfasser,  so  viel  lässt  sich  mit  Sicherheit  sagen. 
Pf.  nr  94  aber  hatte  Pfeiffer  für  Eckhart  in  anspruch  genommen, 
ob  mit  recht  oder  unrecht,  muss  weitere  prüfung  ergeben.  —  auch 
ohne  rücksicht  auf  das  letzt  gesagte  halle  ich  beide  oben  abgedruckten 
stücke  für  eckharlisch,  will  aber  damit  nur  meinen  persönlichen 
eindruck  widergeben,  stichhaltige  beweise  für  meine  behauptung 
kann  ich  bei  dem  augenblicklichen  stand  der  dinge  —  ich  hoffe 
nur  bis  auf  weiteres  —  nicht  bringen,  als  reden  Eckharst  verwertet 
werden  dürfen  beide  stücke  also  vorläufig  noch  nicht. 


su  tilgen. 


1  ein  daz  ist 

2  die  hs.  hat  nach  gewan,  den  rest  der  zeile  ausfüllend,  eine  mit 
roter  linte  ausgeführte  Schlangenlinie,  ein  auslassungszeichcn?  denn 
hier  ist  etwas  alisgefallen.         3  ergänze  in  die  vinsternis  (Joh.  1,  5),  doch 


scheint  der  eingang  des  salzes  verderbt. 


Schleusingen, 


5  nov.  1906. 


MAX  PAHNCKE. 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK. 

4Das   hohelied    vom  rittertum'    nennt  Gotthold  Böllicher  den 
Parzival  Wolframs  von  Eschenbach,  denn  hier  ist  der  'ritterliche 
»eist  unter  sittlichem  gesichtspunct  aufgefasst'  und  als 'eine  sittliche 
lehensmacht   verherlicht'.     damit  hat  er   ausgesprochen,    dass  der 
ethische  gehalt  des  gedichtes  nicht  allein  in  den  religiösen  bestand- 
teilen    liege,    sondern    dass  Wolfram    aus  den   im  rittertum  selbst 
vorhandenen    kräften    das    sittliche   ideal   seines  Standes  sich  ent- 
wickeln  liefs.     aber   er  hat  sich  in   seinen  arbeiten  nur  das  ziel 
gesetzt,    eben    die    weltliche   seite    dieses  ideals,    den    unverzagten 
mannesmut,    zu    verfolgen,    von    der    mitwürkung   der   religiösen 
erziehung  hat  er  nicht  gehandelt,    und  so  neigt  die  forschung  der 
letzten  jähre  dazu,  den  weltlichen  Charakter  von  Wolframs  Parzival 
mehr  und  mehr  zu  betonen  und  über  den  geistlichen  gehalt  hinaus 
in  den    Vordergrund  zu  rücken  (vgl.   Ergebnisse   und  Fortschritte 
der  germanistischen  Wissenschaft  s.  276  f).    dagegen  konnten  selbst 
Friedrich  Vogts   und  Victor  Michels  ebenso  treffende  wie  schöne 
darstellungen    von  Parzivals  iunerm  wesen  (Neue  Jahrbücher  f.  d. 
klass.  Altert,   usw.   u    [1899],    133  —  153    bezw.  Gott.    gel.  anz. 
1897,  741)  nicht  genügend  zur  geltung  kommen,    da  aber  das  leben 
in  diesen  bunten  bildern  der  ausdruck  einer  Weltanschauung  ist,  die 
mittelalterliche    Weltanschauung    sich    aber    auf    das    Christentum 
gründet,  und    da  zudem  das  gedieht  selbst  ganz  durchzogen  ist  von 
religiöser  Stimmung,  so  muss  bei  einer  Untersuchung  über  die  leiten- 
den ideen  den  theologischen  fragen  doch  ein  viel  gröfserer  räum 
gewährt  werden,     vor  allem  sind  die  ethischen  begriffe  auf  ihren 
inhalt  hin  zu  prüfen,  immer  selbstverständlich  in  ihrem  Verhältnis 
zur   theologie.     in    feinsinniger   weise   hat    San  Marte   in    seinen 
Parzivalstudien  u  und  in  das  sittliche  leben  in  dem  gedichte  auf 
grund    der   einzelnen    erscheinungen    entwickelt,   aber  er  hat  das 
scholastische    moment    zu    wenig    berücksichtigt,     umgekehrt   hat 
Sattler  (Die   religiösen   anschauungen   Wolframs  vEschenbach)  nur 
dieses,    nicht   aber    die  ritterlich-weltliche    hedeutung  in  betracht 
gezogen.    Seeber  endlich  hat  in  seinen  Studien  über  die  leitenden 
ideen  im  Parzival  (Histor.  jahrb.  der  Görres-gesellschaft  2,  54—75 
und   178 — 200)  die   grofsen  züge  trefflich    herausgearbeitet,  aber 
auf   die   grundlagen    im    einzelnen  einzugehn   lag  nicht  in  seiner 
absieht. 

Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  27 


406  EHRISMANN 

A.     Die  eiüleitung  des  Parzival.    a)  1,  1  — 14. 
State  —  Unstcete. 

State  und  unstcete  müssen  ethische  und  zugleich  religiöse 
begriffe  sein,  da  durch  sie  die  menschheit  sich  spaltet  in  behaltene 
und  verworfene,  da  sie  leben  und  tod  der  seele  bestimmen. 

Die  umtäte  ist  nicht  nur  eine  einzelne  sündhafte  Veranlagung, 
vielmehr   die    Verdorbenheit    der    sittlichen    natur   des    menschen 
überhaupt  ('der  sittlich  haltlose',  Bötticher  Das  hohelied  vom  ritter- 
tnm  s.  15).     nicht   einmal    die    hauptsünden  sind  so  verderblich, 
da  es  gegen  sie  das  mittel  der  bufse  gibt,    am  besten  lernt  man 
das    wesen    der   stcete   und    der  unstcete  durch  Thomasin  kennen 
(vgl.    Martin    Anz.  xn  207.  Parzival  i  s.  5),  denn  die  tugendlehre 
seines    Wälschen    gasles   beruht   eben    auf   dem    gegensatz  dieser 
beiden  seelischen  beschaffenheiten  (Scherer  Gesch.  d.  d.  litt.6  222). 
nachdem    er   im   ersten    buch   die    gesellschafllichen    Vorschriften 
über   zuht   und   hüfscheit,  v.   1708,  gegeben  hat,    beginnt  er  mit 
v.   17S9  seine  moralphilosophie,  uud  zwar  mit  der  stcetekeit  :  man 
sol   an   tugent  stcete  sin,    daz  was  ie  der  rät  min    1793  f,   ich 
wil  daz  man  sin  arbeit    alrerst  an  die  statekeit    wende,  so  gewinnt 
man  baz    die  andern  tugende,  wizzet  daz  .  die  andern  higende  sint 
enwiht,    und  ist  da  bi  diu  stcete  niht  1S15 — 1820,  worauf  die  un- 
stcete  gegenübergestellt  wird  :  niemen  mac  die  stcete  hdn,    ern  well 
die  unstcetekeit  verldn  .  swer  unstcetekeit  verldt,    die  stcete  er  begriffen 
hat  .  Da   von   sol   diu   unstalekeit     von  mir  alrest  werden  geseit 
1821  — 1826;   wir  suln  alreste  mit   getcete     sin  an  guoten  dingen 
stcete   1833  f;    darauf  die    begriffsbestimmung  :  Waz  ist   unstwte! 
.  .  .  unstcete  ist  stcete  an  baesen  dingen  1837 — 39  (vgl.  Freidauk 
44,  25  f  :  Swer  stcete  an   unstcete  ist ,   da  ist  ouch  ander  valscher 
list,   s.  San  Marte,  Parzival-Studieu  u  168);  endlich  die  Charakteri- 
sierung   ihres   äufseren    treibens  :  unstcete   gar  unmüezec  ist  mit 
allen  dingen  zaller  vrist.     swaz  unstcete  hiute  tuot,  daz  dunket  si 
niht   morgen    guot.     si  zimbert  daz  vil  schiere  hat      zebrochen  ir 
unstceter  rat  1849—  54,  der  wandelung  si  nie  bedröz:     daz  we'nege 
machet  si  ze  gröz,    daz  gröze  macht  si  aver  kleine,     nu  loufet  si,  nu 
ge't  si  seine,    nu  stiget  si,  nu  vellt  si  nider,    hiut  vert  si  hin,  morgen 
wider,     nu  hin  ze  gebirg,  nu  hin  ze  mer,     hiut  ist  si  eine,  morgn 
mit   her,      nu  hin  ze  holz,   nu  in  der  stat  .  .  .   1861 — 69.     die 
ersten  sechs  bücher,  das  sind  nahezu  dreiviertel  des  Werkes,  sind 
aufgebaut  auf  dem  thema  von  der  stcete  und  der  unstcete.    mit  dem 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  407 

achten  buch.  v.  9851.  verlässt  sie  der  dichter,  indem  er  kurz  wider- 
holend die  umtoste  als  Vertreterin  der  Untugenden,  die  stcete  als 
solche  der  lugenden  aufstellt,  um  zu  ihren  Schwestern  der  unmdze 
und  der  mdze  überzugehen,  am  abschluss  der  betrachtung 
v.  12335 — 40  fasst  er  nochmals  das  über  die  stcete  und  unstcete 
und  ihre  Schwestern  gesagte  zusammen,  der  rest  des  weikes  ist 
dem  recht  und  der  milde  gewidmet. 

Rückert  hat  in  den  anmerkungen  zu  seiner  ausgäbe  (bes. 
zu  v.  1862.  1883 — 1964,  s.  auch  Gervinus  Gesch.  d.  d.  dichtung 
ii5  20  f)  die  wichtigsten  quellen  für  diese  Sittenlehre  angegeben: 
es  sind  Horaz  Ep.  i  1  und  Senecas  Episteln,  bes.  i  2.  Senecas 
moralphilosophie  gipfelt  in  dem  satze  iSapientis  est  semper  idem 
velle  atque  idem  nolle'  (vgl.  Erdmann  Grundriss  d.  gesch.  d.  philos.3 
t  174);  die  Weisheit,  das  ist  die  tugend,  wird  in  die  beständigkeit 
gesetzt. 

Dieselbe  lehre  treffen  wir  bei  dem  andern  classisch  morali- 
sierenden didaktiker  des  deutschen  mittelalters,  bei  Wernher 
von  Elmendorf  Zs.  4,  306,  815 — 845,  bes.  u.a.  Manie  is  dez 
gewone,  Kumit  er  di  vnstetikeit  ane,  Daz  er  also  vaste  daran  steit, 
Daz  iz  mac  heizen  sin  stetikeit  837 — 840  (zu  Wernh.  v.  Elmend, 
s.  HVSauerland  Zs.  30,  1—58,  bes.  s.  22  u.  44  f,  Schönbach 
Zs.  34,  55 — 75,  bes.  s.  66  f).  was  Thomasin  zu  einem  pragma- 
tischen System  ausgebildet  hat,  gibt  er  in  aphorismen.  diese 
sind,  wie  Schönbach  nachgewiesen  hat,  der  Moralis  philosophia 
des  Wilhelm  vConches  (oder  Hildebert  vLe  Maus?)  entnommen, 
hier  kommt  die  stoische  Weisheit  stärker  zur  geltung  als  bei  dem 
laienhaften  Thomasin.  die  constantia  ist  der  inbegriff  der  leiden- 
schaftslosigkeit  und  der  innern  freiheit :  Constantiae  vero  est 
officium  in  utraque  fortuna  gravitatem  teuere  .  'Praeclara  enim 
in  omni  vita  eadem  frons  et  idem  vultus;  nam  argumentum  bene 
compositae  mentis  est  posse  consistere  et  secum  morari';  und 
weiterhin  dieselbe  bestimmuDg  wie  bei  Thomasin  und  Wernher 
vElmendorf :  Haec  quidem  lex  est  constantiae,  ut  nee  in  malis 
constantes  nee  in  bonis  vagi  simus  .  Est  enim  in  malis  constantia, 
quae  non  est  virtus  .  .  .  Huic  virtuti  contraponitur  inconstantia, 
quae  est  molus  animi  circa  varias  oecupationes  .  In  quo  vitio  adeo 
sine  intermissione  laborant  quidam,  ut  dicatur  eorum  constantia 
esse  instabilis  (Migne  171,  1033).  und  so  stellt  auch  Abälard  an 
den  eingang  seiner  ermahnungen  an  seinen  söhn  Aslralabius  den 

27* 


408  EHRISMANN 

satz  von  der  stcßte  und  unstmte  -.  Jnstabüis  lunae  slultus  mutatur 
ad  instar,  Stent  sol  sapiens  permanet  ipse  sibi,  Nunc  huc  nunc 
illuc  stulti  mens  caeca  vagatur,  Provida  mens  stabilem  figit  ubique 
gradum  (Migne   178,  1759). 

Die  ethischen  begriffe  der  stCBte  und  unsteete  sind  meta- 
physisch gewendet  Piatos  gegensätze  der  ovola  und  der  ysveaig, 
der  weit  des  seins  und  des  Werdens,  das  reich  der  bleibenden 
einheit  und  das  reich  des  ewigen  entstehens  und  Vergehens,  in 
die  scholastische  philosophie  ist  diese  Tavrönjg  und  ir£QÖrrjg 
des  Timäus,  des  einzigen  im  mittelalter  bekannten  Werkes  von  Plato, 
in  den  ersten  Jahrzehnten  des  13  jh.s  eingeführt  worden,  sie 
behandelt  Adelard  von  Bath  in  seinem  traetat  De  eodem  et 
diverso,  Von  dem  einen  vnd  dem  wandelbaren  (HWillner  Des 
Adelard  von  Bath  De  eodem  et  diverso,  Beitr.  z.  gesch,  d.  philos. 
d.  ma.  bd  iv  h.  1  bes.  s.  39).  im  gründe  ist  der  streit  zwischen 
der  philosophie  und  der  philokosmie  (der  liebe  zum  sinnlichen 
dasein),  der  den  inhalt  dieser  schrill  bilde!,  nichts  anderes  als 
der  christliche  dualismus  in  platonischer  denkform,  der  gegen- 
satz  zwischen  der  steete  und  der  unsteete  bei  Thomasin  und  den 
andern  classicierenden  didaktikern  entspricht  also  demjenigen  des 
immutabilis  Deus  und  der  vanitas  mundi.  Gott  ist  statte,  die  weit 
aber  unsteete,  das  ist  das  geselz  der  christlichen  Weltanschauung, 
des  extremen  christlichen  idealismus,  der  weltverneinung,  des 
contemptus  mundi;  oder,  um  aus  den  zahllosen  äufserungen 
des  mittelalters  nur  einen  beleg  auszuheben,  eines  älteren  zeit- 
geuossen  Wolframs,  des  Alanus  de  Insulis  :  Deus,  summus  artifex 
omnium  verum  et  efficiens  causa,  ipse  immutabilis  est,  non  tarnen 
res  ab  eo  creatae  immutabiles  sunt  (Contra  Waldenses  et  Albigenses 
cap.  v). 

Die  unsteete  also  ist,  als  tätigkeit  des  willens  aufgefasst,  die 
ewig  wechselnde  begierde  und  trifft  demnach  zusammen  mit  der 
begierlichkeit,  der  coneupiscentia  (inordinata)  oder  dem  appetitus 
{inordinatus),  der  antiken  vitiosa  libido  (Horaz  Ep.  i,  85).  Als 
belegstelle  für  das  12  jh.  möge  angeführt  sein  die  betrachtung 
Bichards  von  SVictor  über  die  unruhe  der  menschlichen  affecte 
in  seinem  traetat  De  statu  interioris  hominis  cap.  vm — x  (Migne 
196,  1221  ff)  :  Sicut  enim  a  pedibns  corpus  ciretimfertur,  sie  a 
carnali  desiderio  animus  exagitatur  atque  circumducitur.  Dum 
enim  animus  carnali  desiderio  illeclus  et  abstractus,  nunc  affectum 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  409 

suum,  nunc  appetitum  sequüur,  nunquam  quietus,  nusquam  tran- 
quillus  esse  permütilur.  Quandiu  mim  vivit  vagus  et  profugus 
super  terram,  quolidie  currit  post  concupiscentias  suas,  repletusque 
multis  miseriis  nunquam  in  eodem  statu  permanet,  dum  semper 
nititur  vel  apprehendere  quod  concupiscit  vel  effugere  quod  odil. 
cap.  ix  :  Quis,  quaeso,  digne  exponere  possit,  quot  modis  se  aff'ectus 
humanus  variare  comuevit'1  Multis  modis  se  variat,  ...  de  uno 
semper  in  aliud  tendens  et  unum  post  alind  fastidiens  et  ad  ide 
quod  prius  despexerat,  majori  saepe  aviditate  revertens.  .  .  .  Nunc 
hoc,  nunc  illud  amat ;  nunc  hoc,  nunc  istud  desiderat;  et  quae 
prius  amaverat,  iterum  despicit,  et  diu  multumque  desiderata 
Herum  fastidit  usw.  cap.  x  :  Sic  sane  et  appetitus  carnis  semper 
in  motu  semper  in  transitu  est,  et  nunquam  in  eodem  statu  perma- 
nere  potest.  Accedit  et  recedit,  crescit  atque  decrescit,  et  sie  semper 
recedit  atque  decrescit  ut  Herum  redeat  et  crescat;  et  sie  semper 
redit  et   crescit  ut   iterum   recedat   et  decrescat. 

In  den  selbstbetrachlungen  und  selbstanklagen  der  askese 
besonders  muste  die  unstätbeit  als  ein  defect  der  inneren 
beschaflenbeit  erkannt  werden,  wenn  der  christ  einkehr  bei  sieb 
selbst  hielt,  dann  wurde  er  mit  schaudern  die  Verworrenheit 
seines  herzens  gewahr,  darum  verweilt  auch  der  Verfasser  des 
Tractatus  de  interiori  domo  (anieitungen  zur  prüfungdes  gewissens, 
Bernhard  vClairvaux  zugeschrieben  und  unter  dessen  werke  auf- 
genommen) vornehmlich  bei  der  mobilitas  oder  instabilitas  cordis 
und  bei  den  vagae  cogitaliones,  den  schweifenden  gedanken: 
cap.  xxix  Cor  meum,  cor  pravum,  vanum  et  vagum,  omni  vohi- 
bilitate  vohibilius,  de  uno  in  aliud  vago  incessu  transit,  quaerens 
requiem  nbi  non  est  .  . .  mens  mea  valde  levis  multumque  instabilis, 
vaga  et  profuga,  nbique  se  variat,  undique  ßuetuat  :  quis  vult  et 
non  vult  pigra  :  consilia  mutat,  voluntates  aeternat  .  .  .  Inde  est 
quod  cogitationes  meae  vanae  et  importunae  me  trahunt  et  dueunt 
modo  ad  forum,  modo  ad  liligia  altercantium  usw ;  cap.  xm  :  Cor 
quod  omni  mobili  mobilius  est  .  .  .  mutabilitate  enim  naturali  in- 
stabile vel  in  puncto  fixum  recusat  consistere  .  .  .  ;  ähnlich  in  den 
ebenfalls  unter  SBernhards  werke  aufgenomenen  Meditationes 
piissimae  de  cognitione  humauae  conditionis  cap.  ix  ff. 

Das  christliche  moralsystem  kennt  sieben  haupltugenden, 
das  sind  die  von  Plato  aufgestellten  sogenannten  vier  cardinal- 
tugenden  der  prudentia,  temperantia,  fortitudo,  justilia,  und  dazu 


410  EHRISMANN 

die  drei  göttlichen  lugenden  fides,  spes,  charitas;  und  ebenso 
sieben  hauptsünden,  die  von  Gregor  dGrofsen  eingeführt  wurden: 
superbia,  avaritia,  gula,  luxuria,  ira,  invidia,  accidia.  jene  reihe 
aber,  in  welcher  die  statte  und  die  unstiete  an  der  spitze  stehn, 
geht  unmittelbar  auf  den  stoicismus  zurück  und  bildet  also  ein 
neben  dem  kirchlichen  siebener-canon  hergehndes  system.  doch 
haben  die  beiden  psychischen  qualiläten  der  State  und  unstcete, 
wie  schon  die  citate  aus  den  SBernhard  zugeschriebenen  tractaten 
und  aus  Richard  von  SVictor  zeigen,  ebensogut  kirchliche  geltung, 
da  sie  ja  den  christlichen  dualismus  zwischen  Gott  und  weit 
ausmachen,  die  beharrlichkeit,  perseverantia,  welche  eine  sonder- 
arl  der  slcete  darstellt,  ist  aufserdem  in  der  bibel  selbst  bestätigt: 
die  hauptstellen  sind  Math.  10,  22  und  2  Timolh.  2,  1 — 5.  darum 
nimmt  sie  auch  in  der  kirchlichen  morallehre  eine  bedeutende 
stelle  ein  (vgl.  besonders  Alanus  Summa  de  arte  praedicaloria 
cap.  xvn).  und  so  sind  einzelne  formen  der  State  auch  in  das 
erweiterte  siebener-system  aufgenommen,  in  dem  jeder  tugend 
und  jeder  sünde  eine  anzahl  von  einzelformen  als  löchter  oder 
begleiterinnen  beigegeben  werden,  die  beständigkeit,  constantia, 
stabilitas,  und  die  nah  verwandle  beharrlichkeit  (perseverantia) 
sind  allgemein  unter  der  haupltugend  der  tapferkeit  untergebracht 
(s.  unten  s.  413),  so  auf  der  arbor  virlutum  Hugos  von  SVictor 
Migne  176,  1003.  1010,  in  der  Summa  iheol.  des  Thomas  vAquino 
ii  2,  quaest.  167,  bis  auf  die  neuereu  lehrbücher  der  moral- 
theologie  wie  zb.  bei  Steininger  in  345.  350  f,  Anloine  i  286 b. 
das  gegenteil  der  statte  aber,  die  unstwte,  ist  nicht  in  gleicher 
weise  entsprechend  unter  die  laster  aufgenommen  worden,  sie 
findet  sich  nicht  auf  der  arbor  vitiorum  Hugos  von  SVictor 
und  nicht  in  der  Summa  des  SThomas,  wol  aber  in  der  populären 
Sittenlehre,  und  zwar  da  unter  der  accidia,  der  trägheit,  so  im 
Renner  15927  (unslelikeil),  in  der  Tafel  des  christl.  lebens  aus 
dem  ende  d.  15  jh.s  bei  Bahlmaun  Deutschlands  katholische 
katechismen  s.  69  (Vagacio  menlis,  Unstedicheit  des  herten),  in 
der  neueren  morallehre,  zb.  bei  Steininger  in  313  (die  aus- 
schweifung  des  gemütes).  Steininger  bestimmt  das  laster  folgender- 
massen  :  'hierher  gehören  die  neugierigen,  die  nichts  zu  tun 
wissen  als  andere  beobachten  .  .  .  und  in  einer  steten  unruhe, 
unfürsichtigkeit  und  Zerstreuung  zu  leben.'  im  gründe  ist  also 
diese    unstäligkeit    soviel    wie   die    neugierde.     diese   aber,    die 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  411 

curiositas,  fällt  unter  die  begleitscliaft  der  hoffart,  superbia.  der 
Übermut  hat  Lucifer  und  das  erste  menschenpaar  zu  fall  gebracht, 
die  neugier  der  Eva  speciell  war  die  erste  Verschuldung  des 
menschen,   vgl.  SRernhard  Tract.    de    gradibus  humilitatis  cap.  \' 

Primus    itaque   snperbiae  gradus   est   curiositas quod  per 

curiositatem  a  veritate  ceciderit,  quia  prius  spectavit  curiose,  quod 
affeclavit  illicile,  speravü  praesumptuose.  Iure  igitur  in  gradibus 
superbiae  primum  curiositas  vindicat  sibi ,  quae  etiam  inventa  est 
initium  esse  omnis  peccati;  Thomas  in  seiner  Summa  theol.  lässt 
unter  der  superbia  als  der  sünde  der  ersten  menschen  auf  die 
Versuchung  die  abhandlung  über  die  curiositas  folgen  (Summa 
theol.  ii  2,  quaest.  153 — 157);  vgl.  auch  Wessobrunner  Glaube 
u.  beichte,  MSD.  xc  136  in  firuuizgerna,  in  niugerni,  =  Ramberger 
Gl.  u.  b.  MSD.  xci  136,  unter  den  Varianten  der  ubermuoti.  infolge 
der  Unsicherheit  der  begriffsbeslimmung  wird  die  unstcete  nun 
sogar  unter  die  beiden  laster  der  hoffart  und  der  trägheit,  super- 
bia und  accidia,  eingeordnet,  so  von  Hugo  von  Trimberg  im 
Renner  187811.  (virwitze  und  unstelikeit),  in  der  obengenannten 
tafel  (s.  68)  als  Novorum  invencio,  Nye  vunde;  als  novitatum 
inventio  in  der  neueren  morallehre  unter  superbia,  Antoine  i  123.  1 
Und  nun  noch  einige  beispiele  für  die  State  und  die  unstcete 
in  dem  classicierenden  sinne  Thomasins,  wonach  sie  die  grund- 
richtungen  des  sittlichen  lebens  bilden.  Rerthold  vRegensburg 
i  63,  37  ff :  die  siebente  tugend,  diu  heizet  statikeit.  Seht,  daz 
ist  diu  erste  tngent  unde  vellet  zuo  der  jungesten,  unde  dar  umbe 
müezet  ir  dise  tugende  alle  sehse  haben  ....  hdstu  sie  alle  sehse 
unde  die  sibenden  niht,  diu  da  heizet  stcetikeit,  diu  wirt  niemer 
rdt  :  du  muost  die  tugende  alle  sehse  hdn  unde  danne  die  sibenden 
dar  zuo,  daz  du  mit  disen  sehs  tilgenden  State  blibest  als  ein 
adamas;  i  402,  3  ff :  Unde  da  von  bezeichent  der  mdne  den  un- 
glouben,  wan  der  mdne  so  gar  unstcBte  ist  in  so  maniger  lüne 
(vgl.  oben  s.  408).  Er  ist  hiute  junc  und  elter  morgen;  Mute 
nimet  er  abe,  morgen  nimet  er  zuo;  nü  kleine,  nü  gröz;  nü  get 
er  höhe  an  dem  himel,  morgen  get  er  nider;  nü  hin,  nü  her,  nü 
sus,   nü  sä.      Der  Minne  Fürgedank,   Doc.  Mise,  ii,  176 f :  Er  ist 

1  Das  System  der  tilgenden  und  laster  im  späteren  mittelalter  hofle  ich 
an  anderer  stelle  eingehender  behandeln  zu  können,  [die  eben  erschienene, 
höchst  inhaltreiche  abhandlung  von  Marie  Gothein:  Die  todsünden,  Archiv 
f.  religionswissenschaft  10,  416 — 484,  konnte   ich   nicht  mehr  benützen]. 


412  EHRISMANN 

an  der  sei  genesen  Sicer  pfligl  der  stätikaü  Mit  triwen  ane 
kunlerfeit,  Es  schwebet  vil  manges  tugend  ob  Und  zimet  werdes 
mannes  lob,  Das  man  in  nenne  stäte.  Wie  gern  er  missetäte, 
Das  enlat  in  div  reht  stätikaü  ...  Er  sol  niht  künnen  wenken. 
Hin  und  her  gedenken  Einte  lieb,  morgen  lait,  Daz  zimpt  niht 
rehler  stdtikait.  Violler  4682  :  Die  stätichait  oder  vestichait  .  .  . 
das  ist  ein  starkes  vestes  gemüet ;  4844  :  Die  unstät  die  hat  nindert 
rest  und  ist  ain  widerwärtiger  prest  der  rechten  volchomen  stäti- 
chait .  .  .  wann  der  unstät  begeret  nicht  chain  stätichait  in  seiner 
pßicht.  Buch  der  Rügen,  Zs.  2,  63.  629  :  statte  ze  boesen  dingen 
(Marliü  Parz.  u  627).  in  Reinbots  HIGeorg  5765  (vKrans)  ist 
Statte  die  erste  der  kammeru  in  der  wunderburg. 

Gleich  in  der  äulseren,  stilistischen  form  der  darstellung  lässt 
sich  die  geschichte  der  unstälheit  verfolgen,  das  widerspruchs- 
volle in  ihrem  wesen  ist  schon  hei  Horaz  ausgedrückt  durch 
kurze  antilhesen  :  nunc  agilis  ßo  ...  nunc  in  Aristippi  furtim 
praecepta  relabor  Ep.  i  16 — 18,  Quod  petit  spernit,  repetit  quod 
nuper  omisit . .  .  Diruit,  aedificat,  mutat  quadrata  rotundis  9S — 100. 
in  dieser  charakteristischen  formensprache  wird  dann  in  der  folge- 
zeit  mit  Vorliebe  das  hild  des  von  der  unstcete  umgetriebenen  ent- 
worfen, so  auch  schon  an  mehreren  der  angeführten  stellen,  und, 
um  noch  zwei  stark  ausgeprägte  beispiele  anzulügen  :  in  den 
pseudoaugustinischen  Soliloquien  cap.  n  Nunc  gaudeo,  statim 
tristor,  nunc  vigeo,  tarn  infirmor,  nunc  vivo,  statim  morior,  nunc 
felix  appareo,  semper  miser,  nunc  rideo,  iam  fleo.  Sicqne  omnia 
mutabililati  subiacent,  ut  nihil  una  hora  in  uno  statu  permaneat. 
Hinc  timor,  hinc  tremor  usw.;  und  im  Reimer  v.  191011  :  mm  teil 
er  diz,  nu  wil  er  daz,  nu  kalt,  nu  warm,  nu  trucken,  nu  naz, 
nu  wiz,  nu  röt,  nu  grüene,  nu  val,  nu  kurz,  nu  lanc,  nu  breite 
nu  smal,  nu  wil  er  sldfen,  nu  wil  er  wachen,  nu  wil  er  kurzwile 
machen. 

Wenn  also  Wolfram  die  statte  als  gruodbedingung  der  Sitt- 
lichkeit auffasst,  so  folgt  er  einer  allgemeinen  moralischen  an- 
schauung  seiner  zeit,  aber  für  ihn,  den  dichter  der  treue,  ligl 
in  diesem  lehrsalz  in  der  tat  das  heiligste  seiner  sittlichen  Über- 
zeugung, er  will  ja  von  grözen  triuwen  (4,  10)  erzählen,  und 
der  begriff  der  statte  steht  dem  der  triuwe  nahe,  beide  künnen 
unter  umständen  gleichbedeutend  sein,  indem  sie  das  festhalten 
in  sittlicher  hinsieht  mit  einander  gemein    haben,     aber  in  ihrer 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  413 

ethischen  bestimmuog  sind  sie  doch  ganz  verschieden,  die  triuue 
ist  eine  sociale  tilgend,  ja  die  tugend  des  altruismus  schlechthin 
(s.  unten),  die  statte  dagegen  ist  die  dem  individuum  in  allen 
seinen  handhingen  dauernd  eigene  naturanlage;  und  während 
die  triuwe  im  Verhältnis  zum  nebenmenschen  zur  geltung  kommt, 
besteht  die  statte  in  ihrem  eigentlichen  sinne  zunächst  nur  in 
per  beziehung  des  menschen  zu  sich  selbst. 

Unverzaget  mannes  muot  —  Zwivel. 

Zu  den  beiden  sittlichen  beschaffeuheiten  stcete  und  unslcele 
stehen  die  gegensätze  unverzaget  mannes  muot  und  zwivel  in 
parallele,  stcete  und  unverzaget  mannes  muot  sind  verwante  tugenden. 
unslcele  und  zwivel  verwante  lasier,  unverzaget  ist  eine  wesentliche 
nicht  nur  eine  nebenbestimmung,  unverzaget  mannes  muot  ist  nicht 
blohs  'tapferer  männlicher  sinn'  (INolle  Der  eingang  des  Parzival 
s.  21),  sondern  'unverzagter  männlicher  sinn'  (Paul  Beitr.  2,  68f), 
'unablässig  strebender  sinn'  (Bölticher  Zs.  45,  151),  eine  Willenskraft, 
die  sich  auch  durch  die  schwersten  hindernisse  nicht  abbringen 
lässt,  nach  dem  vorgesetzten  ziele  zu  streben,  die  geschieht!* 
Parzivals  selbst  ist  ein  beispiel  für  das  unverzagtsein,  undTrevrizent 
fasst  seine  lehren  zusammen  in  die  mahnung  'belib  des  willen  unver- 
zagt' 592,  30.  durch  die  zulugung  des  begriffes  unverzaget  erhält 
der   mannes    muot    überhaupt    erst   die   starke    ethische  färbung. 

Durch  die  begriffliche  Vertiefung,  welche  in  unverzaget  ligt, 
wird  die  blofs  ritterliche,  auf  mut  und  kühnheit  beruhende  tapfer- 
keit  zu  einer  besondern  form,  zur  beharrlichkeit,  perseveranlia 
(s. oben  s.  410).  beide  unterscheiden  sich  in  dem  kirchlichen  tugend- 
system  nach  den  bestimmungen  Thomas  vAquino  Summa  theol. 
u  2,  123  folgendermafsen  :  alio  modo  fotest  aeeipi  fortitudo, 
seeundum  quod  importat  firmitatem  tantum  in  sustinendis  et  refel- 
lendis  his,  in  qmbus  maxime  difficile  est  firmitatem  habere,  scilieet 
in  aliquibus  periculis  gravibus  (Schütz  Thomas-lexikon  s.  324), 
dagegen  die  beharrlichkeit  (Summa  theol.  n  2,  137,  1)  :  per  se 
autem  ad  perseverantiam  pertinet,  ut  aliquis perseveret  usque  ad 
terminum  virtuosi  operis,  sicut  quod  miles  perseveret  usque  ad 
finem  certaminis  et  magnificus  usque  ad  consummationem  operis 
(Schütz  s.  592).  das  bestimmende  moment  der  beharrlichkeit  ist 
also  der  zweck,  das  ziel,  ist  somit  die  beharrlichkeit  im  Ver- 
hältnis   zu    der    State   die    'tapfere    beständigkeit',    das   ausharren 


414  EHRISMANN 

in  einer  einmal  unternommenen  aufgäbe,  so  ist  sie  der  tapferkeit 
gegenüber   die  'beharrliche  tapferkeit'. 

Dem  beharrlichen  streben  nach  dem  guten  aber  kann  sich 
der  zvveifel  zugesellen,  dem  lichten  glänze  nie  verzagenden 
heldenmuls  die  dunkle  ausgeburt  der  höllischen  önsternis.  wes- 
halb in  zwivel  ein  religiöser  sinn  nicht  enthalten  sein  sollte, 
ist  eigentlich  nicht  einzusehen.  Wolfram  baut  die  innere  ent- 
wicklung  seines  beiden  vom  aufang  bis  zum  schluss  auf  religiösen 
gedanken  auf,  weshalb  sollen  nun  diese  gerade  im  prolog,  der 
doch  die  Stimmung  des  ganzen  anschlagen  soll,  zurückgedrängt 
sein?  Nolte  kommt  in  seiner,  übrigens  mit  methodischem 
geschick  geschriebenen  abhandlung  über  den  eingang  des  Parzival 
zu  dem  ergebnis,  dass  zwivel  soviel  sei  wie  unstcete.  aber  der 
geselle  der  unstcete  ist  ganz  schwarz  und  fährt  unter  allen  um- 
ständen zur  hölle,  der  mit  zwivel  behaftete  ist  nicht  ganz  verloren, 
sondern  kann  noch  gerettet  werden,  die  beiden  begriffe  sind 
tben  von  grund  aus  verschieden,  die  unstcete  ist  eine  dauernde 
Charaktereigenschaft,  ein  habitus,  der  zwivel  nur  ein  gewisser 
zustand  des  bewuslseins,  sei  es  des  intellects  (zweifei  an  der 
richtigkeit  einer  Vorstellung,  mag  dieselbe  die  Vergangenheit, 
«egenwart  oder  Zukunft  betreffen)  oder  der  gemülsstimmung 
(furcht,  angst,  sorge,  Nolte  s.  8f)  oder  des  willens  (ob  man  etwas 
tun  soll  oder  nicht),  nur  in  einer  der  gruppen  INoltes  trifft 
zwivel  mit  dem  ethischen  begriff  der  unstcete  als  eines  — 
wenigstens  scheinbaren  —  charaklerfehlers  überein,  nämlich  im 
minuiglichen  sinne  (vgl.  Martin  Anz.  xu  206).  es  ist  zwivel  hier 
aber  nur  die  Unbeständigkeit  in  der  galanten  minne,  wenn  die 
dame  dem  minnedienenden  herrn  zu  seinem  verdruss  'untreu' 
wird,  dh.  einen  andern  Verehrer  erhört  (=  valsch).  darin  ligt 
noch  nicht  einmal  ein  besonders  starker  moralischer  Vorwurf,  es 
handelt  sich  da  nur  um  eine  regel  im  reiche  des  goltes  Amor 
(nostra  doclrina,  die  lehre  des  höfischen  minnewesens,  stellt  der 
caplan  Andreas  in  seinem  minnebuche  den  geboten  Goltes,  Bei 
mandatis,  gegenüber,  Trojels  ausg.  s.  255).  unstcete  wäre  für 
solche  aristokratischen  launen  ein  viel  zu  harter  ausdruck,  denn 
unstcete  in  der  liebe  ist  untreue  des  galten  oder  der  gattin,  ist 
ehebruch  und  als  solcher  eine  hauptsünde,  die  zu  der  luxuria 
gehört,  vgl.  Berthold  vRegensburg  i  106,  6.  u  182, 18  (unkiusche, 
nne),    Renner-hs.  m    einige  auf   11911    des  Bamberger   druckes 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  415 

folgende  verse,  H.  vKrolewitz  Vaterunser  1952.  den  unterschied 
macht  Wolfram  selbst  732,  1  und  733,  12  :  unstate  hei  der  ehe- 
lichen treue,  zwivel  bei    scheidbarem    Verhältnis. 

Wenn  nun  im  minnewesen  der  zwivel  das  gegenteil  von  stcete 
ist,  so  ist  er  also  doch  nicht  das  nämliche  wie  unstcete.  ebenso 
beweist  die  stelle  119,25 — 28  nicht,  dass  zwivel  =  untriuwe  ist 
(Nolte  s.  12f),  denn  die  untriuwe  des  teufeis  ist  die  schlechte 
gesinnung,  der  hass,  den  er  aus  neid  gegen  die  menschen  hat, 
weil  sie  seine  stelle  in  dem  reiche  Gottes  eingenommen  haben, 
diese  eigenschaft  des  teufeis,  der  wille  zum  bösen,  konnte  nie  mit 
zwivel  bezeichnet  werden. 

Die  theologische  bedeutung  von  zwivel  sucht  Nolte  s.  311 
auszuschalten,  aber  die  von  Vogt  aao.  s.  146  für  dieselbe 
angeführten  puucte  Parz.  464,  8  und  Willeh.  1,  23,  gegen  die  er 
sich  in  erster  linie  wendet,  befinden  sich  mitten  in  so  aus- 
gesprochen von  religiöser  Stimmung  eingegebenen  gedankenreihen, 
dass  das  wort  hier  zum  mindestens  eine  religiöse  färbung  hatte, 
denn  wenn  Parzival  über  die  geburt  Adams  im  unklaren  war,  so 
war  er  eben  über  eine  kirchliche  anschauung  im  zweifei  (Parz. 
464,  8),  und  wenn  die  taufe  durch  ihren  trost  vom  zweifei 
erlöst,  so  betrifft  der  zweifei  eine  religiöse  gewissensfrage 
{Willeh.  1,23).  an  einer  stelle  aber,  und  an  einer  vollkommen 
klaren  —  über  die  Nolte  allerdings  rasch  hinweggeht  (s.  9) —  ge- 
hraucht Wolfram  das  wort  zwivel  in  lediglich  theologischem  sinne, 
nämlich  Willeh.  332,  8 — 17  :  Peter,  des  himels  portenoys,  der 
gotes  tougen  vil  für  war  heimliche  erkante  manec  jdr,  dar  zuo  ers 
offenliche  sach :  von  zwivel  im  dristnnt  geschach  daz  er  an  got 
verzagele.  höhen  pris  es  sit  bejagete:  sin  manheit  wart  also 
wert  .  .  .  Petrus  ist  in  der  theologischen  litteratur  der  typus  des 
innerlich  sittlichen  menschen,  der  in  zweifei  gerät  und  durch 
die  gnade  Gottes  widerhergestellt  wird,  vgl.  Augustiu  Pred.  4,  2 
(Migne  38,  34),  147  (Migne  38,  797  fl),  286,  3  (Migne  38,  1298), 
297  (Migne  38,  135911),  vgl.  auch  76,8  (Migne  38,482)  und 
75,  8  (Migne  38,  477);  Abälard  Sic  et  non  cap.  96  (Migne  178, 
1482);  Werner  Deflorationes,  Migne  157,  882  .1108;  SBernhard 
pred.  in  festo  SSPetri  et  Pauli  i  und  in,  Domin.  vi  post  Pente- 
costen  in;  Berthold  vRegensburg  i  45 — 47.548;  Gailer  Granat- 
apfel, Augsburg  1510  B.  nv;  Albr.  vEyb  Sittenspiegel,  bei  Hasak 
Die  letzte  rose  s.  160.     sehr   häufig   begegnet   das   beispiel   vom 


416  EHRISMANN 

zweifelnden  und  wieder  entsilndigten  Petrus  zur  erläuterung  der 
kraft  der  beichte,  also  der  fall  durch  den  zweifei  und  die  wider- 
erhebung  durch  die  innere  erkentnis  :  gerade  dies  ist  aber  das 
Schicksal  Parzivals.  und  wenn  wir  irgend  Wolframs  dichtung  für 
ein  Selbstbekenntnis  seines  eigenen  innern  lebens  halten  dürfen, 
so  werden  wir  den  zweifei  in  dem  ersten  verse  seines  Parzival 
als  eine  religiöse  irrung  auffassen  müssen,  als  zwei  fei  au  der 
gute  und  macht  Gottes,  wie  Kläden  (vdllagens  Germ.  5,  222 — 246), 
Sau  Marie  Parz.-studien  n  175  f,  Paul  aao.,  Sattler  s.  13  f,  Vogt 
s.  146  ('verlust  des  gottvertrauens')  und  Rieger  Zs.  46,  175 — 181 
nachgewiesen  haben. 

Im  christlichen  moralsystem  ist  der  zweifel  eine  abart  der 
tristitia  oder  der  accidia  :  avfer  a  te  tristitiam,  quia  ipsa  est  soror 
dubietatis  in  dem  unter  Bernhards  vClairvaux  werken  sich  befin- 
denden tractat  De  modo  bene  vivendi  cap.  xi;  im  Renner  gehört 
er  dementsprechend  unter  das  iugesinde  der  trägheit,  accidia, 
v.  15729,  ebenso  in  der  Sünden  widerstreit  v.  1069;  trauer  ist 
die  Ursache  des  zweifeis  nach  den  beiden  von  Lachmaun  Über 
den  eingang  des  Parz.,  Kl.  Sehr,  i  486  cilierlen  stellen  aus  dem 
jungem  Titurel  (daz  trüren  dich  in  zwifel  iht  si  jagende)  und  aus 
Lassbergs  LS.  in  30;  auch  im  Trost  in  Verzweiflung  Zs.  20,  346, 
7f  ist  der  zweifel  an  die  trägheit  (in  Gottes  dienst)  angeknüpft, 
uud  die  acht  ersten  Zeilen  dieses  gedichtes  berühren  sich  dann 
wider  mit  dem  eingang  der  Oratio  pro  ecclesia  in  Keiles  Spec. 
eccl.  s.  8.  der  glaubenszweifel  ist  aber  wie  der  Unglaube  auch 
eine  sünde  gegen  die  Verehrung  Gottes  und  wird  als  solche  unter 
dem  ersten  gebot  des  dekalogs  behandelt,  über  die  Verzweif- 
lung s.  unten  s.    444. 


6 


Mit  diesen  gedanken  reiht  sich  Wolframs  Parzival  ein  in  die 
grofse  geistesbewegung  des  12  und  13  jh.s.  der  mut  zum  eigenen 
nachdenken  war  erwacht  und  machte  nicht  mehr  halt  vor  den 
geheiligten  Satzungen  der  kirche.  überall  erhoben  sich  zweifel 
gegen  die  göttliche  Offenbarung,  man  schreckte  selbst  nicht  mehr 
zurück  vor  der  läugnung  der  wichtigsten  heilslehren  (vgl.  bes. 
Reuter  Gesch.  d.  relig.  aulklärung  im  ma.  i  164 — 168  uö.). 
viele  wurden  durch  den  lauf  der  weit  oder  durch  das  eigene 
Schicksal  ins  wanken  gebracht  :  die  weit  ist  so  ungerecht,  kann 
es  einen  gerechten  Gott  geben?  ein  solcher  Zweifler,  und  einer 
der  aufrichtigen  herzens  die  Wahrheit  sucht,  ist  Parzival. 


LSBEK  WOLFHAMS  ETHIK  417 

h)  1,  15—2,  22. 

Den  folgenden  erörtern Q gen  lege  icli  zu  gründe,  was  Paul 
Beilr.  2,  69  f.  und  Bötlicher  Das  hohelied  vom  rittert.  s.  15  ff  über 
diese  verse  gesagt  haben.  Bülticher  hat  den  standpunct  klar- 
gelegt, von  dem  aus  sie  zu  betracbten  sind  :  mit  den  tumben  und 
den  wisen  meint  Wolfram  sein  publicum,  die  einen,  die  seine  lehre 
nicht  verstehn  können  oder  wollen,  die  anderen,  die  ernst  dar- 
nach tracbten,  sie  zu  verstehn. 

Wolfram  folgt,  indem  er  das  Verhältnis  zwischen  dichter 
und  publicum  zum  gegenständ  der  einleitung  nimmt  (s.  auch 
die  prologe  zu  b.  vii  [Paul  Beitr.  2,  83  fl.]  und  zu  b.  vm  :  399,  1 — 6. 
401,23 — 402,6.  404,11 — 16),  nur  einem  allgemein  üblichen 
gebrauche,  der,  wie  es  scheint,  seinen  Ursprung  in  der  volks- 
tümlichen poesie  hat  :  der  dicbter  tritt  vor  seine  zuhörer  und 
fordert  sie  auf,  anständig  zuzuhören,  das  gilt  vor  allem  für  die 
tumben.  Kaiserchron.  3 — 13  daz  [sc.  liet]  scult  ir  gezogenliche 
verneinen :  jd  mac  iuch  vil  wole  gezemen  ze  hören  älliu  frumichait. 
die  tumben  dunchet  iz  arebait,  sculn  si  iemer  iht  gelernen  od  ir 
wislnom  gemeren.  die  sint  unnuzze  unt  phlegent  niht  guoter  wizze, 
daz  si  un gerne  hörent  sagen  dannen  si  mähten  haben  wistuom 
unt  e're;  den  tumben  gegenüber  werden  die  wisen  gestellt  39  —  42: 
lugene  unde  ubermuot  ist  niemen  guot.  die  wisen  hörent  ungerne 
der  von  sagen.  Eilhart  schon  sieht  in  denen,  welche  kein 
interesse  für  sein  gedieht  zeigen,  persönliche  gegner  und  schlechte 
menschen  von  bösem  willen  :  nit  wüste  ich  gerne  ab  iman  in  desir 
wise  ummir  were  der  sulchir  rede  gerne  entbere:  des  wolde  ich  hir 
getrösten  mich,  doch  man  in  Idze,  her  touget  sich  an  bösem  willen 
schire  Tristr.  6 — 11,  bösheite  mag  men  si  geliehen  und  dar  umbe 
wol  schelten,  wan  sie  sin  billiche  engelten.  die  seibin  warne  ich  hie 
mite,  daz  sie  der  seibin  b  6 sin  setin  eine  wile  varin  lazin  18 — 23, 
her  ist  klükir  sinne  ein  kint,  swer  sulche  rede  vorstöret  die  man 
gerne  höret  und  die  nutze  ist  vernomen  und  guten  litten  wol  mag 
vromen.  ich  sage  itch,  wolt  ir  swigen  stille  ...  26  — 30.  auch 
in  der  einleitung  zum  Herzog  Ernst  ß  wird  das  verhalten  als 
unmoralisch  dargestellt  :  [sie]  velschent  die  rede  swd  sie  mugen, 
sie  stritent  vaste  dd  wider  und  druckent  die  rede  nider,  als  ez  mit 
alle  ein  lügene  si:  den  wonet  niht  guoter  tilgende  bi  16 — 20; 
ebenso  von  Ulrich  vZazikhofen  mit  dem  gegensatz  der 
höfischen  und  der  neider  :  es  ist  min  bete  und  ouch  min  rat,    daz 


418  EHRISMANN 

hübsche  Hüte  mich  vernemen,  den  lop  und  ere  wol  gezemen- 
der  hulde  ich  wil  behalten  und  wil  hie  für  der  schalten  die  boesen 
nideere:  den  fremde  got  ditz  meere,  des  ich  hie  wil  beginnen. 
Si  gdnt  doch  schiere  hinnen,  swenne  si  diz  liet  haerent  sagen;  si 
mügen  küme  vertragen  daz  eime  ritter  wol  getane ,  der  ie  nach 
statten  tilgenden  ranc  Lanz.  14 — 26.  bei  Ulrich  und  dem  Ver- 
fasser des  herzog  Ernst  ist  der  neid  der  bekrittler  nicht  so  sehr 
gegen  den  dichter  selbst  als  gegen  seinen  beiden  gerichtet,  dessen 
taten  er  preist,  mau  sieht  die  persönliche  teilnähme  des  hörers 
an  den  gestalten  der  erzählung.  er  lebt  mit  ihnen,  er  liebt  sie, 
und  dann  ist  er  im  sinne  des  dichters  gut  und  höfisch;  oder  er 
ist  von  neid  erfüllt,  dann  hat  er  einen  schlechten  Charakter,  wie 
Keii,  der  nie  jemanden  seines  neides  erliefs.  die  volkstümliche 
aufforderung  zum  schweigen  bringt  noch  Wirnt  vor  :  swer  guote 
rede  minne  und  die  gerne  heere  sagen,  der  sol  mit  zühten 
gedagen  und  merke  si  rehte  :  daz  ist  guot  Wigal.  7,  22 — 25;  er 
verwahrt  sich  dann  besonders  gegen  die  falschen  ausleger  und 
Verleumder,  gegen  die  spötter,  die  dem  Schweine  an  gemeinheit 
gleichen,  das  sich  mit  kot  besudelt,  die  niemand  etwas  gutes  lehren 
kann  4,  7 — 19.  7,  34 — 8,  23;  und  diesen  wider  stellt  er  die 
partei  der  guteu  gegenüber  :  swer  nach  eren  sinne  triuwe  und 
eren  minne,  der  volge  guoter  lere  4,  20 — 22.  wenn  er  das  lob 
der  besten  für  sich  hat,  kann  er  das  herunterreißen  der  tadler 
leicht  verschmerzen  4,  18  f.  Thomasin  macht  den  unterschied 
zwischen  dem  guolen  und  dem  unguoten,  dessen  übel  und  nit 
das  gute  immerdar  verkehrt,  WGast  v.  1 — 10;  die  unstcßten  und 
beesen  sollen  sein  buch  nicht  zu  gesicht  bekommen  v.  132 — 136. 
auch  er  setzt  sich  über  das  übelwollen  der  bösen  hinaus  :  bopser 
Hute  spot  ist  mir  unmeere.  hän  ich  Gdweins  hulde  wol,  von  reht 
min  Key  spotten  sol  .  .  .  swer  vrumer  Hute  lop  hat,  der  mac  wol 
tuon  der  boesen  rät  usw.  76 — S6.  gegen  die  feindseligen  kritiker 
(kündigeere)  wendet  sich  auch  die  einleitung  zum  Cato  (1 — 6)- 
Auf  die  höhe  eines  künstlerischen  Urteils  bat  aber  einzig 
und  allein  Golfrid  von  Slrafsburg  diese  polemik  gegen  die  tumben 
oder  valschen  oder  beesen  gestellt,  er  tut  die  gegner  nicht  einfach 
ab  als  moralisch  oder  intellectuell  minderwertige  creaturen, 
sondern  bebandelt  das  Verhältnis  zwischen  sich  und  jenen  als 
das  des  künsllers  zu  seinen  kritikern.  er  führt  die  schon  in  den 
einleitungen    volkstümlicher   dichtungen   liegenden  ansätze  durch 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  419 

zu  dem    wirklichen  begriff  einer  litterarischen   kritik  (vgl.  hierzu 
die   kritik  der  maier  MFr.  245,  13  und  Schönbach,    Wiener  SB. 
141,  30  f.).     also    nicht    lediglich    von    ethischen  gesichtspuncten 
aus  verurteilt  er  diejenigen,    welche  sein  werk  velschen    sondern 
von  dem  der  kunst  aus,  indem  er  ihnen  den  Vorwurf  ungerechter 
kritik    macht,     diese    richtung    hat    Wolfram    dem    inhalt    seiner 
vorrede    nicht    gegeben,     seine    gedanken    hätten    ihn    auch    nie 
dahin  geleitet,    er  beurteilt  die  menschen  nach  ihrem  moralischen 
werte,   das   wesen   des  daseins  überhaupt  stellt  sich  ihm  dar  als 
sittliche    weltordnung.     das    ist    ethische    auffassung   des   lebens. 
Gotfrid    dagegen    sieht    die   weit  mit   den    äugen    des    künstlers. 
ihm  schwebt  als  ziel  vor  die  feine  menschenbildung  und  der  edle 
genuss    eines    schönen    daseins.     das    ist   ästhetische   auffassung 
des    lebens.    der  gegensalz  der  beiden  sich  abstofsenden   naturen 
offenbart  sich  damit  sogleich  in  den  ersten  versen  ihrer  werke.  — 
Hartmanns   prologe   kommen  hier  nicht  in  betracht,   da  sie  nach 
andern  gesichtspuncten  gebaut  sind,    er  geht  von  den  Vorschriften 
der  lateinischen  poetik  aus  (AHeinrich,  lwein,  s.  Zs.  f.  d.  wort- 
forsch.   5,  142),    die  jene    starke,    unmittelbare    bezugnahme    auf 
das    publicum    mit    dem    schelten    der   toren   und  dem    preis    der 
einsichtigen    nicht    kennt,     auch    hierin    zeigt   sich   seine   schul- 
mäfsige   bildung,  denn  er  hatte  diese  art  den  prolog  zu  gestalten 
in  dem  cursus  der  rhetorik  gelernt. 

Von  den  späteren  dichtem  hat  noch  Rudolf  vEms  im 
Willehalm  den  mehr  volkstümlichen  ton  angeschlagen,  indem  er 
die,  welche  mit  spotlichen  siten  da  sitzen,  weg  gehn  heifst, 
statt  deren  ein  mann  eintreten  soll,  der  gnotiu  mcere  erkennen  kan 
(Juok  v.  17 — 39).  im  epilog  zum  Guten  Gerhard  schliefst  er 
sich,  nachdem  er  um  gerechte  beurteiluug  gebeten  und  die  un- 
gerechte (spoten,  spot)  gebrandmarkt  hat,  ganz  an  Gotfrids  prolog 
zum  Tristan  an,  v.  6844 — 6880.  auch  Konrad  vWürzburg 
flicht  in  die  breit  angelegte  einleitung  zum  Partonopier  den 
tadel  der  tumben  und  das  lob  derjenigen  ein,  welche  williclichen 
merken  swaz  man  singet  oder  sagt  667.  noch  in  Johanns 
vWürzburg  durch  die  einleitung  zum  Parzival  beeinflusste 
vorrede  zum  Wilhelm  von  Österreich  klingt  das  motiv  von  den 
übelgesinnten  lesern  nach;  es  sind  die  tugentlösen  mit  den 
falschen  zungen,  gegenüber  den  lugenthaften,  die  sich  gern  von 
tugend    unterhalten    (Regel    v.   15 — 123).     sonst  sind  die  beiden 


420  EHRISMANN 

typen  meist  nur  in  moralischem  sinne  aufgefasst,  uod  nicht  mehr 
als  litterarische  parteien,  die  dem  Verfasser  wolwollend  oder 
übelwollend  gegenüber  stehu.  so  in  der  Krone,  Fleckes 
Flore,  bei  vielen  wird  der  gegensalz  der  guten  und  bösen 
zuhörer  mit  dem  zwischen  der  guten  allen  und  der  bösen  neuen 
zeit  verbunden,  mit  der  klage  über  den  verfall  der  dichtkunst 
und  die  zunähme  der  Verrohung  des  publicums,  das  keinen  sinn 
für  die  kunst  mehr  hat.  so  in  Bertholds  vHolle  Krane 
und  Demantin,  in  des  Pleiers  Meleranz,  Konrads  vStoffeln 
Gauriel  und  besonders  in  dem  von  einer  hohen  auffassung  der 
dichtkunst  zeugenden  prolog  Kon  rads  zu  seinem  Trojanerkrieg, 
unmittelbare  ausschreibuugen  von  Wolframs  einleituog  sind  danu 
der  kärgliche  eingang  in  Lutwins  Adam  und  Eva  und  die  ihr 
vorbild  schmählich  entstellende  verwässerung  im  jungem  Titurel 
46—54  (vgl.  Lachmann  Kl.  sehr,  i  506—508). 

Wolframs  Charakterisierung  der  beiden  classen  seines  pub- 
licums ist  also  typisch,  wie  die  Übereinstimmung  mit  den  oben 
gegebenen  beispielen  zeigt,  die  weisen  sind  diejenigen,  welche 
aus  der  erzählung  des  dichters  nutzen  und  gute  lehre  ziehen, 
2,  5 — 16.  die  andern,  die  gegenpartei,  sind  entweder  tumbe 
Hute  1,  15 — 2,  4,  uustäte,  die  nicht  bei  der  sache  bleiben  können, 
denen  es  mühselig  dünkt  den  gedanken  des  dichters  zufolgen; 
oder  es  sind  die  valschen,  die  ungetriuwen  2,  17 — 22  (=404. 
13 — 16),  denen  in  andern  vorreden  valscheit,  bosheit,  baeser  wille 
vorgeworfen  wird,  von  den  tumben  unterscheiden  sich  die  letzteren 
dadurch,  dass  ihnen  nicht  die  Urteilskraft  mangelt,  von  den 
wisen,  indem  sie  nicht  guten,  sondern  im  gegenteil  bösen  willen 
haben  (Bötticher  s.  24).  es  sind  also  intellectuell  vollwertige, 
aber  sittlich  minderwertige  individuen. 

in  der  auffassung  dieser  drei  gruppen  tumbe,  wise,  ungetriuwe 
schliefse  ich  mich  widerum  Bötticher  an  (s.  15 — 25).  nur  über 
die  dritte,  denen  der  dichter  valsch  geselleclichen  muot  beilegt, 
möcht  ich  einen  nachtrag  versuchen,  die  genauere  bestimmung 
dieses  begriffes  hängt  von  der  bedeutung  ab,  die  man  geselleclichen 
beilegt,  geselle  kann  auch  den  standesgenossen  bezeichnen  und 
wird  speciell  von  collegen  in  der  dichtkunst  gesagt  :  alse  min 
geselle  Spervogel  sa7ic  MFr.  20,  18,  Hoerä  Wallher,  wiez  mir  stät, 
min  trutgeselle  von  der  Vogelweide  Walther  119,111'.  es  wäre 
nicht  unmöglich,  dass  Wolfram  mit  denen,  die  valsch  geselleclichen 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  421 

muot  tragen,  seine  gegner  unter  den  dichtem  treffen  wollte,  in 
erster  linie  also  Gotfrid  (Bötticher  nimmt  an,  dass  Wolfram  auch 
mit  den  tumben  seine  gegnerischen  kunstgenossen  meinte  s.  21). 
das  heispiel  eines  getreu  en  kunstgenossen  hat  Wallher  gegehen, 
der  in  seinem  nachruf  auf  Reinmar  den  rühm  seines  neben- 
huhlers  rückhaltlos  anerkannt  hat. 

Sind  nun  auch  die  Charakteristiken  der  toren,  der  weisen 
und  falschen  genossen  von  Wolfram  in  erster  linie  auf  sein 
publicum  bezogen,  so  können  sie  doch  im  weiteren  sinne  ebenso- 
gut auf  die  menschen  insgesammt  ausgedehnt  werden,  denn 
es  sind  zugleich  allgemein  gültige  moralische  typen  damit 
gezeichnet,  und  dass  1,  15 — 2,  22  zugleich  als  allgemeine  lehren 
gedacht  sind,  das  geht  aus  den  folgenden  versen  hervor  :  dise 
manger  slahte  underbint  iedoch  niht  gar  von  manne  sint  2,  23  f. 
underbint  in  stilistischem  sinne  ist  hier  so  viel  wie  abteilung, 
abschnitt,  absatz,  wie  lateinisch  distinctio,  articulus  eines  buches 
(bliese  verschiedenartigen  Sätze'  Mhd.  wb.  i  131 a).  dise  bezieht 
sich  nicht  nur  auf  die  vorhergehnden  einzelnen  artikel  in  1,  15 
bis  2,  22,  sondern  auf  alle  underbint  der  einleitung  zusammen, 
also  auch  auf  die  folgenden  artikel,  die  von  den  frauen  handeln: 
'alle  diese  verschiedenartigen  puncte,  die  ich  hier  vorbringe, 
handeln  nicht  ausschliefslich  vom  manne  :  für  die  frauen  insonder- 
heit stecke  ich  folgendes  als  ziel,  dem  sie  nachstreben  sollen', 
dadurch  dass  Wolfram  auch  die  frauen  in  das  thema  seiner  ein- 
leitung einbegreift,  zeigt  er  eben,  dass  er  es  nicht  auf  sein  persön- 
liches Verhältnis  zu  seinen  lesern  beschränken  will,  er  dehnt 
es  zu  einer  allgemeinen  Sittenlehre  aus,  in  welcher  er  wichtige 
regeln  für  männer  und  frauen  kurz  formuliert  (vgl.  Thomasin 
im  WrGast  391  ff,  Die  Mafse  Germ.  8,  100,  121ff).  damit  erhebt 
er  die  einleitung  zu  einer  kundgebung  der  sittlichen  anforderungen, 
die  er  an  die  gesellschaft  stellt,  und  das  ist  wider  ein  zug, 
wie  bei  ihm  die  gedanken  nach  einer  grofsen  lebensaoschauung 
drängen. 

B.  Parzivals  fall  und  erhebuug. 
Die  Wandlungen  in  Parzivals  innerm  leben  sind  stufenweise 
gekennzeichnet  durch  die  drei  didaktischen  haltpuncte,  das  sind 
die  lehren  der  mutter,  des  Gurnemanz  und  des  Trevrizent :  das 
kind  wird  zum  knaben  erzogen,  der  knabe  zum  Jüngling,  der 
Jüngling  zum  mann,  es  sind  die  lehrjahre  des  helden.  aus  dem 
Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXXVII.  28 


422  EHR1SMANN 

toren ,  als  der  er  von  der  mutier  schied,  bildet  der  ritterliche 
oheim  einen  hööschen  manu  von  weit,  für  den  die  werdekeit  das 
höchste  ziel  ist.  aber  statt  den  naiven  gottesglauben,  den  ihm 
die  mutter  ins  herz  pflanzte,  zu  höherer  erkenntnis  zu  entwickeln, 
bringt  er  ihm  nur  einige  äufsere  formen  des  gottesdienstes  bei, 
169,  17 — 20.  das  beste,  was  Parzival  besitzt,  ist  doch  seine 
angeborene  edle  natur  :  die  triuwe  hat  er  von  seiner  mutter 
ererbt  —  du  bist  geborn  von  triuwen  140,  1  — ,  vom  vater  den 
unablässig  strebenden  mannesmut  (bes.  317,  11 — 318,  4;  vgl. 
Seeber  aao.  2,  179  f).  aber  einmal  hat  er  die  triuwe  verletzt, 
er,  den  als  kind  der  tod  der  vöglein  zum  weinen  brachte,  der 
als  Jüngling  an  keinem  menschenelend  vorbeigieng  ohne  teilnähme 
zu  äufsern  (138,  28.  141,  25.  153,  17.  158,  27.  179,  5.  195,  13, 
246,  11.  248,  19.  249,  27  u.  ö.),  ihn  hat  höfische  erziehungskunst 
so  unsicher  gemacht,  dass  er  das  gefährlichste  tat  was  möglich  war: 
er  ist  in  dem  entscheidenden  augenblick  sich  selbst  untreu 
geworden  (Bötticher  Parzivalübersetzung  s.  xxxv).  er  hat  seine 
edle  natur  verletzt,  und  gegen  den  fluch,  der  ihn  darauf  trifft, 
kaun  keine  ritterliche  tugeud  helfen,  auch  wenn  sie  —  bis  zu 
einem  gewissen  grade  —  sittlich  verdienstvoll  ist,  nicht  kühnheit 
und  tapferkeit,  nicht  vollendete  bildung  und  feinstes  empfinden 
für  gute  sitte  (319,  4 — 11).  die  höfische  erziehung  hat  ihn  nur 
oberflächlich  gemacht,  den  kindlichen  glauben  hat  sie  ihm 
genommen  und  dafür  den  Übermut  grofsgezogen ,  der  ihn  nun 
zu  dem  äufsersten  frevel  verleitet,  zum  hass  gegen  Gott,  seine 
edle  natur,  die  triuwe  und  der  unverzaget  mannes  muot,  bewahrt 
ihn  auch  jetzt  noch  in  der  nacht  des  zweifeis  vor  dem  sittlichen 
Untergang,  zum  lichte  aber  führt  ihn  die  dritte  lehre,  die  des 
einsiedlers  :  zur  erkenntnis  Gottes. 

Das  neunte  buch. 
Das  ix  buch  besieht  aus  zwei  sich  durchschlingenden  hand- 
lungen,  der  inneren  geschichle  Parzivals  und  der  sage  vom  Gral, 
deutlich  ist  ein  bestimmter  plan  in  der  abwechslung  der  beiden 
stolfe  eingehalten,  denn  auf  je  einen  in  sich  abgeschlossenen  ge- 
dankenkreis  über  Parzival  folgt  einer  über  den  Gral,  gegliedert  ist 
das  buch,  von  der  einleitung  433,  1 — 434,  30  abgesehen,  in  drei 
scenen,  in  denen  der  Schauplatz  und  die  personen  —  aufser  Par- 
zival —  wechseln  :  i  scene  :  Sigune,  n  scene  :  die  Pilger,  m  scene: 
Trevrizent;  die  dritte  scene  zerfällt  wider  in  vier  unterteile,    auf 


ÜBER  WOLFKAMS  ETHIK  423 

scene  i  und  n  sowie  auf  teil  12  3  der  sceue  in  folgt  jeweils  eine 
episode  über  den  Gral,  demnach  ergibt  sich  folgendes  Schema: 
i  scene,  Sigune,  435,  1—443,  4,  darauf  Gral  i  443,  5—445,  30 
(kämpf  mit  dem  templeisen),  n  scene,  die  Pilger,  446,  1 — 452,  28» 
darauf  Gral  u  452,29 — 455,24.  in  scene,  Trevrizent,  1  abteil. 
455,25—486,22,  darauf  Gral  in  468,  23— 471,  29;  2  abteil., 
471,  30—476,  22,  darauf  Gral  iv  476,  23—484,  30;  3  abteil. 
485,1—489,21,  darauf  Gral  v  489,22—499,10;  4  abteil., 
schluss,  499,  11 — 502,  30,  untermischt  mit  drei  fragen  über  den 
Gral  (500,  2.  500,  24.  501,  20). 

Das  neunte  buch  bildet  den  hühepunct  in  der  entwicklung 
des  neiden  und  damit  das  geistige  centrum  des  gedichtes.  in 
den  bewegungen  des  Seelenlebens  vollzieht  sich  hier  die  handlung, 
alle  äufsern  Vorgänge  sind  diesem  zwecke  dienstbar  gemacht, 
in  der  Waldeinsamkeit  bei  stillen,  frommen  menschen  wird  das 
herz  des  von  der  bittersten  seelennot  gepeinigten  mannes  genesen, 
die  klausnerin,  die  pilger,  der  einsiedler,  sie  helfen  mit  bei  dem 
erlösungswerk,  sie  zeigen  dem  irrendeu  den  weg  zu  seinem  hohen 
ziele,  dem  Gral,  in  den  Artusromanen  treten  oft  personen  auf, 
welche  den  helden  zu  dem  bevorstehenden  abenteuer  fördern  sollen 
(ACLBrown  Ivvain,  Studies  and  uotes  in  philology  and  litterature 
vol.  8  passim),  gestalten,  die  in  der  irischen  sage  ihren  Ursprung 
haben,  bewunderungswürdig  ist,  wie  der  dichter  diese  typischen 
märcheuüguren,  die  in  den  Artusromanen  nur  als  Staffage  das 
romanhafte  der  ereignisse  auszuschmücken  habeu,  umgeformt  hat 
zu  trägem  eines  grofsen  religiösen  gedaukens.  indes  auch  sie 
sind  nicht  die  würklich  zum  heil  treibenden  kräfte,  sie  sind  nur 
diener  einer  höheren  idee,  über  ihnen  steht  als  Urheber  der 
bevveger  zu  allem  guten,  Gott  mit  seiner  gnade. 

Die  drei  scenen  bilden  eine  Steigerung,  die  mahnungen 
der  Sigune  und  noch  mehr  die  des  grauen  ritters  sind  Vor- 
bereitungen zu  dem  läuterungswerk,  das  Trevrizent  an  dem  helden 
vollbringt,  am  eingang  aber  stehn  die  worte  :  sin  wolle  got  dö 
rnochen  435,  12  :  auf  abenteuer  war  der  junge  degen  ausgeritlen, 
aber  Gott  wollte  ihn  in  seine  obhut  nehmen,  ihm  seine  gnade 
zuwenden,  die  gnade  ist  der  urquell,  aus  dem  alles  gute  ent- 
springt, das  der  meusch  hervorbringen  kann. 

Sigune. 

Da  findet  er  die  klausnerin  435,  13  (scene  i).    in  der  unter- 

28* 


424  EHRISMANN 

haltung  mit  ihr  löst  sich  die  Stimmung  aus,  welche  den  grundton 
für  die  ganze  entwicklung  des  ix  buches  bildet,  von  leiden- 
schaftlicher Sehnsucht  verzehrt  nach  seinem  verlassenen  weihe 
und  noch  mehr  nach  dem  unerreichbaren,  dem  Gral  (441,  4 — 14), 
tritt  der  friedlos  umherschweifende  der  Jungfrau  entgegen,  die 
nach  noch  schwereren  Schicksalen,  ohne  an  der  überirdischen 
gute  irre  zu  werden,  ihre  ruhe  gefunden  hat  im  gottvertrauen, 
etwas  von  dieser  beseeligenden  ruhe  dem  ruhelosen  zu  geben 
und  die  hoffnung  in  ihm  zu  stärken,  das  ist  die  aufgäbe  der 
Sigune,  und  sie  erfüllt  sie,  indem  sie  ihm  trost  zuspricht  mit 
der  hindeutung  auf  ihn,  dem  aller  kumber  ist  bekant  442,  9 — 14. 
es  ist  das  erste  mal,  dass  Parzival  zur  heilung  seiner  leiden  auf 
Gott  verwiesen  wird,  aber  der  gottentfremdete  versteht  den  wahren 
sinn  der  frommen  worte  nicht,  die  grundstimmung  der  trauer 
begleitet  Parzival  durchs  leben  von  seiner  verstofsung  an  bis  zu 
seiner  widererhebung.  der  dichter  legt  sichtlich  grofses  gewicht 
auf  diese  innere  Verfassung  seines  helden.  aufklärung  über  ihr 
wesen  und  ihren  ethischen  wert  gibt  erst  Trevrizent  468,  1  ff, 
hier  in  der  begegnung  mit  Sigunen  wird  sie  nur  als  der  seinem 
gemütsieben  eigene  seelenzustand  dargetan,  es  ist,  nach  der 
scholastischen  terminologie,  die  tristitia  und  gehört  als  solche  zu 
deu  passiones. 

Die   Pilger. 

Mit  der  zweiten  scene  schreitet  die  psychologische  ent- 
faltung  weiter  zu  dem  intellectuellen  vermögen,  der  ratio,  denn 
den  mittelpunct  in  dem  gespräche  mit  Kahenis  bildet  die  frage 
nach  dem  wesen  Gottes,  und  diese  gehört  in  das  tätigkeitsgebiet 
der  intellectiven  seele.  in  der  lösung  dieser  frage  beruht  der 
läuterungsprocess  Parzivals.  er  hat  eine  falsche  auffassung  vom 
wesen  Gottes,  dieses  ist  eine  Störung  des  rationellen  denkver- 
mögens  —  weshalb  später  Trevrizent  sagt  :  swer  iuch  gein  im  in 
hazze  siht,  der  hat  iuch  an  den  witzen  kranc  —  und  die 
läulerung  besieht  eben  darin,  dass  die  richtige  Ordnung  des  ver- 
nunftmäfsigen  denkens  widerhergestellt,  das  heifst,  dass  Gott  von 
Parzival  erkannt  wird. 

Diese  wandelung  in  Parzival  hervorzurufen  übersteigt  die  kraft 
des  wallfahrenden  ritters.  seine  aufgäbe  besteht  nur  darin,  auf  das 
unvernünftige  und  auf  die  Undankbarkeit  hinzuweisen,  die  in  seinem 
verhalten  gegen  Gott  ligt,  und  ihm  das  mittel  zu   nennen,  durch 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  425 

welches  er  aus  diesem  ungeordneten  zustand  herauskommen  kann, 
als  solches  gibt  er  ihm  an,  den  rat  Trevrizents  einzuholen:  der 
heilige  manu  wird  ihn  durch  das  heilsmittel  der  bufse  wider 
in  das  richtige  Verhältnis  zu  Gott  bringen  können,  er,  der  laie, 
hat  dazu  nicht  die  machtvollkommenheit  wie  der  dem  dienste 
Gottes  lebende  einsiedler. 

Mit  der  frage  um  gott  ist  in  ihrem  Zwiegespräch  das  religiöse 
gebiet  betreten,  und  zwar  wird  die  Verhandlung  darüber  in  form 
eines  religionsgesprächs  geführt,  den  anlass  gibt  Parzivals  gott- 
vergessene nichtachtung  des  karfreitags  (am  freitag  hat  Gott  den 
menschen  die  gröste  liebe  erzeigt),  auf  den  tadel  des  grauen 
ritters  schlägt  er  das  thema  der  disputation  an  'von  der  mangelnden 
gerechtigkeit  Gottes',  auch  diese  Situation  hat  ihren  anhält  an  dem 
würklichen  leben,  aufserordentlich  rege  war  das  interesse  der 
laien  damals  an  religiösen  dingen  und  äufserte  sich ,  besonders 
in  Frankreich,  in  einer  gewissen  disputiersucht  über  die  glaubens- 
sätze  (vgl.  Reuter  aao.  i  248).  die  methode  des  lehrstuhls  war 
auf  die  strafse  getragen,  ein  litterarisches  beispiel  eines  solchen 
bei  zufälliger  begegnung  eröffneten  religionsgespräches  bietet 
unsere  Parzivalstelle. 

Die  disputation  zwischen  den  beiden  bleibt  unentschieden. 
Parzival  reitet  fort,  den  alten  hass  gegen  Gott  im  herzen  (450,  18), 
und  beim  abschied  lautet  sein  grufs  wie  der  des  aufgeklärten 
Weltmannes  'gelücke  tu  heil  gebe,  und  fröuden  vollen  teil!'  450,  25f, 
nicht  wie  ehemals  der  des  im  kinderglauben  befangenen  toren 
'got  halde  iuch'  145,  9, — 147,  30.  aber  doch  würken  die  mah- 
nuugen  der  pilgers  in  der  seele  des  zweifelnden  weiter,  sie  finden 
eine  empfängliche  statte,  denn  in  Parzivals  Seelenleben  sind  gewisse 
dispositionen  zum  guten  vorhanden,  sittliche  anlagen,  die  ihn  vor 
völligem  versinken  bewahrt  haben,  in  dem  augenblick  da  er  sich 
von  Gott  lossagte,  wendete  er  sich  doch  inneren  idealen  zu,  zu 
denen  er  sich  in  dem  Strudel  seines  höfischen  lebens  nicht  auf- 
geschwungen hätte  :  seine  einzige  Verehrung  gilt  nun  seiner  eigenen 
frau  uud  sein  ganzes  streben  der  erringung  des  Grals,  diese  ideale 
und  die  mit  ihrer  erstrebung  verbundene  seelische  Stimmung,  das 
truren,  die  tristitia  451,  14,  die  not  eben  um  den  Gral  und  um 
sein  weib,  sind  solche  für  seine  sittliche  rettuug  günstige  be- 
dingungen,  und  aufserdem  die  451,  3 — 8  genannten  individuellen 
tugenden  :  dem  riet  sin  manlkhiu  zuht,   kiusch   unt  erbarmunge : 


426  EHRISMANN 

sit  Herzeloyd  diu  junge  in  het  uf  gerbet  triuwe.  diese  haben 
zweierlei  Ursprung  :  die  treue  ist  ererbt  von  der  treuen  mutter, 
manlichiu  zuht  ist  ihm  von  Gurnemanz  zu  teil  geworden  (188,  15 — 
19);  sie  wilrkt  in  ihm  kiusche  (hier  =honestas,  s.  unten  s.  439) 
und  barmherzigkeit,  erbarmunge  (170,  25.  171,  25).  auch  die 
höfische  erziehung  kann  bis  zu  einer  gewissen  stufe  der  Sittlich- 
keit führen,  sie  reicht  aber  nicht  aus  zur  sittlichen  Vollendung, 
der  begriff  von  angeborner  und  anerzogener  tugend  entspricht 
den  eingegossenen  und  erworbenen  tilgenden  des  Thomas  vAquino 
(virtutes  infusae  —  virtutes  acquisilae  Werner  Thomas  vAquino 
u  507). 

Auf  so  vorbereiteten  boden  fällt  das  Samenkorn,  das  mit  seiner 
lehre  der  graue  ritter  ausgestreut  hat.  statt  seinen  sinn  nur 
immer  auf  äufsere  grofstaten  zu  richten,  kehrt  Parzival  bei  sich  selbst 
ein  und  hält  umschau  in  seinem  innern.  sichhuop  sins  herzen  riuwe 
(schmerzliches  gedenken  an  sein  vergangenes  leben)  451,  8.  jetzt 
fällt  ihm  ein,  dass  Gott  sein  Schöpfer  ist,  woran  er  zwar  nie  ge- 
zweifelt, woran  er  aber  auch  nie  mehr  gedacht  hatte,  und  der 
begriff  Gottes  als  des  Schöpfers  löst  zugleich,  in  naturgemäfser 
ideeentwicklung,  den  begriff  von  Gott  als  dem  inhaber  der  macht 
aus,  und  wie  ein  hoffnungsstrahl  leuchtet  es  in  dem  verworrenen 
herzen  auf  :  der  die  macht  hat,  hat  vielleicht  auch  hülfe  für  dein 
unermessenes  leid,  damit  ist  der  Umschwung  eingeleitet  vom  trotz 
zur  selbstbescheidung,  vom  irrtum  zur  Wahrheit,  bisher  glaubte 
er  aus  eigener  kraft  sein  ziel  erreichen  zu  können,  nun  aber  ist 
er  zu  dem  bewustsein  gekommen,  dass  es  eine  höhere  macht 
über  ihm  gibt,  die  stärker  ist  als  er,  und  der  er  sich  unterordnen 
muss,  wenn  sein  sehnen  sieghaft  sein  soll,  aber  sein  sittliches 
bewustsein  ist  noch  getrübt,  denn  er  meint,  seine  werke  ritter- 
licher tapferkeit  allein  müsten  ihm  schon  ein  anrecht  verleihen, 
dass  Gott  ihm  zur  erlangung  des  höchsten  gutes  verhelfe 
451,  15 — 22.  doch  überlässt  er  sich  nun  der  führung  Gottes,  aber 
widerum  nicht  in  sicherem  vertrauen ,  sondern  wie  einem 
orakel  des  köhlerglaubens,  noch  zweifelnd  über  den  ausgang. 
aber  Gott  ergreift  die  zögernd  ausgestreckte  hand  des  sinken- 
den, zum  zweiten  male  führt  ihn  die  gnade  auf  den 
weg  des  heils.  das  orakel  wird  zum  göttlichen  wunder,  er 
kommt  zu  Trevrizent. 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  427 

Trevrizent1. 

Der  einsiedler  (dritte  scene)  ist  dazu  ausersehen, 
Parzivals  zweifei  zu  brecheu  und  ihn  mit  Gott  zu  versöhnen, 
er  hewürkt  in  ihm  das  werk  der  läuterung.  das  mittel,  wodurch 
diese  innere  widerherstellung  geschieht,  ist  das  von  Gott  zur 
befreiung  von  der  Sünde  eingesetzte  sacrament  der  bufse. 

461,  1—468,  23. 

Scene  in  ableil.  1.  Mit  dem  bekenntnis  seiner  sündhaften 
beschaffen heit  tritt  Parzival  vor  den  einsiedler  und  bittet  ihn  um 
seinen  geistlichen  rat  458,  29 f.  in  der  ersten  abteilung  der 
in  scene  legt  er  dem  beichtiger  zwei  puncte  vor,  die  sein  inneres 
beschweren  (461,  1 — 26)  :  mirst  freude  ein  troum,  ich  trage  der 
riuwe  swceren  soum  471,  1  f.,  und  ouch  trage  ich  hazzes  vil  gein 
gote:  wand  er  ist  miner  sorgen  tote  461,  4 — 26.  der  geistliche 
berater  beantwortet  sie  in  umgekehrter  folge,  denn  der  zweite  punct 
ist  der  schwerere  :  der  hass  gegen  Gott,  die  höchste  potenz  des 
Unglaubens,  eine  sünde  gegen  das  erste  gebot  Gottes  und  vor  allem 
gegen  die  göttliche  tugend  der  liebe,  muss  zuerst  aus  dem  gemüte 
des  Sünders  beseitigt  und  der  glaube  widerhergestellt  werden,  dies 
tut  er  in  einer  dogmatischen  und  religionsgeschichtlichen  belehrung 
461,28—466,10.  dieselbe  zerfällt  in  den  eingang  461,28— 
462,  17,  den  hauptteil  462,  18—467,  4  und  den  schluss  467,  5  — 
10.  im  eingang  stellt  Trevrizent  ganz  allgemein  das  Verhältnis 
zwischen  deu  menschen  und  Gott  fest  :  habt  ir  sin,  so  schult  ir  got 
getruvoen  wol  461,  28  f,  'wenn  ihr  vernünftig  seid,  so  sollt  ihr  an  Gott 
glauben  uud  ihm  vertrauen'  (vgl.  auch  463,  21).  das  ist  der  grund- 
gedanke  der  christlichen  philosophie  :  Vernunft  und  glaube  sind 
identisch,  nachdem  er  den  beichtenden  zu  wahrheitsgetreuer  dar- 
legung  seiner  schweren  Sünde  der  gottesfeindschaft  aufgefordert  und 
seine  ungerechte  anklage  gegen  Gott  zurückgewiesen,  geht  er  zur 
hauptsache  über,  zu  der  belehrung.  diese  behandelt  a.  die  eigen- 
schaften  Gottes  :  triutoe  und  wdrheit  (und  gerechtigkeit  s.  s.  430) 
462,  18 — 30;  b.  die  heilsgeschichte  in  kurzen  zügen  :  Lucifers 
stürz,  sündenfall,  Kains  brudermord,  menschwerdung  Christi  und 
seine  zwei  naturen,  befreiung  vom  teufel  463,  4 — 465,  30;  c.  noch- 
mals die  eigenschaften  Gottes  :  minne  466,  1  — 14;  als  d  folgt  dann 

1  man  wird  bemerken,  dass  der  folgende  einteilungsversuch  der  Trevri- 
zent-scenen  vielfach  abweicht  von  Noltes  gliederung  in  seinem  artikel  Die 
composition  der  Trevrizent-scenen,  Zs.  44,  24t — 248. 


42S  EHR1SMANN 

noch  ein  abschnitt  von  gedanken  und  werken  466,  15 — 467,  4. 
der  schluss  467,  5 — 10  ist  wider  ein  unmittelbarer  vorhält  an 
den  beichtenden. 

Den  mittelpunct  der  lehre  Trevrizents  bildet  das  wesen  Gottes, 
seine  eigenschaften  der  triuwe,  der  wdrheit  (der  gerechtigkeit) 
und  der  minne.  die  heilserzählung  ist  nichts  anderes  als  die 
historische  Offenbarung  der  treue  und  liebe  Goties.  es  erhebt 
sich  somit  nun  die  aufgäbe,  diese  drei  begriffe  psychologisch  und 
theologisch  zu  bestimmen. 

Den     begriff    der    triuwe    haben    San    Marte    (n  157 — 164) 
und  Bötticher  (Parzival-übersetzung  s.  285  f.)  aus  dem  sprachge- 
brauche Wolframs  trefflich  entwickelt,    sie  ist  im  weitesten  sinne 
der  altruismus,  die  summe  der  sympathischen  lugenden  bezw.  der 
entsprechenden  pflichten,     aus  der  grundbedeutung  von  'treu'  = 
dem  man  vertrauen,  auf  den  man  sich  verlassen  kann  (vgl.  Michels 
Gott.  geb.  anz.  1897,  742  und  bes.  Osthoff  Etymol.  parerga  i  150) 
lassen    sich    die   einzelnen    abarleu    erklären  :  a.    die    treue    im 
eigentlichen    sinne,    fides,   fidelitas    (auch  pietas,    nach  Thomas 
Summa  theol.  n  2,  quaest.  101,  art.  1),  das  treuverhältnis  zwischen 
freunden,  gatten,  eitern  und  kindern,  verwanten,  liebenden,  dem 
herrn  und  dem  untergebenen,  auch  zwischen  den  milbürgern  und 
vaterlandsgenossen  (Thomas  aao.).  b.  die  wahr  ha  ftigkeit,  veritas, 
nach    Thomas    Summa    theol.  l    16,  4  virtus   qua  homo   in  dictis 
et   factis   ostendit  se   ut  est  (Schütz  Thomas-lexikon   s.  844);   sie 
gehört  zu  den  raten  des  evangeliums  (consilium  evangelicum  oder 
evaugelii),   vgl.  u.  a.  HWeber   Die  Bamberger  beichtbücher   s.  30, 
aufserdem  fällt  sie  unter  das  fünfte  gebot  Gottes,  c.  die  gerechtig- 
keit, justilia,    eine  der  cardinaltugenden,    nach  Thomas  Summa 
theol.  n  2,  80  (Schütz  s.  434)  ratio  justitiae  consistit  in  hoc,  quod 
alteri  reddatur  quod  ei  debet  secundum  aequitatem1.  d.  die  näc liste n- 
liebe,  Caritas,  barmh  erzigkei  t,  misericordia,  dasmitgefühl 
und  die    teilnähme,  compassio,    die  wol  wollen  de   liebe  zu 
allen     menschen,    benevolentia,    benignilas,    bonitas  (fruchte    des 

1  treue,  Wahrheit  und  gerechtigkeit  zusammen  machen  das  reht  aus, 
Vom  rechte  18  f.  20 — 23.  24  f  (vgl.  dazu  Scherer  Geist!,  poelen  der  d. 
kaiserzeit  n  7,  Kraus  Wiener  SB.  bd  123,  102  f).  dem  entsprechen  die 
formein  triawe  und  ivdrhafl,  gelriuwe  und  gewoere,  gereht  und  gewwre; 
got  ist  das  rekt  und  diu  wdrheit  Ammenhusen  Schachzabelb.  4283;  Judicium 
und  veritas  als  begleilerinnen  der  justilia  auf  Hugos  vSVictor  bäum  der 
fügenden,  .Migne  176,1003.  1010;  Wernher  vElmendorf  v.  603f. 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  429 

heiligen  geistes).  e.  die  liebe  gegen  Gott,  Caritas  (auch  pietas, 
Thomas  aao).  und  die  pfllichterfüllung  gegen  ihn  im  glauben 
und  gottvertrauen. 

Da  diese  verschiedenen  begriffe  äufserungen  ein  und  derselben 
sittlichen  idee  sind,  so  gehn  die  einzelnen  leicht  in  einander 
über.  keine  dieser  formen  besteht  ja  auch  für  sich  allein, 
immerhin  aber  hebt  die  specielle  benennung  eine  vorhersehende 
seile  heraus,  so  sind  triuwe  und  wdrheit  462,  18 — 30  beide 
als  gegensätze  zu  valsch  und  wanc  dargestellt,  aber  wdrheit  hat 
eine  eigene  färbung  dadurch,  dass  es  unmittelbar  ein  name  für  Gott 
ist  :  got  heizt  and  ist  diu  wdrheit  462,  25  nach  Johannes  14,  16 
ego  sum  veritas,  denn  Gott  wird  auch  ohne  weiteres  Veritas 
genannt,  unter  veritas  ist  mehr  die  intellectuelle  seile  des  al- 
Iruismus  verstanden,  während  triuwe  mehr  als  eine  tätigkeit 
des  willens  aufgefasst  ist,  denn  Wolfram  versteht  unter  der  triuwe 
Gottes  seine  bereitschaft  zu  helfen  (461,  30.  465,  16)  und  seine 
gute,  die  sich  am  höchsten  darin  zeigt,  dass  er  durch  uns  ze 
menschen   bilde  wart  462,  24,  auch  448,  10  ff.  465,  8 — 10. 

In  der  auffassung,  welche  hier  von  der  treue  gilt,  empfindet 
man,   wie    naiv    die   denkart  des  mittelalterlichen  rittertums  noch 
war.     Parzival  stellt  sich  die  treue  zu  Gott  wie  ein  rein  mensch- 
liches   Verhältnis   vor,    wie   das    zwischen    dem   herrn    und   dem 
gefolgsmanu,    die    sich    gegenseitig   durch    ein    treubündnis    ver- 
pflichtet sind,     in  dieser  auffassung  treffen  die  anschauungen  von 
gottesdienst- und  minnedienst  zusammen,    das  ganze  vorstellungs- 
leben   bewegt  sich  in  den  Verhältnissen  des  lehensstaates.     treue 
und  minne  sind  gedacht  als  leistungen  des  dienstes  und  der  huld, 
als     gegenseitige     pflichtverhältnisse    mit    den    bedingungen    von 
dienst  und  lohn;  so  hier  die  triuwe  zu  Gott,    besonders  ich  was 
im    diens    Untertan   usw.  332,   5 — 8,    ich    diende   eim    der  heizet 
got   usw.  447,  25 — 30 ,   wie  der  mensche  sol  beliben     mit  dienste 
gein   des  helfe  gröz   usw.  462,  14 — 16,  swer   ab  wandelt  Sünden 
schulde,    der   dient    ndch  werder   hulde    466,   13 f.     so    sind    die 
beziehungen  des  menschlichen  zum  göttlichen  aus  dem  religiösen 
vorstellungskreise  in  die  Sphäre  der  ritterlichen  geistesweit  herein- 
gezogen,   die    dinge    werden    als  erscheinungeu  eines  ritterlichen 
Weltbildes    gesehen,      das    ist    dieselbe    naive    denkweise   wie  sie 
zb.   der   dichter   des   Heliand   hat.     schon   dort  spielt   die  gestalt 
des  miles  christianus  herein  (Scherer  Lit.-gesch.e  s.  45,   Jellinek 


430  EHRISMANN 

Anz.  xxj  216).  auch  könig  Ludwig  wird  vou  Otfrid  nach  dem 
vorbild  von  David  als  gottes  man,  thegan,  gezeichnet,  ad  Lud.  37  ff, 
ebenso  der  junge  Ludwig  in  im  Ludwigslied  (Ther  gerno  gode 
thionöt,  Ich  uueiz  her  imos  lönöt  v.  2).  später  dann  tritt  hier  die 
figur  des  kreuzritters  ein  als  gotes  dieneslman,  zb.  Rolandslied  3922 
(Turpins  kreuzpredigt),  oft  in  Wolframs  Willehalm  (s.  unten), 
in  Thomasins  kreuzpredigt,  im  WGast  bes.  v.  11467 ff.,  auch 
v.  8320 ff.,  s.  ferner  Wolfram  Zs.  30,  106 ff.  der  glaube  an 
werke  und  lohndienst  war  allgemein  im  mittelalter.  dass  Gott, 
sein  lehensherr,  ihn,  seinen  treuen  dienstmann,  im  Stiche  gelassen 
habe,  verletzt  Parzivals  gerechtigkeitsgefühl,  und  darauf  gründen 
sich  seine  vorwürfe  gegen  ihn  (332,  5 ff.  447,  25 ff,  s.  unten), 
indem  Trevrizent  diesen  scheingrund  zu  seinem  hass  wider- 
legt, lehrt  er  ihn  eine  weitere  eigenschaft  Gottes  kennen,  seine 
gerechtigkeit  (sie  ist  mit  namen  nicht  genannt)  :  er  hilft 
iu,  wand  er  helfen  sol  461,  29,  sin  helfe  ist  immer  unverzagt  462, 
10.  nochmals  weist  er  466,  11  — 14  auf  die  gerechtigkeit 
Gottes  hin,  und  mit  ihr  schliefst  er  seine  ganze  rede  ab  467,  5 — 10 : 
Gott  lohnt  und  straft  nach  verdienst,  die  entscheidung  zur  liebe 
oder  zum  hass  gegen  ihn  steht  dem  menschen  zu. 

Oft  sind  die  begriffe  von  triuwe  und  minne  in  ein  und 
demselben  empfindungsact  vereinigt,  das  ist  zumal  der  fall  in 
der  Caritas,  das  ist  die  liebe  zu  Gott  und  zum  nächsten,  sie  ist 
nach  Thomas  vAquino  die  form  aller  tugenden  oder  die  mutter 
aller  tugenden,  ihre  wurzel  und  ihr  zweck,  wie  das  gebot  der 
liebe  Gottes  und  des  nächsten  das  hauptgebot  des  Christentums 
ist  und  alle  andern  in  sich  schliefst  (Schütz  Thomas-lexikon  s.  96 — 
so  ist  Gott  aus  triuwe  zu  uns  in  den  tod  gegangen  113,  22. 
448,  10,  und  die  göttliche  minne  hat  uns  aus  der  höhe  errettet 
465,  29.  selbst  in  die  trinitätsformel  hat  triuwe  für  minne  als 
benennung  des  heiligen  geistes  eingang  gefunden  in  dem  MSD  n3 
257  anm.  besprocheneu  (vgl.  auch  Kraus  aao.  s.  102  f.),  von 
JHaupt  Wiener  SB.  69,  144  ff  herausgegebenen  fragment  (triuwe 
ist  die  dritte  hypostase  insofern  hier  genannt,  weil  sie  als  minne 
bant,  auf  gegenseitigkeit  beruhende  liebe  des  vaters  und  des 
sohnes,  connexio,  vorgestellt  ist). 

Die  krönung  des  heilswerkes  ist  die  liebe,  die  minne.  mit 
dem  neid  beginnt  die  menschheitsgeschichte,  463,  7 — 14,  mit 
der   liebe   endet  sie,   465,  28  f.     in  seliger  Verklärung  preist  der 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  431 

greis  die  woooe  der  wahren  minne  dessen,  der  nie  in  seiner 
liebe  wankt  466,  1  —  6.  diese  so  besonders  geartete  eigenschaft 
Gottes  hätte  niemals  mit  triuwe  entsprechend  widergegeben 
werden  können,  minne  ist  der  begriff  der  absoluten  liebe,  ist 
einzig  die  empfindung  der  seligen  gemeinschaft  mit  Gott,  nicht 
wie  die  treue  verbunden  mit  dem  gefühl  eines  gegenseitigen 
pflichtverhältnisses  und  daraus  entspringenden  lohnes.  in  gewisser 
beziehung  verhalten  sich  minne  und  triuwe  wie  amor  und  Caritas. 
den  unterschied  beider  hinsichtlich  ihrer  psychologischen  be- 
schaffenheit  bestimmt  Thomas  dahin  :  amor  est  passio,  ein  zustand 
des  sensiblen  begehrungsvermögens,  Caritas  ist  eine  tätigkeit  oder 
eigenschaft  des  vernünftigen  willens  (vgl.  Werner  Thomas  h  486). 
dagegen  kommt  die  Stufenfolge  amor  dilectio  Caritas  (vgl.  Schütz 
aao.  45.  96.  231)  im  deutschen  nicht  zur  geltung. 

Das  erste  seelische  problem  der  ritterlichen  dichtung,  die 
minne,  beschäfttigt  auch  Wolfram  in  hohem  mafse,  aber  wie  er 
überall  über  die  endlichen  dinge  hinaus  die  gedanken  zum 
transcendentalen  führt,  so  stellt  er  auch  der  irdischen  minne 
die  himmlische  entgegen,  wenn  die  andern  höfischen  dichter 
die  minne  anklagen,  weil  sie  das  herz  krank  mache,  dass  es 
sich  verzehre,  so  hat  Wolfram  gegen  diese  art  von  Sinnenreiz 
viel  schärfere  worte  :  diese  minne  vergiftet  die  seele,  sie  raubt 
dem  menschen  sein  edles  teil  und  zieht  ihn  in  die  materie  hinab, 
291,  1 — 293,  16.  die  frau  Minne,  die  götlin  Venus,  ist  die 
concupiscentia,  das  rein  sinnliche  verlangen,  welches  die  herschaft 
über  die  Vernunft  erlangt  hat  :  frou  Minne,  iu  solle  werren  daz 
ir  den  lip  der  gir  verweilt,  dar  umbe  sich  diu  sele  sent 
291,27 — 30.  die  himmlische  liebe  aber  ist  die  minne,  die 
nun  Trevrezent  dem  ratsuchenden  offenbart,  indem  er  ihm  von 
dem  xodren  minncere  erzählt,  die  verse  466,  1 — 6  sind  iu 
unmittelbarem  gegensatz  gedacht  zu  291,  1 — 293,  16.  aber  die 
irdische  liebe  besteht  nicht  nur  in  der  mode  des  minne- 
dienstes,  es  gibt  auch  auf  erden  eine  edle  liebe,  das  ist  die 
rechte  minne  :  reht  minne  ist  todriu  triuwe  532,  10.  diese  hat 
Parzival  zu  seinem  weihe,  und  damit  hat  Wolfram  auch  die 
irdische  minne  verklärt,  indem  er  sie  zur  treue  erhob 

Die  göttliche  liebe  hat  uns  aus  den  banden  des  teufeis 
erlöst,  465,  28  f.  (vgl.  WGast  8286  ff.,  ebda.  8318  daz  got  habe 
durch  uns  vil  getan  =  Parz.  462,  22).    die  liebe  geht  von  Gott  aus 


432  EHRISMANN 

uud  erweckt  gegenliebe  in  den  menschen  :  swem  er  minne  erzeigen 
sol,  dem  wirt  in  siner  minne  wol  466,  5  f.  dieses  ist  der  kern- 
punct  der  Versöhnungslehre  Abä'ards,  in  welcher  der  tod  Christ 
lediglich  als  liebestat,  sein  verdienst  ganz  als  liebesdienst  auf- 
gefasst  ist  (Harnack  Dogmengeschichte  in1, 2  358  ff.  Deutsch 
Peter  Abälard  s.  370  :  unsere  erlösung  besteht  in  der  liebe,  welche 
durch  das  leiden  Christi  in  uns  erweckt  wird;  s.  382  :  demnach 
ist  der  letzte  und  tiefste  gedanke  Abälards  der,  dass  die  Versöhnung 
in  der  persönlichen  gemeinschaft  mit  Golt  beruht),  und  in  den 
verseu  465,  2S — 30  zer  helle  uns  nam  diu  hoehste  hant  mit  der 
gotlichen  minne:  die  unkiuschen  liez  er  dinne  ist  es  die  liebe, 
welche  den  unterschied  zwischen  den  kindern  Gottes  und  den 
kindern  des  teufeis  ausmacht,  wie  bei  Abälard  (caritas)  sola  filios 
Bei  a  filiis  diaboli  discernit  (Deutsch  s.  390  bes.  aum.  3).  die 
unkiuschen  sind  die,  welche  die  göttliche  minne  nicht  haben,  die 
fornicatores  spirituales. 

Noch  in  einem  andern  puncte  steht  dieser  letzte  abschnitt 
auf  jeuer  freieren  seite  der  theologie,  deren  geistreichster  Vertreter 
Abälard  war,  nämlich  in  der  beurteilung  des  heidentums.  als 
autoritäten  für  die  erlösungsgeschicbte  citiert  Trevrizent  Plato 
und  die  Sibylle,  nicht  die  erzväter  und  prophelen  oder  kirchen- 
väter.  so  auch  stellt  Abälard  Plato  unter  die  ersten  zeugen  der 
Wahrheit,  und  die  Sibylle  preist  er  in  rhetorischer  Übertreibung, 
im  geiste  des  Lactanz,  als  hervorragendste  verkünderin  der  taten 
Christi,  speciell  gerade  der  höllenfahrt  in  den  worten  :  Quae  nee 
descensum  ejus  ad  inferos  nee  resurr ectionis  gloriam  praetermittens, 
non  solum  prophetas,  verum  etiam  ipsos  supergressa  videtur  evange- 
listas,  qui  de  hoc  ejus  descensu  minime  scripserunt,  epist.  vn, 
Migoe  178,  246  ff. 

Eigentlich  wäre  mit  der  aufforderung  zur  beichte  466,  11 — 14 
die  belehrung  des  pater  spiritualis  zu  ende,  aber  es  folgt  noch 
nachträglich  eine  unmittelbar  auf  die  beichte  sich  beziehende 
ermahnung  über  die  gedanken  und  werke,  wodurch  dann 
nochmals  ein  das  ganze  abschliefsendes  mahnwort  nötig  wird, 
467,  5 — 10.  man  kann  auf  dreierlei  weise  sich  versündigen, 
mit  gedanken,  worte  n  und  werken,  die  Versündigung  durch 
worte  ist  schon  465,  13 — 18  vorweggenommen  :  sit  rede  und 
werke  niht  so  fri:  wan  der  sin  leit  so  ruhet  daz  er  unkiusch 
sprichst  ['fuge  inhonesta  verba',  'sermo  vanus  etc.  in  dem  SRernhai  d 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  433 

zugeschriebenen  Tractatus  de  interiori  domo  cap.  24,]  von  des 
löne  tuon  i'u  kunt,  in  urteilt  sin  selbes  munt.  bei  der  gewisseus- 
prüfung  legt  der  christ  sich  rechen  schalt  ah  über  seine  gedanken, 
worte  und  werke,  hei  der  inuern  einkehr  sind  diese  die  drei 
anhaltspuncte  für  die  erkenntnis  seiner  selbst,  ganz  eindringlich 
werden  sie  zur  erweckung  des  innern  menschen  eingeschärft  in 
dem  Tract.  de  interiori  domo  cap.  15 — 36,  zusammengefasst  in 
cap.  17,  im  übrigen  ohne  systematische  Ordnung,  die  bösen 
gedanken  besonders  sind  es,  welche  das  herz  unrein  machen, 
indem  sie  die  begierden  reizen  und  die  seele  von  Gott  abziehen 
(cap.  16.  17.  22.  27.  29.  30.  34.  35).  so  verweilt  auch  Wolfram 
bei  ihnen  am  längsten,  auch  hat  er  diesem  abschnitt,  466,  15 — 30, 
eine  besondere  aus  der  Umgebung  herausfallende  stilistische 
fassung  gegeben,  denn  er  besteht  aus  einzelnen  gnomen,  die 
zt.  anaphorisch  eingeleitet  sind,  wie  das  häufig  in  sentenzen- 
sammlungen  der  fall  ist,  zb.  im  Freidank  *),  im  Renner,  bei  den 
spruchdichtern  (Roetbe  Reinmar  s.  309).  —  der  grund,  weshalb 
der  dichter  diese  drei  puncte  hereingezogen  hat,  ist  darin  zu 
suchen  dass  sie  zu  den  beichtregeln  gehören  :  er  bringt  sie  auch 
gerade  im  Zusammenhang  mit  der  auf'forderung  zur  beichte  vor 
465,  13.  466,  13.  auch  der  tractat  de  interiori  domo  ist  eine 
Vorbereitung  zur  beichte  und  enthält  unmittelbare  Vorschriften 
für  das  verhalten  in  der  beichte,  die  drei  puncte  sind  eben  die 
in  der  beichte  zu  bekennenden  dreierlei  Sünden  des  herzens,  des 
mundes  (wortes),  des  werkes  (corde  ore  opere),  denen  die  voll- 
kommene bufse  folgt  als  conpunctio  cordis,  confessio  oris,  salis- 
factio  operis,  vgl.  Petrus  Lombardus  Sentenzen  iv  dist.  16 
(Migne  192,  877),  Alanus  Liber  poenitentialis  (Migne  210,  287), 
Bandinus  Sent.  (Migne  192,  1099),  Weber  Bamberger  beichtb. 
s.  17,  Job.  Wolff  beichtbüchlein  ed.  Battenberg  s.  36,  308. 

Schliefslich  ist  auch  noch  die  form  dieser  ersten  lehre 
Trevrizents     beachtenswert.      sie    entspricht    dem     dogmatischen 

1  über  die  gedanken  handelt  Freidank  115,  12 — 20  in  dem  abschnitt 
38  Von  erkantnisse.  dieser  berührt  sich  mehrfach  mit  dem  tractat  de  int. 
domo,  jedoch  betrifft  er  nicht  allein  die  Selbsterkenntnis,  sondern  erkenntnis 
und  wissen  und  jegliche  art  von  erfahrung  im  allgemeinen,  auch  die  minne- 
singer  haben  das  grübeln  über  die  gedanken  in  ihren  psychologischen  motiven- 
schatz  aufgenommen,  einen  Zusammenhang  mit  der  theologischen  auffassung 
zeigt  zb.  Reinmars  kreuzlied  MFr.  181,  13,  wo  die  gedanke  idie  ledecliche 
varn',  ldie  toben  wellenV  deutlich  ihren  religiösen  Ursprung  verraten. 


434  EHRISMANN 

inhalt,  sie  ist  eine  kleine  summa  theologiae.  das  muster  einer 
theologischen  summe  sind  die  vier  bücher  Sentenzen  des  Petrus 
Lombardus.  der  grundplan  derselben  ist  vorbildlich  für  die  andern 
compendien  der  dogmatik.  buch  i  handelt  von  Gott,  buch  n  von 
Schöpfung  und  sündenfall,  buch  in  von  Christus,  buch  iv  von  der 
kirche,  den  sacramenten  und  den  letzten  dingen,  noch  im 
heutigen  katholischen  katechismus  ist  im  grofsen  und  ganzen 
dies  der  grundriss  des  lehrgebäudes.  in  Trevrizents  summe  ver- 
teilt sich  der  Stoff  lolgendermafsen  :  i  461,  28 — 462,  30  von  gott, 
n  463,  1—464,  22  Schöpfung  und  sündenfall,  m  464,  23—466,  9 
von  Christus,  iv  466,  10 — 467,10  von  dem  sacrament  der  bufse, 
vom  ausgang  des  menschen,  ob  verloren  oder  behalten,  die 
gliederung  als  theologische  summe  ist.  übrigens  ein  für  die 
darstellung  religiöser  Stoffe  geläufiges  Schema,  aulser  der  heils- 
geschichte  im  Ezzolied  und  der  heilslehre  (Vogt  Pauls  grundris 
ii2,  164)  der  frühmittelhochdeutschen  Summa  Theologiae  sind  so  auch 
aufgebaut  das  jüngere  Anegenge,  Walthers  leich,  aie  disputation  in 
Konr.  vWürzburg  Silvester  (v.  2872  ff.  trinität,  3055  ff.  Christi  leben 
und  leiden,  3438  ff.  Schöpfung  und  sündenfall,  also  mit  Umstellung 
von  ii.  in),  die  Erlösung,  der  Renner,  Heinrichs  von  Neueustad^Gottes 
zukunft,  und  endlich  auch  gehört  hierher  Freidanks  Bescheidenheit1. 
Mit  467,  10  hat  Trevrizent  seine  erste  aufgäbe  gelöst  :  er 
hat  Parzival  die  erkenntnis  Gottes  gelehrt  und  damit  seinem 
herzen  das  glück  widergegeben,  freude  empfinden  zu  können, 
und  zwar  die  ächte  laetitia  spiritualis,  das  frohsein  über  Gott, 
und  das  ist  der  beweis  der  anhebenden  reiuigung  in  ihm  (hörre, 
ich  bin  des  immer  frö,  daz  ir  mich  von  dem  bescheiden  hat,  der 
nihtes  ungelönet  lät,  der  missewende  noch  der  tugent  467,  12 — 14). 

1  unter  den  theologischen  versen  im  Freidank  sind  zweierlei  bestand - 
teile  zu  unterscheiden,  dogmatische  und  ethische;  das  dogma  tritt  aber  sehr 
zurück,  das  wichtigste  ist,  dem  populären  zwecke  entsprechend,  die  ethik. 
diese  besteht  in  der  hauptsache  aus  der  behandlung  der  laster.  legt 
man  das  Schema  einer  theologischen  summe  als  vergleich  unter,  dann  ist 
I  von  Gott  =  1,  5 — 10,6;  n  Schöpfung  und  sündenfall  =  10,  7—148,  3, 
wobei,  wie  in  den  mittelalterlichen  summen,  die  sieben  todsünden  an 
den  sündenfall  angeschlossen  werden;  in  =  148,  4 — 164,2  von  Christus, 
ist  ersetzt  durch  den  abschnitt  von  Rom  und  Ackers  —  ein  schneidender 
gegensatz  zwischen  Christi  leiden  und  dem  schönen  leben  des  papstes, 
zwischen  der  statte  da  Jesus  würkte  und  dem  was  jetzt  aus  dem  heiligen 
land  geworden;  iv  von  den  letzten  dingen  =  172,  9  —  180,  7. 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  435 

Es  bleibt  aber  noch  das  zweite  thema  zu  behandeln  :  mirst 
freude  ein  tronm:  ich  trage  der  riuwe  swtjeren  soum  461,  lf 
(s.  obens.  427).  hat  der  beicbtvaterdas  richtige  Verhältnis  der 
Vernunft  in  Parzival  widerhergestellt,  so  muss  er  ihn  nun  auch 
über  seine  gemütsverfassung  belehren,  über  die  berechtigung 
seiner  tiaurigkeit. 

Das  wesen  der  geistlichen  tristitia  (die  bibelstelle  dafür 
ist  ii  Cor.7,  9 — 11)  ist  eindringlichst  gefasst  in  der  abhandlung 
De  modo  bene  vivendi  cap.  xi  (unter  SBei  nhards  werken),  sie 
kann  gut  oder  schlecht  sein,  gutes  oder  schlechtes  würken,  je 
nachdem  es  die  trauer  ist  um  himmlische  oder  urn  irdische 
dinge,  die  tristitia  spiritualis  bezw.  coelestis  oder  die  tristitia 
secularis  :  Qui  secundum  Deum  tristitiam  habent,  sapientes  sunt, 
qui  autem  secundum  seculum  tristitiam  habent,  sunt  stulti.  Tri- 
stitia spiritualis  bona  est,  tristitia  vero,  quae  nascitur  ex  cupidi- 
tate  temporalinm  rerum,  est  mala.  Thomas  vAquino  hat  in  seiner 
lehre  von  den  leidenschalten  die  tristitia  ebenfalls  eingehend 
behandelt  (Werner  aao.  ii  492  IT.).  sie  kann  verderblich  sein,  da  sie 
die  denktätigkeit  hindert,  aber  auch  etwas  gutes  kann  in  ihr  liegen, 
da  durch  sie  der  mensch  von  der  gelegenheit  zur  sünde  fern  ge- 
halten wird;  s.  auch  Wasserschieben  Bufsordnungen   s.  456. 

Parzival  nennt  die  Ursache  seines  leides  :  min  hcehstiu  not 
ist  umben  grdl:  dd  nach  umb  min  selbes  wip  467,  26  f.  den 
kummer  um  sein  weih  nennt  der  einsiedler  gerecht,  die  ehe 
ist  ein  sacrament,  ein  mittel  zur  gnade  und  heiligung  (res  bona 
est  conjugium,  Petr.  Lombardus  Sentenzen  iv  26,  4),  darum  kann 
auch  die  rechte  traurigkeit,  die  von-  der  ehe  kommt,  gut  sein, 
die  Sehnsucht  nach  dem  Gral  nennt,  er  eine  torheit,  denn  ihn 
kann  nur  der  erlangen,  der  im  himmel  dazu  berufen  ist.  er 
weifs  nicht,  dass  Parzival  zu  den  auserwählten  gehört,  und 
dieser  verschweigt  ihm,  dass  er  dort  gewesen,  er  ist  noch  nicht 
in  der  Selbstüberwindung  so  weit  vorgeschritten,  um  das  schwerste 
zu  bekennen,  dies  wird  als  letztes  aufgespart,  aber  es  ligt 
ihm  am  herzen,  über  das  ziel  seiner  Sehnsucht  nähere  künde 
zu  erhalten  und  so  fragt  er  den  alten  um  das  wesen  des  Grals, 
dieser  ist  als  geistlicher  berater  verpflichtet,  ihn  über  seine 
gewisseussorge  aufzuklären,  so  ergibt  sich  folgerichtig  aus  dem 
Zusammenhang  Trevrizents  erste  rede  über  den  Gral  468,  23 — 
471,  29,  welche  die  erste  abteilung  der  scene  m  schliefst. 


436  EHRISMANN 

472,  1—476,  22. 

Sceoe  in  abteil.  2.  von  dem  grundübel,  dem  hass  gegen  Gott, 
ist  Parzival  durch  den  glauben  geheilt,  das  religiöse  leben  ist  wider 
in  ihm  erweckt,  nun  lasten  noch  drei  einzelne  sündeu  auf  ihm.  ihn 
von  diesen  zu  lösen  ist  die  weitere  aufgäbe  seines  beichtigers 
zuvor  aber  ist  die  wurzel  aller  laster  in  ihm  auszurotten,  die 
hochfart,  superbia,  denn  er  ist  noch  immer  des  wahns,  er 
könne  aus  eigener  kraft  sein  ziel  erreichen,  Gott  müsse  ihm  für 
seine  tapferkeit  den  Gral  verleihen,  an  dem  beispiel  des  An- 
fortas  zeigt  ihm  Trevrizent  die  verderblichkeit  der  höchvart  und 
predigt  ihm  diemüete ,  473,  1  —  4.  demut  ist  die  der  sünde  der 
hochfart  entgegengesetzte  tugend,  humilitas,  vermöge  welcher  der 
mensch  sich  selber  für  gering  achtend  alles  gute  Got  zuschreibt 
(Werner  Thomas  ii  610). 

Auch  die  kiusche  steht  in  einem  gewissen  gegensatz  zur 
höchvart  (472,  13 — 17,  vgl.  auch  bes.  WGast  9995 f),  denn  sie  ist 
die  Zügelung  der  sinnlichen  triebe,  diese  aber  dienen  wesentlich 
zur  ungeordneten  selbsterhöhung,  superbia  (Werner  s.  534).  der 
begriff  der  kiusche  bei  Wolfram  (San  Marte  n  181  — 186,  Kinzel 
Zs.  f.  d.  phil.  18,  447—458,  ßötticher  Parzivalübersetzung  s.  287  f. 
292  f)  muss,  wie  jede  andere  ethische  erscheinungsform  im 
mittelalter,  im  Zusammenhang  mit  der  christlichen  Sittenlehre 
erklärt  werden,  sie  ist  eine  bestimmte  art  der  temperantia.  in 
der  temperantia  sind  ihrer  definition  nach  verschiedene 
qualitäten  zusammengefallen,  die  Thomas  vAquino  trennt  in  tem- 
perantia als  virtus  generalis:  'quia  nomen  temperantiae  significat, 
quandam  temperiem  id  est  moderationem,  quam  ratio  ponit  in 
humanis  operationibus  et  passionibus,  quod  est  commune  in  omni 
virtute  morali\  und  als  virtus  specialis :  'si  vero  consideretur  autono- 
mastice  temperantia,  secundum  quod  refrenat  appetitum  ab  his,  quae 
maxime  alliciunt  hominem,  sie  est  specialis  virtus,  utpote  habens  spe- 
cialem materiam'  (Schütz  s.  802).  die  temperantia  als  virtus  generalis 
ist  das  einhalten  des  richtigen  mi ttelmafses.  das  ist  der 
aristotelische  tugendbegriff,  wonach  das  tugendhafte  handeln  im 
beobachten  der  richtigen  mitte  zwischen  zwei  lästern  besteht, 
fxeaörrjg,  das  fxrjdev  ayav  (vgl.  Wilmanns  Leben  Walthers  Anm. 
in  583).  diese  eigensebaft  gehört  zum  begriff  und  wesen  jeder 
tugend  und  ligt  somit  in  jeder  tugend.  darnach  definiert  Thomas 
die   tugend    im    anschluss   an    Aristoteles  :  Virtus   in   medio    sive 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  437 

in  mediocritale  comistit ,  virtus  moralis  est  habitus  electivus  in 
medietate  consislens  sive  existens  u.a.  (Schütz  s.  803);  Hildebert 
vTours  De  quatuor  virlutibus  vitae  honestae  :  De  mensuris  singu- 
larum  virtutnm  .  .  .  Si  studeat  [vir]  cerlo  vivendi  fine  teuere 
Singula  quem  virtus  debet  habere  modum  Migne  171,  1063.  die 
temperantia  als  virtus  specialis  aber,  die  mäfsigkeit,  die  be- 
zähmung  der  sinnlichen  begierden  durch  die  Vernunft,  ist  eine 
der  vier  cardinaltugenden,  die  platonische  otocpQoovvr]  :  Isidor 
Orig.  ii  24,  6  temperantia,  qua  libido  concupiscentiaque  remm 
frenatur;  Moralis  philosophia  (Migne  171,  1034)  :  Temperantia 
est  dominium  rationis  in  libidinem  et  in  alios  motus  importunos; 
Hildebert  vTours  aao.  (Migne  171,  1059)  De  temperantia  .  .  Quae 
motus  animi  temperat  atque  premit.  Quam  si  sectaris,  ßuitantia 
qnaeqne  recide  Et  desideriis  insere  frena  tuis;  Hugo  vSVictor  De 
fructibus  carnis  et  Spiritus  (Migue  176,  1003)  :  Temperantia  est 
in  illicito  animi  impetus  rationis  firma  et  discreta  dominatio;  die 
mensura  als  mafs  für  den  appetitus  commodi  bei  Hugo  vSVictor 
De  sacr.  i  pars  vii  cap.  11—22  (Migne  176,291—297);  SBern- 
hard  (?)  De  ordine  vitae  cap.  7  :  Temperantia  affectionem  carnis 
temperat;  Thomas  vAquino  :  Temperantia  quae  subicit  rationi 
appetitum  ua.  (Schütz  s.  803) ,  lerner  auch  mensura  autem  et 
regula  appetitivi  motus  circa  appetibilia  est  ipsa  ratio  .  .  .  patet 
quod  bonum  virtutis  moralis  consistit  in  adaequatione  ad  mensuram 
rationis  Summa  theol.  n  1,  quaest.  64,  a  1.  die  zwei  formen 
der  temperantia  als  virtus  generalis  und  specialis  werden  aber  keines- 
wegs so  streng  auseinandergehalten,  so  vermischt  Alanus  in 
seiner  musterpredigt  De  temperantia  v'el  modestia,  Summa  de  arte 
praedicatoria  cap.  25  (Migne  210,  161)  die  beiden  in  den  citaten 
und  in  den  erörterungen. 

In  der  litteratur  des  deutschen  mittelalters  hat  eigentlich  nur 
Wolfram  der  kiusche  die  umfassende  bedeutung  verliehen,  indem 
er  sie  zur  selbstbeherschung,  zur  herscherin  über  das  heer  der 
leidenschaften  erhob,  mdze  ist  sonst  das  übliche  wort  für  beide 
arten  der  temperantia,  kiusche  wird  mehr  auf  die  castitas  beschränkt. 
Wernher  vElmendorf  stellt  die  kiusche  mit  der  schäme  l  zusammen 

1  Wernher  fasst  die  schäme,  verecundia,  auf  im  sinne  seiner  vorläge, 

der  Moralis   philosophia,  d.  i.  verecundia  est  in  gestu,  in  verbo,  in  vultu 

seruare  honeslalem  usw.,  Schönbach  Zs.  34,  67.    bei  Wolfram  hat  die  schäme 

den   weiteren   begriff  wie  bei  Thomas  :  verecundia,  quae  est   timor  turpis, 

Z.  F.  D.  Ä.  XL1X.    N.  F.  XXXVII.  29 


438  EHRISMANN 

Zs.    4,  308,  857 — 872,    darauf  spricht   er  lange   über  die  mdze, 

873 — 1198,    für    welche  er  zumeist    praktische  lebensregelu    als 

beispiele  aufstellt,    gauz  in  aristotelischem  sinne  bestimmt  Thomasin 

die  mdze,  WGast  9935  ff  (Wilmanns  Leben  VValthers  s.  238):  Wizzet 

daz    diu    mdze    ist      des    sitines    wage    zaller    vrist.    diu    rehte 

mäz    diu    hat    ir    zil     enzwischen    lülzel    unde    vil.     swer    mit 

der  mdz  kan   mezzen   xool,     der   tuot   ez   allez  als  er  sol;  9993f 

Zicischen   zwein    Untugenden    ist     ein    tugent    zaller    vrist    usw., 

dann    folgt    eine     rede    über    die    mdze    als    bekämpferin    von 

Untugenden.      Freidank    gibt    ganz    allgemein    lehren    über    die 

mdze,   114,  5   ez  enwirt   ouch  niemer  guot     swaz  man  dne  mdze 

tuot.    swer   schöne   in   siner   mäze  kan     geleben ,   derst   ein   scelic 

man    (citate    aus    der    latein.    litteratur    gibt    Bezzenberger    zu 

114,  9-12);      Winsbeke    30,5—33,9    {mdze    als    einhaltung 

der    mitte    und    als    selbstbeherschung);     das    gedieht    von    der 

Mäze,    Germ.    8,  97 — 102    {Muoter    aller    tugende   .    .  mdze    ist 

siu  genant)  beginnt  mit  der  temperantia  als  virtus   generalis  und 

geht    in  eine  höfische  tugendlehre    über;    ferner  Der  minne  für- 

gedanc  Doc.  Mise,  n  1 82 f  (höfische  tugendlehre);  die  Warnung  Zs. 

1,  447,  325 — 356  {mäze  beherschung  von  des  libes  gelust  v.  345, 

kiusche  1521 — 1620    gegen  die  boßse  gir);   Reinbot  im  hl.  Georg 

trennt  mdze  5807  —  5820  und  kiusche  (=  reinheit)   5839—5850 

(über  die  tugendburg  vgl.  vKraus  anm.  zu  5751  ff);  Renner  v.  204 

in  der  mittein  min   wir   varn,  v.  4793  ff  mdze    machet  gesunden 

Up  (==  mäfsigkeit),  9446  ff  u.  ö.    viele  andere  beispiele  geben  das 

Mhd.  vvb.  ii  206,  Zingerle  Die  deutschen  Sprichwörter  s.  99ff  ua. 

die  mdze  ist  die  grundlage  für  die  feine  höfische  bildung,  sie  ist 

Hartmanns    und    VValthers    lebensideal,    das   zugleich    ihr    ganzes 

künstlerisches    schaffen    durchdringt    (Scherer    Gesch.  d.  d.  litt0. 

s.  161  ff,  Wilmanns  Leben  Walthers  s.  229.  232.  238fundanm., 

Burdach    Waltli.    i  90.    101,    Vogt    Grundriss2    u  273   ua.).    — 

die  populäre   Sittenlehre   hat   rein    praktische   zwecke,     in  ihr 

spielt  die   mdze  als  wesensbestimmuug  der  tugend  im  sinne  des 

Aristoteles  keine  rolle,  denn  den  mittelpunct  dieser  volksmoral  bildet 

das  System  von  den  sieben  haupttugenden  und  hauptsünden,  worin 

die  temperantia  als  eine  der  vier  cardinaltugenden  ihre  stelle  hat. 

die  mdze  ist  da  ganz  in  der  mäfsigkeit  aufgegangen,  so  begegnet 

vereeundia   dicitur    esse  bonum  ex  suppositione  alieujus  turpis  commissi 
u.  a.,  Schütz  s.  841. 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  439 

sie  oft  in   predigten,    tractaten ,    und  immer   in  der  kirchenlehre 
der  beichtbücher,  der  katecbismen. 

Diese  temperantia,  die  cardinaltugend,  hat  einzelne  abarteu, 
welchen  meist  ein  laster  gegenübersteht,  gegen  welches  sie  ge- 
richtet sind,  folgende  kommen  hier  in  betracht  :  abstinentia  und 
sobrietas,  die  enthaltsamkeit  im  essen  und  trinken,  welche  die 
bauptsünde  yula,  frafs  und  trunkenheit,  zügeln;  castitas,  keusch- 
heit,  gegenüber  der  luxuria  unkeuschheit;  verecundia  scheu,  schäm 
(quae  est  timor  turpis)  Thomas  Summa  theol.  quaest.  24, 
nach  der  Moralis  philosophia,  Migne  171,  1059  :  verecundia  est 
in  gestu,  in  verbo,  in  vultu  servare  honestatem;  honestas  ehrbar- 
keit,  äufserer  anstand,  schicklichkeit;  continentia  die  enthaltsam- 
keit in  der  sinnlichen  liebe,  gegensatz  zur  incontinentia;  dementia 
milde  im  gegensalz  zur  grausamkeit,  crudelitas;  mansuetudo  Sanft- 
mut (castitas,  continentia,  mansuetudo,  modestia  gehören  unter  die 
fruchte  des  heiligen  geistes,  Galat.  5,  22),  die  dem  laster  iracundia 
entgegengesetzte  tugend;  modestia  selbsibescheidung,  bezieht  sich 
auf  alle  aufserhalb  der  abstinentia  und  castitas  liegenden  reizungen 
(Werner  2,  609),  humilitas  demut,  die  sich  besonders  als  gegen- 
satz zur  snperbia  darstellt  (Wilmanns  aao.  anm.  in  385).  alle  diese 
äufsernngen  der  temperantia  können  in  dem  mhd.  kitische  liegen, 
und  Wollram  mit  seinem  fein  ausgebildeten  sinn  für  das  sittliche 
hat  das  innere  leben  seioer  gestalten  gern  mit  diesen  eigenschaften 
der  herzensreinheit  ausgestattet,  nur  war  die  poetische  spräche 
nicht  geschmeidig  genug,  um  diese  manigfachen  Schattierungen  aus- 
drücken zu  können,  und  so  verteilt  sich  die  anwendung  des  Wortes 
husche  auf  die  angeführten  formen  etwa  folgendermaßen  in  seinen 
werken  :  abstinentia  und  sobrietas:  P.  238,  28.  W.  129,  14. 
276,  13;  castitas,  besonders  die  tugend  der  frauen  und  dann  mit 
honestas  nahe  verwant  (oft  nur  schmückendes  attribut):  P.  3,  2. 
26,  15.  28,  14.  54,  26.  103,  5.  87,  8.  90,  22.  115,  2.  128,  2. 
131,  3.  137,  8.  167,  12.  176,  12.  192,  3.  252,  16.  260,  8.  264,  9. 
332,  12.  337,  18.  367,  27.  404,  27.  409,  14.  457,  16.  458.  9. 
472,30.  477,12.  14.  526,5.  527,11.  732,3.  21.  734,12. 
742,  28.  743,  21.  800,  6.  809,  13.  819,  24.  824,  7.  W.  154.  22. 
190,  1.  247,  29.  280,  2.  Tit.  83,  3.  105,4.  110,3.  123,2. 
149,  2;  abstinentia  und  castitas  steigern  sich  zur  askese  bei  Trevri- 
zent  452,  15.  20.  28.  459,  22.  472,  12;  oft  kaum  zu  scheiden  von 
castitas  ist  honestas  (häufig  kiuschiu  zuht,  kiusche  site)  P.  159,  17. 

29* 


440  EHRISMANN 

201,  27.  414,  23.  427,  6.  437,  12.  441,  10.  451,  5.  W.  157,  7. 
272,  18.  276,  13;  verecundia  P.  465,  13—16;  dementia  P.  5,  22. 
734,25.  W.  87,18.  253,  29.;  mansuetudo  P.  465,18.  21. 
462,4.  737,20.  W.  167,  22.  190,11.  (276,13);  humilitas 
P.  446,  20.  472,  16.  über  allen  aber  steht  als  gesamtbegriff  die 
hinsehe  als  temperantia ,  die  Zähmung  der  triebe,  die  selbslbeher- 
schung  im  allgemeinen,  so  P.  113,  25.  472,  16.  Tit.  1,  4  und  5; 
und  endlich  die  ganze  von  irdischer  sinnenlust  gereinigte  lebens- 
führung  :  des  kiuschen  got  geruochet  466,  28,  die  unkiuschen  lässt. 
er  in  der  hölle  465,  30;  kiusche  des  reinen  priesters  502,  21, 
hierher  auch  wider  Trevrizents  askese  (s.  oben),  in  der  reinheit 
des  Grals  ist  sie  zur  Verklärung  erhoben  :  wol  muos  er  kiusche 
sin  bewart  235,  28,  ferner  454,  28.  455,  8.  493,  24.  809,  13. 
823,  24,  Tit  7,  1;  kiusche  und  diemüete  (temperantia  und 
humilitas)  sind  die  tugenden,  die  man  zum  Gral  braucht  472,  16. 
473,  4  (mit  kiusche  und  diemnot  hat  sich  Willehalm  die  hülfe  des 
höchsten  erstritten  W.  4,  3 — 6);  lnu  tris  kiusche  unt  dd  bi  vrö' 
P.  781,  12  :  froh  sein  mit  selbsbeherschuug,  durch  die  Vernunft 
geleitete  freude  (die  höfische  lehre  verlangte  nur  mit  zühten  vrö 
sin,  vgl.  Wilmanns  Walther  43,  31),  wird  dem  künftigen  Grals- 
könig als  lebensregel  vorgeschrieben. 

Nirgends  vielleicht  ist  die  höhe  von  Wolframs  sittlichem 
standpunet  so  eigenartig  ausgeprägt  wie  in  seiner  auffassung  von 
der  mdze  und  der  kiusche.  sie  sind  ihm  zwei  verschiedene  stufen 
der  temperantia  (vgl.  Bötticher  aao.).  das  richtige  mafshalten  lehrt 
Gurnemanz  :  die  mdze  gehört  zur  bildung  des  höfischen  ritters, 
dem  e're  und  werdekeit  das  höchste  ziel  sind,  und  besteht  in 
wirtschaftlicher  und  gesellschaftlicher  tiiehtigkeit.  in  Trevrizents 
lehre  aber  wird  kiusche  verlangt,  herschaft  über  sein  selbst  und 
reinhaltung  des  herzens  :  sie  gehört  zu  den  pflichten  desjenigen 
menschen ,  der  nach  dem  höchsten  gute  strebt,  kein  anderer 
dichter  des  deutschen  mittelalters  hat  die  kiusche  so  in  den  mittel- 
punet  des  sittlichen  lebens  gestellt  wie  er.  sie  haben  ein  schönes 
ideal  von  der  würde  ihres  Standes  in  sich  getragen  ,  das  auf  die 
mdze  sich  gründet,  aber  die  Vorstellung  vom  rittertum  bewegt 
sich  bei  ihnen  in  den  schranken  des  endlichen;  Wolfram  allein 
hat  sie  darüber  hinaus  in  eine  verklärte  weit  erhoben,  solcher 
reinheit    genügte  aber  nur  die  kiusche,  nicht  die  mdze. 

Zug    für   zug   entwickelte    sich    das  beichtgespräch   aus  dem 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  441 

allgemeinen  zum  einzelnen,  zum  rein  persönlichen,  zuerst  die 
glaubenslehre  im  grofsen,  dann  die  belehrung  über  die  hauptsünde 
der  hufiart  und  die  notwendigkeit  der  demut.  nun  sind  noch  die 
drei  einzelnen  schweren  taten  des  beicbtigenden  zu  tilgen,  klug 
weifs  der  greis  das  innere  des  Jünglings,  in  welchem  er  seinen 
neiTen  ahnt  schon  ehe  er  sich  zu  erkennen  gibt,  zu  erforschen, 
durch  seine  fragen  enthüllen  sich  die  beiden  ersten  jener  Sünden, 
die  erschlagung  Ithers,  die  Parzival  selbst  bekennt,  und  die  Ver- 
schuldung des  todes  der  mutter,  den  er  erst  von  dem  oheim 
erfahrt,  damit  ist  widerum  ein  natürlicher  anlass  gegeben  zu  einer 
mitieilung  über  den  Gral  (zweite  Gralsrede  477,1 — 484,  30).  um 
die  zweifei,  die  Parzival  an  der  Wahrheit  der  trauerbotschaft  von 
dem  jähen  ende  seiner  mutter  hegt,  zu  zerstreuen,  um  ihn  über- 
haupt über  sein  eigen  geschlecht  aufzuklären,  erzählt  ihm  Trevri- 
zent  die  geschichte  der  königsfamilie  des  Grals. 

485,  1—489,  21. 

Scene  in  abteil.  3.  die  beiden  ersten  grofsen  Sünden  sind 
Parzival  in  ihrer  ganzen  schwere  zum  bewustsein  gekommen, 
von  demut  erfüllt  teilt  er  die  einfache  lebensweise  des  klausners. 
wahre  reue  wandelt  sein  ganzes  wesen,  himmlische  trauer,  iristitia 
coelestis,  ergreift  ihn,  die  ihn  nun  ganz  mit  Gott  vereint  :  got  icas 
und  wart  in  beden  holt  487,  22.  alle  seine  grofsen  taten  in  der  weit 
haben  ihm  keine  freude  bringen  können,  in  der  ärmlichen  wald- 
hülte  des  einsiedlers  findet  er  sich  selbst  wider,  seinen  Gott  und 
dessen  liebe. 

Aber  noch  bleibt  die  letzte  Sünde  zurück,  jene  unheilvolle, 
rätselhafte,  durch  die  er  die  erlösung  des  Gralsreiches  verhindert 
und  sein  eigenes  Seelenheil  zerstört  hatte,  vor  schäm  wagt  er 
sie  nicht  zu  sagen,  488,  5.  noch  einmal,  so  nah  dem  ziele,  wird 
seine  rettung  in  frage  gestellt,  der  fluch  lastet  so  mächtig  auf  ihm, 
dass  er  nicht  glaubt  von  ihm  befreit  werden  zu  können,  er  ist 
der  Verzweiflung  nahe,  wenn  der  beichtiger  keine  Vergebung  hat, 
so  ist  er  unerlöst,  488,  2 — 20.  da  rettet  ihn  widerum  der  rat 
des  greisen  freundes,  in  neuer  belehrung  tröstet  und  mahnt  er 
ihn  488,  21 — 489,  21.  zunächst  fordert  er  ihn  zur  beklagung 
seiner  Sünden  auf  48S,  22 — 25.  er  selbst  klagt  mit  ihm,  zugleich 
aber  vertritt  er  die  stelle  des  trösters  489,  1 — 4,  denn  über- 
mafs  auch  in    dem  gerechten   schmerze   ist  vom   übel,      trähnen 


442  EHRISMANN 

schreiben  die  bufsregeln  nicht  nur  dem  beichtenden  vor  (poeni- 
tentia  est  peccala  deflere  Alanus  Liber  poenitentialis,  Migne  210, 
302;  sonst  sei  hier  nur  auf  Schönbach  Über  Hartmann  ver- 
wiesen), sondern  auch  dem  heichtvaler  :  Alanus  aao.,  Migne  s.  99 
210,  289  debet  quoque  sacerdos  vultum  compatientis  reo  exhibere, 
ut  sie  reus  saltem  vereeundia  duetus  ad  poenitentiam  invitetur. 
Lacrymae  admonentis  lacrymas  excitent  poenitentis ;  Wasserschieben 
Bufsorduungen  s.  252  Videns  aulem  ille,  qui  venu  ad  poenitentiam, 
sacerdotem  tristem  et  lacrymantem  pro  suis  facinoribus. 

4S8,  27 — 30  gehl  Trevrizent  auf  die  Sünde  selbst  ein,  die 
unterlassene  milleidsfrage.  die  triuwe  maugelte  ihm,  die  Caritas 
(misericordia,  compassio),  er  hat  gegen  das  gebot  der  barmherzig- 
keit  gefehlt,  die  betrübten  trösten,  consolari  tribulatos,  ist  eines 
der  sieben  (sechs)  geistlichen  werke  der  barmherzigkeit,  die  Unter- 
lassung dagegen  verletzt  das  hauptgebot,  die  liebe  zu  Gott  und 
dem  nächsten  (Wer  sie  [die  sechs  werk  der  heyligen  barmherzig- 
keit] versmechl  zeu  thun,  dem  wirt  sie  got  verweysen  an  den  iungsten 
tag  vnd  beget  ein  töllich  sünd  Bamberger  beichtb.  s.  19  f  42.  86). 
hätte  Parzival  die  mitleidsfrage  getan,  so  hätte  er  eine  der  acht 
Seligkeiten  erfüllt,  der  weg  zur  himmlischen  Seligkeit  wäre  ihm 
offen  gestanden,  der  durch  das  höchste  irdische  glück,  den  Gral, 
durchführt.  Quant o  amplius  per  compassionem  proximis  nostris 
in  necessitate  suecurrimus,  tanto  amplius  Creatori  nostro  appropin- 
quamus  Sßernhard  (?)  Liber  ad  sororem  cap.  14. 

Dabei  erläutert  Trevrizent  den  sündhaften  zustand,  auf  grund 
dessen  Parzival  diese  pflicht  der  triuwe  vergessen  konnte  :  er 
machte  einen  unrichtigen  gebrauch  von  den  ihm  verliehenen  sinn- 
lichen und  intellecluellen  kräften.  zum  ersten  haben  ihn  die  fünf 
sinne  betört,  488,  26  f.  auch  diese  haben  eine  stelle  in  der  volks- 
tümlichen morallehre,  vgl.  Bamberger  beichtb.  s.  19  Fünf  sein 
syn  genant,  die  dir  sullen  sein  bekamit  :  sehen,  smecken,  greyfen, 
riehen,  hören;  die  fünf  sullen  dich  nicht  betören;  hab  sie  stet  in 
grosser  hut,  so  kumstu  nit  in  der  helle  glut.  dann  aber  hat  seine 
Jugend  ihm  das  denkvermögen  getrübt  (zu  489,  5 — 12,  vgl.  den 
eiugang  zu  Alanus  Liber  poenitentialis).  er  hat  zu  klug  sein 
wollen,  die  lehre  des  Gurnemanz  'Du  sollst  nicht  fragen'  (das 
törichte  fragen  wird  auch  in  der  bibel  gerügt,  2  Tim.  2,  23) 
hat  er  in  seinem  verständnislosen  bildungstriebe,  der  nur  auf  das 
erlernen    der   höfischen  lebenskunst  gerichtet  war,   allzu  wörtlich 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  443 

genommen,  statt  dass  er  seiner  angeborenen  natur  folgte,  kraft 
deren  er,  ohne  sich  zu  besinnen,  in  einfältiger  herzensgute  um 
das  leid,  das  ihn  umgab,  sich  bekümmert  hätte,  so  vveifs  der 
giltige  greis  seine  schwere  schuld,  indem  er  sie  ihm  erklärt,  des 
unheimlich  rätselhaften  zu  entkleiden  und  ihr  das  entsetzliche 
zu  benehmen,  denn  nieht  aus  herzensverhärtung  ist  sie  ent- 
sprungen, sondern  aus  trübung  der  siune  und  der  Vernunft, 
deren  richtigem  gebrauch  seine  Jugend  noch  nicht  gewachsen 
war.  damit  aber  wird  sie  entschuldbarer  :  Alanus  aao.  (Migne 
210,  287)  Inquirenda  est  quoque  aetas,  utrum  reus  senex  an  puer? 
yravius  enim  peccat  senex,  qui  rerum  habet  experientiam,  quam 
puer  qui  nullam. 

Auf  die  erkläruog  der  schuld  folgt  der  ratschlag  zur  besserung. 
die  verse  489,  13 — 20  enthalten  die  auschauung,  welche  Trevrizent 
vertritt  über  das  Verhältnis  der  fähigkeiten  des  menschen  gegen- 
über Gott  :  gottvertrauen  gepaart  mit  Selbstvertrauen  lassen  ihn 
das  ziel  erreichen,  mit  dem  höchsteu  vereinigt  zu  sein,  warm 
kommen  die  worte  des  trostes  aus  treuem  herzen  :  könnt  ich 
dein  herz  jugendfrisch  machen  und  kühn,  so  dass  du  das  hohe 
ziel  erkämpftest  und  an  Gott  nicht  irre  würdest,  dann  würde 
dein  erfolg  etwas  so  erhabenes  erreichen,  dass  du  alles  kummers 
reich  belohnt  würdest  :  Gott  selber  würde  dich  nicht  lassen, 
mit  diesen  hoffnungsreichen  Worten  schliefst  Trevrizent  seine 
dritte  belehrung.  zuerst  hat  er  ihm  den  glauben  verkündigt 
461,  28—465,  30,  dann  die  liebe  466,1  —14  und  467,  5—10, 
er  endet  mit  der  hoffnung  489,  13—20. 

Auffallend  ist  es,  dass  Trevrizent  in  dieser  ganzen  letzten  rede 
gar  nicht  auf  den  Gral  bezug  nimmt,  man  würde  nach  der 
bedeutung,  welche  die  unterlassene  frage  für  die  gestaltung  von 
Parzivals  leben  hat,  eine  viel  stärkere  bewegung  des  greises 
erwarten,  statt  dessen  behandelt  er  dieses  vergehen,  das  Parzival 
selbst  für  den  gipfel  seiner  untaten  ansieht,  sehr  milde  (vgl.  San 
MarteZs.  f.  d.  phil.  17,  191),  nur  die  beiden  andern  Sünden  werden 
sünde  genannt  499,  20.  die  aufklärung  gibt  er  selbst  später, 
als  alles  sich  zum  guten  gewendet  hat,  798,  6  f.  23 — 28  :  er 
wollte  ihn  vom  Gral  abhalten,  um  ihm  sein  fruchtloses  sichauf- 
reiben zu  ersparen,  da  er  nicht  glaubte,  dass  er  ihn  werde 
erringen  können,  darum  spricht  er  auch  nur  von  zwei  grofsen 
Sünden,  die  Parzival  zu  biifsen  habe. 


444  EHRISMANN 

Der  letzten  und  grösten  gefahr  war  Parzival  ausgesetzt,  das 
ist  die  Verzweiflung  an  Gottes  gnade,  desperatio.  es  ist  eine 
sünde  gegen  den  heiligen  geist  und  darum  die  allerschlimmste,  vgl. 
Petrus  Lombardus  Sent.  n  43,4,  SBernhard(?)  De  modo  beue 
vivendi  cap.  xxvii,  Schönbach  Über  Hartmaun  s.  98.  118  f.  449, 
Zwierzina  Zs.  37,  401.  405,  Martin  Parz.  n,  2,  melancolia  Vintler 
v  11 15 ff),  sie  ist  die  höchste  potenz  des  Zweifels  (s.'oben  s.  416), 
und  indem  Parzival  ihr  zu  verfallen  droht,  beweist  er,  dass  sein 
glaube  noch  nicht  ganz  zweifellos  ist.  darum  die  mahnung  des 
beichtvaters,  an  Gott  nicht  zu  verzagen,  darum  aber  auch  für 
Parzival  die  notwendigkeil,  im  glauben  noch  mehr  zu  erstarken 
und  noch  in  langem  lebenskampfe  die  probe  abzulegen. 

In    dem    Stammbaum    der   sieben   todsüoden   gehören  zweifei 

und  Verzweiflung  zur  accidia  {tristüia),  der  trägheit,  dem  geistigen 

Stumpfsinn  {tristüia  s.  oben  s.  416.  427.  435,  accidia  Du  Cauge  i 

52  f),  so  auf  der   arbor   vitiorum  bei  Hugo  vSVictor,    Migue  176, 

1001.  1007,  auch    sermo  38,  Migue  177,  996;  Renner  v  15930; 

Bamberger    beichtb.  s.  22  (vertzagnus),  Joh.  Wolff  Beichtbüchlein 

ed.  Battenberg  s.  25,  Bahlmann  Deutschi,  kathol.  katechismen  s.  69 

{Mystroest   efft    Wanhope).     gegenüber    der   alle  kraft  zum  guten 

lähmenden    verdüsterung  des  gemüts  wünscht  dem  in  hoffnungs- 

losigkeit  gebeugten  sein  geistlicher  ratgeber  herzenskühnheit  und 

unverzagtheit    in  Gott,   denn    die    der   accidia   gegenüberstehende 

haupttugend  ist  die  tapferkeit,  fortitudo,  besonders  deren  tochter- 

tugeud  perseverantia,  gegenüber  der  trägheit  zum  guten  steht  die 

beharrlichkeit    im    guten,    so    zb.    auf    dem    Stammbaum    Hugos 

vSVictor  aao.    darüber  sagt  Werner  in  seinen  Deflorationes  Lib.  n 

Ds  Septem    petitionibus,  Migne  157,  1069:   Tristüia  namque  tce- 

dium  est  animi  cum  maerore,  quando  mens,  quodammodo  tabefacta 

et  vitio  suo  amaricata,  interna  bona  non  appetit  atque  omni  vigore 

est  mortua,  nullo  spiritualis  refectionis  desiderio  hilarescit.    Prop- 

terea  ad  sanandum  hoc  Vitium  depiwari  nos  opportet  mtsericordiam 

Dei  .  .  .  Datur    ergo    huic    petilioni    Spiritus    fortitudinis  ut 

fatiscentem   animam   erigat,    quatenus   illa  pristini  vigoris  virtute 

recepta,   a   defectu   sui  taedii  ad   desiderium   ittterni  amoris  con- 

valescat. 

Verzweiflung  und  unverzagtheit  sind  die  beiden  entgegen- 
gesetzten pole  des  sittlichen  willens,  das  problem  der  eingangs- 
verse  1,  1 — 9  wird  hier  variiert,     die   Verzweiflung  —  dort  der 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  445 

zweil'el  —   bringt    der   seele  verderben,    kühnes   gottvertrauen  — 
dort     unverzaget    mannes    muot    —    ist    das    mittel    zum    heil. 

Die  nun  folgende  dritte  rede  Treviizents  über  den  Gral  489, 
22 — 499,  10  fügt  sich  widerum  folgerichtig  in  den  Zusammen- 
hang, da  Parzival  erzählt  hat,  dass  er  es  sei,  der  beim  Gral 
gewesen,  ohne  zu  fragen,  will  der  alte  wissen,  wie  das  alles 
zugegangen  sei;  und  da  aufserdem  der  tot  Ithers  und  Herzeloydens 
den  gesprächsstoff  bildet,  so  will  er  über  diese  beiden  nähere 
auskunft  geben  und  ergänzt  somit  die  Mitteilungen  über  Parzivals 
geschlecht,  die  er  ihm  in  der  vorhergehenden  Gralsrede  gemacht 
hatte. 

499,  11—502,  30. 

Scene  m  abteil.  4.  hier  wechseln  die  partieen  von  Parzival 
und  vom  Gral  rasch  mit  einander  ab  :  499,  11 — 30  von  Parzival, 
500,  1  —  501,  10  vom  Gral,  501,  11  —  18  von  Parzival,  501, 
19 — 502,  2  vom  Gral,  502,  3  bis  zum  schluss  von  Parzival.  der 
grundgedanke  in  den  stücken  von  Parzival  ist  die  bufse.  die 
reue  ist  vollständig,  die  beichte  ist  abgelegt,  nun  muss  die  bufse 
übernommen  werden  :  wilt  du  gein  got  mit  triwen  lehn,  so  solte 
im  wandel  drumbe  gebn  499,  17/,  nim  buoz  für  missewende,  unt 
sorge  et  umb  din  ende,  daz  dir  din  arbeit  hie  erhol  daz  dort  diu 
se'le  ruowe  dol  499,  27 — 30.  doch  nur  für  die  zwei  grofsen 
Sünden  (499,  20),  wegen  des  todes  Ithers  und  der  mutter,  fordert 
ihn  der  beichtvater  zur  bufse  auf,  die  gleichgültigkeit  beim  leiden 
des  Anfortas  rechnet  er  nicht  mehr  mit  ein  (499,  11  —  30). 

Zur  abbüfsung  der  vergehen  gehört  schon  das  asketische 
leben,  das  er  beim  klausner  führt  (501,  11 — 18).  Parzival  erträgt 
es  freudig ,  wand  in  der  wirt  von  Sünden  schiet  unt  im  doch 
riterlichen  riet  501,  17  f.  was  rilerlichen  raten  ist,  das  ergibt 
am  besten  ein  vergleich  mit  den  ratschlagen,  die  Gregorius  in 
Hartmanns  legende  seiner  mutter  gibt,  v.  2665 — 2750  (vgl. 
Schöubach  Über  Hartmaun  s.  98 ff),  die  Situation  ist  ähnlich  wie 
im  Parzival  488,  1  ff  :  die  mutter  ist  hoffnungslos,  Gregorius 
warnt  und  trüstet  sie  :  niht  verzwivelt  an  gote:  ir  sult  harte  wol 
genesen  usw.  2698  ff.  aber  die  heilsmittel,  die  Gregorius  an- 
empfiehlt, sind  gerade  die  entgegengesetzten,  er  hofft  für  seine 
mutter  rettung  nur  durch  die  strengste  askese,  und  er  selbst  ist 
auf  dem  wege,  das  härteste  büfserleben  anzutreten,  während  der 
ritterliche  klausner,  der  ohne  gewissensbisse,  vielmehr  mit  freuden, 


446  EHRISMANN 

seiner  kämpf-  und  minnefrohen  Jugend  gedenkt,  seiuem  beichtling 
kraft  des  herzens  erfleht,  um  in  den  kämpfen  des  lebens  bei 
Gott  bestehn  zu  können,  dort  die  absolute  weltverueinung  bis 
zur  selbstveruicbtung,  hier  die  bekennung  des  irdischen  mit  dem 
ziel  der  selbstveredlung. 

Dann  folgen  zum  schluss  nochmals  zwei,  mehr  für  das 
sociale  leben  berechnete  lehren  :  du  sollst  die  frauen  nicht  hassen 
und  die  priester  verehren  502,  4 — 22.  diese  hat  Wolfram  schon 
bei  Chrestien  vorgefunden  (Vogt  aao.  s.  147),  aber  die  ausführung 
ist  doch  für  seine  lebensauffassung  bezeichnend,  er  tritt  hier 
ganz  aus  den  anschauungen  der  geläufigen  höfischen  moral  heraus, 
diese  preist  als  höchste  wonne  des  maunes  den  frauendienst, 
hier  dagegen  wird  zum  dienst  der  geistlichen  ermahnt  :  der  (der 
pfaffen)  sol  din  dienst  mit  trivoen  pflegen  502,  10.  gegenüber 
der  Verherrlichung  der  priester,  wie  wird  hier  der  preis  der 
Irauen  heruntergeslimmt!  die  frauen  zieren  nur  das  leben,  aber 
wenn  du  ein  seliges  ende  haben  willst,  dann  must  du  der 
pfaffen  freund  sein  502,4.  11  f.  und  während  dem  äuge  des 
minnesingers  seine  dame  sich  als  das  herrlichste  darstellt,  heifst 
es  hier:  swaz  din  ouge  üf  erden  siht,  daz  glichet  sich  dem  priester 
niht  502,  13  f.  das  ist  eine  bewuste  absage  vom  minnedienst, 
dem  der  gottesdienst  als  lebensaufgabe  gegenübergestellt  wird, 
und  so  schliefst  der  rat  des  einsiedlers  mit  demselben  gedauken, 
mit   dem   er  begonnen,   mit   der  ermahnung  zum  dienste  Gottes. 

Trevrizent  hat  seine  aufgäbe,  die  läuterung  des  helden  zu 
bewürken,  gelöst,  er  hat  ihn  wider  in  das  richtige  Verhältnis  zu 
Gott  gebracht,  da  dieses  geschehen,  kann  er  nun  dem  schuldigen 
seine  Sünde  abnehmen,  als  genugtuung  legt  er  ihm  nichts 
anderes  auf  als  seiner  lehre  zu  folgen  :  und  leist  als  ich  dir  hau 
gesagt  :  belip  des  willen  unverzagt  502,  27  f.  unverzagter  wille 
zu  den  ermahuungen,  die  er  ihm  gegeben  :  es  ist  dasselbe,  was 
die  rituelle  absolutionsformel  für  den  beichtenden  von  der  gnade 
des  heiligen  geistes  erfleht,  perseverantiam  in  bonis  operibus, 
sldticheit  guotes  lebenes  Benedictb.  Gl.  u.  b.  in,  MSD3  1,  315, 
109.  112,  Kelle  Spec.  Eccl.  s.  7.  bulswerke  im  einzelnen  nach 
dem  kanon  beten,  fasten ,  almosengeben  schreibt  er  ihm  nicht 
vor,  und  sie  sind  auch  in  der  folgenden  prüfungszeit  keine  mittel 
der  genugtuung.  Trevrizent  riet  riterlichen.  er  hat  rücksicht 
genommen    auf  den   stand   des   büfsers  und  ihm  nichts  auferlegt, 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  447 

was  den  anschauungen  des  rittertums  zuwider  gewesen  wäre, 
alles  ist  abgesehen  auf  die  Stärkung  des  willens  zum  guten,  ohne 
äu/sere  werktäligkeit.  zum  christlichen  ritter  wollte  er  seinen 
Schützling  erziehen,  aber  nicht  im  sinne  des  miles  christianus 
der  kirche,  in  welchem  der  eine  begriff,  der  des  rittertums,  nur 
soweit  eine  berechtigung  hatte,  als  er  sich  dem  jenseilsgedanken 
der  kirche  einfügte;  vielmehr  im  sinne  der  Vereinigung  von 
rittertum  und  Christentum:  das  rittertum  als  erscheinungs- 
form  des  irdischen  daseins  geläutert  durch  das  christentum- 
symbolisch ist  für  diesen  gegensatz  hier  am  schluss  der  frauen- 
und  priesterdienst  eingesetzt,  der  kirchliche  ritter  soll  nur  die 
himmlische  liebe  kennen,  Wolframs  christlicher  ritter  darf  neben 
der  himmlischen  liebe  auch  die  irdische  empfinden. 


Die  innere  geschichte  Parzivals  im  buch  ix  ist  ein  beispiel 
für  die  christliche  lehre  von  der  entwicklung  des  nach  dem 
höchsten  gute  strebenden  menschen,  das  höchste  gut  besteht  in 
der  erkenntnis  Gottes,  die  sittliche  entwicklung  vollzieht  sich  in 
der  Herstellung  des  vernünftigen  denkens  und  in  der  kräftigung 
des  sittlichen  willens,  dieses  bewürkt  in  Parzival  die  erziehung 
durch  Trevrizent.  er  lehrt  ihn  Gott  kennen  und  stärkt  seinen 
willen,  er  erzeugt  in  ihm  das  vernunftgemäfse  wollen,  er  befreit 
ihn  von  der  ignorantia,  denn  der  unentwickelte  intellect  und 
der  infolge  davon  verkehrte  wille  waren  die  Ursachen  zu  Parzivals 
drei  Sünden  :  sie  sind  in  Unwissenheit  geschehen,  als  narr  ver- 
kleidet scheidet  der  knappe  tump  Wide  wert  (126,  19)  von  der 
mutter;  gröziu  tumpheit  beherschte  ihn,  als  er  an  Ither  den 
reroup  nahm  156,  24.  475,  5f.  744,  17 f;  aus  jugendlicher  torheit 
unterliefs  er  die  frage,  wie  ihn  Trevrizent  selbst  belehrt,  s.  oben 
s.  442 ff  und  225,  27.  330,  2.  484,  28.  auf  den  letzten  fall,  da 
er  die  worte  des  Gurnemanz  nicht  ganz  siungemäfs  verstand, 
passt,  was  Thomasin  von  der  unwissentlichen  Sünde  sagt: 
von  tcerscheit  kumt  ez,  swelich  man  mit  sinne  niht  erahten  kan 
wier  ein  rede  gelonben  sol  und  wem  er  sol  gelouben  wol  WGast 
13445—48. 

Die  ignorantia  rerum  agendarum  und  die  concupiscentia 
noxiarum  sind  die  Ursache  aller  übel  nach  Augustin  Enchirid.  24, 
uud  ebenda  81   siud  es  die  ignorantia  und  die  infirmitas.    Petrus 


448  EHRISMANN 

Lombardus  macht  die  Unterscheidung  zwischen  ignorantia  quae 
excusat  und  ignorantia  quae  non  excusat  Sent  u  22,  9,  und  darauf 
in  art.  10  nennt  er  drei  arten  der  ignorantia,  deren  zweite  auf 
Parzival  zutrifft  :  eorum  qui  volunt  (scire),  sed  non  possunt  —  diese 
art  entschuldigt  (Migne  192,  699).  die  Unterscheidung  Augustins 
kehrt  bei  ihm  wider  hei  der  bestimmung  der  Sünden  gegen  den  vater, 
den  söhn  und  den  heiligen  geist  :  peccatum  in  Patrem  id  intelligitur 
quod  fit  per  infirmitatem  .  .  .  peccatum  in  Filium,  quod  fit  per 
ignorantiam  (die  dritte  sünde,  peccatum  in  Spirilum  sanctum, 
ist  vorher  auseinandergesetzt  worden)  .  .  .  Qui  ergo  peccat  per 
infirmitatem  vel  per  ignorantiam,  facile  veniam  adipiscitur-, 
sed  non  ille  qui  peccat  in  Spirilum  sanctum  Sent.  n  43,  4.  im 
selben  sinne  handelt  Richard  vStVictor  De  spiritu  blasphemiae, 
(Migne  196,  11S7)  :  dicunt  quod  peccare  per  infirmitatem  sit  peccare 
in  Patrem;  peccare  vero  per  ignorantiam  sit  peccare  in  Filium- 
per  solam  autem  peccare  malitiam  sit  peccare  in  Spiritum  sanctum. 
Et  qui  per  infirmitatem  vel  ignorantiam  peccant,  sicut  aliquid 
excusationis  habent  in  culpa,  sie  aliquid  remissionis  aeeipiunt  in 
peena.  Alanus  Liber  poenitent.  (Migne  210,  28S):  Praeterea 
inquirendum  est,  utrum  scienter  factum  sit  (peccatum)  vel  igno- 
ranter, quia  scientia  eulpam  aggravat ,  ignorantia  alleviat. 
Würzburger  beichte,  MSD  lxxvi  24  f :  daz  ih  uuollenter  ode 
niuuollenter ,  uuizenler  ode  niuuizenter  giddhta  uuider  gotes 
uuillen;  Bair.  beichte  MSD.  lxxvii  5:  de  ih  uuizzunta  teta  odo 
unuuizunta,  ferner  Benedicib.  gl.  u.  b.  i,  MSD.  lxxxvii  22; 
SGaller  gl.  u.  b.  i,  MSD.  lxxxvih  7  f ;  Benedictb.  gl.  u.  b.  ii,  MSD. 
xciv  9;  Benedictb.  gl.  u.  b.  in,  MSD.  xcvi  46  f.  (Kelle,  Spec.  Eccl. 
5,  3);  Münchener  gl.  u.  b.,  MSD.  xcvn  47.  nach  dem  dogma  also 
sind  sünden  durch  Unwissenheit  solche,  die  entschuldigt  werden 
können,  aber  es  kommt  doch  immer  auf  das  niafs  der  Ver- 
antwortlichkeit an,  und  von  diesem  standpunet  aus  ist  Parzival 
in  den  drei  fällen  von  schwerer  Verschuldung  nicht  frei  zusprechen, 
sein  gewissen  muste  schon  so  empfindungsfähig  sein,  dass  es 
ihn  unter  diesen  umständen  auf  den  rechten  weg  leitete,  insofern 
es  hier  versagte,  hat  er  gegen  das  natürliche  sittengesetz  gehandelt 
(Seeber  s.  191).  die  liebe  zur  mutter  hätte  auch  deu  unvernünftigen 
knaben  abhalten  müssen,  dass  er  ihr  den  schmerz  bereitete,  sie 
zu  verlassen;  aus  purem  eigennutz  und  ehrgeiz,  um  eiue  rüstung 
zu  haben  und  ritter  werden  zu  können,  hat  er  Ither  erschlagen ; 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  449 

und    endlich ,    das    natürlich    menschliche    mitleid   muste   stärker 
in   ihm  sein  als  der  respect  vor  dem  höfischen  ceremoniell. 

Aus  ein  und  demselben  unheilvollen  triebe  gehn  alle  diese 
verhängnisvollen  taten  hervor  :  aus  der  lust  zur  weit  (concupi- 
scentia  carnis).  die  freude  am  irdischen  schein  trübte  sein 
gewissen  und  betörte  seine  Vernunft,  daher  die  klage  des  geist- 
lichen heraters,  als  er  von  ihm  hört,  dass  er  Ither  erschlagen: 
k6\De  werlt ,  wie  tuostu  so?'  475,  13 ff.  es  ist  dieselbe  erfahruug 
von  der  weit,  die  ihre  süfse  in  bitterkeit  verwandelt,  die  auch 
Gregorius  machen  muste,  als  er,  wie  Parzival,  alle  Warnungen 
in  den  wind  schlagend  aus  seiner  stillen  abgeschiedeuheit  in  die 
well  hinauszog,  die  kenntnis  des  lebens  muss  mit  der  Unschuld 
bezahlt  werden. 

C.     Parzivals  prüfung  und  bewährung. 

Mit  der  erziehung  durch  Trevrizent  sind  die  lehrjahre  Par- 
zivals abgeschlossen,  ihm  ligt  nun  ob,  die  erkenntuis,  die  er 
gewonnen ,  zu  bewähren,  es  folgt  die  prüfung.  zwei  grofse 
taten,  der  kämpf  mit  Gawan  und  der  mit  Feireüz  bilden  die 
mittelpuncte,  um  welche  sich  die  weitere  entwicklung  gruppiert, 
es  sind  tapferkeilsproben  die  er  zu  bestehen  hat.  der  ritterliche 
heldenmut  gibt  die  sichtbare  form  ab  für  seine  innere  bewährung, 
die  sittliche  grundlage  aber  bildet  die  tapferkeit  der  seele,  die 
beharrlichkeit  im  guten,  der  'unverzagte  mannesmut'.  aber  freilich, 
dieses  innere  leben  wird  in  der  darstellung  nun  bis  gegen  den 
schluss  von  den  äufseren  Vorgängen  zurückgedrängt. 

Zwei  weltliche  lockungen  treten  an  ihn  heran,  vor  und  nach 
dem  kämpfe  mit  Gawan.  das  schönste  weib  bietet  ihm  ihre  minne 
au  :  aber  was  ist  Orgeluse  gegen  sein  gemahl,  die  königiu 
vPelrapeir?  (618,  19 — 619,  14);  er  ist  der  gefeiertste  ritter  am 
Artushofe  geworden  :  aber  was  ist  die  tafeirunde  gegen  den  Gral? 
(732,  lff).  der  Gral  und  sein  weib  sind  ihm  die  leitenden  Sterne 
geblieben  durch  die  nacht  des  irrtums,  so  jetzt  in  dem  grauenden 
lichte  seiner  läuterung.  aber  wer  nach  dem  Gral  ringt,  muss 
allem  irdischen  glück  entsagen.  noch  einmal  kämpft  er  den 
schwersten  kämpf  durch :  wie  sehnsuchtsvoll  es  ihn  auch  nach 
seinem  weibe  zieht,  der  todsieche  mann  beim  Gral  verlaugt  nach 
erlösung.  es  ist  der  letzte  seelenkampf.  er  folgt  der  höheren 
pflicht,  aber  mit  zerrissenem  herzen,  noch  einmal  bricht  der 
zweifei  durch,   dass  Gott  die  gute  ist  (got  wil  miner  freude  niht 


450  EHRISMANN 

733,  8).  aber  es  ist  die  letzte  Verzagtheit  und  die  letzte  traurigkeit. 
denn  in  dem  nun  folgenden  kämpfe  mit  Feirefiz,  gegen  den  alle 
vorhergehenden  nur  kinderspiel  waren  (734,  18f),  ist  Parzival  mit 
sich  und  mit  Gott  im  reinen,  nirgends  bei  seinen  heldentaten 
sind  die  inneren  kräfte  so  tätig  wie  in  dieser  letzten,  der  äufsere 
mut  ist  getragen  von  dem  willen  einer  starken  seele,  der  erfolg 
wird  von  innen  geleitet  :  in  seinem  kühnen  und  grofsmütigen 
herzen  ligt  das  glück  (734,  23 — 26).  zu  den  ihn  schützenden 
mischten  des  Grals  und  der  gattenliebe  (619,  8 — 12.  737,  27  f.  740, 
19 — 22.  743,  12 f)  tritt  nun  die  höchste  macht,  das  gottvertrauen: 
der  getoufte  wol  getrüwet  gote  sit  er  von  Trevrizende  schiet,  der  im 
so  herzenliche  riet,  er  solte  helfe  an  den  gern,  der  in  sorge  freude 
künde  wem  741,  26 — 30.  und  Gott  löst  nun  seine  schuld  ein. 
das  schwert,  das  er  einst  dem  toten  Ither  abgenommen,  zerspringt, 
der  letzte  rest  seiner  sittlich  primitiven  lebenszeit,  seiner  tumpheit. 
wird  getilgt  durch  das  übernatürliche,  durch  das  wunder. 

Die  prüfung  ist  vollendet,  Parzival  geht  geläutert  aus  ihr 
hervor,  die  ihm  den  fluch  gebracht  hat,  Cundrie,  bringt  ihm  nun 
den   segen.     die  gnade  Gottes   verleiht   ihm    die  kröne  des  Grals 

781,  4.  13 — 16.  aber  die  grofse  lebenspflicht  bleibt  bestehn, 
das  grundgesetz  der  reinheit  :  diu  kiusche,  der  sittliche  wille,  781, 
12  (s.  oben  s.  440).  782,  23.  erstritten  hat  er  sich  das  höchste 
glück,  das  ist  die  ruhe  der  seele  782,  29  (=499,  3).  alles  trauern 
ist  zu   ende,    die    wahre    freude,    die  nur  der  reine  haben  kann, 

782,  17 — 30,  ist  ihm  zu  teil  geworden,  in  der  Stimmung,  mit 
welcher  Parzival  die  frohe  botschaft  aufnimmt,  ist  die  innere 
Wandlung  ausgesprochen,  die  er  seit  seinem  falle  durchgemacht 
hat  :  in  verblendetem  hasse  hat  er  sich  einst  gegen  Gott  aufgelehnt 
(332,  1 — 16),  trauer  über  seine  Sündhaftigkeit  bezeugt  seine 
rückkehr  zu  Gott  (485,  1.  487,  17—22.  488,  1  ff),  unter  trähnen 
der  freude  beugt  er  sich  demutsvoll  vor  ihm,  der  nun  ihn  den 
sündigen  menschen  erlöst  hat.  die  tristitia  coelestis  ist  zur 
laetitia  coelestis  geworden.  (783,  1 — 17).  *) 

Vom  sehnen  zum  glauben,    vom  glauben  zum  schauen,    das 

1  die  bedeutung,  die  dem  Gral  und  seiner  ritterschaft  in  Wolframs 
religiösem  ideenkreise  zukommt  lasse  ich  unerörtert,  da  über  sie,  mit  ganz 
andern  mittein  ausgerüstet,  KBurdach  handeln  wird,  ein  Widerspruch  gegen 
die  kirchliche  Ordnung  der  hierarchie  ligt  in  der  Vorstellung  von  der  Gral- 
gemeinde als  dem  reiche  der  irdischen  Seligkeit  nicht,  die  grundgedanken 
hat   Wolfram    schon    in    der   legende   vorgefunden,     der  ritterliche  dichter 


ÜBER   WOLFRAMS  ETHIK  451 

ist  der  weg,  den  auch  diese  ringende  seele  durchwandert,  als 
knabe  ergreift  ihn  ein  ahnungsvoller  schauer  bei  dem  namen 
Gott,  er  meint,  das  sei  ein  glänzender  mann,  das  sehnen  der 
Jugend,  unterdrückt  in  der  höfischen  verweltlichuug,  erwacht  in 
dem  ausgestofsenen  wider  mit  dem  gefiihl  der  hülfsbedürftigkeit. 
zum  glauben  erhebt  ihn  die  lehre  des  greises,  und  der  glaube 
führt  ihn  zum  schauen  des  wonnevollsten  wunders,  des  Grals, 
das  ist  die  entwicklung,  welche  der  dichter  träcliche  wis  nennt. 
D.     Wolframs  humanismus. 

Die  gnade  Gottes  hat  Parzival  den  weg  zum  heil  gewiesen, 
sie  führte  ihn  zu  Sigune,  zu  Kahenis,  zuletzt  zu  Trevrizent.  in 
der  zeit  seiner  Verblendung  meinte  er,  er  habe  ein  anrecht  auf 
lohn,  am  abschluss  seiner  sittlichen  kämpfe  ist  er  zu  der  Über- 
zeugung gelangt,  dass  er  vielmehr  der  gnade  Gottes  seine  rettung 
verdanke,  zwischen  diesen  beiden  puncten  bewegt  sich  seine 
sittliche  Wandlung. 

In  der  bedeutung  der  gnade  findet  die  Stellung  des  menschen 
zu  Gott  den  bestimmtesten  ausdruck.  die  auffassung  der  gnade 
bildet  den  entscheidungspunct  in  der  frage,  wie  verhält  sich 
Wolfram  zu  den  herschenden  anschauungen  der  kirche?  wie 
weit  hat  Parzival  sein  lebensziel  erreicht  durch  die  gnade  Gottes, 
wie  weit  durch  den  eigenen  willen? 

Nach  der  mittelalterlichen  theologischen  speculation  wird 
das  sittliche  durch  die  gnade  bewürkt,  die  gnade  bewegt  den 
willen  zum  guten,  für  die  sittliche  Selbsttätigkeit  des  menschen 
ist,  wie  sehr  auch  der  freie  wille  betont  werden  mochte,  eigentlich 
kein  räum  geblieben,  in  seiner  abhandlung  über  die  gnade  und 
den  freien  willen  stellt  Bernhard  vClairvaux  das  Verhältnis  zwischen 
beiden  so  dar,  dass  beide  zur  rechtferligung  gleicherweise  nötig 
sind  :  De  gratia  et  libero  arbitrio  cap.  i  Quid  igitur  agit  liberum 
arbitrium?  Salvator.  Tolle  liberum  arbitrium,  non  erit  quod 
salvetur.  Tolle  gratiam,  non  erit  unde  salvetur.  Opus  hoc  sine 
duobus  effici  non  potest,  uno  a  quo  fit,  alter o  cui  vel  in  quo 
fit  usw.  aber  im  cap.  vi  wird  eine  bemerkenswerte  einschränkung 
gemacht:  Velle  siquidem  inest  nobis  ex  libero  arbitrio,  non  etiam 
posse  quod  volumus.  Non  dico  velle  bonum  aut  velle  malum, 
sed  tan  tum  velle.  Velle  etenim  bonum  profectus  est,  velle  malum 

malte  sich   seine  märchenweit  (vgl.  Michels  Gott.  gel.   anz.  1897,  740)  mit 
all  dem  zauber  aus,  der  eben  sein  herz  erfreute. 


432  EHRISMANN 

defectus,  velle  vero  simplicüer  ipsum  est  quod  vel  proßcit  vel  deficit. 
Porro  ipsum  ut  esset,  creans  gratia  fecit.  Ut  proficiat,  salvans  gratia 
facit;  ut  deficiat,  ipsum  se  dejicit.  Itaque  liberum  arbitrium 
nos  facit  volentes,  gratia  benevolos  (guten  willeus).  Ex 
ipso  nobis  est  velle,  ex  ipsa  bonum  velle.  darum  stellt  sich 
zum  schluss  im  cap.  xm  die  tätigkeit  des  menschen  bei  der  recht- 
fertigung,  insofern  dieser  den  freien  willen  dazu  zu  bieten  hat,  als 
bedeutungslos  heraus;  das  gute,  welches  allein  die  heilung 
bewürkt,  leistet  ja  die  gnade  :  Itaque  non  liberi  arbitrii,  sed  Domini 
est  salus,  immo  ipse  salus,  ipse  et  via  est  ad  salutem  qui  ait :  Salus 
populi  ego  sum  .  .  .  Bei  sunt  procul  dubio  munera  tarn  nostra 
opera  quam  ejus  praemia. 

Die  anschauung,  die  Wolfram  von  der  gnade  und  dem  freien 
willen  hat,  ist  in  ihrem  Untergrund  durchaus  kirchlich,  die  gnade 
gibt  ihm  den  anstofs  zur  innern  einkehr.  langsam  erwacht  bei 
den  frommen  mahnungen  der  Sigune  und  des  grauen  ritters  der 
wille  zum  guten  in  ihm,  des  heiligen  einsiedlers  lehre  nimmt  er 
willig  auf,  die  worte  vom  glauben  und  der  liebe  fallen  überzeugend 
in  sein  herz  und  durch  das  sacrament  der  bufse  wird  ein  neues 
leben  in  ihm  geschaffen  (glaube,  liebe  und  sacrament  als  heilsmitlel 
zur  rechtferligung  s.  Deutsch-  Abälard  s.  388).  auf  grund  dieser 
geistigen    Wiedergeburt   vermag    er   dann   sein    ziel  zu  erreichen. 

Die  art  und  weise,  wie  hier  der  wille  sich  äufsert,  muss 
natürlich  in  einer  erscheinungsform  des  rittertums  bestehen, 
und  zwar  in  derjenigen  tugend,  welche  diesem  stand  ausgesprochen 
eigeu  ist,  das  ist  die  tapferkeit.  im  unverzagten  mannesmut 
offenbart  sich  der  sittliche  wille  des  ritters,  er  führt  Parzivai 
zum  siege,  er  erstreitet  den  Gral  mit  dem  Schwerte  472,  1  ff . 
503,  27  ff.  782,  28.  786,  5fl  vgl.  814,  25.  nur  freilich  nicht 
körperlicher  mut  und  ausdauer  und  die  gewanlheit  in  der  fecht- 
kuust  allein  reichen  aus,  den  Gral  zu  erkämpfen,  sonst  hätte 
auch  Gawan  zu  ihm  gelangen  können,  sondern  nur  ein  wahr- 
haft frommer  mann,  der  das  irdische  in  sich  bezwungen  und 
das  gültliche  in  sich  aufgenommen  hat,  hat  die  dazu  erforderliche 
sittliche  kraft,  aber  eine  Vorbedingung  ist  aufserdem  voraus- 
gesetzt, er  muss  von  Gott  dazu  benannt  sein  786,  5ff :  nur  ein 
solcher  kann  eben  jenes  hohe  mals  des  sittlichen  handelns 
erlangen,  das  ist  die  Prädestination,  die  augustinische  lehre  vou 
der  gnade,    das  ist  die  lösung  des    Widerspruchs,  der  Trevrizent 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  453 

die  Überraschung  bereitet  hat,  dass  Parzival  den  Gral  erkämpft 
hat  798,  25 ff;  die  Prädestination  ist  das  wunder,  «las  hier  geschehen 
798,  2. 

Eiu  geistlicher  dichter  aber  hätte,  in  theologischem  sinne, 
das  thema  von  der  gnade  und  dein  willen  ganz  anders  durch- 
geführt, er  halle  Parzival  als  den  christlichen  ritler  nach 
dem  iheologisch-idealisierten  lypus  gezeichnet,  etwa  wie  SBern- 
hard  in  seiner  Exhortatio  ad  milites  Templi.  und  da  wäre  das 
Verhältnis  zwischen  jenen  beiden  grundbedingungen  des  sittlichen 
handelns  ganz  anders  geworden,  er  hätte  die  askese  auch  auf 
das  rilterlum  übertrageu.  allen  glänz  der  rüstung,  alle  Schönheit 
der  geslalt  hätte  sein  ritter  ablegen  müssen;  er  durfte  sich  nicht 
an  dem  rühm  freuen,  den  ihm  sein  heldenmut  bei  den  menschen 
einbrachte,  denn  das  wäre  eitle  weltlreude  gewesen;  er  durfte 
nicht  an  sein  weih  denken,  er  halte  ja  keines  haben  dürfen, 
alle  seine  schönen  taten  der  tapferkeit  wären  gepriesen  worden 
als  gnadengaben  gotles,  für  seine  eigene  leislung  wäre  nichts 
übrig  geblieben,  das  Verhältnis  zwischen  wille  und  gnade  wäre 
auf  das  übermafs  der  gnade  beschränkt  worden,  und  hierin  ligt 
der  tiefe  unterschied  zwischen  der  darstclluug,  welche  diese  frage 
in  dem  ritterlichen  epos  Wolframs  findet,  und  der  kirchlichen 
anschauung.  denn  wenn  auch  die  gnade  die  anregerin  des  guten 
ist,  ihre  wüikung  beim  realen  handeln  tritt  hier  ganz  in  den 
hintergrund.  aller  schwerpunct  ist  auf  die  auslührung,  ist  auf 
die  tat  selbst  gelegt  und  auf  den  starkeu  willen,  indem  aber  so 
der  wille  die  bedeutuug  der  gnade  zurückdrängt,  ist  der  eigenen 
kraft  Parzivals  und  seiner  mitwürkung  beim  sittlichen  handeln 
ein  viel  höherer  wert  beigelegt  als  in  der  kirchlichen  lehre, 
noch  verstärkt  wird  dieser  eindruck,  wenn  man  bedenkt,  dass 
die  eigentlichen  triebkräfte  seines  handelns,  der  gedanke  au  den 
Gral  und  an  sein  weih,  aufserhalb  der  gnade  stehn,  da  sie  ja 
in  die  Zeil  seiner  gottentfremdung  fallen,  die  eigene  kraft  also 
ist  bei  dem  rettungswerk  der  seele  das  entscheidende  moment, 
die  gnade  hat  den  anstofs  gegeheu,  den  ausschlag  gibt  sie  nicht, 
auch  nach  der  durch  die  lehre  Trevrizents  erfolgten  innern 
umkehr  Parzivals  würkt  sie  gleichsam   nur  latent  mit. 

Aber    das    Verhältnis    zwischen    willen    und    gnade    und   vor 
allem    von    der    mitsprechenden    Prädestination    ist   vom    dichter 
nicht   scharf   ausgeprägt,     die   idee    ist    nicht  genügend  heraus- 
Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  30 


454  EHRISMANN 

gearbeitet,  darin  ligt  die  künstlerische  unvollkommenheit  des 
werkes  in  erster  linie.  der  stoff  ist  nicht  überall  gleichmäfsig 
zum  symbol  erhoben,  besonders  in  der  zweiten  hälfte,  in  der 
prüfungszeit  Parzivals  bis  zur  berufung  zum  Gral  geht  das  innere 
leben  zu  sehr  im  abenteuerhaften  verloren  (Gietmann  Parzival 
Faust  Job  s.  2061T).  in  seinen  äufseren  taten  kommt  die  würkung 
jener  geistigen  erziehuog  durch  Trevrizent  doch  nur  allzu  spärlieh 
zur  geltung  (s.  oben  s.  433  und  Herter  Welt-  und  lebens- 
anschauung  Wolframs  s.  18).  in  dem  Zweikampf  mit  Feirefiz 
stärkt  ihm  der  gedanke  an  seine  miune  die  sinkende  kraft  wie 
jedem  Arlusritter  (742,  27 — 744,  13)  und  nach  der  versöhnuug 
zählt  er  rühmend  seine  grofstaten  auf,  obgleich  ihn  Trevrizent 
demut  gelehrt  hatte,  der  dichter  hat  es  nicht  vermocht,  die  über- 
lieferte fabel  mit  seinen  grofsen  gedanken  ganz  zu  durchleuchten, 
darauf  beruhen  die  vielen  Unebenheiten  in  der  enlfaltung  des 
ethischen  teiles.  aber  was  er  sagt,  genügt  um  auch  hier  die 
bedeutung  zu  erkennen,  welche  er  dem  unverzagten  mannesmut, 
oder  dem  willen,  für  das  sittliche  handeln  zuerkennt,  damit  dass 
er  der  eigenen  kraft  so  viel  vertrauen  beimisst,  gesteht  er  dem 
natürlichen  ein  recht  zu  und  steht  mit  diesem  Optimismus  in 
ansehung  der  menschlichen  natur  der  pessimistischen  ethik 
der  kirche  entgegen. 


Also  die  weltbejahung  und  die  weltverneinung  treten  sich 
hier  gegenüber,  und  Wolfram  fasst  im  sinne  der  ersteren  sein 
glaubensbekenntnis  mit  klaren  worten  am  ende  seines  Werkes 
827,  19 — 24  zusammen  :  wer  sein  leben  so  abschliefst,  dass  einer- 
seits der  leib  —  der  sinnliche  teil  —  seine  seele  —  das  göttliche 
in  ihm  —  nicht  Gott  entzieht,  und  der  anderseits  auch  die 
huld  der  weit  behauptet  damit,  dass  er  in  ehren  besteht,  der  hat 
ein  nützliches  werk  getan.  Gott  und  weit  sind  hier  nicht  ent- 
gegengesetzte pole,  man  kann  seine  seele  fürs  jenseits  vorbereite, 
ohne  dass  man  das  diesseits  verschmäht,  der  einseitige  dualismus 
darf  nicht  unbedingt  die  beurteilung  des  menschlichen  daseins 
beherschen,  wie  bei  dem  nur  auf  das  zukünftige  leben  bedachten 
mönch  :  der  in  der  weit  lebende  muss  sich  auch  mit  der  weit, 
nicht   mit  Gott   allein  auseinandersetzen,     der    mensch   ist  nicht 


ÜBEH   WOLFRAMS  ETHIK  455 

allein  zu  messen  an  seinen  beziehungen  zu  GoU,  er  hat  auch  rein 
menschliche  pflichten,  die  lehre  von  der  Sittlichkeit  geht  nicht 
auf  in  der  Lheologie,  sondern  göttliches  und  menschliches,  divinum 
et  humanuni,  die  kräfte  des  geistes  und  der  Sinnlichkeit,  sind 
in  der  Sittlichkeit  zu  verbinden,  sie  ist  humanilät,  durch  das 
göttliche  geläuterte  Menschlichkeit  (vgl.  Bötlicher  Parzivalüber- 
setzung  s.  xxxviii). 

Diese  anschauung  entspricht  nicht  dem  Christentum  der 
theologen,  sie  ist  aber  darum  doch  nicht  unkirchlich,  sie  kommt 
nicht  in  conllict  mit  einzelnen  fundamentalen  glaubenssätzen  noch 
mit  den  cinrichtungen  der  kirche.  sie  ist  nur  nicht  theologisch- 
kirchlich,  sondern  laien-kirchlich.  die  kirche  hat  zu  allen  Zeilen 
der  vielgeslaltung  der  menschen  und  des  lebens  rechnung  getragen, 
auch  den  humanismus  der  renaissance  hat  sie  in  sich  aufgenommen, 
dass  für  die  laien  nicht  die  strengen  gesetze  gellen  können  wie 
für  die  priester,  hat  die  kirche  immer  anerkannt,  im  prak- 
tischen gottesdienst  wurden  dem  ritter  auch  seine  weltlichen 
pflichten  eingeschärft,  mit  dem  Schwerte  das  Vaterland,  den  frieden, 
die  kirche  zu  schützen;  sogut  wie  die  geistlichen,  die  den  frieden 
der  eigenen  seele  betreffen  {mililia  exlerior  —  militia  interior, 
Alanus  Summa  de  arte  praed.  cap.  40,  Migne  210,  18511). 
dieses  populär-christliche  wiiiklichkeitsbild  des  ritters  sieht  freilich 
nüchterner  aus  als  das  von  der  mystik  poetisch  erklärte  idealbild 
des  miles  Christi,  denn  unter  der  schiebt  der  theologenreligion 
mit  ihrem  durch  die  speculation  grandios  aufgerichteten  dogmen- 
gebäude  und  ihrer  im  enlhusiasmus  des  ewigen  alles  irdisch 
vergängliche  überschreitenden  mystik  ligt  die  einfache,  dem  naiven 
gemüte  verständliche  volksreligion.  diese  lehrt  Trevrizent,  diese 
befolgt  Parzival.  hier  ist  es  die  form,  wie  ein  ritter  sich  das 
Christentum  vorstellen  muss.  der  riller  hat  seine  aufgäbe  in  der 
weit  zu  lösen  im  activen  ergreifen  der  irdischen  dinge,  wenn 
er  seine  pflicht  würklich  richtig  auffasst,  so  muss  er  achtung 
haben  vor  dem  diesseitigen  leben,  seinem  tätigkei'sgebiet,  sonst 
würde  er  bewust  seine  lebensarbeit  an  etwas  nichtiges  wenden, 
woraus  etwas  moralisch  gutes  niemals  entstehen  könnte,  das 
verdienst  Wolframs  ist  es,  für  diese  praktische  religion  des  rittertums 
den  erhabenen  poetischen  ausdruck  gefunden  zu  haben,  es  aus- 
gesprochen zu  haben,  dass  sein  stand  das  recht  hat,  sich  mit 
dem    diesseits   auseinanderzusetzen    und   das   leben  lebenswert  zu 

30* 


456  EHRISMANN 

linden,  mit  einem  derartig  stolzen  eintreten  für  die  würde  des 
laienlums  und  für  die  hoheit  seiuer  irdischen  aufgaben  ('des 
ritterlichen  geistes  als  einer  sittlichen  lebensmacht'  Bülticher 
Parzivalüberselzung  s.  xxxvn,  Das  hohelied  vom  rittert.  s.  80, 
Zs.  45,  151)  tritt  er  allerdings  der  gesamten  theologie  seiner  zeit 
entgegen,  das  ritterliche  standesbewustsein  hat  sich  seine  eigene 
lebensauffassung  geregelt.  Martin  citiert  Parz.  n  anm.  zu  827, 
19 — 24  die  gleichen  äufserungen  aus  Wirnts  Wigalois  und  aus 
Thomasin  Wälschem  Gast  (vgl  auch  bes.  des  Sünden  widerstreit 
436 ff),  sie  sind  die  grundlinien  der  ansieht,  welche  der  ritterstand 
sich  über  seine  lebensaufgabe  gebildet  hat.  Gott  dienen  und 
bei  den  menschen  in  ehren  stehen  :  man  wird  das  sittliche 
empfinden  vieler  mittelalterlicher  dichter  auf  diese  beiden  an- 
forderungen  auslaufen  sehen  (Swer  got  unt  die  werlt  kan  behalten, 
derst  ein  scelic  man.  Got  nieman  des  engelten  1dl,  ob  er  der  werlde 
hulde  hat  Freid.  31,  18 — 21).  aber  die  rauhe  würklichkeit  hemmt 
die  entfallung  seiner  seelenbildung.  deshalb  klagt  Wallher,  dass 
es  unmöglich  sei,  daz  guot  und  weltlich  e're  und  goles  hulde  mere 
zesamene  in  ein  herze  komen  8,  20 — 22  *. 

Wenn  man  humanus  auffasst  im  sinne  des  theologischen 
humanus,  ganz  im  allgemeinen  als  'was  den  menschen  betrifft', 
im  gegensatz  zu  divinus  'was  Gott  betrifft',  so  kann  man,  wie 
das  mehrfach  geschehen  ist,  Wolframs  Weltanschauung  unter 
die  bezeichnuug  'humanität'  begreifen,  indem  sie  die  menschen- 
bildung  zugleich  an  sich  selbst  zum  ziel  hat  und  nicht  nur  in 
absehung  auf  Gott,  damit  steht  im  »e^ensatz  die  in  ihrem  vollen 
inhalt  auf  Gott  gerichtete  auffassung  des  lebens,  die  ihren 
bestimmtesten  ausdruck  in  den  regeln  des  mönchstums  gefunden 
hat  von  armut,  keuschheit  und  gehorsam,  das  ist  die  askese. 
in  diesem  puncle  treten  sich  die  beiden  prineipien  am  schroffsten 
gegenüber,  dort  die  armut,  hier  die  prachl  des  höfischeu  lebens, 
die  selbst  in  der  Gralsburg  herscht;  dort  die  geschlechtliche 
keuschheil,  hier  der  preis  der  ehe;  dort  der  gehorsam,  hier  das 
ritterliche  herrentum. 

1  diese  dreileilung  stammt  aus  der  lateinischen  litteralur.  die  Moralis 
philosophia  hat  das  bonurn,  lumestum,  niilc  aus  Ciceros  Officien  herüber- 
genommen  (Migne  171,  1051  G).  es  sind  du-  iirei  ^rofsen  guter  Piatos; 
Weisheit,  ehre  und  geld,  nach  denen  er  die  menschen  einteilt  in  (pt7.6oo(poiy 
(fi/.ött/joi  und  (fi).o/Q))fxuroi. 


ÜBEK  WOLFRAMS  ETHIK  457 

E.     G  a  w  a  n. 

Aber  dieses  ritterliche  hu  ma  nitätsideal  steht  auf  einsanier 
hohe,  eine  klul't  trennt  es  nach  rechts  von  der  kirche,  eine 
andere  nach  links  von  der  hütischen  gesellschalt,  gegenüber 
Parzival  als  Vertreter  des  höheren  rittertums  steht  Gawan  als 
Vertreter  des  niedern  (Scherer),  sie  stellen  nicht  gegensätze  dar, 
sondern  zwei  stufen  ein  und  derselben  idee.  man  miiss  sich 
hüten,  Gawan  als  minderwertig  anzusehen,  er  ist  eine  edle 
natur  mit  denselben  guten  Veranlagungen  wie  Parzival,  nur  hat 
er  sie  nicht  zu  dem  sittlichen  aufschwung  gebracht  wie  dieser, 
denn  er  war  nicht  unter  den  berufenen,  fast  alle  seine  lügenden 
sind  um  einen  grad  geringer  als  die  Parzivals  (Seeber  Histor. 
jahrb.  1,  66—75.  194—200,  San  Marte  Parzival-Studien  in  15— 
28).  er  ist  rechtgläubig,  aber  es  genügt  ihm  das  äufsere 
ceremoniell;  er  ist  treu,  aber  er  huldigt  jeder  schönen,  die  ihm 
begegnet,  denn  das  verlangt  der  minnedienst;  er  ist  eiu  virtuos 
in  der  irdischen  minne,  aber  die  himmlische  ist  ihm  nicht 
geoffenbart  worden;  er  ist  unverzagt  im  kämpf,  aber  von  seinem 
verlangen  nach  dem  Gral  bringt  ihn  eine  liehesaffäre  ab;  er 
besitzt  die  mäze  des  gebildeten  mannes  und  weifs  seine  hallung 
zu  beherrschen,  aber  nicht  seine  sinne,  denn  er  verfällt  den 
reizungen  eines  üppigen  weibes;  er  zieht  uach  Munsalvaesche, 
aber  er  gewinnt  Chastel  marveü;  seine  trauer  ist  nur  die  trütitia 
saeca/aiis,  der  liebesgram,  innere  kämpfe  um  sein  Seelenheil  hat 
er  nicht  durchgerungen,  denn  er  ist  ganz  aufs  weltliche  gerichtet; 
er  fasst  das  leben  als  lebenskunst,  für  Parzival  ist  es  eiu  sittliches 
problem. 

Aber  einen  sittlich  erzieherischen  wert  hat  die  höfische 
zuht  doch  (Scherer,  Seeber).  das  tritt  in  dem  gedieht  vielfach 
zu  tage  (bes.  613,  12 — 14).  die  würkung  der  höfischen  bildung 
ist  eine  Veredelung  der  weltlichen  lebensführung.  das  rein 
irdische  ist  in  eine  schöne  form  gebracht,  aber  die  tugenden, 
die  dieselbe  gestalten,  sind  auch  nur  auf  das  dasein  gerichtet, 
die  göttlichen  tugenden,  die  zum  jenseits  führen,  glaube, 
liebe,  hoffnung,  gehören  nicht  in  den  lehrplan  dieser 
gesellschaft. 

So  nimmt  Wolframs  humanität  die  mitte  ein  zwischen  dem 
suprauaturalismus  und  dem  naturalismus.  nach  drei  richtungen 
suchen  die  menschen  die  glückseligkeit  zu  erlangen  'im  sinnlich- 


45S  EHRISMANN 

irdischen  genuss',  Mm  täligen  wellleben',  'im  frieden  der  beschauung' 
(Werner  Thomas  2,  527).  den  ersten  weg,  aber  den  einer  durch 
die  Mäze  verschönerten  sinnlichkeil,  geht  Gawan,  den  'sittlichen 
eifer  des  tätigen  weltlebens'  (Werner  s.  528)  betätigt  Parzival, 
in  der  contemplation  verweilt  allein,  der  sich  wie  Trevrizent  ganz 
dem  dienste  gottes  weiht. 

F.     Willehalm'. 

Parzival  ist  der  aus  dem  irrtum  zum  glauben  strebende, 
Willchalm  der  in  sich  vollendete  gläubige  mensch,  das  innere 
leben  ist  dort  im  werden,  hier  hat  es  schon  seine  bestimmte 
ausprägung  erlangt,  darum  sind  auch  die  seelischen  probleme 
hier  einfacher. 

Im  gründe  ist  Willehalm  der  gleiche  ethische  typus  wie  Parzival. 
beide  kämpfen  für  das  höchste  ideal,  das  ist  das  höchste  gut, 
der  eine  für  das  irdische  abbild  des  himmlischen  reiches,  der 
andere  unmittelbar  für  Gott  selbst,  beiden  leuchtet  als  zweiter 
leitgedanke  ihres  handelns  vor  die  liebe  zum  eigenen  weibe. 
nur  bedingt  der  legendarische  Stoff  eine  gesteigerte  religiöse 
Stimmung,  wodurch  der  schwerpunet  viel  mehr  nach  dem  supra- 
naturalen verschoben  wird;  und  zugleich  gewährt  er  anderseits 
eine  neue  seile  zur  entfaltung  des  humanilätsgedankens,  indem 
derselbe  nun  in  der  form  der  achtung  vor  den  glaubensfeinden 
auftritt,  und  ebenfalls  in  dem  geistlichen  stolT  ist  es  begründet, 
dass  die  dualistische  Weltanschauung  stark  hervortritt,  die  irdische 
und  die  himmlische  liebe,  das  vergängliche  erdenleben  und  der 
ewige  lohn,  das  heidentum  mit  seiner  weltlust  und  die  Christen 
mit  der  sorge  um  ihr  Seelenheil  :  in  stark  sich  abhebenden  färben 
ist  dieser  kämpf  widerstreitender  ideen  entworfen,  die  aber  auch 
hier,  in  dem  bilde  des  beiden  und  seines  weibes,  harmonisch 
zusammenstimmen  in  einem  durch  das  himmlisch  reine  verklärten 
menschentum. 

Im  eingang,  2,  26 — 4, 18,  ist  ein  zusammengefasstes  Charakter- 
bild des  hehlen  gegeben,  seine  tapferkeit  ist  von  gottesfurcht  ge- 
tragen 3, 1 — 5,  mit  kiusche  und  diemuot  hat  er  Gottes  hülfe  erstritten 
4,  4 — 6.  aber  auch  das  meuschliche  ist  ihm  nicht  fremd  :  die 
minne  bereitet  ihm  herzensnot  3,  7  f,  ritterlicher  kämpf  ist  seine 
freude    3,  18  —  24,    und  irdischer   rühm  und  ansehen  ist  ihm  in 

1  zum  folgenden  verweise  ich  nochmals  ausdrücklich  auf  Vogts  ab- 
handlung  in  den  Neuen  Jahrbüchern   1899,  bes.  s.  148  IT. 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  459 

reichem  mafse  zu  teil  geworden  3,  25 — I,  2.  in  ihm  hat  Wolfram 
den  christlichen  ritter  gezeichnet,  wie  er  ihn  sich  vorstellte,  und 
dieses  bild  trügt  die  zilge  Parzivals  und  nicht  die  des  wellent- 
sagemlen  mönchrillers,  wie  ihn  Bernhard  vClairvaux  verlangt, 
die  Vermahlung  des  göttlichen  mit  dem  menschlichen  ist  auch 
hier  die  centralidee.  und  so  stehu  neben  vielen  rein  religiösen 
äufserungen  Willehalms  auch  viele  dem  weltlichen  zugewante. 
mit  der  liebe  zu  gott  tritt  ihm  zugleich  die  zu  seiner  Irau  ins 
bewustseiu  :  wil  miner  manheit  ruochen  der  durch  uns  an  dem 
kriuze  was  unt  der  al  sterbende  genas,  swar  Gyburc  vert,  dar  ke'r 
ouch  ich  224,  14 — 17.  alles  würde  er  Terramer  zu  liebe  tun, 
nur  nicht  Gott  aufgeben  und  auf  sein  klares  weih  verzichten 
466,  11 — 13.  am  stärksten  kommt  das  natürliche  zum  ausdruck 
in  der  klage,  die  er  an  Gott  richtet  456,  9 — 20,  und  in  der 
minnescene  279,  1 — 280,  12.  und  so  noch  andre  rein  weltliche 
stellen  wie  der  minuedienst  um  Gyburc  95,  10 — 96,  5;  die 
hauplsorge  sind  ihm  sein  weih  und  seine  mage  162,  24 f,  die 
minue  seines  weibes  und  seiner  mage  163,  9f;  der  selbstruhm 
206,  19 — 207,  30;  die  askese  des  fastens  nimmt  er  aus  treue  zu 
Gyburc  auf  sich  176,  10—177,  14.  269,  15  —  19;  seine  tapferkeit 
rettet  ihn  226,  7;  das  glück  ist  ausschlaggebend  58,  21 — 59,  8. 
109,  4.  144,  20  u.  anderes. 

Gyburc  ist  die  weibliche  wendung  des  nämlichen  typus. 
auch  in  ihr  vereinigt  sich  weltliches  uud  geistliches,  höfisch  ist 
die  belehrung  ihrer  Jungfrauen  2-17,  1 — 248,  8.  ihren  heidnischen 
galten  hat  sie  verlassen  durh  des  hoehsten  gotes  hulde,  ein  teil  ouch 
durh  den  markis  310,  18  f.  in  ihrem  glaubensgespräch  215,  10  — 
221,26  durchschlingt  sich  die  liebe  zu  Gott  mit  der  zum  markgrafen: 
Krist  und  den  markgrafen  will  sie  nicht  um  Mahmel  aufgehen 
215,  16  f,  um  den  markgrafen  und  um  Gott  hat  sie  ihrem  reicht  um 
entsagt  216,  1 — 3,  ihm  und  der  höchsten  band  dient  sie  220,  30; 
und  selbst  wenn  die  heidengötter  mächtiger  wären  als  die  Trinitdt, 
so  würde  sie  doch  in  Willehalms  geböte  bleiben,  der  ie  werden 
reiben  vor  uz  ir  rehts  also  verjach,  daz  man  in  dienestlichen  such 
under  schiitlichem  dache  .  .  .  220,  1 — 10. 

Das  bekenntnis  Gyburcs  bildet  den  miltelpunct  der  in  dem 
gedichte  niedergelegten  Weltanschauung,  es  ist  auch  hier  das 
wahre  menschsein,  das  besteht  in  der  würde  vor  der  weit  (220,  21) 
und  dem  glauben  an  Gott,     in   der  anläge  entspricht  diese  stelle 


460  EHBISMANN 

dem  religionsgespräch  zwischen  Parzival  und  Trevrizent,  denn  es 
ist  eine  disputation  zwischen  Gyburc  und  ihrem  vater  Terramer 
und  der  dogmatische  teil  ist  ebenfalls  eine  kleine  theologische 
summe  :  i  215.  216,  4 — 29  Gott  und  die  Schöpfung,  n  218,  3—20 
Sündenfall  (Sibille  und  Plato  218,  13),  m  218,  21—30  höllenfahrt 
und  erlösung.  der  religionsstreit  verläuft  in  der  gewöhnlichen 
art  dieser  disputationen  zwischen  christ  und  heiden  :  der  heide 
bezweifelt  die  wunder  der  heilsgeschichte,  so  Terramer  hier  die 
trinität,  die  magdgeburt  und  besonders  die  möglichkeit  der 
erlösung  durch  einen,  der  selbst  gestorben  ist. 

Dieses  gespräch  und  der  eingang  sind  die  hauptsächlichsten 
Zeugnisse  für  den  religiösen  standpunct,  den  Wolfram  in  Willehalm 
einnimmt,  gegenüber  dem  einfachen  Volksglauben  im  Parzival 
kommt    hier   viel   theologische   gelehrsamkeit  vor.     die  einleitung 

1,  1 — 2,  22  behandelt  das  schwierige  thema  von  der  trinität: 
Gott  1,  3,  Christus  1,  28,  heiliger  geist  2,  20,  uud  das  wesen  der 
goltheit  in  den  drei  hyposlasen  :  der  vater  als  die  macht  mit  den 
eigenschaften  dne  valsch  uud  reine  1,  1  (die  absolute  unveräuder- 
lichkeitundeinfachheit,  immutabilis  und  simplex),  schöpfer  1,3,  ewig 
und  unendlich  1,  4f  1,  29 — 2,  1,  allmächtig  2,  1 — 12,  ohne  ebenmdz 

2,  13  (=  immensns?  vgl.  Baumgartner  Die  philosophie  des  Alanus 
de  Insulis  Beitr.  z.  gesch.  d.  philosophie  d.  ma.  ii  heft  4,  128), 
allweise  2,  14  f;  der  söhn  als  Weisheit  1,  27  f;  der  geist  als  güle. 
die  gute  soll  ihm  die  weisen  gedauken  zu  seinem  werke  eingeben 
2,23 — 27;  denn  der  heilige  geist  verleiht  die  Offenbarung  der 
göttlichen  Weisheit  wie  zb.  A.  Heinr.  863  (vgl.  Schönbach  Über 
Hartmann  s.  75.  78) 1.  auch  in  der  haltung  der  beiden  religions- 
gespräche  ist  der  unterschied  zwischen  der  mehr  volkstümlichen 
frömmigkeit  im  Parzival  und  der  mehr  theologisierenden  im 
Willehalm  zu  beobachten.    Gyburc   lehrt  Gott  als  gegenständ  der 

1  die  einleitung  des  Parzival  und  die  des  Willehalm  stellen  zwei  ver- 
schiedene typen  dar,  die  eine  den  weltlichen,  die  andere  den  geistlichen 
prolog  (vgl.  Rudolfs  Barlaam  und  weltchronik,  Heinrichs  vKrolewitz  Vater- 
unser, Heinrichs  vNeustadt  Gottes  zukunft).  die  geistlichen  prologe  enthalten 
die  anrufung  Gottes  und  bitte  um  seinen  beistand  zu  der  Vollendung  des 
werkes.  zum  formelhaften  bestand  derselben  gehört  die  demütige  selbst- 
verkleinerung,  2,  19 — 22.  der  autor  setzt  seine  eigene  kraft  so  viel  als 
möglich  herunter,  das  sind  blos  stilistische  phrasen  (vgl.  Zs.  f.  d.  phil.  35> 
106).  irgend  welche  schlösse  können  aus  diesen  versen ,  swaz  an  den 
buochen  stet  geschrieben  usw.,  nicht  gezogen  werden. 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  461 

intellectuellen  eikenntnis,  indem  sie  (wie  die  eiuleiluny)  Gott  als 
die  trinität  218,  26 — 29,  Golt  als  altissimus,  als  den  allweisen 
künstler  und  als  den  allmächtigen  216,  2 — 29  darstellt.  Trevrizeot 
dagegen  sucht  stärker  auf  die  empfindung  zu  wilrken  und  durch 
darlegung  der  tilgenden  Gottes  den  willen  zum  guten  anzuspornen, 
indem  er  Gott  nicht  nur  als  den  allmächtigen  schöpfer,  sondern 
als  den  inhegriff  der  treue,  liebe  und  gerechligkeit  preist. 

Den  schönsten  ausdruck  iindet  Wolframs  humane  gesinnung 
in  seiner  beurteilung  der  beiden,  vielleicht  die  weihevollste 
stelle  des  an  religiösem  palhos  so  reichen  gedichtes  ist  Gyburcs 
bitte  für  ihre  früheren  stammesgenossen  306,  25 — 309,  30.  Schönt 
der  gotes  hantgetdt  306,  28  lieht  sie,  und  ebenso  Willehalm  selbst, 
der  herrlichste  hehl  der  Christenheit  :  ez  ist  gar  gotes  hantgetdt 
450,  15 — 19.  und  die  letzten  worte,  die  Wolfram  der  nachweit 
hinterlassen  hat,  reden  von  der  nächstenliebe  (Scherer  Lit.  gesch.8 
185).  als  Vermächtnis  hat  dieser  dichter  der  reinsten  mensch- 
lichkeit  seinem  volke  die  mahnung  gegeben  :  seid  barmherzig, 
barmherzig  auch  gegen  die,  die  anders  glauben  als  ihr,  denn 
auch  sie  hat  Gott  geschaffen. 

Viel  stärker  als  im  Parzival  tritt  hier  die  denkform  der  anti- 
theseauf,  sogar  bis  in  den  einzelnen  stilistischen  ausdruck.  ligt 
doch  im  Hintergrund  aller  handlung  der  kämpf  des  Christentums  mit 
dem  heidentum,  und  innerhalb  des  christlichen  vorstelluugsgebietes 
selbst  zieht  sich  durch  der  dualismus  zwischen  sinnenweit  und 
ideeuwelt.  so  ist  der  Stil  hier  die  naturgemäfse  formensprache, 
der  organische  ausdruck  des  gedaukens.  irdischer  tod,  himmlisches 
leben,  das  ist  die  gewisheit  des  ritters  vom  kreuze,  als  leitmotiv 
zieht  sich  diese  formel  durch  das  ganze  gedieht,  immer  widerkehrend, 
wenn  der  miles  Christi  auftritt :  er  liez  en  wdge  iewedem  tot,  der  sele 
und  des  libes  3,  4  f,  üf  erde  ein  flüsteclicher  tac  und  himels  niuwe 
sunder  glast  erschein  14,  8  ff,  die  viere  heten  hie  den  pris  und  sint 
nu  dortenpardis  14, 27,  deslibes  tot,  derselevride  erwürben Franzoy- 
scere  dd  32,  6  f.,  vgl.  ferner  16,  23  f.  37,  19 — 21  f.  291.  48, 
29  f.  320,  26—30.  322,  3—30.  344,  28—30.  363,  28—30.  420, 
15 — 18.  454,  18 — 21.  und  ebensostehen  sich  gegenüber  die  himm- 
lische und  die  irdische  liebe:  durh  der  zweir  slahte  minne,  Uf  erde 
hie  durh  wibe  lön  und  ze  himel  durh  der  engel  dön  16,  30 — 17,  2, 
vgl.  auch  299  26.  303,  8-13.  371,  21  f.  381,  21—30.  400,  1—7. 

Die   beiden    kämpfen  zwar  auch  für  ihre  götter,   aber  diese 


462  EHRISMANN 

gewähren  ihnen  keine  innere  Stärkung  und  keinen  ewigen  lohn. 
so  sind  sie  völlig  diener  der  weit,  sie  sind  gezeichnet  als  höfische 
ritter  mit  deren  glänzenden  tilgenden  (manheit,  triuwe,  mute,  stcele 
462,  2 — 7,  miltekeit,  eilen,  manlich  güete  368,  17 — 19).  sie  sind 
vollendete  cavaliere.  ihr  denken  ist  heherscht  von  der  irdischen 
minne,  minnedienst  ist  ihre  losung.  lrauenminne  hält  Terramer 
seinen  zehn  söhnen  als  lohn  vor,  als  er  sie  in  die  schlachl  sendet: 
wibe  süeze,  [und]  ir  minneclicher  schin  sol  iuch  hiute  leren  iwern 
pris  bi  vinden  meren  346,  4—6,  ferner  346,  161.  347,  14  f.  348, 
12—14.  349,  1—6. 

Aber  wie  herrlich  auch  dem  gottesslreiter  der  siegeslohn 
ausgemalt  wird,  die  Stimmung,  die  über  dem  gedichte  ligt, 
ist  nicht  siegesfreudig,  vielmehr  ist  das  gauze  eine  ungeheure 
klage  über  den  riesenkampf,  der  den  gläubigen  gegen  den  Unglauben 
auferlegt  ist.  mit  klage  bezeichnet  Wolfram  selbst  den  inhalt 
seines  werkes  4,  26.  mit  unnennbaren  leiden  muss  die  verwürk- 
lichung  des  reiches  Gottes  auf  erden  erkämpft  werden,  und  so 
ist  die  ganze  lebensaufgabe  Willehalms  und  Gyburgs  ein  kämpf 
und  eine  sorge,  und  die  ruhepuncte  dazwischen  sind  nur  da, 
damit  sie  wider  kräfte  schöpfen  könuen  zu  neuen  kämpfen,  ihr 
leben  ist  ein  abbild  des  menschlichen  seins  überhaupt  :  nach 
trurn  sol  freude  etswenne  komn.  so  hat  diu  freude  an  sich  genomn 
einen  vil  bekamen  site,  der  man  und  wiben  volget  mite:  wan 
jdmr  ist  unser  urhap,  mit  jdmer  kom  wir  in  daz 
grap.  ine  weiz  wie  Jenez  leben  erget :  alsus  diss  lebens 
orden  stet,  die  ganze  stelle  280,  13 — 281,  16  spricht  des 
alternden  dichters  meinung  aus  von  der  bedeutung  des  mensch- 
lichen daseins  und  vom  werte  des  lebens.  und  er  kommt  zu 
dem  Schlüsse,  wenn  es  köstlich  gewesen,  so  ist  es  mühe  und 
arbeit  gewesen:^  sol  diu  manlich  arbeit  werben  liepunde 
leit  281,  7  f.  so  stehn  die  beiden  Seelenverfassungen,  zwischen 
denen  unser  leben  hin  und  heischwankt,  liep  und  leit,  unter  der 
höhern  einheit,  dem  mannhaften  ringen,  die  streitenden  gegen' 
Sätze  sind  bezwungen  durch  die  sittliche  kraft. 

Der  Willehalm  ist,    wie  der  Parzival,    eine  kundgebung  für 
das  unverzagte  streben  nach  dem  höchsten  ziele. 

G.     Titurel. 

Scherer  hat  in  seiner  litteralurgeschichte  die  ethische  bedeu- 
tung   von  Wolframs  Titurel    in    die   richtige  beurleiluug  gerückt. 


ttBLR  WOLFRAMS  ETHIK  463 

das  gedieht  ist  eiu  protest  gegen  die  höfischen  schicklichkeits- 
ideale.  auch  Schionatulander  ist  ein  tapferer  ritter  ohne  furcht 
und  tadel,  auch  er  ist  durchglüht  von  einem  hohen  ideal,  von 
der  niinne  zu  einer  reinen  Jungfrau,  aber  es  ist  die  rein  welt- 
liche minne,  dazu  noch  gekleidet  in  eine  äufserlich  conventionelle 
form,  in  die  Standesmode  des  minnedienstes.  das  ist  nicht  ein 
ziel,  welches  das  streben  des  mannes  ausfüllen  kann,  während 
Parzival  um  den  (iral  ringt  und  Willehalm  um  den  glauben,  jagt 
Schionatulander  einem  hundehalshand  nach,  damit  ist  die  sittliche 
würde  des  rittertums  zur  Spielerei  geworden. 

Die  einseitige  eullivierung  des  weltsinnes,  zu  der  die  Über- 
treibung der  höfischen  ideale,  des  heldenlums  und  der  frauen- 
verehrung,  führt,  entspricht  Wolframs  lebensanschauung,  (\er 
humanilät,  ebenso  wenig  wie  der  asketismus,  der  jene  vollständig 
negiert,  die  ihuen  im  übermafs  huldigen,  übertreten  das  natür- 
liche vernunftgesetz  und  gehn  daran  unter,  so  Schionatulander, 
Anfortas,  Gahmuret,  Isenhart,  Cidegast  und  die  söhne  des  Gurne- 
manz,  diese  als  warnende  beispiele  für  die  bedenkliche  lehre  ihres 
vaters.  aber  auch  die  frauen  ziehen  sie  mit  ins  Unglück,  Sigune, 
Belakane,  Herzeloyde,  Orgeluse.  die  meisten  allerdings  nicht  ohne 
ihre  eigene  schuld,  denn  sie  tragen  die  Verantwortung  für  den 
tod  ihrer  amise.  es  haftet  ihnen  noch  etwas  von  ihrer  ursprüng- 
ichen  feennatur  an,  die  beiden  durch  liebe  ins  verderben  zu 
locken. 

Der  Titurel  ist  eine  Zurückweisung  der  ausartungen  des 
höfischen  bildungsideals. 

Schluss. 

Mit  dem  unverzagten  maunesmut  hat  Wolfram  den  willen 
zum  handeln  —  nicht  den  willen  zum  leiden,  wie  ihn  die  askese 
verlangt  —  in    den  millelpunct   seines  ethischen  Systems  gestellt. 

Das  gegenteil  ist  die  willenlosigkeit,  die  aeidia,  die  in 
der  kirchlichen  morallehre  der  fortüudo  gegenübersteht,  das  sind 
begriffe,  die  zu  den  allgemein  und  überall  geltenden  prineipien 
der  ethik  gehören,  denn  sie  sind  die  naturgemäfs  vorhandenen 
möglichkeiten  des  willenslebens,  die  positive  und  die  negative 
seite,  die  bejabung  und  die  Verneinung  des  willens,  und  so  stellt 
auch  das  sittliche  empfinden  des  rittertums  den  preis  der  tätigen 
arbeit  der  Verachtung  des  sichverliegens  gegenüber,  zb.  Thomasin 
im  WGast:  gedenket,  ritr,  an  iuteem  orden:   zwiu  sit  ir  ze  riler 


464  EHRISMANN 

worden  ?  durch  släfen ,  weizgot  ir  ensit.  dd  von  daz  ein  man 
gerne  Ht,  sol  er  dar  umbe  riter  icesen?  7769 — 7.3,  Swer  wil  riters 
ambet  phlegen,  der  imioz  mere  arbeit  legen  an  sine  vuor  dan  ezzen 
icol  usw.  77S5 — 6'7,  Wil  ein  riter  phlegen  wol  des  er  von  rehte 
phlegen  sol,  so  sol  er  tac  unde  naht  arbeiten  nach  siner  mäht  durch 
kirchen  und  durch  arme  Hute  7S01 — 5;  Winsbeke:  Sun,  wil  dir 
lieben  guot  gemach,  so  muost  du  eren  dich  bewegen  .  .  .  waz  touc 
ein  junger  lip  verlegen  der  ungemach  niht  liden  kan  noch  sinne- 
clich  nach  eren  siegen!  .  .  .  Sun,  wizzest  daz  Verlegenheit  ist  gar 
dem  jungen  manne  ein  slac.  ez  st  dir  offenlich  geseit  daz  niemen 
e're  haben  mac  noch  herzeliebe  sunder  klac  gar  dne  kumber  unde 
an  not  42,  1—43,  6. 

Chreslien  hat  in  seinem  Erec  und  seinem  Yvain  diesen  gegen- 
satz  zum  augelpunct  der  handlung  gemacht,  er  hat  das  schlichte 
märchenmotiv  vom  Wahnsinn  Cuchulinns  erhoben  zu  dem  sittlichen 
problem  von  der  Willenskraft  und  der  Willensschwäche,  sein 
Yvain  ist  eine  primitivere  form  Parzivals,  gleichsam  ein  weniger 
idealisiertes  porträt.  wegen  eines  unbedeutenden  vergebens,  einer 
folge  ungezügelten  taligkeitsdrangs ,  der  aber  widerum  doch  nur 
ein  mangel  an  Selbstbeherrschung,  also  an  Willenskraft,  ist,  ver- 
flucht und  aus  dem  kreis  der  edeln  ausgestofsen,  erkämpft  er, 
getragen  von  der  treuen  liebe  zu  seinem  weibe  durch  unverzagten 
mut  im  dienste  der  nächstenliebe  sein  verlorenes  glück  zurück, 
wie  Parzival  nach  dem  gleichen  Schicksal  durch  dieselbe  tugend 
den  einmal  verscherzten  Gral  erringt.  Chrestiens  natur  ist  durch- 
aus aufs  ethische  gerichtet,  darum  sind  sein  Erec,  Yvain,  Perce- 
val  wahrhaft  symbolische  dichtungen.  die  handlung  ist  getragen 
von  einer  sittlichen  idee,  die  ihr  erst  volles  leben  verleiht,  er 
zeigt  im  bilde,  wie  die  menschen  durch  schwäche  auf  abwege 
geraten  und  wie  sie  sich,  nachdem  sie  ihren  fehler  erkannt,  durch 
den  willen  zum  guten  wider  herausarbeiten,  eine  sittliche  mahnung 
steht  überall  im  hintergrund.  die  gröfse  Wolframs  besteht  darin, 
dass  er  die  andeutenden  striche  —  denn  nur  zu  solchen  ist 
Chrestien  in  der  symbolisierung  seines  Perceval  gelangt  — 
zu    dem    sittlichen    idealbild    des    rittertums     ausgestaltet    hat1. 

*  dass  auch  Wolfram  in  der  tat  und  nicht  ein  anderer  dichter,  etwa 
sein  Kyot,  der  urheber  des  bestimmten  ethischen  colorits  im  Parzival  ist, 
das  wird  für  jeden,  der  von  der  beobachtung  des  ethischen  gehalts  ausgeht, 
sicher  sein  müssen,  vgl.  be9.  Vogt  aao. 


ÜBER  WOLFRAMS  ETHIK  465 

Im  kämpf  gegen  die  acidia  bewährt  sich  die  sittliche 
natur  des  menschen,  sie  ist  das  stärkste  hemmnis  des  mensch- 
lichen glückseligkeitstriebes.  in  allen  Zeiten,  wenn  neben  die 
naive  knnst  die  sentimentalische  tritt,  wird  die  tristitia,  die 
melancholia,  und  ihre  Folgeerscheinung,  die  acidia,  die 
Schwachheit  des  willens  (Werner  Thomas  u  493),  als  grofses 
menschliches  leiden  verkündigt  werden,  mit  der  erweiterung  der 
weit  durch  die  widererstehung  des  classischen  altertums  ist  sie  in 
einer  neuen  erscheinung  aufgetreten,  als  weitschmerz,  und  in  dieser 
krankheiisform  zuerst  erkannt  worden  von  Petrarca  (Voigt  Wider- 
erweckung  des  klass.  altertums1  s.  86,  Körting  Petrarcas  leben  und 
werke  s.  636).  im  gründe  ist  diese  abart  der  tristitia  wol  nichts 
anderes  als  die  weltverneinung  des  Christentums,  nur  ihres  spe- 
cifisch  religiösen  gehaltes  entkleidet,  der  mönch  sieht  die  weit  an 
als  slraiwürdige  entarlung  der  goltheit,  doch  diesem  Jammer  kann 
man  entrinnen,  indem  man  sich  ins  überirdische  flüchtet,  wer  aber 
nicht  aufgeht  im  glauben,  der  empfindet  das  leid,  mensch  sein  zu 
müssen,  unmittelbar,  immer  und  überall,  und  dieses  ist  hoffnungslos. 

In  der  leidenschaftlichen  geisleserregung  der  renaissance,  wo 
alle  fähigkeilen  des  innern  aufs  höchste  gespannt  waren,  muste 
den  menschen  das  gefühl  vom  Wechsel  der  krall  und  unkraft  stetig 
vors  bewustsein  treten.  Dürer  hat  die  beiden  seelenverfassungen 
dargestellt  im  heil.  Ilieronymus  und  in  der  Melancholia.  es  ist 
der  friede,  zu  dem  die  rastlose  arbeit  denjenigen  führt,  der  die 
kraft  hat,  auszudauern,  die  traurigkeit,  die  das  ziel  nicht  erreicht, 
da  sie  an  der  eigenen  kraft  verzweifelt. 

die  beiden  gegensätze  gehören  der  weltlitteratur  an.  im  Hamlet 
ist  das  problem  behandelt,  wie  bei  hohem  intellect  aber  unfähigem 
willen  der  mensch,  vor  eine  wichtige  enlscheidung  gestellt,  zu 
gründe  geht.'  die  acidia  ist  Hamlets  kraukheit  (vgl.  Loening 
Die  Hamlet-lragödie  s.  149  ff).  Parzival  aber,  wie  schon  oft  aus- 
gesprochen worden,  ist  Faust.  Wolfram  von  Eschenbach  und 
Goethe  zeigen,  dass  der  zweck  des  menschlichen  daseins  ist,  mit 
starkem  willen  nach  hohem  ziele  strebend  yrofse  pflichten  zu 
erfüllen,  sie  stimmen  überein,  wenn  sie  sagen,  jeder  iu  seiner 
weise,  'wer  immer  strebend  sich  bemüht,  den  können  wir  erlösen', 
oder  'sorge  et  umb  din  ende,  daz  dir  din  arbeit  hie  erhol  daz 
dort  diu  se'le  ruowe  dol',  und  'belip  des  willen  unverzagt'. 
Heidelberg.  GUSTAV  EHRlS.VlAMN, 


AROLSER    BRUCHSTUCK    DES    WILLEHALM. 

Vor  jähren  hat  mir  freund  Könnecke  in  Marburg  ein  paar 
fragmente  alldeutscher  dichlungen  vorgelegt,  auf  die  er  beim  ordnen 
wal deckischer  archivalien  gestojsen  war  (vgl.  oben  s.  1 59J  und  deren 
Zugehörigkeit  seinem  kundigen  blicke  nicht  verborgen  bleiben  konnte, 
das  kleine  Willehalm-bruchstück,  mit  dem  ich  dieses  blatt  fälle,  hat 
zu  einer  pergamenlhs.  des  14  jh.s  gehört  und  später  bei  acten- 
umschlägen  des  klosters  Berich  —  an  der  Eder  oberhalb  Waldeck  — 
Verwendung  gefunden,  es  handelt  sich  um  einen  ungleichmäfsig 
beschnittenen  streifen  von  ca  145  mm.  höhe  und  ca  54  mm.  breite, 
der  in  der  mitte  halbiert  worden  ist  :  der  schnitt  geht  durch  89,  27 
und  90,  29.  dieser  streifen  ist  die  obere  hälfte  eines  langsstreifens 
vom  dufseren  blattrande,  welcher  leider  die  verszeilen  nicht  voll- 
ständig überliefert,  das  erhaltene  stück  bietet  2 1  Zeilen ;  da  zwischen 
vorder-  und  rückseite  1 1  Zeilen  fehlen,  umfasste  die  spalte  32  Zeilen ; 
der  beschriebeiie  räum  war  etwa  186  mm.  hoch,  die  höhe  des  ganzen 
Mattes  lässt  sich  auf  230 — 240  mm.  berechnen;  damit  ist  drei- 
spaltigkeit ausgeschlossen,  es  war  eine  zweispaltige  hs.  von  etwa 
160 — 170  mm.  blaltbreile.  diesem  bescheidenen  format  entspricht 
die  schlichte  erscheinung  der  hs.  es  findet  keinerlei  rubrum  an- 
wendung;  die  geraden  Zeilen  sind  eingerückt,  die  ungeraden  durch 
majuskel  markiert;  linien  sind  vorgezogen. 

Das  fragment  bietet  einige  lesarten,  die  in  Lachmanns  apparat 
ganz  fehlen  :  89,28  werlich;  90,  1.2  Umstellung  von  sprach; 
90,28  also  vaste;  merkwürdig  91,  1  Siben  olpeuden;  91,9 
forchteüs;  sonst  scheint  es  sich  am  nächsten  zu  p  zu  stellen,  mit 
dem  es  die  sämtlichen  übrigen  Varianten  (89,  25.  90,  27.  29.  91, 
10)  gemein  hat. 

Das  erhaltene  ist  überall  leserlich;  sichere  aber  ergänzte  buch- 
staben  hab  ich  unten  in  cursiv  widergegeben. 

Göttingen.  E.  SCHRÖDER. 


89 

Vorderseite 
wen  fireit 

90 

rückseite 

20 

ob  ir  hell  hi 

SCHRÖDER    W1LLEHALM-BRUCHSTÜCK 


467 


ich  tlaz  werte 

25 lue  fo  nahen 

ii   vorfinahen 

mins  rittet  fchaft 

erlich   kraft 

n  den  kapelan  91 

as  kein  auds  man 

90 prach  zur  kvnigin 

ch  laz  mich  in 

oft  ilen  du  wol  kanft 

rfv  mich  vreuden  manft 

och  zu  vil  gefent 

5      n  des  nicht  gewent 

aleine 

nem  fteine 

ket  werden 


Tfchoyse  des  e. 
Da  wart  gehvrt .  . 

vn  alfo  vafle  .  . 
Swen  er  erreich  . 
30      die  heiden  fl\/t . 
Siben  olpendni  .  . 

da  hüben  gela  .  . 
Mit  wine  vn  mit  . 

ds  margrave  xo . 
5  Arofels  wapen  d  . 

wan  des  kraft . 
Vber  alle  ds  beide  , 

daz  in  keiner  c 
Sie  forchtens  daz  . 
lo      vn  erfchrachen 
Daz  fie  inn  gewi  . 


PARZIVAL  399,  1. 

Nu  boert  von  äventiure  sagen 
und  helfet  mir  darunder  klagen 
Gävväns  grözen  kumber. 
min  wiser  und  min  tumber 
die  tuon'z  durch  ir  gesellekeit 
und  läzen  in  mit  mir  leit. 

Den  vierten  vers  erklärt  Bartsch  :  'mein  alter  und  mein 
junger  zuhörer  (in  collectivem  sinne)',  ähnlich  Martin:  'alt  und 
jung  unter  meinen  Zuhörern  (alle  zusammen)',  der  sinn  ist 
vielmehr  :  'alle,  mögen  sie  weiser  oder  törichter  sein  als  ich'; 
vgl.  Notker  Boetb.  201 a  min  wisero  'sapientior  rae'  und  andere 
beispiele,  die  Gr.  iv2  886  angeführt  werden,  ebenso  im  Alexander- 
lied Lamprechts  (V)  1406  daz  er  für  sinen  ärgeren  vellet,  dass 
er  (der  übermütige)  vor  einem  geringeren  zu  falle  kommt,  zu 
dieser  stelle  bemerkt  Zacber  in  der  anm.  zu  Kinzels  ausgäbe: 
'sinen  ärgeren  ist  construiert  nach  analogie  von  sinen  genözen, 
geliehen',  ich  nehme  vielmehr  an,  dass  das  pron.  poss.  für  den 
alten,  von  einem  comparativ  abhängigen  dativ  eingetreten  ist.  — 
in  dem  letzten  verse:  'sie  mögen  es  sich  mit  mir  leid  sein  lassen', 


468     WILMANNS  PARZ.  399,  1  —  ZUM  ALEXAINDERLIED 

ist  Idzen  mit  prädicativem  accusativ  verbunden l.  der  infinitiv 
'sein'  war  der  älteren  spracbe  nicht  nötig.  0.  m  24,  21  ni  Idz 
thir  iz  ser.  i  19,  7  ni  Idz  iz  untarmuari  ua.  Gr.  iv  133.  626  a.2. 
Mhd.  wb.  i  945 a.  ebenso  Alex.  3006  ich  wil  dir  Idzen  schin, 
was  Zacher  aus  analogie  von  schin  luon  erklären  will. 

1  dass  Wolfram  bei  Idzen  den  infinitiv  fehlen  lasse,  hat  Bock  Beitr. 
11,  184  f  bestritten,  und  Leilzmann  in  seiner  ausgäbe  ist  ihm  gefolgt.  Martin 
hat  mit  recht  an  Lachmanns  text  festgehalten  :  i  s.  xvii  und  anm.  zu  Parz. 
24,   18. 

Bonn  a.  Rh.  W.  WILMANNS. 


ZUM  ALEXANDERLIED. 

V  v.  1401  ff 

Und  dö  man  Dario  diz  gesagete 

niuht  sere  er  ne  chlagete. 

Er  tete,  also  der  stolze  man  tut   etc. 

iedoch  so  swür  er  ain  teil. 

er  sprach,  so  hülfe  im  sines  riches  heil, 

iz  ne  solle  niemer  vierzehen  naht  entgän, 

er  solte  Alexander  uf  einen  poum  hähen. 

Die  vvorte  so  swür  er  ain  teil  erklärt  Zacher  (bei  Kinzel): 
'•ein  teil  verstärkend  :  obschon  er  sich  hätte  vorsehen  sollen, 
schwur  er  dennoch  ganz  entschieden.'  wenig  befriedigend,  ich 
nehme  swur  als  präd.  von  swern  =  swar  (vgl.  Pass.  K.  454,  17): 
'er  empfand  einigermafsen  schmerz',  die  worte  stehen  in  gegen- 
satz  zu  v.  1402  niuht  sere  er  ne  chlagete. 

V  v.  1421  1 

unt  chömen  mit  so  frumen  chnehten, 

die  wol  getorslen  vebten, 

mit  allen  ir  menegen 

in   daz  feit  Mesopotamiam. 

Die  Strafsb.  bs.  hat  den  singular  mit  aller  ir  manie  (:  Meso- 
potamie);  aber  der  plural  wird  richtig  sein;  vgl.  ahd.  managi 
phalanges,  agmina,  turbae. 

Bonn  a.  Rh.  W.  WILMANNS. 


NANNENSTOL  UND  BRUNHILDENSTUHL. 

Spärlich  wie  die  Zeugnisse  für  uosre  deutsche  mytliologie 
sind,  gewinnt  ein  jeder  beleg,  der  einen  weitergehenden  rück- 
schluss  gestattet,  ein  besonderes  inleresse.  hierzu  möcht  ich 
den  Nannensluhl  rechnen,  der  in  der  Schenkungsurkunde  Karls 
des  Grofsen  vom  jähre  774  an  das  von  Fulrad  (von  Saint-Denis) 
im  Elsass  gegründete  kloster  Leberau  erwähnt  wird.1  Fulrad  war 
in  dieser  gegend  selbst  begütert  und  wird  ihr  wol  entstammen, 
da  die  neuerdings  mehrfach  behandeile  Urkunde2  in  zwei  original- 
ausstellungen3  vorligt,  ist  die  Überlieferung  aufs  beste  gesichert, 
sie  betrifft  die  alte  mark  Königsheim  (Quuningishaim,  heute  Kins- 
heim),  von  der  auch  die  Hohkönigsburg  ihren  namen  hat,  aus  der 
ein  grofser  walddistrict  für  das  kloster  ausgesondert  werden  soll, 
das  gebiet  befindet  sich  um  Leberau  herum  zu  beiden  Seiten  der 
Leber,  die  hier  noch  Laimaha  beifst,  auf  der  grenze  des  heutigen 
Ober-  und  Unter-Elsass.  von  den  angeführten  Ortsnamen  sind  leider 
wenige  erhalten,  sodass  die  bcstimmung  derselben  gröfsere  Schwierig- 
keiten bietet  und  wir  den  ganzen  verlauf  der  grenzumschreihung  um 
so  mehr  ins  äuge  fassen  müssen,  als  dieselbe  auch  ein  allgemeineres 
und  methodisches  interesse  gewinnt.  Rubel  hat  in  seinem  buch 
über  die  Franken  für  die  fränkischen  abmarkungen  eine  art 
idealtypus  aufgestellt,  und  Wiegand  ist  ihm  für  unsere  gegend 
gefolgt,  doch  glaub  ich,  dass  die  Verhältnisse  eher  dagegen  als 
dafür  zu  sprechen  geeignet  sind,     die  stelle  der  Urkunde  lautet: 

Silva  ex  foreste  nostra . .  de  una  parte  Laimaha,  ubi  dicitur 
Bobolinocella,  et  inde  primitis,  ubi  Aelsinisbach  venu  in  Laima; 
inde  vero  per  Aelsinisbach,  ubi  ipse  surgit,  inde  eliam  Nannen- 
stol,  deinde  autem  de  monte  usque  ad  Rnmbach,  deinde  Thidinis- 
berch,  deinde  in  alia  Rnmbach,  deinde  in  Bureberch,  exinde  in  tertia 
Rnmbach,  deinde  autem  pergit  in  Achinisragni,  inde  in  fersta  per 
ducias  et   confinia,  inde  per  Laimaha  fluvio  in  valle  de  ambas  ripas 

1  MGH.     Die  Urkunden  der  Karolinger  i  (1906)  nr  84.  s.  120f. 

a  Degermann  La  donation  de  Charlemagne  usw.  in  den  miüeilungen 
der  gesellschaft  für  die  erhaltung  der  geschichtlichen  denkmäler  im  Elsass 
15  (1892)  s.  301  ff.,  zuletzt  besonders  von  Wiegand  in  der  Zeitschrift  für  die 
geschichte  des  Oberrheins  20  (1905)  s.  523 IT. 

3  das    diploni  Lothars  i  v.j.  854,    wonach  Förstemann    die   namen   ci- 
tiert;  ist  nur  eine  bestätigung  der  Schenkung  Karls  d.  Grofsen. 
Z.  F.   D.  A.  XLIX.    N.  F.  XXXVII.  31 


470  HENNING 

per  marca  Garmaringa  et  Otolinga  [Odeldinga  B]  usque  Deophan- 
pol  et  inde  per  Laimaha  fluvio  de  alia  ripa,  usque  ubi  Audenbach 
in  Laimaha  conflntt,  et  pergit  per  ipso  fluviolo  usque  radices  Stophan- 
berch  per  valle  sub  inlegritale  ipsius  monte  usque  in  Stagnbach, 
inde  per  Riuadmarca  Odeldinga  et  Garmaringa  et  inde  per  con- 
finia  usque  in  Deophanpol. 

Die  ersten  gesicherten  namen  *  sind  aufser  der  Laimaha  die 
drei  Rumbachorte,  heute  Deutsch-,  Grofs-  und  Klein-Rumbach, 
drei  kleine  gebirgstäler  nördlich  der  Leber  von  Leberau  bis 
SBlasien,  die  heute  noch  nicht  viel  mehr  als  einzelne  fermen 
enthalten,  im  norden  der  Leber  beginnt  also  die  von  osten  nach 
westen  fortschreitende  Umgrenzung,  und  der  Nannenslöl,  der  nur 
hier  erwähnt  wird,  ist  ein  berg  vor  dem  ersten  Rumbach,  der 
anschluss  nach  osten  bleibt  unsicher,  so  dass  wir  zunächst  dem 
westlichen  verlaufe  nachgehen  müssen. 

Auf  den  letzten  Rumbach,  der  bei  SBlasien  in  die  Leber 
mündet,  folgt  in  Achinisragni.  da  das  ch  durchaus  für  den  con- 
sonautumlaut  (gj,  später  ck)  stehn  kann2,  so  ist  der  angenommene 
Zusammenhang  des  ersten  compositionsgliedes  mit  dem  im  Leber- 
tal mehrfach  vorkommenden  Ortsnamen  Eckerich3  wol  möglich, 
der  Achinisrain  ist  heute  nicht  mehr  nachweisbar,  aber  weit 
von  dem  letzten  Rumbach  kann  er  nicht  gelegen  haben,  vielleicht 
darf  man  an  den  SBlasienrain  jenseits  der  Leber,  zwischen  der 
Leber  und  dem  von  Süden  herkommenden  SBlasienbach  erinnern, 
der  früher  Isenbach  hiefs  (Das  reichsland  Elsass  -  Lothringen 
m  s.  563,  14)  und  zum  Isenrain  am  Tänchel  emporführt. 

Vom  Achinisrain  lässt  Wiegand  die  grenze  einen  weiten 
bogen  im  norden  und  westen  der  Leber  um  die  Leberquelle 
und  Markirch  herum  beschreiben,  bis  etwa  in  die  gegend  zurück, 
wo  wir  den  Achinisrain  suchen,  den  ersten  grofsen  abschnitt 
fiudet  er  in  der  'fersta'  wider,  die  er  mit  den  Vogesenkämmen 
im  norden  und  westen  der  Leber  identificiert.  dass  eine  so  weite 
strecke    nur   'per   ducias   et  confinia'   gekennzeichnet  wurde,    ist 

1  am  bequemsten  für  die  Orientierung  ist  die  karte  der  Vogesen  im 
mafsstabe  von  1:50  000,  herausgeg.  vom  Vogesenclub,  blatt  xiii  (1907) 
und  xiv  (1901). 

2  Socin  Strafsburger  Studien  1,  235  ff  aus  den  WeiCsenburger  Urkunden. 

3  Das  reichsland  Elsass  Lothringen  in  (1901  ff)  s.  244  verzeichnet 
vier  stellen. 


NANNENSTOL  UND  BRUNMILDENSTUUL  471 

befremdlich,  wenn  so  ausgedehnte  confinia  beslandeu,  würde 
man  einige  bestimmtere  Bezeichnungen  erwarten,  denn  dass  es 
im  obern  Lebertale  an  Damen  nicht  gefehlt  hat,  kann  gerade 
unsere  Urkunde  lehren,  die  annähme,  dass  die  grenzen  hier 
noch  unreguliert  geblieben,  ist  wol  durch  die  Rübelschen  Vor- 
stellungen bedingt  und  lässt  sich  durch  nichts  erweisen,  ich 
meine,  dass  dies  ganze  ausgedehnte  gebiet,  das,  so  viel  wir 
wissen,  niemals  zu  Leberau  gehörte,  aufserhalb  der  karolingischen 
Schenkung  fallt,  was  um  so  glaubhafter  erscheint,  als  das  kloster 
immer  klein   und  unbedeutend  geblieben  ist. 

Die  fersta  wird  schon  an  dieser  stelle  nichts  anderes  als  der 
im  mittelalter  technisch  die  virst  oder  das  gefürste  bezeichnete 
waldgebiet  im  Süden  der  Leber  bis  zum  Tänchel  hin  sein1, 
es  ist  dies  im  wesentlichen  der  sogenannte  'Hinterwald',  der  zum 
Hury  und  Rammelstein  (Reinollesstein  oder  'Höhe')  emporführt,  im 
westen  vom  Isenbach,  heute  SBlasienbach,  im  osten  vom  Bollen-, 
heute  Mollenbach  begrenzt,  der  südrand  desselben  bildet  noch  heute 
die  südgrenze  der  gemeinde  Leberau.  wenn  dies  gebiet  schon 
in  alter  zeit  'die  First'  hiefs,  was  durchaus  wahrscheinlich  ist, 
begreift  sich  bei  dem  beschränkteren  complex  das  fehlen  aller 
näheren  angaben,  der  blofse  hinweis  'per  ducias  et  confinia' 
konnte  genügen. 

Auch  im  weiteren  verlaufe  scheint  mir  der  schon  von 
Degermaun  beobachtete  Zusammenhang  zwischen  der  karolingischen 
und  den  mittelalterlichen  grenzbeschreibungen  rückschlüsse  zu 
gestatten,  ich  stelle  beide  fassungeu  gegenüber,  indem  ich  aus 
dem  mittelaller  das  von  Grimm  v  390 ff.  (vgl.  iv  249)  abgedruckte 
lateinische  weistum  zu  gründe  lege,  das  den  deutschen  sprach- 
formen nach  wol  noch  dem  13  oder  14  jh.  angehören  kann  und 
wol  das  original  der  von  Wiegaud  (s.  546)  herangezogenen  Urkunde 
v.  j.  1435  ist.  wo  es  sich  heute  befindet  weifs  ich  nicht,  viel- 
leicht im  archiv  von  SGeorge  in  Nancy. 

Urkunde  von  774.  Weistum. 

unum  nemus  quod  vulgo  nuncu- 
inde  in  fersta  patur  das  gefürste  (vgl.  §4  mitten 

üf  die  virst), 


1  Degermann  s.  314,  W'iegand  s.  54(J.     Das  reichsland  m  436  und  die 

31* 


gleichanzuführenden  stellen. 


472  HENNING 

(dasweistum  beginnt  auf  der  iirst 

per  ducias  et  confinia.  selbst:)  et  illud  incipit  in  Longo 

monte]  et  trahü  ultra  ripam 
que  vulgo  dicitur  der  Bollenbach. 

inde  per  Laimaha  fluvio  et  trahit  in  mediam  ripam  Lebrahe, 

in  val/e  per  ambas  ripas 

[per  marca  Garmaringa  et  Otol- 

inga  usque  Deophanpol] 

et   inde  per   Laimaha  fluvio  de      et  trahit  de  predicta  ripa  Lebrahe 

alia  ripa 

usque  tibi  Audenbach  in  Laimaha      usqne  ad  ripam  Saherbach, 

confluit, 

et  pergit  per  ipso  ßuviolo  usque      et  trahit  de  ripa  Saharbach  sur- 

radices  Stophanberch  sum  penes  montem  Küngesperg, 

per  volle  sub   integritate  ipsius      retro  Küngesperg  lendendo 

monte 

usque  in  Stagnbach  in  ripam  lapidis,   vulgo  dicendo 

in  den  Steinbach 

Wir  haben  also,  wenn  wir  rückwärts  gehen,  Stagnbach  =  Stein- 
bach, Stophanberch  =  Küngesperg,  Audenbach  =  Saherbach,  Laim- 
aha =  Lebrahe,  den  ambae  ripae  entspricht  nur  die  eine  südliche 
ripa}  fersta  =  gefürste  oder  die  virst.  sehr  merkwürdig  ist,  dass 
die  grenze  von  der  First  an  die  Leber  zurück  geht,  dann  ein 
stück  an  der  Leber  entlang  und  wider  zurück  zur  Hohkönigsburg. 
ein  gröfseres  stück  im  Süden  der  Leber,  nach  den  mittelalter- 
lichen weistümern  zwischen  Bollenbach  (==  Audenbach)  und  Sar- 
bach, ist  also  nicht  in  die  Schenkung  einbegriffen,  offenbar  weil 
es  bereits  in  anderen  händen  war.  nach  den  weistümern  würde 
man  zunächst  an  Bergheim  denken,  eine  sehr  alte  Ortschaft, 
die  schon  aus  der  römischen  zeit  eine  villa  mit  mosaikfufsboden 
geliefert  hat,  und  die  wol  ebenso  wie  dies  schon  früh  mit  SPilt  und 
Rappoltsweiler  der  fall  war,  über  den  berg  bis  an  die  Leber  hinüber 
gegriffen  haben  wird,  die  besitzverhähuisse  waren  hier  sicherlich 
schon    in    der    vorfränkischen  alemannischen  zeit  fest  gelegt  und 

1  dieser  Langenberg  kann  nicht,  wie  man  gewöhnlich  annimmt,  der 
Langenberg  oberhalb  SPilt  ein,  sondern  muss,  wie  auch  andere  grenzangaben 
lehren,  auf  der  entgegengesetzten  bergseile  gesucht  werden. 


NANNENSTOL  UND  BRUNHILDENSTUIIL  473 

die  Ortschaften  aus  der  ebene  (bis  Gemar  hin)  mit  ihrem  besitz 
über  den  berg  ins  Leberlal  vorgedrungen. 

Entgegen  der  ansieht  von  Wiegand  und  Mühlbacher  (VViegand 
s.  547)  möcht  ich  weiter  annehmen,  dass  die  Hohkönigsburg 
nicht  mit  in  die  Schenkung  einbegrill'en  war.  mag  die  Formel 
'sub  integritate'  auch  seilen  sein,  die  natürliche  auffassung  der 
stelle  bleibt  doch,  dass  der  berg  selbst  von  dem  grenzzuge  nicht 
tangiert  wurde,  dies  erweist  nicht  nur  das  'usque  radices'  und 
'per  valle',  sondern  bestätigen  auch  die  weistümer  mit  ihren  penes 
montem  Küngesperch,  retro  Küngesperg  v  390,  hinder  Kungesberch 
herusz  s.  393 ,  jusque  vis  d  vis  de  Königspurch ,  au  dessoub  de 
Königsbourg  en  avant  .  .  iv  249.  der  Königsberg  ist  eben  beim 
Königsheim  (Kinsheim)  verblieben,  auch  die  notiz  Odos  von  Deuil 
(Wiegand  s.  535)  scheint  mir  nichts  über  einen  ursprünglichen 
besitz  von  Leberau  auszusagen. 

Es  fehlt  noch  der  grenzzug  vom  Stöphanberg  (dem  alten 
namen  der  Hohkönigsburg)1  und  Stainbach  zurück  zum  Deophan- 
pol  im  Lebertal.  Wiegand  hat  ihn  offen  gelassen  und  meint,  dass 
schon  Fulrad  sich  hier  freie  band  behalten  wollte,  doch  ist  dies  nur 
ein  notbehelf.  vielleicht  ist  die  lösung  der  frage  noch  möglich, 
zunächst  ist  gar  nicht  daran  zu  denken,  dass  die  grenze  in  der 
ebene  in  weitem  bogen  um  Kinsheim  und  Kestenholz  herum  ins 
Lebertal  zurücklief,  andrerseits  ist  aber  nach  der  Urkunde  nicht  zu 
bezweifeln,  dass  von  der  ebene  her  auch  Gemar  im  Lebertal  schon 
nahe  bei  Leberau  boden  gefasst  hatte  (s.  o.  per  marca  Garmaringa), 
wenn  auch  nicht  so  weit  am  oberlaufe,  wie  VViegand  annimmt, 
aufser  den  Garmaringa  blieben  somit  nur  noch  die  Odel(d)inga 
und  die  Riuadmarca  zu  bestimmen,  nun  haben  wir  im  norden  der 
Künigsburg  den  niedrigen  Grofs-Edelberg  uud  dasGrofs-Edelbächel, 
das  mit  dem  Kaltenbrunnen  zusammen  bei  bahnhof  Wanzel  in  die 
Leber  mündet,  'edel'  (zu  ahd.  adal  'geschlecht')  und  ödal  'stammgut' 
sind  aufs  nächste  verwante  worte,  die  um  so  leichter  zusammenfallen) 
konnten,  alsahd.örfa/,  nodal  im  mittelhochdeutschen  als  selbständiges- 
wort  bereits  untergegangen  ist.  bliebe  nur  noch  die  Riuadmarca. 
ich  habe  früher  (bei  Wiegand  s.  547)  an  eine  verschreibung  für 

1  also  nicht  =  mhd.  Stoufenberg ,  sondern  =  mhd.  Stuofenberg,  zu 
alid.  sluopha  =  uuejidelslein  (Ahd.  Gl.  n  610)  gehörig,  wenn  nicht  noch  eine 
beziehung  zu  der  alten  (ostar)  slopha  =  vectigal  (RA4  s.  414)  vorligt,  woran 
man  wider  den  Zollern  (Hohenzollern)  angliedern  könnte. 


474  HENNING 

Riud-  'Ried-'  gedacht,  was  zu  der  localilät  wenig  passt.  nun 
ligt  aber  zwischen  Steinbach  und  dem  Grofsedelberg  Ober-Ribbach 
und  das  Ribbachtal,  dessen  ältere  namensform  nicht  überliefert 
ist.  jedesfalls  ligt  die  combination  zwischen  Riuad-  und  Rib-bach 
nahe  und  lässt  sich  sprachlich  auch  vermitteln,  wenn  kein  deut- 
sches, sondern  ein  romanisches  wort  zu  gründe  ligt,  was  an  dieser 
stelle  wol  möglich  ist.  Rib-  kann  =  lat.  ripa,  rom.  riva,  rive  'ufer' 
sein  und  ebenso  Rivad-  =  spätlat.  rivaticus,  franz.  rivage,  so  dass 
Rivad-  genau  dem  lat.  rivat-  entspricht,  und  keinerlei  verschrei- 
buug  zu  statuieren  ist.  rivaticus  halte  aber  nicht  den  engen  sinn 
von  'ufer',  sondern  ebenso  wie  riviere  (riparia)  den  weiteren  von 
wald  oder  gelände  bei  einem  fluss  oder  bache,  also  denjenigen  des 
deutschen  'raiu'.  dies  passt  für  die  ganze  bach-  und  quellenreiche 
gegend  aufs  beste,  zwischen  bahnhof  Wanzel  und  dem  Grofsedel- 
berg ligt  ein  Danielsrain,  und  'rain'  gehört  in  dieser  gegend  zu  den 
üblichsten  beneunungen.  zweifelhaft  aber  ist,  ob  Rivad-marca  ein 
besonderer  ortsname  oder,  was  mir  wahrscheinlicher  vorkommt,  die 
marca  rivatica,  die  'ufer-'  oder  'rainmark'  der  Odel(d)inga  und 
Garmaringa  bezeichnet,  jedesfalls  ging  hier  der  grenzlauf  von 
der  Künigsburg  zur  Leber  zurück  uud  der  Deophanpol  muss 
etwas  oberhalb  dieser  stelle  gelegen  haben. 

Das  bild  das  wir  so  erhallen,  lässt  freilich  keine  anlehnung 
an  Rübeis  Vorstellungen  von  der  fränkischen  abmarkung  zu.  selbst 
in  diesem  einsamen  Vogesental  waren  die  besitzverhältnisse  schon 
zu  alt  und  zu  gefestigt,  als  dass  eine  so  ideale  construclion  möglich 
gewesen  wäre,  das  gebiet,  das  von  dem  karolingischen  Königsheim 
abgetrennt  wurde,  bestand  nicht  aus  einem,  sondern  aus  zwei 
oder  drei  complexen  :  den  Rumbachtälern,  dem  gegenüberliegenden 
Gefirste  und  dem  waldgebiete  am  nordabhange  und  in  der  nähe 
der  Hohkönigsburg.  zwischen  hinein  griff  von  verschiedenen 
Seiten  her  fremdes  terrain.  im  norden  der  Leber  kann  aufser 
den  Rumbachtälern  nur  noch  wenig  gelände  mit  einbegriffen 
gewesen  sein,     dazu  aber  gehört  der  Nannenstöl. 

Die  Robolini  cella,  womit  die  abmarkung  beginnt,  muss  noch 
westlich  vom  Saarbach  und  Deophanpol  gesucht  werden,  etwa  bei 
Bois  l'Abbesse  (Bois-Ia-Bosse,  Rois  l'Abbaise)  und  der  Aetsinisbach, 
der  von  dort  zum  Naunenstuhl  emporführt,  schon  ganz  in  der 
nähe  von  Leberau.  er  ist  also  wol  einer  der  beiden  nach  dem  orte 
Wanzel  führenden  bäche,  vielleicht  die  Wanzel  selbst,  die  hier  eine 


INANNEISSTOL  UND  BRUNHILDENSTUIIL  475 

kleine  strecke  die  grenze  zwischen  dem  Ober-  und  dem  Uuterelsass 
bildet,  zwischen  der  quelle  des  baches  und  dem  ersten  Rumbach 
lag  der  Nannenstöl,  der  nunmehr  zu  bestimmen  ist. 

Fassen  wir  die  gesamiverhiillnisse  ins  äuge,  so  erhebt  siel) 
zwischen  dem  Leber-  und  dem  nördlich  davon  gelegenen  Weilertal  ein 
bergplateau,  das  im  westen  bei  den  lUimbachtälern  seine  basis, 
im  osten,  wo  die  flüsse  zusammentreffen ,  seine  spitze  hat.  auf 
der  durch  eine  einsattelung  abgetrennten  östlichen  spitze  ligt  die 
von  resten  einer  heidenmauer  umzogene  Frankenburg,  die  älteste 
ruine  des  Elsasses,  aber  schon  aufserhalb  des  bereiches  der 
karolingischen  Schenkung,  die  herrschaft  Frankenburg  hat  niemals 
zu  Leberau  gehört,  hängt  mit  dem  Weilertal  zusammen  und  wird 
heute  noch  das  'Grither  schloss'  genannt,  von  Gereut  oder  Kreut 
am  uordfufse  des  berges,  wo  im  kriege  die  multergotteser- 
scheinungen  stattfanden,  das  eigentliche  grofse  plateau  nach 
Leberau  zu  ist  der  Altenberg  (oder  Jungwald),  dessen  steile 
abfalle  eine  natürliche  feste  bilden,  auf  der  man  noch  die  reste 
eines  schlackenwalles  beobachten  will,  er  hat  mehrere  vorsprünge 
oder  felsgruppeu,  für  welche  die  bezeichnung  'stuhl'  gut  passen 
würde,  zunächst  den  die  Frankenburg  noch  überragenden  Kukuks- 
felsen  mit  prächtiger  rundsicht.  aber  er  ligt  zu  weit  ab  von 
Rumbach,  so  dass  der  lauf  der  grenze  über  den  ganzen  berg 
hin  offen  bliebe.  noch  weniger  kommt  der  Hexenfelsen  in 
betracht,  so  verführerisch  der  uame  erscheinen  mag.  die  groteske 
felsbildung  desselben  ligt  schon  ganz  nach  der  seite  des  Weiler- 
tales hin  und  wird  vom  Rumbachtal  durch  einen  weiteren  einschnitt 
und  eine  neue  erhebung  getrennt,  so  dass  die  bezeichnung  'de 
moute'  kaum  noch  passt.  er  ist  auch  kein  eigentlicher  mons,  der  als 
solcher  wie  die  andern  von  weitem  ins  äuge  fällt,  sondern  ganz  in 
bäumen  versteckt  und  von  einem  entsprechenden  bache  zu  weit 
entfernt,  es  kann,  wie  mir  scheint,  einzig  und  allein  der  Leberau 
im  nordosten  unmittelbar  überragende  Chalmont  gemeint  sein, 
der  zwischen  die  Wanzelquelle  und  Deutsch-Fumbach,  also 
grade  an  der  gesuchten  stelle,  sich  einschiebt,  mit  dem  Alten- 
berg hängt  er  durch  einen  langen  schmalen  rücken  zusammen, 
der  von  hohem  laubwald  bestanden  ist.  tritt  man  aber  au  seinem 
ende  plötzlich  ins  freie,  so  wird  man  durch  eine  mächtige  fels- 
bildung und  einen  herrlichen  ausblick  aufs  höchste  überrascht, 
der   703  m    hohe  fels,   der  oben   eine  breite,   teilweise  wie  zum 


476 


HENNING 


sitzen  gebildete  fläche  hat,  fällt  eine  ziemliche  strecke  jäh  nach 
unten  ab.  der  blick  schweift  über  das  davorliegende  Lebertal 
nach  osten  in  die  ebene  hinaus  über  Schlettstadt  fort  bis  zum 
Schwarzwald  hin,  im  westen,  mit  dem  Rumbachtal  unmittelbar  zur 
seite,  bis  zum  kämm  der  Vogesen,  im  Süden  zu  den  höhen  des 
Bressoir,  den  man  auf  dem  bilde  sieht,  zum  Tänchel  und  zur 
Hoh-Königsburg,  und  hinten  am  horizont,  wie  ich  es  an  einem 
schönen  octobertag  dieses  Jahres  sah,  bis  zu  den  deutlich  empor- 


ragenden schneegipfelü  der  Alpen,  der  Jiiügfrau  und  ihren 
genossen  uüd  den  Ostalpen,  bis  der  Schwarzwald  sie  verdeckt,  — 
das  ganze  ein  'sitz',  der  in  dieser  art  seines  gleichen  sucht  und 
wol  eine  besondere  benennung  herausfordern  konnte,  dass  er  in 
der  tat  der  gesuchte  grenzberg  ist,  wird  nicht  nur  durch  seine 
läge  uud  beschaffenheit,  sondern  auch  dadurch  erhärtet,  dass  noch 
heute  die  grenze  zwischen  dem  Unter-  und  dem  Oberelsass  ihn 
von  dem  plateau  des  Altenberges  abtrennt,  so  dass  der  letztere 
zum  Uoterelsass,  der  Chalmont  allein,  wie  die  ganze  karo- 
lingische  Schenkung,  zum  Oberelsass  gehört. 


NANNENSTOL  UND  BRUNlllLDENSTUHL  477 

Der  name  des  berges  sagt  uns  leider  wenig  und  ist  schlecht 
bezeugt,  er  heilst  jetzt  Chahnunt,  woraus  man  einen  deutschen 
Schallberg  gemacht  hat.  nach  Sloeber  l  wurde  er  auch  Charlemont 
(seltener  Karlsber»)  genannt  und  von  der  sage  an  Karl  den  Grofseu 
geknüpft,  eine  ältere  Schreibung  (von  1596)  ist  Challemont,  eine 
noch  ältere  Chainemont  (1517),  woraus  man  wider  einen  deutschen 
'Eichberg'  gemacht,  die  ältest  vorhandene  scheint  Chanemont'2  (von 
1423)  zu  sein,  die  richtige  form  ist  daraus  nicht  zu  reconstruieren, 
aber  vor  oder  neben  der  romanischen  hat  gewis  schon  eine  durch  sie 
verdräugte  deutsche  benennung  bestanden,  dass  Chane-  (oder 
Chale-)  aus  Nane-  verdreht  sei,  möcht  ich  nicht  annehmen,  aber 
unmöglich  wäre  es  nicht,  unmittelbar  neben  dem  Chalmont  findet 
sich  im  Rumbachtale  noch  eine  merkwürdige  benennung,  die 
ursprünglich  nur  einem  bach  oder  einer  quelle  gegolten  haben 
kann,  auf  unseren  karten  wird  sie  Nangigoulte  geschrieben,  auf 
den  französischen  katasterkarten  von  1852  find  ich  Nanji-  und 
häufiger  Naugygoutte  neben  einander,  heute  wird,  wie  ich  höre, 
Naugygoutte  gesprochen,  was  eine  anknüpfung  an  INanna  er- 
schwert, welche  Nanji-  zuliefse. 

Wem  war  nun  dieser  Nannenstuhl  gewidmet?  die  sage 
meint,  dass  hier  die  feen  eine  brücke  über  das  tal  hätten  bauen 
wollen  (Stöber  s.  112).  jedesfalls  ist  Nannen-  der  genetiv  sing, 
eines  eigennamens,  man  könnte  schwanken  eines  männlichen  oder 
weiblichen,  im  erster eu  falle  würde  Nannen  für  Nannin  (nom. 
Nanno),  im  zweiten  für  Nannun  (nom.  Nanna)  stehn. 

Die  abschwächung  der  endvocale  im  ersten  teil  zusammen- 
gesetzter namen  ist  schon  in  den  ältesten  Urkunden  ziemlich  ge- 
wöhnlich 3.  so  hat  die  von  demselben  Hitherius  wie  die  unsere 
ausgestellte  Originalurkunde  nr  27  v.  j.  786,  in  der  dem  Fulrad 
guter  im  Elsass  und  der  Orlenau  bestätigt  werden,  neben  den 
richtigen  masculinis  Ansu/fisheim  und  Grucinheim  gerade  im 
femininum  Mordenaugia  für  die  reguläre  hochdeutsche  Mortunowa 
(Förstern,  n  1112).  so  kann  auch  Nannen-  für  Nannun-  stehn, 
und  die  weibliche  Nanna  aliein  kommt  in  betracht. 


1  Die  sagen  des  Elsasses2  i  nr  159  vgl.  s.  151. 

2  Das  Reichsland  m  159,  Bulletin  de  la  Sociele  xv  309. 

3  vgl.  Birgenowa,  Hohenavgia  usw.  aus  dem  8  Jh.,  wie  anderseits  -un 
auch  ganz  gewöhnlich  für  -en  steht,  Socio  s.  254. 


478  HENNING 

Der  wortstamm  ist  unter  den  allen  regulär  gebildeten  personen- 
namen  kaum  nachweisbar,  weder  als  erstes  noch  als  zweites 
compositionsglied,  denn  die  vereinzelten  Nanger,  Nanhard  usw. 
(Förstern,  i2  1148)  stehn  klärlich  für  Nandger,  Nanthart  usw  :  die 
alte  kurzform  dieses  Stammes  ist  Nanzo,  nicht  Nanno.  so  wird  auch 
für  die  hochdeutschen  Nannus,  Nanna  eine  andere  anknüpfung  nötig, 
die  in  den  urallen,  unter  allen  arischen  stammen  weitverbreiteten 
lall-  und  kosenamen  Nana,  Nanna  usw.  von  selber  sich  darbietet. 

Das  worl  ist  in  den  meisten  arischen  sprachen  eine  kosende 
bezeichnung  für  ältere  weibliche  angehörige,  vgl.  altind.  nand 
'mutterchen',  gr.  vdvva  etc.  'tante,  grofsmutter',  lat.  nonna  'amme', 
slav.  nana  'mülterchen',  cymr.  nain  'avia'.  ebenso  ist  nanne, 
manne  usw.  in  den  deutschen  dialekten  ziemlich  verbreitet1, 
ohwol  der  wortstamm  auch  für  männliche  personen  vorkommt, 
bleibt  nana,  nanna  doch  immer  die  weibliche  ergänzung  zum 
männlichen  lata,  tatta  und  ist  deshalb  schon  ursprünglich  weiblich, 
als  personenuame  ist  Nanna  selten,  da  er  für  ein  kind  eben  nicht 
passte,  während  die  ableitungen  Nannienus  usw.  berechtigt  sind, 
nur  in  einzelnen  gegenden  häufen  sich  in  alter  zeit  die  belege, 
so  hat  Kretschmer  aus  Phrygien  und  Vorderasien  überhaupt,  dh. 
aus  der  cultsphäre  der  Magna  Mater  eine  ganze  menge  gesammelt 2. 
Nana  war  die  tochter  des  phrygischen  flussgottes  Sangarios, 
und  man  ist  geneigt,  sie  mit  der  Kybele  selber  für  ursprünglich 
identisch  zu  halten3,  Nana  die  mutler  des  Attis,  des  lieblings  der 
3Ii]T7]Q  (jLsydXrj,  Näva  aber  auch  ein  beiname  der  Artemis 
(Preller-Robert  i  s.  333  anm.),  die  damit  der  grofsen  babylonischen 
Nana  otler  Nanai  gleichgesetzt  wird,  einer  uralten  orientalischen 
göttin  des  naturlebens,  deren  ausstrahlungen  weithin  zu  verfolgen 
sind4,  die  armenische  Nane  wurde  auch  mit  kriegerischen 
attributen  ausgestattet  und  so  der  griechischen  Athene  angenähert 
(Hoffmann  s.  136).  doch  überwigt  sonst  die  naturgottheit  durch- 
aus,   auf  den  indo-skythischen  münzen  hat  sie  aufser  der  mond- 

1  Deutsches  Wörterbuch  v  1338,  Schweiz.  Idiotikon  iv,  758  f,  Wörterb. 
d.  eis.  J\1A.  i  774  usw.,  Mittelniederd.  wlb.  in  157. 

2  Einleitung  in  die  gesch.  d.  griech.  spräche  s.  341  ff,  vgl.  schon  Hoff- 
niann  s.  157  und  den  Index  zum  corpus  inscriplionum  graecarum. 

3  Röscher  Lexikon  d.  griech.  u.  röm.  myth.  m  1  s.  6  f. 

4  Georg  Hoffmann  in  den  Abhandinngen  für  die  künde  des  morgen- 
landes  vn  (1881)  nr  3  s.  130  f. 


NANNENSTOL  UND  BRUN1I1LDENSTUHL  479 

sichel  einen  zwei-  oder  dreiästigen  zweig,  den  sie  mit  der  rechten 
darbietet,  als  attribut.  Nana  kann  sogar  zur  'Göttin  der  ganzen 
erde'  erhohen  werden,  so  dass  sie  gleich  nach  Zeus  genannt  wird 
(Hoffmann  s.  139),  und  als  'Konigin  Nana'  scheint  sie  hei  den 
kabulisch-indischen  Skythen  der  eranischeu  Anahita  gleichzu- 
stehn  (s.  155). 

Die  gruudbedeutung  des  wortes  war  gewiss  überall  dieselbe 
(auch  eiu  magyarisches  neue,  samojedisches  naiia  'ältere  Schwester' 
ist  vorhanden,  Hoffmann  s.  158f),  und  die  verwanten  gottheiten 
dieses  namens  berühren  sich  mehrfach,  in  den  allgemeineren 
und  weiteren  kreis  solcher  gottheiten  wird  auch  die  germanische 
Nanna  gehören. 

Zwar  pflegt   man    seit   Jacob  Grimm  (vgl.  Myth.4  I  183)   die 
uordische  Nanna  herkömmlich  als  Nanpo  'die  wagende'  zu  deuten, 
aber    dies    entspricht    nur    den    nordischen,    nicht    den    gemein 
deutschen  lautgesetzen.    sobald  auch  eine  deutsche  Nanna  gesichert 
wird,  ist   eine    solche    herleitung   nicht    mehr    möglich  und  kann 
nur  von  der   gruudform  Nanna    selbst   ausgegangen    werden,   die 
allen  anforderungen  genügt,    kriegerisch-walkürische  eigenschaften 
liegen   nicht   in  ihrem    weseu.     wenn   aber  Balder   bei    Saxo   sie 
zuerst  im  bade  erblickt  und   von  ihrer   Schönheit   entzückt  wird, 
was   die    waldjungfraueu    (silvestres  virgines)   seinem    nebenbuhler 
Hotherus  berichten,  so  erkennen  wir  eine  in  der   einsamkeit  der 
wälder   verweilende   naturgottheit.    aus  hoher  göttersphäre  scheint 
sie  nicht  zu  stammen,  wenn  sie  dem  Balder  sich  nicht  für  eben- 
hürtig  hält,     die  genealogischen   angaben    der  Edda,    die  Uhland 
(Schriften  vi  85  f)  zu  deuten  sucht,  bleiben  leider  unsicher,    nach 
Sn.  Edda  ist  sie  die  tochter  des  Nefr  (U,  vulg.  Nepr),  nach  Hyndll. 
20,   wenn   dies   dieselbe  Nanna  ist,  des  Nqkkve,  ihr  vater  Gevar 
(=  Gebaheri)  bei  Saxo  klingt  mehr    nach    sächsischem   als    nach 
nordischem    Ursprung,     die    auffassung    ihres    wesens    schwankt 
merkwürdig,     bei  Saxo  ist  sie  die  schöne,  von  zwei  männern  um- 
strittene und  schliefslich  dem  Holher  zufallende  geliebte,  uach  der 
Edda  die  dem  Balder  über  alles  treue  gattin,  deren  herz  bei  seinem 
tode    vor   gram   zerspringt,    die  auf  demselben  holzstofs  mit  ihm 
sich  verbrennen  lässt  und  in  die  unterweit  ihm  folgt,  von  wo  sie 
der  Frigg  Symbole  ehelichen  Standes  und  ehelicher  würde  sendet. 

Das  alles  deutet  nicht  auf  ein  walkürisches  wesen,   sondern 
auf  eine  einfache  naturgottheit  allgemein  weiblichen  Charakters,  wird 


480  HENMNG 

sie  doch  auch  zur  mutier  des  Forseti  gemacht,  als  ein  solches  wesen 
muss  sie  in  cultus  und  sage  gewurzelt  haben,  so  wird  ihr  name 
in  der  nordischen  dichtersprache  zur  poetischen  henennung  für 
frauen  überhaupt,  und  wenn  in  einem  spätesten  zusatz  der 
Voluspa  (str.  31,  6)  auch  die  walküren  nonnur  Herjans  heifsen,  so 
ist  dies  nur  eine  letzte    weitere  Übertragung. 

Der  weg  zu  einer  solchen  stand  freilich  immer  offen ,  das 
sehen  wir  an  der  am  meisten  vergleichbaren  gestalt  unserer  helden- 
sage,  —  der  Brunhild,  die  wol  aus  ähnlichen  anfangen  erwachsen 
ist.  wie  Haider  immer  mit  Siegfried  verglichen  ist,  haben  auch  Brun- 
hild und  Nanna  gewis  einen  alten  Zusammenhang.  Nanna  steht 
zwischen  zwei  männern,  wie  Brunhild  zwischen  Siegfried  und 
Günther;  auch  Brunhild  lässt  sich  mit  dem  hinterlistig  getöteten 
geliebten  auf  demselben  Scheiterhaufen  verbrennen  und  folgt  ihm 
zur  Hei.  nur  ist  bei  ihr  alles  ins  heroisch-walkürenhafle  gezogen, 
dieselbe  uralte  mythische  geschichte  spielt  schon  beim  tode  des 
Attis,  des  lieblings  der  3Irjtr]Q  [tsyäÄr],  der  gleichfalls  von  zwei 
frauen  gewünscht  wird  und  nach  lydischer  tradition  durch  einen 
von  Zeus  gesanten  eber  getötet,  nach  dem  noch  mehr  vergleich- 
baren historisierten  bericht  des  Herodot  (1,  341)  aber  auf  der 
jagd  durch  einen  unheilvollen  speerwurf  dessen,  dem  die  obhut 
über  ihn  gegeben  war,  dahingerafft  wird  (vgl.  Detter  Beitr.  19,  516). 

Hier  ligt  die  Vorstellung  von  der  aufblühenden  und  ver- 
gehnden  Vegetation  des  Jahres  zu  gründe. 

So  hat  es  einen  vollen  und  noch  mythischen  sinn,  wenn  auch 
Nanna  wie  Brunhild  in  der  einsamkeit  der  berge  und  wälder  auf 
hohem,  überschauendem  felsen  ihren  sitz  und  'stuhl'  hat.  dem 
lectulus  Brunihilde  auf  der  spitze  des  Feldberges,  über  den 
zuletzt  Braune  gehandelt  hat  (Beitr.  23,  246  ff),  dem  Brunhilden- 
stein  bei  Wiesbaden  (der  Hohen  kanzel  bei  Eogenhahn)1,  der  an 
bedeutsamer  stelle,  wo  drei  oder  vier  alte  gaue  zusammentrafen, 
lag,  und,  wie  wir  sehen  werden,  wol  auch  dem  Brunhilden- 
sluhl  bei  Dürkheim,  tritt  in  uuserm  Nannenslöl  ein  noch 
älterer  und  gewis  in  die  erfte  heidnische  zeit  der  deutschen 
besiedelung  des  Elsasses  zurückreichender  beleg  zur  Seite,  wie 
Nanna  und  Brunhild  haben  auch  ihre  alten  genossinnen,  die 
namenlosen  'wilden  frauen*  auf  solchen  felsen  ihr  'gestühle'.    ein 

1  Schliepliake  Gesch.  v.  Nassau  i  120  ff.  40(3  iL     Braune  aao. 


NANNENSTOL  U1ND  BRUNHILDENSTUHL  4SI 

stein  auf  dem  hohen  herg  zwischen  Leydhecken  und  Dauernheim 
in  der  Wetterau  heifst  'der  welle  fra  gestoil'  (Grimm  Myth.4 
1  359.  Simrock5  s.  388).  auch  quellen  oder  hrunnen  stehn  mit 
ihnen  in  Zusammenhang,  vgl.  'der  wilden  frau  hörn  uud  gestithl' 
hei  Grimm  Myth.  in  s.  121,  den  Brunhildshorn,  der  östlich  am 
Feldberg  entspringen  soll1,  und  wol  auch  die  Nanjigoutte  neben 
dem  Nannenstöl,  wodurch  denn  die  badende  "Nanna  eine  weitere 
hegrüudung  findet. 

Auch  für  Balder  scheint  es  im  Elsass  an  Zeugnissen  nicht 
zu  fehlen,  aufser  dem  von  JacGrimm  Myth.  i4  187  wol  mit  recht 
herbeigezogenen  Ortsnamen  Balbronn  (1178  zuerst  als  Baldeburne 
bezeugt)2  erwähnt  ein  weistum  von  Sundhofen  (südlich  von  Colmar) 
'den  ban  zu  Balterseiche'  (Weist.  iv  264  anm.).  die  nordische 
mythologie  enthält  eben  mehr  gemeingermanisches  als  man  anzu- 
nehmen geneigt  ist. 

Dass  es  sich  bei  dem  elsässischen  Nannenstöl  um  keine  isolierte 
und  zufällige,  sondern  ebenso  wie  bei  den  Brunhildensteinen  um 
eine  typische  uud  eingebürgerte  benennungsweise  handelt,  beweist 
der  umstand,  dass  ihm  gleich  noch  eiu  zweiter  aus  der  Pfalz  zur 
seite  zu  stellen  ist. 

Zu  den  vermutlich  von  Friedrich  Barbarossa  im  pfälzischen 
reichslande  angelegten  festen  gehört  der  Nannenstein  oberhalb 
Landstuhl,  die  erste  Verfügung  von  dort  (datum  apud  Nannen- 
steine)  erliefs  Heinrich  vi  i.  j.  1189  auf  dem  wege  von  Andernach 
nach  Strafsburg3,  weitere  Zeugnisse  von  1250  ab  finden  sich  bei 
Lehmann  verzeichnet4,  im  jähre  1253  tritt  daneben  die  Variante 
Nannestul  (datum  Narmestul)  auf,  die  nunmehr  mit  JNannenstein 
wechselt,  wie  der  elsässische  ortsname  lehrt,  braucht  Nannen- 
stul  nicht  notwendig  von  Landstuhl  her  übertragen  zu  sein,  schon 
in  römischer  zeit  war  hier  eine  cultstätte.  ein  bild  des  Mercurius 
ist  heute  auf  dem  burghofe  eingemauert,   wie  denn  auch  andere 

1  woher  der  sonst  gründliche  Vogel  (Beschreibung  des  Herzogtums 
Nassau  s.  12),  auf  den  Rassmann  DHeldens.  i  158  sich  stützt,  diesen  namen 
hat,  weifs  ich  nicht. 

2  vgl.  Balderszbach  (Ballersbach)  in  Nassau  (Vogel  Topographie  s.  156). 
Balders  beziehung  zu  hervorbrechenden  quellen  erklärt  Saxos  bericht. 

3  Wilmanns  Die  Kaiserurkunden  der  provinz  Westfalen  nr  244,  vgl. 
Stumpf  Kaiserurkunden  s.  421. 

4  Urkundliche  geschichte  der  bürgen  und  bergschlösser  der  Pfalz 
v  130  ff. 


452  HENNING 

Überreste  römischer  zeit  beim  aufräumen  der  ruine  gefunden 
wurden  (Lebmaun  aao.  s.  126).  die  miüelalterlicbe  bürg,  in  der 
i.  j  1523  Franz  von  Sickingen  endete,  bestand  nacb  Lehmann  s.  127 
aus  zwei  teilen,  aus  den  altern  und  ursprünglichen  gebäuden, 
welche  um  und  auf  dem  in  deren  mitte  befindlichen  felsen  Naunen- 
stein  errichtet,  und  aus  den  späteren,  die  an  der  östlichen  seite 
derselben  aufgeführt  waren,  die  bürg  hat  natürlich  von  dem 
felsen  Nannenstein  oder  Nannenstuhl  ihren  namen  erhalten,  der 
wider  in  die  heidnische  zeit  der  ersten  deutschen  besitz- 
ergreifung  zurückreichen  muss. 

Wie  Nannenstuhl  und  Nannenstein  neben  einander  stehen, 
hat  es  wol  auch  einen  alten  Brunhildenstuhl  gegeben.  Mehlis 
und  andere  haben  darauf  hingewiesen  (vgl.  Anz.  iv  75),  aber  ver- 
öffentlicht ist  die  Urkunde  des  fürstlich  leiningenschen  archivs 
zu  Amorbach  —  der  Dürkheimer  burgfriede  vom  2.  Januar  1360 
—  erst  von  Ohlenschlager,  freilich  an  kaum  zugänglicher  stelle1, 
sodass  der  ganze  passus  einmal  zu  widerholen  ist. 

So  ist  daz  der  vmbegriff  und  zirkel  des  burgfriden.  der  hebet 
an.  An  dem  steine  der  da  stat  an  der  wegescheide  an  dem  vihe 
wege.  vnd  von  dem  steine  an  di  herstrassen  us  bicz  an  den  stein 
bi  wenczen  Crüze.  vnd  von  dem  steine  bi  wenczen  Crüze. 
den  weg  us.  bit  an  den  stein  der  da  stat  an  dem  ge  wege, 
und  den  gow  weg  us  bicz  an  den  stein  der  da  stat  uff  dem 
schüssel  acker.  vnd  von  dem  steine  an  dem  schussel  acker.  bit 
an  den  stein  der  da  stat  vnden  an  der  stein  grüben,  vnd  von 
dem  steine  an  der  stein  grüben  bicz  an  den  stein  der  da  stat  an 
der  fürte,  vnd  von  dem  steine  an  der  fürte  bicz  an  den  stein  der 
da  stat  in  dem  wingarten.  vnder  brünoldes  stül.  vnd 
dan  von  brünoldez  stül  bicz  in  den  phat  der  di  sullierwune 
her  abe  gat  vnd  von  der  sumerwune  bicz  an  den  stein  der  da  stat 
an  dem  halsperge  den  weg  us  vnd  von  dem  steine  an  dem  hal- 
perge  bit  an  den  stein  der  da  stat  an  der  tornach  und  von  dem  tornach. 
den  weg  us  bicz  an  den  stein  der  da  stat  an  sant  Michelzburnen. 
vnd  von  dem  steine  an  sant  michelz  burnen  bicz  an  den  stein  der 
da  stat  an  pfeffinger  steinen  brücken,  vnd  von  dem  steine 
bi  pfeffinger  brücken,    wider  an  weg  der  da  gat  an  den  vihe  weg. 

1  Palatina,  belletristisches  beiblatt  zur  Pfälzer  zeitong  1894  nr  66  ft 
s.  263  ff. 


NANNENSTOL  UND  BRUNHILDENSTUHL  483 

Ohne  auf  die  controverse,  welche  sich  an  die  beslimmung 
der  einzelnen  localitäten  geknüpft  hat,  liier  einzugehn,  sei  für 
unsere  zwecke  nur  das  folgende  bemerkt.  Ohlenschlager  8.  268 
sucht  die  stelle  'unmittelbar  südlich  von  der  südspitze  der  ring- 
mauer,  wo  der  bergabhang  einen  absatz  bildet  und  eine  kleine 
bergüäche  mit  höchst  anmutigem  blick  nach  Dürkheim  und  Grethen 
zur  anläge  eines  ruheplatzes  verlockte'  und  bemerkt  s.  500,  ilass 
die  stelle  'mit  ihrem  kräftigen  sitzartigen  proül  sich  schon  von 
weitem  gegen  den  Hintergrund  scharf  abzeichnet'.  Melius  hatte  auf 
grund  derselben  Urkunde  eine  felspartie  in  der  mitte  der  ostseite 
der  ringmauer,  welche  im  volksmunde  'KrumholzerstuhP  genannt 
wird,  dafür  angesehen  und,  nachdem  der  Bruno Idesstuol  der  Ur- 
kunde bekannt  geworden,  den  Krumholzerstuhl  als  eine  verball- 
hornung davon  angesehen  und  den  betreffenden  felsen  nunmehr 
Brunholdisstuhl  getauft,  über  die  localisierung  könnte  höchstens 
genauste  orts-  und  Urkundenkenntnis  entscheiden,  aber  beide  mal 
ist  es  ein  sehr  markierter  berg-  oder  felsensitz.  Ohlenschlager 
freilich  will,  auf  die  Schreibung  der  Urkunde  sich  stützend,  von 
einem  Zusammenhang  mit  Brunhild  nichts  wissen,  sondern  fasst 
ihn  als  ruheplatz  eines  mannes  namens  Brunold.  hierzu  kann  der 
Wortlaut  der  Urkunde  verführen,  aber  die  auffassung  ist  doch 
zu  modern  und  der  Zusammenhang  mit  den  behandelten  namen 
allzu  deutlich,  so  dass  er  verkannt  werden  könnte,  freilich  ist 
der  name  schon  in  der  Urkunde  etwas  entstellt  (für  Brunhilde  stuol), 
aber  nicht  mehr  wie  es  sonst  im  volksmunde  der  fall  ist :  ein  sicheres 
zeichen,  dass  man  schon  früh  die  bezeichnung  nicht  mehr  recht 
verstand  und  dass  sie  älter  sein  muss  als  das  Nibelungenlied. 

Trotzdem  bleibt  die  combination  mit  dem  'Krumholzerstuhl' 
sprachlich  bedenklich,  letzterer  könnte  viel  eher  eine  verballhor- 
nung von  Kriemhilt  als  von  Brunhild  sein,  vgl.  Crimholt  Zs.  6,  28, 
Cryenhild,  Crenhild  (Zs.  12,  360),  die  dänische  (d.  i.  niederdeutsche) 
vru  Kremolt,  die  Crumhelt  der  Chronica  Hungarorum  (HS2  s.  63.  64. 
Zs.  46,  22),  die  Kreinheilts  des  Nicolaus  Olahus  (HS2  s.  307),  so  dass 
sich  die  beiden  rivalinnen  hier  gegenüberstünden,  nach  Rriem- 
hild  wurden  auch  anderwärts  felsen  zubenannt  (Criemildespil 1  bei 


1  die  spil-  d.  i.  spindelsteine,  die  in  unsern  bergen  noch  mehrfach  so 
benannt  werden  (vgl.  Mündels  Vogesen  s.  244.  271.  555)  gelten  als  denk- 
nialer    vorrömischer  zeit.    —    steine  mit    sitzartigen    Vertiefungen    werden 


vom  Volksglauben  den  feen  zugewiesen. 


484     HENNING  NANNENSTOL  UND  BBUNHILDENSTUHL 

Saarbrücken  HS  2  s.  155,  auch  wol  der  Kriemhildenstein  v.  j.  1476 
in  der  Ortenau).  auf  dem  Krumholzerstuhl  pflegten  zu  fastnacht 
vou  der  Dürkheimer  Jugend  die  üblichen  feuer  abgebraunt  zu 
werden  (Palatina  s.  271),  was  der  namensverdrehung  vielleicht  die 
richtung  wies.  —  alle  weitergehnden  angaben  von  Mehlis  (von 
einem  zweiten  Krumholzerstuhl  an  der  nordseite  des  Peterskopfes 
und  einem  Brunholdisbette  am  nordostabhange  des  Peterskopfes) 
werden  von  Oblenscblager  in  das  reich  der  fabel  verwiesen, 
dagegen  mögen  die  in  oberelsässischen  weistümern  aus  dem  ende 
des  14  und  anfang  des  15  jh.s  erwähnten  bezeichnungen  (vielleicht 
für  dieselbe  stelle)  :  uncz  zu  Brunhalcz  hing  (Grimm  iv  147)  und 
an  den  marstein,  der  stet  ussewendig  der  Brunnhilt  (iv  159)  in 
unseren  Zusammenhang  gehören,  letzterer  war  wol  ein  ähnlicher 
stein  wie  der  Bruuhildensteiu  (Pierre  Brunehaut)  im  felde  bei 
Tournai,  auf  den  KHofmanu  (München.  Silzungsber.  phil.  hist. 
cl.  1871  s.  676)  hinwies. 

Strafsburg,  herbst  1907.  R.  HENNING. 

LÜCKENBÜSSEB  :  BALKON. 

Unsere  lexikographeo  sind  darin  einig,  dass  das  italienische 
balcone,  das  im  anfang  des  17  jh.s  als  balcon  ins  französische 
und  (wol  etwas  später)  als  balkön  ins  deutsche  aufgenommen  ist, 
vom  ahd.  (resp.  langob.)  balco  'trabs'  stamme,  die  herleitung  der 
bedeutung  aus  dem  'balken',  wie  sie  beispielsweise  Heyne  in  seinem 
WB.  i  272  versucht,  ist  aber  bedenklich,  und  ich  schlage  daher 
eine  andere  etymologie  vor,  die  lautlich  einwandfrei  ist  und  den 
sinn  besser  trifft  :  balcone  ist  dissimilation  aus  *bancone,  das  sich 
zu  banca  verhält  wie  salone  zu  sala.  (italienische  beispiele  für 
ähnlichen  lautwandel  bei  Grammont  La  dissimilation  p.  80.84.)  der 
älteste  *bancone  war  eine  steiubank,  die  sei  es  als  nische  oder 
als  erker  ein  fester  teil  des  Steinhaus  wurde  und  so  von  der 
schlichten  holzbank  auch  sprachlich  als  'die  grofse  bank'  abge- 
hoben zu  werden  verdiente,  für  die  'bank'  war  freilich  das  material 
von  vorn  herein  nicht  so  selbstverständlich  wie  für  den  'balken', 
den  die  Germanen  doch  nur  als  holzbalken  gekannt  haben.  E.  S. 


ÜBER  DIE  HERKUNFT  UND  BEDEUTUNG 
DER  GERMANISCHEN  BILDUNGSSILBEN  AG, 

IG  UND   L1K. 

§  1.  Die  lehre  von  der  germau.  wortbilduDg  unterscheidet 
in  der  regel  als  die  beiden  hauptkategorien  :  1)  ableitungen,  die 
aus  einem  Stammwort  durch  anlritt  eines  suffixes,  dh.  eines  sprach- 
elementes  das  kein  selbständiges  dasein  führt,  entstehn,  und 
2)  compositionen,  bei  denen  zwei  selbständige  redeteile  mit 
bestimmter  eigenbedeutung  zur  worteiuheit  zusammentreten. 

Der  Ursprung  der  suffixe  und  ihrer  besonderen  functiouen 
fällt  meist  in  vorgeschichtliches  dunkel,  dagegen  vollzieht  sich 
vor  unseren  äugen  im  german.  eine  entwicklung,  in  deren  ver- 
lauf mehrere  nomina  aus  vollwertigen  compositionsgliederu  zur 
function  von  suffixen  herabsinken,  so  besonders  die  nhd.  ab- 
leitungssilben  -bar,  -haft,  -lieh,  -sam;  -heit,  -schalt,  -tum.  im 
hinblick  auf  diese  entwicklung  sagt  Paul l  §  241  :  'wir  müssen 
die  vorgeschichtliche  entstehung  von  suffixen  durchaus  nach  dem 
mafsstabe  beurteilen,  den  uns  die  geschichtliche  erfahrung  an  die 
band  gibt,  und  mit  allen  theorieen  brechen,  die  nicht  auf  diese 
erfahrung  basiert  sind,  die  uns  zugleich  den  einzigen  weg  zeigt, 
auf  welchem  der  Vorgang  psychologisch  begreifbar  wird'. 

§  2.  Erklärungsversuche  in  der  von  Paul  angegebenen 
richtung  wurden  schon  früh  an  suffixen  vorgenommen,  schon  vor 
Grimm  hatten  'verschiedene  Sprachforscher  in  dem  suffix  aht  die 
wurzel  ahta  (cura,  cogitatio)  ahtön  (putare)  gefunden,  also  compo- 
sition  statt  derivatiou'.  mit  recht  wendet  sich  Jacob  Grimm2  (s.  384) 
gegen  diese  ansieht,  obwol  er  in  der  ersten  ausgäbe  von  bd  i  der 
grammatik  (s.  560)  selber  'das  ig  aus  dem  anomalen  aigan,  dh.  aus 
dem  verloreneu  wahren  präsens  got.  eigan,  ahd.  ikan,  igan  zu 
deuten'  versucht  hatte;  er  hat  den  gedanken  iu  bd  n  s.  308  als 
unbefriedigend  wider  aufgegeben;  Gabelenlz  und  Loebe  Got. 
grammatik  §150,  lit. f  halten  au  der  möglichkeit,  dass  eig  und 
aigan  zusammenhängen,  fest,  die  neuere  forschung  hat  von 
derartigen  erklärungsversuchen  abstand  genommen  und  sieht  in 
got.  eig  =  ahd.  ig  und  ebenso  iu  ag  die  germanische  entsprechung 
des   idg.  fro-sufüxes.    die  Schwierigkeit,  die  in  dem  nebeneinander 

1  Paul  =  HPaul  Principien  der  Sprachgeschichte,  3  aufl. 

2  Grimm  =  JGrimm  Deutsche  grammatik,  bd  II. 

Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXXVII.  32 


486  SCHMID 

von  ig  und  ag  ligt,  sucht  KaufTmann  (Beitr.  12,  201  ff)  zu 
beseitigen  durch  den  nachweis,  dass  die  doppelformen  auf  die 
Verschiedenheit  des  stammvocals  der  zu  gründe  liegenden  suhst. 
zurückgehe,  also  ag  bei  a-stämmen  und  ig  bei  i-stämmen  stehe. 
zu  dem  resultat  der  Untersuchung  sagt  Wilmanns1  §  343,2: 
'die  verschiedenen  formen  der  ableitungssilbe  lassen  sich  aus  der 
form  der  zu  gründe  liegenden  stamme  nicht  immer  erklären, 
gewöhnlich  gehören  die  Wörter  auf  -ag  zu  a-stämmen,  die  auf  -ig 
zu  t-  und  ya-stämmen,  doch  gilt  die  regel  nicht  ausnahmslos,  und 
die  vergleichung  der  verwanten  sprachen  zeigt,  dass  man  sie  auch 
nicht  für  das  urgerman.  voraussetzen  darf.' 

§  3.  Den  versuch,  einen  bedeutungsunterschied  zwischen 
ag  und  ig  festzustellen,  hat,  soviel  ich  sehe,  nur  Grimm  unter- 
nommen, ihn  aber  als  resultatlos  aufgegeben,  er  sagt  darüber 
s.  308 f:  'die  individuelle  bedeutung  der  -ag  und  -dg  muss  sich 
nahe  berühren,  weil  einige  mundarten  den  formellen  unterschied, 
ohne  empfindlichen  verlust  für  den  sinn  der  Wörter,  fahren  lassen, 
warum  also  maneigs  und  mahtags  unstatthaft  sind,  scheint  unsren 
blicken  nicht  viel  durchdringlicher  als  der  grund,  welcher  fugls 
und  mikils  gebietet,  fugüs,  mikls  verbietet,  zwar  liefse  sich 
sagen,  dass  die  adj.  auf  -ag  eine  fülle  bedeuteten  :  bluotac,  muotac, 
scamac,  nötac,  hnngarac,  frostac,  lustac,  grasac  gleichsam  voll  von 
blut,  mut,  schäm  usw.,  wogegen  die  auf  -ig  einfach  die  gerade 
eigenschaft  ausdrückten  :  mahtic,  suhlte,  vluhtic,  waram-bluotic 
(nach  dem  nhd.)  der  mit  macht  versehen,  mit  der  sucht  behaftet 
ist,  warmes  blut  hat,  die  flucht  ergreift,  welches  jener  erklärung 
des  -ic  aus  eigan  zuspräche,  allein  manac  ist  nicht  :  voll  von 
menschen,  sondern  ganz  das  abslracte  multus,  etnac  aus  dem 
hohen  grad  der  einsamkeit  zu  deuten,  scheint  gezwungen,  auch 
wäre  dann  ein  verstärkendes  mahtac,  suhtac  usw.,  überhaupt  öftere 

anwendung  des  worts  in    beiderlei    gestalt   zuzugeben 

hauptsache  ist  also,  das  urteil  über  ihre  bedeutung  noch  offen 
haltend,  erst  aus  den  ältesten  quellen  den  unterschied  jeder  form 
sicher  zu  stellen  und  die  später  eingetretenen  mischungen  zu 
berichtigen',  ein  gewichtiges  bedenken,  an  dem  unter  anderm 
Grimms  versuch  scheiterte,  ist  inzwischen  gefallen  durch  die 
erkenntnis,  dass  manags  von  der  gruppe  der  mit  suffix  -ag  ge- 
bildeten adjeetiva  zu  trennen  ist  (vgl.  auch  Schröder  Zs.  35,377  n). 

1  Wilmanns  =  Wilmanns  Deutsche  grammatik,  bd  h. 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  LIK     4S7 

ohne  berücksichligung  von  manags  habe  icli  aufs  neue  den  versuch 
gemacht,    eine   sonderbedeutung  von  ag  und  ig  festzustellen  und 
die    beiden  suffixe  nach  analogie  der  gemeingermanischen  sulfix- 
adjective  -haß,  -lieh,  -sam  zu  deuten,    dabei  scheint  mir  von  Wichtig- 
keit, dass  die  annähme,  das  got.  als  die  älteste  überlieferte  german. 
spräche  müsse  auch  die  früheste  nachweisbare  enlwicklungsstufe 
des  german.  zeigen,  seit  den  tagen  JGrimms  in  wesentlichen  puneten 
zu  gunsten  des  ahd.  modificiert  worden  ist.   ich  bin  daher  bei  meiner 
Untersuchung  vom  ahd.   und   as.   ausgegangen    und   habe  mit  den 
hier  gewonnenen  ergebnissen  den  befund  im  got.  kritisch  verglichen. 
§  4.     In  naher  beziehung  zu  der  fu actio n  von  ag,  ig  muss 
die  bedeutung  von  lieh  stehn,  denn   neben  adj.  auf  ag,  ig  stehn 
sehr  oft  bildungen  mit  lieh  oder  Weiterbildungen  mit  ag-lich,  ig- 
lich,  und  ebenso  fast  nur  adverbia  mit  licho,   während  adverbial- 
bildung    auf    -ago,    -igo   seilen    begegnet,     ganz    allgemein    sagt 
Grimm  s.  660  f,    das   adj.    mit   Uli  habe  gegenüber  dem  ohne  Uh 
eine  abstracte  bedeutung.     'Otfried  braucht  suaz-Iih  bei  den   ab- 
stracten  Wörtern  tat,    mut,   gelüste,   milde,  zuweilen  auch  suazi, 
würde    aber   nur    letzteres    von    honig,    mild),    apfel    brauchen; 
arma-lih  setzt  er  zu  mut,  wille,  tat,  brüst,  lust,  strafe  usw.,  hin- 
gegen  armu   xcihtir,   arme  j'oh   tiche mit  dieser   Wahr- 
nehmung zusammenzuhängen    scheint  mir,    dass  die  verhandelten 
composita    gern    in  der   adverbialen  form    vorzukommen    pflegen, 
denn  alle  adverbia  ihrer  natur  nach  sind  abstracter  als  die  adjee- 
tiva.'     diese  'abstracte'  natur  der  adj.  auf  lieh  und  deren  Verhältnis 
zu  den  adj.  auf  ag,  ig  habe  ich  in  einem  besonderen  capitel  näher 
zu  definieren  versucht. 

Capitel  i. 

ag. 

§  5.  Bei  Otfr.  sind  folgende  adj.  mit  ag  belegt  :  görag, 
idmarag,  (un-)nötag,  riwag,  rözag,  serag,  xcenag,  Imngarag;  ferner 
einag,  heilag,  ödag,  wizago.  an  diesen  belegen  fällt  auf,  dass  7  der- 
selben nahezu  synonyma  mit  der  bedeutung  'traurig,  elend,  müh- 
selig' usw.  sind,  dazu  tritt  hungarag,  das  ebenfalls  einen  subjeetiven 
zustand  der  unlust  bezeichnet,  ebenso  wie  durstag,  das  im  Tat.  und 
in  den  Mons.  frgm.  belegt  ist.  dieselbe  erscheinung  zeigt  sich  im 
Hei.,1  der  folgende  belege  bietet  :  grddag,  grimmag,  hrewag,  möd- 

1  Heliand  ist  nach  der  ausgäbe  von  Sievers,  und  zwar,  wo  nicht  anders 
vermerkt,  nach  M  zitiert,  das  as.  Genesis-fragment  nach  der  ausgäbe  von  Heyne. 

32* 


488  SCilMID 

karag,  mödag,  serag,  wörag;  blödag,  drörag;  enag,  helag,  hrömag, 
kraflag,  ödag;  auch  liier  eine  auffallend  grolse  zahl  von  adj.  mit 
der  hedeutung  eines  unlustgefiihles.  soweit  diese  adj.  im  got. 
helegl  sind,  zeigen  sie  auch  da  ag  (ah)  :  gredags,  modags,  wainags, 
audags,  hailags;  ainaha. 

§  6.    Nach  Graff  in  829  ist  frostag  zweimal  glosse  für  'algens', 
einmal  für  'algidus',  hat  also,  wie  auch  noch  rnhd.  frostec,  ofTenhar  in 
erster  linie  die  hedeutung  'frierend',  dh.  'kälte  leidend',  während  frost 
meist  =  'gelu,  frigus',  also  ohjectiv  =  'kälte'  ist.  winac  steht  Keron. 
gl.  258,  30  für  'vinolentus'  (wenigstens  hat  der  glossator  so  für  'vio- 
lentus'  gelesen),  also=  Sveintrunken',  dh.  'durch  wein  sich  in  einem 
leidenden  zuslande  hefindend.'  ehenso  ist  nach  Graff  vi  802  sldfag  = 
'somnolentus',  'schläfrig,  schlaftrunken',  dh. 'durch  schlaf  in  einen  zu- 
stand der  unlust  versetzt.'  hei  diesen  hildungen  bedeutet  das  adj.  gegen- 
üher  dem  suhst.  einen  zustand  der  unlust,  vou  dem  in  der  hedeutung 
des  suhst.  nichts  enthalten  ist.    diese  tatsache  nehst  der  hei  Otfr. 
und    im  Ilel.    gemachten    heohachlung,    dass   -ag  mit   vorliehe  an 
suhst.  antritt,  die  ein  unlustgefühl  hedeuten,  legt  die  Vermutung 
nahe,    dass   das    hetreffendc   hedeutungsmoment  auch   seihständig 
in    der    bildungssilhe   ag   enthalten  sei,  diese   also  die  hedeulung 
'sich    in    einem    zustande    der   unlust    hefindend,    sich    bedrückt 
fühlend'    habe;    daraus    würde    sich    die    hedeutung    von   froslag, 
släfag,  icinag  erklären  =  'durch  frost,  schlaf,  wein  sich  in  einem 
zustande  der  unlust   befindend,   sich  bedrückt   fühlend';    zugleich 
ergäbe    sich    damit  auch    eine    plastische    hedeutung    für    nölag, 
Iningarag,  serag  usw.  =  'sich  von  not,  hunger,  schmerz  bedrückt 
fühlend.'  —  bei  Olfrid  wechseln  miteinander  abstracla  -\-  ag  und 
ahstracta  -\-  Ith:  idmar-ag  —  idmar-lih,  nöt-ag  —  nöt-lih,  ser-ag  — 
ser-Hh.     Uli  ist  bekanntlich   ein  zur  bildungssilhe   erstarrtes,    ur- 
sprünglich   selbständiges   nomen.      der    selbständige   bedeulungs- 
wert,  den  -ag  auf  den  ersten  blick  zu  haben  scheint,   berechtigt 
zu  dem  versuch,  ein  solches  auch  für  -ag  nachzuweisen. 
Die  etymologic  von  ag. 
§  7.     Im  german.  gibt  es  neben  starken  verben  zwei  haupl- 
arten    von  wurzelhaften  adj.  :  solche  mit   dem  präsensvocal,   und 
solche    mit   dem  vocal  des  Sgl.  prät.  (vgl.  Kluge1  §  170  f;    Wil- 
mauns  §  309;  LMeyer2  §  364). 

1  Kluge  =  FrKluye  Nominale  Stammbildungslehre. 

2  LMeyer  =  Leo  Meyer  Die  gotische  spräche. 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  L1K     489 

Adjecliva  mit  dem  prä'se  ns  voca  I  sind  im  gotischen: 
(lubj'a-)leis  :  lais;  divps  :  *divpan,  wovon  davpjan;  Hufs  :  *liuban; 
galiugs  :  liugun  ;  garivps :  angels.  riodan;  shtks  :  siukan;  us-sindo: 
sinpan ;  inwinds:  windan;  gahwairbs :  hwairban ;  —  wairps:  wairpan ; 
fralets  :  fraletan  uaa.  —  mit  dem  vocal  des  si  ng.  prüt.  :  linaiws  : 
hneiican;  laus  :  liusan;  ga-laufs  :  liuban;  raups  :  aogels.  reodan; 
parbs  :  purf;  frops:  frapjan;  un-and-soks  :  and-sakan;  unga-slops: 
standan  ua. 

Zu  den  adj.  mit  präsensvocal  stell  ich  das  nur  als  suüix 
erhaltene  adj.  *ags,  als  wurzelverwant  mit  dem  prlo-präs.  og 
'fürchten',  wie  leis  mit  dem  prto-präs.  lais. 

Die  einstige  existenz  eines  adj.  *ags,  die  demnach  an- 
genommen   werden     kann,     wird    alier    auch    direct    hewiesen: 

1)  durch  das  got.  adjectiv-ahslractum  un-agei  (ahd.  aki,  eki)7 
'aus  dem  sich  ein  adj.  un-aga-  'furchtlos'  ergibt'  LMeyer  §  365. 

2)  durch  das  factitivum  af-,  in-,  us-agjan,  dem  das  adj.  ags  zu 
gründe  ligt,  wie  bruks  —  brukjan;  bairhts  —  bairhtjan;  daaps  — 
davpjan;  gabigs  —  gabigjan;  gails  —  guiljan  ua.  (vgl.  LMeyer 
§  293).  direct  vom  st.  verb.  *agun  —  og  kann  agjan  nicht  ab- 
geleitet sein,  denn  dazu  lautet  das  factitivum  ogjan.  die  bedeutung 
von  agjan  als  factitivum  schliefst  auch  ein  nach  den  bildungs- 
principien  als  grundwort  mögliches  subst.  aus,  abgesehen  davon, 
dass  als  subst.  aufser  unagei  im  got.  nur  agis  vorkommt,  von  dem 
ahd.  egisön  abgeleitet  ist. 

Die  bedeutuug  von  ag. 
§  8.  Im  got.  hat  ogan  nur  die  bedeutung  'fürchten',  ebenso 
ist  der  begriff  'furcht'  auch  den  bedeutungen  der  ableitungen 
gemeinsam  (agis,  -agjan,  unagei,  ogjan.).  og  ist  präteritum 
mit  ausgesprochener  präsensbedeutung,  wie  wait  =  olda,  dessen 
prto-prasens-bedeutung  'ich  weifs'  gleichbedeutend  mit  'icji  habe 
gesehen'  ist,  woraus  sich  für  das  als  simplex  verlorene  präs.  *icitan 
die  bedeutung  'sehen'  ergibt,  dh.  die  bezeichnung  des  zeillich 
und  causal  vorausliegendeu  Stadiums,  nach  dieser  onalogie  muss 
auch  das  präs.  *agan  etwas  bedeutet  haben,  was  dem  gefühl 
der  furcht  zeitlich  vorausligt  und  dieses  zur  folge  hat.  dies  ist, 
ganz  allgemein,  ein  durch  eine  bestimmte  Ursache  hervorgerufener 
zustand  der  unlust,  welcher  zeitlich  und  causal  eine  Vorstufe  des 
fürchtens  ist.  demnach  bedeutet  *agan  'unter  einer  unlust  er- 
regenden eiuwüikuug  stehn'  und  ogan  entsprechend  'unter  einer 


490  SCHMID 

unlusl  erregenden  eiuwürkung   gestanden    haben'  und    daher  die 
Ursache  der  einwürkung  :  'fürchten'. 

Dass  die  speziellere  bedeutung  'furcht'  sich  aus  der  all- 
gemeineren hedeulung  'unlustgefühl'  entwickelt  hat,  beweist  auch 
die  hedeulung  des  dem  got.  agis  genau  entsprechenden  äyog  = 
'schmerz,  leid,  trauer,  Unmut'.  —  für  das  adj.  *  ags  ergibt  sich 
daraus  die  hedeulung  :  'unter  einer  unlusl  erregenden  einwürkung 
stehend,'  was  völlig  dasselbe  besagt^  wie  die  in  §  6.  inductiv 
erschlossene  bedeutung  'sich  bedrückt  fühlend'. 

Anmerkung  :  dieser  für  *agan  erschlossenen  bedeutung 
sieht  die  von  aglo,  aglipa,  agls,  aglus,  agljan  sehr  nahe,  weshalb 
ich  mit  Kluge  §  189  und  Wilmanus  §  321  an  der  stammver- 
wantschafl  von  agls  und  *  agan  festhalten  möchte  trotz  Uhlenbeck 
Beitr.  30,  255  f. 

aglo  ist  =  Ü).L\pig,  ödvvr],  fiöy^og ;  aglipa  in  aglipos  winnan  = 
■d-).lßeGdai',  usagljan=  VTicJuiä^eiv;  aglus,  agluba  =  dvoy.oXog, 
övay.öX(og;  agls  =  aioyj)6g.  allen  ableitungen  ist  also,  teils  in 
passiver,  teils  in  activer  Wendung,  die  bedeutung  :  'bedrängnis, 
mühe'  gemeinsam,  die  sich,  in  ausschliefslich  passivem  sinn,  auch 
für  *agan  ergeben  hat. 

Die  ahd.  adj.  auf  ag. 

§  9.  Die  hier  aufgeführte  möglichst  vollständige  Zusammen- 
stellung der  adj.  auf  ag  enthält  die  Sammlungen  von  Grimm 
s.  290f  und  Graff  iv  5f  nebst  einigen  eigenen  ergänzungen. 
die  belege  aus  IS'olker  (N.)  haben  nicht  volle  beweiskraft,  da  die  im 
ganzen  bei  Notker  noch  als  eg  und  ig  getrennt  erhalleuen  alten 
bildungssilben  (vgl.  lFleischer  Die  Wortbildung  bei  Kolker  s.  57) 
doch  schon  beginnen  sich  zu  vermischen  (vgl.  Grimm  s.  291).  zur 
ergänzung  sind  die  im  ahd.  nicht  belegten  as.  und  anld.  belege 
mit  aufgeführt,  sowie  auch  einige  augels.  bildungen  mit  ig,  bei 
denen  fehlender  umlaut  altes  ag  vermuten  lässt  (vgl.  Grimm  s.  302). 

Unberücksichtigt  bleiben  zunächst  einige  bildungen  auf  ag, 
welche  eine  gesonderte  betrachtung  erfordern. 

§  10.     Gruppe  i: 

durslag,  forahtag,  frostag,  gilag  (=  avidus,  vorax),  görag, 
grdlag,  hanlag  (=  acer,  ferox,  saevus,  mordax  Graff  iv  972), 
hungarag,  iämarag,  karag,  leideg  (N.),  mödag,  nieteg  (N.),  nötag, 
riwag,  rözag,  serag,  scatnag,  sldfag,  spildeg?,  angels.  tearig,  anld. 
tharfag  (Wadstein  s.  55b,  37j,   trureg  (N.),    icenag,   winag,  uuo- 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  L1K      491 

rag  (=  crapulatus,  cibo  repletus  Graff  i  962;  Grimm  list  fuorag), 
as.  wörag  (=  fessus),  wuotag,  zornag. 

Alle  zu  gründe  liegenden  subst.,  soweit  ihre  bedeutuug  durch- 
sichtig ist,  bezeichnen  entweder  einen  zustand  der  Unlust  oder 
etwas,  was  einen  solchen  zustand  verursachen  kann,  wie  alter- 
tümlich diese  bilduugsweise  ist,  zeigen  die  isolierten  adj.,  zu  denen 
die  betrelienden  subst.  nicht  mehr  erhalten  sind  :  zu  wenag  = 
got.  wainags  ist  nur  das  denomiuative  ahd.  verbum  weinön  belegt; 
zu  görag  kennt  nur  das  gol.  ein  mit  dem  verlorenen  subst. 
gleichlautendes  adj.  gaurs  (s.  §  21  n.);  das  subst.  zu  grdlag  ist  im 
ahd.  ebenfalls  verloren  gegangen;  nur  spärlich  bezeugt  ist  sowol 
das  adj.  rözag  als  das  subst.  (h)röz;  zu  hantag,  uuorag,  wörag 
sind  entsprechende  subst.  überhaupt  nicht  bekannt. 

Anmerkung  :  bei  vielen  dieser  adj.  ist  die  form  mit  -ag  nur 
einmal  oder  sehr  seilen  belegt  gegenüber  zahlreicherem  -ig;  dies 
ist  begreiflich,  da  schon  im  frühahd.  der  Übergang  von  -ag  zu 
-ig  begonnen  hat.  deshalb  sind  auch  manche  bildungen  nur 
mit  -ig  belegt,  deren  bedeutuug  eher  ag  erwarten  liefse. 

§  11.     Gruppe  li. 

a.)  dornag  (Grimm  s.  291);  as.  drörag;  harzeg  (N.);  ettarag 
(Wadstein  s.  100b,  34 — 35);  angels.  horwig  (=  spätahd.  horg); 
augels.  ch'tdig  (=  saxosus);  ömig  (Beovv.,  zu  au.  ätna  =  aerugo); 
pluotag ;  prdmag  (=  spiuosus,  Grimm  s.  291 ;  Graff  in  304) ;  rdmag (== 
furvus  Rerou.  gl.  148,  32  =  mhd.  rämec);  rökag  (=  fuliginosus 
Wadstein  s.  94b,  39);  rostag  (Graff  n  551);  rötag  (=  aeruginosus, 
in  ir-rötagen  =  aerugiuare,  von  rot  =  robigo,  aerugo  GralT  u  484); 
as.  rottag  (=  muculentus,  Wadstein  s.  101a,  4  =  ahd.  rozzeg  Graff 
n  560);  ruozag  (Graff  ii  564);  scimbalag  (Keron.  glossen  62,  24); 
snewag  (Keron.  gl.  68,  7);  solag  (Graff  vi  186);  swälig  (Beow.); 
swerag  (=ulcerosus  Graff  vi  889,  zu  ga-swer). 

b.)  graseg  (N.);  erthag  (=  terruleutus,  Wadstein  s.  100b,  2); 
leimag  (=  argillosus  Graff  ii  213);  fdmig  {-heals  Beow.);  loupag 
(in  ungiloupagiu  =  arentia  Graff  n  65);  rörag  (Graff  n  546); 
steinag  (Graff  vi  691);  stüdag  (Graff  vi  652). 

§  12.  Von  den  adj.  in  gruppe  i  sind  die  in  gruppe  u 
deutlich  geschieden  :  die  in  gruppe  i  haben  personliche,  sub- 
jective  bedeutuug  und  sind  fast  alle  von  abstractis  aus  gebildet; 
die  in  gruppe  n  haben  unpersönliche  bedeutung,  sind  nur 
von  concrelis  aus  gebildet  und  können  sich  nur  auf  sächliche 


492  SCHMID 

concreta  beziehen.  —  von  den  westgerm.  adj.  auf  -ag  sind  auch 
got.  belegt  in  gruppe  i :  as.  mödag  =  got.  modags,  ahd.  grdtag  =  got. 
gredags,  ahd.  we'nag  =  got.  wainags.  es  entspricht  also  dem  wgerm. 
-ag  auch  im  got.  -ag.  anders  dagegen  bei  dem  zu  gruppe  u  gehörigen 
ahd.  steinag,  das  im  got.  als  stainahs  erscheint;  hier  ist  ahd.  -ag  = 
got.  ah.  dieses  ah  findet  sich  auch  im  ahd.  in  der  Weiterbildung  mit 
/a-suffix  als  -ahi  (Kluge  §  67);  so  steht  neben  ahd.  steinag  =  got. 
stai7iahs  das  ahd.  subst.  steinahi;  ebenso  auch  dornag  —  dornahi, 
prdmag  —  prdmahi,  rörag  —  rörahi,  stüdag  —  stüdahi;  man  kann 
daraus  mit  ziemlicher  Sicherheit  schliefsen,  dass  bei  diesen  und 
überhaupt  bei  der  ganzen  classe  der  von  concretis  aus  gebildeten 
unpersönlichen  adj.  auf  ag  (gruppe  n)  das  ag  für  älteres  ah  steht, 
und  die  gruppen  i  und  n  früher  nicht  nur  in  der  bedeutung, 
sondern  auch  in  der  form  von  einander  geschieden  waren. 

ag  und  ahK 

§  13.  Im  got.  sind  aufser  stainahs  noch  folgende  adj.  auf 
-ahs  belegt :  unbarnahs  (=  ärey.vog),  bairgahs  (aus  bairgahei  = 
ÖQEiviq  erschlossen),  broprahs  (broprahans  =  ddehpoi),  waurdahs 
('eine  schlechte  Übersetzung  des  griech./o^r/.og/  Wilmanns§  353,1). 
auf  grund  der  got.  belege  hat  Schröder  Zs.  35,  376  festgestellt, 
dass  'ein  durchgreifender  unterschied  zwischen  got.  -ags  {-eigs) 
und  -ahs  besteht,  den  ersteren  ligt  ein  abstracter  uomiualstamm, 
natürlich  mit  der  vorstelluug  des  sgl.  zu  gründe,  und  denen  auf 
-ahs  der  nominalstamm  eines  concretums  mit  der  Vorstellung  der 
mehrheil'.  Schröder  nimmt  daher  neben  ag  ein  völlig  davon  ver- 
schiedenes suffix-aA  an,  während  Kluge  §  203  a  und  VVilmanns 
§  353  ah  uud  ag  für  grammatisch  wechselnde  doppelformen  eines 
jdg.  fr-sulfixes  halten,  meine  annähme,  dass  ag  ein  altes,  zum  stamm 
*ag — og  gehöriges  adj.  ist,  führt  ebenfalls  auf  einen  verschiedenen 
Ursprung  von  ag  und  ah;  dem  germ.  ag  entspricht  ein  idg. 
agh  =  griech.  ax  (got.  agis  =  ä'/og,  vgl.  §  8),  dagegen 
weist  german.  ah  auf  ein  idg.  ak  und  entspricht  einem  idg.  ko- 
suffix  (Kluge  §  207). 

Au  die  stelle  des  Suffixes  ah,  das  in  dem  substantivsuffix 
-ahi  auch  im  ahd.,  als  adjectiv-suffix  aber  nur  im  got.  erhalten 
ist,  trat  in  den  übrigen  german.  sprachen  entweder  ag  (vgl.  §  llf), 
oder    das    im    got.    nicht   belegte   sulfix  aht(i),  oht(i),  sodass  ahd. 

1  für  diesen  und  die  folg.  §§  verweise  ich  auf  Paul  Principien  cap.  v. 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  LIK      493 

steinahti  neben  steinag,  dornohti  neben  dornag  (angels.  horwehte 
neben  horwig)  steht,  ob  die  ganze  gruppe  der  adj.  auf  aht(i) 
oht{i)  (Graff  iv  1092  ff;  Grimm  s.  379  IT)  auf  ein  älteres  -ah  zurück- 
geht, uud  aht(i)  oht(i)  überhaupt  ein  von  ah  aus  'mit  t  erweitertes 
suffix'  ist  (Wilmanus  §  353,  1),  ist  noch  nicht  erwiesen,  auch 
Grimm  nahm  an,  Mass  ht  in  zwei  ursprünglich  gesonderte 
ableituugen  h  und  t  zerfalle'  (s.  384).  wie  ahs  im  got.  uud  ahi 
im  ahd.,  so  tritt  auch  aht{i),  oht(i)  nur  an  sächliche  concreta 
an.  bei  dieser  functionsgleichheit  ist  es  wol  zu  verstehu,  dass 
■aht,  -oht  an  die  stelle  von  -ah  treten  konnte. 

§  14.  1.  Anders  lag  der  fall  bei  ah  gegenüber  ag :  die 
mit  ag  gebildeten  adjectiva  hatten  der  bedeutung  von  ag  zufolge 
alle  personlichen  Charakter,  bezeichneten  subjective  zustände 
uud  waren  fast  nur  von  abstractis  aus  gebildet,  mit  dieser 
bedeutung  hatte  die  classe  der  adj.  auf  -ah,  die  von  concretis 
aus  gebildet  waren  und  ein  objectives  'versehensein'  be- 
zeichneten, keine  psychologischen  berührungspuncte. 

2.  Waren  die  beiden  gruppen  "der  adj.  mit  ah  und  mit  ag 
in  ihrer  bedeutung  völlig  von  einander  geschieden,  so  berührten 
sie  sich  formal  sehr  nahe  :  nach  dem  Vernerschen  gesetz 
ist  suffix  -ah  fürs  urgerman.  auch  als  -ag  anzusetzen;  ja,  nach 
der  vorhersehenden  idg.  betouung  -kö  (skr.  röma  -  fä  Kluge  §  203) 
muss  man  das  suffix  im  germau.  vor  allem  in  der  form  -ag,  dh. 
gleichlautend  mit  dem  adj.  *ag  erwarten. 

3.  Diese  rein  formale  berührung  zwischen  suffix  -ah  und 
adj.  *ag  kann  aber  an  sich  noch  nicht  zum  übertritt  von  ah  >>  ag 
geführt  haben,  denn  das  gefühl  für  die  gemeinsame  genau  be- 
stimmte sonderbedeutung  der  adj.  auf  -ag  arbeitete  einem  solchen 
formalen  zusammenfall  der  beiden  classen  direct  entgegen, 
eine  reaction,  die  besonders  schein  bei  ewinig,  ewig  für  älteres 
ewin,  got.  aiweins  zu  constatieren  ist  (vgl.  §  40).  diese  abstofsende 
Wirkung  der  bedeutung  von  ag  muss,  wol  im  verein  mit  einer 
idg.  betonung  -iko,  die  nach  Kluge  §203  neben  -  kö  'denkbar' 
ist,  den  lautgesetzlichen  Wechsel  von  ah  ^>  ag  beeinträchtigt  haben, 
sodass  sich  trotz  der  vorhersehenden  idg.  betonung  -  kö  die  form 
-ah  in  got.  -ahs  und  ahd.  -ahi  erhalten  hat. 

§  15.  Trotz  dem  in  §  14,  1  constatierten  bedeulungs- 
unterschiede,  der  in  der  persönlich  -  subjeeliven  bedeutung 
der    CM/-gruppe    und    der   concret-objeetiven   der   aft-gruppe   ligt, 


494  SCHM1D 

besteht  jedoch  keineswegs  ein  bedeutungsgegensa  tz  zwischen 
beiden  gruppen.  denn  in  dem  gemeinsamen  bedeutungsinhalt 
der  a</-gruppe  ist  als  sehr  wesentlich  ein  besonderes  momeut 
enthalten,  dem  in  der  allgemeineren  bedeulung  der  aÄ-gruppe 
nichts  entspricht,  dieses  besoudere  bedeutungsmoment  der  ag- 
classe  ligt  in  dem  begriff  der  'unlust',  der  als  'subjectiv  nach- 
teiliger zustaud'  definiert  werden  kann  :  dem  'subjectiven' character 
der  a<?-classe  steht  der  'objeclive'  der  a/i-classe  gegenüber;  die 
nähere  specialisieruug  'nachteilig'  hat  jedoch  in  der  gemeinbedeutung 
der  a/i-classe  keine  entsprechung.  damit  war  die  möglichkeit 
gegeben,  dass  die  adjectiva,  mit  deren  indi vidualbedeutung  sich 
die  Vorstellung  von  etwas  nachteiligem  verband,  aufgrund 
dieser  partiellen  bedeutuugsgleichheit  sich  mit  der  a^-classe  zu 
einer  'stofflichen  gruppe'  associierten,  welche  die  ursprünglichen 
stofflich-formalen  gruppen  'subjectiv  —  objectiv'  überschnitt,  war 
diese  neue  psychologische  gruppe  auch  nicht  sehr  fest,  so  war 
sie  doch  stark  genug,  um  den  widerstand,  den  die  primäre  stofflich- 
formale  gruppe  der  a^-classe  dem  lautgesetzlich  angebahnten 
formalen  zusammeufall  von  ah  und  ag  entgegensetzte,  zu  über- 
winden. 

§  16.  Auf  diese  weise  erklär  ich  mir  die  tatsache,  dass 
in  gruppe  i  (§  10)  und  gruppe  n  (§  11)  anscheinend  adj.  von 
gauz  verschiedener  bedeulung  mit  demselben  suflix  von  concretis 
und  abstractis  aus  gebildet  wurden,  die  Vorstellung  von  etwas 
'nachteiligem'  verbindet  sich  gauz  unzweifelhaft  mit  den  unter 
gruppe  ii a  aufgezählten  adj.,  bei  denen  die  ableitungssilbe  im 
uhd.  zl.  geradezu  mit  'behaftet'  (vox  mala)  oder  'befleckt'  wider- 
gegebeu  werden  kann  :  'mit  dornen,  gift,  harz,  schmutz,  rotz,  rufs- 
schimmel,  wuudenblut  befleckt,  behaftet',  auch  mit  clüdig  und 
sneioag  verknüpft  sich  wol  unmittelbar  der  gedanke  an  die  ent- 
sprechenden uachteile  etwa  für  den  wanderer.  für  die  in  gruppe  nb 
aufgezählten  adj.  kann  man  eine  damit  verknüpfte  Vorstellung  von 
etwas  nachteiligem  nicht  ohne  weiteres  voraussetzen;  sie  wird 
bei  steinag  durch  den  Zusammenhang  (gleichuis  vom  4  fachen 
ackerfeld)  sehr  nahe  gelegt,  und  kann  im  eiuzelnen  fall  je  nach 
dem  slandpuucte  des  sprechenden  auch  sonst  bei  dem  einen 
oder  anderen  adj.  der  gruppe  nb  bestanden  haben;  doch  hat  man 
in  diesen  adj.  wol  vor  allem  jüngere  farblose  analogiebilduugeu 
nach  gruppe  na  zu  sehen. 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILKEN  AG,  IG  UND  LIK     495 

Vermischung  von  ag  und  ig. 

§  17.  Hier  interessieren  natürlich  in  erster  linie  die  falle, 
in  denen  alleres  ig  durch  ag  verdrängt  worden  ist,  sodass  die 
hedeutung  von  ag,  die  aher  zur  zeit  der  Vermischung  natürlich 
nicht  mehr  gefühlt  wurde,  zum  hetr.  suhst.  nicht  passt.  das  um- 
gekehrte, dass  ig  an  stelle  von  altem  ag  tritt,  ist  der  gang  der 
entwicklung  zum  uniformen  ig,  die  sich  im  ahd.  (und  as.)  vor 
unseren  äugen  vollzieht,  und  im  angels.  schon  vor  hegiun  der 
schriftlichen  üherlieferung  zum  ahschluss  gekommen  ist;  doch  trat 
auch  im  angels.  der  ausgleich  erst  nach  erfolgtem  umlaut  ein, 
sodass  dessen  fehlen  hei  umlaulfähiger  stammsilhe  das  alte 
ag  verrät. 

Ein  solcher  ühertritt  von  ig  zu  ag  kann  auf  grund  der 
erschlossenen  bedeutung  von  ag  natürlich  nur  dann  angenommen 
weiden,  wenn  in  den  verschiedenen  german.  dialekten  eine  deut- 
liche Verschiedenheit  des  Sprachgebrauchs  vorligt;  deshalb  kommen 
einag,  heilag,  mandag,  ötag,  welag,  xoizago  hier  nicht  in  betracht. 

Dagegen  nehme  ich  einen  solchen  übertritt  an  bei  hrömag 
und  kraftag;  ^vielleicht  ist  hierher  auch  zu  stellen  lustac,  das 
Keron.  gloss.  201,  10  für  'Jibuil'  steht,  die  bedeutung  ist  nicht 
festzustellen,  weshalb  Graff  n  287  vermutet,  lustac  stehe  für 
lustat;  in  der  bedeutung  'lüstern'  liefse  sich  lustag  auch  zu 
§  10  stellen. 

hruomag  ist  einmal  im  Isidor  belegt  :  hruomege  (6,  1  ed. 
Hench),  und  aufserdem  auch  im  Hei  :  945  M  hrömag,  Chruomig; 
4926  M  hrömeg,  C  hruomag)  also  muss  die  form  mit  ag  weit  ver- 
breitet gewesen  sein ;  dagegen  hat  das  angels.  hremig  dh.  altes 
ig,  das  demnach  zur  zeit  der  Übersiedlung  der  Angelsachsen  wahr- 
scheinlich das  gewöhnliche  war,  währeud  später  bei  der  völlig 
veiblassten  bedeutung  vou  ag  dieses  neben  ig  gebraucht  wurde 
und  ig  schließlich  verdrängte;  ein  psychologischer  grund  kann 
kaum  dafür  geltend  gemacht  werden;  im  got.  lautet  das  syno- 
nymum  hropeigs. 

Sehr  auffallend  ist  kraftag  im  Hei.,  das  sich  nicht  gleichmäfsig 
in  beiden  hss.  findet  :  in  M  steht  13 mal  -ag,  15mal  -ig,  1  mal  -eg, 
in  C  1  mal  (4462)  -ag,  31  mal  -ig,  alles  ohne  umlaut,  ebenso 
Wadstein  s.  55  a,  14  unkraftag;  dem  'entspricht  angels.  cräftig, 
während  ahd.  nur  kreflig  belegt  ist.  die  bedeutung  zusammen 
mit  dem  Sprachgebrauch  im  ahd.   spricht  für   alles  -ig ;  es  muss 


496  SCHMID 

also  schon  zur  zeit  der  contiuenlaleu  Augeisachsen  im  as.  der 
bedeutungsunterschied  zwischen  -ag  und  -ig  geschwunden  und 
der  alle  bestand  von  adj.  auf  -ag  nur  durch  mechanische  traditiou 
weiter  erhalten  worden  sein;  damit  war  die  möglichkeit  zu 
Übertritten,  meist  zu  gunsten  von  ig,  das  eine  allgemeinere  be- 
deutung  und  häutigere  Verwendung  halte,  gegeben;  ein  grund 
dafür,  dass  der  andere  weniger  naheliegende  übertritt  von  ig  zu 
ag  bei  dem  sicher  viel  gebrauchten  wort  kraftig  erfolgte,  ist  nicht 
zu  linden,  in  C  steht  nur  einmal  craftag;  freilich  ist  auch  in 
craftig,  vielleicht  durch  analogie  mit  der  nebenform  craftag,  der 
umlaut  unterblieben,  der  zu  erwarten  wäre,  wie  giweldig  (3185 
C  M)  zeigt;  (jedoch  auch  5139  elilandige  M,  C  elikndiga).  — 
Eine  ebenfalls  sehr  frühe  Vermischung  von  ag  und  ig,  wo 
ag  schon  vor  dem  eintreten  des  umlauts  im  angels.  durch  ig 
verdrängt  wurde,  zeigt  as.  wörag  neben  angels.  wer  ig  =  fessus; 
die  bedeutung  entscheidet  für  altes  ag. 

§  18.  Wie  bei  diesen  bildungen  mit  ag  an  stelle  von  ig, 
so  zeigt  das  as.  auch  im  vordringen  von  ig  auf  kosten  von  ag 
deutliche  spuren  des  Verfalls,  bei  Otfrid  ist  die  Scheidung  zwischen 
den  adj.  auf  ig  und  ag  noch  gut  erhalten,  nebenformen  mit  ig 
finden  sich  bei  den  zu  gruppe  i  gehörenden  bildungen  Otfrids 
nicht,  abgesehen  von  der  einmaligen  assimilation  an  lih  in  iv  26,  8 
görig-licha  (F  görach-licha) ;  vgl.  aber  wenag-lih  (über  sonstige 
assimilationen  von  -ag  zu  -eg,  -og  in  der  tlexion  vgl.  Benrath 
Vocalschwankungen  bei  Otfrid  s.  32  ff),  ebenso  treffen  wir  auch 
unter  den  subst.  +  ig  keines,  dessen  bedeutung  -ag  erwarten  liefse. 
dagegen  findet  sich  im  Heliand  (u.  Genesis): 

btödag  (=  ahd.  pluotag)  751  CM,  5006  CM,  Gen.  87.  —  blöd  ig 
Gen.  45. 

hrewag  (=  ahd.  riwag)  3091.  4030  in  C,  in  M  dagegen  hriwig, 
das  sonst  noch  7  mal  in  C  und  M,  soweit  belegt,  2  mal 
in  Gen.  steht. 

mödag  (=  got.  modags)  11  mal,  soweit  überliefert,  in  CM  :  550. 

686.   763.    1378.  2245.  4221.   4916.  4925.  5164.  5177. 

5233.  —  mödig  :  3930  C  muodiga,  M  mödaga. 
wörag:  Gen. 29 drör-wöragana;  lie\. 61 8 Csith-wöraga.  —  wdrig: 

C  und  M  660.  670.  698.  2238.      Gen.  46.    lief.  678  M. 
Nur  aj  haben    dagegen  :  drörag,   grddag ,    (möd-)karag ,    Serag. 


DIE  GERM.  B1LDUNGSSILBEN  AG,   IG  UND  LIK      497 

Anm.  :  die  assiniilalion  von  ag  an  die  flexionssilbe  hat  im 
as.  ausätze  zu  einer  entwicklung  hervorgebracht,  deren  resultat 
im  anord.  in  dem  für  -ag  und  -ig  gemeinsamen  Suffix  -ogr,  -ngr 
vorligt.  nach  Kauflmann  Beitr.  12,  201  ff  geht  anord.  -ogr,  -ngr 
auf  die  in  der  Qexion  am  häufigsten  vorkommende  assimilierte 
form  zurück,  auf  dieselbe  weise  sind  auch  die  im  Hei.  vor- 
kommenden unfleclierten  formen  auf  -og  zu  erklären  :  3094  C 
hrewog;  3395  C  grädog ;  1057  M  ödog;  1640  M  ödoc.  assimi- 
lation  an  die  flexionssilbe  findet  sich  7  mal  bei  helogo,  hclogon 
oa.  (vgl.  Schindler  As.  WB.).  in  drureg  4155  M,  mödeg  4221  M, 
se'reg  3690  M,  heleg  1059  M,  helego  1313  M  ligt  dagegen  wol 
einlache  abschwächung  von  ag  >  eg  vor,  die  nur  dem  dialekt  von 
M  eigen  ist.  —  -ah  für  -ag  findet  sich  einmal  in  4155  C 
drörah,  gegenüber  sonstigem   drörag. 

heilag,  ötag,  wizago. 

§  19.  INicht  auf  eine  Vermischung  von  ig  und  ag  zurück- 
geführt werden  können  trotz  ihrer  bedeutung  heilag,  ötag  und 
wizago,  denn  ötag  ist  gemeingerman.  =  got.  audags,  angels. 
cadig,  zu  alid.  öt,  ags.  ead.  got.  *  and  in  audahafts  (anstai  = 
y.exaQiTc'jiarog  Luc.  1,28);  ebenso  heilag  =  got.  hailags,  as. 
helag,  angels.  hdlig  (an.  heilagr  scheint  westgerman.  lehnwort). 
für  wizago  =  as.  witag  (Hei.  3718  C),  angels.  witga  wird,  auch 
abgesehen  von  den  übereinstimmenden  früh-ahd.  Zeugnissen,  die 
form  ag  als  die  älteste  durch  die  schon  ahd.  erfolgte  umdeutung 
zu  wissago  erwiesen;  zu  gründe  ligt  ein  verlorenes  subst.  zur 
wurzel   vul. 

lu  der  bedeutung  dieser  Wörter  scheint  mir  ein  gemeinsames 
moment  zu  liegen;  got.  andags  ist  =  (.lav.ÜQLOg  selig  (ahd.  ötag  = 
beatus,  dives),  bezeichnet  also  im  got.  den  höchsten  grad  von 
glück;  heilag  ist  prädicat  für  das  höchste,  vollkommenste  in 
religiöser  hinsieht;  wizago  =  propheta  bezeichnet  den  mit  dem 
gröfsten  wissen  ausgestalteten.  —  in  dem  diesen  Wörtern  gemein- 
samen Superlativen  bedeutungsmoment  seh  ich  einen  rest  der 
bedeutung  von  ag.  da  aber  alle  drei  adj.  sicher  sehr  alle 
bildungen  sind,  ist  nicht  anzunehmen,  dass  sie  mit  dem  in  seiner 
bedeutung  abgeschwächten  -ag  gebildet  wurden,  vielmehr  ver- 
mute ich,  dass  sie  mit  der  vollbedeutung  von  ag  und  zwar 
als  bewuste  hyperbeln  entstanden  sind,  misverstanden  werden 
konnten  sie  nicht,  da  die  betreffenden  zu  gründe  liegenden 
subst.  etwas  wünschenswertes  bezeichneten;  dagegen  wurde  dadurch 


498  SCIIMID 

die  bedeutung  eiues  sehr  hohen  grades  sehr  intensiv  zum  aus- 
druck  gebracht,  psychologische  analoga  kennt  auch  das  uhd., 
und  zwar  gewöhnlich  mit  einem  vermittelnden  'geradezu',  sie 
liegen  auch  vor  in  der  Verwendung  von  'furchtbar,  schrecklich', 
im  obd.  dialekt  'arg,  elend',  und  schon  ahd.  sero  als  blofsen  Ver- 
stärkungen (vgl.  Paul  Principien  §  65).  die  ursprüngliche  be- 
deutung von  audags  wäre  demnach  :  'sich  vom  glück  geradezu 
bedrückt  fühlend'  =  'sich  grenzenlos  glücklich  fühlend',  analog 
ergibt  sich  aus  der  bedeutung  von  heil  (got.  haili  n.,  adj. 
hails)  =  'gesundheit,  wolbeüuden'  für  heilag  die  urspr.  bedeutung: 
'sich  unendlich  wol  befindend'  oder  'fühlend',  eine  bedeutung, 
bei  der  ursprünglich  natürlich  nur  persönliche  beziehung  möglich 
war;  jedoch  hat  sich  diese  bedeutung  in  die  speciüsch  religiöse 
von  lat.  sanctus  gewandelt,  sodass  heilag  auch  unpersönlich  be- 
zogen wird,  schon  im  got.  (Ring  von  Pietroassa)  :  wi(h)  hailag, 
bei  Otfr.  zu  douf,  toi»,  zit,  giscrib  ua.;  vgl.  Kelle.1  für  icizago 
ergibt  sich  auf  dieselbe  weise  als  ursprüngliche  bedeutung  :  'ein 
unendlich  weiser',  auf  die  gleiche  art  erklär  ich  mir  auch 
welag  =  'dives'  (Graf!  i  831),  zu  ahd.  angels.  wela,  as.  weh, 
und  mandag  =  'alacer,  gaudens'  (Graff  n  810  f);  von  einer 
Superlativen  bedeutung  ist  freilich  in  den  ahd.  belegen  nichts 
zu   erkennen. 

Anmerkung:  vielleicht  kann  wizago  auch  anders  aufgefasst 
werden;  ursprünglich  ist  wizago  einer,  der  sich  von  seinem 
wissen  (dh.  von  dem,  was  er  weifs)  bedrückt  fühlt,  ag  ist  hier 
vielleicht  nicht  ironisch,  sondern  wörtlich  zu  nehmen,  ein  wissen, 
durch  das  man  sich  bedrückt  fühlt,  ist  vor  allem  ein  solches, 
das  sich  auf  bevorstehendes  uuheil  bezieht,  ebenso  ist  auch  der 
propheta  (=  ahd.  wizago)  in  der  regel  der  der  kommendes 
unheil  vorher  weifs. 

§  20.  Im  ahd.  war  von  einem  gefühl  für  die  selbständige 
bedeutung  von  ag  sicher  nichts  mehr  vorhanden,  aber  dass  sich 
die  mechanisch  weiter  überlieferten  adj.  auf  ag,  die  der  herkunlt 
von  ag  entsprechend  in  ihrer  mehrzahl  die  gemeinsame  bedeutung 
eines  subjectiv  (oder  objectiv  §  15  f)  nachteiligen  zustands  hatten, 
auch  noch  für  das  ahd.  Sprachgefühl  zu  einer  'stofflichen  gruppe' 
zusammenschlössen,  zeigt  deutlich  das  verhalten  Olfrids.  wie  schon 
§  18    bemerkt,    findet   sich    bei    den    Olfridischen ,    zu    gruppe  i 

1  Kelle  =  JKelle  Glossar  der  spräche  Otfrids. 


DIE  GERM.  RILDUNGSSILBEN  AG,   IG  UND  LIK      499 

gehörigen  adj.  auf  -ag  zwar  in  der  llexion  öfter  assimilation  zu 
-eg,  -og,  aber  nie  übertritt  zu  -ig;  dagegen  steht  bei  Otfr.  heilig 
neben  heilag  flectiert  und  unflecliert,  ebenso  aucli  einogo  (vgl. 
§  22)  =  'einzig'  neben  -igo ,  -igon  usw.  (vgl.  Benrath  Vocal- 
schwankungen  bei  0.  s.  33  ff).  Olfrids  spräche  hatte  also  das 
bedürfnis,  die  bildungen,  die  durch  ihre  bedeutung  gegenüber 
der  stofflich-formalen  gruppe  der  adj.  auf  ag  isoliert  waren,  auch 
formal  von  dieser  gruppe,  zu  der  sie  ursprünglich  gehörten,  zu 
trennen  und  in  die  classe  der  adj.  auf  ig,  deren  bedeutung  all- 
gemeiner war,  Überzuführen,  ödag  ist  nur  einmal  bei  Otfr. 
belegt  :  i  7,  18  thie  ödegun  alle.x  in  wizago  i  3,  37  ligt  wol  schon 
für  Otfrid  eine  umfühlung  und  klangliche  annäherung  an  wdr- 
sago,  fora-sago  vor  (vgl.  Kluge  Etymol.  WB). 

Auch  Notker,  bei  dem  (vgl.  lFleischer  Die  Wortbildung  bei 
N.  s.  57  f)  der  alte  unterschied  von  ag  und  ig  als  eg  und  ig 
noch  erhalten  ist,  gebraucht  nur  die  form  heilig  (vgl.  zb.  bd  u 
633,  7.  8.  9.  634,  17.  635,  6.  9.  14.  636,  2.  11.  18). 

Analogiebildungen.2 

>j  21.  Das  gefühl  für  die  gemeinsame  bedeutung  der  adj. 
auf  ag,  das  bei  Otfr.  den  beginnenden  übertritt  von  heilag,  einago 
zu  den  adj.  auf  ig  veranlasst  hat,  hat  einen  ähnlichen  umgekehrten 
process  zur  folge  gehabt  bei  den  im  folgenden  aufgezählten  adj. 
auf  ag,  die  in  ihrer  bedeutung  zwar  zu  den  §  10  f  aufgezählten 
adj.  auf  ag  stimmen,  aber  nicht,  wie  diese,  ein  Substantiv  als 
grundwort  enthalten. 

In  freidag  ligt  zu  gründe  das  adj.  freidi  =  'profugus,  apo- 
stata',  worin  an  sich  schon  meist,  wenn  auch  nicht  absolut  not- 
wendig, die  bedeutung  eines  zustandes  der  unlust  ligt.  freidi 
trat  infolge  einer  später  (§  36)  zu  besprechenden  bedeutungs- 
association  formal  meist  zu  der  gruppe  der  adj.  auf  ig  über  = 
freidig.  Graff  in  793  belegt  daneben  einmal  freidaken  =  'apostati- 
cam\  also  war  auch  die  stoffliche  association  mit  den  adj.  auf  ag  so 
stark,  dass  sie  gelegentlich  auch  den  formalen  übertritt  zu  diesen 
adj.  zur  folge  hatte,  trotz  der  in  dem  grundwort  freidi  vor- 
handenen mechanischen  prädispositiou  zum  übertritt  in  die  gruppe 
der  adj.  auf  ig. 

1  auffallend  ist  das  unverschobene  d  in  odegun. 

2  vgl.  Paul  Principien  der  Sprachgeschichte  cap.  v. 


500  SCHMU) 

Genau  so  ligt  es  bei  kümag  neben  kümig  =  'krank'; 
ersteres  entnehme  ich  aus  dem  GralT  iv  398  belegten  verbum 
chümogenten  =  'lassescentem'.  zu  gründe  ligt  das  aus  adv. 
kümo  zu  erschliefsende  und  durch  neuere  dialekte  bezeugte 
adj.  *kumi. 

gerag  (Wadstein  s.  59  b  8  gerag  si  =  'desideret';  s.  60  b  26 
gerag  =  'cupidus';  Notker  gereg)  neben  ahd.  adj.  ger  ist  ebenso 
zu  erklären,     im  besonderen  stellt  es  sich  zu  gilag. 

grimmag  steht  im  Hei.  2144  C  gest  grimmag  endi  grddag 
fiur;  M  list  richtiger  gristgrimmo.  falls  nicht  ein  durch  das 
nachfolgende  grddag  veranlasstes  schreibversehen  vorligt ,  ist 
grimmag  aus  adj.  grim  ebenfalls  formale  angleichung  an  die  adj. 
auf  ag  infolge  einer  bedeutungsassociation.  die  analogie  zu  mödag 
kann  noch  speciell  mitgewirkt  haben. 

sldfarag  Graft'  vi  802  ist  =  sldfag  (vgl.  §  10).  ein  adj. 
*sldfar  ist  nicht  belegt,  wol  aber  schon  ahd.  das  verbum  sldfarön 
neben  sldfan,  wie  gangarön  neben  gangan  (vgl.  Wilmanns  §  72). 
das  adj.  släfarag  entstand  wol  in  anlehuung  au  sldfarön  und 
unter  dem  analogiebildenden  einfluss  von  släfag;  vgl.  auch 
idmarag. 

rötag  ist  Graff  ii  484  =  'rubens',  das  besonders  'vor  schäm 
errötend,  schamrot'  bedeutet,  das  einfache  rot  hat  wol  nur  selten 
diese  specielle  bedeutung,  ist  auch  bei  Graff  nur  1  mal  =  Gubens' 
belegt,  während  rötag  vermutlich  nur  diese  bedeutung  und  damit 
gegenüber  dem  einfachen  röt  ein  neues  bedeutungsmoment  gehabt 
hat;  röt  allein  konnte  sich  nicht  mit  den  adj.  auf  -ag  asso- 
ciieren,  deshalb  muss  rötag  gebildet  sein  in  der  absieht,  das 
bedeutungsmoment  eines  unlustgefühls  zu  dem  farbbegriff  'rot', 
der  nur  im  speciellen  fall  als  nebensinu  diese  bedeutung  haben 
konnte,  zu  addieren,  biebei  wird  noch  besonders  die  analogie  mit 
scamag  würksam  gewesen  sein.  —  dass  in  rötag  das  subst.  röt  n. 
ligt,  ist  kaum  anzunehmen,  da  dieses  nur  in  der  hedeutung  'aerugo, 
robigo'  belegt  ist  und  dem  adj.  rötag  (vgl.  §  11),  das  in  irrötagen 
=  'aeruginare'  und  vielleicht  in  rötake,  hrötage  =  'rüdes'  (Keron 
gl.)  belegt  ist,  zu  gründe  ligt. 

A  n  m.  hierher  auch  görag  =  got.  gaurs  zu  stellen,  scheint 
mir  nicht  nötig,  da  neben  adj.  *gör  =  got.  gaurs  auch  ein  gleich- 
lautendes subst.  wie  bei  leid,  ser,  jdmar  angenommen  werden 
kann. 


DIE  GERM.  BILDUNGSSIBEN  AG,   IG  UND  LIK      501 

einag. 

§  22.  alul.  einag  =  as.  enag,  ags.  dnig  entspricht  got. 
ainaha,  f.  -o/io.  Im  got.  ist  ainaha  =  {.wvoysvrjg  :  Luc.  7,  12 
smhus  ainaha,  Luc.  8,  42  dauhtar  ainoho,  Luc.  9,  38  rfu  s«»u  mei- 
namma  unte  ainaha  mis  ist.  im  II el.  ist  belegt:  794  M;  2186  C; 
3085  C;  2975  CM  enag  harn  (794  C;  2186  und  3085  M  egan.) 
2188  M  enagun  snnie  (C  enigan).  bei  Oll'r.  ist  einego  wie  im  got. 
nur  sw.  flectiert,  und  bezieht  sich  11  mal  auf  sun,  ferner  i  22,46 
thera  einigun  muater;  u  2,36  then  fater  einigan,  i  22,52  min 
einega  sela.  dreimal  bedeutet  das  substantiviert  gebrauchte  einego 
allein  'der  einzige  söhn':  i  22,50  thu  bist  einego  min;  in  13,50  quad 
er  wdri  einego  siner;  iv  29,34  was  (die  Tunica)  giwehan  ubar 
al,  so  man  einegen  scal.  im  Beovv.  i  ist  dnga  ebenfalls  nur  sw. 
flektiert  :  375.  2997  dngan  dohtor;  1262  dngan  breüer;  1547 
dngan  eaferon. 

In  allen  dialekten  tritt  einag  in  erster  linie  zu  'söhn,  tochter', 
also  ist  die  ursprüngliche  bedeutung  von  einag  nicht  allgemein  = 
'einzig,  alleinig',  sondern  ganz  speciell  =  'einzig  geboren',  /novo- 
yevrjg,  und  zwar  zeigt  die  ausschliefslich  schwache  flexion  im 
got.,  im  Beow.  und  bei  0,  sowie  die  erwähnte  besondere  Ver- 
wendung bei  O,  dass  einag  in  der  bedeutung  'einzig  geboren' 
früher  meist  oder  nur  substantiviert  gebraucht  wordeu  sein 
muss  (vgl.  auch  nbd.  'der  junge,  ein  junge',  aber  'ein  junger 
mann'),  die  flexion  als  sw.  subst.  erhielt  sich  dann  aucb,  als 
die  bedeutung  'eiuzig  geboren'  abgeblasst  (vgl.  bei  Otfr.  zu 
fater,  muater,  sela)  und  deshalb  die  ausdrückliche  ergänzung 
'söhn,  tochter'  geboten  war.  —  das  got.  ainaha  nötigt  nach  dem  in 
§13  gesagten  zu  der  annähme,  dass  auch  westgerm.  ainag  auf  altes 
ainah  zurückgeht,  für  die  talsacbe,  dass  durch  antritt  der  silbe 
ah  die  bedeutung  des  grundwortes  ains  =  elg,  /iiövog  in  der 
oben  gezeigten  richlung  specialisiert  wird,  vermag  die  sonstige 
function  des  suffixes  -ah  (§  12  ff)  keine  erklärung  zu  geben, 
denn  es  findet  sich  sonst  got.  -ah  und  ahd.  -ahi  nur  an  concreten 
Substantiven. 

§  23.  oder  sollte  hier  das  got.  ainaha2  die  sekundäre  und 
das  westgerm.  einago  die  primäre  ältere  form  bieten?     Dagegen 

1  die    Beowulf-citate  richten   sich   nach   der  ausgäbe   von  Holthausen. 

2  vgl.  auch  das  auffallende  got.  Femininum  Luc.  8,42  ainoho,  das 
freilich  Wrede  jetzt  (Stamm-Heyne  11  aufl.)  in  die  lesarten  verweist. 

Z.  F.  D.  A.  XLIX.    N.  F.  XXX  VII.  33 


502  SCHMID 

spricht  zunächst,  dass  wir  nach  §  12  ff  wol  im  ahd.  für  den 
Übergang  von  älterem  ah  >  ag,  nicht  aber  im  got.  für  den  ent- 
gegengesetzten von  ag  ">■  ah  analoga  haben,  dagegen  spricht 
aufserdem  die  bildung  broprahans  =  döeXcfoi  (Mc  12,20),  die 
wie  ainaha  1)  ebenfalls  nicht  recht  aus  der  sonstigen  Verwendung 
von  ah  erklärt  werden  kann,  2)  ebenfalls  substantiviert  gebraucht 
ist,  3)  ebenfalls  der  Sphäre  des  familienlebens  angehört,  dafür 
spricht  die  in  den  vorhergehenden  §§  besprochene  erscheinung,  dass 
auf  grund  einer  bedeutungsassociation  ag  auch  an  adj.  antritt, 
doch  kann  hier  von  einer  bedeutungsassociation,  wie  sie  in  freidag, 
kümag  etc.  vorligt,  nicht  die  rede  sein,  da  sich  die  bedeulung 
von  ains  an  sich  noch  nicht  mit  der  der  adj.  auf  ag  associiert. 
vielmehr  müste  man,  wie  ich  es  bei  rötag  getan  habe,  annehmen» 
dass  die  bildung  einag  aus  dem  bedürfnis  des  Sprachgefühls, 
mit  dem  begriff  ein  noch  das  den  adj.  auf  ag  gemeinsame  be- 
deutungsmoment  zu  verbinden,  entsprungen  sei.  dann  würde 
einag  ursprünglich  gegenüber  ein=  'unus'  ungefähr  die  bedeutung 
von  'der,  die  leider  einzige'  gehabt  haben,  die  Verwendung  des 
substantivierten  einago  in  der  bedeutung  'der  einzige  söhn'  fände 
auf  diese  weise  ihre  erklärung,  denu  mit  'der,  die  leider  einzige' 
könnte  nur  'das  einzig  geborene  kind'  bezeichnet  werden,  sodass 
ein  ausdrücklich  beigesetztes  'söhn,  lochter'  überflüssig  gewesen 
wäre,  ein  analogon  und  damit  einen  beleg  für  die  psychologische 
möglichkeit  einer  solchen  bildung  gibt  Wilmanns  §  9,  1  :  'es 
ist  eine  auffallende,  ganz  vereinzelte  ausnähme,  dass  nach  dem 
muster  der  substantivischen  deminutiva  auf  -chen  auch  deminuliva 
von  pronominibus,  prädicativen  adj.  uud  adverbien  gebildet  werden, 
wenigstens  in  der  Volkssprache:  Duchen,  Duchen!  stillechen,  stille- 
chenl'  ferner  sind  hier  auch  die  selbständigen  deminutiven  verbal- 
bildungen  mit  ahd.  -alön,  -Hon,  nhd.  -elen  zu  nennen,  die  in  der 
spräche  der  obd.  kinderslube  heute  noch  durchaus  lebendig  sind, 
die  substantivischen  deminutivsufflxe  traten  hier  auch  an  andere 
Wortarten  an,  ohne  dass  diese  'hiedurch  zu  eigentlichen  demi- 
nutiven, d.  b.  Verkleinerungen  wurden,  sie  nahmen  mit  dem 
deminutivsuffix  nur  den  gefühlswert,  der  den  substanlivischen 
deminutivbilduogen  innewohnt,  in  sich  auf;  ebenso  hätte  man 
sich  auch  das  Verhältnis  von  einag  zu  den  primären  adj.  auf  ag 
einer-  und  zu  ein  anderseits  zu  denken.  diese  auffassung 
von  einag   bleibt  freilich   eine   erklärung   für   den    übertritt  von 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILREN  AG,  IG  UiNO  LIK      503 

ag  ">  ah,  den  man  dann  fürs  got.  voraussetzen  muss,  schuldig; 
man  müsle  dann  höchstens  eine  analogische  Wirkung  von 
hildungen  wie  bropiahans,  das  aber  seinerseits  nicht  genügend 
erklärt  ist,  annehmen,  und  wäre  zu  einer  solchen  annähme 
speciell  fürs  got.  auch  berechtigt,  da  die  hedeutung  von  ag  im 
got.  wesentlich  mehr  verblasst  ist,  als  im  ahd.  (vgl.  §  20, 
§  27  f.) 

Anmerkung:  für  'einzig,  alleinig'  in  allgemeiner  hedeutung 
steht  im  got.,  im  Hei.,  Reow.  und  bei  Otfr.  mit  den  oben  er- 
wähnten ausnahmen  immer  das  einfache  zahladjectiv.  so  steht 
zh.  im  Reow.  an  =  'einzig'  bei  niht  135,  bei  bin  428,  oder: 
ßurh  änes  cräft  699,  ealle  bülon  änum  705  und  ähnliches. 

mödag. 

§  24.  Das  Verhältnis  des  subst.  zu  dem  mit  ihm  com- 
])onierlen  ag  ist  der  passiven  hedeutung  von  ag  zufolge  das  eines 
instrumentalis,  zb.  gredags  'sich  durch  hunger  bedrückt  fühlend', 
rostag  'von  rost  bedrückt,  mit  rost  behaftet',  dasselbe  instru- 
mentale Verhältnis  des  subst.  zu  dem  mit  ihm  componierten  adj. 
von  passiver  hedeutung  ligt  vor  bei  dem  ebenfalls  zur  ableitungs- 
silbe  erstarrten  -haß  =  lat.  captus  —  im  got.  auch  noch 
selbständig  Ihigom  hafls  neben  audahafls  (vgl.Wilmanns  §  379) — , 
ferner  in  vielen  anderen  composilionen,  zb.  got.  handu-waurhts 
(=  yeiQ07toir]Tog),  ahd.  fart-mnodi  (==  as.  sfö-wörig),  wazzar- 
sioh,  winl-durri,  as.  ellen-röf,  drör-wörag,  heru-drörag,  angels. 
(Reow.)  blöd-fäg,   giib-röf,   heafio-miere,  hea<So-röf,  heafio-seok  ua. 

§  25.  Ein  anderes  Verhältnis  zwischen  subst.  und  ag  möcht 
ich  für  mödag  annehmen  und  zugleich  eine  von  der  bis- 
herigen auffassung  etwas  abweichende  grundbedeutung  von  möd. 
gewöhnlich  wird  diese,  entsprechend  der  hedeutung  von  &v/nög, 
als  'gemüt,  inneres',  dann  auch  'erregtes  gemüt'  angesetzt,  aus 
der  letzteren  bedeutung  soll  sich  dann  auch  die  hedeutung  'zorn, 
mut,  schmerz',  die  möd  in  den  verschiedenen  german.  dialekten 
hat,  entwickelt  haben. 

Im  Hei.  ist  mödag  immer  (12 mal)  =  'animosus,  iratus, 
superbus,  contumax'  (Schmeller);  möd  hat  dagegen  fast  aus- 
schliefslich  die  indifferente  hedeutung  'gemüt,  inneres,  gesinnung'; 
nur  einmal  muss  die  bedeutung  von  möd  als  'kühner  mut'  an- 
genommen werden:  156  möd  endi  megincraft. 

33* 


504  SCHMU' 

Im  alid.  ist  muot  nur  =  'animus,  anima,  spiritus,  cor, 
pectus,  meus,  halitus',  hat  also  ausschließlich  indifferente  be- 
deutung, während  muot  'in  seiner  jetzt  gewöhnlichen  be- 
dentung  als  gegensalz  von  feigheit  oder  Verzagtheit  im  mhd. 
erst  spät  und  selten  erscheint'  (Mhd.  WB.);  muotag  resp.  muotec 
ist  auffallenderweise  im  ahd.  nie,  im  mhd.  sehr  selten  belegt, 
im  ahd.  nur  muoligi  =  'animositas'  (Jim.  gloss.);  =  'rabies  cordis' 
(N.)  und  muotegina  =  'animae  passiones'  (N.)  vgl.  Graff  n  699. 

Im  Beow.  hat  möd  mit  Sicherheit  die  bedeutung  'mut, 
kühnheit'  nur  einmal:  1057  nefne  htm  wilig  god  wyrd  forslöde 
ond  päs  mannes  möd,  dagegen  20  mal  die  bedeutung  'gemüt,  sinn, 
geist,  herz';  modig  ist  immer  'mutig'  (vgl.  Ilolthausen  Beow.-WB.). 

§  26.  Überall  im  westgerm.  hat  also  möd  in  erster  linie  die 
indifferente  bedeutung  'gemüt,  inneres',  und  nur  vereinzelt  die 
von  'animositas'.  ausschließlich  einen  modificierten  gemütszustand 
bezeichnet  dagegen  das  adj.  mödag.  deshalb  scheint  mir  die  be- 
deutung einer  gemütsmodification  erst  secundär  vom  adj.  aufs 
subst.  übergegangen  zu  sein,  letzteres  aber  ursprünglich  nur  die 
indifferente  bedeutung  'gemüt,  herz,  inneres'  gehabt  zu  haben, 
dann  war  die  grundbedeutung  von  mödag  nicht  'durch',  son- 
dern 'in  dem  gemüt  sich  bedrückt  fühlend',  db.  das  Verhältnis 
von  möd  :  ag  nicht  ein  instrumentales,  sondern  ein  modales, 
analoga  sind  zb.  ahd.  (Otfr.)  herz-blvli,  as.  möd-spähi,  möd-stark, 
angels.  (Beow.)  möd-giömor  ua.,  ferner  auch  Wendungen  wie 
Olfr. :  frö  in  muate,  hold  in  muate,  muates  lind,  thie  muot  es 
mammunte,  Hei.:  fagan,  härm  an  is  möde,  Beow.:  he  on  möde 
xcearb  forht  on  ferhüe  u.  ähnl.  dasselbe  modale  Verhältnis  scheint 
auch  in  compositionen  mit  möd  an  zweiter  stelle  vorzuliegen, 
zb.  Olfr.  frawa-muati  (neben  frö  in  muate),  as.  stark-möd  (=  möd- 
stark),  as.  idmar-möd  (=  angels.  möd-giömor),  angels.  böigen-, 
gläd-möd  u.  ähnl. 

Die  allgemeinere  bedeutung  'sich  im  gemüt  bedrückt  fühlend' 
entwickelte  sich  zur  engeren  bedeutung  von  'animosus'  =  'zornig, 
mutig',  die  dann  auch  aufs  subst.  übergieng.  im  got.  ist  neben 
modags  =  ögyiLöperog  (Matth.  5,  22;  Luc.  15,  28)  mops  nur  in 
der  bedeulung  'zorn'  belegt:  Marc.  3,  5  =  ÖQyfj,  Luc.  4,  28  = 
&v/li6q.  für  anord.  möpugr  gibt  Egilsson  neben  'animosus, 
vehementer  cupidus'  auch  'tristis,  maeslus'  als  bedeutungen  an, 
die   der   bedeutung   von  ag  noch  näher  stehen  als  'zornig',     für 


DIE  GEKM.  BILDÜNGSSILBE     AG,  IG  UND  LIK      505 

möpr  führt  er  folgende  bedeutungen  auf:  'molus  animi  vehemens, 
ira,  furor,  animus,  fervor  animi,  animi  audacia,  dolor  animi'. 

§  27.  Eine  solche  rückwürkung  der  bedeutung  von  mödag 
auf  möd  konnte  natürlich  nur  erfolgen,  nachdem  ag  zur  be- 
deutungslosen ableitungssilbe  herabgesunken  war  und  sich  des- 
halb die  bedeutung  'zornig,  traurig'  usw.,  die  sich  aus  ag  ent- 
wickelt hatte,  mit  dem  ersten  bestandteil  möd  verknüpfte,  dass 
auch  bei  Ulfila  diese  Übertragung  nicht  völlig  klar  und  sicher 
vollzogen  war,  geht  aus  dem  aulfallend  zaghaften  gebrauch  von 
mops  =  zorn  hervor:  ooyi]  ist  7  mal  mit  hatis,  6  mal  mit  ßwairhei, 
S-vuög  3  mal  mit  hatis,  3  mal  mit  ßwairhei,  1  mal  mit  jiuka, 
beide  nur  je  einmal  mit  mops  widergegeben,  anderseits  hat 
Ulfila  wegen  der  jüngeren  bedeutung  'zorn'  auch  den  gebrauch 
von  mops  in  der  alten  bedeutung  'gemüt,  inneres'  zu  gunsten 
von  aha,  frapi,  hugs,  gahugds,  mims  vermieden,  nur  in  lagga- 
modei  und  mukamodei  ist  die  alte  indifferente  bedeutung  von 
mops  im  got.  belegt. 

Die  got.  adjeetiva  auf  ag. 

§  28.    Neben  gredags,  modags,  wainags,  audags,  die  im  west- 
german.  ihre  entsprechungen  haben  und  in  den  bisherigen  para- 
graphen  besprochen  worden  sind,  sind  im  got.  noch  belegt: 
unhunslags:  2  Tim.  3.  3  =  aOTtovöog,    'nicht    opferwillig, 

unversöhnlich', 
wulpags:  Luk.  7,  25  in  wastjom  wufpagaim, 

1  Kor.  4,  10  juzup-pan  wulpagai  (sc.  sijup), 

2  Kor.  3,  7  andbahti  loarp  wulpag, 
2  Kor.  3,  in  ni  was  wulpag  pata  wulpago, 
Eph.  5,  27   wuJpaga  aikklesjon, 
Luk.  5,  26  wulpaga  (nom.  pl.  n.)  =  nagdöo^a. 

Bei  diesen  specifisch  got.  bildungen  zeigt  sich  dasselbe  er- 
loschensein  der  bedeutung  von  ag  im  got.,  das  die  im  vorigen 
Paragraphen  besprochene  bedeutungsiibertragung  zur  folge  hatte, 
sogar  das  gefühl  für  die  stoffliche  Zusammengehörigkeit,  das  sich 
nach  §  20  bei  Otfr.  als  rest  der  bedeutung  von  ag  mit  der  for- 
malen gruppe  der  adj.  auf  ag  verbindet,  ist  im  got.  verloren 
gegangen,  der  grund  hierfür  ligt  vielleicht  in  bildungen  wie 
audags,  wahrscheinlicher  aber  in  engeren  'stofflich-formalen  pro- 
porlionengruppen'  (Paul  Principien  §  76),  so  *aud :  auda{-hafts)t 


*cg 

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^ 

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II 

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506  SCHMID 

audags  =  hunsl :  hunslai-staß) :    hunslags;    gredus:    gredags  = 
huhnis:  ahd.  hungrag  =  iculpus:  loulßags. 

Die  ansieht  Kauffmanns  über  den  stammvocal  und  seine 
würkung  auf  den  suffixvocal  kann  also  für  diese  seeundäre  ent- 
wicklung  im  got.  eine  gewisse  berechtigung  haben,  immerhin 
sieht  auch  im  got.  diese  entwicklung  noch  in  den  anfangen, 
denn  auch  den  adj.  auf  -eigs,  unter  denen  keines  ist,  dessen 
bedeutung  -ags  erwarten  liefse,  liegen  zt.  a-stämme  zu  gründe, 
so  in  waurstweigs,  wüodeigs.  richtig  ist  die  beobachtung  Kauff- 
manns,  dass  die  i-stämme  fast  alle  ig  haben,  der  grund  hierfür 
ist  aber  nicht  im  stammvocal,  sondern  in  der  herkunft  und  be- 
deutung einerseits  der  {-stamme,  andererseits  von  ig  zu  suchen. 

Capitel  ii. 

lg- 

§  29.  An  dem  suffix  ig  fällt  gegenüber  ag  zunächst  die 
länge  von  i,  die  im  got.  und  frühahd.  noch  erhalten  ist,  auf;  wenn 
ig  und  ag  nur  seeundäre  doppelformen  des  idg.-fro-suffixes  wären, 
müsste  man  neben  dem  kurzsilbigen  ag  auch  ein  kurzsilbiges  ig 
erwarten,  dass  ag  kein  echtes  suffix  ist,  glaub  ich  in  cap.  i 
gezeigt  zu  haben;  dieselbe  Vermutung  legt  sich  deshalb  auch  für 
ig  nahe,  sie  gewinnt  au  Wahrscheinlichkeit,  wenn  man  sieht, 
welch  deutlichen  unterschied  Otfr.  im  gebrauch  der  subst.  -f-  ig 
gegenüber  den  subst.  -+-  Uh  macht,  so  bei  ginddig,  kreftig,  sunt- 
ig  :  gindd-Hh,  kraft-Iih,  sunt-lih;  es  ergibt  sich  daraus  für  ig 
ein  bedeutungswert,  den  wir  noch  nhd.  fühlen  in  gläubig  gegen- 
über glaublich:  gläubig  kann  nur  persönlich,  glaublich  nur 
unpersönlich  bezogen  werden,  so  werden  auch  bei  Otfr. 
mit  ig  in  erster  linie  persönliche  adj.  gebildet.  Wilmanns 
§  343,  3  sagt  von  den  adj.  auf  ig:  'die  meisten  dieser  adj.  sind 
von  jeher  ableitungen  zu  Substantiven,  besonders  zu  abstracten, 
fast  gar  nicht  zu  persönlichen.'  falls  demnach  ig  auf  ein  altes 
adj.  zurückgeht,  muss  dieses  eine  bedeutung  gehabt  haben,  welche 
bei  der  composition  von  abstractis  mit  ig  ein  persönliches  adj. 
ergab. 

Die  form  von  ig. 

§  30.  Wenn  ig  germanischen  Ursprungs  ist,  kann  es  nur 
zu  aigan  gehören,    woran  schon  Grimm  dachte,    vgl.  §  2.     dann 


DIE  GERM.  B1LDUINGSSILBBN  AG,  IG  UND  L1K      5(>7 

muss  aigan  ein  prto.-präs.  der  1.  ablautsreihe  sein,  was  nur 
unter  der  Voraussetzung,  dass  der  zu  erwartende  pluralvocal  t 
durch  den  singularvocal  ai  verdrängt  worden  ist,  angenommen 
werden  darf,  einen  solchen  ausgleich  vorauszusetzen  ist  mau 
durch  die  analogie  von  got.  mag,  magum,  das  nur  zur  5.  ablauts- 
reihe gehören  kann  und  deshalb  *me'gum  erwarten  liefse,  be- 
rechtigt, von  allen  prto.-präsentieu  waren  im  german.  ihrer  be- 
deutung  gemäf»  sicher  got.  aih  und  mag  am  häufigsten  gebraucht, 
weshalb  gerade  bei  ihnen  der  ausgleich,  der  auf  dem  weg  vom 
mhd.  zum  nhd.  bei  allen  st.  verben  erfolgte,  sehr  früh  eingetreten 
sein  wird.  —  dagegen  spricht  auch  nicht,  dass  im  ahd.  kan  — 
fcunnun,  darf  —  durfun,  scal  —  scnlun  ua.  zur  analogie  mag  — 
mugun  geführt  haben. 

Wenn  aigan  demnach  ein  prto.-präs.  der  1.  ablautsreihe  ist, 
gehört  ig  =  got.  eigs  zu  aigan  nach  demselben  §  7  dargelegten 
bildungsprincip,  nach  dem  ags  zum  prto.-präs.  6g  oder  (lubja-) 
leis  zum  prto.-präs.  lais  =  oldu  gehören. 

Anmerkung:  die  tatsache.  dass  ag  und  ig  (und  got.  leis) 
als  adj.  zu  *agan,  *igan  (*iisan)  gebildet  und  sehr  häufig  in  der 
Verbindung  mit  wesan  an  stelle  der  verba  gebraucht  waren,  steht 
vielleicht  mit  dem  aussterben  dieser  präsentia  in  ursächlichem 
Zusammenhang. 

Die  b  e  d  e  u  t  u  n  g  von  Tg. 

§  31.  Gegenüber  got.  ahd.  aigan  und  haban  (haben)  hat 
nhd.  'haben',  auch  in  der  function  eines  vollverbs,  eine  sehr  ab- 
geschwächte bedeutung.  im  nhd.  kann  man  zb.  von  einer  ,be- 
hauplung'  sagen,  sie  'habe'  oder  gar  'besitze  eine  gewisse  be- 
rechtigung'.  bei  'besitzen'  fühlen  wir  noch,  dass  es,  streng 
genommen,  nur  ein  persönliches  subject  bei  sich  haben 
dürfte,  dasselbe  gilt  auch  für  got.  ahd.  aigan  und  haban.  im 
got.  haben  aigan  und  haban  entsprechend  griech.  iyetv  nie  ein 
unpersönliches  subj.  bei  sich,  denn  auch  bei  einem  gebrauch 
wie  in  Marc.  4,  5  und  6,  wo  es  vom  Samenkorn  heifst  :  ni  habaida 
airpa,  ni  habaida  wanrtins,  ligt  eine  art  personification  vor. 
auch  bei  Otfr.  haben  aigan  und  haben  ein  unpersönliches  sub- 
ject nur  in  der  seltenen  bedeutung  'enthalten'  bei  sich  :  H.  89 
eigun  ouh  thio  buah  thaz.  v  12,  5  eigun  uns  thiu  goles  werk 
harto    mihilaz    giberg.     i  20,  23    iz   ni  habe'nt   Uvula,     also    hat 


508  SCHMID 

auch  ein  zu  aigan  gehöriges  adj.  ig  nicht  einfach  die  bedeutung 
'habend',  sondern  etwa  'persönlich  habend',  deshalb  kann  ig 
ursprünglich  nur  an  substaotiva  von  einem  bedeutungsinhalt, 
dessen  besitz  einem  menschen  zugesprochen  werden  kann,  an- 
treten und  ein  subst.  -f-  ig  nur  persönlich  bezogen  werden. 

Anmerkung  1:  ein  genaues  analogon  zu  ig  bildet  das  als 
zweites  compositionsglied  im  angels.  öfter  verwendete  part.  prto.- 
praes.  ägend;  im  Beowulf  finden  sich:  mcegen- ägend  =  ahd. 
maganig,  meginig  (Graff  n  621);  blced-ägend,  entsprechend  angels. 
hre'mig,  got.  hropeigs.  keine  entsprechungeo  mit  ig  haben  folc- 
ägend,  bold-dgend,  ferner  bord-,  lind-,  rond-,  searo-hcebbend.  mög- 
lich ist,  dass  zu  einer  zeit,  wo  ig  noch  voll  verstanden  wurde, 
auch  ein  concreter  besitz  dem  menschen  mit  ig  zuerkannt 
werden  konnte  und  die  herausbildung  des  besonderen  gebrauchs, 
mit  ig  nur  zu  abstractis  persönliche  adj.  abzuleiten,  erst  später 
erfolgte. 

Anmerkung  2:  das  negative  seitenstück  von  ig  zu  aigan 
ist  laus  zu  liusan;  so  steht  im  got.  witodeigs  neben  witoda-laus. 
der  persönliche  Charakter,  den  ich  für  ig  vindiciert  habe,  liefse 
sich  aus  ähnlichen  gründen  auch  für  laus  erwarten,  tatsächlich 
tritt  jedoch  latis,  das  immer  seinen  Charakter  als  selbständiges 
nomen  gewahrt  hat,  in  den  verschiedenen  german.  dialekten  auch 
an  solche  substantiva  an,  die  eine  persönliche  beziehung  un- 
möglich machen,  wie  zb.  in  got.  andi-laus  =  Hei.  endi-lös, 
während  persönliche  negative  eigenschaften  meist  durch  negation 
der  persönlichen  adj.  auf  ig  ausgedrückt  werden,  zb.  Otfr.  unsitig. 

§  32.  Grimm  sagt  s.  308,  der  gedanke,  ig  aus  aigan  zu 
erklären,  befriedige  nicht  recht,  'weil  die  allgemeinlieit  des  be- 
griffs  '-habend'  für  viele  adj.  beider  classen  (ig  und  ag)  und 
dann  wider  lange  nicht  für  alle  der  etg-ctesse  gerecht  ist.'  dass 
die  bedeutung  'persönlich  habend'  für  viele  adj.  der  a^-classe, 
nämlich  für  die  in  gruppe  i  (§  10),  passt,  ist  nach  dem  im  cap.  i 
gesagten  selbstverständlich,  da  in  der  inhaltsreicheren  bedeutung 
von  ag  =  'sich  bedrückt  fühlend  von'  die  allgemeinere  bedeutung 
von  ig  =  'persönlich  habend'  unter  anderem  auch  enthalten  ist, 
weshalb  die  allgemeine  bedeutung  für  die  specielle  ohne  logischen 
Widerspruch  eintreten  kann,  nicht  aber  umgekehrt.  —  zu  der 
ansieht,  dass  die  bedeutung  'habend'  lange  nicht  für  alle  adj.  der 
e?<7-classe  stimme,  kam  Grimm  durch  seine  belege,  die  er  aus  den 
verschiedensten  ahd.  quellen  und  zeiten  bis  Notker  gewonnen 
hatte,  als  absolut  sichere  Zeugnisse  des  Sprachgebrauchs  dürfen 
aber    die    aus   glossen   und  interlinearversionen  gewonnenen  be- 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  LIK     509 

lege  nicht  genommen  werden,  da  sich  der  glossator  den  reich 
entwickeilen  lateinischen  ableitungsmöglichkeiten  gegenüber  wol 
oft  in  einer  Zwangslage  befand,  in  der  er  zu  bildungen  griff,  auf 
die  das  naive  Sprachgefühl  kaum  verfallen  wäre,  sehr  wenig 
besageu  ferner  die  jüngeren  ahd.  belege,  da  schon  bei  Otfr.  die 
bedeutung  des  suffixes  nicht  mehr  rein  erhalten  ist.  ich  habe 
deshalb  meine  Untersuchung  auf  Otfr.,  Hei.  und  Ulf.  beschränkt. 

Substantiva  -+-  ig  bei  Otfr.  und  im   Hei. 

§  33.  Die  länge,  die  in  got.  eigs  immer  (aufser  gabigs  vgl.  §44) 
erhalten  ist,  ist  im  Hei.  (vgl.  Holthausen  As.  elem.-buch  §  133), 
möglicherweise  auch  bei  Otfr.  (vgl.  Wilmanns  §  343,  1)  gekürzt; 
von  der  Zugehörigkeit  von  ig  zu  eigan  wurde  im  as.  und  ahd. 
sicher  nichts  mehr  empfunden,  von  der  selbständigen  bedeutung 
erhielt  sich  bei  Otfr.  und  dem  Hel.-dichter  höchstens  noch  das 
gefühl  für  die  stoffliche  Zusammengehörigkeit  der  adj.  auf  ig  auf 
grund  der  ihnen  gemeinsamen  persönlichen  bedeutung.  aber 
schon  treten  neben  der  überwiegenden  mehrzahl  der  subst.  -\-  ig 
als  persönlicher  adjectiva  auch  bildungen  von  ausgesprochen 
unpersönlicher  bedeutung  auf. 

Der  bedeutung  der  zu  gründe  liegenden  subst.  zufolge  sind 
als  persönliche  adj.  gebildet: 

Otfr.:  flizig,  (un-)fluhtig,  kreftig,  künftig,  (un-)güoubig, 
(um-)mahtig,  ummezzig,  ginddig,  nidig,  unsitig,  sculdig, 
suntig,  thuldig,  giweltig,  (un-)wirdig,  gixourtig. 

Hei,;  afialburdig,  mendddig,  fluhtig,  balo-,  nith-hugdig,  un- 
gilöbig,  Inbig,  mahtig,  ginddig,  (un-)  suntig,  (un-jskuldig, 
stridig,  eli-thiodig,  thurftig,  giweldig,  willig,  wiriig,  wlitig, 
(ungi-)wittig. 

als  unpersönliche  adj.:  Otfr.:  östrig,  stetig,  wintirig  und 
heutig  (1). 

Im  Hei.  sind  also  alle  (18)  von  einem  subst.  abgeleiteten 
adj.  auf  ig,  und  bei  Otfr.  fast  alle  (16  von  20)  als  persön- 
liche adj.  gebildet,  die  4  unpersönlichen  adj.  finden  sich 
je  einmal  bei  Otfr.: 

heistig:  m  13,  6  heistigo  biscoltan;  zu  got.  haifsts?  (Graff  iv  1063). 

stetig:  v  17,  31  er  ubarfuar  polonan  then  stetigon;    nicht,  wie 

Graff  vi  646   will,    =  stdtig,   das   aus   stdti  erweitert  ist, 


510  SCIIM1Ü 

sondern  =  subst.   stat   (ort,   stelle)  -f-  ig  =  'die  (selbe) 

stelle  inne  habend,  feststehend'. 

wintirig  in  22,  3  wintiriga  zit  'zeit  des  winters'. 

östrig  ii  11,  59  zi  then  östrigen  gizitin  'zu  den  Zeiten  der  ostern'. 

Alle  4  bildungen    sind    bezeichnenderweise    sonst  ahd.  nach 

Graff   nicht    belegt;    für    die    beiden    letzteren    steht   sonst  ahd. 

östar-lich,  winlar-lkh. 

Anmerkung:  wie  Kauffmann  Beitr.  12,  201  ff.  richtig  be- 
merkt, sind  unter  dieseu  adj.  auf  ig  auffallend  viele,  denen  ein 
substantivischer  t-stamm  zugrunde  ligt,  zb.  fluht,  kraft,  kunft, 
mäht  ua.  der  grund  ist  nach  der  §  31  entwickelten  bedeutung 
von  ig  sehr  nabeliegend;  die  mehrzahl  der  {-stamme  sind  verbal- 
abstracla  und  bedeuten  ursprünglich  eine  eigenschaft,  fähigkeit, 
tätigkeit  oder  sonstige  abstraction  mit  beziehung  aufs  handeln, 
können  also  nicht  mit  ag,  das  einen  nachteiligen  zustand  be- 
deutet, sondern  nur  mit  ig  componiert  werden,  unter  den  ig- 
st]'}. Olfrids  ist  keines,  dessen  bedeutung  ag  angemessener  wäre 
als  ig,  dagegen  ligt  dem  Otfridischeu  nölag  ein  2-stamm  zugrunde  1 

Die  beziehung  der  adj.  auf  ig. 

§  34.  Nicht  alle  mit  persönlicher  bedeutung  gebildeten  adj. 
auf  ig  haben  ihren  persönlichen  Charakter  bei  Otfr.  und  im  Hei. 
auch  in  der  syntaktischen  beziehung  gewahrt,  derselbe  un- 
genaue übertragene  gebrauch,  wie  er  in  nhd.  'ein  kräftiger  schlag, 
eine  fleifsige,  faule  arbeil'  vorligt,  findet  sich  schon  ahd.  und  as. 
Bei  Otfrid  sind  nur  persönlich  bezogen: 
filzig  i  1,  107  sie  sint  ßizig ;  giloubig  i  4,  76.  n  12,  12. 
in  25,  13.  v6,26;  ungiloubig  i  4,43.  i  15,43;  (um-)mahtig 
i  7,9.  v  9.25.  in  14,68;  unsilig  H.  121  thie  unsitig  wdrun;  scul- 
dig  iv  19,  70  er  xodri  füu  harto  sculdig;  suntig  12 mal  (vgl.  sunt- 
lih  §  57);  giweltig  i  3,  43.  iv  23,  37.  iv  34,  17.  v  20,  18;  gi- 
wurtig  u  8,  36  thaz  ddtun  sie  giwurtig  (nicht  notwendig,  wie 
Kelle  O-WB.  will,  adverbialer  acc.  Sgl.  n.,  sondern  eher  ein  aus 
reimzwang  gebrauchter  unflectierter  nom.  pl.,  vgl.  Braune  Ahd. 
gramm.  §  247,  =  'als  willige,  unverdrossene',  zu  giwurt,  'freude, 
behagen'. 

persönlich  und  unpersönlich  bezogen: 
(un-J  fluht  ig:    iv  1,  10  er  was  unßuhtig;    in  26,  45 — 46 
sie  sint   fluhtig  thera   ddti,    erqueman   thero  werko  fluhtigero  gi- 
thanko      ('unter    flüchtigen    gedanken    sind    tropisch    gedanken 
verstanden,  die  auf  die  flucht  gerichtet  sind.'    Kelle). 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  LIK      511 

kreftig:   persönlich  bezogen:    in  2,  IS.   m  24,  78.   iv  12,  61. 

v  9,  26;  und  auch  zu  haut  in  25,  18.  v  17,  12;  le'ra  i  27,  4; 

suht  in  23,  6;  gilouba  iv  37,  15  (vgl.  kraft-Hh  §  57). 
künftig:  i  27,  23  helias-,  m  6,  52  forasago-,  ther  künftig  (-er) 

ist]  und  auch  in  12,  20  kunftigo  ddti. 
ijinddig:  persönlich  bezogen :   i  13,  6.  i  20,  9.  i  2,  52.  Ri  17,  33. 

iv  13,  41.  IL  158    und  auch    in  17,  26   ginddigero   worto 

(vgl.  gindd-Hh  §  57). 
nithig:  v  21,  16  nilhignn  alle  und  auch  zu  muat  ml4, 118; 

gilhank  v  23,  113. 
(huldig:  in  19,  2  thaz  wir  thuldige  sin;  und  auch  in  11,  18 

thuldigaz  herza. 
wirdig:    19mal    persönlich    bezogen,    so  auch  v  17,  21  thiu 

erda  =  die  menschen ;  und  auch  S.  7  thaz  wirdig  ist  thes 

le  sannes. 

Zu  diesen  adj.  möcht  ich  auch  stellen: 
ummezzig ,  obgleich  es  uur  einmal,  und  da  unpersönlich 
bezogen,  belegt  ist:  v  23,  93  ummezzigaz  sör.  aber  es 
hat  neben  sich  auch  eine  ableituug  mit  Uli  :  iv  5,  12  um- 
mez-licha  buräin,  was  sonst  nur  bei  persönlichen  adj.  der 
fall  ist;  als  persönliches  adj.  wird  nmmezzig  die  be- 
deulung  'intemperans'  gehabt  haben. 

§  35.  Im  Hei.  (und  der  Gen.)  sind  nur  persönlich  bezogen: 
aüal-burdig  Gen.  2b9;mendddig  24T2.  Gen.  187;  fluh- 
tig  Gen.  75  fluhtik  skalt  thu  libbean;  balo-,  nilh-hugdig  616. 
1056.  4721.  5081;  ungilöbig  3006;  ginddig  1319.  2248. 
3275.  5602;  (un-)snndig  1363.  2106.  2123.  2722.  3894.  5019. 
5857.  Gen.  254;  (un-)skuldig  752.  3086.  3S20.  4592.  5232. 
5319.  5647;  stridig  3990.  4854;  eli-thiodig  2819  (zu  eli- 
thioda);  thurftig  525.  1541.  1966.  2304;  giweldig  3185; 
willig  3399;  (ungi-)wittig  569  (C  giwitlig,  M  wittig).  1818 
(C  ungiwitgon  were,  M  ungiwittigon).  (während  wütig  zu  fgi-J 
wit  gehört,  scheint  das  3718  in  M  belegte  witig  anderen  Ur- 
sprungs und  gleich  abd.  wizag  zu  sein,  da  in  C  witag  steht: 
witag  wdrsago). 

persönlich  uud  unpersönlich  bezogen: 
lutiig,  liuiig:    Gen.  203  und  218   persönlich   bezogen;    und 
auch  2475  the  lubigo  gilöbo. 


512  SCHMID 

mahtig:  sehr  oft  zu  god,  krist,  drohtin,  fiund,  fader  etc.;  und 
auch  zu  icord  863.  3934;  te'kan  5621;  giscapu  337; 
thing  423.  4645.  5674  (vgl.  mahtig-lik  §  62). 

wirftig:  meist,  barwirdig  nur  (2932,  4597)  persönlich  be- 
zogen; und  auch  1853  silotar  nee  gold;  1183.  5092  word; 
2885  that;  4000  ferah. 

\clitig:  271  ujI^o  wlitigost;  und  auch  201  wangun;  1393  Zwfif. 

A  nalogiebildu  ngen. 

§  36.  Neben  subst.  +  ig  finden  sich  bei  Otfr.  und  im  Hei. 
auch  mehrere  seeundäre  bildungen  mit  ig,  denen  ein  adj.  zu- 
grunde ligt: 

Bei  Otfrid: 
brüzig:   u  12,  33   themo  brüzigen  man.     adj.  brüz(-i)  ist  zu 

erschliefsen  aus  dem  adj.-abstr.  brüzi. 
emmizig:    in  17,  66    und    iv  31,  36  skalk;    iv  8,  22  giknihli. 

adj.  emmiz('i)  ist  zu  erschliefsen  aus  dem  adverbialen  dat. 

plur.  emmizen  neben  emmizigen  bei  Otfr. 
kümig:  i  4,  49  kümig  bin  ih;  m  4,  16  einan  altan  kümigan; 

m  4,  34  themo  kiimigen  man;  m  23,5  Lazarus  ward  kümig. 

ad].küm(-ijiu  erschliefsen  aus  adv.  kümo.  —  (vgl.  auch  §21). 
unlastarbdrig:  m  17,  68  er  ist  — ;  sonst  ahd.  oft  -bdri. 
6t-muatig:   i  7,16   thio  dtmuatige;   daneben  bei  Otfr.  subst.: 

dt-muati  und  die  adjeetiva  dump-,  fast-,  frawamuati. 
ubbig:  v  1,  18.  24.  30.  36.  42.  48  nist  wiht  in  themo  boume 

(kreuz)    thaz    thar    ubbigaz    (ubbiges)   si.      zu   adj.    uppi, 

Graff  i  88. 
sdlig:  13mal  persönlich  bezogen,  ferner:  i  2,  58  sela;  r  3,  27 

bluama;  i  17,  6  giburt;  ii  8,  4  zit;  iv  34,  4  lieh. 

Zu    adj.    *säli  =  got.   sels  (e-stamm),    falls   man  nicht 

lieber   ein    subst.  daz  *sdl,    wie  daz  heil  neben  adj.  heil, 

annehmen  will,  wogegen  allerdings  das  adjeetiv-abstractum 

sälida  spricht. 
ubil-,  wola-willig:  m  17,7  so  sie  ubilicillig  wdrun;  in  10, 17 

thio    wolawilligun    man;    aus-willi,    vgl.    ein-willi,    Graff 

i  826,  und  bildungen  wie  dump-muati. 
Im  Hei.  und  Gen.-fragm. 
fr e<$ ig:  =  ahd.    freidi,   freidig.     Gen.   75:    freJsig   scalt  thu 

libbean  (vgl.  auch  §  21). 


DIE  GERM.  BILÜÜNGSS1LBEN  AG,  IG  UND  LIK     513 

ei  i -landig:  5139  elilandiga  man  M  (C  eliiendiga);  und  auch 

345  CM  Mea  elilendiun  man. 
-modig:  4948  CM  gel-mödig;  3137  CM  hard-mödig;  5247  CM 
slih-mödig;  2705  CM.  775  M.  4169  C  otar-mödig;  und  auch 
775  C.  4169  M  obarmödi,  und  sonst  immer  hriwig-, 
jdmar-,  otar-,  öd-,  serag-,  s/iö-,  star-k-,  dol-,  frah-,  frö-, 
gel-,  glad-,  ihrist-,  we'k-,  widar-,  iore<$-möd(i). 
sdlig:    sehr    oft   persönlich   hezogen,    aber  auch  1024  sinllf; 

3477  thing  (vgl.  salig-lik  §  62). 
tömig:  2616  CM  allaro  manno  gihwilic  mönes  lömig;  und  auch 
2319  CM.  Gen.  251  sundeono  tömi;  Gen.  13  ihe.ro  todron 
wit  be'dero  tttom  (hunger  und  durst). 
göd-willig:  421  gumo;  Gen.   198  man. 

Hierher  gehören  auch: 
-hugdig:  823  arm-hugdig  idis;  4SI  1.  5355  gram-hugdig  man; 
5201  wreb-hugdig  man,  während  bah-,  nfö-hugdig  ein 
subst.  balo-,  nib-hugd  (vgl.  balo-ddd,  nib-hugi)  voraus- 
setzen, vgl.  §  33. 
§  37.  Diesen  adj.  ist  gemeinsam  eine  ausgesprochen  per- 
sönliche hedeutung;  dass  eine  solche  urspr.  auch  ubbig  und 
dem  zugrunde  liegenden  ubbi  zukommt,  beweist  ubper  =  'male- 
ficus'  im  Reichenauer  bibelglossar  (Graff  i  88).  auch  in  der 
syntaktischen  beziehung  kommt  diese  bedeutung  noch  gut  zum 
ausdruck,  nur  sälig  und  ubbig  sind  auch  unpersönlich  bezogen. 
es  hat  hier  also,  wie  bei  den  §  21  besprochenen  adj.  auf  ag, 
eine  stoffliche  association  der  diesen  bildungen  zugrunde  liegenden 
adj.  mit  den  adj.  auf  ig  stattgefunden,  die  den  formalen  über- 
tritt zu  diesen  letzlern  nach  sich  zog.  die  zugrunde  ligenden 
adj.  sind,  soweit  sie  belegt  sind,  sämtlich  /a-stämme  :  -bdri, 
-muati,  *sdli  =  got.  sels(i-sl.),  -willi,  ubbi,  freidi,  -landi,  as.  tömi, 
und  auch  bei  den  übrigen  adj.  steht  nichts  im  weg,  einen  ja- 
stamm  als  grundwort  anzunehmen,  der  übertritt  zu  der  njr-classe 
auf  gruud  einer  bedeutungsassociation  lag  demnach  aus  mecha- 
nischen gründen  für  die  adjectivischen  ja-slämme  näher,  als  für 
die  a-stämme,  bei  denen  er  aber  gelegentlich  auch  erfolgte, 
zb.  fizus  neben  fizusig.  —  hierher  gehört  auch  das  schon  im 
Tatian  belegte  lebentig,  das  die  wesentlichste  menschliche  eigen- 
schaft  bezeichnet;  hier  war  der  übertritt  so  vollständig,  dass 
schliefslich  auch  eine  rhythmische  analogiebildung  nach  der  über- 


514  SCHMID 

wiegenden  mehrzahl  der  adj.  auf  ig,  die  den  accent  naturgemäfs 
auf  der  dem  ig  vorausgelinden  silbe  trugen,  erfolgte;  diese 
accentverschiebung  vollzog  sich  wol  stufenweise,  zunächst  von 
lebentig  zu  lebentig,  entsprechend  den  gleichzeitig  übertretenden 
gel-mbdig,  göd-willig  und  dann  erst  zu  lebentig  wie  gilöubig, 
ginddig,  giweltig  ua. 

A  um  erkung  1.  der  psychologisch  motivierte  übertritt  zur  ig- 
classe  konnte  bei  einem  pari.  präs.  natürlich  nur  dann  erfolgen, 
wenn  dieses  gegenüber  dem  verbum  einigermafsen  isoliert  war,  dh. 
seine  verbale  bedeutung  eines  zeitlich  begrenzten  Vorgangs  in 
die  adjeclivische  bedeutung  einer  bleibenden  eigenschaft  gewandelt 
hatte,  im  ahd.  ist  nach  Graff  neben  lebentig  nur  noch  die 
psychologisch  verständliche  bildung  tobentig  belegt,  willkürliche 
Weiterbildungen  des  part.  praes.  mit  dem  suffix  ig  entstehen  erst  im 
frühmhd.,  zb.  lachendic  (Hartmann  Vom  glauben),  gluondig  (Lampr. 
Alex,    und  Wolfr,),    brinnendec   (Wolfr.);    späteres  Germ.  26,271. 

Anmerkung  2.  ob  auch  meislig  =  'polissimum,  praeserlim' 
(0.  iv  12,10  bi  thiu  meistig  zöh  ih  iuih)  als  solch  eine  analogie- 
bildung  oder  anders  aufzufassen  ist,  ist  nicht  zu  entscheiden, 
da  sich  die  bedeutungsentwickluug  von  einem  persönlichen  adj. 
zu  meistig  =  'potissimum,  praesertim'  nicht  mehr  feststellen  lässt. 

§  38.  Nach  §  33  kann  von  dem  gefühl  dafür,  dass  die 
adj.  auf  ig  persönliche  bedeutung  haben,  bei  Otfr.  nicht  mehr 
viel  vorhanden  gewesen  sein,  deshalb  können  auch  die  §  36 
genannten  analogiebildungen  kaum  vom  Sprachgefühl  Otfrids  voll- 
zogen sein;  sicher  ist  das  nicht  der  fall  bei  den  adj.  bruzig,  em- 
mizig,  kumig,  sdlig,  nbbig;  eher  wäre  bei  -bdrig,  -maatig,  -willig 
daran  zu  denken,  nach  dem  verblassen  der  persönlichen  be- 
deutung von  ig,  das  in  bildungen  wie  wintirig  und  ferner  in  der 
unpersönlichen  beziehung  von  persönlichen  adj.  zum  ausdruck 
kommt  und  mit  dem  absterben  der  bedeutung  von  Uli  band  in 
band  geht,  stellt  sich  als  folge  des  alten  psychologisch  motivierten 
Übertritts  der  adjectivischen  /a-slämme  zur  ig-chsse  auch  ein 
rein  formal  analoger  übertritt  ein,  der  sich  mit  der  alten  bedeutung 
von  ig  nicht  verträgt;  so  in  as.  gibidig  (=  angels.  gifede),  das 
im  Hei.  5  mal  belegt  ist,  daneben  aber  auch  noch  die  alte  form 
gibidi  195  C. 

Anmerkung:  neben  alten  primären  bildungen  mit  ig  stehn 
in  C  mehrfach  formen  auf  -i :  mahli  für  mahlig  25S1.  4229.  47665 
magti  1378;  al(o)~  mahti  245.  2957;  mahlina  753.  996.  4079. 
4137;  mahti- lic  2349;  hriwi  für  hriicig  5612;  sculdi  für  sculdig 
5232;  wirlhi  für  wirdig  1853;  wliti  für  wlitig  1393.    gewöhnlich 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  L1K     515 

sieht  man  hierin  eine  rein  lautliche  erscheinung,  vgl.  Holthausen 
As.  EB.  §  234.  möglich  ist  auch,  dass  bei  diesen  nebenformen 
das  oben  constatierte  gleichwertige  nebeneinander  von  i-  und 
sekundärem  -ig  (tömi  und  lömig,  -tnödi  und  -mddig  etc.)  in 
umgekehrter  nthtung  analogiebildend  mitgewirkt  hat. 

einig. 

§  39.  Gegenüber  dem  gemeingerm.  einag-  got.  ainaha  = 
'einzig'  ist  einig  ==»  'irgend  einer'  eine  jüngere  nur  westgerm. 
bildung.  im  westgerm.  hat  ein  neben  der  alten  ursprüngl.  be- 
deutung  als  zahladjectiv  =  'uuus'  auch  die  abgeschwächte  be- 
deutung  von  'aliquis  unus',  elg  rig.  von  dieser  bedeutung  aus 
muss  ahd.  einig ,  augels.  oenig,  as.  enig  gebildet  sein,  und  zwar 
ligt  meiner  ansieht  nach  bei  der  bildung  von  einig  ein  psycho- 
logischer vergang  zu  gründe,  den  ich  als  erklärungsmöglichkeit  für 
einag  in  §  23  näher  ausgeführt  habe,  im  einzelnen  fall  kann 
ein  wol  persönliche  bedeutung  haben,  aber  diese  ligt  an  sich 
nicht  in  ein  =  aliquis.  deshalb  muss  bei  der  Weiterbildung 
von  einbeinig  ein  bedürfuis  des  Sprachgefühls,  der  bedeutung 
von  ein  das  für  die  adj.  auf  ig  charakteristische  persönliche 
bedeutungsmoment  zu  addieren,  wüiksam  gewesen  sein,  gegenüber 
dem  allgemeinen  indefinitum  ein  ist  also  einig  ursprünglich  nur 
persönliches  indefinitum.  mit  dem  absterben  der  persönlichen 
bedeutung  der  adj.  auf  ig  wurde  einig,  ebenso  wie  die  anderen 
adj.  auf  ig,  auch  unpersönlich  bezogen,  so  beides  gleich  oft  im 
Hei.  (ich  zähle  40 mal  persönliche,  38 mal  unpersönliche  beziehung). 
in  unpersönlicher  beziehung  steht  im  Hei.  enig  nur  attributiv 
{enig  fruma,  eniga  sundea,  helpa  ua.),  während  es,  persönlich 
bezogen,  meist  absolut  mit  dem  teilungsgenetiv  steht  (enig  wero, 
liudeo  ua.).  diese  Verwendung  ist  daher  wol  die  ursprüngliche, 
aus  der  sich  die  als  attributives  adj.,  das  danu  auch  zu  unpersön- 
lichen subst.  trat,  erst  entwickelte,  in  attributiver  Verwendung 
hat  sich  enig  bei  unpersönlichen  subst.  so  weit  von  seinem 
grundwort  ein  entfernt,  dass  es  sogar  in  den  plural  tritt  :  Hei. 
263  te  enigun  fresun,  1848  mid  e'nigun  mettmun  und  ähnlich 
1S97.  5700.  5721.  besser  als  im  Hei.  zeigt  sich  die  ursprünglich 
persönliche  bedeutung  von  einig  im  Beowulf :  etnig  ist  23mal 
persönlich,  12mal  unpersönlich,  nwnig  7mal  persönlich,  2  mal 
unpersönlich  bezogen,  auch  hier  steht  bei  persönlicher  beziehung 
cenig  (naenig)  oft  absolut  mit  teilungsgenetiv,  zb.  157  narnig  witena, 


516  SCHMID 

ähnlich  242.  474.  691.  779  uö. ;  bei  unpersönlicher  beziehuug 
findet  sich  wie  im  Hei.  auch  plural  :  932  ainigra  weana.  hei 
Otfr.  ist  die  form  einig  —  'irgendeiner'  auffallender  weise  gar  nicht 
belegt,  es  findet  sich  nur  einigo  gleichbedeutend  neben  einago, 
vgl.  §  20.  dagegen  steht  neben  thehein  und  nihetn  völlig  gleich- 
bedeutend und  persönlich  wie  unpersönlich  bezogen  theheinig, 
niheinig. 

t  he  heinig  i  1,  96   in  theheinigemo   thiete;   i  1,  30   dna   the- 

heiniga  äknst;  n  7,  47  thaz  si  thiheining  redina;  v  11,  14 

dna   theheinig   zwifal;  i  5,  30.  iv  37,  46.  v  6.  60  und  63. 

v  21,  22.  v  25,  92.  v  25,  102  dna  theheinig  enli. 
niheinig  v  19,  3  nist  niheinig  siner  drüt;  i  2,  22  6t  niheini- 

gemo  nide;  n  12,  75  bi  niheinigeru  fdru. 

ewig,  ewlnig. 

§  40.  e'winig  ist  eine  interessante  compromissform,  die 
nur  Otfr.  eigen  ist.  die  alte  form  ist  ewin  =  got.  aiweins,  das 
im  Tatian  und  einmal  im  Hei.  (1796  C  te  them  ewinon  rikie) 
erhalten  ist.  das  suffix  -In  hatte  sich  in  seiner  bedeutung  zur 
ausschliefslichen  bildung  von  stoffadjectiven  verengert,  wozu  die 
bedeutung  von  ewin  nicht  mehr  stimmte,  während  sich  aber  -in 
in  seiner  function  verengte  und  specialisierte,  erweiterte  und 
verflachte  sich  die  bedeutung  von  ig.  deshalb  wurde  ewin,  das 
stofflich  gegenüber  den  anderen  adj.  auf  in  isoliert  war,  auch 
formal  aus  der  gruppe  entfernt  und  in  die  der  adj.  auf  ig  über- 
geführt, —  die  kehrseite  desselben  psychologischen  processes, 
der  zu  den  §  21.  §  36  besprochenen  analogiebildungen  geführt 
hat.  der  übertritt  zu  den  adj.  auf  ig  vollzog  sich  meist  in  der 
art,  dass  ig  an  stelle  von  in  trat,  so  auch  im  Hei.  ewig  (einmal 
ewin),  bei  Otfr.  aber  durch  einfache  addierung  von  ig  :  e'winig. 

he  big,  gihörig. 

§  41.  hebig  wird  gewöhnlich  als  frühester  beleg  für  adj. 
auf  ig,  die  direct  von  verbum  gebildet  sind,  in  anspruch  genommen, 
dagegen  spricht  das  alter  des  Wortes,  das  auch  im  as.  und  ags.  be- 
legt ist,  und  besonders  die  bedeutung.  die  bei  Wilmanns  §  347 
auf  geführten  ahd.  beispiele  von  deverbativen  adj.  auf  ig  haben  alle 
die  verallgemeinerte  bedeulung  des  part.  praes.  der  betreffenden 
verba  :  birig  fruchtbar,  'tragend',  bizig  beifsend,  gifellig  gefallend, 
gi folgig  anhängend,   gihengig  zustimmend,    durhliuhtig  =  durh- 


DIE  GERM,  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  LIK      517 

liuhtenti  =  'perlucidus'  (Graff  n  150),  sümig  säumend,  hebig  = 
erheblich, 'gewichtig' ist  dagegen  nicht  ein  verallgemeinertes 'hebend', 
sondern  eher  passivisch  'gehoben  werdend.'  also  kann  hebig 
nicht  direct  von  hafjan  abgeleitet  sein,  vielmehr  nehm  ich  zu  got. 
hafjan  ein  verlorenes  subst.  *haf  oder  *hafs  an,  wie  gol.  bnißs 
:  biudan,  gagg  :  gaggan,  gild  :  gildati,  grets  :  gretan,  frius  :  ahd. 
freosan,  galiug :  liugan,  stiks :  ahdjstehhan.  wie  gild  'das  was  gegolten, 
gezahlt  wird,  den  zins,  die  abgäbe',  stiks  'das  was  gestochen  wird, 
den  punct'  bedeutet,  so  muss  auch  *haf(s)  'das  was  gehoben  wird, 
das  gewicht'  bedeutet  haben,  aus  der  sinnlichen  bedeutung  'ge- 
wicht' entwickelte  sich  die  übertragene  'einfluss,  bedeutung,  Wich- 
tigkeit' (vgl.  in  'wichtig'  dieselbe  entwicklung),  von  der  aus  hebig 
als  personliches  adj.  'einfluss,  bedeutung  habend'  gebildet  wurde, 
diese  bedeutung  von  hebig  ist  als  einzige  bei  Otfr.  belegt,  aller- 
dings sowol  persönlich,  als  auch,  und  zwar  viel  öfter,  unpersön- 
lich (=  uhd.  'wichtig')  bezogen  :  i  27,  5  er  ni  was  so  hebiger ; 
iv  2,  29  thiob  hebiger ;  iv  13,  47  ni  wdri  ther  fiant  so  hebiger', 
iv  22,  13  skdhari  hebiger ;  und  auch  :  i  4,  62  werk;  i  15,  31  zeichan; 
i  17,  16  wunlar;  i  22,  28  Ha;  i  22,  53  waz  iz  so  hebigaz;  i  23,  36 
wort;  in  14,  117  nid;  in  17,  1  lera;  m  20,  67  gisliz;  iv  13,  31 
wig;  i  15,  40.  n  8,  13.  in  18,  1.  iv  20,  16.  v  19,  2  thing. 

Dass  die  verwaiste  bildung  so  früh  als  es  das  erlöschende 
gefühl  für  die  bedeutung  von  ig  erlaubte,  sich  an  das  verbum  an- 
lehnte und  von  ihm  aus  eine  neue  sinnliche  bedeutung  erhielt, 
ist  erklärlich;  so  auch  bei  Otfr.  einmal  in  dem  von  hebig  abge- 
leiteten hebigi:  v  4,  18  thes  Steines  hebigi,  aber  auch:  v  20,  7 
quimit  ther  gotes  sun  mit  michileru  hebigi.  im  Hei.  ist  hebig 
nur  einmal  und  da  mit  sinnlicher  bedeutung  belegt  :  1707  hard 
trio  endi  hebig. 

Wie  hebig,  so  wird  auch  gewöhnlich  das  as.  gihörig  (Hei.  68. 
82.837.2115.2981.  Gen.  169,  immer  persönlich  bezogen)  als  eine 
deverbative  bildung  angesehen;  von  der  bedeutung  aus  lässt  sich 
gegen  diese  annähme  nichts  einwenden;  gihörig  wäre  also  nach 
dem  über  hebig  gesagten  im  Hei.  u.  bei  Otfr.  das  einzige  direct 
vom  verbum  aus  gebildete  adj.  auf  ig.  sehr  auffallend  ist,  dass 
zum  selben  'verbum'  bei  Otfr.  mehrfach  die  synonyme  ableitung 
mit  -sam  belegt  ist:  hörsam,  gihörsam.  Wilmanus  §  373,  3  sagt: 
Via  ein  subst.,  das  als  Stammwort  gedient  haben  könnte,  nicht 
nachweisbar  ist,  wird  man  das  wort  als  verbale  ableitung  ansehen 
Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXXVII.  34 


518  SCHMID 

können.'  dann  wäre  (gi-)hörsam  die  älteste  und  im  ahd.  einzige  ein- 
deutig deverbative  bildung  mit  -sam  (vgl.  Wilmanns  ebda.),  bei  Otfr. 
ist  sonst  noch  belegt  fridu-sam,  lobo-sam1,  wunni-sam.  es  ligt  des- 
balb  die  Vermutung  sehr  nahe,  dass  sowol  in  (gi-)hör-sam  als  auch 
in  gihörif/  ein  verloren  gegangenes  suhst.  steckt,  von  dem  mög- 
licherweise auch  das  verbum  got.  hausjan,  ahd.  hören  abgeleitet  ist. 

Die  got.  b i  1  düngen  auf  eig. 

§  42.  Subst.  -f-  eigs  sind  folgende  im  got.  belegt  :  ansteigs, 
usbeisneigs,  hropeigs,  laiseigs,  listeigs,  mahteigs,  andanemeigs,  piu- 
ßeigs,    nhteigs,  gaicairpeigs,  witodeigo,  waurstweigs,  gawizneigs. 

Wie  weit  Ulßla  den  Charakter  der  adj.  auf  eigs  noch  gefühlt 
hat,  ist  schwer  festzustellen;  er  gibt  in  seiner  Übersetzung  wo- 
möglich einen  griech.  stamm  mit  seinen  verschiedenen  ableitungen 
auch  im  got.  mit  ableitungen  zu  ein  und  demselben  stamm  wider 
und  verwendet  dabei  das  suffix  eigs  öfter  zur  bildung  von  un- 
persönlichen adj.;  so  hat  er  neben  witop  =  vöfxog  ein  dem 
griech.  vof.iifxtog  entsprechendes  witodeigo  (1  Tim.  1,8.  2  Tim. 
2,  5.),  das,  auch  abgesehen  von  der  adverbialen  Verwendung  (vgl 
§  45),  in  seiner  bedeutung  'gesetzmäfsig,  gesetzlich'  nicht  zur 
urspr.  bedeutung  von  eigs  stimmt,  so  ist  auch  magan  =  dvva- 
o&ai,  tnahts  =  övva^ig,  (un-)mahteigs  —  {d)dvvarog.  dabei 
übernimmt  Ulf.  die  doppelle  bedeutung  von  dvvaxög  =  'mächtig' 
und  'möglich'  ohne  weiteres  auch  für  got.  mahteigs,  das  nur  die 
persönliche  bedeutung  'mächtig'  haben  kann,  zu  got.  waurstw 
=  egyov,  waurshca,  waurstwja  =  eQydxrjg,  waurstwei=  egyaoLa 
ist  waurstweigs  =  evsQyijg,  ireQyovfievog  'würksam'  gebildet 
und  nur  unpersönlich  bezogen  :  1  Cor.  16,9  haurds;  2  Cor.  1,6 
naseins;  Gal.  5,6  friapica;  Gal.  2,8  waurstiveig  gataujan  (c.  dat.) 
=  eveqyelv  'würksamkeit  geben',  neben  piup  n.  =  %6  ayaitov, 
piupjan  =  evXoyelv  steht  piupeigs  =  äyad-ög,  persönlich  (Mc. 
10,  17  u.  18;  Luc.  6,  45;  Luc.  18,18  u.  19)  und  unpersönlich 
(Rom.  7,12  u.  13;  Luk.  6,45)  bezogen,  ferner,  nur  persönlich 
bezogen,  =  evloy^rog  (Marc.  14,  61  ;  Luc.  1,  68;  2  Cor.  11,31) 
und  auch  =  xaXög  (Matth.  7,  18  zu  bagms  u.  akran). 

§  43.  Die  griechischen,  vom  subst.  abgeleiteten  verba  bildet 
Ulf.  gern   mit  dem  entsprechenden  -eigs  wisan  nach : 

1  In  lobo -sam  scheint  Olfr  allerdings  schon  eine  umfühlung  und  Um- 
formung der  alten  Substantivableitung  zur  deverbativbildung  (lobon)  voll- 
zogen zu  haben. 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  LIK      519 

ansteigs  wisan  =  yuQirovv  (Eph.  1,6);  ansls  =  ydgtg 
(vgl.  ahd.  enstig). 

nsbeisneigs  wisan  =  (.iay.Qottvi.nZv  (1  Cor.  13,  4  friapwa 
usbeisneiga  ist;   1  Thess.  5,  14);  usbeisns  =  fzay.goO-v/nia. 

gawair  peigs  wisan  =  etgrjyeZv  (Mc.  9,  50);  gawairpi  =• 
eioijvr].     nicht  belegt  sind  die  subst.  zu 

nhteigs  wisan  =  oyoldZetv  (1  Cor.  7,5);  =  evy.aioeZv 
(1  Cor.  16,  12,  wo  nhteigs  in  nhtings  verschrieben  ist); 
dazu  uhteigo,  nnuhteigo  =  etixalgoig,  dy.aigtog  (2  Tim.  4,2). 
zu  dem  nicht  belegten  grundwort  ist  got.  uhtwo  eine  ab- 
leitung;  der  bildung  und  bedeutung  nach  entspricht  uhteigs 
genau  ahd.  muozig  =  'mufse  habend,  müfsig'. 

gawizneigs  wisan  =  ovvr;6eod-ai  (Rom.  7,  22);  vgl.  anda- 
wizns. 
ähnlich   auch: 

hropeigs:    guda    ustaiknjandin    hropeigans   uns   =    Ügictfi- 
ßevovri  tf/tiäg  (2  Cor.  2,  14). 
Bei  diesen  adj.  ist  die  persönliche  bedeutung  von  eigs  noch 
deutlich  zu  erkennen,  ebenso  auch   hei: 

listeigs,  2  Cor.  12,  16  wisands  listeigs;  aber  auch :  Eph.  4,  14. 
dn  listeigai  nswandeinai. 

laiseigs  ist  eine  nicht  sehr  glückliche  Übersetzung  von  6t- 
6ay.Tiy.6g  in  der  doppelten  bedeutung  1)  =  'zum  lehren 
geschickt'  1  Tim.  3,  2  skal  aipiskaupus  laiseigs  wisan- 
2.)  =  'gelehrig'  2  Tim.  2,  24  skalks  fravjins  skal  laiseigs 
wisan.  das  zu  gründe  liegende  subst.  =  ahd.  le'ra  ist  got. 
nicht  belegt. 

andanemeigs  führen  Kluge  §206  und  Wilmanns  §  345,  auf 
Grimm  s.  309  fufsend,  neben  andanems  als  got.  beleg  für  eigs 
an  adj. -stammen  an,  wo  -eigs  'als  blofse  Wucherung  auftritt, 
die  weder  den  redeteilcharakter  noch  den  sinn  bestimmt'. 
andanems  ist  =  'angenehm,  willkommen',  öey.TÖg,  dnö- 
ösy.Tog,  waila  andanems  =  Ev-rtQÖGÖey.Tog;  dagegen  an- 
danemeigs =  ävTEyöuevog  'gern  annehmend,  festhaltend' 
(Heyne- Wrede);  ersleres  hat  also  passiven,  letzleres  aber  ac- 
tiven  sinn ;  deshalb  kann  andanemeigs  nicht  vom  adj.  andanems, 
sondern  nur  vom  subst.  andauern  =  Xfjipig  (Phil.  4,  15) 
abgeleitet  sein;  der  sinn  von  dvTeyö^evog  ist  freilich  mit  an- 
danemeigs 'annähme  habend'  etwas  ungenau  widergegeben. 

34* 


520  SCHMID 

§  44.     Aufser  den  genauuten  adj.  auf  eigs  sind  im  got.  noch 
belegt:  gabeigs  und  sineigs. 

gabeigs  (gabigs)  ist  =  rtlovaiog  und  immer  persönlich  be- 
zogen, daneben  aber  auch  Tt/.ovolcog  =  gabigaba.  dass 
gabeigs  von  dem  subst.  gabei  aus  gebildet  wurde,  ist  nicht 
anzunehmen,  da  dieses  selber  eine  abstractbildung  zu  einem 
adj.  * gafs  zu  sein  scheint,    wenn  gabeigs  von  diesem  adj. 

*  gafs  aus  gebildet  ist,  ist  es  als  eine  formale  analogie- 
bildung  auf  grund  der  persönlichen  bedeutung  von  *gafs 
'reich',  den  in  §  36  aufgeführten  ahd.  as.  adj.  entsprechend, 
aufzufassen,     möglich  ist  auch,  dass  neben  gabei  ein  subst. 

*  gaf(s)  existiert  hat.  wie  usbeisns  neben  usbeisnei,  waurstw 
neben  waurstwei,  beist  neben  (un-)beistei.  dann  wäre 
gabeigs  eine  organische  bildung  mit  eigs.  —  gabeigs  hat 
als  häufigere  form  gabigs  neben  sich:  gabeigs  7  mal  (6  mal 
im  Luc.  evgl.),  gabigs  1 1  mal  (3  mal  im  Luc.  evgl.).  da- 
neben gabignan  und  gabigjan.  diese  abschwächung  hängt 
wol  damit  zusammen,  dass  gabeigs  einerseits  seiner  bildung 
nach  isoliert  war,  da  im  got.  das  grundwort  zu  gabeigs 
nicht  mehr  lebte,  andererseits  aber  auch  seiner  bedeutung 
nach  gegenüber  den  anderen  persönlichen  adj.  auf  ig  eine 
Sonderstellung  einnahm,  denn  mit  diesen  wird  dem  menschen 
fast  immer  ein  abstracter,  mit  gabeigs  aber  ein  concreter, 
materieller  besitz  zugesprochen,    (vgl.  auch  anm.  zu  §  31). 

sineigs  kann  mit  mehr  grund  als  eine  unorganische  analogie- 
bildung  nach  §  36  in  anspruch  genommen  werden,  die 
einstige  existenz  eines  adj.  *sins  wird  durch  den  Super- 
lativ sinists  bewiesen;  sineigs  geht  nur  aufs  menschliche 
lebensalter  (Luc.  1,  18.  1  Tim.  5,  1  u.  2).  seine  frühe  for- 
male angleiclmng  an  die  persönlichen  adj.  auf  ig  kann 
mit  der  von  lebentig  (§  37)  verglichen  werden. 

Adjectiva  auf  ag  und  ig  im  adverb. 

§  45.  Bei  den  adjectiven  auf  ig  und  ag  ist  der  bedeutung 
von  ig  und  ag  zufolge  eine  adverbiale  beziehung  ausgeschlossen, 
bei  U I  f.  finden  sich,  wie  schon  oben  angeführt,  gabigaba  = 
Ttlovottog,  (un-)uhteigo  =  ev-,  äy.aiQtog,  witodeigo  —  vof.iif.aoQ. 
bei  Otfr:  n  11,5  filu  hebigo  iz  intfiang,  thaz  .  .  .;  in  13,6 
heistigo    biscoltan    (=  'heftig,    sehr';    die    urspr.  bedeutung  von 


DIE^GEHM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  LIK      521 

heistig,  das  sonst  ahd.  nicht  belegt  ist,  lässt  sich  nicht  feststellen). 
im  II  e  1. :  4716  C:  serago  gengun  swtöo  gornondia  Hingron 
Cristes]  vgl.  dagegen  Hei.  4015  Maria  endi  Martha  se'raga  sdtun 
und  Olfr.  iv  34,22  giangun  al  se'rag  heimortes. 

Das  adv.  serago  ist  besonders  auffallend,  denn  entweder  be- 
zieht sich  das  'traurig'  dem  sinn  nach  auf  die  jünger,  dann 
wäre  ein  adj.  zu  erwarten,  oder  es  bezieht  sich  auf  das 
'gehen',  in  dessen  besonderer  art  sich  die  trauer  äufsert;  dann 
steht  serago,  wie  cap.   m  zeigen  soll,   an  stelle   von    ser(ag)~liko. 

Cap  itel  in. 

lih. 

§  46.  NVilmanns  §  362  sagt  zur  bedeutung  von  lih  an 
Substantiven:  'die  ursprüngliche  bedeutung  der  composita  mit  Uli, 
auf  das  dem  Stammwort  gemäfse,  natürliche,  entsprechende  hinzu- 
weisen, ist  noch  heute  oft  wahrzunehmen,  zb.  in  Verbindungen 
wie  'mütterliche  liebe,  väterliche  ermahnung'  .  .  .  .,  dieselben 
adj.  lassen  sich  aber  auch  anders  brauchen,  zb.  'das  mütterliche 
erbteil,  das  väterliche  vermögen',  ....  und  in  demselben  ab- 
stracten  und  allgemeinen  sinn  einer  gewöhnlichen  ableitungs- 
silbe  konnte  lih  schon  im  ahd.  gebraucht  werden.'  über  lih  an  ad- 
jectiven  sagt  NVilmanns  §363,5:  'das  compositum  besagte  wesent- 
lich dasselbe  wie  das  simplex,  und  lih  erschien  als  eine  ähnliche 
Wucherung  wie  ig.  aber  doch  verfolgt  der  sprachlrieb  in  diesen 
bildungen  ein  ziel,  sie  sind  wie  Grimm  1166O  bemerkte,  abstract, 
dh.  sie  treten    gern  da  ein,    wo  das   adj.    mit    einem   abslracten 

subst.    verbunden    wird die    neigung,    die    Wörter  auf 

-licho  besonders  adverbial  zu  brauchen,  hängt  damit  offenbar  eng 
zusammen.'  Kluge  §  237  sagt:  'es  werden  (mit  lih)  adj.  aus 
adj.  ohne  bedeutungswechsel  und  aus  subst.  gebildet.' 

§  47.  Richtig  ist  die  beobachlung  Grimms,  dass  die  adj.  -f-  lih 
gern  auf  ein  abstractes  subst.  bezogen  werden,  also  lih  an  adj. 
keine  bedeutungslose  Wucherung  sein  kann,  die  kehrseite  vom 
Grimms  beobachtung  ist,  dass  adj.  auf  lih,  und  zwar  sowoJ 
subst.  als  adj.  -f-  lih,  —  ausgenommen  die  pronominal-  und  zahl- 
adj.  auf  lih  —  nie  persönlich  bezogen  werden,  wenigstens 
bei  Otfrid,  der  dieser  Untersuchung  zu  gründe  gelegt  ist.  bei 
den  adj.  +  lih  ist  dies  umso  auffallender,  als  die  mehrzahl  der  ein- 
fachen   adj.   eine  ausgesprochen  persönliche  bedeutung  hat,    vgl. 


522  SCIIMID 

armi-lih,  bald-lih,  diur-Uh,  driu-lth,  drugi-lih,  drut-lih,  frawa-üh etc.1 
es  fällt  schwer,  sich  die  'abstracte'  bedeutung,  die  diese  persönlichen 
adj.  durch  die  Weiterbildung  mit  lih  bekommen  sollen,  recht  klar  zu 
machen,  bei  den  subst.  -f-  lih  sind  zwei  arten  vou  subst.  zu  unter- 
scheiden :  1.  abstracta  und  2.  persönliche  subst.,  wogegen  concreta-f- 
lih,  wie  etwa  stein-lih  und  ähnl.  bei  Olfr.  und  wol  überhaupt  im  ahd. 
nicht  vorkommen  (aufser  ßeisc-lih  in  christlicher  bedeutung).  die  mit 
Uli  componierten  abstracta  bei  Otfr.  bedeuten  fast  alle  persönliche 
eigenschaflen  und  gemütszustände,  zb.  egis-lih,  er-lilt,  foraht-lih, 
jdmar-lih,  kraft-lih,  ginäd-lih,  nöt-lihelc,  und  haben  daher  öfter  per- 
sönliche adj.  auf  ig  oder  ag  neben  sich,  zb.  kreftig,  ginddig,  nötag. 
unter  den  persönlichen  subsjt.  -\- lih  wäre,  wenn  lih  eine 
bedeutungslose  bildungssilbe  wäre,  im  ahd.  in  erster  linie  das 
allgemeinste  und  geläutigsle  persönliche  subst.  man  zu  erwarten ; 
es  fehlt  aber  im  guten  ahd.,  und  kommt  nach  Graft'  n  750  nur 
einmal  bei  Williram  vor.  dagegen  ist  bei  Olfr.  und  im  as.  Gen.- 
fragm.  thegau-lih  =  'heldenhaft'  belegt.  charakteristisch  ist 
also  für  alle  compositionen  mit  lih  bei  Olfr.,  dass  die  einfachen 
uomina  als  adj.  oder  (persönliche  oder  abstracte)  subst.  irgend 
eine  persönliche  eigenschaft  oder  einen  gemütszustand  bedeuten. 
§  48.  Alle  diese  bildungen  kommen  besonders  oft  im  ad  verb 
vor.  Paul  Principien  §  258  sagt:  'das  adv.  hat  die  nächste  ver- 
wantschaft  mit  dem  adj.  es  verhält  sich  zunächst  zum  verbum, 
dann  auch  zum  adj.  analog  wie  ein  attributives  adj.  zu  einem 
subst.  diese  Proportionalität  zeigt  sich  dann  auch  darin,  dass 
im  allgemeinen  aus  jedem  beliebigen  adj.  ein  adv.  gebildet  werden 
kann.'  das  letzlere  stimmt  nicht  ganz,  wir  werden  zb.  kaum  je 
ein  adv.  zu  'krank,  gesund,  reich,  jung,  hungrig,  durstig'  und 
ähnl.  bilden,  und  zwar  deshalb,  weil  diese  adj.  menschliche 
zustände  bedeuten,  die  nie  als  atlrihute  zu  einem  verbum,  einem 

1  zu  den  adj.  auf  iglih,  aglih  citiert  Grimm  s.  661  f  die  ansieht  Rasks, 
der  'bemerkt,  das  compositum  (ig-lih,  ag-lili)  gelte  von  leblosen  Sachen, 
das  blofs  abgeleitete  adj.  (auf  ig,  ag)  von  personen ,  welches  zu  meiner 
ansieht  von  der  abslractweidun^  durch  lik  stimmt.'  das  letztere  trifft  nicht 
zu  :  den  gegensatz  der  adj.  ohne  und  mit  lih  formuliert  Grimm  als  concret 
und  abstract  (sztazi  zu  honig  usw.,  suazlih  zu  tat  usw.,  vgl  §  4),  Rask 
als  von  personen  und  von  leblosen  Sachen  geltend,  die  feststellung  der 
wichtigen  talsache,  dass  die  adj.  ohne  lih  gegenüber  ihren  Weiterbildungen 
mit  lih  persönlichen  character  haben,  fehlt  also  in  der  definition 
JGrimms. 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  I7A'      523 

zeitlichen  Vorgang,  sondern  nur  zu  einem  persönlichen  subst. 
oder  prouomen,  dl),  zu  einem  menschen  treten  können,  ebenso- 
wenig können  auch  bei  den  compositiouen  mit  Uli  durch  die 
adverbiale  beziehung,  die  der  bedeuluug  von  lih  offenbar  am  ge- 
mafsesteu  ist,  die  menschlichen  eigenschafleu  uud  gemütszustäude 
einem  zeitlichen  Vorgang  als  atlribute  zugeschrieben  werden,  sie 
sind  uud  bleiben  menschliche  attribule.  attribut  eines  zeit- 
lichen Vorgangs,  eines  verbums,  ist  dagegen  die  art  uud  weise, 
wie  diese  menschlichen  altribute  sich  äul'seru. 

0.  iv  13,  21  heisst  es  zb.  er  sprach  baldlicho  joh  harto 
tlieganlicho.  die  tapferkeit  uud  heldenlugend  ist  natürlich  nicht 
eigenschaft  des  'Sprechens1,  sondern  des  'sprechenden',  eigen- 
schaft  des  Sprechens  ist  dagegeu  die  art  und  weise,  wie  es  ge- 
schieht, an  der  man  erkennt,  dass  der  sprechende  tapfer  und 
eiu  held  ist;  also  genau:  4er  sprach  in  einer  einen  tapferen  und 
einen  beiden  erkennen  lassenden  weise',  dies  wird  deutlich 
durch  den  gegensatz:  'er  sprach  laut',  wo  Maut'  nicht  eine  eigen- 
schaft des  sprechenden  ist,  sondern  lediglich  auf  die  art  und 
weise  des  Sprechens  geht,  ebenso  verhält  es  sich  bei  abstr. 
-f-  lih,  zb.  ii  11,  10  usstiaz  er  si  kraftlicho  =  'auf  kraft  er- 
kennen lassende  weise.'  nicht  anders  ist  die  bedeuluug  der  adj. 
auf  lih  natürlich  da,  wo  die  /«/j-bildung  nicht  auf  ein  verbum, 
sondern  auf  ein  subst.  mit  'verbaler'  bedeuluug  bezogen  ist.  das 
formale  adj.  ist  auch  dann  logisch  ebenso  adverbial,  wie  in  den 
genannten  beispielen,  zb.  in  17,  2  kraß-lichaz  werk,  eiu  werk, 
das  nicht  selber  kraft  hat,  dem  man  es  vielmehr  anmerkt,  dass 
es  mit  kraft  gemacht  ist,  'ein  in  kraft  erkennen  lassender  weise 
gemachtes  werk.'  lih,  german.  lik  muss  also  eine  bedeutung 
haben,  die  der  von  nhd.  'erkeuuen  lassend'  synonym  ist. 

Die  herkunft  und  bedeutung  von  lih. 
§  49.  Kluge  §  237  nimmt  als  ausgangspunct  der  bildungs- 
silbe  lih  in  form  und  bedeutung  das  german.  subst.  lik  ===  'leib, 
körper'  an,  weshalb  er  auch  §  239  sagt,  das  suffix  lika  sei,  wie  es 
seiu  Ursprung  vermuten  lasse,  eigentlich  von  concreten  (speciell 
den  benennungen  lebender  wesen)  ausgegangen.  Wilmauns 
§  361  denkt  neben  lik  'körper'  an  einen  mit  dem  subst.  gleich- 
lautenden stamm  von  der  bedeutung  'gleich,  glatt,  passend',  der 
in    got.   leikan,    ahd.    liehen,    lichön    vorliege.      weiter    sagt    er: 


524  SCHM1D 

'dieser  stamm  bietet  für  die  composita  eine  natürlichere  grund- 
lage,  obsehon  auch  bahuvrfhi-bildungen  mit  dem  subst.  statt- 
gefunden haben  mögen.  insbesondere  lassen  sich  die  alten 
partikelcompositiouen  galeiks  'gleich'  und  analeiks  'ähnlich'  leichter 
als  Verbindung  mit  einem  adj.  als  mit  dem  subst.  leik  'körper' 
verstehen',  dass  analeiks  und  galeiks  sehr  wol  bildungen  mit 
einem  subst.  sein  können,  zeigen  die  got.  adj.  anasiuns  (:  siuns), 
anahaims  (:  haims)  und  gaqiss  (:  qiss  in  piupiqiss),  gawiljis 
(:  wilj'a).  auch  sonst  haben  mehrere  der  got.  Ze?/r-bildungen  ihre 
analoga  in  anderen  bildungen  mit  subst.,  wodurch  der  substan- 
tivische Charakter  von  leik  erwiesen  wird  :  hwi-,  swa-leiks: 
A«?e-,  swa-laups  (zu  laudi  gestalt);  al/a-leiks :  alja-kuns  (zu  kuni) ; 
ibna-leiks  :  ahd.  ebanmuoti;  missa-leiks :  ahd.  missi-muoti ;  sama- 
leiks  :  sama-kuns,  sama-saiwah,  sama-laups.  dagegen  stimmt  die 
bedeutung  von  -leik  =  'körper',  oder  'gestall',  wie  Uhlenbeck 
will,  nicht  recht  zu  diesen  bildungen;  denn  es  wäre  zu  erwarten, 
dass  diese,  wenn  -leik  =  'körper,  gestalt'  wäre,  in  erster  linie 
auf  solche  begriffe,  bei  denen  von  einem  körper  oder  einer 
gestalt  die  rede  sein  kann,  bezogen  würden,  dh.  auf  persönliche 
oder  concrete,  jedenfalls  aber  nicht  auf  abstracte  subst.  es  lässt 
sich  im  got.  eher  das  gegenteil  constatieren  :  persönlich  und 
unpersönlich  sind  nur  die  bildungen  bezogen,  denen  ein  adv. 
oder  eine  partikel  zu  gründe  ligt :  swaleiks,  hwileiks,  galeiks;  nur 
als  adv.  belegt  ist  (Skeir.  49)  ana-leiko;  dagegen  sind  die  bil- 
dungen, denen  ein  unbestimmtes  zahl-adj.  zu  gründe  ligt  —  von 
den  anderen  got.  compositionen  mit  -leiks  wird  zunächst  ab- 
gesehen —  nur  unpersönlich  bezogen:  alja-leikos ;  anpar-leiko; 
ibna-leiks;  sama-leiks,  -leiko;  silda-leiks.  so  steht  zb.  ibna-leiks 
bei  frijapwa  (Skeir.  46),  dagegen  ist  ibns  persönlich  bezogen: 
Luc.  20,  36  ibnans  aggilum  =  iodyyslog;  Skeir.  37  pis  qam 
ni  ibns  ni  galeiks  unsarai  garaihtein,  und  auch  abstract:  Skeir.  46 
ibnon  sweripa;  ibnaleiks  wie  ibns  ist  =  Zoog,  das  Mc.  14,  56 
und  59  mit  samaleiks  gegeben  wird,  beidemale  zu  weitwodipa. 

Nur  als  adverbia  sind  belegt:  ana-leiko,  alja-leikos,  anpar- 
leiko,  neben  2  maligem  sama-leiks  steht  18  mal  adv.  sama-leiko, 
es  tritt  also  bei  diesen  bildungen  dieselbe  erscheinung  zu  tage, 
die  bei  den  Otfridischen  adjectiven  auf  lih  zu  constatieren  ist: 
abneigung  gegen  persönliche  und  Vorliebe  für  abstracte,  besonders 
adverbiale   beziehung.     es   ist   demnach    anzunehmen,    dass   hier 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  LIK      525 

wie  dort  die  bedeutung  von  leik  auch  die  gleiche  ist.  für  die 
bildungssilbe  lik  hat  sich  §  48  die  bedeutung  'erkennen  lassend' 
ergeben,  die  genannten  got.  adj.  auf  -leiks  enthalten,  wie  analoge 
got.  bildungen  zeigen,  ein  subst.,  zb.  galeiks  =  'ein  und  das- 
selbe hik  habend',  wie  gaqiss  'ein  und  dieselbe  rede  habend' 
(Rom.  7,  16  gaqiss  wisan  =  ov(.irpdvca),  gawiljis  'ein  und  den- 
selben willen  habend'  (Rom.  15,  6  =  ötuod-vf.iaööv).  wenn  '■leik 
habend'  gleichbedeutend  mit  'erkennen  lassend'  ist,  kann  leik 
nur  die  bedeutung  'ken  nzeichen,  merk  mal'  haben,  also 
galeiks  =  'ein  und  dasselbe  kennzeichen  habend,  ähnlich' 
tnissaleiks  =  'verschiedene  kennzeichen  habend'  etc. 

§  50.  Dass  sich  die  genannte  bedeutung  aus  der  bedeutung 
von  lik_=  'körper'  entwickelt  hat,  halt  ich  nicht  für  möglich; 
dagegen  lässt  sich  das  umgekehrte  wol  vorstellen.  'kenn- 
zeichen, merkmal'  ist  in  gewissem  sinn  ein  relativer  begriff,  der 
zu  seiner  ergänzung  ein  genetivverhältnis  nötig  hat.  daraus 
erklärt  es  sich,  dass  in  dem  absolut,  d.  h.  uncomponiert  ge- 
brauchten lik  die  relative  bedeutung  sich  in  eine  absolute  ge- 
wandelt hat,  die  in  'leib,  körper'  vorliegt,  der  körper  ist  dabei 
gewissermafsen  als  äufseres  merkmal  für  das  innere,  den  muot 
aufgefasst,  ebenso  wie  eine  bestimmte  art  des  körperlichen  ge- 
barens,  der  action  (zb.  i  17,56  frawalicho  sin  wartetun)  äufseres 
kennzeichen  einer  bestimmten  eigenschafl  oder  gemütsverfassung 
(zb.  v  23,  182  frawa-muate)  ist.  das  relative  bedeutungsmoment 
in  leik  =  'kennzeichen'  hat  sich  dagegen  erhalten  in  der  bezeich- 
nender weise  nur  in  composition  vorkommenden  bedeutung  'abbild'. 
got.  man-leika  eCv.tov  =  ahd.  mana-lihha  'statua,  imago,  ügura,  effi- 
gies'  ist  ursprünglich  =  ,abbild  des  menschen',  ebenso  wie  angels. 
(Beow.)  eofor-lic,  swin-lic  =  'abbild  des  ebers'  (auf  dem  heim)  ist. 

-leik  als  suffix  im  got. 

§  51.    Während  in  den  genannten  got.  bildungen  leik  ganz 

als  subst.  verwendet  ist,  hat  es  in  der  composition  mit  subst.  oder 

volladjectiven  auch  im  got.  die    function    eines  suffixes,  mit  dem 

zu  subst.  oder  adj.  mit  der  bedeutung  persönlicher  eigenschaften 

unpersönliche,  besonders  adverbial  bezogene  adj.  gebildet  werden. 

waira-leiko  taujaip  =  ävÖQueo&e  1   Cor.  16,  13  'handelt 

männlich',    got.  wair  hat  gegenüber  dem  indifferenten  man 

durchweg  eine  edle  bedeutung,  vgl.  Mth.  7, 24  dvöol  cpqo- 


526  SCHM1D 

v'uxig  =  waira  frodamma ;  Mlh.  7, 26  dvdql  fxcoQ(p  =  mann 
dwalamma;   also   waira-leiko  =  'in  einer  die  kennzeichen 
eines  tüchtigen  inannes  tragenden  art  und  weise'. 
liuba-leiks  Phil.  4,  8  :  pishwa  patei  liuba-leik,  pata  mitop  = 
öoa  TCQoöcpifaj . .  .,  ratJro;  loyiCeoÜe.  Hufs  =  äyan^xög, 
dya7xrtf.iivog  ist  immer  persönlich  hezogen,  oder  auch  per- 
sönlich substantiviert  gehraucht,  zh.  Rom.  12,  19  liubans  = 
äycc7Zi]roi. 
lapa-leiko  2  Cor.  12,  15  =  ijdiota;  das  zu  gründe  liegende 
nomeu,  von  dem  auch  das  verb  lapon  abgeleitet  ist,  ist  nicht 
erhalten,  mit  Schade  nehme  ich  als  gruudwort  ein  adj.  *laps 
an,  dessen  bedeutuug  'bereitwillig,  geneigt'  gewesen  sein  muss. 
Bei  waira-leiks  ist    das  Verhältnis   zwischen    wair    und   leiks 
klar   und    eindeutig   =    'das  kennzeichen    des   tüchtigen  mannes 
tragend5 ;    anders    dagegen    in    liuba-leiks    und    lapa-leiks.      Am 
nächsten  läge  Hufs,  *laps  als  attribute  zu  leik  aufzulassen,  wie  zb. 
auch  sama-leiks  =  'dasselbe  kennzeichen  tragend',     dagegen  aber 
spricht,  dass  über  kennzeichen,  merkmale,  als  relative  begriffe,  nur 
vergleichsweise  in  attributiver  form  etwas  ausgesagt  werden 
kann,  dass   sie  nämlich  im  Verhältnis  zu  anderen  'gleich'  (sama-, 
ibna-leiks),     'verschiedenartig'     (missaleiks) ,    'andersartig'    {alj'a-, 
anpar  -  leiks)      oder     ganz     allgemein     'fremdartig'     (sildaleiks) 
sind.      dagegen     ist    es     unmöglich,     von     einem     kennzeichen 
zu    sagen,    es    sei    'lieb,    geliebt'  oder  'bereitwillig'    oder  'kühn' 
(ahd.  bald-lih)  ua.     deshalb  kann  bei  diesen   bildungen    das  Ver- 
hältnis des  adj.  zu  leik,  lih  kein  attributives  sein,  sondern,  genau 
wie   in   waira-leiko,  thegan-licho,   ein  genetivisches,   mit  anderen 
worten:  die  adj.  müssen  in  den  bildungen   mit  lik   die   function 
persönlicher    subst.    gehabt   haben,      dies    entspricht   völlig 
dem  alten  und    auch     noch  uhd.   Sprachgebrauch,   adj.   von   aus- 
gesprochen persönlicher  bedeutuug  auch  ohne  weiteres  als  persön- 
liche subst.  zu  verwenden;  vgl.  Paul  Principien  §  249. 

§  52.  Die  dritte  bei  Olfr.  sehr  zahlreich  vertretene  gattung 
von  bildungen  auf  -lik,  nämlich  abstracta  +  lik,  scheint  im  got. 
nicht  entwickelt  zu  sein,  denn  wenn  Ulfila  diese  bilduugsmög- 
lichkeit  zur  Verfügung  gehabt  hätte,  müssten  sich  zahlreiche 
belege  finden,  da  im  gegensalz  zu  adj.  -{-  leik,  wo  leik  zu  einem 
adj.  ein  adj.  mit  anderer  bedeutuugsuüaucierung  bildet,  hie- 
durch  die  viel  inhaltsreichere  möglichkeit  gegeben  war,  zu  einem 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  LIK      527 

subst.  ein  atlj.  zu  bilden,  dafür,  dass  Ulfilas  diese  bildungsweise 
überhaupt  nicht  kannte,  spricht  auch  die  art,  wie  er  gelegentlich  ein 
persönliches  adj.  auf  eigs  verwendet,  so  zh.  Eph.  4,  14  du  listeigai 
uswandeinai.  bei  Otfr.  würde  in  dieser  Verwendung  list-lih  stehn. 
Mau  kann  aus  dem  fehlen  von  abstr.+  leiks  im  got.  schliefsen, 
dass  diese  gattung  von  /2A"-bildungen  überhaupt  die  jüngste  ist. 
dies  lässl  sich  auch  psychologisch  sehr  wol  verslehn,  denn 
gegenüber  dem  'kennzeichen  eines  tapferen  mannes'  ist  das 
'kennzeichen  von  tapferkeil'  eine  abstraction,  die  auf  ein  compli- 
cierleres  und  daher  späteres  denken  und  sprechen  hinweist, 
dass  von  persönlichen  subst.  -f-  leiks  nur  das  einzige  waira-leiko 
belegt  ist,  darf  nicht  wunder  nehmen,  da  zu  solchen  bildungen 
in  der  griech.  vorläge  sonst  kaum  ein  anlass  vorlag,  dagegen 
ist  sehr  auffallend,  dass  sich  nur  die  zwei  belege  für  adj.  -\-  leik 
finden,  dass  im  got.  das  'sufüx'  -leik  iu  der  in  §  49  entwickelten 
bedeutuug,  oder  wenigstens  iu  einem  rest  derselben,  existierte, 
beweist  der  gebrauchsunlerschied  von  Hufs  und  Huba-leiks.  der 
grund  hiefür  ligt  zweifellos  in  der  sehr  engen  anlehnung 
Ulfilas  ans  griechische,  das  den  bedeutungsunterschied,  den  das 
german.  durch  lik  bezeichnet,  nicht  zum  ausdruck  bringt.  Ulfila 
wagte  nicht,  mit  leiks,  dessen  substantivischer  Charakter  viel- 
leicht auch  in  dieser  Verwendung  von  ihm  noch  dunkel  gefühlt 
wurde,  die  bedeutuug  der  griech.  adj.  im  got.  iu  den  einzelnen 
stellen  eigenmächtig  zu  modificieren;  deshalb .  bildet  er  zb.  zu 
triggws  =  tiiötöq  auch  triggwaba  =  Tcenoid-ibg,  zu  frops  — 
cfQÖvi/.iog  auch  froduba  =  cpQOvif.i(ag,  während  im  ahd.,  wie 
Braune  §  267  aum.  3  bemerkt,  zu  (gi-)triuwi,  glau  die  adverbia 
ausschliesslich  (gi-)triulicho,  glau-licho  heifsen  und  nach  G raff  in  822 
zu  fruot  nur  fruot-licho  als  adverb  belegt  ist. 

Die  Otfridischen  bildungen  auf  lih. 
Adjectiva  -f-  lih. 

§  53.  Besser  als  im  got.  lässt  sich  die  alle  bedeutuug  vou 
lih  =  'kennzeichen'  bei  Otfr.  constalieren;  lih  tritt  in  erster 
linie  an  nomina  au,  welche  als  persönliche  subst.  oder  adj.  oder 
las  abstracta  menschliche  eigenschaften  und  gemütszustände  be- 
deuten; denn  nur  abstracte  dinge,  welche  sich  als  solche  der 
erkennlnis  entziehen,  werden  durch  kennzeichen  charakterisiert, 
dagegen  wäre  eine  bildung  wie  etwa  *stein-lih  neben  steinin  ein 


52S  SCHMID 

unding,  da  der  stein  als  solcher  unmittelbar  erkannt  wird,  das- 
selbe gilt  auch  für  bildungen  wie  langiih,  kurzlih,  die  aber  beide 
bei  Otfr.  belegt  sind;  es  ergibt  sich  daraus,  dass  die  alte  be- 
deutung  von  BA,  die  aus  dem  Sprachgebrauch  Otfrids  noch  wol 
zu  erkennen  ist,  von  ihm  persönlich  nicht  mehr  deutlich  gefühlt 
wurde,  mau  kann  also  bei  diesen  und  ähnl.  adj.  -{-  Uh  mit  recht 
von  Uh  als  einer  bedeutungslosen  Wucherung  reden,  der  grund 
für  diese  entwertung  ligt  in  der  vorwiegend  adverbialen  Ver- 
wendung der  adj.  auf  Uh,  denn  ein  kennzeichen  von  menschlichen 
eigenschaften  und  gemütszuständen  tritt  im  gründe  nur  bei  irgend 
welcher  art  von  action,  von  zeitlichem  geschehen  zu  tage,  dh. 
in  beziehung  auf  ein  verbum  oder  ein  verbalabstractum.  als  sich 
dann  die  urspr.  bedeutung  von  lik  verlor,  entwickelte  sich 
aus  dem  zahlreichen  nebeneinander  von  adj.  mit  und  ohne  Uh(-o) 
das  gefühl,  Uh  sei  eine  bedeutungslose  Weiterbildung,  die  überall 
antreten  könne,  und  mit  der  in  erster  linie  adverbia  gebildet 
werden. 

§  54.  Bedeutungsloses  -lih(-o)  findet  sich  bei  Otfr.  in  :  fol- 
Ucho,  gara-Ucho,  kurz-Uh,  gotekund-Uh,  lang-lih,  suaz-lih(-o),  swdr- 
lih,  gizdm-Uh  u.  part.  prt.  ungisewan-Ucho. 

Die  bei  0.  nur  als  adv.  gebrauchten  adj.  -\-  Uh  :  fol-Ucho 
(i  2,25.  ii  23,  6.  in  22,18;  neben  2  mal  follo,  26  mal  adverbial,  dat. 
fol/on);  gara-Ucho  (n  2t,  26;  iv  24,  31.  neben  6 mal  garo,  garawo), 
ferner  ungisewan-Ucho  (u  12,  44)  zeigen  licho  schon  auf  dem  wege, 
zum  selbständigen  bedeutungslosen  adverbialsuffix  zu  werden;  die 
beiden  ersteren  sind  auch  sonst  ahd.  belegt,  ebenso  auch  got- 
kund-Uh  (u  8,  22  gotkundlichen  rachon).  dagegen  sind  kurz-Uh 
(Graff  iv  499),  lang-lih  (Graff  n  228),  suaz-lih  (Graff  vi  314), 
swdr-Uh  (Graff  vi  892),  gizdm-Uh  (Graff  v  665)  als  adj.  im  ahd. 
nur  bei  Otfr.  belegt,  der  wol  durch  das  metrische  bedürfnis  zur 
bildung  dieser  formen  veranlasst  wurde1: 

kurz-lih  :  u  9,  74  mit  kürzlichen  worton;  n  21,15  thanne  ir 

betot,   wizit  thdz,     duet   iz   kürzlichaz.     (vgl.  n  21,  17  in 

herzen  betot  hdrto  kürzero  wörlo). 
lang-lih :  iv  15,  24  ana  länglicha  frist  (vgl.  in  4,  19  thie  langun 

ziti  krist  gisdh). 
suaz-lih  :  ii  14,  98  mit  süazlichen  giU'islin;  in  18,  57  mit  süaz- 

licheru  milti;  m  22,  38  süazlicho  ddli;  v  9,  53  süazlichero 
1  in   den  entsprechenden  mhd.  formen  seh   ich  jüngere  neubildungen. 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  L1K      529 

wörlo;  v  12,  90  joh  süazliches  müates;  n  7,  57  mit  süaz- 
licheru  giwürti  P,  dagegen  V  (u.  F)  :  süazeru.     das    adv. 
suazlkho  sieht  iv  1,  18  u.  v  16,  11;  9  mal  heifst  das  adv. 
suazo. 
swdr-lih  :  v  23,  136  swdrlichero  dato:  adv.  nur  swdro. 

gizdm  -Uli  :  n  4,  72  thaz  wdri  so  gizdmlih.  das  zu  gründe 
liegende  adj.  gizdmi  ist  14  mal  unpersönlich  hezogen  = 
'passend,  angemessen',  aher  auch  2  mal  (u  4,  18  man  so 
gizdmi;  i n  24,  36  goles  sun  gizdmi)  persönlich  =  'tugend- 
haft, würdig',  also  ist  gizdmlih  vielleicht  auch  zu  §  55 
zu  stellen,  oder  auch  zu  §  56,  falls  man  das  subst.  gizdmi 
als  grundwort  annimmt. 

§  55.  Viel  zahlreicher  als  die  geuannten  adj.  mit  lih(-o) 
als  einer  bedeutungslosen  Weiterbildung  sind  bei  Otfr.  die  adj. 
-J-  /?7<(-o),  die  ohne  lih  eine  ausgesprochene  persönliche, 
mit  lih  aber  nur  unpersönliche  bedeutung  haben  : 

arma-lih,  bald-licho,  blid-lih{-o),  diur-lih,  driu-licho,  drugi- 
licho,  drüt-lkho,  frawa-lih(-o),  görag-lih,  gual-licho,  her-licho,  hön- 
lih,  horsg-lih,  liub-lih(-o),  lugi-licho,  swds-lih(-o),  giwara-lih,  we'nag- 
lih,  wis-lih. 

arma-lih  :  zu  ddt  4  mal,  willo  3  mal,  wizzi  2  mal;  brüst, 
fdra,  Tust,  muat,  sultt  je  1  mal.  —  arm  ist  nur  persönlich 
bezogen  (18  mal). 

bald-licho  :  4  mal,  neben  baldo  (llmal).  —  bald  6  mal  per- 
sönlich, 1  mal  zu  herza  bezogen. 

blid-lih  :  m  24,  80  tho  sprah  er  worton  blidlichen  'freuderregt' 
Kelle,  ii  9,  10.  v  20,  55.  v  22,  2  muat;  v  4,  60  willo. 
adv.  blid-licho  S  29.  u  4,  64.  —  blidi  ist  15  mal  persönlich 
bezogen,  auch  1  mal  persönlich  substantiviert  gebraucht: 
i  28,  3  thie  bilden  =  'die  frohen',  aber  auch  unpersön- 
lich :  n  15,  14  ouga;  n  13,  36  higu;  v  23,  253  muat; 
in  20,  7  und  23,  42  wort;  n  19,21  sunna;  iv  33,  6  gi- 
siuni;  n  8,"  10  allaz  blidaz. 

diur-lih  :  iv  29, 1  racha.  —  diuri  1.)  =  'kostbar,  wertvoll'  bei 
concreiis,  2.)  =  'lieb,  wert',  in  letzterer  bedeutung  per- 
sönlich (i  5,  22;  i  5,  61;  i  6,  16  u.  17;  i  25,  3;  iv  4,  22; 
v  9,  24;  H  80)  und  unpersönlich  bezogen,  je  1  mal  zu 
drunti,  dag,  haut,  lih,  Caritas,  bruaderscaf,  minna. 


530  SCHMID 

driu-licho  :  r  16,  10  thionon.   (vgl.  §  52). 

drugi-licho  :  n  6,  13  thiu  natara  spuan  sin  drugilkho.  —  das 
adj.  *  drugi  =  'fallax'  kommt  selbständig  im  ahd.  nicht 
mehr   vor,  ist  aber  auch   noch  in  drugi-heit  erhalten. 

drut-licho  :  ii 2,36  minnon. —  drüt  immer  persönlich  bezogen» 
vgl.  auch  drüt,  st.  m.  =  freund,  liebling. 

frawa-lih  :  n  15,  12  muat;  n  15,  23  frawalichen  ougon.  adv. 
frawa-licho  i  17,  56;  n  13,  14;  n  16,  32.  —  frö  ist  12  mal 
persönlich  bezogen,  ferner  4  mal  zu  muat,  herza,  1  mal 
zu  lust  (vgl.  auch  §  64). 

görag-lih  :  iv  26,8  thaz  göriglicha  jdmar.  —  görag  i  10,  8  zu 
werolt  =  'alle  menschen'. 

gual-licho  :  =  'auf  herrliche,  prächtige  art'  Kelle,  i  1,  3; 
i  13,24;  iv  19,  55;  v  20,  13.  ich  glaube  nicht,  dass  eine 
bildung  zum  stamm  galan  zu  gründe  ligt,  sondern  stelle 
gual-licho  zu  guat,  wie  Grimm  n  s.  658;  vgl.  Keron.  Gl. 
104,  27  cöt-Uh  =  'gloria'.  eine  guat-lichiu  ddt  ist  'eine 
einen  guten,  tüchtigen  erkennen  lassende  tat'  =  'eine 
rühmliche  tat',  dieselbe  assimilalion  von  t-l  >  l-l  ligt  vor  in 
wdl-lih,  reichlich  bezeugt  neben  wdt-Hh,  (vgl.  Graff  i  743  u. 
839)  =  'schön';  die  bedeulungsentwicklung  ist  hier 
freilich  unklar.  —  guat  wird  persönlich  und  unpersönlich  be- 
zogen. 

her- licho  :  i  19,  8;  iv  19,  55.  —  her(i)  bei  Otfr.  nicht  belegt. 

hön-lih  :  iv  23,  11  hönlkhero  worto  'einen  schändlichen  kenn- 
zeichnend' iv  1,  43  thaz  hönlkha  krüzi.  H  74  in  hön- 
licheru  zdlu.  vielleicht  ist  hier  hönlih  eher  =  'schändend, 
entehrend',  dann  zu  §  64.  —  höni,  uvhöni  nur  persönlich 
gebraucht. 

horsg-lih  :  v  8,  10  in  horsglicha  frist;  v  15,  8  mit  horsg- 
lichemo  willen.  —  horsg  ist  bei  Otfr.  nicht  belegt,  vielleicht 
ist  horsglih  besser  zu  §  54  zu  stellen,  da  horsg  nicht  un- 
bedingt ein  persönliches  adj.  ist;  nach  Graff  iv  1041  ist 
horsglih  als  adj.  sonst  nicht  belegt. 

Hub -Uli  :  in  23,  23  minna  liublicho.  adv.  liub-licho  :  L  52; 
iv  29,  35  ;  iv  37,  18  u.  19.  —  Hub  ist  meist  persönlich  be- 
zogen, doch  auch  zu  houbit,  herza,  arabeit,  sela,  dröst. 

lugi-licho  :  n  4,  62.  —  luggi,  persönlich,  =  'mendax',  zu  fora- 
sago  ii  23,  8,  und   auch    unpersönlich  iv  19,  24   urkundi. 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  LIK      531 

swäs-lih  :  'vertraulich'  Kelle,  n  15,  24  swdsl /chemo  muate. 
adv.  giswds-lkho:  iv  35,  27  u.  29  u.  30.  daneben  auch 
adv.  giswdso  m  12,1;  m  22,68;  iv  8,24.  —  adj.  giswds  un- 
persönlich, =  'eigen':  ii  5,  9  thaz  imo  giswds  was;  vgl. 
aber  auch  giswäso  svv.  m.  =  'freund'  (n  15, 17;  v  8,  30). 
giwara-l/h  :  in  20,  81  scouwon  giwaralkhen  ongon.  adv.  gi- 
wara-lkho  i  17,  47;  n  5,  4 ;  in  16,  22;  iv  29,  36,  neben 
5  maligem  adv.  ghoaro,  -  adj.  (un-)giwar  =»  '(unaufmerk- 
sam' nur  persönlich  bezogen. 
we'nag-l/cho  :  in  10,  14  klagön;  v  6,  44  leben  (vgl.  auch 
§  64).  —  we'nag  ist  6  mal  persönlich  bezogen:  i  17,  51; 
r  18,24;  n  6,24;  u  14,44;  iv  12.3;  iv  22,  18,  und  2mal 
als  persönliches  subst.  gebraucht:  i  23,  7  (hie  wenege; 
v  19,  5  thie  wenpgun  alle;  aber  auch  unpersönlich:  iv  7,  12 
fluht;  v  20,  57  fal. 
wis-lih  :  n  3,  30  kösön  bigonda  wislichon  worton.  —  wis(i)  ist 
sehr  oft  persönlich  bezogen,  aber  auch  zu  wort  (2  mal), 
githank,  redina  (je  einmal)  und  i  4,  64  theih  thir  iz  wis 
ddti. 

Abstracta  -f-  lih  bei  Otfr. 
§  56.     Die  abstracta,  zu  welchen  bei  Otfr.  mit  lih  adj.  ge- 
bildet   sind,    bedeuten    fast    alle    persönliche    eigenschaften  oder 
gemütszustände: 

egis-l/h,  er-licho,  foraht-lih(-o),  idmar-lih{-o),  kraft-lih(-o), 
leid-lih(-o),  gilust-lih,  gindd-lih,  nöt-l/h,  ser-lih,  sunt-lih,  sworg-Jih, 
ummez-Uh,  wdr-lih(-o),  wuntar-lih,  zorn-lih. 

Bei  iämar-,  leid-,  ser-,  wdr-lih(-o)  wäre  auch  möglich,  ab- 
leitung  vom  adj.  aus  anzunehmen,  bei  idmar-lih,  ser-lih  neben 
idmarag,  serag  spricht  die  analogie  mit  nöt-lih,  nötag  für  subst.;  auch 
bei  wdr-lih(-o)  scheint  mir  eine  ableitung  vom  subst.  näherliegend, 
als  vom  adj.  :  'die  kennzeichen  der  Wahrheit  tragend',  in  leid- 
lih  =  'abscheulich'  und  'jammervoll'  wird  sowol  ableitung  zum 
subst.  leid  =  'kummer,  leid',  als  zum  adj.  leid  =  'verhasst'  vor- 
liegen. —  zu  gihogt-lih  (v  23,  73  gihogt/khen  sorgon  'mit  be- 
kümmerter sorgsamkeit'  Kelle)  und  gilumpf-lih  (5  mal,  zu  thaz, 
iz,  stat)  sind  entsprechende  subst.  nach  Graft  iv  794  und  n  217 
nicht  belegt. 

Keine  persönliche  eigenschaft  oder  gemütsverfassung  be- 
deuten   die    subst.    in    fleisc-lih,    worolt-lih,    und  auch   geist-lth, 


532  SCHMID 

da  mau  unter  persönlichen  eigenschaften  usw.  nicht  den  geist, 
sondern  nur  dessen  modificationen  versteht,  geist-lih  ist  ein 
christlicher  terminus  =  ;spiritalis',  und  tritt  zu  bröt,  win,  lera,  ddt, 
wort,  iz;  7  mal  ist  es  als  adv.  geistlicho  =  'spiritaliter'  belegt. 
in  ausgesprochen  christlichem  sinn  ist  auch  fleisc-lih  ('camalis') 
gebildet,  wo  fleisc  weniger  die  concrete  bedeutung  'fleisch',  als  die 
abstracte:  'fleischlichkeit,  fleischeslust'  hat  (u  2,  29  fon  ßeislichemo 
muate  'von  fleischeslust'  Kelle),  christlich  ist  wol  auch  worolt- 
lih  ('saecularis')  =  'was  das  irdische  leben  in  seinem  gefolge  hat' 
Kelle  (v  14,  12  woroltlichaz  ser). 

§  57.  Ebenso  wie  die  adj.  -f-  lih,  so  werden  auch  die 
abstr.  -f-  lih  nie  persönlich  bezogen,  stehn  also  im  gegensatz 
zu  den  mehrmals  bei  Otfr.  daneben  belegten  abstr.  -f-  ag,  ig- 

egis-lih:  vgl.  §  64. 

er-licho:  uur  als  adv.  belegt:  i  5,  13.  G,  3.  8,7.  23,13. 
iv  4,  40. 

foraht-lih:  m  1,  9  mit  forahtlichen  sworgen;  foraht-licho : 
i  15,  24.  22,  4.  ii  4,  96.  v  20,  12  und  20. 

idmar-lih:  v  9,  6  fuarun  quitilönti  idmarlichon  thingon; 
-licho:  in  24,  8  toeinön.  (vgl.  auch  §  64).  —  idmarag  iv 
34,  24.  v  23,  33  zu  muat. 

kraft- lih:  m  17,  2  werk;  iv  12,  27  weo;  v  4,  49  sigi.  -licho: 
i  23,  34;  ii  11,  10;  iv  7,  42;  v  4,  23  und  54.  —  zu  kreftig 
vgl.  §  34. 

leid-lih:  u  23,  24  klagönt  mit  leid-lichen  worton  =  'kenn- 
zeichen  von  kummer  tragend',  zu  subst.  leid. 

Vom  adj.  leid  (= 'verhasst,  feindselig'  =  as.  left)  aus 
scheinen  gebildet  zu  sein:  m  17,  60  bin  suntig  in  leid- 
lichen werkon.  leid -licho:  in  17,  54  leidlicho  ruagtun 
(die  beiden  letzten  belege  vielleicht  auch  zu  §  64). 

gilust-lih:    ii  6,  10    erfüllen    mit  gilustlichemo    willen    (vgl. 

auch  §  64). 
gindd-  lih:  iv  18,  42;  v  20,  59  scouwön  ginddlkhen  ougon  = 

'mit  erbarmen,  milde  erkennen  lassenden  äugen,  dh.  blicken'. 
.    -licho:  i  2,  20;  iv  25,  4.  —  zu  ginddig  vgl.  §  34. 

not -lih:  L.  25  in  nötlichen  werkon;  iv  13,  36  in  nötlichemo 
thinge.  —  nötag  ist  persönlich  bezogen  :  iv  12,  63  then 
furiston  therera  worolti  nötagan  giholoti. 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,  IG  UND  L1K      533 

ser-lih:  =  'schmerz  verratend'  Kelle,  in  24,  9  serlichen  za- 
harin;  m  24,  12  se'rlichero  worto.  —  se'rag  persönlich 
(iv  34,  22.  H.  134)  und  unpersönlich  auf  muat  (u  13,  37; 
in  24,  10;  v  5,  19.  9,  4.  9,  22.  25,  5S)  und  herza  (i  18,30) 
hezogen. 

sunt-lih:  iv  25,  8  mit  suntlichemo  bluate.  —  suntig  nur  per- 
sönlich, vgl.  §  34. 

sioorg-lih:  iv  7,  72  zi  sworglichen  werkon;  iv  35,32  mit 
sworglichemo  mache. 

ummez-lih:  iv  5,  12  burdin.  —  zu  ummezzig  vgl.  §  34. 

wdr-lih:  iv  21,  32  thing;  wdr-licho:  i  24,  18;  n  14,4; 
v  15,  28. 

xountar-lih:  vgl.  §  64. 

zorn-lih:  m  24,  108  zornlichen  worton  neuen  ahd.  zornag, 
vgl.  Graff  v  693. 

Persönliche  subst.  +  lih. 

§  58.  Zu  persönlichen  Substantiven,  welche  die  hedeutung 
einer  besonderen  eigenschaft  in  sich  schliefsen,  sind  bei  0. 
folgende  adj.  auf  lih  belegt: 

düfar-lih:  iv  31,  6  rafst  er  nan  thero  düfarlichun  worto  = 

'einen  bösevvicht  kennzeichnend'. 
gomi- licho:  i  27,  47  gab  er  gomilicho  in  antwurti.  ahd.  gomo  hat 
ebenso  wie  got.  wair  gegenüber  man  eine  gehobene,  edle 
hedeutung,  weshalb  es  auch  nach  Graff  iv  199  als  glosse 
für  'heros'  stehn  kann.   vgl.  auch  goma-heit  'hervorragende 
geistes-  und  herzenseigenschaften'  Kelle.  , 
thegan-licho:    m  26,  40   dowent  theganlicho;    iv  13,  21  er 
sprah  baldlicho  joh  harlo  theganlicho. 
Auch  mit  engil,  kuning,  skalk  verknüpft  sich  die  Vorstellung 
einer   bestimmten  eigenschaft,    die  jedoch  in  der  art,    wie  Otfr. 
die  betreffenden  adj.  auf  lih  verwendet,  unbeachtet  bleibt,  so  dass 
die  /i/t-bildungen  in  Vertretung  eines  genetivs  stehen: 

engil- lih:    i  18,  10   engillichaz  kunni;    v  19,25   dag   engil- 

liches  galmes. 
skalk- lih:  in  7,  59  korp  theist  skalklichaz  faz. 
kuning -lih:  iv  22,  23  giwdti.  —  dagegen  anders  in  iv  22,28 
bist  .  .  .   harto    knning-licho  =  'nach    der    einen    könig 
kennzeichnenden  art'. 
Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  35 


534  SCHMID 

Anmerkung:  persönlich  und  unpersönlich  sind  hei  Otfrid 
die  als  pronominal-  und  unbestimmte  zahladjecliva  fungierenden 
bildungen  mit  lih  bezogen:  eban-,  ein-,  gi-,  giwe-,  missi-,  sama-, 
sumi-,  SM-,  sms-,  wio-lih. 

§  59.  Die  ursprüngliche  bedeutung  von  lih  =  'kennzeichen 
tragend,  kennzeichnend'  ist  bei  den  in  §§  55 — 58  genannten  adj. 
auf  lih  noch  oft  zu  erkennen;  vor  allem  natürlich  da,  wo  diese 
adverbial  bezogen  sind,  aber  auch  die  art  des  formal  adjectivischen 
gebrauchs  verrät  noch  die  alte  bedeutung  von  lih,  so  zb.  armi- 
lichiu  ddt,  worton  bildlichen,  frawalichen  ougon,  giwaralichen  ougon, 
wislichon  worton,  ginddlichen  ougon,  in  notlichen  werkon,  serlichen 
zaharin,  serlichero  worto,  zornlichen  worton,  thero  düfarlichun 
worto.  viele  dieser  Wendungen  sind  nur  eine  Umschreibung 
des  adverbiums.  dagegen  ist  bei  grammatischer  beziehung  von 
adj.  auf  lih  zu  muat,  herza,  willo,  Inst  ua.  die  bedeutung  von 
lih  schon  sehr  abgeschwächt;  die  adj.  auf  lih  treten  damit  den 
persönlichen  adj.  ohne  lih  und  denen  auf  ig,  ag  sehr  nahe; 
denn  diese  werden  bei  Otfr.  ebenfalls  nicht  selten  auf  muat, 
herza  ua.  bezogen,  zb.  Midi  zu  hugu,  muat;  bald  zu  herza;  frö 
zu  muat,  herza',  Hub  zu  herza,  sela;  jdmarag  zu  muat;  nithig  zu 
muat,  githank;  serag  zu  muat,  herza. 

Durch  diese  bedeutungsabschwächung  einerseits  der  per- 
sönlichen adj.,  mit  denen  ursprünglich  nur  dem  menschen 
selber  menschliche  eigenschaflen  und  gemütszustä'nde,  anderseits 
der  adj.  auf  lih,  mit  denen  nur  die  kennzeichen,  dh.  die 
äufserungsformen  dieser  menschlichen  attribute  einem  zeitlichen 
geschehen  zugesprochen  wurden,  war  eine  entwicklung  an- 
gebahnt, die  dazu  führen  muste,  dass  die  adj.  auf  lih  auch  per- 
sönlich gebraucht  wurden,  bei  Otfr.  ist  diese  entwicklung  noch 
nicht  so  weit  gediehen,  wol  aber  im  Hei. 

Die  bildungen  mit  lik  im  Heliand. 

§  60.     In    der   beginnenden    persönlichen    Verwendung   der 
adj.  auf  lik  ligt  der  hauptunterschied  der  bedeutung  von  lik  resp. 
ih  bei  Otfr.  einer-  und  im  Hei.  anderseits. 
Persönlich  bezogen  sind: 
diur-lik:    961.   1005  smhm;  1592  döperi;  3046.  5806  bodo; 
3994  thegan;  Ibhwif;  ferner  zweimal  lif;  zweimal  dröm;  je 
einmal  swe't,  duba.  adv.  diur-liko  7  mal.  —  diuri  1.)  = 'kost- 
bar', 6  mal  zu  concreleu,  2.)  =  'teuer,  lieb',  2  mal  persönlich. 


DIE  GERM.  BILDUINGSSILBEN  AG,  IG  UND  LIK      535 

fri-lik:  3967  magaü  frtlika  (vgl.  Beow.  615  freolic  wif). 

Oder  ist  frtltk  nicht  mit  dem  'suffix'  lik,  sondern  mit 
l,k  =  'korper'  gebildet,  analog  mit  frihalsl 
göd-lik:  336  gödlikan  gumon,  aufserdem  865  stemna  godes; 
1101  that  al  so  gödlik;  3135  gard;  4275  alah;  4283  it; 
4541  hüs;  5741  allaro  grato  guodlicost.  —  göd  vorwiegend 
persönlich,  doch  oll  auch  unpersönlich. 
muni-lik:    (muna-lik)   252.  1997    magaü;    5784  Maria,     zu 

*muni  =  angels.  myne. 
(un-)wdn-lik:  207  bam;  4957  unwdnlik  magaü.     adv.  tcdn- 

Mo  2396.  Gen.  105. 
heti-lik:    in  4215  AefiTi/r  ludeono  hardburi  =  'obrigkeil'  ist 
ebenfalls  hierher  zu  stellen.     4320  zu  wig. 
§  61.     Dass  die  bedeutung  von  lik  im  Hei.  mehr  abgeblasst 
ist,    als    bei  Otfrid,    zeigt    sich  auch  darin,    dass  liko  schon  viel 
häufiger  als  selbständiges  adverbialsulfix  an  adj.  von  ausgesprochen 
unpersönlicher  bedeulung  antritt: 

bara-liko  (2 mal);  ful-likur  (1454);  gdh-Uko  (5864);  garo- 
liko  (5962,  sonst  adv.  garo);  hard-liko  (640,  sonst  1 3 mal  hardo); 
ktiü-liko  (3mal);  opan-liko  (5mal);  swfö-liko  (4977,  sonst  swibo). 
alle  diese  bildungen  sind  nur  als  adverbia  belegt;  Hebendem 
adv.  findet  sich  auch  ein  adj.  mit  bedeutungslosem  lik  in  :  berht- 
liko  (2 mal)  und  berht-lik  (3122  bilföi;  vgl.  3173  berhtero  bilföeo); 
torht-liko  (89)  und  torht-lik  (1212  tekan,  vgl.  428  torhtun  teknun). 
nur  als  adj.  ist  belegt:  liht-lik  (2055  liö). 

Dass  die  letztgenannten  adjekliv-bildungen  rückschlüsse  aus 
dem  adverbial-suifix  liko  siud,  beweist  die  grofse  zahl  der  aus- 
schliefslich  als  adverbia  dienenden  bildungen. 

Persönliche  adj.   -|-   lik(-O). 
§  62.     Viel  häufiger  als  an  unpersönlichen  adj.  findet 
sich   lik(-o)   an   solchen,    die    eine    persönliche   eigenschaft   oder 
gtmlitsverfassung    ausdrücken,    von    diesen    sind    nur    als    adv. 
belegt: 

bald-liko  (2 mal);  feraht-liko  (4 mal);  frö-liko  (2 mal);  hriwig-liko 
(2  mal);  kraflig-liko  (2652  M);  mild-liko  (3573  M,  C  miido);  swds- 
liko  (4500);  werd-liko  (3 mal). 

Auch  als  adj.  sind  belegt:  diur-lik(-o);  helag-lik(-o);  mdr- 
lik(-o);  sdlig-lik(-o);  spdh-lik(-o);  wis-lik(-o)  und  nur  als  adj.: 
arm-lik;  bliü-lik;  göd-lik;  liof-lik;  mahiig-lik;  gimed-lik. 

35* 


536  SCHiMlD 

Obgleich  nach  §  60.  61  die  alte  bedeutung  von  lik  im  as. 
noch  mehr  verblasst  ist,  als  bei  Otfr.,  muss  doch  auch  im  as. 
noch  ein  schwaches  gefühl  für  dieselbe  vorhanden  gewesen  sein; 
dies  zeigt  sich  in  dem  gebrauchsunterschied,  der  auch  im  Hei. 
zwischen  den  persönlichen  adj.  mit  und  ohne  lik  zu  constatieren 
ist:  die  ersteren  sind  —  mit  ausnähme  der  §  60  aufgezählten 
fälle  —  nur  unpersönlich,  die  letzteren  vorwiegend  persönlich 
bezogen: 

arm -lik:  736  döt.  —  arm  nur  persönlich. 

bliü-lik:  vgl.  §  64. 

helag-lik:   1303  riki.    helag-liko  4  mal.  —  he'lag  persönlich  und 

unpersönlich. 
hold- lik:  3414  Ion;  hold-liko  1870.  —  hold  18 mal  persönlich, 

1  mal  zu  trewa. 
liob-lik:  1277.  1828  le'ra;  1558.1861.3515  lön;  1681  biomo; 
2394  feldes  fruht.  —  Hof  meist  persönlich,  aber  auch  zu 
gisidili,  that,  dag  u.  a. 
mahtig-l  ik:  3588  biliüi;  2349  tekan. —  mahlig  meist  persön- 
lich, vgl.  §  35. 
mdr-lik:  1295  thing;  mdr-liko  3141.  —  mdri  meist  persönlich; 

aber  auch  bürg,  tid,  Höht,  dag,  thing  u.  a. 
gimed-lik:  2658  word.  — ■  gime'd:  3467  man. 
sdlig-lik:  468  sebo  M  (C  sdlig.);  sdlig-liko  3  mal.  (vgl.  auch 

§  64).  —  sdlig  meist  persönlich  vgl.  §  36. 
spdh-lik:  1901  word;  spdh-liko  3  mal. —  spdhi  meist  persön- 
lich, aber  auch  zu  hugi,  sprdka,  möd,  spell. 
wis-lik:   1760  antwordi;  23.  1205.  1740  word;  icts-liko  7mal. 
—  wis  meist  persönlich,  aber  auch  wordquidi,  word,  spräka, 
trewa. 

Substantiv a  -f-  lik(-o). 
§  63.  Die  mit  lik  componierten  unpersönlichen  subst.  be- 
deuten  aufser  gest-lik  (1323)    und  wdn-lik  (vgl.  §  60)   alle   eine 
persönliche  eigenschalt  oder  gemülsverfassung. 
Nur  als  adverbia  sind  belegt: 
arbft-liko    (3462);   firiwit-liko    (6  mal);  fiit-liko  (5328);  niud- 
liko  (12  mal);  grio-liko  (5152);  otast-liko  (2 mal);  wdr-liko; 
wara-liko  (2  mal). 
Als  adjectiva  (u.  adv.)  sind  belegt: 
egis-lik  (2 mal);  forht-lik  (2614);  gaman-lik  (Gen.  111);  härm- 


DIE  GERM.  BILDUNGSSILBEN  AG,   IG  UND  LIK     537 

lik  (5514);  heti-Uk  (vgl.  §  60);  Jämar-Hk  (735);    leü-lik 
(3  mal,  -liko  1563);  muni-lik  (vgl.  §  60);  so3-M(-o). 

Persönlich  sind  nur  heti-lik,  muni-lik,  wdn-lik  bezogen,  vgl.  §60. 

Als  frA'-hildungea  zu  persönlichen  subst.,  in  deren  bedeut- 

ung  eine  persönliche  eigenschafl  enthalten  ist,  sind  im  Hei.  belegt: 

thegan-lik  (Gen.  129  githäht);  thio-Uko  (7  mal);  wrisi-lik  (1397 

giwerk;  -liko  Gen.  122). 

Anm.:  von  pronominal- und  unbestimmten  zahladjektiven  auf 

Hk  sind  im  Hei.  belegt:  (gi-)hwüik,   mislik,  öüarlik,  seldlik,  sulik. 

davon  sind  (gi-)hwilik,  mislik,  sulik  auch  persönlich  bezogen. 

lih  =  'verursachend'. 

§  64.  Aus  der  abgeschwächten  bedeutung  von  lik,  von  der 
bei  Otfr.  noch  das  deutliche  gefühl  für  den  unpersönlichen  Charakter 
der  adj.  auf  lih  erhalten  ist,  hat  sich  im  ahd.  und  as.  eine  neue 
spezielle  bedeutung  entwickelt,  die  ebenfalls  unpersönlich  ist. 
in  der  Verwendung  bei  Otfr.  in  24,80  er  sprah  worton  bildlichen 
heisst  blid-lih  'die  kennzeichen  eines  frohen  tragend',  'freuderregt' 
Kelle;  anders  aber  im  Hei.  424  M  blvblik  bodskepi,  wo  bli<$- 
lik  =  'froh  machend'  ist. 

Diese  bedeutung  'verursachend,  erregend,  machend'  kann 
lih  natürlich  nur  an  Wörtern  haben,  welche  einen  subjectiven 
zustand,  nicht  aber  an  solchen,  die  eine  persönliche  eigenschaft 
bedeuten;  kraft-lih  kann  nur  =  'kraft  verratend,  die  kennzeichen 
der  kraft  tragend',  aber  nie  =  'kraft  erregend'  sein. 

Bei  Otfr.  und  im  Hei.    findet  sich  diese  neue  bedeutung  in 
gleicher  weise  bei  adj.    und   abstracten  subst.  +  tih.     mehrmals 
kann  man  nach  dem  Zusammenhang   im  zweifei    sein,   ob  lih  =■ 
'erregend'  oder  =  'kennzeichnend'  ist. 
Otfrid: 
egis-lih  ist    ebenso  wie  as.  egislik   immer  =  'schrecken  er- 
regend', mehrmals  vom  jüngsten  gericht,  hellia,  finstar  u.  a, 
gebraucht. 
frawa-licho:    u  9,  14  mit  thiu  sie  (die    kirchenlehrer    mit 
ihren    Schriften)    unsih    drenkent    frawalkho  =  'in    froh 
machender  weise'     (vgl.  auch  §  55). 

idmar-lih:  iv  7, 11  irwehsit  idmarlichaz  thing  ubar  thesan  wo~ 
roltring;  ähnlich  iv  16,5;  iv  26,40;  iv  30,  35;  v  19,10. 
v  23, 101  idmarlichaz  wizi;  v  20,  99  idmarlicho  er  zi  in  quitt 


53S 


SCHM1D 


(zu    den   verdammten),    wol  eher  'schmerz   verursachend' 
als  'schmerz  verratend'  (vgl.   auch  §  57). 

gilust-  lih:  i  1,22  theiz  gilustlichaz  wurti,  'erfreulich'  (vgl. 
auch  §  57). 

wenag-lih:  iv  26,  10  kämtun  thio  wenaglichun  ddti  'trauer  er- 
erregend'  (Kelle). 

wuntar-lih,  ebenso  wie  as.  wundarlik,  immer  =  Verwunde- 
rung erregend'. 
Fl  e  1  i  a  n  d : 

blrt-lik:  424  M  bodskepi. 

forht-lik:  2614  that  is  egislikost  allaro  thingo  forhtlikost  firiho 
barnun,  'furcht  erregend'. 

gaman-lik:  Gen.  111  them  wastom  leh  hebanas  waldand  .  .  . 
gamanlikan  gang  (hs.  :  gamlikan)  'freude  erregend'  oder 
'bekundend'? 

grio-liko:  5152  ik  hebbiu  it  (das  geld)  so  grioliko  mit  mines 
drohtines  dröre  geköpot,  'in  grauen  erregender  weise'. 

harm-lik:  5514  thar  mohta  man  dereti  thing  harmlik  gihörian 
'schmerz  verursachend'  (vgl.  Hildebr.  lied  66  heuwun  harm- 
licco). 

salig-liko:  48  scolda  thuo  that  sehsta  (sc.aldar)  säligliko  cuman; 
1169  scoldun  säligliko  lön  antfdhan  'in  beseligender,  glück- 
lich machender  weise'  (vgl.  auch  §  62). 

Anm.:  auch  einfache  nomina,  die  einen  subjectiven  zustand 
bedeuten,  haben  daneben  nicht  selten  die  bedeutung  der  Ursache 
dieses  zustandes,  so  egiso  =■  'schrecken'  und  'schreckenerregende 
sache'  Kelle ;  wuntar  'Verwunderung'  und  'Ursache  der  Ver- 
wunderung', das  'wunder';  Midi  'froh'  und  'froh  machend' 
Kelle. 

ig-lih,  ag-lih  bei  0.  und  im  Hei. 
§  65.  Wilmanns  sagt  §  370  :  'wo  ein  adj.  auf  ig  vor- 
handen ist,  lehnt  sich  lieh  lieber  an  dieses  als  an  den  zu  gründe 
liegenden  nominalstamm  an.'  für  Otfr.  trifft  dies  nicht  zu; 
ebenso  wie  ig  und  ag,  und  in  bedeutungsvollem  Wechsel  mit 
diesen,  tritt  lih  direct  au  den  uominalslamm,  dh.  an  das  abstracte 
subst.  an:  ginädig  :  ginddlih;  kreßig  :  kraftlih;  snnlig  :  suntlih; 
ummezzig  :  ummezlih;  idmarag  :  idmarlih;  nötag:  nötlih;  serag  : 
serlih.  nur  da,  wo  das  zu  grund  liegende  subst.  ausgestorben 
ist,  steht  lih  am  adj.:  göraglih,  we'naglih.  dagegen  zeigt  schon 
der    Hei.,    der    in   form    und    bedeutung    der    hier    behandelten 


DIE  GERiM.  BILDUNSSILBEN  AG,  IG  UND  LIK       539 

bilduugssilben  gegenüber  Otfr.  im  ganzen  ein  jüngeres  eutwick- 
lungsstadium  aufweist  (vgl.  §  17,  §  18,  §  38,  §  60,  §  61),  die 
von  Wilmanns  constatierte  ueigung.  im  Wechsel  mit  ig  findet  sich 
lik  nur  in  kraft-liko(2Gb2  C)  und  flU-liko(flltig  ist  allerdings  as.  nicht 
belegt),  dagegen  steht  lik  am  adj.  auf  ig  in  kraflig-liko  (2652  M), 
mahtig-lik,  hriwig-lik,  ferner  sdlig-lik,  he'lag-lik.  diese  neigung  von 
lik,  lieber  an  ig  als  an  das  subst.  direct  anzutreten,  ist  eine  folge  des 
Verfalls  der  bedeulung  von  ig  und  lik.  dieser  verfall  hatte  den  be- 
deutungsunterschied  zwischen  abstr.  -f-  ig  und  abstr. -{-  lik  beseitigt; 
schon  bei  0.  findet  sich  abstr.  -f-  ig  in  der  funktion  von  abstr.-f-  Uh, 
zb.  kreftig  bei  lera;  ginädig  bei  wort  u.  a.,  vgl.  §  34.  da  das  umge- 
kehrte, die  Verwendung  von  abstr.  -f-  Uh  in  persönlicher  bedeutung 
nicht  so  früh  erfolgte,  wurde  das  abstr.  -f-  Uh  überhaupt  durch  ein 
danebenstehendes  abstr.  -f-  ig  verdrängt,  zu  gleicher  zeit  hatte  sich 
licho  von  den  vorwiegend  adverbial  gebrauchten  personlichen  adj. 
(u. subst.)  -\-  Uh  aus  zum  adverbialsuffix  schlechtweg  entwickelt,  bei 
den  adj.  auf  ig  erhielt  sich  als  letzte  erinnerung  an  die  alle  persön- 
liche bedeutung  eine  starke  abueigung  gegen  die  einfache  adverbial- 
bildung  mit  -o  (§  45),  weshalb  diese  adj.  ihr  adverb  fast  durch- 
weg mit  Ucho  bildeten,  im  mhd.  hat  sich  daraus  dann  das 
doppelsuffix  -eclich  entwickelt,  vgl.  Wilmanns  §  370.  wie  die 
abneigung  von  adj.  auf  ig  gegen  einfache  adverbialbildung  als 
folge  der  alten  bedeutung  von  ig  anzusehen  ist,  so  geht  auf  die 
alte  bedeutung  von  licho  die  abneigung  zurück,  welche  viele  adj. 
von  ausgesprochen  unpersönlicher  bedeutung  gegen  das  adverbial- 
suffix Ucho  haben;  bei  Otfr.  sind  solche  adverbia:  ango,  blügo, 
diofo,  fasto,  harto,  heizo,  hoho,  kleino,  lango,  luto,  rümo,  spdto, 
thiko,  sköno,  stillo,  swäro,  wasso  u.  a.  mehr,  die  meisten  dieser 
adj.  und  viele  andere  von  unpersönlicher  bedeutung  bilden  auch 
im  mhd.  ihr  adv.  ohne  liehe. 

§  66.  Die  bedeutungsverüaehung  von  ig,  (ag)  und  Uh  steht 
einerseits  im  Zusammenhang  mit  bedeutungsverschiebungen  und 
Verengerungen  bei  anderen  german.  suffixen,  so  bei  -in  (vgl. 
Wilmanns  §327)  und  -isk  (vgl.  Wilmanns  §  355  f),  ist  ander- 
seits aber  auch  wol  zt.  auf  den  einfluss  des  laleins  zurückzuführen, 
wenn  zb.  ein  glossator  oder  versalor  im  ahd.  das  latein.  'hiemalis»' 
wiederzugeben  halte,  mufsle  er  im  zweifei  sein,  mit  welcher  ab- 
leitungssilbe  er  zu  wintar  ein  adj.  bilden  sollte;  früher  war  wol 


540       SCHMID,  GERM.  BILDUNSSILBEN  AG,  IG,  LIK 

-in  das  gegebene  (vgl.  got.  aiweins,  ahcl.  hwilin,  Kluge  §  199). 
da  dieses  sich  aber  zur  bildung  von  stoffadjectiven  verengert 
hatte,  griff  man  zu  ig  und  lih,  mit  denen  ursprünglich  nur  ad- 
jectivische  altribute  des  menschen  resp.  seines  handelns  gebildet 
werden  konnten. 

INHALTSÜBERSICHT. 

Einleitung §  1-4.  s.  485 

Cap.  i.     -ag -28.  -  487 

die  etymologie  von  ag .          $  ~.  -  488 

die  bedeutung   von   ag §  7.  -  489 

die  ahd.  adj.  auf  ag- §  9—12.  -  490 

-ag  und  -ah §  13—16.  -  492 

Vermischung  von  ag  und  ig       §  17 — 18.  -  495 

heilag,  otag,  wizago *     ...     §  19 — 20.  -  497 

analogiebildungen §  21.  -  499 

einag §  22—23.  -  501 

modag §  24—27.  -  503 

die  got.  adj.  auf  ag §  28.  -  505 

Cap.  II.     -ig- §  29-45.  -  506 

die  form  von  ig       §  30.  -  506 

die  bedeutung  von  ig §  3t — 32.  -  507 

subst.  -{-  ig  bei  Otfr.  und  im  Hei §  33.  -  509 

die  beziehung  der  adj.  auf  ig §  34 — 35.  -  510 

analogiebildungen §  36—38.  -  512 

einig        §  39.  -  515 

ewig,  ewinig §  40.  -  516 

hebig,  gihorig §  41.  -  516 

die  got.  bildungen  auf  eig §  42 — 44.  -  518 

die  adj.  auf  ig  und  ag  im  adverb §  45.  -  520 

Cap.  in.    -lih §  46-64.  -  521 

herkunft  und  bedeutung  von  Uli §  49—50.  -  523 

leik  als   suffix  im  got §  51 — 52.  -  525 

die  Otfridischen  bildungen  mit  lih §  53— 5  J.  -  527 

adj.  -f  lih §  53—55.  -  527 

abslracta  +  lih §  56—57.  -  531 

persönliche  subst.  -f-  lih          §  58.  -  533 

die  ZiA-bildungen  im  Hei §  60—63.  -  534 

adj.  -\-Hk §  61—62.  -  535 

subst.  -\-lik       §  63.  -  536 

lih  =  'verursachend' §  64.  -  537 

-iglih §  65.  -  538 

schluss §  66.  -  539 

Göltingen  im  herbst  1907. 

PAUL  SCHMID. 


ANZEIGER 


FÜR 


DEUTSCHES  ALTERTUM 


UND 


DEUTSCHE  LITTERATUR 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


EDWARD  SCHROEDER  und  GUSTAV  ROETHE 


EINUNDDREISSIGSTER  BAND 


BERLIN 

WEIDMANNSCHE  BUCHHANDLUNG 
1908. 


INHALT. 


Seite 

Anderson,  The  anglosaxon  scop,  von  Heusler 113 

Anz,  Die  lateinischen  magierspiele,  von  Schulmann 12 

Behaghel,    Bewustes  und    unbewustes   im  dichterischen    schaffen,   von 

RMMeyer 59 

Bellaard,  GvdSchurens  Teuthonista,  von  Franck 122 

Bloesch,  Das  junge  Deutschland  in  s.  beziehungen  zu  Frankreich,  von 

Pollak 141 

Boer,   Untersuchungen   über  den    Ursprung   und  die  entwickelung  der 

Nibelungensage  bd  i,  von  Wilmanns 77 

Borgeld,  Die  oudoostnederfrankische  psalmen,  von  Wadstein  ....  10 

Bück,  A  sketch  of  the  linguistic  conditions  of  Chicago,  von  Fiuck      .  54 

Burkhardt,  Goethes  Unterhaltungen  mit  Soret,  von  Walze'     ....  43 

Cauer,  Von  deutscher  Spracherziehung,  von  Pollak 60 

Dollmayr,  Die  geschichte  des  pfarrers  vom  Kaienberg,  von  Götze    .     .  180 

Fehse,  Der  Ursprung  der  totentänze,  von  Schröder 146 

Frey,  Wilhelm  Waiblinger,  von  RMMeyer 52 

Friedrich  von  Schwaben,  s.  Jellinek 

Fries,  Vergleichende  Studien  zu  Hebbels  fragmenten,  von  Pollak     .     .  59 

Ganz,  Geschichte  der  heraldischen  kunst   in  der  Schweiz,  von  Küch 

und  Schröder 123 

Geiger,   Bettine  von  Arnim  und  Friedlich  Wilhelm  iv,  von  Walzel      .  61 

Gerold,  Heinr.  Redslob,  von  RMMeyer 149 

Goethes  Unterhaltungen  mit  Soret,  s.  Burkhardt 

Goldslein,  Moses  Mendelssohn  und  die  deutsche  ästhelik,  von  Walzel  39 

Gutjahr,    Zur   enlslehung    der    nhd.    Schriftsprache    11.    Die    Urkunden 

deutscher  spräche  in  der  kanzlei  Karls  iv,  von  Bernt     ....  174 

Hagen,  Muspilli,  von  Martin 57 

Hampel,    Fischarts  anteil  an  dem  gedieht  'Die  Gelehrten  die  Verkehr- 
ten', von  Götze ■ 202 

OHarnack,  Schiller,  2  aufl.,  von  Wackernell 47 

Haym,  Gesammelte  aufsätze,  von  Walzel 133 

,  Die  romantische  schule,    2  aufl.,  von  Walzel 132 

Heitz,  Eine  abbildung  der  Hohkönigsburg  aus  der  ersten  hälfte  d.  16  jh.s, 

von  Schröder 149.  210 

Hellmann,  Sedulius  Scotlus,  von  Strecker 116 

Höfer,    Die   Rudolstädter  festspiele  aus    den  jj.   1665 — 1667    und   ihr 

dichter,  von  Stachel 37 

Hollander,  Prefixal  *  in  germanic  usw.,  von  Jellinek 55 

Imelmann,  Die  altenglische  Odoaker  dichtung,  von  Schücking      .     .     .  163 

— ,  Zeugnisse  zur   altenglischen  Odoaker-dichtung,   von   dems.  16b 

Jellinek,  Friedrich  von  Schwaben,  von  Ehrismann 17 

Kahle,  Kristnisaga,  Pättr  Pörvalds  usw.,  von  Neckel 107 

Kaienberg,  pfarrer  vom,  s.  Dollmayr 

Krausze,   Die  keltische  Urbevölkerung  Deutschlands,  von  Schröder     .  143 

Kristnisaga,  s.  Kahle 

Kroker,  Luthers  Tischreden  in  der  Mathesischen  Sammlung,  von  Baesecke  32 

Lange,    Les    plus    anciens   imprimeurs    ä    Perouse    1471 — 1482,    von 

Schröder 200 

Leitzmann,    Kleinere  mhd.  erzählungen  usw.   i  Die  Melker  handschrifl, 

von  Ehrismann 20 

MLulhers   Werke,    krit.  gesamtausgabe   bd  10.  32   und   Die    deutsche 

Bibel  bd  1,  von  Wilmanns 25 


IV  INHALT 

Seite 
MLuthers  Tischreden,  s.  Kroker 
FMarlow,  s.  Neurath 
.Melker  handschrift,  s.  Leitzmann 

HlMüller,  Nithardi  Historiarum  libri  im,  von  Schröder 144 

Neurath,  Faust  von  FMarlow  (di.  LHWolfram),  von  Michel  ....  50 
Nithard,  s.  HMüller 

AOIrik,  Om  Ragnarok,  von  Much 153 

PfafT,  Der  minnesang  im  lande  Baden,  von  Schröder 199 

Pietsch,  s.  MLuthers  Werke 

Piquet,    L'  originalite   de  Gottfried   de  Strasbourg   dans  son    poeme  de 

Tristan  et  Isolde,  von  HM  Meyer 198 

Piur,  Studien  zur  sprachlichen  Würdigung  Christian  Wolffs,  von  Jellinek  56 
Plenkers,  Untersuchungen  zur  überliefet  ungsgeschichte  d.  ältesten  latein. 

mönchsregeln,  von  P.  GMeier 120 

Prost,   Die   sage  vom  ewigen  Juden  in  der  neuen  deutschen  litteratur, 

von  FSchulze 183 

Quellen  und  Untersuchungen,  s.  Traube 

Rand,  Johannes  Scottus,  von  Strecker 119 

Ries,  Die  Wortstellung  im  Beowulf,  von  Delbrück 65 

Routh,  Two  studies  in  the  ballad  theory  of  the  Beowulf,  von  Heusler  115 
Schatz,  Die  gedichle  Oswalds  von  Wolkenslein,  von  Wuslmann  .  .  129 
Schiffmann,  Notkers  mischprosa  in  s.  commentar  zu  den  psalmen  x — xx 

und  c — civ,  von  HofTmann 196 

ESchmidt,  Zur  entstehungsgeschichte   und  verfassei frage   der  Virginal, 

von  Martin 58 

LSchmidt,  Geschichte  der  Wandalen,  von  Much 102 

Sexan,   Der  tod  im   deutschen    drama    d.  17    u.  18  Jahrhunderts,   von 

Stachel 35 

Soergel,  Ahasverdichtungen  seit  Goethe,  von  Hock 185 

EStagel,  s.  Veiter 

Sireilberg,   Gotisches  elementarbuch,  2  aufl.,  von  Jellinek       ....         1 

Studier,  Nordiska  lillegnade  Adolf  Noreen,  von  Heusler 7 

Tardel,  Studien  zur  lyrik  Chamissos,  von  Wal/.el 139 

Traube,  Quellen  und  Untersuchungen  zur  latein.  philologie  des  mittel- 

alters  bd  I,  von  Strecker  und  Meier 116 

Vetter,  Elsbet  Stagels  Leben  der  Schwestern  zu  Töss,  von  Strauch  .  21 
Vetter,  Der  'Stauhbach'  in  Hallers  Alpen  u.  d.  Staubbach  in  der  welt- 

litteratur,  von  Michel       59 

Wenger,  Historische  romane  deutscher  romantiker,  von  Brecht  .  .  .  192 
Werner,    Beiträge   zur   kenntnis   der  lateinischen  litteratur   d.    mittel- 

alters,  von  Strecker 147 

Wilkowski,  [las  deutsche  drama  des  19  jh.s,  von  Pollak 150 

LHWolfram.  s.  Neurath 
OvWolkenstein,  s.  Schatz 

Christus  und  die  Samariterin,  von  Baesecke 206 

Ein  gleichzeitiges  Volkslied  auf  die  heil.  Elisabeth,  von  Schröder    .     .  207 

Zu  Zs.  48,  187  ff  (Heliand),  von  Behaghel 208 

Zu  Zs.  49,  239  (Baanarok),  von   Niedner 208 

Zu  Zs.  49,  395  (Eckart),  von   Pahncke 209 

Zum  Anz.   oben  s.  149   (Hohkönigsburg),   von  Schröder 209 

Personalnotizen 63.  144.  209 

Register 211 


ANZEIGER 


FÜR 


DEUTSCHES  ALTERTUM  UND   DEUTSCHE  LITTERATUR 

XXXI,  1    juli  1907 


Gotisches  elementarbuch  von  dr  Wilhelm  Streitberg,  professor  der  vgl. 
Sprachwissenschaft  und  des  sanskrit  an  der  Universität  Münster  iW. 
[Sammlung  germanischer  elementar-  und  handbücher,  hgg.  von  Wil- 
helm Streitberg.  1  reihe  :  grammaliken  2.]  2  verb.  u.  verm.  aufl. 
mit  einer  tafel.  Heidelberg,  Winter,  1906.  xv  und  350  ss.  8°.  — 
4,80,  geb.  5,60  m. 

Streitbergs  Gotisches  elementarbuch  erscheint  in  der  neuen 
aufläge  wesentlich  vermehrt  und  verbessert,  namentlich  die  syntax 
ist  vollständig  umgearbeitet;  den  33  seilen  der  ersten  aufläge 
entsprechen  98.  einfacher  und  zusammengesetzter  satz  sind  jetzt 
in  der  darstellung  getrennt,  die  mittel  der  Satzverbindung,  der 
bau  der  nebensälze  erfahren  eingehendste  berücksichtigung.  auch 
in  der  lehre  vom  einfachen  satz  sind  die  meisten  abschnitte  er- 
weitert. 

Stark  vergröfsert  ist  auch  die  lilterarhistorische  einleitung. 
der  ferner  stehende  erhält  durch  Sireitbergs  knappe  und  doch 
klare  darstellung  eine  höchst  willkommene  Orientierung  über  die 
nicht  leicht  zu    überschauenden   probleme    der    Wulfilaforschung. 

In  der  auswahl  der  lesestücke  ist  einiges  geändert,  an  stelle 
der  drei  ersten  kapitel  des  Epheserbriefes  sind  die  capp.  1 — 4 
des  zweiten  Corintherbriefes  getreten.  Mc.  xii  ist  weggefallen, 
dafür  ist  aus  Matthäus  das  gauze  6  capitel  und  aufserdem  das 
9  capitel  abgedruckt,  diese  änderungen  hängen  damit  zusammen, 
dass  Str.  jetzt  den  griechischen  text  dem  gotischen  an  die  seite 
setzt  und  Kauffmann  für  Matth.  und  den  anfang  von  2  Cor.  die 
griechische  vorläge  reconstruiert  hat.  die  beigäbe  des  griechischen 
Originals  ist  natürlich  mit  freude  zu  begrüfsen,  ebenso  das  fac- 
simile  einer  seite  des  C.-A.  und  der  abdruck  des  Busbeckschen 
berichts  über  die  Krimgoten,  dagegen  kann  ich  mich  von  dem 
nutzen  der  gegenüberstellung  der  got.  ags.  und  ahd.  Übersetzung 
von  Luc.  2  nicht  recht  überzeugen. 

In  der  flexionslehre  war  an  der  disposition  nichts  zu  ändern; 
die  angaben  über  das  würkliche  vorkommen  seltenerer  formen 
sind  gegen  die  erste  aufläge  vielfach  vermehrt  und  richtig  gestellt. 

Was  die  lautlehre  betrifft,  die  auch  in  einzelnen  capiteln 
umgestaltet  wurde,  so  haben  sich  Str.s  ansichten  und  die  meinigen 
in  manchen  puucten  genähert,  ich  habe  die  meinung  aufgegeben, 
dass  g  im  gotischen  media  affricata  war.     q  erklärt  jetzt  Str.  ge- 

A.  F.  D.  A.  XXXI.  1 


STREITBERG    GOTISCHES    ELEMENTARBUCH 


radezu  als  zeichen  einer  lautverbindung.  für  h  hatte  er  gleiches 
schon  in  der  1  aufläge  als  möglich  hingestellt,  jedoch  die  geltuug 
als  stimmloses  u  für  wahrscheinlicher  gehalten,  jetzt  wird  es 
unentschieden  gelassen,  ob  dieser  letztere  lautwert  für  die  spräche 
Wulfilas  anzunehmen  sei.  ich  stimme  Str.  vollständig  darin  bei, 
dass  q  (und  wol  auch  h)  zeichen  von  lautverbindungen  sind,  ich 
hab  auch  nichts  gegen  die  annähme,  das  w  nach  k  und  h  stimm- 
los waren,  nur  glaub  ich  nicht,  dass  VVulüla  durch  die  stimm- 
Josigkeit  des  w  zur  eioführung  der  zeichen  q  und  h  veranlasst 
wurde,  ihn  dürfte  das  lateinische  Q,  das  in  nachlässiger  schrei- 
buug  auch  für  QV  gebraucht  wurde,  auf  den  gedanken  gebracht 
haben,  auch  im  gotischen  kw  durch  einen  einzigen  buchstaben 
zu  bezeichnen,  und  nach  analogie  schuf  er  auch  ein  zeichen  für 
hw.  ein  streben  nach  einem  gewissen  parallelismus  in  der  Ortho- 
graphie ist  bei  Wulfila  nicht  zu  verkennen,  ich  komme  bald 
darauf  zu  sprechen,  für  gw  fiel  ihm  entweder  kein  zeichen  ein, 
oder  er  kam  gar  nicht  auf  den  gedanken  ein  solches  einzuführen, 
weil  die  lautverbindung  viel  seltner  ist  als  kw  und  hw.  wegen 
Schreibungen  wie  pairhwakandnns  vgl.  Anz.  xxvm  25. 

Bezüglich  des  got.  /  hatte  Str.  sich  früher,  ebenso  wie  ich, 
Wimmer  angeschlossen,  der  daraus,  dass  der  got.  buchstabe  dem 
lateinischen  aiphabet  entnommen  ist,  folgerte,  dass  sein  lautwerl 
dem  F  näher  stand  als  dem  (Z>.  daraus  ergab  sich  früher  für 
mich  die  weitere  cousequenz,  dass  got.  /"labiodental  gewesen 
sei.  jetzt  begnügt  sich  Str.,  Wimmers  ansieht  in  einer  anmerkung 
zu  erwähnen,  und  erklärt  es  für  unentschieden,  ob  got.  f  bilabial 
oder  labiodental  war.  ich  glaube  vollkommen  mit  recht,  got.  f 
stand  jedesfalls  dem  ©  so  nahe,  dass  es  in  fremdwörtern  diesen 
laut  vertreten  konnte,  da  hätte  Wulfila  ohne  die  richtige  aus- 
spräche zu  gefährden  auch  cp  schreiben  können,  die  Goten  hätten 
doch  ihren  /"-laut  gesprochen,  gotisch  sprechende  Griechen 
widerum  musten,  falls  f  sich  würklich  im  lautwert  von  (p  unter- 
schied, für  den  got.  laut  den  nächslgelegenen  griechischen  Substi- 
tuten, es  lässt  sich  ja  auch  zeigen,  dass  Wulfila  einem  dem 
griech.  aiphabet  entnommenen  buchstaben  einen  dem  griechischen 
blofs  ähnlichen  lautwert  gab;  got.  e  ist  graphisch  gleich  E,  trans- 
scribiert  aber  H.  und  w  entspricht  nur  in  wenigen  fällen  laut- 
lich seinem  graphischen  vorbild  F. 

Wir  müssen  uns  überhaupt  von  der  Vorstellung  freimachen, 
dass  Wulfila  phonetik  lehren  wollte,  wir  dürfen  auch  nicht  er- 
wartett,  in  seiner  lautbezeichnung  ein  System  absoluter  'Weisheit' 
zu  finden,  wir  müssen  uus  damit  begnügen,  gewisse  tendenzen 
aufzuzeigen.  W:ulfila  ist  nicht  der  gedanke  gekommen,  die  zahl 
der  buchstaben  zu  vermehren;  wo  er  ein  neues  zeichen  einführt, 
opfert  er  ein  griechisches,  es  hängt  dies  mit  der  geltung  der 
griech.  buchstaben  als  Zahlzeichen  zusammen,  das  aiphabet  ver- 
mehren wäre  ebensoviel  gewesen,  als  buchstaben  ohne  zahlenwert 


STREITBERG    GOTISCHES    ELEMENTARBUCH  «3 

aufzunehmen,  das  lag  ganz  aufserhalh  des  gesichtskreises  Wul- 
fdas,  an  diese  möglichkeit  dachte  er  nicht,  für  ihn  war  es  selbst- 
verständlich, dass  sein  alphaliet  gerade  27  zeichen  haben  müsse, 
aher  nicht  selbstverständlich  ist  es,  dass  alle  feinsten  laut- 
niianceu  des  gotischen  sich  durch  höchstens  27  zeichen  ausdrücken 
liel'sen. 

Das  wulfilanische  aiphabet  enthält  10  nicht  griechische  buch- 
staben.  von  diesen  vertreten  5,  p  r  s  f  o,  in  fremdwörtern  die- 
jenigen griechischen  buchstaben,  deren  zahlenwert  sie  haben, 
5  andere,  qhj'ulv,  haben  einen  ganz  andern  laut  als  die  grie- 
chischen buchstaben  gleichen  zahlenwerts.  die  aufnähme  der  buch- 
staben der  ersten  gruppe  muss  auf  graphische  rücksichten  zu- 
rückgehen, für  die  entlehnung  von  r  und  s  aus  dem  lateinischen 
aiphabet  hat  schon  Wimmer  den  grund  gefunden  :  Wulfila  ver- 
warf buchstaben,  deren  lautwert  im  lateinischen  ein  ganz  anderer 
war  als  im  griechischen,  warum  o  dem  runenalphabet  entlehnt 
wurde  (wenn  es  ihm  würklich  entlehnt  wurde),  bleibt  dunkel, 
/"wurde  gewählt,  weil  das  got.  p  dem  0  zu  sehr  glich,  p  vviderum 
weicht  von  0  ab  (wie  ich  meine  durch  verticallegung  des  quer- 
Striches),  weil  0  dem  got.  )v  zu  ähnlich  war.  ein  zeichen  für  hw 
wollte  aber  Wullila,  dem  parallelismus  mit  q  =  kw  zu  liebe,  und  es 
fiel  ihm  nichts  anderes  ein,  als  eine  Variation  des  griech.  0  (vgl. 
Luft  Studien  zu  den  ältesten  germ.  alphabeten,  s.  100).  dass  got./ 
deshalb  eine  andere  gestalt  erhielt  als  0,  weil  es  einen  bloß  ähn- 
lichen, nicht  identischen  lautwert  hatte,  glaub  ich  ebensowenig, 
wie  dass  f  aus  gründen  der  ausspräche  <Z>  verdrängte,  gegen 
Wimmers  künstliche  annähme  hat  sich  Luft  aao.  s.  89  mit  recht 
ausgesprochen. 

Um  die  5  zeichen  der  zweiten  gruppe  einführen  zu  können, 
opferte  Wulfila  g  H  3  0  lF.  man  beachte  wider  den  paralle- 
lismus. ebenso  wie  zwei  einfache  zeichen  für  lautverbindungen 
mit  w  an  zweiter  stelle  ins  aiphabet  eintreten,  so  scheiden  zwei 
einfache  zeichen  aus  für  lautverbindungen  mit  s  als  zweitem  be- 
standteil.  und  es  scheiden  ferner  aus  H  und  0,  dh.  je  ein 
zeichen  der  laute,  deren  quantität  im  griech.  durch  besondere 
buchstaben  bezeichnet  wurde. 

Zu  den  vorgenommenen  Veränderungen  bestimmte  Wulfila 
natürlich  der  wünsch,  neue  zeichen  einzuführen,  nicht  die  absieht, 
griechische  buchstaben  los  zu  werden,  er  hätte  sie  ja  ruhig  als 
blofse  Zahlzeichen  weiter  führen  können,  es  ist  nun  ohne  weiteres 
klar,  dass  Wulfila  ein  zeichen  für  h  unbedingt  brauchte,  und  dass 
ein  einfacher  buchstabe  für  u  und  ein  besonderer  buchstabe 
für  j  sehr  nützlich  war.  man  beachte  übrigens  wider  den  paralle- 
lismus zwischen  den  paaren  i-j  und  u-w.  über  q,  Jv  ist  schon 
gesprochen,  anderseits  konnte  Wulfila  cß  ^  ohne  schaden 
missen,  aber  die  ausmerzuug  von  H  und  0  muss  besondere 
gründe  haben,  denn  Wulfila  hätte  an  ihrer  statt  koppa  und  sampi 

1* 


4  STREITBERG    GOTISCHES    ELEMENTARBUCH 

opfern  können.  H  wurde  beseitigt,  weil  das  lateinische  H  der 
capitalschrift  einen  ganz  andern  wert  hatte  (während  die  von 
Wulfila  aufgenommene  uncialform  eindeutig  war).  0  ist  aber  nur 
dem  parallelismus  zu  liebe  geopfert,  weil  Wulfila  den  gegen- 
satz  von  e  und  rj  durch  zwei  einfache  zeichen  nicht  widergeben 
konnte,  so  wollte  er  den  gegensatz  von  o  und  to  nicht  durch 
zwei  einfache  zeichen  widergeben. 

Str.  nimmt  an,  dass  die  bezeichnung  des  kurzen  o  durch  au 
in  aualogie  zu  der  durch  die  e-aussprache  des  griech.  cu  an  die 
band  gegebene  bezeichnung  des  kurzen  e  durch  ai  erfolgt  sei. 
ich  stimme  ihm  bei ,  da  ich  ja  annehme,  dass  Wulfila  hier  den 
parallelismus  suchte,  aber  dafür,  dass  er  die  analoge  bezeich- 
nung fand,  werden  wir  doch  auf  das  lateinische  recurrieren  müssen, 
nicht  dass  ich  etwa  die  von  mir  Anz.  xxm  331  bekämpfte  er- 
klärung  Streitbergs,  die  er  jetzt  fallen  lässt,  aufnehmen  wollte, 
aber  berührungen  von  au  und  o  haben  im  lateinischen  bestanden, 
vgl.  Gröbers  Grundriss  i2  465.  wenn  ein  vulgärlateinisches  orum 
bezeugt  ist,  während  die  Schriftsprache  nur  aurum  kannte,  wenn 
die  Schriftsprache  in  manchen  Wörtern  ein  falsches  au  einsetzte, 
die  nach  dem  ausweis  romanischer  sprachen  ursprüngliches  o 
hatten,  so  konnte  doch  Wulfila  die  tatsache  nicht  entgehn,  dass 
in  manchen  Wörtern  geschriebenes  au  von  manchen  wie  o  ge- 
sprochen wurde. 

Was  wollte  Wulfila  mit  seiner  Unterscheidung  von  ai  und  e, 
au  und  o,  i  und  ei  bezeichnen?  hier  weiche  ich  von  Str.s  auf- 
fassung  ab.  darin  sind  wir  ja  wol  alle  einig,  dass  e,  o,  ei  lang 
waren,  nicht  diphthongische  ai  und  au  in  den  allermeisten  fällen 
und  i  immer  kurz,  ferner  dass  e,  o  geschlossen  waren,  aiaü  offen. 
Str.  meint  nun,  dass  Wulfila  eigentlich  nur  die  qualitätsunter- 
schiede  habe  bezeichnen  wollen,  die  quantitätsbezeichnung  habe 
sich  bei  e  o  nur  nebenbei  ergeben,  weil  es  geschlossene  kürzen 
im  gotischen  nicht  gab.  damit  hängt  zusammen,  dass  Str.  auch 
lange  offene  ai,  au  =  ~ce,  ö  (in  saian,  bauan  udgl.)  annimmt  und 
dass   er  einen    qualitätsuuterschied   zwischen  i  und  ei  erschliefst. 

Zu  seiner  meinung  ist  Str.  ua.  auch  durch  die  erwägung 
geführt  worden,  dass  zu  Wulfilas  zeit  alle  griechischen  vocale 
unter  gleichen  accentuellen  bedingungen  isochron  gewesen  seien, 
Wulfila  also  durch  das  griechische  nicht  auf  den  gedanken  einer 
bezeichnung  der  vocalquantität  habe  kommen  können,  dagegen 
hätten  im  griechischen  unterschiede    der  vocalqualität    bestanden. 

Dem  gegenüber  halte  ich  an  der  älteren  anschauung  fest, 
dass  Wulfila  die  quantitätsunterschiede  bezeichnen  wollte,  und  die 
bezeichnung  der  qualitätsunterschiede,  wo  sie  sicher  sind  (bei 
den  e-  und  o-,  nicht  bei  den  ^-lauten)  sich  nur  nebenher  ergab, 
dafür  hab  ich  folgende  gründe. 

1)  Dagegen  dass  i  und  ei  sich  qualitativ  unterschieden, 
spricht,   dass   sie  in  den   got.  handschriften    verwechselt   werden, 


STREITBERG    GOTISCHES    ELEMEINTARBUCII  O 

während  ai  und  e,  au  und  o  getrennt  bleiben,  ferner  babeu  wir 
keinen  anhält  dafür,  dass  im  griechischen,  dessen  Schreibung  für 
WuKila  vorbildlich    war,    et  und  t  qualitativ    verschieden  waren. 

2)  Wulüla  will  iü  durch  o,  o  durch  au  widergeben,  darüber 
besteht  trotz  einzelner  ausnahmen  kein  zweifei.  nun  hat  sich  10 
niemals  durch  geschlossene  qualität  von  o  unterschieden,  ur- 
sprünglich war  10  der  offene  laut,  spater  ist  es  ganz  mit  o  zu- 
sammengefallen und  hat  seine  Schicksale  geleilt,  nimmt  man  an, 
dass  Wulfila  die  qualitäten  seiner  o-laute  trennen  wollte,  so  be- 
greift man  nicht,  wie  er  diese  Unterscheidung  auf  das  griechische 
anwenden  konnte,  wo  weder  ausspräche  noch  theorie  diese  Schei- 
dung kannten. 

3)  Günstiger  scheinen  für  die  qualitätstheorie  die  dinge  bei 
den  e-lauten  zu  liegen,  da  man  ja  meistens  annimmt,  dass  rt  zu  i 
auf  dem  wege  üher  geschlossenes  e  wurde,  und  diese  letztere 
stufe  für  die  zeit  Wulfilas  ansetzt,  allein  das  ist  keineswegs 
sicher,  nach  Kretschmer  Die  entstehung  der  koine,  WSB  1901, 
x  7  ff  hat  sich  der  lautgesetzliche  Übergang  von  ^  zu  e  nicht 
innerhalb  der  y.oivr)  vollzogen,  für  die  y.oivr)  handelt  es  sich 
nur  mehr  um  den  kämpf  zweier  neben  einander  im  grofsen 
griechischen  Sprachgebiet  bestehnden  dialektischen  aussprachen 
des  rj,  um  den  kämpf  zwischen  offenem  und  geschlossenem  e, 
später  e  und  t.  wo  für  rj  später  noch  e  gesprochen  wurde,  war 
es  vollständig  mit  s  zusammengefallen,  da  wir  Wulfila  nicht  die 
a-aussprache  zuschreiben  können,  so  müssen  wir  annehmen,  dass 
sich  für  ihn  rj   und  e  qualitativ  uicht  unterschieden. 

Nun  hat  sich  freilich  unsere  behauptung,  dass  Wulfila  die 
quantitäten  bezeichnen  wollte,  mit  dem  einvvurf  abzubilden,  dass 
zu  Wulfilas  zeit  die  griech.  vocale  unter  gleichen  accentuellen  be- 
dingungen  isochron  waren,  aber  die  Zerrüttung  der  allen  quan- 
titälen  ist  innerhalb  des  griech.  Sprachgebietes  zu  sehr  ver- 
schiedenen zeiten  erfolgt,  in  einer  ahhandlung,  auf  die  mich 
Kretschmer  vor  jähren  freundlichst  aufmerksam  machte,  ^d-rjvä 
13,  247  ff,  hat  Hatzidakis  gezeigt,  dass  im  eigentlichen  Griechen- 
land die  alten  quantitäten  bis  200  n.  Chr.,  vielleicht  noch  länger, 
auseinander  gehalten  wurden,  da  ist  es  doch  nicht  zu  kühn  an- 
zunehmen, dass  ein  gelehrter  mann  wie  Wulfila,  der  in  seiner 
eignen  spräche  klar  geschiedene  vocalquantitäten  besafs,  mit  den 
lehren  der  grammatiker  über  die  bedeutung  der  von  der  Ortho- 
graphie fortgeführten  doppelheiten  e-rj ,  o-co  eine  adäquate  Vor- 
stellung verbinden  konnte1,    nach  dem  Vorbild  der  griech.  ortho- 

1  ich  traue  da  Wulfila  nicht  mehr  zu  als  im  16  jh.  Erasmus  von  Rotter- 
dam geleistet  hat,  der  mit  hilfe  des  lautstandes  seiner  multersprache  sich  eine 
Vorstellung  von  der  bedeutung  der  überlieferten  termini  der  quantitätslehre 
bildete,  während  die  traditionelle  ausspräche  der  antiken  sprachen  die  alten 
Verhältnisse  längst  zerrüttet  hatte,  oder  was  diejenigen  Zeitgenossen  Aelfrics 
taten,    die    zu    seinem    misvergnügen    metrisch    kurze    silben    wie    pa(ler), 


6 


STREITBERG    GOTISCHES    ELEMENTARBUCH 


graphie,  die  er  im  sinue  der  grammatischen  theorie  deutete, 
unterschied  er  die  quantitäten  der  e-  und  o-laute;  bezüglich  der 
i  ist  darauf  zu  verweisen,  dass  hin  und  wider  versucht  wurde, 
die  überlieferte  Schreibung  et  zur  bezeichnung  des  langen  i  zu 
verwenden,  et  gegenüber  i  denselben  wert  zu  geben,  den  r\  und  w 
gegenüber  e  und  o  hatten,  vgl.  Blass  Über  die  ausspräche  des 
griechischen  3  s.  10.  61.  da  Wultila  bei  seiner  Unterscheidung 
nur  die  quantitäten  im  äuge  hatte,  setzte  er  für  o  au,  für  to  o, 
unbekümmert  darum,  dass  im  gotischen  mit  dem  unterschied  der 
quantität  auch  ein  solcher  der  qualität  vorhanden  war,  der  im 
griech.  kein  gegeustück  hatte,  für  a  und  u  gebrauchte  er  nur 
je  ein  zeichen,  weil  das  griechische  für  diese  laute  nur  ein 
zeichen,  bez.  eine  Zeichengruppe  kannte.  —  dass  saian,  bauan  u.  ä. 
in  der  ersten  silbe  offne  lange  vocale  hatten,  halt  ich  für  unerwiesen. 
Ich  erlaube  mir  schliefslich  noch  ein  paar  einzelheiten  zu 
besprechen.  §  52  b.  spaikulalur  hat  doch  aller  Wahrscheinlich- 
keit nach  langes  m,  vgl.  Kluge  Zeitschr.  f.  d.  Unterricht,  8  er- 
gänzungsheft  355,  Pauls  Grundriss  i2  501.  505.  —  §  76  anm.  1 
wäre  vielleicht  besser  ein  anderes  beispiel  zu  geben,  da  ßhis,  wie 
§  147  bemerkt  wird,  nicht  belegt  ist. —  §  86  anm.  auch  hier  wäre 
das  §  146  anm.  3  verzeichnete  fauramapli  zu  erwähnen.  — 
§  147.  auch  alew  und  gaidw  sind  zu  besternen.  —  §  153  z.  2 
ist  'akk.'  zu  streichen.  —  §  157  anm.  1  vgl.  Anz.  xxix  282.  — 
§  160.  hier  war  es  vielleicht  gut,  die  würklich  belegten  formen 
zu  verzeichnen,  namentlich  wäre  hervorzuheben,  dass  von  formen 
des  dat.  pl.  aufser  baurgim  nur  spaurdim  vorkommt.  —  §  182 
wäre  auch  fairni  Luc.  5,  39  unter  den  belegen  anzuführen.  — 
§  183  anm.  2  sähe  ich  gerne  noch  etwas  deutlicher  auf  die  Un- 
sicherheit des  ansatzes  von  hrainis  als  gen.  sg.  der  abstufenden 
/a-stämme  hingewiesen.  Str.  bemerkt,  dass  nur  skeiris  waurdis 
Sk.  5,  5  belegt  ist,  und  erklärt  die  aulfassung  von  skeirs  Sk.  4,  9 
als  nom.  fem.  für  zweifelhaft,  aber  das  sind  die  einzigen  stellen 
wo  das  wort  überhaupt  vorkommt;  wenn  skeirs  nicht  nom.  fem. 
ist,  so  hat  man  auch  gar  keine  gründe  für  die  annähme  eines 
;'a-stamms.  —  §  236,  2  möchte  ich  dem  verf.  zu  erwägen  geben, 
ob  sich  nicht  irgend  ein  genauerer  ausdruck  finden  liefse;  in 
dem  citierteu  satze  Gal.  2,  16  hat  ja  garaihts  nicht  eigentlich 
masculine  bedeutuug,  sondern  bezieht  sich  auf  mäuner  und  frauen. 
—  §  236,  4  wäre  vielleicht  auf   abweichende    fälle   hinzuweisen, 

ma(lus)  auch  würklich  kurz  sprachen,  vgl.  Aelfrics  Grammatik  heraus- 
gegeben von  Zupitza  s.  2.  zu  beachten  ist  auch,  dass  im  lateinischen  die  Zer- 
störung der  alten  quantitätsverteilung  später  ihren  abschluss  gefunden  hat 
als  im  griech.,  vgl.  Gröbeis  Grundr.  i2  467,  wo  übrigens  die  äufserung  des 
Gellius  Noet.  Att.  ix  6  nicht  richtig  gedeutet  ist.  dass  eine  in  der  Umgangs- 
sprache erloschene,  in  der  schritt  bewahrte  Unterscheidung  von  gebildeten 
auch  lautlich  ausgedrückt  werden  kann,  lehrt  zb.  die  tatsache,  dass  im  nl. 
in  der  Umgangssprache  -e  und  -en  gleich  gesprochen,  in  feierlicher  rede 
geschieden  werden. 


STREITHEUG    GOTISCHES    ELEMENTARBDCH  7 

wie  Jcili.  17,  3  soh  pan  ist  so  aiweino  libains,  Sk.  1,  6  sa  ist 
wiprus  gudis.  —  in  «lein  abschnitt  über  den  numerus  venniss 
ich  eine  bemerkuug  des  Inhalts,  d;iss  Wulfila  griecli.  plurale  von 
substantivierten  adjectiven  gen.  neutr.  teils  nachbildet,  teils  durch 
den  singular  ersetzt,  zh.  1.  Tim.  5,  13  poei  ni  skulda  sind 
rä  f.itj  diovxa  gegenüber  Luc.  17,  9  fiatei  anabudan  ivas  xä 
diaicc/Ütvia.  —  §  257,  z.  4.  ist  nach  'griechischem'  nicht  etwas 
ausgefallen?  —  §  273,  2  war  es  aus  pädagogischen  gründen 
erwünscht,  ausdrücklich  darauf  hinzuweisen,  dass  nach  ains,  sums 
und  den  Possessivpronomina  das  adj.  in  starker  form  steht,  oder 
doch  wenigstens  heispiele  anzufühlen  wie  Luc.  15,  7  in  ainis 
fraxoaurhtis,  Eph.  2,  15  du  ainamma  niujamma  mann,  Joli.  11,  1 
sums  shihs,  l  Thess.  4,  S  ahman  seinana  loeihana.  —  §  32(5  anm. 
ein  paar  seltsame  participialconstructionen,  für  die  das  griecli.  anlass 
aher  nicht  Vorbild  war,  linden  sich  in  den  evangelien  :  Mt.  27,  53, 
Luc.  18,  9,  Joh.  6,  45,  wenn  kein  fehler  vorligt,  auch  Mc.  15,  24, 
vgl.  van  der  Waals  Skeireins  s.  12.  gegen  Viteaus  auffassung 
der  griecli.  construclion  als  eines  hebraismus  wendet  sich  Thumh 
Die  «riech,  spräche  im  Zeitalter  des  Hellenismus  s.  131.  — 
§  332.  dass  Mt.  6,  24  jabai-aippan  rj-f}  übersetzt,  kann  ich  nicht 
glauben  und  bleibe  bei  der  meinung  Loebes  und  Schulzes,  dass 
iu  der  vorläge  statt  des   ersten  rj  fehlerhaft  ei  stand. 

Wien,  im  november  1906.  M.   IL  Jelllnek. 


Nordiska  Studier  tillegnade  Adolf  Noreen  pä  lians  50-arsdag  den  13  mars 
1904  af  studiekamrater  och  lärjungar.  Uppsala,  KWAppelbergs  bok- 
tryckeri,  1904.     492  ss.  gr.  &°. 

Zu  der  stattlichen  festgabe  an  Noreen  haben  sich  nicht 
weniger  als  einundvierzig  gelehrte  schreibend  vereinigt  —  die 
widmungsseiten  führen  eine  noch  viel  längere  reibe  von  studieu- 
genossen  und  schülern  auf.  neben  der  schwedischen  spräche 
kommt  auch  die  dänische  und  die  deutsche  zu  worte.  ungefähr 
vier  fünftel  der  beitrage  liegen  auf  dem  felde  der  Sprachforschung 
(runenlehre  und  rechtschreibung  mitgezählt),  der  band  im  ganzen 
erweckt  den  eindruck  von  einer  kopfreichen  gemeinde,  die  im 
sinne  ihres  meisters  vorwärts  strebt,  von  kritischem  Scharfsinn 
uud  behutsamer,  nüchterner  grüudlichkeit  zeugeu  auch  die  kürzern 
dieser  spenden,  kühneres  eindringen  ins  ungebahnte  oder  per- 
sönlichere formung  machen  sich  weniger  bemerkbar,  die  meisten 
beitrage  erscheinen  wie  ein  kleiner  ausschnitt  aus  den  augenblick- 
lichen arbeiten  der  betreffenden,  den  Charakter  der  abgerundeten 
darstellung  haben  am  meisten  die  zwei  aufsätze  von  Almgren  und 
KFJohansson.  Johansson  führt  die  golischeu  uominalcompo- 
sita  vollständig  auf  nach  einer  wcldurchdachten,  in  manchen 
puncteu  eigenartigen  einteilung,  wobei  auch  viele  etymologische 
bemerkungen  abfallen.     Almgren  bietet  mit  seiuer  arbeit,  'Die 


8 


NOBDISKA    STUDIER 


begräbnisarteu  der  Vikingzeit  in  würklichkeit  und  in  der  altn. 
litteratur',  dem  philologischen  interpreten  der  Ynglinga  saga  und 
andrer  texte  eine  willkommene  gäbe,  indem  er  nach  den  neusten 
grabungen  das  archäologische  bild  der  sache  libersichtlich  zeichnet, 
im  übrigen  weise  ich  nur  noch  auf  die  beitrage  hin,  die  einem 
weitern  leserkreise  dieses  Anzeigers  entgegen  kommen:  der  fach- 
genosse  wird  das  übrige  schon  zu  finden  wissen. 

Grip  hat  an  Deutschen  aus  verschiedenen  lamlschaften  die 
gleitlaute  zwischen  vocal  und  folgendem  l,  r  beobachtet,  ganz 
verdienstlich,  aber  wenn  irgendwo,  so  entbehrt  man  hier  objective 
lautbilder.  ich  fühle  mich  nicht  ganz  sicher,  ob  nicht  öfter  der 
klang  des  /  selbst  (der  ja  bis  zum  Übergang  zum  nächsten  laut 
einem  vocalischen  klänge  recht  nahe  kommen  kann)  für  einen 
gleitlaut  genommen  wurde.  Ernst  A Meyer  teilt  weitere  er- 
trage seiner  experimentellen  Sprachmessung  mit  :  die  betonten 
vocale  sind  ceteris  paribus  länger  im  einsilbigen  als  im  zwei- 
silbigen worte,  länger  vor  lenis  als  vor  fortis,  länger  bei  tiefer 
zungenstellung  als  bei  hoher  uam.  die  hauplzüge  stimmen  zu 
dem  was  M.  für  das  südenglische  und  '  noch  für  eine  reihe 
andrer  sprachen'  festgestellt  hatte.  K lockhoff  handelt  von  der 
Samsonsballade  (DgF.  nr  6).  er  beurteilt  die  berührungen  mit 
andern  folkeviser  anders  als  Olrik  (DgF.  7,  271),  hält  die  Samsons- 
vise  für  ein  ziemlich  junges  conglomerat  und  nimmt  wider  ent- 
lehnung  aus  der  schwedischen  Didrikssaga  an,  nicht  herkunft  aus 
niederdeutscher  quelle,  doch  ohne  sich  mit  Grundtvig  oder  Jiriczek 
auseinanderzusetzen.  Kristensen  verbessert  erfolgreich  unsre 
auffassung  des  ältesten  isländischen  grammalikers  hinsichtlich  der 
Schreibung  der  diphthonge  (iö,  ey,  nicht  eö,  ey)  und  rechtfertigt 
die  ausspräche  earn,  die  der  alte  autor  bezeugt,  fördernde  be- 
merkungen  zur  westnordischen  w-brechung  bringt  Norden- 
streng.  er  tritt  für  die  ältere  auffassung  ein,  dass  ig,  nicht  io 
das  lautgesetzliche  brechungsproduct  sei,  und  führt  die  reimbelege 
vollständiger  an;  ein  teil  davon  spricht  entscheidend  gegen  io. 
ich  vermisse  nur  berücksichtigung  der  fälle,  wo  der  brechungs- 
diphthong  durch  dehnung  zu  iö,  nicht  zu  iö  (id)  wurde  :  miolk 
]>  miölk  wie  folk  >  fölk  im  gegensatz  zu  hplf  ~^>  hölf,  half 
(siälf  uä.  sind  natürlich  analogieneuerungen);  ferner  lör-  <C  ebtir-, 
wol  auch  das  vielgedeutete  iö-  <C  ioh  <C  ehw-  'pferd';  mehrdeutig 
ist  fiörir  «  feftur-  oder  <  feüwdr-).  die  beidseitigen  instanzen 
erwogen,  wird  die  annähme  doch  wol  nötig,  dass  der  o-laut  des 
brechungsdiphthongs  weder  mit  dem  alten  o  noch  mit  dem  o  des 
«-umlautes  identisch  war;  es  war  eine  dritte  Schattierung  —  wie 
sie  phonetisch  zu  bestimmen  sei,  darüber  hab  ich  keine  Vermutung. 

Lind  bespricht  altn.  Wortfügungen  wie  Halldöra  Torfa  döttir 
bröftur  Jorundar,  Gunnlaugs  saga  ormstnngu  unter  dem  gesichts- 
punct,  dass  die  Schreibung  in  einem  worte  (Torfadöttir,  Gunn- 
laugssaga)  ein  'anachronismus'  der  'sog.  normalisierten'  ausgaben 


NORDISKA    STUDIEU  \J 

sei.  gegen  diese  Schreibung  hat  sich  neulich  auch  Gering  gewant 
(Zs.  f.  d.  phil.  36,  286  note).  die  frage  greift  über  die  eigennamen 
hinaus,  ich  habe  mir  folgende  fälle  angemerkt,  die  ebenso  zu 
heurteilen  sind  :  Egils  s.  c.  27  §  21  upp  i  dr  ös  npkkurn,  sü  er 
kollub  Gufd;  Faer.  s.  s.  144  d  skemmu  hurüina,  par  er  Prdndr 
svaf  i;  INornag.  c.  vm  set turnst  ek  par  at  fgüur-leiß  minni,  ßviat 
hann  andcßist  skiött;  —  Mork.  226,27  ofslopa  mafir  mikül  ok  öeirüar 
um  alla  hluti;  Mork.  228,  23  ax&igr  mafir  ok  rangldtr,  kaps  fullr 
ok  öeirhar.  die  herschende  Schreibung  unsrer  ausgaben  ist  hier: 
drös,  skemmuhurftina,  fgfiutleiffi,  ofstopamaftr,  kaps  fullr.  dann 
hat  man  also  die  erscheinung  :  au  ein  einzelnes  glied  des  zu- 
sammengesetzten Wortes,  das  erste  oder  das  zweite,  wird  ein 
weiterer  redeteil  angeknüpft,  der  fall  mit  fgfturleifö  ist  hervor- 
zuheben, weil  einfaches  leifö  gar  nicht  existiert,  bisweilen  hat 
man  zu  bindestrichen  gegriffen,  zl>.  Heimskr.  3,  114  (FJönsson) 
pat  var  mttar-brag^  en  eigi  oesku.  Lind  meint,  die  einfache  ab- 
hilfe  liege  darin,  dass  man  in  solchen  gruppen  getrennte  Wörter 
annehme  und  schreibe,  auch  abgesehen  von  fällen  wie  fgftur- 
Ze//3  ist  damit  die  sache  nicht  abgetan,  denn  diese  gruppen  sind 
unverkennbar  auf  dem  wege  zum  compositum,  das  zeigt  die 
Wortstellung  :  Halldöra  Torfa  döttir  oder  hon  var  Torfa  döttir 
heifst  es  in  derselben  prosa,  die  niemals  sa^ren  würde  :  Halldöra 
Torfa  möüir  oder  hon  var  margra  sona  möüir;  Raga  broftir  ist 
fester  beiname,  als  aussage  biefse  es  :  Pörarinn  var  brobir  Raga; 
usf.  ebenso  ist  Breiüi  figrdr  (cf.  Lind  s.  143)  deutlich  abgesondert 
von  enn  breföi  figrür  oder  bretör  figrfir.  zu  diesen  äufserlich 
wahrnehmbaren  zeichen  kommt  ohne  frage  die  betonung  :  in 
Torfa  döttir,  Breitii  figrUr  hat  das  zweite  glied  ähnlich  schwachen 
ton  wie  in  sumarmdlum ,  mikilmenni.  kurz,  die  classe  der  un- 
echten composita  ist  auch  im  alln.  nicht  zu  entbehren,  aber 
jene  anfangs  genannten  Verbindungen  {Gunnlaugs-saga  ormstungu 
u.  ähul.)  zeigen,  dass  die  beiden  glieder  ein  höheres  mafs  von 
Selbständigkeit  bewahrt  haben  als  in  den  unechten  compositis 
anderer  sprachen,  wir  können  nicht  mehr  sagen  :  die  Karls- 
dichtung des  Grofsen;  das  Hildebrandslied  und  Hadebrands;  die 
kriegskosten,  den  er  führte,  aber  auch  wir  schreiben  und  sprechen 
noch  :  Hildebrandslied  und  -sage;  auch  fälle  wie  :  eine  lebens- 
geschichte  Luthers,  deutsche  litteraturgeschichte  liegen  jenen  nor- 
dischen bildungen  nahe  und  vermitteln  unserm  Sprachgefühl  ihr 
Verständnis,  es  spielt  zwischen  dem  einheitlichen  worte  und  der 
zweigliedrigen,  von  fall  zu  fall  neu  gebildeten  Verbindung,  wie 
weit  man  im  alln.  getrennte  worte  schreiben  will,  ist  eine  prak- 
tische frage  oder  eine  frage  der  pietät  gegen  die  handschriften: 
der  tatsächlich  vorliegenden  Spracherscheinung  verhilft  man  mit 
dieser  Schreibweise  nicht  zum  sichtbaren  ausdruck. 

Berlin,  14  juli   1904.  Andreas  Heisler. 


10  BOKGELD    DE    OUDOOSTNEDEBFRAMilSCHE    PSALMEN 

De  oudoostncderfrankische  psalmen.    klank-  en   vormleer.    van  A.  Borgeld. 
Groningen,  Wolters,  1899. 

tjber  das  ziel  das  diese  abhandlung  verfolgt,  sagt  der  vf. 
Iuleiding  s.  vm  :  'Mijn  doel  was  uitsluitend  een  nauwkeurige 
samenstelling  van  de  klank-  en  vormverschijnselen  te  geven, 
meestal  zonder  een  verklaring  te  beproeven',  als  gesamturteil  kann 
ich  sagen,  dass  Borgeld  die  aufgäbe,  wie  dieselbe  von  ihm  be- 
grenzt worden  ist,  in  einer  zuverlässigen  und  sehr  anerkennens- 
werten weise  gelost  hat.  hier  auf  verschiedene  einzelheiten  ein- 
zugehn,  wäre  jetzt  unnötig,  nachdem  die  darstelluug  des  vf.  durch 
van  Heltens  buch  'Die  allostfränkischen  psalmenfragmente  etc.', 
Groningen  1902,  —  namentlich  was  die  erklärung  der  sprach- 
lichen erscheinungen  betrifft  —  ergänzt  und  zuweilen  berichtigt 
worden  ist  (vgl.  in  dieser  hinsieht  auch  die  besprechungeu  von 
Franck  Indog.  forsch.  Anz.  xh  Ulf,  Ehrismauu  Litleralurbl. 
1902  s.  112  und  die  recension  der  arbeit  van  Heltens  von  Stein- 
meyer Anz.  f.  d.  alt.  xxix  531).  durch  van  Heltens  arbeit  ist 
indessen  ßorgelds  abhandlung  nicht  überflüssig  gemacht  worden, 
die  letztere  gibt  nämlich  oft  ausführlichere  belege  als  der  gram- 
matische teil  van  Heltens,  wo  die  auf  conjeetur  beruhenden  formen 
nicht  als  solche  gekennzeichnet  und  überhaupt  alle  diejenigen 
formen  die  der  vf.  für  verderbt  hält,  gar  nicht  erwähnt  werden, 
an  vielen  stellen  verweist  auch  van  Helten  auf  die  vollständigeren 
statistischen  angaben  bei  Borgeld.  —  ich  möchte  hier  nur  einige 
verderbten  oder  sonst  weiterer  aufklärung  bedürftigen  formen  in 
den  hier  zur  erürterung  stehnden  denkmälern  besprechen,  die 
Holthauseu-Steinmeyersche  (s.  Beitr.  10,  577  und  Anz.  f.  d.  alt.  xxix 
59)  besserung  geuuethoda  statt  geuueinoda  'edueavit',  gl.  357  (nach 
van  Heltens  Zählung)  Ps.  22,  2  wird  durch  das  in  Diefenbachs 
Glossarium  verzeichnete  educatio  :  iceydung  (das  wahrscheinlich  von 
haus  aus  auf  irgend  einer  auslegung  derselben  psalmeustelle  be- 
ruht) gestützt.  —  genitherit  iu  'exinanite'  gl.  371,  Ps.  136,  7, 
änderte  van  Helten  in  genieuuithit.  diese  conjeetur  lehnt  Stein- 
meyer  Anz.  f.  d.  alt.  xxix  61  fufsnote  ab,  ohne  dass  er  einen 
wahrscheinlicheren  Vorschlag  zur  erklärung  der  glosse  machen  zu 
können  glaubt,  in  der  tat  ist  das  überlieferte  genitherit  gar  nicht 
zu  ändern,  der  grundtext  hat  nämlich  hier  «ny  von  fTtP.  das 
allerdings  eigentlich  'entblöfsen'  bezeichnet,  hier  aber  in  der  be- 
deutuug  'zerstören'  steht  (s.  Gesenius  Wörterb.).  der  Zusammen- 
hang   ist    dieser  :   fis   TiDT!   l'y    iir    db.    eigentlich    'entblöfset 

in  ihr  bis  auf  den  grund'  =  'zerstöret  sie  (die  Stadt  Jerusalem) 
bis  auf  den  grund.'  hierzu  passt  ja  genitherit  ausgezeichnet,  da 
ja  dieses  verbum  ua.  'zu  boden  stürzen'  bedeutet  (s.  zb.  Schade 
Wtb.).  nur  das  nach  genitherit  slehnde  in  dürfte  eine  kleine 
besserung  nötig  haben,  und  zwar  ist  dieses  in  in  zu  ändern,  das 
offenbar    dem   in  in  der  lateinischen  vorläge  ('exinanite  ....  in 


BORGELD    DE    OUDOOSTNEDERFRAMCISCHE    PSALMEN  11 

ea')  entspricht,  durch  die  folgenden  parallelen  ans  Diefenbachs 
glossarinin  dürfte  diese  erklärung  ani'ser  jeden  Zweifel  gesetzt 
werden  :  exinanire  :  'ernideren,  nideren,  vernederen  .  —  ginroda 
'giguuit'  gl.  372,  Deut.  32,  18,  hat  man  auf  verschiedene  weisen 
zu  bessern  versucht.  Heyne  Kl.  altniederd.  denkm.  49  ändert 
es  in  givnoda  ('für  givuodda'),  van  Helteu  in  gitiloda,  liollhausen 
Zschr.  f.  d.  phil.  36,  482  in  giu[e]r[c]-oda  oder  giurocta  ('=  ahd. 
uuorhtä').  meines  erachlens  steht  ginroda  für  genroda.  gi  st.nt 
ge-  beruht  entweder  auf  diltographie  nach  der  folgenden  glosse 
gi-minsoda  oder  ganz  einfach  auf  Verlesung,  diese  besserung 
stütze  ich  auf  generare  :  'genren'  Ahd.  glossen  in  408,  8  und 
generare  :  '"ergenren'  in  einer  mittelniederläudischen  handschrifl 
nach  Diefenbachs  Glossarium,  dieses  genron,  genren  ist  offenbar 
ein  lehnwort  aus  dem  lat.  generare;  vgl.  andere  iat.  lehnwörter 
in  den  psalmenlragmenten  wie  gequahlit  'coagulatos'  67,  17,  offron 
'oflerre'  67,  30,  kestigata  'castigatio'  72,14  (s.  ferner  wegen 
anderer  lehnwörter  in  diesen  denkmäleru  Later  De  latijnsche 
woorden  in  het  oudeu  middeluederdnitsch).  —  von  uuüinis 
'calicis'  Gl.  790,  Ps.  10,  6  sagt  Heyne  s.  58  :  'ob  verlesen  für 
mitis  iro,  calicis  eorum?  ahd.  mez  n.  calix';  van  liehen  ändert 
uuitinis  in  mitinis,  das  ein  diminutivum  in  -in  zu  *met  'calix' 
sein  soll.  Steinmeyer. hält  Anz.  f.d.  alt.  xxix  61  fufsnote  diese 
conjectur  für  verfehlt  (er  weifs  ihr  indessen  keine  bessere  ent- 
gegenzuhalten), ich  glaube,  dass  wenigstens  witin-  hier  ganz 
richtig  ist.  zu  bemerken  ist  nämlich,  dass  'calix'  hier  in  einer 
ganz  besonderen  Verwendung  steht :  vgl.  Forcelliui  Diel.,  calix  12): 
'deuique  metaphorice  adhibelur  de  sorte  hominum  .  .  .  ac  de  Omni- 
bus geueribus  malorum  et  iueommodorum  quae  improbis  aeeidere 
jubet  deus'.  als  beispiel  von  dieser  Verwendung  von  calix  führt 
Forcelliui  einen  auzsug  aus  dem  hier  fraglichen  psalmenvers  an  : 
(pluet  super  peccatores  laqueos)  'ignis  et  sulphur  et  spiritus 
procellarum,  pars  calicis  eorum'.  wie  zu  ersehen  ist,  steht  'calix* 
hier  etwa  für  'Vergeltung'  (vgl.  dass  es  in  der  Lutherischen  Über- 
setzung mit  'lohn'  widergegeben  wird),  hierzu  passt  ja  die  glosse 
wltin-  ==  'strafe'  ganz  gut;  vgl.  geuuüenot  'puuienlur'  36,  2, 
asäcbs.  wlli  'strafe'  etc.  was  für  eine  form  ist  denn  uuüinis? 
entweder  genit.  von  *wltin  n.,  das  sich  zu  uuitenon  'strafen'  wie 
ahd.  Idchin  'heilmittel'  zu  Idchinon  'heilen'  verhält,  oder  uuitinis 
ist  eine  corruptel  für  uuitinü  (vgl.  h  statt  n  72,  2  und  Gl.  357), 
genit.  von  *wltina  ==  mhd.  wizene  f.  'strafe',  dass  der  glossator 
sich  nicht  immer  sclavisch  an  seine  lateinische  vorläge  gehalten, 
sondern,  wie  hier  vorausgesetzt  wird,  zuweilen  eine  freiere,  bessere 
Übersetzung  gegeben  hat,  zeigt  zb.  seine  glossierung  von  exinanite 
Ps.  136,  7  (vgl.  oben). 

Gotenburg.  Elis  Wadsteln. 


12  L1E    LATKCflSCHEn    yUGIEF.SPIELE 


I'.e  lateinischen  magier^piele.     notersuchunsen   und  texte  zor  Torseschichte 
-    deutschen    weihnachuspiels.    von   A.  Anz.     Leipzis.    JCHinrichs. 
19u5.     163  >>.  —  5.41.'  m. 

^eüD  dieses  buch  keinen  anderen  wert  hätte  als  den.  dass 
-   alle  dem  vf.  bekannt,  o   texte,  zi.  in  vei       -     Ler  ge- 

stalt    oder   vollständiger,    zum  abdrucke  bringt,  müste  man  dafür 
sehr  dankbar  sein. 

Ich  halte  vor  einem  Jahrzehnt,  mit  der  absieht  die  gleiche 
arbeit  zu  machen,  ebenfalls  die  texte  gesammelt  und  weifs  daher 
die  mühe  zu  schätzen,  die  in  dem  Verzeichnis  s.  9  11  steckt, 
die  Sachen  sind  weil  verstreut. 

v   weit  Stichproben   ein   urteil  gestallt  ..delt  es  sich  hier 

auch  um  verlässliche  abdrücke. 

A:     -  -  -a  wendet  man  sich  dem  teile  der  Untersuchung 

zu,  der  eine  Stellungnahme  zu  WMeyei    Fragments  Barana,  Berlin 
voraussetzen    lässL      dieser    bestritt    unter    berufung    auf 
die  als  Carmina  Buraoa  bekannte  sammelhandschrift  die  gewöhn- 
liche   an  ss    sich  --isllichen    spiele   aus    ei;. 
einzeifeieru   zu   kunstreichen   cykleu  entwickelt  b.-.tiea.     er  meint. 

umstand,  dass  ein  und  dieselbe  band  des  13  jh.s  ein:ache 
und    umfangreichere    spiele    in    der    genan  bs    \eieiaigt  hat. 

spreche  deuth'      -  gen  die  herkömmliche  lehre. 

Aber    es    ist    doch    zu    bemerken    —    bei    A.    vermisse  ich 
reis  —   dass    die    in    den  Carmina    Burana    stehnden 
stücke    nicht    ein    und    derselben  gattung  angehören,     dass  man 
aber    auch    die    schrittweise    entwicklung    an    den    überliefer 
texten   verfolgen  kann,  zeigt  die  hier  zu       -  nrbeit. 

Kiinit  lässt  sich  ganz  wol  die  tatsache  .en.  dass  sich 

bald  schon  neben  einfachen,    an    schriitstellen    sich    anlehnen 
dial  --  cyklische    an-  bildeten,    <iass    also    der   cykius 

nicht  auch  zeitlich  als  endglied  der  reihe  zu  gelten  hat. 

Meyer  will  den  Ursprung  der  gattung   auf  deutschem  boden 
SGallen)    suchen,    wählend  Anz    meines  erachtens  mit  recht  au 
der    gewöhnlichen    annähme    romanischer    berknnft  (Frankreich) 
sthält    und    sie    gut    begründet,     die    liturgie  der  katholischen 
kirche  ist  doch  überhaupt  k  eh  romanischen  Ursprungs, 

die    geistlichen   kreise  Deutschlands  i       -  -teo  hälfte 

-    mittelalters    auch    sonst    ideen    und    brauche  aus  dem  fort- 
.   schriltenen    Süden,    kurz,    die    ganze    maskerade    in  der  kin 
wie  wir  sie  in   den  kirchlichen  spielen    >_-iern.  ofßcia  ■  sehen,  wäre 
einem  deutschen   ron  selbst  nie  eingefallen,    diesen  innei  en  grund 
hält-  A.   ebenfalls  betonen  solien. 

Als  entstehungszeil  der  galtung  bezeichnet  A.  das  11  jh.  und 
die  Qberliefernng  gibt  ihm  recht. 

Als  c  -.  _?punct  gilt  die  liturgie  der  epiphanie,  aber  die 
texte    werden    im    laufe   der    zeit   umgeprägt.     Anz  zeigt  das  mit 


A>Z    DIE    LATEINISCHEN    MAGIERSPIELE  13 

tüchtiger  kenntnis  der  einschlägigen  litteratur  und  mit  berück- 
sichtigung  der  bildenden  kunst. 

Anz  betont  s.  118  ganz  richtig,  wie  die  dialogform  sclion 
dem  ganzen  system  der  kirchlichen  responsorien  und  auliphoDeo 
zu  gründe  liege,  dass  also  der  schritt  zum  tropus  und  von  da 
zum  Indus  von  aufang  an   vorbereitet  gewesen  sei. 

Die  frage  ist  nur  die,  wie  die  weiteren  schritte  gemacht 
worden  sind. 

Der  vf.  gewinnt  vier  typen  und  stellt  deren  einzelne  er- 
weiteruugen  fest. 

Typus  i  :  gang  zur  krippe,  dialog  zwischen  magiern  und 
obstetrices,  darbringung  der  geschenke,  gesang  des  engeis. 

Der  text  ligt  in  sämtlichen  spielen  vor,  selbständig  ist  er 
überliefert  als  'Officium  Siellae'  in  Rouen. 

Typus  ii  :  die  person  des  Herodes  wird  hinzugefügt.  Nevers  i 
(IN)  zeigt  dieses  Stadium. 

Der  dreigliedrige  dialog,  der  im  anschluss  an  die  erste  ein- 
schaltung  (im  typus  i)  und  mit  benutzung  des  'Ite  et  iuvestigate' 
der  evangelienvorlage  geschaffen  worden  ist  (N),  wird  durch  einen 
fünfgliedrigen  ersetzt,  der  dann  durch  alle  weiteren  texte  geht, 
diese  form  zeigt  Nevers  n  (iNev.) 

Typus  ui  :  einschaltuug  der  durch  boten  geholten  schrift- 
gelehrten.   Herodes  ist  nämlich  von  dienern  (symmystae)  umgeben. 

Aus  dem  Magierspiel  wird  ein  Herodesspiel. 

Nev.  und  Strafsburg  stellen  die  Verhandlung  des  königs  mit 
den  schriftgelehrten  vor  das  gespräch  zwischen  ihm  und  den 
magiern,  Strafsburg  zieht  aufserdem  die  prineipes  sacerdotum 
heran  und  ändert  daher  die  stelle  '0  vos  scribae  interrogati'. 

Die  im  typus  in  vorliegende  textgestalt  bezeichnet  den  wich- 
tigsten abschnitt  in  der  entwicklung  der  epiphanienspiele.  was 
hier  steht,  ist  gemeinsamer  bestandleil  aller  übrigen  texte  geworden, 
nun  beginnt  eine  rege  entwickelung,  die  die  vorhandenen  spiele 
in  mehrere  gruppen  trennt,  und  es  setzen  jetzt  auch  die  poe- 
tischen erweilerungen  ein. 

Eine  selbständige  Überlieferung  dieses  typus  ligt  nicht  vor. 
Erweiterungen  des  typus  in. 

1  Erweiterung  der  botenrolle:  a)  man  lässt  dem 
konig  das  gerücht  von  den  magiern  zu  ohren  kommen;  b)  Herodes 
muss  sich  selbst  durch  einen  boten  von  ihren  absichten  über- 
zeugen, ehe"  er  sie  zu  sich  bescheidet,  auftrag  dazu,  es  ent- 
wickelt sich  also  von  hier  aus  ein  eigenes  Botenspiel. 

2  Erweiterung  durch  den  Ludus  lnnocentium 
und  die  Klage  der  Rachel  :  an  das  nocturnenresponsorium 
'Sub  altare'  schloss  sich  eine  poetische  Rachelklage  an,  wie  sie 
zb.  in  Limoges  vorligt.  eine  bearbeitung  dieses  kleinen  Ludus 
lnnocentium  benutzten  Laon  und  Orleans.  Orleans  nahm  dabei 
eine  erweiterung  der  procession  des  lammes  vor  und  verknüpfte 


14  ANZ    DIE    LATEINISCHEN    MAGIERSPIELE 

das  so  gewonnene  spiel  mit  dem  Schlüsse  des  Herodesspiels,  das 
es  aus  der  epiphanienfeier  herübernahm,  dazu  benutzte  es  nach- 
traglich einen  anderen  ähnlichen  text,  die  vorläge  von  Freising, 
eigentümlich  ist  in  Freising  und  Orleans  ein  Josephspiel. 

3  Erweiterung  durch  das  Sternlied. 

A.  nimmt  an,  dass  der  text  in  fortschreitender  Vollständigkeit 
aufgenommen  worden  sei,  im  Widerspruche  zu  WMeyer,  der  die 
fassung  von  Rouen  als  die  jüngste  und  die  aufnähme  des  ganzen 
liedes  als  das  ältere  betrachtet. 

Typus  iv  (combinationstypus)  :  a)  es  tritt  in  allen  texten 
das  ganze  Botenspiel  auf.  —  b)  man  führt  die  gruppe  der  hirten 
und  die  der  magier  in  der  nähe  der  gruppe  zusammen,  also 
combiuation  mit  dem  Hirtenspiel. 

Erweiterungen    des    typus  iv. 

1  Festprocession   zum  throne  des  Herodes  (Chorus  puerorum). 

2  Thronbesteigung  und  beratung. 

3  Rex  et  magi. 

Damit  hat  das  Herodesspiel  das  Magierspiel  überwuchert. 

Die  bestätigung  für  seine  typentheorie  findet  A.  in  der  tat- 
sächlichen gestalt  der  spiele,  die  nach  seiner  darlegung  eine 
fortschreitende  ausdehnung  des  dialogs,  gle  chmäfsige  zunähme 
der  zahl  der  beteiligten  personen,  zunehmende  entfaltung  und 
Verwicklung  des  dramatischen  aufbaus,  ablösung  der  reimprosa 
durch  die  poetische  form  (hexameter),  späten  ansatz  zu  charak- 
teristischer ausdrucksweise  zeigen. 

Mir  scheint  indes  hier  ein  cirkel  vorzuliegen,  abstrahiert 
nicht  der  vf.  seine  typen  von  den  wirklichen  spielen  und  lässt 
sie  dann  wider  durch  sie  bestätigen? 

Doch  wäre  diese  petitio  principii  kaum  von  belang,  wenn 
die  typen  selbst  einwandfrei  wären. 

Ich  bin  in  der  läge,  dem  vf.  an  einem  praktischen  beispiele 
zu  zeigen,  dass  er  im  irrtum  ist,  wenn  er  meint,  ein  neu- 
hinzukommender text  könne  an  dem  gesamtbilde 
wenig  mehr  verändern  (s.  5). 

Der  gute  des  herrn  dr  PPius  Schmieder,  capitularen  der 
in  Oberöstereich  gelegenen  Benedictinerabtei  Lambach,  verdank 
ich  die  kenntnis  einer  in  diesem  stifte  verwahrten  Dreikönigfeier 
und  die  erlaubnis,  sie  hier  zu  veröffentlichen.  Es  ist  die  eine 
hälfte  eines  in  der  längsachse  auseinandergeschnittenen  pergament- 
blattes  30x15  cm.  das  ganze  blatt  dürfte  30x20  cm  gemessen 
haben,  die  blattseite  zählt  28  liuien  und  ist  beschrieben  von 
einer  band  des  11  jh.s.  der  text  ist  neumiert  und  stammt, 
wie  sich  aus  dem  anl'ang  und  dem  ende  ergibt,  aus  einem 
ordinarium. 

Zu  diesem  blatte  fand  sich  in  Lambach  ein  zweites,  voll- 
ständiges, das  einen  teil  des  der  hs.  vorangegangenen  kalenda- 
riums  darstellt  und  mit  nekrologischen  eintragungen  versehen  ist, 


ANZ    DIE    LATEINISCHEN    MAGIERSPIELE  15 

die  im  zusammenhält  mit  dem  namen  der  im  kalendarium  er- 
scheinenden heiligen  auf  rheinischen  oder  fränkischen  Ursprung 
weisen. 

Manche  der  nekrologischen  vermerke  machen  es  aber  höchst 
wahrscheinlich,  dass  der  codex  zuletzt  in  den  bänden  eines 
bairischen  stilles  gewesen  ist. 

Im  hinblick  auf  die  talsache,  dass  der  gründer  der  im 
jähre  1056  errichteten  abtei  Lamhach,  Adalbero,  nachmals  bischof 
von  VVürzburg  war  und  im  jähre  1090  das  stift  unter  den 
schütz  der  Würzburger  hischöfe  stellte  (PSchmieder  Breve  chro- 
nicon  monasterii  BMV.  Lambacensis  0.  B.  S.,  Lentii  1865,  p.  5); 
in  rücksiebt  ferner  auf  den  umstand,  dass  Adalbero  dem  neuen 
kloster  viten,  hss.  der  regel,  collationes  patrum  und  zwei 
sehr  alte  plenarien  schenkte,  die  alle  noch  heute  in  der 
Stiftsbibliothek  vorhanden  sind  (codd.  membr.  23.  31.  52.  75. 
113.  120),  ist  die  Vermutung  gerechtfertigt,  dass  vielleicht 
auch  das  ordinarium,  von  dem  uns  ein  günstiges  geschick  2  bll. 
gelassen  hat,  einstmals  eigentum  der  bischöfl.  bibüotbek  in  Würz- 
burg gewesen  ist.  sein  Ursprung  ist  aber,  wie  bereits  bemerkt, 
in  rheinfränkischer  gegend.zu  suchen. 

TEXT  DER  LAM BACHER  DREIKÖNIGFEIER1. 

1   talus  hac  die.  P(salmus)  Ca n täte.    A(ntiphona)  Puer.  Gloria 

Pr  .  .   .  lis  eia  hoeiie.     Puer.  Officium 

Stella  fulgore  nimio  rutilat  qu(ae  regem  regum  natum  mon- 
strat.  quem)  venturum  olim   prophetie  signavera(nt). 

Regem,    quem    querilis,    natum  esse  qu(o  siguo  didicistis  et 

si  illum   regnare) 
creditis,    dicite    nobis.     Item  (magi :   lllum  natum  esse  didi- 

eimus) 
in  orieute   Stella  monstrante.     Ipsum  r(egnare  fatentes  cum 

mysticis  mune) 
ribus  et  de  terra  longinqua  adorar(e  venimus  trinum    deum 

venerantes). 

0  vos,  scribe,  iuterrogati  dicite,  si  quid    (de  hoc  puero) 
scriptum  videretis  in  libris.     Tunc  (scribe  .   .  .  .) 
Vidimus,    domine,    in    prophetarum    li(neis    nasci    Christum 

in  Bethlehem,  civitate) 
David,  propheta  sie  vaticinante:  (Bethlehem  non  es  minima  etc.) 

....  voce  pergant:  Betleem  non  es.     Qua 

Ite  et  de   puero    diligenter  iuvest(igate  et  invento  redeuntes 

mihi) 
renuntiate.     Tunc  magi  :  (Eamus  ergo  et  inquiramus  eum  et) 
offeramus  ei  munera  :  aurum,  thus  e(t  myrrham). 
Ecce  Stella  in  Oriente  previsa  iterum  (precedit  nos  lucida  !  06-) 

1  ich  habe  das  fehlende,  soweit  ich  es  mit  Sicherheit  vermochte,  ergänzt 
und  durch  klammern  ersichtlich  gemacht. 


16  ANZ    DIE    LATEINISCHEN    MAGIERSPIELE 

stetrices  econtra  sedent{es)  :  Q(ui  sunt  hi  Stella  duce  nos) 

adeuntes  iuaudita  ferentes?  Tu(nc  magi) 

Nos  sumus,  quos  cernilis,  reges  Thars(is  et  Arabum  et  Saba 

dona  fereutes) 
regi  Christo    nato  Domino,   quem    stel(Ia  deducente  adorare 

venimus). 
Item  obstetrices  :  Ecce  puer  (adest,  quem  queritis!  Jam  prope- 

rate  adorare) 

quia  ipse  est  redemptio  mundi 

Ab  Oriente.     Et  duos  versus  de 

Tunc  magi  prosternentes  se  trib(us  vicibus)  .... 

Salve,    rex    seculorum  1    Salve,   rex    se(culorum !    Salve,    rex 

seculoruml) 
Qui  aurum  offert,  dicit :  Suscipe  nunc  (aurum  !). 
Qui  thus  offert  :  Tolle  thus,  t(u  vere  Deus  1). 

2  seite. 
(Quimyrrham  offert:  Myrrha)m,  Signum  sepulture!  Tunc  pro- 

sternunt 

diaconus  in  vice  angeli : 

(Im)  pleta  sunt  omnia,  que  prophetice 

dicta  (sunt.     Ite   viam    remeantes    aliam,    ne   delatores)  tanti 

regis  puniendi  sitis. 

Deo  gracias. 

Kyrie  eleison. 

Pro Preparatus  ad  missam 

oratione Omnis  terra  adorette,  Deus 

vadunt  in  chorum  cantantes 

magna  veneratione  imaginem 

im  imponunt.   A(ntiphona)  :  Ecce  advenit. 

gentium.     Tropi. 

ptor.  A(ntiphona) :  Ecce  advenit.  Jesus,  quem 

reg(es) (Hi)erosolymam  requirunt  dicen- 

tes  :  Ubi  est,  (qui  natus  est  rex  Judaeorum?  Vi)dimus 
stellam  eius  in  Oriente  et  agno(vimus,  regem  regum  esse 
natum).     Et  regnum  eius.     Cui  soli  debetur  honor 

(po)testas.     Deus   Judicium.     Ipsi   soli 

omnipotenti 

no.    gl(oria)  patri.    Qui  credentes  in  se 

miserando.    A(ntiphona)  :  Ecce  advenit. 

lentissimus.     Item  tropi. 

virgine.    A(nliphona)  :  Ecce  advenit.  Olim 

promissus 

(d)ominator  dominus.     Laxate  vincula  strictum 

enus.    Et  regnum. 

(purificatione   Ma)rie   post   horam   terciam  scola 

hanc  colleclam.  Oi(atio  : )  Erudi  quesumus, 

Domine. 


ANZ    DIE    LATEINISCHEN    MAGIERSPIELE  17 

cantor   incipit  :  Postquam    impl.     V(ersi- 

culus  :  )  Obtuleruot  puero  etc. 

ia.  Gabrihele.     Postea  dicatur  ista  oratio 

{benedi)ctio  cerei  fiat.  lila  finita  cantor  incipit 

Aus  diesem  ueuen  texte  geht  nun  hervor,  dass  zwischen 
typus  ii  und  m  ein  besonderer  typus  ligt  :  Herodes,  magier, 
schriftgelehrte  —  ohne  boten  rolle,  die  schriftgelehrten  sind 
in  der  Lambacher  feier  schon  anwesend,  sie  werden  nicht  erst 
geholt. 

Die  hier  veröffentlichte  feier  stellt  also  ein 
neues  entwicklu  n  gsglied,  einen  eigenen  typus  dar. 
Ihn  zu  erschliefsen,  hätte  übrigens  nahe  gelegen,  es  ist 
einleuchtend,  dass  er  psychologisch  dem  mit  der  botenrolle  vor- 
ausgeht, daher  bleibe  ich  bei  meiner  gruppierung  der  texte,  wie 
ich  sie  mit  dem  texte  der  Lambacher  feier  schon  vor  3  jähren 
an  die  Zs.  eingesant  habe: 

i.  Officium  stellae  (Rouen). 
ii.  Die  magier  bei  Herodes  (N.). 
m.  Herodes  und  die  schriftgelehrten  (Lambach). 
iv.  Die   plusscenen  ii  und  in   vermittelt   durch    boten    (die 

übrigen  texte). 
v.  Officium    stellae   -4-    Officium    pastorum    (Freising    und 
Orleans). 
Zum  Schlüsse  will  ich  noch  hervorheben,  dass  die  arbeit  von 
Anz   den    eindruck   grofser  Sorgfalt   macht   und   die   litteratur   im 
weitesten  umfange  heranzieht,   zum  kürzeren  text  von  Nevers  hätte 
AReiners  Tropengesänge    und   ihre    melodien,    Luxemburg  1887, 
der  p.  33  den  text  bietet,  genannt  werden  können. 

Eine  Übersichtstabelle  zur  entwicklung  des  textes  und  ein 
gutes  register  sind  willkommene  beigaben. 

Urfahr-Linz.  K.  Schiffmann. 


Deutsche  texte  des  mittelalters,  herausgegeben  von  der  kgl.  preufsi- 
schen  akademie  der  Wissenschaften.  Berlin,  Weidmannsche  buch- 
handlung,  1904. 

Bd  i.  Friedrich  von  Schwaben,  aus  der  Stuttgarter  hs.  heraus- 
gegeben von  Max  Hermann  Jellinek.  xxii  und  127  ss.  gr.  8°,  mit 
einer  tafei  in  lichtdruck.  —  4,40  m. 

Bd  iv.  Kleinere  mittelhochdeutsche  erzählungen,  fabeln  und  lehr- 
gedichte.  1.  Die  Melker  handschrift,  herausgegeben  von  Albert 
Leitzmann.  xiv  und  55  ss.  gr.  8°,  mit  einer  tafel  in  lichtdruck.  — 
2,40  m. 

Rasch  ist  das  unternehmen  der  königl.  preulsischen  aka- 
demie der  Wissenschaften,  die  Veröffentlichung  deutscher  texte 
des  mittelalters  in  handschriftenabdrücken,  gesichert  worden, 
eine  reihe  wichtiger  texte  ist  in  bearbeitung,  und  mit  den  beiden 
hier  angezeigten  bänden  sind  nun  auch  die  ersten  ausgaben  er- 
schienen,    sie    geben    gelegeuheit,    den    plan    der    akademie    in 

A.  F.  D.  A.  XXXI.  2 


18       JELLINEK    U.    LEITZMAIS'N    DEUTSCHE    TEXTE    DES    MITTELALTERS 

seiner  Verwirklichung  kennen  zu  lernen,  und  nun  man  solch 
übersichtliche  abdrucke  bisher  nur  in  bibliotheken  verwahrter 
litteraturwerke  unmittelbar  vor  äugen  hat,  kann  man  überblicken, 
wie  sehr  unsere  kenntnis  des  mittelalterlichen  geisteslebens  durch 
derartige  vorarbeiten  gefördert  wird,  man  sieht  ein  weites  unbe- 
bautes arbeitsfeld  sich  eröffnen,  eine  fülle  neuer  probleme  lockt  zu 
erfolg  versprechenden  Untersuchungen,  aufgaben,  die  man  in 
eine  unberechenbare  zukunft  verschoben  glaubte,  rücken  mit 
einem  male  näher  und  verlieren  den  schein  der  unlösbarkeit. 
für  die  kritischen  bearbeitungen  zb.  von  Strickers  Fabeln ,  von 
Rudolfs  von  Ems  Willehalm  und  Alexander,  welche  schon  mehr- 
fach in  angriff  genommen  und  niemals  zu  ende  geführt  worden 
sind,  werden  durch  solche  hss.-abdrücke  grundlagen  geschaffen, 
die  dem  künftigen  herausgeber  unendlich  viel  zeit  und  mühe 
ersparen. 

Doch  nicht  nur  als  mittel  zum  zweck  künftiger  kritischer 
ausgaben,  auch  ihre  selbständige  berechtigung  haben  diese  text- 
abdrücke.  indem  sie  die  werke  so  widergeben,  wie  sie  im 
mittelalter  würklich  gelesen  wurden,  stellen  sie  bistorische  docu- 
mente,  Zeugnisse  für  den  bildungsstand  eines  gewissen  publicums 
dar.  je  mehr  die  subjectiv  ästhetische  beurteilung  der  mittel- 
hochdeutschen litteratur  sich  zur  objectiv  historischen  erweitert 
hat,  um  so  mehr  müssen  diese  getreuen  zeugen  der  Vergangen- 
heit in  unserer  Wertschätzung  steigen,  somit  ist  es  geradezu  ein 
wissenschaftliches  bedürfnis,  einen  teil  unserer  mittelalterlichen 
litteratur  in  solchen  reinen  textabdrücken  zu  besitzen,  für  die 
erforschung  einzelner  zweige  sind  sie  aufserdem  direct  unent- 
behrlich, so  für  die  mhd.  dialektforschung;  eingehnde  Unter- 
suchungen über  die  mhd.  Orthographie  sind  ohne  eiu  umfangreiches, 
gedrucktes  material  mittelhochdeutscher  Originaltexte  überhaupt 
unmöglich. 

Für  die  einrichtung  der  abdrücke  hat  die  akademie  bestimmte, 
von  Roethe  ausgearbeitete  Vorschriften  gegeben,  im  interesse 
der  eiuheitlichkeit  musten  den  herausgebern,  bei  möglichster 
Währung  der  bewegungsfreiheit,  gewisse  allgemein  bindende  be- 
schränkungen  auferlegt  werden,  damit  ist  auch  eine  gewisse 
uniformierung  der  Orthographie  vorgeschrieben,  so  sollen  rein 
orthographische  eigentümlichkeiten  'wie  zb.  der  gebrauch  von  u 
und  u,  i  und  j,  f  und  s,  i  und  t,  cz  und  tz,  von  ff",  ff  im 
anlaut  u.  ähnl.,  nicht  peinlich  copiert,  sondern  sachgemäfs  geregelt 
und  gemildert  oder  beseitigt  werden';  'abkürzungen  sind  aufzu- 
lösen', aber  wer  in  der  geringfügigsten  orthographischen  er- 
scheinung  die  äufserung  einer  bestimmten  Individualität  zu  sehen 
bestrebt  ist,  der  wird  doch  in  einem  mit  allem  unsinnigen  und 
allem  bailast  ganz  buchstabengetreu  widergegebenen  abdruck 
immer  einige  kleine,  charakterisierende  merkmale  finden.  ein 
grofser  schade  wird  dadurch  nicht  angerichtet  und  der   philolog 


JELLINEK    U.    LEITZMANN    DEUTSCHE    TEXTE    DES    MITTELALTERS       19 

sollte  sich  vor  solchen  Schnörkeln  nicht  scheuen,  es  hleiht  da- 
mit ein  stück  historischen  costüms  erhalten,  in  der  humanisten- 
zeit  würkt  der  orthographische  schwulst  ja  geradezu  decorativ 
und  ist  ein  zeichen  einer  gewissen  zeitstrümung.  —  aber  auch 
aus  gründen  der  textkritik  wäre  eine  in  allen  kleinigkeiten  genaue 
widergabe  des  Originals  oft  wünschenswert,  aus  ahkürznngen  er- 
klärt sich  manchmal  die  entstehung  einer  falschen  lesart.  so  ist 
fehlerhaftes  vnlange  aus  vJi  lange  eher  begreiflich  als  aus  vnd  lange, 
ein  fehlerhaftes  nu  aus  vn  eher  als  aus  vnd  und  ein  falsches  do 
leichter  aus  de  als  aus  daz.  auch  die  Unterscheidung  von  u 
und  v  spielt  unter  umständen  mit  :  fehlerhaftes  im  führt  eher 
auf  nu  als  auf  nv;  im  14,  15  jh.  wurde  ja  ein  absichtlicher 
unterschied  gemacht  zwischen  u  und  v,  indem  v  besonders  vor 
m  und  n  gesetzt  wurde,  gerade  wie  y  statt  i  vor  m  und  n.  auch 
würde  cz,  sofern  es  von  tz  überhaupt  zu  unterscheiden  ist, 
beslehn  bleiben  können,  da  damit  der  Schreibung  oft  eine  ge- 
wisse zeitliche  und  landschaftliche  färbung  verliehen  ist.  wer 
seinen  sinn  auf  solche  dinge  einstellt,  der  empfindet  es  zb.  schon, 
wenn  in  einer  hs.,  die  altes  ht  mit  cht  widergibt,  zwischen 
sonstigen  nicht  ein  niht  aus  einer  anderen  hs.  eingefügt  ist  (Leitz- 
mann,  Melker  hs.  nr  vi  151  niht  aus  I\,  nr  i  127  niht  statt 
fehlendem  nicht,  da  die  Melker  hs.  sonst  immer  nicht  schreibt), 
in  Sachen  der  Orthographie  hat  sich  denn  auch  Jellinek  gegenüber 
diesen  Vorschriften  gröfsere  Selbständigkeit  gewahrt  und  die  ab- 
weichung  vom  programm  durch  eiue  reihe  beherzigenswerter 
gründe  gerechtfertigt  (s.  xiv — xvu). 

Die  beiden  vorliegenden  textabdrücke  können  für  die  fol- 
genden arbeiten  als  musterbeispiele  dienen,  zumal  sie  zeigen, 
wie  trotz  der  gleichen  arbeitsmethode  in  eiuzelnen  fällen  doch 
wieder  eine  andere  behandlungsweise  eintreten  kann,  denn  die 
aufgäbe  lag  nicht  für  beide  herausgeber  gleich,  Jellinek  hatte 
mit  schwierigen  handschriftlichen  Verhältnissen  zu  arbeiten, 
Leitzmann  einen  ziemlich  sorgfältig  geschriebenen  text  wider- 
zugeben. 

Bei  der  eigentümlichen  Überlieferung  des  Friedrich  von 
Schwaben  konnten  zweifei  bestehn,  welche  der  hss.  zum  ab- 
druck  zu  bringen  sei.  Jellinek  hat  sich  mit  recht  für  die  der 
Jüngern  redaction  angehörende  hs.  S  entschieden,  obgleich  I  die 
wichtigste  hs.  ist,  weil  1  nicht  einheitlich  ist,  sondern  zwei  be- 
arbeituogen  darstellt  und  von  zwei  verschiedenen  Schreibern 
abgefasst  ist.  mustergültig  ist  die  Sorgfalt  in  der  beschreibung 
der  hs.  S,  die  pünetlichkeit  in  der  darstellung  ihrer  Orthographie, 
in  der  auswahl  und  Verbesserung  der  lesarten.  Jellinek  hat  sich 
sein  ziel  noch  weiter  gesteckt  als  die  Vorschriften  der  akademie 
verlangen,  indem  er  nicht  nur  eine,  sondern  mehrere  hss.,  Ia 
und  P,  H,  M,  reichlich  zur  kritischen  ausbesserung  des  grund- 
textes  S  beizieht  und  indem  er  durch  nachweis  der  entlehnungen, 

2* 


20       JELLI.NEK    ü.    LEITZMA»    DEUTSCHE    TEXTE    DES    MITTELALTERS 

die  in  dem  gedichte  sehr  zahlreich  sind,  auf  das  litteraturgeschicht- 
liche  gebiet  vorgedrungen  ist. 

Leitzmanns  abdruck  der  Melker  hs.  bildet  das  erste 
lieft  einer  folge  von  'kleineren  mhd.  erzählungen,  fabeln  und  lehr- 
gedichten'.  während  Jellinek  mit  seiner  behandlungsweise  schon 
vorarbeiten  für  eine  kritische  ausgäbe  liefern  konnte,  war  Leitz- 
mann  lediglich  auf  den  abdruck  der  hs.  beschränkt,  deren  fehler, 
die  seilen  einschneidend  sind,  durch  beiziehung  nur  einer 
andern  hs.  gebessert  werden  konnten,  mit  recht  wählte  er  dazu 
die  Heidelberger  hs.  nr  341.  aber  nicht  alle  achtundvierzig 
nummern  der  Melker  hs.  hat  er  veröffentlicht,  sondern  nur  die- 
jenigen gedichte,  welche  bis  jetzt  noch  nirgends  gedruckt  sind, 
das  sind  achtuudzwanzig  stücke,  statt  der  schon  bekannt  ge- 
machten nummern  (in  Hahns  Kleineren  ged.,  Docens  Mise,  Lass- 
bergs LS.,  Pfeiffers  Ad.  Übungsbuch  ua.)  sind  in  der  einleituug 
die  abweichungen  der  Melker  hs.  von  diesen  gedruckten  stücken 
gegeben,  nach  dem  oben  vertreteneu  standpunet  über  den  wert 
von  hss. -abdrücken  ist  dies  zu  bedauern,  wir  haben  so  eben 
keiu  ganzes  bekommen,  und  der  abdruck  trägt  somit  mehr  einen 
provisorischen  Charakter,  während  die  vollständige  widergabe 
auch  nach  einer  kritischen  ausgäbe  selbständige  bedeutung  be- 
halten hätte,  und  die  Melker  hs.  hätte  eine  ungeschmälerte 
widergabe  wol  verdient,  es  lassen  sich  zb.  beobachtungen  hin- 
sichtlich der  Orthographie  anstellen,  die  nicht  ohne  wert  sind,  so 
ist  heilig  mit  ei  geschrieben  auch  in  denjenigen  teilen,  wo 
mhd.  ei  sonst  zu  ai  geworden  ist;  s  oft  für  z  im  auslaut  und 
umgekehrt  (der  grund  für  diese  sehr  geläufige  Vermischung  von 
s  und  z  im  auslaut  ligt  wol  darin,  dass  in  dieser  Stellung  beide 
laute  tonlos  gesprochen  wurden  und  darum  zusammenfielen, 
während  im  inlaut  s  töneud,  z  tonlos  war);  y  für  i  nur  einige- 
male  in  hymel,  eysen  und  in  den  fremdwörtern  ley(e),  paradys 
ua. ;  zu  solchen  statistischen  Sammlungen  ist  aber  die  ganze 
hs.  nötig.  —  manchmal  wird  man  im  zweifei  sein  können,  ob 
die  zweite  hs.  beigezogen  werden  sollte  oder  nicht,  so  konnte 
der  positiv  vaste  in  vaste  .  .  .  denne  2,84  bleiben,  da  er  nicht 
sprachwidrig  ist  (gegen  vaster  P),  vgl.  Kraus  Zs.  f.  d.  Österreich, 
gymn.  43,  1104;  andererseits  konnten  verbesserungeil  nach  P 
eingeführt  werden  in  26,  54  :  gebosert  P  statt  geloset  M,  vgl. 
V  72  (oder  ist  geboset  das  ursprüngliche?  vgl.  oben  vaste  und 
vaster,  und  Hahn  Klein,  ged.  12,  345,  wo  V  boesern,  P  aber 
bösen  hat);  28,  34  geklaffet  P  statt  geschaffet  M,  vgl.  klefte  V  20; 
=  16,  69  hat  P  nicht  teaz  sondern  Was,  11,  87  hat  P  nicht 
triwe  sondern  trewe,  24,  220  nicht  rewe  sondern  riwe,  26,  38 
fehlt  und  in  P,  24,  238.  242.  253  ist  dich  M  recht  und  nicht 
in  mich  P  zu  ändern  :  V  263  hat  P  richtig  wie  M  si  geachten 
nie  uf  din  gebot,  wonach  also  auch  253  mit  M  zu  lesen  ist  si 
geachten  nie  nicht  uf  dich. 


JELLLNEK    ü.    LEITZMANM    DEUTSCHE    TEXTE    DES    MITTELALTERS       21 

Seit  abfassung  dieser  anzeige  sind  noch  weitere  bände  der 
'Deutseben  texte  des  miltelalters'  erschienen,  das  unternehmen 
wird  energisch  gefördert  und  schreitet  rüstig  vorwärts,  noch 
andere,  für  die  erforschung  unserer  mittelhochdeutschen  litteratur 
und  spräche  höchst  notwendige  aufgaben  könnten  ebenfalls  auf 
diesem  wege  des  zusammenwürkens,  und  erfolgreich  eben  nur  auf 
diesem,  gelöst  werden,  aufgaben  die,  im  gegensatz  zu  diesen 
aufs  weite  gerichteten  zielen,  mehr  auf  die  Vertiefung  in  die 
einzelerscheinung  giengen,  wie  Sonderwörterbücher  und  reim- 
register  zu  den  hervorragenderen  denkmälern  der  mittelhoch- 
deutschen litteratur. 

Heidelberg.  G.  Ehrisma.nn. 


Das  leben  der  Schwestern  zu  Töss  beschrieben  von  Elsbet  Stagel  samt  der 
vorrede  von  Johannes  .Meier  und  dem  leben  der  prinzessin  Elisabet 
von  Ungarn,  hg.  von  Ferdinand  Vetter,  mit  zwei  tafeln  in  lichtdruck 
und  einer  nachbildung  der  platte  des  fürstengrabes  von  Töss.  [Deutsche 
texte  des  ma.s  hg.  von  der  kgl.  preufs.  akademie  der  Wissenschaften.] 
Berlin,  Weidmannsche  buchhandl.,  1906.     xxvi  u.  133  ss.  8°.  —  5  m. 

Elsbeth  Stagels  schrift  über  das  Leben  der  Schwestern  zu 
Töss,  die  bisher  nur  auszugsweise  bekannt  war  und  vor  kurzem 
von  ESchiller  in  seiner  durch  Vetter  angeregten  Berner  disser- 
tation  (Das  mystische  leben  der  Ordensschwestern  zu  Töss  bei 
Winterthur,  Zürich  1903)  nach  ihrer  psychologischen  seite  hin 
gewürdigt    worden    ist,    erfährt   in   der   vorliegenden    publication 


0 


einen  vollständigen  abdruck  nach  der  SGaller  hs.  603.    daneben 


■6 


hat  auch  eine  unter  bruder  Johannes  Meier  (1422 — 1485; 
die  über  ihn  s.  xiii  anm.  zusammengetragene  litteratur  wird  nun 
ergänzt  und  berichtigt  durch  Zs.  f.  d.  gesch.  des  Oberrheins,  n. 
f.  21,  504  ff;  .Michael  Gesch.  d.  deutschen  volkes  in  168  anm.  2) 
zu  stände  gekommene  md.  in  einer  Nürnberger  hs.  enthaltene 
redaction  berücksichtigung  gefunden;  aus  dieser  werden  s.  1  — 11. 
95 — 98  (121)  die  besondere  einleitung  sowie  der  vom  leben 
der  mutter  Seuses  handelnde 'beschluss' mitgeteilt;  die  abschnitte 
sind  nach  dem  Seusenbuch  der  EStagel  selbständig  von  Meier 
componiert.  über  sonstige  abweichungen  seiner  redaction 
s.  s.  xvi  f.  in  zweifelfälleu  konnte  auch  eine  Überlinger  hs. 
herangezogen  werden,  doch  ist  in  ihr  die  ursprüngliche  wir-form 
mehrfach  und  sehr  iueonsequent  in  die  dritte  person  abgeändert 
worden,  auf  das  Schwesternbuch  folgt  in  diesen  drei  alten  hss. 
die  legende  der  königstochter  Elisabet  von  Ungarn,  die  ver- 
hältnismäfsig  umfangreiche  vita  rührt  sicher  nicht  von  EStagel 
her,  wie  auch  Vetter  jetzt  in  der  einleitung  s.  xvm  annimmt, 
während  er  in  den  anmm.  zum  text  s.  99  und  117  seine  früher 
(Ein  mystikerpaar  s.  53)  ausgesprochene  bejahende  ansieht,  die 
auch  Preger  teilte,  noch  nicht  völlig  preisgeben  zu  müssen  glaubte, 
schon  die  der  Elisabeth-legende  vorausgebnde  letzte  vita  (nr  33) 


22  VETTER    DAS    LEBEN    DER    SCHWESTERN    ZU    TÖSS 

im  Schwesterubuch  weist  'spuren  einer  fremden  fortsetzuug  oder 
nachträglichen  fremden  redaction'  auf,  und  es  fragt  sich  nur, 
wie  wir  es  uns  zu  erklären  haben,  dass  ESlagel  selbst  gerade 
diese  vornehmste  insassiu  des  klosters  übergangen  haben  sollte, 
folgendes  scheint  mir  dafür  erwägenswert:  die  nrr  1 — 31  ent- 
halten die  lebensbeschreibungen  älterer  verstorbener  Schwestern 
(nrr  1 — 25  uonuen,  nrr  26 — 31  laienschwestern),  die  EStagel 
nach  schriftlichen  aufzeichnungen  und  mündlichen  berichten  der 
älteren  klostermitglieder  zusammengestellt  hat,  der  jüngeren 
generation  zum  vorbild  (16,  1 — 20).  die  viten  der  nonnen 
werden  mit  den  Worten  Dar  hell  ff  uns  Got  allen  durch  die  liebi 
siner  fand  und  unser  geminten  Schwestern.  Amen  (79, 9  II)  be- 
schlossen, desgleichen  die  der  begnadeten  laienschwestern  mit 
Dar  helff  uns  Got  allen!  Amen  (86,  29),  dann  folgt  in  ur  32  ein 
nachtrag  aus  eigener  erinnerung  über  eine  inzwischen  gleich- 
falls verstorbene  Schwester,  eingeleitet  durch  den  salz  :  Ich  hat 
begird  zu  unserm  heren  das  ich  im  mocht  gedienen  an  sinen 
fründen.  Das  fugt  er  mir  also  das  mir  zu  simi  kam  zu  schriben 
von  gütten  und  sälgen  Schwestern  ubung  und  von  sunderlicher 
Offenbarung  der  gnaden,  so  unser  her  tet,  der  ich  dik  vor  mir 
hört  sagen.  Und  do  ich  aines  tages  sass  und  schraib  von  ünsren 
sälgen  Schwestern,  als  man  an  disem.  buch  wol  gehöret  hat,  do 
fugt  es  sich  von  geschieht  das  die  tugenthaft  Schwester  Elisabet 
Bechlin  zu  mir  kam.  Nun  hei  ich  gern  etwas  von  ir  gewist,  und 
bracht  es  mit  bedachten  warten  darzü  das  sy  mir  ward  sagen 
(86,  31  ff),  dieses  buch,  die  vorläge  der  SGaller  hs.,  hat  nach 
der  Stagliu  tode  (93,5)  in  nr  33,  der  vita  der  Elsbet  von  Cel- 
linkon, eine  fortsetzung  von  anderer  hand  erhalten  unter  Ver- 
wertung von  nolizen,  die  sich  EStagel  auf  grund  persönlich 
empfangener  aussagen  jener  Schwester  gemacht  hatte;  EStagel 
ist  die  Schwester  die  dis  (das  Schwesternbuch)  schraib  (90,  21), 
die  dis  alles  von  ir  schraib  (91,  21  f.  93,  5)1.  an  nr  33  endlich 
reiht  sich  die  Elisabet -legende  an.  wenn  trotz  dem  hohen 
geburtsrang  EStagel  mit  keiner  silbe  die  ungarische  köuigs- 
tochter  erwähnt,  so  scheint  mir  die  einleuchtendste  erklärung 
die  zu  sein,  dass  Elisabeth  von  Ungarn  zur  zeit,  als  EStagel  ihr 
werk  schrieb,  noch  am  leben  war,  die  vitensammlung  aber  nur 
'vergangene  heilige'  (Seuse  ed.  Denifle  i  142)  Schwestern,  ins- 
besondere die  älteren  berücksichtigte,  die  vor  uns  xoarent  und 
och  by  unsren  zitten  sintt  gewessen  (16,  10).  ich  wüste  auch 
nicht,  was  nötigte,  die  abfassung  des  Schwesternbuchs  später  als 
1336,  das  todesjahr  der  Elisabet  von  Ungarn,  anzusetzen;  schon 

1  mit  diesen  stellen  ohne  weiteres  94,  32  f  die  Schwester  die  dis  von 
ir  gescliriben  hat,  die  dienerin  der  Elsbet  von  Cellinkon  bei  deren  tode, 
zu  verbinden,  scheint  gewagt;  sollte  aber  würklich  anderseits  das  hier  ge- 
wählte perfect  gegenüber  dem  praeteritum  der  andern  stellen  auf  absieht 
beruhn  und  auf  die  redigierende  schreiberin  zu  beziehen  sein  ? 


VETTER  BAS  LEBEN  BER  SCHWESTERN  ZU  TÜSS         23 

Greith  datierte  die  zeit  der  abfassung  1 33' >  •">,  wahrend  Preger 
(Die  briefe  IISusos  s.  16 f)  1340  annahm,  ohne  dass  seine  gründe 
einer  nachprüfung  stich  hallen,  es  ist  nicht  überflüssig  dies 
hervorzuheben,  da  die  Zeitbestimmung  des  Schwesternbuchs  auch 
für  die  Chronologie  Seuses  von  bedeuüing  ist. 

S.  xxi  IT  hat  der  herausgeber  die  wichtigsten  sprachlichen 
eigentünilichkeiten  aus  der  SGaller  und  Nürnberger  hs.  zu- 
sammengetragen, dem  text  eine  grofse  zahl  orientierender  an- 
merkungen  heigegeben,  für  die  er  sich  namentlich  in  die  ge- 
schlechterkunde  seiner  engeren  heimat  zu  vertiefen  hatte  :  wir 
erhalten  über  die  familien  der  Tüsser  klosterinsassen  meist 
erschöpfende  anskunft. 

Von  einzelheiten  möge  hier  folgendes  berührt  werden,  s.  vm. 
xn.  die  Vierzig  inyrrhenhüschel  begegnen  auch  sonst  hs.lich  noch 
öfter:  Mayhingen  Deutsche  hss.  i  8°  44  bl.  145a;  VVolfenbüttel  83 
Aug.  So.  5.  158.  Aug.;  Berlin  ms.  germ.  oct.  30  (nach  gütiger 
niitteilung  von  dr  Bihlmeyer  in  Tübingen).  —  s.  xm.  das  Schwestern- 
buch  von  Diefsenhofen  hat  Birlinger  nicht  nach  der  Nürnberger, 
sondern  nach  der  Frauenfelder  hs.  (s.  xiv)  herausgegeben.  — 
s.  xviii  u.  121  anin.  ist  als  todestag  der  Elisabet  von  Ungarn  der 
31  oct.  1330,  s.  100  anm.  der  6  mai  1337  genant,  das  erste 
datnm  ist  das  richtige.  —  13,  22  anm.  die  nähere  tagesbe- 
stimmung  würde  erst  auf  das  folgende  jähr  1334  passen.  — 
14,  26  la.  83,  27  anm.  finden  wol  durch  97,  15  ihre  einfachste 
erklärung  :  die  messe  mit  ihrem  gesaug  erweckt  schon  an  sich 
die  rührseligkeit,  vgl.  auch  Schiller  aao.  s.  43  —  39,  21  anm. 
dass  mit  bruder  Berchtold  der  Übersetzer  der  Summa  confessorum 
des  Johannes  von  Freiburg  gemeint  sei,  ist  mir  aus  zeitlichen 
gründen  nicht  wahrscheinlich  :  die  Schwester,  in  deren  vita  jener 
bruder  begegnet,  war  bereits  38  jähre  verstorben,  als  EStagel 
an  ihrem  werke  schrieb;  es  wird  sich  um  einen  älteren  br. 
Berthold  handeln,  träger  dieses  namens  aufser  dem  geuannteu  und 
dem  sicher  nicht  in  frage  kommenden  Berlhold  von  Regensburg 
kennt  die  mystische  litteratur  auch  sonst  noch,  vgl.  Bach  Meister 
Eckhart  s.  184  anm.  23.  —  46,  9  lis  und  kund  doch  nit  latin 
un  tuscht  ('ohne  deutsch',  s.  im  Wortverzeichnis  unter  un  und 
s.  xxin,  oder  untüscht  'unverdeutschl')  verston9.  —  52,  27.  das  dir 
got  ergas  hätte  ins  glossar  aufgenommen  werden  sollen,  vgl. 
Grimm  Gramm,  iv  175.  —  52,  29  anm.  in  der  Verwünschung 
fluch  du  besses  fustüch  eine  anspielung  auf  eine  stelle  bei  Seuse 
zu  sehen  (s.  auch  Schiller  aao.  s.  71  anm.  1),  ligt  kein  grund 
vor,  vgl.  Schmidt  Historisches  Wörterbuch  der  elsäss.  mundart 
s.  115;  Deutsches  wb.  iv  1,  1,  1056;  Mystiker  n  169,  18.  — 
61,  35  lis  recht  mit  stossen?  —  67,  1.  bruder  Wolfram  unser 
profincial  bekleidete  dies  amt  1269 — 1272,  s.  Jundt  Histoire 
p.  287;  mit  ihm  wird  mau  vielleicht  'bruder  Wolfart  den  pro- 
vincial'    identihcieren    dürfen,    von    dem    die    Adelhäuser    viten- 


24  VETTER    DAS    LEBEN    DER    SCHWESTERN    ZU    TÖSS 

Sammlung  eine  predigt  enthält,  s.  Konig  Die  chronik  der  Anna 
von  Munzingen,  Freiburg  1880,  s.  63  f;  Krebs  in  der  Festgabe 
HFinke  gewidmet,  Münster  1904,  s.  53.  —  71,  2  anm.  u.  s.  133. 
der  provincial  bruder  Hugo  wird  vielmehr  mit  Hugo  von  Zürich 
1300 — 1303  zu  identifizieren  sein,  Jundt  Histoire  p.  288;  von 
dem  Konstanzer  lesemeister  Hugo,  den  Vetter  nennt,  rühren  wol 
die  beiden  Zs.  f.  d.  ph.  9,  29  IT.  abgedruckten  predigten  her.  — 
78,  3  lis  mit  irem  muttwill(eg)en  schall!  —  81,  34  ob  beten- 
dem, prät.  von  betten  'das  bett  bereiten',  würklich  unbeanstandet 
bleiben  kann,  ist  mir  fraglich.  —  83,  28  f  un  mal  'aufserhalb 
der  festgesetzten  Zeiten'  erklärt  das  glossar;  vielleicht  bedeutet 
mal  hier  schon  'mahlzeit'.  —  90,  22  doch  wol  hie  ze  töss.  — 
90,  24  vor  ist  scheint  ein  wort  (geachtet!)  ausgefallen  zu  sein. 
An  Vetters  Wortverzeichnis  hat  schon  Behaghel  Litteraturbl. 
1907,  56  f  einige  ausstellungen  gemacht,  ich  trage  meinerseits 
noch  folgendes  nach  :  ane  als  fem.  'grofsmutter'  35,  4;  arbeit- 
selig auch  4,  26;  bank  m.  88,  17;  beicerrd  80,  34  bezeichnet 
eigentlich  die  versehung  mit  den  sterbesacramenten  (Schmidt 
Histor.  wb.  der  elsäss.  mundart  s.  37 ;  Schwab,  würterb.  i  988), 
hier  wol  einfach  'communion';  es  wird  zu  lesen  sein  untz  das 
[sy]  die  b.  anfieng  oder  untz  das  sy  die  b.  enpßeng;  danknem 
auch  24,  17.  81,  25,  danknemlich  84,  33;  der  grosse  dunstag 
'grün-donnerstag'  heifst  nach  Adelung  auch  'der  hohe  donners- 
tag'  (Deutsches  wb.  n  1253),  worauf  Vetters  von  Behaghel  be- 
anstandete Übersetzung  'hohendonnerstag'  zurückzuführen  sein 
wird;  entliben  auch  40,  19  'schonen';  entpfenkiich  steht  98,  33; 
fransmutikait  111,  28  bedeutet  hier  'wolleben,  glück'  wie  Wacker- 
nagel Altd.  pred.  s.  513  und  ist  verderbt  aus  framspuoticheit, 
s.  Lexer  m  489  und  nachtr.  sp.  397;  Beiträge  11,  108.  Vetters 
erklärungsversuch  ist  abzuweisen;  genuch(t)samklich  auch  45,  4. 
55,  21.  83,  26;  gesellin  bedeutet  40,  32.  62,  8  dasselbe  wie 
61,  21;  haimlichi  auch  62,  25.  67,  21.  50,  13;  heben  :  hettin 
steht  85,  21,  vgl.  auch  53,  18  und  hat  ir  hend  —  vff\  pilder 
steht  121,10;  regel fasten  :  sie  dauerte  vom  14  sept.  bis  ostern; 
reisslich  auch  5,  17;  rekoller  :  lis  14,  22;  riechlich  wol  =richlich 
'rachsüchtig'  s.  Schmidt  Histor.  wb.  d.  elsäss.  mundart  s.  281 ; 
zu  sengerin  vgl.  die  ausführungen  im  Ämterbuch,  s.  König  Chronik 
der  Anna  von  Munzingen  s.  72;  strak  :  lis  mit  fünf  strakvenjen 
46,  5  vgl.  61,  37?  über  die  gestrakte  venie  s.  Schmeller2  u  808; 
Schweiz,  idiotikon  i  834;  Anz.  v  264;  Seuse  ed.  Denifle  i  30 
anm.  63  anm.;  tafel  :  es  handelt  sich  um  das  hölzerne  brett,  das 
beim  sterben  einer  Schwester  geschlagen  wird,  um  den  convent 
zusammenzurufen,  s.  Schröder  zum  Büchlein  von  der  genaden 
überlast  9,  1 ;  Anna  von  Munzingen  s.  27  anm.  7,  s.  72  anm., 
s.  86 ;  undergang  steht  121,11  und  bedeutet  'Unterwürfigkeit, 
Unterordnung'  mit  rücksicht  auf  die  hohe  geburt  der  Elisabet  von 
Ungarn;  ungeleichet :  Behaghels  ausstellung  gegenüber  sei  bemerkt: 


VETTER  DAS  LEBEN  DER  SCHWESTERN  ZU  TÖSS         25 

Seuses  vater  war  'der  weit  kind'  (Denifle  Sense  i  37),  der  ganze 
passus  ist  aus  Seuse  (ed.  Denifle  i  209)  entlehnt;  unlidig  auch 
70,  12.  112,  11;  wunder  :  warum  nicht  eiufach  mit  'verwundern' 
übersetzt?  zipelin  doch  wol  zu  zipfel,  also  'spitzcheu,  teilchen'. 
aufnähme  hatten  noch  folgende  Wörter  verdient  :  entsitzen.  =  ent- 
setzen 'vom  sitz  aufscheuchen'  104,  25;  geding  hau  mit  'anwart- 
schaft  haben  auf  92,  11;  gunlichen  —  güetlichen  gloriare  44,  7; 
leibkrank  'kränklich,  leidend'  9,  19;  lieblos  'leblos'  91,  4,  'ent- 
rückt' 94,  31;  maslaidig  'überdrüssig,  sich  ekelnd  vor'  81,  16; 
mintrehen  29,  23,  nidertrüchtig  'gering  geschätzt'  90,26;  sunder- 
werk  im  g^egensatz  zur  arbeit,  die  der  allgemeinheit,  dem  ganzen 
kloster  zu  gute  kommt  14,  25;  süssmütig  'liebreich'  35,  16;  tob 
'unsinnig,  irre'  87,  29;  ungefellelich  nicht  gefallend,  misfallend' 
56,  13;  ungewärlich  'unsicher,  gefährlich' 83,  S;  unlustsam  'nicht 
verlockend,  widerwärtig'  20,  20;  fd  wunder  gern  92,  2;  fd  wunder 
we  93,  32;  Wunsches  gewalt  58,  8;  wurmüt  'wermut'  62,  27. 
Halle  a.  S.  Philipp  Strauch. 


D.  Martin  Luthers  werke,  kritische  gesamtausgabe.  10  bei,  dritte  abteilung. 
Weimar,  HBöhlaus  nachf.,  1905  (xcvi  und  446  ss.).  —  32  bd,  1906 
(lxxxv  und  569  ss.).  —  Die  deutsche  bibel.  bd  1.  mit  vier  nach- 
bildungen  Lutherischer  hss.     1906  (xxiv  und  639  ss.). 

Da  es  das  erste  mal  ist,  dass  in  diesem  Anzeiger  auf  die 
Lutherausgabe  hingewiesen  wird,  möcht  es  sich  wol  gebühren, 
zusammenfassend  über  die  geschichte  dieses  grofsen,  auch  für 
unsre  Wissenschaft  so  wichtigen  Unternehmens  zu  berichten  und 
der  arbeit  der  gelehrten,  die  ihm  ihre  kraft  gewidmet  haben, 
dankbar  zu  gedenken,  doch  fehlt  es  dem  unterzeichneten  zur 
zeit  an  mufse,  und  so  bittet  er  um  die  erlaubnis,  sich  auf  eine 
kurze  anzeige  der  drei  jüngst  erschienenen  bände  zu  beschränken1. 

Bd  10 3  enthält  die  predigten  des  Jahres  1522,  bd  32  die 
des  jahres  1530,  aufserdem  die  wochenpredigten  über  Matth.  5 — 7,s 
die  Luther  in  Vertretung  Bugenhagens,  als  'lückenbüfser',  wie  er 
sagt,  vom  november  1530  bis  in  den  märz  1532  gehalten  hat. 
aus  dem  jähre  1522  sind  uns  64  predigten  überliefert,  aus  dem 
jähre  1530,  abgesehen  von  den  wochenpredigten,  nur  35.  der 
unterschied,  der  noch  erheblich  gröfser  sein  würde,  wenn  die 
Überlieferung  des  Jahrganges  1522  vollständig  wäre,  erklärt  sich 
teils  daraus,  dass  Luther  fast  die  hälfte  des  jahres  1530  von 
Wittenberg  abweseud  war,  teils  daraus,  dass  er  sich  eine  zeit  lang 
aus  unlust  des  predigtamtes  enthielt  (32,  xvn).  —  die  quellen 
auf  denen  die  ausgäbe  der  predigten  beruht,  sind  anfangs  vor- 
zugsweise gleichzeitige  drucke,  später  handschriftliche  aufzeich 
nungen,  namentlich  Börers.     die  predigten  des  jahres  1522  sind 

1  inzwischen  ist  ein  neuer  band  (102),  der  erste  den  Drescher  heraus 
gegeben  hat,  erschienen. 


26  D.    MARTIN    LUTHERS    WERKE 

fast  sämtlich  mir  in  drucken  überliefert,  1523  halten  sich  ge- 
druckte und  handschriftliche  Überlieferung  fast  die  wage,  dann 
treten  die  drucke  einzelner  predigten  immer  mehr  in  den  hinter- 
gruod.  von  denen  des  Jahres  1528  ist  keine  gleichzeitig  ge- 
druckt, von  denen  des  jahres  1529  nur  eine,  von  den  35 
predigten  des  jahres  1530  nur  drei  :  nr  6,  11,  14  (103,  ix), 
der  grund  ligt  teils  darin,  dass  seit  1527  Luthers  kirchen- 
postille  erschien,  teils  aber  auch  wol  darin,  dass,  nachdem  seine 
lehre  in  zahlreichen  schrillen  verbreitet  war,  der  einzelnen 
predigt  weuiger  hedeutung  beigemessen  wurde  als  in  den  ersten 
jähren.  da  die  alten  gesamtausgaben  der  Lutherscheu  werke 
fast  nur  vorher  gedruckte  predigten  aufnahmen,  sind  die  des 
jahres  1530  erst  spät  wider  ans  licht  gezogen,  die  meisten  er- 
scheinen in  dem  vorliegenden  32  hd  zum  ersten  mal.  — 
welchen  anteil  die  einzelnen  mitarbeite!'  (Buchwald,  Götze, 
Koffmane,  Weidling,  Brenner)  an  den  beiden  bänden  haben,  hat 
der  herausgeber  Pietsch  in  den  Vorworten  angegeben,  die  um- 
fangreichen einleilungen  erörtern,  wo  und  unter  welchen  um- 
ständen Luther  gepredigt  hat,  und  begründen  das  bei  der  be- 
arbeitung  und  ausgäbe  beobachtete  verfahren.  sie  verzeichnen 
und  beschreiben  die  quellen  aus  denen  geschöpft  ist,  geben  an, 
aus  welchen  Werkstätten  die  drucke  hervorgegangen  sind,  in 
welchen  bibliotheken  sich  exemplare  befinden,  und  untersuchen, 
wie  sich  die  verschiedenen  drucke  zu  einander  verhalten,  auch 
ihre  orthographischen  und  sprachlichen  eigenlümlichkeiten  sind 
in  der  einleilung  behandelt,  sodass  der  den  texten  beigegebene 
kritische  apparat  sich  auf  die  wesentlicheren  ahweichungen  be- 
schränken konnte. 

Besonders  eingehend  sind  die  acht  ersten  predigten  des 
jahres  1522  behandelt,  durch  die  Luther  den  aufruhr  dämpfte, 
den  Karlstadt  und  Gabriel  Zwilling  während  Luthers  aufenthalt 
auf  der  Wartburg  erregt  hatten,  sie  sind  iu  doppeltem  lext  in 
die  ausgäbe  aufgenommen,  einmal  nach  den  allen  drucken,  von 
denen  einer  in  Mainz  bei  Schöffer,  5  in  Augsburg  erschienen 
(3  bei  Steiner,  2  bei  JNadler);  sodann  nach  der  bearbeitung 
Aurifabers  (1564).  denn  auch  dessen  text  verdieut  wider- 
gegeben zu  werden,  da  er  fast  zwei  jhh.  die  einzige  quelle  der 
bekanntschaft  mit  diesen  predigten  geblieben  und  bis  in  die 
neueste  zeit  auch  in  der  wissenschaftlichen  litteratur  entweder 
bevorzugt  oder  doch  wenigstens  den  alten  drucken  gleich  ge- 
achtet worden  ist.  ein  drittes,  handschriftlich  erhaltenes  stück, 
das  zu  diesen  predigten  in  engster  beziebung  steht,  ist  iu  der 
einleilung  s.  Lvnf  herausgegeben  und  ausführlich  behandelt,  die 
ansichten  über  die  hedeutung  und  den  zweck  dieser  aufzeichnung 
sind  geteilt.  vielfach  hat  man  es  für  einen  hrief  gehalten,  den 
Luther  von  der  Wartburg  aus  an  seine  Wittenberger  gerichtet 
habe,  Bossert  kommt  in  den  Studien  und  kritiken   1897  s.  363 f 


It.  MARTIN  LUTHERS  WERKE  27 

zu  der  ansieht,  es  sei  ein  an  Zwilling  gerichteter  brief,  Pietsch 
sucht  darzulegen,  dass  es  ein  von  Luther  seihst  vor  den  predigten 
ahgefasster  entwurf  sei,  der  wahrscheinlich  unvollendet  blieb. 
ich  halte  es  für  unmöglich,  dass  Luther  das  Schriftstück  ab- 
gefasst  habe,  und  glaube,  dass  schon  6iu  punet  genügt,  um  dies 
zu  zeigen. 

Luther  unterscheidet  in  diesen  predigten,  und  kommt  immer 
wider  darauf  zurück,  zwischen  dingen,  die  Gott  zu  halten  ge- 
boten, und  solchen,  die  er  den  menschen  frei  gelassen  hat.  an 
Gottes  wort  und  dem  wahren  Christenglauben  solle  man  unver- 
brüchlich festhalten  jedermann  zum  trotz;  aber  ob  man  essen 
und  trinken  oder  fasten,  ein  weih  nehmen  oder  unverehelicht 
bleiben,  heiligenbilder  aufstellen  soll  oder  nicht,  darüber  und 
über  anderes  habe  Gott  nichts  bestimmt,  in  solchen  dingen  solle 
man  also  jeden  gewähren  lassen  und  keinen  zwang  üben;  so 
verlange  es  die  christliche  liebe,  in  der  sich  der  wahre  glaube 
betätige,  durch  ein  gleichnis  weifs  er  diese  gedanken  anschau- 
lich zu  machen  (103,  7,  9f).  die  sonne  hat  glänz  und  wärme, 
der  glänzende  Sonnenstrahl  hat  seine  vorgeschriebene  bahn,  und 
kein  köuig  ist  so  stark,  dass  er  ihn  'lenken'  (dh.  biegen)  kann; 
aber  die  wärme  breitet  sich  aus,  auch  wo  der  strahl  der  sonne 
nicht  hinfällt.  unbeweglich  wie  der  glänz  der  sonne  soll  das 
wort  Gottes  und  der  wahre  glaube  in  unserem  herzen  sein;  aber 
die  liebe  biegt  sich  und  folgt,  dem  nächsten.  diese  gedanken 
sind  in  dem  bruchstück  mit  folgenden  Worten  widergegeben 
(s.  Lxm  119)  :  die  sonn  halt  den  glantz  und  die  werme  oder 
hitz  :  den  glantz  kan  weder  keyser  noch  kiinig  biegen,  also  das  wort 
soll  nyemands  weichen  (Irans.  =  weichen  machen,  ablenken), 
aber  die  werme  kann  man  wol  fliehen  und  jn  den  schatten  geen. 
also  thut  die  liebe,  die  weycht  (intrans.)  dem  nechsten,  so  offt  es 
not  ist.  offenbar  hat  der  Schreiber  das  gleichnis  nicht  ver- 
standen, was  er  vom  glänz  sagt  ist  richtig,  das  folgende  aber 
wider  den  sinn;  Luther  kann  es  nicht  geschrieben  haben,  es 
bleibt  also  nur  die  eine,  auch  von  Bossert  schon  erwogene  mog- 
lichkeit,  dass  diese  aufzeichnung  eine  bearbeitung  der  Luther- 
schen  predigten  enthält,  und  zwar  eine  sehr  freie,  denn  so  un- 
verkennbar der  vf.  aus  Luthers  predigten  geschöpft  hat,  so  folgt 
er  ihnen  doch  nicht,  sondern  gibt  die  gedanken  in  selbständiger 
aueinanderreihuug  und  Verbindung  (vgl.  s.  Lxxff).  der  text  der 
gedruckten  predigten  hat  dem  vf.  sicher  nicht  vorgelegen;  ver- 
mutlich hat  er  sie  gebort  und  aus  dem  gedächtuis  und  einzelnen 
nolizen  sein  werk  gestaltet1.  —  einen  schluss  auf  die  zeit  und  den 
zweck  der  arbeit  gestattet  vielleicht  der  umstand,  dass  in  ihr  nur 
gedanken  der  vier  ersten  predigten  benutzt  sind,      der  gedanken- 

1  über  die  willkür,  mit  der  Luthers  predigten  oft  behandelt  wurden, 
vgl.  s.  xlii  und  die  einleitende  bemerkung  zu  nr  33  (s.  exm);  ferner  das 
vorwort  zu  bd  32  s.  m. 


28  I>.  MARTIN  LUTHERS  WERKE 

kreis  der  vier  andern,  in  denen  Luther  vom  sacrament  handelt, 
wird  nicht  berührt,  nur  einzelne  ausdrücke  und  Wendungen  er- 
innern an  sie  (vgl.  z.  42  und  s.  56,  4;  z.  48  und  s.  46,  8). 
hiernach  möcht  ich  vermuten ,  dass  das  Schriftstück  abgefasst 
ist,  nachdem  Lulher  seine  schrift  'Von  beider  gestalt  das  sacrament 
zu  nehmen'  veröffentlicht  und  damit  den  wesentlichen  inhalt  der 
vier  letzten  predigten  durch  deu  druck  bekannt  gemacht  hatte, 
durch  die  bearbeitung  der  vier  ersten  wollte  unser  vf.  Luthers 
schrift  gewissermafsen  ergänzen. 

So  wenig  das  bruchstück  als  eine  authentische  schrift 
Luthers  anzusehen  ist,  so  ist  es  doch  als  ein  selbständiges 
Zeugnis  für  Luthers  worte  nicht  unwichtig,  es  ermöglicht  ein 
urteil  über  den  wert  der  im  druck  erschienenen  aufzeichnungen 
und  zeigt,  dass  auch  sie  keineswegs  ein  treues  bild  von  Luthers 
predigten  geben,  auf  eine  stelle,  die  verdacht  erregen  muss, 
hat  Pietsch  schon  hingewiesen,  am  ende  des  bruchslücks  wird 
die  mahnung  ausgesprochen,  dass  man  einem,  der  fasten  für  ge- 
boten erachte,  nicht  durch  fleischessen  ärgernis  bereiten  solle 
(z.  124)  :  was  solts  mich  beschweren,  das  ich  fisch  esse?  meinem 
nechsten  zu  gut  wölt  jch  doch  wol  ein  grössers  thün  so  es  jm  zu 
gut  kerne,  also  kan  ich  meynen  feinden  (icenn  jr  bekerung  zu 
hoffen  ist)  und  den  schwachen  dise  kappen  icol  zu  gut  tragen  und 
soll  mich  nit  beschweren.  —  'diese  kappe!'  'so  kann',  bemerkt 
Pietsch  s.  lxix  mit  recht,  'nur  ein  redner  sprechen,  mit  der 
band  hinweisend  auf  das  kleid  das  er  trägt'1,  es  ist  wol  nicht 
zu  bezweifeln,  dass  Luther  diese  lebendige  Wendung  gebraucht 
hat;  aber  in  den  drucken  findet  sie  sich  nicht;  da  heifst  es  farb- 
loser (24,  6  f)  :  wer  es  on  schaden  thün  kan  und  zu  liebe  dem 
nechsten  ein  kappe  tragen  oder  platten,  die  weyl  dirs  an  deinem 
glauben  nit  schadet  :  die  kappe  erwürget  dich  nicht,  wan  du  sie 
schon  tragest 2.  —  wichtiger  ist  eine  andere  stelle.  Luther 
empfiehlt  seinen  anhängern  nachsieht  und  geduld  gegen  die, 
welche  noch  geringe  einsieht  haben,  damit  sie  durch  ungestümes 
vorgehen  nicht  abgeschreckt  werden.  Wir  haben  noch  vil  Schwester 
und  br'uder,  die  zu  leyplzick,  jm  land  zu  Meyssen  und  sonst  umb- 
her  wonen,  die  müssen  wier  auch  mit  zu  himmel  haben.  Ist  yetzt 
wol  hertzog  Gorg  und  vil  ander,  hierüber  bewegt,  auf  uns  zornig, 
dennocht  sollen  wier  sye  tragen  und  das  beste  von  inen  hoffen, 
es  ist  möglich,  das  sye  besser  werden  denn  wier  seyen.  so  heifst 
es  in  dem  bruchstück  z.  43f.  in  den  drucken  entspricht  s.  7, 
6 — 8  :  (die  sach  ist  wol  gut,   aber  das  eylen  ist  zu  schnell),   denn 

1  Karlstadt  hatte  am  weihnachtsfest  in  der  Stiftskirche  das  abendmahl 
ohne  vorangehnde  beichte  und  ohne  priesterkleid  ausgeteilt. 

2  beachtenswert  ist,  dass  auch  Aurifaber  'diese'  hat.     sollte  ihm  nicht 
doch    noch    anderes   material   zur   Verfügung   gestanden    haben   als   die   uns 
bekannten   drucke?     den   lateinischen  text  in  Witt.  toni.  lat.  vii  (1557)  273 
kann  ich  leider  nicht  vergleichen. 


D.    MARTIN    LUTHERS    WERKE  29 

au  ff  jenner  seyten  sind  auch  noch  bruder  und  Schwester,  die  zu 
uns  geborn  (lis  gehorn),  die  müssen  auch  noch  herzu,  der  all- 
gemeine gedanke  ist  derselbe;  aber  der  hinweis  auf  Leipzig  und 
Meifseu  und  den  herzog  Görg  fehlt,  soll  der  vf.  des  bruch- 
stücks  ihn  hinzugefügt  haben?  oder  ist  es  nicht  wahrscheinlicher, 
dass  er  in  den  drucken  ausgeschieden  ist?  in  einer  predigt  an 
die  Wiitenberger  waren  diese  individualisierenden  zilge  natürlich 
und  würksam;  den  druckern  in  Mainz  und  Augsburg,  die  einen 
andern  und  weitern  leserkreis  im  äuge  hatten,  musten  sie  eher 
störend  als  förderlich  erscheinen,  warum  sollte  nur  der  brüder 
und  Schwestern  in  Leipzig  und  dem  lande  zu  Meifsen  gedacht 
werden?  und  was  ging  sie  herzog  Görg  an?  nein!  die  drucke 
geben  gewis  die  wesentlichen  gedanken  Luthers  wider,  aber 
von  der  lebendigen  anschaulichkeit,  der  frischen  und  hiureifsenden 
kraft,  die  sein  wort  gehabt  haben  muss,  geben  sie  in  ihrer  oft 
unbeholfenen,  zuweilen  unverständlichen  ausdrucksweise  nur  ein 
trübes  abbild.  mit  den  reden  wie  sie  überliefert  sind,  hätte 
Luther  schwerlich  die  wilden  wogen  des  aufruhrs  nieder- 
gezwungen. 

Eine  ähnliche  bedeutung,  wie  Pietsch  der  aufzeichnung  aus 
dem  jähre  1522  beimisst,  hätte  nach  der  Vermutung  Koffmanes 
(32,  545)  ein  anderes  stück  gehabt,  das  schon  in  der  Jenaer  aus- 
gäbe unter  der  Überschrift  :  Feine  christliche  gedanken  der  alten 
heiligen  veter  etc.  —  nicht  'des  alten  heiligen  vater',  wie  s.  545 
gedruckt  ist  —  herausgegeben  ist  und,  wie  er  richtig  erkannt 
hat,  offenbar  mit  der  6  predigt  des  Jahres  1530  zusammenhängt, 
er  meint,  eine  vermutlich  lateinisch  abgefasste  meditation  Luthers 
liege  dem  Schriftstück  zugrunde,  aus  den  lateinisch  beibehaltenen 
teilüberschriften  'necessitas',  'causa',  'precium'  sei  die  dispositions- 
niederschrift  noch  kenntlich,  wahrscheinlich  habe  Veit  Dietrich 
eine  abschrift  von  Luthers  aufzeichnung  genommen,  oder  ein 
anderer  habe  sich  später  aus  Luthers  notizen  das  blatt  verschafft 
und  es  in  deutscher  spräche  widergegeben;  auch  könnte  wol  beim 
abschreiben  des  zetteis  einiges  verloren  gegangen  sein.  eine 
nachträgliche,  summarische  inhaltsangabe  der  predigt  liege  offen- 
bar nicht  vor;  die  würde  den  gang  der  predigt  inne  gehalten 
haben,  nur  der  prediger  selbst  könne  sich  so  von  seiner  aufzeich- 
nung entfernen  und  doch  wider  zurecht  finden.  mau  sehe 
deutlich,  dass  Luther  sich  nicht  an  das  concept  gehalten  habe, 
die  einleitung,  die  im  reformationszeitalter  immer  noch  oft  ge- 
brauchte allegorie  vom  grünen  und  dürren  holz,  habe  er  bei  der 
predigt  weggelassen  und  überall  greife  er  über  den  entwurf 
hinaus.  —  also  eine  von  Luther  aufgezeichnete  meditation  in 
lateinischer  spräche;  dann  einerseits,  von  fremder  band,  eine 
Übertragung  ins  deutsche,  vielleicht  verstümmelt,  und  anderseits 
Luthers  predigt,  die  sich  nicht  an  die  meditation  hält  :  unter 
solchen  Voraussetzungen  ist  viel  möglich,  aber  wenig  zu  beweisen. 


30  D.    MARTIN    LUTHERS    WERKE 

mir  fehlt  das  zutrauen  zu  diesen  combinationen.  ich  sehe  in 
dem  stück  nur  zusammengestöppelte,  lose  an  einaoder  gereihte, 
vielfach  undeutliche  Sätze  und  vermag  trotz  der  Überschriften  von 
eiuer  disposition  nichts  zu  erkennen,  ein  misverstäudnis,  das 
Luthers  autorschaft  ausschlösse,  kann  ich  zwar  in  dem  kurzen  stück 
nicht  nachweisen,  auffallend  ist  mir  jedoch  der  ausdruck  das 
heilige  creutz  in  dem  satze  (547,  33)  :  zu  dem  dienet  das  heilige 
creutz  zu  nbung  des  glaubens,  zur  krafft  des  xoorts.  auch  Luther 
spricht  mit  beziehung  auf  das  kreuz  Christi  vom  heiligen 
kreuz  (28,  23.  29,  12).  aber  für  das  kreuz  von  dem  er  predigen 
will,  für  das  leiden  das  Gott  den  menschen  auferlegt,  will  der 
ausdruck  nicht  passen,  und  so  sollte  er  in  dem  angeführten 
satze  ebenso  wenig  gebraucht  sein  wie  in  der  predigt  28,  26. 
29,  18.  29.  33.  30,  2.  13  f.  31,  30.  34,  24.  35,  1.  18.  36,  9.  16. 
38,  25.  39,  1,   wo  Luther  immer  nur   kreuz  sagt. 

Mit  besonderer  freude  ist  der  erste  nun  endlich  erschienene 
band  der  Bibel  zu  begrüfsen.  schon  im  jähre  1888  war  dem 
herausgeber  die  besorgung  der  Bibelübersetzung  von  der  Luther- 
commission übertragen  worden,  aber  da  er  im  jähre  1890  die 
gesamtleilung  der  Luthernusgabe  übernahm,  wurde  durch  die 
hiermit  übernommenen  pflichten  'die  sorge  für  die  herausgäbe 
der  Bibelübersetzung  notwendig  in  den  Hintergrund  gedrängt  und 
nur  eine  allerdings  nie  aussetzende  aufmerksamkeit  auf  alles, 
was  dazu  in  beziehung  stand,  gestattet'  (s.  v).  mit  der  kritischen 
ausgäbe  der  gedruckten  Bibel,  die  den  meisten  besonders  er- 
wünscht sein  wird,  ist  auch  jetzt  noch  nicht  der  anfang  ge- 
macht, der  vorliegende  1  bd  beruht  ganz  auf  handschriftlichen 
aufzeichnungen,  auf  Luthers  eigenen  niederschrieen,  wie  er  sie 
einst  in  die  druckerei  gehn  liefs.  denn,  sagt  der  herausgeber 
(und  wer  möcht  ihm  nicht  beistimmen),  'eine  wissenschaftlich 
genügende  und  der  christlich-religiösen  wie  nationalen  bedeutung 
ihres  gegenständes  würdige  ausgäbe  der  Bibelverdeutschung 
Luthers  dürfe  auch  an  dessen  eigenhändigen  niederschrieen  nicht 
vorübergehu'.  vollständig  sind  die  manuscripte  nicht  erhalten; 
vom  neuen  testament,  so  viel  sich  hat  ermitteln  lassen  (s.  vi), 
leider  gar  nichts,  von  dem  alten  aber  weit  über  die  hälfte.  der 
erste  bd  bietet,  was  von  den  handschriften  des  zweiten  und 
dritten  teils  des  alten  testaments,  die  1523  und  1524  erschienen, 
auf  unsere  tage  gekommen  ist.  301  blätter  in  dem  herzoglichen 
haus-  und  Staatsarchiv  in  Zerbst  und  143  blätter  in  der  könig- 
lichen bibliothek  in  Berlin.  die  bearbeitung  bot  nicht  geringe 
Schwierigkeiten,  'als  Übersetzung  eines  textes,  dessen  Schwierig- 
keiten beim  ersten  wurf  oft  gar  nicht  oder  in  einer  später  un- 
genügend erscheinenden  weise  überwunden  werden  konnten,  sind 
diese  hss.  ganz  anderer  art  als  die  meisten  autographe  von 
Luthers  eigenen  Schriften,  was  in  diesen  so  gut  wie  nie  vor- 
kommt, dass  Luther  sich  die  wähl  des  ausdrucks  noch  vorbehält, 


I).  MARTIN  LUTHERS  WERKE  31 

ist  hier  Dicht  selten,  und  wol  nie  hat  Luther  eine  eigne  Schrift 
später  so  genau  und  sorgfaltig  durchcorrigierl  wie  die  Über- 
setzung des  2  und  3  teils  des  alten  testaments*.  dazu  kommt 
noch,  dass  die  hauptcorrectur  mit  sehr  blasser  roter  tinte  vor- 
genommen ist.  doch  ist  es  dem  bearbeiter,  prediger  Thiele  in 
Magdeburg,  auch  hier  gelungen,  'die  zahlreichen  geänderten  oder 
ganz  gestrichenen  worter  fast  überall  zu  entziffern.'  diese  ände- 
rungen,  die  dem  hearbeiter  seine  aufgäbe  erschwerten,  machen 
aber  gerade  den  wert  dieser  niederschrieen  Luthers  aus.  sie  ge- 
währen einen  eioblick  in  seine  arbeit  und  stellen  'eine  bisher 
unbekannte  Vorstufe  seiner  bis  nahe  an  den  tod  nicht  mehr  aus- 
setzenden heifsen  bemühungen  um  die  beste  Verdeutschung  des 
bibelwortes  dar.'  der  bearbeiter  und  der  berausgeber  haben 
keine  mühe  gespart,  'von  der  beschaffenheit  der  hss.  im  ganzen 
und  ihren  einzelnen  stellen  ein  so  genaues  hild  zu  geben,  als 
es  sich  ohne  photographische  oder  typographische  nachbildung 
geben  lässt.'  von  je  zwei  blättern  der  beiden  hss.  konnten  solche 
nachbildungen  beigefügt  werden,  über  die  einrichtung  der  aus- 
gäbe, über  die  beschaffenheit  und  geschichte  der  hss.  und  über 
Luthers  arbeit  an  den  beideu  veröffentlichten  teilen  des  alten 
testaments  gibt  die  einleitung  auskunft.  die  übrigen  hss.  der 
Bibelübersetzung  sollen  den  2  bd  eroffnen,  dieser  soll  aufser- 
dem  alles  aufnehmen,  was  an  actenstücken  und  Zeugnissen  zur 
geschichte  der  Bibelübersetzung  vorhanden  ist.  eine  gesamt- 
bibliographie  der  Lulherbibel  1522 — 1546  soll  ihn  beschliefsen. 
Die  leituug  der  Lutherausgabe  hat  Pietsch  am  1  april  1906 
niedergelegt;  professor  Drescher  ist  an  seine  stelle  getreten,  das 
vorwort  des  32  bandes  ist  das  letzte  das  jeuer  als  leiter  gezeichnet 
hat.  '16  jähre  meines  lebens',  heifst  es  dort  s.  vi,  'habe  ich 
fast  ausschliefslich  dem  dienst  der  Lutherausgabe  gewidmet,  und 
es  war  oft  ein  harter  dienst.  ich  habe  die  leitung  als  ein 
deutscher  gelehrter  geführt,  der  in  der  Überzeugung  von  wert 
und  wichtigkeil  der  ihm  anvertrauten  aufgäbe  die  sache  um  ihrer 
selbst  willen  tat,  der  daher  sein  stetes  absehen  darauf  richtet,  sie 
so  gut  und  so  abscbliefsend  zu  tun,  als  irgend  erreichbar  er- 
scheint, haben  umstände  und  Verhältnisse  auch  nicht  alles,  was 
ich  angestrebt,  zur  entfaltung  und  würksamkeit  kommen  lassen, 
so  kann  ich  doch  dies  unternehmen  in  einem  stände  aus  der 
hand  geben,  der  ganz  wesentlich  höher  ist,  als  der,  in  welchem 
ich  es  übernahm.  die  Schnelligkeit  des  äufseren  fortschreitens 
mag  nicht  allen  an  sich  berechtigten  wünschen  entsprochen 
haben,  aber  bei  einem  urteil  darüber  muss  billig  berücksichtigt 
werden,  dass,  als  ich  1890  die  leitung  übernahm,  zunächst  die 
noch  rückständigen  grundlegenden  vorarbeiten  für  das  ganze 
unternehmen  zu  leisten  waren.'  er  schliefst  mit  dem  wünsche, 
dass  das  grofse  nationale  unternehmen  auf  der  bahn,  die  ihm 
nun  bereitet   ist,    rüstig  voran    und   seinem   endlichen  abschluss 


32  D.    MARTIN    LUTHERS    WERKE 

entgegenschreiten  möge,  indem  rec.  von  herzen  in  diesen  wünsch 
einstimmt,  fügt  er  einen  zweiteu  hinzu,  dass  die  erfahrung,  die 
der  bisherige  Leiter  in  langjähriger  arbeit  gesammelt  hat,  der 
ausgäbe  auch  fernerhin  zu  statten  kommen,  und  vor  allem,  dass 
es  ihm  vergönnt  sein  möge,  den  plan  verwürklicht  zu  sehen,  den 
er  auf  s.  ix  für  die  Bibelausgabe  und  für  ihre  lexikalische  und 
grammatische  bearbeitung  entworfen  hat. 

Bonn,  4  april  1907.  VV.  Wilmanns. 


Luthers  Tischreden  in  der  Mathesischen  Sammlung,  aus  einer  handschrift 
der  Leipziger  Stadtbibliothek  hg.  von  Ernst  Kroker.  Leipzig,  Teubner, 
1903.     xxii  und  472  ss.  8°.  —  8  m. 

K.  hat  in  der  Leipziger  Stadtbibliothek  eine  verschollene 
sammelhandschrift  Lutherscher  Tischreden  wider  entdeckt  und 
gibt  sie  heraus  mit  einer  sorgfältigen  und  überzeugenden  Unter- 
suchung der  abhängigkeits-  und  herkunftsverhältnisse  ihrer  ein- 
zelneu teile,  sie  ist  von  dem  magister  Johann  Krüginger  in 
den  jahren  1546 — 48  zu  Marienberg  geschrieben,  ihr  erster  ab- 
schnitt (bl.  1 — 176)  enthält  Krügingers  eigne  'Sammlung',  deren 
vorläge  aus  den  heften  der  älteren  gruppe  der  tischgenossen, 
hauptsächlich  Lauterbachs  und  Wellers  geschöpft  hat.  das  übrige 
(bl.  177 — 548)  ist  von  Mathesius  zum  abschreiben  herzugeliehen 
und  stammt  von  Heydenreich,  Besold,  Lauterbach,  Weller  und 
aus  Dietrichs  und  Plates  buntgemischten  Sammlungen,  dazu  kommt 
aber  ein  anhang  von  46  blättern,  der,  von  andrer  band ,  haupt- 
sächlich eine  der  ersten  bearbeitung  nahestehnde  copie  der  ge- 
spräche  enthält,  die  Mathesius  im  jähre  1540  an  Luthers  tische 
gehört  und  vermerkt  hat.  das  gibt,  fast  wie  Lauterbachs  tage- 
buch  auf  das  jähr  1539,  wider  ein  paar  feste  puncte  in  dem 
chaos  dieser  Überlieferung  :  die  tischgenossen  kommen  und  gehen, 
immer  anders  setzen  sie  den  kreis  zusammen,  aus  dessen  mitte 
uns  namenlos  ein  wort  aufbewahrt  ist;  die  gewähr  ihrer  auf- 
zeichuungen  ist  verschieden :  sie  glätten,  bearbeiten,  zt.  mehr- 
mals, sie  ordnen  das  chronologisch  überlieferte  in  sachliche  fächer, 
sie  fälschen  auch  wol,  sie  lassen  ihre  Sammlungen  abschreiben, 
und  diese  abschriften  werden  in  allerlei  stufen  weiterer  bearbei- 
tung teile  immer  neuer  Sammlungen,  da  ist  es  wie  ein  licht- 
blick ,  wenn  man  einmal  ganz  nahe  an  den  ersten  aufzeichner 
herandringt  und  die  möglichkeit  gewinnt,  aus  den  erhaltenen 
parallelfassungen  die  ursprüngliche  oder  eine  der  ursprünglichen 
sicher  zu  erkennen,  ich  glaube  mit  K.,  dass  unser  anhang  eine 
abschrift  der  Mathesianischen  Sammlung  ist,  aber  ich  glaube  doch 
(mit  Wilhelm  Meyer),  dass  wir  von  keinem  worte  mit  bestimmt- 
lieit  sagen  können  :  so  und  nicht  anders  hat  Luther  gesprochen, 
nicht  nur  bei  Aurifaber,  auch  schon  bei  Mathesius  nicht,  wir  sehen 
ja  an    dem    Verhältnis   der   predigtnachschrifteu    Börers   zu   ihrer 


KROKER    LUTHERS    TISCHREDEN  33 

bearbeitung  durch  Poacb,  was  mau  unter  abschreiben  und  leser- 
lichmachen verstand  :  auflösen  der  abkürzungen,  ergänzen,  be- 
seitigen der  jähesten  Übergänge  von  einer  spräche  oder  con- 
struction  in  die  andere,  auslassen  des  unverstandenen,  und  hier 
ist  das  Verhältnis  ganz  ähnlich,  dass  die  eigennamen  vielfach 
verlesen  sind  (zb.  nr  31  a.  2  Temerlensem  <C_Trajectensem,  264,  4 
Canarola<C.Carvajalus,  25,  2  Prisiae<^?),  mag  man  der  aner- 
kanntermafsen  schlechten  schrift  des  Mathesius  zuschieben,  aber 
415,  1  Dixit  Doctor  statt  Domine  Doctor,  416,  4  ex  statt  ecclesiae 
sind  falsche  auflösungen  der  in  jenen  kreiseu  gebräuchlichen  ah- 
kürzungen d.  d.  und  ec;  die  zeichen  für  per,  prae,  pro  ua.  sind  öfters 
verkannt  (vgl.  s.  31  anm.  2  und  besonders  299,  3);  die  merk- 
würdige Schreibung  polili  =  politicum  245,  2  lässt  erkennen,  dass 
der  copist  in  dem  poli  der  vorläge  fälschlich  eine  abkürzung  ver- 
mutete, auslassungen  des  verbums  wie  261,  1  begegnen  bei 
Rürer  massenhaft,  zu  323,  2  forum  poli  et  fori  (statt  urbis? 
s.  324,  1)  vgl.  Rürer  in  Luthers  werken  xxvn  342,  15  :  qui 
adheret  Mammon  odit  Mammon  (statt  Deum) ,  361,  5  :  opus  kan 
werck  (statt  weck),  375,  1  :  für  sich —  für  sich  (statt  hinder  sich), 
auch  346,  2  :  solicite  expedile  (statt  expediat)  usw.  aus  solchen 
irrtümern  schliefs  ich,  dass  wir  es  hier  mit  der  glättung  einer 
ursprünglichen,  abgekürzten  und  fehlerhaften  niederschrift,  nicht 
reinschrift  zu  tun  haben,  und  dabei  ist  die  spräche  dieser  tisch- 
reden  gewiss  noch  glatter  als  die  Poachs.  ich  halte  also  nicht 
viel  von  der  treue  dieses  copislen.  ich  glaube  sogar,  dass  die 
stücke,  die  wie  73  uaa.  nur  aus  Überschriften  bestehn  und  die 
nach  dem  gesagten  nicht  wol,  wie  K.  will,  ein  rest  unbe- 
arbeiteter nachschriften  sein  können,  von  dem  copisten  als  ander- 
weit besser  überliefert  ausgelassen  sind,  grade  die  Überschriften 
sind  dasjenige,  was  erst  nachträglich  zu  einer  tischerzählung 
hinzutritt,  selbst  ein  schluss  auf  die  art  der  deutsch-lateinischen 
mischsprache  an  Luthers  tische  ist  nicht  zu  wagen,  das  zeigt 
wider  ein  blick  auf  Rürer  :  Luther  hat  doch  gewis  rein  deutsch 
gepredigt,  aber  die  nachschriften  sind  zweisprachig,  zb.  wird  in 
ur  3  besonders,  als  'jocus',  erzählt,  dass  Käthe  Luther  eine  latei- 
nische, formel  zu  sagen  wüste  (mit  einer  griechischen  hatte  sies 
nie  fertig  gebracht),  trotzdem  lässt  sie  Mathesius  nicht  selten 
ganz  lateinisch  reden. —  nun  kann  allerdings  nicht  alles  über- 
lieferte copie  unmittelbarer  nachschriften  sein  :  mindestens  die 
Überschriften  und  die  kurzen  lateinischen  rahmenerzählungen 
wird  man  für  nachgefügt  halten  müssen,  vielleicht  schon  in 
pausen  des  gesprächs,  vielleicht  erst  zu  hause,  aber  ich  bestreite 
ja  auch  gar  nicht,  dass  da  noch  nachgebessert  und  vervollständigt 
wurde,  nur  mein  ich,  dass  es  im  selben  manuscript  geschah, 
dass  keine  reinschrift  gemacht  wurde,  dass  uns  die  vielmehr  in 
Kriigingers  bände  vorligt.  so  erklärt  sich  vielleicht  auch  der 
unterschied    in    der    glätte    der    spräche    bei   den    verschiedenen 

A.  F.  D.  A.  XXXI.  3 


34  KROKER    LUTHERS    TISCHREDEN 

stücken,  wenn  er  nicht  noch  einen  andern  grund  hat.  die  unter- 
schritt der  Sammlung  ist  :  Sontag  ante  Martini  Anno  Domini 
M.  D.  XL.  M.  J.  Mathesius.  Doctor  Severus  Schifer,  qni  fuit  prae- 
ceptor  filiorum  regis  Ferdinandi.  was  soll  der  zweite  name?  K. 
hält  ihn  für  eine  erläuternde  anmerkung,  weil  Schifer  in  der 
Sammlung  oft  genannt  wird,  ist  das  wahrscheinlich?  sollte 
nicht  vielmehr  Schifer,  der  im  jähre  1540  an  Luthers  tische  zu- 
oberst safs,  der  am  häufigsten  ins  gespräch  gezogen  wurde,  in 
irgend  einer  art  zu  der  Mathesianischen  Sammlung  beigetragen 
haben?  auch  die  zweite  hälfte  von  63  könnte  nach  berichten 
dritter  nachgetragen  sein  :  Sic  haec  Assa  et  Pontanus  (seil. 
narravernnt).  hier  müste  also  die  Untersuchung  weitergeführt 
werden. 

Über  den  inhalt  des  publicierten  erlaub  ich  mir  kein  urteil; 
doch  scheinen  mir  einrichtung,  text  und  commentare  vor- 
trefflich, und  ich  füge  nur  noch  ein  paar  philologische  be- 
merkungen  hinzu.  7,  1  :  die  Leipziger  handschrift  hatte  ur- 
sprünglich mit  der  gesamten  Überlieferung  mira,  nachträglich  ist 
in  aurea  geändert  :  der  corrector  war  also  nicht  Mathesius  selbst 
(vgl.  s.  29  und  das  stemma  der  handschriften  s.  37).  —  7,  6 
würd  ich  das  non  der  handschrift  beibehalten  :  das  folgende 
tarnen  bezieht  sich  darauf,  und  es  ist  an  zeile  3  zu  denken  : 
Quid,  si  praestigiator  esset?  —  40,  3  die  klammern  entsprechen 
unsern  anführungshäkchen.  —  67  ist  bezeichnend  für  die  Über- 
tragung von  narrengeschichten.  —  241,  19  :  Marcolfo  in  ars 
sehen  :  die  geschichte  steht  schon  im  alten  spielmannsgedichte 
(ed.  Vogt  str.  138  ff).  —  261,  5  uö.  :  die  Verwechslung  von 
flexions-m  und  -n  ist  für  Luther  und  seine  zeit  charakteristisch, 
ich  würde  nicht  normieren.  —  505,  1  ist  doch  wol  mit  den 
parallelfassungen  engen  zu  lesen.  —  zu  546,  2  gesterben  vgl. 
Wilmauns  Gram,  ii  s.  166  ff  und  Kroker  535,  6  und  gestand  im 
sein  rofen  farbes  blut.  —  778 a  aus  einer  Gothaer  handschrift 
lColloquia  Serotina  D.  M.  L[utheri]',  die  der  pastor  Paul  Richter 
aus  Lauterbachs  Sammlung  abgeschrieben  hat,  enthält  die  be- 
kannten drei  später  auf  Faust  übertragenen  geschienten  :  in 
Nordhausen  erat  quidam  nomine  Wildfeuer,  der  fräs  einen  pauer 
mit  pferde  und  wagen,  welcher  pauer  darnach  über  ezliche  stunden 
über  ezliche  fellwege  in  einer  pfutzen  mit  pferde  und  wagen  lagk. 
Ita  quidam  monachus  dinget  einen  pauer,  was  er  nemen  wolte 
und  ihn  lossen  sat  heu  von  einem  fuder  essen;  rusticus  postulavit 
einen  kreutzer,  monachus  devoravit  plus  quam  dimidium  plauslrum 
foeni,  ita  ut  a  rustico  vi  abactus  sit.  Also  lis  ein  schuldener  einen 
Juden  ein  bein  ausreissen,  ut  fugeret  Judaens.  die  tischrede 
fällt  ins  jähr  1537. 

Charlottenburg,  märz  1904.  Georg  Baesecke. 


SEXAÜ    DER    TOD    IM    DEUTSCHEN    DRAMA  35 

Der  tod  im  deutschen  drama  des  17  und  18  jh.9  (von  Gryphius  bis  zum 
Sturm  und  drang),  ein  beitrag  zur  litteraturgeschiclite  von  dr  Richard 
Sexac.  [Untersuchungen  zur  neuem  sprach-  und  litteraturgeschichte. 
herausgegeben  von  professor  dr  Oskar  F.  Walzel.  9  heft.]  Bern, 
AFrancke,  1906.     xvi  und  262  ss.  8°.  —  5,20  m. 

Der  Verfasser  untersucht  in  seiner  von  Muncker  angeregten 
Studie  das  problem,  wie  die  deutschen  dramatiker  der  zeit  von 
1650  bis  1770  den  tod,  das  sterben  dargestellt  haben,  für  das 
drama  des  17jh.s  mit  seinem  hang  zu  grausamen  martern  ist 
dies  moment  eins  der  wichtigsten;  zumal  für  den  ersten  drama- 
tiker, dessen  dichtung  ein  ständiges  Memenlo  mori  predigt,  die 
greuellüsternheit  der  spätrenaissance  wird  hervorgehoben  und 
durch  analogieen  der  bildenden  kunst  belegt,  skizzenhaft  verfolgt 
die  einleitung  den  allgemeinen  gang  der  entwicklung.  von  Gry- 
phius und  seiner  art  entfernt  sich  zuerst  Christian  Weise,  dann 
wider  nach  anderer  richtung  die  haupt-  und  staatsaction.  aber 
erst  das  auftreten  Gottscheds,  der  im  princip  den  tod  von  der 
bühne  verbannt,  beginnt  auch  hier  eine  neue  epoche,  bis  endlich 
um  die  mitte  des  18jh.s  eine  vertiefte  psychologische  behand- 
lung  der  sterbescene  in  Lessings  und  Klopstocks  dramen  ver- 
sucht wird. 

Für  die  eigentliche  darstellung  teilt  Sexau  seinen  gegen- 
ständ nach  stofflichen  gesichtspuncten  :  1  tod  auf  der  bühne, 
ii  tod  hinter  der  bühne,  in  leiche  auf  der  bühne;  im  einzelnen 
wider  nach  den  verschiedenen  todesarten  (hinrichtung,  mord, 
Selbstmord,  tod  im  kämpf,  natürlicher  tod),  deren  scenische 
Vorführung  nach  dem  muster  etwa  von  Petersens  Untersuchungen 
über  Schiller  und  die  bühne  behandelt  wird,  bei  solcher  be- 
trachtung,  die  mehr  der  litteraturbeschreibung  als  der  litteratur- 
geschiclite dient,  ist  immer  gefahr  vorhanden,  blofs  Stoffmassen 
abzuschreiben  und  anzuhäufen,  einzelobservatiouen  aneinander- 
zureihen ohne  das  geistige  band  der  ratio,  und  so  der  holländischen 
krankheit  der  philologie  zu  verfallen,  wie  Burdach  diese  zum 
tod  des  individuellen  Verständnisses  führende  sucht  einmal  ge- 
nannt hat.  auch  S.  ist  dieser  gefahr  in  seiner  fleifsigen,  nur 
zu  breit  angelegten  arbeit  nicht  ganz  entgangen ;  immerhin  ver- 
mag er  so  den  typus  der  gattung  herauszuarbeiten,  wo  das 
möglich  und  nützlich  ist  :  bei  der  hinrichtungsscene  (nach  dem 
vorbild  des  Carl  Stuart,  s.  50  ff)  und  der  Charakteristik  des 
märtyrers  im  schlesischen  kunstdrama  (s.  55  ff).  auch  wie  sich 
das  individuelle  von  dem  typischen  abhebt,  wie  erhebungen  und 
Senkungen  die  grofse  ebene  unterbrechen,  kommt  so  zum  aus- 
druck  :  Lohenstein  verlässt  das  abstracte  schema  und  stellt  zu- 
erst natürliche,  lebendige  menschen  auf  die  bühne  (s.  57.  62.  113); 
sehr  im  gegensatz  zu  Hallmann  und  Haugwitz,  die  sich  Gryphius 
eng  anschliefsen,  wobei  der  erstere  viel  selbständiger  verfährt 
(seine  neuerungen   s.  120  ff.),     während    hinrichtungen    der    be- 

3* 


36  SEXAU    DER    TOD    IM    DEUTSCHEN    DRAMA 

liebteste  augenschmaus  des  17  jh.s  sind,  spielen  morde  und 
Selbstmorde  erst  im  18  eine  beherscheude  rolle,  auch  der  an- 
tikisierende botenbericht  tritt  nach  einem  ausatz  bei  Gryphius 
doch  erst  in  der  nachgottschedischen  zeit  hervor;  wie  er  ganz 
unrealistisch  rhetorisch  einsetzt  und  episch  fortfährt,  wird  hübsch 
ausgeführt  (s.  198  f).  dabei  begegnet  indes  ein  seltsames  mis- 
Verständnis,  wenn  es  s.  199  heist  :  'wenn  auch  nach  Gottscheds 
forderung  keine  andern  als  die  hauptpersonen  eines  dramas  eine 
besondere  gemütsart  haben  dürfen,  so  brauchen  andrerseits  die 
botenfiguren  nicht  alle  mit  einer  rücksichtslosigkeit  ausgestattet 
zu  sein,  die  der  gefühlsroheit,  wie  sie  die  Umgebung  der  sterben- 
den in  unsern  dramen  an  den  tag  zu  legen  pflegte,  die  wag- 
schale hält',  dass  Gottsched  hier  unter  'gemütsart'  Charakter, 
ethos  im  antiken  sinne  versteht,  geht  aus  dem  Zusammenhang 
der  stelle  hervor  und  muste  auch  dem  vf.  bekaunt  sein. 

Eine  schwäche  der  arbeit  ist,  dass  die  kategorie  der  causa- 
lität,  die  wichtigste  für  den  historiker,  kaum  geltung  zu  haben 
scheint,  dass  immer  nur  nach  dem  was  und  wie,  selten  nach 
dem  woher  gefragt  wird,  so  kommt  es,  dass  erwägungen  und 
absiebten  des  dichters  zugeschrieben  wird,  was  einfach  auf  der 
dramatischen  oder  geschichtlichen  vorläge  beruht;  für  Grimms 
Banise  zb.  wäre  der  roman  Zieglers  heranzuziehen,  auch  die 
entwicklung  des  einzelnen  dichters  wird  bei  dieser  querschnitt- 
zeichuung  nicht  immer  richtig  erkannt  :  Gryphius  hat  im  Leo 
Armenius  und  zum  teil  noch  in  der  Cathariua  von  Georgien  den 
tod  gewis  nicht  darum  hinter  die  scene  verlegt,  um  den  furcht- 
baren eindruck  noch  zu  verstärken  (s.  186  ff);  sondern  hier  ist 
eben  in  den  späteren  stücken  ein  fortschritt  zu  constatieren, 
der  den  dichter  von  dem  conventioneilen  botenbericht  im  Leo 
über  die  Zwischenstufe  der  Catharina  und  des  Carl  Stuart  zu 
der  sinnfälligen  actionstechnik  im  Papinian  führt  (vgl.  mein  buch 
über  Seneca  und  das  deutsche  renaissancedrama,  Berlin  1907, 
s.  249  f).  in  andern  fällen  werden  verwantschaften,  beziehungen, 
zusammenhänge  allein  durch  die  Ordnung  des  materials  deutlich, 
so  wird  die  ähnlichkeit  Hallmanus  mit  dem  Wiener  Nepomuk 
instinetiv  empfunden  (s.  129.  216  ff),  auch  ohne  dass  der  vf. 
von  dem  durch  RMWerner  entdeckten  nahen  Verhältnis  beider 
weifs.  und  die  erzählung  von  Polyxenas  tod  in  Schlegels  Tro- 
janerinnen erinnert  ihn  an  Weises  Tochtermord  Jephthas  (s.  195)  : 
kein  wunder,  da  beide  zuletzt  auf  die  (bei  Weise  durch  Bucha- 
nan  oder  Vondel  vermittelten)  euripideischen  opferungsgestalten 
Iphigenie,  Polyxene  zurückgehn. 

Wenig  befriedrigt  der  stil  :  lässig,  salopp  (häufig  unmoti- 
vierter tempuswechsel,  druckfehler  in  fülle),  vielfach  unsicher 
und  nicht  immer  glücklich  im  ausdruck.  bei  dem  eignen  mangel 
an  reife  fallen  leichtfertig  übernommene  urteile  um  so  unange- 
nehmer auf.     einen  mann  wie  Gottsched,   für   dessen  bedeutung 


SEXAÜ    DER    TOD    IM    DEUTSCHEN    DRAMA  37 

grade  diese  arbeit  zeugt,  mit  vvorteo  wie  'unser  Leipziger  kritischer 
heros'  ironisch  abfertigen,  sollte  doch  kein  litterarhistoriker  von 
heute,  am  wenigsten  ein  anfänger.  seine  äufserung  über  'das 
mahrchen  von  d.  Fausten'  'heute  empörend  lächerlich'  zu  nennen 
(s.  35),  ist  im  gründe  unhistorisch;  ebenso  wie  die  mindestens 
misverständliche,  chronologiewidrige  bemerkung,  Hallmanns 
bischof  beweise  seine  Vertrautheit  mit  dem  graten  Zinzendorf 
(s.  59).  komisch  würkt  dagegen  der  schul  erhalle  autoritälenglaube 
in  der  zaghaft  den  Vorwurf  der  pietätlosigkeit  abwehrenden  'Ver- 
mutung, dass  der  altmeister  Wieland  mit  der  dramatischen  litte- 
ratur  des  17  jh.s  nicht  intim  vertraut  war'  (s.  2).  hat  etwa 
Wielaud  auf  philologische  litteraturkenntnis  einer  überwundenen 
periode  anspruch  gemacht?  selbst  der  gelehrtere  Lessing  gestand, 
'sehr  wenig  von  unserm  dramatischem  wüste'  zu  kennen,  und 
Goethe  sagt  mit  vollem  recht  :  'die  alte  litteratur  der  eigenen 
nation  ist  immer  als  eine  fremde  anzusehen'. 

Berlin.  P.  Stachel. 


Die  Rudolstädter  festspiele  aus  den  jähren  1665—67  und  ihr  dichter,  eine 
literarhistorische  Studie  von  Conrad  Höfer.  [Probefahrten,  erst- 
lingsarbeiten  aus  dem  deutschen  seminar  in  Leipzig,  herausgegeben 
von  Albert  Köster,  i  band.]  Leipzig,  RVoigtländer,  1904.  xu  und 
215  ss.  —  6  m. 

Die  erste  der  'Probefahrten',  die  unter  Küsters  ägide  aus- 
gehn,  ist  eine  entdeckungsreise  nach  einem  neuland,  das  der 
leiter  des  Unternehmens  zuerst  ergründet  hat.  auf  den  spuren 
seines  lehrers  weifs  Höfer  ein  litterarisches  Charakterbild  um 
einen  wichtigen  zug  zu  bereichern,  das  durch  jenen  für  die 
Wissenschaft  erst  neugewonnen  ist. 

Dass  die  'Geharnschte  Venus',  die  frischeste  liedersammlung 
des  17  jh.s,  ein  jugendwerk  des  nun  in  doppeltem  sinne  'spat 
berühmten'  lexikographen  Kaspar  Stieler,  des  Spaten  der  Frucht- 
bringenden gesellschaft,  ist,  hat  Köster  1897  in  einer  nach  form 
und  inhalt  glänzenden  Untersuchung  bewiesen.  'Filidor  der 
Dorfferer'  hat  sich  der  junge  lyriker  hier  genannt;  und  als 
'Filidors  Trauer-Lust-  und  Misch-Spiele,  i  teil'  kündigen  sich 
auch  die  sechs  Schauspiele  an,  die  in  den  jähren  1665 — 67  bei 
hoffestlichkeiten  zu  Rudolstadt  aufgeführt  worden  sind,  da  ligt 
es  nahe,  an  ein-  und  denselben  vf.  zu  denken,  und  so  hat  Köster 
schon  die  Vermutung  ausgesprochen,  auch  der  Rudolstädter  Filidor 
sei  kein  anderer  als  Stieler,  der  damals,  von  1663 — 66,  secretär 
des  regierenden  grafen  Albrecht  Anton  von  Schwarzburg-Rudol- 
stadt  war.  in  der  negation  wenigstens,  diese  stofflich  romani- 
sierenden,  technisch  complicierten  dramen  dem  armseligen,  braven 
holsteinischen  pastor  Jakob  Schwieger  abzusprechen,  für  dessen 
werk  sie  wie  jene  lyrica  früher  galten,  ist  sich  die  moderne 
forschung    seit    Goedeke    einig    (Martin,    Reifferscheid,    Edward 


38  HÖFER    DIE    RUDOLSTÄDTER    FESTSPIELE 

Schröder);  aber  die  positive  behauptung  Rösters  hat  doch  nicht 
allgemeinen  beifall  gefunden.  Höfer  unternimmt  es,  die  these 
seines  lehrers  zu  erweisen,  indem  er  'scholastisch'  die  behauptung 
vor  den  beweis  stellt,  ist  seine  Untersuchung  nicht  so  spannend 
und  kunstvoll  wie  die  Rösters;  aber  in  ernster,  gründlicher  und 
umsichtiger  forschung  gelingt  es  ihm,  eine  ganze  reihe  von  sach- 
lichen und  sprachlichen  Übereinstimmungen  mit  den  übrigen 
werken  Stielers  (zumal  im  Wortschatz,  verglichen  mit  Slielers 
Wörterbuch)  aufzudecken,  die  die  bejahende  antwort  aufser  zweifei 
stellen,  doch  er  begnügt  sich  nicht,  den  namen  des  anonymus 
zu  ermitteln  :  die  endgültige  lösung  der  verfasserfrage  bildet  ihm 
nur  die  grundlage  für  den  zweiten,  gröfseren  teil,  der  in  ge- 
wanter,  anregender  darstellung  eine  allseitig  erschöpfende  Cha- 
rakteristik bietet,  'elegante  intrigueu-lustspiele'  rühmt  Gervinus 
diese  theaterstücke  aus  Stielers  frühzeit;  das  gilt  namentlich  von 
den  beiden  ersten  komödien  'Der  vermeinte  Printz'  und  'Erne- 
linde  oder  die  viermahl  Braut',  die  letztere  ist  —  auch  das  hat 
Gervinus  geahnt  und  Bolle  bestätigt  —  nur  Übersetzung  einer 
opera  tragica  des  Andrea  Giacinto  Cicognini,  aber  in  ihrer  von 
Höfer  gut  charakterisierten  eigenart,  ihrer  lebhaften,  natürlichen 
ausdrucksweise  der  bedeutsamste  Vorläufer  der  Moliere- Ver- 
deutschung von  1670.  romanischen  Vorbildern  folgt  Stieler,  ab- 
gesehen von  dem  historischen  Singspiel  'Die  Witlekinden',  auch 
in  den  Originallustspielen;  novellenstoffen  des  Pallavicino  ('Der 
vermeinte  Printz'),  Scarron  ('Der  betrogene  Betrug'),  Bandello- 
Boisteau  ('Die  erfreuete  Unschuldt')  und  Montchrestien  ('Basilene'). 
wie  er  sich  hier  mit  der  verwickelten  handlung  seiner  vorlagen 
abfindet,  wie  er  sie  auf  seine  drei  acte  verteilt,  setzt  Höfer  in 
eingehender  quellenanalyse  auseinander,  von  den  quellen  ab- 
hängig sind  auch  die  Charaktere,  individuelle  gestalten,  wie  sie 
die  deutsche  bühne  bis  dahin  nicht  gesehen;  relativ  selbständig 
dagegen  die  komischen  personen  Scaramutza  und  Pantalon,  die 
meist  mit  der  ernsten  handlung  organisch  verbunden  sind;  sie 
lagen  dem  dichter  so  am  herzen,  dass  er  sie  noch  in  seine 
späten  Schauspiele  Bellemperie  und  Willmut  herübergenommen 
hat,  oft  mit  wörtlichem  anklang  an  die  früheren,  das  schwächste 
an  diesen  dramen  ist  nach  Höfer  die  spräche  :  ein  neben-  und 
durcheinander  verschiedener  stilarten,  der  redeweise  der  eng- 
lischen komödianten  und  des  deutschen  kunstdramas,  des  höfischen 
verkehrstons  und  der  spräche  des  täglichen  lebens.  das  ge- 
lungenste die  technik  :  der  Budolstädter  hofdramatiker  baut  seine 
stücke  so  bühneugemäfs,  dass  Höfers  annähme,  er  sei  eine  zeit 
lang  Schauspieler  gewesen,  gewis  viel  für  sich  hat;  ihn  freilich 
mit  dem  um  1660  bezeugten  Hamburger  schauspielerprincipal 
Caspar  Stiller  zu  identiücieren,  ist  zwar  verlockend,  doch  zu  ge- 
wagt, wie  Höfer  selbst  zugibt,  auf  dem  technischen  fortschritt 
im  auibau    der   handlung,   in   der   Verwicklung   und   lösung  der 


HÜFER    DIE    RUDOLSTÄDTER    FESTSPIELE  39 

intrigue,  beruht  überhaupt,  so  gering  ihre  nachwürkung  ist,  die 
bedeutung  der  Stielerschen  festspiele  für  die  geschichte  des 
deutschen  dramas;  'unter  allen  Verfassern  höfischer  sing-, 
freuden-,  lusl-  und  trauerspiele  war  Stieler  der  einzige  dichter', 
so  hat  er  die  tüchtige  monographie  Ilüfers  verdieut,  der  seine 
kleinen  gelegenheitsstücke  uach  der  litterarischen  wie  nach  der 
sprachlichen  seite  vortrefflich  beleuchtet  hat  und  dabei  noch 
manches  problem  nebenher  berührt;  seinem  versuch,  den  redac- 
tor  des  'Liebeskampffes'  von  1630  als  Thüriuger  zu  localisieren, 
kann  mau  auf  grund  der  dargelegten  grammatischen  beobachtungen 
nur  zustimmen. 

Eine  persönlichkeit  von  eigenem  reiz  ist  durch  die  be- 
mühuugen  Kosters  und  Ilölers  zu  neuem  leben  erweckt,  die 
respectable  Vielseitigkeit  und  unverwüstliche  Zähigkeit  des  Spaten 
werden  wir  erst  jetzt  recht  schätzen,  wo  wir  die  derbe  liebes- 
lust  in  der  lyrik  und  das  kecke  zugreifen  in  der  dramatik  des 
frühen  erkannt  haben. 

Berlin.  P.  Stachel. 


Moses  Mendelssohn  und  die  deutsche  ästhetik.  von  Ludwig  Goldstein. 
[=  Teutonia.  arbeiten  zur  germanischen  philologie  herausgegeben 
von  Wilhelm  Uhl.  3  lieft.]  Königsberg  i.  Pr.,  Gräfe  &  Unger,  19U4. 
viii  und  240  ss.  S°.  —  5  m. 

Der  vortrefflichen,  kenntnis-  und  ergebnisreichen  arbeit 
Goldsteins  kann  aus  verschiedenen  gründen  hier  eine  ausführ- 
liche analyse  nicht  geboten  werden,  glücklicherweise  genügt  es 
auch  auf  die  sorgsame  und  genaue  Zusammenstellung  ihrer  resul- 
tate  zu  verweisen,  die  Hugo  Spitzer  in  der  Deutschen  litteratur- 
zeitung  1905,  sp.  1853  ff.  geliefert  hat.  in  Mendelssohns  forschung 
treffen  sich,  so  viele  entwickluugslinien  der  ästhelik  des  18  jh.s, 
dass  auch  nach  FBraitmaiers  umfänglicher  darlegung  in  seiner 
Geschichte  der  poetischen  theorie  und  kritik  von  den  discursen 
der  maier  bis  auf  Lessing  (1888f,  bd  u  s.  72 — 279)  noch  viel  für 
ihre  erhelluug  zu  leisten  bleibt.  Goldsteiu  hat  1897  in  seiner 
dissertation  'Die  bedeutung  Moses  Mendelssohns  für  die  ent- 
wickeluug  der  ästhetischen  kritik  und  theorie  in  Deutschland' 
erwogen,  mit  ausdrücklicher  berufung  auf  Horazens  'nonum 
prematur  in  annum'  legt  er  in  seiner  monographie  eine  er- 
weiterung  der  dissertation  vor.  schon  die  Problemstellung  der 
vorsludie,  dann  aber  auch  der  titel  des  buches  lässt  erkennen, 
dass  G.  nicht  blofs  die  quellen  von  Mendelssohns  ästhetischer  specu- 
lation,  sondern  auch  ihre  nachwürkung  aufdecken  will,  würklich 
dient  der  zweite  teil  der  Untersuchung  der  aufgäbe,  Mendels- 
sohns einfluss  auf  Lessing,  Herder,  Kaut  und  Schiller  zu 
bestimmen,  und  auch  innerhalb  der  analyse  von  Mendelssohns 
Schriften  fehlt  es  nicht  an  ausblicken  auf  spätere  arbeiten 
anderer,     so  stellt  G.  neben  die  illusionstheorie  Mendelssohns  die 


40       GOLDSTEIN    MOSES    MENDELSSOHN    UND    DIE    DEUTSCHE    ÄSTHETIK 

thesen,  die  Konrad  Lange  1895  in  seiner  Tübinger  antrittsvor- 
lesung  und  1901  in  dem  werke  'Das  wesen  der  kunst,  grund- 
züge  einer  realistischen  kunsllehre'  vorgebracht  hat,  beobachtet 
eine  auffallende  Übereinstimmung,  ja  findet  Mendelssohns  ge- 
danken  bei  Lange  'bis  in  ihre  letzten  consequenzen  hinein  ver- 
folgt'; freilich  scheint  ihm  'ein  unmittelbar  ursächlicher  Zusammen- 
hang' nicht  zu  bestehn  (s.  134 ff). 

Die  'ästhetischen  lehreu'  Mendelssohns  entwickelt  G.  der  chro- 
nologiscben  reihe  nach  1.  aus  den  'Briefen  über  die  empfindungen', 
2.  aus  den  'Hauptgrundsätzen  der  schönen  künste  und  Wissen- 
schaften', 3.  aus  den  'Betrachtungen  über  das  erhabene  und  naive' 
und  4.  aus  der  'Bhapsodie  oder  Zusätze  zu  den  briefen  über 
die  empfindungen'.  ohne  zwang  kann  bei  solcher  anordnung 
problem  für  problem  zur  erörterung  gelangen  :  im  ersten  ab- 
schnitt vor  allem  das  Verhältnis  von  kunst  und  moral,  im  zweiten 
die  eigentlichen  fragen  des  schönen  und  der  kunst,  im  dritten 
das  erhabene  und  sein  gegenstück,  die  grazie,  im  vierten  das 
illusionsmoment.  dann  die  Weiterbildung  des  begriffes  'erhaben' 
und  der  begriff  des  'lächerlichen',  historisch-philologischen  und 
systematischen  bedürfnissen  wird  gleichmäfsig  gedient,  die  glück- 
liche Verknüpfung  beider  gesichtspuncte  ist  ein  hauptvorzug  der 
arbeit,  dass  nur  sorgfältige  beobachtung  des  genetischen  die 
erkennlnis  der  ästhetik  des  18  jh.s  fördern  kann,  wissen  wir 
längst.  Goldstein  hält  deshalb  mit  vollem  rechte  die  verschiedenen 
phasen  von  Mendelssohns  anschauungen  über  das  erhabene  aus- 
einander; ja  er  scheidet  ganz  philologisch  die  drei  fassungen  der 
'Betrachtungen  über  das  erhabene  und  naive'  (s.  110  ff),  trotz 
solcher  neigung  zu  historisch-philologischer  methode  wird  er  in- 
des nie  so  unübersichtlich  wie  Brailmaier,  dessen  aneinander- 
gereihte Interpretationen  einzelner  abhaudlungen  die  systema- 
tischen richtlinien  oft  verdecken. 

Durchaus  gibt  G.  aus  guter  kenntnis  heraus  an,  wo  Mendels- 
sohn an  seine  Vorgänger  anknüpft  und  wie  er  sie  überholt,  doch 
da  sein  hauptinteresse  —  wie  erwähnt  —  der  nachwürkung 
Mendelssohns  augehört,  hat  er  manche  Vorstufe  nicht  so  sorg- 
lich betrachtet,  wie  es  wünschenswert  wäre,  allerdings  ist  — 
auch  nach  HvSteiu,  Brailmaier,  RSommer  —  Voraussetzung  und 
entwicklung  der  ästhetischen  begriffe  der  ersten  hälfte  des  18  jh.s 
noch  lange  nicht  so  klargestellt,  dass  eine  arbeit  über  Mendels- 
sohn nur  festgelegte  linien  weiterzuzeichnen  hätte,  je  tiefer  man 
forscht,  desto  leichter  verwirren  sich  die  linien;  und  so  kann 
auch  einem  guten  kenner  und  gewissenhaften  arbeiter  wichtiges 
unter  der  hand  verloren  gehn. 

Auch  Goldstein  ist  trotz  aller  mühe ,  die  er  aufwendet, 
einer  aufgäbe  nicht  gerecht  geworden,  die  —  wie  mir  scheint  — 
dem  forscher  sich  vor  alleu  anderen  aufdrängen  sollte,  wenn  er 
Mendelssohns  lehrer  erkunden  will  :  er  weifs  mit  dem  wichtigsten, 


GOLDSTEIN    MOSES    MENDELSSOHN    UND    DIE    DEUTSCHE    ÄSTHETIK       41 

mit  Shaftesbury  nichts  aüzufangen.  zwar  wird  er  mehrfach  an- 
geführt, doch  eigentlich  nur  dann,  wenn  ein  citat  Mendelssohns 
ihn  selbst  nennt,  dass  Shaftesbury  seinem  schüler  Mendelssohn 
nicht  blofs  die  form  seiner  'Philosophischen  gespräche'  und  seiner 
'Briefe  über  die  emplindungen',  ferner  den  titel  der  'Rhapsodie' 
geliehen  hat,  ist  selbstverständlich,  aus  G.s  darlegung  ergäbe 
sich  indes  kaum  mehr  als  gelegentliche  anregung  Mendelssohns 
durch  Shaftesbury,  etwa  in  der  ablehnung  vollkommener  Charak- 
tere (s.  32).  Shaltesbury  aber,  der,  je  mehr  mau  sich  mit  ihm 
beschäftigt,  desto  stärker  als  allseitige  grundlage  der  ästhe- 
tischen speculatioo  des  18  jb.s  sich  offenbart,  wäre  fast  bei 
jedem  problem  heranzuziehen  gewesen,  das  Goldstein  in  Mendels- 
sohns theoretischen  betrachtungen  iindet.  leider  hat  Goldstein 
zwei  bücher  nicht  benutzt,  die  ihm  sofort  die  richtigen  wege  ge- 
wiesen hätten  :  Franz  Pomeznys  'Grazie  und  grazien  in  der 
deutschen  litteratur  des  18  jh.s'  (1900)  und  die  2  aufl.  des  1  bd.s 
von  Max  Dessoirs  'Geschichte  der  neueren  deutschen  psychologie' 
(1902).  dort  hätte,  was  G.  über  'grazie,  reiz,  anmut' (s.  117  ff.) 
sagt  und  über  die  discussion,  der  Mendelssohn  diese  begriffe 
unterzieht,  seine  beste  und  zugleich  eine  wesentlich  berichtigende 
Voraussetzung  gefunden;  und  auf  Shaftesbury  hätte  er  sich 
sofort  verwieesn  gesehen.  Dessoir  konnte  ihn  in  Shaftesbury 
den  anreger  anderer  ästhetischer  gedanken  Mendelssohns  er- 
kennen lassen. 

Hier  sei  nur  das  wichtigste  herausgehoben  :  die  frage  nach 
dem  Verhältnis  von  kunst  und  natur.  G.  (s.  43  ff)  bespricht 
Mendelssohns  polemik  gegen  Batteux  und  gegen  die  lehre  von 
der  nachahmung  der  natur;  aus  ihr  entwickelt  er,  was  Mendels- 
sohn 'idealische  Schönheit'  nennt  (s.  46  fi).  was  die  natur  in 
verschiedene  gegenstände  zerstreut  hat,  versammele  der  künstler 
in  einem  einzigen  gesichtspuncte  und  bilde  sich  ein  ganzes 
daraus,  eine  concentrierung  des  schönen  der  natur  ist  seine 
aufgäbe,  das  beruht  durchaus  auf  Shaftesbury  und  entspricht 
seiner  tendeuz,  die  ästhetische  formel  von  der  einheit  in  der 
mannigfaltigkeit  tiefer  zu  begründen,  an  diese  stelle  Mendels- 
sohns knüpft  dann,  gleichfalls  von  Shaftesbury  inspiriert,  KPhMoritz 
an  (vgl.  Siegmund  Auerbach  Deutsche  litteraturdenkmale  des 
18  und  19  jh.s,  heft  31,  s.  xxv  anm.  1).  ein  verkleinertes 
abbild  der  natur,  aber  nicht  ihr  nachgemalt,  sondern  mit  gott- 
ähnlicher schöpferischer  kraft  als  ganzes  geschaffen  :  so  stellt 
sich  das  kunstwerk  in  Shaftesburys,  Mendelssohns  und  Moritzens 
geiste  dar.  auf  die  abweichungen,  die  im  einzelnen  neben  der 
Übereinstimmung  in  grundgedanken  sich  zeigen ,  sei  hier  nur 
hingedeutet,  sie  beeinträchtigen  die  tatsache  nicht,  dass  Mendels- 
sohn seine  waffen  zum  kämpf  gegen  Batteux  sich  von  Shaftes- 
bury holt,  der  lange  vor  Batteux  das  richtigere  gesehen  hatte, 
von  Shaftesburys  anschauung  der  künstlerischen  gestaltung  gehn 


42       GOI.DSTEIN    MOSES    MEEVDELSSOHN    U.ND    DIE    DEUTSCHE    ÄSTHETIK 

dann  notwendigerweise  auch  die  neuen  prädicate  aus,  die  dem 
schöpferischen  genius  des  dichters  geliehen  werden,  und  mit  denen 
Mendelssohn  ebenso  arbeitete,  wie  die  Schweizer  und  Lessing. 
G.  erwägt  diese  zusammenhänge  nicht,  wenn  er  3Iendelssohns 
ansichteu  über  das  genie  vorträgt  (s.  19f). 

Nicht  besonderen  wert  leg  ich  auf  den  umstand,  dass  von 
Shaftesbury  auch  Harris  gelernt  hat,  der  (s.  55 ff.)  von  G.  als 
gewährsmann  Mendelssohns  augerufen  wird,  seine  Scheidung 
der  künste  ist  von  seinem  oheim  Shaftesbury  inspiriert,  wahr- 
scheinlich hatte  Mendelssohn  aus  Shaftesbury  'Iudgement  of  Her- 
cules' längst  die  anregung  gewonnen,  die  besonderen  bedingungen 
erzählender  und  darstellender  kunst  zu  beachten,  ehe  er,  von 
Harris  (oder  nur  von  Dubos?)  weitergeleitet  zum  Vorläufer  von 
Lessings  'Laokoon'  geworden  ist.  wahrscheinlich  —  denn  wer 
wollte  solche  dinge  als  gewis  hinstellen?  grade  Shaftesburys 
lehren  sind  durch  so  viele  hände  gegangen ,  dass  eine  exacte 
Scheidung  seines  unmittelbaren  und  seines  mittelbaren  einflusses 
kaum  noch  herzustellen  ist. 

Manches  könnte  auch  durch  die  Schweizer  an  Mendelssohn 
weitergegeben  worden  sein,  den  Schweizern  wird  G.  überhaupt 
nicht  ganz  gerecht,  und  doch  ist  zb.  Mendelssohns  und  Lessings 
briefwechsel  über  tragüdie  und  epos  von  1756  und  1757 
nur  eine  Weiterbildung  von  Bodmers  und  Contis  'Briefwechsel 
von  der  natur  des  poetischen  geschmackes'  (1736).  schon  Brait- 
maier  (i  190)  hat  den  Zusammenhang  gesehen  (vgl.  auch  meine 
bemerkungen  in  diesem  Anzeiger  xvii  65  f).  Bodmer  und 
Conti  spielen  in  ihrer  controverse  ganz  ähnliche  rollen  wie 
Mendelssohn  und  Lessing.  Bodmer  und  Mendelssohn  kämpfen 
für  den  'bewunderten'  helden  im  trauerspiel  und  finden  in  der 
illusion  die  hauptursache  tragischer  lust;  Lessing  tritt  wie  Conti 
für  den  'bemitleideten'  helden  ein  und  will  der  illusion  nicht  die 
wertung  zuschreiben,  die  jene  anderen  ihr  zuerkennen.  G.  (s.  33. 
125  ff)  bespricht  beide  gesichtspuncte,  weist  indes  nicht  auf 
Conti  und  auch  nicht  auf  Bodmer  hin,  der  doch  augenscheinlich 
die  nächste  Voraussetzung  von  Mendelssohns  illusionstheorie  ist. 
G.  wäre  besserer  erkenntnis  wol  näher  gekommen,  wenn  er 
den  briefwechsel  Lessings  und  Mendelssohns  von  1756  und  1757 
nicht  unbillig  unterschätzte,  der  briefwechsel  ist  mehr  als  ein 
'unfruchtbares  hin  und  her  der  anschauungen  und  einfalle'  (s.  214 
anm.  1).  dass  Lessing  hier  sogar  über  die  Hamburgische  dra- 
maturgie  hinausgekommen  ist,  wissen  wir  längst.  Mendelssohn 
widerum  nimmt  vorweg,  was  Schiller  später  auf  breiterer  basis 
aufgebaut  hat. 

Die  einwände,  die  ich  vorgebracht  habe,  sollen  das  günstige 
urteil  nicht  beeinträchtigen,  das  Spitzer  gefällt  und  dem  ich  mich 
oben  angeschlossen  habe,  die  positive  leistung  G.s  käme  besser 
zutage,   wenn  auch  ich  eine  ausführliche  analyse  gegeben  hätte. 


GOLDSTEI.\    MOSES    MENDELSSOHN    UND    DIE    DEUTSCHE    ÄSTHETIK       43 

dass  G.  manches  übersieht,  dass  er  da  und  dort  fehlgeht,  mache 
ich  ihm  nicht  zum  Vorwurf1,  ich  seihst  bin  mir  wol  bewust,  dass 
alle  Studien  auf  diesem  leide  noch  lange  über  das  Stadium  der 
Vorarbeit  nicht  hiuausgelangen  werden,  viel  zu  grofs  und  viel 
zu  compliciert  ist  die  geschichte  der  ästhetik  des  IS  jh.s,  als 
dass  in  absehbarer  zeit  eine  reinliche  und  vollständige  Zeichnung 
ihrer  entwicklungslinien  zu  geben  wäre. 

Bern,  4  april  1907.  Oskar  F.  Walzel. 


Goethes  Unterhaltungen  mit  Friedrich  Soret.  nach  dem  französischen  texte 
als  eine  bedeutend  vermehrte  und  verbesserte  ausgäbe  des  dritten 
teils  der  Eckermannschen  gespräche  hg.  von  dr  C.  A.  H.  Burkhardt. 
Weimar,  Hermann  Böhlaus  nachf.,   1905.     xvn  u.  158  ss.  8°.  —  4  m. 

Burkhardts  neue  gäbe  muss  mit  aufrichtigem  danke  begrüfst 
werden,  das  bändchen  bedeutet  zwar  keine  starke  stoffliche  Ver- 
mehrung des  gewaltigen  corpus  der  gespräche  Goethes,  ist  doch 
schon  im  dritten  bände  von  Eckermanns  buche  zum  grofsen  teile 
abgedruckt,  was  Burkhardt  vorzulegen  hat.  indes  grade  das  Ver- 
hältnis dieser  authentischen  aufzeichnungen  Sorets  zu  Eckermanns 
bericht  ist  sachlich  von  grofser  bedeutung  und  kann  zu  beachtens- 
werten methodischen  erwä'gungeu  führen. 

In  der  vorrede  zum  3  bände  berichtet  Eckermaun,  Soret  habe 
von  seinen  persönlichen  berührungen  mit  Goethe  'in  seinen  tage- 
büchern  häufig  notiz  genommen',  'ein  daraus  zusammengestelltes 
kleines  manuscript'  ihm  übergeben  und  gestattet,  das  'beste  und 
interessanteste'  in  den  3  band  chronologisch  zu  verweben.  Burk- 
hardt kann  jetzt  die  deutsche  Übertragung  von  Sorets  aufzeich- 
nungen über  seinen  verkehr  mit  Goethe  vorlegen;  er  liefert  da- 
mit der  forschung  ein  aufserordentlich  brauchbares  mittel,  den 
wert  von  Eckermanns  text  richtig  einzuschätzen,  nicht  ganz 
verständlich  ist  mir,  warum  er  nicht  sofort  das  französische 
original,  also  die  eigentliche  quelle  Eckermanns  abdruckt,  sondern 
sie  künftiger  Veröffentlichung  vorbehält. 

Das  hauptresultat  der  vergleichung  von  Sorets  und  Ecker- 
manns text  ist  :  Eckermann  hat  von  168  nummern  nur  73  be- 
nutzt, und  zwar  hat  er  sich  starke  redactionelle  eingriffe  erlaubt. 

Ich  kann  nun  nicht  mit  Burkhardt  wegen  solchen  Vorgehens 
gegen  Eckermann  vorwürfe  erheben,  er  hat  sicher  optima  fide 
gehandelt,  seinem  gewährsmann  dachte  er  augenscheinlich  alle 
nötige  ehre  erwiesen  zu  haben,  wenn  er  die  von  ihm  übernommenen 
gespräche  mit  einem  Sternchen  versah,  weder  vollständige  be- 
rücksichtigung  noch  wortgetreuer  abdruck  war  ihm  zur  bedingung 
gemacht  worden,  stilisierend  einzugreifen  war  ihm  selbstver- 
ständlich,    denn  ganz  sicher  hat  er  auch  stilisiert,  wenn  es  sich 

1  ua.  vergisst  G.  s.  203  den  vf.  der  'Lettre  sur  la  sculpture'  zu  nennen: 
es  ist  Franz  Hemsterhuis. 


44       BURKIIARDT    GOETHES    UNTERHALTUNGEN    MIT    FRIEDRICH    SORET 

um  seine  eigenen  gespräche  mit  Goethe  handelte,  oder  glaubt 
man  wQrklich,  dass  wort  für  wort  Goethe  all  das,  was  Ecker- 
mann niederschreibt,  mit  ihm  gesprochen  hat?  gewis  hat  weder 
Eckermaun  diesen  ausspruch  erhoben  noch  irgend  ein  anderer, 
der  für  Zeitgenossen  oder  nachweit  Goethes  gespräche  aufzeichnete. 

Vielleicht  wäre  es  besser,  hier  nicht  auf  Bettinas  freies 
schalten  mit  Goethes  Worten  zu  verweisen.  Bettinas  Goethebuch 
ist  ein  ausnahmefall,  oder  besser  gesagt  :  ein  extrem,  aber 
zwischen  diesem  extrem  und  wortgetreuer  widergabe  liegen  viele 
möglichkeiten.  und  innerhalb  dieser  grenzen  bewegen  sich  die 
vielen  papiere,  die  als  gespräche  Goethes  erhallen  sind. 

Allerdings,  wenn  ich  sehe,  wie  rückhaltlos  und  unbedenk- 
lich neuere  forschung  diese  gespräche  verwertet,  als  ob  sie 
authentischen  text  von  Goethes  band  vor  sich  hätte:  da  frage  ich 
mich  oft,  ob  jene  selbstverständlichen  kritischen  erwägungen 
würklich  nicht  angestellt  werden,  jüngst  habe  ich  darum  aus- 
drücklich die  notwendigkeit  betont,  einmal  an  Eckermanns  be- 
richte die  kritische  sonde  zu  legen  (Goethe-Jahrbuch  27,  170). 
willkommene  bestätigung  meiner  zweifei  an  der  absoluten  Zuver- 
lässigkeit von  Eckermanns  text  ist  mir  darum  Burkhardts  Ver- 
öffentlichung. 

Ich  widerhole:  nicht  gegen  Eckermann  sei  ein  Vorwurf  er- 
hoben, er  —  wie  so  viele  andere  berichterstatter  —  hat  nur 
getan,  was  er  für  sein  unbestreitbares  recht  hielt,  konnte  er 
ahnen,  dass  einst  eine  Goetheforschung  erstehen  werde,  der  jedes 
wort  Goethes  ein  wichtiges  zeugnis  darstellt?  nicht  für  die 
philologen  von  heute  hat  er  geschrieben,  aber  diese  philologen 
von  heute  müssen  sich  bewust  bleiben,  dass  von  stilisierender 
band  geordnete  und  im  einzelnen  ausgeführte  und  ausgeschmückte 
'gespräche'  nicht  ad  verbum  hingenommen  werden  dürfen. 

Eckermann  hat  viele  von  Sorets  notizen  nicht  benutzt,  das 
durfte  er  tun;  und  auch  heute  kann  ihm  zugebilligt  werden, 
dass  er  mauches  unbedeutende,  um  nicht  zu  sagen  wertlose 
streicht.  Eckermaun  hat  ferner,  was  er  übernahm,  nach  gut- 
dünken  zurechtgestutzt,  hat  etwa  gern  die  gesprächsform  stärker 
herausgearbeitet  und  dem  mitunterredner  worte  geliehen,  die  in 
Sorets  bericht  nicht  zu  ünden  sind,  auch  das  gieng  nicht  über 
die  grenze  seiner  competenz. 

Die  forschung  jedoch  muss  jede  der  auslassungen  auf  die 
goldwage  legen  und  jede  stilistische  änderung  sich  wol  merken, 
weil  sie  dann  erkennt,  nach  welchen  principien  Eckermann  über- 
haupt seine  mitteilungen  zu  gestalten  pflegte,  und  gewis  nicht 
nur  Eckermann,  auch  die  mehrzahl  seiner  genossen. 

Ich  habe  aao.  die  Vermutung  gewagt,  Eckermann  lege  sich 
äufserungen  Goethes  über  Schiller  aus  eignem  in  dem  sinne  zu- 
recht, dass  Schiller  auf  Goethe  nicht  immer  günstig  gewürkt  habe, 
jetzt  zeigt  sich,  dass  er  eine  notiz  Sorets  fallen  läßt,  die  Schiller 


BURKHARDT    GOETHES    UNTERHALTUNGEN    MIT    FRIEDRICH    SORET       45 

rühmend  erwähnt,  eine  andere  verschärft,  in  der  ein  einwand 
gegen  Schiller  erhohen  wird,  die  nicht  aufgenommene  stelle 
lautet: 

Der  alte  herr  .  .  .  erwähnte  auch  die  meinung  Schülers,  der 
ihm  gesagt  habe,  um  ein  vollkommenes  theater  zu  haben,  müsse 
man  wöchentlich  eine  Vorstellung  geben,  zu  welcher  frauen  nicht 
zugelassen  würden;  doch  brauche  man  es  nicht  so  genau  zu  nehmen, 
wenn  sie  sich  etwa  in  Verkleidung  in  die  logen  einschlichen,  meine 
schönen  damen,  fuhr  er  fort,  Schiller  hatte  viel  mehr  witz, 
als  sie  sich  gewöhnlich  einbilden!    (s.  1191). 

Die  zweite  stelle  ist  zugleich  ein  anschaulicher  heleg  für 
Eckermanns  redactionelle  erweiterungen: 

Soret  (s.  103)  Eckermann  (17  März  1830) 

.  .  .   zumal    seine    [Schillers]  Besonders  seine  ersten  stücke, 

ersten  stücke  waren  unendlich  die  er  in  der  ganzen  fülle  der 
lang ;  er  hatte  eine  solche  über-  jugend  schrieb,  wollen  gar  kein 
fülle  von  gedanken  oder  icorten,  ende  nehmen,  er  hatte  zu  viel 
die  er  nicht  beherschen  konnte,  auf  dem  herzen  und  zu  viel  zu 
man  sieht,  wie  er  sich  mühe  gibt,  sagen,  als  dass  er  es  hätte  be- 
aber  ungeachtet  seiner  Studien  herschen  können,  später,  als  er 
und  arbeiten  hat  er  diesen  fehler  sich  dieses  fehlers  bewust  war, 
nicht  abgelegt,  man  empfindet  gab  er  sich  unendliche  mühe  und 
es  selbst  bei  seinen  letzten  schrif-  suchte  ihn  durch  Studium  und 
ten.  concentrieren  bleibt  doch  die  arbeit  zu  überwinden ,  aber  es 
hauptsache.  hat    ihm    damit    nie    recht    ge- 

lingen wollen,  seinen  gegenständ 
gehörig  beherschen  und  sich  vom 
leibe  halten,  und  sich  nur  auf 
das  durchaus  notwendige  concen- 
trieren, erfordert  freilich  die 
kräfte  eines  poetischen  riesen 
und  ist  schwerer  als  man  denkt. 

Für  unendlich  lang  setzt  Eckermann  das  ungünstigere 
wollen  gar  kein  ende  nehmen,  er  unterdrückt  die  überfülle  der 
gedanken.  Soret  bemerkt,  man  empfinde  den  fehler  selbst  bei 
seinen  letzten  Schriften.  Eckermann  formuliert  abschätziger,  es 
habe  Schiller  damit  nie  recht  gelingen  wollen,  und  wo  bei  Soret 
nur  von  der  notwendigkeit  der  concentration  die  rede  ist,  da 
erwächst  unter  Eckermanns  bänden  der  Vorwurf,  dass  Schiller 
seinen  gegenständ  nicht  gehörig  behersche.  durch  die  schluss- 
floskel  vollends  rückt  Goethe  fast  in  fatales  licht;  sie  klingt,  als  ob 
er  sich  selbst  als  'poetischen  riesen'  hinstelle,  der  Schwierigkeiten 
überwinde,  denen  Schiller  nicht  gewachsen  war. 

Auch  die  bekannte  äufserung  Goethes  über  die  rolle,  die 
Schiller  und  seine  Hören  in  der  entstehung  von  Goethes  balladen 
spielen,    geht  auf  Soret  (s.  96)  zurück  und  ist   von  Eckermann 


46       BURKHARDT    GOETHES    UNTERHALTUNGEN    MIT    FRIEDRICH    SORET 

(14  märz  1830)  ähnlich  retouchiert  worden  K  mithin  sind  von 
den  neun  stellen,  die  in  Sorets  aufzeichnungen  Schiller  betreffen 
und  die  zt.  ganz  belanglose  erwähnungen  bedeuten ,  drei  mehr 
oder  minder  in  einem  für  Schiller  ungünstigen  sinne  von  Ecker- 
mann umgestaltet,  dabei  bedarf  es  gar  nicht  der  annähme,  dass 
Eckermann  aus  einem  tiefer  liegenden  gründe  solche  Umwertung 
vornimmt,  vielmehr  lag  es  in  seiner  litterarischen  kammerdiener- 
rolle, den  eignen  herrn  auf  kosten  andrer  herauszustreichen, 
schlimmer  noch  ergieng  es  aus  ähnlichen  gründen  den  roman- 
tikern  bei  diesen  subalternen,  die  Goethes  antipathie  gegen  die 
einzelnen  Vertreter  des  kreises  diensteifrig  zu  übertrumpfen 
suchten,  dafür  kann  auch  Soret  als  zeuge  angerufen  werden, 
am  8  october  1828  (s.  57)  nimmt  Soret  'gegen  das  ende  eines 
diners,  das  Goethe  für  Tieck  und  dessen  gemahlin  gab,  an  der  ge- 
sellschaft  teil',  er  bucht  :  Tieck  erwies  Goethen,  soviel  ich  mich  er- 
innere, sehr  viele  höflichkeiten,  die  aber  auf  mich  keinen  besonderen 
eindruck  machten,  am  abend  list  danu  Tieck  bei  frau  Schopen- 
hauer Scherz,    list  und  räche  und  sein  Rotkäppchen  vor.     Soret 

1  die  unmittelbar  folgenden  worte  Sorets  sind  von  Eckermann  zu  einer 
oft  citierten  darlegung  verwertet  worden  :  Goethe  spricht  von  gedichten, 
die  —  im  gegensatz  zu  den  lange  von  ihm  im  köpfe  getragenen  bailaden  — 
sofort  nach  der  conception  zu  papier  gebracht  wurden,  eine  idee  tauchte 
plötzlich  in  mir  auf;  ich  hatte  kaum  zeit  zur  feder  zu  greifen  oder 
darauf  zu  achten,  dass  das  papier  ganz  schief  lag.  es  kam  vor,  dass  ich 
in  der  diagonale  schrieb  und  unter  einem  tvinkel  unten  ankam,  dass  mir 
für  das  ende  des  verses  kein  platz  mehr  blieb,  wie  hat  Eckermann  den 
bericht  Sorets  mit  blumen  verziert!  ich  hatte  davon  vorher  durchaus  keine 
eindrücke  und  keine  ahnung,  sondern  sie  kamen  plötzlich  über  mich  u?id 
wollten  augenblicklich  gemacht  sein,  so  dass  ich  sie  auf  der  stelle  instinct- 
mäfsig  und  traumartig  niederzuschreiben  mich  getrieben  fühlte,  welche 
copia  verborum  !  keine  eindrücke  und.  keine  ahnung  :  was  soll  da  Ein- 
drücke' besagen?  'instinclmäfsig',  Hrainnartig'  :  nichts  deutet  bei  Goethe 
auf  solche  termini.  aber  es  wird  noch  besser  :  in  solchem  nachtwand- 
lerischen zustande  geschah  es  oft,  dass  ich  einen  ganz  schiefliegenden 
papierbogen  vor  mir  hatte,  und  dass  ich  dieses  erst  bemerkte,  wenn  alles 
geschrieben  war,  oder  wenn  ich  zum  weiterschreiben  keinen  platz  fand. 
Sorets  worte,  dass  für  das  ende  des  verses  kein  platz  geblieben  sei,  sind 
ganz  plastisch  und  verständlich  :  eine  natürliche  folge  der  läge  des  papiers. 
Eckermann  verdeckt  und  verundeutlicht  den  Vorgang  durch  seine  verall- 
gemeinerndere  Wendung  'zum  weiterschreiben',  dann  aber  muss  er  doch 
auch  zu  dem  von  Soret  gebrauchten,  völlige  klarheit  schaffenden  worte 
ldiagonale'  greifen  :  ich  habe  mehrere  solcher  in  der  diagonale  geschrie- 
benen blätter  besessen;  sie  sind  mir  jedoch  nach  und  nach  abhanden 
gekommen,  so  dass  es  mir  leid  tut,  keine  proben  solcher  poetischen  Ver- 
tiefung mehr  vorzeigen  zu  können.  Soret  hatte  notiert  :  ich  bedaure, 
keine  solchen  blätter  mehr  zu  besitzen,  um  als  Zeugnis  für  diese  anfülle 
poetischer  Zerstreutheit  dienen  zu  können.  Eckermanns  'Vertiefung' 
für  Sorets  'Zerstreutheit'  ist  köstlich,  sie  charakterisiert  den  philister!  — 
übrigens  beruht  Burkhardts  anmerkung  1  zu  s.  96  wol  auf  einem  versehen: 
die  äufserungen  über  Schiller  und  über  die  'diagonale'  haben  bei  Soret  das 
datum  :  8  märz  1830,  und  Eckermann  stellt  sie  zum  14  märz,  nicht  um- 
gekehrt, wie  Burkhardt  angibt,  auch  die  anmerkungen  auf  s.  95  und  97 
scheinen  mir  mit  dem  wahren  tatbestande  nicht  übereinzustimmen. 


BURKHARDT    GOETHES    UNTERHALTUNGEN    MIT    FRIEDRICH    SORET       47 

bekennt  :  ich  weifs  nicht,  was  für  eine  ablehnende  Stimmung  über 
mich  gekommen  war,  dass  die  Vorlesung,  die  man  über  die  maßen 
gelobt  hatte,  mich  au /'serordentlich  kalt  ließ.  in  einer  zeit  also, 
da  Goethe  mit  Tieck  zu  freundschaftlichsten  beziehungen  gelangt 
war,  gefällt  sich  Soret  in  der  rolle  des  unversöhnlichen. 

Um  so  beachtenswerter  ist  eine  notiz  vom  14  märz  1830, 
die  Eckermann  nicht  benutzt  hat.  zwar  bezieht  sie  sich  zunächst 
auf  französische  und  nicht  auf  deutsche  romantik;  der  begriff  ist 
aber  soweit  gefasst,  dass  sie  als  eines  der  interessantesten  be- 
kenntnisse  Goethes  über  das  romantische  seiner  eignen  dichtung 
dienen  kann.  Goethe,  heifst  es  (s.  99),  billige  die  exclusivilät  der 
heutigen  romantik  so  wenig  wie  die  beschränkten  pedanterieen  ge- 
wisser classiker.  er  wolle  keine  der  beiden  formen  ausge- 
schlossen sehen,  ich  .  .  .  habe  in  strenger  classischer  form  gegen- 
stände behandelt,  die  nach  griechischem  muster  behandelt  werden 
musten ,  um  wahr  zti  bleiben ;  und  wenn  es  auf  der  einen  seite 
eine  torheit  gewesen  wäre,  die  drei  einheiten  im  Götz  zu  beachten, 
so  würde  es  andrerseits  gegen  alle  emp findung  des  schönen  ver- 
stoßen haben,  hätte  ich  meiner  Iphigenie  einen  romantischen  auf- 
putz  geben  wollen,  ist  es  zu  weit  gegangen,  wenn  man  Ecker- 
mann gleichfalls  eine  gewisse  antipalhie  gegen  die  romantik  zu- 
erkennt, da  er,  der  so  viel  ungünstiges  über  sie  im  1  und  2  bd 
zu  berichten  hat,  die  worte  Sorets  in  seinem  3  bd  nicht  auf- 
genommen hat? 

Ich  breche  hier  ab  und  bin  mir  wol  bewust,  dass  diese 
wenigen  beispiele  nicht  genügen,  das  problem  zu  lösen,  doch 
auch  ein  ausführlicherer  vergleich  von  Sorets  aufzeichnungen 
und  Eckermanns  bearbeitung  ergäbe  zunächst  wohl  nichts  posi- 
tiveres, endgiltig  wäre  die  frage  nach  der  glaubwürdigkeit  der 
'gespräche'  Goethes  und  nach  der  authenticität  ihres  Wortlauts 
nur  durch  umfassende  Studien  zu  erbringen,  ich  zweifle  indes 
nicht,  dass  ihr  resultat  mit  den  annahmen  übereinkäme,  die  ich 
oben  vorgebracht  habe. 

Bern,  3  Januar  07.  Oskar  F.  Walzel. 


Schiller,  von  Otto  Harnack.  mit  zehn  bildnissen  und  einer  handschrift. 
zweite  verbesserte  aufläge.  Berlin,  Ernst  Hofmann,  1905.  xm  und 
446  ss.  S°.  —  4  m. 

Die  neue  ausgäbe  enthält,  von  der  vorrede  abgesehen, 
28  Seiten  mehr  als  die  erste;  diese  kommen  aber  weniger  auf 
rechnung  der  ergänzungen  als  des  breiteren  druckes.  die  bilder 
sind  von  zwei  auf  zehn  vermehrt  :  von  den  beiden  alten  wurde 
die  schlechte  widergabe  der  Danneckerbüste  durch  eine  gute  er- 
setzt, die  Zeichnung  von  Bolt  (1804)  beibehalten;  dazu  kommen 
acht  neue,  darunter  zwei  porträts  aus  dem  jähre  1786,  das  eine 
von  Graff  an  der  spitze  des  buches,   das   andere    (ein  Ölgemälde 


48  HARNACK    SCHILLER 

im  Schillerhaus  zu  Weimar)  von  einem  unbekannten  maier  nach 
s.  96,  welches  man  besonders  willkommen  heifst,  weil  es  selten 
zu  sehen  ist;  doch  fällt  der  zusatz  'aus  der  Mannheimer  zeit'  auf: 
1786  war  doch  Schillers  Dresdner  zeit!  wer  übrigens  die  beiden 
porträts  vergleicht,  muss  staunen,  wie  verschiedene  maier  zur 
selben  zeit  von  derselben  persönlichkeit  so  verschiedene  bilder 
zustande  bringen  konnten;  an  naturwahrheit  steht  das  von  Graff 
sicher  voran,  der  nachslich  von  Schillers  brief  an  Körner  aus 
dem  j.  1795  wurde  wie  anderes  nicht  gut  (beim  hymnus  'An 
die  Freude')  eingereiht;  wenigstens  einigermafsen  sollte  der  zeit- 
liche Zusammenhang  zwischen  text  und  bildwerk  gewahrt  bleiben, 
um  den  eindruck  des  raritätenkastens  fern  zu  hallen. 

Die  änderungen  im  text  verteilen  sich  über  das  ganze  buch, 
sind  nicht  bedeutend,  bringen  vorzüglich  ergäuzungen,  seltener 
berichtigungen  :  so  wird  bei  der  Mitterarischen  übersieht'  (s.  427  ff) 
litteratur  nachgetragen,  bei  besprechung  von  Schillers  jugend- 
lectüre  wenigstens  Rousseau  eingesetzt  (s.  20),  im  ix  capitel 
Schillers  einfluss  auf  Goethe  höher  bewertet,  am  meisten  ge- 
wonnen hat  die  darstellung  der  ästhetischen  Schriften  Sch.s.  für 
seine  meinung,  dass  die  beiden  prosaaufsätze  'Über  das  erhabene' 
und  'Gedanken  über  den  gebrauch  des  gemeinen  und  niedrigen 
in  der  kunst'  erst  1801  entstanden  seien,  schiebt  H  eine  er- 
wägung  ein,  welche  er  zuerst  im  Euphorion  6,  543  vorgetragen 
hat.  allein  alle  gründe,  die  er  anführt,  sind  so  allgemeiner  natur, 
dass  sie  geringe  beweiskraft  besitzen;  mit  ähnlichen  gründen 
des  Zusammenhangs  hat  schon  Tomaschek  (Seh.  in  seinem  Ver- 
hältnis zur  Wissenschaft  208 ff)  eine  ältere  entstehungszeit  zu  er- 
härten gesucht,  am  gewichtigsten  bleibt  jedesfalls  H.s  hinweis, 
dass  Seh.  bei  'seiner  beständigen  manuscriptnot'  diese  prosaauf- 
sätze früher  verwendet  hätte,  wenn  sie  vorhanden  gewesen  wären, 
dass  aber  auch  dieser  grund  nicht  stichhaltig  ist,  lässt  sich  aus 
einem  briefe  Schillers  beweisen  :  am  21  december  1795  schreibt 
Seh.  an  Körner  :  der  Aufsatz  über  ästhetische  Sitten  ist  schon  ein 
alter  und  ganz,  wie  er  da  ist1,  vor  mehr  als  zwei  Jahren  in 
Schwaben  gemacht,  man  sieht  :  trotz  der  'beständigen  manuscript- 
not' konnte  Seh.  auch  fertige  arbeiten  jahrelang  zurückhalten. 

Ganz  neu  ist  die  vorrede,  aber  im  wesentlichen  nur  eine 
Verteidigung  gegen  besprechungen  der  ersten  aufläge,  da  wehrt 
sich  H.  gegen  die  Zumutung,  dass  er  die  Weiterbildung  des  in 
Sch.s  Räubern  geschaffenen  typus  hätte  verfolgen  sollen,  nicht 
ohne  heiterkeit  las  ich,  dass  ich  diese  forderung  (Anz.  xxvn  189) 
aufgestellt  haben  soll,  dem  ist  aber  nicht  so.  ich  wünschte  für 
den  leser  einigen  aufschluss  über  die  stoffquellen,  über  die  litle- 
rarischen  Vorbilder,  über  die  einwürkung  der  zeitverhältuisse, 
über  die  ueue  dramatische  spräche,  über  die  nachahmungen  und 
über  die  litterarhistorische  bedeutung  :  lauter  dinge,  die  man  von 

1  gemeint  ist  das  elfte  stück  der  Hören,  wo  er  zuerst  gedruckt  wurde. 


BARNACK    SCHILLER  49 

einem  biographen  verlangen  darf.  H.  allerdings  bestreitet  das 
und  meiut,  es  'wäre  gänzlich  fehlerhaft,  die  leser  auf  solche 
weise  von  Schillers  leben  und  wesen  abzuziehen',  nach  meiner 
meinung  würde  der  leser  dadurch  erst  recht  in  das  wesen  und  die 
werke  eingeführt,  aber  II.  briugt  noch  einen  anderen  vorwand: 
derartiges  gehöre  wol  in  eine  litteraturgeschichte,  aber  nicht  in 
eine  biographie.  auch  hierin  urteile  ich  anders,  der  biograph  darf 
nicht  die  erledigung  der  wichtigsten  aufgaben  dem  litleraturhisto- 
riker  überlassen,  er  muss  sie  selber  besorgen;  der  biograph  hat 
nicht  nur  zu  zeigen,  welche  würkungen  sein  held  aus  litteratur  und 
leben  erfahren,  sondern  auch,  wie  er  sie  verarbeitet  und  wie  er 
durch  seine  persönlichkeit  und  seine  werke  hinwider  auf  litteratur 
und  leben  einfluss  ausgeübt  hat;  nur  so  kommt  dem  leser  neben 
der  entwicklung  auch  die  würkenskraft,  die  gröfse  und  bedeutung 
des  dichters  zum  bewustsein.  das  buch  braucht  deswegen  noch 
lange  kein  'monstrum'  zu  werden;  man  kann  wenig  reden  und 
viel  sagen,  und  eiu  paar  bogen  mehr  oder  weniger  fallen  nicht 
ins  gewicht,  der  biograph  darf  sich  schon  'beschränken',  aber 
nicht  bei  der  hauptsache,  sondern  bei  nebensächlichkeiten;  warum 
zb.  zerbricht  sich  H.  widerholt  den  köpf,  welche  würkung  etwa 
wol  dieses  oder  jenes  dramatische  fragment  erzielt  haben  würde, 
wenn  es  der  dichter  ausgeführt  hätte?  zunächst  kommt  eine 
solche  recbnung  nie  über  die  hypothese  hinaus,  alsdann  handelt 
es  sich  ja  nicht  um  eine  leistung  Sch.s,  sondern  nur  um  etwas, 
was  eine  hätte  werden  können;  da  sollte  H.  doch  lieber  gründ- 
licher von  den  leistungen  handeln,  die  würklich  vollbracht 
worden  sind. 

Nicht  besser  steht  es  mit  der  zweiten  stelle,  die  H.  mir  in 
seiner  vorrede  gewidmet  hat.  nirgends  hab  ich  gesagt,  man  dürfe 
beim  jungen  Schiller  uicht  von  Selbstmordgedanken  reden,  weil 
dadurch  mein  'Schillerideal'  herabgezogen  werde;  vielmehr  hab  ich 
ausgeführt,  dass  man  so  etwas  nur  behaupten  dürfe,  wenn  man 
eine  hiebfeste  begründung  dafür  vorbringt,  und  eine  solche  hab 
ich  bei  H.  nicht  gefunden.  mir  persönlich  ist  es  völlig 
gleichgillig,  ob  das  eine  oder  andere  richtig  ist,  und  ich  stimme 
hierin  wahrscheinlich  mit  H.  überein;  doch  darin  scheinen  wir 
von  einander  abzuweichen,  dass  ich  die  frage  für  wichtiger  bei 
beurteilung  von  Sch.s  jugendentwicklung  ansehe  als  er.  mancher 
geht  vielleicht  noch  einen  schritt  weiter  als  ich  und  fühlt  neigung, 
Sch.s  Jugendmelancholie  geradezu  vom  pathologischen  standpunct 
aus  zu  betrachten. 

Diese  vorrede  lässt  erwarten,  dass  H.s  anhänglichkeit  an  die 
eigne  meinung  stärker  ist  als  die  neigung,  fremde  forschungs- 
ergebnisse  nach  gebühr  zu  nutzen,  das  will  ich  nur  an  zwei 
beispielen  zeigen,  das  gedieht  'Auf  die  ankunft  des  grafen  von 
Falkenstein'  wird  auch  in  dieser  zweiten  aufläge  noch  ohne 
weiteres   als    echt    behandelt,   trotzdem    neuerdings  EdwSchröder 

A.  F.  D.  A.  XXXI.  4 


50  HARNACK    SCHILLER     . 

(Vom  jungen  Schiller  s.  191V)  belege  für  die  uiiechtheit  beige- 
bracht hat.  bei  der  'Ode  auf  die  glückliche  widerkunft  unseres 
gnädigsten  fiirsten'  verrät  H.  nun  neigung,  sie  mit  Schröder  dem 
'kameraden  Petersen'  zuzuschreiben;  aber  statt  dann  den  ganzen 
absatz  kurzweg  zu  streichen,  spricht  er  von  eiuem  'einrücken' 
durch  Schiller  und  zwar,  damit  noch  ein  fehler  hinzu  kommt, 
in  das  'Württembergische  repertorium',  wo  das  gedieht  nie- 
mals gestanden  hat. 

Innsbruck.  J.  E.  Wackernell. 


Faust,  ein  dramatisches  gedieht  in  drei  abschnitten  von  FMarlow.  (Ludwig 
Hermann  Wolfram.)  [Leipzig  1839]  neu  herausgegeben  und  mit 
einer  biographischen  einleitung  versehen  von  Otto  Neürath.  nebst 
drei  registern,  einem  faesimilierten  brief  und  einer  Stammtafel.  Berlin, 
Ernst  Frensdorff,  o.  j.  (1906.)  [=  Neudrucke  literarhistorischer  Selten- 
heiten, herausgegeben  von  Fedor  von  Zobeltitz.  nr  6.]  8  ss.  vorwort, 
518  ss.  einl.,  xx  u.  218  ss.  text  kl.  8°.  —  brosch.  4  m.,  geb.  5,50  m. 

Es  muss  eigentlich  wunder  nehmen,  dass  bei  der  Vorliebe 
für  stoffgeschichtliche  Untersuchungen,  die  seit  langem  bei  uns 
herscht,  noch  niemand  versucht  hat,  die  Faustdichtungeu  nach 
1832  ernsthaft  zu  behandeln,  gar  viele  haben  es  ja  nicht  lassen 
können,  eine  Ilias  post  Homerum  zu  schreiben,  von  dem  Faust- 
drama Wolframs,  der  sich  mit  einer  grade  im  faustischen  be- 
reich  bedenklichen  kühnheit  den  namen  Marlow  beilegte,  hab  ich, 
offen  gestanden,  bisher  nichts  gewust.  und  nach  der  leetüre 
des  vorliegenden  neudrucks  samt  seiner  voluminösen  einleitung 
(wahrlich  keiner  mühelosen  leetüre  1)  bin  ich  nicht  einmal  sehr 
betrübt  darüber. 

Es  war  recht  unnötig,  dies  abstruse  poem  der  verdienten 
Vergessenheit  zu  entreifsen.  dieser  'Faust'  ist  ein  krauses  ge- 
misch  von  scheinbarem  tiefsinn  und  wirklichem  unsinn.  ein 
molluskenhaft  verschwommenes,  völlig  disciplinloses  lesedrama 
mit  massenhaften  remiuiscenzen  an  Shakespeare  und  Calderon, 
das  höchstens  durch  die  widerholt  eingestreuten  satirischen  be- 
merkungen  zeitgeschichtlich  interessant  ist.  natürlich  war  Wolfram 
bestrebt,  seinen  Faust  möglichst  viel  philosophieren  zu  lassen, 
aber  alle  diese  betrachtungen  über  sein  oder  nichtsein  klingen 
denen  Hamlets  verzweifelt  ähnlich,  und  dass  das  leben  ein  sterben 
sei,  wie  er  uns  mehrfach  einschärft,  das  wüste  bereits  Euripides 
so  gut  wie  Novalis  oder  sonst  ein  romantiker.  Wolframs  Faust 
hat  ein  bischen  Leibniz  gelesen,  ein  bischen  Fichte  und  ein 
bischen  Hegel,  vor  allem  aber  Schellings  System  des  trans- 
cendentalen  idealismus,  das  mir  indessen  in  so  mangelhaften 
verseu  weit  weniger  schmackhaft  scheint,  als  in  der  poetischen 
prosa  des  Originals,  sein  Faust  kennt  aber  auch  EPoeppigs  Reise 
in  Chile  (Leipzig  1836),  aus  der  er  uns  ein  ganzes  stück  ziem- 
lich wörtlich  vordeclamiert. 


NEIRATH  WOLFRAMS  FAUST  51 

Diese  und  andere  quellennachweise  hat  der  herausgebet*  auf- 
zuspüren  gewust.  er  gibt  auf  etwa  hundert  Seiten  'material- 
bruchstücke  eines  commentars'  zu  Wolframs  Faust,  manches 
überflüssige  ist  darunter,  manche  anspielung  bleibt  dunkel,  im 
ganzen  aber  sind  diese  erläuterungen  schätzbar  und  mit  an- 
erkennenswertem fleifs  zusammengetragen. 

Fleifsig  zusammengetragenes  material:  das  gilt  für  die  er- 
schreckend umfaugreiche  einleitung  überhaupt,  dass  N.  uns  mit 
dem  leben  und  schallen  Wolframs,  eines  inuerlich  und  äufser- 
lich  verlumpten  gesellen  mit  mäfsiger  dichterischer  begabung, 
vertraut  machen  wollte,  war  ganz  verständig,  dass  er  aber  dazu 
einen  apparat  aufgewendet  hat,  als  handle  es  sich  um  einen 
zweiten  Goethe,  zeugt  von  einem  empfindlichen  mangel  an  litterar- 
historischer  Schulung,  die,  mein  ich,  durch  noch  so  viele  anfragen 
an  bibliotheken,  pfarrämter  und  —  hier  besonders  beliebt  — 
polizeivervvaltungen  nicht  ersetzt  werden  kann,  ich  bin  gewis 
der  letzte,  der  wissenschaftlich  gearbeitete  biographieen  'kleiner 
ieute'  mit  erhabener  gebärde  von  sich  weist,  aber  —  est  modus 
In  rebus!  was  einem  Schiller  oder  Kleist  recht  ist,  ist  einem 
Wolfram  noch  nicht  billig,  auf  die  Vorlegung  des  gesamteu 
materials  verzichten  wir;  alles  kommt  auf  die  Verarbeitung  an. 

Hierbei  nun  ist  N.  kläglich  gescheitert,  er  ist,  kurz  gesagt, 
im  bibliographischen  stecken  geblieben,  er  überschüttet  uns  mit 
einem  wahren  hagel  von  dateu  und  citaten.  er  erspart  uns  nicht 
die  kleinste  notiz,  die  er  aus  seiner  vielseitigen,  freilich  offen- 
bar hastig  betriebenen  lectüre  gewonnen  hat.  aber  er  macht 
gar  keinen  versuch,  Wolframs  Faust  seinen  unmittelbaren  Vor- 
gängern (Braun  von  Braunthal,  Lenau  ua.)  anzugliedern,  er  ver- 
zichtet auch  darauf,  ihn  in  die  entwicklung  des  deutschen  dramas 
der  dreifsiger  jähre  einzureihen,  und  doch  wäre  dies  zum  Ver- 
ständnis durchaus  notwendig  gewesen,  es  hätte  an  die  specifisch 
romantische  dramatik  angeknüpft  werden  müssen,  die  bewust 
den  forderungen  der  realen  bühne  höhn  spricht,  es  hätte  ge- 
zeigt werden  müssen,  wie  das  buchdrama  immer  mehr  an  boden 
gewinnt  und  zum  gefäfs  der  dumpfen  oder  verzweifelten  Stimmung 
gemacht  wird,  die  sich  seit  1830  in  steigendem  mafse  der  ge- 
müter  bemächtigt  :  die  ausgezeichneten  bemerkungen  Hegels  über 
die  papierne  dramatik  seiner  zeit,  über  das  Verhältnis  des  drama- 
tischen kunstwerks  zum  publicum,  über  das  lesen  und  vorlesen 
dramatischer  werke  (Vorlesungen  über  ästhetik  hrg.  v.  Hotho,  3bd, 
Berlin  1838,  s.  501  ff)  hätten  dabei  zur  richtschnur  dienen  können, 
es  hätte  endlich  der  einfluss  der  ausländischen  dramatik  auf  iuhalt 
und  form  des  Wolframschen  'Faust'  untersucht  werden  müssen, 
insbesondere  Byrons,  der  auf  Wolfram  sehr  viel  nachhaltiger  ge- 
würkt  hat,  als  N.s  nichtssagender  hinweis  (s.  319)  erkennen  lässt. 

Aber  selbst  das  bibliographische  hat  N.  trotz  seinen  unver- 
kennbaren bemühungen  nicht  bewältigt,     dass   er,    um  nur  ein 

4* 


52  >EURATH  WOLFRAMS  FAUST 

beispiel  anzuführen,  von  EOrtlepp  spricht  (s.  86 f  uö.),  ohne  Jlges 
anspruchslose,  doch  aufschlussreiche  biographie  (München  1901) 
zu  kennen,  verschlägt  nicht  viel,  erheblicher  scheint  mir  schon, 
dass  ihm  Rosenkranzens  aufsätze  Zur  litteratur  der  Faustdichtung 
(Zur  geschichte  der  deutschen  litteratur.  Königsberg  1836.  s.  95 
bis  161)  entgangen  sind,  die  Wolfram  ganz  gewis  gelesen  hat. 
dass  Rosenkranz  (aao.  s.  149)  in  Rraun  von  Braunthals  Faust 
allen  'metaphysischen,  hamletischen  nachklang'  vermisst,  mag  für 
Wolfram  ein  wink  gewesen  sein,  in  seinem  Faust  grade  diese 
saite  besonders  stark  tönen  zu  lassen,  am  bedauerlichsten  aber 
ist,  dass  N.  Wolframs  eigene  schriftstellerische  tätigkeit  auch  in 
bibliographischer  hinsieht  nur  unzureichend  ermittelt  und  ver- 
zeichnet hat.  nicht  einmal  den  'Freimühigen'  hat  er  genau  durch- 
gesehen :  er  hätte  sonst  finden  müssen,  dass  Wolfram  in  den 
Jahren  1830  und  1831  ein  sehr  eifriger  mitarbeiter  dieses  blattes 
gewesen  ist  und  es  mit  einer  fülle  von  gedachten,  ein  paar  prosa- 
novellen  und  einer  nicht  eben  wolwollenden  Charakteristik  Platens 
beglückt  hat. 

N.  erklärt  mehrfach,  er  werde  uns  auch  die  übrigen  haupt- 
werke  Wolframs  in  neudrucken  vorlegen,  wir  haben  nicht  das 
recht,  ihn  daran  zu  hindern,  aber  wir  haben  die  pflicht,  ihn 
darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  eine  so  unmethodisch  ge- 
arbeitete und  in  so  cyklopischer  form  dargebotene  einleitung 
wie  diese  nicht  geeignet  ist,  für  seinen  beiden  anch  nur  das  ge- 
ringste interesse  zu  wecken. 

Berlin,  im  februar  1907.  Hermann  Michel. 


Wilhelm  Waiblingen     sein   leben   und   seine  werke,    von  K.  Frey.     Aarau, 
Sauerländer,  1904.     x  und  291  und  152  ss.  —  6  m. 

Es  ist  eine  seltene  freude  für  den  berichterstatter,  wenn 
einmal  eine  dankbare  aufgäbe  den  geeigneten  bearbeiter  findet, 
hier  ist  dies  der  fall;  deshalb  ist  ein  wichtiges  und  interessantes 
buch  entstanden,  wichtig,  weil  Waiblinger,  obwol  eigentlicher 
gröfse  entbehrend,  doch  ein  bedeutsamer  typus  ist;  interessant, 
weil  es  mit  lebhaftem  mut  und  entschiedenem  schriftstellerischen 
geschick  geschrieben  ist. 

Frey  hat  sich  der  quellen  zu  WTaiblingers  leben  so  vollständig 
bemächtigt,  dass  kaum  noch  lücken  in  der  biographie  bleiben, 
hat  doch  der  dichter  von  früh  auf  interesse  erregt  und  ins- 
besondere war  er  ja  von  kind  an  sich  selbst  eine  interessante 
persönlichkeit,  das  tagebuch  (s.  51.  56.  65.  105.  111.  123  usw.) 
steht  so  recht  im  mittelpunct  von  W.s  litterarischer  tätigkeit,  und 
schon  das  ist  bezeichnend  :  vielleicht  war  der  letzte  freund  des 
kranken  Hölderlin  und  der  erste  dichterfreund  des  jungen  Mörike 
der  erste  schriftsteiler  in  Deutschland,  bei  dem  die  Selbstbeob- 
achtung und  selbststilisierung  solchen  umfang  gewinnt  (vgl.  bes. 


FREY    WILHELM    WAIBLINGER  53 

s.  71).  ergebnisreich  müste  unter  diesem  gesichtspuDCt  eine 
parallele  mit  dem  auch  sonst  ihm  vielfach  vergleichbaren 
Ernst  Scbulze  sein. 

Solche  Zusammenstellungen  sind  fast  das  einzige,  was  der 
tleifsige  und  sorgsame  biograph  nachfolgern  übrig  gelassen  hat. 
so  wäre  der  eiufluss  auf  den  zweiten  poeten  von  Olevano, 
JVScheffel,  zu  streifen  ('Trinkeswein  a  la  tedesca'  s.  175). 
—  das  tagebuch  wie  andre  quellen  hat  F.  mit  ruhiger  kritik 
bearbeitet  und  manche  legende,  auch  misversländnisse  (wie  eins 
in  Mayncs  Morike  anm.  31)  berichtigt,  bei  aller  anteilnahme 
hält  er  sich  von  pathetischer  apologetik  fern;  erörtert  (s.  155) 
ruhig  die  frage,  ob  W.  ein  genie  heifsen  dürfe,  und  weifs  (s.  20  1) 
gesuude  merkmale  herauszugreifen,  doch  stört  die  kritik  nicht 
bei  der  erzählung  dieses  romanhaften  lebens  mit  seinen  typischen 
zügeu  :  der  jugendlichen  Schillernachahmung  (s.  30),  dem  künstler- 
katholicismus  (s.  35.  58),  der  erweckung  durchs  leben  (s,  40), 
den  zahllosen  liebesverhältnissen,  den  selbst  von  den  freunden 
(s.  65  f)  durchschauten  posen,  dem  pfaffenhass  einer  spätem 
entwicklungsstufe  (s.  82),  dem  künstlichen  dichterapparat  (s.  99) 
und  dem  entscheidenden  liebesdrama  (s.  115  1'),  dem  dann  der 
romantische,  fast  opernbafte  lebensschluss  in  Italien  nachklingt. 

\Y.  ist  keineswegs  blofs  ein  epigone.  seine  würklich  'süd- 
liche natur'  (s.  119)  gibt  ihm,  wie  etwa  Heinrich  Leuthold,  etwas 
durchaus  originelles,  originell  ist  auch  in  diesem  Italienschwärmer 
die  kühle  satire,  die  zuweilen  ('Drei  tage'  s.  147 f,  'Aura,  der 
vampyr7  s.  1511)  mehr  an  Goethe  erinnert,  als  an  die  romanliker. 
zwei  dichter  sind  ihm  darin  ähnlich;  aber  zu  Heine  (s.  150)  hatte 
er  kein  Verhältnis,  von  Byron  (s.  145)  machte  er  sich  frei,  (wie 
darf  man  übrigens  dem  philhellenischeu  lord  das  philanthropische 
interesse  abstreiten?  s.  145).  doch  parodiert  er  (anm.  71) 
auch  Goethe,  der  ihm  nie  viel  bedeutete  (s.  49).  mit  seinen 
heimatlichen  genossen  kommt  er  schlecht  aus  :  GSchwab  als  er- 
zieher  (s.  67,  anm.  28,  vgl.  46.  53.  66)  versteht  ihn  doch  nicht 
ganz;  Morike  (s.  64.  79.  123),  von  dem  er,  überhaupt  im  littera- 
rischen portrait  (s.  19)  früh  geübt,  ein  treffliches  Charakterbild 
(s.  79)  entwirft,  gibt  ihn  auf;  Pfizer  (s.  64.  68)  bleibt  ihm  inner- 
lich fremd;  Uhland  (s.  26)  bewundert  er,  ohne  von  ihm  zu  lernen, 
was  aber  hätte  Hölderlin  (s.  81.  98.  109.  232  anm.  42)  diesem 
nachahmer  des  Hyperion  ('Phaeton'  s.  133  f)  sein  können,  hätte 
ihn  nicht  das  grausamste  geschick  zerstört! 

Dem  dichter  wird  F.  nicht  ganz  so  wie  dem  menschen  ge- 
recht; Walze  1  muste  in  einer  lehrreichen  besprechung  (DLZ. 
1904  S.  2275)  mit  grund  beanstanden,  dass  der  biograph  hier 
gar  zu  wenig  sympalhieen  verrät,  doch  sind  die  analysen  seiner 
werke  ('Liebe  und  hass'  s.  54  f;  'Phaeton'  s.  133;  'Anna  ßolyn' 
s.  146;  Epigramme  s.  185;  Lyrik  s.  139  f.  243  f)  klar,  und  auch 
an    allgemeineren    beobachtungeu    (der    weibliche    busen    bei  W. 


54  FREY    WILHELM    WAIBLLNÜER 

s.  141;  bilder  s.  144;  Verhältnis  zu  Goethes  Römischen  elegieen 
s.  230  ua.)  nicht  arm;  nur  für  die  metrik  hätte  mehr  geschehen 
können. 

Eine  geschickte  auswahl  der  nicht  allgemein  zugänglichen 
werke  in  prohen  (in  besondrer  paginierung)  gibt  gewissermafsen 
urkundliche  belege,  die  anmerkuugen  briugen  charakteristische 
tagebuchstellen  uud  briete  auch  der  freunde  (sollten  die  beiden 
Schauspieler  s.  80  nicht  an  Mörikes  Larkens  anteil  haben?),  mit 
Grisebach  uud  Frey  dürfte  die  'Waiblinger-philologie'  ihren  er- 
wünschten gipfel  erreicht  haben. 

Berlin   14.  5.  05.  Richard  M.  Meyer. 


LlTTEKATURINOTIZEN. 

A  sketch  of  the  linguistic  conditions  of  Chicago  by  Carl  Darling 
Bück.  Chicago,  The  University  of  Chicago  press,  1903.  20  p.  4° 
[The  University  of  Chicago.  The  decenoial  publications,  vol.  vi 
p.  97 — 114].  —  die  vorliegende  ahhandlung  ist  im  wesentlichen 
eine  sorgfältige  Zusammenstellung  aller  in  Chicago  festzustellenden 
sprachen  mit  möglichst  genauer  bestimmung  der  numerischen 
stärke  einer  jeden  und  andern,  besonders  den  gottesdienst  und 
die  presse  betreffenden  linguistischen  angaben,  was  das  problem 
der  Sprachenmischung  aus  der  betrachtung  der  Chicagoer  Verhält- 
nisse gewinneu  kann,  wird  nur  kurz,  gewissermafsen  einleitend 
angedeutet,  und  wol  deshalb  so  kurz,  weil  der  verlauf  ein  so 
einfacher  ist  :  ein  stetiges  aufgehn  aller  eingeführten  idiome  in 
dem  wesentlich  unverändert  bleibenden  englischen,  das  nur  durch 
immer  wider  erneute  zufuhr  fremder  sprachen  an  der  allein- 
herschaft  gehindert  wird,  die  lehrreiche  Zusammenstellung  lässt 
nur  in  einer  beziehung  die  sie  im  grofseu  und  gauzen  aus- 
zeichnende klarheit  und  verhältuismäfsige  Vollständigkeit  vermissen, 
mau  erfährt  nicht,  wieviele  der  als  Vertreter  jeder  spräche  an- 
geführten diese  ständig  oder  doch  überwiegend  gebrauchen,  wie- 
viele sie  vielleicht  nur  noch  sprechen  können,  für  das  türkische 
beispielsweise  scheint  nur  letzteres  zu  gelten,  da  dieses  nach  des 
vf.s  angäbe  nur  durch  Armenier  vertreten  wird,  die  das  türkische 
neben  ihrer  muttersprache  reden,  dh.  aber  doch  wol,  reden 
können,  und  sollte  es  sich  mit  dem  manx,  dem  bretonischen 
und  einigen  andern  sprachen  nicht  ähnlich  verhalten?  der  vf. 
legt  besondres  gewicht  darauf,  dass  von  den  zahlreichen  sprachen, 
die  in  amerikanischen  grofsstädten  wie  Chicago  und  New  York 
gesprochen  werden,  so  viele  durch  grofse  massen  vertreten  sind, 
dass  sich  beispielsweise  in  Chicago  unter  den  40  von  ihm  an- 
geführten idiomen  15  befinden,  von  denen  jedes  von  10000  oder 
mehr  personen  gesprochen  wird,  deshalb  verdiene  eine  Stadt  wie 
Chicago  bei  aller  berücksichtigung  der  ansprüche  orientalischer 
slädte   wie  Constantinopel    und  Cairo    den   titel  eines  'unparalled 


BÜCK    LINGUISTIC    CONDITIONS    ÜF    CHICAGO  55 

Babel  of  foreign  tongues',  den  er  übrigens  trotz  der  exclusivität 
des  wortes  'unparalled'  aucb  New-York  zuerkennt,  und  allem  an- 
schein  nach  aucli  noch  für  andre  städte  der  neuen  weit  reserviert, 
das  eigentlich  babylonische,  das  gewirre  würde  nun  aber  den 
grofsen  zahlen  zum  trotz  stark  beeinträchtigt  werden,  wenn  etwa 
alle  oder  wenigstens  die  meisten  Vertreter  fremder  sprachen  im 
strafsenverkehr  das  ihnen  auch  vertraute  englisch  bevorzugten, 
wenn  es  so  wäre  —  was  ich,  mit  Chicagos  Verhältnissen  nicht 
bekannt,  nur  in  form  einer  frage  hier  berühren  kann  — ,  dann 
würde  zb.  der  bazar  von  Tiflis,  um  eine  mir  genau  bekannte 
Stadt  zu  nennen,  trotz  (\en  kleinereu  Verhältnissen  oder  vielleicht 
gerade  wegen  derselben,  babylonischer  erscheinen   und  sein. 

F.  N.  Finck. 
Preüxal  S  in  germanic  together  with  the  elymologies  of  fratze, 
schraube,  guter  dinge  by  Lee  Miltom  Hollamjer.  a  dissertation 
submitted  to  the  board  of  university  studies  of  the  Johns  Hopkins 
university  in  conformity  with  the  requirements  for  the  degree  of 
doctor  of  philosophy.  1905.  J.  H.  Fürst  Company,  Baltimore. 
34  s.  —  im  ersten  teil  der  schrift  stellt  der  verf.  den  satz  auf, 
dass  ein  teil  der  germanischen  anlautenden  sl  entstanden  sei  aus  sr 
und  shr,  die  ihrerseits  ihren  Ursprung  der  präfigierung  von  s  vor 
mit  r  bez.  hr  (aus  idg.  kr)  anlautenden  Wörtern  verdanken,  einige 
etymologien  dienen  zur  stütze  dieser  behauptung  :  so  wird  zb. 
sieht  mit  reht,  anderseits  ags.  slilan  usw.  mit  got.  dis-skreitan,  ahd. 
krizzön  zusammengestellt  (kr  in  diesen  Wörtern  erklärt  sich  da- 
durch, dass  s  vor  der  Lautverschiebung  antrat  und  —  in  krizzön 
—  erst  nach  der  lautverschiebung  abfiel),  in  einem  anhang  wer- 
den ein  paar  andere  etymologieen  vorgebracht,  in  denen  präfigiertes  s 
eine  rolle  spielt,  leid  wird  mit  sleips,  maipms  mit  gasmipon, 
pfuhl  mit  spülen,  spuola  mit  got.  ufbauljan,  ahd.  bülla  zusammen- 
gebracht, dringen  in  der  bedeutung  'weben'  wird  von  dringen, 
'drängen'  gelrennt  und  zu  sträng  gestellt,  unbekannt  ist  dem 
vf.,  dass  schon  vGrienberger  WSB.  142,  vui,  193  leid  und  *sllpa- 
zusammengestellt  hat. 

Der  zweite  teil  der  arbeit  behandelt  die  auf  dem  titel  ge- 
nannten drei  Wörter.  H.  lehnt  die  herleituug  von  fratze  vom 
italienischen  frasca  ab  und  hält  Dietrichs  Zusammenstellung  mit 
ags.  frcetwe  für  möglich,  das  dem  hd.  tz  vorausliegende  tt  könne 
durch  M?-gemination  entstanden  sein,  beim  niederschreiben  dieser 
bemerkuug  hat  wol  H.  Kluges  etymologie  von  frcetwe  noch  nicht 
gekannt;  es  ist  doch  nicht  selbstverständlich,  dass  ein  u>,  das  erst 
durch  synkope  eines  mittelvocals  hinter  einen  consonanten  ge- 
raten ist,  ebenso  auf  ihn  würkt,  wie  ein  w  als  zweiter  teil  einer 
ursprünglichen  consonantenverbindung.  erst  später  scheint  H. 
Kluges  gleichung  frcetwe  =  *frätewös  erfahren  zu  haben  und 
fügte  nun  einen  artikel  'Ultimate  etymology'  hinzu,  mit  dem 
beweis    für    die    behauptung,    dass    im  vorahd.    die   synkopierten 


56  HÜLLANDER    PREFIXAL    S    IN    GERMANIC 

formen  *gatwa  *fratwa  bestanden  haben,  nimmt  es  H.  sehr  leicht: 
'nor  is  there  anything  to  disprove  the  possibility  of  pre-old  high 
german  *fratwa  per  se\  was  ist  nicht  alles  möglich  1  aber  die 
Schwierigkeit  der  annähme  einer  vorahd.  synkope  von  e  ist  H. 
nicht  zum  bewustsein  gekommen,  meint  er  doch,  dass  altn. 
g  >tvar  'early  germauic  existence  of  syncope'  beweise,  und  dass 
got.  fratwjan  aus  *frd-tawjan  entstanden  sein  könne. 

Der  arlikel  'Schraube'  bekämpft  ßaists  herleitung  des  wortes 
aus  lat.  scropha.  es  gehöre  vielmehr  zu  einer  wurzel  skerp  'lo 
cut,  carve,  Scratch'  (vgl.  zb.  ahd.  screvön)  und  habe  ursprüng- 
lich bedeutet  4a  piece  of  metal  or  wood  cut  in  grooves,  as  a 
screw'. 

Ansprechend  ist  der  letzte  artikel  über  guter  dinge,  dinge 
wird  mhd.  gedinge  'hoffnung'  gleichgesetzt,  aber  seltsam  ist,  wie 
H.  sich  die  entwicklung  denkt,  guot  gedinge  sei  nicht  mehr  ver- 
standen, das  Substantiv  als  gen.  pl.  von  ding  aufgefasst,  gut  dem- 
gemäß in  guter  umgebildet  und  das  präfix  ge  ausgelassen  worden, 
dann  sei  guter  dinge  als  prädicativer  genitivus  qualitatis  aufge- 
fasst und  construiert  worden,  da  ligt  es  doch  näher,  in  dinge 
den  gen.  sing,  eines  femininums  dinge  zu  erblicken;  dinge  =  ge- 
dinge ist  ja  einmal  belegt. 

Wien,  november  1906.  M.  H.  Jellinek. 

Studien  zur  sprachlichen  Würdigung  Christian  Wolffs.  ein  beitrag 
zur  geschichle  der  neuhochdeutschen  spräche  von  Paul  Piur.  Halle, 
Niemeyer,  1903.  111  ss.  8°.  —  es  ist  beinahe  ein  halbes  Jahr- 
hundert verflossen,  seit  Rudolf  von  Raumer  in  seiner  anzeige  des 
Grimmschen  Wörterbuchs  mit  gröstem  nachdruck  auf  die  be- 
deutung  Wolffs  für  die  bildung  des  deutschen  Wortschatzes  hin- 
gewiesen hat.  wir  freuen  uns,  dass  jetzt  endlich  die  spräche 
des  pbilosophen  gegenständ  einer  philologischen  Untersuchung 
geworden  ist. 

P.  bespricht  die  von  Wolff  gebrauchten  abstraeta,  er  weist 
einerseits  seine  Vorgänger  nach,  anderseits  erörtert  er  seinen  ein- 
fluss  auf  die  ausbildung  der  wissenschaftlichen  deutschen  spräche, 
als  gesamtresultat  ergibt  sich  ihm,  dass  Wolff  nicht  eigentlich 
sprachschöpferisch  gewesen  ist,  dass  die  meisten  ausdrücke  schon 
vor  ihm  zu  belegen  sind,  dass  seine  bedeutung  vielmehr  darin 
besteht,  dass  er  aus  dem  oft  überreichen  material  eine  auswahl 
trifft,  den  begriffswert  der  Wörter  fest  bestimmt  und  durch  das 
ansehen  und  die  Verbreitung  seiner  Schriften  seineu  Wortschatz 
der  allgemeinen  litteratursprache  einverleibt.  namentlich  das 
capitel,  das  diesen  letzten  punet  erörtert,  ist  höchst  interessant; 
man  sieht,  wie  recht  Raumer  hatte,  als  er  sagte,  dass  Wolffs  ein- 
fluss  auf  die  spräche  bis  auf  den  heutigen  tag  in  einem  um- 
fang fortwürke,  den  die  meisten  kaum  ahnen.  1*.  hat  ein  sehr 
grofses  material  fleifsig  durchgearbeitet  und  einen  wertvollen  bei- 
trag zur  geschichle  des  deutschen  Wortschatzes  geliefert. 


P1UR    STUDIEN    ZL'K    SPRACHLICHEN    WÜRDIGUNG    WULFFS  57 

Freilich  ist  es  ein  mangel,  dass  er  die  auslesende  tätigkeit 
\Y<  dtl's  nicht  zusammen  fassend  charakterisiert,  mau  muss  sich  die 
einzelnen  stellen,  wo  er  darüber  spricht,  zusammensuchen  und 
erhält  auch  dann  kein  scharf  umrissenes  bild.  wir  erfahren 
s.  48,  dass  Wo III'  das  verdienst  hat,  die  philosophische  deutsche 
spräche  wider  in  fühluug  mit  der  Volkssprache  gebracht  zu  haben, 
und  dass  seine  deutschen  termini  zum  g rösten  (eil  deutsch 
gedacht  sind,  s.  63,  dass  er  eine  reihe  von  kunslwortern  Dicht 
übernimmt,  weil  sie  zu  wörtliche  Übersetzungen  der  lateinischen 
oder  zu  schwerfällig  schienen  und  mit  dem  allgemeinen  Sprach- 
gebrauch wenig  fühlung  hatten,  s.  81,  dass  die  correct  deutsch 
gedachte  bildung  gewisser  Wörter  ihm  garanlie  für  ihr  durchdringen 
gab,  s.  96 f,  dass  philosophischer  terminus  und  allgemein  sprach- 
liche bedeutung  sich  hei  ihm  nicht  schroff  gegenüber  stehn, 
sondern  4in  enger  Wechselbeziehung'  verwendet  werdeu.  das  klingt 
etwas  verschwommen,  erst  s.  107  wird  ein  wenig  ins  detail 
eingegangen,  indem  darauf  hingewiesen  wird,  dass  Wulff  die  ab- 
leitungen  auf  -ung  einschränkte  uud  durch  andere  bildungeu  er- 
setzte, wenn  P.  es  einmal  (s.  81,  fufsnote  2)  mit  dem  'sprach- 
lichen programm'  seiner  arbeit  entschuldigt,  dass  er  nicht  darauf 
eingeht,  weshalb  Wohl'  absieht  statt  zweck  sagt,  wenn  er  über- 
haupt (s.  32)  scheidet  zwischen  sprachlicher  belrachlung  und  dem, 
was  er  nicht  glücklich  sprachphilosophische  betrachlung  nennt, 
so  muss  ich  dem  gegenüber  betonen,  dass  sich  bei  lexikalischeu 
arbeiten  form  und  bedeutung  der  Wörter  nicht  trennen  lassen, 
uud  dass  derjenige,  der  die  philosophische  termiuologie  eines 
aulors  untersucht,  eben  auf  seine  philosophie  eingeheu  muss. 

Dem  Verfasser  wäre  anzuraten,  nach  strafferer  darstellung 
und  besserem  stil  zu  streben,  die  einleitenden  bemerkuugen  sind 
recht  weitschweifig.  P.  hat  eine  gewisse  neigung,  programme 
aufzustellen,  auch  fällt  er  mitunter  urteile  ohne  competenz l. 
aber  es  wäre  unbillig,  diese  dinge  einer  erstlingsschrift  allzu  sehr 
zu  verübeln,  die  wie  gesagt  unsere  keuntnis  von  der  ausbildung 
des  nhd.  in  erwünschter  weise  bereichert. 

Wien,  november  1906.  M.  H.  Jellinek. 

Sivert  IN.  Hagen  (of  the  university  of  Iowa)  Muspilli  (s.  a.  aus 
Modem  Philology,  Jauuary  1904)  S.  1  — 12.  —  der  vf.  vermutet 
als  gruudbedeutung  von  altsächsisch  mudspelli  'Weltuntergang'  den 
sinn  von  'oraculum';  dies  sei  nach  Seueca  s.  v.  a.  'voluntas  di- 
vina  hominis  ore  enunciata'.  er  geht  allerdings  mit  recht  von 
der  form  aus,  die  vor  s  noch  einen  dental  zeigt:    aber  wenn  er 

1  das  stärkste  ist  die  bemerkung  über  Leibnizens  versuche  einer  real- 
charakteristik  :  (s.  3)  'heutzutage  haben  wir  nur  ein  lächeln  über  solche  ohn- 
mächtige selbstmarterung  des  geistes  übrig',  ich  bezweifle,  dass  es  würklich 
solche  'wir'  gibt,  die  über  Leibniz  lächeln;  das  eine  geht  jedesfalls  aus 
dem  Zusammenhang  hervor,  in  dem  Piurs  äufserung  steht,  dass  er  nicht 
weifs,  worüber  er  lächelt,  sollte  er  es  zu  erfahren  wünschen,  so  würdeich 
ihm  das  schöne  buch  von  Couturat  La  logique  de  Leibniz  empfehlen. 


58  HAUEN    MUSPILLI    SCHMIDT    ZU    VIBGINAL 

diesen  als  d  auffasst,  vor  welchen»  im  altsächsischen  noch  ein  n 
geschwunden  sei,  so  übersieht  er,  dass  nur  d  und  noch  häufiger 
t  überliefert  ist.  dass  überdies  das  mythologische  wort  der  säch- 
sischen beiden  von  einem  bairischen  Christen  für  den  weltunter- 
gang  entlehnt  worden  sei,  ist  so  unwahrscheinlich  wie  möglich, 
wie  käme  dieser  Christ  auch  dazu,  den  Weltuntergang  durch  feuer 
so  glutvoll  zu  schildern,  wenn  würklich,  wie  der  vf.  Olrik  nach- 
schreibt, alts.  'mutspelli  is  never  directly  connected  with  the  fire'? 
dann  müste  natürlich  auch  die  Edda  ihre  Müspels  synir  ganz 
unabhängig  von  der  deutschen  tradition  zu  ieuerdämonen  gemacht 
haben,  das  argumentum  ex  silenlio  ist  hier  sehr  stark  gemis- 
braucht  worden.  E.  Martin. 

Zur  entstehungsgeschichte  und  verfasserfrage  der  Virginal.  von  Ernst 
Schmidt.  [Prager  Deutsche  Studien,  hrg.  von  CvKraus  und 
ASauer.  i  lieft.]  Prag,  CBellmann,  1906.  63  ss.  —  für  Virginal, 
wovon  Zupilza  in  MüllenholTs  Heldenbuch  v  unter  den  werken 
Albrechts  von  Kemenaten  eine  ausgäbe  hergestellt  hat,  ist  die 
Urheberschaft  verschiedener  dichter  von  Wilmanns  Zs.  15,  294 ff 
nachgewiesen  worden.  Lunzer  hat  ebda  43,  193  und  im  Pro- 
gramm des  Franz-Josef-gymnasiums  in  Wien  1901  die  Unter- 
suchung fortgesetzt  und  besonders  das  Verhältnis  zu  Dietrichs 
erster  ausfahrt  und  zum  auszug  im  Dresdener  Heldenbuch  sowie 
die  abhängigkeit  vom  Laurin  klar  gestellt,  jetzt  zeigt  Schmidt, 
dass  drei  teile  zu  unterscheiden  sind,  von  denen  A  bis  246  reicht, 
ß  bis  769,  B2  bis  zum  Schlüsse,  sowie  dass  mehrere,  teilweise 
bereits  von  Wilmanns  erkannte  interpolationen  in  A  von  dem 
dichter  ß2  herrühren.  Schmidt  untersucht  auf  das  genaueste  die 
reimverhältnisse,  den  gebrauch  gewisser  formelhafter  ausdrücke 
und  andres  formale;  er  nimmt  kurz  auf  die  bereits  von  den  Vor- 
gängern untersuchten  sachlichen  Verschiedenheiten  bezug.  diese 
ergebnisse  scheinen  gesichert  zu  sein.  A  ist  alemannisch,  hier- 
für lässt  sich  auch  die  conjunction  ob  (besser  ob  oder  eb)  =  e 
anführen,  die  Zupilza  allerdings  235,  4  durch  end  ersetzt  hat, 
wie  er  auch  Ecke  169,  5  anstatt  e  d  end  lesen  will,  wo  doch  e 
daz  (geschrieben  e  de?)  näher  ligt.  über  eb  s.  Wb.  d.  eis.  mdaa. 
i  6,  wo  auch  auf  das  Schweiz,  id.  x  53  und  Schmid  Schwab, 
wb.  153  verwiesen  ist;  in  den  elsässischen  Parzivalhss.  mno  er- 
scheint oft  eb  =  e;  in  andern  quellen  e  ob.  vgl.  auch  Meisinger 
Wb.  der  Rappenauer  mda.  unter  ep.  so  kommt  auch  schranne  = 
schrunde  'bergspalt'  139,  8  nur  in  alemanuischen  quellen  :  Heinlrid, 
Magdalenenlegende  vor.  B,  und  B2  sind  mitteldeutsch,  vielleicht 
pfälzisch:  darauf  deutet  die  anführung  des  Dunresberc  834,  11. 
Zupilza  hat  übrigens  auch  29,  10  mit  unrecht  nie  in  nu  ver- 
ändert, zur  Untersuchung  reizen  ferner  die  seltsamen  nameu 
Arone,  lbelin,  Jeraspunt  usw.  aber  wenn  Portalaphe  an  Parto- 
lapi  in  der  nordischen  sage  erinnert,  so  ist  letzteres  =  Parto- 
nopier,  womit  doch  nichts  gewonnen  wird.  E.  Martin. 


BEHAGHEL    BEWÜSTES    UND    U.NBEWUSTES    VETTER    STAUBBACH         59 

Bewustes  und  unbewustes  im  dichterischen  schaffen,  von  Otto 
Behaghel.  Leipzig,  GFreytag,  1907.  48  ss.  1,20  m.  —  für  die 
poetische  embryologie  ist  die  Sammlung,  sichtung  und  vergleichung 
der  dichterzeugnisse  unzweifelhaft  der  hoffnungsvollste  weg,  wenn 
auch  nicht  der  einzige.  Behaghel  hietet  —  nicht  nur  unter  dem 
im  titel  genannten  gesichtspunet  —  die  reichhaltigste  Sammlung 
solcher  Zeugnisse  directer  und  indirecter  art,  die  bis  jetzt  zu- 
sammengetragen worden  ist.  eine  umfangreiche  belegsammlung 
und  eine  stattliche  Bibliographie  ergänzen  die  arbeit,  deren  prak- 
tische anorduung  es  leicht  macht,  nachtrage  einzuordnen.  —  be- 
sonders  wichtig  sind  die  Zusammenstellungen,  die  sich  auf  den 
einfluss  und  die  analogie  der  musik,  des  iraumes  und  anders 
gearteter  künstlerischer  produetion  beziehen. 

Die  letzte  anmerkung,  dass  GKeller  in  einer  stelle  der  kMis- 
brauchten  liebesbriefe'  sich  seihst  parodiert  habe,  ist  fast  die  erste, 
der  ich  widersprechen  möchte. 

Berlin,  17juni07.  Richard  M.  MEver. 

Der  'Staubbach'  in  Ilallers  Alpen  und  der  staubbach  in  der  welt- 
lilteratur  von  Ferdinand  Vetter,  festgabe  des  historischen  Vereins 
von  Bern,  Bern,  GGrunau  1905.  s.  313 — 362.  —  im  ersten  teil 
dieser  Untersuchung  wird  umständlich,  doch  überzeugend  dar- 
getan, dass  Hallern  bei  v.  35111'.  seiner  'Alpen'  ursprünglich 
nicht  der  staubbach  bei  Lauterbrunnen,  sondern  die  Pisse  Vache 
bei  Martigny  vorgeschwebt  bat.  der  fall  der  Salanfe  muss  im 
18  Jahrhundert  hochberühmt  gewesen  sein  :  das  erhellt  nicht 
nur  aus  den  vom  vf.  s.  354f.  angeführten  Worten  Goethes,  sondern 
vor  allem  aus  der  von  Matthisson  in  den  briefen.  an  Bonstetten, 
bd  1  (Zürich  1795),  s.  104  mitgeteilten  anekdole.  die  Zeug- 
nisse, wonach  man  bereits  bei  lebzeiten  Hallers  die  fraglichen 
verse  auf  den  Laulerbrunner  staubbach  bezogen  bat,  lassen  sich 
noch  vermehren  :  ich  mochte  nur  auf  CCLHirscbfelds  'Briefe  die 
Schweiz  betreffend'  (neue  und  vermehrte  aufläge,  Leipzig  1776), 
s.  191  hinweisen,  belesenere  als  ich  werden  vermutlich  auch 
den  zweiten  teil  der  Untersuchung  ergänzen  können,  der  mir  im 
Verhältnis  zu  dem  anspruchsvollen  titel  'der  staubbach  in  der 
weltlitteratur'  etwas  mager  scheinen  will;  von  fremden  dichtem 
kommt  eigentlich  nur  Byron  zu  worte,  da  Baggesen  ja  ein  halber 
Deutscher  ist. 

Berlin,  2  juni  1907.  Hermann  Michel. 

Vergleichende  Studien  zu  Hebbels  Fragmenten  nebst  miscellaneen  zu 
seinen  werken  und  tagebüchern.  von  dr  Albert  Fries.  [Ber- 
liner beitrage  zur  germanischen  und  romanischen  philologie,  ver- 
öffentlicht von  dr  Emil  Ebering,  xxiv,  germanische  abteilung 
nr  11].  Berlin,  Ebering,  1903.  58  ss.  8°.  —  nach  dem  vf. 
'nicht  eine  abhandlung,  sondern  nur  eine  Sammlung  von  material', 
in  Wahrheit  nolizen  zu  eiuer  solchen  Sammlung,  vorläufig  noch 
recht   ungeordnet.     F.   beschränkt  sich  keineswegs  auf  die  frag- 


60  FRIES    VERGL.    STUDIEN    ZU    HEBBELS    FRAGMENTEN 

mente  —  nur  den  Mirandola  hat  er  genau  untersucht  — ,  bringt 
neben  parallelstelleu  stilistische,  exegetische,  selbst  lextkrilische 
bemerkuugen,  da  und  dort  auch  notizeu  zu  anderen  dichtem, 
die  höchst  primitive  anorduung  ist  fortwährend  durchbrochen,  er 
bringt  drei-  bis  vierfach  nachtrage,  zwischen  anmerkuug  und  text 
besteht  kein  principieller  unterschied,  die  ganze  arbeit  besteht 
aus  aneinandergereihten  eiuzelheiten,  die  viel  wertvolles  und  fein 
beobachtetes  enthalten,  so  die  vergleichung  des  Moloch  mit 
Voltaires  Mahomet,  die  belouung  von  Lessings  einfluss  auf 
Hebbels  stil  uam.  mitunter  ist  sonnenklares,  wie  die  Schiller- 
nacbahmung  im  Mirandola,  mit  einem  ganz  überflüssigen  aufwand 
von  belegslellen  dargetan,  an  einzelneu  stellen  ist  der  vf.  zu  zag- 
haft, selten  sind  seine  parallelen  zu  kühn;  im  ganzen  klebt  er  — 
vou  haus  aus  classischer  philologe  —  zu  sehr  am  wort,  sperr- 
und  fettdruck  würken  aufdringlich,  manchmal  komisch.  —  der 
kreis  der  auloreu,  die  Fr.  für  Hebbel  heranzieht,  ist  wol  zu  enge; 
Klinger  hätte  mehr  ausgenützt  werden  können,  ebenso  Heine  und 
Uhland.  s.  42  ist  ein  bezug  Hebbels  auf  Goethes  wort  vom 
'bettlermantel'  der  Schwaben  misverstanden;  der  vf.  brauchte 
dazu  nur  etwa  eine  commenlierte  ausgäbe  des  Atta  Troll  zu  ver- 
gleichen, einzelheiten  näher  zu  betrachten  oder  ergänzungen 
geben  zu  wollen  ist  bei  dem  provisorischen  Charakter  der  ganzen 
arbeit  überflüssig.  Valentin  Pollak. 

Von  deutscher  spracherziehung.  von  Paul  Cauer,  Berlin,  Weid- 
maunsche  buchhandlung,  1906.  vin  und  272  ss.  8°.  —  der  be- 
rühmte schulmann  Cauer  ist  auch  in  diesem  werke  im  bereich 
der  schule  verblieben,  die  rücksicht  auf  den  praktischen  deutschen 
Unterricht  im  gymnasium  —  vorzugsweise  in  dessen  oberster 
klasse  —  bleibt  überall  mafsgebend,  soweit  auch  der  vf.  ab- 
schweift, einzelstudieu  für  diesen  zweck  sind  zur  einheit  zu- 
sammenge'asst;  sie  enthalten  für  den  gymnasiallehrer  eine  fülle 
höchst  wertvoller  winke,  die  hier  auseinanderzusetzen  nicht  der 
platz  ist.  doch  enthält  Cauers  buch  auch  genug  allgemein  in- 
teressantes; er  zieht  so  vieles  fernliegende  heran  —  die  über- 
fülle vou  citalen  aus  allen  möglichen  litteraturen  wird  manchmal 
unangenehm  — ,  geht  dann  wider  so  liebevoll  auf  detailfragen 
ein,  ist  so  frei  von  kleiulichkeit,  aufrichtig  und  doch  wider  mafs- 
voll,  dass  jeder,  der  sich  mit  deutscher  spräche  lehrend  oder 
lernend  befasst  hat,  an  dem  buche  vergnügen  haben  wird. 

Principiell  wichtige  fragen  bespricht  C.  im  4  und  5  capitel, 
'Sprachgeschichte  und  Sprachrichtigkeit'  und  'Stil',  ohne  gerade 
neues  zu  bieten,  sind  diese  abschnitte  doch  von  erfreulicher  Selb- 
ständigkeit des  urteils;  zu  einem  so  vielerörterten  problem  wie  dem 
gebrauch  der  fremd  Wörter  weifs  C.  sehr  wertvolles  beizubringen,  er 
tindet  vou  da  aus  den  Übergang,  um  das  Verhältnis  uubewuster 
Sprachbildung  zur  nüchternen  Überlegung  im  Sprachgebrauch  klar- 
zustellen,    sehr  hübsch  sind  seine  ausführungeu   über  das  über- 


CAUER  VON  DEUTSCHER  SPRACHERZIEHUNG  61 

wuchern  der  abstracta,  der  substantivischen  Umschreibungen  von 
verben,  über  die  notwendigkeit,  verblassten  metaphern  ihre  bild- 
kraft  widerzugeben  uä.  gegenüber  Wustmannscher  schulmeisterei 
berührt  die  mafsvolle  Zurückhaltung  dieses  tapferen  pädagogen 
sehr  angenehm.  —  auch  dem  capitel  'Interpunction'  verleiht  er 
tiefere  hedeutung,  indem  er  die  logischen  functionen  der  Satz- 
zeichen schwach  betont. 

Von  allgemeinerem  interesse  ist  noch,  was  C.  über  litteratur- 
geschichte  und  lectüre  sagt,  ein  gegner  des  systematischen, 
litterarhistorischen  Unterrichts  am  gymnasium  gibt  er  eine  reihe 
hübscher  beispiele,  wie  von  der  betrachtung  einzelner  werke  aus 
vor-  und  rückgreifend  litteraturgeschichtliche  erkenntnisse  ge- 
wonnen werden  können,  man  kann  principiell  andrer  meinung 
sein  —  wie  der  referent  — ,  dabei  aber  doch  anerkennen, 
wie  kurz  und  treffend  C.  ganze  reihen  der  entwicklung  zu 
zeichnen  versteht,  für  die  lectüre  betont  er  die  Wichtigkeit  der 
interpretation  alles  dessen,  was  verstandesmäfsig  erfasst  werden 
kann;  wider  gibt  er  zahlreiche  beispiele  mitunter  sehr  feiner  aus- 
legung.  nur  selten  wird  man  zum  Widerspruch  geneigt  sein,  am 
meisten  wol  bei  Schillers  'Ideal  und  das  leben',  das  viel  zu  con- 
cret  moralisierend  gefasst  ist. 

Die  übrigen  partieen  des  buches  sind  nur  für  den  lehrer 
der  deutschen  an  höheren  schulen  bestimmt. 

Wien.  Valentin  Pollak. 

Bettine  von  Arnim  und  Friedrich  Wilhelm  iv.  ungedruckte  briefe 
und  actenstücke,  herausgegeben  und  erläutert  von  Ludwig  Geiger, 
Frankfurt  a.  M.,  Litterarische  anstalt  Rütten  &  Loening,  1902. 
xiv  und  220  ss.  8<>.  —  Geigers  buch  über  Bettine  und  könig 
Friedrich  Wilhelm  iv  ist  von  der  tagespresse  mit  einer  fülle  von 
besprechungen  bedacht  worden,  so  dass  eine  verspätete  anzeige 
an  dieser  stelle  sich  kurz  fassen  kann,  dem  Spürsinn  des  heraus- 
gebers  ist  es  geglückt,  würklich  hochwertvolles  material  zu  ent- 
decken und  eine  Veröffentlichung  zu  ermöglichen,  die  nicht  nur  für 
die  tiefere  ergründung  von  ßettinens  wesen  von  grofsem  werte  ist. 
Geiger  selbst  will  nur  bausteine  zur  biographie  und  Charakteristik 
Bettinens  zusammentragen,  begnügt  sich  indes  nicht  mit  einem 
blofsen  abdruck  der  papiere  und  mit  einem  erläuternden  com- 
mentar,  sondern  sucht  durch  verbindenden  text  und  durch  saubere 
disposition  das  ganze  einer  darstellung  anzunähern,  gearbeitet 
hat  er  sicher  mit  liebe;  und  so  lässt  er  denn  entdeckerfreude 
auch  einmal  zur  geltung  kommen,  während  er  in  seinen  anderen 
Veröffentlichungen  gleichen  inneren  anteil  nicht  zu  verraten  liebt: 
Bettinens  brief  an  den  könig  vom  29  juli  1849,  eines  der 
schreiben,  in  denen  sie  für  Kinkel  um  des  königs  gnade  wirbt, 
veranlasst  Geiger  zu  den  worten  :  'ich  bin  stolz  darauf,  dieses 
schreiben  mitteilen  zu  können;  es  ist  ein  ruhmestitel  Bettinens, 
wie  es  deren  wenige   gibt,     selten    erklingt   ihr  wort   so   mutig 


'Ö^      Ö'"v«  •^■igi.       umiuji      i.i.        "^iv      ov      w.u^.p 


62  GEIGER    BETTINE    VON    ARNIM    UND    FRIEDRICH    WILHELM    IV 

u ml  kühn,  wie  die  flammende  stimme  des  propheten,  selten  weils 
sie  so  das  herz  zu  packen,  das  göttliche  recht  der  gnade  zu  ver- 
künden, die  wahren  Verehrer  des  konigs,  die  ihn  als  den  mensch- 
lichsten zu  sehen  wünschen,  von  denen  zu  unterscheiden,  die 
blofs  in  ihm  den  blutrichter  erldicken'  (s.   169). 

Der  menschliche  gehalt  der  von  Geiger  entdeckten  papiere 
ist  mehrfach,  so  insbesondere  glücklich  von  Felix  Poppeuberg 
(Vossische  Zeitung,  Sonntagsbeilage  1902  nr  46)  ausgeschöpft 
worden,  so  seien  denn  hier  nur  einige  positive  daten  gegeben, 
im  königlichen  hausarchiv  in  Charlottenburg,  im  geheimen  Staats- 
archiv in  Berlin  und  im  nachlass  Varnhagens  auf  der  königlichen 
bibliothek  in  Berlin  hat  Geiger  das  material  gefunden  :  briefe 
Bettinens  an  den  künig  und  antworten  des  konigs,  briefe  Stahrs 
an  Bettine  und  au  Varnhagen,  einen  brief  George  Sands  an 
Bettine  und  einiges  weitere,  er  ordnet  die  von  1840  bis  1852 
reichenden  27  briefe  Bettinens  in  acht  capitel  :  die  brttder  Grimm 
und  Dahlmann;  das  Königsbuch;  Clemens  Brentauos  Frühlings- 
kranz; politische  tätigkeit;  Polen  vor  der  revolution ;  die  revolutiou 
von  1848;  befreiungsversuch  für  Kinkel;  ausklang,  schon  diese 
Überschriften  bezeugenden  historischen  quellenwert  der publication. 
dass  auf  Bettine  als  menschen  auch  von  dieser  briefsammlung 
reiches  licht  fällt,  ist  selbstverständlich,  hat  doch  ein  Wiener 
Journalist  sich  zu  der  Wendung  veranlasst  gefühlt  :  'mancher 
von  jenen,  die  sich  immer  durch  das  überreizte  wesen  und  die 
stilistischen  wirbeltänze  der  dame  abgestofsen  fühlten,  wird  ihr 
beim  lesen  dieser  briefe  an  den  könig,  der  Kinkelbriefe  ins- 
besondere, mit  freude  abbitte  leisten'  (Neue  fr.  pr.  1902  nr  13691). 
genauere  kenner  von  Bettinens  wesen  werden  freilich  von  der  ge- 
stalt,  in  der  sie  sich  hier  zeigt,  nicht  in  gleicher  weise  überrascht 
sein,  und  nur  züge  stärker  betont  finden,  die  sich  auch  an  anderer 
stelle  schon  haben  nachweisen  lassen. 

Über  ihre  beziehungen  zu  Goethe  spricht  Bettiue  einmal 
(s.  165Q  ein  beachtenswertes  wort;  sie  werden  da  mit  ihrem 
interesse  für  den  könig  zusammengehalten  :  'es  ist  nicht  ambitioo, 
ich  habe  von  natur  keine  ambitioo  —  nein,  gar  keine!  —  ich 
habe  nie  nach  Verhältnissen  getrachtet,  die  mir  glänz  gewährten, 
meine  Verhältnisse  zur  menschheit  waren  viel  heimlicher,  viel 
inniger  in  ihren  beziehungen'.  nicht  weil  sie  Goethe  als  grofsen 
mann  sich  dachte,  sondern  weil  er  vor  ihr  verläumdet  worden 
war  und  zwar  von  engherzig  conlessioneller  seite,  liebte  sie  ihn. 
als  man  weiter  sich  erzählte,  er  habe  ein  böses  herz,  er  sei  ganz 
hässlich  geworden  und  habe  ein  gemeines  ansehen,  der  adel 
seiner  gestalt  sei  verloren  gegangen,  da  habe  sie  zu  sich  selber 
gesprochen  :  es  ist  nicht  wahr,  was  sie  dort  sagen!  'von  der  zeit 
an  war  er  der  gegenständ  meiner  heimlichen  betrachtungen  .  .  . 
mein  Charakter  entwickelte  sich  durch  dies  phänomen,  einem 
mann  so    herzlich  zugetan  zu  sein,   blofs  weil    ihm  war    unrecht 


GEIGER    RETTL\E    VON    ARNIM    DKD    FRIEDRICH    WILHELM    IV  63 

getan  worden  in  meiner  gegenwarl'.  wol  kann  auch  gegen 
dieses  bekentnis  Bettinens  der  Unglaube  ins  leid  gefiibrt.  werden, 
den  man  ihr  so  gern  entgegenbringt,  trotzdem  möchte  ich  es 
gegen  die  worte  Hebbels  ausspielen,  die  jüngst  wieder  einmal 
in  einer  Charakteristik  Bettioens  angerufen  worden  sind  :  'der 
brielweclisel  zwischen  Götbe  und  Betlina  ist  in  seiner  letzten 
wttrkuog  schauerlich,  ja  Furchtbar,  es  ist  das  entsetzliche  Schau- 
spiel, wie  ein  mensch  den  andern  verschlingt,  und  selbst  abscheu, 
wenn  nicht  vor  der  speise,  so  doch  vor  dem  speisen,  hat'  (Tage- 
bücher 1836  ur  510).  wenigstens  wenn  —  wie  man  gedeutet 
hat  —  Beltine  hier  das  verschlingende  subject  sein  soll,  ist 
das  wort  Hebbels  mit  dem  cilierten  bekennlnis  Bettinens  unver- 
einbar. 

Im  anhang  druckt  Geiger  ua.  zwei  kleinere  ältere  Ver- 
öffentlichungen ab.  neben  dem  aufsatz  'Wann  ist  Bettine  ge- 
boren?' (Allgem.  ztg.,  beil.  14,  juui  1894)  erscheint  die  Studie 
'Betline  von  Arnim  mitarbeiten n  an  einein  historischen  werke' 
(Enphorion  bd  9  s.  122 IT),  hier  möchte  Geiger  die  behauptung 
Bettinens  erhärten,  sie  habe  zu  JLSßartholdys  buch  'Der  krieg 
der  Tyroler  landleute  im  jähre  1809'  reiches  material  beigesteuert, 
dieses  material  dann  selbst  im  'Briefwechsel  mit  einem  kinde' 
verwertet,  dass  der  'Brielweclisel'  vielmehr  in  der  erzählung  der 
Tyroler  kämpfe  von  Bartholdy  abhäugig  sei,  hat  jüngst  Oehlkc 
(Palaestra  lieft  41  s.  104  IT)  wahrscheinlich  gemacht. 

Einen  weiteren  brief  Bettinens  an  den  könig  (vom  5  Sep- 
tember 1847)  konnte  Geiger  in  der  Voss.  ztg.  1903  beil.  nr  14 
nachtragen,  ebenda  nr  21  gab  er  nähere  erläuterungen  zu  dem 
s.  104  erwähnten  'process'  Bettinens.  das  s.  41  berührte  'trauer- 
spiel',  das  im  ersten  regierungsjahr  könig  Friedrich  Wilhelms  iv 
aufgeführt  worden  sei,  möchte  OPfülf  (Stimmen  von  Maria-Laach) 
in  gegensatz  zu  Geigers  Interpretation  (s.  43)  auf  Spontinis  ent- 
lassung  und  auf  die  Vorgänge  beziehen,  durch  die  sie  herbei- 
geführt worden  sei. 

Das  in  der  anmerkung  zu  s.  53  angeführte  büchlein  'Bucli- 
losigkeiten  der  schrill  :  Dies  buch  gehört  dem  könig'  (Bern  1844) 
hab  ich  hier  in  der  Schweiz  nicht  auftreiben  oder  auch  nur 
bibliographisch  feststellen  können. 

Bern,   11   august  1905.  Oskar  F.   Walzel. 


Personalnotizen. 

Am  30  december  v.  j.  starb  im  82  lebensjahre  zu  Königs- 
berg Oskar  Schade,  der  in  den  1850  er  und  60  er  jähren  als  mit- 
leiter  des  Weimarischen  Jahrbuchs  und  als  rühriger,  wenn  auch 
oft  eigenmächtiger  herausgeber  wol  verdient,  uns  späten  haupt- 
sächlich durch  die  2  ausgäbe  s.  Altdeutschen  Wörterbuches  zu 
dauerndem  danke  verpflichtet  hat. 


64  PERSONALNOTIZEN 

Mit  Theodor  Aufrecht  in  Bonn  ist  am  3  april  der  85jährige 
senior  der  indogermanischen  Sprachwissenschaft  geschieden,  näher 
als  er  stand  der  germanischen  pliilologie  Ferdinand  Justi  in  Mar- 
hnrg  (f  17  febr.  d.  j.),  der  sie  in  früheren  jähren  auch  als  docent 
mit  reichem  wissen  vertreten  hat. 

Der  tod  Ludwig  Traubes  (f  19  mai,  46 jährig)  bedeutet  für 
die  mittelalterliche  pliilologie,  ja  für  die  philologie  überhaupt, 
einen  kaum  ersetzlichen  verlust.  von  der  intimen  betrachtung 
der  handschriften  aufsteigend  hat  er  uns  die  tiefsten  einblicke  in 
die  geschichle  der  Überlieferung  erschlossen  und  die  geistige 
cullur  des  miltelaliers  vielfach  in  neue  beleuchtung  gerückt,  mit 
jeder  weitern  arbeit  auch  die  methode  verfeinernd  und  bereichernd. 

Am  8  juli  entschlief  zu  Christiania  74 jährig  Sophus  Bügge, 
das  verehrte  haupt  der  nordischen  pliilologie,  die  er  einst  durch 
seine  grundlegende  Edda-  und  inschriftenkritik  ebenso  erfolgreich 
gefestigt  hat,  wie  seitdem  die  geniale  kühnheit  und  Uberkiihnheit 
seiner  mythologischen  und  sprachwissenschaftlichen  Studien  keim- 
kräftige anregungen  ausgestreut  hat. 

Am  5  juli  f  zu  Heidelberg  im  84  lebensjahre  Kuno  Fischer, 
der  redemächtige  historiker  der  philosophie,  der  unsern  classikern 
fruchtbare  arbeit  gewidmet  und  zumal  in  seinen  Faust-  und  Tasso- 
studien  auch  bedeutende  philologische  probleme  gestellt  hat.  — 
am  12  juli  f  in  Berlin  Felix  Bobertag,  dessen  arbeitsgebiet  vor- 
zugsweise die  litteratur  des  16  und   17  jh.s  gewesen  ist.  — 

Der  ao.  professor  dr  Budolf  Much  wurde  zum  ord.  professor 
für  germanische  Sprachgeschichte  und  altertumskunde  an  der  Uni- 
versität Wien  ernannt;  dr  Felix  Solmsen,  ao.  professor  der  vgl. 
Sprachwissenschaft  an  der  univ.  Bonn,  wurde  zum  Ordinarius  be- 
fördert; als  ord.  professor  der  indischen  pliilologie  u.  vgl.  Sprach- 
wissenschaft geht  der  bisherige  Berliner  extraordinarius  dr  Karl 
Geldner  nach  Marburg. 

Der  ord.  professor  dr  Oskar  F.  Walzel  in  Bern  hat  die  pro- 
fessur  der  litteraturgeschichte  an  der  technischen  hochschule  zu 
Dresden  übernommen. 

Habilitiert  haben  sich  :  dr  Reinhold  Trautmann  in  Göttingen 
für  indogermanische  Sprachwissenschaft,  dr  Arne  Nova'k  an  der 
cecischeu  Universität  in  Prag  für  deutsche  litteraturgeschichte. 

Die  philosophische  facultät  zu  Rostock  verlieh  dem  Oberlehrer 
Richard  Wossidlo  in  Waren  die  würde  eines  dr  phil.  h.  c.  die 
gleiche  auszeichnung  hat,  wie  wir  hier  nachholen,  vor  zwei 
Jahren  die  philosophische  facultät  zu  Groningen  dem  reallehrer 
S.  F.  D.  Blöte  in  Tilburg  erwiesen. 


ANZEIGER 


FUK 


DEUTSCHES  ALTERTUM  UND   DEUTSCHE   LITTERATUR 

XXXI,  2.  3    october  1907 


Die  Wortstellung  im  Beowulf  von  John  Ries,  (gedruckt  mit  Unterstützung 
der  kgl.  gesellschaft  d.  Wissenschaften  zu  (Jöttingen.)  Halle  a.  S., 
MNiemeyer,  19U7.    xiv  und  416  ss.  6°.  —  lü  m. 

Es  war,  wie  der  vf.  in  der  vorrede  andeutet,  ein  hartes 
stück  arbeit,  dieses  buch  zu  schreiben,  es  ist  aber  auch  ein  hartes 
stück  arbeit  es  zu  lesen,  der  slofT  ist  in  ungewöhnlicher  weise 
zerfasert,  wie  man  schon  daraus  ersieht,  dass  die  zum  Schlüsse 
zusammengestellten  belege  auf  368  gruppen  verteilt  sind;  die 
anordnung  im  grofsen  ist  dem  von  anderen  sprachen  herkommen- 
den leser  nicht  sogleich  eiuleuchtend;  ein  index  ist  nicht  vor- 
handen, was  derjenige  schmerzlich  empfindet,  der  sich  im  zu- 
sammenhange darüber  unterrichten  möchte,  was  der  vf.  über 
enklise,  auftact  usw.  zu  sagen  hat;  die  paragraphen  sind  oben 
auf  den  Seiten  nicht  angegeben,  was  bei  den  häufigen  Ver- 
weisungen von  einem  paragraphen  auf  den  andern  sehr  unbe- 
quem ist;  endlich  will  ich  nicht  verschweigen,  dass  (was  viel- 
leicht teilweise  an  mir  ligt)  mir  die  ausdrucksweise  des  vf.s  oft 
schwerverständlich  erschienen  ist.  unter  diesen  umständen  glaub 
ich  mich  nützlich  zu  machen,  wenn  ich  versuche,  die  allgemein 
interessanten  ergebnisse  der  mit  unendlichem  fleifse  durchge- 
führten arbeit  kurz  zusammenzufassen,  und  sie  durch  histori- 
sierende betrachtung  in  den  indogermanischen  rahmen  einzufügen. 

Eh  der  vf.  zur  sache  kommen  kann,  hat  er  zwei  steine 
aus  dem  wege  zu  schaffen,  nämlich  die  Braunesche  und 
die  Erdmannsche  hypothese.  Braune  hat  in  den  Forschungen 
zur  deutschen  philologie  (Festgabe  für  Hildebrand,  Leipzig  1894) 
über  die  Stellung  des  verbums  im  germanischen  die  folgende 
grundansicht  aufgestellt  :  'ich  halt  es  für  unzweifelhaft,  dass  die 
urgermanische  verbalstellung  eine  freie  war,  dh.  das  verbum 
konnte  sowol  in  hauptsätzen  als  in  nebensätzen  ganz  beliebig  am 
anfang,  in  der  mitte  und  am  Schlüsse  stehn,  je  nachdem  es  im 
bewustsein  des  sprechenden  früher  oder  später  in  die  erscheinung 
trat',  womit  also  das  Vorhandensein  überlieferter  fester  Stellungs- 
typen des  verbums  in  abrede  gestellt  wird,  gegen  diese  auf- 
stellung  wendet  sich  der  vf.  in  ausführlicher  polemik  s.  6 — 31, 
der  ich  im  wesentlichen  zustimme,  zwar  gegen  die  logischen  und 
methodischen  erörterungen  liefse  sich  wol  einiges  einwenden,  ent- 

A.  F.  D.  A.  XXXI.  5 


66  BIES    DIE    WORTSTELLUNG    IM    BEOWULF 

scheidend  aber  scheinen  mir  die  folgenden  gesichlspuncte.  zunächst 
hat  die  weiterschreitende  forschung  gezeigt,  dass  feste  typen  doch 
wol  in  gröfserem  mafsstabe  tatsächlich  vorhanden  sind,  als  Braune 
annahm,  und  die  schrift  von  Ries  bringt  nach  derselben  ricbtung 
bin  einen  wertvollen  beitrag.  sodann  fällt  eine  allgemeine  er- 
wägung,  auf  die  Ries  auch  hindeutet,  schwer  ins  gewicht.  Braune 
setzt  eine  freiheit  des  einzelnen  gegenüber  der  Überlieferung 
voraus,  die  jetzt  nicht  vorhanden  ist  und  früher  auch  nicht  vor- 
handen gewesen  sein  dürfte,  in  dem  gedäcbtnis  des  einzelnen 
sind  ja,  wie  bekannt,  nicht  etwa  blofs  Wörter  und  formen,  sondern 
es  sind  wortbildungs-, flexions-  und  satzbilduugs  typen  vorhanden, 
welche  zu  dem  festesten  bestände  gehören.  namentlich  sind 
die  wortstellungstypen,  die  wir  jetzt  in  unserm  sprachbewustseiu 
haben,  sozusagen  unzerstörbar,  ich  darf  mir  vielleicht  gestatten, 
zum  beweise  eine  beobachtung  mitzuteilen,  die  ich  in  einem 
vortrage  über  amnestische  aphasie  in  der  Jenaischen  Gesellschaft 
für  medicin  und  naturwissenschaft  (6  sitzung  vom  7  mai,  Jahr- 
gang 1886)  vorgetragen  habe,  es  heilst  dort  s.  7  :  'ich  habe 
nicht  gefunden,  dass  bei  kranken  der  wortstellungstypus  zerstört 
würde,  derartig,  dass  sie  die  worte  beliebig  durcheinander 
schüttelten,  einen  positiven  beweis,  dass  die  wortstellungstypen 
noch  vorhanden  sind,  liefert  selbst  im  vorgeschrittenen  Stadium 
diejenige  ausdrucksweise,  welche  man  die  skizzierende  nennen 
könnte,  ein  kranker  sagt  zb.  :  *eine  äuge  immer  tränen',  er  will 
damit  sagen  :  'das  eine  äuge  ist  immer  voll  tränen',  es  sind  nur 
noch  so  zu  sagen  die  am  meisten  hervorragenden  redegipfel  sicht- 
bar, aber  sie  stehn  an  der  richtigen  stelle.' 

Die  Erdmannsche  theorie  spricht  dem  subject  die  ihm 
gewöhnlich  zugestandene  Sonderstellung  ab  ('die  verschiedeneu 
nominalen  bestaudteile  desselben  satzes  haben  eine  fest  bestimmte 
rangordnung  unter  sich  im  deutschen  nie  gehabt;  oft  drängt  sich 
der  subjectsnominativ  hervor,  aber  keinem  andern  ist  es  verwehrt, 
dasselbe  zu  tun'  Erdmanu  bei  Ries  s.  34).  hiergegen  richtet  Ries 
s.  40  ff  das  schwere  geschütz  der  Statistik,  und  weist  nach,  dass 
das  nominale  subject  (das  aus  besondern  gründen  von  dem  pro- 
nominalen gesondert  ist)  im  satzanfang  im  Verhältnis  fast  8  mal 
häufiger  erscheint,  als  die  übrigen  nominalen  Satzglieder,  da  nun 
auch  in  den  andern  germanischen  sprachen,  so  viel  ich  sehe, 
der  subjectsnominativ  gewöhnlich  vorangestellt  wird,  und  da  im 
sanskrit  und  sonst  dasselbe  der  fall  ist,  so  wüste  ich  nicht,  was 
man  für  die  Erdmannsche  annähme  sagen  könnte,  es  gibt  eben 
eine  habituelle  Wortfolge,  bei  welcher  das  subject  den  satz  er- 
öffnet, und  eine  occasionelle,  bei  welcher  sich  auch  andre 
nominalformen  hervordrängen  können. 

Zu  den  vorbereitenden  abschnitten  ist  im  gründe  auch  die 
erörterung  über  einen  etwaigen  einfluss  des  metrumsauf 
die    Wortstellung    zu    rechnen,    welche  Ries  s.  68  ff  anstellt. 


RIES    DIE    WORTSTELLUNG    IM    BEOWULE  67 

als  ergebnis  seiner  nicht  weiter  ins  detail  gelinden  betrach- 
tung  kann  man  ansehen,  'es  sei  nicht  anzunehmen,  dass 
die  Wortfolge  im  ganzen,  in  ihren  gruodzügen  und  haupt- 
gesetzen  vom  einfluss  des  metrums  in  beträchtlichem  mafse  be- 
rührt und  verändert  sein  könne'  (s.  70).  Ries  stellt  sich  damit 
auf  den  boden  der  Untersuchungen  von  Rieger  (Zs.  f.  d.  pb.  7, 1  IT), 
von  deren  resultaten  ich  einige  in  der  lassung,  die  ihnen  Sievers 
Altgerm,  metrik  s.  23  gegeben  hat,  zur  Orientierung  des  lesers  mit- 
teile, der  wichtigste  satz  lautet  :  'steht  eine  einzelne  nominalform 
unter  andern  Wortarten  allein  in  einer  halbzeile,  so  hat  sie  in 
der  regel  an  der  allitteration  teil',  daraus  folgt,  dass  das  nomen 
hervorragender  betont  ist,  als  die  (ihrigen  Wortarten,  namentlich 
auch  als  das  verbum  finitum.  der  zweite  satz  lautet  :  'von  zwei 
nominibus  einer  halbzeile  allitteriert  jedesfalls  das  erste',  daraus 
folgt,  dass  die  weiter  nach  vorn  liegende  satzstelle  hervorragender 
betont  ist.  dass  nun  diese  art  der  Satzbetonung  die  der  natür- 
lichen rede  war,  ist  darum  wahrscheinlich,  weil  man  keinen 
grund  einsehen  kann,  weshalb  gerade  sie  durch  die  forderungen 
des  metrums  sollte  hervorgerufen  sein,  die  Wahrscheinlichkeit 
wird  aber,  was  Rieger  damals  nicht  wüste,  zu  der  in  solchen 
fällen  erreichbaren  höhe  dadurch  erhoben,  dass  das  sanskrit  den- 
selben betonungstypus  zeigt,  der  zugleich  als  indogermanisch  zu 
gehen  hat.  denn  im  hauptsatz  des  sanskrit  ist  das  nomen  be- 
tont, das  verbum  aber  hat  keinen  accent,  und  zugleich  folgt  aus 
dem  occasionellen  grundgesetz  ('jedes  dem  sinne  nach  hervor- 
zuhebende wort  rückt  im  satze  weiter  nach  vorn'),  dass  der  satz 
absteigend  verlief,  wie  weit  nun  etwa  der  dichter  durch  das 
metrum  veranlasst  werden  konnte,  von  diesem  typüs  abzuweichen, 
lässt  sich  an  einem  beispiel  zeigen,  ich  wähle  den  fall  der  occa- 
sionellen vorschiebung  des  verbums  an  die  spitze  des  aussage- 
satzes,  und  bediene  mich  dabei  der  Stellensammlung  bei  Ries, 
von  solchen  verben  trägt  in  der  ersten  halbzeile  allein  die  allit- 
teration geworhton  3156,  grette  652,  gecyste  1870,  oferhogode  2345, 
ofereodon  1408,  ymbeode  620,  auch  gefeng  1537,  wenn  nicht 
mit  Rieger  feaxe  statt  eaxle  zu  lesen  ist.  mitbeteiligt  an  der 
allitteration  der  ersten  halbzeile  sind  byred  449,  beer  896.  1506. 
beorhtode  1161,  bugon  1013,  burston  818,  egsode  6,  eode  358,  etect 
449,  ne-gefreegn  1027,  ne-gefeah  109,  geald  2991,  ongeat  1518, 
heold  2430,  lieht  1807.  1114,  hylde  688,  hyrte  2593.  hyrde  2172, 
ne-hedde  2697,  llxte  311.  1570,  losad  2062,  ne-gemealt  2628, 
gemunde  758,  mynte  712.  762,  reste  1799,  äräs  399.  2538,  seege 
590,  seegad  411,  geseah  2756,  setton  325,  oferswam  2367,  ge- 
swäc  2681,  wearp  1531,  oferwearp  1543,  wene  338.  442,  wende 
2329,  wand  1119,  gewat  217.  234  gewiton  1125,  wunad  1735, 
forwrat  2705,  ne-geweox  1711,  wol  auch  wolde  664,  obgleich 
man  allenfalls  auch  annehmen  konnte,  dass  es  in  der  Senkung 
steht  und  die  allitteration  zufällig  ist.    nicht  in  allitteration,  aber 


68  RIES    DIE    WORTSTELLUNG    IM    BEOWULF 

in  hebung  stehn*  die  vollverba  com  720.  1623.  18S8,  dyde  2809, 
eode  1233,  forgeaf  1020,  ne-gefrcßgn  1011,  gang  1316,  ongunnon 
3143,  habbad  270  (nicht  als  hilfsverbum) ,  lieht  3110.  2337, 
ahleop  1397,  %rtfe  62.  2163,  let  2550.  2977,  sfe^rfo»  3141,  nam 
746,  ne-nöm  1612,  sende  471,  <7csea/j  728,  pes^f  2417,  geslöh  459 
(von  Ilolthausen  umgestelli),  gesprcec  675,  weard  (nicht  als  hilfs- 
verbum)  460.  1330,  näf  681,  wene  1184,  ^etoöf  1963.  2401. 
2949,  gewüon  302.  von  hilfsverben  witle  344,  tcoMe  2305, 
ne-meahle  1659.  2855.  2971,  ne-meahton  3079,  Äee/tfe  205.  1550, 
Äa/as*  1221.  1855,  was  262.  2304.  2435.  2946,  nas  1455. 
2432,  wwron  1804.  in  der  Senkung  kommen  vollverba  sehr 
selten  vor.  ich  habe  notiert  ne-hyrde  3S;  ferner  findet  sich  1210 
gehwearf  pa  in  Francna  fcepm  feorh  cyninges,  aber  es  wäre  wol 
nicht  ausgeschlossen,  Francna  fwpm  als  eine  art  von  compositum 
zu  betrachten  und  ihm  nur  einen  hauptton  zu  geben,  wodurch 
dann  gehwearf  in  die  hebung  käme,  dasselbe  wäre  möglich  in 
bezug  auf  eorla  hleo  1035  und  2190,  wodurch  het  als  hebung 
gefasst  werden  könnte,  übrigens  wäre  ja  auch  möglich,  Massen' 
zu  den  hilfsverben  zu  stellen,  (dazu  kommt  noch  zweimaliges 
pä  com,  vgl.  unten  s.  73.)  an  hilfsverben  kommen  vor  nolde 
791  (als  hebung  aufzufassen,  wenn  eorla  hleo  als  compositum  gilt), 
wolde  1010.  1791.  2858,  mag  1484,  sceall  1862.  2255,  scolde 
1443,  hcebbe  433,  hcefde  893.  2333.  2844,  hoafdon  2381,  was 
102.  349.  549.  997.  1457.  2316,  wwron  1620.  —  anders  stellt 
sich  der  befund  bei  der  zweiten  halbzeile.  dort  muss  stets  das 
in  der  ersten  hebung  stehnde  wort  die  allitteration  tragen,  es 
kann  also  der  fall  nicht  eintreten,  dass  ein  den  satz  eröffnendes 
verbum  in  eiüer  allitterationslosen  hebung  steht,  vielmehr  steht 
es  entweder  in  der  allitteration,  oder  ist  unbetont,  das  erstere 
ist  der  fall  bei  fehd  1755,  fundode  1137,  gyrede  1441,  hruron 
1872,  rcehle  747,  seah  2717.  2863,  swigedon  1699,  polode  1265, 
Uhte  960,  wisse  2339.  2725,  also  nicht  eben  häutig,  sehr  häufig 
dagegen  ist  das  verbum  tonlos,  und  zwar  erscheinen  an  dieser 
stelle  alle  arten  von  verben,  nämlich  an  vollverben  ühte  487, 
com  702,  cüpe  359,  eode  612.  640.  918.  1814,  gwd  455,  ne- 
hyrde  1842,  gehijrde  609,  sprcec  1168,  ne-seah  2014.  336,  pühte 
2461,  gewät  1601,  tie-wiston  181.  auch  ne-iceard  1709  ist  hier- 
her zu  rechnen,  an  hilfsverben  neue  2524,  wolde  1805,  nolde 
2518,  ne-mceg  2260.  2801,  ne-mihte  191.  1150,  ne-sceal  271, 
3010,  scolde  805.  819.  2341.  2442,  ne-porfte  2995,  hwbbe  408, 
hcefde  665.  828,  bid  1742,  ne-bid  660.  949.  1940.  2541,  is 
375.  476,  nis  249.  1361.  1372.  2262.  2458.  2532,  dazu  wces 
ne-wccs  und  nies  gegen  50  mal,  wwron  536.  es  ist  einleuchtend, 
dass  die  vollverba  in  der  zweiten  halbzeile  nur  unter  dem  zwange 
des  melrums  in  die  Senkung  gekommen  sind,  woraus  sich  ergibt, 

1  doch   ist   es  hier  und  im  folgenden  manchmal   zweifelhaft,   ob  man 
hebung  oder  Senkung  annehmen  soll. 


RIES    DIE    WORTSTELLUNG    IM    BEOWULF  69 

dass  man  gut  tut,  in  den  fragen  der  Satzbetonung  sich  immer 
zunächst  an  die  erste  halbzeile  zu  halten,  eine  lehre,  die  Rieger 
schon  ausgesprochen,  Ries  aber  nicht  gehörig  beachtet  hat.  für 
die  prosa  dürfte  zu  schliefsen  sein,  dass  unbetonte  vollverba 
den  satz  nicht  eröffnen  konnten,  es  dürfte  also  damals  eine 
Satzbetonung  wie  die  neuhochdeutsche  in  ich  kam  gestern  spat 
nach  hause  (wobei  ich  kam  in  der  Senkung  steht)  noch  nicht 
üblich  gewesen  sein,  ich  komme  auf  diese  dinge  bei  dem  sog. 
satzauftact  zurück. 

Mach  diesen  erörterungen  über  Braunes  und  Erdmanns  an- 
sichten  und  über  den  einfluss  des  metrums  würde  der  leser 
nunmehr  vorbereitet  sein,  die  wesentlichen  ergebnisse  der  Ries- 
schen  arbeit  in  sich  aufzunehmen,  wenn  nicht  noch  über  eine 
besondere  terminologie  zu  berichten  wäre.  Ries  nennt  die 
folge  subject  —  verbum  :  gerade  folge,  verbum  —  subject :  ungerade 
folge;  das,  was  vor  dem  subject  bei  gerader  oder  vor  dem  verbum 
bei  ungerader  folge  steht,  nennt  er  spitze,  was  das  besagen  will, 
sei  an  dem  alten  Schulbeispiel  Ronmlus  Romam  condidit  ver- 
deutlicht, in  diesem  satze  ligt  die  habituelle  Wortfolge  aus 
indogermanischer  zeit  vor,  welche  occasionell  in  doppeller  weise 
geändert  werden  kann,  wollen  wir  ausdrücken,  dass  Romulus 
Rom  nicht  zerstört  sondern  gegründet  habe,  betonen  wir  also 
das  condidit,  so  sagen  wir  condidit  Romam  Romulus,  wollen 
wir  hervorheben,  dass  es  sich  um  Rom  und  nicht  etwa  um  Alba 
longa  gehandelt  habe,  betonen  wir  also  Romam,  so  heifst  es 
Romam  condidit  Romulus.  Ries  nun  würde  in  condidit  Romam 
Romulus  ungerade  folge,  in  Romam  condidit  Romulus  Spitzen- 
stellung erblicken,  er  bringt  also  zwei  erscheinungen,  welche 
unter  genau  denselben  bedingungen  stehn,  unter  zwei  verschie- 
dene kategorieen.  das  ist,  wie  ich  meine,  theoretisch  verwerflich, 
zugleich  aber  auch  in  praktischer  beziehnng  von  übeln  folgen, 
weil  zusammengehöriges  in  der  darstellung  getrennt  wird,  ich 
werde  also  im  folgenden  diese  terminologie  möglichst  vermeiden 
und  mich  derjenigen  bedienen,  welche  mir  von  meinen  eigenen 
arbeiten  her  geläufig  ist. 

Ich  berichte  zuerst  über  die  traditionelle  Stellung  im 
unabhängigen  aussagesatz.  dass  das  subject  gewobnheits- 
mäfsig  den  satz  eröffnet,  ist  oben  s.  66  bemerkt  worden,  jelzt 
handelt  es  sich  um  das  verbum  finitum  (Ries  s.  57  ff.  209  ff 
und  passim).  dieses  hat  entweder  endstellung,  zb.  beornas 
gearwe  on  stefn  stigon  'die  krieger  stiegen  gerüstet  an  bord'  211; 
beorscealca  swn  füs  ond  föege  flelrceste  gebeag  'der  zecher  einer, 
dem  hintritt  und  tode  gev\edit,  legte  sich  zur  ruhe  in  der  halle' 
1240;  we  purh  holdne  hige  hläford  plnne  sunu  üealfdenes  secean 
cwömon  'wir  sind  in  freundlicher  gesinnung  deinen  herrn,  den 
söhn  des  H.,  zu  besuchen  gekommen'  267.  oder  mittelstellung, 
zb.  monig  of  gescet,    rice  tö  rüne   'mancher    setzte    sich   oft.  der 


70  RIES    DIE    WORTSTELLUNG    IM    BEOWULF 

herscher  zu  geheimer  beratung*  171;  wlg  ealle  fornam  Finnes 
pegnas,  nemne  feaum  anum  'der  krieg  nahm  alle  (legen  Finns 
hinweg,  außer  einigen  wenigen'  1080;  wyrd  oft  nered  unfcegne 
eorl,  ponne  his  eilen  de  ah  'das  Schicksal  erhält  oft  einen  dem 
tode  noch  nicht  verfallenen  mann  am  leben,  wenn  seine  kraft 
taugt  572;  hl  hyne  pä  atbleron  tu  brimes  farode,  swlese  geslpas, 
swä  he  selfa  bwd  'sie  brachten  ihn  da  zur  flut  des  meeres,  die 
liehen  genossen,  wie  er  selbst  befohlen  hatte'  28.  oder  das  ver- 
bum  schliefst  sich  unmittelbar  an  das  subject  an,  wofür  man  in 
diesem  zusammenhange  den  ausdruck  'contaclstellung'  gebrauchen 
könnte,  zb.  sele  Mi  fade  heah  ond  horngeap  'der  saal  ragte  hoch 
und  horngeschmückt'  81;  heaporces  fornam  mihtig  meredeor  purh 
mine  hand  'der  kampfsturm  nahm  das  mächtige  meertier  durch 
meine  band  hinweg'  557;  se  was  moncynnes  mcegenes  strengest 
on  p cern  dcege  pysses  llfes  'der  war  vom  menschengeschlechte  an 
kraft  der  stärkste  an  dem  tage  dieses  lebens'  196.  über  das  Ver- 
hältnis der  Häufigkeit  dieser  Stellungen  hat  Kies  (s.  212)  das 
folgende  festgestellt  :  'von  616  in  betracht  kommenden  Sätzen 
haben  die  alte  verbstellung  (di.  :  end-  und  mittelstellung)  426, 
die  neue  Stellung  (di.  conlactstellung)  190  Sätze.  es  ist  also 
zunächst  die  für  die  geschichte  der  germanischen  Wortstellung 
überaus  wichtige  tatsache  festzustellen,  dass  der  später  regel 
gewordene  anschluss  des  verbums  ans  subject  der  selbständigen 
sätze  sich  im  Beowulf  erst  in  30,8  %,  also  weniger  als 
einem  drittel  aller  fälle  findet,  die  alte  verbstellung  überwiegt 
noch  sehr  beträchtlich,  sie  gilt  noch  in  69,2 o/o.'  ich  bemerke 
dazu,  dass  man  selbstverständlich  aus  der  blofsen  Häufigkeit  eines 
Stellungstypus  nicht  auf  seine  altertümlichkeit  schliefsen  darf. 
Ries  tut  das  aber  auch  im  vorliegenden  falle  nicht,  er  hält  viel- 
mehr die  endstellung  des  verbums  deshalb  für  altertümlich,  weil 
die  läge  der  Überlieferung  im  angelsächsischen  und  nordischen 
darauf  weist,  dann  aber  und  hauptsächlich,  weil  sich  nicht  ein- 
sehen lässt,  warum  die  conlactstellung,  wenn  sie  die  ursprüng- 
liche gewesen  wäre,  sich  zur  endstellung  umgestaltet  haben  sollte, 
während  sich  gründe  dafür  finden  lassen,  warum  das  umge- 
kehrte sich  zutrug,  ich  bin  derselben  ansieht  und  nehme  also 
mit  Ries  an,  dass  der  angelsächsische  satzlypus,  soweit  es  die 
Stellung  von  subject  und  verbum  angeht,  dem  indogermanischen 
entsprach,  aber  auch  in  andrer  hinsieht  war  das  der  fall.  Wacker- 
nagel hat  bekanntlich  ldg.  forsch.  1,  333  ff  an  einem  aufser- 
ordentlich  reichen  malerial  nachgewiesen,  dass  im  indogermanischen 
die  enklitischen  Wörter  von  dem  (starkbetonten)  anfangswort  des 
satzes  (also  bei  traditioneller  folge  von  dem  subject)  wie  von 
einem  magnet  angezogen  werden,  selbst  auf  die  gefahr  hin,  dass 
ihr  grammatisches  Verhältnis  zu  andern  worteu  des  satzes  ver- 
dunkelt wird,  dasselbe  findet  denn  auch  im  Beowulf  statt.  Ries 
hat  über  diese  von  ihm  als  gesetz  der  ersten  Senkung  bezeichnete 


RIES    DIE    WORTSTELLU.NG    IM    BEOWULF  71 

erscheinung  s.  90.  177.  326  und  sonst  gehandelt,  damit  hängt 
etwas  andres  unmittelbar  zusammeu.  wenn  die  stelle  nach  dem 
ersten  worte  die  tonschwächste  ist,  so  müssen  alle  andern,  auch 
der  satzschluss,  tonslärker  sein,  ich  hab  im  Zusammenhang 
damit  denn  auch  vermutet,  das  verbum  habe  im  indogermanischen, 
wenn  es  am  satzschluss  stand,  mittlere  hetonung  gehabt,  auch 
Ries  hat  für  den  Beowulf  eine  derartige  Wahrnehmung  gemacht, 
er  stellt  ein  gesetz  vom  satzschluss  auf,  wonach  dieser  nicht  in 
besonderem  mafse  tonschwach  gewesen  sei.  ich  geh  aber  hier 
auf  diese  frage  nicht  näher  ein. 

Die  traditionelle  Wortfolge  nun,  wie  sie  im  indogermanischen 
und  nach  ausweis  der  beobachtungen  von  Ries  ebenso  im  angel- 
sächsischen vorhanden  war,  konnte  occasiouell  verändert  werden, 
indem  ein  wort,  welches  einen  stärkeren  sinnton  trug,  weiter 
nach  vorn  geschoben  wurde,  davon  wird  gleich  unten  zu  handeln 
sein,  hier  aber  ist  zunächst  die  schon  oben  angedeutete  tatsache 
zu  besprechen,  dass  das  verbum  im  angelsächsischen  im  gewöhn- 
lichen salz,  ohne  dass  es  occasionell  betont  wäre,  so  häufig  von 
seiner  überlieferten  endstellung  weg  in  die  satzmitte  oder  un- 
mittelbar an  das  subjeet  gerückt  wird,  wie  ist  das  zu 
erklären?  Ries  bringt  dafür  zwei  wie  mir  scheint  durchschlagende 
gründe  bei,  einen  rhythmischen  und  einen,  den  man  architek- 
tonisch nennen  könnte,  was  mit  dem  letzteren  gemeint  ist,  leuchtet 
sofort  ein,  wenn  man  die  oben  für  mittelslellung  angeführten 
beispiele  betrachtet,  viele  Sätze  sind  so  lang,  dass  es  untunlich 
erscheint,  die  masse  der  andern  Wörter  zwischen  subjeet  und 
verbum  einzusperren,  dass  es  sich  aber  hei  der  mittelslellung 
stets  um  längere  Sätze  handelt,  übersieht  man  recht  deutlich, 
wenn  man  die  stellen  in  gruppe  4 — 9,  welche  meist  einen  stern 
tragen,  weil  die  Sätze  nur  dreigliedrig  sind,  mit  denen  in  gruppe 
10 — 15  vergleicht,  welche  keinen  stern  haben,  weil  die  Sätze  aus 
mehr  als  drei  gliedern  besteh n.  manchmal  sieht  man  auch 
deutlich,  wie  das  objeet  hinter  das  verbum  rucken  muste,  weil 
es  mit  einem  anschlusssatz  belastet  ist,  zb.  wyrd  oft  nered  un- 
fwgne  eorl,  ponne  his  eilen  deah  572.  aber  auch  bei  contact- 
stelluug  kann  man  oft  die  architektonischen  rücksichten  spüren, 
oft  wird  zb.  ein  epitheton  nachgeliefert,  wenn  es  zu  schwer 
war,  um  gleich  angefügt  zu  werden,  so  sele  hlifade  heah  and 
horngeap  81.  nicht  selten  hat  man  auch  den  eindruck,  dass  der 
dichter  gern  einen  satz  nach  anleitung  oder  unter  mitwürkung 
des  metrischen  bedürfnisses  in  symmetrische  teile  zerlegen  wollte, 
zb.  heaporäs  fornam  \  mihtig  meredeor  |  park  mine  band  557.  der 
rhythmische  grund  ist  der,  dass  die  schwachtonigen  hilfsverba 
durch  das  starkbetonte  erste  wort  angezogen  werden,  sei  dieses 
nun  das  subjeet  oder  ein  andres  wort,  in  grofsem  mafsstabe 
findet  sich  diese  erscheinung  in  denjenigen  Satzteilen,  die  Ries 
spitzen  nennt,  wovon  nacher  zu  sprechen  sein  wird,  in  kleinerem 


72  RIES    DIE    WORTSTELLUNG    IM    BEOWULF 

auch  bei  den  Sätzen  ohne  spitze,  dem  satzbeginnenden  suhject 
des  unabhängigen  satzes  folgt  unmittelbar  ein  hilfsverbum  in 
39  fällen  (Ries  s.  61),  während  es  in  7  fällen  nicht  geschieht. 
in  diesen  kann  man  gelegentlich  den  grund  wol  finden,  so  ist 
159  und  3028  klar,  dass  der  dichter  das  hilfsverbum  von  dem 
zugehörigen  participium  nicht  trennen  wollte,  in  Heorot  innan 
wces  freondum  äfylled  1017  hätte  man  des  metrums  wegen  wol 
sagen  können  Heorot  wces  innan,  aber  das  stiefs  (denk  ich)  den 
dichter  ab,  weil  es  heifsen  würde  :  Heorot  war  darin,  die  an- 
ziehung  der  schwachbetonten  hilfsverba  durch  die  starkbetonte 
erste  satzstelle  ist  natürlich  nur  ein  fall  der  seit  urzeiten  üb- 
lichen behandlung  der  enklitika.  in  der  urzeit  aber  konnten  die 
hilfszeitwörter  nicht  von  diesem  Schicksal  betroffen  werden,  weil 
es  überhaupt  weuiger  gab  (es  fehlten  zum  grofsen  teil  die  sog. 
modalverba)  und  weil  die  vorhandenen  nicht  von  so  geringer 
körperlichkeit  waren,  entspricht  doch  dem  ags.  wces  altindisch 
Üslt  oder  dbhavat,  dem  ags.  mceg  mihte :  caknöti  dcaknöt  usw.  es 
braucht  nicht  bemerkt  zu  werden,  dass  die  aualogie  der  hilfs- 
verba geeignet  war,  andere  verba  nach  sich  zu  ziehen  und  damit 
der  contactstellung  der  verba  überhaupt  zur  herschaft  zu  verhelfen. 
Die  traditionelle  Wortfolge  des  indogermanischen  und  also 
auch  des  angelsächsischen  kann  verändert  werden,  indem  ein 
wort  occasionell  überhaupt  und  namentlich  an  die 
spitze  des  satzes  vorgeschoben  wird,  die  stellen,  an 
denen  dies  mit  dem  verbum  geschehen  ist,  sind  oben  s.  67f  zu- 
sammengestellt, die  innern  gründe  für  die  voranstellung  hat 
Ries  in  dem  ausführlichen  abschnitt  118 — 156,  der  zu  den  ge- 
lungensten des  buches  gehört,  gut  entwickelt,  es  kommt  schliefs- 
lieh,  wie  zu  erwarten  war,  darauf  hinaus,  dass  das  verbum  vor- 
geschoben wird,  weil  ein  ton  des  sinnes  auf  ihm  ruht,  hier 
mögen  noch  ein  paar  beispiele  für  vorgeschobene  nomina  (prä- 
dicatsnomen,  objeet  usw.)  angeführt  werden,  de  adis  Aeschere 
'tot  ist  Ä.'  1323;  sttdmöd  gestöd  wid  steapne  rond  winia  bealdor 
'festen  mutes  stand  da  hinter  dem  hohen  schild  der  fürst  der 
freunde'  2566;  sunu  dead  fornam  'den  söhn  hatte  der  tod  hin- 
weggenommen' (vorher  ist  von  der  mutier  die  rede)  2119;  söd 
ic  talige  'die  Wahrheit  spreche  ich'  532;  pone  hring  hoefde  Higeläc 
Geata  'den  haisschmuck  hatte  H.  der  könig  der  G.'  1202;  tiänigne  ic 
under  swegle  selran  hyrde  'von  keinem  bessern  hörte  ich  unter  der 
sonne'  1197;  gode  ic  panc  seege  'Gott  sage  ich  dank'  1997;  dum 
wife  pä  word  wel  licodon  'dem  weihe  gefielen  die  worte  wol'  639 ; 
me  pone  wcelrccs  wine  Scildunga  feettan  golde  fela  leonode  'mir 
lohnte  diesen  kämpf  der  fürst  derS.  mit  viel  gold'  (me  hervorgehoben 
im  gegensatz  zu  Grendel)  2101;  llgydum  forbom  bord  'durch  die 
feuerwogen  (die  eben  erwähnt  sind)  verbrannte  der  schild'  2672; 
cet  pöem  ade  wces  epgesfjne  swätfäh  syree  'auf  dem  Scheiterhaufen 
war  leicht  sichtbar  der  blutbefleckte  panzer'  1110. 


RIES    DIE    WORTSTELLUNG    IM    HEOWULF  73 

In  diesem  Zusammenhang  ist  nun  auch  die  erscheiuung  zu 
erwähnen,  welche  Ries  elwas  grofsartig  als  das  gesetz  vom 
satzauftact  bezeichnet  (vgl.  namentlich  s.  73).  es  ist  damit 
die  tatsache  gemeint,  dass  nicht  seilen  vor  dem  ersten  worte  des 
satzes  schwachbetonte  Wörter  erscheinen,  welche  sich  an  dasselbe 
proklitisch  anlegen,  dahin  gehören,  wenn  man  die  unabhängigen 
salze  allein  berücksichtigt,  vor  allen  dingen  die  Wörter  von  ana- 
phorischer  oder  sonst  satzverbindender  bedeutung.  nicht  in  be- 
tracht  kommeu  natürlich  die  Wörter,  welche  sich  zu  Wörtern  in 
beliebiger  satzstelle  proklitisch  verhalten,  wie  zb.  der  artikel,  die 
Präpositionen,  die  mit  einem  verbum  verschmelzende  negation, 
gewisse  adverbien  (so  namentlich  steigernde).  Ries  hat  den 
gegenständ  nicht  erschöpfend  behandelt,  wenn  dies  in  Zukunft 
geschieht,  wird  man  in  einer  beziehung  anders  verfahren  müssen 
als  Ries  es  getan  hat.  man  wird  nämlich,  da  die  zweite  halbzeile 
strengere  metrische  anforderungen  stellt  und  also  sich  von  der 
spräche  der  prosa  weiter  entfernt,  nicht  von  dieser,  sondern  von 
der  ersten  halbzeile  auszugehn  haben,  tut  man  das,  so  zeigt 
sich  bei  einigen  formen  des  anaphorischen  substantivischen  pro- 
nomens  und  bei  pä,  die  ich  beispielshalber  herausgreife,  folgendes 
ergebnis.  htne  steht  im  anfang  der  zweiten  halbzeile  1 1  mal 
tonlos,  im  anlang  der  ersten  in  hyne  pa  mid  handa  heoro  dreo- 
rigne  2720,  also  in  einer  hebung;  him  23  mal  schwach  in  der 
zweiten  halbzeile,  in  der  ersten  schwach  1192.  2903.  3047,  wol 
auch  312.  340,  dagegen  in  der  hebung  in  him  se  yldesta  ondswarode 
258  und  him  da  gegiredon  Geata  leode  3137.  fiä  ist  37  mal 
schwach  betont  in  der  zweiten  halbzeile,  in  der  ersten  schwach 
betont  in  da  him  Hrödgär  gewüt  662,  ebenso  74.  86.  229.  642. 
710.  771.  980.  991.  2131.  2312.  2472.  2484.  2752.  2773. 
3169,  wol  auch  64.  491.  1050.  1399.  1677.  2324.2561.2688, 
endlich  1600  und  1644,  wo  auch  com  mit  in  der  Senkung  steht, 
dagegen  steht  pä  in  der  hebung  in  pä  wces  be  mceste  merehragla 
sum  1905,  ebenso  47.  53.  126.  128.  415.  544.  607.  837. 
1095.  1288.  1629.  1647.  1866.  1884.  1896.  2860.  2982.  da- 
nach dürfte  zu  schliefen  sein ,  dass  auch  in  der  gleichzeitigen 
prosa  die  genannten  Wörter  sowol  stark  als  schwach  betont 
werden  konnten,  es  fragt  sich,  wie  dieser  zustand  historisch 
erklärt  werden  kann,  nach  meiner  ansieht  ist  sicher,  dass  schwach- 
betonter satzanfang  in  der  indogermanischen  grundsprache  nicht 
vorkam,  denn,  abgesehen  vom  griechischen  und  lateinischen,  auf 
das  ich  hier  nicht  eingehn  will,  das  alliudische  beginnt  keinen 
satz  mit  einem  schwachbetonten  worte.  auch  das  urgermanische 
dürfte  die  erscheinung,  von  der  wir  reden,  nicht  gekannt  haben, 
da  das  gotische  sie,  soviel  ich  sehe,  nicht  zeigt,  wenn  dort 
panuh  'dann'  stets  an  erster  stelle,  pan  aber  stets  an  späterer 
steht,  so  kann  ich  das  nur  so  verstehn,  dass^on  schwach  betont 
war,  und  daraus  weiter  den  schluss  ziehen,  dass  Wörter  wie  jaht 


74  KIES    DIE    WORTSTELLUNG    IM    BEOWULF 

ip  usw.  und  die  satzeinleilenden  conjunctionen  stark  betont 
waren,  die  schwachlonigkeil  muss  sich  also  wol  später  ein- 
gestellt haben,  und  es  ist  anzunehmen,  dass  wir  das  angel- 
sächsische des  Beowulf  auf  dem  Übergang  von  der  alten  stark- 
lonigkeit  zu  der  neuen  schwachlonigkeil  antreffen,  für  einen 
solchen  Übergang  gibt  es  bekanntlich  mancherlei  analoga,  so  zb. 
die  Vorgänge  bei  den  präposilionen  (s.  meine  Vgl.  synt.  III  108). 
Ries  denkt  sich  den  Vorgang  älter,  wenn  ich  seine  ausführungen 
s.  313  richtig  versteh.  darin  würde  ich  ihm  nach  dem  ge- 
sagten nicht  beistimmen  künnen.  verhält  es  sich  so,  wie  ich 
meine,  so  fallen  also  die  sehr  häufigen  Wendungen  wie  pä 
was  uä.  ursprünglich  unter  das  oben  besprochne  gesetz,  dass 
schwachbetonte  Wörter  wie  wees  von  dem  starkbetonten  anfangs- 
wort  angezogen  werden. 

Es  bleibt  nun  noch  eine  cardiualfrage  übrig,  nämlich  die 
Stellung  des  verbums  im  abhängigen  salze.  Ries  zeigt, 
dass  im  Beowulf  im  wesentlichen  die  Stellung  herscht,  die  wir 
aus  dem  neuhochdeutschen  kennen,  denn  von  639  in  betracht 
kommenden  salzen  haben  551,  das  sind  86,2%,  die  sog.  alte 
Stellung,  di.  die  endstellung  oder  die  (viel  seltenere)  mittel- 
stellung;  nur  88,  di.  13,8%»  d'e  contactstelluug  (vgl.  Ries 
s.  273  fl).  aber  auch  bei  vielen  von  diesen  lässt  sich  ein  be- 
sonderer grund  für  die  wähl  der  besonderen  Stellung  finden, 
oft  ligt  es  so,  dass  der  sinn  und  das  metrum  eine  teilung  des 
satzes  begünstigten,  so  dass  es  nahe  lag,  den  satz  zunächst  mit 
dem  verbum  abzuschliefsen  und  dann  noch  etwas  nachzuliefern, 
so  zb.  pone  god  sende  folee  tö  fröfre  'welchen  Gott  sante  dem 
volke  zum  treste'  13;  pä>r  Hrddgär  scet  eald  ond  unhär  mid  his 
eorla  gedriht  'wo  H.  safs  alt  und  grau  mit  der  schaar  seiner 
edlen'  356;  od-peet  öper  com  geär  in  geardas  'bis  ein  andres  kam, 
ein  jähr  in  die  häuser'  1134.  es  kann  auch  ein  andres  wort  als 
ein  verbum  den  vers  abschliefsen,  zb.  nympe  llges  fapm  swulge 
on  swapule  'wenn  nicht  die  umarmung  der  flamme  sie  verschlänge 
im  qualm'  781.  auch  die  nicht  am  satzende  stehnden  hilfs- 
verba  stehn  zum  bei  weitem  grösten  teile  am  ende  einer  halb- 
zeile,  in  einigen  fällen  ist  ein  nomen  hinter  das  verbum  gerückt, 
weil  es  noch  einen  anhang  hat,  so  ncefne  he  wees  mära  ponne 
änig  man  öder  'aufser  dass  er  gröfser  war  als  irgend  ein  andrer 
mann'  1353,  vgl.  1560;  ic  pat  gehöre  pcBt  pis  is  hold  weorod 
frean  Scyldinga  'ich  höre,  dass  dieses  volk  dem  herrn  der  S. 
untertänig  ist'  290,  vgl.  388.  keinen  rechten  grund  für  die  un- 
gewöhnliche Stellung  weifs  ich  anzugeben  77.  1475.  2002.  2135. 
bei  den  modalverben  scheint  man  gern  das  verbum  von  dem 
infinitiv  zu  trennen,  zb.  se-de  wyle  söd  sprecan  'wer  die  Wahrheit 
sprechen  will'  2864;  %oä  bid  peem-pe  sceal  purh  slidne  nid säwle 
bescüfan  in  fyres  feepm  'weh  geschieht  dem,  der  in  gefähr- 
licher   bosheit    die  seele    in   des   feuers  schofs  stofsen  soll'  183. 


RIES    DIE    \YOKTSTELLU;SG    IM    BEOWULF  75 

da  nun  ferner  die  mittelslellung  des  verbums,  wie  oben  gezeigt 
ist,  meist  in  der  länge  der  sätze  ihren  grund  hat,  so  lässt  sich 
behaupten,  dass  das  verbum  im  abhängigen  satz  am  ende  sieht, 
wenn  nicht  besondre  gründe  metrischer  oder  architektonischer 
art  hindernd  dazwischen  treten,  was  mag  der  grund  dafür  sein? 
auf  diese  frage  sucht  Ries  s.  273  ff  die  antwort,  bat  sie  aber 
nicht  gefunden,  er  argumentiert  so:  nebensälze  haben  der  natur 
der  sache  nach  häufiger  ein  pronominales,  also  schwach  betontes 
subject,  als  hauptsätze;  aufserdem  sind  die  Wörter,  mit  denen 
die  nebensätze  beginnen  (relativa,  conjunctionen)  schwach  be- 
tont: die  nebensälze  haben  also  eine  Vorliebe  für  schwachtonigen 
salzeingang.  nun  beruht  aber  im  hauptsätze  die  conlactstellung 
des  verbums  im  letzten  gründe  auf  dem  umstände,  dass  es  von 
dem  starkbetonten  satzeingang  angezogen  wurde,  also  ist  es  ganz 
natürlich,  dass  es  im  nebensätze  überwiegend  am  ende  verblieb, 
der  vf.  sucht  dann  durch  umständliche  berechnungen  festzustellen, 
wie  stark  die  oben  genannten  tatsachen  im  vergleich  mit  den 
zuständen  im  hauptsätze  gewürkt  haben  mögen,  das  ergebnis  ist 
aber  nicht  so  durchschlagend,  wie  zu  wünschen  wäre,  weil  die 
hauptsätze  ja  auch  oft  schwachtonigen  anfang  haben,  es  ist  nicht 
nötig,  hier  auf  die  details  einzugehu,  weil  ich,  wie  der  leser  aus 
den  oben  vorgetragenen  darlegungen  weifs,  gegen  das  Fundament 
der  Riesschen  beweisfiihrung  einen  einwand  vorzubringen  habe, 
ich  glaube  nicht,  dass  (um  von  den  pronomina  zu  schweigen) 
die  relativa  und  conjunctionen  in  älterer  zeit  schwachbetont 
gewesen  sind,  man  kann  also  von  ihrer  zur  zeit  des  Beowulf 
teilweise  vorhandenen  schwachbetontheit  nicht  eine  Stellungs- 
gewohnheit des  verbums  herleiten,  welche  doch  sicher  älter  war 
als  der  Beowulf.  in  der  tat  muss  man  meiner  ansieht  nach,  um  die 
endstellung  des  verbums  in  germanischen  nebensätzen  zu  erklären, 
auf  viel  ältere  zustände  zurückgreifen,  nämlich  auf  die  indo- 
germanischen beton ungs Verhältnisse,  das  verbum  des  altindischen 
trägt  im  nebensalze  den  acceut,  während  es  im  hauptsätze  un- 
accentuiert  ist.  damit  sind  wahrscheinlich  Verhältnisse  zur 
schriftlichen  fixieruug  gelangt,  welche  schon  in  der  grundsprache 
vorbanden  waren  und  in  das  germanische  übergiengen.  das  verbum 
des  nebensatzes  war  stärker  betont  als  das  des  bauptsatzes  und 
konnte  deshalb  nicht  wie  dieses  von  dem  satzanfang  angezogen 
werden. 

Es  ist  hier  nicht  der  ort  zu  zeigen ,  dass  das  gotische 
und  altnordische  der  vorgetragenen  ansieht  keine  Schwierigkeiten 
bereiten,  weil  dies  in  der  hier  erforderlichen  kürze  nicht  ge- 
schehen kann,  dagegen  mag  versucht  werden,  zu  zeigen,  wie  sich 
das  über  die  Stellung  des  angelsächsischen  v  er  bums 
ermittelte  in  indogermanischer  beleuchtung  aus- 
nimmt, wir  können  als  ergebnis  der  vergleichung  der  ein- 
zelnen   sprachen    etwa    folgende   hypothese   für  die  grundsprache 


76  RIES    DIE    WORTSTELLUNG    IM    BEOWULF 

aufstellen,  der  einfache  unabhängige  satz  als  rhythmische  reihe 
betrachtet  begann  mit  einem  hohen  (bez.  starken)  ton,  dann 
folgte  der  tiefste,  darauf  ein  ton,  der  zwar  hoch  aber  doch 
niedriger  war  als  der  erste,  und  von  da  gieng  es  abwärts,  aber 
nicht  bis  zur  tiefe  der  zweiten  stelle,  der  schluss  der  reihe 
hatte  also  im  vergleich  zur  zweiten  stelle  (der  ersten  Senkung) 
mittlere  betonung.  als  grammatische  reihe  betrachtet  begann  der 
satz  mit  dem  subject,  dann  folgten  die  enklitischen  Wörter,  darauf 
die  übrigen  nominalen  beslaudteile,  den  schluss  bildete  das  verbum. 
sollte  ein  wort  um  seiner  Wichtigkeit  willen  besonders  hervor- 
gehoben werden,  so  rückte  es  weiter  nach  vorn,  auf  diese  weise 
konnten  occasionell  andre  Wörter  als  das  subject  in  die  hauptton- 
stelle  kommen,  so  auch  das  verbum.  im  nebensatz  war  die 
Stellung  dieselbe,  aber  die  betonung  des  verbums  eine  andre, 
ich  habe  sie  als  schwebend  bezeichnet,  weil  ich  für  wahrscheinlich 
halte,  dass  sie  sich  im  voranstehnden  nebensatz  entwickelt  hat, 
dessen  ende  gehoben  wird,  diese  satztypen  wurden  von  den 
Germanen  mitgebracht  und  erhielten  sich  in  allem  wesentlichen, 
die  einzige  erhebliche  änderung  ist  die,  dass  man  im  hauptsatz 
sich  immer  mehr  gewöhnte,  das  verbum  an  das  subject  an- 
zuschliefsen.  wahrscheinlich  begann  diese  bewegung  bei  den 
hilfsverben,  deren  geläufigste  formen  der  anziehung  durch  die 
erste  haupttonstelle  umso  mehr  ausgesetzt  waren,  je  körperloser 
sie  infolge  ihrer  lautlichen  enlwicklung  wurden,  das  verbum  des 
nebensa-tzes  war  wegen  seiner  besonderen  betonung  dieser  an- 
ziehung nicht  ausgesetzt. 

Zum  schluss  sei  zunächst  hervorgehoben,  dass  nicht  alle, 
sondern  nur  die  wichtigsten  ergebnisse  der  besprochenen  schrift 
in  dieser  anzeige  erwähnt  worden  sind,  manches  freilich,  was 
der  leser  vielleicht  erwartete,  konnte  darum  nicht  behandelt 
werden,  weil  es  bei  Ries  fehlt,  so  zb.  die  Stellung  des  adjectivums 
im  Verhältnis  zu  seinem  substantivum,  die  präposition  im  Ver- 
hältnis zu  ihrem  casus,  man  darf  wol  hoffen,  dass  diese  partieen 
gelegentlich  nachgeliefert  werden,  sodann  gestatte  man  mir  noch 
eine  allgemeine  bemerkung.  wenn  ich  bisweilen  angedeutet  habe, 
dass  eine  stärkere  berücksichtigung  der  Sprachvergleichung  dem 
buche  zum  vorteil  gereicht  hätte,  so  war  damit  weniger  ein 
tadel  als  eine  Charakteristik  beabsichtigt,  die  summe  dessen,  was 
auf  dem  grammatischen  gebiete  gewust  wird  oder  gewust  werden 
kann,  ist  so  grofs,  dass  ein  einzelner  schwerlich  alles  umspannen 
kann,  wie  ein  indogermanist  stets  darauf  gefasst  sein  muss,  von 
den  specialkennern  eines  bessern  belehrt  zu  werden,  so  wird 
auch  der  detailforscher  sich  nicht  wundern  dürfen,  wenn  die 
sprachvergleicher  den  von  ihm  gesammelten  sloff  nach  ihren 
eignen  gesichtspuncten  zurechtrücken. 

Jena,  juli   1907.  B.  Delbrück. 


BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    N1BELUNGENSAGK  77 

Untersuchungen  über  den  Ursprung  und  die  entwicklung  der  Nibelungen- 
sage, von  R.  C.  Boer.  erster  band.  Halle  aS.,  vertag  der  buch- 
handlung  des  Waisenhauses,  1906.     vn  und  280  ss.  8°.  —  8  m. 

Das  vorliegende  buch  besteht  aus  zwei  teilen;  der  erste  ist 
eine  etwas  erweiterte  und  hier  und  da  berichtigte  Sonderausgabe 
der  Studien,  die  der  vf.  im  37  und  38  band  der  Zs.  f.  d.  ph.  hat 
erscheinen  lassen,  der  andre  bietet  reconstructionen  von  texten, 
die  er  durch  die  krilik  der  nordischen  Überlieferung  und  der 
Thidrekssaga  gewonnen  hat.  diese  texte,  besonders  die  beiden 
darstellungen  der  Niflungasaga,  auf  deren  Verbindung  nach  seiner 
ansieht  die  Thidrekssaga  beruht,  sollen  die  Übersichtlichkeit  för- 
dern, 'die  in  einer  abhandlung  über  einen  so  vielgestaltigen  Stoff 
nur  angestrebt,  niemals  erreicht  werden  kann',  der  schwerpunet 
der  arbeit  ligt  in  der  abhandlung.  'die  fragen,  die  darin  zur 
spräche  kommen',  urteilt  der  vf.  mit  recht,  'sind  von  solcher  be- 
deutung  und  die  resultate  von  den  hersebenden  ansichten  so  sehr 
abweichend,  dass  mir  daran  gelegen  sein  muste,  die  krilik  zur 
prüf'ung  der  methode  und  der  resultate  aufzufordern',  indem 
ich  dieser  aufforderung  folge,  muss  ich  zuvor  bemerken,  dass 
eine  erörterung  der  zahllosen  neuen  ansichten  die  der  vf.  auf- 
stellt, im  rahmen  einer  recension  nicht  möglich  ist.  ich  be- 
schränke mich  also  auf  die  betrachtung  der  Siegfriedssage,  die 
auch  in  der  arbeit  des  vf.s  den  gröfsern  räum  in  anspruch  nimmt, 
und  versuche  zunächst  die  Hauptergebnisse  der  verwickelten  und 
nicht  eben  übersichtlich  geführten  Untersuchung  darzulegen,  ich 
hoffe  damit  nicht  nur  dem  bedürfnis  des  lesers  zu  entsprechen, 
sondern  auch  dem  vf.  am  besten  gerecht  zu  werden. 

Boer  sieht  in  den  sagen  von  Siegfrieds  tod  und  dem  unter- 
gang  der  Nibelunge  nur  Variationen  desselben  themas  :  schatzgier 
veranlasst  den  mord  des  Schwagers,  in  der  Siegfriedssage  wurde 
das  thema  au  Hagen,  seiner  Schwester  und  Siegfried  exemplifi- 
ciert,  in  der  Nibelungensage  an  Hagen,  seiner  Schwester  und 
einem  könige,  der  später  den  namen  Etzels  erhielt.  Günther 
kam  ursprüuglich  weder  in  der  einen  noch  in  der  andern  sage 
vor.  er  wurde  aus  der  burgundischen  geschichte  aufgenommen, 
zunächst  in  die  Nibelungensage,  dann  aus  ihr  in  die  Siegfrieds- 
sage, ursprünglich  war  die  Nibelungensage  ebensowenig  histo- 
risch, wie  die  Siegfriedssage  mythisch. 

Den  kern  der  Siegfriedssage  bildet  der  mord  des  beiden, 
was  ihm  vorangeht,  die  erzählung  von  seiner  geburt,  sein  kämpf 
mit  dem  drachen,  die  erlösung  der  Sigrdrifa-Brynhild,  ihre  er- 
werbung  für  Günther  ist  später  teils  frei  erfunden,  teils  anders- 
woher entlehnt,  frei  erfunden  ist  die  erste  tat  Siegfrieds,  man 
fragte,  woher  der  schätz,  den  der  schwager  ihm  raubt,  stamme, 
und  fand  darauf  eine  doppelte  antwort.  allgemein  bekannte 
motive  benutzend  nahm  man  entweder  an,  dass  er  ihn  einem 
drachen  abgerungen  oder  dass  er  ihn  zwergen  abgenommen  habe. 


78  BOER    URSPRL'.NG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE 

so  ergab  sich  einerseits  der  kämpf  mit  dem  drachen,  wie  ihn  die 
nordische  Überlieferung  und  die  Thidrekssaga  erzählen,  anderseits 
die  geschichte  von  den  brüdern  Schilbung  und  Nibelung,  die  wir 
aus  einer  episode  des  Nibelungenliedes  kennen.  —  die  drachen- 
sage führte  zu  einer  neuen  erfindung.  man  fragte  :  wie  konnte 
Siegfried  den  harten  drachen  überwinden?  dazu  bedurfte  er  eines 
besonders  guten  Schwertes,  nur  der  meister  aller  schmiede  konnte 
es  liefern,  so  ergab  sich  die  geschichte  von  Siegfrieds  aufenthalt 
bei  Mime  in  der  Ths.  eine  andre  form  ergab  sich  im  norden 
durch  die  einwürkung  der  Helgisage.  aus  ihr  nahm  man  den 
erzieher  Regin  auf.  dass  dieser  Regin  schmied  ist,  erklärt  sich 
daraus,  dass  die  rolle  Mimes  auf  ihu  übertragen  wurde;  dass  er 
zwerg  und  dennoch  bruder  eines  drachen  ist,  aus  der  einwürkung 
der  nibelungischen  zwergensage. 

Die  beziehungen  Siegfrieds  zur  Sigrdrifa-Bryuhild  beruhen 
darauf,  dass  ein  altes  märchen,  eine  erlösungssage,  auf  den  helden 
übertragen  ist.  er  ist  das  glückskind,  das  dazu  berufen  ist,  eine 
im  zauberschlaf  ruhende  Jungfrau  zu  befreien  und  zum  weibe  zu 
gewinnen,  in  zwei  verschiedenen  formen  ist  das  märchen  mit 
Siegfried  verknüpft1,  das  eine  mal  ist  es  ein  zauberkleid,  das 
den  Schlummer  bewürkt  (märchen  von  der  eingenähten  Jungfrau. 
KHM.  111).  der  zauber  wird  dadurch  gehoben,  dass  das  kleid 
fortgenommen  wird.-  diese  form  ligt  den  Sigrdrifu-mql  zu- 
grunde, man  fasste  das  kleid  als  einen  panzer  auf  und  daraus 
ergab  sich  alles  andre,  man  fragte  :  'warum  trug  die  Jungfrau 
einen  panzer?  antwort  :  weil  sie  eine  walküre  war.  frage  :  wie 
konnte  eine  walküre  in  zauberschlaf  versenkt  werden?  antwort: 
weil  Odinn  ihr  zürnte,  frage  :  warum  zürnte  ihr  Odinn?  antwort: 
weil  sie  seinem  befehl  nicht  gehorcht  hatte,  frage  (sehr  jung): 
durch  welches  mittel  versenkte  Odinn  die  walküre  in  den  schlaf? 
antwort  :  durch  einen  schlafdorn'  (s.  19).  so  war  die  geschichte 
fertig;  nur  ein  moment  fehlte  noch,  zu  dem  apparat  der  er- 
lösungsmärchen  gehört  ein  hinderuis,  das  sich  dem  entgegenstellt, 
der  es  wagt,  der  verzauberten  Jungfrau  zu  nahen,  die  hinder- 
nisse  sind  bei  demselben  grundtypus  nicht  immer  dieselben,  der 
nordische  sagendichter  griff  zum  vafrlogi,  der  in  Skandinavien 
auch  in  andern  erzählungen  begegnet,  namentlich  in  den  Svip- 
dagsmq'l.  'auf  welche  sinnliche  anschauung  der  flammenwall 
zurückgeht,  wird  sich  vielleicht  mit  Sicherheit  nicht  entscheiden 
lassen,  da  er  nur  im  norden  begegnet,  wird  man  wol  an  eine 
nordische  naturerscheinung  denken  müssen,  und  es  ligt  nahe  in 
ihm  das  nordlicht  zu  erkennen'. 

Eine  andre  form  der  erlösungssage  wurde  in  Deutschland 
mit  Siegfried  verbunden,  das  hindernis,  das  sich  dem  befreier 
entgegenstellt,    bildet  wasser;    daher  haust  Brünhild  in  der  Ths. 

1  eine  dritte,  die  der  vf.  s.  31  für  das  Siegfriedslied  in  anspruch 
nimmt,  iibergeh  ich. 


BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUX;    DIR    NIBELUNGENSAGE  79 

auf  Sepgard  (=  Stromberg I  KI1M.  93);  oder  gefrornes  wasser, 
daher  heifst  ihre  bürg  im  Nibelungenlied  Isenstein  (di.  eisslein  = 
kristall  =  glasbergl  KEIM.  93)  und  daroacb  ihr  land  dann  weiter 
Island,  die  erlösung  erfolgt  durch  das  'namentabuinotiv'  (s.  2S): 
'der  Dame  des  hehlen  ist  das  Zauberwort,  das  die  Jungfrau  er- 
löst', freilich  inuss  der  vf.  zugeben,  dass  in  der  deutschen  Über- 
lieferung der  name  so  nicht  gehraucht  wird,  überhaupt  in  ihr 
von  einer  erlösung  nicht  die  rede  ist.  aber  das  seien  äuderungen, 
die  durch  die  jüngere  entwicklung  der  sage  hervorgerufen  seien 
(25  f).  dass  der  held  einst  den  Zauber  durch  die  nennung  seines 
namens  gehrochen  habe,  zeige  die  Ths.,  wo  Siegfried,  als  er  den 
saal  der  Brünhild  betritt,  seinen  namen  nennt,  und  seihst  das  M. 
enthalte  in  str.  419  noch  'eine  deutliche  reminiscenz",  indem 
Brünhild  hei  der  ankunft  der  hehlen  in  Island  Siegfried  vor  allen 
andern  mit  den  Worten  'sü  toillekomen  her  Sifrit'  begrüfst. 
aus  Deutschland  sei  dann  das  namentabumotiv  io  die  nordische 
dichtung  hinübergenommen,  und  die  Sigrdrifumc'l  böten  'ein 
directes  Zeugnis'  dafür,  dass  es  uicht  Brünhild,  sondern  Siegfried 
war,  der  seinen  namen  mitteilte,  dort  ist  die  erste  frage  der 
erwachenden  Jungfrau,  wer  ihr  erlöser  sei.  und  er  antwortet: 
Sigmuudar  burr,  sleit  fyr  skommu  hrafns  hrvelundir  hjorr 
Sigurüar. 

Aus  der  Verbindung  Siegfrieds  mit  dem  märchen  leitet  der 
vf.  ferner  her,  was  die  sage  vou  seiner  abkuuft  zu  erzählen  weifs. 
denn  'die  herkunft  des  glückskindes  ist  unbekannt,  in  den 
märchen  sind  es  verstofsene  königssühne  oder  kinder  armer 
eitern,  die  die  prinzessiu  erlösen,  eine  besondre  bewantnis  hat 
es  mit  ihnen  ausnahmslos'  (s.  23).  was  die  sage  von  Siegfried 
berichtet,  beruhe,  abgesehen  davon,  dass  er  der  söhn  Siegmunds 
ist,  auf  jüngerer  erfindung.  über  die  angaben  der  nordischen 
Überlieferung,  dass  Siegfried  als  söhn  einer  kriegsgefangeneu  im 
reiche  Alfs  geboren  wurde,  spricht  sich  der  vf.  nicht  aus.  den 
bericht  der  Ths.  erklärt  er  folgendermafsen  (s.  26).  das  gefähr- 
liche wasser,  das  die  bürg  umgab,  wurde  als  die  weite  Wasser- 
fläche aufgefasst,  über  die  ein  relter  aus  der  ferne  herbeikommt, 
das  veranlasste  die  anknüpfung  des  Scßafmotivs  (Sceaf,  Wieland, 
Lohengrin  uva.),  zumal  Sceaf  wie  Siegfried  als  ganz  kleiner  knabe 
ankommt,  als  kleiner  knabe!  'also,  folgerte  man,  war  es  seine 
multer,  die  ihn  ins  wasser  hinaussliefs.  weshalb  tat  sie  das? 
sie  war  doch  keine  böse  frau?  —  sie  tat  es  in  der  höchsten 
not,  als  sie  im  wähle  in  der  einsamkeit  ihr  kind  zur  weit  ge- 
bracht halte  und  selbst  schon  dem  tode  verfallen  war'  (s.  27). 
hieraus  soll  sich  zugleich  ergeben,  dass  die  unfreiwillige  wasser- 
fahrt und  die  erlösung  der  Jungfrau  einst  unmittelbar  aufeinander 
folgten,     der  aufenthalt  bei  Mime  sei  dazwischen  geschoben. 

Es  folgt  der  dritte  abschnitt  in  Siegfrieds  leben,  seine  Ver- 
bindung   mit    den  Giukungen    und   seine   Werbung  für  Günther. 


80  BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELU.NGENSAGE 

die  Verbindung  mit  den  Giukungen  ist  alt  und  gehört  zum  kern 
der  sage,  die  Werbung  wurde  erfunden,  um  Siegfrieds  unklares 
Verhältnis  zu  zwei  frauen  aus  dem  wege  zu  räumen  (s.  34).  nach 
der  alten  sage  war  er  der  gatte  der  Schwester  Hageus,  nach  dem 
erlösuugsmärchen  gatte  oder  Verlobter  der  Brünhild.  anfänglich 
wurde  der  Widerspruch  wol  wenig  gefühlt,  aber  als  die  hetero- 
genen elemente  als  teile  einer  zusammenhängenden  erzählung 
miteinander  in  Verbindung  gesetzt  wurden,  muste  das  doppelte 
Verhältnis  'hinweg  interpretiert'  werden,  man  liefs  Siegfried  nach 
wie  vor  eine  braut  vom  felsen  holen,  aber  nicht  für  sich,  sondern 
für  einen  andern,  es  geschah  das  eben  zu  der  zeit,  da  durch 
die  Verbindung  der  Siegfriedssage  mit  den  Burgundeu  könig  Günther 
neben  den  alten  beiden  Hagen  getreten  war.  für  ihn  muste  eine 
rolle  gefunden  werden,  das  geschah,  indem  man  ihn  zum  ge- 
niahl  der  Brünhild  machte,  so  war  beiden  geholfen,  Siegfried 
und  Günther. 

In  der  art,  wie  die  Werbung  ausgeführt  wird,  hat  die  sage 
verschiedene  wege  eingeschlagen,  zunächst  finden  wir  zwei  dar- 
stellungen,  in  der  Ths.  c.  227  und  in  der  Sigurdarkvida  en 
skamma,  in  denen  Siegfried  die  verlobte,  ohne  sie  durch  den 
gestaltentausch  zu  trügen,  einfach  seinem  freunde  abtritt,  in  der 
Ths.  wird  vorausgesetzt,  dass  Brünhild  die  Vermählung  Siegfrieds 
mit  Gudrun  bereits  erfahren  hat.  sie  empfängt  ihn  daher,  als 
er  mit  den  andern  helden  nach  Seegard  kommt,  unfreundlich, 
lässt  sich  aber  in  einer  Unterredung  durch  ihn  bestimmen, 
Günthers  frau  zu  werden,  weder  von  einem  hindernis,  das  den 
Zugang  zur  Brünhild  versperrte,  ist  die  rede  —  die  erlösung 
hat  ja  auch  schon  stattgefunden  —  noch  bedarf  es  des  gestalten- 
tausches1.  —  in  diesen  wichtigen  Voraussetzungen  stimmt  die 
Sgkv.  sk.  mit  der  Ths.  überein.  in  andern  weicht  sie  ab.  auf 
specifisch  nordischer  erfindung  beruht  es,  dass  Brünhild  als 
Schwester  Atlis  angesehen  wird  und  dass  die  werber  —  es  sind 
deren  drei,  Gunnarr,  Hogni  und  Sigurd  —  sich  zuerst  an  ihn 
wenden,  den  frühern  besuch  Siegfrieds  bei  Brünhild  ignorierte 
der  dichter,  obgleich  die  S3ge  der  er  folgt  ihn  voraussetzt  und 
einzelne  Wendungen  beweisen,  dass  er  ihn  kannte  (s.  41).  Brün- 
hild verspricht  sich  dem  könige,  der  mit  dem  golde  auf  Granis 
rücken  säfse.  ungehindert,  in  seiner  eignen  gestalt,  reitet 
er  zu  ihr  hinauf,  und  willig  teilt  sie  mit  ihm  das  lager.  aber  er 
vollzieht  den  beischlaf  nicht  und  tritt  sie  am  folgenden 
tage  verabredetermafsen  an  Guuuar  ab  (s.  38).  ein 
betrug  also  hat  auch  hier  nicht  stattgefunden,  als  motiv  für  die 
weitere  entwicklung  bleibt  nur  der  schmerz  der  Brünhild,  den 
mann  nicht  zu  besitzen,  der  um  sie  gefreit  hat. 

1  die  seene  im  ehegemach  (Ths.  c.  22Sf)  führt  Boer  auf  eine  andre 
quelle  zurück;  s.  37  anm.  137. 


BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE  81 

Andre  darstellungen  lassen  Brünhild  durch  betrug  zu  Günthers 
weihe  werden,  aus  der  Volsunga  saga  lernen  wir  ein  lied  kenneu 
—  als  Sigurdarkvida  en  ineiri  bezeichnet  es  der  vf.  — ,  das 
Siegfrieds  ersten  und  zweiten  besuch,  erlösung  (?)  und  Werbung 
miteinander  verband  und  folgendes  erzählte:  Siegfried  findet 
Brünhild  in  der  nähe  von  Heimes  hof  in  einem  prunkvollen  turm- 
gemach, obwol  sie  sonst  niäunern  den  zutritt  versagt,  empfängt 
sie  ihn  zuvorkommend,  reicht  ihm  den  becher  zum  willkommen 
und  verlobt  sich  mit  ihm.  uud  doch  sieht  sie  ihr  geschick 
voraus  und  prophezeit  Siegfried,  dass  er  sich  mit  Gudrun  ver- 
mählen werde,  was  sie  gefürchtet,  geschieht,  der  llammenwall 
hält  zwar  jeden  aufser  Siegfried  fern;  aber  der  kehrt  in  Günthers 
gestalt  wider  uud  gewinnt  sie  für  diesen.  Brünhild  ahnt,  dass  sie 
betrogen  ist.  lauge  brütet  sie  über  ihren  schmerz,  als  Gudrun 
sie  eines  tages  nach  ihrem  kummer  fragt,  bricht  er  aus.  sie 
weifs  alles:  dass  Grimhild  dem  Siegfried  einen  vergessenheitstruuk 
gereicht  hat  und  dass  er  es  gewesen  ist,  der  den  llammenwall 
durchritten  und  sie  zum  weibe  eines  andern  gemacht  hat  (s.  49  f). 
der  schmerz  um  die  verlorne  liebe  war  für  das  folgende  das 
treibende  motiv.  der  streit  der  königinnen  kam  in  dieser  Version 
der  sage  nicht  vor.  aus  der  deutschen  Überlieferung  ist  diese 
sagenform  nicht  zu  belegen,  doch  wird  sie  als  notwendige 
Zwischenstufe  zwischen  Ths.  c.  227  und  Nibl.  vorausgesetzt,  und 
dass  sie  aus  Deutschland  in  den  norden  übertragen  ist,  beweist 
die  figur  Heimes  (s.  55).  die  waberlohe  habe  der  nordische 
dichter  an  die  stelle  des  wassers  gesetzt,  dass  er  sie  nur  bei  dem 
zweiten  besuch  erwähnt,  obwol  er  sie  sich  als  bleibendes  hindernis 
vorstelle,  sei  eine  incongruenz,  die  sich  leicht  ergeben  konnte, 
da  das  hindernis,  wasser  oder  flamme,  nur  an  der  zweiten  stelle 
gebraucht  wurde. 

Ein  neuer  schritt  in  der  gestaltung  der  sage  war,  dass  man 
die  erlösung  als  selbständigen  teil  der  erzählung  ganz  fallen  liefs, 
erlösung  und  Werbung  in  eins  zusammenzog.  Siegfried  kommt 
mit  Gibichs  söhnen  zur  bürg  der  Brünhild.  nie  vorher  hat  er 
sie  gesehen,  in  G.untbers  gestalt  befreit  er  sie  von  den  fesseln 
des  zauberschlafs,  ruht  keusch  an  ihrer  seite  und  überliefert  sie 
Günther,  erst  durch  den  streit  mit  Gudrun  erfährt  sie,  dass  sie 
hintergangen  ist  (s.  46 ff),  diese  sage  setzt  ein  jüngeres  Eddalied, 
die  Helreid  Brynhildar,  voraus,  sie  stammt  aber,  trotz  des  vafrlogi, 
aus  Deutschland  und  hat  sich  hier  weiter  entwickelt.  —  diese 
jüngere  deutsche  entwicklung  leitet  der  vf.  aus  der  'folgeschweren 
änderung  der  localität'  her.  dadurch  dass  man  den  sitz  der 
Brünhild  nach  Island  verlegt  hatte,  war  an  die  stelle  des  glas- 
berges,  den  nur  ein  einziger  held  zu  ersteigen  vermag,  das  Welt- 
meer getreten,  'die  reise  von  Worms  nach  Island  liefs  sich  un- 
möglich als  eine  solche  darstellen,  die  nur  Siegfried  vollbringen 
konnte,    also  musten  die  drei  genossen  die  fahrt  gemeinschaftlich 

A.  F.  D.  A.  XXXI.  6 


82  BOER    URSPRUiSG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE 

machen,  und  daraus  folgte,  dass  nun  auch  Günther  und  Hagen 
Zugang  zu  Brünhilds  hurg  haben'  |(s.  47).  das  hindernis  das 
ursprünglich  dem  glückskinde  im  wege  stand,  war  kein  hindernis 
mehr,  ein  neues  muste  ersonnen  werden  :  Brünhild  will  Jungfrau 
bleiben,  nur  Siegfried  war  im  stände  ihr  das  magdtum  zu 
nehmen  und  damit  ihre  kraft  zu  brechen  1.  die  jüngste  neuerung 
sind  die  kampfspiele,  vielleicht  ist  sie  erst  im  Nibl.  vorgenommen, 
auf  keinen  fall  viel  älter,  die  epische  ausbildung  der  sage,  meint 
der  vf.,  verlangte  die  Verlegung  der  hochzeit  nach  Worms,  'nun 
aber  staud  man  vor  einer  neuen  Schwierigkeit:  wenn  Brünhild 
nicht  Günthers  frau  werden  wollte,  weshalb  liefs  sie  sich  dann 
bewegen,  ihm  nach  Worms  zu  folgen,  ein  neues  motiv  wurde 
eingeführt,  um  auf  diese  frage  die  antwort  nicht  schuldig  zu 
bleiben,  die  kampfspiele,  in  Island  muss  Brünhild  besiegt  werden, 
wenn   nicht  durch  den  raub  ihrer  jungfrauschaft,  dann  im  kämpf. 

Noch  ein  an.  gedieht  ist  zu  erwähnen,  dessen  ende  im 
Brot  erhalten  ist,  dessen  anfang  wir  nur  aus  der  contamination 
der  Vqlsuugasaga  kennen,  der  vf.  nennt  es  Sgkv.  eu  yogri2. 
in  ihm  sind  verschiedne  Versionen  zusammengeflossen,  die  haupt- 
quelle des  dichters  war  die  Sgkv.  sk.,  sie  ligt  von  anfang  bis  zu 
ende  seiner  darstellung  zu  gründe,  danebeu  aber  hat  er  die  Sgkv. 
en  meiri  und  ein  deutsches  gedieht,  das  schon  die  jüngste  ent- 
wicklungsstufe  darstellte,  benutzt,  einiges  hat  er  selbst  erfunden 
(s.  82).  im  gefolge  Atlis  ist  der  vater  Budli  eingezogen  (s.  54  f). 
zu  ihm  kommen  die  Giukunge  mit  heeresmacht  und  drohen  mit 
krieg,  wenn  ihnen  nicht  Brünhild  gegeben  werde,  vom  vater 
gedrängt,  willigt  sie  ein,  dessen  weib  zu  werden,  der  ihren 
flammenwall  durchritte,  gestaltentausch  und  flammenritt,  die  in 
der  Sgkv.  sk.  fehlen  (s.  41),  werden  im  anschluss  an  die  Sgkv. 
meiri  erzählt,  doch  erscheint  der  vafrlogi  nicht  mehr  als  natür- 
liche Umgebung  der  Jungfrau,  sondern  als  eine  maschinerie,  die 
sie  anwenden  kann,  wann  sie  will,  und  der  flammenritt  nicht 
mehr  als  eine  tat,  die  zur  erlösung  führt,  sondern  als  eine  mut- 
probe.  dann  wendet  sich  das  lied  zu  der  deutschen  quelle,  er- 
zählt nach  ihr  den  streit  der  küniginuen  und  lässt  Brünhild,  um 
Günther  zu  reizen,  behaupten,  Siegfried  habe  ihr  das  magdtum 
genommen,  obwol  er  vorher  in  Übereinstimmung  mit  der  Sgkv. 
sk.  an  dem  keuschen  beilager  festgehalten  hatte.  Brünhild  greift 
also,  um  ihre  räche  zu  befriedigen,  zu  einer  Verleumdung  (81).  — 

Das  sind  die  ergebnisse,  zu  denen  der  vf.  durch  seine  Unter- 
suchungen der  Siegfriedssage  geführt  ist.  zustimmen  kann  ich 
ihnen  nur  in  wenigen  puneten.  ich  finde,  offen  gesagt,  dass  es 
dem  vf.  an  einem  für  sage  und  poesie  empfänglichen  sinn  fehlt. 

1  ob  ich  hiermit  die  gedanken  des  vf.s  richtig  getroffen  habe,  weifs 
ich  nicht,     seine  darstellung  ist  mir  unverständlich. 

2  hierzu  rechnet  der  vf.  (s.  42.  64  f )  Vols.  c.  26,  36—58.  27,  1—4. 
20-46.  56—66.  28,  1—16.  29,  5—48.  144—151.   Brot. 


BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE  83 

nicht  nur  in  der  beurteilung  des  überlieferten  tritt  dieser  mangel 
hervor,  mehr  uoch  in  den  eignen,  seltsam  ausgeklügelten  con- 
structionen.  er  verflüchtigt  die  anschaulichen  gebilde  der  sage 
zu  wesenlosen  ahstraclionen  und  sucht  in  ihnen  den  Ursprung 
der  sage,  er  folgt  gar  zu  sehr  dem  hang,  dinge  aus  dem  über- 
lieferten, guten  Zusammenhang  zu  reifsen  und  willkürlich  mit 
andern  zu  combinieren.  er  verkennt  oder  berücksichtigt  zu  wenig 
den  in  der  geschichte  der  sage  und  namentlich  in  der  Ths.  stark 
hervortretenden  zug,  das  wunderbare  auszuscheiden  und  zu  einer 
glaubhaften  geschichte  umzugestalten  (vgl.  den  prolog  zur  Ths.). 
ob  ich  mit  diesen  ausstellungen  recht  habe,  muss  die  er  fahrung 
lehren,  der  vf.  wird  meine  angehauungen,  die  dem  herkömm- 
lichen sehr  viel  näher  bleiben,  vermutlich  für  antiquiert  und  für 
ebenso  verfehlt  halten,  wie  ich  die  seinen. 

Ich  gebe  dem  vf.  zu,  dass  die  taten,  die  von  Siegfried  ge- 
meldet werden,  keine  alte  einheitliche  sage  bilden,  ebensowenig 
wie  die  taten  des  Hercules,  sie  hatten  keinen  andern  Zusammen- 
hang als  die  person  des  hehlen  und  sind  auch  in  unsrer  poetischen 
Überlieferung  zum  teil  nur  ganz  lose  verbunden,  aber  dass  der 
kämpf  mit  dem  drachen  erfunden  sei,  um  zu  erklären,  dass 
Siegfried  einen  schätz  besitzt,  dass  die  erlösung  der  Sigrdrifa, 
ein  willkürlich  auf  Siegfried  übertragenes  märchen  sei,  und  dass 
gar  die  werbungssage  aus  dem  verlangen  entsprungen  sei,  Sieg- 
fried von  seiner  braut  zu  befreien  und  Günther  zu  einem  weihe 
zu  verhelfen,  das  glaub  ich  nimmer. 

Die  erste  heldentat  Siegfrieds  ist  die  erlegung  des  drachen. 
die  sage  geht  von  der  Voraussetzung  aus,  dass  der  held  ohne 
den  schütz  der  eitern  in  fremder  Umgebung  aufwächst,  was  die 
Ths.  und  VqIs.  einleitend  von  seiner  gehurt  erzählen,  ist,  wie  wol 
allgemein  angenommen  wird,  später  erfunden,  um  diese  Voraus- 
setzung zu  erklären,  die  Sisibegeschichte  der  Ths.  ist  aus  ver- 
schiednen  elementen  frei  combiniert,  der  bericht  der  VqIs.  ist 
aus  ihrer  darstellung  selbst  leicht  als  eine  jüngere  Schicht  zu 
erkennen,  sie  gerät  durch  die  angäbe,  dass  die  mutter  als  ge- 
mahliu  könig  Alfs  am  leben  bleibt,  bis  Siegfried  herangewachsen 
ist,  mit  sich  selbst  in  Widerspruch,  hat  aber  insofern  an  der  alten 
sage  festgehalten,  als  sie  den  jungen  helden  in  das  reich  Alfs, 
in  das  zwergenreich  versetzt,  die  annähme  des  vf.s,  dass  diese 
einleitung  der  sage  ursprünglich  zu  dem  erlüsungsmärchen  gehört 
habe,  würde  selbst  dann  unhaltbar  sein,  wenn  dies  märchen  auf 
Siegfried  übertragen  wäre,  der  held  des  erlösungsmärchens  ist 
kein  unmündiges  kind,  sondern  ein  mannbarer  Jüngling. 

Ebenso  unhaltbar  ist  es,  dass  der  vf.  für  den  Regiu  der 
nordischen  sage  einen  andern  Ursprung  annimmt  als  für  den 
Mime  der  Ths.,  und  wider  einen  andern  für  die  sage  von  INibelunc 
und  Schilbunc.  alle  drei  Überlieferungen  bezeichnen  vielmehr 
verschiedne  stufen  in  der  eutwicklung  derselben  alten  sage,    der 


84  BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE 

vf.  leitet  Regin  aus  der  Helgisage  her,  lässt  ihn  unter  dem  ein- 
fluss  Mimes  zum  schmiede,  unter  dem  einfluss  der  nibelungischen 
zwergensage  zum  zwerge  und  hruder  des  drachen  werden,  er 
sieht  in  der  nordischen  sage  die  jüngste  form,  das  umgekehrte 
ist  richtig.  Regin  war  ursprünglich  der  pfleger  Siegfrieds, 
nach  seinem  amt  war  er  genannt,  swalaud  melis  swe  arbinumja 
niuklahs  ist,  uf  raginjam  ist,  heifst  es  Gal.  4,  1;  das  war  die 
läge  Siegfrieds.  Regin  war  von  anfang  an  zwerg  und  schmied; 
das  schmieden  ist  zwergenarheit.  diese  rolle  ist  nicht  von  Mime 
auf  ihn  übertragen,  sondern  umgekehrt:  weil  Regin  dem  helden 
das  schwert  lieferte,  dessen  er  in  dem  kämpf  mit  dem  wurm 
bedarf,  ist  in  der  Ths.  der  berühmte  schmied  Mime  an  seine 
stelle  gesetzt  und  damit  zugleich  der  zwerg  beseitigt,  die  sage 
von  Nibelunc  und  Schilbunc  ist  neben  der  von  Regin  und  Fafnir 
keineswegs  als  eine  selbständige  erfindung  anzuerkennen;  sie  ist 
eine  Umbildung,  die  voraussetzt,  dass  man  den  schätz,  den  der 
wurm  hütet,  mit  dem  Nibelungenhort  identificiert  hatte,  die 
fabelwesen ,  zwerg  und  drache,  sind  aufgegeben,  der  wesentliche 
inhalt  der  sage  aber  doch  festgehalten,  wie  Regin  und  Fafnir 
sind  Nibelunc  und  Schilbunc  brüder,  die  um  die  erbschaft 
streiten  und  von  Siegfried  mit  dem  Schwerte,  das  sie  ihm  ge- 
geben haben,  erschlagen  werden,  auch  die  Verbindung  mit  dem 
zwergenreich  ist  bewahrt  (Alberich). 

Diese  ganze,  alte  sage  soll  nun  ersonnen  sein,  um  zu  er- 
klären, dass  Siegfried  einen  schätz  besitze,  wegen  dessen  er  er- 
schlagen werde,  denn  dass  Hagen  den  schwager  töte,  weil  er 
seinen  schätz  begehre,  das  würden  die  quellen  trotz  der  vielen 
änderungen  nicht  müde  zu  sagen,  wenn  etwas  feststehe,  so  sei 
es  dies  (s.  7).  ich  finde  gar  nicht,  dass  die  quellen  dem  schätz 
solche  bedeutung  beimessen,  die  Ths.  erwähnt  ihn  in  der  dar- 
slellung  der  Siegfriedssage  überhaupt  nicht,  im  Nibelungenliede 
kommt  er  in  den  aventiuren,  die  den  mord  erzählen,  auch  nicht 
vor;  nur  vorher,  wo  Gere  von  seiner  gesantschaft  reich  be- 
schenkt heimkehrt,  wird  flüchtig  darauf  hingedeutet,  dass  Hagen 
lüstern  ist  nach  dem  schätz,  und  selbst  in  der  nordischen  Über- 
lieferung, die  dem  schätz  besondre  aufmerksamkeit  widmet  und 
ihm  eine  lange  geschichte  ersonnen  hat,  erscheint  er  beim  morde 
nur  als  ein  untergeordnetes  nebenmotiv.  ich  halte  es  hiernach 
für  wahrscheinlich,  dass  für  den  mord  Siegfrieds  der  schätz  ur- 
sprünglich gar  nicht  in  betracht  kam.  sollte  es  aber  der  fall 
gewesen  sein,  so  würd  ich  dennoch  entschieden  bestreiten,  dass 
diesem  motiv  der  dracheukampf  entprossen  sei.  denn  dass  Sieg- 
fried einen  schätz  erwirbt,  erscheint  in  dieser  sage  gar  nicht  als 
das  wesentliche,  in  der  nordischen  sage  nimmt  er  zwar  zwei 
kisten  voll  gold  und  kostbarkeiten  mit,  das  übrige  aber  lässt  er 
liegen,  wo  er  es  gefunden  halte,  im  Nibl.  lässt  er  den  schätz 
wider    in   den  berg  tragen,    im  Siegfriedslied  schüttet  er  ihn  in 


BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE  85 

den  Rhein,  weil  er  ihm  unmcere  ist.  die  Ths.  übergeht  ihn 
ganz  mit  stillschweigen,  das  alles  wäre  doch  sehr  merkwürdig, 
wenn  es  der  sage  darauf  angekommen  wäre,  Siegfried  in  den 
besitz  des  Schatzes  zu  setzen,  neiul  die  ursprüngliche  sage  nahm 
an,  dass  Siegfried  den  schätz  dem  gierigen  drachen  entreifst, 
aber  nicht,  weil  er  ihn  für  sich  in  anspruch  nimmt,  er  macht 
ihn  freil  und  wie  sollte  die  dichtung,  wenn  sie  das  vom  vf. 
bezeichnete  ziel  erstrebte,  dazu  gekommen  sein,  Siegfried  schon 
im  unmündigen  alter  in  die  hui  des  zwerges  zu  geben?  und  wie 
zu  der  annähme,  dass  er  diesen  büter  seioer  Jugend  erschlägt? 
Durch  die  constructionen  des  vf.s  ist  die  sage  wahrlich  nicht 
erklärt,  wenn  man  die  frage  nach  ihrem  Ursprung  nicht  als 
doch  unlösbar  fallen  lassen  will,  so  hat  man  ihn  da  zu  suchen, 
wo  die  älteren  forscher  ihn  gesucht  haben,  die  sage  ist  sym- 
bolische darstellung  eines  naturvorgangs.  Kuhu  hat  schon  vor 
zwei  menschenaltern  auf  den  indischen  mythus  von  Vrilhras  und 
Indras  hingewiesen  und  aus  ihm  Siegfrieds  sieg  über  den  drachen 
hergeleitet,  der  zweifei,  oh  diese  anknüpfung  berechtigt  ist,  mag 
begründet  sein,  ich  will  auch  nicht  behaupten  (obschou  ich  es 
durchaus  nicht  für  unglaublich  halte),  dass  die  Siegfriedssage  ein 
mythos  sei,  wenn  man  darunter  etwas  versteht,  was  höchstes 
alter  hat  und  mit  irgend  welchem  cult  zusammenhängt,  aber 
daran  zweifle  ich  nicht,  dass  sie  symbolisch  ist  oder  vielmehr 
war.  wann  die  Symbole  geschaffen  wurden,  weifs  ich  nicht, 
die  fähigkeit  hat  dem  dichtenden  menschengeschlecht  nie  gefehlt, 
und  ein  lied  wie  das  von  Svipdag,  das  gewiss  nicht  zu  den 
ältesten  gehurt,  zeigt,  dass  sie.  auch  noch  in  junger  zeit  geübt 
wurde,  in  unsrer  sage  ist  der  ürache  symbol  des  winters,  der 
zwerg  symbol  des  dunkeis,  Siegfried  bezeichnet  den  lichten 
sommer,  sein  schwert  den  Sonnenstrahl,  in  den  dunkeln  tagen 
des  winters  wächst  das  junge  jähr  allmählich  heran,  wenn  seine 
zeit  gekommen  ist,  tritt  es  siegreich  hervor  und  bereitet  dem 
dunkel  und  der  winterlichen  kälte  den  Untergang,  im  symbol 
gewinnen  die  abstractereu  Vorstellungen  gestalt  und  leben,  sie 
werden  zu  personen  und  trägern  von  handlungen.  das  schwert 
ist  symbol  und  der  zwerg  ist  symbol,  aber  er  ist 'nicht  mehr 
symbol,  indem  er  das  schwert  schmiedet,  der  dichter  geht  vom 
symbol  aus,  aber  er  bleibt  nicht  dabei  stehn;  eine  blofse  alle- 
gorie  ist  die  Siegfriedssage  nicht,  so  ist  auch  nicht  überall 
sicher  zu  scheiden,  was  noch  als  symbol  aufzufassen  ist.  es  wäre 
möglich,  dass  der  schätz  erst  durch  die  verbreitete  Vorstellung 
schatzhütender  drachen  in  die  dichtung  gekommen  ist.  wahr- 
scheinlicher dünkt  mich,  dass  er  symbolisch  als  der  schmuck  der 
natur  zu  verstehn  ist,  der  sich  entfallet,  wenn  die  gute  Jahres- 
zeit gesiegt  hat.  für  diese  deulung  spricht  Siegfrieds  verhalten, 
dass  er  den  schätz  nicht  für  sich  erwirbt,  seine  tat  ist,  dass  er 
die    natur   aus    den    banden  des  winters  befreit,     natürlich  kanu 


SG  BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE 

ein  symbol  auch  umgedeutet  und  dadurch  der  ursprüngliche  sinn 
verschoben  oder  verdunkelt  werden,  wenn  der  drache  symbol 
des  winters  war,  so  ist  er  anderseits  auch  ein  nahe  liegendes 
hild  für  den  gewundenen  lauf  des  flusses  —  scatent  dracontes 
fluminum  heifst  es  irgendwo  in  den  carm.  Bur.  —  und  die 
Vorstellung  des  flusses,  dessen  lauf  rückwärts  zu  den  schätzen 
führt,  die  im  schofs  der  erde  ruhen,  scheint  im  schluss  der 
Fafnismol  vorzuliegen. 

Siegfrieds  aufenthalt  bei  Hegin  und  sein  kämpf  mit  Fafnir 
bilden  in  unsrer  Überlieferung  eine  wolgefügte,  einbeilliche  sage, 
trotzdem  ist  es  möglich,  dass  sie  aus  einer  älteren,  einfacheren 
sage  hervorgegangen  ist.  der  kämpf  kann  älter  sein  als  der 
aufenthalt  bei  Regin.  ich  denke  dabei  nicht  an  den  indischen 
mythus,  sondern  an  die  bekannte  stelle  im  Beowulf,  wo  als  eine 
heldentat  Siegmunds  nur  der  kämpf  mit  dem  wurm  und  die  er- 
werbung  des  schalzes  erwähnt  wird,  dass  da  dieselbe  tat  gemeint 
ist,  die  Siegfried  vollbringt,  ist  ja  unzweifelhaft,  ob  sie  vom 
vater  auf  den  söhn  übertragen  ist,  wie  Mogk  annimmt,  oder  um- 
gekehrt vom  söhn  auf  den  vater,  wie  Boer  glauben  möchte  (s.  94), 
lass  ich  dahingestellt,  wahrscheinlicher  als  beide  annahmen  ist 
vielleicht  eine  dritte,  dass  Siegmund  und  Siegfried  dasselbe  wesen 
bezeichnen,  obschon  sie  in  der  sage  als  zwei  personen,  als  vater 
und  söhn  gelteu  l.  — 

Der  zweite  act  in  Siegfrieds  leben  ist  die  erlösung  der 
Sigrdrifa-Brüuhild.  nach  der  meinung  des  vf.s  wäre  dieser  teil 
der  sage  daraus  entstanden,  dass  zwei  verschiedue,  aber  denselben 
typus  darstellende  märchen  auf  Siegfried  übertragen  wären,  wie 
man  sich  das  vorstellen  soll,  ob  er  meint,  dass  zwei  leute  un- 
abhängig voneinander  auf  den  einfall  gekommen  sein  sollen  — 
das  wäre  gevvis  unwahrscheinlich  —  oder  ob  ein  jüngerer  an 
die  stelle  des  älteren  märchens  ein  andres  ähnliches  setzte, 
darüber  spricht  er  sich  nicht  aus.     genug,    an  den  anfang  setzt 

1  auffallend  ist,  dass  es  im  Beowulf  von  dem  tödlich  getroffenen 
drachen  heifst  :  wynn  hat  gemealt,  'der  wurm  heifs  zerschmolz',  entspross 
diese  Wendung  aus  der  symbolischen  bedeutung  des  Schwertes?  und  hängt 
damit  zusammen,  dass  Siegfried  in  der  Ths.  den  drachen  nicht  mit  dem 
schwert,  sondern  mit  einem  feuerbrand  erschlägt?  und  ist  die  annähme, 
dass  er  durch  das  bad  im  diachenblut  eine  hornhaut  erhielt,  vielleicht 
durch  eine  allere  veranlasst,  dass  er  in  dem  geschmolzenen  schuppenpanzer 
badete?  —  jedesfalls  ist  das  baden  im  blut  erst  ein  jüngerer  ersalz  für  das 
bluttrinken  und  das  herzessen  der  nordischen  sage,  und  allgemein  anerkannte, 
auch  von  Boer  geteilte  ansieht  ist,  dass  dies  auf  dem  glauben  beruht,  man 
eigne  sich  dadurch  die  kräfte  des  getöteten  an.  aber  mit  unrecht  denkt 
Boer  dabei  nur  an  die  stärke  des  wurms.  nicht  darauf  kam  es  an.  was 
den  drachen  vor  allem  auszeichnet,  ist  sein  harter  und  undurchdringlicher 
panzer.  die  unverwundbarkeit,  die  dem  lichtgott  als  eine  natürliche  eigen- 
schaft  zukam,  wurde  von  der  sage  als  eine  erworbene  hingestellt,  dem 
Sammler  der  Eddalieder,  der  Siegfried  auch  Regins  blut  trinken  lässt,  scheint 
der  sinn  nicht  mehr  deutlich  gewesen  zu  sein,  in  der  deutschen  sage  ist 
der  alte  zug  durch  das  versländlichere  bad  ersetzt. 


BOER    URSPRUNG    Ü>'D    ENTWICKLUNG    DKU    NIDELL'NGENSAGE  87 

er  zwei  verschiedene  erzählungen.  das  ziel  beider  war  die  er- 
lösung  einer  im  zauberschlaf  ruhenden  Jungfrau,  in  der  einen 
erlöst  der  lield  sie  dadurch,  dass  er  das  zauherkleid  zerschneidet, 
in  der  andern  durch  das  namentahumoliv;  dort  haust  sie  auf 
einem  hohen  berge,  hier  auf  einer  fernen  insel;  dort  stellt  sich 
dem  beiden  die  waberlobe  als  hindernis  entgegen,  hier  das  weite 
meer.  ich  vermag  von  dieser  doppelheil  nichts  wahrzunehmen, 
von  dem  namentahumoliv  kann  überhaupt  nicht  die  rede  sein, 
ebensowenig  von  einem  hindernis,  das  der  held  zu  überwinden 
hatte,  nirgends  wird  das  wasser  als  solches  angesehen,  die 
waberlobe  wol  später,  wo  Günther  um  Brünhild  wirbt,  aber 
nicht  bei  diesem  ersten  besuch,  die  Verschiedenheit  des  locals 
ist  da,  aber  sie  ist  unwesentlich,  nur  darauf  kam  es  an,  die 
Jungfrau  dem  menschlichen  verkehr  zu  entrücken,  ob  man  sie 
auf  einen  hohen  felsen  oder  auf  eine  entlegene  insel  setzte,  war 
gleichgültig,  nicht  auf  zwei  verschiednen  marchen  beruht  unsre 
Überlieferung,  sondern  auf  einer  sage,  deren  wunderbare  und 
rätselhafte  Voraussetzungen  die  dichtung  in  menschlich-natürliche 
Verhältnisse  hinüber  zu  führen  gesucht  hat. 

Drei  darstellungen  kommen  in  betracht:  die  Sigrdrifumöl, 
die  VqIss.  c.  24  und  die  Tbs.  dem  ursprünglichsten  am  nächsten 
sind  die  Sgdrm.  gebliebeu,  die  einzige  quelle,  in  der  noch  von 
einer  erlösung  die  rede  ist.  hier  ligt  die  Jungfrau  auf  einsamem 
felsen  in  einer  schildburg,  angetan  mit  einer  brünue,  die  sie  so 
fest  umschloss,  als  wäre  sie  aus  fleisch  gewachsen.  Siegfried 
erweckt  sie,  indem  er  mit  seinem  schwert  die  brünue  zerschneidet, 
die  beiden  andern  darstellungen  haben  den  zauberschlaf  und  die 
wunderbare  brünne  fallen  lassen  und  durch  nichts  anderes  er- 
setzt, nur  an  der  abgeschiedenbeit  der  Jungfrau  halten  sie  noch 
fest,  in  der  Vqlss.  bewohnt  sie  mit  ihrem  weiblichen  gesinde, 
jedem  manne  den  zutritt  versagend,  einen  prachtvoll  ausgestalteten 
türm  —  der  vf.  verlangt,  dass  man  dabei  an  die  türme  von 
lsenstein  im  Nibl.  denke  — ,  in  der  Ths.  sitzt  sie  mit  ihren 
knechten  und  rittern  in  der  wol  verwahrten  bürg  Seegard.  das 
Verhältnis  der  drei  darstellungen  ligt  so  einfach  und  klar,  dass 
es  wol  noch  niemand  anders  aufgefasst  hat.  ich  begreife  nicht, 
wie  der  vf.  dem  gegenüber  seinen  willkürlichen  doppelbau  hat 
errichten  mögen. 

Dass  ich  den  Ursprung  der  sage  nicht  in  einem  oder  zwei 
märeben  suche,  ist  selbstverständlich,  selbst  wenn  die  Überein- 
stimmung sich  ungezwungen  ergäbe,  würd  ich  es  nicht  wagen, 
aus  diesen  jüngsten  niederschlagen  einer  allen  möglichen  ein- 
flössen ausgesetzten  volkstümlichen  Überlieferung  uralte  helden- 
sagen  wie  die  von  Hilde  und  Siegfried  zu  erklären,  erst  wenn 
es  gelungen  wäre,  die  geschichte  der  einzelnen  märchen  zu  er- 
gründen und  ihre  existenz  für  die  ersten  Jahrhunderte  unsrer 
Zeitrechnung   nachzuweisen   oder  wahrscheinlich  zu  machen,  würd 


88  BOER    URSPRUNG    UND    EMTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE 

ich  den  versuch  für  methodisch  berechtigt  ansehen,  unbedenklich 
geb  ich  auch  hier  der  alten  symbolischen  auffassung  den  vorzug. 
die  in  ihrer  festen  brünne  im  Schlummer  liegende  Jungfrau  ist 
die  unter  winterlichem  schnee  und  eis  erstarrte  natur.  das 
schwert  Siegfrieds,  der  Sonnenstrahl  des  lenzes,  durchschneidet 
den  panzer  und  erweckt  sie  zu  neuem  leben. 

Das  ganze  wesen  der  Sigrdrifa  kann  freilich  in  dieser  einen 
Vorstellung  nicht  erschöpft  sein,  überall  in  unsrer  sage  erscheint 
sie  als  die  wissende,  die  lehrhaften  Sprüche,  die  ihr  in  den  Sgdrm. 
in  den  mund  gelegt  werden,  mögen  ursprünglich  in  einem  an- 
dern Zusammenhang  gestanden  haben  und  gar  nicht  für  sie  be- 
stimmt gewesen  sein;  aber  dass  man  sie  zur  verkünderin  dieser 
dunkeln  runenweisweit  machte,  setzt  doch  voraus,  dass  man  in 
ihr  ein  wesen  sah,  dessen  blick  in  geheimnisvolle  tiefen  drang. 
in  der  Ths.  belehrt  sie  Siegfried  über  seine  herkunft.  in  der 
Volss.  enthüllt  sich  ihrem  prophetischen  geist  die  dunkle  Zukunft, 
sie  ahnt  das  unheil,  das  aus  ihrer  Verbindung  mit  Siegfried  ent- 
steht, sie  legt  der  Gudrun  ihre  träume  aus  und  sagt  Günther 
sein  geschick  voraus,  man  wird  nicht  umhin  können,  diese 
überall  festgehaltne  Vorstellung  für  einen  ursprünglichen  zug 
ihres  wesens  anzusehen,  aber  zu  der  annähme,  dass  sie  die  aus 
den  winterbauden  befreite  erde  sei,  passt  er  nicht,  wie  sollte 
solches  wissen  dem  dunkeln  schofs  der  erde  entsteigen,  'die 
sonne  bringt  es  an  den  tag!'  als  die  sonne  muss  die  allwissende 
Sigrdrifa  aufgefasst  sein,  wie  Siegfried  als  lichtgott  sowol  auf 
den  sommer  als  auf  den  tag  bezogen  werden  kann,  so  haben 
sich  auch  in  der  Sigrdrifa  zwei  Vorstellungen  verbunden:  das 
junge  jähr  weckt  die  keimkraft  der  natur,  der  junge  tag  die 
sonne,  dem  jungen  tage  gilt  in  den  Sgdrm.  der  erste  grufs  der 
erwachten  Jungfrau,  der  fruchtbaren  flur  der  zweite,  die  morgen- 
röte  geht  der  sonne  voran  und  zeigt,  wo  sie  ruht,  als  Siegfried 
zum  Hindarfjall  hinaufsteigt,  heifst  es  in  der  einleitung  zu  den 
Sgdrm.,  sah  er  auf  dem  berge  ein  helle  sucht,  als  ob  feuer  darauf 
brennte,  und  der  schein  leuchtete  zum  himmel  empor. 

Wer  der  Sigrdrifa  diese  bedeutung  zuerkennt,  wird  nicht 
zweifeln,  dass  die  belehrung,  die  sie  Siegfried  über  seine  her- 
kunft gibt,  ein  alter  zug  der  sage  ist,  obwol  nur  die  Ths.  ihn 
erwähnt,  wie  gut  er  zu  dem  wesen  der  wissenden  Jungfrau 
passt,  ligt  auf  der  hand.  die  nordische  Überlieferung  hat  ihn 
vergessen  oder  ausgeschieden,  eine  Version,  die  Siegfrieds  mutter 
als  königin  im  reiche  Alfs  leben  und  dem  herangewachsenen 
söhn  die  bruchslücke  von  dem  edeln  schwert  seines  vaters  über- 
reichen lässt,  konnte  diesen  zug  überhaupt  nicht  mehr  brauchen, 
ebenso  seh  ich  die  rosswahl  als  alt  an.  sie  kommt  auch  in 
der  nordischen  sage  vor,  aber  früher,  während  er  noch  unter 
Regins  mundschaft  >leht.  ganz  kurz,  in  einer  abgerissenen  notiz, 
wird  sie  in  der  einleitung  der  Reginsmol  erwähnt,  ausführlich  in 


BOEB    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    IHIBELUNGENSAGE  89 

der  Vqlss.  c.  13  erzählt,  dass  sie  an  dieser  stelle  nicht  echt  ist, 
ist  schon  daraus  zu  schliefsen,  dass  Siegfried  das  pferd  noch  gar 
nicht  braucht,  weder  in  seinem  kämpf  mit  dem  drachen,  noch 
bei  dem  besuch  der  Sigrdrifa.  ihr  ursprünglicher  platz  war  der, 
den  die  Ths.  ihr  anweist,  wenn  der  tag  aus  der  dämmeruug 
hervorgetreten  ist  und  die  sonne  auf  ihrem  lager  geweckt  hat, 
beginnt  er  seinen  rastlosen  lauf,  der  ihn  am  abend  zum  ziel 
führt,  die  bestäligung,  dass  die  rosswahl  schon  in  der  alten 
sage,  auf  der  sowol  die  Ths.  als  die  nordische  Überlieferung  be- 
ruht, bei  der  Brünhild  staltfand,  gibt  die  figur  Heimes,  die  Ths. 
bezeichnet  an  einer  andern,  mit  der  Siegfriedssage  nicht  ver- 
bundenen stelle,  wo  sie  ausführlich  von  dem  gestüt  der  Brünhild 
berichtet,  Heime  als  dessen  Verwalter,  und  diesen  Heime  kennt 
auch  die  Vojss.  in  der  nähe  seines  hofes  steht  der  türm  der 
Brünhild;  er  wird  als  ihr  pflegevater  bezeichnet,  bleibt  aber  eine 
ganz  mülsige  figur.  die  saga  hat  eben  nur  den  namen  behalten, 
bezeugt  aber  dadurch,  dass  die  Ths.  glauben  verdient. 

Schwer  ist  zu  entscheiden,  wie  die  scene  ursprünglich  schloss. 
die  Ths.  und  die  nordische  Überlieferung  setzen  übereinstimmend 
voraus,  dass  Brünhild  den  jungen  beiden  als  ihren  befreier  er- 
wartet und  willkommen  heifst;  aber  nur  in  der  nordischen  Über- 
lieferung (Vqls.  c.  21)  kommt  es  zum  liebesgeständnis  und  zur 
Verlobung,  die  Ths.  weifs  nichts  davon,  und  ich  halt  es  nicht 
für  unmöglich,  dass  sie  auch  in  diesem  puncte  recht  hat.  denn 
wenn  es  einerseits  als  möglich  erscheint,  dass  der  erzähler  die 
Verlobung  fortliefs,  weil  es  ihm  seltsam  vorkam,  dass  der  ver- 
lobte gleich  weiter  zieht,  so  ist  es  anderseits  auch  möglich,  dass 
in  der  nordischen  sage,  nachdem  sie  rosswahl  und  belehrung 
verloren  hatte,  die  Verlobung  hinzugefügt  wurde,  um  der  scene 
einen  neuen  gehalt  und  einen  gewissen  abschluss  zu  geben,  ich 
neige  zu  der  annähme,  dass  es  in  der  tat  so  war.  denn  auch  die 
älteste  version  der  werbungsscene  setzt  eine  Verlobung  nicht 
voraus  (s.  u.),  und  später,  in  den  klagen  der  Brünhild,  wird 
stärker  betont,  dass  sich  ihr  eignes  stilles  gelübde  nicht  erfüllt, 
als  dass  Siegfried  seineu  schwur  gebrochen  habe,  für  ganz  aus- 
geschlossen halt  ich,  was  manche  und  unter  ihnen  auch  Boer 
für  das  ursprüngliche  ende  der  scene  halten,  eine  Vermählung 
des  jungen  paares.  das  erlösungsmärcheu  führt  freilich  zu  glück- 
licher heirat;  unsre  sage  aber,  die  gerade  den  momeot  ins  äuge 
fasst,  wo  die  sonne  ihr  lager  verlässt,  bot  dazu  keine  gelegenheit1. 

1  merkwürdig  ist,  wie  nahe  sich  unsre  sage  mit  dem  berührt,  was  die 
Parzivalsage  von  der  Jugend  ihres  helden  erzählt,  auch  Parzival  wächst  in 
der  einsamkeit  auf.  seinen  vater  hat  er  nicht  gekannt,  ängstlich  hütet  ihn 
die  mutter  vor  dem  verkehr  mit  der  weit,  sie  stirbt  vor  schmerz,  da  er, 
ein  noch  unerwachsener  knabe,  einem  unwiderstehlichen  dränge  folgend, 
hinauszieht,  unbekannt  mit  den  sitten  der  weit,  unbekannt  mit  seinem 
geschleclit,  aber  trotz  seiner  läppischen  unbehollenheil  überall  bewundert 
und  willkommen    geheifsen,    eine   lichtgestalt  wie  Siegfried,     wie  Siegfried 


90  BOER    DBSPBÜWG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE 

Erweckung,  belehrung  und  rosswahl  bildeten  den  inlialt  der 
alten  sceue.  jüngere,  erfindung  ist,  was  in  einer  episode  der 
Sigrdrifnmol  erzählt  wird:  Odin  liabe  die  Jungfrau,  weil  sie  gegen 
seinen  willen  dem  Agnar  den  sieg  verliehen  batte,  zur  strafe  in 
schlaf  versenkt  und  bestimmt,  dass  sie  sich  vermählen  solle,  sie 
aber  habe  ihrerseits  gelobt,  sich  keinem  manne  zu  vermählen, 
der  sich  fürchten  könne,  die  erzählung  soll  ähnlich  wie  die 
erzählungen  von  Siegfrieds  gehurt  den  zustand  erklären,  den  die 
ältere  sage  voraussetzte1,  dass  sie  einer  Jüngern  sagenschicht 
angehört,  ergibt  sich  auch  daraus,  dass  die  jungtrau  als  walküre 
autgefasst  ist.  denn  dass  sie  das  nicht  von  jeher  war,  hat  man 
längst  richtig  bemerkt,  die  brünne,  in  der  Siegfried  das  schlafende 
weih  findet,  wird,  wie  Boer  bemerkt,  die  erfindung  angeregt 
haben  2.  die  namen  Hilde  und  Brünhilde  können  natürlich  nicht 
älter   sein,     ursprünglich  hiefs  sie  Sigrdrifa  oder  war  durch  ein 

dem  Fafnir  seinen  namen  nicht  zu  nennen  weif;;,  ergeht  es  dem  Parzival: 
hon  fiz,  schier  ßs,  bed  fiz,  sagt  er,  habe  man  ihn  genannt,  dass  er  Parzival 
heilst  und  ein  Anschewin  sei  erfährt  er  erst  von  Sigune.  und  diese  Sigune 
trägt,  wie  schon  Bartsch  vermutet  hat  (Germ.  stud.  2,  141),  einen  germa- 
nischen namen  :  Sigune  di.  Sigwine  (vgl.  Sigrdrifa  und  Siegfried),  ich  zweifle 
nicht  dass  die  jugendgeschichle  Parzivals  auf  der  Siegfriedssage  beruht,  und 
glaube  dass  auch  sein  erstes  abenteuer,  die  begegnung  mit  Jeschule,  aus 
ihr  stammt,  wie  Siegfried,  nachdem  er  das  eibenreich  verlassen  hat,  in  der 
einsamkeit  in  goldglänzender  schildburg  die  Sigrdrifa  findet,  so  findet 
Parzival  unter  kostbarem  zeit  auf  einsamem  wiesenplan  die  schlafende 
Jeschute.  ungestüm  stürzt  er  sich  auf  sie,  schliefst  sie  in  seine  arme  und 
raubt  ihr  kuss  und  ring,  aber  nicht  weil  ihn  sinnliches  verlangen  triebe  — 
im  gegenteil,  die  scene  soll  zeigen  dass  sein  kindlich  reines  gemüt  von  liebe 
noch  nichts  weifs  — ,  sondern  weil  pr  unverständig  einer  Weisung  seiner 
mutler  folgt,  vielleicht  geht  der  Zusammenhang  noch  weiter,  von  Parzival 
wird  zweimal  erzählt,  dass  er  ein  ritterross  gewinnt,  das  eine  bald  nach  der 
begegnung  mit  Sigune  in  der  nähe  von  Artus  hoflager,  das  andre  im  kämpf 
mit  den  Templeisen  in  der  nähe  der  Gralsburg,  selbst  die  bedeutung,  die 
den  reichen  des  Artus  und  des  Gralkönigs  ursprünglich  zugekommen  zu 
sein  scheint,  erinnert  an  das  dunkle  reich  der  Nibelunge.  Parzival  erregt 
am  hofe  Artus  nicht  geringere  bewunderung  als  Siegfried,  da  er  in  den 
lief  Günthers  einleitet.  —  die  walisische  bauernlracht,  in  der  Parzival  von 
seiner  mutier  entlassen  wird,  schildert  und  benennt  die  Eirikssaga.  als  Leif 
nach  Grönland  segelte  und  Amerika  entdeckte,  hatte  er  zwei  Schotten  bei 
sich,  Haki  und  sein  weib  Hekja.  pau  vöru  tvä  büin,  at  J>au  hgfdu  pal 
klwdi,  er  P an  kpllubu  biafal;  ]>al  var  tvä  gOrt,  at  hgltrinn  var  a  upp, 
ok  opit  at  htiHum,  ok  ens;ar  ermar  a,  ok  knept  i  mi/ti  föta;  helt  par 
saman  knappr  ok  nezla,   en  her  vöru  annars  slabar. 

1  es  sind  zwei  ganz  verschiedene  schicksalsbestimmungen,  denen  Brün- 
hild  in  dieser  einleitung  unterworfen  wird;  und  die  lose  aneinanderreihung 
lässt  vermuten,  dass  sie  ursprünglich  nicht  zusammengehörten,  dass  Odin 
sie  mit  dem  schlafdorn  sticht,  bildete  die  einleitung  zu  der  ersten  begegnung 
mit  Siegfried;  dass  er  die  ehe  über  sie  verhängt,  weist  auf  die  spätere  er- 
werbung  für  Günther  (s.  u). 

2  übrigens  ist  zu  bemerken,  wie  die  annähme,  dass  Brünhild  walküre 
ist,  in  den  Jüngern  zweigen  der  nordischen  sage  weiter  wächst,  die  Sgdrm. 
nehmen  an,  dass  ihr  wildes  gewerbe  der  Vergangenheit  angehört,  Vplss.  c  24. 
27.  29,  dass  sie  es  fortsetzen  will. 


BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE  91 

ähnliches    mit    sigr-   zusammengesetztes  wort,    in    dem    ihre  be- 
ziehung  zu  Siegfried  zum  ausdruck  kam,  bezeichnet. 

Icli  wende  mich  zu  dem  dritten  abschnitt  in  Siegfrieds  leben. 
nirgends  sind  mir  die  daliegungen  des  vf.s  weniger  glaublich 
als  da,  wo  er  die  Werbung  Günthers  zu  erklären  sucht,  in  der 
Ths.,  meint  er,  sei  die  ursprünglichste  form  der  sage  enthalten, 
aher  nimmer  kann  ihr  verhunzter  hericht  alte  sage  sein,  unmög- 
lich kann  auch  der  dichter  der  Sgkv.  sk.  sich  die  entwicklung  der 
handlung  so  vorgestellt  haben,  wie  der  vf.  annimmt,  und  un- 
denkbar ist,  dass  die  ganze  scene  aus  dem  bedürfnis  entstanden 
sei,  Siegfried  von  seiner  braut  zu  befreien  und  Günther  zu  einem 
weihe  zu  verhelfen,  wie  hätte  in  der  Verfolgung  dieses  leicht 
zu  erreichenden  zieles  ein  dichter  darauf  verfallen  sollen,  Sieg- 
fried in  die  gestalt  Günthers  zu  kleiden  und  ihn  gar  das  lager 
der  für  den  freund  bestimmten  frau  teilen  zu  lassen,  diese  höchst 
eigentümliche  Vorstellung  :  Siegfried  in  der  gestalt  Günthers  auf 
dem  lager  der  Biünbild,  muss  einen  andern  Ursprung  haben, 
sie  bildet  den  kern  der  scene,  in  ihr  muss  ihre  ursprüngliche 
bedeutung  gesucht  werden,  ich  halte  an  der  auffassung  fest,  die 
ich  im  Anz.  xvm  s.  72 f  ausgesprochen  habe,  ich  sehe  in  der 
scene  ein  bild  des  Sonnenuntergangs,  wie  der  junge  tag  am 
morgen  den  berg  erklimmt  und  die  schlafende  Sigrdrifa  weckt, 
um  dann  schnell  weiter  zu  ziehen,  so  kehrt  er  abends  zu  ihr 
zurück,  wachend  erwartet  sie  ihn  jetzt,  wider  von  der  waber- 
lohe umgeben,  jetzt  der  abendröte.  aber  er  kommt  nicht  mehr 
leuchtend  und  jugendfrisch  wie  am  morgen,  sondern  in  der 
dunkeln  gestalt  Günthers,  um  müde  au  ihrer  sehe  auszuruhen, 
das  bedeutet  der  gestallentausch  und  das  beilager,  beide  sinken 
in  das  reich  der  nacht  hinab;  das  bedeutet  die  Werbung  für 
Günther.  —  der  zweite  besuch  Siegfrieds  bildet  das  gegenslück 
zum  ersten;  doch  nicht  ganz,  in  den  SigrdrifumQ'l  bezeichnet 
Siegfried  sowol  den  tag  als  den  sommer  und  dementsprechend 
die  Sigrdrifa  sowol  die  sonne  als  die  vom  winter  gefesselte  natur. 
hier  haben  wir  es  nur  mit  tag  und  sonne  zu  tun. 

Wesentlich  verschieden  wird  in  beiden  scenen  die  waberlohe 
aufgefasst.  in  der  ersten  ist  sie  nur  eine  begleitende  natur- 
erscheinung,  in  der  zweiten  ein  hindernis,  das  nur  Siegfried  auf 
seinem  aus  dem  gestüt  der  Brünhild  stammenden  ross  überwinden 
kann.  die  umdeutuug  erklärte,  dass  Günther  sich  der  liilfe 
Siegfrieds  bedienen  muste,  und  ermöglichte  weiterhin,  dass  Brün- 
hild in  der  waberlohe  ein  mittel  sah,  durch  das  sie  sich  den 
mann,  den  die  natur  ihr  bestimmt  und  sie  sich  erwählt  hatte, 
glaubte  sichern  zu  können,  in  gleichem  schritt  änderte  sich  ihr 
Verhältnis  zu  Siegfried,  tag  und  sonne  gehören  zusammen,  es 
war  selbstverständlich,  dass  Brünhild,  als  Siegfried  sie  hinter 
ihrem  flammenwall  aufsuchte,  willig  den  platz  auf  ihrem  lager 
einräumte  :  als    walküre   aber  wählt  sie  ihre  liebliuge;    nur  dem 


92  B0ER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE 

unerschrockensten,  kühnsten  beiden  will  sie  gehören,  jeden  an- 
dern hält  die  waberlohe  ab.  schliefslich  wird  sie  zur  männer- 
feindin  überhaupt  und  hofft  durch  die  waberlohe  oder  die  sie 
vertretenden  kampfspiele  jedem  freier  sich  entziehen  zu  können. 
—  hiernach  führ  ich  die  hauptformeu  der  sage  au. 

Die  älteste,  die  aus  der  nordischen  Überlieferung  zu  erreichen 
ist,  hatte  folgenden  inhalt.  Brünhild  wohnt  einsam,  von  waber- 
lohe umschlossen,  auf  dem  Hindarfjall.  Günther  will  sie  erwerben, 
da  er  nicht  imstande  ist,  den  flammenwall  zu  durchreiten,  tauscht 
Sigurd  seine  gestalt  mit  ihm  und  sprengt  statt  seiner  durch  das 
feuer.  die  bedingung  ist  erfüllt;  in  der  nacht  ruht  er  an  ihrer 
seile,  aber  das  schwert  trennt  sie.  am  morgen  tauschen  sie 
ringe,  darauf  kehrt  Siegfried  zu  Günther  zurück,  vertrauensvoll, 
ohne  ahnuug  eines  betrugs  hat  Brünhild  Günther  zum  gemahl 
genommen,  zufrieden  lebt  sie  an  seiner  seile,  bis  die  enthüllungen 
der  Gudrun  ihr  die  äugen  öffnen.  .  das  ist  im  wesentlichen  der 
inhalt  der  erzählung  in  den  Skäldskaparmo'l;  nur  dass  im  anfang 
verwantschafilicher  beziehungen  zu  Atli  und  Budli  gedacht  wird, 
und  der  ring,  den  Siegfried  ihr  überreicht,  als  jener  geheimnis- 
volle ring  Andvaranaut  bezeichnet  wird,  der,  mit  dem  fluche  des 
zwerges  beladen,  schon  Hreidmar  und  seinen  söhnen  verderben 
gebracht  hat,  notizen,  die  nur  dazu  dienen,  die  scene  mit  den 
vorangehnden  teilen  der  erzählung  zu  verbinden,  aber  die  Ver- 
bindung bleibt  ganz  äufserlich.  in  dem  verhalten  der  Brünhild 
zu  dem  scheinbaren  Günther  trilt  nichts  hervor,  was  darauf 
schliefsen  liefse,  dass  sie  einen  andern  erwartete  oder  gar  sich 
einem  andern  verlobt  hätte,  irgend  welche  beziehungen  auf  den 
ersten  besuch  Siegfrieds  finden  nicht  statt.  Brünhild  ist  sogar 
stolz  auf  ihre  Vermählung  mit  Günther,  und  gerade  dieser  stolz 
ist  es,  der  Gudrun  zu  ihren  vernichtenden  enthüllungen  reizt, 
beim  bad  im  flusse  bricht  der  streit  aus.  Brünhild  will  auf 
ihrem  köpfe  nicht  das  wasser  dulden,  das  aus  den  haaren  der 
Gudrun  fliefst,  und  diese  vergilt  die  kränkung  mit  dem  Vorwurf, 
dass  Brünhild  Siegfrieds  kebse  sei.  eine  sage,  der  diese  höchst 
altertümliche  scene  angehört,  muss  sehr  früh  ausgebildet  sein, 
und  Boer  will  uns  glauben  machen,  sie  sei  die  dritte  stufe  einer 
entwicklung,  deren  Vorbedingung  erst  dadurch  geschaffen  wäre, 
dass  der  historische  Burguodenkönig  Günther  durch  Vermittlung 
der  Nibelungensage  in  die  Siegfriedssage  gedrungen  war.  un- 
denkbar! zu  den  kern-  und  keimpuncten  der  Siegfriedssage 
gehört  die  scene  freilich  nicht,  wie  noch  jetzt  Siegfrieds  drachen- 
kampf  und  sein  besuch  der  Sigrdrifa  unverbunden  nebeneinander 
stehn ,  so  ursprünglich  auch  die  Werbung  und  der  mord.  die 
haderscene  ist  erst  als  verbindendes  mittelglied  geschaffen,  aber 
sie  beweist  durch  ihre  altertümliche  gestalt,  in  wie  ferner  Vor- 
zeit der  grund  zur  sage  gelegt  sein  muss.  —  jünger  als  die 
Werbung,    vielleicht  auch  jünger  als  die  haderscene  ist  die  oben 


BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE  93 

(s.  90  anm.  1)  erwähnte  einleitung,  nach  der  Odin  es  über  Brün- 
hild  verhängt  hat,  sich  zu  vermählen,  und  sie  dagegen  geloht 
hat,  nur  den  zum  manne  zu  nehmen,  der  den  flammenritt  wagte, 
denn  die  haderscene  finden  wir  auf  dem  ganzen  gebiet  der  sage, 
die  einwürkuug  Odins  nur  in  der  nordischen   Überlieferung. 

Eine  zweite  version  ligt  dem  26  cap.  der  Volss.  zugrunde, 
sie  unterscheidet  sich  von  der  ersten  dadurch,  dass  sie  Siegfrieds 
ersten  besuch  und  seine  Verlobung  voraussetzt,  das  beilager  und 
die  haderscene  aber  entbehrt,  die  erste  änderung  zeigt  das  be- 
mühen, die  einzelnen  teile  der  sage  enger  zu  verbinden,  die 
andere  unverständlich  gewordenes  zu  beseitigen,  deun  dass 
Siegfried,  obwol  er  Brünhild  für  Günther  erwirbt,  dennoch  ihr 
lager  besteigt,  findet  zwar  in  der  symbolischen  bedeutung  der 
scene  seine  erkläruug,  muste  aber  ganz  rätselhaft  erscheinen, 
nachdem  diese  vergessen  war.  mit  dem  beilager  fiel  die  hader- 
scene, denn  Gudrun  entbehrte  nunmehr  das  beweisstück  für  ihre 
anklage,  den  ring1.  —  den  verlauf,  den  die  handlung  in  dieser 
version  nahm,  hat  Boer  richtig  erkannt,  er  vereinigt  die  hierher 
gehörigen  teile  der  saga  in  seiner  Sgkv.  meiri.  die  erzählung 
spinnt  den  faden  weiter,  den  die  saga  in  c.  23.  24  angeknüpft 
hat.  Brünhild  wohnte  bei  ihrem  pttegevater  Heime,  au  ihn 
wenden  sich  Günther  und  seine  gefährten  zuerst,  er  begrüfste 
sie  freundlich,  erklärte  aber,  Brünhild  habe  über  sich  selbst  zu 
entscheiden,  und  sie  werde  den  allein  zum  manne  nehmen  wollen, 
der  durch  das  lohende  feuer  ritte,  das  um  ihren  saal  brenne, 
darauf  folgt  der  flammeuritt  und  eine  Unterredung  zwischen 
Brünhild  und  Guuther-Siegfrid,  die  auf  denselben  trüben  ton  des 
zweifeis  und  der  sorge  gestimmt  ist,  wie  das  gespräch  in  c.  24, 
in  dem  sie  widerstrebend,  ihr  schweres  geschick  voraussehend, 
die  band  zur  Verlobung  reicht,  zweifelnd  betrachtet  sie  den 
mann,  der  auf  seinen  schwertknauf  gestützt  vor  ihr  auf  dem 
estrich  steht  und  ihr  seine  hand  anträgt,  sie  weifs,  dass  nur 
Siegfried  die  waberlohe  durchreiten  kann,  und  vermag  ihn  in 
der  gestalt,  die  sie  vor  sich  sieht,  nicht  zu  erkennen,  'sie  ant- 
wortete mit  kummer  von  ihrem  sitze  wie  ein  schwan  von  der 
woge  und  hatte  das  schwert  in  der  hand  und  den  heim  auf  dem 
haupte  und  war  in  der  brünne  :  "Gunnar",  sagte  sie,  "rede  nicht 
solches  zu  mir,  wenn  du  nicht  vortrefflicher  bist,  als  jeder  an- 
dere. .  .  ich  war  im  kämpf  mit  dem  Gardaköuig  und  meine  waffen 
waren  gefärbt  mit  männerblut,  und  darnach  verlangt  mich  noch!" 

1  wer  es  unglaublich  findet,  dass  ein  dichter  diese  äufserst  würksame 
scene  ausgeschieden  habe,  mag  annehmen,  dass  er  von  einer  sageuform  aus- 
gieng,  in  der  dies  bindeglied  zwischen  der  Werbung  und  Siegfrieds  niord 
noch  fehlte,  jedesfalls  scheint  mir  die  annähme  einer  version,  die  sich  ohne 
sie  behalf,  unentbehrlich,  schon  im  Anz.  xvm  8U  anm.  hab  ich  das  bemerkt, 
Boer  ist  zu  demselben  ergebnis  gekommen,  als  ein  notwendiges  Zwischen- 
glied zwischen  Ths.  und  Nibl.  (Boer  s.  44)  vermag  ich  aber  diese  darstellung 
nicht  anzuerkennen. 


94  BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE 

aber  er  verweist  sie  auf  ihr  gelübcle  :  "manche  heldentat  habt  ihr 
vollbracht;  doch  gedenket  nun  au  euer  gelübde,  falls  dies  feuer 
durchritten  würde,  dass  ihr  dem  manne  folgen  wolltet,  der  das 
vollbrächte',  und  sie  fand  nun,  dass  er  vollkommen  recht  habe', 
hiermit  hatte  die  Unterhandlung  ihr  ziel  erreicht,  was  in  der 
saga  zunächst  folgt,  dass  Brünhild  ihn  freundlich  begrüfst  und  drei 
nachte  das  lager  mit  ihm  teilt,  gehurt  nicht  mehr  dazu  :  mit  dem 
freundlichen  grufs  lenkt  der  bericht  offenbar  in  die  ältere  version 
ein  (oder  in  die  dritte)  und  kehrt  erst,  nachdem  er  deren  iuhalt 
angegeben  hat,  zu  der  Jüngern  zurück,  der  Zusammenhang  war 
folgender  :  nachdem  Brünhild  anerkannt  hatte,  durch  ihr  gelübde 
gebunden  zu  sein,  kehrte  Siegfried  zu  seinen  gesellen  zurück, 
es  folgte  der  abschiedsbesuch  bei  Heime,  die  Unterredung  zwischen 
Heime  und  ßrünhlid  und  dann  die  hochzeit  im  reiche  Günthers1, 
ein  beilager  Siegfrieds  hatte  nicht  staltgefundeu;  für  die  hader- 
scene  war  kein  räum,  wozu  hätte  sie  in  diesem  zusammen- 
hange dienen  sollen?  Brünhild  weifs,  dass  ihr  der  mann,  den 
sie  allein  liebte,  nicht  zu  teil  geworden  ist,  sie  weifs,  dass  er 
sein  gelübde  gebrochen  hat,  und  sieht  ihn  mit  grimmem  schmerz 
an  der  seite  einer  andern,  sie  weifs  auch,  dafs  sie  selbst, 
gebunden  durch  einen  frühern  eid,  ihren  treuschwur  nicht  hat 
halten  können,  sie  ahnt,  dass  sie  betrogen  ist  und  dass  Siegfried 
bei  dem  betrüge  geholfen  hat.  unter  diesen  umständen  war  die 
alte  haderscene  zwecklos  und  unmöglich;  die  bedingungen  zu 
Siegfrieds  mord  waren  ohnehin  gegeben  (vgl.  die  schönen  Strophen 
der  Sgkv.  sk.  6 — 12).  eine  auseinandersetzung  zwischen  den 
beiden  Schwägerinnen  gehörtauch  zu  dieser  jungem  version,  aber 
sie  trägt  einen  ganz  andern  Charakter,  in  der  Vojss.  c.  28  folgt 
sie  zusammenhangslos  unmittelbar  auf  den  streit  beim  bade. 
Gudruu  sieht  mit  kummer,  dass  schweres  leid  auf  Brünhild  lastet, 
sie  möchte  den  grund  erfahren  und  will  sie  selbst  fragen.  Sieg- 
fried   warnt  sie,    doch  vergebens,     es  folgt  die  Unterredung,    in 

1  auch  einige  andre  angaben  sind  dem  contamiuierenden  bearbeiter 
zuzuschreiben,  die  flüchtige  art,  in  der  ßudli  an  der  handlung  beteiligt 
wird,  vermutlich  der  ring  Andvaranaut,  und  dass  der  gestaltentausch  auf  die 
Zauberkraft  der  mutter  Grimhild  zurückgeführt  wird,  selbstverständlich  die 
erwähnung  der  Aslaug.  dagegen  wird  ein  Widerspruch  zwischen  der  Unter- 
redung der  Brünhild  mit  Siegfried  und  der  mit  Heime  von  anläng  an  vor- 
handen gewesen  sein,  der  dichter,  der  die  scene  gestaltete,  setzte  voraus, 
dass  Brünhild  sich  mit  Siegfried  verlobt  habe,  durfte  sie  aber  in  dem 
gespräch  mit  Günther  -  Siegfried  nicht  offen  erklären  lassen,  dass  sie  Sieg- 
fried erwarte  und  als  ihren  mann  anerkenne,  sie  muste  sich,  damit  die 
weitere  entwicklung  der  handlung  überhaupt  möglich  erscheine,  darauf  be- 
schränken, ihrem  zweifei  und  ihrer  enttäuschung  ausdruck  zu  geben,  wenn 
sie  also  Heime  gegenüber  sagt,  sie  habe  dem  manne,  der  zu  ihr  gekommen 
sei,  erklärt,  dass  sie  Siegfried  als  ihren  galten  ansehe  und  dieser  allein  ihre 
waberlohe  durchreiten  werde,  so  entspricht  das  wol  den  Verhältnissen,  die 
das  gespräch  mit  Günther-Siegfried  voraussetzt,  aber  nicht  den  Worten,  die 
sie  dort  gebraucht  hat. 


BOER    URSPRUNG    U.ND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGB  95 

der  Giulriin  freuudlich  und  milde  die  von  mislrauen,  eifersucht 
und  hass  verzehrle  BrOobild  zu  trösten  und  zu  beschwichtigen 
sucht,  weilet-  gehört  zu  dieser  version  das  lange  gespräch 
zwischen  Siegfried  und  Brünbild,  Volss.  c.  29,  in  dem  alle  möglich- 
keiten  den  unentwirrbaren  schicksalsknoteo  zu  losen  erlogen 
werden. 

Eine  dritte  Version,  die  durch  ihren  inhalt  der  ersten  näher 
steht,  bezeugt  ein  gespräch  zu  anfaog  des  29  cap.  der  VqIss.,  das 
Brünbild,  nachdem  der  betrug  enthüllt  ist,  mit  Günther  führt. 
'was  machtest  du  mit  dem  ring,  den  ich  dir  gab  und  den  König 
Budle  mir  beim  letzten  abschied  geschenkt  hatte?'  ist  ihre  eiste 
frage,  dann  erzählt  sie,  wie  es  bei  der  Werbung  hergegangen 
war.  die  Gjukunge  waren  zu  ihrem  vater  Budle  gekonnneu  und 
hatten  ihn  mit  krieg  bedroht,  wenn  er  ihnen  nicht  seine  lochter 
gäbe,  dieser  fragte  sie,  wen  von  denen,  die  gekommen  wären, 
sie  nehmen  wolle,  'ich  aber  erbot  mich  das  land  zu  verteidigen 
und  häuptling  zu  sein  über  ein  dritleil  des  heeres.  da  war  unter 
zwei  dingen  zu  wählen,  dass  ich  dem  mich  vermählen  müste,  so 
er  wollte,  oder  alles  gutes  uud  seiner  freundschaft  verlustig  sein, 
doch  sagte  er,  seine  freundschaft  würde  mir  besser  frommen  als 
sein  zorn.  da  überlegte  ich  bei  mir,  ob  ich  seinen  willen  tun 
oder  manchen  mann  erschlagen  sollte,  doch  fühlte  ich  mich  uu- 
lähig  mit  ihm  zu  streiten,  uud  es  kam  dahin,  dass  ich  mich  dem 
verhiefs,  der  auf  dem  rosse  Graue  mit  Fafuis  erbe  geritten  käme 
und  durch  meine  waberlohe  ritte',  offenbar  ist  diese  erzähluug 
eine  um-  und  Weiterbildung  der  scene,  die  der  ersten  versiou 
zur  einleitung  diente,  der  vater  Budli  ist  an  die  stelle  Odins 
getreten,  das  väterliche  machtgebot  an  die  stelle  der  Schicksals- 
fügung, das  ganze  aber  erscheint  als  ein  teil  der  sage,  die  mit 
c.  25  beginnend  die  ersten  abschnitte  von  Siegfrieds  leben  wie 
unser  Nibelungenlied  beiseite  schob  und  alles  folgende  bis  zum 
Untergang  der  JNibelunge  als  einen  kämpf  zwischen  den  beiden 
geschlechlern  der  Budlunge  und  Gjukunge  ansah,  der  charakter 
der  Brünbild  ist  hier  anders  aufgefasst,  als  in  der  zweiten  Version, 
dort  schwermütig  und  grüblerisch,  hier  berechnender,  schatz- 
lüslern  und  zornmütig,  in  der  zweiten  ligt  sie  in  stummem 
barm  auf  ihrem  lager,  hier  rast  sie,  droht  Günther  zu  erschlagen 
und  webt  so  heftig,  dass  die  fäden  zerreifsen.  wenigstens  zweifle 
ich  nicht,  dass  diese  züge  des  29  cap.s  aus  der  dritten  Version 
genommen  sind,  der  verlauf  der  haudlung  ist  aber  nicht  sicher 
zu  erkennen,  nur  so  viel  ergibt  sich  aus  der  frage  :  'was  mach- 
test du  mit  dem  ringe?'  etc.,  dass  das  beilager  Siegfrieds  und  die 
hadersceue  auch  in  dieser  version  vorkamen  K 

1  Boer  sucht  auch  diese  version  bis  ins  einzelne  zu  reconstruieren  und 
teilt  den  zusammenhängenden  text  dieser  ;Sgkv.  yngri'  auf  s.  201  f  mit. 
ich  glaube  nicht,  dass  unsre  Überlieferung  für  einen  solchen  versuch  eine 
genügende  grundlage    bietet,     insbesondre  bezweifle  ich,  dass  Vplss.  c.  27, 


96  BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE 

Eine  mittlere  stelluug  nimmt  die  Sgkv.  sk.  ein.  Brünhild  ist 
milder  gezeichnet,  wie  in  der  zweiten  version,  der  verlauf  der 
handluug  ist  im  wesentlichen  derselbe  wie  in  der  dritten,  nur 
dass  der  bruder  Alle  an  stelle  des  vaters  Budle  steht l.  auch  die 
drei  Strophen  37 — 39  braucht  man  nicht  als  interpoliert  anzu- 
sehen, wenn  man  mit  Bugge  str.  39  auf  str.  35  folgen  lässt 
(Boer  s.  83f).  —  auf  die  abweichenden  angaben  in  andern  lie- 
fern will  icli  nicht  eingehn. 

Alle  Überlieferungen  der  nordischen  sagenform  stimmen 
darin  überein,  dass  Brünhild  die  notwendigkeit  sich  zu  vermählen, 
mag  sie  durch  das  Schicksal  oder  durch  die  umstände  und  den 
zwang  der  verwanten  gegeben  sein,  anerkennt;  nur  die  wähl 
des  gatten  will  sie  sich  sichern,  daneben  aber  zeigt  sich  früh, 
dass  sie  die  notwendigkeit  ungern  und  widerwillig  anerkennt, 
was  ursprünglich  naturbestimmung  gewesen  war,  wurde,  als  sie 
zur  walküre  gemacht  war,  zum  auferlegten  zwang,  dem  sie  sich 
zu  entziehen  sucht,  sehr  stark  tritt  das  schou  in  der  dritten 
nordischen  version  hervor,  noch  weiter  gieng  in  derselben  richtung 
die  deutsche  sage,  in  ihr  will  Brünhild  Jungfrau  bleiben  und 
sucht  selbst,  als  sie  sich  der  Vermählung  nicht  mehr  entziehen 
kann,  ihren  jungfräulichen  stand  zu  behaupteu.  die  sage  gewann 
dadurch  ein  mittel,  Siegfrieds  beilager  zu  motivieren,  da  Günther 
nicht  imstande  ist,  dem  weibe  mit  dem  magdtum  ihre  kraft  zu 
nehmen,  muss  er  Siegfried  auf  das  ehebett  der  frau  rufen,  in 
ihrer  ursprünglichen  form  ist  diese  burleske  scene  in  der  Ths. 
erhalten,  der  dichter  des  Nibelungenliedes  ist  zu  dem  keuschen 
beilager  zurückgekehrt,  hat  dadurch  aber  dem  Zusammenhang  der 
sage  einen  empfindlichen  schaden  zugefügt,  in  der  Ths.  nimmt 
Siegfried  noch  den  ring  der  Brünhild  als  zeichen  der  vollzogenen 
Vermählung,  im  Nibl.  entwendet  er  ihn,  so  dass  er  nachher  in 
der  streitscene  eigentlich  gar  keine  beweiskraft  haben  kann. 

Wenn  Brünhild  Günther  ins  ehegemach  folgte,  so  muss 
selbstverständlich  etwas  vorangegangen  sein,  was  sie  dazu  ge- 
zwungen hatte,  im  Nibl.  sind  es  die  kampl'spiele.  durch  sie  ist 
wie  in  der  nordischen  sage  durch  deu  flammenritt  die  bedingung 
erfüllt,  an  die  Brünhild  ihre  Vermählung  geknüpft  halte,  in  der 
Ths.  lässt  sie  sich  durch  Siegfrieds  Überredungskunst  überwinden. 
als  Günther  und  seine  genossen  zur  Brünhild  gekommen  sind, 
hat   sie    zunächst    eine    Unterredung   mit  Siegfried,     er   setzt   ihr 

60—66.  28,  1  — 16  dieser  version  gemäfs  sind,  dagegen  mag  er  aus  manchen 
berührungen  mit  der  Ths.  mit  recht  schliefsen  (s.  72.  76  f.  SOf),  dass  diese 
dritte  version  unter  der  einwürkung  einer  jungem  in  Deutschland  gebildeten 
sagenform  entslanden  ist.  vielleicht  verdankte  sie  ihr  noch  mehr,  als  er 
annimmt;  s.  97  anm. 

1  ob  Budle  an  die  stelle  Atles  getreten  sei  (Boer  s.  54f),  ist  mir 
zweifelhaft,  obschon  die  Eddalieder  dafür  sprechen,  das  umgekehrte  könnte 
durch  den  wünsch  veranlasst  sein,  Alles  tod  als  bufse  für  seine  schuld  er- 
scheinen zu  lassen. 


BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE  97 

auseinander,  warum  er  Gudrun  zum  weihe  genommen  habe,  sie 
habe  den  vorzug  gehabt  zu  einer  mächtigen  sippe  zu  gehören, 
während  Brünhild  allein  stehe  in  der  weit,  sie  könne  nun  nichts 
besseres  tun,  als  seinen  freund  Günther  zum  manne  zu  nehmen, 
diesem  vernünftigen  Vorschlag  folgt  sie.  warum  sie  sich  dann 
nachher  doch  gegen  Günther  streubt,  bleibt  freilich  unerklärt, 
dass  diese  unglaublich  nüchterne  und  törichte  erzählung  nicht, 
wie  Boer  annimmt,  die  ursprünglichste  gestalt  der  sage  ist,  seh 
ich  als  selbstverständlich  an.  es  fragt  sich  nur:  was  bot  dem 
erfinder  die  vorläge,  die  er  so  greulich  verunzierte?  ich  vermute, 
dass  er  ein  gespräch  zwischen  Siegfried  und  Brünhild  schon  vor- 
fand, und  schliefse  daraus  weiter,  dass  Brünhild  noch  nicht  in 
kampfspielen,  sondern  durch  den  flammenritt  überwunden  wurde; 
denn  nur  dieser  gab  gelegenheit  zu  einer  Sonderunterredung, 
die  handlung  wird  ähnlich  verlaufen  sein  wie  in  der  zweiten 
nordischen  Version.  Siegfried  ist  durch  die  waberlohe  zur  Brün- 
hild vorgedrungen,  sie  muss  zugeben,  dass  ihre  bedingung  er- 
füllt ist  und  folgt  Günther  in  sein  reich,  dort  spielte  sich  dann 
die  scene  im  ehegemach  ab.  dieselbe  grundlage  setzt  das  Nibl. 
voraus,  beide  deutsche  hearbeitungeu  haben  den  wunderbaren 
flammenrilt  nicht  mehr  anerkennen  wollen,  im  Nibl.  ist  er  durch 
eine  neue  erfindung  ersetzt,  die  Ths.  hat  ihn  ganz  fallen  lassen 
und,  um  den  zweck,  dem  er  ursprünglich  diente,  zu  erreichen, 
dem  gespräch  zwischen  Siegfried  und  Brünhild  eineu  neuen  in- 
halt  gegeben,  ebenso  haben  beide  Überlieferungen  den  rätsel- 
haften gestaltentausch  aufgegeben,  die  Ths.  begnügt  sich  mit 
einem  kleidertausch,  das  Nibl.  hat  die  tamkappe  zur  hilfe  ge- 
nommen, doch  ist  diese  änderung  verhällnismäfsig  spät  ein- 
getreten, sie  muss  jünger  sein  als  die  erfindung  der  kampf- 
spiele; denn  nur  wenn  Siegfried  in  Günthers  gestalt  der  Brünhild 
gegenüber  tritt,  kann  man  sie  sich  vorstellen1. 

Für  den  vierten  act  der  Siegfriedssage  genügen  wenige  be- 
merkungen.  selbstverständlich  seh  ich  auch  in  ihm  wie  die 
älteren  forscher  symbolische  darstellung  eines  naturvorganges, 
nicht  eine  beliebige  geschichte  von   einem  habgierigen  Schwager. 

1  die  scene  im  ehegemach  ist  nur  durch  die  Ths.  und  das  Nibl.  bezeugt, 
und  doch  inöcht  ich  annehmen,  dass  sie  auch  im  norden  nicht  unbekannt 
war.  wenn  in  der  dritten  nordischen  version  Brünhild  Günther  fragt  :  'was 
machtest  du  mit  dem  ring,  den  ich  dir  gab  und  den  könig  Budli  mir  zum 
abschied  schenkte?',  so  scheint  daraus  zu  folgen  :  1)  dass  Siegfried  gelegen- 
heit gehabt  hatte,  einen  ring  als  zeichen  der  Vermählung  von  ihr  zu  er- 
langen, und  2)  dass  diese  gelegenheit  sich  nicht  unmittelbar  nach  dem 
flammenritt  bot,  sondern  erst  als  Brünhild  sich  von  ihrem  valer  ver- 
abschiedet hatte,  also  in  Günthers  reich,  so  scheint  diese  version  in  der 
tat  die  scene  in  das  ehegemach  zu  verlegen,  aber  die  neuerung  konnte  der 
alten  sage  gegenüber  nicht  zur  geltung  kommen,  auch  der  dichter  der 
Sgkv.  sk.,  so  nahe  er  der  dritten  version  steht,  hält  an  der  annähme  fest, 
dass  das  beilager  auf  den  flammenritt  folgte,  denn  er  erwähnt  das. trennende 
schwert. 

A.  F.  ü.  A.  XXXI.  7 


9S  BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE 

er  bedeutete  den  wintertod  des  Jahresgottes,  im  frühjahr  hat  er 
mit  jugendlicher  kraft  den  winterdrachen  getötet,  im  winter  legt 
er  sich  müde  zur  ruhe  und  wird  heimtückisch  von  dem  feind- 
lichen dämon  erschlagen1,  dieser  vierte  act  bildet  also  zu  dem 
ersten  in  ähnlicher  weise  ein  gegenstück,  wie  der  dritte  zu  dem 
zweiten,  und  ebenso  wenig  wie  der  erste  mit  dem  zweiten  war 
ursprünglich  der  vierte  mit  dem  dritten  verbunden,  als  die 
dichtuug  die  Verbindung  herstellte  und  Siegfrieds  tod  auf  den 
schmerz  und  die  eifersucht  der  Brünhild  zurückführte,  war  die 
eigentliche  bedeulung  dieser  wol  schon  ganz  vergessen,  ur- 
sprünglich lag  der  grund  jedesfalls  lediglich  in  dem  Verhältnis 
Siegfrieds  zu  seinen  mördern.  Boer  meint,  anfangs  habe  Hagen 
allein  dem  Siegfried  gegenüber  gestanden,  ich  sehe  dazu  keinen 
grund,  glaube  vielmehr,  dass  Günther  von  jeher,  wie  im  dritten 
act  so  auch  im  vierten,  als  der  eigentliche  herscher  im  dunkeln 
reich  angesehen  wurde,  aber  doch  als  ein  unkräftiges  wesen,  das 
die  taten,  die  es  plant,  einen  andern  ausführen  lässt,  also  das- 
selbe Verhältnis  wie  zwischen  Regin  und  Fafnir.  viel  berechtigter 
wäre  die  frage,  ob  Hagen  nicht  etwa  aus  der  Nibelungensage 
stammt,  denn  nur  die  deutsche  sage  bezeichnet  ihn  als  Sieg- 
frieds mörder,  die  nordische  Gutthorm,  den  Stiefbruder,  und  es 
dünkt  mich  viel  wahrscheinlicher,  dass  die  deutsche  sage  diesen 
hat  fallen  lassen,  als  dass  die  nordische  ihn  neu  geschaffen  hat. 
denn  weshalb  sollte  sie  das  getan  haben?  etwa  um  Günther  und 
Hagen  von  dem  Vorwurf  des  treubruches  zu  entlasten?  aber  die 
eigentliche  schuld  bleibt  ja  doch  auf  ihnen,  dagegen  begreift 
man  leicht,  dass,  als  die  Nibelungensage  mit  der  Siegfriedssage 
verbunden  wurde,  die  kurze  rolle  Gutthorms  auf  Hagen  über- 
tragen wurde,  zumal  in  der  deutschen  sage,  die  dadurch  mo- 
tivierte, dass  Hagen  gemeinsam  mit  Günther  den  tod  erlitt,  er, 
der  in  der  nordischen  sage  als  der  lieblingsbruder  der  Gudrun 
erscheint,  wurde  so  zum  gegenständ  ihres  grimmigsten  hasses. 
ich  bezweifle  nicht,  dass  die  sage  sich  würklich  in  dieser  weise 
entwickelt  hat,  und  dass  Hagen,  wenn  er  in  der  Siegfriedssage 
überhaupt  erwähnt  wurde,  sich  mit  der  unbedeutenden  rolle  be- 
gnügen muste,  die  er  in  der  nordischen  sage  hat.  weder  an  der 
Werbung  um  Brünhild  noch  am  morde  Siegfrieds  ist  er  wesent- 
lich beteiligt,     daraus,    dass  er  in  der  deutschen  sage  mit  einer 

1  dieselbe  oder  ähnliche  bedeutung  wie  Siegfrieds  mord  hat  der  schuss, 
durch  den  der  wilde  Jäger  den  sonnenhirsch  erlegt  (vgl.  EHMeyer  Germ, 
myth.  §  146).  spielt  diese  tiersymbolik  in  die  Siegfriedssage  hinüber,  wie 
in  dem  kämpf  mit  dem  drachen?  hängt  damit  zusammen,  dass  er  der 
Gudrun  im  träum  als  hirsch  mit  goldnen  haaren  erscheint  (Vplss.  c.  27; 
vgl.  Gudr.  ii  2.  Helg.  Hund.  II  37)?  und  dass  er  auf  Fafnis  frage,  wer  er  sei, 
antwortet  :  Gefugt  dyr  heitik,  en  ek  gengil  hefk  enn  möpurlausi  mpgr  etc. 
(Fäfn.  2)V  und  dass  er  die  Sigrdrifa  auf  dem  Hindarfjall,  dem  berg  der 
hinde,  trifft?  vielleicht  auch  dass  er  in  der  deutschen  sage  im  walde  auf 
der  jagd  getötet  wird? 


BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    MBELUNGENSAGE  99 

andern  person  verschmolzen  ist,  erklärt  sich  dann,  dass  er  in 
der  nordischen  sage  als  der  echte  bruder  Günthers  angesehen 
wird,  in  der  Ths.  dagegen  wie  der  Gutlhorm  der  nordischen  sage 
als  sein  Stiefbruder,  und  schließlich  im  Nihl.  nur  als  ein  ferner 
stehnder  verwanter  und  Untertan;  besonders  aber  auch  der  eigen- 
tümlich gemischte  Charakter,  den  er  in  der  deutseben  sage  bat. 
die  feige  tat  tückischer  arglist  kam  ursprünglich  einem  andern  zu. 

Ähnlich  wie  mit  Hagen  muss  es  mit  Gudrun  ergangen  sein, 
in  der  JNibelungensage  ist  sie  wesentlich  und  unentbehrlich,  in 
der  Sieglriedssage  spielt  sie  nur  eine  seeundäre  rolle,  sie  mo- 
tiviert, dass  Siegfried  die  verlobte  der  Jugend  für  einen  andern 
wirbt  und  klärt  Brünhild  über  den  betrug  auf.  sie  ist  für  die 
dichtung  von  hohem  wert,  gehört  aber  nicht  zum  kern  der  sage1. 
auch  die  haderscene  ist  erst  zur  Verbindung  des  dritten  und  vierten 
actes  geschahen,  der  name ,  den  sie  ursprünglich  hatte ,  war 
Gudrun,  er  bezeichnete  sie  als  mit  Günther  zusammengehörig; 
den  namen  Grimhild  erhielt  sie  in  der  Siegfriedssage  im  gegen- 
satz  zur  Brünhild.  in  der  nordischen  Überlieferung  behauptete 
sich  jedoch  der  ältere  name,  der  andre  fiel  der  mutter  zu.  — 

Die  Untersuchung  der  sage  vom  Untergang  der  INibelunge  hat 
den  vf.  in  manchen  nicht  unwichtigen  puneten  zu  denselben  an- 
siebten  geführt,  zu  denen  ich  mich  bekannt  habe,  insbesondre 
stimmt  er  auch  darin  mit  mir  überein,  dass  die  sage  sich  nicht 
aus  historischen  Vorgängen  herleiten  lässt;  aber  im  ganzen  ist  die 
Übereinstimmung  doch  gering,  dass  die  sage  vom  Untergang  der 
Nibelunge  im  gründe  identisch  sei  mit  der  von  Siegfrieds  tod, 
dass  Günther  erst  nachträglich  aus  der  geschichte  aufgenommen 
und  zum  Schicksalsgefährten  Magens  gemacht  sei,  neben  diesem 
aber  von  anfang  an  ein  freund  gestanden  habe,  zuerst  Gutthorm(I) 
—  keine  Überlieferung  kennt  ihn  in  der  Nibelungensage  — ,  dann 
als  dessen  Stellvertreter  Gernot  und  schliefslich  Volker,  der  ur- 
sprünglich kein  spielmann  gewesen  sei,  dass  die  nachtwachscene 
schon  der  ältesten  gestalt  der  sage  angehört  habe,  die  Prophezei- 
ung der  meerweiber  älter  sei  als  die  überfahrt,  dies  und  vieles 
andre  kann  ich  als  richtig  nicht  anerkennen,  dass  die  Ths.  auf 
der  contamination  zweier  verschiedener  sagenformen  beruht,  ist 
wol  allgemein  anerkannt,  dass  aber  diese  contamination  erst  in 
der  Ths.  selbst  erfolgt  sei,  glaub  ich  nicht,  noch  weniger,  dass 
es  dem  vf.  gelungen  sei,  aus  dem  text  der  Ths.  die  beiden  formen 
wider   herzustellen,     seine    kritik  erscheint  mir  willkürlich,    ihre 

1  dass  Gudrun  als  Siegfrieds  weib  eine  jüngere  erfindung  ist,  halt  ich 
deshalb  für  wahrscheinlich,  weil  die  nordische  Nibelungensage  noch  deutlich 
auf  eine  ältere  form  hinweist,  in  der  sie  noch  nicht  als  Siegfrieds  witwe 
galt,  sollte  sie  dennoch  zu  den  ältesten,  symbolischen  gestalten  der  Sieg- 
friedssage gehört  haben,  so  könnte  sie  nur  das  milde  gestirn  der  nacht, 
den  mond,  bezeichnet  haben,  dann  aber  müste  ihre  Verbindung  mit  Sieg- 
fried erst  geschlossen  werden,  nachdem  Brünhild  für  Günther  erworben  war. 
im  Nibl.  ist  es  ja  so;  aber  zweifellos  erst  infolge  jüngerer  entwicklung. 


100        BOER    URSPRUNG    UNI)    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE 

ergebnisse  unglaublich,  auf  eine  erörterung  des  einzelnen  muss 
ich  hier  verzichten;  doch  mögen  mir  noch  einige  bemerkungen 
gestattet  sein,  teils  zur  ergänzung,  teils  zur  bericbtigung  früherer 
da  riegungen. 

Die  historischen  demente  in  der  Nibelungensage  will  der  vf. 
erklären,  indem  er  folgende  'gleichung'  aufstellt  (s.  129).  'die 
sage  lautete:  Hagen  wird  von  einem  könig  der  Hünen  (dh.  der 
NVcslfalen)  erschlagen,  die  geschichte  erzählte:  die  Burgunden- 
köuige  wurden  von  dem  Hunnenköuig  erschlagen,  die  aus  dem 
namen  auf  natürliche  weise  gefolgerte  idenlität  des  gegners  führte 
zu  der  identification  der  angegriffnen  könige  und  darum  wurde 
Hagen  mit  den  Burgunden  verbunden',  ich  kann  schon  die 
richtigkeit  der  gleichuug  nicht  anerkennen;  denn  die  Nibelungen- 
sage  ist  in  ihr  auf  eine  formel  reduciert,  die  ihrem  weseu  durch- 
aus nicht  entspricht,  und  selbst  wenn  sie  richtig  wäre,  würde 
wol  niemand  der  erklärung  des  vf.s  vor  andern,  die  längst  ge- 
funden sind,  den  vorzug  einräumen,  zwei  umstände  vermittelten 
die  beziehungen  zwischen  sage  und  geschichte.  den  einen  an- 
knüpfungspunct  bot  der  name  Attila,  der,  wie  schon  die  Grimm 
gesehen  haben ,  von  anfang  an  dem  mythus  und  der  sage  an- 
gehörte und  später  begreiflicherweise  auf  den  Hunnenkönig  be- 
zogen wurde,  das  zusammentreffen  von  sage  und  geschichte  in 
diesem  namen  ist  zufällig,  nicht  zufällig  nur  insofern,  als  die 
bedeutung  des  woites  —  ein  eigentlicher  name  ist  es  ja  gar- 
nicht  —  es  sowol  zur  bezeichnung  mythischer  als  irdischer 
herscher  geeignet  erscheinen  liels.  auch  der  söhn  Mundiouchs 
wird  den  namen  wegen  seines  ranges  und  Standes  erhalten  haben, 
ebenso  wie  der  söhn  des  mythischen  Botilo,  des  gebietenden,  den 
zweiten  anknüpfungspunct  gab,  wie  Vogt  (Zs.  f.  d.  ph.  25,41 1  f)  über- 
zeugend dargetan  hat,  die  localisation  des  Nibelungenhortes,  als 
die  Burgunden  zu  anfang  des  5  jh.s  ihr  reich  in  den  gegenden 
errichtet  hatten,  wo  der  schätz  in  den  fluten  des  Bheins  ruhte, 
wurden  ihre  könige  alsbald  als  erben  und  rechtsnachfolger  der 
ältesten  beherscher  dieser  lande,  der  Nibclunge,  angesehen,  das 
bezeugt  schon  im  6  jh.  die  lex  Burgundionum.  könig  Gundebald 
führt  da  als  seine  vorfahren  auf  dem  herschersitz  an:  Gibica, 
Godomar,  Gislahari  und  Gundahari,  schliefslich,  ohne  ihre  namen 
zu  nennen,  seinen  vater  und  oheim.  von  dem  zweiten  an  tragen 
sie  nach  der  gewöhnlichen  art  gebildete,  zusammengesetzte  namen, 
nur  der  erste  nicht,  er  heilst  wie  der  Stammvater  der  Nibelunge 
Gibica.  offenbar  reichte  die  historische  erinnerung  nicht  über 
Godomar  hinaus,  mit  Gibica  senkt  der  königliche  Stammbaum 
seine  wurzeln  schon  in  das  mythische  reich  der  Nibelunge.  selbst- 
verständlich aber  müssen  diese,  als  die  ankuüpfung  erfolgte, 
schon  nicht  mehr  als  zwerge,  sondern,  wie  in  unsrer  sage,  als 
beiden  angesehen  worden  sein,  auf  die  die  Burgunden  mit  gleicher 
bewunderung  blicken  konnten,  wie  der  dichter  der  Allamöl  str.  99. 


BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE        101 

dass  unter  diesen  umstanden  umgekehrt  personen  und  tatsachen 
der  burgundischen  geschichte  in  die  sage  kommen  und  der 
schwere  schlag,  den  das  königshaus  im  jähre  437  erlitt,  zur 
Nibelungensage  in  beziehung  gesetzt  werden  konnte,  ist  leicht 
begreiflich,  so  mögen  in  der  tat  die  namen  von  Etzels  brüder 
ßleda  und  dem  BurgumJen  Giselher  schon  früh  in  die  sage  auf- 
genommen sein,  wenn  auch  die  rollen,  die  sie  in  unsrer  Über- 
lieferung spielen,  erst  später  ausgebildet  sein  können,  zweifei 
bleiben  nur  in  betreu"  Günthers,  da  eine  JNibelungensage  ohne 
ihn  undenkbar  ist,  müssen  entweder  der  historische  Günther  und 
der  nibelungische  zufällig  denselben  namen  gehabt  haben,  oder 
der  sagenheld  hat  ursprünglich  anders  geheifsen.  ich  ziehe  es 
vor,  zufall  anzunehmen;  denn  der  name  Günther  gilt  überall  in 
unsrer  Überlieferung,  auch  in  der  nordischen  sage,  die  sonst 
noch  keinerlei  beziehuugen  zur  geschichte  zeigt,  auch  Akv. 
str.  21   bietet  kein  Zeugnis  dafür. 

Viel  älter  als  die  anknüpfung  an  die  burgundische  geschichte 
ist  die  beziehung  der  Nibelungen  auf  die  Siegfriedssage,  die  darin 
begründet  sein  muss,  dass  man  das  geschlecht,  das  Siegfried  den 
Untergang  bereitete,  als  dasselbe  ansah,  das  später  durch  Altila 
vernichtet  wurde,  dass  die  Nibelungensage  auch  auf  symbolischer 
darstelluug  eines  naturvorgangs  beruhe,  folgt  daraus  nicht  und 
ist  kaum  anzunehmen,  in  unsrer  Überlieferung  wenigstens  er- 
scheint sie  nur  als  ein  kämpf  um  den  goldschatz  der  natur,  und 
das  kann  ihre  bedentung  von  jeher  gewesen  sein,  die  beziehung 
ist  all,  eine  engere  Verbindung  erfolgte  erst  später  und  auf  sehr 
verschiedene  weise  in  der  nordischen  und  deutschen  Überlieferung, 
dort  betrafen  die  Änderungen  vorzugsweise  die  Siegfriedssage. 
Brünhild  wurde  zur  Schwester  Etzels  gemacht,  die  beziehungen 
der  beiden  nun  doppelt  verschwägerten  geschlechter  weiter  aus- 
gebildet, besouders  aber  das  schatzmotiv  eifrig  gepflegt,  hier  er- 
fuhr die  iNibelungensage  eine  tiefgreifende  Umgestaltung,  indem 
der  Untergang  der  JNibelunge  auf  die  rachsucht  und  habgier  der 
Kriemhild  zurückgeführt  wurde,  um  das  Verhältnis  der  beiden 
sagenformen  zu  erklären,  hab  ich  früher  auf  eine  vermittelnde 
gestalt  geschlossen,  von  der  sowol  die  nordische  als  die 
deutsche  uach  verschiednen  richtungen  abgewichen  seien.  Kriem- 
hild habe  ursprünglich  im  miltelpuucl  der  Handlung  gestanden, 
schatzgierig  wie  ihre  brüder  habe  sie  diesen  den  bort  zu  ent- 
reifsen  gesucht  und  sich  Etzels  als  mittel  bedient,  ich  habe 
diese  ansieht  aufgegeben  und  nehme  an,  dass  die  nordische  Über- 
lieferung in  allen  wesentlichen  puneten  die  ältere  form  der  sage 
darstellt  :  Atlila  verlangt  den  schätz,  Kriemhild  steht  durchaus 
auf  der  seile  der  brüder  und  rächt  sie.  wie  die  Umwandlung 
der  deutschen  sage  vor  sich  gieng,  vermag  ich  nicht  zu  sagen, 
auf  keinen  fall  wird  man  annehmen  dürfen,  dass  ihre  eigentüm- 
liche form  auf  einmal  geschaffen  wurde,     nicht  unwahrscheinlich 


102        BOER    URSPRUNG    UND    ENTWICKLUNG    DER    NIBELUNGENSAGE 

dünkt  es  mich,  dass  zunächst  im  anschluss  und  als  fortsetzung 
der  Siegfriedssage  eine  dich  tu  ng  geschaffen  wurde,  in  der  Kriem- 
liild  nur  räche  für  Siegfried  nahm  und  dass  dann  unter  ein- 
würkung  der  älteren  im  norden  erhaltenen  sage,  die  doch  auch 
in  Deutschland  einst  gegolten  haben  muss,  Etzels  schatzgier  auf 
sie  übertragen  ist.  den  itihalt  jener  dichtuug  mag  man  sich 
etwa  so  vorstellen,  dass  Kriemhild  gleich  in  der  ersten  nacht 
nach  ankunft  der  hriider,  ohne  dass  Etzel  etwas  ahnte,  feuer  an 
ihren  schlafsaal  legen  liefs.  Günther  wird  bei  dem  versuch,  sich 
aus  den  flammen  zu  retten,  gefangen,  Hagen  widersteht  der  glut. 
lring  muss  ihn  angreifen  und  bringt  ihm  eine  schwere  wunde 
hei.  Kriemhild  tötet  den  wehrlosen  mit  einem  feuerbrand.  gieng 
die  entwicklung  der  sage  von  solcher  grandform  aus,  so  hegreift 
man,  dass  Etzel  so  geringen  anteil  an  der  handlung  gewann,  die 
richtung,  in  der  sich  die  sage  entwickelte,  war  durch  die  grund- 
form  bestimmt,  arduum  est  de  his  quae  coniectura  sequenda 
sunt,  aliquid  certi  promittere  (Seueca). 

Bonn.  W.   Wilmanns. 


Geschichte  der  Wandalen,     von  Ludwig  Schmidt.     Leipzig,  Teubner,   1902. 
203  ss.  8°.  —  2,80  m. 

Die  gegenstände,  die  hier  einen  historiker  beschäftigen,  haben 
zu  einem  grofsen  teil  auch  für  germanisteu  näheres  interesse, 
ja  gehören  sogar  —  sofern  es  sich  um  germanische  altertümer 
handelt  —  iu  deren  eigenes  forschungsgebiet.  dass  auch  unsere 
kritik  der  vorliegenden  arbeit  gerade  an  stellen  einsetzt,  wo  der 
germanist  mitzureden  hat,  bedarf  in  dieser  Zeitschrift  kaum  einer 
rechtfertigung. 

Der  verf.  schliefst  sich  Kossinnas  ansieht  an,  dass  die  Ost- 
germanen von  Schweden  aus  direct  über  das  meer  in  Deutsch- 
land eingedrungen  seien,  deren  begründung  durch  den  geuannten 
Idg.  forsch.  7,  176  ff  aber,  wie  ich  Anz.  xxvu  U4ff  gezeigt  habe, 
zum  teil  hinfällig  ist,  und  die  in  dieser  allgemeinheit  überhaupt 
kaum  begründet  werden  kann,  wie  sollte  im  besonderen  von 
den  Wandalen  bewiesen  werden,  dass  sie  nicht  über  Jülland  aus 
dem  höheren   norden  gekommen  sind? 

•  Seine  annähme  will  Seh.  unter  anderem  auch  durch  die 
ursprungssage  der  Langobarden  stützen,  die  jedoch  von  einer 
fahrt  über  die  Ostsee  weder  berichtet,  noch  auf  sie  schliefsen 
lässt,  und  deren  älteste  historische  sitze  doch  auch  eher  dafür 
sprechen,  dass  sie  den  weg  über  die  jütisch-dänische  brücke 
genommen  haben,  durch  sie  werden  aber  für  eine  nicht  ge- 
nauer bestimmbare  vorgeschichtliche  zeit  auch  die  Wandalen 
nach  dem  nordwesten  gezogen,  da  die  sage  vom  Ursprung  des 
Langobardennamens  die  nachbarschaft  beider  stamme  zur  Vor- 
aussetzung hat,    wozu  die  ein  paar  bildenden  uamen   Vinnili  — 


SCHMIDT    GESCHICHTE    DER    WANDALEN  103 

wie  früher  die  Langobarden  geheifsen  haben  —  und  Vandili 
sehr  gut  passen,  hat  vielleicht  erst  ein  unglücklicher  zusanunen- 
stofs  mit  den  Langobarden  die  Wandalen  veranlasst,  sich  aus 
der  gegend  der  unteren  Elbe  in  die  der  oberen  Oder  und 
Weichsel  zu  verziehen?  man  Übersehe  hier  auch  nicht  die 
Stellung  der  Wendle  in  Nordjülland,  die  von  den  Wan- 
dalen ganz  zu  trennen  und  bei  der  frage  oach  deren  ur- 
sitzen  und  wanderrichtung  aufser  acht  zu  lassen  sich  nicht 
empfehlen  wird. 

Mit  recht  dagegen,  wie  ich  denke,  verwirft  Seh.  die  auf  die 
autoritat  des  Plinius  sich  stützende  annähme,  dass  der  Wandalen- 
name  anfänglich  allen  Ostgermanen  zukam,  und  erkennt  ihn  nur 
der  gruppe  der  Lugier  zu,  deren  begrenzung  übrigens  auch  nicht 
ganz  feststeht,  so  ist  es  eine  Streitfrage,  ob  die  Burgundionen, 
deren  name  bei  Tacilus  fehlt,  dessen  Lygiero  beizuzählen  sind 
oder  nicht.  Seh.  entscheidet  sich  für  letzteres,  weil  es,  wie  aus 
dem  namen  Borgundarholm  sich  ergebe,  schon  vor  der  besied- 
lung  Deutschlands  ein  volk  jenes  namens  gegeben  habe,  die 
Lugier  aber  damals  sicher  noch  einen  stamm  gebildet  hätteu. 
ohne  jene  frage  selbst  in  gegenteiligem  sinne  beantworten  zu 
wollen,  möchte  ich  doch  auf  die  hiufälligkeit  dieser  prämissen 
hinweisen,  ob  und  wann  die  Lugier  eine  strenge  einheit  ge- 
bildet haben,  lässt  sich  jedesfalls  nicht  sagen,  nicht  einmal,  ob 
sie  eine  gruppe  von  haus  aus  verwanter  stamme  darstellen  oder 
nicht,  und  Borgundarholmr  Borgund  ist  nicht  schon  nach  einem 
volk  der  Burgundionen  so  benannt,  sondern  bedeutet  'hoch- 
gelegene oder  hochragende  örllichkeil'  :  Kossinua  Idg.  forsch.  7, 
282  f. 

Charini  bei  Plinius  in  der  aufzählung  der  wandilischen 
stamme  als  dittographie  des  nebenstehenden  Varinne  zu  be- 
trachten und  zu  streichen,  verbietet  sich  schon  wegen  der 
lygischen  Harii  des  Tacitus.  höchstens  wäre  zu  erwägen ,  ob 
nicht  unter  dem  einfluss  eines  benachbarten  namens  ein  älteres 
Charit  zu   Charini  geworden  ist. 

Der  grund,  den  Seh.  gegen  die  gleichsetzung  der  Victualen 
und  Hasdingeu  geltend  macht,  dass  nämlich  Capitolin  erstere 
vor  169  nenne,  der  eiubruch  der  letzteren  aber  erst  nach  170 
erfolge,  ist  alles  eher  als  zwingend;  denn  leicht  kann  das  volk 
bei  einem  besonderen  ereignis  den  Bömern  unter  neuem  uamen 
bekannt  geworden  sein,  und  seine  sitze  sind  auch  vor  dessen 
eiuwanderung  in  Dacien  nicht  so  weit  von  den  reichsgrenzen 
entfernt,  um  seine  teilnähme  am  Markomanneukrieg  auszuschliefsen. 
vielleicht  ist  es  kein  Zufall,  dass  uns  der  name  der  Ilasdingen 
zugleich  mit  dem  von  personen  aus  dem  fürstengeschleclft  (Baus 
und  Raptus)  bekannt  wird,  an  dem  er  ja  ursprünglich  allein 
haftet.  wenn  Eutropius  8,  2  Victohali  neben  Taiphali  und 
Tervingi    als    die    besitzer   von  Dacia    nennt,    und    wenn  sich  zu 


8 


104  SCHMIDT    GESCHICHTE    HER    WANDALEN 

den  Victualen  (und  Quaden)  nach  Amniianus  Marcellinus  17,  12 
die  von  ihren  leibeigenen  vertriebenen  sarmatischen  Ardaragantes 
flüchten,  stehen  sie  nirgends  anders,  als  wo  wir  die  Hasdingen 
suchen  müssen,  und  ist,  was  allgemein  anerkannt  wird,  Asdingi 
Hasdiugi  eigentlich  nur  der  name  des  herscherhauses  und  von 
diesem  auf  den  ganzen  stamm  übertragen,  gerade  wie  rohd, 
Amelunge  an  die  stelle  des  Goten  namens  getreten  ist,  so  müssen 
wir  neben  ihm  und  neben  dem  über  den  einzelneu  stamm  hinaus- 
greifenden Vandali  noch  einen  dritten  namen  erwarten,  und 
Victuali  füllt  diese  lücke  sehr  gut  aus.  nach  Seh.  haben  wir 
statt  dessen  allerdings  an  die  \Nahanarvalen'  des  Tacitus  an- 
zuknüpfen, weil  die  *Hazdiggös  —  er  folgt  bierin  bekannten 
aufstellungeu  Müllenhoffs  —  durch  ihren  von  *hazds  =  anord. 
haddr  'frauenhaar'  abgeleiteten  namen  als  das  geschlecht  des 
sacerdos  gekennzeichnet  seien,  der  muliebri  ornatu  dem  Heiligtum 
der  JNaharnavalen  vorstand,  ich  möchte  aber  bei  diesem  muliebris 
ornatus  lieber  würklich  an  weibliche  kleidung  denken,  die  ja  in 
verschiedenen  eulten  vorkommt;  bei  den  *Hazdiggös  aber  an  die 
verbreitete  silte  germanischer  fürstengeschlechter  —  man  denke 
an  die  reges  criniti  —  langes  haar  zu  tragen,  daher  scheint 
es  mir  fraglich,  ob  man  den  Hasdingen  mit  Mülleuhoff  aufser 
den  Victualen  auch  die  INacharvalen  gleichsetzen  darf,  dass  diese 
so  —  Naharvali  oder  Nacharvali  —  heifsen,  habe  ich  Beitr.  17,  31 
gezeigt,  und  jedesfalls  bilden  die  namen  Vkto-vali  und  Nachar- 
vali ein  paar,  das  sich  als  solches  durch  das  gleicbe  zweite 
compositionsglied  kennzeichnet,  sie  gehören  wo]  nachbarslämmeu, 
und  wenu  die  Victualen  dieselben  wie  die  Hasdingen  sind,  möchte 
man  hinter  den  Nacharvaleu  die  späteren  Silingen  vermuten, 
der  lucus  apud  Nacharvalos  ist  dann  wol  am  altgeheiligteu 
Zobtenberge  zu  suchen,  an  dem  der  name  der  Silingen  in 
slawischer  Umgestaltung  halten  geblieben  ist;  s.  Müllenboff  DA. 
ii  92. 

Recht  erwägenswert  däucht  mich,  was  Seh.  gegen  die  nach- 
richt  des  Jordanes  Getica  22  vorbringt,  die  Wandalen  hätten  nach 
dem  fall  könig  Wisumars  in  Pannonien  aufnähme  gefunden,  kaum 
begründet  ist  dagegen  die  annähme  frühzeitiger  trenuung  der  Has- 
dingen und  Silingen,  von  denen  Seh.  letztere  zugleich  mit  den 
Burgundionen  ende  des  3  jh.s  im  rücken  der  Alemannen  in  die 
oberen  Maingegendeu  einrücken  lässt.  sie  sollen  sich  von  dort 
anfangs  des  5  jh.s  den  nach  westen  ziehenden  Hasdiugen  an- 
geschlossen haben,  dass  kaiser  Probus  mit  wandalisch-burgundischeu 
streifscharen  einen  kämpf  auszufechten  hat,  ist  im  grund  die 
einzige  tatsache,  auf  die  man  sich  für  diese  ansieht  berufen  könnte, 
doch  wer  damals,  bevor  sich  die  Alemannen  über  den  bmes  vor- 
geschoben hatten,  hinter  ibuen  noch  niebt  für  einen  neuen 
stamm,  geschweige  denn  für  zwei  platz  geworden;  jener  streifzug 
wird  also  noch  von  Ostdeutschland  ausgehn,    wo  Wandalen  und 


SCHMIDT    GESCHICHTE    DER    WANDALEN  105 

Burgundionen  Dachbarn  waren,  und  resle  von  beiden,  wie  die 
nameu  Silesia  und  Burgundaib  bezeugen,  später  noch  vorhanden 
sind,  in  Schlesien  und  allesfalls  noch  im  angrenzenden  Ober- 
ungarn müchte  man  auch  am  ehesten  die  landlose  suchen,  auf 
die  der  ausgewanderte  volksteil  der  Wandalen  noch  nach  seiner 
niederlassung  in  Afrika  den  anspruch  zu  gunsten  der  zurück- 
gebliebenen nicht  aufgeben  will;  denn  in  dem  Völkergedränge 
Panuoniens  konnte  sich  weder  ein  solcher  volksrest  noch  freies 
land  so  lange  erhalten,  auch  hieraus  lässt  sich  also  —  nebenbei 
bemerkt  —  gegen  Pannonien  als  ausgangsort  der  wandalischen 
westwanderung  scbliefsen. 

Die  bemerkungen  über  das  Wirtschaftsleben  der  Wandalen 
in  ihrer  allen  heimat  zeigen  den  verf.  in  ererbten  Vorurteilen 
befangen,  was  soll  es  heifsen,  wenn  er  sagt :  'den  zustand  des 
nomadentums  halten  dieselben  damals  bereits  überwunden;  sie 
waren,  wie  wir  sahen,  zu  einer  gewissen  sesshal'tigkeit  gelangt.' 
als  ob  sie  früher  einmal  nomaden  und  zu  beginn  der  geschichte 
noch  halbnomaden  gewesen  wären!  es  geht  auch  nicht  an, 
Cäsars  angaben  über  den  jährlichen  Wechsel  der  fehler  und  der 
Wohnungen  bei  den  Germanen  einfach  auch  für  die  Wandalen 
gelten  zu  lassen,  ohne  es  erst  sich  und  andern  klar  zu  machen, 
wie  weit  es  sich  dabei  überhaupt  um  wirtschaftlich  mögliches 
handelt  und  die  mitteiluug  glauben  verdient. 

Was  über  die  kriegerische  ausrüstung  der  Wandalen  gesagt 
ist,  bedarf  der  berichtigung;  vor  allem  die  bemerkung,  dass  auch 
schilde  neben  andern  schutzwaffen  ihnen  fast  völlig  gefehlt  zu 
haben  scheinen,  offenbar  ist  es  auch  unrichtig,  wenn  Seh. 
Geilamirs  befehl  vor  der  schlacht  von  Tricamarum,  nur  mit  dem 
Schwerte  zu  kämpfen,  durch  dessen  einsieht  erklärt,  dass  die 
Wandalen  in  der  anweudung  der  fernwaffen  den  gegn'ern,  wol- 
bemerkt  selbst  zum  grofsen  teile  Germanen,  nicht  gewachsen 
seien,  bei  einem  reitervolk,  wie  sie  es  im  wesentlichen  waren, 
würde  gewis  auch  übung  im  gebrauch  anderer  waffen  und  vor 
allem  des  Speers  vorauszusetzen  sein,  selbst  wenn  sie  nicht  be- 
zeugt wäre;  und  was  hätte  ferner  jener  befehl  fruchten  sollen, 
da  doch  die  feinde  dadurch  nicht  zu  zwingen  waren,  sich  auch 
auf  den  schwertkampf  zu  beschränken,  der  ungleiche  Verlust 
beider  teile,  800  Wandalen  gegen  50  Byzantiner,  zeigt  schon, 
dass  die  anordnung  nicht  klug,  sondern  töricht  und  verhängnis- 
voll war.  was  Dann  meint  :  weder  lanze  noch  wurfgeschoss  zu 
gebrauchen,  nur  mit  dem  schwelte  anzugreifen,  habe  offenbar 
als  ein   besonderes  heldenstück    gegolten,    lässt   sich    eher  hören. 

Nicht  weniges  ist  an  der  behandlung  der  namen  auszu- 
stellen, während  Seh.  zb.  beständig  Asdingen  schreibt,  obwol  der 
gewis  richtige  ansatz  des  namens  als  gotisch  *Hazdiggös  von 
ihm  anerkannt  wird,  und  Hasdingi  sogar  belegt  ist,  setzt  er  die 


106  SCHMIDT    GESCHICHTE    DER    WANDALEN 

formen  Hraus  und  Hraptus  in  die  'Stammtafel  der  Asdingen'. 
s.  7  beruft  er  sich  für  diese  Schreibung  auf  Müllenhoff  Zs.  7, 
5*28,  wo  aber  über  beide  namen  durchaus  unannehmbares  gesagt 
wird.  ags.  hreo  (on  möde)  aus  Beowulf,  das  *Hraus  in  dieser 
gestalt  und  der  bedeutung  von  'Severus'  rechtfertigen  sollte,  wäre 
got.  *hriggws;  für  das  mit  *  Hraptus  verglichene  anord.  Hrappr 
kann,  obwol  es  als  adjectiv  im  anord.  unbelegt  ist,  wegen  dän. 
rap,  schwed.  mndd.  mengl.  rapp  'rasch,  heftig'  die  Übersetzung 
'violentus'  allenfalls  noch  hingehn;  aber  einen  ansatz  Hraptus 
—  was  doch  immer  noch  ein  anderer  name  wäre  —  rechtfertigt 
es  nicht,  und  ebensowenig  geschieht  dies  durch  das  von  Müllenhoff 
aufserdem  noch  beigezogene  ahd.  Hrafolt,  auch  wenn  dieses  nicht 
für  Rafolt  verschrieben  sein  sollte,  was  ich  Zs.  36,47  für  die  deu- 
tung  des  überlieferten  cPäog  und  cPd7ttog  als  got.  Raus  und  Rafts 
'röhr'  und  'balken'  vorgebracht  habe,  ist  Seh.  offenbar  entgangen, 
statt  Kostoboken  ist  Koisloboken  zu  schreiben  ;  s.  Müllenhoff  DA. 
ii  86;  statt  Yictofalen  (so  s.  15)  Victovalen,  Victoalen  oder  Victualen; 
s.  meine  bemerkungen  Beitr.  17,  29 f.  Genserich,  für  das  noch 
FrKauffmaun  Zs.  f.  d.  ph.  33,  1  ff  mit  ganz  unzureichenden  gründen 
eintrat,  bleibt  allerdings  abgetan,  es  würde  sich  aber  vielleicht 
empfehlen,  um  jedes  misverständnis  auszuschliefsen,  Geiserik  statt 
Geiserich  zu  schreiben  und  ebenso  Hunerik  usw.;  auch  sollte  man 
sich  nicht  scheuen,  folgerichtig  den  letzten  Hasdingen  Geilamir 
statt  Gelimer  zu  nennen,  dass  nur  Thrasa-,  nicht  Trasamund 
das  richtige  ist,  hätte  Seh.  bei  Wrede  Spr.  d.  Wand.  74  sehen 
können.  dagegen  war  diesem  (s.  47  f ) ,  was  den  namen  des 
führers  der  verbündeten  Burgunder  und  Wandalen  betrifft,  mit 
denen  Probus  zusammenstiefs,  nicht  folge  zu  leisten,  die  einzige 
quelle,  die  ihn  bringt,  Zosimos,  hat  'iytXXog  al.  'iyyi/J.og,  woraus 
sich  unmöglich  ein  Igila  oder  —  was  Wrede  auch  erwägt  — 
Ingila  herstellen  lässt  die  berufung  auf  griech.  KvQi'/J.og  für 
wand.  Cyrila  rechtfertigt  die  annähme  von  suflixtausch  in  der 
griech.  widergabe  anderer  namen  nicht,  am  wenigsten  wenn  man 
mit  Wrede  69  f  in  diesem  Cyrila  selbst  griech.  KvQtog  enthalten 
sieht;  denn  dann  ligt  nichts  näher,  als  Cyrila  als  germauisierung 
von  griech.  KvqüJ.og  zu  betrachten,  also  von  diesem  auszugehn. 
auf  die  einfachste  weise  lässt  sich  dagegen  aus  dem  überlieferten 
'iyyllXog  l(~riAAOC  ein  irHAAOC,  got.  *Iggilds,  ags.  Ingeld 
herstelleu. 

Viel  zu  viel  wird  aus  dem  namen  Ansila  herausgelesen,  wie 
es  scheint,  dem  eines  feindlichen  anlührers,  der  unter  Guntha- 
mund  besiegt  wurde,  da  Dracontius  Satisfactio  v.  213  f  siege  des 
königs  feiernd  bemerkt  :  Contulit  absenti  terrae  pelagique  trium- 
phos,  Ansila  testatur.  Seh.  vermutet  in  ihm  einen  führer  ost- 
gotischer  truppen,  die  Theoderik  nach  Sicilien  gesant  habe,  über 
die  Guuthamund  freilich  nur  anfänglich  einen  vorteil  davon- 
getragen haben  könnte,  da  sein  versuch,   sich  in  Sicilien  festzu- 


SCHMIDT    GESCHICHTE    DER    WANDALEN  107 

setzen,  für  ihn  sehr  unglücklich  ausgieog.  oh  ein  solcher  vor- 
übergehnder  erfolg  geeignet  wäre,  gerülmii  zu  werden,  da  damit 
sofort  die  erinnerung  an  den  gröfseren  und  endlichen  miserfolg 
wachgerufen  würde,  lassen  wir  dahingestellt,  jedesfalls  aher  steht 
die  mutmafsung  auf  viel  zu  schwachen  füfsen,  wenn  sie  damit 
hegründet  wird,  dass  Ansila  'unzweifelhaft  ein  gotischer  name' 
sei.  *Ansu-  ist  ein  gemeingermanisches  namenelemenl,  und  seiner 
form  nach  könnte  der  kosename  Ansila  ehensogut  wie  den  Goten 
jedem  andern  ostgermanischen  stamme  einschliefslich  der  Wan- 
dalen zugehören;  ja  es  ist  gar  nicht  zu  hezweifeln,  dass  es  würk- 
lich  hei  ihnen  allen  leute  namens  Ansila  gegehen  hat. 

Das  sind  ausstellungen,  die  sich  zum  teil  auf  nebensächliches 
beziehen,  im  übrigen  gehn  wir  hier  auf  fragen,  die  sich  sonst 
an  den  gang  der  ereignisse  nach  der  auswanderung  des  Volkes 
aus  Deutschland  und  an  die  bei  ihm  beigebenden  zustände 
knüpfen  —  und  somit  auf  den  hauptinhalt  des  buches  —  mit 
absieht  nicht  weiter  ein.  es  sei  nur  bemerkt,  dass  uns  sein  vf. 
die  schwierige  aufgäbe,  die  dabei  dem  historiker  gestellt  ist,  aus 
unzulänglicher  und  einseitiger  Überlieferung  schöpfend  ein  bild 
der  würklieben  Vorgänge  zu  zeichnen,  glücklicher  zu  lösen  scheint 
als  seine  Vorgänger,  zumal  seine  aus  gesundem  tatsachensinn 
entsprungene  skepsis  gegen  die  angaben  des  Prokopios  verdient 
volle  billigung. 

Wien.  Rudolf  Much. 


Kristnisaga.  f'ättr  Torvalds  ens  yiSforla.  Pattr  'Isleifs  .  biskups  Gizurar- 
sonar.  Hungrvaka.  hg.  von  B.  Kahle.  (Altnordische  sagabibliolhek  XI.) 
Halle  a.  S.,  Niemeyer,  1905.     xxxm  und   144  ss.  —  5  m. 

Im  Arkiv  20,  228  veröffentlichte  BKahle  1904  eine  Unter- 
suchung über  die  hss.  der  Hungrvaka  und  kündigte  gleichzeitig 
die  ausgäbe  an,  die  uns  seit  1905  vorligt.  den  lesern  der  ASB 
wird  damit  auch  eine  probe  der  geistlichen  geschichtschreibung 
der  Isländer  geboten  (schon  1892  hatte  freilich  Golthers  Ari  einen 
Vorgeschmack  davon  geliefert),  da  die  Biskupa  sögur  nicht  jeder- 
mann zugänglich  sind,  verdiente  der  gedanke,  die  vier  ersten  stücke 
daraus  gesondert  zu  edieren,  sympathische  aufnähme,  auch  wenn 
der  schwerpunet  der  arbeit  nicht  in  den  einleitungen  und  an- 
merkungen  läge,  letzteres  ist  aber  natürlich  hier  der  fall,  der 
text  seihst  entfernt  sich,  vom  äufseren  gewande  abgesehen,  wenig 
von  dem  Vigfüssons.  (das  als  auhangzum  börvalds  pätt  mitgeteilte 
stück  aus  AM  62  war  bisher  ungedruckt.)  das  gilt  auch  von 
der  Hungrvaka.  K.  hat  hier  Vigfüssons  Stammbaum  nicht  umge- 
stürzt, sondern  nur  weiter  ausgebaut  und  damit  modificiert.  sein 
hauptergebnis  war,  dass  von  den  hss.  nicht  379,  sondern  380 
zu  gründe  zu  legen  sei  und  dass  205  gröfsere  beachtung  verdiene, 
dieses  ergebnis  leuchtete  ein.  nur  dass  K.  m.  e.  der  abschrift  des 


108  KAHLE    KRISTMSAGA 

Jon  Gizurarson  (205)  noch  nicht  ganz  gerecht  wurde,  sein 
argumentieren  zu  gunsten  von  380  war  stellenweise  mehr  ein 
plaidieren.     s.  101,  25.  26    kanu    man    nur   schwanken    zwischen 

379  und  205,  was  im  texte  zu  lesen  ist,  scheint  sprachlich 
unmöglich;  ich  möchte  aher  205  den  vorzug  gehen  (synir  hans 
gnduHuz  allir  d6r  enn  hann),  weil  fijrr  sich  hier  normaler  aus- 
nimmt als  riör  und  also  leicht  secundär  hineingekommen  sein 
kaun.  aus  der  lesart  von  205  ist  wahrscheinlich  durch  verschreiben 
(äö>  für  allir,  das  ja  auch  entbehrlich  ist,  aber  dann  nachgeholt 
wurde)  die  von  380  entstanden,  aus  dieser  durch  bewuste  besserung 
und  zugleich  Vereinfachung  die  von  379.  dasselbe  Verhältnis 
besteht   auch    sonst.     93,  28  ist  aus   um  mfödegi   dags  (205)   in 

380  durch  nachlässigkeit  das  mindestens  auffallende  at  mtöjum 
degi  dags  (das  K.  in  den  text  setzt)  und  daraus  in  379  das  ein- 
fache at  mföjum  degi  geworden,  ebenso  hat  121,  24  der  autor, 
der  doch  ein  sorgfältiger  Stilist  ist,  vermutlich  geschrieben  tföu- 
bcekr  miklar  langt  um  betri  (205),  daraus  macht  380  t.  miklar 
miklu  betri,  was  379  durch  weglassuug  von  miklar  sich  wider  um 
zurechtschneidet  (K.  folgt  hier  379).  in  diesen  fällen  haben  die 
richtigen  lesungen  von  205  schon  in  der  gemeinsamen  vorläge 
Y  gestanden,  die  Verderbnisse  von  380  gehören  der  daraus  ab- 
geschriebenen vorläge  Sk  von  379  und  380  an,  die  dann  in  379 
freier  behandelt  ist  als  in  380.  noch  an  andern  stellen  hat  205 
wahrscheinlich  das  ursprüngliche,  so  117,  2  (man  lese  :  en  pd  er 
üt  spurtiiz  andiät  Halls  Teitssonar  til  'Islands,  mdtti pd  enn  biskup 
kjösa,  pd  vdru  .  .  .  das  doppelte  spyrja  ist  allzu  ungeschickt),  ferner 
102,  12,  wo  205  aliein  die  aus  der  quelle  übernommene  abnormität 
biskup  Gizurr  bewahrt  (s.  darüber  weiter  unten). 

Orthographisch  und  typographisch  entspricht  der  text  natürlich 
der  norm  der  sagabibliothek.  die  visur  sind  durch  die  bekannten 
besonderen  sprachformen  abgehoben,  zugegeben,  dass  damit  den 
Strophen  selbst  ihr  recht  wird,  so  tritt  dieses  verfahren  jedesfalls 
der  saga  als  solcher  zu  nahe,  verfälscht  sie,  indem  es  klüger  ist 
als  der  autor.  doch  das  trifft  nicht  unsern  herausgeber.  ebenso 
wenig,  wenn  ich  die  fetten  paragraphenzahlen  bedaure,  die  den 
conlext  unterbrechen,  sie  werden  eine  eigentiimlichkeit  der  saga- 
bibliothek  bleiben,  die  man  nach  c.  und  §  citiren  mag,  schwerlich 
werden  sie  sich  auf  die  texte  selbst  übertragen,  nach  diesen  texten 
ist  ja  die  nachfrage  unvergleichlich  schwächer  als  nach  den 
griechischen  und  lateinischen  auloren  oder  gar  nach  der  bibel, 
die  auswahl  an  zeitgemäfsen  ausgaben  wird  daher  voraussichtlich 
immer  gering  bleiben  und  damit  der  nachteil,  die  citate  an  eine 
bestimmte  editiou  zu  binden,  annähernd  gleich  null,  warum  also 
nicht  nach  seiten  und  Zeilen  citiereu,  im  Interesse  der  Über- 
sichtlichkeit und  der  ästhetik?  —  s.  31  ist  ein  salz  als  prosa 
gedruckt,  den  man  im  dringenden  verdacht  haben  darf,  dass  er 
als  langvers  concipiert  und  empfunden  wurde  :  liggr  per  halmsvisk 


KAHLE    KRISTNISAGA  109 

pars  hjarta  skyldi!   s.  42    bemerkt   der    herausgeber  selbst  etwas 
entsprechendes. 

Umfangreicher  als  der  text  sind  die  aumcrkungen.  zt.  erklären 
sie  den  wortsinn,  grösseren  teils  bringen  sie  realien  bei  mit 
reicblicben  litteratnrangaben,  wobei  hier  und  da  der  nachweis 
ziemlich  entlegener  litteratur  besonders  dankenswert  ist.  dagegen 
können  ungenaue  anführungen  wie  'Austfird.  sog.',  'ßandamanna 
saga  ed.  Ileusler',  'Fagrskinua'  (es  ist  die  alte  ausgäbe  gemeint) 
jedesfalls  dem  anfänger  wenig  nützen,  einige  noten  sind  sprach- 
licher art.  im  einzelnen  hab  ich  folgendes  zu  bemerken,  zu 
s.  9,  9:  4des  dieners  der  götter'  ist  ein  verseben  ;  es  muss  heii'sen 
'dem  diener  d.  g.'  —  14,  12.  13:  mit  /  Vindlandi  ist  wahr- 
scheinlich Jomsborg  gemeint,  dort  wird  I^angbrand  auch  die  irische 
sclavin  gekauft  haben.  —  21,  20:  über  Galdra-llcdin  ist  nichts 
bemerkt,  vergl.  dagegen  93,5.6.  97,5.  —  23,  v.  4:  argr  be- 
zieht sich  doch  wol  auch  hier  auf  die  langen  gewänder  des  priesters, 
vgl.  s.  12.  —  14,  4:  Drofn  (Drafn)  leitet  Heinzel  Üb.  d.  Hervs. 
478  aus  russ.  derevnja  'dorf  her.  —  88,  13.  14:  es  ist  unzu- 
trelfeud,  dass  afnyta  sonst  "nicht  belegt'  sei  (so  schon  Ark.  20,  231), 
denn  afnyta  oder  af  nyta,  das  Fritzner  n  844  nachweist,  ist 
weiter  nichts  als  die  bei  syntaktischer  abhängigkeit  mögliche 
nebenform  zu  nyta  af,  vgl .  das  mit  dem  Sprachgebrauch  der 
überlieferten  prosa  nicht  mehr  übereinstimmende  nutum  af,  Atlm. 
94,  4.  —  90,  4.  5:  man  sollte  hier  den  leser  darauf  hinweisen,  dass 
der  'Hröll'r  af  GautlandT  offenbar  seine  existenz  dem  Hrolf  Gaut- 
reksson  verdankt.  —  91,  6:  in  dem  gedichte  Schretel  und  wasser- 
biir  Zs.  6,  174  wird  erzählt,  wie  der  köuig  von  Norwegen  dem 
starken  künege  von  Tenemarke  sante  ein  zamen  xoazzerbern.  zwar, 
ich  wil  iuch  der  ivdrheit  wem  :  ez  was  der  wizen  einer,  ein  grözer, 
niht  ein  kleiner;  vgl.  ASchultz,  Hof.  leben  i  349.  —  95,  9.  10: 
aus  den  Stabreimen  darf  man  wol  kaum  auf  eine  Strophe  schliefsen, 
sie  sind  einfach  eine  eigentümlichkeit  des  gehobenen  prosastils, 
s.  xxiv.  —  102,  21  :  drepa  fe  manna  war  eine  stehende  redens- 
art,  vgl.  lleidreksgätur  25  (Edd.  min.  116):  hvat  er  pat  dyra,  er 
drepr  fe  manna.  —  103,  6  :  der  traurige  zustand  des  Röma- 
borgarriki  nach  dem  tode  des  papstes  Gregor  bedürfte  wol  einer 
erläuterung.  eine  solche  liefert  das  factum,  dass  Rom  1084  durch 
die  Normannen  aufs  grausamste  verwüstet  wurde  und  die  be- 
volkerung  hierunter  jedesfalls  noch  nach  dem  tode  Gregors  vn 
(1085)  zu  leiden  hatte.  —  103,  9  worauf  spielen  diese  Sätze  an? 
was  ist  der  manndauüi  z.  10?  —  besonders  die  personalgeschicht- 
lichen angaben  zeichnen  sich  durch  umsieht  und  genauigkeit  aus. 
hier  steckt  eine  fülle  von  arbeit  und  Gelehrsamkeit.  Sammlungen 
Gerings  sind  mitbenutzt,  viele  erläuterungen,  besonders  chrono- 
logischer art,  beruhen  auf  Vigfussons  scharlsinnigen  feststellungen. 
des  herausgebers  eigene  deutung  von  ärmaftr  (6,  6)  =  drgofi 
darf  man  aeeeptieren. 


110  KAHLE    KRIST.MSAGA 

Was  die  anmerkungen  übergehn,  stil  und  litterarischen 
Charakter  der  denkmäler,  holen  zt.  die  einleitungen  nach,  bei 
der  Krs.  wird  hauptsächlich  nach  interpolationen  und  nach  den 
quellen  gefragt,  mit  Finnur  Jönsson  schreibt  K.  der  saga  den 
Charakter  einer  compilation  zu.  das  ist  ohne  zweifei  richtig,  aber 
man  sollte  meinen,  die  interpolationsfrage  müste  sich,  von  diesem 
gesichtspunct  gesehen,  sehr  erheblich  verschieben,  ist  der  text 
durch  compilieren  zustande  gekommen,  so  haben  wir  nicht  die 
mittel,  zwischen  mehreren  compilatoren  zu  unterscheiden. — einen 
festen  ausgangspunct  für  die  kritik  liefert  das  c.  5,  das  in  der 
tat,  wie  Meifsner  Streng).  12  hervorhebt,  stilistisch  völlig  abweicht, 
es  scheint  mir  klar,  dass  mit  den  Worten  d  dogum  Haralds  k. 
Gormssonar  ein  ursprünglich  selbständiger  hält  anhebt,  er  erzählt 
zunächst  von  Pangbrand  und  Stefni.  die  stelle  s.  17,  4  (allr  Ijför 
var  pd  heföinn  d  landi  her)  zeigt,  dass  dieser  bätt  älter  ist  als 
c.  1 — 4,  die  von  früheren  bekehrungen  im  nordlande  berichten, 
nun  zeigen  c.  5 — 8  enge  berührungen  mit  der  grofsen  Olafssaga 
Tryggvasonar  in  Fms.  i  und  Ftb.  l.  Finnur  Jönsson  (u  581)  hat 
das  Verhältnis  so  aufgefasst,  als  wenn  die  Krs.  einen  auszug  aus 
der  Olafss.  gäbe,  das  scheint  aber  ausgeschlossen  zu  werden 
durch  die  eben  erwähnte  inconcinnität,  die  gerade  in  der  Olafss. 
nicht  vorligt  :  Flb.  i  286  steht  gerade  das,  was  man  nach  dem 
Zusammenhang  der  Krs.  erwarten  sollte  {alt  fölk  var  heiüit  fyrir 
sunnan  landok  um  Vestfirfiinga  fjörüung).  es  ist  nicht  anzunehmen, 
dass  der  compilalor  der  Krs.  diesen  bericht  zum  schaden  seiner 
eignen  darstelluug  gekürzt  haben  sollte,  vielmehr  ligt  entweder 
eine  gemeinsame  quelle  zu  gründe,  die  mit  c.  5  ff.  der  Krs.  und 
mit  Ari  Lib.  c.  7  darin  übereinstimmte,  dass  sie  vor  Olafs  eingreifen 
keine  mission  auf  Island  kannte  —  diese  quelle  könnte  übrigens 
nicht  Gunnlaugs  lat.  werk  gewesen  sein,  denn  Gunnlaug  war  im 
nordlaude  zu  hause,  wo  die  tradition  über  Pörvald  haftete,  wie 
sich  denn  auch  der  Porv.  p.  auf  ihn  beruft  —  oder  c.  5  ff.  der 
Krs.  sind  die  quelle  für  die  jüngere  Olafss.,  die  dann  den  Zu- 
sammenhang auf  eigne  hand  hergestellt  hat.  (die  noch  übrig 
bleibende  möglichkeit,  dass  der  verf.  des  'Pangbrandpätt'  selber 
die  Olafss.  ausgeschrieben  haben  könnte,  wird  man  nicht  hoch 
anschlagen,  denn  die  Olafss.  enthielt  auch  die  Pörvaldepisode,  die 
er  nach  seinem  eigenen  indirecten  Zeugnis  nicht  gekannt  hat.) 
übrigens  kann  man  K.  nicht  zugeben,  dass  die  lat.  namenformen 
in  c.  5  auf  eine  lat.  vorläge  weisen,  dann  müsten  auch  zb.  Aris 
Libellus  oder  die  Häkonarsaga  Häkonarsonar  lat.  quellen  haben,  was 
bisher  m.  w.  niemand  angenommen  hat.  nur  das  darf  mit  einiger 
Wahrscheinlichkeit  geschlossen  werden,  dass  der  verf.  lateinkundig 
war.  betrachten  wir  seinen  stil  genauer,  so  scheint  mir  eine  starke 
ähnlichkeit  mit  der  erwähnten  Häkonarsaga  unverkennbar,  die 
flielsende  beredsamkeit  der  wol  gerundeten,  wol  durchdachten 
sätze  ist  die  Sturlas.    der  eingang  (d  dogum . . . )  klingt  wörtlich 


KAHLE    KßISTNISAGA  11  1 

an  den  eingang  der  IMks.  an.  lelinvvorle  wie  pataldr,  riddari 
stimmen  dazu,  die  declination  der  latinisierten  namen  ist  dieselbe 
wie  dort  (n.  g.  acc.  Albertus,  Vilbaldus,  dat.  Alberto,  vgl.  Kon. 
sog.  245,  5.  256,  12.  260,  15.  2-14,  31.  260,  2).  dass  Sturla 
persönlich  an  der  Krs.  tätig  gewesen  sei,  haben  schon  Brenner 
und  Finnur  Jönsson  angenommen,  aber  die  rolle  eines  müfsigen 
und  ungeschickten  interpolators,  die  letzterer  ihm  zuweist,  scheint 
des  bedeutenden  Schriftstellers  unwürdig,  plausibler  dürfte  sein, 
dass  der  gesamte  grundstock  unseres  textes,  dessen  anl'ang  bei 
c.  5  deutlich  ist,  auf  Sturla  zurückgeht,  schon  in  c.  6  setzt  die 
Überarbeitung  ein.  wir  dürfen  sie  derselben  band  zuscbreiben, 
die  auch  die  anfaugscapilel  hinzugefügt  hat.  ist  diese  hypothese 
richtig,  so  lehrt  sie  für  die  datierung  etwa  dasselbe,  was  ohnehin 
aus  der  erwähnung  des  bischofs  ßötölf  in  dem  meines  bedünkens 
ganz  unverdächtigen  c.  3  hervorgehn  würde. 

Folgendes  kann  noch  zur  stütze  dieser  Vermutung  dienen, 
dass  Sturla  den  gedanken  fassen  konnte,  Islands  bekehrung  durch 
Olaf  Tryggvason  zu  schildern,  dürfen  wir  ihm  schon  zutrauen, 
in  der  Hdks.  werden  einmal  in  frommem  geiste  Olafs  Verdienste 
um  die  Christianisierung  Norwegens  hervorgehoben  (Kon.  sog.  242  f.). 
aufserdem  schlägt  die  Krs.  die  brücke  zwischen  der  von  Sturla 
überarbeiteten  Laudnäma  und  seiner  Sturlungasaga  (F.  J.  Bauksbök 
lxx).  Sturla  hat  Aris  bericht  ergänzt  durch  mündliche  Über- 
lieferungen, besonders  localtraditionen  aus  seiner  heimat,  der 
Myrasysla  und  umgegend,  wo  die  erinnerung  an  Pangbrand  und 
Stefni  noch  haftete,  (die  auffallende  Ortskenntnis  in  diesem  winkel 
von  Island  hebt  K.  s.  xi  hervor),  als  familienerinnerung  wird  der 
schriftsteiler  den  berühmten  ausspruch  des  goden  Snorri  über- 
kommen haben  :  hvat  reidduz  gobin  pd,  er  her  braun  hraunit, 
er  nü  stondu  ver  dl  —  ursprünglich  ist  dies  wol  eine  tenden- 
ziöse erfindung  gewesen,  vielleicht  schon  früh  als  ätiologische 
sage  an  das  furrärhraun  angeknüpft  (s.  Kahle  zu  38,  25).  ebenso 
wenig  vertrauen  verdient  die  episode  von  den  sigrgjafir.  wie 
man  in  Pörläk  auch  ohne  päpstliche  consecration  (ßaumgartner 
Nord,  fahrten  269  f.)  einen  heiligen  hatte,  so  wünschte  man  für  die 
junge  kirche  auch  den  glänz  des  märtyrertums,  und  wenn  die 
erfindung  eines  richtigen  märtyrers  durch  den  gesunden  sinn  und 
die  geschichtskenntnis  des  volkes  ausgeschlossen  war,  so  liefs  sich 
doch  die  bereitwilligkeit  zum  martyrium  innerhalb  des  festen 
rahmens  der  Vorgänge  vom  jähre  1000  ganz  gut  in  scene  setzen 
mittelst  einer  antiquarischen  construction,  wie  sie  dem  volke 
Snorris  ähnlich  sieht,  an  Aris  ältere  Islendingabök  ist  hier  nicht 
zu  denken  (vgl.  K.  xm);  die  darstellung  des  Libellus  (Golther  s.  13  f.) 
macht  an  dieser  stelle  den  eindruck,  dass  sie  Aris  ganzes 
wissen  gibt. 

Die  Krs.  bringt  nicht  weniger  als  zwei  berserkgeschichten. 
sie  sind  localisiert  auf  der  Bardastrond  und  bei  Haukagil.     beide 


112  KAHLE    EBISTNISAGA 

künneu  historisch  sein,  anzunehmen  ist  das  aber  nur  von  dei 
ersten;  die  zweite,  die  von  den  beiden  Haukar,  wird  eine  Variante 
sein,  man  hat  an  den  Ortsnamen  Haukagil  angeknüpft  und  die 
beiden  personen  erfunden  unter  dem  eiufluss  von  versen  wie 
haukar  bdbir  (Hrök.  14,  2)  oder  ok  tveir  haukar  (Sig.  sk.  67,  6). 
überhaupt  scheint  im  nordlande  die  legendenbildung  üppig  ge- 
wuchert zu  haben,  zeuge  -dessen  neben  dem  anfang  der  Krs. 
namentlich  der  Porv.  p.,  dessen  einsiedlergeschichte  zb.  bei  Kahle 
mit  recht  keinen  glauben  findet. 

Das  interessanteste  der  vier  denkmäler  ist  die  Hungrvaka. 
dieser  nachdenkliche  clericus  sucht,  wie  K.  bemerkt,  von  jedem 
seiner  neiden  das  beste  zu  sagen,  und  doch  sind  seine  Charakter- 
bilder differenziert  und  anschaulich,  besonders  die  letzten,  die  des 
Magnus  und  des  Kleing.  hier  sieht  er  mit  den  äugen  seines 
gewährsmannes.  Gizur  Hallsson  war  etwa  20  jähre  alt,  als  bischof 
Magnus  die  grofse  veizla  in  Skälaholt  gab,  mit  dem  drykk  peim 
enum  dgceta.  (das  erinnert  daran,  dass  BS  i  108  porläk,  der 
heilige,  drykkscell  genannt  wird  :  von  dem  alten  bischof  Kelil 
von  Hölar  konnte  das  vielleicht  nicht  gesagt  werden.)  für  den 
älteren  Zeitraum  wird  Ari  die  quelle  sein ;  K.  meint  s.  xxvn,  nur 
durch  Gizurs  mündliche  Vermittlung,  dagegen  zeugt  c.  8.  der 
anfang  entspricht  Lib.  21,  z.  8 — 11,  stammt  aber  höchst  wahr- 
scheinlich nicht  von  hier,  sondern  aus  der  Isl.  bök,  auf  die  der 
rest  des  capitels  zurückgehn  muss.  die  Pälssaga  (BS  i  145)  citiert 
nämlich  einen  ausspruch  von  Ari  :  Ari  prestr  hinn  frödi  .... 
segir,  hve  mjgk  vdrt  land  drüpfii  eptir  frdfall  Gizurar  biskups, 
er  menn  virüu  mestan  skgrung  verit  hafa  d  'Islandi.  das  weist 
deutlich  auf  den  satz  des  Hungrv.  :  svd  hugdiz  at  enum  vitrustum 
mgnnum,  at  svd  pötti  drjüpa  Island  eptir  frdfall  Gizurar  biskups, 
sem  Römaborgarriki  eptir  fall  Gregori  pdfa  (103,  4).  aus  der 
Übereinstimmung  ergibt  sich,  dass  die  Pälssaga  nicht  mit  eigenen 
Worten  referiert,  sondern  dass  sie  citiert1.  mit  vitrastir  menn 
zielt  der  verf.  der  Hungrv.  auf  Ari.  dass  ihm  Aris  werk  schrift- 
lich vorgelegen  hat,  geht  aus  dem  parallelcapitel  der  Krs.  hervor 
(51,  9  —  5o,  4).  vergleicht  man  die  beiden  texte,  so  kommt  man, 
auch  ohne  zu  wissen,  dass  sie  aus  der 'Isl.  bök  stammen,  zu  dem 
ergebuis  :  sie  müssen  auf  einen  dritten  text  als  gemeinsame  quelle 
zurückgehn.  dass  dies  eine  schriftliche  quelle  war.  zeigt  besonders 
die  verschiedene  Verteilung  der  satzschlüsse  im  worlmaterial, 
daneben  ein  lesefehler  wie  d  lopt  um  (102,  18)  für  ä  lopti  (52,  10). 
wir  besitzen  also  hier,  in  zwei  einander  recht  nahe  stehnden 
recensionen,    ein    capitel    der    verlorenen    'Isl.  bök.     Aris   dürre 

1  der  singulare  gebrauch  von  drjüpa  (drüpa)  hat  m.  w.  nur  poetische 
parallelen  :  Skwreict  i  Skiringssal  of  brynjalfs  beinum  drüpir,  Yngl.  t.  44 
(Wisen),  und  drüpir  H<?f<$i,  dni&r  er  pengill,  Ldn  (angeführt  von  Detter  — 
Heinzel  zu  Gudr.  2,  5—8).  an  beiden  stellen  handelt  es  sich  um  verstorbene, 
über  deren  leiche  sich  ein  berg  trauernd  herabbeugt. 


KAHLE    KRIST.MSAGA  113 

Schwerfälligkeit  ist  unverkennbar,  sie  reicht  in  der  Hungrv.  bis 
103,  4.  der  folgeude  satz  ist  eine  freiere  Umbildung  der  vorläge, 
womit  der  verf.  zu  seinem  eigenen  resume  übergeht  die  be- 
merkung  über  Haflidi  Mässon  am  scbluss  des  capitels  wird  dann 
wider  aus  Ari  stammen,  doch  kaum  wörtlich  ;  die  partieen  der 
Krs.  54  f.,  deren  entsprechender  bestandteil  im  Wortlaut  abweicht, 
erinnern  stilistisch  sehr  an  den  Libellus.  —  eine  einzelheit  von 
Aris  diction  können  wir  hier  noch  feststellen,  die  Jlauksbök 
überliefert  im  anläng  von  Krs.  c.  18  die  auffallende  Wortstellung 
bükup  Gizutr.  so  hat  Ari  geschrieben  (vgl.  Lib.  12,  7  :  konun- 
ginum  Oldfi,  dazu  Nygaard  Norroeu  syntax  §  352),  deun  an  der 
entsprechenden  stelle  der  Hungrv.  list  die  hs.  205  ebenfalls 
biskup  Gizurr  (Kahle,  Arkiv  20,  238).  —  die  association  von 
Gizurs  tode  mit  dem  Gregors  vn  wird  so  zustande  gekommen 
sein  :  der  achtzehnjährige  Ari  wurde  vou  seinem  mentor  Teit 
Isleifssou  auf  das  merkwürdige  zusammentreffen  jener  heimsuchung 
Roms  mit  dem  tode  des  grofsen  kirchenfürsten  aufmerksam 
gemacht,  damals  (ca.  1186)  war  Gizur  schon  bischof.  als  er 
dann  starb  und  Island  nicht  blos  um  ihn  zu  trauern  hatte,  war 
die  erinnerung  an  jenen  starken  Jugendeindruck  für  Ari  von  selbst 
gegeben.  — 

Die  Biskupa  sögur  sind  eine  literarische  gattung  von  eigenem 
reiz,  sie  verleugnen  kaum  irgendwo  gänzlich  die  schule  der  saga, 
haben  aber  dabei  jenes  intime  und  stimmungsvolle,  das  die  altisl. 
prosa  sonst  nicht  kennt,  das  uns  aber  das  christliche  mitlel- 
aller  lieb  macht,  diese  zt.  geschmacklosen  denkmäler  sind  quellen 
ersten  ranges  für  die  culturgescbichte.  selbst  ein  so  unislän- 
disches, von  uunatur  strotzendes  machwerk  wie  der  förvaldsbält 
ist  es  auf  seine  weise,  der  leichte  gesprächston  des  'Isleifspätt 
mutet  modern  au.  möge  die  erste  deutsche  edition,  die  sich 
diesem  felde  zuwendet,  recht  viele  freunde  finden. 

Breslau,  28  Januar  1907.  G.  Neckel. 


L.  F.  Anderson.  The  anglo-saxon  scop.  University  of  Toronto  Studies, 
philological  series  nr.  1.  The  University  library  :  published  by  the 
librarian,  1903.     45  ss.  8°. 

Anderson  hat  die  Zeugnisse  über  den  englischen  hofsänger 
der  stabreimendeu  zeit  sorgfältig  gruppiert  und  ihnen  ihre  aus- 
sagen abgefragt,  durch  die  reichliche  mitteilung  der  textstellen, 
deuen  sich  der  commentar  unterordnet,  und  durch  die  übersichtliche 
gliederuug  nach  gut  gewählten  Stichworten  hat  die  arbeit  einen 
vorzug  vor  Arthur  Köhlers  aufsatz  in  der  Germania  bd  15.  sie 
ist  als  darstellende  Zusammenfassung  zu  würdigen  und  als  solche 
ganz  nützlich,  probleme  zu  verfolgen,  ligt  der  schrill  weniger, 
kaum  gestreift  werden  fragen  wie  diese  :  wie  sich  der  dichtende 
und   harfende   gefolgskrieger  germanischen   Stiles  abgrenzt  gegen 

A.  F.  D.  A.  XXXI.  8 


114  ANDERSON    THE    ANGLO-SAXON    SCOP 

den  joculator,  das  erbstück  der  südlichen  cultur;  wie  sich  die 
geschichtliche  gegenwartsdichtung  mit  dem  heldenliede  berührt; 
wieweit  der  dichtersänger  von  seiner  kunst  lebte,  also  ein  berufs- 
mäfsiger  dichtbetrieb  im  strengen  sinne  anzunehmen  ist.  für 
diese  fragen  hätte  allerdings  das  nordische  Schrifttum  reichere 
ausbeute  gewährt,  es  wird  ein  parmal  unsicher  tasteud  heran- 
gezogen (misverständnisse  s.  21   und  26). 

S.  38  ff.  entscheidet  sich  A.  für  die  verbreitete  annähme, 
der  epische  Vortrag  mit  harfenbegleitung  sei  ein  melodram  gewesen, 
ob  er  dies  für  stichische  und  strophische  dichtung  gleichermafsen 
annimmt,  wird  nicht  klar  (er  citiert  nebeneinander  Kögel,  der 
an  unstrophische  epik  denkt,  und  Weinhold,  der  von  strophen- 
mäfsigen  abteilungen  spricht),  dass  die  bekannten  Zeugnisse  für 
harfenbegleiteten  Vortrag  auf  stichische  gedichte  zielen,  m.  a.  w. 
dass  wir  zwar  nicht  im  Beowulfepos,  aber  doch  im  Finns-  und 
im  Hildebrandsliede  Vertreter  jener  zur  harfe  'gesungenen'  lieder 
vor  uns  haben ,  das  ist  doch  wol  nicht  so  sicher,  einige  der 
quellenstellen  lenken  bei  unbefangener  betrachtung  die  gedanken 
nicht  grade  auf  ein  melodram,  d.  h.  auf  sprechstimme;  so  die 
stelle  Wids.  103  ff.  {(tonne  wit  SciUing  sciran  reorde  .  .  .  song 
ahofan  hlude  bi  hearpan,  hleopor  sicinsade),  besonders  wenn  hier 
ein  gleichzeitiges  singen  der  beiden  (doch  gewis  unisono)  gemeint 
ist.  wenn  aber  das  einzige  musikalische  am  vortrage  die  harfen- 
griffe  waren,  kann  man  nicht  gut  sagen,  dass  der  scop  neben 
dem  dichter  und  recitator  auch  componist  war  (s.  41  o.). 

Die  zwillingsformel  'singen  und  sagen'  hat  man  seit  Lachmann 
so  oft  in  dem  sinne  verwertet,  als  stelle  sie  dem  gesang  eine 
bestimmte  andere  Vortragsweise  gegenüber  (s.  39  :  .  .  the  recilation 
of  the  scop  was  somelhing  intermediate  between  'singing'  and 
'saying').  aber  die  specifische  bedeutung  von  'sagen,'  die  in  den 
älteren  germanischen  mdaa.  noch  klar  hervortritt,  ist  'erzählen, 
berichten'  (Zs.  46,  271).  das  zeitwort  bezieht  sich  nicht  auf  den 
akustischen  Vorgang  (wie  ae.  singmi,  hleodrian,  zt.  cwedan  u.  aa.), 
man  kann  in  prosa,  sprechvers,  gesang,  auch  in  buchstaben 
oder  bildern  'sagen'  d,  h.  erzählen,  den  modernen  sinn  von 
'singen  und  sagen'  hätte  man  altwestgermanisch  durch  'singan 
andi  spreka?i  ausgedrückt,  daher  ist  aus  der  formel  'singen 
und  sagen'  weder  ein  gegensatz  zweier  Vortragsarten  noch  eine 
Verschmelzung  von  musikklang  und  sprechstimme  berauszulesen. 
'singen  und  sagen'  muss  bedeutet  haben  'singen  und  erzählen', 
di.  entweder  'singend,  durch  gesang  erzählen'1  (vgl.  Wids.  100 
ponne  k  be  songe  secgan  sceolde)  oder  'singen  und  sonstwie,  in 
irgend  einer  andern   form  erzählen'  —  wobei  der  besondere  sinn 

1  'mit  singender,  dh.  pathetisch  gehobener  stimme  erzählen'  übersetzt 
Kögel  Lg.  1,  143.  aber  dann  dürfte  er  den  technischen  ausdruck  für  die 
betr.  art  des  Vortrages  nur  in  dem  verbum  'singen',  nicht  in  der  Verbindung 
von  singen  und  sagen  suchen. 


A.NDERS0N    THE    AISGLO-SAXON    SCOP  115 

des  agerm.  'singen'  dahingestellt  bleibt,  in  tnhd.  zeit  bat  sagen 
zt.  schon  den  neueren  sinn,  aber  wenn  man  die  stellen  bei 
Lachmann  Kl.  sehr,  i  461  ff  durchgeht,  sieht  man  leicht,  dass 
gewöhnlich  mit  der  akustisch  neutralen  bedeutung  'erzählen,  be- 
richten' auszukommen  ist,  besonders  wo  sagen  allein  steht  (der 
von  hern  Dietrich  von  Berne  gesagenkan;  als  uns  meister  Walther 
seit  uä). 

Berlin  jan.   1907.  Andreas  Heusler. 


James  Edward  Bouth  jr.,  Two  Studies  on  the  Ballad  Theory  of  the  Beowulf 
together  with  an  introduetory  sketch  of  opinion.  (diss.  der  Johns 
Hopkins   Universität)   Baltimore  J.  H.  Fürst  Company,  1905.    57  fs  8°. 

Der  titel  des  heftes  trifft  nicht  zu.  Routh  will  zeigen,  dass 
man  gewisse  Unebenheiten  im  Beowulf  erklären  kann,  ohne  ein- 
schiebsei zu  hilfe  zu  rufen,  die  annähme  von  einschiebsein  alter 
ist  noch  lange  keine  balladeutheorie.  das  dilemma  lautet  nicht: 
entweder  ballads  oder  unity.  die  Seitenblicke  des  vf.s  gelten 
meistens  der  Müllenhoffschen  Beowulfgenese  :  Müllenhoff  aber 
nahm  zwei  selbständige  lieder  an,  die  zusammen  noch  nicht 
30  °/o  des  epos  bilden,  alles  übrige  sollte  fortsetzung,  einleilung 
oder  einschiebsei  sein  :  da  kann  mau  füglich  nicht  von  lieder- 
tbeorie  sprechen,  diese  wäre  auch  mit  andern  waffen  zu  be- 
kämpfen —  soweit  dies  grade  beim  Beowulf  nach  Kers  buche  noch 
erforderlich  schiene,  nebenbei  :  'Epic  and  Bomance'  fehlt  in  der 
bibliographischen  skizze! 

B.  wendet  sich  also  einfach  gegen  die  interpolatoren;  und 
zwar  unter  zwei  gesichtspuneten  :  die  geistlichen  stellen  brauchen 
nicht  jüoger  zu  sein,  denn  das  epos  als  ganzes  ruht  auf  christ- 
lichem gründe;  die  entbehrlichen  auslaufe  brauchen  nicht  jünger 
zu  sein,  denn  sie  vertragen  sich  mit  dem  Stile  der  sicher  ein- 
heitlichen ae.  epen.  in  beiden  puneten  wird  der  vf.  keinen  grund- 
sätzlichen Widerspruch  zu  fürchten  haben,  dass  das  grofse 
buchepos  Beowulf  die  schreibezeit  und  damit  die  kirche  voraus- 
setzt, ligt  am  tage,  des  dichters  versuche,  das  heidnische  colorit 
zu  treffen,  sind  merkwürdig  misglückt.  in  seiner  Umgebung 
müssen  die  religiösheidnischen  Überlieferungen  fast  erstorben 
gewesen  sein,  aus  den  monotheistischen  Wendungen,  die  er 
seinen  helden  leiht,  darf  man  aber  nicht  schliefsen,  dass  er  die 
Dänen  als  Christen  gedacht  wissen  wollte  (s.  30.  53  1);  daher 
enthält  auch  der  passus  z.  175 — 88  (metod  hie  ne  cuüori)  —  das 
einzige  von  B.  anerkannte  einschiebsei  —  keinen  sachlichen 
Widerspruch. 

Der  ersten  Studie,  die  sich  hauptsächlich  mit  Grendels  ab- 
stammung  von  Cain  befasst,  schadet  die  unwahrscheinliche  gleich- 
setzuug  von  Grendel  und  der  antiken  hydra.  recht  verblüffend 
wirkt   die   folgerung   s.  26  :  die   anspielungen   auf   Cain    gehören 

s* 


1  16       ItOUTH    TWO    STÜDIES    0.\'    THE    BALLAD    THEORY    OF    BEOWULF 

unlösbar  zum  epos,  denn  :  Grendel  ist  ältester  bestand  der  dichtung, 
und  'Grendel  in  gestalt  der  hydra  war  in  einer  der  unbekannten 
vor-Beowulfischen  quellen  des  gedichtes  mit  Caiu  verknüpft', 
selbst  wenn  es  um  die  hydra  und  diese  vor-Beowulfische  quelle 
besser  bestellt  wäre,  brauchte  nicht  notwendig  schon  der  epen- 
dichter  den  gelehrten  Stammbaum  seines  wasserriesen  angebracht 
zu  haben.  —  dem  zweiten  abschnitt  darf  man  eine  besonnene, 
tactvolle  haudhahung  der  dichterischen  belegsteilen  nachsagen, 
viel  neues  kann  man  dieser  erstlingsschrift  nicht  entnehmen:  die 
warnung  vor  den  allgegenwärtigen  interpolatoren  kommt  ein  wenig 
post  festum,  und  der  positive  beweis  der  eiuheit  ist  mit  Wider- 
legung der  Unvereinbarkeiten  noch  nicht  geführt. 

Berlin,  jau.  1907.  Andreas  Heusler. 


Quellen  und  Untersuchungen  zur  lateinischen  philologie  des  mittelalters. 
herausgegeben  von  Ludwig  Traube,  i  band.  München,  CHBecksche 
Verlagsbuchhandlung,  1906.     gr.  8°.  —  15  m. 

i  1.  Sedulius  Scottus  von  S.  Hellmann,  privatdocent  der  geschichte 
a.  d.  Universität  München.    1906.    xv  u.  203  ss.  —  einzelpreis  8,50  m. 

i  2.  Johannes  Scottus  von  Edward  Kennard  Rand,  assistant  pro- 
fessor  of  latin  at  Harvard  TJniversity.  1906.  xiv  und  106  ss.  — 
einzelpreis  6  m. 

Nur  mit  schmerzlicher  trauer  kann  ich  über  die  beiden  vor- 
liegenden werke  berichten  :  eben  hatte  ich  die  feder  angesetzt, 
da  traf  die  nachricht  ein,  dass  der  mann,  der  das  neue  unter- 
nehmen ins  leben  gerufen  hat,  nicht  mehr  ist.  schon  hatte  ihn 
die  hand  des  todes  gestreift,  als  er  sich  noch  entschloss  die 
'Quellen  und  Untersuchungen'  erscheinen  zu  lassen,  und  nur  die 
ersten  fruchte  war  ihm  noch  vergönnt  zusehen;  aber  er  konnte 
mit  der  bestimmten  erwartung  scheiden,  dass  den  ersten  vor- 
trefflichen leistungen  der  fortgang  entsprechen  werde. 

Seit  der  berühmten  Untersuchung  'O  Borna  nobilis'  (Münchner 
SB.  1891,  299  ff)  und  dem  dritten  band  der  Poetae  Carolini  hat 
Traube  den  Sedulius  Scottus  nicht  aus  dem  äuge  verloren, 
auf  seine  anregung  hat  nun  Hell  mann  dem  anziehenden  manne 
ein  liebevolles  und  tief  eindringendes  Studium  gewidmet,  dessen 
ergebnisse  weit  über  die  person  des  gelehrten  Iren  hinausgehn. 
so  zerfällt  denn  auch  das  buch  in  drei  selbständige  teile,  von 
denen  jedoch  der  erste  und  zweite  enger  miteinander  verbunden 
sind.  Angelo  Mai  hatte  1842  aus  einer  hs.,  Palatinus  591  der 
Vaticana,  den  'Liber  de  rectoribus  christianis',  den  Sedu- 
lius zwischen  855  und  859  für  Lothar  n  verfassle,  veröffentlicht, 
zufälligerweise  war  es  gerade  die  einzige  hs.,  die  das  werk  voll- 
ständig mit  einschluss  der  nach  dem  vorbilde  des  Boethius  jedem 
capitel  angehängten  gedichte  einschliefst,  und  so  hat  Traube  diese 
hieraus  in  die  PC  m  aufgenommen,  im  übrigen  bietet  aber  diese 
hs.  den  allerschlechtesteu  text.    Dümmler  plante  schon  eine  neue 


TRAUBE    QUELLEN    D.   UNTEB.SUCHU.NGEN  Z.  LAT.  PHILOLOGIE  Ü.  MA.S        117 

ausgäbe;  nun  hat  Ihllmann  das  ganze  material  zusammengefasst. 
aufser  dem  Palatinus  benutzt  er  eine  Berliner  hs.  B,  ferner  eine 
Bremer  A,  die  im  besitze  des  Goldast  war,  und  die  verschollene 
aber  von  ihm  in  einem  sammelbande  der  Universitätsbibliothek 
zu  Jena  aufgefundene  ausgäbe  Marquard  Fiebers,  F.  (diese  aus- 
gäbe oder  ihre  vorläge  beruht  auf  einer  verlorenen  hs.,  die  von 
dem  berausgeber  mit  grofser  Wahrscheinlichkeit  der  bibliothek 
des  klosters  Gorze  zugewiesen  wird,  wohin  sie  wol  über  Metz 
gekommen  ist.)  auf  grund  dieser  hss.  wird  nun  ein  text  geboten, 
dem  man  fast  überall  beistimmen  muss.  leider  sind  die  gedichte, 
wie  erwähnt,  nur  in  P  enthalten,  so  werden  sie  im  allgemeinen 
in  Traubes  recension  geboten,  doch  hat  dieser  selbst  an  einigen 
stellen  Änderungen  vorgenommen,  eine  knappe,  aber  äufserst 
lichtvolle  einleituog  orientiert  über  die  fürstenspiegellitteratur  und 
weist  dem  Liber  d.  r.  ehr.  seine  litterarische   Stellung  zu. 

Aufser  dew  hss.  standen  dem  herausgeber  für  seine  arbeit 
noch  andere  wertvolle  hilfsmittel  zu  geböte  :  darüber  handelt  der 
überaus  wichtige  zweite  teil  Das  collectaneum  des  Sedu- 
lius  Sc.  in  dem  codex  Cusanus  C14  nunc  37.  dies  flori- 
legium,  das  schon  widerholt  die  gelehrten  beschäftigt  hat,  ist,  wie 
Traube  aao.  nachgewiesen  hat,  von  Sedulius  selbst  angelegt,  und 
ein  blick  in  den  apparat  zeigt,  dass  es  im  Liber  d.  r.  ehr.  auch 
tleifsig  benutzt  ist.  so  muste  Hellmanu  diese  Sammlung  einer 
sorgfältigen  prüfung  unterziehen,  die  ertragreich  genug  war.  in 
Lüttich,  wo  Sedulius  lange  würkte,  wird  sie  entstanden  sein;  die 
abschritt  die  uns  vorligt  zeigt  deutlich,  dass  das  original  in 
irischer  Orthographie  geschrieben  war  (anh.  1).  leider  sind  20  bll. 
des  Originals  verloren  gegangen,  doch  auch  die  erhalteneu, 
über  deren  iuhalt  ein  überblick  geboten  wird,  weisen  einen 
grofsen  reichtum  auf.  an  diesen  nachweis  knüpft  Hellmann  nun 
eine  Untersuchung  über  die  Wechselbeziehung  zwischen  Irland 
und  dem  festlande,  deren  ergebnis  ich  wegen  der  grofsen  bedeu- 
tung  der  sache  wörtlich  widergebe.  s.  99  :  'man  spricht  so  gern 
und  häufig  von  der  bereicherung,  welche  die  Ireu  dem  geistigen 
leben  des  continents  brachten,  und  bedenkt  nicht,  dass  sie  selbst 
in  den  klüstern  des  festlandes  reiche  handschriftendepols,  und, 
wenigstens  im  9  jh.,  eine  durchaus  selbständig  entwickelte  gelehr- 
samkeit  antrafen  :  über  der  betonung  der  Verdienste,  welche  sie 
sich  um  das  festland  erwarben,  vergisst  man  gerne  die  frage, 
wieviel  sie  selbst  binwiderum  den  anregungen  des  continents  ver- 
dankten, das  collectaneum  des  Sedulius  versetzt  uns  nun  in  die 
glückliche  läge,  den  gesichtskreis  eines  im  fränkischen  reiche 
lebenden  Iren  des  9  jb.s  ziemlich  vollständig  zu  übersehen,  noch 
dazu  eines  mannes,  dessen  gelehrsamkeit  aufsehen  erregt  haben 
wird,  und  von  dem  sicher  anregungen  nach  mehr  als  einer  seite 
ausgegangen  sind,  so  können  wir  den  versuch  wagen,  zu  scheiden, 
wieviel  von  seinem  geistigeu  gute    irischer  herkunft   ist,   wieviel 


118       TRAUBE    QUELLEN   U.  UNTERSUCHUNGEN  Z.  LAT.  PHILOLOGIE  D.  MA.S 

er  den  einwürkungen  seiner  zweiten,  festländischen  heimat  ver- 
dankte', dieser  versuch  erweitert  sich  zu  der  frage  nach  der 
Überlieferung  der  lateiuischeu  lilteratur  während  der  ersten  jhh. 
des  ma.s,  und  die  antwort  ist,  dass  die  bedeutung  der  Iren  auf 
diesem  gebiete  doch  erheblich  überschätzt  worden  ist;  ihre 
neigungen  zogen  sie  in  erster  linie  zur  patristischen  litteratur, 
und  wenn  wir  sie  im  besitze  von  classischen  schätzen  finden,  so 
werden  wir  immer  fragen  müssen,  ob  sie  diese  nicht  auf  dem 
festlande  vorgefunden  haben,  eine  hübsche  bestätigung  ergibt 
die  prOfuog  der  benutzten  quellen  :  wo  es  möglich  ist  zu  einiger- 
mafsen  sicheren  ergebnissen  zu  kommen,  weisen  die  excerpte  aus 
classischen  Schriftstellern  auf  conti  nentalen  Ursprung  hin. 
fünf  beigaben  schliefsen  diesen  teil. —  im  zweiten  anhang  wird  zum 
erstenmal  ein  dialogfragment  'Senex  et  adolescens'  veröffent- 
licht, das,  wie  mit  recht  betont  wird,  stark  an  den  dialog  zwischen 
Terentius  und  der  persoua  delusoris  (Hrotsvit  ed.  vWinlerf.  s.  xx) 
erinnert.  —  anhang  in  bringt  eine  bisher  nicht  völlig  veröffentlichte 
Sammlung,  die  am  eingange  des  collectaneums  steht,  'Proverbia 
Grecorum',  die  mehrfach,  aber  in  vollständigerer  gestalt,  im  Liber 
de  r.  ehr.  verwertet  ist.  dass  diese  Sammlung  ursprünglich  umfang- 
reicher war,  geht  daraus  hervor,  dass  einzelne  stellen  des  Liber 
mit  citaten  stimmen,  die  anderweitig  den  Proverbia  Gr.  zuge- 
schrieben werden,  so  scheint  es  mir  nicht  ausgeschlossen,  dass 
noch  weitere  stellen  aus  den  Prov.  stammen,  wo  wir  es  nicht 
wissen,  wie  dies  zu  25,  12  doch  höchst  wahrscheinlich  ist.  leider 
sind  die  Prov.  schlecht  überliefert  und  schwer  verständlich;  den 
gegebenen  erläuterungen  kann  ich  nicht  überall  zustimmen.  — 
anhang  iv  bringt  im  anschluss  an  das  florilegium  eine  Unter- 
suchung zur  geschichte  der  irischen  canonensammluug. 

Der  dritte  teil,  'Sedulius  u  n  d  Pelagius',  steht  mit  den 
beiden  ersten  nur  äufserlich,  durch  die  person  des  S.,  in  Zusammen- 
hang, dieser  hat  auch  eine  erklärung  sämtlicher  Paulusbriefe 
verfasst,  in  der  ua.  auch  ein  name  sich  findet,  den  wir  sonst  iu 
tbeologischen  Schriften  der  zeit  nicht  antreffen,  der  des  grofsen 
ketzers  Pelagius.  HZimmer  ist  in  seinem  buche  'Pelagius  in 
Irland'  den  spuren  des  Pelagiuscommentars  nachgegangen  und 
hat  mehrere  wichtige  quellen  aufgedeckt,  vor  allem  die  schon  im 
ersten  bibliothekskatalog  von  SGallen  genannte  Exposilio  Pelagii 
(jetzt  nr  73),  die  ihn  zu  der  ansieht  führte,  es  sei  eine  doppelte 
Überlieferung  des  Pelagiustextes  anzunehmen,  eine  contiuentale 
und  eine  speeifisch  irische.  Hellmaun  weist  nach,  dass  diese 
gruppierung  falsch  ist.  vielmehr  ist  zu  scheiden  zwischen  einer 
gekürzten  recension,  die  von  dem  Sangallensis  und  Pseudo- 
hieronymus  repräsentiert  wird,  und  einer  vollständigeren,  die  in 
den  andern  quellen  erhalten  ist.  aber  auch  diese  gruppe  zeigt 
in  sich  weitere  Spaltungen,  so  dass  der  s.  170  aufgestellte  Stamm- 
baum zahlreiche  gabelungen  aufweist,    das  Verhältnis  der  einzelnen 


TRAUBE    QUELLEN  ü.  UNTERSUCHUNGEN  Z.  LAT.  PHILOLOGIE  D.  MA.S       119 

gruppen  zu  einander  ist  derart,  dass  eine  reconstruction  des 
Pelagiuscommeutars  vorderhand  als  aussichtslos  erscheinen  muss. 
auch  diesem  teile  sind  mehrere  anhänge  beigefügt,  sorgfältige 
register  schliefsen  das  inhaltreiche  werk. 

Wie  oben  hervorgehoben  wurde,  hat  sich  herausgestellt,  dass 
die  Iren  ihr  interesse  mehr  zur  patristischen  als  zur  classischen 
litteratur  zog.  diese  beohachtung  finden  wir  in  dem  2  hefte 
durch  Rands  darlegungen  über  Sedulius  grofsen  landsmann 
Johannes  bestätigt,  zu  den  'Opuscula  sacra'  des  Doelhius  (Peiper 
149 ff)  ist  in  zahlreichen  hss.  teils  am  rande  und  zwischen  den 
zeilen  teils  als  selbständiges  werk  ein  commentar  erhalten,  der 
zwischen  S67  und  891,  also  zur  zeit  des  Johannes  Scottus, 
entstanden  ist.  man  hat  über  der  form  und  manchen  triviali- 
täten,  die  offenbar  auf  ein  schülerheft  hinweisen,  bis  jetzt  ver- 
kannt, dass  der  Verfasser  ein  bedeutender  mann  gewesen  sein 
muss.  Rand  weist  im  einzelnen  nach,  dass  er  ein  vorzüglicher 
grammatiker  war,  der  die  nicht  ganz  leichte  spräche  des  Roethius 
würklich  versteht  und  mit  liebe  und  Sorgfalt  seinen  Gedanken- 
gängen nachgeht,  dass  er  in  den  kirchlichen  autoren  sehr  be- 
wandert ist,  das  griechische  gut  beherscht  und  vor  allem  als 
theologe  eine  ebenso  tiefsinnige  wie  originelle  persönlichkeit  ist, 
ein  denker,  der  sich  seiner  vorläge  gegenüber  volle  freiheit  wahrt 
und  sich  nicht  scheut  gelegentlich  stark  abweichende  anschauungen 
zu  entwickeln,  und  man  kann,  darin  hat  Rand  sicher  recht,  nicht 
zweifeln,  dass  Johannes  Scottus  selbst  der  Verfasser  war.  dass 
dieser  nicht  nur  philosoph  und  Übersetzer  war,  sondern  auch 
jcommentator,  geht  ja  auch  daraus  hervor,  dass  er,  wie  Haur&au 
nachgewiesen  hat,  auch  einen  commentar  zum  Martianus  Capeila 
geschrieben  hat,  der  vorläufig  leider  bis  auf  wenige  notizen  un- 
bekannt ist.  wenn  Johannes  sich  entschloss  den  Martianus  zu  com- 
meutieren,  so  spricht  viel  dafür,  dass  er  auch  den  Boethius,  der  für 
deu  Unterricht  nicht  weniger  wichtig  war  und  der  erläuterung 
sehr  bedarf,  erklärt  hat.  ist  so  schon  auf  inductivem  wege  ein 
kaum  anfechtbares  resultat  gewonnen,  so  wird  dies  noch  durch 
äufsere  momente  gestützt,  eine  hs.  in  Florenz  (mit  insularer 
schritt)  enthält  eine  vita  des  Roethius,  die  dem  Johannes  Scottus 
zugeschrieben  wird,  auch  fiuden  sich  in  dem  commentar  stellen, 
die  mit  solchen  aus  andern  Schriften  des  J.  stimmen,  hierbei 
beruhigt  sich  der  vf.  aber  nicht,  sondern  weist  eine  reihe  von 
einwänden,  die  er  voraussieht,  von  vornherein  ab.  auf  diesen 
abschnitt  möcht  ich  wegen  der  feinheit  der  beweisführuug  und 
der  fülle  neuen  lichtes,  das  auf  den  Iren  fällt  —  Johannes  und 
Heiricus,  das  Verhältnis  des  Johannes  zu  Roethius,  die  enlwick- 
lung  seiner  Weltanschauung  — ,  besonders  aufmerksam  machen, 
ob  freilich  all  die  schönen  etymologieen  s.  14  f  auf  rechnung  des 
J.  kommen,    ist  mir  doch    äufserst   zweifelhaft.  —  es  folgt  dann 


120       TRAUBE    QUELLEN    ü.  UNTERSUCHUNGEN  Z.  LAT.  PHILOLOGIE  D.  MA.S 

der  abdruck  nach  einer  lis.  unter  ausdrücklichem  verzieht  darauf 
einen  abgerundeten  kritischen  text  zu  geben,  doch  mit  anführung 
der  Varianten. 

Neben  dem  commentar  des  Johannes  hat  der  vf.  durch 
genaue  prüfung  einen  zweiten,  ebenfalls  in  form  von  glossen 
erschienenen  unterschieden,  der  dem  des  Johannes  völlig  nach- 
gebildet ist,  aber  auch  den  4  traetat  des  Boethius  'De  fide 
catholica',  der  bei  J.  fehlt,  mit  berücksichtigt,  er  ist  teils  als 
alleiniger  begleiter  des  textes,  teils  in  Verbindung  mit  den  glossen 
des  Johauues,  in  einer  hs.  auch  als  selbständiges  buch  erhallen, 
dies  werk  steht  auf  viel  niedrigerem  uiveau  und  macht  bei  dem 
früheren  zahlreiche  anleihen,,  nicht  ohne  gelegentlich  misverständ- 
nissen  anheimzufallen,  das  Charakterbild  des  vf.s  ist  deutlich  zu 
erkennen,  ihm  fehlt  die  philosophische  begabuog  seines  Vorbildes 
Johannes,  dagegen  ist  er  kirchlicher  gefärbt  als  jener,  es  kanu 
kein  anderer  sein  als  Remigius  von  Auxerre;  die  lange  reihe 
seiuer  commentare  wächst  also  um  eine  nummer,  oder  richtiger, 
um  zwei,  denn  auch  zur  'Consolatio'  hat  er  erklärungen 
geschrieben  —  und  zweifellos  auch  Johannes,  also  drei  Boethius- 
glossatoren  treten  uns  entgegen  :  Johannes,  Heiricus,  Remigius, 
wir  wissen  vom  Martianuscommentar  des  Johannes,  kurz  wir 
sehen,  wie  in  jener  ziemlich  verschrieenen  zeit  des  ausgauges 
der  Karolinger  eine  lebhafte  wissenschaftliche  tätigkeit  hersclit. 
es  ist  Rands  verdienst,  zur  aulhellung  dieser  periode  und  zur 
correctur  der  darüber  herschenden  Vorstellungen  einen  wesent- 
lichen beitrag  geliefert  zu  haben,  damit  aber  zugleich  eine  be- 
deutende Vorarbeit  zu  der  von  Traube  in  seinem  gehaltvollen  Vor- 
wort geforderten  neuen  ausgäbe  der  werke  des  Johannes  Scoltus. 
Berlin.  K.  Strecker. 

i  3.  Untersuchungen  zur  überliefet  ungsgeschichte  der  ältesten  latei- 
nischen mönchsregeln.  i  Die  regelböcher  Benedicts  von  Aniane. 
ii  Die  Regula  SBenedicli.  von  Heribert  Plexkers.  mit  2  tafeln  in 
lichtdruck.     1906.    xi  und  100  ss.  —  einzelpreis  7  m. 

Von  Plenkers  wird  in  kürze  im  Wiener  Corpus  der  kirchen- 
schriftsteller  der  erste  fascikel  der  'Regulae  monaslicae  sae- 
culo  nono  antiquiores'  erscheinen,  und  die  vorliegenden 
beiden  abhandlungen  bilden  eine  art  einleitung  dazu,  das  Vor- 
wort hat  noch  LTraube  geschrieben,  der  seither  leider  allzufrüh 
vom  arbeitsfelde  abgerufen  wurde,  das  ist  umsomehr  zu  be- 
dauern ,  als  er  in  seiner  'Textgeschichte  der  Regula  SBenedicti' 
seine  schöne  und  scharfsinnige  Untersuchung  mit  so  glänzendem 
ergebnis  abgeschlossen  hat.  P.  hat  die  Untersuchung  dieses  merk- 
würdigen und  anziehenden  problems  noch  weiter  geführt  mit 
hilfe  des  so  plötzlich  wider  ans  licht  getretenen  Codex  regularum, 
der  seit  dem  29  nov.  1902  als  clm  28  118  eine  sichere  ruhe- 
stätte    gefunden    hat,    dank    dem  vereinten  bemühen  dr  Grauerts 


TRAUBE    QUELLEN   U.   UNTERSUCHUNGEN  Z.  LAT.  PHILOLOGIE  D.   MA.S        121 

und  dr  Traubes.  es  ist  der  riesenfoliant  von  SMaximin  in  Trier, 
im  anfang  des  9  jh.s  geschrieben,  von  den  Bollandisten  benutzt, 
seil  dem  anfang  des  17  jh^  verschwunden,  1902  als  das  hervor- 
ragendste slück  der  Bibliolheca  Goerresiana  wider  zum  Vorschein 
gekommen,  in  ihm  haben  wir  die  einzige  alte  hs.  der  von 
Benedict  von  Aniane  gesammelten  regelbiicher;  zwei  abschritten 
davon  aus  den  jähren  1466  und  1471  sind  in  Köln  und  Utrecht 
erhallen,  es  sind  im  ganzen  24  klosterregeln  zusammengestellt, 
welche  Benedict  von  Aniane  in  Frankreich  und  Spanien  gesammelt 
halte,  und  es  lassen  sich  teilweise  noch  die  nähte  nachweisen, 
welche  die  Vereinigung  bewürkten.  sie  beweisen,  dass  der  Trierer 
codex  der  reinschrift  Benedicts  noch  ganz  nahe  steht,  in  licht- 
druck  ist  der  schluss  der  regel  Benedicts  von  Monte-Cassino  und 
eine  seile  der  zweiten  regel  des  Fructuosus  beigegeben,  daraus 
lässt  sich  deutlich  der  unterschied  der  zwei   bände  erkennen. 

Die  zweite  abhaudlung  P.s  bespricht  die  Überlieferung  der 
Begula  SBenedicti.  das  original  ist  bekanntlich  im  jähre  896 
verbrannt;  verschwunden  ist  auch  das  normalexemplar,  das  Karl 
der  Grofse  787  von  Monte-Cassino  erhielt  und  von  welchem  die 
hss.  des  normaltextes  abstammen,  hier  kommt  die  Münchener  hs. 
der  Coucordia  erst  in  dritter  linie.  die  führende  rolle  gebührt 
der  SGaller  hs.  914,  einer  'mit  last  photographischer  treue  ge- 
fertigten abschrift  des  Aachener  normaltextes',  aber  durch  spätere 
änderungen  bis  zur  Unkenntlichkeit  entstellt,  immerhin  ist  darin 
eine  textquelle  erhallen,  wie  sie  reiner  und  zuverlässiger  wol  nur 
wenige  documente  des  alterlums  aufzuweisen  haben,  um  aber 
dem  urexemplar  so  nahe  als  möglich  zu  kommen,,  müssen  auch 
die  interpolierten  hss.  herangezogen  werden.  Plenkers  sieht  in 
ihnen  die  phasen  eines  entwicklungsprocesses,  dessen  anfangs- 
puncl  Born  oder  Monte-Cassino  ist.  ob  die  von  ihm  darüber  auf- 
gestellte hypothese  richtig  ist,  kann  aber  erst  nach  vergleichung 
weiteren  hss.-malerials  entschieden  werden. 

Im  an  hang  stehn  zunächst  brielauszüge  mit  kurzen  erläu- 
terungen  aus  dem  briefwechsel  des  Holsteuius  mit  den  Maurinern; 
sie  bezieben  sich  auf  die  erste  ausgäbe  des  Codex  regularum. 
der  zweite  anhang  bringt  die  sog.  'Begula  Cassiani'  aus  dem 
Münchener  codex  28  118,  deren  existenz  noch  von  Valllose  in 
abrede  gestellt  wurde,  den  schluss  bildet  ein  kurzes  martyro- 
logium  aus  einem  codex  des  Escorial,  das  älteste  martyrologium 
spanischen  Ursprungs,  das  wir  kennen,  die  aufnähme  in  den 
anhang  rechtfertigt  sich  durch  den  Zusammenhang  mit  der  texl- 
geschichte  der  Begula  SBenedicti.  schon  Traube  hat  darauf  auf- 
merksam gemacht,  dass  mit  dem  normaltext  der  regel  zusammen 
in  karolingischer  zeit  auch  das  martyrologium  verbreitet  wurde,  die 
kommende  ausgäbe  der  Begula  SBenedicti  ist  in  den  rechten  häuden. 
Einsiedeln.  p.  Gabriel  Meier. 


122         BELLAARD  GEHT  V.  D.  SCHURENS  TEOTHOMSTA 

Gert  van  der  Schumis  Teuthonista  of  Dtiytschlender.  lexicographische 
onderzoekingen  en  klankleer  door  It.  H.  G.  Bellaard  (Utrechter  doctor- 
dissertalion).    's  Hertogenbosch,  Teulings,  1904.    vin  und  204  ss.  8°. 

Im  Anz.  xxiv  145 — 155  bah  ich  eine  recension  von  Verdams 
bearbeitung  des  Teuthonista  veröffentlicht,  auf  die  ich  hier  noch 
einmal  verweisen  darf,  ich  beabsichtige  jetzt  nicht  auf  eiuzelheiten 
einzugehn,  und  dort  ist  manches  von  dem  gesagt,  was  ich  vor- 
zubringen hätte,  der  Utrechter  doctordissertation  Bellaards  ist 
jene  meine  recension  unbekannt  geblieben,  und  ich  muss  gestehn, 
dass  mich  das  trotz  allen  erfahrungen ,  die  ich  und  andere  in 
dieser  hinsiebt  schon  gemacht  haben,  denn  doch  überrascht  hat. 
ich  veröffentliche  in  unserer  ältesten  und,  wie  ich  immer  dachte, 
doch  in  allen  unseren  kreisen  noch  immer  angesehenen  Zeit- 
schrift einen  ausführlichen  artikel,  in  dem,  wie  ich  so  unbescheiden 
bin  zu  glauben,  eine  reihe  von  dingen  stehu,  die  Bellaard  auch 
bei  jahrelanger  Beschäftigung  mit  dem  gegenständ  weniger  richtig 
beurteilt  oder  überhaupt  nicht  gesehen  hat;  ich  darfauch  anmerken, 
dass  man  an  den  niederländischen  Universitäten  doch  wol  weifs, 
dass  ich  mich  um  die  dinge  der  nl.  philologie  aufmerksam 
bekümmere;  und  nun  wird  an  einer  dieser  Universitäten  ein 
buch  genau  über  denselben  gegenständ  geschrieben,  ohne  dass 
dem  verfasset'  mein  artikel  bekannt  wird,  ja,  wer  soll  ihu 
denn  nuu  wol  kennen?  und  wozu  veröffentlicht  mau  dann  über- 
haupt die  fruchte  monatelanger  arbeit?  der  Vorwurf  richtet  sich 
viel  weniger  gegen  B.  personlich  als  gegen  die  seilen,  von  denen 
ihm,  in  mündlicher  und  gedruckter  belehrung,  sein  wissen 
zugekommen  ist,  und  ein  so  crasser  beweis  für  die  freiwillige 
Unfreiheit  im  betriebe  unserer  germanischen  philologie,  die  sich 
zu  sehr  an  namen  und  moden  bindet,  sollte  denn  doch  über  das 
persönliche  hinaus  eine  starke  mabuung  enthalten ,  dass  diesem 
unserem  betriebe  objeetivität  und  erziehung  der  mitarbeiter  zur 
Selbständigkeit  des  urteils  not  täte. 

Was  ich  aao.  an  Verdams  buch  vermisst  habe,  das  ungefähr 
bildet  das  thema  der  vorliegenden  arbeit,  die  im  ersten  hauptteil 
die  entstehung  von  vdSchurens  Wörterbuch,  im  zweiten  dessen 
Orthographie  und  laute  untersucht,  die  durchführung  dieser 
themata  ermöglicht  es  dem  Verfasser,  unser  Verständnis  des  für 
die  geschichte  der  nl.  spräche  und  der  benachbarten  mundarten 
so  wichtigen  Werkes  nicht  unwesentlich  zu  fördern. 

Der  erste  teil  bringt  einiges  über  den  verlasser,  den  drucker  * 
und  die  äufsere  form  des  Teuthonista,  gibt  eine  interessante  und 
dankenswerte  übersieht  über  die  mittelalterliche  lexikographie  und 
untersucht  dann  eingehend  die  entstehung  von  vdSchurens  buch, 
für    den    deulsch-lat.  teil    wurden    eine  anzahl  lat.   Wörterbücher, 

'  auf  grund  des  noch  nicht  benutzten  buches  von  Voullieme  Der  buch- 
diuck  Kölns  bis  zum  ende  des  15  jli.s  (Bonn  1903)  s.  xu  h"  wäre  einzelnes 
zu  berichtigen. 


BELLAARD    GERT  V.  D.   SCIIURENS    TEUTHOMSTA  123 

besonders  das  des  Ugutio  und  das  Catliolicon  des  Johannes  de 
Janua,  eine  an/ahl  sogenannter  Vocabularia  rerum  und  lat. -deutsche 
vocabulare  und  glossare,  auch  hlofs  deutsch«'  sachliche  Wörter- 
verzeichnisse benutzt;  dem  lat.-  deutschen,  nachträglich  in  recht 
kurzer  zeit  zusammengestellten  teil  ligt,  unter  mitbenutzung  der 
für  deu  ersten  teil  gehrauchten  quellen,  hauptsachlich  das  Catho- 
licon  zu  gründe,  ein  besonderer  abschnitt  erörtert  den  wert  des 
buches  für  die  Zeitgenossen  und  für  uns.  besonders  die  letzte 
frage  ist  in  der  ganzen,  gründlichen  •  quellenuntersuchung  in 
verständiger  und  lehrreicher  weise  erwogen. 

Der  sprachlichen  Untersuchung  lässt  sich  nicht  das  gleiche  loh 
spenden,  bei  diesem  denk  mal,  das  nur  einen  ausschnitt  aus  einem 
sprachtypus  in  vielseitiger  gebundenheit  darstellt,  kann  eine  solche 
doch  nur  den  zweck  haben,  Schreibung  und  laute  für  das  richtige 
Verständnis  der  einzelnen  Wörter  aufzuhellen  und  nicht,  das 
material  lehrbuchartig  auf  'westgerm.  grundformen'  zurück  zu 
führen,  was  kümmert  es  uns,  oh  das  n  in  dem  runtzel  dieses 
Wörterbuchs  auf  westgerm.  n  (* icrunktala?)  zurückgeht  oder 
nicht?  über  hueveken  scheint  der  Verfasser  (s.  112  anm.)  so  zu 
urteilen  wie  ich  in  meinen)  Etym.  wb.  aber  ich  linde  nirgends  in 
der  lautlehre  eine  recbtfertigung,  und  gerade  eine  genaue  Statistik 
über  die  Schreibung  der  o-  und  w-laute,  die  uns  in  den  stand 
setzte,  mit  der  möglichsten  Sicherheit  über  das  ue  in  diesem  worte 
zu  urleilen,  und  überhaupt  die  erörterung  aller  schwierigen  einzel- 
heiten  an  der  gehörigen  stelle  wäre  doch  das,  was  wir  von  einer 
solchen  Untersuchung  zu  erwarten  hätten.  der  bedeutenden 
Schwierigkeiten,  die  der  Stoff  allerdings  bietet,  indem  er  fast  der 
schlimmsten  zeit  der  Orthographie  angehört,  den  verdacht  offen 
lässt,  fremdmundartliches  überall  her  aufgenommen  zu  haben,  und 
nicht  in  der  heimat  des  Verfassers  gedruckt  wurde,  ist  B.  keines- 
wegs herr  geworden,  dafür  ist  er  noch  zu  wenig  zu  eigenem  urteil 
gelangt,  er  sieht  wol  die  verschiedenen  theoretischen  möglichkeiten, 
weifs  sich  aber  nicht  leicht  zu  entscheiden,  er  bringt  es  fertig,  bei 
get,  dh.  jet  aus  iet,  einen  Wechsel  von  g  und  w  im  anlaut  fest- 
zustellen, indem  er  get  als  lautliche  nebenform  von  waz  ansieht 
(§  266),  und  dabei  lautet  der  artikel  im  Teuthonista  „get,  wat, 
uyst,  yet,  yetswat,  etswat  aliquid  usw.".  da  B  sich  auch  nicht 
die  zeit  nehmen  konnte,  die  chronik  Gerts  vdSchuren  zur  ver- 
gleicbung  eiugehnder  zu  untersuchen,  so  kann  dieser  teil  der 
aufgäbe  durch  seine  schritt  nicht  als  gelöst  augesehen  werden. 
Bonn.  J.  Francs. 


Geschichte  der  heraldischen  kunst  in  der  Schweiz  im  xn  und  xm  Jahrhundert, 
von  Paul  Ganz,     mit  101  abbild.  im  text  und  10  tafeln.    Frauenfeld, 


JHuber  1899.     200  ss.  8°  —  8,  50  m. 


Über  die  entstebung  und  die  anfange  des  wappenwesens  in 
Deutschland    sind    wir   trotz    den    reich    fliefsenden   quellen   noch 


124  GANZ    GESCHICHTE    DER    HERALD.    KUNST    IN    DER    SCHWEIZ 

recht  unvollkommen  unterrichtet,  es  mag  dies  zum  teil  daran 
liegen,  dass  die  heraldik  lange  zeit  als  der  ausschliefsliche  besitz 
des  dilettantismus  gegolten  hat,  und  dass  ihre  wissenschaftliche 
gleichberecbligung  auch  heule  noch  nicht  unbestritten  anerkannt 
wird,  zum  teil  allerdings  bewürkt  es  die  überreiche  fülle  des 
oft  schwer  zugänglichen  und  umständlich  zu  sammelnden  materials, 
dass  wissenschaftliche  bearbeiter  sich  von  dem  gegenstände  ferner 
gehalten  haben,  der  doch  eine  so  bedeutende  rolle  in  der  cultur- 
und   kunstgeschichte  des  miltelalters  gespielt  hat. 

In  dieser  beziehung  ist  das  buch  von  Ganz  eine  sehr 
erfreuliche  erscheinung.  es  war  auch  ein  glücklicher  gedanke, 
dass  der  verf.  sich  entschlossen  hat,  seiner  forschung  territoriale 
grenzen  zu  ziehen,  und  man  kann  nur  wünschen,  dass  sein 
beispiel  vorbildlich  würken  möge,  nicht  als  ob  es  ihm  gelungen 
wäre,  wesentlich  neue  momente  für  die  entstehungs-  und  ent- 
wicklungsgeschichte  des  wappenweseus  im  allgemeinen  aufzufinden 
oder  etwa  die  heraldischen  eigentümlichkeiten  der  Schweiz  durch 
den  doppelten  einfluss  germanischer  und  romanischer  cultur  zu 
erklären,  aber  er  hat  zum  ersten  male  versucht,  das  gesamte 
material  eines  bestimmten  gebietes  zu  sammeln,  zu  verarbeiten 
und  für  die  vergleichung  zugänglich  zn  macheu.  ob  es  für  den 
wissenschaftlichen  kern  der  sache  von  nutzen  war,  den  kunst- 
geschichllichen  standpunct  besonders  hervorzuheben,  mag  dahin 
gestellt  sein,  denn  wenn  anch  die  decorative  Verwendung  der 
heraldik  in  der  bildenden  kunst  des  miltelalters  den  durch  den 
titel  angedeuteten  hauptteil  (s.  93  —  158)  des  Werkes  bildet,  so 
hat  doch  der  verf.  nicht  umhin  gekonnt,  einen  ersten  teil 
(s.  3 — 16)  der  allgemeinen  geschichte  der  heraldik,  und  einen 
zweiten  (s.  17 — 92)  der  geschichte  des  heraldik  in  der  Schweiz 
zu  widmen,  bei  dieser  disponierung  muste  aber  der  stoff  für 
den,  der  sich  nicht  lediglich  für  die  kunstgeschichtliche  seite 
interessiert,  zersplittert  werden  und  waren  widerholungen  nicht 
zu  vermeiden.  Ganz  hat  auch  seinen  stoff  —  man  muss  sagen 
leider  —  zeillich  eingeschränkt,  indem  er  das  ende  des  13  Jahr- 
hunderts als  ziel  setzt,  eine  grenze  die  er  allerdings  nicht  selten 
überschreitet,  wie  er  seine  beispiele  auch  vielfach  aufserhalb  der 
geographischen  grenzen  der  Schweiz  herholt,  und  nicht  nur  in 
den  anmerkungen  (vgl.  das  Vorwort),  namentlich  da,  wo  die 
einheimischen   quellen  nicht  ausreichen. 

Dass  Ganz  im  zweiten  (historischen)  teile  noch  eine  Unter- 
teilung in  12  und  13  Jahrhundert  vornimmt,  wobei  er  die  periode 
des  12  Jahrhunderts  aber  wider  nach  formalen  gesichtspuncten 
(in  Siegel,  plastik  und  maierei  und  den  reiterschild  von  Seedorf) 
gliedert,  ist  mir  nicht  recht  verständlich,  der  stoff  ist  für  diese 
älteste  zeit  nicht  bedeutend,  das  älteste  reitersiegel  mit  heral- 
dischem schildbilde  ist  das  Bertholds  v  vZähringen  vom  jähre  1187. 
die  plastik  (ein  pfeilerrelief  vom  grofsmiiuster  in  Basel  und  säulen- 


GANZ    GESCHICHTE    DER    HERALD.    KUNST    IN    DER    SCHWEIZ  125 

capitelle  daselbst)  bietet  eigentlich  nichts  heraldisches  und  auch 
die  maierei  ist  nur  infolge  der  heranziehung  des  auf  italienischem 
boden  entstandenen  Carmen  de  hello  Siculo  des  Petrus  de  Ebulo 
und  des  Hortus  deliciarum  der  llerrad  von  Landsberg  vertreten, 
ob  der  berühmte  reilerschild  von  Seedorf,  dem  Ganz  unter  bei- 
fügung  einer  vorzüglichen  lichtdruckreproduction  eine  besondere 
besprechung  widmet  (s.  26 — 30),  noch  dem  12  Jahrhundert  an- 
gehört, ist  fraglich.  Ganz  hält  ihn  für  einen  kampfschild,  wie 
ich  glaube  mit  unrecht,  er  ist  wol  ebenso  wie  die  iMaiburger 
schilde  ein  totenschild,  ein  prunk-  und  gedächtnisstück,  wäre 
es  anders,  so  müste  doch  dieser  oder  jener  eine  spur  des  kampfes 
zeigen,  um  so  mehr,  als  der  schild  der  den  wafl'en  des  gegners 
am  meisten  ausgesetzte  teil  der  rüstung  war.  aber  keine  spur 
gewaltsamer  Verletzung  ist  sichtbar.  das  Vorhandensein  der 
beriemuug,  an  deren  reconstruction  sich  Ganz  versucht  hat,  ist 
kein  gegenbeweis,  denn  man  brauchte  sie  zum  aufhängen  (vgl. 
die  pfeilersculpturen  s.  110  fig.  71)  und  wollte  das  prunkstück 
dem  gebrauchsstücke  so  ähnlich  als  möglich  machen. 

Im  folgenden  (s.  30  lf)  behandelt  der  verf.  hauptsächlich 
die  verschiedenen  für  die  heraldik  in  betracht  kommenden  teile 
der  rüstung,  besonders  schild  uud  heim,  unwahrscheinlich  ist 
mir  die  von  Ganz  in  gröfserem  umfange  angenommene  bemalung 
des  helmes.  bei  den  meisteu  abbilduugen,  die  G.  in  diesem  sinne 
erklärt,  wird  der  künstlet-  versucht  haben,  das  helmtuch,  die 
spätere  helmdecke,  anzudeuten,  die  sich  ja  ursprünglich  fest  an 
den  heim  anlegte. 

Der  dritte  teil,  welcher  die  anwenduug  der  heraldik  in  der 
kleinkunst,  in  der  architektur,  der  maierei,  der  plastik  und  vor 
allem  in  den  siegeln  eingehend  behandelt,  enthält  eine  fülle 
sorgfällig  gesammelten  materials  und  viele  feine  beobachtungen. 
die  sehr  seltenen  bronceschildchen  aus  dem  Berner  museum 
(s.  101)  sind  wol  am  ehesten  als  Schmuckstücke  anzusehen,  die, 
ähnlich  unseren  cocarden ,  vorn  an  dem  umgeschlagenen  rande 
der  im  ganzen  mittelalter  als  kopfbedeckuug  beliebten  mutze 
angebracht  wurden,  auffällig  ist  die  äufserst  geringe  ausbeute  an 
heraldischem  materiale,  die  die  numismatik  bietet.  Ganz  erklärt 
diese  erscheinung  dadurch,  dass  das  münzrecht  in  jener  zeit  fast 
ausschliefslich  von  geistlichen  fürsten  ausgeübt  worden  sei  (s.  98). 

Einen  schlussteil  (s.  162 — 185)  widmet  Ganz,  nachdem  er 
schon  vorher  zahlreiche  belege  der  zeitgenössischen  epik  ent- 
nommen hat,  der  heraldik  in  der  schweizerischen  dichtkuust, 
die  ja  durch  eine  lange  reihe  von  namen  von  Ulrich  vZatzikhofen 
an,  vertreten  ist.  in  einem  anhange  wird  der  Clipearius  Teuto- 
nicorum  des  Zürchers  Konrad  vMnre  abgedruckt,  ins  deutsche 
übersetzt  und  mit  kritischen  anmerkuugen  versehen,  ein  register 
der  technischen  ausdrücke  und  ein  namenregister  bringen  das 
werk  zum  abschlusse. 


126  GANZ    GESCHICHTE    DER    HERALD.    KUNST    IN    DER    SCHWEIZ 

Alles  in  allem  bietet  Ganz  ein  reiches,  sorgfältig  gesammeltes 
und  unter  heranziehuug  einer  umfangreichen  litteratur  verarbeitetes 
material.  dass  er  es  verstanden  hat,  den  Stoff  auf  verhältnismässig 
geringem  räume  zusammenzufassen  und  vielfach  auch  zur  bild- 
lichen anschauung  zu  bringen,  beruht  nicht  zum  wenigsten  auf 
seinem  zeichnerischen  taleut.  aufser  den  mechanischen  repro- 
ductionen  nach  Photographien,  die  besonders  die  10  tafeln  (davon 
5  siegeltafeln,  leider  in  verkleinertem  mafstabe)  euthalten,  bringt 
Ganz  eine  menge  von  textillustrationeu1,  die  zum  grösten  teile 
auf  eigene  zeichnnngen  zurückgehn.  sein  gewandter  und  sicherer 
griffel  hat  aus  siegelu,  miniatureu,  grabmälern  usw.  die  wesent- 
lichen und  für  den  gerade  vorliegenden  zweck  dienlichen  einzel- 
heiten  herausgenommen  und  auf  kleinem  räume  zusammen- 
gestellt. 

Besondere  anerkennung  verdient  die  verlagsfirma  für  die 
vortreffliche  ausstattung  des  werkes. 

Marburg  i.  II.  Küch. 

Der  sachkundigen  besprechung  meines  freundes  Küch,  die 
spät  eingelaufen  ist,  aber  durch  verdriefsliche  umstände  noch 
viel  später  in  den  druck  kommt,  füg  ich  mit  erlaubnis  des  recen- 
seuten  noch  ein  paar  bemerkungeu  hinzu,  um  die  germanisten 
recht  nachdrücklich  auf  ein  werk  hinzuweisen,  dessen  Studium 
sie  sich  nicht  entziehen  dürfen,  es  ist  schmerzlich,  ich  hab  es 
gerade  hier  aufs  neue  empfunden,  dass  zwischen  den  antiquarischen 
Studien  und  unsern  philologischen  so  gar  wenig  beziehungen 
bestehn:  die  uukenntnis  dieses  buches  würde  für  den  deutschen 
Philologen  eine  bedenkliche  lücke  seines  Verständnisses  von  art  und 
kunst  des  mitlelalters  bedeuten  —  und  anderseits  sind  die  einzigen 
störenden  flecken,  welche  dem  schönen  und  anziehenden  werke 
von  Ganz  anhaften,  durch  die  mangelhafte  ausrüstung  des  Verfassers 
in  allen  sprachlichen  dingen  verursacht,  das  tritt  ganz  besonders 
deutlich  hervor  da,  wo  er  sich  veranlasst  sieht,  die  mhd.  dichter, 
vor  allem  den  Konrad  vWürzburg,  heranzuziehen  :  so  wenn  er 
es  s.  84  für  möglich  hält,  dass  ein  harte  wunneclicher  vane  Part. 
13088  sich  auf  das  'steife  Fahnentuch'  beziehen  könne,  es  ist 
dringend  notwendig,  dass  ein  heraldisch  geschulter  oder  doch 
instruierter  germanist  das  ganze  material  noch  einmal  durcharbeitet: 
dass  dabei  auch  für  die  litteraturgeschichte,  insbesondere  für  die 
Chronologie  etwas  abfällt,  zeigt  eben  das  beispiel  des  Konrad  vWürz- 
burg, dessen  Turnei  jetzt  durch  Laudan  definitiv  als  spätestes  werk 
des  dichters  erwiesen  ist :  man  sieht  deutlich  —  was  Ganz  nicht 
hervorheben  konnte  —  dass  die  Wendung  zu  heraldischen  interessen 
zwischen  dem  Engelhard  uud  dem  Partonopier  ligt. 

Um  dem  leser  den  appetit  zu  reizen,  führ  ich  noch  einiges 
aus  dem  inhalt  des  werkes  an,  was  uns  recht  nahe  angeht, 
so  die  besprechung  der  SGaller  hs.  von  Rudolfs  Weltchronik  und 


GA.\Z    GESCHICHTE    DER    HERALI).    KUNST    IM    DER    SCHWEIZ         127 

Strickers  Karl  s.  11711'  —  sie  ist  Rud.  Kautzsch,  dpr  soeben  in 
den  Kunstwissenschaftlichen  beitragen  Aug.  Schmarsow  gewidmet 
(Leipz.  1907)  die  Stellung  der  hs.  in  der  geschichte  der  maierei 
festzulegen  unternimmt,  leider  unbekannt  »«'blieben;  ferner  die 
kurzen  bemerkungen  über  die  Weingartner  liederhs.  und  das 
INaglersche  bruchstiick.  vor  dem  grofsen  Manesse-codex  macht 
die  darstellung  leider  halt  —  aber  ich  hoffe,  dass  sie  in  einer 
Fortsetzung  dieser  Studien  den  mittel|)unct  bilden  und  die 
Würdigung  erfahren  wird,  die  einstweilen  noch  völlig  aussteht. 
vorläufig  erhalten  wir  einen  lockenden  vorschmack  auf  s.  117: 
in  privalbesitz  sind  biälter  aus  einer  französischen  chronik  des 
13jh.s  aufgetaucht,  welche  die  directen  vorlagen  zu  den  bildern 
42  uud  82  unseres  codex  C  bieten!  dass  dieser  auch  weiterhin 
'Manesse-codex'  genannt  werde,  dagegen  will  ich  nicht  protestieren, 
aber  falsch  ist  die  begründung  :  'weil  die  sammelarbeit  der  beiden 
Manesse  für  den  codex  aufser  zweifel  steht',  diese  aulfassung 
scheint  allgemeiu,  darum  ist  es  wol  an  der  zeit,  einmal  scharf 
den  tatbestaud  herauszustellen,  der  auch  bei  Baechlold  Geschichte 
d.  deutschen  litteratur  in  der  Schweiz  s.  142 IT  noch  getrübt  scheint, 
die  berühmte  stelle  des  Hadlaub  (bei  Bartsch  Schweizer  minne- 
singer  s.  296,  Baechtold  s.  144)  spricht  ausdrücklich  von  der 
Sammeltätigkeit  des  Maness  di.  Rüdiger  Maness  n  :  der  Maness 
ranc  dar  nach  endliche  daz  er  diu  liederbuoch  nü  hat.  Rüdiger 
starb  1304,  sein  söhn  der  domcustos  Johannes,  dem  Hadlaub 
ähnlichen  kunstsinn  nachrühmt,  ist  schon  vor  ihm  (1297)  ver- 
schieden, diese  beiden  kommen  für  die  herstellung  des  codex 
schon  zeitlich  nicht  in  betracht,  aber  welches  interesse  hätten 
sie  überhaupt  gehabt,  oder  hatten  gar  ihre  erben,  nachdem  sie  mit 
schweren  kosten  eine  Sammlung  von  liederbüchern  zusammen- 
gebracht hatten,  noch  einmal  ein  vermögen  aufzuwenden,  um  diese 
kleinem  und  grösseren  Sammlungen  (denn  es  war  auch  schon  eine 
illustrierte  sammelhs.  darunter)  in  den  prachtcodex  zu  vereinigen, 
der  sie  uns  aufbewahrt  hat?  so  natürlich  mir  die  annähme  scheiut, 
dass  die  liederbuch-sammlung  der  familie  Maness  die  vorlagen  für 
den  codex  C  ganz  oder  in  der  hauptsache  hergegeben  habe,  so 
sehr  widerstrebt  mir  die  Vorstellung,  dass  die  besitzer  selbst  — 
es  waren  ja  nicht  einmal  mehr  die  von  Hadlaub  gepriesenen 
Sammler  1  —  die  grofse  sammelausgabe  veranstaltet  hätten,  es 
muss  irgend  ein  anderer,  reichbegüterter  kunstfreund  aus  dem 
Zürich-Constanzer  kreise  gewesen  sein  :  und  von  dieser  erwägung 
aus  hab  ich  ein  ausgesprochenes  Vorurteil  für  die  hypothese  des 
grafen  Zeppelin,  der  für  Constanz  plädiert. 

Am  Schlüsse  seines  buches  bringt  G.  (s.  174 — 155)  das  älteste 
erzeugnis  der  heraldischen  litteratur,  den  'ClipeariusTheutonicorum' 
des  Züricher  domcantors  Konrad  von  Mure  (f  1281)  aufs  neue 
und  unter  beigäbe  einer  Übersetzung  zum  abdruck  :  ein  werkcheo, 
das  —  wahrscheinlich  zwischen  1242  und  1249  verfasst  —  höchst 


128         GANZ    GESCHICHTE    DER    HERALD.    KUNST    IN    DER    SCHWEIZ 

charakteristisch  ist  für  die  k  in  der  jähre  dieser  mittelalterlichen 
disciplin,  indem  es  die  strengen  hlasonierungen  der  wappen  des 
südwestdeutschen  hochadels  untermengt  mit  allerlei  phantasie- 
gebilden  aus  der  ferne,  und  sich  nicht  scheut  unter  nr  50  'Orlens 
Wilhelmi  clipeus'  mit  hineinzuziehen  :  mitten  zwischen  den  wappeu 
der  gral'en  von  Pfirt  und  von  Freiburg  erscheint  hier  der  schild  — 
aber  nicht  des  Wilhelm  von  Orlens,  sondern  des  Wilhelm  von 
Oranse  (Wolfr.  Wh.  328,  9 — 12) :  der  goldene  stern  im  blauen  felde. 
Wilhelm  von  Orlens  führte  ein  löwenwappen,  wie  aus  den 
(übrigens  arg  verderbten)  verseu  7398 ff  (ed.  Junk)  hervorgeht. 
Konrad  hat  also  die  beiden  beiden  vermengt  (worin  ihm  übrigens 
vLiebenau  und  Ganz  folgen),  und  das  schwächt  die  an  sich  durch- 
aus ansprechende  hypothese  ein  wenig  ab,  dass  der  autor  dem 
Rudolf  vEms  persönlich  nahestand  und  mit  dieser  einschaltung 
dem  freunde  eine  kleine  huldigung  darbrachte. 

Der  text  des  'Clipearius'  ist  uns  nur  unvollständig  in  dem 
alten  druck  von  Felix  Hemmerlins  De  uobilitate  et  rusticitate 
erhallen  und  aus  ihm  erstmals  durch  Theodor  von  Liebenau 
Anz.  f.  Schweiz,  gesch.  1880  nr  1,  s.  229 — 243)  hervorgezogen 
und  mit  trefflichen  erläuterungen  ausgestattet  worden,  die  auch 
Ganz  dankbar  benutzt,  für  den  text  aber  haben  beide  heraus- 
geber  last  nichts  getan  —  und  dieser  text  ist  greulich  entstellt! 
gewis  sind  Konrads  gereimte  hexameter  schlechte  verse,  aber  diese 
masse  von  metrischen  und  sprachlichen  Ungeheuerlichkeiten, 
die  ihnen  die  Überlieferung  aufgebürdet  hat  und  die  ihnen  nun 
schon  der  zweite  herausgeber  ruhig  belässt,  hat  sich  der  wackere 
cantor  denn  doch  nicht  zu  schulden  kommen  lassen,  indem  ich 
hier  eine  reihe  von  zumeist  sichern  oder  naheliegenden  besse- 
rungen  gebe,  beton  ich  ausdrücklich,  dass  ich  andern  nicht  nur 
eine  nachlese  übrig  lasse. 

1,  1  1.  profert  (:  clipeo  fert);  1,  2  1.  nigre  forme.  —  3,  1 
verderbt;  in  3,2  darf  urbes  rubeas  (die  türme  von  Castilien) 
nicht  mit  'städte'  widergegeben  werden.  —  6,  1  1.  Crux  transü 
rubea  (forma).  —  8,  1  der  druck  bietet  :  Vult  Marrochi  rex  in 
auris  dominans  truculentis,  und  der  herausgeber  übersetzt  'Der 
könig  von  M.,  thronend  in  glitzerndem  (1)  golde';  zu  lesen  ist 
M auris  dominans  trucuhntis  'herschend  über  die  grim- 
migen Mauren' 1  übrigens  findet  sich  ein  ähnliches  wappen  (im 
gelben  felde  drei  schwarze  röche)  in  der  Züricher  WH.  als  nr  11 
(zwischen  den  königeu),  und  hier  hat  eine  haud  des  16  jh.s 
dabeigeschrieben  Marzach.  —  10  der  vor  Schweden  und  Nor- 
wegen stehnde  rex  Dacus  ist  (trotz  seinem  phantasiewappen!) 
kein  'fabelhafter  könig  auf  dem  boden  des  dacischen  reiches, 
vielleicht  Bulgarien',  sondern  nach  wolbekanntem  Sprachgebrauch 
des  ma.s  einfach  der  Dänenkönig!  —  11,  1  1.  in  fulvo.  —  13,  1 
1.  fertur  habere.  —  28,  2  1.  Cui.  —  33,  2  Dicque  quod  hie  comes 
est  nostre  'concernimus'  höre  (von  dem  neugebackenen  grafen  von 


GANZ    GESCHICHTE    DER    HERALD.    KOST    IN    DER    SCHWEIZ  129 

Rapperswil)  ist  sprachlich  unmöglich,  und  die  Übersetzung  ebenso; 
ich  vermute  etwa  nostro  concinnus  honore.  —  37,  2  I.  Quod  supra 
lapidem  vult  Stare  (rubens)  ibi  cerva.  —  38,  1  I.  Marggravio  cui 
Stiria  dat  (sui)  germen  honoris.  —  46,  2  I.  prefert  (.*  defert).  — 
52,  l  De  Froburg  aquila  varie  fert  pellis  amictum  heifst  einlach 
*.  .  .  hat  vehfarbigen  balg  (gefieder)',  aber  nicht  'trägt  einen 
mantel  ans  buntem  pelz';  vgl.  die  Züricher  WH.  nr  28. —  54,1 
streiche  in.  —  56, 1  tacti  halt  ich  für  verderbt,  die  gebotene  deutung 
ist  unmöglich.  —  58,  1  comite  (das  erste)  ist  zu  streichen.  —  71,  2 
1.  Obliquam  tabulam  (gihani)  geminosque  leones.  —  73,  2  1.  rufa 
st.  rubea.  — 

Göttingen.  Edward  Schröder. 


Die  gedichte  Oswalds  von  Wolkenstein  hrsg.  von  J.  Schatz,  zweite  ver- 
besserte ausgäbe  des  in  den  Publicalionen  der  gesellschaft  zur  heraus- 
gäbe der  deokmäler  der  tonkunst  in  Österreich  veröffentlichten  textes. 
Göttingen,  Vandenhoeck  u.  Ruprecht,  1904.  31*2  ss.  8°.  —  geheftet 
6  m.,  in  leinwandband  6,60  in. 

Diese  neue  handlichere  ausgäbe  —  kleineres  format,  gröfserer 
druck  —  der  Wolkensteintexte  ohne  die  noten  wird  gewis  sprach- 
unil  litterarhistorikern  willkommen  sein,  in  der  einleitung  wider- 
holt sie  auch  die  lebensskizze  des  dichters,  die  Schatz  in  der 
grofsen  ausgäbe  (vgl.  Anz.  xxtx  227  II)  gegeben  hatte,  geschickter 
angeordnet  und  in  kleinigkeiten  deutlicher  gefasst,  sowie  den 
behebt  über  die  bs. liehe  Überlieferung,  diesen  erweitert  und  in 
der  anschauung  über  den  wert  der  hss.  insofern  modificiert,  als 
jetzt  C,  entsprechend  meiner  aufforderung,  den  laa;  von  C  mehr 
beachtung  zu  schenken,  'kritischer  wert'  (s.  51)  zugesprochen 
wird,  darin  bestehend,  'dass  fehlerhaftes  in  B  hie  und  da  in  C 
gebessert  erscheint,  der  Schreiber  von  C  wüste  mit  dem  texte 
umzugehn'.  und  so  bringen  denn  auch  die  laa.  der  neuen  ausgäbe 
die  G-varianten  jetzt  einigermafsen  vollständig,  für  interessenlen 
trag  ich  dazu  aus  einer  allerdings  auf  Stichproben  beschränkten 
collation  von  C  noch  nach  :  17,  3  und  97,  94  bistus  (vgl.  13,  38. 
43,  13.  44,  16.  108,  33),  17,  26  von  dan,  17,  50  reyden,  63,  44 
nit  vast  (st.  nimmer),  63,  147  ye  ainer  (st.  ain  ander),  63,  173 
teten,  64,  64  erstöret,  94,  55  der  sünden  gart,  95,  68  fürst enn 
(st.  künig),  96,  90  ger  (st.  ge),  112,  105  zuck,  112,  106  von 
(st.  an),  112,  122  wes,  lesarten,  von  denen  einige  sehr  beachtens- 
wert sein  dürften,  die  aber  jedesfalls  insgesamt,  wenn  auch  von 
Schatz  widerum  nicht  mitgeteilt,  eine  stärkere  eigenart  von  C 
bezeugen,  als  sie  Schatz  anfangs  annehmen  zu  sollen  glaubte, 
die  tatsache  eines  nicht  mehr  zu  bestreitenden  kritischen  wertes 
von  C  wird  sich  am  einfachsten  so  erklären,  dass  diese  hs.  zwar 
im  ganzeu  wol  unter  Zugrundelegung  von  B  geschrieben  worden 
ist,  aber  entweder  noch  zu  lebzeiten  Oswalds  mit  berücksichtigung 
mündlich  ausgesprochener  Verbesserungen  des  dichters   oder  mit 

A.  F.  D.  A.  XXXI.  9 


130  SCHATZ    DIE    GEDICHTE    OSWALDS    VON    WOLKESSTEIN 

einsieht  in  verbesserte  einzelahschriften  —  wie  es  Schatz  bei 
nr  118  erwiesen  hat  — ,  in  letzterem  falle  natürlich  vielleicht 
auch  nach  des  dichters  tode,  wenn  auch  nicht  lange  darnach, 
was  die  ührigen  hss.  betrifft,  so  tritt  Schatz  jetzt  lebhafter  als 
in  seiner  ersten  ausgäbe  für  A  als  beste  Überlieferung  ein  und 
hat  demgemäfs  die  fassung  von  A  an  einer  anzahl  von  stellen 
entgegen  der  ersten  ausgäbe  in  den  text  aufgenommen.  ich 
glaube  nicht,  dass  er  daran  recht  getan  hat;  doch  ein  schade  ist 
der  ausgäbe  dadurch  insofern  nicht  erwachsen,  als  man  die  laa. 
von  13  jetzt  gleich  dabei  hat  —  unter  der  columne  — ,  auch  dies 
eine  Verbesserung  der  neuen  ausgäbe  im  praktischen. 

Von  einzelheiten  aus  dem  texte  darf  ich  vielleicht  hier 
46,  25.  26  zur  spräche  bringen,  wo  man  nicht  mit  der  neuen 
ausgäbe 

pin  ich         genzlich 

des  küenzleins        auss  dem  edlen  Zilerstal 
zu  lesen  hat,  sondern 

pin  ich  genzlich 

des  küenzlis         auss  dem  edlen  Zilerstal 
(Schatz  betont  die  erste  zeile  nicht  richtig,  sucht  einen  binnen- 
reim  herzustellen,    wo  keiner  hingehört,    und  verkennt  den  reim 
genzlich  :  küenzlis),  und   114,93,    wo   Schatz  jetzt   die  conjeetur 
in   den   text  gesetzt  hat: 

si  sach  mich  an,  als  ob  ich  war 

ain  plawer  eisenhuet. 
BC,  die  das  gedieht  allein  überliefern,  haben  als  ob  ich  trüg  ain 
blawen  eisenhuet;  der  reim  verlangt  -är  (:  v.  99  mär),  ich  möchte 
die  Vermutung  nicht  unterdrücken,  dass  in  der  vorläge  von  ß 
stand  :  als  ob  ich  bar  ain  blawen  e.,  und  dass  der  Schreiber  h 
das  veraltende  wort  durch  das  verständlichere  trüg  ersetzte, 
gemä'fs  der  Schatzschen  bevorzugung  dialektischer  Schriftbilder, 
die  leider  auch  das  übereiustimmende  in  dem  doch  immer  einiger- 
mafsen  schriftsprachlichen  Charakter  der  hss.  austilgt  —  Oswald 
würde  wol  lebhaft  über  viele  bauernformen  seiner  nach  500  jähren 
so  gedruckten  gedichte  erstaunen  — ,  würd  ich  also  vorschlagen, 
pär  ain  plawen  in  den  text  zu  setzen,  zur  erklärung  will  ich  noch 
erzählen,  was  mir  selbst  in  Seis  begegnet  ist  :  ich  kam  vom  ausflug 
zurück,  ein  prachtvolles  exemplar  des  blauen  eisenhutes  in  der 
hand;  meine  wirtin,  eine  Boznerin,  fuhr  mit  abscheuverzogenem 
gesicht  zurück,  weil  ich  eine  so  giftige  pflanze  trüge. 

Was  Schatz  in  der  eiuleitung  s.  55  gegen  meine  correcturen 
seiner  fassung  von  84,  87  und  88,  6  einwendet,  findet  vielleicht 
anderwärts  anerkennung;  ich  vermag  mich  mit  seinem  trotz  syntax 
und  gesamter  Überlieferung  erzielten  'glatten  vers'  des  übel,  güet 
niemd  pessern,  pösern  mag  immer  noch  nicht  zu  befreunden, 
gegen  meine  zeitlieh  spätere  ansetzung  von  nr  83  polemisiert  er 
ua.  mit  der  erklärung  :  'es  ist  scherzhaft,  wenn  der  dichter  v.  8 


SCHATZ    DIE    GEDICHTE    OSWALDS    VON    WOLKENSTEIN  131 

[lis  4]  den  bauern  Mosmair  berichten  lässt,  dass  die  Schnee- 
schmelze begonnen  habe,  denn  das  konnte  der  dichter  von 
Hauenstein  aus  besser  als  andere  sehen',  aber  Hauenstein  ligt 
erstens  unten  an  der  nordwand  des  Schiern,  wo  der  winter- 
zustand bei  dem  langen  fehlen  jedes  Sonnenstrahles  am  längsten 
von  allen  bergwohnungeu  des  Umkreises  andauert,  und  zweitens 
kann  mau  von  dort  aus  nicht  die  500  bis  800  m  höhere  Seiser 
alpe  sehen,  und  das  gedieht  beginnt  nun  einmal: 

Zergangen  ist  meins  herzen  we, 

seit  das  nu  fliessen  wil  der  sne 

ab  Seuser  alben  und  auss  Flack1, 

hört  ich  den  Mosmair  sagen. 
gewis  scherzt  Oswald  gern,  öfter  derb,  manchmal  auch  sehr  fein, 
aber  wo  hier  der  witz  liegen  sollte,  ist  mir  unerfindlich,  ein 
rätsei  ist  mir  auch,  warum  Schatz  nicht  daran  will,  die  Unger 
von  nr  114  für  würkliche  Ungarn  zu  nehmen,  er  beharrt  auch 
jetzt  dabei,  dass  es  Ladiner  seieu,  weil  Lorenzen,  der  Schauplatz 
des  gedichts,  an  der  mündung  des  Ennebergs  liege;  Oswald  war 
aber  doch  in  Ungarn  gewesen,  und  Ladiuer  waren  ihm  doch 
auch  bekannt,  soll  der  widerholte  gebrauch  der  nationalbezeich- 
nung  Ungarn  für  Ladiner  vielleicht  auch  ein  scherz  sein?  das 
entscheidende  sind  die  worte  Viegga  waniadat.  Schatz  hält  sie 
für  ladinisch  (=  kaltes  wasser);  ich  verstehe  nicht,  wie  man 
jemand  mit  den  Worten  'kaltes  wasser'  anreden  soll,  was  übrigens 
ladinisch  jege  freida  heifsen  würde,  und  ziehe  es  vor,  der  aus- 
kunft  zu  trauen,  die  mir  durch  Vermittlung  HStummes  in  Leipzig 
JGoldziher  in  Budapest  freundlicherweise  aus  dem  ungarischen 
gegeben  hat  :  'von  dem  mir  vorgelegten  viegg[a  waniadat]  ist  mir 
sicher,  dass  die  umfriedeten  buchstaben  bedeuten  :  az  anyddat 
'deine  mutier';  viegg  scheint  aus  vigye  'er  möge  wegtragen'  ver- 
derbt zu  sein,  also  .  .  .  vigye  az  anyddat  'er  möge  wegtragen 
deine  mutter';  wer?  natürlich  der  hier  fehlende  teufel  {ördög 
'der  teufel')'.  der  teufel  soll  deine  mutter  holen  1  nämlich  dass 
sie  dich  geboren  hat  :  mit  diesem  grufs  fielen  die  Ungarn,  leib- 
haftige Ungarn,  über  den  ritter  her,  wie  das  dutzend  auverwante 
der  schönen  müllerin  über  den  edelkuaben  in  Goethes  ballade. 
Schatz  bemerkt  :  'wenn  W.s  angäbe,  dass  die  Unger  114,  59 
Ungarn  seien ,  richtig  wäre,  liefse  sich  wol  auch  die  zeit  genau 
feststellen',  handelnde  Ungarn  mit  ihren  frauen  dürften  aber 
wol  sogut  wie  jetzt  zu  ostern  nach  Bozen  schon  damals  zu  den 
^ehr  belebten  Loreuzer  Jahrmärkten  den  weg  gefunden  haben, 
was  einen  schluss   auf  ein   bestimmtes  jähr  kaum  zulassen  wird. 

1  welche  örtlichkeit  mit  diesem    namen   gemeint  sein  mag,    hab  ich 
mich  bis  jetzt  vergeblich  bemüht  festzustellen. 

Bozen,  ostern  1905.  Rudolf  Wustmann. 

9* 


132  HAYM    DIE    KOMAMISCHE    SCHULE 

Die  romantische  schule,  ein  beitrat  zur  geschichte  des  deutschen  geistes 
von  Rudolf  Haym.  zweite  aufläge.  Berlin,  Weidmannsche  buch- 
handlung,  1906.     xn  und  950  ss.  8°  —   16  m. 

desammelte  aufsätze  von  Rudolf  Haym.    ebda  1903.   v  u.  628  ss.  8°.  —  12  m. 

Dem  anastatischen  ueiulruck  von  RHayms  werk  über  die 
Romantische  Schule,  der  unter  dem  namen  des  Verlegers 
der  ersten  aufläge,  RGaertner,  1902  ausgegeben  worden  ist,  folgt 
jetzt  mit  überraschender  Schnelligkeit  eine  'zweite  aufläge'  des 
ausgezeichneten  buches.  offenbar  ist  der  neudruck  von  1902 
ein  dringendes  bedürlnis  gewesen  und  darum  trotz  seiner  wenig 
ansprechenden  typographischen  ausstattung  in  kurzer  zeit  ver- 
kauft worden,  ein  sehr  erfreuliches  resultat  und  ein  sehr  be- 
greifliches! denn  noch  ist  Hayms  arbeit  für  jeden  unentbehrlich, 
der  das  gebiet  der  frühromantik  kennen  lernen  will. 

Doch  eben  dieser  tatsache  wird  die  'zweite  aufläge',  trotz- 
dem sie  nicht  blofs  auastatischer  neudruck  ist,  nicht  gerecht, 
die  frühere  gestalt  ist  'schlechthin  bewahrt',  der  text  ist  dem 
texte  der  1  ausgäbe  nicht  Zeilen-,  aber  seitengleich;  nur  das 
register  ist  etwas  compresser  gedruckt,  hinzugetan  sind  lediglich 
wenige  fufsnoten,  'die  teils  auf  Hayms  handschriftlichen  be- 
merkungen  beruhen,  teils  die  Verweisung  auf  den  anbaug  zu 
erleichtern  bezwecken.'  das  ist  des  guten  zu  wenig  1  das  werk 
hat  bessere  fürsorge1  verdient,  selbstverständlich  wird  kein  ein- 
sichtiger wünschen,  dass  die  'Romantische  Schule'  Hayms  von 
fremder  hand  überarbeitet  und  ergänzt  werde,  viel  zu  eigen- 
willig ist  die  auffassung  Hayms,  viel  zu  persönlich  seine  an- 
schauung  von  frühromantik,  als  dass  ein  anderer  durch  striche 
oder  zusätze  ein  lehrbuch  aus  dem  werke  machen  könnte,  sind 
indes  sachliche  änderungen  mit  vollem  recht  ausgeschlossen 
worden,  so  muste  unbedingt  in  anmerkungen  und  anhang  be- 
rücksichtigt werden,  was  seit  der  abfassung  des  buches  getan 
worden  ist,  um  das  von  Haym  gesichtete  material  leichter  zu- 
gänglich zu  machen,  ich  darf  das  wol  sagen,  ohne  in  den  ver- 
dacht zu  kommen,  als  wolle  ich  pro  domo  sprechen,  denn 
es  ist  doch  geradezu  widersinnig,  eiu  buch  mit  dem  datum  1906 
dem  leser  in  die  hand  zu  geben,  und  durch  dieses  buch  den 
anschein  zu  erwecken,  als  ob  WSchlegels  Rerliner  Vorlesungen 
oder  Friedrich  Schlegels  briefe  an  seinen  bruder  auch  jetzt  noch 
nicht  gedruckt,  FrSchlegels  Jugendschriften  noch  nicht  gesammelt 
seien,  dinge,  die  in  Hayms  werk  immer  wider  benutzt  und 
genannt  sind,  müssen  dem  naiven  leser  in  der  märchenhaft  un- 
zugänglichen ferne,  in  der  sie  um  1870  sich  befunden  habeu,  noch 
dauernd  ansässig  erscheinen,  man  wende  nicht  ein,  dass  alle 
diese  neueren  ausgaben  dem  forscher  so  nahe  liegen  und  durch 
unsere  bibliographischen  hilfsmittel  so  sehr  im  gedächtuis  aller 
festgehalten  werden,  dass  niisgrifle  ausgeschlossen  erscheinen, 
im   gegenteil  :  wenn  noch  vor  kurzem  arbeiten  auf  romantischem 


HATM    DIE    ROMAMISCHE    SCHULE  133 

gebiete  erscheinen  konnten,  die  von  den  neuen  Veröffentlichungen 
nichts  ahnten,  weil  sie  ein  buch  vom  jähre  1870  benutzten, 
ohne  sich  um  inzwischen  erbrachte  neuere  arbeit  zu  kümmern, 
so  wird  künftig  die  zweite  aufläge  von  1906  solchen  umfug 
noch   fördern   und  ihm  sogar  ein  gewisses  recht  zubilligen. 

Wie  handlich  hätte  ein  kundiger  Ilayms  werk  machen  können, 
wenn  er  an  stelle  umständlicher  zit;tte  aus  ungedrucktem  oder 
schwer  zugänglichem  material  verweise  auf  die  neueren  publi- 
cationen  geboten  hätte,  dass  gleichzeitig  kleinere  versehen  im 
tatsächlichen,  dass  diese  oder  jene  fragen  Ilayms,  die  inzwischen 
ihre  antwort  gefunden  haben,  ohne  viel  lärm  hätten  verschwinden 
dürfen,  ist  selbstverständlich,  berührt  es  doch  seltsam,  in  einem 
buche  vom  jähre  1906  Untersuchungen  angeregt  zu  sehen,  die 
längst  angestellt  und  abgeschlossen  worden  sind. 

Dankbareren  herzens  durfte  man  die  Sammlung  von 
Ilayms  aufsätzen  entgegennehmen,  die  Wilhelm  Schrader  1903, 
also  kurz  nach  dem  hingang  des  freundes,  besorgt  hat.  wenn 
da  ein  wünsch  noch  übrig  blieb,  so  war  es  lediglich  das  bedauern, 
diese  aufsätze  aus  den  bänden  1 — 86  der  'Preufsischen  Jahr- 
bücher' nicht  schon  längst  an  einer  stelle  und  in  einem  bände 
vereinigt  besessen  zu  haben,  in  unserer  zeit,  da  jeder  möglichst 
rasch  mit  einem  'buche'  aufwarten  will,  werden  jähr  für  jähr  in 
hülle  und  lulle  Sammlungen  von  essays,  Studien,  l'euilletous  ge- 
druckt; leider  indes  lassen  sich  —  sieht  man  von  wenigen  aus- 
nahmen ab  —  durch  diese  überproduction  von  gesammelten 
aufsätzen  grade  die  bedeutendsten  gelehrten  abschrecken,  ihre 
kleineren  scbriften  zusammenzutragen,  vielfach  mag  auch  hemmend 
einwürken,  dass  man  kleine  arbeiten  aus  verschiedenen  jähren 
gern  einer  bessernden  und  vereinheitlichenden  redaction  unter- 
würfe, ehe  sie  nochmals  in  die  weit  hinaustreten,  und  dass  dann 
zu  solcher  umschmelzung  zeit  und  lust  fehlt,  und  doch  :  wie 
dankbar  nähme  man  einen  neudruck  dieser  einzelstudien  auch 
in  ihrer  ersten,  vom  Verfasser  längst  überholten  form  dort  ent- 
gegen, wo  unzulängliche  bibliotheken  die  ersten  drucke  über- 
haupt nicht,  besitzen,  wer  das  glück  hat,  an  wissenschaftlichen 
und  culturellen  centren  tätig  zu  sein,  der  ahnt  ja  freilich  nicht, 
wie  unvollständig  anderwärts  die  reihen  der  Zeitschriften  sind, 
seminare  vollends,  die  mit  bescheidenen  mittein  rechnen, 
müssen  auf  den  ankauf  unserer  fachzeitschrifien  oft,  völlig  ver- 
zichten, wie  soll  da  dem  Studenten  ein  material  dauernd  zu- 
gänglich gemacht  werden,  das  als  muster  und  wegeweiser  ihm 
genau  so  unentbehrlich  ist,  wie  die  grofsen  werke  unserer 
disciplin? 

Endlich  bleibt  die  Sammlung  ein  mittel,  einzelne  Studien 
auch  eines  grofsen  gelehrten  vor  der  Vergessenheit  zu  bewahren, 
die  menge  der  zeitschriftenlitteratur  macht  es  dem  bibliographen 
nicht   leicht,    an    versteckterem    orte   gedrucktes    neben  dem  zu- 


134  HAYM    GESAMMELTE    AUFSÄTZE 

gänglicheren  zu  berücksichtigen,  auch  wenn  jenes  sehr  wertvoll 
und  dieses  wertlos  ist.  Hayms  aufsätze,  die  in  den  Preufsischen 
Jahrbüchern  fast  durchweg  anonym  erschienen  waren,  wissen 
von  bibliographischer  nichtbeachlung  etwas  zu  erzählen!  gleich 
die  beiden  ersten  nummern  des  sammelhandes,  der  artikel  über 
Ulrich  von  Hütten  (angeregt  durch  DFStraufs  biographie)  von 
1858  uud  der  Jubiläumsaufsatz  über  Schiller  von  1859  sind  — 
soviel  ich  sehe  —  irn  neuen  Goedeke  unbeachtet  geblieben,  und 
dabei  handelt  es  sich  nicht  etwa  um  kleine  skizzen  :  der  aufsatz 
über  Schiller  umfasst  70  eng  gedruckte  grofsoctavseiten,  darf 
also  wohl  eine  kleine  biographie  genannt  werden,  die  Charak- 
teristik KAvVarnhagens  von  1S63  —  sie  knüpft  an  die  Veröffent- 
lichung seiner  tagebücher  an  —  ist  von  dem  bibliographen  lange 
zeit  überhaupt  ignoriert  worden,  ihrer  habhalt  zu  werden  durfte 
als  ein  kunststück  gelten. 

Ich  beabsichtige  nicht,  hier  eine  ausführliche  analyse 
der  einzelnen  aufsätze  zu  geben,  so  sehr  die  beitrage  zur  ge- 
schieht und  Würdigung  der  romantik  zu  längerem  verweilen 
einladen  :  die  recension  von  Dillheys  Schleiermacher,  die  Studie 
über  Karoline,  die  anzeige  der  'Nachlese  zu  Novalis  leben  und 
schrillen',  den  freund  der  romantik  fesselt  auch  der  nekrolog 
Ernst  Moritz  Arndts,  den  litterarhistoriker  nicht  minder,  was 
Haym  über  Schopenhauer  und  Eduard  von  Hartmann  vorbringt 
und  über  den  historiker  Hermann  Baumgarten,  alle  einzelbe- 
trachtung  jedoch  bei  seite  schiebend,  will  ich  nur  mit  wenigen 
worten  der  kritischen  methode  Hayms  gedenken,  der  Stellung, 
die  er  den  objeeteu  seiner  forsch ung  und  Charakterisierkunst 
gegenüber  eingenommen  hat.  wie  der  historiker  der  romantik 
im  innersten  über  romantik  gedacht  hat,  lässt  sich  nur  erkennen, 
wenn  seine  kritische  art  und  ihre  entwicklung  scharf  und  deutlich 
erfasst  wird. 

WSchrader  bemerkt  in  seinem  Vorwort  (s.  iv)  :  'nicht  dass 
es  Haym  früher  an  Gerechtigkeit  gefehlt  hätte;  aber  mit  der 
freude  über  die  neuei blühte  herrlichkeit  seines  volks  und  mit 
dem  klaren  einblick  in  die  auch  dem  philosophen  gesteckten  er- 
kenotnisgrenzen  war  seine  Stimmung,  ohne  an  leben  und  stärke 
711  verlieren,  friedlicher,  sein  denken  harmonischer  geworden,  die 
durchdringung  von  milde  und  tiefe  hatte  wie  überall,  so  auch 
iu  diesem  freien  geisle  eine  wärme  und  leuchtkraft  erzeugt,  die 
die  bekämpften  irrtümer  nicht  nur  zergliederte,  sondern  als  er- 
<cheinungsformen,  als  verschiedene  farbentöne  in  dem  gesamtbilde 
des  behandelten  gegenständes  aufwies  und  ausglich,  das  lieifst : 
der  kritische  philosoph  war  allmählich  zum  psychologen,  zum 
historiker  geworden.' 

Die  kritische  schärfe  Hayms  zu  beleuchten,  wähle  ich  aus 
den  'Gesammelten  aufsätzen'  einige  proben: 

1863  schliefst    er    die    Charakteristik    Varnhagens    mit    den 


HAYM  GESAMMELTE  AUFSÄTZE  135 

wnrteü  :  'so  hat  er  sich  zwar  wie  ein  Üppig  treibender  bäum 
mit  zahllosen  wurzeln  und  würzelclien  breilhin  in  unsere  litte— 
ratur  hineinerstreckt,  aber  ohne  nährende  l'ruchl  zu  tragen  .... 
zum  glück,  denn  an  solchen  Staatsmännern  würde  der  staat,  an 
mehreren  solchen  Schriftstellern  die  litteratur  zu  gründe  gehen  .  . . 
möge  es  auch  in  Zukunft  unter  uns  viele  gleich  grofse  talente, 
aber  nie  einen  zweiten  Varnhagen  gehen,  es  ist  genug  und  zu 
viel  an  dem  einen'  (s.  23S). 

Das  facil  der  bewertung  Schopenhauers  (1864)  lautet:  'ein 
gemisch  grofser  schwächen  und  ungewöhnlicher  trefl'lichkeiten 
steht  ...  in  selleuer  durchsichtigheit  vor  uns  ...  er  ist  kein 
philosoph,  an  dem  mafsslab  gemessen,  den  uns  Kant  oder  Ari- 
stoteles an  die  band  geben,  die  intensität  der  einbildungskraft, 
der  reichtum  poetischer  anschauungen  reicht  weit  nicht  aus, 
ihn  zum  dichter  zu  machen,  mit  wie  Geistvollen  blitzen  er 
einzelne  wissenschaftliche  regiouen  beleuchtet  hat,  —  in  dem 
bereicbe  strenger  Wissenschaft  ist  kein  platz  für  ihn  ...  so  ge- 
bort er,  wenn  es  doch  eine  kategorie  sein  soll,  in  die  geschichte 
der  deutschen  litteratur  und  steht  hier  als  eine  einzige  erscheinung, 
als  eine  rarität  da.  man  wird  ihn  von  dort  am  ende  doch  wider 
für  die  philosophie  reclamieren,  aber  die  Wahrheit  ist  :  nicht  was 
er  gelehrt  hat,  sondern  dass  es  einmal  eine  zeit  gegeben  hat, 
in  der,  nach  der  Zersetzung  grofser  wissenschaftlicher  Systeme, 
ein  lebhaft  geträumter  und  geistreich  ausgeführter  träum  für 
philosophie  gegolten  hat,  das  ist  die  tatsache,  welche  in  Zukunft 
die  geschichte  der  philosophie  zu  erzählen  haben  wird  (s.  354  f)« 

Das  verdict  über  Eduard  von  Hartmann  (1873)  :  'nicht  so- 
wol  trotz  als  vielmehr  wegen  ihrer  ungesundheit  sind  wir  geneigt, 
allen  ernstes  uns  dieser  neusten  philosophie  zu  freuen,  dem  feuer 
muss  luft  gemacht,  wenn  es  gelöscht,  das  geschwür  muss  auf- 
gestochen werden,  wenn  es  geheilt  werden  soll  .  .  .  wünschen 
wie  uns  daher  glück  zu  der  von  herrn  Hartmann  versuchten 
radicalisierung  und  modernisierung  des  Schopenhauerschen 
Systems  :  es  ist  die  erschöpfende  probe,  dass  die  grundanschauung 
dieses  Systems  gleich  unhaltbar  ist,  wenu  sie  auf  Kant  und  wenn 
sie  auf  Hegel  aufgepfropft  wird,  —  gleich  unhaltbar  als  das 
impromptu  eines  genialen  Sonderlings  und  als  die  sorgfältig  nach- 
gebesserte arbeit  eines  talentvollen  grüblers'  (s.  592). 

Nur  diese  langen  citate  lassen  erkennen,  was  mir  vor  allem 
wichtig  scheint  :  die  epigrammatische  schärfe  und  Schlagkraft  von 
Hayms  essayistik.  über  das  sachliche  resultat  hinaus  greift  sein 
pointierter  stil  einen  formalen  schlussaccord,  der  im  leser  lang 
nachklingen  soll,  mit  solch  antithetischer  knappheit  hat  einst 
Schiller  in  den  'Xenien'  seinen  Zeitgenossen  ihr  urteil  geschrieben, 
freilich  :  Hayms  neigung  zur  antithese  wurzelte  in  seiner  Vorliebe 
für  Macaulay.     so  wenigstens  urtedt  Schrader. 

Ein    kritischer  formkünstler  also;  bewust    geübte  Virtuosität 


136  HÄYM    GESAMMELTE    AUFSÄTZE 

kritischer  fechlkunst!  wie  immer  bei  solchen  neigungen  ligt  der 
ton  der  kritik  weniger  auf  der  widergabe  der  besprochenen  an- 
schauungen  als  auf  der  polemik,  zu  der  sie  anlass  geben.  Haym 
war  kein  positiver  kritiker  im  sinne  Goethes,  so  wenig,  dass  er 
beinahe  Varnhageu  verdenkt,  in  seinen  receusionen  dem  geiste 
Goelhescher  kritik  nahegekommen  zu  sein  :  'man  erwarte  alles 
von  Varnhagen',  ruft  er  aus,  'nur  nicht,  dass  ihm  die  kritik  zu 
dem  mittel  werde,  grofse  grundsätze,  bedeutende  oder  neue  ge- 
sichtspuncte  zu  erarbeiten,  von  jener  genialen,  productiven  kritik, 
wie  sie  Lessing  übte,  ist  keine  spur  in  ihm;  viel  eher  könnte 
man  sagen,  dass  hier  würklich  der  geist,  und  nicht  blofs  die 
manier  Goethes  auf  ihm  ruhe'  (s.  221).  gleichsam  mit  dem  Storch- 
schnabel gebe  er  gröfsere  werke  in  verkleinerten  ähnlichen  bildern 
wider.  Haym,  der  sich  Lessing  verwandter  fühlte,  verlangte  vom 
kritiker  mehr  Selbständigkeit  und  schöpferische  kraft,  liebevoll 
in  das  weseu  einer  persönlichkeit  sich  versenken,  auch  wenn 
diese  persönlichkeit  dem  betrachter  im  innersten  nicht  sympa- 
thisch ist,  war  ihm  fremd,  bezeichnend  erscheint  mir,  wie  Haym 
sich  zu  der  verständnisvollen  Würdigung  stellt,  die  Friedrich 
Schlegel  in  Diltheys  werk  über  Schleiermacher  gefunden  hat.  er 
selbst  war  in  seiner  'Romantischen  schule'  mit  FrSchlegel  nichts 
weniger  als  schonend  umgegangen.  Dilthey,  der  hier,  wie  in  der 
positiveren  erfassung  von  Hardenbergs  geistiger  arbeit,  nunmehr 
doch  wol  im  wesentlichen  recht  zu  behalten  scheint,  hatte  als  erster 
den  jungen  FrSchlegel  zu  würdigen  verstanden,  ohne  sich  durch 
die  späteren  Wandlungen  seines  Schützlings  den  blick  beirren  zu 
lassen.  Haym  aber  schreibt  1870  :  'das  schöne  streben,  durch 
'wahrhafte  geschichte'  dem  viel  geschmähten  doctrinär  der  romantik 
gerecht  zu  werden,  muss  volle  anerkennung  finden,  und  wenn 
dabei  ein  rest  von  Parteilichkeit  zurückgeblieben  ist,  wenn  die 
'rettung  Friedrich  Schlegels'  nicht  in  allen  puncten  überzeugend 
ist,  wenn  der  biograph  ein  wenig  doch  mit  den  äugen  Schleier- 
machers, des  mild  entschuldigenden  freundes,  gesehen  hat,  so 
legt  er  doch  zugleich  das  tatsächliche  in  solcher  Vollständigkeit 
vor,  dass  ausdrücke  wie  die  von  dem  'strahl  eines  hohen  sitt- 
lichen gedankens',  den  Friedrich  in  seiner  excentrischen  bahn  ver- 
folgt habe,  von  selbst  ihre  berichtigende  deutung  empfangen' 
(s.  381  f).  wer  hört  aus  dieser  verclausulierten  Zustimmung  nicht 
heraus,  dass  Haym  Diltheys  mühen  in  FrSchlegels  wesen  sich 
einzufühlen,  für  unersprießlich  und  irreführend  gehalten  hat? 
Zwei  diametral  entgegengesetzte  kritische  methoden  stehn 
sich  da  gegenüber  :  Dilthey  vertritt  historische  einfühlung,  der 
volles  verstehen  höchstes  gesetz  bleibt,  Haym  will  auch  als 
historiker  ein  Werturteil  geben.  Dillhey  neigt  darum  naturgemäfs 
zu  positiven,  Haym  zu  negativen  lörmulieruugen.  Haym  fürchtet 
die  folgen,  die  aus  rückhaltloser  Würdigung  einer  persönlichkeit 
sich    ergeben    könnten,    deren  würken    einst   von  unerfreulichen 


HAYM    GESAMMELTE    AUFSÄTZE  137 

consequenzen  begleitet  war.  erfühlt  sich  bemüßigt,  vor  FrSchlegel 
zu  warnen,  weil  er  ihn  noch  immer  für  gefährlich  hüll,  er 
schreibt  nicht  als  historiker,  sondern  als  persönlich  beteiligter 
Zeitgenosse;  FrSchlegel  war  zwar  langst  gestorben,  wol  aber  reichte 
seine  nachwürkung  bis  in  Hayms  zeit  hinein. 

Und  als  unmittelbarer  Zeitgenosse  hat  Haym  über  Varnhagen, 
Schopenhauer,  Ilartmann  geschrieben.  die  epigrammatischen 
spitzen,  die  oben  widergegeben  worden  sind,  danken  ihre  ent- 
Stehung  nicht  blofs  einem  trieb  zu  polemischer  formkunst. 
vielmehr  stellt  sich  Haym,  der  publicisi,  der  tagesschri fisteller 
als  getreuer  Eckart  vor  seine  Zeitgenossen  hin,  um  sie  vor 
einem  gift  zu  schützen,  das  er  von  jenen  mannen)  ausströmen 
sieht. 

Das  merkwürdigste  aber  bleibt  noch  zu  sagen  :  dieser  tempe- 
ramentvolle Vorkämpfer,  dieser  allerschärfsle  polemiker  gibt  in 
seinen  kritischen  arbeiten  doch  weit  mehr  als  blofse  negation! 
sie  umschliefsen  zugleich  meist  das  beste,  was  zu  seiner  zeit  über 
die  opfer  seiner  kritik  und  für  ihr  Verständnis  gesagt  worden 
ist.  Varnhagen  hat  bis  heute  keine  erschöpfendere  deutung  ge- 
funden, der  aufsatz  über  Schopenhauer  ist  und  bleibt  ein  vor- 
zügliches mittel,  Schopenhauer  zu  begreifen,  heute,  da  wir  aus 
beruhigender  und  beschwichtigender  historischer  ferne  diese 
Zeitgenossen  Hayms  betrachten  dürfen,  brauchen  wir  nur  von 
seinen  Werturteilen  abzusebeu,  um  das  grofse  positive  ergebnis 
seiner  arbeil  rein  zu  geniefsen  und  aus  seinen  darstellungen 
beste  und  echteste  historische  Würdigung  zu  holen. 

Vor  allem  gilt,  was  ich  hier  sage,  von  der  'Romantischen 
schule.'  ich  begreife  sehr  wol,  dass  heute  viele  das  buch  abge- 
schreckt (um  nicht  zu  sagen  :  abgestossen)  aus  der  band  legen, 
wenn  sie  sehen,  in  wie  abschätziger  weise  Haym  von  den  roman- 
tischen genossen  spricht,  ich  habe  mich  längst  dran  gewöhnt, 
das  buch  zu  lesen,  ohne  diesen  mir  gewis  unerfreulichen  ueben- 
tönen  mein  ohr  zu  leihen,  vielleicht  finde  ich  mich  deshalb 
durch  die  'Romantische  schule'  immer  wider  belehrt  und  be- 
reichert, dabei  leugne  ich  nicht,  dass  Hayms  neigung  zu  tem- 
peramentvoller negation  ihn  gelegentlich  hat  fehlgreifen  lassen; 
er  erfafste  das  und  jenes  nicht,  weil  er  es  unterschätzte,  dass 
er  aber  zuletzt  selbst  die  frühromantiker  positiver  gesehen  hat, 
als  früher,  darf  ich  wol  behaupten,  ja  ich  scheue  nicht  die 
vermulung,  dass  er  meine  oben  umschriebene  art,  sein  buch  zu 
lesen,  gebilligt  hätte. 

Denn  in  dem  augenblicke,  da  Haym  nur  als  historiker  (nicht 
als  kriliker  einer  noch  immer  nachwürkenden  erscheinung)  die 
romantik  zu  betrachten  begann,  muste  ihm  auch  die  bist  zur 
polemik  verschwinden,  die  fieude  an  verständnisvoller  hingäbe 
wachsen,  ich  besitze  ein  schreiben  Hayms  vom  8  august  1892, 
in  dem  er  sogar  dem  convertiten  FrSchlegel  gerecht  zu  werden 


138  BATM    GESAMMELTE    AUFSÄTZE 

sich  anschickt,  es  bezieht  sich  auf  meine  auswahl  von  Schriften 
der  brüder  Schlegel,  ilie  kurz  vorher  in  Kürschners  Deutscher 
INatioualliteratur  (bd.  143)  erschienen  war.  ich  bin  indiscret 
genug,  dieses  document  hier  vorzulegen  : 

Haym  schreibt  von  meiner  einleitung: 

'Die  apologetische  tendenz,  die  sich  in  der  Vorführung  und 
beurteilung  des  späteren  Friedrich  —  zu  Ungunsten  Wilhelms  — 
bemerkbar  macht,  berührte  mich  bei  meiner  geringen  Sympathie 
für  den  Charakter  des  maunes  und,  wie  ich  hinzufügen  will,  bei 
meinen  rationalistisch  protestantischen  und  preufsischen  anschau- 
ungen,  namentlich  anfangs  etwas  fremdartig,  die  billigkeit  und 
Sachlichkeit  jedoch,  die  Sie  in  Dir  urteil  legen,  hat  mich  zugleich 
würklicb  belehrt  und  auf  gesichtspuncte  hingewiesen,  deren  be- 
rechtigung  ich  willig  anerkenne,  so  wie  die  dinge  jetzt  stehen, 
dürfen  wir  die  parteiische  haltung,  die  einst  Gervinus  einnahm, 
nicht  ohne  weiteres  fortsetzen;  wir  gewinnen  ein  treueres  und 
positiveres  bild,  wenn  wir  .  .  .  verständnisvoller  auch  auf  die- 
jenigen seilen  der  katholischen  und  katholisierenden  romantiker 
eingehen,  vor  deren  gefahrvollen  consequenzen  wir  uns  heute 
nicht  mehr  zu  fürchten  brauchen.' 

Diesen  worten  habe  ich  nichts  hinzuzufügen,  dagegen  sei 
nicht  verschwiegen,  dass  Haym  auch  schon  früher  gelegentlich 
von  einem  kritisch  negativen  zu  einem  positiv-begreifenden  stand- 
punct  weitergegangen  war.  alle  äufserungen,  die  ich  oben  als 
Zeugnisse  seiner  polemischen  neigungen  angef'ührl  habe,  ent- 
stammen den  sechziger  und  ersten  siebziger  jähren,  doch  schon 
1870  hat  seine,  unmittelbar  nach  dem  abschluss  der  'Roman- 
tischen schule'  abgefasste  Würdigung  Karolinens  gezeigt,  wie  viel 
anschmiegsames  Verständnis  in  Haym  schlummerte,  schloss  er 
doch  die  Studie  mit  dem  bekenntnis,  dass  auch  ihm  die  klugen 
und  sanften  äugen  Karolinens,  der  lächelnde  mund,  der  liebreiz 
der  züge  es  angetan  hälteu.  'eine  schöne  erzählung  der  evan- 
gelischen geschichte  ist  uns  .  .  .  niemals  aus  dem  sinne  gekommen 
—  der  sich  ohne  sünde  fühlt,  der  hebe  den  ersten  stein  gegen 
sie  auf  (s.  460). 

Hier  kündigt  sich  an,  was  Schraders  vorwort  von  dem 
späteren  Haym  zu  melden  hat  :  die  gesteigerte  Fähigkeit,  fremde 
naturen  nach  ihrer  eigenart  zu  würdigen.  Schrader  vergisst  nicht 
hinzuzufügen,  dass  Hayms  eigenes  wesen  in  gleichem  Verhältnis 
eine  fülle  von  harmonie  und  liebe  gewonnen  habe,  mir  aber 
wird  es  immer  eine  teuere  erinnerung  bleiben,  der  liebevoll 
verstehenden  und  begreifenden  gute  Hayms  im  letzten  decennium 
seines  lebens  teilhaft  geworden  zu  sein,  dass  er  als  alter  mann 
jugendliche  Ungeduld  zu  ertragen  verstand,  dass  er  wissen- 
schaftlich und  menschlich  dem  so  viel  jüngeren  aus  der  ferne 
eine  stütze  gewesen  ist.  dass  er  auch  zur  allerbescheidensten 
äufserung  eines  anfängers  Stellung  zu  nehmen  sich  nicht  gescheut 


TARDEL    STUDIE«    ZUR    LYRIK    CHAMISSOS  139 

hat  :  all  dies  beweist  mir,  wie  mild  und  gut  der  schneidige 
kämpfer  von  einst  geworden  war.  diese  milde  und  gute  aber  war 
bis  zuletzt  mit  einem  .strengen  Verantwortungsgefühl  gepaart. 
als  ehrlicher  und  gewissenhafter  bekeooer  bat  Haym  im  alter 
wie  in  seiner  publicistiscben  kampfzeit  seine  worte  gewählt,  nur 
dass  er  zuletzt  da,  wo  er  früher  mit  scharfer  und  spitzer  klinge 
drein  gefahren  wäre,  nur  noch  mit  einem  milde  abwinkenden 
'antiquorum  hominum  sum'  den  gegensalz  betonte,  der  zwischen 
einer  rasch  vorwärts  eilenden  zeit  und  seinem  eigenen  naturell 
sich  mehr  und  mehr  herausgebildet  hatte. 

Bern,    14.  2.  07.  Oskar  F.  Walzel. 


Studien  zur  lyrik  Chamissos.  von  dr  Hermann  Tardel.  beilage  zum  pro- 
gramm  der  handelsschule  (oberrealschule)  zu  Bremen,  oütern  19n2. 
Bremen,  AGuthe,  1902.     64  ss.  8°, 

Tardel  hat  zur  erkundung  der  quellen  von  Chamissos  gedachten 
schon  manchen  wichtigen  beitrag  geliefert,  sein  Graudenzer  pro- 
gramm  von  1896 'Quellen  zu  Chamissos  gedichten'  hab  ich  an  dieser 
stelle  (xxm,  s.  321)  gewürdigt,  seine  'Vergleichenden  Studien  zu 
Chamissos  gedichten'  (ZVLR  n.  f.  13,  113—34)  in  den  JBL  1899 
iv  10  :  72.  die  neue  arbeit  ergänzt  und  erweitert  die  resultate 
der  beiden  älterem  sie  will  —  ebenso  wie  die  'Vergleichenden 
Studien'  —  nicht  blofs  quellennachweise  geben,  sondern  stellt 
auch  bearbeitungeo  des  selben  Stoffes  durch  andere  dichter  zu- 
sammen, dann  aher  möchte  sie  durch  den  vergleich  von 
Chamissos  Schöpfungen  mit  ihren  quellen  auffassungsarl  und  ge- 
staltungskrafl  des  dichters  ermitteln,  leider  ist  das  resultat  dieser 
beobachtungen  nicht  an  einer  stelle  zusammengefasst;  von 
dichtung  zu  dichtung  weiterschreitend,  gibt  Tardel  nur  einzelne 
winke,  keine  allgemeine  Charakteristik,  und  zwar  hält  er  sich 
fast  ausschliefslich  an  Chamissos  erzählende  gedichte,  während 
der  titel  seines  büchleins  auch  eine  behandlung  der  reinen  lyrica 
erwarten  liel'se.  er  teilt  seine  Studien  in  neun  abschnitte: 
1.  'Gedichte  nach  deutschen  sagen:  'Riesenspielzeug',  'Die  weiber 
von  Winsperg',  'Die  männer  im  Zobtenberge',  'Der  birnbaum  auf 
dem  Walserfeld',  'Die  Jungfrau  von  Stubbenkammer',  'Das  burg- 
fräulein  von  Windeck',  'Die  sonne  bringt  es  an  den  tag',  und 
das  gegenstück  'Das  äuge'  besprechend  liefert  Tardel  reiches 
material  zur  vor-  und  nachgeschichte  des  Stoffes,  schade,  dass 
er  bei  gelegenheit  der  'Männer  im  Zobtenberge'  nur  das  Wert- 
urteil fällt,  Chamisso  schliefse  sich  zu  sklavisch  der  vorläge  an 
(s.  10)1  eben  diese  merkwürdige  art  Chamissos,  die  vorläge  fast 
wort  für  wort  in  verse  umzuschmieden,  hätte  eine  eindringlichere 
behandlung  verdient,  wenig  glücklich  ist  die  behauptung  formu- 
liert: 'Unland  hatte  zwei  metrische  formen  für  die  bailade,  ent- 
weder die  vierzeilige  Chevy-chasestrophe  und  einfache  strophen- 
gebilde  mit  vorwiegend  iambischem  rhylhmus  oder  die  moderni- 


140  TARDEL    STUDIEN    ZUR    LYRIK    CHAMISSOS 

sierte  Nibelungenstrophe'  (s.  5).  kommt  da  nicht  der  reichtum 
der  von  Uhland  verwerteten  formen  zu  kurz,  der  ihm  ermög- 
licht, das  den  romanlikern  so  wichtige  elhos  des  metrums  geltend 
zu  machen  (vgl.  RMMeyer  Die  deutsche  litteratur  des  ]9jh.s  s.  49)? 

2.  'Bearbeitung  von  Volksliedern',  und  zwar  von  französischen, 
deutschen  ('Die  liebesprobe'),  litauischen,  neugriechischen,  dann 
die  Übersetzung  von  Puschkins  'Zwei  raben'.  es  fehlt  uns  noch 
eiue  Untersuchung  der  elemente,  die  Chamisso  aus  dem  'Wunder- 
horn'  und  aus  dem  deutschen  Volkslied  überhaupt  aufgenommen 
hat.  ich  selbst  hätte  da  seinerzeit  mehr  geben  müssen,  als  etwa 
die  anmerkung  zu  s.  53  meiner  ausgäbe  ('Geh'  du  nur  hin'!), 
so  ist  der  refrain  der  nr  9  der  'Lebens-lieder  und  bilder'  ('Es 
stehen  drei  steine  am  himmel,  die  geben  der  lieb'  ihren  schein') 
dem  anfange  des  gedichtes  'Der  eifersüchtige  knabe'  im  1  band 
des  'Wunderhorns'  entnommen,  das  gedieht  'Heimweh'  gehört 
mit  seinem  alphorn  und  mit  seinem  hirtenknaben  zum  reichen 
gefolge  von  Arnims  und  Brentanos  'Schweizer'  ('Zu  Strafsburg 
auf  der  schanz'  .  .  .').  'Sternschnuppe'  scheint  eine  bewuste 
nachbildung  des  schnaderbüpfels  zu  sein,  nicht  nur  in  der 
metrischen  form,  insbesondere  auch  im  gedankengang  der  ersten 
Strophe:  'Wenn  einer  ausgegangen  ist,  So  ist  er  nicht  zu  haus; 
Und  wird  der  winter  hart,  so  friert  Das  Ungeziefer  aus',  man 
vergleiche  nur,  was  Chamisso  selbst  über  diese  tanzreime  sagt 
(in  meiner  ausgäbe  s.  93  anm.).  den  vers  'Lass  rauschen,  lieb, 
lass  rauschen'  des  unter  diesem  titel  im  2  band  des  'Wunder- 
horns' abgedruckten  Volkslieds  'Ich  hört'  ein  bächlein  rauschen', 
bildet  Chamisso  in  der  'Müllerin'  (strophe  2  'Lass  sausen  den 
stürm    und    brausen')    und    in    dem    gedieht   'Lass    reiten'   nach. 

3.  'Napoleon-Gedichte'.  4.  'Griecheulyrik'.  5.  'Ein  sociales  ge- 
dieht' :  'Das  gebet  der  witwe',  verglichen  mit  Luther,  Weimarer 
ausgäbe  bd  19,  639.  0.  'Korsika-gedichte'  :  Tardel  polemisiert 
gegen  rector  Kellers  allzu  enthusiastische  bewertung  des  'Mateo 
Falcone'  (s.  38  anm.  1);  'Korsische  Gastfreiheit'  wird  auf  ßen- 
sons  'Sketches  of  Corsica'  (1823,  s.  47  f)  zurückgeleitet,  'Die 
Versöhnung'  auf  Bosseeuww  Saint-Hilaire  'La  treve  de  dieu' 
('Souvenirs  de  Corse'  in  der  'Revue  de  Paris'  1830,  bd  15,  65 f). 
vgl.  auch  Tardel  s.  61  ff,  7).  7.  'Ahasver-gedichte'  :  'Abba  Glosk 
Leczeka'  wird  in  Zusammenhang  gebracht  mit  einem  aufsatz 
Friedrich  Nicolais  'Wandernde  polnische  talmudisten'  von  1809, 
'Baal  Teschuba'  mit  einer  Studie  David  Friedländers,  die  den  auf- 
satz Nicolais  ergänzt.  8.  'Die  sage  von  Alexandern'  :  Tardel  zieht 
eine  darstelluug  heran,  die  in  der  Revue  de  Paris  1832  (t.  40 
p.  103 IT)  aus  den  'Miscellanea  hebraica'  des  rabbi  Hymau  ab- 
gedruckt ist.  9.  'Vetter  Anselmo'  :  ausführliche  darlegung  der 
Stoffgeschichte  vom  miltelalter  bis  zu  Chamisso  und  zu  Julius 
Grosses  'Domdechanten  von   Compostella'. 

Bern,  juli  1905.  Oskar  F.  W'alzel. 


BLOESCH    DAS    JUNGE    DEUTSCHLAND  141 

Das  junge  Deutschland    in   seinen   beziehungen   zu    Frankreich,     von   Hans 
Bloesch.   [Untersuchungen  zur  neueren  sprach-  u.  litteraturgeschichte, 

hg.   von    prof.   dr  Oskar  FVValzel,    Bern.     1  lieft.]      Bern,    AFrancke, 
1903.     136  ss.  8°.  —  2,40  in. 

Auf  s.  127  und  128  dieser  Broschüre  findet  sich  eine  lange 
polemik  gegen  Proelss,  der  nach  des  vf.s  meinuog  den  nationalen 
Ursprung  der  jungdeutschen  hevvegung  zu  stark  betont,  den 
französischen  einfluss  unterschätzt,  es  ist  gewis  nicht  allein  die 
wissenschaftliche  ansieht,  die  Bloesch  bekämpft:  er,  der  gegen 
den  'Teutonismus',  gegen  die  'unnötigerweise  mitgeschleppte 
deutscbtUmelei'  manches  scharfe  wort  richtet,  wendet  sich  gegen 
die  deutlich  wahrnehmbare  nationale  tendenz  in  Proelss  buch, 
die  Verbindung  zwischen  französischem  und  deutschem  geistes- 
leben  ist  ihm  höchst  sympathisch,  er  verfolgt  sie  mit  warmem 
anteil,  und  das  allein  und  der  flotte  stil  machen  sein  büchleiu 
sehr  angenehm  zu  lesen. 

Leider  ist  es  gar  zu  unsystematisch  gehalten;  Bl.  'will  seinen 
Bienenstand  gar  nicht  erschöpfen,  sondern  nur  einen  raschen 
überblick  über  ein  weites  arbeilsfeld  geben',  das  im  einzelnen  zu 
bearbeiten  er  cavaliermäfsig  anderen  überlässt,  geradeso  wie  er 
es  als  'starke  Zumutung'  zurückweist,  alle  'schmöker'  durch- 
zulesen, die  etwa  in  betracht  kämen,  trotzdem  ist  ihm  Qeifs 
nicht  abzusprechen,  er  hat  eine  ganz  stattliche  anzahl  Journale 
für  seinen  zweck  durchgesehen,  er  kennt  die  Jungdeutschen  uud 
die  französischen  romautiker.  was  aber  gerade  für  ein  solches 
buch  notwendig  wäre,  vollkommene  klarheit  über  das  ziel  und 
über  das  objeet  der  Untersuchung,  vermisst  man.  .  es  ist  nicht 
klar,  was  Bl.  unter  'jungem  Deutschland'  versteht;  manchmal 
scheint  es,  als  interessierte  ihn  nur  jener  enge  kreis,  der  durch 
Menzels  denunciation  und  durch  die  bundestagsbeschlüsse  be- 
troffen wurde  und  den  Proelss  allein  behandelt,  dann  wider 
erweitert  sich  sein  gesichtskreis  und  er  behandelt  auch  ganz 
fernstehende  Schriftsteller  der  30er  jähre,  wenn  sie  nur  in  irgend 
einem  sinn  zu  der  französischen  romantik  Stellung  nehmen, 
er  geht  so  weit,  Menzel  wegen  seiner  anfänglichen  Sympathie 
für  die  Franzosen  'als  einen  der  hauptkämpfer  für  die  neuen 
ideen  und  bestrebungeu'  aufzufassen,  ihn  förmlich  unter  die 
Jungdeutschen  einzureihen.  dabei  siebt  er  ganz  gut,  dass 
Menzel  'nie  die  ausgetreteneu  kinderschuhe  eines  alten  burschen- 
schafters  ausgezogen  habe'  :  und  doch  ligt  darin  das  wesentliche 
trennende  moment.  die  gegnerschaft  gegen  alle  aus  der  Ver- 
gangenheit abgeleiteten  tendenzen,  gegen  romantik  in  weitestem 
sinn  und  damit  auch  gegeu  die  burschenschaft  ist  schliefslich  der 
kern  des  jungdeutschen  wesens,  mögen  immerhin  die  genossen 
des  'jungen  Deutschland'  als  Studenten  starke  oder  schwache 
burschenschaftliche  anwandlungen  gehabt  haben  :  erst  mit  dem 
augenblick,   wo  sich  die  nationale  und  die  freiheitliche  richtung 


142  BLOESCH  DAS  JUNGE  DEUTSCHLAND 

zu  sondern  beginnen,  etwa  nach  dem  Hambacher  fest,  krystalli- 
siert  sich  der  begriff  klarer  heraus.  —  aus  der  auffassung  Menzels 
als  eines  innerlich  modernen  geistes  ergibt  sich  dann  der  ver- 
such, Menzels  'denuuciation'  aus  einem  durch  die  angst  ein- 
gegebenen bestreben  zu  erklären ,  sich  radical  von  der  gefähr- 
lichen sache  der  jungen  Schriftsteller  abzusondern;  die  erklärung 
erscheint  weder  wahrscheinlich,  noch  würde  sie  Menzel  be- 
sonders heben. 

Bl.  teilt  seine  arbeit  in  zwei  abschnitte  :  'Die  Julirevolution 
uud  ihre  einwürkungen'  und  'Frankreich  im  urteil  der  Deut- 
schen', ohne  sich  gerade  streng  an  diese  gliederung  zu  halten; 
das  erste  capitel  behandelt  nach  einer  kurzen  Charakteristik  der 
julirevolution  und  ihrer  bedeutung  für  Frankreich  ihre  wür- 
kungen  auf  einzelne  deutsche  schriftsteiler  und  ihre  direclen 
litterarischen  reflexe,  das  zweite  schildert  im  wesentlichen  die 
Stellungnahme  der  deutschen  Schriftsteller  zur  französischen 
romantik.  über  1840  geht  Bl.  nicht  hinaus,  höchstens  in  ein- 
zelnen anspielungen.  seltsam  launenhaft  ist  seine  auswahl.  es 
ist  doch  für  dieses  buch  kaum  nötig,  Goethes  damals  nur  auf 
einen  engen  kreis  würkende  aussprüche  über  französische  litte- 
ratur  ziemlich  breit  zu  erörtern;  eher  kann  man  sich  die  be- 
rücksichtigung  Tiecks  als  eines  ausgesprochenen  gegners  der  Jung- 
deutschen erklären,  hingegen  vermisst  mau  einen  mann  wie 
Pückler-Muskau,  der  so  entschieden  im  sinn  einer  europäischen 
litteratur  würkt,  oder  auch  Gaudy  und  andere  aus  dem  Berliner 
kreise  Chamissos.  dieser  selbst  ist  wider  einbezogen,  es  sei  be- 
merkt, dass  zu  dessen  durch  die  julirevolution  angeregten  ge- 
dienten auch  die  Schlussgedichte  aus  dem  cyklus  'Lebenslieder 
und  bilder'  (18311)  gehören,  besonders  das  vorletzte,  der  held 
dieses  cyklus  fällt  als  julikämpfer,  das  ergibt  sich  nicht  nur  aus 
wörtlichen  Übereinstimmungen  der  gedichte  mit  gleichzeitigen 
briefen  Chamissos,  sondern  es  ist  auch  ganz  deutlich  auf  die 
veranlassung  der  revolulion,  auf  die  Ordonnanzen  hingewiesen 
('und  jene  haben  doch  das  wort  gesprochen  1'). 

Sehr  schwer  wird  der  gesamteffect  des  buches  dadurch  ge- 
schädigt, dass  der  Verfasser  im  zweiten  capitel  sich  auf  directe 
urteile  beschränkt,  die  übersetzungslitteratur  hingegen  und  die 
nachahmungen  im  allgemeinen  —  denn  auch  hier  ist  er  nicht 
consequent  —  aufser  acht  lässt.  ausführlich  behandelt  er  den 
litterarischen  einfluss  der  George  Sand,  will  sogar  constatieren, 
dass  durch  sie  eine  art  'weibliches  Wertherfieber'  entstanden  sei 
(dem  er  ganz  unverständlicherweise  mitschuld  an  Grillparzers 
ewigem  brautstand  zuschreibt);  bei  Victor  Hugo  begnügt  er  sich 
mit  der  widergabe  von  kritischen  bemerkungeu  jungdeutscher 
Schriftsteller,  aus  denen  schliefslich  nur  deren  persönliche  an- 
sieht hervorgeht,  indes  er  Freiligraths  Übersetzung  nur  ganz 
zufällig  erwähnt  —  und  doch,  Victor  Hugo  hat  unsere  dichtung 


BLOESCB    DAS    JUNGE    DEUTSCHLA.Mi  143 

entscheidend  beeinllusst.  ganz  ähnlich,  nur  noch  inconsequenter, 
geht  er  bei  Beranger  vor,  wo  er  gerade  eine  Übersetzung  und 
die  vielen  äufserungen  Goethes  erwähnt.  recensent  hat  seit 
jahren  die  einwürkung  dieses  dichters  auf  die  deutsche  litteratur 
zu  verfolgen  gesucht;  sie  ist  bekanntlich  für  die  politische  lyrik 
von  gröster  bedeutung.  aus  der  beobachtuug  der  Übersetzungen 
ergibt  es  sich  nun  ganz  deutlich,  dass  bis  1830  im  wesentlichen 
B6ranger  als  Vertreter  der  echten  'chanson',  des  leichten  couplet- 
liedes  würkt,  wenn  auch  schon  bei  Chamisso  seine  politische 
satire  nachgeahmt  wird,  wahrend  er  von  1830  an  meistens  als 
freiheitsdichter  gefeiert  wird:  schlagender  kann  sich  der  directe 
einfluss  der  julirevolulion  auf  die  beurteilung  französischer  dich- 
tuug  nicht  leicht  äufsern.  das  sehr  interessante  capitel  des 
litterarischen  Napoleoncultus,  das  Bl.  bei  Beranger  streift,  ist 
ganz  übergangen,  Barlhelemy  und  Merys  'Napoleon  en  Egypte' 
nicht  einmal  erwähnt,  dessen  spuren  bei  Gaudy  so  deutlich  sind; 
selbst  Heines  Stellung  zu  Napoleon  bleibt  unerürtert. 

Es  ist  recht  schade,  dass  die  zahlreichen  hübschen  einzel- 
hemerkungen  der  arbeit,  besonders  die  über  die  einwürkungen 
des  französischen  Journalismus  auf  den  deutschen,  nicht  entweder 
zu  einer  runden  Studie  verwendet  oder  für  ein  grösseres  buch 
über  die  lilterarischen  beziehungen  Deutschlands  zu  Frankreich 
in  den  dreifsiger  jahren  gespart  wurden;  der  engere  rahmen 
würde  wol  auszufüllen  sein,  der  weitere  würde  alles  fassen,  was 
in  der  vorliegenden  arbeit  störend  würkt.  reichliches  material 
dazu  scheint  Bl.  ja  gesammelt  zu  haben. 

Wien.  Valentin  Pollak. 


LlTTERATURNOTIZEN. 

Die  keltische  Urbevölkerung  Deutschlands,  erklärung  der  namen 
vieler  berge,  Wälder,  flösse,  bäche  und  Wohnorte  besonders  aus 
Sachsen,  Thüringen,  der  Bhön  und  dem  Harze  von  W.  Kraüsze, 
pastor  zu  Wiederau  (Sachsen).  Leipzig,  Paul  Eger,  1904.  vi  und 
135  ss.  8°.  2,50  m.  —  das  hüchleiu  ist  wider  einmal  ein  beleg 
für  den  rückfall  in  eine,  wie  es  schien,  längst  überwundene 
krankheitsform  —  jetzt  halt  ich  es  auch  gar  nicht  mehr  für 
ausgeschlossen,  dass  jener  brave  niedersächsische  geistliche,  der 
den  gipfel  der  Wissenschaft  in  der  herleitung  aller  Ortsnamen 
aus  dem  hebräischen  erblickt,  mit  seiner  Weisheit  sich  noch 
ans  licht  der  Öffentlichkeit  wagt,  ich  kenne  von  den  älteren 
keltomanen  nicht  viele,  aber  ich  glaube  nicht,  dass  einer  von  ihnen 
herrn  pastor  Kraufse  an  wagemut,  freudigkeit  —  und  glück  im 
finden  übertroffen  hat.  das  recept,  nach  dem  hier  Ortsnamen 
aus  keltischen  und  deutschen  brocken  zusammengeleimt  werden, 
ist  überall  anwendbar,  und  nachdem  hier  glücklich  Altenburg, 
Ansbach,    Arnstadt,    Augsburg,    Bautzen,    Berlin,    Braunschweig, 


144         KBAUSZE    DIE    KELTISCUE    URBEVÖLKERUNG    DEUTSCHLANDS 

Bremen,  Chemnitz,  Crimmitschau,  Dresden,  Erfurt,  Gera,  Glauchau, 
Gotha,  Grimma,  Hamburg,  Hannover,  Hildesheim,  Kamenz,  Kau- 
fungen, Leipzig,  Meifsen,  Mühlhausen,  Nürnberg,  Osnabrück,  Roch- 
litz,  Rudolstadt,  Schandau,  Schweinfurt,  Soest,  Strafsburg,  Torgau, 
Ursprung,  Vacha ,  Weimar,  Wetzlar,  Zeitz,  Zittau,  Zwickati  — 
Kuhschnappel  und  Zippollenklippen  und  viele  hundert  ähnliche 
namen  deutschen,  slavischen  und  römischen  Ursprungs  aus  dem 
keltischen  etymologisiert  sind,  hegreift  man  altsolut  nicht, 
warum  der  Verfasser  an  Naumburg  und  Magdeburg,  Köln  und 
Zahern,  Breslau  und  Posen,  Krähwinkel  und  Ritzebüttel  vor- 
übergegangen ist.  wahrscheinlich  wollte  er  andern  doch  die 
l'reude  einer  kleinen  nachlese  gönnen.  —  das  büchlein  ist  uns 
ohne  aufforderung  zur  recension  zugeschickt  worden  :  der  Ver- 
fasser, dessen  etymologische  Wahnvorstellungen  offenbar  von  dem 
unglückseligen  tage  herrühren,  der  ihm  die  Grammatica  celtica 
in  die  bände  spielte,  hat  weder  eine  ahuung  von  deu  grundzügeu 
der  worlbildungslehre,  noch  kennt  er  die  einfachsten  tatsacheu 
aus  der  siedelungsgeschichle.  E.  S. 

Nithardi  Historiarum  libri  im.  editio  tertia  post  Georgium  Hen- 
ricum  Pertz  recognovit  Ernestüs  Müller,  accedit  Angelberti 
rhythmus  de  pugna  Fontanetica.  [Scriptores  rerum  Germani- 
carum  in  usum  scholarum  ex  Monumentis  Germaniae  historicis 
separatim  editi.]  Hannoverae  et  Lipsiae,  impensis  bibliopolii 
Hahniani.  1907.  xiv  u.  61  pp.  8°.  0,75  m.  —  in  den  hand- 
lichen octavausgaben,  die  früher  zumeist  nur  schlichte  abdrücke 
aus  den  schwer  zugänglichen  folianten  boten,  vollzieht  sich  schon 
seit  längeren  jähren  in  wachsendem  umfang  die  erneuerung  vor 
allem  der  'Scriptores'.  unter  den  publicatiouen  der  letzten  zeit 
sind  nicht  wenige,  die  das  interesse  des  germanisten  beanspruchen 
und  zum  teil  auch  bereits  vor  ihrem  erscheinen  gefunden  haben, 
ich  hebe  hervor  die  von  dem  frühgeschiedenen  KAKehr  mit  aus- 
gezeichneter akribie  besorgte  vierte  aufläge  des  Widukind  (1904), 
in  deren  anhang  man  auch  den  Origo  gentis  Suevorum  wider 
abgedruckt  findet,  und  vor  allem  die  von  Wilhelm  Levison  ver- 
anstaltete Sammlung  der  Vitae  sancti  Bonifatii  (1905)  :  eine  überaus 
solide  und  an  neuen  aufschlössen  reiche  arbeit. 

Ihnen  reiht  sich  jetzt  als  bescheidenere  leistung,  aber  gleich- 
falls durch  gewissenhaftigkeit  und  Sauberkeit  ausgezeichnet,  der 
neue  Nithard  von  Ernst  Müller  an,  in  dem  besonders  die  an- 
merkungen  auf  die  neue  litteratur  in  einer  weise  rücksicht 
nehmen,  die  mir  gelegentlich  fast  zu  weit  geht  :  so  wenn  s.  xiv 
sieben  zeilen  auf  die  jeder  erwähn ung  unwerte  schrift  von 
AKrafft  Les  serments  carohngiens  (Paris  1901)  verwendet  werden, 
was  die  widergabe  dieser  Strafsburger  eide  (die  uns  germanisten 
ja  an  IVithards  werk  besonders  interessieren)  auf  s.  36  angeht, 
so  ist  sie  leider  merkwürdig  inconsequent  :  bruher  wird  im  text 
(zu   bruodher)   verbessert,    uuerhen  (st.  uuerdhen)    oben    belassen 


MÜLLER    INITHARDI    HISTORIARUM    LIBRI    IUI  145 

und  nur  in  der  anmerkung  corrigiert.  Überhaupt  ist  mir  der 
Verfasser  in  der  hehandlung  des  textes,  der  freilich  nur  in  der 
einen  gegen  ende  des  10  jh.s  bei  SMedard  zu  Soissons  geschrie- 
benen Handschrift  erhalten  ist,  gar  zu  zaghaft :  es  ist  für  mich 
höchst  anslöfsig,  die  beiden  Schreiberzusätze  s.  1,221  [hora  vide- 
licet  plus  minus  diei  terlia]  und  40,  3  [qnod  tum  sedes  prima 
Franlie  erat],  die  selbstverständlich  als  solche  erkannt  sind,  ohne 
jede  markierung  im  Wortlaut  einer  kritischen  ausgäbe  zu  lesen, 
weiterhin  dürften  gewisse  Unarten  des  französischen  Schreibers 
unbedenklich  in  die  lesarten  verwiesen  werden;  so  wenn  er 
(41,16)  edhilingui  (neben  frilingi)  und  (37,26)  deguerint  für 
degerint  schreibt :  lediglich  aus  dem  instinct  des  Romanen,  der 
hier  der  palatalen  assibilation  ausweichen  will;  in  einem  dritten 
fall  {Stellingua  42,  3f)  bat  er  das  u  hinterher  getilgt,  als  er  sah 
dass  die  (plural)lbrm  (die  hier  zum  ersten  male  vorkommt)  nicht 
Slellingi,  sondern  Stellinga  lautete,  wenn  die  spuren  romanischer 
laulbezeichnung  hier  deutlich  zu  tage  treten,  so  darf  man  sie 
namentlich  in  den  eigennamen  getrost  weiterverfolgen  und  den 
deutsch  sprechenden  und  (wie  die  eide  zeigen)  in  der  schrift- 
lichen widergabe  deutscher  laute  und  worte  nicht  unerfahrenen 
Karolingerspross  von  mancher  unschönen  iuconsequenz  ent- 
lasten, ein  autor  der  3,  4  Irmengardis  schrieb  wird  schwerlich 
49,  2  die  form  Hirmentrudem  gebraucht  haben,  und  wenn  wir 
weiterhin  bei  ihm  den  Normannen  Harald  als  Herioldus  (39,  8) 
finden,  wird  es  weder  glaublich  scheinen,  dass  er  3,  33  Eribertus 
noch  dass  er  26,  18  Hirmenaldum  statt  Irmenoldum  geschrieben 
habe;  der  Hegibertus,  der  wenige  Zeilen  vorher  (26,  14)  als  abge- 
santer  Lothars  erscheint,  ist  gewis  mit  dem  Egbertus  43,  2  ('a  parte 
Lotharii')  identisch,  was  der  index  übersieht,  auch  formen  wie 
Adelardus  uä.  neben  Adhelhardus  44,  1 1  gehören  dem  Schreiber, 
und  wenn  dieser  3,  31  uuterm  copieren  Rudulfum  in  Rodulfum 
verändert,  so  sprechen  anderwärts  Uodo,  bmodher  dafür,  dass  die 
vorläge  Ruodulfum  hatte,  die  doppelheil  des  namens  Drogo- 
Drugo  ist  leicht  beseitigt,  wenn  man  sieht,  dass  die  zweite  form 
nur  einmal  vorkommt  :  2,  20  neben  Hugol  hingegen  möcht  ich 
der  Leibnitzischeu  conjectur  Wilhelmus  st.  Vivianus  (7,  18)  keines- 
wegs das  wort  reden.  —  es  sind  ja  alles  nur  kleinigkeiten,  aber 
einmal  interessiert  uns  die  rheinfränkische  spräche  dieses  schrift- 
stellernden  Karolingers  bis  iu  jeden  eiuzellaut  hinein,  und  dann 
ist  der  herausgeber  so  wie  so  in  zahlreichen  fällen  gezwungen, 
Schreibfehler  in  den  eigennamen  zu  emendieren;  meine  forderung 
fällt  nicht  aus  der  bahn  seiner  eigenen  arbeit. 

Zum  Widerabdruck  von  Angilberts  rhythmischer  klage  auf 
die  schlacht  von  Fontenay  (841)  notier  ich  hier  Seemüllers  Studien 
zu  den  anlangen  der  altdeutschen  historiographie  (1898)  s.  50  f. — 
2,  1  ist  zu  interpuugieren  :  Bella  clamant  hinc  et  inde,  pugna 
gravis  oritur.    das  gedieht  weckt  ein  paarmal  die  erinnerung  an 

A.  F.  D.  A.  XXXI.  10 


146  FEHSE    DER    URSPRUNG    DER    TOTENTANZE 

parallelen  aus  germanischer  dichtung,  so  zb.  14,  2  horum  carnes 
vultur,  corvus,  lupus  vorant  acriter.  E.  S. 

Der  Ursprung  der  totentänze.  mit  einem  anhang  :  der  vierzeilige 
oberdeutsche  Totenlauztext  cod.  pal.  nr  314  B.  79 a — 80 b. 
von  Wilhelm  Fehse.  Halle,  Niemeyer,  1907.  (zugleich  oster- 
programm  des  kgl.  Victoria-gymnasiums  zu  Burg  b.  M.)  1,60  m. — 
für  die  anregung  zu  dieser  arbeit  darf  man  Philipp  Strauch  auf- 
richtig dankbar  sein.  F.  hebt  am  eingang  scharf  die  bedenken 
hervor,  welche  der  von  Seelmann  vertretenen  herleitung  aller 
totentänze  aus  einem  drama  eutgegenstehu,  und  tritt  alsbald  für 
die  Wahrscheinlichkeit  ein,  dass  die  bildliche  darstellung  das 
primäre  sei.  er  stellt  dann  in  den  mittelpunct  seiner  Untersuchung 
den  in  sechs  handschriften  und  blockbiichern  des  15jh.s  erhal- 
tenen oberdeutschen  text,  den  Seelmann  mit  unrecht  bei  seite 
geschoben  hat,  indem  er  diesen  tanz  mit  24  paaren  aus  dem 
Baseler  mit  39  ableitete,  es  ist  dies  ein  wiirklicher  totentanz, 
ein  reigen  der  toten  mit  den  lebendigen  —  der  tod  als  person 
tritt  darin  gar  nicht  auf,  und  so  fehlt  auch  jede  moralische  ten- 
denz.  erst  in  Basel  ist  daraus  ein  'tod  e  stanz'  geworden,  und  damit 
war  die  moralische  tendenz  gegeben,  schon  hier  kommt  F.  in 
klarer  und  präciser  darlegung  auch  über  WLSchreiber  hinaus, 
der  als  kunsthistoriker  andere  bahnen  als  Seelmann  eingeschlagen 
hatte  (Die  totentänze,  Zs.  f.  bücherfreunde  1898/99).  für  das 
Verhältnis  der  verschiedenen  Baseler  darstellungen  unter  einander 
hatte  AGoette  (1897)  im  wesentlichen  das  richtige  ermittelt,  und 
F.  begnügt  sich  damit,  die  priorität  von  Klein-Basel  noch  mehr 
zu  festigen  und  das  verfahren  dieses  Baseler  todestanz-dichlers 
im  einzelnen  zu  demonstrieren,  das  resultat,  zu  dem  dieser  erste 
hauptteil  gelangt  (s.  27  ff),  ist  vorläufig,  dass  der  oberdeutsche  text 
mit  24  paaren  der  älteste  aller  uns  überlieferten  totentanztexte 
(nicht  nur  der  deutschen!)  sei;  damit  ist  F.  wider  bei  der  auf- 
fassung  Mafsmanns  angelangt,  der  diese  nur  in  Überlieferung  des 
15  jh.s  auf  uns  gekommene  fassung  in  die  mhd.  spräche  umschrieb 
und  dem  14  jh.  zuwies,  zu  dieser  altersbestimmung  muss  ich 
vorläufig  ein  kräftiges  fragezeichen  machen  :  ich  möchte  den  text 
keinesfalls  über  1400  hinaufrücken  und  eine  sprachliche  normali- 
sierung  bestimmt  ablehnen,  das  von  Seelmann  nachgewiesene, 
allerdings  verblüffende  zusammenstimmen  eines  vereinzelten  verses 
der  lübisch-revalschen  fassuug  mit  der  französischen  (O  redelike 
creature  =  O  creature  raisonnable)  wird  einstweilen  wegen  seiner 
absoluten  isoliertheit  bei  seite  geschoben,  findet  also  keine 
erklärung. 

Im  zweiten  hauptteil  seiner  arbeit  (s.  30 — 48)  lehnt  F. 
zunächst  die  möglichkeit,  dass  der  obd.  totentanztext  der  hand- 
schriften jemals  als  selbständiges  gedieht  (drama  nach  Seelmann 
und  Goette,  eine  art  Volkslied  nach  Schreiber)  bestanden  habe, 
entschieden  ab.     die   beweisführung   könnte   hier   schärfer  sein: 


FKHSK    DER    URSPRUNG    DER     TOTENTÄNZE  147 

mich  überzeugt  die  innere  Wahrscheinlichkeit,  er  stellt  dauo 
noch  einmal  den  französischen  'to destanz'  und  den  ältesten 
deutschen  'toten tanz'  scharf  gegenüber  und  beantwortet  die 
frage,  welche  von  den  beiden  auffassuugen  die  ursprüngliche  sei, 
dh.  welche  von  ihnen  uns  die  rälsel  und  Widersprüche  der  ganzen 
litterarisch-künstlerischen  denkmälergruppe  am  einfachsten  löse, 
unbedenklich  zu  gunsteu  des  toten  tanzes  : 'aus  der  volksan- 
schauung  vom  reigen  der  toten  ist  das  erste  totentanzbild,  ist 
der  erste  toteutanztext  herausgeboren. '  die  Widersprüche  entstehu 
einmal  dadurch,  dass  in  der  hsl.  Verbreitung  des  bildes  der  reigen 
sich  in  einzelpaare  auflöst,  und  dann  durch  eindringen  der 
moralischen  idee,  die  aber  nicht  ausschließlich  so  theologisch 
gefärbt  ist,  wie  in  F.s  Formulierung  :  'der  tod  ist  der  Sünde  sohl.' 
ein  hinweis  auf  den  in  Holbein  erreichten  entwicklungsabschluss 
des  totentanzmotivs  beendigt  die  fesselnde  abhaudlung,  die  mich 
in  den  hauptpuneten  durchaus  überzeugt  hat,  obwol  ich  zugebe, 
dass  die  äuisere  beweisfübrung  einige  lücken  und  zweifei  lässt.  — 
als  anhang  ist  der  text  des  cod.  pal.  314  beigegeben  (s.  50 — 58), 
der  als  bester  repräsentant  uns  den  mangel  einer  kritischen 
ausgäbe  vorläufig  ersetzen  soll  :  eine  solche  scheint  der  Verfasser 
s.  27  n.  1  selbst  in  aussieht  zu  stellen,  ich  habe  den  eindruck, 
dass  F.  bis  dahin  in  sprachlichen  dingen  noch  einiges  lernen 
muss,  und  hoffe  dass  er  dann  auch  jene  lücken  ausfüllt,  die 
dieser  erste  hoffnungsvolle  versuch  lässt  :  zb.  die  Untersuchung 
über  das  alter  des  lateinischen  textes  liefert,  den  er  sonder- 
barerweise so  gut  wie  lotgeschwiegen  hat.  so  grofs  die  litteratur 
über  die  toteutänze  ist,  es  gibt  noch  immer  erscheinungen ,  die 
dabei  nicht  genügend  berücksichtigt  sind  :  so  aus  der  litteratur 
die  verschiedenen  'Contemptus  mundi'  des  12  u.  13  jh.s,  zu  deren 
einem  der  lateinische  text  in  naher  beziehung  stehn  dürfte, 
aus  der  kunstgeschichte  die  grabmonumente  mit  der  doppelten 
darstellung  des  lebenden  in  seinem  irdischen  glänz  und  ansehen 
und  des  toten  als  gerippe  :  die  mir  bisher  bekannten  8  (9)  denk- 
mäler  dieser  art  fallen  in  die  zeit  von  1430 — 1520,  also  recht 
eigentlich  in  die  blühtezeit  der  totentänze  :  es  sind  bischöfe,  geist- 
liche, fürsten,  ritter,  professoren  dabei  vertreten.  E.  S. 
Beiträge  zur  künde  der  lateinischen  litteratur  des  mittelalters  aus 
baudschriften  gesammelt  von  Jakob  Werner,  zweite  durch  einen 
anhang  vermehrte  ausgäbe.  Aarau,  HRSauerländer  u.  co.,  1905. 
227  ss.  8.  —  s.  1 — 183  des  buches  sind  die  1904  erschieuene 
dissertation  des  vf.s  'Über  zwei  handschriften  der  Stadtbibliothek 
in  Zürich,  beitrage  zur  künde  der  lat.  litteratur  des  mittelalters'. 
es  sind  dies  die  hss.  C  58/275  (Z)  und  C  101/467.  hinzu- 
gekommen sind  in  dieser  zweiten  ausgäbe  die  hss.  3S3,  709,  710 
der  Stadtbibliothek  in  Bern  und  umfangreiche  nachtrage. 

Den  lesern  dieser  Zs.  ist  Z  uicht  unbekannt,   sie  alleiu  hat 
das  wunderschöne   Schwabeulied   'Hospita  in  Gallia    (Zs.  5,  296) 

10* 


148         WERNE«    BEITRÄGE    ZUR    KÜNDE    DER    LAT.    LITTERATUR    DES    MA.S 

überliefert,  aber  aueb  sonst  birgt  sie  ganz  ungeahnte  schätze,  die 
nicht  hiureicbend  bekannt  waren  und  deshalb  auch  nicht  überall 
gewürdigt  worden  sind,  zb.  von  den  herausgebern  der  Antbologia 
latina.  es  ist  ausserordentlich  dankenswert,  dass  VV.  (s.  1 — 151) 
den  gewaltigen  iuhalt  vor  uns  ausbreitet,  ich  kann  bei  dieser 
kurzen  anzeige  auch  nicht  entfernt  daran  denken,  eine  genauere 
Übersicht  zu  geben,  sondern  muss  bitten,  das  buch  selbst  einzu- 
sehen: florilegien  aus  Persius,  Ovid,  Horaz  wechseln  ab  mit  gramma- 
tischen ,  moralischen  und  theologischen  excerplen ,  fragmenten 
eines  briefstellers,  syuonymensammlungen,  auch  einzelnen  deul- 
scheu  stücken  und  vielem  andern,  kurz  es  ist  ein  unermesslicher 
reichtum.  vor  allem  heb  ich  die  zahlreichen  miltellateinischen 
dichtungen  hervor  —  auch  vom  Primas,  Erzpoeten,  aus  der 
vagantenlyrik  findet  sich  einzelnes. 

Nicht  weniger  anziehend  als  der  iuhalt  ist  die  hs.  selbst,  wie 
es  scheint,  hat  6in  Schreiber  den  ganzen  stolf  liebevoll  gesammelt 
und  eigenhändig  niedergeschrieben,  nicht  iu  einem  zuge,  sondern 
nach  und  nach,  jenachdem  sich  zeit  oder  wol  auch  material  bot. 
über  seine  heimat  ist  nichts  zu  ermitteln ,  doch  mag  Werners 
Vermutung  das  rechte  treffen,  dass  es  ein  deutscher  cleriker  war, 
der  auf  französischen  schulen  studierte  und  die  blätter  gewisser- 
mafsen  als  frucht  seiner  studieu  mit  nach  Deutschland  heimbrachte, 
für  sangallische  provenienz  dürften  sich  kaum  beweise  beibringen 
lassen,  auch  die  zeit  ist  nicht  genau  zu  bestimmen.  Werner 
denkt  bei  nr  386  'Abschied  von  der  weit'  an  den  archipoeta 
Nicolaus  des  Caesarius  vHeisterbach,  doch  scheint  mir  seine 
beziehung  mindestens  äufserst  fraglich  zu  sein. 

Die  zweite  hs.  ist  von  dem  gelehrten  SGaller  mönche  Gallus 
Kemly(geb.  1417)  geschrieben,  der  viel  umherwanderte  und  überall 
mit  grofsem  eifer  sammelte,  was  ihm  unter  die  bände  kam: 
deutsche  und  lateinische  verse,  recepte  und  kalender,  trink-  und 
spiellieder  uaa. 

Von  den  hinzugekommenen  Berner  hss.  trägt  die  letzte,  710, 
einen  ähnlichen  Charakter  wie  Z,  sie  enthält  vor  allem  poetische 
excerpte,  ua.  auch  aus  der  Alexandreis  des  Walther  vChätillon. 
die  beiden  andern  bringen  nichts  poetisches,  dafür  wertvolle  prosa, 
vor  allem  synonymensammlungeu  u.  dergl.;  in  hs.  383  steht  auch 
der  anfang  des  Graecismus  von  Eberhard  vB6thune. 

Die  nachtrage  s.  197 — 215  bringen  zahlreiche  Verweisungen 
und  ergänzungen,  auch  beigaben  aus  andern  hss.;  zb.  von  Carm. 
bur.  s.  135  wird  aus  einer  SGaller  hs.  ein  wesentlich  ab- 
weichender und  bessere  lesarten  bietender  text  abgedruckt,  be- 
sonders dankbar  bin  ich  dem  vf.,  dass  er  für  die  'generalbeichte' 
'Estuans  intrinsecus'  das  verstreute  material  sorgsam  zusammen- 
gestellt hat;  nur  hätte  er  den  wert  dieser  gäbe  nicht  dadurch 
beeinträchtigen  sollen,  dass  er  die  hs.  Z  zugrunde  legte. 
Berlin.  K.  Strecker. 


HEITZ    EINE    ABBILDUNG    DEK  HOHKONIGSBURG  GEBOLD    REDSLOB       149 

Eine  abbildung  der  Hohkonigsburg  aus  der  ersten  ballte  des  16  jh.s. 
gefunden  und  beschrieben  von  Paul  Heitz.  mit  2  abbildungen. 
Strafsburg,  JHEdlleitz  (Heitz  und  Mündel),  1907.  9  ss.  gr.  fol. 
2,50  m.  —  aus  seiner  schier  unerschöpflichen  Sammlung  alter 
holzstöcke  hat  herr  PHeilz  ein  exemplar  erneuter  aulmerksamkeit 
gewürdigt,  nachdem  er  im  landschaftlichen  Hintergrund  der  sati- 
rischen scene  eine  älteste  abbildung  der  eindrucksvollen  elsässi- 
schen  bergfeste  Hohkonigsburg  erkannt  zu  haben  glaubte,  und 
bei  dem  zeitweise  fast  leidenschaftlich  erregten  inleresse,  welches 
der  ueubau  Bodo  Ebhardts  wachgerufen  hat,  darf  auch  dies  blatt 
die  aulmerksamkeit  weiter  kreise  beanspruchen,  es  handelt  sich 
um  den  stark  abgenutzten  holzstock  eines  flugblattes,  das  um 
1530  in  Strafsburg  herausgekommen  sein  muss  :  den  Zeichner 
glaubt  H.  in  der  person  des  Hans  Weiditz  widerzufinden,  der 
1522 — 1536  für  verschiedene  Strafsburger  firmen  gearbeitet  hat. 
die  absieht  des  künstlers  aber  bleibt  unklar,  und  H.  appelliert 
an  alle  kenner  der  geschichle,  der  litteratur  und  der  holzschneide- 
kunst  jener  zeit,  um  vielleicht  einen  abdruck  mit  text  oder  Über- 
schrift kennen  zu  lernen,  dargestellt  sind  kämpfe  zwischen 
katzen  und  mausen  (ratten)  vor  den  mauern  einer  Stadt,  welche 
von  den  katzen  belagert  wird.  H.  bringt  das  bild  mit  dem 
elsässischen  bauernkriege  1525  zusammen,  über  die  Stadt  im 
vordergruud  bestehn  zweifei  :  bald  soll  es  Bergheim  bald  Schlett- 
stadt  sein,  den  hintergrund  bilden  drei  von  schlossern  resp. 
ruineu  gekrönte  berggipl'el,  und  das  stattlichste  dieser  Schlösser 
wird  von  H.  als  die  Hohkonigsburg  angesprochen,  auch  hier- 
gegen sind  bereits  bedenken  geäufsert  (von  Forrer  Strafsb.  Post 
1907  ur  1078),  aber  nachdem  KStatsmann  der  skizzenhaften  dar- 
stellung  des  holzschnitts  ein  nach  dem  grundriss  reconstruiertes 
schaubild  der  bürg  gegenübergestellt  hat  (ebda  nr  1125),  wird 
mau  an  der  richtigkeit  der  deutung  H.s  kaum  noch  zweifeln 
können,  somit  hätten  wir  also,  wonach  man  so  lange  vergeblich 
gesucht  hat  :  eine  bei  einfachen  mittein  und  beschränkter  absieht 
doch  im  ganzen  zuverlässige  darslellung  der  bürg  in  dem  wol 
fast  ungestörten  zustande  des  neubaus  von  1479 ff.  die  bisher 
älteste  abbildung  von  1633  setzt  neben  anderm  die  eingreifenden 
baulichen  änderungen  des  Jahres  1557  voraus,  die  schrift  von 
H.  bringt  aufser  einem  abzug  des  origiualstockes  eine  vierfache 
photographische  vergröfserung  des  bildausschnittes  mit  der  bürg. 

E.  S. 

Heinr.  Bedslob.  ein  Strafsburger  professor  am  anfang  des  19  jh.s. 
von  Th.  Gerold,  mit  einem  auhang  enthaltend  briefe  und  ge- 
dichte  an  DArnold ,  gedichle  von  FrHRedslob.  mit  2  porträts. 
Strafsburg,  Heitz,  1906.  100  ss.  4  m.  —  ein  berufsgenosse, 
der  durch  heirat  in  Redslobs  familie  eingetreten  ist,  schreibt 
dessen  biographie  mit  familienhafter  breite.  aus  den  wirren 
der  napoleonischen    zeit    führt   dies   leben    in  idyllische  ruhe  im 


150       GEROLD  REDSLOB  —   W1TK0WSKI  DAS  DEUTSCHE  DRAMA   DES  19  JH.S 

beruf;  doeb  dies  glück  des  beldeu  macht  seine  lebeusgeschichte 
bald  uninteressant,  und  R.s  briefe  beziehen  sich  auf  jene  erste 
periode  und  zeigen  liebenswürdig  menschlichen  anteil  in  nicht 
immer  ganz  orthographischer  form,  liebenswürdig  sind  auch 
die  mitgeteilten  dichlungen  Redslobs  und  des  Verfassers  des 
Pfingstmontags;  eine  eigene  bedeulung  kommt  auch  ihnen 
nicht  zu. 

Berlin,  26  october  06.  Richard  M.  Meyer. 

Das  deutsche  drama  des  neunzehnten  Jahrhunderts  in  seiner  ent- 
wicklung  dargestellt  von  Georg  Witkowski.  [Aus  uatur  und 
geistesweit,  51  bändchen.]  mit  einem  bildnis  Hebbels.  Leipzig, 
BGTeubuer,  1904.  172  ss.  S°.  1  m.  —  der  Ursprung  dieses  buches 
aus  volkstümlichen  vortragen  verleugnet  sich  keinen  moment;  die 
meisten  capilel  runden  sich  zu  in  sich  abgeschlossenen  darstellungen, 
wie  sie  im  rahmen  einer  oder  auch  mehrerer  vorlesuügen  geboten 
werden  können,  einzelne  erscheinen  fast  als  selbständige  essays; 
überall  arbeitet  W.  auf  klar  heraustretende  einzelbilder  hin.  die 
rücksicht  auf  die  tolalenlwicklung  fehlt  nicht;  dennoch  erscheinen 
die  allgemeinen  zustände  in  dieser  Schilderung  wesentlich  als  folie 
für  die  grofsen,  die  helden  :  Kleist,  Grillparzer,  Hebbel,  Wagner, 
Hauptmann,  hinter  denen  einige  andere  wie  Raimund,  Ludwig, 
Anzengruber,  Sudermanu  als  nebeuacteure  zurücktreten,  ein 
künstlerisches  princip  der  anorduuug  hat  sogar  über  das  sachliche 
gesiegt,  wenn  der  Verfasser  Wagner  gegen  schluss  der  periode  von 
1830  bis  1885  einordnet,  um  iu  dem  Bayreuther  unternehmen  das 
würksamste  gegenbild  zu  dem  geschäftsbetrieh  der  deutscheu  theater 
zu  gewinnen,  oder  wenn  er  im  letzten  abschnitt  Gerhart  Haupt- 
mann nach  den  modernsten  behandelt,  um  mit  einer  bedeutenden 
gestalt  zu  schliefsen.  ein  vortragender  sichert  sich  durch  dieses 
verfahren  den  vorteil,  auch  einem  nicht  besonders  zuverlässigen, 
vielleicht  wechselnden  auditorium  jedesmal  würksames  bieten 
zu  können;  ob  diese  rücksicht  auch  pädagogisch  —  wenn  das 
wort  hier  erlaubt  ist  —  anzuempfehlen  ist,  fragt  sich  allerdings, 
vielleicht  war  es  gut,  ein  publicum,  das  ohnedies  geneigt  ist, 
nur  das  auffallende  zu  beachten,  doppelt  stark  auf  den  inneren, 
notwendigen  Zusammenhang  der  entwicklung  hinzuweisen,  der 
leser  freilich  wird  den  inuern  gang  des  ganzen  buches,  der 
durch  eine  entschiedene  anschauuug  vom  werden  des  deutscheu 
dramas  im  19  Jahrhundert  gegeben  ist,  bei  einigem  bemühen 
erkennen  und  würdigen,  in  erfreulichem  gegensatz  zu  anderen 
werken  dieser  art  kennt  W.s  buch  keine  andere  tendenz  als  die 
aufrichtiger  liebe  zur  sache.  im  künstlerischen  allein  äufsert  sich 
die  subjeclivität  des  autors,  der  auf  kein  dogma  eingeschworen  ist, 
aber  seine  ehrliche  meinung  so  offen  sagt,  wie  es  dem  volkslehrer 
ansieht,  der  erziehend  würkeu  will,  das  büchlein  zeigt  einen  ge- 
wissen heroencultus,  dabei  ingrimmigen  eifer  gegen  alle  geschäfts- 
mäfsige   mache;   da  schadet  mancher   vielleicht   etwas  zu  scharfe 


WITTKOWSKI    DAS    DEUTSCHE    DRAMA    DES    10    JM.S  151 

hieb  nicht,  schlimmer  ist  es,  wenn  apodiktische  Werturteile  aus- 
gesprochen werden  wie  das  aufs.  69,  wo  die  anerkennung  Hebbels 
als  des  grüsten  deutschen  dramatikers  nach  Schiller  gefordert  wird. 

Im  vorwort  verhelfst  W.,  er  wolle  die  drei  factoren  der 
dramatischen  production  :  kunstanschauung,  Schauspielkunst  und 
publicum,  ihrer  Wichtigkeit  gemäfs  berücksichtigen,  indes  wigt 
der  erstgenannte  factor  ganz  bedeutend  vor,  die  anderen  werden 
nur  gelegentlich  erörtert;  am  wenigsten  ist  das  publicum  zu 
seinem  recht  gekommen,  der  Verfasser  ist  lilterarhisloriker  im 
engeren  sinne;  politische  und  sociale  fragen  liegen  ihm  ziemlich 
ferne,  die  reaction  der  20er  und  30er  jähre,  die  ernilchterung 
des  bürgertums  nach  1848,  die  finanzkrise  der  70er  jähre,  das 
anwachsen  der  socialdemokratie,  das  wechselnde  Verhältnis  der 
bürgerlichen  Intelligenz  zu  dieser  haben  die  struetur  des  theater- 
publicums  und  damit  die  dramatische  production  ganz  wesent- 
lich bestimmt  :  hei  W.  sind  diese  dinge  nur  obenhin  gestreift, 
schärfere  socialkritik  hätte  ihn  auch  vor  der  grundfalschen  be- 
hauptung  zurückgehalten,  die  'behaglichkeit  des  alten  Wiens  und 
die  frivolität  der  modernen  grofsstadt'  seien  innig  in  Artur 
Schnitzlers  werken  verbunden,  'weil  sie  aus  dem  boden  desselben, 
im  gründe  unveränderten  volkscharakters  erwachsen'  seien,  er 
erkennt  genau,  dass  in  Berlin  jüdischer  einschlag  das  wesen  der 
litteratur  bestimmt  hat;  er  hätte  sich  auch  leicht  überzeugen 
können,  dass  die  ganze  Jungwiener  litteratur  mit  dem  volks- 
charakter  nur  insofern  zu  tun  hat,  als  dessen  objeetive  betrachtung 
den  isolierten  litteraten  stoff,  eventuell  localton  gegeben  hat. 

Mit  besonderer  Vorliebe  sucht  W.  die  leitenden  ideen  im 
schaffen  ganzer  kunstepochen,  aber  auch  bei  einzelnen  dichtem 
und  in  einzelnen  werken  klarzustellen;  sie  geben  ihm  teil- 
weise das  einteilungsprineip,  und  nach  ihnen  prägt  er  seine 
formein.  das  erklärt  sich  leicht  aus  der  beherschenden  Stellung, 
die  Hebbel  in  seiner  Wertschätzung  einnimmt,  indes,  abgesehen 
von  der  frage,  ob  solche  blutleeren  abstractionen  für  volkstümliche 
belehruug  zweckdienlich  sind,  tut  er  damit  manchem  dichter 
und  manchem  werk  unrecht,  und  allzuoft  vernachlässigt  er  über 
diesen  höchsten  fragen  das  dramatische  leben;  so  wenn  er 
Anzengrubers  weltauffassung  untersucht.  und  selbst  Hebbel 
gegenüber  scheint  es  mir,  dass  für  den  geschichlschreiber  des 
dramas  die  gestallen,  ihr  tun  und  fühlen  wichtiger  sind,  als  die 
dialektischen  begriffe,  welche  der  dichter  durchaus  in  seinen 
werken  verkörpern  wollte,  befangen  in  der  philosophischen 
richtung  seiner  zeit,  so  kommt  W.  dazu,"  Hebbel  und  Ibsen 
ganz  dicht  nebeneinanderzustellen,  eigentlich  nur  durch  die 
technik  unterschieden;  die  tiefe  erolik  Hebbels  berührt  er  kaum, 
dieselbe  Unterschätzung  des  gefühlslebens  begegnet  ihm  auch  bei 
Kleist  und  Grillparzer;  ihm  ist  zb.  die  Libussa  die  darstellung 
der   menschheit   im   Übergang  vom  unbewusten,  instinctmälsigen 


152  W1TK0WSKI    DAS    DEUTSCHE    DRAMA    DES    19    JH.S 

dasein  zum  bewusten  wollen  und  bandeln,  wie  'Herodes  und 
Mariamne'  die  des  gegensatzes  zwischen  antiker  und  christlicher 
ethik  —  das  Verhältnis  von  mann  und  weib  interessiert  ihn  gar 
nicht,  auch  bei  Wagner  betont  W.  in  erster  linie  die  philo- 
sophische Problemstellung;  nur  bei  Gerhart  Hauptmann,  der  mit 
kühler  objeclivität  bebandelt  ist,  tritt  die  erörterung  der  Welt- 
anschauung etwas  zurück. 

Das  kleine  bändchen  enthält  eine  grofse  lulle  von  namen, 
die  nicht  blofs  aufgezählt  werden,  sondern  die  verschiedenen 
richtungen  und  ihre  Vertreter  kommen  würklich  zur  anschauung; 
ein  register  erleichtert  die  benützung.  man  wird  im  allgemeinen 
nichts  bedeutenderes  vermissen  und  keine  wesentlich  andere  Ver- 
teilung des  Stoffes  wünschen,  wenn  auch  der  persönliche  ge- 
schmack  des  einzelnen  vielleicht  manches  weggelassen,  anderes 
mehr  betont  sehen  möchte,  nur  eine  für  die  allerletzten  jähre 
des  19  Jahrhunderts  so  bezeichnende  erscheinung  wie  die  'heimat- 
kunsl'  hätte  doch  erwäbnung  verdient;  die  hieher  gehörigen 
Österreicher  Schönherr  und  Kranewitler  sind  gar  nicht  genannt. 

Nicht  verschwiegen  kann  werden,  dass  die  ausdrucksweise 
mitunter  bedenklich  salopp  ist,  abgegriffenste  phrasen  oft  ge- 
braucht werden,  sogar  grobe  flüchtigkeiten  unterlaufen  (so  auf 
s.  86,  wo  Anzengruber  und  der  held  seines  'Meineidbauer'  in 
heilloser  weise  ineinander  verstrickt  werden),  solche  kleine 
flecken  entstellen  das  hübsche  buch  doch  recht  unnötig. 
Wien.  Valentin  Pollak. 


Personalnotizen. 

Als  nachfolger  Walzeis  ist  in  die  ordentliche  professur  für 
neuere  deutsche  spräche  und  litteratur  zu- Bern  berufen  dr  Harry 
Maync,  bisher  privatdocent  in  Marburg. 

Der  privatdocent  dr  R.  Petsch  an  der  Universität  Heidelberg 
erhielt  den  titel  außerordentlicher  professor. 

In  Tübingen  hat  sich  für  neuere  deutsche  litteratur  dr  Franz 
Zinkernagel  habilitiert. 

An  der  deutschen  Universität  zu  Prag  haben  sich  habilitiert: 
für  neuere  deutsche  spräche  und  litteratur  dr  Ferdinand  Josef 
Schneider  und  der  scriptor  an  der  Universitätsbibliothek  dr  Spi- 
ridion  Wukadinowic;  für  neuere  vergleichende  lilteraturgeschichte 
der  gymnasialprofessor  dr  Josef  Wihan. 


ANZEIGER 


KUR 


DEUTSCHES  ALTERTUM  UND   DEUTSCHE   L1TTERATUR 

XXXI,  4      märz  1908 


Axel  Olrik.  Om  Ragnarok.     saertryk  af  Aarb.   for  nord.   oldkynd.  og  bist., 
Kobenbavn,  GECGads  Universitetsbogbandel  1902.  135  ss.  8°. 

Was  die  germanische  göltersage  in  ihrer  jüngsten  nordischen 
entwicklung  vor  andern  mythologieen  auszeichnet,  ist  ihr  tra- 
gischer inhalt,  ihr  ahschluss  durch  den  'heldentrotzigen  unter- 
gang  der  Äsen  in  welthrandlohen'. 

Haben  wir  es  hier  mit  Vorstellungen  zu  tun,  die  auch  im 
Süden  der  Ostsee  einst  lebendig  waren  oder  doch  mit  einem 
schoss,  der  aus  bodenständigen  keimen  entsprossen  ist?  oder 
handelt  es  sich  um  ein  reis,  das  aus  einer  fremden  weit  in  die 
nordische  verpflanzt  wurde?  mit  dieser  frage  haben  sich  nam- 
hafte gelehrte  beschäftigt,  ohne  dass  ein  einleuchtendes  ergebnis 
erzielt  worden  wäre;  sie  haben  dabei  auch  mehr  oder  weniger 
aufser  acht  gelassen,  dass  der  nordische  Ragnarokmythus  nichts 
einfaches,  sondern  ein  complex  von  motiven  ist,  von  denen 
jedes  einzelne  auf  seine   herkunft  geprüft  werden  muss. 

Das  hält  sich  der  bekannte  dänische  sagenforscher,  dem  wir 
die  vorliegende  Untersuchung  über  Ragnarok  verdanken,  von 
vornherein  vor  äugen  und  kommt  auch  tatsächlich  zu  dem  er- 
gebnis, dass  heidnische  und  christliche  züge  sich  im  Ragnarok 
der  nordleute  miteinander  verschmolzen  haben,  der  zahl  nach 
ziemlich  einander  die  wage  haltend,  sind  die  christlichen  motive 
doch  zum  grofsen  teil  einzig  in  der  Vojuspä  nachweisbar,  und 
sie  kennzeichnen  sich  auch  im  übrigen  als  jüngere  schicht  und 
als  minder  gewichtig,  was  die  aufsernordischen  beziehungen 
der  echt  heidnischen  motive  betrifft,  unterscheidet  0.  eine  west- 
liche, keltische  gruppe  und  eiue  östliche,  deutsch-tinnisch-tar- 
tarisch-persische. 

Ein  teil  der  von  0.  behandelten  probleme  hat  auch  mich 
in  der  schrill  über  den  Germanischen  himmelsgott  bereits  be- 
schäftigt, und  in  mehreren  puncten,  so  in  der  auffassung  des 
Verhältnisses  zwischen  Garm  und  Fenri,  zwischen  Nuadu  und  Ty, 
ferner  in  der  annähme  seismischen  Charakters  des  Midgardsorm 
bin  ich  zu  ganz  ähnlichen  ergebuissen  gekommen,  ohne  dass 
dies  auf  0.,  der  sichtlich  meine  ausführuugen  nicht  kannte,  von 
einfluss  gewesen  ist.  umsomehr  bin  ich  durch  dieses  zusammen- 
treffen   unsrer    ansichten    überzeugt,    das    richtige    getroffen    zu 

A.  F.  D.  A.  XXXI.  11 


154  AXKL    OLRIK     OM    RAGNAROK 

haben;  und  auch  anderes,  was  ich  aao.  vorgebracht,  scheint  mir 
mit  O.s  aufstellungen  wol  vereinbar,  ja  sich  mit  diesen  zu  er- 
gänzen, nicht  gilt  das  allerdings  von  meiner  damaligen  annähme, 
dass  die  Vidarepisode,  weil  mit  dem  allgemeinen  Untergang  un- 
verträglich, einen  jungen  spross  der  sage  darstelle,  ist  aber  der 
gölterkampf  von  haus  aus,  wie  0.  gezeigt  hat,  nicht  notwendig 
mit  der  Vorstellung  der  weltveruichtung  und  des  völligen  sieges 
der  Unheilsmächte  verknüpft,  und  hat  er  im  kämpf  der  irischen 
götter  mit  den  riesen  sein  seitenstück,  so  wird  er  ursprünglich 
auch  bei  den  Germanen  mit  dem  Untergang  einer  alten,  aber 
dem  sieg  einer  jungen  göttergeneration  geendet  haben,  der 
rächende  und  überlebende  göttersohn  steht  dann  grade  auf 
älterer  stufe. 

Überhaupt  scheint  mir,  was  einzelnes  betrifft,  ein  haupt- 
verdienst O.s  die  Zusammenstellung  des  letzten  götterkampfes 
der  nordischen  Überlieferung  mit  den  götterschlachten  irischer 
sagenberichte,  in  diesen  erscheinen  die  götter  (die  Tüatha  de 
Danann),  obwol  deutlich  noch  als  solche  erkennbar,  als  histo- 
rischer volksstamm  aufgefasst  und  ebenso  ihre  riesischen  gegner, 
die  Fomore,  di.  übermeerer  (vgl.  zum  namen  die  läge  des 
nordischen  Utgard).  darin  zeigt  sich  nach  0.  christlich  ge- 
lehrter einfluss.  und  wenn  in  der  zweiten  schlacht  auf  dem 
Turedfeltle  träger  von  namen  fallen,  die  uns  aus  heidnisch  kel- 
tischer zeit  als  die  von  göttern  bekannt  sind,  die  im  cult  eine 
rolle  spielen,  so  deutet  er  dies  darauf,  dass  die  alte  und  rein 
heidnische  Vorstellung  von  jenen  kämpfen  sie  nicht  in  die  Ver- 
gangenheit, sondern  nur  in  die  Zukunft  verlegt  haben  kann; 
und  diese  folgeruug  hat  manches  für  sich,  übrigens  ligt  es 
im  wesen  aller  naturmytheu,  dass  sie  von  haus  aus  in  der  zeit 
gewissermafsen  schweben,  und  auf  jeden  fall  kann  die  ver- 
schiedene zeitliche  festlegung  des  irischen  und  des  nordischen 
götterkampfes  uns  nicht  hindern,  beide  auf  6ine  quelle  zurück- 
zuführen, wenn  sich  dies  sonst  empfiehlt,  dafür  spricht  aber 
eine  reihe  übereinstimmender  züge  auf  beiden  Seiten;  und  deren 
sind  wol  noch  mehr,  als  0.  in  rechnung  stellt. 

Zur  Vorgeschichte  der  zweiten  mit  Ragnarok  verglicheneu 
irischen  götterschlacht  gehört  die  erste  ebenfalls  auf  mag  Tured 
stattfindende,  in  der  die  götter  zwar  siegen,  ihr  könig  IS'uadu 
aber  seine  rechte  hand  verliert,  mit  diesem  körperlichen  schaden 
behaftet  kann  er  sein  königsamt  nicht  länger  ausfüllen  und  au 
seiner  statt  wird  Eochaid  Bress  (di.  Eochaid,  der  schöne)  ge- 
wählt, wodurch  die  gölter  in  freundschaftliche  beziehung  zu  den 
riesen  treten;  denn  Bress,  obwol  unter  die  götter  aufgenommen, 
ist  nur  mütterlicherseits  göttlicher  abkunft  als  söhn  der  göltin 
Brigit,  sein  valer  dagegen  ist  der  riesenkönig  Elatha.  mit  hülfe 
der  riesen  übt  jedoch  Bress  eine  drückende  herschaft  aus,  was 
zu    seiner    Vertreibung    und    der    widereinsetzung  Nuadus  führt, 


AXEI.  OLRIK  OM  RAG.NAROK  155 

der    inzwischen    für    den    verlust  seiner   hand  ersalz  durch  eine 
künstliche  silberne  erhalten  hat. 

Ich  weifs  nicht,  worauf  sich  O.s  angäbe  gründet,  dass  der 
nordische  Ty  an  stelle  der  band,  die  ihm  Fenn  abgebissen 
hat,  eine  eiserne  erhall,  in  der  einarmigkeil  aber  stimmen  der 
irische  und  nordische  gott  jedesfalls  überein;  und  dies  fallt 
umsomehr  ins  gewicht,  als  beide  —  wie  ich  im  Germ,  himmels- 
gott  27  f  ausführlich  gezeigt  habe  —  in  ihrer  ursprünglichen 
mythologischen  bedeutung  genau  zueinander  stimmen,  da  beide 
fortsetzungeu  des  alten  himmelsgoltes  und  götterkönigs  sind, 
da  aber  Ty  letzteres  längst  nicht  mehr  ist,  kann  auch  seine 
Verstümmelung  nicht  die  folgen  für  ihn  haben  wie  bei  Nuadu. 
doch  sei  hier  darauf  hingewiesen,  dass  Loki  ihm  Lokasenna  'M 
(B.  38)  zuruft: 

pp.gi  pü,  Ti/r! 

pü  kunnir  aldreyi 

bera  tilt  mep  tueim. 

handar  ennar  hcegri 

mun  ek  hinnar  geta, 

er  per  sleit  Fenrir  frä. 
und  auch  Sn.  E.  i  98  heilst  es  von  ihm:  ok  er  hann  einhendr 
ok  ekki  kallapr  stvtlir  manna.  hier  wie  dort  ist  also  die  ein- 
händigkeit in  Verbindung  gebracht  mit  der  Unfähigkeit,  einen 
vergleich  zu  stände  zu  bringen,  das  ist,  denke  ich,  nur  zu  ver- 
stehen, wenn  es  rechtsbrauch  war,  dass  bei  feierlicher  und  förm- 
licher Versöhnung  der  saktir  mit  seinen  händen  diejenigen  der 
bisherigen  gegner  ergriff  und  ineinanderlegte,  ein  Vorgang,  der 
sich  empfehlen  mochte;  denn  wenn  man  es  den  parleien  allein 
überliefs,  auf  Zuspruch  einander  die  bände  zu  reichen,  so  konnte 
es  zu  leicht  geschehen,  dass  der  eine  teil  sich  weniger  zurück- 
hielt und  nachher  glaubte,  sich  etwas  vergeben  zu  haben,  ge- 
rade zum  rechtsleben  hat  aber  Tlw(a)z  besondere  beziehung,  wie 
schon  aus  seinem  namen  Thingsus  erhellt,  für  seinen  eigensten 
beruf  also,  den  eines  gei  icbtsvorstaudes  —  den  letzten  rest  seiner 
alten  herscherwürde  — ,  erscheint  der  gott  durch  den  verlust 
seiner  hand  untauglich  geworden. 

Bei  Bress  findet  0.  recht  handgreifliche  ähnlichkeit  mit  dem 
nordischen  Loki.  aber  Loki  stammt  nicht  mütterlicherseits  von 
den  göttern,  wird  auch  nicht  von  diesen  auf  den  thron  erhoben, 
nachdem  sie  ihren  alten  könig  eines  ihm  anhaftenden  fehlers 
wegen  abgesetzt  haben,  dass  Bress  wörtlich  'der  schöne'  ist, 
und  von  Loki  einmal  ausgesagt  wird,  dass  er  'schön  von  an- 
gesicht'  gewesen  sei,  hat  allein  wahrlich  nicht  viel  zu  bedeuten, 
dagegen  stimmt  alles  zug  für  zug  auf  einen  andern  nordischen 
gott,  auf  Ullr,  beziehungsweise  auf  Ollerus  bei  Saxo.  eines  sitt- 
lichen makels  wegen  muss  Othinus  seinen  platz  als  oberster  der 
götter    räumen    und  in  die  Verbannung  gehen,    ganz  wie  Nuadu 

11* 


156  AXEI,   OLRIK    OM    RAGNAROK 

des  Verlustes  seiner  band ,  also  eines  körperlichen  Fehlers 
halber,  beide  treten  übrigens  später  in  ihre  würden  wider  ein. 
Ollerus  Uli,  der  Odins  stelle  einnimmt,  um  schließlich  wider 
vor  dem  zurückkehrenden  gotte  weichen  zu  müssen,  ist  der 
Stiefsohn  IVJrs,  dh.  der  söhn  der  göttin  Sil"  und  eines  riesen. 
oh  es  zufall  ist,  dass  Uli  (di.  got.  witlpus)  'herlichkeit'  oder  der 
'herliche'  bedeutet  und  Bress  'der  schone',  bleibe  dahingestellt, 
lediglich  eine  Variante  des  Ullmylhus  ist  die  geschichte  von 
Mitothinus,  und  dessen  name  entweder  als  der  falsche  Odin  zu 
verstehen  nach  got.  maidjan,  aind.  mühü  'falsch'  usw.  oder 
als  'Nebenödin';  vgl.  dän.  medhuslru,  medbeiler  'nebenweib,  neben- 
buhler'.     auch  Ollerus    hatte    den    namen  Othinus  angenommen. 

Uli  ist  ein  winterliches  wesen.  das  wird  von  den  meisten 
anerkannt  und  ergibt  sich  schon  aus  seiner  beziehung  zur  winter- 
lichen jagd,  zu  schnee-  und  Schlittschuhlauf,  damit  stimmt  auch 
einzig  die  annähme,  dass  er  väterlicherseits  von  riesischer  her- 
kunft  ist.  aber  seine  rolle  im  götterstaale  lässt  ihn  nicht  als 
winter  schlechtweg  erscheinen;  als  solcher  würde  er  nur  jahres- 
zeitgötter  aus  ihrer  Stellung  verdrängen  und  sie  zeitweilig  ver- 
treten können,  und  als  das  lassen  sich  weder  Odin  noch  der 
ältere  gölterköuig  Ty  rechtfertigen.  Uli  als  götterfürst  ist  also 
wol  der  persönliche  mythologische  repräsentaut  des  fimbulvetrs, 
der  mit  zu  den  erscheinungeu  des  nahenden  weitendes  gehört, 
einer  art  von  eiszeit,  wie  eine  solche  nach  der  nordischen  kosmo- 
gonie  auch  zu  anfang  der  Zeiten  steht,  man  erinnere  sich  dabei 
auch  des  köuigs  Snio  oder  Suser  hinn  gamli.  freilich  ist  die 
Ollerusepisode  bei  Saxo  als  eine  in  der  Vergangenheit  liegende 
gedacht;  aber  dass  das  wenig  zu  bedeuten  hat,  wurde  schon 
bemerkt,  während  Saxo  seinen  auf  seine  Vertreibung  folgenden 
tod  erzählt,  setzt  die  Edda  Uli  überall  als  lebend  uud  dem 
götterkreis  angehörig  voraus;  man  wird  also  anderswo  seine 
herscherrolle  eher  als  eine  zukünftige  betrachtet  haben. 

Auf  irischer  seite  ist  aber  von  einer  naturbedeulung  der 
personen  nichts  mehr  zu  sehen,  und  dieser  ursprünglichere 
Charakter  des  nordischen  mythus  selbst  in  seiner  euhemerisieren- 
den  gestalt  bei  Saxo  verträgt  sich  schwer  mit  der  annähme  seiner 
entlehnung  in  der  Vikingerzeit.  warum  auch  hätte  man  damals, 
wo  doch  die  ursprüngliche  ideulilät  von  Nuadu  und  Ty  nicht 
mehr  zu  erkennen  war,  einen  sagenzug  von  jenem  gerade  auf  diesen 
übertragen  sollen?  und  konnten  schliesslich  die  schon  sehr 
verblassten  und  vom  christlichen  slandpunct  aus  euhemerislisch 
umgestalteten  irischen  göüergeschichten  noch  auf  den  nordischen 
lebendigen  heidenglauben  einwürken,  ja  einen  neuen  mythus  ius 
leben  rufen?  alles  scheint  mir  dafür  zu  sprechen,  dass  der 
austauscb  in  urgermanischer  zeit  im  Süden  der  Nordsee  an  den 
berührungspuncten  der  Kelten  und  Germanen  stattgefunden  hat. 
ursprünglich  wird  auch  auf  germanischer  seite  alles  von  Tlw(a)z 


AXEL    0KRIK    OH    RAGNAROR  1  .r)7 

erzählt  worden  sein,  an  dem  wol,  durch  einen  lieinamen  nacli 
art  von  einhendr  dsa  Festgelegt,  das  dauernd  haften  blieb,  was 
von  ihm  auch  dann  noch  erzählt  werden  konnte,  als  er  seinen 
thron  an  Wodan  abgetreten  hatte,  auf  diesen  wurde  die  ge- 
schichte  später  im  übrigen  übertragen,  nur  musle  die  absetzung 
neu  motiviert  werden,  an  stelle  des  körperlichen  trat  dabei  der 
sittliche  makel.  über  die  richtung  der  enllehnung  wag  ich  kein 
bestimmtes  urleil,  denn  die  culturelle  Überlegenheit  der  Kellen 
über  die  Germauen,  die  übrigens  allein  auch  noch  keinen  sicheren 
schluss  zulässt,  reicht  nicht  allzutief  in  die  vorgeschichtliche  zeit 
zurück,  interessant  ist,  dass  ü.  zum  fimbulvetr  auch  eine  per- 
sische parallele  anführen  kann. 

Ob  freilich  die  auch  von  0.  nicht  ganz  ohne  vorbehält  her- 
beigezogenen oberpfälzischeu  'sagen'  echt  sind,  scheint  mir  sehr 
zweifelhaft,  liefse  sich  aber  an  ort  und  stelle  wol  noch  ermitteln, 
verdächtig  ist  mir  dabei  vor  allem  'der  bäum,  den  niemand  kennt', 
was  geheimnisvoll  aussehen  soll,  im  gründe  aber  unsinnig  ist 
und  aus  Ilävam.  134  (lt.  138):  d  peim  meipi,  er  mangi  veit, 
huers  kann  af  rötum  renn  oder  Fiojsvinnsm.  20  :  Mimameipr 
kann  heitir,  en  pat  mangi  veit,  af  huerium  rötum  renn  geflossen 
sein  wird,  bei  der  erzählung  von  dem  hirten,  der  in  dem  hohlen 
bäum  seine  wohnstalt  nimmt  und  das  ausgestorbene  land  neu 
bevölkert,  erinnere  man  sich  daran,  dass  der  name  der  örtlichkeil, 
wo  Lif  und  Lifbrasi  während  des  fimbulvetr  sich  verborgen 
halten,  i  Hoddmimis  holti,  bei  Simrock  mit  'in  Iloddmimirs  holz' 
übersetzt  ist. 

Warum  0.  besonders  auch  die  lehre  vom  Weltuntergang 
durch  wasser  weit  eher  von  den  Kelten  zu  den  Germanen  ge- 
langen lässt  als  umgekehrt,  ist  mir  unverständlich,  da  sie  doch 
am  wahrscheinlichsten  von  dort  ausgeht,  wo  Überschwemmungen 
infolge  von  Sturmfluten  sich  am  furchtbarsten  bemerkbar  machten, 
auch  auf  die  zeit  der  entlehnung  wird  man  daraus  nicht  schliefsen 
dürfen,  dass  uns  zufällig  aus  der  zeit  um  Chr.  geburt  von  der 
di indischen  weltuntergangslehre  berichtet  wird,  und  aus  dieser 
zeit  der  Gundestruper  silberkessel  stammt,  bezeugt  dieser  ein- 
zelne zufällige  fund  wi'nklich,  dass  damals  der  kellische  einfluss 
auf  den  norden  —  besonders  in  religiöser  hinsieht  —  am  stärk- 
sten war?  deutlich  ist  ja  auf  ihm  der  gallische  Cernuunos  dar- 
gestellt, aber  auch  den  einheimischen  Ursprung  des  objeets  zu- 
gegeben, beweist  das  nichts  für  eine  religiöse  anleihe  aus  dem 
gallischen,  besonders  wenn  von  einem  Cernuunos  bei  den  Ger- 
manen später  nicht  das  geringste  verlautet;  kann  es  sich  doch 
auch  um  die  ganz  mechanische  nachahmung  einer  gallischen 
vorläge  durch  einen  einheimischen  künsller  handeln. 

Von  den  führern  der  riesen  bei  den  Iren  ist  der  hervor- 
ragendste Tethra.  mit  ihm  deckt  sich  wenigstens  durch  seinen 
namen  der  nordische  riesenfiirst  frazi.    dieser  name  ist  deutlich 


15S  AXEL    0LR1K    OM    RAGNAROK 

eine  jener  Wildungen  mit  s-suffix,  die  im  nordischen  durch 
kosenamen  wie  Grimsi,  vor  allem  aber  durch  tiernamen  vertreten 
sind,  so  durch  aisl.  bersi,  schwed.  dial.  bj'ässe  'bar',  isl.  bangsi 
'bar';  aller  däu.  und  schwed.  basse,  weitergebildet  aus  germ. 
baira-,  Falk-Torp  Et.  Ob.  1,  40,  'Wildschwein';  scbwed.  dial. 
bürse,  zu  asl.  bravü  gehörig,  'hammel';  schwed.  gumse  'widder'; 
aisl.  gassi,  dän.  gasse  'gänser ich';  vgl.  auch  isl.  assa,  koseform 
zu  ari  'adler';  über  vervvante  formen  des  s- Suffixes,  vor  allem 
die  stark  ilectierte  in  ahd.  fuhs,  luhs,  dahs,  lahs  vorliegende  s. 
Kluge  Nom.  Stammbild.'  15  (§  28).  in  Piazi  muss  der  ab- 
leilung  ein  zunächst  nicht  näher  bestimmbarer  dental  voraus- 
gehn.  anknüpfung  lässt  aber  das  germanische  keine  zu  aufser 
an  schwed.  pjäder  'auerhahu',  aisl.  pföurr,  ein  wort,  dessen  idg. 
verwante  über  ein  weites  gebiet  verbreitet  sind,  so  führt  Walde 
Lai.  et.  wb.  626  unter  telrinnio  tetrissito  'schnattern'  (von  enten) 
aufser  unserem  piüurr  an  :  griech.  rergdiov,  Tetqat,,  rsTQadcbv 
'auerhahn',  abulg.  tetrevii  M'asan',  tetrja  'fasanhenne',  lit.  teterva, 
tetervinas  'birkhahn',  apreufs.  tatarwis  dass.,  lit.  tytaras  'Irulhahn', 
npers.  taüarv  'fasan',  aind.  tilliri  'rebhuhn',  arm.  tatrak  'turtel- 
taube'  und  lat.  turtur.  zur  mehrzahl  dieser  worte  passt  der 
slammvocal  von  tjäder,  der  germ.  e  ist,  besser  als  der  von  pifturr, 
zu  dem  aber  litliri  stimmt;  und  auch  sonst  ist  i  in  der  redupli- 
cationssilbe  beliebt,  und  wie  tjäder  piüurr  slehn  zb.  auch  idg. 
*bhebhru-  und  *bhibhru-  'biber'  nebeneinander,  bei  hinzutritt 
einer  endung  -si  muste  ein  dem  r  vorausgehender  mittelvocal, 
wenn  ein  solcher  vorhanden  war,  schwinden  und  das  r  selbst  in 
der  Stellung  zwischen  zwei  consonanten  ausfallen;  vgl.  zb.  ellri, 
got.  alpiza  und  fafogar  aus  fcehrgar.  was  anderseits  Tethra  be- 
trifft, handelt  es  sich  dabei,  wie  aus  dem  obl.  casus  Tethrach 
erhellt,  um  einen  consonantischen  stamm  kell.  *Tetrak-  und  um 
genaue  entsprechung  zu  griech.  rerga^  -ay.og  (neben  -ayog). 
für  ein  aus  tethra  hervorgegangenes  neuirisches  teathra  findet 
sich  bei  Oreilly  die  bedeutung  'royston  crow,  raven'  angegeben, 
an  welchen  vogel  man  beim  riesennamen  ursprünglich  gedacht 
hat,  ist  danach  zweifelbaft.  Fiazi  erscheint  bekanntlich  im  mythus 
als  adler  oder  geier,  doch  kann  es  leicht  vergessen  sein,  dass 
ihm  ursprüngliah  eine  andere  vogelgestalt  zukam,  im  übrigen 
hat  der  nordische  riesenkönig  Piazi  im  Ragnarokmythus  allerdings 
nichts  zu  tun.  bei  der  fülle  von  riesengeschichlen  und  riesen- 
namen, die  es  gab,  und  der  geringen  Individualisierung  der  ein- 
zelnen riesen  ist  es  indes  nicht  zu  verwundern,  wenn  einer  davon 
nicht  dauernd  mit  einer  bestimmten  rolle  in  Verbindung  blieb. 

Der  irische  Tetlira  ist  übrigens  kein  gewöhnlicher  riese, 
sondern  spielte  auch  im  cult  eine  rolle,  vor  seinem  mächtigen 
Steinbild  bei  Cen  Cruaich  im  westlichen  Irland  wurden  menschen, 
kleine  kinder,  geopfert,  er  wird  nach  0.  für  einen  lodesgott 
oder  beherscher  des  totenreiches  gehalten,     war  das  einmal  auch 


AXEL    OLRIK    OM    RAG.NAKOK  159 

I»iazi ?  die  entftthrung  der  ldun  durch  ihn  würde  sich  dann 
ganz  jener  der  lTeQGecpövri  durch  W.ovxiov  an  die  seile  stellen, 
mit  der  sie  ohnedies  viele  ahn  lieh  keit  zeigt,  wird  doch  die 
griechische  göttin  heiin  blumeupflückeu  gerauht,  Idunn  aber  durch 
LoUi  dem  Piazi  in  die  bände  gespielt,  indem  er  sie  unter  dem 
vorwand,  ihr  schöne  äpfel  zeigeu  zu  wollen,  in  den  vvald  lockt, 
die  eine  wie  die  andre  kehren  schließlich  wider  zu  den  göttern 
zurück,  TleQGerfövi]  ausgesprochenermafsen  alljährlich,  und  auch 
hei  Idunn  ligl  gewis  ein  jahreszeitmylhus  vor.  uud  Idunn  mit 
ihren  das  altern  verhindernden  äpfeln,  die  Vertreterin  der  Ver- 
jüngung und  erueuerung  der  uatur  im  frühling,  hatte  niemand 
gröfseres  interesse  in  seine  gewalt  zu  bekommen,  als  der  todes- 
goti.  es  ist  aber  anderseits  innerhalb  der  nordischen  nalur  auch 
verständlich,  wenn  der  rauher  hier  als  winterlicher  riese  auf 
tritt,  ja  für  diese  Verknüpfung  der  begriffe  tod  und  winter 
bietet  die  germ.  mythologie  seihst  ein  seitenstück  in  der  silte 
des  'Todaustragens',  wobei  die  den  'Tod'  vorstellende  flgur  eine 
ähnliche  rolle  spielt,  wie  sonst  der  'Winter';  auch  als  gegensatz 
des  'Sommers'  erscheint  der  'Tod',   wenn  gesungen  wird: 

wir  haben  den  Tod  hinausgetrieben, 
den  lieben  Sommer  bringen  wir  wider, 
den  Sommer  uud  den  Maien 
mit  Blümlein  mancherleien. 

ebenso  tritt  bei  slawischen  nachbarn  der  Deutschen  bei  dieser 
gelegenheit  Smrt'  'Tod'  als  widerpart  des  Leto  'Sommer'  auf; 
s.  JGrimm  D.  Myth.  639  f.  642 f.  an  all  das  wird  man  umsoeher 
enuuern  dürfen,  weil  sogar  die  ganze  geschichte  von  Piazis  er- 
mordung  durch  die  Äsen  ein  mythologisches  abbild  des  volks- 
oder,  wenn  man  will,  alten  eultgebrauches  sein  kann,  bei  dem 
die  den  'Tod'  oder  den  'Winter'  vorstellende  puppe  von  den 
versammelten  verbrannt  oder  ins  wasser  geworfen  wird.  Piazi 
findet  den  tod,  als  er  in  adlergestalt  den  als  falke  die  Iduuu  zu 
den  göttern  zurückbringenden  Loki  verfolgt,  als  diese  die  beiden 
heraukommen  sehen,  zünden  sie  in  Asgard  einen  häufen  hobel- 
späne  an;  der  riese,  der  sich  im  fluge  nicht  aufhalten  kann, 
versengt  sich  daran  sein  gefieder  und  wird  dann  von  ihnen  ge- 
meinsam vollends  umgebracht,  nach  Lokas  49.50  (B.  50.51) 
unter  hervorragender  beteiligung  Lokis;  dagegen  rühmt  sich 
Härbardsl.  20  (B.  19)  Pörr  ihn  erschlagen  und  seine  äugen  au 
den  himmel  geworfen  zu  hüben,  was  aber  nach  Sn.  E.  i  214 
ii  294  Odinn  getan  hat.  auch  in  dem  den  kämpf  zwischen 
sommer  uud  winter  darstellenden  volksbrauch  kommt  öfter  die 
aufforderung  vor,  dem  'Winter'  oder'  Tod'  die  äugen  auszustechen 
—  s.  J.  Grimm  aao.  638  f  —  was  schon  F.  Magnusen  Lex.  615 
mit  der  behaudlung  Piazis  in  Zusammenhang  gebracht  hat.  im 
übrigen  sind  die  Verbindung  des  geschehnisses  mit  der  sommer- 


160  AXEL    OLRIK    OM    RAGNAROK 

einholuiig,  die  beteiliguug  vieler  und  die  Verbrennung  dem  mythus 
und  volksbrauch  gemeiü. 

Dazu,  den  kämpf  zwischen  Loki  und  Heimdali,  Garmund 
Ty ,  sowie  Frey  und  Surt  mit  0.  für  erdichtungen  Snorris  zu 
halten,  kann  ich  mich  nicht  zwingen,  solche  würden  zu  dem 
verfahren  Snorris  im  übrigen  nicht,  stimmen,  dem  grofse  eigen- 
mächtigkeit  nicht  zugesprochen  werden  darf,  auch  scheint  mir 
nach  wie  vor  (vgl.  Der  germ.  himmelsgott  32 — 34)  der  kämpf 
Odins  mit  Fenri  ein  abklatsch  des  kampfes  Tys  mit  Garm  zu 
sein;  der  des  Frey  mit  Surt  hat  in  dem  des  Guömund  mit  Geirred 
und  vor  allem  des  Frotho  mit  Svertingus  germanische  parallelen 
(s.  aao.  88),  die  seine  echtheit  beweisen. 

Surt  fasst  0.  als  riesen  des  erdinnern  und  zugleich  als 
feuerriesen,  was  im  wesentlichen  zu  meinen  ansichten  über  ihn 
(aao.  55)  stimmt,  und  bemerkt  mit  recht  gegen  den  einwand, 
dass  im  norden  vor  der  besetzung  Islands  vulcanische  erscheinungen 
nicht  zu  beobachten  waren,  es  sei  garnicht  ausgemacht,  dass  die 
Vorstellungen  von  Surt  auf  nordischem  naturgrund  erwachsen 
seien,  ebenso  habe  ich  mich  seinerzeit  (aao.  56)  über  die  deutlich 
erkennbare  vulcanische  natur  eines  teilesderRagnarokerscheinungen 
geäufsert  :  'auf  germ.  boden  ist  natürlich  ein  solcher  mythus 
nicht  entsprungen  und  kann  höchstens  später  auf  Island  frischere 
färben  angenommen  haben;  seine  heimat  wird  vielmehr  in  den 
vulcanischen  gebieten  des  Miltelmeers  zu  suchen  sein.'  was 
aber  Surts  Wohnsitz  anbelangt,  geht  0.,  der  den  nachweis  führen 
will,  dass  er  nicht  allgemein  nach  dem  Süden  verlegt  wurde, 
sichtlich  zu  weit,  wenn  er  aus  einem  satze  der  HaustlQng:  ^Ja  vas 
75-  med  jotnom  -unn  ntfkomin  sunnan  schliefst,  dass  hier  im  süden 
kein  platz  für  Surt  übrig  bleibe,  jeue  stelle  besagt  nur,  dass  man 
sich  Asgard  als  südlich  von  J^tunheim  gelegen  vorstellte, 
aber  deshalb  nicht  als  die  allersüdlichste  örtlichkeit. 

Für  Fenri-Garm  weist  0.  recht  schlagende  parallelen  bei 
finnisch-türkischen  stammen  nach,  die  Übereinstimmung  erstreckt 
sich  auf  einzelne  züge,  vor  allem  auch  darauf,  dass  das  los- 
brechen der  gefesselten  untiere,  die  als  hunde  vorgestellt  werden, 
den  Weltuntergang  herbeiführt,  ihr  bellen  schon  ihn  ankündet, 
auch  für  den  den  himmel  berührenden  aufgesperrten  rächen  Fenrirs 
findet  er  in  der  östlichen  mytbenüberlieferung  seitenstücke.  die 
vulkanische  natur  auch  dieser  höllenbunde  ist  nicht  zu  bezweifeln 
und  daher  —  vielleicht  hätte  das  hervorgehoben  werden  sollen  — 
die  finnisch-türkische  völkerweit  nicht  als  ihr  Ursprungsland  zu 
betrachten. 

In  dem  capitel,  das  überschrieben  ist  'Solen  sluges'  vermiss 
ich  die  beleuchtung  eines  zuges  am  sonnenwolf  der  VQluspä, 
der  aber  freilich  auch  sonst  noch  nicht  beachtet  worden  ist. 
0.  gedenkt  bei  aufführung  verwanter  Vorstellungen  über  die 
Ursachen  der  sonnen-  und  mondesfinsternisse  auch  der  bei  Süd- 


AXEL  0LR1K  OM  RAGMAROE  161 

Slawen  und  Madjaren   gangbaren,  hei  denen  man  als  ihre  Ursache 
einen    drachen    kennt,    dessen    name  aber  vrkolak,  di.  'werwoll', 
ist.     damit  vergleiche  mau  Vojuspa  IJ9.  40  (B.  40.  41): 
Austr  sat  in  aldna  Fylliz  ßgrui 

i  Idrnuipi,  feigra  manna, 

ok  fceddi  par  rypr  ragna  sigt 

Fenris  kindir.  ravpom  dreyra. 

uerpr  af  peim  gllom  sugrt  nerpa  sölskin, 

einna  ngkkorr  of  sumor  eptir 

tungls  tingari  uepr  gll  udlynd. 

i  trollz  hami.  uitop  er  enn  epa  Imat? 

Da  hier  der  sonnenwolf  i  trollz  hami  auftritt,  haben  wirs 
auch  hier  mit  einem  werwolf  zu  tun,  einem  wesen  von  menschen- 
art,  das  wolfsgestalt  angenommen  hat.  berührt  sich  doch  auch 
Fenri  selbst  mit  dem  nach  Sn.  E.  i  184  von  den  gültern  in 
einen  vvolf  verwandelten  söhn  Lokis.  nach  dem  Volksglauben  er- 
zeugte die  Sonnenfinsternis  ansteckende  krankheiten,  wie  Detter- 
Heinzel  h  56  bemerken;  und  dafür,  dass  die  himmelsröte  auf 
grofses  sterben  hindeutet,  finden  sich  aao.  ebenfalls  belege,  es 
wird  sich  dann  aber  um  jene  verbreitete  art  von  werwölfen 
handeln,  die  zugleich  vampyrnatur  haben,  dh.  menschen  im  schlafe 
blut  und  lebenskralt  entziehen,  und  zwar  bedürfen  sie  solcher 
nahrung,  um  ihr  eigenes  gespenstiges  leben  fortzuerhalten.  die 
Vorstellung  von  ihnen  erwächst  aus  der  beobachtung  ansteckender 
krankheiten,  als  deren  Ursache  sie  gelten,  dadurch  wird  uns 
auch  der  Schlüssel  zum  sprachlichen  Verständnis  der  behandelten 
stelle  gegeben,  denn  figr  als  'fleisch'  und  feigr  als  'tot'  aul- 
zufassen, was  beides  in  der  nordischen  literatur  sonst  unhezeugte 
bedeutungen  dieser  worte  sind,  ist  mislich;  und  soll  würklich 
vom  sonnenwolf  blofs  ausgesagt  sein,  dass  er  leichen  frisst  wie 
jeder  andere?  ich  denke,  er  wird  viel  eher  als  ein  dämon  hin- 
gestellt sein,  der  selbst  mordet:  er  lullt  sich  —  so  ist  zu  über- 
setzen —  mit  der  lebenskraft  dem  tode  geweihter  menschen. 

Zu  den  wertvollsten  abschnitten  zähl  ich  den  'Ormen'  über- 
schriebenen.  0.  weist  hier  eine  reihe  von  Volksüberlieferungen 
nach,  die  vou  einem  —  fast  immer  als  wurm  vorgestellten  — 
ungeheuer  in  der  tiefe  handeln,  das  dereinst  hervorkommen  und 
alles  leben  weit  umher,  ja  wol  auch  die  ganze  weit  vernichten 
soll,  dieses  wesen  wohut,  von  einer  isländischen  fassung  ab- 
gesehen, nicht  im  wasser,  sondern  unter  der  erde  oder  im  berg, 
und  seine  seismisch  vulcanische  natur  ist  unschwer  zu  erkennen. 
an  stelle  dieses  lindwurms,  der  sich  gegen  ende  der  weit  aus 
dem  berg  hervorwälzt  und  alles  auf  seinem  wege  zerstört, 
habe  —  meint  0.  —  die  nordische  mylhendichtung  ihr  gröstes 
ungeheuer  gesetzt,  den  rein  abstracten,  weltumspannenden  Mid- 
gardsorm ,  was  umso  näher  gelegen  habe,  da  dieser  auch  schon 
als  der  alte  feind  Pörs  und  der  golter  bekannt  gewesen  sei. 


162  AXEL    OLRIK    OM    RAG.\AROK 

Ich  bezweifle  aber,  dass  schon  aus  hlofser  abstraction  — 
vor  ausbilduug  des  hier  in  betracht  stehenden  teiles  des  Ragnarok- 
mylhus  —  ein  selbständiges  mythologisches  wesen  nach  art  des 
Midgardsorm  entsprungen  war  und  in  feindseliges  Verhältnis  zu 
tltu  gölteru  gebracht  wurde,  was  am  Midgardsorm  den  eindruck 
der  abstraction  macht,  scheint  mir  eher  jünger  zu  sein  und  an 
Pörs  gegner  im  Ragnarokkampfe  sich  angesetzt  zu  haben,  un- 
beschadet naher  verwantschaft  mit  jenen  unterirdischen  lind- 
würmern,  darunter  vor  allem  auch  der  indischen  weltschlauge 
Sesha,  ist  doch  die  beziehuug  des  Midgardsorm  zum  meere  gevvis 
eine  alte,  da  ja  auch  die  Griechen  die  Hydra  und  Echidua  kennen, 
die  wegeu  ihrer  Verbindung  mit  Typhon  nicht  als  Vertreter 
irgend  welcher  gewöhnlicher  erscheinuugen  des  meeres  oder 
anderer  gewässer,  sondern  nur  als  solche  der  seismischen,  di.  durch 
erdbeben  erzeugteu,  flut  gelten  können,  der  Midgardsorm  scheint 
mir  darum  in  ähnlichem  Verhältnis  zum  untergärig  der  weit  durch 
wasser,  dem  versinken  der  erde  ins  meer,  zu  stehn  wie  Surt 
zum  weltbrand:  als  mythologischer  Vertreter  des  daneben  selbst- 
ständig erzählten  naturereignisses.  ähnlich  verhält  sich  auch  der 
limbulvetr  zur  herschaft  des  Ollerus.  und  wenn  dieser  als  ein 
gegeuslück  aus  der  Vergangenheit  die  des  königs  Snio  und  aufser- 
dem  die  in  der  eddischen  kosmogouie  beschriebene  ursprüngliche 
eisweit  genübersteht,  so  wird  man  mit  der  Ragnarokflut  die 
vorzeitliche  flut  zusammenstellen  dürfen,  dass  die  Vorstellung 
von  einer  solchen  allgemeinen  Überschwemmung  bei  den  Germanen 
uralt  ist,  möchte  man  schon  aus  dem  gotischen  midjasweipains 
für  y.aTay.lvo/.i6g,  diluvium  folgern,  das  weder  verständlich  genug 
ist,  um  den  eindruck  einer  neuen,  christlichen  Wortschöpfung 
zu  machen,  noch  auch  'Überschwemmung'  im  allgemeinen  bedeuten 
dürfte,  es  ligt  trotz  v.  Grienberger  WSR.  142,  159  am  nächsten, 
in  midja-  hier  ein  substantivum,  identisch  mit  schwed.  und  norw. 
dial.  midja,  dän.  midje,  ags.  midde  'mitte'  und  slav.  mezda  zu 
sehen,  das  entweder  im  sinne  von  midjungards  steht  oder  in  dem 
von  griech.  [teoö-yaia  'mittel-,  binnenland'  verwendet  wird,  ja 
midjasweipains  könnte  selbst  aus  *midjalandasweipains  oder  einer 
ähnlichen  Zusammensetzung  gekürzt  sein. 

Um  die  rolle,  die  Pör  in  Raguarok  spielt,  zu  erklären,  ver- 
weist 0.  auch  auf  den  dem  norden  bereits  bekannten  schlangen- 
kampf,  das  Reowulfmotiv.  auch  wenn  sie  nicht  eiu  ähnliches 
tragisches  moliv  aus  dem  keltischen  gölterkampf  gekannt  hätten, 
den  fall  Ogmes,  der  zum  typus  des  starken  jungen  gehört,  hätteu 
sie  jenes  Reowulfmotiv  wohl  umschaffeu  können  zu  I*örs  und  des 
Midgardorms  letztem  für  beide  teile  verderblichen  kämpfe,  aber 
wer  sagt  uns,  dass  in  diesem  falle  der  heroenmylhus  älter  ist  als 
der  göttermythus?  und  beide  können  auch  innerlich  verwant,  dh. 
parallele  enlwickluugen  aus  gemeinsamer  gruudlage  sein,  an  eine 
iUifserliche  Übertragung  eines  in  seiner  uatursymbolischenbedeutung 


AXEL    OLRIK    UM    RAGNAROK  1 G3 

nicht  mehr  erkannten  motivs  denke  ich  jetzt  umsoweniger,  nachdem 
der  drache,  den  Beowulf  bekämpft,  in  den  von  0.  seihst  hehandellen 
in  unterirdischer  Verborgenheit  hausenden,  aber  einmal  hervor- 
brechenden lindwjiiinern  der  Volksüberlieferung  seine  ebenbilder 
gefundeo  hat,  und  durch  diese,  da  sie  doch  gelegentlich  mit  dem 
ende  i\er  well  in  beziehung  gesetzt  werden,  der  Zusammenhang  mit 
dem  Midgardsorm  hergestellt  wird,  dabei  ist  die  Vorstellung  von  dem 
verderblichen  ungeheuer  selbst  das  ältere  element,  und  zu  ihr 
ist  man  durch  beobachtung  von  erdbeben,  vulcaniscben  ausbrüchen 
und  seismischen  Überschwemmungen  gelangt,  ihre  göttlichen  oder 
heroischen  geguer  sind  etwas  jüngeres  und  als  solche  mehr  der 
dichtung  als  echtem  naturmythus  angehörig,  und  je  nachdem 
man  durch  jene  ungeheuer  die  ganze  well  oder  nur  einen  engeren 
bereich  gefährdet  dachte,  lag  es  näher,  ihnen  einen  gott  oder 
einen  heros  entgegen  zustellen.  — 

Indem  wir  hiermit  einige  durch  die  vorliegende  schrift  gegebene 
anregungen  aufgriffen,  konnte  ihr  reicher  inhalt  doch  nur  auge- 
deutet werden,  möge  ihr  verf.  auf  dem  betretenen  wege  weiter- 
schreiten und  nach  und  nach  die  ganze  germanische  mythenwelt 
in  den  bereich  seiner  forschung  ziehen,  den  beruf  hierzu  hat  er 
glänzend  bewiesen. 

Wien  Rudolf  Much. 


Die  allenglische  Odoaker-dichtung  von  Rudolf  Imelmann.     Berlin,  Springer, 

1907.     48  ss.  8°.   —  2  m. 
Zeugnisse   zur  altenglischen   Odoaker-clichtung.     von  dems.     ebenda    1907. 
47  ss.    8°.     mil  einer  lafel.  —  2  m. 

Die  beiden  vorliegenden  Schriften  machen  den  versuch,  aus 
dem  bisher  'Erstes  rätsel'  genannten  (Imelmann:  'Zweite  klage' K2) 
ags.  gedieht,  ferner  der  'Klage  der  f'rau'  und  der  'Bolschaft  des 
gemahls'  eine  einheitliche  'Odoakerdichtung'  zu  erschliefsen.  von 
einem  einzigen  dichter  geschalfen,  bestand  sie  ursprünglich  aus 
sieben  slücken,  uzw.  'darf  man  schliefsen,  dass  X,  Yi,  Y2,  Z  kurze, 
knappe,  einleitende,  überleitende,  abschliefseude  prosa  gewesen 
ist.'  eben  ihres  prosacharakters  halber  gingen  diese  verbinden- 
den stellen  verloren,  es  wird  sodann  diese  dichtung  örtlich  und 
zeitlich  bestimmt  und  überdies  der  versuch  gemacht,  ihren  ge- 
scbicbtlichen  hintergrund  aufzuhellen.  —  als  weitere  Zeugnisse 
zu  dieser  dichtung  müssen  iulerpretationen  einer  bisher  un- 
zureichend erklärten  stelle  in  'Deors  klage'  und  der  einen  immer 
noch  rätselhaften  seite  vom  'Franks-Casket',  dem  berühmten  wal- 
fischbeinkästcben  des  British  museum  herhalten. 

Der  grund,  auf  dem  sich  dieses  ganze  gebäude  verblüffend 
kühner  Schlüsse  erhebt,  ist  die  erklärung  des  ersten  rätseis.  so 
dankenswert    der    versuch    ist,    in    das    dunkel  hereinzuleuchten, 


164  IMELMA.VN    DIE    ALTEMGLISCbE    ODOAKER-DICHTU>G 

da?  trotz  Bradley  —  Scliofields  erklärung  kommt  gewis  nicht 
ernstlich  in  betracht  —  noch  immer  über  diesen  versen  ruht, 
wird  doch  schwerlich  jemand  die  neue  aufTassung  Imelmanns 
unbeanstandet  passieren  lassen,  was  er  zunächst  über  'Alter  und 
heimat'  des  gedichtes  bemerkt  (Anglien  bzw.  Kordhumbrien  im 
'mittleren  drittel'  des  8  jh.s),  wird  freilich  an  sich  kaum  Wider- 
spruch finden,  aber  methodisch  auffallend  ist  schon  hier  die  art 
der  hegrüudung.  wenn  zb.  für  die  zeit  der  entstehung  ins  feld 
geführt  wird,  dass  'die  nördliche  poesie  spätestens  um  die  mitte 
des  9  jh.s  zu  einem  stillstand  gekommen  war'  (s.  15),  ja  'man 
sogar  zweifeln  kann,  ob  nach  787,  dem  anfang  der  Wikinger- 
einfälle die  dichtung  in  Nordhumberland  noch  hätte  enlstehn 
können',  so  ist  das  ein  argument  von  wenig  gewicht,  hier  darf 
Morsbach,  der  dasselbe  vom  ßeowulf  bemerkt,  gewis  nicht  als 
eideshelfer  angerufen  werden,  die  bedingungen  sind  durchaus 
ungleich,  ein  gedieht  von  3200  versen,  das  zum  Vortrag  am 
königlichen  hof  bestimmt  ist,  mag  zur  abfassung  friedlichere  zeiten 
als  die  der  unruhvollen  Wikinger-einfälle  verlangen;  aber  ein 
lyrisches  gedieht  von  19  Zeilen??  denn  das  behauptete  epos,  dem 
es  entstammen  soll,  muss  erst  bewiesen  werden,  und  wie  denkt 
sich  der  Verfasser  einen  'stillstand  der  poesie',  solange  eine 
völkische  einheit  vorhanden  ist? 

Was  die  speciellen  gründe  für  den  zeitansatz  aus  der  'nicht 
mehr  ganz  rigorosen  verstechnik'  angeht,  so  hat  schon  Holthausen 
in  der  Anglia,  Beiblatt  bd  18  s.  205  seinem  erstaunen  über 
einige  der  metrischen  auseinandersetzungen  wie  der  rüge  des 
verses  10 a  ausdruck  gegeben,  der  als  'metrisch  nicht  auf  der 
höhe'  bezeichnet  wird,  während  er  in  würklichkeit  ganz  tadellos 
erscheint.  —  einleuchtender  sind  die  feststellungen  über  das 
wortgut  des  gedichtes,  obgleich  hier  auch  eine  gröfsere  vorsieht 
im  schliefsen  geboten  ist,  als  sie  der  vf.  walten  lässt.  seld- 
cymas,  meteliste  sind  'alte  bewahrungen,  die  später  der  spräche 
verloren  gingen  und  die  dazu  raten,  die  entstehuugszeit  nicht 
allzu  weit  über  die  mitte  des  8  jh.s  hinabzurücken',  das  wort 
ac-treo  kommt  nur  in  der  'Klage  der  frau'  und  nicht  wider  vor. 
ist  auch  das  'eiue  alte  bewahrung,  die  später  der  spräche  ver- 
loren ging'?  —  die  anwenduug  der  bekannten  dialectkriterien 
ergab  auch  hier  die  zu  erwartenden  resultale.  aber  an  dieser 
stelle  zuerst  wird  man  stutzig  über  die  eigentümliche  methode 
des  vf.s.  der  vers  16 a  heifsl:  Gehyrest  ßu  Eadwacer.  über  ihn 
argumentiert  I.  folgendermafsen  :  'er  stellt  den  wenigstens  im 
Beowulf  sehr  seltenen  typus  C  mit  viersilbiger  eingangssenkung 
dar;  auch  gehyrst  ergäbe  einen  nicht  häufigen  vers;  vgl.  Sievers 
PBrB.  10,  296  f.  da,  wie  sich  zeigen  wird,  der  angeredete 
identisch  ist  mit  dem  in  der  ferne  weilenden  Wulf,  so  ist  ein 
'hörst  du'  vielleicht  nicht  ganz  natürlich,  zumal  das  objeet  des 
höreus    nicht    genannt    wird    (so!),     und    eine    interjeetion    be- 


IMELMANM    DIE    ALTBNGLISCHB    ODOAE  ER-DICHTUNG  165 

friedigender.  angliscli  geherst  jm  ergab  yeorstu,  das  lat.  o  wider- 
gibt und  wcsisiiclisiscli  durch  eala  (eowlaa  ersetzt  wird;  vgl. 
BJordan  Anglist.  Forschungen  17,  41.  auf  diese  weise  wäre 
16a  nur  leicht  verändert,  ein  ganz  gewöhnlicher  vers,  und  ent- 
hielte einen  bioweis  auf  anglische  herkunft.  von  Kj.  daraufhio 
(so!)  wird  ajmeb  2b,  7b  mit  Verschiebung,  toslitefi  18a  ohne  Syn- 
kope zu  lesen  sein'. 

Diese  stelle  bedarf  eigentlich  keines  commentars.  ein  innerer 
grund  und  ein  formeller  grund  tun  sich  zusammen,  um  einer 
hsl.  form  den  garaus  zu  machen,  der  innere  grund  ist  der,  dass 
es  'vielleicht  nicht  ganz  natürlich  ist',  dass  in  poetischer 
rede  eine  frau  ihrem  abwesenden  mann  ein  'borst  du'  zuruft, 
der  formelle  grund  soll  darin  liegen,  dass  dieser  halbvers  'den 
wenigstens  im  Beowulf  sehr  seltenen  typus  C  mit  4 silbiger  ein- 
gangssenkung  darstellt',  allein  aus  den  ersten  1000  versen  des 
Beowulf  stell  ich  aber  dem  vf.  folgende  beispiele  zur  Verfügung: 
v.  38  ne-hyrde  ic,  45  pe  hine  oet,  678  no  ic  me  an,  719  ncefre 
he  on,  758  swylce  he  on,  863  ne  hie  huru.  aber  da  der  Kaluza, 
dein  ich  sie  entnehme,  überall  zugänglich  ist,  bedarf  es  keiner 
weitern  exempel.  es  finden  sich  ihrer  über  14  in  den  ersten 
1000  versen  des  Beowulf.  Sievers  aao.  führt  im  ganzen  42  fälle  an. — 
und  auf  solchem  schwankenden  gründe  führt  man  ein  hypothesen- 
gebäude  auf! 

Indessen  die  bedeulung  des  ort-  und  zeitansatzes  des  ge- 
dichtes  tritt  zurück  hiuter  der  frage  der  Interpretation,  hier 
ergibt  sich  I.  folgendes  handlungsbild  :  die  frau  des  Eadwacer 
klagt,  ihr  mann  ist  seit  langem  aus  der  heimat  vertrieben  und 
weilt,  an  der  heimkehr  durch  feindselige  mäuner  verhindert,  jen- 
seits des  meeres.  inzwischen  ist  sie  durch  hunger  und  allerlei 
Unbilden  genötigt  das  opfer  eines  andern  manues  geworden,  dem 
sie  ein  kind  geboren,  aber  sie  verwünscht  dieses  kind  in  den 
wähl  und  spricht  dem  galten  das  gefühl  ihrer  treue  aus. 

Dass  mit  dieser  erklärung  eine  'zusammenhängende,  ge- 
schlossene handlung'  gewonnen  ist,  wird  niemand  verkennen, 
aber  dass  sie  sich  zwanglos  aus  dem  text  ergäbe,  'ohne  ihm 
gewalt  anzutun',  muss  ich  auf  das  entschiedenste  bestreiten, 
eine  Vergewaltigung  der  ags.  syntax  ist  gleich  die  auffassung  von 
swylce  in  der  1  zede.  es  heifst  niemals:1  wenn  auch',  auch 
nicht  'Klage  der  frau'  v.  43 b.  aus  der  Verschiedenheit  ungelic  v.  3 
und  ungelic e  v.  8  ist  der  form  kein  strick  zu  drehen,  da  elision 
möglich.  —  in  v.  9  wulfes  ic  mines  widlaslum  ivenum  hogode 
(hs.  dogode)  übernimmt  1.  die  Übersetzung  'with  lar-reaching 
longin-js'  in  der  form  :  'mit  weitschweifenden  hoffnungen'  von 
Schofield.  sie  ist  schwerlich  möglich.  —  dass  uncerne  v.  16  sich 
nicht  auf  die  erste  person  und  den  dicht  voiher  genannten  pu 
Eadwacer  beziehen  sollte,  ist  ganz  undenkbar,  der  angeblich 
'genaue  parallelfall'  Klage  der  frau  v.  21b  ligt  ganz  anders,  vor 
allem  aber  :  wie  soll  uncerne  hwelp  bireb  wulf  to  wuda  heifsen: 


166  [HELMANN    DIE    ALTENGLISCHE    ODOAKEU-DICHTÜNG 

'unser  bündlein  soll  ein  wolf  in  den  vvald  schleppen"?  —  den 
angelpunct  der  ganzen  Interpretation  aber  bildet  die  aulTassung 
des  Vorgangs,  der  der  erzählerin  wyn  to  pon,  hwcepre  eac  /aö  war, 
als  coitus.  man  merkt  hier,  dass  man  im  Zeitalter  Wedeliiuds 
lebt,  vor  1200  jähren  indes  war  man  unfraglich  minder  vor- 
urteilslos und  behandelte  derartige  dinge,  wie  in  den  rätseln,  als 
obscönitä'ten. 

Die  priorilät  für  diese  erklärung  gebührt  übrigens  Schofield. 
nach  ihm  ist  die  klagende  die  Signy,  die,  um  einen  rächer 
ihres  vaters  und  ihrer  brüder  zu  erwecken,  verkleidet  zum 
Sigmund  schlich  :  'In  atlaining  her  end  without  Sigmund's  know- 
ledge  Signy  had  joy;  but  she  deaily  bought  her  satisfaction,  for 
it  was  secured  by  au  act  she  loathed  —  physical  union  with  her 
twin-brother.'  —  inwiefern  diese  erklärung  doch  noch  physio- 
logische Vorzüge  vor  der  Imelmannscben  besitzt,  überlasse  ich 
competeuteren  beurleilernl  aber  sprachlich  lässt  sich  auf  alle 
fälle  allerlei  einwenden,     der  vers  heifst: 

ponne  hit  wces  renig  weder  and  ic  reotugu  swt 
ponne  mec  se  beaducafa  bogum  bilegde. 

Hierzu  bemerkt  1.  :  's.  21  bogum  bilegde  wäre  ein  seltsamer 
ausdruck  l'ür  'umarmen';  boh  heifst  ae.  auch  bug,  Schenkel 
(rücken),  wie  im  altnordischen,  und  ist  für  arm  ein  ganz  un- 
gewöhnlicher ausdruck,  wo  es  sich  um  menschen  handelt,  in  der 
poesie  in  K2  einziges  beispiel.  zu  der  phrase  11  b  kann  man  an 
an.  pu  lagüir  leer  yfir  (Lokasenna  20,  6)  denken,  es  scheint, 
dass  hier  eine  Vergewaltigung  gemeint  ist;  denn  Wulf  ist  ja  ab- 
wesend, und  die  klagende  sehnte  sich  nach  ihm,  als  sie  litt', 
jedermann  muss  aus  dieser  darlegung  den  eindruck  gewinnen, 
als  ob  boh  ein  durchaus  ungewöhnlicher  ausdruck  für  den  mensch- 
lichen arm,  dagegen  ein  geläufigerer  für  den  menschlichen 
schenket  sei,  denn  sonst  läge  kein  grund  vor,  in  der  Übersetzung 
die  letztere  auffassung  einzusetzen,  in  würklichkeit  kommt  nach 
ausweis  von  Bosworth-Toller  bog  dreimal  im  sinne  von  (tier)- 
schulter  vor,  und  einmal  überträgt  es  lateinisches  lacertus  =  der 
arm.  woher  also  die  bedeutung  'schenkel'?  —  dazu  kommt 
ein  anderes,  nach  I.s  auffassung  wurde  der  mann,  der  die  hülf- 
lose vergewaltigt,  in  dem  gauzen  gedieht  nur  einmal  benannt, 
da  aber  würde  man  doch  ein  wort  wie  aglceca,  'bösewicht,  un- 
hold' oder  dgl.  erwarten,  im  gegenteil,  sie  nennt  den  verhassleu 
mit  dem  rühmenden  worte  :  se  beadu-cafa  =  'der  kampfrasche' I 

So  scheint  mir  die  erklärung  l.s  in  sich  zusammenzufallen, 
auf  einer  interpretation,  die  dem  text  derart  gewalt  antut,  ist 
nicht  weiter  zu  bauen,  freilich  setzt  die  dunkelheit  des  textes 
der  erklärung  beinah  unüberwindliche  Schwierigkeiten  entgegen, 
von  den  bekannten  abgesehen,  möcht  ich  hier  noch  eine  neue 
registrieren,  man  list  seit  Hicketier  (Anglia  10,  579)  für  das 
dogode  des  textes  hogode  und  lässt  davon  den  genitiv  mines  wulfes 


IMELMANN    DIE   ALTENGLISCHE   0D0AKER-DICBTU1W5  1(')7 

abhängig  sein  :  'ich  dachte  meines  wolfes'.  —  aber  das  ist  schwer- 
lich möglich.  Iiogian  erscheint  mit  ymbe,  mit  be,  auch  to,  on, 
auch  mit  dem  acc.  im  sinne  von  'beschließen',  'ausdenken',  aher 
WO  es  mit  einem  gen.  belegt  ist,  wie  von  Bosworlh-Toller  in 
dem  falle  :  pces  ateorigendlican  Ufes  hogiab  oder  dem  lalle  hei 
Schofield  yfeles  hogode  (Maldon  133),  da  heilst  es  deutlich  :  auf 
etwas  sinnen,  hedacht  sein,   was  man  ausführen  will. 

Dieser  Schwierigkeit  wie  den  genannten  andern  geht  I.  aus 
dem  wege  und  sucht  dafür  neue  stützen  seiner  theorie  aus  der 
gedanklichen  construction  der  Klage  der  frau  und  der  Botschaft 
des  gemahls  zu  gewinnen,  was  die  wörtliche  interprelation  der 
Klage  der  hau  angeht  —  in  dem  gleichzeitig  erschienenen  aufsatz 
üher  die  Klage  der  frau  Zs.  48,  436  IT  hah  ich  einen  versuch 
gemacht,  dasselbe  problem  zu  lösen  *  —  so  bietet  hier  1.  einzelne 
auffassungen,  die  sprachlich  unmöglich  sind,  folgafo  v.  9  schlecht- 
hin als  'schütz'  aufzufassen  ermächtigt  keine  parallele.  — 
dass  onginnan  c.  inf.  eine  neue  handlung  vermuten  lässt, 
vgl.  Zs.  48,  442.  —  v.  19  list  I.  heardswligne  hygegeomorre 
(hs.  -geomorne),  um  dann  heardsa>h'g  abweichend  vom  gewöhn- 
lichen Sprachgebrauch  als  'schlecht'  aufzufassen  und  mit  dem 
folgenden  eine  neue  femininform  in  das  gedieht  zu  corrigieren. 
er  übersetzt  das  :  'hart  gegen  die  unglückliche',  aber  ich  be- 
streite auf  das  entschiedenste  die  syntaktische  möglichkeit  dieser 
Übersetzung.  —  swylce  v.  43  heifst  nicht  :  'wenn  auch',  ähnliches 
gilt  von  der  Botschaft  des  gemahls.  hier  hat  schon  Holthausen 
darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  die  lücke  hinter  wine  v.  38 
nicht  beachtet  ist,  dass  ofer  v.  48  unmöglich  =  'gemäfs'  seiu 
kann,  dass  die  Übersetzung  von  v.  49  'um  zu  verheifsen'  un- 
zweifelhaft falsch  ist  uam.  —  am  meisten  scheint  auf  den  ersten 
blick  die  neue  deutung  der  vielumstrittenen  runen  am  eude  der 
Botschaft  des  gemahls  für  sich  zu  haben  :  I.  ersetzt  kurzerhand 
das  S  durch  C  und  erklärt  sie  dann  als  Eadwacer,  aber  Holt- 
hausen aao.  hat  mit  recht  die  dadurch  herbeigeführte  Vergewaltigung 
des  metrums  betont,  und  überdies  ist  es  nicht  sonderlich  wahr- 
scheinlich, dass  eine  rune  (E  A)  einmal  als  diphthong,  und  dann 
als  E  +  A  benutzt  wird,  auf  alle  fälle  könnte  man  von  dieser 
lösung  doch  nicht  sageu  (s.  39),  'dass  der  angelsächsische  leser 
nicht  das  gefühl  haben  sollte,  vor  einer  crux  interpretum  zu 
stehn,  sondern  ohne  langes  besinnen  richtig  raten  sollte' 1 

Wie  aus  dem  gesagten  hervorgeht,  ist  das  licht,  das  aus 
dieser  neuen  erklärung  auf  die  in  frage  kommenden  angel- 
sächsischen gedichte  fällt,  so  trügerisch,  dass  man  den  anscheinend 
gewichtigen  schluss-stein  dieses  gebäudes  von  Schlüssen  schon 
aus  der  ferne  mit  einigem  mistrauen  betrachtet,    'der  geschicht- 

1  wie  Holthausen  mich  freundlicherweise  aufmerksam  macht,  ist  s.  447 
der  genitiv  bei  gebidan  (in  der  bedeutung  'erleben')  in  einen  aecusativ  zu 
verwandeln. 


168  1MELMAISN    DIE    ALTENGLISCHE    ODOAKER-DICHTUISG 


liehe  kern'  verdient  diesen  argwöhn,  er  steckt  in  einer  stelle 
hei  Gregor  vTours  n  18,  19.  erzählt  wird  da,  dass  der  Sachse 
Odovaker  i.  j.  463  die  inselu  der  Loiremündung  besetzt,  von  denen 
er  raubzüge  unternimmt,  dann  wenden  sich  Franken  und  Römer 
gegen  ihn  und  verheeren  unter  grofsem  hlutvergiefsen  seine 
inseln.  nach  seiner  Unterwerfung  verbündet  er  sich  mit  dem 
Frankenkönig  Childerich  und  schliefst  sich  ihm  auf  seinem 
feldzug  gegen  die  Alemannen  an. 

Was  findet  sich  davon  in  der  handlung  der  drei  gedichte  — 
wenn  man,  wie  I.  ihnen  eine  solche  gemeinsame  zuspricht  — 
wider?  hier  wird  ein  führer  durch  fehde  aus  seinem  heimat- 
laude  vertrieben  (Botschaft  18): 

nyde  gebeeded  nacan  ut  a  prong  ond  on  ypa  geong  ana  sceolde 
faran  on  flotweg  (39  ff). 

Deutlicher  kann  man  es  wol  nicht  ausgedrückt  wünschen, 
dass  er  als  armer  flüchtliug  und  verbannter  sein  heimatland  ver- 
liefs.  er  irrt  unglücklich  und  einsam  am  meere  umher  (Klage 
der  frau  47),  auf  einer  insel  (i  rätsei  4),  wird  aber  spater  könig 
bei  einem  andern  volk  (mid  elpeode  Botsch.  36). 

Das  wäre  eine  handlung,  die  bis  auf  die  erlaugung  der 
königswürde  in  anderm  lande  nichts  für  jene  zeit  unrealistisches 
hätte,  (so  hatte  zb.  Edwin,  Aellas  söhn,  der  aus  Deira  stammte 
und  von  Adelfried  von  Nordhumbrien  verfolgt  wurde,  lange  hei- 
matlos umherirren  müssen,  ehe  er  bei  den  Ostangeln  aufnähme 
fand.  616  nahm  er  sein  väterliches  reich  wider  ein  und  warb 
nun  um  Ädelberga  vKent  [Winkelmann,  Ags.  geschichte  s.  35 ff]), 
aber  was  hat  diese  handlung  mit  der  bei  Gregor  von  Tours  er- 
zählten zu  tun?  in  beiden  kommt  ein  Eadwacer  und  eine  insel 
vor,  damit  ist  die  ähnlichkeit  erschöpft,  wie  kann  man  damit 
die  Hygelac-nachricht  vergleichen,  die  so  über  jeden  zweifei  er- 
haben istl 

Freilich  kann  ich  dem  vf.  überhaupt  nicht  in  der  auffassung 
einer  einzigen  einheitlichen  handlung,  die  in  den  drei  gedichten 
verkörpert  ist,  zustimmen,  aber  diese  ganze  frage,  die  einer 
principiellen  erörterung  wert  wäre,  wird  durch  die  Ungeheuer- 
lichkeiten in  den  schatten  gedrängt,  von  denen  l.s  zweite  schritt, 
die  'Zeugnisse  zur  Odoaker-dichtung',  förmlich  strotzt, 
man  fühlt  sich  in  das  'vorwissenschaftliche  Zeitalter  der  englischen 
Philologie'  (Imelmann  vou  Leo  s.  10)  versetzt,  in  die  zeit,  wo  der 
angelsächsische  stil  absolute  terra  incoguita  war,  wenn  man  etwa 
folgendes  list  (interpretation  des  Deorj  :  'die  predigthafle  ein- 
schaltung  ist  an  sich  verfehlt,  weil  sie  als  vorzeitiger  abschluss 
würkt'  (s.  14);  scelum  bidceled  2Sb,  phrase,  ungeschickt  wie 
deel  30b,  34b'.  auf  grund  solcher  kriterien  wird  eine  Strophe 
ausgeschaltet  1  von  einer  weitein  heifst  es  :  'die  Strophe  redet 
von  einer  rnehrheit  von  bedrückten,  secg  monig,  und  deutet  die 
art  der  bedrückung  nur  vage  an,    was    vom  künstlerischen 


IMELMAMN    DIE    ALTEISGLISCUE    ODOAKER-MCHTUNG  1G1J 

slandpuuct  aus  unwürksani  bezeichnet  werden  muss 
und  aufserdem  den  refraiu1  ungeschickt  erscheinen  lässt  :  (so!)  — 
ungeschickt  ist  lern  er  we  geascodan  2V  <Ctoe  . .  gefrugnon  14; 
ahte  22b  <  18a;  (-)rices  21b,  23\  26b;  ofercumon  26b,  o/ereode  27* ; 
23b  ist  nur  lull  sei,  wenn  es  auch  au  Beowulf  gemahnt.  — 
somit  darf  v  als  eiue  interpolatiuu  bezeichnet  werden;  da  sie 
aber,  auch  metrisch,  besser  ist  als  vi  und  dieser  zum  muster 
gedient  hat,  so  ist  sie  älter  und  wir  erkenuen  an  dem  texte 
von  i  deutlich  drei  schichten  der  Überlieferung',  das  p<£t  10* 
und  11"  'ist  jedesfalls  unbeholfen',  danach  kann  man  sich  nicht 
mehr  über  die  au  sich  höchst  erstaunliche  feststellung  verwundern: 
der  einschaller  von  v.  28 — 34  'ist  identisch  mit  dem  vf.  von 
Wanderer  19—20,  58—60'! 

Was  solche  urteile  ermöglicht,  ist  nur  eine  vollständige  nicht- 
beachtuug  des  angelsächsischen  Stils  und  der  einschlägigen  litte- 
ralur.  über  Svortwiderholungen',  'typische  halbverse',  formein 
wie  tce  gefrugnon  udgl.  ist  bis  in  die  jüngste  zeit  so  erschöpfend 
gehandelt,  und  das  material  ligt  so  offen,  dass  es  verlorene  zeit 
wäre,  ein  wort  darüber  zur  Widerlegung  l.s  zu  äufsern.2  die 
Vergewaltigung  des  texles  nimmt  hier  geradezu  groteske  formen 
an.  die  schritt  argumentiert  nämlich  folgeudermafsen  :  in  der 
1  Strophe  von  Deors  klage  ist  von  Wielaud  die  rede,  in  str.  2 
von  der  schwangern  Baduhild.  dann  folgt  die  rätselhafie  3  str. 
v.  14—16: 

We  poet  Mcebhilde  monge  gefrugnon 

Wurdon  grundlease  Geates  frige 

Pcet  him  seo  sorglufu  slcBp  ealne  binom. 

Nun  schliefst  I.  :  es  muss  doch  eine  'disposition  des  Werkes' 
vorhanden  sein,  der  gedankenfaden  von  2  zu  3  ist  also  offenbar 
in  einer  Variation  zu  suchen,  'fasst  man  14 — 16  ins  äuge,  so 
hat  man  den  eindruck,  als  ob  diese  Strophe  ein  Schicksal  schildern 
sollte,  das  dem  vorher  beschriebeneu  der  Beadohild  in  wesent- 
lichen Zügen  glich,  wir  haben  hier  wie  dort  ein  weibliches 
wesen,  dem  von  einem  manne,  aber  nicht  dem  gatten,  übel  mit- 
gespielt wird,  wenn  dem  so  ist,  dann  hat  der  dichter,  der  doch 
eine  blofse  widerholung  vermieden  hätte,  eine  Variation  be- 
absichtigt :  erstens    betont    er    die    allgemeine  bekanntschaft  mit 

1  der  eigentümliche  geuitiv  in  dem  kehr  reim  ßces  ofereode,  pisnes  swa 
viaeg  hat  die  verschiedensten  Übersetzungen  veranlasst: 
ten  Brink  :  'das  wurde  überstanden,  so  kann  auch  dies  überstanden  werden.' 
Wülcker  :  'das  ging  vorüber,  so  mag  auch  dies  vorübergehen.' 
Brooke  :  'hat  the  over-went,   this  also  may  I.' 
Lawrence  :  'hat  the  endured,  this  also  can  !.' 

Iiinlmanns  Übersetzung  (s.  12)  'des  kam  ein  ende,  dieses  mag  es  auch'  findet 
sich  längst  von  Wülcker  abgesehen  bei  Bosworth-Toller  :  'it  is  all  over  with 
that,  so  may  it  be  with  this.'  — 

a  das  gilt  natürlich  auch  für  die  bestimmte  behauptung  s.  22,  nach 
der  Deor  11 b,  12*  ein  'citat'  (!)  aus  Klage  der  frau  39b,  40  sei! 

A.  F.  ü.  A.  XXXI.  12 


170  IMELMANN    DIE    ALTENGLISCHE    ODOAKER- DICHTUNG 

dem  Deuen  gegenstände  (inonge  14b);  sodann  geht  er  auf  das 
moliv  dieser  zweiten  Vergewaltigung  ein  (frige  15b,  sorglufu  16a), 
und  endlich  nennt  er  den  täter  bei  namen  (Geat  156),  während 
Wieland  in  n  nicht  wider  erwähut  wird'. 

Aber  wo  in  aller  weit  steht  in  diesen  drei  Zeilen 
ein  wort  davon,  dass  Msedhild  eine  verge walligte 
fr  au  sei? 

Dafür  schafft  nun  der  vf.  rat,  indem  er  kurz  entschlossen 
den  v.  10  pcet  heo  gearolice  ongieten  hwfde  als  zweiten  vers  in 
str.  3  versetzt,  ist  er  doch  schon  vorher  als  'jüngere  einschiebung' 
bezeichnet,  uzw.  einmal  aus  den  oben  charakterisierten  stilistischen 
gründen,  und  dann  auch  weil  ja  nicht  die  erkenntnis  der  Schwanger- 
schaft, sondern  die  tatsache  selbst  (lla)  das  schmerzliche  sei. 
diese  haarspalterei  ist  kaum  mehr  verständlich,  nun  steht  also 
der  vers  glücklich  in  der  Mädhild-strophe.  aber  damit  ist  noch 
nichts  gewonnen,  es  gilt  dem  ongietan  eiuen  andern  sinn  zu 
geben.  I.  übersetzt  —  man  lese  und  staune  :  'dass  auch  sie 
völlig  empfangen  hatte',  uzw.  weil  in  nachahmung  der 
bibel  in  einer  homilie  gelegentlich  ongietan  =  'einen  mann  er- 
kennen heifst'.  so  bekommen  wir  dann  eine  schwangere 
Mädhild  und  einen  schwängerer  namens  Geat.  aber  damit  ist 
immer  noch  nichts  für  die  Eadwacer-sage  bewiesen,  das  geschieht 
nun  auf  folgendem  wege. 

In  der  4  Strophe  ist  von  Theoderich  die  rede,  aber  sie  ist 
auffallend  kurz  und  hat  nur  zwei  zeilen.  die  5  Strophe  redet 
jedoch  ausführlich  von  Ermanrich.  diese  5  Strophe  ist  indes  aus 
stilistischen  gründen  (siehe  oben!)  unecht,  sie  ist  später  ein- 
gesetzt, der  mann,  der  sie  einschob,  kannte  aber  Ermanrich 
als  gegner  Theoderichs.  in  dem  ihm  vorliegenden  gedieht 
aber  fand  er  in  der  4  Strophe  gewis  noch  den  Odoaker  als  feind 
des  Gotenkönigs  von  Bern,  er  strich  ihn  deshalb  heraus  1!  (so 
zu  lesen  auf  s.  21).  damit  wäre  nun  der  Odoaker  für  die  4  slr. 
gewonnen,  aber,  fragt  man,  dieser  Od  oaker  ist  doch  nicht 
der  Sachse  Odoaker?  tut  nichts!  'der  Übergang  von  m  zu  iv 
wäre  unerklärlich,  wenn  dem  dichter  nicht  Eadwacer  —  als 
Scyrre  oder  Sachse  oder  beides  zugleich  —  vorge- 
schwebt hätte',  also  weil  in  der  4  Strophe  der  bekannte  Usur- 
pator Odoaker  figuriert  haben  könnte,  bezieht  sich  der  iuhalt 
der  3  Strophe  auf  den  Sachsen  Odoaker  des  Gregor  von  Tours! 
mithin  ist  jetzt  das  trifolium  sogar  dem  namen  nach  ermittelt, 
Mädhild  heifst  die  frau,  die  in  der  Klage  der  frau  und  im  1  rätsei 
klagt,  Geat  heifst  der  beadu-cafa  des  1  rätseis,  der  geong  mong 
der  Klage  der  frau.  über  dieser  erklärung  sind  freilich  v.  21 — 35 
zum  teufel  gegangen  und  v.  35 — 41  haben  den  platz  tauschen 
müssen  und  sind  an  den  anläng  geraten,  aber  darauf  kommt 
nichts  an  :  'jedesfalls  haben  wir  in  Deors  klage  jetzt  ein  kleines 
meisterwerk  kennen  gelernt,  das  uns  sehr  viel  neues  sagt'  (s.  2-1). 


[MELMANN    MB    ALTENGLISCHE    ODQAK ER- DICHTUNG  171 

aber  auch  der  Dame  Geat  wird  noch  erklärt,  der  gegner  des 
Sachsen  ist  offenbar  ein  Eulhio,  ein  'Jute',  den  die  sage  dann 
zum  hruder  gemacht  hat.  (wo  stellt  in  den  gedichtet)  auch  Hin- 
ein wort  davon,  dass  die  Trau  ihrem  seh  wager  zum  opfer  lallt??). 
Eutio,  anglisch  Juta,  Jota  (nordh.),  merc.  Eota.  der  dichter  des 
Deor  schöpfte  aus  mercischer  Überlieferung',  'und  wie  Asser  aus 
Geat  Geata  machte,  was  hei  seinem  henulzer  widerkehrl  und  wo- 
neben Eala  steht,  so  konnte  aus  einer  form,  die  aus  Eutio  regel- 
recht entwickelt  war,  ohne  weiteres  Geata  und  weiter 
durch  misverslän  dnis  Geat  werden.' 

Sprach  nicht  Voltaire  von  einer  elymologie,  hei  der  auf  die 
vocale  nichts,  auf  die  consonanten  wenig  ankommt  ?  —  und  stimmen 
wir  selbst  all  diesen  Schlussfolgerungen  zu,  wäre  es  nicht  äul'serst 
unwahrscheinlich,  dass  neben  den  eigenoamen  der  übrigen  han- 
delnden in  der  sage  von  dem  einen  der  Stammesname  bei- 
behalten würde? 

Als  der  vf.  so  weit  gekommen  war,  scheint  er  umhergespähl 
zu  haben,  ob  sich  nicht  noch  mehr  bisher  verschlossene  tore 
fänden,  die  mit  dem  Eadwacer-schlüssel  zu  offnen  wären,  und 
siehe  da,  sein  blick  fiel  auf  das  runen Kästchen!  — 

An  der  rechten  seite  des  runenkästchens,  seinen  schrifi- 
zeichen  und  seinen  darstellungen  hat  sich  der  grusle  Scharfsinn 
der  gelehrten  seit  jähren  müde  und  stumpf  gearbeitet.  Hinz, 
Holthausen,  vGrienhergcr,  Victor,  Wadstein,  Napier,  Jiriczek, 
Bradley  haben  alle  dieses  rätsei  aus  walfischbein  vergebens  zu 
lösen  versucht,  nach  Imelmann  ist  es  spielend  einfach,  er  lässt 
zunächst  die  rune  nbeiseite  und  geht  von  der  erklärung  der  gruppeu 
aus.  ihrer  sind  drei,  aber  nur  auf  die  mittlere  und  rechte  von 
ihneu  will  er  nachher  die  runenschrift  bezogen  wissen,  nur  sie 
beide  gehören  zusammen  und  verbildlichen  die  Odoakersage,  die 
erste,  linke  darstellung  scheidet  aus.  sie  bleibt  unerklärt,  das 
ist  schon  a  priori  mehr  als  unwahrscheinlich,  die  darstellungen 
auf  dem  runenkästchen  bieten  immer  zusammenhängende  Hand- 
lung, wenn  die  front  zwei  darstellungen  zeigt,  die  Wielandsage 
und  die  anbetenden  magier,  so  hat  sie  beide  auftritle  auch  durch 
eine  deutliche,  breite  miltelleiste  voneinander  getrennt,  so  dass 
nie  jemand  auf  den  gedanken  geraten  würde,  diese  bilder  ge- 
hörten zusammen,  dagegen  scheidet  nichts  die  drei  Vorgänge 
auf  unsrer  seite,  und  wer  sie  ohne  Voreingenommenheit  be- 
trachtet, muss  gestehn,  dass  eine  lösung  die  das  erste  bild  nicht 
mit  einbezieht,  a  limine  abzuweisen  ist.  höchstens  könnte  man  jede 
gruppe  einzeln  auffassen.  —  des  weitem  basiert  I.s  erklärung 
auf  der  anschauung,  dass  in  der  letzten  gruppe  die  Vergewaltigung 
einer  frau  durch  zwei  männer  dargestellt  sei.  'die  mittlere  ge- 
stall scheint  weiblich  wegen  der  Verschiedenheit  ihrer  kleidung 
von  der  der  zwei  männer'.  ich  muss  das  entschieden  bestreiten. 
padurch    dass  die  mittlere  geslalt  von  vorn,    die  andern  von  der 

12* 


172  IMELMANN    DIE    ALTENGLISCHE    ODOAKER-IMCHTUNG 

seile  gesehen  sind,  ergehen  sich  von  selbst  gewisse  verschieden- 
heilen in  der  darstellung.  so  sieht  man  zb.  in  den  Überhang  der 
mittlem  figur  offen  hinein,  während  er  bei  der  figur  links  über 
den  rechten  arm  fallend  den  rock  überschneidet,  aber  eine 
würkliche  Verschiedenheit  der  kleidung  ligt  gevvis  nicht  vor.  wer 
sehen  will,  wie  der  Schnitzer  durch  kleidung  unterscheidet,  der 
blicke  auf  die  Wieland-scene,  wo  die  frauen,  Baduhild  und  ihre 
dienerin,  sich  durch  völlig  andere  kleidung  von  dem  unheil- 
sinnenden schmied  abheben,  wer  diese  differenzierung  gesehen 
hat,  wird  nicht  mehr  zweifeln,  dass  es  sich  in  der  rechten  gruppe 
um  personen  desselben  geschlechts  handelt,  damit  wäre  schon 
die  wichtigste  stütze  dieser  erklärung  hinfällig  geworden,  aber 
nehmen  wir  einmal  an,  sie  bestünde  noch,  was  weifs  uns 
I.  über  die  mittlere  gruppe  zu  sagen?  ihr  centrum  bildet,  den 
blick  des  beschauers  zunächst  ganz  absorbierend,  ein  hengst, 
darunter  ein  fliegender  vogel,  daneben  eine  höhle  (grab?)  mit 
halber  kauernder  gestalt  darin,  ein  Wächter  mit  einem  schwert 
(lanze?)  daneben,  aber  alle  diese  dinge  treten  zurück  hinter  dem 
grofs  dargestellten  pferde.  nach  I.  ist  das  ganze  eine  Illustration 
zur  'Klage  der  frau'.  sie  ist  die  gefangene  in  der  höhle,  der 
Wächter  ihr  Verfolger,  pferd  und  vogel  sind  ihre  genossen  im 
walde.  —  wunderlich  lyrisches  moment  in  der  darstellung  epischer 
handlung!  der  fürst  in  folgt  ihr  'slreitross'  (s.  33)  in  den  wald, 
wo  sie  in  der  höhle  bewacht  wird?  irgend  eine  bedeutung  für 
die  Handlung  hat  das  nicht? 

Abermals  muss  ich  auf  die  Wieland-darslellung  verweisen, 
wie  ist  hier  alles  bedeutungsvoll!  an  der  wand  hängt  ein  blase- 
balg  und  ein  hammer  (darunter  nägel?)  —  der  amboss,  die 
knabenleiche,  alles  voller  sinn  und  hinweis,  und  hier  sollte  ein 
pferd,  das  den  miltelpunct  der  ganzen  darstellung  bildet,  nur 
lyrisch-decorativen  Charakter  haben?  das  wird  niemand  für  mög- 
lich halten,  mit  der  erklärung  von  kleinigkeiten  wie  dem  becher 
vor  dem  köpf  des  pferdes  gibt  sich  1.  überhaupt  nicht  ab. 

Derart  anfechtbar  ist  die  basis  der  bild-erklärung,  auf  der 
sich  nun  l.s  interpretation  der  runen  erhebt,  aber  wer  an  sie 
mit  der  Hoffnung  herantritt,  alle  knoten  entwirrt  zu  sehen,  der 
erlebt  eine  arge  enttäuschung.  zunächst  einmal  ist  die  inschrift, 
so  wie  sie  vorhanden,  nur  aus  der  seele  eines  Schnitzers  zu 
begreifen,  der  1)  mit  seiner  vorläge  nicht  genau  bekannt,  2)  mit 
dem  sinn  und  der  bedeutung  der  dargestellten  Handlung  auf  dem 
kästchen  nicht  recht  vertraut  und  3)  ein  so  capitales  rindvieh 
war,  dass  er  sich  fortgesetzt  in  der  unglaublichsten  weise  verlas, 
er  sollte  nach  I.  schreiben: 

Herh-husce  silip  in  harmbergcn 
aglac  drigip  swoe  hirce  Jula  gücraf 
sar  end  sorgw  and  sefa  tornce. 
'Im  waldhause  sitzt  sie,  im  harmberge, 


IMELMANN    DIE    ALTENGLISCHE    ODOAK ER- DICHTUNG  173 

erträgt  elend  wie  Juta  ihr  verhängte, 
schmerz  und  kuuimer  und  zornigen  sinn'. 

Nun  beginnt  aher  die  würkliche  inschrill  Her  hos  sücep. 
nach  I.  ist  das  einfach  zu  erklären,  die  vorläge  halte  schon 
herhuscB;  'der  Schnitzer  nahm  her  als  besonderes  wort,  sah  nichts 
von  einem  hause,  muste  dagegen  die  sitzende  geslalt  ganz  links 
gleich  bemerken,  hielt  sie  mit  seinen  spätem  erklärern  für  ein 
pferd  und  setzte  o  statt  u}  und  ganz  consequent  auch  oh  statt 
m;  aber  ein  -r-  in  hos  setzte  er  nicht  ein,  wie  er  auch  das 
end-CE  sparte.     *horsce  konnte  ihm   nicht  einleuchten.' 

Wunderbarer  Schnitzer!!  nach  dieser  probe  kann  man  sich 
nicht  wundern,  wie  der  Juta  herausgebracht  wird,  sowol  ertae 
als  bita  des  runenkästchens  sind  eine  eutstellung  dieses  namens: 
risci  über  dem  pferde  ist  als  wisci  =  'wiesen',  'marschen'  zu 
lesen  usw. 

Demgegenüber  sollte  doch  festgehalten  werden  an  dem  factum, 
dass  irrtümer  des  Schnitzers,  von  unserer  seitenwand  abgesehen, 
auf  den  sämtlichen  Seiten  des  runenkästchens  nur  in  den  lateinischen 
worten  der  rückenseite  festgestellt  siud  (vgl.  Napier  The  Franks 
casket  s.  370  im  Euglish  Miscellany  pres.  to  Furnivall,  Oxford  1901), 
so  grofse  Schwierigkeiten  auch  unsere  inschrilt  bietet. 

Wir  haben  gesehen,  dass  I.s  interpretation  vor  keiner 
Schwierigkeit  zurückschreckt,  eine  letzte  und  grofse  gab  es  noch 
zu  überwinden  :  die  frage  der  datierung.  sie  erheischt  nach 
1.  die  Vorfrage  :  ist  das  bild  auf  dem  kästchen  von  der  'Odoaker- 
dichtung'  abhängig  und  also  später  anzusetzen?  I.  betrachtet 
die  bejahung  dieser  frage  als  ziemlich  selbstverständlich,  ich 
kann  ihm  darin  nicht  beistimmen,  wenn  alles  andere  plausibel 
wäre,  dieses  letzte  hindernis  brauchte  keins  zu  sein,  denn  warum 
muss  die  angebliche  Odoaker-darstellung  von  der  dichtung  ab- 
hängig sein?  es  muss  ja  nach  1.  eine  ganz  geläufige  Odoaker- 
sage  gegeben  haben!  auch  die  andern  seiten  des  kästchens 
beziehen  sich  doch  offenbar  auf  sagenhafte  oder  historische  ge- 
schehnisse,  nicht  aber  auf  gedichte.  der  grund  aber,  den  er 
anführt,  zeigt  nur  eine  schon  früher  besprochne  mangelnde  be- 
rücksichtigung  angelsächsischen  Stils,  dh.  in  diesem  falle  des 
formelwesens,  der  ähnlichen  und  gleichen  halbverse,  die  bei  ver- 
wauten  Situationen  immer  wider  auftauchen,  nur  wenn  es  sich 
auf  dem  kästchen  um  die  genaue  widerholung  der  worte  aus  der 
Klage  der  frau  handelte,  liefse  sich  von  entlehnung  sprechen, 
nicht  aber  bei  blofs  oberflächlicher  ähnlichkeit.  —  so  schafft  sich 
I.  selbst  ein  hindernis,  um  dann  freilich  leicht  darüber  weg- 
zukommen, die  'Odoaker-dichtung'  rührt  aus  der  zeit  um  750 
her  (s.  44),  das  runenkästchen  müsle  deshalb  nach  I.  gleichzeitig 
oder  später  sein,  aber  das  ist  nicht  möglich,  denn  die  spräche 
des  fischbeinkästchens  zeigt  deutlich  ein  früheres  gepräge.  es- 
erscheint  auf  ihm  nämlich  die  form  fläch  mit  erhaltenem  w,  und 


174  GLTJAHR    ZUR    ENTSTEHUNG    DER    NHl).    SCHRIFTSPRACHE 

wie  Morsbach  noch  jüngst  in  einer  langen  und  sorgfältigen  Unter- 
suchung festgestellt  hat  (GGN.  phil.-hist.  cl.  1906  s.  251  ff.),  war  'der 
abfall  des  ■>«  sowol  nach  hanpttoniger  wie  langer  nebentoniger 
silbe  im  anfang  des  8  jh.s  auf  anglischem  boden  schon  vollzogen', 
die  art  und  weise,  wie  I.  sich  mit  dieser  tatsache  auseinander- 
setzt, ist  sehr  erstaunlich,  er  erklart  nämlich  die  Vorderseite 
mit  der  flödu- form  kurzerhand  für  älter,  vielmehr  die  inschrift, 
die  'auf  jeden  kunstgegenstand  ans  walfischbein  gepasst',  für 
traditionell,  dieser  geilanke,  die  inschrift  in  einen  neuen  und 
einen  alten  teil  zu  zerlegen  ist  aber  ein  ad  hoc  gefundener  not- 
behelf,  der  niemanden  befriedigen  wird,  mehr  gewicht  legt  I. 
offenbar  selbst  dem  argument  bei,  dass  dem  flödu  mit  erhaltenem 
-M  ein  wort  mit  weggefallenem  -u  gegenüberstände,  das  den 
moderneren  lautstand  darstelle,  dieses  wort  ist  —  herhl  aber 
dieses  herh  ist  ja  eine  gänzlich  unbewiesene  conjectur  I.s,  nnd 
statt  die  aus  flödu  hergeleiteten  Schlüsse  zu  entkräften,  wird  für 
jeden  unvoreingenommenen  gerade  im  gegenteil  dieses  herh  durch 
flödu  als  unmöglich  erwiesen!  —  und  was  die  zu  hülfe  gerufenen 
formen  Romwalus,  Reumwalus,  sefa,  wylif  angeht,  so  hat  iMorsbach 
in  der  angezogenen  arbeit,  teilweise  mit  berufung  auf  Sievers 
und  Bülbring,  sie  als  unglaubwürdige  zeugen  späterer  entstehung 
so  beweiskräftig  abgetan,  dass  man  sich  sehr  wundern  muss, 
ihnen  hier  überhaupt  wider  ohne  neues  material  zu  begegnen. 
Die  reihe  kühner  conjecturen,  die  I.s  arbeit  darstellt,  hat  sich 
als  hinfällig  erwiesen,  die  Odoaker-dichlung  als  'milde  neben- 
sonne  zum  strahlenden,  aber  grellen  gestirn  des  Beowulf  (!?) 
ist  eine  Sinnestäuschung,  unter  diesen  umständen  werden  wol 
nicht  wenige  dem  herausgeber  dieser  Zeitschrift  beipflichten,  der 
mich  bittet,  ich  möge  seinem  mismut  darüber  ausdruck  geben,  dass 
Vermutungen  wie  diese  in  einer  form  veröffentlicht  werden,  die 
dem  wissbegierigen  ein  opfer  von  vier  mark  auferlegt. 

Göltingen.  L.  L.  Schücking. 


Zur  entstehung  der  neuhochdeutschen  Schriftsprache,  sludien  zur  deutschen 
rechts-  und  Sprachgeschichte  von  prof.  dr  Emil  A.  Gutjahr,  ii.  Die 
Urkunden  deutscher  spräche  in  der  kanzlei  Karls  iv.  Leipzig,  Diete- 
richsche  Verlags -buchhandlung  Theodor  Weicher,  1906.  xiv  und 
499  ss. —  12  m. 

Das  buch  will  entgegen  der  bisher  geltenden  ansieht,  dass 
die  wiege  der  nhd.  Schriftsprache  Böhmen  und  die  böhmische 
kanzlei  war,  erweisen,  dass  das  ganze  oslmd.  'sechsische'  gebiet 
und  im  11 — 13  jh.  vor  allem  die  bergstadt  Halle  für  die  be- 
gründung  der  Schriftsprache  in  frage  komme,  die  sächsische 
(hallisch-magdeburgische)  schöffenpatriciersprache  des  12 — 14  jh.s 
sei  unter  dem  einflusse  der  bürgerlichen  innungen  von  der  muud- 
art  zur  Schriftsprache  des  rechts  erhoben  und  von  Eyke   für  alle 


GUTJAHR    ZUR    ENTSTEÜU.NG    DER    MID.    SCHRIFTSPRAC11K  175 

zeit  festgelegt  worden,  wer  solches  erweisen  will,  muss  die  bis- 
herige Forschung  auf  den  köpf  stellen,  muss  die  eiugehuden 
Untersuchungen  zur  frage  nach  der  nihd.  lilteratur-  und  der  nhd. 
Schriftsprache  beiseite  schieben  und  einem  vereinzelten,  mehr 
litterarisch  zu  würdigenden  versuch,  deutsche  prosa  zu  schreiben, 
wie  er  in  Eykes  Sachsenspiegel  vorligt,  eine  über  ein  jh.  hinaus- 
reichende epochale  würkung  zuschreiben,  die  im  weiteren  erst 
durch  Böhmens  kanzlei  weilergeführt  worden  sei.  es  wird  nötig 
sein,  Gutjahrs  beweisgrundlagen  wenigstens  zu  streifen,  die  in 
seiner  abhandlung  Zur  neuhochdeutschen  Schriftsprache  Eykes 
vRepgowe,  eine  sprach-  und  rechtsgeschichtliche  abhandlung  als 
prodromos,  Leipzig  1905,  vorliegen. 

Dort    geht  Guljahr    von  der  fiction  einer  'schöffendeutschen 
Umgangs-  und  Schriftsprache  des  13  jli.s  und  einer  socialeu  mda. 
des  ostmd.  innungspatriciats   des  14  jh.s'  aus  :  Eykes  familie  war 
mittelfränkisch,    er    selbst    hallischer    palricier    und    schölle  und 
schrieb  seine  rechtsbücher  in  deutscher  und  zwar  obersächsischer 
spräche,    manchmal    mit    entgleisung    in    seine    mfr.    heimat(l); 
aber    er    begnügte    sich    bei  seiner  schwierigen  arbeit  nicht  mit 
einem     neuen    Schriftdeutsch,     sondern    schrieb    je    nach     dem 
publicum    für    das    sein    werk    bestimmt  war,    mit  aristokratisch 
oberdeutscher  oder  mit  innungsdeutscher  volkstümlicher  lärbung. 
Roethes    meinung,    Eyke    sei    ein    niederdeutscher  gewesen,    der 
unter  dem  einfluss  der  dichter-  und  litteratursprache  von  seinem 
sassischen    deutsch    abgewichen  sei,    trifft  nicht  das  richtige.  — 
dass    es    social  geschiedene  mundarten  oder  besser  gesagt,    eine 
nach    ständen    abgestufte   Volkssprache  gegeben  habe,    kann  ein- 
leuchten, wenn  auch  Gutjahrs  beweis  aus  der  urkundlichen  Über- 
lieferung   auf  verkennung  der  schriftlichen  traditiou  beruht  und 
mislungen    ist.     dass  zb.    die    ostmd.    palricier    kämpf,    klopfen 
gesprochen   haben  (s.  5),    kann  nicht  mit  der  tatsache  bewiesen 
werden,  dass  es  im  14  jh.  in  einer  für  den  öffentlichen  gebrauch 
bestimmten  Urkunde  geschrieben  erscheint,    ebenso  unsicher  und 
unwahrscheinlich    ist    die   behauptuug,    dass  die  ostmd.  ritter  pf 
gesprochen    haben.    —   dass    aber   diese  sociale  Scheidung  im 
Sachsenspiegel  und  im  weichbildrechte  des  13  und  14  jh.s  zum 
schriftlichen  ausdruck  gekommen  sei   und  noch  heute  von  uns  in 
dem    schöffendeutschen    i,  ü,  mpf,  pf  gegenüber   dem   in- 
nungsdeutschen ei,  au,  eu,  mp,  pp  festgestellt  werden  könne, 
ja    dass    diese,    hypothese    zum    ausgangspuncte  einer  neuen  an- 
schauung    über    die  entstehung  der  deutschen  Schriftsprache  ge- 
macht wird,  dagegen  muss  entschieden  einspruch  erhoben  werden, 
die  entstehung  unserer  Schriftsprache  ist  von  einer  ganzen  reihe 
sprachlicher,    socialer,    politischer    factoren    abhängig,    die    zum 
gröfseren    teile    aufgeklärt  sind,     die  Prager  kanzlei  des  14  jh.s 
kann  ja  auch  Guljahr  nicht  aus  seinen  aufstellungeu  ausschalten, 
aber  sie  ist  nach  ihm  nur  der  empfangende  teil,  indem  sie  blofs 


176  GUTJAHR    ZUR    E.NTSTEHUIS'G    DER    NHD.    SCHRIFTSPRACHE 

das  durch  Eyke  festgelegte  sächsische  deutsch  hoffähig  gemacht 
haben    soll,     auf  die  frage,  woher  die  sechsischen  Innungen  des 

13  jh.s  ei,  au,  eu  aufgenommen  hahen  sollen,  weifs  Guijahr 
natürlich  eine  antwort  :  die  diphlhonge  sind  aus  dem  nieder- 
fränkischen gekommen,  und  Eyke  scheint  ihm  auch  hier  die 
mittelsperson.  aher  die  sprachlich -culturelle  hedeutung  Eykes 
bedarf  einer  künstlichen  erhehung  zum  schöpfer  einer  neuen 
Schriftsprache  nicht,  und  Guljalirs  widerholte  herufung  auf  Luther 
als  zeugen  für  die  herleitung  des  schrifldeutschen  aus  der  'säch- 
sischen kanzlei'  ist  unkritisch,  ebenso  unkritisch  wie  die  er- 
klärung  der  Prager  kanzlei  zur  blofsen  aufnahmestation  für  die 
hallisch-sächsische  Schriftsprache.  Gutjahrs  benützung  der  quellen- 
schriften  und  seine  citate  früherer  forschung  sind  oberflächlich  und 
nicht  immer  Selbstzweck,  (so  erfährt  man  Prodromos  s.  3  ge- 
legentlich einer  herufung  auf  Pauls  Principien,  dass  das  schluss- 
heft  von  Gutjahrs  Beiträgen  zur  lateinischen  grammatik  im 
sommer  1905  in  Leipzig  bei  Alwin  Schmidt  erscheint),  dabei 
aber  wird  das  endziel  seiner  arbeiten,  das  hallische  sächsisch  als 
die  grundlage  der  nhd.  Schriftsprache  und  Eykes  rechtsbuch  als 
das  erste  glied  derselben  darzustellen,  mit  Zähigkeit  verfochten 
und  mit  vieler  mühe  aus  den  aufzeichnungen  zu  erweisen  ge- 
sucht und  zur  Unterstützung  der  schwächlichen  gründe  die  fictiou 
mit  beharrlicbkeit  widerholt. 

Dasselbe  bild  bietet  das  vorliegende  buch,  das  im  wesent- 
lichen auf  den  im  Prodromos  aufgestellten  und  nun  als  erwiesen 
betrachteten  hypothesen  beruht,  die  auf  den  eingehenden  Unter- 
suchungen der  schriftlichen  Überlieferung  des  12 — 14  jh.s  be- 
gründete tatsache,  dass  die  nbd.  diphlhonge  aus  dem  bairisch- 
österreichischen  hergeleitet  werden  müssen,  wird  mit  der  be- 
merkung  abgetan,  dass  diese  diphlhonge  nach  Baiern-Österreich 
erst  zugewandert  sind  uzw.  —  aus  Niederfranken,  aus  der  mischung 
von  ndd.  und  ostmd.  dementen  in  Halle  (und  Magdeburg)  soll 
eine  Schriftsprache  erwachsen  sein,  die  von  Böhmens  kanzlei  im 

14  jh.  aufgenommen  und  ausgebildet  wurde,  über  diesen  wich- 
tigen umstand  lässt  sich  allerdings  der  vf.  nicht  weiter  aus,  die 
begründung  soll  wol  folgender  satz  s.  8  anm.  geben  :  'Litterarisch 
taucht  die  amtliche  sächsische  rechtssprache  . . .,  nachdem  ca.  1235 
der  Sachsenspiegel  von  Halle  ausgegangen  war,  wol  in  Böhmen 
zuerst  auf,  wo  sie  Ulrich  vEschenbach  in  seinem  gedichte 
'Wilhelm  von  Wenden'  (a.  1287 — 97)  verwante.  UvEschenbach 
war  sicherlich  selbst  patricischer  abkunft  und  stammte  aus  einer 
(vielleicht  aus  Baiern)  nach  Böhmen  zugewanderten  familie. 
für  die  herkunft  der  familie  aus  Oberdeutschland  spricht  der 
name  und  an  idiomen  nit,  starchen;  dagegen  sind  auch  nieder- 
rheinisch-coloniale  idiome  wie  bit  (=■  mit),  van,  dann  oi  für  ou, 
selbst  ai  für  ou  nachweisbar,  echt  sechsisch  ist  freyden,  freide, 
frtiude;    sechsisch-böhmisch    ist    es  (für  s)   in  czu,    colonial    ist 


GUTJAHR  ZUR  ENTSTEHUNG  DER  MM).  SCHRIFTSPRACHE     177 

auch  s  (für  2)  in  das,  bas,  weis  uam.  und  au  (für  ou)  in  auch, 
frawen ;  entgleisung  ist  bitz*.  ich  muste  den  salz  herschreiben, 
wenn  er  auch  von  einer  so  unheimlichen  Verwirrung  und  Unkenntnis 
sprachlicher  erscheinungen  Zeugnis  gibt,  dass  man  nach  solchen 
proben  das  buch  ruhig  zuschlagen  möchte,  jedes  weitere  wort 
der  aufklärung  ist  papierverschweodung.  aber  da  der  vf.  hier 
wie  im  Prodromos  mit  solcher  Sicherheit  auftritt  und  alle  bis- 
herige forsch u og  von  Müllenhoff  bis  Burdach,  Kraus,  Roelhe  ua. 
-o  oeben bei  abtut,  mag  zur  näheren  beleuchtung  noch  eine  kleine 
probe  dieser  über  zeit  und  rautn  schwebenden  hypolhesen  vor- 
geführt werden,  auf  der  eben  genannten  s.  8  list  man  :  'nach- 
dem der  innungspatricisch  gesinnte  Johann  vFrankenstein  in 
Schlesien,  der  seinen  'Kreuziger'  zu  Wien  1300  dichtete,  sogar 
dem  neueren  ei  schon  eingang  gewährt  hatte,  folgt  die  deutsche 
ordenschronik  des  mehr  schöffendeulschen  Nicolaus  vJeroschin, 
die  in  den  jähren  1335 — 41  abgefasst  sein  wird.  Nicolaus 
vJeroschin,  offenbar  ein  nobilis  vir,  aber  laicus,  homo  novus, 
ein  neufreier  bürgerlicher  herr,  der  das  urbane  deutsch,  das 
ordensdeutsch  als  dictator  noch  nicht  ganz  beherschte,  gehörte 
wol  ebenso  wie  (JvEschenbach  und  JvFraukenstein  nicht  von 
geburt,  aber  später  durch  rang  dem  sächsischen,  schon  nach 
hofelichin  Sitten  lebenden  und  sprechenden  patriciate  Oslpreufsens 
uz.  einer  vom  INiederrhein  (aus  Miltelfranken)  zugewanderten 
familie  an;  wenigstens  finden  sich  nicht  selten  niederrheinisch- 
miltelfränkische  idiome  in  seiner  spräche'  usw. 

Stellen  wir  uns  auf  den  standpunct  des  vf.s,  dass  die  säch- 
sische Schriftsprache  nach  Böhmen  eingewandert  sei,  so  verstehn 
wir  noch  immer  nicht,  wie  im  14  jh.  Böhmen  der  ausgangspunct 
der  Schriftsprache  wurde,  was  Burdach  bisher  schon  an  gründen 
für  diese  merkwürdige  neue  cultur  und  spräche  in  Böhmen  unter 
Karl  iv  beigebracht  hat,  scheint  an  Gutjahrs  Studien  zur  entstehung 
der  nhd.  Schriftsprache  ohne  würkung  vorbeigegangen  zu  sein, 
und  wo  er  auf  diesen  process  zu  reden  kommt,  gehl  er  in  die 
irre.  Johann  vNeumarkt  soll  in  Böhmen  die  sächsische  innungs- 
deutsche patriciermundart  Böhmens,  die  mit  der  patricischen  mda. 
seiner  schlesischen  heimat  identisch  und  also  seine  mutter- 
sprache(!)  war,  zur  diplomatensprache  des  deutschen  reiches 
erhoben  haben  (s.  13).  das  ist  eine  völlige  verkennung  der  tat- 
sacben,  der  Vorgeschichte  jener  deutschen  kanzleisprache  und  der 
sprachlichen  und  politischen  factoren  bei  der  geburt  dieser  com- 
promiss-sprache  und  kuustsprache,  die  aber  ihrer  realen  Vor- 
bedingungen keineswegs  entbehrte,  dass  diese  compromiss-sprache 
in  Böhmen  empirisch  schritt  für  schritt  verfolgt  werden  kann  und 
für  einzelne  denkmäler  schon  verfolgt  ist,  weifs  Gutjahr  gar  nicht, 
er  steuert  sein  schifflein  mit  sicherem  mut  über  alle  sprach- 
geschichtlichen  kuppen  hinweg. 

Doch    wollen    wir   von  dieser  gänzlich  verfehlten  grundlage 


178  GITJAHR    ZUR    ENTSTEHUNG    DER    INHD.    SCHRIFTSPRACHE 

der  Untersuchung  absehen  und  kurz  anführen,  welche  forschung 
(\vv  vf.  an  die  deutschen  Urkunden  Karls  iv  anknüpft,  indem  er 
die  eigentlichen  kanzleiurkunden,  die  alle  in  der  kanzlei  selbst 
aufgestellten  mcrkmale  und  bedingungen  äufserer  und  innerer 
form  aufweisen,  von  den  partei-  nnd  kanzleiredigierten  Urkunden 
scheidet,  belasst  er  sich  vornehmlich  mit  jenen  ersten,  aus  der 
zahl  von  1400  deutschen  Urkunden  der  kanzlei  Karls,  die  dem 
vf.  bekannt  geworden  sind,  bezeichnet  er  55  (davon  24  in  Böhmen 
ausgestellte)  als  voll  kanzleigemäfs.  leider  muss  schon  hier  ge- 
sagt werden,  dass  G.  sich  um  die  eigentlich  böhmischen  Urkunden 
soviel  wie  nicht  gekümmert  und,  wie  schon  aus  seinem 
quellenverzeichnis  hervorgeht,  von  den  vielen  hundert  deutschen 
Urkunden,  die  in  Böhmen  selbst  zum  abdruck  gekommen  sind 
oder  noch  ungedruckt  der  Veröffentlichung  harren,  nur  sehr 
wenige  —  mau  möchte  fast  sagen  geflissentlich  —  herangezogen 
hat.  von  den  1400  Urkunden  der  königl.  und  kaiserl.  kanzlei 
Karls,  die  G.  vermerkt,  sind  aus  böhmischen  orten  aufserhalb 
Prags  nur  55,  davon  kommen  auf  Karlstein  als  den  gewöhnlichen 
sitz  Karls  aufserhalb  Prag  9,  so  dass  G.  zb.  von  Eger  nur  7, 
von  Budweis  4,  von  Leitmerilz  2,  von  Kaaden  1  Urkunde  zur 
kenntnis  gekommen  sind,  während  Karl,  'der  vater  Höhmens', 
wie  man  aus  den  gedruckten  urkundenbüchern  ersehen  kann, 
für  und  in  diesen  und  andern  Städten  eiue  erstaunliche  anzahl 
urkuuden  ausgestellt  hat.  —  dass  es  zb.  für  Aufsig,  Budweis, 
Saaz  ua.  eigene  urkundenbücher  gibt,  scheint  der  vf.  nicht  zu 
wissen;  dazu  kämen  noch  die  zahlreichen  klosterurkuuden,  für 
die  wir  auch  wie  bei  Goldenkron,  Hohenfurt  gedruckte  urkunden- 
bücher haben.  —  das  nur  nebenbei  als  beleg  für  die  souveräne 
arl,  mit  der  G.  au  dem  quellenmaterial  vorbeigeht.  man 
sollte  meinen,  die  kanzlei  Karls  iv  müste  man  am  besten  an  den 
in  Böhmen  entstandenen  und  vorhandenen  Urkunden  studieren 
können,  die  folge  ist  natürlich,  dass  eine  etwaige  darstellung 
der  böhmischen  kanzleisprache  durch  den  vf.,  wie  sie  trotz  G. 
auch  weiterhin  die  grundlage  jeder  forschung  zur  nhd.  Schrift- 
sprache bilden  muss,  höchst  mangelhaft  bleiben  dürfte,  wenn 
man  auch  aus  den  behandelten  und  im  anhang  abgedruckten 
55  diplomen  und  patenten  den  charakter  der  kanzleisprache  er- 
sehen kann,  so  ist  damit  für  die  organische  grundlage  und  ent- 
wicklung  der  kanzleisprache  Karls,  also  für  historische  forschung 
nicht  viel  geschehen,  und  doch  wird  jeder  leser  nach  dem 
doppeltitel  des  buches  gerade  das  erwarten,  aber  auch  davon 
abgesehen,  wäre  eine  gröfsere  zahl  von  urkundenabdrücken 
wünschenswert.  —  das  buch  enthält  nun  aufser  der  unglücklichen 
einleitung  und  einer  ähnlichen  betrachtung  s.  392  ff  erst  eine 
auf'zählung  der  deutschen  Urkunden  Karls  s.  47 — 104,  dann  eine 
umfängliche  und  bis  in  einzelheiten  gelinde  darlegung  der 
äufseren   einrichtung  der  kanzlei  s.  105 — 187,  der  beamten  188 


gutjahr  zur  Entstehung  her  nhd.  Schriftsprache         179 

bis  258,    der  verschiedenen  arten  der  Urkunden  259  — 2S2,    des 
Formulars  283—392. 

Unleugbar  sind  diese  abhandlungen  von  wert,  umsomehr  als 
alles  tatsächliche  mit  fleifs  zusammengetragen  ist  und  die  ver- 
schwenderische art  des  abdrucks  die  henützung  sehr  erleichtert. 
die  capp.  bringen  für  viele  eine  erwünschte  übersichtliche  und 
im  grofsen  ganzen  auch  zuverlässige  malerialsammlung.  aber 
Lindners  buch  Zum  urkundenwesen  Karls  iv  und  seiner  nach- 
folger,  Stuttgart  1882,  und  Bardachs  Vom  mittelalter  zur  re- 
formation  haben  eine  gute  Vorarbeit  geboten.  Burdachs  grund- 
legende Studien  zur  frage  der  böhmischen  kanzlei  zieht  G.  aller- 
dings nur  spärlich  heran,  und  wo  es  geschieht,  ohne  das  richtige 
Verständnis,  der  Vorwurf  Zeumers  gegen  Burdach  im  Neuen 
archiv  f.  ältere  deutsche  geschichtskunde  32,  557,  dass  G.  irr- 
lümer  Burdachs  herübergenommen,  ist  kaum  berechtigt,  da 
Burdachs  darstellung  in  seiner  buchausgabe  Vom  ma.  zur  re- 
formation,  besonders  nachtrage  s.  134,  wesentlich  anders  lautet, 
im  besonderen  wird  eben  auch  G.s  arbeit  im  diplomatischen  teil 
des  buches  einer  fachmännischen  nachprüfung  bedürfen,  so  hab 
ich  bedenken  zu  s.  263  f,  s.  2661.  im  ganzen  werke  ist  ja  des 
vf.s  eiler  und  gute  gesinnung  nicht  zu  verkennen,  das  problem 
selbst  hat  er  aber  nicht  gefordert,  ja  durch  eigenwillig  aufgestellte 
und  hartnäckig  widerholle  hypolhesen,  in  denen  die  namen  Halle, 
Eyke,  sechsische  innungs-  und  patriciersprache  immer  widerkehren, 
verwirrt,  dem  was  der  vf.  zb.  s.  392  über  die  bedeutung  der 
kanzleisprache  sagt,  kann  man  im  ganzen  zustimmen;  wenn  er 
aber  gleich  darauf  meint,  'diese  kanzleisprache  ermöglicht  den 
anschluss  an  die  entvvicklung  der  voraufgehenden  zeit  und  ge- 
staltet ausblick  wie  rückblick  auf  den  Charakter  der  spräche  der 
sächsischen  kanzlei  vom  12  bis  zum  16  jh.'  und  weiter  unten: 
'schon  Eyke  redet  und  schreibt  diese  spräche  der  später  so- 
genannten sächsischen  cantzelei',  so  ist  eine  solche  Verkettung 
ganz  verschiedenartiger  erscheinungen  unwissenschaftlich  zu 
nennen,  und  dieser  Vorwurf  dürfte  dem  buche  G.s  von  der 
kritik  kaum  erspart  bleiben.    ' 

Leitmeritz,  october  1907.  Alois  Bernt. 


Die  geschieht«  des  pfarrers  vom  Kaienberg.  hrsg.  von  Viktor  Dollmayr. 
[=  Neudrucke  deutscher  litteraturwerke  des  xvi  und  xviijh.s,  nr  212 
—214.]    Halle  aS.,  Niemeyer,  1906.    Lxxxn  und  104s8.    8°.  —  1,80  m 

Im  14  jh.  sind  vor  den  toren  Wiens  eine  reihe  bauern- 
sch wanke  entstanden,  deren  held,  der  'pfaff  vom  Kaienberg'  zu- 
änchst  gewis  eine  historische  persönlichkeit,  bald  zur  typischen, 
namenlosen  figur  entwickelt  ward  und  eine  fülle  verwanter 
Schwankmotive  um  sich  sammelte,  namentlich  ward  eine  gruppe 
von  hofnarrenstreichen,  die  sich  am  hofe  herzog  Ottos  des  Fröh- 
lichen   zugetragen    hatten,    wol    noch  in  den  letzten  Jahrzehnten 


ISO       DOLLMAYR    DIE    GESCHICHTE    DES    PFARRERS    VOM    KALENBERG 

des  14  jh.s  mit  der  ersten  gruppe  vereinigt,  jüngere  Stoffe  ver- 
schiedener herkunft,  eulenspiegeleien,  ein  rätselstreit  zwischen 
zwei  pfarrern  wuchsen  an.  doch  erst  als  die  schwanksammluug 
unter  fleifsigem  weitererzählen  um  die  mute  des  15  jh.s  zu  einem 
gewissen  ahschluss  gekommen  war,  als  sich  ihre  verschieden- 
artigen bestandteile  durch  eine  lange,  mündliche  tradition  in- 
einander geschoben  und  gut  verzahnt  hatten,  ward  sie  litterarisch, 
ein  sonst  unbekannter  bürgerlicher  dichter  Wiens  brachte  sie  in 
vierhebige  reimpaare,  gut  und  schlicht,  sicherlich  ohne  stofflich 
eigenes  hinzuzutun,  oft  mit  mangelhafter  anknüpfung,  gelegentlich 
kurz  bis  zur  unverständlichkeit  und  Verwischung  der  pointen. 
er  konnte  sich  das  gestatten,  deun  er  reimte  für  ein  publicum, 
dem  sein  Stoff  zum  voraus  geläufig  war.  am  ende  seines  gedichts 
nennt  er  seinen  namen  :  Villip  Franckfürter.  die  klage  mit  der 
er  beginnt  :  Mein  zunge  die  ist  mir  zu  schwer  will  nicht  be- 
rechtigt erscheinen,  mindestens  hat  das  buch  wesentlich  in 
Frankfurters  fassung,  mit  den  37  holzschuitten  geziert,  die  er 
ihm  mitgeben  liefs,  fortan  das  feld  beherscht  und  dem  Stoffe  für 
alle  Zeiten  genügt,  bis  1620  ist  sein  Kaienberg  auf  hd.  boden 
in  mindestens  20  ausgaben  verbreitet  gewesen,  von  denen  11  ganz 
oder  teilweis  erhalten,  die  übrigen  von  den  Zeitgenossen  zerlesen 
oder  erst  neuerdings  verschollen  sind,  auch  die  nd.  uud  mit 
ihr  die  nl.  und  englische  recension  der  schwanksammlung  geht 
nach  einer  these  Köppens,  die  Dollmayr  näher  begründet  hat, 
auf  eine  dieser  ausgaben  zurück,  freilich  der  hd.  druck  von 
etwa  1500,  von  dem  diese  recension  abzweigt  (*C),  kann  nur 
erschlossen  werden,  von  ihm  stammen  zugleich  alle  bekannten 
hd.  drucke  des  16  jh.s  und  mittelbar  alle  spätere  Überlieferung, 
auch  die  vorläge  dieser  erschlossenen  vulgata  ist  verloren ,  da- 
gegen ist  in  Darmstadt  ein  Heidelberger  druck  von  1490  (A) 
erhalten,  der  unmittelbar  aus  ihr  geflossen  ist.  daneben  belindet 
sich  in  Hamburg  ein  vielleicht  noch  etwas  älterer  Nürnberger 
druck  (B),  der  mit  der  vorläge  von  A  aus  derselben  Nürnberger 
quelle  stammt,  endlich  ist  in  einem  bucheinband  der  hof-  und 
Staatsbibliothek  zu  München  das  bruchstück  eines  Augsburger 
drucks  von  etwa  1472  (a)  zum  Vorschein  gekommen,  das  widerum 
mit  der  vorläge  von  B  aus  dem  urdruck  von  Frankfurters  gedieht 
abgedruckt  sein  kann,  die  älteste  Überlieferung  des  gedichts 
lässt  sich  nach  Dollmayrs  überzeugender  beweisführung  in  folgen- 
dem Stammbaum  darstellen : 

O 

A 

a  *ABC 

A 
B  *AC 

A 

A*CNd. 


DOLLMAYR    I»1E    r.ESCHICHTE    DES    PFARRERS    VOM    KALENBERG       181 

Danach  ist  bei  der  kritischen  herstellung  von  0  von  den 
ca.  300  versen  auszugehen,  für  die  das  bruchstück  a  erhalten 
ist  :  hier  wird,  was  den  drei  texten  a  AB  gemeinsam  ist,  für  0 
zu  beanspruchen  sein,  ebenso  was  a  mit  A  oder  mit  B  allein 
jeweils  gegen  den  anderen  vollständigen  druck  gemein  hat.  da- 
gegen haben  AB,  wo  sie  gemeinsam  von  a  abgehn,  zusammen 
nur  eine  stimme  gegen  das  principiell  gleichwertige  a.  aus  den 
kritischen  erfahruugen  an  diesen  300  versen  ist  ein  urleil  über 
die  gute  der  drei  drucke  abzuleiten,  und  daraus  siud  die  grund- 
sätze  für  die  herstellung  der  1900  verse  zu  gewinnen,  für  die  a 
ausfällt.  Dollmayr  hat  die  Wichtigkeit  des  bruchstücks  a  für  die 
ttxlkritik  s.  xxm  anerkannt,  ohne  doch  daraus  die  notwendigen 
folgerungen  zu  ziehen,  so  dass  sich  in  v.  1733 — 2031  bei  an- 
wendung  der  eben  aus  seinem  eigenen  Stammbaum  abgeleiteten 
grundsätze  nicht  weniger  als  91  abweichungen  von  seinem  texte 
ergeben. 

Dass  alle  drei  drucke  irren,  ist  mit  gewisheit  uur  zweimal 
anzunehmen,  v.  1744  und  1824,  wo  Dollmayrs  lesungen  :  Ich 
enweifs,  ob  ich  im  recht  thue  und  :  Vnd  gieng  so  schnei  vnd  also 
drat  gute  und  notwendige  conjecluren  sind  gegenüber  dem  über- 
lieferten Ich  weifs  ob  a  AB,  schnell  also  trat  a  AB  :  beidemal  hat 
eine  veraltende  ausdrucksweise  schon  0  ins  wanken  gebracht, 
das  damit  von  der  ursprünglichen  fassung  des  gedichts  doch  auch 
schon  einen  schritt  absteht,  zehn  weitere  fälle  bessert  Dollmayr 
dem  metrum  zu  liebe,  dass  *C  dabei  viermal  schon  die  gleichen 
plade  wandelt,  hat  jedesmal  nur  den  wert  einer  allen  conjectur 
und  beweist  nicht  mehr,  als  dass  *C  mit  Dollmayr  das  bestreben 
teilte,  glättere  verse  herzustellen,  als  sie  0  bot.  wir  werden  uns 
bescheiden  müssen,  aus  der  Übereinstimmung  von  aAC  zu  lernen, 
dass  Frankfuriers  metrisches  schema  von  regelmäfsigem  Wechsel 
von  hebung  und  Senkung  weit  entfernt  war;  die  Überlieferung 
zwingt  uns,  zweisilbigen  auflact  v.  1910,  synkope  der  2  Senkung 
1872  f,  der  3  Senkung  1816.  37,  zweisilbigkeit  der  2  Senkung 
1832.  65.  2012,  der  3  Senkung  1809,  der  2  und  3  1985  als 
ursprünglich  anzuerkennen. 

Es  schliefsen  sich  33  fälle  au,  in  denen  B  allein  gegen  a  A 
steht.  Dollmayr  gibt  hier  fünfzehn  mal  B  gegen  a  A  recht,  acht- 
zehnmal  umgekehrt,  das  zweite  ist  das  kritisch  gegebene,  das 
erste  (als  leichte  conjectur  von  B  etwa  annehmbar  v.  1823) 
nirgends  geboten,  über  Dollmayr  hinaus  müssen  wir  annehmen: 
aultacllos  v.  1810,  synkope  der  2  Senkung  1755,  der  3  Senkung 
1823.  51.  54.  59.  69.  1982  f.  2011.  20,  zvveisilhigkeit  der 
1  Senkung  1853.  1933,  der  2  Senkung  1957,  vor  allem  aber  ist 
v.  2000  doch  mit  a  A  gegen  do  B  zu  lesen,  widerum  erweist 
sich  die  metrik  von  O  als  nicht  so  glatt  wie  B  möchte,  zwiefach 
ist  dieses  fortan  verdächtig  :  es  will  regelmäfsigen  Wechsel  von 
hebung     und     Senkung     herstellen    und    unbetonte    e    zufügen. 


1V2       DOLLMAYR    DIE    GESCHICHTE    DES    PFAIUtERS    VOM    KALENBERG 

A  steht  64  mal  gegen  a  B.  Dollmayr  hat  fünfmal  die  la.  von  A 
in  den  text  gesetzt,  weil  *C  mit  A  geht,  zehnmal  trotz  Zusammen- 
gehens von  A*C  den  heiden  andern  (a  B)  recht  gegeben,  das 
/weite  verfahren  ist  das  kritisch  gegebene,  die  fälle  der  ersten 
art  (1836.  55.  88.  1960.  94)  haben  den  wert  alter  conjecturen 
von  A*C,  die  ausnahmslos  richtig  sein  werden,  übrigens  alle  von 
leichtester  art  sind.  49  mal  steht  A  mit  einem  fehler  allein,  es 
zeigt  sich  in  den  an  a  controlierbaren  300  versen  viel  ungetreuer 
und  in  seinen  fehlerquellen  viel  unberechenbarer  als  B.  die 
gröfsere  treue  von  B  hat  zuerst  wol  Koppen  im  Nd.  jb.  20,  98 
bemerkt,  Dollmayr  hat  sie  zum  kritischen  grundsatz  erhoben,  so 
dass  sein  text  hierin  nirgends  zu  beanstanden  ist. 

Dass  alle  drei  drucke  aAB  auseinaudergehn,  begegnet  in  den 
300  versen  zehnmal,  bei  Dollmayr  bekommt  B  achtmal,  A  zwei- 
mal recht,  a  nie,  obwol  es  die  hälfte  der  gesamten  Überlieferung, 
uzw.  die  ältere,  vertritt,  notwendig  verderbt  ist  a  nur  mit  v.  1871 
all  in,  1961  bleib,  1922  schämen;  glättere  verse  gewinnt  man 
mit  a  1961  heimmen  bleibt,  2000  doch  sein  nit.  dagegen  hat  es 
nach  dem  vorangegangenen  kein  bedenken,  mit  a  dem  urdruck 
zu  vindicieren  :  synkope  der  1  Senkung  1902,  der  2  1941,  der 
3  1927  und  2002,  zweisilbigkeit  der  2  Senkung  1908.  in  diesen 
sieben  fällen  gehörte  die  la.  a  in  den  kritischen  text. 

Bei  gemeinsamem  abweichen  der  drucke  AB  von  a  hat  schon 
Dollmayr  neunmal  a  recht  gegeben,  alle  neun  fälle  sind  evident 
(1757.  60.  93.  96.  99.  1822.  56.  1925.  98).  viel  zu  oft  be- 
kommt dagegen  die  jüngere  hallte  der  Überlieferung  recht  :  nicht 
zu  retten  sind  für  a  nur  1792.  1926.  36.  38.  49.  63.  84,  aufser- 
dem  ist  kaum  ein  grund,  von  a  abzugehu.  man  erhält  dann  auftact- 
loseu  vers  1789.  93.  1804 f.  1900.  20.  2008,  zweisilbigen  aul- 
tact  1904,  syukope  der  1  Senkung  1739.  1858.  1924.  69,  der 
2  1750.  63.  71.  1805.  40.  47.  1904.  74,  der  3  1760  f.  65.  85. 
1829.  1919.  28.  68.  73.  92.  2004,  zweisilbigkeil  der  1  Senkung 
1747.  1844.  53,  der  2  1742.  1976,  der  3  1916.  2010,  lauter 
erscheinungen,  die  Dollmayr  selbst  an  andern  stellen  dem  urtext 
zuspricht,  die  aber  *ABC  mit  ziemlich  primitiven  mitteln  ein- 
zuschränken sucht,  das  beliebteste  mittel  ist  dabei  die  anwenduug 
von  do,  mit  dessen  hilfe  AB  das  metrum  glätten  1765.  1908. 
2008,  dazu  ändern  sie  so  in  do  1800.  27,  noch  schlechter  ist 
do  1810.  2000  bezeugt  und  damit  fallen  auch  die  beiden  do 
1870  und  1890  als  zutat  von  AB.  somit  fällt  die  entscheidung 
58  mal  für,  10 mal  gegen  a.  nach  demselben  Verhältnis  sind  dann 
auch  noch  die  bleibenden  14  fälle  aufzuteilen,  bei  denen  weder 
sinn  noch  metrik  eine  sichere  entscheidung  erlaubt  :  AB  werden 
recht  behalten  2013  (vgl.  1217)  und  1770  {Sie  in  a  aus  der 
(olgenden  zeile  vorweggenommen),  dagegen  geben  wir  gegen 
Dollmayr  a  recht  mit  1747  für  ein.  1771  wol.  80.  86.  1928  So. 
47.  60.'  64.  69  Darumb.  2026.  28  und  bildüberschrift  35. 


DÜLLMAYR     DIE    GESCHICHTE    DES    PFARRERS    VOM    KALE.NBERG        183 

So  ist  für  v.  1733 — 2031  eine  Urilische  herstellun^  von  0 
sehr  wol  möglich,  aher  das  verfahren  ist  so  wesentlich  auf  a 
gestützt,  dass  die  hollnung  aufgegeben  werden  muss,  es  auf  die 
teile  des  gedichts  auszudehnen,  für  die  a  ausfällt,  was  Dollmayr 
als  ersatz  bieten  kann,  ein  mit  hilfe  der  jüngeren  drucke  vor- 
sichtig modificierter  abdruck  von  B  ist,  soweit  es  über  Bobertags 
ausgäbe  in  Kürschners  Nationalliteratur  bd  11  hinausführt,  nicht 
das  alte  gedieht  von  1450,  es  klingt  vers  für  vers  so  gänzlich 
anders,  als  jenes  kritisch  gesicherte  stück  mit  der  altertümlichen, 
ungebändigten  metrik  der  Übergangszeit,  dass  wir  uns  der  ein- 
sieht nicht  verschliefsen  können  :  Frankfurters  Kalenberger  ist  für 
uns  verloren,  bis  etwa  einmal  neue  funde  der  mislichen  Über- 
lieferung aufhelfen,  doch  dazu  ist  nach  Schorbachs  sorgsamer 
umfrage  nicht  viel  boffnung  vorhanden,  das  ist  eine  resignation, 
zu  der  EdwSchröder  schon  im  Nd.  jb.  13,  129  gelangt  war. 
die  fleifsigen  und  in  ihrem  kreis  erschöpfenden  Untersuchungen 
über  metrik,  spräche  und  slil  des  gedichts,  die  Dollmayr  in  seiner 
einleitung  vereinigt  bat,  verlieren  darum  nichts  an  ihrem  wert, 
dass  sie  uicht  der  verlorenen  urform,  sondern  der  ältesten  er- 
reichbaren fassung  des  Kalenbergers  gelten;  vollends  an  den 
capiteln  über  das  Verhältnis  der  drucke  zueinander  und  über  die 
composition  der  Schwanksammlung  würde  nichts  zu  ändern  sein, 
auch  wenn   uns  die  urform  erhalten  wäre. 

Besonders  sei  auf  den  lexikalischen  reichtum,  der  in  den 
laa.  steckt,  hingewiesen;  auf  s.  xf.  xmf.  xvi.  xvm.  xxi  gibt  Doll- 
mayr Zusammenstellungen  daraus,  keine  nachfolge  dürfte  ver- 
dienen, dass  in  den  laa.  die  siglen  voraus,  der  Wortlaut  nach- 
gestellt wird,  also  v.  2  'C  mir  vast  not'  statt  'mir  vast  not  C: 
erstens  ist  das  verfahren  bei  auslassungen  uicht  ohne  Umständ- 
lichkeit durchführbar  und  von  Dollmayr  selbst  nicht  innegehalten: 
'v.  138  fehlt  in  A',  dann  aber  muss  man  auf  das  praktische 
zeichen  ]  verzichten,  das  die  folge  lesart  des  textes  ]  Variante, 
siglen  voraussetzt,  und  warum  verschmäht  Dollmayr  in  den  laa. 
die  siglen  *C  und  *D,  die  er  im  Stammbaum  doch  selbst  ein- 
geführt hat? 

Freiburg  im  Br.,  im  august  1907.  Alfred  Götze. 


Die    sage    vom    ewigen  Juden    in    der    neuern    deutschen    litteratur.     von 
dr  Johann  Prost.     Leipzig,  Georg  Wigand,   1905.     vm  und  167  ss. 

8°.  -3m. 

Nach  Neubaurs  gründlichen  Untersuchungen  über  die  sage 
vom  ewigen  Juden  lag  der  gedanke  in  der  lull,  die  zahlreichen 
neueren  ausgestaltungen  des  alten  Stoffes  zusammenhängender 
und  vollständiger,  als  es  bisher  in  einigen  kleinen  broschüren 
geschehen  war,  zu  behandeln,  und  so  treten  denn  bezeichnender- 
weise   drei    autoren:    zwei    junge    lilterarhistoriker,    Prost    und 


184  PROST    HIE    SAGE    VOM    EWIGEM    JUUE.N 

Soergel,  und  ein  Journalist,  Theodor  Kappsteiu,  ungefähr  gleich- 
zeitig mit  einer  Studie  über  Ahasverdichtuugen  hervor,  nur  mit 
Prosts  werk,  das  sich  abweichend  von  den  beiden  andern  auf 
die  neuere  deutsche  litteratur  beschrankt,  hab  ich  mich  hier  zu 
beschäftigen. 

Prost  führt  in  seiner  bibliographie  69  Ahasverdichtungen 
auf,  während  seine  Vorgänger  nie  über  30  besprochen  haben. 
Soergel  bietet  allerdings,  wenn  man  von  den  fremdsprachlichen 
werken  und  den  Volksliedern  absieht,  etwa  das  doppelte  wie  Prost, 
so  dass  Prosts  buch  gleich  bei  seinem  erscheinen  nach  der  seite 
der  Vollständigkeit  überholt  worden  ist.  nur  4  nummern  der 
Prostscben  bibliographie:  nr  27  (Duller),  nr  35  (Nestroy),  nr  59 
(Schädling)  und  nr  63  (Landsteiner)  finden  sich  bei  Soergel 
nicht.  ThvHaupts  'Ahasverus,  der  nie  ruhende'  muss  als  freie 
bearbeilung  eines  französischen  melodrams  bei  Prost  gestrichen 
werden. 

Nun  braucht  ja  gewis  auch  eine  bibliographisch  stark  lücken- 
hafte arbeit  literarhistorisch  nicht  wertlos  zu  seio.  leider  sind 
jedoch  noch  mehrere,  und  zwar  schwerwiegende  einwände  gegen 
das  buch  zu  erheben,  dass  die  gruppierung  des  Stoffes  die  denkbar 
unglücklichste  ist,  zeigt  ein  blick  auf  die  inhaltsangabe  :  1.  Ein- 
leitung, 2.  Goethe,  3.  Schubart,  4.  Haller,  Schlegel,  Schreiber, 
Arnim  usw.  usw.,  9.  Im  zeichen  Eugen  Sues  .  .  .  14.  Varii  (so 
könnte  man  die  meisten  capitel  überschreiben)  .  .  .  16.  Tendenz- 
poesie, interessante  versuche,  nach  dem  muster  Helbigs,  Novers 
und  Eschelbachs  reiht  Prost  die  einzelnen  dichtungen  einfach 
chronologisch  aneinander,  und  irgend  eine  bedeutungslose  über- 
gangsweudung  stellt  den  Zusammenhang  her.  natürlich  weist 
Prost  gelegentlich  auf  Verbindungslinien  hin.  so  betont  er  zb. 
die  litterarischen  abbängigkeilen  und  ist  erfreut,  wenn  er  einmal 
ein  capitel  —  das  capitel  5  —  auf  diesen  gesichtspuncl  auf- 
bauen kann,  aber  auf  quellenuntersuchungen  und  auf  feststellung 
neuer  züge  lässt  sich  eine  Untersuchung  moderner  Ahasver- 
bearbeitungen  nicht  gründen,  die  methode,  die  bei  einer  sich 
bildenden  sage  am  platze  ist,  ist  undurchführbar,  wenn  dargestellt 
werden  soll,  wie  die  verschiedenartigsten  und  verschiedenwertig- 
sten  modernen  dichter  sich  eines  fertigen  Stoffes  bemächtigen, 
von  einer  nur  einigermaßen  logischen  summierung  der  motive, 
von  der  herausarbeitung  eines  bestimmten  modernen  sagentypus 
ist  dabei  keine  rede,  am  allerwenigsten,  wenn  ein  sageustoff  so 
viele  experimente  ausbält,  wie  die  Ahasversage.  was  ist  nicht 
alles  in  dichtungen  vom  ewigen  Juden  hineingepackt  worden,  die 
wirrsten  abenleuer  des  Schauerromans  wie  die  abstractesten  philo- 
sophischen ideen.  der  gedanke,  einen  steligen  inneren  fort- 
schritt  der  bearbeitungen  aufzuzeigen,  den  Heibig  vergeblich 
durchzuführen  versucht  hat,  ist  weiter  nichts  als  eine  baltlose 
Construction.      RHamerliugs    Ahasver   in    Rom    als   philosophisch 


PROST    DIE    SAGE    VOM    EWIGEN    JUDEN  185 

tiefste  dichtung,  als  höhepunct  der  ganzen  reihe  zu  bezeichnen, 
das  war  schon  1874  ein  misgriff  und  geht  heute  ganz  und  gar 
nicht  mehr  an.  so  bleibt  denn  kein  weg  übrig,  das  chaos  zu 
ordnen,  als  der  geistesgeschichtliche,  und  nicht  blofs  in  ein- 
zelnen andeutungen  hatte  Prost  auf  zeitgeschichtliche  und  indi- 
viduelle bedingtheit  der  einzelnen  Ahasverdichtungen  hinweisen, 
sondern  er  hatte  diesen  gesichtspunct  zum  beherschenden  machen 
sollen,  hilflos  und  unselbständig  wie  in  der  gesamtanlage  ist 
Prosts  arbeit  auch  in  den  einzelheiten.  im  Wortlaut  ist  sie 
sclavisch  von  den  vorgangern  und  von  specialarbeiten  abhängig, 
allerdings  sündigt  hier  Prost  nicht  allein,  wer  sich  die  mühe 
nimmt,  Heibig,  Nover,  Escbelbach  und  Prost  hintereinander  zu 
lesen,  der  wird  mit  erstaunen  eine  ganze  reihe  von  Übergangs- 
wendungen,  inhaltsangaben,  selbst  urteilen  immer  wider  lesen. 
man  sehe  sich  nur  einmal  an,  was  die  vier  über  LKöhler  oder 
Theodor  Oelkers  bieten,  es  könnte  den  anschein  erwecken,  als 
ob  Helbigs  nachfolger  die  dichlungen  überhaupt  nie  durchgelesen 
hätten,  besonders  compromittierend  ist  Prosts  schlusscapitel,  das 
nahezu  vollständig  aus  Heibig,  Eschelbach,  Gervinus  und  Wilhelm 
von  Scholz  zusammengeschrieben  ist. 

Die  fehler  der  arbeit  werden  durch  das  eigene  nicht  auf- 
gewogen, die  breiten  inhaltsangaben  und  detaillierten  quellen- 
nachweise,  die  Prost  bei  seinen  lieblingswerken  gibt,  sind  über- 
dies meist  trocken  und  oft  mehr  lästig  als  förderlich,  auch  an 
stil  und  urteil  liefse  sich  viel  ausstellen,  indes  scheint  es  mir 
zu  genügen,  die  allgemeinen  grundlinien  zur  bewertung  des 
Prostschen  buches  zu  ziehen,  die  einzelkritik,  die  selbst  zur 
wissenschaftlichen  förderung  des  wichtigen  stoffgeschichtlichen 
problems  beitragen  will,  knüpft  besser  an  die  Studie  Soergels: 
Ahasverdichtungen  seit  Goethe  an. 

Leipzig,  22  September  1906.  Friedrich  Schulze. 


Ahasver-dichtungen  seit  Goethe,  von  Albert  Soergel.  [=  Probefahrten, 
erstlingsarbeiten  aus  dem  deutschen  semiuar  in  Leipzig,  hrsg.  von 
Albert  Köster.  sechster  band.]  Leipzig,  RVoigtländer,  1905.  vin  und 
172  ss.  8°.  —  4,80  m. 

Seit  einer  reihe  von  jähren  ist  eine  immer  noch  steigende 
zahl  von  doctor-dissertationen  stoffgeschichtlichen  Untersuchungen 
gewidmet,  wenn  man  diese  arbeiten  genauer  betrachtet,  so  be- 
obachtet man  bei  fast  allen  eine  bedenkliche  erscheinung.  ein 
stoff  wird  mit  unheimlicher  belesenheit  durch  die  Jahrhunderte, 
durch  die  nationallitteraturen  verfolgt,  und  das  endresultat  ist 
—  null,  dies  wäre  nicht  der  fall,  stünde  es  besser  um  jene 
belesenheit,  nicht  aus  der  kenntnis  der  litteratur  ist  die  stoff- 
geschichte  hervorgegangen,  sondern  aus  dem  vorsatz,  die  geschichte 
des  Stoffes  zu  schreiben,  eine  durch  blättern  gewonnene  kenntnis 
A.  F.  D.  A.  XXXI.  13 


186  S0ERGEL    AHASVER-DICHTOiGE.N    SEIT    GOETGE 

seiner  bearbeitungen,  aber  ebeu  auch  nur  diese,  daher  die  Un- 
fähigkeit, die  verschiedenen  t'ormungen  des  Stoffes  miteinander 
und  mit  der  gleichzeitigen  cultur  und  litteratur  in  einen  andern 
als  chronologischen  Zusammenhang  zu  bringen,  daher  auch  die 
eintönige  gestalt  dieser  arbeiten,  in  denen  analyse  sich  an  ana- 
lyse  reiht. 

Die  vortreffliche  Untersuchung  Soergels  macht  eine  umso  be- 
merkenswertere ausnähme,  als  hier  ein  anfänger  einen  oft  poe- 
tisierten,  aber  stets  widerborstigen  Stoff  gewählt  hat,  dessen  wissen- 
schaftliche bearbeitungfast  ebenso  häufig  und  ebenso  erfolglos  unter- 
nommen worden  ist  wie  die  dichterische,  gerade  in  jüngster  zeit  hat 
das  neuerwachte  interesse  an  religiösen  problemen  und  Stoffen  eine 
ganze  reihe  literarhistorischer  behandlungen  der  Ahasversagen 
und  -dichtungen  hervorgerufen,  von  denen  die  Schriften  von 
Prost  und  Kappstein  jene  traditionelle  form  des  catalogue 
raisonn6  aufweisen,  während  EdRönig  in  seinem  einseiligen, 
aber  geistreichen  büchleiu  von  einem  erklärungsversuche  der 
sage  ausgehend  nur  einen  kleinen  teil  der  poetischen  bearbeitungen 
in  seine  betrachtung  zieht.  S.  hat  mit  grofser  Sorgfalt  eine 
reiche  bibliographie  der  Ahasver-dichtungen  zusammengestellt, 
dann  aber  vor  allem  den  versuch  gemacht,  gruppen  und  ent- 
wicklungen  in  der  bunten,  starren  masse  zu  finden,  die 
ästhetische,  cultur-  und  litterarhistorische  bedeutung  nicht  nur 
der  einzelnen  dichtungen,  sondern  des  ganzen  Stoffes  fest- 
zustellen, denn  er  weifs  es,  dass  stoffgeschichtliche  Unter- 
suchungen nur  dann  wissenschaftlichen  wert  besitzen,  wenn  sie 
entweder  die  litterarisch-künstlerische  erkenntnis  fördern,  indem 
sie  die  Veränderung  des  Stoffes  durch  kunstformen  und  -epochen, 
stilformen  und  -principien  verfolgen ,  oder  culturhistorischen 
interessen  dienend  zeigen,  wie  zeittendenzen  in  den  stoff  ein- 
dringen und  ihn  umformen  (s.  1  I).  er  erkennt  ohne  die  Vor- 
eingenommenheit des  anfängers  für  sein  thema,  dass  bei  der 
behandlung  dieses  Stoffes  mehr  als  der  ästhetiker  der  cultur- 
historiker  auf  seine  kosten  komme  (s.  3),  dass  bei  dem  seltsamen 
contraste  zwischen  der  weite  des  historischen  rahmens  und  der 
armut  des  überlieferten  Stoffes  sich  die  forderung  künstlerischen 
gestaltens  mit  dem  zwange  der  Umwandlung  des  Stoffes  im  sinne 
der  zeit  verknüpfte  (s.  4).  so  ergibt  es  sich  von  selbst,  dass  die 
gliederung  des  buches  nicht  nach  formellen  gesichtspuncten, 
sondern  mit  rücksicht  auf  die  entwicklung  des  Ideengehaltes  der 
alten  sage  vorgenommen  werden  muste. 

Sehr  geschickt  wird  —  freilich  ohne  dass  hier  wesentlich 
neues  geboten  würde  —  die  entstehung  der  sagengestalt  dar- 
gestellt, von  dem  'wartenden  gerechten'  Johannes  und  dem 
•wartenden  Sünder'  Malchus  über  Cartaphilus  und  Buttadeo  bis  zum 
Ahasverus  der  Volksbuches,  drei  momente  treten  hier  für  Weiter- 
entwicklung bedeutsam  hervor  :  der  Verfasser  gibt  die  geschichte 


SOERGEL    AHASVER-DICHTUNGEN    SEIT    GOETHE  187 

eines  fluches;  er  gibt  ein  bild  von  Aliasver;  er  verleiht  ihm  eine 
büfsende  seele,  ein  frommes,  mitleidiges  herz,  stille  Sehnsucht 
aus  dem  leben  nach  der  ruhe  des  todes  (s.  131').  die  rolks- 
phantasie  bildet  diese  züge  weiter  aus.  Ahasver  nimmt  Züge  an 
aus  der  sage  vom  wilden  Jäger  und  von  Wodan,  man  traut  ihm 
kenntnis  der  Zukunft  zu,  sein  erscheinen  weissagt  unglilck,  er 
gewinnt  einfluss  auf  die  geschicke  der  menschen,  man  benutzt 
sein  leben  als  passenden  rahmen  für  stofflich  interessante  mit- 
teilungen.  das  französische  Volksbuch  macht  das  leben  des  ewigen 
Juden  zu  einem  stuck  religionsgeschichte  und  fügt  abenteuerliche 
reiseberichte  an.  zum  schluss  erzählt  es,  wie  Ahasver  sich  den 
tod  ertrotzen  wollte,  aber  ihn  in  Jerusalem  nicht  finden  konnte, 
nicht  in  der  schlacbt,  nicht  auf  dem  meere  (s.  1 6  f).  —  Soergel 
verfolgt  die  entwicklung  des  ewigen  Juden  in  der  volkspoesie, 
die  aus  dem  träger  des  fluches,  aus  dem  erzähler  wunderbarer 
erlebnisse  erst  eine  persönlichkeit  bildete,  der  nun  in  Frankreich 
leidenschaftliche  complaintes  in  den  mund  gelegt  werden  (s.  18 IT), 
in  demselben  18  Jb.,  dessen  gelehrte  dichter  die  unverstandene 
irestalt  nur  für  possen  und  verkleidungsstücke  zu  verwenden 
wissen  (s.  21  IT).  Goethe  und  Schubart  ergreifen  den  Stoff  mit 
grofsen  poetischen  intentionen,  beide  lassen  ihn  bald  liegen, 
sehr  hübsch  zeigt  Soergel,  welche  züge  der  sage  die  behandlung 
erschwerten,  wie  die  beiden  dichter  die  Schwierigkeit  zu  über- 
winden suchten  :  die  sage  gibt  nur  den  anfang  einer  düstern 
geschichte,  sie  hat  keinen  abschluss,  sie  verlegt  ihr  ende  hinter 
alle  zeit;  sie  ist  in  der  einzig  ausgeführten  scene,  der  darstellung 
der  Verfluchung,  voller  unwahrscheinlicbkeiten;  sie  spricht  von 
einem  ewigen,  und  Steigerung  und  concentration  in  ein  ewiges 
leben  zu  bringen  ist  unendlich  schwer,  beide  dichter  suchen 
das  zweitausenrijäbrige  leben  zu  füllen,  indem  sie  zunächst  Ahasver 
als  technisches  mittel  verwenden:  Goethe  will  die  kirchengeschichte 
darstellen,  Schubart  alle  natur-  und  menschenrevolutionen,  die 
der  ewige  Jude  erlebt  hat.  beide  suchen  Ahasver  selbst  einen 
inhalt  zu  geben  :  Goethe  fasst  ihn  im  späteren  plan  als  symbol, 
als  contrast  zu  Christus,  Schubart  sieht  in  ihm  ein  übermensch- 
liches wesen,  das  dennoch  den  vollen  Stempel  der  menschlichkeit 
trägt,  beide  dichter  suchen  die  sage  durch  eine  erlösung  Ahasvers 
abzuschliefsen.  Schubart  in  der  erhaltenen  rhapsodie,  dem  ver- 
zweiflungsmonolog  Ahasvers  [dessen  litterarische  würkung  bis  zu 
Wagners  'Fliegendem  Holländer'  reicht],  auf  den  die  begnadigung 
zum  todesschlafe  bis  zum  jüngsten  tage  folgt;  wie  Goethe  seinen 
Ahasver  wollte  enden  lassen,  wissen  wir  nicht  —  der  wider- 
kehrende heiland  hat  den  ewigen  Juden  bei  ihm  verdrängt  (s.  24 ff), 
die  Schwierigkeiten,  mit  denen  Goethe  und  Schubart  zu  kämpfen 
hatten,  blieben  auch  allen  späteren  zu  überwinden,  und  die 
lüsungsversuche  der  beiden  fragmente  werden  im  wesentlichen 
immer  aufs  neue  widerholt,    so  hat  Soergel  mit  der  besprechung 

13* 


188  SOERGEL    AHASVER-MCHTUrSGEN    SEIT    GOETHE 

dieser  ersten  Ahasver-dichtungen  die  schranken  ausgesteckt, 
zwischen  denen  sich  die  fernere  Untersuchung  mit  wenigen  aus- 
nahmen bewegt. 

Er  teilt  nun  den  Stoff  in  zwei  grofse  hälften  :  von  1800  bis 
etwa  1870,  von  da  bis  zur  gegenwart.  voraus  geht  den  beiden 
ahteilungen  je  eine  übersieht  über  die  enlwicklung  der  sage  in 
dem  betreffenden  Zeitraum,  der  ersten  überdies  ein  abschnitt,  der 
die  'Weltgeschichten'  des  18  jh.s  behaudelt  (die  den  lebensiauf 
Ahasvers  als  technisches  mittel  der  darstellung  verwenden)  und 
vorher  noch  ein  capitel,  das  eigentlich  auf  den  abschnitt  'Welt- 
geschichten' folgen  und  den  Übergang  zu  den  romantischen 
Ahasver-dichtungen  machen  sollte:  'Todespoesie'  (s.  35 ff),  auf 
knapp  4  Seiten  wird  hier  eine  sehr  geistvolle  darstellung  der 
enlwicklung  des  motivs  der  todessehnsucht  gegeben,  vom  17  jh. 
ausgehend,  das  den  tod  als  gegensatz  des  lebens  fürchtete  und 
in  scheufslichen  färben  malte,  zu  dem  im  allgemeinen  den  tod 
ernst  oder  scherzhaft  abweisenden  18  Jh.,  das  aber  schon  die 
sanfte  wehmut  der  kirchhofsgedanken  kennt,  in  dem  Lessing 
ausspricht  'Tot  sein,  hat  nichts  schreckliches',  der  junge  Goethe- 
Prometheus  die  Seligkeiten  des  Sterbens  schildert,  nun  zur 
todeserotik  der  romantiker  von  Novalis  und  ZWerner  bis  zu 
RichWagner,  und  endlich  zu  der  modernen  naturwissenschaftlich 
begründeten  auffassung  von  dem  tode  als  bildner  neuen  lebens 
[wie  schon  der  vielumslrittene  'Natur'-aufsatz  Goethes  es  aus- 
spricht :  'Der  tod  ist  ihr  kunstgriff,  viel  leben  zu  haben']. 

Die  romautiker  erfassen  den  Stoff  zunächst  in  christlichem 
geiste,  im  geiste  des  Volksbuchs.  Ahasver  bringt  unheil  ins  haus 
uud  enthüllt  sich  durch  die  äufseruug  seiner  gewissensqualen  als 
der  ewige  Jude,  oder  er  ist  ein  frommer,  ein  asket,  ein  warner, 
ein  helfer  (s.  43 — 49).  Audersen,  Joukoffsky,  Paludan-Müller, 
deren  dichtuugen  ausführlich  besprochen  werden,  schildern  seine 
bekehrung,  seine  erlösung  durch  den  tod  (s.  49 — 57).  —  während 
der  emaneipationsbestrebungen  der  Juden  wird  er  immer  öfter 
als  Vertreter  des  jüdischen  Volkes  dargestellt,  wie  dies  ja  nach 
der  meinung  einer  reihe  von  gelehrten  (s.  154),  zu  denen  neuer- 
lich sich  EdRönig  gesellt  hat,  der  eigentliche  sinn  der  sage  ist. 
zunächst  von  den  jungen  jüdischen  dichtem,  die  ihn  als  dich- 
terisches symbol  für  ihre  schmerzen  und  hoffnungen  auffassen, 
dann  aber  auch  von  christlichen  bearbeitern,  die  den  jammer 
eines  heimatlosen  volkes  mit  grofser  Vergangenheit  empßndeu 
(s.  57 — 65).  nur  selten  wird  er  der  Vertreter  der  liberaleu 
Opposition  überhaupt,  dann  wider  einmal  ein  lichtscheuer  Schleppen- 
träger der  Jesuiten  (s.  65 — 71).  aber  vor  allem  ergreift  ihn  der 
weitschmerz  als  sein  symbol,  er  wird  ein  zweiter  hadernder  pilger 
Harold,  ein  neuer  trotzender  Prometheus,  als  deu  'ew'gen 
menschen  in  menschenlust  und  -leide',  der  sich  dem  leben  mit 
all    seinen    leidenschaften    in    die    arme  wirft,    fasst   ihn   Mosen; 


SOERGEL    AHASVER- DICHTUNGEN    SEIT    GOETHE  189 

als  den  ewig  strebenden  menschen,  der  alle  schmerzen  der  erde 
treulich  sammelt,  Edgar  (Juinet  in  seinem  verzweifelt  pessimistischen 
mysterium  (s.  71 — 88).  und  endlich  dringen  die  socialen  ten- 
denzen  der  vierziger  jähre  in  die  sage  ein,  die  Eugene  Sue  zu 
einem  aufregenden  Schauerroman  umgestaltet  (s.  88 — 90).  wie 
man  im  18  jh.  Ahasver  zum  träger  geschichtlicher  erinne- 
rungen  gemacht  hatte,  so  stellt  man  ihn  nun  in  den  mittelpunct 
von  culturgemälden  einer  zeit  oder  mehrerer  epochen  (Chrlvulfner, 
Hamerling,  SUeller);  wider  ist  er  nur  ein  bequemes  hilfsmittel, 
um  glänzende  Schilderungen,  diesmal  verbrämt  mit  billigem  ideen- 
flitter,  zu  entwerfen;  aus  dem  symbol  wird  eine  metaphysische 
allegorie.  so  tritt  auf  die  hochllut  der  Ahasver-dichtungen  in  den 
dreifsiger  und  vierziger  jähren  die  ebbe  ein,  zahl  und  poetischer 
wert  der  bearbeitungen  nehmen  ersichtlich  ab  (s.  91 — 100). 

In  den  achtziger  jähren  wird  Ahasver  wider  modeproblem, 
nachdem  er  eine  zeillang  in  commersliedern  und  parodistischen 
dichtungen 'ein  beschränktes  dasein  geführt  hatte  (s.  101  — 109). 
auch  jetzt  wissen  viele  dichter  mit  ihm  nichts  rechtes  anzufangen, 
die  alten  motive  und  formen  leben,  meist  nur  wenig  oder  gar 
nicht  modificiert,  wider  auf  (s.  110 — 115);  andere  aber  suchen 
neue  technische  lösungen,  zunächst  auf  dem  gebiet  des  dramas. 
es  gilt  die  Stileinheit  der  dichtung.  in  welche  Umgebung  muss 
man  diese  figur  setzen,  damit  sie  nicht  störend  empfunden  werde? 
die  traditionelle  auffassung  is.t  denkbar  für  alle  zeitlich  nicht  be- 
stimmten oder  nicht  scharf  umrissenen  zustände  der  ferne  und 
weite  in  Vergangenheit  und  Zukunft,  für  die  gegenwart  wird 
eine  neue  lösung  gefunden,  indem  man  das  Ahasver-schicksal 
von  der  person  des  ewigen  Juden  ablöst  (s.  115 — 119);  vor  allem 
geschieht  dies  in  den  dichtungen,  welche  der  modernen  juden- 
frage  gewidmet  sind.  (s.  129 — 124).  aber  es  dringen  auch  neue 
ideen  in  die  Ahasversage  ein,  vor  allem  der  grundgedanke  des 
19  jh.s,  der  entwicklungsgedanke.  ein  gedanke  von  aufpeitschen- 
der wucht,  wenn  er  brennende  zeitfragen  entscheiden  soll  :  Indi- 
viduum oder  masse?  selbsterlösung  oder  wellerlösung?  von 
ausgleichend  beruhigender  gröfse,  wenn  er  zeillos  als  ewiges 
weltgesetz  erfasst  und  gefühlt  wird,  wenn  der  tod  als  lebens- 
bildner erscheint,  wenn  Nietzsches  lehre  von  der  widerkehr  des 
gleichen  zu  einer  mystischen  anwendungdesentwicklungsgedankens 
vertieft  wird,  entweder  ist  Ahasver  der  einzige,  dem  die  Weiter- 
entwicklung versagt  ist,  weil  ihm  der  tod  versagt  ist  (Wilbrandt), 
oder  er  wird  als  immer  widergeborener  durch  die  Weltgeschichte 
begleitet  (Lienhard)  (s.  124—134). 

In  den  neunziger  jähren  dienen  einige  Ahasver-gedichle 
ebenso  der  ausspräche  neuer  socialistischer  tendenzen,  wie  das 
in  den  vierziger  jähren  der  fall  war.  Ahasver  erscheint  als  die 
düstere  Verkörperung  Jahrtausende  alter  Unterdrückung,  als  ein 
hadernder    forderer   irdischer   gerechtigkeit ,    als  ein  neuer  weit- 


]90  SOERGEL    AHASVER-DICI1TU.\GE>    SEIT    GOETHE 

erlöser,  der  an  den  menschen,  an  der  erde  scheitert,  der  endlich 
selbst  durch  den  schmerz  erlöst  wird  (GHenner)  (s.  135 — 141). 
und  schliefslich  scheint  er  dem  erdenfrohen  geschlecht  unserer 
tage  als  ein  treues  kind  der  erde,  als  geniefsender  und  ent- 
sagender, als  ewiger  mensch  (s.  142 — 144). 

Die  rückschau  auf  die  entvvicklung  der  sage  in  der  dichtung 
gibt  kein  einheitliches  bild.  denn  schon  die  Stellung  der  dichter 
zu  dem  stolfe  ist  eine  zwiespältige,  die  einen  begeistern  sich 
für  den  Stoff  als  ganzes,  die  andern  für  die  person  Ahasvers; 
die  einen  schildern  den  demütigen  sünder,  über  dem  ein  höherer 
steht,  die  andern  verherlichen  den  kühnen  geist,  der  in  sich 
kraft  und  sehnen  der  neuen  zeit  verkörpert,  ja  ein  neuer  Ahasver 
wird  geschaffen,  der  ein  mythisches  symbol  für  werdendes  dar- 
stellen soll,  und  weil  nur  kleine  ansalze  zu  neuem  vorbanden 
sind,  wächst  der  eklekticismus  überall  riesengrofs.  Ahasver 
nimmt  züge  an  von  Kain  und  Judas,  von  Prometheus,  von  Faust 
und  Don  Juan;  vor  allem  von  diesen  beiden,  mit  denen  man  ihn 
oft  in  heziehung  gebracht  hat.  Goethes  'Faust'  würkt  inhaltlich 
und  formell  auf  die  Ahasver-dichtungen  ein  und  stellt  sie  in  den 
schatten,  vor  allem  aber  steht  der  ewige  Jude  selbst  im  schatten 
des  heilands.  Ahasver  kämpft  auch  in  den  dichtungen  gegen 
Christus  einen  vergeblichen  kämpf,  und  weil  das  viele  dichter 
nicht  erkennen,  gehn  sie  in  die  irre.  Goethe  hätte  ihnen  den 
weg  weisen  können  :  als  er  sich  dem  widerkehrenden  heiland 
zuwante,  war  sein  interesse  für  Ahasver  dabin  (s.  145 — 150).  — 

Nach  dem  zu  anfang  aufgestellten  programm  wird  in  diesem 
buche  die  sloffgeschichte  ästhetischen  und  culturhistorischen  in- 
teressen  dienstbar  gemacht,  viel  mehr  diesen  als  jenen,  dass 
dies  im  wesen  des  Stoffes  ligt,  hat  Soergel  selbst  hervorgehoben, 
trotzdem  hätte  ich  gerne  anders  als  nur  gelegentlich  die  frage 
erörtert  gefunden,  welchen  dichlungsgaltungen  und  -formen, 
welchen  slilprincipien  die  sage  leichter  oder  schwerer  zugänglich 
ist,  wie  ihre  auf-  und  abnähme  iu  gewissen  epocben  der  htteratur 
mit  formellen  und  stofflichen  Vorlieben  und  abneigungen  des 
Zeitalters  zusammenhängt,  ausführlicher  hätte  ich  es  ferner  gerne 
behandelt  gesehen,  wie  verwante  Stoffe  und  motive  sich  in  die 
sage  vom  Ahasver  drängen,  ob  nicht  da  und  dort  eine  tradition 
aufzudecken  wäre  —  ob  etwa  die  späteren  Vergesellschaftungen 
mit  DonJuan  und  Faust  auf  Seligmann  Heller  (s.  98)  oder  auf 
jene  bemerkung  Auerbachs  über  die  drei  Stoffe  des  Weltschmerzes 
(s.  77)  zurückgehn.  der  einfluss  der  sagengestalt  und  ihrer 
dichterischen  bearbeitungen  auf  ähnlich  todessehnende  wie  den 
fliegenden  Holländer  (vgl.  s.  29,  77),  auf  wandernde  menschen- 
verächter  wie  Peter  Schlemihl  (vgl.  s.  24)  hätte  heachlung  ver- 
dient, oft  ist  die  analyse  der  besprochenen  dichtungen  allzu  knapp, 
das  urteil  allzu  scharf.  —  all  diese  ausstelluugen  sollen  das  lob 
dieses  überaus  klar,  mitunter  glänzend  geschriebeneu  buches  ebeuso- 


SOEBGEL    All.VSVER-DICHTL'.MJEN    SEIT    GOETHE  191 

wenig  schmälern,  wie  die  kleine  liste  von  ergänzungen  und  be- 
richtigungen,    besonders  der  bibliographie,    die  ich  hier  anfüge: 

s.  23  :  jemand  gibt  sich  für  den  ewigen  Juden  aus  (Franklin), 
vgl.  Prost  s.  26;  —  daneben  der  echte  Ahasver  s.  46  (Laun); 
zwei  Ahasvere  s.  85  (JGSeidl). 

s.  29  :  ein  enge!  als  fluchverkünder  (Schubart);  vgl.  s.  79 
(Mosen)  und  RichWagner. 

s.  52  :  Ahasver  folgt  Kolumbus  (Andersen);  vgl.  s.  92  (Croly). 

s.  85  :  Liederbuch  dreier  freunde.     Kiel   1843. 
Zur  bibliographie: 

nr46a  :  JohSchön,  Ahasver,  der  ewige  Jude,  ballade. 
Hormayrs  archiv  1826  nr  55. 

Es  schreitet  ein  Schatten  über  Feld  und  Flulh, 
Das  ist  Ahasverus,  der  exoige  Jud; 
Und  xoie  er  schreitet,  so  schauerlich, 
Da  spricht  er  und  singet  leise  für  sich: 
in    der  alten    riesigen    zeit,    da    hatte    noch    manches  sein  aug 
erfreut,  nun  aber  ist  die  weit  verkrüppelt,  sie  möge  vermodern : 
'Vielleicht  wird  dein  Todeshauch  mich  hefreyn 
Von  solchem  erbärmlichen  Seyn.' 
So  murmelt  der  Schatten,  der  tausend  Jahr'  alt, 
Und  leise  zerflie/set  die  Nebelgestalt. 

nr  52  :  die  Übersetzung  von  Kaiser  in  4  bänden,  'aus  dem 
englischen  übersetzt'  (Rl.  f.  litter.  unterh.    1830  nr  71). 

nr  59  :  Wilhelm  Jemand  nach  Prost  =  VVDevrient;  Lange- 
wiesche  sei  der  Verleger,    vgl.  Rl.  f.  litter.  unterh.  1832.  nr  129. 

nr  65  :  die  Übersetzung  Ludwigsburg  1834  besprochen: 
Rl.  f.  litter.  unterh.   1835   nr  106. 

nr  69  a  :  Ernst  Ortlep  p,  Rede  des  ewigen  Juden,  gehalten 
zum  neujahr  1836,  zur  beherzigung  für  Juden  und  Christen  mit- 
getheilt.  nebst  litb.  porträt  des  ewigen  Juden.  Leipzig,  Schäfer,  gr.  8. 
vgl.  WHges,  Ernst  Ortlepp  s.  94  f  (gedieht). 

nr  69  b  :  FTh  Wangen  heim,  Die  Perle  von  Zion.  2  bänd- 
chen. Leipzig,  Weber  1839  (roman).  vgl.  Rl.  f.  litter.  unterh.  1840 
nr  268  :  veranlassung  des  romanes  ist  das  demselben  vorgedruckte 
gedieht  'Ahasver'  von  LWihl  (das  Soergel  nicht  kennt,  vgl.  Prost 
nr  36  (identisch?))  :  es  ist  der  versuch  einer  lösung  der  juden- 
frage  vom  jüdischen  standpunete  aus.  'die  mislichste  ßgur  im 
buche  ist  Ahasver.  der  vf.  hat  symbol  und  würklichkeit  so 
ineinander  gezerrt,  dass  er  sich  selber  nicht  herausfinden  kann 
und  der  Ahasver  ein  wahres  unding  geworden   ist.' 

nr  75  :  nach  Prost  (nr  16)  entstanden  1826. 

nr  85a  :  Prost  nr  27  :  Duller,  Erzählungen.  Frankfurt  a'M. 
1838  i  51—86.     Ahasver. 

nr  S6  :   nach  Prost  (nr  20)  entstanden   1S32. 

nr  109  :  proben  schon  Theaterzeitung  1844. 

nr  110  :  Christoph  Kuffner. 


192  SOERGEL    AHASVER-D1CHTUNGEN    SEIT    GOETHE 

nr  110a  :  Prost  nr35:  JNestroy  Zwei  ewige  Juden  und  keiner, 
u.  d.  t.  Der  fliegende  Holländer  zu  fufs,  zum  ersten  mal  auf- 
geführt Wien,  Leopoldstädter  theater,  5augustl846.  über  den 
titel  'Zwei  ewige  Juden  und  keiner'  vgl.  Theaterzeitung  1846 
nr  292.  293. 

nr  110b  :  Eginhard  [GFrhvBuschmann],  Ein  neues  lied 
vom  alten  Ahasver.  Aurora,  taschenbuch  für  das  jähr  1848. 
Wien,  s.  219. 

Ahasver,  ein  verfluchter  geist,  muss  in  menschenleiber  fahren 
und  sie  zu  ihrem  verderben  beseelen,  ein  reines  mädchen  leistet 
dem  dämon,  von  dem  sie  besessen  ist,  widerstand.  Ahasver  flieht 
ergrimmt  in  die  wüste: 

'Schaut,  in  geburtswehn  hingestreckt  am  Niger 
Ein  tigerweib,  und  wird  —  zum  jungen  tiger.' 

nr  149a:  Julius  Sturm,  Ahasver  (gedieht).  Euphorion  xiv  617. 

nr  167  :  vgl.  Prost  nr  57. 

nr  186a  :  Prost  nr  59  :  OvSchaching,  Der  ewige  Jude, 
geschichte  aus  den  bergen.     Regensburg  1895. 

nr  193  a  :  Prost  nr  63  :  KLandsteiner,  Ein  jünger  Ahasvers. 
Regensburg  1900  (roman). 

Der  mangel  eines  registers  oder  wenigstens  verweisender 
Seitenzahlen  in  der  bibliographie  erschwert  die  gelegentliche  aus- 
nutzung  des  gebotenen  materials. 

Wien,   17  october  1907.  Stefan  Hock. 


Historische  romane  deutscher  romantiker  (Untersuchungen  über  den  einfluss 
Walter  Scotts),  von  dr  Karl  Wenger.  [=  Untersuchungen  zur 
deutschen  sprach-  und  litteraturgeschichte.  hrsg.  vonprof.  dr  OFWalzel. 
7  heft.]     Bern,  AFranke,  1905.     vii  u.  122  ss.     8°.  —  2,40  m. 

'Walter  Scott  hat  für  Frankreich,  im  besonderen  für  die 
französischen  romantiker,  fast  eine  grundlegende  bedeutung  erlangt, 
für  die  deutschen  romantiker  dagegen  kommt  er  wenig  in  betracht' 
(s.  23).  verlohnt  es  sich  dann,  über  diese  geringe  bedeutung 
Walter  Scotts  für  die  deutschen  romantiker  eine  eigne  Unter- 
suchung anzustellen?  aber  ganz  so  undankbar  war  die  aufgäbe 
des  vf.s  denn  doch  nicht  :  in  cap.  4  und  5  seiner  arbeit  macht 
er  immerhin  ausätze  zur  Würdigung  eines  Verhältnisses  WS.s 
zu  Arnim  und  namentlich  zu  Tieck.  diese  beiden  capitel  sind 
zugleich  die  einzigen,  in  denen  wenigstens  hier  und  da  der 
versuch  tieferen  eindringens  in  Stoff  und  aufgäbe  gemacht  wird, 
die  drei  vorhergehnden  stellen  leichtgearbeitete  skizzen  dar, 
die  in  bequemem  anschluss  an  jeweilige  hervorragende  gewährs- 
männer  mehr  zusammenstellen  als  untersuchen,  nicht  grund- 
los ist  daher  die  Unzufriedenheit  des  vf.s  mit  sich  selbst, 
die  in  der  misglückten  rechtfertigung  seines  'Schlusswortes' 
zu    tage    tritt,     auch    wenn    man    meint  :  'die    behandlung    des 


WENT.ER    HISTORISCHE    ROMANE    DEUTSCHER    ROMANTIKER  193 

einflusses  WScotts  kann  beliebig  weit  fortgeführt  werden'  — 
aber  wird  es  nicht  immer  eine  zeitliche  grenze  geben,  jenseits 
derer  ein  einfluss  zum  mindesten  nicht  mehr  feststellbar  wird?  — , 
ist  'eine  einheitlich  abgeschlossene  composition  zu  erstreben', 
und  gerade  bei  einer  so  einfachen  fragestellung.  die  Wahrheit 
ist,  dass  der  vf.  nicht  streng  bei  seiner  fragestellung  geblieben 
ist.  handelt  es  sich  darum  zu  eruieren,  'welchen  anleil  Walter 
Scott  an  dem  entstehen  historischer  romane  deutscher  romanliktr 
genommen  hat'  (p.  v),  so  ligt  es  nachher  nicht  'in  der  nalur  der 
sache,  dass  wir  gleichsam  unter  dem  zeichen  VVSc.s  vorgegangen 
sind',  wodurcb  'eine  breitere  basis  bedingt'  (!),  aber  auch  'mancher 
ausblick  auf  verwantes  in  der  ausländischen  litteratur  eröffnet' 
worden  sei  (schlussw.  s.  122).  warum  bei  der  einreihung  der 
romane  Fouques,  Arnims  und  Tiecks  in  die  Scottsche  Bewe- 
gung 'der  nachdruck  auf  diesen  dichtem  selbst  ruhen',  warum 
auf  einmal  'ihre  historischen  erzähluugen  auf  ihren  anleil  an  den 
anschauungen  der  zeit  im  allgemeinen  und  an  den  verschiedenen 
kunstübungen  im  besonderen  geprüft  werden'  sollen  (p.  vi),  ist 
vollends  nicht  verständlich,  die  Verschiebung  des  themas  in 
der  richtung  auf  allgemeine  betrachtung  der  betr.  romane 
verrät  sich  schon  in  der  fassung  des  doppellitels,  den  der  vf. 
dem  buche  Maigrons  'Le  roman  bistorique  ä  l'epoque  romantique. 
essai  sur  1'influence  de  Walter  Scott'  unglücklich  nachgebildet  bat. 
Einen  unfreiwilligen  essai  sur  1'influence  de  Maigron  könnte 
man  das  erste  capitel  nennen,  mit  recht  findet  W.,  dass  zunächst 
'das  originelle  der  Waverley-novels  einer  eingebnden  Untersuchung 
bedürfe',  zu  diesem  zwecke  'stützt'  er  sich  auf  Maigron,  dessen 
aufschlussreiche  Untersuchungen  er  sich  kürzend,  ändernd,  ver- 
gröbernd oft  auch  da  zu  eigen  macht,  wo  er  ihn  nicht  aus- 
drücklich citiert.  als  beispiel  diene  die  Charakteristik  der 
gestalten  des  'Ivanhoe'  aufs.  12  ff.,  des  Sachsen  Cedric,  der  Nor- 
mannen, weltlicher  wie  geistlicher,     vgl.  etwa: 

Wenger  s.  13.  Maigron  p.  89. 

So   sind    die    weltlichen  ver-  L'Eglise  n'est  pas  moius  nette- 

treter  der  Normannen,  so  sind      meut    caracterisße    que  la  nob- 

auch  die  mitglieder  der  kirche,      lesse  :  c'est    le    prieur    Aymer, 

unter  anderm  Aymer,   abb6  de      abbe  de  Jorvaulx,  coquet,  mon- 

Jorvaulx,  ein  koketter,  weltlich      dain  et  galant —  — 

gesinnter,  galanter  priester,  fer-      —    —    —   —   —    —  —  — ; 

uer  der  brutale,  lasterhafte,  c'est  le  templier  Brian  de  Bois- 
kynische  und  atheistische,  dabei  Guilbert,  brutal,  insolent,  d6- 
kühne  und  männliche  templer  baucht,  cynique  etath6e;  c'est 
Brian  de  Bois-Guilbert,  und  Friar  Tuck,  le  plus  joyeux  des 
endlich    ganz   anderer   art   und     joyeux    moines    d'autrefois    — 

doch    ähnlich  Friar  Tuck,    der ,    plus    intröpide  ä  vider 

lebensfreudigste  aller  mönche,  une  bouteille  en  joyeuse  com- 
dem  jagd  und  kämpf  über  messe-      pagnie qu'ä  dire  son  of- 


194  WENGER    HISTORISCHE    ROMANE    DEUTSCHER    ROMANTIKER 

lesen  und  beichtehören  gehen  fice  et  chanter  matines  —  brave 
und  der  mit  den  'merry  out-  eladroitcomme  un  outlaw  —  etc. 
laws'  ein  herz  und  eine  seele  ist. 

Ungebührlich  lange  wörtliche  citate  aus  Carlyle  Critical  and 
miscellaneous  essays  iv,  von  denen  aus  Maigron  zu  schweigen, 
helfen  das  capitel  vervollständigen,  das  bild  des  romandichters 
Walter  Scott  war,  bei  so  guter  filhrung,  nicht  zu  verfehlen. 

Das  zweite  capitel  schildert  die  aufnähme  Scotts  in  Deutsch- 
land auf  grund  der  recensionen  in  Menzels  Litteraturblalt  von 
1817  bis  1827,  zu  denen  äufserungen  von  Heine,  Hauff,  Grabbe 
und  Alexis  treten,  während  die  anonymen  besprechungen  des 
litteraturblattes  in  lob  und  tadel  grundsatzlos  wechseln,  in  bezeich- 
nendem gegensatz  zu  dem  ein  für  allemal  begeisterten  lesepub- 
licum,  präcisiert  Wolfgang  Menzel  zum  ersten  male  (1827)  das 
verdienst  WScotls  als  des  begründers  des  modernen  historischen 
romans,  in  dem  nicht  mehr  der  ideale  Charakter  eines  einzelnen, 
sondern  das  volk,  in  einem  bestimmten  momente  seiner  geschicht- 
lichen entwicklung  aufgefasst,  der  eigentliche  held  sei.  die  poesie 
der  'walterscottisierenden'  romane  ist  'demokratisch',  entsprechend 
der  'praktischen  und  politischen  richtung  des  gegenwärtigen  Zeit- 
alters'. Heine  verhält  sich  bezeichnend  skeptisch  gegenüber  der 
historischen  Wahrheit  Scotts.  Hauff  wendet  sieb  gegen  die 
deutschen  massenfabrikanten  historischer  romane.  Grabbeschimpft 
über  den  vielschreiber  und  verkleinerer  Napoleons,  in  der  tiefe 
begriffen  hat  den  schottischen  realisten  nur  sein  wahrer  jünger 
Alexis,  der  in  der  tendenzfreien  anschaulichkeit  Scotts  den  'quell 
der  wahren  poesie'  im  historischen  roman  entdeckt  (Wiener  Jahr- 
bücher der  lilteratur  1821  und  1823).  vou  hier  aus  ergibt  sich 
mit  leichtigkeit  die  formulierung  des  (vou  vornherein  klaren) 
gegensatzes  zwischen  Scott  und  den  romantikern  (cap.  2, 
abschn.  n)  :  sind  sie  aristokratisch,  philosophisch,  ironisch,  so  ist 
er  demokratisch,  problemlos  realistisch,  positiv,  demgemäfs  setzt 
sich  anfänglich  sein  publicum  in  erster  linie  aus  den  lesern 
Lafontaines,  Schröders,  Ifflands,  Kotzebues  (und  aus  deneu  der 
ritter-  und  räuberromane!)  zusammen,  auf  diese  weise  gewinnen 
endlich  die  auf  das  historische  gerichteten  tendenzen  des  — 
Sturmes  und  dranges  das  publicum  der  aufklärungslitteratur;  denn 
es  ist  der  'Götz',  dessen  zeitschilderung  sich  Scott  schon  in  seiner 
Jugendzeit,  da  er  ihn  übersetzte,  zum  entscheidenden  vorbild  nahm, 
in  seinen  romanen  erhält  also  Deutschland  nach  so  vielen  ungeniefs- 
baren  endlich,  aus  dem  auslande,  die  reifen  fruchte  jener  begei- 
sterung  für  'das  mittelalter'.  eine  in  den  grundlinien  gewis 
richtige  auffassung,  die  man  nur  viel  energischer  begründet 
sehen  möchte. 

Dass  der  vagphantastische  Fouqu6,  in  dem  sich  die  ältere 
richtung  des  historischen  romans  fortsetzt,  von  dem  kraftvollen 
realismus   des  Schotten    nichts   lernen  konnte,  ligt  auf  der  band 


WEISGER    HISTORISCHE    ROMANE    DEUTSCHER    ROMANTIKER  195 

(cap.  3).  gerade  ihm  muste  Scott  besonders  schaden.  —  die 
combinalion  dieser  tatsache  mit  den  oben  angeführten  charakte- 
ristischen äufserungeu  Menzels  hätte  den  gewiesenen  ausgangs- 
puoct  für  die  erklärt! Dg  der  raschen  einbürgerung  Scotts  in 
Deutschland  ergehen  :  die  entschiedene  Wandlung  des  poetisch' 
phantastischen  Interesses  für  eine  reichlich  litterarisch  angeschaute 
bistorie  in  ein  realistisches,  wissenschaftliches,  modernes,  in  dem 
sich  der  erwachende  politische  sinn  der  reactionszeit  in  all  seinem 
liberalen  bildungseifer  kundgibt. 

Auch  Ami  m  ist  zu  anders  geartet  und  selhsteigeu,  als  dass  ihn. 
nach  \Y.,  Scott  hätte  irgendwie  tiefer  beeinflussen  können  (cap.  4). 
der  ausführliche  vergleich  beider,  den  W.  danach  auf  27  Seiten 
wegen  des  'interesses'  das  er  biete  gibt,  gehört  also  streng- 
genommen nicht  hierher,  die  novellen  'Der  Pfalzgraf  als  Gold- 
wäscher', 'Isabella  von  Ägypten',  'Die  drei  liebreichen  Schwestern  und 
der  glückliche  Farber'  nehmen  sich  zwar  wie  Vorbereitungen  auf 
den  historischen  roman  aus;  aber  schon  hier  trennt  eine  störende 
phautastik  (\en  romanliker,  in  dem  doch  so  viel  würklichkeitssinu 
war,  von  dem  schottischen  realisteu.  auch  die  eigne  anschauung 
Englands  und  Schottlands,  speciell  der  highlands,  bringt  Arnim 
Scott  nicht  näher  :  Zeugnisse  dafür  sind  die  'Ehenschmiede'  und 
'Owen  Tudor',  die  ganz  in  der  allen  art  gehallen  sind,  da  auch 
die  möglichen  äufseren  zusammenhänge  zwischen  beiden  versagen, 
müssen  weiter  innere  aufgesucht  werden,  zu  diesem  zwecke 
gibt  W.  eine  eingehende  analyse  der  'Kronenwächter',  deren 
ausführlichkeit  stellenweise  den  ausgangspunct  vergessen  lässt. 
die  mit  den  meinungen  anderer  zu  reich  verbrämte  Untersuchung 
ergibt  schliefslich,  wie  nicht  anders  zu  erwarten,  die  charakte- 
ristische Verschiedenheit  beider  :  'Scott  sagt  uns,  wie  schön  und 
kraftvoll  etwas  ist,  Arnim,  wie  schön  und  kraftvoll  es  ihm  erscheint' 
(s.  84).  das  steht  alles  schon  kürzer  bei  Scherer,  den  \Y.  nicht 
verfehlt  zu  citieren.  ich  halte  den  gegeusatz  für  überschärft; 
und  ob  nicht  eine  exactere  Untersuchung  doch  berührungen  in 
den  einzelmotiven  ergeben  würde,  bleibt  fraglich. 

Klarer  liegen  die  dinge  bei  Tieck  (cap.  5).  hier  lässt  sich 
wenigstens  etwas  wie  eine  enlwicklung  im  Verhältnis  zu  YVScolt 
feststellen,  nicht  übel  charakterisiert  W.  die  anfängliche  gegeu- 
sätzlichkeit  der  beiden,  die  er  durch  gegenüberstellnng  des  'Auf- 
ruhrs in  den  Cevenuen'  und  der  'Old  Mortalily'  erweist,  als  in 
der  verschiedenheil  der  naturen  begründet  :  hier  der  einfache 
darsteller,  dort  der  philosophierende  problem-  und  ideendichter 
(also  in  andrer  nuance  nur  wider  dasselbe  hindernis  wie  bei 
Fouque  und  Arnim  :  die  auf  subjeclivität  geradezu  aufgebaute 
romantische  poesie  und  der  Scottsche  realismus  passen  eben  von 
vornherein  nicht  zu  einander;  was  jedoch  berührungen  im  ein- 
zelnen keineswegs  ausschliefst),  die  folgen  für  charakterzeichnung 
und   spräche   werden    treffend    hervorgehoben,     kräftigere  indivi- 


196  WENGER    HISTORISCHE    ROMAINE    DEUTSCHER    ROMANTIKER 

duellere  gestaltung,  gröfseren  realismus  als  im  'Aufruhr'  meint 
W.,  gewis  mit  recht,  im  'Wiederkehrenden  griechischen  Kaiser' 
und  im  'Ilexensabbath'  anzutreffen,  eine  Wandlung,  die  er  in 
erster  linie  dem  einflusse  Scotts  zuschreiben  zu  dürfen  glaubt: 
hier  fehlt  eine  genauere  Untersuchung,  noch  nötiger  wäre  sie 
bei  'Vittoria  Accorombona'  gewesen ,  dem  alterswerke  Tiecks,  in 
dem  W.  den  höhepunct  Scottscher  einwürkung,  einen  veritabeln 
'historischen  roman  im  sinne  Walter  Scotts'  erblickt  (Manzoni 
und  die  französischen  romantiker,  auf  die  W.  aufserdem  hinweist, 
sind  ja  selber  von  Scott  abhängig),  hier  ist  mit  allgemeinen 
Würdigungen  nichts  getan.  — 

So  hat  man  überall  gelegenheit  den  mangel  tieferen,  wissen- 
schaftlichen eindringens  zu  bedauern,  wichtige  zusammenhänge 
nur  'anzutönen'  (s.  114),  sollte  dem  vf.  nicht  genügen,  spuren 
flüchtiger  arbeit  zeigt  das  ganze  buch.  WAIexis'  wahrscheinlich  un- 
deutliche handschrift  fordert  ein  spätes  opfer,  wenn  ihm  die' berühmte 
mühle  des  Garbin o',  in  der  'die  beiden  der  vorzeit  zerschroten 
und  zermahlen  werden',  auf  s.  46  im  citat  nachgedruckt  wird 
(nach  Jahrbücher  der  litteratur  22  band  [Wien  1823]  s.  12); 
es  ist  natürlich  die  litteraturmühle  in  Tiecks  Zerbino  gemeint, 
die  bequemlichkeit  der  Zusammenfassung  älterer  und  jüugerer 
romantik  in  6inem  satze  sollte  nicht  dazu  verführen,  ua.  den 
brüdern  Grimm  (!)  eine  liebe  zur  deutschen  Vergangenheit  'ihres 
philosophischen  gehaltes  wegen'  zuzuschreiben  (s.  24).  bequem- 
lichkeit und  mangel  an  niveau  verrät  die  massenhaftigkeit  der 
citate,  mangel  an  philologischer  haltung  bisweilen  ihre  auswahl 
(zb.  s.  115  :  Wiese  und  Percopo  'Italienische  lilteraturgeschichte'). 

Das  buch  kann  nur  als  eine  der  genaueren  nachprüfung 
bedürftige  vorstudie  zu  einer  würklich  ausgreifenden  und  ein- 
schneidenden arbeit  gelten,  wie  sie  für  Frankreich  Maigron  geleistet 
hat.  der  einfluss  Walter  Scotts  auf  Deutschland  ist  zu  diffus, 
als  dass  hei  der  beschränkung  des  themas  auf  drei  romantiker 
viel  herauskäme,  isolierung  in  solchem  falle  ist  methodisch  verfehlt. 
Göttingen.  Walther  Brecht. 


LlTTERATURINOTIZEN. 

Notkers  mischprosa  in  seinem  commentar  zu  den  psalmen  x — xx 
und  c — civ  incl.  von  K.  Schiffmann,  (progr.  d.  gymu.  in  Urfahr, 
1903).  29  ss.  8°.  —  der  vf.  hat  während  seiner  Untersuchungen 
mitten  unter  problemen  gestanden,  die  uns  immer  zu  schaffen 
macheu  werden,  und  hat  sie  uicht  gesehen,  weil  er  nur  nach  dem 
ausgeschaut  hat,  worauf  Junghans  in  seiner  Berliner  dissertation 
über  Willirams  mischprosa  (1893)  und  dann  Seemüller  in  der 
rec.  dieser  schrift  (Auz.  xxi  228)  hinwies  :  'von  Notker  ist  Williram 
jedenfalls  beeinflusst  .  .  .  inwieweit  in  der  Sprachmischung,  das 
ist  noch  gar  nicht  untersucht',    mit  der  vorgefassten  absieht  das 


SCHIFFMAISX    NOTKEHS    MISCHPROSA  197 

zu  suchen  gieng  der  vi.  aus  :  er  setzt,  um  hierbei  ja  nicht  das 
ziel  zu  verfehlen,  den  von  Junghans  eingeschlagenen  weg  vom 
ende  zum  Ursprung  der  mischprosa  ängstlich  fort  und  beob- 
achtet die  mischprosa  nur  da,  wo  sie  Williram  übernimmt,  so 
findet  S.  nur  das  was  er  sucht  :  Willirain  ist  in  der  mischprosa 
von  Notker  beeinflusst.  —  hätte  aber  der  vf,  den  tadel  Seemüllers 
gegen  Junghans  sich  zu  nutze  gemacht,  welcher  bedauert,  dass 
Junghaus  die  mischprosa  nicht  zuerst  bei  Notker  untersucht  habe, 
hätte  er  da  angefangen,  wo  die  mischprosa  anfängt,  und  ihre 
natürliche  entwicklung  vom  Ursprünge  aus  verfolgt,  so  hätte  er 
vieles  neue  in  der  mischprosa  gefunden  und  gesehen,  dass  Notkers 
mischprosa  ungleich  reicher  ist  als  die  Willirams,  dass  sie  für 
seine  zeit  eine  geniale  erfindung,  deshalb  für  uus  'ein  historisch 
gar  uicbt  leicht  erklärliches'  problem  ist,  während  Williram  davon 
soviel  sclavisch  imitiert  als  ihm  verständlich  geworden  ist,  und 
deshalb  uns  kein  problem  aufgibt.  — 

Als  künstlerische  principien  der  mischprosa  findet  der  vf. 
i.  Verknüpfung  von  bild  und  deutung,  begriff  und  erklärung, 
H.  ebenfalls  Verknüpfung  von  bild  und  deutung,  begriff  und 
erklärung (!),  in.  autilhese,  iv.  parallelismus.  zwischen  den  formu- 
lierungen  der  principien  i  und  u  ist  kein  unterschied  einzusehen: 
der  vf.  hat  sie  wol  deshalb  geschieden,  weil  er  richtig  fühlt,  dass 
er  vielerlei  unter  der  einheit  eines  princips  zusammenfasst,  was 
innerlich  verschieden  ist.  s.  4 — 16  sind  teils  beispiele  für 
Vulgatacitate,  die  gehören  nicht  eigentlich  zum  problem  'misch- 
prosa', teils  sogenannter  Jargon,  s.  26 — 28  folgen  Functionen, 
die  der  vf.  für  unerklärlich  hält,  da  also  der  vf.  mit  den  von 
Junghans  übernommenen  principien  nicht  auskommt,  so  hätte  er 
nach  einem  weiteren  und  freieren  Systeme  von  principien  suchen 
müssen,  von  den  14  seilen  füllenden,  unaufgeklärten  functionen 
sind  13  Seiten  ohne  weiteres  durch  künstlerische  principien  zu 
erklären,  welche  für  Notker  originell  sind  und  deshalb  für  den 
vf.  unauffindbar  waren,  der  vf.  sollte  nur  einmal  die  probe 
machen,  sein  enges  Schema  auf  den  philosophisch  pointierten  Stil 
im  Boetius  oder  den  künstlerisch  pointierten  stil  im  Marcianus 
Capella  anzuwenden  :  er  käme  in  peinliche  Verlegenheit,  würde 
dann  aber  mit  dem  durch  umwege  geschärften  äuge  in  dem  von 
ihm  untersuchten  stück  eine  grolse  zahl  functionen  finden,  die 
er  übersehen  hat.  merkwürdigerweise  erklärt  sich  eine  anzahl 
von  den  für  den  vf.  unerklärlichen  functionen  sogar  nach  den 
von  ihm  selbst  aufgestellten  principien  :  lux  unde  tenebre,  altioris 
loci  unde  inferioris,  justi  unde  peccatores,  preterilorum  aide 
futurorum  ordnen  sich  in  kalegorie  m  (gegensatz)  ein,  eine  ganze 
anzahl  lallen  unter  kalegorie  n  (parallelismus).  —  innerhalb  des 
willkürlich  beschränkten  gesichtskreises  zeigt  der  vf.  ein  aufmerk- 
sames äuge,  sonst  hätte  er  folgende  interessante  feinheil  nicht 
entdeckt  :  'bei  der  copula  et  ist  eine   Unterscheidung  in  der  an- 


19$  SCHIFFMANN    NOTKERS    MFSCHPROSA. 

wendiing  zu  beobachten  :  sie  trat  lateinisch  auf,  wenn  Notker  die 
beiden  damit  verbundenen  begriffe  als  zusammmengehörig  hin- 
stellen, deutsch,  wenn  er  sie  scheiden  will',  hier  ist  der  vf. 
einem  probleme  einmal  nahe  gekommen. 

Göttingen.  Paul  Uoffmamv. 

L'originalite'  de  Gottfried  de  Strasbourg  dans  son  poeme  de  Tristan 
et  Isolde.  6tiule  de  litterature  comparee  par  F.  Piqcet  —  Lille,  au 
siege  de  l'universiie,  1905  [Travaux  et  mömoires  de  l'univ.  de 
Lille,  nouvelle  serie  i  fascic.  5],  380  ss.  8°.  —  so  lange  wir 
die  einheitliche  mittelalter-philologie  noch  nicht  besitzen,  nach 
der  gerade  in  jüngster  zeit  der  ruf  wider  so  laut  erschallt, 
werden  wir  jedesfalls  unter  ihren  ansätzen  die  erneuerung  der 
alten  zusammenhänge  von  deutscher  und  romanischer  philologie 
mit  besonderer  freude  begrüfsen.  die  frage  nach  der  Originalität 
der  mittelhochdeutschen  dichtung  bildet  da  den  natürlichen 
angelpunct.  für  die  lyrik  wird  wol  von  seilen  der  metrik 
aus  eiu  neuer  angriff  auf  diese  probleme  erfolgen  müssen  — 
der  einzigen  seite  dichterischen  Schaffens  übrigens,  auf  die  P. 
in  seiner  so  umsichtigen  Würdigung  des  dichters  Gottfried  mit 
keinem  wort  eingeht;  für  die  epik  hat  naturgemä'fs  die  ver- 
gleichung  der  gedichte  gleichen  inhalts  den  ausgangspunct  zu  bilden. 

P.  ist  in  diesem  sinn  bereits  mit  seiner  bekannten  Unter- 
suchung über  Hartman  vAue  hervorgetreten,  er  ist  ein  dankbarer 
schüler  Bediers,  ohne  deshalb  seine  Selbständigkeit  dem  lehrer 
gegenüber  zu  verleugnen  (vgl.  s.  166.  274,  2.  276).  mit  einer 
gründlichen  kenntuis  der  litteratur  und  lebhaftem  psychologischen 
interesse  vereinigt  er  eine  klare  ruhige  darstellung;  das  haupt- 
verdienst aber  der  arbeit  ligt  in  der  musterhaften  Sorgfalt  der 
vergleichung,  die  keiner  Schwierigkeit  aus  dem  wege  geht,  sie 
vielmehr  eher  aufsucht  (übertrieben  scheinen  zb.  die  'eHran- 
geles'  s.  101),  und  mit  feinheit  (s.  108.  160)  und  genauigkeit 
(s.  113,  1),  vor  allem  aber  mit  folgerechter  logik  (s.  77)  über- 
windet. 

Wenn  uuu  trotz  dieser  exaclheit  und  trotz  der  rühmlichen 
objectivität,  die  im  gegensatz  zu  Gollhers  viel  oberflächlicheren 
urteilen  Thomas  (s.  242.  249.  343)  vielleicht  zu  gering  einschätzt, 
Gottfrieds  bild  (s.  313  f)  fast  als  das  eines  französischen  muster- 
poeten  hervortritt,  so  zeigt  sich  darin  doch  vielleicht  auch  die 
grenze  unserer  aufnahmefähigkeit  für  fremde  eigenheit.  Gottfried 
ist  ein  'observateur'  (s.  339)  und  besitzt  ein  'talent  de  diseur' 
(s.  19,  vgl.  349).  seine  'clarte'  (s.  338)  und  sein  'rationalisme' 
(s.  334)  werden  hervorgehoben,  seine  'deMicatesse'  (s.  56.  33.  207), 
seine  beachtung  der  deceoz  (s.  328  uö.) ,  seine  psychologischen 
interessen  (s.  73.  75.  342),  sein  'lyrisme'  (s.  348),  seine  neiguug 
zum  moralisieren  (s.  345)  betont,  sein  'goüt  du  recherche7  (s.  121 
vgl.  340)  nicht  verschwiegen,  erhielten  wir  da  nicht  vollkommen 
das  porträt  eines  französischen  classikers,  wenn  als  deutsche  eigen- 


PIQUET    GOTTFRIED    DE    STRASBOURG  199 

heiten  nicht  etwa  die  'sensibilil6'  (s.  47)  und  der  humor  (s.  3  17) 
übrig  bleiben? 

Nun  ist  ja  sieber  Gottfried  der  französischste  unter  unseren 
epikern ;  man  braucht  nicht  einmal  an  seinen  gegenpol  Wolfram 
zu  denken  (Gottfried  als  kriliker  :  s.  332.  36G  und  seine  moder- 
nitäl  s.  330),  sondern  nur  etwa  an  Veldeke,  um  eine  entschiedene 
innere  'verwälschung'  des  grofsen  Elsässers  zu  erkennen,  trotz- 
dem bleibt  es  merkwürdig,  wie  wenig  eine  in  allem  sachlichen 
abschliefsende  kritik  in  der  geistigen  Würdigung  unser  'Hoheslied 
der  liebe'  ('passion'  s.  317)  von  den  verwanten  dichtem  abzuheben 
vermocht  hat.  hätte  P.  die  trefflichen  auseinamlerselzungen  ins- 
besondere zur  Zeichnung  der  Charaktere  (s.  340  f;  ßlancheflor  s.  70, 
der  seneschall  s.  194,  Mariadoc  s.  242,  Brangäne  s.  237,  der  bischof 
s.  262,2)  für  die  gesamtwürdigung  stärker  ins  äuge  gefasst,  so 
wäre  das  deutsche  in  Gottfried  so  stark  hervorgetreten,  wie  beim 
vergleich  mit  Eilhart  (s.  307)  und  Hartman  (s.  353)  das  dichterische. 
In  diesem  herausarbeiten  von  Gottfrieds  technik  (zb.  s.  93) 
ligt  die  hauptbedeutung  des  werkes;  kleinere  hinweise  auf  bezie- 
hungen  zu  minnesängern  (Bligger?  s.  287,  Morungen?  s.  299,1 ; 
vgl.  allg.  s.  323)  sind  stärkeren  einwänden  ausgesetzt,  die  gesanit- 
deutung  des  durchaus  'diesseitigen'  dichlers  (s.  94),  der  deshalb 
doch  entschieden  religiös  war  (s.  324;  die  berühmte  frage  des 
gottesgerichls  s.  265.  326),  wird  kaum  angefochten  werden  können. 
Gottfried  ist  uns  nicht  mehr  der  laseive  gottesspötter  Lachmanus 
(s.  360),  nicht  mehr  der  laseive  pfaffenfeind  Hermann  Kurtzens 
(s.  265)  —  sondern  ein  grofser  dichter,  der  Gott  als  einen  teil 
der  angebeteten  weltschönheit  liebte. 

30  august  1907.  Richard  M.  Meyer. 

Der  minnesang  im  lande  Baden  von  Fridrich  Pfaff.  [Neujahrs- 
blätter  der  Badischen  historischen  kommissiou,  n.  f.  11.]  Heidel- 
berg, Carl  Winter,  1908.  xxm  u.  71  ss.  8°.  1,25  m.  —  das 
lieft  empfiehlt  sich  durch  gute  ausstattung  und  billigen  preis 
den  freunden  des  deutschen  altertums  in  Baden,  für  die  es  die 
landsmännischen  dichter  des  13  jh.s  bequem  vereinigt,  der  Ver- 
fasser, der  früher  ausgesprochene  annexionsgelüste  zeigte,  hat 
sich  im  entscheidenden  moment  doch  zu  bezähmen  gewust: 
er  blickt  zwar  etwas  wehmütig  auf  den  Kürnberger  und  auf 
Hartmann  von  Aue  hinüber,  die  er  gar  zu  gern  im  Breisgau 
ansiedeln  mochte,  hat  sich  aber  im  übrigen  darauf  beschränkt, 
den  von  Bartsch  mit  guten  gründen  im  Aargau  festgehaltenen 
Heinrich  von  Tettiugen  auf  die  badische  seite  des  Bodensees 
herüberzuholen;  vielleicht  hätte  ihn  RiVJiVIeyers  kurze  Charakte- 
ristik des  Säugers  (ADB.  37,  592)  zu  nochmaligem  überdenken 
der  frage  gebracht,  wenn  er  die  Allgemeine  deutsche  biographie 
überhaupt  berücksichtigt  hätte,  die  übrigen  sieben  poeten  wird 
man  hrn  Pfaff  als  badische  landsleute  wol  unbedenklich  zugestehn: 
Wizzeulo,  Biuno  von  Homberg,  meister  Walther  vBreisach,  ßrun- 


200  PFAFF  DER  MINNESANG  IM  LANDE  BADEN 

wart  vAugheim,  Burkart  vHohenfels,  Hug  vWerbenwag  und  wol 
auch  den  'von  ßüchein'.  obwol  der  mit  dem  preise  des  verstor- 
benen letzten  grafen  von  Calw  nach  der  württembergischen  seite 
des  Schwarzwalds  zu  weisen  scheint,  alle  andern  werden  durch 
umfang  und  wert  der  production  weit  überragt  von  ßurkart 
vHohenfels,  der  freilich  der  interpretation,  wie  die  bemühungen 
P.s  aufs  neue  zeigen,  grofse  Schwierigkeiten  bereitet,  leider  wird 
der  reinliche  gesamteindruck  des  büchleins  bei  näherem  zusehen 
bald  zunichte  :  die  texte  sind  voll  verdriefslicher  unsauberkeiten, 
aus  denen  es  geuügen  wird  ein  paar  derbe  proben  herauszu- 
greifen. Horuberg  i  5,4  lit  st.  lide;  n  1,6  gegen  si  st.  gegen  ir.  — 
Buchheim  n  1,2  du  fröist  alle  diu  vogellin  st.  aber!  —  Hohen- 
fels  x  2,2  strich  st.  streich;  xi  5,2  seit  st.  sist.  —  Werben- 
wag i  1,1  Wol  mir  hirte  st.  Wol  mich  hiute.  dazu  kommt  eine 
weitgehnde  freizügigkeit  der  circumflexe  und  noch  anderes  uner- 
freuliche, wie  die  überreiche  und  oft  recht  verkehrte  inlerpunction 
und  die  den  verständigen  gepflogenheiten  aller  herausgeber  von  lyri- 
schen gedienten  eigensinnig  trotz  bietenden  capitälchen  am  satz- 
anfang,  die  immerfort  das  bild  des  strophenbaus  stören,  wie 
sich  P.  zu  den  von  seinem  lehrer  Bartsch  aufgestellten  regeln 
über  den  binuenreim  stellt,  hab  ich  hier  so  wenig  wie  in  der 
ausgäbe  der  grofsen  Heidelberger  liederhandschrift  ermitteln 
können,  ein  feines  ohr  für  metrische  dinge  hat  P.  nicht  :  die 
ausgäbe  wimmelt  von  kleinen  austöfsen,  die  sich  leicht  hätten 
beheben  lassen,  mehr  mühe  hat  sich  P.  in  den  anmerkungen 
mit  der  erklärung  des  textes  gegeben,  aber  auch  hier  fehlt  es 
nicht  an  versehen  und  Wunderlichkeiten ,  deren  ärgste  wol  das 
misverstehn  des  Sprichworts  Hohenfels  xvi  2,10  ist :  Id  sin  :  selbe 
tete,  selbe  habe  schreibt  der  herausgeber  und  danach  inter- 
pretiert er! 

In  der  einleitung  hat  P.  alles  zusammengestellt,  was  ihm 
an  tatsachen  und  Zeugnissen  zur  geschichte  der  litterarischen 
eultur  am  Oberrhein  bekannt  geworden  ist.  dabei  wird  (s.  xvii) 
dem  Heinzelein  vKonstanz  noch  immer  die  'Miunelehre'  zuge- 
schrieben, die  nur  durch  einen  machtspruch  Pfeiffers  auf  seinen 
namen  getauft  wurde  und  jetzt  längst  als  ein  um  reichlich  ein 
menschenalter  älteres  werk  erkannt  ist.  E.  S. 

Les  plus  anciens  imprimeurs  ä  Perouse  1471  — 1482  par  H.  0.  Lange 
[sa.  aus  Oversigt  over  det  Kgl.  danske  videnskabernes  selskabs 
forhandlinger  1907  nr.  6]  s.  265 — 301.  —  den  ausgangs-  und 
mittelpunct  der  interessanten,  mit  drei  tafeln  ausgestatteten 
Studie  des  Kopenhagener  oberbibliolhekars  bildet  der  Ham- 
burger Stephan  Arndes,  der  1486  nach  Schleswig  berufen 
wurde,  um  dort  das  prächtige  'Missale  Slesvicense'  zu  drucken, 
und  dessen  weitere  tätigkeit  in  Lübeck  1487 — 1519  (die  aber  hier 
nur  gestreift  wird)  auch  für  die  niederdeutsche  litteratur  bedeutung 
gewonnen  hat.    Lange  ist  es  hauptsächlich  um  Arndes  italienische 


LAISGK    LES    PLUS    AiSCIlilNS    IMPIUMKUHS    A    PfcHOUSE    1471 14S2       2ül 

frühzeit  zu  tun,  welche  die  jähre  147t> — 1482  umspannt,  seiue 
nachforschungeu  greit'eu  jedoch  bis  auf  die  aufäuge  des  buch- 
drucks  in  Perugia  1471  zurück  und  erörtert)  zumeist  dinge,  die 
unserem  Leserkreis  lern  liegen,  aher  etwas  das  uus  vielleicht 
angeht,  hab  ich  doch  noch  gefunden,  im  jähre  147(3  war  m 
Perugia  als  technisches  mitglied  einer  buchhändlerischeu  societäl, 
welche  den  ersten  druck  des  'Digestuni  vetus'  zustaude  brachte 
(s.  28211),  Henricus  Clayn  Svevus  tätig,  dessen  coelandi  scul- 
pendique  ars  das  druckwerk  selbst  rühmt;  dieser  schwäbische 
typeuschneider  nun  heilst  am  schluss  des  druckes  Ulmae  vetustu 
et  nobilissima  germanie  civitate  ortus,  iu  dem  conlract  aber  welcher 
das  unternehmen  begründete,  wird  er  maestro  Arigo  genannt. 
nun  ist  ja  um  d.  j.  1473  in  Ulm  —  s.  t.  aber  sicher  bei  Johann 
Zaiuer  —  die  vielbehaudelleüecameroue-übersetzung  eines  Deutschen 
Arigo  erschienen,  der  sich  längere  zeit  iu  Italien  aufgehalten 
haben  muss,  und  es  ligt  immerhin  nahe,  bei  dem  iu  Perugia 
1476  tätigen  und  (wie  L.  wahrscheinlich  macht)  uoch  im  gleichen 
jähre  dort  an  der  pest  verstorbenen  meister  des  lypeuschnittes 
an  den  deutschen  Übersetzer  des  Boccaz  und  der  Fiore  di  virtü 
zu  denken,  so  hätten  wir  denn  glücklich  neben  den  beiden 
INürubergeru  Heinrich  Leubing  (Drescher  QF.  86)  und  Heinz 
Schlüsselleider  (Bäsecke  Zs.  47,  191)  einen  dritten  caudidalen! 
dass  dieser,  Heinrich  Clayn  (Klein),  als  'Ulmae  civitate  ortus' 
bezeichnet  wird,  scheint  freilich  dem  gesicherten  nachweis  Dreschers 
zu  widersprechen,  dass  in  Arigos  spräche  bair.-fränk.  demente 
stecken,  die  auf  Nürnberg  hindeuten;  aber  wenn  der  zweifellose 
Hamburger  Stephan  Arndes  iu  Perugia  mehrfach  als  Stefano  (oder 
Stefano  Aquila)  da  Magonza  (1476  :  s.28l.  1477  :  s.285)  erscheint, 
offenbar  weil  er  in  Maiuz  den  buchdruck  und  den  lellernschuitt 
gelernt  bat,  von  Mainz  aus  nach  Italien  gelangt  ist,  so  könnte 
man  ähnliches  auch  für  Heinrich  Clayn  annehmen,  der  in  Ulm 
schon  ein  paar  jähre  früher  als  in  Nürnberg  Gelegenheit  halle, 
sich  mit  der  neuen  kunst  vertraut  zu  machen,  auch  dass  die 
entslehung  der  beiden  Übersetzungen  wesentlich  früher  fällt: 
die  der  Blumen  der  lugend  1468  und  die  des  Decamerone  vor 
dies  jähr  (Dreschers  ansetzuug  [s.  188|  'lim  1460'  ist  unnötig 
früh  gegriffen),  macht  die  gleichsetzung  nicht  unmöglich,  man 
könnte  sich  den  lebenslauf  des  nianues  sehr  wol  so  vorstellen: 
der  Nürnberger  Heinrich  Clayn  —  der  familienname  ist  für  Nürn- 
berg gut  bezeugt,  fehlt  aber  auch  in  Ulm  nicht  — ,  der  einen 
teil  seiner  bildung  in  Italien  empfangen  uud  von  dort  den  namen 
Arigo  heimgebracht  hatte,  fertigt  in  den  1460  er  jähren  zwei 
übersetzuugeu  besonders  beliebter  italienischer  werke  an  und 
begibt  sich  damit  nach  Ulm,  um  sie  durch  den  buchdruck  zu 
verbreiten  —  oder  aber  wird  durch  einen  zufälligen  aufenthalt 
in  Ulm  und  die  bekannlschaft  mit  Johann  Zainer  auf  diesen  ge- 
dauken    gebracht,     zunächst    gelangt    das    aussichlsvollere   dieser 

A.  F.  1).  A.  XXXI.  14 


202       LANGE    LES    PLUS    ANCIENS    IMPRIMEURS    A    PEROUSE    1471 1482 

werke  zur  drucklegung,  der  Decamerone  :  dass  im  kolophon 
(geendet  seliglichen  zu  Ulm)  der  name  des  druckers  Johann 
Zainer  fehlt,  der  sich  doch  in  (wahrscheinlich)  dem  gleichen 
jähre  1473  zu  Stainhöwels  Übersetzung  von  'De  praeclaris  mulie- 
ribus'  bekennt,  könnte  man  geradezu  auf  einen  persönlichen, 
technischen  und  geschäftlichen  anteil  des  autors  deuten,  der  in 
Ulm  inzwischen  selbst  typenschnitt  und  buchdruck  gelernt  hatte, 
der  kostspielige  foliant  des  Decamerone  aber  hatte  nicht  den 
gewünschten  erfolg,  und  Clayn,  der  das  rege  geistige  leben  der 
italienischen  Universitäten  aus  eigener  anschauung  kannte,  begab 
sich  zum  zweitenmal  nach  Italien,  diesmal  um  als  typenschneider 
und  typograph  sein  glück  zu  versuchen,  aber  bald  nachdem  er 
in  Perugia  seinen  rühm  in  dem  ersten  drucke  des  Digestum  ver- 
kündet hatte,  ist  er  gestorben. 

Ich  vermute,  dass  ich  nicht  der  erste  bin  der  diese  mög- 
lichkeit  ins  äuge  fasst,  sondern  dass  der  vf.  der  abhandlung, 
die  sonst  für  den  germanisten  nichts  bietet,  sie  eben  wegen 
dieses  Arigo  von  Ulm  an  uns  gesandt  hat.  ich  möchte  nun 
nicht  etwa  den  wackern  Schwaben  Heinrich  Clayn  gleich  mit  festen 
ansprüchen  in  die  litteraturgeschichte  einführen,  sondern  nur 
wünschen ,  dass  die  von  Bäsecke  in  aussieht  gestellte  prüfung 
der  aurechte  Heinz  Schlüsselfelders  an  dem  neuen  coneurrenten 
nicht  vorübergeh.  mag  auch  die  Umformung  des  namens  Heinrich 
in  Arigo  ganz  und  gar  nichts  aulfälliges  haben  :  ein  1476  in 
Italien  auftauchender  slempelschneider  'maestro  Arigo'  von  Ulm 
konnte  diese  kunst  doch  damals  in  Ulm  nur  bei  Johann  Zaiuer 
gelernt  haben,  der  bis  1482  der  einzige  typograph  der  schwäbischen 
reichsstadt  blieb  und  dessen  officin  man  den  Decamerone  des 
Arigo  von  1473  zuschreiben  muss.  der  vergleich  der  lettern 
des  Digestum-textes  mit  denen  des  Ulmer  Boccaz  (den  unsere 
bibliothek  ja  besitzt)  ergibt  freilich  keine  so  enge  verwantschaft 
wie  man  sie  erwartet,  lässt  aber  doch  immerhin  die  gleiche 
Schulung  des  typenschneiders  erkennen.  E.  S. 

Fischarts  anteil  an  dem  gedieht  'Die  Gelehrten  die  Verkehrten'  von 
Ernst  Hampel.  wissenschaftliche  beilage  zum  Jahresbericht  d. 
städt.  realgymn.  zu  Naumburg  aS.  Naumburg,  HSieling,  1903. 
72  ss.  8  °.  —  Fischart  hat  die  Bewärung  vnd  Erklärung  des  Vralten 
gemeynen  Spruchworts  :  Die  Gelehrten  die  Verkehrten  1584  neu 
herausgegeben,  zwar  nennt  er  sich  nicht  als  herausgeber,  aber 
in  der  Unterschrift  der  vorrede  Immundi  Fimus  Gratia  Mundi  ist 
sein  name  längst  erkannt  worden,  die  ausgäbe  ist  nicht  einheit- 
lich, sondern  verbindet  zwei  gedichte,  die  schon  1866  von  Scherer 
in  der  einleitung  der  Fischartausgabe  von  Kurz  bd  ii  p.  xliv  f  erkannt 
und  ausgeschieden  worden  sind,  das  eigentliche  gedieht  über  die 
gelehrten  die  verkehrten  umfasst  nach  ihm  die  verse  191 — 852 
und  1662 — 1996,  es  wird  unterbrochen  durch  etwa  800  verse 
'vom    glaubenszwang'.      innerhalb    dieses    zweiten    gedichts    ent- 


HAMPEL    FISCHARTS    ANTEIL    AN    'DIE    GELEHRTEN  DIE  VERKEHRTEN*       203 

halten  v.  12071V  eine  deutliche  Verweisung  auf  die  verse  1437. 
1476.  1537  und  1560,  das  ist  die  wichtigste  stütze  für  die  auch 
anderweit  begründete  meiuung  Scherers,  dass  v.  1383 — 1661  vor 
851 — 1382  gehören.  H.  scheidet  nun  aufgrund  sorgfältiger  und 
erschöpfender  beobachlungeu  über  reim,  verschleifung  und  auf- 
tact,  ferner  über  lautliche  und  stilistische  eigentümlichkeitdn  aus 
dem  ersteu  gediente  zwei  kürzere  stücke  aus:  v.  208 — 659,  die 
die  Verkehrtheit  der  gelehrten  durch  die  Weltgeschichte  verfolgen, 
und  v.  710 — 759,  die  die  scholastische  Spitzfindigkeit  verspotten, 
die  beiden  stücke  sind  mit  litel,  vorspruch  und  aufruckung  am 
eingang  und  der  Verwahrung  des  autoris  am  ende  des  gedichts 
Fischart  zuzuschreiben,  dessen  art  und  stil  sie  unverkennbar 
zeigen,  dazu  v.  1371 — 82,  die  von  der  zweiten  zur  ersten  bälfte 
des  gedichts  vom  glaübenszwang  überleiten  sollen,  entstellt  hat 
Fischart  dies  gedieht  dadurch,  dass  er  oder  sein  drucker  den 
epilog  v.  1927  fl",  der  dessen  erste  bälfte  bei  v.  1370  abschliefsen 
sollte,  erst  so  viel  später  bringt  (vgl.  Englert  Deutsche  litteratur- 
zeitung  1903,  24831'  und  Hauffen  Euphorion  11,  549—555). 
die  gereimte  inhaltsangabe  ist  das  werk  eines  vom  Urheber  der 
gedichte  verschiedenen  'allen  reimislen',  das  Fischart  schon  vor- 
fand, alles  andere,  also  das  ganze  gedieht  über  die  dulduog  und 
der  kern  des  gedichts  über  die  gelehrten  stammt  von  einem  dichter 
aus  der  ersten  bälfte  des  16  jli.s.  zusammengefügt  wurden  beide 
gedichte  wol  erst  von  Fischart.  über  die  person  des  alten  dichters 
hat  Scherer  nichts  näheres  ermitteln  können,  und  H.  hat  diese 
frage  nicht  in  den  kreis  seiner  Untersuchung  gezogen,  das  ist 
zu  bedauern,  denn  da  der  anteil  des  unbekannten  Urhebers  viel 
gröfser  und  wertvoller  ist  als  der  Fischarls,  darf  die  frage  nach 
seiner  person  das  hauptinteresse  beanspruchen,  vielleicht  gelingt 
es  wenigstens,  den  kreis  näher  zu  bestimmen,  dem  der  unbekannte 
angehört. 

Er  dürfte  nicht  vor  1530  geschrieben   haben,  denn  v.  1440 ff 

Es  will  vnd  muss  jetz  jeder  man 

Den  Christen  glauben  nemmen  an, 

Wie  es  gebeut  die  Oberkeyt 
scheinen  sich  gegen  den  grundsatz  des  Augsburger  religionsfriedens 
cuius  regio  eius  religio  zu  wenden,  auch  v.  1250  f 

So  mag  man  auch  in  glaub ens  sachen 

Kein  beständigen  friden  machen 
werden  auf  den  religionsfrieden  zielen,  in  diese  zeit  passt  auch 
das  urleil  über  die  Türken  v.  1658  f,  denn  das  jähr  1529  be- 
deutet ja  einen  hauptgipfel  der  türkischen  macht,  und  damals  wurde 
auch  ablassgeld  für  den  Türkenkrieg  gesammelt  (v.  1679).  der 
dichter  war  schon  nicht  mehr  ganz  jung,  sonst  würde  er  sein 
erstes  gedieht  kaum  beginnen: 

Ich  hab  bey  allen  meinen  tagen 

Vil  ghort  von  Erfahrung  sagen. 

14* 


204       HAMPEL    FISCHARTS    ANTEIL    AK    'DIE  GELEHRTEiS    D[E  VERKEHRTEN' 

er  decliniert  v.  1518  Vom  Sergio  Paulo  vnd  Feiice  die  lateinischen 
eigennamen  richtig,  führt  v.  1588  Sueton  an  und  verrät  vielfach 
geschichtliche  und  iheologische  kenntnisse,  die  er  wesentlich 
gegen  das  papstlum  gebraucht.  er  ist  aber  kein  strenger 
Lutheraner,  sondern  hat  seinen  eignen  slandpuuct,  den  er  v.  692  f 
gegen  das  lutherische  schriftprincip,  v.  1072  f  gegen  Luthers  auf- 
fassuug  der  obrigkeit  gellend  macht,  am  kühnsten  ist  seine 
äufserung  v.  1 165  f 

So  man  on  das  bekennet  frey, 
Das  jedermans  ding  der  glaub  nit  sey, 
Das  man  dar  zu  soll  niemandt  zwingen, 
Auch  nit  zum  Sacramenten  dringen. 
wegen  solcher  ansichlen    wird  der   Verfasser    verketzert,   wie  der 
alte  reimist  v.  146  f  und  er    selbst   v.  1737  f  zu    berichten  weifs, 
und  da  dies  urteil  allgemein  gewesen  sein  dürfte,  werden  wir  ihn 
tatsächlich   unter  den  'rottengeistern  und  Schwärmern'  zu  suchen 
haben. 

Seine  spräche  ist  alemannisch,  woran  reime  wie  Reich: 
gewaltigklich  945,  sich  :  Reich  1274,  öffentlich  :  allzugleich  1171, 
freund  :  sind  1403,  feind  :  sind  1409,  sein:  dienerin  1564,  sein: 
gwinn  1965,  nit :  zeit  1684,  darinnen :  scheinen  1691,  neut: 
leut  1761,  zeyt  :  neut  1769,  Pollicey  :  Moysi  1020,  vermischt  :  ist 
1110,  :  list  1438,  die  Verwendung  von  gsein  für  gewesen  1417. 
1559.  1612  und  Schreibungen  wie  frischt  1186,  minischien  1221 
keinen  zweifei  lassen,  von  den  alemannischen  mundarten  kennt 
allein  das  elsässische  das  masculinum  Wacke,  das  unser  dichter 
v.  1826  braucht,  besser  zu  dieser  landschaft  als  zur  Schweiz 
passt  der  ausdruck 

On  die  (länder),  so  Königlich  majestat 
In  kurtzer  zeit  erst  funden  hat, 
der  v.  1 399  f  von  Amerika  gebraucht  wird,  der  Wortschatz  stimmt 
zu  dem  Geilers,  Murners,  Paulis  usw.,  zb.  hässig  767,  taxieren  — 
tadeln  775,  rachtung  883,  Mess  1 142,  michel  1396,  beleyden  1511, 
Kib  (Keib)  1698.  1953,  nach  der  schwer  1721,  Sacher  1782, 
kümmerlich  =  kaum  1866.  demnach  dürfte  der  begabte  und 
gebildete  Verfasser  in  den  kreisen  der  Strafsburger  Schwärmer  zu 
finden  sein,  vielleicht  ist  sein  schwärmertum  auch  mit  daran 
schuld,  dass  sich  seine  gedichte  aufser  in  der  von  Fischart  ent- 
stellten form,  wie  es  scheint,  nicht  erhalten  haben. 

Freiburg  i.  Br.  Alfred  Gütze. 

Savonarola  in  der  deutschen  lilteratur  von  Maria  Brie.  Breslau, 
M.  u.  II.  Marcus,  1903.  8°  96  ss.  3  m.  —  die  arbeit  Maria 
Blies  ist  eine  Heidelberger  dissertation.  die  Verfasserin  hat  viel 
fleifs  und  sorgsames  Studium  an  die  lösung  ihrer  aufgäbe  ge- 
wendet, stoff  ist  da  in  reichem  mafse  aufgespeichert  und  ge- 
ordnet worden,  freilich  nicht  gerade  erquicklicher,  sieht  man 
von    Lenau    ab,    so    haben    deutsche    dichter   von    grösserer    be- 


RRIE    SAVONAROLA    IM    DKR    DEUTSCHEN    UTTKRATUR  205 

deulung  sich  mit  Savonarola  nicht  befasst.  über  Lenaus  werk 
ist  aber  in  jüngster  zeit  viel  gutes  vorgebracht  winden,  unter 
anderem  auch  von  JRoustan  (Lenau  et  son  temps  [Paris  1898J 
p.  196 — 217),  den  die  Verfasserin  nicht  nennt,  gern  lassen  wir 
uns  von  ihr  ein  gedieht  des  16  jh.s  vorlegen,  das  1556  von 
Cyriacus  Spangenberg  verölTentlicht  worden  ist  (s.  11),  oder  die 
urteile  des  18  jhs.  über  Savonarola  mitteilen,  doch  die  dramen 
von  Auffenberg  und  Lohmann,  das  jugendwerk  von  Richard  Voss, 
der  romau  von  KvRolanden  bleiben  uns  auch  nach  der  hier  ge- 
gebenen ausführlichen  darlegung  ziemlich  gleichgültig.  fallen 
schon  einige  der  genannten  dichtungen  in  den  rahmen  aller- 
neuesler  litteratur,  so  gehören  die  dramen  Wilhelm  Uhdes  (1901). 
Wilhelm  Weigands  (1891),  Ludwig  Reibers  (1900),  Hepps  (1898)! 
Ernst  Hammers  (1899),  Helenens  von  Willemoes-Suhm  (1902) 
und  Raimunds  von  Leon  (1902)  einer  so  jungen  phase  deutscher 
poesie  an,  dass  man  die  knappe  behandlung  begreift,  die  die 
Verfasserin  ihnen  zum  überwiegenden  teile  hat  aiigedeihen 
lassen.  Vollständigkeit  erreicht  zu  haben  beansprucht  sie  nicht, 
verzeichnet  vielmehr  nachträglich  s.  87  anm.  1  einige  novellen, 
in  denen  Savonarola  mehr  oder  weniger  bedeutsam  in  die  hand- 
lung  eingreift  und  auf  die  sie  inzwischen  geslofsen  sei: 
von  Frenzel,  Isolde  Kurz  und  E.  von  Tymens.  abschließend  be- 
merkt sie:  'Seine  endgültige  gestaltung  hat  das  sujet  in  Deutsch- 
land jedesfalls  noch  nicht  gefunden,  während  es  in  Frankreich 
und  in  England  in  je  einer  hervorragenden  dichtung  behandelt 
wurde',  gemeint  ist  'La  Renaissance'  von  Gobineau  (1876)  und 
'Romola'  von  George  Eliot  (1863).  —  Der  anbang  wirft  einen 
blick  auf  die  controverse  über  Savonarola,  die  durch  LPastor 
1895  angeregt  worden  ist;  ferner  auf  englische,  belgische  und 
russische  dichterische  behandlungen  des  Stoffes. 

Die  einzelnen  dichtungen,  bei  denen  die  monographie  länger 
verweilt,  werden  von  der  Verfasserin  gleichmäßig  in  folgender 
weise  besprochen  :  sie  giebt  eine  lange,  wenig  übersichtliche 
inhaltsangabe,  die  —  es  handelt  sich  ja  fast  durchaus  um  dramen 
—  von  act  zu  act  vorwärtsschreitet,  hie  und  da  ist  eine  an- 
m erkung  oder  ein  urteil  eingefügt,  dann  folgen  quellennach- 
weise,  Charakteristiken  einzelner  gestallen  und  der  ganzen  auf- 
fassung.  besonders  viel  ist  über  das  jugendstück  von  Richard 
Voss  gesagt,  der  selbst  der  Verfasserin  mitteilungen  hat  zukommen 
lassen  (s.  62  anm.  1).  leider  stehn  diese  angaben  etwas  un- 
verbunden  nebeneinander,  die  Wandlungen,  die  in  der  erfassung 
der  renaissance  während  des  19  jh.s  sich  vollzogen  haben,  sind 
viel  zu  wenig  hervorgehoben;  auch  was  über  die  'moderne 
renaissancebegeislerung'  (s.  76  f)  gesagt  ist,  bleibt  an  der  ober- 
flache,  von  JBurckhardt  und  von  CFMeyer  wäre  mehr  zu  melden 
gewesen;  ich  kann  jetzt  dafür  auf  OBIasers  arbeit  (lieft  vm 
meiner  'Untersuchungen')  verweisen,    wenn  ferner  das  stück  von 


206  BONUS    ISLÄ.NDERBUCH 

RVoss,  das  1S74  entstand,  1878  gedruckt  wurde,  würklich  in 
gar  keinem  zusammenhange  mit  FGregorovius  'Lucrezia  Borgia' 
v.  j.  1874  steht,  so  hätte  diese  auffallende  tatsache  eine  erwäh- 
nung  verdient.  Oskar  F.  Walzel. 

Kleine  M  i  t  t  e  il  ü  is  g  e  n. 

Chpistus  dnd  dieSamariterlv    In  der  handschrift  ist  altes  p  des  anlauts 
widergegeben  durch 

th  d        d  <  t      t 

in  v.  1—9 13  1  1  0 

10— daz  13 b 1  5  1  2 

thu  1 3 b —  1 8 a 9  0  0  [bistu  Vo] 

18b— 31 8         18  0  1  mal. 

In  der  ersten  und  drillen  gruppe  fast  nur  das  im  9/10  jh.  frän- 
kische th,  in  der  zweiten  fast  nur  d,  in  der  letzten  schwanken; 
deutliche  absätze  in  v.  10,  13,  18.  und  mit  v.  10  und  18  stofsen 
wir  zugleich  auf  zwei  gedrängte  häufen  sonst  fehlender  nicht- 
fränkischer, alemannischer  formen  :  kecprunnen  11  (neben  quam, 
quena  3,  quecprunnan  14,  quat  24),  disiu,  buzza,  tiuf,  Huf  12; 
trinchü  19  (sonst  ist  k  immer  uuverschohen),  pruslon  20  (sonst 
ist  b  im  reinen  anlaut  unverschoben),  thicho  21. 

Eine  solche  spräche,  in  der  abwechselnd  der  eine  und 
dann  der  andere  dialekt  überwigt,  kann  weder  ein  individuum 
noch  das  'grenzgebiet'  haben,  es  bleibt  nur  übrig,  dass  eine 
von  beiden  mechanisch  hineingetragen,  dh.  dass  hier  ein  denkmal 
des  einen  dialekts  von  einem  Vertreter  des  andern  mangelhaft 
abgeschrieben  ist;  das  abschreiben  bestätigt  v.  6  :  er  steht  nach- 
getragen und  durch  verweisungszeichen   falsch  bezogen  am  rande. 

War  aber  das  original  fränkisch  oder  alemannisch,  der 
Schreiber  (in  Lorsch)  Alemanne  oder  Franke? 

Ich  glaube  das  erste,  schon  aus  lilterarischen  gründen, 
besonders  aber  wegen  der  beiden  lesarten  daz  <C  taz  5  und  dir 
<[  tir  11  :  dem  Schreiber  war  das  th  der  vorläge  fremd,  er  sprach 
es  sich  wie  t  vor,  schrieb  t  und  besserte  nach  seinem  dialekte. 
das  umgekehrte,  dass  die  vorläge  d  hatte,  ist  nicht  glaublich, 
weil  man  das  abspringen  zu  t  nicht  verstünde,  indes  sonst  meist 
th  geschrieben  ist.  so  erklärt  sich  auch  die  hauplcrux  des 
gedichtes,  thicho  21  :  der  Schreiber  kannte  das  wort  nicht  und 
suchte  es  mundgerecht  zu  machen,  indem  er  fälschlich  den  gut- 
tural (gg,  cg  oder  cc)  wie  in  trinchü  19  verschob. 

Jener  Wechsel  in  der  spräche  bedeutet  also  :  sorgfältiges 
beginnen,  ermatten,  sichaufraffen,  widerermatten,  bis  schliefslich 
die  formen  des  eignen  dialektes  regelloser  überhandnehmen  (libiti, 
hebiti,  hebitos,  sichure,  belolon,  suohlon  etc). 

Ich  kehre  damit  über  Braune,  Kugel,  Müllenhoff,  Lachmann 
zu  JGiimnis  meinung  zurück.  Georg  Baesecke. 


KLEINE    MITTEILUNGEN  207 

Eirs  Gleichzeitiges  Volkslied  auf  die  heilige  Elisabeth.  Das  buch 
von  dr  Albert  lluyskeus:  Quellenstudien  zur  geschiente  der 
hl.  Elisabeth,  laudgräfin  von  Thüringen  (Marburg  1908),  ein 
wesentlich  erweiterter  abdruck  der  im  Histor.  Jahrbuch  d.  Görres- 
gesellschaft  bd  28  (1907)  erschienenen  kritischen  jubiläumsartikel, 
bietet  für  uns  mehrfaches  inleresse,  besonders  durch  die  wert- 
vollen quellenpublicationen  des  anhangs.  da  ist  zunächst  die,  wie 
der  Verfasser  behauptet  und  ich  vorläufig  zu  glauben  geneigt  bin, 
älteste  bisher  zugängliche  fassuug  des  am  1  jan.  1235a  ufgenom- 
meueu  protocolls  (s.  110 — 140),  welches  die  aussagen  der  beiden 
thüringischen  bofdamen  Isentrud  von  Hörselgau  uud  Guda  und  der 
beiden  Marburger  mägde  Irmiugard  und  Elisabeth  über  lebenswandel 
und  sterben  ihrer  herrin  bietet,  dieses  protocoll  und  seine  lose 
litterarische  Überarbeitung  zum  'Buch  der  vier  dienerinnen'  bildet 
die  quellenmäfsige  gruudlage  für  alle  biographischen  darstellungen 
des  13  jh.s  :  für  Caesarius  vHeisterbach  wie  für  Dietrich  vApolda 
und  durch  diesen  wider  für  das  umfangreiche  oberhessische 
gedieht.  —  von  hohem  culturgeschichtlichen  werte  sind  sodann 
die  bisher  nur  zum  kleinen  teile  bekannten  protocollarischen 
aufnahmen  über  die  wunderbaren  heilungen,  die  sich  nach  dem 
tode  der  laudgräfin  (17  uov.  1231)  bis  zum  februar  1233  an 
ihrem  grabe  oder  sonst  auf  anrufung  ihrer  türbitte  ereignet  haben 
(s.  151  resp.  161 — 241,  weiteres  242  ff),  hier  finden  wir  nun 
(s.  225)  ein  höchst  merkwürdiges  Zeugnis  zur  geschichte  des 
Volksliedes,  und  zwar  ein  Zeugnis  von  so  urkundlicher  bestimmt- 
heit,  wie  die  litteraturgeschichle  nicht  viele  aufweist,  eine  arme 
frau  Mechthild  aus  Biedenkopf  a.  d.  Lahn  (ca  24  kilometer  oberhalb 
Marburg)  war  im  sept.  1232  wegen  eines  blinden  auges  zum 
grabe  der  landgräfin  gewallfahrt  —  mit  einem  recht  zweifel- 
haften erfolg,  der  sie  zu  hause  dem  gespütte  preisgab  :  das  kranke 
linke  äuge  wurde  sehend,  aber  das  rechte  verlor  sein  licht,  dann 
hat  sie  sich  am  12  Januar  1233  noch  einmal  auf  den  weg  naen 
Marburg  gemacht  und  auf  wunderbare  weise  unterwegs  oder  in 
Marburg  selbst  —  das  ergibt  die  aussage  nicht  deutlich  —  die 
Sehkraft  auf  beiden  äugen  widererlangt:  .  .  .  audivit  homines 
cantantes  Teutonice  de  separatione  flebili  Eflyzabet ] 
et  mariti  sui  Ludewici  lantgravii  in  terram  satictam 
ituri.  Quo  audito  predieta  Mahthildis  mola  est  ad  lacrimas,  et 
cum  lacrimaretur,  visum  oculi  reeepit  et  nunc  cum  utroque  oculo 
videt  clare. 

Der  herausgeber,  der  s.  91  f  dies  lied  gern  unter  die  quellen 
der  Elisabethlegende  aufnehmen  möchte,  hebt  hervor,  dass  die 
trennungs-scene  aus  d.  j.  1227,  welcher  es  galt,  schon  in  den 
ältesten  litterarischen  wie  künstlerischen  darstellungen  des  lebens 
der  heiligen  mit  Vorliebe  behandelt  wird  :  er  möchte  dies  auf  das 
lied  direct  zurückführen  und  glaubt  spuren  davon  auch  bei  Dietrich 
vApolda    und   Friedrich    Ködiz   widerzufinden.     bei    Dietrich   irrt 


208  KLEINE    MITTEILUNGEN 

er  sich  (s.  u.),  für  Köditz  aber  (s.  57,  vgl.  Bechstein  s.  140)  wird 
er  recht  behalten;  ich  ciliere  aus  ihm  ohne  änderung: 

Ir  ein  daz  ander  nmbeving 

gar  frnntlich  da  mit  armen, 

groz  jamer  durch  ir  herze  ging: 

wen  sold  diz  nicht  erbarmen?  — 

ez  wordin  auch  zere 

vergozzin  vil  mere 

den  ich  nu  sprechen  wel. 
gleich    hier    im    eingang   der   unhewuste    eiofluss    des  tageliedes, 
den  wir  im  volksliede  so  oft  wahrnehmen. 

An  dem  bericht  interessiert  uns  dreierlei  :  1)  das  Zeugnis 
für  ein  historisches  lied  an  sich,  denn  derartige  nachrichten,  im 
10  u.  11  jh.  recht  zahlreich,  versiegen  im   12  u.  13  jh.  fast  ganz; 

2)  die  tatsache,  dass  dies  offenhar  von  leuteo  aus  dem  volke 
gesungen,    nicht  etwa  von    einem   spielmann  vorgetragen  wurde; 

3)  der  stark  lyrische  Charakter  und  die  gefühlsweichheit  der  dich- 
tung  und  damit  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  der  minnesang  schon 
damals  auf  das  Volkslied  hinüberzuwürken  begonnen  hatte,  dazu 
kommt  dann  weiter  der  interessante  umstand,  dass  derselbe  Vor- 
gang gleichzeitig  von  einem  lateinischen  dichter  in  der  vaganten- 
strophe  behandelt  worden  ist.  denn  die  6x4  reimverse  bei 
DvApolda  I.  iv  c.  2  (Canisius  Lect.  ant.  v  177)  sind  nicht  ein 
'nachklang  des  deutschen  Volksliedes',  sondern  das  fragment  eines 
selbständigen  latein.  gedichtes,  aus  dem  schon  unmittelbar  vorher 
eine  Strophe  citiert  ist.  E.  S. 

Zu  Zeitschr.  48,  187  ff  [Heliand],  Ernst  Kock  füllt  mehrere  Seiten  mit 
belegen  für  den  parallelismus  von  Substantiv  und  satz  im  Heliand. 
ist  es  wol  sehr  unbescheiden,  wenn  ich  der  meinung  bin,  dass 
sich  Kock  vorher  in  meiner  Heliandsyntax,  zb.  §  508  und  518, 
hätte  umsehen  dürfen,  vielleicht  auch  in  meinen  'Modi  im  Heliand', 
§  14?  in  beiden  schritten  stehn  zahlreiche  belege  für  die  von 
ihm  behandelte  erscheinung;  in  den 'Modi' ist  ihr  eine  besondere 
zusammenfassende  darstelluug  gewidmet.  0.  Behaghel. 

Zu  Zeitschr.  49,  239  ff  [Ragnarökj.  Björn  Magnüsson  Olsen  macht 
mich  freundlichst  darauf  aufmerksam,  dass  ich  an  drei  stellen 
meines  aufsatzes  'Ragnarök  in  der  Völuspa'  seine  ansichten  nicht 
richtig  widergegeben  habe,  ich  berichtige  diese  bedauerlichen 
irrtümer  um  so  lieber,  als  in  zwei  fällen  meine  eigene  auffassung 
dadurch  eine  willkommene  stütze  erhält  :  s.  267  war  nämlich 
angegeben  worden,  dass  Olsen  die  worte  mono  systrungar  sifjom 
spilla  auf  die  verbotene  verwantenehe  beziehe,  während  er  sie 
tatsächlich  ungefähr  wie  Müllenhoff  und  ich  selbst  versteht,  ab- 
weichend nur  eine  anspielung  auf  ein  im  jähre  997  ergangenes 
gesetz  in  ihnen  sieht  (Um  Kristnitökuna  s.  23  f).  ebenso  ist 
Olsen  nicht,  wie  s.  268  angegeben  war,  gegen,  sondern  ebenso 
wie  ich,   für  die  beibehaltung  der  Valistrophe  R  33,  3.    4.  34, 


KLEB«    MITTEILUNGEN  209 

1.  2  (Timarit  15,  83  0-  »m  dritten  fall  ist  (s.  248)  v.  66  mit  zu 
den  visur  gerechnet  worden,  die  Olsen  auf  die  widerkehr  Christi 
und  das  jüngste  gericht  bezieht,  wahrend  sie  für  ihn  den  epilog 
des  gedichtes  darstellt  (Timarit  16,  80 — 82).  auf  alle  drei  puncte 
denke  ich  übrigens  in  einer  späteren  arbeit  über  den  dichterischen 
Vorwurf  der  Völuspa,  die  meinen  ersten  aufsatz  ergänzen  und 
vervollständigen  soll,  so  wieso  noch  eingehender  zurückzukommen. 
Berlin,  d.  27  febr.  08.  Felix  Niedner. 

Zu  Zeitschr.  49,  395  [Eckart],  verdriefslicher  weise  ist  es  mir  ent- 
gangen, dass  die  erste  der  beiden  als  ungedruckt  bezeichneten 
mystikerreden  bereits  bei  FPfeiffer  Deutsche  mystiker  u  38—42  als 
nr  vii  der  predigten  meister  Eckarts  gedruckt  steht;  sie  hat  hier  das 
textwort  :  Vtdete  qualem  charitatem  dedit  nobis  pater,  nt  filii  dei 
nominemur  et  simus  (Jo.  Ep.  i  3,  1).  M.  Pahncke. 

Zum  Anzeiger  oben  s.  149.  die  hier  besprochene  publication  von 
Paul  Heitz  über  die  Ho  hkü  nigsbu  rg  ist  bereits  iu  einer 
2  aufläge  erschienen  (ebda  1908)  :  vermehrt  um  eine  vergröfserte 
abbildung  des  Stiches  vom  j.  1633,  der  nun  mit  der  behaupteten 
und  bestrittenen  abbildung  der  altern  bürg  aufs  bequemste  ver- 
glichen werden  kann,  die  gegenüberstellung  ist  wol  geeignet 
die  these  von  Heitz  zu  stützen,  dass  der  holzschneider  von  ca 
1530  ein  würkliches  porträt  der  bürg  habe  geben  wollen,  hat 
H.  selbst  nie  behauptet,  dass  ihm  aber  bei  der  krönung  seines 
landschaftlichen  hintergrundes  die  Hohkönigsburg  vorgeschwebt 
habe,  ist  das  mindeste  was  man  H.  wird  zugestehu  müssen, 
indem  ich  mich  so  abermals  für  den  wert  des  fundes  ausspreche, 
muss  ich  es  doch  bestimmt  ablehnen,  wenn  einzelne  stimmen  in 
tageszeitungen  und  touristenblättern  mich  oder  die  Zeitschrift  als 
autorität  in  einer  frage  citiert  haben,  in  der  ich  lediglich  als  ein 
parteiloser  beschauer  mit  dem  interesse  des  alten  Strafsburger 
Studenten  referieren  wollte.  —  der  hauptzweck  meines  referats 
ist  bisher  nicht  erreicht  worden  :  die  satirische  darstellung  des 
grofsen    holzschnitts   hat  noch  immer  keine  erklärung   gefunden. 

E.  Schröder. 


Personalnotizen. 

In  der  nacht  zum  21  Januar  1908  starb  im  60  lebensjahre  der 
ord.  professor  der  vergleichenden  Sprachforschung  an  der  Univer- 
sität Strafsburg  dr  Heinrich  Hübschmann. 

Am  3  februar  1908  verschied  in  Utrecht  60jährig  der  pro- 
fessor dr  Hendrik  Johan  Gallee,  der  in  unermüdlicher,  opfer- 
freudiger hingäbe  der  niederdeutschen  Sprachforschung  und  später- 
hin besonders  der  geschichte  des  niederländischen  Volkstums  ge- 
dient hat. 

Am  12  februar  ist  im  alter  von  70  jähren  zu  Freiburg  i.  Br. 
professor  Elard  Hugo  Meyer   gestorben,   der,   seit   er  1876  die 


210  l'ERSONALNOTIZEN 

vierte  ausgäbe  von  Jacob  Grimms  Deutseber  mytbologie  besorgt 
hat,  ganz  der  erforschung  und  darstellung  der  germanischen 
und  vergleichenden  mytbologie  sowie,  mit  unbestrittenen  Ver- 
diensten, der  deutschen  Volkskunde  zugewant  war. 

Zu  ao.  professoren  der  deutscheu  philologie  wurden  ernaunt: 
der  ao.  honorarprofessor  dr  K.  Drescher  in  Breslau  und  der 
privaldocent  dr  Fr.  v.  d.  Leyen  an  der  Universität  München;  eine 
ao.  professur  der  vergleichenden  Sprachwissenschaft  wurde  dem 
tit.  ao.  professor  dr  A.  Walde  in  Innsbruck  übertragen,  an  der 
technischen  hochschule  zu  Dresden  wurde  der  bisherige  privat- 
docent  Oberlehrer  dr  K.  Reuschel  zum  ao.  professor  für  deutsche 
spräche  und  litteratur  befördert. 

An  der  Universität  Halle  hat  sich  dr  Kürt  Jahn,  an  der  Uni- 
versität Zürich  dr  Rudolf  Pestalozzi  für  deutsche  philologie,  an 
der  Universität  Wien  prof.  dr  Eduard  Castle  für  neuere  deutsche 
litteraturgesebichte  habilitiert. 


REGISTER 

Die  zahlen,  vor  denen  ein  A  steht,  beziehen  sich  auf  die  seiten  des  Anzeigers, 
die  übrigen  auf  die  Zeitschrift. 


Abälard,  'Ad  Astralabium'  407;    'Sic 

et  non'  415;  versühnungslehre  432; 

rechtfertigung  452 
aeidia  444.  463« 
Adelard  vBath,  'De  eodem  etdiverso': 

der  christliche  dualismus  108 
•  Ad  hoc  festum  venia'   190  (str.  3) 
adverbia   zu  adj.  -ag  und  -ig  520  f; 

adv.  -leiko,  -licho  525  ff.  539 
'Aesluans  inlrinsecus    190 
-ag,  bildungssilbe,  herkunft  und  be- 

deulung  4S5 — 506 
*agan  germ.  4S9  1 
-ah  neben  -ag  492  11" 
Ahasver,  s.  ewiger  Jude 
ai,   got.  =e   A  5;    —  synkope   im 

allnord.  314  11 
Alanus   de   lnsulis,   'Summa  de  arte 

praedicat.'  410.455;  'Liber  poeni- 

lent.'  433.  441  f.    442.    443.   448; 

'De  temperantia  vel  modestia'  437; 

seine  philosophie  460 
'Altercatio  vini  et  cerevisiae'  199 
Kv Ammenhausen,    'Schachzabel buch' 

4283  :  428 
iAmore  summt   iudicis'  234 
Andreas  Cappellanus  414 
anemäl  356 
Angilberl  auf  die  Schlacht  von   Fon- 

lenay  A  145  f 
Ansila  A  106  f 
aidlimallus  324.  331  1F 
Antichrist  s.  'Gomoedia' 
anlithese  412.  461 
'Apocalypsis  Goliardorum'  222 
DvApolda  A  207  f 
Archipoeta,   'Comoedia   goliardorum' 

(Generalbeichte)    185.   190;    A  14s 
Ari  u.  'Kristnisaga'  A  112  f 
Aiigo  A  201  f 

Aristoteles,  tugendlehre  436 
SlArndes  A  200 
Av Arnim  u.  WScott  A  195 
Asdingi  s.  Hasdingi 
ästhetik  d.  18  jh.s  A  40  ff 
'■A  laaro  lorrida'  222 
Altila  u.  die  Nibelungensage  A  100 
au  gol.  =o  A  4  f 
HvAue,    prologe    419;    viäze    438; 

askese  des  Gregorius  445;  der  hl. 

geist  im  aHeinrich  460 
Augustinus,   'Soliloquien'    412;    pre- 
digten 415;  'Enchiridiou'  447  f 


ßalder  in  elsäss.  Ortsnamen  481 

'Baldrs  draumar'  295,  der  Baldr- 
mythus  296  f 

Bandinus  433 

beichtbücher  428.  433.  442.  444 

Benedict  v Aniane,  regelbücher  A  120  f 

Benedictinerregel  A  121 

Beowulf  :  Wortstellung  A  65  ff;  be- 
vorzugte wortclassen  A  67  f ;  — 
interpolationen?  A  67  f 

Beranger  u.  die  deutsche  litt.  A  143 

Berthold,  der  Übersetzer  der  'Summa 
confessorum'  A  23 

Berthold  s.  Begensburg 

Bettina  vArnim,  briefe  an  k.  Friedrich 
Wilhelm  iv  uaa.  A  61  ff 

bewerrd  A  24 

bilduogssilben  -ag,  -ig,  -lik.  herkunft 
u.  bedeutung  485 — 540  (Inhalts- 
übersicht 540) 

Biskupa  sögur  A  113 

böhmische  kanzleisprache  A  177  ff 

'Botschaft  d.  gemahls'  A  167  ff 

Bress  und  Ty  A  154  f 

Brünhild,  ihre  erlösung,  Siegfried» 
Verhältnis  zu  ihr  A  79  ff".  86  ff ;  ihr 
walkürencharakter  A  90;  ihre  Ver- 
mahlung A  92  ff.  971 

Brünhildenstein,Brünhildenstuhl480ff 

Brunoldessluol  482  f 

Burguuden,  sind  sie  Lygier?  A  103; 
—  in  der  Nibelungensage  A  103 

G.  frhr  vBuschmann  A  192 

bufsordnungen  435.  442 

'Castigatio  presbyterorum'  206 
'Gato'  nihd.,  prolog  418 
Chalmout  (Nannenstöl)  475  ff 
Chamisso  A  139  ff;  beziehungen  zum 
Volkslied  A  140,  zur  Julirevolution 
A  142 
Chicago,  Sprachmischung  A  54  f 
Chrestien  vTroyes,  prieslerverehrung 
im  Perceval  446;  mangel  an  selbst- 
beherschung  bei  Erec  u.  Yvain  464 
'Christherre  -  chronik',    bruchst.    aus 

Posen  381 
'Christus  und  die  Samariterin'  A  206 
Bernhard  vClairvaux,  'Tract.  de  in- 
teriori  domo'  409.  432  f;  'Tract. 
de  gradibus  humilitatis'  411;  pre- 
digt 415;  'De  modo  bene  vivendi' 
416.  435.  444;    'De   ordine   vitae 


212 


REGISTEK 


437;  'Liber  ad  sororem'  442;    'De 
gralia  et  libero  arbitrio'  451;  'Ex- 
hortalio    ad    milites    templi'    453; 
christlicher  ritter  459 
HGlayn  s.  Arigo 

'Comoedia  de  adventu  Antichristi'  235 
'Comoedia  goliardorum'  s.  Archipoeta 
'Comoedia  magistralis  redarguens  vi- 

tia'  236 
composita,  unechte  nord.  A  9 
'•Cum  ad  verum  ventum  est'  213 
'Cunctipotens  genitor'  229 
'Cur  ultra  studeam'  20S 

'Deors  klage'  str.  3  :  A  169  f 
WDilthey  A  136  f 

dinge  (guter  dinge)  =  gedinge  A  56 
'Dives  er  am  et  dilectus'  217 
'Doclor,  ave,  /los  doctorum'   193 
drachenkampf  Siegfrieds  A  78.  84  ff, 

Sigmunds  A  86 
drama  d.   19  jh.s,  deutsches  A  150 
dreikönigsfeier  aus  Lambach    A  14  ff 
drjüpa  A  112 
ADürer,  hl.  Hieronymus   und  Melan- 

cholia  465 
RvDurne,  'hlGeorg'  :  slcete  u.  unslmte 

412;  mäze  und  kiusche  438 

eb  'ehe'  A  58 

Eckart  404.  A  209 

Eckermann,  s.  redaction  der  aufzeich- 

nungen  Sorels  A  43  ff,  verlässlich- 

keit   s.  Unterhaltungen  m.  Goethe 

A  44  ff,  redigiert  äufserungen  über 

Schiller  A  44  ff 
edda  aisl.  'urgrofsmutter'   314 
Edda,    s.    Ragnarök,    Vegtamskvida, 

Völuspa 
'Ego  dixi:  dii  estis'   182 
-eig,  got.  bildungen  518  ff 
einag  501  ff 
einig  515  f 
eisenhut  A  130 
'Eliconis  rivulo'  236 
SElisabeth,    gleichzeitiges    Volkslied 

A  207 
Elisabeth  vüngarn,  Tösser  vita  A  22  ; 

todeslag  A  23 
WvElmendorf  407.  428.  437 
RvEms,    'Willehalm',      prolog    419; 

'Barlaam',  'Weltchronik1,   prologe 

460;  'gGerhard',  epilog  419 
'Erlösung'    nach    dem   muster    einer 

theologischen   'Summa'   aufgebaut 

434. } 
'hErnst'  B,  prolog  417 
WvEschenbach,     ethik     405—465; 

Parzival  einleitung406 — 424;  buch 


ix  422—449;  Willehalm  (ethik) 
458—462.  415.  439  f;  Titurel 
(ethik)  462  f.  440;  —  Parz.  6,  19 
(hantgemailde)  351;  Parz.  399,  4  : 
467;  —  bruchst.  d.  Parzival  aus 
Tübingen  123;  bruchst.  d.  Wille- 
halm aus  Arolsen  462 

UvEschenbach,  spräche  A  176 

'Evangelium  de  illo  qui  incidit  in 
lalrones'  196 

ewig,   ewinig  516 

AvEyb,  'Sittenspiegel':  Petrus  als 
Zweifler  415 

Ezzolied  eine  theologische  Summa  434 

f  bei  Ulfila  A  2 

Fenri  A  160  f 

fimbulvetr  A   156  ff 

Fischarts  anteil  an  'Die  gelehrten  die 
verkehrten'  A  202 

KFlecke  'Flore' ,  prolog  420 

Fouque  u.  WScott  A   194  f 

PhFrankfurler  A  180  ff 

fransmütikait  A  24 

fralze  A  55  f 

frauengebete,  mhd.  d.  12  jh.s  aus 
Upsala  363 

Freidank  slwle  406;  anapher  433; 
über  die  erkenntnis  433;  eine 
theologische  Summa  434 ;  diu  mäze 
438;  richterliches  standesbewust- 
sein  456 

'Friedrich  von  Schwaben'  A  19 

f'ustüch  im  fluch  A  23 


Geät  A  170  f 

'Genesis',Vorauer:  hanlgemahele  349 

genitherit  anfrk  A    10  f 

JGeiler,  'Granatapfel'  :  Petrus  als 
Zweifler  415 

gi hörig  517  f 

genron  'generale'  A   11 

'Glaube  u.  beichte',  Wessobrunner 
411;  Bamberger  411 ;  Würzburger 
448;  Baierische  448;  Benedict- 
beurer  i,  n  u.  m  448;  SGaller  448; 
Münchener  448. 

gleitlaute  zw.  vocal  u.  ;•,  /  A  8 

Goethes  Unterhaltungen   m.  Soret  A 

43  ff;  äufserungen  über  Schiller  A 

44  ff ;  —    Faust    u.    Parzival    465 
gotische   Orthographie   (u.   alphabel) 

A  2 ff;    syntaktisches    A   6f;    — 
Wortbildung  s.  -ag,  -ah,  -eig,  -leik 

götlerschlachten  A  84  f 

Grane  A  88 f 

iGratuletur  omnis  ?nundus'  192 

WvGravenberg,    'Wigalois':     prolog 


IlKGISTEn 


213 


418 ;  ritterliches  standesbewustsein 

456;  —  fragm.  aus  Göttingen  298  ff 

AGryphius,  darstellung  des  todes  A 

35  ff 
guallih  <  guatlih  530 
Gudrun    in  d.  Nibelungensage  A  99 
Gullveig-Heid-Freyja  282  ff.  290 
Gundestrup,  silberkessel  A  157 
Günther  in  d.  Nibelungensage  A  99 

Hagen    in   d.  Nibelungensage  A  98  f 

AvHaller, 'Alpen' :  überden  Staubbach 
A  59 

Hamlet,  s.  krankheit  die  'acidia'  465 

handgemal32l— 362;  litteratur 321  ff; 
sprachliches  324  ff;  sachliches 
330  ff:  bei  den  Langobarden  331  ff, 
bei  den  Sachsen  (Thüringern)  334  ff, 
bei  den  Baiern  338  ff;  handgemal 
und  Schwurbruderschaft  357 ff 

handmahal  as.  334  ff 

handschriften  aus  Arolsen  159.  462; 
Bern  A  148;  SGallen  395.  A  148; 
Göttingen  298;  Heidelberg  A  127; 
Herdringen  161;  Lambach  A  14; 
Melk  A  20;  Münster  i.  W.  135; 
Posen  381  ;  Stockholm  376;  Tü- 
bingen 123;  Upsala  363;  Zürich 
A  147  f 

hantgemäl,  hanlgemcele  327 

hanlgimahili  327  ff 

hantmdl  356 

Harris,  einfluss  auf  MMendelssohn  A42 

Hasdingi  A  103  ff.  105f 

BHaym  A  132  ff 

Hebbel  A  151  f;  materialien  A  60 

hebig  516 f 

heilag  497  ff 

Heime  in  d.  Siegfriedsage  A  89 

heldenlied,  Vortragsweise  A  114 

Heliand,  adjectiva  -ag  496,  -ig,  -lik 
534  ff;  —  parallelismus  v.  subst. 
u.  satz  A  210;  —  handmahal 
334  ff;  —  gestalt  d.  miles  christi- 
anus  429 

heraldik,  frühe  in  d.  Schweiz  A  123ff 

Hildebert  vLe  Mans  (?),  'Aloralis  phi- 
losophia'  407 

BvHohenfels  A  200 

Hohkönigsburg  A   149.  209. 

BvHolle,  'Crane'  und  'Demantin',  pro- 
loge  420 

hornhaut  Siegfrieds  A  24 

brHugo  der  provincial  A  24 

Hugo  vSVictor:  'Arbor  virtutum'  410. 
428.  444  'De  fructibus  carnis  et 
Spiritus'  374 

'Hunsjrvaka',  handschr.  A  107f.  H2ff 

tu  bei  Ulfila  A  2 


Mun-mythus  A   159 

-ig,    bildungssilbe,    herkunft    u.    be- 

deutung  506 — 521 
■iglih  538  f 

Ingeld,  Ingillos  A   106 
'Invectio  contra  sacerdotes'  187 
'Invectio  contra  praelatos'  188 
io  und  io  westnord.  A  8 
Iren,  ihre  gelehrsamkeit  A  117  f 
irische  mythologie,  einflösse  auf  die 

deutsche?  A  154  ff 
NvJeroschin,  spräche  A  177 
Johannes  Scottus  A   119 
jude,  dichtungen   über    den  ewigen, 

A  183—192 
junges  Deutschland  A  141  f 

'Kaiserchronik',  prolog  417;  — 

v.  7136ff  :  354.  362 
'pfvKalenberg' A  179 (T;  Überlieferung 

A  180  f;  krit.  Grundsätze  A  181  ff; 

metrik  A   181  ff 
katechismen,  katholische  444 
Kelten  in  Deutschland  A  143  f 
'Klage  der  frau'  A  167  ff 
FKödiz  A  207  f 
Kriemhildenstein  484 
Kiiemhildenstuhl  483  f 
'Kristnisaga'  A   107  ff.  109;    cap.  5: 

A  110;  cap.  18  :  113 
HvKrölwitz,    'Vater    unser'  ;  ellliche 

untreue  415;  prolog  460 
Krumholzerstuhl  483  f 
Kyot    eine   erfindung  Wolframs  464 

Lactanz,  Sibylle  432 

Lamprecht,'Alexander'  1401ff.  1421  ff: 
467 

Langobardensage  A  102 

Leberau, Schenkungsurkunde  v.j.  774: 
469  ff 

'Lectio  sancli  evangelii'  197 

-leih  got.  s.  -Uli 

leudi  barbari  311  f 

'Lex  salica',  langobard.  extravaganten 
324.  331  ff 

UvLichtenstein  als  lyriker  1 — 122 
(Inhaltsverzeichnis  122) 

-lih,  bildungssilbe,  ihre  herkunft  u. 
bedeutung  521 — 540 

-lik,  s.  lih 

'■Ludens  ludis  miscebo  seria'  200 

'Ludwigslied',  Ludwig  in.  als  christ- 
licher ritter  430 

MLuther,  predigten  d.  jj.  1522.  1530: 
A  25  ff;  der  angebl.  brief  von  der 
Wartburg  A  26  ff;  verhalten  der 
predigtdrucke  zur  lebendigen  rede 
A  28  f.     'Feine  chiistl.   gedanken 


214 


REGISTER 


der  alten  heiligen  väter*  A  29  f; 
verlässlichkeit  der  nachschriften 
L.scher  predigten  u.  gespräche 
A  32  ff.  —  Tischreden  in  der  Ma- 
thesischen  Sammlung  A  32  ff 
Lutwin  :  'Adam  u.  Eva',  prolog  420 

Mädhild  A  170 

magierspiele  A   12 

rnalial  ahd.  326 

malhe  157 

malhis  326 

'Alanessische  hs.'  A   127 

rnapl  got.  326 

mäze  438 

Diu  Mäze,  mhd.  gedieht,  Sitten- 
lehre für  männer   und  flauen  421 

Joh.  Meier  A  21 

MMendelsohn  u.  die  deutsche  ästhe- 
tik  A  39  ff;  einfluss  Shaftesburys 
A  40  ff;  einfluss  auf  Moritz  A  41  f; 
beziehungen  zu  Bodmer  n.  Conti 
A  42 

WMenzel  A  141  f 

Midgardschlange  A   161  ff 

midjasveipains  A   162 

miles  christianus  429.  447.  453.  455. 
459 

Mims  hofop,  Mims  syner  277 

'Der  Minne  Fürgedank',  stwte  und 
unstwte  411 

Mitothinus  A  156 

modag  503  ff 

'Moralis  philosophia'  407.  437.  456 

EMörike,  'Maler  Nolten'  A  54 

KPhMoritz  s.  Shaftesbury  A  41  ff 

KvMure,  'Clipearius  Teutonicorum' 
A  127  ff 

Muspells  söhne  273  ff 

muspilli  A  57  f 

myrrhenbüschel,  vierzig  A  23 

mystikerreden  aus  SGallen  395.  A209 

Aanna  477  ff 

Nannenstein  481 

JSannenstol  469  ff 

vNeuenstadt,  'Gottes  Zukunft'  ist 
nach  dem  muster  einer  theolo- 
gischen 'Summa'  aufgebaut  434; 
prolog  460 

Nibelungensage  A  77 — 102;  histor. 
demente  A  100  f;  die  Nibelungen 
in  der  N.-sage  A  101  f 

Nithart,  'Historiarum  libri  rv'  A  144; 

nonnenklöster  in  karoling.  zeit  309  ff 

Notker  m,  mischprosa  A  196 


ob  =  e  A  58 
EvOberg,  'Tristrant' 


prolog  417 


Odoakerdichtung,  ags.?  A  163—174; 
Odoakersage?  A\168.  170  f 

ogan  got.  489  f 

'Olafssaga  Tryggvas.',  verhälln.  z. 
'Krisinisaga'  A  110 

Orthographie,  mhd.  A  18  ff 

Ostgermanen,  ihre  herkunft  A  102 

otag  497  ff 

Otfrid,  adj.  -ag  496,  -ig  509  ff,  -lih 
257  ff;  —  'ad  Ludovicum' :  k. Lud- 
wig als  David  430 

Ov(><piXa,  s.  Ulfila 

Parma,    'De    victoria  Parmensi'   211 
participialconstructioneD,  got.  A  7 
Parzival,     s.    Jugend    u.    Siegfrieds 

jugend  A  89  n. 
Passional  i,   Arolser  bruchstück  159 
Pelagius  A   118 
Petrarca,  weitschmerz  465 
Petrus,  apostel,  als  Zweifler  415 
Petrus    Lombardus,   sentenzen    433. 

435.  444.  447  f 
Plato,  Timäus  408;    PI.  als  prophet 

432.  460;   die   drei  giofsen  guter 

456 
Pleier,  'Meleranz',  prolog  420 
Prädestination  453 
Primas,    'Versus  contra  praelatos  et 

clericos'   20S;  'Conquestio  expulsi 

de  domo  leprosorum'  217;  'Petitio 

porreeta  papae  pro  beneficio  obti- 

nendo'  219 
'Principium  magistrale'  193.  202.  227 
prologe  mhd.  dichtungen   417 — 421. 

460 
'Proverbia  Grecorum'  A  118 
psalmen,    altniederfränkische  A  10  f 

q  bei  Ulfila  A  2  ■ 

quantität  betonter  vocale  A  8 

quantilätsbezeichnung  got.  A  5  f 

Ragnarök,  in  der  Völuspa  239 — 298, 

bes.  265  ff.  A  208  f;  A  153  ff 
Raptus  A  106 

rätsei,  erstes  ags.  A  163  ff.  170 
Raus  A  106 
'Vom  Rechte',  bestandteile  d.  rechts 

428 
HRedslob  A  149 
BvRegensburg,  predigten  :  stwte  und 

unslcete  411;  ehliche  untreue  414; 

Petrus  als  Zweifler  415 
Regin  A  84 

Reinmar  (vHagenau)  :  kreuzlied  433 
Reinmar  vZweter  :  anapher  433 
Remigius    vAuxerre,    Boethius-com- 

mentar  A  120 


REGISTER 


215 


EvRepgow,  spräche  des  'Sachsen- 
spiegels' A  175  ff 

'Rhythmus  goliardorum'   194 

Richard  von  SVictor,  'De  slatu  in- 
terioris  hominis'  40S.  410;  De  spi- 
ritu  blasphemiae,  448 

'Rolandslied',  Turpins  kreuzpredigt 
430 

Rörers  predigtnachschriften  Luthers 
A  32  ff 

'Buch  der  Rügen',  statte  und  unstcete 
412 

runenkästchen  von  Clermont  A  171 

s  präfigiert  A  55 
A-suffix,  nord.  A  158 
'Sachsenspiegel'  :  hantgemäl  336  f 
sächsische    innungs-    und    patricier- 

sprache  A  174  f 
'Sacerdotes  mementote'  187 
'Samsonsvisa'  A  8 
satzanfang  idg.  betont  A  73  f 
satzauftact  A  73  f 
Savonarola  in  d.  deutschen  lilteratur 

A  205 
schätz   in  der  Siegfriedssage  A  84  f. 

100 
Scherzlieder  d.  15  jh.s  in  Stockholm 

378 
SevSchifer  und   s.  anleil  an  Luthers 

Tischreden  A  34 
Schiller,  'Über  d.  erhabne'  und  'Ge- 
danken üb.  d.  gemeine  in  d.  kunst' 

A  48 
FrSchlegel  A  136  f 
JESchlegel,  'Trojanerinnen'  A  36 
JohSchön,  'Ahasver'  A  191 
Schopenhauer  A  135  ff 
sc/tra?ine  'bergspall'  A  58 
schraube  A  56 
Schriftsprache,    entstehung  der  nhd.. 

A   175  ff 
GvdSchuren,  Teuthonista  A  122  f 
Schweiz,  frühe  heraldik  A  123  fi 
Schwurbruderschaft  357  ff 
scop  A  113  f 
WScott,    würkung    auf   die    romane 

deutscher  romantiker  A  192  ff 
Sedulius  Scottus  A  116  ff;    sein  col- 

lectaneum  A  117  f 
Shaftesbury  und  Mendelssohn  A  41  ff 
Sibylle  432.  460 
Siegfridsage  A77ff.  83ff;    ihr 

bolischer  gehalt  A85f.  88; 

frids  rosswahl  A  88  f;    seine 

bung    um    Brünhild    A  92ff. 

sein  tod  A  98 
Siegmunds  drachenkampf  A  86 
Sigrdrifa  =  sonne  A88 


sym 
Sieg- 
wer- 
97  f; 


Silingi  A  104  f 

singen  und  sagen  A  U4f 

sonnenhirsch    und    Siegfriedsmythus 

A  98 
sonnenwolf  der  Völuspa  A  160 f 
FSoret,    Unterhaltungen    mit    Goethe 

\    13  ff 
'Speculum  ecclesiae'  41<i.  446.  448 
Spitzenstellung,  occasionelle  im  germ. 

satz  A  72 
EStagel,  'Leben   der   Schwestern  zu 

Töss'  A  21  ff 
Stempel,  s.  Ulfila 

KStieler  s.  Rudolstädter  festspiele 
KvStoffeln,  'Gauriel',  prolog  420 
strak  venje  A  24 
GvStrafsburg,  Charakteristik  A  198  f; 

—    ästhetische    lebensanschauung 

4181;  gegner  Wolframs  421 
Sturla,    bearbeiter    der    'Kristnisaga' 

A   HOf 
suffixe  s.  bildungssilben 
'Summa  theologiae'  434 
'■Summe  dalor  munerum'  203 
'Der  Sünden  Widerstreit'  :  der  zweifei 

416,  ritterliches  standesbewustsein 

456 
Surl  A   160 

tafel  A  24 

'Talrs  versus  facto'   185 

'Tanto  viro  locuturi'  219 

'Tempus  acceptabile'   194 

Thiazi  =  ir.  Tethra  A  1 57  ff 

ßidwr  an.  A  158 

LTieck  und  WScott  A  195  f 

•jüngerer  Titurel',  prolog  416.  420 

tod  im  drama  d.  17  jh.s  A  35  f 

tod  und  winler,  mythol.  A  159 

todestanz  s.  totentänze 

todespoesie  A  188 

Töss,  leben  d.  Schwestern  zu,  A  21  ff 

totentänze  A  146  f 

Thomas  vAquino,  'Summa  theologiae' 

410.  411.  413.  426.  428.430.  431. 

435.  436.  437.  439.  465 
Thor  und  Beowulf  A  102 
'Tractatus  de  partu  beatae  virginis' 

192 
'De  transfretantibus'  233 
HvTrimberg,Renner:w?isfa?£e410.411. 

412,  ehliche  untreue  414,  zweifei 

416;     anapher    433;     nach    einer 

theolog.  Summa  angeordnet    434; 

mdze  438;  acidia  444 
'Trost  in  Verzweiflung',  zweifei  und 

trägheit  416 
tugenden  und  laster  405 — 465 
HvdTürlin,  'Krone',  prolog  420 


216 


KEGISTEIi 


Ty,  einhändigkeit  A   155 

M-brechung  westnord.  A  8 

Ulfila,  Stempel  mit  dem  namen   146 

Uli  (Ollerus)  A  156 

underbint  421 

undergang  A  24 

Ungarn  bei  OvWolkenstein  A  131 

vagantenliedersammlung  aus  Herd- 
ringen  161—238 

Varnhagen  A  135 

'  Vegtamskvida'  in  alt.  fassung  quelle 
d.  Völuspa  A  292 

verbalstellung,  germ.  u.  ags.  A  70 ff; 
im  abhäng,  satz  A  74  f;  indogerma- 
nisch A  76 

'De  vestium  transformatione'  181 

Victovali  A  103  f 

Vidar  A  154 

HVintler,  'Blumen  der  tugend':  stcete 
u.  unstwle  412 

WvdVogel  weide  18, 1  (polemik  gegen 
Wolfram?)  154;  25,35  f  :  157; 
39,11  ein  tagelied?  386ff;  119,11: 
420;  mdze  438;  guot,  wertl.  ere, 
gotes  kulde  456 

Volkslied  s.  SElisabeth 

'Völuspa',  hsl.  Überlieferung  (Zusätze 
der  hs.  H)  239  ff;  unechtheit  der 
t.  65  :  251  ff;  heidnischer  Charakter 
der  schlusspartie  253  ff;  keine 
tendenzdichtung!  256;  gegen  Boers 
Verteilung  auf  zwei  dichter  258  ff; 
die  Ragnarökepisode  u.  ihre  Vor- 
geschichte 265  ff;  Muspells  söhne 
273  ff;  v.  46,  1.  2  unecht  276  ff; 
composition  der  Ragnarökpartie 
279  ff,  festes  Verhältnis  zu  frühern 
abschnitten  280  ff;  Gullveig-Heid- 
Freyja-episode  282  ff;  ein  älteres 
Vegtamslied  quelle  292  ff.  —  v. 
39  fi:  A  161 

waberlohe  A  78.  91  ff 
WWaiblinger  A  52  ff 
wällih  <;  wdtli/i  530 
Wandalen  A  102  ff 


FThWangenheim,    'Perle    von  Zion 
A  191 

wappenwesen  im  ma.  A  123  ff 

'Warnung',  mdze  438 

wechselstrophen  d.  15  jh.  s.  aus  Stock- 
holm 376 

weihnachtfpiele,  latein.  A  12 f 

ChrWeise,  'Jephthas  tochtermord' 
A  36 

Werner,  'Deflorationes'  415.  444 

Wilhelm  vConches(?)  'Moralis  phi- 
losophia'  407 

winileodes  306  ff 

Winsbeke ,  mdze  438;  der  ritter 
soll  sich  nicht  verliegen  464;  — 
bruchst.  aus  Münster  135 

wilin  n.  anfrk.  A  11 

wizago  497  ff 

GhrWolff,  sein  Wortschatz  A  56  f 

brWolfram  der  provincial  A  23f 

LH  Wolfram,  Tauft'  A  50  ff 

OvWolkenstein  A  129ff;  hs.  C  s. 
gedichte  A  129f;  46,  25.  114,  93  : 
A  130;  83  :  A  131;  114  :  A  131 

Wortstellung  im  germ.  A  65ff ,  in  d. 
allitteration  A  67  f ;  indogermanisch 
A  76 

JvWürzburg,  'Wilhelm  von  Oester- 
reich',  prolog  419 

KvWürzburg,  'Partonopier',  prolog 
419;  'Trojanerkrieg',  prolog  420; 
die  disputation  im  Silvester  ist 
nach  dem  muster  einer  theologi- 
schen Summa  angeordnet  434 

'Ynglingasaga'  c.  4  :  291 

UvZazikhofen,  'Lanzelet',  prolog  417 
ThvZirclaria,  'WGast',  stcete  und 
unstceleMG.  407.  408;  prolog  418; 
Sittenlehre  für  männer  u.  frauen 
421;  kreuzpredigt  430;  göttl.  liebe 
431;  mdze  438;  unwissentliche 
sünde  447;  ritterliches  standes- 
be wustsein  456;  der  ritter  soll 
sich  nicht  verliegen  463 


Druck  von  J.  B.  Hirschfeid  in  Leipzig. 


PF 

3003 

Z5 

Bd.  49 


Zeitschrift  für  deutsches 
Altertum  und  deutsche 
Literatur 


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