ZEITSCHRIFT
KUH
DEUTSCHES ALTERTUM
UND
DEUTSCHE UTTERATUR
hekausgegew-.n
VON
EDWARD SCHROEDER UND GUSTAV ROETHE
NEUNUNDVIERZIGSTER BAND
DER NEUEN FOLGE SIEBENUNDDRE1SS1GSTER BAND
BERLIN
W KIDÄ1ANNSCHE BUCHHANDLUNG
1908.
->' La>-
3003
2
INHALT.
Seite
Ulrich von Lichtenstein als lyriker, von Brecht 1
Tübinger Parzivalbraehstöck von Bohnenberger und Benz .... 123
Kin Winsheke-frnijmeiit der Universitätsbibliothek Münster, von Bömer 135
Ein Ulfilas-stempel, von Henning 146
\Valtheriaii3, von Fischer 154
Arolser bruchstück vom i buche des Passionais, von Schröder . . . I.V.)
Eine Vagantenliedersammlung des 14 jh.s in Herdringen, von Bömer . 161
Ragnarök in der Völuspa, von Niedner 239
Ein Göttinger Wigaloisfragment, von Schaall's 298
Winileodes, von Jostes 306
Aisl. edda 'urgrofsmulter', von Neckel 314
Handgenial und Schwurbruderschaft, von Schönhoff 321
Zu s. 353 IF (hantgemal in der Kaiserchronik) von Schröder . 3G2
Mittelhochdeutsche frauengebete in Upsala, von Psilander .... 363
Mitteldeutsche wechselstrophen und Scherzlieder, von dems. . . . :'>"ti
Posener bruchstück der Ghristherre-chronik, von Wundrack . . . . 381
Walthers zweites tagelied, von RMMeyer 386
Zwei ungedruckte mystiker-reden, von Pahncke 395
Über Wolframs ethik, von Ehrismann 405
Arolser bruchstück des Willehalm, von Schröder 466
Parzival 399, 1, von Wilmanns 467
Zum Alexanderlied, von dems 468
Nnnnenstöl und Brunhildenstuhl, von Henning 46!)
Lückenbüfser : balkon, von Schröder 484
Über die herkunft und bedeutung der german. bildungssilben ag, ig
und Hk, von PSchmid 485
ULRICH VON LICHTENSTEIN ALS LYRIKER.
Das material der vorliegenden Untersuchung bilden die
5S lieder Ulrichs von Licntenslein , die in seinen Frauendienst
eingelegt sind, überliefert sind sie in der einzigen FD-hand-
BCbrift L (in München, daher auch als M bezeichnet) und in der
grofsen liederhandschrift C. C gibt die Strophen in derselben
reihenfolge wie L, hat also höchst wahrscheinlich aus einer
FD-hs. geschöpft l. für wenige liederstrophen (lied xu) kommen
controllierend die Heidelberger hs. A (357) und die Naglerschen
fragmenle C" in belracht. aufser den liedern bah ich ge-
legentlich Ulrichs lyrisch- didaktische 3 hilchlein herangezogen,
die ebenfalls in den KD eingefügt, aber nur in L überliefert sind.
Ich habe den teil zu gruncle gelegt, den Lachmann in
seiner gesamtausgabe Ulrichs (Berlin 1841) gegeben hat. die von
Bechstein in seiner commentierten ausgäbe des FD (Leipzig 188S)
vorgeschlagenen änderungen sind so gut wie durchweg zu ver-
werfen.
Die aufgäbe der Untersuchung ist die erkenntnis der lyrik
Ulrichs in ihrem individuellen kunstcharakter. was hat er für
eine Vorstellung von einem gedichte gehabt? das ist die general-
frage, welcher Stoff erscheint ihm poetisch? wie sieht er, durch
seine natur und begabung determiniert, diesen — meist unbe-
wußt ausgewählten — sloff an? welche formen der anordnung
des Stoffes, welche gedankenketten und empfindungsreihen liegen
ihm am nächsten und werden allmählich für die disponierung
seiner gedichte mafsgebend? welche stilmitlcl stelin ihm zu ge-
böte, um durch nilancierung der rede und durch enlfallung einer
von innen heherschten , streng stilisierten dichtersprache seine
lieder im einzelnen zu dem zu machen, was sie geworden sind?
nach allem : wie ist die menschlich-dichterische persönlichkeit
1 C enthält einige lieder, die in L fehlen : xxxvn, von dem in L nur
Überschrift und erste zeile erhalten sind, stand mit auf zwei verloren
gegangenen blättern der hs. , die aufserdem den anfang der Artusfahrt von
1 24t) enthielten, vgl. Lachmanns anm. zu FD 449, 12; Bechstein n 172 aom.
lvii und lviii dagegen sind in L ohne äufsere erkennbare lücke ausgefallen,
während die vorläge von C an dieser stelle sie bewahrt haben muss. vgl.
Lachmann zu 582, 3 und Bechstein n 311 anm. — über zwei in C fehlende
Strophen, die unrechtmäfsig in das xxiv-lied geraten sind (FD 421,17 f), siehe
unten in cap. n s. 38.
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. 1
2 BRECHT
beschaffen, die sich in diesen 58 gedienten aus den jähren 1222
bis 1255 vor uns entwickelt?
Die Untersuchung richtet sich demgemäfs auf die motive, die
compositiou, den stil des poetischen ausdrucks, die literarhisto-
rische Stellung Ulrichs und seinen Charakter.
Wenn man vom ersten und letzten teil absieht, die vom in-
halt ausgehn und zum gehalt zurückkehren, ist es wesentlich die
innere form der lyrik Ulrichs, mit der sich die gegenwärtige
arbeit beschäftigt, daher fehlen hier die behandlung der metrik l
und die Untersuchung der spräche als solcher, auch die schwie-
rige frage nach den gattungen seiner lyrik, die nur im zusammen-
hange mit metrischen und musikalischen erwägungen zu lösen
ist, ist nicht beantwortet worden, nur um den lyriker Ulrich
handelt es sich, nicht um den autobiographischen erzähler; daher
sind die vielen probleme, die sein äufseres leben und dessen einr
seitige darstellung im FD bietet2, nur insoweit angerührt worden,
als sie für die entwicklung seiner lyrik in betracht kommen.
Fragen der einzelinterpretation werden bei gelegenheit im
zusammenhange der Untersuchung behandelt, auch hier hat Bech-
steins ausgäbe nicht geleistet was man von einer commentierenden
edition erwarten darf3, eine gesonderte ausgäbe der lieder würde
dem nicht immer gleichmäfsig verständlichen lyriker erst sein volles
recht gewähren.
ERSTES CAPITEL.
MOTIVE.
i Lieder der ersten m i n n e.
1222/23 — 1231/32.
Die ersten lieder zeigen Ulrich in pagenhafter Verehrung
seiner dame, wie es bei seiner Jugend, 22 jähren, nicht anders
zu erwarten ist : er gelobt sich für immer ihrem dienste. am
1 beträchtliche vorarbeiten sind namentlich von Knorr (Zu Ulrich
vLichtenstein QF ix, Abschn. n 2) und Weifsenfeis (Der daktylische rhythmus
bei den minnesängern §§ 103. 120. 415 uö.) geliefert worden.
2 vgl. v Falke Geschichte des fürstl. hauses Liechtenstein i, abschn. n.
RBecker Wahrheit u. dichtung in UvL.s Frauendienst. Schönbach in der ADB,
der Zs. 26, 307 (T und in den Biographischen blättern n 15 ff.
3 allerlei vorschlage, die gröstenteils widerherstellung Lachmannscher
laa. gegenüber Bechstein bezwecken, macht (neben vielen sacheiklärungen)
Schönbach Zs. f. d. ph. 28, 198 ff.
ULIUCII VON LICHTENSTEIN 3
schluss des ersten lietles fällt schon das Blichwort, das bis zum
letzten für seine lyrik bezeichnend bleibt:
Höhen muot ich von ilir hän — (18, 26).
hochgefühl, beschwingte Beelenstimmung ist »bis erste und das
letzte, das er von der miune verlangt, dessen wert zu preisen er
niemals müde wird (schon im in liede 58, 30 widerum). gleich-
falls einen bis zuletzt bedeutsamen zug bringt das n lied hinzu:
lebhafte Sinnlichkeit, die anmutig verhüllend den letzten wünsch
ausspricht, er muss den tag loben, an dem er einzig die ge-
lieble sieht : wie gern priese er die nacht! ' sucht er hier wie
ein erfahrener zu sprechen, so offenbart das m lied die ganze
kindlichkeit seiner höfischen Verehrung:
Dö ich erste sin gewan,
dö riet mir daz herze »tin,
Ob ich immer umrd ein man,
so solle ich ir ze dienste sin — (58, 12),
gerade wie das in seiner jünglinghallen Unsicherheit liebenswür-
dige i büchlein (47, 1 mine tumben jungen tage; 47,6; 55,22). jetzt
ist er endlich so weit, seinen vorsalz ausführen zu können, und
von vornherein zeigt sich seine streng aristokratische auffassung:
mit aufserster Verachtung spricht er sich gegen die niedere minne
aus, und in deutlicher anlehnuug an den classiker der hohen
minne, Reinmar den alten, preist er die freudenreiche sorge, die
sie gebe (59, 5).
Diese vier productionen sinil die ausbeute seines ersten
dichterjahres (1222/23). drei wichtige elemente seiner lyrik sind
darin schon deutlich ausgeprägt vorhanden, es fehlt noch ein
sehr bedeutsames, das Verhältnis zur natur.
Dies bringt das nächste jähr 1224, in dem Ulrich ein früh-
lingslied und ein winterlied gedichtet hat. beide gehören inhalt-
lich und formal als pendants zusammen, das vierte lied — es
ist das berühmte In dem wähle süeze dorne — geht nach alter
weise sogleich von der ganz kurzen nalurschilderung zu dem ihr
parallelen seelenzusland des dichters über, der sich glück dazu
wünscht, wenigstens die hoffnung auf erhörung sein eigen nennen
zu dürfen, und sich davor fürchtet, vielleicht aus der illusion
1 vgl. in ßotenlaubens iv tageliede slr. 2 vers 7:
JSahl git senfte, we tuot tac.
(Bartsch Liederdichter s. 125 v. 61. .MSH i 32).
4 BRECHT
gerissen zu werden; der mai gilt ihm nichts ohne die liebe guole.
in der tat verbittet sich schon zu anfaug des winters seine dame
die hotensendungen, durch die er ihr bisher seine lieder hat zu-
kommen lasseu (FD 102, 22 f). traurig reitet er weg und dichtet
das fünfte lied, in dem er den nahenden winter verflucht, aber
die hoffnung noch nicht aufgibt, bekümmert fragt er:
Vrowe, liebiu vrowe min,
warwnbe bistu mir gehaz?
und erinnert sie an seine stete Verehrung von kindesbeinen an.
Im sommer des nächsten Jahres (1225) reitet er von einem
Brixener turnier mit zerstofsenem finger zu einem arzte nach
Bozen, im saltel tröstet er sich durch ein lied (vi), in dem er
sein misgeschick beklagt und um Gottes willen — ein ihm stets
naheliegender zug — um erhörung fleht, sein leid hindert ihn
jedoch nicht, auf dem krankenlager in Bozen einer unbekannten
dame zuliebe, die ihm leclüre (vier büechelhi) zusendet, einen
deutschen text zu einer von ihr ebenfalls überschickten auslän-
dischen (wol italienischen) melodie zu dichten, der im lebhaftesten
allegro, fast ausgelassen, sein liebliugsthema, lebensfreude durch
frauenliebe, behandelt (vn). endlich treibt er auch wider einen
boten auf, den er an seine herrin sendet, mit der mitteilung, er
habe ihretwegen einen finger verloren, und mit einem ihrer
standhaften Weigerung gegenüber recht unverschämten, aber in
seiner leidenschaftlichkeit starken liede (vin). er habe sie ja schon
längst gefangen und in den kerker seines herzens gelegt, dort
behandle er sie, wie ein ritler seinen vornehmen gefangenen be-
handelt, zwei andere gefangene liegen da mit ihr zusammen, sein
smerze und sein klagende leit. nur wenn sie lösegeld bezahlt, hat sie
aussieht, mit diesen beiden zusammen freizukommen; aber nicht
silber unde golt kann sie erlösen: ich wil nihl wan ir minnen
soll (vm). diese deutliche spräche hat die entgegengesetzte wür
kung : mit zorn weist die dame den boten von sich.
Er ist weit entfernt, sich dadurch beirren zu lassen, auf
dem rückwege von Born, wo er (im winter 1225/26) mit dem
knappen der ihm als böte dient zwei monate geweilt hat, singt
er ihr widerum ein lied, dem man anmerkt, wie recht ihm ihre
sprödigkeit kommt, um mit seiner unerschütterlichen treue zu
glänzen, an den bei den minnesingern obligaten gedankeu, der
mai tröste alle, nur nicht den liebeskranken dichter, knüpft er
ULRICH VON LICHTENSTEIN 5
die nochmalige dringende bitle, die litrrin möge sieh besser be-
denken, der fromme schluss verrät, auf welcher fahrt er sich
befindet : auf 'Gottes wege' solle man frauenlob nicht siegen,
heifst es; so wendet er sich denn zum gebet und empfiehlt sie
der mutter Gottes (ix, gedichtet nach 19. 4. 26). aber auch dies
lied hat ebenso wenig erfolg wie ein im herbst desselben Jahres
gedichtetes, ein dialog zwischen Ulrich und der frau Minne, die
den klagenden beschwichtigt, ermahnt und vertrustet (x; frau
Minne schon 114, 15f, in vn, erwähnt).
Diese poetische Vorstellung muss in Ulrich volle dreiviertel
jähre lang sehr lebendig gewesen sein, noch im herbst 1226
sendet er seiner dame ein biichlein (das zweite, FD s. 142), das
wider um einen dialog zwischen ihm und frau Minne darstellt und
im wesentlichen gedankengang und gesprächsverlauf des vorher-
gehnden liedes widerholt (vgl. bes. 146, 31 — 148, 2 mit lied x,
str. 4 u. 6). am 1 juni dichtet er eine singweise (xi), deren an-
fang sich unmittelbar auf das x lied zurückbezieht.:
Vil salic Minne, hab ich nu getdn
Den dienest den din gewalt mir gebot — .
zwischen dem zweiten biichlein und dem xi liede ligt Ulrichs
ritterfabrt von Mestre bis ins Mährische (25 märz bis 26 mai 1227),
bei der er als frau Venus verkleidet speerebrechend zur ehre
seiner herrin durchs land zog. der einfall muss wol mit den
gediebten die seine ausfiihrung umgeben, zusammengebracht
werden, jedoch ist kaum anzunehmen, dass der gedanke der
Venusfahrt schon lange in ihm vorgespukt habe; wol aber ist
einem so phantastischen köpfe zuzutrauen, dass er eine solche
idee fasste, wenn er einmal sein innenleben einige zeit intensiv
auf die personification der frau Minne (vgl. lied x u. biichlein n)
gerichtet hatte1, hatte ihm im x liede frau Minne das klagen
verwiesen, da sein bisheriges ausharren noch nicht der rede wert
sei, und ihn zu weiterer geduldiger Pflichterfüllung ermahnt, die
ihm noch den erhofften lohn einbringen werde, so fordert Ulricb
jetzt, nach der Venusfahrf, im xi liede nachdrücklich diesen lohn
von ihr, da er alles getan habe, was sie verlangte, gleichzeitig
wendet er sich an alle frauen, deren sache er soeben — nämlich
auf der Venusfahrt — vertreten habe, sie möchten ihm das gemüt
(Reinm
1 lvro Minne und vro Venus wurden als identisch gefühlt' Roethe I
nar vZweter s. 215, mit beispielen).
6 BRECHT
seiner herrin geneigt machen, von der er niemals zu lassen sich
fest vorgenommen habe, er fasst hier zum ersten male echt höfisch
seine liebesangelegenheit als sache des ganzen weihlichen ge-
schlechtes auf, dessen corpsgeist schon seine erhörung erheische:
auch dies offenbar eine nachwürkung der Venusfahrt, die allen
miunegewährenden frauen zur ehre ergangen war (vgl. FD 163
zeile 4 — 10); der hegriff aller guoten wibe (FD 164 zeile 13) war
ihm von daher geläufig.
Dies lied macht nach Ulrichs Schilderung (FD 323, 8(T) nun
doch eiudruck auf die herrin, sodass sie ihn zu sehen hegehrt,
und ihn, als armen aussätzigen verkleidet, auf ihre hurg lädt,
was ihm dort alles zuslöfst (14. 6. 27.) , wird hier als hekannt
vorausgesetzt, wie weit auch die romanhafte einkleidung gehn
möge, der kern der erzählung, eine raffinierte ahvveisung, bleibt
beslehn. als bald darauf trotzdem wider eine anknüpfung ge-
lungen ist, und die dame als weiteren treuebeweis — in Wahrheit
vvol, um ihn loszuwerden — eine kreuzfahrt von ihm verlangt,
setzt er sich hin (381, 5 ff) und verfasst wider ein (drittes) büch-
lein, und ein lied, die er zusammen an sie gelangen lässt. beide
gehören in der tat eng zusammen, mit den drei letzten fröhlichen
versen des liedes schliefst auch das büchlein, gedanken des liedes
sind mehrfach im büchlein näher ausgeführt, spielende Wendungen
werden widerholt 1. freudigen herzens wünscht er sich selbst
glück zu seinem ausharren trotz aller abweisungen, versichert
von neuem seine treue und lässt die hoffnung nicht fahren.
Trotz allen tiraden bemerkt mau aber von jetzt an sehr
deutlich, ohne dass Ulrich es im märe irgendwie ausspräche, dass
1 394, 26 Min hende ich valde , vgl. im Büchlein 389, 5 Min hende
valde iu, vrowe min, ich — ; 395, 1 Und also griieze vgl. 393, 2 — 23 : ez
ist ein tugentlicher gruoz — den er mit dem küsse als ihren segen für
die kreuzfahrt ersehnt, die ehrenden attribute, mit denen er höchst reizvoll
die fünf Strophenschlüsse seines liedes ziert, kehren viermal, doch in per-
mutationen, im büchlein als abschlüsse von Sinnesabschnitten wider, die
attribute der fünften Strophe bringt er, indem er am schluss des büchleins
die drei schlussverse des liedes ganz widerholt. also : 384, 18 si liebe, si
reine, si here : 394, 20 si reine, si scelic, si here. — 386, 21 si liebe, si
reine, si guote : 394, 25 si liebe, si aotc. — 389, 4 si liebe, si reine, si
siieze : 395, 3 si liebe, si siieze. — 391, 19 st liebe, si guote, si reine
: 395, 8 si guote, si liebe, si reine. — 394, 7 si schäme, si cläre : 395, 13
si schcene, si cläre. (394, 5 — 7 = 395, 11 — 13).
ULIWCIl VON L1CHTEINSTE1N 7
sein heroischer eifer der herrio zu dienen und Beine böflft hi
Deigung allmählich nachlassen.
Im winler 1227 auf 1228 findet ihn sein böte, der von der
geliebten zurückkommt, unerwarteterweise in Wim, wo er sich
in vornehmer damengesellschafl bewegt dl» 3!)t>, 7(T); und die ihm
sehr erfreuliche botschafl, die dame wolle ihn Behen, hält ihn
nicht ab, von Wien ;his frowcu sehen in diu laut zu reiten, nur
aus diesen erlebnissen erklärt sich die eigentümliche vierte Strophe
des bald darauf im früliling 122s lilr die herrin gedichteten
mailiedes:
Ob ich nilit geniezen kan
dflner gilete und der langen statte min,
So lä mich vil sehenden man
der geniezen den ich durch den willen dtn
Sol und muoz yedienen vil.
daz sint eil in guotiu tcip, der Hp ich immer
e'ren wil,
und die folgende schlussslrophe, in der der dame die güle aller
guolen wibe als vorbild liiu gestellt wird; ihnen zuliebe möge sie
ihn erhören, hiermit wird das motiv des xr liedes, dessen ent-
Btehung ich vorhin erklärt zu haben glaube, mit stärkerer be-
lonung wider aufgenommen; es entwickelt sich von nun an in
fast allen folgenden liedern seines ersten minneverhältnisses, wie
denn die lieder bis zum herbste 1231 untereinander und mit
seinem leben in enger beziehung slebn.
Auf sein gleichzeitiges höfisches leben, dessen alleiniger in-
balt in fröhlichen lurnieren und in der höfischen Unterhaltung
mit frauen bestellt, spielt unverkennbar sogleich der anfang des
nächsten liedes, einer lanzweise (xiv), wieder an:
Oae daz ich bi den wolgemuoten (nämlich d. gesellscbafl)
also lange muoz beliben ungemuot,
sowie der scbluss sieb widerum an seine jetzige Umgebung, guotiu
wip, wendet, vor der Ungnade seiner herrin llüchlet er sieb
trotzig-resigniert in das ihr unzugängliche reich des Wunsches.
was er sieb im gründe von ihr wünscht, verschweigt er : nur
ihren kuss und ihren grufs wünscht er sieb (die balle er schon
im in büchlein s. 392, 221' ersehnt), und dass sie ihm endlich ins
beiz seben möge, zwar gibt er sieb (letzte Strophe) den anschein,
als ob er immer noch an ihre gute glaube, aber schon kommt
8 BRECHT
ihm der wünsch, anderswo Iröst für truren zu suchen; hastig
unterdrückt er ihn (401, 9 f). doch schon im nächsten liede (xv,
frühling 1229) ist er wider da (403, l)1. es hat seine cavaliers-
eitelkeit verletzt, dass man ihn nicht mehr so munter (fruot 402,28)
findet wie vordem, sein ewiges klagen beginnt zu langweilen, da
ihm bezeichnenderweise alles daran ligt, froh zu erscheinen, so
kann er den gedanken, sich ein ander Uz zu suchen, nicht mehr
so ganz verwerfen, natürlich sind es wider die damen der ge-
sellschaft (ir guolen reiniu wip), denen er diesen entschluss zu
billiger begutachtung vorlegt, ihnen ist auch das feurig-kräftige
marschlied (uzreise, xvi) gewidmet, das in denselben sommer fällt
(str. 5). erst in den beiden letzten Strophen gedenkt er resigniert
seiner unbarmherzigen herrin, gegen die er sich mit der gedul-
digen treue eines guten gewissens wappnet, noch einmal flammt
seine empfindung für sie auf (xvn, frühling 1230), der treu-
geblieben zu sein er sich selbst beglückwünscht (s. o. xn). aber
schon die beiden nächsten, eng zusammengehörigen lieder (xvm
u. xix, herbst 1230, frühjahr 1231) zeigen ihn wider in der
atmosphäre ganz allgemein gesellschaftlicher frauenverehrung.
beide preisen in paradoxer weise die sonst verhasste huote und
die merkcere, indem sie diese so geläufigen höfischen begriffe, die
Ulrich bei seiner starken geselligen betätigung gerade in jenen jähren
besonders nahe liegen mochten 2, spielend verändern : das merken
wird zum interessiertsein, wie es den frauenkenner, die männer-
kennerin auszeichnet, huote zur vorsichtigen gesellschaftlichen
haltung der frau (huote vereinzelt schon 126, 28 — 30, vin). seiner
dame gelten im xvm liede nur die beiden letzten, die nutzanwen-
1 hier ligt eine art disharmonie zwischen Med und später gedichtetem
märe vor. 402, 12 — 15 gibt Ulrich an, in jenem sommer immer hohes
mutes gewesen zu sein : aber gleich die erste Strophe des folgenden liedes
(xv) zeigt ihn klagend, der weitere verlauf und das xvi lied nicht über-
mäfsig fröhlich, der grund ist klar : er will damit renommieren, wie er
durch den blofsen vorsalz, wider uro zu werden (xv, str. 2), es in der tat
geworden sei. dem entspricht die gewollte fröhlichkeit der lieder xvu,
xviii, xix (1230 u. 31). es gibt eben nichts weniger cavaliermäfsiges als
duckmäuserei. dies wollte er, als er später den FD dictierte, noch schärfer
hervortreten lassen, als es lied xv str. 2 tut. grund zu ernsthaftem ver-
dacht gegen die sachliche und chronologische richtigkeit seiner erzählung
seh ich nicht. — anstofs hat auch Bechstein n 119 anm. genommen.
3 möglicherweise hat ihn auch die ausgesprochene furcht der dame
vor dem merken 396, 1 angeregt.
ULIUCII VON LICHTENSTEIN 9
dllDg auf sie bringenden Strophen, das xix. das die gesellschaft-
lichen Spitzfindigkeiten des vorhergehnden ziemlich trivial wider-
holt, ist directer an sie gerichtet, er wirbt noch einmal — aber
in der letzten Strophe verspricht er aller weit kundzutun, wie
alle freude für ihn zu ende sei, wenn sie ihn zwänge, sich ihrer
ininne zu entschlagen.
Bald danach tritt die lange drohende Wendung ein, im
herbst 1231 verlä'sst der bis zur Unvernunft treue rilter nach
dreizehnjähriger vergeblicher Werbung den dienst der herrin. was
ihn dazu bewogen hat, deutet er nur dunkel an (411, Uff); er
hatte wol seine gründe dazu, es kann nicht ein einzelnes ver-
gehen, sondern muss ein widerholtes oder fortgesetztes unrecht
gewesen sein, was sie ihm antat (aao. und 413, lOff. 25) ', eine
wider besseres wissen böslich aufrecht erhaltene Verleumdung
oder dergleichen.
Der dichterische ertrag dieses Umschwunges sind sieben
scheltlieder, die Ulrich aus dem lebhaften gefühl der erlittenen
krankung heraus vom herbst 1231 bis zum frühjahr 1232 ge-
dichtet hat-, sehr natürlicherweise sind die ersten die schärferen,
1 hiernach sind die ansichten von Becker und von Bechstein zu
berichtigen, die verse, die Bechstein (s. xxix) auf einen zornigen wortstreit
zwischen beiden deutet, 413, 17 — 27, beziehen sich vielmehr auf die schelt-
lieder, die U. soeben mitzuteilen sich anschickt und die er jetzt bereut:
413, 21 an disem buoch. zum beweise diene ferner der reuige ausruf
415,30—41(3, 11. Beckers auffassung (Wahrheit u. dichtung in UvL.s FD
s. 89 IT) wird der Wahrheit näher kommen, wenn auch 127, 18 — voraus-
gesetzt, dass man diese stelle überhaupt noch hier heranziehen darf — und
411, 17 nicht gerade so handgreiflich interpretiert zu werden brauchen, das
swache leit kann auch ein erniedrigender klatsch gewesen sein. Schön-
bachs ansieht (Biogr. bll. n s. 31) : 'U. kam dahinter, dass die herrin einen
andern bevorzugte' passt gar nicht zu den textstelleu. seinen folgenden
satz versteh ich nicht; wo handelt es sich denn beim ersten minneverhältnis
um einen 'glücklichen ausgang?' — viell. ist statt swachez /. 411, 17 sivwrez
leit zu lesen, die Verbindung swachez leit mit der hier geforderten
proleptischen bedeutung des adj. (noch dazu stark betont : ein so siv. /.)
scheint sonst nicht belegt. W'igalois 795 : swenne dehein swachez leit
truoble ir feindete hat eine andere bedeutung. der folgende vers 411, 18
passt besser zu swwrez; in der Schrift sind beide Wörter leicht zu ver-
wechseln.
a Ulrich selbst rechnet xx — xxvi als scheltlieder, vgl. 427, 17 f; xxiv
—xxvi sind aber eigentlich keine scheltlieder mehr, da in ihnen das positive
des frauendienstes weit überwiegt.
10 BRECHT
in den späteren überwigt die Stilisierung in die verallgemeinernde
reflexion', wodurch die persönliche gehässigkeit gemildert wird.
Im ersten 'klageliede' (xx) mäfsigt er sich zwar noch, mit
merklicher anstrengung. es ist gewissermafsen erst die ofücielle
aukündigung der drohenden feindschaft, in form einer rechts-
klage vor dem gerichtshofe aller trauen — das alte motiv, sich
an die gesamtheit zu wenden K in nachdrücklicher widerholung
klagt er seine hisherige herrin schäches tinde roubes an. was sie
ihm geraubt hat, ist seine lebensfreude in der ganzen schier end-
losen zeit, die er ihrem diensle gewidmet hat2, mehr von seinem
leide zu sagen geniert er sich; auch will er sich als cavalier
nicht vom zorn übernehmen lassen, so hält er denn noch den
vermiltlungsweg offen, falls sich jemand findet, der ihn beschreiten
will ; sonst droht er mit dem schlimmsten 3. da die dame ihr
verhalten nicht ändert (413, 10), sieht er sich genötigt, seine
drohungen wahr zu machen, viel energischer beklagt ein zweites
klagelied (xxi) den Verlust seines lebensglückes und weist der
vrowe alle schuld daran zu. hätte er doch noch die illusion der
hoffnungl aber auch die ist hin. wie gut war die herrin, als
er sie kennen lernte 1 inzwischen hat sie sich ganz verändert4,
in der äufseren haltung ungleich ruhiger, im inhalt das schärfste
von allen ist das folgende (xxn). mit einer sachlichen minne-
1 Vgl. XI. XIII. XIV. XV.
2 vgl. schon xiv 399, 13 : St nimt mir wende, diu mich sorgen solle
machen vri. nu läls also rouben — . ähnlich wie Ulrich klagt Walther
53, 1 ff wesentlich über die verlorene zeit, in der form wol beeinflusst durch
Morungen MFr. 128, 15 ff (citat von Wilmanns).
3 vgl. das vierte lied des von Buwenburg, str. 3 :
iuonl ir niht den willen min,
ich sprich iu ein wörtelin,
dar an hanget siuften unde weinen.
(Bartsch Die Schweizer minnesänger s. 260).
4 gerade so macht es Buwenburg aao. st. 2 :
Ich wände ein wip von Iper haben funden,
dö ich erst ersach die minneclichen :
nü swachet si an eren zallen stunden usw.
auch Neidhart findet, dass sich die geliebte in der Zwischenzeit verkeret
habe (82, 25 ff), er schimpft unflätig auf sie, viel stärker als Ulrich — es
ist nämlich nur eine allegorische figur, die frau Werltsüeze (82, 15 ff, erster
Werllsuezenton; vgl. RMMeyer Die reihenfolge der lieder Neidbarts s. 147).
— gedankengang und diction dieses liedes erinnern lebhaft an Walther.
ULRICH VON LICHTENSTEIN n
theoretischen auseinandersetzt! Dg, dem lobe widerum aller guoten
wibe, beginnt es, scheidet aber unerwartet die falschen von den
guten und macht sofort die rückhaltloseste nutzanwenduog aul
die verlassene dame. kein ausdruck ist ihm der schamlosen gegen
über, deren wille daber fuhr wie aprilwetler, stark genug, aber
der schluss halt sich wider objecliv, indem er zu dem im anlang
gemachten unterschiede zurückkehrt; unrecht tut, wer zwischen
trauen nicht unterscheidet '. die beruhigung schreitet im vierten
schellliede (xxiii) fort, hier sind von fünf Strophen nur die zwei
letzten seinem Unglück gewidmet, auch in ihnen trauert er mehr
als er schilt, die drei ersten tun in der sentenziösen weise von
minnereden dar, dass triuwe und stiele unbedingt zur minne ge-
hören : woraus sich das folgende widerum als ausgesprochen
(419, 22) persönliche nutzanwendung ergibt.
Nach kurzer zeit kann der von natur mit unvertilgbarem
luslbedürfnis ausgestaltete Sanguiniker die catonische miene und
das leben ohne minne nicht mehr aushalten, aus wintersnot und
altmachender sorge sieht er keinen andern ausweg als durch
wibes güete (xxiv, str. 4) : irgendwo muss es doch noch guotiu
xcip geben ! der wünsch eines zweiten minneverhällnisses spricht
sich offen aus. das ganze lied ist nur ein vorklaug jener wdn-
wisen, denen — wo ein wille ist auch ein weg — die reale
zweite minne bald folgen sollte, womöglich noch deutlicher er-
scheint das bedürfnis Ulrichs in seinem leiche (xxv), den er in
derselben zeit gesungen hat (winter 1231/32), und der mit dem
letzten liede in engster beziehung steht, hat er nämlich in xxiv
seinen festen vorsatz ausgesprochen, sich wider der freude (zb.
str. 2) zuzuwenden, so rät er dies im leiche, gleich zu aufang,
nun allen mäunern (werende freude 423, 3). und er hat sich schon
so weit über sein misgeschick und seine rachegefühle erhoben,
dass er als einzige quelle jener freude nur wider anraten kann —
guotiu wip zu miunen. der gesamte erste teil des leichs enthalt
1 Knorr (s. 44 ß) conslatiert entlehnung dieses niotivs von Walther
58, 35. 48, 35. — vielleicht hat es daher auch Buwenburg, der das schon
zweimal angeführte heftige scheltlied so beginnt:
Sang ich. hiure ?iihl von guolen wioen,
so sing aber ich nu von den swache?i usw.
diese Scheidung ligt aber bei solchem anlass wol so nahe, dass jeder selb-
ständig darauf kommen konnte.
12 BRECHT
demgemäfs nur rein sachliche minnelehre, die sich in inhalt und
tendenz sowol im ganzen wie an einzelnen stellen eng an das
vorige lied anschliefst (423, 21 stcer e'ren scelic welle sin, vgl. xxiv:
420, 24 dd fand ich ouch ere bi, 27 und erwirbe ich freude und
ere; 422, 10 vinde ich die, so vinde ich ere; ferner 424, 6, vgl.
422, 9). auf sein persönliches misgeschick kommt er erst im
zweiten teile zu sprechen, er trüstet sich (424, 7 ff):
Min muot von wiben hohe sldt.
waz danne ob mir ir einiu hdt
Erzeiget hohe missetdt?
hat es also innerlich überwunden, wante er sich im ersten
teile an die männer, so gilt der zweite ausschliefslich den frauen.
auch wenn er von ihnen in der dritten person redet, ist doch
alles an ihre adresse gerichtet, der inhalt dieses teiles ist nicht
neu. er ist ein verschmelzender cento von motiven früherer
lieder, deren entstehung und entwicklung wir beobachtet haben.
424, 1 1 :
Swaz si gegen mir hdt getdn fconstr. anö v.olvov)
daz wil ich gerne wizzen Idn
uf gendde guotiu w/p —
worauf die erzählung ihrer schuld folgt, was ist dies im grund-
motiv und in der form anders als die grofse anklagerede des
xx liedes, vor demselben tribunal, an das zu allererst zu denken
er seit der Venusfahrt und seit dem geselligen winler 1227/28
gewöhnt war (lied xm str. 4, insbes. 397, 24)? — 424, 7 — 31 des
leichs widerholt geradezu lied xx str. 1 — 4 , man vgl. speciell
die anfangsapostrophe, und ist nur eine neue Variation des haupt-
inhaltes aller bisherigen scheltlieder. — im einzelnen entspricht
424, 15 — 21 der zweiten Strophe von xx. die beiden bilder mit
denen er die launenhaftigkeit der herrin verklagt, 424, 25 — 31,
verfolgen in anderer sphä're denselben zweck wie das bild vom
aprilwetter xxn str. 5:
Nu vert enwer ir habedanc, Als aberillen weter vert ir wille,
Reht als ein rat daz umbe gdt daz nie wind es prüt als swinde
etc. enwart etc.
Die gegenüberstellung der guoten und falschen wibe 425, 1 — 2
schlägt noch einmal das thema von xxu für einen augenblick an,
die beiden folgenden verse bringen mit dem widerholten State
ULRICH VON LICUTENSTE1N 13
das hauptstichwort von xxm wider in crinncrung. die zweite
hallte des zweilen teiles, in die diese motive bereits gehören,
drückt dasselbe aus wie die letzten Strophen des vorhergehndeu
liedes xxiv, den wünsch eines neuen Verhältnisses, aber un-
wandelbar muss die neue herrin sein, das betont der durch
erfahrung gewitzigte zum Schlüsse nochmals nachdrücklich
(425, 26—426, 3).
Gleichzeitig mit dem leich hat Ulrich nach seiner eigenen
angäbe (426, 8f) das xxvi lied gedichtet, es erweist sich als eiu
kurzer auszug des leichs in inhalt und einkleidung (rat an die
männer, guoliu wip zu minnen); der erste teil, str. 1 — 3, ent-
spricht genau dem ersten, der zweite, str. 4 — 7, dem zweiten
teile des leichs. auch der Übergang zwischen beiden teilen
(426,24 — 25) ist ganz der gleiche wie dort (424, 711). die letzten
Strophen (5 u. 6) von xxiv, die den zweiten teil des leichs mit
bilden halfen , haben mithin auch die drei letzten von xxvi be-
fruchtet, die Ähnlichkeit erstreckt sich bis auf die worte (zb.
vinden 427, 1.10 vgl. 425, 24. 422, 6. 10). — der wünsch eines
zweiten aussichtsreicheren Verhältnisses ist zu voller klarheit ge-
diehen, nur der würdige gegenständ fehlt noch, die schlussstrophe:
Ich wil gerne sin ein vrowen vrier man,
al die wile ich niht ein guote vinden kan usw.
bildet bereits den directen Übergang zu den wdnwisen.
ii Die wänwisen. 1232/33.
Ulrich begründet seine hinwendung zu wdnwisenx mit der
ausdrücklichen bitte einer hervorragenden dame an ihn, er möge
um aller frauen und um seiner selbst willen die rachedichtuug
der scheltlieder aufgeben (427, 13 — 28; lyrischer niederschlag im
nächsten liede 428, 26. 27). auch ohne solche auffordern ug würde
Ulrich das getan haben , da die bisherige entwicklung an sich
schon dazu führen muste.
Zusammenhang der wdnwisen mit geist und inhalt der letzten
lieder ist unverkennbar, die erste wdnwise (xxvn) bleibt im ge-
dankengange des vorhergehenden liedes xxvi, dessen inhalt sie
gewissermafsen umdreht, hatte Ulrich dort behauptet, wenn man
höhen muot erwerben wolle, brauche man nur guotiu wip zu
1 wdnwisen ist nach wie vor als 'freie phantasieproduete ohne realen
gegenständ' aufzufassen und ßechsteins seltsame Übersetzung 'freudenklänge'
(anm. zu str. 1376, 8. L. 427, 28) zu verwerfen.
14 BRECHT
minnen, und dies allen mänueru geraten, so sagt er jetzt: wer
erfolg in der minne werter flauen haben wolle, müsse hochgemut
sein (428, 7. 8), und erteilt sich selbst diesen rat (428, 25 ff) — es
ist ein zirkel. nach der verirrung der ihm garnicht anstehnden
scheltlieder hat er sich damit zu seiner wahren natur und zu
seinem lyrischen grundgedanken zurückgefunden : freude, nichts
als freude soll die ritterliche minne geben.
Dieser gedanke wird in der zweiten, sangbar-anmutigen
wdnwise (xxvui) nur weiter ausgeführt, zum teil spielend, vor
der staien liebe, die minne heifst (430, 1), schwindet alles trauern;
sein geheimes verlangen nach ihr kann er in einem seufzer zum
Schlüsse nicht verbergen.
Bei stiller Sehnsucht bleibt es nicht; schon das nächste lied
(xxix), ein sommerreie, der das glück erhörter liebe fast neidisch
preist, wird sehr kühu : die höchste seligkeil ist die Umarmung,
das bigeligen, das als schlusspointe bis an die grenzen der mittel-
alterlichen discretion ausgemalt wird, natürlich: gerade der 'frauen-
freie' mann (427, 24) muss in der phantasie geniefsen, was ihm
das leben zur zeit versagt.
Eine Illustration zu den bisher gegebenen minnelehren, die
dabei noch einmal in lebendiger Unterweisung kurz zum Vortrag
kommen, zugleich eine praktische anwendung bildet die sechste
wdnwise, ein dialog Ulrichs mit einer vrouwe über das berühmte
thema : waz ist minnel in dessen verlauf der belehrende ritter
keck wird und ganz unerwartet einen allerliebsten korb bekommt
(winter 1232).
Es fällt auf, dass Ulrich in den zwei Strophen des märe,
die den Übergang vom vorhergehnden liede zu diesem dialog
bilden, gerade von einem besuche spricht, den er damals jener
befreundeten dame, die ihm von den schellliedern abgeraten, ge-
macht habe, und von der Unterredung mit ihr. die Schilderung
sieht ganz nach minueconversation aus. 434, 14:
ich reit mit ir sus unde so:
des antwurt mir diu lugend rieh
mit süezen Worten minneclich.
mit speeher rede ich von ir schiet.
davon so sang ich disiu liet (= xxx).
Er versichert also ausdrücklich, aus einer derartigen Unter-
haltung sei sein dialog über die minne hervorgegangen, sollen
ULRICH VON LICHTENSTEIN
15
wir ihm hier mistrauen, etwa weil die lieder das ursprüngliche
sind, aus denen das märe nachher in freier phantasie geschöpft
sein konnte? da sich die beziehungen zwischen er Zählung und
liedein1 bisher als ganz unverdächtig erwiesen halten, da der
dichter ganz naiv, unironisch, unhumoristisch, sachlich-trocken
berichtet, sogar beschämendes nicht verschweigt2, so halt ich uns
für durchaus berechtigt, hier den Zusammenhang /wischen leben
und lyrik festzustellen, dann wären wir auch berechtigt, anzu-
nehmen, dass Ulrich, der Mine freiwillige Verlassenheit so schwer
ertrug, jener d.uiie uiirklich seine minne angetragen und einen
korh bekommen hat. sie verschwinde! Dämlich jetzt stillschwei-
gend .ms dem FD. die an, mit der Ulrich sehr bald danach
(439,14) seine neue herrin, die des zweiten Verhältnisses, frisch
in die erzählung einführt, verbietet anzunehmen, dass jene dame
mit dieser identisch sei.
Die tendenzen der wdnwisen finden sich in der tünlten
(xxxi), welche die letzte hleihen sollte, unabsichtlich noch einmal
zusammengestellt : preis des frühlings und der frauen, deren liebe
den mann glücklich macht.
Diese wenigen gedanken in den wenigen liedern sind im
gründe Ulrichs ganze liebeslehre. die wänwlsen liehen sich nicht
so sehr von den bisherigen minneliedern ab, als man bei dem
Wegfall einer bestimmten Persönlichkeit, an die sie sich richteten,
erwarten sollte, gerade hier wird recht klar, dass Ulrichs lieder
bisher eigentlich alle schon wänwtsen waren, db. dass im »runde
auf die vereinte herrin wenig dabei ankam, sie ist nur eine
stell Vertreterin des ganzen geschlechtes, dem Ulrichs Verehrung
gilt, mag auch — woran ich nicht zweifle — sein herz hei der
ersten minne nicht unbeteiligt gewesen sein, ihre wahre Ursache
war das artistische phantasiebedürfnis, das für die dem menschen
Ulrich einmal innewohnende hinneigung zur frau einen bestimmten
äufseren anhält suchte, in den wänwlsen liel auch dieser vor-
1 der aasdrack 'eingestreute lieder', an den man sieli gewöhnt hat,
nimmt in dem falle Dlrichs zum mindesten unsicheres als sicher an. denn
mag auch Ulrich für das märe gleichzeitige aufzeichnungen benutzt haben
(s. Schönbath Biot;iaph. Matter u 32, 33), so bleibt doch bestelm, dass die
lieder das in der vorliegenden festen form ältestesind, um das
die erzählung heru mgegosse n ist. sie sind das prius, nicht die erzählung.
a vgl. Schönbach aao. s. 23 ff.
16 BRECHT
wand fort : insofern kommt in ihnen seine natur am reinsten zum
ausdruck.
in Lieder der zweiten minne. 1233 <C > 1255.
Da Ulrich im sommer 1233 nachgerade seihst darilher klar
geworden ist, dass er für ein neues minneverhältnis reif sei,
zögert er nicht, sich nach einer würdigen, dem einzigen, das ihm
dazu noch fehlt, umzusehen (439, llf). seine erste minne ist für
ihn innerlich schon so lange her, dass die erinnerung sie ihm
hereits golden zu färben beginnt (438, 14 — 24). bald hat er eine
herrin gefunden; und dass er kein blöder page mehr ist, sieht
man an der sachlichen art, in der er das Verhältnis in die wege
leitet : er reitet einfach zu der dame (deren namen er natürlich
nicht nennen darf) hin und 'tut ihr seinen willen kund' (440, 9).
ihre antwort fällt so aus, dass er davon in freudenüberschwang
gerät und seiner ältesten, im gründe einzigen liebe, dem hohen
muoty das erste lied seiner neuen minne (xxxn) widmet, für
deren abstractere art ist die adresse an einen personifizierten
begriff von vornherein charakteristisch, der minnephilosophische
ton der wänwisen bleibt, nur mit schwindender frische, in geltung.
xxxii ist ein rechtes beispiel für ein absichtlich gemachtes ge-
legeuheitsgedicht. mit vollem bewustsein, ganz unnaiv, wird die
neue Verbindung begrüfst und unter etwas künstlichem jubel ein-
geläutet, das gefühl der erleichterung freilich , nun nicht mehr
einsam trüren zu müssen, mag wol wahr daran sein, hier wie in
den folgenden liedern. das einzige thema ist zunächst natürlich
der preis der neuen herrin. die einzelmolive sind grofsenteils
nicht neu. so greift Ulrich auf das hauplmotiv des vm liedes,
beschreibung der Insassen seines herzens (s. o.), zurück, wenn er
in der vorletzten Strophe den höhen muot als vogt im hause seines
herzens auffasst, dem die f'rau und die minne dort gesellschaft
leisten; angedeutet ist die metapher schon in den ersten beiden
versen des liedes. durch seine freude klingen reminiscenzen an
die von der früheren herrin ihm angetane untdt (s. o.), denn
es ist als reaction darauf zu erklären, wenn er jetzt so viel von
der ere seiner herrin spricht, halle er in den scheltliedern die
erste dame eines vergebens bezichtigt, dessen nennung sie scham-
rot machen müste (412, 25 ff), von ihr gesagt:
diu ist wibes eren gram (417, 17)
und von einer zukünftigen herzensherrin verlangt, sie müsse
LI.IUCII VON LICHTENSTEIN 17
— wiplich sin gemuot,
eren rieh, vor allem wandel <jar behuut 127, 711),
so frohlockt er jetzt :
Höher muot, dich hat gesendet
nur ein wip diu ere hat (4-11,5);
das ist das allererste, was er überhaupt im liede von ihr s;i.
(dritte stroplie). begreiflicherweise kommt er noch ol't darauf
zurück, der uumittelbare Zusammenhang seiner neuen poesie mil
den eben verklungenen wdnwlsen wird in dein folgenden, eben-
falls noch einleitenden liede (xxxm) bemerklich, einem dialoge
Ulrichs mit der neuen geliebten über bedingungea und lohn seines
dienstes. die elegante minneconversalion endet unerwartet damit,
dass sie seine immer schmeichelhafteren complimente scheinbar
entrüstet als ironie zurückweist, unverkennbar ist die grofse
ahnlichkeit mit dem kurz vorhergehndeo dialoge xxx : auch dort
gesprach Ulrichs mit einer dame; er beginnt, wird von Strophe
zu Strophe kecker und erlebt zum schluss eine — dort offenbar
ernsthaftere — kokette abweisuug, die ebenfalls ganz kurz (dort
zwei, hier drei verse) in die letzte, eigentlich ihm gehörende
dialogstrophe als letzte pointe einbricht (ebenso schon im ersten
dialog mit frau Minne, x 136, 51.). dazu kommt, dass die enl-
stehung beidemale die gleiche ist. wie xxx nach des dichters
1 die widerholung in der zwtitfolgenden Strophe (441,21) besagt
vielleicht nicht viel, da reimschlendrian vorliegen kann (lere : ere : here ;
vgl. 437, 9 — 11 im vorhergehnden liede). aber weiterhin sprechen noch
mehrere stellen von der ere der dame, in den nächsten fünf liedern vier :
145, 24 (xxxiv), 449, 9 (xxxvi), 449, 22 : wol mich — des daz si htil tugent
und ere, und besonders 450, 1 1 fT : ich bin vrö des daz ir ere hat behuot
sich als si sol (xxxvii; vgl. 508, 14). vor dem Umschwung nach lied xix
i»t von ere der herrin in allen liedern nur an folgenden stellen die rede :
111, 3 (vi). 131, 25 (ix). 394, 18 (xn). 406, 14 (xvn). 408, 20 (xvm), und
höchstens an der ersten mit einiger betonung. jetzt hat U. diese eigen-
schaft ganz anders einzuschätzen gelernt. — auch von ere der männer wird
jetzt häufiger gesprochen, und es ist vielleicht kein ganz äufserlicher zufall,
dass nicht allzulange danach, bei der Artusfahrt 1240, herr Kadolt Weis
dem Lichtensteiner eine Jungfrau als botin der fruuw Ere entgegenreiten
lässt, um ihn zum turnier einzuladen (477, 5 (T), ein scherz, den Roethe mil
dem jenen rittern im Südosten sicherlich wolbekannten Reinmar von Zweter
zusammenbringt (Die gedichte Reinmars von Zweter s. 168. 217); nach ili#i
stammt auch das adj. eregernde bei Lichtenstein (zb. 423, 1. 424, 1. 45ii, 25)
von demselben Reinmar.
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 2
18 BRECHT
eigener aussage (s. o.), ist auch xxxru als unmittelbare wilrkung
einer minuiglichen Unterredung entstanden. Ulrich versichert es
widerholt vor und nach mitteilung des dialoges:
swaz ich des tages gegen ir sprach,
zehant dö ich da von ir schiel,
ich sanc von ir sd disiu liet (442, 29 IT)
ich redet drinn mit der frowen min (444, 15),
und ich sehe keinen grund, ihm nicht zu glauben.
xxxiv ist eine gesteigerte widerholung von xxxn; das gleiche
gilt von xxxvn. leider ist über die entstehungszeit all dieser
lieder genaueres nicht zu sagen, als dass Ulrich sie (von xxxiu
an) zwischen 1233 und 40 verfasst hat. xxxiv — xxxvn können
in ihrer abfassungszeit nicht allzuweit auseinanderliegen, sonst
würde er sie schwerlich zusammen angekündigt L und ohne jeden
verbindenden text widergegeben haben.
xxxiv ist ein frühlings-, xxxv ein winterlied, doch wol aus
demselben jähre (wie oben iv und v), beider inhalt durchaus der
übliche : das kommen des frühlings wird mit dem der neuen liebe
identificiert, als bestes mittel gegen das leid des winters aber
empfohlen, mit frauen in den warmen Stuben sich zu erfreuen,
auf derselben conlrastieruug von draufsen und drinnen beruht
das nächste winterlied (xxxix, 1240); nur dass hier der grund
seiner bei der harten Jahreszeit verwunderlichen freudenstimmung,
die Schönheit seiner herrin, nicht nur erwähnt, sondern in län-
gerer unanschaulicher Schilderung, bei der leibliche und charakter-
vorzüge durcheinandergehn, vorgeführt wird. Schönheiten der
form erwähnt Ulrich nicht; nur ihre färben, braun, rot (mund),
weifs, sind es, die ihm eindruck gemacht haben.
In dasselbe jähr fällt ein zweites marschlied (üzreise, xxxvm).
es ist auf der Artusfahrt gedichtet worden; Ulrich glaubte wol,
seiner zweiten herrin auch eine üzreise schuldig zu sein, es hat
ihn nun offenbar gereizt, über den gleichen gegenständ ein ganz
gleiches gedieht, das doch keine copie sein sollte, mit gleichsam
benachbarten vvorten zu machen, beide lieder umfassen je sieben
Strophen, von diesen sind nur je die zwei letzten, die sich an
• ' 444, 16 Da nach ze rehler zit ich sanc
vier wise, als mich min wille twanc,
Ab. wol: jedes einzelne bei passender gelegenheit, wie mich mein herz trieb.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 19
die jeweilige dame richten, aus aufseien gründen insofern ver-
schieden, als sie das erste mal die misgunst der berrin beklagen,
das zweite mal den ruf nach Bchild und speer zum rühm der
herrin voll wirksamen Ungestüms erklingen lassen, alle andern
Strophen der ersten Azreise linden in denen der zweiten ihre
entsprechung, nur in verschiedener reilieul'olge l. der einzige
sachliche unterschied ist der, dass im zweiten marsehliede die
ritterliche hetatigung ausdrücklicher auf den lohn xoerder toibe
bezogen wird, wahrend im ersten der schilt auch in sich seihst
schon ehre hat. die widerholung ist entschieden matter.
Wichtiger ist eiue andere specielle gatlung, die tagelieder.
von ihnen hat Ulrich ebenfalls nur zwei gedichtet, das erste zwi-
schen 1233 und 1240 (xxxvi), das zweite im winler 1240/41 (xu;
mau darf ihre entstehungszeil wol nicht allzuweit auseinander-
rücken, sie haben noch einige lieder nach sich gezogen : es sind
die unmittelbar auf das zweite tagelied folgenden : xli, XLii und
xi. in, die in derselben phantasierichtung weitergeh n uud unter sich
und mit xl durch anklänge und auknüpfungen verbunden sind, alle
fünf bilden zusammeu eine gruppe, liebeslieder sinnlicher Färbung.
An vorklängen fehlt es nicht, der reie (xxix, 1232) malt
bereits die Situation der liebenden in ganz ähnlicher weise aus
wie xxxvi, die reiheufolge der liebesbezeugungen ist dieselbe, bis
in den einzelausdruek geht die äiinlichkeit. die erste liebkosung
ist der kuss (433,6 : 448,2), dem, schön beobachtet, das liebevolle
sichanblicken folgt:
1 str. 1 in xvi entspricht str. 1 in xxxvni : frauendienst ehrt ritter.
- 2 - xvi - - 4 - xxxvni :
S wer volget dem schilde, der Swer mit sckilt zieh decken wil
sol ez enblanden vor schänden,
Dem libe — Der sol ez dem libe wol en-
/> landen.
reimwörter ere : lere : sere. reimwörter ere : si'-re.
str. 3 in xvi entspricht str. 2 in xxxvni : diese zählt die tugenden auf, die
jene 404, 17 verlangt,
str. 4 in xvi entspricht str. 5 in xxxvni : mut und feigheit constrastiert.
gleiche reimwörter : wilde : schilde, decken : blecken = schilde
: wilde, blecket : decket.
str. 5 in xvi entspricht str. 3 in xxxvni : Ir siilt gedenken — = Denket — :
trauen sollen an helohnung der männer, männer an frauenlohn
denken. — die n üzreise drückt vieles nur anders herum aus.
2*
20 BRECHT
433, 12 f ob dd iht 448, 6 f dö si in den ougen reht ersähen
ougen liht ir lieplkh minnevarwen schln,
liepltch sehen einander an?1
das weitere wird in beiden liedern mit denselben worten bezeichnet:
minne freudenspil, minnespil, spü (432, 16. 433, 8 : 448, 4. 9. 28);
die arme der frau erhalten das gleiche attribut : von linden armen
blanc (433, 2), mit linden wizen armen (449, 1), uam. nur dass
Ulrich im reien in der ausmalung der Situation noch nicht so
weit geht wie im tageliede, sondern das letzte nur mit schalk-
hafter frage andeutet, im stil des tageliedes, wie er sich seit
Wolfram in Deutschland gebildet hatte, war dergleichen ange-
brachter, ja fast uuerlässüch.
Das zweite tagelied (wiuter 1240/41) steht mit dem ersten
in eigentümlicher beziehung. es stellt eine spätere stufe der
Situation dar : denn es beginnt erst mit dem eintreten der zofe,
während das erste, schon auffallend genug, mit der begrüfsung
des rilters durch die frau anfängt; und der ritter .nimmt nicht
abschied nach der Warnung, sondern wird, weil es zu spät ge-
worden, noch einen tag und eine nacht heimlich dabehalten, die
Verhandlungen hierüber und die erzählung dieses herganges sind
die hauptsache in diesem gedieht, das der aparten neuerung wegen
gemacht ist (vgl. 510, 23 — 511, 6). für das minnespil (513, 14)
bleibt nur eine ganz summarische angäbe (513, 15 — 18) übrig : im
ersten liede war seine ausmalung geradezu thema gewesen, in-
sofern sind Ulrichs zwei tagelieder, die gewöhnlich als einheit
behandelt werden, unter sich durchaus charakteristisch ver-
schieden.
Beiden gemeiusam ist die eiuführung der maget au stelle
des Wächters, über die mehrfach gehandelt worden ist2, im
1 mit rücksicht auf diese stelle stimme ich Beckstein bei, wenn er
s. 155 anm. zu v. 63 ohne begründung gegen Lachmanns interpunetion vor-
schlägt, 433, 30. 31 zu lesen : ob da niht mer geschiht?
2 de Gruyter Das deutsche Tagelied s. 18. 20. 25. 112. 122. Schlaeger
Studien über das Tagelied s. 88. — ich glaube nicht, dass, wie de Gruyter
s. 20 möchte, die von ihm verglichene stelle des Grafen Rudolf (s. 112)
Ulrich beeinflusst hat. Beatris spielt eine ganz andere rolle als Ulrichs
dienerin. die einzige Übereinstimmung ist, dass der graf den nächsten tag
noch da bleibt, und dieses motiv ligt bei der gefährlichkeit der Situation
(vgl. Alwin Schultz Höfisches leben i1 1472 ff) nicht so fern, dass Ulrich
nicht allein darauf gekommen sein könnte, weitere ähnlichkeiten vermag
ULMCH VON LICHTENSTEIN 21
augenblicklichen zusammenhange interessiert uns Dicht <lie —
zweifelhafte — geschichte des molivs, Bondera nur das moliv
selbst in seiner persönlich charakterisierenden bedeulung. dass
der Lichlensteioer Beine epigonenhaft-rationalistische neueruog
zu gunsten eines der archaischen stilstrenge (U^ alten lageliedes
gar oicht anstehndea realismus selbständig und ohne Bich eines
eioflusses bewusl zu sein, unternahm, geht aus seiner tiftelndeo
irgumentatioa 509,9 — 511,0 klar hervor, aullallend ist nur, dass
er sie erst vor dein zweiten lageliede bringt, da er doch schon
vor eioiger zeit im ersten die magd eiogeführt hat. dass das
zweite Med vor dem ersten gedichtet wäre, wird, abgesehen von
der bisher immer stimmenden Chronologie der anordnung, da-
durch ausgeschlossen, dass es mit dem secundären einlall, den
rilter den tag auch noch dableiben zu lassen , klar die an der
ursprünglichen gestall der lageweise (wie sie das ersle lied dar-
stellt) weilerdichtende phantasie verrät, man kann nur annehmen:
er hat das erste lied mit einl'ührung der magd naiv gedichtet,
einem einfall folgend, über dessen herkunft und berechligung
er sich keine sorgen machte, später ist, wie es bei Sanguinikern
mit pedantischer ader zu gehn pflegt, die reflexion hinlerher-
gekommen, die ihn veranlasste sich nachträglich gründe klar zu
machen, hiermit würde sich auch erklären, dass er gerade im
zweiten lageliede, wider erwarten, den ignorierten Wächter wider
erwähnt, mit seinem verschwinden von der ziooe das auftreten
der zofe geschickt motiviert : nachdem sich die reflexion ein-
gestellt bat, ist mau eben gewissenhafter.
Oder aber es ist ihm erst später bei der redaction des FD,
als er bereits bis zum zweiten tageliede dictiert hatte, klar geworden,
ich nicht zu entdecken, ist es übrigens irgendwie wahrscheinlich, dass
Ulrich den schwerlich sehr verbreiteten Grafen Rudolf gekannt hat? — —
Schlaeger (aao.) meint, Ulrich hätte sich unwissentlich 'mit der einführung
der zofe der ursprünglichen form [des Tageliedes] wider genähert'; er geht
dabei von seiner von s. 83 an entwickelten ansieht aus, dass pseudo-
ovidische stellen, an deren einer (!) die amme der herrin auftritt, den aus-
gangspunet für das Tagelied gebildet hätten, ja unmittelbar die eben hervor-
gehobene, die liier zugrunde liegende anschauung über das entstehen von
dichtungsgattungen kann ich mir nicht zu eigen machen. — die gründe,
die Schlaeger s. 6011' gegen Roethes erklärung von der entstehung des Tage-
liedes aus dem 'geistlichen wächterliede' (Anz. xvi) anführt, scheinen freilich
beweisend.
22 BRECHT
dass seine neuerung erklärungsbedürftig sei, und er holt nuu die
erklärung an dieser sehr geeigneten stelle nach, wo er so wie
so etwas an einem tageliede zu erklären hatte, hierher ge-
hören nämlich von rechtswegen nur die heiden letzten
Strophen der auseinandersetzuug, 510,23 — 511,6, in denen er
die zweite neuerung : der ritter bleibt den tag über bei der frau,
in ganz derselben tendenz zum realismus begründet wie die
erste. —
Die anregung, die sich Ulrich selbst mit diesen liedern gibt,
würkt in verschiedener arl weiter, den sinnlichen kern der
tageliedsituation nimmt das unerfreuliche lied xli (sommer
1241 0 1245) heraus, es ist aber nicht er selbst, der seine
vrowe Hriutet1, sondern — sein höher muot; und wo? in seinem
herzen, der situationsbeschreibung dienen allein vier Strophen
(4 — 7), die sich in allen bezeichnenden ausdrücken an das vor-
hergehnde zweite tagelied anschliefsen (516,9. 11. 13. 14. 21-23).
da die tageliedsituation leider in würklichkeit Illusion bleibt, muss
er sie sich in der phantasie ausmalen l. es ist dieselbe uner-
quickliche erscheinung wie bei der dritten wdnwise (xxix, reie),
nur dass er jetzt auf eine absurde, unanschauliche allegorische
einkleidung verfallen ist, deren Vorstellung schon widerwärtig
berührt.
Ihre genesis können wir genau feststellen, von jeher war
es seine lieblingsvorstellung, die herrin in sein herz gelegt zu
denken, gelegentlich auch sich in das ihre (vm, s. o., der körper-
lichste ausdruck dafür in dem später geschriebenen märe, 511, 20:
und sich ietweders herze hept , ze springen in des andern lip).
schon das vm lied hatte der ersten dieser Vorstellungen gegolten,
im xxxu hatte er sie wider aufgenommen {in minem herzen
441,27), am Schlüsse auch schon das toben der liebe in seinem
herzen mehr drastisch als geschmackvoll beschrieben (442,5). beide
Vorstellungen fasst er zusammen im ersten tageliede (449,7):
du bist vogt in dem herzen min:
sam bin ich in dem herzen din,
beide Vorstellungen hintereinander verwertet er im xli liede;
str. 1 — 3:
1 er spricht das noch spät im märe ganz offen aus (515, 2):
ich hän mit ir da freuden spil
mit gedanken sivie ich wil.
UL1ÜCI1 VON LICHTENSTEIN 23
— mich jdmert sc're
in daz reine herze diu ;
dii solt du mich hüsen in.
der inhalt von str. 1 — 7, sie in seinen) herzen, wird dadurch
modificiert, dass er an seine eigene stelle seinen genossen, den
höhen muot ' setzt, seinen allen, seit xxxu nicht mehr ans dem
äuge gelasseneu liebling. dazu die gerade jetzt in ihm lebendige
tageliedsituation : und alle demente des allegorisch kalten und doch
sinnlich schwülen gedichles sind beisammen.
Im nächsten liede (xlii, aus derselben zeit) folgt der bild-
lichen ausfuhrung i\er allegoric die dialektische, ihr leih ist in
seinem herzen, ihr herz dahei in ihrem leihe; gleichzeitig trägt
sein leih ihr herz iu sich; sein leih will aher — und darin
gipfelt diesmal das gedieht — in ihr herz : das sind die spilz-
findigen einfalle, mit denen jongliert wird, unter gleichzeitigem
fortwährenden Wortspiel mit lip, liep, liebe.
Lied xliii endlich zeigt die nachwürkung der tageliedsituation,
insofern es in eine körperschilderung ausläuft, die den wünsch
heimlichen küssens erweckt und mit der hindeutung auf das
minnespil (522, 4, letztes wort) pointiert schließt, die Schilderung
widerbolt zt. die des ersten tageliedes, zh. brüstel, kinne,
udngel, munt (521,32) : ir ourjen, kinne, wengel, munt (448,24).
der gröfsere teil des gedichtes verherrlicht seiner vrowe ver-
schiedenartiges lachen ; auch dies kein ganz neues moliv : schon
die zweite üzreise (xxxvihj hatte mit dem preise ihres lachens
wirkungsvoll geschlossen: — daz kan si süeze machen (458, 7).
Was dieser ganzen gruppe von liedern zu gründe ligt, verrät
Ulrich an der zum letzten liede gehörigen stelle des märes (522, 14):
daz wolde got, nnd keemez so daz ich ir gelcege bi\ schon hieraus
konnte man ersehen, dass das zweite Verhältnis nicht glücklicher
war als das erste; er wagte nur nicht mehr so viel zu verlangen.
Erfreulicher, wenn auch poetisch vielleicht niedriger stehend,
sind die drei folgenden lieder, die sich ebenfalls als eine —
unheahsichtigte — gruppe dadurch erweisen, doss sie dasselbe
grundthema in der gleichen lendenz und mit vielfacher Ähnlich-
keit im einzelnen behandeln. Ulrich muss damals (c. 1245 — 47)
eine gute zeit gehabt haben, trotz des Unglücks, das die Steier-
1 er klopft mit Ulrich an die herzenslür 515, 27.
24 BRECHT
mark in jenen jähren betraf (1246 schlachl an der Leitha, tod herzog
Friedrichs, geschildert FD 525 — 530), denn alle drei lieder prei-
sen den höhen muot (524,14. 534,9. 536,17).
Das erste (xliv) beginnt damit programmatisch, wie früher
xxxii : Ich bin hohes muotes — durch ein wort, das die herrin
gelegentlich zu ihm gesprochen hat; ihm gilt das ganze lied. im dazu-
gehörigen stück des mä'res spricht er ebenfalls ausführlich von der
Seligkeit die es ihm gegeben (522, 29 ff), ohne dass wir jedoch von
der veranlassung oder von dem Wortlaute etwas erführen, dies
minneverhältnis bestand ja zur zeit der redaction des FD noch fort.
Das zweite lied (xlv) ist ganz von xliv abhängig, in der
tendeuz erscheint es noch gesteigert : er polemisiert jetzt gerade-
zu, gleich zu anfang, gegen die unfrohen, dh. nach seiner an-
sieht schlechten — im märe bezieht er das, wol sehr nachträg-
lich, auf die damals auch in Steiermark aufkommenden raubritter
(532, 5 ff); im Hede findet sich davon keine spur, ihr worl be-
zaubert ihn immer noch (533, 26 diu kan sprechen süeziu wort,
vgl. 525, 7 dö si sprach daz sileze wort, 9 mit ir Worten süezen),
desgleichen ir urloup und ouch ir grüezen (534, 7, vgl. ir urloup,
ir grüezen 525, 11, in demselben reim : süezen) und ir güete (534, 10,
vgl. ir güete 525, 3). sie kroenet ihn (534, 13), wie er sie denn eben
erst in xliv als gewaltic küneginne (525, 26) über sich erkannt
hatte, auch ihr lachen 533,21 macht ihm noch denselben ein-
druck wie zur zeit des xliii liedes (s. o.).
Das dritte lied (xlvi), von ihm 'Frauentanz' genannt (536, 9),
fasst die bisherigen tendenzen des höhen muotes summarisch zu-
sammen {Truren ist ze wäre niemen guot, wan dem einen der
sin sünde klaget 536, 15), vergisst nicht, den wol redenden munt
wider als freudenquelle zu loben (536, 21, vgl. xlv u. xliv) und
verbindet mit alldem eine Variation seines alten preises, den er
den färben seiner dame, braun, rot und weifs im xxxix liede ge-
sungen hatte; ja, fast möchte man glauben, er habe sich bewust
copiert : denn schon dort (508, 26) hatte er an die farbenschilde-
rung den — damals noch nicht so trivialen — vergleich seiner
dame mit einen engel angeschlossen, gerade wie hier (537,8).
Es wird aufgefallen sein, dass von den liedern des zweiten
Verhältnisses sich so wenige an Ulrichs würkliches leben an-
knüpfen liefsen, im gegensatz zum ersten, seine dichtung wird
ULRICH VON L1CI1TENSTE1N 25
mit zunehmenden jähren immer abstracter. seit 1240 schon
haben die frühlings- und winterlieder aufgehört, das wxix lied,
gleich nach der Arlusfahrt, ist das letzte winterlied; von da an
wird der Wechsel der Jahreszeiten, der bisher ein festes gerippe
für die crzählung abgab, immer seltner und schliefslich gar nicht
mehr erwähnt, ja gerade auch mit dem zum xxxix liede gehörigen
stück des märes beginnt Ulrich dessen text nur noch aus den
paraphrasen der längst vorliegenden lieder zusammenzustöppeln,
die eigentliche erzählung des FD hört auf.
Nur episodisch kommt noch zweimal handelndes leben in
das werk, in den berichten von der schlacht an der Leilha 1246
(525, 27-530, 12) J und von Ulrichs gefangenschaft in seiner eignen
Frauenburg 1248/49 (537,10—547,32). dieses Unglück ist, soweit
die Überlieferung erkennen lässt, das einzige lebensereignis, das
seine dichtung noch unmittelbar angeregt hat; ein so kleines
Vorkommnis wie jene bejubelte äufseruug der dame zu ihm
(xliv) wird man nicht mitrechnen wollen.
Im kerker angeschmiedet dichtet Ulrich ein lied (xlmi;
ende sommer 1248). findet ein mann in solcher hedränguis
poetische Stimmung, so dürfen wir gewis auf Wahrheit des ge-
füblsausdrucks rechnen, und an wen wendet er sich? an alle
frauen (Nu hilf, wibes güele 545,3; 7. 12. 18); dann erst gedenkt
er, allerdings ausführlich, der seinen (545, 24 ff) : durch si ere ich
elliu wip. er fühlt sich als den berühmten frauendiener (545, 10),
dessen Verehrung dem ganzen geschlechte gilt (545, 18); seine
vrowe hat nur als specialfall wert — damit ist eins seiner ältesten
und wahrsten motive wider an der Oberfläche seines Schaffens
(vgl. bes. xi, xiu, xiv , xv, xx, xxn, xxiv, xxv, xxvi, xxvu). —
den verlassen vor sich hinbrütenden tröstet das bild der geliebten
(546, 3f) : hier nun stellen sich mit den reminiscenzen die motive
der letzten lieder ein : ihre färben rot, weifs, braun (xlvi,
xxxix); von gepurt ein vrouwe . . . von lugenden wip 546, 15 (vgl.
508,28, 537,3); ihr lachen (xliii), ihr mund und ihre äugen
(xliii; 536, 27 in xlvi).
1 527, 3 ist Lachmanns lesart vor (L) gegen Wackernagels conjeetur
von (Gesch. d. deutsch, litt, i2 285 anm. 2) zu halten, wäre das lied von
der Leilhaschlacht 'von' Ulrich e getihtet, so läge so wenig wie bei all
seinen andern liedern ein grund vor, es jetzt mangelnder niuwe wegen
dem leser vorzuenthalten, die Leithaschlacht hat ihn nicht lyrisch angeregt.
26 BRECHT
Dieselben elemenle bilden das nächstfolgende lied (xlvin),
das noch unter dem eindruck der einjährigen gefangenschafl und
der erlittenen ]besitzvcrluste (549, 25) entstanden ist (nach dem
September 1249). sein anfang knüpft unmittelbar an den schluss
des vorhergehnden an]:
ir muni unde ir ougen lieht,
so mich diu anlachent — (546, 21 ff):
lind mich iwer ougen lachent an (549,20),
dasselbe ferner 549,27. 550,1.2.4; so mich munt und ougen lachent
an 550,6. ältere motive treten hinzu : die geliebte gefangeniu
seinem herzen 550, 7 (xli, xxxn, viii), mit der stcele also verrigelet
550,9 vgl. 448, 16 im ersten tageliede xxxvi denselben ausdruck;
ihre süeziu wort 550, 17, vgl. xliv, xlv (beide male : hort)und xlvi.
Die lieder xlix — lviii (1249 <C > 1255) zeigen keinerlei
erkennbare heziehung mehr zu Ulrichs leben, sie enthalten
durchweg reflexionen ilher die minne, meist didaktisch als minne-
lehre eingekleidet, und bezeichnen so als gesamlheit wie in vielen
einzelheiten den inneren Übergang zum 'Frauenhuch' (1257), mit
dem die entwicklung des jungen liebeslyrikers zum alten minne-
didaktiker abgeschlossen ist.
Diese zehn letzten lieder zeigen mannigfache zusammenhänge
unter sich und mit früheren liedern. neue motive treten kaum
mehr auf.
'Nur der höfisch gebildete mann hat aussieht auf erfolg hei
einer wahren dame; möchte also meine hoffnung sich erfüllen!'
ist der grundgedanke des xlix liedes. die hehandlungsmotive
entstammen kurz vorhergehnden liedern. so ist die spielende an-
wendung der worte liehen — lip — liep — übe (554,7. 8. 10. 11)
eine reminiscenz aus lied xlii; ir gebeerde und ir güete (554,17)
hatte er schon im xlvii liede (546,20. 545,24), ihr lachen zuletzt
im vorhergehnden xlviii gerühmt, das wünschen in der schluss-
strophe (554, 20) erschien ihm seit dem xiv liede (1228) poelisch
(s. o.). er könne sich, wenn er gefragt würde, kein besseres
weih vorstellen als seine herrin: mit einem ähnlichen gedanken
schloss schon xxxiv, wo behauptet wurde, auch das urteil eines
dritten, wenn er, gleich ihm, ein guter frauenkenner sei, würde
seine dame allen andern voranstellen, und xxxvn (450, 3) : Wol
wol wol mich, daz die wisen müezen si von rehte prisen. —
ULIUC1I VON LICHTENSTEIN 2
1 1
Den ersten teil (slr. 1—3) des l liedes kOnole man Ulrichs
elegie nennen : es ist die bei so vielen minnesingern übliche
zeitklage, deren unerreichten prolotypns Wallhers elegie darstellt.
Ulrich ist freilich mehr nur verwundert, dass die jungen leute
und die besitzenden nicht mehr fröhlich sind, und auch den
frauendienst, das beste mittel dazu, verschmähen, dies mag sich
wilrklich (anders als lied xi.v, s. o.), schon als es gedichtet wurde,
auf das aufkommende raubrittertum bezogen haben (vgl. das
inilre dazu 554, 27 II). ihm aber — sein ältester gedauke — atät
durch ein guot icip sin muot hö.
Dass das lied im herbst entstanden ist, wird in der ersien
zeile nur noch ganz obenhin angedeutet.
Die nächsten fünf lieder (li — lv) hängen insofern unter-
einander zusammen,, als in ihnen allen ein moliv eine wesent-
liche rolle spielt, der nicht neue1 gedanke nämlich, dass die
scheene nur wenn sie mit der güete vereinigt ist, eine frau
liebenswert machen könne, isoliert kam er schon früh, im vi
liede, vor (110, 17 : schwne bi der güete sldl vil wol den wiben).
er bildet nun durchaus nicht das thema der fünf lieder, sodass
man etwa an absichtliche Zusammenstellung daraufhin denken
konnte, durchdringt sie vielmehr nur in abnehmender geltung,
die sein auftauchen und allmähliches abklingen in der seele des
dichters verfolgen lassen.
Im u liede entwirft Ulrich in form eines ratschlages sein weib-
liches und männliches ideal, jenes besteht in der Vereinigung von
Schönheit und gute, dieses in der makellosen ehrenhafligkeit. beide
sind für einander bestimmt; darauf beruhtauch Ulrichs hoffnung.
Im lii liede stellt Ulrich fest, dass seine herrin diese theore-
tischen anforderungen an das ideal erfüllt (ist envollen schwne
und dar zuo guot 563,16). die ausführungsmotive in beiden, so
eng zusammengehörigen gedichtet! sind älteren dalums, der preis
ihres lachens und ihres mundes 560, 19. 20 (vgl. zb. xlix, xlmii,
xliii), die huote, im Lichtensleinschen specialsinne, 563, 17 (vgl.
xvin, 408, 20 ff, vom jähre 1230), ein ausdruck wie küssen hundert-
tüsent tnsent slunt 563,22 (derselbe 522, 1. 2, in xliii. entstanden
1241 <>45).
1 ähnlich bei Wallher 83, 6 ff. 86, 11 ff. die gleichen anschauungen
über tugend und Schönheit 92, 21 ff. vgl. Wilmanns Leben Walthers s. 185.
28 BRECHT
Der gedanke, Schönheit und gute gehören gleichermafsen zur
frau, ziemlich äufserlich comhiniert mit dem ehenfalls im minne-
sange nicht seltenen : eine vrowe muss wiplich sein, ergibt das
doppelthema des liii liedes (slr. 3, str. 4). — das zweite dieser
motive hat sich aus früheren ausätzen entwickelt:
445, 20 ff (xxxiv):
sist ein frowe von gehurt; so ist ir süezer Itp
von ir lugenden ein vil wiplich wip.
508, 14 ff (xxxix):
Si hat ir wipheit vil wol behüetet
vor unvr owenlicher tat —
Vgl. ferner in demselben liede 508, 28 und 509, 1 (sie ist
vrowe; sie ist wip)
546, 15 ff (xlvii), vgl. 445, 20 ff:
von gepnrt ein vrouwe
ist si, und von fugenden wip — .
dies, früher nur seiner herrin gellend, wird jetzt verallgemeinert:
hier 566, 17 ff (liii);
Wip und fr owen in einer wcele
sol man gerne schouwen.
swd ein vrowe unwiplich tccte,
wer mbht der getrouweti ? usw.
Von all den andern dagewesenen motiven des centonenhaften
gedichtes sei nur das eren Mieten 566, 23, das erst im vorher-
gehnden liede vorkam (s. d.), erwähnt.
Auf der güete neben der schodne ligt der hauptton im fol-
genden liede (liv, 1252). den meisten räum im gedieht aber
beansprucht die einkleidung : Wizzel alle daz ich kan guoten
wiben in diu herzen sehen — die consequente weiterführung von
Ulrichs alten lieblingsvorstellungen , die ihn sehen liefsen, was
in seinem, was in seiner frauen herzen beschlossen lag oder
vorgieng : lied vm, xxxn, xli, xlii, xliii (s. o.; tugenden in ihrem
herzen schon 519, 3). was er dort findet, sind eben güete und
tugent (571, 21. 22); darum wird er nicht müde sie mit seinem
augenblicklichen lieblingsprädicat immer wider als ein wiplich
wip zu preisen (572, 12. 15, vgl. 561,20 in Li, 549,23 in xlviii;
wiplich 572, 22. 26. 554, 18. 545, 14. 525, 3; wipheit 534, 14.
515, 19. 508, 14; unwiplich 566, 19; umeipheü 546,6).
Dieses eine gedieht genügte Ulrich noch nicht, um die vor-
ULRICH VON LICHTENSTEIN 29
Stellung der tilgenden, die er im herzen seiner lierrin erblickte,
genügend auszumalen; daher schliefst das lv lied in seiner zwei-
ten slrophe (richtiger ersten, vorher nur einleitung) unmittelbar
an den gedanken von liv, im anfang seiner dritten sogar im
ausdruck an die letzte Strophe von liv an (zuht 572, 22 : 576, 17).
die aufzählung ihrer lugenden geht von der letzten Strophe von
liv ohne weiteres in die dritte und vierte von i.v Ober, der aus-
druck seiner Sehnsucht in ihr herz zu kommen 576, 23 stammt aus
dem xli liede (s. d.). uiplich 576, 17 zweimal, wipliclt wtp 576,22.
Schoene und güete , die im vorhergehnden liede noch be-
deutsam zusammen genannt wurden, sind hier nur noch als
nehenmotive, und gleichsam latent, vorhanden (schoene, guot 577,2,
schoene 577, 3, giiete 577, 20).
Der Zusammenhang der letzten lieder reifst auch weiterhin
nicht ah. das lvi lied ist ganz aus alten moliven zusammengesetzt.
Der anfang führt einen gedauken des lv liedes weiter:
lv, 576, 213: lm, 580, 17:
— ein lip so minneclich der vil reinielich gemuoten
der n fe wandelmeil gexcan — lip begie nie missetdt.
sist ein ivip gar wandelsvri —
Gleich darauf erweist sich ein altes motiv, das im letzten
liede wieder leise angeklungen war, auch hier brauchhar : sein
herz will aus seinem leibe zu ihr 580, 21 f, vgl. 576, 23 f. der ge-
danke, in dieser form aus dem xli liede (s. o.) stammend, bat
sich nach einer vom vm liede ausgehnden Vorgeschichte bis
hierher entwickelt, wo er seine stärkste und endgiltige ausprägun^
erfährt : das herz will aus der brüst zu ihr springen, ihr
lachen spielt dabei die alte rolle (zuletzt lvi 560, 19). drei Strophen
sind hiermit bestritten; was folgt ist spielende Verherrlichung
des kusses, die in discrete andeutung noch höherer wonne aus-
läuft (5S0, 22 ff), hiermit sind wir wider in der atmosphäre (\c>
tageliedes angelangt.
Die hier nur schüchtern bezeichnete Situation wird im
nächsten liede (lvii) ausgeführt, in demselben Stile, den das tage-
lied dafür ausgebildet hat (str. 4 u. 582, 17-23 : das in die äugen
sehen, vgl. im ersten tageliede 448,6, s. o.); dass der Zusammen-
hang mit lvi bewusst war, zeigt der gleicherweise verhüllende
schluss (583,26, vgl. 581,22), der nach diesem liede würklich nicht
30 BRECHT
mehr nölig war. von lvi zu lvii ligt mithin eine deutliche Stei-
gerung des gedankens zu grösserer kühnheit vor, ähnlich wie
von xxvm zu xxix, in den wdnwisen. und wänwisen, in denen
sich die unbefriedigte phantasie ergehn muss, sind dies auch,
das beweist zum überfluss die einkleidung des liedes lvii : sein
wünsch (vgl. wdn) bewürkt das 'wunder', dass er seine dame
plötzlich wie mit leiblichen äugen vor sich sieht (582, 15 ff)1.
wünsch und wünschen füllen die zwei einleitungsslropheu. also
auch dieses motiv aus der frühzeit seiner lyrik (schon 18, 14. 16
in i, 1222—23; 50, 5. 12 im i büchlein, 1223; 385, 17 ff im in,
1227; xiv, 1228; s. o.) findet jetzt — zwischen 1252 und 1255
— seinen höchsten und letzten ausdruck.
Der anfang des letzten liedes (lviii) könnte im ersten augen-
blicke den eindruck hervorrufen, als ob es absichtlich für den
abschluss gedichtet sei. aber da die ersten Zeilen nur das haupt-
motiv des liedes einleiten sollen, so kann Ulrich sie so gut wie
alle andern einleitenden verse im gleichmäfsigen verlaufe seiner
zweiten minne gedichtet haben:
Ich bin her bi minen stunden
ofte worden minne wunt —
aber es geht weiter:
dd für hdn ich helfe funden:
des siht man mich wol gesunt.
Im folgenden kommt er würklich noch einmal auf ein wenig-
stens für seine lyrik neues grundmotiv, das er dann aber mit
lauter alten nebenmotiven behandelt : die arzenie2 für seine
minnewunden ist der anblick seiner herrin, ihrer liehten färbe
(584,11, vgl. zuletzt xlvii), das hören manches süfsen Wortes
(584,16, vgl. zuletzt xlviii); da tut sein herz manchen sprung
(584,24, vgl. lvi; auch 584, 26. 27, vgl. mit liv, insbes. mit 572,7
herzen gründe), wenn ihm dann doch die schoene und guote
(584,29, vgl. zuletzt lv) in sein herz sehen könnte (585,1,
vgl. liv, früher xiv und xviii, 408, 29 Ql Gott weifs, ihre ere ist
ihm lieber als die seine (585, 7, vgl. 567, 11. 12; bes. 561, 1.
7. 14), sein leben lang will er ihr dienen. — mit ihrem ältesten
1 eine minnewunder schon 119, 22 (im maere).
2 vgl. ESchmidt Reinmar von Hagenau und Heinrich von Rugge
s# Hl ff. — min arzdt ist min munt Walther von Metze HMS i 307.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 31
uutl grundmotiv (18, 8 io i, s. o.), das vor 3:> jähren Ulrichs
freudebedürftiger seele entsprang, schliffst auch seine lyrik:
sist min tröst für (rüren1 und min freuden (jebe.
Ob dieses letzte lied des Fl) würklich sein letztes lied ge-
blieben ist, ist freilich nicht sicher, er selbst glaubte, als er
sein memoirenwerk beendigte, er würde noch mehr singen, denn
er fordert zugulerlelzt freunde seiner kunst auf, künftige lieder
von ihm am eüde des FD nachzutragen (592,221). erhalten hat
sich aber aus der zeit von 1255 bis zu seinem mutmaßlichen
todesjahre 1275 2 nur das didaktische 'Frauenbuch' von 1257.
Überschauen wir die gesamtheit von Ulrichs liedern, so
sehen wir eine anzahl niotive auftauchen, wenige davon wider
verschwinden, weitaus die meisten nach kleineren oder grösseren
Zwischenräumen in veränderter gestalt wider auftreten und mit
anderen wechselnde Verbindungen eingehen, einige lassen sich
durch die gesamte lyrik hindurch verfolgen, von ihrer einfachsten
erscheinungsform im anfang bis zur endgiltig ausgebildeten am
schluss. es ligt eine deutliche entwicklung von motiven vor.
Mehrfach liefs sich sogar die entwicklung vorzüglich eines
motivs während eines engumgrenzlen Zeitabschnitts beobachten,
solche lieblingsmotive brachten dann natürliche gruppen auf-
einanderfolgender lieder hervor, die wählend einer bestimmten zeit
ein älteres oder neues thema vorderhand oder endgiltig er-
schöpften : lieder an frau Minne (x ; H. büchlein; xij, Scheltlieder
(\x — xxvi), wdmcisen (xxmi — xxxi), liebeslieder sinnlicher färbung,
vom tageliede ausgehend (xxxvi; xl — xlik); lieder auf den höhen
muot (xliv — xlm); kerkerlieder (xlvh, xlmii); lieder auf die
schoene und güete (u — lv); sinnliche lieder (lvi — lvii). ähnliche
grundstimmung zu ein und derselben zeit, die beliebtheit ähnlicher
slichworte, vor allem die häufig festzustellende enlstehung der
lieder aus erzählten Situationen heraus erwiesen den Zusammen-
hang der lieder unter sich und mit dem leben.
Aus alledem geht hervor, dass die lieder in der
historisch richtigen reihenfolge im FD stelin*, natilr-
1 derselbe ausdruck 401,9 (xiv).
- vgl. vFalke Geschichte des fürstl. hauses Liechtenstein (1868) i 123.
3 der gleichen ansieht sind Scherer (Zs. 17, 575 fT; Gesch. d. deutsch.
litt.3 211) und Schönbach (Biograph, blätter n 35/36). Roethes bedenken
32 BRECHT
lieh im ganzen genommen ; geringfügige Umstellungen mögen,
der besseren wilrkung wegen, hier und da vorgenommen sein ' ;
doch nicht so viele oder so starke, dass sie die folgerichtige
entwicklung irgendwie zu beeinträchtigen vermocht hätten.
Ohne den anschluss an die würkliche entstehungsfolge der
lieder wäre niemals eine fortschreitende Seelenschilderung von
soviel innerer Wahrscheinlichkeit, menschlicher wie poetischer,
zu erreichen gewesen, wie das lyrische gesamtwerk im FD sie
darstellt, und wie ich sie vereinfacht nachzuzeichnen ver-
sucht habe.
Schon das scharfe auseinandertreten der drei grofsen lieder-
gruppen, deren jede ja einem andern seelischen zustande evident
entspricht, wäre sonst undenkbar, am erkennbarsten ist die ein-
heit des inneren und äufseren Zusammenhanges bei den wdn-
wisen, die alle dasselbe grundthema, psychologie des 'frauen-
freien' mannes, behandeln und alle in dasselbe jähr fallen, aber
auch die lieder der ersten und der zweiten minne bilden einheilen
für sich, die sich deutlich voneinander abheben, in deren jeder
zusammenhänge und gleichartigkeiten zu constatieren sind 2.
Die sechsundzwanzig lieder der ersten minne fallen vom
23 (oder 25) lebensjahre des dichters bis ins 32 (oder 34) 3, und
repräsentieren würklich eine ausgesprochene jugendlyrik. schon
ihre gegenstände zeigen das. hier findet sich die hauptmasse der
frühlings- und winterlieder, die noch variationsfähigen treue-
gelöbnisse, die temperamentvollen scheltlieder. die lieder gehn
wesentlich auf persönliches, nicht auf allgemeines, der ton der
behandlung wechselt mit der Stimmung des dichters, beide mit
der Situation, in der sich der bewegliche gerade befindet.
Auch den wdnwisen steht lebhaftigkeit, feuer, wechselnder
ausdruck für die Stimmung noch ungeschwächt zu gebole. jedoch
der trocknere ton minnetheoretischer didaktik kündigt sich schon
daneben an; in den siebenundzwanzig liedern der zweiten minne
gegen die chronologisch richtige folge der lieder (Die gedichte Reinmars
von Zweter s. 112) vermögen mich nicht zu überzeugen.
1 tatsächlich seh ich keinen grund zu dieser annähme.
8 auch Schönbach betont den unterschied der lieder der ersten und
der zweiten minne, Zs. 26, 318.
3 vgl. vFalke aao. s. 59; Knorr s. 9; Schönbach aao. s. 17; Bechstein
s. xxiv dagegen setzt Ulrichs geburt schon 1198 an.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 33
(vom 34 bis zum 56 lebensjahre) verdrängt er mit Beinen spitz-
liudigkeiteu allmählich den alten ton der lebensfrische, die pro-
dnetion lässt nach, die lieder werden durchschnittlich länger,
dabei leerer, der ton gesuchter, die bis zum Bberdruss betonte
fröblichkeit immer gemachter, man glaubt ihm seine lyrlk nicht
mehr recht, das erste Verhältnis hatte doch leben, wenn auch
ungesundes; das zweite ist nur der dichtung wegen da. gesuchte
metapbern, oft ohne bildkraft, treten an die stelle der einfach-
anmutigen« wenn auch traditionellen vergleiche der ersten periode.
von der virtuos stilisierten empfind ung bleibt schließlich nur noch
der stil übrig, er allerdings in unverminderter kraft, die Sicher-
heit der band bleibt die alte, ja sie nimmt noch zu, bis zum ende.
Dagegen schwindet immer mehr die kraft der erfindung, und
dies ist das bezeichnendste für die zweite periode. Ulrichs lyrik
lebt schliefslich ganz von alten moliven.
Sehr viele waren es von vornherein nicht gewesen, dafür
entschädigte manchmal Originalität, aber auch sie wird seltener,
immer be wuster, gegen ende gar fühlbar angestrengt, was sind
zb. alle formen, in denen Ulrich sein hausen im herzen der
herrin, das ihre in dem seinen, ausdrücken will, anderes als
überdeutlich-geschmacklose Übertreibungen des alten einfachen :
du bist beslozzen in minem herzen — ?
In der erfindung neuer motive, überhaupt im stofflichen kann
milbin Ulrichs bedeutung nicht liegen, eine andere frage ist es
mit der behandlung des gewonnenen rohstoffes, mit seiner Zu-
sammenfassung und Verteilung im einzeluen gedieht — hier be-
ginnt eigentlich erst der künstler — : mit der composition.
ZWEITES CAPITEL.
COMPOSITION.
Der erste schritt der form zur bewältigung des rohen Stoffes
ist die composition, die bewuste oder unbewuste anordnung der
gedanken und empfindungen nach bestimmten gesetzen.
Darauf hin angesehen lassen sich Ulrichs üeder in fünf
gruppen teilen, vier davon sind rein lyrisch, ihre Untersuchung
im folgenden steigt von der gruppe der lieder mit eiofachstem
bis zu denen mit complicierteslem aufbau empor : eine reihen-
folge, die mit der anordnung der gruppen nach wachsender an-
zabl der zugehörigen lieder bezeichnenderweise zusammenfallt.
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. 3
34 BRECHT
die fünfte gruppe, episch-lyrische gedichte, ist isoliert und um-
fasst nur zwei lieder.
A. Lieder mit gleichmäfsiger structur.
Die einfachste art des liedes ist die, in der ein einziges motiv
ausgeführt wird, ohne differenzierung in sich, ohne comhination
mit associierten motiven, sodass das gedieht ein gleichmäßiges,
ununterbrochenes, relativ unbewegtes ganzes darstellt.
Gleich das n lied drückt in allen Strophen nur den einen
gedanken aus : die nacht ist Ulrich lieber als der tag. nur die
erste und die letzte Strophe sind ein wenig herausgehoben, in-
sofern die erste natürlich den gedanken mit lebhafterem einsatze
ankündigt, die letzte in ihrem beginne sich auf den anfang der
ersten zurückbezieht, und den schluss des ganzen durch sehnsüch-
tigen ausruf markiert; die drei Strophen dazwischen haben nur
die aufgäbe, den in der ersten gegebenen, in der letzten aus-
klagenden gedanken dreimal kunstvoll zu variieren.
In gleicher weise führt das vi lied den einen gedanken, der
dichter ist durch seine dame unglücklich, aus. nur noch ein-
facher : anfangs- und schlussslrophe fallen als solche fort, nur
die beiden ersten und die letzte Zeile des ganzen machen durch
ausruf und aufforderung eiuigermafsen beginn und ende kennt-
lich, in jeder der drei Strophen erscheint der grundgedanke in
neuer form (110,7. 8; 26. 27. 111, 10. 11). eiu zu beginn jeder
struphe widerkehrendes Stichwort (yüete) hält aufserdem die Strophen
zusammen.
Das genaue gegenstück hierzu bildet das xxxvn lied, in dem
der entgegengesetzte gedanke, er ist froh durch seine dame, eben-
falls in deu langen Strophen dreimal wechselnd ausgedrückt wird,
die Strophen sind durch anaphorischen beginn (klimax : i tcol
mich, ii wol mich wol mich, in tcol wol wol mich) und durch
widerkehrende stichworte (freude, truren) verbunden.
In allen fünf Strophen variiert das zweite scheltlied xxi nur
den traurigen gegensatz : einst-jelzl .. jedoch zeigt sich eine leise
modificierung darin, dass je ein stiophenpaar den Vorfall mehr
vom jetzt, ein anderes mehr vom einst aus ansieht; beide paare
siud ineinander verschränkt (str. ii iv, str. m v; n ist 414, 16
iv müet 415, 5 : in begie 414, 23 v was 415, 15). die erste Strophe
ist im ausdruck allgemeiner, was nicht wunder nehmen kann,
der schluss ist nur äufserlich durch ein ganz kurzes envoi
ULRICH VON LICHTENSTEIN 35
(415,25. 26) markiert, gegen die gleichartigkeit des ganzen
kommen diese leichten ilnfseren Veränderungen nicht auf.
Das xlviii lied endlich verherrlicht das aussehen und die
ballung der geliebten, insbesondere ihr lachen, in fünf Btrophen,
denen keinerlei gedankenanordnung zugrunde ligt, aufser dass
das lachen ausdrücklich nur in den drei ersten erwähnt wird,
das eigentümlich wirre durcheinandergehn der motive ist vielleicht
aus seiner eutslehung zu ei klären : es ist das erste lied das
Ulrich seiner herrin auf das widersehen nach der mehr als ein-
jährigen kerkerhaft gemacht hat; in der freudigen erregung mag
er seine offenbar sehr lebhaften eindrücke, die interessanterweise
sämtlich reminiscenzen früherer eindrücke darstellen (s. o. s. 27
0. vgl. FD 548, 1 — 5), so ungeordnet ausgesprochen haben.
Diese fünf lieder fallen in die jähre 1223, 1228, 1231,
1233 ff, 1249. schon früh also, und noch spät, zeigt sich die
freude des virtuosen am kuustmäfsigen variieren eines themas. am
anl'ang der mhd. lyrischen kunstsprache wären sie nicht zu denken.
B. Sich steigernde oder zuspitzende lieder.
Element der gliederuug eines gedichtes ist die gedanken-
(oder gefühls-)entwicklung. die einfachste form, in der sich ein
gedieht von gleichnuifsiger struetur dem gegliederten aulbau an-
nähern kann, ligt also vor, wenn das grundmoliv vom anfang bis
zum schluss sich gleichmäfsig entwickelt, um auf der hübe ab-
zubrechen, dazu kann drängendes gefühl treiben, dann hat man
es mit einer Steigerung; oder dialektischer verstand, so hat man
es mit einer Zuspitzung des gedaukens zu tun; beides kann auch
zusammentreffen.
Lieder dieser art hat Ulrich zu allen Zeiten seiner lyrischen
produetion gedichtet (sechs: 1222/23, 1226, 1232/33, 1233 ff,
1241 << > 45, 1252 <C > 55), ein beweis, dass diese form
einer grundrichtung seines talentes entsprach, gleich sein erstes,
jugendlich reizvolles lied beginnt mit dem lobe der trauen in
schüchterner allgemeinheit und steigert sich mit guter würkung
in vier Strophen, deren dritte unerwartet mit directer anrede
einsetzt, zu liebeserklä'rung und dienstgelobnis. iu hastigen kurz-
versen steigert der reie xxix, von der frühlingsschilderung aus-
gehend, die empündung ungestümer lust, von Strophe zu Strophe
deutlicher werdend, über zwei allgemeinere miunestrophen hin-
weg, zur Verherrlichung des kusses (str. 4) und zur umarmung,
3*
36 BHECHT
in der fünften slrophe, die er mit schalkhafter frage und ganz
kurz daraufgesetzter verhüllender antwort schliefst (strophen-
anfangsanapher str. 2 u. 3, responsion des artikellosen Stich-
wortes am anfang str. 4 u. 5). ruhiger als dieses brillante bravour-
stück stellt das minuiglich gespreizte lied lvi genau die gleiche
gefühlsentwicklung dar. heftige Sehnsucht erweckt die Vorstellung
des lachens der geliebten (str. 2 — 3), steigert sich zum wünsche
des küssens (str. 4 — 6) und der diesmal in züchtigem ernst nur
angedeuteten umarmung (str. 7). nicht soweit geht xlii, das
sich über Wortspiele und absurde einfalle hinweg (s. o. s. 24) zu
der pointiert vorgetragenen, durch besonderes envoi noch ver-
stärkten schlüsselte erheht, ihn in ihr herz einzulassen.
Es leuchtet ein, wie vorteilhaft solche art des gedanken-
fortschrittes für ein gespräch sein muss, das darauf ausgeht, einen
einzigen gegenständ durch rede und gegenrede zur höchsten
wüikung zu bringen, würklich sind alle drei dialoge Ulrichs
gleichmäfsig nach dieser weise gebaut, der erste, x, in dem er
sich über die hartherzigkeit seiner herrin bei frau Miune be-
schwert, steigt von der klage zum verlangen nach trost auf, und
gipfelt im lebhaften ausdruck neuer Vorsätze und frischer hoff-
nung. Ulrichs drei Strophen drängen vor, die anlwortstrophen
der frau Minne halten zurück : beide unterredner vereinigen sich
in der siebenten Strophe : eine sehr anmutige form der Steigerung
durch retardationen hindurch bis zur Schlusshöhe, mehrverstandes-
mäfsig zugespitzt ist Ulrichs dialog mit einer dame (xxx), der in
eleganter dialektik der conversation das wesen der minne ausein-
andersetzt, um mit plötzlich hervortretender Werbung und ebenso
plötzlich erfolgendem korbe witzig pointiert zu schliefsen. ein
gleiches ende nehmen die übertriebenen complimente Ulrichs in dem
charakteristisch höfisch-gezierten dritten dialog xxxn. auch hier wie
in x und xxx haben die Strophen der dame retardierende geltung,
auch hier ist die letzte Strophe auf beide gesprächspartner verteilt.
Offenbar hat die kunstvolle Steigerung zu Ulrichs Vorstellung
vom lyrischen dialog gehört, in den anders gearteten dialog-
partien der tagelieder ist er durch tradition gebunden.
C. Lieder die allgemeines und specielles
zusammenstellen.
Die bisherige entwicklung der composition lässt sich weiter
verfolgen, die erste möglichkeit war, den gedanken eines ge-
ULIUC1I VON LIECHTENSTEIN 37
dichtes ungegliedert, höchstens durch variierung nuanciert, hin-
zustellen, die zweite, ihn durch Steigerung oder Zuspitzung am
ende schlagkraftiger zu machen. nun setzt die wirkliche glie-
derung ein; die einfachste, die in zwei teile, da zeigt sich, dass
alle zweigeteilten gedichte L.s nach demselben princip geteilt
sind : ein allgemeiner zustand oder ein allgemein gütiger s;it/.
wird vorangestellt, an ihn als specialfall analog oder antithetisch
des dichters persönlicher zustand angeschlossen; fast immer mit
bewust markiertem ühergang. der Zusammenhang mit den (be-
grifflich) früheren compositionsarten verleugnet sich nicht : noch
immer handelt es sich nur um einen grundgedanken, noch immer
spielt das variieren eine nicht seilen wesentliche rolle für die Pro-
portionen des gedichts.
a. Minnelehre und Ulrichs persönliche minne.
Neigung zur minnedidaktik zeigt sich bei Ulrich schon früh,
gleich das i lied beginnt mit einem allgemeinen minnesalze:
Wibes güete niemen mac
volloben an ein ende gar l.
was hier nur zwei Zeilen füllt, wird später ausgeführt und bildet
einen eignen teil des gedichtes, der mit zunehmendem lebens-
alter und zunehmender neigung zur didaktik so stark an-
schwellen kann, dass er gelegentlich den allergrösten teil des
liedes ausmacht, hinter dem die darstellung des persönlichen ganz
zurücktritt.
Das wechselnde Verhältnis beider teile bildet die grundlage
einer systematischen betrachtung.
10 liedern, in denen der zweite teilMes gedichtes gröfser ist
als der erste, stehn 7 gegenüber, in denen der erste, didaktische
leilüberwiegt.
Als grundform ergibt sich das Schema:
2 str. -f- 3 str.:
xlv : Ein mann ist verloren, wenn er nicht durch frauen
froh wird (str. 1 u. 2) : Ich bin vrö von einer rösen — (str.
3 — 5, mit preis der rose).
xlvi : Frauen wollen fröhliche männer sehen (str. 1, str. 2
bis zum vorletzten vers) : ich will immer noch mehr froh
1 aufserhalb dieses compositionstypus findet sich der sentenziöse ein-
gang in i. xvi. xxii. li, minnedidaktik in x. x\x. xlii.
38 BRECHT
sein durch die meine (bis zum schluss; der Übergang fällt
hier schon in den schluss der zweiten Strophe).
xlix : Nur der höfische mann hat aussieht auf erfolg bei
frauen (str. 1 u.„2); dessen getröstet sich auch Ulrich bei der
seinen (str. 3 — 5; ich vers 554, 6; kenntliche anknüpfung
mit Und — ).
Lii : Man soll frauenlob singen , denn sie verstehn es,
gut zu lohnen (str. 1 u. 2); so sieht man auch Ulrich voller
freuden, wegen einer frau, deren lob er nun singt (str. 3 — 5). —
deutlicher Übergang 563,13 ( — mich — ).
Beide teile wachsen um je eine Strophe:
3 str. -f- 4 str.:
xxm : Der dichter rät allen männern, sich durch frauen-
liebe höhen muot zu gewinnen (str. 1 — 3) : er selbst (Ich
— 426, 24) will es darin nicht an sich fehlen lassen (str. 4 — 7).
Das xxvi lied ist ein auszug des xxv, des leiches, bei dem
der zweite teil der ausfuhrung desselben grundgedankens
gar doppelt so lang geworden ist als der erste : 14 gesätze
gegen 7 gesätze, die grenze befindet sich bei 424, 7 (Min
muot von wiben höhe stdl); von da an ist alles darstellung
persönlichen glucks und Unglücks, bis dahin alles sachlicher
minnerat (423, 1 f: Ich rät im, ere gerende, man — — Ob
ir weit teerende frext.de hin, so sit den wiben undertdn).
Der erste, sachliche teil überwiegt den zweiten, persönlichen,
geringster umfang des ersten teils:
3 str. -f- 2 str.:
xviii : Die bedeutung von huote und merken im allgemeinen,
Ulrichs vrouwe kann (ihrer) hüeten, aber offenbar kaun oder
will sie (seine liebe) nicht merken, stark betonter Übergang
40S, 20 (Min vrouwe—).
xxm : Minne kann nicht bestehn ohne triwe und steete:
seine dame hat keine triwe an ihm erzeigt, ausdrücklich
nutzanwendender Übergang 419,22 (dd bi kius fcÄ, daz
diu he're — ) l.
1 möglicherweise ist dies lied um zwei Strophen zu vermehren, es
finden sich nämlich, wie schon Lachmann (zu Walther 116, 33) bemerkte,
zwei Strophen seines tones zwischen slr. 4 und str. 5 des folgenden liedes
xxiv ungehörig eingeschoben, aber nur in L. Lachmann folgerte daraus:
'ohne zweifei waren sie auf dem rande nachgetragen, und fehlen daher der
ULKICII VON LICHTENSTEIN 39
Der zweite teil wird um eine Strophe verkleinert:
3 str. + 1 slr. :
vii : Freude soll man durch frauenliebe haben; dem dichter
aber ist we. liier erscheint der zweite teil bereits zur blofsen
schlussslrophe zusammengeschrumpft.
Die andre möglichkeil ist die, den ersten teil zu vergrößern :
4 s t r. + 2 str. :
xxvu : Nur frohgemute mSnner machen eindruck auf
Trauen : darum will auch Ulrich seinen zornmul lassen, be-
tonter Übergang 428, 25 (Ich wil hohes muotes sin —
usw.).
Die anschwellung des ersten teiles ist hier durch gekreuzte
parallelslrophen, also durch Variation des ausdrucke, erreicht:
str. 2 und 4 sagen negativ eingekleidet dasselbe, was str. 1 und
3 affirmativ ausgedrückt hatten.
lis. G gänzlich', es fragt sich nun, ob dieser nachtrag unter U.s autorisation
stattgefunden hat oder nicht; dass die Strophen von ihm stammen, ist nach
Stil und metrum zweifellos, findet man grund genug, das erste anzunehmen
(es könnten auch Strophen sein, die aus einem frühern liederliche unerlaubt
nachgetragen worden Bind, während Ulrich selbst sie bei der von der ab-
fassung des liedes durch 24 jähre gelrennten redaction des FD etwa aus
poetischen gründen unterdrückt halte), so ist man verpflichtet, die Strophen
wider einzustellen. Lachmann wölke sie aao. zwischen str. 3 u. 4 von xxm
einschieben; er hatte sich in seiner ausgäbe begnügt, sie am alten orte ein-
geklammert stehn zu lassen. Beckstein s. 141 anm. hat die Umsetzung
bestritten; und in der tat geht es nicht an, den scharfen Übergang vom
allgemeinen minnesalz des ersten teiles zur persönlichen anwendung des
/weiten 419, 22 {da Li kius ich usw.) durch einschub zu unterbrechen,
dagegen passen die Strophen vorzüglich an den schluss, hinter str. 5; in
der responsion des strophenanfanges, die Ulrich zur kennzeiclmung von
zusammengehörigen gedichtteilen, auch Schlüssen, liebt (s. u. cap. m), wie
auch im gedankengang. wir hätten dann nämlich eines jener gedichte vor
uns, die den compositionstypus C (allgem. -f- spec.) durch hinzufügung eines
dritten, widerum allgemeinen teiles ganz oder nahezu symmetrisch abrunden ;
vgl. unten unter D zb. das xxu lied, das aus 2 allgemeinen -4- 3 speziellen
-f- 2 allgemeinen Strophen besteht, das Schema von xxm wäre dann:
typus D (3 -f- 2 -f- 2). — der einwurf Bechsteins aao. , durch die end-
anfügung würde 'der eindruck der Schlusswendung beeinträchtigt', ist nicht
ausschlaggebend, es wäre ja möglich, dass U. um des persönlich pointierten
Schlusses 420, 7 Milien die fraglichen Strophen später weggelassen hätte,
im allgemeinen legt gerade er gar keinen wert auf würkungsvolle Schlüsse,
das moderne bedi'ufnis am schluss raketen steigen zu lassen ist ihm, ver-
schwindende ansalze abgerechnet, noch ganz fremd.
40 BRECHT
Der erste teil wächst noch weiter:
5 str. -j- 2 str.:
xxxvni (2. uzreise) : sachliche anweisung zur rittertugend
im turuier; ruf nach den waffen, um die lehre gleich selbst zu
betätigen. Übergang 457, 27 {—mansol mich hiute schouwen—).
liv : Der dichter sieht allen frauen in die herzen; er hat
auch seiner herrin ins herz geseheu. markierter Übergang
572, 12 (Ich—).
In den letzten zwei fällen würkt der zweite teil vollends nur
als abschliefsende nutzanwendung.
b. Zustand der natur oder menschen weit und
Ulrichs persönlicher zustand.
Die rolle des allgemeinen braucht nicht ein minnesatz, eine
geltung beanspruchende reflexion zu spielen; an seine stelle tritt
in einigen fällen ein anderes allgemeines, natur oder menschen-
weit oder beides zusammen. mit ihm wird dann ebenso des
dichters persönlicher zustand zusammengestellt.
Auch hier ist das grundverhälinis:
2 str. -f- 3 str.:
xxxi : Die vöglein singen im frühling; so singt auch er —
nämlich von guoten wiben. ausdrücklicher Übergang 437, 3
(—ich—).
Dieser fall, dass Ulrich sich allein mit der natur vergleicht,
ist bei seiner überwiegenden richtung auf menschliches Sin-
gular, in den folgenden liederu vergleicht er sich mit beidem
zusammengenommen.
v : Der sommer, die zeit des frauendienstes, ist vergangen,
der verhasste winter kommt : was soll vollends er mit dem
winter, da schon der sommer nicht gebracht hat, was er
wünschte? — markierter Übergang 104, 23 (betontes mir).
xvii : Der sommer ist gekommen; in dieser freudenzeit
preist man die frauen : damit preist er die seine, ausdrück-
licher Übergang 406, 15 (ja mein ich die frowen min).
xxxiv : Der winter weicht, mit ihm sorge und angst der
menschen : so will auch er hohes muotes sein (445, 1 1
— ich — ).
Der erste teil wächst an, weil sein inhalt vom dichter als
besonders traurig empfunden wird; dem gegenüber schrumpft der
zweite teil zusammen:
ULHICII VON LICHTENSTEIN 11
3 s t r. -f 2 s t r. :
l : Der sommer ist verschwunden, was ligt viel daran?
viel trauriger ist der beklagenswerte zustand der Zeitgenossen,
die nicht mehr frühlichen minnedienst treiben wollen \ er
selber allerdings ist frohgemut durch eine frau. — schule
grenzscheide zwischen 556,8 und 9 (betontes mir — ).
Zu einer würklich ausgeführten naturschilderung kommt
es in den drei letzten liedern nicht, das l lied zeigt den grund
da für mit besonderer deutlichkeit : die natur war ihm wesent-
lich doch nur litterarisches motiv. —
Auch die soeben besprochene compositionsweise ist nicht
an eine bestimmte periode in Ulrichs leben gebunden, die nach
ihr gebauten lieder finden sich vielmehr von dem (vermutlich)
dritten jähre seines dichtens 1224 an, bis 1252. nur dass <Jie
lieder mit ungewöhnlich angeschwollenem lehrhaften teil in spätere
jähre fallen — xxxu, xxxviii, liv in die jähre 1233, nach 1233,
und 1252 — ist wol nicht zufällig.
D. Symmetrisch gebaute lieder.
Die letztbehandelte composilionsart war geeignet, einen ge-
danken zweigliedrig auszudrücken; der gedanke tat damit gleich-
sam einen Listen schritt aus sich hinaus, aber es war nur eine
Ode vergleichung, die damit erreicht wurde, noch fehlte die
Möglichkeit, dass der gedanke wider zu sich, zu seinem aus-
gangspuncte, zurückkehrte; geschlossene gedankenreihen, ge-
fühlscomplexe konnten nicht ausgedrückt werden, ebensowenig
war es der Zweiteilung möglich, den gedankengang eines ge-
dichtes aufwärts zu einer pointe und wider herunter zu einem
allgemeinen gedanken, die gefühlsentwicklung zu einem höhepunct
intensivsten ausdruckes empor und wider zurück in die ruhe
zu führen, all diese müglichkeiten erreicht erst die drei- —
oder mehr- — teiluug. sie vervollständigt die beiden vorher-
gehnden composilionsarten, die gewissermafsen nur ein halbes
oder zweidrittel gedieht zustandebringen : der einteilung allge-
meines -|- specielles fügt sie abrundend das allgemeine wider
an; die gedichte, die nur eine Steigerung zu einem höhepunete
darstellen, macht sie geschlossen, indem sie den abstieg dem
anstiege zugesellt.
Das schon hierin sich aussprechende bedürfnis nach
harmonie der teile ist die Ursache, dass alle drei- und mehr-
42 BRECHT
geteilten gediente Ulrichs sich als symmetrisch gebaut heraus-
stellen *.
Diese Symmetrie kann so beschaffen sein, dass sich ein
markierter höhepunet vorfindet, der consequentenveise häufig
in der mathematischen mitte des gedichtes ligt; an ihm wird
dessen hauptinhalt in der kürzesten form als quintessenz aus-
gesprochen (achse des gedichts). oder das lied entbehrt eines
solchen höhepunetes und begnügt sich damit, in genau corre-
spondierenden gleichen teileinheiten sich zu entfalten.
a. Dreiteilige li eder.
Die einfachste form des dreiteiligen liedes ist natürlich die
nach dem Schema:
1 s t r. + 1 s t r. -}- 1 s t r.
dh. jede Strophe enthält einen nur ihr eignen teilgedanken. nach
ihm ist nur ein lied, das
xv. gebaut, str. 1 sucht bei allen guten frauen freundes-
rat gegenüber seiner dame, um die der dichter so klagen
muss, dass er in den ruf des kopfhängers kommt; str. 2 spricht
den vorsatz aus, sich gegebenenfalls anderswo umzutun;
str. 3 wendet sich wider an die guten frauen und kehrt zum
anfangsgedanken zurück : erhöre ihn seine dame doch noch,
so würde er ohne jenes gewallmittel seinen alten frohsinn
zurückgewinnen, die hauplsache im gedieht, zugleich der
höhepunet der Stimmung, befindet sich genau in der mitte,
der auf einen die halbe zweite Strophe füllenden conditional-
satz folgende, energisch prononcierte vers 403,6:
so muoz ich suochen durch not mir ein ander Uz.
bis dahin ist alles langsamer aufstieg, von dort an lässt die er-
regung nach und langt in derselben zeit wider beim anfäng-
lichen zustande an. um diese achse gleichsam dreht sich
das lied.
Diese grundform lässt sich weiter entwickeln, anfangsstrophe
und schlussstrophe zwar erweitern sich nicht leicht, da sie re-
spondieren, ihre vergröfserung also schon eine beträchtliche Ver-
änderung des gedichtes bewürkt. desto entwicklungsfähiger ist
der mittlere hauplteil, der den grundgedanken trägt, es ergibt
sich zunächst das schema
1 mit ausnähme von drei liedern, bei denen es durch erkennbare Ursache
nicht zur mathematisch genauen Symmetrie gekommen ist. s. u.
ULRICH VON LICHTENSTEIN r.\
1 str. + 2 str. + 1 slr. :
IX. Schilderung des niais als ei nleitu ng : str. 1; Ulrich
ist unglücklich trotz des mais, in zwei parallelstrophen ausge-
drückt: ßtr. 2 und 3; als scbluss erwabnung des augenblick-
lichen zeitpunctes (Romfahrt) und fUrbitte für die dame: str. l.
Der mittelteil wird weiter vergrößert:
1 s t r. + 3 s t r. + 1 s t r. :
iv. Erste Strophe, ein I e i tun g : Schilderung des maien;
zweite, dritte, vierte Strophe, ha u p tteil : schwankende hoff-
nungen auf erhörung durch seine dame; fünfte Strophe,
schluss: preis des maien. quintessenz und böhepunct des
inhalts, das ziel seiner sehnsüchtigen holTnungen, in der
zweiten hallte der mittelsten (dritten) atrophe, durch drei-
malige anaphora gekennzeichnet:
Daz diu vrewle lange wer,
daz ich weinent iht erwache,
daz ich gegen dem tröste lache,
des ich von ir hulden ger.
xix. str. 1 : der dichter ist froh im gegensatz zur (herbst-
lichen) well; Strophe 2, 3, 4 : grund seiner freude : seine
dame 'lullet' ihn vor traurigkeil; Strophe 5 : verhüllte angäbe,
wodurch etwa seine freude aufhören könnte ; und was daraus
entstünde. — hauptsache und höhepunct in der mittelsten
Strophe, 410, 9—11 :
Hueten ist den seilenden leil:
also wünneclichiu huote
wäre mir ein swlikeit.
Der ganze mittelteil, dh. also eigentlich das lied, spielt näm-
lich mit dem als Stichwort aus dem vorhergehnden liede
übernommenen begriff der huote (in Lichlensteinischer Um-
bildung, s. s. 8). hier zeigt sich zum ersten male die leitende
bedeutung des Stichworts für die composilion : anfangs- und
schlussstrophe haben es nicht, die drei hauptleilslrophen da-
gegen sind erfüllt von hueten und huote, die mittelste hat es
drei-, die zweite und vierte je eiumal.
Die erweiterung des mitlelteiles schreitet fort:
1 str. -4- 4 str. -f- 1 str.
xiv : auch hier leitet schon das Stichwort auf die richtige
erkenntnis der composilion. eine einleituugsstrophe, unglück
44 BRECHT
durch seine dame, am ende mit Vorbereitung auf das Stich-
wort (399, 13 — 15), das aber — raffiniert — auch am anfaug
der zweiten Strophe noch nicht erscheint, sondern diese holt
noch einmal aus und kommt erst in ihrer mitte auf das
wünschen, das nun die vier mittelstrophen, bis zur mitte
der vierten Strophe, erfüllt, intensivster ausdruck des lied-
inhaltes, also höhepunct, genau an der mittelachse,
400, 10. 11;
er [der wünsch) wünschet dar [an ir munt] wol tüsent stunt,
näher unde naher baz und aber baz.
Eine schlussstrophe : sie verlassen? nein 1 —
Dasselbe Schema der Symmetrie ligt trotz anderem an-
schein vor in xliii. Strophe 1 : einleitung, freude durch
seine dame; Strophe 2 — 5 : der grund davon : ihr lachen —
Stichwort, nur in diesen Strophen vorkommend, dieser mittel-
teil ist durch übergreifen eines Strophenpaares über das
andre weiter modificiert. Strophe 2 kündigt der herrin
zweier hande lachen (521, 1) an, Strophe 3 preist einez (521,7)
davon, Strophe 4 das andere, Strophe 5 nimmt das motiv von
Strophe 2 ausleitend wider auf.
Der schluss sollte nun der Symmetrie wegen nur 6ine
Strophe umfassen, es sind aber, da er gerade die Schönheit
der dame preist, unversehens zwei daraus geworden (str. 6
u. 7) : ein fall, der noch öfter begegnet. Schema:
1 str. 4- 4 str. + 2 str.
Die Symmetrie ist also nicht fehlerlos zum ausdruck ge-
kommen; die structur des gedichts ist deswegen doch sym-
metrisch, und zwar ohne höhepunct : Strophe 3 und 4 bilden
gleichmäfsig den gipfel, Strophe 2 steht 5, Strophe 1 steht
6 und 7 gleich, um es einmal als curve darzustellen :
III — IV
/ \
n v
/ \
I VI — VII.
Die vergröfserung des mittelteiles erreicht, da Ulrich über
siebenstrophige lieder nicht hinausgeht, ihren gipfel in der form:
1-1-5 + 1:
xx. Strophe 1 : klagender anruf aller edeln frauen ; Strophe 2
bis 6 klage über seine dame, mit höhepunct an der ge-
ULRICH VON LICHTENSTEIN 45
natien mittelachse, in der ganzen, hoch pathetischen
vierten Strophe : Si rouberinne etc. Strophe 7 guter ab-
sclilnss : drohung. — das ansteigen der erregung in Strophe 2
und 3, ihr nachlassen in den nur nachtrage gebenden, mühsam
verschweigenden Strophen 5 und 6 ist unverkennbar, be-
sonders charakteristisches gedieht, um so hervorragender, als
es, nach dem wahren ausdruck der empfindung zu schliefsen,
offenbar im affect gemacht ist. die subjeetive Wichtigkeit des
hauptteiles erklärt natürlich hier seine grofse ausdehnung.
Lvii. str. 1 : einleitung : wünschen macht dem dichter
freude. str. 2 — 6 : sein wünsch führt ihm die vision vor, die
in der mittelsten, vierten Strophe, als hauptin halt des
gedichtes, geschildert wird :
Zuo uns kam diu werde Minne
unde slöz uns beide vaste in ein usw.
str. 2 und 3 führen zu dieser Strophe hin, indem 2 ihren
Inhalt ankündigt, 3 ihn mit verhüllenden Worten andeutet,
das Stichwort wünschen behalten beide noch bei. nachdem
das ziel des wünschens aber offen beschrieben, leiten 5 und 6
wider zurück, indem 5 im allgemeinen die umarmung preist,
6 im besondern, auf Ulrich (Ich 583, 13) und seine hoffnung
bezogen, als schluss (str. 7) dient hier einmal ein allgemeiner
minnesatz (der sich aus dem vorhergehnden ergebende), wie
er sonst gelegentlich den a usgangsp u net bildet; das ganze
gedieht bis dahin ist ja rein persönlicb. wäre nicht der
deutlich symmetrische aufbau mit seinen proportionen, so
würde man das lied gewissermafsen als nach dem schema
6 Strophen specielles + 1 Strophe allgemeines (umkehrung
der compositionsart C) gebaut aulfassen können, curve:
/,V\
/UI \
i. vi
v VII
Der erweiterung fähig sind natürlich auch anfang und schluss.
in vier fällen findet die erweiterung statt, ohne dass der mittel-
teil ebenfalls vergröfsert wird, infolgedessen wird die Vorwärts-
bewegung eine gauz andere, der mittlere teil gerät als haupt-
teil in gefahr.
46 BRECHT
Die einfachste ervveiteruug bietet das Schema :
2 + 1 + 2:
xin. str. 1 und 2 enthalten als einleitung den preis des
maien und den vergleich der dame mit ihm; wie er möge sie
dem dichter trost gewähren, welcher trost dies sein soll,
deutet die dritte, mittelste Strophe an ; sie, und mit ihr das
ganze gedieht, gipfelt in den sehnsüchtig-pathetischen fragen
(mittela chse) :
Wenne kumt mir freuden schin?
wenne wiltu, soelic frowe, gefreun daz sende herze min?
str. 4 und 5 gehören zusammen wie 1 und 2. sie schliefsen
ab, indem sie die dame bitten, den dichter allen guten frauen
zu lassen, oder besser, nach dem vorbilde guter frauen ihn
zu erhören, an- und abstieg sind besonders deutlich ab-
gesetzt. 1 und 2 sind parallelstrophen, in denen doch
dadurch, dass die einzelnen Wendungen deutlicher werden und
widerholten fragen widerholte autwort folgt, sich eine unauf-
dringliche Steigerung zur miltelhöhe vollzieht : ein hauptkunst-
mittel Ulrichs.
xxxv ist genau entsprechend gebaut, die beiden ersten
Strophen, parallelen inhalts, warnen vor dem winter, die
mittelste (3) rät das hauptmiltel gegen ihn, man solle
— in die Stuben wichen,
da mit iciben wesen vrö.
dies ist der kern des gedichts, genau in der mitte (achse).
gleichzeitig stellt die Strophe den Übergang zu str. 4 und 5
dar, die mit dem nun allgemeiner gefassten gedanken, die
frau sei des mannes trost, den naheliegenden abschluss bilden,
eine leichte Verengerung lässt sich in den beiden parallel-
strophen 1 und 2 bemerken — das hiuser splsen der zweiten
Strophe 446, 11 führt schon auf die stuben der hauptslrophe,
während die Warnungen der ersten ganz allgemein waren;
eine deutlichere findet von 4 zu 5 statt : 4 gilt Ulrichs liebe
aller frauen, 5 der liebe speciell seiner dame. —
Beginnen schon bei diesem Schema anfang und schluss den
Charakter selbständiger gedichtteile anzunehmen, so wird bei noch
gröfserer ausdehnung dieser partieen gar die aufteilung des gedichts
auf zwei gedanken erreicht, die mittelste Strophe verliert ihren
Charakter als rest des hauplteils und erhält einen neuen sinn.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 47
3 + 1 + 3 :
XLI. slr. 1 — 3 : der dichter sehnt sich in das herz der
dame, mit ihm sein höher muot (erstes motiv); slr. 5 — 7 :
sein höher muot ist bereits mit ihr in seinem herzen (zweites
motiv): str. 4 verbindet nun beide motive :
ich hän in [nämlich den höhen muot] zuo dir geslozzen
in min herze — ,
genau in der mitte des gedichts (516, 3. 4, m ittelachse);
der hauptteil ist zur übergangsstrophe herabgesunken, in der
allerdings noch die quiniessenz des gediente, aus der Ver-
schmelzung beider motive hervorgegangen, enthalten ist. geuau
ebenso verbindet in
xl\ii die mittelste Strophe (4) die zwei motive des gedichts,
den preis des ganzen weiblichen geschlechts (str. 1 — 3), mit
dem speciellen lob seiner herrin (slr. 5 — 7), in sehr geschickler
weise :
durch si e're ich elliu wip,
so verschmilzt der mittelste vers der Strophe, der den gedank-
lichen höhepunet des gedichts darstellt (genaue m ittel-
achse 545, 27), das miner vrowen güete im ersten mit
allen vrouwen im letzten verse derselben Strophe. —
Eine normalere entwickluug fiudet statt, wenn mit dem
anfangs- und schlussteil zugleich auch der miniere erweitert wird,
hierbei wird der hauplteil geschützt, und die allen proporlionen
geraten nicht ganz in Vergessenheit.
Alle drei teile schwellen um je eine Strophe an :
2 + 2 + 2:
xxrv. dem einleitungsgedauken, der die Sehnsucht
nach freude und ehre ausdrückt (str. 1—2), folgt als haupt-
teil die anküudigung des enlschlusses, der sorge valet zu
sagen und sich der freude zu ergeben (str. 3 — 4). den
schluss bildet die schon am ende des hauptteils (421, 15)
angedeutete angäbe des mittels zu künftiger freude : ein guot
wip (str. 4 — 5). — die drei Strophenpaare sind analog gebaut.
1 — 2 und 3 — 4 respondieren geradezu, indem 1 wie 3 einen
allgemeinen satz ausführt, dem in 2 wie in 4 der eigene
speciallall folgt (ich erst am ende von 1 und 3, 420, 22.
421,8; dagegen in 2 und 4 vom ersten verse ab durch-
gehend) : der alte compositionslypus, allgemeiner satz und
48 BRECHT
persönliche nutzanwendung, hier wird also einmal zur glie-
derung von gedichtteilen verwant. aber auch von 5 zu 6
fiudet, wenn auch weniger ausgeprägt, eine gewisse speciali-
sierung in den hezeichnungen für die erhoffte freundin (von
guotiu wip bis die) statt, der schluss knüpft mit ere (422, 10),
die triiren verhindert (422, 10), an den eingangsgedanken, die
gleichsetzung von freude und ere (420, 23. 24), wider an. —
Der hauptteil wird um eine Strophe mehr erweitert als anfang
und schluss. es entsteht der schön proportionierte aufbau
2 + 3 + 2:
xxii. einleitung: preis der guten frauen (str. 1 — 2);
hauptteil : Scheidung der guten von den falschen (Übergang
str. 3 v. 1 — 3), polemik gegen seine falsche herrin (str. 3 — 5);
schluss : rückkehr zum preis der guten frauen, denen die
trennung von den falschen nur zum segen gereichen kann
(str. 6 — 7). — dies lied ist ein prototyp der gedichte, deren
bau man als Vervollständigung des typus C auffassen kann :
str. 1 — 2 allgemein, 3 — 5 speciell, persönlich, 6 — 7 wider
allgemein, str. 1 — 5 allein wäre als Lichtensteinscb.es lied
nach schema C 2 + 3 durchaus möglich gewesen.
xxxii. begrüfsung des höhen muotes im herzen des dichters
(str. 1 — 2, einleitung). preis der frau, die ihm den höhen
muot gesendet hat (str. 3 — 5, hauptteil), sie mit ihm zu-
sammen in des dichters herzen, ausdruck der freude wie zu
anfang (str. 6 — 7, schluss).
xxxix. der winter ist widergekommen; das schadet nichls:
dem dichter hat ein weih höhen muot gesendet (vgl. xxxn;
str. 1 — 2, einleitung). preis ihrer vornehmen und huld-
voll-anmutigen haltung (str. 3 — 5, hauplteil). Schilderung
ihres äufseren, ihrer färben braun, rot, weifs, ihrer art sich
zu bewegen (str. 6 — 7, schluss).
xliv. dem gewöhnlichen einleitungsgedanken : höher
muot des dichters durch ein wip (str. 1 — 2), folgt als haupt-
teil die Schilderung seiner freude über ein wort der dame
zu ihm (str. 3 — 5, das Stichwort wort wider nur in diesen
drei Strophen, deren letzte in ihrer Verallgemeinerung bereits
den Übergang zum folgenden vorbereitet), den schluss
macht die schon in den letzten zwei versen der dritten Strophe
angekündigte aufzählung alles guten, was er von ihr hat
ULRICH VON LICHTENSTEIN 40
(str. 6 — 7, durch anfangsanaphora der ersten zeile zusammen-
gehalten).
Diese vier lieder haben sämtlich keinen markierten höhe-
punct. in den anmutigen Verhältnissen der compositum beruht
ihre ganze würkung. wol nicht zufällig sind bei ihnen die
teile besonders deutlich abgesetzt, man vergleiche die schallen
teilgrenzen des xxn liedes, anfang von str. 3 und 6; des
xxxix desgl., 507, 27 und 508, 22; und namentlich des xliv,
in dem die eiusätze Mit rölsüezem munde — 524, 26 und
Ich hdn von ir ere — 525, 15 besonders Irisch würken. die
lieder gehören in vieler hinsieht zu den gelungensten Dlrichs. —
Nach demselben Schema gebaut, aber im einzelnen etwas
anders behandelt ist das lied
vhi. thema ist hier ein metaphorisches bild : der dichter
hat seine herrin in sein herz gelegt (vgl. soeben xxxn und
s. oben s. 22). dieser gedanke wird in der ersten ein-
lei tungsstrophe (1) sogleich als bild angedeutet (gevangen
— in fanden), die zweite einleitungsstrophe führt nur den
bildlosen nachsatzgedanken der ersten Strophe aus. erst die
dritte nimmt das bild wider auf, und beginnt so, indem sie
zunächst nur die Werkzeuge der fesselung namhaft macht, den
hauptteil, dessen mitte in str. 4 erst den höhepunet des
gedachtes darstellt, hier sagt der dichter endlich, in welches
gefängnis er die herrin gelegt hat und wer dort ihr loos teilen
muss (126,12 — 15, mittelachse, hervorgehoben durch
pathetische anfangsanapher zweier verse). den hauptteil
schliefst die erörterung der freilassungsaussichten in str. 5.
die Strophen 6 und 7 verraten zum schluss in nüchterner
rede, welcher gedanke hinter dem bilde steckte; nämlich,
dass die dame den dichter nicht verhindern könne, so oft
und so herzlich an sie zu denken, wie er wolle.
Die teilmotive sind also hier nicht verschiedene unter-
gedanken wie bei den vorhergehnden liedern desselben auf-
baues, sondern nur verschiedene arten den einen, sogleich
vorgebrachten grundgedanken auszudrücken : angedeutet-bild-
lich, in voller ausführung des bildes, unbildlich, dabei lässt
sich natürlich ein höhepunet in die mitte legen,
b. Vierteilige lieder.
Einige lieder sind vierteilig gebaut, der grund ligt darin,
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 4
50 BRECHT
tlass sie sämtlich zwei, mehr oder weniger selbständige, motive
behandeln; dadurch wird der hauplteil in zwei weitere teile zerlegt.
Das einfachste schema ist
l-f-2 + 2 + 1:
in. str. 1 : huldigung an die herrin (einlei tung).
- 2 — 3 : seine bisherige pagenhafte Verehrung,! —
- 4 — 5 : sein jetziger minnezustand und seine/ s "Z
zukünftige hoffnung. |£,
- 6 : ablehnung der niederen, preis der hohen
minne (schluss).
Es handelt sich hier also noch nicht um nebeneinauder-
stellung zweier selbständiger motive; vielmehr kommt die
zwiefältigkeit des hauptteils dadurch zustande, dass das eine
grundmotiv des gedichts, die nunmehr offen bekannte minne
des dichters, von zwei seiteu angesehen wird, vom standpunct
der Vergangenheit und von dem der gegenwart aus (ebenso
wie oben beim zweiten scheltliede xxi sein ungliick). jedes
der hierdurch entstandenen teilmotive wird in einem strophen-
paar parallelen inhalts ausgeführt, str. 3 variiert nur im
ausdruck den Inhalt von 2, str. 5 den von 4 (vgl. zb. 58,
11. 12 mit 58, 5. 6; 58, 15 mit 58, 8; 58, 29 mit 58, 21).
str. 2 wird mit 3 durch die nur ihnen gemeinsamen slichworte
rät und riet (58, 5. 9. 13) und durch die charakteristischen
präterita formal zusammengehalten, 4 und 5 durch das über-
gehn der rhetorischen fragen gleichen sinnes mit anfangs-
anapher von einer Strophe in die andre, als Übergang zum
Schlüsse bringt schon der letzte vers der fünften Strophe das
neue Stichwort, das die sechste sogleich stark betont aufnimmt,
um so das einsetzen des finales zu markieren.
Genau entsprechend ist der bau des liedes
xxvni, nur dass hier würklich zwei selbständige motive
nebeneinandergestellt sind.
Strophe 1 : der mai, die paarzeit (einleitung).
^ parallel- 2 } . .. , . . , ,. . .
.„ > zu "Zweien gibt es kein leid (l.motiv).
Strophen 3/ D
parallel- 4) stete liebe heifst minne, sie gibt stete freude
Strophen 5 / <2. motiv).
Strophe 6 : Verschmelzung der motive und weudung aufs
persönliche : wünsch des dichters, stete liebe zu
-
s
CS
ULRICH VON LICIITENSTEIN 51
linden und damit alle sorge zu Überwinden
(s c I) I u s s).
str. 2 drückt ihren gedauken affirmativ und negativ, Btr. 3
denselben nur affirmativ aus. beide werden Bürgerlich durch
Strophenanapher (Swd — ; dasselbe wort zur markierung des
atrophen Übergangs aufserdem 429, 22) und durch widerkehr
derselben stichworte liep, liebe zusammengehalten, ebenso
str. 4 und 5 durch widerholte spielende anwendung des neuen
Stichworts stiete. —
Anfang und schluss schwellen, aufserlich unsymmetrisch, an,
wahrend iler miltelteil auf die halfte des umfangs reduciert wird :
2 + 1 + 1 + 3:
liii. str. 1 — 2 : die einleitung ist auf zwei Strophen
angeschwollen, weil sie den (nur angedeuteten) natureingang
(frühling) mit Ulrichs alter lieblingsvorstellung, dem höhen
inuot, verschmilzt.
hauptteil. str. 3 : erstes motiv : güete und stiele sind
die besten schminkfarben für eine frau, die schoene bleiben will,
str. 4 : zweites motiv : wip und frowe gehören zusammen.
str. 5 — 7 : der schluss bringt wider die Wendung aufs
persönliche, ohne den (allerdings wol aussichtslosen) versuch
zu machen, die heterogenen motive des hauplteils zu ver-
schmelzen, vielmehr betont der dichter nur seine eigene lieh
566, 24) frauenverehrung, und zwar zuerst die aller frauen
(str. 5), dann die seiner herrin (str. 6 — 7). die letzte Strophe
vereinigt widerholt die stichworte des gedichts : höchgemüete,
güete, scheene, e're.
Dass Ulrich zuletzt auf das lob seiner herrin kommt, hat
hier wie in xliu (s. oben) den schlussteil um eine Strophe
zu grols gemacht.
Das lied zeichnet sich durch einen bei Ulrich auffallenden
mangel an übergangen zwischen den einzelnen teilen aus.
der roh zusammengeflickte cento ist offenbar in einer schlechten
stunde entstanden l. —
Die durch die doppelheit der motive hervorgerufene vier-
teiligkeit dieser lieder ist die Ursache, dass sie alle keinen höhe-
1 wenn die beiden mit ihren motiven hart nebeneinandergesetzten
Strophen 3 und 4 nicht auch dann störten, könnte man das lied auch nach
dem Schema : 4 str. allgem. + 3 str. persönl. (ich 566, 24) gebaut auffassen.
4*
52 BRECHT
punct halien. die motive des mittelleils stehn unverbunden neben-
einander, werden sie durch eine Strophe verbunden (wie oben,
abschnitt b, beim Schema 3 -+- 1 -f- 3 , lied xli und xlvii), so
entsteht ein neuer, bei weitem besser rhythmisierter, fünfteiliger
gedicbttypus.
Die funfleilung ist aber auch auf anderem wege möglich,
c. Fünfteilige 1 i e d e r.
Derselbe gedanke, von Strophe zu Strophe anders gewendet,
ergibt bei einfacherer ausfiihrung das Schema 1 + 1 + t (s. o.),
bei kunstvollerer
l + l + l+l + l:
xr. das gruudmotiv ist des dichters wünsch, die frauen
möchten ihm endliches gelingen seiner hoffnungen bei seiner
herrin wünschen, seine bebandlung von str. 2 — 4 würde an
sich vollkommen hinreichen : str. 2 apostropbe an die frauen.
mit Zurückbeziehung auf die eben beendigte Venusfahrt (322, 9)
und ankündigung des themas, str. 3 mit dem thema selbst,
dessen breiter ausdruck in der mitte des gedichts, spec. 322,
17 — 21, den höhepunct darstellt (mittelachse), str. 4 als
abschluss mit dem ausdruck der unerschütterlichen hoffnung,
in eine volltönende metapher auslaufend, um dies corpus
von drei Strophen ist nun aber noch eine Umrahmung von
zweien herumgelegt : eine allererste einleitu ngsstrop he (1),
die eine Verbindung mit dem vorhergehnden liede (x), vor
der Venusfahrt, bersteilen soll, indem sie frau Minne apo-
strophiert wie lied x und auf ibren nun vollzogenen befebi
hinweist (s. oben s. 5), und eine endgiltige seh luss Strophe
(5), die nur eine wortreiche widerholung der vorhergehnden
ist. beide Strophen, 1 und 5, sind vom dichter als zusammen-
gehörig empfunden worden, denn der schluss von 5 (ir güete
ist so guot 323, 5) nimmt den von 1 mit seinem sticbwori
{ir sit doch guot 322, 7) wider auf. kommt durch den anfang
von str. 1 mit seiner Wendung an frau iMinne schon eine
doppelte apostrophe in den eingang des liedes, so durch ihren
schlussvers, dem das letzte citat entnommen ist, gar eine
dreifache : er fasst nämlich frau Minne und seine dame in
neuer anrede zusammen; die würkung ist barock, viel-
leicht sind die erste und die fünfte Strophe würklich erst
später hinzugedichtet.
ULKICI1 VON LICHTENSTEIN
[t,is \ii lied, eine technische glanzleistung, zeigl einen
wundervoll ansteigenden und absinkenden symmetrischen auf-
liau. in slr. I beglückwünsch! sich Ulrich selbst zu Beiner
minne, in sir. 2 denkl er an das ziel seines Wunsches, in
str. 3 bittet er flehentlich (Min liende ich valde 394,26) um
die erfüllung dieses Wunsches (pathetischer ausdruck der
quintessenz des gedichts, mit eindringlicher anfangsanaphora
395,2. 3; höbepunet an der mittelachse), in str. 1 macht
er sich sorgen, wie er ihr seinen langjährigen Irenen dienst
würdig kundtun soll, in der schlussstrophe 5 kehrt er zum
ausdruck der hoffnung (395, 9) und seines schon jetzt vor-
handenen liebesglückes (395, 11, vgl. den anfangsgedanken)
zurück. —
Der mittlere teil schwillt, der Wichtigkeit seines inhalts ent-
sprechend, an, die zweite und fünfte Strophe werden als über
gangsslrophen zu und von dem massiver gewordenen hauptteil
ausgebildet, aus einem schon früher würksamen seeundären
gründe (vgl. oben xliii und lui) gerät der schluss zu lang, zum
schaden der genauen Symmetrie :
H-H-2 + 1 + 2 (stall 1 :
xvi (erste üzreise).
eingangsstrophe 1), allgemeiner minnesalz : euip-
fehlung der minne um iler ere willen,
überga ngsstrop he (2), Übergang von der minne zum
schildesamt (schilde 404, 4) : minne als lohn des
schiidamtes.
hauptteil (3 — 4) : ethik des schildesamtes, in zwei
parallelstropheu, objeetiv-didaktisch vorgetragen.
übergangsstrophe (5) : Übergang vom Schildesamte
zur minne zurück : nur den ehrenhaften rilter sollen
die trauen minnen.
schluss (6 — 7) : Wendung aufs persönliche : trotz seines
langen Schilddienstes erhört ihn die herrin nicht; ei
waffnet sich mit geduld und treue.
Die tendenz, seiue persönlichste angelegenheit an den schluss
zu legen, hängt sicher mit der eingewurzelten neigung seines
denkens zur teilung in allgemeines und specielles zusammen,
iusofern schimmert sogar in den bestgebauten symmetrischen
gedichten jener compositionstypus durch.
54 BRECHT
Da in diesem Hede zwei gleichgeordnete Strophen die mitte
bilden, entbehrt es eines bestimmten höhepunctes.
Die beiden zwischenstrophen (2 und 5) hatten liier den
zweck, den Übergang zum hauptteil und von ihm zum schluss zu
vermitteln, eine einzelne zwischenstrophe kann aber auch selbst
in die mitte treten; wenn es sich nämlich darum handelt, zwei
grundmotive eines gedichts zu verbinden, damit sind wir bei
dem am ende des letzten abschnittes (b) entwickelten typus wider
angelangt.
Das in seiner iibergangslosigkeit harte Schema 1 -}— 2 -f- 2 -f- 1
erweitert sich also zum Schema
1 + 2 + 1 + 2 + 1,
nach dem drei, sämtlich der spätzeit angehörige lieder analog
gebaut sind.
LI.
1 einleitungsstrophe: trauen sollen vrö mit zühten sein.
2 Strophen mit dem ersten motiv : das weibliche ideal.
1 Strophe (2) : hauptsache ist die güete,
1 Strophe (3) : der womöglich die schoene sich gesellen
soll; das beste ist die Vereinigung güete bi schoene.
1 Verbindungsstrophe (4): welchen mann soll nun solch
weih lieben? es gibt so viel falsche mänuer — (Sied ein
guot wip minnen wil, diu sol minnen usw.)1.
2 parallelstrophen mit dem zweiten motiv (5 u. 6):
antwort : den, der seine mannesehre gehütet hat. die
Strophen sind zusammengehalten durch Stichwortübergang,
guot wip 561, 8 u. 9, und durch chiastischen gedanken-
ausdruck in den beiden Strophen : derselhe gedanke geht
in str. 5 von Swelch man — bis guot wip — , in slr. 6
von Ein guot wip — bis swelch man — 561, 13.
1 schlussstrophe (7) : die übliche wendung aufs persön-
liche : Ulrich bemüht sich, diesem ideal nahe zu kommen,
höchstes lob der herrin : wiplich wip.
Die verbinduug beider motive wird also hier durch ein-
fache Überleitung bewürkt. —
1 ich schlage nach neme 560, 28 fortlassung des interpunetionszeichens
vor. 561,1. 2 gibt noch nicht die antwort, die vielmehr erst mit dem ein-
satz der nächsten Strophe beginnt, der 561, 1 bezieht sich auf xoen 560, 28
zurück; man beachte die attrahierten conjunetive hüele, si 561, 1. 2.
ULIU< II VON LICHTENSTEIN
Organischer ist die Verbindung im
lv. liede. das erste grundmotiv tritt wider von vornherein
als metapher auf (vgl. vni).
1 ei nleitungss troph e mit ankündigung des ersten
motivs (I) : der dichter ist froh, ein himmelreich auf
erden gefunden zu haben.
2 Strophen mit ausführung des ersten motivs:
damit meint er das herze seiner dame, in dem alle lugen*
den hausen.
1 Strophe (2) : allgemeine angäbe,
1 Strophe (3) : specielle bezeichnung dieser tilgenden.
1 Verbindungsstrophe (4) : des dichters Sehnsucht nach
diesem himmelreiche von herzen ist um so berechtigter,
als es von einem so liebreizenden leibe umfangen ist.
2 Strophen mit dem zweiten motiv (5 und 6) : preis
dieses leihes und seine würkung auf den dichter.
1 schlussstrophe (7) : vergleich : wie der hausen in der
Donau von der süfse des wassers, so lebt Ulrich von dem
hauche ihres mundes.
Die Verbindung beider grundmotive in der vierten Strophe
ist so eng, dass man sie als Verschmelzung betrachten kann. —
lviii beginnt ebenfalls mit einer metapher als erstem
grundmotiv.
1 einleitungsstrophe mit dem ersten motiv (1) : für
seine minnewunden hat der dichter eine gute arzenei.
2 Strophen mit ausführung des ersten motivs : die
arzenei für seine herzenswunden besteht in zwei dingen,
dem anblick der herrin mit ihrer Wehten varwe (1 Str., 2),
der salbe manches süezen %oortes (1 Str., 3).
1 verbiudungsstrophe (4) : wenn der dichter diese salbe
brauchen will, sucht er sich den anblick der herrin zu ver-
schaffen, der ihn denn sogleich vor freude wider jung macht.
2 Strophen mit dem zweiten motiv : Schilderung des
anblicks der herrin,
ihres mundes (1 Str., 5)
und ihrer äugen (1 Str., 6).
1 schlussstrophe (7) : gelöbnis des dienstes für alle zeit.
Die Verbindung der grundmotive ist wider äufserlicher, ja
gewaltsam. —
56 BRECHT
Unzweifelhaft ist durch die eioführuog der mittleren ver-
bindungsstrophe der typus des gedichts mit doppelmotiv glücklich
verbessert worden, hebung und Senkung des gedaukens wechseln
viel angenehmer mit einander ab, als bei dem harten aufeinander-
prallen der beiden hauptmotive in dem Schema 1 ■+- 2 + 2 -f- 1.
ihrer l'unclion gemäfs wird man die verbiuduugsstrophe kaum als
hohepunct ansehen dürfen, sondern die gedichte mit doppelmotiv
als zweigipflig, aber mit communication zwischen den gipfeln,
betrachten müssen.
Die vier letzten lieder sind das complicierteste, was Ulrichs
formverstand und architektonische phantasie hervorgebracht haben,
der anleil des gemüts an diesen Schöpfungen wird nicht allzu
grofs gewesen sein, als technische leistung aber bezeichnen sie
einen hohen grad von gewautheit. —
Die symmetrisch aufgebauten lieder stellen sowol der zahl
als der künstlerischen bedeutung nach die hauptgruppe von
Ulrichs gedichten dar. es sind fast die hälfte aller 58 lieder,
27 symmetrische gegen 31 anders gebaute : 5 mit gleichmäßiger
structur, 7 mit Steigerung, 17 aus allgemeinem und speciellem
zusammengesetzte, 2 lyrisch-epische (s. unten), dass der differen-
ziertesle gedichttypus die einzelnen andern typen so sehr über-
wiegt, ist für Lichtenstein bezeichnend, je einfacher die form,
desto weniger sagt sie ihm ; er ist in der dichtung wie im leben
der mann des complicierten, eigensinnigen, hochentwickelten, der
symmetrische aufbau liefs von allen ihm geläufigen typen die
gröste maunigfaltigkeit der behandluug innerhalb einer festen
stillbrm zu; eine aufgäbe, die gerade den würklicheu künstler
immer gereizt hat; und man muss zugeben, dass Ulrich eine
grofse fülle von varialionsmöglichkeiten gefunden hat.
In wie verschiedenen formen saheu wir nicht das Verhältnis
der gedichtteile zueinander wechseln 1 auf wieviel verschiedene
arteu wurde der höhepunct erreicht und verlassen; molive in
parallel- und correspondierenden Strophen auseinandergezogen, in
Schlüssen, in Verbindungsstrophen verschmolzen; doppelmotive
eingeführt und nach bedarf so oder so behandelt, allein hierfür
hat Ulrich vier möglichkeiten ausgebildet : er stellte die moliv-
strophen unverbunden nebeneinander, entweder breit als haupt-
argumente (1 -f- 2 -J- 2 -(- 1) oder zusammengeschoben als blofse
poinlen (2 — f- 1 — J— 1 -f- 3) ; oder er verband sie durch eine über-
ULRICH VON LICHTENSTEIN 57
gangsstrophe, indem er sie das eine mal als anfangs- und schluss-
teil verwertete (3 -f 1 -f- 3)* bei anderer gelegenheit als innere
hau pt teile angemessen herausarbeitete (1 + 2+1-4-24-1)
solche aufgaben vorwiegend sind es, in deren bewälligung Ulrichs
lyrische kunst sich kaum genugtuu kann.
Um so verdienstlicher, als er sich, wol unbewust, den räum
dazu sehr eng abgesteckt hat. mehr als sieben Strophen bat er
nie zu einem gedieht vereinigt l, mit gutem tact, denn ein sym-
metrisches system von mehr als sieben gliedern zu übersehen,
wird schon schwierig, fünfslrophigkeit und siebenstropbigkeit
sind ihm so gut wie gleich lieb — jene kommt 23 mal, diese
22 mal vor — , begreiflicherweise, denn sein lypus des sieben-
slrophigen gedichts ist ja in den weitaus meisten lallen nichts
als ein erweitertes fünfstrophiges , die grundanlage ist genau die
gleiche, dreistrophigkeit begegnet nur in drei liedern, die alle
lauge Strophen haben, kurze ausdehnung der gedichte ligi eben
seiuem an eiufallen reichen uud dialektisch gliedernden geiste,
Beiner um worte nie verlegenen redegabe nicht, des einstrophigen
gedichtes, des Spruches hat er sich gänzlich enthalten.
Charakteristisch ist auch das entschiedene bevorzugen der
uugeraden slrophenzahl. 49 liedern mit ungerader stropbenzahl
stehu 9 mit gerader gegenüber, unter denen wider der längere
typus, der sechsstrophige, Zweidrittelmehrheit besitzt gegen den
kürzeren, vierslrophigeu. die Vorliebe für ungerade Strophenzahl
ist sicherlich ebenfalls Ulrichs gutem formgefühl entsprungen, das
gleichlange gedichtabschnitte, wie sie bei gerader stropbenzahl
leicht vorkommen, perborrescierte 2. gerade stropbenzahl kommt
denn auch nur bis zum jähre 1228 (xxvm) vor, von da an gibt
es noch einmal ein dreistrophiges , sonst nur fünf- und sieben-
strophige lieder. an der siebenstropbigkeit bat Lichtenstein immer
mehr geschmack gefunden : von den 2ö liedern der ersten minne
(1222 — 32) sind nur 5 siebenstrophig, von den 5 in 6in jähr
lallenden wdmeisen nur eine, von den 27 liedern der zweiten
minne (1233 <> 1255) aber 16. oder auf Jahrzehnte bezogen,
so leidlich sie sich bei der nur ungleicbmäfsig construierbaren
Chronologie bersteilen lassen : von 1222 — 32 sind von 29 ge-
1 abgesehen natürlich vom leich.
2 bis auf eine ausnähme, lied xxiv, in dem einleitung, hauptteil und
schluss gleichermafsen je zweistrophig sind.
5S BRECHT
dichten nur 5 siebenstrophig, von 1232/33 — 1240/41 (lied xl)
schon gut die hälfte, nämlich von 11 liedern 6; genau die hälfte,
7 von 14, in den jähren 1241 — 52 (lied liv); und der rest von
drei jähren, der noch übrig ist, lässt sich gut an, denn die vier
währenddessen producierten lieder sind sämtlich siebenstrophig.
das heifst : auch Ulrich ist mit zunehmendem alter redseliger
geworden, die wachsende neigung zur didaktik, von den wdn-
wisen an, hat bei ihm nicht zur prägnanz geführt, wie bei manchen
andern, sondern zur breite, die Symmetrie ist ihrem wesen nach
natürlich meist an die ungerade zahl gebunden : von 27 symmetrisch
gebauten liedern haben nur 5 gerade strophenzahl (1 vier, 4 sechs
Strophen); 1 ist drei, 6 sind fünf, 15 sieben Strophen lang.
Die zunehmende neigung zur siebenzahl der Strophen hängt
ersichtlich mit der entwicklung des Verhältnisses Ulrichs zur
Symmetrie zusammen, geht aber nicht von vornherein parallel
mit ihr, sondern ist mehr auf rechnung des erwähnten senil-
werdens zu setzen.
Seine neigung zum symmetrischen aufbau war von anfang
an grofs, von 1222 — 32 ist reichlich die hälfte aller producierten
lieder, 15 von 29, symmetrisch gebaut (davon nur 4 sieben-
strophig); von 1232/33 — 1240/41 wird sie erheblich schwächer,
baut von 11 producierten liedern nur 3 symmetrisch (davon 2
siebenstrophig); bemächtigt sich aber in den jähren 1241 — 52
fast der hälfte aller lieder, 6 von 14 (alle 6 siebenstrophig), und
steigt noch von da an, wie der noch übrige rest von vier jähren
beweist, in dem von 4 producierten liedern 3 symmetrisch aus-
fallen (alle 3 siebenstrophig; das anders gebaute vierte auch).
Man ersieht daraus, dass die hauptsächliche Vorstellung, die
Ulrich von formaler harmonie, auch für den aufbau von gedanken,
besafs, von anfang an die symmetrische war, und dass diese dis-
position der phantasie sich trotz Schwankungen mehr und mehr
befestigte, selbst die neigung seines denkens, nach den kate-
gorieen allgemein und speciell zu scheiden, war weit entfernt da-
gegen aufzukommen, obwol auch sie schon vom vierten dichtungs-
jahre an vorhanden war.
E. Episch-lyrische lieder.
Neue compositionstypen sind also im laufe von Ulrichs leben
nicht mehr aufgetaucht; die vorhandenen sind schon in den
ersten 7 liedern (bis 1225) alle mindestens einmal vertreten.
I'LRICII VON LICHTENSTEIN 59
Nur eine ausnähme ist festzustellen : der isolierte lypui
der beiden tagelieder, xxxvi und il, die mitten in Ulrichs
poetische periode lallen, in die zeit nach 1233 und in den
winter 1240 auf 41. aber auch sie sind nicht durch äufeere
oder spürbare innere lebensereignisse hervorgerufen. Bondern
durch litterarische tradition vermittelt; seihst die nttance, die Ulrich
an ihrem stil angebracht hat (s. cap. i s. 20), ist trotz aller be-
tonten tendenz zur lebenswahrheil nur dem bedttrfnis i\t%^ artisten
entsprungen.
Da das tagelied sich aus lyrischen und epischen bestandteilen
zusammensetzt, ist auf eine rein durchgeführte einheitliche com-
position , wie sie der gleichmäßig lyrische slolT nahelegt, nicht
zu rechnen, trotzdem ist eine gewisse gruppierung des epischen
und lyrischen darin nicht zu verkennen.
Entgegen der üblichen art, das tagelied mit einer kurzen
epischen Situationsandeutung oder dem gleichwertigen wächterruf
einzuleiten, lässt Ulrich das erste seiner tagelieder (xxxvi) mit der
begruTsung des ritters durch die frau heginnen (str. 1), der die
antwort des ritters folgt (str. 2): die, übrigens neue (vgl. cap. i),
Situation ergibt sich erst hieraus, dieser dialog von zwei Strophen
länge entspricht, auch der inhaltsbedeutung nach, etwa dem
einleitenden teile seiner grösseren lieder. an ihn schliefsen sich
zwei rein erzählende Strophen, in denen die kernsituation zur
darstell ung kommt, hierauf widerum zwei aus erzählung und
je einmaliger kurzer rede gemischte, in denen zweimal die warnende
zofe aultritt, die (um zwei verse verlängerte) schlussstrophe lässt
uach kurzer situationsschilderung erst die frau klagen, dann den
ritter abschied nehmen, in der herkömmlichen weise. — der
dichter hat gut für abwechslung gesorgt, den beiden einheitlichen
Strophenpaaren, deren erstes nur lyrischen dialog, deren zweites
nur erzählung enthält, folgt ein strophenpaar, in dem erzählung
die kürzeren reden überwigt, und eine Strophe, die nach zwei
versen erzählung wider acht verse dialog bringt, die frau beginnt,
der ritter schliefst das lied.
Im zweiten tagelied (xl) umfasst die einleitung, rede
der zofe (str. 1), rede des ritters (str. 2), mit kurzer Situations-
schilderung, zwei Strophen, es folgt zwischen der frau und dem
ritter das eigentliche gespräch, das das hauptmoliv des gedichts
bringt, nämlich den Vorschlag, den ritter den tag über in der
60 BRECHT
kemenate zu verstecken, dieser dialog ist zweistrophig, wie im
ersten tagelied, und wie dort folgen ihm entsprechende zwei
stropheu, in denen rein episch der hergang heschrieben wird,
die schlussstrophe (7) schildert in der gewöhnlichen weise erst
die letzten Zärtlichkeiten, dann die abschiedsworte des ritters (also
kein dialog mehr wie in xxxvi). die zofe heginnt, der ritter schliefst.
Nur in der höfischen form des tageliedes gibt es bei Ulrich
mischung epischer und lyrischer elemente. auch in diesem
punete folgt er der strengeren tradition, indem er sich richlungen
seiner zeit, die ihm stillos scheinen mochten, fernhält.
Ergebn is.
Ich glaube erwiesen zu haben, dass Ulrichs besondere stärke
. im kunstvollen aufbau von gedichtmotiveu bestand, bei weitem
mehr, als in der erfindung solcher motive, in der er, wie sich
im i capitel herausstellte, nicht ilbermäfsig viel geleistet bat.
es fragt sich nun, wenn man auf die vielen typen und Schemata
seiner composition zurückblickt: in wie weit ist sie bewust, in
wie weit unbewust gewesen? wieviel beruht davon auf künst-
lerischer absieht?
Die frage ist schwer; denn nirgends ist man so iu gefahr,
moderne anschauungen in alte Verhältnisse zu tragen, als bei
der absebätzung der grenzen, die bei dem dichter einer fern-
liegenden eulturperiode kunstgefühl und kunstverstand trennten.
ist schon das selbstbewustsein des mittelalterlichen menschen
überhaupt für uns schwer nachzufühlen und unsere einfühluug
ohne irgendwelche gewähr der richligkeit, um wieviel mehr das
eines dichters, bei dem bewustes und unbewustes immer mehr
durcheinander spielen als bei anderen menschen.
Wenn man freilich die darieguugen dieses capitels durchgeht,
so sieht alles sehr bewust aus. allein ich brauche wol nicht
darauf hinzuweisen, dass es nötig ist, begrifflich zu systematisieren,
wenn man formen verständlich machen will, deren werden uns
nur immanent in eiuer mannigfaltigen fülle fertiger gebilde voiligt.
Die grofseu compositionstypen zb. sind in ihrer Unter-
schiedlichkeit Ulrich selbstverständlich nicht völlig klar bewust
gewesen, die lieder gleichmäfsiger struetur etwa werden sich
ihm nicht so herausgebobeu haben wie uns. bei den liedern
mit zugespitztem aufbau ligt es schon anders. hier ist die
Steigerung so augenfällig, gar in den dialogen so kühl und
I LR1CH VON LICHTENSTEIN 61
technisch raffiniert mit der messerscharfen Bchlusspointe, dass
man genötigt ist, dichterische absieht anzunehmen, nicht ganz
>o sicher isl die bewuste technik bei den aus allgemeinem and
s[it'cicllt'i!i Bich zusammensetzenden liedern. «loch moste Ulrich
ja blind gewesen sein, wenn er nicht gelegentlieh wenigstens
gemerkt haben sollt*' , dass er hin und wider ein lied dichtete,
in dem nach einigen allgemeinen Strophen ein ich, sein ich,
kam, oder etwa- gleichwertiges, an eine vorbedachte composition
glaube icli bei der großen leichtigkeil der entwicklung, die
namentlich in den ungezwungenen Übergängen deutlich wird,
lner nicht; wol aber au eine eingewurzelte denkgewohnheit, die
jedesialls mit der bestimmtheil einer klaren absieht würkte,
sollte sie es auch nicht gewesen sein.
Solche gewöhnlich erklart wol auch die massenhafte produetion
der symmetrischen lieder. wessen künstlerische anläge auf formale
harmonie ijleichgrofser teile gerichtet ist, der wird immer auf
das prineip der Symmetrie geführt werden, sei es von anfang
an bewusl oder nicht, und es müste seltsam zugehn, wenn er
nicht, hei immer ausschließlicherer produetion in dieser form
(s. o.), allmählich selost etwas davon bemerken sollte, der höhe-
I » n 11*1 in der mitte, die miltelachse, auf- und ahslie^' werden
sich dabei wol meist von >tlhst ergehen haben, aber gedichte so
complicierten bau es, wie wir deren viele, namentlich aus den
spateren jähren kennen gelernt haben, mit sorglich abgesetzten
anfangen und Schlüssen, respondierenden motiven, fast un-
merklich den gedanken weiterführenden, durch rhetorische Bguren
zusammengeschlossenen parallelstrophen, mit bildlichen und bild-
losen teilen, Übergangsstrophen, vollends solche mit <lc»pj>el-
motivea und ausgesuchter Verbindungsstrophe — deren ent-
slehung kann nur hewust gedacht werden. höchst bewust
sogar, unter aufbietung alles kunslverstandes und aller kraft
der phantasie.
Dass einige male in symmetrisch gebauten liedern ein früherer
composilionslypus , allgemeines und specielles, durchschimmert
— durch das ganze zh. in xvi und LVH, durch teile in xxu und
xxiv — , kann nur den beschrankten systematiker stören, wer
gewohnt ist, formen dynamisch, als Functionen des kunsttriel
aufzufassen, wird solche scheinhare Unregelmäßigkeit gerade als
bestätigung und als beweis des lebens ansehen.
62 BRECHT
Ulrich gibt sich in eingäugen, Schlüssen, einzelnen Wendungen
häufig den anscheiu des aristokratisch sorglosen improvisators,
der eigentlich nur aus gesellschaftlicher liebenswürdigkeit dichtet,
ist aber ein bewuster künstler. als solchen zeigen ihn auch die
stellen des Frauendienstes, in denen er vom hergang bei seinem
dichten spricht, oder ästhetisch räsonniert. es ist allerdings
auch vieles in seinen liedern, namentlich in ihrer flüssigen diction,
was wiirklich auf freiheit und leichtigkeit der production schliefsen
lässt : das schliefst aber eine bewuste kunstübung keineswegs aus.
bedarf doch gerade der improvisator am meisten der einsieht iu
die mittel der dichtkunst und ihrer sicheren beherschungl —
Inwiefern nun die technik Lichtensteins in der composition,
speciell der symmetrische typus, sein eigentum ist, oder auch
nur, in wiefern sie etwa bei ihm besonders ausgebildet ist, liefse
sich nur sagen, wenn Untersuchungen über die composition
anderer mittelhochdeutscher lyriker in genügender anzahl vorlägen,
der vergleich würde dann über das mafs der persönlichen leistung
Ulrichs wie über seine individuelle anläge in hinsieht auf dichte-
rische architektonik entscheiden, vielleicht ist das allgemeine
kunstgefühl der höfischen zeit auch auf diesem punete feiner
ausgebildet gewesen, als man gewöhnlich annimmt; vielleicht ver-
langte hier das aristokratische publicum in ähnlicher weise
leistungen, wie es sie in hinsieht auf die klarheit der sprachlichen
form verlangte und befriedigt in Hartmanns versen anerkannte,
deren 'krystallklarheit' unsere gröberen ohren auch nicht mehr
ganz so würdigen können.
Man müste die compositionsweise Ulrichs mit der Wallhers,
Reinmars und anderer eingehend vergleichen, es liefse sich eine
arbeit denken , die aus der gesamten höfischen lyrik eine art
durchschnittlicher Vorstellung der dichtenden und vielleicht auch
der geniefseuden Zeitgenossen von den aufbaumöglichkeiten eines
gedichts festzustellen suchte, durch vergleichung der compositions-
arten liefse sich vielleicht ein neues kriterium für den Zusammen-
hang von dichtem unter einander, einfluss und abhängigkeit,
finden, das geeignet wäre, im eigentlich künstlerischen weiter zu
führen als blofse parallelstellen, entlehnungen einzelner motive
oder gelegentliche berührungen im Wortschatz.
Vielleicht, ja wahrscheinlich teilt zb. Ulrich seinen sym-
metrischen typus mit manchem seiner dichtungsgenossen. es
ULRICH VON LICHTENSTEIN 63
handelt sich liier wol vielfach Überhaupt um Uberpersönlicbe
dinge, um unbewuste lyrische kunstgeselze.
Es sind im gründe einfache compositionstypen, die Ulrich
hat. auch in den symmetrischen, seinen differenziertesten ge-
dichten steigt er von den einfachsten Verhältnissen zu com-
plicierteren , aber immer noch Übersichtlichen auf; daher die
kleinen Strophenzahlen. warum lieht er nun die ungeraden
zahlen? weil sie den auf- und absteigenden gang begünstigen,
warum gerade die untersten primzahlen? die teilung in gleiche
teile — wenn dies nicht die. einzelnen Strophen seilet sein
sollen — wird durch sie erschwert, hei neun Strophen zh. wäre
man versucht, die üeunteiligkeit als dreiteiligkeit aus je drei
zusammengehörigen Strophen aufzufassen. die höheren un-
geraden zahlen sind also als grundlage der gedichtproportionen
ehenso ungeeignet wie die geraden zahlen, und aus demselben
gründe. —
Warum hat das drama fünf acte? oder drei? warum hahen
die versuche, das vieractige drama einzuhürgern, keinen erfolg
gehabt? weil 3 und 5 die untersten Zahlenverhältnisse geben,
die anstieg, höhepuuet, abstieg, oder stofs, gegenstol's, syuthese
in teileinheiten übersichtlich auszudrücken vermögen '.
Es ligt hier wol ein ganz allgemeines und eingeborenes
istbelisches bedürfnis zu gründe.
DRITTES CAPITEL.
STIL DES POETISCH EN AUSDRUCKS.
Kunstreiche composition von gedienten bedarf, um augemessen
zur erscheiuung und zur würkuug zu kommen, ebenso kunstreich
ausgebildeter ausdrucksmittel im einzelnen, je complicierter die
composition , um so höhere anfordungen stellt sie an die ge-
schmeidigkeit des poetischen Stils, als des Werkzeuges mittels
dessen die phantasie den rohen Stoff in die Sphäre des freien
spiels erhebt, das bedürfnis, diese aufgäbe zu bewältigen, hat
auch bei Ulrich eine beträchtliche anzahl speciellei redefornien
(üguren und tropen) geschaffen.
Ich beginne mit einem in verschiedenen formen bei ihm
1 von 'abmessung des raunies im drama' spricht EGeiger (Hans Sachs
als dichter i A 1); auch im lyrischen gedieht gibt es derartiges.
64 BRECHT
wie bei anderen mhd. lyrikein namentlich der spätzeit besonders
cultivierten Stilmittel, der
Ana pher.
Die von hause aus strengere form der anfangsanapher
lindet sich bei Ulrich weniger ausgebildet, als die innere.
Beispiele einfacher anfange dieser figur sind :
Daz mir noch an ir gelinge,
daz ich scelde an ir bejage (97, 19).
da ligt ouch al min smerze,
da ligt ouch al min klagende leit (126, 14).
Tuot dir den tot
so süeziu not,
so senfliu swcere,
so lieplich twanc — (134, 23 f).
Ähnlich 419, 12. 13 (ez si — ez si) , 420, 16. 20 (Owe —
owe). erster und zweiter Stollen durch anfangsanapher verbunden
572, 13. 15 : Ich hdn — Ich gesach — (liv); Mich lat niht —
Mich kan — niht — 323, 1. 3 (xi). in demselben liede xi anfangs-
anapher des zweiten Stollens und des abgesanges, 322, 10. 12 (Daz
— Daz — ). anfangsanapher des dritten und sechsten (letzten) verses:
da für hdn ich helfe funden — da für hdn ich arzenie (lvm: 584,
3. 6). anfangsanapher in parallelsätzen, deren zweiter an bestimmtheit
gewinnt (ein haupikunstmittel Ulrichs) :
Wenne kumt mir freuden schin?
wenne wil du, stelic frowe, gefreun daz sende herze min?
(397, 17).
In anapho ri sehen reihen tritt die anfangsanapher
paradigmatisch auf in lied xvii. str. 1: Freut iueh — vers 1 und 3
Strophe 2 lässt alle verse mit Wip beginnen. Strophe 3, die
mittelste und hauptstrophe, ist anaphernfrei (dafür bekräftigende
erklärung: ja mein ich — 406, 15, einziges beispiel). Strophe 4
hat in den ersten fünf versen anfangs-, in den beiden folgenden
innenanapher desselben Wol, Strophe 5 am anfang der ersten
vier verse Got, der zwei letzten daz.
Anfangsanapher durch alle Strophen hindurch, zt. in genauer
responsion, begegnet in xii.
Strophe 1.
vers 2. da: —
- 3. daz —
slrophe 2.
vers 5. daz —
ULRICH VON LICHTENSTEIN
slrophe 3.
Vi'! -
dax —
- 4.
duz —
5.
dax —
Strophe 1.
vera 1.
daz —
slroplu- 5.
Vi'IS -1.
daz —
Man bemerkt die Bteigeruog Ins zur mitte und das absteigen,
_:-■ ii;ui entsprechend der composition dea liedes, die symmetrisch
ist (s. o.). die gehäufte anapher bezeichnet hier durchgehends
parallelsalze, die in eiliger häufung alle nur 6inen gedanken, das
ziel seiner Sehnsucht, gewaltig zum ausdruck bringen, gleich-
zeitig bilden sie das feste gerilst des mit blühender phantasie
der roimkunst und Synonymik verzierten liedes.
Genau respondierende anapher des abgesanges, auch dem
sinne nach, zeigt das xr lied : Daz diu vil süeze — Daz der
vil (juoten — Daz si vil liebe (322, 5. 12. 19), in den ersten
drei Strophen, die aufstieg und mitte des symmetrischen gewichtes
umfassen; die mittlere hohe ist durch rascheste widerholung des
versbeginnenden daz in synonymen s.'itzen (322, 18. 19) bezeichnet.
Kespondierende ungenaue Strophenanfangsanapher, aber in
metrisch nicht genau entsprechenden gesätzen, im leich (xxv):
Ich rat tu — (423, 1); Daz rate ich — (423, 20).
Reicher ausgebildet und zum ausdrucksfähigsten kunstmittel
erhöhen hat Ulrich die sonst vielfach als kunstloser angesehene
(vgl. Roethe aao. s. 296), gefährliche, weil bequemere innere
anapher.
Einfachste beispiele :
rieh an freuden, rieh an aller sailikeil (397, 2).
wes ich mir von ir ze guote, wes ich mir von ir ze diensle —
(400, 6).
Widerholung der anrede:
Vrowe, miner freuden vrouwe,
vrowe min übr allez daz ich hdn — (549, 17)
Widerholung desselben Stammes in verschiedenen ablautstufen :
si muoz mir gepunden sin.
bant, dd mü ich si binde — (126, 6).
Nachdrückliche oder spielende anaphern nehmen den Charakter
der ep izeuxis an :
dd von ist daz herze min,
Swie ez uileret, vrd nö vrö (507. 2
Z. F. u. A. XLIX. N, V. XXXVII. 5
66 BRECHT
Uz ir kleinvelrötem munde
süeze süeze süeze gdt (5S4, 25).
da ein liep mit liebe umbegdt (583, 12).
Wibes schcene, wibes ere,
ivibes güete, wibes zuht — (437, 9).
In dem üblichen turnierruf:
nu tuo her
sperd sper! (458, 4).
Zur hervorhebung eines hauptgedankens:
vinde ich die, so vinde ich ere (422, 10).
In dringender aufforderung :
nu küsse lüsent stunden mich:
so küsse ich zwir als ofte dich (447, 19).
In lieblingsworten wie. süeze, guot, wip und ihren ahleitungen:
Du bist süeze, da von ich dich suoze grüeze (436, 22).
Süeziu wort, diu künnen süezlich süezen
ir vil süezen röten munt (508, 8).
— mit süezen worlen suoze süezen — (534, 8).
— güellich si mir güelet (508, 16. 524, 22. 556, 12.
566, 22).
ir güete ist so guot (323, 5).
ir guot wiplich güete (525, 3).
wibes güete, du bist guot (545, 7),
si ist schcene, reine, güellich guot (584, 29).
si ist so reht güetlichen guot,
daz ir güete mir git höhen muot (556, 14).
Wil diu minnecliche guote
minneclichen hüeten min (4 1 0, 5).
liebe lieblich (104, 29).
wiplich wip (zb. 445, 21. 447, 8. 561, 20).
röte rösen roete (508, 30).
Auch Verbindung eines verbums mit einem näheren object gleichen
Stammes (Roethe s. 299) findet sich mehrfach, zb. rat ich einen rät
(422, 26. 560, 8), ir spil minne wil spiln (433,8), springen
manegen sprunc (584, 24).
Zur hervorhebung eines Vergleichs :
mit ir kleinvelröten munde
ziuhet si mir trüren gar uz herzen gründe.
Schouwet wie diu pie ir süeze
üz den bluomen ziehen kan,
also ziehen t mir ir grüeze
trüren von dem herzen dan (534, 1).
ähnlich 566, 5. 8 (lere — leret).
Anfaugsanapher allein oder innen- und anfangsanapher
gemischt werden zur stroph e n ank niipfu ng verwendet:
ULRICH VON LICHTENSTEIN
— der meie si getröstet hat.
Der meie Iroeslel al du: lebl — (131, 5)
— sied man liep l>t liebe riht.'
Sud zuri Uep ein ander meinenl — | 129, 22).
ähnlich 437, 7. 9.
— erst dir holt mit (rttoen, duz geloube mir.
Er hat sin oil ivol genossen — (515, 29),
— ictutz ie die nidern minne fläch.
Nideriu minne, an freuden tut — (58, 32).
Bei weitem am meisten anlass zur aunphora gibt die aus-
geprägte liebe zu stichwor leu. Ulrichs poesie ist erfüllt davon.
einige beispiele müssen genügen.
Im leicli (ixv) werden drei gesätze hintereinander fast ganz
gebildet von den stichworten scheene, guot , güete (423, 23 f.),
besonders 423, 25 f:
i(7 guot vor allem guole
Ist der wibe güete, und ir schoene schxne ob aller
schoene.
Ir scheene, ir güete, ir werdikvit ich immer gerne
kroene etc.
//• scheene, ir güete, ir werdikeil
wird gleich darauf 424. 5 Dach art des Iridis am ende des ersten
teiles resümierend widerholt, ähnlich steete 124,21 bis 425,4
viermal widerholt.
Das Stichwort rät, dreimal widerholt, hilft den zweiten teil
des in liedes (schema: 1+2 + 2+1) tragen, Strophe 2 uud 3.
ähnliches gilt von xlvii, dessen einleitung und mittelteil (im
schema 3 + 1 + 3) auf dem begriff der güete (sechsmal) auf-
gebaut ist.
Die beiden Strophen des allgemeinen teiles von xlv (schema
2 + 3) werden als besonderer teil auch dadurch markiert, dass
am anfang und gegen ende der ersten Strophe Waffen widerholt
wird, im ersten und letzten verse der zweiten niht vrö gemachen —
gemuchent nimmer vrö.
Die gehäuften stichworte wert, werdikeit, güete, wip, wol,
constituieren, abgesehen noch von den in den anaphorischen
reihen befindlichen, das ganze spielerige lied xvn; huole, hüelen,
merken mit unglaublicher technik 22 mal gehäuft in 33 versen,
xvih, von dem xix auch in dieser beziehung ein schwacher ab-
klatsch ist, jedoch dadurch merkwürdig, dass die stichworte nur
im hauptteil des nach dem schema 1 + 3 + 1 gebauten liedes
68 BRECHT
vorkommen, in der mittelsten Strophe am häufigsten, in Strophe 3
und 4 nur je einmal, so wird die composition unterstützt.
höher muot, höchgemuot, wolgemuot, höchgemüete werden in allen
siebeu Strophen des xliv liedes, das jubelnde freude ausdrücken
soll, vorgebracht, dasselbe wort, in derselben absieht, erscheint
viermal (wenn man 445,14 mitrechnet) in der mittelsten1
Strophe von xxxiv, einmal, stark betout, in der zweiten, die sonst
ihr eignes Stichwort, truren, hat, neben sorg und angest, das
sie mit der ersten teilt; die vierte spielt mit wip, icipheit, wiplich,
die fünfte mit lip, wip, lieplich. xxm hat für die drei ersten
Strophen das Stichwort steete, für die vierte triwe, die fünfte
bant pl. (compositionsschema 3 + 2); aufserdem wird minne in
Strophe 2, 3, 5 widerholt.
Principiell und in klarerer durchführung durch das ganze
dient die innere anapher von Stichworten der com-
position in folgenden fällen:
Im xiv liede (1 + 44-1) füllt das hauptstich wort des ge-
dichtes, wünsch, wünschen, die vier hauptteil-strophen, die sich
dadurch deutlich herausheben, in der anfangs- und der schluss-
strophe kommt es nicht vor; jene ist aus autithesen (s. u.) ge-
bildet, diese hat ihre eignen anaphorisch verwanten stichworte,
guot, güete, senede, tröst.
xxvm betrachtet seinen symmetrischen aufbau (1 -f- 2 — |— 2 — (— 1)
in hinsieht auf innere anapher als zweiteilig, indem es die erste
hälfte, Strophe 1 — 3, mit dem Stichwort liep , liebe, die zweite,
Strophe 4 — 6, analog mit stCBte ausstattet. dabei entspricht
symmetrisch Strophe 2 der Strophe 5, insofern in jener das erste,
in dieser das zweite Stichwort am stärksten gehäuft erscheint.
In xlvii tritt das eine Stichwort lip in der einleitenden und
in der pointierenden schlussstrophe nur je einmal auf, während
die drei mittleren Strophen, in denen die Steigerung des liedes
vor sich geht, unablässig mit lip, liep spielen.
xlix markiert seinen aufbau 2 + 3 dadurch, dass es den
allgemeinen Strophen 1 und 2 das zweimal widerkehrende Stich-
wort ungefüege (dazwischen gefüege) verleiht, den specialisierenden
Strophen 3 — 5 die stichworte lip, liep (3 u. 5), guot, güete (3, 4, 5).
1 hier wie in einigen andern fällen scheint in liedern des typus C
(allgemeines und specielles) eine art Symmetrie durch; die mitte wird immer
gern betont.
ULRICH VON LICHTENSTEIN
li (14-2+1 + 2 + 1) verwendel guot, güete zur ein-
leitung (nur zweimal in >ir. 1 |, zum aufbau des ersten hauptleiles
(1 motiv; Gmal), zur verbindungsslrophe (einmal), chiastiscb mit
einem andern Stichwort (s. u.) zur Formierung des zweiten haupl-
teils (2 motiv). die scblussstrophe mit ihrer Wendung aufs
persönliche meidet es ganz.
In i.vi (typus 15) werden stufen der Steigerung bezeichnet,
phe 2 und 3, allgemeinerer ausdruck der Sehnsucht, wider-
holen das springen i\v> herzens zur dame; 4 — 6 das Lassen; die
höhe am schluss und die ruhe am anfang (sir. 1 u. 1) ver-
schmähen beide das Stichwort.
lvii (1 + 2 + 1 + 2+1) füllt die einleitungsstrophe und
den ersten hauptteil mit wünschen, wünsch; den zweiten bauptteil
und die scblussstrophe mit lip, liep, liepliclt, wip, die schon am
ausgang der Verbindungsstrophe anklingen.
Nicht ganz so rem geglückt ist das nach demselben Schema
ante lied LViti, in dem zwar einleitungsstrophe und erster
bauptteil das Stichwort tount, wunden, haben, der zweite bauptteil
und die schlussstrophe aber nicht entsprechend einheitlich be-
handelt sind, indem Strophe 5 siieze, guot, Strophe G und 7 aber
iip, liep widerholen; Strophe 7 dazu noch für sich allein e're.
Gelegentlich bequemt sich die äufsere oder innere anapher
zur geregelten responsion. so in xxwu, das Strophe 2, 3
und 5 mit Swä beginnen liisst; in x, wo die vorletzte zeile der
zweiten wie der dritten Strophe mit der interjectiou we anlangen,
ein im dialog reizvoller parallelismus. versgruppen respondieren,
allerdings nicht genau anaphorisch:
/i» isl so kranc
ir Ion und ir habedanc — (415, 1 mitte).
nu ist ir danc
cd ze Juane — (415, 23, schluss von xxi).
Es ist nur folgerichtig, wenn auch stichworte in ge-
nauer responsion die gliederung des gedichls hervorheben
helfen, im v liede, das nach dem typus C (2 + 3) gebaut ist,
wird der erste, allgemeine teil durch doppelle responsion am
anfang scharf von dem zweiten, speciellen abgegrenzt: Strophe 1
vers 1 : Sumer, Strophe 2 vers 1 : Sumers; Strophe 1 vers 5:
Winder, Strophe 2 vers 5 : Winder. der zweite teil spielt mit
70 BRECHT
lip, liep und leit. — im xxxn liede beginnen alle sieben Strophen
sehr eindrucksvoll mit Höher muotx.
Innere responsion des Stichworts naht zeigt lied 11 : an
metrisch gleicher stelle, auf der ersten silbe des zweiten fufses 2,
in Strophe 1, 2, 3, 5, in Strophe 3 allerdings im vierten, statt
im zweiten verse; in Strophe 4 des Jugendgedichtes steht un-
regelmäfsig nahtes als erstes wort des zweiten verses. —
Anapher tritt in chiastischer form auf:
— mir von ir, ir von mir — (400, 6).
Schcene von ir güete ist min vrouwe,
si ist von ir scha>ne guot (507, 27).
bislu vro, so bin ich hohes muoles.
mirst ze hohem muole niht so guotes,
so daz du sist herzenlkhen vro (518, 5 f.).
Chiasmus von verschiedenen Worten desselben Stammes und
synonymen bezeichnet den eingang von li:
— daz si vrö mit zühlen sin.
zuhl bi freu den vrowen schöne sldl.
swelch wip ist mit zühlen höchg emuot. —
in demselben liede ist chiasmus zur Unterstützung der composition
verwant in str. 5 und 6 (ii hauptteil) : Swelch man — guot wip,
Ein guot wip — swelch man (vgl. o. s. 54).
Das gegenstück der anapher, die
E p i p h e r
fehlt Ulrichs lyrik nicht, ist aber natürlich wegen des reims un-
vergleichlich schwächer entwickelt, der durchgeführte grammatische
reim von lii streift zwar die epipher und erreicht gewis ihre
würkung, ist aber nicht eigentlich epiphorisch, da sich nie die-
selbe wortform widerholt.
Epipher von guot in xi, 322, 7. 18. 323, 5 (neben innerer
anapher von güele), als unvollständige responsion in vi, 110, 5
guote, 110, 17 entsprechend güete, je am ende des ersten Strophen-
verses; 111,2 güete, aber im zweiten verse.
Epipher zum Strophenübergang, gleichzeitig zur Ver-
knüpfung der mittleren verbiuduugsstrophe mit dem zweiten
hauptteil in lvii, 583, 3. 5. 7. 9 : wip — lip — wip — lip.
dieselbe epipher am Strophenübergang, zu analogem zweck, findet
1 wie stolz Ulrich und seine dame auf diese responsion waren, zeigt
FP 442, 8 f. 2 vgl. Roethe aao. s. 304 unten.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 71
sich beim Übergang des allgemeinen teils in den speciellen, liv,
572, 11. 12. 13. l."> : lip — wip — lip — wip.
Weniger verbreite! als die anapber ist bei Dlrich, wie bei
den meisten Zeitgenossen, ihr gegenteil, die
\ ii i i i h ese.
Einfache beispiele:
In wenden wdne
bin ich creuden (ine (134, S).
freude ist süeze, sorge ist süre (421, 7).
— slt ich bin ir leides
in'irii- undr ii .'/'-/( vrö (545, 22).
Sinnlich herze rindet man bi Schilde:
Zegltch muot tnuos sin dem schihle wilde (457, 21).
Mit allitteration:
lieben wdn und leiden wanc (421,28).
.Mit anapher:
ez si fr um odr ungeteilt,
ez si liep odr ez si leit (419, 12).
Cbiastisch:
daz er tveer ir und si wter sin (448, 8).
im und ir, ir unde mir,
hin und her, SUS unde also (51(J, 22)
am end- und hühepunet des ansteigenden liedes xlf. in derselben
absiebt ist eine zierlich pointierte doppelantithese ans ende des
pointenreicheu dialoges xxx gesetzt:
'wis du min, so bin ich din\
'sit ir iteer, so bin ich min' (436, 7 f.).
Antithesen zur einleitung benutzt:
xiv, 1 str. :
— icolgemuulen — — ungemuol,
— — grözen — — kranc.
— — minnen hazzel lieben leide tuoi.
— — ireude — — sorgen — —
(399, 9—13, ähnlich, nur einfacher 553, 25. 27. 31).
Beim abschluss:
— süezen gedingen, da bi jdmers vil (408, 32).
Als Grundlage des ganzen gediebts:
xxii : ausdrücklich betont in der mitte, zugespitzt und
spielend widerholt am schluss (str. 3. 6. 7):
Daz lop ist der guolen wibe al eine :
da ist der valschen kleine mü gedüht
(417, 13, ferner 418, 1 — 14), doeb auch sonst vorkommend, die-
selbe antilhese 425, 1. 2.
72 BRECHT
Spielende autitheseu;
v, vierte Strophe : liep und, leit (105, 1 — 7), an ihrem Schlüsse
noch freuden — jämer, 426, 25 wip unwiplich. ähnlich in liii :
Wip und fr owen in einer wcete — — — — vrowe unwiplich
(566, 17 f.).
Anaphorisch:
din lieber man, min liebez wip,
daz si wir beidiu, und ein lip (447, 27).
Die autithese steigert sich zum oxymoron (vgl. Burdach,
s. 69 I).
II Helen ist den senenden leit:
ako* wünneclichiu huote
wcere mir ein swlikeit (410, 9 f.).
— da von ist ir ratsch den guolen guol (418, 14 in xxu,
sclilusspointe, s. o.).
si ist übel, si ist guol,
wol und we si beidiu luot (nämlich die minne, 435, 10).
Häufung, synonyme, asyndelon.
Die gegen ende der mhd. lyrischen entwicklung so stark
hervortretende, schliefslich gefährliche neigung zu häufungen
macht sich schon bei Lichtenstein in hohem mafse geltend, die
häufung, fast durchgehends asyndetisch, ist ein wesentliches
element seiner poesie. mit Vorliebe verbindet sie synonyme,
und bringt so, womöglich noch in Verbindung mit andern rede-
formen, virtuosenhafte parallelismen hervor, für eigentliche auf-
zählungen gröfseren umfanges ist Ulrich zu geschmackvoll.
Einfache asyndetische häufu n gen : tanzen, singen,
lachen (113,21), ougen wunne, herzen spil (417, 10), heide, vell,
anger, wall (431, 21), heide, velt, wall, anger, ouwe (436, 24), deren
färben wiz, röt, bld, gel, briin, grüen (431, 24, in xxix, das als
reie asyndelische häufung liebl). — körperleile der geliebten : ir ougen
kinne wengel munt (448, 24), dasselbe in asyndelischer liäufung von
sechs gliedern 521, 25 und gleich darauf 521, 31; an diesen stellen
sind je die beiden ersten glieder des asyndelons durch anapber des
possessivums (ir hals, ir ougen) nuanciert. — ritlerlicbe forderung:
Ir sült hochgemuot sin under schilde,
Wolgezogen, küene, blide, wilde — (457, 3).
segensreiche gaben der geliebten : wende, xounne, rillers leben
(525, 19), lip, guol, eregernden sin (525, 22, xliv beschwerung des
dritten gliedes; ähnlich 425, 8 und 426, 20, je vier glieder. —
liebkosung : Güetlich triulen, küssen suoze, drücken brüst an
brüstelin (516, 13). — ihre lugenden : sist noch bezzer danne guol,
schoene, dd bi tvol gemuot (400, 17, sehr ähnlich 415, 15), drei-
ULRICH VON LICHTENSTEIN 73
gliedrig 427, 7; 449, 22 f; 508, 24; 509, 5; 537, 1; 577,2 *ier-
gliedriges, 546, S fiinfgliedriges asyndeton mit swei vorbergelmden,
gleichfalls asyndetischen, anaphorischen parallelsätzchen, 572, 25. 26
gar ein sechsgliedriges ; 576, 17; 5S4, 29. 30. mit anapher 400, I:
ir vil lieben, ir vil guolen, höehgemuolen, desgl. 12:;. j 7 ; 554, 17 f.
(4 glieder). — desgl. fiir leilt und seile : an dem Ube, an dem
muote (554, 24), als gesamlausdruck der exislenz. für kommen und
gehn : ir urloup, ir grüesen (525, 1 1).
Den gipfel erreichen folgende fälle: dreigliedriges asyndelon mit
innerer anapher, nebst synonymen im ersten glied:
Heize und aller min tjedane,
Irine an allen kraue,
rekÜU sldl du allen leanr (126, 9 f)
und fiinfgliedriges asyndeton mit viermaliger anapher und adjeelivischer
beschweruog des ersten, vorletzten, und namentlich des letzten gliedes:
Mit staslem muote,
mit libe, mit guole,
mit reiner fuoge, an alle arge sile (136, 5 f.).
Das hauptgebiel der asyndetischen bäufung aber bilden die
synonyme, in denen Ulrichs phanlasie und sprachkuast sich
Dicht genug tun kann, eine fülle von formen tritt uns hier
entgegen — schon die bisher angeführten beispiele zeigten mehr-
fach lendenz zur synonymie — : sie alle anführen, hiefse Ulrich
halb ausschreiben, er zeigt, durcheinander, alle stufen der ent-
wicklung; die neiguug zu dieser ßgur aber nimmt beständig zu.
liebe, minne, ist al ein (430, 2). behalte, behüele (404, 29).
min [riunl, geselle, lieber man (,4 4 7, 14). süeze, reine, vil guot
(404, 1), si vil guole, süeze, reine (441, 30). die zit wol ver-
triben, ze scp.lden sich ke'ren, bi freuden beliben (403, 25). uf e're
sich pinen, in lugnden ersehinen (404, 16, beides in xvi).
Mannigfaltigster ausbildung labig ist diese figur durch ver-
schiedenartige Verwendung der anapher.
Zweigliedrig : der guolen, der reine gemuolen (134, 20).
so sunder, so se're (394, 19). slcele liebe , slcelen muol (430, 8).
uiplich zuhl und uiplich güele (576, 17). mit liebe, mit güele
(404, 30). er hazzel, er schiuhel etc. (404, 12 analog 400, 6).
ir merken, ir Jiüelen (40S, 1). ir aller güele, ir aller wünschen
(398, 6). vor unfreuden, vor unmuote (410, 7). mit ir triulen,
mit ir lachen (533,21). der vil guolen, der vil werden (322, 12).
rieh an freuden, rieh an aller seclikeit (397, 2). trösl für iriiren,
trösl und rät für senediu leil (397, 4).
Dreigliedrig : si reine, si scelic, si höre — st guole, si
liebe, si reine mit si liebe, si guole — st liebe, si süeze — si
scheene , si cldre respondierend als integrierender bestandteil von xn.
74 BRFXHT
so süeziu not, so senfliu sucere, so lieplich twanc (134,24). Min
tröst , min wünne, miner sirlden keiserin (322, 26). Für sin
stürmen, für sin suchen, für sin ungefüege drö (446, 17).
Asyndetische anaphorische synonymenpaare: den
minnet, den meinet, mit herzen, mit muole (404, 27).
Viergliedrige anaphorische asyndeta von syno-
nyme n :
vrowe schoene, frotoe reine,
frowe S(BÜc, frovoe guot — (434, 19).
Wibes schoene, wibes ere,
wibes (jüete, wibes zuht — (437, 9).
— miner freuden wunne,
mines herzen spilndiu meyen sunne,
min freuden geb, min stelden wer (513, 24).
Folgerichtig überträgt Ulrich die stilform vom einzelausdruck
auf den satz. es entstehen die rhetorisch oft sehr würksamen
kurzen parallelsätze mit anapher und synonymen.
ich wünsche, ich dinge (395, 9). si ist schoene, si ist guot
(546, 7). diust min wunne, diust min frouwe (449, 14). Wil si
guole, wil si reine, wil si süeze — (410, 12). si git freude, si
git ere, si luot höher lugende rieh (435, 22). Si hat schoene, si
hat ere, sist ein reine süeze wip (441, 21). Ich hdn von ir ere,
ich hdn von ir höhen muot. dannoch hdn ich mere von ir
(525, 15 f.). — Ich hdn von der guolen — (525, 21). Ich dähte
dort, ich ddhle hie, Ich ddhl an dise, ich ddht an die (439, 22).
Beliebt ist die art, asyndetisch gehäufte parallelsätze inhaltlich
im letzten parallelsatz zusammenzufassen:
Herre, kan diu minne swenden
Irüren und ouch senediu leit,
höchgemüel in herze senden
füegen zuht und werdekeil,
hat si alles des gewall — (435, 13 f.).
Aus solchem material zimmert Ulrich seine parallelstrophen,
deren bedeutung für die composition im zweiten capitel besprochen
worden ist. die Vorstufe zu ihnen bilden die häufigen parallel-
sätze aus scheinbar ganz gleichwertigen synonymen zusammen-
gesetzt, die aber doch allmählich bestimmter oder nachdrücklicher
werden, und so den gedanken oder das gefühl weiterführen,
womöglich noch anaphorisch:
Daz diu vreude lange wer,
daz ich weinenl iht erwache,
daz ich gegen dem tröste lache,
des ich von ir hulden ger (98, 1 — 4).
ULHICI1 Vi» LICHTENSTEIN 7:.
Und also grüt
ilnz ir gebasre min swaere mir büexe,
duz si mich scheide von leide, ri liebe,
Wenne hunU mir freuden schin?
wenne wil du, soßlic frowe, gefreun duz sende herzt min?
(397, 17).
/Uyndetische bäufung liebt Ulrich endlich beim attributiven
adjectiv, besonders bei epithetis für sein»' dame oder ihre
enschaften. die hierfür traditionelle zweigliedrigkeit genügt
ihm nicht.
ir reinen süezen lip (445, 22), mit linden nizen armen
(449, 1). Wil SO reinem süezen trihe (449, 17, d.'iss. 580.21).
guot wipllch irip (537,3). dise liebe süeze unmuose (516, 15).
iwer minneclichen süexiu wart (550, 17). diu eil siiezer minneclicher
lip (518,23), ir ril liepllch, güellich lösen (533, 27). ir Hehlen
spunden süexen ougen (525, 2). ir ril liepltch güellich lossllch
grüexen (511b, 6). durch die reinen süezen guoten herxenlieben
werden vrowen min (556, 16).
Substantivierte adjeetive als träger dieser häufung sind ganz ge-
wöhnlich, zb. diu süexe minnecUche (513, 10), diu ril reine süeze
(520, 29), diu reine süeze guote (554, 25).
Die neigung nimmt gegen ende mit der wachsenden künst-
lichkeit der lieder zu.
Polysyndeta kommen bei Ulrich kaum vor. über drei
glieder, deren drittes er auch hier beschwert, geht er nicht
hinaus : Erge und unfuoge um! unfuore diu wilde (404, 18) l.
Mit den zuletzt besprochenen erscheiuungen nahe verwant
ist der syntaktische parallelism us; aucli er ist bei Ulrich
nicht selten, sehr häufig tritt er als congruenz auf. irgend-
welche regel für die beschwerung der glieder (vgl. Joseph Klage
der Kunst s. 43 und bes. 44) lässt sich nicht finden.
Co ngrue u z : Erdenken und erwünschen (417, 11). unfuoget
und gewaldel (419, 20). wunne und freude (5S1, 24). ir mimte
— und ir gruox (457, 29). ir sil unde ir muol (572, 3). min
tröst l"ur (raren und min freuden gebe (585, 12), für klagendiu
teil und ouch für senede not (403, 15). min heil und ouch min
wünne (423, 23). mit hohem muote und ouch mit ritterlichem
leben (429, 6). ir urloup und ouch ir grüezen (534. 7).
Incongruenz : daz herze und aller min gedanc (399, 12).
scelde und al der vreuden min (399, 17, beides xiv). eines werden
1 in der lelirdichtung kennt er dies stilmittel : 3S verse langes Poly-
syndeton im relativsatz FB 637, 5 bis 638, 10. ein noch längeres 642, 2 his
643, 28 (59 verse).
76 BRECHT
wibes hulde — und ir minne (553, 22). werdes uibes minne und
ouch ir friundes gruoz (42S, 20). Iruren und ouch senediu leil
(435, 14). in hohem muote und ouch bi freuden (445, 12).
Breite.
Verschiedene der behandelten redeformen führten schon ein
elemeut der breite mit sich, das häufig zur äufseren Zierlichkeit
der lieder ungemein beitrug, ihren iuhalt aber verdünnte; so die
verschiedeneu formen deranapher, die synonyme, die parallelismen.
noch andere redeformen haben diese würkuug, die, weniger
zierlich, häufig nicht auf künstlerischer absieht, sondern auf
lässiger gewohuheit beruhen.
Künstlerische geltung haben am ersten noch die spielen-
den Variationen von vorhergehndem. so überflüssig sie
meist für den inhalt im grofsen sind, ganz still steht der gedanke
in ihnen doch nicht (s. o.)
Hier ist ein hauptgebiet des chiasmus, zb. 419, 17 — 21
(swer — swer), der auch manchmal zur schlusspointieruug dient:
509, 2 — 5 {Ir lip — — ir rot wiz prnner schin).
Die Variation bringt ein notwendiges moment in den
gedanken; statt vieler beispiele:
swer mil zühlen Ireil der freuden kränz,
und dem sin muol stäl von wiben ho — (536, 11).
In das letzte glied der Variation kommt das im folgenden
weiterführende motiv:
holten lop erwirbel höher muol.
guolen wiben höchmuot wol behagl:
du ton wil ich immer mere sin
höchgemuol durch dich, guot vrowe min.
Yreude gibt mir di n wol redender munl etc. (536, 17 — 20).
Ganz dasselbe am Übergang der vierten zur fünften Strophe
desselben variationenreichen gedichts xlvi, aufserdem mit breiter
widerholung (537, 3. 4). sehr instrucliv für die technik ist
schließlich das beispiel der letzten Strophe, in der die Variation
(537, 6. 7) des vorhergehnden (537, 4. 5) an ihrem ende das
Stichwort himel bringt, das dann den betonten gedichtschluss
herbeiführt, und in xlv der Übergang von Strophe 2 zu 3 (zwei
Variationen, Stichwort rösen), von Strophe 3 zu 4 (drei Variationen,
Stichwort zinhet).
Eine eigentümliche art der Variation zeigen die verse 520,29.
30, die 520, 25—28; 521, 5. 6, die 521, 1—4; 521, 11. 12, die
ULRICH VON LICHTENSTI IN 77
.Vi l, 7— 10; 521,17. 18, die 521, 13— 16; 521, >. die
521,25 — 2s in bewustem parallelismus variierend zusammenfassen;
521,21 variiert 521,21. zwei drittel der Btrophe werden im
letzten drittel repetiert, das ganze lied (.xlmi) ist daraufhin an-
gelegt; nur der pointierende schlug« macht eine, wol berechnetet
ausnähme.
Für il i e composition wichtig sind die Variationen
im xliv liede, wo sie den hauplteil <lrs gedichtes, Strophe 3 — 5,
wQrkung des wortes der dame, formieren; in den anfangs- und
Bchlussstrophen (schema : 2 + 3 + 2) fehlen sie.
Variationen ohne wert für den gedankengang bieten
dagegen die Strophen i in 7 im Verhältnis zu 6, lvi 3 zu 2, 5
zu 4; die verse 572,3—5 in bezug auf 571, 28. 29. 21. 22.
11 — 13. 7 — S: im liede liv, dessen Variationen von Strophe zu
Strophe sonst geradezu paradigmatisch >ind für die unvermerkte
weiterführung durch scheinbar absichtslosen Stichwortwechsel. —
l»ie eigentliche tautologie dient -eilen der prachl der rede :
Salden ich wäre vil rieh und au ireuden der fruote —
(394, 21),
oder ihrem nachdruck :
je und unfuoge und unfuore diu wilde]
geximl nilit dem helnn und toue nihl dem schilde (104, 19),
ist vielmehr meist zwecklos:
daz tuot herzenlichen icol und machet vrö (516. 24).
Wol ir kleinvelrötem mundet
immer scelic si ir süezer munl (563, 19).
Der letzte fall ist wie 563, 7 und 13 durch die grammatischen
reime des gedichtes (ui) hervorgerufen.
Besonders lieht es Ulrich, einen gedanken erst affirmativ,
dann negativ auszudrücken, auch wol umgekehrt:
vreude bringen und unfreude scheiden dan (417, 4).
den muot durch iueh höhe tragen
und an freuden nihl verzagen (443, 18).
ich verlribe
(Türen mit ir minem libe.
höhen muot ich da zir hol
(449, 13 f. Variation davon an entsprechender stelle «ler nächsten
strophe 449, 2S f.)- — über eine ganze strophe ausgedehnt : liii
slrophe 5. —
Zu pleonasmen, füllworten und flickversen kommt
es leicht unter dem zwange des künstlichen metrums oder des reims.
78 BRECHT
st kan troeslen sere (404, 10, ere : lere), bequemsten reim bringender
versscliluss : — daz weis ich wol (561, 7 : sol); dest also (577, 13:
vrö). fast traditionelle pleonasmen als notwendige verschen im leicli,
423, 13. 425, 17; und sonst, 567, 3. abrundende zusätze am
strophenschluss 435,12.26. 566,30. 567,12; als notwendige
Überleitung zur folgenden strophe 567, 5 (guote, obwol eben vorher
schon beste l). es ist bezeichnend für den Charakter der zweiten
minne, dass gerade in dem persönlichen schlussteil dieser letzten lieder
solche füllsei gedeihen.
Zur breite der rede tragen schliefslich die anknüpfungen
mit ouch (30,5), die bekräftigungen mit Jd (111, 1. 126, 19.
135, 4; zur einleitung des Wunsches : Jd herre — 401, 9; zum
betonten gedichtschluss 401, 12; bei der Zusammenfassung 553,24),
die erklärungen bei (Jd mein ich 406, 15; ich meine
576,11). ganz vereinzelte constructioneu äitö y.oivov (404, 21.
424,11. 521,22 — 24 lachen) kommen mit ihrer raumersparnis
dagegen nicht auf.
A llitteration und assonanz.
Es wird aufgefallen sein, dass manche der mitgeteilten stil-
beispiele aufser durch die eigenheit der repräsentierten figur
auch durch eine lautliche Übereinstimmung gekennzeichnet waren,
nämlich durch die allitteration ; schon durch die anapher
kommt ein starkes alliterierendes dement in Ulrichs verse.
aber auch die würkliche allitteration verschiedener Wörter ist
ihm ein vertrautes hilfsmittel der eleganten rede, dabei zeigt
er eine eigentümliche Vorliebe für die weichen, schmeichelnden
anlaute w und l.
wünschen unde wol gedenken (98, 5).
— so daz si mit willen günne
mir von ir so werder wünne — (98, 10).
ivolgemuotes werdes wibes sirme(576, 19, ähnlich 576, 17.21),
xiv strophe 5 (400, 20 f.) : 14 mal w-anlaut in acht versen,
derselbe in kleinerem mafsstabe 403, 22 — 24. ferner 406, 23.
428, 20. 513, 17 f.
— lieben wdn und leiden wanc (421, 28).
so si mit der liebe lose
ist nach ir vil süezen sit (581, 19).
freude ist süeze, sorge ist süre (421, 7).
ir höchgemuotes herzen rdt (428, 17). —
Lvni str. 6 : liehten — liebe — liep — lieber — lip
str. 7 : lieber — lip — lere — lebe (585, lf.)
beide Strophen werden so durch l für die Stimmung gleichmäfsig
gefärbt, die letzte aufserdem durch widerkehrenden tc-anlaut weiz —
ILIUCH VON LICHTENSTEIN 79
wenden — volle; der Bchlussvers erhält seinen Charakter durch eine
hüriere lautgruppe : trösl für frtfren. die stimmungmalende allitteralions-
kunsi des xvii Jahrhunderts war nichts neues.
Von Dblichen allitterierenden form ein trifft man aufser
der eben erwähnten tröst für trüren (zb. 401, 9. 585, 12), leit
mich liebe, Ziep nach leide (105, 1), min» unde meine (394, 20.
UH, 27), wol und we (435, 11), mm unde so (zl>. 513, 15. 582,21).
Die assonanz spielt eine weit geringere rolle, gelegentlich
unterstützt sie die allitteration : der nähen bi hl liehe lieplich Ut
(104,29), lief Hebe Ut (433, 10). ein beispiel wie Diu inioi
an den iciben, diu tuot mich so frö (408, 13) leitet über zu den
eigentlichen bi n u eurei men, die aus Ulrichs verskunst nicht
wegzudenken sind und zb. das zierliche lied xu wesentlich ge-
stallet haben (vgl. auch 423, 27; ungenau 567, 7). nicht selten
trelen sie in der form der schlagreime auf; zb. zecjlkh muot
muoz sin dem schilde wilde (457, 22). als ungenaue schlagreime
sind falle wie in ir munde wunder Ut (5S1, 16), e'ren lere
(zb. 5S5, 9) aufzufassen.
Lebhaftigkeit der rede.
Ist Lichtensteins lyrik vielfach breit und manchmal leer, so
ist sie doch last nie schleppend monoton, einschläfernd gleich-
mafsig, wie die manches Zeitgenossen, der auch nur ein thema,
die minue, kennt, dies ligt an der lebhaftigkeit seiner rede, die
vorwiegend durch den reichlichen gebrauch einiger Stilmittel
bewilikt wird : voranstellung, ausruf, frage und anrede, durch
ihre betrachtung muss der eindruck blofsen wortreichtums
corrigiert werden.
Voranstellung und parenthese.
Ulrichs naturell ist so lebhaft, dass es mit der hauptsache
nicht warten kann, sondern sie so rasch als es irgend geht,
vorbringt, diesen eindruck empfangt man von den zahlreichen
voraustellungen, die seine gedichte von allen andern unter-
scheiden, dies mittel der heraushebung erscheint in den ver-
schiedensten formen.
Unterstreichende voranstellung des subjects im absoluten
nominativ, wider aufgenommen durch ein pronomen in irgend-
welchem casus, an beispielen herscht überfluss:
5t reine guot
swie si mir luot — (136, 11).
80 BRECHT
St rouberinne, si hat — (412, 14).
diu huol an den wiben, diu luot mich so frö (408, 13).
freude und mine besten tage
die sinl hin mit seilender klage (414, 6).
Das vorweggenommene subject wird als subject eines folgen-
den relativsatzes oder verallgemeinernden relativsatzes recapitnliert:
Nideriu minne, an freuden tot
ist er dem si an gesigl (59, 1).
Guoliu wip süez unde reine,
derst noch wunder, swd si sin (421, 31).
Es wird mit dem Possessivpronomen eines folgenden frage-
satzes aufgenommen:
Si vil minneclichiu guole — — — — — ,
wd hat mir ir güete vor verborgen sich?
(401, 5; ähnlich 399, 17, in demselben Hede xiv).
Es besteht aus parallelen infinitiven:
ir merken, ir hüelen, daz trosstet noch baz (408, l ähnl. 6).
Ellipse des subjectinfinitivs:
mit zühten vrö [seil, sin], daz ist ein leben — (428, 5).
Auffallend nachdrückliche recapitulation des mit ver-
allgemeinerndem relativsatz eingeführten subjeets zu überdeutlicher
Strophenanknüpfung 560, 19 f. : Swelch wip güetlich lachen kan, —
hdt diu röten munt — .
Zwecklos gewordene manier der recapitulation:
Min lip der lac niulich eine — (582, 11).
Betonende voranstellung des objeets:
Im absoluten nominativ (?):
schdeh unde roup, diu beidiu klage ich — (412, 9).
In dem vom folgenden verbum regierten casus :
lieben wdn und leiden xcanc,
swaz si des ein ander tcelen — (421, 28).
Voranstellung des logischen objeets:
Mit relativsatz umschrieben:
Daz si heizent klagende not,
solde ich dd mit immer ringen — (409, 23).
In dem vom folgenden verbum regierten casus:
Rehler freuden, swer der waldel — (421, 3).
In zweieinhalb langen versen : 400, 12 f.
Voranstellung des entfernteren objeets im absoluten
nominaliv:
Alle die in hohem muote wellen sin,
den wil ich daz raten — (426, 12).
ULRICH VON LICHTENSTEIN 81
Dasselbe mit Umschreibung des entfernteren objects durch ver-
allgemeinernden relalivsatz, zu dispositiontmifsiger strophenanknüpfung,
wie oben : Steeleh man rieh — hdi behuot — - . m>4 ein wip
sich an den hii - — der lip darf etc. , eine recapitulatioo in die
andere geschachtelt (561, 3 1'., u; vgl. 560, 1 9 f.).
Voranstelluog des prädicatsnomens im absoluten oomi-
nativ, um anfang der Strophe:
Ein höhe mt'nne gernder man
mit slatem muote, das piu ich (131, 13).
S.lii eindrucksvoll am liedschluss:
Trost miner jdre,
daz ist ir scliouwe, st rrouwe, zewdre — (395, llj.
Voranstellung der apposition (absol. nomin.) am gedieht-
anfang:
Der iverlde iröst und al ir werdikeit,
ir guolen reiitiu xcip — (402, 17).
Vorziehen des abhängigen s atz es, sehr beliebt:
Daz ieman die lugende scheide,
des teil rehtiu minne niht — (419, 8).
Wie si si gevar, diu wol gemtiote,
da: wil ich iueh wixzen lau (50S, 22). —
Zur eigentlichen prolepsis mit ihrem constructiouspreugendeu
ungestüm kommt es also nicht.
Der gleichen momentanen Unfähigkeit des abwartens wie
die voranstelluog entspringt die pareuthese, von der ich jedoch
bei dem correcten Ulrich nur ein beispiel finde : 546, 13.
Ausruf.
Schon die voranstellung des subjeets nähert sich manchmal
dem ausruf (zb. 136, 4; 412, 14) : zum ausruf drängt Ulrichs
ganze persönlichkeit, trotzdem sind epitheta, im ausruf appositioneil
an personalpronomina angeschlossen, oder ausrufe in ganzen
Sätzen ohne interjeetion nicht so häufig, als man erwarten sollte.
Er töre vil Lumber — (407, 27).
Neiz waz ich singe
von der naht : — (30, 1).
Zur bezeichnung des Wunsches:
Wer weer ich dan,
ich scelic man 1 (31, 5).
Jd herre, fünde ich iender iröst für Irüren anderswd,
e daz ich verdürbe miner freuden, miner besten zit! (401,9).
min Up si vrö : — (403, 7).
Immer müeze scelic sin
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. 6
82 BRECHT
ir vil eren rieher werder lip (406, 13).
Die ganze Strophe xvu 5 (406, 25 f.).
het ich doch noch wdn als e — (414, 20).
Desto häufiger ist die anknüpfung eines satzes, Satzteils
oder wortes an eine interjection.
Wie kanstu, Minne,
mit sorgen die sinne,
den muot betouben mit sender clage! (anf. x).
wol dir tac, vil scelic si din nam (30, 21).
Wol dir, sumer, diner süezen — — zil (anf. xxxi).
wol dem manne, wol dem tvibe! (583, 8).
Wol her, danket — (anf. xxn). — Wol her alle — (anf. lu).
Wol ir kleinvelrötem munde! (563, 19).
wol ir — (508, 16; 534, 13; 560, 24 u. ö.).
wol im — (113, 17). — doch wol im, der — (59, 3)
wol uns des — (445, 5),
Wol ufl ez taget (512, 9).
Nicht selten ist die selbstbeglückwünschuug:
Wol mich der sinne — (anf. xu).
Wol mich, ez ist ergangen — (auf. vui).
wol mich, wol mich — (441, 3)
Wol mich, wol mich, wol mich des — (anf. lv).
wol mich, wol — (515, 23).
Als respondierende Strophenanfangsanapher:
Wol mich immer! — ^
Wol mich, wol mich iemer mere — > xxxvn, alle str.
Wol wol wol mich — J
Fast ebenso häufig we:
we daz mirs diu guote niht engan! (schluss u, 31, 7)
We daz mir diu guote
verret so ir minne! (anf. vi, 110, 5).
We warumbe sul wir sorgen? (anf. vu, 113, 13).
Owe owe frowe Minne — (114, 9).
Owe daz ich — — muoz — (anf. xiv, 399, 9).
Owe sold ich — (400, 4, xiv).
Owe des — (412, 21).
Owe des — 414, 3, anf. xxi, widerholt ach oice 414, 8,
we der klage und owe 414, 18. 19 : klimax.
Owe der so sceUc wcere — (420, 16).
Anderes:
heg fünd ich der guolen eine! (422, 1) i.
heg waz lieber dinge bringent mir — — die wünsche min!
(400, 1).
1 vgl. Roethe s. 326 mit anm. 361. Borchling Der jTiturel s. 122.
ULRICH VON LICHTENSTEIN
hey was im sin dienest salden bringet l
wie fraltchen endet sielt sin tednl (117.
Waffen über dir gar unyuolen — (auf. xlv, 533t 13,
wiilciliull: iv äffen über si immer mrrr :,:<3, 17).
Frage.
Ziemlich Bellen ist die echte frage:
Vroioe, liebin i rmve min,
U>ar uinhe bislu mir geliaz't (105, 8).
ui durch welch wunder
nimpl si des nihl war? (135, 11, \, ilialog).
Mar si ril reine
besunder duz eine
um tut bescheiden, was ir uille sl? (135, 25, x).
— sage, wie teil du treesten mich? (397, 6, xin).
W'enne huml mir freuden schin?
wenne wil du, scelic frowe, gefreun daz sende herze m/n?
(397, 17, xiii).
Ferner im n dialog, Strophe 2 und ü, zh. 434,26:
Herre, saget mir, waz ist minne?
ist ez wip odr ist es man? —
waz hat si dar zuo betwungen,
daz in wip noch jugent freude yii? (556, 6).
Schüchterne frage als vorsichtiger ausdruck des Wunsches:
Was obe si daz wünschen lieze lihle sunder haz? (400, 8).
Frage mit sogleich erfolgender antworl:
Sol ich da bi In'iric sin?
neind, frowe, treu mich — (397, 9).
Ob ich des iht innerclichen wünsche? jd — (400, 14).
Formelhafte frage des volksepischen Stils, mit antwort:
Wie pflac sin den tac diu süeze minnecliche?
so daz er wart hohes muotes riche.
so kurzen lac gewan er nie (513, 10 f, u tagelied). —
Sehr gewöhnlich sind auch hei Ulrich rhetorische fragen.
Wie möhl ir mir vreude geben
dne die vil lieben guolen? (98, 17).
uä hdl freude sich verborgen? (420, 21).
ifo: danne ob mir ir einiu hat
Erzeigel höhe misseldl? (424, 8).
swd ein vrowe unwiplich la?le,
wer möhl der gelrouwen? (566, 19).
Als gedichtanfang:
W4 war umbe sul wir sorgen? (vu).
Was darumbe, ist verswunden
uns der sumerl — (l).
6*
84 BRECHT
Zum anfang des leichschlusses:
Nu waz bedarf min seneder lip — tuot? (425, 11 — 15).
Als Übergang zum hauplteil eines liedes (typus C):
Zwiu sol mir des winders zit
und ouch dar zuo sin langiu naht? (104, 23).
Als gedichtschluss:
Wd von sold ich wesen vrö,
swenne von ir mine sinne
noch min muot niht stüende hö? (410, 23).
Beim Strophenanfang :
Si vil ungencedic wip —
waz mac ir gewall mir liebes mer benemen? (399, 17,
ebenso 401, 5 in dem fragenreiclien liede xiv).
Als strophenschluss:
waz bedarf der lugende mere,
swer die lugende beide hdl? (419, 6).
Sehr beliebt sind gehäufte parallelfragen, deren
nachdrücklich- oder Zudringlichkeit zu Ulrichs ungestümem werben
sehr gut passt.
Vier derartige fragen, von denen die dreiletzten, anaphorisch
mit wd beginnend, unmittelbar auf einander folgen, als klimax:
58,22 — 27; zugleich als Strophenübergang.
Ebenfalls ununterbrochen, als würkungsvoller strophen-
schluss:
waz bedarf ich scelden mere?
wie kan mir gelingen baz? (421, 1).
Durch kurzen zwischenvers gegliedert, um Jibn herum
symmetrisch zu einer Strophe ausgedehnt:
viii Strophe 6: 126, 26—28. 30—32.
An entsprechenden stellen zweier aufeinanderfolgender, eine
klimax darstellender Strophen (nicht in genauer responsion):
— ob da iht
ougen lihl
lieplich sehen ein ander an? (433, 12 f).
— ob da niht
mer geschiht? (433, 30),
beide male mit unerwarteter, schalkhaft verhüllender antwort.
Dasselbe Stilmittel, nur sehr verstärkt, bei aufeinander
folgenden parallelfragen :
Sol ab ich si minnen diu mich hazzet? sol mir lieben
diu mir also leide tuot?
ULRICH VON LICHTENSTEIN 85
Jedermann halt dies für rhetorische fragen mit der selbst-
verständlichen stillschweigenden antwort : nein — es folgt aber:
jd, so teil daz herze und aller min gedanc (399, 11, xiv).
Ulrich nimmt also plötzlich die rhetorische frage als echte,
und beantwortet sie mit überraschender paradoxie.
Apostrophe.
Die haupterscheinung in Ulrichs Stil, sowol ihrer ausdehnung
als ihrer charakteristischen bedeutung nach, ist die anrede
(apostrophe).
Sie ist so sehr ein integrierender bestandteil seiner lyrik,
dass es nicht genügen würde, nur einzelne beispiele mitzuteilen,
die entwicklung — denn eine solche ist vorhanden — muss
vollständig überschaut werden.
Menschen und dinge redet Ulrich an, auch personiiicierte
abstracta : den tag (n) , den mai (iv) , den sommer (xxxi) , den
winter (v); die männer (xvn, xxv, xxvn), die frauen (xi, xiv, xv,
xvi, xx, xxv), die ritter (xxxviu), den knappen (xxxvm), jung und
alt(xxxv); frau Minne (vir, ix), den 'hohen mut* (in, xxxn), sorge
und angst (xxxiv), weibesgüte (xlvii), truren (liii); am häufigsten
aber seine dame (i, in, v, vi, ix, xm, xi.i, xi.n, xlvi, xlyiii) und
das zuhörende publicum (vii, ix, xvm, xxii, xxxix, xlv, lii, liv,
lv, lvi). als entwickelte apostrophensvsteme können die dialoge
gelten; in x reden der dichter und frau Minne, in xxx uud xxxm
herr und dame, in xxxvi und xl ritter und dame, zofe und
herrin , zofe und liebespaar einander an. unter diesen adressen
ist kaum eine durch irgendwelche besonderheit auffallend, nur
ihre menge erscheint bemerkenswert, sie zeugt von lebhaftigkeit
des geistes und von technischer gewantheit. sich selbst redet
er niemals au, so oft er auch von sich spricht.
Hinsichtlich ihrer Verteilung auf die entstehungszeiten der
lieder ist es wol nicht zufällig, dass die anreden an die er-
scheinuugen der natur und an die frau Minne dem anfang und
rund der ersten hälfte des gesamtwerkes, die an die männer und
frauen der kritischen zeit seiner ersten minne und den wdnwisen,
die an die personificierten höfischen abstracta wesentlich der
zweiten hälfte der lyrischen production angehören, während die
anreden au die geliebte und an das publicum durchgehends an-
zutreffen sind.
86 BRECHT
Da sich Ulrich stets als meuschen unter menschen fühlt,
so ist der trieb zur apostrophe immer bei ihm vorhanden, unter
umständen bleibt er latent, aber doch spürbar, dies ist überall
da der fall, wo er sich mit bericht, erlaubnis, Vorschrift, rat an
eine bestimmte adresse wendet, ohne dass die innere Spannung
stark genug wäre, um sich geradezu in der rhetorischen form
der apostrophe zu entladen, zb. im beginn des zweiten leichteiles
(424, 12f. , parallel mit der ausgesprochenen apostrophe an die
männer im ersten teil, 423, 1):
daz wil ich gerne wizzen Idn
mit zühten, als ich beste kan,
tif gendde guoliu wip.
in der ersten Strophe von xl\i, die bestimmt, wer im publicum
das lied 'Frauentanz' siugen dürfe (536, 9 f, bes. 12. 13):
— dem sin muol sldt von iciben ho,
dem erloube ich si ze singen wol — .
das ganze xvi lied (i iizreise), mit ausnähme höchstens der
fünften Strophe, ist von einem ritter an ritter gerichtet; dass
sie nicht ausdrücklich angeredet werden — wie im beginn der
ii üzreise, xxxvm — ist zufall; vgl. FD 405, 15. 16.
Zu anfaug des den frauen geltenden liedes u heilst es
(str. 1, 560, 7f):
Ich wil durch die vrowen min
guoten wiben rdlen einen rat — usw.
entsprechend xxvi strophe 1 (426, 12 f.), an die männer:
Alle die in hohem muole wellen sin,
den wil ich daz raten bi den triuwen min — usw.
fälle wie diese beiden könnte man geradezu als verdeckte
apostrophe bezeichnen.
Unvergleichlich häufiger kommt es zur ausgesprochenen
apostrophe. diese hat verschiedenen Ursprung und dient den
verschiedensten zwecken.
In manchen fällen dient sie würklich einer echten gemüts-
bewegung, die sich mit der objectiven rede in der dritten person
nicht mehr begnügen zu können meint, dahin gehört der Über-
gang aus der dritten person in die zweite in der zweiten hälfte
des i liedes, das ganz seiner dame gilt {Diner reine trcest ich
mich — IS, 19 ff.), oder lied xx, das erste scheltlied, in dem
echte erregung über die untreue der dame in erbitterte klagen
an das ganze geschlecht ausbricht (411, 27); die eindringliche
ULRICH VON LICUTENSTEIN s;
lehre an dieselbe adresse, mitten in der rede au> der 3 perg,
heraus : guoliu wip, geloubet daz — (41 S, 5. xxu); der sehr
begreifliche, wenn auch über die nalur hinaus künstlich gesteigerte
freudenausbruch im ersten liede der zweiten minne (xxxn):
Höher muut, nu wis empfangen
in min herze tusenl stunt.
weit überwiegen jedoch die lalle, in denen apostrophe nur als
litterarisch überkommene Stilverzierung angewant wird, nicht
mehr als dies bedeuten zb. die anreden am Strophenanfang
Guotiu wip xiv, Strophe 5 (mutmafslicher grund siehe oben s. 7),
Höchgemuote frowen xvi, strophe 5, oder am strophenschluss:
wol dir tac, vil scelic si din nam (30, 21).
Am meisten liebt Ulrich apostrophe als gedieh tan fang
(meist durch die erste strophe durchgeführt), dies ist eine- seiner
charakteristischsten eigentümlichkeiten. 26 lieder von 5S, also fast
die hälfte, beginnt er mit apostrophe, desgl. seine drei büchlein.
Apostrophe nur am aufaug: Freut iueh, minnegernde
man (xvn). Wol her, danket allen guoten wiben — — des freut
iueh, ir freuden geraden man (xxu, str. 1 v. 1 u. 5). Nu freut
iueh, minnegernde man (xxvu, vgl. xvn; nebenbei wideniufgenonunen
in str. 4, vers 428, 23). Wol dir, sumer — (xxxi). Wichet umbe
balde, sorge und angest — (xxxiv). Warnet iueh gar, junge und
aide (xxw, apostr. durch zwei str.). dreifache anfangsapostrophe an
die Minne, die geliebte, die frauen in strophe l und 2 von xi. Nu
hilf ic/bes güete (xlvii) ; das Stichwort wibes güete wird im siebenten
vers, gegen ende der ersten strophe, widerholt; so grenzt Ulrich die
eingangsslrophe mit apostrophe ab (ähnlich z. b. in v, 104, 20). vliueh,
vliueh, truren, von uns verre (lui).
Apostrophe ausdrücklich nur am an fang, aber für
das ganze lied gellend: Wol her alle, helfet singen (lh).
Wichet umbe, lät der guoten nigen mich — (lv0- wideraufnahme
der apostrophe in der mittelsten strophe (572, 1. 2 nach 571, 7 f) :
Wizzel alle, daz ich kan guoten wiben in diu herzen sehen (liv).
Apostrophe nur amschluss ist selten, sie erfüllt die
ganze schlussstrophe des berühmten iv liedes : Scelic meie, du alleine
troeslesl al die weide gar — . analog, zu ähnlicher wilrkung, die
schlussstrophe von lied vi : Jd man ich vil sere, vrowe, dine güete —
— ; der letzte vers bringt noch einmal die kurze apostrophische pointe:
guol wip, wende daz (111, 12). zur einführuug eines bildes am aufang
der schlussstrophe : Schouwet wie der hüsen an der Tuonouw gründe
lebt des tröres süeze gar (lv).
Apostrophe am an fang und am schluss, die ent-
wickeltere form, zeigen mehrere lieder. sie kann an beiden stellen
BRECHT
derselben, sie kann verschiedenen personen gelten, das in. lied :
Vrowe, liebiu vroive min (57, 25) — — Frowe (58, 2) — geht
in der zweiten Strophe recht unnatürlich in die 3 pers. der herrin
über, kehrt aber in den zwei letzten versen zur anrede : frowe — zu-
rück, gegen ende eine Zwischenapostrophe : Höher muot — (58, 30);
die handhahung der figur ist noch unsicher.
Am schluss des zweistrophigen einleitungsteiles von v (siehe unter
'responsion') abgrenzende apostrophe an den Winder nebst lob der
sumerivunne (104, 20 f); sumer und winder waren die stichworte
des ersten teiles. am beginn des liedschlusses zweimalige eindringliche
anrede an die geliebte (105, 5 f. 8f).
Am liedanfang apostrophe an das publicum, am schluss ebenfalls
zweimalige anrede an die vrowe, und zwar wiilerum bereits in der
mitte der vorletzten Strophe, zeigt das zwei jähre nach v entstandene
ix lied (vgl. den parallelen einzelausdruck 131, 17 und 105, 5,
131, 22 und 105, 8).
xxxviu richtet sich am aufang an die ritter : Erengernde riller,
1dl iuch schouwen — (456, 25), zu beginn und ende des Schlusses
zweimal an den knappen : Tuo her schilt — (457, 27), nu tuo her
sperd sper! (458, 4. 5).
Mehr oder minder durch gehnde apostrophe, wo-
möglich an dieselbe person gerichtet, ist natürlich das ziel der
entwicklung, entsprechend einem tief in Ulrichs natur gegründeten
wesenszuge. diese Verwendung der figur ist daher die häufigste
bei ihm, und die am bevvustesten und kunstreichsten ausgebildete.
So wenden sich alle fünf Strophen des xni liedes mit ausge-
sprochener, zt. respondierender (slr. 2, 3) apostrophe an seine vrowe.
häufig widerholte dringende anrede der dame lag nahe in dem erregten
xli liede, dem ausdruck seiner Sehnsucht, in ihr herz zu kommen :
Guot wip, miner fr enden lere (anfang, desgleichen apostrophe in jeder
Strophe; besonders lebhaft in der dritten, vierten und sechsten; ge-
häufte imperative am Strophen- und versanfang 515, 24 — 26). ähn-
lich XLviii : anrede an die herrin durch das ganze lied, stark betont
zu anfang mit dreifacher apostrophe : Vrowe, miner freuden vrowe,
vrowe min usw., der am anfang der zweiten Strophe noch einmal
Wiplich wip folgt.
Allen guten frauen gilt das xv (402, 18, anfang, 403, 7. 13)
und das lange xx lied (411, 27 f, anfang, 412, 4. 25. 413, 1). den
höhen muot begrüfst das xxxn im beginn aller Strophen (responsion),
zu des dichters eigner befricdigung (FD 442, 8).
Hierher gehören auch die anreden an das publicum,
obwol sie niemals ein gauzes gedieht durchziehen, vielmehr stets
nur vereinzelt, manchmal sogar nur wie gelegentlich, vorkommen,
aber gerade die nebensächlichkeit, in der sie nicht selten er-
l'LHICll VON LICHTENSTEIN
scheinen, lässl erkennen, wie sehr das ganze lied apostrophisch
gedacht ist; das isl so selbstverständlich, dass es nur beiher an«
gedeutet wird. so das beidiu wir sint diu mare, ir hcBret m
etc. (114, 1—8), unmittelbar vor der grofeen schlussstrophen-
apostropbe an vruwe minne (vu). ebenso verräterisch isl das
unscheinbare seht, das dun mitten in dem liebesdialektischeo
prachtgedicbt xvin entschlüpft (408, 6) : wir seilen jetzt, es i-t
eine Vorführung vor geladenem publicum, charakteristisch in
dieser hinsieht ist ferner das ein wenig mehr rhetorische : daz
teil ich iueh wizzen län 508, 23 (xxxix), das man kaum als
gegensatz zu dem vielen wir und uns des liedes empfindet, weil
Ulrich sich seihst mit dem publicum ins wir so gänzlich ein-
bezieht, dass man die bei ihm so häufigen wir und uns beinahe
auch als apostrophen auffassen könnte, ja, er ist so dramatisch-
lebendig, dass dem leser die vielen Wol mich und dergl. fast
wie selbstanreden vorkommen. — ähnlich zei^t das ganz ge-
legentliche Schouwet, wie diu pie ir süeze etc. (534, 3), dass xi.v
durchgehends auf zuhOrer berechnet war. auch im lii liede hat
man es mit beständiger anrede ans publicum zu tun, obwol die
feierliche allocutio nur die erste Strophe formiert; ebenso im
Hl, in dem aufser dem anlang nur das Gerne ich von dem seihen
spräche (581, 23 1 verrät, dass es sich um einen Vortrag handelt.
Zwei lieder endlich lassen erkennen, wie auch die apostrophe,
gleich der anapher und andern figuren, von Ulrich herangezogen
wird, um die gliederung der gedieh te zu unterstützen.
Das lied xlh (typ us B) beginnt mit der apostrophe Vrowe
min, got gebe dir guoten morgen, die anrede geht durch das
ganze lied. die specielle apostrophe aber erscheint wider im
vorletzten verse der zweiten Strophe (anfaugsanapher):
vrowe, mines herzen hüneginne,
dh. am schluss der einleituug und der eng zu ihr gehörigen
zweiten Strophe, in der der gedanke des liedes zuerst, und in
einfachster form, angekündigt wird, die folgende zweite stufe
der gedichtklimax , Strophe 3 und 4, die mit dem bisherigen
gedauken spielen, wirdwiderum durch grofse apostrophe eingeleitet:
Liebiu vrowe, liebest aller wibe,
der in der gleichstehenden vierten Strophe nur ein kurzes vrowe
am ende des ersten verses zu entsprechen braucht, die schluss-
strophe aber beginnt wider mit Guot wip und schliefst im vor-
90 BRECHT
letzten verse (abgesehen vom envoi) mit vrouwe. — so markiert
apostrophe die gedichteinschnilte.
Ähnlich steht es mit xlvi (typus C 2 + 3). der sentenziöse
allgemeine teil (str. 1 — 2) ist apostrophenlos bis auf die letzten
worte :
höchgemuot durch dich, guol vrowe min.
von hier an herscht anrede an die vrowe durch deu ganzen
speciellen teil (str. 3 — 5). innerhalb seiner ist die seelen- und
körperschilderung (str. 3 — 4) nochmals nach dem Schlüsse hin
abgegrenzt, und zwar widerum durch apostrophe am ende des
letzten Strophenverses:
lugende hdslu vü, guot wiplich wip.
dann erst folgt die ausdrücklich hieran anknüpfende schluss-
strophe. die composition wird durch apostrophen gewant ver-
deutlicht, und mit vortrefflicher würkung. —
Von den 58 liedern Ulrichs sind nur 17, also weniger als
ein drittel, ganz ohne apostrophe; und bei allen kann mau
sagen, warum es in ihnen nicht zur apostrophe gekommen ist.
es sind nämlich, mit nur drei ausnahmen, sämtlich auffallend
ruhige lieder gröfserer austlehuung, die einen gedanken ohne
leidenschaft ausführen, oder minnedidaktische überleguogeu an-
stellen; mit einem worte : persönlich gefärbte reflexionspoesie.
der unterschied ist so handgreiflich, dass man Ulrichs gesamte
lyrik danach einteilen konnte, diese lieder führen mit kokettem
ausmalen einen einfall durch (vra, lviii), erwägen eine paradoxe
(xix), predigen erfahrungssatte minnelehre (xxm, xxvi, xxvm,
xlix, li), preisen in ausführlichem panegyrikus das lachen oder
einen ausspruch der geliebten (xliii, xliv), drücken sicheres
glücksgefühl (l) oder gehaltene trauer und hoffnung aus (xxiv);
sie geben ein freudenreiches Selbstgespräch wider (xxxvn), und
sie erzählen redselig einen glückstraum (lvii). von den drei
lebhaften liedern aber schliefst sich xn eng an das m büchlein
an, das mit absichtlicher bescheidenheit von der geliebten nur
in der 3 pers. zu sprechen wagt; xxi, das zweite scheltlied, ver-
schmäht es, wie alle scheltlieder, sich an die treulose dame selbst
zu richten; xxix, der reie, stellt ganz objectiv, ohne jede persön-
liche beziehung auf den dichter, jauchzende liebeslust dar : zur
anrede bieten sie alle keiue gelegenheit.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 9]
Person ificatio n.
Die apostrophe setzt eine person oder ein für den augen-
blicklichen zweck personificiertes abstractum voraus. ;ils momentan
peraonißciert erschienen durch sie : der tag m), der höhe muot
(ii, xwiii, der meie (i\), der winder (v), frowe minne (vu, x, m;
vgl. Roethe s. 265), der sumer (xxxi), sorge und äugest (uxiv),
icibes güete (xlvii), das traten (liii).
Alier auch aufserhalb der anrede kommt es bei Ulrich zur
personificierung. solche ecbten personificationen sind:
Minne hei mich ir gebunden — (420, 1).
Zuo uns kam diu werde Minne
unde slöt uns beide vaste in ein — (582, 25).
swa: diu Minne mir mit dringen tuot — (5S4, 5).
— der Minnen rose (581, 1 7 f).
Iied xli str. 3 — 7 : zwei männer klopfen ans herzeustor:
bi mir hie ist höher muot,
der auch gerne dienet dir:
erst dir holt mit tri wen , da: geloube mir (515, 2711).
ähnlich 565, 27 Hoher muot, diu rehler herre, dei
Limit mit gewalde (liii, str. 1 — 2).
zweifeln kann man aus formalen gründen bei xxxvi, str. 4 (448, 13llj:
Ir vil liiter liebe sh'tz diu minne
mit der iriw e vaste ze einem sinne,
innerhalp ir herzen lür :
dd rigelt sich diu State für.
In mimt e n parad/sr
ir beider lip mit vreuden lac — .
noch mehr im xvi liede (i üzreise) :
Erge und unfuoge und unfuore diu wilde
geziml niht dem helme — (404, 18 f),
und kurz vorher :
— diu «7 werde minne.
diu git freud und vre (404, 7).
im letzten falle könnte die analogie diu werde Minne (582, 25, s.o.)
zur annähme der personificalion (die Bartsch setzt) führen ; dies ist
jedoch durchaus nicht notwendig; und die kurz darauf folgenden Erge
und unfuoge und unfuore diu wilde halt ich mit Bechstein und Lach-
mann bestimmt für keine personificationen. sodsI müste man auch
404, 12 schänden (statt schand) erwarten (vgl. Benecke zum [wein
v. 1579, und Bechstein z. st.).
Das gebiet, aus dem die wenigen personificationen genommen
siud, ist das ganz obligate, ritterlich- minnigliche; auch die
persoDiticierende apostrophe von xxxiv:
92 BRECHT
Wichet umbe balde, sorge und angest, von der slrdze —
strichet von dein lande, sam der winder, von uns hin:
ist wol nicht auf die Vorstellung fahrenden volkes (dringet an
der lür 445, 1), sondern auf ungebetenen ritterlichen besuch
auf der bürg zu beziehen.
Personilication ist Ulrichs starke seite nicht, an Walthers
anschaulichkeit *, an die fülle und kraft Reinmars von Zweier2,
die Originalität und den reichlum Wolframs3 darf man nicht denken.
Bilder.
Auf der vermenschlichung der natur beruht, wie die
personification, die bildliche redeweise, das dement der poesie4.
Den Übergang von der personilication zum bilde zeigt noch
ein ausdruck wie des herzen ougen (5S2, 17), den Bock (aao. s. 35
nebst aum.) in der geistlichen bildersprache, bei Otfrid, dann
im miunesange, bei Wolfram und Walther nachweist, diese
personilication des herzeus, die bei Lichtensteiu eine grofse
rolle spielt, führt dann zu so entsprechenden metaphern wie der
schon von Uhland (Schriften v 236) gerühmten:
duz herze sihl mich weinent an,
und giht ez si vil ungesunt — (131, 10).
aus der geistlichen Sphäre stammt wol auch die Triwe — slöz
ob aller werdikeü (419,4), und die State als kam flieh gewate
(405, 12), von der Vorstellung des miles christianus.
Die bilder Ulrichs hat Knorr (Zu UvL. cap. in) gesammelt
und besprochen, und zwar nicht nur die der lieder, sondern
auch die des märes; darauf sei hier verwiesen. Knorr stellt, in
Übereinstimmung mit meinen ergebnissen bei der personification,
fest, dass riltertum und minne die einzigen gebiete sind, die
Ulrichs bildsinn anregen; dass seine bilder einfach und ungelehrt
sind (das einzige bild , bei dem er s. 76 zweifelt : Schouwet wie
der husen an der Tuonouw gründe lebt des tröres süeze gar, also
1 vgl. zb. Wilmanns Leben s. 197.
2 Roethe s. 271.
3 Bock Bilder und Wörter Wolframs, abschn. i, §§ 1 — 2.
4 auch Knorr (aao. s. 72 ff) hat noch die alte mechanische auffassung
von der bildlichen rede, als ob es etwas sei, das der wirkliche dichter tun
oder lassen könnte; er spricht von den gründen, weshalb jener 'einen ver-
gleich nimmt', vom 'bildlichen schmucke', mit dem er 'die dinge umkleide'
udglm. gegenüber solchen schulmeisterten beherzige man den protest
Hugo vHofmannsthals in den Blättern f. d. kunst (auswahl, Berlin 1899, s. 91).
ULRICH VOiN LICHTENSTEIN
lebt ich uol des htftes von ir munde (T>77, 15) enthält gewig
kein gelehrtes element, Bondetn mir allgemeine anschauung);
dass seine metaphern 'selbstschöpferischer Willkür* entbehren.
Erstaunlich ist in der tat die 'verritterung' der weit, <l ie
auch aus Ulrichs bildern Bpricht; allein fast ebenso grofs dabei
sein mangel an ursprünglichkeit, gegenüber der beliebten art,
einzelne originelle bilder Dlrichs (zb. bei Uliland aao.) wie andrer
mini, dichter auszuheben, muss betont werden, dass er Originalität
gewöhnlich nur auf dem wege der geschmacklosigkeil erreicht,
bezeichnenderweise aber mehr im märe, wo er manchmal an
den rücksichtslosen Wolfram (Scherer, Litteraturgesch.3 s. 172)
erinnert, als in den liedern; hier band eine festere Bliltradition
seine in geschmacksdingen nicht* immer sichere phantasie. bilder,
die ihm ausgiebige molive liefern, liebt er freilieb auch in den
liedern zu tode zu hetzen (zb. vm, xi.i, liv).
Neben so überzeugenden vergleichen, wie dem viel angeführten
vom an fang des iv liedes:
In dem walde süeze dame
singent cleiniu vogelin,
neben so starken bildern, wie am schluss von vn:
Ali grif her, wie sdre ich brinne.
haller i
Müesle von der hilze brinnen,
diu mir an dem herzen l/t —
stehn so trockene wie das bild vom spiel 408, 33; so un-
anschauliche wie Küsseii ist der minnen rose usw. (581, 17 f.);
so schiefe wie das bild von der biene 534, 3 f., bei dem im
tertium comparationis zwei contradictorische gegensätze, trüren
und süeze, stecken; so geschmacklos deutliche wie alle die
bilder vom herzen, das aus dem leibe zur geliebten springen
will (xlii, lv, lvii; s. cap. ii schluss). hier sehen wir wider
eine grenze, die den alternden Lichtenstein vom jungen scheidet:
die Vorstufe zu diesen letzten bildern : das herz stöfst mit un-
gestümem klopfen an die brüst, vor der liebe, die in ihm pocht
(xxxn; 1233), ist für die anschauung noch nicht verletzend,
die bilder seiner Jugend sind durchweg besser, wenn auch
weniger originell, als die seiner spätzeit. Uhlands gesamturteil :
'niemals ist er gezwungen oder geschmacklos' ist jedesfalls viel
zu günstig.
94 BRECHT
Weitaus die meisten seiner bilder sind litterarisch über-
lieferte, im minnesang übliche, neu sind wol nur der wegen
seiner zarten Schönheit so berühmt gewordene vergleich:
— — ir güele,
diu mir richet min gemüele,
sam der troum den armen luot (97, 14 f),
der erwähnte husen auf der Tuonouw gründe, und allenfalls der
vielleicht heimatlicher anschauung entsprungene vergleich:
Nu vert enwer ir habedanc
— als ein mar der, den man hat
in eine lin gebunden (424, 25).
der einzige vergleich, der unzweifelhaft den gebirgsmenschen, den
Steirer verrät, steht nicht in den liedern, sondern im märe:
— daz sd uf sligel mir der muol,
reht als diu Hellte sunne tuot,
so si uf den bergen gdl (519, 26).
Den epigonen merkt man an den vielen bildern, die, ur-
sprünglich schlagkräftig oder gar 'sonderbar', jetzt gar nicht
mehr als bilder empfunden werden, hierhin gehören viele, die
Knorr (s. 90. 91. 96. 98) noch als bewuste metaphern rechnet,
so wird küneginne zwar noch als ein vergleichsweise starkes
wort empfunden (doch nicht mehr so stark, dass es nicht noch
ein synonymes epitheton brauchte), sonst würde es nicht den
pointierten schluss von xliv bilden:
sist gewallic küneginne immer über mich;
ebenso wie keiserin, das gegen schluss von xi (322, 26) an
höchster stelle einer anaphorischen , asyndetischen synonymen-
klimax steht:
min tröst, min wünne, miner scelden keiserin — ,
aber gewis nicht mehr als bild. 518, 13 heifst es ganz phrasenhaft:
vrowe, mines herzen küneginne — .
noch abgegriffener sind kröne und lercenen (zb. 521, 21; Tgl.
die stellen bei Knorr s. 90). dass tou eigentlich eine metapher
für 'tränen' war, ist vergessen ; Ulrich braucht das wort ständig
als poetischeres synonym : als ir ougen touwes vol werdent üz ir
reines herzen grünt (521, 22); noch deutlicher:
vreuden tou mir iaz des herzen grünt
kuml von dir in elliu miniu lil (536, 23).
hier ist das gesamtbild deshalb für unser gefühl so verunglückt,
weil das vom dichter nicht mehr empfundene bild vom tou in
ULRICH VON LICHTENSTEIN
ein neues bild, das vom herzen in die glieder Bteigende kraft-
behagen, einbezogen werden sollte. Lichtenslein freilich wird
vreuden tou einfach als vreude gefohlt und darum die bild-
\ermenguug garniclit bemerkt haben.
Dies sind die wesentlichen formen des poetischen ausdrucke
in Ulrichs liedern. erwagt mau die nicht übergroße zahl seiner
gedichte, so wird man linden, dass die anzahl der redeflguren
in ihnen, der arten ihres gehrauches, ferner die geschmeidigkeil,
mit der sie sich dem wechselnden gedanken der jeweilig ver-
schiedenen composilion anschmiegen, respectabel gtmug isl.
dank ihnen isl die uüance nicht der letzte vorzug seiner lyrik.
Das wird erreicht, ohwol Ulrich die bemerkenswerte neigung
zeigt, ein kunstmittel, wenn er es einmal verwant hat, in
demselben gedieht gleich noch ein oder mehrere male anzubringen,
daher zb. im xvi liede die vielen Synonyma, der grund ligt
hier im Strophen- und reimschema , wie man überhaupt bei
Ulrich noch auffallend gut sehen kann, wie der reim zunächst
den verwanten begriff hervorlockt1.
Nicht minder charakteristisch als die vorhandenen redeformen
sind für einen dichter die fehlenden, bei Ulrich sucht man
vergebens alle stilmittel gewollter oder ungewollter incorreclheit:
anakoluth, aposiopese, formlose polysyndeta. für indirecte rede
ist er zu lebhaft, für die revocatio zu unbekümmert2, hyperbeln
(eine ganz obligate 447, 19) würden sicher mehr hervortreten,
wäre der höfisch-lyrische stil ihnen überhaupt günstiger; sie
gehören mehr in die spruchdichtung und ins volksepos. am
markantesten bezeichnet den sentimentalen pathetiker der gänz-
liche mangel an ironie und humor.
Weitere ergebnisse verspar ich bis zur endgiltigen
Charakteristik.
1 andere fülle auffälliger widerholung de9 Btilmittels : in xvm die
recapitulation mit dem demonstrativpronomen, mit dem die vielen relaliv-
pronomina und die conjunetion daz effectvoll zusammenklingen, in xxxvn
die affirmation und negation und die anrufung Gottes in jeder der beiden
ersten Strophen, das spielen mit verschiedenen ableitungcn gleichen Stammes
in XXXU.
2 einziges beispiel 401, 9 f. beliebte form der revocatio (neind, frowe)
ohne ihren sinn 397, 10.
96 BRECHT
VIERTES CAP1TEL.
ULRICHS LITTERARGESCHICHTLICHE STELLUNG
UND SEIN DICHTERISCHER CHARAKTER.
Bevor die gewonnenen ergebnisse zu einer Charakteristik
des dichters zusammengefasst werden, erscheint es vorteilhaft,
ihn zur vorläufigen Orientierung mit den hauptsächlichen seiner
dichtenden Zeitgenossen kurz zu vergleichen.
Einzelne stellen in Ulrichs liedern und im FD überhaupt
sind oft mit stellen anderer dichter parallelisiert worden. Erich
Schmidt hat Ulrich mit Reinmar dem Alten und Walther ver-
glichen, daneben einige parallelen mit Morungen, Hausen, Rugge
angemerkt (Reinmar von Hagenau und Heinrich von Rugge
s. 116 ff.), Knorr seine bekanntschaft mit lyrikern und besonders
mit epikern und didaktikern, wie den Verfassern des König Tirol
und des Winsbeken, mit Walther, Spervogel, Thomasin, Eilhart1,
Wolfram, Hartmann, Ulrich von Zatzikhoven festzustellen gesucht
(s. 21 — 48). Wilmanns hat Ulrichs lieder häufig zur erklärung
Walthers herangezogen, sowol in seinem 'Leben Walthers' als in
seiner ausgäbe, Roethe gegenseitige anspielungen bei Ulrich und
Reinmar von Zweter (s. 112. 168. 217. 231. 579. 583), Burdach
nachahmung Reinmars des Alten durch Ulrich (Reinmar d. A. und
Walther v. d. Vogelweide s. 74) constatiert.
Blofse parallelstellen — und manches angeführte namentlich
bei Knorr ist nicht mehr — liefsen sich beliebig häufen, aber
wenn es nicht besonders viele und ähnliche sind, die den dichter
einem andern nähern, was würden sie, bei der bekannten natur
des minnesingerlichen motivschatzes, besagen?2
1 mit recht stellt Knorr (s. 28 — 32) fest, dass die art, wie U. Tristramen
und Ysalde 394, 27 nennt, auf bekanntschaft mit der Eilhartschen fassung
der sage schliefsen lässt. — 394, 27 hat JY1 Tristramen (so Lachmann),
AC* iristranden, G tristanden, 465, 24 haben alle hss. Tristram; an beiden
stellen im innern des verses. 488, 2. 20; 489, 27 bieten alle hss. Tristram
in unreinen reimen (: Gdwdn, : län, : gewan), 503,1 aber Tristran : man.
da unreine reime jedoch im FD ganz gewöhnlich sind, glaub ich 503, 1 an
reimbesserung nur durch den Schreiber, und halte 488, 2. 20 und 489, 27
an Tristram fest, da endlich die Gottfriedische namensform Tristan nur
in jener vereinzelten la. von C vorkommt, halt ich eine bekanntschaft U.s
mit dem gedichte Gottfrieds nur aus den namensformen nicht für erweislich.
5 vgl. Rurdach s. 54.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 97
Man vergleiche zb:
Utiniicli von ftforungen Ulrich von Lichtenstein
MFr. 130, l. Ml FD 412, Uli
Sin hiez mir nie widersagen, — da* « mich höhet mmtet äne
- — — — — — — — widersagen beheri
trau »i wil ie uodi — — — — — — — —
eliiit lant beheren als ein roubwrin. Si rouberinne usw.
ich gl.mbe nicht, dass ans diesem zusammentreffen topisch ge-
wordener Wendungen irgend welcher einlluss .Morungens auf
Ulrich zu erschließen ist. am eude einer lyrischen hlilteperiode
ligt dergleichen in der lull.
Ich unterlasse daher die mitteilung weilerer parallelstelleu
und suche nur das Verhältnis L.s zu seinen unbezweifellen haupl-
meisteru, Heinmar dem Allen und Walther, klarer zu macheu.
An folgenden stellen hat ESchmidt einlluss Reinmars auf
Ulrich festgestellt:
Reinmar: 19S, 351 = Lichtenstein 113, 13 f, 428, 2f
15S, 31 = 54,22
17«), 15 f = 56, 15 1
17<i.21 = 56,23
i 61, 20
199, 20fT =^ J 121, 30
l<»57, 4
176, 5 = 383, 15
176, 11 = 105, 10
159. 37 = 387. 15
179, 16 = 55, 10
179, 181T = 55, 15
178, 2S = 3S7, 12
162, 34 = 105, 1 f
178.1 = 47, 171 ,b;.chle>
ditecte
178, 14 = 50
", 171"
.2 /ö
bernalmi>
Wechselredeu zwischen d. mannl 136,20; 136,27; 324,7; 350,8;
oder der frau und dem boten j 357, 18. 20 U. a.
169,11 — 555,21
155,5 = 30,8
Knorr (s. 44) hat hinzugefügt:
194, 22 = 281, 21
199, 8 = 432, 2 11
199, 11 — 429, 21
164, 1 fvgl. 177, 21) = 227, 21 { ^gj^1« '
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVI). 7
98 BRECHT
Meiner naehprüfung haben sich folgende ähnlichkeiten im
einzelnen ergeben.
Das schwanken Reinmars, ob er seine dame verlassen solle,
nebst der folgenden selbstbeglückwünschung zu seinem ausharren
159, 19 ff erinnert im gedankengang an die gleichen reflexionen
Ulrichs 401, 9; 403,6 und das dreifache wol mich 406, 19 f (zb.
wol mich daz ich nie gebrach mine stcete an ir! daz tuot mir wol).
die Versicherung des dienstes, zu dem er geboren sei, 159,251,
findet sich ähnlich oft bei L., zb. 58, 8. 15; 105, 10 ff.
Reinmar : 159, 37 und ist daz mirs min scelde gan vgl.
Lichtenstein 387, 15 (in Büchlein) : — des ich, ob mirs min
celde gan. —
Reinmars hastig unterdrückter wünsch sich eine andere
dame zu suchen 160, 35 f erinnert lebhaft an den gleichen Vor-
gang bei L. 401, 9 f. beide male ein optativischer ausruf in zwei
versen, dessen inhalt durch den folgenden vers schroff abgelehnt
wird. R.s — jö ist si so guot hat aufserdem bei anderer, ähn-
licher gelegenheit L. im ohr gelegen : — ir sit doch guot 32*2, 7.
R. 161, 38 f : innerhalb der tür hdt [fehlt synonym für gendde
161, 32] leider sich verborgen — vgl. L. bei ähnlicher gelegen-
heit der minneallegorie 448, 13 f : ir vil luter liebe slöz diu
minne etc. — innerhalp ir herzen tür : dd rigelt sich diu
stcete für.
R. 162, 16 f : War umbe vüeget diu mir leit, von der ich höhe
solde tragen den muot? vgl. L. 399, 13 (u. ö.) : Si nimt mir
vreude, diu mich sorgen solde machen vri.
R. 163, 23 : Mich hoehet — , daz ich nie wip mit rede ver-
los, sprach in anders ieman danne wol, daz was ein schult diech
nie verkös — vgl. L. 571, 25 Hdn ich iender missetdn gegen den
guoten [seil, vrowen], de'st mir leit etc.
Reinmars selbstvorwürfe, dass ihm in der langersehnten
gegenwart seiner dame der mund verschlossen geblieben sei (im
liede 164, 3 ff, bes. 164, 21 f), erinnern an das würkliche be-
nehmen Ulrichs bei gleichem anlass, und seine klagen über sich
selbst FD 36, 17—39, 17.
Güete und gebeerde der dame (R. 167, 3) spielen überall
auch bei Ulrich eine grofse rolle, ein beispiel statt vieler : guot
gebeerde vrowen schöne stdt. wol ir diu bi scheene güete hdt
560, 23.
ULRICH VON LICHTK.NSTEIN 99
R. 168, 35: — hoher muot, der mich niht innen Idt —
diese gegendberstellung dos höhen muotea mit dem truren ist
vollends in allen möglichen formen des ausdrucks so gewöhnlich
bei L. , dass citate wol unnötig sind, vgl, .uicli ir guet mich
zürnen niht enldt 429, 10.
Der schlagenden parallele im natureingang R, 169, 911=
L. 555, 21 (beiden ist der herbst gleichgiltig : Waz dar umbe?)
schliefs ich noch L. 507, Hfl' an : auch hier, im eingang von
\xxix, tröstet er sich über den schwindenden sommer — der
nächste mai bringt ihn wider (507, 16 f vgl. 555,23).
R. 169, 27 : Wol den ougen dm so welen künden und dem
herzen duz mi>- riet — vgl. L. 406, 19 f: Wol mich daz ichs ie
gesach etc., ferner besonders:
Wol mich der sinne, die mir ie gerieten die lere,
daz ich si minne — (394, 16 f)
und Min herze gibt mir wisen rät — 58, 5, dö riet mir daz
herze min 58, 13 u. o.
R, 172, 15 : ir gewaltes wird ich grd — vgl. L. 395, 9 : Ich
wünsche, ich dinge, des einen daz vor grdwem hdre mir da ge-
linge baz dann ir gen d de gebdre — .
lt. 172, 3<» ff : Swer dienet dd mans niht verstdt, der verliuset
al sin arebeit — ein gedanke, der oft bei L. widerkehrt : 412, 17,
xxi 427, 1. arebeit bei L. im gleichen specialsinne zb. 58, 27.
Der verbissene vorsatz, der berrin trotz aller abweisung un-
beirrt treu zu bleiben, R. zb. 173, 9 f, findet sich bei L. überall
in den liedern der ersten minne.
R. 175, 16 wan des einen dd man lönen sol — vgl. L. 581, 22
wan daz eine des man nennen niht ensol.
R. 175, 24 we war umbe — vgl. L, 113, 13 We war umbe
sul wir sorgen?
R. 175, 33 si was endelichen guot — vgl. L. 415, 15 Si was
endelichen guot — .
R. 182, 14: Höhe alsam diu sunne stet daz herze min —
vgl. L. 437, 18 : des muot muoz geliche stdn Hoch der sunne.
R. 184, 38: Ich wil bi den wolgemuoten sin — vgl. L. 399, 9:
Oice daz ich bi den wol gemuolen also lange muoz beliben un-
gemuot — .
Reinmar werden vorwürfe gemacht wegen seines beständigen
trauerns : si sagent mir alle, trüren ste mir jeemerlichen an
100 BRECHT
185, 32; ebenso geht es L. : Ich hdn geklaget so sere miniu leit,
daz manic tumber lip die langen klage mir ze guot niht gar
vertat etc. (402, 20, xv). R. will sich selben guoten tröst geben
185, 29. L. vermisst mehrfach den tröst seiner dame und spricht
mit den frauen von dem rat, den ich mir selben hdn gegeben
403, 13 (xv).
si hat tugent und e're R. 190, 18 : das gleiche rühmt L. von
seiner zweiten dame ; Wol mich, wol mich iemer mere des daz si hdt
tugent und ere — 449,21 ; erenbernde spü mit den tugenden 515,21.
Das hausen im herzen des anderen, als Reinmarsches bild
194, 18 ff von Burdach s. 113 ff ausführlich besprochen, hat sich
bei L., wie oben mehrfach gezeigt worden, reich und zuletzt ins
absurde entwickelt; vgl. die vielen von Rnorr s. 95 aufgezählten
stellen (auch Burdach s. 116). besonders in den zwei auf-
einanderfolgenden liedern xli und xlii hat L. das motiv verwertet,
der von Burdach citierten parallelstelle Parz. 433, 1 tuot uf etc.
vergleicht sich L. 515, 24 ff (xli) Tuo uf : ich klopf an etc. das
motiv B.s 194, 31 f min herze — ez sohle sin bi mir; nust ez
bi dir wird von L. 518, 29 ff (xlii, vgl. lvi) nur als hoffnung
ausgesprochen, xlii zeigt die ergänzende Situation zu R.s gedicbt:
R. wehrt sich vers 26 f nur noch schwach gegen den einfall der
herrin in sein herz; von dieser besitzergreifung geht Ulrich be-
reits aus. die behaudlung des motivs ist bei ihm noch spinti-
sierender als bei R. zeigt dies schon den epigonenhaften zug L.s,
so noch mehr die talsache, dass das bild bei ihm schon so zur
phrase geworden ist, dass die ursprünglich sehr notwendig hinein
gehörenden ougen, durch die die geliebte in sein herz dringt,
ganz in Vergessenheit geraten sind, die enge des herzens (R. u.
'»Yolfram, vgl. Burdach aao.) fehlt übrigens auch bei ihm. —
ein minneclichez wunder dö geschach R. 194, 21 : ein solches
lounder hat auch L., 582, 15; ein minnewunder mir geschach
FD 119, 22.
Reinmars Strophe 195, 3ff mag Ulrich im ohr geklungen
haben, als er die erste Strophe seines vn liedes dichtete:
R. 195, 3ff L. 113, 13ff
Swem von wiben liep ge- We war umbe sul wir sorgen?
schiht, vreud ist guot.
der hat aller scelde wol den Von den wiben sol man borgen
besten teil. höhen muot.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 101
!!. 195, 3 IT L. 113, 130
wd sack ie man so guotes ihtl Wol im der in Man ge-
a n in lit iler wer l de wunne und w innen
ouch ir heil. von in! der st ein scelir
wol im, erst ein swlic man man.
der wol an in erwirb et p/liht fr ende sol man durch si
der fr ö i d e n minnen :
der ir gürte wunder geben kan. wan dd lit vil eren an.
Einen ähnlichen anfaog wie dies R.sche lied : Der mir gäbe
sinen rät! hat Ulrichs xxi\ :
0 ue der so scvlic wcere, der uns künde geben rät .'
R. (doch vgl. die mini. MFr.« 313) 201, 16: dd ich
herzeswcne trage, mere denne ich ieman sage — vgl. L. 412, 19
Xoch lide ich von ir leides mere dan ich iemen sage. — .
R. 202, 6 : ich hoere sagen daz si [seil, diu wip] niht alle
haben einen muot bat vielleicht riehen Walther 5S, 35 f L.s lied
xxn, das die guoten wip von den Ixxsen scheidet (der ausilruck
418,1), heeinflusst. directe Übernahme im Frauenhuch(Fß)615,26:
j'l hob wir all niht einen muot, sagt die dame.
Desgleichen uia,- der bei L. so häufige gedanke : der dichter
will alle guten frauen der seinen wegen ehren, zb. 515,27 durch
si e're ich elliu wip etc., durch ähnliche äufserungen R.s, wie zb.
202, 35 und e're gerne guoliu wip, durch die einen etc. mit be-
stimmt worden sein. —
Ich glaube nun nicht, dass Ulrich irgend eine der ange-
rührten stellen bewust kopiert hat. vielmehr hat er oll'eubar
gerade Reinmars, des im Südosten bekannten dichters, lieder so
im gedächtnis gehabt, dass er unwillkürlich auf Wendungen in
ihnen verfiel, oder sie doch streifte, auch ausdrücke, die im
minnesang allgemein üblich waren, — absichtlich hab ich solche
mit notiert — mögen ihm vorzugsweise aus dieser hauptquelle
höfischer kunstsprache, vielleicht schon in früher Jugend (vgl.
FD 3, 5 IV; Schönbach Biogr. blätler n 17), zugeflossen sein, leider
erzählt Ulrich nicht, nach welchen muslern ihn markgraf Heinrich
von Istrien in der dichtkunst unterrichtete (FD 9,13 ff j ; auch
von dem lehrer selbst ist nichts erhallen.
Reinmars einwürkung auf Ulrich kann mit äufseren eiuzel-
parallelen nicht eingeholt werden, auch wenn man die Unter-
suchung, was sehr nötig wäre, auf composition, syntax, vers-
102 BRECHT
kunst ausdehnte, von Reinmar stammt Ulrichs ga.nze miune-
auffassung, sie beherscht die lieder und namentlich die büchlein
seines ersten minneverhältnisses : aber nicht ohne beträchtlich
umgeformt zu werden.
Die elemente in Ulrichs natur, die hierzu beitrugen, liegen
nach derselben seite, die der kunst Walthers einfluss auf ihn
gestaltete, auch hier reicht es nicht aus, einzelne stellen zu
vergleichen.
Parallelen Ulrichs und Walthers hat widerum Schmidt ge-
sammelt; er betont mit recht, wieviel geringer hier der nach-
weisbare einfluss ist.
FD 240, 17 ff : Ir sült sprechen willekomen (citat von 6 versen).
Walther 42, 6 : ohne negation FD 51, 29 (Wilmanns)
8, 12 vgl. FD 587, 27 fT
8, 15 vgl. . FD 587, 31
Knorr fügte folgendes hinzu:
Walther 20, 25 ff vgl. FD 589, 3 ff
46, 10—12 |
46, 15— 17(27, 17ff)/ T«L L' 18' S~ ll" 16- 1T
. 26, 10 vgl. L. 399, 11 taber ,mÜ ^^7-
gesetzter antwonj
42, 31 ff vgl. L. 556, 4 ff
- fzlll] 'gl- L.418,lff(vgl.FB615,24;616,5f.8f)
47, 1 ff [bes. 5] vgl. L. 59, 1 ff
48, 38 ff vgl. L. 566, 10-23 (FD 564, 17—
565, 20)
Knorr bemerkt selbst, nicht überall sei entlehnung sicher, ich
möchte auch hier am liebsten unbewuste eriunerung annehmen,
die 'entlehnung' wird überhaupt bei einem dichter, der nicht
lesen kann (FD 60, lf), meist auf dem wege des gedächtnisses
vor sich gehn, besonders bei einem lyriker, der unter umständen
auch im sattel dichtete.
Von solchen anklängen an Wallher hat eine sorgfältige nach-
lese folgende ergeben:
Wallher 63, 20:
Friundin unde frowen in einer wate
wolle ich an dir einer gerne sehen —
UL11K II V(»N LICHTENSTEIN L03
vgl. 566, 17:
Wip und frowen in einer wate
sol man gerne schouwen —
Schon Wilmanns (Wallher1 159) bat die parallel« _• in .
W. 69, I •• Saget mir ieman, wetz ist minne? mit L. 134,26:
Rerre, saget mir, waz ist minne? ohne bei der 'beliebtheil des
ihemas' direclen eiofluss anzuDebmeo.
Aoaphorische Spielereien gerade mit stiete, wie sie Walther
'.»7. 1—11 enthalt, liebt auch L., zb. 430,7—13.
Die ougen des herzen 5S2, 17 (s. o.) bat Ulrich vielleicht
von W. 99, '22 mtnes herzen ougen und 99, 27. — die stelle
Wolframs 5, 18 (Bock s. 35 aiim. 1) bietet nicht die charakte-
ristische kürzeste form der metapher.
Walther 102, 12 iuwer minneclichez ja = L. 401, 2 ir vil
minneclichez jd.
Walthers, nach Wilmanns1 125 vielleicht von Hartmann MFr.
215, 14 beeinflusster, liedanfang : Wol mich der stunde, daz ich
si erkande 110, 13 mag L.s liedanfang Wol mich der sinne, die
mir ie gerieteji die lere, daz ich si minne 394, 16 mit hervor-
gerufen haben.
Das gleiche gilt von einein andern liedanfang Walthers:
Got gebe ir iemer guoten tac (119, 17),
der mit L.s liedanfang 518, 1 zu vergleichen ist:
Vroioe min, got gebe dir guoten morgen,
guoten tac, vil freude riche naht.
zeigt die hybride ausgestaltung mit ihren auf einmal eigentlich
sinnlosen drei wünschen den nachahmer?
Nachahmung, absichtliche oder unabsichtliche, lit:t jedes-
falls vor gegenüber einem der bekanntesten motive Walthers:
W. 53, 35 IT:
got hat ir wengel höhen ßiz,
er streich so tiure varwe dar (rot und weifs) —
vgl. L. 536, 25:
got hat sinen vliz an dich geleit —
u. a. die färben weifs, braun, rot (536, 27 f).
Eine ähnliche Vorstellung zeigt 576, 20 : an daz herze hdt
geleit got so minneclichen lip (Wilmanns1 s. 141, anm. z. st. \
gleicht die früher Heinzelin zugeschriebene Minnelehre 639 ff).
104 BRECHT
Dagegen ist wol nur zufällige berührung bei ähnlichem au-
lass die gedankenparallele:
W. 53, 17 ff: L. 397, 19 ff (vgl. oben s.7):
Miner frowen darf niht wesen leit, Ob ich niht geniezen kan
daz ich rite und frage in frömediu diner güete und der langen stcete
lant min,
von den wiben die mit werdekeit So Id mich vil senenden man
lebent. der ist vil mengiu mir der geniezen, den ich durch den
erkant — willen din
Vgl. auch W. 49, 16 ff: Sol und muoz gedienen vil.
Swd ich niht verdienen kan daz sint elliu guotiu wip — .
einen gruoz mit mime sänge etc.
Allerdings ist die vergleichung
insofern nicht genau, als er hier
nicht von seiner dame spricht,
sondern von allen spröden frauen.
Einen vollbewusten anschluss Ulrichs an Walther erblicke
ich nur in seinen dialogen. es handelt sich um Walthers
dialoge 100, 24ff und 85, 34ff, mit denen Ulrichs x, xxx,
xxxiii lied zu vergleichen ist.
Alle drei dialoge Ulrichs schneiden die letzte Strophe in zwei
teile für die gesprächspartner, während sie ihnen vorher Strophe
um Strophe abwechselnd zuteilen : ganz ebenso macht es W. in
den angeführten liedern (vgl. auch Wilmanns1 144 anm. zu v. 37).
Walthers lied 100, 24 ff ist ein gespräch des dichters mit
Frö Welt, Ulrichs 134, 5 ff (x) eines mit der frau Minne, in
beiden beklagt sich der dichter, die angeredete sucht ihn mit
gründen zu beschwichtigen, der ausgang freilich ist verschieden:
Walther sagt mistrauisch der frau gutenacht und vert ze herberge,
Ulrich lässt sich zu neuer begeisterung entflammen.
Viel weiter geht die Übereinstimmung zwischen W. 85,3411
und L. 434, 19 ff (xxx). beide male ein gespräch zwischen dem
dichter und einer dame. beide male verhält sich die dame spröde,
und der dichter gibt minnigliche lehre, in beiden liedern von der
dritten Strophe an, auf ersuchen der dame (W. 86, 13 lert mich
— Frowe, daz wil ich iuch leren 86, 15, L. 435, 2 saget an —
Vrowe, ich wil iu von ir me're Sagen — 435, 20). bei Ulrich
ist von vornherein von minne die rede, bei Walther gibt erst der
herr dem thema die verfängliche spitze, dafür geht W. sogleich
ULRICH VON LICHTENSTEIN LOS
in der mionelehre der dritte d Btrophe, der Ulriche dritte Strophe
im inhalt entspricht, stärker aufs persönliche los und bringt schon
hier den effect, den Ulrichs raffinierterer Bpätlingsverstand Ins
zum sclduss aufspart : der herr bezeichnet sich selbst als ge-
eignetes object für die soeben vorgetragenen minnevorschriften :
froice, wollet ir den mtnen,
den gceb ich um ein so schiene wtp,
worauf die dame ihn nur als redegesellen gelten lassen will, der
herr wagt noch einen vorstofs und wird erst dann von der dame
zierlich und schnippisch abgefertigt, wahrend W, so mit uider-
holungsmotiv und klimax wilikl, sucht Ulrich seine stärke in der
ausdehnung des immer verfänglicher werdenden gesprächs, das
bei ihm noch doppelt so viele (kürzere) Strophen zählt als bei W.
hei ihm kommt der herr erst zu beginn der letzten Strophe, von
der dame fast provociert, mit seinem antrage heraus, dann aller-
dings kurz und bestimmt: Vrowe, da soltu mich meinen etc.
noch kürzer, dabei schnippischer als hei W. und schärfer, ist die
antwort. — bei Ulrich ist alles logischer, pointierter, eleganter,
weniger gutmütig : in dieser üherschärfung des tones glaub ich,
wie in der der motive, wider den copisten zu erkennen, pedan-
terie des uachahmers ist wol auch die ergänzung der bei vV.
fehlenden Herre zu beginn der frauenstrophen. bei W. gehl die
dame im scherz auf die befürchlung ein, ihre minne werde den
ritter toten (86, 29); bei Ulrich fürchtet sie sich selbst vor dem
minnekummer (435, 27f), ebenso schalkhaft, aber mit erkünstelterer
naivetät. die gesellschaftliche haltung, der leicht frivole salonton,
ansteigen und abbrechen des gesprächs ist in beiden liedern
ganz gleich.
Die Ähnlichkeit des Waltherschen liedes mit dem xxx des
Lichtensteiners besteht in der gleichen anläge, die hier auch die-
selbe strophenzahl hervorgebracht hat, und in der parallehtät
der eingänge. Strophe 1 bei \V. entspricht durchaus der ersten
Strophe bei L. 443, 1 ff, ankündigung der neigung des ritters
(Frowe'n lät iuch niht verdriezen Miner rede Wizzet
daz ir schaene sit — vgl. Wizzet, frowe wolgetdn, etc.). was W.s
dame schon in ihrer ersten rede ausspricht (86, 7 f ) :
Ich wil iu ze redenne gunnen,
(sprechent swaz ir xceli), obe ich niht tobe.
106 BRECHT
daz hat ir mir an gewunnen
mit dem iuwern mitinec/ichen lobe,
dies uiotiv hat L. wider zum pointierten abschluss aufgehoben,
verschärft und negiert, seine dame verbittet sich gerade die
übertriebenen complimenle (443, 26), und als der ritter uoeb
nicht aufbort, wird sie empfindlich und bricht das gespräch ab
(444, 5-7).
Affinitäten im ton begegnen häufig, so klingen das xxviii
und das xxxi lied Ulrichs sehr waltheriscb iu ihrer einfachen
natürlichkeit und frische, mit ihrer klaren naluranschauung, ihrer
leicht sentenziösen spräche, ihrem sich dem metrum anschmiegen-
den satzbau (vgl. zb. W. 51, 13 ff), xxxi schliefst mit einem
bildchen, wie Walther es liebt:
Swd ein werdez wip anlachet
einen minnegernden man
Und ir munt ze küssen machd — .
kurz vorher (437, 14) steht: alles guotes Überguide, vgl. W. 8, 17:
der zweier Überguide; lieblingsworte \Y.s, wie gedinge, gern, sind
auch bei Ulrich nicht selten, unter Walthers liedern erinnern
109, 1 ff; 110, 13ff; 110, 26 ff am meisten an Lichtenstein. —
Geschichtlich folgt Ulrich auf Walther, den
schüler Reinmars, in seiner kunst steht er zwischen
beiden, auch er ist nicht bei R.s ton geblieben, aber er war
weit entfernt von Walthers bewuster und radicaler abkehr. die
wendung zur natur, zur 'niederen minne', war bei ihm undenkbar,
der Reinmarische ausschnitt W.s bleibt seine Sphäre,
i Die dialektische disposition, den gespreizten ernst, die humor-
, losigkeit teilt Ulrich mit Reinmar, aber nicht seine schwere und
seine oft zaghafte baltung. er könne von wiben niht übel reden,
erklärt Reinmar (171, 3); so weit versteigt sich Ulrich nicht: er
verstand sich auch auf scheltlieder.
Ulrich hat mehr natur, mehr sinne als Reinmar, er schaut
nicht nur in sich, auch in die ritterliche weit, er zeigt sich als
unverbesserlichen Sanguiniker, als ein kind das nur im augen-
blicke lebt : in all dem erinnert er lebhaft an Walther. nur dass
die natur bei ihm eine viel geringere rolle spielt; Reinmar igno-
riert sie, Ulrich sieht mehr den ritter, Walther sind natur und
mensch gleich vertraut.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 107
Ulrichs naturell mag Walther ähnlicher gewesen Bein;
vielleicht gerade darum hat Reinmar spürbarer, wenn auch nicht
tiefer, aul ihn gewttrkt. wie reinmarisch sind die wdnwl
;ils conception, aber wie gani unreinmarisch, in ihr« r vorwiegen
den munterkeit, isl die ausführungl bei ihnen wird es am
klarsten : der einfiuss Reinmars aul Ulrich war Urin mensch-
licher, vielmehr nur ein litterarischer, gerade wie er es bei
Wallher gewesen war.
Irgendwie beträchtliche einwürkungen anderer erscheinen
ausgeschlossen, geringfügige reminiscenzen ;ms Wolframs dich-
lungen — »leren liefe Ulrich sicher nicht verstand — hat Knorr
s. 13 notiert, ich halte nur die erste von ihnen für erwiesen:
und müht ich dich bergen in den ougen min 512, 21 (n tagelied)
vgl. Wolfram 8, 4. die stark sinnlichen tagelieder (wxvi, xi.)
stehen natürlich auf der von Wolfram ausgehnden linie. im
einzelnen hat Roelhe (Anz. xvi 96) 14S, 3«> : mit armen und
leinen lac geflöhten usw. als 'wttrkliche nachahmung' W.s (4, 1 f )
angesprochen; vielleicht ist auch näher unde näher, bazundabei
haz -Km), 1 1 ixiv), vgl. Wolfr. 5, 11 urloup nah und näher baz — .
hierher zu rechnen, endlich der anfang des xi.wi liedes:
Nu hilf, ic i hes gilete.
mir ist not der helfe din.
lässt an Wolfr. 7, 24 denken : — güetlich wip : nu hilf, sit helfe
ist worden not. aber der ausdruck ligt allgemein nahe. —
Überall folgt Ulrich der strengen höfischen tradition. natur
und leben legten ihm dies nahe, sein meister Reinmar ist höfisch
par excelleuce; und die andersartigen demente Walthers ver-
schmäht er. nur an zwei stellen scheint mir ein unhöfischer
ton leise anzuklingen : in zwei tanzweisen, dem frühlingsliede
xxxiv und namentlich in dem winterliede xxxv (beide nach 12:
Der eingang des ersten liedes weist sorge und angest von
der strdze : strichet von dem lande, sam der winder, von uns hin
— er spricht im uamen aller, auch noch in der nächsten Strophe:
es klingt wie Neidharts nalureiugänge vor seinen sommer-
liedern. sie haben dieselbe tendenz, häufig auch zwei Strophen
läuüe. strichen isl ein, nicht ilbermäfsig höfisches, lieblingswort
.Neidharts (vgl. 12, 18; 13, 21; IS, 15; 19, 1; 22, 20).
Sehr viel grofser ist die Ähnlichkeit im zweiten liede. Warnet
iuch gar, Junge und aide, gegen dem winder — (44i>, l f). junge
108 BRECHT
und alte (bei Ulrich aufserdem 555, 28 ; 565, 29) : der typische
gegensatz bei Neidhart; in derselben Zusammenfassung 8, 12;
41, 34, beide male ebenfalls im liedanfang. — am ende der ersten
und in der zweiten Strophe gibt Ulrich vorsichtsmafsregeln gegen
den wiuter : Sit iu selben kleider milde — weit ir vor im sin
behuot, so sult ir diu hiuser spisen — . ratschlage gegen die
winterkälte gibt auch Neidhart iu einem winterliede : beidiu vinger
unde zehen sol ein ieslich man vor disen winden wol bewarn etc-,
(76, 21 f). — in der dritten Strophe kommt Ulrich auf seine
pauacee : Für sin stürmen sul wir in die Stuben wichen,
da mit wiben wesen vrö — vgl. Neidhart zb. wir müezen in die
stuben 60, 9; Winder, uns wil din gewalt in die Stuben dringen
35, 1, vgl. auch 35, 20. es ist die den winterliedern zu gründe
liegende Situation; und das vrö wesen mit iciben ist auch hier die
hauptsache, wenn auch in anderer form.
Auch ein singulärer liedanfang, wie Ulrichs
Alle die in hohem muote wellen sin,
den %dü ich daz rdten bi den triwen min — (426, 12)
stammt wol aus neidhartscher Sphäre. Neidharts lied 16, 38
beginnt:
Alle die den sumer lobeliche weint enphdhen,
die Idzen in ze guote mine lere niht versmdhen.
ich rate daz — .
Natürlich mein ich nicht, dass Ulrich sich gerade au die
angeführten stellen angeschlossen habe, aber dass er Neidhartsche
lieder gekannt hat, ist sicher, hielt sich doch Neidhart selbst einige
zeit in der Steiermark auf; war er doch der bevorzugte dichter
am Wiener hofe unter herzog Friedrich dem Streitbaren, Ulrichs
lehnsherrn. bei Ulrichs aufenthalte in Wien, im winler 1227
auf 28 — damals regierte noch Leopold vn — war Neidhart zwar
schwerlich schon dort (HMS iv 437 f) ; aber dass er ihn später
nicht kennen gelernt haben sollte, ist kaum denkbar (vgl. Roethe
s. 35 und 36). wie dem auch sei, ein leichter anflug Neid-
hartscher drastik kann den Verehrer des hohen stils damals sehr
wol betroffen haben, die tendenz zum realismus lag iu der
luft, im märe zeigt Ulrich sie selbst deutlich genug, niemand
kann sich seiner zeit ganz entziehen *. —
1 die gleichheit eines tones bei Ulrich (xxvi) und Rubin (xiii), bei
Ulrich ixxx) und Walther (im kreuzlied 14, 35 ff), halt ich mit Bechslein
ULRICH VON LICHTENSTEIN 109
Von [einer Qachwürkung Lichtenstein s kann man nur
in seiner engeren beimat reden. Kummer (Die poetischen Er-
zählungen des Herrand von Wildonie und die kleinen inner-
Österreichischen minnesingei i hat zahlreich elemente Ulrichscher
lynk bei dem ihm eng befreundeten Wildonie (vgl. s. 23 f.
47 — 52. 99f) m hinsieht auf metrik und Wortschatz festgestellt,
Um dem von Suneck (s. 1 05 f) in einzelnen ausdrucksparallelen,
bei dem von S lad eck auch im metrischen hau eines liedes
(Stadeck m = Ulrich v; s. 1101). die meiste Ähnlichkeit mit
Lichtenstein, mich syntaktisch, zeigen die drei lieder Sunecks.
Eines der schönsten bilder Ulrichs, vom herzen, das wie ein
kleines kind weint nach der huhl Aev geliebten (149, 7, ir büch-
lein), hat Hadamar von Laber nachgeahmt (str. 2:5,3; Bur-
dach s. 26).
Eine gewisse Ähnlichkeit mancher Sittenschilderungen des sogen.
Seifried Helblrng mit Ulrichs frauenbuch und den schluss-
partieen des FD, die Knorr auffiel (s. 21 anm.), beruht wol nur
auf der verwantschaft des slofTes und der örtlichen und zeitlichen
nähe. Seemüller (Studien zum kleinen Lucidarius, Wiener sitziu
berichte cu 661 f, Seifr. Helhl. xxxiii) hat 'keine deutliche spur'
gefunden.
Die lieder Hugos von Moni (ort und Oswalds von
Wolkenstein hab ich auf Lichtensteinische einflösse hin unter-
sucht, jedoch vergeblich.
In den ersten drei capiteln hatte die Untersuchung folgen-
des ergehen, die motive der lyrik Ulrichs waren an zahl gering.
uur sehr wenige von ihnen entnahm er dem leben, die meisten
der hofischen tradition, die er zt. durch übersteigern, combi-
nieren, rationalistische neuerungen l epigonenhaft weiterbildete,
sein produetiver kunstverstand entfaltete sich vorzüglich in der
composition , in der vielfach eine dialektische Veranlagung des
geistes zu tage trat, sein formsinn im einzelnen bewies seine
kraft hauptsächlich in kunstvollen widerholungen, parallelismen,
synonymen, Variationen; vorwaltende Orientierung seiner phan-
lasie nach aufsen verriet die ausgeprägte neigung zur anrede.
s. xvf für zufall. zum daenediep war Ulrich zu reich an erfindung. vgl.
Lachmann zu Waltbei IG, 35, Liliencron Zs. 6, 86, Kummer s. 74 anm., Bei b-
slein s. 147 anm. und s. 156 anm. ' vgl. auch Burdach s. 116.
HO BRECHT
Als was lassen diese eigeuschaften den dichter erkennen?
der geringe gedankengehalt; das vorwiegen der form; die Sicher-
heit in allem technischen des aufbaus und der ausführung; die
liebe zu Stilmitteln, die mehr als alle andern geläufige kenntnis
des wortreichtums, heherschung aller ausdrucksmöglichkeiten einer
gehildeten dichtersprache voraussetzen : alles erweist den vir^
tuosen am ende einer lyrischen blüteperiode.
Einen virtuosen, dessen lehhaftigkeit zuhörer nicht entbehren
kann, apostrophe ist die seele seiner dichtung. er ist nie mit
sich allein, das unterscheidet ihn am meisten von Reinmar. er
steht immer vor leuten, denen er vorsingt, seine lyrik ist laut,
es ist immer geslus dahinter.
Der vortragende hört sich reden, man merkt Ulrichs Worten
au, dass sie alle ajiljwi^rkung hin ausgewählt sind, namentlich
am anfang der lieder1. ostentative mitteilung, die imponieren
soll, ist seine ganze poesie. er ist eitel auf sein Seelenleben.
Er weils, dass es adelich ist. nicht umsonst reizt ihn immer
wider die Vorstellung des hohen2, erfüllen ihn hochgespannte
ideale von e're, werdekeit, tugent und dergleichen, darum ist es
ein kleiner kreis, au den er sich wendet; der aristokrat weifs,
dass er nur von seinesgleichen verstanden wird 3.
Als mitglied der ritterlichen gesellschaft fühlt sich Lichten-
siein vor allem, in der dichtung nicht anders als auf dem turnier-
1 die anfange sind ausnahmslos gut, voller elan; die schlösse, auf die
der moderne virtuose besondern wert legen würde, fast durchgängig matt.
2 hoher muot, hochgeniiiete überall, hohgedinge zb. 30, 3. diu
hohe minne 59, 3. minnet ho 457, 7. min gemüete stdl ho 400, 3 ; 556, 21,
desgl. 410, 25; 566, 13 (muot). diu herze stigent ho 423, 12. stet min
herze unho 110, 16. junge und aide hebt unhohe 566, 1. mir muoz ho
an ir gelingen 425, 25. des muoz min muot hohe sweben 534, 12. des
muot muoz geliche stdn Hoch der sunne 437, 18, und vieles andre dgl.
3 dass ritterlich höfische art die einzige ist, die in betracht kommt,
ist L. überall selbstverständlich, bei seinem aufenthalte als trau Venus in
Wien 1227 sind die bürger gut genug, um die ritler in quartier zu nehmen
(charakteristischer ausdruck 250, 28); die Wienerinnen werden als deco-
ratives strafsenpublicum angenehm empfunden (251, 26). — unterschied
zwischen edeler art und geburen art 509, 26 ff, bes. 510, 5 f. — andere
charakteristische lieblingsworte : herze, minne, dienen, dienest, freude,
Irüren, wünsch, wdn, wip, vrowe, rät, wunder, enget, rose, vro, guol,
sueze, fruole, lachen und munl der geliebten, das absonderliche kleinvel-
hitzeröl (vgl. Knorr s. 82). an der geliebten sieht er, wie wol die meisten
mhd. lyriker, ausschliefslich die färbe, nicht die form.
ULRICB VON LICHTENSTEIN 111
platz, vornehmer sport ist das eine wie das andere, dass ihm
der sport des minnedienstes zum notwendigen pbantasiebedQrfnis
uird, ist das Verhängnis Beines cbaraktei
Den forderungen der höfischen Gesellschaft ist sein stil
völlig angemessen, als gesellschaftlichen dichter zeigl ihn
Bchon die grofse neigung zur apostrophe. wesentlich von ihr
stammt der eindruck der lebbaftigkeit, den seine poesie von jeher
gemacht bat (zb. Uhland b. 236). seine natur ist nicht übermäfeig
ursprünglich ; hergebrachte minnedialeklik hat er genug — trotzdem
wflrkl er lebendig und Irisch, die apostrophe macht alles mindestens
erträglich, neben der pointierten diction, dem reichtum an rede-
ßguren, »lern öberlegten satzbau trägt sie das meiste bei zu dem
declamatoriscben Charakter seiner lyrik.
Wer sich immer an die gesellscbaft wendet, bei dem isi
ungewöhnliche tiefe der empfindung und des gedankens von vorn-
herein ausgeschlossen, aber reichtum an abwechselung und eine
gewisse Urbanität, eleganzund geistreiche einfalle werden geradezu
verlaugt, mit alledem konnte Ulrich dienen.
Die gesellscbaft verlangt mafsvolle munterkeit : er dichtet
muntere Lieder '. die gesellschaft kokettiert im stillen mit der
leidenschaft : er dichtet leidenschaftliche lieder. ein wenig Sinn-
lichkeit erlaubt sie : er macht sinnliche, die er gerade au der
grenze desseD halten lässt, was erlaubt ist — und gefällt2, sie hat
Verständnis für schwierige kunstgedichte : er verfertigt prunk-
stflcke3. schmachtende Sentimentalität ist ihr interessant: davon
hat er überfluss. und die minnigliche verstiegenheit wird, solange
sie nicht lästig fällt, von dem mafsgebenden, weiblichen teile der
Gesellschaft nur als schmeichelhafte consequenz empfunden.
Gelegentlich verrät Ulrich den her gang bei seinem
dichten oder äufsert sich in einer art von räsonnement über
poetische fragen, psychologisch lässt sich manches aus diesen
bemerkungen gewinnen, die naiv bleiben, auch wo sie rationa-
listisch werden.
Die antriebe zum dichten sind bei ihm sehr verschieden.
manchmal folgt er sichtlich dem augenblicklichen bedürfnis, er
dichtet im sattel (109, 29 f), auf dem wege (131, 29), in der nol
1 zb. IV. VIII. XII. XIX. XXVIII. XXXI. XXXV. XLVIII. L.
1 Zb. XXIX. XXXVI. XL. XLI. LVI. LVII. /
S Zb. XIV. XVIII. XXV. XXX. XXXII. XXXIII. XXXIV. XI.II. M.III. LI.
112 BRECHT
des kerkers (545, 1). viel häufiger setzt er sich in positur. aber
bereit ist er immer : der virtuose versagt nie. er kann auch
würklich sehr viel, das zeigt sich glänzend, als er krank in Bozen
ligt, und eine dame ihm eine welsche melodie schickt, mit der
bitte, ihr einen deutschen text unterzulegen (1225, FD 112, 22 ff),
er willfahrt sofort; und gerade dieses lied ist vortrefflich : sehr
lebendig, feurig, im ausdruck das schwierige metrum der drei-
teiligen Strophe aufs gewanteste verwertend.
Ein innerlich wahrer ausdruck für den unmittelbaren drang
zu dichten, äufserungen wie Zehant ich tihten dö began, als mir
min senedez herze riet (104, 6) — min zornic herze mir dö riet,
ze singen disiu sioinden liet (416, 26) — in dirre not min herze
riet mir ze singen disiu liet (545, 1) sind dem entsprechend selten,
der virtuos ist gewöhnt, die poesie zu commandieren. die Situation
lässt es ihm einmal vorteilhaft erscheinen, seiner ersten herrin
möglichst bald wider ein lied zu senden, er sagt dies seinem
boten. Alzehant dö huob ich an, von herzen tihten ich began liet
sd von der vrowen min (318, 5 f). unterdessen wartet der böte,
kaum ist das lied aufgeschrieben, reitet er mit ihm ab. und
dies lied (xi) ist nicht schlecht, es hat keinen leichten strophen-
bau, doppelte eingangsapostrophe, anaphern, parallelismen.
Ähnlich ad hoc dichtet er bald darauf das xii, überaus kunst-
volle lied und das m büchlein.
Da mit ich von dem boten schiet
und tiht zehant guot niuwiu liet
und ouch ein kleinez büechelin — —
diu liet und büechel wart bereit,
al zehant min böte reit — . (381, 5)
Leistet Ulrich in der tat viel, so ist er auch stolz auf seine
geschicklichkeit :
nie buoch so tninneclichen wart
getihtet so daz büechelin,
daz ich dö tiht — (381, 10).
schon der junge dichter betont die Originalität der melodie, die
Schönheit und gefühlswahrheit des textes:
diu wise ist niuwe und höchgemuot,
diu wort sint süeze und dar zuo wir (98, 24),
und das letzte empfinden wir bei diesem liede (iv) heute noch.
'■diu wort sint guot, diu wise niu , lässt er seinen boten von
ULRICH Vi».\ LICHTENSTEIN ll .,
seinem vir: liede sagen (125, 13) '. dies Bind nur «* i 1 1 1 _ . - proben
seines selbslbewustseins. virtuosen pflegen ruhmredig eu sein.
Nicht selten misversteht der auf die tecbnik eingeschworene
routinier den Klassischen Stil, und wähnt ihn durch kleinliche
Schnörkel zu verbessern, so negiert Lichtenstein in seiner ein-
zigen gröTseren ästhetischen argumenlation 509, 6 IT den bisherigen
stil «les tageliedes mit naturalistischen gründen, wie sie dem
epigonen naheliegen, nur um diese theoretische erwägung zu
illustrieren, dichtet er, nach seiner angäbe, seine beiden tage-
lieder. der blofse vorsatz, wider einmal etwas effectvoll-origi-
nelles zu machen, ist das primäre.
— min herze mir <I6 riet
singen aber niuwen sin.
ich ddhte her, ich ddhte hin:
ich (Iaht an der minncBre klage —
damit leitet er seioe rationalistischen erwägungen ein.
Wäre die gesellschaft, für die Lichtenstein sang, noch so
gewesen, wie er sie sich vorstellte, noch dieselbe, dereu letzte
blute er in seiner ersten Jugend noch miterlebt hatte, so halle
er viel mehr beifall linden müssen, als es geschehen zu seiu
scheint'2. denn er erfüllte in seiner dichtuug eigentlich alle
ausprilche, die man an das ideal des rein höfischen miunesanges
stellen konnte, ohne dass er irgend welche ausprilche stellte,
die über das geistige vermögen des guten durchschnitts hinaus-
gingen, was Gottfried als epiker, bedeutete er als lyriker : das
getreue Spiegelbild der anschauungen seiner kreise.
Das ritterliche elemen t im höfischen ideal tritt so mächtig
bei ihm hervor, dass man nur darauf hinzuweisen braucht, die
ethik des schildesamtes ist die einzige, die er kennt, das turnier
ist fast eine heilige angelegenheit (vgl. die beiden üzreisen). im
übrigen ist er der mann der Convention, der Verehrer der zuht
(xx), der es fertig bringt, sogar die huote und die merker zu
1 die musikalische composition scheint seine starke seite gewesen zu
sein, auch ohne bemerkungen wie die erwähnten könnten wir dies aus
dem kunstvollen bau seiner sehr verschiedenen Strophen udgl. schliefsen.
vgl. Scherer Deutsche Studien i 48 anm. 1.
2 und doch war gerade die Steiermark schon sehr früh der nährboden
einer ausgebildeten ritterlichen gesellschaft gewesen, vgl. Schönbach Die
anfange des deutschen minnesanges s. SO ff.
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. S
114 BRECHT
preisen *. verlieren diese begriffe bei seiner spielenden Um-
formung auch ihren alten sinn, so ist der neue, den er ihnen
unterlegt, erst recht ein Zugeständnis an die zuht, und, wie man
zugeben muss, eine art Vertiefung der tbeorie von der huote
(xvm). praktisch verhält er sich gelegentlich ganz anders,
ohne sich aber irgendwie eines Widerspruchs bewust zu werden,
prachtvoll naiv wie er ist. äufserlich von mehr als standes-
gemäßer frömmigkeit, macht es ihm doch gar nichts aus, in
seiner frauenverkleidung mit dem friedenskuss bei der messe
schnödes spiel zu treiben (179, 1 f). er preist allen segen der
kreuzfahrt — und bleibt zu hause.
Das element des frauendien stes war im höfischen
ideal dem ritterlichen so eng verbunden, dass es praktisch kaum
zu scheiden war. nach dieser seite hin ist erst recht nichts zu
denken, was über Ulrichs leistung hätte hinausgehn können,
die fraueuverehrung als sittliche tat war so oft von den dichtem
empfohlen, die idealgestalten der heldenromane so nachdrücklich
als muster aufgestellt worden 2, dass man sich gar nicht wundern
kann, wenn endlich einem phantastischen köpfe die grenzen
zwischen poesie uud würklichkeit verschwammen; zumal wenn
er wie Ulrich von klein auf die luft der chevalerie geatmet
hatte 3.
"Wie weit hatte doch die deutsche lyrik weggeführt von jener
naiv-gesunden auffassung der geschlechter, wie sie beim Küren-
berger begegnet 1 jener hatte lieber 'das land räumen' wollen,
als sich von der vrouwe minnen lassen, jetzt erklärt der Lichten-
steiner:
Der diene ich also miniu j'dr —
swaz so ir an mir missehaget,
dem ist von mir gar widersaget.
geviel ir niht min zeswiu hant,
ich slüeg si ab bi got zehant.
ich wil davon niht sprechen vil — (27, 13f).
Was er in würklichkeit ihretwegen abschneidet, ist der kleine
finger der linken hand, der doch unbrauchbar geworden war.
1 vgl. Scherer Littgesch. s. 211.
2 zb. Thomasin Welscher gast 1041. 773. 1029. 6325. vgl. Scherer
aao. s. 223.
3 vgl. Schönbach in den Biograph. Blättern u 33 ff.
L'LHICll VON LICHTENSTEIN US
auch dies ist schon verstiegen genug. m) selben Btil Bind Be
übrigen Laien für seine dame.
Man kann deutlich erkennen, wie die kokett abweisende
baltung der dame , der widerstand der anders gewordeoea w «U
ihn auf der betretenen bahn nur um so energischer vorwärta-
treibt. ein normaler mensch wäre er nur im reiche des kön
Artus gewesen; in einer noch ganz höfischen gesellschaft wl
er immerhin nicht so unterscheidend aufgefallen; der umstand,
dass er zwei, drei Jahrzehnte zu spät auf die weit gekommen,
macht ihn zum rom antiker, zwar hat er, wie sich aus seiner
aufserdichlerischeu täligkeit ergibt, das handelnde leben nie aus
deu äugen verloren; im privalleben aber wird der naive versuch
gemacht, poesie und würklichkeit zu verschmelzen.
Hierbei kommt es in der tat zu einer argen verbiegung der
psyclie. die germanische mafslosigkeil macht den minneapostel
zum pedantischen doctrinär. der rein egoistische kern seiner
minne indessen und sein doch nicht zu ertötender gesunder
menschenverstand bewahren ihu vor dem blindesten fanatismus:
von der versprochenen kreuzfahrt, durch die ihn seine dame nur
los werden will, weifs er sich in der artigsten weise zu drücken,
winkt aber nur die leiseste hoffnung auf erfolg, so fasst er die
abenteuerlichsten entschlösse ohne weitere Überlegung, ohne jeden
seelischen kämpf (zb. 138, 25 f. 328, 1 t). das beständige be-
dürfnis pathetischer Steigerung des lebens ermöglicht alles, schickt
ihm die dame einen brief mit der unzweideutigsten absage, so
bringt ihn das nur zu noch trotzigerer selbstqual : nu dar! nu dar!
nu dar! swie mir diu reine süeze tuot, daz muoz von rehl mich
dünken guot (61, 4 ff), über das geringste, zweifelhafteste zeichen
von huld gerät er in unnatürliche freude (zb. 156, G IT), die
einzige ideale lebensmacht, die er kennt, ersetzt alles andere, er
bringt sie mit dem höchsten in Verbindung : Got hdt mich in ir
dienert brüht, so begründet er seine Venusl'ahrt (156, 29); Gott
will den minnedienst (379, 21— 30) K
1 die anrufung Gottes spielt bei L. die gröste rolle, von der nichts-
sagenden redensart angefangen bis zum poetischen wünsch und zur naiven
Überzeugung, nu helf mir got, daz ich ir tuo den dienest schin 58, 17.
daz wetz got wol 105, 11; Got weiz wol 585, 7. got vor sorgen mich
oehüele 421, 14; vor ir zürnen mich behüete got 446, 27. Got füege
mirz ze guole 422, 21. 449, 25. got den grozen kumber wende 555, 29.
116 BRECHT
Wahres und falsches gefühl gehen scliliefslich ununlerscheid-
bar durcheinander, selten ist die empfindung so unzweifelhaft
echt wie bei der erzählung, wie er im kerker zum letzten male
den leib des herrn nimmt (543, 27 f).
Reminiscenzen an Situationen hotischer romane spielen so
häufig auch an nebensächlichen stellen in die erzählung des FD
hinein, dass ich es für verfehlt halte, überall absichtliche fälschung
zu wittern, der versuch des hyperkritischen Becker, hier 'Wahr-
heit und dichtung' scheiden zu wollen, war einer so phantasie-
vollen natur gegenüber von vornherein aussichtslos, auch waren
die romane in vieler beziehuug ja nur verklärte Spiegelbilder des
würklichen ritlerlebens, das für uns genug sonderbares enthält:
wer will da genaue grenzen ziehen?1
Am rätselhaftesten bleibt für uns das Verhältnis L.s zu seiner
gatlin. man hat oft anstofs daran genommen, wie nebensäch-
lich er von ihrer existenz künde gibt, indem er bei erzählung
der Venusfahrt auch den zweitägigen besuch bei ihr erwähnt
got in [den hohen muot] uns behüete 566, 6 ; got beMiete mir ir lip usw.
567, 10. Din er hab got in siner pßege 131, 25. Got geb daz ich si
noch vinde 422, 6f. got gehe dir guolen morgen 518, 1. got der hat
mich wol beddht mit so reinem siiezen wibe 449, 16. got hat sinen vliz
an dich geleit 536, 25, ähnlich 576, 20. das stärkste : Got si mir als ich
ir s({!) 406, 25 f.
1 hat zb. Ulrich bei erzählung der lehren, die ihm markgraf Heinrich
von Istrien gibt (9, 13 ff), an den edeln Gurnemanz gedacht oder nicht? —
Das zuverlässigste sind immer die lieder. es lässt sich bemerken, dass er
auch die Charaktere der erzählung im sinne der lieder färbt. 374,23(1,
nach dem burgabenteuer, legt er seiner ersten dame seine eigenste an-
schauung in den mund:
Ich weiz daz wol, sivie lump ich bin,
daz trüriges rillers lip
erwirbet nimmer werdez wip.
sivelch wip ir Iwt ertrüren an
ir minn, dest vasle misseldn.
vgl. zb. 428, 13 ff (xxvn):
Wie sol ein ungemuoler man
erwerben höchgemuoles wibes habedanc?
wil er ir daz ertrüren an,
daz si in minne, so ist sin lumber wdn vil kraric.
ir höchgemuoles herzen rät
sin trüren hat für misseldt usw.
ÜLItlt II VMN LH'in i:\SH. L\ l 17
(222, 1 11' j. nicht laoge danach kommt er auf zeho tage wider
zu ihr:
Zuo der vil lieben honen min.
diu künd mir lieber nilit yesin,
swie ich doch hei ilbr minen Up
ze vrowen du ein ander wip (318, 25 f).
wie s.di es eigentlich in ihm aus? es müssen zwei ganz ver-
schiedene gefühle gewesen sein, die er in sich nii^. denn wir
haben gar keinen grund, der widerholten Versicherung seiner
galtenliebe zu mistrauen (die zwei eisten verse schon bei dem
ersten besuch), noch einmal kommt er bei der erzählung seiner
gefangennebmung auf seiner eignen bürg kurz auf diu guote zu
sprechen. Freytag (Bilder a. d. deutschen vergangenheil5 u 30)
hat ihm sehr verdacht, dass er in der ludesangst des kerk
an seine dame ein lied dichtet, wahrend seine Trau das llilcht-
lingsbrot verzehren muss. in der tat spricht er von ihr mit
keinem worte; dass er ihrer nicht gedacht habe, wird dadurch
iu keiner weise erwiesen, hier ist eine der vielen stellen des
Fl», wo die macht des höfischen Stiles in anschlag ge-
bracht werden muss. die gedanken an die gattin sind unhöGsch;
darum hat er keinerlei Veranlassung, sie hier mitzuteilen, ebenso
nie er überhaupt von seinem eheleben schweigt, wie er im
ganzen FD nur die höfische seile seines reichen lebens dar-
stellt, zu leicht ist moderne Vorstellung geneigt, seine von
strengem Stilgefühl dictierte aus wähl als vollständige memoiren
aufzufassen.
Aber gesetzt auch, es wäre kein herzliches Verhältnis ge-
wesen was er verschweigt : so ist es doch wider nur modern,
daran anslofs zu nehmen, auch Freytag ist hier einer uu-
historischen aulfassuug erlegen, er, der uns gerade das wesen
der mittelalterlichen ehe und ihre Vertiefung durch die reformatio!»
so schon auseinandergesetzt hat. neben einer miuniglichen
Schwärmerei kann bei Ulrich sehr wol eine ehrliche neigung
zu seiner hausfrau hergegangen sein, übrigens ist seine theorie
consequent genug, der frau, die sich schlecht behandelt (nicht
etwa 'ungeliebt') fühlt, den ehebruch zu erlauben, falls sie es
nicht lieber um Gottes willen lässl iFil 623, 5 ff).
Unter dem einflusse seines ideals und seiner eignen dich-
terischen tätigkeit entwickelt sich Lichtenstein immer mehr zum
HS BRECHT
artisten, der erlebt um zu dichten, er leistet alles was der
stil des liebesromans von ihm verlangt, in der lyrik wie im
leben, wahrend des ersten Verhältnisses singt er muntere und.
ernste, hoffende, schmachtende, ängstliche lieder, alle mehr oder
minder von gesellschaftlicher hallnng. nachdem die dame ihn
endgiltig abgewiesen, benutzt er das Unglück gleich zu einer
reihe obligater schell- und klagelieder; während seiner erotischen
vacanz nimmt er die gelegenheit zu wdnwisen wahr, beim ein-
zug der neuen herzenskonigin darf das begrüfsungsgedicht (xxxn)
nicht fehlen, gespräche mit ihr werden sofort lyrisch verwertet
(s. o.). kleine huldbeweise der dame, ein wort von ihr, ihr
lachen dürfen nicht unbedichtet bleiben, das kerkerlied, bei ein-
fallender gelegenheit, versieht sich fast von selbst, als im laufe
der jähre das neue Verhältnis mit seiner frische auch seine an-
regende kraft allmählich einbüfst, muss es zu minnedidaktischen
belrachtungen und litterarischen experimenten (tagelieder) her-
halten, ihm verdanken wir schliefslich — wenn Ulrich anders
keine fiction vorbringt — die abfassung seiner beiden bücher.
Auf was es bei alledem schliefslich ankam, sagt er selbst
deutlich genug:
Min minne gernder höher muot —
er machet mir die teile unlanc (515, 4f).
die grundlage dieser auffassung ist schon früh vorhanden, be-
reits i. j. 1225 betont er, wie gleichgiltig es ihm sei, ob ihn
die herrin gut oder schlecht behandle (129, 1 f ). er gibt sich
damit den anschein uneigennütziger treue : in würklichkeit ist
— man denke an die scheltlieder — seine 'minne' durchaus
egoistisch.
Denn von vornherein war, aller pathetischen beteuerungen
ungeachtet, seine minne ein spiel gewesen, ein sport der ritter-
lichen phantasie. er macht sich frei, als er die Unmöglichkeit
einsieht, das recht sinnlich gedachte ziel zu erreichen, unter-
dessen aber war ihm die ausfüllung des innern durch ein minne-
verhältnis — ob eingebildet oder nicht — zum bedürfnis, die
von der minnetheorie fast geforderte verstiegenheit zur natur ge-
worden, er ist so glücklich eine zweite dame zu finden, im
laufe des jahrzehntelangen, offenbar ganz platonischen Verhält-
nisses entwickelt sich sein verstiegener idealismus allmählich zur
harmlosen schrulle, die von den unhöfisch gewordenen zeit-
ULB1CU VON LICHTENSTEIN
lossen gewis viel belachl worden ist, wie schon seine Jugend-
streiche l.
Ks ist leicht, Ulrich einen narren eu schelten; Beine kraft
das leben zu stilisieren ist bewundernswürdig. Bein minne-
leben ist recht ein beweis för den ungeheuren culturwerl der
mini, poesie. auch in der absurden Qbertreibung verleugne! Bich
die beneidenswerte gescblossenheil der höfischen Weltanschauung
nicht, wie unbeschränkt muste ihre macht sein, wenn sie einen
formbegabten menschen am ende ihrer blötezeil so beherrschen
konnte, dass er wie selbstverständlich sein lebensgeföhl nach ihr
einstellte; wie grofs der wert, den ihre Vorstellung vom vornehmen
menschen, <lie sich in <ler litteratur ihren ausdruck und ihr Werk-
zeug geschaffen, 1'iir eine einheitliche lebensauffassung besafs2.
Es ist sitte geworden, Lichtenstein den mittelhochdeutschen
Don Quichote zu nennen; aber der naheliegende vergleich be-
zeichnet nur eine seile seines wesens. seine hohe eultur und
sein strenger stil kommen darin nicht genügend zum ausdruck.
Noch viel weniger aber seine politische persönlichkeit.
sein uns wolbekanntes wflrken zeigt ihn als das gegenteil eines Don
Quichote, als einen realpolitiker von gefährlicher Verschlagenheit3.
Wie ist das möglich? der rubrer (\cs frondierenden stei-
rischen ' adels, tler landesbauptmann und oberste landriebter die-
selbe persönlichkeit wie der fast pathologisch zu nennende phan-
tastische minnesinger? verschiedene antworten auf diese fr
sind versucht worden. Falke meinte (aao. s. 58) : 'das phan-
tastische rilterlum bildet die erste halfte seines lebens, das prak-
tische die zweite, und der dichter ligt allenfalls dazwischen',
wie wenig diese erklärung zutrifft, hat Becker gezeigt, indem <t
(Wahrheit und dichtung etc. s. 102) darauf hinwies, dass die an-
fange von Ulrichs politischer täligkeit schon in seine Jugend
lallen, ferner lä'sst sich Ulrichs dichtung keineswegs nur auf
eine Zwischenperiode seines lebens beschränken; die lieder der
/weiten minne fallen grofsenteils gerade in politisch sehr be-
wegte jähre, ebenso die abfassung seiner beiden grofseren werke.
Beckers eigene erklärung freilich bietet noch weniger einen aus-
1 vgl. Roethe s. 36 nebst anm. 72. 2 wieviele dichter sind im
19jh. bei un9 am mangel solcher einheitlichen eultur zu gründe gegangen!
3 vgl. vFalke Geschichte des fürstl. hauses Liechtenstein i, abschn. ii;
Schönbach Biograph. Blätter ii; Walther vdVogel weide s. 44.
120 BRECHT
weg; das 'bild des überspannten minnetoren' einfach für eiu
'reines phantasiegebilde, ersonnen zu scherzhafter (!) Unterhaltung'
zu erklären, heifst einen starken psychologischen irrtum begehn.
wo bleibt dabei allein das von Becker (s. 95, 96) selbst für un-
verdächtig erklärte Zeugnis der lieder?
Ich glaube, die lösung oder richtiger die aufhebung des
problems ligt in zwei von mir bereits hervorgehobenen momenten.
Das eine ist die intensität der litterarischen cultur,
die Ulrich als ein erbe der zu ende gelinden blüteperiode vor-
fand, ihre gewaltige würkung im einzelnen haben wir gesehen,
culturwerte um die der grofsvater gerungen, erleichtern dem
eukel das leben ohne dass er es merkt, als Ulrich zu dichten
begann, lag die formenweit der höfischen lyrik um ihn herum
zum gebrauch fertig da; war die dichtersprache durch vielfältige
Übung so ausgebildet, dass sie, ähnlich wie am ende des goelhi-
schen Zeitalters, fast selber für den poeten dichtete, war der
poet gar ein formtalent von der stärke Lichlensteins, so ist es
klar, dass zur hervorbringung einer lyrik wie der seinigen keine
aufwühlung des gesamten innenlebens nötig war, die alle seelen-
kräfte absorbierte, dergleichen konnte nebenher gemacht werden.
Hier greift als zweites der begriff des vornehmen Sportes
ein. dies ist nicht so zu verstehn, als ob nicht ein teil von
Ulrichs seele an diesem sport gehangen hätte; aber sport ist
nicht die haupttätigkeit im leben eines ernsthaften manues.
Lichtenstein dichtete seine verse — die ihm , wie wir gesehen
haben, so leicht wurden — , weil es vom höfischen standpunct
aus für einen ritter neben dem turuieren die standesgemäfs vor-
nehmste beschäftigung war. wer es irgend vermochte, für den
war es nur anständig.
Dem philologen, der von allen taten Lichlensteins nur noch
den Frauendienst greifbar vor sich sieht, ligt die Versuchung
nahe, seinen Verfasser ausschliefslich oder doch in erster linie
als dichter aufzufassen, dies entspricht aber keinesfalls der würk-
lichkeit. unsere Vorstellung vom künstler der nur künstler ist,
ist dem mittelalter fremd; sie stammt aus der renaissance, in
ihrer modernen panegyrischen auspräguug gar erst aus der genie-
zeit1. Ulrich war ein grand seigueur, der feudale Standespolitik
trieb und sich in ernsten und nichtigen fehdeu herumschlug
1 vgl. auch Burdach s. 27 f.
ULRICH VON LICHTEINSTEIIS 121
wie jeder seiner Bundesgenossen, von denen <■!• sich kaum unter-
schieden gefühlt haben wird; liehen den geschälten dichtete er
seine zierlichen lieder, aus privater liebhaberei, auch liier als
vornehmer herr, der weil entfernt ist , dergleichen für seine wich-
tigste tätigkeit zu halten, dass er in seiner Jugend mehr mufse
und Inst dazu halte als später, ist nur natürlich, immerhin kann,
wer so verschiedene Lätigkeilen so lebensvoll zu vereinigen ver-
stand, kein unbedeutender mensch gewesen sein.
Ohne das gefilhl eines inneren Zwiespaltes, freilich in ganz
anderer richtung, ist auch diese unbekümmerte nalur nicht ge-
blieben, schon den 55 jahrigen mann packt, wie die schluss-
partien des FD (589, 19 — 591, 2, ähnlich auch im FB) zeigen,
die reue des mittelalterlichen menschen über sein verfehltes
weltliches leben, eine folge des schroffen dualistischen supra-
uaturalismus der kirche l. die merkwürdigen bekenntnisse kliugen
zu überzeugend in ihrer naivetat, als dass sie nur für litterarische
bescheidenheitsphraseu gellen könnten, er spricht von den mafs-
losen, die alle vier guter zusammen haben wollen, yotes hulde,
ire, gemach und yuot , und damit nur das fünfte erwerben —
daz versümte leben : derselben bin ich einer gar. und er klagl
über sein schrankenlos wünschendes heiz, er halte wol recht
sich so zu beurteilen.
Aber er setzt auch das geständnis hinzu:
der selbe wdn mich triuget noch,
und bin dd mit geeffet doch,
er fühlt, dass er vom höfischen ideal nicht mehr loskommen
wird, und in der tat ist das zwei jähre spater gedichtete Frauen-
buch wider voll davon.
Hier fällt uns wüiklich Don Quichole ein, aber als widerspiel,
nicht als analogou. den kastilischen miuneriller lässt Cervantes
vor dem tode, nach einer schweren, läuternden krankheit, die
nichtigkeit aller ideale einsehen, denen er sein leben geweiht hat.
1 Freytag hat (aao.) bei seiner entgegengesetzten behauplung diese
confessionen übersehen, seine lebendige Charakteristik (in bd i u. n) wird
Liehtenstein überhaupt nicht ganz gerecht, wenn sie auch längst nicht so
einseitig ist wie die ganz verunglückte von Gervinus (Gesch. d. poet.
nationalütt.8 i 342iTj. — zu obigem vgl. i. allg. vEicken Gesch. u. System
der mittelalterlichen Weltanschauung, jene typischen reuezustände als folgen
des von ihm so consequent dargestellten dualismus hat vEicken übersehen. —
Lichtensteins weltliche auffassung der kreuzfahrt weist er s. 71011' treffend nach.
122 BRECHT ULRICH VON LICHTENSTEIN
Der vollkommenste gegensatz dazu ist Casanova, der be-
rühmte frauenverehrer des ancien regime, in rein erotischer
sphäre vielleicht der vollkommenste ausdruck des achtzehnten
Jahrhunderts (1725 — 1798). er stirbt als der der er gewesen.
völlig versteint, verhöhnt von den kindern einer von grund aus
veränderten weit.
Zwischen beiden steht Ulrich von Lichtenstein.
INHALTSVERZEICHNIS.
Einleitung 1
Erstes capitel : motive.
i Lieder der ersten minne 2
II wdnwisen 13
in Lieder der zweiten minne 16
Gruppen aufeinanderfolgender lieder : xxxiv — xxxvn s. 18. lie-
beslieder sinnlicher färbung s. 22. hoher mwoMieder s. 23.
lieder von der gefangenschaft s. 25. lieder über schaene —
giiete s. 27. sinnliche lieder s. 29.
Ergebnis 31
Zweites capitel : composition.
A. Lieder mit gleichmäßiger structur 34
B. Sich steigernde oder zuspitzende lieder 35
C. Lieder, die allgemeines und persönliches zusammenstellen . . 36
a. Minnelehre und Ulrichs persönliche minne 37
b. Zustand der natur oder menschenweit und Ulrichs persön-
licher zustand 40
D. Symmetrisch gebaute lieder 41
a. Dreiteilige lieder 42
b. Vierteilige lieder 49
c. Fünfteilige lieder 52
E. Episch-lyrische lieder 58
Ergebnis 60
Drittes capitel : Stil des poetischen ausdrucks.
Anapher 64
Epipher 70
Antithese 71
Häufung, synonyme, asyndeton 72
Breite 76
Allitteration und assonanz 78
Lebhaftigkeit der rede 79
Voranstellung u. parenthese s. 79. ausruf s. 81. frage s. 83.
apostrophe s. 85.
Personification 91
Bilder 92
Ergebnis 95
Viertes capitel : Ulrichs litterargeschichtliche Stellung
und sein dichterischer character.
Ulr.s litterargeschichtl. Stellung s. 96, Verhältnis insbes. zu Reinmar
s. 97, zu Walther s. 102, zu andern s. 107. nachwürkung s. 109.
Charakteristik 109
Göttingen, im sommer 1906. WALTHER BRECHT.
TÜBINGEN PARZIVALBRUCHSTUCK.
i EINLEITI NG.
Unser bruchstück füllt ein pergamenldoppelblatt. die höhe des
Itlatles ist 23'/„ cm, die breite I.V.. cm. die seile ist zweispaltig
geschrieben mit regelmd/sig 40 abgesetzten versen in der spalte, die
verse steh» zwischen linien. je in der linken spulte siml die ini-
tialen durch senkrechte linien von den folgenden buchstaben getrennt
und hiezu etwas abgerückt, die initialen sind rot bei ">7, 29;
58, 27; 59, 27; 60, 27; Gl, 29; 62, 29; 63, 27; 64, 27;
65, 2'.»: 67, 5. das fragment stammt aus dem an fang des \\ j'h.s,
ist gut erhalten und deutlich geschrieben, es war eingehlebt auf
die innenseite des hinteren deckeis einer folioausgabe der Sermoues
de tempore des Jacobus de Voragine, s. I. e. a., vermutlich aus dem
anfang des 16 jh.s. dort wurde es von stud. Benz aufgefunden
und sorgfältig losgelöst, der decket zeigt noch reichlichen al>-
klatsch. der foliant gehurt heute der bibliothek des k. (kath. theol.)
Wilhelmsstifts in Tübingen (Signatur : Gb 676) und war laut ver-
merk auf dem titelblatt früher im besitz des Carmeliterklosters in
Heilbronn, dessen bibliothek muss einmal recht beträchtlich gewesen
stin (s. Phil. With. Gerekens reisen durch Schwaben, 178'!, i 31).
ihre bände sind an mächtigen schwarz umrandeten initialen auf dem
rücken kenntlich, teile der bibliothek sind heute der k. landes-
bibliothek in Stuttgart, der Universitätsbibliothek und der bibliothek
des Wilhelmsstifts in Tübingen einverleibt, in keinem der dort
befindlichen bände war aber ein weiteres stück unserer Handschrift
aufzufinden, die blätler gehören auch mit keinem der in Martins
ausgäbe beschriebene)! bruchstücke zusammen.
Da der lext von einer hälfte des doppelblatts zur anderen fort-
läuft, so war dieses das innerste einer läge, waren die voraus-
gehnden blätler in gleicher iceise beschrieben, so verteilten sich die
vorausgehenden 1684 verse auf 10 blau (1600 v.) -f- 1 volle
seile (80 v.) -4- 1 seile mit 4 versen, also 1 1 blatt. zusammen
mit dem ersten blatt des bruchslücks ergeben sich 12 blatt , die
läge enthielt somit 8 blatt = 4 doppelblatt.
Zur Orthographie und lau tlehre.
1) Zum rocalismus. ii ist als a geschrieben : harmin 64.29,
massenie 65, 13 gegen e in hermen 59, 8, mernere 58, 24. —
se erscheint durchweg als e : were 58, 19, queme 61, 21, swere
62, 13, mere 60, 18. 62, 14 usw. — statt ie mehrfach i :
124 BOHNENBERGER UND BENZ
iglich 59, 7; 61, 25; 04, 30, banir : fir 59, 7, wi 59, 21,
idoch 03, 7, tloytiren 63, 8, schire 03, 30, lichten 04, 4, tyr :
soldir 64, 19, licht 64, 29, lichte 65, 14. umgekehrt ie vereinzelt
für j, I : geziembret 65, 1, Hardiez : fliez 65, 5. — statt üu regel-
mäßig oi : toifeo 57, 7, froide 57, 10, soymer 60, 4; Gl, 14.
hierzu auch hoibz 03, 22, zoiber 00, 4. — ou erscheint als ou,
ü, o — uo ist in der regel als ü oder mit weglassung des über-
geschriebenen Zeichens als u geschrieben, letztere Schreibung überwigt
beträchtlich (58, 6. 11. 12. 15. 16. 21; 59, 30; 61, 2. 9. 14. 20 usw.).
umgekehrt mehrmals ü für u : wünders 57, 17, kümt 02, 26, Ga-
uiüret 64, 15, je 1 mal üe und o für uo : mtiemen 64, 22, armote
62, 24. ob beeinßussung der ausspräche durch den benachbarten
nasal oder nur nachlässige Schreibung vorligt, ist nicht zu ent-
scheidend üe als ue (64, 27. 28; 66, 14) häufiger als u (63, 23;
64, 15. 25; 65, 28; 66, 22), dafür ü : snüre 61, 17. — iu, alter
diphthong, meist als iu (liuteu 59, 17 usw.) ; u (du 57, 19, uch
59, 26). auch der timlaut von ü einmal als u : truden 59, 18.
— ei aus egi Amol: geiu 66, 12. 13, seile 58, 20; 62, 17 {aber
sagete 02,15; 64,1; 60,21, legete 63,13. vgl. dazu Zwierzina
Zs. 44, 355).
Totale der nebensilben, synhope und apokope. die
ursprünglichen Verhältnisse sind vielfach durch Umbildungen aus ana-
logie gestört, darüber nachher bei der declination. vortoniges e ist
unterdrückt in glich 60,13, bleip 64,17. im verbum ist die apokope
bewahrt in verkur : verlur 58, 9, synkope in geuarn 61, 28, gegen
gerent : werent 67, 3. fälschlich steht e in trüge 58, 21. neben
ec erscheint vielfach ic, vorhersehend in manic (manegen 60, 12;
65, 29), dagegen öfter kuuec als kunic und durchweg kunegin.
adjeelivisches en < in : sideu 58, 5, hermeu 59, 8 gegen barmio
64,29. im Substantiv nur 1 mal kunegeo 61,29 gegen Amal
kunegin 57, 19; 60, 9; 62, 25; 64, 12 und dazu kuueginue 61, 3;
67, 10, kuneginnen 04, 5. — vortoniges i in inein 57, 17 und
irkande 58, 28, sonst : ubir 03, 6, zobil 63, 24. an sonstigen
vocalen a in btrival 63, 15 und mit neuer anlehnung an mau
nieman 62, 2. statt agelsler wie auch anderwärts ageleisler 57, 27.
— mit ze wechselt zu.
2) Zum consonantismus. t und d sind in der mehrheit
der fälle richtig geschieden, aber auch mehrfach verwechselt : turtel-
[r der g rund ist die graphische Jiachbarschaft eines nasals! Seh.]
TÜBINGER PARZIVALBRÜCHSTÜI K
dube 57, 11, dateo 58, 4; 60, 23; 61, 7: irudeü 5'.). 18, beiden
05, 20, dochter 66, 9, lach 60, 0. i«./ 03, 3, ton 03. 7. legen
63, 13; 04,7; lach 63,22. — I'. pf, g, k sind im «miaut
und infaiit nach ostfrdnkischer weise behandelt, im auslaut ist
forlis regel. «loch erscheinen einige l> statt p ■. lil» 57, 5; 63, 19;
65, 3, gab 63, 24, wib 00, 8. unter <lm consonantengruppen wird
ulirl. Il nh ll geschrieben, nt meist als ml, nur mantel 63, 23 und
bei ursprünglich doppeltem i gante 59,20, sanier 05, 11. — mbr
aus mr : geziembrel 65, 1. — h zwischen vocalen : frühe 66, 22.
Zu den namen und fremd Wörtern.
Gabmurel regelmä/sig ohne h : Gamuret. Belacane mit ch -.
Belachane 58, S; Gl, 12. Brabanl mit p und u : Prauanl 07, 23.
ili in Pathelamunt 04, 17, Cilhegast 07, 15. — au in paulun
regelmdfsig (59, 25; 02, 18; 05, 10). — oi, oy in Logroys :
Ponturtoys 07, 15, tournoy 00, 11, kurloys : franzoys 02, 3,
avoy 02, 18; 05, 2, Qoytiren 03, 8. — weiter notier ich Fereßez
57.22, Kauoleis 59,24, Razaliges 64, 10, Britun 05,29, Nor-
man 05, 12, Gawen 66, 15. in zost für tjost (57. 24; 05,9)
könnte z für li lese/eitler sein, es ist aber wahrscheinlicher, dass
/n>t den anderwärts belegten formen schust, tsebusehl entspricht.
Zur flexion sie Inc.
Substantiv, im nominaliv des Singulars ist <• hinter nach-
tonigem er stets entfernt (ritter 03, 28; 04, 18. 21 ; 07, 5) außer
in der correclur ritlere 05, 24. neben herre 59, 29; 63, 11 ein-
mal her 00, 1. — dative ohne e zu ebensolchen nominativen auch
nach haupltoniger silbe verschiedener Quantität beliebigen auslaut s :
got 57,17, plan (ace.) : wao (dat.) 59, 20, Gamuret 04,15,
iar : uorwar 60. 7, lor 00, 29, auch bei 6-stamm !»et (: Gamuret)
64, 10 gegen mernere 58,24. — genetiv mit e : speres 59, 12,
aber hinter nachtonigem er ohne e : ritters 00, 23; 06, 21, wumlers
57, 17, wazzers 00, 28, sonst hoibz 03, 22. — im plural für
nominativ und aecusativ hinter nachtonigem er formen ohne e die
regel : anker 59, S (acc), soymer 00, 4 (acc), 61, 14 (nom.), ritter
05,27 (nom.), entsprechend striual 63, 15 (acc), aber mit e videlere
03. 12 (nom.). genetiv rilter 05, 28, dativ ven Stern 01, 4 und
unmittelbar hinter dem ton spern 00, 8 gegen speren 59, 5; Gl, 24.
00, 24. — bei den femininen \-st. die genetiv-, dativ- und aecusativ-
formen zt. vermengt, genetiv mit e: botschefte 58, 19; dativ mit e:
rilterschefte 57, 13; 06, 10, bende 57, 24, sigenunfte 58, 2 usw.,
126 BOHNENBERGEB UND BENZ
aber auch rilterscbaft 59, 1, flust 60, 21, hant 60, 14, craft
67, 4 wie bat : slat (dat.) 60, 2; 67, 9. accusaliv mit e : ritter-
schei'ie 66, 17. bei den femininen auf in : inne erscheint als nomi-
nativ des Singulars aufserhalb des reims einmal kunegiune 67, 10
wie kuneginne : inne 61, 3, dreimal in : kunegin 57, 19; 60, 9,
kunegin: wirtin 64,12 wie kunegin : drin 62,25. ebenso wechselnd
daliv kune^innen 64, 5 und kunegen 61, 29. zu frouwe vor dem
eigennamen als accusativ virn 58, 8.
Pronomen, diu ist in der mehrheit der fälle bewahrt, mehr-
fach dafür auch die (58, 16; 64, 9 als nom. s. fem., 67, 5 als
neutr. pl.). sie stets in dieser form, nie siu oder si. — ir ist als
possessivum ßectiert in im, acc. s. 62, 27. e? und es sind mehr-
fach verwechselt (59, 7. 26; 60, 14. 19; 64, 1; 65, 4; 67, 3).
Adjectiv. die endung -iu ist überall durch -e ersetzt. —
Zahlwörter : zwo 58, 13, zwene 63, 5, zwei als masc. 63, 15,
drie 59, 8 gegen dri 64, 29.
Verbum. 1 phir. vor pronomen -e : ensule wir 63, 10, heize
wir 66, 27. — 3 pl. ind. praes. vorhersehend -ent, vereinzelt -en :
jenen 62, 11. zu komen praeter Hol formen ausschlief slich mit qu :
quam 61, 28, queme (conj. praet.) 61, 21. im ablaut u statt o
unvergulten 61, 10. — regelmäßig -ond statt -und in konde
(59,19), begonde (61,6; 62,29; 64,2). zu hän ind. praet.
baten 61, 8 gegen hete 57, 12; 58, 8; 59, 7 usw., zu wellen,
3 pl. ind. praes. wollent 66, 28.
W ort formen.
selih 60, 20; 63, 29 — nit durchweg — oft do für da, auch
swo 60, 13.
Die heimat des bruchstücks.
Dem bruchstück fehlen alle oberdeutschen merkmale. es enthält
auch keine ausgesprochen rheinfränkische form, die Verwechslung
von t und d geht nicht über das im ost fränkischen des 14 jh.s
übliche mafs hinaus, zum ostfränkischen und südlichen
thüringischen stimmt auch der übrige lautbestand und die be-
handlung der flexion. bemerkenswert ist nur oi < öu. ich kann
dies aus dem Hennebergischen urkundenbuch und den Thüringischen
geschichtsquellen fürs 14 jh. nachweisen, so koyfen 1357 (Abt
vBreitungen Henn. ÜB. m 10), vorkoyfen, widerkoyfen 1357 (Herr
vBreitungen Henn. ÜB. m 8), verkoifTen, vorkoitTeu (mehrmals),
gekoyft 1352. 1362 (Arnstadt Thür. geschichtsquellen iv 156. 163).
TÜBINGER PARZ1VALBRUCHSTÜCK 12/
Ahst ii in in im ij und tex lij est alt.
Der texi gehörl zur reich vertretenen tippe (1. bei dem ttand
unserer ausgaben ist aber weder die Stellung des bruchstücks um
halb der sippe zu erweisen noch über die Herkunft und die Ver-
wendung der einzelnen lesarten befriedigendes zu sagen, ich ver-
zichte darauf die Variantenliste, die ich schon hergestellt halte, neben
dem text des bruchstücks selbst auch nach ausdrücklich zum abdruck
zu bringen.
Tübingen. K. BOHNENBERGER.
ii TEXT.
1 seile, 1 spalte.
.">7, 5 Immer (wiegen minen lib.
Si nein gote ze eren sprach daz wip
Gerne ich mich loifen solle
Vn leben swie er wolte.
Der iamer ^ap ir herzen wie
10 Ir fluide uant den dürren /wie
Alse noch die turteldube im
Sie hete hie den seilten müt
Swenne ir an ritterschefte gebrast
lr triwe kos den dunen ast,
15 Div frowe an rechter zit genas
Eines sunes der zweier uarwe' was.
An dem got wünders wart in ein
Wiz vh swarz an uarwe er schein.
Du kunegin kuste in suuder twal
20 Vil dicke an sine hlauke mal.
Div müter hiez ir kindelin
Ferefiez Anscheuin.
Der wart eiu walt swende
Die zost zu siner hende
25 Vil manic sper zehrachen
Die schilte durkel stachen.
Als ein Ageleisler wart geuar
Sin har vu ouch sin uel vil gar.
Nv was ez ouch über des iares eil
Daz Gamuret gepriset uil
58, 1 Was uon den uon zazamauc
128 BOHNENBERGER UND BENZ
Sin haut ze sigenunfte ranc.
Dannoch swebeter uf dem se
Die snellen winde im daten we
5 Einen siden segel sacb er roten
Den truc ein kocke. vn boten
Die uon schotten (Tridebrant
Virn Belachanen hete gesant.
Er bat sie daz sie nf in verkur
10 Swie er den mac durch sie verlur
Daz sie uon im gesuchet was.
Do fürten sie den Adamas
Ein swert. einen halsperc. zwo hosen.
Hie muget ir groz wunder losen
1 s., 2 sp. 15 Daz im der kocke widerfur.
Als mir die Auentivre swur
Sie gabens im do lop vn er.
Sin munt der botschefte wer
Were er so wider komen zu ir.
20 Sie schieden sich : man seite mir
Daz mer trüge in in eine habe
Zu Sibilien kerte er abe.
Mit golde galt der kuene man
Sinem mernere san
25 Vil harte wol sin arbeit
Sie schieden sich daz was dem leit.
Zv Spanie in dem lande [n buch]
Den kunec er irkande
Daz was sin neue kaylet
Nach dem kerter zu Dolet.
59, 1 Der was nach ritterschaft geuarn
Do man nit schilte dorfte sparn.
Do hiez ouch er bereiten sich
Sus weret div auentivre mich
5 Mit speren wol genialen.
Von gfuenen zindalen
Igliches hete ein banir
Drie hermen anker so fir
Daz man ir iach vor riche[rt]
10 Sie waren lanc vn breit
TÜBINGER PARZIVALBRÜCHSTOCK 120
Vn reichten miste uf die hanl
So in. ms zu Bperee isen baut
[in oidertalb eine spanne.
Der wart dem kuenen manne
15 Hundert do bereitet
Vü will hin nach geleitet
Von siih's neuen livten.
Eren vn truden
Konden sie in mil werdekeit
20 Daz was ir herren nit zeleit.
Er streich in ich enweiz wi lauge nach
Ynz er geste herherge sach
In dem lande zu waleis.
Di» was geslageo uor Kauoleis
2 s., 1 sp. 25 Manie paulun uf den |dan
Ich sages uch nit uo[nJ wan.
Gehietet ir so ist ez war
Sin volc hiez uf halten gar.
Der herre saute uor[h]iu in
Den clugen meister knappen sin.
60, 1 Er wolte als in sin her bat
Herberge uemen inder stat
Do was im snelliche gach
Man zoch im soymer nach
5 Sin ouge nirgen hus da sach
Schilte waren sin ander tach
Vn wende alsam behängen.
Mit spern gar vmbe uangen
Div kunegin uon Waleys
tO Gesprochen bete zu Kanuoleys
Einen turnoy also gezilt
Des manegen zagen noch beuilt
Swo er dem glich werben siebt
Von siner haut ez nit geschieht.
15 Sie was ein maget nit ein wip
Div bot zwei lant vü ir lip
Swer den pris bezalte.
. . . mere manigen valte
. . . ders ors uf den samen.
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXWII. 9
130 BENZ UND BOHNENBERGER
20 Die selich gevelle namen
Der schanz ze flust wart gesaget
Des pflagen hekle vnuerzaget
Si daten ritters eilen scliin.
Mit hurteclicher rabiu
25 Wart do manic ors ersprenget
Vn swerte vil erclenget.
Ein schifbrucke an einen plan
Gienc über eines wazzers trän
Mit einem tor beslozzen
Ein knappe vuuerdrozzen
61, 1 Tet ez uf als im ze mute was
Do über stunt der palas
Da saz div kuneginne
Zu den venstern dar inne
2 s„ 2 sp. 5 Mit maniger werden frowen.
Die begonden schoweu
Waz dise knappen daten.
Sie baten sich beraten
Vii slugen uf ein gezelt
10 Vmbe vnuergulteu minnen gelt
Wart ez ein kunec ane
Des twanc in Beiachane.
Mit arbeite was uf geslagen
Daz drizec soymer musteu tragen
15 Ein gezelt das erzeigete ricbeit
Do was der plan wol so breit
Daz sich die snüre wol stracten dran.
Gamuret der werde man
Die selbe zit dort vze enbeiz
20 Dar nach uil sere er sich fleiz
Wie er houeliche queme geriten
Des enwart do langer nit gebiten.
Sine knappen anden stunden
Ir sper zesamene bunden
25 Iglicher fivnue an ein bant
Daz sechste furter ander hant
Mit einer baniere
Sus quam geuarn der fiere.
TÜBINGER PARZIVALBRUCHSTÜCK 131
Von «1er kunegea warl vernomeo
Wie ein gast do solte komea
62, 1 Vz gar uerrem lande
Den oieman erkande.
Sin uolc daz ist kurtoys
Beide lieideD8ch vfi rranzoys.
5 Etlicher mac ein Anscheuin
Mit siner spräche vil wol sin.
Ir mut ist stolz ir wat ist dar
Wol gesniten al nur war.
Ich was sinen knappen bi
in Die sint non missewende fri.
Vn ielien swer habe geruche
Ob der ir berren suche
Den scheide er non swere
Von in Iragete ich der mere
3 "J. 1 gp. Do sageten sie mir sunder wanc
16 Ez were der kunic nun Zazamaoc
Dise mere seite ein garznn.
Auoy welch ein paulun
Iwer crone vli iwer lant
20 Weren d[er]fur nit balbez pfant
Du solt mir ez so loben nicht
Min munt hin wider dir des gichU
Ez mac wol sin eines werden man
Der nit mit armote kan.
25 Also sprach div kunegin
Owe wanne körnt er drin
Irn garzun sie des fragen bat.
Houeliche durch die stat
Der helt begonde treken
Die slafenden wecken. •
63, 1 Vil schilte sach er schinen
Die hellen businen
Vor im mit crache gaben toz.
Von würfen vn uon siegen groz
5 Zwene tamburre gaben schal
Der galm nbir al die stat erhal.
Der ton idoch gemischet wart
132 BENZ UND BOHNENBERGER
Mit floytiren uf der vart.
Eine reisen sie Miesen.
10 Kv ensule wir nit Verliesen
Wie ir herre komen si
Dem riten videlere bi.
Do legete der legen wert
Ein beiu für sich uf daz pfert
15 Zwei striual über bloze bein.
Sin munt als ein rubin schein
Vor roete als ob er brunne
Er enwas ze dicke noch zedunne.
Sin üb was allentalben clar
20 Sieht reitelechte was sin har.
Swaz man uor dem hüte sach
Daz was ein tivr hoibz tach.
Grüne samit was der mantel sin
Ein zobil da uor gab swarzen schin
3 s. 2 sp. 25 Ober einem hemde daz was blanc
Von schowen wart da groz gedranc.
AI dicke do gefragei wart
Wer were der ritter ane bart.
Er fürte al selich richeit
Vil schire wart daz mere breit.
CA, 1 Si sagetens im uor vngelogen.
Do begonden sie über die bruke zogen
Ander uolc vrf daz sine.
Von dem lichten schine
5 Der uon der kuneginnen schein
Er zucte neben sich daz bein
Vfrichte sich der tegen wert.
Rechte alse ein uederspil daz gert.
Die herberge duchte in gut
10 Also stunt des heldes mut.
Sie dolle ouch wol div wirtin
Von waleis div kunegin.
Nv friesch der kunec uon Spanie
Daz uf der Lewe plauie
15 Stunt ein gezelt daz Gamüret
Durch des kuneges kazaliges bet
TÜBINGER PARZ1VALBRUCUST0CK 133
Bleip iini Patbelamunl
I),i/. ict hu ein ritter kunl.
Do lur er springende als eio i > r
20 Vn was der frowen Boldir.
Der Belbe rilter aber sprach
Iwer müemen sud ich sach
Kornea als er was fier.
Ez miii hundert baoier
25 Zi einem 6chilte uf grüne uell
Gestochen für sin hoch gezell
Die sint ouch alle gruene
Ouch hat der hell kuene
Dri barmin anker licht gemal
Vi iglicheu zimlal
65, l Ist geziembret hie.
Auoy nu sol man schoweo wie
Sin lib den poynder irrel
Wie fers mit hurte wirrel
1 s, ; 5 Der stolze kunic Hardiez
Her hat mit zorne sinen Qiez
Nv lauge uaste an mich gewant.
Den sol hie Gamuretes bant
Mit siner zu>ii neigen.
lo .AI in selde ist nit der ueigen.
Sine boten santer sau
Do Gatschier der Norman
Mit grozer massenie lac
Vn der lichte Killiriakac
15 Die waren da durch sine bet.
Zem paulune sie mit Kaylet
Füren mit geselleschnft
Do enpuengen sie durli liebe craft
Den weiden kunic uou Zazamanc
20 Sie duchte ein beiden gar zelanc
Daz sie in e nit sahen
Des sie mit triwen iahen.
Do fragete er sie der inere
Wer der ritter(e) ' were.
1 -e später angefügt.
134 BENZ UND BOHNENBERGER
25 Do sprach siner mümen kint
Vz uerrcn landen hie sint
Ritter die div minne iaget.
Vil kuuer ritter vnuerzaget.
Sie1 hat mauegeu britUD
Roys Vterpandraguu.
66, 1 Ein mere in suchet als ein dorn
Daz er siü wip hat nerlorn
Div Artuses müler was.
Ein pfaffe der zoiher las
5 Mit dem div frowe ist hin gewant
Dem ist Artus nach gerant.
Ez ist in dem dritten iar
Daz er sun vü wib verlos uorwar.
Hie ist ouch siner dochter man
10 Der wol mit ritterschefle kan.
Lot uor Norwege
Gein valscheit der trege
Vn der snelle gein dem prise.
Der kuene helt wise
4 s., 2 sp. 15 Hie ist ouch Gawen des sun
So cranc. daz er nit mac getuu
Ritterschefte deheine.
Er was bi mir der deine
Vn gicht mochter einen schaft
20 Zebrechen. tröste in des sin craft
Er wurchte gerne ritters tat.
Vil frühe sin ger begunnen hat.
Hie hat der kunic Patrigalt
Von speren einen grozeu walt
25 Des füre ist wider den ein wint.
Die uon Portigal hie sint
Die heize wir die frechen
Sie wollent durch schilte siechen.
Sie2 hant die Prouenzale
Schilte wol gemale.
67, 1 Hie sint die waleise
1 jüngere hand setzt auf dem rande neben dem roten S mit schwarzer
tinte bei : H 2 wie bei 65, 2'J.
II ULM, Kl; PARZlVALBRUCHSTl CK 135
Daz sie behabent ir reise
Durch den poynder >\\a siz gerenl
Vod der craft irlandes sie des werent.
5 Bie ist iii.iiiic ritter darcfa die \\i|»
\u> int erkennen mac min lip
W.iii die ich dir benennet han.
Wir ligeo mit warheil sunder wan
Mil grozen fureu in der stat
10 Als viis div kuneginne bat.
Ii li sage dir swer zu uelde liget
Die unser wer vil deine wigel
Der werde kunec uon Ascalun
Vn der Freche uon Arragun.
l ;. Do ist Cilhegast uon Logroys
Vn" der kunic uon Ponturtoys
Der heizet Brandlidelin.
Do ist der kune Lehelin
Da ist Moidli uon liiani
20 Der bricbel ms abe gebe plant.
Da ligent ul dem plaue
Die stolzen Alimane
Der herzöge uon Prauant
Der ist gestrichen in diz lant.
Tübingen. JOS. BENZ.
EIN WINSBEKE-FRAGMENT
DER UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK MÜNSTER.
Als wir im herbst d. j. mit der münsterischen Universitäts-
bibliothek in ein neues heim übersiedelten, kam beim transport
ausgeschiedener dubletten ganz durch zufall ein alter quartband
aus dem kluster W'edinghausen bei Arnsberg in meine hände, gegen
dessen vorderdeckel ein pergamentblatl mit mittelhochdeutschen versen
geklebt icar, in denen ich an dem beginne sämtlicher vorliegenden
Strophen mit dem worte Suu auf den ersten blick ein fragment
des Winsbeken erkannte, der band selbst enthält eine beliebte
klosterhclüre, Jakob Others lateinische ausgäbe von Geiler von
Kaisersbergs predigten über Sebastian Brants JS'arrenschiff (Navicula
sive speculum fatuomm Johannis Geyler Keysersbergii. Argentorati
136 BÖMER
1511). auf dem oberen rande des titelblaüs steht von alter, gleich-
zeitiger hand geschrieben: Liber Monasterii Wediochusen. das
21 cm lange und 14'/2C»t breite per gament stück ist ein ausein-
ander gefaltetes octavdoppelblalt , von dessen zweitem teile fast
die hälfte in senkrechter richlung abgeschnitten ist. ich habe das
fragment sorgfältig vom decket abgelöst, gründlich gereinigt und
mit gallustinctur behandelt, so dass die abgeblasste schrift wider
durchgängig lesbar geworden ist. die ränder der blätter sind stark
beschnitten, doch ist der text hier unversehrt geblieben, die grö/se
des ersten vollständigen octavblatts, wie es vorligt, beträgt l43/.i:
13 cm, die des schrift feldes 133/4 : 10 cm; die grö'fse des zweiten,
defecten 143/4 : lil2cm, die des schrift feldes 133/4 : 6V2 cm. jede
seite weist 28 Zeilen auf. die nicht besonders sorgfältige, kleine
aber kräftige cursivschrift gehört der 1 hälfte des 14 Jahrhunderts
an. die verse sind nicht abgesetzt, aber in üblicher weise durch
puncte getrennt, die anfange der Strophen sind durch ein rotes
paragraphenzeichen kenntlich gemacht, ihr erster buchstabe zeigt
strichelung. von abkürzungen hat der Schreiber spärlichen gebrauch
gemacht; sie beschränken sich auf den strich über einzelnen bnch-
staben, ein häkchen für er und hohes t für et. das i hat in
gewissen Verbindungen, die es nötig erscheinen liefsen, einen strich
erhalten, blatt 1 beginnt mit dem 9 verse der 2 Strophe und endet
im 3 verse der 14 Strophe des Hauptschen textes. die Vorderseite hat
2 verse -j- 4 ganze Strophen {von 10 versen) -\- 6 verse, die rück-
seite 4 vv. -\- 4 strr. + 2^2 vv. bl. n hebt an mit dem 4 verse
der 33 Strophe und schliefst mit dem 6 verse der 49 Strophe.
auf der vorderen seite stehn hier 7 vv. + 3 strr. -f- 8V2 vv., auf
der hinteren 1 1/i vv. -f- 4 strr. -(- 6 vv. zu der textbestimmung des
fragments muss bemerkt werden, dass die Strophenfolge der münste-
rischen handschrift, die ich fortan mit M bezeichne, von der aller
anderen hss. wesentlich abxceicht, und die stücke, welche zwischen
den angegebenen anfangen und Schlüssen der beiden textpartieen
stehen , sich keineswegs mit denen der gewöhnlichen Überlieferung
decken, es darf angenommen werden, dass die lücke zwischen den
beiden teilen des fragments 19 — 20 Strophen betragen hat. für
diese zahl spricht auch der umstand, dass rund 20 Strophen gerade
ein doppelblatt gefüllt hätten, da das fragment mit dem 9 verse
der 2 Strophe beginnt, also vorne nur 1 Strophe und 8 verse
fehlen, muss das gedieht auf der rückseite des vorhergehenden
EIN WINSBEKE-FRAGMEN1 137
blattes ziemlich unten angefangen haben M ist demnach wol, wie
die übrigen Handschriften in denen der Winsbekt Überliefert ist,
eine tammeJhandschrift gewesen.
Die oberdeutsche spräche des Originals ist in M ins mitteldeutsche
übertragen, das md. charakterisiert sich durch die Vorliebe /ür
o gegen u (do statt du, im, holden Logen l), durch die abneigung
gegen uo für u, her statt er, iz statt ez, das mehrfach fehlend*
aushiut - 1, bot a&n '///er </m/t/< das i stall e in den endsilben
(andir, gutin, vorcbtin, lebist, ^'otis, recbür, beydir, scheydin
usw.). die hochdeutsche lautversehiebung ist durchgeführt, wenn
Arnsberg auch schon dem niederdeutschen Sprachgebiet augehörte, so
lag es doch immerhin in dessen südlichstem teile, nahe der hoch-
deutschen grenze, der schreiber von M konnte das md. seiner vor-
läge entnommen haben; es konnte ihm von einem frühem aufenthaits-
orte her geläufig sein ; er mochte geflissentlich die gebildetere hoch-
deutsche sprachform wählen, die spräche der handchrift würde also
eine anfertigung im kloster Wedinghausen wol nicht direct aus-
seidie/'sen; aber wahrscheinlich itt sie nicht grade.
Das beste kriterium für die bestimmung des Verhältnisses
zweier hss. zu einander bildet bei dem Winsbeken die zahl und
anordnung der Strophen, schon nach dieser richtung hin steht M
völlig selbständig da. ich beschränke mich darauf, zum vergleich
ihre Strophenfolge und die <les Bauptschen textes nebeneinander
zu stellen, wobei ich annehme, dass die Strophe, in welcher unser
fragment beginnt, auch würklich die zweite der hs. gewesen ist.
für die erste Strophe des 2 blattes von M setz ich die zahl 33 an,
da die Strophe bei Haupt diese nummer trägt, die wievielte sie
tatsächlich gexcesen ist, lässt sich mit Sicherheit nicht bestimmen,
doch dürfte die zahl 33 ziemlich zutreffen.
Blatt i.
M: 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Haupt: 2 4 3 5 6 7 S 11 12 13 14
Blatt n.
M: 33 34 35 36 37 3S 39 40 41 42
Haupt: 33 42 43 27 45 46 47 48 51 49
icir sehen, die abweichungen sind sehr beträchtlich, auf sei de\
spätem Gothaer hs. (g) entfernt sich keine der andern hss.1 so weit
1 in betracht kommen die bekarmten liederhss. ß und (', die Berliner
^ibelungenhs. I und die h'olmnrer liederstvnmlung A.
13S BÖMER
von der gewöhnlichen Überlieferung, oder sagen wir genauer von B
tmd I, die in diesem puncte bis zur 58 Strophe völlig überein-
stimmen, es erhebt sich nun die frage, worauf sich die ab-
weichungen von M gründen, versehen des Schreibers scheinen mir
ausgeschlossen, es müssen also bewuste änderungen vorliegen.
Besonders bemerkenswert scheint mir die auslassung der Strophen
9 und 10 in M. sie fehlen in keiner anderen hs. in BCIK
stehn sie an derselben stelle, nur in g sind sie, getrennt von ein-
ander, viel weiter unten eingereiht, mit der 8 Strophe beginnen
die auf den frauendienst bezüglichen mahnungen : ivem Gott ein
weih gegeben, der soll ihr allzeit in treuen anhängen. Strophe 11
verallgemeinert den frauendienst : nicht nur sein ehliches weib.
sondern alle guten frauen soll man ehren und lieben, sie sind die
engel der erde, die Gott zugleich mit denen des himmels geschaffen,
dazwischen stehn in Strophe 9 und 10 mahnungen, keinen ver-
ständnislosen in das liebesgeheimnis einzuweihen, sich vom weine
nicht übermannen zu lassen, nichts auf die Schwätzer zu geben,
keinem beim erzählen in die rede zu fallen, sich der bekümmerten
zu erbarmen und endlich sich allen frauen gegenüber schöner reden
zu beßeifsigen : denn möge auch einmal eine weniger wolgeartete
darunter sein, so stünden ihr tausend tugendsame gegenüber, welche
bedenken können die auslassung veranlasst haben? wider drängt sich
die frage auf, ob die hs. im kloster Wedinghausen , wo sich das
fragment befunden hat, geschrieben und hinterher, als das interesse
an dem stücke geschwunden, zerschnitten und zum einbinden neuer
bücher verwendet sei1, vor einiger zeit hob ich bereits in einem
gleichfalls aus Wedinghausen stammenden bände das bruchstück einer
deutschen poetischen Übersetzung des Boethius aus dem anfang des
15 jh.s gefunden, sollten die manche des klosters würklich neben der
lateinischen auch die heimische dichtung in ehren gehalten, vielleicht
gar die ihnen zur erziehung anvertraute Jugend in sie eingeführt
haben? beim Boethius wird uns dieser gedanke nicht schwer, aber
wird im kloster auch eine statte für lehren des frauen- und ritter-
dienstes gewesen sein?"1 das in der zweiten hälfte des 12 jh.s ge-
1 gegen den hinter decket unseres Landes ist ein stück eines latei-
nischen Schulbuchs geklebt, der schluss eines '■Scriptum super Aoianum'.
2 in dem gedieht 'Des Teufels JSetz' aus der 1 hälfte des 15 jh.s
wird klage darüber geführt, dass manche geistlichen in den alten deut-
schen mären beschlage?ier wären als in den episleln und evangelien, und
EIN WINSBEKE-FRAGMENT 139
gründete kloster Wedinghausen vom eine niederlastung de» I
monstratenserordens. die NorbertinermOnehe haben auch der
jugendbildumj ihr interesse zugewant, und man nimmt an,
dass in Wedinghausen bereits zu anfang des 14 jh.s eine ort
von höherer schule bestanden hat (Feaux de Lacroix Geschichte
Arnsberg» \ lb'.)5] 8.1 1 1). es ist eine notiz erhalten : 'Karl von Alinck-
bofen aul Laer bei Bfeuden geboren 1314, gestorben 132G zu
Arnsberg auf der Schule.' dieser junge adliche wird für einen Zög-
ling des klosters Wedinghausen gehalten, wenn die manche aber
nicht nur geistliche herangebildet haben, sondern überhaupt als Jugend-
erzielter tatig gewesen sind, könnte vielleicht bei ihnen ebensogut
wie auf anderen schulen neben lateinischen silten- und anstands-
lehren, neben dem Calo und Schriften dieser art, auch ein didak-
tisches hochdeutsches gedieht wie der Winsbeke in revidierter gestalt
beim Unterricht verwendet sein, es wäre dann nicht unmöglich,
dass die Strophen 9 und lo pädagogischen bedenken zum opfer
fiele)!, etwa wegen der mahnung zum geheimhalten der liebe,
wer freilich so engherzig die ihm anvertraute Jugend gehütet hätte,
würde wol auch noch manche andere stelle ausgemerzt haben die
in M zu lesen ist, ja er hätte vielleicht den ganzen frauendienst
gestrichen, da obendrein die Herkunft aus Wedinghausen sehr
zwei/elha/t und eine blofse Umstellung der beiden strr. (wie in g)
möglich ist, so lässt sich eine entscheidung nicht treffen.
In der fassung des lextes steh' M deutlich der gruppe Clg
nahe, besonders oft der hs. g (zb. gleich 2, 9), und häufiger stellt
es sich zu C als zu I, das doch 9 (11), 8 allein zu M stimmt,
daneben hat M aber auch ganz ihm eigne Varianten : in klein ig -
keiten weicht es auf schritt und tritt von den andeien hss. ab,
34 (42), 8 — 10 sogar 3 ganze verse hindurch, wo es freilich nicht
im rechte sein wird, wie M denn besondere Sorgfalt nicht verrät:
Schreibfehler und metrische härten sind häufig.
Bei der grofsen zahl von abweichenden lesarlen in M hielt
ich es für ratsam, einen vollständigen abdruck des fragments zu
geben, fehlerhafte stellen sind nicht berichtigt, sondern durch ein
ausrufungszeichen gekennzeichnet, doch sind lücken des lextes auf
dass sie solche dinge auf der schule lernten [vgl. Mitteilungen d.
ges. f. deutsche erz. u. schnlgesch. 16, :i7ü /*). wo aber die deutsche
heldensa^v ein gegenständ des Unterrichts war, da konnte sehr wol auch
ein höfisches gedieht mit den schillern vorgenommen werden.
140 BÖMER
dem 1 blatte (wo sie auf einem versehen beruhen), ebenso nach der
Hauptschen ausgäbe ausgefüllt, wie auf dem 2 defecten blatte, eckige
klammern und cursiver druck heben die zufügungen gegen den
text von M ab. beim einsetzen des Hauptschen textes wurde von
dem versuche, den Originaltext dem dialekte von M anzupassen, ab-
gesehen. 35, 9. 10 ist nach I ergänzt, 41, 7 nach C, da dieses hier
mit M übereingestimmt zu haben scheint, wo M ganz eigene wege
geht, muste ich bei den fehlenden stücken von bl. ii puncte machen.
Text nach .)/.
[bl. i'] 2 (2).
9 der ir noch willen volgen wil,
daz ist libes unde der sele tot.
3 (4).
Sun, gip im der dir hat gegeben
und an der gäbe hat gewalt :
her gipt noch eyn immerleben
und andir gäbe manicvalt,
5 [me danne loubes hat der walt.]
wiltu no koufen synen hurt,
in sinen hulden dich behalt
unde sende gute boten vor,
di dir durt vahen gulin rum,
er daz der wirt vorsla di dor.
4 (3).
Sun, merke wi daz kertzenliech,
di wile is brinnet, is swindet gar :
no gloube, daz dir sam geschit
von tage tzu tage ; ich sage dir war.
5 dez nym in dinen sinnen war
unde richte hi din leben also,
daz durt di sele wol gevar.
äwi hoch an gute wirt din nam,
so wirt dir nicht wan also vil,
eyn linin thuch vor dine schäm.
5 (5).
Sun, alle wiseyt ist eyn wicht,
di hertzen sin irtrachte kan,
EIN WINSBEKE-FRAGMEN1 1 m
bat er izu gote myone nicht
und sihel in Dicht mit vorchtin ao.
is sprach hir vor eyn wiser man.
daz «Iure werlde wysheil si
vor gut»' eyn torlieyt Blinder wan :
do tzn so richte « 1 i 11**11 sin,
daz do in einen holdi-n lebist,
und la dich aller dinge an in.
6 (6).
Sun, geyslich leben in ere habe :
daz wirt dir gut unde ist ein sin.
dez willen kume durch niman abe,
bieugen tzu diner gruben hin:
5 is wirt an Salden din gewin.
enruche, wi di phaffen leben:
do salt dini'ii gote an in.
sint gut ir wort, ir werc tzu crump,
so volge do den worte nach,
irn werken nicht, oder do bist tump.
-> (7).
Sun, is waz ie der leyen sete,
daz si den p hallen trugen haz :
do suude si sit sere mitte,
ich kau nicht wiszen umme waz.
5 ich wil dir raten verre baz :
do salt im [!] holt mit trüben sin
[6/. iv] und sprich suu schone, tustu daz,
so mac din eude werde gut
unde wirt tzu lone dir beschert
gotis licham unde siu reynez blut.
8 (6).
Sun, so dir got gefuget eyn wip
noch syme lobe tzu rechtir e,
di saltu haben als dinen lip,
unde fuges, daz is also ste,
daz uer beydir wille irge
itz eyme hertzen unde drin.
142
BÖMEH
waz wiltu denne wunne nie,
ob tas geschit in truer phlege?
sehet abir di werre iren samen dar,
so muzen scheydin sich di wege.
9 (11).
Sun, wiltu tziren dinen lip,
so daz her si unvugen gram,
so mynne unde ere gute wip :
ir togent uuz ie von sorgen nam.
5 si sint eyn wunnenbernder stam,
do von wir alle sint geborn.
her hat nicht tzucht noch rechten schäm,
der daz nicht irkennet an in,
her muz der thoren eynir sin,
unde helle her Salomonis sin.
10 (12).
Sun, si sint der wunne eyn berndez licht
an eren unde an wirdekeit,
der werlde vrouden tzuvorsich :
ni wiser man daz widerstreit.
5 ir nam der eren cronen treit :
die ist gemezzin unde gewurcht
mit togenden ho wit unde breit,
genada got an unz begie,
do her im eugele durt geschuf,
daz her si gap vor engil hi.
11 (13).
Sun, du [mäht] noch nicht wizzen wol,
waz eren anden wiben lit.
ob iz dir salde vugen sol,
daz do gelebiz di liebe tzit,
5 daz dir ir gute vroude gip,
[so] mac dir immer baz gesehen
zu dirre werlde sunder strit.
do salt in holt mit truen sin
sprich in wol : tustu dez nicht,
so muz ich mich getrosten din.
EIN WINSBEKE-FRAGMENT | 13
12 (14).
Sun wiltn artzedye nemyn,
ich wil dich leren eynin tranc ;
lezet ||
["■ nr| 33 (33).
der mochte deste wera d.
5 d/ir ist der visen lop] vortzigen,
willu izu gahes mutia [sin]
[an allen rat und] unvortzigen [l 1 ;
so kumit dir gar d[az Sprichwort icol.J
[dazj mutis altzu gaher man
vel \[raegen esel riten sol.]
34 (42).
Sun, wilm liebin gut gemach,
[so muost du eren dich] bewegin :
an iungem inaun/"e ich nie gesachj
[diu] tzwey in glicbir wagen wegen.
5 wa/a tone ein junger] liep vorlegen
der ungemach im,/;/ liden kau)
[noch] sinneclich noch eren Stegen ?
der is
waz her unvrouden vor im sieht
vrouden hat irkorn.
35 (43).
Sun, \shi[est daz Verlegenheit]
isl gar eym jungen man eyn slac.
[ez si dir offenlich gejsait,
daz oimant eren haben inac
5 [noch herzeliebe] sundir slac [!]
gar ane kummir untle [an not.]
[der louch gat] so nicht in dez [!] sac.
der sich v<»r seb [anden wil bevriden,]
der mac geborgen nicht dem h[bej
[noch dem gut] noch den liden
36 (27).
Sun, merke reßte, wie daz rot]
daz isen vulet unde den stal :
144 I5ÜMER
also [tiiot unbescheiden] spot
der manues hertzen sundir qua/7y.
5 fez ist ein sföl/denvluchtik mal
und suchet umme [und umbe entwerj
von deine tzu deme alz eyn swal.
s[un, da solt du dich] hüten vor :
do macht nicht samft/e von im komenj
ab her dich brengit in sinen spor.
37 (45).
[Sun, beidiu luoder] uude spil
sint libes unde der sele [ein val,J
[der anej mase in volgin wil,
si machin im [breite huoben] smal.
5 swer lebit an ere an vrie/r wal,[
[der wirt] der werlde schir unwert
unde [huset in dem] affeutal.
der also vorlusit sine h[abe]
/mit disen swachen vuoren zwei][bl. ny]n
der lege baz in eyme grabe.
38 (46).
Sun, swen sin sin vejileylel so,
[daz er unrehte im selben tuotj
ist her bi wysen luten [vro,]
[da sol man kieseja toreu [muojt.
5 di ruwe ist noch der [schulde guot,]
[ob si vo]ü hertzen rechte verth.
eyn vole uz [einer wilden stuot]
ende uzgevangen [!] wirt e tzam,
e [daz ein ungeraten] lip
gewinne eyn herlze daz sich schäm,
39 (47).
[Sun, twinc des dineja vrien mut [!],
daz do tzu huze richtist [dich.]
[ein teil ich wn/gereysic bin;
man tut uud lazet un[vil durch mich.]
5 [dem] armen snide unde brich
mit willen [diner reinen hab]e :
EIN W1NSBEKE-FR AG MEIST 1 1:,
ob allen raten rate daz icb.
iz [ist dir guot und »/irl oucb nur :
ich habe in eren her [geleitet;/
fze husj werfe ich den slegil dir.
10 (48).
[Sun, ob ich ungerüejmel wol
und .in ungufuge sprecbin [mac,/
/mit liebe ich] dich bescheynde /.'/ sol :
sint ich von [erste huses phlajc,
5 <la von ich nacht unrie tac [!].
[min umbescezen wizzjen wol
\\i min wert in eren lac.
[ich hete no/ch vil guten mut
und willic hertze, [wan daz mir]
daz aldir grozen schaden tut.
41 (öl).
[Sun, husere ist[ eyn wirdekeyt,
di hi den hoeslen [lugenden vert;]
[swer si] mit schonen siten treit,
wi wol [sich der in eren] nert.
'■> daz gut wirt rnineclich vorfzert,]
[daz niht eiju schade gebeyszen mac.
und lz\ve[n from sint da] von beschert,
gotis Ion, der werl/fe habedanc:]
[der d]\ twey wol halden kan,
den rieh et [wol sin ackerganc]
42 (49).
Sun, swer daz huz wol habin [teil,]
[der muoz driu di]nc tzu sture han,
milde demut true
[i]sl her da by eyn vrolich man,
5 der/s wol den Hüten biete]n kan,
so tut sin brot den nemyndin [wol]
Münster i.W. A. BÖMER.
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 10
EIN ULFILAS-STEMPEL.
Der broncestempel, den unsere figur 1 und 2 in natürlicher
gröfse widergibt, befindet sich im besitze des herrn ESchlum-
berger, membre de l'lnstitut in Paris, wurde von ihm in der
silzung vom 17 juli 1878 der Socißte nationale des antiquaires
de France vorgelegt und im Bulletin desselben Jahres s. I82fmit
einigen bemerkungen veröffentlicht, er neunt ihn 'un grand
sceau ou cachet . . en bronce, de l'epoque byzantine' . . und be-
merkt über die inschrift 'La legende circulaire, preced6e d'une
croix initiale, nous donne le nom du proprieHaire : OYP0IAA,
evidemment pour OYAcplAA, Ulfila, Ulfilas, nom goth'. im
übrigen ist das denkmal völlig unbeachtet geblieben, da es für
Fig. 1.
■B
die germauisten noch ein besonderes interesse hat, wird ein er-
neuter hinweis darauf in einer facbzeitschrift am platze sein,
nachdem ich durch die gute des herrn Schlumberger es hier in
Strafsburg selber habe untersuchen können.
Nach einer brieflichen mitleilung des besilzers hat er den
Stempel im jähre 1875 von einem bändler in Korfu erworben,
woher dieser ihn hatte, ist unbekannt, über die echtheit des
Stückes kann kein zweifei sein, mit ausnähme einer ausge-
sprungenen raudstelle und einiger kleiner Verletzungen ist es
wolerhalten. die runde platte hat einen horizontaldurchmesser
von fast 84 mm. und ohne den nach unten übergreifenden
rand eine dicke von 3,5 mm. um den rand herum sind oben
als Verzierung fünf gröfsere knöpfe angebracht, ein sechster wird
an der ausgesprungenen stelle verloren gegangen sein, zwischen
dem tiere und dem rande sind etwa in der höhe der beiue vier
kleine concentrische kreise eingraviert, als handgriff diente ein
HENNING EIN ULF1LAS-STEMPI l
1 1:
vierfOfsiges tier mit gestrecktem leib, bis buI den boden herab-
hängendem schwänz und einem köpf mil kurzen emporslehnden
ohren und langer spitzer schnauze, durch eine Verletzung, deren
riss im nackeu klafft, kann die kopfsteliung nur unbedeutend
verändert sein, der schwänz und die pföteo bSngen mit der
platte zusammen, während die schnauze sie knapp berührt nb-
wol in der ganzen haltung eine gewisse realistische aufTassung
I
Fig. 2.
nicht zu verkennen ist, lässt sich das tier doch schwer ideutiü-
cieren. die auffallend lange spitze schnauze ist in jedem falle
übertrieben, da sie hei keinem liere, das zur vergleichung heran-
gezogen werden kann, so vorkommt, die Stilisierungen ägyp-
tischer tiere (etwa des ichueumons oder des schakals) lassen
ähnliche übertreihungen zu. bei unserem Stempel erklärt sie
sich besonders leicht, da der griff dabei auch vorne nach dem
boden hin eine stütze erhielt. Schlumberger nennt das tier einen
kleinen hund, und wie mir von zoologischer seile bemerkt wird,
soll 66 wol auch ein canide sein, aber kein haushund, sondern
10*
14S
HENNING
ein wildes tier, uud zwar der dicken beine etc. halber am ehesten
ein junges, diese ansieht wurde mir voo dem herrn collegen
sjeäufsert, bevor ich ihm den auf der riiekseite stehnden
nameu sagte, so könnte wol ein wildhund oder ein schakal
(canis, lupus aureus) gemeint sein, bei dem die schnauze 'spitzer
als die des wolfes, aber stumpfer als die des fuchses' ist und
dessen schwänz bis zum »ersengelenk herabhängt (Brehm 2, s. 41),
Fig. 3.
vielleicht auch ein fuchs, da der besitzer unseres stempeis aber
'Wölfle' hiefs, wird man eher noch an einen ebensogut mög-
lichen jungen wolf zu denken geneigt sein.
Auf der rückseite des stempeis, die unsere flg. 2 in ihrer
wirklichen form, flg. 3 im Spiegelbild widergibt, stehn die er-
habenen zeichen, die ebenso wie der sie umschliefsende rand
eine höhe von etwa 4 mm erreichen, die oberste stelle über
dem monogramm nimmt das christliche kreuz ein. rechts neben
demselben beginnt, nach links sich fortsetzend, die zusammen-
hängende schrift, die im abdruck (flg. 3) also rechtsläufig heraus-
EIN ULFILAS-STEMPEL
kam. alle bucbstabeu sind griechisch und babeo die normale
Stellung, auch das letzte A steh! wo! nur etwas schief, wil
erbalten die iweifellose lesuog
OYP0IAA
OvQipt'/.a, Urfila. 'die buchslabenformen gewähren', wie ben
College Keil, der mir seine rreundlicbe Unterstützung gewahrte,
bemerkt, 'mit ihrem vulgärjungen Charakter keine zeitlichen an-
haltspuncte. die buchstaben stehen bis auf das letzte zeichen
richtig1, zu den jüngeren, der cursive näher stehndcn formen
gehören das abgerundete P und das A.
Die lautgebung Ovg<pt).a für Ov/.rpi'/.a ist gleichfalls vulgär,
aber gerade für den namen des Golenbischofs bezeugt, der
Arianer Philostorgius ans Kleinasien, der wichtigste unter den
griechischen herichterslallern, schlich um 440 nach dem auszugt
des f'hotios Ovgrpi'/.ac, ebenso die Acta S. ISicetae Ovgq~>ilog.
Luft nennt das g rätselhaft >, aber der vulgärgriechische Über-
gang von /. zu g kommt nicht nur als dissimilalion , sondern
auch in Beitreibungen wie ddegcpoi für dde'/.rpoi schon in spät-
griechischen inschriften vor'2, dem namen des Golenbischofs
scheint die entstelhmg also angehaftet zu haben, und es ist sehr
merkwürdig, dass sie auf unserem Stempel gerade so widerkehrt,
germanisch ist sie nichl. wenn der besitzer des Stempels dein
vulgärgriechischen aber einen solchen einlluss gewährte, so ist
kaum anzunehmen, dass er mit Ovgcpi'/.a trotzdem die ger-
manische form Wullila widergebeu wollte, nachdem man sich
neuerdings fast übereinstimmend dahin geeint hat, den Goten-
bischof Wullila zu nennen, tritt unser Stempel der ältesten Über-
lieferung Ulfüa wider bestätigend zur seite. ja, es fragt sieb,
ob er nicht überhaupt der Stempel des Gotenbischofs gewesen ist.
Unser Stempelname ist sprachlich gotisch oder wenigstens
ostgermanisch. Oigcpi/.a-lJlfila hätte die reguläre endung des
gotischen nom. singul. da aber die antiken Stempelnamen gewöhn-
lich im genetiv stehn, bemerkt Keil iOvgrpüä ist der regel-
mäfsige genetiv zu Ovgrpi/.äg; ergänzt wird orpgctyig oder
ornuior. aber auch Ovgrpi/.äg weist auf einen gotischen nomi-
nativ Ulfila, nicht auf einen deutschen Wulfilo zurück, bezeugt
ist der uame aulser für den Gotenbischof nur noch für den feld-
1 Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung 36, 357.
2 Schulze ebendort 33, 224 ff. vgl. B. I22f.
150 HENNING
herrn des Honorius, der i. j. 411 Arles belagerte, iü der form
Ov/itpiXäg (bei Olympiodor, Sociales, Sozom.) oder Ulphula, Ulfila
(Prosper Tir. Chr. min. i 466, Frigeridus bei Gregor etc.). dieser
wird niemals OvQcpi).äg, aber auch ebensowenig wie der des
bischofs in den voritalischen quellen Wulfila geschrieben, natür-
lich können andere ebenso geheifsen haben, aber ein mann von
Stellung und ansehen hat einen solchen Stempel wie den unsern
sicher geführt, und das kreuz weist überdies in die christliche
Sphäre, aus der es seit dem zweiten Jahrhundert im Orient und
etwas später auch in Europa bezeugt ist.
Der Stempel als solcher gehört nicht zu der bekannten
abendländischen, sondern zu der mehr orientalischen gattuug.
Schlumberger nennt ihn, worauf ja auch die griechische schrift
deutet, byzantinisch, seinem ganzen habitus nach wird man ihn
kaum für älter als das vierte Jahrhundert halten, aber die byzan-
tinischen Stempel sind noch wenig beachtet und nicht unter-
sucht, die mir bekannt gewordenen bieten für den unseren hin-
reichende analogien. sie sind im allgemeinen ziemlich grofs,
rund oder länglich, gewöhnlich mit einfachem länglichen griff
und erhabenen oder vertieften buchstaben. das Kaiser-Friedrich-
museum besitzt, wie ich höre, einen solchen mit der durch
zwei kreuze getrennten, am rande herumlaufenden erhabenen
inschrift KYPlOY-f KAPllOI + und einem mittleren monogramm.
einen anderen broncestempel in sohlenlorm mit den erhöhteu
namensbuchstaben (pOlBOY aus Membidsch (Hierapolis Bombyce)
hat herr prof. Euting, einen runden broncestempel mit der er-
habenen lateinischen Umschrift BARB.\ER. und einem mittleren C
herr dr Forrer, vgl. auch Forrers Achmim -Panopolis, taf. ix,
tig. 3—6, Kraus Realencyclopädie n, tig. 236. 416 u. a. ein
tier als griff haben diese Stempel nicht, nur ein lamm habe ich
gelegentlich bemerkt, doch werden auch andere tiere schwer-
lich gefehlt haben , da sie noch im fernsten osten sich finden,
die aus China übernommenen, bis in die sassanidische zeit zurück-
reichenden japanischen Stempel — die einzigen über die mir
eine zugängliche Untersuchung bekannt ist1 — verwenden vielfach
tierfiguren aus dem Zodiacus, aber auch andere als griffe, sie
sind auch sonst zu vergleichen mit ihren am rande herum-
laufenden inschriften, den mouogrammärtigen zeichen in der mitte
1 Hans Spörry Das slempelwesen in Japan. Zürich 1901.
EIN ULFILAS-STEMPEL 151
und ihren gleichfalls erhabenen Bchriftzeicbeo, die mit roter oder
schwarzer färbe aul' den zu stempelnden gegenständ abgedrückt
wurden, die vertieften 'byzantinischen' oder rrühcbrisllichen
Stempel wurden m eine weiche masse (eucharislische broti
gedrückt, für einen speciellen cultzweck scheint unser kleiner
anide allerdings nicht gerade zu sprechen.
So haben wir als anhaltspunkte : das > i > k- k selbst, das etwa
dem vierten oder einem etwas späteren Jahrhundert entstammt,
die griechische schrifl mit dem 'vulgärjungen' Charakter, den
gotischen namen des Ulfila, die vulgäre lautgebung desselben, die
gerade so für den namen des bischofs bezeugt ist, und das christ-
liche kreuz, alles dies passt für die lebenszeii. des Gotenbischofs
und aul ihn seihst, unerorlert ist noch das monogramm in der
milie des Stempels, dass vielleicht die entscheidung bringen kann,
leider aber, wie so viele andere, gröfsere Schwierigkeit macht.
Die zeichen selbst sind deutlich, in der mitte steht ein
grofses H, an welches die anderen buchstaben angehängt sind,
oben links im abdruck (lig. 3) ein O, daneben an der anderen
seile wahrscheinlich eine ligatur von T und Y. gegen ein blofses
Y spricht die gröfse des querslriches und ein liegendes hori-
zontales K scheint gleichfalls ausgeschlossen, dagegen wird der
buchstabe in der mitte der zweiten hasta ein aufrechtes K sein,
von den beiden untern ist das zunächst folgende O erst nachträg-
lich an der einen seile ausgesprungen, im übrigen aber gesichert,
das letzte zeichen unten liuks endlich kann ein umgekehrtes P sein
von der form des unmittelbar daneben stehnden der randschrift,
doch wären über die Verwertung solcher umgekehrter zeichen noch
Untersuchungen nötig, die reguläre bleibt die aufrechte Stellung,
sodass auch au ein aufrechtes C gedacht werden kann, das seit den
ersten Jahrhunderten in Inschriften und auf münzen in der gellung
von Z häutig ist. so erhallen wir oben liuks beginnend in der
augeführten reihenfolge um das H herum die lesuug OYTKOP
oder OYTKOC. es läge nah, das letztere aus dem sonstigen
monogramm heraus zu TOYTIKOC zu ergänzen, aber wenn es ein
genetiv sein muss, passt die endung nicht, uud das H, das sicherlich
kein blofses gerüst, sondern der buchstabe ist, bliebe noch unerklärt,
die singulare geltung von C = l~ ' möcht ich nicht herbeirufen.
1 so auf einem .Menasfläschchen von Achmim mit guter schrift ACIOY
für AflOY (Forrer laf. viu 3).
152 HENNING
Doch ist natürlich auch eine andere ordnuug der buch-
staben möglich, von dem genetiv OvqcpÜM ausgehend meint
herr College Keil, dass man dazu jedesfalls eine genetivform zu
suchen habe, 'tatsächlich erscheint eine genetivendung -ov
am Schlüsse des mouogramms, natürlich im Spiegel gelesen : oben
das Y, unten das jetzt etwas ausgebrochene O. jetzt ist das O
im anfange des monogramms frei und man list : O, dann um-
gekehrtes P, das grofse H, nun von oben nach unten TK,
woran sich die schon ausgeschiedene endung OY schliefst, man
list so OPHTKOY. jetzt erkennt man, dass in der rechten
längshasta des H noch ein I zu suchen ist. also steht da OQTqriy.ov
d. i. oqs.ixiv.ov mit der gewöhnlichen späten Schreibung^ stattet.
ÖQeiTiy.ög ist einer, der zu den öqsitcci, den bergbewohnern ge-
hört, also lese ich '(Stempel des) Urfilas, des der bergbewohner'.
ich bin zu dieser lesung gekommen, ohne daran zu denken
(worüber mich allerdings vorher pro f. Henning belehrt hatte), dass
Ulfilas würkungskreis als 'in montibus' durch die älteste Über-
lieferung bezeichnet wird l. aber mir scheint', fährt Keil fort, 'dass
nun Überlieferung und lesung so einander stützen, dass an der
beziehung auf den grofsen Gotenbischof nicht gut gezweifelt
werden kann, das kreuz auf dem Stempel tritt bestätigend hinzu,
dass das adjectiv in den Wörterbüchern fehlt, kann natürlich nicht
befremden, die adjectivische bezeichnung für den würkungskreis
eines bischofs ist solenn'.
Vielleicht könnte noch jemand, des umstaudes eingedenk,
dass der Stempel auf Korfu erworben ist, KOPKYPHOY für
v.oqv.vqcüov herauslesen wollen, aber dass das monogramm hinten
in der mitte der zweiten hasta begann, ist unwahrscheinlich, die
ligatur TY müste überdies ein blofses Y mit einem übergrofseu
zierstrich sein, den das Y des namens nicht hat. aufserdem
wäre das erst später folgende O doppelt, die vorhergeheuden
P und K nur einfach gesetzt und die zeichen sprängen nach
den ersten buchstaben unnötig hin und her.
Keils erklärung 6or]Tr/.ov~ findet, wie mir scheint, noch eine
weitere stütze und die allgemeine angäbe des Auxentius 'in monti-
bus' einen bestimmteren hintergrund durch eine lat. iüschrift
vom jähre 256 n. Chr.: [burgum constitui iussit] unfde latrunculos
1 nach Auxentius. dass Ulfilas bischof von Dorostorum gewesen (Pauls
Orundriss2 n s. 7 anm. 2), ist unbezeugt, vgl. auch Vogt Anz. xxvm 213.
EIN ULFILAS-STEMPEL 15^
ojbservarent [projpter tuteiam [c]<utre(n)num et [cjivium Monta-
nmrium aus Kullovica (Ferdinandovo) am nordabhange des Balkan
zwischen Sofia und Lom am obem laufe des Ogost1, Kutlovica
war also das castrum der noch 3<) km. weiter nordöstlich nach-
weisbaren regio Monlanensium , und dieser technischen bezeicb-
DUng halber wird man hier, wo wol schon seit dem Gotensiege
des Claudius a. 269 gotische colonisten angesiedeil waren (\l»n-
maszewski s. 197), auch eher als in dem 'kleingolischen' Niko-
j)olis (Jord. 51) die heimat des Ulfilas zu suchen haben, öorii/.oi
aber wäre nichts als die griechische Übersetzung des officiellen
römischen Montanensis.
Es fragt sich noch, wie der Stempel nach Korfu gekommen
Bein kann, zufalle sind unberechenbar und Korfu war ein Stapel-
platz mittelalterlichen handeis. aber andrerseits möchte man bei
einem für den nichlkenner wertlosen stück die zufällige herkunlt
aus der ferne nicht ohne not in anspruch nehmen, in dem
gegenüberliegenden Italien ist er schwerlich angefertigt, denn die
dortigen Goten würden sich wol der lateinischen schrift und über-
dies nicht der vulgärgriechischen lautgebung bedient haben, der
Balkanhalbinsel oder dem Orient wird er also entstammen und
dann kann zeillich auch nur das 4 oder 5 Jahrhundert in frage
kommen, dass der Stempel später zufällig aus Müsien nach Korfu
verschleppt wurde, ist nicht gerade wahrscheinlich, ihn haben
wol würkliche Gotenverbindungen dahin gebracht, aber an die
heerzüge des Alarich ist schwerlich zu denken, scheinen die
Westgoten doch ganz unbeteiligt an der forlführung der ultila-
nischen Überlieferungen geblieben zu sein, diese sind vielmehr
den Ostgoten, vor allem des Theodorich zugefallen, und das hat
seine geographischen und historischen gründe, als der junge
konigssohn aus Konstantinopel zu seinen Goten zurückkehrte,
hatten diese gleichfalls in Müsien, der heimat des Ulfilas, ihre
sitze, mit Theodorich setzte sich dann die gotische volksmasse
in bewegung, an verschiedenen stellen Wohnsitze suchend, in
Macedonien und auch in Epirus. seine expedition nach Epirus
und die ansiedlungsversuche daselbst, wahrscheinlich i.j. 479/80
beschreibt eingehend Malchus2. in Epirus hatte er einen in
1 die ergänzungen und die inschrift selbst nach vDomaszewski Neue
Heidelberger Jahrbücher m (1893) s. 195 f.
2 Historici Graeci minores i s. 411 ff, vgl. Wietersheim-Dahn u 3:5111.
154 HENNING EIN ULF1LAS-STEMPEL
byzantinischen dienslen sehr begütert gewordenen vervvanten,
wo! aus dem geschlechte der Amaler, den Sidimundus, mit dem
er gemeinsame sache zu machen und Epirus an sich zu bringen
wünscht. Sidimund nimmt die Goten auf, wobei er die küsteu-
stadt Epidamnus (Dyrrhachium) für sie möglichst räumen lässt.
auch der bruder und die multer des Theodorich mit einem grofsen
gotischen tross stofsen hier zu ihm, werden aber von dem byzan-
tinischen beere besiegt und eine grolse anzabl gefangen ge-
nommen. Epirus muss er aufgeben und erhält, nachdem er 483
wider zur macht gelangt, vom kaiser das alte Niedermösien an-
gewiesen, hier wird Novae an der Donau nördlich Nikopolis (Zeuss
s. 426 f) sein hauptsitz, bis er offenbar mit seiner ganzen dispo-
nibeln macht nach Italien aufbricht, so ist er der erbe der alten
ulfilanischen traditionen geworden, von denen auf der Balkan-
halbinsel keine handschriftlichen reste erhalten sind K hierzu wird
auch die für den gottesdienst in lectionen eingeteilte gotische
bibel gehört haben, deren Codex Argenteus, wie man annimmt, in
Unteritalien unter seiner herrschaft geschrieben ist. er hat
diese traditionen gewis schon von anfang au für seine Goten
beansprucht, zu dem literarischen besitz mag aufser den Hand-
schriften auch der Stempel des bischofs gehört haben, der sehr
gut während des aufeuthalles und der wechselfälle in Epirus da-
selbst zurückgeblieben, aber auch von Koustantiuopel auf der alten
via Egnatia oder aus Unteritalien nach Korfu gelangt sein kann.
1 über die auf Tomi bezüglichen nachrichten des Walal'rid Strabo,
welche Tomaschek anzweifelte, handelt zuletzt RLoewe Die reste der Ger-
manen am Schwarzen meer s. 253 f.
Strafsburg. R. HENNING.
' D
WALTHERIANA.
1) Her Wicman. Lachm. 18, 1.
Der grobe spruch gegen einen concurreuten in Walthers
kunst ist schon von mehreren seiten Walthern abgesprochen
worden, zuletzt von Saran ßeitr. 27, 203 f. seine metrischen
gründe will ich nicht diskutieren; er hat sie mehr als neben-
sache vorgebracht, und man könnte ihnen gegenüberstellen, dass
doch die bildliche manier und vor allem der schluss des Spruchs
Walthern recht ähnlich sieht, mehr besagt der gruud, dass von
FISCHER WALTHER1ANA 155
W. in dritter person geredet wird, die von Wilmanns dafQr
ebene motifierung will mir allerdings auch nicht einleuchten,
und ein zweiter fall, wo \Y. su von sich geredet hatte, läset sich
niclii anfuhren, aber es ist doch gar kein zweifei, dass die
stroplic direct auf eine gegnerische antwortet, und am alier-
wahrscheinlichsten ist da widerum — ich glaube, man hat damit
uocli ülters zu rechnen — , ilass die replik dem angriff direcl
gefolgt ist; diese annähme würde nebenbei auch leichte metrische
mlngel erklären, da ist es denn sehr wol mOglich, dass der
angriff gegen W. in einer form gebalten war, die die rede, in
dritter person herausforderte : es dürfte ja nur ein- oder mehr-
mals von /«'/• Wallher ironisch-höflich die rede gewesen sein,
die Strophe steht in AC, ist also nicht schlecht bezeugt ' ; auch
die abweichungen der texte sind nicht erheblicher als anderswo.
Aber gegen die weitere bemerk ung Sarans inuss ich mich
wenden : "auch darf man billig bezweifeln, ob sich W. den derben
vergleich von v. 10 gestattet halle'-, ich weifs nicht, ob jener
cynismus in der feder eines andern Sängers wahrscheinlicher ist
als in der VV.s; ein cultus der cc7cÖQQt]rcc ist doch überhaupt nur in
gewissen gattungen unserer mhd. lyrik zu linden, aufserhalb deren
aber ist ein derartige.- wort bei einem berühmten dichter kein
jota unwahrscheinlicher als bei einem obscureu, der ja leicht
denken konnte : quod licet Jovi usw. der cynismus ist doch
auch sehr harmlos, in männergesellschaft noch heute geduldet,
es kommt aber dazu, dass wir hier offenbar eine anspielnng auf
etwas allgemein bekanntes vor uns haben, noch heute heilst es
schwäbisch3 : das reimt sich (passt) wie arsch und Friderich.
diese wendung ist aber schon alter, die Zimmerische Chronik1
ii 40S erzählt : Bei unsem zeiten war ain procurator am hof-
gericht . . . der wolt ainsmals seins gegentails . . . procurator die
argumenta . . . ablainen und verklainem, darumb spracht er
unverdechtlichen uf sein guet schwarzweldisch : 'Es reimpt sich
meins gegenthails furbringen gleich als salzmessen und ich waiss
nit was', damit wolt er ain grobs wort 4 haben laufen lassen, aber
1 ed. Wilmanns- 19 : die Sammlungen AC ' und AC2 enthielten noch
keine nachweislich unechten Strophen.
- rgl. Pfeifler Freie Forschung 357 f.
3 s. mein Schwäbisches Wörterbuch i 328.
4 offenbar arschlecken.
156 FISCHER
er beschul es dannost mit ainer offengabel. Es wardt sein %col
gelacht, denn es wolt sich gar nit reimen sein spruchwort . . . so
wenig, als ainest graf Heinrich von Hardeck . . . der wolt vor
kaiser Friderrichen dem dritten ein schöne redt thon, under anderm
aber Hess er sich sein gegenlhail also ufbringen, das er unverholen
sagt : 'Es reimpt sich das gar nit, so wenig als ars und Fri-
derrich'. unser dichter bat den witz der vergleichung mit dem
(voll-)mond hinzugetan, aber vorgefunden bat er eine solche
redensart gewis, und war damit doppelt entschuldigt, wenn er
sie verwante1. sie passte auch besonders gut in ein gedieht,
wo vom versemachen die rede ist. denn sie gebt ganz deutlich
von der Wahrnehmung aus, dass es auf ars keinen reim gibt,
wenigstens keinen natürlichen, bequem liegenden; das volk achtet
auf solche dinge, ich habe das für das wort bnndschuh nach-
gewiesen2.
Ich bin aber damit noch nicht zu ende, wer ist her Wic-
man, wie er in A heifst, her Volcnant nach C? man kennt
keinen minnesänger oder überhaupt dichter solchen namens, das
würde nicht hindern, dass es einen gegeben haben könnte, denn
beide namen sind um Wallhers zeit bezeugt, das auseinander-
gehn der handschriften könnte mit Wilmanns so erklärt werden,
dass der spruch einmal gegen einen Volcnant (oder, wenn C recht
hat, Wicman) henutzt wurde, oder was er auch zulässt, so, dass
eine form aus der andern verlesen wäre, zumal wenn mau etwa
ein Wicnant zu gründe legte, was es auch gibt3, aber es ist
noch eins möglich : beide namen oder der ursprüngliche davon
kann ein deckname für einen sein, den der dichter uicht direct
nennen oder dessen namen er humoristisch entstellen wollte,
wie, wenn der mann Wolfram geheißen hätte? ich gesteh
gerne, es ist ein einfall. aber dass man nichts positives dagegen
sagen kann, muss ich doch behaupten, was Walther über seinen
gegner sagt, ist sehr allgemein und passt auf jeden; der tou, in
dem die polemik zwischen Wolfram und Gottfried geführt ist, ist
nicht viel höflicher; den ars konnte gerade Wolfram kaum per-
horrescieren; dass Walther und er ihre kleinen Wortgefechte
1 Schröder citiert mir zwei verse eines couplets oder gassenhauers, ohne
ihre herkunft bestimmen zu können : lPolz himmel, arsch und wölken —
wie reimt sich das zusarnrnenP - Schwab. Wörterbuch i 1525.
[3 Klage 778 Wicnant hat D die Variante Volchnant. E. S.]
WALTHERIANA 157
gehabt habeo, wird aucb der zugeben, dem Burdachs Vermutungen1
in manchem zu weit gehn; und diese plänkeleien sind doch,
zumal wenn wir aonehmen, dass die gegner einandei io persoo
gegenüberstanden, gewis nicht tragisch zu nehmen, «In- zwischen
Wolfram und Wallher jedesfalls viel weniger als die gegen <.i»ii-
Fried. von positiven momenten aber mOcht ich doch ein paar
anführen, die namen Wictnan und Volcnant bezeichnen beide
einen kriegsmann; das passt bowoI zu Wolfram als zu den stolzen
hehlen auf der Wartburg, der iegeslieher wul ein kempfe wcere
(20, 11 I)-. dass das waz obe her Walther krache usw. (18, 61)
au das bekannte, von Wolfram und Gottfried herüber und hinüber
diene bild vom hasen (als gegenteil) gemahnt, ist wol zufällig,
denn das kriechen wird aus dem gegnerischen gediente genommen
sein, aber der leitehunt (IS, 14), der nach wdne jaget, gemahnt doch
sehr an jenen hasen hei Gottfried (Mafsm. 117, 3811); vgl. 18, 13
sfa märet er der weite spil mit G. 118, 3911' dane gdt niht (juotes
inuotes van, dane lit niht herzelustes an, ir rede ist niht also
<jevar, daz edele herze iht lache dar. doch genug; für einen
zwingenden beweis soll das nicht gelten; ex ingenio suo quisque
demal »el addat ßdem.
2) Ouch hiez der fürste durch der gemden hulde
Die malhen von den stellen leeren. Laclun. 25, 35 1.
so bietet C, welches diesen Spruch allein hat. man hat daran
anstofs genommen und ändern wollen. Haupt zu Erec 7122 las
die stelle von den malhen leeren, Pfeiffer-Bartsch die malhen sam
den stellen laren, Wilmanus1 die malhen und die stelle leeren.
aber das alles ist nicht nur nicht überliefert, sondern Wilm.a
sagt richtig : 'seltsam bleibt die erwahnuug der reisetascheu
neben den stallen', und er sowie Paul haben sich begnügt mit
einem 'was überliefert ist, gibt keinen sinn', 'unverständlich',
andere haben anderes vermutet. Schonbach Zs. 39, 346 list von
den setelen : der inhalt der satteltaschen sei zuletzt noch an-
gegriffen worden; ob mau aber wol in ihnen, wenn man nicht
unterwegs war. viel gehl und geldeswert aufbewahrt hat? Bech
Germ. 32, 1171V und A Wallner Zs. 39, 429 f nehmen den plural
1 Deutsche rundschau 113, 244 ff.
2 natürlich kann man sich auch an die graphische und lautliche ähn-
lichkeit mit Wolf'ravi halten.
158 FISCHER
von stelle, nicht von stal an; jener denkt an das gesteil, auf dem
der dem pferd abgenommene sattel ruht, wogegen dasselbe wie
gegen Schönbach zu sagen wäre; dieser an ein repositorium, auf
dem die malhen aufbewahrt worden seien.
Das alles stimmt schlecht zum Zusammenhang, es ist 29 — 34
erzählt, man habe im grösten ilberfluss gegeben, silber und riche
\cdt. darauf folgen unsere zwei verse und fernerhin : ors, als ob
ez lember waren, vil maneger dan gefüeret hdt. das ouch in z. 35
hat keinen guten sinn, wenn mit Schönbach und Wallner von
weiteren geldgaben oder ähnlichem die rede sein soll, denn das
ist schon vorher gesagt; vortrefflich aber passt es, wenn damit
auf das hergeben von pferden übergegangen werden soll : z. 36
muss ihrem ganzen inhalt nach sich darauf beziehen.
Schon Lachmaun mag das gefühlt haben, als er schrieb :
'die meinung wird sein die stelle von den märhen leeren'. Wil-
maoos hat dagegen erinnert, das sei eine änderung des über-
lieferten; aber ich kann auch märhen oder marhen nicht zugeben:
letzteres nicht, weil marc ausschliefslich ein streitross ist, ersteres
nicht, weil die erwähnung von Stuten im sinne des mittelalters
etwas verächtliches gehabt hätte und Walther nicht gehindert
war, rossen oder pferden zu schreiben, vielmehr lasse ich die
lesart zu recht bestehn und versteh unter den malhen die ein-
zelnen 'stände' des Stalles, das passt genau her und würkt mit
dem leeren zusammen höchst concret, wie wirs bei Walther ge-
wohnt sind, dass die mittelalterlichen stalle abgeteilte stände
gehabt haben müssen, ist auch dann klar, wenn sie, was ja wahr-
scheinlich ist, nirgends erwähnt sein sollten1; denn die pferde
waren damals gewis nicht minder geneigt als jetzt, sich zu beifsen
und zu schlagen.
Kann malhe diese bedeutung haben? am meisten über das
wort gibt Zarnckes Narrenschiff s. 364. die dort angeführten
lateinischen synonyma bezeichnen alle einen gröfsern sack 2 oder
dgl. für irgend welchen inhalt, das darunter erscheinende zaberna
meint eine kiste oder dgl. eine elymologie des wortes ist, so
viel ich sehe, nie versucht worden; aber sie sei welche sie wolle:
wenn aus pyxis 'buchsbaumholz, büchschen' ein engl, box wurde,
das neben allem möglichen andern auch einen reisekoffer und
1 bei Pfeiffer und bei Jahns findet sich nichts.
2 vgl. 'Sackgasse'.
WALTHERIANA L59
•■inen pferdestand im Blall bedeutet, so ist dasselbe bei malhe
auch möglich, auch engl, crib vereinigt ganz ünnliche bedeu-
luogeo. dass aber malhe in dieser bedeulung nirgends sonsl
nachzuweisen ist, wird jeder rerstehn; es würde niemand wun-
dern, «renn ein worl für fliesen begriff aus alter zeit Oberhaupt
nicht auf uns gekommen wäre, ilie eonstruclion von den stellen
braucht ja, um niemand zu bindern, blofs prägnant genommen
zu werden 'aus den stallen heran-'.
Tübingen, 20 februar 1907. HERMANN FISCHER.
ARO LS KR BRUCHSTÜCK
VOM ERSTEN BUCHE DES PASSIONALS.
Beim ordnen waldeckischer archivalien fand mein verehrter
freund G Könnecke na. ein stattliches blalt von einer hs. des Passio-
nals, das im klosier Hei ich ao. 1500 zum Umschlag einer rech nun g
verwant worden ist. das blalt ist 340 mm. hoch, 220 mm. breit,
der zweispaltig beschriebene räum entsprechend 270x174 mm.;
die einzelspalte 79 mm. breit, die 38 Zeilenanfänge slehn genau
untereinander und beginnen mit rot durchstrichener minuskel; am
beginne jeder columne steht eine majuskel mit roter arabeske. es
kommt ein capitelanfang (Hahn 180, 42) mit rotblauer initiale vor,
die durch fünf Zeilen geht, ein kleinerer blauer inilialbuchstabe
eröffnet einen abschnitt (181, 32). die hs. gehört der ersten hdlfte
des 14 jh.s an. um die Zugehörigkeit weiterer fragmente zu be-
stimmen, heb ich noch hervor, dass die vocale u, il, uo, üe, in
gleichmäßig als u geschrieben sind, wobei das kleine o mit feinerem
federzug nachträglich angebracht scheint.
Das angebot von neuen fragmenten des Passionais {und der
Weltchronik !) gehört zu den schrecken des redacteurs : zumeist frei-
lich handelt es sich dabei um bruchslücke des von Köpke heraus-
gegebenen dritten teils, wahrend die Überlieferung des ersten und
zweiten sehr viel spärlicher ist. hier haben wir den schluss des
Petrus und den anfang des Paulus aus dem ersten teile : Hahn
179,80 — 181,47; immerhin genügt die mitleilung der lesarlen,
wobei ich vom orthographischen soviel gebe als mir zur Charak-
teristik der hs. wünschenswert scheint, textkritisch wichtige Varianten
druck ich gesperrt.
160 SCHRÖDER RRUCHSTÜCK DES PASSIONALS
179,80 Da hin v. 81 vnd möge in follem friede
wesen 82 vil fehlt 83 volg immer 84 was immer
85 irhangen S6 widirwart 87 waren 88 hoübit 90 güder
lüde 91 waren aller froüden 92 yre weinende
93 vnsir irbot (so meist) 94 zu eime
180, 1 myde he 2 hatte immer 3 offenlich 5 vnde
fehlt henden schapele 6 vnd immer 8 lieplich en ir leit
wart 11 büchstaben 12 durch seh rieben 13 froüden
14 dise worte der 15 lieber herre 16 allez immer
17 an nicht 18 ane genügen wolle 19 danken liebir
20 mime 22 daz 23 myde immer 24 vnd leben 25 eme
stets froflden 30 godis giouben haden 31 raden 32 weg
34 in godis n. 36 wörtzten en 38 he (so und her abwechselnd)
werdikeit 39 grap 40 midewist vor 42 keine Überschrift
42 faz 43 vsz dem gnaden 44 eme stets 45 er were
fehlt 46 he an tzuifel 47 want en selber 48 he
49 vfz scheiden 50 vngloüben 51 an en 52 aptgode
53 bode 54 eme hatte 55 konneschafft 58 mit meister-
lichir 60 blozlich 61 vol fehlt 62 vff den 64 an
65 miteiehen] meinde iehende 66 gap da sine 67 beging
»charpen 68 dem güden 69 dem 70 da xpus gemartelet
74 zu eime boden godis 75 gebodes 76 daz w. künde] hat
daz wol 77 sichz 78 he wart vmme 80 ee dau he
S2 dem 83 eine 85 zu samene 86 gnüg 87 vorthe sie
züslüg 88 ygelicher virbarg 89 want en was noch zu starg
181, 1 hatten 2 dem 3 dar an v. 5 durch got
6 edel hüder 7 wüder 8 eme sin blintheit 9 gloübigen
10 her vmb fpflrte 11 wol fehlt 12 wise fehlt 13 nüwiu
14 giouben v. 15 virbrechin vnd beroüben 16 sin betrübete
17 he daz oüch vbete 18 he 20 swo eme 21 do hin
hüb her 22 her üff 24 iz odir 25 he 27 gefenkenüsse
28 biz 30 si] yn 31 gelouben fehlt 32 Paulus godis
33 harte spotis 34 mit] an treip 35 stede bleip v. 36
als he wol irtzoügete 37 her die güden 38 gloüben 39 zu
eimale vil her 40 he 42 verlieren 43 widir weren
44 began en 45 he ging zu 46 sagete
Göttingen.
EDWARD SCHRÖDER,
EINE VAGANTENLIEDERSAMMLUNG
DES ! I JAHRHUNDERTS
IN DER SCHL0SSBJBL10THEK ZI HEUDRINGEN (KR. ARNSBERG).
Als ich im vergangenen jähre dank drin freundlichen e»J-
gegenkommen des herrn grafen von Fürstenberg und seiner kunst-
sinnigen gemahlin die handschriftenschätze der Schlossbibliothek :n
Herdringen für du- deutsche commission der Berliner akademie de*
Wissenschaften inventarisieren durflet stieß ich in einer miscellan-
handschrift des 14 Jahrhunderts avf eine 20 nnmmern zählende
Sammlung von vaganlenliedern. der glückliche fund muste mich
umsomehr überraschen, als in dem gedruckten kataloge der biblio-
thek (h'üln 1895J der gedichte Leine erwähnung geschieht, vielmehr
nur '.\ gröfsere stücke des codex titelmäfsig aufgeführt weiden.
es ist abermals ein benedictinerkloster, dem wir die neue vaganten-
lieder-auslese zu verdanken Italien : SJacob zu Lüttich. manche
dieses Stifts hohen wahrscheinlich den ganzen band zusammen-
geschrieben, sicher gehören <lie 13 und 1-1 läge dorthin, denn
von derselben hand, welche «He stücke dieser beiden lagen auf ge-
ebnet und zahlreiche andere nummein mit Überschriften ver-
sehen hat, ist auf der rückseite des 1, nicht gezählten blatte» der
besitzvermerk von SJacob eingetragen : Liber mouaslerii saneti
incolti leodiensis. auch mitten im bände (bl. i.xviv kehrt diese
notiz noch einmal wieder, unter dem ersten vermerk steht in roter
schrift die alte Signatur : II. 104; auf dem oberen runde des 1 ge-
zählten blatls ist sie widerholt und hinzugefügt : A x 60. auj der
mneuseite des ziemlich defecten pergament Umschlags ist die Hand-
schrift im 17 oder IS Jahrhundert N. l\'-\ in .Imisiis signiert.
in der bibliolhek des l'ilrstenb ergischen Schlosses Adolfsburg [kr.
Olpe), von wo die Handschriften erst vor wenigen jähren noch dem
prächtigen Herdringen überführt siml (während die grofse druck-
schriflensammlung noch auf der Adolfsburg aufbewahrt wird), tmg
das manuscript die nummer Ms. 51. fast über den ganzen rücken
des bandes ist ein langer wei/ser zelte! geklebt mit der aufschrift :
Ms. 51. Varia. Tbomae Anglici Psalterium. Expositio Bibliac.
Egidii versus de Urinis. diese kurze Inhaltsangabe ist auch in
den gedruckten kalalog übergegangen, in dem der band unter
nr. 57 verzeichnet ist.
Z. F. D. A. NLIX. N. F. XXX Vli. 11
162 BUMER
Die erhaltung der Handschrift lässt viel zu (ethischen übrig,
das papier hat unter dem augenscheinlich sehr fleifsigen gebrauche
und dazu noch unter feuchtigkeit slaik gelitten, die heftung ist
so schadhaft geworden, dass die meisten lagen lose in dem bände
liegen, von mehreren leeren blättern sind grofse teile abgerissen»
aber auch ein beschriebenes (124) ist von einer solchen beschädignng
betroffen. 4 blätter sind ganz ausgerissen, doch war lxlvi sicher,
cxlv— cxLvii wahrscheinlich leer.
Im bände finden sich zwei alle foliierungen:
1) auf der Vorderseite der blätter mit arabischen zahlen, bis
133 reichend (das vorderste blatt nicht mitgezählt);
2) auf der rückseite der bll. mit römischen zahlen, mit dem
vierten von 4 leeren bll. zwischen SO und 52 (von denen nur
das erste [81] foliiert ist) beginnend, bis 133 (= lii) neben der
ersten herlaufend und bis clv reichend, dazu kommen am schluss
noch 2 nicht gezählte bll.
Ich gebe bis bl. 133 die erste foliierung mit arabischen, von
da ab die zweite mit römischen zahlen wider.
Die Handschrift besteht aus 23 lagen, die sich auf 9 ver-
schiedene cursivhände folgendermafsen verteilen:
1) läge 1—7 (bl. 1 — 80, [81, Sl1" 3 leer]); 2) läge 8—10
(bl. 82—103); 3) läge 11 — 12 (bl. 104—124 [125 leer]); 4) läge
13. 14 (bl. 126 [= xlv] — lxvi); 5) läge 15 (6/. lxvh — lxxviii);
6) läge 16 (bl. lxxix — lxxxv); 1) läge 17 (bl. lxxxvi — l\l\t, [lxlvv
leer, lxlvi ausgerissen, lxlvii leer]); 8) läge 18 — 22 (bl. lxlmii
— cliii); 9) läge 23 (bl. cliv, clv und 2 ungez. bll., von denen
jedoch cliv1, die rückseite des 1 ungez. und das ganze 2 ungez.
blatt bis auf eine kleine notiz leer).
Während die 8 ersten hünde in die 2 hälfte des 14 Jahr-
hunderts zu setzen sind, gehört die 9, die sich auch durch aufser-
ordent/iche ßüchtigkeit und Sorglosigkeit von den übrigen abhebt,
erst der mitte 'des 15 jahrh. an. das von ihr niedergeschriebene
niederländische stück ist das einzige nicht lateinische in dem bände,
abgesehen von einer ganz kurzen, gleichfalls nl. und gleichfalls
von dem letzten [schreiber aufgezeichneten notiz auf der Vorder-
seite des 1 nicht gez. Mattes, die vagantenlieder verdanken wir der
8 hand. sie ist steil, kräftig, in der gröfse etwas wechselnd, im
allgemeinen aber ziemlich sorgfältig und gut lesbar.
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG IC
Die höhe des bände* beträgt '2 2, die breite l."> cm', die gröfu
des schriftfeldes wechselt bei den einzelnen stücken beträchtlich, bei
den vagantenliedern bewegt sich seine hohe zwischen 17 und 2<>,
seine breite zwischen 12 und I5ctn. die Zeilenzahl dei seifen
variiert hier von 28 6m 42. die einzelnen verse find um zu un-
fang des umfangreichsten gedichts über einige seiten hin abgesetzt,
gewöhnlich fafst die zeile 2, bei geringerer ausdehnung auch '■>. ja
seihst 4, meist durch einen schrägen strich von einander abgetrennte
verse. am Schlüsse der Zeilen p/legt ein punct zu stehn. bei
einigen nummem ist der erste buchstabe jedes verses rot gestrichelt,
öfter aber nur der jeder zeile. der dann in der regel als majuskel
erscheint. Strophenanfänge situ! bei den meisten liedern durch ein
rot gestricheltes paragraphenzeichen markiert, die Überschriften
sind entweder rot unterstrichen oder rot eingefasst.
Den inhalt des band/es bildet ein buntes gemisch von grofsen
und kleinen stücken der verschiedensten ort. auf der Vorderseite
iles 1 nicht gez. blatts stehn aufser der erwähnten nl. notiz
:; lateinische hexameter über die knechtschajt (servilium) und eine
schreibübung mit dem ersten der hexameter. die eigentliche hand-
schrift setzt sich aus folgenden stücken zusammen:
\j Thomas Anglicus1, Expositio psalterii.
I nt er den oben mitgeteilten besitzvermerk von S Jacob hat
dieselbe hand (4) geschrieben : Thomas anglicus [folg. wort ver-
wischt] psalterii, sed nou est nisi usque ad xxwu psalmum.
Auf dem oberen rande von bl. lr hat sie vermerkt:
Quere post 2. folium expositio Dem psalierii.
Beginn des textes (einleitung) von hand 1 bl. lr:
Nota quoniam homo non viilet viam per quam debei redire
qua vix superveuiens viam aperit . . .
2 ) Sermon es vari i. (zweispaltig.)
Auf. bl. 82r : Sermo de purificatioue beale marie virginis.
[zugefügt von hand 4:] Et plures alii sermones. teuet xxu folia.
Luce ii Cum inducereot puenim ihesum parentes eius et t'acerent
secuudum consuetudinem leiiis . . .
3) Expositio quaedam supra totam bibliam
Anf. bl. 104*: [Überschrift von hand 4 wie angeführt.]
DE prologo in geoesi q Prologus est proloqutio . . .
1 = Thomas Jorsüu {de Jort) oder ThWalleruis {Waleyt\\ vgl.
Dictionary uf nat. biography s. >•. Joyz h. WaUensit.
11"
164
BÖMER
4) Versus Egidii de urinis. mit kurzen randbemerkungen
und angehängter gfosse zu den ersten 100 »o.1. (verse abgesetzt.)
An f. bl. 126 r : [Überschrift von hand 4 wie angeführt.]
lciiur urina quoniam sit reoibus una . . .
Auf. der glosse bl. 130y [= xlix]. [Überschrift von hand 4]:
glossa super versibus egidii de urinis usque ad C. versum.
]On intellecti nulla est curatio morbi propositio est anti-
ciaudiani . . .
5) De grammatica.
Anf. bl. lix1 : De gramatica tenet sex lolia.
Orthograpbia est una pars principalis gramatiche . . .
6) Di versa medicamina. (zweispaltig.)
Anf. bl. Lxvra : Diversa medicamina
Si hu mores fervidi habundaul . . .
7) Expositio passionis Ihesu Christi. Item sermo
in adventu domini. Item expositio epistolae dominica
in passione. Item epistolae in ramis palmarum. Item
expositio epistolae in die sanctae pascae. (zweispaltig.)
Anf. Lxvnra : [Überschrift von hand 4, wie angeführt.]
principes litus et vespasianus . . .
8) Quaedam de regimine nominalivi et genitivi.
Anf. lxxix1 : [Überschrift von hand 4, wie angeführt.]
Videamus quomodo una dictio regitur ab alia . . .
9) Godefridus de Tenis-. (unvollständig.)
V. 1 — 14 mit interlinearglossen. zu an fang und ende des
sliicks am rande commenlar in kleinerer schrift, von derselben hand.
(verse abgesetzt.)
Anf. Lxxxr [Überschrift von hand 4]: Godefridus de teuis
sed non est completus.
Clirisle regis qui nos in nie sensus rege quinos.
10) Lebensregeln in versen. (zweispaltig, verse abgesetzt.)
Anf. Lxxxira;
Dogmala legitima vir mente sagax legit yma.
48 verse.
1 vgl. zb. Schum Beschreib, verz. der A m ploni anischen hss.-sammiung
zu Erfurt (1837), fol. nr 238 (1Ü) //. od. nr 62b (9); zu den glossen :
Verz. der tat. h$s. d. kgl. bibl. zu Berlin H nr 907 (2).
2 = Godefridus de At/ierüs, Carmen cui Omne punctum inscribilur.
vgl. Schum, qu. nr 49 (2i.
HERDRINGER VAGANTENLIKDKIISA.MMU X. 165
II) Cisioja » us, mit interlinearglossen.
Auf. i.xxxi'1':
circum ianui phaoia a?a li i
cisio ianus epi. s. vendicat oct. feli marcel
2 1 verse.
1 2) S chül errege In. [dreispaltig ; verse abgesetzt. )
\n/. i\wiy'1 [Überschrift von hand -\\: Rigmata.
Armes lili peclora doclrinarum iculis
1 1 1 oierxeilige ttrophen.
13.) Catonis Disticha in rythmische verse umgesetzt.
{dreispaltig; verse abgesetzt.)
An f. i.xxxiiv : llic iocipit chalo rigmale dalus
Ciini animadverterem quam plurimos errare.
130 rierzeilige Strophen.
1 h Hymnus auf S jV icolaus.
Vgl. Chevalier Repertorium hymnologicum i 254.
(bl. i.xxxvv vierspaltiij : verse abgesetzt.)
Auf. ixxxvva: de sancto oicholao
De pns miraculis . . .
1 1 Strophen.
15) Hymnus auf S Katharina.
Vgl. Chevalier Rep. hymn. u 15t>.
(verse abgesetzt.)
Auf. i.xxxvvl' [Überschrift von hand 1]: Item de saocta Kaiherina
Nove laudis studio . . .
S Strophen.
16) Rigmata de figuris grammaticae. (verse abgesetzt.)
Anf. lxxxvvc : [Überschrift von hand 4, wie angeführt.]
Methaplasmus dicitur liec prima flgura
108 verse.
17) De f leubot homiaK (verse abgesetzt. |
Anf. i.xxxvir; De fleunolhomia
Lumina clarilicat sincerat tleubolhomia.
44 verse.
IS) De septem horis canonicis.
Anf. lxxxvii1 ; De septem horis Canonicis
i Epties in die laudem dixi tibi . . .
* = ftebutomia i.e. venae seclione.
166 BÖMER
19) De quibusdam dictionibns utrum supra paennlti-
mam aut siipra antepaenultima m principalem accen-
tum debeant habere.
Anf. lxlviii1 : [Überschrift von hand 4, wie angeführt.)
Sapientis est desidie non succumbere marcessenti . . .
2<>) De monacho infortunato.
Auf. cir : De Monacho iulorlunato
De cuiusdam clausiralis vita et moribus fratres Karissimi
paiumper disserere cupiens . . .
(21-24.27— 38) Vagantenlieder, 1 teil, (nr 1—4. 5-15.)
Von 2 prosastücken (25. 26) unterbrochen.
21 (1). De vestium transformatione.
{In den ersten 10 Zeilen keine bestimmte versverteilung ; von
z. 11 an 3 verse in der zeile; zeilenanf. in rot gestr. majuskeln.)
Anf. eil* : De vestium transformatione.
q In nova fer[!j animus mutatas dicere formas Corpora.
dij ceptis | uam vos mutastis et illas
aspirate meis. Ego dixi dij estis | que dicenda sunt in festis,
quare prelermitterem?
78 Zeilen.
22 (2). Comoedia goliardorum.
(verse nicht abges.; strophenanf. rot gestr.)
Anf. ciur r : Comedia goliardorum.
Talis versus facio quäle viuum bibo | nicbil possum lacere
nisi sumpto cibo | nichil valet penitus.
7 zeilen.
23 (3). lnvectio contra sacerdotes.
(4 verse in d. z.; zeilenanf. rot gestr.)
Anf. cuiir : lnvectio contra sacerdotes.
q Sacerdotes mementote | nichil maius sacerdote | qui dotatus
sacra dote | dei servit et devote.
14 zeilen.
24 (4). lnvectio contra praelatos.
(2 verse in d. z.; zeilenanf. rot gestr.; vor jed. str. para-
graphenzeichen.)
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLl NG
Anf. «im * : q luveclio contra prelatos.
q Estuaus iotriusecus ir<« vehemeoli m amaritudine loquar
mee meoli.
Hier zunächst <i zeilen,
Daruntei : Kequire lale sign um io Polio sequeute : • s. stück 2
25J Oratio Matnelii* archiepiscopi Rothomagensit ail
b ea ta in v ii g i » t m.
Anf. ciiii T : Oratio mamelij [1] archiepiscopi rothomageusis
ad bealam virgioem mariam.
Siogularis meriti sola sine exemplo | mater t-t virgo sancta
maria . . .
26) Virtutes speculi ardentis facti ex pura materia
Lnnae et Met c u r i i.
Auf. r.v* : Incipiuot virtutes >|)«'culi ardentis . . .
27 (Forts, von 24 C4)).
Auf. cvT;q Ail lerrorem omnium verum locuturus | nichil
esl quod limeara valde sum securus.
Noch l'.t zeilen.
28 (ö). Tractatus de partu beatae virginis.
(3 verse in <i. z.; zeilenanf. rot gestr.)
Auf. iv' : q Tractatus de partu beate virginis
q Graluletur nmnis muodus | »•( festioet »><e muudus | ab
immundo crimine.
28 zeilen.
2'.» ((*>). Principium magistrale.
(3 verse in d. z.; zeilenanf. rot gestr.)
Anf. cvir : q Priocipium magistrale
q l»»>ctur ave flos docturum | preces audi puerorum tibi
supplicantinm.
20 zeilen.
3<> (7j. Rhythmus goliardorum.
(2 verse in d.z.; zeilenanf. rot gestr.; vor jed. str. par.-z.)
Anf. cviT : q Ritmus goliardorum
q Tempus acceplabile tempus est salutis | tempus est excu-
tere jugum servitutis.
26 zeilen.
1 wut statt Maurilii, lo55 — 67.
168
BUMEK
31 (S). Evangelium de illo qui incidit in latrones.
(2 verse in d. z.; zeilenanf. rot gestr.; vor jed. str. par.-z.)
An/. cviir : q Ewangelium de illo, qui incidit in latrones
q Lettin sancti ewangelii secundum lucam | ut vice pres-
bileri nescientes ducam.
40 zeilen.
32 (9). Altercatio vini et cerevisiae.
(2 verse in d. z. ; zeilenanf. rot. gestr. ; vor jed. str. par.-z.)
An f. cvuv : q Altercalio vini et cervisie
q Lmlens ludis miscebo seria | ne l'atiseant mentes per ledia.
31 zeilen.
33 (10). Principium magistrale.
(2 verse in d. z. ; auf. jed. v. rot geslr.; vor jed. str. par.-z.)
An f. c v 1 1 1 r : q Principium magistrale.
q Summe »lator munerum dominans in celo | ad le salus
pauperum tumidus anhelo.
4(3 zeilen.
34 (11). Castigatio presbyterorum.
(2 verse in d. z.; an f. jed. v. rot gestr.; vor. jed. str. par.-z.)
An f. ux1 : Castigatio presbiterorum.
q Viri beatissimi sacerdoles dej piecones altissimi lu-
cerue die].
34 zeilen.
35 (12). Versus Primatis contra praelalos et clericos.
(2 yer.se in d. z.; an f. jed. v. rot gestr.)
An f. cix¥ : q Versus primatis contra prelalos et clericos.
q Cur ultra studeam probus esse probusque videri. Aul
inier socios i'amam cum laude mereri.
56 zeilen.
36 (13). De victoria Parmensi.
(2 verse in d. z. ; auf. jed. v. rot gestr. ; vor jed. str. par.-z.)
An f. cxv : De victoria parmensi.
q Cum ad verum veutuin est veros per rumores | papa paler
dominum laudes et bonores
70 zeilen.
37 (14). Conquestio Primatis expulsi de domo lepro-
s o r n m.
(meistens 3 verse in d. z.; zeilenanf. rot gestr.; vor jed. str. par.-z.)
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMU NG 169
Auf. cxi" : Conquestio primaria expulai de domo leproaorum.
q Dives eram el dilectua | Inter parea preelectua | i lo
curvat me seoeclua |
15 teilen.
38 (15). Petitio Primatis porrecta papae pro beneficio
obtinen do.
(4 oder -\ verse in d. s.; xeilenanf. rot geslr.; vor fedet
str. par.'Z.)
\nf. i \n r : Petitio primatis porrecta pnp«; pro beneficio ob-
tinendo.
q Tanto viro locuturi sludeamus esse puri sed el loqiii
sobrie. Carinii decet veoerari.
56 Zeilen.
!'.») Hymnus : Dulcis Jesu memoria [gew.: Jesu dulcis
memoria |.
Vgl. Chevalier Repertorium hymnologicum i 294.
Auf. cxm1 : q De booilate «lei [zugeschr. von band 4 :J est
melodia sancii Beroardi sed qod est Im- compleia
q Dulcis ibesu memoria . . .
6 Zeilen.
Jih Allerlei kurze med icin ische rat schlage, recepte etc.
Auf. cxm1 : q l>*' regimine sanitatis.
q All regendum sanitalem corporis scieodura quod «liyestio
per desiderium mullura iuvatur . . .
62 zeilen. (forts. : nr 49.)
41 — 45) Vagantenlleder. 2 teil (nr 10— 20).
41 (16). Apocalypsis Goliar dorum.
a) Die 30 ersten Strophen des gedicktes.
dreispaltig; jeder vers abgesetzt; keine rote strichelung. die 6 ersten
und in letzten der 30 Strophen in einer der bücherschrift sich
nähernden cursive.)
Anf. cxiui™ : Apocalipsis Galiardorum [1]
A Tauro torriila lampade cinlhii
1*20 verse.
■ \iiii v leer.
I>) das ganze gedieht.
(bl. cxv- : dreispaltig; cxv*, cxvi" : zweispaltig, hier die ein-
zelnen verse abgesetzt. — cxui" : einspaltig. 2 verse in der zeile.
I7i)
130MEK
die 33 ersten slrophen wie anfang und ende von a) in einer aer
bücherschrifl nahe kommenden cursive. — zeilenanf. rot gestr.,
vor jeder str. par.-z.)
Auf. cxvra : In nomine domiui nostri ibesu christi amen.
A Tauro torrida lampade cinthii
108 Strophen.
42 (17). Principium magistrale.
(2 verse in d. z.; cxviur die anf. der zeilen, cx\myf. die
anf. der verse rot gestr. ; vor jed. str. par.-z.)
Anf. cxviiir:q Principium magistrale
cj Cunctipotens genitor princeps maiestatis | occultorum cog-
nitor ime deitatis.
70 zeilen.
43 (18). De transfretantibus.
(2 verse in d. z.; zeilenanf. rot gestr.; vor jed. str. par.-z.)
Anf. cxixT: cj De transfretantibus.
cj Amore summj judicis crucem debemus tollere | atque rerum
opificis uomine derelinquere.
16 zeilen.
44 (19). Comoedia de adventu Antichristi.
(2 verse in d. z.; zeilenanf. rot gestr.; vor jed. str. par.-z.)
Anf. cxix" : q Comedia de adventu anticristi.
c) Dum contemplor animo seculi tenorem reproborum
gaudia proborum merorem.
54 zeilen.
45 (20). Comoedia magistralis redarguens vitia.
(2 verse in d. z.; anf. der verse rot gestr.; vor Jed. str. par.-z.)
Anf. cxxv : q Comedia magistralis redarguens vitia.
q Elicouis rivulo modice respersus | vereor ne pondere
sim verborum pressus.
60 zeilen.
46) Die unter Alkuins nanien gelinden rechenrütsel
(Propositiones ad acuendos juvenes).
(Weichen vom dem druck in Alcuini Opera ed. Frobenius ii,
440 ff sowol in der reihenfolge der stücke als auch in einzel-
heiten ab.)
HERDRINGER VAGANTENL1EDERSAMMLI NG 171
Im/", cxxii [übenchr. von hand 1 : aduinaliooes [/] per mo-
iliiiu Imli.
q Questio <lt* limace.
q Limax fuil ab hirundioe invilalus ad praodium . . .
17 *> /'/ 0 ji n s 1 1 io n
17.
\n/. i \x\ii :
q Propositio ad inveuieodum quanlum quis proposueril
aoimo mim se velle habere.
q Assumatur numerus quilibet at Lriplicetur . . .
39 zeih' n.
18.
Auf. cxxviii' : lit'in aliter.
Quomodo divioandum sil qua feria septimane quilibet homo
rem quamlibet fecisset.
12 Zeilen.
üxxviu' oben ist noch eine Quaestio von 3 Zeilen nachgeholt.
19) Forts, der in edici ni sehen ratschlage, stück 40.
Anf. cxwiii :
q Albertus. Qui habueril dolorem deolium et posuerit dentem
leporis io loco doloris auferet dolorem . . .
5<») Belehrung über heilkraut er, heilsame getränke etc.
Anf. cxxx' ; De Menta.
Meuta est calida et sicca . . .
51) Oratio St. Augustini.
Anf. cxxxn1 : Oratio beati augustini. quam scripsit dietaute
angelo.
q Domioe deus omnipotens qui trinus et uinis . . .
18 zeilen.
■ wxiii leer.
52) Gesundheitsregeln in versen.
Anf. cxxxiv' : Si vioum rubrum oimium quaudoque bibatui
4S zeilen.
53) Regt tuen sanitalis. Das bekannte, häufig gedruckte lehr-
gedicht der schule von Salerno.
Auf. cxxxvr [überschr. von hand 4]:
De regimine et conservalione sauitatis jdures versus
172
BÖMER
Beginn des texies:
Si vis incolumem si vis te reddere sanum . . .
cxlv — vii ausgeschnitten.
~)A\ Disputatio inter daemones et genus humanuni.
An f. cxLvmr [unten auf dem rand des blattes von hand 4j :
Disputatio inter demones et genus humanuni.
Beginn des texies:
NUstis karissimi qualiter salhanas subiectus viscera lüde
procurnvit . . .
55) Erzählung von einem Verehrer der Jungfrau
M aria.
Anf. cliv : Relatum fuit aurelianis a quodam fratre in die
purificationis beatissime virginis marie quod quidam fuit sedulus
in servicio beate virginis peccalor lamen . . .
28 zeilen.
56) Brief des evangelisten Lukas an Galenus mit ein-
leitung.
Anf. clit : Galienus summus medicus petiit a sancto luca ewan-
gelista. quatenus inluitu pietatis et amore summe divinitatis totius
corporis et anime sanitatem in epistola brevissima ei scribere
non dedignaretur . . .
13 zeilen.
57) Bemerkenswerte ausspräche von Augustinus,
Sokrates, Heraklit, Pythagoras uaa.
Anf. cur : Augustinus. Ebrittas aufert memoriam . . .
54 zeilen.
5S) De natura apium.
Anf. cliiv : Apes unitissima quedam volatilia sunt. . .
22 zeilen.
59) De atomis.
Anf. cLiir [überschr. von hand 4] : De athomis
Athomorum genera sunt quinque . . .
7 zeilen.
60) Ausspräche von Augustinus.
Dicit tibi cristus. Da mihi
ex eo quod dedi tibi . . .
8 zeilen.
Anf. clih
Augustinus ad avarum.
HERDRINGER VAGANTEN LIED ERSAMMLI NG 17:;
61/2). Vadu mori. '1 gedichte in verschiedenen netren
61.
Auf. i i.in" : Vado mori dives | aurum vel copia rerum
(17 Zeilen.
62.
.1/'/. ei in : Sequilar de eodem ;ili;i Bpecies metri.
Vado mori | 1 1 ii. Hur'' cedo i ecedo
l l teilen.
63) De avaro.
An/. cLin,b : De avaro. fbrluna avaro.
Pone modum | pooaro | pele quid vi- . . .
4 Zeilen.
CLilii ' leer.
6 1) Brief des papstes Pins n medicin. inhalts. in nd.
übersetz ung.
In/, cliiii' : Dil eeu epislel des paus pius ghenoeml « 1 i * -
iwt-ili' |im> medecyu iheglieu der.... unleserliches wort.
Unterzeichnet : Ini iaer ons heren duseot vierhonderl enn xlvj
Amen '.
clv1 ii. i i.\-r leer.
* i.\ - ton späterer band kurze lateinische notizen.
Misse saneli Gregorii
Di* Siincla liinitale ii]
9 Zeilen.
Die Vagantenliede. / s " //' m I u n <j .
Von den 20 in der beschriebenen hs. vereinigten vaganlen-
liedern sind (.l meines wissens bislang noch nicht gedruckt: nr 1.
4. 6. & — 10. 13. 17. 1^. der ausdruck vagantenlieder ist hier im
weitesten sinne zu verstehen, insofern als einige der stücke zwai
sicher nicht aus dem kreise der fahi enden hervorgegangen sein werden,
aber ganz im tone der vagantenpoesie gedichtet sind und deshalb
auch in der vorliegenden Sammlung mitten zwischen eckten Vertretern
dieses litteraturzweiges platz gefunden haben, zwei der ungedruckten
gedichte, nr 13 und IS, beziehen sich auf historische ereignisse und
1 Aeneas Siloiut bestieg 145*5 den päpstlichen stuhl, da er hier
schon papst Pius li genannt wird, fällt die kaum lesbare, lliich
niederschrift des sli/ckes nach 14ö->.
174 HUMER
lassen sich zeitlich ziemlich genau filieren, nr 13 hesinyt den
siey der Stadt Parma über das belayerunysheer kaiser Friedrichs u
im jähre 1248 und ist offenbar kurz nach der glänzenden waffen-
tat gedichtet, nr 18 ist ein werbelied für den unglücklichen kr euz-
zug des französischen königs Ludwig des Heiligen, der gleichfalls
124S unternommen wurde, die beiden gedichte gehören also schon
der zeit des niederganges der vagantenpoesie an. als ein späteres
erzeugnis verrät sich durch die aufser gewöhnlich grofse menge ein-
gemischter nationalsprachlicher Sätze und Satzteile vielleicht auch nr l,
eine klage über den geiz der reichen, der sich in mannigfaltigen Ver-
änderungen aller kleidunysstücke offenbare, die heimatliche spräche
des dichters ist die französische, toie bei ihm die form, so weist
bei dem Verfasser des krenzzugsliedes der inhalt seines sanges nach
Frankreich, drei stücke, nr 6, 10 n. 17, sind Principia magistralia.
Principium hiefs ein feierlicher act, der auf der Universität Paris
zur erlangung der doctorwürde im gebrauch war. unsere principia
haben wir uns als vortrage von magister-candidaten zu denken,
bei nr 10 u. 17 tritt dieser Charakter ganz deutlich hervor, in
10 entwickelt der dichter die grnndsätze, nach denen er das magister-
amt zu verwalten gedenkt, während er in 17 erzählt, wie er dazu
gekommen ist, sich um die würde zu bewerben, beide neulinge
berufen sich auf Weisungen, die ihnen in Visionen zuteil geworden
sind, in nr 6 ist von dem ursprünglichen charakler des principium
nichts mehr zu bemerken, das wort führt hier gar nicht der magist er
selbst, sondern schüler eines lehrers, die urlaub für das bevor-
stehnde weihnachtsfest begehren. nr 8 ist theologischer natur :
die versißcierung eines beliebten evangelienlextes. nr 9 gehört in
die während des mittelalters besonders beliebte und auch von den
vaganten eifrig gepflegte gattung der Wettstreite, hier sind es bier
und wein, die mit einander concurrieren. nr 4 endlich ist dem
gegenstände gewidmet, mit dem sich fast sämtliche bereits gedruckten
lieder der Herdringer sammhing befassen : der Verderbnis der weit,
die sich, wie in einem stücke ausgeführt wird, in dem tief stände
der sitten als reif für den Antichrist erweise, die vaganten fassten
natürlich zunächst bei den Verhältnissen an, die sie aus eigener
er fahrung am genausten kannten : den kirchlichen, die demoralisation
des clerns mit all ihren gro/sen und kleinen charakteristischen
Merkzeichen ist der mütelpunct ihrer invectiven. sie haben das
thema in den mannigfaltigsten Variationen behandelt, ohne aber
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLl NG 175
jemals irgend einer lehre oder einriehtung ihrer kirehe zu nahe
irrten, die kritik, zu der sie sich als sachkundige Vertreter dei Offent-
lichen meinung berufen fühlten, galt immer nur unwürdigen \
sonen bezw. classen von personen, dem papst und der römischen
eurie, prälaten, manchen und priestern, niemals aber der sache,
die ihnen heilig war. in die nulluni/ dieser satirischen gedichte
gehören nicht weniger als 10 der Herdringer handschrift, aufsei der
erwähnten nr 1 : 3. 7. 11. 12. 14—16. 19. i<>. weil die klagen,
welche im 12 und 1". jh. erhöhen waren, auch im II und 1 .">
jh. noch ihre berechtigung hatten, wurden die wirkungsvollen
stücke, als die vaganten seihst längst nicht mehr durch die
lande ziehend ihre warnende stimme erhohen, noch uniua widei
abgeschrieben und verbreitet, jetzt aber meistens fern dem getriebe
dei weit in einsamer klosterzelle. so hat sie denn muh dei Lüttichei
henedictinermünch seiner bunten anthologie einverleiht. solche
sauren wurden besonders gern an den namen des Schutzheiligen
der vaganten, des seiner bedeutung nach vielumstrittenen 'Colins
geknüpft, als dessen jünger die fahrenden selbst sich 'Goli-
arden' miauten. zwei dei Herdringer gedichte führen letztere
collectivbezeichnung, während sie in anderen Handschriften untei
dem namen des 'Golias' geh», meistens mit dem zusatz ponlit'ex
oder episcopus : nr 7 (Tempus acceptabile) überschnellen -. Kit-
mus goliardorum und nr 16 (A tauro torrida) betitelt : Apo-
calipsis goliardorum. ein gedieht trägt im IIa dringer codex diesen
namen, das keinesicegs satirischer natur ist, vielmehr die wunder-
bare kraft des weins besingt, ein ausschnitt aus der berühmten
'Generalbeichte', nr 2 : Comedia goliardorum (Tales versus facio).
tnnklieder finden sich aufser diesem und dem rangstreite zwischen
hier und wein sonst nicht in der handschrift. minnelieder fehlen
■tanz, der manch, dem wir die stücke verdanken, hat eben mn
solche aufgezeichnet, die für ihn und seine milbrüder in ihrem
etlichen stunde passend erschienen, das trifft auch auf das au
5 stelle stehende weihnachtslied zu. woher der schreibet- seine anlüge
hatte, darüber sind natürlich nur Vermutungen möglich, da die
lütticher gegend viel von den fahrenden aufgesucht worden ist,
so viel, dass die geistlichen 12S7 durch ein synodalstatut dam,
gewarnt werden musten, das leben der Goliarden mitzumachen
(vgl. Giesebrecht in der Allg. monalschrift. IS53, 33 j, ist es seht
wahrscheinlich, dass dort damals auch die lieder der vaganten auf-
176 BÖMEK
gezeichnet sind, aus einer Lütticher hs. hat ja auch Mone (An-
zeiger v [1836] 447) zwei lateinische minnelieder mitgeteilt.
Die meisten der bereits bekannten stücke haben schon wider-
holte druck legung erfahren, acht von ihnen sind von Wright nach
englischen hss. veröffentlicht , sechs von Haureau , vier von
Müldener und eines von Fierville nach Pariser vorlagen, eines
endlich von J Grimm nach einer Brüsseler, von Schindler nach
der Münchener und von Werner nach einer Züricher hs. unter
vergleichung von zwei valicanischen. in der Züricher ist außer-
dem auch noch der an fang einer anderen nummer überliefert.
Haureau stand in einem falle neben den Parisern gleichfalls ein
vaticanischer codex von hohem alter zur Verfügung, mehrere der
gedickte sind auch in den Sammlungen von Flacius lllyricus, Wolf und
Eccard, eines bei Leyser und ein anderes in einer der Du Meril-
schen yublicationen gedruckt.
Das Herdringer manuscript bestätigt die alte erfahrung, die
noch jedesmal nach dem funde einer vagantenliederhandschrift
gemacht xcorden ist : dass bei diesem beweglichen kleingute der litte-
ratur jede neu entdeckte aufzeichnung eines Stückes geioissermalsen
eine neue recension desselben repräsentiert, sicher nur bei wenigen
schriftstellerischen erzeugnissen hat die mit- und nachweit so xoenig
fremdes eigenlum respecliert, icie bei diesen gedickten, die größten-
teils ohne den namen ihres Urhebers als herrenloses out im kreise
der fahrenden umliefen, gleichwie die Volkslieder unter der grofsen
nii'nge des volkes. iveit. bald keine)- mehr wüste, icem ein stück
angehörte und in welcher fassung es von ihm ausgegangen war,
fühlten vortragende, Schreiber und wer sonst die lieder verbreitete,
sich berechtigt, mit den texten nach belieben zu schallen, dh. nicht
nur wenn eine stelle aus irgend einem gründe einer änderung
bedurfte, bessernde hatid atizulegen, sondern auch ganz einwand-
freie worle, ausdrücke und salze mit anderen zu vertauschen, die
mehr nach ihrem geschmacke waren, bei besonders beliebten stücken
ligt eine fülle von Varianten vor, und wer vor die aufgäbe gestellt
ist, zu entscheiden, welches die ursprüngliche lesart gewesen, wird
öfter vergebens zu ermitteln versuchen als zu einem sicheren
lesultate kommen.
H — so soll die Herdringer niederschrift fortan bezeichnet
werden — zeigt mit keiner der bislang ausgenutzten hss., soweit
die drucke und ihr apparat eine controlle gestalten, eine besonders
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLI NG 177
mihi- verwantschaft. wol scheint sie sich das eine oder </»/*''
nuil cm •paar Strophen hindurch einer bestimmten von unseren vor-
lagen anzuschliefsen, aber gleich darauf weicht sie von dieser toi
ab und stimmt m/t einer anderen gegen die erste überein odei
ganz eigene woge, das gilt sowol im grofsen von der auslassung
und zufügung ganzei Strophen und ihm anordnung, wie im kleinen
von der Stellung der reis? und der gestaltung des textet im einseh
Der wert der Überlieferung von II ist bei den einzelnen
dichten ein ganx verschiedener, ihr Schreiber dürfte dafür kaum
verantwortlich zu machen sein, denn es ist nicht einzusehen, wes-
halb er hier völlig oder nahezu correct abgeschrieben und dort
auf schritt und tritt gefehlt Indien sollte, offenbar ist die Quali-
tät der vorläge entscheidend gewesen, bei dem einen stücke nur
sie ijut und die Berdringer abschrift ermöglicht, irrtümer unsere)
bisherigen Überlieferung zu corrigieren, bei dem andern wider sind
fehlerlm/te oder minderwertige lesarten von II nach unseren alten
texten zu berichtigen.
Zu einer durchgehende sicheren feststellung des urspünglichen
textes dei gedickte, soweit sie nach dem oben ausgeführten über-
haupt möglieh, ist natürlich auch nach dun j unde von II die zeit
noch nicht gekommen, dazu müste das handschriftenmaterial noch
weit mehr vervollständigt werden, höchst bedauerlich ist aufser-
dem, dass Haureau nicht die lesarten jeder einzelnen von ihm ein-
gesehenen handschrift verzeichnet, sondern nur auf grund einer
anzahl von aufzeichnungen einen nicht controllierbaren texl recon-
slruiert hat. bei neueren systematischen nachforschungen nach
handschriftlichem material . vor allen in den Übrigen bibliotheken
Frankreichs, stünde zu hoffen, dass auch noch altere nieder-
schriflen zu tage kommen würden, a/s uns jetzt zu yebote steint,
die älteste der Wriyhtschen englischen handschriften ist erst in der
zweiten hülfle des 13 jahrh. heryestellt und die Pariser gehören
fast sämtlich dem 14 und 15 jahrh. an, sie sind zum grofsen
teil noch jünyer als II. jedesfalls liyt zwischen der entstehung
der yedichte und der ältesten uns bis jetzt bekannten copie eine
yanz beträchtliche spanne zeit, welche an den Heilem nicht sinn-
los vorübergegangen ist. der von Werner benutzte Züricher co>le.r
i eicht zwar l-is in das ende des 12 Jahrhunderts zurück, aber bei
dem yedichte, dessen an fang in ihm überliefert ist, entspricht die
gute des textes keineswegs dem alter, und bei dem anderen handelt
Z. F. l>. A. XL1X. N. Y. XXX VII. 12
178 BÜMEK
es sich nur um ein paar Strophen, der Züricher hajulschrift
kommt die von Haureau für eines der stücke benutzte vaticanische
au alter am nächsten; sie ist gleichfalls am ende des 12 oder
doch sicher am an fang des 13 jahrh. geschrieben, deshalb ist bei
ihr ganz besonders zu bedauern, dass der herausgeber den text
nicht in einem kritischen af parate festgelegt hat.
Ich habe mich bei der aufstellung der lesarten-verzeichnisse
nicht damit begnügt, die abweichungen H.s von irgend einer unserer
ausgaben anzumerken, sondern um in jedem einzelnen falle ihr
Verhältnis zu der anderweitigen Überlieferung aufzuweisen, sind
die lesarten sämtlicher collationierten Codices und vorliegenden
ausgaben, oder, wo deren zahl au fser gewöhnlich grofs war, wenigstens
die der mafsgebenden unter ihnen zusammengestellt, beim citieren
wend ich der gleichmäfsigkeit wegen bei strophischen gedichten
stets die praktischere Zählung nach Strophen an, auch wenn unsere
gedruckten texte nur die verse numerieren, die noch gar nicht
oder nur teilweise bekannten stücke von H bring ich vollständig
zum abdruck, und zwar unter auflösung der abkürznngen und mit
modernisierter interpnnction , aber unter beibehaltung der Ortho-
graphie der vorläge mit der einzigen ausnähme, dass n und v,
i und j in der jetzt üblichen weise verwendet werden sollen.
1) De vestium transformatione.
Von den eingangsversen der Metamorphosen Ovids ausgehend
besingt der dichter die mannigfaltigen xounderbaren Verwandlungen
alter kleidungsstücke in neue : wenn die cappa schäbig geworden ist.
wird aus ihr ein mantellus zurechtgeschnitten, aus dem femininum
wird ein masculinum. das zur winterzeit über dem, mantel getragene
caputium geht über in ein sackartiges almutium. das ist bei allen
nationen so, bei Engländern, Deutschen, Franken und Normannen,
auch der manlellus erfährt wunderbare Veränderungen, wenn er
hübsch neu ist, wird er sorgfältig im schranke aufgehoben, beginnen
die haare aber spärlicher zu werden und die fäden zu reifsen, dann
wird der pelz abgetrennt und zu einem sorcotium verwendet,
der mantel selbst, der beschnittene Jude (apella), wird durch eine
gründliche wassertaufe von allem makel gereinigt und geht mit einem,
neuen pelz eine neue ehe ein. dadurch macht er sich, weil der
alte pelz noch am leben, des Verbrechens der bigamie schuldig, erst
ist aus dem haarigen Esau ein Jakob geworden, nun aus dem
HERDRINGER VAGANTEN LI EDERSA MM LI NG IT'.»
Jakoh wider ein Haan, ist der mantel b jähre alt und nicht mehi
mit anstund zii tragen, dann nehmen die klugen leule, gelehrige
schaler des Bryson, nur qusdratura circuli vor. aus dem runden
mantel machen sie ein Viereck, und es ersteht eine colta. diese geht
wliler vi ein Borcotium über, und so werden die oenoandlungs-
kunststilcke noch in mannigfacher weise fortgesetzt, dabei kommen
die wunderbarsten verwantsehaftsverhältnisse heraus, als im höchsten
grade bedauerlich bezeichnet es der dichter, dass ohne alle bedenken
ehen gebrochen würden, und er fordert deshalb zum schlnss die
mantel auf, zu ihren ersten frauen zurückzukehren, widrigenfalls
ihnen dei kiichenbesuch verboten Würde. iei nntwoi tlich sind natür-
lich die träger, der ist fluchwürdig — führt er aus — , der seine
kleider einen ehebruch begehen Uisst. abgebrauchte stücke sollen
den armen yegeben werden mich den warten Christi Dispereil el
detlit pauperibus. dem reichen, der sich keine neuen kleider an-
schafft, soll es gehen wie Dathan, den die etile verschlungen, das
ist die quintessenz des gedichts. es wird die arbeit eines armen
vaganten sein, der kleidernot am eigenen leibe erfahren hat und,
als frucht seiner gelehrten Studien, mit kirchenrechtlichen gründen
gegen das verändern und weitertragen aller kleidun gsstücke seitens
der i eichen vorzugehn vermag.
Das gedieht steht in naher beziehung zu Carmina Burana
\< iv (ed. Schindler 7 1 ff), macht schon die beiden stücken gemein-
same tendenz der Verspottung des in den kleiderverwandlungen
sich bekundenden geizes der reichen eine abhangigkeit wahrschein-
lich, so wird diese durch mehrere auffallende Übereinstimmungen
in der ausführung zur yewisheit. der kürze halber bezeichne ich
im folgenden das gedieht der Carm. Bur. mit A, das unsrige mit
B. gleich der eingang von B, das Metamorphosen-citat, ist auch
m A str. 9 angewant; während jedoch in B die verse wörtlich
citiert werden, hat der dichter von A Ovids worte umgesetzt und
mit den seinigen verschmolzen:
Forma, cum in varias
i'ormas siut mutata
vestimenta divitum
vice variata —
In nova feit animus
dicere mutata
vetera, vel potius
sint ioveterata :
12*
180 BÖMER
Wo es B str. 4 keifst, dass die Kleidungsstücke mit der Um-
wandlung ihr geschlecht änderten, wird auf das geschieh' des
Tiresias hingewiesen, dessen kennlnis der dichter gleichfalls der
leelüre Ovids (cfr. Melam. in 322 //) verdankt haben wird, der-
selbe himeeis findet sich auch A str. 12. endlich ist die androhung
der exeommnnication für alle reichen geizhülse, die Veränderungen
an den kleidem vornehmen liefsen, anstatt sich neue anzuschaffen,
beiden gedichten gemeinsam, diese drei Übereinstimmungen setzen
meines erachtens eine gewisse abhängigkeit der stücke von einander
aufser allen zwei fei. im übrigen aber gehn die beiden dichter selb-
ständig ihre eigenen wege. der von A beruft sich nur auf drei
kleidnngsstücke : cappa, pallium und iuppa. indem er die von den
beiden ersten abgeleiteten verben cappare und palliare recht glück-
lich und wirkungsvoll in der bedeutung von 'smt cappa bezw. zum
pallium machen' gebraucht und von diesen Zeitwörtern wider neue
Substantive bildet zur bezeichnung der personen, welche jene tätig-
keit vornehmen, deutet er die Verwandlungen nur in aller kürze
an. B exemplificiert auf eine größere anzahl von kleidern und
veranschaulicht auch die art und weise, wie die mannigfaltigen
Veränderungen vor sich gehn. ein nicht unbedeutender vorzug
B.s vor A ligt in der motivierung der exeommnnication. in A
wird ein neues decret des subpriors Walter verkündet, dass keiner
sich untersteht solle, alte mäntel aufzubügeln oder mit kreide zu
färben, und dann ohne weitere begründung acht und bann ausge-
sprochen über alle, welche sich dagegen vergehn sollten, und gegen die
recappaiores, capparum veterum repalliatores et omnes huiusmorli
reciprocatoies. ganz anders würkt das anathema in B. hier wird
str. 33 unter glücklicher fortführung der früher begonnenen per-
sonification der kleider diesen selbst die kirche verboten, und zwar
weil sie sich durch den ehebruch eines Verbrechens schuldig gemacht,
für welches nach canonischem recht die schwerste der kirchenstrafen
z%i gewärtigen war. natürlich wird hernach auch über die verant-
wortlichen träger der kleider, deren geiz an ihrem ganzen sünden-
leben die schuld trage, der bannslrahl herabgerufen, wir dürfen
annehmen, dass die einfachere fassung von A die ältere ist, die den
grnndgedanken angegeben hat, welcher dann in B eine geschicktere,
freilich auch etwas künstlichere ausführung gefunden hat. —
Von dem vergleiche des pelzgefütterten und pelzberaubten
mantels mit Esau und Jakob (str. 17, 2j ist auch in einem von
EIERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLI XG 181
Wright (The laiin poems commonly attributed to Walte) Ma\
London 1841, S5) mitgeteilten Epigramms de mantello .1 ponlifice
dato gebrauch gemacht, ein knauseriger pontifex hat dem dichter
bei bitterer kälte einen manlellus sine pluma gegeben, der neue
besitzet redet den mantel an und bittet ihn, regen und stürme fern"
zuhalten, der mantel erwidert, das würde ei gerne tun, aber leider
hulte er weiter pilu* noch vellus, ei fei ein Jakob, kein Esau. —
zur bedeutung des namens Berodes {str. 'itij ist Rabanus Maurus,
De 11 mm so Mii/ne Patrologia ser. hat. 111, sp. 83) zu >
gleichen (Herodes ioterpretalur pellicius etr.). die in den latei-
nischen text eingemischten französischen Wörter und Sätze, welche
in einigen Strophen so reichlich verwendet sind, dass das latei-
nische 'in ihnen zurücktritt oder gar verschwindet, lassen in dem
Verfasser einen Franzosen erkennen, das gedieht besieht uns 38
sechszeiligen Strophen, von denen jede durch eine zweimalige ver-
bindung von '2 trochäischen achtsilblem mit 1 trochäischen sieben-
silbler in der reimfolge aabccb gebildet wird, es ist die flotte form,
welche zb. auch Carm.Bur. \\\\\ (Prnpter Sion non lacebo) und
17:'. (Deoudata verilate) aufweisen, sog. 'tactwethseV (WMeyer)
hat der dichter 'Initial angewendet , doppelst/Inge Senkung 1 mal
35, 5). hiatus im inncm des veises ist Ins auf 2 Julie (1, 1
u. 27, 4 6«« französ. lorture mit folgendem appellalur) gemieden,
der reim ist einmal unrein il2, 3 U. • >), doch hat es mit dieser
stelle eine besondere bewantnis, indem französisches Ibrnicalion
auf lateinisches enniugium reimt. — bei feststellung des franz.
'es hat mich herr pro f. dr Mettlich in liebenswürdigster weise
unterstützt.
Ue v es tiu in transformatione1.
In Qova feiY animus mutatas dicere formas
Corpora; di ceptis, nam vos mutastis et illas,
Ispirate meis!
:. 1 (1 vers des Ovid-citdU) hs. fehl er haß : fer,
[' während ich die correctur obiger Zeilen lese, geht mir von Inrm
pro/. Wilhelm Mei/er in Göttingen die dankentwerte Mitteilung zu, das»
15 stmphen untres- gedieht* (1 — 4. 0—14. 17. IS) gedruckt sind l>ei Wfight
The political songs of England 1S79, 51//. indem ich die tan. dieser
fastung hier kurz nachtrage, liemerk ich, data WMeyer in einer arbeit
über die nnoni/men lieder des Primas das nach seinen ermittelungen unter
diese gehörende stück ausführlich behandeln wird, sobald er die eben
begonnene ausgäbe der von ihm aufgefundenen 'Otcforder lieder des
182
BÖMER
Cappa fit mantelli deus,
ergo potest esse reus
utriusque veneris.
6 Bruma tandem revertente
tost ont sor le mautial ente
plerique caputium.
Alioquiu disquadratur,
de quadrato rotondatur,
transil in almulium.
7 Si qui restant de morsellis
cesi panni sive pellis,
non vacant officio:
Ex hiis fiuüt manuthece,
mauutheca quidem grece
manuura positio.
8 Sic ex veste vestem forma nt
anglois, thiois, franchois, nor-
omnes generaliter; [mant,
Ut vix unus excludatur ;
ita cappa decliuatur,
sed mantellus aliter.
9 At hie primo recens anno
nova pelle, novo panno,
in archa reconditur.
Raresceule tandem pilo
iuneturarum rupto filo
pelle circumeiditur.
4, 2 hs. fehlerhaß refutaut.
Primas (des 7/iagister Hugo von Orleans)' beendigt haben wird, ich be-
daure lebhaft, dass ich auch diese mit manchen hergebrachten urteilen
aufräumende lehrreiche publication, deren erster teil kürzlich erschienen
ist (Göltinger nachrichlen 1907, 75 ff), für meine arbeit nicht mehr habe
benutzen können, an letzter (23) stelle steht unter den Oxforder Primas-
liedern unsre nr 14. eine commenlierte ausgäbe dieses der erklärung
manche schwierigkeilen bietenden gedichts wird die forlselzung von
Meyers Veröffentlichung bringen. — abweichungen des Wrighl-
schen textes : 1, 6. Transmutare. 2, 1. et st. vel. 5. Transmutatur.
6. mutatis [!]. 3, 4. Demutantur. 5. recenter. 4, 2. Prius luptam . . .
reciutant. 4. donatur. 5. sit. 6, 2. unt sur !a chape ente. 4. de-
quadratur. 5. ittundatui. 7. 1. quid lestat. 3. vacat. 9, 1. Adlnu.
4. Recedente. 6. pellis.
1 Ego dixi : dii estis;
qne diceuda sunt in festis,
quare pretermitterem ?
l)ii revera, qui potestis
in figuram nove vestis
transformare veterem!
2 Pannus receus vel novellus
fit vel cappa vel mantellus,
sed seeundum tempora.
Primum cappa, post pusillum
transformatur hec in illum:
sie mutantur corpora.
3 Anliquata decollatur,
decollata manlellatur,
sie in modum protlieos
Transformantur vestimenta,
uec recentis est inventa
lex melhamorphoseos.
4 Cum figura sexum mutant,
rupta prius clam rec/utant
primates ecclesie.
ISee donantur, res est certa,
nisi prius sint experta
form na m tyresie.
5 Cappam quidem feminini,
sed mantellum masculini
eonslat esse generis.
IIKlUim.MJKK VAGANTENLlEKKHSAM.MI.l M.
LS3
in Sic mantellus fii apella,
Chi ^ isl li dras ft la pel la
posl primum divortium;
\ priore Beparata
(um Becuodu reparata
ir.uisit im Borcoliuro.
11 QllOil delirium iliees maius?
illii'l palaro est cootra ni>,
naiii si oupsit .dien,
Cooiugium violavit,
(Uni) se novo copulavil
reclamante veleri.
12 M'est de coQCÜle ne de seone
d'espouser deus dras une
L6 S'ilh est de saie dunt l'endrois
emble,
l'eovers pur ce feit, i e moi
semble,
cooverti Bimpliciter.
Kar asseis est simple convei se,
ki ce dedeos defors enverse
por üser dupliciter.
17 l'ilis expers, usu l'raclus,
ex esau iacob factus,
quanl tuit li poilh en sunt
Inversatur vice versa [chaü,
rursus idem ex cooversa,
ex iacoli fii esau.
qu'ilh i ai loi nicalion. [penne, 18 Pars pilosa foris paret,
Peirailtuut liec decreia ? oon ; seil iutrorsus jnh> carel
sed leslalur omuis cauon
QOQ esse CODlUgium.
13 P.iiiiui> primus circumeisus,
viduatus et divisus
a sua pellicula
l.im experlus Judaismum
emuodalur per baptismum
a quacumque macula.
14 Circumeisus mundatusque
esi adeptus utiiusque
le^'is lestimonium.
Quem baptismus emuudavit,
cum seeuuda federavit
pelle matrimonium.
l . Bigamus est, quod amavit,
more suo bigamavit,
m se revestenl noslre amis.
Prudentis e>t et astuti
decollatis cappis uti
et maotellis bigamis.
Hi,2. Ci git li drap. 6. consortium. 11,2. Istud. -1. est \iolHlum.
5. I'uin fit novo copulalum. 12,2. Deus dras espuser ä une pene. 3. E si nus
lejuggium. 4. hoc. 5. reclamat. 13, 1. primum. 14, 5. seeundavit. 17,'}.
Quant li peil en e*t chaü. IS, 4. lamen. k'il n'i eit perle. 5. pur deserte.
veiusias abscoodita. [aperte,
Dalur landein, c'esl chose
M'ivienli por sa desserle
mantellus ypoerita.
l!) I>e laneis liec dixisse,
sed uti Dam et lecisse
ad preseos sutTiciat.
De sericis nunc dicenuuin,
nun est iir mais reliceudum,
quas ex hiis elliciuut.
20 Ut mautellus lii quinquenuis
nee videtur iam sollempni>,
diem peremptorium
nun- assiguant, ut mactetur
et maetatus trausformetur
in coopertorium.
21 Quidam ita sunt autiqui;
hei afeubler onL relenqui
in couspeclu populi, [pointe,
Willi translatent en coute
1S4
BÜMER
cnr de laine le coute l'iint
örisonis discipu/i. [pointe
22 Scibilis est, scita nundum
quadratura hec secundum
verba Aristotelis.
Modo tarnen non est ita,
est a multis enim scita,
que tunc erat scibilis. (rem,
23 Formant, quadrant manlella-
transforniantes circularem
in modum quadranguli.
Gratuleotur hec persone
invenisse cum brisone
quadraturam circuli.
24 Item quod est per se notum,
cottam vertunt in sorcotum
mutilatum primitus;
Cum manlellj«s ex irequenli
et impulsii vehementi
perforavit cubitus,
25 Arte mira translatoris
transportalur in sororis
locum soror altera.
Locus enim altercatur,
dum sinistra dexteratur,
sinistratur dextera.
26 Nunc dicendum de herode,
que diceuda sunt de Code (?):
lierodes pellicium
Sonat, idem fit pylatus
circa pannos, circa latus
sortitus calvitiuni.
27 Fit pilatus, sed pylato
ab herode mox sublalo
generatur filia,
que forture appellatur,
que sorcoto copulatur,
kar aguilh' et 61h i a.
28 Intercedit parenlela,
nest pas loiaus hom ki tel a,
nam in gradu proximo
Sunt affines contra iura,
celebratur hec iunctura
ritu nefandissimo.
29 Est sorcoti cotta mater,
f'orrature numquam pater
negalur pellicius.
Hec est uxor, hie maritus;
ergo iuris imperitus
et vir legum nescius,
30 Hui sorcotum forature
maritavit geniture:
coutra clamat regula.
Inter tales nunwjuarn talis,
quia non est maritalis,
intercedat copula.
31 Hiis sorcotis clericorum
interdico prorsus chorum
propter hoc incommodum.
Non nascantur nisi patre
ceso sive cesa matre,
quod est contra synodnm.
32 Pater primum detruncatur,
ut ex patre mox nascatur
filia manieiis.
Maler pannis decurtata
natam parit mulilala
utrobique braohiis.
21. 6. der erste buchstabe des Verses ist in der hs. verwischt, über-
geschrieben über . . . risonis : bris, in elench. [sc. Aristotelis/,- hs. disci [ver-
stiimmeU). 22, 2. übergeschrieben über quadratura : s. circuli. 22, 3.
übergeschrieben über Aristotelis : in libro predicamenlorum. 22, 5. über-
geschrieben über scita .• s. quadratura circuli. 24, 4. hs. fehlerhaft
mantella-. "Jy. 2. hs. fehlerhaft ne statt ne = nrst.J
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLI NG
18;
De mantellis mandatum do,
ad incestas qui Becundo
Iransieruol oupti
Revertaotur ad uxores
aul mandata transgressores
non in Iren I ecclesias.
:;i Je iuge par droit el par voir,
k'eglise ne <loii recivoir,
qui \ i vis uxoribus
Criminale comiserunt,
dam aecundis adheserunl
relictis prioribua.
Vestea in se iaoi mechantur,
i.-iii) .'id illas derifantur
noslre carnis vitia.
Homo mechus, vestis mecha,
quia hominis mens esl ceca,
Facil avaritia.
Vir dampnate quidem mentis,
qui de suis indumenti9
format adulterium!
Si nec crimen perhorrescit,
saltem frequens erubescal
plebis improperium.
37 Semper oo»a constal •
t'i^o numquam esl uec<
renovari vetera.
Cum boc li;«t per incestum,
nirliil magis inhonestum
quam vestis adullera.
58 Hoc mandatum do personis:
veslimentis uti bonia
relictis veteribus.
Ei deotur, iini pauper sit,
quia scriptum est : 'dispersil
et dedit pauperibus'.
39 Mo decretum ad extrema,
(juoil sii «lives analberaa,
qui lias vestes iuduit
Ouasi satus sit per sathao,
sii illius pars cum dathau,
quem tellus absorbuit.
2) Co moedia goliar darum.
Anfang : Tales versus facio, quäle vioum lulio.
Die außerordentliche beliebtheit, deren sich das glanzstück der
vagantenlitteratur, die Generalbeichte des Erzpoeten, zu erfreuen ge-
habt hat, kommt zum ausdrnck in den zahlreichen aufzeichnungen,
die ihr zuteil geworden sind, damit ist das gedieht aber auch in
einem ma/'se wie nur wenig andere willkürlichen Veränderungen
nach dem geschmacke des einzelnen ausgesetzt gewesen, der neu-
•Iruck des oft veröffentlichten Stückes bei J Weiner (Beitr. z. künde
der tat. litt, des ma.s, 2 auf!., 1905, "200//") mit dem Varianten-
apparat von 1 1 verschiedenen abschriften veranschaulicht, wie die
sangeslustigen gelehrten lenle des mittelalters mit dem Hede um-
gegangen sind, am meisten gefielen die verse, welche die freuden des
kneipenlibens und die unndeiliaren würkungen des weins besingen.
sie wurden deshalb aus dem rahmen des ganzen ausgelöst und
dosierten als besondere stücke, in dem codex Venetns SMarci
lat. cluss. \iv, nr cxxvm, aus dem J Grimm (Kl. sehr, in 7s//) v,'r"
186 BÜMER
sus primatis presbiteri mitteilt, erscheinen im ansclduss an diese
verse die Strophen 11 — 14 des Sckmellerschen textes (67/f), in
der französischen handschrift, ans der Du Meril (Poesies popul.
tat. 205) geschöpft hat, strophe 12 — 17 als selbständige stücke.
in H sind die Strophen 16, 17, 12 und 11 als 'Comedia goliar-
dorum' zu einem gedieht vereinigt, die beiden ersten Strophen
singen das lob der eigenartigen kraft, welche der wein und ein
gutes mahl den dichtem und — so hei f st es hier — propheten
zu verleihen pflegen, in dem 'Meuni est propositum' (str. 12)
wird alsdann das kneipenleben überhaupt gepriesen, uach dieser
strophe fällt die sonst voranstehende elfte nicht nur bedeutend ab,
sondern es verrät gradezu eine gedankenlosigkeit des redaclors,
nachdem die kneipe bereits gepriesen ist, noch singen zu lassen
'Ultimo [statt Terlio] capiiulo memoio tabeinani'.
L es arten von H.
Für die lesarlen-verzeichnisse von H bedien ich mich hiei
wie auch bei den folgenden gedichlen im anschluss an Werner
folgender chiffern für die hss.:
Z = hs. C 58/275 der sladlbibliolhek Zürich: sie bietet nur
die beiden ersten Strophen von H als 12 u. 13 ; Werner 200/7".
B = cod. lat. Monac. 4660 (Benediclbeuern 170); Schmeller
67/r.
P hier = bibl. nat. paris. ms. 11867; Haureau in Nolices et
Exlrails xix 2, 266/7'. Haureau hat die 3 ersten Strophen
von H auch hintereinander als str. 17 — 19, die vierte
aber an 1 1 stelle wie Schmeller.
S = hs. aus Stablo in Brüssel 2071; J Grimm Gedichte des
Mittelalters auf könig Friedrich i den Slaufer (1844),
67 ff = Kl. sehr, in 70 ff. die 4 Strophen von H stehlt
hier als 16. 17. 12 u. 11.
V = cod. Val Christ, reg. 344; nach einer für Werner ausge-
führten collalion. vgl. über die hs. Haureau aao. 231 ff.
... „ , . „_0 von Wriahl (The Latin poems com-
a — fiarleian. 9 /8
£/« == Harleian. 2851
H3 == Harleian. 3724
C = Collon. Vesp. A. xix
6'2 = Collon. Vesp. B xm
monly allribuled lo Waller Mapes
71/7) zur herslelluug seines textes
benutzt. hier die beiden ersten
Strophen von H als 18 w. 19, die
beiden leisten als 12 u. 11.
F = cod. Valic. 7260; nach einer für Werner ausgeführten
collalion.
str.l (= Schmeller 16), v. 5. valet. 6. quoi) mtf &IPEPPV
stall valeiil — quae. 7. talices m. PSV st. calicem. 2(17), 1. Nuu-
quain mihi spiritus st. Mihi niinquam spiritus. 2. prophetie st. poetrie
HERDRINGER VAGANTENL1EDERSAMMLI NG 187
(poesiae C). nach II verleiht ein gulet mahl auch die gäbe den
prophelie, nachdem ttr. I i <>n der poetischen anregung die rede ge-
wesen ist, wird hier dem essen und irini.ru eine neue kraß beigelegt,
au/ die das miranda falur im leisten verse der Strophe bezogen werden
könnte. 5. dum m. IIXS st. cum. — aula st. arce. 3 (12), 1. esl
fehlt hinter Heum. ::. vinaque sint proxima //. ut sinl vina proxima
/■'//'. nt sii viii u in perennum S, nbi vina proxima II, vinum sit ;•[>[>>•-
siiiiin Grimm, Wright (wich r1 •-//-'•'), vinum sil opposilum /. 5. el
descendanl celilus //. tunc cantabunt lelius HS, lunc occurrent cicius
t\ ii l dicant cum veneria t iibr. 7/5. decantantes canlicum Mihi
polalori st. Deus sil (sii deus FS) propitius isti (tanto /', huic CM //
H*H*SV, michi F) potatori. 4(11). 1. Ultimo st. lertio. 3. quam
ine iilln //. banc in nullo ('~ illam nullo übr. 7. pro bibulis //
pro mortuis BC*FS, pro mortuo übr.
3) Invectio contra sacerdotes.
Anf. : Sacerdotes memenlote.
Das gedieht ist von Wright Mapes 48 ff nach C1 unter dem
titel 'Goliae versus de sacerdotibus' veröffentlicht, es hat in diese)
durch zahlreiche versehen entstellten fassang 'M) Strophen, von
denen jedoch die fünfte 7 zeilige , nach II um einen fehlenden
vers vervollständigt) ebenso in zwei zu zerlegen ist wie die sechste
^ zeilige. auch in der bei Wright nur 3 verse zahlenden S Strophe
kann die fehlende zeile auf grund von 11 eingesetzt werden, im
ahrigen. ist das gedieht in II um nicht weniger als IS Strophen
gekürzt. es ist ein kühner mahnruf an die unwürdigen Ver-
treter des geistlichen Standes, sie werden an die hohe würde und
heiligkeil ihres amtes erinnert und doppelt strafwürdig für jedes
abweichen von ihrer pflicht befunden, ihr verachten der armen
(bezw. der keuschheit), ihr erkaufen des amtes, ihr weiblicher ver-
kehr, der sie wagen lässt, die hl. messe zu lesen und den leib
Christi zu segnen, nachdem sie sich eben aus den armen der buh-
lerinnen losgerissen, und andere Schandtaten mehr werden in aller
scharfe gegei /'seit, die 10 Strophe des Wrightschen lextes, die letzte.
welche C und H gemeinsam ist. führt den gedanken aus, dass
solche unreinen priest er , wenn sie es wagten vor den altar zu
treten, mit raten geschlagen zu werden verdienten, in den 20
weiteren Strophen malt Cl zunächst jene sträfliche Handlungsweise
des näheren aus, um dann noch weitere Versündigungen des priester-
lichen Standes zu brandmarken und zum schluss den geistlichen
selig zu preisen, der seinen von kälte und hunger gequälten mit-
L88 BÖMER
menschen mit nahrnng und kleidnng zu hilfe komme. H hat statt
dieser 20 Strophen nur folgende zwei mit einer erinnerung an
das wort der hJ. schrift vom unwürdigen genusse des leibes Christi
und der mahnung alsbald umzukehren und durch die beichte Ver-
gebung der schuld zu erlangen:
Nonne legis, qui indigne Ad cor ergo revertere,
edit vel tractat maligne coufitearis propere,
corpus cristi tarn insigne, deus enim remitiere
quod eterno perit igne? cupit, si velis petere!
Die abweichende form der letzten Strophe hat offenbar dem
ganzen einen marcanten abschhiss geben sollen : statt reiner trochü-
ischer achtsilbler in allen 4 versen trochäisch-daklylischer rhythmus.
2 mal (1. 3) mit dem daktylus an zweiter und 2 mal (2. 4)
an erster stelle.
Lesarten von H zu den 10 ersten Strophen
des Wrightschen textes (v. 1 — 46).
1, 4. deo servit et devote. 2, 4. este st. Estis. 3, 2. conformari,
besser zu mihi und zum sinn der stelle passend als confortari bei
Wright. 4, 1. Obedile suromo vali; hiernach Wr.s sinnloses 0 beati
summonati zu verbessern. 5,4. corde ore; Wr.s ore corde ver-
meidet den hialus. 5, 5. [vielmehr 5a, l] habilalis st. el Lentis.
nach 5,7 [5a, 3] fehlt bei Wr. der schlussvers der slr. 5a :
si bene hoc faciatis.
ö, 5. [vielmehr 6a, 1] vobis, wirkungsvoller als Wr.s nobis, da
den prieslern selbst der ausspruch der schrift bekannt sein soll.
est st. Iinec. 0, 7 [6a, 3]. est st. sil. 7, 1. Castilalis st. Miserorum.
8, 1. hie st. haee. 2 (bei Wr. fehlend): euius manus sunt
immunde 9, 3 amplexum.
10, l — 3. Scire velim, missam quare
sacrosanetum ad altare
stanti vadis immolare
Wr.: Scire vellem tarnen quare
sacrosanetum ad altare
stanli velut immolare, (?)
Wr. selbst setzt hinler den 3 fers ein /ragezeichen, seine
lesart gibt in der tat keinen sinn, vor allem fehlt das verbum zu
quare. H bringt dieses in vadis. unklar bleibt nur das stanli, es
sei denn, dass dieses im obseönen sinne gemeint ist. man vergleiche
die vorwürfe der Schamlosigkeit in der folgenden Strophe bei Wr.
4) Invectio contra praelatos.
Die beiden eingangsstrophen der Generalbeichte sind hier zur
einleitung eines neuen mahnrufes an die geistlichkeit verwendet.
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLl M.
die kid e\ ersten verse mochten die Stimmung des erbitterten diditi
so vortrefflich schildern, dass er einen besseren ausdruck füi
zu finden nicht im stände gewesen wäre, und ihn deshalb
übernähme der Strophen veranlasst haben, die folgenden teilen
jedoch, in denen er sah einem vom winde getriebenen blatte i
einem ruhelos durch die lande fließenden buche vergleicht, um
dann in der dritten Strophe zu verkünden, dass er zum /ist?
kommen sei, um zu richten aber Innre und sündet und du
ron den schufen zn sondern , trinken in diesem zusammenhange
geradezu störend, der hinweis auf die eigene unstätigkeit Lonnir
den eindruck der rede des Strafpredigers doch nur herabsetzen, die
Situation des gedicktes haben wir uns so zu denken, dass der
dichter eine festversammlung von geistlichen dazu benutzt, Urnen
ins gewissen zu reden, ähnlich wie im ersten gediente des Archi-
poeta in der Göttinger hs., an das auch die betrachtungen über
die Vergänglichkeit der weh erinnern {J Grimm Kl. sehr, in 49 ff).
diesmal sind es ihr geiz, ihr törichtes hängen an irdischen schätzen
und abermals ihn- Herzlosigkeit gegenüber den unnen, über welche
die geifsel geschwungen wird, die dritte Strophe leitet mich ein
mehr jach mit alt französischen dementen durchsetztes gedieht em,
das Wright [Aneedota literaria [1844] \'-'< f > nach einer Oxforder
hs. in sehr verderbtem zustand mitgeteilt hat. wenn s<ch mich die
tendenz dieses Stückes mit der des unsrigen deckt, so sind doch
nennenswerte Übereinstimmungen aufserhalb dei bezeichneten Strophe
nicht zu entdecken, und selbst diese weicht in der englischen hs.
darin ab, dass die eingangsworte in französischer fassung gegeben
sind : A la feste sui venue, et osten dam quare etc. str. 1 — 11
stecken auch, jedoch mit mannigfachen Variationen, in einem von
Blume tlllume-Dreves Anulecla hijmn. wxin 289 /f) veröffentlichten
gedieht als str. 1 — 6, 11 und 9; str. 4 — 9 au/'serdem auch noch
in dem stücke 'Sur le jugement dernier' bei Du Meril Poes. \>o\>.
122//' als str. 8 — 12, jedoch ist hier 12 eine irrtümliche Zu-
sammensetzung je einer hälfte von 7 und 8 im H. die letzte
strophe (12) ist wörtlich übernommen aus dem gedieht Tempus
aeceutabile, wo sie an dritter stelle steht (Wright Mapes Ö2ff',
auch in 11 als nr 7). mit ihrem offendimus [v. 1), duich
der dichter auf einmal mit einschliefst in die sünderschar, ist sie
Iner ebensowenig passend wie der gröste teil der zn anfang ent-
lehnten verse. wie im eingang des ersten Stückes dieser sammlun
190
bü.mi;r
au/ serhalb des strophengefüges Ovid-verse hergesetzt waren, so hängt
der dichter hier der nennten Strophe ein kurzes citat aus einem
cyrographum, wie er sich ausdrückt, an : es ist psalm 61, 11 di-
vitie si affluant, nolile cor apponere. vgl. unten nr 9 dieser
Sammlung str. 1 1 . der regelmä/'sige fluss der vagantenstrophe ist
an mehreren stellen unterbrochen. 2, 1 fehlt die Senkung des
2 fu/'ses, doch ligt hier sicher ein versehen in H vor (s. nuten).
4, 4 hat der 2 fufs, falls nicht mit der sonstigen Überlieferung clerus
zu lesen ist, eine zusalzsilbe. 10, 3 stört im zweiten teile der
hiatus, doch ist die lesung si ziemlich unsicher, da die hs. hier
undeutlich geschrieben ist. vielleicht ist ein anderes einsilbiges wort
dafür einzusetzen oder statt si et : etsi zu schreiben, vom tact-
wechsel ist in 8 fällen gebrauch gemacht.
Invectio contra prelatos.
1 Estuans iotrinsecus ira vehementi
in amaritudioe loquar niee menti:
factus de maleria vilis elementi
folio sum similis, de quo ludunt venti.
2 Semper est [!] vitium [!] viro sapienti
super petram pouere pedem fundamenti;
miser ego comparor fluvio labenti
sub eodem aere nunquam remanenti.
3 Ad hoc festum venio et ostendam, quare
Singulorum singulis mores explicare,
reprobare reprobos et probos probare
et edos ab ovibus veoi seggregare.
1,1. Estuans H mit der mehrzahl der hss., Aestuo C2, Aestuor
ClH3. intrinsecus H u. d. meisten, interius B. 2. loquar mee H mit
BC%H*H*H*F, loquor mee C*FPS, mee loquor Z. vilis H m. FZ, levis
CXC-H^H^H^PFS, cinis B. 4. folio sum similis H mit der mehrzahl
der hss., similis sum folio (Z'.-filio) C3H-P. 2, 1. Semper est vitium H.
abgesehen von der oben besprochenen Störung des rhylhmus, die durch
Wandlung des est in enim leicht gehoben werden könnte, gibt die lesart
auch keinen sinn; sie sagt das gegenteil vo?i dem was erwartet wird.
Cum sil michi proprium C, Cum sit modo pr. H3, Cum enim sit pr. (mit
taclwechsel) U'riglit nach //2, Cum sit enim pr. besser die übr. viro H
richtig mit dtr mehrzahl der hss., vero PS. 2. pedem H (mit petram
ponere allilterierend) sl. sedem. fundamenti // richtig mit den übrigen
gegen fiimamenti F. 3. miser // sl. stultus. fluvio H richtig m. d.
meisten, folio Z. 4. aere H mil den übr. gegen tramite B.
HERDRINGEN VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 191
4 All terrorem omoium ?eni locuturus :
oichil esl < | n <>d limeam, valde sum Becurus.
Sermo meus percutit velul »-ums durus,
(iiiniis clrrn us audial Bim p lex el matorua !
"» Puuiendi presules sunt el cardioales,
abbates el monacbi sunt symoniales;
Sacerdotes emuli, clerici veoales
coogregaotes iugiter opea temporales.
6 Quanto plus accumulant, tanto plus marcescunt,
sunt vclut ydropici, qtiorom membra crescunt ;
qui plus bibunt, sitiunt magis et arescuot:
>ic av;iri miseri ounquam requiescuat.
: Quid est avaritia nisi vilis cultus,
vaoitatum vanitas, cordium tumultus?
pereunt divitie, perit homo stultus,
miser postquam moritur, statim lii sepultus.
s In sepulcro Legitur vili tegumento,
deportatur postea miser in tormenlo;
quatitur suppliciis, ut arundo vento,
redimi non poterit anro vel argeoto.
fi Igitur apponere cor dod deberetis
in mundanis opibus, quas vos possidetis;
cuncta transitoria sunt her, que videtis,
legite cyrographum el invenietis:
divitie si affluant, oolite cor apponere.
10 Quare dum in prandio, clerici, sedelis,
hostia pauperibus claudi vos iubetis?
4, 1. veni //, Surgam Du M(rril), Bhuim). 2—4 bei Du 3/., BL in
der folge 3. 4. 2; 2. timeam /////., timeo Du M. 3. Sermo meus H mit
cod. I nravien. 374(306) cfr. die Varianten bei BL, meus sermo DuBt.,
Noster germo BL 4. clericns //, clerus Du M., Bl. 5, 1. sunt fehlt IL
2. sunt symoniales//, nigrae moniales Du JH., sanclimoniales ///. 4. iu-
giter /////., insimul Du M. 6, 2. merobra //BL, mala fehlerh. Du '/.
3. qui //, dum Du M., Cum BL et arescunt // mit cod. Varav. und Du •/.,
exarescunt Bl. 8, 2. deportatur ff, deputatur ///. 4. poterit //, prae-
valet BL vel //, nee ///. 9, l. Igitur apponere cor non deberetis //.
Ergo cor apponere magis non debetis Du M.; bei BL fehlt dieser vert,
dafür ist statt des in II angehängten psnlmeu-citats als r. 4 in die slr<>i>h<-
eingefügt ; Nihil horam proprium est, que vos tenetis. 10, 1. rlerici //.
praesules HL 2. claudi vos //, ilaudeie Bl.
192 BÖMER
pauper ciamal fortiter, si et vos siletis,
vix ei de reliquo datur, quod habetis.
11 Nunc in lectis mollibus, clerici, iacetis
cortiuis circumdati simulque lapetis ;
unde vobis uuncio : si modo gaudetis,
in i'uturo seculo kve, ve, ve!' dicetis.
12 Graviter ollendimus regem maiestalis,
sed nos indulgentia summe trinilatis
suam nobis gratiam afferendo gratis
sauet a languoribus, mundet a peccalis!
Amen.
10, 3. fortiter si et vos siletis //, vocibus admodum quietis Bl.
4. vix ei H, Cui vix Bl. 11, 1. Nunc in lectis mollibus //, Vos in torreu-
matibus Bl. 2. circumdati simulque H, et palliis, verneis Bl. 3. si
modo H, modo si ohne lactwechsel Bl. 12, 3. afferendo //, conferendo
ff'r. und H nr 7.
5) Tractatus de partu beatae virginis.
Anfang: Gratuletur omnis muudus.
Du Meril Poesies inedites (1854) 297 ff hat das stück nach
einer Pariser handschrift (P) als zweites von 3 schaler- weihnachts-
liedern veröffentlicht, von Blume ist es darnach in die reichhaltige
Sammlung von 'Cantiones scholasticae' aufgenommen (Anal. hymn.
xlv 82/") tinter Zuziehung eines collect, ms. Victorinum saec. 13.
Lesarten von H. 1, 2. esse mundus. 3, 5. salval, wie
schon Du Meril richtig stall selvat von P vermutet hat. 4. 4. Ad
iil H, audit Bl(ume), wie Du Meril bereits statt des fehlerhaften
audet von P conjicierte. 5. 6. P Usl justo carni munere. niunere
reimt jedoch nicht auf virgine (v. 3). Du Meril dachte an semine.
H richtig numine, doch bleibt das auch hier Überlieferle carni in
Ci.rnis zu bessern oder es ist mit Bl. iunclo st. iusto zu lesen.
6. 1. Riibus, wie Du Meril schon aus Hübet von P besserte.
4. Ardet rubus, richtig mit Bl. P hat stall rubus : iubel, was
sinnlos ist. Du Meril schlug rubel vor. 7, 2. mundi venit decus.
4—6 ganz abweichend : IS'atus sine semine
de maria virgine
partus liie mirabilis.
8, 5. earo nullit nuliini P. Du Meril conjicierte statt des sinnlosen
nubiui : luinini. Bl. hat richtig : Caro nubit numini, H mit Um-
stellung nubit caro numini. 6 fehlt in P u. bei Bl. ; Du Meril hat
den vers et nascilur deiias mit lactwechsel eingesetzt, Bl. : Naeettur
divinitas. es ist zu lesen mit U : nubit carni deiias. 10, 2. dignuin.
ÜERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLI NG 193
4. in te Hill., inde /': ersleres vorzuziehen. 12.6. voto flau de»
rinnlosen vice /'. Voci ///.
13. »'"/' /'.• Aures tuas aperi ;
da quod pelunl pueri
ludendi licenliam,
aostra quod infantia
inaiii laudel gratiam !
In die Strophe 1 vers tu wenig zahlt, hat Du ftfe'ril muh >. \
die seile summa cum laetitia, />'/. Pro tali licentia eingesetzt, in
Wirklichkeit fehlt der 1 vers der Strophe; er lautet nach II data
sii licenlia.
6) Principium magistrale.
ihis gedieht ist ebenso wie das vorige, mit dem es auch m der
fort)) übereinstimmt, ein schüler-weihnachtslied. es ist knaben in den
iinim! gelegt, die ihren lehrer begrüfsen und als die blute dei
docioren preisen, ihn daran erinnern, dass 'Ins weihnachtsfest vor
der türe stehe [dessen wunderbares geheimnis sie hübsch besingen),
und ebenso wie in dem vorhergehenden stärk mit der bitte schliefsen,
ihnen freizugeben, ihr ijeist. der vom vielen studieren abgespannt
sei, bedürfe der erhotung. der könig des himmels solle dem lehre)
alle seme sündtn vergeben, trenn er ihre hitto erfülle, sie versprechen
dafür reinen herzens dem feste entgegenzugehn. vgl. zn dem
thema Haureau Not. et extr. n 30 ff und vor ollem die 'Cantiones
scholasticae' bei Blume Analecta hymn, (vgl. oben nr 5). in den
hier mitgeteilten liedern finden sich zahlreiche anklänge an das
unsrige. in 2 versen (2, 3 u. S, 3) ist tactwechsel angewant.
Principium m a g i s t r a 1 e.
1 Doctor, ave, flos doctoruin, 3 Ecce, dies est propinqua,
preces auili puerorum dies felix, dies in qua
tibi supplicantium! virgo cristum peperil !
Tu facetus, tu i'aeundus, Cuius partus puellaris,
uulli par es aut seeundus, regis ortus salutaris
imniit primus omninm. vite portam aperit.
2 Sunt lionesti tibi mores, I Mundo prius desolato
semper vires, semper flores primi patris pro peccato
per eunetos scientia. venit pacis ountius.
In te virtus nulla tabet, Prodit proles virginalis
suum in te locum habet summo patri coequalis,
multiformis gralia. summi patris tilius.
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXWII. 13
194
BÖMEH
5 Verbum patris incarnatur
neque virgo violatur
propter puerperium.
Servus esse non dedignans
fuit honio se designans
nostre carnis socium.
6 Luua soli copulatur,
oeuler tanien eclypsatur
aut clefectum patitur.
Virgo parit mundo ducem,
regem celo, cecis lucem,
dum rex regum nascitur.
7 Fecundata celi rore
pretermisso partus more
virgo parit hominem.
Virgo profert ex se florem,
creatura creatorem,
lucis plenitudinem.
8 Sensus noster iam marcescit,
et in nobis refrigescit
iam fervor ingenii.
Si queratur, quis hoc fecit,
respondemus : nos affecit
labor frequens studii.
9 Quia vero nos labore
pressi sumus, in honore
iesti da licentiam !
Sic dignetur rex celorum,
exoptatam peccatorum
tibi dare veniam.
10 Regi regum occursuri
studeamus esse puri
sana conscienlia,
ut in sede maiestatis
gaudeamus cum beatis
in celesti patria ! Amen.
7) Rhythmus goliardorum.
Anfang : Tempus acceptabile, tempus est salutis.
Wir besitzen von dieser mahnung zur umkehr auf dem wege der
sünde zwei alte ausgaben, die erste von Flacius Ilfyricus Varia
doctorum piorumque virorum de corrupto ecclesiae statu poemata
([1556], neudruck 1754; nach letzterem citier ich) 145/f und
dann einen neudruck von JWolf Lectionum memorabilium et recon-
ditarum centur. xvi (1600) i 441 ff", der text des Flacius Illyricus
ligt auch der ausgäbe von Wright 'olff zu gründe, auf welche ich
mich im folgenden beziehe, der titel lautet hier : Praedicatio goliae
ad terrorem omnium.
Lesarten von H in der folge des Wrightschen textes.
Die ab weichungen der hs. H sind sehr beträchtlich, sie hat nicht
nur 6 Strophen iveniger, sondern auch Umstellungen ganzer Strophen
und einzelner verse , sowie lexl-varianlen in erheblicher zahl. H
scheint die ältere fassung zu repräsentieren, slr. 1, 2. excutere.
3. gladium als accus, graec. 2,2 u. 3 umgestellt. 3 animam.
3 u. 4 umgestellt. 4, 1. lora, was als object von reslringamus
passender ist, als das vielleicht auf einem versehen beruhende ora.
2. si qua. 3. erigamus igilur ad honesliora, als object zu erigamus
müsle aus dem folg. vers nos ergänzt werden; oder sollte erigamur
zu lesen sein .' 4. interilum. 5,1. Torte quidam rogitat; rogilat
iii;m>m.\(.KK vai.am i:\liedersahmli ng
verschrieben st. cogilat. 2. durioribus, tu castigabo bessei passend
als vilioribus. 3. et induar. 1. donec (luat mit besserem rhytitmut
als das uns Horan Epist. i 2, 12 entlehnte dum deflual amois,
♦j, 1. lies infelicissima : cur non confiteris? 1. ezpectas. craa Forle
iimi eria mit tactwechsel. 7. 1. Quidquid ergo cogitaa. 8 — I"
fehlen; 11 hat folgende fassung:
iiaie, cleriei, qui e! qualea silis '
\rl quod in iudicio dicere poteatia:
mm eril hie aliquis locus in digestis,
idera ent dominus auetor, iudex, ii'sti>.
Gegen die echtheil von s — 10 erhellt sich ein sweifel. von
thi beschreibung des gerichls in 11 — l.'l. die durchaus genügt, und
in s — 10 schon manches vorweggenommen, der gedanke von 12 bei-
spielsweise, dost et in im gerichte Lein ansehen der person gibt, ist
in 9 in etwas andern- form schon ausgeführt. L2, 2. dignilaa papalis.
14. \i) fehlen: der hieb auj die lichter der damaligen zeit (14).
mit denen der urheber der Strophe vielleicht schlechte erfahrung
gemacht hatte, macht ganz den eindruch eines einschiebsels.
16. 1. 2. Veslros, ait dominus, renes accingatis,
hoc est sine dubio zona castilatis
Die bibelstelle steht Exod. 12,11 (Renes veslros acciogelis).
der ausdruck renes accingere kommt nur dieses eine mal in der
schrifl vor. ganz geläufig dagegen ist in der Bibel die redenaart
lumboa accingere. deshalb ist Wr.s lumbos accingatis vielleicht ein
späterer ersatz des selteneren renes acc. 3. lucernam manibua etiam
feraiis. zu anfang fehlt eine silbe; Wr. : banc. 17 fehlt. 18. 2.
dedit. 3. informare moribus, richtig statt des unverständlichen in
[ervore, moribus bei Wr. 4. ut vos et; UV. besser ui el vos.
das letzte wort des cerses in II undeutlich , es scheint laureare zu
heißen. 19 fehlt. 20 un(er abweichender anordnung der haupt
beslandteile der Wr. sehen Strophe in folgender fassung:
Sacri vos presbiteri, sacri vos propbele,
quod vobis paratum est, regnuin possidHf,
quod vobis paratum est sine meta niete;
benedicti filii, mecum congaudele!
Hier ist das quod vobis paralum est wirkungsvoll widerholt,
nährend bei Wr. das benedicti filii von r. 1 in v. 1 widerkehrt.
die worte dieser Strophe ruft Gott den guten prieslern zu. wir
müssen also in II aus dem laureare — wenn so zu lesen ist — von
lv l ein verbum des verkündens heraushören, weil ihm das zu
kühn erschien, hat vielleicht der redacleur des Wr. sehen textes str. 19
eingeschoben . dabei aber wider insofern eine unglückliche band
bewiesen, als das moribus erudire von 19, 2 schon in IS. 3 voraus-
gegangen nur. auch diese möglichheit bestärkt mich in der annähme,
1 übergetchr. eslis, was durch den reim gefordert wird.
13*
196 BÖMER
dass H einen ursprünglicheren lext bietet als Wrighls bezw. des
Flacius Illyricus vorläge *.
8) Evangelium de illo qni incidit in latrones.
Der vulgatatext von Lucas x 25 — 37 mitsamt einer mystischen
uuslegung, wie sie das mittelalter neben der historischen und mora-
lischen erklärung liebte, in die poetische form der vagantenstrophe
gebracht. der dichter will wie ein geistlicher die unwissenden
belehren und solche, welche sich an der vollen börse ihrer mit-
menschen zu vergreifen wagten, durch den biblischen appell an die
nächstenliebe auf den rechten xoeg führen, als vorläge für die
mit der 12 Strophe beginnende mystische inier pretation des evan-
geliums scheint die Expositio in SLucae Evangelium des Beda
Yenerabilis gedient zu haben (Migne Palrolog. s. L. 92 (1S50)
468 ff)., wo es heifst: Homo iste Adam iutelligitur in genere
humano. Jerusalem civilas pacis illa coelestis a cuius beati-
tudioe lapsus in haue mortalem miseramque vitam deveuit. Quam
bene lericho . . . significat . . . Latrones diabolum et angelos
eius intellige . . . Plagae peccata sunt . . . Sacerdos et levita
. . . sacerdotium et ministerium Veteris testamenti est, ubi per
legis decreta mundi languentis vulnera monstrari tantum, uou
[* herrn pro f. WilhMeyer verdank ich den hinweis, dass das gedieht
auch von Blume (Analecta hymn. xxxiii 292/7) veröffentlicht ist. diesem
texte steht H näher als dem Wrightschen, wofür vor allem der umstand
spricht, dass dort auch die verdächtigen strr. 8 — 10, 14 und 17 fehlen,
die in H nicht überlieferten strr. 15 und 19 hat Blume. 19 ist also
doch vielleicht ursprünglich und in // irrtümlich ausgelassen. 4 — 6 er-
scheinen bei Blume in der folge : 5. 6. 4. am schluss hat er noch eine
slrophe mehr, in einzelheilen stimmt H mit Blume gegen Wright überein
in den oben angeführten lesarten zu 1, 2. 2, 2 und 3 (xtellung). 4, 1. 3
(aber : Erigamur). 5,2.3.4. 6,1. 11,1 — 4 (mit folgenden kleinen ab-
weichungen : 1. qui vel . . . estis. 2. Et quid. 3. aücui. 4. iudex, actor,
testis). 12, 2. 16, 1. 2 (mit der abweichung : Quod est absque). 18, 3. 4
(laureare). 20, 1 — 4 (nur 3 metu). Blume steht mit ff rigid gegen H :
1, 3. 6, 4 (forte cras non eris). 7, 1. 18, 4. endlich weicht Blume von
Wright und H an folgenden stellen ab : 1, 2. regnum st. iugum. 3, 2. Qni
nos per clementiam. 4, 4. Ne nos ad interitum (so auch H) trahat. 7, 2. El
corde et opere. 13,2. sive ianjtori. 18, 3. in spe. an soJistigen laa. von
Blume sind noch zu verzeichnen : 2, 3. animos. 2, 4. miseros. 4, 2. Si
quae. 5, 1. Forte tarnen cogitas. 6, 4. Exspectando Senium. 16, 3. Ac
lucernam etiam manibus feratis. 18, 2. iubet.]
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 197
auiem curari poterant . . . Samaritanus . . . dominum significal
. . . I ii in *' n t ii in eius esl caro, in qua ad mos venire dignatus
♦■st . . . Stabulum autem est Ecclesia praesens. . . . Duo denarii
muh duo Testamenta. — von den S<> versen weisen nicht weniger
als "21 im doch, siebensilbler und 8 im sechesilbler tactwechsel auf,
der eigenartige bau des 1 verses ist durch das beibehalten de%
stereotypen Wendung gerechtfertigt. s, 3 fehlt in der ersten hulfte
eitie silbe; wenn nicht ein versehen angenommen wird, ligt die
/onn _^w-w_ (videns et aüdiens) vor. 12, 1 hat im zweiten
fufs doppelsilbiye Senkung, aufser dem 1 verse, der aus dem
genannten gründe eine besondere Stellung einnimmt, findet sich 3 mal
hiatus im innern der vershälften (7, 3. 9, 2. 13, 4).
Ewangelium de i 1 1 o , q u i i n c i d it in I a t r o n e s.
1 Lectio saneti ewangelii seeundum Lucam,
ut vice presbiteri nescientes ducam
El illos ab invio ad viam reducam,
qni bursani pre pondere faciunt caducarn.
2 Quidam venil ad ibesum legisperilorum
temptans et inlerrogaus viam mandatorum:
•tu qui solus, domine, deus es deorum,
quid agam, ut partieeps regni sim celoruni ? '
3 Respondit : 'ut per te sint leges adimplete,
primum deum dilige, fruetus dei mete:
Secundo de pioximo cura sicut de te,
biis duobus lota lex pendet et prophete.'
4 '(Juis est mens proximus?' 'quidam', ait, 'forte
bomo de iberusalem descendens consorte
careos, cui niiserie patueruut porle,
in latrones ineidit miseranda sorte.
5 Latrones buic obviam bornini venerunt,
quem veslibus propriis expoliaverunt,
Et plagis impositis eum reliquerunt
tamquain semimortuum ; post hoc abierunt.
Semivivum deserunt illum vulneratum
deseruntque spoliis suis spulialum.
Presbiter lmnc transiens vidit sauciatum
indignansque preterit eius et affatum.
198 BÖMER
7 Accidit et preteril postea levita,
nudum panois vidit liunc nudum fere viia
videtque, quod illius viia est invita ;
sicut primus fecerat, secundus et ita.
8 Traoseunlem repperit virumque prophanum
venieDtem legimus et samaritanuin;
videns et audiens clamautem in vanum
misertus auxilii porrexit luiic maoum.
9 Huius vino vulnera oleoque lavit
et misericordiler Iota alligavit;
In iumentnm positum secum apportavil
et hunc stabulario pie commendavit.
10 Excrutatur viscera proprie crumene,
duos nummos repperit dicens : "irater, tene!
Et huc cum rediero, reddam tibi pene
et laboris prelium expensasque plene."
11 Quis eorum proximus iudicatur a te?
Respondes : in pauperem motus pietate.
Vade, fac similiter, iudicasti rate !
Magnum est misterium pagine narrate.
12 Adam fuerit homo hie, civis preelectus
caelestis ierusaiem, Jbei ico deiectus ;
multa mala passus est ad terrena vectus,
primo mundus sordibus post bec est infectus.
13 Lairones sunt demones, plage sunt peccata,
que nobis peccantibus ab hiis sunt illata;
Immortalitatis est ade vestis data,
sed per eulpam modo est bec vestis sublata.
14 Presbiler significat gentilem obtusum,
levita Judaicum populum confusum;
neuter ade coutulit pietatis usum
neque malum illius per hos est exclusum.
15 Tertius misericors, qui samaritanus,
id est cristus porrigens pietatis manus.
Miseri misertus est nee est labor vanus,
quo medico factus est semivivus sanus.
16 Vinum peniteutie dieimus rigorem
et mysericordiam olei liquorem ;
1 1,2. hs. fälschl. Respondens. 12,1. doch wol fuit? 14, 2. hs. fälschl. levitam.
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLl NG 199
Jumeolum significal carnero, qua merorem
cristus DOBtrum suatulit, onus el laoguorem.
n Stabulum ecclesia rede uuncupatur,
rede stabularius presbiler vocatur ;
iah stabulario eger commendatur,
a cuius auxilio eger recreatur.
L8 Eique deoariis duobua oblatis,
duobus videlicet testamentis datis,
Jussit eum pascere, ut sie vos credatis,
lins, pastores, epulas dalas ut pascatis.
19 In(|uit : 'ego veoiam vobis redditurus,
quidquid equum fuerit, super hoc faciurus.
() qui male pascitis, index est veoturus
rationem asperam vobis positurus]
jii Ad cor coDverlimioi criatum conhientes,
verbis et operibus vobis referenles;
laciat vos dominus gregem sie pascentes,
ut sitis per omnia secula viventes.'
Explicit.
9) Altercatio vini et cerevisiae.
In der vagantenliteratur bekannt sind zwei rangstreite zwischen
ic ein und wasser: 1) ein ernsterer, lehrhafter, beginnend: Ctim
lenerent omnia medium lumultum [Wright ST//', Bömer in Zeitschr.
/. vgl. litt.- gesch. n. f. 6, 123//). in dem der berauschte dichter sich
im träume in den dritten himmel versetzt sieht und hier einer
auseinandersetzung zwischen Thetis (aqua) und Lyaeus. (vinum) vor
dem throne Gottes beiwohnt; 2) ein jugendlich kecker, anhebend
Deoudata veritate {Du Meril Poes. ined. du moyen dge 303, brwh-
stück bei Schneller 232/"), in dem der wein sich in köstlicher
yrobheit gegen eine Vermischung mit dem wasser verwahrt, natürlich
fällt der streit beide male zu gunsten des weines aus. vor ihm muss
auch das bier stets zurückstehen, dus ist auf serhalb der vaganten-
litteratur der fall in zwei lateinischen gedichten Feters von Blois
(f 1198) (Migne Patrolog. s. L. 207, 1155/f), und so lautet
dus urteil auch in unserem stücke, das übrigens mit Jenen keinerlei
Übereinstimmungen aufweist, dort werden namentlich gesundheitliche
gründe gegen das bier und für den wein ins fehl geführt, hier
sin 4 andere eiwägungen entscheidend, dem biere wird seine weite
200 BÖMER
verbreit uny zu gute gehalten, in Alemannien, im Hennegau, in
Brabant und in Flandern, im reiche Friedrichs — die angäbe wirft
einiges licht auf die entstehnngszeit des gedicktes: es wird sich um
Friedrich i handeln — und in Sachsen, überall wird es getrunken;
alle stände, classen und geschlechter der menschen laben sich an ihm.,
dem weine aber werden besondere wunderbare kräfte zugeschrieben,
es sind die allen oft besungenen: er gibt den äugen doppeltes licht,
macht greise wider jung, nimmt dem herzen die sorgen usw.
natürlich wird auch seines woltätigen einflusses auf die ausübung
der künste und Wissenschaften gedacht, der dichter bemüht sich mög-
lichst unparteiisch zu erscheinen, indem er jedem der beiden getränke
fünf Strophen des lobes zuweist, in der 13 Strophe — zwei waren
als einleitung vorausgeschickt — beginnt das urteil, sicher hätten
beide teile ihre Vorzüge, wenn man die dinge jedoch richtig betrachte,
wäre der irdische trank dem göttersohn Bacchus gar nicht vergleichbar,
verf. xcollte lieber über die meere fahren, als im bierkeller sitzen
und den geruch der fässer dort ertragen. Bacchus dagegen duftete
schöner, als Weihrauch, rosen und lilien; ihm also wäre lob und
und alleluja zu singen. — an poetischem wert überragen die beiden
rangstreite zwischen wein und icasser unser gedieht bei weitem,
hier stellt der dichter selbst von an fang bis zu ende in ziemlich
trockenem tone betrachtungen über den wert der getränke an und
zählt erst die Vorzüge des einen, dann die des andern auf, um
darauf ein gar nicht einmal besonders gut motiviertes urteil zu
sprechen, dort werden die streitenden persönlich auf den kampf-
plalz geführt, um in rede und gegenrede ihre sache zu verfechten,
das belebt die darstellung au fser ordentlich. — auch die versform
unseres gedichtes besitzt nicht die frische und lebendigkeit der beiden
anderen, es sind 15 Strophen aus je 4 sämtlich untereinander
reimenden zehnsilblem mit 2 trochäen als basis (vgl. W Meyer Ges.
abh. z. miltellat. rhythmik i 300 f). str. 11 ist ein Ovid-vers (Ars
am. i 237) als citat angefügt ; vgl. oben nr 1 dieser Sammlung, ein-
gang und nr 4, str. 9.
Altercatio vidi et cerevisie.
1 Ludens ludis miscebo seria,
ne fatiscant mentes per tedia :
nunc de haclio, nunc de cervisia
traetans lites traetabo iurgia.
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 201
_■ Assil ergo vestra inlentio,
DOQ tllliliillli, sed ciiin sileutio,
explicelur hec disputatio,
ad boc tendil mea petitio.
Mutti quidem laudaol cervisiam,
parvipenduot baclii potentiam ;
laudant, inquam, fesluce lih.nn
el coDtempnunt deorum gloriam.
4 Nam quia credunt summum exisiere
— oe vt'liniiis verum deprimere —
aquam, credunt oasci <ie feiere
et de claro oeptuoi genere.
5 Kius regnum e>t alemaonia,
baouooia, brabantis, Qaodria,
frederici regnum, saxonia,
terra ponlus predives, omuia.
6 lnde bibiuit reges, pontifices,
beremite, archipontifices,
Continentes, matrone, pelices,
lnde summas recundat calices.
7 Piacet letis, placet dolentibus,
placet parvis, placel maioribus,
placet sanis, placet languentibus.
Quid euarrem? hec placet omuibus.
E Vestre quidem palet notitie,
que sit virins, que laus cervisie ;
videamus cum mentis acie,
quante bachus sit efficacie.
9 Bachus multis pollet miraculis :
bachus duplex dat lumen oculis ;
bachus reddit iuventam vetulis,
bachus oummos refert a loculis.
10 Bachus mentes a curis liberal,
bachus omne latens considerat ;
bachus usus semper desiderat,
bachus nexus doloris lacerat.
11 Bachus est fons totius «audii,
bachus semper vult tempus otii;
202 BÖMEIi
bachus levat pondus supplicii
iuxta versus istos ovidii:
'Vina parant animos faciuntque coloribus aptos.'
12 Bachus rethor, bachus est phisicus,
Est legista, est dyaleticus,
Gramancans et astrouomicus,
<ieometer et bouus musicus.
13 Satis probat bunc et haue ratio,
sed si veri hat discussio,
parum valet hec comparatio
de hoc potu cum dei Glio.
14 Ego mallem transire maria,
quam sedere iuxta cellaria,
ubi iacet festuce filia:
tantum feteut illius dolia.
15 Bachus vero viueit flagranti*
thus, aroma, rosam et lilia;
bacho demus laudes cum gloria,
decantemiis omnes alleluya!
Explicit.
15, 1 hs. irrtümlich : fraglantia. vgl. nr 12 dieser Sammlung, v. 100
verschrieben : faglantia.
10) Principium magistrale.
Der neue magister bittet den vater im himmel, seinem gebrech-
lichen schifflein günstigen wind zu senden und es vor dem drohenden
Schiffbruch zu bewahren, damit er mit seinem kindlichen sinn nicht
zum gespötte der mitweh werde, auch den hl. geist , den doctor
praeoius, und die Jungfrau Maria ruft er um beistand an. neider
braucht er bei seiner unbedeutend hei t nicht sm fürchten, wenn
er bescheiden ist und nicht mehr begehrt als eben notwendig, getreu
dem Horazischen cupias quodeuuque necesse, so folgt er damit
einer höheren Weisung, die ihm im träume zu teil geworden ist.
wie das zugegangen, will er, wenns den Zuhörern beliebt, erzählen :
An einem schönen frühlingstage ist er zum studieren auf eine
blühende wiese hinausgegangen, aber der süfse gesang der vögel
hat ihn die bücher bald vergessen und in schlaf sinken lassen, da
ist eine Jungfrau von wunderbarer Schönheit an ihn herangetreten
und hat ihm die lehre gegeben, wenn er jetzt die doctorwürde
HERMUNGER VAGANTENLIEDERSAMMLI NG 203
erlangte, nicht stolz zu werden wie so viele andere, damit et ihm
nicht erginge wie dem Pirneos (str. 17; 16, i : uovus ardei
der geglaubt habe, den muten gleichkommen zu können, abei elend
zu (jrunde gegangen sei. herablassend :" sein gegen die jüngeren,
seine tchüler, und ehrfurchtsvoll gegenüber den alteren, dahin möge
erstreben, dannkönne er das übrige getrost dem Schicksale überlassen,
Es ist bekannt, mit welcher vorliebe die dichter des mittelaltert
solche erscheinungen fingiert haben, wie hier eine erzählt wird, m
tlcm nächsten prineipium magistrale dieser Sammlung (nr \1> wird
uns eine ganz ähnliche anlaye des ganzen entgegentreten.
Die form unseres gedichtet ist eigenartig : Strophen der seit
W alther von Lille bekannten art, in denen 3 rhythmische, verse der
Vagantenstrophe mit einem yern aus der classischen litteratur ent-
lehnte)! hexameter als schluss- und recapitulationsvers — der sog.
auetoritas — durch den reim verbunden sind, wechseln mit Strophen
aas 4 hexametern. die der ersten art, xcelche das stück eröffnen
und beschliefsen, weisen neben dem endreim yröstenteils auch cäsur-
reim in der form aaaa auf; ausgenommen sind die Strophen .">.
11. 17. 19 und 23, in denen die cäsur des Hexameters nicht mit
ileuen der rhythmischen verse reimt, bei den letzteren hab ich m
der ersten hüljte 12 mal, in der zweiten 'Smal tactwechsel gezählt.
die vier hexameter der geraden Strophen sind leonini, die zugleich
auch durch den endreim paarweise verbunden (caudati) sind, also
sog. unisoni t\V Meyer Ges. abh. z mittellat. rhythmik i 1905,84).
unregelmdfsigkeit : 4, '1. — zu einer solchen mischuny von accen-
tuierenden und quantitierenden stücken in ein und demselben
gedickte vgl. \Y Meyer i 333.
Pr i n ci p i u m magistrale.
1 Summe clator munerum domiuans in celo,
ad te, salus paupemm, Limidus anhelo:
Datum pande prosperum naufraganli Felo,
teque salutiferum fragili concede pliaselo.
2 Da imclii divioam, deus alme pater, medicinam,
ne michi vicinam possim sentire ruinam.
Cum sim res humilis, ue sim derisio vili>,
Esto michi lacilis, quia sensu sum puerilis]
3 Veni, doclor previe, salus generalis,
virtutis et glorie dator specialis,
204
BÖMEH
donum michi gratie
Cesset ut invitlie
4 Plena pudicitia,
tu lenis esto michi
0 venie veoa,
cor tene, cor frena
5 Iovidi non debeo
humilis sum adeo,
Livoris aculeo
Ingeuium magnum
6 Sicut habel res se,
nam legis expresse :
Cur dissentire
Si placet audire,
7 Sol wundum adduxerat
Sed iam relegaverat
verque novum venerat
terraque protulerat
8 Tempus tarn gratum
impulit in pratum
huic dabat humorem
Nulli maiorem
9 Dum crederem studio
pulcri loci gaudio
dum volucres audio,
harum modulatio,
10 Ut datus est sopor a
afluit absque mora
banc ubi spectavi,
Cunctaque laudavi}
11 Tanta pulcritudine
quod se celi semine
ratioois nomine
atque loquens mecum
12 lTu, qui doctor eris,
si michi credideris
5, 4 Ovid Remed. am. 365.
müdü, verschrieben statt nüdü, wir
10, 2 hs. : afbq^.
dona spiritalis,
vis et timor exilialis!
mundi spes, virgo maria,
nie precedente sophia!
lux mundi, virgo serena,
cum sobrietatis hahena !
morsum revereri,
quod non licet queri.
magna solent teri:
livor detractat homeri.
me sie humilem decet esse,
cupias quodeuuque necesse.
michi non licet ex humili re,
cupio vobis aperire:
nimios calores,
hyemis algores,
terre pandens flores,
natos sine semine flores.
studio me sollicitatum
redolenti flore beatum;
fons proximus, herba nitorem,
tribuit natura decorem.
primo me teneri,
cepi commoveri;
dum applaudit veri
potui dormire videri.
volucrum michi voce canora,
coram me virgo decora ;
faciern eultumque notavi
quia dignam laude probavi.
verbo preminebat,
natam ostendebat;
fungi se dicebat
tali me voce monehat:
doctoris honore frueris,
et si mea iussa sequeris,
6, 2 Horaz Epist. i 2, 46. 7, 1 hs.
der codex stets für nondum hat.
HERDRINGER V AGANTEN LIEDERSAMM LI NG
201
Subditus errori
Meute teile metimri
t:: .Mnlt(»s magisterio
superbie vitio
|i/(/s quam essel ratio
Vidi priocipio
lt Hoc manifeslari
Musis laude pari
Stliltll> iter lernen-
ipse mit propere,
15 Pyeriaa dicitur
per quem oovi traditur
qui oimis aggredilur
Pennis ipse careos
16 Si quis scrutelur,
Equivalens rletur :
A me iion oritur,
Seil sicu( le^itur,
1" Pir boc idem i mlicat
quod ignis siguificat
neu- in >\ u in predicat,
Signatur oovitas
i^ Ne profectura
Mota cui cura,
Ut per te moniti
doctores soliti
19 Duas tibi seniitas
prior est bumilitas,
Superbie vanitas
Esl via que sequitur
20 Ut vivas licite,
Cures sollicite
Cunclis dedecorem
haDC fugiendo rem
21 Sis gralus minorihus
et supplex maioribus
13, 3 hs. fälschlich : puls.
15,4 hs. fehlerhaft : Pennis
piecipitatu/- in den text geraten]
ne vivas atque pudori,
tibique succedel liouori.
rede utentes
\idi coberentes ;
de se presumentes,
tumidos in üne ruentes.
per eum valel atque probari,
qui credidit equiparari.
posl haa dum vellel abire,
confractaque membra fuere.
niiisas imitatus,
magistrantis Status,
appeteos volatus,
ad terram precipitalur.
hoc quod per Domen habetur,
novus ardens invenietur.
quod nomeo sie aperitur.
scriptum libris reperitur.
in lingua grecorum,
seosu latioorum;
per quod magistrorum
studiumque fervet ein um.
fugiendo petas nocitura,
venio te premooitura,
sint te mediante periti
uimis ad sublimia nili.
mooslro nee ignores :
haue sequi labores.
iuvisa deo res,
niaculans meritos sibi mores.
iniclii credas, ac humili te
semper supponere vite,
mentis depone tumorem ;
queres tibi semper honorem.
eos ioformando
eos veneraudo;
ipse carens labitur fwol von glosse zu
ad terram preeipilatus.
206 BÖMER
Sic placebis omnibus laudeoi tibi dando.
Hec sunt pre manibus, fortune cetera mando.'
22 Verbis fiue dato, monitu michi notificato,
virgo de prato somni torpore fugato,
nescia virgo more fugiens fugiente sopore
Miraudo more miro loca fudit odore.
23 Ergo te suppliciter, divina maiestas,
precor : michi iugiter per te sit bonestas,
que bonis beniguiter bona cuncta prestas,
Cui l'uit, est et erit virtus et summa potestas.
11) Castigatio presbyterornm.
Anfang: Viri beatissimi, sacerdotes dei.
Von diesem in zahlreichen handschriften erhaltenen appell an
die geistlichkeit liegen fünf drucke vor:
1) Flacius Illyricus 143 ff. titel : Golias ad Christi sacer-
dotem.
2) Wolf Lect. memorab. i 439/f', nach Flac. Illyr.
3) Wright Ab ff, gleichfalls nach Flac. Illyr. (im folgenden nur
Wright citiert).
4) Du Meril Poes, popul. 15/f, als teil eines gröfseren gedichts,
in stark abweichender form.
5) Haureau Not. et extr. vi 13^". ohne Überschrift.
Nachdem Haureau Not. et extr. m 306 neun französische und
zwei deutsche handschriften nachgewiesen (Paris Bibl. nat. 1093.
2962. 3473. 3480. 8259: Bibl. de V Arsenal 950, Auxerre 23,
Cambrai 250, College Ballice 349, München 3591. 5015), trägt
er Not. et extr. vi 13 noch eine sechste der Bibl. nat. Paris nach
(18082), um auf grund von dieser und nr 1093- 3473 und 3480
einen neudrnck zu veranstalten.
Lesarien von H. Abweichungen von Wright und Haureau.
1,1. Viri beatissimi HWr., Viri venerabiles Haur. 3. Caritate radii
fulgentis H fehlerh. st. Caritatis radio (Haur.) od. charitatis radiis (Wr.)
fulgentis. 2, 2. vera vitis HWr., als apposition zu Christus mindestens
ebenso gut, wie Haur.s verae vitis, das zu palmites zu ziehen ist.
3. avari H (näl Du Meril), amari Wr., inanes Haur. 3, 1. prolectores
HHaur., portatores Wr. 4, 3. nescietur HHaur., non scietur Wr.
4. Et ni pastor vigilet, caula confringelur H, Nisi (Nee si Haur.) paslor
vigilet, ovile frangetur Wr.Haur. (mit laclwechsel im 2 teile), 5, 3.
spinas atque HHaur., et spinas et Wr. 6, 2. a palea grana sepa-
HERDRINGER VAGANTEN LIEDERSAMMLUNG 207
ranles H (cäsurreim mit v. 1), a paleis granum separantes Haur.. i
paleis grana segregantes Wr. 4. Laicos corripere debetis errantes H,
Laici, i|in Fragiles sunt el inconstantes Wr.Haur. 7,2. credunl
HWr., dicuot Haur. .".. quidquam H fehlerhaft st. quidquid. I. ^< >lli -
citum // falsch st. licitum. s. :;. vobis dod deficiaui BHaur.,
sHiiuiii vestrum meluanl Wr. 4. 1 n »^i i um /dlsclt st. ovium. 9j 2. cibus
fehlerhaft st. ßdes, vielleicht durch ciho v. I veranlasst. 3 ul //
UV., quod Haur. 10, I. Ovibus lenemini veslria HBaur., Omnibus
tenemini viris UV. 2. quid quibus HHaur., quibus quid Wr. (m.
tactwechsel). 11. 2. dona dare BHaur., dar« dona Hr.
3/4. qunsi sauet»* fidei regula versalis
vos lepra miserrimi sin santialis (/) //
mehrfach verderbt; Wr. gibt die richtige lesari von dieser fassung:
quae si contra fidei regulas vendatis,
vos lepram miseriae ferre sentiatis
Baur. ganz abweichend:
Seil si cuiquam fidei munera vendatis,
[neursuros Giesi leprain vos sciatis.
12, 2. Gralisque conficite, gratis baplisate //
im ersten teil Wr. nahekommend (et gratis conficile m. tactwechsel
Wr., gratis confilemini Haur.), im zweiten mit Baur. Übereinstimmend
(^r.-itis consecrate UV.) '.). omnia probate II Wr. , eunetis gratis
dale Harn. 4. id quod HHaur. gegen Imc quod Wr., aber bonum
approbate HWr. gegen vestrum conservate Haur. L3, 3. vita H
aal fehlerhaft st. rania, vielleicht durch viia v. 2 reraulasst. in
der folge der 3 nächsten Strophen stimmt II mit Wr. überein, Haue.
!/ilit sie in der Ordnung 16. 1"). 11. 14. 1. paeifici HWr., benevoli
Haur. 15, 1 — 3. // m. Haur. übereinstimmend:
Eistote breviloqui, ne vos ad realura
protrahal loquacitas, nutrix vanitatum.
Verbum quod proponitis sit abbrevialum;
Wr. beträchtlich abweichend und mehrfach fehlerhaft:
Estote benevoli [!], ne vos ducat ad reatura, [vers!]
verbum quod proponitis sit abbreviatum,
per vos inter siniplices bene adaptatum,
Iti, l. Nulluni faslum expriniat H, Nullus fastus deprimat Baur.,
Nullus rastos expriniat Wr. 2. gravitatis veslium HRV., Paritalis
mentium Haur. 4. regni sunt HWr., sunt regni m. tactwechsel
Haur. Haur. hat nach 16 noch zwei Strophen, von denen die
erste (17) dem wünsche ausdruck gibt, itass die priester hur auf
erden ihr seelsorgeramt so versehen möchten, dass Gott sie dereinst.
wenn sie die cblamys caroalis ausgezogen, mit der stola aeternalis
bekleidete, während die zueile (18) weiterhin ausführt, dass Gott
sie von Sünden reinigen möge, damit sie in Abrahams scho/'s aul-
genommen werden könnten. Wr. bietet nur die erste der beiden
Strophen, mit geringfügigen textvarianlen, II keim- von beiden, viel-
208 BÜMER
mehr stall ihrer folgende andere, die den gedanken von 17 mit
anderen Worten ausdrückt :
Sic ergo vos singulis oruaie virtutibus,
ut deduclos misere carnis e carceribus
civitatis supere vos iungat civibus
rex, qui sine termino regnal in celeslibus.
die abweichende form der Strophe legt die Vermutung nahe, dass
sie anderswoher entlehnt sei, andernfalls dürfte angenommen werden,
dass der dichter ähnlich wie in stück 3 den abschluss des gedichles
auch äuCserlich hat hervorheben wollen, wie dem auch sein mag,
jedes falls ist der unregelmäCsige bau der verse wenig glücklich,
in der zweiten hälfle der zeilen 1. 2 und 4 slehn siebensilbler
statt der üblichen sechssilbler, während z. 3 eitlen siebensilbler mit
lactwechsel hat, den auch der siebensilbler von v. I aufweist.
12) Versus Primatis contra praelatos et clericos.
Anfang : Cur ultra studeam probus esse probusque videri.
Das einzige rein metrische stück der Sammlung. Flacius Ilhj-
ricus hat es nach einer hs. der Dominicaner zu Basel (B) zweimal
publiciert : im Auctarium zum Catalogus testium veritatis 46 und in
Varia doctorum piorumque virorum . . . poemata 365 ff. Wolf Lect.
memorab. i 742 reproducierte diesen text. Fierville in Notices et
extraits xxxi 1, 129 ff iceist das gedieht in ms. 115 der bibliothek
von SOmer nach, zerlegt es jedoch in zicei teile : 1) die 46 ersten
verse (nr lvi); 2) v. 41ff, beginnend Temporibus nostris mutari
secula ceruo {nr lvh). für den ersten teil verweist Fierville auf
den ab druck bei Flacius Illyricus, wogegen er den zweiten für
ungedruckt hält, obwol er als fortsetzung des ersten bei Flacius
III. veröffentlicht ist. auch ms. 710 der bibl. von SOmer enthält
eine copie der satire. abdruck auf grund dieser beiden mss. bei
Fierville ao. 130 ff. Haureau hat in zwei Pariser hss. aufzeich-
nungen des gedichtes gefunden : ms. 14193 (das ganze gedieht, auch
hier wider in zwei teile zerlegt) (vgl. Not. et extr. u 349/) und
ms. 16699 (der zweite teil) (vgl. Not. et extr. \2l\ff). die 69
ersten verse stehn auch in ms. C 58/275 der stadibibl. zu Zürich (Z)
und sind nach dieser plötzlich abbrechenden und überhaupt ziemlich
nachlässigen niederschrift von Werner ao. 139 /f mitgeteilt worden.
Lesarten von H.
In der folge des lexles von Flacius lllyr. (BJ.
V. 3 fehlt. 6. probos HB, bonos Z. 10. Hos quia Sublimat U,
Hos fert sublimes B, Hos quos Sublimat Z. das unhaltbare quos wol
fehlerhaft st. quia, wie 11 lisl. stercora HB, slercore Z, ersteres vor-
HERDRINGER VAGANTENL1EDERSAMMLI NG 209
tuxiehen. 11. me penitel esse poelam /// tu v.
poemtfi esse peritum li. 12. quielam ///. quietuui li. ll./ Pin
die. uuj grund dieses Piogo, das auch in Paris ms. L4193 überliefert
ist, schreibt Haureau das gedieht dem Petrus Picloi u. II lisl
statt Pingo : Fingu, hat also die beziehung auf den urhebei ■
Stückes [allen lassen und die stelle verallgemeinert, in II ligl
demnach eine redigierte fassung vor, ebenso wie in />', die /«/■ P
ein unhaltbares 1 1 1 <!•■ eingesetzt hat. am schluss des verses hat II
mit / und der Pariser hs„ aus der Haure'au ciliert, operari, während
in />' ein unglücklicheres venerari überliefert ist. 17. Natu mihi
quid prosunt versusque slilusque labella HZ, Nam modo oon prosunl
versus Stylus atque labella />'. L8. studiis ///. studio li. mille
//. dura BZ. 11). si loquar Uli, colloquar Z. 20. leneam magni Uli.
magni teneam /. 24. lurbine HZ, 11111111111' li. 2H. El pro ///, Ah pro
li. valuere ///. valvere li. 27. ista quidem ///, I ^ t ;• mihi B.
sola lubons //. i>t.i laboris li/. 28. Quid prosunt duri //, Quem
[auf laboris v. -1 bezüglich) faciunt duri li, Que faciuut seni Z
(kaum haltbar). 29. iueudi HZ, ;nl ineudem B. 30. relegaul
HZ, relegunt B. 31. Me remonetari Uli richtig statt des fehler-
haften Me 1:1111 monetam Z. .'!2. nummicola HZ, nummiculus ß.
Varro //, sicher versehentlich statt Maro /, Naso B. .'15 prius //,
magis HZ. .'!ti. nimirum IIB, uon mirum /. .'i7. miser esse |><>iest
//. miser esse eupit B\ letzteres vorzuziehen und auch von Wernei
eingesetzt st. des fehlerhaften cupit unser esse Z. infatuari HB
infamari Z. 40. n.imium studeat semper piger esse ff, minimum studeat,
discal piger esse B, uimium studeat discal piger esse /; diese combi.-
nation von 11 u. B naht haltbar, deshalb e<>u Werner auch minimum
gelesen. 41. homines ... perdueunt HB, animos ... produeunt Z.
4."!. bodie pigros //, hodie slultos B, hominem pigrum Z. 44. Cum
de pigritia fasius //, Cui de pigrica [!] fasius Z, Queis de pigrilia
fruetus B. [2 teil. v. 47//'/ 4s. Ecce veius //, Nonne vetus B, Omne
veius Fi (= Fierville), Nonne veius Z; Werner hat Omne st. des fehler-
haften Nonne übernommen. 50- famam sine Iahe HB, laudem sine labe
Z, ramam cum laude Fi. 52. studel HBFi, soletZ. 54. nunc H, modo
B, lioc FiZ. atque probavi //, gegen den reim verstoCsend, hoeque
probatur FiZ, brobalur/7j B. 50. cito HFi, liic BZ. 57. Hoc bodie
haculus H, Huic bodie baculus B. Hoc studio baculus Fi, Hoc hs ole
baculo Z, wofür Werner die lesarl von Fi übernommen hat. 58- ven-
ilitur hoc HFi, Venditur hinc B, Uiitnr hoc Z. 59. arismeticam HZ,
Aerismaticam B, erismalicam Fi. 60. Hoc HBFi, Hinc Z. ell'ecii
potiores HB, affeeli poiiorus Fi, facti posteriores .'" Z. lil 2 von B
Fi fehlen in HZ; die verse dürften zur erhlürung des Aeris-
maticam v. 59 eingeschoben sein. 63. Esl gravius HBFi, Est quamvis
Z, nach den übrigen zu rerbessern. (J4. Discere richtig HBFi
gegen Discat Z. prudenter //#Ft j/e^en prudenlia Z. philosopbari
//#Z, versificari Fi. 65. nummis nummos in chiaslischer Stellung
z. d. folg. : libras libris //, nummos nummis ZJ/-7Z. 67 N feWew in /
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. U
•21i> BÖMER
der dichter gebraucht hier und im folgenden den ausdruck Dominus
vobiscum (Domnus vobiscum Fi), den der priester während der messe
widerholl an die gläubigen richtet, mit komischer würkung zur
bezeichnung des geistlichen selbst, der Schreiber von Z bezw. seine
vorläge hat den ausdruck offenbar nicht verslanden und deshalb
v. 67/8, sowie r. 72 ff, in denen jene worle immer iciderkehren,
forlgelassen, nur ein einziger der verse (77) ist noch verständnislos
angeflickt. 67. qui HB, quia Fi. 69. Et quia HFi, Atque liic
B. 71. bos HFi, et B. 72. Dum sua facta facit H, His sua festa
canit (facit Fi)BFi. H.s facta zu verbessern in festa.
73/4. Dominus vobiscum bbros quos devoral ore
Nou sapit intro, lamen regitur falo meliore H,
Fi mit H übereinstimmend bis auf Domnus und fato regitur;
Dominus vobiscum, pingui cum murmurat ore,
Iam sapit intus, quotl regitur fato meliore B.
78. cum sit, sibi vilis babetur HB, sibi cum sit, nullus babetur Fi,
kaum hallbar. 79/80 fehlen HFi. sie passen auch keineswegs
zwischen die grammalischen erörterungen. 81. quaiuloque H, ali-
quando BFi. Fi hat die schlussworle von 81/2 gegenüber BH
verlauscht. 83. nefas H, nefasque BFi, besser. 84. non HB, nil
Fi. 85/6 fehlen HFi. 87. Est HFi, En B. 89/90 fehlen H.
91. negotia HB, pericula Fi. 93- meliora . . . pretiosa H (gegen den
reim verstoCsend), pretiosa . . . meliora BFi. 96- gingiuer HFi,
zinziber B (verschrieben st. zingiberj. 97/8 fehlen HFi. 98 in der
fassung von B kein vers u. sinnlos. 99. Huuc pigmenla favent
secumque H, zu verbessern in Huic pigmenta favent, servitque Fi;
Hunc unguenta fovent, servitque B. 100. Huius et ad nares
HB, Huic etiam ad nares Fi. faglantia H [ähnlich wie nr 9,
slr. 15, 1 : fraglantia /, verschrieben st. flagrantia Fi; fragranlia B.
von 101 an gehn die Überlieferungen besonders stark auseinander.
B hat den längsten lexl, Fi 20 vv. weniger als B, und H wider 10
weniger als Fi. in der versfolge zeigen H und Fi Übereinstimmungen
gegenüber B (s. die folgende tabelle), die auf ein näheres ver-
wanlschaftsverhällnis zwischen II und Fi.s vorläge schlieCsen lassen,
während sie vorher freilich in einzelheiten des lexles häufig aus-
einandergiengen und H oft mit B gegen Fi übereinstimmte.
B
H
Fi
101/152
127/8
127/8
—
129/32
103/4
103/4
101 2
101/2
105/6
105/6
—
107/8
117/20
117 20
141 46
133/40
121/22
147 52
125 26
—
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 211
101- Cuius HFi, Huius /;. noveril //. doctua BFi. 102 oullum
facit ullo //. iiiilln facit illimi BFi. 104. in unda //. ab unda BFi.
105- pascunl Mi; hiernach poscunl Fi sti verbessern. L06. gratis-
sima //, pinguissima Bl 117. Ha quotiea reseral //. Fi $1. reseral
fehlerhaft referal; Sed cum vult, reseral B. 119. in illa HFi niht,,/
$t. el illa /)'. 12.1. valeal //, possil B.
127. Oninis gramaticus laceris paucia quoque pannia //
Grammaticus vero teouis, laceris quoque pannis BFi
128. Visis eril studits // (gihi keinen rechten sinn), Ah obit in stodiia
B, Immoritur studiis Fi. 141. est hodie //. esl aeris li. 1 Vi
II. hie B. 144- laus insipienti //, laus omnis, habenti B. 14ti. I'i
de gramaticis plures faciat //, Et moi nobilium plures faciel H.
13) De victoria Parmensi.
Den ruhmvollen sieg der Stadt Parma über das belagerungsheer
kaiser Friedrichs u im jähre 1248 feierte vermutlich kurz nachher
ein Parmenser magister scholarum und canonicus in drei lateinischen
gedickten, die in einer Münchener hs. des 13 jk.s erkalten und
zuerst von Hoe/ler in der Bibl. d. litt. ver. 16, 2 ( 1 847) 123//",
nachher an verschiedenen an/leren orten, na. auch in den Man.
Germ. Scr. xviu 790/^ im anschluss an die Annales Parmenses
maiores abgedruckt sind. der Verfasser unseres Stückes verrat
über seine person nur, dass er ein begeisterter anhänger des papstes
und bitterer kasser des kaisers gewesen ist. er hat weder die dinge
an ort und stelle miterlebt, noch auf grund mündlicher berichte
geschrieben, sondern eine schriftliche aufzeichnung als quelle benutzt,
str. 22, 1 beruft er sich ausdrücklich auf den Wortlaut einer solchen
(sicut vere didici ex tenore carte), dieses Schriftstück ist uns
erhalten, ein vergleich ergibt, dass es nicht nur an der bezeichneten
stelle, sondern das ganze gedieht hindurch als vorläge gedient hat.
es ist ein schreiben, in dem 'Potestas, mililes et populus Parmensis'
der stadt Mailand die künde von ihrer waffentat übermitteln und
um beistand für den weiteren lauf der ereignisse bitten (gedr. bei
Matthaeus Paris Hist. maj. Anglor., Addit. 107; hiernach bei
HuiÜard-Breholles Hist. diplom. Friderici Secundi. vi 2 ( 1 861 J
591 fi. da sich die abhdngigkeit des dichters von diesem briefe
bis auf die einzelnen ausdrücke erstreckt, führe ich den in betracht
kommenden teil der vorläge im Wortlaut an und verweise in eckigen
klammern auf die verse des gedicktes, bei denen eine entlehnung
stattgefunden hat :
14*
212 BÖMER
Slrenuis et prudentibus viris domino ßonefacio de Sal . . .
potestati, mililibus et populo Mediolanensi, Philippus Vicedominus
potestas, milites et populus Parmensis salutem cum gloria et
honore. Laudes retribuimus [5, 1] Deo Patri Filioque suo Domino
noslro Jesu Christo et Spiritui Sancto trino Deo et uni majestati
et Virgiui gloriose que non propter noslrorum exigentiam meri-
torum, sed propter suam clementissimam pietatem civitatem nostram
protegil et defendit, regit, visitat et gubernat, sicut manifeste
conspicimus in victoria triumpbali quam die inartis duodecimo
februarii exeuntis [10, l] contulit nobis Deus sue genitricis inter-
ventu [6 u. 7], Quamvis enim mille quingenti de nostris ivissent
inter Colornum et Bersellum [11, 1.2] et preterea due porte in
integrum et ille seviens draco [11, 3] qui per tantum
temporis obsederat [8, 1] terram nostram, nos omuino crederet
deglutire [12, 2], jam extra sua moenia eunctis militum et peditum
suorum agminibus ordinatis, nos invocato Dei auxilio et Virginis
gloriose [17, 1], cernentes quod potens est Deus deponere superbos
et humiles exaltare protinus exivimus contra ipsos populos et
milites universi, nequaquam nostra vestigia retardantes quoad
usque dimicantes junximus nos cum eis, precedente vexillo cum
forma Virginis pretiose [17, 2/3], cujus regebamur semita et ducatu.
Et quamvis duritera principio restitissent [21, 3], nos tarnen iovales-
centes durius in eosdem confregimus, contrivimus et proslravimus
ipsos omnes. Et descendens impius Fredericus per subterfugia
[24, 4] tanquam latro [25, 1] dimisit suos et spolia sua prorsus
[25, 2; 34, 3], ex quibus tria millia [34, 2] cepimus et plures.
Cepimus quoque carrochium [33, 1] Cremonensium. Cepimus
etiam menia [33, 2] que fecerat et omnia castra [33, 2] sua
cepimus et habemus omnia sua que habebat. Interfecimus quoque
Thadeum judicem suum [29, 3/4. 30], cubicularios [29, 2] et
camerarios [29, 1], omnes nostros banneratos [31, 1] . . . Tandem
in civitatem regressi cum Dei laudibus et honore noslre disposuimus
negotia civitatis, confidentes in illo qui est vera salus omnium
atque virtus [35].
Nicht etwa nur den bericht übe?" den gang des ereignisses,
sondern selbst die einleitung des Schreibens, das lob Gottes und der
Jungfrau Maria, durch deren fürbüte der sieg gewonnen, hat der
dichter übernommen, indem er nach einer längeren apostrophe an
den papst zum lobe .des herrn und seiner jungfräulichen mutter
herdringer vaganteisliedersammh ng 213
auffordert, die noch niemals einen im stich gelassen, der sich
vertrauensvoll an sie gewendet , und jetzt auch wider die stmlt
Parma aus grOster not errettet habe, ah datum des siege» gibt
er dm 12 tag rar ende fehruar (Fine februarii die duodeoo) 1217
an \i), 1 — 3j. 12 17 ist ein iritum statt 12 1\ der nicht vor-
gekommen sein würde, nenn der In ief das Jahr verzeichne! hatte.
,i hat aher nur den tag der schlncht /estgehalten, und in der
Bezeichnung desselben (<li»' duodeeimo februarii exeuntisj ist ihm
der autor getreulich gefolgt, es handelt sich um den 1^ jebruar,
der 12 1^ würklich der 12 tag vor schluss des fehruar nur [vgl.
die anm. bei Huiüard-Breholles). die beiden namen Coloroum und
Berseilum erscheinen im gedickte [11, 1] als colluvium und bessillum;
statt carrochium ist 33, 1 ; cartbocium gelesen. — übrigens ist
der drief nicht die einzige quelle des dichten gewesen, die poetische
ausschmÜekung der erzählung mag seiner phantasie entsprungen
tein, alter er berichtet auch über tatsuchen, deren kenntnis ihm
anderweitige quellen übermittelt haben müssen, dahin gehören vor
allen die in dem schreiben nicht erwähnten, sonst aber vielgepriesenen
taten des päpstlichen legalen tiregorius, denen die 13 Strophe der
dichtung gewidmet ist. von den drei triumphliedern des Parmenser
canonicus schildert keines so genau den verlauf des kampfes wie
das unsrige. <las erste ergeht sich in ziemlich allgemein gehaltenen
auf forder ungen zum siegesjubel, wahrend die beiden anderen umfang
reicheren und weiter ausholenden mehr betrachtungen über den
ji endigen erfolg anstellen oder bemerkenswert erscheinende einzel-
heiten des geschehenen herausgreifen. alle drei sind in reinen
Vagantenstrophen gedichtet, wohingegen in dem vorliegenden stücke,
wie in nr 10 der Sammlung, mit 3 versen der vagantenstrophe ein
hexameter bezw. pentameter (str. 3. 16. 20. 30. 31. 33) verbunden ist,
der widerholt, namentlich in den eingangsstrophen, als echte auetoritas
erscheint. in den rhythmischen Zeilen ist so häufig tactwechsel
angewant , dass nur wenige Strophen von ihm freigeblieben, viele
aber mehrfach betroffen sind.
De victoria parmensi.
1 Cum ad verum ventum est veros per rumores,
papa pater, dominum laudes et lionores
Superbos et emulos pellens detraclores:
[nquinat egregios adiuneta superbia mores.
1, 4 vgl. nr 20 dieser Sammlung 51,4.
214 BÖMER
2 Gaude, pater omoium, et clementer ora,
quia per te dominus regens altiora
Subvenit ecclesie facta tarnen mora:
Grata supervenit, quam nou speravimus, hora.
3 Sancte pater, sanctior adhoc certe fies,
Dum tu pati gravia patieuter scies;
post laborem dabitur tibi longa quies:
Non faciunt anni, quod facit una dies.
4 Nutu cuius oritur et occultat pbebus,
frederico nocuit paucis in diebus,
(jui mundum turbaverat multis speeiebus:
Ludit in humanis divina potentia rebus.
5 Laudes retribuere domino debemus,
falsus cesar, decius, romulus et remus,
perdidit victoriam, quam nos retinemus:
Viclorem a viclo superari sepe videmus.
6 Licet sit brevissimus nostre vite cursus,
Graviter nos opprimunt hostium in cursus,
Sed regina virginum nobis est succursus:
Ultimus est ad eam post omnia fata recursus.
7 Dum ad hanc recurritur matrem pietatis,
opem uulli denegat, sed succurrit gratis;
nuper prece populum parme civitatis
faucibus eripuit pia virgo draconis hiatis.
S Hanc nuper obsederat hie draco versutus,
fredericus nomine, vir labe pollutus;
per bunc in imperio, quo est destitutus,
Vivitur ex rapto, nou hospes ab bospite tutus.
9 Huic draconi perfido, crudeli et crudo,
non est ulla pietas neque mansuetudo;
dici potest verius, breviter concludo:
Non missura entern uisi plena cruoris yrudo.
10 Fine l'ebruarii die duodeno
In anno millesimo atque ducenteno
quadrageno septimo vir plenus veneno
preeipit arma capi, satietur ut ex alieno.
2, 4 Horaz Epist. i 4, 14. 4, 4 Ovid Ex Ponto iv 3, 49.
5, 4 Cato Dist. n 10, 1. 9, 4 Horaz Ars \ioet. 476.
EIERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 215
u Cum inier colluvium et besaillum forte
Ivissent cum pluribus parme »J n«* porle,
ille draco seviens sua ductus Borte
lemptat, ut haue capiat magua comilante coborte.
12 Viso parme populus, quod haue maledicius
rieglulire satagit el eorum victus,
cum iotrare oequeal aliler, cooflictus
se paral ad pugoam, couculcet ut ictibus ictus.
13 Vir prudens gregorius, patrie legatus
a papa gregorio quondam destinatus,
procuraos fideliter honorem papalus
affuil inter eos, vir ad inclita facta paratus.
L4 Assunt vicedominus ei potestas ville,
milites et populus mentis oon pusille;
quilibet se reputat maiorem achille.
Omnibus uiiiis erat prineeps gregorius ille.
15 Ilic ortalur populum prudenti sermone,
excilent ut virginem laudum actione,
Corde, volo, lacrimis et oratione,
Martis ut bos dubii dubio cooservet agone.
16 Ad bec totus populus clamat 'deus meus,
amedeus, bodie oon sis pbariseus,
nunc iil)i confiteor quasi miser reusl'
Qeclitur iratus voce roganle deus.
IT Virginia auxilio demum invocato
rt eius ymagine vexillo signato
precedente aciem legali mandato
Se minime dubio metuunt exponere lato.
IS Populus parmensium utriusque sexus
permanet inlrepidus, tutus, uon perplexus,
dum ad preces virgiois matris et amplexus
lilius uuicus est ad eorum comoda flexus.
l't Urbem cives exeunt et lolum commune,
In hoslilcs acies instant oportune;
qui regit expositos dubie fortune,
Ille dedit pbebo radios et cornua lune.
11,2 zur bedeutung von j>orte vgl. Du Cangr s. v. porta 1, zusatz
(porla pro milium turba videtur aeeipi).
216 BÖMER
20 Sicut ordinatum est, vexillum precedit,
armata per ordinem acies incedil,
Clamat : Miostem deslrue, deus, qui nos ledit I
Materiam venie sors tibi nostra dedit.'
21 Tunc in hostes irruunt ac si sint securi
ex eventu dubio triumphi futuri;
hiis resistuot duriter hostes valde duri,
Ignari penitus, quod denique sint perituri.
22 Sicut, vere didici ex tenore carte,
pugna gravis extitit ex utraque parte;
alterum persequitur alter in hoc marte:
hostis obest hosti, sie ars deluditur arte.
23 Ilic opus est gladiis, ense vel cutello,
nou est opus legibus, nota vel libello;
non auditur aliquis, si dicit 'apello!'
Non bene conveniunt in tali talia bello.
24 Diu dimieaverant in bello fatali,
needum locus aderat fato triumphali,
quando draco seviens plenus doli mali
Cepit adire fugam subnixus equo speciali.
25 Tamquam latro latuit meute manens fieta
sua supellectili tota derelicta
genteque multiplici graviter afflieta,
Et sua falsa i'uit demum victoria vieta.
20 Attendens astrologos, signa et planetas,
persequens apostolos sanetos et prophetas
hie senex non cogitat, quod inter dietas
labitur oeculte i'allilque volubilis etas.
27 Parva gens parmeusium hostium respectu
diniicant viriliter et cordis affeclu,
quod patet ad ultimum ex rei effectu;
Quod periere viri nece nescio dicere nee tu.
28 Hostes parme populus persequens attente
fugat, necat, destruit duce fugiente
et vindietam reeipit ab hostili gente;
Que resupina iacet parma victrice manente.
29 Duces, camerarios necat in pressura
nee cubiculariis parcit gens secura;
HERDR1NGFR VAGANTENLIEDERSAMMLI NG 217
tbadeus occiditur iudex uece dura,
Nil silii (udc valuil civilia aoscere iura.
30 De morte dolendum est iudicis Lbadei,
qui profectum publice procurabal i«*i .
Invictus, ul dicitur, adherebal ei,
Qui luil ecclesie pestis amara dei.
31 Banneratos gladius ultos quosdam ferit,
(|uiluis parma parcere nee cural oec querit;
ciiiii istis ml, iim.i mortuis oon perit:
pena potesl demi, culpa perhennia erit.
32 Quos teoebat viuculis vd captivitate
de viris parmeusibus carens pietate,
liberavil doroiDus sua potestale:
villa cremata fuit peuilus parme feritate.
Cremona cartbocium perdidit iuvita,
fredericus menia el castra munita,
villas, loca. spolia male acquisita;
Perderel el vitam, ni laluissei ita.
i I><- suis railitibus el gente privata
Parma iria milia teoel captivata
preter >n;i spolia uundum esümata:
Sic deus hec statuil ßeri cum matre beata.
> Obtenta victoria per summum viclorem
Panne gens ad propria redit post laborem
Et ad laudem virgiois caotat et lionorem:
'Stirps Jesse virgam produxit virgaque Qorem.'
31, 1 (Ins durch correetur in der hs. verunstaltete erste ivort des
verses, von dem nur Ba . . . tos deutlich sichtbar, ist an der hand des
briefes Banneratos tu lesen. 31, 4 Ovid Ex Pont, i 7, 20. 35, 4
hymnenanfang. vgl. Chevalier Repert. hymnol. in 583.
I h Conquestio Primatis expulsi de domo leprosorum.
[»fang : Dives eram et dilectus.
Wiight Mapes 64 ff hat von diesem klagegedtcht nach ms.
Huri. '.i7s (//') eine sehr unvollkommene ausgäbe geliefert unter
dem titel 'Golias de suo infortunio' statt des in der vorläge
überlieferten kurzen 'Golias'. einen besseren text bot Haureau,
\ot. et extr. vi 128 ff nach zwei Pariser hss. (nr 16208 und
18570). als den Primas, der sich in den versen widerholt selbst
•218 BÖMER
nennt und auch in der Überschrift unserer hs. als Verfasser bezeichnet
ist, ermittelte Haureau einen canonicus von Orleans namens Hugo
(primicier ou primat des ecoles d' Orleans) aus dem 2 viertel des
12 jh.s, der nach dem berichte des canonicus Franc. Pippino von,
Orleans und nach eigener er Zählung (hs. von Tours) eines lages
seines canonicats beraubt wurde, einzelheilen dieses misgeschicks
werden in dem gedichte weitläufig erzählt, doch vermögen wir uns
kein klares bild von dem Sachverhalt zu machen*.
Lesarien von II. In der folge des lexles von Haureau.
Der in diesem nicht strophisch gegliederten gedichte besonders
naheliegenden Versuchung , nach belieben verse auszulassen und
einzuschalten, ist in den verschiedenen Überlieferungen häufig nach-
gegeben, v. 7. quibus HHl, Quorum Haur. 8 fehlt. 9. quis
uro HHl, quibus Haur. 10. sed horr. HHaur., et horr. H*.
12. infidelis HHaur., homo procax H\ 13 fehlt HH\ 14 5
umgestellt. 17. Dacianus HIV, Daciscanus Haur. 20. Iransvexit
HHaur., invexil Hl. 25. honus erat//, erat bonus H\ eram bonus
Haur. 30. sed emunclus ab argen to H, ut emunclus suin argento
H^IIaur. 32. proieclus H, dejeetus Hx, depulsus Haur. lormento
fehlerhaft st. monienlo , durch das lormento v. 31 veranlasst, ein
solches versehen noch mehrmals in diesem gedichte (v. 93. 122).
35. primas HH\ prima Haur. 37. amplion HHaur., graviori
Hl. 40. diguiiale digniori auf traditori (39J bezüglich, vielleicht
ersalz für das durch vestri etwas anslöCsige, aber doch wol zu
haltende dignilatem vestri ebori WHaur. 41. honesta fehler-
haft st. honesli Haur., in H1 fehlt d. vers. 42. viliori HHaur.,
meliori Hl fälschlich. 44. HHaur., fehlt H*. 50. collum mihi H,
mihi Collum HxHaur. 52. I'edo H, aegro H*Haur. 56. Aberravi,
sed pro deo HHaur., Oberravi eorarn Duo Hl. 61 fehlt H. 62
fehlt HH\ 63. vestrae memor HHl, memor vestrae Haur. sanctilalis
HHaur., charilatis H\ 66—68 fehlen H. 69 vri (undeutlich)
H st. veslris. i'atis H (wie es scheint, jedoch das 1" undeutlich) H\
dalis Haur. 74. |)ererro HH\ purcurro Haur. 75. quondam
HHaur., olim //'. S4. et edoctus //, Eruditus WHaur. S7. tarn
in brevi iam despero H, jam in brevi, quod despero HlHaur.
93. parvo H st. brevi, wol wider durch parvo v. 94 veranlasst.
94. ero H, erit WHaur. 95. quod si HH\ Et si Haur.
97 — 100 fehlen HHl; sie sind nicht unverdächtig, da sie zur
[1 herr pro f. WilhMeyer halle die gute, mir soeben einen abdruck
des in den nächsten lagen erscli einenden zweiten leiles seiner arbeil über
'Die Oxforder gedickte des Primas magisler Hugo von Orleans' (Göltinger
nacltrichten 1907, 113//') zu übersenden, ich bedaure auf die hier (158 ff)
veranstaltete neuausgabe untres gedichts mit reichem commentar nur
noch hinweisen zu können.}
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLI NG 219
einleilung der folgenden erxählung eingeschoben tein dürften.
] i»2. passus // fehlerhaft st. pulsus. 106. a minislro ganimede
// in. einer der beiden Pariser hss., vielleicht eingesetzt statt da
bestimmten namens: ;i Willelmo Palimede //'. A Guillelmo Palamede
Haur. | in. der zweiten Pariser hs. ). 1 07 fehlt dann ////'. 1 1 2. man-
tl;ii;i ////', mandalum Haur. 117 fehlt clamanlem IL dum adjulo
IUI, im. Deus ndjuto //'. 118. nie pulabara //. li putabam Hau\
rebar esse //'. 122. comes fui // st. pulsus rui, abermals durch ihn
aüsgang des vorhergehenden verses verursacht. 124 fehlt, i 2$ fehlt
////'. 130. dum adiulo HHaur., Deus adiuto //' (fälschlich, wie
,-. ii7 I. 132 — ") fehlen in 11 wie in den Pariser hss., Haur. hat sie
Wrighl entnommen, obgleich er sie auch für wenig klar hält. \'M.
scelus HHaur., opus Hl. L39 11 fehlen II. 143. dum HHaur.,
qui //'. 1 11. appellarel HHaur., appellabal //'. 1 15. aduocar; ver-
schrieben st. adiutorera. 15u. quo HHaur., qua //'. ferre //. rcrrel
ll'Hintr. 151. Accusalus •■>! per faclurn //. besser : Accusabam turpem
actum ll'Utiiu. 155. accusalus (so auch 156) //, judicalus HlHaur.
156—60 in der reihenfolge: 156. 157. ir>'.t. 158. 160. 156 fehlt
in IV. 1",7. magis dou obedi (?) //; intus dou resedi WHaur,
Hin. quidquid sacre dedit eili //, qui quod sacrae dalur aedi IP Haur.
mit 160 Schliefst das gedieht in II wenig glücklich ab (darunter:
ExplicilJ, nährend nnrh dm anderen Überlieferungen 161- 1 nmli
weitere vorwürfe gegen den verräterischen caplan erheben und muh
d<r Palaraedes (Palimedes) von v. 106 wider genannt wird. ab der
Schreiber tun II bexw. seine vorläge wegen dieser anspielung auf
eine bestimmte peTSÖ iiliehl, eil , über die er sieh vorher durth eine
conjeetur hinweghalf, die verse jetzt </anz forlgelassen hat. /«'
ein streichen des /tilgenden appells an die mitbrüder (165 — 77
lag eigentlich kein grund vor, dagegen ist es sehr wol möglich,
dass diese verse erst nachträglich angeflickt sind.
15) Petitio Primatis porrecla papae pro benefit
obtinendo.
Anfang : Tau tu viro locuturi.
Den ersten druck dieses klagerufs an den heiligen vater in
Born lieferte Flacins Illi/ricus 1 //' unter dem langatmigen titel :
'Querela eruditi et pii hominis, qua alloquitur Papam ostendens
Praelaluras \' bona Ecclesiastica teneri ab indoctis avaris \" igna-
ris ventribus : contemptis Interim \ esuhentibus its, qui se doc-
trinae studiis dediderunt : petüque hör malum n Papa emendari.
issignari tarnen possunt hi rythmi Gualtero Mapes . . .' für die
Zuteilung des gedichls an Mapes stützte sieh Flacius auf dessen
Vita von Johannes Baleus, die er s. 121//' zum abdruck bringt.
bereits PLeyser [Bist, poetarum et poematum medii aevi 779 ff)
220 BÖMER
konnte nach einer Leipziger hs. zahlreiche versehen des textes
von Flacius berichtigen. später nahm Wright, auf Flacius
fufsend, das stück unter die gedichte des WMapes (blff) auf.
neben den drucken bei Flacius und Leyser zog er Hart. ms. 978
(//') heran, in der Pariser hs. 8359, jetzt 3245 erscheint das
gedieht mit dem kurzen titel Domino Papae unter den 10 stücken
des Gualterus de Insula, die Mütdener veröffentlicht hat (Die zehn
gedichte des Walther von Lille genannt von Chatillon. [1859] 45/f).
gegen die Verfasserschaft des Walther v. Chatillon sind von Haureau
(Not. et exlr. vi 302/) bedenken geltend gemacht, die sich jedoch
in der hauptsache auf acht, nur in einer Pariser hs. (Nouv. acqui-
sitions 11567) überlieferte Strophen stützen, welche sehr wahr-
scheinlich ein späterer zusalz sind (s. unten das lesarten-verz.,
nach str. 15). Paris hat aufserdem noch 2 hss. : Nouv. acquis.
1544 n. 11412. das in H dem Primas zugeteilte gedieht ist hier
überall, wie auch in der Leipziger und Londoner hs., anonym.
Haureau hat zwei ausgaben geliefert:
1) Not. et extr. u ob ff, auf grund der drucke von Flacius,
Leyser. Müldener u. der 2 Pariser hs. Nouv. Acq. 11412 u. 11 867
(unten Haur. i citiert)
2) Not. et extr. vi 299 ff, unter Hinzuziehung von Paris
Nouv. Acq. 1544 (Haur. u).
Lesarten von H.
In der folge des textes von Haur. u. die zahlreichen fehler
von Flacius, die bereits von Leyser verbessert sind, werden nicht
angemerkt. IVright hat zu anfang nach Hl eine sonst nicht
überlieferte Strophe: Noslri nioris esse solet elc , auf die zunächst
str. 3 u. 4, dann 1. 2. 5 ff der gewöhnlichen Überlieferung (der
sich auch H anschliefst,) folgen. 1, 4. Carinii ilecet H st. Carinii
care, unter aufgäbe der würkungs vollen allilleralion. 5. simus coro
H, Legs., Müld., Haur. (i u. nj, caro simus Fl., Wr. 2, 1. quitleni
H st. eniui. 5. Homo novus H, Legs., Wr., Haur., Alque novus
FL, et vir novus Müld. 3, 1. mundi mores H, FL, Legs., Müld.,
bonos mores Wr., Haur. 4. reprehendam H, Wr., Müld., Haur.,
non defemlam FL, Legs. 5. et eis non condescemlnm H u. die
meisten, Aut eos jam reprehendam Fl. 4, 2. veritatis H u. d. übr.,
st. lenitalis Leys. 5, 2. coram tanto quis ego qui H, Leys., Müld.,
coram tantis? quis? pgo qui Wr., Coram Papa quis est [!] qui
jrers/] FL, Coram papa? Quis ego, qui Haur. 6, 1. Quid nisi
desertum mundus H (mit laclwechsel), Quid desertum nisi niundus?
Leys., Wr., Müld., Haur. i, Quid desertum mihi? Mundus Haur. n.
3. respuit H, FL, Leys., Wr., polluit Müld., Haur. 4. dici solet
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMML! NG 221
//. Fl., Hr.. Müld., Haur,\(xu verbessern in: dici doletj, üoci I
dolei Leys., esse dolel Haur, u. .">. quia qui iui >1< i //
Quia qui vernare solel UV., Müld., Haur.', Nam quod fruclum dare
solet Ft., Leys. 7, I. Qui solebal //. Müld., Quis s. Leys. feh
haß), Quod s. FFr., Haur., Debel mundus /•'/. 5. afferl /7 m. //. üftr.
gegen praeferl Haur. u. s. 1. Cum // »<. </. üftr. gegen Qu /■
9, 2. Canes, catti // sf. canes muti. 3. gigantum Iralerculi //. n
Müld., Haur, fgigantium m. tactwechsel Leys.), El Gigantes efferi Fl.,
ronservanl //. fälschlich st. caocervant. lu. 2. Nil // sc. Non.
:;. id ipsum quod // (lactwechset) m. d. übr. gegen M quod prius
Haur. li. (i. Haur. n /<</( oucA nundum st. aondum, e/V // durch-
gehends. 12, 1. Ipsi // st. isti. 1.1. I. Vivunl leno H, Müld., Vivil
leno /•'/., Leys., Hr., Müld. (als conjectur), Vivil palpo Haur. \,
Vive, palpo Haur. u fund dann im foiy. r. tuis sJ. suis,'. 14, 3. ferl
7/. Leys., Hr.. Müld., Dal F/., Danl Haur. 1. quod esl //. oec
esl /•/., Mahl.. Haur. 1, uod est Leys., Hr.. Haur. 11. 5. provehebanl
H, Wr„ Müld., Haur., provehebal /•'/., Leys. 15. 1. Anliquilus el
//. Müld., Haur. i. AntiquilUS nam Leys., Aiilnjiim uni et MV., Anli-
quoruui nam y/</«c. ii. 3. Declamantes yy. Leys., UV., Müld., Haur. i,
Disputantes Haur. n [1 — 3 fehlen in Fl.]. die achi von Haur.
i u. n nacA Paris, ms. Nouv. acq. 1 1 867 ;»•. [5 u. lii eingesetzten,
aber sehr verdächtigen Strophen, auf welche oben schon hingewiesen
wurde, führen den ^edanfcen aus, dass in d»w Wissenschaft die Juristen
gegenwärtig völlig die Oberhand gewonnen hätten, dass die arles von
den leges überwunden wären. in. I. Opulenii solenl H,Wr.,
Müld., Harn. i. Opulenii solebanl mit doppelsilbiger Senkung) /•'/..
gloriosi solenl Haur. u. 4. Si'ii // fehlerhaft st. Sive. 6. rore
vitreo JJ, UV., Mahl.. Haur.i, rore niveo /•'/.. Haur. u. bei Leys.
/i7(/; 16_/. 17, I. Super aquas //. /•'/., UV.. Si per aquas A-eys.,
Müld., Haur. 4. Sil 7/, UV., Mahl.. Hau:., seil /'/., /,<•//.*. 5. iiik'Iii
scire /y. /.'•//<.. scire nnlii /'/., UV., Müld., Haur. 18, 2. scissus
//. Leys., Müld.. Haur., caesus /•'/., sumptus UV. de altari y/.
/'/., /.•//>.. UV., Müld., ab alt. 7/'*i/r. 19, 5. Jacob ooslre (meae
Haar. 1 1 > liberlatis 7/. /,ey->.. Müld., Haur. i. n, Jacob terrae liberlalis
/7., Iiniiiii »erae libertatis UV. 6. prefigurat H. Fl., Leys., UV..
praesigoare Müld., Haur. 20, 5. quia nostras y/. Leys., Müld..
Jlaur.. Nostras enim Fl., sie et noslras UV. 21, 1. sareptene H,
Leys., UV.. Saraplenae Müld.. Sareptanae FL, Haur. 5. tli^ne deo
digna H. UV.. Müld.. Haur.. richtig st. dora <ligne digna F/., dooo
iligne digna Leys. 22. 2. per quod sanetus H, zu verbessern in et
ler sanetus UV., Müld., Haur; Pater sanetus Fl., Leys. 4. iriuni
77 fehlerhaß si. trinum. 5. ul 77 fehlerhaft st. Ruth. 23, 1. Sic
involvit rota rotarn 7/, Müld., Haur., richtig st. rotam lolam /-7..
rola lolam Le»/.>-., Secum volvit rotam rola UV., der sfr. 22 u. 23
umgestellt hat, 4. sie amictum par.vipendit 7/, F/., Leys., UV.. Haur.
>u- vinciri parvipendit iUü/'/. 24. 2. a geniili 77 in. d. üi/r. richtig
gegen a gentibus UV. 5. diserto H, UV., Müld., Haur. richtig st.
222 BÖMER
deserlo FL, Leys. 25, 3. plus v;icasse sludio H, Leys., vacasse tali
sludio (mit laclwechsel) FL, se vacasse studio Wr., Müld., Haur.
5. et labore H, FL, Leys., Müld., Haur. n, et in ipso Wr., Haur. i.
26, 3. credilur post aspera H, Credilur plus aspera Leys., Reddilur
post aspera übr. 4. ad romani sedem patris H m. d. übr., ad istius
sedein patris Wr. 5. ad sinus sancle matris H (unhaltbar, da so
das ubera im folg. v. in der luft schwebt), ad sacrosanctae matris
FL, Leys., Haur. n, ad sanctae Sion matris Wr., Müld., ad Sion, sanctae
matris Haur. i. 6. reversus sum H mit taclicechsel st. Sum reversus.
27, 1. pastor H m. d. übr. gegen Papa Fl. 28, 2. si prebenda
muneralus H m. d. übr. gegen Si sim ego muneratus Fl. 3. redditu
H, Wr., Haur., reditu Leys., Müld., praebenda (mit laclwechsel) FL
4. Vivain licet H m. d. übr. gegen Licet detur FL 5. ut sie mihi H
st. Saliern mihi. 6. studeam de proprio H m. d. übr. gegen Perse-
verem sludio Leys. am schluss hat Haureau n nochmals eine sonst
überall fehlende Strophe, deren echlheit widerum verdächtig ist.
16) Apocalypsis Go/iardorum.
Anfang : A tauro lorrida lampade ciutbii.
Die apokalypse gehörte trotz ihrer übermäßig großen länge,
trotz allen dichterischen schwächen und dunkelen stellen zu den
beliebtesten stücken der vagantenlitteratur, so sehr entsprach die
Schilderung der himmel fahrt des dichters dem geschmacke der zeit,
und so ausgiebig war hier das Sündenregister der geistlichkeit, vom
papst herab bis auf den einfachen manch, geraten.
Bei Flacius Ulyricus IIb ff, der seinerseits wider auf JohBaleus
fußt, trägt das werk den namen Walther Mapes : ' Apocalypsis Goliae
pontificis, super corrnpto sni temporis Ecclesiae statu, edita rythmis
facetis, per Gualtherum Mapes Oxoniensem archidiaconum, circa
annum domini 1200'. Flacius sind gefolgt in älterer zeit J Wolf Lect.
memorab. i 430 ff und Eccard Corpus hist. medii aevi u l&blff.
in neuerer zeit Wright Mapes 1 ff, der 16 englische hs. nachweist
und von 7 derselben, 3 Harleian mss. (ff13) u. 4 Cotton mss. (C1"4),
Varianten verzeichnet, in den meisten derselben lautet der titel
Apocalipsis Goliae episcopi, den Wright auch für seine ausgäbe
übernommen hat. in der Pariser hs. 8359, jetzt 3245, steht das
gedieht als viertes unter den 10 stücken des Gualtherus de Insula
( Müldener 19 ff) unter dem titel : Contra Ecclesiaslicos iuxla
visionem Apocalypsis. gegen die Verfasserschaft der drei ver-
schiedenen Wallher, die für den von Müldener auf Walther von
Chatillon gedeuteten namen Gualtherus de Insula in betracht kommen
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 223
könnten , wendet sich Bauriau in Not. et exlr. \\\\ 2, '-".»:■://',
und liefen zugleich den nachweis, dass die 10 gedickte weder
inhaltlich noch stilistisch ein und demselben Verfasser angehören.
unser StÜck möchte er um eisten noch dem dichter dir General
beichte zuschreiben, dem Cölner canonicus im dienste Beinaldi
von Hasset, für seine ausgäbe (au. Tl&ff) stund lliiiireuii nie
den drucken die l'ni iser hs. 11864 zu) Verfügung >owie vor allen
die ihres alters wegen (ende des 12 oder an/, des \'A jh.s) besonders
beachtenswerte vaticanische hs. Christ, reg. 344, deren beschreibung
sein au /satz gewidmet ist. eme. Münchener hs. (nr 416), in der
das gedieht als ein werk des Alanus \de Insulis] erscheint, verzeichnet
Wattenbach Zs. 15, 173.
Die Überschrift von II teilt das stück keinem bestimmten
Verfasser zu, auch nicht dem Holms episcopus, der schliefslich nur
ein gattungsname ist; sie macht es vielmehr ausdrücklich zum
allgemeingut des Goliarden, indem, sie ihm den titel Apocalipsis
Goliardorum (jiht.
I. es a r i en v o n //.
Es sollen hier nur die almeiehuugen con ihn drei neueren
ausgaben con Wright (bexw. den von ihm verglichenen englischen
hss. C1 '. //,Jj, Müldener und llam. au verzeichnet werden, während
tu diesen drei texten das gedieht llo in der folge genau überein-
stimmende Strophen hat, weicht // sowol in der zahl wie in der
Stellung derselben wesentlich ab. str. 60. 98 und 99 fehlen, dafür
ist nach 103 eine wenig glücklich um anklängen an 105 ein-
geschoben, die anordnung der übrigen Strophen ist gegenüber der
gewöhnlichen Überlieferung folgende : 1 — 9. 12. 13. 10. II. 14 — 29.
32. 30. 31. 33—59. 61—97. 100—103. 104—110. was den
redaclor zur Umstellung veranlasst haben mochte, ist in den meisten
fällen nicht zu ermitteln. bei 10 — 13 hat es offenbar seinem
geschmacke mehr entsprochen , unter den männern des alterlums,
die dem dichter bei seiner himmelfahr t begegnen, erst alle poeten,
dann alle prosaiker zu nennen, er lässl demgemüfs Lueau, Virgil, (hui.
Persius (12), Statins und Terenz (13,1 — 3) vorangehn und den
in der eulgata hinter den dichtem nachhinkenden Uippocrales (13, 4)
Überleiten zu Priscian, Aristoteles, Cicero, Plolemaeus (10). Boethius
und Euclid (11). das mochte etwas für sich haben, dagegen verrät
die Umstellung der str. 30 — 32, wenn sie beabsichtigt ist und nicht
auf einem versehen beruht, eine durchaus unglückliehe band, da
30 31 sich unmittelbar an 26 — 29 anschliefsen müssen, indem sie
gründe für die vorher geschilderte beschaffenheit der vier wesen
anführen. auch für die auslassung um 60. 98 und 99 ist
plausibeler grund nicht zu entdecken, da die niederschrifi gerade
224 BÖMER
dieses Stückes auch im einzelnen bei H eine aufsergewöhnlich groCse
anzahl von versehen aufweist, durfte das fehlen der Strophen gleich-
falls auf einen irrlum des Schreibers oder seiner vorläge zurück-
zuführen sein. die 30 ersten Strophen des gedichles liegen in II.
wie oben bei der beschreibung des näheren angegeben, in zwei
aufzeichnungen vor. wo diese von einander abweichen, soll die
erste mit H3, die zweite schlechtere mit Hh bezeichnet werden.
3, 1. iuspicio HClC2, Müld., aspicio Wr. (nach d. übr. engl, hs.),
Haur. 4, 1. niicuit HWr., Müld., uituit Haur. 4. confusis (in
H3 aus fufusis hergestellt) verlesen st. concussis. labiis HWr., Haur.,
labris C\ Müld. 5, 1. Est HMüld., Haur., Mine Wr. 4. venit
H fehlerhaft st. vernat. 6, 3. el tolum HCXC", qui tolum UV.,
Müld., Haur. 4. respice HC2, Müld., besser : inspic»- Wr., Haur.
7, 1. aperuit HC2, Müld., Haur., exposuii Wr. 2. perspexeram
HWr., JJaur., statt des unpassenderen prospexerain Müld. 4. eya
nie. H st. et tu nie. 8, 3. devolviraur HMüld., divolvimur übr.
In, 1. üinc H fehlerhaft st. Hie. in Hh planis verschrieben st.
palmis, wie H" richtig hat. 3. demulcet H m. d. engl, hss., Müld.
u. Haur., vi muleet Wr. nach Flac. III. 11, 1. Taxat H st. traclat.
numerabilia HMüld., Haur., innumerabilia Wr. 4. taxat H fehler-
haft st. trahit. 12, 2. euneos H fehlerhaft st. aeneas. 4. procacem
H3, dicacem Hb, auf Persius bezüglich, besser : dicaces übr. 13, 2.
delinuit nie H., detinuit (deleniit?) res Haur., Müld., delinuil res Wr.
14, 2. prefulgens sideri HC2, Müld., Haur., vullus siderei Wr.
3. suspice HWr., Müld., suseipe Haur. m. Flac. Hl. oculos aperi
HMüld., Haur., et coelos aperi Wr. 15, 4. ceolorum Hb, fehlerh.
st. eelonim Ha m. d. übr. auditu Hh fehlerh. st. adilu H* m. d. übr.
16, 1. qui HMüld., quod Wr., Haur. 2. reverberaverat H, mihi
reverberat Müld., Haur., inde reverberal Wr. 17, 1 Sed visa scripserat
HClC2, Visa conscripserat Wr., Müld., Haur. 3. scribis H st. scribes.
eadem HOC2 st. eliam. 18, 4. vox tube duet. H st. vel tube duet.
19, 3. vix Hh fehlerhaft st. vir H3 m. d. übr. 20, 3. instar justitie
HWr., Müld., formam justiciae Haur. 21, 3. respieias HHaur.,
aspicias Wr., adpicias [!] Müld. 4. vota H fehlerhaft st. nota. facies
HC2Haur.; facias Wr., Müld. 22,2. Quod H st. quae. 23,2.
apparuit H fehlerhaft st. aperuit. 24, 3. et fehlt Hh, H3 m. d. übr.
richtig. 25, 3. viluli ü fehlerh. st. intuli. 4. perlegens H st.
praelegens. 26, 3. decorat Hh fehlerh. st. dedecoral Ha m. d. übr.
4. in imis H ohne sinn st. nummis. 27, 1. iste H st. ilie. 4. sagnatus
Hh fehlerh. st. saginalus H3 m. d. übr. 28, 1. quod H fehlerh. st.
quae. 2. dicil Hh fehlerh. st. dieitur H3 m. d. übr. 4. vescitur,
natürlicher als vivilur. 29, 1. Est quod HWr., Haur., Est qui Müld.
2. dicamus H fehlerh. st. decanus. 3. reputat opus iuslitie H st. operil
forma iustilie. 30, 1. Isli H fehlerh. st. Isla. 2. inter H st. renun.
4. perspiciunt H, besser : prospiciunl ClC2, respiciunt Wr., Müld., Haur.
31, 3. mirabili HCXC1 st. mulabili. 33, 1. genti HWr., Haur. besser
als gentis Müld. niulilae HWr. st. miserae. 2. mulilos HWr. st.
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 225
vilulos. !!4. 1. miseriis // fehlerh. st. miseris. 4. tiefen // st. refert,
:;."), 1. mulgeos // Müld. st. mungens. 36i 2. previus // il. de>
riucens HWr., Müld, ducit Haur. .'17. .'1. qui solo EP, cum solo Wr.t
Müld., ein Solu Ilmir. penduni // st. pendent ,'!\ 2 3 umgestellt 11.
39,2. viribus IUI1, viribus MV, ETaur., faucibus MO/d. 3. de // s(. >.
4(>, 4. Sed Polyphemus esl iuris ad methodum // (bis auf die Umstel-
lung von iuris und ad m. TT-//'-, Haur, übereinstimmend), et Pol.
psl ;nl .utis metodum UV., sed Pol. esl ad veri methodum Müld.
-41. i* . esl levius HC1, levius esl f*mtl tactto.) Haur.. >^\ pondus
Wr., Müld. 3. qui unuiu HC1 (mit hiatus) st. unuiii qui. esl
reus // st. reus est 4. uisi qui solveril // st. des besseren oisi
krni. 42, 2. rormans //MV., Afüid., ffaur., formal C'fl1. blla-
ciam //6'3//', fallacias MV.. Müld., Haur. beim zweiten aort also
gerade das umgekehrte Verhältnis icie beim erSien. 43, 3. UOtal //.
vocat MV.. Haur.. vacat Müld. 4. quoil autem veneat venil // st.
quam uon inveniens venil ecclesia, beides nicht recht klar. Miild.
vermutet st. venil : vendit. 44, 2/3. per . . . fortunam HWr.. Haur.,
besser als prae ... forluna Müld. 3. habeat HWr. Haur., haurial Müld.
4. oiiicii //MV., Haur.. causam Müld. 45,2. per genitivos seil //MV..
Müld., Genitivos sciat (mit tactir.) Haur. delictum st. dalivos, mit
aufhebung des Wortspiels genitivos . . . dalivos. 4. fratribus //MV.,
Müld., frucÜbus Haur. 47, 2. qui HWr. st. des besseren Ouae.
iiiif // fehlerh. st, viro. 4S. 1. iuris // st. viri. 2. facie [vgl. o. 4]
// st. sanie. 3. virens // Haur., furens MV.. Müld. 4!*. 3. est
fehlt HU2. 4. datis fi venditis est Concors Simoni HWr., Müld.,
Dandisque venditis eoncors est Simo-ii Haur. 50s 1/2. sequens und
lucri vertauscht II. 3/4 umgestellt H. magistri // fehlerh. st.
magister. ."il. 2. in fal>is habilat // st. falsis inhabitat. 4. que pie
H Müld., qui pie MV., dum pie Haur. 52, 2. sie rerum // st.
nrumque. 3. sedaverit monenle zu verbessern in sedaveris monete.
53. 2. sed cum // Haur., sed si MV., Müld. 3. prurigine // fehlerh.
st. pruriginem. 54. 1. promovet H Müld., Haur, prnmovit MV.
ersleres besser zu content passend. 2. cum //MV., Müld., si Haur.
3. Tirii // fehlerh. st. Tilii. 55, 2. aperuit H Haur., arripuit Wr.,
Müld. 4. Sicque II st. Ad hoc. aperuit H fehlerh. st. apparuit,
durch d. ausgang von v. 1 veranlasst. 56, 2/3. umgestellt H.
4. qui H falsch st. que. 57, 3. dum in montibus rodope H ; Wr.,
Haur. haben st. montibus das wol ursprünglichere colihus bezic.
cautibus. in C2 ist zur erläulerung von caulibus : vel montibus
an d. rand geschrieben. dura Rodope cotibus Müld. 4. sceleris
//, scelerum Müld., Haur., scelorumfl] Wr. 58. 1. in sibimet in
tanto H, zu verbessern in : ex sibimet innato MV., Haur., erraverint
innato Müld. 2. possunt II st. possint. 3. quid H fehlerhaft
st. quis. scribet // Müld., scrihae Wr., Haur. 511. 2. namque //
st. nempe. lit, 1. adiungunt // st. lucrantur. 62, 1. ecclesie
venduntur // st. ecclesias venantur. 2. mentio // st. quaestio.
3. in rums II Haur. st. si cuius. fit H st. sit. 63, 1. In HC2
Z. F. r». A. XLIX. N. F. XXXVII. 15
226 BÖMER
>7. Hoc. 2. serael H st. semper. fit HWr., Müld., sit Haur.
3. dicitur H st. ilucitur. 4. fehlt H. 64, 1. Tunc H Haur.,
Tum Wr., Müld. 2. inlonat H st. inlonans. 65, 1. Viso capitulo
legi proverbium (prooemium Wir., Haur.) H (Wr., Haur.), Viso
prooemio perlegi folium Müld. 2. rerum // st. morum. 3. ul
H st. vae. verum H fehlerh, st. rerum. 67, 2. rede st. bene.
68, 3. discat a populis H, diseit a populo Wir., Müld., Discit a pluri-
mis Haur. 4. commissa minima II Wr., Haur,, mala levissima Müld.
69, 1. est vor «leo fehlerh. H. 2. necem H st. mortem. 3. puer-
peram HWr., Müld., puellulam Haur. 70, 1. lurpiter H st.
presbiter. 71, 2. quod rerum animam persolvant decimam H st. quod
rerum decima non salvat animam. 4. suo det HWr., Haur., solverit
Müld. 72, 1. Seit qne vulpecula foveas H, zu verbessern in Seit
quae vulpeculas fovea H3 Haur., Sic<|iie vulpeculas fovea Wr., Ulque
vulpeeulas fovea Müld. 2. nee HWr., Haur., non Müld. 3. in-
fantes H fehlerh. st. animas, durch d. ausgang von v. 3 veranlasst.
74, 1. Hlud // st. Islud. 3. sublinearibus H, inlerliuearibus Wr.,
Müld., inlerlinanbus Haur. mit Vermeidung doppelsilbiger Senkung
im 1 fufs. 75, 3. voluntas H fehlerh. st. voluptas. 4. conlagio
HC2H3, Müld., Haur., eollegio Wr. 76, 2. iut // fehlerh. st. iura.
3. reddilus HWr. st. redilus. 77, 2. aut H st. vel. 3. singulis
subjeclis HWr., Müld., subiectis singulis [ters.'J Haur. insidens
HWr., praesideus Müld., Haur. 78, 4. opelorium H fehlerh. st.
opertorium C2, opertoria übr. 79, 1. indagines HWr., Müld., ima-
gines Haur. 80, 1. fovet H st. regit. 3. admitlat H. fehlerh.
st. amiltat. 4. prebenda H fehlerh. st. perdenda. 81, 4. rerum-
que H st. et rerum. 82, 4. sie suo quilibet HHl, sie sors cuius-
libet Wr., Müld., L't sors euiuslibet Haur. 83, 1. mensuram H fehlerh.
st. lonsuram. respuit H m. d. übr. gegen despicit Wr. 3. librans
liberos HWr., Müld., liberos librans Haur. 84, 1. Ad liaec HWr.,
Müld., Post baec Haur. 3. ex agmine H st. examine. 85, 3. fuil-
que H (noch auf dux bezüglich) st. stetique. 86, 2. est quisque
(lux HWr., Müld., besserer vers als Haur.s quisque dux est. 87, 2.
ratio H st. passio. 88, 4. prona H fehlerh., pronis Müld., pronus
Wr., Haur. 89, 1. babeant cor trilum H st. cor babent conlritum.
Dil, 2. creberrime H st. celerrime. 4. spumosus H st. spumoso.
91, 1. tenam HClH'2H3 st. cenas. 3. atlolbt H st. extollit. 4. quam
dissouis acclamat H st. grandisonis exclamat. 92, 3. 0 ho H, he o
If'r., Müld., Hae Haur. 4. stirpi H st. stirpis. nos prole H,
prole nos Wr., Müld., proles nos Haur. 93, 4. ha sie H st. ha hi.
94j 1. ulla H fehlerh. st. illa. 3. sie nulla est lis vel conlentio H
(m. hialus), hinc esset lis et conlradiclio Wr., Haur. (Müld. cessat
st. esset). ' 4. totum HHaur. [der aber st. ad : sed und st.
bibilur : bibatur [facJic. /] hat) st. plenum. 95, 1. faciunt H st.
slatuutit. 3. sed sine HFlac* (cfr. Wr.), sie sine Wr., Müld.,
Et sine Haur. 4. et replent HWr., Müld., replenlque Haur.
96, 3. sicut piea pice H, ut pica picae ul (vel) Wr. (Müld.), ut picae
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLI NG
pica vel Haut. I. cui HWr» Müld., queis Haur, incendium //
fehlet lt. st, ingeniura. '.)7, I. Hanc // fehlerh. st. Bis. ileniiuni
mola // [mit laclwechsel) st. mola Jenlium. I. calorem // st. colorem.
Doiium H Wr., Müld., noclium Haur. 98/9 fehlen II. 100,
si dalur // st. qui si quid datur (ileiur). I02i l. De ilie decies //
U. Die Iripudians. I. dei vir II Müld., vir dei (mit imtic. n
Haur. L03i '-• wi anfang lücke, dann : in manibua //. dux meus
manibus ü /v /• . 3. describens // st. discerpens. nach ur, ln.'i in H ganz
unpassend folgende Variation von l""». die trotzdem noch nachfolgt:
Oni raplus rueram ad celum terlium,
lins gestia deferor ad sunimum oubium,
Et quod mirabile vidi misterium,
salia aperui cuique mortalium.
vielleicht hat sie in eilirr vorläge als ersatx für 105 am randi
■ luden und der betreffende abschreiber, der überhaupt in dem
ganzen stücke kein allzu grofses Verständnis verrät, — es wurdi
schon daran/ hingewiesen, dass der fehlerhafte text nicht auf den
Schreiber von II geschoben zu werden braucht — sie als mit zugehörig
betrachtet.
In."). 2. adusque lerlium // st. usque ad lertium (mit hiatus).
I06i 3. cousilia HWr., Müld., magnalia Haur. In7, 1. vidi
HWr. st. noveram. 2, magni consilii II Wr., Müld., sancli palatii
Haur. 3. proponunl HWr., Müld., appoounl Haur. 1. lelhea //
fehlerh. st. lelhei. laticem HWr., Müld., calicem Haur. propo-
ount (vgl. v. 3) // fehlerh. st. propinant. los, l. papaveram //
(fehlerh.) st. palpaveram Müld., comederam Wr., Uaur. 2. infumli
// l-'lac* st. infudi. 4. stire de //, oosse de Haur., üosse cum
Wr., Müld. In!), 2. conscius // st. uuntius. scripserit // (mU
tactu-.) st. inscripsit. 1. hec . . . securius // st. hoc... Gdelius.
Unterschrift in II : Explicit apocalypsis goliardarum.
17) Principium Magistrate.
Wie in dem princ. mag. nr 10 dieser Sammlung bildet auch
hier <len miltelpunct des gedicktes die erzählung von der erscheinung
einer beraterin im träume des neuen magisters. wider ruft der
dichter zu beginn Gott vater, Gott söhn, den hl. geist und die
Jungfrau Maria um beistand an, diesmal auch noch das hl. kreuz
Christi, nachdem er hierauf den erlauchtesten der Versammlung
besonders angeredet positis pro nomine signis, wendet er sich an
die gemeinschaft der anwesenden doctoren und bittet, ihm gewogen
zu sein und anzuhören, weshalb er sich um das magisterium
beworben habe : er ist an einem sommertage in der frühe in einen
prächtigen hain gegangen und durch den lieblichen gesang der
nachtigall in schlaf versenlct — dasselbe motiv wie in dem oben
15*
228 BÖMER
genannten stücke, wie er aber einmal aufgeschreckt um sich geblickt,
hat er die grammalik auf sich zukommen sehen, er ist indessen
icider eingeschlafen — ein nicht besonders glücklicher gedanke, bei
dem man fast an einen fehler der Überlieferung glauben sollte —
und hat weitergeruht bis zum ende der nacht, da endlich ist er
völlig erwacht und hat nunmehr die grammatik an seinem lager
erblickt, 'sei gegrüfst, o bruderV hat sie ihn freundlich atigeredet
und ihm die frohe botschaft verkündet, dass sie ihm das regimen
scholarum zu übergeben gedenke, in dessen besitz er schon längst
hätte sein können, nach ehrfurchtsvollem grufse hat er versichert,
dem officium magistrale nicht gewachsen zu sein, sondern erst
noch weiter lernen zu müssen, diese furcht hat jedoch die grammatik
leicht zu verscheuchen gewust, und nachdem sie dem zaghaften
vorgehalten, wie töricht es sei, immer als armer schlucker weiter-
zuleben, anstatt ein einträgliches amt zu übernehmen, hat er endlich
den entschluss gefasst , sich um die magisterwürde zu bewerben,
wie der vortragende des früheren princ. mag. betonte, dass er
misgwist nicht zu fürchten hätte, so nimmt auch der unsrige
nach beendigung der erzählung veranlassung, sich mit einem neider
abzufinden (slr. 31 — 33), um hierauf zu erklären, dass es an der
zeit sei finire ludibria (34). es folgt dann noch eine schlussstrophe
(35), deren erklärung Schwierigkeiten macht, sie beginnt : Hiis clictis
subticuit (s. unten den text). es fragt sich, wer hat gesprochen
und was hat er gesagt? die Sätze Finire ludibria — mea uatat
prora gehören sicher noch dem magister an, loahrscheinlich auch
dazu das : hacteuus invidiae respondimus in dem gedankenlos Ovid
Rem. am. 397 entlehnten vierten verse von 34. es bleiben also nur
die beiden worte Altrabe lora! übrig, wir müssen uns notgedrungen
denken, dass jemand — aber wer? — dem dichter diese a%t ff orderung
zugerufen hat in dem sinne, dass er die zügel des magisteriums
nunmehr anziehen solle, wenn nicht der 4 vers von slr. 35
mit dem ausgang: cur excusatus abirem auf den abschluss des
ganzen deutete, läge die annähme nahe, dass die Strophe oben nach
der ersten rede der grammatik (slr. 18) einzufügen wäre, sollten
die verse überhaupt nicht in dieses gedieht gehören? — wie in nr 13
sind wider 3 verse der vagantenstrophe mit einem hexameler oder
penlameter vereinigt, doch sind hier die ersten künstlicher gebaut,
indem sie mit 2 ausnahmen (17, 2, xeo aber vielleicht spalium
in spalio zu ändern ist. u. 26, 3) neben dem endreim auch cäsur-
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLl NG 229
reim aufweisen, may tactwechsel, mit mafs angewendet, eine
willkommene abwechslung in den gleichmäfsigen /luss der tu
bringen, der dichter dieses Stückes hat sirli m seinem gebrauche
derartig gehn lassen, dass die zeilen zum grofsen teile wenig
ansprechen. man lese zl>. '.», 'A. [0, 1. 19,3 "• 27,:'», 100 tu
beiden vershdlften der tact wechselt. 29, 2 hat im zweiten teile
nur ■> silben. vielleicht ist hier me ausgefallen.
Principi u in m ;i gisl r;i I ••.
1 CuDCtipoteos genitor, prioeeps maiestatis,
oecultorum cognitor ime deitalis,
tu mee dispositor esto voluotatis,
liuc adeß et dubie dirige vela ratis !
2 Consolalor optime, criste, tili dei,
dulcis bospes anime, dulcis requiei,
da michi, piissime, donum huius rei,
([iioil possim cepta pondera rerre meil
Veoi, sanete Spiritus, quia in venu
null auderem penitus tantas aggredi res;
rege meos aditus, michi nunc aspires
dans michi te placidum, dederis per cetera vir«
i Virgo dei tilia, malcr salvatoris,
parem, paris uescia virgo singulare,
Sensuni et eloquia michi largiaris:
Alma fave ceptis Stella maria marisl
5 0 crux admirabilis, o crux triumphalis,
arbor uua oobilis, u u IIa fuit lalisl
Spes incomparabilis, s|>es inuodialis,
Me, precor, attollas virlulum quatuor aus.
6 Doctor pollens inoribus preconio dignis,
cuius lucet actibus caritatis ignis,
fave meis preeibus, prudens et insignis,
Scis bene, cui dicam posilis pro nomine signis 1
: Vos, doctores nobiles, vos affectu vero
satis precor faciles, nam quod precor spero,
este favorabiles, nil aliud quero
perpeluusque anime debitor buius ero.
- Cur regimen capio, forte michi quedam
fiel prius «juestio, quam ultra procedam;
2, 4 /. cepti R.
230 BÖMEK
ergo magisterio quare sie attenilam,
Si vacat et placidi ratiouem ammillitis, edam.
9 In estalis tempore matulinis horis
spaliabar nemore quodam pleno roris;
Ludebai sub arbore fons vivi decoris,
Temperie cuius capior specieque liqtioris.
10 Fluebat murmuribus fons ille ioewndis,
ludebat in partibus calculus profundis;
capris, feris, avibus non tactus iramundis
fons erat illimis, nitidis argenteus undis.
11 Hunc ab omni latere silva precingebat,
que sole tepescere locum probibebat.
Me iuvabat visere locum, qui virebat;
Gramen erat circa, quod proximus bumor alebat.
12 Locus erat avium circumcirca plenus
dulciter cantantium cantus omne geuus;
omnibus boc Studium, nullus alienus:
Me subicit sompno philomene cantus amenus.
13 A me motw penitus curarum eiecto
sompno fui deditus in cespitis lecto;
a quo postquam concitus buc et illuc speclo,
Gramaticam vidi venientem tramite recto.
11 Noctis erat medium, luna relucebat
et in meo radium tboro dirigebal;
nulla me tunc anxium cura faciebat,
publica me requies curarum sompnus babebat.
15 Me noctis ad ultimum tandem experreclo
quendam motum minimum subaudivi recto
instansque quam plurirnum buc et illuc speclo:
Gramalicam vidi sensique accedere lecto.
16 Hec existens cominus miebi dixit : 'ave,
o frater, quem dominus tueatur, ave!
audire me protinus non sit tibi grave
Et quod non opus est neve loquere, cave 1
IT Gramatice, fluvio trium specierum
Me percuim spalium mullorum dierum;
10, 1 jocondis H : der reim erfordert ioeundis. 13, 1 molo H.
14, 4 Ovid Ex Pont, m 3, 7. 17, 2 pcur9 //, aber undeutlich.
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLI m. 231
Cur te visaiii, senio dicam tibi verum:
1 -ii ego letarum venio libi nuntia rerum.
IS Cum sis dignus spargere Bemen doctrinarum,
lilii volo tradere regimen scolarum,
Bonus quondam sumere debuisses liarum:
Propaganda etenim est rerum doctrioa booarum.
19 40 lux el Ions artium, decus triviale,
aptuin ;nl officium non Bum magistralel
revereor nimium incipere lale,
de quo I .uiia volans murmurel iode male.
20 Doctorum ofßciis hiis est iosistendum,
quorum dogma oesciis est proficiendum,
seil michi de aliis quid sit lacicndum,
Non mich i sunt vires adimo michi iusque regeodum.
21 (Jnis regimen capiat, in quo labores seit,
si male sufßciat, si doecre nescit?
armis ahrenunciat, qui non convalescil
[ndoctusque pile deeiique trocique quiescit.
22 Multum est decenlius non doctorem geri,
quam regentera cilius iuste derideri;
liinc est michi melius adbuc edoceri,
quam merear doctor delirus inhersque videri.'
23 Tunc ait gramatica: 'frater, quid vereris,
j»ro re feie moilica cur sie deterreris?
hec in corde publica verba recorderis,
fac tarnen ineipias : sponte disertus eris.
21 Fiicli, cum ineipies, medium halieliis.
ergo semper audies et nunquam docebis?
Sis audax! quod cupies, tolum adimplebis:
Grande aliquid si velle tenes, et posse lenebis.
25 Tu multum deprimeris iugo paupertatis,
qui regendo poteras acqnirere salis.
Cur igitur pateris dampnum egestatis?
tolle moras : semper noeuit differre paralis !
■ii' Nullus habet pretium, nisi lucro vacet,
pauper parit tedium. dives autem placet;
ilives multum loquitur, pauper vero tacet,
dives honoralur. pauper ubique iacet.
232 BÖMER
27 Pauperlatem fugias, que te diu pressit,
magistratum capias : multum lucrum gessit!
Sic laudo, quod facias, sie volo quod res sil!'
linierat monitus uec plura locuta recessit.
28 Iuter omnes monitus postquam recollegi,
quod eram suppositus paupertatis legi,
de lucro sollicitus ultra noo auibegi :
Sumpsi aoimum gratesque deo dou territus egi.
29 Patet ergo ratio, quare representem
iu doctoris solio nimis egentem;
honoris ambitio nou allicit mentem:
Noo honor est sed ho aus species lesura ferentem.
30 Scolarum presumere nollem nie rectorem
adhuc ita propere, nisi pauper forem;
fruetum volo querere lucri vel honorem:
Non habet unde suum paupertas pascat amorem.
31 Invide, te miserum alloquor extreme:
nie reputas stolidum, malum dicis de nie.
0 venenum aspidum, liuguam tuam preme!
Et tua perpetue, livide, dampua gerne!
32 Invidus nie lanial deute fraudulento,
alterius inhiat seniper detriniento;
ob hoc catho nunciat suo docuniento:
lnvidiam nimio cultu vitare memento.
33 Lividus invidia semper limet niniis,
ne quis ad sublimia veniat ab imis;
sed eius malitia torquet hunc a primis:
Invidus alterius rebus macrescit opimis.
34 Finire ludibria tenipus est et hora,
ne vobis fastidia gignat longa mora,
aqua iam in alia mea natat prora;
hactenus invidie respondimus. 'attrahe loral'
35 Hiis dictis subtieuit; que cum exaudirem,
mihi cor intremuit, quia pauca scirem.
25, 4 Lucan. i 2S1. 29, 4 Ovid Her. 9, 31. 30, 4 vgl. Wright
Mapes s. 159 (Missus sum [nr 20 dieser Sammlung] v. 200). 32, 4 Calo
Dist. II 13, 1. vgl. Carm. Dur. Lxxiva 5. 33, 4 IJoraz Epist. I 2, 57.
vgl. Carm. Bur. lx\i\3 2. 34,3 vacat H.
HERDRINGER VAGANTENL1EDERSAMMH NG
Me «1 u L>i 11 tu teouit, utrum coosentirem,
l>t.i tarnen dixi, cur excusatus abirem.
Explicit.
1 ^; De transfretantibus.
Die meerfahrer sind die teilnehmer an item unglücklichen
kreuzzuge Ludwigs des Heiligen, da der aufbrach des könig» alt
unmittelbar bevorstehend bezeichnet wird, inuss das gedieht kurz
vor augutt 1248 ent stunden sein, bereits ende 1211 hatte Ludwig,
von schwerer krankheit genesen, das gelübde des kreuzzuget getan,
aber fast 4 Jähre lang zogen sich die Vorbereitungen hin. diesmal
aar eben wenig allgemeine begeisternng für eine kreuzfahrl
vorhanden, und es bedurfte eifriger Werbung, um sie zustande zu
bringen, diesem zwecke ist auch unser lied gewidmet, der dichter
war Franzose, denn er nennt den könig 6,2 : o oster dominus,
7, 1 : Qoslrura dominum, die gründe seiner aufforderung sind
geistliche erwägungen, denen auch der papsl und seine prediger
autdruck zu geben pflegten : um Vergebung für unsere sündenschuld
zu erlangen, müssen wir das kreuz erheben. Christus ist für uns
geboren und um unterer fehler willen am kreuze gestorben, für
ihn sollen wir also einmütig ins fehl ziehen! zu diesen beweg-
gründen kommt diesmal noch ein ganz besonderer : Frankreichs be-
rühmter könig ist von Christus selbst ermahnt worden, übers meer zu
fahren, durch göttliche Vorsehung war er bis auf den tod erkrankt,
jedoch der herr hat ihn in seiner barmherzigkeit gerettet, nun
befiehlt unser könig, dass wir ihm folgen sollen : diesem rufe
müssen wir gehorchen, sollte nicht jeder dahin eilen wollen, wo
Christus vom tode erstanden und zum himmel aufgefahren ist?
Die verstechnik des liedes steht au/sergewöhnlich tief. die
struphen bestehen aus 4 durch die cäsur in zwei gleiche teile
zerlegten, durch end- und (mit ausnähme von Str. 1 [aabb]) auch
durch cäsurreim verbundenen langzeilen, deren grundschema zwei
jambische achtsilbler sind; indessen xcerden die regelmäfsig gebauten
halbzeilen vvn solchen mit taclwechsel in der form -v^-^^-w-
oder _^w-^-w- an zahl übertrofj'en, so dass die technik
fast auf Silbenzählung hinausläuft, wie sie dem franziisischen
dichter von seiner nationalen poesie her geläufig war. dreimal
hat er sich, so vorsichtig die Homanen auch sonst in diesem punete
waren, hiatus in der zeile gestaltet : 5, 2. 7, :; (mag das ue der
234
BÖMER
hs., tcekhes einen siebensübler ergibt, zu hallen oder noune zu
lesen sein) und 7, 4. die lelzte stelle, an der mit dem hiatus auch
noch doppelsilbige Senkung zusammentrifft , ist jedoch nicht auf
rechnung des dichters zu setzen, da er hier, wie iciderliolt in den
vorhergehenden sti'ophen als 2 halbzeile des verses den anfang
eines bekannten hymnus wirkungsvoll eingesetzt hat (1, 4. 2, 4.
3, 3. 4, 4. 6, 4. 7, 4. vgl. Chevalier Bep. hymn.).
Die 1 halbzeile des gedichts klingt an die eingangsworte des
hymnus Amore summi nnminis an; mit Eya fralres (6, 4) beginnt
eine ganze anzahl beliebter hymne.n.
De transf
1 Amore summi iudicis
al(|ue rerum opificis
Et parenles et patriam
culpe querendo veniam
2 Reges, principes, comiles,
duces, barones, milites,
Cives, burgenses, pedites,
Crucem levando comites
y, Pro nobis crislus nascitur
Cristus in cruce patitur
Kos unanimes igitur
viiidicemus, qui morilur
4 Rex iraucorum, rex inclitus,
dei gratia preditus
transfrelare, qui monitus
crucem sumpsit divinftus,
:> Rex lrancorum dignissimus
egrotavit, ut novimus,
Sed cristus rex piissimus
suscitavit, ut credimus,
<i Adest en ecce terminus;
quibus rex, nosler dominus,
templum crisli, qui protinus
eya, fratres, cominus .
7 Ergo nos plebs indomila
per colles et per compila,
3, 3 ortu H. 4. 4 süpcit H,
retantibus.
crucem debemus tollere
uomine derelinquere
et iberusalem petere
iam lucis orlo sydere.
dominalores gentium,
ad exemplar fidelium,
suscipite remedium
primo dierum omnium.
matre manenle virgine;
pro solo nostro crimine.
a solis orlus cardine
pro bumana propagine.
vile pretiosissime,
j)arat elegantissime
a te, criste piissime,
eterne rex altissime.
divina providenlia
usque ad mortis hostia;
sua mysericordia
beata nobis gaudia.
tempus diesque subeunt,
et fratres eius adeunt
oceanum pretereunt;
vexilla regis prodeuntl
regem nostrum, qui properat
sequamur, nam sie imperat;
divitus //.
HERDRINGER VAGANTENUEDERSAMMLUNG
omnis mente composita illuc nonne accelerat,
unde \i\ vita reddita iam cristus astra ascenderal?
Explicit.
7, 3 ne //.
19) Comoedia de advcntu A nt ich i isti.
Anfang : Dum conlemplor auimo seculi leitorem.
Auch diese satire auf die Schlechtigkeit der zeit ist in die
form einer vision gekleidet, der dichter wohnt im geiste einer Ver-
sammlung der furien und dämonen bei und hört den Antichrist
mit Alecto und Tisiphone über den Untergang der weit verhandeln,
der englische künig Heinrich n, der einen Thomas Hecket löten
licfs, und der deutsche kaiscr Friedrich i werden als würdige
Vorläufer des Antichrist s gebrandmarkt. in einem schlusswort
fordert der herr der Unterwelt die furien auf, sich in die winkel
der weit zu zerstreuen und alle mit sich hinabzuziehen in die tiefen
der hülle; er werde ihnen nachfolgen, wie er es gelobt habe.
Das gedieht stellt in der schon mehrfach angezogenen Pariser
lis. nr 324ä unter den 10 gediehen des Guallherus de Insula
und ist von Müldener 1<>//' abgedruckt. II liefert eine kürzere
fassung, indem sie die Müldenerschen Strophen 4, IS und 25, welche
alle drei nicht nur entbehr/ich sind, sondern auch den verdacht
einer unglücklichen interpolation erregen, übergeht, mag II muh
durch mehrere versehen entstellt sein, so bietet sie dafür anderseits
an zahlreichen stellen die richtige lesart, xeo Müldeners vorläge einen
fehlerhaften text aufweist.
Lesarien von II.
2, 1. 2. ylem und iubes umgestellt. 3. comparas st. copulas. .">, 3. et
iiuiiilu st. soniluque. li, 4. licuii insanire mit doppelsilbiyer Senkung
st. libuit coire. 7. 1. furenlum st. silentum. 2. soronini irinitas
st. soror Trinacria. 3. que st. <|iii. 8. 1. nee st. non. elealionis
fehlerh. sl. elalionis. 2. nequilie Ulms m. laclw. st. Qlius nequitie.
3. secabat sl. secabit. 9. 1. lacic prominens armala richtig st. faciem
prominens armata. 3. unde quasi lonilrus verständlicher als verum
ul tonilruum. 4. vos interrumpens mtl doppelsilbiyer Senkung st.
des vorzuziehenden vox erumpens. 1(>, 1. Pape richtig sl. Papa.
2. slatum fehlerh. st. fatum. 3. pando fehlerh. st. pande. exi-
turum richtig sl. exiiiiirnm. 4. beelsebu sl. Beelzebub. 11. 'i. dissenlio
fehlerh. sl. dissensio. 3. lumucrunt richtig st. limuerunt, für das
Müld. irruerunl conjicierte. 4. crislum richtig st. ipsum. nimis
richtig st. minis. 12.1. Miserens misereor recolens sl. Miseranler
imseror miseros. 4. instiluam st. resliluam. imlea iiuleos mit
236 BÖMER
doppelsilbiger Senkung st. Juda Jiulaeos. 13, 2. feras sl. seras.
federa richtig st. sidera. 14, 1. excita sf. accita. 15, 1. el demomim
sl. demonium. 16, 1. Ut fehlerh. st. Et. quaeris fehlt. 2. reprobum
st. perversum mtl laclic. 3. Iriplici qui st. qui triplici mit tacltc.
17. 1. sinone st. Simone. 2. quis . . . veulilat st. quid . . . ventilas.
4. rex vere st. re vera. 19, 2. 3 umgestellt. 2 defricala s<. desic-
cata. 4. quo sf. quod. 20. 4. hoc s(. haec. debachare (vgl.
Du Cange) st. debachari. 21, 1. Cui sl. 0 cui. cruciare, wie Müld.
schon statt des fehlerhaften conciare seiner hs. vermutete. 2. in-
sipientem mit auftacl st. impotentem. 3. Cum sl. dum. 22, 1. noslre
st. tuae. 3. Cum prelatis principes, dem praelali cum reprobis vor-
zuziehen. 23, 3. Caput mundi st. mundi caput. scismata fehlerh.
sl. schismate. 4. et pluraliter gut, während Müld.s a veritate keinen
richtigen vers ergibt. 24, 1. novisli, besser als vidisli. 3. scis-
maticam gentem perfecisti st. seismaticae genli praefecisti. 26, 1. auditis
sl. commota. 2. post tumultum sl. prae tumultu. 27, 1. eahos
absortum, gegen den reim verslofsend st. chaos austerum. 2. discerne
sl. disserere. 4. panditur, durch panditur in v. 4 veranlasst, sl.
cognitus. 28, 2/3 umgestellt. 2. Suft'ocabo penitus sl. cum terris
abstulero. 4. Micbi rachel sl. Rachel mihi. 30, 1/2 umgestellt.
2 ( = 1 in H) He mei complices ite gentium dii (einsilbig) sl. ad
vos omnes trabite in centrum profundi. 3. factus richtig sl. des
unsinnigen sanclus.
20) Comoedia magistralis redarguens vitia.
Anfang : Eliconis rivulo modice respersus.
Es gibt zwei ältere ausgaben : 1) Wright Mapes 159/f unier
dem titel : 'De pravitate saeculi ' ; 2) Müldener 37 ff : 'Contra statum
ecclesiae depravatum'. für dieses stück trifft nach den Untersuchungen
Haureaus Not. et exlr. vi 295/ die von Müld. angenommene
Verfasserschaft Walthers vChatillon zu.
Paris besitzt aufser der von Müld. benutzten noch 3 copieen
des gedichtes , sämtlich ohne nennung des Verfassers : nr 11412.
1186" und Nouv. acquis. 1544. vgl. Haureau Not. et extr. n
42/, vi 292 ff. unter Zuziehung dieser 3 hss. hat Haureau vi
293//" eine neue ausgäbe veranstaltet.
Das erste der 10 von Müld. veröffentlichten Pariser gedickte
des Gualtherus de Insula ist : Missus sum in vineanl, das zweite :
Multiformis homiDum, das sechste unser : Heliconis rivulo. diese
drei stücke, die sowol im inhalte (dem gedanken, dass die xoelt
aus den fugen sei und die Sünden der geisllichkeit die schuld daran
trügen) als auch in der form (3 zeilen der vagantenstrophe -f- tnetr.
vers) übereinstimmen, sind in den verschiedenen Überlieferungen
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG
häufig durcheinandergemengt, so sind zb. in Harleian-ms. 978 ua.
M issns sinn. Helicoois rivulo und mehrere Strophen anderer gedichte
zu einem stück von .Vi stn\ vereinigt (Wright 1V2//. anf. : Missus
Bum). dieselbe he. hat aber aurh Heliconis rivulo allein als besondere
nummer (s. oben, Wright l.v.)//". in Sloane ms. 1580 sind aus
den :', gedickten -1 gemacht, indem die Strophen bunt durcheinander
gewürfelt und sogar ein und dieselbe in Variation an zwei oder
mehr stellen verwendet wurde (vgl. Hubatschl2). in der ganzen
vagantenlitteratur yebn die Überlieferungen nur sehr selten so weit
auseinander, wie in diesen '6 voller Interpolationen steckenden
dichtungen. der text von Baureau stimmt in der strophenfolge
mit dem Müldenerschen überein, nur hat er nach der achten eine
strophe eingeschoben und zahlt somit ihrer IS statt 17. von dei
englischen Überlieferung weicht die französische indessen vollständig
ab. Müld.-Ilaur. haben nur die (.i eisten von Wright. s 2 1 Strophen
lies Eliconis rivulo und zwischen diesen b bezw. '.» andere Strophen,
zt. mit anspielnngen auf ganz bestimmte Zeitverhältnisse, die
erwähnte herschaft zweier päpste traf zu für die zeit zwischen
I 159 und 117 7, der das gedieht somit zuzuweisen ist. die franzö-
sischen aufzeichnungen repräsentieren ohne zwei fei die ursprüngliche
fassung, aus der man spater unter auslassung der nicht mehr zeit-
gemäßen Strophen ein allgemeines klagelied zurechtgemacht hat.
II kommt der überaibeiteten englischen Überlieferung am nächsten,
und zwar bis str. S einschl. dem Eliconis rivulo (Wright 159 ff), von
da dem combinierten Missus sinn (Wr. \h1ff), das jedoch nicht
nur stark gekürzt, sondern auch in beträchtlich abweichender folge
der Strophen erscheint, die anordnung ist folgende :
If'r.s Eliconis 1 — 5 Wr.s Missus 38—43
5a, bei ff r. fehlend, 46
= '.I t>. Müld.Hel. 44
45
47—51
51a m. an kl. an str. 1 7
v. ff'r.s Elicc
52
Lesarten von H.
1) Die ersten acht Strophen von Wrighls Eliconis 159/7". m>1
einschub nach str. 5. 1. 2. pressus // (gegen den reim verstoCsendJ
si. mersus. 3. Et quoniam (übergeschrieben : besseres quia i.uni
scriptital //. quem uec scriptitat (keinen vers ergebend) Wr.. Sed
quia illabilur bezw. tarn labitur Mi'/Id.. Haut. 'i. '1. video //, ms.
6—8
// r.s Missus 1
2
22
23S HOMER HERDRINGER VAGANTENL1EUERSAMMLUNG
Sloane 15S (S) st. videro. 3. vilia deslrui iubebo H; nahekommend:
viiiiiin destrui videbo S, siquidem vitio delebo Wr. (vitia Muli., Haut.)
'.). 2. mentes avarilia nun premebal horum // ( völlig abweichend von
der sonstigen Überlieferung), quia ncc simonia dilatabat lorum Wr.,
quia Dec simonia vendicabat cliorum Müld., Quando nee simonia vend.
chor. Haur. 3. in II fehlerh. st. vi. 4, 1. vineani amodo H
Wr., admodo (amodo) vineam Müld. (Haur.) 5, 1. quam diu II
Müld.. Haur., quanlum nunc Wr. 2. trahit H, Wr., rapit Müld.,
Haur. scismatis impetus umgestellt II. 3. per quem mens hie
lenietur UHaur. (relevelur st. lenietur Müld.), per quem aeneus
illimelur [!] Wr. es folgt in H slr. 9 (v. 33— 36J von Müld.,
10 von Haur. 1. bbet HHaur., licet Müld. 2. delicit H fehlerh.
st. defecit. 3. eclipsi H fehlerh. st. eclipsim (eclipsin). (j, 2. sanrla
HHaur., sacra Wr. 7, 3. scoria HMüld., Haur., sordido Wr.
vel lulo H st. est luto. 4. prineeps provinciarum faeia est [vers!]
HWr., Est prineeps provinciae facta (factus) Müld., Haur. 8, 2. caput
mundi HHaur., mundi caput Wr., Müld. 3. ubi non H fehlerh.
st. ubinam. — 2) slr. 1 — 3. 22. 38 — 52 des combinierlen Missus
von Wrighl 152/7*. reihen folge der slr. in H s. oben, hier die Wr.sche
folge innegehalten. 1, 4. nunquamne m. Müld. (Missus sum s. 1),
besser als numquam me Wr. 2, 3. quainvis st. licet, nee st. veL
3, 1. riihmis st. risu. 22, 1. veterum sl. magnatum. 2/3 umgestellt.
3. rilhmulis st. lalibus. 38, 1. Qui virtutes appetit, labitur in imum.
2. querens sapienliam irruit i'n limum. 3. bec st. sie. 39, 1. consi-
dendo st. conhdenler. 41. 2. Sciat quia st. et scial quod. 42, 1. Scias
artes quaslibet. sis sl. sit. 2. fueris st. vixerit. 3. Cum te st.
illum. plenus st. des vorzuziehenden penus. 43, 2. fugio sl. fugiens.
3. feret st. ferret. 4. Tuitius fehlerh. st. Tulius. et nach toro
fehlt. 44, 1. figurat fehlerh. st. praeßgurat. 45,3. arclia fehlerh.
sl. archam, 4lj, 2. cornicanlur st. commentantur. 47, 3. ein heu
fehlt, menlis st. menles. 4. dicere lucanum st. quod semper multum.
48, 4. satur richtig st. des fehlerhaften salus. 50, 4. pascit sl. pascal.
51, 2. inflali hier besser als infiala, das v. 4 am platze ist. respuunt
st. reprimunt. 3. Sic ergo impletum mit hialus sl. ex hoc iam
impl. dieunt st. canunt. 4. Inquirat fehlerh. st. Inquinat. adiuneta
st. inflala. so auch nr 13 dieser Sammlung 1, 4. die in II nach
51 folgende slr., welche im combinierlen Missus sum bei Wr. fehlt,
stimmt im 1 vers und dem anfang des 2 ten mit der defeclen drei-
zeiligen str. 17 von Wr.s Eliconis überein. sie lautet :
Sit pauper de nobili genere giganlum,
Sciat, quantum currat sol et saturnus quanlum,
per se solus babeat totum ferme cantum :
Gloria quanlalibet quid erit nisi gloria lanlum?
52, 2. Indulgeas, si sapis mit laclwechsel sl. miser vaca potius. 3. quid
st. quod. nolles sl. non vis.
Münster i. W. A. RÖMER.
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA.
Bekanntlich besteht auch heute noch hinsichtlich der hand-
schriftlichen Dberlieferung der Völuspa die zuerst von Bugge in
seiner kritischen ausgäbe (Fortale s. xxiuf) aufgestellte und wol-
begründete annähme bei den krilikern im princip zu recht, dass die
beiden bauptnss., in denen das gedieht überliefert ist, der codex
I i »■_; i us und die llauksbok, an sich als gleichwertig anzusehen sind,
wenn auch die Trage, in welchem gegenseitigen Verhältnis sie zu-
einander stehn, ob sie auf ein und dieselbe schriftliche quelle
weisen oder oh sie eine ganz oder nur teilweise gemeinsa
quelle mündlicher Dberlieferung voraussetzen, verschieden beant-
wortet wird, nachdem in der letzten, scharfsinnigen zergliederun.:
des gedichts durch Boer (Zs. f.d.ph. 36, 363) die erste ansieht mit
nachdruck verfochten wurde, hat sich Sijmons in seiner vor-
trefflichen Einleitung zur Edda (s. xxxi) im entgegengesetzten
sinne entschieden, und, wie mir scheint, vorläufig ein wahres und
durchaus abschließendes wort gesprochen, wenn er, gestützt auf
das Verhältnis jeder der beiden handschriften zu dem fragmen-
tarischen Voluspatext der Snorra-Edda, für beide Codices das
ergebnis zieht, dass sie auf verschiedene schriftliche aufzeich-
nungen zurückgehn. von diesen erweckt die II zugrunde liegende
schon deswegen das grüfsere vertrauen, weil sie offenbar auf
einen selbständigen und einheitlichen sträng mündlicher Über-
lieferung weist, während der 11 zugrunde liegende urtexi zwischen
dem mündlichen Überlieferungsapparat von II und der Snorra-
Edda schwankt.
Indes unabhängig von dieser beantwortung der schwierigen
frage darf von vornherein hervorgehoben werden, dass, wenn
auch R ja sicher keine musterhandschrift ist und sich im einzelnen
bekanntlich in der eddischen Überlieferung auch sonst grobe irr-
tümer und fiüchtigkeiten zu schulden kommen lässt, hei der
Völuspa doch in zweifelhaften fällen naturgemäfs der verdacht
der schlechtem Überlieferung entschieden auf H ruht. schon
weil, mag man nun den ansichten, die den codex Regius um 1270
oder erst gegeu das ende des Jahrhunderts verlegen, folgen, der in
der Haukshok niedergeschriebene Voluspatext, der um die mitte
des vierzehnten Jahrhunderts gesetzt wird, auf alle fälle mindestens
ein halbes Jahrhundert später ist. sodann aber, weil sie nur dies
240 IS1EDNER
eine Eddalied überliefert und in ihm der lückenanteil bedeutend
gröfser als in R ist, und weil überhaupt die Überlieferung eddischer
dichtung keineswegs wie bei dem codex Regius Selbstzweck dieser
sammelhandschrift war. endlich vornehmlich, weil auch ein ver-
gleich im einzelnen zu einer reihe von Vorzügen in R führt, die
uach widerholt angestellten einzelbeobachtungen heutzutage nie-
mand mehr bezweifelt.
Zunächst die anordnung der Strophen in H, in der der ganze
mittlere teil des gedichtes lückenhaft ist und daneben eine arge
Verwirrung im einzelneu zeigt, die nur mit hilfe der Überlieferung
in R beseiligt werden kann, auch sonst ist v. R 49 Hvat's
mep ösom, hvat's mep glfom? gnyr allr jgtonheimr, äser' o ä
pinge, stynja dvergar fyr steindurom, veggbergs viser : vitop enn
epa hvat? die einzige im gedieht, die in R nach der bisherigen
auffassung ihren richtigen platz gewechselt hat und die man mit
hilfe von H nach Rugges vorgange (Edda s. 8) an ihre angeb-
lich richtige stelle vor v. 46 in den ausgaben brachte, ich hoffe
später zu zeigen, dass die gründe, welche Rugge zu dieser Um-
stellung veranlassten, bei näherer prüfung nicht standhalten : in-
des, auch wenn man hier dem allgemeinen urteil beipflichtet, so
kann dieser einzelfall auf zufall beruhen und könnte nur als aus-
nähme die regel bestätigen.
Sodann, fast in gleichem umfange, und umsomehr, als die
lexikalische forschung in den Eddaliedern vorgedrungen ist, ver-
dient R den vorzog in der Überlieferung des Wortlauts im ein-
zelnen — auch hier liegen, wo einmal H würklich das bessere
bietet, wie in der langzeile 22, 3 seip , hvars kunne, seip hug-
leikenn, nur ausgesprochene schreibflüchligkeiten in der altern
har.dschrift vor, dass dem tatsächlich so ist, zeigt sich zunächst
darin, dass die fälle, in denen nach der früheren annähme R
mit H gemeinsame fehler aufweisen sollte, immer mehr zusammen-
schrumpfen, ich erwähne hierfür als besonders charakteristisch
das vel valtivar (v. 62), was durchaus mit unrecht von Rask in
ve valliva gebessert worden ist, eine besserung, die den guten sinn,
der in der handschriftlichen Überlieferung ligt, gewaltsam heraus-
interpretiert und dadurch nicht blofs für den Zusammenhang unsrer
stelle, sondern auch für die ganze heidnisch-germanische grund-
auffassung des alten gedichtes verhängnisvoll geworden ist (vgl.
Zs. 41, 42. 307 und Kauffmann Ralder s. 26). und in gleicher
RAGNARÖK IN DKli VÖLUSPA 241
weise den Zusammenhang störend und den gesamlaufbau der
eigentlichen Ragnarökepisode verdunkelnd ist, wir wir Bpäter
seilen werden, die beanstandung der handschriftlich beidemal
durchaus correct überlieferten v. 51, 11 Kjötl ferr anstatt, koma
mono MuspdU of log lyper. dass hier durch die Buggesche
besser ung von anstatt in ttorpan und lMnspel/s in IJeljar (Edda s. 9)
Snorris mythiscbgeograpbischem system zu liehe, der gesamten
Überlieferung zum trotz, der ursprüngliche sinn zerstört ist, da-
für kann ich mich einstweilen auf Olriks ausgezeichnete, von
gerechter indigoation des mylhenforschers getragene bemerkung
in seinem aufsatz Om Ragnarok (Arbeger n. r. 17, 222) be-
rufen, aher auch die fälle verschiedener Überlieferung in R und II
andern an diesem fast grundsätzlichen Verhältnis nichts, mit recht
hat Gering in seinem grofsen Wörterbuch die in R überlieferte
lesart v. 46, 2 at eno (jalla Gjallarhorne, die Wadstein (Arkiv 15, 161)
vortrefflich verteidigt hat und die, wie man auch die schwer ver-
ständliche halbstropbe auffasst, einen viel prägnanteren sinn gibt,
als die lesart von II at eno gamla, als selbständigen wortartikel
verzeichnet (s. 316), und gewis hat Sijmons nicht mit recht in
v. 9 die lesart von R hverr skylde dverga drötten skepja, die allein
in das Dvergalal einen einigermafsen verständigen sinn hinein-
bringt, hinter die von II zurückgestellt (aao. s. xxvm; vgl. Ileiuzel
Edda ii 19).
Auch was endlich die Überlieferung ganzer langzeilen an-
langt, darf man H gegenüber in der regel zum mistrauen geneigt
sein, noch niemand hat sich beispielsweise der Überlieferung von
H 7, 2 afls kostopo, alls freistopo gegenüber R peirs horg ok hof
hUimbropo angenommen, und es ist daher auch in fällen, wo
wir R, da durch Flüchtigkeit eine langzeile ausgefallen ist, nicht
mehr controlieren können, wie 60, 3, naheliegend zu zweifeln,
ob II in der langzeile ok minnask par d megendöma, die merkwürdig
an den regendömr (v. 65) erinnert, der ebenfalls nur in ihr
überliefert und inhaltlich höchst bedenklich ist, das ursprüng-
liche bietet.
Es ist demnach bei aller anerkeunung der principiellen gleich-
berechtigung der beiden Codices auf grund des einzelkritischen
Studiums des handschriftlichen materials doch in praxi seit Müllen-
hoffs grundlegender darstellung der Völuspa, deren ergebnisse
sich auch praktisch noch mit der durch Bugge inaugurierten hand-
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 16
242 NIEDNER
schriftlichen auffassung deckten (vgl. DA. v 10), schrittweise, aher
sicher eine Verschiebung der beurteilung zu gunsten von R ein-
getreten, erfahrungsgeschichllich — wenn auch die theoretische
annähme bisher hestehn blieb, somit ist es nur ein natürliches
und durchaus methodisches verfahren, diese prüfung principiell
einmal auch auf die für die höhere kritik so wichtige frage des in
II überlieferten, entweder variantenhaft parallelen, oder R gegen-
über überschüssigen Strophenmaterials auszudehnen.
Ligt doch hier ein sicheres classisches beispiel, das zu
gunsten von R spricht, nach dem einstimmigen urteil der fach-
genossen bereits vor, nämlich die Zeilen II 30 pd knä Vdla
vigbgnd snüa, heldr vgro harpggr hgpt 6r pgrmom gegenüber R 35
Hapt sd liggja und hvera binde leegjarnlike Lohn öpekkjan. ein-
stimmig nimmt man jetzt an, dass wir es hier mit Varianten zu
tun haben, und dass nur R oder H das ursprüngliche im zu-
sammenhange des gedichtes bewahrt haben kann, beide Versionen
neben einander hat keine der neuern mafsgebendeu kritischen
ausgaben in den text aufgenommen, alle herausgeber und er-
klärer aber haben hier der fassung von R den vorzug gegeben
aufser Müllenhoff. es ist aber auch wol sicher, dass dieser bei
dem heuligen stände der forschung aus den von ihm in der
DA. v 9f aufgestellten erwägungen heraus schwerlich noch jetzt
für den principiellen Vorzug von H an dieser stelle plaidieren
würde, wie dem auch sei, auf jeden fall kann heutzutage, wo
durch ßiürn Magnüsson Olsen (Timarit 15, 1 ff . 16, 42ff. Um
Kristnitökuna 56 ff) die isländische herkunft des gedichtes über-
haupt discutabler als jemals vorher geworden ist, der isländische
charakter der visa an sich gewis keinen ausschlaggebenden grund
für ihre Zurückstellung aus dem texte zu gunsten von H ergeben
— ganz abgesehen davon, dass hvera lundr nicht notwendig
auf eine vulcanlandschaft deuten muss (vgl. Heinzel Edda n 46).
die fassung von H stellt sich in jedem falle, mag man sie nun
aus sprachlichen oder stilistischen erwägungen heraus, aus grün-
den des engern Zusammenhanges im gedieht oder aus allgemein-
mythologischen gesichtspuneten betrachten, als eine jüngere dar,
vermutlich entstanden mit bewusler anlehnung an die mit unrecht
von Müllenhoff und andern gestrichenen vv. 32, 3. 4; 33, 1. 2. die
von der rede Valis handeln.
Dasselbe Verhältnis, dh. dieselbe bewuste späte Varianten-
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA
zudichlUDg, ligt nun aber bei allen Übrigen io II überlieferten
plusstrophen vor, auch wo dies die handschriftliche Überliefe-
rung nicht so unmittelbar greifbar veranschaulicht, gelegentlich,
aber niclit in grundsätzlicher durchfuhrung isi darauf schon \<>n
Boer und Heinzel in den genannten arbeiten mehr oder wenig
ausführlich hingewiesen wordeu. übereinstimmend isl bei beiden
der im gegenwärtigen Zusammenhang unursprüngliche Charakter
der v. 40, .'>. I hrdpask aller d helvegom, <i/ir Surtar pann sef<
of gleyper erörtert worden, auch vv. 48 f (die in II ganz frag-
mentarisch überliefen sind), die Boer ebenfalls nachdrücklich als
spätere zudichlung bezeichnet, sind in Heinzeis überaus conser-
vativer ausgäbe nicht in den laufenden Vüluspatext aufgenommen.
dagegen gelm beide gelehrte in der beurleilung der für die höhere
kritik des gedichtes allerwichligsten H-strophe, der v. 65 Komr enn
rike at regendöme, Qfloyr ofan, sds pllo räpr denkbar auseinander.
während Boer die überschüssige halbstrophe ausdrücklich als not-
wendiges eigentum der Vüluspa, wenigstens des in ihr ange-
nommenen zweiten überarbeitenden dichters, proclainierl (aao.
s. 31311), hat Heinzel gerade ihr hinsichtlich des beweises ihrer
unursprünglichkeil in seinem Bddacommentar (s. 81 f) ganz be-
sondere Sorgfalt zugewant. schon, dass die kühnste und sub-
jectivste behandlung der Vüluspa, die im gedicbte alles vom stand-
puncl der höhern kritik allein betrachtet, und die allerzurück-
haltendste und objectivste, die sonst die höhere kritik als solche
principiell auszuschliefsen scheint, in der athelese der plusstrophen
in II teilweise zusammentreffen, ledweise sich widersprechend er-
gänzen, macht die obeu berührte systematische vergleichung des
gesamten II-mehrmateriales, nämlich der vv. 30, 1. 2. 40,3. 4. 4SI'
und 58, zu einer kritischen notweudigkeil. sollte sich dabei
herausstellen, dass sie in ihrer unursprünglicbkeit völlig gleich
zu beurteilen waren, so würde sich ein fesler kritischer aus-
gangspunct hergeben, von dem aus eine neusichtuug des über-
lieferlen lexles, zunächst der vielumstrittenen Ragnarökepisode,
vorgenommen werden könnte, wie diese als grundlage und vor-
trage für die psyche des gedichtes und seiner allgemeinen cultur-
bistorischen auffassung unbedingtes erfordernis ist. wir werden
aber diese nachprüfung des wertes der H-slrophen im zusammen-
hange nicht besser vornehmen können, als, indem wir uns zunächst
an der obengenannten allgemein als Variante anerkannten halb-
1G*
244 MEDINER
Strophe v, 30, 1. 2 den typischen Charakter dieser varianten-
dichtung noch einmal greifbar vergegenwärtigen, dann zu zeigen
suchen, wie in vv. 40, 3, 4 und 48 f dieser erweiterungsprocess
eine vollständige beslätigung findet, und endlich, wie in der halb-
strophe 65 und ihrer ergänzung in den papierhandschriften, die
immerhin als solche relativ all sein kann, diese nachdichtenden
Wucherungen ihren höhepunct erreichen.
Mislich ist in der Valistrophe in erster linie, dass man ohne
besserung überhaupt zu keiner erklärung kommen kann, da der
sprachliche ausdruck verderbt ist, und dass selbst bei der besten
emendation, von Vdla in Vdli, die wenigstens in der bessern der
prosadarstellungen, die von Lokis söhn handeln, der Gylfaginning,
eine stütze zu finden scheint, der ausdruck 'der wolf dreht die
kriegsbande', wie Boer (aao. s. 337) richtig bemerkt, immer etwas
gezwungenes behält, wie denu überhaupt die visa, wie ebendort
mit recht betont ward, in ihrer gekünstelten construclion als uui-
cum selbst unter den jüngsten Zusätzen der Völuspa dasteht,
ebenso zeigt der Zusammenhang, dass eine andre Stellung der
Strophe, etwa als eingang der Vorgänge von Lokis Fesselung, oder
als voregov tiqötsqov im stil der Völuspa hin skamma hinter der-
selben bei der schonen geschlossenheit der visa 35 in R Hapt
sd liggja und hvera lunde Iwgjarnlike Loka öpekkjan. par sitr
Sigyn peyge umb sinom ver velglyjop : vitop enn epa hvat? ein-
fach unmöglich ist. eudlich aber erweckt die Strophe auch aus
gründen des mythologischen zusammenbanges verdacht, denn
wenn auch in den andeutungen wahrscheinlich die darstellung
der Snorra-Edda oder der prosa zur Lokasenna hindurchschimmert
und die hgpt durch hapt in der R-strophe äufserlich zunächst
veranlasst scheinen, die möglichkeit, dass sie doch auf Vali, den
rächer Baldrs, geht, die Heinzel (Edda n 48) an erster stelle
bringt, ist nicht bestimmt von der band zu weisen, zumal wir
ja das mythologische Verhältnis der beiden Vali keineswegs klar
überschauen und möglicherweise Kauffmann recht behält, wenn
er den nur in Jüngern quellen erwähnten söhn Lokis als mis-
verständlich aus dem söhn Odins entstanden ausmerzt (vgl. Gollher
Handbuch s. 396). übrigens würde auch in diesem falle v. 35
ihren charakler als variantenstrophe behaupten uud könnte erst
recht nicht neben der echten Valistrophe (R 33, 3. 4. 34, 1. 2)
bestehn, sich auch in ihrer überlieferten Stellung vollständig
RAGNARÖK IN DER VÖLÜSPA 245
dem charakter ih'i gleich zu besprechenden reinen plusslrophen
des gedichtes nähern, auf jeden rall bleibt der typische gruod-
zu^r dieser dichtungsart der gleiche : 'minderwertige Fassung Dach
inhalt und form gegenüber der in unmittelbarer nähe slehnden
echten in R, deren ausdrucksweise gleichzeitig benutzt wird".
Pen gleichen charakter zeigen nun die beiden zudichtungen,
die Boer aao. s. 3331 und 305 f behandelt hat, von denen die
letztere (vv. 4SI) widerum unmittelbar neben der von ihr nach-
geahmten und benutzten v. 53 K (der Strophe von Thors kämpf
mit der Midgardsschlange) steht, also sich v. 30 II, falls man
diese im landläufigen sinne auf Lokis söhn deutet, bis auf ihren
jdatz in der Überlieferung vergleicht, die erstere (v. 40, 3. 4)
zwar an ihrer jetzigen stelle in den ausgaben von ihrer urbild-
strophe in H (v. 51) entfernt gerückt erscheint, aber, wie ihre
engste Verbindung mit 15 40 zeigt (lival's mep ösom, hvat's me/t
glfom, gnyr allr jplonheimr, d-sero ä /ringe) nach meiner festen Über-
zeugung durch dieselbe handschriftliche Verwirrung, die II auch
sonst beherscht und der unbegreiflicherweise die obengenannte
R-slrophe in ihrer fälschlichen Umstellung durch die kriliker
zum opfer fiel, an ihren jetzigen laischeu platz geriet, gerade,
dass sie nur dort passend stehn kann (v. 51), wo nach dem Zer-
klagen t\r* himmels mit der tat des wolfes der Weltuntergang be-
ginnt, ist für mich ein gewichtiger grund mit, warum ich glaube,
dass auch in diesem einzigen falle, wo nach dem allgemeinen
sich an Bugge anschliefseuden urleile eine R-strophe ihren
platz gewechselt haben sollte, II die richtige reihenfolge nicht
darstellt.
Es ergibt sich denn auch in den Zusätzen von 40, 3. 4 und
48 f ein deutlicher parallelismus, der sie widerum 30, 1. 2 nähert,
wie jene nämlich den für den mittleren teil des gedichtes so
wichtigen act von Lokis fesselung oder den ebenso bedeutsamen
von Valis räche, so paraphrasieren diese beiden visur die beiden
wichtigsten und entscheidendsten götterkämpfe der Ragoarük, die
mit dem tode Odins und Thors enden, der eine Zusatz holt das
verschlingen Odins durch Fenrir nach, was in v. 53 nicht aus-
drücklich ausgesprochen ist, der zweite schildert in geuauerm
detail das gebahren der Midgardsschlange bei ihrer tat, was in
v. 56 ebenfalls nur angedeutet wurde, sprachlich und stilistisch
aber widerholen sich dieselben Ungeschicklichkeiten und bedenk-
246 N1EDNER
Henkelten, wie sie oben bei v. 30 hervorgehoben wurden, die
letzte zeile 40, 4 öpr hann Surtar sefe of gleyper ist widerum
nur unter Voraussetzung dieser Muchschen besserung, die Gering
in seinem grolsen glosser (s. 342) mit recht acceptiert bat, ver-
ständlich, und der ausdruck Surtar sefe ist offenbar au v. 50
angelehnt, übrigens ein weiterer beweis dafür, dass die halbstrophe
einmal in deren nähe ihren platz gehabt hat. paraphrasiert doch
auch der, wie Boer mit recht hervorhebt, einen recht schiefen
gedanken enthaltende ausdruck hrd'pask aller d heloegom das
tropa haier helveg derselben Strophe, nur dort im gedieht ist
bei beginn des Weltunterganges dieser ausdruck recht am platze,
und ßoer hatte vollkommen recht, wenn er ihn, wie hier als
verfrüht, so 53 R als verspätet ausscheidet und dort (vgl. mono
haier aller heimslgp rypja), worauf wir später zurückkommen, als
kriterium für die uuechtheit des visuhelming 3 f in dieser
Strophe verwertet1, und ähnlich ist es bei visa 48 f H, die,
wie Boer (aao. s. 305) und Heinzel (aao. s. 75) zeigten, teils
aus der echten siropbe der Völuspa, teils aus andern liedern,
wie Hymiskvida und Ilyndluljod, ihre ausdrücke, die besonders in
ersterem liede viel besser am platze sind, entlehnten, in den
Zusammenhang der Völuspa aber passt, streng genommen, weder
die zudichtung vom verschlingen des Fenriswolfes noch die Situation,
in der uns die Midgardsschlange im einzelnen vorgeführt wird,
jene zerstört plump die Veredelung, die der Vüluspadichter in
der darstellung der Ragnarökkämpfe mit seinen mythischen motiven
vorgenommen hat — er erzählt nach Olriks feinsinniger bemerkuug
(aao. s. 278 f) absichtlich nur, dass der göttervater durch den
wolf fiel, wie er in der gleich folgenden Strophe von seinem
gegner, das unästhetische des landläufigen mythologischen beriebtes
vermeidend, mitteilt, dass er durch Vidars schwert ins herz getroffen
wurde, wenn aber von der Midgardsschlange erzählt wird, dass sie
hoch empor aus dem meere gähnt, so entspricht das schwerlich
1 zu der slrophenordnung, die Much (Zs. 37, 417 ff) vornimmt, um die
v. 40, 3. 4 an der in den ausgaben üblichen stelle zu halten, kann ich mich
nicht entschliefsen, obwol sie Gering in seiner neubearbeitung von Hilde-
biands Edda (s. 160 befolgt hat. abgesehen davon, dass an jener stelle der
ausdruck hrcepask aller ä lielvegom noch weniger am platze wäre, werden
in v. 46 die, wie die parallele v. 27 zeigt, untrennbaren Vorgänge von Heim-
dalls liornblasen und 0<tins ausspräche mit Mimir bei dieser anordnung un-
passend auseinandergerissen.
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 247
dem bilde, das der Völuspadichter in seiner nurdiscret andeutenden
Strophe von dem vorgange gemacht hat, da ein solches gebahreo,
wie richtig bemerkt worden ist, wo] dem geköderten ungelüm,
aber nicht dem freiwillig herangeschwommenen zustand, beidemal
isl also der künstlerisch leinen auffassung des dichters aufdringlich
die übliche Vorstellung von dem zudichter entgegengestellt, und
dasselbe Verhältnis spiegelte sich ja auch, wie man sie nun aucli
deuten möge, in der unechten Valistrophe wider, auf jeden fall
aber verraten alle drei besprochenen visur engste verwantschaft
und lassen eine solche an sich auch schon für die letzte H-strophe,
v. (iö, die von lleiuzel so energisch verworfen winde, vermuten.
.Nach Heinzeis Vermutung wäre die visa das werk eines
christlich gesinnten Uberarbeiters des gedichts, 'während der um-
gekehrte weg, dass jemand diese religiös so wichtige Strophe wi
gelassen, vergessen oder ausgemerzt habe, fast — ich würde
getrost sagen 'ganz' — undenkbar' sei. schon diese allgemeine
erwägung ist für mich vollkommen ausschlaggebend für die alhe-
tese von v. 65. noch mehr die begründung der inisverstiiudnisse
des christlichen interpolators hinsichtlich der gesamten Situation,
wie sie vv. 64 und 66 voraussetzen, auf die wir unten bei der
besprechung dieser visur zurückkommen, so überzeugend diese
motivierung aber auch ist, sie gibt keineswegs den einzigen grund
für die lilgung der bisher immer für den gipfelpunct des gedichts
erklärten visa ab. sie bestätigt nur in höchst willkommner weise,
was an bedenklichkeiten in sprachlicher und stilistischer hinsieht,
ferner aus gründen ihrer Stellung in der tradition und dem Zu-
sammenhang der Überlieferung auch sonst, vor allem aber in
mythologischer beziehung von den verschiedensten Seiten über
sie bemerkt worden ist. in alledem reiht sie sich, um dies gleich
vorweg zu betonen, den bisher behandelten drei varianteuzusätzen
würdig an, selbst in dem punet, dass auch sie in unmittelbarster
nähe der zu paraphrasierenden visa steht: es ist nur ein gradueller,
kein principieller unterschied, der sie diesen visur ferner zu rücken
seheint, denn offenbar umschreibt sie — nur in bewust christ-
lich gefärbtem sinne — v. 62 bols mon alz balna, vxon Baldr
koma, die den wahren gipfelpunct des gedichtes darstellte, so dass
also in ihr der unheilvolle einlluss, den II durch ihre zudichtungs-
stropben ausgeübt bat, sich am nachdrücklichsten offenbart, dieser
parallelismus wird aber leicht begreiflich, wenn wir an das äugen-
24S NIEDNER
scheinlich (freilich sicher nicht io einem so weiten umfange,
wie dies Kauffmann aao. s. 58 annimmt) durch Christus beein-
flusste bild Baldrs bei Snorri denken, und im hinhlick darauf
mag man gern über die vorliegende halbstrophe — aber auch
nur über sie — das urteil fällen, das Björn Magnusson Olsen
aao. s. 81 ff. 85 f. 88 über sie aussprach, sicher bemerkt er über
sie ebenso mit recht, wie über die umstehnden vv. 64. 66 mit
unrecht, dass sie nichts weiter als Christus beim jüngsten gericht
ausmalen, sie entspricht tatsächlich in ihren Wendungen christ-
lichen ausdrücken, wie denen des Stockholmer homilienbuches aus
dem anfange des 13 jh.s mep gope almötkom i himinsrikis dyrp,
und mit fug hebt Olsen hervor, dass in der nichtnennung des
namens des höchsten gottes nur die — allerdings nach unsrer
auffassung durch den interpolator falschlich — der Seherin in
den mund gelegte scheu sich ausspreche, den namen Christi zu
nennen, wie dies ja in den Worten der die Völuspa nachahmenden
Völuspa hin skamma : pd kernr annarr, enn mötkare, pö porek eige
pann at nefna direct und ohne jede Verschleierung zu tage tritt.
Vergegenwärtigen wir uns nun im detail die erdrückende
fülle von längst schon an zerstreuten stellen und in verschie-
denstem Zusammenhang von gelehrten beobachteten kriterien für
die bedenklichkeit dieser halbvisa.
Zunächst erwecken die beiden substantivierten adjectiva, die
bei der Charakteristik des neuen unbekannten gottes verwant
werdeu, die grösten bedenken, er heifst enn rike (der mächtige),
es at gllo rwpr (der über alles herscht). diese farblos umschrei-
bende adjectivische bezeichnung für die Charakteristik eines gottes
von so weittragender bedeutung hat in der guten alten eddischen
dichtung sicher keine aualogie. wol aber kehren jene ausdrücke,
wie oben angedeutet, reichlich in der christlichen litteratur wider,
und ebenso der ganz singulär dastehnde ausdruck regendömr, der,
wie oben bemerkt, den nur in H überlieferten ausdruck d megen-
döma (v. 50,3) möglicherweise verschuldet hat, vielleicht aber auch
erst durch misdeutung der dortigen Situation die plötzliche ein-
flechtung des jüngsten gerichts durch Jesus in v. 65 mit veranlasste,
daneben werden in der Strophe aber echte worle des gedichtes nach-
geahmt, so gflngr aus v. 17, wo der ausdruck als bezeichnung der
drei menschenschaffenden Äsen verwant wird, so lehnt sich auch
enn rike an enn dimme an (v. 66); nur dass dort der ausdruck ord-
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 249
nungsmäfsig durch das substaDtivum dreke ergänzt wird, endlich
zeigt der ganze Strophenanfang komr enn rike bewusle anlehnuog
nicht nur an den anfang eben dieser visa kemr enn (limine dreke
fljhyande, sondern auch an v. 53 pd komr Hlinar harmr annarr
fram, v, 54 komr enn mikle mggr Sifgopor und v. 55 kemr enn
untre mogr Illöpynjar, ist übrigens schon aus diesem gründe,
worauf noch nirgends mit genügendem nachdruck hingewiesen ist,
für einen besonders prägnanten stroplfenanfang, wie ihn das er-
scheinen des höchsten goltes als bedeutsamster schlussact des
gedichtes doch erfordert, denkbar ungeeignet.
Zu diesen sprachlichen und stilistischen harten und un-
gereimtheilen tritt nun die unvollständige Überlieferung in metri-
scher hinsieht, wir haben es mit einer halbslrophe zu tun, und
die ergänzung der papierhss., die in diesem schlussabschnilte gern
und nicht unglücklich lücken auszufüllen suchen (vgl. auch v. Gl)
semr hann dumar ok sakar leggr : veskpp selr, paus vesa skolo,
zeigt deutlich dasselbe fortwuchern der christlichen zudichtung,
dem wir vielleicht, wie bemerkt, auch zeile 60, 3 verdanken, je
besser die ergänzung der papierhss. aber ist und je weniger sie
sich an dieser stelle von dem ganzen tenor der halbvisa unter-
scheidet, so dass sich der sonst so behutsame Müllenboff sogar
zu ihrer aufnähme in den Völuspatext entschließen konnte, um
so mehr bestätigt sie die müglichkeit einer spätem entstehuugs-
zeit dieser ergänzung in II, wie der ihr so nahe verwanten oben
besprochenen parallelslrophen.
Aber auch in den überlieferten Zusammenhang fügt sich die
visa in keiner weise, schon Heinzel (s. 81) hob hervor, dass
es nicht begreiflich erscheint, welche rolle die neuen gülter
von w. 59. 60. 61 — und wir können hinzufügen auch von
v. 62 — dem obersten richter und heirn gegenüber spielen
sollen, man muss doch wol annehmen, dass die gülter, die sich
so eifrig an Fimboltys fornar rünar erinnern, ihren herscher in
ihrer eignen mute finden werden, auch Olrik hat, wenn er auch
von seinem staudpunet aus, da er den ganzen schluss des gedichts
zwar zum teil für christlich gefärbt, aber künstlerisch für einheit-
lich hält, von einer athetese der v. 65 nichts wissen will, doch den
episch wertlosen Charakter desselben klar erkannt, und es ligt
ganz in der richlung Heinzeis, wenn er (aao. s. 283) zusammen-
fassend über das erscheinen des höchsten goltes urteilt : ll VoJospQ
250
NIEDNER
kommer han med stör dramatisk virkning; men episk set er han
ganske overflodig, da den unge gudeslaegt selv mä kunue ordne
den fornyede verlden og allerede bar gjort det\
Das allerschwerste bedenken ligt doch aber sicher darin,
dass dieser oberste gott und die art seiner erscheinung sich
weder mit den mythisch-geographischen noch mit den mythisch-
historischen Vorstellungen des nordisch-heidnischen altertums, wie
es uns sonst in den Eddaliedern begegnet, irgendwie verträgt,
dass der höchste gott von oben {ofan) kommen soll, was auf-
fallend an die genannte stelle des Stockholmer homilienbuches
erinnert, ist ein unicum in der ganzen mythischen geographie
des gedichts, das nur in dem vindheim vipan der, wie wir
später sehen werden, ebenfalls bedenklichen, wenn auch nicht
gleichfalls notwendig christlich gefärbten v. 63 seine entsprechung
hat. wol können der Idavöllr (v. 60) und die neue Valhöll (v. 62
flröpts sigtopter) ohne Widerspruch neben einander in der apo-
theose des gedichts bestehn, da während seines ganzen Verlaufs
ebenso wie götter und menschen, consequent auch götterweit und
meuschenwelt, die ja ohnehin so viel beziehung haben, nicht
streng geschieden werden, ist doch auch im ersten teil, in voll-
kommen genauer entsprechung, die locale entfernung des Ida-
feldes, wo die gölter zuerst auf der erde wohnen, und der
Walhallburg, die sie sich in Asgard errichtet haben, nirgends
angedeutet (vv. 7. 24) : auch hier fehlt jede mythisch-geographische
differenzierung von götter- und menschenweit, dass aber über
dem neuen Idavöllr und der neuen Valhöll (vv. 60. 64) noch eine
neue oberweit da sein soll, hat nirgends eine parallele, das ofan
ist offenbar ganz mechanisch dem nepan in v. 66 nachgebildet,
das aber, da uns Nidhöggs heim unter der erde schon aus vv. 37.
39 genugsam bekannt ist, dort sehr wolverständlich erscheint,
und was nun endlich die erscheinung eines solchen höchsten
unbekannten gottes an sich anlangt, so weifs sie bekanntlich
keine andre ältere eddische quelle, nur in jüngster dichlung,
wie in der von der Völuspa abhängigen Völuspa hin skamma, ist
davon die rede, seihst die doch christlichen einfliissen nicht un-
zugängliche darslellung Snorris kennt wol Gimle, aber nicht diesen
Üeög dyvioTog. nur die Vorstellung von der widerkehr aller ehe-
maligen götter oder einer Jüngern generalion derselben kehrt auch
sonst wider, wenn auch die biirger des neuen olymps nicht immer
RAGNARÖK UN DER VÖLl SPA 251
die gleichen sind, von einem bestimmten oder mehreren herschern
dagegen ist zwar direct auch nirgends die rede, wol aber deutet
die alte bekannte rälselfrage, die Odin in Baldrs ohr (lästerte,
eh man ihn auf »Ion holzstofs hob, die Vafbr. 54 und Hervarar-
i c. II bekanntlich doppelt berichtet wird, deutlich genug,
wie schon oben hervorgehoben wurde und wie schon Müllenhofl
so nachdrücklich betonte, auf die in v. 6*2 erzählte widerkebi
Baldrs in der zukünftigen rolle Odins.
Müssen wir somit sämtliche Zusätze in II für spätere ziem-
lich gleichartige willkürliche erQndungen hallen und stellte sich
dabei ebenfalls schon vorübergehend heraus, dass auch das letzte
privileg, was II bisher noch über R hinsichtlich der stropben-
ordnung betreffs v. 49 zu behaupten schien, ebenfalls sehr ver-
dächtig erscheint — ein ergebnis, das spater weitere bestätigung
erhalten wird — , so verliert diese jüngere handschrift, soweit
die höhere kritik dabei in frage kommt, für uns praktisch jeden
wert, nur auf dem boden der Überlieferung in R betrachten
wir daher nunmehr, von der letztgenannten alhetese von v. 65
ausgehend, die Ragnartikepisode (vv. 45 — 66) in ihrer gesamlheit,
um einen klaren blick über ihre anordnung und künstlerische
composition zu gewinnen.
Unzweifelhaft ist nämlich von den ergebnissen unserer zu-
gammenfassenden betracblung über die Wertlosigkeit der hs. II
das wichtigste und lorderndste die erkennlnis von der unechlheit
der v. 65. denn es kann keinem zweifei unterliegen, dass ihre
bisher immer im rahmen des gedichts als berechtigt und sogar
als notwendig behauptete exislenz, wie verschieden sich auch die
gelehrten zu ihrem Charakter sonst stellen mochten, das haupt-
hindernis bildete für die einheitlichkeit der schönen schlussparlie
vom emportauchen der neuen weit aus dun fluten (vv. 59 — 66).
besonders für alle die, die in Müllenhofls sinne an die erklärung
lies gedichts herantraten, um es als echt heidnisches und alt-
germanisches erzeugnis, wie es sich dieser im Zusammenhang
seiner Deutschen allerlumskunde dachte, weiter zu analysieren,
bat die glanzende Verteidigung dieser Strophe durch ihn (DA. v
331) und ihre ergänzung durch IlolTory (Eddastudien s. L40)
immer etwas erschweremies gehabt, laisächlich stört sie allein
die harmonie des welterneuerungsabschnittes. auch hier ist es
zum mindesten zweifelhaft, oh Müllenhoff seine zuversichtlichkeit
252 NIEDNER
in der betonuug des heidnischen Charakters der Strophe noch
heule festhalten würde, wo der junge isländische Charakter der
Völuspa hin skamma feststeht, deren v. 65 nachgebildete visa
(Hyndl. 44) pä komr annarr enn mötkare : pö pore ek eige pann
at nefna unter der falschen Voraussetzung von dem hohen alter
dieses gedichls eine hauptslülze seiner beweisführung bildete,
schwerlich hätte er, auf den oben charakterisierten Wortlaut der
Strophe allein gegründet, bei der entscheidenden Wichtigkeit, die
auch er der widerkehr ßaldrs für die gestaltung des neuen lebens
beimafs, einer Untersuchung unter der Voraussetzung Baldrs als
des gottes der neuen weit, für die durch die wolbegründete tilgung
von v. 65 bahn ward, principiellen widerstand entgegensetzt,
wenn wir Müllenhoff so stark die widerkunft ßaldrs als nächst
dem erscheinen des höchsten gottes wichtigstes ereignis betonen
sehen, auch bei der betrachlung der Vafbrudnismal (DA. v 245),
und anderseits seine geistvollen, aber nirgends an sich beweisenden
versuche beobachten, eine Charakteristik und psychologische er-
klärung des neuen herschers zu geben, die in Hofforys annähme
(Eddastudieu s. 140), dass in ihm der alte himmelsgolt lrmintiu
widerkehre, ihren sinnigsten, aber auch unwahrscheinlichsten
ausdruck gefunden haben, dann zeigt sich uns selbst in seiner
tiefdurchdachten darstelluug ein riss. zwischen Baldr und dem
obersten herscher klafft eine unüberbrückbare lücke.
Genau dieselbe Schwierigkeit tritt aber ein, wenn man v. 65
im Zusammenhang des gedichtes für die darstellung des jüngsten
gerichts in auspruch nehmen und mit den umgebenden vv. 64
und 66 verknüpfen will, hier kann ich mich auf Heinzel be-
rufen (Edda s. 82). mit recht bemerkt dieser, dass die vv. 64
und 66 in v. 65 keine stütze für ihre erklärung finden können,
da hier der gegensatz nicht ist, dass die menschen der gegen-
wärtigen unvollkommenen weit beim jüngsten gericht nach ihrem
verdienst strafe oder lohn erhalten, wie es die christliche lehre
verlangt, sondern dass alle bewohner der gegenwärtigen weit
strafen zugeführt werdeu , wie sie v. 38 in den höllenstrafen
schildert — wir können hinzufügen, wie sie v. 45 brepr mono
berjask, ok at bgnont verpask, mono syslrunyar sifjom spilla auch
für alle zu gründe gegangenen menschen voraussetzt — : alle
menschen der neuen weit aber sollen in ewiger wonue leben-
und der schlagendste beweis, wie wenig sich v. 65 in dem gegen-
RAGNARÖK IN DER VÖLI SPA
wärtig überlieferten zusammenhange mit w. 64 und 66 unter
der Voraussetzung des jüngsten gericbts zusammenfindet, zeigt
Notwendigkeit, in die sich Boer aao. s. 315 »ersetzt siebt, eine
gewaltsame Umstellung vorzunehmen, in <I<t tat eine seltsame
reihenfolge : die guten werden belohnt, der oberste ricbter
k 1 1 1 zum gericht, die schuldigen werden bestraft! wenn
Boer, um die von ihm gewünschte Interpretation der stelle zu
erreichen, diese Umstellung vorgenommen hat, hat er auf eine
erklärung oder molivieruog ihrer falschen Stellung in II ohne
weiteres verzichtet, immerhin seltsam, da er doch sonst die autorität
dieser hs. nicht principiell verwirft und bei der schon mehrfach
erwähnten v. R 49. II 11 dieselbe nach Bugges Vorgang ohne
bedenken acceptiert. ich meine gerade : in einem so entschei-
denden falle, wo es sich um die frage heimischen sagengutes oder
christlicher einflösse handelt, wäre sie unbedingt notwendig ge-
wesen, indes, ich glaube, sie wäre ihm kaum gelungen, denn
gerade unter der Voraussetzung des gesamtchristlichen Charakters
von w. 64. 65. 66 war wol eine bewuste Umstellung oder auch
nur nachlässige Verwirrung in II, die den christlichen sinn so
töricht entstellt hätte, so unwahrscheinlich wie nur möglich.
Alle die — von welchem gesichlspunct auch immer — die
Schlusspartie ^\c> gedichts in ihrer totalität als christlich bezeich-
neten, haben diesen durch Hein/.el aufgedeckten liefgreifenden
unterschied zwischen v. 65 und ihrer unmittelbaren Umgebung
nicht gesehen, von den drei hauptversuchen nach dieser richtung
-eheidet der von EHMeyer (Voluspa s. 218 ff) für uns aus, da er
in dem mit seinem gesamtstaudpuncte zusammenhängenden streben,
das ganze gedieht als das werk eines gelehrten Christen des 12 jh.s
darzustellen, soweit ich sehe, in der Forschung allein geblieben
ist (s. 253 f). ist er doch selbst Bugge gerade in dieser letzten
partie des gedichts in seiner mythischen Christianisierungssucht
zu radikal vorgegangen, sehr vielmehr zu denken geben natürlich
dessen einwände gegen den heidnischen Charakter (The home of
the eddic poems s. xxvinll). aber irgendwie überzeugen können
sie ebenfalls nicht. zunächst sind die combinationen von
angeblich christlichen einflössen alle gewonnen durch das medium
einer reihe aus dem christlichen England entlehnter fremdwörter,
die zum teil, wie lüavöllr und Nitiavöllr, strittig sind, zum teil
allerdings, wie 'der fliegende drache' in v. 60 und 'die halle
254 N1EDNER
Gimle' der v. 64, diesen einfiuss verraten : aber wie kann daraus
in diesen beiden letzten lallen (s. xxxivf und xxxvif) gefolgert
werden, dass auch die in den einem schon christlichen stamme
angehörenden Fremdwörtern liegende bedeulung, selbst wenn sie
dort reiuehristlich wäre, nur als solche entlehnt sein könnte.
und dann sind die Zusammenstellungen des offenbar neuen Val-
höllsaales und des alten heidnischen Zerstörers Nidhögg, dessen
auch v. 37 erwähntes beim in dieser selbst von den christlichen
beanstandern der nachbarvisur nicht angefeindeten Strophe sicher
nicht christlich gedacht ist, mit dem neuen Jerusalem uud dem
drachen der apokalypse doch würklich nicht so, dass sie die Über-
zeugung notwendigen Zusammenhanges erweckten, vor allem aber
beweisen sie gewis nichts für die herkunft dieser Schlusspartie als
christlichen gesamtbesitzes aus England, da sowol Norweger wie
Isländer auf ihren vikingerzügen jenen wortvorrat — das ent-
scheidende beweismaterial Bugges — sich flüchtig angeeignet
haben konnten (vgl. auch Sijmons Edda i s. cclxxxvi). wird
doch dasselbe argument angeblichen christlichen Charakters dieser
Schlusspartie von dem dritten der hauptgegner ihres heidnischen
Ursprungs Björn Magnüsson Olsen gerade — ebensowenig an
sich überzeugend — für die isländische heimat des ganzen gedichts
angeführt, im gruude genommen bleiben von seinen ausführungeu
(Timarit 15, 80 ff) ja nur die dyggvar drötter und die ynpe, die
sie in Gimle geniefsen sollen, als äufserlich ausdrücken in christ-
lichen Zeugnissen vergleichbar, aber es wird sich nun einmal
nicht beweisen lassen, dass dyggr, das an der einzigen stelle,
wo es sonst noch in der Edda vorkommt (Beginsmal v. 20),
von der treuen folge des doch gewis nicht in seinem beabsich-
tigten werk christlich gesinnten raben «ebraucht wird, absolut
den prägnant christlichen sinn 'rechtschaffen', den ihm Snorri
unterlegt, haben müsse, und dass die drottar dyggvar dieselben
wie die 'guten menschen' im glaubensbekenntnis des Stockholmer
homilienbuches sein müssen, oder dass die ynpe, die an andrer
stelle (Havamal 96) die jarlswonne, die der höchste heidnische
gott bei seinem Billingsmädcben genoss, darstellt, hier nur
durchaus die wonue der rechtschaffenen seelen im paradiese sollte
darstellen können.
Es wird vielmehr die alte ansieht Müllenhoffs (DA. v 30 — 37)
hier wol zu recht bestehn müssen — falls man nur die oben
RAGNARÖK l.N DER VÖLUSPA
besprochene parlie ober \. 65 ausscheide! — , dass echl heid-
oische Vorgänge in diesem neuen götterheime geschildert werden,
immerhin hal auch er Dach meiner aufrassung noch dem dyggr
eine allzu wenig heidnisch gefärbte nebenbedeutung beigemessen,
und auch das oben genannte törichte vi valtiva von Hask be-
lassen, indem er allzueifrig «l.is friedliche m dem Charakter der
neuen weit urgierte. ich habe mich in früheren arbeiten schon
nachdrücklich nach jener riebtun g ausgesprochen, und merk-
würdigerweise werden die typisch heidnischen züge gerade in der
ilcn christlichen Charakter der Schlusspartie bezeugen sollenden
darstellung Olsens ins rechte licht gestellt, auch er erwähnt, dass
Schlachtengötter in der neuen Valhöll wohnen und weisl auf den
ausdrücklich kriegerischen namen Bods, i\w nur in der Ragnarök-
darstellung dieses liedes widerkehrt; ja er gehl sogar so weit, in
dem adler, der auf den bergen der ueuentstandenen weit fische
weidet, eine kriegerisch-unchristliche Vorstellung zu erblicken, er
lieht ferner den von der Snorra-Edda so stark helonten kriege-
rischen Charakter von Thors söhn Magni hervor und fragt mit recht,
was denn Magni und .Modi in den Valihiudnismal eigentlich mit
dem bammer ihres vaters in der neuen friedlichen well anlangen
sollen, freilich, um den unterschied zwischen beiden gedichtet)
zu erweisen, in würklichkeil sind eben die kriegerischen Odins-
söhne in der Völuspa und die kriegerischen Thorssühne in den
Vaflhrdunismal vollkommene parallelen, und der Völuspadichter
hat sich die neue bürg Baldrs nicht anders gedacht wie die alle
Odins und die mannen in Gimle eben als einherjar, die in wonne
leben, wie die krieger in Ueowulfs Ilrodgarhalle, und gewis vom
Waffenhandwerk nicht zu trennen sind, soll man einem harten
schlecht, wie den mannen) der Egils- und Njalssaga, denen
ßoer (aao. s. 358) mit recht seinen ersten dichter an die seite
stellt, nur dass mau diese Vorbilder getrost als cullurelle Voraus-
setzung für die ganze Völuspadichtung in anspruch nehmen kann,
jedes gefühl für weichere Vorstellungen absprechen? sollte auch
bei ihnen, gerade als coulrast, vorübergehnde friedenssehnsucht,
wenn auch gleich wider von neuer tatkraft begraben, nicht zu
denken sein? wol kann ein bedeutender dichter dies gefühl
einmal in den gedanken des künftigen heidnischen paradieses
taghell leuchtend projiciert haben, aber eine schar waffenloser
heiliger haben sich seine landsleule sicher nicht dabei gedacht.
256 NIEDRER
alle schuld, alle verderblichen würkungen des kriegshandwerks
wurden weggedacht; alle wonneu, alle den freien mann im kriegs-
spiel ergötzende beseligung blieb, die form des alten lebens blieb
in der phantasie ßls selbstverständliche Voraussetzung : aber die
in den einherjarkämpfen längst vorbereitete Vorstellung eines hei-
teren, glücklichen spiels war das neue, was nun ewig sein sollte,
bei dem kurzen prägnanten stil der Völuspa kommt dies daher
allein in v. 64 zum ausdruck : in der tat keine abschwächung
der in Vafprudnismal 41 geschilderten Vorgänge, wie Wilken (Zs.
f. d. ph. 33,328) meint, sondern die denkbarste Steigerung, gewis
ist in all diesem kein Widerspruch in der dichterischen phan-
tasie. und ein reiner logiker ist der Vüluspadichter eben seiner
ganzen pythischen Veranlagung nach ebensowenig gewesen, wie die
Vulva, der er seine tiefsinnigen anschauungen in den mund legt.
Ich kann demnach auch Björn Magnüsson Olsen in seiner
polemik gegen FJönsson (Literaturhislorie s. 131 f) insofern nur
völlig beistimmen, wenn er sich gegen dessen auffassung wendet,
dass die heiden sich eine ganz unkriegerische weit consequent
im jenseits aus ihren anschauungsbedingungen heraus hätten
denken müssen! ja, wenn sie abstracte logiker gewesen wären,
aber unbewust empfunden haben diese überkriegerischen
männer als contrast eine solche weit der ruhe gewis tausendmal,
und so konnte ein derartig kriegerisch-unkriegerisches jenseits denn
in ihrer phantasie sehr wol die Voraussetzungen abgeben für ein
bild, dem danu ihr gröster dichter in der Gimlestrophe plastische
gestalt verlieh, überhaupt scheint es mir doch eine verkennung
des künstlerischen Charakters des gedichts, wenn FJönsson es als
eine bewuste tendenzdichtung hinstellt; dass die Völuspa dem
Unglauben entgegentreten sollte, kann ich ebensowenig mir vor-
stellen, wie dass die Lokasenna eine pädagogische waruung vor
demselben enthielte (aao. s. 135. 185).
Ebensowenig wie der tiefgreifende unterschied in religions-
philosophischer hinsieht ist aber das misverhältnis zwischen der
v. 65 und anderseits den vv. 64. 66 in bezug auf die technik des
aufbaues genügend gewürdigt, die dramatisch abschliefsende wür-
kung nämlich, die v. 66 beherscht und sie geradezu notwendig
im gedieht macht, wurde durch die unechte visa vom erscheinen
des höchsten gottes, die, wie ich oben hervorhob, selbst einen
dramatischen höhepunet darstellte, abgeschwächt und unpassend
RAGNARÖK IN DER VÖLÜSPA
vorweggenommen — ein grund mit für mich, seinerzeit, unter
der Voraussetzung der ursprünglichkeil von v. (>.".. die würksame
ausgangsstrophe dem gedicble unberechtigter weise abzusprechen
(Zs. 36, 282CT. 41,35).
Einen weitern beweis für den anders zu beurteilenden Cha-
rakter von vv. 64. 00 und v. r>"> bildet der von Wilken (Zs. f. d. ph.
30, 45S) mit unrecht geleugnete parallelismus von vv. iii — 66 mit
37 — 39 des zweiten leiles des gedichts, der nach Müllenhofl dir
gegenwarl schildert, dass der der sonne ferne saal in Naströnd
und der mit gold gedeckte saal auf Gimle, dass ferner die durch
die eiskalten ströme watenden Verbrecher und die treuen scharen,
die in Gimle hausen, bewusle ^re»ens.:il/.e bilden, darin treffen
uer wie HolTory (aao. s. 133) und Boer (aao. s. 314), die
doch ganz andre beweisführungen verfolgen, zusammen, auch
dass der draehe Nidhögg in v. 39 seine entsprechung hat und
dass hier ebenfalls ein hewuster parallelismus vorliegen muss,
ward schon hervorgehoben und ward längst heohachtet. es ist
indes völlig unstatthaft, aus diesem »runde nur vv. 3S 1 mit
w. 64. 66 in eine engere gruppe zu rücken, die, ohwol sie doch
als charakteristische scene die vom slandpunct des Germauen
so notwendige wasserhölle enthalten (Müllenhoff DA. v 120),
durch den christlichen Charakter auch wider den besprochenen
beargwöhnten Strophen dir Schlusspartie entsprechen sollen, denn
der parallelismus von v. G4 wie v. 66 ist notwendig auch auf die
von Boer streng von v. 38 f geschiedene v. 37 auszudehnen, und
zwar nicht hlofs in dem contrast der leichentäligkeit ISidhöggs.
der nicht gegensätzliche parallelismus von v. 64 und v. 37 ist nicht
zu verkennen, da der goldne saal von Sindris geschlecht mit
dem goldgedeckten saal auf Gimle correspoudiert, wie der
'biersaal des riesen' offenhar auf ähnliche Ireuden deutet, wie sie
in der idealisierten weit die hewohuer der neuen Walhall erwarten
werden, fest und unauflöslich schliefst endlich auch beide
Strophengruppen in ihrer gegenseitigen totalität die gleichuug
Niüavellir — Nifiafjoll zusammen.
Damit ist nun aber auch eine feste brücke geschlagen von
den endvisur 64 und 66 zu den eingangsvisur (vv. 59 ff) der
schönen schlusspartie, da diese gauz in derselben weise auf die
eingangspartie des ganzen gedichtes (311) zurückgreifen und auch
hier offenbar lauter bewusle gegensätze sich finden, hier wir
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. 17
258
MEDNER
dort treffen die Äsen auf dem Idafelde zusammen, liier wie dort
treiben sie das fröhliche bretspiel, hier wie dort gibt es ein
goldnes Zeitalter, dieselben ausdrücke umschreiben beidemal die
alte wie die neue olympische Seligkeit/ und der parallelismus
würde noch weiter gehn, wenn wir in der unvollständigen v. 61
statt des mit Jöusson in seiner ausgäbe sicher zu streichenden
elenden lückenbüfsers pars i drdaga dltar hofpo den ver-
lorenen visuhelming halten, der offenbar das goldne Zeitalter
weiter ausmalte, denn der schon im rhyibmus wuchtige nach-
haltige ausdruck mon Baldr koma scheint entschieden mehr
vorauszusetzen als die andeutende allerdings sehr charakteristische
noiiz, 'dass die ä'cker fortan unbestellt frucht tragen sollen',
auch die scheinbare abweichung im eingang von v. 59, wo er-
zählt wird, dass die erde von selbst wider aus den fluten empor-
taucht, während sie im eingang der Völuspa (v. 4) von Burs
söhnen aus den fluten emporgehoben wird, ist nicht imstande,
diesen parallelismus zu zerstören, wie Olrik (aao. s. 279)
richtig bemerkt, ist das naturphänomen nur so zu sagen an
zweiter stelle nackt widergegeben, während es an erster in mytho-
logischer umkleidung auftrilt. genau derselbe Vorgang widerholt
sich ja v. 57 in der mit v. 59 correspondierenden darstellung
vom untergange der weit, wo ebenfalls nur gesagt wird, dass die
sonne zu dunkeln beginnt und die hellen Sterne vom himmel
schwinden, während in der proleptischen, dichterisch so würksamen
v. 41 derselbe nalurvorgang {svgrt verpa sölskin) unter dem bilde
des die sonne verschlingenden Ungetüms in mythologisch aus-
führlicher Umschreibung dargestellt wird (aao. s. 272).
Es gehört schon eine ziemliche Voreingenommenheit da-
zu, wenn Boer, dem bei seiner hypothese von einem doppelten
dichter der Völuspa nach seinem eignen geständnis gerade in dieser
farbenprächtigen Schlusspartie des liedes nicht wol wird (s. 33S)
bei der nicht wegzuleugnenden ähnlichkeit der Strophen 64. 66
mit w. 59 ff in der absieht, in bewusten gegensatz zu den ab-
schnitten des liedes vor der katastrophe zu treten, sich mit dem
auswege hilft, der jüngere dichter (w. 62 ff) habe hier eine figur
des älteren (w. 59 ff) nachgeahmt, für jeden unbefangenen wird
die auffassung die nähere sein, dass der ganze abschnitt von
w. 59 — 66 — mit ausnähme natürlich von v. 65 und auch von
v. 63, auf die wir gleich zurückkommen — das werk desselben
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA
dichlers und aus einem guss isl und ebenso einheitlich auf die
vor dem Ragnarökabschnilt liegenden teile des gedieh tes, den
Müllenhoffschen vcrgangenheiis- und gegen war tsabschniit, zurück-
!i. denn auch v. 62 \> « ■ i s t um dem kurzen prägnanten aus-
druck »ton lUildv koma deutlich auf die als bekannt voraus-
gesetzte breil und liebevoll ausgemalte miltelpartie des liedes
(vv. 31 — 35), die die ganze Baldrgeschiclite umfasst, — insbesondre!
wenu die von uns später versuchte ergänzung ^ry unvollständigen
v. 36 das richtige triffl — , als die Beele und den Lebensnerv des
ganzen liedes zurück, wenn es bei diesem wichtigsten ereignis
vor dem Weltuntergang heilst 'Frigg beweint das weh Valhölls',
und wenn hier bei dem wichtigsten ereignis nach der well-
erneuerung Baldr al> einer der 'Valtivar' ausdrücklich auf-
gerührt wird, so isl unschwer zu erkennen, dass auch dii
Wendungen in fester und bewusler sprachlicher correspondenz stehn.
Ebenso verlang! aber Boer meiner auffassuog nach viel be-
dingungslose oachgiebigkeit, wenn mau ihm unter der Voraussetzung
seiner eben genannten hypolhese in der annähme folgen soll
dass sein sonst streng epischer und jede lyrische anwandlung
verschmähender erster dichter hier plötzlich am schluss in v. Gl
empfindsam weich und idyllisch geworden sein soll (aao. s. 3441;,
und man fragt unwillkürlich, wenn der schluss dieses älteren
liedes hinter v. 61 unterdrückt sein sollte, in welcher Stilart
dieser nun eigentlich gelautet haben möchte? empfindet da
nicht Olrik, der die souveräne meisterschaft des dichlers seinem
Stoff gegenüber widerholt so treffend darstellt, viel richtiger, wenn
er die Schaffensfreude, welche die ganze schlusspartie durch-
zieht, in den schönen worten charakterisiert (s. 280): 'Her
hvor de andre kilder forslumme, pä tserskelsen til det nye
verldensliv, synes Voluspädigteren fortrolig med all; bans ilemle
stil ombyltes med rolig udmaling; her elsker haus fantasi at
dvaele'. sicher ligt grade die Stilverschiedenheit hier am seh!
in der sache seihst, und bei aller einheitlichkeil. des mythologischen
Zusammenhangs erfordert diese gradezu eine mannigfach abgetonte
stilistische darstell ung. und wie hatte der dichter kunstmittel,
über die er nach dieser seite so überreich gebietet, nicht ver-
schwenderisch gebrauchen sollen!
Ein solches und zwar besonders virtuoses mittel ist meiner
Überzeugung nach auch das häufige fulurische mon, das Boer (s.341)
17*
260
iMEDiNER
hauptsächlich als beweisrailtel für die partieen des jüngeren dichlers
verwertet, mir scheint, gerade in seiner verschiedenartigen Ver-
wertung zeigt sich eine besonders weise Ökonomie der dichtung.
es tritt im gedieht zum ersten male auf, wo tatsächlich zum
erstenmal von der Zukunft berichtet wird (v. 45 brepr mono
berjask), und bildet für mich mit eine der festesten stutzen für
die allein berechtigte dreileilung des gedichls, die Müllenhoff so
glänzend begründet hat. und wenn es der dichter hier zum
ersten mal ausgiebiger bei dem erscheinen ßaldrs verwendet, so
hat dies seinen sehr guten und wolerwogenen grund. denn das er-
scheinen des höchsten gottes Baldr, des Odin der neuen weit,
der sich gleich darauf mit seiner saldrött, der elite der neuen
gotter- und menscheuwelt, wie Valhölls bewohner in der alten,
einrichtet, stellt allerdings eine Zukunft in der Zukunft dar.
sehr fein eingeleitet wird dieser Übergang durch das prägnante
mono epter (v. 61), das aus der Zukunft, die mit v. 45 begann,
und deren letztes bild die nach der Zerstörung der weit wider-
kehrenden und wol noch halb traumhaft von der Vergangenheit
redenden götter (v. 60) waren, zu der zukunft in der zukunft
hinüberführt, in der sie bereits wider zu in alter olym-
pischer ruhe dahinlebenden göttern (v. 61) geworden sind, ich
werde auf die ungeheure differeuzierungsfähigkeit des Yöluspa-
dichters in der Zeitendarstellung noch in anderm zusammenhange
zurückzukommen gelegenheit haben : für die hypothese eines
älteren und jüngeren dichters scheint sie mir einen sehr geringen
stützpunet abzugeben, da gerade die angeblichen disharmonieen
der schlusspartie bewundernswerte, ja die bewundernswertesten
künstlerischen leistungen im ganzen gedieht überhaupt darstellen.
Ist es doch auch kaum möglich einen riss oder eine naht,
wie Boer sich auszudrücken pflegt, festzustellen, wo diese doppelte
dichtertätigkeit oder auch zwiefache recension, wie man es nun
am bezeichnendsten nennen mag, sich deutlich verriete, der beste
beweis ist, dass eine solche, wo sie aufzudecken versucht wurde,
bald vor, bald hinter die Baldrstrophe gerückt ward, ich selbst
habe (Zs. 41, 39 f) bei meiner damaligen annähme einer doppelten
recension, die, wie schon bemerkt, die irrtümliche annähme des
heidnischen Charakters von v. 65 zur Voraussetzung halte, die
Baldrstrophe 62, 1 — 4 noch zur ersten fassung gezogeu, in dem
instinktiv richtigeu gefühl, dass Baldrs herschaft einmal ein be-
RAGNARÖK IN DER VÖLI SPA 261
sondrer liedabschluss gewesen sein müsse — was nunmehr, \\<>
die interpolatioa vom höchsten unbekannten gölte beseitigt ist,
durch das gedieht selbst erhärtet ward. Boer hat den einschnitt
vor der Baldrstrophe versucht, andere endlich, besonders die
Vertreter der apokalyptischen oder sibyllinischen bypolhesen,
haben, wenn sie die jüngere zudichtung nicht auf den ganzen
abschnitt vv. 59 — 66 ausdehnten, auch wol erst von v. 64 ai>
ihren beginn datiert, ein einheitlicher trennungspunet, der
kritisch überzeugend wäre, ist aber nie nachgewiesen worden,
weil er eben nicht existiert, v. 62 schliefst sich, mag immerhin
einiges aus der Schilderung des neuen goldnen Zeitalters dort aus-
gefallen sein, dem sinne nach doch vortrefflich an das folgende an,
und mein früheres bedenken, dass ein mis Verhältnis obwalte zwischen
der angäbe, die Baldr erst schlechthin kommen lässt und dann
ihn nehen oder gar nach IIOiI erwähnt, vermag ich nicht mehr
aufrecht zu erhalten, dass Baldr zunächst als herscher allein
tannt wird und dann zusammen mit dem bruder, mit dem er,
wie alle andern gülter bekanntlich in den Ragnaröküberlieferungen,
paarweise widerkehrt — und mit wem als diesem sollte er sonst
paarweise widerkehren — dann ligl gewis nichts auffallendes.
würde man denn, wenn etwa die drei allen, mythologisch so oft
zusammengestellten gotter Odin, Thor. Frey in irias wider-
kehrten, und dabei Odins berschaft in ahnlicher weise vorher
angekündigt würde, darin etwas absonderliches erblicken 7 ich
kann daher weder wie in meiner genannten frühem arbeit jelzt
noch mit der gangbaren Vorstellung ein ärgernis daran nehmen,
dass der loter Baldrs mit diesem in der neuen weit in eintracht
widerkehrt, noch auch mit Boer gerade darin eine so tiefpoetische auf-
fassung des gedichts linden, dass nach ihm der schuldig-unschuldige
Hüd mit dem unschuldigen Baldr dieselbe herscherehre geniefseu
soll — beidemal ist ein reflectierender accent auf das Verhältnis
der beiden gölter gelegt, der dem Völuspadichtcr sicher fremd
war : wie sonst die beiden radier Vidar-Vali, wie die beideu
Thorssohne Magni und Modi, so gehören naturgemäfs auch die
beiden Odinssöhne in der neuen weit zusammen, bildet doch
die bemerkung, dass Baldr mit Viid Hropts siegreiche gehöfte
bewohnt, zugleich die beste und unauffälligste Überleitung zu
seiner 'saldröll', die dann in v. 64 des genaueren geschildert wird.
An die echlheit des visuhelmings btia Bgpr ok Baldr Hröpts
262
MED.NEJt
sigiopler, vel valtivar : vitop enn epa Jwatl ist also nicht zu
tasten, und wenn Boer ihn aus der Strophe ausscheidet und
v. 63, 3- 4 ok burer byggva bre'ßra tveggja vindheim vipan; vilop
enn epa hoat? als augebliche Variante au ihre stelle setzt, so dass
die worte bedeuten 'die sühne der beiden hrilder, dh. Hüds und
Baldrs' sollten den himmel bevölkern, so hegeht er einen
doppelten schweren irrtum. zunächst sind es die auch nach
seiner aulTassung durchaus älteren Zeilen, die er zugunsten jener
angeblich jüngeren Variante aus dem Völuspatext ausscheidet,
mit der seilsamen motivierung, dass die ältere Variante
nachträglich aus einer andern darstellung der Völuspa wider auf-
genommen sei. eine sehr unwahrscheinliche für mich den ein-
diuck der höchsten künstelei machende annähme, die dadurch
kaum glaubhafter wird, dass er sich für sie auf einen angeblich
zweiten fall dieser art in der mitte des gedichtes bei der dar-
stellung der Odin-Yggdrasil-Mimir-episode (s. 294 ff. 36Sf.), auf die
wir später zurückkommen, berufen zu können meint, auf derartige
unwahrscheinliche hypothesen hin eine gute alte halbstrophe im
überliefertem zusammenhange zu beseitigen, erscheint mir aber
eine arge gewaltsamkeit. sodann aber setzt sich Boer durch
diese erklärung mit der noch immer besten erläulerung unsres
visuhelmings in Widerspruch, die die Grundtvigsche auffassuug
des Tveggja als genetiv des eigennamens Tveggi-Odin zur Vor-
aussetzung hat, in der Müllenhoff mit recht (DA v 156) eine
erlösende tat sah. ihr gegenüber erscheint mir die deutuug
von byggva burer brepra tveggja in dem sinne, dass die söhne
der beiden hrilder (dh. Baldrs und Höds) nunmehr den himmel
•bevölkern, gewis ebenso künstlich, wie Olriks annähme (aao.
s. 264), die ebenfalls tveggja als genetiv pluralis des Zahlwortes
voraussetzt, die beiden brüder mit Hönir zusammenbringt und
demnach an söhne Lodurs und Odins, welch letzterer dann Vidar
sein soll, denkt — was schon deswegen unwahrscheinlich ist, weil
Vidar bekanntlich sonst in Hagnarökmythen mit Vali zusammen
widerkehrt.
Immerhin hat die erklärung Olriks doch der engen Zu-
sammengehörigkeit der beiden helmingar der v. 63 rechnuug
gelragen, wenn er auch die echlheit der einzigen langzeile der
ersten, defecten halbstrophe pd knä Honer hlautvip kjösa dabei
voraussetzt, dass diese aber der ganzen anläge und idee des
RAGNARÖK IN ULK VÖLÜSPA
1 jedes oach hier niemals ursprünglich gewesen seiu kann, darin
stimm ich Boer durchaus bei : nur mein ich, dass die be-
hauptete unechtheil auf die ganze visa auszudehnen ist. beide
hallten sind augenscheinlich ergänzungen eines interpolalurs, und
zwar glaub ich, ist es beidemal, auch unabhängig von der fraj
<>li sie ursprünglich seihst zusammenhängen, oichl schwer zu
verstehn, nach welchem musler dieser die beiden gölierpaare
Iner einfügen zu müssen glaubte, das vorbild war für ihn, der
offenbar durch die erwähn ung von Baldr und Höd (v. 62) auf
den irrtümlichen gedanken gebracht wurde, dass hier eine kata-
logisierung von götlern beabsichtigt sei, die erwähnung von
Burs Bühnen (v. 1). was lag für ihn näher, als nach dein aus-
scheiden Odins durch den Weltuntergang an dieser stelle die
reste der beiden triade'n Odin-Hönir-Lodur und Odin-Vili-Ve,
die beide schon im gedichte vorher angedeutet waren, bei der
widerkebr der gölierpaare in erinnerung zu bringen, es kann
dabei an sich ganz dahingestellt bleiben, ob er etwa die ebenfalls aus
ähnlichem gründe sicher interpolierten, wenn auch gewis nicht
jungen w. 171' von der menschenschüpfung schon vor äugen hatte:
in diesem falle würde es doppelt begreiflich sein, dass er die
gültertrias in ihrer altern und Jüngern form, die in zwiefacher
Bchüpfertätigkeit bereits eine so grundlegende rolle in der alten
weit gespielt hatte, nun auch bei der constituierung der neuen
Würdig vertreten sein lassen wollte indes v, 1, also der echte
teil des gedichts, genügte doch schon völlig für diese seine ab-
sieht , und nichts hindert uns anzunehmen, dass in v. 63 eben-
falls wie in v. 17 reste eines alten kosmologisch-eschatolngischeu
gedichtes in den gang des alten liedes aufgenommen wurden.
auf keinen fall gehören die gölterpaare hier in die neue weh
hinein, wenigstens nicht mit namen. denn in dem punet hat
Boer natürlich recht, dass eine aufzäblung von dem dichter, der
w. 59 ff die widerkehr der götter im allgemeinen schilderte,
hier unmöglich beabsichtigt sein konnte, erst zu erzählen, dass
die götter zurückkommen, dann ihr treiben zu schildern, darauf,
dass Baldr zurückkehre zur herschaft, und dann, dass eine be-
stimmte reihe gölter widerkomme, ist ein unding, und eine
solche Stümperei hat mau kein recht dem Völuspadichter zu-
zutrauen, es bleibe dabei dahingestellt, inwieweit solche zusätze,
besonders die hindeutung auf Vili und Ve, die ja aufsei lieh an
264 MEDNER
die christliche trinilät erinnern, durch misverständliche aulfassung
mit der ausgangspunct geworden sind für derartige christliche
Wucherungen, wie sie in II 65 und der Fortsetzung der papierhss.
vorliegen, der ausdruck vindheim vißan gibt nach dieser richtung
zu denken.
Es kommt übrigens hinzu, dass auch die auswahl der
gölter, die v. 63 widerkehreu lässt, trotzdem diese im gedieht
genannt waren, wenn schon einmal eine katalogisierung beab-
sichtigt war, sicher vom Völuspadichter ganz anders eingerichtet
worden wäre, der für die frage der composition so fein ver-
anlagte halte sicher Thors sühnen Modi und Magni nach dem
eben geschilderten Schicksal des vaters eher einen platz angewiesen,
als dem unglücklichen Hönir, der für die echten teile des ge-
dichts gar keine rolle spielt, wenn auch seine widerkehr im
Ragnarökmylhus an sich durch eine merkwürdige parallele ge-
stützt sein mag (Olrik aao. s. 281). geradezu gefordert muste
dann aber werden das neuerscheinen Valis und Vidars. beide
treten an entscheidenden wendepuneten des gedichts (vv. 33 u. 55)
in visur, die gewis mit unrecht von Müllenhoff getilgt wurden,
als rächer der höchsten götter Baldr und Odin auf, und wenn
überhaupt andre Äsen, so hatten sie das recht neben Baldr und
Hod zu erscheinen, aber der dichter überliefs eben das bild
des neuen olymps sich auszumalen seinen hörern. nur das mag
noch hervorgehoben werden, dass er sich kaum eine so um-
fassende widerkehr gedacht haben wird, wie sie ßoer annimmt,
der nur die gefallenen hauptgölter Odin, Thor und Frey abzieht
(aao. s. 341). er, der nie einen strengen unterschied zwischen
göttern und menschen machte, wird bei dem Strafgericht, das
nach den v. 45 geschilderten Vorgängen hereinbricht, wonach
alle menschen den Helweg antreten müssen, kaum eine Schuld-
losigkeit der götter in solchem umfauge angenommen haben.
Das gemälde der schlusspartie (vv. 59. 60. 61. 62. 64. 66)
entrollt uns so in grofsartiger weise, wie wir gesehen haben, die
erneuerung der weit vom auftauchen der verjüngten erde bis
zum ewig glücklichen leben in der neuen Walhall, und wir
sehen jetzt, nach tilgung der lästigen interpolation v. 63, erst,
wie voi treulich dieses leben in der neuen götterburg, wo widerum,
wie in Odins halle einst, götter und menschen zusammenhausei),
in den vorausgehenden echten Strophen vorbereitet wird, wie das
RAGNARÖK I.N DER \<>LISI'\
265
ni'iie goldoe Zeitalter der götter unmittelbar zu dem neuen goldnen
Zeitalter der menschen überleitet, wo die Felder uogesäel tragen,
— so leitet das Walhall-Iebeo der ueuen götter in v. 62 ebenso
unmittelbar und ungezwungen das Walhall-leben der neuen
menschen in ».64 ein. in der mitte beider partieen ahn-, alles
überragend, stein die gestall Baldrs, dessen bedeutsamkeit für die
neue weit in der mittelpartie des gedichtes SO glücklich und mit
ungewöhnlicher epischer breite vorbereitet ist: seine gestall knüpft
die vv. ,")'.l — lil und 04 — 6(3 unveräufserlich aneinander, und
dann der prachtvoll düstere und doch heitere abschlussl zu den
Ragnarök will der dichter eben auch diese partie gerechnet wissen.
der ausdruck passt an sieh zur Weiterneuerung wie zur kata-
strophe. auch jene gehurt ja 'zu dem grofsen geschicke der
gülter und menschen'.
Dass der dichter tatsächlich die besprochene Schlusspartie des
gedichts noch in den Ragnarökabschnitt einbegriffen wissen wollte
und somit nicht nur die Ragnarökepisode im eigentlichen sinne
(R 17 — .">1), — db. den abschnitt, der durch die sonst landläufige
auffassung des namens (Olrik aao. s. 203) charakterisiert und
und, mit dem zusammenstofs der götter und riesen anhebend, in
der Vernichtung der weit endete — unter diesem begriff zu-
sammenfasste, vielmehr diesen sogar noch auf die unheilkündende
Vorgeschichte (R 41 — 16) ausdehnte, zeigt klar und deutlich die
Überlieferung von R selbst, an die wir uns allein zu halten haben,
wenn wir uns jetzt zur betrachtung des gesamtabschnittes von
v. 11 an wenden, die Strophe nämlich Geyr Garmr mjok fijr
Gnipahelle : festr mon slitna, en freke riiina, fjolp veit frepa,
fram sek Jengra umb ragna rok , rgmm sigliva kehrt dreimal,
und zwar genau an den stellen wider, wo diese Ragnarök im
weitem sinne entscheidende gedankliche abschnitte aufweisen, das
erste mal (v. 43) leitet sie die unheilkündenden aufruhrscenen in
der sittlichen weit und der natur ein, die der kataslrophe un-
mittelbar vorangeht), das zweite mal eröffnet sie die Vernichtungs-
episode selbst (v. 46). das dritte mal endlich leitet sie den
besproebnen schlussact des grofsen Zukunftsbildes ein (v. 5ü).
das kann kein zufall sein, sondern es war die planmäfsige ab-
siebt des dichter?, durch diese jedesmalige hindeutung auf den ge-
fährlichsten und, so zu sagen mythisch-populärsten feind der gölter
und menschen die kommende wie die überwundene gefabr in
266 MEDNER
diesem plastischen momentbilde auch im ersten und dritten teil
des erweiterten Raguarökabschnittes gegenwärtig zu halten , um
durt die Spannung auf die kommende tragödie möglichst zu er-
höhen, hier durch nochmalige hervorhehung des düsteren gegen-
satzes im schönsten eiuverständnis mit v. 66 den wert und das
glück der erneuerten weit um so nachdrücklicher und greifbarer
hinzustellen. sie ist also keineswegs ein hlofses ornament,
als das sie II zu verwenden scheint, die sie nicht nur vor
v. 41 R unpassend vorwegnimmt, wo vom wesen der Ragnarök
überhaupt noch nicht die rede ist, sondern sie auch dann noch
einmal zwischen R 51 und 53, wo von den beiden grofsen
götterkämpfen mit den Ungetümen die rede ist, an möglichst un-
passender stelle einflicht : vielmehr ist sie in dem erwähnten sinne
ein integrierender teil der handlung selbst, nirgends scheint mir
Roer bei der lilgung von stefstrophen, die er ja überall im ge-
dieht vorzunehmen sucht, so unglücklich zu sein wie gerade hier,
denn seine beiden hauptgründe, warum er die Strophe nur vor v. 50,
wo sie natürlich als einleitung zur katastrophe selbst stehn muss,
lassen will (aao. s. 331 fj, stützen sich einerseits auf die hand-
schrift H, wo die nur an einer stelle vollständig mitgeteilte
Strophe aber keinesfalls beweisen kann, dass nicht auch ihr
zweiter teil als stef verwant wurde, anderseits auf die behauptung,
dass die visa kein typisch zusammenfassender ausdruck für die
katastrophe sein könne, die durch unsere obigen ausführungen
widerlegt ist.
^'ir haben gesehen, wie Roers versuche in der Schlusspartie
auf grund von allgemein cullurhistorischen gesichtspuneten das
schöne schlussbild in die werke zweier dichter zu zerreifseu,
weder in den ergebnissen seiner einzelkritik noch in seinen
stilistischen erwägungen eine überzeugende Unterstützung fanden,
auch hier kann ich seinen athetesenversuchen, soweit sie mit
seiner theorie eines älteren und jüngeren dichters zusammen-
hängen, in keiner weise zustimmen, dass Roer neben der oben
erwähnten prachtvollen malerischen refrai u Strophe auch die
v. 47, 1 — 4 dem ältesten teil des gedi'chtes abspricht, ligt in
derselben richtung einer Unterschätzung der bedeutsamkeit, die der
fesselung und befreiung des wolle» auch sonst, als landläufig-typi-
sches ereignis der Ragnarök, beigemessen wird, die worle Skelfr
Yggdraseh askr standande, ymr et aldyia tre, en jgionn losnar
RAGNARÜK l.\ DER \«>l.l SP.A
gelin in der handschriftlichen Überlieferung \<>n |; unmitleibai
der katastrophe voraus, enthalten also genau dieselbe prägnante
tendenz wie die slefstrophe, die sie vorbereiten, und dass \. 15
dem einheitlichen gefüge der RagnarOkpartie nicht fehlen kann,
ist Bchon widerholl hervorgehoben: die schluss-strophen des
ganzen gedichtes stebn ja mit ihr im engsten Zusammenhang
übrigens erleiden auch di«' gegen den heidnischen Charakter dei
Btrophe erhobenen bedenken eine weitere wesentliche eio-
schränkung, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es lediglich
die heiligsten familieninstitutionen der alten Germanenwelt sind,
en die hier gefrevelt wird (Müllenhoff DA. v 140), und dass
alle bedenken fortfallen, wenn man von der eingeschränkten be-
deutung, die dem mono systrungar sif/om spilla im hinblick auf
die verbotene verwantenehe beigelegt ist1, absiebt, was mir durchaus
natürlich erscheint.
Anders ligts für mich, wie ich schon früher angedeutet
habe, hei einer alhelese Boers, die einen würklichen späteren
znsatz ans dem gefüge des eigentlichen Ragnarökabschnitts, nicht
zu dessen schaden, ausscheidet : ich meine seine reconstruetion
von \. 53 K (s. 306). mit recht hebt er hervor, dass dort die
worte drepr kann af mö/ie mijijnrps veor sich weder stilistisch
noch inhaltlich im überlieferten zusammenhange erklären lassen,
und, wenn sie lallen, trotzdem der sinn bleibt, dass Thor die
schlänge tütete, aber spater selbst, von ihrem gift gelotet. Bei,
ohne jede misdeutung. ja der ausdruck gewinnt unzweifelhaft
an prägnanz, wenn gerade der zug, der unterstrichen werden
1 besonders nachdrücklich von 'Olsen Um Krislnilöliuna s. 5S, wo diese
deutung neben den oben hervorgehobenen angeblich christlichen einflüs!
fiir die späte daüening der Völuspa, zwischen 997 und 1000, wo die ent-
scheidenden Vorgänge für den sieg des Christentums sich abspielen, verwant
wird, so sehr ich 'Olsen in der annähme isländischen einflusses in den vul-
kanischen Anspielungen des gedieh ts beipflichte, so wenig glaub ich, dass
auch diese für eine so späte abfassungszeit des liedes sprechen, wo jene
kirchlichen verböte besonders acut wurden, die seine deulung unserer zeile
voraussetzte, du^s sif/om spilla im Müllenhoflschen sinne aufzufassen ist
als parallele zu brv]>r mono berjask halt ich für durchaus wahrscheinlich.
die sittliche Verwirrung nach jener andern seite gibt hördömr tnikell viel bes
und drastischer an. die Schlusszeile mon nigi- mapr pprom Pyrma zi a .
dass die Vernichtung des gcschlechts durch gewalttal die leitende auf-
iung war. wie bedeutsam, dass auch Snoni (vgl. Heinzel 5 die stelle
auf den mord an verwanten deutete!
26^ INIEDKEIl
muss (Olrik aao. s. 20S), dass nämlich Thor, als die schlänge fällt,
noch leht — da er keinen rächer im gedieht hat — , so einseitig
hervorgehoben würde. Boer selbst vergleicht aufserdem aao. mit recht
die kürze und prägnanz der darstellung, die nach der athetese von
z. 3 f eintreten würde, mit der des ersten teiles in den vv. 25 und
26, die ja von einem parallelen ereignis aus der vorzeit, dem kämpf
der gütter gegen die riesen, aus anlass der erbauung der Asen-
burg, handeln, es darf vielleicht noch ergänzend hinzugefügt
werden, dass der bedeutsame gott, wie es ihm nach dem mythus
zukam, zwar beidemal stark und charakteristisch hervorgehoben
wird, aber doch verhältnismässig kurz, da das interesse des dichters
in der alten weit, nächst Baldr, durchweg zunächst auf Odin und
seiner fürsorge ruht, dort wie hier spielt dieser handelnd ja die
erste rolle, deswegen sind ihm in den Ragnarük auch zwei
Strophen gewidmet, und es wird ausdrücklich noch durch die
Vöiva seine räche durch Vidar berichtet1, nicht nur in der bei-
behaltung dieser visa, sondern in dem ganzen engern Raguarök-
abschnitt überhaupt, befind ich mich mit Boer, da hier die
theorie seiner beiden dichter in seine darstellung nicht eingreift,
soweit er die conservierung des überlieferten textes verlangt, meist
in erfreulicher Übereinstimmung, nicht freilich in einer doppelten
rectificierung des codex Regius, die ich entgegen der allgemeinen
ansieht für falsch halte, im Wortlaut bei v. 48 und in der strophen-
ordnung bei v. 49. in beiden fällen, auf die ich nun ausführ-
licher eingeh, muss ich unbedingt für die autorität der älteren
haudschrift eintreten.
1 dass diese Strophe, die MüllenhofF ja im letzten gründe nur aus
gründen strophischer gliederung ausgeschieden hatte, beibehalten werden
muss, dafür hab ich mich schon widerholt ausgesprochen, gewis mit recht
fand Boer in der bezeichnung Fi'pars bröj>er in der oben besprochenen
unechten H-strophe 48, die v. 53 R paraphrasiert, einen neuen indirecten
beweis für ihre echtheit, da sie diese offenbar, die in unmittelbarer nachbar-
schaft stand, ganz ihrem früheren von uns besprochenen verfahren gemäfs
ebenfalls im sprachlichen ausdruck plündert, wenn endlich 'Olsen (Timarit
15, S3f) in scharfer polemik gegen .MüllenhofT (DA. v 152) und FJönsson
(aao. i 136) auf Vafbr. 53 verweist, wo die antwort erhärtet, dass Odins und
Vidars räche mythisch unlöslich zusammengehören, so ist ja auch dies eine
weitere stütze für unsere aufl'assung der stiophe. ich versteh aber bei dem
stand der dinge nicht, wie 'Olsen dann die Valistiophe der Völuspa, die mit
dem tode Baldrs mythisch ebenso unlöslich zusammengehört, in unserem
gedieht als interpolation ausmerzen kann.
RAGNARÖK IN DEH VÖLUSPA
Es ligt ja nah«- . bei den drei visur, die den Weltuntergang
einleiten (w. 47. 48. 50 !<). in dem anrücken dreier riesischer
beere vollständig parallelgebaute Strophen zu sehen, und gewig
ist der besonders in Müllenhofls glänzender darstellung (DA i 1 I9ff.
so bestechend commentierte aufmarsch riesischer scharen von
osten, norden und Süden ein in den weiten rahmen dreiei
himmelsrichtungen gespanntes, grofsartiges und des Völuspadichters
durchaus würdiges gemitlde, «Ins man ungern zerstörl sieht,
und es lässt sich wol dafür anführen, dass die dreiheil auch
sonst im gedichte unläugbar eine gewisse rolle spielt \\ ic in den
drei unlerwellssälen der w. 37 — 39 oder den drei den welt-
untergangprophetisch herbeikrähenden hähnen vv. 27 f — selbst
die vielbesprochene ebenfalls die phantasie nach drei seilen hin
machtig beschädigende Nornenscene (Helgakv. Hundb. i 4) isi von
[leinzel (s. 71 und 318, vgl. mich Bugge The homeofthe Eddie
poems s. 81. 96 IT) ;ils parallele herbeigezogen, auch dass die
drei visur, wie Heinzel (aao. s. 76) zeigte, in ihrem ähnlichen
Strophenanfang {Hrymr ehr austan, Kjött ferr norpan, Surlr ferr
sunnan) in der gangbaren lesart einen ähnlichen parallelismus
zeieen wie die früher erwähnten mit der anapbora Kemr be-
beginnenden visur des götterkampfes seihst (51. 52. 53). indes
stimmt schon, auch wenn man von der handschriftlichen Über-
lieferung in v. 4S vorläufig absieht, dieser parallelismus äufser-
lich nicht ganz, und dass sie alle drei inhaltlich parallel waren,
kann ich Heinzel auf keinen fall zugeben, in doppelter be-
ziehung nämlich hängen bei näherer betrachtung vv. 47 und 4S
unter sich gegenüber 50 enger zusammen, sowol wenn man auf
die in den malerischen Strophen dargestellten gruppen als wenn
man auf die lortschritte der dramalisch bewegten Handlung, die
sich in ihnen abspiegelt, achtet.
Was zunächst den ersten puuet anlangt, so erscheinen in
vv. 47 und 48 vollkommen parallel die beiden bauptungetümi
der Ragnarök. der wolf, dessen typisebes haften im Ragnarök-
mylhus unzweifelhaft feststeht und dessen tat, wie Olrik (aao. s. 206)
zeigte, öfter als alle andern Vorgänge desselben in Edda- und
skaldenpoesie berührt wird, der also das älteste heimatrecht in
ihm geniefst, wie uns ja auch die dreimal widerkehrende stef-
strophe v. 43 in der betonung seines loskommens typisch ver-
anschaulicht, und die schlänge, der Midgardsorm, die zwar
270 NIEDRER
sonst in den RagnarökdarstelluDgen und den anspielungen darauf
nicht erwähnt wird, indes nicht nur in parallelen mythischen
kämpfen eschatologischen Charakters wie im Beowulf und andern
dracheüsageu alte gegenslücke hat, sondern durch ihr häufiges
rencontre mit Thor, wie es uns die Hymiskvida uml die skalden-
poesie widerholt schildert, auch in diesem Vorspiel zur grofsen
katastrophe ihre berechligung dort erweist und somit von
Olrik auch unbedenklich zum ursprünglichen bestand des
Ragnarökmylhus gezahlt wird (aao. s. 207). mit recht hebt dieser
hervor, dass schon die Verwechslungen, die wolf und schlänge,
Odin- und Thorkampf nicht nur in unserm gedieht in der Über-
lieferung des codex Regius, sondern auch in der Lokasenna er-
fahren, ein untrügliches Zeugnis für ihre enge Zusammen-
gehörigkeit abgeben, sicher sind, wie der gleich darauf folgende
kämpf lehrt, sie die entscheidenden kräfte in diesen scharen,
die in vv. 47. 48 gegen die götter anrücken, indes sie sind
umgeben von andern riesischen wesen. neben der schlänge er-
scheint der adler Hräsvelg, neben dem wolf Loki. und führer
ist im ersten falle der riese Hrym, im zweiten falle sind es je
nachdem Muspells oder Hels leute. dagegen in v. 50 tritt Surt
ganz allein auf, dessen hohe bedeutung für den Ragnarökmylhus
in allen übrigen quellen Olrik (s. 227) erweist, zweimal, in den
Fafnismal 14 f. und in den Vafthrudnismal 17 f, erscheint er
ausdrücklich nicht als einer unter den gegnern der götter, son-
dern als gegner der götter schlechthin : beidemal geht aus der
form der frage wie der antwort hervor, dass er die feindliche
Widerstandskraft gegen die Asengesamtheit dort an sich verkörpert,
keineswegs aber hat er im kämpfe eine correspondierende präg-
nante Stellung inne wie die beiden andern unheimlichen mächte,
in der Völuspa selbst wird er mit der ziemlich nichtssagenden
parenlhese en bane Belja bjartr at Surle (v. 51) abgetan, die Loka-
senna aber nimmt ihm sogar diese charakteristische tat ab, indem sie
den streit mit Frey auf Muspells sühne überträgt (v.42). im schroffen
gegensalz zu seiner uncharakteristischen und unlypischen kampfes-
art aber ist seine zerstörende würkung doch in würklichkeit weit
gröfser als die der beiden ungelüme : denn wenn er med sviga
laeve erscheint, so kann das geisar eime ok aldmare, leikr hör
Itite vip himen sjalfan (v. 54), also der definitive weltbraud, auch
nur sein werk sein, sonach nimmt die Surtslrophe (v. 50)
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 271
auch ihrem mythischeu hau nach schon eine Sonderstellung ein
gegenüber den völlig einander parallelen vv. 47. 48.
Ebenso aber besteht der dreifache parallelismus in diesen
Strophen nicht, wenn man auf den fortschritt der bandlung in
ihnen achtet, in den beiden ersten paradiert lediglich drohend
ein riesisches beer, wenn in der ersten 'der adler krächzt, der
schnabelfahl leichen zerreifst', so ist das vvol mehr eine Charak-
teristik des nicht genannten namens Hrsesvelgr als eine hin-
deutung auf den tod der menschen, da die zweite visa nach
dieser richtung keine parallele aggressive handlung bringt, beide-
mal sind die begleiter in den beiden ersten Strophen nur der
die furchtbare erscheinung verstärkende poetische rahmen für die
noch nicht in tätigkeit getretenen wasser- und feuerverwanten
gestalten der schlänge und des wolfes, und der tatsächliche
Untergang der menschen tritt erst v. 50, dort aber würklich ein
{tropa haier helveg). ganz anders dementsprechend für die be-
deutung der handlung der Inhalt dieser dritten visa I hier schlagen
aufserdem steinfelsen zusammen, bergriesinnen stürzen, und der
himmel spaltet, hier haben wir kein blcfses paradieren riesischen
Übermutes mehr, hier hat die Zerstörung, deren endergebnis
v. 57 darstellt, bereits begonnen, ja sie ist im besten zuge.
Aus diesem doppelten gründe kann ich die übliche gleich-
stelluug der visur 47. 48. 50 nicht mitmachen1, nimmt aber
v. 50 nun würklich eine deutlich erkennbare Sonderstellung ein,
dann kann ich auch durchaus nicht verstehn, weshalb die
Buggescbe änderung, die das austan der v. 48 in norpan
bessert, so durchaus notwendig sein soll, da die beiden parallelen
scharen riesischer mächte beidemal passend aus der gewohnten
riesengegend, dem osten, kommen, und ebensowenig seh ich
ein Hindernis, die Überlieferung von R im jetzigen zusammen-
1 auch Heinzel (aao. s. 76) hat dies misverhältnis, das bei der Voraus-
setzung eines völligen parallelismus der drei visur obwalten würde, wol
erkannt, wenn er betont, dass v. 50 eine Steigerung der beiden folgen in
vv. 47. 48 darstellt, also doch keine genaue parallele mehr! und mit recht
hebt er hervor, dass bei der gangbaren ansieht die composition hier meik-
würdig wäre, wenn erst von wassersnot, dann von feuersnot und dann noch
einmal von feuersnot die rede sei. er hat daher sogar die athetese von
v. 48 in frage gezogen, diese Möglichkeit scheint mir aber eben an -dem
unzweifelhaft in form, Inhalt und mythischem gehalt conformen charakter
der vv. 47. 48, die sich notwendig ergänzen, zu scheitern.
272 NIEDNER
hange, die sich, wie wir gelegentlich mehrfach schon früher
zeigten, auch aus andern gründen empfahl, beizubehalten, gewis
würde v. 49 mit ihrer bemerkung cesero d pinge und der Schil-
derung der Zerfahrenheit in allen wellen hinter v. 46 f passen,
wo Heimdall ins hörn geblasen hat, der welthaum wankt und
Odin mit Minis haupte redet, aber sie ist sicher nicht weniger
am platze vor der entscheidenden Surtstrophe 50, wo die kata-
strophe beginnt und wo sie doch die beste handschrift nun einmal
überliefert, ja nach meiner auffassung sogar weit besser, zunächst
iuhaltlich. denn die fürsorge und orientiertheit der götter war
in v. 46 in den Worten mceler 'Openn vip Mims hgfop gewis
genügend ausgedrückt, das gegenstück ist die heranwälzung der
riesischen scharen in vv. 47. 48. v. 49 aber fasst dann die
ungeheure aufregung, die in alle weiten kam, noch einmal in
einem emphatischen ausruf zusammen 1 in zwiefacher weise aber
aus gründen der anknüpfung. einmal nämlich rückt dadurch,
doch gewis sehr passend, die schlusszeile (R 45) en jgtonn losnar
unmittelbar vor die verwante kehrstrophe an zweiter stelle (R 46).
prägnant will der ausdruck also sagen 'die sache ist im gange',
sodann aber correspondiert v. 49 in diesem falle, in dem die end-
giltige bereitschaft der götter und riesen noch einmal in dem gegen-
satz gnyr allrjnonheimr und äser 'o d pinge zusammengefasst wird,
vortrefflich auch darin mit v. 50, dass das stöhnen der armen
zwerge dort sofort die drastischste motivierung erhält, da durch
das grjölbjgrg gnata ihr tröstliches attribut veggbergs viser voll-
kommen illusorisch wird, und dass gewis die einzige nachdrück-
liche erwähnung von der Vernichtung aller menschen an keine
passendere stelle kommen konnte, als wiederum in v. 50, wenn
eben in v. 49 unmittelbar vorher die allgemeine aufregung und
Zerfahrenheit aller weiten geschildert war.
Wenn Heinzel (aao. s. 69) hervorhebt, 'dass eine solche gefühl-
volle betrachtung über den zustand der weit unmittelbar vor der
grösten gefahr, der sie erliegen soll, in der altgermanischen dichtung
zu den grösten seltenheilen zählt', so kann diese trefl'endebeobachtung
auch unsrer ansieht von der beibehaltung der Strophe in ihrem
gegenwärtigen handschriftlich überlieferten Zusammenhang nur
günstig sein, es ist wol klar, dass wenn der begabte dichter,
der ja auch sonst in vielen puueten singulär dasteht, für die
Verstärkung der poetischen würkung zu diesem seltenen stilmiltel
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 273
griff, er keinen kritischeren und geeigneteren zeitpunct wühlen
konnte, als den, bevor die grofse Vernichtung unmittelbar in
scene gieng. denn erst die aus den eben geschilderten beziehungea
der beiden nachbarvisur sich ergebenden zustände machen es
plastisch anschaulich, dass der augenblick der allgemeinen auf-
lösung bereits da ist. und so erscheint gerade in diesem
mittelpunct der gesamten Ragnarökepisode dieser elementare ge-
füblsausbruch nicht nur als vvilrksamer lyrischer accent, sondern
er bereichert gerade hier zugleich durch die gedrängte fülle der
contrastierendeu mythischen bilder am zweckmäfsigsten das epische
detail.
Wenn ich nach diesen ausführuugen der Ruggeschen Um-
stellung nicht beipflichten kann, so muss doch wenigstens her-
vorgehoben werden, dass sie in der Übereinstimmung von H mit
der Snorra-Edda äufserlich zunächst besser fundiert war, als die
schon widerholt von uns berührte änderung in v. 48 Heljar lyper
statt Müspells lyper' : hier stehts bekanntlich so, dass nicht nur H,
sondern auch sämtliche handschriftliche Versionen der Snorra-
Edda in der Überlieferung im einklang mit dem codex Regius
stehn, die änderung also eine handschriftliche grundlage über-
haupt nicht besitzt, ich kann Olrik (aao. s. 222) nur vollkommen
beistimmen, wenn er betont, dass es vollkommen unzulässig sei,
hier Snorris mythisch-geographischem System zu liebe, der im
gegensatz zu allen älteren quellen Müspells söhne und Surt zu-
sammenwirft, eine so tiefgreifende änderung vorzunehmen, sie
eliminiert die im Ragnarökmythus auch sonst wolbezeugten
Müspells sühne — Lokasenna 42, 3 en es Müspells syner ripa
Myrkvip yfer — aus dem gedankengange der Völuspa. und
wenn auch ihre einführung dort eine andere ist, indem sie zu
lande reitend dargestellt werden, und anderseits dort, wie oben
bemerkt, die rolle Surts im kämpfe mit Frey auf sie übertragen
wurde, so kann man doch ihre Zugehörigkeit zum mythus nicht
bezweifeln, ja die parallele Stellung zu Surt spricht für ihre
bedeutung in demselben, anderseits weist die Ruggesche besse-
rung den scharen Hels in einem der mächtigsten riesenanstürme
eine rolle zu, die denkbar ungeeignet ist, da, wie Olrik richtig
bemerkt, die bleichen toten den Äsen kaum einen besondern
schrecken eingeflösst haben können, man wird ihm recht geben
müssen, wenn er sich dahin resümiert, dass durch eine solche
Z. F. D. Ä. XLIX. N. F. XXXVII. 18
274 NIEDNER
besserung der poetische charakter der stelle geradezu zer-
stört wird.
In welchem innern Verhältnis Muspells söhne überhaupt zu
Surt stehu, ist ja eine sehr schwierige frage, die selbst Olrik
nicht völlig zu lösen vermochte, auf jeden fall sind sie im
gedieht streng differenziert, und ihre Identifizierung und gemein-
same localisierung mit Surt ist eine willkürliche construetion
Snorris, wol begünstigt durch Verwechslungen, wie sie die oben
genannte stelle der Lokasenna hinsichtlich des kampfes mit Frey
bot. dieser ist uns indes doch viel zu undurchsichtig, als dass
daraus Schlüsse auf die mythische verwantschaft der ihm an-
gedichteten geguer gezogen werden könnten, in unserm gedieht
spielen sie eine gänzlich verschiedene rolle. Muspells söhne sind
ja nur nebenfiguren im vernichtungsdrama neben dem wolfe, wie
ihre durch Hrym geführten brüder aus dem riesenreich hinter
der schlänge als hauptperson zurücktreten. Surt dagegen ist der
bedeutendste Zerstörer mit feuer und schwert, dessen furchtbares
werk schliefslich in den weltbrand ausmündet.
Überblicken wir nun das ergebnis unserer besprechung der
Buggeschen Umstellung und änderungen, so scheint uns dadurch
dem weltbrand im gedieht sowol seine durchaus dominierende stelle
im zerstörungswerk wie sein nordisch-volkstümlicher charakter ge-
rettet, ich glaube, dass ihm Olrik im verlauf seiner trefflichen
Untersuchung beides mit unrecht abgesprochen hat, und dass er
ihn (aao. s. 290) am Schlüsse seines aufsatzes in der Übersichts-
tabelle über die heidnischen und christlichen einflösse unbedingt
unter die letzteren verweist, will mir nicht einleuchten, ich denke,
aus der Stellung von v. 50 im gedieht geht deutlich hervor, dass
die Zerstörung durch Surt mit feuer keineswegs hinter der Ver-
nichtung durch die Wasserflut in der Völuspa zurücktritt, sondern
einen gleichen mythologischen rang mit dieser und den ver-
herungen des Fimbulvetr an sich behauptet, er wurzelt meiner
Überzeugung nach (vgl. 'Olsen, Timarit 15, 100 f) durchaus in der
lebendigen anschauung localer isländischer natur1 und nötigt
1 wenn Olrik («. 195 IT) hervorhebt, dass die feuerzerstörung nicht den-
selben natürlichen boden gehabt haben könne im norden, wie das versinken
der erde im wasser und der Fimbulvetr, so nimmt er natürlich immer Island
aas, das eben für ihn gar nicht in betracht zu kommen scheint, ich glaub
aber mit 'Olsen, dass die darstellung in v. 57 allerdings auf die vulcanische
RAGNARÜK IN DER VÜLUSPA
275
ebenso wenig dazu, christliche Vorbilder anzunehmen, wie das ver-
schwinden der sonne und das stürzen der Sterne in derselben
v. 57 oder gar Ileimdalls Gjallarhornsignal, die Olrik neben den
oben besprochenen vv. 45. 64 und 66 ebenfalls auf christliche
einflüsse zurückführt (vgl. auch s. 275 ff).
Haben wir somit in der Raguarökepisode im engern sinne
eine wolgeordnete darstellung, die nach der einleitenden kehr-
strophe mit dem ansturm der beiden parallelen riesischen scharen
mit wolf und schlänge anhebt, nach einer emphatischen betonung
der allgemeinen Verwirrung (dem hühepunct des ganzen ab-
schnittes), Surts himmelzertrümmerude tätigkeit schildert, dann
die grofsen kämpfe folgen lässt und endlich in der Vernichtung
der erde durch wasser und vor allem durch feuer gewaltig aus-
mündet, — so ist in den einleitenden visur, die diese katastrophe
vorbereiten (vv. 45 — 47), noch eine Schwierigkeit in der text-
gestaltung zu überwinden, nämlich die im Vollständigkeit, die da-
durch entsteht, dass wir II 40, 3. 4 tilgen musten. die be-
ängstigenden Vorgänge in der uatur schildert nunmehr noch
folgende überfüllte Strophe in R : Leika Mims syner, en mjgtopr
kyndesk at eno gallo, Gjallarhorne; holt blcess Heimdallr, hom's
d lopte : mwler Openn vi[> Mims hofop. Skelfr Yggdrasels askr
standande; ymr et aldna tre, en jolonn losnar. es ist klar, dass,
wenn der parallelismus zu v. 45, in der die memorialverse z. 3f
(die auf einen deu Vafthrudnismal verwanten Ragnarökmythus
deuten) längst ausgeschieden sind, wie er inhaltlich besteht,
auch der form nach da sein soll, eine der drei halbstrophen
fallen muss. dass dabei nicht mit Roer an die letzte zu
denken ist, da sie in ihrem schluss durch die erwähnung vom
loskommen des wolfes direct auf die katastrophe weist, war bereits
bemerkt, und wird jetzt, nachdem wir v. 49 R wider an ihren
alten platz gebracht haben, um so mehr einleuchten, dagegen
eruptionslätigkeit dieses landes deutet und dass diese partie der Völuspa
wenigstens isländischen einfluss verrät, dass damit aber nicht auf einen be-
stimmten vulcanausbrucii im jähre 1000 gedeutet zu sein braucht, ist ohne
weiteres klar, ein indicium temporis, das die übliche datierung des gedichts
um 950 verschöbe, ist also nicht daraus abzuleiten, auf Surt weisen auch
die isländischen orlsnamen, die Olrik s. 288 ff, 'Olsen Um Kristnitökuna s. 60
anführen, sie beweisen zugleich, dass Surt, der feuerdämon, sich wol mit
einem unterweltsgotte, den Olrik darin lindet, verträgt, vgl. übrigens Brimir
in der unterweit, den Heinzel als unterirdischen Surt bezeichnet (Edda s. 54).
18*
270 N1EDNER
die beiden ersten stelin in einem ganz auffälligen tautologischen
Verhältnis zu einander, und schon Olrik (aao. s. 274) hat be-
obachtet, dass die darstellung hier ungewöhnlich breit ist. im
gegensatz zu dem kurzen und markigen ausdruck der übrigen
Ragnarökstrophen füllt das motiv des Gjallarhornblasens in brei-
tester ausmalung fast die ganze Strophe, und wenn man die
beiden visuhelmiugar im einzelnen vergleicht, so kann man wol
keinen augenblick zweifeln, dass sich der -zweite als der mytho-
logisch und dichterisch höher stehnde erweist. 'Odin spricht mit
Wims haupte', in welchem sinne man es auch deuten mag, ist
hier im Zusammenhang einfach uicht zu missen : es ist der natur-
gemäfse, den Vorgängen v. 29 entsprechend notwendig geforderte
Vorgang, der ausdruck leika Mims syner, der, wie er auch auf-
gefasst wird, auf jeden fall eine der götterfreundlichen handlung
in z. 4 entgegengesetzte täligkeit darstellt, ist aber neben Mims
hpfop hart und kaum zu dulden; auch hat er zu dem doppel-
sinnigen ausdruck mjoiopr kyndesk, der, wie Heinzel (aao. s. 62)
richtig bemerkt, 'der weltbaum entbrennt' oder 'das ende kündigt
sich an' bedeuten kann, kaum eine innere beziehuug. dass ferner
die entscheidung hereinbricht oder der weltbaum sich entzündet
'beim gellenden Gjallarhorn', ist weder eine geschickte noch be-
sonders poetische ausdrucksweise, selbst wenn sich der ausdruck
zur not mit Gering im grofseu glossar s. 61 temporal er-
klären lässt.
Dagegen wird nun der gleiche Vorgang in den worten 'laut
bläst Heimdali, das hörn ist erhoben' höchst dichterisch anschau-
lich dargestellt und entspricht völlig v. 27, wo es unter dem
weltbaum verborgen wird, es bildet hier mit dem befragen von
Mims haupte die naturgemäfse einleitung zu dem ceser' o d pinge
(v. 49). dieser zweite visuhelming hätte schwerlich allein jemand
auf den gedanken gebracht, Heimdalls blasen durch die Zusammen-
stellung mit der posaunentäligkeit des erzengels am jüngsten
gericht als christlichen zusatz zu verdächtigen, einen solchen
stellt ja nun auch das erste zeilenpaar in v. 46 gewis nicht dar:
aber zugegeben muss Olrik werden, dass die bemerkung, dass
sich der weltbaum beim schalle des hornes entzünde oder gar
dass das weltende sich bei seinem klänge ankündige, einen sinn
in die stelle hineinbringt, der unmöglich im plane des alten, auf
heidnisch-mythologischer grundlage stehnden dichters liegen konnte.
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 277
Ich glaube, die erste halbslrophe ist das werk eines inter-
polators, wie wir ihn auch aufserhalb der unechten H- Strophen
schon in der Schöpfung der v. 63 und der erweiterung von v. 53 R
tätig sahen, er liefs, wie an jenen beiden stellen, den alten
dichter mehr beabsichtigen, als es in würklichkeit der fall war.
denn das blasen Heimdalls, wo den göttern gefahr droht, halt
sich allein noch ganz in den grenzen der rolle, die dieser gott
sonst in kritischer läge der götterweit, wie etwa in der alten
Thrymskvida, spielt, heifst es dort (v. 14), wo er den entschei-
denden rettenden rat gibt: senn vgro ceser aller d pinge ok äsynjor
allar d male, so ist dieser thingversammlung sicher wie der in
v. 49 die berufung Heimdalls durch das hörn vor der dräuenden
riesengefahr vorausgegangen, auch hier ist das hornblasen also
nur die warnung vor der riesenmasse , die gleich darauf über-
mütig paradierend einherzieht.
Das entscheidende für die athetese von v. 46 , 1.2 ist für
mich aber, dass offenbar, wie schon oben angedeutet, das Mims
syner ganz in der art oberflächlicher interpolationen durch den
äufserlichen gleichklang an den schönen dichterischen ausdruck
Mims hpfop anknüpft, ich muss gestehn, dass all die zweifei
und bedenken derer, die diesen ausdruck mit der in Völuspa 29
vorliegenden form des Mimirmyihus in einklang zu bringen nicht
vermochten, mich nie überzeugt haben, wenn man allerdings
dabei an die später in den Vanenmythus verflochtene gestalt des
mythus denkt, wie ihn die Ynglingasaga repräsentiert, dann lässt
sich ein solcher Widerspruch und sogar weiter ein Widerspruch
in jener wunderbaren tiefsinnigen visa des ersten teiles des
gedichts, wie dies Gering in seiner Eddaübersetzung s. 12 tut, allen-
falls wol construieren. fasst man aber 'mit Mims haupte reden'
in dem ursprünglichen sich eng an den volkstümlichen Sprach-
gebrauch und die volkstümliche anschauungsweise anlehnenden
sinn Müllenhoffs (DA. v 106), wonach der ausdruck nichts weiter
bedeutet als 'die äufserste quelle der Weisheit und voraussieht,
die eben in dem elementargeist beschlossen ist, aufsuchen', dann
ist von einem Widerspruch beidemal nichts zu bemerken, aber
eben mit dem uns aus Müllenhoffs tiefsinniger erklärung (DA. v
101 ff) geläufigen bilde des welterhaUenden elementargeistes lassen
sich 'die spielenden Mims söhne' auf keine weise vereinigen, was
heifst überhaupt Mims syner ? in Vigfussons Übersetzung 'die
27S MEDKER
winde' (Dictionary s. 432 b), die sich sprachlich kaum recht-
fertigen lässt, spiegelt sich jedesfalls wol die richtige erkenntnis,
dass mau hei dem folgenden beben und ächzen des allen well-
haumes doch an diese zuerst denken sollte, bezeichnend ist über-
haupt, dass dieser doch sonst so kühne änderer des Völuspatextes
in seiner reconstruction des gedichts (Corp. Poet. Bor. n 626) mit
dem ausdruck schlechterdings nichts anzufangen wusle und ihn
nicht einmal in den text aufzunehmen wagte, 'die gewässer'
übersetzt es Gering im ausführlichen glossar (s. 1324) : aber die
einsame bemerkung 'die gewässer spielen, dh. geraten iu be-
wegung', bevor irgend ein beginn der katastrophe da ist, ist
gewis merkwürdig genug, und wollte man sich auch mit einem
solchen präludium eines Ragnarökereignisses schon an dieser
stelle befreunden, was ja im hinblick auf andere schon erwähnte
pioleptische hindeutungen im gedieht an sich möglich wäre, sollte
man dann nicht eher einen ausdruck wie 'Rans tüchter' erwarten?
denn das Weltmeer ist es doch, in dem später die erde versinkt,
nicht die überquellenden wasser des naturdämonen Mimir, die
im gegenteil den weltbaum, die weit, erhalten1.
Vergegenwärtigen wir uns nun aber noch einmal die Zu-
sätze in R in der Ragnarökepisode, so sind sie doch wesentlich
andrer natur, als die nur iu H bewahrten, von einer flickarbeit
mit benutzung echter ausdrücke des gedichts ist hier keine rede,
man könnte sich alle drei wol als reste paralleler lieder denken,
so v. 63 aus einem gedieht, wo das aufzählen von göllern in der
neuen weit, vielleicht noch schematischer als in den Vafthrudnis-
1 Heinzel in seinem commentar s. 61 liebt hervor, dass Mims syner
die riesen darstellen, und vergleicht die ausdrücke Ymes nipjar, Sultungs
syner, jptna syner; er meint also, dass die stelle bedeute 'die riesen ge-
raten in hewegung'. mir erscheint, wenn man den worten einen sinn bei-
legen will, dies tatsächlich auch die einzige möglichkeit. denn der ganze
Zusammenhang erfordert diese deulung. dies ist aber für mich ein grund
mehr, weshalb ich mir die Strophe nicht im Zusammenhang des folgenden
helmings, der von Mims haupte redet, denken kann, denn den grösten er-
halter der götter neben Oilin unmittelbar neben seine söhne als Zerstörer
zu stellen, wäre ein unglaublicher contrast und stimmte nicht mit der auf-
fassung Mimirs als quelldämon. wol aber könnte man sich in einem liede
parallelen Inhalts einen derartigen ausdruck in ähnlicher Situation denken,
und das bestärkt mich nur darin, den visuhelming vom Gjallarhorn als ver-
sprengtes stück aus einem solchen, das hier unter dem eindruck der gleich-
klänge von Mims syner und Mims lipfo]> eingefügt wurde, mir vorzustellen»
RAGNARÜK IN DER VÖLÜSPA 279
mal, zum vorwarf des dichters gehörte, so die überschüssigen
zeilen in der Thorstrophe 56 als bruclislilcke eines Raguarük-
liedes, in dem die tat Thors noch eine entscheidende rolle spielt'
so dass sein tod dort tatsächlich veranlasste, dass 'alle menschen
die heimstatt räumten' — die wichtige rolle, die die Thorssöhne
mit dem hammer in der neuen weit nach den Vafthrudnismal
spielen, lässt die einstige exislenz eines solchen liedes wol ver-
muten, so die letztbesprochene visa, die gleichfalls aus einem
parallelen eschatologischen gedichte, das den Weltuntergang in
andrer form schilderte, stammen mag und dessen misverstandener
torso vielleicht ähnlich wie die heidnischen göttertrinitäten in
v. 63 die oft genannten christlichen zusätze in H und den papier-
hss. mit verschulden halfen, zu all diesen drei eingefügten lied-
resten hüte dann die überschüssige halbstrophe in v. 45, die
längst von der forschung ausgeschieden ist, ein treffliches ana-
logon : skeggpld, skalmgld, sküder'o klofner; vindgld, vargpld, äpr
vergld steypesk. die ausdrücke 'wiudalter', 'wolfsalter' hat schon
Müilenhoff (DA. v 141) auf den letzten grofsen winter bezogen,
der dem Weltuntergänge voraufgieng. und stellte dieser nach
Olriks nachweis in andern Ragnarükversionen selbst die endgillige
Zerstörung dar — wofür die überlieferten Vafthrudnismal widerum
ein deutliches beispiel abgeben — , so könnten eben diese zeilen
der Völuspa sehr wol bruchstück eines auf jenem mylhenboden
erwachsenen eschatologischen gedichts sein, da es ihnen an selb-
ständigem poetischen gehalte nicht gebricht.
Nachdem wir nunmehr den künstlerischen aufbau der ganzen
Ragnarökepisode nach abzug aller zusätze, die wir auszuscheiden
uns genötigt sahen, in ihrer gesamtheit überblicken, lohnt es wol,
ihn noch einmal in seiner gedanklichen gliederung innerhalb des
in R überlieferten Strophenschemas zusammenfassend zu ver-
anschaulichen.
i. Die einleitung, und zwar 1. die kehrstrophe (v. 43
= Rugge 44). 2. die beiden parallelen Strophen von den unheil-
kündenden anzeichen (vv. 44. 45,5—12 = R. 45, 1 — 6. 11 — 12.
46,5—8. 47,1 — 4). n. die hauptpartie (die Ragnarökepi-
sode im engern sinne), und zwar 1. die kehrstrophe (v. 46 =
R. 49). 2. die beiden parallelen Strophen von den anrückenden
riesenheeren (vv. 47. 48 = B. 50. 51). 3. der angstschrei des
tiefinnerlich an seinem Stoffe anteilnehmenden dichters (v. 49 =
2S0 NIEDNER
B. 48). 4. der beginn der Zerstörung durch Surt (v. 50. = B. 52).
5. die drei parallelen Strophen von den entscheidenden götter-
kämpfen (w. 51. 52. 53, 1—4. 8—12 = B. 53. 55. 56, 1—4.
8 — 12). 6. der abschluss der zerstöruug (v. 54 = B. 57). in. der
Schlussabschnitt, und zwar 1. die kehrstrophe (v. 55 = B. 58).
2. die drei Strophen von der welterneuerung und der widerkehr
der götter und menschen (vv. 56. 57. 58 = B. 59. 60. 61). 3. der
neue herscher Baldr (v. 59 = B. 62). 4. die beiden parallelen
Strophen von der neuen Walhall und Nidhögg, des Helrepräsen-
tanten, endgiltigem verschwinden (vv. 61. 62 = B. 64. 66).
Unzweifelhaft ist die Ragnarökpartie innerhalb des gedichts
ein bewundernswertes künstlerisches ganze für sich : inhaltlich
geschlossener, formell feiner gegliedert und stilistisch reizvoller
variiert als alles vorhergehnde, konnte man sie fast für ein selb-
ständiges kunstwerk zu halten versucht sein.
Trotzdem ist dies, wie schon unsere bisherige erörterung
widerholt zeigte, sicher nicht der fall, und die episode ist gewis
nur in jenem festen Zusammenhang mit dem ganzen denkbar,
wie ihn Müllenhoff in seinem gedanklichen aufbau und seiner
äufseren gliederung der beiden ersten teile des gedichts, die die
Vergangenheit und gegenwart umfassen, so meisterhaft darlegte,
nirgends treten die ergebnisse unserer Ragnarökbetrachtung mit
seiner kritischen sichtung der beiden ersten abschnitte des liedes,
wo seine forschung im eigentlichsten sinne aufbauend genannt
werden kann, in Widerspruch, im gegenteil, sie erhalten gerade
durch sie ihre beste bestätigung. dies im einzelnen erschöpfend
darzulegen und auf die neuerlichen versuche, über seine kriti-
schen ergebnisse hinaus umfangreiche athetesen in diesen beiden
abschnitten vorzunehmen, principiell hier einzugehn, fiele aus
dem rahmen dieser arbeit heraus, dass ich hier nicht nur dem
radicalsten jener vorschlage, dem von Wilken (Zs. f. d. ph. 30, 464.
477. 481 und 33, 290), der den ganzen ersten abschnitt bis zur
Völuspastrophe 27 ausscheidet, sondern auch den vorsichtigeren
kritischen eingriffen Boers (aao. s. 291 ff) nicht beipflichten kann,
ergibt sich naturgemäfs aus den engen beziehungen, die wir
überall im verlauf unsrer darstellung mit den ersten beiden ab-
schnitten des gedichtes fanden, unabhängig aber von einer solchen
erschöpfenden erörterung, die ja im gründe einer gesamtbetrachtung
des gedichts gleichkäme und allein die innerste seele desselben
RAGNARÖK IN DER VÖLÜSPA 281
enthüllen könnte — und mit der Ragnarökepisode als mit der
verhältnismäßig bestüberlieferten und übersichtlichsten milste eine
derartige Untersuchung immer einsetzen — : scheint es mir doch
zum schluss angebracht, ja notwendig, auf die hauptsäch-
lichen Übereinstimmungen zwischen dem letzten teil der Völuspa
und den beiden ersten abschnitten noch einmal zurückzukommen,
um durch ihre etwas eingehendere betrachtung die tatsache der
engen Zugehörigkeit des Ragnarökabschnitts zum ganzen gedieht
unbeschadet ihrer künstlerischen Sonderstellung im liede noch
einmal scharf zu beleuchten und die bisher dafür vorgefundenen
gründe zu vertiefen und zu verstärken.
Es ist zunächst bei besprechung der interpolalionen in R
im ersten teil schon auf die verwantschaft hingewiesen worden,
die vv. 17 f von der menschenschöpfung mit der von uns ge-
tilgten Strophe v. 63 von der widerkehr bestimmter götter ver-
band, ob sie nun aus demselben oder verschiedenen liedern
kosmogonisch-eschatologischen inhalts stammen, ihr charakler ist
beidemal derselbe, wie er sich auch in den übrigen inR interpolierten
visur des Ragnarökabschnitts zeigt : eine variantenhafte weiter-
ausführung des vom dichter angeschlagenen themas, die aber
über das ziel hinausgeht, das sich dieser gesteckt hat. dass der-
selbe Charakter auch in den übrigen visur des grofsen inter-
polationenstockes (vv. 5. 6. 9 — 16. 19. 20), wie ihn Müllenhoff
(DA. v 91 IT) zuerst im gedichte nachwies, widerkehrt, ergibt
sich, wie eine kurze vergleichende betrachtung zeigen wird, un-
schwer auf grund von Müllenhoffs einschneidender athetese, die
mir durch Boers abweichende kritik weder eine schmaleruug
noch eine bereicherung erfahren zu haben scheint.
An zweiter stelle handelt es sich um die frage, ob der früher
beobachtete parallelismus der vv. 59. 60. 61 und 4. 7. 8, der
unmöglich auf zufall beruhen konnte und der deutlich zeigte, dass
beide partieen ursprünglich im bewusten gegensatz gedichtet waren,
sich nicht in gleicher weise auf die abschnitte der Zukunft und
der Vergangenheit in ihrer gesamtheit ausdehnen lässt. da die
inhaltliche correspondenz für den dritten abschnitt des ersten
teiles (vv. 27 — 30) und den ersten des dritten (vv. 44 f) ohne
weiteres in die äugen springt, indem beide von der fürsorge
Odins für die erhaltung der bedrohten weit, das erste mal nach
dem verhängnisvollen eidbruch gegenüber dem riesen, das zweite
2S2 NIEDIS'ER
mal vor dem drohenden heranrücken des riesischen heeres han-
deln, — so ist diese frage aus dem nachweis des engsten Ver-
hältnisses der Gullveig-Heid-Freyja-episode (w. 21 — 27 R) zu
dem Ragnarökmythus im engem sinn (vv. 47 — 54 R) zu erhärten,
wozu ebenfalls wider am natürlichsten die Müllenhoffsche auf-
fassung dieser alten partie uns verhelfen wird.
Am wichtigsten und entscheidendsten für die frage der Zu-
sammengehörigkeit ist aher unzweifelhaft eine weitere eingehnde
hetrachtung der mittleren partie des gedichts, die nach Müllenhoff die
gegenwart darstellt, mit dem schlussabschnilt der Ragnarök. in dop-
pelter hinsieht war uns hier früher engste innere correspondeuz her-
vorgetreten, einmal in der charakteristischen gegenüberstellung der
schönen endvisur vv. 64. 66 und der unterwellspartie vv. 37 — 39.
sodann in der offenbar engen beziehung der Raldrpartie (vv. 31 — 35)
mit der Strophe von seiner widerkehr (v. 62). es wird sich
hier bei näherer hetrachtung zeigen, dass die abschnitte von den
unterirdischen sälen und dem vorgange bei Baldrs tode ursprüng-
lich in einem engern Verhältnis zueinander standen — entsprechend
den vv. 62. 64 — und dass dieses, das den eigentlichen mythischen
und dichterischen ausgaugspunet des gedichts darstellt, offenbar
durch die empfindliche lücke in v. 36 verdunkelt worden ist.
Um nun mit dem vergleich der interpolationen zu beginnen,
so waren vv. 17 f im gedieht zunächst, wie früher bemerkt, genau
wie v. 63 veranlasst durch die echte Strophe 4 : äpr Bors syner
bjgpom of yppo, peir es mipgarp moeran sköpo. die schöpferische
tätigkeit der drei Borssöhne, denen hier die drei Äsen Odin-
Hönir-Lodur entsprechen, wie v. 63 die doppelte trinität, indem
Odin-Vili-Ve hinzutreten, wurde hier auch auf die erschaffung
der menschen hin erweitert, der zusatz vergleicht sich also auf
diese weise am ersten mit dem Dvergatal vv. 9 ff, nur dass nicht
etwa ein reeiprokes Verhältnis mit diesem hier vorligt, wie es
Golther (Handbuch s. 526 f) annimmt, dass die zwerge hölzerne
menschenbilder schnitzten und die götter, die diese dann am
meeresstraude vorfanden, sie beseelten, wie Golther unter com-
bination der beiden Voluspainlerpolationen mit Gylfaginning
c. 9 annimmt, ist im höchsten grade unwahrscheinlich, es sind
ollenbar zwei ganz getrennte, auf andern Voraussetzungen
beruhende schöpfungsmythen, die in den beiden Zusätzen vor-
liegen : schon dass, 'wie Müllenhoff zeigt, v. 17 f offenbar als
RAGNARÜk IN DER VÖLÜSPA 283
allerer zusatz sich durch die anknüpfung verrät (unz [>rir
kvömo ör pvi lipe), spricht dagegen, mit dieser gleichklang, der
durchaus nicht dem interpolator zugeschrieben zu werden braucht,
souderu vermutlich dem allen liedrest ursprünglich angehörte,
hat die einfilgung erleichtert, wie ja in v. 46 der ausdruck Mims
syner offenbar die anfügung des parallelen helmings vom gellen-
den Gjallarhorn vermitteln half, anderseiis gehört aber unser
zusatz von der menschenschöpfung in die kategorie jener er-
weiterungen, die im liede das bestreben zeigen, die menschen-
weit auch äufserlich mehr zur geltung zu bringen, und vergleicht
sich daher dem oben berührten zusatz R 53 mono haier aller
heimstop rypja, übrigens auch dem in R. 44, der vermutlich aus
einem den Vafthrudnismal analogen liede slammt, wo der menschen-
welt beim Welluntergang viel directer erwähuung getan ward,
die weise Ökonomie des Völuspadichters, die trotzdem die menschen-
schicksale durchaus gegenwärtig hielt, indem sie sie gerade an
den entscheidendsten stellen des liedes erwähnte, — vgl. aufser
v.44 noch vv. 50. 59. 61 R, wozu auch die ausdrückliche hindeutung
durch das krähen des hahns in Walhall in v. 42 tritt — wurde
schon durch jene erweiterungeu zerstört, in diesem zusatz des
ersten teils aber hat sie die empfindlichste beeinträchtigung erfahren.
Ganz ähnlich ligt die sache nun bei dem unmitlelbar voraus-
gehndeu Dvergalal, das ja in seiner gesamtheil selbst von so
ängstlich auf die einheit des überlieferten Völuspatextes bedachten
forschem wie Heinzel (Edda s. 25) und Rjörn Magnüsson 'Olsen
(Timarit 15, 102) ausgeschieden wird, aber auch in einer ur-
sprünglich kürzern form, die etwa den umfang des Valkyrjatal
(v. 31) gehabt hätte, wie Heinzel meint, kann das gedieht aus
denselben gründen, nur in verstärktem mafse, nie ein teil des
ursprünglichen liedes gewesen sein, tatsächlich hat die zwergen-
welt für den gang der handlung ja nicht die geringste bedeutung.
das eiuzige mal wo sie nachdrücklicher erwähnt werdeu, in dem
emphatischen ausruf (v. 49), haben sie, die armen bestürzten, nur
eine ornamentale bedeutung : auch wenn in v. 37 der goldne
saal der zwerge aus Sindris geschlecht neben den saal Rrimis, Okol-
nir, in der Unterwelt gestellt wird, kann ich darin eine bange frage
und bedenkenerregende hiudeutung auf die katastrophe mit Müllen-
hoff (DA. v 119) nicht finden, auch hier dienen sie nur, wie
sich später zeigen wird, mitsamt dem bierfröhlichen riesen, als
284 MEDNER
würksamer contrast zu dem (lüstern verbrecliersaale. wol aber
hat dieser ursprünglichste und echteste kern des Dvergatal, wie
er übereinstimmend von forschem wie Müllenhoff (DA. v 93)
und Heinzel (Edda s. 19) angenommen wird, widerum genau
dieselbe erweiternde tendeuz wie die zusätze der Ragnarökpartie,
die über das ziel des dichters hinausschiefsen, und auch darin
zeigt sich das variantenhafte wider, dass die nach Heinzeis vor-
schlagen probate erklä'rung der vv. 9f widerum einen mythus
ergibt, der schwerlich mit den Voraussetzungen der echten
schöpfungsstrophe der Völuspa in einklang gewesen ist. das
zwergenpaar nämlich, Motsognir und Durin, das nach Heinzeis
auffassung durch seine kuustfertigkeil nur zwergenbilder schmiedet,
nicht durch zeugung die menschenbildende Schöpfung fortführt,
ist schwerlich sehr alte Vorstellung, und die art, wie die götter
dieses ahnenpaar der zwergenwelt erschaffen, erinnert an eine
dem Ymirmythus der Snorra-Edda verwante auffassung, die sicher
ebensowenig wie dieser unserem Hede eigentümlich war. aber
auch die art der äufseren anknüpfung, die diesen ältesten zusatz
veranlasste, ist der der vv. 17 f und v. 46 im letzten teil durchaus
verwaut. es ist der gleichklang durch die kehrstrophe gengo
regen oll d rekstöla, ginnheilog goß, ok of pat gcettosk, die Boer
allerdings auf kosten eines einheitlich redigierenden schöpfungs-
dichters setzt, der die alten liedfragmente durch rahmenzudichtungen
anflickte : aber schon FJönsson (Litteraturhistorie i 136) deutet an,
dass diese formelhafte halbstrophe dem parallelen liede ursprünglich
eigentümlich war, und es ist wol das nächstliegende, anzunehmen,
dass sie, wie auch v. 6 zeigt, in liedern kosmogonischen inhalts gern
refrainartig verwant wurde, haben wir doch eine vollkommene
analogie in der dem sinne nach ziemlich synonymen visa der
Thrymskvida Setin voro dser aller d pinge ok dsynjor allar d
male (v. 14), die in Baldrs draumar bekanntlich wörtlich wider-
kehrt, auch wenn man mit Sijmons (Edda s. cccxlviii) und Kauff-
mann (Balder s. 26) die annähme eines älteren Vegtamliedes, aus
dem die Völuspa wie die jetzige Vegtamskvida gemeinsam schöpften,
die mir noch immer wahrscheinlich ist, leugnet, könnte der
formelhafte anfaug als altererbtes dichtergut sehr wol auch ohne
bestimmte nachahmung eines liedes dem jüngeren gedichte eigen-
tümlich gewesen sein, dort wie hier handelt es sich ja um
typisch widerkehrende Situationen, die eine bestimmte fürsorge
RAGNARÜK IN DER VOLUSIW 285
oder Vorsorge erheischen, und die Wahrscheinlichkeit, das> nicht
erst der iuterpolator die formelhaften Zeilen zur anknüpl'ung be-
nutzte, würde um so gröfser, wenn würklich, wie MüllenholT an-
nahm, vv. 9f aus demselben alten liede stammten, dem v. 5f an-
gehörten, in diesem falle würde ja auch in jenem hruckstück
eines Schöpfungsliedes die halhstrophe darin stef-artig verwendet
sein, wie der Völuspadichter dies so würksam in dem prägnanten
gegensatz von vv. 24 und 26 getan hat.
Dass dies in der tat der fall ist, scheint mir die glänzende
deutung, die Hoffory dem unzweifelhaft alten Strophenpaar
vv. 5f gegeben hat, nur zu bestätigen (Eddastudien s. 73 ff):
und diese erklärung wird ja, da ihr sachlich nichts widerstreitet
und sie die einzige ist, die ein wahrhaft grofsarliges dichterisches
gemälde in v. 5 vor uns entrollt, noch immer last allgemein
geteilt, gewis ist es, worauf Olsen (Timarit 103 IT) mit recht
hinwies, nicht so ungeschickt in das gedieht eingefügt, wie
MüllenholT und nach ihm Hoffory annahmen, aber zum gedieht
selbst kann die hochpoelische visa von der mitternachtssonne nie
gehört haben, und anderseits ist der innerste Zusammenhang mit
der allerdings weit weniger dichterischen v. 6 durch Hoflbrys aus-
führungen (s. 83) durchaus gesichert, wider ist aber bei dieser er-
klärung der typische Charakter, der sämtlichen R-zusätzen eigen zu
sein pflegt, klar, die uuregelmäfsigen, unsern dichter erschreckendeu
naturvorgänge bei der mitternachtssonne, die ein neues chaos
heraufzu führen scheinen (v. 5), entsprechen der echten v. 3; die
Strophe, die Ordnung in die natur durch die götler wider hinein-
bringt (v. 6), entspricht völlig v. 4. also auch hier wird dem
gedanken des Völuspadichters eine erweiterung gegeben, die
seine absieht überschreitet, und die ähnlichkeit des ideenganges
im alten liedfragmente war neben der gemeinsamen kehrstrophe
der innere grund der anknüpfung.
Auf jeden fall hat man es in vv. 5f. 91, wenn sie zusammen-
gehören, dem mythischen Charakter nach, kaum mit einem Jüngern
zusatz zu tun als vv. 17 f, wenn auch die ausführungen Ilofforys
zeigen, dass heziehungen zum VVessobrunner gebet in den worten
söl ne visse, hvar sale alle, mäne ne vüse, hvat megens alte, bei
der bestimmten Situation, die diese verse hier zeigen, nicht liegen
können, und es ist daher keineswegs richtig, wenn Roer (aao.
s. 299) den zusatz mit der echten v. 4 in Zusammenhang bringt,
286 NIEDNEK
die er aus dem gedieht ebenfalls ausscheidet, v. 4 zeigt diese
gemeingermanischen Beziehungen und die übrigen von Bugge
(The home of the Eddie poems s. xxxm) hervorgehobenen zu alt-
englischen gedichten allerdings deutlich, wie dies auch der alten
Völuspa ganz natürlich ist, und hat mit unsrer auf einem singu-
Iären mythenbilde aufgebauten Strophe nichts zu tun. im übrigen
ähnelt das interpolierte strophenpaar dem letzten der grofsen
Müllenhoffschen interpolation (vv. 19 f) äulserlich insofern auf-
fällig, als auch dies mit einer hochpoetischen Schilderung des
weltbaums einsetzt, der die folgende, unzweifelhaft dazugehörige
nornenpartie nicht gleichkommt.
Auch dieser, wie die sachliche beziehung zu den drei nornen
(v. 8) zeigt, sicher älteste zusatz zeigt ganz den Charakter der
übrigen erweiterungen, indem er in doppelter weise erst das bild der
nornen näher ausmalt, dann aber eine paralleldarstellung zu der
echten Völuspastrophe vom weltbaum v. 27 bringt, die Boer zu
einer transposition der v. 18 B. an jene stelle veranlasste, um
auf diese weise eine ungemein complicierte erklärung der eut-
stehung des strophencomplexes vv. 28 — 30 zu gewinnen, die mir
indes noch künstlicher erscheint als die früher besprochene
Charakterisierung der visur 62 f (vgl. die tabellarische übersieht
s. 368 f). indes auch den versuchen 'Olsens (Timarit 15, 391)
und Heinzeis (aao. s. 18), durch annähme eines verschollenen
mythus in der echten v. 8, oder slatuierung einer kühnen pro-
lepsis, durch die die nornen an jener stelle im voraus angekündigt
wurden, steh ich im hinblick auf MüllenholTs vortreffliche aus-
führungen (DA. v 103) skeptisch gegenüber, der echte kern
des strophenpaares, zu dem freilich die aufzählung der nornen
kaum gehört, steht nämlich offenbar in seiner gesamt heit in
parallele zu vv. 28 ff. mit recht weist Müllenhoff jeden gedanken
einer combination der beiden mythenformen vom wellenbaum,
wie sie in widersinniger weise die Gylfaginniug versuche, als
unnötig zurück, nirgends wie hier zeigt sich der so oft beob-
achtete Vorgang, dass eine echte partie der dichtung ausgiebiger,
als im plane der dichtung ligt, zu illustrieren versucht wird,
dass der weltbaum über dem Mimirbrunnen, aus dem der quell-
dämon diesen durch stete bewässerung pflegt, nach Müllenhoff
die ältere nordische Vorstellung des mythus darstellt, macht die
jüngere, die in dem Wortlaut unsrer interpolation vorligt, deshalb
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 2S7
nicht wertlos, als schöne dichtung bezeichnet er sie ebenfalls
und weist ihr, die den hohen bäum immergrün Ober dem Urdar-
brunnen stehn lässt, wo die nornen, die der Zeiten wallen, seine
pflegerinnen sind, eine durchaus selbständig berechtigte poetische
Stellung, nur nicht im zusammenhange des gedichts, an. nirgends
wie bei diesem R-zusatz wird aber das zusammentreffen rein
äufserlicher und innerlicher anknüpfungsmotive so deutlich, wie
gerade hier, war die äufsere anknüpfung durch den gleichklang
in vv. 8 und 20 (drei mä'dchen) einmal gegeben, so wurde sie
durch die denkbar naturgemäfse Verknüpfung der nornen mit
dem Schicksal des weltbaums, wie eine solche in parallelen liedern
vorlag, aufs würksamste unterstützt.
Worauf es uns hier lediglich ankam : wir sehen in allen
Zusätzen der grofsen interpolation denselben Charakter wie in der
Ragnarükpartie. an eine einheitliche interpolierung möcht ich
indes hier wie dort nicht glauben, schon die anordnung in
den erweiterungen spricht in den Zusätzen des ersten teils gegen
einen einheitlichen schöpfungsdichter.
Interessant, wenn auch nicht irgendwie von beweisender
kraft, ist das Verhältnis zu der Überlieferung der Snorra-Edda.
fast sämtliche Zusätze in R nennt oder kennt diese wenigstens:
die ausnähme mit v. 63 kann auf zufall beruhen, da hier die
quelle der Vafthrudnismal ausgiebig ausgebeutet wurde und die
Überlieferung beider gedichte sich durch contamination schwer
vereinigen liefs. von den H-strophen aber kennt die Gylfaginning
v. 65 und 40, 3. 4 sicher nicht, kaum auch hat sie v. 48 f und
30, 1. 2 vor äugen gehabt, auch dies spricht für den späten
litterarischen Charakter dieser zusätze im gegensatz zu den my-
thisch-organischen der R-zusalzstrophen.
Spricht so die gleichartigkeit des interpolationengewächses,
das allmählich das alte gedieht umrankt hat, für die einheitlichkeit
des Völuspakernes, so ergibt schon eine oberflächliche belrachtung
der anläge auch den völligen parallelismus der abschnitte, die die
Vergangenheit und die Zukunft darstellen, in ihrer gesamtheit. die
entsprechung der früher besprochenen visur, die das goldene Zeit-
alter der götler in der alten und in der neuen weit schildern, würde
sicher noch lebendiger hervortreten, wenn nicht die halbstrophe
v. 61, 3. 4, die offenbar eine weitere ausmalung der glücklichen
neuen ära enthielt, verloren wäre, hervorgehoben zu werden
288 N1EDNER
verdient auch, dass, genau wie der blick des dichters im neuen
götterreiche nach ßaldrs erscheinen in eine unendliche ferne
zukuuft schweift, er vor der weltschöpfung und dem seligen
Zeitalter der Äsen sich in die unermessliche urzeit verliert, und
eine ähnliche differenzierung der zeit findet noch einmal in den
abschnitten vor den gölterfehden statt, die beidemal den kern-
puuct des vergangenheits- und Zukunftsabschnittes bilden, die
partieen, die von Odins Verhältnis zu Mime und seiner göttlichen
fiirsorge handeln, ragen, obvvol der dichterischen einkleidung
nach zu Vergangenheit und Zukunft gehörig, doch in ihrer actu-
ellen bedeutung beidemal hart in den gegenwartsabschnitt hinein,
die beiden partieen aber, die den eigentlichen kern der ver-
gangenheits- und zukunflsepisode enthalten, correspondieren
ebenfalls in der anläge auf das glücklichste, stellen hier die
götterfehden in der tötung des riesischen baumeisters durch Thor
das entscheidendste document der machtstellung der Äsen dar,
enthalten sie jedoch in dem bruch der beschworenen eide schon den
keim ihres Unterganges, so war dort der riesenkampf das end-
giltige zeugnis ihrer Zertrümmerung, indes, da auch die riesen
fallen, zugleich die vorbedinguug für ein neues mächtiges Asen-
reich. und dem bedeutsamsten ereignis vor dem neuen goldnen
Zeitalter dort entspricht hier gleichfalls das folgenschwerste, die
Verkettungen unglücklicher fehden, die in v. 26 ihren höhepunct
erreichen.
Sind auch die Vorgänge, die in fortschreitender Steigerung
zur entscheidenden Verschuldung der götter führen, complicierter
als der riesenkampf im zweiten, und die drastik und kürze des
ausdrucks, die uns schon die beiden Thorstrophen R 27 und 53
vergleichen liefs, hier noch stärker, der beherschende grund-
gedanke, wie er in Müllenhoffs'ausführungen (DA.v95 — 99) zutage
tritt, verbreitet doch über das ganze durch die identiücierung
der Gullveig-Heib-Freyja vollkommene klarheit, die Boers athetesen
nirgends notwendig erscheinen lassen. Boers bedenken sind im
wesentlichen dreierlei art. zunächst sieht er eine unerträgliche
tautologie darin, dass es in v. 21, wo von der mishandlung der
Gullveig die rede ist, heifst: pat man folkvig fyrst i heime, und v. 24,
da von Odins speerwurf geredet wird, noch einmal: pat vas enn
folkvig fyrst i heime (s. 300). sodann, dass die Gullveig- Heid-
geschichte nicht nur nach der absieht des dichters, sondern auch
RAGNAKÖK IN I»EK VÖLÜSPA 239
des angeblichen interpolators mit dem Vaneukriege nichts zu tun
habe, wodurch die tiefsinnige iuterpi etation dieses mythus durch
Mülleuhoff verurteilt sei (s. 303). endlich aber, dass auch v. 23
im gegebenen Zusammenhang interpoliert sein müsse, da offenbar
die beratungen in ihr vor dem Vanenkrieg eine ganz andre form
des Vanenmythus voraussetzen als v. 24, indem im ersten fall
die gölter sieger blieben wie in der darslellung der Ynglingasaga,
während im letzten die Vanen den sieg davon trugen (s. 304 f).
keines dieser drei argumente scheint mir indes stichhaltig, wenn
man sich nur die souveräne art vergegenwärtigt, wie der dichter
die überlieferten mythen seinen zwecken auch sonst dienstbar
macht (Olrik aao. s. 270), so dass er sowol den Vanenkrieg wie
die episode mit dem riesischen baumeister anders als die land-
läufige Überlieferung vorträgt, um sie zu verknüpfen, anderseits
aber die beabsichtigte, offenbar auf höchste Spannung der Zu-
hörer berechnete kunst erwägt, mit der er das voteqov nQÖreqov
doppelt (w. 21 f. 23 f) verwendet.
Der gedanke von der verderblichen macht des goldes, der
ja gerade in germanischer phantasie und dichtung von jeher eine
so groi'se rolle gespielt hat und insbesondere in den Eddaliedern
auch sonst spielt, ist das einigende band, das diese ganzen
Strophenreihen ungezwungen aneinander schlielst. kann man
doch darin eine deutliche, sich immer dramatischer steigernde
scala verfolgen, in den worten vas peim vcetterges vant ör golle
sehen wir das gold noch in seiner unschuldigen würkung auf
die phäakenhaft sorglos dahinlebenden götter, die sich an der
anfertigung goldener Schmiedearbeiten ergötzen, die v. 21 leitet
danu allmählich aus der Vorstellung des metalls zu der auffassung
einer persönlichen, verführerisch würkenden dämonischen gottheit
über, anders kann ich mir den sinn nicht erklären, wenn die
mishandlung der göttin durch die götter auch in der darslellung
des gedichts in derselben weise erfolgt, wie von altersher die
procedur der goldläuterung vor sich gieng (Müllenhoff aao. s. 36.
Heinzel aao. s. 31). in den nach dieser richlung doppelsinnigen
worten prysvar brendo, prysvar borna ist das deutlich zum aus-
druck gebracht, die nächste Steigerung finden wir dann in der
gestalt der Heid, die als Zauberin spuk treibt, wie sie kann:
hier ist die personification bereits vollendet, und mit recht sehen
Müllenhoff und Heinzel in ihr eine hypostase der Freyja, die ja
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. t9
290 N1EDNER
auch sonst als zauberin gedacht ist. durch sie wird die Ver-
knüpfung mit dem Vanenabenteuer vorbereitet: von den Vanen näm-
lich, aus denen Freyja stammt, kommt den Äsen das weitere unheil,
das dann zum moralischen eidbruch führt, einerseits wird näm-
lich durch die aufnähme der Vanen, der reichen handelsgütter,
die olympische naivelät des alten göttergeschlechts endgiltig er-
schüttert, anderseits wird widerum die Vaniu Freyja das streit-
object bei dem ganzen vertrag mit dem riesen, das dann in v. 27
zur Verschuldung führt.
Hält man diesen gedaukengang fest, dann schwinden alle
gegen die innere einheit der parlie erhobenen bedenken leicht,
nimmt man nämlich eine solche kette von würkungen der Gullveig
an, so ist es ganz natürlich, dass auf den ersten kämpf zweimal
hingewiesen wird, das erste mal an der stelle, wo die unheil-
volle würkung, die streit und Zerwürfnis heraufbeschwört, beginnt,
das zweite mal, wo sie in dem tatsächlichen kämpfe Odins ihren
höhepunct erreicht und wo dann zugleich das folgenschwerste
ereignis des ersten teils, der Zwiespalt mit den riesen, einsetzt,
das enn (v. 24) ist also von der gröslen Wichtigkeit, der un-
gemein prägnante sinn, der in ihm ligt, wird vielleicht durch
Gering (grofses glossar s. 211) noch treffender als Müllenhoffs
'ferner' durch 'immer noch' übersetzt, die vorausdeutung an
erster stelle aber gehört in dieselbe kategorie würksamer pro-
lepsen, die wir schon widerholt im verlauf unserer darstellung
fanden, gerade bei dem sprunghaften und sich fast durchweg
nur in andeutungen ergehenden Stile dieser ganzen episode war
eine hindeutuug auf den kernpunct des mythischen Zusammen-
hangs hier besonders erwünscht.
Ebenso ist bei unserer auffassung an einer Zusammengehörig-
keit des Gullveig-Heid-mythus mit dem vom Vanenkriege nicht
zu zweifeln, die worle Heipr — seip, hvars kanne, seip hug-
leikenn und knötto vaner vigskö vgllo sporna bedeuten, wenn
würklich Heid-Freyja eine abgesante der Vanen ist, wie Müllen-
hoff, gestützt auf die parallele von Ynglingasaga c. 4 annimmt,
inhaltlich genau dasselbe, nämlich den verderblichen einfluss, den
das neue, den reichtum darstellende dement auf die götter ausübt,
einen weitem Zusammenhang freilich, wie ihn Olsen zwischen
w. 22 und 23 ansetzt (Timarit 15,331), im hinblick auf die
beratungen der götter, kann ich nicht annehmen.
RAGNARÖK IN DER VÖLÜSPA 291
Vor allen dingen aber : die behauptete uneinheitlichkeit der
vv. 23- 24 besteht in keiner weise, wenn in der Ynglingasaga
e. 4 ausdrücklich die Äsen als die angreifer der Vanen bezeichuet
werden, die dort ihr land verteidigen, und wenn von längeren» krieg
und wechselndem kriegsglück gesprochen wird, so weicht unsere
Völuspadarstellung zwar ab, indes doch nur gerade so weit, als
die Verbindung mit dem Gullveig-mythus dies notwendig machte,
naturgemäfs muste die initiative der Vanen hier urgiert werden,
so dass die worte brotenn vas borpveggr borgar dsa, knötto vaner
vigskö vgllo sportia sie nicht nur in die rolle der angreifer rücken,
sondern auch als endgiltige sieger erscheinen lassen, genau auf
diesem boden des abgeänderten mythus aber stehn die angaben
der visa 23. was die götter dort beraten, kann sich unmöglich
auf die Vorgänge in v. 22 beziehen, wie Olsen (Timarit 15, 3311)
meint, so dass es sich um die frage gehandelt hätte, ob die Äsen
allein oder zusammen mit den Vanen die bufse für den tod der
Gullveig-Heid entrichten sollten, von einer bufse für deren tod
konnte füglich überhaupt keine rede sein, da v. 21 deutlich zeigt,
dass sie wol mishandelt, aber nie getötet wird und immer in
anderer gestalt, ganz ihrer symbolischen bedeutung gemäfs, wider
auflebt : die ervveiterung opt ösjaldan : — pö enn Ufer bringt
diesen selbstverständlichen gedankeu überflüssiger weise noch
zum ausdruck. es kann sich, und in diesem puncte stimmen ja
Müllenhoff (aao. s. 98) und Heinzel (aao. s. 33) völlig zusammen,
durchaus nur um mafsnahmen handeln, die die einrichtung des
neuen, gemeinsamen götterstaates betreffen : unter dieser Voraus-
setzung aber scheint mir die Mülleuhoffsche erklärung, dass die
Aseu und Vanen gemeinsam erwogen, 'ob die Äsen schoss zahlen
sollten, oder die götter alle sollten opfer haben', noch immer die
natürlichste, die dem Zusammenhang am meisten gerecht wird,
auch die sprachlichen einwände, die gegen die deutung von
afrdp gjalda im norwegischen sinne als 'abgäbe, tribut zahlen'
und gegen gilde eiga als 'anrecht auf opfer haben' erhoben sind,
und die zu anderer erklärung der Situation anlass gaben, können
sein ergebnis, glaub ich, sachlich kaum verändern *. denn das
1 Heinzel entscheidet sich an erster stelle für die erklärung 'ob die
Äsen hier bufse erleiden und alle götter (Äsen ebenso wie Vanen) opfer er-
halten sollen' und bezieht die erwägung auf einen entsprechenden ansprucli,
den die Vanen an sie gestellt haben. Boer (aao s. 304) denkt an eine
19*
292 NIEDNER
ergebnis, dass es zu einer Vereinigung, zu einem göücrstaate
kam, worauf der vielbesprochene visuhelming 23,3-4 abzielt,
war ja nicht neuerung des Yöluspadichters, sondern, wie der
vergleich der Ynglingasaga zeigt, eigeutum des mylhus selbst.
Ist so die genaue entsprechung der ganzen vergangenheits-
uod zukuuflsparlie in vollem umfange zu tage getreten, so können
daran die nachdrücklichen erwähnungeu der Vojva in v. lf und
vv. 28 ff, die im dritten teil kein gegensliick haben, natürlich
nichts ändern, denn noch in diesem ersten teil, bevor sie mit
der Vergangenheit abschloss, muste sie sich ja als prophetin
legitimieren, hier ist eben deutlich die stelle, wo noch das muster
der Völuspä , das alte Vegtamslied , klar hindurchschimmert,
'vv. 28 ff lassen noch ganz deutlich das alte vorbild erkennen',
ich freue mich, diese worte Wilkens (Zs. f. d. ph. 33, 328), mit
dem ich sonst so wenig berührungspuncte habe, voll unter-
schreiben zu können.
Treff ich in der auffassung, dass der dichter der Völuspa
durch ein solch älteres Vegtamslied angeregt wurde, die zukuufts-
prophezeiungen, die sich dort auf Baldrs Schicksale allein be-
zogen, auf die gesamtentwicklung der götter- und menschen-
geschicke auszudehnen, vollkommen mit Wilken zusammen, so
kann ich ihm doch schon darin nicht mehr folgen, wenn er die
mittlere partie des gedichts, zu der wir uns ja zum schluss
wenden wollten, als gegenwartsabschnitt im sinne Mülleuhoffs
läugnet. ich meine, dass dies im hinblick auf das alte Vegtams-
musterung vor dem kämpf, die Äsen erwägen, ob sie, wenn der krieg aus-
breche, eine niederlage erleiden {af'raü = afhroü) oder endlieh den !«ieg
davontragen werden. 'Olsen endlich (Timarit 15, 33 ff) erklärt gilde eiga
für gjalda, afräp prjalda = ferJ5a firir nkada. in seiner beziehung auf
v. 22 steht er, wie oben bemerkt, einsam da, ebenso in der auffassung von
gilde eiga, die Boer sprachlich nicht völlig mitmachen kann. Boers auf-
fassung selbst steht aber sachlich überhaupt nicht notwendig in Widerspruch
mit der form des Vanenmythus in v. 24: diese erwägungen konnten die
Äsen doch auch anstellen, wenn sie einen angriffskrieg der Vanen befürchteten.
Heinzeis erklärung. endlich würde — da die Äsen doch die besiegten sind —
ebenso gut auf die Situation nach dem kämpfe passen, seine auffassung des
afräp gjalda ist ja augenscheinlich die jetzt ziemlich allgemein angenom-
mene, und ich meine, dass, wenn man sie, die 'Olsen von seinem isländischen
standpuncte aus eingehend verteidigt hat, acceptiert, kann Mülleuhoffs iots-
qov tiqoxeqov doch ruhig bestehn.
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 293
lied ebensowenig notwendig ist, wie jene umfangreiche atlietese,
die er mit dem ganzen ersten teil des gediclits vornahm, soweit
der anfang unseres liedes durch die oil'enhare verwanlschaft vou
v. 28 ff mit dem älteren gedichte, die wir ja beide annehmen,
festgelegt werden soll, kann ich ihm in keiner weise mehr bei-
stimmen, wenn ich in meiner frühern arbeit (Zs. 41, 38) an-
nahm, dass der Völuspadichter durch das ältere gedieht angeregt
wurde, die Weltschicksale nicht nur in die Zukunft hinein, sondern
auch tief zurück in die Vergangenheit durch die Seherin beleuchten zu
lassen, so glaub ich dem künstlerischen Charakter des dichters, wie
er auch sonst hervortritt, gerechter geworden zu sein als Wilken.
unterstützt wird meine Voraussetzung schon durch den eben be-
handelten vollkommenen parallelismus der abschnitte der Vergangen-
heit und zukunft aufs würksamste. ich meine aber, eine eingehnde
betrachtung der mittelpartie, die Wilken als gegenwart verwirft,
dürfte sie noch fester begründen, es ergibt sich nämlich hier
innerhalb des gegenwartsabschuittes sofort die gleiche, bewust-
kunstvolle auordnung hinsichtlich der zeit, wie bei der ver-
gangenheits- und zukunflsschilderung, und die eigentlichste gegen-
wart, von der der dichter ausgeht, ligt offenbar in vv. 36 — 39.
Es sind deutlich drei gruppen von Strophen zu unterscheiden.
die erste (vv. 31 — 35) erzählt die tragodie von Baldrs tode. die
zweite (vv. 36 — 39) gibt, äufserlich zunächst scheinbar ganz zu-
sammenhangslos, eiue Schilderung der verschiedenen säle hei Hei.
die dritte (vv. 40 — 43) beschäftigt sich mit hindeutungen und zum
teil auch prokptischen erürterungen der Zukunftstragödie, für die
Wichtigkeit, die dem gegenwartsabschnilt als kernpunet seiner
dichtung vom dichter beigemessen wird, spricht schon die breite
der ausmalung, die in allen teilen dieser partie in keinem ver-
hiillnis zu dem sonst rapiden fortgang der handlung im liede
steht, die eigentliche Baldrpartie umfasst fünf visur, die dar-
stellung der Unterwelt, falls man v. 36, wie man muss, als defect
betrachtet, vier visur. zwei Strophen nimmt der sonnenwolf, zwei
die hähnepartie in anspruch (40 f. 42 fj. von diesen abschnitten
fällt der tod Baldrs, streng mythisch genommen, noch in die Ver-
gangenheit : das letzte, bedeutsamste ereignis derselben, das durch
seine actuelle hedeutung aber ein lebendiger teil der gegenwart
wird, die saalparlie schildert, wie schon ein vergleich von vv. 38 f
mit 45 zeigt, einfach gegenwärtige zustände, dagegen greift der
294 N1EDNER
letzte abschnitt — das bedeutungsvolle krähen der bahne ' —
schon hart in die Zukunftsereignisse über, der innere Zusammen-
hang, der die drei teile verbindet, ist im ganzen vollkommen
klar, naturgemäfs führt Baldrs tod auf das reich Hels, und ebenso
uaturgemäfs schliefst sich die kündung kommenden Unheils an
die verbrecherscenen im höllischen saale. nur in der äufseren
anknüpfung klafft nach v. 35 eine lücke. hier ist die defecle
v. 36 verhängnisvoll geworden.
Dass die ergänzung des zweiten helmings von v. 36 nach
der erwäbuuug des höllenflusses Slip — so fasst mau diesen ja
jetzt allgemein auf — eine bedeutsame bemerkung enthalten
haben muss, die über die gesamte höllensaalpartie licht verbreitete,
zeigt die Ungereimtheit der ganzen Vorstellung, die sich bei der
jetzigen Überlieferung ergibt, dass erst der reifsende fluss mit
messern und Schwertern, der durch gifttäler strömt und schon
dem wortlaut nach au den INaströudsaal in v. 39 erinnert (vgl.
d feür aiislan um eilrdala und fello eitrdropar inn of Ijöra), so
drastisch ausgemalt wird, dann plötzlich zwei unterweltliche
Phäakenheime erwähnt werden, und dann widerum die fürchter-
lichste höllenlandschaft geschildert wird, darin ligt ein mis-
verhältnis. FJönsson hat dies misverhältnis wol empfunden,
wenn er (Literaturhistorie l 136) die Strophe von den Phäaken-
sälen glatt streicht, jedesfalls nicht weniger gewaltsam als diese
atbetese, die ja widerum nur unter der annähme derselben lehr-
haften tendenz des Verfassers dieser Strophe verständlich würde,
die Sijmons dem echten Völuspadichter beimessen wollte, ist doch
wol der versuch der inhaltlichen ausfüllung unsrer lücke, zu der,
wie ich meine, am besten widerum das zurückgreifen auf das
vorbild des Völuspadichters, jene alte Vegtamskvida, verhilft.
1 an die ursprünglichkeit dieser darstellung ist trotz Boers einwänden
durchaus nicht zu tasten : in treffender weise wird in diesen mythischen not-
signalen noch einmal am schluss auf den ganzen abschnitt vv. 40 f (götter-
weit), v. 36 ff (unterweit) und v. 31 ff (Äsen weit) zusammenfassend zurück-
gewiesen, ich treffe in dieser beibehaltung des überlieferten mit Sijmons
(Edda s. cccxlvii) zusammen, nicht aber in der begründung. denn mit dem
mafsstab didaktischer dichter darf die Völuspa sicher nicht gemessen werden,
nur die Überlieferung ist offenbar daran schuld, dass die bedeulung der drei
säle, die Sijmons als parallele für die lehrhafte neigung des Völuspadichters
herbeizieht, verdunkelt wurde, und in der charakteristischen auf-
zühlung von walkürennamen (Müllenhoff DA. 5,111) ligt ebenfalls kein heitatal
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 295
Retrachtet man die jüngere» 'Raldrs draumar', die ja ebenfalls
aus jener schöpften, so ergeben sich — wie bekannt — zwischen
diesem gedieht und der Völuspa die auffallendsten sachlichen Über-
einstimmungen, nahezu alle motive des jüngeren liedes kehren in
unserm gediebte wider, nämlich die Völva in ihrem Verhältnis zu
Odin, das Heireich, der hölleuhund, die episode von Raldrs tötuog,
seine räche durch Vali und endlich die beziehung auf die Rag-
uarök selbst, ja wenn die rätselhafte anspielung in v. 12 auf
Fiiggs äugen gedeutet werden könnte (Edzardi Germ. 27, 337)
— eine unbestrittene erklärung fehlt noch — , würde selbst das
weinen der götlermutter nicht fehlen, auf keinen fall haben wir
grund, auch dieseu letzten zug wie alle übrigen genannten, dem
alten Vegtamsliede abzusprechen, wenn auch jenes, worauf
FJönssou (aao. s. 147) mit recht weist, sicher mit einer würk-
samereu, dem schluss der Vafthruclnismal ähnlichen rätselfrage
schloss.
Sicher nicht correspoudiert mit dem vorliegenden text der
Vüluspa Vegtamskvida 7, wo von Raldrs verweilen in der unter-
weit gesprochen wird, und wo es, nachdem vorher (v. 3) von dem
hoben gemach der Hei die rede war, heifst : 'hier steht für Raldr
gebraut das mahl, der schimmernde trank, ein schild ligt darüber',
kann es nun eine passendere ausfüllung der lücke in v. 36 geben,
als eine einfügung dieses bildes dem sinne nach in unsre paitie?
dächte man sich die visa 36 mit bezug auf Vegtamskvida 3. 7
etwa so hergestellt : A fellr austan um eidrdala spxom ok sverpom,
Slipr heiter sü. pytr at hövo Heljar ranne: par stendr Baldre
of bruggenn mjopr, so wäre jedesfalls in dreifacher hinsieht eine
dem sinne nach angemessene anknüpfung gefunden.
Zunächst ist die härte des äufseren Zusammenhangs ge-
mildert, die reihenfolge 'hölleufluss — unterweltselysium —
unterweltstartarus' wird nun erst recht verständlich, da auf der
einen seite ein hüllenstrom, der von Raldr überritten werden
muss, ehe er in sein unterweltliches domicil gelaugt, auch in der
Gylfaginuing c. 43 erwähnt wird, also zur mythischen tradilion,
die der Völuspadichter vorfand, gehörte, auf der andern seite
aber die phäakenhaften riesen- und zwergensäle in v. 37 äufser-
lich zunächst den guten zweck verfolgen, die andeutung von
Raldrs elysäischer wohnung würksam zu unterstützen, der gold-
saal Siudi is wie der biersaal des jöten Rrimir schliefsen sich eng
296 NIEDNER
au diese Vorstellung vou Baldrs behausung an, wie sie nach
der weiten ausführung Vegt. 6 vorausgesetzt werden muss.
Sodann fällt aber bei der vorgeschlagenen ergänzung auch
auf den inuern Charakter der visa 37 erst das richtige licht, es
ist höchst bedeutsam und der anläge des liedes durchaus ent-
sprechend, wenn im gegensatz zu den menschen, die vernichtet
werden sollen und deren schon vernichtete exemplare uns in
vv. 3Sf vorgeführt werden, in v. 37 der triumphierende riese
Brimir sein leben ebendort in walhallischer wonne verbringt
und in seinem saal in Unkühlbeim symbolisch die zunächst ja
auch siegende vßqig der riesen widerspiegelt, aber erträglich
wird dieses bild doch erst, wenn gleichzeitig der künftige herscher
der erneuten well hier schon als tröstendes gegenbild in der
unterweit daneben steht, wie in einem schattenhaften, aspho-
delischen Vorspiel erscheinen hier also die drei hauptmotive der
kommenden Ragnarök : 'die zunächst die Zerstörung herbeiführen-
den, dann aber selbstfallendeu riesen, die vernichteten menschen, die
aber der Verjüngung der götter entsprechend, neue glückliche nach-
folger in der widererstandenen weit erhalten, und endlich der künf-
tige herscher der neuen weit, der bei Hei seiner widerkehr wartet'.
Endlich — und dies erscheint nach vornähme unserer er-
gänzuug der v. 36 das wichtigste — wird auch die oben er-
wähnte centrale Stellung der vv. 36 — 39 innerhalb der gegenwarls-
partie vollkommen in ihrer berechtigung deutlich, denn nicht
die Vorgänge bei der tötung stellen ja recht eigentlich den aus-
gangspuuet der betrachtung, die gegenwart, von der die Seherin
ausgeht, dar, sondern der zustand, dass Baldr bei Hei weilt,
er erst vervollständigt das gegenbild, das vv. 36 ff zu vv. 62. 64.
66 darstellen und lässt mon Baldr koma dort wolvorbereitet und
verständlich im gedichte erscheinen.
Obwol ich meine, dass eine ergänzung, ungefäbr wie die
vorgeschlagene, auch unabhängig von der annähme einer älteren
Vegtamskvida als anregende quelle des Völuspadichters, aus der
anläge des ganzen gedichtes wahrscheinlich wird, bin ich doch,
wie ich schon oben hervorhob, durch die ansichten, die eine
solche ältere vorläge verwerfen, bisher in meiner auffassung nicht
erschüttert worden, am wenigsten durch die ganze bebandlung,
die der für diese frage in betracht kommende teil des Völuspa-
textes durch die letzte ausführliche Untersuchung des Baldrmylhus
RAGNARÜK IN DER VÖLÜSPA 297
vou Friedrich Kauffmaun (1902) gefunden hat. erschöpfend auf
seine singulare auffassung Raldrs einzugehn, ist hier nicht der
ort, und es wird dazu gelegenheit sein, wenn ich einmal, wie
dies meine absieht ist, die Untersuchung über den Ragnarökmy-
thus, auf den ich mich hier beschränkte, principiell auf die
ganze Völuspa auszudehnen unternehme, dass aber KaulTmanns
erklarung von dem wesen Raldrs in dieser unsrer besten und ältesten
erhaltenen quelle ohne gewaltsame zurechlschneidung des Völuspa-
textes keine stütze findet, darauf hat ja schon Heusler in seiner
kurzen, aber inhaltsreichen recension (PLZ. 1903, 488 ff) hinge-
wiesen, der ich mich in allen hauptpuneten nur anschliefsen kann.
Ich hebe hier nur zum schluss meine hauptsächlichsten
einwände noch kurz hervor, es erscheint mir unrichtig und gekünstelt,
in die worte blöpgom tivor (32, 1) nach Rugges Vorgang (The
home of the Eddie poems s. xxxrxff), wenn auch mit andrer
gruudauffassung, den sinn 'blutiges opfer' hineinzutragen (s. 240).
es erscheint mir gezwungen und sprachlich keineswegs not-
wendig (vgl. Atlakv. 17, 4), aus dem ausdruck erlog folgen zu
schliefseu , dass Raldrs Schicksal hier in Sicherheit gebracht
werde wie Odins äuge und Heimdallar hljop , das noch immer
mit Müllenhoff gegenüber KaulTmanns erklarung 'Heimdalls
stimme' oder Heinzeis (aao. s. 36) 'Heimdalls gehör' am natür-
lichsten als 'Heimdalls hörn' gedeutet wird, was bei der
im Geringschen Wörterbuch (s. 450) aus dem altdänischen bei-
gebrachten parallele sehr wol möglich ist (s. 23). es erscheint
mir weiter ebenso unnotwendig und gekünstelt, unter dem ein-
drucke der Detterschen sagenauffassung (Reitr. 19, 495 ff) die
änderung meer in mjö (v. 33, 1) vorzunehmen, da einerseits die
auffassung der mistel als bäum bei der geringen bekauntschaft
der pflanze in nordischen landen sich ungezwungen erklärt, ander-
seits die Stellung des relativsatzes bei der beziehung auf härm-
flaug haettlig immerhin sehr auffällig bleibt (s. 25). endlich er-
scheint mir ebensowenig überzeugend die begründung der athetese
der Valistrophe, die, wie wir widerholt schon hervorgehoben haben,
in unserem gedichte auf keinen fall fehlen darf, nicht weil Snorri
sie bei seiner paraphrase der Völuspa nicht vorfand, fehlt sie bei
ihm, sondern einfach deshalb, weil er sie bei seiner redactions-
tätigkeit, dieLokis schuld urgierte, nicht brauchen konnte, widerholt
hat Kauffmann auch sonst die älteste und beste quelle des Raldr-
298 MEDNER RAGNARÖK IN DER VÖLl'SPA
mythus, wie sie uns in der mitlelparlie der Voluspa vorligt, nicht
genügend gewürdigt und Snorris Zuverlässigkeit zu sehr vertraut.
Dass trotzdem selbst die Völuspa in 6inem wichtigen puncte
ihre vorläge, das alte Vegtamslied, misverstaud, diese 'seltsame
combination', wie sie KaufTmann (s. 25) nennt, halt ich auch
heute uoch aufrecht, erst dann werde ich mich davon über-
zeugen lassen, dass das schwert 'Misteltein' im mythus nicht
das ursprüngliche auch im norden war, wenn der charakter der
mistel als unglückspflanze in der volkstümlichen Überlieferung
wahrscheinlicher gemacht wird, als durch die wenigen bei Bugge
(The home of the Eddie poems s. xlv) verzeichneten christlichen
combinationen.
Berlin, 1 1 Juni 1907. FELIX MEDNER.
EIN GÖTTINGER WIGALOISFRAGMENT.
Am 4 august 1820 bedankt sich FJMone bei GFBenecke für
die anzeige seiner Einleitung in das Nibelungenlied, schickt ihm
umgekehrt eine solche des im vorhergehnden jähre erschienenen
Wigalois und legt einige pergamentblätter 'der in der anzeige er-
wähnten handschrift' bei : 'ich glaubte dieses geschenk meines freundes
von Lassberg nicht ehrenvoller verwenden zu können, als wenn ich
es dem herausgeber des Wigalois zustellte'. — es sind dieselben
blätter, die 8 jähre später nach angäbe des accessionsjournah der
Göttinger Universitätsbibliothek 'von hm hofrat Benecke verehrt'
wurden und die jetzt die Signatur cod. ins. philol. 1S7 tragen.
WMejer hat sie 1893 kurz beschrieben (Verz. d. hss. i. pr. st.:
Gott. univ. i 47). aber trotzdem sie früher als alle andern Wigalois-
bruchstücke bekannt waren, sind sie meines Wissens noch nicht zu-
gänglich gemacht. Mone in der oben erwähnten anzeige in den
Heidelberger Jahrbb. der litteratur xm Jahrgang 1 hälfte p. 475 — 6
beschränkt sich nur auf wenige mitteilungen.
Die beiden blätter, die Lassberg von einem bucheinband gelöst
hat, gehörten zu einer hs. in kleinquart von ungefähr 19 cm höhe,
14 cm breite, sie sind abgesetzt geschrieben und enthielten auf
jeder seite zwei columnen: bl. 2 enthält 30 Zeilen auf der spalte;
von bl. 1 ist ein stück oben abgerissen, so dass nur 26 zeilen
erhalten sind: merkwürdigerweise schliefst gleichwol sp. \c glatt
an sp. 1 b an und auch an sp. 1 b vermissen wir oben nur eine
zeile des textes! zwischen bl. 1 und 2 werden 16 blätter fehlen. —
EIN GÖTTOGER WIGALOISFRAGMENT 299
vom ersten blatt — jetzt verkehrterweise nach dem andern und
so eingeklebt, dass die zweite seile der ersten vorausgeht — ist
am obem und innern rande je ein stück weggerissen, so dass von
den ursprünglich auf diesem blatt enthaltenen vv. 201, 11 bis
204, 13 vollständig nur in der 2 sp. : 202, 7 — 33, in der 3 sp.
202, 39—203, 23 erhallen sind, auch 202, 6 und 202, 38 sind,
obwol etwas beschädigt, noch deutlich zu lesen, von den vv. der
1 sp. sind 201, 16 — 40 und 2<)2, 4 immer nur in ihrem letzten
teile erhalten, 201, 30 ist ganz verloren, 201, 23 bis auf wenige
striche, in der 4 sp. sind 203,29 — 204, 13 immer zum gröfsern ersten
teil erhalten, von 203, 28 nur wenige striche, das blatt ist an einer
stelle (202, 25. 26 und 203, 14 — 17) durch moder flecke verdorben,
2 löcher im pergament (202, 32 und 203, 22) sind vom Schreiber vor-
sichtig umgangen, die linienstriche sind, wie auch beim zweiten blatt,
nur noch undeutlich zu erkennen. « — bl. 2 ist am innern rande
beschnitten, von den versen, die es enthält, 252, 25 — 255,24 ist
die ganze 2 : 253, 15 — 254, 4 und 3 sp. : 254, 5 — 33 vollständig
erhalten, von 254, 34 ist das erste wort abgerissen, von den vss.
der 1 sp. : 252, 25 — 253, 14 sind infolge des beschneidens nur die
zweiten hälften, in der 4 sp. : 254, 35 — 255, 24 immerhin die
weitaus großem ersten vershälften, kürzere verse zuweilen ganz
erhalten (254, 35. 40 — 255, 17. 19). auch dies blatt hat zwei vom
sein eiber vermiedene löcher (253, 2 und 255, 12). die erste seite
ist stellenweise unleserlich (252. 25 — 30 besonders). — im ganzen
sind also von den 240 vv., die wir auf den beiden blättern erwarten,
16 ganz, 111 teilweise verloren gegangen, während 113 vollständig
erhalten sind, ich gebe nun unten einen genauen abdruck und
bemerke dazu folgendes : die schreibtechnik beider blätter ist die-
selbe, die zweiten Zeilen der reimpaare sind uneingerückt. jeder
vers fängt mit großem, rot gestrichnem buchstaben an, die ab-
schnitte werden zuweilen (202, 40. 254, 2), aber nicht immer
(204, 13) durch große rote initialen markiert, einmal ist ein a
(klein) mit tinte markiert, aber nicht ausgeführt (255, 7). die namen
sind immer klein geschrieben (201, 17. 31. 40-202, 15. 38
— 203,4. 5. 6—252,30. 31. 34—253,26. 30-254,25. 33.
37), nur ein einziger groß mit rot gestrichnem anfangsbuchstaben:
203, 3 LAPJE (sie), die abbreviaturen sowie die übrigen gra-
phischen lind vor allem die sprachlichen eigentümlichkeiten sind im
abdruck genau widergegeben, lediglich graphische bedentung hat
300 SCIIAAFFS
die Schreibung ü für u in der nachbarschaß von nasal : gebunden,
Wunsches, an verschiedenen stellen finden sich offenbare fehler,
icie 201, 33 : doas — 202, 21 schie — 253, 23 sichereil — 254,
IS volgel — 253, 30 wider.
bl. la
201, 15 burglor.
l'i vor.
vou alarie.
rii*.
sins hant.
20 sin laut.
alt gegeben.
leben.
e.
ere.
25 erheit.
g erslagen.
iche solte trage.
mendoue.
30
or doas.
or lange was.
eut gewesen.
e lie er in genesen.
35 n do er in vie.
orte hie.
ne tot.
hcit gebot.
getan.
40 ge ds graue adä.
202, 4 . . . • uf getan.
bl. lb
6 Do vant er de gesiude gar.
In iamerlicher rüwe.
Ir klage du was nüwe.
Vinb den wirt der da wc erslage.
10 0Tch müsen sü mit trüwe klage.
Die reine wirtinne.
Div gutes wibes miue.
EIN GÖTTWGER WIGALÖISFRAGMENT 301
Bracht vns an ir ende.
Ane missewende.
15 Lag ilü viöwe iaphite lot.
Des twang si gaucer trüwe not.
Vn hszeliche n.Ine.
Sele lip vn sinne.
Schie dii hszekit.
22 Wie wirt de yezelich geseit.
Sit ich sin nit gesagen kan.
Wa ist nü en wiser man.
25 Der mir den stril bescheide.
Starp si vö hszeleide.
De iiiüs vö hs/.eliel>e sin.
Dil gab ir hscen solchen pin.
Da vö ir schöner lip uMarp.
30 Ich wene si vö den beiden starp.
Anders ich mich nit usstan.
Solle ich dem strite nache gä.
So wurde ds rede licht ze uil.
bl. 1° 38 Genist vro iaphite wol.
Wan si was gancer trüwe uol.
HJe ist du auelur geholt.
Wa ist nü ds miue solt.
Des Wunsches amye.
Du schöne LARJE.
Hie lit ir frünt her wigoleis.
5 Den der milte hritoneis.
Der küng artus hat gesant.
Zer auentur de er de lant.
Solt erwsben vn die magt.
Owe de den nieman sagt.
10 Er lit hie leider ane craft.
Der mit rechter ritlsschaft.
Vn mit gancer manheit.
Als vns dii auenture seit.
Vil mangeu höhen pris gewan.
15 Er lag da als en toter man.
Ane craft vn ane sin.
Die iungvröweu halten in.
302 SCHAAFFS
Vö dem höpt eutwafenl gar.
Vn uame des uil rechte war.
20 Ob er lepti oder were tot.
Do waren im du hüfel rot.
Vn aller lebelieh getan.
23 Do wolten in erslage hau.
bl. ld 28 Ey
De ir diseni r
Sine lip nem
Der ritterlich
Die auenture
De ist en gröz
Wan er durch
35 Lip vn gut
Hatte uil nach
Nu nemet ed
Wa ein so gut
Wie mangen . . .
40 Lat mich in ne .
Ja wen ich de ie
Bezzer ritter d . .
Nu gebent sine
Vnz eren uslies
204, 5 Jo chan er wol.
Ritterlich den t
würd er vö w
Des lip ane mi
Sine zit geleb
10 VIT der mit siu
Den aller hochs
De wer en iemsl
IR mugent in
bl. 21 252, 25 enit (?) nicht.
bieten.
do rieten.
nie baz.
hsrre wissent de.
30 e seruie.
urchie.
EIN GÖTTLNGEIt VV1GAL01SFRAGMENT 303
I manig ntter yut.
in vil holden um!.
vn die kriechen.
35 .... maogeo siechen.
gewineu.
r vi! innen.
tnme vil.
.... ame des todes spil.
40 pris beiagen wil.
253, 1 sin geselleschaft.
. . . . r nu zwifelhaft.
reise wil besten.
asier nit ensten.
vn im geschieht.
ensumet üch nicht.
aweiu der degen.
des rechten enphlege.
het getan.
o
10 s nit geschaden kan.
o
e
gute ritterschaft.
ir trüwe kraft.
e erzeigen hie.
ekein küng nie.
bl. 2b 15 In disem lande so mange hell.
Dise ritter siut erweit.
Vs .mange küngriche.
Do lopt im geliche.
Helfe an der stünde.
20 Mit gemeine münde.
Die sin vn och die geste.
Dil sichseit wart veste.
Vbs den vngetrüwe man.
Der dis mort het getan.
25 Vü iu de laster het erbotten.
Hs wigoleis do sine botten
Mit dem garzün saute dar.
Vö im vn von den fürsten gar.
Wider bot er indie stat.
30 Lion dem fiirsten wids mat.
304
SCI1AAFFS
Mochte er nach sine schache get . . .
Sus schiet der botte vö im da.
Dem karzun wold er kleius gebe.
Do sprach er nein ich wil leben.
35 Mit hszeleide uns an die zit.
De gottes gerichte räche git.
Nach sine wsken vbs in.
Der mir vröde viT gewin.
Ane schulde genome hat.
40 Owe der grozen meintat.
254, 1 De si noch ungerochen stat.
Cus nam er urlop vö schiet d . .
Wider zv dem toten man.
Der dan noch uf dem uelde lag.
bl. 2C 5 Des got mit siner bäte phlag.
Vor uogeln vn vor hünden.
Sin ors de wc gebunden.
Vil uaste an eius linden ast.
Also gewafent lag ds gast.
10 Sin schilt wc ubs in geleit.
Nach des landes gewonheit.
De swert vnds sine höhte lag.
Dis wc der sibende tag.
De der helt wart erslagen.
15 Man sach in iemslichen clagen.
Zwene winde die bi im lagen.
Des heldes si da phlagen.
Vor uolgel vü vor wilde
Vngas uf dem geuilde.
20 Dolton si des hungers not.
Vns si da bi im lagent tot.
De ors vü sine winde.
Schatten gab im du linde.
Mit ir lobe de wc bereit.
25 Min viöwe liamere erleit.
Nach dem helde grozze pine.
Im waren die sinen.
254, 24 bereit vielleicht schon in breit gebessert.
EIN GÖTTINGER WIGALOISFRAGMENT 305
Gar geuangen vü erslagen.
De begonde si hszeklige clagen.
30 Mit wiplicher swere.
Ir wart der lip unmere.
De si ir trüt het u'loren
Do het abs lion si erchoren.
. . fründin siue lihe.
bl. 2d 35 Disem reine wibe.
Erslüg er ir liebe m . . . .
Mit eine sper vö ä
Ir »rozze schöne ga
Der iamer ir nach im g . . .
40 Vil pinliche swere.
255, 1 Swie schöne ir va . . .
Du erlasch nü gar n . . . .
Ir vröde ir so gar g
De si uit wau iamss ....
5 Beidü nacht vil la . . . .
Des libes si sich gar
a ls ir der trüwe ....
Ir schöne zoph
Die wäre lang ze r . . . .
10 Der rege vö ir öge
An die wägen vü . . . .
Der bitter t
De er zeigte si der ....
Si zarte vö ir den
15 Der vö golde gab 1 . . . .
Vü eine beltz herm ....
Vö ir schone übe.
Dem uil reine wib .
Wart vö hszeleide.
20 De si ir ogen weid .
Ane schulde stachen
Vö disem leide ir hsz . .
Da vö si och den lip . . .
Ir gäze sinne si och . . .
Göttingen, juni 1907. GEORG SCHAAFFS.
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. 20
WINILEODES.
In dem capitulare Karls d. Gr. vom 23 märz 789 findet
sich folgende bestimmung: De monasteriis minutis ubi nonnanes
sine regula sedent, volumus ut in unum locum congregatio fiat
regularis, et episcopus praevideat, nbi fieri possint. Et nulla
abbatissa foras monasterio exire non praesumat sine nostra ius-
sione nee sibi subditas facere permittat; et eamim claustra sint
bene firmata et judlatenns ibi winileodos scribere vel miltere
praesumant: et de pallore earum propter sanguinis minuationem
(Boretiiis i p. 63). ich glaube der bisherigen auffassung dieser
slelle getreu zu bleiben, wenn ich sie so übersetze: 'bezüglich
der kleinen klöster, wo die nonnen ohne regel leben, wollen
wir, dass eine regelrechte Vereinigung an einem platze stattfinde
und der bischof zusehe, wo das geschehen könne, und keine
äbtissin soll sich unterstehn, ohne unsern befehl das kloster zu
verlassen, noch es ihren untergebenen zu gestatten, und in ihren
klöstern soll strenge clausur gehalten werden, und in keiner
weise sollen sie sich dort unterfangen liebeslieder zu schreiben
oder zu schicken: der bleichsucht infolge von blutarmut (ader-
lass) wegen'.
Es findet sich zwar, soviel ich weifs, diese Übersetzung oder
eine andere nirgends, aber das was man aus dem texte herausgelesen
hat, fordert sie. von denen welche sich über die winileodi geäulsert
haben, will ich hier zweien das wort geben. Kögel schreibt in
seiner Geschichte der deutschen litteratur bis zum ausgange des
mittelalters (i s. 61 f): 'es sind erzählende lieder erotischen in-
halts, die man den nonnen vorzuenthalten für zweckmäfsig hielt . . .
da den nonnen verboten wird dergleichen zu schreiben (dh. wol
abzuschreiben oder aufzuschreiben) oder zu schicken, so müste
man schon die Verhältnisse des ausgebildeten minnedienstes, wo
in der tat die lieder zwischen den liebenden auf losen blättern
oder streifen hin- und herflogen, auf diese alte zeit übertragen,
wenn man die winiliod von einer eigentlichen liebeslyrik ver-
stehn wollte'. Kögel selbst tut das, denn in Pauls grundriss
schreibt er: 'ich halte es für zweifellos, dass unter den winileod
zunächst nur liebeslieder verstanden werden können: es wird
den nonnen verboten dergleichen zu schreiben oder zu schicken,
0
WINILEODES 307
auch vvol sich schicken zu lassen, und ihre bleichsucht wird
damit in Zusammenhang gebracht'.
Etwas vorsichtiger urteilt Kelle (Gesch. d. d. litt, i 78): 'ein
capitulare vom jähre 789 verordnete in can. 3, dass die nonnen,
deren leben, wie man aus den beschlossen der concilien sieht,
vielfach anstofs erregte, strenge clausur halten und sich nirgends
unterstehn sollten, winileodos zu verfassen oder zu versenden, in
glossen des 9 und lOjahrh. steht der ausdruck gleichbedeutend
mit rustigiu sanc, mit scofleod . . . winileod hatte also damals
entschieden die ganz allgemeine bedeutung: volkstümlicher welt-
licher gesang. später (bei Neid hart) wird das wort zur bezeich-
nung von liedern gebraucht, welche, wie es scheint, zum spiel
oder tanz gesungen wurden. zur zeit des capitulares muss
winileod aber ausschliefslich, oder speciell: liebeslied bedeutet
haben, das ergibt der Zusammenhang. ... die grundbedeutung des
ersten teiles scheint nämlich: geliebter, geliebte gewesen zu sein,
wie später hieng schon damals die ganze lyrik mit dem leben
zusammen, die liebesliedchen waren liebesbriefe, die, wie sie von
bestimmten personen ausgiengen, an bestimmte personen ge-
richtet waren', ähnlicher ansieht sind die meisten gelehrten,
während es allerdings auch nicht an solchen fehlt, welche den
begriff von winileod weiter gefasst haben, wenn und solange man
indes den ersten worlteil mit wini freund, geliebter zusammen-
stellt, werden diese einen schweren standpunet haben und be-
halten, eine ganz andre auffassung aber hat nach dem berichte in
der Zs. f. d. ph. bd 38 (1906) s. 123 auf der letzten Versammlung der
deutschen philologen und schulmänner in Hamburg Uhl vertreten,
indem er wini-leod als 'gemeinsames arbeitslied' erklärte und das
erste compositionsglied mit gewinnen zusammenstellt; es sei
kein Substantiv- sondern ein verbalstamm, wie er auch in rü-
geliet, twingeliet vorliege, ob diese deutung, die augenscheinlich
unter dem einfluss von ßüchers 'Arbeit und rhythmus' entstanden
ist, beifall finden wird, muss man abwarten, ich meinerseits
muss gestehn, dass mir das wini wenig kopfzerbrechen machen
würde, wenn ich die hergebrachte deutung von leodes oder leodos
für richtig halten könnte 1 gegen sie habe ich aber schwere
bedenken, die mir noch mehr ins gewicht zu fallen scheinen,
wenn mau den canon einer gründlichen prüfung auf seinen In-
halt hin unterzieht, von der 'bleichsucht' der fränkischen nonnen
20*
308 JOSTES
will ich nicht reden, auch nicht voü ihrer Ursache, die der grofse
Karl gegebenenfalls doch schwerlich dem schreihen und schicken
von liebesliedern zugeschrieben haben würde, sondern nur fragen:
traut man denu Karl eine derartig sonderbare Verfügung über-
haupt zu? und wenn schon, würde man hier nicht an erster
stelle das verbot des singen s von liebesliedern erwarten müssen?
und endlieh: müsle man nicht winileoda oder winileod stall
tcinileodes und winileodos erwarten, wenn es hier sich um lieder
handelte? lied ist doch von je ein neutrum gewesen! ich glaube
jeder, der das capitulare gelesen hat, wird die bisherige auf-
fassung gerne preisgeben, wenn sich eine andere auch nur als
möglich ergibt; und meines erachtens lässt sich in der tat eine
linden, die erheblich annehmbarer erscheinen dürfte, das will
ich zu zeigen versuchen.
Wer leodes oder leodos als den acc. plur. von leod auf-
fasst, geht über das schwere grammatische bedenken, welches
dabei das geschlecht des wortes bildet, leicht hinweg, wenn
überhaupt, würde das aber nur in dem falle als statthaft geduldet
werden können, dass eine andere erkläruug überhaupt gram-
matisch und logisch unmöglich wäre, nun sind aber leodos und
leodes durchaus richtig gebildete accusative von leodi (oder leudi)
und leodes = 'vasalli, subditi', und diese Wörter kommen (oft in
der Zusammenstellung mit fideles) in den Schriften der mero-
wingischen und karoliugischen zeit geradezu unzähliche male vor.
nur eine stelle aus dem sog. Fredegar möge hier angeführt
werden, weil sie ein zweites in uusre Untersuchung hinein-
spieleudes wort enthält1 : Rex Pippinus in qualtuor partes
comites suos, scaritos et leudibus suis2 ad persequendum Waio-
farium transmissit. die bedeutung des Wortes schillert etwas:
am treffendsten dürfte es sich im allgemeinen durch 'mannen'
widergeben lassen. dazu passt sehr gut das erste compo-
sitionsglied wini, von dem eine reihe von ableitungen usw.
sich im latein der fränkischen zeit finden, so xoinegiator3 , gui-
niator, guinitor, das Du Cange als 'judex viarum' seu qui
1 Script, rer. Merov. n cap. 135.
2 für leudes suos. die belege für das wort hat Krusch in den lexica
zu den einzelnen bänden der SS. rer. Merov. zusammengestellt.
3 das merovingische latein einmal generell auf seine deutschen besland-
teile hin zu untersuchen, wäre eine dankenswerte aufgäbe.
WINILEODES 309
itinerautium securitati invigilabal, atque adeo wiona-
gii exactor' erklärt, dementsprechend heifst wionagium, guio-
naghtm: 'praestatio a tenentihus facta pro tutela et pro-
tectione personarum'. wer mehr heispiele wünscht, möge
unter deu Stichwörtern (sowie unter guiare, guidare, missi dis-
currentes) bei Du Cange nachsehen, winileodi ist also eine ganz
natürliche Zusammensetzung, deren erstes glied die bedeutung
des zweiten ein wenig specialisiert: die winileodi sind schutz-
oder sicherhei tsman nen!
Kann aber dieses wort als object zu scribere und mütere
gedacht werden? zu mütere selbstverständlich, aber auch zu
scribere; denn dieses wort heifst bereits im classischen latein
nicht blos 'schreiben', sondern auch 'einschreiben', 'anwerben,
einstellen', und diese bedeutung hat es auch hier, es gibt das
altdeutsche scerian wider, das latinisiert scarire lautet, von dem
das oben bereits angeführte substant. pari, scaritus gebildet ist.
wenn Hildebrand zu seinem söhne sagt: dar man mih eo scerita
in folc sceotantero, so heifst das: 'wo man mich einstens als
bogenschützen eingestellt hatte'.
Karl verbietet also den nonnen, 'sicherheitsmannen' anzustellen
oder auszusenden, im folgenden interpungiere ich den text an-
ders als die herausgeber, indem ich vor et statt des doppelpunctes
ein komma setze und (was freilich nicht gerade nötig ist) nach
earum einen doppelpunct, also: et de pallore earum: propter
sanguinis minuationem lese, dass pallor 'bleichsucht' heifsen
kann, finde ich nicht, wol aber kann es 'furcht' bedeuten; und
da sanguis auch 'blutvergiefsen' heifst, so ist der sinn klar,
dass das latein nach wie vor barbarisch bleibt, ist nicht meine
schuld ; wer aber in den quellen der Merowingerzeit belesen ist
— uud in diese zeit scheint mir der von Karl wahrscheinlich nur
wider aufgefrischte canon zurückzugehn — wird sich daran nicht
stofsen. meine Übersetzung der ganzen stelle lautet demnach
folgendermafsen :
'Hinsichtlich der kleinen klöster, wo die nonnen ohne
regel (in einzelwohnungen) leben, wollen wir, dass ein gemein-
sames leben an einem platze eingerichtet werde, und der (zu-
ständige) bischof soll zusehen, wo das geschehen könne, und
keine äbtissin soll sich unterstehn ohne unsern befehl das kloster
zu verlassen oder ihren untergebenen es zu gestatten; und
310 JOSTES
ihre klöster sollen gut befestigt sein, und unter keiner
bedinguug sollen sie sich unterslehn dort schutzmannen an-
zunehmen oder auszusenden, seihst nicht ihrer furcht
wegen: zur Verminderung des blutvergiefsens' (verordnen wir das),
nach meiner auffassung haudelt es sich hier also um die Um-
wandlung der offenen klöster in geschlossene und befestigte, die
das halten einer bewaffneten schutzmannschaft überflüssigmachten,
ob diese auffassung ansprechender ist als die bisherige, mag
dem leser zu beurteilen überlassen bleiben, jedesfalls haben wir
hier kein palliativmittel vor uns, wie es das verbot, liebeslieder
zu schreiben oder zu schicken, zur minderung der sittenlosigkeit
in frauenklöstern immerhin gewesen wäre, selbst wenn es sich
aus der Verordnung herauslesen liefse. es fragt sich nur noch,
ob für das verbot in dem von mir angenommenen sinne die tat-
sächlichen Verhältnisse jener zeit einen anlass gaben, dafür
verweise ich auf folgende stelle in der Vita Columbani : Paratque
deinde (Brunichildis) insidias moliri : vicinus monastirii per nun-
tios imperat, ut nulli eorum extra monastirii terminos
iter pandatur, neqae receptacula monachis eius vel qnaelibet
subsidia tribuanlur1. die merowingischeu klöster besafsen also
würklich bewaffnete mannschaften zur gewährung freien geleiles;
dass sie auch zu anderen zwecken gehraucht und misbraucht
wurden, lehrt uns eiue erzählung Gregors von Tours : im jähre
589 entbrannte zwischen Chrodechilde, der tochter des königs
Charibert, und ihrer äbtissin eine heftige feindschaft, die dahin
führte, dass die mannen der beiden uonnen sich schlachten
lieferten; selbst nach schliefslicher aussöhnung war die fehde
noch nicht zu ende : Postea vero multi inter has scolas inimicitiae
ortae sunt; vel quis unquam tantas piagas tantasque strages vel
tanla mala verbis poterit explicare, ubi vix praeteriit dies
sine homicidio, hora sine iurgio vel momentum ali-
quod sine fletu?"1 solche zustände bestehn zu lassen, war
Karl nicht der mann; es ist aber leicht einzusehen, dass sie nur
dann dauernd beseitigt werden konnten, wenn die nonnen, que
in proprios domus resedent (wie es in dem edicie Chlotars vom
18 oct. 614 heifst), in feste klöster zusammengezogen wurden;
1 Script, rer. Alerov. iv s. 87 (über i cap. 19).
8 Script, rer. Merov. i s. 425 (über x cap. 15).
W1NILE0DES 311
anders konuteu sie bei den damaligen Verhältnissen der 'wini-
leodes' einfach nicht entraten.
Damit ist das, was ich über die wiuileodes zu sagen habe,
erledigt, es ist aber begreiflich, dass mich das ergebuis meiner
Untersuchung reizte, nun auch die so oft angeführten leodes des
Venautius Fortuuatus auf ihren Charakter hin zu prüfen, es ist
nicht überflüssig gewesen 1 ich führe hier die beiden stellen in
vollem umfange an, so wie sie in den Mon. Germ.1 abgedruckt
sind, die bemerkuugen dazu verdanke ich der liebeusvvürdigkeit
meines collegen Souneuburg.
Quid inier haec extensa viatica consulte dici potuerit, censor
ipse mensura, ubi nie non urguebat vel metus ex iudice vel pro-
babat usus ex lege nee iiwitabat favor ex comite nee emendabat
lector ex arte, ubi mihi tantundem valebat raueum gemere quod
cantare apud quos nihil disparat aut Stridor anseris aut canor
oloris, sola saepe bombicans barbaros leudos arpa reli-
dens; ut inier illos egomet non musicus poeta, sed muricus deroso
flore carminis poema non canerem sed garrirem, quo residentes
auditores inier acernea pocula salute bibentes Baccho iudice de-
baccharent.
'Fortunat entschuldigt die mangelhaftigkeit seiner gedichle
mit den umständen, unter deuen sie entstanden : alles, was in
seiner Umgebung sonst den dichter fordert, muste er hier ver-
missen (ubi nie ... arte), und die Umgebung, die er hier hatte,
besafs kein Verständnis (ubi mihi oloris). trotzdem schweigt
er nicht, sondern trägt, wie der schluss-satz zeigt, seine den
umständen angepassten lieder den zechenden vor, und dass er
so handelt (ut inter illos etc.), dazu veranlasst ihn, was in den
wurlen sola saepe .... relidens ausgedrückt ist. Sola saepe
bombicans arpa kann wol nur harfenspiel ohne text bedeuten;
würde nun barbaros leudos relidens, wie man annimmt, heifsen:
'barbarische lieder ertönen lassend', so wäre entweder mit leudos
auch nur 'musikalischer Vortrag' bezeichnet, so dass bombicans
und relidens parallel stünden und ein verbindendes et fehlte, oder
leudos bezeichnete eben text im gegensatz zur musik. ersteres
ist undenkbar, weil jedesfalls seine sonstigen gedichte (dh. texte)
in gegensatz gestellt werden zu denen, die seine zuhürer gewohnt
1 Auetor. antiquissimi iv p. 2 und ib. Carm. üb. vn 8, 61 ff.
312 JOSTES
sind und die ihrem geschmack oder vielmehr ungeschmack ent-
sprechen, und weil bei dieser auffassung die beiden participien
ganz in der lufl schweben und der gedanke weder an das vor-
hergehende noch an das folgende sich natürlich anschliefsen
würde; und letzteres scheint ausgeschlossen, weil dann ein gegen»
satz zwischen instrumentalmusik (sola bombicans arpa) und lieder-
texten (barbari leudi) vorläge, der doch irgendwie ausgedrückt
sein müste. fasst man aber leudi in der bedeutung 'mannen',
und relidere nicht in der für diese stelle besonders angenommenen,
sondern in der gewöhnlichen 'zurückstofsen', und nimmt man an,
dass die participien entsprechend dem fehlen einiger verbindungs-
partikel im Verhältnis der unter- und Überordnung stehn, so
ergibt sich mit der unbedenklichen ergänzung von est der ein-
fache sinn : 'wenn die harfe oft allein ertönt, stöfst sie die bar-
barischen mannen ab, so dass trotz der vorher angegebenen
mängel ich als verschlechterter poet mein lied herleierte, um
ihren beifall zu finden'.
Und nun die andere stelle:
Sed pro me reliqui laudes tibi reddere certent,
et qua quisque valet te prece voce sonet,
Romanusque lyra, plaudat tibi barbarus harpa,
Graecus Achilliaca, crotta Britanna canat.
Uli te fortem referant, hi iure potentem,
ille armis agilem praedicet, iste libris.
et quia rite regis quod pax et bella requirunt,
iudicis ille decus concinat, iste ducis.
nos tibi versiculos, dent barbara carmina leudos:
sie Variante tropo laus sonet una viro.
Hi celebrem memorent, Uli te lege sagacem:
ast ego te dulcem semper habebo, Lupe1.
'Würde hier leudos lieder bedeuten, so wäre es neben bar-
bara carmina unverständlich, da nun aber zum ersten gliede
des verses aus dem zweiten ein demus (oder damus) ergänzt
werden muss, so ist offenbar ein gegensatz gewollt zwischen
versiculi, dh. verseu classischer art, wie sie Fortunatus widmet,
und barbara carmina. dann aber muss im zweiten gliede ein
gegenstück vorhanden sein zu dem nos am anfang des verses,
1 Lupus war unter Sigebert herzog in der austrasischen Champagne
und ein freund Fortunats.
WINILEODES 313
dli. es muss gesagt sein, wer die barbara carmina spenden soll,
und dies ist der fall, wenn das letzte wort, das dann leudes zu
schreiben wäre, eben bedeutet : die mannen germanischen slamms;
so stimmt der vers genau mit vers 3 : Romannsque lyra, plaudat
tibi barbarus harpa'.
Wir werden demnach künftig in der lilteraturgeschichte
sowol auf die winileodes des karolingischen capitulares wie auf
die einfachen leodi des Fortunatus verzichten müssen, aber hat
es denn überhaupt keine 'winelieder' gegeben? zweifelsohne 1
doch ist das worl für die Karolingerzeil nicht belegt und damit
die sache nicht bezeugt, die späteren glossatoren haben bereits
die stelle des capitulars misverstanden, und wenn ihnen auch
das wort selbst bekannt gewesen sein mag, so beweist doch
schon ihre eigene Übersetzung, dass sie den begriff 'liebeslied'
damit nicht verbanden, ebensowenig wie esNeidhart getan hat. die
ursprüngliche bedeutung von wineliet erkennen wir vielleicht am
deutlichsten im friesischen, in den allgemeinen gesetzen des westerl.
Frieslands1 heifst es c. 22: Hweerso ma claget om een aeft dat
hit tobrüsen se, end ma hit riucht greta schil, soe schilma hit
aldus greta, dat dio frie Fresinne coem oen dis fria Fresa wald
mit hoernes hluud ende mit bura oenhlest, mit bakena brand ende
mit winna sang, ende hio breydelike sine besma op stoed, ende
op dae bedde herres lives netta mitte manne, ende an moerne op
stoed, to tzierka ging, kerkstal stoed, alter arade, da prester offa-
rade, ende dal aeft also bigingh, alsoe di fria Fresa mitter frie
Fresinne schulde.
Sonst finde ich das wort nur noch in 'Het Freeske rym',
einem werke, das Siebs und andere zwar nicht mit unrecht sehr
hart beurteilen, dessen urheber aber jenes wort doch noch ge-
kannt zu haben scheint:
To Ulracht in thine dorn
AI thet herscip him2 to ghins com
And habbad him blidelike ontfan:
Tha basuna dedense blian,
Tha clocka dedense hluda
End tha liacht tho gins him cruda
1 vRichthofen Friesische rechtsquellen s. 409.
2 SWillibrord.
314 . JOSTES WLMLEODES
End mit grata winnena(l) sang
Ont [engen hia him tha strata lang1.
Hier wie dort ist au einen erotischen cliarakter des 'winne-
liedes' nicht zu denkeu: der Zusammenhang fordert vielmehr die
bedeulung : 'jubel-, freudenlied', ursprünglich wol 'siegessang',
und diese bedeutung schliefst nicht einmal einen religiösen iuhalt,
noch auch eine fremdsprachliche form aus. wenn die glossen
das wort durch secularis cantilena, psalmus vulgaris, secularis,
ylebejus, canticum rusticum widergeben, so beweist das nichts
anderes, als dass der erste urheber das karolingische capitular vor
äugen gehabt, aber nicht verstanden und den sinn des wortes
an der stelle aus dem Zusammenhang zu erraten versucht hat.
1 Het Freske Rijm (Werken, uitgeven door het Friesch genootscliap
van geschied- oudheit- en taalkunde. Leeuwarden 1853) v. 1344 fl".
FRANZ JOSTES.
AISL. EDDA 'URGROSSMUTTER'.
EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE VON URGERM. AI.
Augenscheinlich hängt aisl. edda 'urgrofsmutter' zusammen
mit aisl. eida, got. aipei 'mutier' (Noreen Au. gramm. l 95. 153;
anders Kluge Stammbildung 22); die laulform begreift sich aus
*aißifiön. aber diese ableitung ist keine erkläruug; *aipipön ist
so dunkel wie edda. das formans -ipa kann nicht darin stecken,
denn die T^a-bilduugen sind von haus aus stark, und überdies
würde es der vorauszusetzenden funclion des sufüxes an jeglicher
aualogie fehlen : *aipipa könnte nur 'mutlerschafl' oder 'mütter-
lichkeil' oder 'Versetzung in den zustand der mutterschaft' be-
deuten, niemals 'urgrofsmutter' (vgl. die beispiele JGrimms Gr. n
242 ff), hat also das wort jemals *aipipdn gelautet, so kann es
nicht durch eindringen des formans -ipa entstanden sein; die
lautliche gleichheit mit diesem muss secundär sein, wir erklären
laulform und bedeutung gleichmäfsig, wenn wir von einem com-
positum *aip-aipön 'mutler-mutter' ausgehn. der sinn dieser
bildung war ursprünglich etwa 'mutier v.ut' iioyvrjv, mutler aller
mutier' (wie 'buch der buchet'), dh. sie bezeichnete die älteste
frau der familie, die stamm-multer. diese bedeutung stand nicht
NECKEL A1SL. EDDA 'URGROSSMUTTER' 315
im wege, dass *aipaipön sich vou seinem grundworl lautlich
isolierte, es wurde üher *aipipön zu edda.
Eine solche entwickhing hätte m. e. für lautgesetzlich zu
gelten, und zwar hauptsächlich wegen der Verhältnisse in der
sog. vierten schwachen verhalclasse. mau hat formen wie hafbi,
hafat bisher falsch heurteilt. sie sind mit den got. tri-bildungen
habaida usw. hmt für laut identisch, es ist schon au sich be-
denklich, hier durchweg von 'bindevocallosen' formen auszugehn,
wie man seit Sievers Beitr. 8, 90 ff allgemein zu tun scheint,
bei dieser hypothese bleiben die parlicipia wie lifat, hafat, sagadr
(EJönsson Skjaldesprog 109), aschw. saghaper u. dgl. unerklärt.
Pauls annähme (Beitr. 7, 145), dass hier ueubildungen vorliegen,
stufst auf die ernstesten Schwierigkeiten, das Vorbild konnte nur
die ö-classe hergegeben haben, aber diese ligt sehr fern, sie ist,
soweit wir sehen können, ohne jeden einfluss auf die flexion
unsrer gruppe geblieben, viel näher ligt die /a-classe. wie eine
ganze reihe von präsentien zwischen der ai- und /a-flexion
schwankt (Noreen i 321), so zweifle ich nicht, dass auch die
kurzen parlicipia wie haftir, sagbr dieser analogie ihr dasein
verdanken, gegenüber Paul muss betont werden, dass zwar hafa
und segja zu den häufigst gebrauchten verben gehören, dass aber
von allen ihren Stammformen das part. prät. die seltenste ist.
je häufiger präsens und präteritum waren, um so leichter konnten
diese von der ja-classe groslenteils nicht zu unterscheidenden
lempora das participium nach sich ziehen, (dasselbe ist bei
lujggja der fall gewesen : hugür neben hugat in der alt aussehndeu
redensart hugat mcßla.) die somit für lautgesetzlich zu haltenden
participialformen mit a entsprechen genau den got. auf -ai/js;
ai ist über 3 zu a geworden, wahrscheinlich unter denselben
Bedingungen wie in 'Olafr, Hröarr. Lifat verhält sich aber zu
lißa nicht anders als taliftr zu talüa; vor langer silbe wurde
ai > e > i (wie in endsilben : imper. lifi = got. libai) und
schließlich syncopiert.
Beweisend sind vor allem prälerita wie mürifti 'gedachte'
und unüi 'war zufrieden', sie können uicht auf bindevocallose
formen zurückgehn (AKock Beitr. 18, 4461) wie etwa mundi
'wurde1 = got. munda, unni 'liebte' << *unttpe. Noreens hülls-
couslruclion eines urnord. *munföe (Grundr. i2 635) schwebt
aber angesichts des got. munaida völlig in der luft. ganz ahn-
316 NECKEL
lieh verhält es sieh mit vakpi gegeniiher den sicher biodevocal-
losen sötti, pötti, orti, ae. weahle, genahte (Sievers Beitr. 5, 100.
Ags. gramm. 256). solauge keine tatsachen dagegen sprechen —
und solche scheint es in der tat nicht zu geben — , sind wir
gezwungen, munfti = munaida , utibi = *u>unaida (ahd. woneta,
vgl. got. unwunands) usw. zu setzen und zu schliefsen, dass
ai in mitlelsilben vor langer ultima im nordischen syn-
kopiert wird.
Vsp. 22, 4 begegnet ein nicht befriedigend erklärtes Prä-
teritum vitti in dem halbvers vitti hon ganda. die stelle wird
alsbald klar, wenn wir vitti zu got. witan 'auf etw. sehen, beob-
achten' stellen und auf *uitaiüe zurückführen, die zauberin tut
dasselbe, was die Hymiskvida von den göttern berichtet : hristu
teina ok d hlaut sdu. gandr 'stab' hat also hier die specielle
bedeutung 'runenstab'. — die form vitti ist sicher schon früh
verdunkelt gewesen. aber auch in dem gebrauch des ver-
bums vita 'wissen' zeigen sich spuren des einst lebendigen
schwachen vita. Alv. 8 hefik . . . vitat vetna hvat bedeutet
'alles habe ich gesehen', ähnlich in der Vojundarkvicta : vissi
ser ä hpndum hofgar naufiir ('bemerkte'). Egilsson 880 führt
an : vissu hjpltin nibr ('wies', im sinne von 'speetabat' mit
richtungsadverbium; got. witan übersetzt auch öoäv). weil in
manchen formen beide verben zusammenfielen, sind sie vermischt
worden.
Die abstraeta hgfn, sogn, pggn, tign, die zu verben der ai-
classe gehören, stehn in dringendem verdacht, die got. bildungen
ßulains, libains zu reflectieren, also hpfn aus *haiainö (ae. heefen).
ebenso lausn, vorn = got. lauseins, *wareins (vBahder Verbal-
abstraeta 84, vgl. Noreen i § 148 a. 1). dagegen ist ursprüng-
liches 5 als a bewahrt in der sehr produetiven classe, zu der an.
laftan (Igüun? Fritzner n 391), got. lapöns gehört, ganz ent-
sprechend den präteritis der ö-classe. es gab urgerm. auch
m'-bildungen ohne mittelvocal, zb. got. sökns. wie Kluge Stamm-
bildung § 147 sehr richtig bemerkt, liefert allein das got. sichere
belege, spärlich wie diese sind, können sie doch die Vermutung
stützen, dass fehlen des mittelvocals bei n- und ^-ableitungen,
bei abstractum und präteritum zusammenging, man vergleiche
nicht nur sökns mit urgerm. *söhte, sondern auch got. siuns, an.
sjön, syn mit ae. gesiehü und mhd. siht. zu urgerm. *haiJai<Se
AISL. EDDA 'URGROSSMUTTER' 317
gehörte demnach nicht ein *hatni, sondern ein *hatjaini. doch
hleibt dies natürlich Vermutung.
Nunmehr bedarf auch die zurückführung von blindrar,
blindri, blindra auf *blindiRöR usw. gegenüber got. blindaizos usw.
einer revision. Sievers hat Beilr. 2, 110, gestützt auf das ai.,
als urgerm. erschlossen : gen. dat. sg. fem. *blindizüs, blindizai,
gen. pl. masc. ntr. blindaize , fem. blindaizö. das got. hat den
diphthong auch in den gen. sg. eingeführt (blindaizos). ebenso
haben nach Sievers die andern dialecte das i verallgemeinert,
letztere auffassung erregt aber bedenken, das e der as. und ahd.
formen (ahd. blinlera, -u, -6) verträgt sich besser mit got. ai
als mit i : dieses hätte bei dem starken übergewicht der lang-
und mehrsilbigen stamme auch im continentalgermanischen syn-
kopiert werden müssen1, andererseits spricht nichts dagegen,
dass e <1 ai in mittelsilben wie im absoluten auslaut (ahd.
blinte <C blindai) gekürzt wurde; verbalformen wie ahd. lebeta
können sich nach den zweisilbigen typen lebet, leben (= got.
libains) gerichtet haben, sicher war auch das kurze e von blin-
tera usw. eng associiert mit den kurzvocalischen formen des
artikels (dera usw.), ebenso wie blintem mit dem. vielleicht sind
diese associationen bei der kürzung des e von blintera winksam
gewesen; lautgesetz und analogie fliefsen hier, wie so oft, in-
einander, was das nordische betrillt, so spricht hier das fehlen
des t-umlauts, der bei vielen lang- und kurzsilbigen adjectiven
zu erwarten wäre, gegen i. allerdings kann ausgleichung im
spiele sein, und die pronominalformen hennar, henni lassen
sich nur aus *häniR~öR, *häniRe ableiten, sie bezeugen das i
aber nur für den sing., in dem es schon vorgerm. zu hause war.
ein sichereres Zeugnis haben wir für ai im gen. plur. , nämlich
den nom. plur. blindir <1 *blindaiR. das secundäre r dieses
casus leitet man heute wol durchweg aus der 'allgemeinen
nominalivendung des plurals der substantiva' (Sievers Beitr. 2, 114)
her. aber das ist weit entfernt, überzeugend zu sein, sämtliche
nominalclassen weisen, neben blindir gehalten, weit gröfsere Ver-
schiedenheit als ähnlichkeit auf; einen substantivischen nom. plur.
auf urnord. -aiR gibt es nicht, wir verstehn *blindaiR ohne
1 einmal as. mahligro, Sievers Beitr. 5, 83. das ahd. allein beweist
hier übrigens nichts; Notker hat noch abstracta wie bemeineda mit als e
bewahrtem ?, vgl. Sievers aao. 89 ff.
31 S NECKEL
weiteres, wenn wir von einem alten paradigma blindai —
HlindaiRe (*blindaiRö) — blindaim ausgehe (vgl. ai. sdrve, sdr-
veshdm, sdrvebhyas). das R ist in den nom. gedrungen, wie um-
gekehrt in fallen wie erlr, ertra in den gen. dabei werden
allerdings die substantivischen nom. pl. mitgewirkt haben, und
zwar durch Vermittlung des Femininums *blindöR; aber sie allein
hatten ein -aiR nicht herbeiführen können.
Halten wir daran fest, dass die westgerm. formen auf ai,
nicht auf i weisen — das ae. kann wie das nord. synkopiert
haben (vgl. Sievers Beitr. 5, 74) — so erhalten wir ein urgerm.
paradigma mit ai in allen hierher gehörigen formen, ein solches
paradigma ist an sich wahrscheinlich, der plural hatte von an-
fang an die besten aussiebten, vorbildlich zu werden, denn nur
hier greifen die anformen auch in das masc. und ntr. hinüber:
blindaize, blindaizö, blindaim waren sicher bei weitem häufiger
als *blindizös, *blindizai. dieselbe entwicklung zeigt das pro-
nomen : an. peirar, peiri, ae. paire nach peira, pdra. durch-
gehnde ae-formen setzt auch das got. voraus, mau begreift näm-
lich die rückkehr des got. dativs blindai zur nominalflexion kaum,
wenn man die Vorstufe *blindizai annimmt, letztere form hätte
mit gibai , maujai, anstai in ebenso gutem einklang gestanden
wie *blindizös, blindaizös mit gibös, maujds. und doch soll nur
der gen. seine längere, vom nom. abweichende form bewahrt
haben, während der dat. den nomina vollends angeglichen wurde,
denken wir uns dagegen ein *blindaizai , so enthielt diese Form
das charakteristische dativ-ai' zweimal, und es konnte durch
eine art haplologie Verkürzung zu blindai eintreten. — der von
Sievers Beitr. 2, 111 als analogon angeführte dat. plur. an. ae.
as. blindum verlangt eine besondere beurteilung. im nord. wurde
blindaim (*blindaimiz) zu *blindim und trat dadurch in parallele
mit den /-stammen (got. gastim). als der dat. plur. der «'-stamme
der analogie der consonantischen und andrer flexionen unterlag
(gestumR, torumR auf dem vermutlich um 700 zu setzenden stein
von Stentofta), bekamen auch die adjeetiva die endung -um.
der nominale dat, plur. der nordischen adjeetiva beruht also auf
lautlichem zusammenfall mit einer nominalen endung, und ähn-
liches darf mit Wahrscheinlichkeit auch für das ae. und as. ver-
mutet werden, wo es jedoch, so viel ich sehe, an directen
anhaltspuncten fehlt.
AISL. EDDA 'URGROSSMUTTER' 319
Setzen wir also für das urgerm. starke adjectivum durch-
geh öden ersatz des mittleren i durch ai an, so stell t nicht blofs
an. bh'ndra, sondern auch blindrar, blindri weitere fälle der
synkope des ai dar. bei mehrsilbigen formen wie mikillar ligt
wahrscheinlich nicht rein lautgesetzliche entwicklung vor —
diese hätte «loch wol *miklirar ergehen — sondern es ist die
proportion heil : heillar = mikil : x im spiele gewesen. die iso-
lierten singularformen urn. *häniäöR, *häniRe erscheinen als ein
letzter rest des ursprünglichen, sie waren vor dem eintluss des
plurals durch die Stammverschiedenheit geschützt (aisl. hön .' peer,
hennar : peira).
Es wurde oben angenommen, dass mittleres ai vor kurzer
ultima nordisch zu a wird : daher sagaür «<. *sagaipall. aber im
aschwed. stehn neben saghaper, havaper parlicipia wie doghit,
und got. arbaips erscheint als aisl. erfvSi, aschwed. wrvipi (da-
neben anorw. cerfaüe, aschwed. cervadhe und andre formen),
hier ist also älteres ai bald durch a bald durch i vertreten, es
ist geboten, nach einer gemeinsamen erklärung für alle falle
dieser art zu suchen, beginnen wir mit erfifti. gehn wir von
einem nom. acc. sing, mit synkopiertem i aus, wie die formen
im got. und somit aller Wahrscheinlichkeit nach auch im urnord.
einmal lauteten, so erhalten wir isl. *arfiü(r) wie 2 plur. lifift =
got. libaip. der gen. got. arbaidais und die andern casus mit
langvocalischen endungen ergaben *arfüis usw.; der umlaut
stammt wol aus dem nom. plur. got. arbaideis > *arßis ^>
erßir, wäre übrigens ohne die synkope des ai schwerlich ein-
getreten (das aschwed. kennt auch formen mit ar~). aus den
formen mit und ohne synkope entstand durch contamination der
nom. acc. erftüi nebst der /a-flexion. an sich hätten der gen.
und dat. leichter zu *<?r/ö« führen können, aber der teilweise
zusammenfall der synkopierten casus mit denen von er/3 'be-
erbung' halte zur folge, dass die formen mit bewahrtem vocal
obsiegten, wenn gleichwol die endungen -is, -i ausschlaggebend
wurden, indem sie das wort in die /a-flexion hinüberleiteteu, so
ist der grund jedesfalls der, dass man es als compositum empfand;
schon urgerm. hat sich bekanntlich der typus der zusammen-
bildungen mit -Ja festgesetzt, die a- formen entstanden bei kurz-
vocalischer endung : got. arbaidim, arbeidins. — eine stütze für
die vorgetragene auffassung liefert das wort erfiüi somit nicht.
320 NECKEL AISL. EDDA 'URGROSSMUTTEFV
man kommt hier eben ohne annähme von contaminationen nicht
durch, doch denk ich so viel annehmbar gemacht zu haben,
dass das wort sich der theorie fügt.
Ein interessantes gegenstück zu erfibi bildet das wort ertr
*erbsen' (gen. plur. ertra mit secundär stammhaft gewordenem r).
es kann nicht als bekräfligung dafür dienen, dass as. erit, mhd.
erwiz eine alte ablautform neben ahd. araweiz (arawiz) dar-
stelle (so Noreen Urgerm. lautl. 92), sondern erlaubt herleitung
aus einer grundform *arbait-. der umlaut ist die folge des
Übertritts in die analogie von mgrk, merkr.
Ganz entsprechend wie bei erfvbi müssen wir uns die Vor-
gänge denken, die zu dem adj. erfvSr 'beschwerlich' und den
partic. wie doghit geführt haben, auch hier hat der diphthong
ai schon urnord. in gewissen casus in der ultima gestanden
und ist dann zu i geworden, so im nom. sing. masc. (got.
*dugaips) und besonders ntr. , soweit nämlich letztere form
nominal gebildet wurde, und dies war höchst bemerkenswerter-
weise gerade im ostnord. verhältnismäfsig häufig der fall, zumal
bei participieu (Noreen n 344). wenn im westnord. die parti-
cipia dugat, unat usw. lauten, so hängt das damit zusammen,
dass hier der typus blindata den kürzeren typus blind so gut
wie vollständig verdrängt hat; dugat beruht auf einer *gruudform
*dugaipata, die urnord. noch dreisilbig war, als ursprüngliches
*dugaipam längst auf zwei silben reduciert war. die Wichtigkeit
dieses Unterschiedes erhellt daraus, dass die verben, um die es
sich hier handelt, überwiegend intransitiva sind und das part.
prät. fast ausschliefslich in neutraler form gebrauchen, anders
hgt die sache natürlich bei erfibr, wo auch mit dem einfluss
des substantivums erfifti zu rechnen ist. aschwed. doghit, livit
stehn analogisch für *doghip, *Hvit nach livat udgl., man ver-
gleiche sagp.
In mehreren casus hätte lautgesetzlich synkope eintreten
müssen, doch ist diese theoretische nolwendigkeit wol sicher
ohne praktische folgen geblieben, weil diese casus eben kaum
vorkamen, höchstens das fem. (spgft für *sagfi) mag bei einigen
verben eine rolle gespielt haben, i. a. beruht die synkope in
den participien der a?-classe, wie oben hervorgehoben, auf dem
muster des Präteritums.
Breslau, 5. october 1906. G. NECKEL.
HANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCHAFT.
1 CAP1TEL. DIE LITTERATUR.
Der mittelalterliche Zeichner, der zu ende des 12 jh.s den
prächtigen codex des grafen Sihoto vFalkensiein mit illustrationen
versah, inalte neben dem capitel 'de cyrografo' auf fol. 2a an den
rand eine offene, flache band, die nach dem texte hinweist, in
dieser Zeichnung finden wir den ersten, schüchternen versuch,
das Jahrhunderte hindurch viel umstrittene wort hantgemahele
wenigstens nach seinem ersten bestandteil etymologisch zu erklären.
Im zweiten viertel des 14 jh.s tritt ein zweiter interpret auf,
Johann vBuch, der glossator des Sachsenspiegels, der zu III 26
hemerkt : hantmal dat is dat gerkhte, dar he schepen tu is eder
wesen scholde .... unde het darumme syn hantgemal, dat he eder
syne olderen met der hant up dy hilgen tu deme rechte gesworeti
hebben unde dat sy des noch mal hebben, dat is warteiken, an
deine stule, dar sy up hir mede schepen sin. — ihm folgen die
glosseu zum Weichbildrecht (14 jh., ed. Zobel, 1589, hl. Lxvba)
und zum niederländischen Sachsenspiegel (15 jh.) in wörtlicher
Übereinstimmung.
Als die deutschen gelehrten vom 16 jh. ab sich wider dem
Studium des Sachsenspiegels widmeten, suchten sie auch den be-
griff des haudgemals festzulegen und etymologisch zu erklären,
wobei sie meist auf die alte glosse zurückgriffen. Christoph
Zobel, der herausgeber des Sachsenspiegels (1535 und 1537),
übersetzte im glossar : forum competens unius cuiusque, und er-
klarte es von der schwörenden hand und vom mahl = Gerichts-
stand, seine auffassung teilten JGWachter (Glossar. German.,
1737, s. v. mahl), ChrGHaltaus (Glossar. Germanic. medii aevi,
1758, s. v. handyemal) und Scherz-Oberlin (Glossar. Germanic. med.
aevi, bd i, 1781, s. v. handgemahl). demgegenüber hatten Schilter-
Scherz im Thesaurus aut. Teut. (bd in, glossar, 1728) das wort mal
dem alten mallus, gerichtsplatz, gleichgesetzt und die hand als die
gewaltige, mächtige, erklärt, sie übersetzten also : 'mallus juris-
diclionis, de jure et sede scabinali'. ihnen folgte nur ChrUGrupen
Deutsche altert, d. sächs. u. schwäb. land- u. lehnr., 1746, p. 91sqq.
Diese beiden etymologieen, die -mal entweder mit dem ahd.
mal 'zeichen' oder dem lat.-fränk. mallus 'gericht' zusammen-
brachten, waren es bis in die mitte des 19 jh.s allein, die den
Z. F. D. A. XLIX. i\. F. XXXVII. 21
322 SCHÖNHOFF
begriff des handgemals erklären sollten, indessen fügte Andreas
Schmeller zu der bisher allein bekannten Sachsenspiegel-steile
im jähre 1828 (Bayerisches Wörterbuch u s. 560 f) noch zwei
stellen aus den Monumenta Boica vu 434 (codex Falkensteiueusis)
und xiv 361 (Rihni), sowie aus dem damals noch ungedruckten
Windberger psalter : hantgemahele, testamentum, und im jähre 1840
(Glossar zum Heliand) die drei stellen der altsächsischen bibel-
dichtung und eine glosse aus einem codex Emmeram. : hant-
gemehele, mundiburdium. im Glossar zum Heliand (s. 74 s. v.
mahal) übernahm er Zobels alte Übersetzung 'forum competens'
aus dem Sachsenspiegel auch für den Heliand1. — 1849 u. folg.
wurden durch Mafsmanns und Diemers gleichzeitige ausgaben
der Kaiserchronik, 1849 durch Diemers ausgäbe der Vorauer
Genesis (in den Deutschen gedienten des 11 und 12 jh.s) neue
Zeugnisse für die weitere Verbreitung des handgemals bekannt.
JosDiemer aao. (anm. s. 10 zu z. 3) erklärte das hantgemahele
der Genesis als handmahl, versprechen, vom got. meljan, scri-
bere, während Schmeller aao. das wort entschieden zum ahd.
mahal 'concio, pactio' zog. nachdem endlich Chabert in den
Denkschriften der Wiener akademie 1852, bd. 4, s. 4 noch das
vorkommen des handgemals aus Kleimayrns Nachrichten der
gegenden und Stadt Juvavia (Salzburg 1784, dipl. anh. s. 145 —
146. 155 — 156. 175 — 176; ohne das wort selbst 194) nachgewiesen
hatte, stellte im selben jähre 1852 der Jurist GHomeyer in der
classischen schritt 'Über die heimat nach altdeutschem recht,
insbesondere über das hantgemal' (Berlin 1852; Sonderdruck
aus den Abhandlungen der Berliner akademie, phil.-hist. cl.,
s. 17 — 104) die bedeutung dieses interessanten rechtsinstitutes aus
den verschiedenen quellen fest — ohne' rücksicht auf die mannig-
fachen namensformen, zu den schon bekannten stellen fügte er
noch s. 56 die beiden extravaganten der Lex Salica hinzu (zu-
erst gedruckt 1846, dann in Merkels Lex Salica 1850), sowie
Parzival 6, 19. bekanntlich sieht er als ausgangspuncl des hand-
gemals ein handzeichen des freien besitzers an, das an dem grund-
eigen haftet (hausmarke) und seinem herru die freiheit garantiert.
Homeyers darstellung des tatbestandes ist (aufser für den
Sachsenspiegel) mit einigen modificationen bis auf den heutigen
1 diese Übersetzung bietet nach ihm OSchade Altdeutsches Wörter-
buch s. v. handmahal.
HANDGEMAL UND SCHWUBBBUDERSCHAFT 323
tag als endgültig angesehen worden; auch gegen seine sprach-
liche herleitung hat man von Seiten der deutschen Sprachwissenschaft
last keine einwendungen erhoben, obgleich schon im jähre 1856
Gustav Eschmanu (f 1906 als Oberlehrer a. d. in Bürgst ein fürt)
in der 6 these hinter seiner Bonner disserlation * behauptete : 'quam
Homeyerus statuerit vocis handgemal interpretationein cum forma
saxouica handmahal aut mesotheotisca hantgemahele nequaquam
convenire'. Eschmanns einwand blieb aber weiteren kreisen un-
bekannt, und nur gegen Homeyers theorie über das handgemal
im Sachsenspiegel traten nach mehr als 30 jähren Zallinger, Wittich
und Heck mit neuen hypothesen auf. inzwischen hatte GWaitz
(Deutsche verf.-gesch. bd iv [1861] s. 282, 1) die stelle Juvavia
194 (partem unam pro libertate tuenda), die Chabert bereits an-
geführt, llomeyer aber übergangen hatte, von neuem ans licht
gezogen, und JStrnadt (Reuerbach [1868] s. 43) noch aus einem
urbar von 1608 ein handtgemähl nachgewiesen (angeführt bei
Sigmund Adler Zur rechtsgesch. des adeligen grundbes. in Öster-
reich [Leipzig 1902] s. 12 fufsn. 2). 1870 meinte Waitz in den
Urkunden zur deulschen Verfassungsgeschichte (s. 39 — 45, später
in der Verf.-gesch. v, 2 auf). [1893] s. 509—515) das handgemal
in einer reihe von deutschen urkundlichen quellen widerzufinden,
wo aber meist nur von freiem stammgut die rede ist; mit Sicher-
heit wenigstens kann keine der dort angeführten stellen auf das
handgemal bezogen werden, zu dem anthmallus der Lex Salica
brachte eine neue erklärung 1871 RudSohm Altdeutsche reichs-
und gerichts- Verfassung i 316 ff. auch Zöpfl in der recen-
sion von Homeyers Haus- und hofmarkeu (Rerlin 1870), in den
Heidelberger Jahrbüchern 64, 161 ff (janre- 1871), lieferte zum
anthmallus (s. 179 ff) wie zum Sachsenspiegel (s. 175 ff) mehr-
fache anregungen; nach Waitz (Verf.-gesch. iv) machte er s. 174
von neuem auf das handgemal des Luidolf (Juvavia s. 194) auf-
merksam (auch Quilzmann Oberbayer, archiv 32 bd 1873, s. 118
und Stobbe Zs. f. deutsche rgesch. 15, 329). 1880 folgte die
authentische ausgäbe des codex Falkenstein, durch Hans Petz
(Drei bayr. traditionsbücher aus dem 12 jh., München, i), die end-
lich die la. hantgemalehe feststellte; die Mon. Boica hatten hant-
gemalchen gelesen, was schon Schmeller (aao.) in hantgemahele
hatte bessern wollen, ein neues handgemal wollte 1885 AHeusler
1 Ad linguae Germanicae historiam symbolae.
21*
324 SCHÖNHOFF
Institutionen des deutschen privat rechts i 232 u. 17 in dem
gemeinsamen besitz des Scheyrischen geschlechtes erblicken,
der bürg Scheyern, die 1119 dem Benedictinerorden als kloster
eingeräumt wurde. HGGengler Beiträge zur rechtsgeschichte
Bayerns, 1 heft (Erl. u. Lpz. 1889) s. 135 ff nahm diese Ver-
mutung auf und suchte die hypothese weiter auszubauen, neuere
lorscher sind dann auf dies interessante capitel anscheinend nicht
zurückgekommen, dagegen wies ALuschin vEbengreuth Öster-
reichische reichsgeschichte (Bamberg 1896) s. 79, 30, zum letzten
male auf das handgemal des Luidolf hin, und 1899 machte Ernst
Mayer Deutsche und franz. verfassuugsgesch. vom 9 bis zum
14 jh., bd 1 s. 47, 139 aus einem oberbairischen urbar um
1280 (Mon. boica xxxvi 1, s. 135 0) ein hantgemahil in Argolt-
zingen namhaft.
Besonders durch OvZallingerDie schöffenbarfreien des Sachsen-
spiegels (Innsbruck 1887) und PhHeck Der Sachsenspiegel und
die stände der freien (Halle 1905; über das handgemal s. 500 — 515)
wurde die frage nach dem stände der schöffenbarfreien und der
bedeutung des handgemals im Sachsenspiegel wider in fluss ge-
bracht, bis durch die beiden publicationen von WWittich und
PhHeck in Belows Vierteljahrschr. für social- und Wirtschafts-
geschichte ! ein vorläufiger stillstaud eingetreten ist, da beide
entgegengesetzte theorieen vertreten : Wittich setzt an stelle von
Homeyers ständischem geschlechtsgut das ständische einzelgut,
Heck das historische stammgut. durch diese discussion angeregt,
erschien dann ende 1906 in dem Archiv für culturgeschichte bd 4,
s. 393 — 402 die abhaudlung von Aloys Meister Zur deutung
des hantgemal, die, freilich unvollständig, ähnlich wie Homeyer
das inzwischen erweiterte material zusammenstellt und handmahal
und hantgemdl wider vom ahd. mal 'zeichen' trennt.
2 CAPITEL. DAS SPRACHLICHE.
Übersicht über die sprachlichen formen für handgemal2.
A. anthmallus.
i. Zwei extravaganten zur Lex Salica (Karl, rechlsbuch
C) im codex 33 des domcapitels von Ivrea. — 9 jh.
(Amedeo Peyron in Memorie della R. accademia
1 bd 4, s. 1 — 127 : Witticli Allfreiheit und dienstbarkeit des uradels
in Niedersachsen (auch als buch erschienen); ebda s. 356 — 364 : PhHeck
Die neue hantgemallheorie Wittichs. 2 * fehlt bei Homeyer, f bei Meister.
HANDGEMAL UND SCIIVVURBRUDERSCHAFT 325
delle scienze di Torino, 1846, p. 129 IT. JohMerkel
Lex Salica, 1850, s. 99 IT. JFrBehrend, Lex Salica,
2 aufl. von RBehrend, 1897, s. 165 ff).
B. handmahal, — gemdl (mudd.); — gimahili, — gemdhel(e).
a. Niederdeutsch.
n. Heliand v. 346 Mon. Colt. 360 Mon. 4127 Mon. Cott.:
handmahal. — 9 jh.
in. Sachsenspiegel i 51 § 4. m 26 § 2 (und glosse);
29 § 1 (u. gl.) : hantgemal, GL auch hantmal. —
13 jh. darnach:
•fina. Spiegel deutscher leute 1, 243 (ed. Ficker s. 129)
= Ssp. in 29 § 1 : hant gemal. — mitte des 13 jh.s.
tmb. Distinctionen iv 23 dist. 16 (ed. Ortloff s. 231) =
Ssp. i 51 § 4: hantgemal. — 14 jh.
-j-inc. Weichbild art. 33 (ed. Zobel bl. Lxva2) = Ssp. m
29 § 1 (und glosse) : handmal. — 14 jh.
find. Niederl. Sassenspiegel i 89, 159 (und glosse) =
Ssp. m 26 § 2; i 89, 160 = Ssp. m 29 § 1 : hant-
ghemael. — 15 jh.
ß. Hochdeutsch.
iv. Juvavia 155: hantkimahili (1. hantkimahili). — Gagan-
hard, 925.
v. Juvavia 175: hantkimahili. — Odalhard, 935.
weiterhin mit bewahrung des a:
vi. Mon. Boica vn 434; Cod. Falkenstein, fol. 2 a (ed.
Petz s. 3) : hantgemalehe (1. hantgemahele). — 1180
bezw. 1193.
vii. Diemer Deutsche gedichte des 11 und 12 jh.s, s. 15, 3:
hantgemahele. — Vorauer Genesis, hs. um 1163 — 1185.
-j-viu. Windberger psalter (ed. Graff) 24, 17 : hantgemahele.
— 1187.
•fix. Münchener hs. des Parzival (ed. Lachmann 6, 19) :
hantgemahele.
fx. Schwabenspiegel ed. Wackernagel 402, 5 = Ssp. i
51 § 4 : hantgemahel. — um 1273—1282.
mit ä (e) :
fxi. Ahd. glossen iv 342, 1 — 2 : hantgemehele. — Cod.
Emmeram. (München, Clm. 14 628), 12 jh.
326 SCHÖNHOFF
*xn. Mon. Boica xxxvi 1, 235 : hanlgemaehü. — scherge
von Schneitsee 1280 (Oberbair. urbar).
fxiu. Münchener hs. (2) der Kaiserchronik (ed. EdwSchröder
v. 7142): hant gemähel. — aus SNicola bei Passau,
14 jh.
fxiv. eine hs. des Parzival (s. oben ix) : hantgemcehel.
*fxv. JulStrnadt i Peuerbach. ein rechtsbist, versuch (Linz
1868) s. 43 n. 2 : handtgemäkl. — Peuerbacher urbar
von 1598—1608.
C. -gimäli, -gemcele, -gemcelde.
xvi. Mon. Boica xiv 361 ; Juvavia 145 : hantgimali. —
Rihni, 927.
xvn. Kaiserchronik (ed. Schröder v. 7142) : hantgemcele. —
nach derVorauer hs. (vgl.vn); gedichtet bald nach 1147.
xviii. Parzival ed. Lachmann 6, 19 : hantgemcelde (SGaller
hs. : -gemeide). — um 1204.
fxix Wolfenbütteler hs. der Kaiserchronik (oben xm und
xvn) : hant gemeld. — 14 jh.
Wenn wir von dem ersten componenten des wortes hand-
gemal (auch anth- in nr i ist nur die romanische Schreibweise
für hanlh-) abseben , so tritt uns der zweite bestandteil schon
in alter zeit in drei verschiedenen lautformen entgegen : -mallus
(nr i), -mahal, -mahili (n — xv) und -mdli (xvi — xix). das
fränk.-Iatein. mallus ist schon früh als lautverwaut mit dem
got. mapl, ahd. mahal erkannt worden, und seit JGrimm galt
-die entwicklungsreibe mapl ^> mal (wie altnord. mal und möl,
und lat. mallus) > mahal. — das 11 in mallus erklärte zuerst
richtig ESievers ldg. furschungen 4, 335 — 340 als aus dl ent-
standen; er setzte als grundform ein german. *madläm neben
dem herschenden *mäplam an. auch das Verhältnis des ahd.
mahal (anord. mal, aengl. mcedel) zum got. mapl stellte Sievers
Beitr. 5, 531 — 535 fest, german. pl wird darnach im inlaut zu
yl (hl), das in den nordgermau. sprachen weiter in stimmloses l
übergeht unter deiiuung des voraufgehnden vocales (anord. nöl
'nadel' aus *neplö; mcela 'sprechen' zu got. mapljan); im ahd.
und alts. entwickelt sich wenigstens teilweise ein hl (ahd. alts.
mahal). das altengl. erhält das pl durchgehends (mcedel, nddl usw.).
1 Strnadt bezieht das handtgemäkl auf das asylrecht (pro übertäte
tuenda, Juvavia s. 194).
HANDGEMAL UND SCHWURßRUDERSCHAFT 327
das altniederfränk. {ndlda 'nadel' aus *nahalda) und allfries.
(nelda) kennen anscheinend nur hl, doch tritt im mal. auch ein
madelare = 'zaakwaarnemer' (Mul. wörterb. iv 945) auf, wie
ahd. Madal- in eigennamen (Forstemanu i 920 h°). neben mahal
ist ahd. ndlda (Tatian 106, 4), rnndd. ndlde (Sachsensp. i 24, 3;
Kilian und Dieffenh.) der einzige beleg für den deutschen laul-
wandel pl ^> hl1, sonst erscheint immer -thal und -dal,
ahd. wedil 'schweif (anord. vele), alts. tanstuthlia 'zahnreihe'
(anord. stäl 'parenthet. satz in einer halbsirophe'), bodlös n. pl.
häuser (anord. bot).
Diese lautgesetze stellen die identität des fränk.-latein.
anthmallns und des altsächs. handmahal aufser jeden zweifei.
die ahd. form -gimahili (german. *-gamapliam) weist als svara-
bhaktivocal ein i auf gegenüber dem a in mahal (aus *mahl),
beeinflusst durch das i der endsilbe; vom 12 jh. ab dringt
auch hier der (secundäre) /-umlaut durch, der bislang durch das
unmittelbar voraufgehude h verhindert worden war. secun-
därer t-umlaut wird meist d geschrieben (xii — xv), seltener e
(xi), daneben bleibt auch das alte a unverändert erhalten (vi — x).
— das hantgemdl des Sachsenspiegels (in) und der von ihm ab-
geleiteten darstellungen . ist die lautgesetzliche fortsetzung des
altsächs. handmahal] schon in altsächs. deukmälern schwindet
intervocal. h unter dehnung des voraufgehnden vocals, zb. sld
'schlag' (Eltener glossen), mdl 'iusticia ac census' (Heliand:
mahal; Urkunde Ottos i von 959 in MGDiplI. i 205).
Eine eingehndere besprechung erheischt ahd. hantgimdli
(Juvavia 145), mhd. hantgemcele. da ein ahd. -aha- (mhd.
•ahe-) auf bajuvarischem boden erst im ausgange des mittel-
alters zu d contrahiert wird, legte diese abweichende form die
verwautschaft mit ahd. mdl sehr nahe. in der recension von
Sievers Tatian, 2 aull. (Anz. xix [1893] 235 — 244) wies nun
RKögel, an das tatianische sinu (aus sih-nu) anknüpfend, aao.
s. 244 zuerst nach, dass german. h vor /, r, n, w auch im inlaute,
selbst in der composilionsfuge schwinde. neben ahd. fihala
steht fila 'feile', neben uuihrouch (anal, nach uuih) unirouch,
1 nnl. naald, groning. nal, nalle (aus nälde), drenth. naold (Moleina
Groning. wb. 275), nordemsländ. und bentheim. nule beweisen, dass das
niederländische als der ausgangspunct für diese worlfonn anzusehen ist.
32S SCHÖNHOFF
ueben Hhlauui 'cieatrix' likwi (Ahd. gloss. iv 258, 3 aus dem
12 jh.); selbst h aus ch (germ. k) schwindet öfters, zb. chir-
uuarta 'ecclesiarum provisores' (Ahd. gloss. n 342, 9). auch
an unserer stelle findet sich ein beleg für dies lautgesetz: neben
Rihni (i. e. Rich-ni) wird auch Rhini (Juv. 145) geschrieben,
demnach stellt ein ahd. -gimdli aus -gimahli die natürliche
fortsetzung des german. *-gamapliam dar, während ein -gima-
hili nur durch analogische entwicklung eines svarabhaktivokals
(der in tnahal lautgeselzlich eintrat) sein h intact erhielt, ahd.
-gimdli muste zu mhd. -gemcele werden, wie ein voraus-
zusetzendes -gimdlidi mit angehängtem ■ ipi - suiiix die Vorstufe
des Wolframschen -gemalde bildet.
Was ist nun die ursprüngliche bedeutung von *-gamapliam!
— got. mapl n. (Marc. 7, 4) übersetzt das griech. dyoqcc (lat.
forum, Tatian 84, 4 strdza), 'kaufmarkt'. — ahd. mahal ist in
den glossen contio1 (9 jh. Ahd. glossen ii 260, 12; 11 jh.
Tegernseer codex, aao. i 368, 29); pactum (8 jh. Keron. glossen,
i 256, 19; 9—10 jh. Reichenauer hs., ii 349, 1); pactio
0 225, 16); foedus (nuptiarum, n 147, 30) und forum (niederd.
10 jh., Oxforder Vergilglossen, n 717, 58). auch der SPetrier
codex (Glosse zur lex Ripuaria tit. 36 § 11, Ahd. gl. ii 354, 7)
meint wol den gesamten kaufverlrag, wenn er die worte :
'spatham2 cum scogilo pro 7. solid, tribuat. spatham absque
scogilo pro tribus solidis tribuat' — mit mahal glossiert. —
im Heliand v. 1312 (Moo.), 2891 (Mon.), 3834 und 4710 (Cott.)
kann mahal überall Versammlung (concio, samenunga, Gloss. i
473, 22. iv 272, 14) bedeuten, obgleich Brunner Rechtsgesch.
i 144 in v. 1312 gerichtstätte, Rückert in v. 2891 gericht über-
setzt, diese bedeutung hat das wort sicherlich im Muspilli v. 31.
63 uud im lied vom hl. Georg (Georio fuor ze malo). an letzterer
stelle findet sich wider ein beleg für das Kogelsche geselz :
*mahl >> mahal, *mahlö (instrum.) > mdlu{o). wenn Muspilli
v. 61 ze demo mahale lautet, so ist dies eben eine analog, neu-
schöpfung nach dem nomiuativ. — in den Edden ist mal in der
bedeutung 'gericht' nirgendwo überliefert; spräche, rede, wort,
1 auch mallus wird als Übersetzung von concio gegeben. MGScr
rer. Meroving. iv 165, 1 ff.
2 spata twert. Gloss. m 258, 2. 289, 12. 309, 12. 623, 8 u. ö. 668, 26.
zu scogilum (scheide) vergl. alts. sköh 'schuh'.
HANDGEMAL UIND SCHWURBRUDERSCHAFT 329
beratung, spruch in gebundener rede, Vortrag sind die gewöhn-
lichen Übersetzungen, der plur. möl ist gedieht, Lied.
Denselben bedeutungsinhalt zeigt das zugehörige verbum got.
mapljan (Joh. 14, 30 Xalelv, loqui; Tatian 167, 7 sprehhan);
mapleins (Juli. 8, 43) ist lalia (loquela; Tat. 131, 18 sprdhha);
fauramapieis = ccq%cov u. ä. (Matth. 9, 34; Luc. 8, 41 u. a.).
neben altnord. mwla 'sprechen' steht alts. mahlian, gimahlien
Micere, loqui, confiteri' (Heliand v. 139. 165. 914 u. ö. = Luc. 1,
18. 20. Joh. 1,20; dixit, gimdlda, Coli. v. 3993, Joh. 10, 16).
im Hildebrandsliede : Hillibrant gimahalta; in deu glosseu paclus
gimahlida (n 718, 37; vgl. ir 16, 34; 407, 5. 467, 27); hei
INotker mälön 'arguere' (Ps. 49, 8 im Cod. Sangall.; der Cod.
Vindob. hat an dieser stelle frdgen).
Das übereinstimmende Zeugnis des got., anord., ahd. und alts.
beweist, dass wir in dem german. *maplam eine, etwa rhythmisch
gegliederte und mit starkem accente vorgetragene rede zu sehen
haben, wie sie der thinggenosse bei der volksversammluüg zu
halten pflegte, in den Edden ist aus der poetischen seite dieser
ursprünglichen bedeutung das mal 'vers, Strophe' und die möl
'gedieht, lied' erwachsen, im ahd. und alts. die Volksversammlung,
das volksgericht ] überhaupt, daneben auch (wie im got.) wegen
des innigen Zusammenhanges von Volksversammlung und markt
der kaufmarkt, forum. — Leo Meyer Die got. spräche § 344,
s. 402 verglich zuerst das aind. manlram 'Zauberspruch', man-
trayati 'berät, spricht' (awest. mqOra 'wort, heiliges worl')^
das sich mit dem german. *maplam in der gemeinsamen be-
deutung 'rhythmisch gebaute, pathetische rede' zusammenfindet,
die lautliche form (aind. mantram geht etwa auf *montlom, got.
mapl auf *motlom zurück) macht dagegen Schwierigkeiten, die
man zt. aus dem wege schafft, wenn man aind. mantram von
manas (griech. (xevog) trejint und statt dessen zur wurzel me
'messen' stellt2. —
1 mahal ist über die ahd. zeit hinaus nicht mehr gangbar in der deutschen
Sprache, an seine stelle tritt das ding (got. peihs = %qövos, xaigöq, urver-
want mit latein. lempus; langobard. Ihinx), das, wie mahal die rede auf
der Versammlung, ursprünglich nur den zeitpunet des gerichtes bezeichnete. —
mallum dinc Ahd. gloss. m 124, 41. 209, 50.
2 lat. mo-dius, griech. fie-roor, (ti-di/tvos, got. mi-tan ; latein. me-liri\
griech. //>,'»', got. mena, lat. mensis; got. mels zeigen ebenso mannigfache
suflixe wie aind. ma-nlram, got. ma-pl.
330 SCHÖNHOFF
Um das resultat kurz zusammenzufassen, so ist germ.
*-£amapliam, ahd. gimahili, gimdli der Inhalt einer rede, eines
Vertrages, der etwa auf einer Volksversammlung (mahal) geschlossen
wurde; bei dieser deulung bleibt kein Zweifel, dass der erste
component des handgemals (wie schon der glossator des Sachsen-
spiegels will) hier nur die schwörende hand bezeichnen kann,
die als wichtigstes glied des menschlichen körpers symbolisch
den vertrag bekräftigt und seine erfüllung garantiert, noch der
Windberger psalter (1187; oben nr vih) fasst das handgemal in
diesem sinne (testamentum = bundesvertrag; Notker ps. 82, 6 :
ioh iegelich kezumft ioh einunga heizzet testamentum. Also iacob
unde laban testamentum {des einunga) taten, daz sie ioh Jebinde
uueren solton); und der codex Falkenstein. (1180; oben nr vi)
spricht klar und deutlich von dem cyrographum (in glossen:
hantfesti, hantgiscrip), quod teutonica lingua hantgemahele voca-
tur, also einem schriftlich niedergelegten bundesvertrag über den
gemeinsamen besitz (tiobilis viri mansus). im einzelnen vgl. die
betr. abschnitte im dritten capitel.
3 CAPITEL. DAS SACHLICHE.
Das handgemal — um die mannigfachen gestalten des namens
in dieser durch den Sachsenspiegel berühmt gewordenen form zu-
sammenzufassen — tritt vom 9 bis zum 13 jh. in drei verschiedenen
landschaflen auf : in Oberitalien, Baiern südlich der Donau und
Sachsen, speciell Ostfalen. festere wurzeln hat es nur in Ober-
baiern und Salzburg geschlagen, denn das sächsische handgemal
ist nur dadurch in den Vordergrund des historischen interesses
getreten, dass Eike vRepgow diesem institut einen bevorzugten
platz in seinem Sachsenspiegel gönnte, im allgemeinen sind die
forscher bei der erklärung des handgemals vom Sachsenspiegel
ausgegangen und haben die übrigen stellen, an denen es erwähnt
wird, nur secundär herangezogen; erst Meister (aao.) strebt eine
individuelle und landschaftliche sonderung an, geht aber dabei
noch immer zu wenig radical vor. der Untersuchung der ein-
zelnen stellen seien hier zum besseren vergleiche die definilioneu
des handgemals von Homeyer, Gengier, vAmira, Adler, Heck und
Wittich vorangestellt.
Homeyer (s. 43 f) definiert es als : 'das freie, mit einem etwa
wehrhaften Wohnsitze versehene grundstück eines vollfreien,
welches als haupt- und stammgut des geschlechtes ungeteilt auf
HANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCI1AFT 331
den ältesten der schwertseite sich vererbt.' — Gengier (aao
i 176; aus d. j. 1889): kdas durch anbringuog der geschlechts-
niarke gekennzeichnete Sondergrundstück, woran für eine lamilie
das allen sippegenosseo , auch den weiblichen, jederzeit zu gute
kommende Zeugnis ihres freienslandes haftete, und welches darum
unveräufserlich, unteilbar und nur im manusstamme vererblich
erschien, so dass in dasselbe lediglich eine individual-erbfolge
mit vorzug des ältesten von der schwertseite platz greifen konnte.'
— vAmira (Pauls Grundriss 2 aufl., in s. 172) : 'Unteilbarkeit und
Vererbung des stammgutes auf den ältesten schwertmagen zeich-
neten .... diejenige erscheinungsform des erbgutes aus, die ... .
als haut gern ahele .... vollfreier uud in der regel ritterbiirtiger
leute auftritt.' — Adler (aao. s. 8; a. d. j. 1902) : 'handgemal,
als das von jeder abhängigkeit freie, insbesondere auch steuer-
freie, oft mit dem Wohnsitze des herrn verbundene dominicalland
eines vollfreien, das vielleicht schon in dieser epoche das wesen
eines stammgutes annimmt.' — Heck (Der Sachsenspiegel s. 504):
'heimat im geschichtlichen sinne, ort der herkunft.' — Wittich
(aao. s. 42. 49) : 'ein minimales bauerngutchen im besitz jedes
geschlechtsgenossen .... die rechtswürkung bestand vor allein
in dem nachweis der schöffenbarkeil , der durch ihren recht-
mäfsigen besitz geführt wurde, und ferner darin, dass sie für
ihren inhaber eine heimat im rechlssinn begründete.' — in ähn-
lichem sinne — meist nach Homeyers definition — wird das
handgemal aufgefasst bei FWalter Deutsche rechtsgesch. (Bonn
1853, § 417, s. 477 0, HZöpfl Deutsche rechtsgesch. (3 aufl.,
Slultg. 1858, s. 320 ff), AQuitzmann Die älteste reichsverfassuug
der Baiwaren (München 1866, s. 40), HSchulze Das erb- und
familienrecht der deutscheu dyuastieen des miltelalters (Halle 1871,
s. 24 — 27. 56), HPetz (aao. s. xxvi), AHeusler Institutionen des
deutschen privalrechts (Leipz. 1885, i 16611), HSiegel Deutsche
rechtsgesch. (2 aufl., Leipz. 1894, s. 12. 57. 424 n. 5. 432 n. 38.
625 n. 9), ELagenpusch Das germanische recht im Heliand
(Breslau 1894, s. 29 — 32) uud wider AHeusler Deutsche Ver-
fassungsgeschichte (Lpz. 1905, s. 165).
i Das handgemal bei den Langobarden.
In zwei extravaganten zum texte C (Karlisch, rechtsb.) der
Lex Salica, die Amedeo Peyron im codex 33 des domcapilels zu
332 SCHÖNHOFF
Ivrea, einem alteu langobardischen herzogssitze, entdeckte, wird
das haudgemal unter dem nameu anthmallus erwähnt (Merkel
s. 99 ff; Behrend2, s. 165 ff), der Schreiber der extravaganten,
die aus dem 9 jh. stammen, fühlt sich als Italiener den Franken
gegenüber (exlr. v : ita tenent Franci. nos tarnen in Italia propter
Hludouuici et Lotharii capüulare ....), w'e schon der fundort
für oberitalischen, dh. langobardischen Ursprung spricht, die zweite
extravagante ist klar : wenn jemand einen andern als seinen
sclaven anspricht, so hat der beklagte, falls er ausländer ist, in
suo anthmallo seine freie geburt nachzuweisen. Si quis quemlibet
mallaverit ad servitium . . . qui in alia regione fuit natus aut
longe infra patria, et ille diät quod ipsius servus non sit et suam
libertatem in suo anthmallo proportare possit, tunc comes faciat
illutn dare uuadium ad suam libertatem proportandam. weun nun
der beklagte keinen eideshelfer stellen kann, so hat ihn der graf
unter bewachung des klägers in anthmallo suo zu führen, dass
er dort seine freiheit nachweise, dann folgen genaue angaben
über die wähl der eideshelfer.
Der text der ersten extravagante ist verderbt, es heifst dort:
Si quis aliquem ad servitium mallaverit, et ille uuadium dederit,
et fideiussorem posuerit, ut l anthmallo legitimos in patria de qua
est festes sue libertatis dare debeat, faciat tunc comes, in cujus
[praesentia mallatio facta est, duas epistolas uno] tenore, et unam
habeat ille qui mallat, alteram similem ille qui mallatur. es folgen
bestimmungen über das erscheinen des klägers ad constitutum.
RSohm (Altdeutsche reichs- und ger.-verf. i 316, note 77) list
anthmallo legilimo , dh. also : wenn jemand einen anderen als
seinen sclaven anspricht, und der beklagte stellt einen eideshelfer,
dass er anthmallo legitimo, in seiner heimat, zeugen für seine
freiheit aufweisen könne, dann hat der graf zwei Urkunden an-
fertigen zu lassen, gleichen Wortlautes, eine soll der kläger, eine
gleichlautende der beklagte erhallen.
Homever erklärte den anthmallus als die durch das stamm-
m
gut bestimmte heimat (ebenso Zöpfl Heidelb. jbb. 64, 179 — 180);
1 nach Peyron (von dem auch die in eck. kl. gesetzte ergänzung
stammt). — Merkel las : aut, was Homeyer (s. 56, note 93) wider in
ut verbesserte, und interpretierte : ut legitimos [in] anthmallo [i. e.] in
patria de qua est, testes Zöpfl will lesen (Heidelbgei jahrb. 64, 179f.):
ut in patria, de qua est, aut aJithmallo
IIANDGEMAL UND SCIIWURimUDERSCHAFT 333
HSulini (aao. s. 318 IT) trennte den anthmallus vom bandgemal
und zog es zu mallus, also 'echte dingslälte = legitimus sui sa-
cramenti locus.' GelTcken Lex Salica, erlaut. 285 fasste es eben-
falls als gericht auf (auch Meister aao. s. 398 und note l)1, da
anthmallo in patria, wenn anthmallus auch heimat wäre, die un-
sinnige bedeutung hätte : in der heimat in der heimat. diese
bemerkuDg ist aber nicht ganz unanfechtbar, da patria (wie Sohm
aao. 316 ff nachweist) hier wie an andern stellen, so im capitu-
lare Ludwigs des frommen (in aliena patria), einfach land be-
deutet, also longe infra patria 'fern im lande', in patria de qua
est 'im lande, aus dem er stammt'.
Aus dem vereinzelten auftreleu des anthmallus in dieser spät-
langob. quelle, wo überdies noch der name selbst eine fränkische
form trägt (dem fränk. mallus entspricht ein langob. mahal), kann
für die bedeutung des wortes mit Sicherheit nichts geschlossen wer-
den, die allgemein angenommene erklärung 'gerichlsstätte' basiert
nur auf der secundären bedeutung des fränk. mallus und der Zobel-
Schmellerscheu Übersetzung 'forum competens' (für Sachsenspiegel
und Heliand). der anthmallus isuus a., a. legitimus), wo der be-
klagte seine freie gehurt nachweisen soll, kann jedesfalls nicht
das heimatland sein, da er iu patria de qua est ligt, also ge-
ringeren umfanges ist. die freie geburt eines mannes war aber
an den freien landbesitz des vaters geknüpft, kann also in unserm
falle nur auf dem väterlichen erbgute nachgewiesen werden, wie
bei dem altsächs. handmahal und den bairischen handgemalstellen
gezeigt werden wird, hat dort das handgemal einen weitern
inhalt als das nodal 'erb- oder stammgul'; ob dies auch hier
zutrifft, ist unklar, möglich ist, dass diese ältere bedeutung für
die vorliegende späte zeit der langobardischen rechtsverhältnisse
schon zu der eines eiufachen stammgutes abgeblasst ist. weiter
aber — bis zur gerichtsslätte, die für den beklagten zuständig
ist — darf aus den extravagauten nichts geschlossen werden.
Ein indirectes Zeugnis für die existenz eines langobardischen
handgemals aus dem 7 jh. wird erst bei gelegenheit der bai-
rischen stellen aufgezeigt werden, da sich zwischen ihm und dem
anthmallus des 9 jh.s keine brücke schlagen lässt.
1 Meister schreibt Sohm fälschlich die Übersetzung 'stammgut' zu,
während dieser nur sagt : wenn anthmallus = hani%ema\ wäre, könnte es nur
'stammgut' bedeuten.
334 SCHÖNHOFF
ii Das ha od genial bei den Sachsen (Thüringern).
Hier kommen vor allem die beiden stellen Heliand v. 346
und 360 (Mon.) in betracht, aus denen mit Sicherheit auf eiuen
grundbesitz geschlossen werden kann, wenn auch in der land-
läufigen Interpretation der umfang desselben falsch bestimmt wird1.
Hei. v. 345 IT:
Hiet man that alla thea elilendiun man iro ödil söhtin,
helidos iro handmahal angegen iro he'rron bodon,
qudmi te them ciiösla gihue, thanan he cunneas icas,
giboran fon them burgiun.
Hei. v. 358 ff:
[Joseph] söhta im thiu wdnamon he'm,
thea bürg an Bethleem, thar iro beidero was
thes helides handmahal endi öc thera helagun thiornun,
Marinn thera gödun.
Joseph und Maria gehören nun nach altdeutschem begriffe
nicht nur zu den freien (gemeinfreien), sondern auch zu den
edelen (nobiles), wie aus der mittelalterlichen lilteratur genugsam
bezeugt ist; zb. Otfrid i 11, 19 ff, an der stelle, die unserer nach
dem inhalte entspricht :
Ein bürg ist thar in laute, thar wdrun io genante
hüs inti wenti zi edilingo henti:
want ira anon wdrun thanana gotes drütthegana, ....
vdHagen Gesamlabenteuer n 331 (niederd.) :
und de edelen vrien
de milden möder Marien.
ebda in 428 : Diu edele und diu frie Maria.
Der lateinische text, der dem Helianddichter an dieser stelle
vorlag (Lucas 2, 4) lautet : ... in civitatem . . . Bethlehem, eo quod
esset de domo et familia David, was Tatian (5, 12) übersetzt:
in Dauidesburg . . . bithiu uuanta her uuas fon huse inti fon
hiuuiske Dauides (hiwisc 'familia!, Glossen m 68,57. 177,42).
das haus David (domus David) ist ebenso wie nach dem heutigen
Sprachgebrauch die dynastie, die sippe Davids, familia = hiwisc die
1 meist wird nach Schindler 'forum competens' übersetzt (auch bei
Meister aao. s. 398). Martin im comm. zu Parzival 6, 19 (s. 17) erklärt schon
richtiger 'heimat'.
HANDGEMAL UND SCHWUKBHUDERSCHAFT 335
hausgenossenschaft'(got. AcJica-'liaus'), die schar der nächsten bluts-
verwanten — ähnlich, nur in umgekehrter reihenfolge, Hei. v. 347:
qudmi te them cnösla gihue, thanan he cunneas was.
denn cunni1 ist die sippe, der weitere stamm, kndsal die engere
familie (Lagenpusch Das german. recht im Heliand [Breslau 1894]
s. 22 f). dem entsprechend stehn sich auch die parallelen öilil
(v. 345) und handmahal (346), wie ciiösal und cunni, als engerer
und weiterer erbbesilz einauder gegenüber, ödil, altengl. edel,
afries. e'thel, ahd. uodal, ist das erb- oder stammgut, über dessen
besitz der eigentümer nur beschränkt verfügen konnte, auf das dem
mannesstamme der familie die Vorhand eingeräumt war. wenn
also das handmahal einen weitern verwantschaftskreis angeht, so
kann es nur der stamm- und erbbesitz mehrerer familien (bzw.
einer sippe) sein, die zum stände der edeln zählten. Joseph und
Maria, deren gemeinsames handmahal (iro beidero was . . . hand-
mahal) in Bethlehem gelegen war, gehörten in der tat wol zu
6iner sippe, aber sie waren doch nicht aus einer hausgemeiu-
schaft, familie, entsprossen.
Die dritte Heliandstelle (v. 4127), deren text in den beiden
handschriften verschieden überliefert ist, weist wenigstens in einer
hinsieht einen klaren sinn auf; dort wird das handgemal des
gesamten Judenvolkes in Jerusalem localisiert, was zu der aus
v. 346 und 360 erschlossenen bedeutung eines sippengutes (bezw.
mehreren familien eigeuen besitzes) aufs trefflichste stimmt,
v. 4125 ff: söhtun im liudi ödra
an Hierusalem, thar Judeono was,
heri endi handmahal'2 endi hööidstedi,
gröt gumskepi grimmaro thioda.
Weder die bedeutung noch die quantität noch der casus
des heri stehn unumsloTslich sicher fest. Grein zog es als »enitiv
sing, appositionell zu Judeono (Germ. 11, 214), er list heri hand-
mahal; Piper folgt ihm in der construclion , list aber heri und
nimmt dies als geniliv der mehrzahl. da aber in diesem falle der
artikel nicht fehlen dürfte (Sievers), so muss heri als nominal,
sing, angesehen werden, ob das e in heri lang oder kurz ist,
1 gmiis chunni; Glossen in 68, 48. 177, 39.
2 conj. von Heyne; Mon. hereo endi handmahal, Coü. hevi huand
mahal. Heyne folgen Rückert und Sievers (vgl. auch Zs. 19, 68). Piper
list : heri handmahal, Behaghel : heri handmahal.
336 SCHÖNHOFF
ist ebenfalls nicht sicher, metrisch ist beides zulässig (FKauff-
manu Zur rhythmik des Heliand ßeitr. 12,283 — 355; besonders
s. 349). heri m. würde menge, umstand bedeuten (Lagenpusch
aao. s. 49ff. 53 ff), heri f. maiestas, magnitudo, magistratus *
(Ahd. glossen n 388,41. 439,17. 491,26. 507,28. 541,70.
5SS, 51. 611, 54), und dies ist Heliand v. 1898 Mon. for thea heri
(= Lucas 12, 11 : ad magistratus), 3526 te theru heri (— Marc.
10, 33 : principibns sacerdolum) , 5413 Cott. thiu heri (Matth.
27, 20 : princeps . . sacerdohim), und 5876 thero heri (Matth.
28. 11 : principibus sacerdotum) mit Sicherheit einzusetzen, höbid-
stedi'2 bezeichnet nach Sievers die residenzstadt (in glossen
toparchas houbitsteti), eher wol, wenn man heri als Volksmenge
auffasst, die hauptstätte, dh. die statte, wo die hauptmasse der
Juden safs, denn in Jerusalem konnte doch nicht die residenz-
stadt sein (thar . . . was . . . heri endi handmahal endi hötidstedi).
aus diesen erwägungen heraus ist zu übersetzen : 'in Jerusalem,
wo der Juden Volksmenge, Stammesbesitz und hauptstätte war,
und eine grofse schar böswilligen volkes', eine Übersetzung, die
weder grammatisch noch inhaltlich anstöfsig ist.
Für das Ostfalen des 9 jh.s, wo höchstwahrscheinlich der
Heliand entstand, kann also das handmahal definiert werden als
gemeinsames erbeigen mehrerer edlen familien, die vielleicht im
sippenverband standen und ihre edel-freie herkunft aus diesem
ihrem besitze beweisen konnten — wenn damals wie bei den
Langobarden und vielleicht auch im Sachsenspiegel diese gewohn-
heit juristisch festlag.
Die auffassung des Sachsenspiegels, der nicht weit von der
wahrscheinlichen heimat des Heliand zu hause ist, wird sich von
der eben entwickelten bedeutung schwerlich stark entfernt haben,
charakteristisch ist nur, dass an stelle der edlen, dh. der freien
(ritterbürtigen) herren, die vielleicht im Heliand nur zufällig ein-
geführt waren (beim langob. handgemal kommen ja nur freie
überhaupt in belracht), hier der gemeinfreie, der schepenbar vri
1 zu der letzten bedeutung kann man eine ganz ähnliche stelle Hei.
v. 4214 ff vergleichen:
innan Hierusalem, thar Judeono uuas
hetelic hardburi (= magistratus; Glossen I 207, 12).
2 Wittich list hier hobistedi 'hofesstätte'; ist das absichtlich, also con-
jectur? oder nur ein lesefehler? — das letztere ist wahrscheinlicher.
HANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCHAFT 337
man als hesitzer oder anteilhaber des handgemals erscheint, dann
auch tritt hier die bezieht! Dg des handgemals zum zuständigen
gerichte — ähnlich wie in der langohardischen extravagante —
stark hervor, wie sie im Heliand noch völlig latent ist. oh nun im
einzelnen die auffassung Hecks oder Witlichs die zutreffende ist,
kann dahingestellt bleiben, sicher ist, dass das handgemal des
Sachsenspiegels — weil später als der Heliand — eine weitere
entwickhing desselben darstellt; wie weit diese im 13 jh. bereits
gegangen ist, ob noch geschlechtsgut nach Homeyer (legitimations-
deutun»), oder bereits einzelgut nach Wittich (viudicationsdeutung)
oder einfach heimat nach Heck (hist. deutung), kann nur durch die
eingehnde erforschung der damaligen rechtsverhältnisse und die
fruchtbare discussion der fachjjelehrten entschieden werden, da
jede der drei genannten auffassungen nur verschiedene stufen einer
gradlinigen entwicklung darstellt, und alle aus der von mir für
den Heliand ermittelten bedeutung abgeleitet werden können, so
ist hier eine weitere Untersuchung überflüssig. — dem nieder-
deutschen glossator, der, durch den gleichklang der worte mdl
'zeichen' und mdl 'gerichl' geteuscht, eine dementsprechende etymo-
logie (vom Schöffenabzeichen) gibt, war das handgemal offenbar
nicht mehr etwas lebendiges, sondern schon im absterben begriffen.
Die rechtsbücher, die in den fufsstapfen des spieglers wandeln
und das wort hantgemdl von ihm übernommen haben, scheinen
den begriff meist nicht mehr zu kennen (Rechtsbuch nach distinc-
tionen iv 23 dist. 16, ed. FOrtloff s. 231 ff; Magdeburg, weich-
bild ed. ChrZobel art. 33). charakteristisch ist hier das ver-
schiedene verhalten des Deutschen- und Schwabenspiegels, während
dieser für das niederdeutsche hantgemdl das entsprechende hoch-
deutsche hantgemahel einsetzt, behält jener die nordd. form1
bei, ein zeichen, dass sein bearbeiter, der etwa um die mitte des
13 jh.s in Augsburg (Schwaben) schrieb, den begriff nicht kannte,
dem Verfasser des Schwabenspiegels, der vielleicht aus der diöcese
Bamberg stammte und in Baiern oder Schwaben schrieb (s. unten
in Das handgemal bei den Baiern), war dagegen das rechtsinstitut
wenigstens dem namen nach aus hochdeutschen landeu bekannt.
■e*
1 dass es nicht die fortsetzung des ahd. hanlgimdli sein kann, beweist
das Wolframsche hanlgemwlde , Kaiserchron. hantgemcele , mit ihrem um-
laut, die umlauttose form -gemahel verdankt die erhaltung des a eben
dem folgenden k (s. oben 2 cap.).
Z. F. D. Ä. XLIX. N. F. XXXVII. 22
338 SCHÖNHOFF
Zum schluss ist noch die Überschrift zu rechtfertigen : 'das
handgemal bei den Sachsen (Thüringern).' es ist nicht uner-
heblich für die geschichte des handgenials, dass es beide male,
da es auf sächsischem boden vorkommt, dort erscheint, wo die
Sachsen erst nach der Vernichtung des thüringischen reiches im
jähre 531 sich angesiedelt haben (pagus Nortthuringowe Saxoniais).
selbst die — freilich sehr unsichern — stellen aus Urkunden,
die Heck (aao. s. 509. 510) und Wittich (aao. s. 42. 45) aus dem
Hildesheimschen urk.-b. beigebracht haben, beschränken sich fast
ausschliefslich auf Ostfalen. diese bevorzugung eines neueroberten
landesteiles in der erhaltung alter rechtsverhältnisse gegenüber
den erbsilzen der Sachsen im westen und norden weist darauf
hin, dass die Institution des handgemals nicht sowol den Sachsen,
als den von ihnen unterworfenen Thüringern, den enkeln der
Ermunduren, eigen war. dann erklärt sich — wie bei den viel-
gewanderten Langobarden, deren reich im 9 jh. auch schon längst
vernichtet war — sehr leicht die schwache erhaltung des hand-
gemals entgegen dem viel zahlreicheren vorkommen desselben auf
altbairischem gebiete, aber auch seine schnelle bedeutungsent-
wicklung. bezeichnet doch anthmallus sowol wie handmahal und
hantgemdl ausschliefslich einen grundbesitz, während, wie in in
gezeigt werden soll, das bairische hantgemahele in der mehrzahl
der belege noch die alte bedeutung des Vertrages durchblicken
lässt, ja zt. noch (wie im Windbeiger psalter) mit bundesvertrag
übersetzt wird.
in Das handgemal bei den Baiern.
Wie sehr auch Heliaud und Sachsenspiegel das handgemal
in weiten kreisen bekannt gemacht haben, so ist es doch bei
einem anderen stamme zu hause, nämlich bei den Baiern. hier
wird es vom 10 bis zum 14 (17 ?) Jahrhundert oftmals urkundlich
und litterarisch erwähnt, und zwar in einer bedeutuugsentwicklung,
die man gleich von anfang an deutlich verfolgen kann, testa-
mentum, lex, mundiburdium, cyrografum wird es genannt — gleich-
zeitig aber auch im letzten falle nobilis viri mansus und weiterhin
curtilis locus, particula proprietatis und pars una pro libertate
tuenda. erst später tritt es als feodum, noch später als haus
und gärtel auf, und in einem auf römische Verhältnisse über-
tragenen sinne wird ein amphitheater in Rom (spilhtis) zum
hantgemale gerechnet.
HANDGEMAL UND SC11WURBRUDERSCHAFT 339
A. 'Testamentum, lex, mundiburdium, cyrografum.'
An der spitze dieses abschnittes steht billich die versiou
des wortes testamentum mit hantgemahele, die der Windberger *
psalter von 1187 (psalm 24, 17 ed. GralT) bietet, ps. 24, 14:
Firmamentuni est dominus timentibus eum, et testamentum ipsius
ut manifestelur Ulis = Wiudb. ps. : Ein ueste ist der herro den
furhtenten inen, unde daz hantgemaltele sin selbes, daz iz eroff'e-
net werde in.
Die in betracbt kommende stelle übersetzt INotker : unde er
tuöt daz in geöffenot uuerde sin ea die er in beneimda. Du Hamel
merkt zur erklärung des psalmverses an (i 648 fufsn.) : 'Deus
quasi pactum init cum timentibus se . . .' testamentum ist ein
vertrag, nicht nur wie der erblasser ihn zu gunsteu seiner erben
aufsetzt, sondern auch, wie zwei lebende ihn mit einander
schliefsen, wie Augustinus zu ps. 82, 6 bemerkt : testamentum
sane in scripturis non illud solum dicitur quod non vatet, nisi testa-
toribus mortuis : sed omne pactum et placitum testamentum vocabant.
nam Laban et Jacob testamentum fecerunt, quod utique etiam inter
vivos valeret. diese erklärung übernimmt auch Notker (ed. Piper
ii 343) : testamentum . . . einunge. Testamentum heizzet peidiu ioh
daz. daz dir netoüg. dne töten peneimedarin. ioh iegelich kezumft
ioh einunga (placitum) heizzet testamentum. Also iacob unde laban
des e'inwiga täten, daz sie ioh lebinde uueren solton. und zu
ps. 77, 10 schreibt Notker : Si nehuötun Gotes eo. Testamentum
(pineimeda) ist lex. also ouch därföre testimonium (sin ürchunde)2.
man sieht, dass die Übersetzung von hantgemahele im Windberger
psalter durch ;bund, vertrag, vertragsurkuude' genau mit der oben
etymologisch entwickelten bedeutung 'schwurvertrag, pactum' über-
einstimmt.
Die gleichsetzung Notkers (aao.) : Testamentum ist lex wirft
ein klares licht auf die stelle in der Juvavia s. 145, wo es heifst:
excepta lege sua, quod vulgus hantgimali6 vocat. es ist dies in
1 das prämonstratenserkloster Windberg, gestiftet 1141 vom grafen
Adalbert i vBogen und seiner gattin Hedwig, ligt am Bogenbach, nördl.
des Schlosses Bogen, noch im bairischen Donaugau. — Mon. Boica xiv 1 — 110;
Mon. Windbergensia, i teil : Verh. des bist. Vereins für Niederbaiern bd 23
(1884), s. 137—179.
a testamentum und ürchunde setzt Notker auch zu ps. 24, 10 gleich.
3 Mon. Boica xiv 361 lesen hier : hantigimali.
22*
340 SCHÖNHOFF
einer tauschurkunde zwischen erzbischof Uodalbert n von Salz-
burg (923-935) und der edlen frau Rihni, datiert Rohrdorf (im
Chiemgau) vom jähre 924, und Salzburg vom 1 april 927. Rihni
übergab in diesem tauschvertrage dem erzbischof durch ihren
bevollmächtigten Deotrich ihre besitzungeninSeeon, ferner Zeidlarn,
Kirnbach, Pietelbacb, Schönberg, Hörlsheim und Holzhausen1 —
aufser ihrer 'lex', die auf deutsch hantgimali hiefs. reichlich
siud die bislang versuchten erklärungen — Homeyer (aao. s. 18):
'die unter dem namen hantgemal bekannte parlicula und das
daran hängende recht'; AQuitzmann (Oberbayr. archiv 32, 1 1 8 f ) :
'das vom geselze sauctionierte zeichen der vollen Standesfreiheit';
Gengier Ein blick auf das rechtsleben Rayerus unter herzog Otto i
vWittelsbach (Erlangen 1880, s. 8) : 'sein stammrecht'; EMayer
(Verf.-gesch. i 417) : 'berechtigung = markgenossenschaftsrecht';
SAdler (aao. s. 6, note 6) : 'standesrecht i. e. dingliche gruudlage
für dasselbe'. —
Zum rechten Verständnis dieser clausel, die offenbar den
vorbehält eines (vertragsmäfsigen oder urkundlich festgelegten)
rechts 2 darstellt, muss vorerst auf stand und geschlecht der Rihni
eingegangen werden, worauf bislang keine Untersuchung rücksicht
genommen hat3. Homeyer uud seine nachfolger erklärten es
trotz des prädicats 'nobilissima femina\ das ihr in der Urkunde
beigelegt wird, für fraglich, ob sie zu einer edlen familie gehörte
(s. 32, note 36); zu der auffallenden erscheinung, dass eine frau
besitzerin des handgemals war, vermutete Homeyer (s. 43 note 66),
es sei entweder nach schwertmagen an sie gefalleu, oder was
wahrscheinlicher, dass sie aus ihrem früheren besitzt um ein stück
aushob, das ihren stand und ihr heimatsrecht in dem bezirke für
sie und ihre nachkommen festhalten sollte. — die sache ligt völlig
anders. Rihni (auch Rihina genannt) war die gattin des grafen
im Chiemgau Uodalbert (residenz : Rohrdorf?), der von seiner
grafschaft aus 923 auf den erzbischöflicheu stuhl von Salzburg
berufen wurde und nach 12 jähriger regierung, in der er sich
1 wol Grofs-Holzhausen im bezirksamt Rosenheim.
2 der anthmallus legitimus geht sicherlich aus demselben grund-
gedanken hervor.
3 über Rihnis bezw. Uodalberts familie handeln Seb. Dachauer Ober-
bayr. archiv für vaterl. gesch. bd 2 (München 1840), s. 367—369; AQuitz-
mann, ebda bd 32 (1872—1873), s. 104.
HANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCHAFT 341
besonders eifrig um die mehrung des kirchlichen grundhesitzes
und seine arrondierung bemühte, am 14 novemher 935 starb,
er hatte mit seiner gattin zwei söhne : Diotmar (930 'D. filius
Odalberti', Juv. 153. 161; 4D. et filius eius Paldrih', ebda 170;
927 4D. o filio Rihni', ebda 147) und Beruhard (931 'consauguineus
archiepiscopi', ebda 164 f; 931 'Diotmar et Peru hart frater eius',
ebda 165 uö.) — der letztere war schirmvogt der salzburgischen
stiftsgüter im Chiemgau — und drei töchter : Heilrat (verm. mit
dem früh verstorbenen grafen Dietrich zu Tüssling), Alte (verm. mit
dem gaugralen Olachar zu Hohenaschau; nobilis vir 0., verm. mit
Alte, Juv. 162; tochter Rihni, ebda 164) und Susanne (verm. mit
dem grafen Rafolt). aus welchem geschlechte Rihni selbst stammte,
ist nicht bekannt, jedesfalls hatte sie aber eine gleichnamige
Schwester : Rihni monialis (Juv. 160 f, von 938). vor 938 ist
sie gestorben. *
Hieraus folgt, dass Rihni nur dadurch in den besitz der
familiengüter sowie des handgemals gekommen war, dass ihr gatte
durch den nachträglich gewühlten geistlichen stand, durch den er
zu lebzeiten von seiner familie getrennt war, seinen stammbesilz
nicht verwalten konnte, diese aufsergewöhnliche rechtslage legt
freilich einen anderen sinn des wortes lex nahe, nämlich = 'gesetz-
licher anteil', wie er aus den Leges Grimoaldi reg. Langobard.
cap. 5 (MGLeges iv 401 a) erhellt : simililer et si filiae legi-
timae et si filii naturales .... fuerint, habeant legem
suam usw. indessen ist doch die oben gegebene deutung 'lex =»
testamentum' wahrscheinlicher, da sie der Übersetzung hantgimali
eher entspricht, dazu vergleiche man noch die erklärung Augustins
zu ps. 77, 5 (et suscitauit testimonium in lacob et legem posuit in
Israhel) : ila lex et testimonium duo sunt nomina rei unius, was
Notker übernimmt : selbiu diu ea (lex) uuas daz ürchünde (testi-
monium). —
Eine schwierige glosse in einem codex des ehemal. bene-
dictinerklosters SEmmeram zu Regensburg aus dem 12 jh.
(München, cod. latin. 14 628) bringt zu einer stelle im Correclor
des Burchard vWorms (cap. 46 = Burchards Decrete xix 39)
1 MGNecrol. n 14 (nr 35, z. 11), 40 (nr 100, z. 5. 8) und 41 (nr 101,
z. 2) werden im ältesten verbrüderungsbuch von SPeter, 9—10 jh., vier
frauen des namens Rihni verzeichnet.
342 SCHÖNHOFF
ebenfalls unser wort, der betreffende Canon Poeniteut. 1 lautet:
'Rapuisti uxorem tuam et vi sine vohmtate mulieris vel parentum,
in quorum mundiburdio tenebatur, illam adduxisti?' mundiburdio
ist glossiert mit hantgemehele (Ahd. Glossen iv 342, 1 — 2); am
rande steht dann noch : hantgemehele (-hele übergeschrieben) mun-
dicia libertatis. vel liber a Servitute, da rmmdiburdmm, eigent-
lich = tuitio, schütz, vogtei überhaupt, an unserer stelle in der
präcisen bedeutung 'Vormundschaft der eitern' gebraucht ist, kann
der glossator das wort nicht im Zusammenhang des satzes als
hantgemehele aufgefasst haben ; dagegen spricht auch die weit-
läufige anmerkung am rande, die die undeutliche glosse offenbar
erklären soll, mundicia libertatis ist die ungetrübte, unanfecht-
bare freiheit (eig. 'reinheit der freiheit'), wie in der Lex Salica,
2 Variante (ed. Behrend2 s. 166) mundus vom freien in gleicher
bedeutung angewant wird2, der glossator muss aiso mundi-
burdium, das er aufser dem Satzzusammenhang nahm, als schütz
bezw. Schutzurkunde 3 i. e. der freiheit genommen haben, in
diesem sinne freilich scheint mundiburdium in der mittellateinischen
litteratur nicht vorzukommen; wol aber kennt die mittelalterliche
geschichte das mundiburdium als vogtei, gerichtsbarkeit, wie zb. den
Stiftern Salzburg und Passau das mundiburdium, dh. die weltliche
gerichtsbarkeit über ihre Untertanen in Österreich und Steiermark
von Karl dem Dicken und Aruulf (9 jh.) verliehen worden war.
wäre hantgemehele gleich diesem mundiburdium, wofür aber kein
beweis gegeben werden kann, umsoweniger, als die anderen stellen
nicht zu dieser bedeutung stimmen, so könnte hierher vielleicht das
hantgemahele der edlen in der Vorauer Genesis gehören, die
natürlich — im gegensatz zu den gemeinfreien, die nur freien
landbesilz haben — die gerichtsbarkeit ausüben. dass diese
gerichtsbarkeit hier — wie beim anthmallus und mndd. hantgemdl —
hereinspielt, ist wol möglich.
1 FWHWasserschleben Die bufsordnuDgen der abendländ. kirche nebst
einer rechtsgeschichtl. einleitung (Halle 1851) s. 64t.
2 .... si ex paterna genealogia mallatur, adhibeat ex materna
progenie [septem] testes . ... et ex paterna quattuor (und umgekehrt)
[ita ex q]ua parte mundior est, ex ipsa parte plus dabit testes.
3 auch Homeyer (s. 8) stellt mundiburdium mit 'handfeste' gleich,
freilich ohne den Zusammenhang der stelle zu kennen, als beleg führt er
aus iMabillon einen autor des 11 — 12 jh.s an : praecepla vel mundiburdia
magnatum et saecularium potestalum.
HANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCHAFT 343
Während die bislang besprochenen stellen auf bairischem
boden ausschliefslich den vertrag bezw. die vertragsurkunde beim
handgemal betonen, weist der Falkensteiner codex von 1193 bereits
den Übergang zum inhalte des Vertrages, dem gemeinsamen stamm-
besitze, auf. die darslellung dieses wertvollen traditionsbuches
lässt uns einen tieferen blick in das wesen und die bedeutung
des handgemals tun, als es bei den erwähuungen in glossen,
Urkunden und litterarischen Schriftwerken möglich ist; hier setzt
eben der Schreiber beim publicum eine genauere kenntnis voraus,
während graf Siboto vFalkeustein und INeuburg lür die folgezeit
schrieb, also dies rechtsinstitut genauer bezeichnen musste. der
Wortlaut ist folgender (fol. 2a1; Mon. Boica vn 434 ; Drei bair.
traditionsbücher aus dem 12 jh. , festschr. , edd. Hans Petz,
dr Hermann Grauert uud JohMayerhofer, München 1880, s. 3):
De predio libertatis sue notutn sit omnibus, qualiter actum
sit, quomodo illud testimonio optimal coram Ottone palatino situm
apud Giselbach possidendum iure perenni, eo quod senior in
generatione illa videatur. Hnius rei testes sunt : Ruodpreht Wolf
de Pochsberch, Chuono de Megelingin, Pabo de Eringen, Alber de
Brucgeberc1, Sigiboto de Antwrte, Gebehardus comes Hallensis,
Dielricus de Slibingen, Otto de Mösen, Ortolf de Kekingen et alii
nobiles viri shefen scilicet et dinclüte. Acta sunt hec Möringin3.
De cyrografo.
Ne igitur posteros lateat suos cyrographum, quod teutonica
lingua hantgemalehe vocatur, suum videlicet et nepotum suorum
filiorum scilicet sui fratris, ubi situm sit, ut hoc omnibus palam
sit, hie fecit subscribere : cyrographum illud est nobilis viri mansus,
sittus est apud Giselbach in cometia Morsfuorte; et hoc idem
cyrographum obtinent cum eis Hunespergere et Prucchepergere.
Für die Interpretation unseres documentes kommen vor
allem vier stellen in betracht: 1) De cyrografo. Ne igitur pos-
teros lateat suos cyrographum ... — 2) De predio libertatis sue
1 am rande des blatles ist eine offene, flache hand (mit ärmel)
gezeichnet, die nach dem texte hinweist.
2 im codex : Brungeber. — die Verbesserung stammt von FChrHöger
Kleine beitrage zur bestimmung und erklärung der im cod. Falkenst. etc.
vorkommenden personen- und Ortsnamen (progr. Freising, 1882) s. 1
(Brucceberc),
3 etwa um 1180.
344 SCHÖNHOFF
. . . nobilis viri mansus. — 3) sittus est apud Giselbach in cometia
Morsfuorte. — 4) et hoc idem cyrographum oblinent cum eis
[der familie der Falkeosteiner] Hunespergere et Prucchepergere.
die gemeine deutuüg vou 1 und 4, die von Homeyer herstammt
und nach ihm trotz vereinzelten hedenken einiger forscher immer
festgehalten ist, wird sich im verlaufe der Untersuchung als ver-
fehlt herausstellen.
Was ist cyrografum? seiner theorie zu liehe, die das hand-
gemal von der hausmarke ableitete, erklärte es Homeyer für das
handzeichen des grafen vFalkenstein, das an dem nobilis viri
mansus angebracht war und sein eigentumsrecht an diesem kenn-
zeichnete, auch Gengier (Ein hlick auf das rechtsleben Bayerns
usw. s. 8) schreibt : 'marke, am gute angebracht, ist cyrografum',
— obgleich er anderswo (ebda s. 27, note 47) richtig bemerkt :
'der ausdruck cyrographum begegnet übrigens in anderen stellen
des salbuchs in der gewöhnlichen bedeutung von Urkunde', um-
gekehrt stellt AQuitzmann (Oberbayr. arch. 32, 119) diese anderen
erwähnungen des cyrografum der an unserer stelle in der be-
deutung 'hantgemahele' gleich, während Meister (aao. s. 399)
cyrografum (= hantmal)1 für eine falsche Übersetzung von
hatitgemahele hält, die durch die ähnlichkeit der beiden deutschen
worte hervorgerufen sei.
Chirographum (ciro-, cyrografum) wird in allhochdeutschen
glossen widergegeben mit hantkiscrip — edho hantmal2 — (Glossen i
170, 17 — 18; ii 302, 29 : hantgiscrip) und hantfesti (ebda i 773,
7. in 163, 34. 414, 79. iv 307, 1); auch die Murbacher Hymnen
(9 jb.) bringen die gleiche Übersetzung : a chirographo, fona
luzzilemu kascribe (x 3, 4 ed. Sievers 41) 3. eine glosse um 1300
setzt die bedeutung des chirographum weitläufiger auseinander:
cirographum cautio manu debitoris scripta uel cirographum est
scriptum quo confirmatio pacti certa manet. uulgariter hantfesti.
exemplar huius scripti dicitur antigraphum (A Holder Zs. f. d.
wortf. v 6). im hochstift Würzburg wurden die hochstiftischen
zinsbauern (SKiliausleute) in besondere Verzeichnisse, cyrographa,
1 über kantmal vergl. den excurs am ende des capitels.
2 edho hantmal nur im Sangaller codex 9 LI (8 Jh.). der Pariser und
Reichenauer codex haben nur hantcascrip (hentikdcrip).
3 Dieffenbach 123 a; Nov. gloss. 92 b. 93 a aufserdem noch Schuldbrief. —
vergi. Du Cange n 308 b ff.
HANDGEMAL ILND SCiHYURDRUDERSCHAFT 315
eingetragen (Geogler Die verfassungszustäude im bayeriscfaeo
Franken bis zum beginn des 13 jh.s [Erlangen und Lpz. 1894]
s. 78). eine Urkunde biscboi' Embricbos von 1141 bringt folgende
stelle : servicio beati Kyliani marliris mancipati sunt in vetu-
stissimo cyrographo suo . . . (Mon. Roica xxxvn 59. 60). der Falken-
steiner codex endlich kennt das wort in gleicher bedeutuog
'urkunde, handfeste' auf fol. 21 a (Mon. Roica vn 469. Traditions-
bücher s. 24) : Sciant ttniversi scire cupientes, ubi reposita sint
noslra cyrographa de advocatiis nostris conscripta : quod unum
videlicet est apud senatum Pelrum Maderane de advocalia Chimis-
sensis monaslerii conscriptum ; illud autem cyrographum, quod est
de aduocatia monasterii saneli Petri Maderane conscriptum, in
monasterio Chimissensis ad clerkos querendnm est. am reebten
rande findet sich hier, mit der feder gezeichnet, die abbildung
eines länglichen zetteis, mit eingeschriebenem cyrographa und
aufgelegter band. Aventinus gibt als deutsche fassung : Hantuesti
ubir des grauin Siboti vogitaigi : der ist ainu uf santi Petersbergi
von der vogitaigi zi Kiemisse; diu hantveste von der vogitaigi
santi Petirsbergi diu ist zi Kiemisse.
Wenn also auf fol. 21a cyrografum wie überall im mittel-
alterlichen lateiu 'urkunde' bedeutet, so muss es auch an unserer
stelle fol. 2a in diesem sinne gefasst werden und steht nun der
bedeutung nach dem testamentum, lex und mundiburdium gleich,
es ist eine Vertragsurkunde über den besitz des freien gutes und
den rang eines freien bezw. edlen herrn. wenn es dann weiter
lautet : cyrographum illud est nobilis viri mansus, so kann dies
nichts anderes heifsen, als dass der in der Vertragsurkunde
(hantgemahele) charakterisierte besitz eben der edelhof in Geisel-
bach ist — hier zeigt sieh deutlich der bedeutungsübergang vom
schwurvertrag {testamentum) und der darüber aufgesetzten Urkunde
{lex, mundiburdium, cyrographum) zum freien gruudbesitz, stamm-
bezw. sippengut (nobilis viri mansus), den die Urkunde verzeichnet,
und der seinerseits wider die freiheit des besitzers sicherstellt
(predium Über tat is swe).
Graf Sibotos handgemal — um auch den grundbesitz so
zu nennen — befand sich zu Geiselbach in der grafschaft Mors-
fuorte (-fuorte bair. form für -fürte), diese fast unbekannte
grafschaft — Otto v vWittelsbach safs in der grafschaft Morsfuorte
zu gericht (Heigel und Riezler Das herzogtum Rayern zur zei1
346 SCHÖNHOFF
Heinrichs lies Löwen und Ottos i vWittelsbach [München 1867]
s. 296 f) — verlegt man meist in das gebiet der beiden orte
Moosen a. Vils uud Furten a. Isen, östl. von Erding (im Wester-
gau), und identificiert Giselbach mit einem der beiden dörfer
Ober- und Unter-Geiselbach (zwischen Erding und Dorfen a. Isen) K
Die wertvollste aussage des Falkensteiner salbuches, die den
angelpunct dieser Untersuchung darstellt, bedeuten die schluss-
worte des capitels 'De cyrografd : hoc idem cyrographum obtinent
cum eis Hunespergere et Prucchepergere. die forscher giengen von
der Voraussetzung aus, dass das handgemal im besitz 6iner
familie sei, uud schlössen aus dieser — völlig unbewiesenen —
prämisse, dass die beiden genannten familien nebenlinien der
Falkensteiner sein müsten : so Homeyer (s. 19) und Wittich (aao.
s. 38). auch Zöpfl (Heidelberger jahrb. 64, 173) gibt, wenn auch
zweifelnd, zu : 'gemeinsames stammgut mehrerer adeliger familien,
die sonach alle demselben stamme entsprossen zu sein scheinen'.
— die beiden in betracht kommenden familien sind die edlen
herren vllaunsperg2 (bei Laufen, Salzburg) und vBruckberg3 (a. d.
Isar, grafsch. Moosburg), der erste urkundlich erwähnte Hauns-
perger ist Fridericus dellounsperch, 1093 unter den nobiles
zeuge einer tradition des erzbischofs Thiemo vSalzburg an das
kloster Admont (Juvavia 113); zur zeit des codex Falkenstein.
1 Freudensprung Die im i tomus der Meichelbeck. hist. Frisiog. auf-
geführten .... örtlichkeiten, (Freising 1856) s. 20; Gengier Ein blick auf
das rechtsleben Bayerns s. 24 note 11; Höger aao. s. 1.
2 litteratur : Bucelinus Germania topo-chrono-stemmatographica sacra
et profana n (1662) pars 3, p. 153; Zedlers Univ.-lexikon xii 815; Gauhe Adels-
lexikon i 793. 794; Kneschkes Adelslexikon iv 246; vStramberg in Ersch und
Grubers Encyklop., n sect., 3 teil, s. 151; wappen im neuen Siebmacher
vi 1, s. 15 (tafel 12, 13). — alt. quellen : Juvavia s. 113; Tradit.-bücher 3.
18. 28 (Minist.), 39 (dass.), 49 (im cod. tradd. Garz.); Necroll. Germ, n 103.
130. 150. 183; Deutsche Chroniken in 720, 12. — über die herschaft Hauns-
perg : Juvavia s. 427 anm. i.
3 litteratur. a) Bruckberg : Mon. Boica i 365. 399 ; Trad.-bücher 3;
Necroll. Germ, m 203. 209. 212 (Weihenstephan). 303 (SEmmeram). 362 f.
363. 365. 367 (Säldental); Quellen und erörterungen zur bair. geschichte
i 216 f. 217 f. (Trad. d. Stiftes Obermünster in Begensburg). 270 (Berchtesgad.
tradd.); Oberbayr. archiv, bd n tradd. Moosb. 20. 23. 24. 25. 28. 34. 53. 56.
99. 135. 138. 148. 214 (Minist.); vLang Baierns alte Grafschaften s. 39. 149.—
b) Wolf von Bocksberg : Trad.-bücher 3. 34. 35. 37 f. 38 (sämtl. Falkenst.
cod.); Quellen und erörter. i 90 (SEmmeram. tradd.). 270. 340 (Berchtesgad.
tradd.) ; Oberbayr. archiv aao. 14. 20. 24. 25. 34. 56. 148.
HANDGEMAL UND SCI1WURBRUDERSCHAFT 347
blühte Gotescalch de Hunsperch, der unter den nobiles als zeuge
einer tradition des graten Siboto vor 1174 auftritt (fol. 17 a,
Trad.-büclier s. 18). der letzte des freiherrlichen geschlechtes
ist Gotascalcus . . . liber homo, 1211 in einer Urkunde erzbischof
Eberhards n vSalzburg (Juvavia s. 427 anm. i). der 1266 er-
scheinende Heinrich vllaunsperg, mit dem die ununterbrochene
stammreihe beginnt, gehört dem ministerialengeschlechte an, das
mit Witigo de Hunsperch um 1182 zuerst urkundlich bezeugt
ist (codex Falkenstein, fol. 23 r, 33 a = Trad.-bücher 28. 39) l.
1654 wurde die familie in den grafenstand erhoben, erlosch aber
bereits am 9 jan. 1724 in weiblicher linie mit Maria Katharina
gräfin vKönigsfeld, geb. gräfin vllaunsperg, auf deren grabstein
das familienwappen gestürzt eiugemeifselt ist. — die Bruck-
berger sollen mit den Wolf vBocksberg eines Stammes sein 2.
Friedrich vBruckberg (1140 — 1150) und sein bruder Albero (um
1180; verm. mit Ephemia), wie Adelbero Wolf vBocksberg (1133 —
1140; verm. mit Mechlildis) und sein bruder Ruprecht scheinen
die ältesten beider familien zu sein, deren namen uns in Urkunden
überliefert sind, bis in das 14 und 15 jh. hinein treten uns
mitglieder der familie vBruckberg in nekrologen bairischer klöster
entgegen. — aus diesen kurzen bemerkungen geht klar und
deutlich hervor, dass die grafen vFalkenstein und Neuburg3, die
zuerst im 11 jh. mit namen genannt werden, unmöglich eines
Stammes mit den freiherru vllaunsperg und vBruckberg sein
können : ihre Stammsitze in drei verschiedenen gauen, verschiedene
wappen und verschiedene personennamen sprechen gegen eine
solche annähme. — wenn nun aber die drei geschlechter, die
an dem handgemal zu Geiselbach teil hatten, in keinerlei verwaut-
schaft zu einander stehn, so muss daraus die notwendige folgerung
gezogen werden, dass das handgemal, wie schon oben aus der
anwendung des wortes im Heliand geschlossen wurde, nicht im
besitz einer familie ist, sondern das gemeinsame, urkundlich be-
1 vStramberg aao. machte zuerst auf diese tatsache aufmerksam.
2 vgl. Quellen und erörterungen i 216 , note 2 (1856) und Höger aao.
s. 1 (1882).
3 Genealogia Comitum de Neuburg et Falkenstein (Tegernsee 18U2).
widerholt bei Petz. — manche gelehrte setzen unser grafengeschlecht mit
den grafen vAndechs und Diessen in verwantschaft, was nicht wahrschein-
lich ist.
348 SCHÖNHOFF
siegelte Vorrecht mehrerer edler lamilien darstellt, die verschiedenen
sippeu angehören, sich aber in einem schwurvertrage zu be-
stimmten zwecken — wobei der gemeinsame besitz eine wichtige
rolle spielte — vereinigt haben, die definition entspricht ebenso
wie die Übersetzung 'teslamentum — lex' vollkommen der etymo-
logischen bedeulung des wortes hantgemahele.
Die aus dem codex Falkenstein, ermittelte ursprüngliche form
des handgemals führt uns durch den langobardischen anthmallus
des 9jh.s und eine stelle im Langobardischen gesetzbuch des 7 jh.s
auf eine ausschliefslich germanische sitte, die neben dem natür-
lichen sippenverbande noch einen eidlichen treuverband von
männern verschiedener sippen kannte, die bundes- oder schwur-
bruderschaft. auf nordischem boden reich entwickelt (föstbrüpralag)
und bei den Angelsachsen wenigstens bekannt, war sie bislang
bei den übrigen germanischen stammen nur für die Langobarden
dem namen nach bezeugt, also für das volk, das nach dem
zeugnis der extravaganten von Ivrea noch im 9 jh. die letzten
reste des handgemals kannte, die leges Rothari regis cap. 362
(MGLeges iv 389 b) haben uns die benennung der durch
Schwurbruderschaft verbundenen männer erhalten : Si aliquis
de . . . sacramentalibus mortnus fuerit, potestatem habeat ille qni
pulsat, in loco mortui similem twminare de proximis legitimus,
aut de naturalibus, aut de gamalis i. e. confabulatis. fabula ist
pactum, cotwentio; confabulati sind zb. die, qui ex fabula seu
foedere nuptiali orti sunt (Du Cange n 493c und m 387 a). der
name gamahalos l für 'schwurbrüder' entspricht dem namen für
den zwischen ihnen eidlich geschlossenen treu- und schutzvertrag,
hantgimahili, der den gemeinsamen besitz der vertragsgenossen
sicherte, über die Schwurbruderschaft im einzelnen vgl. cap. 4.
Durch diese Verknüpfung der germanischen schwurbruder-
schaft mit den laugobardischen gamahalos und den bislang be-
sprochenen bairischen stellen ist die definition des Falkensteinschen
1 zu gamahalos vgl. Brückner Sprache d. Langobarden § 10, QF. 75,4t
und Wörterb. s. v. ga?nahal. die hs.lichen formen gamaalos und gamalos
mögen zt. aus der Vulgärlatein. Orthographie stammen, die ein h regellos
setzte, zt. auch spätere langobard. Sprachentwicklung sein. Brückner aao.
§ 82, s. 160 ff; Diez Roman, gr. i 275 f.
IIANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCHAFT 349
handgemals gegeben als : 'das zwei oder mehr durch schwur-
bruderscbaft vereinigten edlen gescblechlern gemeinsame eigen
von der mindestgröfse einer hufe1, dessen Verwaltung dem jeweilig
ältesten jedes geschlechtes, bezw. eines bevorzugten geschlechles
unter den vertragsgenossen, auf lebenszeit obligt, und dessen
urkundlich fixiertes eigentumsrecht den beteiligten familien die
volle herrenmäfsige Freiheit sichert'. —
Das gleiche schwanken zwischen Urkunde und urkundlich
garantiertem besitz bezw. freiheit wie der codex Falkenstein,
zeigt auch die stelle in der Vorauer Genesis2 (JDiemer Deutsche
gedichte des 11 und 12 jh.s [Wien 1849] s. 15,3), wo von den
söhnen Noes als den ahnherrn der drei stände (edle, freie und
ministerialen) gesprochen wird :
daz sin deu dreu geslahte,
den gestellt mit durnahte:
einez daz ist edele,
di hont daz hantgemahele;
di andere frige lüte
di tragent sich mit gute;
di driten daz sint dinestman,
also ich uirnomen han,
darunder tourden chnehte.
Die Verwendung des bestimmten arlikels (di haut daz hant-
gemahele) beweist, dass der Verfasser nicht an das einzelne gut
dachte, sondern an das gesamte institut, an das — für einen
teil Baierns wenigstens — der stand der edlen gebunden war.
die Genesis mag in Kärnten entstanden sein (JGrimm Kl. sehr, v
280; Scherer QF i 60); woher aber der dichter stammte, ist
fraglich, der erste prälat von Vorau, Luitpold (f 1185), war früher
domherr in Salzburg gewesen, und vor seiner berufung in das
neugegrilndete stift dechant in Seckau. sicherlich stammt die
kenntnis des handgemals in unserer Genesis aus bairischen oder
salzburgischen landen.
1 viansus huoba; Ahd. glossen in 117, 43. 212, 46.
2 erhalten in einer Vorauer hs., die unter dem ersten prälaten Luitpold
(1164—1185) geschrieben wurde. — über Vorau vgl. Augustin Rathofer Das
chorherrenstift Vorau in Steiermark, in SebBrunners Chorherrenbuch (Würz-
burg und Wien 1883) s. 638—680.
350 SCHÖNHOFF
B. 'Nobilis viri mansus, curtilis locus, particula
proprietatis'.
Falkensteiner und Vorauer handgemal schillern noch zwischen
der bedeutung des Schwurvertrages und des durch ihn gewähr-
leisteten gemeinbesitzes. dagegen scheinen drei salzburgische
Urkunden aus dem 10 jh. (Juvavia 155. 175. 194), tauschverträge
aus der zeit erzbischof Uodalberts n (923 — 935) und eb. Friedrichs
(963 — 976), nur das sippen- bezw. stammgut zu meinen, wenn
auch wegen der knappen Schilderung kein sicheres urteil gegeben
werden kann, am 27 märz 925 tradiert der edle Gaganhard dem
erzbischöflichen stuhle seinen besitz im Isengau bei Beriesheim,
ldger. Mühldorf : proprietatem suam quam in hnagouue ad Pal-
drichesheim totam quam habere Visus est; nur einen teil seines
gutes nimmt er aus, der auf deutsch 'handgemal' heifst : verum
etiam quod pre?nisit sibi particulam proprietatis quod hanikimahili i
vulgo dicitur. zum ersatz überträgt der erzbischof ihm eine ver-
lassene hufe in aquiloni plaga montis Hegilonis (zwischen dem
Staufen und Salzburg). — zur selben zeit ungefähr überträgt der
edle Uodalhard dem erzbischof in einer undatierten Urkunde
sieben hufen in Ergoldsbach : ad Ergeltespach hobas vn, in recompen-
sationem, et omne videlicet territorium quod ibidem visus est habere,
aufser einer hofstalt im westen, die auf deutsch 'handgemal*
heifst, exceptis in unaquaque parte quam celga vocamus jugeribus
tribus et uno curtili2 loco ad occidentalem partem quod vulgo
hanikimahili vocamus. als ersatz tradiert der erzbischof seine
besilzungen in Weidenbach a. Isen. — endlich erscheint das
handgemal — wenn auch nicht ausdrücklich mit namen genannt
— in einer tauschurkunde aus der zeit erzbischof Friedrichs
vSalzburg (963 — 976), wo der edle Luidolf dem erzbischöflichen
stuhle sein gut in Hüttich (am Wallersee, Salzburg)3 überträgt,
sich aber einen teil zum schütze seiner freiheit vorbehält (tale
praedium quäle habuit in loco, qui dicitur Uticha . . . et dempsit
partem unam pro libertate tuenda). die auffassung des hand-
gemals als schütz der freiheit und die wähl des wortes tueri
decken sich mit der glosse mundiburdium-hantgemehele (mundib.
1 hs. hantkirnahili.
2 curtile houestat; Ahd. glossen in 124, 67. 209, 60. 229, 61. — vgl.
Kleimayrn Juvavia s. 294; Homeyer s. 34 f; Zöpfl Heidelberger jbb. 64, 174,
3 Luschin vEbengreuth aao. s. 79, note 30.
HANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCHAFT 351
= tuitio), sodass die bei der besprechung der glosse versuchte
erkläriiDg noch durch unsere Urkunde bekräftigt wird.
Es ist wol wahrscheinlich, dass auch andere bairische edel-
geschlechter, zb. der weitverzweigte stamm der Scheyern, siel»
eines handgemals rühmen konnten; die bürg Scheyern aber
(mons et castrum Scltyren non ab uno vel duobus prineipibus, seil
a pluribus communis habilabatur MGScriptores xvn 620, 29 IT),
die Heusler (aao.) als handgemal des geschlechtes in anspruch
nehmen will, scheint nicht diesen Charakter gehabt zu haben,
zur zeit der Stiftung von kloster Scheyern (11 19) 1 war das
handgemal in Baiern noch lebendig, und die edelherren jener
tage behalten sich vorsichtig die garantie ihres herrenstandes vor,
wenn sie auch aus ökonomischen gründen andere guter um das
handgemal herum veräufsern. Stammburg ist eben nicht =
'handgemal', sondern bei der freude des mittelalters an Symbolen
genügte das mindestmafs von landbesitz, das ein freier sein eigen
nennen muste, nämlich eine hofstatt und eine hufe landes —
wie die lex Baiwar. xvn 2 2 bestimmt, und auf niederdeutschem
gebiet Ssp. i 34, § 1 3.
Diesem Sprachgebrauch der salzburgischen Urkunden mag
nahekommen die erwähnung des handgemals in Wolfram vEschen-
bachs Parzival 6, 19 (ed. Lachmann):
sie gerten, als ir triwe riet,
rieh und arme, gar diu diet,
einer kranken ernstlicher bete,
daz der künec an Gahmurete
15. bruoderliche triwe vierte
und sich selben erte,
daz er in niht gar verstieze,
unde im sines landes lieze
hantgemcelde, daz man möhte sehen
20. da von der herre müese jehen
sins namen und siner vriheit.
1 F. H. graf Hundt Kloster Scheyern, seine ältesten aufzeichnungeu
und seine besitzungen (München 1862); Gengier Beiträge z. rechtsgeschichte
Bayerns i 135—139.
2 Der eideshelfer debet habere 6 solidorum peeunia et similem agrum
(MGLeges m 426, 40 f).
3 [Der freie mann] behalde ene halve hove unde ene word, dar man enen
■wagen uppe wenden möge; dar af sal he deine richtere sines rechten plegen.
352 SCHÖNHOFF
Das hantgemcelde im lande des königs von Anschouwe soll
dem jungen Gahmurel also stand (i. e. des edlen) und freiheit
garantieren, name ist 'rang', nicht = nhd. 'name', auch nannte
sich kein adlicher nach dem handgemal, das ja in der regel nur
eine kleine hofstatt und hufe darstellte, nicht unmöglich ist es,
dass Wolframs hantgemcelde, wie dem hanlgemahele der Vorauer
Genesis, teilweise noch die ältere hedeutung innewohnt : 'urkund-
liche garantie des grundhesitzes', doch kann man dies mit Sicher-
heit nicht behaupten, wahrend die SGaller handschrift das für
den urlext anzusetzende hantgemcelde (-gemeide) bringt, haben
die Münchener handschrift (hantgemahele) und eine andere der-
selben classe (hantgemcehel) abweichende, aber weiter verbreitete
formen, ein beweis, dass ihren Schreibern das in frage stehnde
institut nicht unbekannt war. leider ist die heimat der betreffen-
den handschriften nicht festgestellt, sodass die abweichenden
namensformen nicht localisiert werden können. — woher hat
aber Wolfram selbst namen und begriff des handgemals? obwol
Franke von geburt, hat Wolfram seine sporen vermutlich in
Baiern verdient, so dass er sich selbst einmal geradezu einen
Baiern nennt, die erwähnung der marcgrdvin . . . vonme Heit-
stein (Parz. 404, 1), Elisabeth, der gattin markgraf Bertholds n
vVohburg, tochter herzog Ottos i von Baiern (verwitwet 1204
oder 1209) weist darauf bin, dass unser dichter den Vohburgern
nahegestanden hat — nicht unwahrscheinlich, dass er bei ihnen,
die noch auf altbairischem boden safsen, das handgemal kennen
gelernt hat. seine fränkische heimat konnte ihm, nach allem
was wir von der Verbreitung des namens wissen, diese kenntnis
nicht geben.
Nur ein bekanntsein des begriffes setzt die namensform des
handgemals im Schwabenspiegel voraus, dessen Verfasser, der sonst
seine vorläge, den Sachsenspiegel, wörtlich übersetzt, das bekannte
hantgemdl durch das entsprechende hochdeutsche hantgemahel
ersetzt, der Schwabenspiegel soll von einem augehörigen der
Bamberger diözese in Baiern oder Schwaben verfasst sein, etwa
im letzten viertel des 13 jh.s.
C. 'Feodum, haus und gärtel.'
Mit dem 1899 von EMayer (aao.) nachgewiesenen handgemal
des 'preco' (schergen, gerichtsdieuers) von Schneitsee im Chiem-
HANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCHAFT 353
gau haben die letzten Forschungen ziemlich fleifsig operiert >.
die stelle lautet : [In officio Wazzerburch ex altera parle pontis.}
— Argoltzingen. i feodum habet preco de Sneitse a duce pro
Hantgemaehil. Secundum feodum sentit xxu denarios rat[is-
ponenses], agnum ualentem v denarios (urbarium von Oberbaiern
ca. 1280; Mon. Roica xxxvi 1, s. 235). die befremdende tatsache,
dass es nur ein leben ist, wurde von Heck gegen die alte aul-
fassung von freiengut ins feld geführt, während Meister (aao.
s. 401 und note 1 und 2) die späte zeit zur erklärung heran-
zieht, dass diese methode nicht richtig ist, beweist die fast
gleichzeitige aulliihrung des handgemals im Schwabenspiegel nach
niederdeutschem Vorbild, aber in erinnerung an oberdeutsche
tatsachen.
Das handtgemähl2 von Langen-Peuerbach im Iunviertel gibt
uns in seinem späten vorkommen, noch dazu in dem so ab-
geblassten sinne haus und gärtet eine sichere deutuug des hand-
gemals von Argoltzingen (Assling a. Attel?) au die hand, die auch
Meister (aao. s. 401) streift, aber zu gunsten einer anderen wider
aufgibt. natürlich kann in beiden fällen nur das handgemal
(haus und garten, wie oben hofstatt und hufe) eines erloschenen
edelgeschlechtes in betracht kommen, das nach dem aussterben
seiner besitzer an den landesherru — etwa als verwanten oder
anderweitigen erben — gefallen war und wegen seiner ehemals so
hohen rechtlichen Stellung von dem neuen herren als zinsfreies
lehen ausgetan wurde. — die grafschaft Wasserburg, in der
Argoltzingen ligt, wurde 1247 vom herzog Otto von Baiern in
besitz genommen : nach der ächtung graf Konrads (f nach 1255),
dessen Schwester Agnes mit herzog Otto i vermählt war. viel-
leicht handelt es sich hier um das handgemal der Wasserburger
grafen 3.
D. Römisches a m p h i t h e a t e r.
Schon im Heliand fanden wir das handgemal auf nicht-
germanische Verhältnisse übertragen, und beim gemeinsamen hand-
mahal der Juden in Jerusalem sogar eine in der gesamten litteratur
unbekannte form des instituts, die nur aus poetischen absiebten
1 EMayer aao. i 47; Adler aao. s. 8; Heck Sachsensp. s. 504 anm. 1.
2 Peuerbacher urbar von 1598 — 1608; JStrnadt Peuerbach (1868)
s. 43 note 2.
3 vLang ßaierns alte grafschaften s. 107 ff.
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 23
354 SCHÖNHOFF
heraus erklärt werden kann, ähnlich steht es mit dem hantge-
mcele der Kaisercbronik * (v. 7 1 3 6 fT. ed. EdwSchröder):
daz buoch chundet uns daz,
Helms Pertinax
der besaz dö daz riche.
iz chom dar zuo wunderliche.
1140 der site was so getan :
ze Röme was luzel dehain edel man,
er neworht im ain hantgemcele,
daz man iemer von im sagete ze mcere.
Dö chom iz alsus
45 daz der kunic Helius
ain spilhiis worhte,
so er baz nedorfte :
von guotem marmelstaine,
mit golde gezieret claine.
Homeyer sieht (s. 24) in dem handgemal, das der römische
edle baut, einen privatpalasl, und diese auffassung ist auch auf
den ersten blick die nächstliegende, wenn man aber die partie
vom handgemal des edlen mit der folgenden über das spilhüs
(theatrum, Ahd. Glossen in 262, 25. 721, 48. — gimnasium i
689, 31. m 361, 38) des Pertinax zusammenhält, so kann hant-
gemcele nichts anderes bedeuten als ein öffentliches gebäude,
wie es eben ein amphitheater (spilhüs) ist. die ganze erzählung
von 7136 — 7143, die die regierung des kaisers Pertinax ein-
leitet, wäre völlig zwecklos und unverständlich, wenn nicht die
folgende Schilderung des kaiserlichen amphitheaters die specielle
ausführung der einleitung darstellte, dh. wenn nicht das hant-
gemcele eine allgemeine beneunung des spilhüs wäre, das terlium
comparationis ist der dem ganzen römischen volke gemeinsame
besitz des amphitheaters, wobei freilich ein solches gebäude mit
der freiheit des einzelnen nicht das geringste zu tun hat. indessen
war ein im mittelalter herschender glaube, dass jeder, der römisches
bürgerrecht besafs, persönlich frei war — offenbar eine christliche
reminiscenz aus den Acta apostolorum (16, 37. 22, 25. 25, 10).
so berichtet ein westfriesisches gedieht aus dem 15 jh. von den
Friesen, die Rom eroberten (Richthofen Friesische rechtsquellen,
Rerlin 1840, s. 438 a) v. 4 ff:
1 verfasst bald nach 1147 von einem Regensburger geistlichen.
IIANDGEMAL UND SCIIWURBRUDERSCHAFT 355
Dase da burich wonnen,
due werense burcheren toe Roem,
dae eamense mit riuchta ordel toe fridome,
want hit een ald riucht was,
(5) dat dy man fry was in alle landen,
deer toe Roem burgher was;
dat een man onder da galga stoed,
ende coem et htm to moed,
dat hi op da roemsche burgerschip teghe,
(10) ende hyt aller xoirdic leghe,
hi moste icessa ontbonden,
al ont hit toe Roem worde onderfonden.
'denn es war ein altes recht, dass der durch alle lande
frei war, der römischer bürger war; wenn einer unter dem
galgen stand, und es kam ihm in den sinn, dass er sich auf das
römische bürgerrecht bezog l — und wenn er auch jedes wort
{aller werde ek) log — er muste losgebunden bleiben, bis es
in Rom untersucht wurde'. — sicherlich spielt der gedanke,
dass das römische bürgerrecht frei mache, in der Kaiserchronik
unausgesprochen mit, sodass die beiden charakteristischen merk-
male des handgemals (garantie der freiheit und gemeinsamer be-
sitz mehrerer familien) auch hier vorhanden sind.
Die Vorauer (12 jb.) und Wolfenbütteler handschrift (14 jh.)
der Kaiserchronik bringen die contrahierte form {hanlgemcele
bezw. hantgemeld; Diemer Die Kaiserchronik s. 219, v. 5; Mafs-
mann ad v. 7161, Schröder ad v. 7142), die des reimes wegen
(hantgemosle : mcere) für den urtext anzusetzen ist; die Münchener
handschrift des 14 jh.s, die aus dem ehemaligen chorherrenstift
SNicola bei Passau stammt, list hantgemähel. wie bei der
änderung des Schwabenspiegels (hantgemal zu hantgemähel) und
der Münchener handschrift des Parzival (hantgemcelde zu hant-
gemahele), muss auch aus der Schreibweise der Münchener hand-
schrift der Kaiserchronik geschlossen werden, dass dem mönch
zu SNicola, der unsere handschrift herstellte, das handgemal
aus seiner heimat oder seinem würkungskreise nicht unbe-
kannt war.
1 man vgl. die darstellung mit der extravagante der Lex Salica (Unter-
suchung an ort und stelle) und dem Sachsenspiegel (sik . . . to sime hani-
gemale .... tien).
23*
356 SCHÖNHOFF
iv Hantmdl und anemdl.
Cirographum (Urkunde) glossiert der Sangaller codex 911 aus
dem 8 jh. mit hantkiscrip edho hantmal l. das ärca'% elqr^ievov
hantmal (in den übrigen Handschriften der Keronischen glosseu
fehlt es) bildete für Homeyer den ausgangspuoct zu seiner theorie
vom haudgemal, und auch Meister glaubt (aao. s. 399), dass die
Übersetzung graf Sibotos vFalkenstein : chirographum 'hantgemahele'
einer Verwechslung mit hantmal ihr dasein verdankt, aufser
sachlichen gründen spricht schon dagegen, dass der illustrator
des cod. Falk, beim hantgemahele (toi. 2 a) nur eine hand zeichnet —
-gemahele war ihm jedesfalls unverständlich — während beim
chirographum auf fol. 21a die abbildung einer Urkunde mit der
schreibenden hand erscheint, in der ausgesprochenen bedeutung
'Urkunde' erscheint das wort hantmal in der ganzen deutschen
litteratur nicht wider, dagegen ersetzt es vom 11 jh. ab zt. ein
ähnlich klingendes wort des gleichen Stammes (zu ahd. mal, got.
mel) : anamdli, mhd. anemdl, nhd. Anmal, Anmahl (Ammal) 'cica-
trix, Stigma, nevus' 2.
Zuerst erscheint es in dieser neuen bedeutung in den
Kölner Prudentiusglossen (11 jh.) : Stigma hantmali (Ahd. gl. ii
564,41; ebenso in den Brüsseler aus derselben zeit, ebda ir
573, 67), wo aber der Schreiber das h nachträglich hinzugefügt
hat; augenscheinlich dachte er zuerst an das bekanntere ammal.
zu ende des 13 jh.s gebraucht der niederdeutsche Hermann der
Damen hantgemele in der sichern bedeutung 'Stigmata' : do er
(Christus) die hant gemele enpfienk (MSH m 161a, ur 26).
Beide bedeutungen: Urkunde bezw. urkundliches handzeichen'
und 'narbe, wunde' vereinigt der gebrauch des wortes in dem
mitteldeutschen (thüringischen) gedichte von Alexander und Anti-
loye (nach der Dresdener handschrift aus dem 14 jh.) ?. 540 ff
den stis her ane sorgin und gab im ein hantmal, das von Rome
ein cardenal des nicht vulschriben künde (Haupt Altdeutsche
blatten 250 ff).
1 Ahd. glossen i 170, 17—18.
2 cicatri.r, Ahd. glossen, i 275, 43. 353, 28. 49. — n 409, 16. 498, 32. —
in 695, 23. stigma, ebda i 351, 9. 768, 26. — n 556, 71. 564,41. —
III 221, 5. 256, 19. 307, 64. — iv 256, 46. AHolder Zs. f. d. wortf. 1, 111.
nevus, Dieffenbach Gl. 379 b; Schindler Bair. wb. n 563. stigmarit ani-
malid, Ahd. glossen n 410, 18. 455, 23. 511, 29. — vgl. DWb. i 405.
HANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCHAKT 357
Dass das wort in der ersten bedentung (Handzeichen)
nicht recht bekannt war, beweist die änderung, die in Heinz
Sentlingers Weltchronik von 1394 mit der stelle vorgenommen
worden ist : 415 daz twerc gap im ein hantmal, daz er lac
uf dem wol. daz tcart im da künde (Zingerle Germania 18,
223 ff), hält man dem hantmal des thüringischen gedichtes
die gleiche form hantmal gegenüber, die Joh. vBuchs Glosse (ca.
1330—1340) und das Weichbild (14 jh.) für das handgemal des
Sachsenspiegels bieten, so scheint es nicht unmöglich, dass dem
dichter von Alexander und Antiloye, der zur selben zeit und in
derselben gegend lebte, das handgemal wol bekannt war, so dass
er in seinem gedichte darauf anspielen konnte, die bedeutung
'handzeichen, Urkunde', wie sie in der ahd. glosse belegt ist,
kommt ja das ganze mittelalter hindurch nicht mehr vor, so dass
kein leser die anspielung würde verstanden haben.
4 CAPITEL. DIE SCHWÜRBRUDERSCHAFT.
In deutschen landen hat das handgemal wol niemals eineu
weitern bedeutungsinhalt gehabt, als oben für das hantgemahele
des cod. Falkenst. festgestellt wurde, soweit wir kenntnis von
ihm haben, ist es nach inhalt und Verbreitung im steten ab-
nehmen begriffen, bis im 17 jh. in einem österreichischen Spätling
uns nur ein 'haus und gärtel' entgegentritt, diese überraschende
Verengerung des begriffes ist bei genauerem zusehen wol er-
klärlich, da die grundlage des institutes, aus der es in vor-
historischer zeit erwuchs, schon zu beginn unserer quellen
verschwunden ist — wenn wir das vereinzelte auftreten der
langobardischen 'gamahalos' als eideshelfer ausnehmen, die ger-
manische Schwurbruderschaft, die in den verschiedenen dialekten
verschiedene namen trägt, also wol erst nach der ausbildung
der einzelnen germanischen sprachen entstanden ist, hat sich
nur auf nordischem boden zu eiuer volkstümlichen und rechtlich
bedeutenden einrichtung entwickelt (ahn. der vertrag: föstbropralag;
die teilnehmer : föstbrepr, stallbröpr , eipbrepr, svarabrdpr)1,
während in England (alteng], wedbröder) uud Deutschland meist
nur die nachwürkungen auf andern gebieten (handgemal, confra-
1 MPappenheim Die altdänischen schulzgilden. ein beitrag zur rechts-
geschichte der germ. genossenschaft. Breslau 1SS5; ders. Ein altnorweg.
schutzgildestatut nach seiner bedeutung für die geschiente des nordgerm.
gildewesens. Breslau 1888.
358 SCHÖMIOFF
ternitas und gilde) zu spüreu sind, auch der schütz der freiheit,
der von den ältesten Zeiten an zu den wesentlichen merkmalen
des haudgemals gehörte und in späteren epochen nur an ein
symbol (urkunde, mansus) geknüpft war, konnte allmählich das
handgemal entbehren, da die freiheit des edlen — der hier vor
allem in frage kommt — auf andere weise viel sicherer gewähr-
leistet werden konnte, und zudem die ritterwürde, die ja auch
den unfreien ministerialen nicht verschlossen war, für das spätere
mittelaller eine höhere schranke gegen das niedere volk aufrichtete,
als die blofse freiheit.
Die germanische Schwurbruderschaft war ein ersatz für den
indogermanischen sippenverband, wo er durch äufsere oder innere
Ursachen gelockert war. bei primitiven Völkern, wo söhn und
enkel des ahnen seine siedelstätte in der nähe des Stammsitzes
wählt, bildet eine solche Vereinigung der nächsten verwanten, die
sippe (gol. sibja = aind. sabhü), die natürliche arbeits-, fehde- und
culigenossenschaft, die sich gegen fremde sippen abschliefst und
ihren mitgliedern die persönliche freiheit sichert (aind. priyäs
'lieb' = got. freis 'frei'; vgl. alts. friund 'verwanter'). gegenseitige
Unterstützung im kriege, räche für den ermordeten sippengenossen
und eintreiben des wergeldes für den mord, gemeinsamer toten-
cult (opfergelage) und Unterstützung der witwen und waisen,
eideshilfe vor gericht und zuletzt, aber nicht als geringstes, der
gemeinschaftliche grundbesitz l — alle diese charakteristischen
merkmale des geschlechtsverbandes finden sich auch bei dem
eidlich geschlossenen bundesvertrage der schwurbrüder. wo ein
mann durch erlöschen der sippe oder frühes sterben der nächsten
verwanten oder auch durch auswanderung in spärlicher besiedelte
länder einem sippenverbande entfremdet wurde und gefahr lief,
seiner freiheit verlustig zu gehn, da tat er sich mit gleich-
gesinnten und gleichaltrigen männern, mit denen er vielleicht im
kämpfe Schulter au schulter gegen einen gemeinsamen landesfeind
gelochten halte2, zu einem treubunde zusammen, der durch ein
1 dieser gehörte freilich nicht wesentlich zur Schwurbruderschaft, wurde
aber oft als bekräftigendes moment hinzugefügt.
2 in der späteren nordischen entwicklung sind es meist pflegebrüder
(föstbr6j>r), die nach weit verbreiteter sitte einem pflegevater (föslre) über-
geben waren und dann mit dessen söhnen unter dem aufgestochenen rasen
die föstbrfjpralag eingiengen.
HANDGEMAL UND SCIIWURBKUDERSCUAFT 359
symbol, die aufhebung der rechten hand, als des wichtigsten
körpergliedes, bekratligt wurde, durch die darreichung der hand
gab und nahm der Vertragsgenosse die treue, die den neuen
bund halten sollte. — ein solcher vertrag, german. *maplam oder
*gamapliam, der die teilnehmer einander gleichstellte (subordi-
nierend war die adopliou an sohnes statt und die gefolgschaft unter
einem forsten), wurde auch eingegangen, wenn zwei sippen durch
die ehe zweier Mitglieder einander nähertraten ; daher auch der
gleiche uame für Schwurbruderschaft und ehe: ahd. mahal 'pactum'
und 'foedus (nupliarum)', langobard. gamahalos 'schwurbrüder'
und ahd. gimahalo 'gälte'1, ahd. ewa, e (eigentlich gesetz) und
mlatein. testamenhim, lex als bairische bezeichnung für das
handgemal. — wie der sippenverbaud dem gesibbo (consanguineus ;
Ahd. gl. in 67, 32. 176, 42), so gab die Schwurbruderschaft dem
gamahat (confabulatus) die garantie der freiheit, und diese als
wertvollste eigenschaft von den versippten und schwurbrüdern
empfundene würkung der besitz- und Standesgemeinschaft ist es
auch gewesen, die am längsten am handgemal haften blieb, der
Laugobarde wie der niederdeutsche schölle, der bairische graf
und der salzburgische edle — sie alle führen ihre freiheit auf
das handgemal zurück, das in ihrem geschlechte seit alters her
vererbt worden ist. daneben bildet das handgemal auch die
rechtliche grundlage der heimat, wo sein besitzer sich vor ge-
richt zu verantworten hat.
An dieser stelle mag auch noch eine kirchlich-mittelalterliche
eiurichtung erwähnt werden, die offenbar aus der germanischen
Schwurbruderschaft hervorgegangen ist und noch heute in den
monchsorden der katholischen kirche blüht, die confraternilas
oder gebetsverbrüderung. Adalbert Ebner, dem wir die um-
fassendste darstellung dieser Verhältnisse verdanken (Die klöster-
lichen gebets-verbrüderungen bis zum ausgang des karolingischen
Zeitalters, eine kircheugeschichtliche Studie. Münchener theol.
dissert., Regensburg 1890) 2, widmet der entstehung der coofra-
teruitas nur auffallend wenige worte; ihreu Ursprung sieht er —
nicht ganz richtig — in der alten kirchlichen anschauung von
1 vgl. hier das spätmhd. hantgemahel 'gattin zur linken hand.'
2 dort reiche litteralur. von älterer ist noch immer wichtig : GZappeit
in den Sitzungsber. d. Wiener akad. x (1853), s. 417 — 463; xi (1854),
s. 5-42.
360 SCHÖNHOFF
der bruderschalt der gemeinde (Tertullian ad uxorem n 3 : stupri
reos esse constat et arcendos ab omni communicatione fraternitatis).
wol ist die idee von der fraternitas aller Christen eine altkirch-
liche, aber die bis ins einzelne gelinde durchbildung der gebets-
brüderschaft, die noch dazu in der hauptsache auf Deutschland
beschränkt ist, beruht auf germanischer grundlage. die confra-
ternitas (auch fraternitas) erscheint zuerst im ausgang des 7 jh.s
bei den benedictinern in England, wo so viele christliche begriffe
durch aufpfropfung einheimischer sitten den Germanen mund-
gerecht gemacht worden sind, und wurde durch ßonifatius in
Deutschland * bekannt; von dort aus verbreitete sie sich bald über
die fränkischen und italischen länder, die unter deutschem
einflusse standen (Ebner aao. s. 27 ff. 30. 35 ff), die wichtigste
pflicht der germanischen Schwurbruderschaft, dem toten bundes-
bruder den vorgeschriebenen cult durch opfergelage (alts. geld,
altengl. gild2 'convivium') und blutrache zu besorgen, wurde bei
der confraternitas in messopfer und gebetspflicht umgewandelt,
noch heute wird der tod eines mönches allen mit dem couvente
durch confraternitas verbundenen klöstern mitgeteilt (eine vor-
läufige anzeige geht schon dem tode voraus), worauf jeder bruder
für den verstorbeneu die messe list. auch bei gegenseitigen
besuchen gilt ein mönch in einem bruderkloster für die zeit
seines aufenthaltes als rechlmäfsiges mitglied des conventes und
geniefst alle rechte eines solchen, in grofsen verbrüderungs-
büchern (libri vitae), die ehemals auf kostbare weise ausgestattet
wurden, stehn noch heute die confratres verzeichnet.
Handgemal und Schwurbruderschaft sind auf dem deutschen
continente nur bei drei benachbarten volksstämmen nachgewiesen,
bei den Langobarden, Thüringern (vor dem 4/5 jh. Ermunduren)
und Baiern (Markomannen), deren sitze Tacitus an der mittleren
und unteren Elbe kennt, es waren kriegerische und politisch
hochentwickelte Völker, die in der germanischen Staatengeschichte
1 in der älteren deutschen litteratur erscheint sie zb. bei Otfried (Ad
monachos SGalli 149) : bruederscaf, und Otloh (Denkmäler3, nr S3, 65):
bruderscaft (lat. . . . ex fraternitatis communione).
2 daher der name der gilden, die gleich den confraternitäten ihren Ur-
sprung ebenfalls von der germanischen Schwurbruderschaft herleiten. — über
die französ. communiae und conjurationes des 12 — 14 jh.s vgl. Hefele Kon-
ziliengesch. v 665. 765. 8761". 919. 959. vi 543; Histor.-polit. Matter 51, 507ff;
EMayer Verf. gesch. i 524 — 554.
HAJNDGEMAL UND SCHWUBBUUDEBSCHAFT 361
eine bedeutende rolle spielen: das Markomannenreich des Maro-
boduus im alten Bojerlande, Irmiufrids thüringischer Staat, der
von der Elbe bis zur Donau reichte und im jähre 53t dem ver-
einten anstürme der Franken und Sachsen unterlag, das Lango-
bardenreich Alboins und Rolharis in Oberitalien, das erst durch
den grofsen Karl vernichtet wurde; sie alle beweisen, dafs in
diesen verwanten Völkern entgegen germanischer Unsitte ein zu-
sammenhaltender und staatenbildender geist lebte, dem sicherlich
auch die ausgestaltung der schwurbruderschaft und des hand-
gemals zugeschrieben werden mufs. Tacitus rechnet Langobarden,
Ermunduren und Markomannen zu der grofsen suebischen völker-
gruppe, deren religiösen und staatlichen mittelpunct der Sem-
nonenhain bildete; dort wurde der regnator omnium Dens1
(Tac. Germ. 39), Mars, der germanische Thiaz (altnord. Tyr,
alts. Tio, ahd. Ziu) verehrt, der gott des krieges und der Volks-
versammlung, wenn auch die Zugehörigkeit der Langobarden
und Ermunduren zu den Sueben bestritten wird — der haupt-
gott der Langobarden war in der tat Wodan — so kann doch
auch die alte nachbarschaft der drei stamme den übereinstimmen-
den brauch der schwurbruderschaft erklären, wol verliefse ndie
Markomannen im 1 , die Langobarden im 4 jh. ihre Stammsitze,
aber fortwährend blieben sie einander benachbart, wie auch ihre
spräche die gleiche entwicklung nahm; und als die Baiern im
6 jh. in Noricum, die Langobarden ein halbes Jahrhundert spater
in Oberitalien einwanderten , grenzten widerum ihre Staaten an-
einander, nur dass sie in umgekehrter reihenfolge safsen als zu
Tacitus Zeiten, vor das 4 — 5 jh., die Zeiten der Völkerwanderung,
wird schwerlich die ausbildung der schwurbruderschaft zu setzen
sein, aber gerade jene kriegerischen Zeitläufte , als die Baiern
noch in Bojohaim, die Langobarden in Pannonien safsen, waren
der Vereinigung zu treubünden besonders günstig.
Anmerkung. Handgemal und schwurbruderschaft hatte
ich bereits miteinander combiniert, als ich um Weihnachten 1906
die skizze von AMeister las. im juli 1907 war meine Studie in
der vorliegenden gestalt vollendet , als ich kenntnis von der ab-
haudlung Philecks erhielt : Das hantgemal des codex Falken-
1 praecipuus deorum Mars Tac. Hist. iv 64. — praesul bellorum
Jord. Get. c. 5.
362 SCHÖNHOFF IIANDGEMAL U. SCHWURBRUDERSCHAFT
steinensis und andrer fundstellen K Heck bringt zum handgemal
der Rihni und der Falkensteiner einige neue tatsachen bei, in-
dessen wird die vorliegende Studie durch seine darstellung in
keinem puncte verändert, zu s. 340 n. 3 (Ribnis familie) ist zur
litteratur nacbzutrageu : Hautbaler Salzburger traditionsurk., Cod.
Odalbert. ur 63; Egger Das Aribonenbaus, Arcbiv f. üsterr. gesch.
83, s. 409. 10.
1 Mitteilungen des instituts f. Österreich, geschichtsforschung, 28 bd,
1 heft (Innsbruck 1907) s. 1 — 51 (ausgegeben märz 1907).
Münster i. W. HERMANN SCHÖNHOFF.
Zu s. 353 ff.
(hantgem.ele in der kaiserchromk.)
leb übersetze die oben abgedruckte stelle, über die ich mich
im glossar s. z. nicht ausgelassen bähe, jetzt so : 'Damals herschte in
Rom die sitte, dass sogut wie jeder edelmann bestrebt war, ein
denkmal zu schaffen, das sein gedächtnis für alle zeit festhalten
sollte. Helius Pertinax (der diesem brauch folgte) wählte sich
dafür den bau eines prächtigen spielhauses'. Schünhoff begeht
zunächst den fehler, dass er das hantgemcele des ersten absatzes
mit dem spilhüs des zweiten gleichsetzt, während doch deut-
lich von dem allgemeinen zum speciellen fortgeschritten wird, für
spühüs aber gibt das glossar noch eine frühere stelle an die hand,
wo ein Zusammenhang mit hantgemcele uicht vorligt; unter Titus
heifst es v. 5485 f : Bi den ziten was ze Körne ain spilhüs, gehaizen
was iz asilus. beide erzählungen gehu auf jene quelle, eine
fahulose Sammlung von 'Mirabilia urbis Romae' zurück, die ich
in der einleitung s. 66 erschlossen habe : an der früheren stelle
ist dorther der ausdruck asilus mit falscher form (*theatrum quod
vocabant asylum) entnommen, an der späteren erblick ich die
spur des lateinischen Wortlauts eben in dem deutschen worte
hanige male', denn dies übersetzt, wie ich oben andeutele, eiufach
ein lateinisches monumentum, des weitern sinnes wie die Römer
diesen ausdruck brauchten : 'alles was das andenken an eine
person oder sache erhält : gebäude, tempel, Statuen, galerieen'.
dass dabei eine eutstellung oder etymologie (*manumentum) mit-
wirkte, ist möglich aber nicht notwendig, die berührung dieses
hantgemcele mit wort und sache im rechtlichen sinne (soviel die
spätere zeit überhaupt davon bewahrte) ligt darin, dass beide in
irgend einer sichtbaren form die Zugehörigkeit einer person fest-
halten oder beweisen, man vgl. insbesondere die Parzivalslelle:
hantgemcelde, daz man mähte sehen usw. und in der Kaiserchronik:
hantgemcele, daz man iemer von im sagete ze mcBre. E. S.
MITTELHOCHDEUTSCHE FRAUENGEBETE
IN UPSALA.
Die Universitätsbibliothek zu Upsala besitzt einige brück-
st ticke zum teil gereimter mittelhochdeutscher gebete, die wol noch
aus dem 12 oder 13 jh. stammen und deren verwantschaft mit
der durch die Vorauer und Milstätter sündenklage u. ä. ver-
tretenen gattung unverkennbar scheint, toie die bei Diemer s. 37 5 ff
abgedruckten Vorauer gebete und verschiedene von den uns er-
haltenen prosabitten werden sie einer frau in den mund gelegt ; es
geht dies aus mehreren stellen soicol in dem gereimten wie in dem
prosaischen text hervor, in ihrer ganzheit mögen die bruchstücke
reste einer für den gebrauch eines nonnenklosters abgefassten
gebet ssammlung darstellen, ihr nebeneinander von bitten, in denen
Gott und Clnistus und neben ihnen um ihre hilfe oder fürbitte
die heilige Jungfrau, SMichael und die enget, der täufer und der
apostel Petrus angerufen werden, mahnt an den aufbau von sünden-
bekenntnis und litanei oder an ein gebet an Gott und alle heiligen
(zb. Anselm Cant. nr 36). als teile einer gereimten litanei (s. zb.
Mone Hymn. 625. 627. 628) können wenigstens die dicht auf-
einanderfolgenden bitten an SMichael, SGabriel usw. und den
Johannes Baptista gelten, wie in Heinrichs litanei in ihrer jüngeren
fassung befindet sich unter den angerufenen heiligen auch Johannes
der evangelist und die Maria Magdalena, ähnlich oder zum teil
ähnlich angelegte gebetssammlungen werden aus dem 12 jh. mehr-
fach überliefert sein, es gentige die lateinischen frauengebete mit
deutschen reimtiberschriften in dem Zs. 20,184/f beschriebenen
SLambrechter gebetbuch zu erwähnen , oder die neuerdings von
Schönbach veröffentlichten Klagenfurter gebetbruchstücke, in denen
das gemisch von reim und prosa an die vorliegenden erinnert.
Die Matter, 4 doppelbll. perg., stammen aus der incunabel
35 : 63, nr 1196 des jetzt fertiggedruckten katalogs (JCollijn Die
incunabeln der kgl. Universitätsbibliothek in Upsala), gr. folio,
Nürnberg, Andreas Frisner et Johann Sensenschmid, 7. 10. 1476,
früher im besitz der domeapitularbibliothek in Olmütz (inhalt:
Petrus de Monte Brixiensis, Repertorium utriusque juris P. 1, 2);
sie sind neuerdings von dem vorder- und hinterdeckel derselben, wo
sie zu zwei freien Vorsatzblättern in der ungefähren grö/se
364 PS1LANDER
41*/2 x30 cm zusammengeklebt waren, abgelöst und der bruchstück-
sammlung der bibliolhek beigelegt worden.
Von den vier doppelblättern gehören drei, die ich unten i 1 — 6
bezeichne, unziceifelhaft inhaltlich zusammen; sie haben die drei
inneren blälter einer und derselben läge gebildet, von dem vierten
doppelblatt, unten n bezeichnet, kommt hier nur die eine hälfte n 1
in betracht, die andere enthält lateinische gebete (Protege usw.).
Erhalten in der urspr. gröfse oder wenig beschnitten sind von
den acht blättern nur i 5 und i 6 ; sie haben eine höhe von ca.
24 cm. und eine breite von I6V2 bis 17 cm. die schriftcolumne
beträgt 19' ,'■> x 12 > 2 cm.; die inneren und äufseren ränder sind
je 2 cm breit; 20 Zeilen gehn auf die seite. — bl. 1 1 und 1 2
sind in ihrer höhe vollständig, aber am äufseren rande schräg
beschnitten, so dass die breite der schriftcolumne von oben nach
tinten gerechnet auf bl. 1 ca. 10, 9 bis 10, 8 cm. beträgt, auf bl. 2
etwa 12, 2 bis 11, 7 cm. — 6/. 1 3 ist* in der breite vollständig,
unten abgeschnitten , die schriftcolumne 16, 2 cm. hoch; die drei
unteren Zeilen fehlen. — bl. 1 4 ist sowol unten wie am äufseren
rande beschnitten; beschriebener räum 16, 2x11, 2 bis 11, 5 cm.;
vier zeilen fehlen. — bl. n 1 unten abgeschnitten , beschriebener
räum 16 72 cm. hoch; drei zeilen fehlen.
Die schrift, ca 4 mm. hoch, ist deutlich und gut erhalten,
nur an icenigen stellen etwas abgegriffen, ihre züge weisen rcol
auf das ende des 12 oder den beginn des 13 jh.s. die anfangs-
buch staben der abschnitte sind rot-grün (bl. 1 1. 2), rot-blau (1 3.
4. 5) oder rot- grün-blau (bl. 11 1. 2) zu sinnbildlichen figuren,
tierbildern usw. ausgemalt, von kleineren, rot, grün oder blau
fingierten initialen ohne Verzierung stehn drei, unten z. 116, 141
und 149, am beginn neuer gebete oder abschnitte, an der ersten
stelle ohne absatz, nur vom vorausgehnden abgerückt, die verse
der reimgebete sind nicht abgesetzt, sondern durch reimpuncte
getrennt, eine — ziemlich tcülkürUche — interpunction findet
sich auch in den prosagebeten.
Die spräche der bruchstücke ist oberdeutsch, wol bairisch. ich
verzeichne bair. eu für in : n. sg. f. ellev z. 178, armev z. 182.
225; weitere beispiele 51. 130; n. pl. n. sibinev z. 105; a. pl. n.
disev z. 218; ferner ch für c in lach %. 29, lach z. 105, mach
z. 211, Bair. gr. § 186; prät. kom usw. z. 44. 62. 146. 155.
236. 237. — bairisch oder vorzugsweise bair. lichname z. 99.
M11D. FRAUENGEBETE IN UPSALA 365
106; part. präs. -unde, z. 115; 2 sg. prät. braehte z. 150;
obd. prät. bildot z. 74. — </e<7CH bairischen dialekt spricht nicht
molite ».31. 123. 130 als gemeinmhd. form für echtbair. mähte.
im ganzen ist die mundart wenig ausgeprägt gegenüber der gemein-
mhd. Schreibweise, durchgängig steht für den alten diphthongeu ei
gegen (überwiegendes) ei neben ai im bair. des 12 nnd 13 jh.s,
Weinh. MM. gr. § 123, Bair. gr. § 76. ebenso im anlaut überall
b, niemals p, für germ. b, un'e »6. a»/c/j m der Vorauer 5(/A7.
(Vorauer hs. bl. 125a— 12Sb) : Weinh. Mhd. gr. § 159, Bair. gr.
§ 121 führt eine reihe von bair. hss. des 12 und 13 jh.s an, in
denen b üfter p überwigt, als beispiele der Seltenheit des p besonders
Windberg, ps., Benedictb. pred., Wernh. Maria A. weniger zum
bairischen schreibgebrauch stimmt die regelmäfsige Verwendung von
k statt ch als beginnlelter in worten und selbständigen wortteilen :
kom, kini, künden, dckein, erkenueu usw. (echtbair. chom usw.)
gegenüber werchin ». 30, gedenche ». 221. 233 usio. (nur einmal
im fremdwort cliore z. 119 neben köre z. 169). vielleicht darf
aus dem gesamtcharakter der spräche gefolgert werden, dass die hs.
eher aus dem norden oder westen als aus dem Südosten des bair.
dialektgebietes stamme.
Unter den auf unseren bruchstücken enthaltenen gebeten mag
das reimgebet an die heilige Maria Magdalena, unten ». 14 — 69,
eine besondere aufmerksamkeit verdienen, es entstammt in seinem
zweiten teile, z. 42 — 69, dem 74 gebete des Anselm von Canter-
bury. der beginn von Ansehn s gebet : sancta Maria Magdalena,
quae cum fönte lacrimarum ad loutem misericordiae Christum
venisti, de quo ardenter sitiens abundaoter es refociliata, per
quem peccatrix es justificata, a quo amarissime dolens dulcissime
es consolata; tu domiua mea carissima, per temet ipsam es ex-
perta, qualiter peccatrix anima creatori suo reconcilietur, quod
consilium miserae animae expediat, quae mediciua languenti salu-
tem reslituat. satis enim scimus, cara amica dei, cui dimissa
sunt peccata multa, quoniam dilexit multum kehrt offenbar bei-
nahe wort für wort in dem deutschen gedieht wider, von dem
Wortlaut bei Anselm entfernen sich erheblicher erst die Zeilen 59
bis 62 ; sie gemahnen, freilich etwas entfernt, an die Vorauer
Sündenklage v. 62 ff (Diem. 296, 19). das in z. 61 unvollständig
erhaltene wort mag irgend eine der Sünden bezeichnen, die nach
den kirchlichen Schriftstellern zusammen die erbsünde — den siech-
366 PS1LANDER
Uiom z. 62 — constituieren , demnach die avaritia, die luxuria
oder gula — die Vor. Sdkl. nennt v. 76 (Diem. 296, 29) die
chelgitecheit als die sünde Adams — oder auch die superbia, die
vaua gloria. der zusatz gegenüber dem lateinischen gebet z. 65
entspricht den in der Maria Magdalenenlitteratur — vgl. zb. Hart-
manns Credo v. 2123, Mone Hymn. 1054 — typischen worten
in domo Simonis leprosi Matth. 26, 6, Marc. 14,3; die beiden
schlussverse z. 68/" knüpfen an Luc. 10,39 an. der rest des
gedichtes, z. 14 — 41, steht in keiner näheren beziehung zu Anselms
gebet und bewegt sich in herkömmlichen gedanken und ausdrücken,
z. 28 — 34 in deutlicher anlehnung an die römische beichtformel.
dem herkömmlichen gehört auch an die bitte um hilfe gegen den
teufel, der die ungebeichteten Sünden verzeichnet, um im jüngsten
gericht als zeuge gegen den sünder aufzutreten : z. 16 ff, vgl. Milst.
Sdkl. 330//; Heinr. Lit. Fundgr. n 227, 11 ff.
Bei dem formelhaften Charakter der stücke finden sich überall
anklänge an andere erzeugnisse der geistlichen dichtung des 12 und
\Z jh.s ; es wäre eine leichte mühe, aus ihr gleichlautende Wen-
dungen zu fast jedem verse anzuführen, vielleicht ist eine engere
beziehung zu der Vorauer Sündenklage nicht zu leugnen, aller-
dings gelten die Übereinstimmungen meist ausdrücken und gedanken,
die als gemeingut der gattung angesehen werden können oder sonst
von geringer beweiskraft sind, von stellen, die vielleicht in unsern
reimgebeten nachklingen, verzeichne ich aus der Sündenklage v. 18 ff
{Diem. 295. 14//"): du wis hiute eio böte ao dioeo eiuboro
sun . . . der allez maochuDoe enbant, trüt frouwe, mit dir
zu sineo hulden hilf du mir. — 'SO ff (295, 22 ff) : du bevilhe
ich, frouwe, miueo geist zu [diner] helve, wäriu maget, ... ja
getrüwe ich dir verre, himelisgiu chuDigione! wie verre
ich ao dich diüge daz heil miner sßle! — 44 ff (296,
8ff): ze s6le unde ze Übe gelrüwe ich vil wol dir, ein
böte wis hiute mir an den heiligen Crist; ein teil
du mirs sculdig bist daz du mir helvest umbe got. — 62 /f
(296, 19/f) : du verdilige mioe sunde unde heile miner sßle,
die hulde mines hörren di hilf mir gewinnen, damit
vgl. unten reimgebete z. Sff : des hilf du mir, hßrre (= des hilf du
mir, trehtin Sdkl. 734, Diem. 313, 3) want ich getrüwe dir
vil verre in allen minen dingen, ich wil an dich gedingen
daz du mir behalte ft s6le unt lip. — 21 ff: wir sundaere
MHD. FRAUENGEBETE IN UPSALA 367
hau des guten gedingen, frouvve, ze dir, niht ne zulvelen
wir. — 56//": wie da sol gewinnen diu sundige s6le die
huld ire hörren nu soltu miner armen söle
gewinnen ir hßrren buhle, unt irvvirf mir den um
da von kom uns der siechlum. — 128 : du wis min böte ze
dem heiligen krisle; aufserdem findet sich noch manches überein-
stimmende in formelhaften Wendungen und reimen, im ganzen aber
zu wenig, um einen directen Zusammenhang ohne vorbehält zu
behaupten.
Den gereimten stücken ist wol auch das z. 2[\ ff endende
gebet, wahrscheinlich ein reimgebet an Gott, zuzuzählen, von den
prosabitten, die gelegentliche reime und rhythmische sätze aufweisen,
wie sie die geistliche prosa der reimpredigt entlehnt, ist das gebet
an den heiligen Petrus z. 70 — 109 bereits aus anderweitiger Über-
lieferung bekannt, es ist das nämliche gebet, das WWackernagel
zuerst Altd. leseb. 275 ff (== Altd. pred. u. geb. nr 77 s. 211 f) aus
der gleichfalls franengebete enthaltenden hs. von Muri (12 jh.) ver-
öffentlichte; auf einen näheren vergleich zwischen der alemanni-
schen fassung und der vorliegenden darf ich hier verzichten;
beide gehn wol auf das gleiche lateinische gebet zurück, aus latei-
nischen vorlagen stammen gewis auch die Mariengebete und das
gebet an Christus z. 181 ff, das letztere aus irgend einer oratio
ad deum et omnes sanctos (vgl. Anselm 15 und 39, Otlohs
gebet usw.).
Die gebete unserer Sammlung könnten im einzelnen verschie-
dener Herkunft sein, die reime der poetischen bitten entbehren
ausgeprägter dialektformen, widersprechen aber nicht dem bairisch-
ö st er reichischen des 12 jh.s. der reim harte : worte s. 67 könnte
sogar ein beweis bairischer herkunft sein, wenn er nicht eher als
technisch unvollkommen zu gelten hätte, nach Baiern oder Oster-
reich weisen sowol Vorauer Sdkl. wie sonstige reimgebete der
gattung bis auf die aus jüngerer zeit stammende sog. Bair. Sünden-
klage Zs. 18, 137 — 144, in der Schönbach einen sicheren anklang
an seine Klagenfurter gebete feststellt, unter den märtyrern, die
im gebet an Christus und alle heiligen z. 205 ff angerufen werden,
finden sich auch heilige, die besonders in Baiern verehrt wurden,
mit der märtyrerliste in Otlohs gebet trifft die auf Zählung, abge-
sehen von den traditionell an der spitze stehnden Stephan und
Laurentius noch in acht namen : Hippolitus, Vincentius, Kilianus,
368 PSILANDER
Georgias, Vitus, Mauritius, üionysius und Sebastianus zusammen;
sieben von den märtyrern : Georgins, Blasius, Vitus, Dionysius,
Pantahon, Chrisloforus, Eustachius sind unter den später als not-
helfer verehrten heiligen, deren cultus sich allmählich von der oberen
Maingegend aus über Deutschland verbreitet haben soll, aus alledem
eine besiehung zu Baiern, spec. SEmmeram, dem classischen ort
für ahd. gebete, zu folgern, wäre kaum statthaft, da ausführliche
heiligenlisten wie die vorliegende aus verschiedenen gegenden mehrere
gemeinsame namen aufweisen können oder müssen.
Die altertümliche metrik : übergewicht klingender ausgänge,
häufigkeit vierhebig klingender verse, ungenügende reime, weist wol
auf die zweite hälfte des 12 jh.s. allerdings ist die enge anleh-
nung an die lateinische vorläge schuld an denjenigen reimen, die
am meisten gegen eine spätere verskunst verstofsen : z. 42. 45.
59. 65 und wol z. 6.
In dem folgenden abdruck sind ergänzungen des fortgeschnit-
tenen in klammern gegeben, unsichere, nur in spuren erhaltene
buchstaben und worte cursiv bezeichnet, lücken im text bei fehlen-
den zeilen der hs. durch puncle, bei iveggeschnittenen buchstaben durch
doppelpuncte angedeutet, die gröfseren abschnittsinitialen sind fett,
kleinere farbige initialen halbfett gedruckt, die Zeilenschlüsse durch
senkrechte striche kenntlich gemacht.
i
l la llerre fce Johannes ewngelifte,
ein [heili]|ger gotes trut du bift.
nu hilf mi[r umbe] | den heiligen krift,
daz er fich erbarme
[über] | mich uil arme 5
unt mich befchirme
[5] uo[r den] | ubelen raeten miner uiende;
des hilf d[u mir] | herre,
want ich getruwe dir uil uerre.
[in al]|len miuen dingen, 10
ich wil an dich gedi[ngen] | ,
daz du mir bebalteft feie unt lip,
wan[t ich] | bin din uil armez dieneft wip.
4/ 'formelhaft und häufig wie auch 16 f. 24/" ua. 9 wände ich
dir getruwe verre Vor. frauengeb. Diem. 377, 2, vgl. auch Vor. Sdkl. 34,
Diem. 296, 1, Greg. 596 usw.
MHD. FRAUENGEBETE IN ÜPSALA 369
[10] J.^ rowe fcä Maria magdalena,
ich [beuilhe] | dir minen lip unt mine feie. 15
(lurc[h die] | dine guete
uor dem tieuel mich behüt[e.
er uir]|hrieuet mine funde:
er wil fi ze urkun[de
ze] | iungeft füre bringen. 20
[15] wir fundaere ha[n des] | uil guten gedingeu,
frowe, zu dir.
niht [ne zui] | uelen wir;
want got dich erlofte
uns a[rmeu] | ze Irofte 25
uon den feibin dingen,
da wi[r mite] | ringen.
min unreht ift maneger flach[t,
michel] | funde tach unt nacht
[20] mit willen un[t mit] | vverchin. 30
wie mohlich armiv gemerc[hen]
i 1 b [die fu]nde hovbelhafte,
die ich han gefrumet | [ofte]
mit hure unt mit meineiden?
minner | [dan e\]n heidin 35
forhtich der feie ;
der funden | [du d]ich heele.
nu riwet iz mich ze fpate,
[5] nu | [iz wir]* uil drate,
daz ich den lip fol uirenden j 40
[in di]fem eilende.
Nu frowe fcä Maria mag|[dalen]e,
du mit brunnen der zacheren
kome | [ze unf]erme herren,
der da ift ein brunne der | [gnade]n; 45
da du wurde enphangen,
15 formelh. Lit. fundgr. n 234, 18. 25 oder allen; formelh.
23/7" vgl. beichtformel multa quidem et innumerabilia sunt peccata mea,
quae recordari nequeo in factis in dictis et in cogitationibus. 36 forhuch ?
38 Rödiger zu Milst. Sdkl. 167 (Zs. 20, 285) usw. 40 swenne ich disen
lip verende Vor. Sdkl. 187 (üiem. 299, 15); unze wir disen lip verenden
Lit. fundgr. n 230, 17.
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 24
370 PSILANDER
[10] do du dur|[ftend]e hiceliche
gelabet wurde genuhtecliche | ;
[da du] der funden inne
gewafcheu wurde | [uzen] unt inne; 50
da du geferigetev biterliche |
[gefrov]et wurde fuzecliche.
Frowe fcä Maria | ,
[15] : : : : Zeft gotes trutinne,
du haft felbe befun|[den 55
w]ie da fol gewinnen
div fundige feie
die | [hulde i]r berreu.
nu foltu miner armen feie
ge|[winne]n ir herren hulde, 60
unt irwirf mir den | : : : : : um,
da uon kom uns der fiechtum|;
[dannejn ich erkenne
die gotes friundinne | ,
[20] [der in] des mifelfuchtigen hufe 65
i 2a uirgaebin wur|)din ir funde,
want fi minnete got uil harte:
e[r] | fi dicke mante
mit werchin unt worten | .
Oerre fce petre, din gnade fuchich fun[di] | giv; dines gewae- 70
gedes unt dines geding[es] | bitich dich unwirdige umbe die not
unt u[m]|be die angeft, da ich bin mit beuangen. Geh[uge] | wol,
herre fce petre, der gnaden, die unfer h[erre] | über dich tet,
do er dich uon erde ze mennef[chen] | bildot, fam er uns fun-
49 /. dev sunderinne? 54 oder : : : : rfeft ? — bei Anselm im fol-
genden electa dilectrix dei; zum reim vgl. Marien : kuninginne Glouben 1964
60 hulde gewinnen Rüdiger zu Milst. Sdkl. 315 61 irwirf mir
ldepelle a me' — : : : : tum oder : : : : rum ? vgl. Bamb. beichte 133 : ich
habe gesundot in üppiger guotlichi, in ruome etc., und spuan er...inan
. . . zi gire ioh zi ruame etc. Otfr. n 5. 1 ff = hunc videlicet gula et ava-
ritia et vana gloria tentavit Hab. Maur. zu Malth. 4, 3 ff 70 ich bitte
gewegedes unte gedinges . . . minen herren sancte Petrum etc. Benedictb.
beichte i 31 74 formelh. und rhylhm. = als er uns alle hat getan
Muri, Wackernagel nr 77, 7. so auch 92 : der ich nu gemanit han
#\ 77, 28; vgl. also du si alle hast getan der ich dich gemant han
Klagenf. Geb. 5.
6
MHD. FRAUENGEBETE IN UPSALA 371
digen hat getan, daz [du] | mir gnadeft, als dir unfer herre gna- 75
dete, d[o] | er dich im felbem nande muler unt fwefi[er] | unt dar
nach friunt. Hill' mir herre fce pe[tre] | , uon allen minen noten
uon allen minen a[ngel'J|ten, all' du den gwalt enphangen haft uon
[un]|ferme herren dem almehtigen gole. Gehug[e] | wol, herre fce
petre, der gnaden die unler [her]|re ubir dich tet, darnach do 80
du fin uir lovg[netes] | eines nahtes driftuut unt dar nach diu
he[rze] | mit fere uut mit fmerzen beuienge umb[e] | den tivren
i 2 b tot unfers herren unt umbe d[ie] || /unte, die du an im getan
bete, wie er dir do | gnadete in allen dinen angelten unt in allen |
[d]inen noten. alfo hilf du mir, herre fce petre j , [djurch minne 85
des heiligeu cruces unfers herren | [d]es almehtigen gotes, uon
den noten unt uon | [d]en angiften, da ich mit beuangen bin.
Gehu|[g]e, herre fce petre, der mandunge do din heili|[g]ez herze
mit getroftet wart, do unfer herre J [ujou dem tode erflunt unt
dir daz künden | [hijez mit den heiligen apfis, wie er hin in 90
»alileä J fl'ujre, wie er in da gefaehin folde. Herre fce petre |,
[ic]/j bite dich unt befwer dich durch der gna|[denj der ich gemant
hau, daz du mir umbe un|[fejren herren helfeft, daz er min | fer
unt min angeft | [un]t alle mine not gefemfle, da ich nu mit
be|[ua]ngen bin. Ich bite dich, herre fce petre, in j [unjferes 95
herreu namen unt in der minne des | [heijligen kriftes, daz du
gehugende fift der gna|[de]n, die unfer herre got über dich tet,
i 3a do dich | [hejrodes gebant in fibin fteten, den dinen üil | hei-
ligen lichnamen mit den ifenen keten. | Gehuge wol, herre fce petre,
wie dich unfer j herre enbant uut erlofte uon der uiende ge|walt. 100
Nu erbite mir uon dem feibin urlofaerej, daz er mich erlofe durch
fine gnade unt durch | dine minne uon den noten da ich mit be-
uan|gen bin, alfo dich unfer herre got erlofte uon | der uinfterniffe
des karcksres unt uon den | gebenden herodis. De gebende waren
fibinev J : der lach einez umbe den dinen uil heren hals, | einezlOS
umbe den dinen lichnamen, zwei umbe j dinen ellebogen, einez
umbe dine hende, einez j umbe dine (uze. uon den gebenden allen
famen | erlofte dich unfer herre. alfo erlofe du mich | uon allen man-
nen unt wiben, die mir dekein | not tun ode dekeiner freife uaren |.
93 herren fehlt 98 do d. h. g. in sibin stetin . mit isinin chetin
Muri W. 77,33; auch sonst reime : enbant : gewalt 100, kint : enphienc 152,
sunterinne : willen 182, dir : mir 227 99 mit] unt? 104 de] /. der?
24*
372 PSILANDER
i 3b Herre hilf mir umbe alle mine not : : : : : | . . . || fei petri 110
gnade unt der heiligen zwelf bo|ten unt aller gotes heiligen
umbe alle die | not unt umbe alle die angeft, da ich nu | mit
beuangen bin. Jch bite dich |, herre got, diner gnaden unt aller
diner hei|ligen, gewegedes, daz miner uiende wille | au mir icht
irfullet werde; des bitich al [ waltunder got. 115
J£erre fee michael |,
fee raphael, fee gabriel,
[10] wegit miner armen | feie.
alle himelifche chore,
die muzen mich | erhören. 120
ia ne wart ich nie getriwe uoch | gewaere
dem minem feephaere.
wie moh|tich armiv denne genefin,
ir en woldit min | helfere waefin.
helfet mir alle gotes holden | , 125
[15] daz er mir werde unerbolgen | .
lierre fee Johannes baptifte,
du wis min | böte ze dem heiligtn krifte,
daz er mich j . . .
i4a wie mohtich fundigev widir zu im ged[ingen]|, 130
ir ne woldet mich widir bringen,
nu h[ilf], | tovfaere here,
daz ich mich bekere,
daz [ich] | durch mine funde
icht geualle in daz [abe]|grund[e]. 135
ileiligeu frowe fcä Maria | , ich bite dich durch die frovde die
[du] | hete, do dir fei gabriel der heiliger eng[el] | erfchein, unt
110 halb weggeschnitten 114 daz inheinis minis uiendis wille
iemir an mir irvullit werde Muri W. 85, 35 = Vor. frauengeb. Diem. 376,6:
e ane mir werde ervullet deheines mines uiendes wille 116 nu bevilch
sanet Michaele die angest diner sele etc. SLambr. gebete, Zs. 20, 185
119/- formelh. vgl. Lit. fundgr. n 232, 15 und bes. SLambr. geb., Zs. 20,
186 : diz gebet ist von allen himeüschen chören nu ruofe wir si an daz
si uns erhören 123^ er seol unser helfere wesen daz wir alle genesen
Adelbr. Joh. Bap. 262 128 von böte in der halb weggeschnittenen
zeile nur geringe, aber wol sichere spuren — der ausdruck ist formel-
haft : Vor. Sdkl. 18. 46. 216 {Diem. 295, 14. 296, 9. 300, 9), Arnst. Ml. 222
MO f vgl. 123/".
MHD. FRAUENGEBETE IN UPSALA 373
durch den gru[z da] | da mite er dich gruzte, do er dir die bote-
fchaft 6[rah]|te, daz du gotes muter foldeft werdin; d[u] | trofte
mich in difen noten. | 140
Qaude di genitrix uirgo immaculata, [gaujlde que gaudium
eterni luminis claritat[is] | fufefpifti, gaude mater, gaude fcä di
gen*'[trix] | , uirgo tu fola mater innupta, te laudat o[mnis] |
i 4b creatura genit'cem luminis; fis p nobis gl : : : | . . . . || [die]
hirte heten an der nacht, do in die en|[gel] kunten den fride untl45
die gnade, div allen | [men]nefken kom ze fride unt ze gnaden
uon | [krifte]s geburte; fo erhöre mich unt gefrowe | [mic]h in
minen angeften . AMeN.
Frowe fcä Maria durch | [die fjrovde die du hete, do du
dinen trut fun | [ze d]em bethufe brsehte, fo getrofte mich al|[fam]l50
der faelige fymeon getroftet wart unt | [gefrjowt, do er daz heilige
kint an finen arm | [enp]hiench, des er lange gegert hete; alfo
[mu]ze ich irhoret werdin unt gefrowt in | [min]en noten.
lleiligiv frowe fcä Maria, | durch die frovde die du hete, do
i 5a die | kunige uon ir lande komen unt die | . . . . || mich in 155
difen noten |
Jprowe fcä Maria, durch | die frovde die du hete, do din | trut
fun uon dem tode erftunt, an des mar|ter din feie gewundit
wart, unt als himel | unt erde unt alle gotes gefchephede gefrovt |
wart uon finer urftende; alfo muze ich uon | diuer helfe gefrovt 160
werdin an difen angeften.
£ rowe fcä Maria, durch die frovde die du | hete, do din uil
liebir fun uon dem tode erftunt mit dem men]nefclichen lich-
namen, den er uon dir enphan|gen hete, unt ze himel für; unt
do du mit | dinen ovgen faehe, daz div mennefcheit erho|het wart 165
ubir die köre, die du nitin manode | in dinem übe getragen hete;
fo gelichet mir | dife angeft unt gefrow mich nach dinen gna|den.
Xleiligev frowe fca Maria, durch die frovde | die din heilige feie
i 5b hete, do fie erhöhet || wart ubir die köre der heiligen engel;
durch | die frovde die du hete unt iemir an ende mit | dinem 170
140 magnificat etc. aue etc. hier und nach den folgenden Marien-
gebelen 141 vgl. 174 ff 145 in] im 152 er] es 155 von der
folgenden hsl. zeile ist nur das letzte wort durch in spuren erhallen
163 uon dem lode erftunt fehlt.
374 PSILANDER
heiligen kinde haben folt, der uon dine | magellichem übe geborn
wart, mit dem du | iemir folt richfen; du gefrov mich in difie
anjgeften unt in allen minen noten mines libes | unt miner feie.
(jrotes muter, frowe dich, | umbewollenev maget, du die frovde
en|phangen haft uon dem engel, frowe dich daz | dir geborn ift 175
der fchin des ewigen liehtes | ; frowe dich muter, frowe dich
ewige maget, | gotes muter; du bift ein beflozene muter; dich |
lobet ellev gotes gefchephede, als uon rehte [ eine muter des
ewigen libes; du wis uns wi|dir dinen fun ein ewige helferinne.
AMeN. | 180
Jrierre ihu xpe, troft aller der die dich | in noten unt in angeften
fuechint, ich | armev lunterinne bite dich durch diner | heiligen
i 6a geburle willen unt durch dine || marter unt durch din heiligez
cruce. Ich bite [ dich durch die not unt durch die angeft | die
du hete do du diner marter uahenteft |. Ich bite dich durch deslS5
gebetes willen daz | du bsete dinen uater, daz er dich der mar|ter
ubir hübe, obez fin mohte. Ich bite dich | durch den fweiz der
in blutes wife uon dir ran | , unt durch den ruf den du riefe
an dem hei|ligen cruce, do du riefe : herre got, herre got | , wie
hafte mich fo uirlazen. Ich bite dich her|re durch dinen tot, 190
durch diu blut, durch diu | urftende, durch din uf uart. Ich bite
dich | durch alle die gnade unt barmunge, die du | dem men-
nefchen erzeiget haft, daz du mich | getrofleft unt mir min un-
frowde fchiere | ze frowden uirwandeleft, unt mir mine not | unt
min angeft zefüreft, alf du zefurteft | die helle floz an der 195
nacht, do dine erwellen | da uznseme, unt alf du zefurteft die
i 6b gebeude | fei pet1; alfo bite ich dich herre, daz du durch || din
underdige min angeft zefüreft unt | benemift. Ich bite dich herre
durch willen diner heiligeu muter miner frowen | fee Mserien unt
durch willen der heiligen | erzengele Michaelis, gab^lis. raphaelis. | 200
unt alles engelifchen heres. Ich bite dich | herre durch den willen
diner heiligen pal'archen unt durch den willen diner heili|gen
wiffagen. Ich bite dich durch den wil|len diner heiligen zwelf
boten fei petri. | pauli. andree. iohannis. unt aller diner iuu|geren.
172 /. disen 174 die tat. vorläge dieser bitte ist nach dem ersten
Mariengebet z. 141 ff in den deutschen text hineingeraten 175 en-
phangeft 179 /. liehtes nach 144 182 mir armen sundarinne durch
diner geburte willen Vor. frauengeb. Diem. 375, 15.
MHD. FRAUENGEBETE IN UPSALA 375
Ich bite dich durch den willen diner | heiligen marteraere flephani 2o:>
laurentij : | liippoliti. Vincentij. Kyliani. Blafij. Georij. | Cofme
damianj. Viti. Mauricij. Dyonifij | pantaleymouis. agapitj. xpofori.
Johannis | & pauli. ofwaldi euftachij. Fabiani. Sebafti|aui. unt
durch aller der willen, die ie dekein | marter erliten in dinem
namen. Ich bite dich | herre durch den willen diner babifte unt 1 210
II
ii la mit ir minne niemen mach dine hulde gwinne. | Ds miferereatur
ort. Pater Ilr . Credo in dnu | gci fpc quefumus domine corda
nrä mundet [ infufio. & fui roris intima afpfione fecuudet. p |
IVlifericors dne qui chananeam et publicanü | uocafti ad peniten-215
tiam et petrum lac'mante | fufcepifti, J)u uirggebe fco petro, do
er weinde, daz er din het uirlovgent unt dich uir|fworn hete.
Du uirgebe dem publicano alle fine | funde durch difev wort,
die er zu dir fprach | : £)s «ppicius efto m1 peccatori. mit den
feibin wor|ten fo gnade du mir uil funtigen mennefchen; | unt 220
gewer mich miner bete in nomine dni aM. | JJerre gedenche an
die chananeam, div dich | bat umbe ir tohter daz du fi gefuut
mahteft | . fiv rief zu dir mit difen Worten : ltiu fili dauid, |
ii lb miferere mei. die erhortiftu do, die gewertes d : : | . . . || herre,
nu bin ich din uil armev div für dich ko|nien unt han hie für 225
dich braht mine tohter ( , die mine uil armen feie unt andir
min angeft | . Nu rufe ich zu dir: ltiu fili di gnade mir: gewer |
mich miner bet. daz werde war in nomine dni . aM |. Alfo
du zir fpraeche, alfo fprich du zu mir : deftu | gebetin habeft,
des fiftu gewert, uade in pace |. Herre du gewertes den lat°nem'-30
dines himelriches j umbe daz er fprach : Memento mei dne, du
uensis | in regnum tuum. Do antwurteft du im hie mite|: Amen
dico t1: hodie mecü eris in paradyfo. Geden[che min, herre, in
dinem riche unt gewer mich | des ich dich bile. daz werde war
in nomine dni . aM [. Herre, du uirgeebe Marien magdalenen 235
uil michel | ir funde. div kom zu dir in des mifelfuhtigen fy |
monis hus, der dich geladet het ze finer wirt|fchefte. Div kom
uile fchamende undir die mene. |
208 unde dur allir der willen die ie dihein itewiz odir diheine martire
dur dine minne irliten Muri, ff. 85, 31/' 212 Sancti spiritus domine
corda nostra mundet etc. auch Muri, IV. s. 286 231 /. cum.
Upsala. HJ. PS1LANDER.
MITTELDEUTSCHE WECHSELSTROPHEN
UND SCHERZLIEDER.
Unter den deutschen Handschrift fragmenten der königlichen
bibliolhek in Stockholm finden sich zwei ursprünglich zusammen-
hängende, jetzt von einander losgerissene papierblätter, zweispaltig,
in der gröfse 35 lfe x 25 cm, die nach den auf ihnen enthaltenen
Zeichnungen und den schriftzügen des reimtextes ins ende des \hjh.s
gehören, dazu stimmt auch, wie mich Boethe belehrt, der charakter
der stücke, die zuweilen an den ton der fastnachtspiele erinnern,
und vielleicht die erwähnung der Eussiten (in 3). nach einer blei-
stiftnotiz auf dem umschlage ist das fragment 1884 aus dem
reichsarchiv in die königliche bibliolhek gekommen, die mundart
des textes ist offenbar die westmitteldeutsche ; das eigentliche nieder-
rheinische und mosel fränkische bleibt ausgeschlossen, so dass vielleicht
am ehesten der rheinpfälzische oder rheinhessische, jedes falls ein
rhein fränkischer dialekt in betracht kommt.
Die Strophen in stück i sind zweizeilig in verspaaren {lang-
zeilen) geschrieben ; die verse der beiden lieder (ii. in) sind abgesetzt.
Bl. lr und lv : acht bilder, frauen in nonnentracht darstellend;
unter jedem bild der name der Schwester: lra Lyfe, Bio gel;
lrb Konigunt, Cristin; lvi Anna, Yfendrut; \yb Hille, Hiliegart.
bl. 2ra und 2va, oben : zwei mönchsbilder ; unter den bildern:
R udoin", Bruder eheudin. alle zehn figuren links oder rechts von
einem streifen umgeben, worauf die unten folgenden wechselstrophen
stehn 1. man denkt bei diesem gegenüber von männem und frauen
alsbald an fastnachtspiele wie Kellers nr 11. 59. 95. 102, nament-
lich aber an 61, wo auch zuerst die reihe der frauen, dann die
der männer zu worte kommt; üblicher ist es in der technik des
fastnachtspiels allerdings, dass nur auf der einen seite eine anzahl
von personen steht, während die andere nur durch einen Sprecher
vertreten ist. — vielleicht führt von derartigen wechselgesprächen
zwischen mönchen und nonnen eine brücke zu dem spätem gesell-
schaftsspiel, über das Bolle Zs. d. v. f. Volkskunde 6, 98 einiges bei-
gebracht hat.
1 die folgenden bemerkungen verdank ich Roelhe.
MD. WECHSELSTROPIIEN UND SCHERZLIEDER 377
Lyfe.
lra 1. Ich fohle dich wyfen uff gude fart;
Defz weifz ich nit, es liget mir hart:
Dan ganck zu bruder lodeman,
Der kan dir wol die warheyt gefan.
Bingel.
2. Ich se gerne wer mich kuffen wolde,
Dz ich inne zertlich byffen fohle:
Dar von ich nit vil fagen wil;
Dan ganck zu bruder eychen flyl.
Kouigunt.
lrb 3. Ich fede dir gerue gude mere,
Die dir gar fuffze were:
Defz kau ich mich nit verften;
Du falt zu bruder rudolff gen.
C rifun.
4. Ich mercken dz dir gar vil gebrift,
Wan du gar node von dir gibft:
Defz ganck von mir uff dyfer fart
Vnd ganck zu bruder ruockart.
Anna.
lva 5. Mir liebet ufz ganczem herczen
Hubfcher lüde fcherczen:
Doch mag ich dir nit vil gefan;
Dan ganck zu bruder gardian.
Yfendrut.
6. Ich folde furen eyn geiftlich leben;
Vil lieber wer mir eyn man gegeben:
Auch mag ich dich nit erfchrecken ;
Dan ganck zu bruder Ecken.
Hille.
lvb 7. Dafz ich dich wol gewyfen könne,
Alfz ich dir von herczen wol gönne,
Dz dede ich gerne in guder begir:
Zu bruder gerhart rade ich dir.
Hillegart.
8. Ich han zu kuffzen gude geluft,
Dan ich myns liebgyns han gebruft:
378 PS1LANDER
Ich kan dich nit befcheyden recht;
Dan ganck zu bruder Eckebrecht.
RudolfT.
2ra 9. Recht vnd eben baftu gewendet1,
Din heil dz wirt dir nit verzucket,
Die jungfrauw vnd fwefter kynigüt
Du den gut zu dyfer ftunt. *
Bruder ebendin.
2Ya 10. Ruwet dich din wenden,
So clag von dynen henden.
Der fteybock ift dir hertte;
Er gert dy geferte.
n
2ra 1. Trureu faltu gar begeben
Vnd nem an dich eyn fanfftes leben;
Dir wirt ufz fchiffen vnd von wage
Gutt mit fecken zu gedragen.
2. Du weift nit eben wer fy fint,
Die da fynt diner eien fynt,
Vnd fuchen fchande uff dich zu laden ;
Ewig fy mögen dir nicht gefchaden.
3. Stant uff geringe vnd birge dich fnelle,
Dafz dich keyn hunt nit ane belle;
Wan din gluck wirt zu dir fliehen;
Aber billt der hunt, fo mufz efz wiche.
4. Dir wirt entreume fremde wife,
Wie dafz du fiezeft uff eyme ryfe
Vnd fingeft nachtegallen gefang;
Defz faltu haben ymer danck.
2rb 5. Du blibeft gerne uff guder fart.
Du haft din truwe gar wol bewart
Geyn dynem werden frundgin zart;
Dir wirt fyn truwe auch nit verfpart.
6. Eyn lieplich menfehe ift dir vereynet,
Dafz dich in groffzer dugent meynet.
Syn liebe ift nit von dir zu keren;
Efz wil fyn liebe mit flyffe beweren.
1 /. verrucket.
MD. WECHSELSTROPHEN UND SCHERZLIEDER 379
7. Mich duncket efz wolle lieh eben fugen,
Dafz dir wol wirt eyn grofz benugeu.
Dan gib dineo armen frunden auch;
Du weift doch wol: fye byffet der rauch.
8. Dir ift au rechter eren gach;
Die folget dir auch billich nach.
Nu faltu fingeu, efz ift zyt;
So wurftu uit der eren qwit.
9. Gelobet fy golt der guden ftunden:
Efz wirt in kurezer zytt befunden,
Dafz dir men l gluckefz zu handen gett
Dan dir harefz uff der zungen fielt.
10. Dir wirt eutreumen von muffen,
Wie dz fye lauffen in rufen:
Dafz dudet dz dyns frundchens munt
Dich kuffen fal zu mancher ftunt.
11. Din hercz fwebet in rechten truwe;
Dafz wirt dich uymer beruwen.
Nyemant fal dich anderfz ziheu,
Von truwe wirt dir gutt gedyhen.
12. Etwau biftu in dem wane,
Dalz din liebgiu wolle abelone;
Dafz gleube uit an keyne ftucke:
Efz halt dich lieber wan allefz vngluck.
in
lva 1. Vntruw vnd arges mutes,
Selten ganfiu yemans gutes.
Wafz nu do von gedyhet dir,
Dafz faltu deilen uit mit mir.
2. Ich mufz in züchten mit dir feherezen:
Dir gett die liebe alfo lere zu herezen,
Dz du fuckeft fo manchen fluch;
Vor liebe rüpelt dir der buch.
3. Die hülfen werden dich bedaften
Vff durnftag zu nacht in der fron faften,
Vnd wollen dir noch me befcheren,
Dafz du dich armus 2 falt ernere.
1 /. mer 2 /. armuts
380 PSILANDER WECHSELSTROPHEN U. SCHERZLIEDER
4. Dio ere ift gar fere gekrencket;
Du haft fye an den zun gehencket.
Dar an ift fye verworren;
Sy mufz alda verdorren.
2vb 5. Hetteftu uff fant Johannes nacht
Elff werhe byfufz vmb dich gemacht
Vnd zwelffwerbe durch dz füre gerant;
Noch were din vngluck nit verbrant.
6. Du fageft nit gerne zu dyfer frift,
Wafz dir nu entreumet ift:
Du fochteft l eyn fchanden blafter;
Zwar efz dudet uff dich eyn lafter.
7. Svver dir gleubet guder truwen,
Den fal efz wol werde beruwen.
Du magft nit truw vmb truw geben2;
Du bift wol vngetruw zu fchelten.
8. Du haft din liebgin gar erichrecket:
Efz ift uffz fuffzem flalTe erwecket.
Da dir der arfz ift utf gegangen,
Da hat efz füre lufft enphangen.
9. Du fugeft wol in eyn folich laut,
Do man gerne gebe zu hant.
Du woldeft gerne, wuftu wie,
Rieh werden ; dz helffet nit hie.
10. Du haft der eren bach durch waden
Vnd haft doch nuft uff dich geladen:
Du bift alfo drucken durch gegäge,
Dz ir keyn bleib an dir hangen.
11. Dz gluckratt ift vmb gegangen;
Eyn vngluck ift daran gehangen.
Dz felbe wartet dir gar eben:
Ich föchte fere, efz blibe dir kleben.
12. In fwerem draum du nu lege,
Da duchte dich din ganck fo drege;
Nit nymfz von mir übel dafz
Efz dudet uff dich eyn groflzen hafz.
1 = forchteft 2 /. gelten,
üpsala. HJ. PSILANDER.
POSENER BRUCHSTÜCKE
DER CHRISTHERRE -CHRONIK.
Die von dem herm museumsdirector dr Erzepki in Posen
aufgefundenen bruchstücke , jetzt eigentum der Gesellschaft der
freunde der Wissenschaften in Posen, bildeten die rückeneinlage
eines zur bibliothek des ehemaligen Bernhardiner-klosters zu Kobylin
(prov. Posen) gehörenden lateinischen folianten. sie bestehn atis
zwei pergamentstreifen, die zusammen ein I8V2 cm hohes und
16 72 cm breites doppelblatt darstellen, die Seiten sind zweispaltig
beschrieben, der obere rand hat durch beschneiden gelitten, so dass
etwa 6 zeilen in Wegfall gekommen sind, aufserdem sind die vers-
ausgänge der zweiten spalte auf der ersten blattseite und die vers-
anfänge der ersten spalte auf der zweiten blattseite verstümmelt,
ferner einzelne verse in der mitte des textes durch überkleben
unlesbar geworden, die verse stehen auf linien, die zweiten verse
der reimpaare sind etwas eingerückt, während die anfangsbuchstaben
der ersten reimverse durch eine senkrechte linie abgetrennt sind,
die hs. gehört dem xiv Jahrh. an. der text gehört der Pseudo-
Rudolf sehen Weltchronik (christherre-chronik) an und etitspricht
nach einer mitteilung des herm professor dr Ehrismann in Heidel-
berg, dem ich mich für seine bemühungen zu lebhaftem danke
verpflichtet fühle, cod. Pal. germ. 321 fol. 144 b — 145 a. in
Schützes auszug aus dieser Chronik (Die historischen bücher des
Alten Testaments etc. Hamburg 1779) findet sich die partie der
Posener fragmente nicht vor.
Bl. ir
a b
(oben abgeschnitten) (oben abgeschnitten)
1 rubenes kinden unde gad ein ewart vö gotes geböte
manasses wart galaad von selben ern
tes suns kunne hiez maebir . . in ter
von ten geborn was iair daz keinem mau gezeme
5 und ter da in sinem lande daz er immer
nah im stete uü torler nante von in sins geslehtes fruht
darüber sin gewalt geriet durh al solher genuht
kurtzlich darnah beschiet und durch al
got moyses die lant daz sich verm .
10 die sin geheiz im het benant zem anter die
nach ir vier enden gelegeuheit wan daz under
mit vor gerihter uuterscheit belibe in siner
un nant im die hobsten gar ein gesieht
382
WUNDRACK
von isliches geslehtes schar
15 uü wie die sollen sin genant
die in teilen solten die lant
mit iosue uil eleazar
er hiez in al die schar
verteilen den leviten
20 un in ten selben geziten
aht un vierzig stete nemen
da nider laz in solt gezemen
ter solten sechse wesen vri
dise sit des iordanes bi
25 un iensit ouch also vil
die ich her nach bescheitde vvil
TTon machir daz kunne sprah
(blau) ze moyses to ditz geschach
in unserm erbe teile sint
Darnach vil
von egipie
moyses sich
als die wisen noch
daz sin ende tac im
un mit kunste zu .
er samente zein and
al die israhelischen .
zem iordanne in ein
reht an die stat . . .
ein groze stat ist
alda kündet in . .
mit gotes lere die
als sie vor tem . .
Bl. i\
1
(abgeschnitten)
. vö basam
. geborn
schribe stat
. . . ere in rabat
5 da maus phlac
lac
was
als ich las
clafter wit
10 zit
sich bewac
lac
nach beschiet
israhelische diet
15 die lagen über ten iordan
(abgeschnitten)
ieman durch hazzens . . .
ob er des uberwunten wart
so was daz vil lutzel ungespart
er muste lip un leben
vor rehte dar zu buze geben
unte in half an ter gescbiht
dirre stete vriheit niht
YVie dise stete warn genant
(/,/(,„) daz tut die schrift erkant
in rubens teile bosor
der im ze teile wart davor
uü ramod in galaad
in tem geslehte von gad
un golam in basan
20
... ter iordan
was also getan
einen man
ter dar entran
vil sicher sa
25 ten magen da
uzwendic erslagen
mage in ten tage
ir stift
hat niht genennet die schrift
dar umbe laze ichs ungenant
moyses ter gotes wigant
ander malte in aber sa
gotes gebot mit lere alda
uude seit in waz got durh sie
grozer wunder vil begie
unde in der wüste manigs not
in sine helfe vil dicke bot
POSENER BRST. DER ClIRISTHERRE-CHRONIK 383
nieman an im do
beleip er also
30 mit sune sich bot
oder im die zit daz tot
uode wie von alter ir gewant
nie swacher wurde erkant
danne als ez was to siz an
zem ersten tage to sie dan
Bl.
IV
a
(abgeschnitten)
1 von bösen wurmen fiurin
un wie in got vil manige pin
ringerte mit siner phlege
biz an ten tac uf tem wege
5 T)ar nach beschiet er in mere
(ro() daz sie dme gotes lere
wolten vil sere halten
unde durch not steter walten
in dem geheizen lande alda
10 danne in egipte ods anderswa
daz seit er in mit beschaft do
un beschiet ez in also
daz egiptus daz lant
genuhtsamer were erkant
15 danne daz land dar sie wolten
unde .... besitzen solten
wan ez die .... befluzzen
un in mit rehter zit beguzzen
die ez wol mähten fruhtic
20 gut berhaft un genuhtic
so musten die geheizen laut
die in got het henant
ir fruht nach rehten ziten
des himelregene biten
25 wanne in den sante gotes gebot
un durh daz so solten sie got
baz eren in dem lande
daz er in regen sande
un gemein weter in rehter zit
30 darnah der iare zil geht
(abgeschnitten)
u
{blau)
die sie besitzen solten do
un sprah witer sie also
iglich stat iu werte muz
die noch betritet iwer fuz
von eufraten dem wazzer groz
daz oster daz lant under vloz
gein sudert als die wüste lit
un do lac uh sider an dise zit
Hindert als libanus
lit ein berc geheizet sus
westert anz mittel mer
die lant iu wertent ane wer
als sie got het benant
ouch beschiet in gotes wigant
wer die . . . solten wesen
die gotes segeu solten lesen
über die . . behielten . . .
dise e un sie
uIT gotes vluch über die
die gotes 6 versmaehte hie
an weihen steten ull wa
ditz solt sin ouh lert er sa
wie gotes wille daz wolte
daz man den zehente solte
geben un in teilen gar
wem un weihe uz der schar
der zehente solle . . leben
den man in do solte geben
JTurbaz gebot er mere
(ro() mit sines gebotes lere
Bl. iv
(abgeschnitten)
daz man in dan versteinte
mit gerihte un vermeinte
durch dieselbe missetat
und den ds im gebe den rat
(abgeschnitten)
un swelher ds solte geben
durch gerihte sin leben
daz im daz nieman neme
6 mans in uberquaeme
384 WUNDRACK POSEINER RRST. D. CHRISTHERRE-CHRONIK
5 durch den sinnlichen wan mit zwein geziugen oder drin
un alsus tet man gein man die mit rehte verteilte in
stat gein stat ubs al daz laut und die so warhaft waren
die hieran schuldic werd erkant daz sie allen falsch verberen
und die fürte gar die solten über in einen eit
10 dabi gebot er ouch der schar gein himel swern mit warheit
swelch fleisch also verturhe darnach die schulte wsere
daz ez von dem selber stürbe un ob die rihtere
daz sie des niht sezen daz rehte urteil künden niht
un swenne sie gesaezen daz man umbe die geschiht
15 in ir lant un sie furwar den ewart vragen solte
begiengen ir sibende sauk iar svvaz der sprechen wolte
und daz ir dehein unds in ze rehte dar über daz wer sieht
durch deheiner hande gewin uTI swer versprah daz reht
eische an siuen genoz daz er san den lip verlur
20 gulte kleine weder groz unde drumbe sin ende erkur
sin gulte moht er wol dan ]Vü hat von dem gerillte sus
eischen einen vremden man (rot) geschriben der wise iosephus
Tn dem sibende iare mau lie daz bi den rihtaeren
(blau)
sunde abe die ieman begie in den elichen steten weren
'D
25 uü was als die warheit seit siben helfaere volkomen
daz lant mit riwe an arbeit an tugenden uzgenommen
danne von hiez ez sus die rehtes sich versinneten
annus iubileus uü reht uü warheit minneten
daz frolich sanc iar nach sichtlichem rehte
30 dabi furwar wibe un eigen kuehte.
Die blätter erlauben wegen ihres geringen umfangs keine
sichere localisierung der mundart des Schreibers, die vorläge wird
wol obd. sein, in die jedoch ein md. Schreiber einige md. eigen-
heiten gebracht hat. zu den letzteren gehören einige e für ae, so
in steter (comp.) ur, a, 8. were nr, a, 14. rihtere nv, b, 12; qu
für k in quaeme nv, b, 4; td in bescheitden i, a, 26. weiter das
fehlen der umlautszeichen (u = ü, uo, ue) und der häufige ge-
brauch von t = d zb. torfer i, a, 6 ; witer nr, b, 2 ; schulte nv, 6, 1 1 ;
verturbe nv, a, 11; wertent nr, b, 12. dieses t für d hat wol
ein md. Schreiber gesetzt, der obd. schreiben wollte : er setzte
dann das obd. t auch da ein, wo es nicht hingehörte, dh. für
obd. d. das anlautende t im artikel (ter ir, a, 23; tes ir, a, 3;
ten ir, a, 4) kann allerdings auch obd. sein, ein alter Überrest
des nicht mehr verstandenen Notkerschen anlautgesetzes. wo der
Schreiber zu haus war, ist nicht sicher zu bestimmen, wahrschein-
lich in Thüringen.
Tremesseu, im sommer 1907. A. WUNDRACK.
WALTHERS ZWEITES TAGELIED.
Man pflegt das gedieht 88, 9 schlechtweg als Walthers tage-
lied zu bezeichnen, diese Singularität macht das lied unter denen
unseres grösten mittelalterlichen lyrikers noch isolierter — sein
'einziges tagelied', in dem er nach Lachmanus geistreichen ausfüh-
ruugeu (z.st.) 'sich selbst ganz unähnlich' ist und im stil Wolframs
gedichtet hat — 'ganz das sehnsüchtige ahnungsvolle, die Verbindung
entfernt scheinender gedanken, die unverknüpften sätze, wie über-
all bei diesem dichter', kurz ganz in dessen romantischem ton.
diese Sonderstellung wird dem gedieht Friwentlkhen lac niemand
bestreiten, als etwa der, der es Walther überbaupt abspricht,
wofür ich so wenig stimmen würde wie die editoreu, biographen
und commentatoreu des dichters es getan haben, aber die andere
eiuzelstellung scheint mir fraglicher, ist würklich 88, 9 Wallhers
'einziges tagelied'? ich glaube nicht; ich meine, dass wir in die
so merkwürdige und verwickelte, trotz Bartsch und Scherer, trotz
de Gruyter und Roethe, Jeauroy und Schläger noch keineswegs
vollständig aufgeklärte geschichte des tageliedes noch eines der
berühmtesten gedichle, ja dasjenige einfügeu müssen, das nach all-
gemeinem urteil 'das schönste ist, das er je gesungen hat' (Schün-
bach Wallher v. d. Vogelweide s. 129) : das lied Under der lindenl
Was sind die keunzeichen eines tageliedes und in welchem
mafse besitzt sie W. 39, 11?
Zunächst : dass es hier feste kriterieu gibt, ist nicht wol zu
bezweifeln (Schläger s. 36). denn tageliet ist eiue feste bezeichnuug
(vgl. Bartsch Vortr. u. aufs. s. 264), die als solche schon eine genau
umschriebene gattung voraussetzt — die natürlich der Indi-
vidualität noch Spielraum zur genüge bietet (Burdach Beinmar
und Walther s. 82 anm.). aufserdem wissen wir, dass Ulrich
vLichtenstein sich mit dieser gattung auch theoretisch beschäftigt
hat (vgl. de Gruyter tagelied s. 25); sie besitzt ihre speciali-
sten in Wintersteten, Hadloub, Botenlouben, Wissenlo und dem
grofsen Wolfram; sie hat ihre eigene vor- und nachgeschichte.
ja es gibt überhaupt in der mhd. poesie keine liederart, die sich
so selbständig wie diese heraushübe (in der provenzalischen sind
tenzone und sirventes nicht minder deutlich charakterisiert).
Das wichtigste kennzeichen ist natürlich die Situation: zwei
liebende im liebesgenuss; in der regel, beim strenghöfischen
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 25
386 R.M.MEYER
tagelied immer, bildet das bett im gemach (es ist wol an ein
turmzimmer zu denken) die ausstattung des raumes. die lieben-
den werden im seligsten beisammensein von dem Wächter ge-
stört; zumeist einem dazu angestellten vertrauten, doch kann auch
die natur selbst durch vogelgesang oder einlach durch den auf-
gang des morgensterns als hilfreicher wecker eintreten (vgl. bes.
de Gruyter s. 9f). darauf erfolgt ein abschied, der jedoch nicht
notwendig ausdrücklich vorgeführt oder erzählt wird, es bleibt
als kern: der heimliche (und darum von gefahr bedrohte) liebes-
genuss in höchster dramatischer Spannung geschildert.
Formelle merkmale sind die häuügkeit des refrains, die in
der (geistlichen und volkstümlichen) grundlage der gattung ihre
Ursache hat; dann eine aufgeregte spräche, gern in kurzen salzen
und versen (worin eben Wallher dem classiker der gattung Wolfram
folgt); sinnlicher ausdruck, wenn auch oft euphemistisch ver-
hüllt (de Gruyter s. 33). diese beiden sprachlichen eigenheiten
sind natürlich in der silualion begründet; sie können bis zu
dramatischer lebhaftigkeit, ja bis zu eigentlich theatralischer ge-
staltung gesteigert werden.
Nur das materielle kennzeichen: die Schilderung des ge-
fährdeten und in der erregung der angst nur um so süfseren
liebesgenusses ist unentbehrlich, der Wächter kann fehlen (gegen
Schläger s. 39), der wecker ersetzt werden; der refrain fehlt oft,
zb. auch W. 88, 9; die spräche weifs nicht jeder dichter mit
Wolframs glut oder Reiumars anschaulichkeit zu beherschen. auch
kann das dramatische absichtlich, in parodistischer tendenz, umge-
bogen werden, wie wider bei Reinmar (vgl. de Gruyter s. 23). im
ganzen machen solche abweichungen keine Schwierigkeit: ob ein
gedieht noch eiu tagelied zu nennen sei, ist in so wenigen fällen
fraglich wie etwa — um in eine ganz andere richtung zu weisen —
ob ein lied ein vaterlandslied heifsen dürfe.
Betrachten wir nun Walthers berühmtes Under der linden
im licht dieser kriterien.
Drei abweichungen fallen sofort ins licht, die ich deshalb
vorweg nehme: wir haben einen episch-lyrischen bericht über
vergangenes statt dramatischer Vorführung der Situation; der
liebesgenuss ist nicht durch die dringende gefahr gewürzt; es
fehlt, was mit diesen beiden puncleu zusammenhängt, die cha-
WALTHERS ZWEITES TAGELIED 387
rakteristische angäbe des anbrechenden tages, die doch auch bei
dem nacherzählenden Vortrag anzubringen gewesen wäre.
Vor allem das erste momenl hat wol zumeist die eingliederung
des gedichtes unter die tagelieder verhindert, man wird denn
auch jetzt sofort erwidern, es fehle dem lied Under der linden
mit der dramatisch bewegten Schilderung des liebesgenusses der
kern des tageliedes. aber mangelt denn würklich diese Schilderung?
ist sie nicht vielmehr nur durch den lyrisch-epischen Vortrag
gedämpft? mit der heschreibung der bettestat und dem vers 40, 10
rückt doch jedesfalls das gedieht an jene Situationsschilderungen
viel näher heran als irgend ein anderes minnelied. nun aber
kommt die Umwandlung der dramatischen in epische Vorführung
ja auch bei ganz zweifellosen tageliedern vor. grade bei ganz
kurzen volkstümlichen tageliedern hab ich diese form schon
früher nachgewiesen (Zs. 29, 232):
Bei der liebsten hab ich gelegen,
Bei der liebsten hab ich geschlafen;
Wie der habn hat gesungen,
Bin ich nach hause gegangen —
ein bericht, hier vom manne gegeben, durch den hahnenkraht
besonders deutlich als tagelied signiert, und doch ohne dra-
matische rollenverteilung auch nur in indirecter redel so hat
denn auch Botenlaubens letztes gedieht (MSH i 32) immer als
tagelied gegolten, obwol nur die frau spricht, worauf dann ein
epischer bericht folgt, und obwol obendrein dies gedieht der
typischen Situation — die bei W. 39, 11 gegeben ist — voraus-
ligt. auch Winli (MSH n 30; nr vm) hat ein — schwerlich un-
vollständiges — gedieht, in dem nur die liebende spricht, aller-
dings in dramatischer vergegenwärtigung der Situation.
Besonders nah aber steht — in dieser hinsieht — dem
gedieht Walthers das schöne Volkslied bei Unland nr 27 (Volks-
lieder i 68). es ist der lyrische bericht eines liebhabers, bei
dem aber der liebeslohn nur als erträumt geschildert wird,
übrigens mit dem liebesgenuss im gärtelein, dem kosen und
der zurückdrängung der preeären Situation, die immerhin mit
tagelied mäfsigen euphemismen (sie het mich freundlich umbfangen,
sie gab mir vil der frewd) gezeichnet ist.
Dass aber jenes ominöse wort von der bettestat nicht als
zufall aufgefasst wurde, beweist Hadloub in seinen schon von
25*
388 R.M.MEYER
Uhland (Schriften v 279) erkannten nachahmungen von Walthers
lied (nr xxxvi und xxxvnr, MSH 11 295 und 298), in denen das
blumenbett zur eigentlichen hauptsache wird, die Situation des
liebesgenusses trat also schon den Zeitgenossen in den Vorder-
grund, wenn sie das lied hörten, und ein tageliederdichter be-
mächtigte sich des neuen motivs, etwa wie in dem 'säculum der
Gleime' das kanapee (im reim auf 'grünem klee') ein lieblings-
requisit der minnepoesie wurde.
So ist es denn auch mit der gefahr nicht anders, auch
dies ingrediens ist vorhanden, nur eben dem stil des ganzen
liedes entsprechend gemildert, pastell statt greller färben:
daz er bi mir leege,
wessez iemen
(nu enwelle gotl), so schämt ich mich!
Nicht mord und totschlag steht vor der tür, aber die be-
schämung, ja die schaude.
Und so ist denn auch das nahen des tages vorhanden, aber
discret ersetzt und verschoben, das singen der nachtigall steht
für den morgen verkündenden vogelsang (de Gruyter s. 29); aber
weil eben die dramatische Spannung vermieden werden soll, wird
dies element des tageliedes statt an das ende an den anfang ge-
stellt : statt zum 'Wächter' wie bei Dietmar (MFr. 39, 20) ist das
vöglein auf der linde zum vorboten geworden; nicht den abschied
kündigt es an, wie bei Shakespeare, sondern den empfang: es
ist das naturorchester, dessen tusch die dame bewillkommnet.
Aber damit hab ich schon ausgesprochen, was mir der
Schlüssel zum Verständnis dieser composition scheint, wie Wolfram
seineu 'abschied vom tagelied' (Lachmann 5, 34) sang, so hat,
glaub ich, Walther bewust die gefährliche gattung umgesetzt,
es könnte sogar der grofse freund auch bei diesem zweiten tage-
lied Walther beeinflusst haben: ist es doch gerade die aufregende
dramatische Spannung, die der epiker an dem tagelied misfällig
empfindet:
swer pfliget odr ie gepßac
daz er bi liebe lac
den merkern unverborgen,
der darf niht durch den morgen
dannen streben ....
WALTHERS ZWEITES TAGELIED 389
Freilich, ein offen süeze toirtes wip schildert auch Walther
nicht — die ehelicheu Freuden im stil des lageliedes zu ver-
herlichen wäre denn doch würklich 'der gipfel der geschmack-
losigkeit.'. aher es war an eine der vielen bedenklichen Seiten
der gattung gerührt.
Das tagelied dient dem starken erotischen bedürfnis der
mittelalterlichen sänger zur entladung. in dem eigentlichen
minnelied müssen sie sich streng höfisch halten, je länger je
mehr den minnelohn zart umschreiben und als etwas ideales
hinstellen, aber die volkstümliche gattung, die diese rücksichten
nicht kannte, nirgends kannte, liefs den eigentlichen wuusch der
sänger in dramatisch-epischer Verhüllung sich ausleben, nun
aber bot eben diese realistische enclave im minnesang, diese volks-
tümliche einlage in die höfische dichtung einen doppelten grund
zum einspruch. erstens: eben dass die unverhüllte Schilderung
mit ihrer auFregung und Wildheit von dem ton des geduldigen
miunedienstes so gefährlich abstach : und dies Fühlt Wolframs
unverdorbenes Stilgefühl heraus, zweitens: dass die eine grofse
fiction, auf der die minnepoesie beruht, die nämlich einer weit aus
lauter höfischen gestalten, mit einemmal durch das einbrechen des
Wächters bedroht wird: und dies fühlte (wie Oswald vWolkenstein:
vgl. de Gruyter s. 53) Ulrich vLichlenstein, gerade weil er mit
dem ganzen minnewesen ernst machen wollte, er war im gründe
doch ein rationalist, und weil er die von Reinmar geschilderte
romanweit nicht sah, suchte er sie realistisch herzustellen, dabei
muste er sich denn auch die inscenierung des tageliedes über-
legen und sich fragen, ob würklich das alles so zugehn köune?
aber auch diese frage muste schon früher aufgetaucht sein.
Steinmar freilich kann in Österreich in diese discussion hinein-
gezogen sein, an der er theoretisch teilnimmt, um sie dann
praktisch durch die naturalistische parodie des tageliedes zu be-
enden, und Konrad von Würzburg theoretisiert über das tage-
lied (vgl. Bartsch s. 283) als rechter epigone. aber bewegt sich
nicht der ganze 'gegensang' (Uhland v 244 f) in ähnlicher rich-
tung? ist nicht vor allem eben W. 39, 11 ein zarter vorklang
jener dörperlichen tagelieder der Schweizer naturalisten?
Dies mein ich allerdings.
Mit vollstem recht hat Burdach seiner glänzenden Charakte-
ristik Walthers (ADB 41, 83) den satz vorangestellt : 'Wallher ge-
390 R.M.MEYER
winnt allmählich der sinnlichen weit in der lyrik einen räum,
wie es bis dahin im minnesaug nicht erhört war', auf ihn kann
man würklich Theophile Gautiers defiuition des dichters anwenden:
für ihn 'existiert die sichtbare weit' — die zb. für seinen lehrer
Reinmar kaum vorhanden ist. so ringt er sich mehr und mehr
dazu durch, die poesie mit gröfserem gehalt zu erfüllen, nicht
er allein — die gleiche tendenz zeigen schon vor ihm die Thü-
ringer, fast gleichzeitig mit ihm andere Österreicher, und das
tagelied verbürgt sie für die ganze ausdehnung des minnesangs;
er aber mit der grösten genialität — und wol auch dem klarsten
bevvustsein.
Hier muste er sich mit der poesie des volkes berühren, der
eben auch das tagelied, auch Hamle und Lichlenstein ihre gröfsere
anschaulichkeit entnehmen, er muste auch dem offkieüen Ver-
treter der volkspoesie innerhalb der miunedichtung begegnen :
eben dem tagelied. er konnte es versuchen, Wolfram die kraft
der sinnlichen Schilderung abzulernen, aber die leidenschaft,
die dieser in erotischen Schilderungen miterlebte, fühlt Walther
nur wo sein politisches interesse erregt wird, das lied 88, 9
blieb eine geistreiche copie. um seinem liederschatz jene gattung
einzuverleiben, muste Walther sie ganz eigenartig, ganz persön-
lich anfassen, wol hebt Burdach an jener stelle mit recht das
dramatische in seinen dichtungen hervor, und unser lied selbst
zeugt für diese begabung und neiguug Walthers, wie sorgfältig
ist die scene vorbereitet, das auftreteu der hauptpersonen ein-
geleitet, die Steigerung durchgeführt! aber dramatische Spannung
von der hefligkeit Wolframischer tagelieder ist da nicht, wie
auch nicht 88, 9 — wo im gegenteil Walthers vergebliche an-
streugung eher zu einer gewissen lahmheit führt, vielmehr be-
sitzt 39, 11 gerade wie etwa 74, 20 oder auch 54, 17 dasjenige
mafs unmittelbarer vergegenwärtigung, das sich mit lyrisch-
epischem Vortrag noch verträgt. Nemt frowe disen kränz ist in
der ganzen anläge zu vergleichen: lyrisch-epischer bericht des
liebenden, leise Steigerung der handlung, das liebliche bild der
errötenden Schönheit als höhepunct (man denke nur an GKellers
'j'imgedicht' und seine vorläge bei Logau!), und die betonuug
der tougen minne als abschluss.
Diese richtung nun auf die lyrisch-epische milderung des
allzu grellen tageliedes gehört ja wider nicht Walther allein 1
WALTHERS ZWEITES TAGELIED 391
Lichtenstein lässt (Lachmann s. 447; ur xxxvi) ein wolframisie-
rendes situationshild episch ausklingeu; könig Wenzel bringt
novellistische neuerungen: die trau geht zum fenster und besticht
den Wächter aufs neue; ein anonymus (Bartsch s. 273; Lieder-
dichter 98, 305) dehnt diese epischen zutaten: die frau bringt
dem ritler die kleider. endlich gipfelt diese episierung des tage-
liedes in der ballade Günthers vdVorste (ABD 40, 311, vgl. Roethe
Anz. xvi 78 und Reinmar von Zvveter anm. 165), wo die volkslied-
mäfsige Sentimentalität und die mehr als epische breite (23 Stro-
phen 1 eine INibelungen-aventiure lang!) den dramatischen kern
völlig aufgezehrt haben.
So hat also bei Günther vdVorste, und vielleicht auch schon
bei Lichtenstein die epische tendenz sich am Volkslied genährt
und gestärkt, diesen riickhalt müssen wir auch bei Walther
suchen, war doch all den dichtem, die aus der leere des 'reinen'
miunesangs nach greifbarem Inhalt strebten, ein anschluss an die
volkstümliche dichtung selbstverständlich: Neidhart wie dem
dichterkreis des prinzen Heinrich, den späteren Österreichern,
den letzten Schweizern; hat doch gerade für Walther Burdach
schon in seinem ersten buche diese entwicklung, von Reinmar
fort zu volkstümlicher poesie hin, aufgewiesen.
Utider der linden ist ja schon längst mit der volkspoesie in
unmittelbaren Zusammenhang gebracht worden. Marlin (Zs. 20, 66)
sah in CBur. 125a das unmittelbare 'freilich unendlich über-
troffene' vorbild. dem widersprach Burdach (Reinmar und Walther
s. 169) mit der begründeten einschränkung: 'ist aber damit nur
gemeint, Walther habe ähnliche lieder wie CB 125 a, die denselben
gegenständ behaudelten, gekannt und auf sich würken lassen, so
ist nichts dawider einzuwenden', so vergleicht er denn auch
selbst (aao. s. 15) Under der linden mit MFr. 34, 3, 'wo eine
ähnliche Situation dargestellt ist' : der vogelsang auf der linde als
präludium, die rosenbedachte statte, ebenso habe ich (Zs. 29, 223)
au eine französische paslourelle eriunert, in der es heifst:
du liebes gras,
verrate nicht, wer auf dir safs —
wie bei Walther:
bi den rösen er wol mac
merken wd mirz houbet lac.
392 R.M.MEYER
In der tat ist an der volkstümlichen grundlage des liedes
nicht gut zu zweifeln, der dreiklang linde : rose : nachtigall ge-
hört dem Volkslied (zb. Uhland nr. 15; i 49), linde und nachtigall
wenigstens begegnen auch würklich in episch-lyrischen volks-
tümlichen tageliedern. dahin gehört das gedieht, das Uhland
selbst wol mit anspielung auf Wallhers gedieht 'Unter der linde*
überschrieben hat (nr 116, i 263): linde und nachtigall als prä-
ludium (vgl. auch Bartsch s. 297), kurze andeutung von liebes-
genuss, abschied, epische fortführung mit neuem dramatischen
dialog. die nachtigall wenigstens fehlt auch in einem andern
tagelied — mit dem Wächter an der zinneu, der den hellen tag
anbläst — nicht (ebda nr 81; i 176), in dem (wie bei Walther)
das singende vöglein den abschluss bildet, dagegen ist die
nachtigall für das höfische tagelied im allgemeinen schon zu be-
stimmt (vgl. de Gruyter s. 29), während später neben ihr auch
lerche, drossel und andere vögel sich melden (ebda s. 59).
Aber auch die ganze tendenz, die wir in Walthers zweitem
tagelied vermuteten, ist an sich volkstümlich, gerade im volks-
tümlichen tagelied greift das epische um sich (de Gruyter s. 55);
hier haben wir die episch-lyrische auflösung, entweder rein wie
in dem schon erwähnten volksliede (Uhland nr27; i 68), oder mit
epischem einschub (ebda nr 73; i 137), wo denn auch die für
Walthers dichtung so besonders charakteristische erwähnung des
errötens (vgl. auch Burdach ADB 40, 84) nicht fehlt:
Und neckten da ich bei ir war,
ir angsicht shind voll röte.
So glaube ich in 39, 11 denn auch sonst noch züge volks-
tümlichster art zu treffen, ist der getreue vogel nicht eine
Variation des 'stummen (dh. nicht in menschensprache redenden)
zeugen', wie wir ihn widerholt im märchen treffen, zb. als singen-
den knochen (KHM nr 28) und als sprechenden vogel (bund,
frosch) in den 'drei sprachen' (ebda nr 33); und deutlicher noch
in der heldensage (Fäfnismäl 31 f)?
Und schließlich : wenn Wallher den refrain im tagelied er-
neuert, betont er nicht auch damit das volksliedmäfsige? denn
es ist ja doch kein höfischer alba-refrain wie bei Morungen
(vgl. Bartsch s. 265).
Ich glaube : schon der refrain beweist für unsre hypothese.
fehlt ja auch das stilistische moment der kurzen verse nicht;
WALTHERS ZWEITES TAGELIED 393
die reime aber wie io 88, 9 in Wolframs art zu verstecken,
verbot die aulehnuug an die einfache art des Volkslieds.
So ist denn das tageliedartige des gedichts auch schon früher
gefühlt worden. Wilmauns (Leben Walthers s. 280) bringt wenig-
stens 'die kunst in der behandlung des gegenständlichen, zuerst
geübt im tagelied' in die nahe unsres liedes; und die törichte
herleitung von (Inder der linden aus dem Hohenlied, die Gelbhaus
(nach Michael Geschichte d. deutschen Volkes iv 269 anm.) ver-
sucht hat, kann sich immer noch am ersten auf 'jene tagelied-
situation des Hohenliedes' (Roethe Anz. xvi 89 anm.) berufen.
So kam also durch einen grofsen dichter 'der einheimische
kern des tagelieds' (ebda s. 92) wider zu ehren, um die gattung,
die seinem (mit Herder zu reden) 'sachenvollen' geiste genehm
sein muste, dem eignen ton anzueignen, führt Walther sie dahin
zurück, von wo sie kam : in die volkstümliche Schilderung des liebes-
genusses, doch ohne die dramatisch erregende nähe des bestellten
Wächters (wenn auch nicht ohue angäbe des nahenden morgens,
wie ihn das volkstümliche mit dem geistlichen tagelied teilt:
Bartsch s. 277), ohne turmgemach und ohne lüsternes ausmalen
der Situation, dafür aber mit linde und blumen, vogelsang und
refiain (welche beiden dinge Walther glänzeud zusammenfasst :
die nahtigal 39, 19 kehrt 40, 16 refrainartig wider, und der
kehrreim klingt wie vogelgezwitscher). sein eigener episch-
lyrischer stil, am Volkslied gebildet, schuf ein ganz neues, ein-
ziges werk , das kaum noch den alten gattungen anzugehören
schien, wie Goethes letzte anacreontica kaum noch so heifsen
dürfen.
Aber die kühnheit brachte doppelte gefahr. gröbere naturen
konnten nur das heraushören, was am aulfälligsten war : Hadlaub
das bett auf der wiese, Steiumar (MSH n 157, vgl. de Gruyter
s. 23) das lachen statt der trähnen. ferner aber war auch das
tagelied nun einmal so stark in die dramatische rollenteilung
aufgegangen, dass es sich kaum noch in einen lyrischen monolog
zurückverwandeln liefs. daher jene Schwierigkeit, die Scherer
(Gesch. d. d. litt. s. 208) zuerst hervorhob : 'ein mädchen, so
beschaffen wie dieses gedacht ist, wird ein solches erlebnis über-
haupt nicht, oder nicht so erzählen.' zwar meint Wilmauns
(gr. ausgäbe, 2 aufl. s. 203), Wallhers kunst täusche über die
innere uuwahrscheinlichkeit hinweg, und 'conventionell' ist
394 R.M.MEYER WALTHERS ZWEITES TAGELIED
schliefslich die grundvoraussetzuüg jedes lyrischen berichts; aber
bezeichnend bleibt es doch, wie auch dieser versuch, aus der
Convention herauszukommen, wider in sie hineinführte!
Dieser zwang nähert denn Walthers zweites tagelied, wenn wir
es nun so nennen dürfen, andern volkstümlich gehaltenen liedern
des minnesangs. aber seine Originalität kann das nicht zerstören,
das tagelied dient ja gleichsam als ein mittel, den Spielraum freier
ausbildung auszumessen, der für gegebene Stoffe dem mittelalter-
lichen lyriker gegönnt war. die geschichte des tageliedes über-
haupt ist für die mittelhochdeutsche liüeraturgeschichte deshalb
so bedeutend, weil hier drei wichtige probleme sich treffen :
die berührung von höfischer manier und volkstümlicher tradition,
von conventionellem uud anschaulichem inhalt, endlich von epos
und lyrik. die letzte frage freilich, wie sich das Wechselverhältnis
epischer und lyrischer minnedichtung stellt — wol nicht minder
verwickelt als das Verhältnis der deutschen und lateinischen
Strophen in den CR! — ist noch gar nicht ernstlich angerührt
worden; wir wissen erst das äufserlichste, obwol die lieder der
dichtenden epiker, Veldeke, Hartmann, Wolfram, Rligger, Gott-
fried, Konrad vWürzburg immer neue rätsei aufgeben, an eine
einseitige befruchtung nur der lyrik aus dem epos glaube
wenigstens ich nicht — schon weil die mischgattuugen wie das
büchlein oder eben das halb dramatische tagelied vom sang-
baren lied noch stärker als vom vorzulesenden roman beein-
flusst sind.
Ist so das tagelied überhaupt in gewissem sinn, nicht seiner
äufseren sondern seiner inneren bedeutungen wegen, die cen-
trale gattung des minnesangs, so kommt in Walthers beiden
gedienten 88, 9 und 39, 11 — denn so müssen wir sie wol
ordnen — noch das moment seiner persönlichen genialität hinzu,
fast wie in Wolframs tageliedern spielt sich ein dramatischer
kämpf ab: das ringen mit der ihm eigentlich fremden form, die
Überwältigung, das eiutaucheu in den eigenen stil — und die
Verabschiedung, etwa wie Goethe mit der form des versepos
gerungen hat. und auch Walther liefs den geist, mit dem er
gerungen hat, nicht eh er ihn gesegnet hatte.
Rerlin, 5. 1. 07, RICHARD M. MEYER.
ZWEI UNGEDRÜCKTE DEUTSCHE
MYSTIKER-REDEN.
Da ein werk, das auch nur die wichtigsten predigten und
Schriften der sogenannten 'deutschen mystiker' umfasste, bei dem
stand der dinge wol noch in weiter feine ligt, ist es nötig und
•nur nützlich, wenn wichtigere unbekannte mystikerstücke, wo
sie auftauchen, provisorisch bekannt gemacht werden, damit die
forschung auf sie aufmerksam werde.
Die beiden reden, die ich hier folgen lasse, sind m. w. un-
gedruckt und so gut wie unbekannt, es sind die — wie mir
scheint — wichtigsten (unbekannten) stücke aus der handschrift
nr 972 a in 4° der Stiftsbibliothek zu S G allen1 , deren benutzung
mir die Verwaltung der bibliothek in freundlichster weise verstattete.
Ich gebe die texte getreu nach der handschrift. nur die üb-
lichen abkürzungen der handschrift löse ich auf. auch alle zeichen,
als puncte, kommata, gedankenstriche, klammern, auslassungszeichen
— sowie die einteilung nach abschnitten — stammen natürlich von
mir. einziger anhält für die Zeichensetzung in der handschrift
sind grofse buchstaben, die meist den beginn eines neuen satzes
anzeigen; wo sie (wie Öfter) unmotiviert erscheinen, tilge ich sie.
einige besserungen und erläuterungen geb ich unter dem text;
nicht für alle verderbten stellen hab ich rat gewust.
i
(cod. 972 a p. 260—276.)
Es ist ain, got bekennen vnd von got bekant ze sinde, got
sehen vnd von got gesehen ze sind. An dem erkennent wir got
vnd sehen in, das er vns sich machet bekennend vnd sehend.
Als der luft erliichtet, ist nüt anders ist vvan daz er erlüchtet2;
da von erlüchtet er, vvan er erlüchtet ist. Alsus bekeunent wir, 5
daz wir bekant sind, vnd er vns sich machet bekennend. Da
von sprach Christus : 'ander werb ir sehend mich (daz ist in
dem daz ich (ich mach sehend vnd bekennend dar nach volgend),
vnd üwer hertz sol werden erfröwet (daz ist in der gesicht vnd
in der bekantniss mines), vnd üwer fröd nimet niema» von üch3.' 10
1 vgl. die kurze beschreibung bei GSchercr Verzeichnis der hss.
der Stiftsbibliothek von SGallen (Halle 1875) s. 365.
2 lis : anders wan daz er eriülitet ist. 3 citat — ohne das in klammern
geschlossene — aus Job. ev. 16, v. 16 und 22.
396 PAHNCKE
Es sait Iohannes, vvel minn vns got gegeben hat, daz wir
gotes kind gehaissen werdent vod sin1. So sprich ich : also
wenig der mentsch mag sin wis an witz, also wenig mag der
mentsch gesin der sun gottes an daz sünlich wesen des sunes
5 gottes. Nuwan er enhab denn daz selb wesen des sunes gottes,
daz der sun gottes selber hat, ane daz mag er als wenig gesin
der sun gottes, als wenig er mag gesin wis an witze. Da von
sprich ich : solt du sin sun gotes, des enmacht du nit gesin, du
enhabist dann daz selb wesen gottes, daz da het der sun gottes.
10 'Dis ist vns noch verborgen.' Darnach ist geschriben : 'vil lieben,
ir sind gottes sün.' Waz wissen wir2, daz ist, daz er zu lait vod
ir werdent im gelich, daz ist daz selb wesen vnd smaken vnd
verstan vnd alles daz selb, daz denn ist, so wir in sehen als er
got ist. Her umb sprich ich, daz got nit machen mocht, daz
15 ich war der sun gottes vnd nit bette daz selb wesen des sunes
gottes, daz der sun gottes selber hat; als wenig er macheu mocht,
daz ich war wis an witzes wesen. ^>Vie werden wir der sun
gottes? Daz wissen wir noch nit, es ist uns noch nit offen.
Wan als vil wissen wir von disem , daz er spricht : 'ir werdent
20 im gelich.'
Es sind etlichü ding, die vns dis verbergent in vnsern seien
vnd vns bedekent dis bekantuiss. Du sei het etwas in ir, ain
^ünkli der beschaidenhait, daz niemer erlöschet. In daz fünkeli
setzen wir daz bild der sei als in3 oberste tail des genitales. Och
25 han wir ain bekennen in unsren seien ze ussren dingen, als daz
sinnelich verstandeulich bekennen, daz da ist nach glichniss vnd
nach beschaidenhait, daz vns dis verbirget. Wie werden wir der
sun gottes? Daz ist, daz wir ain wesen habent mit im. Doch
daz wir etwas verstand von disem, daz wir sin der sun gotes,
30 daz ist ze verstänne von dem usserlichen iurlich verstenne. Daz
inrlich bekennen daz ist daz, daz sich4 vernünfteklich sunder
mass ist in vnsere sei wesen vnd enist doch nüt der sei wesen,
mer es ist dar in gewitzelt vnd ist etwas lebens der sele. Wan
wir sagen, das daz verstan si etwas lebens der sele, daz ist:
35 vernünftiges leben. In disem leben wird der mentsch geborn
gottes sun vnd zu dem ewigen leben. Dis bekennen ist an zit
1 1 Juh. III v. 1 (und 2) (== Ihema der rede), woraus die meisten der
folgenden citate. 2 /. wir wissen 3 /. in daz 4 tilge sich —
oder ist für ist s. 32 setzet (leit) einzustellen?
ZWEI MYSTIKER-REDEN 397
vnd an stat, an hie vnd an nu. In disem leben sind ällü ding
ain gemain, vnd ällü ding al, vnd al in al al ain geainiget.
Des gib ich ain gelichnuss : In dem lib sind alle tail des
libes geainiget vnd ain. Als des1 füss ist des ogen vnd daz og
ist des füsses. Möcht der füss reden, er sprach, daz das age 5
als aigenlich sin wäre (daz an dem hopt stat), als ob es an
dem füss stund. Daz selbe sprach daz oge hin wider von dem
lüss. Alsus main ich: alle die gnade, die Maria het, die ist des
engeis, vnd ist me vnd aigenlicher sin vnd in ime, dann ob es2
in im war. Dir sin ist noch ze grob vnd ze liplich, wan er hanget 10
an liplicher glichniss. Herumb wil ich ain ander sin sprechen,
der lutere vnd gaislicher ist. Ich sprich, daz in dem rieh der
himel al in al ist al ain al. Was Maria het der gnade, daz ist
in mir, ob ich da bin. Und ist me in mir vnd min aigen die
gnad, die da ist in unser frowen, denn ob si in mir war. IN i t 15
als usquelle noch als usfliessen von Maria, mer : in ir — vnd
min aigen; nüt als frümdes abkomen. Da von sprich ich : was
da ainer hat, daz hat och der ander, nüt als von dem andern3
noch als in dem andren. So die gnad, die in aim ist, die ist
ze mal in dem andren, als sin aigen gnad in im ist; alsus ist, 20
daz der gaist ist in dem gaist. Herumb sprich ich, daz ich nit
sin enmag der sun gantzes4 an das sünlich wesen gotes sunes,
nuwan ich enhab denn daz selb wesen gotes sunes, daz gotes
sun selber hat. Und von habung des selben wesens werden wir
im gelich vnd ir5 sehen in als er got ist. 25
'Aber daz enist noch nit offen, waz wir werden'. Herumb
sprich ich, daz in disem sinde kain gelich ist noch kain vnder-
schaid; wan an allen vnderschaid werden wir daz selbe wesen
vnd substanci vnd natur, daz er selber ist. Des enist uns nun
nit offen, denn wirt es vns offen, so wir in sehen, als er got 30
ist. Got machet vns sich selben bekennen, vnd bekennend
machet er vns sich seihen, vnd sin wesen ist sin bekantnuss;
vnd daz ist das selb, daz mich machet bekennent, vnd6 daz ich
daz ain bekenne. Herumb ist in dem maister, daz er 1er, vnd
in dem sun, daz er geleret wirt. W7an dann sin bekennen min 35
ist vnd sin wesen sin bekennen ist (vnd sin substanci vnd
sin natur), da von so ist sin substanci sin natur vnd sin wesen
1 /. der 2 /. si ? 3 /. andern 4 /. gotes oder gotes ganlz ?
8 /. wir 6 str. vnd
398 PAHNCKE
min. Wao dann sin substanci vud sin wesen vnd sin natur min ist,
herumb so bin icb der suu gottes. 'Nu sehend', brüder, 'weihe minn
uns got gegeben hat, daz wir gotes kind gehaissen sind1 vnd sind'.
Wa von sin wir der sun gottes? Daz ist da von, daz wir
5 daz selbe wesen hand, daz der sun gottes selber hat. Wie mag
dis sin, daz wir daz selb wesen habend, daz der sun gottes selber
hat, vnd daz wir der sun gottes selber sind? Got ist doch nie-
man gelich !
Daz ist war; Ysaias spricht: 'wem habend ir in gelichet oder
10 waz bildes gebend ir im'? Sit denn gottes natur ist, daz er
nieman gelich ist, so müss daz von not sin, daz wir nieman
sin, daz ist, daz wir nibt sin; so mugen wir gesalzt werden iu
daz selb wesen gottes, daz er selber ist. Wenn ich dar zu kom,
daz ich mich gebild in niht, vnd niht gebild in mich, vnd us-
15 getribe vnd usgewirfe alles daz in mir ist, so mag ich gesatzt
werden in daz bloss wesen gottes, daz got selber ist, daz ist in
daz bloss wesen des gaistes, da enkain gelich ist nach dem2
vuderscheid. Da müss es3 gelriben werden vnd us geworfen
alles gelich vnd alle vnderschaid, daz ich über gesatzt werd in
20 got vnd ain werd mit im : ain substauci vnd ain wesen vnd ein
natur, ain wishait vnd ein fröde, — vnd der sun gottes. Und
nach dem daz dis geschehen ist, so enist nit in got, daz mer4
verborgen si, vnd daz mir nit offen si, vnd daz nit min ensi.
Da bin ich wis, mähtig, vnd ällü ding als er, vnd ain vnd daz
25 selbe mit im. Da wirt syon ain wares sehen, daz ist ain sehen
der masse gottes, dem enist nit verborgen in der gothait; da
wirt der mentsch in got geborn.
Aber daz mir nit werd verborgen in got, es werd mir offen,
so müss kain gelich in mir sin offende noch kain bild; wan kain
30 bild ist vns offen5 dii gothait noch sin wesen. Belibe kain bild
in dir, du enwirdest niemer ain mit got. Aber darumb, daz du
ain sigest mit got, so sol niht in dir sin, weder in gebiket noch
us gebiket6, daz ist, daz nüt in dir si bedeket, daz nit offen
werde noch nit us getriben werd.
35 Merk, was gebrest si. Der ist von niht. Darumb was des
niht es7 in dem mentschen ist, daz müss usgetriben vnd us-
1 /. sund (= sullent) - l. noch kein ... 3 /. us * /. mir 5 /. offende
6 vermutlich ist zu lesen : ingebildet noch usgebildet . . .
7 vielleicht zu bessern : . . von iht. Darumb waz des ihtes . .
ZWEI MYSTIKER-REDEN 399
geworfen werden. Wan als lang der gebrest in dir ist, so enbist
du nit der sun gottes. Wiltu wissen, ob din kind geborn werde
vnd ob es enplösset1, daz ist, ob du der sun goltes gemachet
siest, daz merk : als lang du laid hast in dinem hertzen umb
din siind2 kaiu ding, es sige noch umb sünd, so enist din kind 5
nit geborn. Hest du hertzlaid, du enbist nit müter; veliht bistu
in der geberung vnd nahend der geburt. Darumb zwil'el nit,
ob du laidig bist für dich oder für din fründ : ist es nit geborn,
es ist doch nahend der geburt. Aber denn ist es volkomenlicb
geborn, so der mentzsch laid von hertzen nit bevindet vmb kain 10
ding, es si dis oder das. Denn het der mentzsch daz wesen vnd
subslanci vnd natur, vnd alles daz got hat. So wirt daz selb
wesen gottes sunes, daz gotes sun selber hat, vnser vnd in vns,
vnd koment in das selb wesen gottes, daz got selber ist. Cristus
sprach : 'wer mir volgeu welle, der verlogen sin selbs vnd nim 15
uf sin crütz vnd volge mir'; daz ist : ällü herzelaid wirf us, daz
nitwan statu fröd in dinem hertzen si. So ist daz kind in dir
geborn. Und wenn daz kind in dir geborn ist, seheslu du3 denn
dinen vatter vnd dine müter vnd din geschwüstergit vnd din
kind vnd diu fründ liplich vnd gaistlich von4 dinen ogen toten, 20
darumb werd din hertz niemer bewegt. Werd aber din herlz
da von bewegt, so enwär daz kint nit geborn; aber viliht war
es in der geberung vnd nahet der geburt.
Ich sprich, daz got vnd alle engel so gross fröd hand von
ainem iekliclvn werk aines guten mentschen, daz sich kain fröd 25
der fröd geliehen mücht. Dis sprich ich darumb : komest du
dar zu, daz dis kind in dir geborn wird, so gewinnest du so
gross fröd von ainem ieklichen guten werk, daz geschult in dirre
weit, daz din fröd wirt die aller gröst stätikait, daz si sich nit
euändret. Da von sprach er : 'vnd üwer fröd nimet nieman 30
von üch'5.
Bin ich wol übergesatzt in got, so ist got min vnd ällü
sin gothait, vnd ich wird gesatzt in daz gütlich wesen; daz ist,
daz ich wird gesatzt in das bloss wesen gotes, das got selber ist,
da enkain statt laid6 hat; wan wir sehen, das in got betrübde 35
noch beswärde, pin noch laid nit enist. Wie es doch schine,
daz er etwenn zürne über den sunder : es enist nit zorn, es ist
1 /. enplösset si 2 str. din sünd 3 str. du 4 /. vor
5 ev. Joh. 16, 22 6 /. laid statt
400 PAHNCKE
minne, es komet von grosser gütlicher minn. Die er minoel,
die straffet er, wan er ist die minn, die da ist der hailig gaist.
Hierumb gat der zorn gottes us der minne, wan er an liden
zürnet. Körnest dar zu, daz du in dinem hertzen nit hau mäht
5 betrübde noch beswärde, pin noch laid vmb iht, es si dis oder
das, also daz dir laid nit laid ist, vnd daz dir ällü ding ain luter
frid sind, so ist daz kind in der warbait geborn. Und alsus
main ich, daz ir üch flissent nit allein, daz das kint geborn
werd, mer geboru si, als in got ällü zit der sun geborn ist
10 vnd ällü zit geborn wirt.
Daz wir komen zu diser lutren warheit vnd zu diser vol-
kommehait, also daz alle gütlich warhait vnd alle volkomen war-
bait, du got ist, an uns werd volbracht, also daz gottes ere vnd
sin lob daran si, — des belf vns die ie wesend warhait, du got
15 ist. Amen.
ii
(cod. 972 a. p. 316—328.)
'Homo quidam nobilis abiit in regionem longinquam accipere
regnum et redire etc.1' Dis wort ist geschriben in dem ewangelio
vnd spricht in tütsch : 'es waz ain edel mentsch, der gieng us
in frömde land von im selber vnd kam richer wider hain'. Und
20 liset man in aim ewangelio, daz cbristus sprach : 'nieman mag
min iunger gesin, er volg mir denn nach'2 vnd hab sich selber
gelassen vnd hab im niht behalten; vnd der hat ällü ding, wan
niht enhaben daz ist ällü ding haben. Aber mit begerung vnd
mit hertzen sich vnder geworfen3 got, vnd sinen willen al ze
25 mal setzen in gottes willen, vnd enhain gesicht haben uff die
geschaffen hait : der alsus us gegangen war sin selbes, der sol im
selber aigenlich widergeben werden.
Güti in sich, güti, daz stillet die sele nit : si loket der sele
vnder, si bestat, vnd lüget4 herus. Gäl beraitschaft in alles daz
30 göt ist in ainer gemaiusami, vnd gnad belibet bi der bigerung.
Und geb mir got dehain ding uswendig sines willen, ich achtete
sin nit; wan daz minst, daz mir got in sinem willen git, daz
machet mich sälig.
1 Luc. 19, 12, wonach die letzten, ziemlich unleserlichen textworte
verbessert sind. 2 Luc. 14, 27, frei widergegeben, der redner er-
weitert das citat durch einen eigenen zusatz. 3 /. gewerfen
4 /. luget, das voranstehnde unklar.
ZWEI MYSTIKER-REDEN 401
Alle creaturen sint usser gottes willen geflossen, kund ich
allain gottes güti begeren? Der will ist als edel, daz der hailig
gaist sunder mitel dar us fliessend ist. Alles gut flüsset us der
uberflüssigkait der gothait gottes. Ja vnd smakt mir der will
gottes allain in der ainikait, da die gottes rüw der gothait in 5
allen creaturen ist. In dem si da rüwet vnd alles daz wesen vnd
leben ie gewan als in ir lesten end, da soll du den haiigen gaist
minnen als er da ist in der ainigkait; niht an im selber, sunder
da er smelzet mit der gothait goltes allain in der ainikait, da
ällü güti us flüsset uss der überflüssikait der gothait gottes. 10
Dirre mentsch kumet richer wider hain, denn er usgegangen
was. Der alsus usgegangen wäre sin selbes, der sölti im selber
aigenlicher widergeben werden. Und ällü ding, als er sü gar
gelassen hat in der manigualtikait, daz wir1 im alzemal wider2
in der ainualtikait, vvan er sich selber vnd ällü ding in dem 15
gegenwürtigen nu der ainikait vindet. Und der alsus usgegangen
wäre, der kam vil adelicher hain, denn er usgegangen was.
Dirre mentsch lebt nu in ainer ledigen frihait vnd in ainer
lutern bloshait, wan er enhat sich enkainer ding ze underwinden,
noch an ze nemende lützel noch vil; wan alles daz gottes aigeu 20
ist, daz ist sin aigen.
Die sine antwurtend got nach sinem höchsten tail : in siner
grundlosen tieffi, in siner treffender3 demütikait. Ja der demütig
mentsch bedarf darumb nit bitten, suuder er mag im wol ge-
halten4. Wan die höhi der gothait kan es anders nit angesehen 25
denn in der tieffen der demütikait; wan der demütig mentsch
vnd got sind ain vnd nit zwai. Dirre demütig mentsch ist gottes
also gewaltig, als er sin selbs gewaltig ist; vnd alles daz gut, daz
in allen engein vnd iu allen haiigen ist, daz ist alles sin aigen,
als es goltes aigeu ist. Got vnd dirre demütig mentsch sind 30
alzemal ain vnd nit zwai; wan waz got würket, daz würket och
er, vnd waz got wil, das wil och er, vnd waz got ist, daz ist
och er : ain leben vnd ain wesen. Ja bi got : war dirre mentsch
in der hell, got müst zu im in die hell, vnd die hell müst im
ain himelrich sin. Er müss dis von not tun, er wurdi he- 35
zwuugen dar zu, daz er es tön müsti; wan da ist dirre mentsch
gotlich wesen, vnd gütlich wesen ist dirre mentsch. Wan hie
so geschult von der ainikait gottes vnd von dem demütigen
1 /. wird 2 viell. widergeben ... 3 /. der tieffen siner . . 4 gebieten? R
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 26
402 PAHNCKE
mentschen der kuss. Wan die tugend die da haisset demütikait,
du ist ain wurtzel in dem grund der gothait, dar in si gepflantzet
ist, daz si allain ir wesen in dem ewigen ain hat vnd niena
anderswa. Ich sprach ze Paris in der schul, daz ällü ding sond
5 volbracht werden in dem reht demütigen mentschen. Vnd da-
rumb sprich ich, daz dem reht demütigen mentschen enkain
ding geschaden mag noch geirren mag. Wan es ist enkain
ding, es flihe daz, daz es ze niht möhte gemachen. daz
fliehen ällü geschaffnen ding, wan sü sind nihtes niht an
10 in selber. Und darumb so flühet der demütig mentsch alles,
daz in gottes geierren mag. Darum so fluch ich den kolen,
wan er mich ze niht machen wolt, wan er wolt mir min wesen
benemen.
Aristotiles nam ain buch für sich vnd wolt sprechen von
15 allen dingen. Und sprach : 'ain mentsch gieng us'. Nu merkent,
waz aristotiles spricht von disem mentschen. Homo daz ist als
vil gesprochen als ain mentsch, dem forme zügefüget ist, vnd
git im wesen vnd leben mit allen creaturen , mit redlichen
vnd mit unredlichen, mit allen liplichen creaturen — vnd red-
20 lieh mit den engein. Und er sprichet also : als alle
creaturen mit bilden vnd formen in den engein begriffen sind
vernünfteklichen, vnd die eugel bekennent vernünfteklich ain
ieglich ding mit vuderschaid — dar an der engel so grossen
lust hat, daz es ain wunder wäre den di es nit befunden, vnd
25 netten si1 sin nit gesmeket — : also verstat der mentsch ver-
nünfteklichen aller creatur bild vnd form vnd vuderschaid. Dis
gab Aristotiles dem mentschen, daz der meutsch da von ain
mentsch si, daz er ällü bild in2 form verstat : darumb si ain
mentsch ain mentsch. Und daz was die höchst bewisung, dar
30 an Aristoteles bewisen moht aiuen mentschen.
Nu wil ich och wiseu, was ain mentsch si. Homo sprichet
als vil als ain meutsch, dem substanci zugeworfen ist, vnd git im
wesen vnd leben vnd ain vernünftiges wesen. Ein vernünftiger
mentsch ist, der sich selber vernünfteklichen verstat vud in im
35 selber ab geschaiden ist von allen materien vud formen. Ie nie
er abgeschaiden ist von allen dingen vnd in sich selber gekeret,
ie me er ällü ding clarlich vnd vernünfteklich bekennet in im
selber, sunder uskeren : — ie me es ain mentsch ist.
1 slr. si ? 2 /. vnd
ZWEI MYSTIKER-REDEN 403
Nu sprich ich: wie mag das gesin, daz abgeschaidenhait des
verstentniss sunder form vnd bild in im seiher ällü ding verstat
sunder uskeren vnd Verwandlung sin selbes? Ich sprich, es kum
von siner ainualtikait. Wan ie luter, ainualtiger der mentsch sin
selbes in im selber ist, ie ainualteklicher er alle mauigualtikait 5
in im selber verstat vnd belibt vnwandelber in im selber. Boecius
sprichet : got ist ain vnbevveglich göt, in im selber stillstand,
vnberüret vnd vnbewegl vnd ällü ding bewegend. Ain ainualtig
verstantniss ist so luter in im selber, daz es begriffet daz luter
blos gütlich wesen sunder mittel. Und in dem influss enpfahet 10
es göllich natur glich den engein (dar an die engel enpfahend
gross fröd, daz mau möcht gesehen am eugel). Darumb möcht
man in der hell sin tusend iar, — dis verstantniss ist so luter
vnd so clar in im selber, was man in disem Hecht sähi, es wurd
ain engel! 15
Nu merket mit flisse, daz Aristotiles spricht von den ab-
geschaidnen gaisten in dem buch, daz da haisset mechaphisika.
Der höhst vuder den maistero, der von natürlichen künsten ie
gesprach, der nennet dis abgeschaideu gaist vnd sprichet, das si
enkainer ding form sien, vnd si nemend ir wesen sunder mittel 20
von got usfliessend; vnd also Diessend si och wider in vnd en-
pfahend den usfluss von got suuder mittel, obweodig den engein,
vnd schowent daz bloss wesen gottes sunder vnterschaid. Dis
luter bloss wesen nennet Aristoteles ain 'was'. Daz ist daz höchst,
daz Aristoteles von natürlichen künsten ie gesprach, vnd über 25
das so enmag kaiu maister höher gesprechen, er sprach dann in
dem haiigen gaist. Nu sprich ich, daz disem edlen mentschen
genüget nit an dem wesen, daz die engel begriffent vnformlicheu
vnd dar an hangent sunder mittel; im begnüget nit1 an dem
aiuigen ain. 30
Ich hab och nie gesprochen von dem ersten begin vnd von
dem höhsten end. Der vater ist ain begin der gothait, wan er
begriffet sich selber in im selber. Us dem gat daz ewig wort
inne belibend, vnd der hailig gaist flüsset von in beiden inne
belibend vnd gebirt in nit, wan er ein ende ist der gothait 35
(inne belibend) vnd aller creaturen, da ain luter rüvv ist vnd
ain rasten alles des, daz wesen ie gewan. Daz begin ist durch
1 es ist wol nit wan oder ähnlich zu lesen.
26*
404
PAHNCKE ZWEI MYSTIKER-REDEN
des endes willen, wan in dem lesten end rüwet alles, daz daz1
vernünftig wesen ie gewan 2 des wesens ist daz
vinsterniss oder daz unbekantniss der verborgenen gothait. Dem
dis lieht schinet3, vnd dis vinsterniss enbegraiff daz nit. Darumb
5 sprach Moyses : 'der da ist, der hat mich gesant, der da sunder
namen ist, der ain logenung aller namen ist vnd der nie namen
gewan.' Vnd darumb sprach der prophet : 'wärlich, du bist der
verborgen got in dem grund der sele, da gottes gruud vnd der
sele grund ain grund ist. So man dich ie me suchet, so man
10 dich ie minder vindet.' Du solt in soeben, also daz du in niena
vindest. Suchest du in nit, so vindest du in. Daz wir also sü-
chent, daz wir ewenklich bi im belibent, des helf vns got
amen.
Die beiden reden sind ausführlich und verhällnismäfsig gut
überliefert, verfassernamen nennt die handschrift nicht, für das
zweite stück haben wir indes eine spur, der radner sagt: Ich
sprach ze Paris in der schul, daz ällü ding sond volbracht
werden in dem reht demütigen mentschen. und Pfeiffer Deutsche
mystiker n 306, 40 f (in nr 94) heifst es: Dar umbe seile ich zuo
Paris, daz an dem gerechten mentschen erfüllet ist, swaz diu
heilige schrift und die propheMen ie gesehen, beide male der-
selbe gedanke (nur in ein wenig verschiedenem, gewande) mit dem-
selben rückverxoeis verbunden, diese beiden letzteren stucke haben
also den gleichen Verfasser, so viel lässt sich mit Sicherheit sagen.
Pf. nr 94 aber hatte Pfeiffer für Eckhart in anspruch genommen,
ob mit recht oder unrecht, muss weitere prüfung ergeben. — auch
ohne rücksicht auf das letzt gesagte halle ich beide oben abgedruckten
stücke für eckharlisch, will aber damit nur meinen persönlichen
eindruck widergeben, stichhaltige beweise für meine behauptung
kann ich bei dem augenblicklichen stand der dinge — ich hoffe
nur bis auf weiteres — nicht bringen, als reden Eckharst verwertet
werden dürfen beide stücke also vorläufig noch nicht.
su tilgen.
1 ein daz ist
2 die hs. hat nach gewan, den rest der zeile ausfüllend, eine mit
roter linte ausgeführte Schlangenlinie, ein auslassungszeichcn? denn
hier ist etwas alisgefallen. 3 ergänze in die vinsternis (Joh. 1, 5), doch
scheint der eingang des salzes verderbt.
Schleusingen,
5 nov. 1906.
MAX PAHNCKE.
ÜBER WOLFRAMS ETHIK.
4Das hohelied vom rittertum' nennt Gotthold Böllicher den
Parzival Wolframs von Eschenbach, denn hier ist der 'ritterliche
»eist unter sittlichem gesichtspunct aufgefasst' und als 'eine sittliche
lehensmacht verherlicht'. damit hat er ausgesprochen, dass der
ethische gehalt des gedichtes nicht allein in den religiösen bestand-
teilen liege, sondern dass Wolfram aus den im rittertum selbst
vorhandenen kräften das sittliche ideal seines Standes sich ent-
wickeln liefs. aber er hat sich in seinen arbeiten nur das ziel
gesetzt, eben die weltliche seite dieses ideals, den unverzagten
mannesmut, zu verfolgen, von der mitwürkung der religiösen
erziehung hat er nicht gehandelt, und so neigt die forschung der
letzten jähre dazu, den weltlichen Charakter von Wolframs Parzival
mehr und mehr zu betonen und über den geistlichen gehalt hinaus
in den Vordergrund zu rücken (vgl. Ergebnisse und Fortschritte
der germanistischen Wissenschaft s. 276 f). dagegen konnten selbst
Friedrich Vogts und Victor Michels ebenso treffende wie schöne
darstellungen von Parzivals iunerm wesen (Neue Jahrbücher f. d.
klass. Altert, usw. u [1899], 133 — 153 bezw. Gott. gel. anz.
1897, 741) nicht genügend zur geltung kommen, da aber das leben
in diesen bunten bildern der ausdruck einer Weltanschauung ist, die
mittelalterliche Weltanschauung sich aber auf das Christentum
gründet, und da zudem das gedieht selbst ganz durchzogen ist von
religiöser Stimmung, so muss bei einer Untersuchung über die leiten-
den ideen den theologischen fragen doch ein viel gröfserer räum
gewährt werden, vor allem sind die ethischen begriffe auf ihren
inhalt hin zu prüfen, immer selbstverständlich in ihrem Verhältnis
zur theologie. in feinsinniger weise hat San Marte in seinen
Parzivalstudien u und in das sittliche leben in dem gedichte auf
grund der einzelnen erscheinungen entwickelt, aber er hat das
scholastische moment zu wenig berücksichtigt, umgekehrt hat
Sattler (Die religiösen anschauungen Wolframs vEschenbach) nur
dieses, nicht aber die ritterlich-weltliche hedeutung in betracht
gezogen. Seeber endlich hat in seinen Studien über die leitenden
ideen im Parzival (Histor. jahrb. der Görres-gesellschaft 2, 54—75
und 178 — 200) die grofsen züge trefflich herausgearbeitet, aber
auf die grundlagen im einzelnen einzugehn lag nicht in seiner
absieht.
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. 27
406 EHRISMANN
A. Die eiüleitung des Parzival. a) 1, 1 — 14.
State — Unstcete.
State und unstcete müssen ethische und zugleich religiöse
begriffe sein, da durch sie die menschheit sich spaltet in behaltene
und verworfene, da sie leben und tod der seele bestimmen.
Die umtäte ist nicht nur eine einzelne sündhafte Veranlagung,
vielmehr die Verdorbenheit der sittlichen natur des menschen
überhaupt ('der sittlich haltlose', Bötticher Das hohelied vom ritter-
tnm s. 15). nicht einmal die hauptsünden sind so verderblich,
da es gegen sie das mittel der bufse gibt, am besten lernt man
das wesen der stcete und der unstcete durch Thomasin kennen
(vgl. Martin Anz. xn 207. Parzival i s. 5), denn die tugendlehre
seines Wälschen gasles beruht eben auf dem gegensatz dieser
beiden seelischen beschaffenheiten (Scherer Gesch. d. d. litt.6 222).
nachdem er im ersten buch die gesellschafllichen Vorschriften
über zuht und hüfscheit, v. 1708, gegeben hat, beginnt er mit
v. 17S9 seine moralphilosophie, uud zwar mit der stcetekeit : man
sol an tugent stcete sin, daz was ie der rät min 1793 f, ich
wil daz man sin arbeit alrerst an die statekeit wende, so gewinnt
man baz die andern tugende, wizzet daz . die andern higende sint
enwiht, und ist da bi diu stcete niht 1S15 — 1820, worauf die un-
stcete gegenübergestellt wird : niemen mac die stcete hdn, ern well
die unstcetekeit verldn . swer unstcetekeit verldt, die stcete er begriffen
hat . Da von sol diu unstalekeit von mir alrest werden geseit
1821 — 1826; wir suln alreste mit getcete sin an guoten dingen
stcete 1833 f; darauf die begriffsbestimmung : Waz ist unstwte!
. . . unstcete ist stcete an baesen dingen 1837 — 39 (vgl. Freidauk
44, 25 f : Swer stcete an unstcete ist , da ist ouch ander valscher
list, s. San Marte, Parzival-Studieu u 168); endlich die Charakteri-
sierung ihres äufseren treibens : unstcete gar unmüezec ist mit
allen dingen zaller vrist. swaz unstcete hiute tuot, daz dunket si
niht morgen guot. si zimbert daz vil schiere hat zebrochen ir
unstceter rat 1849— 54, der wandelung si nie bedröz: daz we'nege
machet si ze gröz, daz gröze macht si aver kleine, nu loufet si, nu
ge't si seine, nu stiget si, nu vellt si nider, hiut vert si hin, morgen
wider, nu hin ze gebirg, nu hin ze mer, hiut ist si eine, morgn
mit her, nu hin ze holz, nu in der stat . . . 1861 — 69. die
ersten sechs bücher, das sind nahezu dreiviertel des Werkes, sind
aufgebaut auf dem thema von der stcete und der unstcete. mit dem
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 407
achten buch. v. 9851. verlässt sie der dichter, indem er kurz wider-
holend die umtoste als Vertreterin der Untugenden, die stcete als
solche der lugenden aufstellt, um zu ihren Schwestern der unmdze
und der mdze überzugehen, am abschluss der betrachtung
v. 12335 — 40 fasst er nochmals das über die stcete und unstcete
und ihre Schwestern gesagte zusammen, der rest des weikes ist
dem recht und der milde gewidmet.
Rückert hat in den anmerkungen zu seiner ausgäbe (bes.
zu v. 1862. 1883 — 1964, s. auch Gervinus Gesch. d. d. dichtung
ii5 20 f) die wichtigsten quellen für diese Sittenlehre angegeben:
es sind Horaz Ep. i 1 und Senecas Episteln, bes. i 2. Senecas
moralphilosophie gipfelt in dem satze iSapientis est semper idem
velle atque idem nolle' (vgl. Erdmann Grundriss d. gesch. d. philos.3
t 174); die Weisheit, das ist die tugend, wird in die beständigkeit
gesetzt.
Dieselbe lehre treffen wir bei dem andern classisch morali-
sierenden didaktiker des deutschen mittelalters, bei Wernher
von Elmendorf Zs. 4, 306, 815 — 845, bes. u.a. Manie is dez
gewone, Kumit er di vnstetikeit ane, Daz er also vaste daran steit,
Daz iz mac heizen sin stetikeit 837 — 840 (zu Wernh. v. Elmend,
s. HVSauerland Zs. 30, 1—58, bes. s. 22 u. 44 f, Schönbach
Zs. 34, 55 — 75, bes. s. 66 f). was Thomasin zu einem pragma-
tischen System ausgebildet hat, gibt er in aphorismen. diese
sind, wie Schönbach nachgewiesen hat, der Moralis philosophia
des Wilhelm vConches (oder Hildebert vLe Maus?) entnommen,
hier kommt die stoische Weisheit stärker zur geltung als bei dem
laienhaften Thomasin. die constantia ist der inbegriff der leiden-
schaftslosigkeit und der innern freiheit : Constantiae vero est
officium in utraque fortuna gravitatem teuere . 'Praeclara enim
in omni vita eadem frons et idem vultus; nam argumentum bene
compositae mentis est posse consistere et secum morari'; und
weiterhin dieselbe bestimmuDg wie bei Thomasin und Wernher
vElmendorf : Haec quidem lex est constantiae, ut nee in malis
constantes nee in bonis vagi simus . Est enim in malis constantia,
quae non est virtus . . . Huic virtuti contraponitur inconstantia,
quae est molus animi circa varias oecupationes . In quo vitio adeo
sine intermissione laborant quidam, ut dicatur eorum constantia
esse instabilis (Migne 171, 1033). und so stellt auch Abälard an
den eingang seiner ermahnungen an seinen söhn Aslralabius den
27*
408 EHRISMANN
satz von der stcßte und unstmte -. Jnstabüis lunae slultus mutatur
ad instar, Stent sol sapiens permanet ipse sibi, Nunc huc nunc
illuc stulti mens caeca vagatur, Provida mens stabilem figit ubique
gradum (Migne 178, 1759).
Die ethischen begriffe der stCBte und unsteete sind meta-
physisch gewendet Piatos gegensätze der ovola und der ysveaig,
der weit des seins und des Werdens, das reich der bleibenden
einheit und das reich des ewigen entstehens und Vergehens, in
die scholastische philosophie ist diese Tavrönjg und ir£QÖrrjg
des Timäus, des einzigen im mittelalter bekannten Werkes von Plato,
in den ersten Jahrzehnten des 13 jh.s eingeführt worden, sie
behandelt Adelard von Bath in seinem traetat De eodem et
diverso, Von dem einen vnd dem wandelbaren (HWillner Des
Adelard von Bath De eodem et diverso, Beitr. z. gesch, d. philos.
d. ma. bd iv h. 1 bes. s. 39). im gründe ist der streit zwischen
der philosophie und der philokosmie (der liebe zum sinnlichen
dasein), der den inhalt dieser schrill bilde!, nichts anderes als
der christliche dualismus in platonischer denkform, der gegen-
satz zwischen der steete und der unsteete bei Thomasin und den
andern classicierenden didaktikern entspricht also demjenigen des
immutabilis Deus und der vanitas mundi. Gott ist statte, die weit
aber unsteete, das ist das geselz der christlichen Weltanschauung,
des extremen christlichen idealismus, der weltverneinung, des
contemptus mundi; oder, um aus den zahllosen äufserungen
des mittelalters nur einen beleg auszuheben, eines älteren zeit-
geuossen Wolframs, des Alanus de Insulis : Deus, summus artifex
omnium verum et efficiens causa, ipse immutabilis est, non tarnen
res ab eo creatae immutabiles sunt (Contra Waldenses et Albigenses
cap. v).
Die unsteete also ist, als tätigkeit des willens aufgefasst, die
ewig wechselnde begierde und trifft demnach zusammen mit der
begierlichkeit, der coneupiscentia (inordinata) oder dem appetitus
{inordinatus), der antiken vitiosa libido (Horaz Ep. i, 85). Als
belegstelle für das 12 jh. möge angeführt sein die betrachtung
Bichards von SVictor über die unruhe der menschlichen affecte
in seinem traetat De statu interioris hominis cap. vm — x (Migne
196, 1221 ff) : Sicut enim a pedibns corpus ciretimfertur, sie a
carnali desiderio animus exagitatur atque circumducitur. Dum
enim animus carnali desiderio illeclus et abstractus, nunc affectum
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 409
suum, nunc appetitum sequüur, nunquam quietus, nusquam tran-
quillus esse permütilur. Quandiu mim vivit vagus et profugus
super terram, quolidie currit post concupiscentias suas, repletusque
multis miseriis nunquam in eodem statu permanet, dum semper
nititur vel apprehendere quod concupiscit vel effugere quod odil.
cap. ix : Quis, quaeso, digne exponere possit, quot modis se aff'ectus
humanus variare comuevit'1 Multis modis se variat, ... de uno
semper in aliud tendens et unum post alind fastidiens et ad ide
quod prius despexerat, majori saepe aviditate revertens. . . . Nunc
hoc, nunc illud amat ; nunc hoc, nunc istud desiderat; et quae
prius amaverat, iterum despicit, et diu multumque desiderata
Herum fastidit usw. cap. x : Sic sane et appetitus carnis semper
in motu semper in transitu est, et nunquam in eodem statu perma-
nere potest. Accedit et recedit, crescit atque decrescit, et sie semper
recedit atque decrescit ut Herum redeat et crescat; et sie semper
redit et crescit ut iterum recedat et decrescat.
In den selbstbetrachlungen und selbstanklagen der askese
besonders muste die unstätbeit als ein defect der inneren
beschaflenbeit erkannt werden, wenn der christ einkehr bei sieb
selbst hielt, dann wurde er mit schaudern die Verworrenheit
seines herzens gewahr, darum verweilt auch der Verfasser des
Tractatus de interiori domo (anieitungen zur prüfungdes gewissens,
Bernhard vClairvaux zugeschrieben und unter dessen werke auf-
genommen) vornehmlich bei der mobilitas oder instabilitas cordis
und bei den vagae cogitaliones, den schweifenden gedanken:
cap. xxix Cor meum, cor pravum, vanum et vagum, omni vohi-
bilitate vohibilius, de uno in aliud vago incessu transit, quaerens
requiem nbi non est . . . mens mea valde levis multumque instabilis,
vaga et profuga, nbique se variat, undique ßuetuat : quis vult et
non vult pigra : consilia mutat, voluntates aeternat . . . Inde est
quod cogitationes meae vanae et importunae me trahunt et dueunt
modo ad forum, modo ad liligia altercantium usw ; cap. xm : Cor
quod omni mobili mobilius est . . . mutabilitate enim naturali in-
stabile vel in puncto fixum recusat consistere . . . ; ähnlich in den
ebenfalls unter SBernhards werke aufgenomenen Meditationes
piissimae de cognitione humauae conditionis cap. ix ff.
Das christliche moralsystem kennt sieben haupltugenden,
das sind die von Plato aufgestellten sogenannten vier cardinal-
tugenden der prudentia, temperantia, fortitudo, justilia, und dazu
410 EHRISMANN
die drei göttlichen lugenden fides, spes, charitas; und ebenso
sieben hauptsünden, die von Gregor dGrofsen eingeführt wurden:
superbia, avaritia, gula, luxuria, ira, invidia, accidia. jene reihe
aber, in welcher die statte und die unstiete an der spitze stehn,
geht unmittelbar auf den stoicismus zurück und bildet also ein
neben dem kirchlichen siebener-canon hergehndes system. doch
haben die beiden psychischen qualiläten der State und unstcete,
wie schon die citate aus den SBernhard zugeschriebenen tractaten
und aus Richard von SVictor zeigen, ebensogut kirchliche geltung,
da sie ja den christlichen dualismus zwischen Gott und weit
ausmachen, die beharrlichkeit, perseverantia, welche eine sonder-
arl der slcete darstellt, ist aufserdem in der bibel selbst bestätigt:
die hauptstellen sind Math. 10, 22 und 2 Timolh. 2, 1 — 5. darum
nimmt sie auch in der kirchlichen morallehre eine bedeutende
stelle ein (vgl. besonders Alanus Summa de arte praedicaloria
cap. xvn). und so sind einzelne formen der State auch in das
erweiterte siebener-system aufgenommen, in dem jeder tugend
und jeder sünde eine anzahl von einzelformen als löchter oder
begleiterinnen beigegeben werden, die beständigkeit, constantia,
stabilitas, und die nah verwandle beharrlichkeit (perseverantia)
sind allgemein unter der haupltugend der tapferkeit untergebracht
(s. unten s. 413), so auf der arbor virlutum Hugos von SVictor
Migne 176, 1003. 1010, in der Summa iheol. des Thomas vAquino
ii 2, quaest. 167, bis auf die neuereu lehrbücher der moral-
theologie wie zb. bei Steininger in 345. 350 f, Anloine i 286 b.
das gegenteil der statte aber, die unstwte, ist nicht in gleicher
weise entsprechend unter die laster aufgenommen worden, sie
findet sich nicht auf der arbor vitiorum Hugos von SVictor
und nicht in der Summa des SThomas, wol aber in der populären
Sittenlehre, und zwar da unter der accidia, der trägheit, so im
Renner 15927 (unslelikeil), in der Tafel des christl. lebens aus
dem ende d. 15 jh.s bei Bahlmaun Deutschlands katholische
katechismen s. 69 (Vagacio menlis, Unstedicheit des herten), in
der neueren morallehre, zb. bei Steininger in 313 (die aus-
schweifung des gemütes). Steininger bestimmt das laster folgender-
massen : 'hierher gehören die neugierigen, die nichts zu tun
wissen als andere beobachten . . . und in einer steten unruhe,
unfürsichtigkeit und Zerstreuung zu leben.' im gründe ist also
diese unstäligkeit soviel wie die neugierde. diese aber, die
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 411
curiositas, fällt unter die begleitscliaft der hoffart, superbia. der
Übermut hat Lucifer und das erste menschenpaar zu fall gebracht,
die neugier der Eva speciell war die erste Verschuldung des
menschen, vgl. SRernhard Tract. de gradibus humilitatis cap. \'
Primus itaque snperbiae gradus est curiositas quod per
curiositatem a veritate ceciderit, quia prius spectavit curiose, quod
affeclavit illicile, speravü praesumptuose. Iure igitur in gradibus
superbiae primum curiositas vindicat sibi , quae etiam inventa est
initium esse omnis peccati; Thomas in seiner Summa theol. lässt
unter der superbia als der sünde der ersten menschen auf die
Versuchung die abhandlung über die curiositas folgen (Summa
theol. ii 2, quaest. 153 — 157); vgl. auch Wessobrunner Glaube
u. beichte, MSD. xc 136 in firuuizgerna, in niugerni, = Ramberger
Gl. u. b. MSD. xci 136, unter den Varianten der ubermuoti. infolge
der Unsicherheit der begriffsbeslimmung wird die unstcete nun
sogar unter die beiden laster der hoffart und der trägheit, super-
bia und accidia, eingeordnet, so von Hugo von Trimberg im
Renner 187811. (virwitze und unstelikeit), in der obengenannten
tafel (s. 68) als Novorum invencio, Nye vunde; als novitatum
inventio in der neueren morallehre unter superbia, Antoine i 123. 1
Und nun noch einige beispiele für die State und die unstcete
in dem classicierenden sinne Thomasins, wonach sie die grund-
richtungen des sittlichen lebens bilden. Rerthold vRegensburg
i 63, 37 ff : die siebente tugend, diu heizet statikeit. Seht, daz
ist diu erste tngent unde vellet zuo der jungesten, unde dar umbe
müezet ir dise tugende alle sehse haben .... hdstu sie alle sehse
unde die sibenden niht, diu da heizet stcetikeit, diu wirt niemer
rdt : du muost die tugende alle sehse hdn unde danne die sibenden
dar zuo, daz du mit disen sehs tilgenden State blibest als ein
adamas; i 402, 3 ff : Unde da von bezeichent der mdne den un-
glouben, wan der mdne so gar unstcBte ist in so maniger lüne
(vgl. oben s. 408). Er ist hiute junc und elter morgen; Mute
nimet er abe, morgen nimet er zuo; nü kleine, nü gröz; nü get
er höhe an dem himel, morgen get er nider; nü hin, nü her, nü
sus, nü sä. Der Minne Fürgedank, Doc. Mise, ii, 176 f : Er ist
1 Das System der tilgenden und laster im späteren mittelalter hofle ich
an anderer stelle eingehender behandeln zu können, [die eben erschienene,
höchst inhaltreiche abhandlung von Marie Gothein: Die todsünden, Archiv
f. religionswissenschaft 10, 416 — 484, konnte ich nicht mehr benützen].
412 EHRISMANN
an der sei genesen Sicer pfligl der stätikaü Mit triwen ane
kunlerfeit, Es schwebet vil manges tugend ob Und zimet werdes
mannes lob, Das man in nenne stäte. Wie gern er missetäte,
Das enlat in div reht stätikaü ... Er sol niht künnen wenken.
Hin und her gedenken Einte lieb, morgen lait, Daz zimpt niht
rehler stdtikait. Violler 4682 : Die stätichait oder vestichait . . .
das ist ein starkes vestes gemüet ; 4844 : Die unstät die hat nindert
rest und ist ain widerwärtiger prest der rechten volchomen stäti-
chait . . . wann der unstät begeret nicht chain stätichait in seiner
pßicht. Buch der Rügen, Zs. 2, 63. 629 : statte ze boesen dingen
(Marliü Parz. u 627). in Reinbots HIGeorg 5765 (vKrans) ist
Statte die erste der kammeru in der wunderburg.
Gleich in der äulseren, stilistischen form der darstellung lässt
sich die geschichte der unstälheit verfolgen, das widerspruchs-
volle in ihrem wesen ist schon hei Horaz ausgedrückt durch
kurze antilhesen : nunc agilis ßo ... nunc in Aristippi furtim
praecepta relabor Ep. i 16 — 18, Quod petit spernit, repetit quod
nuper omisit . . . Diruit, aedificat, mutat quadrata rotundis 9S — 100.
in dieser charakteristischen formensprache wird dann in der folge-
zeit mit Vorliebe das hild des von der unstcete umgetriebenen ent-
worfen, so auch schon an mehreren der angeführten stellen, und,
um noch zwei stark ausgeprägte beispiele anzulügen : in den
pseudoaugustinischen Soliloquien cap. n Nunc gaudeo, statim
tristor, nunc vigeo, tarn infirmor, nunc vivo, statim morior, nunc
felix appareo, semper miser, nunc rideo, iam fleo. Sicqne omnia
mutabililati subiacent, ut nihil una hora in uno statu permaneat.
Hinc timor, hinc tremor usw.; und im Reimer v. 191011 : mm teil
er diz, nu wil er daz, nu kalt, nu warm, nu trucken, nu naz,
nu wiz, nu röt, nu grüene, nu val, nu kurz, nu lanc, nu breite
nu smal, nu wil er sldfen, nu wil er wachen, nu wil er kurzwile
machen.
Wenn also Wolfram die statte als gruodbedingung der Sitt-
lichkeit auffasst, so folgt er einer allgemeinen moralischen an-
schauung seiner zeit, aber für ihn, den dichter der treue, ligl
in diesem lehrsalz in der tat das heiligste seiner sittlichen Über-
zeugung, er will ja von grözen triuwen (4, 10) erzählen, und
der begriff der statte steht dem der triuwe nahe, beide künnen
unter umständen gleichbedeutend sein, indem sie das festhalten
in sittlicher hinsieht mit einander gemein haben, aber in ihrer
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 413
ethischen bestimmuog sind sie doch ganz verschieden, die triuue
ist eine sociale tilgend, ja die tugend des altruismus schlechthin
(s. unten), die statte dagegen ist die dem individuum in allen
seinen handhingen dauernd eigene naturanlage; und während
die triuwe im Verhältnis zum nebenmenschen zur geltung kommt,
besteht die statte in ihrem eigentlichen sinne zunächst nur in
per beziehung des menschen zu sich selbst.
Unverzaget mannes muot — Zwivel.
Zu den beiden sittlichen beschaffeuheiten stcete und unslcele
stehen die gegensätze unverzaget mannes muot und zwivel in
parallele, stcete und unverzaget mannes muot sind verwante tugenden.
unslcele und zwivel verwante lasier, unverzaget ist eine wesentliche
nicht nur eine nebenbestimmung, unverzaget mannes muot ist nicht
blohs 'tapferer männlicher sinn' (INolle Der eingang des Parzival
s. 21), sondern 'unverzagter männlicher sinn' (Paul Beitr. 2, 68f),
'unablässig strebender sinn' (Bölticher Zs. 45, 151), eine Willenskraft,
die sich auch durch die schwersten hindernisse nicht abbringen
lässt, nach dem vorgesetzten ziele zu streben, die geschieht!*
Parzivals selbst ist ein beispiel für das unverzagtsein, undTrevrizent
fasst seine lehren zusammen in die mahnung 'belib des willen unver-
zagt' 592, 30. durch die zulugung des begriffes unverzaget erhält
der mannes muot überhaupt erst die starke ethische färbung.
Durch die begriffliche Vertiefung, welche in unverzaget ligt,
wird die blofs ritterliche, auf mut und kühnheit beruhende tapfer-
keit zu einer besondern form, zur beharrlichkeit, perseveranlia
(s. oben s. 410). beide unterscheiden sich in dem kirchlichen tugend-
system nach den bestimmungen Thomas vAquino Summa theol.
u 2, 123 folgendermafsen : alio modo fotest aeeipi fortitudo,
seeundum quod importat firmitatem tantum in sustinendis et refel-
lendis his, in qmbus maxime difficile est firmitatem habere, scilieet
in aliquibus periculis gravibus (Schütz Thomas-lexikon s. 324),
dagegen die beharrlichkeit (Summa theol. n 2, 137, 1) : per se
autem ad perseverantiam pertinet, ut aliquis perseveret usque ad
terminum virtuosi operis, sicut quod miles perseveret usque ad
finem certaminis et magnificus usque ad consummationem operis
(Schütz s. 592). das bestimmende moment der beharrlichkeit ist
also der zweck, das ziel, ist somit die beharrlichkeit im Ver-
hältnis zu der State die 'tapfere beständigkeit', das ausharren
414 EHRISMANN
in einer einmal unternommenen aufgäbe, so ist sie der tapferkeit
gegenüber die 'beharrliche tapferkeit'.
Dem beharrlichen streben nach dem guten aber kann sich
der zvveifel zugesellen, dem lichten glänze nie verzagenden
heldenmuls die dunkle ausgeburt der höllischen önsternis. wes-
halb in zwivel ein religiöser sinn nicht enthalten sein sollte,
ist eigentlich nicht einzusehen. Wolfram baut die innere ent-
wicklung seines beiden vom aufang bis zum schluss auf religiösen
gedanken auf, weshalb sollen nun diese gerade im prolog, der
doch die Stimmung des ganzen anschlagen soll, zurückgedrängt
sein? Nolte kommt in seiner, übrigens mit methodischem
geschick geschriebenen abhandlung über den eingang des Parzival
zu dem ergebnis, dass zwivel soviel sei wie unstcete. aber der
geselle der unstcete ist ganz schwarz und fährt unter allen um-
ständen zur hölle, der mit zwivel behaftete ist nicht ganz verloren,
sondern kann noch gerettet werden, die beiden begriffe sind
tben von grund aus verschieden, die unstcete ist eine dauernde
Charaktereigenschaft, ein habitus, der zwivel nur ein gewisser
zustand des bewuslseins, sei es des intellects (zweifei an der
richtigkeit einer Vorstellung, mag dieselbe die Vergangenheit,
«egenwart oder Zukunft betreffen) oder der gemülsstimmung
(furcht, angst, sorge, Nolte s. 8f) oder des willens (ob man etwas
tun soll oder nicht), nur in einer der gruppen INoltes trifft
zwivel mit dem ethischen begriff der unstcete als eines —
wenigstens scheinbaren — charaklerfehlers überein, nämlich im
minuiglichen sinne (vgl. Martin Anz. xu 206). es ist zwivel hier
aber nur die Unbeständigkeit in der galanten minne, wenn die
dame dem minnedienenden herrn zu seinem verdruss 'untreu'
wird, dh. einen andern Verehrer erhört (= valsch). darin ligt
noch nicht einmal ein besonders starker moralischer Vorwurf, es
handelt sich da nur um eine regel im reiche des goltes Amor
(nostra doclrina, die lehre des höfischen minnewesens, stellt der
caplan Andreas in seinem minnebuche den geboten Goltes, Bei
mandatis, gegenüber, Trojels ausg. s. 255). unstcete wäre für
solche aristokratischen launen ein viel zu harter ausdruck, denn
unstcete in der liebe ist untreue des galten oder der gattin, ist
ehebruch und als solcher eine hauptsünde, die zu der luxuria
gehört, vgl. Berthold vRegensburg i 106, 6. u 182, 18 (unkiusche,
nne), Renner-hs. m einige auf 11911 des Bamberger druckes
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 415
folgende verse, H. vKrolewitz Vaterunser 1952. den unterschied
macht Wolfram selbst 732, 1 und 733, 12 : unstate hei der ehe-
lichen treue, zwivel bei scheidbarem Verhältnis.
Wenn nun im minnewesen der zwivel das gegenteil von stcete
ist, so ist er also doch nicht das nämliche wie unstcete. ebenso
beweist die stelle 119,25 — 28 nicht, dass zwivel = untriuwe ist
(Nolte s. 12f), denn die untriuwe des teufeis ist die schlechte
gesinnung, der hass, den er aus neid gegen die menschen hat,
weil sie seine stelle in dem reiche Gottes eingenommen haben,
diese eigenschaft des teufeis, der wille zum bösen, konnte nie mit
zwivel bezeichnet werden.
Die theologische bedeutung von zwivel sucht Nolte s. 311
auszuschalten, aber die von Vogt aao. s. 146 für dieselbe
angeführten puucte Parz. 464, 8 und Willeh. 1, 23, gegen die er
sich in erster linie wendet, befinden sich mitten in so aus-
gesprochen von religiöser Stimmung eingegebenen gedankenreihen,
dass das wort hier zum mindestens eine religiöse färbung hatte,
denn wenn Parzival über die geburt Adams im unklaren war, so
war er eben über eine kirchliche anschauung im zweifei (Parz.
464, 8), und wenn die taufe durch ihren trost vom zweifei
erlöst, so betrifft der zweifei eine religiöse gewissensfrage
{Willeh. 1,23). an einer stelle aber, und an einer vollkommen
klaren — über die Nolte allerdings rasch hinweggeht (s. 9) — ge-
hraucht Wolfram das wort zwivel in lediglich theologischem sinne,
nämlich Willeh. 332, 8 — 17 : Peter, des himels portenoys, der
gotes tougen vil für war heimliche erkante manec jdr, dar zuo ers
offenliche sach : von zwivel im dristnnt geschach daz er an got
verzagele. höhen pris es sit bejagete: sin manheit wart also
wert . . . Petrus ist in der theologischen litteratur der typus des
innerlich sittlichen menschen, der in zweifei gerät und durch
die gnade Gottes widerhergestellt wird, vgl. Augustiu Pred. 4, 2
(Migne 38, 34), 147 (Migne 38, 797 fl), 286, 3 (Migne 38, 1298),
297 (Migne 38, 135911), vgl. auch 76,8 (Migne 38,482) und
75, 8 (Migne 38, 477); Abälard Sic et non cap. 96 (Migne 178,
1482); Werner Deflorationes, Migne 157, 882 .1108; SBernhard
pred. in festo SSPetri et Pauli i und in, Domin. vi post Pente-
costen in; Berthold vRegensburg i 45 — 47.548; Gailer Granat-
apfel, Augsburg 1510 B. nv; Albr. vEyb Sittenspiegel, bei Hasak
Die letzte rose s. 160. sehr häufig begegnet das beispiel vom
416 EHRISMANN
zweifelnden und wieder entsilndigten Petrus zur erläuterung der
kraft der beichte, also der fall durch den zweifei und die wider-
erhebung durch die innere erkentnis : gerade dies ist aber das
Schicksal Parzivals. und wenn wir irgend Wolframs dichtung für
ein Selbstbekenntnis seines eigenen innern lebens halten dürfen,
so werden wir den zweifei in dem ersten verse seines Parzival
als eine religiöse irrung auffassen müssen, als zwei fei au der
gute und macht Gottes, wie Kläden (vdllagens Germ. 5, 222 — 246),
Sau Marie Parz.-studien n 175 f, Paul aao., Sattler s. 13 f, Vogt
s. 146 ('verlust des gottvertrauens') und Rieger Zs. 46, 175 — 181
nachgewiesen haben.
Im christlichen moralsystem ist der zweifel eine abart der
tristitia oder der accidia : avfer a te tristitiam, quia ipsa est soror
dubietatis in dem unter Bernhards vClairvaux werken sich befin-
denden tractat De modo bene vivendi cap. xi; im Renner gehört
er dementsprechend unter das iugesinde der trägheit, accidia,
v. 15729, ebenso in der Sünden widerstreit v. 1069; trauer ist
die Ursache des zweifeis nach den beiden von Lachmaun Über
den eingang des Parz., Kl. Sehr, i 486 cilierlen stellen aus dem
jungem Titurel (daz trüren dich in zwifel iht si jagende) und aus
Lassbergs LS. in 30; auch im Trost in Verzweiflung Zs. 20, 346,
7f ist der zweifel an die trägheit (in Gottes dienst) angeknüpft,
uud die acht ersten Zeilen dieses gedichtes berühren sich dann
wider mit dem eingang der Oratio pro ecclesia in Keiles Spec.
eccl. s. 8. der glaubenszweifel ist aber wie der Unglaube auch
eine sünde gegen die Verehrung Gottes und wird als solche unter
dem ersten gebot des dekalogs behandelt, über die Verzweif-
lung s. unten s. 444.
6
Mit diesen gedanken reiht sich Wolframs Parzival ein in die
grofse geistesbewegung des 12 und 13 jh.s. der mut zum eigenen
nachdenken war erwacht und machte nicht mehr halt vor den
geheiligten Satzungen der kirche. überall erhoben sich zweifel
gegen die göttliche Offenbarung, man schreckte selbst nicht mehr
zurück vor der läugnung der wichtigsten heilslehren (vgl. bes.
Reuter Gesch. d. relig. aulklärung im ma. i 164 — 168 uö.).
viele wurden durch den lauf der weit oder durch das eigene
Schicksal ins wanken gebracht : die weit ist so ungerecht, kann
es einen gerechten Gott geben? ein solcher Zweifler, und einer
der aufrichtigen herzens die Wahrheit sucht, ist Parzival.
LSBEK WOLFHAMS ETHIK 417
h) 1, 15—2, 22.
Den folgenden erörtern Q gen lege icli zu gründe, was Paul
Beilr. 2, 69 f. und Bötlicher Das hohelied vom rittert. s. 15 ff über
diese verse gesagt haben. Bülticher hat den standpunct klar-
gelegt, von dem aus sie zu betracbten sind : mit den tumben und
den wisen meint Wolfram sein publicum, die einen, die seine lehre
nicht verstehn können oder wollen, die anderen, die ernst dar-
nach tracbten, sie zu verstehn.
Wolfram folgt, indem er das Verhältnis zwischen dichter
und publicum zum gegenständ der einleitung nimmt (s. auch
die prologe zu b. vii [Paul Beitr. 2, 83 fl.] und zu b. vm : 399, 1 — 6.
401,23 — 402,6. 404,11 — 16), nur einem allgemein üblichen
gebrauche, der, wie es scheint, seinen Ursprung in der volks-
tümlichen poesie hat : der dicbter tritt vor seine zuhörer und
fordert sie auf, anständig zuzuhören, das gilt vor allem für die
tumben. Kaiserchron. 3 — 13 daz [sc. liet] scult ir gezogenliche
verneinen : jd mac iuch vil wole gezemen ze hören älliu frumichait.
die tumben dunchet iz arebait, sculn si iemer iht gelernen od ir
wislnom gemeren. die sint unnuzze unt phlegent niht guoter wizze,
daz si un gerne hörent sagen dannen si mähten haben wistuom
unt e're; den tumben gegenüber werden die wisen gestellt 39 — 42:
lugene unde ubermuot ist niemen guot. die wisen hörent ungerne
der von sagen. Eilhart schon sieht in denen, welche kein
interesse für sein gedieht zeigen, persönliche gegner und schlechte
menschen von bösem willen : nit wüste ich gerne ab iman in desir
wise ummir were der sulchir rede gerne entbere: des wolde ich hir
getrösten mich, doch man in Idze, her touget sich an bösem willen
schire Tristr. 6 — 11, bösheite mag men si geliehen und dar umbe
wol schelten, wan sie sin billiche engelten. die seibin warne ich hie
mite, daz sie der seibin b 6 sin setin eine wile varin lazin 18 — 23,
her ist klükir sinne ein kint, swer sulche rede vorstöret die man
gerne höret und die nutze ist vernomen und guten litten wol mag
vromen. ich sage itch, wolt ir swigen stille ... 26 — 30. auch
in der einleitung zum Herzog Ernst ß wird das verhalten als
unmoralisch dargestellt : [sie] velschent die rede swd sie mugen,
sie stritent vaste dd wider und druckent die rede nider, als ez mit
alle ein lügene si: den wonet niht guoter tilgende bi 16 — 20;
ebenso von Ulrich vZazikhofen mit dem gegensatz der
höfischen und der neider : es ist min bete und ouch min rat, daz
418 EHRISMANN
hübsche Hüte mich vernemen, den lop und ere wol gezemen-
der hulde ich wil behalten und wil hie für der schalten die boesen
nideere: den fremde got ditz meere, des ich hie wil beginnen.
Si gdnt doch schiere hinnen, swenne si diz liet haerent sagen; si
mügen küme vertragen daz eime ritter wol getane , der ie nach
statten tilgenden ranc Lanz. 14 — 26. bei Ulrich und dem Ver-
fasser des herzog Ernst ist der neid der bekrittler nicht so sehr
gegen den dichter selbst als gegen seinen beiden gerichtet, dessen
taten er preist, mau sieht die persönliche teilnähme des hörers
an den gestalten der erzählung. er lebt mit ihnen, er liebt sie,
und dann ist er im sinne des dichters gut und höfisch; oder er
ist von neid erfüllt, dann hat er einen schlechten Charakter, wie
Keii, der nie jemanden seines neides erliefs. die volkstümliche
aufforderung zum schweigen bringt noch Wirnt vor : swer guote
rede minne und die gerne heere sagen, der sol mit zühten
gedagen und merke si rehte : daz ist guot Wigal. 7, 22 — 25; er
verwahrt sich dann besonders gegen die falschen ausleger und
Verleumder, gegen die spötter, die dem Schweine an gemeinheit
gleichen, das sich mit kot besudelt, die niemand etwas gutes lehren
kann 4, 7 — 19. 7, 34 — 8, 23; und diesen wider stellt er die
partei der guteu gegenüber : swer nach eren sinne triuwe und
eren minne, der volge guoter lere 4, 20 — 22. wenn er das lob
der besten für sich hat, kann er das herunterreißen der tadler
leicht verschmerzen 4, 18 f. Thomasin macht den unterschied
zwischen dem guolen und dem unguoten, dessen übel und nit
das gute immerdar verkehrt, WGast v. 1 — 10; die unstcßten und
beesen sollen sein buch nicht zu gesicht bekommen v. 132 — 136.
auch er setzt sich über das übelwollen der bösen hinaus : bopser
Hute spot ist mir unmeere. hän ich Gdweins hulde wol, von reht
min Key spotten sol . . . swer vrumer Hute lop hat, der mac wol
tuon der boesen rät usw. 76 — S6. gegen die feindseligen kritiker
(kündigeere) wendet sich auch die einleitung zum Cato (1 — 6)-
Auf die höhe eines künstlerischen Urteils bat aber einzig
und allein Golfrid von Slrafsburg diese polemik gegen die tumben
oder valschen oder beesen gestellt, er tut die gegner nicht einfach
ab als moralisch oder intellectuell minderwertige creaturen,
sondern bebandelt das Verhältnis zwischen sich und jenen als
das des künsllers zu seinen kritikern. er führt die schon in den
einleitungen volkstümlicher dichtungen liegenden ansätze durch
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 419
zu dem wirklichen begriff einer litterarischen kritik (vgl. hierzu
die kritik der maier MFr. 245, 13 und Schönbach, Wiener SB.
141, 30 f.). also nicht lediglich von ethischen gesichtspuncten
aus verurteilt er diejenigen, welche sein werk velschen sondern
von dem der kunst aus, indem er ihnen den Vorwurf ungerechter
kritik macht, diese richtung hat Wolfram dem inhalt seiner
vorrede nicht gegeben, seine gedanken hätten ihn auch nie
dahin geleitet, er beurteilt die menschen nach ihrem moralischen
werte, das wesen des daseins überhaupt stellt sich ihm dar als
sittliche weltordnung. das ist ethische auffassung des lebens.
Gotfrid dagegen sieht die weit mit den äugen des künstlers.
ihm schwebt als ziel vor die feine menschenbildung und der edle
genuss eines schönen daseins. das ist ästhetische auffassung
des lebens. der gegensalz der beiden sich abstofsenden naturen
offenbart sich damit sogleich in den ersten versen ihrer werke. —
Hartmanns prologe kommen hier nicht in betracht, da sie nach
andern gesichtspuncten gebaut sind, er geht von den Vorschriften
der lateinischen poetik aus (AHeinrich, lwein, s. Zs. f. d. wort-
forsch. 5, 142), die jene starke, unmittelbare bezugnahme auf
das publicum mit dem schelten der toren und dem preis der
einsichtigen nicht kennt, auch hierin zeigt sich seine schul-
mäfsige bildung, denn er hatte diese art den prolog zu gestalten
in dem cursus der rhetorik gelernt.
Von den späteren dichtem hat noch Rudolf vEms im
Willehalm den mehr volkstümlichen ton angeschlagen, indem er
die, welche mit spotlichen siten da sitzen, weg gehn heifst,
statt deren ein mann eintreten soll, der gnotiu mcere erkennen kan
(Juok v. 17 — 39). im epilog zum Guten Gerhard schliefst er
sich, nachdem er um gerechte beurteiluug gebeten und die un-
gerechte (spoten, spot) gebrandmarkt hat, ganz an Gotfrids prolog
zum Tristan an, v. 6844 — 6880. auch Konrad vWürzburg
flicht in die breit angelegte einleitung zum Partonopier den
tadel der tumben und das lob derjenigen ein, welche williclichen
merken swaz man singet oder sagt 667. noch in Johanns
vWürzburg durch die einleitung zum Parzival beeinflusste
vorrede zum Wilhelm von Österreich klingt das motiv von den
übelgesinnten lesern nach; es sind die tugentlösen mit den
falschen zungen, gegenüber den lugenthaften, die sich gern von
tugend unterhalten (Regel v. 15 — 123). sonst sind die beiden
420 EHRISMANN
typen meist nur in moralischem sinne aufgefasst, uod nicht mehr
als litterarische parteien, die dem Verfasser wolwollend oder
übelwollend gegenüber stehu. so in der Krone, Fleckes
Flore, bei vielen wird der gegensalz der guten und bösen
zuhörer mit dem zwischen der guten allen und der bösen neuen
zeit verbunden, mit der klage über den verfall der dichtkunst
und die zunähme der Verrohung des publicums, das keinen sinn
für die kunst mehr hat. so in Bertholds vHolle Krane
und Demantin, in des Pleiers Meleranz, Konrads vStoffeln
Gauriel und besonders in dem von einer hohen auffassung der
dichtkunst zeugenden prolog Kon rads zu seinem Trojanerkrieg,
unmittelbare ausschreibuugen von Wolframs einleituog sind danu
der kärgliche eingang in Lutwins Adam und Eva und die ihr
vorbild schmählich entstellende verwässerung im jungem Titurel
46—54 (vgl. Lachmann Kl. sehr, i 506—508).
Wolframs Charakterisierung der beiden classen seines pub-
licums ist also typisch, wie die Übereinstimmung mit den oben
gegebenen beispielen zeigt, die weisen sind diejenigen, welche
aus der erzählung des dichters nutzen und gute lehre ziehen,
2, 5 — 16. die andern, die gegenpartei, sind entweder tumbe
Hute 1, 15 — 2, 4, uustäte, die nicht bei der sache bleiben können,
denen es mühselig dünkt den gedanken des dichters zufolgen;
oder es sind die valschen, die ungetriuwen 2, 17 — 22 (=404.
13 — 16), denen in andern vorreden valscheit, bosheit, baeser wille
vorgeworfen wird, von den tumben unterscheiden sich die letzteren
dadurch, dass ihnen nicht die Urteilskraft mangelt, von den
wisen, indem sie nicht guten, sondern im gegenteil bösen willen
haben (Bötticher s. 24). es sind also intellectuell vollwertige,
aber sittlich minderwertige individuen.
in der auffassung dieser drei gruppen tumbe, wise, ungetriuwe
schliefse ich mich widerum Bötticher an (s. 15 — 25). nur über
die dritte, denen der dichter valsch geselleclichen muot beilegt,
möcht ich einen nachtrag versuchen, die genauere bestimmung
dieses begriffes hängt von der bedeutung ab, die man geselleclichen
beilegt, geselle kann auch den standesgenossen bezeichnen und
wird speciell von collegen in der dichtkunst gesagt : alse min
geselle Spervogel sa7ic MFr. 20, 18, Hoerä Wallher, wiez mir stät,
min trutgeselle von der Vogelweide Walther 119,111'. es wäre
nicht unmöglich, dass Wolfram mit denen, die valsch geselleclichen
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 421
muot tragen, seine gegner unter den dichtem treffen wollte, in
erster linie also Gotfrid (Bötticher nimmt an, dass Wolfram auch
mit den tumben seine gegnerischen kunstgenossen meinte s. 21).
das heispiel eines getreu en kunstgenossen hat Wallher gegehen,
der in seinem nachruf auf Reinmar den rühm seines neben-
huhlers rückhaltlos anerkannt hat.
Sind nun auch die Charakteristiken der toren, der weisen
und falschen genossen von Wolfram in erster linie auf sein
publicum bezogen, so können sie doch im weiteren sinne ebenso-
gut auf die menschen insgesammt ausgedehnt werden, denn
es sind zugleich allgemein gültige moralische typen damit
gezeichnet, und dass 1, 15 — 2, 22 zugleich als allgemeine lehren
gedacht sind, das geht aus den folgenden versen hervor : dise
manger slahte underbint iedoch niht gar von manne sint 2, 23 f.
underbint in stilistischem sinne ist hier so viel wie abteilung,
abschnitt, absatz, wie lateinisch distinctio, articulus eines buches
(bliese verschiedenartigen Sätze' Mhd. wb. i 131 a). dise bezieht
sich nicht nur auf die vorhergehnden einzelnen artikel in 1, 15
bis 2, 22, sondern auf alle underbint der einleitung zusammen,
also auch auf die folgenden artikel, die von den frauen handeln:
'alle diese verschiedenartigen puncte, die ich hier vorbringe,
handeln nicht ausschliefslich vom manne : für die frauen insonder-
heit stecke ich folgendes als ziel, dem sie nachstreben sollen',
dadurch dass Wolfram auch die frauen in das thema seiner ein-
leitung einbegreift, zeigt er eben, dass er es nicht auf sein persön-
liches Verhältnis zu seinen lesern beschränken will, er dehnt
es zu einer allgemeinen Sittenlehre aus, in welcher er wichtige
regeln für männer und frauen kurz formuliert (vgl. Thomasin
im WrGast 391 ff, Die Mafse Germ. 8, 100, 121ff). damit erhebt
er die einleitung zu einer kundgebung der sittlichen anforderungen,
die er an die gesellschaft stellt, und das ist wider ein zug,
wie bei ihm die gedanken nach einer grofsen lebensaoschauung
drängen.
B. Parzivals fall und erhebuug.
Die Wandlungen in Parzivals innerm leben sind stufenweise
gekennzeichnet durch die drei didaktischen haltpuncte, das sind
die lehren der mutter, des Gurnemanz und des Trevrizent : das
kind wird zum knaben erzogen, der knabe zum Jüngling, der
Jüngling zum mann, es sind die lehrjahre des helden. aus dem
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 28
422 EHR1SMANN
toren , als der er von der mutier schied, bildet der ritterliche
oheim einen hööschen manu von weit, für den die werdekeit das
höchste ziel ist. aber statt den naiven gottesglauben, den ihm
die mutter ins herz pflanzte, zu höherer erkenntnis zu entwickeln,
bringt er ihm nur einige äufsere formen des gottesdienstes bei,
169, 17 — 20. das beste, was Parzival besitzt, ist doch seine
angeborene edle natur : die triuwe hat er von seiner mutter
ererbt — du bist geborn von triuwen 140, 1 — , vom vater den
unablässig strebenden mannesmut (bes. 317, 11 — 318, 4; vgl.
Seeber aao. 2, 179 f). aber einmal hat er die triuwe verletzt,
er, den als kind der tod der vöglein zum weinen brachte, der
als Jüngling an keinem menschenelend vorbeigieng ohne teilnähme
zu äufsern (138, 28. 141, 25. 153, 17. 158, 27. 179, 5. 195, 13,
246, 11. 248, 19. 249, 27 u. ö.), ihn hat höfische erziehungskunst
so unsicher gemacht, dass er das gefährlichste tat was möglich war:
er ist in dem entscheidenden augenblick sich selbst untreu
geworden (Bötticher Parzivalübersetzung s. xxxv). er hat seine
edle natur verletzt, und gegen den fluch, der ihn darauf trifft,
kaun keine ritterliche tugeud helfen, auch wenn sie — bis zu
einem gewissen grade — sittlich verdienstvoll ist, nicht kühnheit
und tapferkeit, nicht vollendete bildung und feinstes empfinden
für gute sitte (319, 4 — 11). die höfische erziehung hat ihn nur
oberflächlich gemacht, den kindlichen glauben hat sie ihm
genommen und dafür den Übermut grofsgezogen , der ihn nun
zu dem äufsersten frevel verleitet, zum hass gegen Gott, seine
edle natur, die triuwe und der unverzaget mannes muot, bewahrt
ihn auch jetzt noch in der nacht des zweifeis vor dem sittlichen
Untergang, zum lichte aber führt ihn die dritte lehre, die des
einsiedlers : zur erkenntnis Gottes.
Das neunte buch.
Das ix buch besieht aus zwei sich durchschlingenden hand-
lungen, der inneren geschichle Parzivals und der sage vom Gral,
deutlich ist ein bestimmter plan in der abwechslung der beiden
stolfe eingehalten, denn auf je einen in sich abgeschlossenen ge-
dankenkreis über Parzival folgt einer über den Gral, gegliedert ist
das buch, von der einleitung 433, 1 — 434, 30 abgesehen, in drei
scenen, in denen der Schauplatz und die personen — aufser Par-
zival — wechseln : i scene : Sigune, n scene : die Pilger, m scene:
Trevrizent; die dritte scene zerfällt wider in vier unterteile, auf
ÜBER WOLFKAMS ETHIK 423
scene i und n sowie auf teil 12 3 der sceue in folgt jeweils eine
episode über den Gral, demnach ergibt sich folgendes Schema:
i scene, Sigune, 435, 1—443, 4, darauf Gral i 443, 5—445, 30
(kämpf mit dem templeisen), n scene, die Pilger, 446, 1 — 452, 28»
darauf Gral u 452,29 — 455,24. in scene, Trevrizent, 1 abteil.
455,25—486,22, darauf Gral in 468, 23— 471, 29; 2 abteil.,
471, 30—476, 22, darauf Gral iv 476, 23—484, 30; 3 abteil.
485,1—489,21, darauf Gral v 489,22—499,10; 4 abteil.,
schluss, 499, 11 — 502, 30, untermischt mit drei fragen über den
Gral (500, 2. 500, 24. 501, 20).
Das neunte buch bildet den hühepunct in der entwicklung
des neiden und damit das geistige centrum des gedichtes. in
den bewegungen des Seelenlebens vollzieht sich hier die handlung,
alle äufsern Vorgänge sind diesem zwecke dienstbar gemacht,
in der Waldeinsamkeit bei stillen, frommen menschen wird das
herz des von der bittersten seelennot gepeinigten mannes genesen,
die klausnerin, die pilger, der einsiedler, sie helfen mit bei dem
erlösungswerk, sie zeigen dem irrendeu den weg zu seinem hohen
ziele, dem Gral, in den Artusromanen treten oft personen auf,
welche den helden zu dem bevorstehenden abenteuer fördern sollen
(ACLBrown Ivvain, Studies and uotes in philology and litterature
vol. 8 passim), gestalten, die in der irischen sage ihren Ursprung
haben, bewunderungswürdig ist, wie der dichter diese typischen
märcheuüguren, die in den Artusromanen nur als Staffage das
romanhafte der ereignisse auszuschmücken habeu, umgeformt hat
zu trägem eines grofsen religiösen gedaukens. indes auch sie
sind nicht die würklich zum heil treibenden kräfte, sie sind nur
diener einer höheren idee, über ihnen steht als Urheber der
bevveger zu allem guten, Gott mit seiner gnade.
Die drei scenen bilden eine Steigerung, die mahnungen
der Sigune und noch mehr die des grauen ritters sind Vor-
bereitungen zu dem läuterungswerk, das Trevrizent an dem helden
vollbringt, am eingang aber stehn die worte : sin wolle got dö
rnochen 435, 12 : auf abenteuer war der junge degen ausgeritlen,
aber Gott wollte ihn in seine obhut nehmen, ihm seine gnade
zuwenden, die gnade ist der urquell, aus dem alles gute ent-
springt, das der meusch hervorbringen kann.
Sigune.
Da findet er die klausnerin 435, 13 (scene i). in der unter-
28*
424 EHRISMANN
haltung mit ihr löst sich die Stimmung aus, welche den grundton
für die ganze entwicklung des ix buches bildet, von leiden-
schaftlicher Sehnsucht verzehrt nach seinem verlassenen weihe
und noch mehr nach dem unerreichbaren, dem Gral (441, 4 — 14),
tritt der friedlos umherschweifende der Jungfrau entgegen, die
nach noch schwereren Schicksalen, ohne an der überirdischen
gute irre zu werden, ihre ruhe gefunden hat im gottvertrauen,
etwas von dieser beseeligenden ruhe dem ruhelosen zu geben
und die hoffnung in ihm zu stärken, das ist die aufgäbe der
Sigune, und sie erfüllt sie, indem sie ihm trost zuspricht mit
der hindeutung auf ihn, dem aller kumber ist bekant 442, 9 — 14.
es ist das erste mal, dass Parzival zur heilung seiner leiden auf
Gott verwiesen wird, aber der gottentfremdete versteht den wahren
sinn der frommen worte nicht, die grundstimmung der trauer
begleitet Parzival durchs leben von seiner verstofsung an bis zu
seiner widererhebung. der dichter legt sichtlich grofses gewicht
auf diese innere Verfassung seines helden. aufklärung über ihr
wesen und ihren ethischen wert gibt erst Trevrizent 468, 1 ff,
hier in der begegnung mit Sigunen wird sie nur als der seinem
gemütsieben eigene seelenzustand dargetan, es ist, nach der
scholastischen terminologie, die tristitia und gehört als solche zu
deu passiones.
Die Pilger.
Mit der zweiten scene schreitet die psychologische ent-
faltung weiter zu dem intellectuellen vermögen, der ratio, denn
den mittelpunct in dem gespräche mit Kahenis bildet die frage
nach dem wesen Gottes, und diese gehört in das tätigkeitsgebiet
der intellectiven seele. in der lösung dieser frage beruht der
läuterungsprocess Parzivals. er hat eine falsche auffassung vom
wesen Gottes, dieses ist eine Störung des rationellen denkver-
mögens — weshalb später Trevrizent sagt : swer iuch gein im in
hazze siht, der hat iuch an den witzen kranc — und die
läulerung besieht eben darin, dass die richtige Ordnung des ver-
nunftmäfsigen denkens widerhergestellt, das heifst, dass Gott von
Parzival erkannt wird.
Diese wandelung in Parzival hervorzurufen übersteigt die kraft
des wallfahrenden ritters. seine aufgäbe besteht nur darin, auf das
unvernünftige und auf die Undankbarkeit hinzuweisen, die in seinem
verhalten gegen Gott ligt, und ihm das mittel zu nennen, durch
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 425
welches er aus diesem ungeordneten zustand herauskommen kann,
als solches gibt er ihm an, den rat Trevrizents einzuholen: der
heilige manu wird ihn durch das heilsmittel der bufse wider
in das richtige Verhältnis zu Gott bringen können, er, der laie,
hat dazu nicht die machtvollkommenheit wie der dem dienste
Gottes lebende einsiedler.
Mit der frage um gott ist in ihrem Zwiegespräch das religiöse
gebiet betreten, und zwar wird die Verhandlung darüber in form
eines religionsgesprächs geführt, den anlass gibt Parzivals gott-
vergessene nichtachtung des karfreitags (am freitag hat Gott den
menschen die gröste liebe erzeigt), auf den tadel des grauen
ritters schlägt er das thema der disputation an 'von der mangelnden
gerechtigkeit Gottes', auch diese Situation hat ihren anhält an dem
würklichen leben, aufserordentlich rege war das interesse der
laien damals an religiösen dingen und äufserte sich , besonders
in Frankreich, in einer gewissen disputiersucht über die glaubens-
sätze (vgl. Reuter aao. i 248). die methode des lehrstuhls war
auf die strafse getragen, ein litterarisches beispiel eines solchen
bei zufälliger begegnung eröffneten religionsgespräches bietet
unsere Parzivalstelle.
Die disputation zwischen den beiden bleibt unentschieden.
Parzival reitet fort, den alten hass gegen Gott im herzen (450, 18),
und beim abschied lautet sein grufs wie der des aufgeklärten
Weltmannes 'gelücke tu heil gebe, und fröuden vollen teil!' 450, 25f,
nicht wie ehemals der des im kinderglauben befangenen toren
'got halde iuch' 145, 9, — 147, 30. aber doch würken die mah-
nuugen der pilgers in der seele des zweifelnden weiter, sie finden
eine empfängliche statte, denn in Parzivals Seelenleben sind gewisse
dispositionen zum guten vorhanden, sittliche anlagen, die ihn vor
völligem versinken bewahrt haben, in dem augenblick da er sich
von Gott lossagte, wendete er sich doch inneren idealen zu, zu
denen er sich in dem Strudel seines höfischen lebens nicht auf-
geschwungen hätte : seine einzige Verehrung gilt nun seiner eigenen
frau uud sein ganzes streben der erringung des Grals, diese ideale
und die mit ihrer erstrebung verbundene seelische Stimmung, das
truren, die tristitia 451, 14, die not eben um den Gral und um
sein weib, sind solche für seine sittliche rettuug günstige be-
dingungen, und aufserdem die 451, 3 — 8 genannten individuellen
tugenden : dem riet sin manlkhiu zuht, kiusch unt erbarmunge :
426 EHRISMANN
sit Herzeloyd diu junge in het uf gerbet triuwe. diese haben
zweierlei Ursprung : die treue ist ererbt von der treuen mutter,
manlichiu zuht ist ihm von Gurnemanz zu teil geworden (188, 15 —
19); sie wilrkt in ihm kiusche (hier =honestas, s. unten s. 439)
und barmherzigkeit, erbarmunge (170, 25. 171, 25). auch die
höfische erziehung kann bis zu einer gewissen stufe der Sittlich-
keit führen, sie reicht aber nicht aus zur sittlichen Vollendung,
der begriff von angeborner und anerzogener tugend entspricht
den eingegossenen und erworbenen tilgenden des Thomas vAquino
(virtutes infusae — virtutes acquisilae Werner Thomas vAquino
u 507).
Auf so vorbereiteten boden fällt das Samenkorn, das mit seiner
lehre der graue ritter ausgestreut hat. statt seinen sinn nur
immer auf äufsere grofstaten zu richten, kehrt Parzival bei sich selbst
ein und hält umschau in seinem innern. sichhuop sins herzen riuwe
(schmerzliches gedenken an sein vergangenes leben) 451, 8. jetzt
fällt ihm ein, dass Gott sein Schöpfer ist, woran er zwar nie ge-
zweifelt, woran er aber auch nie mehr gedacht hatte, und der
begriff Gottes als des Schöpfers löst zugleich, in naturgemäfser
ideeentwicklung, den begriff von Gott als dem inhaber der macht
aus, und wie ein hoffnungsstrahl leuchtet es in dem verworrenen
herzen auf : der die macht hat, hat vielleicht auch hülfe für dein
unermessenes leid, damit ist der Umschwung eingeleitet vom trotz
zur selbstbescheidung, vom irrtum zur Wahrheit, bisher glaubte
er aus eigener kraft sein ziel erreichen zu können, nun aber ist
er zu dem bewustsein gekommen, dass es eine höhere macht
über ihm gibt, die stärker ist als er, und der er sich unterordnen
muss, wenn sein sehnen sieghaft sein soll, aber sein sittliches
bewustsein ist noch getrübt, denn er meint, seine werke ritter-
licher tapferkeit allein müsten ihm schon ein anrecht verleihen,
dass Gott ihm zur erlangung des höchsten gutes verhelfe
451, 15 — 22. doch überlässt er sich nun der führung Gottes, aber
widerum nicht in sicherem vertrauen , sondern wie einem
orakel des köhlerglaubens, noch zweifelnd über den ausgang.
aber Gott ergreift die zögernd ausgestreckte hand des sinken-
den, zum zweiten male führt ihn die gnade auf den
weg des heils. das orakel wird zum göttlichen wunder, er
kommt zu Trevrizent.
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 427
Trevrizent1.
Der einsiedler (dritte scene) ist dazu ausersehen,
Parzivals zweifei zu brecheu und ihn mit Gott zu versöhnen,
er hewürkt in ihm das werk der läuterung. das mittel, wodurch
diese innere widerherstellung geschieht, ist das von Gott zur
befreiung von der Sünde eingesetzte sacrament der bufse.
461, 1—468, 23.
Scene in ableil. 1. Mit dem bekenntnis seiner sündhaften
beschaffen heit tritt Parzival vor den einsiedler und bittet ihn um
seinen geistlichen rat 458, 29 f. in der ersten abteilung der
in scene legt er dem beichtiger zwei puncte vor, die sein inneres
beschweren (461, 1 — 26) : mirst freude ein troum, ich trage der
riuwe swceren soum 471, 1 f., und ouch trage ich hazzes vil gein
gote: wand er ist miner sorgen tote 461, 4 — 26. der geistliche
berater beantwortet sie in umgekehrter folge, denn der zweite punct
ist der schwerere : der hass gegen Gott, die höchste potenz des
Unglaubens, eine sünde gegen das erste gebot Gottes und vor allem
gegen die göttliche tugend der liebe, muss zuerst aus dem gemüte
des Sünders beseitigt und der glaube widerhergestellt werden, dies
tut er in einer dogmatischen und religionsgeschichtlichen belehrung
461,28—466,10. dieselbe zerfällt in den eingang 461,28—
462, 17, den hauptteil 462, 18—467, 4 und den schluss 467, 5 —
10. im eingang stellt Trevrizent ganz allgemein das Verhältnis
zwischen deu menschen und Gott fest : habt ir sin, so schult ir got
getruvoen wol 461, 28 f, 'wenn ihr vernünftig seid, so sollt ihr an Gott
glauben uud ihm vertrauen' (vgl. auch 463, 21). das ist der grund-
gedanke der christlichen philosophie : Vernunft und glaube sind
identisch, nachdem er den beichtenden zu wahrheitsgetreuer dar-
legung seiner schweren Sünde der gottesfeindschaft aufgefordert und
seine ungerechte anklage gegen Gott zurückgewiesen, geht er zur
hauptsache über, zu der belehrung. diese behandelt a. die eigen-
schaften Gottes : triutoe und wdrheit (und gerechtigkeit s. s. 430)
462, 18 — 30; b. die heilsgeschichte in kurzen zügen : Lucifers
stürz, sündenfall, Kains brudermord, menschwerdung Christi und
seine zwei naturen, befreiung vom teufel 463, 4 — 465, 30; c. noch-
mals die eigenschaften Gottes : minne 466, 1 — 14; als d folgt dann
1 man wird bemerken, dass der folgende einteilungsversuch der Trevri-
zent-scenen vielfach abweicht von Noltes gliederung in seinem artikel Die
composition der Trevrizent-scenen, Zs. 44, 24t — 248.
42S EHR1SMANN
noch ein abschnitt von gedanken und werken 466, 15 — 467, 4.
der schluss 467, 5 — 10 ist wider ein unmittelbarer vorhält an
den beichtenden.
Den mittelpunct der lehre Trevrizents bildet das wesen Gottes,
seine eigenschaften der triuwe, der wdrheit (der gerechtigkeit)
und der minne. die heilserzählung ist nichts anderes als die
historische Offenbarung der treue und liebe Goties. es erhebt
sich somit nun die aufgäbe, diese drei begriffe psychologisch und
theologisch zu bestimmen.
Den begriff der triuwe haben San Marte (n 157 — 164)
und Bötticher (Parzival-übersetzung s. 285 f.) aus dem sprachge-
brauche Wolframs trefflich entwickelt, sie ist im weitesten sinne
der altruismus, die summe der sympathischen lugenden bezw. der
entsprechenden pflichten, aus der grundbedeutung von 'treu' =
dem man vertrauen, auf den man sich verlassen kann (vgl. Michels
Gott. geb. anz. 1897, 742 und bes. Osthoff Etymol. parerga i 150)
lassen sich die einzelnen abarleu erklären : a. die treue im
eigentlichen sinne, fides, fidelitas (auch pietas, nach Thomas
Summa theol. n 2, quaest. 101, art. 1), das treuverhältnis zwischen
freunden, gatten, eitern und kindern, verwanten, liebenden, dem
herrn und dem untergebenen, auch zwischen den milbürgern und
vaterlandsgenossen (Thomas aao.). b. die wahr ha ftigkeit, veritas,
nach Thomas Summa theol. l 16, 4 virtus qua homo in dictis
et factis ostendit se ut est (Schütz Thomas-lexikon s. 844); sie
gehört zu den raten des evangeliums (consilium evangelicum oder
evaugelii), vgl. u. a. HWeber Die Bamberger beichtbücher s. 30,
aufserdem fällt sie unter das fünfte gebot Gottes, c. die gerechtig-
keit, justilia, eine der cardinaltugenden, nach Thomas Summa
theol. n 2, 80 (Schütz s. 434) ratio justitiae consistit in hoc, quod
alteri reddatur quod ei debet secundum aequitatem1. d. die näc liste n-
liebe, Caritas, barmh erzigkei t, misericordia, dasmitgefühl
und die teilnähme, compassio, die wol wollen de liebe zu
allen menschen, benevolentia, benignilas, bonitas (fruchte des
1 treue, Wahrheit und gerechtigkeit zusammen machen das reht aus,
Vom rechte 18 f. 20 — 23. 24 f (vgl. dazu Scherer Geist!, poelen der d.
kaiserzeit n 7, Kraus Wiener SB. bd 123, 102 f). dem entsprechen die
formein triawe und ivdrhafl, gelriuwe und gewoere, gereht und gewwre;
got ist das rekt und diu wdrheit Ammenhusen Schachzabelb. 4283; Judicium
und veritas als begleilerinnen der justilia auf Hugos vSVictor bäum der
fügenden, .Migne 176,1003. 1010; Wernher vElmendorf v. 603f.
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 429
heiligen geistes). e. die liebe gegen Gott, Caritas (auch pietas,
Thomas aao). und die pfllichterfüllung gegen ihn im glauben
und gottvertrauen.
Da diese verschiedenen begriffe äufserungen ein und derselben
sittlichen idee sind, so gehn die einzelnen leicht in einander
über. keine dieser formen besteht ja auch für sich allein,
immerhin aber hebt die specielle benennung eine vorhersehende
seile heraus, so sind triuwe und wdrheit 462, 18 — 30 beide
als gegensätze zu valsch und wanc dargestellt, aber wdrheit hat
eine eigene färbung dadurch, dass es unmittelbar ein name für Gott
ist : got heizt and ist diu wdrheit 462, 25 nach Johannes 14, 16
ego sum veritas, denn Gott wird auch ohne weiteres Veritas
genannt, unter veritas ist mehr die intellectuelle seile des al-
Iruismus verstanden, während triuwe mehr als eine tätigkeit
des willens aufgefasst ist, denn Wolfram versteht unter der triuwe
Gottes seine bereitschaft zu helfen (461, 30. 465, 16) und seine
gute, die sich am höchsten darin zeigt, dass er durch uns ze
menschen bilde wart 462, 24, auch 448, 10 ff. 465, 8 — 10.
In der auffassung, welche hier von der treue gilt, empfindet
man, wie naiv die denkart des mittelalterlichen rittertums noch
war. Parzival stellt sich die treue zu Gott wie ein rein mensch-
liches Verhältnis vor, wie das zwischen dem herrn und dem
gefolgsmanu, die sich gegenseitig durch ein treubündnis ver-
pflichtet sind, in dieser auffassung treffen die anschauungen von
gottesdienst- und minnedienst zusammen, das ganze vorstellungs-
leben bewegt sich in den Verhältnissen des lehensstaates. treue
und minne sind gedacht als leistungen des dienstes und der huld,
als gegenseitige pflichtverhältnisse mit den bedingungen von
dienst und lohn; so hier die triuwe zu Gott, besonders ich was
im diens Untertan usw. 332, 5 — 8, ich diende eim der heizet
got usw. 447, 25 — 30 , wie der mensche sol beliben mit dienste
gein des helfe gröz usw. 462, 14 — 16, swer ab wandelt Sünden
schulde, der dient ndch werder hulde 466, 13 f. so sind die
beziehungen des menschlichen zum göttlichen aus dem religiösen
vorstellungskreise in die Sphäre der ritterlichen geistesweit herein-
gezogen, die dinge werden als erscheinungeu eines ritterlichen
Weltbildes gesehen, das ist dieselbe naive denkweise wie sie
zb. der dichter des Heliand hat. schon dort spielt die gestalt
des miles christianus herein (Scherer Lit.-gesch.e s. 45, Jellinek
430 EHRISMANN
Anz. xxj 216). auch könig Ludwig wird vou Otfrid nach dem
vorbild von David als gottes man, thegan, gezeichnet, ad Lud. 37 ff,
ebenso der junge Ludwig in im Ludwigslied (Ther gerno gode
thionöt, Ich uueiz her imos lönöt v. 2). später dann tritt hier die
figur des kreuzritters ein als gotes dieneslman, zb. Rolandslied 3922
(Turpins kreuzpredigt), oft in Wolframs Willehalm (s. unten),
in Thomasins kreuzpredigt, im WGast bes. v. 11467 ff., auch
v. 8320 ff., s. ferner Wolfram Zs. 30, 106 ff. der glaube an
werke und lohndienst war allgemein im mittelalter. dass Gott,
sein lehensherr, ihn, seinen treuen dienstmann, im Stiche gelassen
habe, verletzt Parzivals gerechtigkeitsgefühl, und darauf gründen
sich seine vorwürfe gegen ihn (332, 5 ff. 447, 25 ff, s. unten),
indem Trevrizent diesen scheingrund zu seinem hass wider-
legt, lehrt er ihn eine weitere eigenschaft Gottes kennen, seine
gerechtigkeit (sie ist mit namen nicht genannt) : er hilft
iu, wand er helfen sol 461, 29, sin helfe ist immer unverzagt 462,
10. nochmals weist er 466, 11 — 14 auf die gerechtigkeit
Gottes hin, und mit ihr schliefst er seine ganze rede ab 467, 5 — 10 :
Gott lohnt und straft nach verdienst, die entscheidung zur liebe
oder zum hass gegen ihn steht dem menschen zu.
Oft sind die begriffe von triuwe und minne in ein und
demselben empfindungsact vereinigt, das ist zumal der fall in
der Caritas, das ist die liebe zu Gott und zum nächsten, sie ist
nach Thomas vAquino die form aller tugenden oder die mutter
aller tugenden, ihre wurzel und ihr zweck, wie das gebot der
liebe Gottes und des nächsten das hauptgebot des Christentums
ist und alle andern in sich schliefst (Schütz Thomas-lexikon s. 96 —
so ist Gott aus triuwe zu uns in den tod gegangen 113, 22.
448, 10, und die göttliche minne hat uns aus der höhe errettet
465, 29. selbst in die trinitätsformel hat triuwe für minne als
benennung des heiligen geistes eingang gefunden in dem MSD n3
257 anm. besprocheneu (vgl. auch Kraus aao. s. 102 f.), von
JHaupt Wiener SB. 69, 144 ff herausgegebenen fragment (triuwe
ist die dritte hypostase insofern hier genannt, weil sie als minne
bant, auf gegenseitigkeit beruhende liebe des vaters und des
sohnes, connexio, vorgestellt ist).
Die krönung des heilswerkes ist die liebe, die minne. mit
dem neid beginnt die menschheitsgeschichte, 463, 7 — 14, mit
der liebe endet sie, 465, 28 f. in seliger Verklärung preist der
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 431
greis die woooe der wahren minne dessen, der nie in seiner
liebe wankt 466, 1 — 6. diese so besonders geartete eigenschaft
Gottes hätte niemals mit triuwe entsprechend widergegeben
werden können, minne ist der begriff der absoluten liebe, ist
einzig die empfindung der seligen gemeinschaft mit Gott, nicht
wie die treue verbunden mit dem gefühl eines gegenseitigen
pflichtverhältnisses und daraus entspringenden lohnes. in gewisser
beziehung verhalten sich minne und triuwe wie amor und Caritas.
den unterschied beider hinsichtlich ihrer psychologischen be-
schaffenheit bestimmt Thomas dahin : amor est passio, ein zustand
des sensiblen begehrungsvermögens, Caritas ist eine tätigkeit oder
eigenschaft des vernünftigen willens (vgl. Werner Thomas h 486).
dagegen kommt die Stufenfolge amor dilectio Caritas (vgl. Schütz
aao. 45. 96. 231) im deutschen nicht zur geltung.
Das erste seelische problem der ritterlichen dichtung, die
minne, beschäfttigt auch Wolfram in hohem mafse, aber wie er
überall über die endlichen dinge hinaus die gedanken zum
transcendentalen führt, so stellt er auch der irdischen minne
die himmlische entgegen, wenn die andern höfischen dichter
die minne anklagen, weil sie das herz krank mache, dass es
sich verzehre, so hat Wolfram gegen diese art von Sinnenreiz
viel schärfere worte : diese minne vergiftet die seele, sie raubt
dem menschen sein edles teil und zieht ihn in die materie hinab,
291, 1 — 293, 16. die frau Minne, die götlin Venus, ist die
concupiscentia, das rein sinnliche verlangen, welches die herschaft
über die Vernunft erlangt hat : frou Minne, iu solle werren daz
ir den lip der gir verweilt, dar umbe sich diu sele sent
291,27 — 30. die himmlische liebe aber ist die minne, die
nun Trevrezent dem ratsuchenden offenbart, indem er ihm von
dem xodren minncere erzählt, die verse 466, 1 — 6 sind iu
unmittelbarem gegensatz gedacht zu 291, 1 — 293, 16. aber die
irdische liebe besteht nicht nur in der mode des minne-
dienstes, es gibt auch auf erden eine edle liebe, das ist die
rechte minne : reht minne ist todriu triuwe 532, 10. diese hat
Parzival zu seinem weihe, und damit hat Wolfram auch die
irdische minne verklärt, indem er sie zur treue erhob
Die göttliche liebe hat uns aus den banden des teufeis
erlöst, 465, 28 f. (vgl. WGast 8286 ff., ebda. 8318 daz got habe
durch uns vil getan = Parz. 462, 22). die liebe geht von Gott aus
432 EHRISMANN
uud erweckt gegenliebe in den menschen : swem er minne erzeigen
sol, dem wirt in siner minne wol 466, 5 f. dieses ist der kern-
punct der Versöhnungslehre Abä'ards, in welcher der tod Christ
lediglich als liebestat, sein verdienst ganz als liebesdienst auf-
gefasst ist (Harnack Dogmengeschichte in1, 2 358 ff. Deutsch
Peter Abälard s. 370 : unsere erlösung besteht in der liebe, welche
durch das leiden Christi in uns erweckt wird; s. 382 : demnach
ist der letzte und tiefste gedanke Abälards der, dass die Versöhnung
in der persönlichen gemeinschaft mit Golt beruht), und in den
verseu 465, 2S — 30 zer helle uns nam diu hoehste hant mit der
gotlichen minne: die unkiuschen liez er dinne ist es die liebe,
welche den unterschied zwischen den kindern Gottes und den
kindern des teufeis ausmacht, wie bei Abälard (caritas) sola filios
Bei a filiis diaboli discernit (Deutsch s. 390 bes. aum. 3). die
unkiuschen sind die, welche die göttliche minne nicht haben, die
fornicatores spirituales.
Noch in einem andern puncte steht dieser letzte abschnitt
auf jeuer freieren seite der theologie, deren geistreichster Vertreter
Abälard war, nämlich in der beurteilung des heidentums. als
autoritäten für die erlösungsgeschicbte citiert Trevrizent Plato
und die Sibylle, nicht die erzväter und prophelen oder kirchen-
väter. so auch stellt Abälard Plato unter die ersten zeugen der
Wahrheit, und die Sibylle preist er in rhetorischer Übertreibung,
im geiste des Lactanz, als hervorragendste verkünderin der taten
Christi, speciell gerade der höllenfahrt in den worten : Quae nee
descensum ejus ad inferos nee resurr ectionis gloriam praetermittens,
non solum prophetas, verum etiam ipsos supergressa videtur evange-
listas, qui de hoc ejus descensu minime scripserunt, epist. vn,
Migoe 178, 246 ff.
Eigentlich wäre mit der aufforderung zur beichte 466, 11 — 14
die belehrung des pater spiritualis zu ende, aber es folgt noch
nachträglich eine unmittelbar auf die beichte sich beziehende
ermahnung über die gedanken und werke, wodurch dann
nochmals ein das ganze abschliefsendes mahnwort nötig wird,
467, 5 — 10. man kann auf dreierlei weise sich versündigen,
mit gedanken, worte n und werken, die Versündigung durch
worte ist schon 465, 13 — 18 vorweggenommen : sit rede und
werke niht so fri: wan der sin leit so ruhet daz er unkiusch
sprichst ['fuge inhonesta verba', 'sermo vanus etc. in dem SRernhai d
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 433
zugeschriebenen Tractatus de interiori domo cap. 24,] von des
löne tuon i'u kunt, in urteilt sin selbes munt. bei der gewisseus-
prüfung legt der christ sich rechen schalt ah über seine gedanken,
worte und werke, hei der inuern einkehr sind diese die drei
anhaltspuncte für die erkenntnis seiner selbst, ganz eindringlich
werden sie zur erweckung des innern menschen eingeschärft in
dem Tract. de interiori domo cap. 15 — 36, zusammengefasst in
cap. 17, im übrigen ohne systematische Ordnung, die bösen
gedanken besonders sind es, welche das herz unrein machen,
indem sie die begierden reizen und die seele von Gott abziehen
(cap. 16. 17. 22. 27. 29. 30. 34. 35). so verweilt auch Wolfram
bei ihnen am längsten, auch hat er diesem abschnitt, 466, 15 — 30,
eine besondere aus der Umgebung herausfallende stilistische
fassung gegeben, denn er besteht aus einzelnen gnomen, die
zt. anaphorisch eingeleitet sind, wie das häufig in sentenzen-
sammlungen der fall ist, zb. im Freidank *), im Renner, bei den
spruchdichtern (Roetbe Reinmar s. 309). — der grund, weshalb
der dichter diese drei puncte hereingezogen hat, ist darin zu
suchen dass sie zu den beichtregeln gehören : er bringt sie auch
gerade im Zusammenhang mit der auf'forderung zur beichte vor
465, 13. 466, 13. auch der tractat de interiori domo ist eine
Vorbereitung zur beichte und enthält unmittelbare Vorschriften
für das verhalten in der beichte, die drei puncte sind eben die
in der beichte zu bekennenden dreierlei Sünden des herzens, des
mundes (wortes), des werkes (corde ore opere), denen die voll-
kommene bufse folgt als conpunctio cordis, confessio oris, salis-
factio operis, vgl. Petrus Lombardus Sentenzen iv dist. 16
(Migne 192, 877), Alanus Liber poenitentialis (Migne 210, 287),
Bandinus Sent. (Migne 192, 1099), Weber Bamberger beichtb.
s. 17, Job. Wolff beichtbüchlein ed. Battenberg s. 36, 308.
Schliefslich ist auch noch die form dieser ersten lehre
Trevrizents beachtenswert. sie entspricht dem dogmatischen
1 über die gedanken handelt Freidank 115, 12 — 20 in dem abschnitt
38 Von erkantnisse. dieser berührt sich mehrfach mit dem tractat de int.
domo, jedoch betrifft er nicht allein die Selbsterkenntnis, sondern erkenntnis
und wissen und jegliche art von erfahrung im allgemeinen, auch die minne-
singer haben das grübeln über die gedanken in ihren psychologischen motiven-
schatz aufgenommen, einen Zusammenhang mit der theologischen auffassung
zeigt zb. Reinmars kreuzlied MFr. 181, 13, wo die gedanke idie ledecliche
varn', ldie toben wellenV deutlich ihren religiösen Ursprung verraten.
434 EHRISMANN
inhalt, sie ist eine kleine summa theologiae. das muster einer
theologischen summe sind die vier bücher Sentenzen des Petrus
Lombardus. der grundplan derselben ist vorbildlich für die andern
compendien der dogmatik. buch i handelt von Gott, buch n von
Schöpfung und sündenfall, buch in von Christus, buch iv von der
kirche, den sacramenten und den letzten dingen, noch im
heutigen katholischen katechismus ist im grofsen und ganzen
dies der grundriss des lehrgebäudes. in Trevrizents summe ver-
teilt sich der Stoff lolgendermafsen : i 461, 28 — 462, 30 von gott,
n 463, 1—464, 22 Schöpfung und sündenfall, m 464, 23—466, 9
von Christus, iv 466, 10 — 467,10 von dem sacrament der bufse,
vom ausgang des menschen, ob verloren oder behalten, die
gliederung als theologische summe ist. übrigens ein für die
darstellung religiöser Stoffe geläufiges Schema, aulser der heils-
geschichte im Ezzolied und der heilslehre (Vogt Pauls grundris
ii2, 164) der frühmittelhochdeutschen Summa Theologiae sind so auch
aufgebaut das jüngere Anegenge, Walthers leich, aie disputation in
Konr. vWürzburg Silvester (v. 2872 ff. trinität, 3055 ff. Christi leben
und leiden, 3438 ff. Schöpfung und sündenfall, also mit Umstellung
von ii. in), die Erlösung, der Renner, Heinrichs von Neueustad^Gottes
zukunft, und endlich auch gehört hierher Freidanks Bescheidenheit1.
Mit 467, 10 hat Trevrizent seine erste aufgäbe gelöst : er
hat Parzival die erkenntnis Gottes gelehrt und damit seinem
herzen das glück widergegeben, freude empfinden zu können,
und zwar die ächte laetitia spiritualis, das frohsein über Gott,
und das ist der beweis der anhebenden reiuigung in ihm (hörre,
ich bin des immer frö, daz ir mich von dem bescheiden hat, der
nihtes ungelönet lät, der missewende noch der tugent 467, 12 — 14).
1 unter den theologischen versen im Freidank sind zweierlei bestand -
teile zu unterscheiden, dogmatische und ethische; das dogma tritt aber sehr
zurück, das wichtigste ist, dem populären zwecke entsprechend, die ethik.
diese besteht in der hauptsache aus der behandlung der laster. legt
man das Schema einer theologischen summe als vergleich unter, dann ist
I von Gott = 1, 5 — 10,6; n Schöpfung und sündenfall = 10, 7—148, 3,
wobei, wie in den mittelalterlichen summen, die sieben todsünden an
den sündenfall angeschlossen werden; in = 148, 4 — 164,2 von Christus,
ist ersetzt durch den abschnitt von Rom und Ackers — ein schneidender
gegensatz zwischen Christi leiden und dem schönen leben des papstes,
zwischen der statte da Jesus würkte und dem was jetzt aus dem heiligen
land geworden; iv von den letzten dingen = 172, 9 — 180, 7.
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 435
Es bleibt aber noch das zweite thema zu behandeln : mirst
freude ein tronm: ich trage der riuwe swtjeren soum 461, lf
(s. obens. 427). hat der beicbtvaterdas richtige Verhältnis der
Vernunft in Parzival widerhergestellt, so muss er ihn nun auch
über seine gemütsverfassung belehren, über die berechtigung
seiner tiaurigkeit.
Das wesen der geistlichen tristitia (die bibelstelle dafür
ist ii Cor.7, 9 — 11) ist eindringlichst gefasst in der abhandlung
De modo bene vivendi cap. xi (unter SBei nhards werken), sie
kann gut oder schlecht sein, gutes oder schlechtes würken, je
nachdem es die trauer ist um himmlische oder urn irdische
dinge, die tristitia spiritualis bezw. coelestis oder die tristitia
secularis : Qui secundum Deum tristitiam habent, sapientes sunt,
qui autem secundum seculum tristitiam habent, sunt stulti. Tri-
stitia spiritualis bona est, tristitia vero, quae nascitur ex cupidi-
tate temporalinm rerum, est mala. Thomas vAquino hat in seiner
lehre von den leidenschalten die tristitia ebenfalls eingehend
behandelt (Werner aao. ii 492 IT.). sie kann verderblich sein, da sie
die denktätigkeit hindert, aber auch etwas gutes kann in ihr liegen,
da durch sie der mensch von der gelegenheit zur sünde fern ge-
halten wird; s. auch Wasserschieben Bufsordnungen s. 456.
Parzival nennt die Ursache seines leides : min hcehstiu not
ist umben grdl: dd nach umb min selbes wip 467, 26 f. den
kummer um sein weih nennt der einsiedler gerecht, die ehe
ist ein sacrament, ein mittel zur gnade und heiligung (res bona
est conjugium, Petr. Lombardus Sentenzen iv 26, 4), darum kann
auch die rechte traurigkeit, die von- der ehe kommt, gut sein,
die Sehnsucht nach dem Gral nennt, er eine torheit, denn ihn
kann nur der erlangen, der im himmel dazu berufen ist. er
weifs nicht, dass Parzival zu den auserwählten gehört, und
dieser verschweigt ihm, dass er dort gewesen, er ist noch nicht
in der Selbstüberwindung so weit vorgeschritten, um das schwerste
zu bekennen, dies wird als letztes aufgespart, aber es ligt
ihm am herzen, über das ziel seiner Sehnsucht nähere künde
zu erhalten und so fragt er den alten um das wesen des Grals,
dieser ist als geistlicher berater verpflichtet, ihn über seine
gewisseussorge aufzuklären, so ergibt sich folgerichtig aus dem
Zusammenhang Trevrizents erste rede über den Gral 468, 23 —
471, 29, welche die erste abteilung der scene m schliefst.
436 EHRISMANN
472, 1—476, 22.
Sceoe in abteil. 2. von dem grundübel, dem hass gegen Gott,
ist Parzival durch den glauben geheilt, das religiöse leben ist wider
in ihm erweckt, nun lasten noch drei einzelne sündeu auf ihm. ihn
von diesen zu lösen ist die weitere aufgäbe seines beichtigers
zuvor aber ist die wurzel aller laster in ihm auszurotten, die
hochfart, superbia, denn er ist noch immer des wahns, er
könne aus eigener kraft sein ziel erreichen, Gott müsse ihm für
seine tapferkeit den Gral verleihen, an dem beispiel des An-
fortas zeigt ihm Trevrizent die verderblichkeit der höchvart und
predigt ihm diemüete , 473, 1 — 4. demut ist die der sünde der
hochfart entgegengesetzte tugend, humilitas, vermöge welcher der
mensch sich selber für gering achtend alles gute Got zuschreibt
(Werner Thomas ii 610).
Auch die kiusche steht in einem gewissen gegensatz zur
höchvart (472, 13 — 17, vgl. auch bes. WGast 9995 f), denn sie ist
die Zügelung der sinnlichen triebe, diese aber dienen wesentlich
zur ungeordneten selbsterhöhung, superbia (Werner s. 534). der
begriff der kiusche bei Wolfram (San Marte n 181 — 186, Kinzel
Zs. f. d. phil. 18, 447—458, ßötticher Parzivalübersetzung s. 287 f.
292 f) muss, wie jede andere ethische erscheinungsform im
mittelalter, im Zusammenhang mit der christlichen Sittenlehre
erklärt werden, sie ist eine bestimmte art der temperantia. in
der temperantia sind ihrer definition nach verschiedene
qualitäten zusammengefallen, die Thomas vAquino trennt in tem-
perantia als virtus generalis: 'quia nomen temperantiae significat,
quandam temperiem id est moderationem, quam ratio ponit in
humanis operationibus et passionibus, quod est commune in omni
virtute morali\ und als virtus specialis : 'si vero consideretur autono-
mastice temperantia, secundum quod refrenat appetitum ab his, quae
maxime alliciunt hominem, sie est specialis virtus, utpote habens spe-
cialem materiam' (Schütz s. 802). die temperantia als virtus generalis
ist das einhalten des richtigen mi ttelmafses. das ist der
aristotelische tugendbegriff, wonach das tugendhafte handeln im
beobachten der richtigen mitte zwischen zwei lästern besteht,
fxeaörrjg, das fxrjdev ayav (vgl. Wilmanns Leben Walthers Anm.
in 583). diese eigensebaft gehört zum begriff und wesen jeder
tugend und ligt somit in jeder tugend. darnach definiert Thomas
die tugend im anschluss an Aristoteles : Virtus in medio sive
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 437
in mediocritale comistit , virtus moralis est habitus electivus in
medietate consislens sive existens u.a. (Schütz s. 803); Hildebert
vTours De quatuor virlutibus vitae honestae : De mensuris singu-
larum virtutnm . . . Si studeat [vir] cerlo vivendi fine teuere
Singula quem virtus debet habere modum Migne 171, 1063. die
temperantia als virtus specialis aber, die mäfsigkeit, die be-
zähmung der sinnlichen begierden durch die Vernunft, ist eine
der vier cardinaltugenden, die platonische otocpQoovvr] : Isidor
Orig. ii 24, 6 temperantia, qua libido concupiscentiaque remm
frenatur; Moralis philosophia (Migne 171, 1034) : Temperantia
est dominium rationis in libidinem et in alios motus importunos;
Hildebert vTours aao. (Migne 171, 1059) De temperantia . . Quae
motus animi temperat atque premit. Quam si sectaris, ßuitantia
qnaeqne recide Et desideriis insere frena tuis; Hugo vSVictor De
fructibus carnis et Spiritus (Migue 176, 1003) : Temperantia est
in illicito animi impetus rationis firma et discreta dominatio; die
mensura als mafs für den appetitus commodi bei Hugo vSVictor
De sacr. i pars vii cap. 11—22 (Migne 176,291—297); SBern-
hard (?) De ordine vitae cap. 7 : Temperantia affectionem carnis
temperat; Thomas vAquino : Temperantia quae subicit rationi
appetitum ua. (Schütz s. 803) , lerner auch mensura autem et
regula appetitivi motus circa appetibilia est ipsa ratio . . . patet
quod bonum virtutis moralis consistit in adaequatione ad mensuram
rationis Summa theol. n 1, quaest. 64, a 1. die zwei formen
der temperantia als virtus generalis und specialis werden aber keines-
wegs so streng auseinandergehalten, so vermischt Alanus in
seiner musterpredigt De temperantia v'el modestia, Summa de arte
praedicatoria cap. 25 (Migne 210, 161) die beiden in den citaten
und in den erörterungen.
In der litteratur des deutschen mittelalters hat eigentlich nur
Wolfram der kiusche die umfassende bedeutung verliehen, indem
er sie zur selbstbeherschung, zur herscherin über das heer der
leidenschaften erhob, mdze ist sonst das übliche wort für beide
arten der temperantia, kiusche wird mehr auf die castitas beschränkt.
Wernher vElmendorf stellt die kiusche mit der schäme l zusammen
1 Wernher fasst die schäme, verecundia, auf im sinne seiner vorläge,
der Moralis philosophia, d. i. verecundia est in gestu, in verbo, in vultu
seruare honeslalem usw., Schönbach Zs. 34, 67. bei Wolfram hat die schäme
den weiteren begriff wie bei Thomas : verecundia, quae est timor turpis,
Z. F. D. Ä. XL1X. N. F. XXXVII. 29
438 EHRISMANN
Zs. 4, 308, 857 — 872, darauf spricht er lange über die mdze,
873 — 1198, für welche er zumeist praktische lebensregelu als
beispiele aufstellt, gauz in aristotelischem sinne bestimmt Thomasin
die mdze, WGast 9935 ff (Wilmanns Leben VValthers s. 238): Wizzet
daz diu mdze ist des sitines wage zaller vrist. diu rehte
mäz diu hat ir zil enzwischen lülzel unde vil. swer mit
der mdz kan mezzen xool, der tuot ez allez als er sol; 9993f
Zicischen zwein Untugenden ist ein tugent zaller vrist usw.,
dann folgt eine rede über die mdze als bekämpferin von
Untugenden. Freidank gibt ganz allgemein lehren über die
mdze, 114, 5 ez enwirt ouch niemer guot swaz man dne mdze
tuot. swer schöne in siner mäze kan geleben , derst ein scelic
man (citate aus der latein. litteratur gibt Bezzenberger zu
114, 9-12); Winsbeke 30,5—33,9 {mdze als einhaltung
der mitte und als selbstbeherschung); das gedieht von der
Mäze, Germ. 8, 97 — 102 {Muoter aller tugende . . mdze ist
siu genant) beginnt mit der temperantia als virtus generalis und
geht in eine höfische tugendlehre über; ferner Der minne für-
gedanc Doc. Mise, n 1 82 f (höfische tugendlehre); die Warnung Zs.
1, 447, 325 — 356 {mäze beherschung von des libes gelust v. 345,
kiusche 1521 — 1620 gegen die boßse gir); Reinbot im hl. Georg
trennt mdze 5807 — 5820 und kiusche (= reinheit) 5839—5850
(über die tugendburg vgl. vKraus anm. zu 5751 ff); Renner v. 204
in der mittein min wir varn, v. 4793 ff mdze machet gesunden
Up (== mäfsigkeit), 9446 ff u. ö. viele andere beispiele geben das
Mhd. vvb. ii 206, Zingerle Die deutschen Sprichwörter s. 99ff ua.
die mdze ist die grundlage für die feine höfische bildung, sie ist
Hartmanns und VValthers lebensideal, das zugleich ihr ganzes
künstlerisches schaffen durchdringt (Scherer Gesch. d. d. litt0.
s. 161 ff, Wilmanns Leben Walthers s. 229. 232. 238fundanm.,
Burdach Waltli. i 90. 101, Vogt Grundriss2 u 273 ua.). —
die populäre Sittenlehre hat rein praktische zwecke, in ihr
spielt die mdze als wesensbestimmuug der tugend im sinne des
Aristoteles keine rolle, denn den mittelpunct dieser volksmoral bildet
das System von den sieben haupttugenden und hauptsünden, worin
die temperantia als eine der vier cardinaltugenden ihre stelle hat.
die mdze ist da ganz in der mäfsigkeit aufgegangen, so begegnet
vereeundia dicitur esse bonum ex suppositione alieujus turpis commissi
u. a., Schütz s. 841.
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 439
sie oft in predigten, tractaten , und immer in der kirchenlehre
der beichtbücher, der katecbismen.
Diese temperantia, die cardinaltugend, hat einzelne abarteu,
welchen meist ein laster gegenübersteht, gegen welches sie ge-
richtet sind, folgende kommen hier in betracht : abstinentia und
sobrietas, die enthaltsamkeit im essen und trinken, welche die
bauptsünde yula, frafs und trunkenheit, zügeln; castitas, keusch-
heit, gegenüber der luxuria unkeuschheit; verecundia scheu, schäm
(quae est timor turpis) Thomas Summa theol. quaest. 24,
nach der Moralis philosophia, Migne 171, 1059 : verecundia est
in gestu, in verbo, in vultu servare honestatem; honestas ehrbar-
keit, äufserer anstand, schicklichkeit; continentia die enthaltsam-
keit in der sinnlichen liebe, gegensatz zur incontinentia; dementia
milde im gegensalz zur grausamkeit, crudelitas; mansuetudo Sanft-
mut (castitas, continentia, mansuetudo, modestia gehören unter die
fruchte des heiligen geistes, Galat. 5, 22), die dem laster iracundia
entgegengesetzte tugend; modestia selbsibescheidung, bezieht sich
auf alle aufserhalb der abstinentia und castitas liegenden reizungen
(Werner 2, 609), humilitas demut, die sich besonders als gegen-
satz zur snperbia darstellt (Wilmanns aao. anm. in 385). alle diese
äufsernngen der temperantia können in dem mhd. kitische liegen,
und Wollram mit seinem fein ausgebildeten sinn für das sittliche
hat das innere leben seioer gestalten gern mit diesen eigenschaften
der herzensreinheit ausgestattet, nur war die poetische spräche
nicht geschmeidig genug, um diese manigfachen Schattierungen aus-
drücken zu können, und so verteilt sich die anwendung des Wortes
husche auf die angeführten formen etwa folgendermaßen in seinen
werken : abstinentia und sobrietas: P. 238, 28. W. 129, 14.
276, 13; castitas, besonders die tugend der frauen und dann mit
honestas nahe verwant (oft nur schmückendes attribut): P. 3, 2.
26, 15. 28, 14. 54, 26. 103, 5. 87, 8. 90, 22. 115, 2. 128, 2.
131, 3. 137, 8. 167, 12. 176, 12. 192, 3. 252, 16. 260, 8. 264, 9.
332, 12. 337, 18. 367, 27. 404, 27. 409, 14. 457, 16. 458. 9.
472,30. 477,12. 14. 526,5. 527,11. 732,3. 21. 734,12.
742, 28. 743, 21. 800, 6. 809, 13. 819, 24. 824, 7. W. 154. 22.
190, 1. 247, 29. 280, 2. Tit. 83, 3. 105,4. 110,3. 123,2.
149, 2; abstinentia und castitas steigern sich zur askese bei Trevri-
zent 452, 15. 20. 28. 459, 22. 472, 12; oft kaum zu scheiden von
castitas ist honestas (häufig kiuschiu zuht, kiusche site) P. 159, 17.
29*
440 EHRISMANN
201, 27. 414, 23. 427, 6. 437, 12. 441, 10. 451, 5. W. 157, 7.
272, 18. 276, 13; verecundia P. 465, 13—16; dementia P. 5, 22.
734,25. W. 87,18. 253, 29.; mansuetudo P. 465,18. 21.
462,4. 737,20. W. 167, 22. 190,11. (276,13); humilitas
P. 446, 20. 472, 16. über allen aber steht als gesamtbegriff die
hinsehe als temperantia , die Zähmung der triebe, die selbslbeher-
schung im allgemeinen, so P. 113, 25. 472, 16. Tit. 1, 4 und 5;
und endlich die ganze von irdischer sinnenlust gereinigte lebens-
führung : des kiuschen got geruochet 466, 28, die unkiuschen lässt.
er in der hölle 465, 30; kiusche des reinen priesters 502, 21,
hierher auch wider Trevrizents askese (s. oben), in der reinheit
des Grals ist sie zur Verklärung erhoben : wol muos er kiusche
sin bewart 235, 28, ferner 454, 28. 455, 8. 493, 24. 809, 13.
823, 24, Tit 7, 1; kiusche und diemüete (temperantia und
humilitas) sind die tugenden, die man zum Gral braucht 472, 16.
473, 4 (mit kiusche und diemnot hat sich Willehalm die hülfe des
höchsten erstritten W. 4, 3 — 6); lnu tris kiusche unt dd bi vrö'
P. 781, 12 : froh sein mit selbsbeherschuug, durch die Vernunft
geleitete freude (die höfische lehre verlangte nur mit zühten vrö
sin, vgl. Wilmanns Walther 43, 31), wird dem künftigen Grals-
könig als lebensregel vorgeschrieben.
Nirgends vielleicht ist die höhe von Wolframs sittlichem
standpunet so eigenartig ausgeprägt wie in seiner auffassung von
der mdze und der kiusche. sie sind ihm zwei verschiedene stufen
der temperantia (vgl. Bötticher aao.). das richtige mafshalten lehrt
Gurnemanz : die mdze gehört zur bildung des höfischen ritters,
dem e're und werdekeit das höchste ziel sind, und besteht in
wirtschaftlicher und gesellschaftlicher tiiehtigkeit. in Trevrizents
lehre aber wird kiusche verlangt, herschaft über sein selbst und
reinhaltung des herzens : sie gehört zu den pflichten desjenigen
menschen , der nach dem höchsten gute strebt, kein anderer
dichter des deutschen mittelalters hat die kiusche so in den mittel-
punet des sittlichen lebens gestellt wie er. sie haben ein schönes
ideal von der würde ihres Standes in sich getragen , das auf die
mdze sich gründet, aber die Vorstellung vom rittertum bewegt
sich bei ihnen in den schranken des endlichen; Wolfram allein
hat sie darüber hinaus in eine verklärte weit erhoben, solcher
reinheit genügte aber nur die kiusche, nicht die mdze.
Zug für zug entwickelte sich das beichtgespräch aus dem
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 441
allgemeinen zum einzelnen, zum rein persönlichen, zuerst die
glaubenslehre im grofsen, dann die belehrung über die hauptsünde
der hufiart und die notwendigkeit der demut. nun sind noch die
drei einzelnen schweren taten des beicbtigenden zu tilgen, klug
weifs der greis das innere des Jünglings, in welchem er seinen
neiTen ahnt schon ehe er sich zu erkennen gibt, zu erforschen,
durch seine fragen enthüllen sich die beiden ersten jener Sünden,
die erschlagung Ithers, die Parzival selbst bekennt, und die Ver-
schuldung des todes der mutter, den er erst von dem oheim
erfahrt, damit ist widerum ein natürlicher anlass gegeben zu einer
mitieilung über den Gral (zweite Gralsrede 477,1 — 484, 30). um
die zweifei, die Parzival an der Wahrheit der trauerbotschaft von
dem jähen ende seiner mutter hegt, zu zerstreuen, um ihn über-
haupt über sein eigen geschlecht aufzuklären, erzählt ihm Trevri-
zent die geschichte der königsfamilie des Grals.
485, 1—489, 21.
Scene in abteil. 3. die beiden ersten grofsen Sünden sind
Parzival in ihrer ganzen schwere zum bewustsein gekommen,
von demut erfüllt teilt er die einfache lebensweise des klausners.
wahre reue wandelt sein ganzes wesen, himmlische trauer, iristitia
coelestis, ergreift ihn, die ihn nun ganz mit Gott vereint : got icas
und wart in beden holt 487, 22. alle seine grofsen taten in der weit
haben ihm keine freude bringen können, in der ärmlichen wald-
hülte des einsiedlers findet er sich selbst wider, seinen Gott und
dessen liebe.
Aber noch bleibt die letzte Sünde zurück, jene unheilvolle,
rätselhafte, durch die er die erlösung des Gralsreiches verhindert
und sein eigenes Seelenheil zerstört hatte, vor schäm wagt er
sie nicht zu sagen, 488, 5. noch einmal, so nah dem ziele, wird
seine rettung in frage gestellt, der fluch lastet so mächtig auf ihm,
dass er nicht glaubt von ihm befreit werden zu können, er ist
der Verzweiflung nahe, wenn der beichtiger keine Vergebung hat,
so ist er unerlöst, 488, 2 — 20. da rettet ihn widerum der rat
des greisen freundes, in neuer belehrung tröstet und mahnt er
ihn 488, 21 — 489, 21. zunächst fordert er ihn zur beklagung
seiner Sünden auf 48S, 22 — 25. er selbst klagt mit ihm, zugleich
aber vertritt er die stelle des trösters 489, 1 — 4, denn über-
mafs auch in dem gerechten schmerze ist vom übel, trähnen
442 EHRISMANN
schreiben die bufsregeln nicht nur dem beichtenden vor (poeni-
tentia est peccala deflere Alanus Liber poenitentialis, Migne 210,
302; sonst sei hier nur auf Schönbach Über Hartmann ver-
wiesen), sondern auch dem heichtvaler : Alanus aao., Migne s. 99
210, 289 debet quoque sacerdos vultum compatientis reo exhibere,
ut sie reus saltem vereeundia duetus ad poenitentiam invitetur.
Lacrymae admonentis lacrymas excitent poenitentis ; Wasserschieben
Bufsorduungen s. 252 Videns aulem ille, qui venu ad poenitentiam,
sacerdotem tristem et lacrymantem pro suis facinoribus.
4S8, 27 — 30 gehl Trevrizent auf die Sünde selbst ein, die
unterlassene milleidsfrage. die triuwe maugelte ihm, die Caritas
(misericordia, compassio), er hat gegen das gebot der barmherzig-
keit gefehlt, die betrübten trösten, consolari tribulatos, ist eines
der sieben (sechs) geistlichen werke der barmherzigkeit, die Unter-
lassung dagegen verletzt das hauptgebot, die liebe zu Gott und
dem nächsten (Wer sie [die sechs werk der heyligen barmherzig-
keit] versmechl zeu thun, dem wirt sie got verweysen an den iungsten
tag vnd beget ein töllich sünd Bamberger beichtb. s. 19 f 42. 86).
hätte Parzival die mitleidsfrage getan, so hätte er eine der acht
Seligkeiten erfüllt, der weg zur himmlischen Seligkeit wäre ihm
offen gestanden, der durch das höchste irdische glück, den Gral,
durchführt. Quant o amplius per compassionem proximis nostris
in necessitate suecurrimus, tanto amplius Creatori nostro appropin-
quamus Sßernhard (?) Liber ad sororem cap. 14.
Dabei erläutert Trevrizent den sündhaften zustand, auf grund
dessen Parzival diese pflicht der triuwe vergessen konnte : er
machte einen unrichtigen gebrauch von den ihm verliehenen sinn-
lichen und intellecluellen kräften. zum ersten haben ihn die fünf
sinne betört, 488, 26 f. auch diese haben eine stelle in der volks-
tümlichen morallehre, vgl. Bamberger beichtb. s. 19 Fünf sein
syn genant, die dir sullen sein bekamit : sehen, smecken, greyfen,
riehen, hören; die fünf sullen dich nicht betören; hab sie stet in
grosser hut, so kumstu nit in der helle glut. dann aber hat seine
Jugend ihm das denkvermögen getrübt (zu 489, 5 — 12, vgl. den
eiugang zu Alanus Liber poenitentialis). er hat zu klug sein
wollen, die lehre des Gurnemanz 'Du sollst nicht fragen' (das
törichte fragen wird auch in der bibel gerügt, 2 Tim. 2, 23)
hat er in seinem verständnislosen bildungstriebe, der nur auf das
erlernen der höfischen lebenskunst gerichtet war, allzu wörtlich
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 443
genommen, statt dass er seiner angeborenen natur folgte, kraft
deren er, ohne sich zu besinnen, in einfältiger herzensgute um
das leid, das ihn umgab, sich bekümmert hätte, so vveifs der
giltige greis seine schwere schuld, indem er sie ihm erklärt, des
unheimlich rätselhaften zu entkleiden und ihr das entsetzliche
zu benehmen, denn nieht aus herzensverhärtung ist sie ent-
sprungen, sondern aus trübung der siune und der Vernunft,
deren richtigem gebrauch seine Jugend noch nicht gewachsen
war. damit aber wird sie entschuldbarer : Alanus aao. (Migne
210, 287) Inquirenda est quoque aetas, utrum reus senex an puer?
yravius enim peccat senex, qui rerum habet experientiam, quam
puer qui nullam.
Auf die erkläruog der schuld folgt der ratschlag zur besserung.
die verse 489, 13 — 20 enthalten die auschauung, welche Trevrizent
vertritt über das Verhältnis der fähigkeiten des menschen gegen-
über Gott : gottvertrauen gepaart mit Selbstvertrauen lassen ihn
das ziel erreichen, mit dem höchsteu vereinigt zu sein, warm
kommen die worte des trostes aus treuem herzen : könnt ich
dein herz jugendfrisch machen und kühn, so dass du das hohe
ziel erkämpftest und an Gott nicht irre würdest, dann würde
dein erfolg etwas so erhabenes erreichen, dass du alles kummers
reich belohnt würdest : Gott selber würde dich nicht lassen,
mit diesen hoffnungsreichen Worten schliefst Trevrizent seine
dritte belehrung. zuerst hat er ihm den glauben verkündigt
461, 28—465, 30, dann die liebe 466,1 —14 und 467, 5—10,
er endet mit der hoffnung 489, 13—20.
Auffallend ist es, dass Trevrizent in dieser ganzen letzten rede
gar nicht auf den Gral bezug nimmt, man würde nach der
bedeutung, welche die unterlassene frage für die gestaltung von
Parzivals leben hat, eine viel stärkere bewegung des greises
erwarten, statt dessen behandelt er dieses vergehen, das Parzival
selbst für den gipfel seiner untaten ansieht, sehr milde (vgl. San
MarteZs. f. d. phil. 17, 191), nur die beiden andern Sünden werden
sünde genannt 499, 20. die aufklärung gibt er selbst später,
als alles sich zum guten gewendet hat, 798, 6 f. 23 — 28 : er
wollte ihn vom Gral abhalten, um ihm sein fruchtloses sichauf-
reiben zu ersparen, da er nicht glaubte, dass er ihn werde
erringen können, darum spricht er auch nur von zwei grofsen
Sünden, die Parzival zu biifsen habe.
444 EHRISMANN
Der letzten und grösten gefahr war Parzival ausgesetzt, das
ist die Verzweiflung an Gottes gnade, desperatio. es ist eine
sünde gegen den heiligen geist und darum die allerschlimmste, vgl.
Petrus Lombardus Sent. n 43,4, SBernhard(?) De modo beue
vivendi cap. xxvii, Schönbach Über Hartmaun s. 98. 118 f. 449,
Zwierzina Zs. 37, 401. 405, Martin Parz. n, 2, melancolia Vintler
v 11 15 ff), sie ist die höchste potenz des Zweifels (s.'oben s. 416),
und indem Parzival ihr zu verfallen droht, beweist er, dass sein
glaube noch nicht ganz zweifellos ist. darum die mahnung des
beichtvaters, an Gott nicht zu verzagen, darum aber auch für
Parzival die notwendigkeil, im glauben noch mehr zu erstarken
und noch in langem lebenskampfe die probe abzulegen.
In dem Stammbaum der sieben todsüoden gehören zweifei
und Verzweiflung zur accidia {tristüia), der trägheit, dem geistigen
Stumpfsinn {tristüia s. oben s. 416. 427. 435, accidia Du Cauge i
52 f), so auf der arbor vitiorum bei Hugo vSVictor, Migue 176,
1001. 1007, auch sermo 38, Migue 177, 996; Renner v 15930;
Bamberger beichtb. s. 22 (vertzagnus), Joh. Wolff Beichtbüchlein
ed. Battenberg s. 25, Bahlmann Deutschi, kathol. katechismen s. 69
{Mystroest efft Wanhope). gegenüber der alle kraft zum guten
lähmenden verdüsterung des gemüts wünscht dem in hoffnungs-
losigkeit gebeugten sein geistlicher ratgeber herzenskühnheit und
unverzagtheit in Gott, denn die der accidia gegenüberstehende
haupttugend ist die tapferkeit, fortitudo, besonders deren tochter-
tugeud perseverantia, gegenüber der trägheit zum guten steht die
beharrlichkeit im guten, so zb. auf dem Stammbaum Hugos
vSVictor aao. darüber sagt Werner in seinen Deflorationes Lib. n
Ds Septem petitionibus, Migne 157, 1069: Tristüia namque tce-
dium est animi cum maerore, quando mens, quodammodo tabefacta
et vitio suo amaricata, interna bona non appetit atque omni vigore
est mortua, nullo spiritualis refectionis desiderio hilarescit. Prop-
terea ad sanandum hoc Vitium depiwari nos opportet mtsericordiam
Dei . . . Datur ergo huic petilioni Spiritus fortitudinis ut
fatiscentem animam erigat, quatenus illa pristini vigoris virtute
recepta, a defectu sui taedii ad desiderium ittterni amoris con-
valescat.
Verzweiflung und unverzagtheit sind die beiden entgegen-
gesetzten pole des sittlichen willens, das problem der eingangs-
verse 1, 1 — 9 wird hier variiert, die Verzweiflung — dort der
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 445
zweil'el — bringt der seele verderben, kühnes gottvertrauen —
dort unverzaget mannes muot — ist das mittel zum heil.
Die nun folgende dritte rede Treviizents über den Gral 489,
22 — 499, 10 fügt sich widerum folgerichtig in den Zusammen-
hang, da Parzival erzählt hat, dass er es sei, der beim Gral
gewesen, ohne zu fragen, will der alte wissen, wie das alles
zugegangen sei; und da aufserdem der tot Ithers und Herzeloydens
den gesprächsstoff bildet, so will er über diese beiden nähere
auskunft geben und ergänzt somit die Mitteilungen über Parzivals
geschlecht, die er ihm in der vorhergehenden Gralsrede gemacht
hatte.
499, 11—502, 30.
Scene m abteil. 4. hier wechseln die partieen von Parzival
und vom Gral rasch mit einander ab : 499, 11 — 30 von Parzival,
500, 1 — 501, 10 vom Gral, 501, 11 — 18 von Parzival, 501,
19 — 502, 2 vom Gral, 502, 3 bis zum schluss von Parzival. der
grundgedanke in den stücken von Parzival ist die bufse. die
reue ist vollständig, die beichte ist abgelegt, nun muss die bufse
übernommen werden : wilt du gein got mit triwen lehn, so solte
im wandel drumbe gebn 499, 17/, nim buoz für missewende, unt
sorge et umb din ende, daz dir din arbeit hie erhol daz dort diu
se'le ruowe dol 499, 27 — 30. doch nur für die zwei grofsen
Sünden (499, 20), wegen des todes Ithers und der mutter, fordert
ihn der beichtvater zur bufse auf, die gleichgültigkeit beim leiden
des Anfortas rechnet er nicht mehr mit ein (499, 11 — 30).
Zur abbüfsung der vergehen gehört schon das asketische
leben, das er beim klausner führt (501, 11 — 18). Parzival erträgt
es freudig , wand in der wirt von Sünden schiet unt im doch
riterlichen riet 501, 17 f. was rilerlichen raten ist, das ergibt
am besten ein vergleich mit den ratschlagen, die Gregorius in
Hartmanns legende seiner mutter gibt, v. 2665 — 2750 (vgl.
Schöubach Über Hartmaun s. 98 ff), die Situation ist ähnlich wie
im Parzival 488, 1 ff : die mutter ist hoffnungslos, Gregorius
warnt und trüstet sie : niht verzwivelt an gote: ir sult harte wol
genesen usw. 2698 ff. aber die heilsmittel, die Gregorius an-
empfiehlt, sind gerade die entgegengesetzten, er hofft für seine
mutter rettung nur durch die strengste askese, und er selbst ist
auf dem wege, das härteste büfserleben anzutreten, während der
ritterliche klausner, der ohne gewissensbisse, vielmehr mit freuden,
446 EHRISMANN
seiner kämpf- und minnefrohen Jugend gedenkt, seiuem beichtling
kraft des herzens erfleht, um in den kämpfen des lebens bei
Gott bestehn zu können, dort die absolute weltverueinung bis
zur selbstveruicbtung, hier die bekennung des irdischen mit dem
ziel der selbstveredlung.
Dann folgen zum schluss nochmals zwei, mehr für das
sociale leben berechnete lehren : du sollst die frauen nicht hassen
und die priester verehren 502, 4 — 22. diese hat Wolfram schon
bei Chrestien vorgefunden (Vogt aao. s. 147), aber die ausführung
ist doch für seine lebensauffassung bezeichnend, er tritt hier
ganz aus den anschauungen der geläufigen höfischen moral heraus,
diese preist als höchste wonne des maunes den frauendienst,
hier dagegen wird zum dienst der geistlichen ermahnt : der (der
pfaffen) sol din dienst mit trivoen pflegen 502, 10. gegenüber
der Verherrlichung der priester, wie wird hier der preis der
Irauen heruntergeslimmt! die frauen zieren nur das leben, aber
wenn du ein seliges ende haben willst, dann must du der
pfaffen freund sein 502,4. 11 f. und während dem äuge des
minnesingers seine dame sich als das herrlichste darstellt, heifst
es hier: swaz din ouge üf erden siht, daz glichet sich dem priester
niht 502, 13 f. das ist eine bewuste absage vom minnedienst,
dem der gottesdienst als lebensaufgabe gegenübergestellt wird,
und so schliefst der rat des einsiedlers mit demselben gedauken,
mit dem er begonnen, mit der ermahnung zum dienste Gottes.
Trevrizent hat seine aufgäbe, die läuterung des helden zu
bewürken, gelöst, er hat ihn wider in das richtige Verhältnis zu
Gott gebracht, da dieses geschehen, kann er nun dem schuldigen
seine Sünde abnehmen, als genugtuung legt er ihm nichts
anderes auf als seiner lehre zu folgen : und leist als ich dir hau
gesagt : belip des willen unverzagt 502, 27 f. unverzagter wille
zu den ermahuungen, die er ihm gegeben : es ist dasselbe, was
die rituelle absolutionsformel für den beichtenden von der gnade
des heiligen geistes erfleht, perseverantiam in bonis operibus,
sldticheit guotes lebenes Benedictb. Gl. u. b. in, MSD3 1, 315,
109. 112, Kelle Spec. Eccl. s. 7. bulswerke im einzelnen nach
dem kanon beten, fasten , almosengeben schreibt er ihm nicht
vor, und sie sind auch in der folgenden prüfungszeit keine mittel
der genugtuung. Trevrizent riet riterlichen. er hat rücksicht
genommen auf den stand des büfsers und ihm nichts auferlegt,
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 447
was den anschauungen des rittertums zuwider gewesen wäre,
alles ist abgesehen auf die Stärkung des willens zum guten, ohne
äu/sere werktäligkeit. zum christlichen ritter wollte er seinen
Schützling erziehen, aber nicht im sinne des miles christianus
der kirche, in welchem der eine begriff, der des rittertums, nur
soweit eine berechtigung hatte, als er sich dem jenseilsgedanken
der kirche einfügte; vielmehr im sinne der Vereinigung von
rittertum und Christentum: das rittertum als erscheinungs-
form des irdischen daseins geläutert durch das christentum-
symbolisch ist für diesen gegensatz hier am schluss der frauen-
und priesterdienst eingesetzt, der kirchliche ritter soll nur die
himmlische liebe kennen, Wolframs christlicher ritter darf neben
der himmlischen liebe auch die irdische empfinden.
Die innere geschichte Parzivals im buch ix ist ein beispiel
für die christliche lehre von der entwicklung des nach dem
höchsten gute strebenden menschen, das höchste gut besteht in
der erkenntnis Gottes, die sittliche entwicklung vollzieht sich in
der Herstellung des vernünftigen denkens und in der kräftigung
des sittlichen willens, dieses bewürkt in Parzival die erziehung
durch Trevrizent. er lehrt ihn Gott kennen und stärkt seinen
willen, er erzeugt in ihm das vernunftgemäfse wollen, er befreit
ihn von der ignorantia, denn der unentwickelte intellect und
der infolge davon verkehrte wille waren die Ursachen zu Parzivals
drei Sünden : sie sind in Unwissenheit geschehen, als narr ver-
kleidet scheidet der knappe tump Wide wert (126, 19) von der
mutter; gröziu tumpheit beherschte ihn, als er an Ither den
reroup nahm 156, 24. 475, 5f. 744, 17 f; aus jugendlicher torheit
unterliefs er die frage, wie ihn Trevrizent selbst belehrt, s. oben
s. 442 ff und 225, 27. 330, 2. 484, 28. auf den letzten fall, da
er die worte des Gurnemanz nicht ganz siungemäfs verstand,
passt, was Thomasin von der unwissentlichen Sünde sagt:
von tcerscheit kumt ez, swelich man mit sinne niht erahten kan
wier ein rede gelonben sol und wem er sol gelouben wol WGast
13445—48.
Die ignorantia rerum agendarum und die concupiscentia
noxiarum sind die Ursache aller übel nach Augustin Enchirid. 24,
uud ebenda 81 siud es die ignorantia und die infirmitas. Petrus
448 EHRISMANN
Lombardus macht die Unterscheidung zwischen ignorantia quae
excusat und ignorantia quae non excusat Sent u 22, 9, und darauf
in art. 10 nennt er drei arten der ignorantia, deren zweite auf
Parzival zutrifft : eorum qui volunt (scire), sed non possunt — diese
art entschuldigt (Migne 192, 699). die Unterscheidung Augustins
kehrt bei ihm wider hei der bestimmung der Sünden gegen den vater,
den söhn und den heiligen geist : peccatum in Patrem id intelligitur
quod fit per infirmitatem . . . peccatum in Filium, quod fit per
ignorantiam (die dritte sünde, peccatum in Spirilum sanctum,
ist vorher auseinandergesetzt worden) . . . Qui ergo peccat per
infirmitatem vel per ignorantiam, facile veniam adipiscitur-,
sed non ille qui peccat in Spirilum sanctum Sent. n 43, 4. im
selben sinne handelt Richard vStVictor De spiritu blasphemiae,
(Migne 196, 11S7) : dicunt quod peccare per infirmitatem sit peccare
in Patrem; peccare vero per ignorantiam sit peccare in Filium-
per solam autem peccare malitiam sit peccare in Spiritum sanctum.
Et qui per infirmitatem vel ignorantiam peccant, sicut aliquid
excusationis habent in culpa, sie aliquid remissionis aeeipiunt in
peena. Alanus Liber poenitent. (Migne 210, 28S): Praeterea
inquirendum est, utrum scienter factum sit (peccatum) vel igno-
ranter, quia scientia eulpam aggravat , ignorantia alleviat.
Würzburger beichte, MSD lxxvi 24 f : daz ih uuollenter ode
niuuollenter , uuizenler ode niuuizenter giddhta uuider gotes
uuillen; Bair. beichte MSD. lxxvii 5: de ih uuizzunta teta odo
unuuizunta, ferner Benedicib. gl. u. b. i, MSD. lxxxvii 22;
SGaller gl. u. b. i, MSD. lxxxvih 7 f ; Benedictb. gl. u. b. ii, MSD.
xciv 9; Benedictb. gl. u. b. in, MSD. xcvi 46 f. (Kelle, Spec. Eccl.
5, 3); Münchener gl. u. b., MSD. xcvn 47. nach dem dogma also
sind sünden durch Unwissenheit solche, die entschuldigt werden
können, aber es kommt doch immer auf das niafs der Ver-
antwortlichkeit an, und von diesem standpunet aus ist Parzival
in den drei fällen von schwerer Verschuldung nicht frei zusprechen,
sein gewissen muste schon so empfindungsfähig sein, dass es
ihn unter diesen umständen auf den rechten weg leitete, insofern
es hier versagte, hat er gegen das natürliche sittengesetz gehandelt
(Seeber s. 191). die liebe zur mutter hätte auch deu unvernünftigen
knaben abhalten müssen, dass er ihr den schmerz bereitete, sie
zu verlassen; aus purem eigennutz und ehrgeiz, um eiue rüstung
zu haben und ritter werden zu können, hat er Ither erschlagen ;
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 449
und endlich , das natürlich menschliche mitleid muste stärker
in ihm sein als der respect vor dem höfischen ceremoniell.
Aus ein und demselben unheilvollen triebe gehn alle diese
verhängnisvollen taten hervor : aus der lust zur weit (concupi-
scentia carnis). die freude am irdischen schein trübte sein
gewissen und betörte seine Vernunft, daher die klage des geist-
lichen heraters, als er von ihm hört, dass er Ither erschlagen:
k6\De werlt , wie tuostu so?' 475, 13 ff. es ist dieselbe erfahruug
von der weit, die ihre süfse in bitterkeit verwandelt, die auch
Gregorius machen muste, als er, wie Parzival, alle Warnungen
in den wind schlagend aus seiner stillen abgeschiedeuheit in die
well hinauszog, die kenntnis des lebens muss mit der Unschuld
bezahlt werden.
C. Parzivals prüfung und bewährung.
Mit der erziehung durch Trevrizent sind die lehrjahre Par-
zivals abgeschlossen, ihm ligt nun ob, die erkenntuis, die er
gewonnen , zu bewähren, es folgt die prüfung. zwei grofse
taten, der kämpf mit Gawan und der mit Feireüz bilden die
mittelpuncte, um welche sich die weitere entwicklung gruppiert,
es sind tapferkeilsproben die er zu bestehen hat. der ritterliche
heldenmut gibt die sichtbare form ab für seine innere bewährung,
die sittliche grundlage aber bildet die tapferkeit der seele, die
beharrlichkeit im guten, der 'unverzagte mannesmut'. aber freilich,
dieses innere leben wird in der darstellung nun bis gegen den
schluss von den äufseren Vorgängen zurückgedrängt.
Zwei weltliche lockungen treten an ihn heran, vor und nach
dem kämpfe mit Gawan. das schönste weib bietet ihm ihre minne
au : aber was ist Orgeluse gegen sein gemahl, die königiu
vPelrapeir? (618, 19 — 619, 14); er ist der gefeiertste ritter am
Artushofe geworden : aber was ist die tafeirunde gegen den Gral?
(732, lff). der Gral und sein weib sind ihm die leitenden Sterne
geblieben durch die nacht des irrtums, so jetzt in dem grauenden
lichte seiner läuterung. aber wer nach dem Gral ringt, muss
allem irdischen glück entsagen. noch einmal kämpft er den
schwersten kämpf durch : wie sehnsuchtsvoll es ihn auch nach
seinem weibe zieht, der todsieche mann beim Gral verlaugt nach
erlösung. es ist der letzte seelenkampf. er folgt der höheren
pflicht, aber mit zerrissenem herzen, noch einmal bricht der
zweifei durch, dass Gott die gute ist (got wil miner freude niht
450 EHRISMANN
733, 8). aber es ist die letzte Verzagtheit und die letzte traurigkeit.
denn in dem nun folgenden kämpfe mit Feirefiz, gegen den alle
vorhergehenden nur kinderspiel waren (734, 18f), ist Parzival mit
sich und mit Gott im reinen, nirgends bei seinen heldentaten
sind die inneren kräfte so tätig wie in dieser letzten, der äufsere
mut ist getragen von dem willen einer starken seele, der erfolg
wird von innen geleitet : in seinem kühnen und grofsmütigen
herzen ligt das glück (734, 23 — 26). zu den ihn schützenden
mischten des Grals und der gattenliebe (619, 8 — 12. 737, 27 f. 740,
19 — 22. 743, 12 f) tritt nun die höchste macht, das gottvertrauen:
der getoufte wol getrüwet gote sit er von Trevrizende schiet, der im
so herzenliche riet, er solte helfe an den gern, der in sorge freude
künde wem 741, 26 — 30. und Gott löst nun seine schuld ein.
das schwert, das er einst dem toten Ither abgenommen, zerspringt,
der letzte rest seiner sittlich primitiven lebenszeit, seiner tumpheit.
wird getilgt durch das übernatürliche, durch das wunder.
Die prüfung ist vollendet, Parzival geht geläutert aus ihr
hervor, die ihm den fluch gebracht hat, Cundrie, bringt ihm nun
den segen. die gnade Gottes verleiht ihm die kröne des Grals
781, 4. 13 — 16. aber die grofse lebenspflicht bleibt bestehn,
das grundgesetz der reinheit : diu kiusche, der sittliche wille, 781,
12 (s. oben s. 440). 782, 23. erstritten hat er sich das höchste
glück, das ist die ruhe der seele 782, 29 (=499, 3). alles trauern
ist zu ende, die wahre freude, die nur der reine haben kann,
782, 17 — 30, ist ihm zu teil geworden, in der Stimmung, mit
welcher Parzival die frohe botschaft aufnimmt, ist die innere
Wandlung ausgesprochen, die er seit seinem falle durchgemacht
hat : in verblendetem hasse hat er sich einst gegen Gott aufgelehnt
(332, 1 — 16), trauer über seine Sündhaftigkeit bezeugt seine
rückkehr zu Gott (485, 1. 487, 17—22. 488, 1 ff), unter trähnen
der freude beugt er sich demutsvoll vor ihm, der nun ihn den
sündigen menschen erlöst hat. die tristitia coelestis ist zur
laetitia coelestis geworden. (783, 1 — 17). *)
Vom sehnen zum glauben, vom glauben zum schauen, das
1 die bedeutung, die dem Gral und seiner ritterschaft in Wolframs
religiösem ideenkreise zukommt lasse ich unerörtert, da über sie, mit ganz
andern mittein ausgerüstet, KBurdach handeln wird, ein Widerspruch gegen
die kirchliche Ordnung der hierarchie ligt in der Vorstellung von der Gral-
gemeinde als dem reiche der irdischen Seligkeit nicht, die grundgedanken
hat Wolfram schon in der legende vorgefunden, der ritterliche dichter
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 451
ist der weg, den auch diese ringende seele durchwandert, als
knabe ergreift ihn ein ahnungsvoller schauer bei dem namen
Gott, er meint, das sei ein glänzender mann, das sehnen der
Jugend, unterdrückt in der höfischen verweltlichuug, erwacht in
dem ausgestofsenen wider mit dem gefiihl der hülfsbedürftigkeit.
zum glauben erhebt ihn die lehre des greises, und der glaube
führt ihn zum schauen des wonnevollsten wunders, des Grals,
das ist die entwicklung, welche der dichter träcliche wis nennt.
D. Wolframs humanismus.
Die gnade Gottes hat Parzival den weg zum heil gewiesen,
sie führte ihn zu Sigune, zu Kahenis, zuletzt zu Trevrizent. in
der zeit seiner Verblendung meinte er, er habe ein anrecht auf
lohn, am abschluss seiner sittlichen kämpfe ist er zu der Über-
zeugung gelangt, dass er vielmehr der gnade Gottes seine rettung
verdanke, zwischen diesen beiden puncten bewegt sich seine
sittliche Wandlung.
In der bedeutung der gnade findet die Stellung des menschen
zu Gott den bestimmtesten ausdruck. die auffassung der gnade
bildet den entscheidungspunct in der frage, wie verhält sich
Wolfram zu den herschenden anschauungen der kirche? wie
weit hat Parzival sein lebensziel erreicht durch die gnade Gottes,
wie weit durch den eigenen willen?
Nach der mittelalterlichen theologischen speculation wird
das sittliche durch die gnade bewürkt, die gnade bewegt den
willen zum guten, für die sittliche Selbsttätigkeit des menschen
ist, wie sehr auch der freie wille betont werden mochte, eigentlich
kein räum geblieben, in seiner abhandlung über die gnade und
den freien willen stellt Bernhard vClairvaux das Verhältnis zwischen
beiden so dar, dass beide zur rechtferligung gleicherweise nötig
sind : De gratia et libero arbitrio cap. i Quid igitur agit liberum
arbitrium? Salvator. Tolle liberum arbitrium, non erit quod
salvetur. Tolle gratiam, non erit unde salvetur. Opus hoc sine
duobus effici non potest, uno a quo fit, alter o cui vel in quo
fit usw. aber im cap. vi wird eine bemerkenswerte einschränkung
gemacht: Velle siquidem inest nobis ex libero arbitrio, non etiam
posse quod volumus. Non dico velle bonum aut velle malum,
sed tan tum velle. Velle etenim bonum profectus est, velle malum
malte sich seine märchenweit (vgl. Michels Gott. gel. anz. 1897, 740) mit
all dem zauber aus, der eben sein herz erfreute.
432 EHRISMANN
defectus, velle vero simplicüer ipsum est quod vel proßcit vel deficit.
Porro ipsum ut esset, creans gratia fecit. Ut proficiat, salvans gratia
facit; ut deficiat, ipsum se dejicit. Itaque liberum arbitrium
nos facit volentes, gratia benevolos (guten willeus). Ex
ipso nobis est velle, ex ipsa bonum velle. darum stellt sich
zum schluss im cap. xm die tätigkeit des menschen bei der recht-
fertigung, insofern dieser den freien willen dazu zu bieten hat, als
bedeutungslos heraus; das gute, welches allein die heilung
bewürkt, leistet ja die gnade : Itaque non liberi arbitrii, sed Domini
est salus, immo ipse salus, ipse et via est ad salutem qui ait : Salus
populi ego sum . . . Bei sunt procul dubio munera tarn nostra
opera quam ejus praemia.
Die anschauung, die Wolfram von der gnade und dem freien
willen hat, ist in ihrem Untergrund durchaus kirchlich, die gnade
gibt ihm den anstofs zur innern einkehr. langsam erwacht bei
den frommen mahnungen der Sigune und des grauen ritters der
wille zum guten in ihm, des heiligen einsiedlers lehre nimmt er
willig auf, die worte vom glauben und der liebe fallen überzeugend
in sein herz und durch das sacrament der bufse wird ein neues
leben in ihm geschaffen (glaube, liebe und sacrament als heilsmitlel
zur rechtferligung s. Deutsch- Abälard s. 388). auf grund dieser
geistigen Wiedergeburt vermag er dann sein ziel zu erreichen.
Die art und weise, wie hier der wille sich äufsert, muss
natürlich in einer erscheinungsform des rittertums bestehen,
und zwar in derjenigen tugend, welche diesem stand ausgesprochen
eigeu ist, das ist die tapferkeit. im unverzagten mannesmut
offenbart sich der sittliche wille des ritters, er führt Parzivai
zum siege, er erstreitet den Gral mit dem Schwerte 472, 1 ff .
503, 27 ff. 782, 28. 786, 5fl vgl. 814, 25. nur freilich nicht
körperlicher mut und ausdauer und die gewanlheit in der fecht-
kuust allein reichen aus, den Gral zu erkämpfen, sonst hätte
auch Gawan zu ihm gelangen können, sondern nur ein wahr-
haft frommer mann, der das irdische in sich bezwungen und
das gültliche in sich aufgenommen hat, hat die dazu erforderliche
sittliche kraft, aber eine Vorbedingung ist aufserdem voraus-
gesetzt, er muss von Gott dazu benannt sein 786, 5ff : nur ein
solcher kann eben jenes hohe mals des sittlichen handelns
erlangen, das ist die Prädestination, die augustinische lehre vou
der gnade, das ist die lösung des Widerspruchs, der Trevrizent
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 453
die Überraschung bereitet hat, dass Parzival den Gral erkämpft
hat 798, 25 ff; die Prädestination ist das wunder, «las hier geschehen
798, 2.
Eiu geistlicher dichter aber hätte, in theologischem sinne,
das thema von der gnade und dein willen ganz anders durch-
geführt, er halle Parzival als den christlichen ritler nach
dem iheologisch-idealisierten lypus gezeichnet, etwa wie SBern-
hard in seiner Exhortatio ad milites Templi. und da wäre das
Verhältnis zwischen jenen beiden grundbedingungen des sittlichen
handelns ganz anders geworden, er hätte die askese auch auf
das rilterlum übertrageu. allen glänz der rüstung, alle Schönheit
der geslalt hätte sein ritter ablegen müssen; er durfte sich nicht
an dem rühm freuen, den ihm sein heldenmut bei den menschen
einbrachte, denn das wäre eitle weltlreude gewesen; er durfte
nicht an sein weih denken, er halte ja keines haben dürfen,
alle seine schönen taten der tapferkeit wären gepriesen worden
als gnadengaben gotles, für seine eigene leislung wäre nichts
übrig geblieben, das Verhältnis zwischen wille und gnade wäre
auf das übermafs der gnade beschränkt worden, und hierin ligt
der tiefe unterschied zwischen der darstclluug, welche diese frage
in dem ritterlichen epos Wolframs findet, und der kirchlichen
anschauung. denn wenn auch die gnade die anregerin des guten
ist, ihre wüikung beim realen handeln tritt hier ganz in den
hintergrund. aller schwerpunct ist auf die auslührung, ist auf
die tat selbst gelegt und auf den starkeu willen, indem aber so
der wille die bedeutuug der gnade zurückdrängt, ist der eigenen
kraft Parzivals und seiner mitwürkung beim sittlichen handeln
ein viel höherer wert beigelegt als in der kirchlichen lehre,
noch verstärkt wird dieser eindruck, wenn man bedenkt, dass
die eigentlichen triebkräfte seines handelns, der gedanke au den
Gral und an sein weih, aufserhalb der gnade stehn, da sie ja
in die Zeil seiner gottentfremdung fallen, die eigene kraft also
ist bei dem rettungswerk der seele das entscheidende moment,
die gnade hat den anstofs gegeheu, den ausschlag gibt sie nicht,
auch nach der durch die lehre Trevrizents erfolgten innern
umkehr Parzivals würkt sie gleichsam nur latent mit.
Aber das Verhältnis zwischen willen und gnade und vor
allem von der mitsprechenden Prädestination ist vom dichter
nicht scharf ausgeprägt, die idee ist nicht genügend heraus-
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. 30
454 EHRISMANN
gearbeitet, darin ligt die künstlerische unvollkommenheit des
werkes in erster linie. der stoff ist nicht überall gleichmäfsig
zum symbol erhoben, besonders in der zweiten hälfte, in der
prüfungszeit Parzivals bis zur berufung zum Gral geht das innere
leben zu sehr im abenteuerhaften verloren (Gietmann Parzival
Faust Job s. 2061T). in seinen äufseren taten kommt die würkung
jener geistigen erziehuog durch Trevrizent doch nur allzu spärlieh
zur geltung (s. oben s. 433 und Herter Welt- und lebens-
anschauung Wolframs s. 18). in dem Zweikampf mit Feirefiz
stärkt ihm der gedanke an seine miune die sinkende kraft wie
jedem Arlusritter (742, 27 — 744, 13) und nach der versöhnuug
zählt er rühmend seine grofstaten auf, obgleich ihn Trevrizent
demut gelehrt hatte, der dichter hat es nicht vermocht, die über-
lieferte fabel mit seinen grofsen gedanken ganz zu durchleuchten,
darauf beruhen die vielen Unebenheiten in der enlfaltung des
ethischen teiles. aber was er sagt, genügt um auch hier die
bedeutung zu erkennen, welche er dem unverzagten mannesmut,
oder dem willen, für das sittliche handeln zuerkennt, damit dass
er der eigenen kraft so viel vertrauen beimisst, gesteht er dem
natürlichen ein recht zu und steht mit diesem Optimismus in
ansehung der menschlichen natur der pessimistischen ethik
der kirche entgegen.
Also die weltbejahung und die weltverneinung treten sich
hier gegenüber, und Wolfram fasst im sinne der ersteren sein
glaubensbekenntnis mit klaren worten am ende seines Werkes
827, 19 — 24 zusammen : wer sein leben so abschliefst, dass einer-
seits der leib — der sinnliche teil — seine seele — das göttliche
in ihm — nicht Gott entzieht, und der anderseits auch die
huld der weit behauptet damit, dass er in ehren besteht, der hat
ein nützliches werk getan. Gott und weit sind hier nicht ent-
gegengesetzte pole, man kann seine seele fürs jenseits vorbereite,
ohne dass man das diesseits verschmäht, der einseitige dualismus
darf nicht unbedingt die beurteilung des menschlichen daseins
beherschen, wie bei dem nur auf das zukünftige leben bedachten
mönch : der in der weit lebende muss sich auch mit der weit,
nicht mit Gott allein auseinandersetzen, der mensch ist nicht
ÜBEH WOLFRAMS ETHIK 455
allein zu messen an seinen beziehungen zu GoU, er hat auch rein
menschliche pflichten, die lehre von der Sittlichkeit geht nicht
auf in der Lheologie, sondern göttliches und menschliches, divinum
et humanuni, die kräfte des geistes und der Sinnlichkeit, sind
in der Sittlichkeit zu verbinden, sie ist humanilät, durch das
göttliche geläuterte Menschlichkeit (vgl. Bötlicher Parzivalüber-
setzung s. xxxviii).
Diese anschauung entspricht nicht dem Christentum der
theologen, sie ist aber darum doch nicht unkirchlich, sie kommt
nicht in conllict mit einzelnen fundamentalen glaubenssätzen noch
mit den cinrichtungen der kirche. sie ist nur nicht theologisch-
kirchlich, sondern laien-kirchlich. die kirche hat zu allen Zeilen
der vielgeslaltung der menschen und des lebens rechnung getragen,
auch den humanismus der renaissance hat sie in sich aufgenommen,
dass für die laien nicht die strengen gesetze gellen können wie
für die priester, hat die kirche immer anerkannt, im prak-
tischen gottesdienst wurden dem ritter auch seine weltlichen
pflichten eingeschärft, mit dem Schwerte das Vaterland, den frieden,
die kirche zu schützen; sogut wie die geistlichen, die den frieden
der eigenen seele betreffen {mililia exlerior — militia interior,
Alanus Summa de arte praed. cap. 40, Migne 210, 18511).
dieses populär-christliche wiiiklichkeitsbild des ritters sieht freilich
nüchterner aus als das von der mystik poetisch erklärte idealbild
des miles Christi, denn unter der schiebt der theologenreligion
mit ihrem durch die speculation grandios aufgerichteten dogmen-
gebäude und ihrer im enlhusiasmus des ewigen alles irdisch
vergängliche überschreitenden mystik ligt die einfache, dem naiven
gemüte verständliche volksreligion. diese lehrt Trevrizent, diese
befolgt Parzival. hier ist es die form, wie ein ritter sich das
Christentum vorstellen muss. der riller hat seine aufgäbe in der
weit zu lösen im activen ergreifen der irdischen dinge, wenn
er seine pflicht würklich richtig auffasst, so muss er achtung
haben vor dem diesseitigen leben, seinem tätigkei'sgebiet, sonst
würde er bewust seine lebensarbeit an etwas nichtiges wenden,
woraus etwas moralisch gutes niemals entstehen könnte, das
verdienst Wolframs ist es, für diese praktische religion des rittertums
den erhabenen poetischen ausdruck gefunden zu haben, es aus-
gesprochen zu haben, dass sein stand das recht hat, sich mit
dem diesseits auseinanderzusetzen und das leben lebenswert zu
30*
456 EHRISMANN
linden, mit einem derartig stolzen eintreten für die würde des
laienlums und für die hoheit seiuer irdischen aufgaben ('des
ritterlichen geistes als einer sittlichen lebensmacht' Bülticher
Parzivalüberselzung s. xxxvn, Das hohelied vom rittert. s. 80,
Zs. 45, 151) tritt er allerdings der gesamten theologie seiner zeit
entgegen, das ritterliche standesbewustsein hat sich seine eigene
lebensauffassung geregelt. Martin citiert Parz. n anm. zu 827,
19 — 24 die gleichen äufserungen aus Wirnts Wigalois und aus
Thomasin Wälschem Gast (vgl auch bes. des Sünden widerstreit
436 ff), sie sind die grundlinien der ansieht, welche der ritterstand
sich über seine lebensaufgabe gebildet hat. Gott dienen und
bei den menschen in ehren stehen : man wird das sittliche
empfinden vieler mittelalterlicher dichter auf diese beiden an-
forderungen auslaufen sehen (Swer got unt die werlt kan behalten,
derst ein scelic man. Got nieman des engelten 1dl, ob er der werlde
hulde hat Freid. 31, 18 — 21). aber die rauhe würklichkeit hemmt
die entfallung seiner seelenbildung. deshalb klagt Wallher, dass
es unmöglich sei, daz guot und weltlich e're und goles hulde mere
zesamene in ein herze komen 8, 20 — 22 *.
Wenn man humanus auffasst im sinne des theologischen
humanus, ganz im allgemeinen als 'was den menschen betrifft',
im gegensatz zu divinus 'was Gott betrifft', so kann man, wie
das mehrfach geschehen ist, Wolframs Weltanschauung unter
die bezeichnuug 'humanität' begreifen, indem sie die menschen-
bildung zugleich an sich selbst zum ziel hat und nicht nur in
absehung auf Gott, damit steht im »e^ensatz die in ihrem vollen
inhalt auf Gott gerichtete auffassung des lebens, die ihren
bestimmtesten ausdruck in den regeln des mönchstums gefunden
hat von armut, keuschheit und gehorsam, das ist die askese.
in diesem puncle treten sich die beiden prineipien am schroffsten
gegenüber, dort die armut, hier die prachl des höfischeu lebens,
die selbst in der Gralsburg herscht; dort die geschlechtliche
keuschheil, hier der preis der ehe; dort der gehorsam, hier das
ritterliche herrentum.
1 diese dreileilung stammt aus der lateinischen litteralur. die Moralis
philosophia hat das bonurn, lumestum, niilc aus Ciceros Officien herüber-
genommen (Migne 171, 1051 G). es sind du- iirei ^rofsen guter Piatos;
Weisheit, ehre und geld, nach denen er die menschen einteilt in (pt7.6oo(poiy
(fi/.ött/joi und (fi).o/Q))fxuroi.
ÜBEK WOLFRAMS ETHIK 457
E. G a w a n.
Aber dieses ritterliche hu ma nitätsideal steht auf einsanier
hohe, eine klul't trennt es nach rechts von der kirche, eine
andere nach links von der hütischen gesellschalt, gegenüber
Parzival als Vertreter des höheren rittertums steht Gawan als
Vertreter des niedern (Scherer), sie stellen nicht gegensätze dar,
sondern zwei stufen ein und derselben idee. man miiss sich
hüten, Gawan als minderwertig anzusehen, er ist eine edle
natur mit denselben guten Veranlagungen wie Parzival, nur hat
er sie nicht zu dem sittlichen aufschwung gebracht wie dieser,
denn er war nicht unter den berufenen, fast alle seine lügenden
sind um einen grad geringer als die Parzivals (Seeber Histor.
jahrb. 1, 66—75. 194—200, San Marte Parzival-Studien in 15—
28). er ist rechtgläubig, aber es genügt ihm das äufsere
ceremoniell; er ist treu, aber er huldigt jeder schönen, die ihm
begegnet, denn das verlangt der minnedienst; er ist eiu virtuos
in der irdischen minne, aber die himmlische ist ihm nicht
geoffenbart worden; er ist unverzagt im kämpf, aber von seinem
verlangen nach dem Gral bringt ihn eine liehesaffäre ab; er
besitzt die mäze des gebildeten mannes und weifs seine hallung
zu beherrschen, aber nicht seine sinne, denn er verfällt den
reizungen eines üppigen weibes; er zieht uach Munsalvaesche,
aber er gewinnt Chastel marveü; seine trauer ist nur die trütitia
saeca/aiis, der liebesgram, innere kämpfe um sein Seelenheil hat
er nicht durchgerungen, denn er ist ganz aufs weltliche gerichtet;
er fasst das leben als lebenskunst, für Parzival ist es eiu sittliches
problem.
Aber einen sittlich erzieherischen wert hat die höfische
zuht doch (Scherer, Seeber). das tritt in dem gedieht vielfach
zu tage (bes. 613, 12 — 14). die würkung der höfischen bildung
ist eine Veredelung der weltlichen lebensführung. das rein
irdische ist in eine schöne form gebracht, aber die tugenden,
die dieselbe gestalten, sind auch nur auf das dasein gerichtet,
die göttlichen tugenden, die zum jenseits führen, glaube,
liebe, hoffnung, gehören nicht in den lehrplan dieser
gesellschaft.
So nimmt Wolframs humanität die mitte ein zwischen dem
suprauaturalismus und dem naturalismus. nach drei richtungen
suchen die menschen die glückseligkeit zu erlangen 'im sinnlich-
45S EHRISMANN
irdischen genuss', Mm täligen wellleben', 'im frieden der beschauung'
(Werner Thomas 2, 527). den ersten weg, aber den einer durch
die Mäze verschönerten sinnlichkeil, geht Gawan, den 'sittlichen
eifer des tätigen weltlebens' (Werner s. 528) betätigt Parzival,
in der contemplation verweilt allein, der sich wie Trevrizent ganz
dem dienste gottes weiht.
F. Willehalm'.
Parzival ist der aus dem irrtum zum glauben strebende,
Willchalm der in sich vollendete gläubige mensch, das innere
leben ist dort im werden, hier hat es schon seine bestimmte
ausprägung erlangt, darum sind auch die seelischen probleme
hier einfacher.
Im gründe ist Willehalm der gleiche ethische typus wie Parzival.
beide kämpfen für das höchste ideal, das ist das höchste gut,
der eine für das irdische abbild des himmlischen reiches, der
andere unmittelbar für Gott selbst, beiden leuchtet als zweiter
leitgedanke ihres handelns vor die liebe zum eigenen weibe.
nur bedingt der legendarische Stoff eine gesteigerte religiöse
Stimmung, wodurch der schwerpunet viel mehr nach dem supra-
naturalen verschoben wird; und zugleich gewährt er anderseits
eine neue seile zur entfaltung des humanilätsgedankens, indem
derselbe nun in der form der achtung vor den glaubensfeinden
auftritt, und ebenfalls in dem geistlichen stolT ist es begründet,
dass die dualistische Weltanschauung stark hervortritt, die irdische
und die himmlische liebe, das vergängliche erdenleben und der
ewige lohn, das heidentum mit seiner weltlust und die Christen
mit der sorge um ihr Seelenheil : in stark sich abhebenden färben
ist dieser kämpf widerstreitender ideen entworfen, die aber auch
hier, in dem bilde des beiden und seines weibes, harmonisch
zusammenstimmen in einem durch das himmlisch reine verklärten
menschentum.
Im eingang, 2, 26 — 4, 18, ist ein zusammengefasstes Charakter-
bild des hehlen gegeben, seine tapferkeit ist von gottesfurcht ge-
tragen 3, 1 — 5, mit kiusche und diemuot hat er Gottes hülfe erstritten
4, 4 — 6. aber auch das meuschliche ist ihm nicht fremd : die
minne bereitet ihm herzensnot 3, 7 f, ritterlicher kämpf ist seine
freude 3, 18 — 24, und irdischer rühm und ansehen ist ihm in
1 zum folgenden verweise ich nochmals ausdrücklich auf Vogts ab-
handlung in den Neuen Jahrbüchern 1899, bes. s. 148 IT.
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 459
reichem mafse zu teil geworden 3, 25 — I, 2. in ihm hat Wolfram
den christlichen ritter gezeichnet, wie er ihn sich vorstellte, und
dieses bild trügt die zilge Parzivals und nicht die des wellent-
sagemlen mönchrillers, wie ihn Bernhard vClairvaux verlangt,
die Vermahlung des göttlichen mit dem menschlichen ist auch
hier die centralidee. und so stehu neben vielen rein religiösen
äufserungen Willehalms auch viele dem weltlichen zugewante.
mit der liebe zu gott tritt ihm zugleich die zu seiner Irau ins
bewustseiu : wil miner manheit ruochen der durch uns an dem
kriuze was unt der al sterbende genas, swar Gyburc vert, dar ke'r
ouch ich 224, 14 — 17. alles würde er Terramer zu liebe tun,
nur nicht Gott aufgeben und auf sein klares weih verzichten
466, 11 — 13. am stärksten kommt das natürliche zum ausdruck
in der klage, die er an Gott richtet 456, 9 — 20, und in der
minnescene 279, 1 — 280, 12. und so noch andre rein weltliche
stellen wie der minuedienst um Gyburc 95, 10 — 96, 5; die
hauplsorge sind ihm sein weih und seine mage 162, 24 f, die
minue seines weibes und seiner mage 163, 9f; der selbstruhm
206, 19 — 207, 30; die askese des fastens nimmt er aus treue zu
Gyburc auf sich 176, 10—177, 14. 269, 15 — 19; seine tapferkeit
rettet ihn 226, 7; das glück ist ausschlaggebend 58, 21 — 59, 8.
109, 4. 144, 20 u. anderes.
Gyburc ist die weibliche wendung des nämlichen typus.
auch in ihr vereinigt sich weltliches uud geistliches, höfisch ist
die belehrung ihrer Jungfrauen 2-17, 1 — 248, 8. ihren heidnischen
galten hat sie verlassen durh des hoehsten gotes hulde, ein teil ouch
durh den markis 310, 18 f. in ihrem glaubensgespräch 215, 10 —
221,26 durchschlingt sich die liebe zu Gott mit der zum markgrafen:
Krist und den markgrafen will sie nicht um Mahmel aufgehen
215, 16 f, um den markgrafen und um Gott hat sie ihrem reicht um
entsagt 216, 1 — 3, ihm und der höchsten band dient sie 220, 30;
und selbst wenn die heidengötter mächtiger wären als die Trinitdt,
so würde sie doch in Willehalms geböte bleiben, der ie werden
reiben vor uz ir rehts also verjach, daz man in dienestlichen such
under schiitlichem dache . . . 220, 1 — 10.
Das bekenntnis Gyburcs bildet den miltelpunct der in dem
gedichte niedergelegten Weltanschauung, es ist auch hier das
wahre menschsein, das besteht in der würde vor der weit (220, 21)
und dem glauben an Gott, in der anläge entspricht diese stelle
460 EHBISMANN
dem religionsgespräch zwischen Parzival und Trevrizent, denn es
ist eine disputation zwischen Gyburc und ihrem vater Terramer
und der dogmatische teil ist ebenfalls eine kleine theologische
summe : i 215. 216, 4 — 29 Gott und die Schöpfung, n 218, 3—20
Sündenfall (Sibille und Plato 218, 13), m 218, 21—30 höllenfahrt
und erlösung. der religionsstreit verläuft in der gewöhnlichen
art dieser disputationen zwischen christ und heiden : der heide
bezweifelt die wunder der heilsgeschichte, so Terramer hier die
trinität, die magdgeburt und besonders die möglichkeit der
erlösung durch einen, der selbst gestorben ist.
Dieses gespräch und der eingang sind die hauptsächlichsten
Zeugnisse für den religiösen standpunct, den Wolfram in Willehalm
einnimmt, gegenüber dem einfachen Volksglauben im Parzival
kommt hier viel theologische gelehrsamkeit vor. die einleitung
1, 1 — 2, 22 behandelt das schwierige thema von der trinität:
Gott 1, 3, Christus 1, 28, heiliger geist 2, 20, uud das wesen der
goltheit in den drei hyposlasen : der vater als die macht mit den
eigenschaften dne valsch uud reine 1, 1 (die absolute unveräuder-
lichkeitundeinfachheit, immutabilis und simplex), schöpfer 1,3, ewig
und unendlich 1, 4f 1, 29 — 2, 1, allmächtig 2, 1 — 12, ohne ebenmdz
2, 13 (= immensns? vgl. Baumgartner Die philosophie des Alanus
de Insulis Beitr. z. gesch. d. philosophie d. ma. ii heft 4, 128),
allweise 2, 14 f; der söhn als Weisheit 1, 27 f; der geist als güle.
die gute soll ihm die weisen gedauken zu seinem werke eingeben
2,23 — 27; denn der heilige geist verleiht die Offenbarung der
göttlichen Weisheit wie zb. A. Heinr. 863 (vgl. Schönbach Über
Hartmann s. 75. 78) 1. auch in der haltung der beiden religions-
gespräche ist der unterschied zwischen der mehr volkstümlichen
frömmigkeit im Parzival und der mehr theologisierenden im
Willehalm zu beobachten. Gyburc lehrt Gott als gegenständ der
1 die einleitung des Parzival und die des Willehalm stellen zwei ver-
schiedene typen dar, die eine den weltlichen, die andere den geistlichen
prolog (vgl. Rudolfs Barlaam und weltchronik, Heinrichs vKrolewitz Vater-
unser, Heinrichs vNeustadt Gottes zukunft). die geistlichen prologe enthalten
die anrufung Gottes und bitte um seinen beistand zu der Vollendung des
werkes. zum formelhaften bestand derselben gehört die demütige selbst-
verkleinerung, 2, 19 — 22. der autor setzt seine eigene kraft so viel als
möglich herunter, das sind blos stilistische phrasen (vgl. Zs. f. d. phil. 35>
106). irgend welche schlösse können aus diesen versen , swaz an den
buochen stet geschrieben usw., nicht gezogen werden.
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 461
intellectuellen eikenntnis, indem sie (wie die eiuleiluny) Gott als
die trinität 218, 26 — 29, Golt als altissimus, als den allweisen
künstler und als den allmächtigen 216, 2 — 29 darstellt. Trevrizeot
dagegen sucht stärker auf die empfindung zu wilrken und durch
darlegung der tilgenden Gottes den willen zum guten anzuspornen,
indem er Gott nicht nur als den allmächtigen schöpfer, sondern
als den inhegriff der treue, liebe und gerechligkeit preist.
Den schönsten ausdruck iindet Wolframs humane gesinnung
in seiner beurteilung der beiden, vielleicht die weihevollste
stelle des an religiösem palhos so reichen gedichtes ist Gyburcs
bitte für ihre früheren stammesgenossen 306, 25 — 309, 30. Schönt
der gotes hantgetdt 306, 28 lieht sie, und ebenso Willehalm selbst,
der herrlichste hehl der Christenheit : ez ist gar gotes hantgetdt
450, 15 — 19. und die letzten worte, die Wolfram der nachweit
hinterlassen hat, reden von der nächstenliebe (Scherer Lit. gesch.8
185). als Vermächtnis hat dieser dichter der reinsten mensch-
lichkeit seinem volke die mahnung gegeben : seid barmherzig,
barmherzig auch gegen die, die anders glauben als ihr, denn
auch sie hat Gott geschaffen.
Viel stärker als im Parzival tritt hier die denkform der anti-
theseauf, sogar bis in den einzelnen stilistischen ausdruck. ligt
doch im Hintergrund aller handlung der kämpf des Christentums mit
dem heidentum, und innerhalb des christlichen vorstelluugsgebietes
selbst zieht sich durch der dualismus zwischen sinnenweit und
ideeuwelt. so ist der Stil hier die naturgemäfse formensprache,
der organische ausdruck des gedaukens. irdischer tod, himmlisches
leben, das ist die gewisheit des ritters vom kreuze, als leitmotiv
zieht sich diese formel durch das ganze gedieht, immer widerkehrend,
wenn der miles Christi auftritt : er liez en wdge iewedem tot, der sele
und des libes 3, 4 f, üf erde ein flüsteclicher tac und himels niuwe
sunder glast erschein 14, 8 ff, die viere heten hie den pris und sint
nu dortenpardis 14, 27, deslibes tot, derselevride erwürben Franzoy-
scere dd 32, 6 f., vgl. ferner 16, 23 f. 37, 19 — 21 f. 291. 48,
29 f. 320, 26—30. 322, 3—30. 344, 28—30. 363, 28—30. 420,
15 — 18. 454, 18 — 21. und ebensostehen sich gegenüber die himm-
lische und die irdische liebe: durh der zweir slahte minne, Uf erde
hie durh wibe lön und ze himel durh der engel dön 16, 30 — 17, 2,
vgl. auch 299 26. 303, 8-13. 371, 21 f. 381, 21—30. 400, 1—7.
Die beiden kämpfen zwar auch für ihre götter, aber diese
462 EHRISMANN
gewähren ihnen keine innere Stärkung und keinen ewigen lohn.
so sind sie völlig diener der weit, sie sind gezeichnet als höfische
ritter mit deren glänzenden tilgenden (manheit, triuwe, mute, stcele
462, 2 — 7, miltekeit, eilen, manlich güete 368, 17 — 19). sie sind
vollendete cavaliere. ihr denken ist heherscht von der irdischen
minne, minnedienst ist ihre losung. lrauenminne hält Terramer
seinen zehn söhnen als lohn vor, als er sie in die schlachl sendet:
wibe süeze, [und] ir minneclicher schin sol iuch hiute leren iwern
pris bi vinden meren 346, 4—6, ferner 346, 161. 347, 14 f. 348,
12—14. 349, 1—6.
Aber wie herrlich auch dem gottesslreiter der siegeslohn
ausgemalt wird, die Stimmung, die über dem gedichte ligt,
ist nicht siegesfreudig, vielmehr ist das gauze eine ungeheure
klage über den riesenkampf, der den gläubigen gegen den Unglauben
auferlegt ist. mit klage bezeichnet Wolfram selbst den inhalt
seines werkes 4, 26. mit unnennbaren leiden muss die verwürk-
lichung des reiches Gottes auf erden erkämpft werden, und so
ist die ganze lebensaufgabe Willehalms und Gyburgs ein kämpf
und eine sorge, und die ruhepuncte dazwischen sind nur da,
damit sie wider kräfte schöpfen könuen zu neuen kämpfen, ihr
leben ist ein abbild des menschlichen seins überhaupt : nach
trurn sol freude etswenne komn. so hat diu freude an sich genomn
einen vil bekamen site, der man und wiben volget mite: wan
jdmr ist unser urhap, mit jdmer kom wir in daz
grap. ine weiz wie Jenez leben erget : alsus diss lebens
orden stet, die ganze stelle 280, 13 — 281, 16 spricht des
alternden dichters meinung aus von der bedeutung des mensch-
lichen daseins und vom werte des lebens. und er kommt zu
dem Schlüsse, wenn es köstlich gewesen, so ist es mühe und
arbeit gewesen:^ sol diu manlich arbeit werben liepunde
leit 281, 7 f. so stehn die beiden Seelenverfassungen, zwischen
denen unser leben hin und heischwankt, liep und leit, unter der
höhern einheit, dem mannhaften ringen, die streitenden gegen'
Sätze sind bezwungen durch die sittliche kraft.
Der Willehalm ist, wie der Parzival, eine kundgebung für
das unverzagte streben nach dem höchsten ziele.
G. Titurel.
Scherer hat in seiner litteralurgeschichte die ethische bedeu-
tung von Wolframs Titurel in die richtige beurleiluug gerückt.
ttBLR WOLFRAMS ETHIK 463
das gedieht ist eiu protest gegen die höfischen schicklichkeits-
ideale. auch Schionatulander ist ein tapferer ritter ohne furcht
und tadel, auch er ist durchglüht von einem hohen ideal, von
der niinne zu einer reinen Jungfrau, aber es ist die rein welt-
liche minne, dazu noch gekleidet in eine äufserlich conventionelle
form, in die Standesmode des minnedienstes. das ist nicht ein
ziel, welches das streben des mannes ausfüllen kann, während
Parzival um den (iral ringt und Willehalm um den glauben, jagt
Schionatulander einem hundehalshand nach, damit ist die sittliche
würde des rittertums zur Spielerei geworden.
Die einseitige eullivierung des weltsinnes, zu der die Über-
treibung der höfischen ideale, des heldenlums und der frauen-
verehrung, führt, entspricht Wolframs lebensanschauung, (\er
humanilät, ebenso wenig wie der asketismus, der jene vollständig
negiert, die ihuen im übermafs huldigen, übertreten das natür-
liche vernunftgesetz und gehn daran unter, so Schionatulander,
Anfortas, Gahmuret, Isenhart, Cidegast und die söhne des Gurne-
manz, diese als warnende beispiele für die bedenkliche lehre ihres
vaters. aber auch die frauen ziehen sie mit ins Unglück, Sigune,
Belakane, Herzeloyde, Orgeluse. die meisten allerdings nicht ohne
ihre eigene schuld, denn sie tragen die Verantwortung für den
tod ihrer amise. es haftet ihnen noch etwas von ihrer ursprüng-
ichen feennatur an, die beiden durch liebe ins verderben zu
locken.
Der Titurel ist eine Zurückweisung der ausartungen des
höfischen bildungsideals.
Schluss.
Mit dem unverzagten maunesmut hat Wolfram den willen
zum handeln — nicht den willen zum leiden, wie ihn die askese
verlangt — in den millelpunct seines ethischen Systems gestellt.
Das gegenteil ist die willenlosigkeit, die aeidia, die in
der kirchlichen morallehre der fortüudo gegenübersteht, das sind
begriffe, die zu den allgemein und überall geltenden prineipien
der ethik gehören, denn sie sind die naturgemäfs vorhandenen
möglichkeiten des willenslebens, die positive und die negative
seite, die bejabung und die Verneinung des willens, und so stellt
auch das sittliche empfinden des rittertums den preis der tätigen
arbeit der Verachtung des sichverliegens gegenüber, zb. Thomasin
im WGast: gedenket, ritr, an iuteem orden: zwiu sit ir ze riler
464 EHRISMANN
worden ? durch släfen , weizgot ir ensit. dd von daz ein man
gerne Ht, sol er dar umbe riter icesen? 7769 — 7.3, Swer wil riters
ambet phlegen, der imioz mere arbeit legen an sine vuor dan ezzen
icol usw. 77S5 — 6'7, Wil ein riter phlegen wol des er von rehte
phlegen sol, so sol er tac unde naht arbeiten nach siner mäht durch
kirchen und durch arme Hute 7S01 — 5; Winsbeke: Sun, wil dir
lieben guot gemach, so muost du eren dich bewegen . . . waz touc
ein junger lip verlegen der ungemach niht liden kan noch sinne-
clich nach eren siegen! . . . Sun, wizzest daz Verlegenheit ist gar
dem jungen manne ein slac. ez st dir offenlich geseit daz niemen
e're haben mac noch herzeliebe sunder klac gar dne kumber unde
an not 42, 1—43, 6.
Chreslien hat in seinem Erec und seinem Yvain diesen gegen-
satz zum augelpunct der handlung gemacht, er hat das schlichte
märchenmotiv vom Wahnsinn Cuchulinns erhoben zu dem sittlichen
problem von der Willenskraft und der Willensschwäche, sein
Yvain ist eine primitivere form Parzivals, gleichsam ein weniger
idealisiertes porträt. wegen eines unbedeutenden vergebens, einer
folge ungezügelten taligkeitsdrangs , der aber widerum doch nur
ein mangel an Selbstbeherrschung, also an Willenskraft, ist, ver-
flucht und aus dem kreis der edeln ausgestofsen, erkämpft er,
getragen von der treuen liebe zu seinem weibe durch unverzagten
mut im dienste der nächstenliebe sein verlorenes glück zurück,
wie Parzival nach dem gleichen Schicksal durch dieselbe tugend
den einmal verscherzten Gral erringt. Chrestiens natur ist durch-
aus aufs ethische gerichtet, darum sind sein Erec, Yvain, Perce-
val wahrhaft symbolische dichtungen. die handlung ist getragen
von einer sittlichen idee, die ihr erst volles leben verleiht, er
zeigt im bilde, wie die menschen durch schwäche auf abwege
geraten und wie sie sich, nachdem sie ihren fehler erkannt, durch
den willen zum guten wider herausarbeiten, eine sittliche mahnung
steht überall im hintergrund. die gröfse Wolframs besteht darin,
dass er die andeutenden striche — denn nur zu solchen ist
Chrestien in der symbolisierung seines Perceval gelangt —
zu dem sittlichen idealbild des rittertums ausgestaltet hat1.
* dass auch Wolfram in der tat und nicht ein anderer dichter, etwa
sein Kyot, der urheber des bestimmten ethischen colorits im Parzival ist,
das wird für jeden, der von der beobachtung des ethischen gehalts ausgeht,
sicher sein müssen, vgl. be9. Vogt aao.
ÜBER WOLFRAMS ETHIK 465
Im kämpf gegen die acidia bewährt sich die sittliche
natur des menschen, sie ist das stärkste hemmnis des mensch-
lichen glückseligkeitstriebes. in allen Zeiten, wenn neben die
naive knnst die sentimentalische tritt, wird die tristitia, die
melancholia, und ihre Folgeerscheinung, die acidia, die
Schwachheit des willens (Werner Thomas u 493), als grofses
menschliches leiden verkündigt werden, mit der erweiterung der
weit durch die widererstehung des classischen altertums ist sie in
einer neuen erscheinung aufgetreten, als weitschmerz, und in dieser
krankheiisform zuerst erkannt worden von Petrarca (Voigt Wider-
erweckung des klass. altertums1 s. 86, Körting Petrarcas leben und
werke s. 636). im gründe ist diese abart der tristitia wol nichts
anderes als die weltverneinung des Christentums, nur ihres spe-
cifisch religiösen gehaltes entkleidet, der mönch sieht die weit an
als slraiwürdige entarlung der goltheit, doch diesem Jammer kann
man entrinnen, indem man sich ins überirdische flüchtet, wer aber
nicht aufgeht im glauben, der empfindet das leid, mensch sein zu
müssen, unmittelbar, immer und überall, und dieses ist hoffnungslos.
In der leidenschaftlichen geisleserregung der renaissance, wo
alle fähigkeilen des innern aufs höchste gespannt waren, muste
den menschen das gefühl vom Wechsel der krall und unkraft stetig
vors bewustsein treten. Dürer hat die beiden seelenverfassungen
dargestellt im heil. Ilieronymus und in der Melancholia. es ist
der friede, zu dem die rastlose arbeit denjenigen führt, der die
kraft hat, auszudauern, die traurigkeit, die das ziel nicht erreicht,
da sie an der eigenen kraft verzweifelt.
die beiden gegensätze gehören der weltlitteratur an. im Hamlet
ist das problem behandelt, wie bei hohem intellect aber unfähigem
willen der mensch, vor eine wichtige enlscheidung gestellt, zu
gründe geht.' die acidia ist Hamlets kraukheit (vgl. Loening
Die Hamlet-lragödie s. 149 ff). Parzival aber, wie schon oft aus-
gesprochen worden, ist Faust. Wolfram von Eschenbach und
Goethe zeigen, dass der zweck des menschlichen daseins ist, mit
starkem willen nach hohem ziele strebend yrofse pflichten zu
erfüllen, sie stimmen überein, wenn sie sagen, jeder iu seiner
weise, 'wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen',
oder 'sorge et umb din ende, daz dir din arbeit hie erhol daz
dort diu se'le ruowe dol', und 'belip des willen unverzagt'.
Heidelberg. GUSTAV EHRlS.VlAMN,
AROLSER BRUCHSTUCK DES WILLEHALM.
Vor jähren hat mir freund Könnecke in Marburg ein paar
fragmente alldeutscher dichlungen vorgelegt, auf die er beim ordnen
wal deckischer archivalien gestojsen war (vgl. oben s. 1 59J und deren
Zugehörigkeit seinem kundigen blicke nicht verborgen bleiben konnte,
das kleine Willehalm-bruchstück, mit dem ich dieses blatt fälle, hat
zu einer pergamenlhs. des 14 jh.s gehört und später bei acten-
umschlägen des klosters Berich — an der Eder oberhalb Waldeck —
Verwendung gefunden, es handelt sich um einen ungleichmäfsig
beschnittenen streifen von ca 145 mm. höhe und ca 54 mm. breite,
der in der mitte halbiert worden ist : der schnitt geht durch 89, 27
und 90, 29. dieser streifen ist die obere hälfte eines langsstreifens
vom dufseren blattrande, welcher leider die verszeilen nicht voll-
ständig überliefert, das erhaltene stück bietet 2 1 Zeilen ; da zwischen
vorder- und rückseite 1 1 Zeilen fehlen, umfasste die spalte 32 Zeilen ;
der beschriebeiie räum war etwa 186 mm. hoch, die höhe des ganzen
Mattes lässt sich auf 230 — 240 mm. berechnen; damit ist drei-
spaltigkeit ausgeschlossen, es war eine zweispaltige hs. von etwa
160 — 170 mm. blaltbreile. diesem bescheidenen format entspricht
die schlichte erscheinung der hs. es findet keinerlei rubrum an-
wendung; die geraden Zeilen sind eingerückt, die ungeraden durch
majuskel markiert; linien sind vorgezogen.
Das fragment bietet einige lesarten, die in Lachmanns apparat
ganz fehlen : 89,28 werlich; 90, 1.2 Umstellung von sprach;
90,28 also vaste; merkwürdig 91, 1 Siben olpeuden; 91,9
forchteüs; sonst scheint es sich am nächsten zu p zu stellen, mit
dem es die sämtlichen übrigen Varianten (89, 25. 90, 27. 29. 91,
10) gemein hat.
Das erhaltene ist überall leserlich; sichere aber ergänzte buch-
staben hab ich unten in cursiv widergegeben.
Göttingen. E. SCHRÖDER.
89
Vorderseite
wen fireit
90
rückseite
20
ob ir hell hi
SCHRÖDER W1LLEHALM-BRUCHSTÜCK
467
ich tlaz werte
25 lue fo nahen
ii vorfinahen
mins rittet fchaft
erlich kraft
n den kapelan 91
as kein auds man
90 prach zur kvnigin
ch laz mich in
oft ilen du wol kanft
rfv mich vreuden manft
och zu vil gefent
5 n des nicht gewent
aleine
nem fteine
ket werden
Tfchoyse des e.
Da wart gehvrt . .
vn alfo vafle . .
Swen er erreich .
30 die heiden fl\/t .
Siben olpendni . .
da hüben gela . .
Mit wine vn mit .
ds margrave xo .
5 Arofels wapen d .
wan des kraft .
Vber alle ds beide ,
daz in keiner c
Sie forchtens daz .
lo vn erfchrachen
Daz fie inn gewi .
PARZIVAL 399, 1.
Nu boert von äventiure sagen
und helfet mir darunder klagen
Gävväns grözen kumber.
min wiser und min tumber
die tuon'z durch ir gesellekeit
und läzen in mit mir leit.
Den vierten vers erklärt Bartsch : 'mein alter und mein
junger zuhörer (in collectivem sinne)', ähnlich Martin: 'alt und
jung unter meinen Zuhörern (alle zusammen)', der sinn ist
vielmehr : 'alle, mögen sie weiser oder törichter sein als ich';
vgl. Notker Boetb. 201 a min wisero 'sapientior rae' und andere
beispiele, die Gr. iv2 886 angeführt werden, ebenso im Alexander-
lied Lamprechts (V) 1406 daz er für sinen ärgeren vellet, dass
er (der übermütige) vor einem geringeren zu falle kommt, zu
dieser stelle bemerkt Zacber in der anm. zu Kinzels ausgäbe:
'sinen ärgeren ist construiert nach analogie von sinen genözen,
geliehen', ich nehme vielmehr an, dass das pron. poss. für den
alten, von einem comparativ abhängigen dativ eingetreten ist. —
in dem letzten verse: 'sie mögen es sich mit mir leid sein lassen',
468 WILMANNS PARZ. 399, 1 — ZUM ALEXAINDERLIED
ist Idzen mit prädicativem accusativ verbunden l. der infinitiv
'sein' war der älteren spracbe nicht nötig. 0. m 24, 21 ni Idz
thir iz ser. i 19, 7 ni Idz iz untarmuari ua. Gr. iv 133. 626 a.2.
Mhd. wb. i 945 a. ebenso Alex. 3006 ich wil dir Idzen schin,
was Zacher aus analogie von schin luon erklären will.
1 dass Wolfram bei Idzen den infinitiv fehlen lasse, hat Bock Beitr.
11, 184 f bestritten, und Leilzmann in seiner ausgäbe ist ihm gefolgt. Martin
hat mit recht an Lachmanns text festgehalten : i s. xvii und anm. zu Parz.
24, 18.
Bonn a. Rh. W. WILMANNS.
ZUM ALEXANDERLIED.
V v. 1401 ff
Und dö man Dario diz gesagete
niuht sere er ne chlagete.
Er tete, also der stolze man tut etc.
iedoch so swür er ain teil.
er sprach, so hülfe im sines riches heil,
iz ne solle niemer vierzehen naht entgän,
er solte Alexander uf einen poum hähen.
Die vvorte so swür er ain teil erklärt Zacher (bei Kinzel):
'•ein teil verstärkend : obschon er sich hätte vorsehen sollen,
schwur er dennoch ganz entschieden.' wenig befriedigend, ich
nehme swur als präd. von swern = swar (vgl. Pass. K. 454, 17):
'er empfand einigermafsen schmerz', die worte stehen in gegen-
satz zu v. 1402 niuht sere er ne chlagete.
V v. 1421 1
unt chömen mit so frumen chnehten,
die wol getorslen vebten,
mit allen ir menegen
in daz feit Mesopotamiam.
Die Strafsb. bs. hat den singular mit aller ir manie (: Meso-
potamie); aber der plural wird richtig sein; vgl. ahd. managi
phalanges, agmina, turbae.
Bonn a. Rh. W. WILMANNS.
NANNENSTOL UND BRUNHILDENSTUHL.
Spärlich wie die Zeugnisse für uosre deutsche mytliologie
sind, gewinnt ein jeder beleg, der einen weitergehenden rück-
schluss gestattet, ein besonderes inleresse. hierzu möcht ich
den Nannensluhl rechnen, der in der Schenkungsurkunde Karls
des Grofsen vom jähre 774 an das von Fulrad (von Saint-Denis)
im Elsass gegründete kloster Leberau erwähnt wird.1 Fulrad war
in dieser gegend selbst begütert und wird ihr wol entstammen,
da die neuerdings mehrfach behandeile Urkunde2 in zwei original-
ausstellungen3 vorligt, ist die Überlieferung aufs beste gesichert,
sie betrifft die alte mark Königsheim (Quuningishaim, heute Kins-
heim), von der auch die Hohkönigsburg ihren namen hat, aus der
ein grofser walddistrict für das kloster ausgesondert werden soll,
das gebiet befindet sich um Leberau herum zu beiden Seiten der
Leber, die hier noch Laimaha beifst, auf der grenze des heutigen
Ober- und Unter-Elsass. von den angeführten Ortsnamen sind leider
wenige erhalten, sodass die bcstimmung derselben gröfsere Schwierig-
keiten bietet und wir den ganzen verlauf der grenzumschreihung um
so mehr ins äuge fassen müssen, als dieselbe auch ein allgemeineres
und methodisches interesse gewinnt. Rubel hat in seinem buch
über die Franken für die fränkischen abmarkungen eine art
idealtypus aufgestellt, und Wiegand ist ihm für unsere gegend
gefolgt, doch glaub ich, dass die Verhältnisse eher dagegen als
dafür zu sprechen geeignet sind, die stelle der Urkunde lautet:
Silva ex foreste nostra . . de una parte Laimaha, ubi dicitur
Bobolinocella, et inde primitis, ubi Aelsinisbach venu in Laima;
inde vero per Aelsinisbach, ubi ipse surgit, inde eliam Nannen-
stol, deinde autem de monte usque ad Rnmbach, deinde Thidinis-
berch, deinde in alia Rnmbach, deinde in Bureberch, exinde in tertia
Rnmbach, deinde autem pergit in Achinisragni, inde in fersta per
ducias et confinia, inde per Laimaha fluvio in valle de ambas ripas
1 MGH. Die Urkunden der Karolinger i (1906) nr 84. s. 120f.
a Degermann La donation de Charlemagne usw. in den miüeilungen
der gesellschaft für die erhaltung der geschichtlichen denkmäler im Elsass
15 (1892) s. 301 ff., zuletzt besonders von Wiegand in der Zeitschrift für die
geschichte des Oberrheins 20 (1905) s. 523 IT.
3 das diploni Lothars i v.j. 854, wonach Förstemann die namen ci-
tiert; ist nur eine bestätigung der Schenkung Karls d. Grofsen.
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. 31
470 HENNING
per marca Garmaringa et Otolinga [Odeldinga B] usque Deophan-
pol et inde per Laimaha fluvio de alia ripa, usque ubi Audenbach
in Laimaha conflntt, et pergit per ipso fluviolo usque radices Stophan-
berch per valle sub inlegritale ipsius monte usque in Stagnbach,
inde per Riuadmarca Odeldinga et Garmaringa et inde per con-
finia usque in Deophanpol.
Die ersten gesicherten namen * sind aufser der Laimaha die
drei Rumbachorte, heute Deutsch-, Grofs- und Klein-Rumbach,
drei kleine gebirgstäler nördlich der Leber von Leberau bis
SBlasien, die heute noch nicht viel mehr als einzelne fermen
enthalten, im norden der Leber beginnt also die von osten nach
westen fortschreitende Umgrenzung, und der Nannenslöl, der nur
hier erwähnt wird, ist ein berg vor dem ersten Rumbach, der
anschluss nach osten bleibt unsicher, so dass wir zunächst dem
westlichen verlaufe nachgehen müssen.
Auf den letzten Rumbach, der bei SBlasien in die Leber
mündet, folgt in Achinisragni. da das ch durchaus für den con-
sonautumlaut (gj, später ck) stehn kann2, so ist der angenommene
Zusammenhang des ersten compositionsgliedes mit dem im Leber-
tal mehrfach vorkommenden Ortsnamen Eckerich3 wol möglich,
der Achinisrain ist heute nicht mehr nachweisbar, aber weit
von dem letzten Rumbach kann er nicht gelegen haben, vielleicht
darf man an den SBlasienrain jenseits der Leber, zwischen der
Leber und dem von Süden herkommenden SBlasienbach erinnern,
der früher Isenbach hiefs (Das reichsland Elsass - Lothringen
m s. 563, 14) und zum Isenrain am Tänchel emporführt.
Vom Achinisrain lässt Wiegand die grenze einen weiten
bogen im norden und westen der Leber um die Leberquelle
und Markirch herum beschreiben, bis etwa in die gegend zurück,
wo wir den Achinisrain suchen, den ersten grofsen abschnitt
fiudet er in der 'fersta' wider, die er mit den Vogesenkämmen
im norden und westen der Leber identificiert. dass eine so weite
strecke nur 'per ducias et confinia' gekennzeichnet wurde, ist
1 am bequemsten für die Orientierung ist die karte der Vogesen im
mafsstabe von 1:50 000, herausgeg. vom Vogesenclub, blatt xiii (1907)
und xiv (1901).
2 Socin Strafsburger Studien 1, 235 ff aus den WeiCsenburger Urkunden.
3 Das reichsland Elsass Lothringen in (1901 ff) s. 244 verzeichnet
vier stellen.
NANNENSTOL UND BRUNMILDENSTUUL 471
befremdlich, wenn so ausgedehnte confinia beslandeu, würde
man einige bestimmtere Bezeichnungen erwarten, denn dass es
im obern Lebertale an Damen nicht gefehlt hat, kann gerade
unsere Urkunde lehren, die annähme, dass die grenzen hier
noch unreguliert geblieben, ist wol durch die Rübelschen Vor-
stellungen bedingt und lässt sich durch nichts erweisen, ich
meine, dass dies ganze ausgedehnte gebiet, das, so viel wir
wissen, niemals zu Leberau gehörte, aufserhalb der karolingischen
Schenkung fallt, was um so glaubhafter erscheint, als das kloster
immer klein und unbedeutend geblieben ist.
Die fersta wird schon an dieser stelle nichts anderes als der
im mittelalter technisch die virst oder das gefürste bezeichnete
waldgebiet im Süden der Leber bis zum Tänchel hin sein1,
es ist dies im wesentlichen der sogenannte 'Hinterwald', der zum
Hury und Rammelstein (Reinollesstein oder 'Höhe') emporführt, im
westen vom Isenbach, heute SBlasienbach, im osten vom Bollen-,
heute Mollenbach begrenzt, der südrand desselben bildet noch heute
die südgrenze der gemeinde Leberau. wenn dies gebiet schon
in alter zeit 'die First' hiefs, was durchaus wahrscheinlich ist,
begreift sich bei dem beschränkteren complex das fehlen aller
näheren angaben, der blofse hinweis 'per ducias et confinia'
konnte genügen.
Auch im weiteren verlaufe scheint mir der schon von
Degermaun beobachtete Zusammenhang zwischen der karolingischen
und den mittelalterlichen grenzbeschreibungen rückschlüsse zu
gestatten, ich stelle beide fassungeu gegenüber, indem ich aus
dem mittelaller das von Grimm v 390 ff. (vgl. iv 249) abgedruckte
lateinische weistum zu gründe lege, das den deutschen sprach-
formen nach wol noch dem 13 oder 14 jh. angehören kann und
wol das original der von Wiegaud (s. 546) herangezogenen Urkunde
v. j. 1435 ist. wo es sich heute befindet weifs ich nicht, viel-
leicht im archiv von SGeorge in Nancy.
Urkunde von 774. Weistum.
unum nemus quod vulgo nuncu-
inde in fersta patur das gefürste (vgl. §4 mitten
üf die virst),
1 Degermann s. 314, W'iegand s. 54(J. Das reichsland m 436 und die
31*
gleichanzuführenden stellen.
472 HENNING
(dasweistum beginnt auf der iirst
per ducias et confinia. selbst:) et illud incipit in Longo
monte] et trahü ultra ripam
que vulgo dicitur der Bollenbach.
inde per Laimaha fluvio et trahit in mediam ripam Lebrahe,
in val/e per ambas ripas
[per marca Garmaringa et Otol-
inga usque Deophanpol]
et inde per Laimaha fluvio de et trahit de predicta ripa Lebrahe
alia ripa
usque tibi Audenbach in Laimaha usqne ad ripam Saherbach,
confluit,
et pergit per ipso ßuviolo usque et trahit de ripa Saharbach sur-
radices Stophanberch sum penes montem Küngesperg,
per volle sub integritate ipsius retro Küngesperg lendendo
monte
usque in Stagnbach in ripam lapidis, vulgo dicendo
in den Steinbach
Wir haben also, wenn wir rückwärts gehen, Stagnbach = Stein-
bach, Stophanberch = Küngesperg, Audenbach = Saherbach, Laim-
aha = Lebrahe, den ambae ripae entspricht nur die eine südliche
ripa} fersta = gefürste oder die virst. sehr merkwürdig ist, dass
die grenze von der First an die Leber zurück geht, dann ein
stück an der Leber entlang und wider zurück zur Hohkönigsburg.
ein gröfseres stück im Süden der Leber, nach den mittelalter-
lichen weistümern zwischen Bollenbach (== Audenbach) und Sar-
bach, ist also nicht in die Schenkung einbegriffen, offenbar weil
es bereits in anderen händen war. nach den weistümern würde
man zunächst an Bergheim denken, eine sehr alte Ortschaft,
die schon aus der römischen zeit eine villa mit mosaikfufsboden
geliefert hat, und die wol ebenso wie dies schon früh mit SPilt und
Rappoltsweiler der fall war, über den berg bis an die Leber hinüber
gegriffen haben wird, die besitzverhähuisse waren hier sicherlich
schon in der vorfränkischen alemannischen zeit fest gelegt und
1 dieser Langenberg kann nicht, wie man gewöhnlich annimmt, der
Langenberg oberhalb SPilt ein, sondern muss, wie auch andere grenzangaben
lehren, auf der entgegengesetzten bergseile gesucht werden.
NANNENSTOL UND BRUNHILDENSTUIIL 473
die Ortschaften aus der ebene (bis Gemar hin) mit ihrem besitz
über den berg ins Leberlal vorgedrungen.
Entgegen der ansieht von Wiegand und Mühlbacher (VViegand
s. 547) möcht ich weiter annehmen, dass die Hohkönigsburg
nicht mit in die Schenkung einbegrill'en war. mag die Formel
'sub integritate' auch seilen sein, die natürliche auffassung der
stelle bleibt doch, dass der berg selbst von dem grenzzuge nicht
tangiert wurde, dies erweist nicht nur das 'usque radices' und
'per valle', sondern bestätigen auch die weistümer mit ihren penes
montem Küngesperch, retro Küngesperg v 390, hinder Kungesberch
herusz s. 393 , jusque vis d vis de Königspurch , au dessoub de
Königsbourg en avant . . iv 249. der Königsberg ist eben beim
Königsheim (Kinsheim) verblieben, auch die notiz Odos von Deuil
(Wiegand s. 535) scheint mir nichts über einen ursprünglichen
besitz von Leberau auszusagen.
Es fehlt noch der grenzzug vom Stöphanberg (dem alten
namen der Hohkönigsburg)1 und Stainbach zurück zum Deophan-
pol im Lebertal. Wiegand hat ihn offen gelassen und meint, dass
schon Fulrad sich hier freie band behalten wollte, doch ist dies nur
ein notbehelf. vielleicht ist die lösung der frage noch möglich,
zunächst ist gar nicht daran zu denken, dass die grenze in der
ebene in weitem bogen um Kinsheim und Kestenholz herum ins
Lebertal zurücklief, andrerseits ist aber nach der Urkunde nicht zu
bezweifeln, dass von der ebene her auch Gemar im Lebertal schon
nahe bei Leberau boden gefasst hatte (s. o. per marca Garmaringa),
wenn auch nicht so weit am oberlaufe, wie VViegand annimmt,
aufser den Garmaringa blieben somit nur noch die Odel(d)inga
und die Riuadmarca zu bestimmen, nun haben wir im norden der
Künigsburg den niedrigen Grofs-Edelberg uud dasGrofs-Edelbächel,
das mit dem Kaltenbrunnen zusammen bei bahnhof Wanzel in die
Leber mündet, 'edel' (zu ahd. adal 'geschlecht') und ödal 'stammgut'
sind aufs nächste verwante worte, die um so leichter zusammenfallen)
konnten, alsahd.örfa/, nodal im mittelhochdeutschen als selbständiges-
wort bereits untergegangen ist. bliebe nur noch die Riuadmarca.
ich habe früher (bei Wiegand s. 547) an eine verschreibung für
1 also nicht = mhd. Stoufenberg , sondern = mhd. Stuofenberg, zu
alid. sluopha = uuejidelslein (Ahd. Gl. n 610) gehörig, wenn nicht noch eine
beziehung zu der alten (ostar) slopha = vectigal (RA4 s. 414) vorligt, woran
man wider den Zollern (Hohenzollern) angliedern könnte.
474 HENNING
Riud- 'Ried-' gedacht, was zu der localilät wenig passt. nun
ligt aber zwischen Steinbach und dem Grofsedelberg Ober-Ribbach
und das Ribbachtal, dessen ältere namensform nicht überliefert
ist. jedesfalls ligt die combination zwischen Riuad- und Rib-bach
nahe und lässt sich sprachlich auch vermitteln, wenn kein deut-
sches, sondern ein romanisches wort zu gründe ligt, was an dieser
stelle wol möglich ist. Rib- kann = lat. ripa, rom. riva, rive 'ufer'
sein und ebenso Rivad- = spätlat. rivaticus, franz. rivage, so dass
Rivad- genau dem lat. rivat- entspricht, und keinerlei verschrei-
buug zu statuieren ist. rivaticus halte aber nicht den engen sinn
von 'ufer', sondern ebenso wie riviere (riparia) den weiteren von
wald oder gelände bei einem fluss oder bache, also denjenigen des
deutschen 'raiu'. dies passt für die ganze bach- und quellenreiche
gegend aufs beste, zwischen bahnhof Wanzel und dem Grofsedel-
berg ligt ein Danielsrain, und 'rain' gehört in dieser gegend zu den
üblichsten beneunungen. zweifelhaft aber ist, ob Rivad-marca ein
besonderer ortsname oder, was mir wahrscheinlicher vorkommt, die
marca rivatica, die 'ufer-' oder 'rainmark' der Odel(d)inga und
Garmaringa bezeichnet, jedesfalls ging hier der grenzlauf von
der Künigsburg zur Leber zurück uud der Deophanpol muss
etwas oberhalb dieser stelle gelegen haben.
Das bild das wir so erhallen, lässt freilich keine anlehnung
an Rübeis Vorstellungen von der fränkischen abmarkung zu. selbst
in diesem einsamen Vogesental waren die besitzverhältnisse schon
zu alt und zu gefestigt, als dass eine so ideale construclion möglich
gewesen wäre, das gebiet, das von dem karolingischen Königsheim
abgetrennt wurde, bestand nicht aus einem, sondern aus zwei
oder drei complexen : den Rumbachtälern, dem gegenüberliegenden
Gefirste und dem waldgebiete am nordabhange und in der nähe
der Hohkönigsburg. zwischen hinein griff von verschiedenen
Seiten her fremdes terrain. im norden der Leber kann aufser
den Rumbachtälern nur noch wenig gelände mit einbegriffen
gewesen sein, dazu aber gehört der Nannenstöl.
Die Robolini cella, womit die abmarkung beginnt, muss noch
westlich vom Saarbach und Deophanpol gesucht werden, etwa bei
Bois l'Abbesse (Bois-Ia-Bosse, Rois l'Abbaise) und der Aetsinisbach,
der von dort zum Naunenstuhl emporführt, schon ganz in der
nähe von Leberau. er ist also wol einer der beiden nach dem orte
Wanzel führenden bäche, vielleicht die Wanzel selbst, die hier eine
INANNEISSTOL UND BRUNHILDENSTUIIL 475
kleine strecke die grenze zwischen dem Ober- und dem Uuterelsass
bildet, zwischen der quelle des baches und dem ersten Rumbach
lag der Nannenstöl, der nunmehr zu bestimmen ist.
Fassen wir die gesamiverhiillnisse ins äuge, so erhebt siel)
zwischen dem Leber- und dem nördlich davon gelegenen Weilertal ein
bergplateau, das im westen bei den lUimbachtälern seine basis,
im osten, wo die flüsse zusammentreffen , seine spitze hat. auf
der durch eine einsattelung abgetrennten östlichen spitze ligt die
von resten einer heidenmauer umzogene Frankenburg, die älteste
ruine des Elsasses, aber schon aufserhalb des bereiches der
karolingischen Schenkung, die herrschaft Frankenburg hat niemals
zu Leberau gehört, hängt mit dem Weilertal zusammen und wird
heute noch das 'Grither schloss' genannt, von Gereut oder Kreut
am uordfufse des berges, wo im kriege die multergotteser-
scheinungen stattfanden, das eigentliche grofse plateau nach
Leberau zu ist der Altenberg (oder Jungwald), dessen steile
abfalle eine natürliche feste bilden, auf der man noch die reste
eines schlackenwalles beobachten will, er hat mehrere vorsprünge
oder felsgruppeu, für welche die bezeichnung 'stuhl' gut passen
würde, zunächst den die Frankenburg noch überragenden Kukuks-
felsen mit prächtiger rundsicht. aber er ligt zu weit ab von
Rumbach, so dass der lauf der grenze über den ganzen berg
hin offen bliebe. noch weniger kommt der Hexenfelsen in
betracht, so verführerisch der uame erscheinen mag. die groteske
felsbildung desselben ligt schon ganz nach der seite des Weiler-
tales hin und wird vom Rumbachtal durch einen weiteren einschnitt
und eine neue erhebung getrennt, so dass die bezeichnung 'de
moute' kaum noch passt. er ist auch kein eigentlicher mons, der als
solcher wie die andern von weitem ins äuge fällt, sondern ganz in
bäumen versteckt und von einem entsprechenden bache zu weit
entfernt, es kann, wie mir scheint, einzig und allein der Leberau
im nordosten unmittelbar überragende Chalmont gemeint sein,
der zwischen die Wanzelquelle und Deutsch-Fumbach, also
grade an der gesuchten stelle, sich einschiebt, mit dem Alten-
berg hängt er durch einen langen schmalen rücken zusammen,
der von hohem laubwald bestanden ist. tritt man aber au seinem
ende plötzlich ins freie, so wird man durch eine mächtige fels-
bildung und einen herrlichen ausblick aufs höchste überrascht,
der 703 m hohe fels, der oben eine breite, teilweise wie zum
476
HENNING
sitzen gebildete fläche hat, fällt eine ziemliche strecke jäh nach
unten ab. der blick schweift über das davorliegende Lebertal
nach osten in die ebene hinaus über Schlettstadt fort bis zum
Schwarzwald hin, im westen, mit dem Rumbachtal unmittelbar zur
seite, bis zum kämm der Vogesen, im Süden zu den höhen des
Bressoir, den man auf dem bilde sieht, zum Tänchel und zur
Hoh-Königsburg, und hinten am horizont, wie ich es an einem
schönen octobertag dieses Jahres sah, bis zu den deutlich empor-
ragenden schneegipfelü der Alpen, der Jiiügfrau und ihren
genossen uüd den Ostalpen, bis der Schwarzwald sie verdeckt, —
das ganze ein 'sitz', der in dieser art seines gleichen sucht und
wol eine besondere benennung herausfordern konnte, dass er in
der tat der gesuchte grenzberg ist, wird nicht nur durch seine
läge uud beschaffenheit, sondern auch dadurch erhärtet, dass noch
heute die grenze zwischen dem Unter- und dem Oberelsass ihn
von dem plateau des Altenberges abtrennt, so dass der letztere
zum Uoterelsass, der Chalmont allein, wie die ganze karo-
lingische Schenkung, zum Oberelsass gehört.
NANNENSTOL UND BRUNlllLDENSTUHL 477
Der name des berges sagt uns leider wenig und ist schlecht
bezeugt, er heilst jetzt Chahnunt, woraus man einen deutschen
Schallberg gemacht hat. nach Sloeber l wurde er auch Charlemont
(seltener Karlsber») genannt und von der sage an Karl den Grofseu
geknüpft, eine ältere Schreibung (von 1596) ist Challemont, eine
noch ältere Chainemont (1517), woraus man wider einen deutschen
'Eichberg' gemacht, die ältest vorhandene scheint Chanemont'2 (von
1423) zu sein, die richtige form ist daraus nicht zu reconstruieren,
aber vor oder neben der romanischen hat gewis schon eine durch sie
verdräugte deutsche benennung bestanden, dass Chane- (oder
Chale-) aus Nane- verdreht sei, möcht ich nicht annehmen, aber
unmöglich wäre es nicht, unmittelbar neben dem Chalmont findet
sich im Rumbachtale noch eine merkwürdige benennung, die
ursprünglich nur einem bach oder einer quelle gegolten haben
kann, auf unseren karten wird sie Nangigoulte geschrieben, auf
den französischen katasterkarten von 1852 find ich Nanji- und
häufiger Naugygoutte neben einander, heute wird, wie ich höre,
Naugygoutte gesprochen, was eine anknüpfung an INanna er-
schwert, welche Nanji- zuliefse.
Wem war nun dieser Nannenstuhl gewidmet? die sage
meint, dass hier die feen eine brücke über das tal hätten bauen
wollen (Stöber s. 112). jedesfalls ist Nannen- der genetiv sing,
eines eigennamens, man könnte schwanken eines männlichen oder
weiblichen, im erster eu falle würde Nannen für Nannin (nom.
Nanno), im zweiten für Nannun (nom. Nanna) stehn.
Die abschwächung der endvocale im ersten teil zusammen-
gesetzter namen ist schon in den ältesten Urkunden ziemlich ge-
wöhnlich 3. so hat die von demselben Hitherius wie die unsere
ausgestellte Originalurkunde nr 27 v. j. 786, in der dem Fulrad
guter im Elsass und der Orlenau bestätigt werden, neben den
richtigen masculinis Ansu/fisheim und Grucinheim gerade im
femininum Mordenaugia für die reguläre hochdeutsche Mortunowa
(Förstern, n 1112). so kann auch Nannen- für Nannun- stehn,
und die weibliche Nanna aliein kommt in betracht.
1 Die sagen des Elsasses2 i nr 159 vgl. s. 151.
2 Das Reichsland m 159, Bulletin de la Sociele xv 309.
3 vgl. Birgenowa, Hohenavgia usw. aus dem 8 Jh., wie anderseits -un
auch ganz gewöhnlich für -en steht, Socio s. 254.
478 HENNING
Der wortstamm ist unter den allen regulär gebildeten personen-
namen kaum nachweisbar, weder als erstes noch als zweites
compositionsglied, denn die vereinzelten Nanger, Nanhard usw.
(Förstern, i2 1148) stehn klärlich für Nandger, Nanthart usw : die
alte kurzform dieses Stammes ist Nanzo, nicht Nanno. so wird auch
für die hochdeutschen Nannus, Nanna eine andere anknüpfung nötig,
die in den urallen, unter allen arischen stammen weitverbreiteten
lall- und kosenamen Nana, Nanna usw. von selber sich darbietet.
Das worl ist in den meisten arischen sprachen eine kosende
bezeichnung für ältere weibliche angehörige, vgl. altind. nand
'mutterchen', gr. vdvva etc. 'tante, grofsmutter', lat. nonna 'amme',
slav. nana 'mülterchen', cymr. nain 'avia'. ebenso ist nanne,
manne usw. in den deutschen dialekten ziemlich verbreitet1,
ohwol der wortstamm auch für männliche personen vorkommt,
bleibt nana, nanna doch immer die weibliche ergänzung zum
männlichen lata, tatta und ist deshalb schon ursprünglich weiblich,
als personenuame ist Nanna selten, da er für ein kind eben nicht
passte, während die ableitungen Nannienus usw. berechtigt sind,
nur in einzelnen gegenden häufen sich in alter zeit die belege,
so hat Kretschmer aus Phrygien und Vorderasien überhaupt, dh.
aus der cultsphäre der Magna Mater eine ganze menge gesammelt 2.
Nana war die tochter des phrygischen flussgottes Sangarios,
und man ist geneigt, sie mit der Kybele selber für ursprünglich
identisch zu halten3, Nana die mutler des Attis, des lieblings der
3Ii]T7]Q (jLsydXrj, Näva aber auch ein beiname der Artemis
(Preller-Robert i s. 333 anm.), die damit der grofsen babylonischen
Nana otler Nanai gleichgesetzt wird, einer uralten orientalischen
göttin des naturlebens, deren ausstrahlungen weithin zu verfolgen
sind4, die armenische Nane wurde auch mit kriegerischen
attributen ausgestattet und so der griechischen Athene angenähert
(Hoffmann s. 136). doch überwigt sonst die naturgottheit durch-
aus, auf den indo-skythischen münzen hat sie aufser der mond-
1 Deutsches Wörterbuch v 1338, Schweiz. Idiotikon iv, 758 f, Wörterb.
d. eis. J\1A. i 774 usw., Mittelniederd. wlb. in 157.
2 Einleitung in die gesch. d. griech. spräche s. 341 ff, vgl. schon Hoff-
niann s. 157 und den Index zum corpus inscriplionum graecarum.
3 Röscher Lexikon d. griech. u. röm. myth. m 1 s. 6 f.
4 Georg Hoffmann in den Abhandinngen für die künde des morgen-
landes vn (1881) nr 3 s. 130 f.
NANNENSTOL UND BRUN1I1LDENSTUHL 479
sichel einen zwei- oder dreiästigen zweig, den sie mit der rechten
darbietet, als attribut. Nana kann sogar zur 'Göttin der ganzen
erde' erhohen werden, so dass sie gleich nach Zeus genannt wird
(Hoffmann s. 139), und als 'Konigin Nana' scheint sie hei den
kabulisch-indischen Skythen der eranischeu Anahita gleichzu-
stehn (s. 155).
Die gruudbedeutung des wortes war gewiss überall dieselbe
(auch eiu magyarisches neue, samojedisches naiia 'ältere Schwester'
ist vorhanden, Hoffmann s. 158f), und die verwanten gottheiten
dieses namens berühren sich mehrfach, in den allgemeineren
und weiteren kreis solcher gottheiten wird auch die germanische
Nanna gehören.
Zwar pflegt man seit Jacob Grimm (vgl. Myth.4 I 183) die
uordische Nanna herkömmlich als Nanpo 'die wagende' zu deuten,
aber dies entspricht nur den nordischen, nicht den gemein
deutschen lautgesetzen. sobald auch eine deutsche Nanna gesichert
wird, ist eine solche herleitung nicht mehr möglich und kann
nur von der gruudform Nanna selbst ausgegangen werden, die
allen anforderungen genügt, kriegerisch-walkürische eigenschaften
liegen nicht in ihrem weseu. wenn aber Balder bei Saxo sie
zuerst im bade erblickt und von ihrer Schönheit entzückt wird,
was die waldjungfraueu (silvestres virgines) seinem nebenbuhler
Hotherus berichten, so erkennen wir eine in der einsamkeit der
wälder verweilende naturgottheit. aus hoher göttersphäre scheint
sie nicht zu stammen, wenn sie dem Balder sich nicht für eben-
hürtig hält, die genealogischen angaben der Edda, die Uhland
(Schriften vi 85 f) zu deuten sucht, bleiben leider unsicher, nach
Sn. Edda ist sie die tochter des Nefr (U, vulg. Nepr), nach Hyndll.
20, wenn dies dieselbe Nanna ist, des Nqkkve, ihr vater Gevar
(= Gebaheri) bei Saxo klingt mehr nach sächsischem als nach
nordischem Ursprung, die auffassung ihres wesens schwankt
merkwürdig, bei Saxo ist sie die schöne, von zwei männern um-
strittene und schliefslich dem Holher zufallende geliebte, uach der
Edda die dem Balder über alles treue gattin, deren herz bei seinem
tode vor gram zerspringt, die auf demselben holzstofs mit ihm
sich verbrennen lässt und in die unterweit ihm folgt, von wo sie
der Frigg Symbole ehelichen Standes und ehelicher würde sendet.
Das alles deutet nicht auf ein walkürisches wesen, sondern
auf eine einfache naturgottheit allgemein weiblichen Charakters, wird
480 HENMNG
sie doch auch zur mutier des Forseti gemacht, als ein solches wesen
muss sie in cultus und sage gewurzelt haben, so wird ihr name
in der nordischen dichtersprache zur poetischen henennung für
frauen überhaupt, und wenn in einem spätesten zusatz der
Voluspa (str. 31, 6) auch die walküren nonnur Herjans heifsen, so
ist dies nur eine letzte weitere Übertragung.
Der weg zu einer solchen stand freilich immer offen , das
sehen wir an der am meisten vergleichbaren gestalt unserer helden-
sage, — der Brunhild, die wol aus ähnlichen anfangen erwachsen
ist. wie Haider immer mit Siegfried verglichen ist, haben auch Brun-
hild und Nanna gewis einen alten Zusammenhang. Nanna steht
zwischen zwei männern, wie Brunhild zwischen Siegfried und
Günther; auch Brunhild lässt sich mit dem hinterlistig getöteten
geliebten auf demselben Scheiterhaufen verbrennen und folgt ihm
zur Hei. nur ist bei ihr alles ins heroisch-walkürenhafle gezogen,
dieselbe uralte mythische geschichte spielt schon beim tode des
Attis, des lieblings der 3Irjtr]Q [tsyäÄr], der gleichfalls von zwei
frauen gewünscht wird und nach lydischer tradition durch einen
von Zeus gesanten eber getötet, nach dem noch mehr vergleich-
baren historisierten bericht des Herodot (1, 341) aber auf der
jagd durch einen unheilvollen speerwurf dessen, dem die obhut
über ihn gegeben war, dahingerafft wird (vgl. Detter Beitr. 19, 516).
Hier ligt die Vorstellung von der aufblühenden und ver-
gehnden Vegetation des Jahres zu gründe.
So hat es einen vollen und noch mythischen sinn, wenn auch
Nanna wie Brunhild in der einsamkeit der berge und wälder auf
hohem, überschauendem felsen ihren sitz und 'stuhl' hat. dem
lectulus Brunihilde auf der spitze des Feldberges, über den
zuletzt Braune gehandelt hat (Beitr. 23, 246 ff), dem Brunhilden-
stein bei Wiesbaden (der Hohen kanzel bei Eogenhahn)1, der an
bedeutsamer stelle, wo drei oder vier alte gaue zusammentrafen,
lag, und, wie wir sehen werden, wol auch dem Brunhilden-
sluhl bei Dürkheim, tritt in uuserm Nannenslöl ein noch
älterer und gewis in die erfte heidnische zeit der deutschen
besiedelung des Elsasses zurückreichender beleg zur Seite, wie
Nanna und Brunhild haben auch ihre alten genossinnen, die
namenlosen 'wilden frauen* auf solchen felsen ihr 'gestühle'. ein
1 Schliepliake Gesch. v. Nassau i 120 ff. 40(3 iL Braune aao.
NANNENSTOL U1ND BRUNHILDENSTUHL 4SI
stein auf dem hohen herg zwischen Leydhecken und Dauernheim
in der Wetterau heifst 'der welle fra gestoil' (Grimm Myth.4
1 359. Simrock5 s. 388). auch quellen oder hrunnen stehn mit
ihnen in Zusammenhang, vgl. 'der wilden frau hörn uud gestithl'
hei Grimm Myth. in s. 121, den Brunhildshorn, der östlich am
Feldberg entspringen soll1, und wol auch die Nanjigoutte neben
dem Nannenstöl, wodurch denn die badende "Nanna eine weitere
hegrüudung findet.
Auch für Balder scheint es im Elsass an Zeugnissen nicht
zu fehlen, aufser dem von JacGrimm Myth. i4 187 wol mit recht
herbeigezogenen Ortsnamen Balbronn (1178 zuerst als Baldeburne
bezeugt)2 erwähnt ein weistum von Sundhofen (südlich von Colmar)
'den ban zu Balterseiche' (Weist. iv 264 anm.). die nordische
mythologie enthält eben mehr gemeingermanisches als man anzu-
nehmen geneigt ist.
Dass es sich bei dem elsässischen Nannenstöl um keine isolierte
und zufällige, sondern ebenso wie bei den Brunhildensteinen um
eine typische uud eingebürgerte benennungsweise handelt, beweist
der umstand, dass ihm gleich noch eiu zweiter aus der Pfalz zur
seite zu stellen ist.
Zu den vermutlich von Friedrich Barbarossa im pfälzischen
reichslande angelegten festen gehört der Nannenstein oberhalb
Landstuhl, die erste Verfügung von dort (datum apud Nannen-
steine) erliefs Heinrich vi i. j. 1189 auf dem wege von Andernach
nach Strafsburg3, weitere Zeugnisse von 1250 ab finden sich bei
Lehmann verzeichnet4, im jähre 1253 tritt daneben die Variante
Nannestul (datum Narmestul) auf, die nunmehr mit JNannenstein
wechselt, wie der elsässische ortsname lehrt, braucht Nannen-
stul nicht notwendig von Landstuhl her übertragen zu sein, schon
in römischer zeit war hier eine cultstätte. ein bild des Mercurius
ist heute auf dem burghofe eingemauert, wie denn auch andere
1 woher der sonst gründliche Vogel (Beschreibung des Herzogtums
Nassau s. 12), auf den Rassmann DHeldens. i 158 sich stützt, diesen namen
hat, weifs ich nicht.
2 vgl. Balderszbach (Ballersbach) in Nassau (Vogel Topographie s. 156).
Balders beziehung zu hervorbrechenden quellen erklärt Saxos bericht.
3 Wilmanns Die Kaiserurkunden der provinz Westfalen nr 244, vgl.
Stumpf Kaiserurkunden s. 421.
4 Urkundliche geschichte der bürgen und bergschlösser der Pfalz
v 130 ff.
452 HENNING
Überreste römischer zeit beim aufräumen der ruine gefunden
wurden (Lebmaun aao. s. 126). die miüelalterlicbe bürg, in der
i. j 1523 Franz von Sickingen endete, bestand nacb Lehmann s. 127
aus zwei teilen, aus den altern und ursprünglichen gebäuden,
welche um und auf dem in deren mitte befindlichen felsen Naunen-
stein errichtet, und aus den späteren, die an der östlichen seite
derselben aufgeführt waren, die bürg hat natürlich von dem
felsen Nannenstein oder Nannenstuhl ihren namen erhalten, der
wider in die heidnische zeit der ersten deutschen besitz-
ergreifung zurückreichen muss.
Wie Nannenstuhl und Nannenstein neben einander stehen,
hat es wol auch einen alten Brunhildenstuhl gegeben. Mehlis
und andere haben darauf hingewiesen (vgl. Anz. iv 75), aber ver-
öffentlicht ist die Urkunde des fürstlich leiningenschen archivs
zu Amorbach — der Dürkheimer burgfriede vom 2. Januar 1360
— erst von Ohlenschlager, freilich an kaum zugänglicher stelle1,
sodass der ganze passus einmal zu widerholen ist.
So ist daz der vmbegriff und zirkel des burgfriden. der hebet
an. An dem steine der da stat an der wegescheide an dem vihe
wege. vnd von dem steine an di herstrassen us bicz an den stein
bi wenczen Crüze. vnd von dem steine bi wenczen Crüze.
den weg us. bit an den stein der da stat an dem ge wege,
und den gow weg us bicz an den stein der da stat uff dem
schüssel acker. vnd von dem steine an dem schussel acker. bit
an den stein der da stat vnden an der stein grüben, vnd von
dem steine an der stein grüben bicz an den stein der da stat an
der fürte, vnd von dem steine an der fürte bicz an den stein der
da stat in dem wingarten. vnder brünoldes stül. vnd
dan von brünoldez stül bicz in den phat der di sullierwune
her abe gat vnd von der sumerwune bicz an den stein der da stat
an dem halsperge den weg us vnd von dem steine an dem hal-
perge bit an den stein der da stat an der tornach und von dem tornach.
den weg us bicz an den stein der da stat an sant Michelzburnen.
vnd von dem steine an sant michelz burnen bicz an den stein der
da stat an pfeffinger steinen brücken, vnd von dem steine
bi pfeffinger brücken, wider an weg der da gat an den vihe weg.
1 Palatina, belletristisches beiblatt zur Pfälzer zeitong 1894 nr 66 ft
s. 263 ff.
NANNENSTOL UND BRUNHILDENSTUHL 483
Ohne auf die controverse, welche sich an die beslimmung
der einzelnen localitäten geknüpft hat, liier einzugehn, sei für
unsere zwecke nur das folgende bemerkt. Ohlenschlager 8. 268
sucht die stelle 'unmittelbar südlich von der südspitze der ring-
mauer, wo der bergabhang einen absatz bildet und eine kleine
bergüäche mit höchst anmutigem blick nach Dürkheim und Grethen
zur anläge eines ruheplatzes verlockte' und bemerkt s. 500, ilass
die stelle 'mit ihrem kräftigen sitzartigen proül sich schon von
weitem gegen den Hintergrund scharf abzeichnet'. Melius hatte auf
grund derselben Urkunde eine felspartie in der mitte der ostseite
der ringmauer, welche im volksmunde 'KrumholzerstuhP genannt
wird, dafür angesehen und, nachdem der Bruno Idesstuol der Ur-
kunde bekannt geworden, den Krumholzerstuhl als eine verball-
hornung davon angesehen und den betreffenden felsen nunmehr
Brunholdisstuhl getauft, über die localisierung könnte höchstens
genauste orts- und Urkundenkenntnis entscheiden, aber beide mal
ist es ein sehr markierter berg- oder felsensitz. Ohlenschlager
freilich will, auf die Schreibung der Urkunde sich stützend, von
einem Zusammenhang mit Brunhild nichts wissen, sondern fasst
ihn als ruheplatz eines mannes namens Brunold. hierzu kann der
Wortlaut der Urkunde verführen, aber die auffassung ist doch
zu modern und der Zusammenhang mit den behandelten namen
allzu deutlich, so dass er verkannt werden könnte, freilich ist
der name schon in der Urkunde etwas entstellt (für Brunhilde stuol),
aber nicht mehr wie es sonst im volksmunde der fall ist : ein sicheres
zeichen, dass man schon früh die bezeichnung nicht mehr recht
verstand und dass sie älter sein muss als das Nibelungenlied.
Trotzdem bleibt die combination mit dem 'Krumholzerstuhl'
sprachlich bedenklich, letzterer könnte viel eher eine verballhor-
nung von Kriemhilt als von Brunhild sein, vgl. Crimholt Zs. 6, 28,
Cryenhild, Crenhild (Zs. 12, 360), die dänische (d. i. niederdeutsche)
vru Kremolt, die Crumhelt der Chronica Hungarorum (HS2 s. 63. 64.
Zs. 46, 22), die Kreinheilts des Nicolaus Olahus (HS2 s. 307), so dass
sich die beiden rivalinnen hier gegenüberstünden, nach Rriem-
hild wurden auch anderwärts felsen zubenannt (Criemildespil 1 bei
1 die spil- d. i. spindelsteine, die in unsern bergen noch mehrfach so
benannt werden (vgl. Mündels Vogesen s. 244. 271. 555) gelten als denk-
nialer vorrömischer zeit. — steine mit sitzartigen Vertiefungen werden
vom Volksglauben den feen zugewiesen.
484 HENNING NANNENSTOL UND BBUNHILDENSTUHL
Saarbrücken HS 2 s. 155, auch wol der Kriemhildenstein v. j. 1476
in der Ortenau). auf dem Krumholzerstuhl pflegten zu fastnacht
vou der Dürkheimer Jugend die üblichen feuer abgebraunt zu
werden (Palatina s. 271), was der namensverdrehung vielleicht die
richtung wies. — alle weitergehnden angaben von Mehlis (von
einem zweiten Krumholzerstuhl an der nordseite des Peterskopfes
und einem Brunholdisbette am nordostabhange des Peterskopfes)
werden von Oblenscblager in das reich der fabel verwiesen,
dagegen mögen die in oberelsässischen weistümern aus dem ende
des 14 und anfang des 15 jh.s erwähnten bezeichnungen (vielleicht
für dieselbe stelle) : uncz zu Brunhalcz hing (Grimm iv 147) und
an den marstein, der stet ussewendig der Brunnhilt (iv 159) in
unseren Zusammenhang gehören, letzterer war wol ein ähnlicher
stein wie der Bruuhildensteiu (Pierre Brunehaut) im felde bei
Tournai, auf den KHofmanu (München. Silzungsber. phil. hist.
cl. 1871 s. 676) hinwies.
Strafsburg, herbst 1907. R. HENNING.
LÜCKENBÜSSEB : BALKON.
Unsere lexikographeo sind darin einig, dass das italienische
balcone, das im anfang des 17 jh.s als balcon ins französische
und (wol etwas später) als balkön ins deutsche aufgenommen ist,
vom ahd. (resp. langob.) balco 'trabs' stamme, die herleitung der
bedeutung aus dem 'balken', wie sie beispielsweise Heyne in seinem
WB. i 272 versucht, ist aber bedenklich, und ich schlage daher
eine andere etymologie vor, die lautlich einwandfrei ist und den
sinn besser trifft : balcone ist dissimilation aus *bancone, das sich
zu banca verhält wie salone zu sala. (italienische beispiele für
ähnlichen lautwandel bei Grammont La dissimilation p. 80.84.) der
älteste *bancone war eine steiubank, die sei es als nische oder
als erker ein fester teil des Steinhaus wurde und so von der
schlichten holzbank auch sprachlich als 'die grofse bank' abge-
hoben zu werden verdiente, für die 'bank' war freilich das material
von vorn herein nicht so selbstverständlich wie für den 'balken',
den die Germanen doch nur als holzbalken gekannt haben. E. S.
ÜBER DIE HERKUNFT UND BEDEUTUNG
DER GERMANISCHEN BILDUNGSSILBEN AG,
IG UND L1K.
§ 1. Die lehre von der germau. wortbilduDg unterscheidet
in der regel als die beiden hauptkategorien : 1) ableitungen, die
aus einem Stammwort durch anlritt eines suffixes, dh. eines sprach-
elementes das kein selbständiges dasein führt, entstehn, und
2) compositionen, bei denen zwei selbständige redeteile mit
bestimmter eigenbedeutung zur worteiuheit zusammentreten.
Der Ursprung der suffixe und ihrer besonderen functiouen
fällt meist in vorgeschichtliches dunkel, dagegen vollzieht sich
vor unseren äugen im german. eine entwicklung, in deren ver-
lauf mehrere nomina aus vollwertigen compositionsgliederu zur
function von suffixen herabsinken, so besonders die nhd. ab-
leitungssilben -bar, -haft, -lieh, -sam; -heit, -schalt, -tum. im
hinblick auf diese entwicklung sagt Paul l § 241 : 'wir müssen
die vorgeschichtliche entstehung von suffixen durchaus nach dem
mafsstabe beurteilen, den uns die geschichtliche erfahrung an die
band gibt, und mit allen theorieen brechen, die nicht auf diese
erfahrung basiert sind, die uns zugleich den einzigen weg zeigt,
auf welchem der Vorgang psychologisch begreifbar wird'.
§ 2. Erklärungsversuche in der von Paul angegebenen
richtung wurden schon früh an suffixen vorgenommen, schon vor
Grimm hatten 'verschiedene Sprachforscher in dem suffix aht die
wurzel ahta (cura, cogitatio) ahtön (putare) gefunden, also compo-
sition statt derivatiou'. mit recht wendet sich Jacob Grimm2 (s. 384)
gegen diese ansieht, obwol er in der ersten ausgäbe von bd i der
grammatik (s. 560) selber 'das ig aus dem anomalen aigan, dh. aus
dem verloreneu wahren präsens got. eigan, ahd. ikan, igan zu
deuten' versucht hatte; er hat den gedanken iu bd n s. 308 als
unbefriedigend wider aufgegeben; Gabelenlz und Loebe Got.
grammatik §150, lit. f halten au der möglichkeit, dass eig und
aigan zusammenhängen, fest, die neuere forschung hat von
derartigen erklärungsversuchen abstand genommen und sieht in
got. eig = ahd. ig und ebenso iu ag die germanische entsprechung
des idg. fro-sufüxes. die Schwierigkeit, die in dem nebeneinander
1 Paul = HPaul Principien der Sprachgeschichte, 3 aufl.
2 Grimm = JGrimm Deutsche grammatik, bd II.
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 32
486 SCHMID
von ig und ag ligt, sucht KaufTmann (Beitr. 12, 201 ff) zu
beseitigen durch den nachweis, dass die doppelformen auf die
Verschiedenheit des stammvocals der zu gründe liegenden suhst.
zurückgehe, also ag bei a-stämmen und ig bei i-stämmen stehe.
zu dem resultat der Untersuchung sagt Wilmanns1 § 343,2:
'die verschiedenen formen der ableitungssilbe lassen sich aus der
form der zu gründe liegenden stamme nicht immer erklären,
gewöhnlich gehören die Wörter auf -ag zu a-stämmen, die auf -ig
zu t- und ya-stämmen, doch gilt die regel nicht ausnahmslos, und
die vergleichung der verwanten sprachen zeigt, dass man sie auch
nicht für das urgerman. voraussetzen darf.'
§ 3. Den versuch, einen bedeutungsunterschied zwischen
ag und ig festzustellen, hat, soviel ich sehe, nur Grimm unter-
nommen, ihn aber als resultatlos aufgegeben, er sagt darüber
s. 308 f: 'die individuelle bedeutung der -ag und -dg muss sich
nahe berühren, weil einige mundarten den formellen unterschied,
ohne empfindlichen verlust für den sinn der Wörter, fahren lassen,
warum also maneigs und mahtags unstatthaft sind, scheint unsren
blicken nicht viel durchdringlicher als der grund, welcher fugls
und mikils gebietet, fugüs, mikls verbietet, zwar liefse sich
sagen, dass die adj. auf -ag eine fülle bedeuteten : bluotac, muotac,
scamac, nötac, hnngarac, frostac, lustac, grasac gleichsam voll von
blut, mut, schäm usw., wogegen die auf -ig einfach die gerade
eigenschaft ausdrückten : mahtic, suhlte, vluhtic, waram-bluotic
(nach dem nhd.) der mit macht versehen, mit der sucht behaftet
ist, warmes blut hat, die flucht ergreift, welches jener erklärung
des -ic aus eigan zuspräche, allein manac ist nicht : voll von
menschen, sondern ganz das abslracte multus, etnac aus dem
hohen grad der einsamkeit zu deuten, scheint gezwungen, auch
wäre dann ein verstärkendes mahtac, suhtac usw., überhaupt öftere
anwendung des worts in beiderlei gestalt zuzugeben
hauptsache ist also, das urteil über ihre bedeutung noch offen
haltend, erst aus den ältesten quellen den unterschied jeder form
sicher zu stellen und die später eingetretenen mischungen zu
berichtigen', ein gewichtiges bedenken, an dem unter anderm
Grimms versuch scheiterte, ist inzwischen gefallen durch die
erkenntnis, dass manags von der gruppe der mit suffix -ag ge-
bildeten adjeetiva zu trennen ist (vgl. auch Schröder Zs. 35,377 n).
1 Wilmanns = Wilmanns Deutsche grammatik, bd h.
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND LIK 4S7
ohne berücksichligung von manags habe icli aufs neue den versuch
gemacht, eine sonderbedeutung von ag und ig festzustellen und
die beiden suffixe nach analogie der gemeingermanischen sulfix-
adjective -haß, -lieh, -sam zu deuten, dabei scheint mir von Wichtig-
keit, dass die annähme, das got. als die älteste überlieferte german.
spräche müsse auch die früheste nachweisbare enlwicklungsstufe
des german. zeigen, seit den tagen JGrimms in wesentlichen puneten
zu gunsten des ahd. modificiert worden ist. ich bin daher bei meiner
Untersuchung vom ahd. und as. ausgegangen und habe mit den
hier gewonnenen ergebnissen den befund im got. kritisch verglichen.
§ 4. In naher beziehung zu der fu actio n von ag, ig muss
die bedeutung von lieh stehn, denn neben adj. auf ag, ig stehn
sehr oft bildungen mit lieh oder Weiterbildungen mit ag-lich, ig-
lich, und ebenso fast nur adverbia mit licho, während adverbial-
bildung auf -ago, -igo seilen begegnet, ganz allgemein sagt
Grimm s. 660 f, das adj. mit Uli habe gegenüber dem ohne Uh
eine abstracte bedeutung. 'Otfried braucht suaz-Iih bei den ab-
stracten Wörtern tat, mut, gelüste, milde, zuweilen auch suazi,
würde aber nur letzteres von honig, mild), apfel brauchen;
arma-lih setzt er zu mut, wille, tat, brüst, lust, strafe usw., hin-
gegen armu xcihtir, arme j'oh tiche mit dieser Wahr-
nehmung zusammenzuhängen scheint mir, dass die verhandelten
composita gern in der adverbialen form vorzukommen pflegen,
denn alle adverbia ihrer natur nach sind abstracter als die adjee-
tiva.' diese 'abstracte' natur der adj. auf lieh und deren Verhältnis
zu den adj. auf ag, ig habe ich in einem besonderen capitel näher
zu definieren versucht.
Capitel i.
ag.
§ 5. Bei Otfr. sind folgende adj. mit ag belegt : görag,
idmarag, (un-)nötag, riwag, rözag, serag, xcenag, Imngarag; ferner
einag, heilag, ödag, wizago. an diesen belegen fällt auf, dass 7 der-
selben nahezu synonyma mit der bedeutung 'traurig, elend, müh-
selig' usw. sind, dazu tritt hungarag, das ebenfalls einen subjeetiven
zustand der unlust bezeichnet, ebenso wie durstag, das im Tat. und
in den Mons. frgm. belegt ist. dieselbe erscheinung zeigt sich im
Hei.,1 der folgende belege bietet : grddag, grimmag, hrewag, möd-
1 Heliand ist nach der ausgäbe von Sievers, und zwar, wo nicht anders
vermerkt, nach M zitiert, das as. Genesis-fragment nach der ausgäbe von Heyne.
32*
488 SCilMID
karag, mödag, serag, wörag; blödag, drörag; enag, helag, hrömag,
kraflag, ödag; auch liier eine auffallend grolse zahl von adj. mit
der hedeutung eines unlustgefiihles. soweit diese adj. im got.
helegl sind, zeigen sie auch da ag (ah) : gredags, modags, wainags,
audags, hailags; ainaha.
§ 6. Nach Graff in 829 ist frostag zweimal glosse für 'algens',
einmal für 'algidus', hat also, wie auch noch rnhd. frostec, ofTenhar in
erster linie die hedeutung 'frierend', dh. 'kälte leidend', während frost
meist = 'gelu, frigus', also ohjectiv = 'kälte' ist. winac steht Keron.
gl. 258, 30 für 'vinolentus' (wenigstens hat der glossator so für 'vio-
lentus' gelesen), also= Sveintrunken', dh. 'durch wein sich in einem
leidenden zuslande hefindend.' ehenso ist nach Graff vi 802 sldfag =
'somnolentus', 'schläfrig, schlaftrunken', dh. 'durch schlaf in einen zu-
stand der unlust versetzt.' hei diesen hildungen bedeutet das adj. gegen-
üher dem suhst. einen zustand der unlust, vou dem in der hedeutung
des suhst. nichts enthalten ist. diese tatsache nehst der hei Otfr.
und im Ilel. gemachten heohachlung, dass -ag mit vorliehe an
suhst. antritt, die ein unlustgefühl hedeuten, legt die Vermutung
nahe, dass das hetreffendc hedeutungsmoment auch seihständig
in der bildungssilhe ag enthalten sei, diese also die hedeulung
'sich in einem zustande der unlust hefindend, sich bedrückt
fühlend' habe; daraus würde sich die hedeutung von froslag,
släfag, icinag erklären = 'durch frost, schlaf, wein sich in einem
zustande der unlust befindend, sich bedrückt fühlend'; zugleich
ergäbe sich damit auch eine plastische hedeutung für nölag,
Iningarag, serag usw. = 'sich von not, hunger, schmerz bedrückt
fühlend.' — bei Olfrid wechseln miteinander abstracla -\- ag und
ahstracta -\- Ith: idmar-ag — idmar-lih, nöt-ag — nöt-lih, ser-ag —
ser-Hh. Uli ist bekanntlich ein zur bildungssilhe erstarrtes, ur-
sprünglich selbständiges nomen. der selbständige bedeulungs-
wert, den -ag auf den ersten blick zu haben scheint, berechtigt
zu dem versuch, ein solches auch für -ag nachzuweisen.
Die etymologic von ag.
§ 7. Im german. gibt es neben starken verben zwei haupl-
arten von wurzelhaften adj. : solche mit dem präsensvocal, und
solche mit dem vocal des Sgl. prät. (vgl. Kluge1 § 170 f; Wil-
mauns § 309; LMeyer2 § 364).
1 Kluge = FrKluye Nominale Stammbildungslehre.
2 LMeyer = Leo Meyer Die gotische spräche.
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND L1K 489
Adjecliva mit dem prä'se ns voca I sind im gotischen:
(lubj'a-)leis : lais; divps : *divpan, wovon davpjan; Hufs : *liuban;
galiugs : liugun ; garivps : angels. riodan; shtks : siukan; us-sindo:
sinpan ; inwinds: windan; gahwairbs : hwairban ; — wairps: wairpan ;
fralets : fraletan uaa. — mit dem vocal des si ng. prüt. : linaiws :
hneiican; laus : liusan; ga-laufs : liuban; raups : aogels. reodan;
parbs : purf; frops: frapjan; un-and-soks : and-sakan; unga-slops:
standan ua.
Zu den adj. mit präsensvocal stell ich das nur als suüix
erhaltene adj. *ags, als wurzelverwant mit dem prlo-präs. og
'fürchten', wie leis mit dem prto-präs. lais.
Die einstige existenz eines adj. *ags, die demnach an-
genommen werden kann, wird alier auch direct hewiesen:
1) durch das got. adjectiv-ahslractum un-agei (ahd. aki, eki)7
'aus dem sich ein adj. un-aga- 'furchtlos' ergibt' LMeyer § 365.
2) durch das factitivum af-, in-, us-agjan, dem das adj. ags zu
gründe ligt, wie bruks — brukjan; bairhts — bairhtjan; daaps —
davpjan; gabigs — gabigjan; gails — guiljan ua. (vgl. LMeyer
§ 293). direct vom st. verb. *agun — og kann agjan nicht ab-
geleitet sein, denn dazu lautet das factitivum ogjan. die bedeutung
von agjan als factitivum schliefst auch ein nach den bildungs-
principien als grundwort mögliches subst. aus, abgesehen davon,
dass als subst. aufser unagei im got. nur agis vorkommt, von dem
ahd. egisön abgeleitet ist.
Die bedeutuug von ag.
§ 8. Im got. hat ogan nur die bedeutung 'fürchten', ebenso
ist der begriff 'furcht' auch den bedeutungen der ableitungen
gemeinsam (agis, -agjan, unagei, ogjan.). og ist präteritum
mit ausgesprochener präsensbedeutung, wie wait = olda, dessen
prto-prasens-bedeutung 'ich weifs' gleichbedeutend mit 'icji habe
gesehen' ist, woraus sich für das als simplex verlorene präs. *icitan
die bedeutung 'sehen' ergibt, dh. die bezeichnung des zeillich
und causal vorausliegendeu Stadiums, nach dieser onalogie muss
auch das präs. *agan etwas bedeutet haben, was dem gefühl
der furcht zeitlich vorausligt und dieses zur folge hat. dies ist,
ganz allgemein, ein durch eine bestimmte Ursache hervorgerufener
zustand der unlust, welcher zeitlich und causal eine Vorstufe des
fürchtens ist. demnach bedeutet *agan 'unter einer unlust er-
regenden eiuwüikuug stehn' und ogan entsprechend 'unter einer
490 SCHMID
unlusl erregenden eiuwürkung gestanden haben' und daher die
Ursache der einwürkung : 'fürchten'.
Dass die speziellere bedeutung 'furcht' sich aus der all-
gemeineren hedeulung 'unlustgefühl' entwickelt hat, beweist auch
die hedeulung des dem got. agis genau entsprechenden äyog =
'schmerz, leid, trauer, Unmut'. — für das adj. * ags ergibt sich
daraus die hedeulung : 'unter einer unlusl erregenden einwürkung
stehend,' was völlig dasselbe besagt^ wie die in § 6. inductiv
erschlossene bedeutung 'sich bedrückt fühlend'.
Anmerkung : dieser für *agan erschlossenen bedeutung
sieht die von aglo, aglipa, agls, aglus, agljan sehr nahe, weshalb
ich mit Kluge § 189 und Wilmanus § 321 an der stammver-
wantschafl von agls und * agan festhalten möchte trotz Uhlenbeck
Beitr. 30, 255 f.
aglo ist = Ü).L\pig, ödvvr], fiöy^og ; aglipa in aglipos winnan =
■d-).lßeGdai', usagljan= VTicJuiä^eiv; aglus, agluba = dvoy.oXog,
övay.öX(og; agls = aioyj)6g. allen ableitungen ist also, teils in
passiver, teils in activer Wendung, die bedeutung : 'bedrängnis,
mühe' gemeinsam, die sich, in ausschliefslich passivem sinn, auch
für *agan ergeben hat.
Die ahd. adj. auf ag.
§ 9. Die hier aufgeführte möglichst vollständige Zusammen-
stellung der adj. auf ag enthält die Sammlungen von Grimm
s. 290f und Graff iv 5f nebst einigen eigenen ergänzungen.
die belege aus IS'olker (N.) haben nicht volle beweiskraft, da die im
ganzen bei Notker noch als eg und ig getrennt erhalleuen alten
bildungssilben (vgl. lFleischer Die Wortbildung bei Kolker s. 57)
doch schon beginnen sich zu vermischen (vgl. Grimm s. 291). zur
ergänzung sind die im ahd. nicht belegten as. und anld. belege
mit aufgeführt, sowie auch einige augels. bildungen mit ig, bei
denen fehlender umlaut altes ag vermuten lässt (vgl. Grimm s. 302).
Unberücksichtigt bleiben zunächst einige bildungen auf ag,
welche eine gesonderte betrachtung erfordern.
§ 10. Gruppe i:
durslag, forahtag, frostag, gilag (= avidus, vorax), görag,
grdlag, hanlag (= acer, ferox, saevus, mordax Graff iv 972),
hungarag, iämarag, karag, leideg (N.), mödag, nieteg (N.), nötag,
riwag, rözag, serag, scatnag, sldfag, spildeg?, angels. tearig, anld.
tharfag (Wadstein s. 55b, 37j, trureg (N.), icenag, winag, uuo-
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND L1K 491
rag (= crapulatus, cibo repletus Graff i 962; Grimm list fuorag),
as. wörag (= fessus), wuotag, zornag.
Alle zu gründe liegenden subst., soweit ihre bedeutuug durch-
sichtig ist, bezeichnen entweder einen zustand der Unlust oder
etwas, was einen solchen zustand verursachen kann, wie alter-
tümlich diese bilduugsweise ist, zeigen die isolierten adj., zu denen
die betrelienden subst. nicht mehr erhalten sind : zu wenag =
got. wainags ist nur das denomiuative ahd. verbum weinön belegt;
zu görag kennt nur das gol. ein mit dem verlorenen subst.
gleichlautendes adj. gaurs (s. § 21 n.); das subst. zu grdlag ist im
ahd. ebenfalls verloren gegangen; nur spärlich bezeugt ist sowol
das adj. rözag als das subst. (h)röz; zu hantag, uuorag, wörag
sind entsprechende subst. überhaupt nicht bekannt.
Anmerkung : bei vielen dieser adj. ist die form mit -ag nur
einmal oder sehr seilen belegt gegenüber zahlreicherem -ig; dies
ist begreiflich, da schon im frühahd. der Übergang von -ag zu
-ig begonnen hat. deshalb sind auch manche bildungen nur
mit -ig belegt, deren bedeutuug eher ag erwarten liefse.
§ 11. Gruppe li.
a.) dornag (Grimm s. 291); as. drörag; harzeg (N.); ettarag
(Wadstein s. 100b, 34 — 35); angels. horwig (= spätahd. horg);
augels. ch'tdig (= saxosus); ömig (Beovv., zu au. ätna = aerugo);
pluotag ; prdmag (= spiuosus, Grimm s. 291 ; Graff in 304) ; rdmag (==
furvus Rerou. gl. 148, 32 = mhd. rämec); rökag (= fuliginosus
Wadstein s. 94b, 39); rostag (Graff n 551); rötag (= aeruginosus,
in ir-rötagen = aerugiuare, von rot = robigo, aerugo GralT u 484);
as. rottag (= muculentus, Wadstein s. 101a, 4 = ahd. rozzeg Graff
n 560); ruozag (Graff ii 564); scimbalag (Keron. glossen 62, 24);
snewag (Keron. gl. 68, 7); solag (Graff vi 186); swälig (Beow.);
swerag (=ulcerosus Graff vi 889, zu ga-swer).
b.) graseg (N.); erthag (= terruleutus, Wadstein s. 100b, 2);
leimag (= argillosus Graff ii 213); fdmig {-heals Beow.); loupag
(in ungiloupagiu = arentia Graff n 65); rörag (Graff n 546);
steinag (Graff vi 691); stüdag (Graff vi 652).
§ 12. Von den adj. in gruppe i sind die in gruppe u
deutlich geschieden : die in gruppe i haben personliche, sub-
jective bedeutuug und sind fast alle von abstractis aus gebildet;
die in gruppe n haben unpersönliche bedeutung, sind nur
von concrelis aus gebildet und können sich nur auf sächliche
492 SCHMID
concreta beziehen. — von den westgerm. adj. auf -ag sind auch
got. belegt in gruppe i : as. mödag = got. modags, ahd. grdtag = got.
gredags, ahd. we'nag = got. wainags. es entspricht also dem wgerm.
-ag auch im got. -ag. anders dagegen bei dem zu gruppe u gehörigen
ahd. steinag, das im got. als stainahs erscheint; hier ist ahd. -ag =
got. ah. dieses ah findet sich auch im ahd. in der Weiterbildung mit
/a-suffix als -ahi (Kluge § 67); so steht neben ahd. steinag = got.
stai7iahs das ahd. subst. steinahi; ebenso auch dornag — dornahi,
prdmag — prdmahi, rörag — rörahi, stüdag — stüdahi; man kann
daraus mit ziemlicher Sicherheit schliefsen, dass bei diesen und
überhaupt bei der ganzen classe der von concretis aus gebildeten
unpersönlichen adj. auf ag (gruppe n) das ag für älteres ah steht,
und die gruppen i und n früher nicht nur in der bedeutung,
sondern auch in der form von einander geschieden waren.
ag und ahK
§ 13. Im got. sind aufser stainahs noch folgende adj. auf
-ahs belegt : unbarnahs (= ärey.vog), bairgahs (aus bairgahei =
ÖQEiviq erschlossen), broprahs (broprahans = ddehpoi), waurdahs
('eine schlechte Übersetzung des griech./o^r/.og/ Wilmanns§ 353,1).
auf grund der got. belege hat Schröder Zs. 35, 376 festgestellt,
dass 'ein durchgreifender unterschied zwischen got. -ags {-eigs)
und -ahs besteht, den ersteren ligt ein abstracter uomiualstamm,
natürlich mit der vorstelluug des sgl. zu gründe, und denen auf
-ahs der nominalstamm eines concretums mit der Vorstellung der
mehrheil'. Schröder nimmt daher neben ag ein völlig davon ver-
schiedenes suffix-aA an, während Kluge § 203 a und VVilmanns
§ 353 ah uud ag für grammatisch wechselnde doppelformen eines
jdg. fr-sulfixes halten, meine annähme, dass ag ein altes, zum stamm
*ag — og gehöriges adj. ist, führt ebenfalls auf einen verschiedenen
Ursprung von ag und ah; dem germ. ag entspricht ein idg.
agh = griech. ax (got. agis = ä'/og, vgl. § 8), dagegen
weist german. ah auf ein idg. ak und entspricht einem idg. ko-
suffix (Kluge § 207).
Au die stelle des Suffixes ah, das in dem substantivsuffix
-ahi auch im ahd., als adjectiv-suffix aber nur im got. erhalten
ist, trat in den übrigen german. sprachen entweder ag (vgl. § llf),
oder das im got. nicht belegte sulfix aht(i), oht(i), sodass ahd.
1 für diesen und die folg. §§ verweise ich auf Paul Principien cap. v.
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND LIK 493
steinahti neben steinag, dornohti neben dornag (angels. horwehte
neben horwig) steht, ob die ganze gruppe der adj. auf aht(i)
oht{i) (Graff iv 1092 ff; Grimm s. 379 IT) auf ein älteres -ah zurück-
geht, uud aht(i) oht(i) überhaupt ein von ah aus 'mit t erweitertes
suffix' ist (Wilmanus § 353, 1), ist noch nicht erwiesen, auch
Grimm nahm an, Mass ht in zwei ursprünglich gesonderte
ableituugen h und t zerfalle' (s. 384). wie ahs im got. uud ahi
im ahd., so tritt auch aht{i), oht(i) nur an sächliche concreta
an. bei dieser functionsgleichheit ist es wol zu verstehu, dass
■aht, -oht an die stelle von -ah treten konnte.
§ 14. 1. Anders lag der fall bei ah gegenüber ag : die
mit ag gebildeten adjectiva hatten der bedeutung von ag zufolge
alle personlichen Charakter, bezeichneten subjective zustände
uud waren fast nur von abstractis aus gebildet, mit dieser
bedeutung hatte die classe der adj. auf -ah, die von concretis
aus gebildet waren und ein objectives 'versehensein' be-
zeichneten, keine psychologischen berührungspuncte.
2. Waren die beiden gruppen "der adj. mit ah und mit ag
in ihrer bedeutung völlig von einander geschieden, so berührten
sie sich formal sehr nahe : nach dem Vernerschen gesetz
ist suffix -ah fürs urgerman. auch als -ag anzusetzen; ja, nach
der vorhersehenden idg. betouung -kö (skr. röma - fä Kluge § 203)
muss man das suffix im germau. vor allem in der form -ag, dh.
gleichlautend mit dem adj. *ag erwarten.
3. Diese rein formale berührung zwischen suffix -ah und
adj. *ag kann aber an sich noch nicht zum übertritt von ah >> ag
geführt haben, denn das gefühl für die gemeinsame genau be-
stimmte sonderbedeutung der adj. auf -ag arbeitete einem solchen
formalen zusammenfall der beiden classen direct entgegen,
eine reaction, die besonders schein bei ewinig, ewig für älteres
ewin, got. aiweins zu constatieren ist (vgl. § 40). diese abstofsende
Wirkung der bedeutung von ag muss, wol im verein mit einer
idg. betonung -iko, die nach Kluge §203 neben - kö 'denkbar'
ist, den lautgesetzlichen Wechsel von ah ^> ag beeinträchtigt haben,
sodass sich trotz der vorhersehenden idg. betonung - kö die form
-ah in got. -ahs und ahd. -ahi erhalten hat.
§ 15. Trotz dem in § 14, 1 constatierten bedeulungs-
unterschiede, der in der persönlich - subjeeliven bedeutung
der CM/-gruppe und der concret-objeetiven der aft-gruppe ligt,
494 SCHM1D
besteht jedoch keineswegs ein bedeutungsgegensa tz zwischen
beiden gruppen. denn in dem gemeinsamen bedeutungsinhalt
der a</-gruppe ist als sehr wesentlich ein besonderes momeut
enthalten, dem in der allgemeineren bedeulung der aÄ-gruppe
nichts entspricht, dieses besoudere bedeutungsmoment der ag-
classe ligt in dem begriff der 'unlust', der als 'subjectiv nach-
teiliger zustaud' definiert werden kann : dem 'subjectiven' character
der a<?-classe steht der 'objeclive' der a/i-classe gegenüber; die
nähere specialisieruug 'nachteilig' hat jedoch in der gemeinbedeutung
der a/i-classe keine entsprechung. damit war die möglichkeit
gegeben, dass die adjectiva, mit deren indi vidualbedeutung sich
die Vorstellung von etwas nachteiligem verband, aufgrund
dieser partiellen bedeutuugsgleichheit sich mit der a^-classe zu
einer 'stofflichen gruppe' associierten, welche die ursprünglichen
stofflich-formalen gruppen 'subjectiv — objectiv' überschnitt, war
diese neue psychologische gruppe auch nicht sehr fest, so war
sie doch stark genug, um den widerstand, den die primäre stofflich-
formale gruppe der a^-classe dem lautgesetzlich angebahnten
formalen zusammeufall von ah und ag entgegensetzte, zu über-
winden.
§ 16. Auf diese weise erklär ich mir die tatsache, dass
in gruppe i (§ 10) und gruppe n (§ 11) anscheinend adj. von
gauz verschiedener bedeulung mit demselben suflix von concretis
und abstractis aus gebildet wurden, die Vorstellung von etwas
'nachteiligem' verbindet sich gauz unzweifelhaft mit den unter
gruppe ii a aufgezählten adj., bei denen die ableitungssilbe im
uhd. zl. geradezu mit 'behaftet' (vox mala) oder 'befleckt' wider-
gegebeu werden kann : 'mit dornen, gift, harz, schmutz, rotz, rufs-
schimmel, wuudenblut befleckt, behaftet', auch mit clüdig und
sneioag verknüpft sich wol unmittelbar der gedanke an die ent-
sprechenden uachteile etwa für den wanderer. für die in gruppe nb
aufgezählten adj. kann man eine damit verknüpfte Vorstellung von
etwas nachteiligem nicht ohne weiteres voraussetzen; sie wird
bei steinag durch den Zusammenhang (gleichuis vom 4 fachen
ackerfeld) sehr nahe gelegt, und kann im eiuzelnen fall je nach
dem slandpuucte des sprechenden auch sonst bei dem einen
oder anderen adj. der gruppe nb bestanden haben; doch hat man
in diesen adj. wol vor allem jüngere farblose analogiebilduugeu
nach gruppe na zu sehen.
DIE GERM. BILDUNGSSILKEN AG, IG UND LIK 495
Vermischung von ag und ig.
§ 17. Hier interessieren natürlich in erster linie die falle,
in denen alleres ig durch ag verdrängt worden ist, sodass die
hedeutung von ag, die aher zur zeit der Vermischung natürlich
nicht mehr gefühlt wurde, zum hetr. suhst. nicht passt. das um-
gekehrte, dass ig an stelle von altem ag tritt, ist der gang der
entwicklung zum uniformen ig, die sich im ahd. (und as.) vor
unseren äugen vollzieht, und im angels. schon vor hegiun der
schriftlichen üherlieferung zum ahschluss gekommen ist; doch trat
auch im angels. der ausgleich erst nach erfolgtem umlaut ein,
sodass dessen fehlen hei umlaulfähiger stammsilhe das alte
ag verrät.
Ein solcher ühertritt von ig zu ag kann auf grund der
erschlossenen bedeutung von ag natürlich nur dann angenommen
weiden, wenn in den verschiedenen german. dialekten eine deut-
liche Verschiedenheit des Sprachgebrauchs vorligt; deshalb kommen
einag, heilag, mandag, ötag, welag, xoizago hier nicht in betracht.
Dagegen nehme ich einen solchen übertritt an bei hrömag
und kraftag; ^vielleicht ist hierher auch zu stellen lustac, das
Keron. gloss. 201, 10 für 'Jibuil' steht, die bedeutung ist nicht
festzustellen, weshalb Graff n 287 vermutet, lustac stehe für
lustat; in der bedeutung 'lüstern' liefse sich lustag auch zu
§ 10 stellen.
hruomag ist einmal im Isidor belegt : hruomege (6, 1 ed.
Hench), und aufserdem auch im Hei : 945 M hrömag, Chruomig;
4926 M hrömeg, C hruomag) also muss die form mit ag weit ver-
breitet gewesen sein ; dagegen hat das angels. hremig dh. altes
ig, das demnach zur zeit der Übersiedlung der Angelsachsen wahr-
scheinlich das gewöhnliche war, währeud später bei der völlig
veiblassten bedeutung vou ag dieses neben ig gebraucht wurde
und ig schließlich verdrängte; ein psychologischer grund kann
kaum dafür geltend gemacht werden; im got. lautet das syno-
nymum hropeigs.
Sehr auffallend ist kraftag im Hei., das sich nicht gleichmäfsig
in beiden hss. findet : in M steht 13 mal -ag, 15mal -ig, 1 mal -eg,
in C 1 mal (4462) -ag, 31 mal -ig, alles ohne umlaut, ebenso
Wadstein s. 55 a, 14 unkraftag; dem 'entspricht angels. cräftig,
während ahd. nur kreflig belegt ist. die bedeutung zusammen
mit dem Sprachgebrauch im ahd. spricht für alles -ig ; es muss
496 SCHMID
also schon zur zeit der contiuenlaleu Augeisachsen im as. der
bedeutungsunterschied zwischen -ag und -ig geschwunden und
der alle bestand von adj. auf -ag nur durch mechanische traditiou
weiter erhalten worden sein; damit war die möglichkeit zu
Übertritten, meist zu gunsten von ig, das eine allgemeinere be-
deutung und häutigere Verwendung halte, gegeben; ein grund
dafür, dass der andere weniger naheliegende übertritt von ig zu
ag bei dem sicher viel gebrauchten wort kraftig erfolgte, ist nicht
zu linden, in C steht nur einmal craftag; freilich ist auch in
craftig, vielleicht durch analogie mit der nebenform craftag, der
umlaut unterblieben, der zu erwarten wäre, wie giweldig (3185
C M) zeigt; (jedoch auch 5139 elilandige M, C elikndiga). —
Eine ebenfalls sehr frühe Vermischung von ag und ig, wo
ag schon vor dem eintreten des umlauts im angels. durch ig
verdrängt wurde, zeigt as. wörag neben angels. wer ig = fessus;
die bedeutung entscheidet für altes ag.
§ 18. Wie bei diesen bildungen mit ag an stelle von ig,
so zeigt das as. auch im vordringen von ig auf kosten von ag
deutliche spuren des Verfalls, bei Otfrid ist die Scheidung zwischen
den adj. auf ig und ag noch gut erhalten, nebenformen mit ig
finden sich bei den zu gruppe i gehörenden bildungen Otfrids
nicht, abgesehen von der einmaligen assimilation an lih in iv 26, 8
görig-licha (F görach-licha) ; vgl. aber wenag-lih (über sonstige
assimilationen von -ag zu -eg, -og in der tlexion vgl. Benrath
Vocalschwankungen bei Otfrid s. 32 ff), ebenso treffen wir auch
unter den subst. + ig keines, dessen bedeutung -ag erwarten liefse.
dagegen findet sich im Heliand (u. Genesis):
btödag (= ahd. pluotag) 751 CM, 5006 CM, Gen. 87. — blöd ig
Gen. 45.
hrewag (= ahd. riwag) 3091. 4030 in C, in M dagegen hriwig,
das sonst noch 7 mal in C und M, soweit belegt, 2 mal
in Gen. steht.
mödag (= got. modags) 11 mal, soweit überliefert, in CM : 550.
686. 763. 1378. 2245. 4221. 4916. 4925. 5164. 5177.
5233. — mödig : 3930 C muodiga, M mödaga.
wörag: Gen. 29 drör-wöragana; lie\. 61 8 Csith-wöraga. — wdrig:
C und M 660. 670. 698. 2238. Gen. 46. lief. 678 M.
Nur aj haben dagegen : drörag, grddag , (möd-)karag , Serag.
DIE GERM. B1LDUNGSSILBEN AG, IG UND LIK 497
Anm. : die assiniilalion von ag an die flexionssilbe hat im
as. ausätze zu einer entwicklung hervorgebracht, deren resultat
im anord. in dem für -ag und -ig gemeinsamen Suffix -ogr, -ngr
vorligt. nach Kauflmann Beitr. 12, 201 ff geht anord. -ogr, -ngr
auf die in der Qexion am häufigsten vorkommende assimilierte
form zurück, auf dieselbe weise sind auch die im Hei. vor-
kommenden unfleclierten formen auf -og zu erklären : 3094 C
hrewog; 3395 C grädog ; 1057 M ödog; 1640 M ödoc. assimi-
lation an die flexionssilbe findet sich 7 mal bei helogo, hclogon
oa. (vgl. Schindler As. WB.). in drureg 4155 M, mödeg 4221 M,
se'reg 3690 M, heleg 1059 M, helego 1313 M ligt dagegen wol
einlache abschwächung von ag > eg vor, die nur dem dialekt von
M eigen ist. — -ah für -ag findet sich einmal in 4155 C
drörah, gegenüber sonstigem drörag.
heilag, ötag, wizago.
§ 19. INicht auf eine Vermischung von ig und ag zurück-
geführt werden können trotz ihrer bedeutung heilag, ötag und
wizago, denn ötag ist gemeingerman. = got. audags, angels.
cadig, zu alid. öt, ags. ead. got. * and in audahafts (anstai =
y.exaQiTc'jiarog Luc. 1,28); ebenso heilag = got. hailags, as.
helag, angels. hdlig (an. heilagr scheint westgerman. lehnwort).
für wizago = as. witag (Hei. 3718 C), angels. witga wird, auch
abgesehen von den übereinstimmenden früh-ahd. Zeugnissen, die
form ag als die älteste durch die schon ahd. erfolgte umdeutung
zu wissago erwiesen; zu gründe ligt ein verlorenes subst. zur
wurzel vul.
lu der bedeutung dieser Wörter scheint mir ein gemeinsames
moment zu liegen; got. andags ist = (.lav.ÜQLOg selig (ahd. ötag =
beatus, dives), bezeichnet also im got. den höchsten grad von
glück; heilag ist prädicat für das höchste, vollkommenste in
religiöser hinsieht; wizago = propheta bezeichnet den mit dem
gröfsten wissen ausgestalteten. — in dem diesen Wörtern gemein-
samen Superlativen bedeutungsmoment seh ich einen rest der
bedeutung von ag. da aber alle drei adj. sicher sehr alle
bildungen sind, ist nicht anzunehmen, dass sie mit dem in seiner
bedeutung abgeschwächten -ag gebildet wurden, vielmehr ver-
mute ich, dass sie mit der vollbedeutung von ag und zwar
als bewuste hyperbeln entstanden sind, misverstanden werden
konnten sie nicht, da die betreffenden zu gründe liegenden
subst. etwas wünschenswertes bezeichneten; dagegen wurde dadurch
498 SCIIMID
die bedeutung eiues sehr hohen grades sehr intensiv zum aus-
druck gebracht, psychologische analoga kennt auch das uhd.,
und zwar gewöhnlich mit einem vermittelnden 'geradezu', sie
liegen auch vor in der Verwendung von 'furchtbar, schrecklich',
im obd. dialekt 'arg, elend', und schon ahd. sero als blofsen Ver-
stärkungen (vgl. Paul Principien § 65). die ursprüngliche be-
deutung von audags wäre demnach : 'sich vom glück geradezu
bedrückt fühlend' = 'sich grenzenlos glücklich fühlend', analog
ergibt sich aus der bedeutung von heil (got. haili n., adj.
hails) = 'gesundheit, wolbeüuden' für heilag die urspr. bedeutung:
'sich unendlich wol befindend' oder 'fühlend', eine bedeutung,
bei der ursprünglich natürlich nur persönliche beziehung möglich
war; jedoch hat sich diese bedeutung in die speciüsch religiöse
von lat. sanctus gewandelt, sodass heilag auch unpersönlich be-
zogen wird, schon im got. (Ring von Pietroassa) : wi(h) hailag,
bei Otfr. zu douf, toi», zit, giscrib ua.; vgl. Kelle.1 für icizago
ergibt sich auf dieselbe weise als ursprüngliche bedeutung : 'ein
unendlich weiser', auf die gleiche art erklär ich mir auch
welag = 'dives' (Graf! i 831), zu ahd. angels. wela, as. weh,
und mandag = 'alacer, gaudens' (Graff n 810 f); von einer
Superlativen bedeutung ist freilich in den ahd. belegen nichts
zu erkennen.
Anmerkung: vielleicht kann wizago auch anders aufgefasst
werden; ursprünglich ist wizago einer, der sich von seinem
wissen (dh. von dem, was er weifs) bedrückt fühlt, ag ist hier
vielleicht nicht ironisch, sondern wörtlich zu nehmen, ein wissen,
durch das man sich bedrückt fühlt, ist vor allem ein solches,
das sich auf bevorstehendes uuheil bezieht, ebenso ist auch der
propheta (= ahd. wizago) in der regel der der kommendes
unheil vorher weifs.
§ 20. Im ahd. war von einem gefühl für die selbständige
bedeutung von ag sicher nichts mehr vorhanden, aber dass sich
die mechanisch weiter überlieferten adj. auf ag, die der herkunlt
von ag entsprechend in ihrer mehrzahl die gemeinsame bedeutung
eines subjectiv (oder objectiv § 15 f) nachteiligen zustands hatten,
auch noch für das ahd. Sprachgefühl zu einer 'stofflichen gruppe'
zusammenschlössen, zeigt deutlich das verhalten Olfrids. wie schon
§ 18 bemerkt, findet sich bei den Olfridischen , zu gruppe i
1 Kelle = JKelle Glossar der spräche Otfrids.
DIE GERM. RILDUNGSSILBEN AG, IG UND LIK 499
gehörigen adj. auf -ag zwar in der llexion öfter assimilation zu
-eg, -og, aber nie übertritt zu -ig; dagegen steht bei Otfr. heilig
neben heilag flectiert und unflecliert, ebenso aucli einogo (vgl.
§ 22) = 'einzig' neben -igo , -igon usw. (vgl. Benrath Vocal-
schwankungen bei 0. s. 33 ff). Olfrids spräche hatte also das
bedürfnis, die bildungen, die durch ihre bedeutung gegenüber
der stofflich-formalen gruppe der adj. auf ag isoliert waren, auch
formal von dieser gruppe, zu der sie ursprünglich gehörten, zu
trennen und in die classe der adj. auf ig, deren bedeutung all-
gemeiner war, Überzuführen, ödag ist nur einmal bei Otfr.
belegt : i 7, 18 thie ödegun alle.x in wizago i 3, 37 ligt wol schon
für Otfrid eine umfühlung und klangliche annäherung an wdr-
sago, fora-sago vor (vgl. Kluge Etymol. WB).
Auch Notker, bei dem (vgl. lFleischer Die Wortbildung bei
N. s. 57 f) der alte unterschied von ag und ig als eg und ig
noch erhalten ist, gebraucht nur die form heilig (vgl. zb. bd u
633, 7. 8. 9. 634, 17. 635, 6. 9. 14. 636, 2. 11. 18).
Analogiebildungen.2
>j 21. Das gefühl für die gemeinsame bedeutung der adj.
auf ag, das bei Otfr. den beginnenden übertritt von heilag, einago
zu den adj. auf ig veranlasst hat, hat einen ähnlichen umgekehrten
process zur folge gehabt bei den im folgenden aufgezählten adj.
auf ag, die in ihrer bedeutung zwar zu den § 10 f aufgezählten
adj. auf ag stimmen, aber nicht, wie diese, ein Substantiv als
grundwort enthalten.
In freidag ligt zu gründe das adj. freidi = 'profugus, apo-
stata', worin an sich schon meist, wenn auch nicht absolut not-
wendig, die bedeutung eines zustandes der unlust ligt. freidi
trat infolge einer später (§ 36) zu besprechenden bedeutungs-
association formal meist zu der gruppe der adj. auf ig über =
freidig. Graff in 793 belegt daneben einmal freidaken = 'apostati-
cam\ also war auch die stoffliche association mit den adj. auf ag so
stark, dass sie gelegentlich auch den formalen übertritt zu diesen
adj. zur folge hatte, trotz der in dem grundwort freidi vor-
handenen mechanischen prädispositiou zum übertritt in die gruppe
der adj. auf ig.
1 auffallend ist das unverschobene d in odegun.
2 vgl. Paul Principien der Sprachgeschichte cap. v.
500 SCHMU)
Genau so ligt es bei kümag neben kümig = 'krank';
ersteres entnehme ich aus dem GralT iv 398 belegten verbum
chümogenten = 'lassescentem'. zu gründe ligt das aus adv.
kümo zu erschliefsende und durch neuere dialekte bezeugte
adj. *kumi.
gerag (Wadstein s. 59 b 8 gerag si = 'desideret'; s. 60 b 26
gerag = 'cupidus'; Notker gereg) neben ahd. adj. ger ist ebenso
zu erklären, im besonderen stellt es sich zu gilag.
grimmag steht im Hei. 2144 C gest grimmag endi grddag
fiur; M list richtiger gristgrimmo. falls nicht ein durch das
nachfolgende grddag veranlasstes schreibversehen vorligt , ist
grimmag aus adj. grim ebenfalls formale angleichung an die adj.
auf ag infolge einer bedeutungsassociation. die analogie zu mödag
kann noch speciell mitgewirkt haben.
sldfarag Graft' vi 802 ist = sldfag (vgl. § 10). ein adj.
*sldfar ist nicht belegt, wol aber schon ahd. das verbum sldfarön
neben sldfan, wie gangarön neben gangan (vgl. Wilmanns § 72).
das adj. släfarag entstand wol in anlehuung au sldfarön und
unter dem analogiebildenden einfluss von släfag; vgl. auch
idmarag.
rötag ist Graff ii 484 = 'rubens', das besonders 'vor schäm
errötend, schamrot' bedeutet, das einfache rot hat wol nur selten
diese specielle bedeutung, ist auch bei Graff nur 1 mal = Gubens'
belegt, während rötag vermutlich nur diese bedeutung und damit
gegenüber dem einfachen röt ein neues bedeutungsmoment gehabt
hat; röt allein konnte sich nicht mit den adj. auf -ag asso-
ciieren, deshalb muss rötag gebildet sein in der absieht, das
bedeutungsmoment eines unlustgefühls zu dem farbbegriff 'rot',
der nur im speciellen fall als nebensinu diese bedeutung haben
konnte, zu addieren, biebei wird noch besonders die analogie mit
scamag würksam gewesen sein. — dass in rötag das subst. röt n.
ligt, ist kaum anzunehmen, da dieses nur in der hedeutung 'aerugo,
robigo' belegt ist und dem adj. rötag (vgl. § 11), das in irrötagen
= 'aeruginare' und vielleicht in rötake, hrötage = 'rüdes' (Keron
gl.) belegt ist, zu gründe ligt.
A n m. hierher auch görag = got. gaurs zu stellen, scheint
mir nicht nötig, da neben adj. *gör = got. gaurs auch ein gleich-
lautendes subst. wie bei leid, ser, jdmar angenommen werden
kann.
DIE GERM. BILDUNGSSIBEN AG, IG UND LIK 501
einag.
§ 22. alul. einag = as. enag, ags. dnig entspricht got.
ainaha, f. -o/io. Im got. ist ainaha = {.wvoysvrjg : Luc. 7, 12
smhus ainaha, Luc. 8, 42 dauhtar ainoho, Luc. 9, 38 rfu s«»u mei-
namma unte ainaha mis ist. im II el. ist belegt: 794 M; 2186 C;
3085 C; 2975 CM enag harn (794 C; 2186 und 3085 M egan.)
2188 M enagun snnie (C enigan). bei Oll'r. ist einego wie im got.
nur sw. flectiert, und bezieht sich 11 mal auf sun, ferner i 22,46
thera einigun muater; u 2,36 then fater einigan, i 22,52 min
einega sela. dreimal bedeutet das substantiviert gebrauchte einego
allein 'der einzige söhn': i 22,50 thu bist einego min; in 13,50 quad
er wdri einego siner; iv 29,34 was (die Tunica) giwehan ubar
al, so man einegen scal. im Beovv. i ist dnga ebenfalls nur sw.
flektiert : 375. 2997 dngan dohtor; 1262 dngan breüer; 1547
dngan eaferon.
In allen dialekten tritt einag in erster linie zu 'söhn, tochter',
also ist die ursprüngliche bedeutung von einag nicht allgemein =
'einzig, alleinig', sondern ganz speciell = 'einzig geboren', /novo-
yevrjg, und zwar zeigt die ausschliefslich schwache flexion im
got., im Beow. und bei 0, sowie die erwähnte besondere Ver-
wendung bei O, dass einag in der bedeutung 'einzig geboren'
früher meist oder nur substantiviert gebraucht wordeu sein
muss (vgl. auch nbd. 'der junge, ein junge', aber 'ein junger
mann'), die flexion als sw. subst. erhielt sich dann aucb, als
die bedeutung 'eiuzig geboren' abgeblasst (vgl. bei Otfr. zu
fater, muater, sela) und deshalb die ausdrückliche ergänzung
'söhn, tochter' geboten war. — das got. ainaha nötigt nach dem in
§13 gesagten zu der annähme, dass auch westgerm. ainag auf altes
ainah zurückgeht, für die talsacbe, dass durch antritt der silbe
ah die bedeutung des grundwortes ains = elg, /iiövog in der
oben gezeigten richlung specialisiert wird, vermag die sonstige
function des suffixes -ah (§ 12 ff) keine erklärung zu geben,
denn es findet sich sonst got. -ah und ahd. -ahi nur an concreten
Substantiven.
§ 23. oder sollte hier das got. ainaha2 die sekundäre und
das westgerm. einago die primäre ältere form bieten? Dagegen
1 die Beowulf-citate richten sich nach der ausgäbe von Holthausen.
2 vgl. auch das auffallende got. Femininum Luc. 8,42 ainoho, das
freilich Wrede jetzt (Stamm-Heyne 11 aufl.) in die lesarten verweist.
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXX VII. 33
502 SCHMID
spricht zunächst, dass wir nach § 12 ff wol im ahd. für den
Übergang von älterem ah > ag, nicht aber im got. für den ent-
gegengesetzten von ag ">■ ah analoga haben, dagegen spricht
aufserdem die bildung broprahans = döeXcfoi (Mc 12,20), die
wie ainaha 1) ebenfalls nicht recht aus der sonstigen Verwendung
von ah erklärt werden kann, 2) ebenfalls substantiviert gebraucht
ist, 3) ebenfalls der Sphäre des familienlebens angehört, dafür
spricht die in den vorhergehenden §§ besprochene erscheinung, dass
auf grund einer bedeutungsassociation ag auch an adj. antritt,
doch kann hier von einer bedeutungsassociation, wie sie in freidag,
kümag etc. vorligt, nicht die rede sein, da sich die bedeulung
von ains an sich noch nicht mit der der adj. auf ag associiert.
vielmehr müste man, wie ich es bei rötag getan habe, annehmen»
dass die bildung einag aus dem bedürfnis des Sprachgefühls,
mit dem begriff ein noch das den adj. auf ag gemeinsame be-
deutungsmoment zu verbinden, entsprungen sei. dann würde
einag ursprünglich gegenüber ein= 'unus' ungefähr die bedeutung
von 'der, die leider einzige' gehabt haben, die Verwendung des
substantivierten einago in der bedeutung 'der einzige söhn' fände
auf diese weise ihre erklärung, denu mit 'der, die leider einzige'
könnte nur 'das einzig geborene kind' bezeichnet werden, sodass
ein ausdrücklich beigesetztes 'söhn, lochter' überflüssig gewesen
wäre, ein analogon und damit einen beleg für die psychologische
möglichkeit einer solchen bildung gibt Wilmanns § 9, 1 : 'es
ist eine auffallende, ganz vereinzelte ausnähme, dass nach dem
muster der substantivischen deminutiva auf -chen auch deminuliva
von pronominibus, prädicativen adj. uud adverbien gebildet werden,
wenigstens in der Volkssprache: Duchen, Duchen! stillechen, stille-
chenl' ferner sind hier auch die selbständigen deminutiven verbal-
bildungen mit ahd. -alön, -Hon, nhd. -elen zu nennen, die in der
spräche der obd. kinderslube heute noch durchaus lebendig sind,
die substantivischen deminutivsufflxe traten hier auch an andere
Wortarten an, ohne dass diese 'hiedurch zu eigentlichen demi-
nutiven, d. b. Verkleinerungen wurden, sie nahmen mit dem
deminutivsuffix nur den gefühlswert, der den substanlivischen
deminutivbilduogen innewohnt, in sich auf; ebenso hätte man
sich auch das Verhältnis von einag zu den primären adj. auf ag
einer- und zu ein anderseits zu denken. diese auffassung
von einag bleibt freilich eine erklärung für den übertritt von
DIE GERM. BILDUNGSSILREN AG, IG UiNO LIK 503
ag "> ah, den man dann fürs got. voraussetzen muss, schuldig;
man müsle dann höchstens eine analogische Wirkung von
hildungen wie bropiahans, das aber seinerseits nicht genügend
erklärt ist, annehmen, und wäre zu einer solchen annähme
speciell fürs got. auch berechtigt, da die hedeutung von ag im
got. wesentlich mehr verblasst ist, als im ahd. (vgl. § 20,
§ 27 f.)
Anmerkung: für 'einzig, alleinig' in allgemeiner hedeutung
steht im got., im Hei., Reow. und bei Otfr. mit den oben er-
wähnten ausnahmen immer das einfache zahladjectiv. so steht
zh. im Reow. an = 'einzig' bei niht 135, bei bin 428, oder:
ßurh änes cräft 699, ealle bülon änum 705 und ähnliches.
mödag.
§ 24. Das Verhältnis des subst. zu dem mit ihm com-
])onierlen ag ist der passiven hedeutung von ag zufolge das eines
instrumentalis, zb. gredags 'sich durch hunger bedrückt fühlend',
rostag 'von rost bedrückt, mit rost behaftet', dasselbe instru-
mentale Verhältnis des subst. zu dem mit ihm componierten adj.
von passiver hedeutung ligt vor bei dem ebenfalls zur ableitungs-
silbe erstarrten -haß = lat. captus — im got. auch noch
selbständig Ihigom hafls neben audahafls (vgl.Wilmanns § 379) — ,
ferner in vielen anderen composilionen, zb. got. handu-waurhts
(= yeiQ07toir]Tog), ahd. fart-mnodi (== as. sfö-wörig), wazzar-
sioh, winl-durri, as. ellen-röf, drör-wörag, heru-drörag, angels.
(Reow.) blöd-fäg, giib-röf, heafio-miere, hea<So-röf, heafio-seok ua.
§ 25. Ein anderes Verhältnis zwischen subst. und ag möcht
ich für mödag annehmen und zugleich eine von der bis-
herigen auffassung etwas abweichende grundbedeutung von möd.
gewöhnlich wird diese, entsprechend der hedeutung von &v/nög,
als 'gemüt, inneres', dann auch 'erregtes gemüt' angesetzt, aus
der letzteren bedeutung soll sich dann auch die hedeutung 'zorn,
mut, schmerz', die möd in den verschiedenen german. dialekten
hat, entwickelt haben.
Im Hei. ist mödag immer (12 mal) = 'animosus, iratus,
superbus, contumax' (Schmeller); möd hat dagegen fast aus-
schliefslich die indifferente hedeutung 'gemüt, inneres, gesinnung';
nur einmal muss die bedeutung von möd als 'kühner mut' an-
genommen werden: 156 möd endi megincraft.
33*
504 SCHMU'
Im alid. ist muot nur = 'animus, anima, spiritus, cor,
pectus, meus, halitus', hat also ausschließlich indifferente be-
deutung, während muot 'in seiner jetzt gewöhnlichen be-
dentung als gegensalz von feigheit oder Verzagtheit im mhd.
erst spät und selten erscheint' (Mhd. WB.); muotag resp. muotec
ist auffallenderweise im ahd. nie, im mhd. sehr selten belegt,
im ahd. nur muoligi = 'animositas' (Jim. gloss.); = 'rabies cordis'
(N.) und muotegina = 'animae passiones' (N.) vgl. Graff n 699.
Im Beow. hat möd mit Sicherheit die bedeutung 'mut,
kühnheit' nur einmal: 1057 nefne htm wilig god wyrd forslöde
ond päs mannes möd, dagegen 20 mal die bedeutung 'gemüt, sinn,
geist, herz'; modig ist immer 'mutig' (vgl. Ilolthausen Beow.-WB.).
§ 26. Überall im westgerm. hat also möd in erster linie die
indifferente bedeutung 'gemüt, inneres', und nur vereinzelt die
von 'animositas'. ausschließlich einen modificierten gemütszustand
bezeichnet dagegen das adj. mödag. deshalb scheint mir die be-
deutung einer gemütsmodification erst secundär vom adj. aufs
subst. übergegangen zu sein, letzteres aber ursprünglich nur die
indifferente bedeutung 'gemüt, herz, inneres' gehabt zu haben,
dann war die grundbedeutung von mödag nicht 'durch', son-
dern 'in dem gemüt sich bedrückt fühlend', db. das Verhältnis
von möd : ag nicht ein instrumentales, sondern ein modales,
analoga sind zb. ahd. (Otfr.) herz-blvli, as. möd-spähi, möd-stark,
angels. (Beow.) möd-giömor ua., ferner auch Wendungen wie
Olfr. : frö in muate, hold in muate, muates lind, thie muot es
mammunte, Hei.: fagan, härm an is möde, Beow.: he on möde
xcearb forht on ferhüe u. ähnl. dasselbe modale Verhältnis scheint
auch in compositionen mit möd an zweiter stelle vorzuliegen,
zb. Olfr. frawa-muati (neben frö in muate), as. stark-möd (= möd-
stark), as. idmar-möd (= angels. möd-giömor), angels. böigen-,
gläd-möd u. ähnl.
Die allgemeinere bedeutung 'sich im gemüt bedrückt fühlend'
entwickelte sich zur engeren bedeutung von 'animosus' = 'zornig,
mutig', die dann auch aufs subst. übergieng. im got. ist neben
modags = ögyiLöperog (Matth. 5, 22; Luc. 15, 28) mops nur in
der bedeulung 'zorn' belegt: Marc. 3, 5 = ÖQyfj, Luc. 4, 28 =
&v/li6q. für anord. möpugr gibt Egilsson neben 'animosus,
vehementer cupidus' auch 'tristis, maeslus' als bedeutungen an,
die der bedeutung von ag noch näher stehen als 'zornig', für
DIE GEKM. BILDÜNGSSILBE AG, IG UND LIK 505
möpr führt er folgende bedeutungen auf: 'molus animi vehemens,
ira, furor, animus, fervor animi, animi audacia, dolor animi'.
§ 27. Eine solche rückwürkung der bedeutung von mödag
auf möd konnte natürlich nur erfolgen, nachdem ag zur be-
deutungslosen ableitungssilbe herabgesunken war und sich des-
halb die bedeutung 'zornig, traurig' usw., die sich aus ag ent-
wickelt hatte, mit dem ersten bestandteil möd verknüpfte, dass
auch bei Ulfila diese Übertragung nicht völlig klar und sicher
vollzogen war, geht aus dem aulfallend zaghaften gebrauch von
mops = zorn hervor: ooyi] ist 7 mal mit hatis, 6 mal mit ßwairhei,
S-vuög 3 mal mit hatis, 3 mal mit ßwairhei, 1 mal mit jiuka,
beide nur je einmal mit mops widergegeben, anderseits hat
Ulfila wegen der jüngeren bedeutung 'zorn' auch den gebrauch
von mops in der alten bedeutung 'gemüt, inneres' zu gunsten
von aha, frapi, hugs, gahugds, mims vermieden, nur in lagga-
modei und mukamodei ist die alte indifferente bedeutung von
mops im got. belegt.
Die got. adjeetiva auf ag.
§ 28. Neben gredags, modags, wainags, audags, die im west-
german. ihre entsprechungen haben und in den bisherigen para-
graphen besprochen worden sind, sind im got. noch belegt:
unhunslags: 2 Tim. 3. 3 = aOTtovöog, 'nicht opferwillig,
unversöhnlich',
wulpags: Luk. 7, 25 in wastjom wufpagaim,
1 Kor. 4, 10 juzup-pan wulpagai (sc. sijup),
2 Kor. 3, 7 andbahti loarp wulpag,
2 Kor. 3, in ni was wulpag pata wulpago,
Eph. 5, 27 wuJpaga aikklesjon,
Luk. 5, 26 wulpaga (nom. pl. n.) = nagdöo^a.
Bei diesen specifisch got. bildungen zeigt sich dasselbe er-
loschensein der bedeutung von ag im got., das die im vorigen
Paragraphen besprochene bedeutungsiibertragung zur folge hatte,
sogar das gefühl für die stoffliche Zusammengehörigkeit, das sich
nach § 20 bei Otfr. als rest der bedeutung von ag mit der for-
malen gruppe der adj. auf ag verbindet, ist im got. verloren
gegangen, der grund hierfür ligt vielleicht in bildungen wie
audags, wahrscheinlicher aber in engeren 'stofflich-formalen pro-
porlionengruppen' (Paul Principien § 76), so *aud : auda{-hafts)t
*cg
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506 SCHMID
audags = hunsl : hunslai-staß) : hunslags; gredus: gredags =
huhnis: ahd. hungrag = iculpus: loulßags.
Die ansieht Kauffmanns über den stammvocal und seine
würkung auf den suffixvocal kann also für diese seeundäre ent-
wicklung im got. eine gewisse berechtigung haben, immerhin
sieht auch im got. diese entwicklung noch in den anfangen,
denn auch den adj. auf -eigs, unter denen keines ist, dessen
bedeutung -ags erwarten liefse, liegen zt. a-stämme zu gründe,
so in waurstweigs, wüodeigs. richtig ist die beobachtung Kauff-
manns, dass die i-stämme fast alle ig haben, der grund hierfür
ist aber nicht im stammvocal, sondern in der herkunft und be-
deutung einerseits der {-stamme, andererseits von ig zu suchen.
Capitel ii.
lg-
§ 29. An dem suffix ig fällt gegenüber ag zunächst die
länge von i, die im got. und frühahd. noch erhalten ist, auf; wenn
ig und ag nur seeundäre doppelformen des idg.-fro-suffixes wären,
müsste man neben dem kurzsilbigen ag auch ein kurzsilbiges ig
erwarten, dass ag kein echtes suffix ist, glaub ich in cap. i
gezeigt zu haben; dieselbe Vermutung legt sich deshalb auch für
ig nahe, sie gewinnt au Wahrscheinlichkeit, wenn man sieht,
welch deutlichen unterschied Otfr. im gebrauch der subst. -f- ig
gegenüber den subst. -+- Uh macht, so bei ginddig, kreftig, sunt-
ig : gindd-Hh, kraft-Iih, sunt-lih; es ergibt sich daraus für ig
ein bedeutungswert, den wir noch nhd. fühlen in gläubig gegen-
über glaublich: gläubig kann nur persönlich, glaublich nur
unpersönlich bezogen werden, so werden auch bei Otfr.
mit ig in erster linie persönliche adj. gebildet. Wilmanns
§ 343, 3 sagt von den adj. auf ig: 'die meisten dieser adj. sind
von jeher ableitungen zu Substantiven, besonders zu abstracten,
fast gar nicht zu persönlichen.' falls demnach ig auf ein altes
adj. zurückgeht, muss dieses eine bedeutung gehabt haben, welche
bei der composition von abstractis mit ig ein persönliches adj.
ergab.
Die form von ig.
§ 30. Wenn ig germanischen Ursprungs ist, kann es nur
zu aigan gehören, woran schon Grimm dachte, vgl. § 2. dann
DIE GERM. B1LDUINGSSILBBN AG, IG UND L1K 5(>7
muss aigan ein prto.-präs. der 1. ablautsreihe sein, was nur
unter der Voraussetzung, dass der zu erwartende pluralvocal t
durch den singularvocal ai verdrängt worden ist, angenommen
werden darf, einen solchen ausgleich vorauszusetzen ist mau
durch die analogie von got. mag, magum, das nur zur 5. ablauts-
reihe gehören kann und deshalb *me'gum erwarten liefse, be-
rechtigt, von allen prto.-präsentieu waren im german. ihrer be-
deutung gemäf» sicher got. aih und mag am häufigsten gebraucht,
weshalb gerade bei ihnen der ausgleich, der auf dem weg vom
mhd. zum nhd. bei allen st. verben erfolgte, sehr früh eingetreten
sein wird. — dagegen spricht auch nicht, dass im ahd. kan —
fcunnun, darf — durfun, scal — scnlun ua. zur analogie mag —
mugun geführt haben.
Wenn aigan demnach ein prto.-präs. der 1. ablautsreihe ist,
gehört ig = got. eigs zu aigan nach demselben § 7 dargelegten
bildungsprincip, nach dem ags zum prto.-präs. 6g oder (lubja-)
leis zum prto.-präs. lais = oldu gehören.
Anmerkung: die tatsache. dass ag und ig (und got. leis)
als adj. zu *agan, *igan (*iisan) gebildet und sehr häufig in der
Verbindung mit wesan an stelle der verba gebraucht waren, steht
vielleicht mit dem aussterben dieser präsentia in ursächlichem
Zusammenhang.
Die b e d e u t u n g von Tg.
§ 31. Gegenüber got. ahd. aigan und haban (haben) hat
nhd. 'haben', auch in der function eines vollverbs, eine sehr ab-
geschwächte bedeutung. im nhd. kann man zb. von einer ,be-
hauplung' sagen, sie 'habe' oder gar 'besitze eine gewisse be-
rechtigung'. bei 'besitzen' fühlen wir noch, dass es, streng
genommen, nur ein persönliches subject bei sich haben
dürfte, dasselbe gilt auch für got. ahd. aigan und haban. im
got. haben aigan und haban entsprechend griech. iyetv nie ein
unpersönliches subj. bei sich, denn auch bei einem gebrauch
wie in Marc. 4, 5 und 6, wo es vom Samenkorn heifst : ni habaida
airpa, ni habaida wanrtins, ligt eine art personification vor.
auch bei Otfr. haben aigan und haben ein unpersönliches sub-
ject nur in der seltenen bedeutung 'enthalten' bei sich : H. 89
eigun ouh thio buah thaz. v 12, 5 eigun uns thiu goles werk
harto mihilaz giberg. i 20, 23 iz ni habe'nt Uvula, also hat
508 SCHMID
auch ein zu aigan gehöriges adj. ig nicht einfach die bedeutung
'habend', sondern etwa 'persönlich habend', deshalb kann ig
ursprünglich nur an substaotiva von einem bedeutungsinhalt,
dessen besitz einem menschen zugesprochen werden kann, an-
treten und ein subst. -f- ig nur persönlich bezogen werden.
Anmerkung 1: ein genaues analogon zu ig bildet das als
zweites compositionsglied im angels. öfter verwendete part. prto.-
praes. ägend; im Beowulf finden sich: mcegen- ägend = ahd.
maganig, meginig (Graff n 621); blced-ägend, entsprechend angels.
hre'mig, got. hropeigs. keine entsprechungeo mit ig haben folc-
ägend, bold-dgend, ferner bord-, lind-, rond-, searo-hcebbend. mög-
lich ist, dass zu einer zeit, wo ig noch voll verstanden wurde,
auch ein concreter besitz dem menschen mit ig zuerkannt
werden konnte und die herausbildung des besonderen gebrauchs,
mit ig nur zu abstractis persönliche adj. abzuleiten, erst später
erfolgte.
Anmerkung 2: das negative seitenstück von ig zu aigan
ist laus zu liusan; so steht im got. witodeigs neben witoda-laus.
der persönliche Charakter, den ich für ig vindiciert habe, liefse
sich aus ähnlichen gründen auch für laus erwarten, tatsächlich
tritt jedoch latis, das immer seinen Charakter als selbständiges
nomen gewahrt hat, in den verschiedenen german. dialekten auch
an solche substantiva an, die eine persönliche beziehung un-
möglich machen, wie zb. in got. andi-laus = Hei. endi-lös,
während persönliche negative eigenschaften meist durch negation
der persönlichen adj. auf ig ausgedrückt werden, zb. Otfr. unsitig.
§ 32. Grimm sagt s. 308, der gedanke, ig aus aigan zu
erklären, befriedige nicht recht, 'weil die allgemeinlieit des be-
griffs '-habend' für viele adj. beider classen (ig und ag) und
dann wider lange nicht für alle der etg-ctesse gerecht ist.' dass
die bedeutung 'persönlich habend' für viele adj. der a^-classe,
nämlich für die in gruppe i (§ 10), passt, ist nach dem im cap. i
gesagten selbstverständlich, da in der inhaltsreicheren bedeutung
von ag = 'sich bedrückt fühlend von' die allgemeinere bedeutung
von ig = 'persönlich habend' unter anderem auch enthalten ist,
weshalb die allgemeine bedeutung für die specielle ohne logischen
Widerspruch eintreten kann, nicht aber umgekehrt. — zu der
ansieht, dass die bedeutung 'habend' lange nicht für alle adj. der
e?<7-classe stimme, kam Grimm durch seine belege, die er aus den
verschiedensten ahd. quellen und zeiten bis Notker gewonnen
hatte, als absolut sichere Zeugnisse des Sprachgebrauchs dürfen
aber die aus glossen und interlinearversionen gewonnenen be-
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND LIK 509
lege nicht genommen werden, da sich der glossator den reich
entwickeilen lateinischen ableitungsmöglichkeiten gegenüber wol
oft in einer Zwangslage befand, in der er zu bildungen griff, auf
die das naive Sprachgefühl kaum verfallen wäre, sehr wenig
besageu ferner die jüngeren ahd. belege, da schon bei Otfr. die
bedeutung des suffixes nicht mehr rein erhalten ist. ich habe
deshalb meine Untersuchung auf Otfr., Hei. und Ulf. beschränkt.
Substantiva -+- ig bei Otfr. und im Hei.
§ 33. Die länge, die in got. eigs immer (aufser gabigs vgl. §44)
erhalten ist, ist im Hei. (vgl. Holthausen As. elem.-buch § 133),
möglicherweise auch bei Otfr. (vgl. Wilmanns § 343, 1) gekürzt;
von der Zugehörigkeit von ig zu eigan wurde im as. und ahd.
sicher nichts mehr empfunden, von der selbständigen bedeutung
erhielt sich bei Otfr. und dem Hel.-dichter höchstens noch das
gefühl für die stoffliche Zusammengehörigkeit der adj. auf ig auf
grund der ihnen gemeinsamen persönlichen bedeutung. aber
schon treten neben der überwiegenden mehrzahl der subst. -\- ig
als persönlicher adjectiva auch bildungen von ausgesprochen
unpersönlicher bedeutung auf.
Der bedeutung der zu gründe liegenden subst. zufolge sind
als persönliche adj. gebildet:
Otfr.: flizig, (un-)fluhtig, kreftig, künftig, (un-)güoubig,
(um-)mahtig, ummezzig, ginddig, nidig, unsitig, sculdig,
suntig, thuldig, giweltig, (un-)wirdig, gixourtig.
Hei,; afialburdig, mendddig, fluhtig, balo-, nith-hugdig, un-
gilöbig, Inbig, mahtig, ginddig, (un-) suntig, (un-jskuldig,
stridig, eli-thiodig, thurftig, giweldig, willig, wiriig, wlitig,
(ungi-)wittig.
als unpersönliche adj.: Otfr.: östrig, stetig, wintirig und
heutig (1).
Im Hei. sind also alle (18) von einem subst. abgeleiteten
adj. auf ig, und bei Otfr. fast alle (16 von 20) als persön-
liche adj. gebildet, die 4 unpersönlichen adj. finden sich
je einmal bei Otfr.:
heistig: m 13, 6 heistigo biscoltan; zu got. haifsts? (Graff iv 1063).
stetig: v 17, 31 er ubarfuar polonan then stetigon; nicht, wie
Graff vi 646 will, = stdtig, das aus stdti erweitert ist,
510 SCIIM1Ü
sondern = subst. stat (ort, stelle) -f- ig = 'die (selbe)
stelle inne habend, feststehend'.
wintirig in 22, 3 wintiriga zit 'zeit des winters'.
östrig ii 11, 59 zi then östrigen gizitin 'zu den Zeiten der ostern'.
Alle 4 bildungen sind bezeichnenderweise sonst ahd. nach
Graff nicht belegt; für die beiden letzteren steht sonst ahd.
östar-lich, winlar-lkh.
Anmerkung: wie Kauffmann Beitr. 12, 201 ff. richtig be-
merkt, sind unter dieseu adj. auf ig auffallend viele, denen ein
substantivischer t-stamm zugrunde ligt, zb. fluht, kraft, kunft,
mäht ua. der grund ist nach der § 31 entwickelten bedeutung
von ig sehr nabeliegend; die mehrzahl der {-stamme sind verbal-
abstracla und bedeuten ursprünglich eine eigenschaft, fähigkeit,
tätigkeit oder sonstige abstraction mit beziehung aufs handeln,
können also nicht mit ag, das einen nachteiligen zustand be-
deutet, sondern nur mit ig componiert werden, unter den ig-
st]'}. Olfrids ist keines, dessen bedeutung ag angemessener wäre
als ig, dagegen ligt dem Otfridischeu nölag ein 2-stamm zugrunde 1
Die beziehung der adj. auf ig.
§ 34. Nicht alle mit persönlicher bedeutung gebildeten adj.
auf ig haben ihren persönlichen Charakter bei Otfr. und im Hei.
auch in der syntaktischen beziehung gewahrt, derselbe un-
genaue übertragene gebrauch, wie er in nhd. 'ein kräftiger schlag,
eine fleifsige, faule arbeil' vorligt, findet sich schon ahd. und as.
Bei Otfrid sind nur persönlich bezogen:
filzig i 1, 107 sie sint ßizig ; giloubig i 4, 76. n 12, 12.
in 25, 13. v6,26; ungiloubig i 4,43. i 15,43; (um-)mahtig
i 7,9. v 9.25. in 14,68; unsilig H. 121 thie unsitig wdrun; scul-
dig iv 19, 70 er xodri füu harto sculdig; suntig 12 mal (vgl. sunt-
lih § 57); giweltig i 3, 43. iv 23, 37. iv 34, 17. v 20, 18; gi-
wurtig u 8, 36 thaz ddtun sie giwurtig (nicht notwendig, wie
Kelle O-WB. will, adverbialer acc. Sgl. n., sondern eher ein aus
reimzwang gebrauchter unflectierter nom. pl., vgl. Braune Ahd.
gramm. § 247, = 'als willige, unverdrossene', zu giwurt, 'freude,
behagen'.
persönlich und unpersönlich bezogen:
(un-J fluht ig: iv 1, 10 er was unßuhtig; in 26, 45 — 46
sie sint fluhtig thera ddti, erqueman thero werko fluhtigero gi-
thanko ('unter flüchtigen gedanken sind tropisch gedanken
verstanden, die auf die flucht gerichtet sind.' Kelle).
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND LIK 511
kreftig: persönlich bezogen: in 2, IS. m 24, 78. iv 12, 61.
v 9, 26; und auch zu haut in 25, 18. v 17, 12; le'ra i 27, 4;
suht in 23, 6; gilouba iv 37, 15 (vgl. kraft-Hh § 57).
künftig: i 27, 23 helias-, m 6, 52 forasago-, ther künftig (-er)
ist] und auch in 12, 20 kunftigo ddti.
ijinddig: persönlich bezogen : i 13, 6. i 20, 9. i 2, 52. Ri 17, 33.
iv 13, 41. IL 158 und auch in 17, 26 ginddigero worto
(vgl. gindd-Hh § 57).
nithig: v 21, 16 nilhignn alle und auch zu muat ml4, 118;
gilhank v 23, 113.
(huldig: in 19, 2 thaz wir thuldige sin; und auch in 11, 18
thuldigaz herza.
wirdig: 19mal persönlich bezogen, so auch v 17, 21 thiu
erda = die menschen ; und auch S. 7 thaz wirdig ist thes
le sannes.
Zu diesen adj. möcht ich auch stellen:
ummezzig , obgleich es uur einmal, und da unpersönlich
bezogen, belegt ist: v 23, 93 ummezzigaz sör. aber es
hat neben sich auch eine ableituug mit Uli : iv 5, 12 um-
mez-licha buräin, was sonst nur bei persönlichen adj. der
fall ist; als persönliches adj. wird nmmezzig die be-
deulung 'intemperans' gehabt haben.
§ 35. Im Hei. (und der Gen.) sind nur persönlich bezogen:
aüal-burdig Gen. 2b9;mendddig 24T2. Gen. 187; fluh-
tig Gen. 75 fluhtik skalt thu libbean; balo-, nilh-hugdig 616.
1056. 4721. 5081; ungilöbig 3006; ginddig 1319. 2248.
3275. 5602; (un-)snndig 1363. 2106. 2123. 2722. 3894. 5019.
5857. Gen. 254; (un-)skuldig 752. 3086. 3S20. 4592. 5232.
5319. 5647; stridig 3990. 4854; eli-thiodig 2819 (zu eli-
thioda); thurftig 525. 1541. 1966. 2304; giweldig 3185;
willig 3399; (ungi-)wittig 569 (C giwitlig, M wittig). 1818
(C ungiwitgon were, M ungiwittigon). (während wütig zu fgi-J
wit gehört, scheint das 3718 in M belegte witig anderen Ur-
sprungs und gleich abd. wizag zu sein, da in C witag steht:
witag wdrsago).
persönlich uud unpersönlich bezogen:
lutiig, liuiig: Gen. 203 und 218 persönlich bezogen; und
auch 2475 the lubigo gilöbo.
512 SCHMID
mahtig: sehr oft zu god, krist, drohtin, fiund, fader etc.; und
auch zu icord 863. 3934; te'kan 5621; giscapu 337;
thing 423. 4645. 5674 (vgl. mahtig-lik § 62).
wirftig: meist, barwirdig nur (2932, 4597) persönlich be-
zogen; und auch 1853 silotar nee gold; 1183. 5092 word;
2885 that; 4000 ferah.
\clitig: 271 ujI^o wlitigost; und auch 201 wangun; 1393 Zwfif.
A nalogiebildu ngen.
§ 36. Neben subst. + ig finden sich bei Otfr. und im Hei.
auch mehrere seeundäre bildungen mit ig, denen ein adj. zu-
grunde ligt:
Bei Otfrid:
brüzig: u 12, 33 themo brüzigen man. adj. brüz(-i) ist zu
erschliefsen aus dem adj.-abstr. brüzi.
emmizig: in 17, 66 und iv 31, 36 skalk; iv 8, 22 giknihli.
adj. emmiz('i) ist zu erschliefsen aus dem adverbialen dat.
plur. emmizen neben emmizigen bei Otfr.
kümig: i 4, 49 kümig bin ih; m 4, 16 einan altan kümigan;
m 4, 34 themo kiimigen man; m 23,5 Lazarus ward kümig.
ad].küm(-ijiu erschliefsen aus adv. kümo. — (vgl. auch §21).
unlastarbdrig: m 17, 68 er ist — ; sonst ahd. oft -bdri.
6t-muatig: i 7,16 thio dtmuatige; daneben bei Otfr. subst.:
dt-muati und die adjeetiva dump-, fast-, frawamuati.
ubbig: v 1, 18. 24. 30. 36. 42. 48 nist wiht in themo boume
(kreuz) thaz thar ubbigaz (ubbiges) si. zu adj. uppi,
Graff i 88.
sdlig: 13mal persönlich bezogen, ferner: i 2, 58 sela; r 3, 27
bluama; i 17, 6 giburt; ii 8, 4 zit; iv 34, 4 lieh.
Zu adj. *säli = got. sels (e-stamm), falls man nicht
lieber ein subst. daz *sdl, wie daz heil neben adj. heil,
annehmen will, wogegen allerdings das adjeetiv-abstractum
sälida spricht.
ubil-, wola-willig: m 17,7 so sie ubilicillig wdrun; in 10, 17
thio wolawilligun man; aus-willi, vgl. ein-willi, Graff
i 826, und bildungen wie dump-muati.
Im Hei. und Gen.-fragm.
fr e<$ ig: = ahd. freidi, freidig. Gen. 75: freJsig scalt thu
libbean (vgl. auch § 21).
DIE GERM. BILÜÜNGSS1LBEN AG, IG UND LIK 513
ei i -landig: 5139 elilandiga man M (C eliiendiga); und auch
345 CM Mea elilendiun man.
-modig: 4948 CM gel-mödig; 3137 CM hard-mödig; 5247 CM
slih-mödig; 2705 CM. 775 M. 4169 C otar-mödig; und auch
775 C. 4169 M obarmödi, und sonst immer hriwig-,
jdmar-, otar-, öd-, serag-, s/iö-, star-k-, dol-, frah-, frö-,
gel-, glad-, ihrist-, we'k-, widar-, iore<$-möd(i).
sdlig: sehr oft persönlich hezogen, aber auch 1024 sinllf;
3477 thing (vgl. salig-lik § 62).
tömig: 2616 CM allaro manno gihwilic mönes lömig; und auch
2319 CM. Gen. 251 sundeono tömi; Gen. 13 ihe.ro todron
wit be'dero tttom (hunger und durst).
göd-willig: 421 gumo; Gen. 198 man.
Hierher gehören auch:
-hugdig: 823 arm-hugdig idis; 4SI 1. 5355 gram-hugdig man;
5201 wreb-hugdig man, während bah-, nfö-hugdig ein
subst. balo-, nib-hugd (vgl. balo-ddd, nib-hugi) voraus-
setzen, vgl. § 33.
§ 37. Diesen adj. ist gemeinsam eine ausgesprochen per-
sönliche hedeutung; dass eine solche urspr. auch ubbig und
dem zugrunde liegenden ubbi zukommt, beweist ubper = 'male-
ficus' im Reichenauer bibelglossar (Graff i 88). auch in der
syntaktischen beziehung kommt diese bedeutung noch gut zum
ausdruck, nur sälig und ubbig sind auch unpersönlich bezogen.
es hat hier also, wie bei den § 21 besprochenen adj. auf ag,
eine stoffliche association der diesen bildungen zugrunde liegenden
adj. mit den adj. auf ig stattgefunden, die den formalen über-
tritt zu diesen letzlern nach sich zog. die zugrunde ligenden
adj. sind, soweit sie belegt sind, sämtlich /a-stämme : -bdri,
-muati, *sdli = got. sels(i-sl.), -willi, ubbi, freidi, -landi, as. tömi,
und auch bei den übrigen adj. steht nichts im weg, einen ja-
stamm als grundwort anzunehmen, der übertritt zu der njr-classe
auf gruud einer bedeutungsassociation lag demnach aus mecha-
nischen gründen für die adjectivischen ja-slämme näher, als für
die a-stämme, bei denen er aber gelegentlich auch erfolgte,
zb. fizus neben fizusig. — hierher gehört auch das schon im
Tatian belegte lebentig, das die wesentlichste menschliche eigen-
schaft bezeichnet; hier war der übertritt so vollständig, dass
schliefslich auch eine rhythmische analogiebildung nach der über-
514 SCHMID
wiegenden mehrzahl der adj. auf ig, die den accent naturgemäfs
auf der dem ig vorausgelinden silbe trugen, erfolgte; diese
accentverschiebung vollzog sich wol stufenweise, zunächst von
lebentig zu lebentig, entsprechend den gleichzeitig übertretenden
gel-mbdig, göd-willig und dann erst zu lebentig wie gilöubig,
ginddig, giweltig ua.
A um erkung 1. der psychologisch motivierte übertritt zur ig-
classe konnte bei einem pari. präs. natürlich nur dann erfolgen,
wenn dieses gegenüber dem verbum einigermafsen isoliert war, dh.
seine verbale bedeutung eines zeitlich begrenzten Vorgangs in
die adjeclivische bedeutung einer bleibenden eigenschaft gewandelt
hatte, im ahd. ist nach Graff neben lebentig nur noch die
psychologisch verständliche bildung tobentig belegt, willkürliche
Weiterbildungen des part. praes. mit dem suffix ig entstehen erst im
frühmhd., zb. lachendic (Hartmann Vom glauben), gluondig (Lampr.
Alex, und Wolfr,), brinnendec (Wolfr.); späteres Germ. 26,271.
Anmerkung 2. ob auch meislig = 'polissimum, praeserlim'
(0. iv 12,10 bi thiu meistig zöh ih iuih) als solch eine analogie-
bildung oder anders aufzufassen ist, ist nicht zu entscheiden,
da sich die bedeutungsentwickluug von einem persönlichen adj.
zu meistig = 'potissimum, praesertim' nicht mehr feststellen lässt.
§ 38. Nach § 33 kann von dem gefühl dafür, dass die
adj. auf ig persönliche bedeutung haben, bei Otfr. nicht mehr
viel vorhanden gewesen sein, deshalb können auch die § 36
genannten analogiebildungen kaum vom Sprachgefühl Otfrids voll-
zogen sein; sicher ist das nicht der fall bei den adj. bruzig, em-
mizig, kumig, sdlig, nbbig; eher wäre bei -bdrig, -maatig, -willig
daran zu denken, nach dem verblassen der persönlichen be-
deutung von ig, das in bildungen wie wintirig und ferner in der
unpersönlichen beziehung von persönlichen adj. zum ausdruck
kommt und mit dem absterben der bedeutung von Uli band in
band geht, stellt sich als folge des alten psychologisch motivierten
Übertritts der adjectivischen /a-slämme zur ig-chsse auch ein
rein formal analoger übertritt ein, der sich mit der alten bedeutung
von ig nicht verträgt; so in as. gibidig (= angels. gifede), das
im Hei. 5 mal belegt ist, daneben aber auch noch die alte form
gibidi 195 C.
Anmerkung: neben alten primären bildungen mit ig stehn
in C mehrfach formen auf -i : mahli für mahlig 25S1. 4229. 47665
magti 1378; al(o)~ mahti 245. 2957; mahlina 753. 996. 4079.
4137; mahti- lic 2349; hriwi für hriicig 5612; sculdi für sculdig
5232; wirlhi für wirdig 1853; wliti für wlitig 1393. gewöhnlich
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND L1K 515
sieht man hierin eine rein lautliche erscheinung, vgl. Holthausen
As. EB. § 234. möglich ist auch, dass bei diesen nebenformen
das oben constatierte gleichwertige nebeneinander von i- und
sekundärem -ig (tömi und lömig, -tnödi und -mddig etc.) in
umgekehrter nthtung analogiebildend mitgewirkt hat.
einig.
§ 39. Gegenüber dem gemeingerm. einag- got. ainaha =
'einzig' ist einig ==» 'irgend einer' eine jüngere nur westgerm.
bildung. im westgerm. hat ein neben der alten ursprüngl. be-
deutung als zahladjectiv = 'uuus' auch die abgeschwächte be-
deutung von 'aliquis unus', elg rig. von dieser bedeutung aus
muss ahd. einig , augels. oenig, as. enig gebildet sein, und zwar
ligt meiner ansieht nach bei der bildung von einig ein psycho-
logischer vergang zu gründe, den ich als erklärungsmöglichkeit für
einag in § 23 näher ausgeführt habe, im einzelnen fall kann
ein wol persönliche bedeutung haben, aber diese ligt an sich
nicht in ein = aliquis. deshalb muss bei der Weiterbildung
von einbeinig ein bedürfuis des Sprachgefühls, der bedeutung
von ein das für die adj. auf ig charakteristische persönliche
bedeutungsmoment zu addieren, wüiksam gewesen sein, gegenüber
dem allgemeinen indefinitum ein ist also einig ursprünglich nur
persönliches indefinitum. mit dem absterben der persönlichen
bedeutung der adj. auf ig wurde einig, ebenso wie die anderen
adj. auf ig, auch unpersönlich bezogen, so beides gleich oft im
Hei. (ich zähle 40 mal persönliche, 38 mal unpersönliche beziehung).
in unpersönlicher beziehung steht im Hei. enig nur attributiv
{enig fruma, eniga sundea, helpa ua.), während es, persönlich
bezogen, meist absolut mit dem teilungsgenetiv steht (enig wero,
liudeo ua.). diese Verwendung ist daher wol die ursprüngliche,
aus der sich die als attributives adj., das danu auch zu unpersön-
lichen subst. trat, erst entwickelte, in attributiver Verwendung
hat sich enig bei unpersönlichen subst. so weit von seinem
grundwort ein entfernt, dass es sogar in den plural tritt : Hei.
263 te enigun fresun, 1848 mid e'nigun mettmun und ähnlich
1S97. 5700. 5721. besser als im Hei. zeigt sich die ursprünglich
persönliche bedeutung von einig im Beowulf : etnig ist 23mal
persönlich, 12mal unpersönlich, nwnig 7mal persönlich, 2 mal
unpersönlich bezogen, auch hier steht bei persönlicher beziehung
cenig (naenig) oft absolut mit teilungsgenetiv, zb. 157 narnig witena,
516 SCHMID
ähnlich 242. 474. 691. 779 uö. ; bei unpersönlicher beziehuug
findet sich wie im Hei. auch plural : 932 ainigra weana. hei
Otfr. ist die form einig — 'irgendeiner' auffallender weise gar nicht
belegt, es findet sich nur einigo gleichbedeutend neben einago,
vgl. § 20. dagegen steht neben thehein und nihetn völlig gleich-
bedeutend und persönlich wie unpersönlich bezogen theheinig,
niheinig.
t he heinig i 1, 96 in theheinigemo thiete; i 1, 30 dna the-
heiniga äknst; n 7, 47 thaz si thiheining redina; v 11, 14
dna theheinig zwifal; i 5, 30. iv 37, 46. v 6. 60 und 63.
v 21, 22. v 25, 92. v 25, 102 dna theheinig enli.
niheinig v 19, 3 nist niheinig siner drüt; i 2, 22 6t niheini-
gemo nide; n 12, 75 bi niheinigeru fdru.
ewig, ewlnig.
§ 40. e'winig ist eine interessante compromissform, die
nur Otfr. eigen ist. die alte form ist ewin = got. aiweins, das
im Tatian und einmal im Hei. (1796 C te them ewinon rikie)
erhalten ist. das suffix -In hatte sich in seiner bedeutung zur
ausschliefslichen bildung von stoffadjectiven verengert, wozu die
bedeutung von ewin nicht mehr stimmte, während sich aber -in
in seiner function verengte und specialisierte, erweiterte und
verflachte sich die bedeutung von ig. deshalb wurde ewin, das
stofflich gegenüber den anderen adj. auf in isoliert war, auch
formal aus der gruppe entfernt und in die der adj. auf ig über-
geführt, — die kehrseite desselben psychologischen processes,
der zu den § 21. § 36 besprochenen analogiebildungen geführt
hat. der übertritt zu den adj. auf ig vollzog sich meist in der
art, dass ig an stelle von in trat, so auch im Hei. ewig (einmal
ewin), bei Otfr. aber durch einfache addierung von ig : e'winig.
he big, gihörig.
§ 41. hebig wird gewöhnlich als frühester beleg für adj.
auf ig, die direct von verbum gebildet sind, in anspruch genommen,
dagegen spricht das alter des Wortes, das auch im as. und ags. be-
legt ist, und besonders die bedeutung. die bei Wilmanns § 347
auf geführten ahd. beispiele von deverbativen adj. auf ig haben alle
die verallgemeinerte bedeulung des part. praes. der betreffenden
verba : birig fruchtbar, 'tragend', bizig beifsend, gifellig gefallend,
gi folgig anhängend, gihengig zustimmend, durhliuhtig = durh-
DIE GERM, BILDUNGSSILBEN AG, IG UND LIK 517
liuhtenti = 'perlucidus' (Graff n 150), sümig säumend, hebig =
erheblich, 'gewichtig' ist dagegen nicht ein verallgemeinertes 'hebend',
sondern eher passivisch 'gehoben werdend.' also kann hebig
nicht direct von hafjan abgeleitet sein, vielmehr nehm ich zu got.
hafjan ein verlorenes subst. *haf oder *hafs an, wie gol. bnißs
: biudan, gagg : gaggan, gild : gildati, grets : gretan, frius : ahd.
freosan, galiug : liugan, stiks : ahdjstehhan. wie gild 'das was gegolten,
gezahlt wird, den zins, die abgäbe', stiks 'das was gestochen wird,
den punct' bedeutet, so muss auch *haf(s) 'das was gehoben wird,
das gewicht' bedeutet haben, aus der sinnlichen bedeutung 'ge-
wicht' entwickelte sich die übertragene 'einfluss, bedeutung, Wich-
tigkeit' (vgl. in 'wichtig' dieselbe entwicklung), von der aus hebig
als personliches adj. 'einfluss, bedeutung habend' gebildet wurde,
diese bedeutung von hebig ist als einzige bei Otfr. belegt, aller-
dings sowol persönlich, als auch, und zwar viel öfter, unpersön-
lich (= uhd. 'wichtig') bezogen : i 27, 5 er ni was so hebiger ;
iv 2, 29 thiob hebiger ; iv 13, 47 ni wdri ther fiant so hebiger',
iv 22, 13 skdhari hebiger ; und auch : i 4, 62 werk; i 15, 31 zeichan;
i 17, 16 wunlar; i 22, 28 Ha; i 22, 53 waz iz so hebigaz; i 23, 36
wort; in 14, 117 nid; in 17, 1 lera; m 20, 67 gisliz; iv 13, 31
wig; i 15, 40. n 8, 13. in 18, 1. iv 20, 16. v 19, 2 thing.
Dass die verwaiste bildung so früh als es das erlöschende
gefühl für die bedeutung von ig erlaubte, sich an das verbum an-
lehnte und von ihm aus eine neue sinnliche bedeutung erhielt,
ist erklärlich; so auch bei Otfr. einmal in dem von hebig abge-
leiteten hebigi: v 4, 18 thes Steines hebigi, aber auch: v 20, 7
quimit ther gotes sun mit michileru hebigi. im Hei. ist hebig
nur einmal und da mit sinnlicher bedeutung belegt : 1707 hard
trio endi hebig.
Wie hebig, so wird auch gewöhnlich das as. gihörig (Hei. 68.
82.837.2115.2981. Gen. 169, immer persönlich bezogen) als eine
deverbative bildung angesehen; von der bedeutung aus lässt sich
gegen diese annähme nichts einwenden; gihörig wäre also nach
dem über hebig gesagten im Hei. u. bei Otfr. das einzige direct
vom verbum aus gebildete adj. auf ig. sehr auffallend ist, dass
zum selben 'verbum' bei Otfr. mehrfach die synonyme ableitung
mit -sam belegt ist: hörsam, gihörsam. Wilmanus § 373, 3 sagt:
Via ein subst., das als Stammwort gedient haben könnte, nicht
nachweisbar ist, wird man das wort als verbale ableitung ansehen
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 34
518 SCHMID
können.' dann wäre (gi-)hörsam die älteste und im ahd. einzige ein-
deutig deverbative bildung mit -sam (vgl. Wilmanns ebda.), bei Otfr.
ist sonst noch belegt fridu-sam, lobo-sam1, wunni-sam. es ligt des-
balb die Vermutung sehr nahe, dass sowol in (gi-)hör-sam als auch
in gihörif/ ein verloren gegangenes suhst. steckt, von dem mög-
licherweise auch das verbum got. hausjan, ahd. hören abgeleitet ist.
Die got. b i 1 düngen auf eig.
§ 42. Subst. -f- eigs sind folgende im got. belegt : ansteigs,
usbeisneigs, hropeigs, laiseigs, listeigs, mahteigs, andanemeigs, piu-
ßeigs, nhteigs, gaicairpeigs, witodeigo, waurstweigs, gawizneigs.
Wie weit Ulßla den Charakter der adj. auf eigs noch gefühlt
hat, ist schwer festzustellen; er gibt in seiner Übersetzung wo-
möglich einen griech. stamm mit seinen verschiedenen ableitungen
auch im got. mit ableitungen zu ein und demselben stamm wider
und verwendet dabei das suffix eigs öfter zur bildung von un-
persönlichen adj.; so hat er neben witop = vöfxog ein dem
griech. vof.iifxtog entsprechendes witodeigo (1 Tim. 1,8. 2 Tim.
2, 5.), das, auch abgesehen von der adverbialen Verwendung (vgl
§ 45), in seiner bedeutung 'gesetzmäfsig, gesetzlich' nicht zur
urspr. bedeutung von eigs stimmt, so ist auch magan = dvva-
o&ai, tnahts = övva^ig, (un-)mahteigs — {d)dvvarog. dabei
übernimmt Ulf. die doppelle bedeutung von dvvaxög = 'mächtig'
und 'möglich' ohne weiteres auch für got. mahteigs, das nur die
persönliche bedeutung 'mächtig' haben kann, zu got. waurstw
= egyov, waurshca, waurstwja = eQydxrjg, waurstwei= egyaoLa
ist waurstweigs = evsQyijg, ireQyovfievog 'würksam' gebildet
und nur unpersönlich bezogen : 1 Cor. 16,9 haurds; 2 Cor. 1,6
naseins; Gal. 5,6 friapica; Gal. 2,8 waurstiveig gataujan (c. dat.)
= eveqyelv 'würksamkeit geben', neben piup n. = %6 ayaitov,
piupjan = evXoyelv steht piupeigs = äyad-ög, persönlich (Mc.
10, 17 u. 18; Luc. 6, 45; Luc. 18,18 u. 19) und unpersönlich
(Rom. 7,12 u. 13; Luk. 6,45) bezogen, ferner, nur persönlich
bezogen, = evloy^rog (Marc. 14, 61 ; Luc. 1, 68; 2 Cor. 11,31)
und auch = xaXög (Matth. 7, 18 zu bagms u. akran).
§ 43. Die griechischen, vom subst. abgeleiteten verba bildet
Ulf. gern mit dem entsprechenden -eigs wisan nach :
1 In lobo -sam scheint Olfr allerdings schon eine umfühlung und Um-
formung der alten Substantivableitung zur deverbativbildung (lobon) voll-
zogen zu haben.
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND LIK 519
ansteigs wisan = yuQirovv (Eph. 1,6); ansls = ydgtg
(vgl. ahd. enstig).
nsbeisneigs wisan = (.iay.Qottvi.nZv (1 Cor. 13, 4 friapwa
usbeisneiga ist; 1 Thess. 5, 14); usbeisns = fzay.goO-v/nia.
gawair peigs wisan = etgrjyeZv (Mc. 9, 50); gawairpi =•
eioijvr]. nicht belegt sind die subst. zu
nhteigs wisan = oyoldZetv (1 Cor. 7,5); = evy.aioeZv
(1 Cor. 16, 12, wo nhteigs in nhtings verschrieben ist);
dazu uhteigo, nnuhteigo = etixalgoig, dy.aigtog (2 Tim. 4,2).
zu dem nicht belegten grundwort ist got. uhtwo eine ab-
leitung; der bildung und bedeutung nach entspricht uhteigs
genau ahd. muozig = 'mufse habend, müfsig'.
gawizneigs wisan = ovvr;6eod-ai (Rom. 7, 22); vgl. anda-
wizns.
ähnlich auch:
hropeigs: guda ustaiknjandin hropeigans uns = Ügictfi-
ßevovri tf/tiäg (2 Cor. 2, 14).
Bei diesen adj. ist die persönliche bedeutung von eigs noch
deutlich zu erkennen, ebenso auch hei:
listeigs, 2 Cor. 12, 16 wisands listeigs; aber auch : Eph. 4, 14.
dn listeigai nswandeinai.
laiseigs ist eine nicht sehr glückliche Übersetzung von 6t-
6ay.Tiy.6g in der doppelten bedeutung 1) = 'zum lehren
geschickt' 1 Tim. 3, 2 skal aipiskaupus laiseigs wisan-
2.) = 'gelehrig' 2 Tim. 2, 24 skalks fravjins skal laiseigs
wisan. das zu gründe liegende subst. = ahd. le'ra ist got.
nicht belegt.
andanemeigs führen Kluge §206 und Wilmanns § 345, auf
Grimm s. 309 fufsend, neben andanems als got. beleg für eigs
an adj. -stammen an, wo -eigs 'als blofse Wucherung auftritt,
die weder den redeteilcharakter noch den sinn bestimmt'.
andanems ist = 'angenehm, willkommen', öey.TÖg, dnö-
ösy.Tog, waila andanems = Ev-rtQÖGÖey.Tog; dagegen an-
danemeigs = ävTEyöuevog 'gern annehmend, festhaltend'
(Heyne- Wrede); ersleres hat also passiven, letzleres aber ac-
tiven sinn ; deshalb kann andanemeigs nicht vom adj. andanems,
sondern nur vom subst. andauern = Xfjipig (Phil. 4, 15)
abgeleitet sein; der sinn von dvTeyö^evog ist freilich mit an-
danemeigs 'annähme habend' etwas ungenau widergegeben.
34*
520 SCHMID
§ 44. Aufser den genauuten adj. auf eigs sind im got. noch
belegt: gabeigs und sineigs.
gabeigs (gabigs) ist = rtlovaiog und immer persönlich be-
zogen, daneben aber auch Tt/.ovolcog = gabigaba. dass
gabeigs von dem subst. gabei aus gebildet wurde, ist nicht
anzunehmen, da dieses selber eine abstractbildung zu einem
adj. * gafs zu sein scheint, wenn gabeigs von diesem adj.
* gafs aus gebildet ist, ist es als eine formale analogie-
bildung auf grund der persönlichen bedeutung von *gafs
'reich', den in § 36 aufgeführten ahd. as. adj. entsprechend,
aufzufassen, möglich ist auch, dass neben gabei ein subst.
* gaf(s) existiert hat. wie usbeisns neben usbeisnei, waurstw
neben waurstwei, beist neben (un-)beistei. dann wäre
gabeigs eine organische bildung mit eigs. — gabeigs hat
als häufigere form gabigs neben sich: gabeigs 7 mal (6 mal
im Luc. evgl.), gabigs 1 1 mal (3 mal im Luc. evgl.). da-
neben gabignan und gabigjan. diese abschwächung hängt
wol damit zusammen, dass gabeigs einerseits seiner bildung
nach isoliert war, da im got. das grundwort zu gabeigs
nicht mehr lebte, andererseits aber auch seiner bedeutung
nach gegenüber den anderen persönlichen adj. auf ig eine
Sonderstellung einnahm, denn mit diesen wird dem menschen
fast immer ein abstracter, mit gabeigs aber ein concreter,
materieller besitz zugesprochen, (vgl. auch anm. zu § 31).
sineigs kann mit mehr grund als eine unorganische analogie-
bildung nach § 36 in anspruch genommen werden, die
einstige existenz eines adj. *sins wird durch den Super-
lativ sinists bewiesen; sineigs geht nur aufs menschliche
lebensalter (Luc. 1, 18. 1 Tim. 5, 1 u. 2). seine frühe for-
male angleiclmng an die persönlichen adj. auf ig kann
mit der von lebentig (§ 37) verglichen werden.
Adjectiva auf ag und ig im adverb.
§ 45. Bei den adjectiven auf ig und ag ist der bedeutung
von ig und ag zufolge eine adverbiale beziehung ausgeschlossen,
bei U I f. finden sich, wie schon oben angeführt, gabigaba =
Ttlovottog, (un-)uhteigo = ev-, äy.aiQtog, witodeigo — vof.iif.aoQ.
bei Otfr: n 11,5 filu hebigo iz intfiang, thaz . . .; in 13,6
heistigo biscoltan (= 'heftig, sehr'; die urspr. bedeutung von
DIE^GEHM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND LIK 521
heistig, das sonst ahd. nicht belegt ist, lässt sich nicht feststellen).
im II e 1. : 4716 C: serago gengun swtöo gornondia Hingron
Cristes] vgl. dagegen Hei. 4015 Maria endi Martha se'raga sdtun
und Olfr. iv 34,22 giangun al se'rag heimortes.
Das adv. serago ist besonders auffallend, denn entweder be-
zieht sich das 'traurig' dem sinn nach auf die jünger, dann
wäre ein adj. zu erwarten, oder es bezieht sich auf das
'gehen', in dessen besonderer art sich die trauer äufsert; dann
steht serago, wie cap. m zeigen soll, an stelle von ser(ag)~liko.
Cap itel in.
lih.
§ 46. NVilmanns § 362 sagt zur bedeutung von lih an
Substantiven: 'die ursprüngliche bedeutung der composita mit Uli,
auf das dem Stammwort gemäfse, natürliche, entsprechende hinzu-
weisen, ist noch heute oft wahrzunehmen, zb. in Verbindungen
wie 'mütterliche liebe, väterliche ermahnung' . . . ., dieselben
adj. lassen sich aber auch anders brauchen, zb. 'das mütterliche
erbteil, das väterliche vermögen', .... und in demselben ab-
stracten und allgemeinen sinn einer gewöhnlichen ableitungs-
silbe konnte lih schon im ahd. gebraucht werden.' über lih an ad-
jectiven sagt NVilmanns §363,5: 'das compositum besagte wesent-
lich dasselbe wie das simplex, und lih erschien als eine ähnliche
Wucherung wie ig. aber doch verfolgt der sprachlrieb in diesen
bildungen ein ziel, sie sind wie Grimm 1166O bemerkte, abstract,
dh. sie treten gern da ein, wo das adj. mit einem abslracten
subst. verbunden wird die neigung, die Wörter auf
-licho besonders adverbial zu brauchen, hängt damit offenbar eng
zusammen.' Kluge § 237 sagt: 'es werden (mit lih) adj. aus
adj. ohne bedeutungswechsel und aus subst. gebildet.'
§ 47. Richtig ist die beobachlung Grimms, dass die adj. -f- lih
gern auf ein abstractes subst. bezogen werden, also lih an adj.
keine bedeutungslose Wucherung sein kann, die kehrseite vom
Grimms beobachtung ist, dass adj. auf lih, und zwar sowoJ
subst. als adj. -f- lih, — ausgenommen die pronominal- und zahl-
adj. auf lih — nie persönlich bezogen werden, wenigstens
bei Otfrid, der dieser Untersuchung zu gründe gelegt ist. bei
den adj. + lih ist dies umso auffallender, als die mehrzahl der ein-
fachen adj. eine ausgesprochen persönliche bedeutung hat, vgl.
522 SCIIMID
armi-lih, bald-lih, diur-Uh, driu-lth, drugi-lih, drut-lih, frawa-üh etc.1
es fällt schwer, sich die 'abstracte' bedeutung, die diese persönlichen
adj. durch die Weiterbildung mit lih bekommen sollen, recht klar zu
machen, bei den subst. -f- lih sind zwei arten vou subst. zu unter-
scheiden : 1. abstracta und 2. persönliche subst., wogegen concreta-f-
lih, wie etwa stein-lih und ähnl. bei Olfr. und wol überhaupt im ahd.
nicht vorkommen (aufser ßeisc-lih in christlicher bedeutung). die mit
Uli componierten abstracta bei Otfr. bedeuten fast alle persönliche
eigenschaflen und gemütszustände, zb. egis-lih, er-lilt, foraht-lih,
jdmar-lih, kraft-lih, ginäd-lih, nöt-lihelc, und haben daher öfter per-
sönliche adj. auf ig oder ag neben sich, zb. kreftig, ginddig, nötag.
unter den persönlichen subsjt. -\- lih wäre, wenn lih eine
bedeutungslose bildungssilbe wäre, im ahd. in erster linie das
allgemeinste und geläutigsle persönliche subst. man zu erwarten ;
es fehlt aber im guten ahd., und kommt nach Graft' n 750 nur
einmal bei Williram vor. dagegen ist bei Olfr. und im as. Gen.-
fragm. thegau-lih = 'heldenhaft' belegt. charakteristisch ist
also für alle compositionen mit lih bei Olfr., dass die einfachen
uomina als adj. oder (persönliche oder abstracte) subst. irgend
eine persönliche eigenschaft oder einen gemütszustand bedeuten.
§ 48. Alle diese bildungen kommen besonders oft im ad verb
vor. Paul Principien § 258 sagt: 'das adv. hat die nächste ver-
wantschaft mit dem adj. es verhält sich zunächst zum verbum,
dann auch zum adj. analog wie ein attributives adj. zu einem
subst. diese Proportionalität zeigt sich dann auch darin, dass
im allgemeinen aus jedem beliebigen adj. ein adv. gebildet werden
kann.' das letzlere stimmt nicht ganz, wir werden zb. kaum je
ein adv. zu 'krank, gesund, reich, jung, hungrig, durstig' und
ähnl. bilden, und zwar deshalb, weil diese adj. menschliche
zustände bedeuten, die nie als atlrihute zu einem verbum, einem
1 zu den adj. auf iglih, aglih citiert Grimm s. 661 f die ansieht Rasks,
der 'bemerkt, das compositum (ig-lih, ag-lili) gelte von leblosen Sachen,
das blofs abgeleitete adj. (auf ig, ag) von personen , welches zu meiner
ansieht von der abslractweidun^ durch lik stimmt.' das letztere trifft nicht
zu : den gegensatz der adj. ohne und mit lih formuliert Grimm als concret
und abstract (sztazi zu honig usw., suazlih zu tat usw., vgl § 4), Rask
als von personen und von leblosen Sachen geltend, die feststellung der
wichtigen talsache, dass die adj. ohne lih gegenüber ihren Weiterbildungen
mit lih persönlichen character haben, fehlt also in der definition
JGrimms.
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND I7A' 523
zeitlichen Vorgang, sondern nur zu einem persönlichen subst.
oder prouomen, dl), zu einem menschen treten können, ebenso-
wenig können auch bei den compositiouen mit Uli durch die
adverbiale beziehung, die der bedeuluug von lih offenbar am ge-
mafsesteu ist, die menschlichen eigenschafleu uud gemütszustäude
einem zeitlichen Vorgang als atlribute zugeschrieben werden, sie
sind uud bleiben menschliche attribule. attribut eines zeit-
lichen Vorgangs, eines verbums, ist dagegen die art uud weise,
wie diese menschlichen altribute sich äul'seru.
0. iv 13, 21 heisst es zb. er sprach baldlicho joh harto
tlieganlicho. die tapferkeit uud heldenlugend ist natürlich nicht
eigenschaft des 'Sprechens1, sondern des 'sprechenden', eigen-
schaft des Sprechens ist dagegeu die art und weise, wie es ge-
schieht, an der man erkennt, dass der sprechende tapfer und
eiu held ist; also genau: 4er sprach in einer einen tapferen und
einen beiden erkennen lassenden weise', dies wird deutlich
durch den gegensatz: 'er sprach laut', wo Maut' nicht eine eigen-
schaft des sprechenden ist, sondern lediglich auf die art und
weise des Sprechens geht, ebenso verhält es sich bei abstr.
-f- lih, zb. ii 11, 10 usstiaz er si kraftlicho = 'auf kraft er-
kennen lassende weise.' nicht anders ist die bedeuluug der adj.
auf lih natürlich da, wo die /«/j-bildung nicht auf ein verbum,
sondern auf ein subst. mit 'verbaler' bedeuluug bezogen ist. das
formale adj. ist auch dann logisch ebenso adverbial, wie in den
genannten beispielen, zb. in 17, 2 kraß-lichaz werk, eiu werk,
das nicht selber kraft hat, dem man es vielmehr anmerkt, dass
es mit kraft gemacht ist, 'ein in kraft erkennen lassender weise
gemachtes werk.' lih, german. lik muss also eine bedeutung
haben, die der von nhd. 'erkeuuen lassend' synonym ist.
Die herkunft und bedeutung von lih.
§ 49. Kluge § 237 nimmt als ausgangspunct der bildungs-
silbe lih in form und bedeutung das german. subst. lik === 'leib,
körper' an, weshalb er auch § 239 sagt, das suffix lika sei, wie es
seiu Ursprung vermuten lasse, eigentlich von concreten (speciell
den benennungen lebender wesen) ausgegangen. Wilmauns
§ 361 denkt neben lik 'körper' an einen mit dem subst. gleich-
lautenden stamm von der bedeutung 'gleich, glatt, passend', der
in got. leikan, ahd. liehen, lichön vorliege. weiter sagt er:
524 SCHM1D
'dieser stamm bietet für die composita eine natürlichere grund-
lage, obsehon auch bahuvrfhi-bildungen mit dem subst. statt-
gefunden haben mögen. insbesondere lassen sich die alten
partikelcompositiouen galeiks 'gleich' und analeiks 'ähnlich' leichter
als Verbindung mit einem adj. als mit dem subst. leik 'körper'
verstehen', dass analeiks und galeiks sehr wol bildungen mit
einem subst. sein können, zeigen die got. adj. anasiuns (: siuns),
anahaims (: haims) und gaqiss (: qiss in piupiqiss), gawiljis
(: wilj'a). auch sonst haben mehrere der got. Ze?/r-bildungen ihre
analoga in anderen bildungen mit subst., wodurch der substan-
tivische Charakter von leik erwiesen wird : hwi-, swa-leiks:
A«?e-, swa-laups (zu laudi gestalt); al/a-leiks : alja-kuns (zu kuni) ;
ibna-leiks : ahd. ebanmuoti; missa-leiks : ahd. missi-muoti ; sama-
leiks : sama-kuns, sama-saiwah, sama-laups. dagegen stimmt die
bedeutung von -leik = 'körper', oder 'gestall', wie Uhlenbeck
will, nicht recht zu diesen bildungen; denn es wäre zu erwarten,
dass diese, wenn -leik = 'körper, gestalt' wäre, in erster linie
auf solche begriffe, bei denen von einem körper oder einer
gestalt die rede sein kann, bezogen würden, dh. auf persönliche
oder concrete, jedenfalls aber nicht auf abstracte subst. es lässt
sich im got. eher das gegenteil constatieren : persönlich und
unpersönlich sind nur die bildungen bezogen, denen ein adv.
oder eine partikel zu gründe ligt : swaleiks, hwileiks, galeiks; nur
als adv. belegt ist (Skeir. 49) ana-leiko; dagegen sind die bil-
dungen, denen ein unbestimmtes zahl-adj. zu gründe ligt — von
den anderen got. compositionen mit -leiks wird zunächst ab-
gesehen — nur unpersönlich bezogen: alja-leikos ; anpar-leiko;
ibna-leiks; sama-leiks, -leiko; silda-leiks. so steht zb. ibna-leiks
bei frijapwa (Skeir. 46), dagegen ist ibns persönlich bezogen:
Luc. 20, 36 ibnans aggilum = iodyyslog; Skeir. 37 pis qam
ni ibns ni galeiks unsarai garaihtein, und auch abstract: Skeir. 46
ibnon sweripa; ibnaleiks wie ibns ist = Zoog, das Mc. 14, 56
und 59 mit samaleiks gegeben wird, beidemale zu weitwodipa.
Nur als adverbia sind belegt: ana-leiko, alja-leikos, anpar-
leiko, neben 2 maligem sama-leiks steht 18 mal adv. sama-leiko,
es tritt also bei diesen bildungen dieselbe erscheinung zu tage,
die bei den Otfridischen adjectiven auf lih zu constatieren ist:
abneigung gegen persönliche und Vorliebe für abstracte, besonders
adverbiale beziehung. es ist demnach anzunehmen, dass hier
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND LIK 525
wie dort die bedeutung von leik auch die gleiche ist. für die
bildungssilbe lik hat sich § 48 die bedeutung 'erkennen lassend'
ergeben, die genannten got. adj. auf -leiks enthalten, wie analoge
got. bildungen zeigen, ein subst., zb. galeiks = 'ein und das-
selbe hik habend', wie gaqiss 'ein und dieselbe rede habend'
(Rom. 7, 16 gaqiss wisan = ov(.irpdvca), gawiljis 'ein und den-
selben willen habend' (Rom. 15, 6 = ötuod-vf.iaööv). wenn '■leik
habend' gleichbedeutend mit 'erkennen lassend' ist, kann leik
nur die bedeutung 'ken nzeichen, merk mal' haben, also
galeiks = 'ein und dasselbe kennzeichen habend, ähnlich'
tnissaleiks = 'verschiedene kennzeichen habend' etc.
§ 50. Dass sich die genannte bedeutung aus der bedeutung
von lik_= 'körper' entwickelt hat, halt ich nicht für möglich;
dagegen lässt sich das umgekehrte wol vorstellen. 'kenn-
zeichen, merkmal' ist in gewissem sinn ein relativer begriff, der
zu seiner ergänzung ein genetivverhältnis nötig hat. daraus
erklärt es sich, dass in dem absolut, d. h. uncomponiert ge-
brauchten lik die relative bedeutung sich in eine absolute ge-
wandelt hat, die in 'leib, körper' vorliegt, der körper ist dabei
gewissermafsen als äufseres merkmal für das innere, den muot
aufgefasst, ebenso wie eine bestimmte art des körperlichen ge-
barens, der action (zb. i 17,56 frawalicho sin wartetun) äufseres
kennzeichen einer bestimmten eigenschafl oder gemütsverfassung
(zb. v 23, 182 frawa-muate) ist. das relative bedeutungsmoment
in leik = 'kennzeichen' hat sich dagegen erhalten in der bezeich-
nender weise nur in composition vorkommenden bedeutung 'abbild'.
got. man-leika eCv.tov = ahd. mana-lihha 'statua, imago, ügura, effi-
gies' ist ursprünglich = ,abbild des menschen', ebenso wie angels.
(Beow.) eofor-lic, swin-lic = 'abbild des ebers' (auf dem heim) ist.
-leik als suffix im got.
§ 51. Während in den genannten got. bildungen leik ganz
als subst. verwendet ist, hat es in der composition mit subst. oder
volladjectiven auch im got. die function eines suffixes, mit dem
zu subst. oder adj. mit der bedeutung persönlicher eigenschaften
unpersönliche, besonders adverbial bezogene adj. gebildet werden.
waira-leiko taujaip = ävÖQueo&e 1 Cor. 16, 13 'handelt
männlich', got. wair hat gegenüber dem indifferenten man
durchweg eine edle bedeutung, vgl. Mth. 7, 24 dvöol cpqo-
526 SCHM1D
v'uxig = waira frodamma ; Mlh. 7, 26 dvdql fxcoQ(p = mann
dwalamma; also waira-leiko = 'in einer die kennzeichen
eines tüchtigen inannes tragenden art und weise'.
liuba-leiks Phil. 4, 8 : pishwa patei liuba-leik, pata mitop =
öoa TCQoöcpifaj . . ., ratJro; loyiCeoÜe. Hufs = äyan^xög,
dya7xrtf.iivog ist immer persönlich hezogen, oder auch per-
sönlich substantiviert gehraucht, zh. Rom. 12, 19 liubans =
äycc7Zi]roi.
lapa-leiko 2 Cor. 12, 15 = ijdiota; das zu gründe liegende
nomeu, von dem auch das verb lapon abgeleitet ist, ist nicht
erhalten, mit Schade nehme ich als gruudwort ein adj. *laps
an, dessen bedeutuug 'bereitwillig, geneigt' gewesen sein muss.
Bei waira-leiks ist das Verhältnis zwischen wair und leiks
klar und eindeutig = 'das kennzeichen des tüchtigen mannes
tragend5 ; anders dagegen in liuba-leiks und lapa-leiks. Am
nächsten läge Hufs, *laps als attribute zu leik aufzulassen, wie zb.
auch sama-leiks = 'dasselbe kennzeichen tragend', dagegen aber
spricht, dass über kennzeichen, merkmale, als relative begriffe, nur
vergleichsweise in attributiver form etwas ausgesagt werden
kann, dass sie nämlich im Verhältnis zu anderen 'gleich' (sama-,
ibna-leiks), 'verschiedenartig' (missaleiks) , 'andersartig' {alj'a-,
anpar - leiks) oder ganz allgemein 'fremdartig' (sildaleiks)
sind. dagegen ist es unmöglich, von einem kennzeichen
zu sagen, es sei 'lieb, geliebt' oder 'bereitwillig' oder 'kühn'
(ahd. bald-lih) ua. deshalb kann bei diesen bildungen das Ver-
hältnis des adj. zu leik, lih kein attributives sein, sondern, genau
wie in waira-leiko, thegan-licho, ein genetivisches, mit anderen
worten: die adj. müssen in den bildungen mit lik die function
persönlicher subst. gehabt haben, dies entspricht völlig
dem alten und auch noch uhd. Sprachgebrauch, adj. von aus-
gesprochen persönlicher bedeutuug auch ohne weiteres als persön-
liche subst. zu verwenden; vgl. Paul Principien § 249.
§ 52. Die dritte bei Olfr. sehr zahlreich vertretene gattung
von bildungen auf -lik, nämlich abstracta + lik, scheint im got.
nicht entwickelt zu sein, denn wenn Ulfila diese bilduugsmög-
lichkeit zur Verfügung gehabt hätte, müssten sich zahlreiche
belege finden, da im gegensalz zu adj. -{- leik, wo leik zu einem
adj. ein adj. mit anderer bedeutuugsuüaucierung bildet, hie-
durch die viel inhaltsreichere möglichkeit gegeben war, zu einem
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND LIK 527
subst. ein atlj. zu bilden, dafür, dass Ulfilas diese bildungsweise
überhaupt nicht kannte, spricht auch die art, wie er gelegentlich ein
persönliches adj. auf eigs verwendet, so zh. Eph. 4, 14 du listeigai
uswandeinai. bei Otfr. würde in dieser Verwendung list-lih stehn.
Mau kann aus dem fehlen von abstr.+ leiks im got. schliefsen,
dass diese gattung von /2A"-bildungen überhaupt die jüngste ist.
dies lässl sich auch psychologisch sehr wol verslehn, denn
gegenüber dem 'kennzeichen eines tapferen mannes' ist das
'kennzeichen von tapferkeil' eine abstraction, die auf ein compli-
cierleres und daher späteres denken und sprechen hinweist,
dass von persönlichen subst. -f- leiks nur das einzige waira-leiko
belegt ist, darf nicht wunder nehmen, da zu solchen bildungen
in der griech. vorläge sonst kaum ein anlass vorlag, dagegen
ist sehr auffallend, dass sich nur die zwei belege für adj. -\- leik
finden, dass im got. das 'sufüx' -leik iu der in § 49 entwickelten
bedeutuug, oder wenigstens iu einem rest derselben, existierte,
beweist der gebrauchsunlerschied von Hufs und Huba-leiks. der
grund hiefür ligt zweifellos in der sehr engen anlehnung
Ulfilas ans griechische, das den bedeutungsunterschied, den das
german. durch lik bezeichnet, nicht zum ausdruck bringt. Ulfila
wagte nicht, mit leiks, dessen substantivischer Charakter viel-
leicht auch in dieser Verwendung von ihm noch dunkel gefühlt
wurde, die bedeutuug der griech. adj. im got. iu den einzelnen
stellen eigenmächtig zu modificieren; deshalb . bildet er zb. zu
triggws = tiiötöq auch triggwaba = Tcenoid-ibg, zu frops —
cfQÖvi/.iog auch froduba = cpQOvif.i(ag, während im ahd., wie
Braune § 267 aum. 3 bemerkt, zu (gi-)triuwi, glau die adverbia
ausschliesslich (gi-)triulicho, glau-licho heifsen und nach G raff in 822
zu fruot nur fruot-licho als adverb belegt ist.
Die Otfridischen bildungen auf lih.
Adjectiva -f- lih.
§ 53. Besser als im got. lässt sich die alle bedeutuug vou
lih = 'kennzeichen' bei Otfr. constalieren; lih tritt in erster
linie an nomina au, welche als persönliche subst. oder adj. oder
las abstracta menschliche eigenschaften und gemütszustände be-
deuten; denn nur abstracte dinge, welche sich als solche der
erkennlnis entziehen, werden durch kennzeichen charakterisiert,
dagegen wäre eine bildung wie etwa *stein-lih neben steinin ein
52S SCHMID
unding, da der stein als solcher unmittelbar erkannt wird, das-
selbe gilt auch für bildungen wie langiih, kurzlih, die aber beide
bei Otfr. belegt sind; es ergibt sich daraus, dass die alte be-
deutung von BA, die aus dem Sprachgebrauch Otfrids noch wol
zu erkennen ist, von ihm persönlich nicht mehr deutlich gefühlt
wurde, mau kann also bei diesen und ähnl. adj. -{- Uh mit recht
von Uh als einer bedeutungslosen Wucherung reden, der grund
für diese entwertung ligt in der vorwiegend adverbialen Ver-
wendung der adj. auf Uh, denn ein kennzeichen von menschlichen
eigenschaften und gemütszuständen tritt im gründe nur bei irgend
welcher art von action, von zeitlichem geschehen zu tage, dh.
in beziehung auf ein verbum oder ein verbalabstractum. als sich
dann die urspr. bedeutung von lik verlor, entwickelte sich
aus dem zahlreichen nebeneinander von adj. mit und ohne Uh(-o)
das gefühl, Uh sei eine bedeutungslose Weiterbildung, die überall
antreten könne, und mit der in erster linie adverbia gebildet
werden.
§ 54. Bedeutungsloses -lih(-o) findet sich bei Otfr. in : fol-
Ucho, gara-Ucho, kurz-Uh, gotekund-Uh, lang-lih, suaz-lih(-o), swdr-
lih, gizdm-Uh u. part. prt. ungisewan-Ucho.
Die bei 0. nur als adv. gebrauchten adj. -\- Uh : fol-Ucho
(i 2,25. ii 23, 6. in 22,18; neben 2 mal follo, 26 mal adverbial, dat.
fol/on); gara-Ucho (n 2t, 26; iv 24, 31. neben 6 mal garo, garawo),
ferner ungisewan-Ucho (u 12, 44) zeigen licho schon auf dem wege,
zum selbständigen bedeutungslosen adverbialsuffix zu werden; die
beiden ersteren sind auch sonst ahd. belegt, ebenso auch got-
kund-Uh (u 8, 22 gotkundlichen rachon). dagegen sind kurz-Uh
(Graff iv 499), lang-lih (Graff n 228), suaz-lih (Graff vi 314),
swdr-Uh (Graff vi 892), gizdm-Uh (Graff v 665) als adj. im ahd.
nur bei Otfr. belegt, der wol durch das metrische bedürfnis zur
bildung dieser formen veranlasst wurde1:
kurz-lih : u 9, 74 mit kürzlichen worton; n 21,15 thanne ir
betot, wizit thdz, duet iz kürzlichaz. (vgl. n 21, 17 in
herzen betot hdrto kürzero wörlo).
lang-lih : iv 15, 24 ana länglicha frist (vgl. in 4, 19 thie langun
ziti krist gisdh).
suaz-lih : ii 14, 98 mit süazlichen giU'islin; in 18, 57 mit süaz-
licheru milti; m 22, 38 süazlicho ddli; v 9, 53 süazlichero
1 in den entsprechenden mhd. formen seh ich jüngere neubildungen.
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND L1K 529
wörlo; v 12, 90 joh süazliches müates; n 7, 57 mit süaz-
licheru giwürti P, dagegen V (u. F) : süazeru. das adv.
suazlkho sieht iv 1, 18 u. v 16, 11; 9 mal heifst das adv.
suazo.
swdr-lih : v 23, 136 swdrlichero dato: adv. nur swdro.
gizdm -Uli : n 4, 72 thaz wdri so gizdmlih. das zu gründe
liegende adj. gizdmi ist 14 mal unpersönlich hezogen =
'passend, angemessen', aher auch 2 mal (u 4, 18 man so
gizdmi; i n 24, 36 goles sun gizdmi) persönlich = 'tugend-
haft, würdig', also ist gizdmlih vielleicht auch zu § 55
zu stellen, oder auch zu § 56, falls man das subst. gizdmi
als grundwort annimmt.
§ 55. Viel zahlreicher als die geuannten adj. mit lih(-o)
als einer bedeutungslosen Weiterbildung sind bei Otfr. die adj.
-J- /?7<(-o), die ohne lih eine ausgesprochene persönliche,
mit lih aber nur unpersönliche bedeutung haben :
arma-lih, bald-licho, blid-lih{-o), diur-lih, driu-licho, drugi-
licho, drüt-lkho, frawa-lih(-o), görag-lih, gual-licho, her-licho, hön-
lih, horsg-lih, liub-lih(-o), lugi-licho, swds-lih(-o), giwara-lih, we'nag-
lih, wis-lih.
arma-lih : zu ddt 4 mal, willo 3 mal, wizzi 2 mal; brüst,
fdra, Tust, muat, sultt je 1 mal. — arm ist nur persönlich
bezogen (18 mal).
bald-licho : 4 mal, neben baldo (llmal). — bald 6 mal per-
sönlich, 1 mal zu herza bezogen.
blid-lih : m 24, 80 tho sprah er worton blidlichen 'freuderregt'
Kelle, ii 9, 10. v 20, 55. v 22, 2 muat; v 4, 60 willo.
adv. blid-licho S 29. u 4, 64. — blidi ist 15 mal persönlich
bezogen, auch 1 mal persönlich substantiviert gebraucht:
i 28, 3 thie bilden = 'die frohen', aber auch unpersön-
lich : n 15, 14 ouga; n 13, 36 higu; v 23, 253 muat;
in 20, 7 und 23, 42 wort; n 19,21 sunna; iv 33, 6 gi-
siuni; n 8," 10 allaz blidaz.
diur-lih : iv 29, 1 racha. — diuri 1.) = 'kostbar, wertvoll' bei
concreiis, 2.) = 'lieb, wert', in letzterer bedeutung per-
sönlich (i 5, 22; i 5, 61; i 6, 16 u. 17; i 25, 3; iv 4, 22;
v 9, 24; H 80) und unpersönlich bezogen, je 1 mal zu
drunti, dag, haut, lih, Caritas, bruaderscaf, minna.
530 SCHMID
driu-licho : r 16, 10 thionon. (vgl. § 52).
drugi-licho : n 6, 13 thiu natara spuan sin drugilkho. — das
adj. * drugi = 'fallax' kommt selbständig im ahd. nicht
mehr vor, ist aber auch noch in drugi-heit erhalten.
drut-licho : ii 2,36 minnon. — drüt immer persönlich bezogen»
vgl. auch drüt, st. m. = freund, liebling.
frawa-lih : n 15, 12 muat; n 15, 23 frawalichen ougon. adv.
frawa-licho i 17, 56; n 13, 14; n 16, 32. — frö ist 12 mal
persönlich bezogen, ferner 4 mal zu muat, herza, 1 mal
zu lust (vgl. auch § 64).
görag-lih : iv 26,8 thaz göriglicha jdmar. — görag i 10, 8 zu
werolt = 'alle menschen'.
gual-licho : = 'auf herrliche, prächtige art' Kelle, i 1, 3;
i 13,24; iv 19, 55; v 20, 13. ich glaube nicht, dass eine
bildung zum stamm galan zu gründe ligt, sondern stelle
gual-licho zu guat, wie Grimm n s. 658; vgl. Keron. Gl.
104, 27 cöt-Uh = 'gloria'. eine guat-lichiu ddt ist 'eine
einen guten, tüchtigen erkennen lassende tat' = 'eine
rühmliche tat', dieselbe assimilalion von t-l > l-l ligt vor in
wdl-lih, reichlich bezeugt neben wdt-Hh, (vgl. Graff i 743 u.
839) = 'schön'; die bedeulungsentwicklung ist hier
freilich unklar. — guat wird persönlich und unpersönlich be-
zogen.
her- licho : i 19, 8; iv 19, 55. — her(i) bei Otfr. nicht belegt.
hön-lih : iv 23, 11 hönlkhero worto 'einen schändlichen kenn-
zeichnend' iv 1, 43 thaz hönlkha krüzi. H 74 in hön-
licheru zdlu. vielleicht ist hier hönlih eher = 'schändend,
entehrend', dann zu § 64. — höni, uvhöni nur persönlich
gebraucht.
horsg-lih : v 8, 10 in horsglicha frist; v 15, 8 mit horsg-
lichemo willen. — horsg ist bei Otfr. nicht belegt, vielleicht
ist horsglih besser zu § 54 zu stellen, da horsg nicht un-
bedingt ein persönliches adj. ist; nach Graff iv 1041 ist
horsglih als adj. sonst nicht belegt.
Hub -Uli : in 23, 23 minna liublicho. adv. liub-licho : L 52;
iv 29, 35 ; iv 37, 18 u. 19. — Hub ist meist persönlich be-
zogen, doch auch zu houbit, herza, arabeit, sela, dröst.
lugi-licho : n 4, 62. — luggi, persönlich, = 'mendax', zu fora-
sago ii 23, 8, und auch unpersönlich iv 19, 24 urkundi.
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND LIK 531
swäs-lih : 'vertraulich' Kelle, n 15, 24 swdsl /chemo muate.
adv. giswds-lkho: iv 35, 27 u. 29 u. 30. daneben auch
adv. giswdso m 12,1; m 22,68; iv 8,24. — adj. giswds un-
persönlich, = 'eigen': ii 5, 9 thaz imo giswds was; vgl.
aber auch giswäso svv. m. = 'freund' (n 15, 17; v 8, 30).
giwara-l/h : in 20, 81 scouwon giwaralkhen ongon. adv. gi-
wara-lkho i 17, 47; n 5, 4 ; in 16, 22; iv 29, 36, neben
5 maligem adv. ghoaro, - adj. (un-)giwar =» '(unaufmerk-
sam' nur persönlich bezogen.
we'nag-l/cho : in 10, 14 klagön; v 6, 44 leben (vgl. auch
§ 64). — we'nag ist 6 mal persönlich bezogen: i 17, 51;
r 18,24; n 6,24; u 14,44; iv 12.3; iv 22, 18, und 2mal
als persönliches subst. gebraucht: i 23, 7 (hie wenege;
v 19, 5 thie wenpgun alle; aber auch unpersönlich: iv 7, 12
fluht; v 20, 57 fal.
wis-lih : n 3, 30 kösön bigonda wislichon worton. — wis(i) ist
sehr oft persönlich bezogen, aber auch zu wort (2 mal),
githank, redina (je einmal) und i 4, 64 theih thir iz wis
ddti.
Abstracta -f- lih bei Otfr.
§ 56. Die abstracta, zu welchen bei Otfr. mit lih adj. ge-
bildet sind, bedeuten fast alle persönliche eigenschaften oder
gemütszustände:
egis-l/h, er-licho, foraht-lih(-o), idmar-lih{-o), kraft-lih(-o),
leid-lih(-o), gilust-lih, gindd-lih, nöt-l/h, ser-lih, sunt-lih, sworg-Jih,
ummez-Uh, wdr-lih(-o), wuntar-lih, zorn-lih.
Bei iämar-, leid-, ser-, wdr-lih(-o) wäre auch möglich, ab-
leitung vom adj. aus anzunehmen, bei idmar-lih, ser-lih neben
idmarag, serag spricht die analogie mit nöt-lih, nötag für subst.; auch
bei wdr-lih(-o) scheint mir eine ableitung vom subst. näherliegend,
als vom adj. : 'die kennzeichen der Wahrheit tragend', in leid-
lih = 'abscheulich' und 'jammervoll' wird sowol ableitung zum
subst. leid = 'kummer, leid', als zum adj. leid = 'verhasst' vor-
liegen. — zu gihogt-lih (v 23, 73 gihogt/khen sorgon 'mit be-
kümmerter sorgsamkeit' Kelle) und gilumpf-lih (5 mal, zu thaz,
iz, stat) sind entsprechende subst. nach Graft iv 794 und n 217
nicht belegt.
Keine persönliche eigenschaft oder gemütsverfassung be-
deuten die subst. in fleisc-lih, worolt-lih, und auch geist-lth,
532 SCHMID
da mau unter persönlichen eigenschaften usw. nicht den geist,
sondern nur dessen modificationen versteht, geist-lih ist ein
christlicher terminus = ;spiritalis', und tritt zu bröt, win, lera, ddt,
wort, iz; 7 mal ist es als adv. geistlicho = 'spiritaliter' belegt.
in ausgesprochen christlichem sinn ist auch fleisc-lih ('camalis')
gebildet, wo fleisc weniger die concrete bedeutung 'fleisch', als die
abstracte: 'fleischlichkeit, fleischeslust' hat (u 2, 29 fon ßeislichemo
muate 'von fleischeslust' Kelle), christlich ist wol auch worolt-
lih ('saecularis') = 'was das irdische leben in seinem gefolge hat'
Kelle (v 14, 12 woroltlichaz ser).
§ 57. Ebenso wie die adj. -f- lih, so werden auch die
abstr. -f- lih nie persönlich bezogen, stehn also im gegensatz
zu den mehrmals bei Otfr. daneben belegten abstr. -f- ag, ig-
egis-lih: vgl. § 64.
er-licho: uur als adv. belegt: i 5, 13. G, 3. 8,7. 23,13.
iv 4, 40.
foraht-lih: m 1, 9 mit forahtlichen sworgen; foraht-licho :
i 15, 24. 22, 4. ii 4, 96. v 20, 12 und 20.
idmar-lih: v 9, 6 fuarun quitilönti idmarlichon thingon;
-licho: in 24, 8 toeinön. (vgl. auch § 64). — idmarag iv
34, 24. v 23, 33 zu muat.
kraft- lih: m 17, 2 werk; iv 12, 27 weo; v 4, 49 sigi. -licho:
i 23, 34; ii 11, 10; iv 7, 42; v 4, 23 und 54. — zu kreftig
vgl. § 34.
leid-lih: u 23, 24 klagönt mit leid-lichen worton = 'kenn-
zeichen von kummer tragend', zu subst. leid.
Vom adj. leid (= 'verhasst, feindselig' = as. left) aus
scheinen gebildet zu sein: m 17, 60 bin suntig in leid-
lichen werkon. leid -licho: in 17, 54 leidlicho ruagtun
(die beiden letzten belege vielleicht auch zu § 64).
gilust-lih: ii 6, 10 erfüllen mit gilustlichemo willen (vgl.
auch § 64).
gindd- lih: iv 18, 42; v 20, 59 scouwön ginddlkhen ougon =
'mit erbarmen, milde erkennen lassenden äugen, dh. blicken'.
. -licho: i 2, 20; iv 25, 4. — zu ginddig vgl. § 34.
not -lih: L. 25 in nötlichen werkon; iv 13, 36 in nötlichemo
thinge. — nötag ist persönlich bezogen : iv 12, 63 then
furiston therera worolti nötagan giholoti.
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND L1K 533
ser-lih: = 'schmerz verratend' Kelle, in 24, 9 serlichen za-
harin; m 24, 12 se'rlichero worto. — se'rag persönlich
(iv 34, 22. H. 134) und unpersönlich auf muat (u 13, 37;
in 24, 10; v 5, 19. 9, 4. 9, 22. 25, 5S) und herza (i 18,30)
hezogen.
sunt-lih: iv 25, 8 mit suntlichemo bluate. — suntig nur per-
sönlich, vgl. § 34.
sioorg-lih: iv 7, 72 zi sworglichen werkon; iv 35,32 mit
sworglichemo mache.
ummez-lih: iv 5, 12 burdin. — zu ummezzig vgl. § 34.
wdr-lih: iv 21, 32 thing; wdr-licho: i 24, 18; n 14,4;
v 15, 28.
xountar-lih: vgl. § 64.
zorn-lih: m 24, 108 zornlichen worton neuen ahd. zornag,
vgl. Graff v 693.
Persönliche subst. + lih.
§ 58. Zu persönlichen Substantiven, welche die hedeutung
einer besonderen eigenschaft in sich schliefsen, sind bei 0.
folgende adj. auf lih belegt:
düfar-lih: iv 31, 6 rafst er nan thero düfarlichun worto =
'einen bösevvicht kennzeichnend'.
gomi- licho: i 27, 47 gab er gomilicho in antwurti. ahd. gomo hat
ebenso wie got. wair gegenüber man eine gehobene, edle
hedeutung, weshalb es auch nach Graff iv 199 als glosse
für 'heros' stehn kann. vgl. auch goma-heit 'hervorragende
geistes- und herzenseigenschaften' Kelle. ,
thegan-licho: m 26, 40 dowent theganlicho; iv 13, 21 er
sprah baldlicho joh harlo theganlicho.
Auch mit engil, kuning, skalk verknüpft sich die Vorstellung
einer bestimmten eigenschaft, die jedoch in der art, wie Otfr.
die betreffenden adj. auf lih verwendet, unbeachtet bleibt, so dass
die /i/t-bildungen in Vertretung eines genetivs stehen:
engil- lih: i 18, 10 engillichaz kunni; v 19,25 dag engil-
liches galmes.
skalk- lih: in 7, 59 korp theist skalklichaz faz.
kuning -lih: iv 22, 23 giwdti. — dagegen anders in iv 22,28
bist . . . harto knning-licho = 'nach der einen könig
kennzeichnenden art'.
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. 35
534 SCHMID
Anmerkung: persönlich und unpersönlich sind hei Otfrid
die als pronominal- und unbestimmte zahladjecliva fungierenden
bildungen mit lih bezogen: eban-, ein-, gi-, giwe-, missi-, sama-,
sumi-, SM-, sms-, wio-lih.
§ 59. Die ursprüngliche bedeutung von lih = 'kennzeichen
tragend, kennzeichnend' ist bei den in §§ 55 — 58 genannten adj.
auf lih noch oft zu erkennen; vor allem natürlich da, wo diese
adverbial bezogen sind, aber auch die art des formal adjectivischen
gebrauchs verrät noch die alte bedeutung von lih, so zb. armi-
lichiu ddt, worton bildlichen, frawalichen ougon, giwaralichen ougon,
wislichon worton, ginddlichen ougon, in notlichen werkon, serlichen
zaharin, serlichero worto, zornlichen worton, thero düfarlichun
worto. viele dieser Wendungen sind nur eine Umschreibung
des adverbiums. dagegen ist bei grammatischer beziehung von
adj. auf lih zu muat, herza, willo, Inst ua. die bedeutung von
lih schon sehr abgeschwächt; die adj. auf lih treten damit den
persönlichen adj. ohne lih und denen auf ig, ag sehr nahe;
denn diese werden bei Otfr. ebenfalls nicht selten auf muat,
herza ua. bezogen, zb. Midi zu hugu, muat; bald zu herza; frö
zu muat, herza', Hub zu herza, sela; jdmarag zu muat; nithig zu
muat, githank; serag zu muat, herza.
Durch diese bedeutungsabschwächung einerseits der per-
sönlichen adj., mit denen ursprünglich nur dem menschen
selber menschliche eigenschaflen und gemütszustä'nde, anderseits
der adj. auf lih, mit denen nur die kennzeichen, dh. die
äufserungsformen dieser menschlichen attribute einem zeitlichen
geschehen zugesprochen wurden, war eine entwicklung an-
gebahnt, die dazu führen muste, dass die adj. auf lih auch per-
sönlich gebraucht wurden, bei Otfr. ist diese entwicklung noch
nicht so weit gediehen, wol aber im Hei.
Die bildungen mit lik im Heliand.
§ 60. In der beginnenden persönlichen Verwendung der
adj. auf lik ligt der hauptunterschied der bedeutung von lik resp.
ih bei Otfr. einer- und im Hei. anderseits.
Persönlich bezogen sind:
diur-lik: 961. 1005 smhm; 1592 döperi; 3046. 5806 bodo;
3994 thegan; Ibhwif; ferner zweimal lif; zweimal dröm; je
einmal swe't, duba. adv. diur-liko 7 mal. — diuri 1.) = 'kost-
bar', 6 mal zu concreleu, 2.) = 'teuer, lieb', 2 mal persönlich.
DIE GERM. BILDUINGSSILBEN AG, IG UND LIK 535
fri-lik: 3967 magaü frtlika (vgl. Beow. 615 freolic wif).
Oder ist frtltk nicht mit dem 'suffix' lik, sondern mit
l,k = 'korper' gebildet, analog mit frihalsl
göd-lik: 336 gödlikan gumon, aufserdem 865 stemna godes;
1101 that al so gödlik; 3135 gard; 4275 alah; 4283 it;
4541 hüs; 5741 allaro grato guodlicost. — göd vorwiegend
persönlich, doch oll auch unpersönlich.
muni-lik: (muna-lik) 252. 1997 magaü; 5784 Maria, zu
*muni = angels. myne.
(un-)wdn-lik: 207 bam; 4957 unwdnlik magaü. adv. tcdn-
Mo 2396. Gen. 105.
heti-lik: in 4215 AefiTi/r ludeono hardburi = 'obrigkeil' ist
ebenfalls hierher zu stellen. 4320 zu wig.
§ 61. Dass die bedeutung von lik im Hei. mehr abgeblasst
ist, als bei Otfrid, zeigt sich auch darin, dass liko schon viel
häufiger als selbständiges adverbialsulfix an adj. von ausgesprochen
unpersönlicher bedeulung antritt:
bara-liko (2 mal); ful-likur (1454); gdh-Uko (5864); garo-
liko (5962, sonst adv. garo); hard-liko (640, sonst 1 3 mal hardo);
ktiü-liko (3mal); opan-liko (5mal); swfö-liko (4977, sonst swibo).
alle diese bildungen sind nur als adverbia belegt; Hebendem
adv. findet sich auch ein adj. mit bedeutungslosem lik in : berht-
liko (2 mal) und berht-lik (3122 bilföi; vgl. 3173 berhtero bilföeo);
torht-liko (89) und torht-lik (1212 tekan, vgl. 428 torhtun teknun).
nur als adj. ist belegt: liht-lik (2055 liö).
Dass die letztgenannten adjekliv-bildungen rückschlüsse aus
dem adverbial-suifix liko siud, beweist die grofse zahl der aus-
schliefslich als adverbia dienenden bildungen.
Persönliche adj. -|- lik(-O).
§ 62. Viel häufiger als an unpersönlichen adj. findet
sich lik(-o) an solchen, die eine persönliche eigenschaft oder
gtmlitsverfassung ausdrücken, von diesen sind nur als adv.
belegt:
bald-liko (2 mal); feraht-liko (4 mal); frö-liko (2 mal); hriwig-liko
(2 mal); kraflig-liko (2652 M); mild-liko (3573 M, C miido); swds-
liko (4500); werd-liko (3 mal).
Auch als adj. sind belegt: diur-lik(-o); helag-lik(-o); mdr-
lik(-o); sdlig-lik(-o); spdh-lik(-o); wis-lik(-o) und nur als adj.:
arm-lik; bliü-lik; göd-lik; liof-lik; mahiig-lik; gimed-lik.
35*
536 SCHiMlD
Obgleich nach § 60. 61 die alte bedeutung von lik im as.
noch mehr verblasst ist, als bei Otfr., muss doch auch im as.
noch ein schwaches gefühl für dieselbe vorhanden gewesen sein;
dies zeigt sich in dem gebrauchsunterschied, der auch im Hei.
zwischen den persönlichen adj. mit und ohne lik zu constatieren
ist: die ersteren sind — mit ausnähme der § 60 aufgezählten
fälle — nur unpersönlich, die letzteren vorwiegend persönlich
bezogen:
arm -lik: 736 döt. — arm nur persönlich.
bliü-lik: vgl. § 64.
helag-lik: 1303 riki. helag-liko 4 mal. — he'lag persönlich und
unpersönlich.
hold- lik: 3414 Ion; hold-liko 1870. — hold 18 mal persönlich,
1 mal zu trewa.
liob-lik: 1277. 1828 le'ra; 1558.1861.3515 lön; 1681 biomo;
2394 feldes fruht. — Hof meist persönlich, aber auch zu
gisidili, that, dag u. a.
mahtig-l ik: 3588 biliüi; 2349 tekan. — mahlig meist persön-
lich, vgl. § 35.
mdr-lik: 1295 thing; mdr-liko 3141. — mdri meist persönlich;
aber auch bürg, tid, Höht, dag, thing u. a.
gimed-lik: 2658 word. — ■ gime'd: 3467 man.
sdlig-lik: 468 sebo M (C sdlig.); sdlig-liko 3 mal. (vgl. auch
§ 64). — sdlig meist persönlich vgl. § 36.
spdh-lik: 1901 word; spdh-liko 3 mal. — spdhi meist persön-
lich, aber auch zu hugi, sprdka, möd, spell.
wis-lik: 1760 antwordi; 23. 1205. 1740 word; icts-liko 7mal.
— wis meist persönlich, aber auch wordquidi, word, spräka,
trewa.
Substantiv a -f- lik(-o).
§ 63. Die mit lik componierten unpersönlichen subst. be-
deuten aufser gest-lik (1323) und wdn-lik (vgl. § 60) alle eine
persönliche eigenschalt oder gemülsverfassung.
Nur als adverbia sind belegt:
arbft-liko (3462); firiwit-liko (6 mal); fiit-liko (5328); niud-
liko (12 mal); grio-liko (5152); otast-liko (2 mal); wdr-liko;
wara-liko (2 mal).
Als adjectiva (u. adv.) sind belegt:
egis-lik (2 mal); forht-lik (2614); gaman-lik (Gen. 111); härm-
DIE GERM. BILDUNGSSILBEN AG, IG UND LIK 537
lik (5514); heti-Uk (vgl. § 60); Jämar-Hk (735); leü-lik
(3 mal, -liko 1563); muni-lik (vgl. § 60); so3-M(-o).
Persönlich sind nur heti-lik, muni-lik, wdn-lik bezogen, vgl. §60.
Als frA'-hildungea zu persönlichen subst., in deren bedeut-
ung eine persönliche eigenschafl enthalten ist, sind im Hei. belegt:
thegan-lik (Gen. 129 githäht); thio-Uko (7 mal); wrisi-lik (1397
giwerk; -liko Gen. 122).
Anm.: von pronominal- und unbestimmten zahladjektiven auf
Hk sind im Hei. belegt: (gi-)hwüik, mislik, öüarlik, seldlik, sulik.
davon sind (gi-)hwilik, mislik, sulik auch persönlich bezogen.
lih = 'verursachend'.
§ 64. Aus der abgeschwächten bedeutung von lik, von der
bei Otfr. noch das deutliche gefühl für den unpersönlichen Charakter
der adj. auf lih erhalten ist, hat sich im ahd. und as. eine neue
spezielle bedeutung entwickelt, die ebenfalls unpersönlich ist.
in der Verwendung bei Otfr. in 24,80 er sprah worton bildlichen
heisst blid-lih 'die kennzeichen eines frohen tragend', 'freuderregt'
Kelle; anders aber im Hei. 424 M blvblik bodskepi, wo bli<$-
lik = 'froh machend' ist.
Diese bedeutung 'verursachend, erregend, machend' kann
lih natürlich nur an Wörtern haben, welche einen subjectiven
zustand, nicht aber an solchen, die eine persönliche eigenschaft
bedeuten; kraft-lih kann nur = 'kraft verratend, die kennzeichen
der kraft tragend', aber nie = 'kraft erregend' sein.
Bei Otfr. und im Hei. findet sich diese neue bedeutung in
gleicher weise bei adj. und abstracten subst. + tih. mehrmals
kann man nach dem Zusammenhang im zweifei sein, ob lih =■
'erregend' oder = 'kennzeichnend' ist.
Otfrid:
egis-lih ist ebenso wie as. egislik immer = 'schrecken er-
regend', mehrmals vom jüngsten gericht, hellia, finstar u. a,
gebraucht.
frawa-licho: u 9, 14 mit thiu sie (die kirchenlehrer mit
ihren Schriften) unsih drenkent frawalkho = 'in froh
machender weise' (vgl. auch § 55).
idmar-lih: iv 7, 11 irwehsit idmarlichaz thing ubar thesan wo~
roltring; ähnlich iv 16,5; iv 26,40; iv 30, 35; v 19,10.
v 23, 101 idmarlichaz wizi; v 20, 99 idmarlicho er zi in quitt
53S
SCHM1D
(zu den verdammten), wol eher 'schmerz verursachend'
als 'schmerz verratend' (vgl. auch § 57).
gilust- lih: i 1,22 theiz gilustlichaz wurti, 'erfreulich' (vgl.
auch § 57).
wenag-lih: iv 26, 10 kämtun thio wenaglichun ddti 'trauer er-
erregend' (Kelle).
wuntar-lih, ebenso wie as. wundarlik, immer = Verwunde-
rung erregend'.
Fl e 1 i a n d :
blrt-lik: 424 M bodskepi.
forht-lik: 2614 that is egislikost allaro thingo forhtlikost firiho
barnun, 'furcht erregend'.
gaman-lik: Gen. 111 them wastom leh hebanas waldand . . .
gamanlikan gang (hs. : gamlikan) 'freude erregend' oder
'bekundend'?
grio-liko: 5152 ik hebbiu it (das geld) so grioliko mit mines
drohtines dröre geköpot, 'in grauen erregender weise'.
harm-lik: 5514 thar mohta man dereti thing harmlik gihörian
'schmerz verursachend' (vgl. Hildebr. lied 66 heuwun harm-
licco).
salig-liko: 48 scolda thuo that sehsta (sc.aldar) säligliko cuman;
1169 scoldun säligliko lön antfdhan 'in beseligender, glück-
lich machender weise' (vgl. auch § 62).
Anm.: auch einfache nomina, die einen subjectiven zustand
bedeuten, haben daneben nicht selten die bedeutung der Ursache
dieses zustandes, so egiso =■ 'schrecken' und 'schreckenerregende
sache' Kelle ; wuntar 'Verwunderung' und 'Ursache der Ver-
wunderung', das 'wunder'; Midi 'froh' und 'froh machend'
Kelle.
ig-lih, ag-lih bei 0. und im Hei.
§ 65. Wilmanns sagt § 370 : 'wo ein adj. auf ig vor-
handen ist, lehnt sich lieh lieber an dieses als an den zu gründe
liegenden nominalstamm an.' für Otfr. trifft dies nicht zu;
ebenso wie ig und ag, und in bedeutungsvollem Wechsel mit
diesen, tritt lih direct au den uominalslamm, dh. an das abstracte
subst. an: ginädig : ginddlih; kreßig : kraftlih; snnlig : suntlih;
ummezzig : ummezlih; idmarag : idmarlih; nötag: nötlih; serag :
serlih. nur da, wo das zu grund liegende subst. ausgestorben
ist, steht lih am adj.: göraglih, we'naglih. dagegen zeigt schon
der Hei., der in form und bedeutung der hier behandelten
DIE GERiM. BILDUNSSILBEN AG, IG UND LIK 539
bilduugssilben gegenüber Otfr. im ganzen ein jüngeres eutwick-
lungsstadium aufweist (vgl. § 17, § 18, § 38, § 60, § 61), die
von Wilmanns constatierte ueigung. im Wechsel mit ig findet sich
lik nur in kraft-liko(2Gb2 C) und flU-liko(flltig ist allerdings as. nicht
belegt), dagegen steht lik am adj. auf ig in kraflig-liko (2652 M),
mahtig-lik, hriwig-lik, ferner sdlig-lik, he'lag-lik. diese neigung von
lik, lieber an ig als an das subst. direct anzutreten, ist eine folge des
Verfalls der bedeulung von ig und lik. dieser verfall hatte den be-
deutungsunterschied zwischen abstr. -f- ig und abstr. -{- lik beseitigt;
schon bei 0. findet sich abstr. -f- ig in der funktion von abstr.-f- Uh,
zb. kreftig bei lera; ginädig bei wort u. a., vgl. § 34. da das umge-
kehrte, die Verwendung von abstr. -f- Uh in persönlicher bedeutung
nicht so früh erfolgte, wurde das abstr. -f- Uh überhaupt durch ein
danebenstehendes abstr. -f- ig verdrängt, zu gleicher zeit hatte sich
licho von den vorwiegend adverbial gebrauchten personlichen adj.
(u. subst.) -\- Uh aus zum adverbialsuffix schlechtweg entwickelt, bei
den adj. auf ig erhielt sich als letzte erinnerung an die alle persön-
liche bedeutung eine starke abueigung gegen die einfache adverbial-
bildung mit -o (§ 45), weshalb diese adj. ihr adverb fast durch-
weg mit Ucho bildeten, im mhd. hat sich daraus dann das
doppelsuffix -eclich entwickelt, vgl. Wilmanns § 370. wie die
abneigung von adj. auf ig gegen einfache adverbialbildung als
folge der alten bedeutung von ig anzusehen ist, so geht auf die
alte bedeutung von licho die abneigung zurück, welche viele adj.
von ausgesprochen unpersönlicher bedeutung gegen das adverbial-
suffix Ucho haben; bei Otfr. sind solche adverbia: ango, blügo,
diofo, fasto, harto, heizo, hoho, kleino, lango, luto, rümo, spdto,
thiko, sköno, stillo, swäro, wasso u. a. mehr, die meisten dieser
adj. und viele andere von unpersönlicher bedeutung bilden auch
im mhd. ihr adv. ohne liehe.
§ 66. Die bedeutungsverüaehung von ig, (ag) und Uh steht
einerseits im Zusammenhang mit bedeutungsverschiebungen und
Verengerungen bei anderen german. suffixen, so bei -in (vgl.
Wilmanns §327) und -isk (vgl. Wilmanns § 355 f), ist ander-
seits aber auch wol zt. auf den einfluss des laleins zurückzuführen,
wenn zb. ein glossator oder versalor im ahd. das latein. 'hiemalis»'
wiederzugeben halte, mufsle er im zweifei sein, mit welcher ab-
leitungssilbe er zu wintar ein adj. bilden sollte; früher war wol
540 SCHMID, GERM. BILDUNSSILBEN AG, IG, LIK
-in das gegebene (vgl. got. aiweins, ahcl. hwilin, Kluge § 199).
da dieses sich aber zur bildung von stoffadjectiven verengert
hatte, griff man zu ig und lih, mit denen ursprünglich nur ad-
jectivische altribute des menschen resp. seines handelns gebildet
werden konnten.
INHALTSÜBERSICHT.
Einleitung § 1-4. s. 485
Cap. i. -ag -28. - 487
die etymologie von ag . $ ~. - 488
die bedeutung von ag § 7. - 489
die ahd. adj. auf ag- § 9—12. - 490
-ag und -ah § 13—16. - 492
Vermischung von ag und ig § 17 — 18. - 495
heilag, otag, wizago * ... § 19 — 20. - 497
analogiebildungen § 21. - 499
einag § 22—23. - 501
modag § 24—27. - 503
die got. adj. auf ag § 28. - 505
Cap. II. -ig- § 29-45. - 506
die form von ig § 30. - 506
die bedeutung von ig § 3t — 32. - 507
subst. -{- ig bei Otfr. und im Hei § 33. - 509
die beziehung der adj. auf ig § 34 — 35. - 510
analogiebildungen § 36—38. - 512
einig § 39. - 515
ewig, ewinig § 40. - 516
hebig, gihorig § 41. - 516
die got. bildungen auf eig § 42 — 44. - 518
die adj. auf ig und ag im adverb § 45. - 520
Cap. in. -lih § 46-64. - 521
herkunft und bedeutung von Uli § 49—50. - 523
leik als suffix im got § 51 — 52. - 525
die Otfridischen bildungen mit lih § 53— 5 J. - 527
adj. -f lih § 53—55. - 527
abslracta + lih § 56—57. - 531
persönliche subst. -f- lih § 58. - 533
die ZiA-bildungen im Hei § 60—63. - 534
adj. -\-Hk § 61—62. - 535
subst. -\-lik § 63. - 536
lih = 'verursachend' § 64. - 537
-iglih § 65. - 538
schluss § 66. - 539
Göltingen im herbst 1907.
PAUL SCHMID.
ANZEIGER
FÜR
DEUTSCHES ALTERTUM
UND
DEUTSCHE LITTERATUR
HERAUSGEGEBEN
VON
EDWARD SCHROEDER und GUSTAV ROETHE
EINUNDDREISSIGSTER BAND
BERLIN
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG
1908.
INHALT.
Seite
Anderson, The anglosaxon scop, von Heusler 113
Anz, Die lateinischen magierspiele, von Schulmann 12
Behaghel, Bewustes und unbewustes im dichterischen schaffen, von
RMMeyer 59
Bellaard, GvdSchurens Teuthonista, von Franck 122
Bloesch, Das junge Deutschland in s. beziehungen zu Frankreich, von
Pollak 141
Boer, Untersuchungen über den Ursprung und die entwickelung der
Nibelungensage bd i, von Wilmanns 77
Borgeld, Die oudoostnederfrankische psalmen, von Wadstein .... 10
Bück, A sketch of the linguistic conditions of Chicago, von Fiuck . 54
Burkhardt, Goethes Unterhaltungen mit Soret, von Walze' .... 43
Cauer, Von deutscher Spracherziehung, von Pollak 60
Dollmayr, Die geschichte des pfarrers vom Kaienberg, von Götze . . 180
Fehse, Der Ursprung der totentänze, von Schröder 146
Frey, Wilhelm Waiblinger, von RMMeyer 52
Friedrich von Schwaben, s. Jellinek
Fries, Vergleichende Studien zu Hebbels fragmenten, von Pollak . . 59
Ganz, Geschichte der heraldischen kunst in der Schweiz, von Küch
und Schröder 123
Geiger, Bettine von Arnim und Friedlich Wilhelm iv, von Walzel . 61
Gerold, Heinr. Redslob, von RMMeyer 149
Goethes Unterhaltungen mit Soret, s. Burkhardt
Goldslein, Moses Mendelssohn und die deutsche ästhelik, von Walzel 39
Gutjahr, Zur enlslehung der nhd. Schriftsprache 11. Die Urkunden
deutscher spräche in der kanzlei Karls iv, von Bernt .... 174
Hagen, Muspilli, von Martin 57
Hampel, Fischarts anteil an dem gedieht 'Die Gelehrten die Verkehr-
ten', von Götze ■ 202
OHarnack, Schiller, 2 aufl., von Wackernell 47
Haym, Gesammelte aufsätze, von Walzel 133
, Die romantische schule, 2 aufl., von Walzel 132
Heitz, Eine abbildung der Hohkönigsburg aus der ersten hälfte d. 16 jh.s,
von Schröder 149. 210
Hellmann, Sedulius Scotlus, von Strecker 116
Höfer, Die Rudolstädter festspiele aus den jj. 1665 — 1667 und ihr
dichter, von Stachel 37
Hollander, Prefixal * in germanic usw., von Jellinek 55
Imelmann, Die altenglische Odoaker dichtung, von Schücking . . . 163
— , Zeugnisse zur altenglischen Odoaker-dichtung, von dems. 16b
Jellinek, Friedrich von Schwaben, von Ehrismann 17
Kahle, Kristnisaga, Pättr Pörvalds usw., von Neckel 107
Kaienberg, pfarrer vom, s. Dollmayr
Krausze, Die keltische Urbevölkerung Deutschlands, von Schröder . 143
Kristnisaga, s. Kahle
Kroker, Luthers Tischreden in der Mathesischen Sammlung, von Baesecke 32
Lange, Les plus anciens imprimeurs ä Perouse 1471 — 1482, von
Schröder 200
Leitzmann, Kleinere mhd. erzählungen usw. i Die Melker handschrifl,
von Ehrismann 20
MLulhers Werke, krit. gesamtausgabe bd 10. 32 und Die deutsche
Bibel bd 1, von Wilmanns 25
IV INHALT
Seite
MLuthers Tischreden, s. Kroker
FMarlow, s. Neurath
.Melker handschrift, s. Leitzmann
HlMüller, Nithardi Historiarum libri im, von Schröder 144
Neurath, Faust von FMarlow (di. LHWolfram), von Michel .... 50
Nithard, s. HMüller
AOIrik, Om Ragnarok, von Much 153
PfafT, Der minnesang im lande Baden, von Schröder 199
Pietsch, s. MLuthers Werke
Piquet, L' originalite de Gottfried de Strasbourg dans son poeme de
Tristan et Isolde, von HM Meyer 198
Piur, Studien zur sprachlichen Würdigung Christian Wolffs, von Jellinek 56
Plenkers, Untersuchungen zur überliefet ungsgeschichte d. ältesten latein.
mönchsregeln, von P. GMeier 120
Prost, Die sage vom ewigen Juden in der neuen deutschen litteratur,
von FSchulze 183
Quellen und Untersuchungen, s. Traube
Rand, Johannes Scottus, von Strecker 119
Ries, Die Wortstellung im Beowulf, von Delbrück 65
Routh, Two studies in the ballad theory of the Beowulf, von Heusler 115
Schatz, Die gedichle Oswalds von Wolkenslein, von Wuslmann . . 129
Schiffmann, Notkers mischprosa in s. commentar zu den psalmen x — xx
und c — civ, von HofTmann 196
ESchmidt, Zur entstehungsgeschichte und verfassei frage der Virginal,
von Martin 58
LSchmidt, Geschichte der Wandalen, von Much 102
Sexan, Der tod im deutschen drama d. 17 u. 18 Jahrhunderts, von
Stachel 35
Soergel, Ahasverdichtungen seit Goethe, von Hock 185
EStagel, s. Veiter
Sireilberg, Gotisches elementarbuch, 2 aufl., von Jellinek .... 1
Studier, Nordiska lillegnade Adolf Noreen, von Heusler 7
Tardel, Studien zur lyrik Chamissos, von Wal/.el 139
Traube, Quellen und Untersuchungen zur latein. philologie des mittel-
alters bd I, von Strecker und Meier 116
Vetter, Elsbet Stagels Leben der Schwestern zu Töss, von Strauch . 21
Vetter, Der 'Stauhbach' in Hallers Alpen u. d. Staubbach in der welt-
litteratur, von Michel 59
Wenger, Historische romane deutscher romantiker, von Brecht . . . 192
Werner, Beiträge zur kenntnis der lateinischen litteratur d. mittel-
alters, von Strecker 147
Wilkowski, [las deutsche drama des 19 jh.s, von Pollak 150
LHWolfram. s. Neurath
OvWolkenstein, s. Schatz
Christus und die Samariterin, von Baesecke 206
Ein gleichzeitiges Volkslied auf die heil. Elisabeth, von Schröder . . 207
Zu Zs. 48, 187 ff (Heliand), von Behaghel 208
Zu Zs. 49, 239 (Baanarok), von Niedner 208
Zu Zs. 49, 395 (Eckart), von Pahncke 209
Zum Anz. oben s. 149 (Hohkönigsburg), von Schröder 209
Personalnotizen 63. 144. 209
Register 211
ANZEIGER
FÜR
DEUTSCHES ALTERTUM UND DEUTSCHE LITTERATUR
XXXI, 1 juli 1907
Gotisches elementarbuch von dr Wilhelm Streitberg, professor der vgl.
Sprachwissenschaft und des sanskrit an der Universität Münster iW.
[Sammlung germanischer elementar- und handbücher, hgg. von Wil-
helm Streitberg. 1 reihe : grammaliken 2.] 2 verb. u. verm. aufl.
mit einer tafel. Heidelberg, Winter, 1906. xv und 350 ss. 8°. —
4,80, geb. 5,60 m.
Streitbergs Gotisches elementarbuch erscheint in der neuen
aufläge wesentlich vermehrt und verbessert, namentlich die syntax
ist vollständig umgearbeitet; den 33 seilen der ersten aufläge
entsprechen 98. einfacher und zusammengesetzter satz sind jetzt
in der darstellung getrennt, die mittel der Satzverbindung, der
bau der nebensälze erfahren eingehendste berücksichtigung. auch
in der lehre vom einfachen satz sind die meisten abschnitte er-
weitert.
Stark vergröfsert ist auch die lilterarhistorische einleitung.
der ferner stehende erhält durch Sireitbergs knappe und doch
klare darstellung eine höchst willkommene Orientierung über die
nicht leicht zu überschauenden probleme der Wulfilaforschung.
In der auswahl der lesestücke ist einiges geändert, an stelle
der drei ersten kapitel des Epheserbriefes sind die capp. 1 — 4
des zweiten Corintherbriefes getreten. Mc. xii ist weggefallen,
dafür ist aus Matthäus das gauze 6 capitel und aufserdem das
9 capitel abgedruckt, diese änderungen hängen damit zusammen,
dass Str. jetzt den griechischen text dem gotischen an die seite
setzt und Kauffmann für Matth. und den anfang von 2 Cor. die
griechische vorläge reconstruiert hat. die beigäbe des griechischen
Originals ist natürlich mit freude zu begrüfsen, ebenso das fac-
simile einer seite des C.-A. und der abdruck des Busbeckschen
berichts über die Krimgoten, dagegen kann ich mich von dem
nutzen der gegenüberstellung der got. ags. und ahd. Übersetzung
von Luc. 2 nicht recht überzeugen.
In der flexionslehre war an der disposition nichts zu ändern;
die angaben über das würkliche vorkommen seltenerer formen
sind gegen die erste aufläge vielfach vermehrt und richtig gestellt.
Was die lautlehre betrifft, die auch in einzelnen capiteln
umgestaltet wurde, so haben sich Str.s ansichten und die meinigen
in manchen puucten genähert, ich habe die meinung aufgegeben,
dass g im gotischen media affricata war. q erklärt jetzt Str. ge-
A. F. D. A. XXXI. 1
STREITBERG GOTISCHES ELEMENTARBUCH
radezu als zeichen einer lautverbindung. für h hatte er gleiches
schon in der 1 aufläge als möglich hingestellt, jedoch die geltuug
als stimmloses u für wahrscheinlicher gehalten, jetzt wird es
unentschieden gelassen, ob dieser letztere lautwert für die spräche
Wulfilas anzunehmen sei. ich stimme Str. vollständig darin bei,
dass q (und wol auch h) zeichen von lautverbindungen sind, ich
hab auch nichts gegen die annähme, das w nach k und h stimm-
los waren, nur glaub ich nicht, dass VVulüla durch die stimm-
Josigkeit des w zur eioführung der zeichen q und h veranlasst
wurde, ihn dürfte das lateinische Q, das in nachlässiger schrei-
buug auch für QV gebraucht wurde, auf den gedanken gebracht
haben, auch im gotischen kw durch einen einzigen buchstaben
zu bezeichnen, und nach analogie schuf er auch ein zeichen für
hw. ein streben nach einem gewissen parallelismus in der Ortho-
graphie ist bei Wulfila nicht zu verkennen, ich komme bald
darauf zu sprechen, für gw fiel ihm entweder kein zeichen ein,
oder er kam gar nicht auf den gedanken ein solches einzuführen,
weil die lautverbindung viel seltner ist als kw und hw. wegen
Schreibungen wie pairhwakandnns vgl. Anz. xxvm 25.
Bezüglich des got. / hatte Str. sich früher, ebenso wie ich,
Wimmer angeschlossen, der daraus, dass der got. buchstabe dem
lateinischen aiphabet entnommen ist, folgerte, dass sein lautwerl
dem F näher stand als dem (Z>. daraus ergab sich früher für
mich die weitere cousequenz, dass got. /"labiodental gewesen
sei. jetzt begnügt sich Str., Wimmers ansieht in einer anmerkung
zu erwähnen, und erklärt es für unentschieden, ob got. f bilabial
oder labiodental war. ich glaube vollkommen mit recht, got. f
stand jedesfalls dem © so nahe, dass es in fremdwörtern diesen
laut vertreten konnte, da hätte Wulfila ohne die richtige aus-
spräche zu gefährden auch cp schreiben können, die Goten hätten
doch ihren /"-laut gesprochen, gotisch sprechende Griechen
widerum musten, falls f sich würklich im lautwert von (p unter-
schied, für den got. laut den nächslgelegenen griechischen Substi-
tuten, es lässt sich ja auch zeigen, dass Wulfila einem dem
griech. aiphabet entnommenen buchstaben einen dem griechischen
blofs ähnlichen lautwert gab; got. e ist graphisch gleich E, trans-
scribiert aber H. und w entspricht nur in wenigen fällen laut-
lich seinem graphischen vorbild F.
Wir müssen uns überhaupt von der Vorstellung freimachen,
dass Wulfila phonetik lehren wollte, wir dürfen auch nicht er-
wartett, in seiner lautbezeichnung ein System absoluter 'Weisheit'
zu finden, wir müssen uus damit begnügen, gewisse tendenzen
aufzuzeigen. W:ulfila ist nicht der gedanke gekommen, die zahl
der buchstaben zu vermehren; wo er ein neues zeichen einführt,
opfert er ein griechisches, es hängt dies mit der geltung der
griech. buchstaben als Zahlzeichen zusammen, das aiphabet ver-
mehren wäre ebensoviel gewesen, als buchstaben ohne zahlenwert
STREITBERG GOTISCHES ELEMENTARBUCH «3
aufzunehmen, das lag ganz aufserhalh des gesichtskreises Wul-
fdas, an diese möglichkeit dachte er nicht, für ihn war es selbst-
verständlich, dass sein alphaliet gerade 27 zeichen haben müsse,
aher nicht selbstverständlich ist es, dass alle feinsten laut-
niianceu des gotischen sich durch höchstens 27 zeichen ausdrücken
liel'sen.
Das wulfilanische aiphabet enthält 10 nicht griechische buch-
staben. von diesen vertreten 5, p r s f o, in fremdwörtern die-
jenigen griechischen buchstaben, deren zahlenwert sie haben,
5 andere, qhj'ulv, haben einen ganz andern laut als die grie-
chischen buchstaben gleichen zahlenwerts. die aufnähme der buch-
staben der ersten gruppe muss auf graphische rücksichten zu-
rückgehen, für die entlehnung von r und s aus dem lateinischen
aiphabet hat schon Wimmer den grund gefunden : Wulfila ver-
warf buchstaben, deren lautwert im lateinischen ein ganz anderer
war als im griechischen, warum o dem runenalphabet entlehnt
wurde (wenn es ihm würklich entlehnt wurde), bleibt dunkel,
/"wurde gewählt, weil das got. p dem 0 zu sehr glich, p vviderum
weicht von 0 ab (wie ich meine durch verticallegung des quer-
Striches), weil 0 dem got. )v zu ähnlich war. ein zeichen für hw
wollte aber Wullila, dem parallelismus mit q = kw zu liebe, und es
fiel ihm nichts anderes ein, als eine Variation des griech. 0 (vgl.
Luft Studien zu den ältesten germ. alphabeten, s. 100). dass got./
deshalb eine andere gestalt erhielt als 0, weil es einen bloß ähn-
lichen, nicht identischen lautwert hatte, glaub ich ebensowenig,
wie dass f aus gründen der ausspräche <Z> verdrängte, gegen
Wimmers künstliche annähme hat sich Luft aao. s. 89 mit recht
ausgesprochen.
Um die 5 zeichen der zweiten gruppe einführen zu können,
opferte Wulfila g H 3 0 lF. man beachte wider den paralle-
lismus. ebenso wie zwei einfache zeichen für lautverbindungen
mit w an zweiter stelle ins aiphabet eintreten, so scheiden zwei
einfache zeichen aus für lautverbindungen mit s als zweitem be-
standteil. und es scheiden ferner aus H und 0, dh. je ein
zeichen der laute, deren quantität im griech. durch besondere
buchstaben bezeichnet wurde.
Zu den vorgenommenen Veränderungen bestimmte Wulfila
natürlich der wünsch, neue zeichen einzuführen, nicht die absieht,
griechische buchstaben los zu werden, er hätte sie ja ruhig als
blofse Zahlzeichen weiter führen können, es ist nun ohne weiteres
klar, dass Wulfila ein zeichen für h unbedingt brauchte, und dass
ein einfacher buchstabe für u und ein besonderer buchstabe
für j sehr nützlich war. man beachte übrigens wider den paralle-
lismus zwischen den paaren i-j und u-w. über q, Jv ist schon
gesprochen, anderseits konnte Wulfila cß ^ ohne schaden
missen, aber die ausmerzuug von H und 0 muss besondere
gründe haben, denn Wulfila hätte an ihrer statt koppa und sampi
1*
4 STREITBERG GOTISCHES ELEMENTARBUCH
opfern können. H wurde beseitigt, weil das lateinische H der
capitalschrift einen ganz andern wert hatte (während die von
Wulfila aufgenommene uncialform eindeutig war). 0 ist aber nur
dem parallelismus zu liebe geopfert, weil Wulfila den gegen-
satz von e und rj durch zwei einfache zeichen nicht widergeben
konnte, so wollte er den gegensatz von o und to nicht durch
zwei einfache zeichen widergeben.
Str. nimmt an, dass die bezeichnung des kurzen o durch au
in aualogie zu der durch die e-aussprache des griech. cu an die
band gegebene bezeichnung des kurzen e durch ai erfolgt sei.
ich stimme ihm bei , da ich ja annehme, dass Wulfila hier den
parallelismus suchte, aber dafür, dass er die analoge bezeich-
nung fand, werden wir doch auf das lateinische recurrieren müssen,
nicht dass ich etwa die von mir Anz. xxm 331 bekämpfte er-
klärung Streitbergs, die er jetzt fallen lässt, aufnehmen wollte,
aber berührungen von au und o haben im lateinischen bestanden,
vgl. Gröbers Grundriss i2 465. wenn ein vulgärlateinisches orum
bezeugt ist, während die Schriftsprache nur aurum kannte, wenn
die Schriftsprache in manchen Wörtern ein falsches au einsetzte,
die nach dem ausweis romanischer sprachen ursprüngliches o
hatten, so konnte doch Wulfila die tatsache nicht entgehn, dass
in manchen Wörtern geschriebenes au von manchen wie o ge-
sprochen wurde.
Was wollte Wulfila mit seiner Unterscheidung von ai und e,
au und o, i und ei bezeichnen? hier weiche ich von Str.s auf-
fassung ab. darin sind wir ja wol alle einig, dass e, o, ei lang
waren, nicht diphthongische ai und au in den allermeisten fällen
und i immer kurz, ferner dass e, o geschlossen waren, aiaü offen.
Str. meint nun, dass Wulfila eigentlich nur die qualitätsunter-
schiede habe bezeichnen wollen, die quantitätsbezeichnung habe
sich bei e o nur nebenbei ergeben, weil es geschlossene kürzen
im gotischen nicht gab. damit hängt zusammen, dass Str. auch
lange offene ai, au = ~ce, ö (in saian, bauan udgl.) annimmt und
dass er einen qualitätsuuterschied zwischen i und ei erschliefst.
Zu seiner meinung ist Str. ua. auch durch die erwägung
geführt worden, dass zu Wulfilas zeit alle griechischen vocale
unter gleichen accentuellen bedingungen isochron gewesen seien,
Wulfila also durch das griechische nicht auf den gedanken einer
bezeichnung der vocalquantität habe kommen können, dagegen
hätten im griechischen unterschiede der vocalqualität bestanden.
Dem gegenüber halte ich an der älteren anschauung fest,
dass Wulfila die quantitätsunterschiede bezeichnen wollte, und die
bezeichnung der qualitätsunterschiede, wo sie sicher sind (bei
den e- und o-, nicht bei den ^-lauten) sich nur nebenher ergab,
dafür hab ich folgende gründe.
1) Dagegen dass i und ei sich qualitativ unterschieden,
spricht, dass sie in den got. handschriften verwechselt werden,
STREITBERG GOTISCHES ELEMEINTARBUCII O
während ai und e, au und o getrennt bleiben, ferner babeu wir
keinen anhält dafür, dass im griechischen, dessen Schreibung für
WuKila vorbildlich war, et und t qualitativ verschieden waren.
2) Wulüla will iü durch o, o durch au widergeben, darüber
besteht trotz einzelner ausnahmen kein zweifei. nun hat sich 10
niemals durch geschlossene qualität von o unterschieden, ur-
sprünglich war 10 der offene laut, spater ist es ganz mit o zu-
sammengefallen und hat seine Schicksale geleilt, nimmt man an,
dass Wulfila die qualitäten seiner o-laute trennen wollte, so be-
greift man nicht, wie er diese Unterscheidung auf das griechische
anwenden konnte, wo weder ausspräche noch theorie diese Schei-
dung kannten.
3) Günstiger scheinen für die qualitätstheorie die dinge bei
den e-lauten zu liegen, da man ja meistens annimmt, dass rt zu i
auf dem wege üher geschlossenes e wurde, und diese letztere
stufe für die zeit Wulfilas ansetzt, allein das ist keineswegs
sicher, nach Kretschmer Die entstehung der koine, WSB 1901,
x 7 ff hat sich der lautgesetzliche Übergang von ^ zu e nicht
innerhalb der y.oivr) vollzogen, für die y.oivr) handelt es sich
nur mehr um den kämpf zweier neben einander im grofsen
griechischen Sprachgebiet bestehnden dialektischen aussprachen
des rj, um den kämpf zwischen offenem und geschlossenem e,
später e und t. wo für rj später noch e gesprochen wurde, war
es vollständig mit s zusammengefallen, da wir Wulfila nicht die
a-aussprache zuschreiben können, so müssen wir annehmen, dass
sich für ihn rj und e qualitativ uicht unterschieden.
Nun hat sich freilich unsere behauptung, dass Wulfila die
quantitäten bezeichnen wollte, mit dem einvvurf abzubilden, dass
zu Wulfilas zeit die griech. vocale unter gleichen accentuellen be-
dingungen isochron waren, aber die Zerrüttung der allen quan-
titälen ist innerhalb des griech. Sprachgebietes zu sehr ver-
schiedenen zeiten erfolgt, in einer ahhandlung, auf die mich
Kretschmer vor jähren freundlichst aufmerksam machte, ^d-rjvä
13, 247 ff, hat Hatzidakis gezeigt, dass im eigentlichen Griechen-
land die alten quantitäten bis 200 n. Chr., vielleicht noch länger,
auseinander gehalten wurden, da ist es doch nicht zu kühn an-
zunehmen, dass ein gelehrter mann wie Wulfila, der in seiner
eignen spräche klar geschiedene vocalquantitäten besafs, mit den
lehren der grammatiker über die bedeutung der von der Ortho-
graphie fortgeführten doppelheiten e-rj , o-co eine adäquate Vor-
stellung verbinden konnte1, nach dem Vorbild der griech. ortho-
1 ich traue da Wulfila nicht mehr zu als im 16 jh. Erasmus von Rotter-
dam geleistet hat, der mit hilfe des lautstandes seiner multersprache sich eine
Vorstellung von der bedeutung der überlieferten termini der quantitätslehre
bildete, während die traditionelle ausspräche der antiken sprachen die alten
Verhältnisse längst zerrüttet hatte, oder was diejenigen Zeitgenossen Aelfrics
taten, die zu seinem misvergnügen metrisch kurze silben wie pa(ler),
6
STREITBERG GOTISCHES ELEMENTARBUCH
graphie, die er im sinue der grammatischen theorie deutete,
unterschied er die quantitäten der e- und o-laute; bezüglich der
i ist darauf zu verweisen, dass hin und wider versucht wurde,
die überlieferte Schreibung et zur bezeichnung des langen i zu
verwenden, et gegenüber i denselben wert zu geben, den r\ und w
gegenüber e und o hatten, vgl. Blass Über die ausspräche des
griechischen 3 s. 10. 61. da Wultila bei seiner Unterscheidung
nur die quantitäten im äuge hatte, setzte er für o au, für to o,
unbekümmert darum, dass im gotischen mit dem unterschied der
quantität auch ein solcher der qualität vorhanden war, der im
griech. kein gegeustück hatte, für a und u gebrauchte er nur
je ein zeichen, weil das griechische für diese laute nur ein
zeichen, bez. eine Zeichengruppe kannte. — dass saian, bauan u. ä.
in der ersten silbe offne lange vocale hatten, halt ich für unerwiesen.
Ich erlaube mir schliefslich noch ein paar einzelheiten zu
besprechen. § 52 b. spaikulalur hat doch aller Wahrscheinlich-
keit nach langes m, vgl. Kluge Zeitschr. f. d. Unterricht, 8 er-
gänzungsheft 355, Pauls Grundriss i2 501. 505. — § 76 anm. 1
wäre vielleicht besser ein anderes beispiel zu geben, da ßhis, wie
§ 147 bemerkt wird, nicht belegt ist. — § 86 anm. auch hier wäre
das § 146 anm. 3 verzeichnete fauramapli zu erwähnen. —
§ 147. auch alew und gaidw sind zu besternen. — § 153 z. 2
ist 'akk.' zu streichen. — § 157 anm. 1 vgl. Anz. xxix 282. —
§ 160. hier war es vielleicht gut, die würklich belegten formen
zu verzeichnen, namentlich wäre hervorzuheben, dass von formen
des dat. pl. aufser baurgim nur spaurdim vorkommt. — § 182
wäre auch fairni Luc. 5, 39 unter den belegen anzuführen. —
§ 183 anm. 2 sähe ich gerne noch etwas deutlicher auf die Un-
sicherheit des ansatzes von hrainis als gen. sg. der abstufenden
/a-stämme hingewiesen. Str. bemerkt, dass nur skeiris waurdis
Sk. 5, 5 belegt ist, und erklärt die aulfassung von skeirs Sk. 4, 9
als nom. fem. für zweifelhaft, aber das sind die einzigen stellen
wo das wort überhaupt vorkommt; wenn skeirs nicht nom. fem.
ist, so hat man auch gar keine gründe für die annähme eines
;'a-stamms. — § 236, 2 möchte ich dem verf. zu erwägen geben,
ob sich nicht irgend ein genauerer ausdruck finden liefse; in
dem citierteu satze Gal. 2, 16 hat ja garaihts nicht eigentlich
masculine bedeutuug, sondern bezieht sich auf mäuner und frauen.
— § 236, 4 wäre vielleicht auf abweichende fälle hinzuweisen,
ma(lus) auch würklich kurz sprachen, vgl. Aelfrics Grammatik heraus-
gegeben von Zupitza s. 2. zu beachten ist auch, dass im lateinischen die Zer-
störung der alten quantitätsverteilung später ihren abschluss gefunden hat
als im griech., vgl. Gröbeis Grundr. i2 467, wo übrigens die äufserung des
Gellius Noet. Att. ix 6 nicht richtig gedeutet ist. dass eine in der Umgangs-
sprache erloschene, in der schritt bewahrte Unterscheidung von gebildeten
auch lautlich ausgedrückt werden kann, lehrt zb. die tatsache, dass im nl.
in der Umgangssprache -e und -en gleich gesprochen, in feierlicher rede
geschieden werden.
STREITHEUG GOTISCHES ELEMENTARBDCH 7
wie Jcili. 17, 3 soh pan ist so aiweino libains, Sk. 1, 6 sa ist
wiprus gudis. — in «lein abschnitt über den numerus venniss
ich eine bemerkuug des Inhalts, d;iss Wulfila griecli. plurale von
substantivierten adjectiven gen. neutr. teils nachbildet, teils durch
den singular ersetzt, zh. 1. Tim. 5, 13 poei ni skulda sind
rä f.itj diovxa gegenüber Luc. 17, 9 fiatei anabudan ivas xä
diaicc/Ütvia. — § 257, z. 4. ist nach 'griechischem' nicht etwas
ausgefallen? — § 273, 2 war es aus pädagogischen gründen
erwünscht, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass nach ains, sums
und den Possessivpronomina das adj. in starker form steht, oder
doch wenigstens heispiele anzufühlen wie Luc. 15, 7 in ainis
fraxoaurhtis, Eph. 2, 15 du ainamma niujamma mann, Joli. 11, 1
sums shihs, l Thess. 4, S ahman seinana loeihana. — § 32(5 anm.
ein paar seltsame participialconstructionen, für die das griecli. anlass
aher nicht Vorbild war, linden sich in den evangelien : Mt. 27, 53,
Luc. 18, 9, Joh. 6, 45, wenn kein fehler vorligt, auch Mc. 15, 24,
vgl. van der Waals Skeireins s. 12. gegen Viteaus auffassung
der griecli. construclion als eines hebraismus wendet sich Thumh
Die «riech, spräche im Zeitalter des Hellenismus s. 131. —
§ 332. dass Mt. 6, 24 jabai-aippan rj-f} übersetzt, kann ich nicht
glauben und bleibe bei der meinung Loebes und Schulzes, dass
iu der vorläge statt des ersten rj fehlerhaft ei stand.
Wien, im november 1906. M. IL Jelllnek.
Nordiska Studier tillegnade Adolf Noreen pä lians 50-arsdag den 13 mars
1904 af studiekamrater och lärjungar. Uppsala, KWAppelbergs bok-
tryckeri, 1904. 492 ss. gr. &°.
Zu der stattlichen festgabe an Noreen haben sich nicht
weniger als einundvierzig gelehrte schreibend vereinigt — die
widmungsseiten führen eine noch viel längere reibe von studieu-
genossen und schülern auf. neben der schwedischen spräche
kommt auch die dänische und die deutsche zu worte. ungefähr
vier fünftel der beitrage liegen auf dem felde der Sprachforschung
(runenlehre und rechtschreibung mitgezählt), der band im ganzen
erweckt den eindruck von einer kopfreichen gemeinde, die im
sinne ihres meisters vorwärts strebt, von kritischem Scharfsinn
uud behutsamer, nüchterner grüudlichkeit zeugeu auch die kürzern
dieser spenden, kühneres eindringen ins ungebahnte oder per-
sönlichere formung machen sich weniger bemerkbar, die meisten
beitrage erscheinen wie ein kleiner ausschnitt aus den augenblick-
lichen arbeiten der betreffenden, den Charakter der abgerundeten
darstellung haben am meisten die zwei aufsätze von Almgren und
KFJohansson. Johansson führt die golischeu uominalcompo-
sita vollständig auf nach einer wcldurchdachten, in manchen
puncteu eigenartigen einteilung, wobei auch viele etymologische
bemerkungen abfallen. Almgren bietet mit seiuer arbeit, 'Die
8
NOBDISKA STUDIER
begräbnisarteu der Vikingzeit in würklichkeit und in der altn.
litteratur', dem philologischen interpreten der Ynglinga saga und
andrer texte eine willkommene gäbe, indem er nach den neusten
grabungen das archäologische bild der sache libersichtlich zeichnet,
im übrigen weise ich nur noch auf die beitrage hin, die einem
weitern leserkreise dieses Anzeigers entgegen kommen: der fach-
genosse wird das übrige schon zu finden wissen.
Grip hat an Deutschen aus verschiedenen lamlschaften die
gleitlaute zwischen vocal und folgendem l, r beobachtet, ganz
verdienstlich, aber wenn irgendwo, so entbehrt man hier objective
lautbilder. ich fühle mich nicht ganz sicher, ob nicht öfter der
klang des / selbst (der ja bis zum Übergang zum nächsten laut
einem vocalischen klänge recht nahe kommen kann) für einen
gleitlaut genommen wurde. Ernst A Meyer teilt weitere er-
trage seiner experimentellen Sprachmessung mit : die betonten
vocale sind ceteris paribus länger im einsilbigen als im zwei-
silbigen worte, länger vor lenis als vor fortis, länger bei tiefer
zungenstellung als bei hoher uam. die hauplzüge stimmen zu
dem was M. für das südenglische und ' noch für eine reihe
andrer sprachen' festgestellt hatte. K lockhoff handelt von der
Samsonsballade (DgF. nr 6). er beurteilt die berührungen mit
andern folkeviser anders als Olrik (DgF. 7, 271), hält die Samsons-
vise für ein ziemlich junges conglomerat und nimmt wider ent-
lehnung aus der schwedischen Didrikssaga an, nicht herkunft aus
niederdeutscher quelle, doch ohne sich mit Grundtvig oder Jiriczek
auseinanderzusetzen. Kristensen verbessert erfolgreich unsre
auffassung des ältesten isländischen grammalikers hinsichtlich der
Schreibung der diphthonge (iö, ey, nicht eö, ey) und rechtfertigt
die ausspräche earn, die der alte autor bezeugt, fördernde be-
merkungen zur westnordischen w-brechung bringt Norden-
streng. er tritt für die ältere auffassung ein, dass ig, nicht io
das lautgesetzliche brechungsproduct sei, und führt die reimbelege
vollständiger an; ein teil davon spricht entscheidend gegen io.
ich vermisse nur berücksichtigung der fälle, wo der brechungs-
diphthong durch dehnung zu iö, nicht zu iö (id) wurde : miolk
]> miölk wie folk > fölk im gegensatz zu hplf ~^> hölf, half
(siälf uä. sind natürlich analogieneuerungen); ferner lör- <C ebtir-,
wol auch das vielgedeutete iö- <C ioh <C ehw- 'pferd'; mehrdeutig
ist fiörir « feftur- oder < feüwdr-). die beidseitigen instanzen
erwogen, wird die annähme doch wol nötig, dass der o-laut des
brechungsdiphthongs weder mit dem alten o noch mit dem o des
«-umlautes identisch war; es war eine dritte Schattierung — wie
sie phonetisch zu bestimmen sei, darüber hab ich keine Vermutung.
Lind bespricht altn. Wortfügungen wie Halldöra Torfa döttir
bröftur Jorundar, Gunnlaugs saga ormstnngu unter dem gesichts-
punct, dass die Schreibung in einem worte (Torfadöttir, Gunn-
laugssaga) ein 'anachronismus' der 'sog. normalisierten' ausgaben
NORDISKA STUDIEU \J
sei. gegen diese Schreibung hat sich neulich auch Gering gewant
(Zs. f. d. phil. 36, 286 note). die frage greift über die eigennamen
hinaus, ich habe mir folgende fälle angemerkt, die ebenso zu
heurteilen sind : Egils s. c. 27 § 21 upp i dr ös npkkurn, sü er
kollub Gufd; Faer. s. s. 144 d skemmu hurüina, par er Prdndr
svaf i; INornag. c. vm set turnst ek par at fgüur-leiß minni, ßviat
hann andcßist skiött; — Mork. 226,27 ofslopa mafir mikül ok öeirüar
um alla hluti; Mork. 228, 23 ax&igr mafir ok rangldtr, kaps fullr
ok öeirhar. die herschende Schreibung unsrer ausgaben ist hier:
drös, skemmuhurftina, fgfiutleiffi, ofstopamaftr, kaps fullr. dann
hat man also die erscheinung : au ein einzelnes glied des zu-
sammengesetzten Wortes, das erste oder das zweite, wird ein
weiterer redeteil angeknüpft, der fall mit fgfturleifö ist hervor-
zuheben, weil einfaches leifö gar nicht existiert, bisweilen hat
man zu bindestrichen gegriffen, zl>. Heimskr. 3, 114 (FJönsson)
pat var mttar-brag^ en eigi oesku. Lind meint, die einfache ab-
hilfe liege darin, dass man in solchen gruppen getrennte Wörter
annehme und schreibe, auch abgesehen von fällen wie fgftur-
Ze//3 ist damit die sache nicht abgetan, denn diese gruppen sind
unverkennbar auf dem wege zum compositum, das zeigt die
Wortstellung : Halldöra Torfa döttir oder hon var Torfa döttir
heifst es in derselben prosa, die niemals sa^ren würde : Halldöra
Torfa möüir oder hon var margra sona möüir; Raga broftir ist
fester beiname, als aussage biefse es : Pörarinn var brobir Raga;
usf. ebenso ist Breiüi figrdr (cf. Lind s. 143) deutlich abgesondert
von enn breföi figrür oder bretör figrfir. zu diesen äufserlich
wahrnehmbaren zeichen kommt ohne frage die betonung : in
Torfa döttir, Breitii figrUr hat das zweite glied ähnlich schwachen
ton wie in sumarmdlum , mikilmenni. kurz, die classe der un-
echten composita ist auch im alln. nicht zu entbehren, aber
jene anfangs genannten Verbindungen {Gunnlaugs-saga ormstungu
u. ähul.) zeigen, dass die beiden glieder ein höheres mafs von
Selbständigkeit bewahrt haben als in den unechten compositis
anderer sprachen, wir können nicht mehr sagen : die Karls-
dichtung des Grofsen; das Hildebrandslied und Hadebrands; die
kriegskosten, den er führte, aber auch wir schreiben und sprechen
noch : Hildebrandslied und -sage; auch fälle wie : eine lebens-
geschichte Luthers, deutsche litteraturgeschichte liegen jenen nor-
dischen bildungen nahe und vermitteln unserm Sprachgefühl ihr
Verständnis, es spielt zwischen dem einheitlichen worte und der
zweigliedrigen, von fall zu fall neu gebildeten Verbindung, wie
weit man im alln. getrennte worte schreiben will, ist eine prak-
tische frage oder eine frage der pietät gegen die handschriften:
der tatsächlich vorliegenden Spracherscheinung verhilft man mit
dieser Schreibweise nicht zum sichtbaren ausdruck.
Berlin, 14 juli 1904. Andreas Heisler.
10 BOKGELD DE OUDOOSTNEDEBFRAMilSCHE PSALMEN
De oudoostncderfrankische psalmen. klank- en vormleer. van A. Borgeld.
Groningen, Wolters, 1899.
tjber das ziel das diese abhandlung verfolgt, sagt der vf.
Iuleiding s. vm : 'Mijn doel was uitsluitend een nauwkeurige
samenstelling van de klank- en vormverschijnselen te geven,
meestal zonder een verklaring te beproeven', als gesamturteil kann
ich sagen, dass Borgeld die aufgäbe, wie dieselbe von ihm be-
grenzt worden ist, in einer zuverlässigen und sehr anerkennens-
werten weise gelost hat. hier auf verschiedene einzelheiten ein-
zugehn, wäre jetzt unnötig, nachdem die darstelluug des vf. durch
van Heltens buch 'Die allostfränkischen psalmenfragmente etc.',
Groningen 1902, — namentlich was die erklärung der sprach-
lichen erscheinungen betrifft — ergänzt und zuweilen berichtigt
worden ist (vgl. in dieser hinsieht auch die besprechungeu von
Franck Indog. forsch. Anz. xh Ulf, Ehrismauu Litleralurbl.
1902 s. 112 und die recension der arbeit van Heltens von Stein-
meyer Anz. f. d. alt. xxix 531). durch van Heltens arbeit ist
indessen ßorgelds abhandlung nicht überflüssig gemacht worden,
die letztere gibt nämlich oft ausführlichere belege als der gram-
matische teil van Heltens, wo die auf conjeetur beruhenden formen
nicht als solche gekennzeichnet und überhaupt alle diejenigen
formen die der vf. für verderbt hält, gar nicht erwähnt werden,
an vielen stellen verweist auch van Helten auf die vollständigeren
statistischen angaben bei Borgeld. — ich möchte hier nur einige
verderbten oder sonst weiterer aufklärung bedürftigen formen in
den hier zur erürterung stehnden denkmälern besprechen, die
Holthauseu-Steinmeyersche (s. Beitr. 10, 577 und Anz. f. d. alt. xxix
59) besserung geuuethoda statt geuueinoda 'edueavit', gl. 357 (nach
van Heltens Zählung) Ps. 22, 2 wird durch das in Diefenbachs
Glossarium verzeichnete educatio : iceydung (das wahrscheinlich von
haus aus auf irgend einer auslegung derselben psalmeustelle be-
ruht) gestützt. — genitherit iu 'exinanite' gl. 371, Ps. 136, 7,
änderte van Helten in genieuuithit. diese conjeetur lehnt Stein-
meyer Anz. f. d. alt. xxix 61 fufsnote ab, ohne dass er einen
wahrscheinlicheren Vorschlag zur erklärung der glosse machen zu
können glaubt, in der tat ist das überlieferte genitherit gar nicht
zu ändern, der grundtext hat nämlich hier «ny von fTtP. das
allerdings eigentlich 'entblöfsen' bezeichnet, hier aber in der be-
deutuug 'zerstören' steht (s. Gesenius Wörterb.). der Zusammen-
hang ist dieser : fis TiDT! l'y iir db. eigentlich 'entblöfset
in ihr bis auf den grund' = 'zerstöret sie (die Stadt Jerusalem)
bis auf den grund.' hierzu passt ja genitherit ausgezeichnet, da
ja dieses verbum ua. 'zu boden stürzen' bedeutet (s. zb. Schade
Wtb.). nur das nach genitherit slehnde in dürfte eine kleine
besserung nötig haben, und zwar ist dieses in in zu ändern, das
offenbar dem in in der lateinischen vorläge ('exinanite .... in
BORGELD DE OUDOOSTNEDERFRAMCISCHE PSALMEN 11
ea') entspricht, durch die folgenden parallelen ans Diefenbachs
glossarinin dürfte diese erklärung ani'ser jeden Zweifel gesetzt
werden : exinanire : 'ernideren, nideren, vernederen . — ginroda
'giguuit' gl. 372, Deut. 32, 18, hat man auf verschiedene weisen
zu bessern versucht. Heyne Kl. altniederd. denkm. 49 ändert
es in givnoda ('für givuodda'), van Helteu in gitiloda, liollhausen
Zschr. f. d. phil. 36, 482 in giu[e]r[c]-oda oder giurocta ('= ahd.
uuorhtä'). meines erachlens steht ginroda für genroda. gi st.nt
ge- beruht entweder auf diltographie nach der folgenden glosse
gi-minsoda oder ganz einfach auf Verlesung, diese besserung
stütze ich auf generare : 'genren' Ahd. glossen in 408, 8 und
generare : '"ergenren' in einer mittelniederläudischen handschrifl
nach Diefenbachs Glossarium, dieses genron, genren ist offenbar
ein lehnwort aus dem lat. generare; vgl. andere iat. lehnwörter
in den psalmenlragmenten wie gequahlit 'coagulatos' 67, 17, offron
'oflerre' 67, 30, kestigata 'castigatio' 72,14 (s. ferner wegen
anderer lehnwörter in diesen denkmäleru Later De latijnsche
woorden in het oudeu middeluederdnitsch). — von uuüinis
'calicis' Gl. 790, Ps. 10, 6 sagt Heyne s. 58 : 'ob verlesen für
mitis iro, calicis eorum? ahd. mez n. calix'; van liehen ändert
uuitinis in mitinis, das ein diminutivum in -in zu *met 'calix'
sein soll. Steinmeyer. hält Anz. f.d. alt. xxix 61 fufsnote diese
conjectur für verfehlt (er weifs ihr indessen keine bessere ent-
gegenzuhalten), ich glaube, dass wenigstens witin- hier ganz
richtig ist. zu bemerken ist nämlich, dass 'calix' hier in einer
ganz besonderen Verwendung steht : vgl. Forcelliui Diel., calix 12):
'deuique metaphorice adhibelur de sorte hominum . . . ac de Omni-
bus geueribus malorum et iueommodorum quae improbis aeeidere
jubet deus'. als beispiel von dieser Verwendung von calix führt
Forcelliui einen auzsug aus dem hier fraglichen psalmenvers an :
(pluet super peccatores laqueos) 'ignis et sulphur et spiritus
procellarum, pars calicis eorum'. wie zu ersehen ist, steht 'calix*
hier etwa für 'Vergeltung' (vgl. dass es in der Lutherischen Über-
setzung mit 'lohn' widergegeben wird), hierzu passt ja die glosse
wltin- == 'strafe' ganz gut; vgl. geuuüenot 'puuienlur' 36, 2,
asäcbs. wlli 'strafe' etc. was für eine form ist denn uuüinis?
entweder genit. von *wltin n., das sich zu uuitenon 'strafen' wie
ahd. Idchin 'heilmittel' zu Idchinon 'heilen' verhält, oder uuitinis
ist eine corruptel für uuitinü (vgl. h statt n 72, 2 und Gl. 357),
genit. von *wltina == mhd. wizene f. 'strafe', dass der glossator
sich nicht immer sclavisch an seine lateinische vorläge gehalten,
sondern, wie hier vorausgesetzt wird, zuweilen eine freiere, bessere
Übersetzung gegeben hat, zeigt zb. seine glossierung von exinanite
Ps. 136, 7 (vgl. oben).
Gotenburg. Elis Wadsteln.
12 L1E LATKCflSCHEn yUGIEF.SPIELE
I'.e lateinischen magier^piele. notersuchunsen und texte zor Torseschichte
- deutschen weihnachuspiels. von A. Anz. Leipzis. JCHinrichs.
19u5. 163 >>. — 5.41.' m.
^eüD dieses buch keinen anderen wert hätte als den. dass
- alle dem vf. bekannt, o texte, zi. in vei - Ler ge-
stalt oder vollständiger, zum abdrucke bringt, müste man dafür
sehr dankbar sein.
Ich halte vor einem Jahrzehnt, mit der absieht die gleiche
arbeit zu machen, ebenfalls die texte gesammelt und weifs daher
die mühe zu schätzen, die in dem Verzeichnis s. 9 11 steckt,
die Sachen sind weil verstreut.
v weit Stichproben ein urteil gestallt ..delt es sich hier
auch um verlässliche abdrücke.
A: - - -a wendet man sich dem teile der Untersuchung
zu, der eine Stellungnahme zu WMeyei Fragments Barana, Berlin
voraussetzen lässL dieser bestritt unter berufung auf
die als Carmina Buraoa bekannte sammelhandschrift die gewöhn-
liche an ss sich --isllichen spiele aus ei;.
einzeifeieru zu kunstreichen cykleu entwickelt b.-.tiea. er meint.
umstand, dass ein und dieselbe band des 13 jh.s ein:ache
und umfangreichere spiele in der genan bs \eieiaigt hat.
spreche deuth' - gen die herkömmliche lehre.
Aber es ist doch zu bemerken — bei A. vermisse ich
reis — dass die in den Carmina Burana stehnden
stücke nicht ein und derselben gattung angehören, dass man
aber auch die schrittweise entwicklung an den überliefer
texten verfolgen kann, zeigt die hier zu - nrbeit.
Kiinit lässt sich ganz wol die tatsache .en. dass sich
bald schon neben einfachen, an schriitstellen sich anlehnen
dial -- cyklische an- bildeten, <iass also der cykius
nicht auch zeitlich als endglied der reihe zu gelten hat.
Meyer will den Ursprung der gattung auf deutschem boden
SGallen) suchen, wählend Anz meines erachtens mit recht au
der gewöhnlichen annähme romanischer berknnft (Frankreich)
sthält und sie gut begründet, die liturgie der katholischen
kirche ist doch überhaupt k eh romanischen Ursprungs,
die geistlichen kreise Deutschlands i - -teo hälfte
- mittelalters auch sonst ideen und brauche aus dem fort-
. schriltenen Süden, kurz, die ganze maskerade in der kin
wie wir sie in den kirchlichen spielen >_-iern. ofßcia ■ sehen, wäre
einem deutschen ron selbst nie eingefallen, diesen innei en grund
hält- A. ebenfalls betonen solien.
Als entstehungszeil der galtung bezeichnet A. das 11 jh. und
die Qberliefernng gibt ihm recht.
Als c -. _?punct gilt die liturgie der epiphanie, aber die
texte werden im laufe der zeit umgeprägt. Anz zeigt das mit
A>Z DIE LATEINISCHEN MAGIERSPIELE 13
tüchtiger kenntnis der einschlägigen litteratur und mit berück-
sichtigung der bildenden kunst.
Anz betont s. 118 ganz richtig, wie die dialogform sclion
dem ganzen system der kirchlichen responsorien und auliphoDeo
zu gründe liege, dass also der schritt zum tropus und von da
zum Indus von aufang an vorbereitet gewesen sei.
Die frage ist nur die, wie die weiteren schritte gemacht
worden sind.
Der vf. gewinnt vier typen und stellt deren einzelne er-
weiteruugen fest.
Typus i : gang zur krippe, dialog zwischen magiern und
obstetrices, darbringung der geschenke, gesang des engeis.
Der text ligt in sämtlichen spielen vor, selbständig ist er
überliefert als 'Officium Siellae' in Rouen.
Typus ii : die person des Herodes wird hinzugefügt. Nevers i
(IN) zeigt dieses Stadium.
Der dreigliedrige dialog, der im anschluss an die erste ein-
schaltung (im typus i) und mit benutzung des 'Ite et iuvestigate'
der evangelienvorlage geschaffen worden ist (N), wird durch einen
fünfgliedrigen ersetzt, der dann durch alle weiteren texte geht,
diese form zeigt Nevers n (iNev.)
Typus ui : einschaltuug der durch boten geholten schrift-
gelehrten. Herodes ist nämlich von dienern (symmystae) umgeben.
Aus dem Magierspiel wird ein Herodesspiel.
Nev. und Strafsburg stellen die Verhandlung des königs mit
den schriftgelehrten vor das gespräch zwischen ihm und den
magiern, Strafsburg zieht aufserdem die prineipes sacerdotum
heran und ändert daher die stelle '0 vos scribae interrogati'.
Die im typus in vorliegende textgestalt bezeichnet den wich-
tigsten abschnitt in der entwicklung der epiphanienspiele. was
hier steht, ist gemeinsamer bestandleil aller übrigen texte geworden,
nun beginnt eine rege entwickelung, die die vorhandenen spiele
in mehrere gruppen trennt, und es setzen jetzt auch die poe-
tischen erweilerungen ein.
Eine selbständige Überlieferung dieses typus ligt nicht vor.
Erweiterungen des typus in.
1 Erweiterung der botenrolle: a) man lässt dem
konig das gerücht von den magiern zu ohren kommen; b) Herodes
muss sich selbst durch einen boten von ihren absichten über-
zeugen, ehe" er sie zu sich bescheidet, auftrag dazu, es ent-
wickelt sich also von hier aus ein eigenes Botenspiel.
2 Erweiterung durch den Ludus lnnocentium
und die Klage der Rachel : an das nocturnenresponsorium
'Sub altare' schloss sich eine poetische Rachelklage an, wie sie
zb. in Limoges vorligt. eine bearbeitung dieses kleinen Ludus
lnnocentium benutzten Laon und Orleans. Orleans nahm dabei
eine erweiterung der procession des lammes vor und verknüpfte
14 ANZ DIE LATEINISCHEN MAGIERSPIELE
das so gewonnene spiel mit dem Schlüsse des Herodesspiels, das
es aus der epiphanienfeier herübernahm, dazu benutzte es nach-
traglich einen anderen ähnlichen text, die vorläge von Freising,
eigentümlich ist in Freising und Orleans ein Josephspiel.
3 Erweiterung durch das Sternlied.
A. nimmt an, dass der text in fortschreitender Vollständigkeit
aufgenommen worden sei, im Widerspruche zu WMeyer, der die
fassung von Rouen als die jüngste und die aufnähme des ganzen
liedes als das ältere betrachtet.
Typus iv (combinationstypus) : a) es tritt in allen texten
das ganze Botenspiel auf. — b) man führt die gruppe der hirten
und die der magier in der nähe der gruppe zusammen, also
combiuation mit dem Hirtenspiel.
Erweiterungen des typus iv.
1 Festprocession zum throne des Herodes (Chorus puerorum).
2 Thronbesteigung und beratung.
3 Rex et magi.
Damit hat das Herodesspiel das Magierspiel überwuchert.
Die bestätigung für seine typentheorie findet A. in der tat-
sächlichen gestalt der spiele, die nach seiner darlegung eine
fortschreitende ausdehnung des dialogs, gle chmäfsige zunähme
der zahl der beteiligten personen, zunehmende entfaltung und
Verwicklung des dramatischen aufbaus, ablösung der reimprosa
durch die poetische form (hexameter), späten ansatz zu charak-
teristischer ausdrucksweise zeigen.
Mir scheint indes hier ein cirkel vorzuliegen, abstrahiert
nicht der vf. seine typen von den wirklichen spielen und lässt
sie dann wider durch sie bestätigen?
Doch wäre diese petitio principii kaum von belang, wenn
die typen selbst einwandfrei wären.
Ich bin in der läge, dem vf. an einem praktischen beispiele
zu zeigen, dass er im irrtum ist, wenn er meint, ein neu-
hinzukommender text könne an dem gesamtbilde
wenig mehr verändern (s. 5).
Der gute des herrn dr PPius Schmieder, capitularen der
in Oberöstereich gelegenen Benedictinerabtei Lambach, verdank
ich die kenntnis einer in diesem stifte verwahrten Dreikönigfeier
und die erlaubnis, sie hier zu veröffentlichen. Es ist die eine
hälfte eines in der längsachse auseinandergeschnittenen pergament-
blattes 30x15 cm. das ganze blatt dürfte 30x20 cm gemessen
haben, die blattseite zählt 28 liuien und ist beschrieben von
einer band des 11 jh.s. der text ist neumiert und stammt,
wie sich aus dem anl'ang und dem ende ergibt, aus einem
ordinarium.
Zu diesem blatte fand sich in Lambach ein zweites, voll-
ständiges, das einen teil des der hs. vorangegangenen kalenda-
riums darstellt und mit nekrologischen eintragungen versehen ist,
ANZ DIE LATEINISCHEN MAGIERSPIELE 15
die im zusammenhält mit dem namen der im kalendarium er-
scheinenden heiligen auf rheinischen oder fränkischen Ursprung
weisen.
Manche der nekrologischen vermerke machen es aber höchst
wahrscheinlich, dass der codex zuletzt in den bänden eines
bairischen stilles gewesen ist.
Im hinblick auf die talsache, dass der gründer der im
jähre 1056 errichteten abtei Lamhach, Adalbero, nachmals bischof
von VVürzburg war und im jähre 1090 das stift unter den
schütz der Würzburger hischöfe stellte (PSchmieder Breve chro-
nicon monasterii BMV. Lambacensis 0. B. S., Lentii 1865, p. 5);
in rücksiebt ferner auf den umstand, dass Adalbero dem neuen
kloster viten, hss. der regel, collationes patrum und zwei
sehr alte plenarien schenkte, die alle noch heute in der
Stiftsbibliothek vorhanden sind (codd. membr. 23. 31. 52. 75.
113. 120), ist die Vermutung gerechtfertigt, dass vielleicht
auch das ordinarium, von dem uns ein günstiges geschick 2 bll.
gelassen hat, einstmals eigentum der bischöfl. bibüotbek in Würz-
burg gewesen ist. sein Ursprung ist aber, wie bereits bemerkt,
in rheinfränkischer gegend.zu suchen.
TEXT DER LAM BACHER DREIKÖNIGFEIER1.
1 talus hac die. P(salmus) Ca n täte. A(ntiphona) Puer. Gloria
Pr . . . lis eia hoeiie. Puer. Officium
Stella fulgore nimio rutilat qu(ae regem regum natum mon-
strat. quem) venturum olim prophetie signavera(nt).
Regem, quem querilis, natum esse qu(o siguo didicistis et
si illum regnare)
creditis, dicite nobis. Item (magi : lllum natum esse didi-
eimus)
in orieute Stella monstrante. Ipsum r(egnare fatentes cum
mysticis mune)
ribus et de terra longinqua adorar(e venimus trinum deum
venerantes).
0 vos, scribe, iuterrogati dicite, si quid (de hoc puero)
scriptum videretis in libris. Tunc (scribe . . . .)
Vidimus, domine, in prophetarum li(neis nasci Christum
in Bethlehem, civitate)
David, propheta sie vaticinante: (Bethlehem non es minima etc.)
.... voce pergant: Betleem non es. Qua
Ite et de puero diligenter iuvest(igate et invento redeuntes
mihi)
renuntiate. Tunc magi : (Eamus ergo et inquiramus eum et)
offeramus ei munera : aurum, thus e(t myrrham).
Ecce Stella in Oriente previsa iterum (precedit nos lucida ! 06-)
1 ich habe das fehlende, soweit ich es mit Sicherheit vermochte, ergänzt
und durch klammern ersichtlich gemacht.
16 ANZ DIE LATEINISCHEN MAGIERSPIELE
stetrices econtra sedent{es) : Q(ui sunt hi Stella duce nos)
adeuntes iuaudita ferentes? Tu(nc magi)
Nos sumus, quos cernilis, reges Thars(is et Arabum et Saba
dona fereutes)
regi Christo nato Domino, quem stel(Ia deducente adorare
venimus).
Item obstetrices : Ecce puer (adest, quem queritis! Jam prope-
rate adorare)
quia ipse est redemptio mundi
Ab Oriente. Et duos versus de
Tunc magi prosternentes se trib(us vicibus) ....
Salve, rex seculorum 1 Salve, rex se(culorum ! Salve, rex
seculoruml)
Qui aurum offert, dicit : Suscipe nunc (aurum !).
Qui thus offert : Tolle thus, t(u vere Deus 1).
2 seite.
(Quimyrrham offert: Myrrha)m, Signum sepulture! Tunc pro-
sternunt
diaconus in vice angeli :
(Im) pleta sunt omnia, que prophetice
dicta (sunt. Ite viam remeantes aliam, ne delatores) tanti
regis puniendi sitis.
Deo gracias.
Kyrie eleison.
Pro Preparatus ad missam
oratione Omnis terra adorette, Deus
vadunt in chorum cantantes
magna veneratione imaginem
im imponunt. A(ntiphona) : Ecce advenit.
gentium. Tropi.
ptor. A(ntiphona) : Ecce advenit. Jesus, quem
reg(es) (Hi)erosolymam requirunt dicen-
tes : Ubi est, (qui natus est rex Judaeorum? Vi)dimus
stellam eius in Oriente et agno(vimus, regem regum esse
natum). Et regnum eius. Cui soli debetur honor
(po)testas. Deus Judicium. Ipsi soli
omnipotenti
no. gl(oria) patri. Qui credentes in se
miserando. A(ntiphona) : Ecce advenit.
lentissimus. Item tropi.
virgine. A(nliphona) : Ecce advenit. Olim
promissus
(d)ominator dominus. Laxate vincula strictum
enus. Et regnum.
(purificatione Ma)rie post horam terciam scola
hanc colleclam. Oi(atio : ) Erudi quesumus,
Domine.
ANZ DIE LATEINISCHEN MAGIERSPIELE 17
cantor incipit : Postquam impl. V(ersi-
culus : ) Obtuleruot puero etc.
ia. Gabrihele. Postea dicatur ista oratio
{benedi)ctio cerei fiat. lila finita cantor incipit
Aus diesem ueuen texte geht nun hervor, dass zwischen
typus ii und m ein besonderer typus ligt : Herodes, magier,
schriftgelehrte — ohne boten rolle, die schriftgelehrten sind
in der Lambacher feier schon anwesend, sie werden nicht erst
geholt.
Die hier veröffentlichte feier stellt also ein
neues entwicklu n gsglied, einen eigenen typus dar.
Ihn zu erschliefsen, hätte übrigens nahe gelegen, es ist
einleuchtend, dass er psychologisch dem mit der botenrolle vor-
ausgeht, daher bleibe ich bei meiner gruppierung der texte, wie
ich sie mit dem texte der Lambacher feier schon vor 3 jähren
an die Zs. eingesant habe:
i. Officium stellae (Rouen).
ii. Die magier bei Herodes (N.).
m. Herodes und die schriftgelehrten (Lambach).
iv. Die plusscenen ii und in vermittelt durch boten (die
übrigen texte).
v. Officium stellae -4- Officium pastorum (Freising und
Orleans).
Zum Schlüsse will ich noch hervorheben, dass die arbeit von
Anz den eindruck grofser Sorgfalt macht und die litteratur im
weitesten umfange heranzieht, zum kürzeren text von Nevers hätte
AReiners Tropengesänge und ihre melodien, Luxemburg 1887,
der p. 33 den text bietet, genannt werden können.
Eine Übersichtstabelle zur entwicklung des textes und ein
gutes register sind willkommene beigaben.
Urfahr-Linz. K. Schiffmann.
Deutsche texte des mittelalters, herausgegeben von der kgl. preufsi-
schen akademie der Wissenschaften. Berlin, Weidmannsche buch-
handlung, 1904.
Bd i. Friedrich von Schwaben, aus der Stuttgarter hs. heraus-
gegeben von Max Hermann Jellinek. xxii und 127 ss. gr. 8°, mit
einer tafei in lichtdruck. — 4,40 m.
Bd iv. Kleinere mittelhochdeutsche erzählungen, fabeln und lehr-
gedichte. 1. Die Melker handschrift, herausgegeben von Albert
Leitzmann. xiv und 55 ss. gr. 8°, mit einer tafel in lichtdruck. —
2,40 m.
Rasch ist das unternehmen der königl. preulsischen aka-
demie der Wissenschaften, die Veröffentlichung deutscher texte
des mittelalters in handschriftenabdrücken, gesichert worden,
eine reihe wichtiger texte ist in bearbeitung, und mit den beiden
hier angezeigten bänden sind nun auch die ersten ausgaben er-
schienen, sie geben gelegeuheit, den plan der akademie in
A. F. D. A. XXXI. 2
18 JELLINEK U. LEITZMAIS'N DEUTSCHE TEXTE DES MITTELALTERS
seiner Verwirklichung kennen zu lernen, und nun man solch
übersichtliche abdrucke bisher nur in bibliotheken verwahrter
litteraturwerke unmittelbar vor äugen hat, kann man überblicken,
wie sehr unsere kenntnis des mittelalterlichen geisteslebens durch
derartige vorarbeiten gefördert wird, man sieht ein weites unbe-
bautes arbeitsfeld sich eröffnen, eine fülle neuer probleme lockt zu
erfolg versprechenden Untersuchungen, aufgaben, die man in
eine unberechenbare zukunft verschoben glaubte, rücken mit
einem male näher und verlieren den schein der unlösbarkeit.
für die kritischen bearbeitungen zb. von Strickers Fabeln , von
Rudolfs von Ems Willehalm und Alexander, welche schon mehr-
fach in angriff genommen und niemals zu ende geführt worden
sind, werden durch solche hss.-abdrücke grundlagen geschaffen,
die dem künftigen herausgeber unendlich viel zeit und mühe
ersparen.
Doch nicht nur als mittel zum zweck künftiger kritischer
ausgaben, auch ihre selbständige berechtigung haben diese text-
abdrücke. indem sie die werke so widergeben, wie sie im
mittelalter würklich gelesen wurden, stellen sie bistorische docu-
mente, Zeugnisse für den bildungsstand eines gewissen publicums
dar. je mehr die subjectiv ästhetische beurteilung der mittel-
hochdeutschen litteratur sich zur objectiv historischen erweitert
hat, um so mehr müssen diese getreuen zeugen der Vergangen-
heit in unserer Wertschätzung steigen, somit ist es geradezu ein
wissenschaftliches bedürfnis, einen teil unserer mittelalterlichen
litteratur in solchen reinen textabdrücken zu besitzen, für die
erforschung einzelner zweige sind sie aufserdem direct unent-
behrlich, so für die mhd. dialektforschung; eingehnde Unter-
suchungen über die mhd. Orthographie sind ohne eiu umfangreiches,
gedrucktes material mittelhochdeutscher Originaltexte überhaupt
unmöglich.
Für die einrichtung der abdrücke hat die akademie bestimmte,
von Roethe ausgearbeitete Vorschriften gegeben, im interesse
der eiuheitlichkeit musten den herausgebern, bei möglichster
Währung der bewegungsfreiheit, gewisse allgemein bindende be-
schränkungen auferlegt werden, damit ist auch eine gewisse
uniformierung der Orthographie vorgeschrieben, so sollen rein
orthographische eigentümlichkeiten 'wie zb. der gebrauch von u
und u, i und j, f und s, i und t, cz und tz, von ff", ff im
anlaut u. ähnl., nicht peinlich copiert, sondern sachgemäfs geregelt
und gemildert oder beseitigt werden'; 'abkürzungen sind aufzu-
lösen', aber wer in der geringfügigsten orthographischen er-
scheinung die äufserung einer bestimmten Individualität zu sehen
bestrebt ist, der wird doch in einem mit allem unsinnigen und
allem bailast ganz buchstabengetreu widergegebenen abdruck
immer einige kleine, charakterisierende merkmale finden. ein
grofser schade wird dadurch nicht angerichtet und der philolog
JELLINEK U. LEITZMANN DEUTSCHE TEXTE DES MITTELALTERS 19
sollte sich vor solchen Schnörkeln nicht scheuen, es hleiht da-
mit ein stück historischen costüms erhalten, in der humanisten-
zeit würkt der orthographische schwulst ja geradezu decorativ
und ist ein zeichen einer gewissen zeitstrümung. — aber auch
aus gründen der textkritik wäre eine in allen kleinigkeiten genaue
widergabe des Originals oft wünschenswert, aus ahkürznngen er-
klärt sich manchmal die entstehung einer falschen lesart. so ist
fehlerhaftes vnlange aus vJi lange eher begreiflich als aus vnd lange,
ein fehlerhaftes nu aus vn eher als aus vnd und ein falsches do
leichter aus de als aus daz. auch die Unterscheidung von u
und v spielt unter umständen mit : fehlerhaftes im führt eher
auf nu als auf nv; im 14, 15 jh. wurde ja ein absichtlicher
unterschied gemacht zwischen u und v, indem v besonders vor
m und n gesetzt wurde, gerade wie y statt i vor m und n. auch
würde cz, sofern es von tz überhaupt zu unterscheiden ist,
beslehn bleiben können, da damit der Schreibung oft eine ge-
wisse zeitliche und landschaftliche färbung verliehen ist. wer
seinen sinn auf solche dinge einstellt, der empfindet es zb. schon,
wenn in einer hs., die altes ht mit cht widergibt, zwischen
sonstigen nicht ein niht aus einer anderen hs. eingefügt ist (Leitz-
mann, Melker hs. nr vi 151 niht aus I\, nr i 127 niht statt
fehlendem nicht, da die Melker hs. sonst immer nicht schreibt),
in Sachen der Orthographie hat sich denn auch Jellinek gegenüber
diesen Vorschriften gröfsere Selbständigkeit gewahrt und die ab-
weichung vom programm durch eiue reihe beherzigenswerter
gründe gerechtfertigt (s. xiv — xvu).
Die beiden vorliegenden textabdrücke können für die fol-
genden arbeiten als musterbeispiele dienen, zumal sie zeigen,
wie trotz der gleichen arbeitsmethode in eiuzelnen fällen doch
wieder eine andere behandlungsweise eintreten kann, denn die
aufgäbe lag nicht für beide herausgeber gleich, Jellinek hatte
mit schwierigen handschriftlichen Verhältnissen zu arbeiten,
Leitzmann einen ziemlich sorgfältig geschriebenen text wider-
zugeben.
Bei der eigentümlichen Überlieferung des Friedrich von
Schwaben konnten zweifei bestehn, welche der hss. zum ab-
druck zu bringen sei. Jellinek hat sich mit recht für die der
Jüngern redaction angehörende hs. S entschieden, obgleich I die
wichtigste hs. ist, weil 1 nicht einheitlich ist, sondern zwei be-
arbeituogen darstellt und von zwei verschiedenen Schreibern
abgefasst ist. mustergültig ist die Sorgfalt in der beschreibung
der hs. S, die pünetlichkeit in der darstellung ihrer Orthographie,
in der auswahl und Verbesserung der lesarten. Jellinek hat sich
sein ziel noch weiter gesteckt als die Vorschriften der akademie
verlangen, indem er nicht nur eine, sondern mehrere hss., Ia
und P, H, M, reichlich zur kritischen ausbesserung des grund-
textes S beizieht und indem er durch nachweis der entlehnungen,
2*
20 JELLI.NEK ü. LEITZMA» DEUTSCHE TEXTE DES MITTELALTERS
die in dem gedichte sehr zahlreich sind, auf das litteraturgeschicht-
liche gebiet vorgedrungen ist.
Leitzmanns abdruck der Melker hs. bildet das erste
lieft einer folge von 'kleineren mhd. erzählungen, fabeln und lehr-
gedichten'. während Jellinek mit seiner behandlungsweise schon
vorarbeiten für eine kritische ausgäbe liefern konnte, war Leitz-
mann lediglich auf den abdruck der hs. beschränkt, deren fehler,
die seilen einschneidend sind, durch beiziehung nur einer
andern hs. gebessert werden konnten, mit recht wählte er dazu
die Heidelberger hs. nr 341. aber nicht alle achtundvierzig
nummern der Melker hs. hat er veröffentlicht, sondern nur die-
jenigen gedichte, welche bis jetzt noch nirgends gedruckt sind,
das sind achtuudzwanzig stücke, statt der schon bekannt ge-
machten nummern (in Hahns Kleineren ged., Docens Mise, Lass-
bergs LS., Pfeiffers Ad. Übungsbuch ua.) sind in der einleituug
die abweichungen der Melker hs. von diesen gedruckten stücken
gegeben, nach dem oben vertreteneu standpunet über den wert
von hss. -abdrücken ist dies zu bedauern, wir haben so eben
keiu ganzes bekommen, und der abdruck trägt somit mehr einen
provisorischen Charakter, während die vollständige widergabe
auch nach einer kritischen ausgäbe selbständige bedeutung be-
halten hätte, und die Melker hs. hätte eine ungeschmälerte
widergabe wol verdient, es lassen sich zb. beobachtungen hin-
sichtlich der Orthographie anstellen, die nicht ohne wert sind, so
ist heilig mit ei geschrieben auch in denjenigen teilen, wo
mhd. ei sonst zu ai geworden ist; s oft für z im auslaut und
umgekehrt (der grund für diese sehr geläufige Vermischung von
s und z im auslaut ligt wol darin, dass in dieser Stellung beide
laute tonlos gesprochen wurden und darum zusammenfielen,
während im inlaut s töneud, z tonlos war); y für i nur einige-
male in hymel, eysen und in den fremdwörtern ley(e), paradys
ua. ; zu solchen statistischen Sammlungen ist aber die ganze
hs. nötig. — manchmal wird man im zweifei sein können, ob
die zweite hs. beigezogen werden sollte oder nicht, so konnte
der positiv vaste in vaste . . . denne 2,84 bleiben, da er nicht
sprachwidrig ist (gegen vaster P), vgl. Kraus Zs. f. d. Österreich,
gymn. 43, 1104; andererseits konnten verbesserungeil nach P
eingeführt werden in 26, 54 : gebosert P statt geloset M, vgl.
V 72 (oder ist geboset das ursprüngliche? vgl. oben vaste und
vaster, und Hahn Klein, ged. 12, 345, wo V boesern, P aber
bösen hat); 28, 34 geklaffet P statt geschaffet M, vgl. klefte V 20;
= 16, 69 hat P nicht teaz sondern Was, 11, 87 hat P nicht
triwe sondern trewe, 24, 220 nicht rewe sondern riwe, 26, 38
fehlt und in P, 24, 238. 242. 253 ist dich M recht und nicht
in mich P zu ändern : V 263 hat P richtig wie M si geachten
nie uf din gebot, wonach also auch 253 mit M zu lesen ist si
geachten nie nicht uf dich.
JELLLNEK ü. LEITZMANM DEUTSCHE TEXTE DES MITTELALTERS 21
Seit abfassung dieser anzeige sind noch weitere bände der
'Deutseben texte des miltelalters' erschienen, das unternehmen
wird energisch gefördert und schreitet rüstig vorwärts, noch
andere, für die erforschung unserer mittelhochdeutschen litteratur
und spräche höchst notwendige aufgaben könnten ebenfalls auf
diesem wege des zusammenwürkens, und erfolgreich eben nur auf
diesem, gelöst werden, aufgaben die, im gegensatz zu diesen
aufs weite gerichteten zielen, mehr auf die Vertiefung in die
einzelerscheinung giengen, wie Sonderwörterbücher und reim-
register zu den hervorragenderen denkmälern der mittelhoch-
deutschen litteratur.
Heidelberg. G. Ehrisma.nn.
Das leben der Schwestern zu Töss beschrieben von Elsbet Stagel samt der
vorrede von Johannes .Meier und dem leben der prinzessin Elisabet
von Ungarn, hg. von Ferdinand Vetter, mit zwei tafeln in lichtdruck
und einer nachbildung der platte des fürstengrabes von Töss. [Deutsche
texte des ma.s hg. von der kgl. preufs. akademie der Wissenschaften.]
Berlin, Weidmannsche buchhandl., 1906. xxvi u. 133 ss. 8°. — 5 m.
Elsbeth Stagels schrift über das Leben der Schwestern zu
Töss, die bisher nur auszugsweise bekannt war und vor kurzem
von ESchiller in seiner durch Vetter angeregten Berner disser-
tation (Das mystische leben der Ordensschwestern zu Töss bei
Winterthur, Zürich 1903) nach ihrer psychologischen seite hin
gewürdigt worden ist, erfährt in der vorliegenden publication
0
einen vollständigen abdruck nach der SGaller hs. 603. daneben
■6
hat auch eine unter bruder Johannes Meier (1422 — 1485;
die über ihn s. xiii anm. zusammengetragene litteratur wird nun
ergänzt und berichtigt durch Zs. f. d. gesch. des Oberrheins, n.
f. 21, 504 ff; .Michael Gesch. d. deutschen volkes in 168 anm. 2)
zu stände gekommene md. in einer Nürnberger hs. enthaltene
redaction berücksichtigung gefunden; aus dieser werden s. 1 — 11.
95 — 98 (121) die besondere einleitung sowie der vom leben
der mutter Seuses handelnde 'beschluss' mitgeteilt; die abschnitte
sind nach dem Seusenbuch der EStagel selbständig von Meier
componiert. über sonstige abweichungen seiner redaction
s. s. xvi f. in zweifelfälleu konnte auch eine Überlinger hs.
herangezogen werden, doch ist in ihr die ursprüngliche wir-form
mehrfach und sehr iueonsequent in die dritte person abgeändert
worden, auf das Schwesternbuch folgt in diesen drei alten hss.
die legende der königstochter Elisabet von Ungarn, die ver-
hältnismäfsig umfangreiche vita rührt sicher nicht von EStagel
her, wie auch Vetter jetzt in der einleitung s. xvm annimmt,
während er in den anmm. zum text s. 99 und 117 seine früher
(Ein mystikerpaar s. 53) ausgesprochene bejahende ansieht, die
auch Preger teilte, noch nicht völlig preisgeben zu müssen glaubte,
schon die der Elisabeth-legende vorausgebnde letzte vita (nr 33)
22 VETTER DAS LEBEN DER SCHWESTERN ZU TÖSS
im Schwesterubuch weist 'spuren einer fremden fortsetzuug oder
nachträglichen fremden redaction' auf, und es fragt sich nur,
wie wir es uns zu erklären haben, dass ESlagel selbst gerade
diese vornehmste insassiu des klosters übergangen haben sollte,
folgendes scheint mir dafür erwägenswert: die nrr 1 — 31 ent-
halten die lebensbeschreibungen älterer verstorbener Schwestern
(nrr 1 — 25 uonuen, nrr 26 — 31 laienschwestern), die EStagel
nach schriftlichen aufzeichnungen und mündlichen berichten der
älteren klostermitglieder zusammengestellt hat, der jüngeren
generation zum vorbild (16, 1 — 20). die viten der nonnen
werden mit den Worten Dar hell ff uns Got allen durch die liebi
siner fand und unser geminten Schwestern. Amen (79, 9 II) be-
schlossen, desgleichen die der begnadeten laienschwestern mit
Dar helff uns Got allen! Amen (86, 29), dann folgt in ur 32 ein
nachtrag aus eigener erinnerung über eine inzwischen gleich-
falls verstorbene Schwester, eingeleitet durch den salz : Ich hat
begird zu unserm heren das ich im mocht gedienen an sinen
fründen. Das fugt er mir also das mir zu simi kam zu schriben
von gütten und sälgen Schwestern ubung und von sunderlicher
Offenbarung der gnaden, so unser her tet, der ich dik vor mir
hört sagen. Und do ich aines tages sass und schraib von ünsren
sälgen Schwestern, als man an disem. buch wol gehöret hat, do
fugt es sich von geschieht das die tugenthaft Schwester Elisabet
Bechlin zu mir kam. Nun hei ich gern etwas von ir gewist, und
bracht es mit bedachten warten darzü das sy mir ward sagen
(86, 31 ff), dieses buch, die vorläge der SGaller hs., hat nach
der Stagliu tode (93,5) in nr 33, der vita der Elsbet von Cel-
linkon, eine fortsetzung von anderer hand erhalten unter Ver-
wertung von nolizen, die sich EStagel auf grund persönlich
empfangener aussagen jener Schwester gemacht hatte; EStagel
ist die Schwester die dis (das Schwesternbuch) schraib (90, 21),
die dis alles von ir schraib (91, 21 f. 93, 5)1. an nr 33 endlich
reiht sich die Elisabet -legende an. wenn trotz dem hohen
geburtsrang EStagel mit keiner silbe die ungarische köuigs-
tochter erwähnt, so scheint mir die einleuchtendste erklärung
die zu sein, dass Elisabeth von Ungarn zur zeit, als EStagel ihr
werk schrieb, noch am leben war, die vitensammlung aber nur
'vergangene heilige' (Seuse ed. Denifle i 142) Schwestern, ins-
besondere die älteren berücksichtigte, die vor uns xoarent und
och by unsren zitten sintt gewessen (16, 10). ich wüste auch
nicht, was nötigte, die abfassung des Schwesternbuchs später als
1336, das todesjahr der Elisabet von Ungarn, anzusetzen; schon
1 mit diesen stellen ohne weiteres 94, 32 f die Schwester die dis von
ir gescliriben hat, die dienerin der Elsbet von Cellinkon bei deren tode,
zu verbinden, scheint gewagt; sollte aber würklich anderseits das hier ge-
wählte perfect gegenüber dem praeteritum der andern stellen auf absieht
beruhn und auf die redigierende schreiberin zu beziehen sein ?
VETTER BAS LEBEN BER SCHWESTERN ZU TÜSS 23
Greith datierte die zeit der abfassung 1 33' > •">, wahrend Preger
(Die briefe IISusos s. 16 f) 1340 annahm, ohne dass seine gründe
einer nachprüfung stich hallen, es ist nicht überflüssig dies
hervorzuheben, da die Zeitbestimmung des Schwesternbuchs auch
für die Chronologie Seuses von bedeuüing ist.
S. xxi IT hat der herausgeber die wichtigsten sprachlichen
eigentünilichkeiten aus der SGaller und Nürnberger hs. zu-
sammengetragen, dem text eine grofse zahl orientierender an-
merkungen heigegeben, für die er sich namentlich in die ge-
schlechterkunde seiner engeren heimat zu vertiefen hatte : wir
erhalten über die familien der Tüsser klosterinsassen meist
erschöpfende anskunft.
Von einzelheiten möge hier folgendes berührt werden, s. vm.
xn. die Vierzig inyrrhenhüschel begegnen auch sonst hs.lich noch
öfter: Mayhingen Deutsche hss. i 8° 44 bl. 145a; VVolfenbüttel 83
Aug. So. 5. 158. Aug.; Berlin ms. germ. oct. 30 (nach gütiger
niitteilung von dr Bihlmeyer in Tübingen). — s. xm. das Schwestern-
buch von Diefsenhofen hat Birlinger nicht nach der Nürnberger,
sondern nach der Frauenfelder hs. (s. xiv) herausgegeben. —
s. xviii u. 121 anin. ist als todestag der Elisabet von Ungarn der
31 oct. 1330, s. 100 anm. der 6 mai 1337 genant, das erste
datnm ist das richtige. — 13, 22 anm. die nähere tagesbe-
stimmung würde erst auf das folgende jähr 1334 passen. —
14, 26 la. 83, 27 anm. finden wol durch 97, 15 ihre einfachste
erklärung : die messe mit ihrem gesaug erweckt schon an sich
die rührseligkeit, vgl. auch Schiller aao. s. 43 — 39, 21 anm.
dass mit bruder Berchtold der Übersetzer der Summa confessorum
des Johannes von Freiburg gemeint sei, ist mir aus zeitlichen
gründen nicht wahrscheinlich : die Schwester, in deren vita jener
bruder begegnet, war bereits 38 jähre verstorben, als EStagel
an ihrem werke schrieb; es wird sich um einen älteren br.
Berthold handeln, träger dieses namens aufser dem geuannteu und
dem sicher nicht in frage kommenden Berlhold von Regensburg
kennt die mystische litteratur auch sonst noch, vgl. Bach Meister
Eckhart s. 184 anm. 23. — 46, 9 lis und kund doch nit latin
un tuscht ('ohne deutsch', s. im Wortverzeichnis unter un und
s. xxin, oder untüscht 'unverdeutschl') verston9. — 52, 27. das dir
got ergas hätte ins glossar aufgenommen werden sollen, vgl.
Grimm Gramm, iv 175. — 52, 29 anm. in der Verwünschung
fluch du besses fustüch eine anspielung auf eine stelle bei Seuse
zu sehen (s. auch Schiller aao. s. 71 anm. 1), ligt kein grund
vor, vgl. Schmidt Historisches Wörterbuch der elsäss. mundart
s. 115; Deutsches wb. iv 1, 1, 1056; Mystiker n 169, 18. —
61, 35 lis recht mit stossen? — 67, 1. bruder Wolfram unser
profincial bekleidete dies amt 1269 — 1272, s. Jundt Histoire
p. 287; mit ihm wird mau vielleicht 'bruder Wolfart den pro-
vincial' identihcieren dürfen, von dem die Adelhäuser viten-
24 VETTER DAS LEBEN DER SCHWESTERN ZU TÖSS
Sammlung eine predigt enthält, s. Konig Die chronik der Anna
von Munzingen, Freiburg 1880, s. 63 f; Krebs in der Festgabe
HFinke gewidmet, Münster 1904, s. 53. — 71, 2 anm. u. s. 133.
der provincial bruder Hugo wird vielmehr mit Hugo von Zürich
1300 — 1303 zu identifizieren sein, Jundt Histoire p. 288; von
dem Konstanzer lesemeister Hugo, den Vetter nennt, rühren wol
die beiden Zs. f. d. ph. 9, 29 IT. abgedruckten predigten her. —
78, 3 lis mit irem muttwill(eg)en schall! — 81, 34 ob beten-
dem, prät. von betten 'das bett bereiten', würklich unbeanstandet
bleiben kann, ist mir fraglich. — 83, 28 f un mal 'aufserhalb
der festgesetzten Zeiten' erklärt das glossar; vielleicht bedeutet
mal hier schon 'mahlzeit'. — 90, 22 doch wol hie ze töss. —
90, 24 vor ist scheint ein wort (geachtet!) ausgefallen zu sein.
An Vetters Wortverzeichnis hat schon Behaghel Litteraturbl.
1907, 56 f einige ausstellungen gemacht, ich trage meinerseits
noch folgendes nach : ane als fem. 'grofsmutter' 35, 4; arbeit-
selig auch 4, 26; bank m. 88, 17; beicerrd 80, 34 bezeichnet
eigentlich die versehung mit den sterbesacramenten (Schmidt
Histor. wb. der elsäss. mundart s. 37 ; Schwab, würterb. i 988),
hier wol einfach 'communion'; es wird zu lesen sein untz das
[sy] die b. anfieng oder untz das sy die b. enpßeng; danknem
auch 24, 17. 81, 25, danknemlich 84, 33; der grosse dunstag
'grün-donnerstag' heifst nach Adelung auch 'der hohe donners-
tag' (Deutsches wb. n 1253), worauf Vetters von Behaghel be-
anstandete Übersetzung 'hohendonnerstag' zurückzuführen sein
wird; entliben auch 40, 19 'schonen'; entpfenkiich steht 98, 33;
fransmutikait 111, 28 bedeutet hier 'wolleben, glück' wie Wacker-
nagel Altd. pred. s. 513 und ist verderbt aus framspuoticheit,
s. Lexer m 489 und nachtr. sp. 397; Beiträge 11, 108. Vetters
erklärungsversuch ist abzuweisen; genuch(t)samklich auch 45, 4.
55, 21. 83, 26; gesellin bedeutet 40, 32. 62, 8 dasselbe wie
61, 21; haimlichi auch 62, 25. 67, 21. 50, 13; heben : hettin
steht 85, 21, vgl. auch 53, 18 und hat ir hend — vff\ pilder
steht 121,10; regel fasten : sie dauerte vom 14 sept. bis ostern;
reisslich auch 5, 17; rekoller : lis 14, 22; riechlich wol =richlich
'rachsüchtig' s. Schmidt Histor. wb. d. elsäss. mundart s. 281 ;
zu sengerin vgl. die ausführungen im Ämterbuch, s. König Chronik
der Anna von Munzingen s. 72; strak : lis mit fünf strakvenjen
46, 5 vgl. 61, 37? über die gestrakte venie s. Schmeller2 u 808;
Schweiz, idiotikon i 834; Anz. v 264; Seuse ed. Denifle i 30
anm. 63 anm.; tafel : es handelt sich um das hölzerne brett, das
beim sterben einer Schwester geschlagen wird, um den convent
zusammenzurufen, s. Schröder zum Büchlein von der genaden
überlast 9, 1 ; Anna von Munzingen s. 27 anm. 7, s. 72 anm.,
s. 86 ; undergang steht 121,11 und bedeutet 'Unterwürfigkeit,
Unterordnung' mit rücksicht auf die hohe geburt der Elisabet von
Ungarn; ungeleichet : Behaghels ausstellung gegenüber sei bemerkt:
VETTER DAS LEBEN DER SCHWESTERN ZU TÖSS 25
Seuses vater war 'der weit kind' (Denifle Sense i 37), der ganze
passus ist aus Seuse (ed. Denifle i 209) entlehnt; unlidig auch
70, 12. 112, 11; wunder : warum nicht eiufach mit 'verwundern'
übersetzt? zipelin doch wol zu zipfel, also 'spitzcheu, teilchen'.
aufnähme hatten noch folgende Wörter verdient : entsitzen. = ent-
setzen 'vom sitz aufscheuchen' 104, 25; geding hau mit 'anwart-
schaft haben auf 92, 11; gunlichen — güetlichen gloriare 44, 7;
leibkrank 'kränklich, leidend' 9, 19; lieblos 'leblos' 91, 4, 'ent-
rückt' 94, 31; maslaidig 'überdrüssig, sich ekelnd vor' 81, 16;
mintrehen 29, 23, nidertrüchtig 'gering geschätzt' 90,26; sunder-
werk im g^egensatz zur arbeit, die der allgemeinheit, dem ganzen
kloster zu gute kommt 14, 25; süssmütig 'liebreich' 35, 16; tob
'unsinnig, irre' 87, 29; ungefellelich nicht gefallend, misfallend'
56, 13; ungewärlich 'unsicher, gefährlich' 83, S; unlustsam 'nicht
verlockend, widerwärtig' 20, 20; fd wunder gern 92, 2; fd wunder
we 93, 32; Wunsches gewalt 58, 8; wurmüt 'wermut' 62, 27.
Halle a. S. Philipp Strauch.
D. Martin Luthers werke, kritische gesamtausgabe. 10 bei, dritte abteilung.
Weimar, HBöhlaus nachf., 1905 (xcvi und 446 ss.). — 32 bd, 1906
(lxxxv und 569 ss.). — Die deutsche bibel. bd 1. mit vier nach-
bildungen Lutherischer hss. 1906 (xxiv und 639 ss.).
Da es das erste mal ist, dass in diesem Anzeiger auf die
Lutherausgabe hingewiesen wird, möcht es sich wol gebühren,
zusammenfassend über die geschichte dieses grofsen, auch für
unsre Wissenschaft so wichtigen Unternehmens zu berichten und
der arbeit der gelehrten, die ihm ihre kraft gewidmet haben,
dankbar zu gedenken, doch fehlt es dem unterzeichneten zur
zeit an mufse, und so bittet er um die erlaubnis, sich auf eine
kurze anzeige der drei jüngst erschienenen bände zu beschränken1.
Bd 10 3 enthält die predigten des Jahres 1522, bd 32 die
des jahres 1530, aufserdem die wochenpredigten über Matth. 5 — 7,s
die Luther in Vertretung Bugenhagens, als 'lückenbüfser', wie er
sagt, vom november 1530 bis in den märz 1532 gehalten hat.
aus dem jähre 1522 sind uns 64 predigten überliefert, aus dem
jähre 1530, abgesehen von den wochenpredigten, nur 35. der
unterschied, der noch erheblich gröfser sein würde, wenn die
Überlieferung des Jahrganges 1522 vollständig wäre, erklärt sich
teils daraus, dass Luther fast die hälfte des jahres 1530 von
Wittenberg abweseud war, teils daraus, dass er sich eine zeit lang
aus unlust des predigtamtes enthielt (32, xvn). — die quellen
auf denen die ausgäbe der predigten beruht, sind anfangs vor-
zugsweise gleichzeitige drucke, später handschriftliche aufzeich
nungen, namentlich Börers. die predigten des jahres 1522 sind
1 inzwischen ist ein neuer band (102), der erste den Drescher heraus
gegeben hat, erschienen.
26 D. MARTIN LUTHERS WERKE
fast sämtlich mir in drucken überliefert, 1523 halten sich ge-
druckte und handschriftliche Überlieferung fast die wage, dann
treten die drucke einzelner predigten immer mehr in den hinter-
gruod. von denen des Jahres 1528 ist keine gleichzeitig ge-
druckt, von denen des jahres 1529 nur eine, von den 35
predigten des jahres 1530 nur drei : nr 6, 11, 14 (103, ix),
der grund ligt teils darin, dass seit 1527 Luthers kirchen-
postille erschien, teils aber auch wol darin, dass, nachdem seine
lehre in zahlreichen schrillen verbreitet war, der einzelnen
predigt weuiger hedeutung beigemessen wurde als in den ersten
jähren. da die alten gesamtausgaben der Lutherscheu werke
fast nur vorher gedruckte predigten aufnahmen, sind die des
jahres 1530 erst spät wider ans licht gezogen, die meisten er-
scheinen in dem vorliegenden 32 hd zum ersten mal. —
welchen anteil die einzelnen mitarbeite!' (Buchwald, Götze,
Koffmane, Weidling, Brenner) an den beiden bänden haben, hat
der herausgeber Pietsch in den Vorworten angegeben, die um-
fangreichen einleilungen erörtern, wo und unter welchen um-
ständen Luther gepredigt hat, und begründen das bei der be-
arbeitung und ausgäbe beobachtete verfahren. sie verzeichnen
und beschreiben die quellen aus denen geschöpft ist, geben an,
aus welchen Werkstätten die drucke hervorgegangen sind, in
welchen bibliotheken sich exemplare befinden, und untersuchen,
wie sich die verschiedenen drucke zu einander verhalten, auch
ihre orthographischen und sprachlichen eigenlümlichkeiten sind
in der einleilung behandelt, sodass der den texten beigegebene
kritische apparat sich auf die wesentlicheren ahweichungen be-
schränken konnte.
Besonders eingehend sind die acht ersten predigten des
jahres 1522 behandelt, durch die Luther den aufruhr dämpfte,
den Karlstadt und Gabriel Zwilling während Luthers aufenthalt
auf der Wartburg erregt hatten, sie sind iu doppeltem lext in
die ausgäbe aufgenommen, einmal nach den allen drucken, von
denen einer in Mainz bei Schöffer, 5 in Augsburg erschienen
(3 bei Steiner, 2 bei JNadler); sodann nach der bearbeitung
Aurifabers (1564). denn auch dessen text verdieut wider-
gegeben zu werden, da er fast zwei jhh. die einzige quelle der
bekanntschaft mit diesen predigten geblieben und bis in die
neueste zeit auch in der wissenschaftlichen litteratur entweder
bevorzugt oder doch wenigstens den alten drucken gleich ge-
achtet worden ist. ein drittes, handschriftlich erhaltenes stück,
das zu diesen predigten in engster beziebung steht, ist iu der
einleilung s. Lvnf herausgegeben und ausführlich behandelt, die
ansichten über die hedeutung und den zweck dieser aufzeichnung
sind geteilt. vielfach hat man es für einen hrief gehalten, den
Luther von der Wartburg aus an seine Wittenberger gerichtet
habe, Bossert kommt in den Studien und kritiken 1897 s. 363 f
It. MARTIN LUTHERS WERKE 27
zu der ansieht, es sei ein an Zwilling gerichteter brief, Pietsch
sucht darzulegen, dass es ein von Luther seihst vor den predigten
ahgefasster entwurf sei, der wahrscheinlich unvollendet blieb.
ich halte es für unmöglich, dass Luther das Schriftstück ab-
gefasst habe, und glaube, dass schon 6iu punet genügt, um dies
zu zeigen.
Luther unterscheidet in diesen predigten, und kommt immer
wider darauf zurück, zwischen dingen, die Gott zu halten ge-
boten, und solchen, die er den menschen frei gelassen hat. an
Gottes wort und dem wahren Christenglauben solle man unver-
brüchlich festhalten jedermann zum trotz; aber ob man essen
und trinken oder fasten, ein weih nehmen oder unverehelicht
bleiben, heiligenbilder aufstellen soll oder nicht, darüber und
über anderes habe Gott nichts bestimmt, in solchen dingen solle
man also jeden gewähren lassen und keinen zwang üben; so
verlange es die christliche liebe, in der sich der wahre glaube
betätige, durch ein gleichnis weifs er diese gedanken anschau-
lich zu machen (103, 7, 9f). die sonne hat glänz und wärme,
der glänzende Sonnenstrahl hat seine vorgeschriebene bahn, und
kein köuig ist so stark, dass er ihn 'lenken' (dh. biegen) kann;
aber die wärme breitet sich aus, auch wo der strahl der sonne
nicht hinfällt. unbeweglich wie der glänz der sonne soll das
wort Gottes und der wahre glaube in unserem herzen sein; aber
die liebe biegt sich und folgt, dem nächsten. diese gedanken
sind in dem bruchstück mit folgenden Worten widergegeben
(s. Lxm 119) : die sonn halt den glantz und die werme oder
hitz : den glantz kan weder keyser noch kiinig biegen, also das wort
soll nyemands weichen (Irans. = weichen machen, ablenken),
aber die werme kann man wol fliehen und jn den schatten geen.
also thut die liebe, die weycht (intrans.) dem nechsten, so offt es
not ist. offenbar hat der Schreiber das gleichnis nicht ver-
standen, was er vom glänz sagt ist richtig, das folgende aber
wider den sinn; Luther kann es nicht geschrieben haben, es
bleibt also nur die eine, auch von Bossert schon erwogene mog-
lichkeit, dass diese aufzeichnung eine bearbeitung der Luther-
schen predigten enthält, und zwar eine sehr freie, denn so un-
verkennbar der vf. aus Luthers predigten geschöpft hat, so folgt
er ihnen doch nicht, sondern gibt die gedanken in selbständiger
aueinanderreihuug und Verbindung (vgl. s. Lxxff). der text der
gedruckten predigten hat dem vf. sicher nicht vorgelegen; ver-
mutlich hat er sie gebort und aus dem gedächtuis und einzelnen
nolizen sein werk gestaltet1. — einen schluss auf die zeit und den
zweck der arbeit gestattet vielleicht der umstand, dass in ihr nur
gedanken der vier ersten predigten benutzt sind, der gedanken-
1 über die willkür, mit der Luthers predigten oft behandelt wurden,
vgl. s. xlii und die einleitende bemerkung zu nr 33 (s. exm); ferner das
vorwort zu bd 32 s. m.
28 I>. MARTIN LUTHERS WERKE
kreis der vier andern, in denen Luther vom sacrament handelt,
wird nicht berührt, nur einzelne ausdrücke und Wendungen er-
innern an sie (vgl. z. 42 und s. 56, 4; z. 48 und s. 46, 8).
hiernach möcht ich vermuten , dass das Schriftstück abgefasst
ist, nachdem Lulher seine schrift 'Von beider gestalt das sacrament
zu nehmen' veröffentlicht und damit den wesentlichen inhalt der
vier letzten predigten durch deu druck bekannt gemacht hatte,
durch die bearbeitung der vier ersten wollte unser vf. Luthers
schrift gewissermafsen ergänzen.
So wenig das bruchstück als eine authentische schrift
Luthers anzusehen ist, so ist es doch als ein selbständiges
Zeugnis für Luthers worte nicht unwichtig, es ermöglicht ein
urteil über den wert der im druck erschienenen aufzeichnungen
und zeigt, dass auch sie keineswegs ein treues bild von Luthers
predigten geben, auf eine stelle, die verdacht erregen muss,
hat Pietsch schon hingewiesen, am ende des bruchslücks wird
die mahnung ausgesprochen, dass man einem, der fasten für ge-
boten erachte, nicht durch fleischessen ärgernis bereiten solle
(z. 124) : was solts mich beschweren, das ich fisch esse? meinem
nechsten zu gut wölt jch doch wol ein grössers thün so es jm zu
gut kerne, also kan ich meynen feinden (icenn jr bekerung zu
hoffen ist) und den schwachen dise kappen icol zu gut tragen und
soll mich nit beschweren. — 'diese kappe!' 'so kann', bemerkt
Pietsch s. lxix mit recht, 'nur ein redner sprechen, mit der
band hinweisend auf das kleid das er trägt'1, es ist wol nicht
zu bezweifeln, dass Luther diese lebendige Wendung gebraucht
hat; aber in den drucken findet sie sich nicht; da heifst es farb-
loser (24, 6 f) : wer es on schaden thün kan und zu liebe dem
nechsten ein kappe tragen oder platten, die weyl dirs an deinem
glauben nit schadet : die kappe erwürget dich nicht, wan du sie
schon tragest 2. — wichtiger ist eine andere stelle. Luther
empfiehlt seinen anhängern nachsieht und geduld gegen die,
welche noch geringe einsieht haben, damit sie durch ungestümes
vorgehen nicht abgeschreckt werden. Wir haben noch vil Schwester
und br'uder, die zu leyplzick, jm land zu Meyssen und sonst umb-
her wonen, die müssen wier auch mit zu himmel haben. Ist yetzt
wol hertzog Gorg und vil ander, hierüber bewegt, auf uns zornig,
dennocht sollen wier sye tragen und das beste von inen hoffen,
es ist möglich, das sye besser werden denn wier seyen. so heifst
es in dem bruchstück z. 43f. in den drucken entspricht s. 7,
6 — 8 : (die sach ist wol gut, aber das eylen ist zu schnell), denn
1 Karlstadt hatte am weihnachtsfest in der Stiftskirche das abendmahl
ohne vorangehnde beichte und ohne priesterkleid ausgeteilt.
2 beachtenswert ist, dass auch Aurifaber 'diese' hat. sollte ihm nicht
doch noch anderes material zur Verfügung gestanden haben als die uns
bekannten drucke? den lateinischen text in Witt. toni. lat. vii (1557) 273
kann ich leider nicht vergleichen.
D. MARTIN LUTHERS WERKE 29
au ff jenner seyten sind auch noch bruder und Schwester, die zu
uns geborn (lis gehorn), die müssen auch noch herzu, der all-
gemeine gedanke ist derselbe; aber der hinweis auf Leipzig und
Meifseu und den herzog Görg fehlt, soll der vf. des bruch-
stücks ihn hinzugefügt haben? oder ist es nicht wahrscheinlicher,
dass er in den drucken ausgeschieden ist? in einer predigt an
die Wiitenberger waren diese individualisierenden zilge natürlich
und würksam; den druckern in Mainz und Augsburg, die einen
andern und weitern leserkreis im äuge hatten, musten sie eher
störend als förderlich erscheinen, warum sollte nur der brüder
und Schwestern in Leipzig und dem lande zu Meifsen gedacht
werden? und was ging sie herzog Görg an? nein! die drucke
geben gewis die wesentlichen gedanken Luthers wider, aber
von der lebendigen anschaulichkeit, der frischen und hiureifsenden
kraft, die sein wort gehabt haben muss, geben sie in ihrer oft
unbeholfenen, zuweilen unverständlichen ausdrucksweise nur ein
trübes abbild. mit den reden wie sie überliefert sind, hätte
Luther schwerlich die wilden wogen des aufruhrs nieder-
gezwungen.
Eine ähnliche bedeutung, wie Pietsch der aufzeichnung aus
dem jähre 1522 beimisst, hätte nach der Vermutung Koffmanes
(32, 545) ein anderes stück gehabt, das schon in der Jenaer aus-
gäbe unter der Überschrift : Feine christliche gedanken der alten
heiligen veter etc. — nicht 'des alten heiligen vater', wie s. 545
gedruckt ist — herausgegeben ist und, wie er richtig erkannt
hat, offenbar mit der 6 predigt des Jahres 1530 zusammenhängt,
er meint, eine vermutlich lateinisch abgefasste meditation Luthers
liege dem Schriftstück zugrunde, aus den lateinisch beibehaltenen
teilüberschriften 'necessitas', 'causa', 'precium' sei die dispositions-
niederschrift noch kenntlich, wahrscheinlich habe Veit Dietrich
eine abschrift von Luthers aufzeichnung genommen, oder ein
anderer habe sich später aus Luthers notizen das blatt verschafft
und es in deutscher spräche widergegeben; auch könnte wol beim
abschreiben des zetteis einiges verloren gegangen sein. eine
nachträgliche, summarische inhaltsangabe der predigt liege offen-
bar nicht vor; die würde den gang der predigt inne gehalten
haben, nur der prediger selbst könne sich so von seiner aufzeich-
nung entfernen und doch wider zurecht finden. mau sehe
deutlich, dass Luther sich nicht an das concept gehalten habe,
die einleitung, die im reformationszeitalter immer noch oft ge-
brauchte allegorie vom grünen und dürren holz, habe er bei der
predigt weggelassen und überall greife er über den entwurf
hinaus. — also eine von Luther aufgezeichnete meditation in
lateinischer spräche; dann einerseits, von fremder band, eine
Übertragung ins deutsche, vielleicht verstümmelt, und anderseits
Luthers predigt, die sich nicht an die meditation hält : unter
solchen Voraussetzungen ist viel möglich, aber wenig zu beweisen.
30 D. MARTIN LUTHERS WERKE
mir fehlt das zutrauen zu diesen combinationen. ich sehe in
dem stück nur zusammengestöppelte, lose an einaoder gereihte,
vielfach undeutliche Sätze und vermag trotz der Überschriften von
eiuer disposition nichts zu erkennen, ein misverstäudnis, das
Luthers autorschaft ausschlösse, kann ich zwar in dem kurzen stück
nicht nachweisen, auffallend ist mir jedoch der ausdruck das
heilige creutz in dem satze (547, 33) : zu dem dienet das heilige
creutz zu nbung des glaubens, zur krafft des xoorts. auch Luther
spricht mit beziehung auf das kreuz Christi vom heiligen
kreuz (28, 23. 29, 12). aber für das kreuz von dem er predigen
will, für das leiden das Gott den menschen auferlegt, will der
ausdruck nicht passen, und so sollte er in dem angeführten
satze ebenso wenig gebraucht sein wie in der predigt 28, 26.
29, 18. 29. 33. 30, 2. 13 f. 31, 30. 34, 24. 35, 1. 18. 36, 9. 16.
38, 25. 39, 1, wo Luther immer nur kreuz sagt.
Mit besonderer freude ist der erste nun endlich erschienene
band der Bibel zu begrüfsen. schon im jähre 1888 war dem
herausgeber die besorgung der Bibelübersetzung von der Luther-
commission übertragen worden, aber da er im jähre 1890 die
gesamtleilung der Luthernusgabe übernahm, wurde durch die
hiermit übernommenen pflichten 'die sorge für die herausgäbe
der Bibelübersetzung notwendig in den Hintergrund gedrängt und
nur eine allerdings nie aussetzende aufmerksamkeit auf alles,
was dazu in beziehung stand, gestattet' (s. v). mit der kritischen
ausgäbe der gedruckten Bibel, die den meisten besonders er-
wünscht sein wird, ist auch jetzt noch nicht der anfang ge-
macht, der vorliegende 1 bd beruht ganz auf handschriftlichen
aufzeichnungen, auf Luthers eigenen niederschrieen, wie er sie
einst in die druckerei gehn liefs. denn, sagt der herausgeber
(und wer möcht ihm nicht beistimmen), 'eine wissenschaftlich
genügende und der christlich-religiösen wie nationalen bedeutung
ihres gegenständes würdige ausgäbe der Bibelverdeutschung
Luthers dürfe auch an dessen eigenhändigen niederschrieen nicht
vorübergehu'. vollständig sind die manuscripte nicht erhalten;
vom neuen testament, so viel sich hat ermitteln lassen (s. vi),
leider gar nichts, von dem alten aber weit über die hälfte. der
erste bd bietet, was von den handschriften des zweiten und
dritten teils des alten testaments, die 1523 und 1524 erschienen,
auf unsere tage gekommen ist. 301 blätter in dem herzoglichen
haus- und Staatsarchiv in Zerbst und 143 blätter in der könig-
lichen bibliothek in Berlin. die bearbeitung bot nicht geringe
Schwierigkeiten, 'als Übersetzung eines textes, dessen Schwierig-
keiten beim ersten wurf oft gar nicht oder in einer später un-
genügend erscheinenden weise überwunden werden konnten, sind
diese hss. ganz anderer art als die meisten autographe von
Luthers eigenen Schriften, was in diesen so gut wie nie vor-
kommt, dass Luther sich die wähl des ausdrucks noch vorbehält,
I). MARTIN LUTHERS WERKE 31
ist hier Dicht selten, und wol nie hat Luther eine eigne Schrift
später so genau und sorgfaltig durchcorrigierl wie die Über-
setzung des 2 und 3 teils des alten testaments*. dazu kommt
noch, dass die hauptcorrectur mit sehr blasser roter tinte vor-
genommen ist. doch ist es dem bearbeiter, prediger Thiele in
Magdeburg, auch hier gelungen, 'die zahlreichen geänderten oder
ganz gestrichenen worter fast überall zu entziffern.' diese ände-
rungen, die dem hearbeiter seine aufgäbe erschwerten, machen
aber gerade den wert dieser niederschrieen Luthers aus. sie ge-
währen einen eioblick in seine arbeit und stellen 'eine bisher
unbekannte Vorstufe seiner bis nahe an den tod nicht mehr aus-
setzenden heifsen bemühungen um die beste Verdeutschung des
bibelwortes dar.' der bearbeiter und der berausgeber haben
keine mühe gespart, 'von der beschaffenheit der hss. im ganzen
und ihren einzelnen stellen ein so genaues hild zu geben, als
es sich ohne photographische oder typographische nachbildung
geben lässt.' von je zwei blättern der beiden hss. konnten solche
nachbildungen beigefügt werden, über die einrichtung der aus-
gäbe, über die beschaffenheit und geschichte der hss. und über
Luthers arbeit an den beideu veröffentlichten teilen des alten
testaments gibt die einleitung auskunft. die übrigen hss. der
Bibelübersetzung sollen den 2 bd eroffnen, dieser soll aufser-
dem alles aufnehmen, was an actenstücken und Zeugnissen zur
geschichte der Bibelübersetzung vorhanden ist. eine gesamt-
bibliographie der Lulherbibel 1522 — 1546 soll ihn beschliefsen.
Die leituug der Lutherausgabe hat Pietsch am 1 april 1906
niedergelegt; professor Drescher ist an seine stelle getreten, das
vorwort des 32 bandes ist das letzte das jeuer als leiter gezeichnet
hat. '16 jähre meines lebens', heifst es dort s. vi, 'habe ich
fast ausschliefslich dem dienst der Lutherausgabe gewidmet, und
es war oft ein harter dienst. ich habe die leitung als ein
deutscher gelehrter geführt, der in der Überzeugung von wert
und wichtigkeil der ihm anvertrauten aufgäbe die sache um ihrer
selbst willen tat, der daher sein stetes absehen darauf richtet, sie
so gut und so abscbliefsend zu tun, als irgend erreichbar er-
scheint, haben umstände und Verhältnisse auch nicht alles, was
ich angestrebt, zur entfaltung und würksamkeit kommen lassen,
so kann ich doch dies unternehmen in einem stände aus der
hand geben, der ganz wesentlich höher ist, als der, in welchem
ich es übernahm. die Schnelligkeit des äufseren fortschreitens
mag nicht allen an sich berechtigten wünschen entsprochen
haben, aber bei einem urteil darüber muss billig berücksichtigt
werden, dass, als ich 1890 die leitung übernahm, zunächst die
noch rückständigen grundlegenden vorarbeiten für das ganze
unternehmen zu leisten waren.' er schliefst mit dem wünsche,
dass das grofse nationale unternehmen auf der bahn, die ihm
nun bereitet ist, rüstig voran und seinem endlichen abschluss
32 D. MARTIN LUTHERS WERKE
entgegenschreiten möge, indem rec. von herzen in diesen wünsch
einstimmt, fügt er einen zweiteu hinzu, dass die erfahrung, die
der bisherige Leiter in langjähriger arbeit gesammelt hat, der
ausgäbe auch fernerhin zu statten kommen, und vor allem, dass
es ihm vergönnt sein möge, den plan verwürklicht zu sehen, den
er auf s. ix für die Bibelausgabe und für ihre lexikalische und
grammatische bearbeitung entworfen hat.
Bonn, 4 april 1907. VV. Wilmanns.
Luthers Tischreden in der Mathesischen Sammlung, aus einer handschrift
der Leipziger Stadtbibliothek hg. von Ernst Kroker. Leipzig, Teubner,
1903. xxii und 472 ss. 8°. — 8 m.
K. hat in der Leipziger Stadtbibliothek eine verschollene
sammelhandschrift Lutherscher Tischreden wider entdeckt und
gibt sie heraus mit einer sorgfältigen und überzeugenden Unter-
suchung der abhängigkeits- und herkunftsverhältnisse ihrer ein-
zelneu teile, sie ist von dem magister Johann Krüginger in
den jahren 1546 — 48 zu Marienberg geschrieben, ihr erster ab-
schnitt (bl. 1 — 176) enthält Krügingers eigne 'Sammlung', deren
vorläge aus den heften der älteren gruppe der tischgenossen,
hauptsächlich Lauterbachs und Wellers geschöpft hat. das übrige
(bl. 177 — 548) ist von Mathesius zum abschreiben herzugeliehen
und stammt von Heydenreich, Besold, Lauterbach, Weller und
aus Dietrichs und Plates buntgemischten Sammlungen, dazu kommt
aber ein anhang von 46 blättern, der, von andrer band , haupt-
sächlich eine der ersten bearbeitung nahestehnde copie der ge-
spräche enthält, die Mathesius im jähre 1540 an Luthers tische
gehört und vermerkt hat. das gibt, fast wie Lauterbachs tage-
buch auf das jähr 1539, wider ein paar feste puncte in dem
chaos dieser Überlieferung : die tischgenossen kommen und gehen,
immer anders setzen sie den kreis zusammen, aus dessen mitte
uns namenlos ein wort aufbewahrt ist; die gewähr ihrer auf-
zeichuungen ist verschieden : sie glätten, bearbeiten, zt. mehr-
mals, sie ordnen das chronologisch überlieferte in sachliche fächer,
sie fälschen auch wol, sie lassen ihre Sammlungen abschreiben,
und diese abschriften werden in allerlei stufen weiterer bearbei-
tung teile immer neuer Sammlungen, da ist es wie ein licht-
blick , wenn man einmal ganz nahe an den ersten aufzeichner
herandringt und die möglichkeit gewinnt, aus den erhaltenen
parallelfassungen die ursprüngliche oder eine der ursprünglichen
sicher zu erkennen, ich glaube mit K., dass unser anhang eine
abschrift der Mathesianischen Sammlung ist, aber ich glaube doch
(mit Wilhelm Meyer), dass wir von keinem worte mit bestimmt-
lieit sagen können : so und nicht anders hat Luther gesprochen,
nicht nur bei Aurifaber, auch schon bei Mathesius nicht, wir sehen
ja an dem Verhältnis der predigtnachschrifteu Börers zu ihrer
KROKER LUTHERS TISCHREDEN 33
bearbeitung durch Poacb, was mau unter abschreiben und leser-
lichmachen verstand : auflösen der abkürzungen, ergänzen, be-
seitigen der jähesten Übergänge von einer spräche oder con-
struction in die andere, auslassen des unverstandenen, und hier
ist das Verhältnis ganz ähnlich, dass die eigennamen vielfach
verlesen sind (zb. nr 31 a. 2 Temerlensem <C_Trajectensem, 264, 4
Canarola<C.Carvajalus, 25, 2 Prisiae<^?), mag man der aner-
kanntermafsen schlechten schrift des Mathesius zuschieben, aber
415, 1 Dixit Doctor statt Domine Doctor, 416, 4 ex statt ecclesiae
sind falsche auflösungen der in jenen kreiseu gebräuchlichen ah-
kürzungen d. d. und ec; die zeichen für per, prae, pro ua. sind öfters
verkannt (vgl. s. 31 anm. 2 und besonders 299, 3); die merk-
würdige Schreibung polili = politicum 245, 2 lässt erkennen, dass
der copist in dem poli der vorläge fälschlich eine abkürzung ver-
mutete, auslassungen des verbums wie 261, 1 begegnen bei
Rürer massenhaft, zu 323, 2 forum poli et fori (statt urbis?
s. 324, 1) vgl. Rürer in Luthers werken xxvn 342, 15 : qui
adheret Mammon odit Mammon (statt Deum) , 361, 5 : opus kan
werck (statt weck), 375, 1 : für sich — für sich (statt hinder sich),
auch 346, 2 : solicite expedile (statt expediat) usw. aus solchen
irrtümern schliefs ich, dass wir es hier mit der glättung einer
ursprünglichen, abgekürzten und fehlerhaften niederschrift, nicht
reinschrift zu tun haben, und dabei ist die spräche dieser tisch-
reden gewiss noch glatter als die Poachs. ich halte also nicht
viel von der treue dieses copislen. ich glaube sogar, dass die
stücke, die wie 73 uaa. nur aus Überschriften bestehn und die
nach dem gesagten nicht wol, wie K. will, ein rest unbe-
arbeiteter nachschriften sein können, von dem copisten als ander-
weit besser überliefert ausgelassen sind, grade die Überschriften
sind dasjenige, was erst nachträglich zu einer tischerzählung
hinzutritt, selbst ein schluss auf die art der deutsch-lateinischen
mischsprache an Luthers tische ist nicht zu wagen, das zeigt
wider ein blick auf Rürer : Luther hat doch gewis rein deutsch
gepredigt, aber die nachschriften sind zweisprachig, zb. wird in
ur 3 besonders, als 'jocus', erzählt, dass Käthe Luther eine latei-
nische, formel zu sagen wüste (mit einer griechischen hatte sies
nie fertig gebracht), trotzdem lässt sie Mathesius nicht selten
ganz lateinisch reden. — nun kann allerdings nicht alles über-
lieferte copie unmittelbarer nachschriften sein : mindestens die
Überschriften und die kurzen lateinischen rahmenerzählungen
wird man für nachgefügt halten müssen, vielleicht schon in
pausen des gesprächs, vielleicht erst zu hause, aber ich bestreite
ja auch gar nicht, dass da noch nachgebessert und vervollständigt
wurde, nur mein ich, dass es im selben manuscript geschah,
dass keine reinschrift gemacht wurde, dass uns die vielmehr in
Kriigingers bände vorligt. so erklärt sich vielleicht auch der
unterschied in der glätte der spräche bei den verschiedenen
A. F. D. A. XXXI. 3
34 KROKER LUTHERS TISCHREDEN
stücken, wenn er nicht noch einen andern grund hat. die unter-
schritt der Sammlung ist : Sontag ante Martini Anno Domini
M. D. XL. M. J. Mathesius. Doctor Severus Schifer, qni fuit prae-
ceptor filiorum regis Ferdinandi. was soll der zweite name? K.
hält ihn für eine erläuternde anmerkung, weil Schifer in der
Sammlung oft genannt wird, ist das wahrscheinlich? sollte
nicht vielmehr Schifer, der im jähre 1540 an Luthers tische zu-
oberst safs, der am häufigsten ins gespräch gezogen wurde, in
irgend einer art zu der Mathesianischen Sammlung beigetragen
haben? auch die zweite hälfte von 63 könnte nach berichten
dritter nachgetragen sein : Sic haec Assa et Pontanus (seil.
narravernnt). hier müste also die Untersuchung weitergeführt
werden.
Über den inhalt des publicierten erlaub ich mir kein urteil;
doch scheinen mir einrichtung, text und commentare vor-
trefflich, und ich füge nur noch ein paar philologische be-
merkungen hinzu. 7, 1 : die Leipziger handschrift hatte ur-
sprünglich mit der gesamten Überlieferung mira, nachträglich ist
in aurea geändert : der corrector war also nicht Mathesius selbst
(vgl. s. 29 und das stemma der handschriften s. 37). — 7, 6
würd ich das non der handschrift beibehalten : das folgende
tarnen bezieht sich darauf, und es ist an zeile 3 zu denken :
Quid, si praestigiator esset? — 40, 3 die klammern entsprechen
unsern anführungshäkchen. — 67 ist bezeichnend für die Über-
tragung von narrengeschichten. — 241, 19 : Marcolfo in ars
sehen : die geschichte steht schon im alten spielmannsgedichte
(ed. Vogt str. 138 ff). — 261, 5 uö. : die Verwechslung von
flexions-m und -n ist für Luther und seine zeit charakteristisch,
ich würde nicht normieren. — 505, 1 ist doch wol mit den
parallelfassungen engen zu lesen. — zu 546, 2 gesterben vgl.
Wilmauns Gram, ii s. 166 ff und Kroker 535, 6 und gestand im
sein rofen farbes blut. — 778 a aus einer Gothaer handschrift
lColloquia Serotina D. M. L[utheri]', die der pastor Paul Richter
aus Lauterbachs Sammlung abgeschrieben hat, enthält die be-
kannten drei später auf Faust übertragenen geschienten : in
Nordhausen erat quidam nomine Wildfeuer, der fräs einen pauer
mit pferde und wagen, welcher pauer darnach über ezliche stunden
über ezliche fellwege in einer pfutzen mit pferde und wagen lagk.
Ita quidam monachus dinget einen pauer, was er nemen wolte
und ihn lossen sat heu von einem fuder essen; rusticus postulavit
einen kreutzer, monachus devoravit plus quam dimidium plauslrum
foeni, ita ut a rustico vi abactus sit. Also lis ein schuldener einen
Juden ein bein ausreissen, ut fugeret Judaens. die tischrede
fällt ins jähr 1537.
Charlottenburg, märz 1904. Georg Baesecke.
SEXAÜ DER TOD IM DEUTSCHEN DRAMA 35
Der tod im deutschen drama des 17 und 18 jh.9 (von Gryphius bis zum
Sturm und drang), ein beitrag zur litteraturgeschiclite von dr Richard
Sexac. [Untersuchungen zur neuem sprach- und litteraturgeschichte.
herausgegeben von professor dr Oskar F. Walzel. 9 heft.] Bern,
AFrancke, 1906. xvi und 262 ss. 8°. — 5,20 m.
Der Verfasser untersucht in seiner von Muncker angeregten
Studie das problem, wie die deutschen dramatiker der zeit von
1650 bis 1770 den tod, das sterben dargestellt haben, für das
drama des 17jh.s mit seinem hang zu grausamen martern ist
dies moment eins der wichtigsten; zumal für den ersten drama-
tiker, dessen dichtung ein ständiges Memenlo mori predigt, die
greuellüsternheit der spätrenaissance wird hervorgehoben und
durch analogieen der bildenden kunst belegt, skizzenhaft verfolgt
die einleitung den allgemeinen gang der entwicklung. von Gry-
phius und seiner art entfernt sich zuerst Christian Weise, dann
wider nach anderer richtung die haupt- und staatsaction. aber
erst das auftreten Gottscheds, der im princip den tod von der
bühne verbannt, beginnt auch hier eine neue epoche, bis endlich
um die mitte des 18jh.s eine vertiefte psychologische behand-
lung der sterbescene in Lessings und Klopstocks dramen ver-
sucht wird.
Für die eigentliche darstellung teilt Sexau seinen gegen-
ständ nach stofflichen gesichtspuncten : 1 tod auf der bühne,
ii tod hinter der bühne, in leiche auf der bühne; im einzelnen
wider nach den verschiedenen todesarten (hinrichtung, mord,
Selbstmord, tod im kämpf, natürlicher tod), deren scenische
Vorführung nach dem muster etwa von Petersens Untersuchungen
über Schiller und die bühne behandelt wird, bei solcher be-
trachtung, die mehr der litteraturbeschreibung als der litteratur-
geschiclite dient, ist immer gefahr vorhanden, blofs Stoffmassen
abzuschreiben und anzuhäufen, einzelobservatiouen aneinander-
zureihen ohne das geistige band der ratio, und so der holländischen
krankheit der philologie zu verfallen, wie Burdach diese zum
tod des individuellen Verständnisses führende sucht einmal ge-
nannt hat. auch S. ist dieser gefahr in seiner fleifsigen, nur
zu breit angelegten arbeit nicht ganz entgangen ; immerhin ver-
mag er so den typus der gattung herauszuarbeiten, wo das
möglich und nützlich ist : bei der hinrichtungsscene (nach dem
vorbild des Carl Stuart, s. 50 ff) und der Charakteristik des
märtyrers im schlesischen kunstdrama (s. 55 ff). auch wie sich
das individuelle von dem typischen abhebt, wie erhebungen und
Senkungen die grofse ebene unterbrechen, kommt so zum aus-
druck : Lohenstein verlässt das abstracte schema und stellt zu-
erst natürliche, lebendige menschen auf die bühne (s. 57. 62. 113);
sehr im gegensatz zu Hallmann und Haugwitz, die sich Gryphius
eng anschliefsen, wobei der erstere viel selbständiger verfährt
(seine neuerungen s. 120 ff.), während hinrichtungen der be-
3*
36 SEXAU DER TOD IM DEUTSCHEN DRAMA
liebteste augenschmaus des 17 jh.s sind, spielen morde und
Selbstmorde erst im 18 eine beherscheude rolle, auch der an-
tikisierende botenbericht tritt nach einem ausatz bei Gryphius
doch erst in der nachgottschedischen zeit hervor; wie er ganz
unrealistisch rhetorisch einsetzt und episch fortfährt, wird hübsch
ausgeführt (s. 198 f). dabei begegnet indes ein seltsames mis-
Verständnis, wenn es s. 199 heist : 'wenn auch nach Gottscheds
forderung keine andern als die hauptpersonen eines dramas eine
besondere gemütsart haben dürfen, so brauchen andrerseits die
botenfiguren nicht alle mit einer rücksichtslosigkeit ausgestattet
zu sein, die der gefühlsroheit, wie sie die Umgebung der sterben-
den in unsern dramen an den tag zu legen pflegte, die wag-
schale hält', dass Gottsched hier unter 'gemütsart' Charakter,
ethos im antiken sinne versteht, geht aus dem Zusammenhang
der stelle hervor und muste auch dem vf. bekaunt sein.
Eine schwäche der arbeit ist, dass die kategorie der causa-
lität, die wichtigste für den historiker, kaum geltung zu haben
scheint, dass immer nur nach dem was und wie, selten nach
dem woher gefragt wird, so kommt es, dass erwägungen und
absiebten des dichters zugeschrieben wird, was einfach auf der
dramatischen oder geschichtlichen vorläge beruht; für Grimms
Banise zb. wäre der roman Zieglers heranzuziehen, auch die
entwicklung des einzelnen dichters wird bei dieser querschnitt-
zeichuung nicht immer richtig erkannt : Gryphius hat im Leo
Armenius und zum teil noch in der Cathariua von Georgien den
tod gewis nicht darum hinter die scene verlegt, um den furcht-
baren eindruck noch zu verstärken (s. 186 ff); sondern hier ist
eben in den späteren stücken ein fortschritt zu constatieren,
der den dichter von dem conventioneilen botenbericht im Leo
über die Zwischenstufe der Catharina und des Carl Stuart zu
der sinnfälligen actionstechnik im Papinian führt (vgl. mein buch
über Seneca und das deutsche renaissancedrama, Berlin 1907,
s. 249 f). in andern fällen werden verwantschaften, beziehungen,
zusammenhänge allein durch die Ordnung des materials deutlich,
so wird die ähnlichkeit Hallmanus mit dem Wiener Nepomuk
instinetiv empfunden (s. 129. 216 ff), auch ohne dass der vf.
von dem durch RMWerner entdeckten nahen Verhältnis beider
weifs. und die erzählung von Polyxenas tod in Schlegels Tro-
janerinnen erinnert ihn an Weises Tochtermord Jephthas (s. 195) :
kein wunder, da beide zuletzt auf die (bei Weise durch Bucha-
nan oder Vondel vermittelten) euripideischen opferungsgestalten
Iphigenie, Polyxene zurückgehn.
Wenig befriedrigt der stil : lässig, salopp (häufig unmoti-
vierter tempuswechsel, druckfehler in fülle), vielfach unsicher
und nicht immer glücklich im ausdruck. bei dem eignen mangel
an reife fallen leichtfertig übernommene urteile um so unange-
nehmer auf. einen mann wie Gottsched, für dessen bedeutung
SEXAÜ DER TOD IM DEUTSCHEN DRAMA 37
grade diese arbeit zeugt, mit vvorteo wie 'unser Leipziger kritischer
heros' ironisch abfertigen, sollte doch kein litterarhistoriker von
heute, am wenigsten ein anfänger. seine äufserung über 'das
mahrchen von d. Fausten' 'heute empörend lächerlich' zu nennen
(s. 35), ist im gründe unhistorisch; ebenso wie die mindestens
misverständliche, chronologiewidrige bemerkung, Hallmanns
bischof beweise seine Vertrautheit mit dem graten Zinzendorf
(s. 59). komisch würkt dagegen der schul erhalle autoritälenglaube
in der zaghaft den Vorwurf der pietätlosigkeit abwehrenden 'Ver-
mutung, dass der altmeister Wieland mit der dramatischen litte-
ratur des 17 jh.s nicht intim vertraut war' (s. 2). hat etwa
Wielaud auf philologische litteraturkenntnis einer überwundenen
periode anspruch gemacht? selbst der gelehrtere Lessing gestand,
'sehr wenig von unserm dramatischem wüste' zu kennen, und
Goethe sagt mit vollem recht : 'die alte litteratur der eigenen
nation ist immer als eine fremde anzusehen'.
Berlin. P. Stachel.
Die Rudolstädter festspiele aus den jähren 1665—67 und ihr dichter, eine
literarhistorische Studie von Conrad Höfer. [Probefahrten, erst-
lingsarbeiten aus dem deutschen seminar in Leipzig, herausgegeben
von Albert Köster, i band.] Leipzig, RVoigtländer, 1904. xu und
215 ss. — 6 m.
Die erste der 'Probefahrten', die unter Küsters ägide aus-
gehn, ist eine entdeckungsreise nach einem neuland, das der
leiter des Unternehmens zuerst ergründet hat. auf den spuren
seines lehrers weifs Höfer ein litterarisches Charakterbild um
einen wichtigen zug zu bereichern, das durch jenen für die
Wissenschaft erst neugewonnen ist.
Dass die 'Geharnschte Venus', die frischeste liedersammlung
des 17 jh.s, ein jugendwerk des nun in doppeltem sinne 'spat
berühmten' lexikographen Kaspar Stieler, des Spaten der Frucht-
bringenden gesellschaft, ist, hat Köster 1897 in einer nach form
und inhalt glänzenden Untersuchung bewiesen. 'Filidor der
Dorfferer' hat sich der junge lyriker hier genannt; und als
'Filidors Trauer-Lust- und Misch-Spiele, i teil' kündigen sich
auch die sechs Schauspiele an, die in den jähren 1665 — 67 bei
hoffestlichkeiten zu Rudolstadt aufgeführt worden sind, da ligt
es nahe, an ein- und denselben vf. zu denken, und so hat Köster
schon die Vermutung ausgesprochen, auch der Rudolstädter Filidor
sei kein anderer als Stieler, der damals, von 1663 — 66, secretär
des regierenden grafen Albrecht Anton von Schwarzburg-Rudol-
stadt war. in der negation wenigstens, diese stofflich romani-
sierenden, technisch complicierten dramen dem armseligen, braven
holsteinischen pastor Jakob Schwieger abzusprechen, für dessen
werk sie wie jene lyrica früher galten, ist sich die moderne
forschung seit Goedeke einig (Martin, Reifferscheid, Edward
38 HÖFER DIE RUDOLSTÄDTER FESTSPIELE
Schröder); aber die positive behauptung Rösters hat doch nicht
allgemeinen beifall gefunden. Höfer unternimmt es, die these
seines lehrers zu erweisen, indem er 'scholastisch' die behauptung
vor den beweis stellt, ist seine Untersuchung nicht so spannend
und kunstvoll wie die Rösters; aber in ernster, gründlicher und
umsichtiger forschung gelingt es ihm, eine ganze reihe von sach-
lichen und sprachlichen Übereinstimmungen mit den übrigen
werken Stielers (zumal im Wortschatz, verglichen mit Slielers
Wörterbuch) aufzudecken, die die bejahende antwort aufser zweifei
stellen, doch er begnügt sich nicht, den namen des anonymus
zu ermitteln : die endgültige lösung der verfasserfrage bildet ihm
nur die grundlage für den zweiten, gröfseren teil, der in ge-
wanter, anregender darstellung eine allseitig erschöpfende Cha-
rakteristik bietet, 'elegante intrigueu-lustspiele' rühmt Gervinus
diese theaterstücke aus Stielers frühzeit; das gilt namentlich von
den beiden ersten komödien 'Der vermeinte Printz' und 'Erne-
linde oder die viermahl Braut', die letztere ist — auch das hat
Gervinus geahnt und Bolle bestätigt — nur Übersetzung einer
opera tragica des Andrea Giacinto Cicognini, aber in ihrer von
Höfer gut charakterisierten eigenart, ihrer lebhaften, natürlichen
ausdrucksweise der bedeutsamste Vorläufer der Moliere- Ver-
deutschung von 1670. romanischen Vorbildern folgt Stieler, ab-
gesehen von dem historischen Singspiel 'Die Witlekinden', auch
in den Originallustspielen; novellenstoffen des Pallavicino ('Der
vermeinte Printz'), Scarron ('Der betrogene Betrug'), Bandello-
Boisteau ('Die erfreuete Unschuldt') und Montchrestien ('Basilene').
wie er sich hier mit der verwickelten handlung seiner vorlagen
abfindet, wie er sie auf seine drei acte verteilt, setzt Höfer in
eingehender quellenanalyse auseinander, von den quellen ab-
hängig sind auch die Charaktere, individuelle gestalten, wie sie
die deutsche bühne bis dahin nicht gesehen; relativ selbständig
dagegen die komischen personen Scaramutza und Pantalon, die
meist mit der ernsten handlung organisch verbunden sind; sie
lagen dem dichter so am herzen, dass er sie noch in seine
späten Schauspiele Bellemperie und Willmut herübergenommen
hat, oft mit wörtlichem anklang an die früheren, das schwächste
an diesen dramen ist nach Höfer die spräche : ein neben- und
durcheinander verschiedener stilarten, der redeweise der eng-
lischen komödianten und des deutschen kunstdramas, des höfischen
verkehrstons und der spräche des täglichen lebens. das ge-
lungenste die technik : der Budolstädter hofdramatiker baut seine
stücke so bühneugemäfs, dass Höfers annähme, er sei eine zeit
lang Schauspieler gewesen, gewis viel für sich hat; ihn freilich
mit dem um 1660 bezeugten Hamburger schauspielerprincipal
Caspar Stiller zu identiücieren, ist zwar verlockend, doch zu ge-
wagt, wie Höfer selbst zugibt, auf dem technischen fortschritt
im auibau der handlung, in der Verwicklung und lösung der
HÜFER DIE RUDOLSTÄDTER FESTSPIELE 39
intrigue, beruht überhaupt, so gering ihre nachwürkung ist, die
bedeutung der Stielerschen festspiele für die geschichte des
deutschen dramas; 'unter allen Verfassern höfischer sing-,
freuden-, lusl- und trauerspiele war Stieler der einzige dichter',
so hat er die tüchtige monographie Ilüfers verdieut, der seine
kleinen gelegenheitsstücke uach der litterarischen wie nach der
sprachlichen seite vortrefflich beleuchtet hat und dabei noch
manches problem nebenher berührt; seinem versuch, den redac-
tor des 'Liebeskampffes' von 1630 als Thüriuger zu localisieren,
kann mau auf grund der dargelegten grammatischen beobachtungen
nur zustimmen.
Eine persönlichkeit von eigenem reiz ist durch die be-
mühuugen Kosters und Ilölers zu neuem leben erweckt, die
respectable Vielseitigkeit und unverwüstliche Zähigkeit des Spaten
werden wir erst jetzt recht schätzen, wo wir die derbe liebes-
lust in der lyrik und das kecke zugreifen in der dramatik des
frühen erkannt haben.
Berlin. P. Stachel.
Moses Mendelssohn und die deutsche ästhetik. von Ludwig Goldstein.
[= Teutonia. arbeiten zur germanischen philologie herausgegeben
von Wilhelm Uhl. 3 lieft.] Königsberg i. Pr., Gräfe & Unger, 19U4.
viii und 240 ss. S°. — 5 m.
Der vortrefflichen, kenntnis- und ergebnisreichen arbeit
Goldsteins kann aus verschiedenen gründen hier eine ausführ-
liche analyse nicht geboten werden, glücklicherweise genügt es
auch auf die sorgsame und genaue Zusammenstellung ihrer resul-
tate zu verweisen, die Hugo Spitzer in der Deutschen litteratur-
zeitung 1905, sp. 1853 ff. geliefert hat. in Mendelssohns forschung
treffen sich, so viele entwickluugslinien der ästhelik des 18 jh.s,
dass auch nach FBraitmaiers umfänglicher darlegung in seiner
Geschichte der poetischen theorie und kritik von den discursen
der maier bis auf Lessing (1888f, bd u s. 72 — 279) noch viel für
ihre erhelluug zu leisten bleibt. Goldsteiu hat 1897 in seiner
dissertation 'Die bedeutung Moses Mendelssohns für die ent-
wickeluug der ästhetischen kritik und theorie in Deutschland'
erwogen, mit ausdrücklicher berufung auf Horazens 'nonum
prematur in annum' legt er in seiner monographie eine er-
weiterung der dissertation vor. schon die Problemstellung der
vorsludie, dann aber auch der titel des buches lässt erkennen,
dass G. nicht blofs die quellen von Mendelssohns ästhetischer specu-
lation, sondern auch ihre nachwürkung aufdecken will, würklich
dient der zweite teil der Untersuchung der aufgäbe, Mendels-
sohns einfluss auf Lessing, Herder, Kaut und Schiller zu
bestimmen, und auch innerhalb der analyse von Mendelssohns
Schriften fehlt es nicht an ausblicken auf spätere arbeiten
anderer, so stellt G. neben die illusionstheorie Mendelssohns die
40 GOLDSTEIN MOSES MENDELSSOHN UND DIE DEUTSCHE ÄSTHETIK
thesen, die Konrad Lange 1895 in seiner Tübinger antrittsvor-
lesung und 1901 in dem werke 'Das wesen der kunst, grund-
züge einer realistischen kunsllehre' vorgebracht hat, beobachtet
eine auffallende Übereinstimmung, ja findet Mendelssohns ge-
danken bei Lange 'bis in ihre letzten consequenzen hinein ver-
folgt'; freilich scheint ihm 'ein unmittelbar ursächlicher Zusammen-
hang' nicht zu bestehn (s. 134 ff).
Die 'ästhetischen lehreu' Mendelssohns entwickelt G. der chro-
nologiscben reihe nach 1. aus den 'Briefen über die empfindungen',
2. aus den 'Hauptgrundsätzen der schönen künste und Wissen-
schaften', 3. aus den 'Betrachtungen über das erhabene und naive'
und 4. aus der 'Bhapsodie oder Zusätze zu den briefen über
die empfindungen'. ohne zwang kann bei solcher anordnung
problem für problem zur erörterung gelangen : im ersten ab-
schnitt vor allem das Verhältnis von kunst und moral, im zweiten
die eigentlichen fragen des schönen und der kunst, im dritten
das erhabene und sein gegenstück, die grazie, im vierten das
illusionsmoment. dann die Weiterbildung des begriffes 'erhaben'
und der begriff des 'lächerlichen', historisch-philologischen und
systematischen bedürfnissen wird gleichmäfsig gedient, die glück-
liche Verknüpfung beider gesichtspuncte ist ein hauptvorzug der
arbeit, dass nur sorgfältige beobachtung des genetischen die
erkennlnis der ästhetik des 18 jh.s fördern kann, wissen wir
längst. Goldstein hält deshalb mit vollem rechte die verschiedenen
phasen von Mendelssohns anschauungen über das erhabene aus-
einander; ja er scheidet ganz philologisch die drei fassungen der
'Betrachtungen über das erhabene und naive' (s. 110 ff), trotz
solcher neigung zu historisch-philologischer methode wird er in-
des nie so unübersichtlich wie Brailmaier, dessen aneinander-
gereihte Interpretationen einzelner abhaudlungen die systema-
tischen richtlinien oft verdecken.
Durchaus gibt G. aus guter kenntnis heraus an, wo Mendels-
sohn an seine Vorgänger anknüpft und wie er sie überholt, doch
da sein hauptinteresse — wie erwähnt — der nachwürkung
Mendelssohns augehört, hat er manche Vorstufe nicht so sorg-
lich betrachtet, wie es wünschenswert wäre, allerdings ist —
auch nach HvSteiu, Brailmaier, RSommer — Voraussetzung und
entwicklung der ästhetischen begriffe der ersten hälfte des 18 jh.s
noch lange nicht so klargestellt, dass eine arbeit über Mendels-
sohn nur festgelegte linien weiterzuzeichnen hätte, je tiefer man
forscht, desto leichter verwirren sich die linien; und so kann
auch einem guten kenner und gewissenhaften arbeiter wichtiges
unter der hand verloren gehn.
Auch Goldstein ist trotz aller mühe , die er aufwendet,
einer aufgäbe nicht gerecht geworden, die — wie mir scheint —
dem forscher sich vor alleu anderen aufdrängen sollte, wenn er
Mendelssohns lehrer erkunden will : er weifs mit dem wichtigsten,
GOLDSTEIN MOSES MENDELSSOHN UND DIE DEUTSCHE ÄSTHETIK 41
mit Shaftesbury nichts aüzufangen. zwar wird er mehrfach an-
geführt, doch eigentlich nur dann, wenn ein citat Mendelssohns
ihn selbst nennt, dass Shaftesbury seinem schüler Mendelssohn
nicht blofs die form seiner 'Philosophischen gespräche' und seiner
'Briefe über die emplindungen', ferner den titel der 'Rhapsodie'
geliehen hat, ist selbstverständlich, aus G.s darlegung ergäbe
sich indes kaum mehr als gelegentliche anregung Mendelssohns
durch Shaftesbury, etwa in der ablehnung vollkommener Charak-
tere (s. 32). Shaltesbury aber, der, je mehr mau sich mit ihm
beschäftigt, desto stärker als allseitige grundlage der ästhe-
tischen speculatioo des 18 jb.s sich offenbart, wäre fast bei
jedem problem heranzuziehen gewesen, das Goldstein in Mendels-
sohns theoretischen betrachtungen iindet. leider hat Goldstein
zwei bücher nicht benutzt, die ihm sofort die richtigen wege ge-
wiesen hätten : Franz Pomeznys 'Grazie und grazien in der
deutschen litteratur des 18 jh.s' (1900) und die 2 aufl. des 1 bd.s
von Max Dessoirs 'Geschichte der neueren deutschen psychologie'
(1902). dort hätte, was G. über 'grazie, reiz, anmut' (s. 117 ff.)
sagt und über die discussion, der Mendelssohn diese begriffe
unterzieht, seine beste und zugleich eine wesentlich berichtigende
Voraussetzung gefunden; und auf Shaftesbury hätte er sich
sofort verwieesn gesehen. Dessoir konnte ihn in Shaftesbury
den anreger anderer ästhetischer gedanken Mendelssohns er-
kennen lassen.
Hier sei nur das wichtigste herausgehoben : die frage nach
dem Verhältnis von kunst und natur. G. (s. 43 ff) bespricht
Mendelssohns polemik gegen Batteux und gegen die lehre von
der nachahmung der natur; aus ihr entwickelt er, was Mendels-
sohn 'idealische Schönheit' nennt (s. 46 fi). was die natur in
verschiedene gegenstände zerstreut hat, versammele der künstler
in einem einzigen gesichtspuncte und bilde sich ein ganzes
daraus, eine concentrierung des schönen der natur ist seine
aufgäbe, das beruht durchaus auf Shaftesbury und entspricht
seiner tendeuz, die ästhetische formel von der einheit in der
mannigfaltigkeit tiefer zu begründen, an diese stelle Mendels-
sohns knüpft dann, gleichfalls von Shaftesbury inspiriert, KPhMoritz
an (vgl. Siegmund Auerbach Deutsche litteraturdenkmale des
18 und 19 jh.s, heft 31, s. xxv anm. 1). ein verkleinertes
abbild der natur, aber nicht ihr nachgemalt, sondern mit gott-
ähnlicher schöpferischer kraft als ganzes geschaffen : so stellt
sich das kunstwerk in Shaftesburys, Mendelssohns und Moritzens
geiste dar. auf die abweichungen, die im einzelnen neben der
Übereinstimmung in grundgedanken sich zeigen , sei hier nur
hingedeutet, sie beeinträchtigen die tatsache nicht, dass Mendels-
sohn seine waffen zum kämpf gegen Batteux sich von Shaftes-
bury holt, der lange vor Batteux das richtigere gesehen hatte,
von Shaftesburys anschauung der künstlerischen gestaltung gehn
42 GOI.DSTEIN MOSES MEEVDELSSOHN U.ND DIE DEUTSCHE ÄSTHETIK
dann notwendigerweise auch die neuen prädicate aus, die dem
schöpferischen genius des dichters geliehen werden, und mit denen
Mendelssohn ebenso arbeitete, wie die Schweizer und Lessing.
G. erwägt diese zusammenhänge nicht, wenn er 3Iendelssohns
ansichteu über das genie vorträgt (s. 19f).
Nicht besonderen wert leg ich auf den umstand, dass von
Shaftesbury auch Harris gelernt hat, der (s. 55 ff.) von G. als
gewährsmann Mendelssohns augerufen wird, seine Scheidung
der künste ist von seinem oheim Shaftesbury inspiriert, wahr-
scheinlich hatte Mendelssohn aus Shaftesbury 'Iudgement of Her-
cules' längst die anregung gewonnen, die besonderen bedingungen
erzählender und darstellender kunst zu beachten, ehe er, von
Harris (oder nur von Dubos?) weitergeleitet zum Vorläufer von
Lessings 'Laokoon' geworden ist. wahrscheinlich — denn wer
wollte solche dinge als gewis hinstellen? grade Shaftesburys
lehren sind durch so viele hände gegangen , dass eine exacte
Scheidung seines unmittelbaren und seines mittelbaren einflusses
kaum noch herzustellen ist.
Manches könnte auch durch die Schweizer an Mendelssohn
weitergegeben worden sein, den Schweizern wird G. überhaupt
nicht ganz gerecht, und doch ist zb. Mendelssohns und Lessings
briefwechsel über tragüdie und epos von 1756 und 1757
nur eine Weiterbildung von Bodmers und Contis 'Briefwechsel
von der natur des poetischen geschmackes' (1736). schon Brait-
maier (i 190) hat den Zusammenhang gesehen (vgl. auch meine
bemerkungen in diesem Anzeiger xvii 65 f). Bodmer und
Conti spielen in ihrer controverse ganz ähnliche rollen wie
Mendelssohn und Lessing. Bodmer und Mendelssohn kämpfen
für den 'bewunderten' helden im trauerspiel und finden in der
illusion die hauptursache tragischer lust; Lessing tritt wie Conti
für den 'bemitleideten' helden ein und will der illusion nicht die
wertung zuschreiben, die jene anderen ihr zuerkennen. G. (s. 33.
125 ff) bespricht beide gesichtspuncte, weist indes nicht auf
Conti und auch nicht auf Bodmer hin, der doch augenscheinlich
die nächste Voraussetzung von Mendelssohns illusionstheorie ist.
G. wäre besserer erkenntnis wol näher gekommen, wenn er
den briefwechsel Lessings und Mendelssohns von 1756 und 1757
nicht unbillig unterschätzte, der briefwechsel ist mehr als ein
'unfruchtbares hin und her der anschauungen und einfalle' (s. 214
anm. 1). dass Lessing hier sogar über die Hamburgische dra-
maturgie hinausgekommen ist, wissen wir längst. Mendelssohn
widerum nimmt vorweg, was Schiller später auf breiterer basis
aufgebaut hat.
Die einwände, die ich vorgebracht habe, sollen das günstige
urteil nicht beeinträchtigen, das Spitzer gefällt und dem ich mich
oben angeschlossen habe, die positive leistung G.s käme besser
zutage, wenn auch ich eine ausführliche analyse gegeben hätte.
GOLDSTEI.\ MOSES MENDELSSOHN UND DIE DEUTSCHE ÄSTHETIK 43
dass G. manches übersieht, dass er da und dort fehlgeht, mache
ich ihm nicht zum Vorwurf1, ich seihst bin mir wol bewust, dass
alle Studien auf diesem leide noch lange über das Stadium der
Vorarbeit nicht hiuausgelangen werden, viel zu grofs und viel
zu compliciert ist die geschichte der ästhetik des IS jh.s, als
dass in absehbarer zeit eine reinliche und vollständige Zeichnung
ihrer entwicklungslinien zu geben wäre.
Bern, 4 april 1907. Oskar F. Walzel.
Goethes Unterhaltungen mit Friedrich Soret. nach dem französischen texte
als eine bedeutend vermehrte und verbesserte ausgäbe des dritten
teils der Eckermannschen gespräche hg. von dr C. A. H. Burkhardt.
Weimar, Hermann Böhlaus nachf., 1905. xvn u. 158 ss. 8°. — 4 m.
Burkhardts neue gäbe muss mit aufrichtigem danke begrüfst
werden, das bändchen bedeutet zwar keine starke stoffliche Ver-
mehrung des gewaltigen corpus der gespräche Goethes, ist doch
schon im dritten bände von Eckermanns buche zum grofsen teile
abgedruckt, was Burkhardt vorzulegen hat. indes grade das Ver-
hältnis dieser authentischen aufzeichnungen Sorets zu Eckermanns
bericht ist sachlich von grofser bedeutung und kann zu beachtens-
werten methodischen erwä'gungeu führen.
In der vorrede zum 3 bände berichtet Eckermaun, Soret habe
von seinen persönlichen berührungen mit Goethe 'in seinen tage-
büchern häufig notiz genommen', 'ein daraus zusammengestelltes
kleines manuscript' ihm übergeben und gestattet, das 'beste und
interessanteste' in den 3 band chronologisch zu verweben. Burk-
hardt kann jetzt die deutsche Übertragung von Sorets aufzeich-
nungen über seinen verkehr mit Goethe vorlegen; er liefert da-
mit der forschung ein aufserordentlich brauchbares mittel, den
wert von Eckermanns text richtig einzuschätzen, nicht ganz
verständlich ist mir, warum er nicht sofort das französische
original, also die eigentliche quelle Eckermanns abdruckt, sondern
sie künftiger Veröffentlichung vorbehält.
Das hauptresultat der vergleichung von Sorets und Ecker-
manns text ist : Eckermann hat von 168 nummern nur 73 be-
nutzt, und zwar hat er sich starke redactionelle eingriffe erlaubt.
Ich kann nun nicht mit Burkhardt wegen solchen Vorgehens
gegen Eckermann vorwürfe erheben, er hat sicher optima fide
gehandelt, seinem gewährsmann dachte er augenscheinlich alle
nötige ehre erwiesen zu haben, wenn er die von ihm übernommenen
gespräche mit einem Sternchen versah, weder vollständige be-
rücksichtigung noch wortgetreuer abdruck war ihm zur bedingung
gemacht worden, stilisierend einzugreifen war ihm selbstver-
ständlich, denn ganz sicher hat er auch stilisiert, wenn es sich
1 ua. vergisst G. s. 203 den vf. der 'Lettre sur la sculpture' zu nennen:
es ist Franz Hemsterhuis.
44 BURKIIARDT GOETHES UNTERHALTUNGEN MIT FRIEDRICH SORET
um seine eigenen gespräche mit Goethe handelte, oder glaubt
man wQrklich, dass wort für wort Goethe all das, was Ecker-
mann niederschreibt, mit ihm gesprochen hat? gewis hat weder
Eckermaun diesen ausspruch erhoben noch irgend ein anderer,
der für Zeitgenossen oder nachweit Goethes gespräche aufzeichnete.
Vielleicht wäre es besser, hier nicht auf Bettinas freies
schalten mit Goethes Worten zu verweisen. Bettinas Goethebuch
ist ein ausnahmefall, oder besser gesagt : ein extrem, aber
zwischen diesem extrem und wortgetreuer widergabe liegen viele
möglichkeiten. und innerhalb dieser grenzen bewegen sich die
vielen papiere, die als gespräche Goethes erhallen sind.
Allerdings, wenn ich sehe, wie rückhaltlos und unbedenk-
lich neuere forschung diese gespräche verwertet, als ob sie
authentischen text von Goethes band vor sich hätte: da frage ich
mich oft, ob jene selbstverständlichen kritischen erwägungen
würklich nicht angestellt werden, jüngst habe ich darum aus-
drücklich die notwendigkeit betont, einmal an Eckermanns be-
richte die kritische sonde zu legen (Goethe-Jahrbuch 27, 170).
willkommene bestätigung meiner zweifei an der absoluten Zuver-
lässigkeit von Eckermanns text ist mir darum Burkhardts Ver-
öffentlichung.
Ich widerhole: nicht gegen Eckermann sei ein Vorwurf er-
hoben, er — wie so viele andere berichterstatter — hat nur
getan, was er für sein unbestreitbares recht hielt, konnte er
ahnen, dass einst eine Goetheforschung erstehen werde, der jedes
wort Goethes ein wichtiges zeugnis darstellt? nicht für die
philologen von heute hat er geschrieben, aber diese philologen
von heute müssen sich bewust bleiben, dass von stilisierender
band geordnete und im einzelnen ausgeführte und ausgeschmückte
'gespräche' nicht ad verbum hingenommen werden dürfen.
Eckermann hat viele von Sorets notizen nicht benutzt, das
durfte er tun; und auch heute kann ihm zugebilligt werden,
dass er mauches unbedeutende, um nicht zu sagen wertlose
streicht. Eckermaun hat ferner, was er übernahm, nach gut-
dünken zurechtgestutzt, hat etwa gern die gesprächsform stärker
herausgearbeitet und dem mitunterredner worte geliehen, die in
Sorets bericht nicht zu ünden sind, auch das gieng nicht über
die grenze seiner competenz.
Die forschung jedoch muss jede der auslassungen auf die
goldwage legen und jede stilistische änderung sich wol merken,
weil sie dann erkennt, nach welchen principien Eckermann über-
haupt seine mitteilungen zu gestalten pflegte, und gewis nicht
nur Eckermann, auch die mehrzahl seiner genossen.
Ich habe aao. die Vermutung gewagt, Eckermann lege sich
äufserungen Goethes über Schiller aus eignem in dem sinne zu-
recht, dass Schiller auf Goethe nicht immer günstig gewürkt habe,
jetzt zeigt sich, dass er eine notiz Sorets fallen läßt, die Schiller
BURKHARDT GOETHES UNTERHALTUNGEN MIT FRIEDRICH SORET 45
rühmend erwähnt, eine andere verschärft, in der ein einwand
gegen Schiller erhohen wird, die nicht aufgenommene stelle
lautet:
Der alte herr . . . erwähnte auch die meinung Schülers, der
ihm gesagt habe, um ein vollkommenes theater zu haben, müsse
man wöchentlich eine Vorstellung geben, zu welcher frauen nicht
zugelassen würden; doch brauche man es nicht so genau zu nehmen,
wenn sie sich etwa in Verkleidung in die logen einschlichen, meine
schönen damen, fuhr er fort, Schiller hatte viel mehr witz,
als sie sich gewöhnlich einbilden! (s. 1191).
Die zweite stelle ist zugleich ein anschaulicher heleg für
Eckermanns redactionelle erweiterungen:
Soret (s. 103) Eckermann (17 März 1830)
. . . zumal seine [Schillers] Besonders seine ersten stücke,
ersten stücke waren unendlich die er in der ganzen fülle der
lang ; er hatte eine solche über- jugend schrieb, wollen gar kein
fülle von gedanken oder icorten, ende nehmen, er hatte zu viel
die er nicht beherschen konnte, auf dem herzen und zu viel zu
man sieht, wie er sich mühe gibt, sagen, als dass er es hätte be-
aber ungeachtet seiner Studien herschen können, später, als er
und arbeiten hat er diesen fehler sich dieses fehlers bewust war,
nicht abgelegt, man empfindet gab er sich unendliche mühe und
es selbst bei seinen letzten schrif- suchte ihn durch Studium und
ten. concentrieren bleibt doch die arbeit zu überwinden , aber es
hauptsache. hat ihm damit nie recht ge-
lingen wollen, seinen gegenständ
gehörig beherschen und sich vom
leibe halten, und sich nur auf
das durchaus notwendige concen-
trieren, erfordert freilich die
kräfte eines poetischen riesen
und ist schwerer als man denkt.
Für unendlich lang setzt Eckermann das ungünstigere
wollen gar kein ende nehmen, er unterdrückt die überfülle der
gedanken. Soret bemerkt, man empfinde den fehler selbst bei
seinen letzten Schriften. Eckermann formuliert abschätziger, es
habe Schiller damit nie recht gelingen wollen, und wo bei Soret
nur von der notwendigkeit der concentration die rede ist, da
erwächst unter Eckermanns bänden der Vorwurf, dass Schiller
seinen gegenständ nicht gehörig behersche. durch die schluss-
floskel vollends rückt Goethe fast in fatales licht; sie klingt, als ob
er sich selbst als 'poetischen riesen' hinstelle, der Schwierigkeiten
überwinde, denen Schiller nicht gewachsen war.
Auch die bekannte äufserung Goethes über die rolle, die
Schiller und seine Hören in der entstehung von Goethes balladen
spielen, geht auf Soret (s. 96) zurück und ist von Eckermann
46 BURKHARDT GOETHES UNTERHALTUNGEN MIT FRIEDRICH SORET
(14 märz 1830) ähnlich retouchiert worden K mithin sind von
den neun stellen, die in Sorets aufzeichnungen Schiller betreffen
und die zt. ganz belanglose erwähnungen bedeuten , drei mehr
oder minder in einem für Schiller ungünstigen sinne von Ecker-
mann umgestaltet, dabei bedarf es gar nicht der annähme, dass
Eckermann aus einem tiefer liegenden gründe solche Umwertung
vornimmt, vielmehr lag es in seiner litterarischen kammerdiener-
rolle, den eignen herrn auf kosten andrer herauszustreichen,
schlimmer noch ergieng es aus ähnlichen gründen den roman-
tikern bei diesen subalternen, die Goethes antipathie gegen die
einzelnen Vertreter des kreises diensteifrig zu übertrumpfen
suchten, dafür kann auch Soret als zeuge angerufen werden,
am 8 october 1828 (s. 57) nimmt Soret 'gegen das ende eines
diners, das Goethe für Tieck und dessen gemahlin gab, an der ge-
sellschaft teil', er bucht : Tieck erwies Goethen, soviel ich mich er-
innere, sehr viele höflichkeiten, die aber auf mich keinen besonderen
eindruck machten, am abend list danu Tieck bei frau Schopen-
hauer Scherz, list und räche und sein Rotkäppchen vor. Soret
1 die unmittelbar folgenden worte Sorets sind von Eckermann zu einer
oft citierten darlegung verwertet worden : Goethe spricht von gedichten,
die — im gegensatz zu den lange von ihm im köpfe getragenen bailaden —
sofort nach der conception zu papier gebracht wurden, eine idee tauchte
plötzlich in mir auf; ich hatte kaum zeit zur feder zu greifen oder
darauf zu achten, dass das papier ganz schief lag. es kam vor, dass ich
in der diagonale schrieb und unter einem tvinkel unten ankam, dass mir
für das ende des verses kein platz mehr blieb, wie hat Eckermann den
bericht Sorets mit blumen verziert! ich hatte davon vorher durchaus keine
eindrücke und keine ahnung, sondern sie kamen plötzlich über mich u?id
wollten augenblicklich gemacht sein, so dass ich sie auf der stelle instinct-
mäfsig und traumartig niederzuschreiben mich getrieben fühlte, welche
copia verborum ! keine eindrücke und. keine ahnung : was soll da Ein-
drücke' besagen? 'instinclmäfsig', Hrainnartig' : nichts deutet bei Goethe
auf solche termini. aber es wird noch besser : in solchem nachtwand-
lerischen zustande geschah es oft, dass ich einen ganz schiefliegenden
papierbogen vor mir hatte, und dass ich dieses erst bemerkte, wenn alles
geschrieben war, oder wenn ich zum weiterschreiben keinen platz fand.
Sorets worte, dass für das ende des verses kein platz geblieben sei, sind
ganz plastisch und verständlich : eine natürliche folge der läge des papiers.
Eckermann verdeckt und verundeutlicht den Vorgang durch seine verall-
gemeinerndere Wendung 'zum weiterschreiben', dann aber muss er doch
auch zu dem von Soret gebrauchten, völlige klarheit schaffenden worte
ldiagonale' greifen : ich habe mehrere solcher in der diagonale geschrie-
benen blätter besessen; sie sind mir jedoch nach und nach abhanden
gekommen, so dass es mir leid tut, keine proben solcher poetischen Ver-
tiefung mehr vorzeigen zu können. Soret hatte notiert : ich bedaure,
keine solchen blätter mehr zu besitzen, um als Zeugnis für diese anfülle
poetischer Zerstreutheit dienen zu können. Eckermanns 'Vertiefung'
für Sorets 'Zerstreutheit' ist köstlich, sie charakterisiert den philister! —
übrigens beruht Burkhardts anmerkung 1 zu s. 96 wol auf einem versehen:
die äufserungen über Schiller und über die 'diagonale' haben bei Soret das
datum : 8 märz 1830, und Eckermann stellt sie zum 14 märz, nicht um-
gekehrt, wie Burkhardt angibt, auch die anmerkungen auf s. 95 und 97
scheinen mir mit dem wahren tatbestande nicht übereinzustimmen.
BURKHARDT GOETHES UNTERHALTUNGEN MIT FRIEDRICH SORET 47
bekennt : ich weifs nicht, was für eine ablehnende Stimmung über
mich gekommen war, dass die Vorlesung, die man über die maßen
gelobt hatte, mich au /'serordentlich kalt ließ. in einer zeit also,
da Goethe mit Tieck zu freundschaftlichsten beziehungen gelangt
war, gefällt sich Soret in der rolle des unversöhnlichen.
Um so beachtenswerter ist eine notiz vom 14 märz 1830,
die Eckermann nicht benutzt hat. zwar bezieht sie sich zunächst
auf französische und nicht auf deutsche romantik; der begriff ist
aber soweit gefasst, dass sie als eines der interessantesten be-
kenntnisse Goethes über das romantische seiner eignen dichtung
dienen kann. Goethe, heifst es (s. 99), billige die exclusivilät der
heutigen romantik so wenig wie die beschränkten pedanterieen ge-
wisser classiker. er wolle keine der beiden formen ausge-
schlossen sehen, ich . . . habe in strenger classischer form gegen-
stände behandelt, die nach griechischem muster behandelt werden
musten , um wahr zti bleiben ; und wenn es auf der einen seite
eine torheit gewesen wäre, die drei einheiten im Götz zu beachten,
so würde es andrerseits gegen alle emp findung des schönen ver-
stoßen haben, hätte ich meiner Iphigenie einen romantischen auf-
putz geben wollen, ist es zu weit gegangen, wenn man Ecker-
mann gleichfalls eine gewisse antipalhie gegen die romantik zu-
erkennt, da er, der so viel ungünstiges über sie im 1 und 2 bd
zu berichten hat, die worte Sorets in seinem 3 bd nicht auf-
genommen hat?
Ich breche hier ab und bin mir wol bewust, dass diese
wenigen beispiele nicht genügen, das problem zu lösen, doch
auch ein ausführlicherer vergleich von Sorets aufzeichnungen
und Eckermanns bearbeitung ergäbe zunächst wohl nichts posi-
tiveres, endgiltig wäre die frage nach der glaubwürdigkeit der
'gespräche' Goethes und nach der authenticität ihres Wortlauts
nur durch umfassende Studien zu erbringen, ich zweifle indes
nicht, dass ihr resultat mit den annahmen übereinkäme, die ich
oben vorgebracht habe.
Bern, 3 Januar 07. Oskar F. Walzel.
Schiller, von Otto Harnack. mit zehn bildnissen und einer handschrift.
zweite verbesserte aufläge. Berlin, Ernst Hofmann, 1905. xm und
446 ss. S°. — 4 m.
Die neue ausgäbe enthält, von der vorrede abgesehen,
28 Seiten mehr als die erste; diese kommen aber weniger auf
rechnung der ergänzungen als des breiteren druckes. die bilder
sind von zwei auf zehn vermehrt : von den beiden alten wurde
die schlechte widergabe der Danneckerbüste durch eine gute er-
setzt, die Zeichnung von Bolt (1804) beibehalten; dazu kommen
acht neue, darunter zwei porträts aus dem jähre 1786, das eine
von Graff an der spitze des buches, das andere (ein Ölgemälde
48 HARNACK SCHILLER
im Schillerhaus zu Weimar) von einem unbekannten maier nach
s. 96, welches man besonders willkommen heifst, weil es selten
zu sehen ist; doch fällt der zusatz 'aus der Mannheimer zeit' auf:
1786 war doch Schillers Dresdner zeit! wer übrigens die beiden
porträts vergleicht, muss staunen, wie verschiedene maier zur
selben zeit von derselben persönlichkeit so verschiedene bilder
zustande bringen konnten; an naturwahrheit steht das von Graff
sicher voran, der nachslich von Schillers brief an Körner aus
dem j. 1795 wurde wie anderes nicht gut (beim hymnus 'An
die Freude') eingereiht; wenigstens einigermafsen sollte der zeit-
liche Zusammenhang zwischen text und bildwerk gewahrt bleiben,
um den eindruck des raritätenkastens fern zu hallen.
Die änderungen im text verteilen sich über das ganze buch,
sind nicht bedeutend, bringen vorzüglich ergäuzungen, seltener
berichtigungen : so wird bei der Mitterarischen übersieht' (s. 427 ff)
litteratur nachgetragen, bei besprechung von Schillers jugend-
lectüre wenigstens Rousseau eingesetzt (s. 20), im ix capitel
Schillers einfluss auf Goethe höher bewertet, am meisten ge-
wonnen hat die darstellung der ästhetischen Schriften Sch.s. für
seine meinung, dass die beiden prosaaufsätze 'Über das erhabene'
und 'Gedanken über den gebrauch des gemeinen und niedrigen
in der kunst' erst 1801 entstanden seien, schiebt H eine er-
wägung ein, welche er zuerst im Euphorion 6, 543 vorgetragen
hat. allein alle gründe, die er anführt, sind so allgemeiner natur,
dass sie geringe beweiskraft besitzen; mit ähnlichen gründen
des Zusammenhangs hat schon Tomaschek (Seh. in seinem Ver-
hältnis zur Wissenschaft 208 ff) eine ältere entstehungszeit zu er-
härten gesucht, am gewichtigsten bleibt jedesfalls H.s hinweis,
dass Seh. bei 'seiner beständigen manuscriptnot' diese prosaauf-
sätze früher verwendet hätte, wenn sie vorhanden gewesen wären,
dass aber auch dieser grund nicht stichhaltig ist, lässt sich aus
einem briefe Schillers beweisen : am 21 december 1795 schreibt
Seh. an Körner : der Aufsatz über ästhetische Sitten ist schon ein
alter und ganz, wie er da ist1, vor mehr als zwei Jahren in
Schwaben gemacht, man sieht : trotz der 'beständigen manuscript-
not' konnte Seh. auch fertige arbeiten jahrelang zurückhalten.
Ganz neu ist die vorrede, aber im wesentlichen nur eine
Verteidigung gegen besprechungen der ersten aufläge, da wehrt
sich H. gegen die Zumutung, dass er die Weiterbildung des in
Sch.s Räubern geschaffenen typus hätte verfolgen sollen, nicht
ohne heiterkeit las ich, dass ich diese forderung (Anz. xxvn 189)
aufgestellt haben soll, dem ist aber nicht so. ich wünschte für
den leser einigen aufschluss über die stoffquellen, über die litle-
rarischen Vorbilder, über die einwürkung der zeitverhältuisse,
über die ueue dramatische spräche, über die nachahmungen und
über die litterarhistorische bedeutung : lauter dinge, die man von
1 gemeint ist das elfte stück der Hören, wo er zuerst gedruckt wurde.
BARNACK SCHILLER 49
einem biographen verlangen darf. H. allerdings bestreitet das
und meiut, es 'wäre gänzlich fehlerhaft, die leser auf solche
weise von Schillers leben und wesen abzuziehen', nach meiner
meinung würde der leser dadurch erst recht in das wesen und die
werke eingeführt, aber II. briugt noch einen anderen vorwand:
derartiges gehöre wol in eine litteraturgeschichte, aber nicht in
eine biographie. auch hierin urteile ich anders, der biograph darf
nicht die erledigung der wichtigsten aufgaben dem litleraturhisto-
riker überlassen, er muss sie selber besorgen; der biograph hat
nicht nur zu zeigen, welche würkungen sein held aus litteratur und
leben erfahren, sondern auch, wie er sie verarbeitet und wie er
durch seine persönlichkeit und seine werke hinwider auf litteratur
und leben einfluss ausgeübt hat; nur so kommt dem leser neben
der entwicklung auch die würkenskraft, die gröfse und bedeutung
des dichters zum bewustsein. das buch braucht deswegen noch
lange kein 'monstrum' zu werden; man kann wenig reden und
viel sagen, und eiu paar bogen mehr oder weniger fallen nicht
ins gewicht, der biograph darf sich schon 'beschränken', aber
nicht bei der hauptsache, sondern bei nebensächlichkeiten; warum
zb. zerbricht sich H. widerholt den köpf, welche würkung etwa
wol dieses oder jenes dramatische fragment erzielt haben würde,
wenn es der dichter ausgeführt hätte? zunächst kommt eine
solche recbnung nie über die hypothese hinaus, alsdann handelt
es sich ja nicht um eine leistung Sch.s, sondern nur um etwas,
was eine hätte werden können; da sollte H. doch lieber gründ-
licher von den leistungen handeln, die würklich vollbracht
worden sind.
Nicht besser steht es mit der zweiten stelle, die H. mir in
seiner vorrede gewidmet hat. nirgends hab ich gesagt, man dürfe
beim jungen Schiller uicht von Selbstmordgedanken reden, weil
dadurch mein 'Schillerideal' herabgezogen werde; vielmehr hab ich
ausgeführt, dass man so etwas nur behaupten dürfe, wenn man
eine hiebfeste begründung dafür vorbringt, und eine solche hab
ich bei H. nicht gefunden. mir persönlich ist es völlig
gleichgillig, ob das eine oder andere richtig ist, und ich stimme
hierin wahrscheinlich mit H. überein; doch darin scheinen wir
von einander abzuweichen, dass ich die frage für wichtiger bei
beurteilung von Sch.s jugendentwicklung ansehe als er. mancher
geht vielleicht noch einen schritt weiter als ich und fühlt neigung,
Sch.s Jugendmelancholie geradezu vom pathologischen standpunct
aus zu betrachten.
Diese vorrede lässt erwarten, dass H.s anhänglichkeit an die
eigne meinung stärker ist als die neigung, fremde forschungs-
ergebnisse nach gebühr zu nutzen, das will ich nur an zwei
beispielen zeigen, das gedieht 'Auf die ankunft des grafen von
Falkenstein' wird auch in dieser zweiten aufläge noch ohne
weiteres als echt behandelt, trotzdem neuerdings EdwSchröder
A. F. D. A. XXXI. 4
50 HARNACK SCHILLER .
(Vom jungen Schiller s. 191V) belege für die uiiechtheit beige-
bracht hat. bei der 'Ode auf die glückliche widerkunft unseres
gnädigsten fiirsten' verrät H. nun neigung, sie mit Schröder dem
'kameraden Petersen' zuzuschreiben; aber statt dann den ganzen
absatz kurzweg zu streichen, spricht er von eiuem 'einrücken'
durch Schiller und zwar, damit noch ein fehler hinzu kommt,
in das 'Württembergische repertorium', wo das gedieht nie-
mals gestanden hat.
Innsbruck. J. E. Wackernell.
Faust, ein dramatisches gedieht in drei abschnitten von FMarlow. (Ludwig
Hermann Wolfram.) [Leipzig 1839] neu herausgegeben und mit
einer biographischen einleitung versehen von Otto Neürath. nebst
drei registern, einem faesimilierten brief und einer Stammtafel. Berlin,
Ernst Frensdorff, o. j. (1906.) [= Neudrucke literarhistorischer Selten-
heiten, herausgegeben von Fedor von Zobeltitz. nr 6.] 8 ss. vorwort,
518 ss. einl., xx u. 218 ss. text kl. 8°. — brosch. 4 m., geb. 5,50 m.
Es muss eigentlich wunder nehmen, dass bei der Vorliebe
für stoffgeschichtliche Untersuchungen, die seit langem bei uns
herscht, noch niemand versucht hat, die Faustdichtungeu nach
1832 ernsthaft zu behandeln, gar viele haben es ja nicht lassen
können, eine Ilias post Homerum zu schreiben, von dem Faust-
drama Wolframs, der sich mit einer grade im faustischen be-
reich bedenklichen kühnheit den namen Marlow beilegte, hab ich,
offen gestanden, bisher nichts gewust. und nach der leetüre
des vorliegenden neudrucks samt seiner voluminösen einleitung
(wahrlich keiner mühelosen leetüre 1) bin ich nicht einmal sehr
betrübt darüber.
Es war recht unnötig, dies abstruse poem der verdienten
Vergessenheit zu entreifsen. dieser 'Faust' ist ein krauses ge-
misch von scheinbarem tiefsinn und wirklichem unsinn. ein
molluskenhaft verschwommenes, völlig disciplinloses lesedrama
mit massenhaften remiuiscenzen an Shakespeare und Calderon,
das höchstens durch die widerholt eingestreuten satirischen be-
merkungen zeitgeschichtlich interessant ist. natürlich war Wolfram
bestrebt, seinen Faust möglichst viel philosophieren zu lassen,
aber alle diese betrachtungen über sein oder nichtsein klingen
denen Hamlets verzweifelt ähnlich, und dass das leben ein sterben
sei, wie er uns mehrfach einschärft, das wüste bereits Euripides
so gut wie Novalis oder sonst ein romantiker. Wolframs Faust
hat ein bischen Leibniz gelesen, ein bischen Fichte und ein
bischen Hegel, vor allem aber Schellings System des trans-
cendentalen idealismus, das mir indessen in so mangelhaften
verseu weit weniger schmackhaft scheint, als in der poetischen
prosa des Originals, sein Faust kennt aber auch EPoeppigs Reise
in Chile (Leipzig 1836), aus der er uns ein ganzes stück ziem-
lich wörtlich vordeclamiert.
NEIRATH WOLFRAMS FAUST 51
Diese und andere quellennachweise hat der herausgebet* auf-
zuspüren gewust. er gibt auf etwa hundert Seiten 'material-
bruchstücke eines commentars' zu Wolframs Faust, manches
überflüssige ist darunter, manche anspielung bleibt dunkel, im
ganzen aber sind diese erläuterungen schätzbar und mit an-
erkennenswertem fleifs zusammengetragen.
Fleifsig zusammengetragenes material: das gilt für die er-
schreckend umfaugreiche einleitung überhaupt, dass N. uns mit
dem leben und schallen Wolframs, eines inuerlich und äufser-
lich verlumpten gesellen mit mäfsiger dichterischer begabung,
vertraut machen wollte, war ganz verständig, dass er aber dazu
einen apparat aufgewendet hat, als handle es sich um einen
zweiten Goethe, zeugt von einem empfindlichen mangel an litterar-
historischer Schulung, die, mein ich, durch noch so viele anfragen
an bibliotheken, pfarrämter und — hier besonders beliebt —
polizeivervvaltungen nicht ersetzt werden kann, ich bin gewis
der letzte, der wissenschaftlich gearbeitete biographieen 'kleiner
ieute' mit erhabener gebärde von sich weist, aber — est modus
In rebus! was einem Schiller oder Kleist recht ist, ist einem
Wolfram noch nicht billig, auf die Vorlegung des gesamteu
materials verzichten wir; alles kommt auf die Verarbeitung an.
Hierbei nun ist N. kläglich gescheitert, er ist, kurz gesagt,
im bibliographischen stecken geblieben, er überschüttet uns mit
einem wahren hagel von dateu und citaten. er erspart uns nicht
die kleinste notiz, die er aus seiner vielseitigen, freilich offen-
bar hastig betriebenen lectüre gewonnen hat. aber er macht
gar keinen versuch, Wolframs Faust seinen unmittelbaren Vor-
gängern (Braun von Braunthal, Lenau ua.) anzugliedern, er ver-
zichtet auch darauf, ihn in die entwicklung des deutschen dramas
der dreifsiger jähre einzureihen, und doch wäre dies zum Ver-
ständnis durchaus notwendig gewesen, es hätte an die specifisch
romantische dramatik angeknüpft werden müssen, die bewust
den forderungen der realen bühne höhn spricht, es hätte ge-
zeigt werden müssen, wie das buchdrama immer mehr an boden
gewinnt und zum gefäfs der dumpfen oder verzweifelten Stimmung
gemacht wird, die sich seit 1830 in steigendem mafse der ge-
müter bemächtigt : die ausgezeichneten bemerkungen Hegels über
die papierne dramatik seiner zeit, über das Verhältnis des drama-
tischen kunstwerks zum publicum, über das lesen und vorlesen
dramatischer werke (Vorlesungen über ästhetik hrg. v. Hotho, 3bd,
Berlin 1838, s. 501 ff) hätten dabei zur richtschnur dienen können,
es hätte endlich der einfluss der ausländischen dramatik auf iuhalt
und form des Wolframschen 'Faust' untersucht werden müssen,
insbesondere Byrons, der auf Wolfram sehr viel nachhaltiger ge-
würkt hat, als N.s nichtssagender hinweis (s. 319) erkennen lässt.
Aber selbst das bibliographische hat N. trotz seinen unver-
kennbaren bemühungen nicht bewältigt, dass er, um nur ein
4*
52 >EURATH WOLFRAMS FAUST
beispiel anzuführen, von EOrtlepp spricht (s. 86 f uö.), ohne Jlges
anspruchslose, doch aufschlussreiche biographie (München 1901)
zu kennen, verschlägt nicht viel, erheblicher scheint mir schon,
dass ihm Rosenkranzens aufsätze Zur litteratur der Faustdichtung
(Zur geschichte der deutschen litteratur. Königsberg 1836. s. 95
bis 161) entgangen sind, die Wolfram ganz gewis gelesen hat.
dass Rosenkranz (aao. s. 149) in Rraun von Braunthals Faust
allen 'metaphysischen, hamletischen nachklang' vermisst, mag für
Wolfram ein wink gewesen sein, in seinem Faust grade diese
saite besonders stark tönen zu lassen, am bedauerlichsten aber
ist, dass N. Wolframs eigene schriftstellerische tätigkeit auch in
bibliographischer hinsieht nur unzureichend ermittelt und ver-
zeichnet hat. nicht einmal den 'Freimühigen' hat er genau durch-
gesehen : er hätte sonst finden müssen, dass Wolfram in den
Jahren 1830 und 1831 ein sehr eifriger mitarbeiter dieses blattes
gewesen ist und es mit einer fülle von gedachten, ein paar prosa-
novellen und einer nicht eben wolwollenden Charakteristik Platens
beglückt hat.
N. erklärt mehrfach, er werde uns auch die übrigen haupt-
werke Wolframs in neudrucken vorlegen, wir haben nicht das
recht, ihn daran zu hindern, aber wir haben die pflicht, ihn
darauf aufmerksam zu machen, dass eine so unmethodisch ge-
arbeitete und in so cyklopischer form dargebotene einleitung
wie diese nicht geeignet ist, für seinen beiden anch nur das ge-
ringste interesse zu wecken.
Berlin, im februar 1907. Hermann Michel.
Wilhelm Waiblingen sein leben und seine werke, von K. Frey. Aarau,
Sauerländer, 1904. x und 291 und 152 ss. — 6 m.
Es ist eine seltene freude für den berichterstatter, wenn
einmal eine dankbare aufgäbe den geeigneten bearbeiter findet,
hier ist dies der fall; deshalb ist ein wichtiges und interessantes
buch entstanden, wichtig, weil Waiblinger, obwol eigentlicher
gröfse entbehrend, doch ein bedeutsamer typus ist; interessant,
weil es mit lebhaftem mut und entschiedenem schriftstellerischen
geschick geschrieben ist.
Frey hat sich der quellen zu WTaiblingers leben so vollständig
bemächtigt, dass kaum noch lücken in der biographie bleiben,
hat doch der dichter von früh auf interesse erregt und ins-
besondere war er ja von kind an sich selbst eine interessante
persönlichkeit, das tagebuch (s. 51. 56. 65. 105. 111. 123 usw.)
steht so recht im mittelpunct von W.s litterarischer tätigkeit, und
schon das ist bezeichnend : vielleicht war der letzte freund des
kranken Hölderlin und der erste dichterfreund des jungen Mörike
der erste schriftsteiler in Deutschland, bei dem die Selbstbeob-
achtung und selbststilisierung solchen umfang gewinnt (vgl. bes.
FREY WILHELM WAIBLINGER 53
s. 71). ergebnisreich müste unter diesem gesichtspuDCt eine
parallele mit dem auch sonst ihm vielfach vergleichbaren
Ernst Scbulze sein.
Solche Zusammenstellungen sind fast das einzige, was der
tleifsige und sorgsame biograph nachfolgern übrig gelassen hat.
so wäre der eiufluss auf den zweiten poeten von Olevano,
JVScheffel, zu streifen ('Trinkeswein a la tedesca' s. 175).
— das tagebuch wie andre quellen hat F. mit ruhiger kritik
bearbeitet und manche legende, auch misversländnisse (wie eins
in Mayncs Morike anm. 31) berichtigt, bei aller anteilnahme
hält er sich von pathetischer apologetik fern; erörtert (s. 155)
ruhig die frage, ob W. ein genie heifsen dürfe, und weifs (s. 20 1)
gesuude merkmale herauszugreifen, doch stört die kritik nicht
bei der erzählung dieses romanhaften lebens mit seinen typischen
zügeu : der jugendlichen Schillernachahmung (s. 30), dem künstler-
katholicismus (s. 35. 58), der erweckung durchs leben (s, 40),
den zahllosen liebesverhältnissen, den selbst von den freunden
(s. 65 f) durchschauten posen, dem pfaffenhass einer spätem
entwicklungsstufe (s. 82), dem künstlichen dichterapparat (s. 99)
und dem entscheidenden liebesdrama (s. 115 1'), dem dann der
romantische, fast opernbafte lebensschluss in Italien nachklingt.
\Y. ist keineswegs blofs ein epigone. seine würklich 'süd-
liche natur' (s. 119) gibt ihm, wie etwa Heinrich Leuthold, etwas
durchaus originelles, originell ist auch in diesem Italienschwärmer
die kühle satire, die zuweilen ('Drei tage' s. 147 f, 'Aura, der
vampyr7 s. 1511) mehr an Goethe erinnert, als an die romanliker.
zwei dichter sind ihm darin ähnlich; aber zu Heine (s. 150) hatte
er kein Verhältnis, von Byron (s. 145) machte er sich frei, (wie
darf man übrigens dem philhellenischeu lord das philanthropische
interesse abstreiten? s. 145). doch parodiert er (anm. 71)
auch Goethe, der ihm nie viel bedeutete (s. 49). mit seinen
heimatlichen genossen kommt er schlecht aus : GSchwab als er-
zieher (s. 67, anm. 28, vgl. 46. 53. 66) versteht ihn doch nicht
ganz; Morike (s. 64. 79. 123), von dem er, überhaupt im littera-
rischen portrait (s. 19) früh geübt, ein treffliches Charakterbild
(s. 79) entwirft, gibt ihn auf; Pfizer (s. 64. 68) bleibt ihm inner-
lich fremd; Uhland (s. 26) bewundert er, ohne von ihm zu lernen,
was aber hätte Hölderlin (s. 81. 98. 109. 232 anm. 42) diesem
nachahmer des Hyperion ('Phaeton' s. 133 f) sein können, hätte
ihn nicht das grausamste geschick zerstört!
Dem dichter wird F. nicht ganz so wie dem menschen ge-
recht; Walze 1 muste in einer lehrreichen besprechung (DLZ.
1904 S. 2275) mit grund beanstanden, dass der biograph hier
gar zu wenig sympalhieen verrät, doch sind die analysen seiner
werke ('Liebe und hass' s. 54 f; 'Phaeton' s. 133; 'Anna ßolyn'
s. 146; Epigramme s. 185; Lyrik s. 139 f. 243 f) klar, und auch
an allgemeineren beobachtungeu (der weibliche busen bei W.
54 FREY WILHELM WAIBLLNÜER
s. 141; bilder s. 144; Verhältnis zu Goethes Römischen elegieen
s. 230 ua.) nicht arm; nur für die metrik hätte mehr geschehen
können.
Eine geschickte auswahl der nicht allgemein zugänglichen
werke in prohen (in besondrer paginierung) gibt gewissermafsen
urkundliche belege, die anmerkuugen briugen charakteristische
tagebuchstellen uud briete auch der freunde (sollten die beiden
Schauspieler s. 80 nicht an Mörikes Larkens anteil haben?), mit
Grisebach uud Frey dürfte die 'Waiblinger-philologie' ihren er-
wünschten gipfel erreicht haben.
Berlin 14. 5. 05. Richard M. Meyer.
LlTTEKATURINOTIZEN.
A sketch of the linguistic conditions of Chicago by Carl Darling
Bück. Chicago, The University of Chicago press, 1903. 20 p. 4°
[The University of Chicago. The decenoial publications, vol. vi
p. 97 — 114]. — die vorliegende ahhandlung ist im wesentlichen
eine sorgfältige Zusammenstellung aller in Chicago festzustellenden
sprachen mit möglichst genauer bestimmung der numerischen
stärke einer jeden und andern, besonders den gottesdienst und
die presse betreffenden linguistischen angaben, was das problem
der Sprachenmischung aus der betrachtung der Chicagoer Verhält-
nisse gewinneu kann, wird nur kurz, gewissermafsen einleitend
angedeutet, und wol deshalb so kurz, weil der verlauf ein so
einfacher ist : ein stetiges aufgehn aller eingeführten idiome in
dem wesentlich unverändert bleibenden englischen, das nur durch
immer wider erneute zufuhr fremder sprachen an der allein-
herschaft gehindert wird, die lehrreiche Zusammenstellung lässt
nur in einer beziehung die sie im grofseu und gauzen aus-
zeichnende klarheit und verhältuismäfsige Vollständigkeit vermissen,
mau erfährt nicht, wieviele der als Vertreter jeder spräche an-
geführten diese ständig oder doch überwiegend gebrauchen, wie-
viele sie vielleicht nur noch sprechen können, für das türkische
beispielsweise scheint nur letzteres zu gelten, da dieses nach des
vf.s angäbe nur durch Armenier vertreten wird, die das türkische
neben ihrer muttersprache reden, dh. aber doch wol, reden
können, und sollte es sich mit dem manx, dem bretonischen
und einigen andern sprachen nicht ähnlich verhalten? der vf.
legt besondres gewicht darauf, dass von den zahlreichen sprachen,
die in amerikanischen grofsstädten wie Chicago und New York
gesprochen werden, so viele durch grofse massen vertreten sind,
dass sich beispielsweise in Chicago unter den 40 von ihm an-
geführten idiomen 15 befinden, von denen jedes von 10000 oder
mehr personen gesprochen wird, deshalb verdiene eine Stadt wie
Chicago bei aller berücksichtigung der ansprüche orientalischer
slädte wie Constantinopel und Cairo den titel eines 'unparalled
BÜCK LINGUISTIC CONDITIONS ÜF CHICAGO 55
Babel of foreign tongues', den er übrigens trotz der exclusivität
des wortes 'unparalled' aucb New-York zuerkennt, und allem an-
schein nach aucli noch für andre städte der neuen weit reserviert,
das eigentlich babylonische, das gewirre würde nun aber den
grofsen zahlen zum trotz stark beeinträchtigt werden, wenn etwa
alle oder wenigstens die meisten Vertreter fremder sprachen im
strafsenverkehr das ihnen auch vertraute englisch bevorzugten,
wenn es so wäre — was ich, mit Chicagos Verhältnissen nicht
bekannt, nur in form einer frage hier berühren kann — , dann
würde zb. der bazar von Tiflis, um eine mir genau bekannte
Stadt zu nennen, trotz (\en kleinereu Verhältnissen oder vielleicht
gerade wegen derselben, babylonischer erscheinen und sein.
F. N. Finck.
Preüxal S in germanic together with the elymologies of fratze,
schraube, guter dinge by Lee Miltom Hollamjer. a dissertation
submitted to the board of university studies of the Johns Hopkins
university in conformity with the requirements for the degree of
doctor of philosophy. 1905. J. H. Fürst Company, Baltimore.
34 s. — im ersten teil der schrift stellt der verf. den satz auf,
dass ein teil der germanischen anlautenden sl entstanden sei aus sr
und shr, die ihrerseits ihren Ursprung der präfigierung von s vor
mit r bez. hr (aus idg. kr) anlautenden Wörtern verdanken, einige
etymologien dienen zur stütze dieser behauptung : so wird zb.
sieht mit reht, anderseits ags. slilan usw. mit got. dis-skreitan, ahd.
krizzön zusammengestellt (kr in diesen Wörtern erklärt sich da-
durch, dass s vor der Lautverschiebung antrat und — in krizzön
— erst nach der lautverschiebung abfiel), in einem anhang wer-
den ein paar andere etymologieen vorgebracht, in denen präfigiertes s
eine rolle spielt, leid wird mit sleips, maipms mit gasmipon,
pfuhl mit spülen, spuola mit got. ufbauljan, ahd. bülla zusammen-
gebracht, dringen in der bedeutung 'weben' wird von dringen,
'drängen' gelrennt und zu sträng gestellt, unbekannt ist dem
vf., dass schon vGrienberger WSB. 142, vui, 193 leid und *sllpa-
zusammengestellt hat.
Der zweite teil der arbeit behandelt die auf dem titel ge-
nannten drei Wörter. H. lehnt die herleituug von fratze vom
italienischen frasca ab und hält Dietrichs Zusammenstellung mit
ags. frcetwe für möglich, das dem hd. tz vorausliegende tt könne
durch M?-gemination entstanden sein, beim niederschreiben dieser
bemerkuug hat wol H. Kluges etymologie von frcetwe noch nicht
gekannt; es ist doch nicht selbstverständlich, dass ein u>, das erst
durch synkope eines mittelvocals hinter einen consonanten ge-
raten ist, ebenso auf ihn würkt, wie ein w als zweiter teil einer
ursprünglichen consonantenverbindung. erst später scheint H.
Kluges gleichung frcetwe = *frätewös erfahren zu haben und
fügte nun einen artikel 'Ultimate etymology' hinzu, mit dem
beweis für die behauptung, dass im vorahd. die synkopierten
56 HÜLLANDER PREFIXAL S IN GERMANIC
formen *gatwa *fratwa bestanden haben, nimmt es H. sehr leicht:
'nor is there anything to disprove the possibility of pre-old high
german *fratwa per se\ was ist nicht alles möglich 1 aber die
Schwierigkeit der annähme einer vorahd. synkope von e ist H.
nicht zum bewustsein gekommen, meint er doch, dass altn.
g >tvar 'early germauic existence of syncope' beweise, und dass
got. fratwjan aus *frd-tawjan entstanden sein könne.
Der arlikel 'Schraube' bekämpft ßaists herleitung des wortes
aus lat. scropha. es gehöre vielmehr zu einer wurzel skerp 'lo
cut, carve, Scratch' (vgl. zb. ahd. screvön) und habe ursprüng-
lich bedeutet 4a piece of metal or wood cut in grooves, as a
screw'.
Ansprechend ist der letzte artikel über guter dinge, dinge
wird mhd. gedinge 'hoffnung' gleichgesetzt, aber seltsam ist, wie
H. sich die entwicklung denkt, guot gedinge sei nicht mehr ver-
standen, das Substantiv als gen. pl. von ding aufgefasst, gut dem-
gemäß in guter umgebildet und das präfix ge ausgelassen worden,
dann sei guter dinge als prädicativer genitivus qualitatis aufge-
fasst und construiert worden, da ligt es doch näher, in dinge
den gen. sing, eines femininums dinge zu erblicken; dinge = ge-
dinge ist ja einmal belegt.
Wien, november 1906. M. H. Jellinek.
Studien zur sprachlichen Würdigung Christian Wolffs. ein beitrag
zur geschichle der neuhochdeutschen spräche von Paul Piur. Halle,
Niemeyer, 1903. 111 ss. 8°. — es ist beinahe ein halbes Jahr-
hundert verflossen, seit Rudolf von Raumer in seiner anzeige des
Grimmschen Wörterbuchs mit gröstem nachdruck auf die be-
deutung Wolffs für die bildung des deutschen Wortschatzes hin-
gewiesen hat. wir freuen uns, dass jetzt endlich die spräche
des pbilosophen gegenständ einer philologischen Untersuchung
geworden ist.
P. bespricht die von Wolff gebrauchten abstraeta, er weist
einerseits seine Vorgänger nach, anderseits erörtert er seinen ein-
fluss auf die ausbildung der wissenschaftlichen deutschen spräche,
als gesamtresultat ergibt sich ihm, dass Wolff nicht eigentlich
sprachschöpferisch gewesen ist, dass die meisten ausdrücke schon
vor ihm zu belegen sind, dass seine bedeutung vielmehr darin
besteht, dass er aus dem oft überreichen material eine auswahl
trifft, den begriffswert der Wörter fest bestimmt und durch das
ansehen und die Verbreitung seiner Schriften seineu Wortschatz
der allgemeinen litteratursprache einverleibt. namentlich das
capitel, das diesen letzten punet erörtert, ist höchst interessant;
man sieht, wie recht Raumer hatte, als er sagte, dass Wolffs ein-
fluss auf die spräche bis auf den heutigen tag in einem um-
fang fortwürke, den die meisten kaum ahnen. 1*. hat ein sehr
grofses material fleifsig durchgearbeitet und einen wertvollen bei-
trag zur geschichle des deutschen Wortschatzes geliefert.
P1UR STUDIEN ZL'K SPRACHLICHEN WÜRDIGUNG WULFFS 57
Freilich ist es ein mangel, dass er die auslesende tätigkeit
\Y< dtl's nicht zusammen fassend charakterisiert, mau muss sich die
einzelnen stellen, wo er darüber spricht, zusammensuchen und
erhält auch dann kein scharf umrissenes bild. wir erfahren
s. 48, dass Wo III' das verdienst hat, die philosophische deutsche
spräche wider in fühluug mit der Volkssprache gebracht zu haben,
und dass seine deutschen termini zum g rösten (eil deutsch
gedacht sind, s. 63, dass er eine reihe von kunslwortern Dicht
übernimmt, weil sie zu wörtliche Übersetzungen der lateinischen
oder zu schwerfällig schienen und mit dem allgemeinen Sprach-
gebrauch wenig fühlung hatten, s. 81, dass die correct deutsch
gedachte bildung gewisser Wörter ihm garanlie für ihr durchdringen
gab, s. 96 f, dass philosophischer terminus und allgemein sprach-
liche bedeutung sich hei ihm nicht schroff gegenüber stehn,
sondern 4in enger Wechselbeziehung' verwendet werdeu. das klingt
etwas verschwommen, erst s. 107 wird ein wenig ins detail
eingegangen, indem darauf hingewiesen wird, dass Wulff die ab-
leitungen auf -ung einschränkte uud durch andere bildungeu er-
setzte, wenn P. es einmal (s. 81, fufsnote 2) mit dem 'sprach-
lichen programm' seiner arbeit entschuldigt, dass er nicht darauf
eingeht, weshalb Wohl' absieht statt zweck sagt, wenn er über-
haupt (s. 32) scheidet zwischen sprachlicher belrachlung und dem,
was er nicht glücklich sprachphilosophische betrachlung nennt,
so muss ich dem gegenüber betonen, dass sich bei lexikalischeu
arbeiten form und bedeutung der Wörter nicht trennen lassen,
uud dass derjenige, der die philosophische termiuologie eines
aulors untersucht, eben auf seine philosophie eingeheu muss.
Dem Verfasser wäre anzuraten, nach strafferer darstellung
und besserem stil zu streben, die einleitenden bemerkuugen sind
recht weitschweifig. P. hat eine gewisse neigung, programme
aufzustellen, auch fällt er mitunter urteile ohne competenz l.
aber es wäre unbillig, diese dinge einer erstlingsschrift allzu sehr
zu verübeln, die wie gesagt unsere keuntnis von der ausbildung
des nhd. in erwünschter weise bereichert.
Wien, november 1906. M. H. Jellinek.
Sivert IN. Hagen (of the university of Iowa) Muspilli (s. a. aus
Modem Philology, Jauuary 1904) S. 1 — 12. — der vf. vermutet
als gruudbedeutung von altsächsisch mudspelli 'Weltuntergang' den
sinn von 'oraculum'; dies sei nach Seueca s. v. a. 'voluntas di-
vina hominis ore enunciata'. er geht allerdings mit recht von
der form aus, die vor s noch einen dental zeigt: aber wenn er
1 das stärkste ist die bemerkung über Leibnizens versuche einer real-
charakteristik : (s. 3) 'heutzutage haben wir nur ein lächeln über solche ohn-
mächtige selbstmarterung des geistes übrig', ich bezweifle, dass es würklich
solche 'wir' gibt, die über Leibniz lächeln; das eine geht jedesfalls aus
dem Zusammenhang hervor, in dem Piurs äufserung steht, dass er nicht
weifs, worüber er lächelt, sollte er es zu erfahren wünschen, so würdeich
ihm das schöne buch von Couturat La logique de Leibniz empfehlen.
58 HAUEN MUSPILLI SCHMIDT ZU VIBGINAL
diesen als d auffasst, vor welchen» im altsächsischen noch ein n
geschwunden sei, so übersieht er, dass nur d und noch häufiger
t überliefert ist. dass überdies das mythologische wort der säch-
sischen beiden von einem bairischen Christen für den weltunter-
gang entlehnt worden sei, ist so unwahrscheinlich wie möglich,
wie käme dieser Christ auch dazu, den Weltuntergang durch feuer
so glutvoll zu schildern, wenn würklich, wie der vf. Olrik nach-
schreibt, alts. 'mutspelli is never directly connected with the fire'?
dann müste natürlich auch die Edda ihre Müspels synir ganz
unabhängig von der deutschen tradition zu ieuerdämonen gemacht
haben, das argumentum ex silenlio ist hier sehr stark gemis-
braucht worden. E. Martin.
Zur entstehungsgeschichte und verfasserfrage der Virginal. von Ernst
Schmidt. [Prager Deutsche Studien, hrg. von CvKraus und
ASauer. i lieft.] Prag, CBellmann, 1906. 63 ss. — für Virginal,
wovon Zupilza in MüllenholTs Heldenbuch v unter den werken
Albrechts von Kemenaten eine ausgäbe hergestellt hat, ist die
Urheberschaft verschiedener dichter von Wilmanns Zs. 15, 294 ff
nachgewiesen worden. Lunzer hat ebda 43, 193 und im Pro-
gramm des Franz-Josef-gymnasiums in Wien 1901 die Unter-
suchung fortgesetzt und besonders das Verhältnis zu Dietrichs
erster ausfahrt und zum auszug im Dresdener Heldenbuch sowie
die abhängigkeit vom Laurin klar gestellt, jetzt zeigt Schmidt,
dass drei teile zu unterscheiden sind, von denen A bis 246 reicht,
ß bis 769, B2 bis zum Schlüsse, sowie dass mehrere, teilweise
bereits von Wilmanns erkannte interpolationen in A von dem
dichter ß2 herrühren. Schmidt untersucht auf das genaueste die
reimverhältnisse, den gebrauch gewisser formelhafter ausdrücke
und andres formale; er nimmt kurz auf die bereits von den Vor-
gängern untersuchten sachlichen Verschiedenheiten bezug. diese
ergebnisse scheinen gesichert zu sein. A ist alemannisch, hier-
für lässt sich auch die conjunction ob (besser ob oder eb) = e
anführen, die Zupilza allerdings 235, 4 durch end ersetzt hat,
wie er auch Ecke 169, 5 anstatt e d end lesen will, wo doch e
daz (geschrieben e de?) näher ligt. über eb s. Wb. d. eis. mdaa.
i 6, wo auch auf das Schweiz, id. x 53 und Schmid Schwab,
wb. 153 verwiesen ist; in den elsässischen Parzivalhss. mno er-
scheint oft eb = e; in andern quellen e ob. vgl. auch Meisinger
Wb. der Rappenauer mda. unter ep. so kommt auch schranne =
schrunde 'bergspalt' 139, 8 nur in alemanuischen quellen : Heinlrid,
Magdalenenlegende vor. B, und B2 sind mitteldeutsch, vielleicht
pfälzisch: darauf deutet die anführung des Dunresberc 834, 11.
Zupilza hat übrigens auch 29, 10 mit unrecht nie in nu ver-
ändert, zur Untersuchung reizen ferner die seltsamen nameu
Arone, lbelin, Jeraspunt usw. aber wenn Portalaphe an Parto-
lapi in der nordischen sage erinnert, so ist letzteres = Parto-
nopier, womit doch nichts gewonnen wird. E. Martin.
BEHAGHEL BEWÜSTES UND U.NBEWUSTES VETTER STAUBBACH 59
Bewustes und unbewustes im dichterischen schaffen, von Otto
Behaghel. Leipzig, GFreytag, 1907. 48 ss. 1,20 m. — für die
poetische embryologie ist die Sammlung, sichtung und vergleichung
der dichterzeugnisse unzweifelhaft der hoffnungsvollste weg, wenn
auch nicht der einzige. Behaghel hietet — nicht nur unter dem
im titel genannten gesichtspunet — die reichhaltigste Sammlung
solcher Zeugnisse directer und indirecter art, die bis jetzt zu-
sammengetragen worden ist. eine umfangreiche belegsammlung
und eine stattliche Bibliographie ergänzen die arbeit, deren prak-
tische anorduung es leicht macht, nachtrage einzuordnen. — be-
sonders wichtig sind die Zusammenstellungen, die sich auf den
einfluss und die analogie der musik, des iraumes und anders
gearteter künstlerischer produetion beziehen.
Die letzte anmerkung, dass GKeller in einer stelle der kMis-
brauchten liebesbriefe' sich seihst parodiert habe, ist fast die erste,
der ich widersprechen möchte.
Berlin, 17juni07. Richard M. MEver.
Der 'Staubbach' in Ilallers Alpen und der staubbach in der welt-
lilteratur von Ferdinand Vetter, festgabe des historischen Vereins
von Bern, Bern, GGrunau 1905. s. 313 — 362. — im ersten teil
dieser Untersuchung wird umständlich, doch überzeugend dar-
getan, dass Hallern bei v. 35111'. seiner 'Alpen' ursprünglich
nicht der staubbach bei Lauterbrunnen, sondern die Pisse Vache
bei Martigny vorgeschwebt bat. der fall der Salanfe muss im
18 Jahrhundert hochberühmt gewesen sein : das erhellt nicht
nur aus den vom vf. s. 354f. angeführten Worten Goethes, sondern
vor allem aus der von Matthisson in den briefen. an Bonstetten,
bd 1 (Zürich 1795), s. 104 mitgeteilten anekdole. die Zeug-
nisse, wonach man bereits bei lebzeiten Hallers die fraglichen
verse auf den Laulerbrunner staubbach bezogen bat, lassen sich
noch vermehren : ich mochte nur auf CCLHirscbfelds 'Briefe die
Schweiz betreffend' (neue und vermehrte aufläge, Leipzig 1776),
s. 191 hinweisen, belesenere als ich werden vermutlich auch
den zweiten teil der Untersuchung ergänzen können, der mir im
Verhältnis zu dem anspruchsvollen titel 'der staubbach in der
weltlitteratur' etwas mager scheinen will; von fremden dichtem
kommt eigentlich nur Byron zu worte, da Baggesen ja ein halber
Deutscher ist.
Berlin, 2 juni 1907. Hermann Michel.
Vergleichende Studien zu Hebbels Fragmenten nebst miscellaneen zu
seinen werken und tagebüchern. von dr Albert Fries. [Ber-
liner beitrage zur germanischen und romanischen philologie, ver-
öffentlicht von dr Emil Ebering, xxiv, germanische abteilung
nr 11]. Berlin, Ebering, 1903. 58 ss. 8°. — nach dem vf.
'nicht eine abhandlung, sondern nur eine Sammlung von material',
in Wahrheit nolizen zu eiuer solchen Sammlung, vorläufig noch
recht ungeordnet. F. beschränkt sich keineswegs auf die frag-
60 FRIES VERGL. STUDIEN ZU HEBBELS FRAGMENTEN
mente — nur den Mirandola hat er genau untersucht — , bringt
neben parallelstelleu stilistische, exegetische, selbst lextkrilische
bemerkuugen, da und dort auch notizeu zu anderen dichtem,
die höchst primitive anorduung ist fortwährend durchbrochen, er
bringt drei- bis vierfach nachtrage, zwischen anmerkuug und text
besteht kein principieller unterschied, die ganze arbeit besteht
aus aneinandergereihten eiuzelheiten, die viel wertvolles und fein
beobachtetes enthalten, so die vergleichung des Moloch mit
Voltaires Mahomet, die belouung von Lessings einfluss auf
Hebbels stil uam. mitunter ist sonnenklares, wie die Schiller-
nacbahmung im Mirandola, mit einem ganz überflüssigen aufwand
von belegslellen dargetan, an einzelneu stellen ist der vf. zu zag-
haft, selten sind seine parallelen zu kühn; im ganzen klebt er —
vou haus aus classischer philologe — zu sehr am wort, sperr-
und fettdruck würken aufdringlich, manchmal komisch. — der
kreis der auloreu, die Fr. für Hebbel heranzieht, ist wol zu enge;
Klinger hätte mehr ausgenützt werden können, ebenso Heine und
Uhland. s. 42 ist ein bezug Hebbels auf Goethes wort vom
'bettlermantel' der Schwaben misverstanden; der vf. brauchte
dazu nur etwa eine commenlierte ausgäbe des Atta Troll zu ver-
gleichen, einzelheiten näher zu betrachten oder ergänzungen
geben zu wollen ist bei dem provisorischen Charakter der ganzen
arbeit überflüssig. Valentin Pollak.
Von deutscher spracherziehung. von Paul Cauer, Berlin, Weid-
maunsche buchhandlung, 1906. vin und 272 ss. 8°. — der be-
rühmte schulmann Cauer ist auch in diesem werke im bereich
der schule verblieben, die rücksicht auf den praktischen deutschen
Unterricht im gymnasium — vorzugsweise in dessen oberster
klasse — bleibt überall mafsgebend, soweit auch der vf. ab-
schweift, einzelstudieu für diesen zweck sind zur einheit zu-
sammenge'asst; sie enthalten für den gymnasiallehrer eine fülle
höchst wertvoller winke, die hier auseinanderzusetzen nicht der
platz ist. doch enthält Cauers buch auch genug allgemein in-
teressantes; er zieht so vieles fernliegende heran — die über-
fülle vou citalen aus allen möglichen litteraturen wird manchmal
unangenehm — , geht dann wider so liebevoll auf detailfragen
ein, ist so frei von kleiulichkeit, aufrichtig und doch wider mafs-
voll, dass jeder, der sich mit deutscher spräche lehrend oder
lernend befasst hat, an dem buche vergnügen haben wird.
Principiell wichtige fragen bespricht C. im 4 und 5 capitel,
'Sprachgeschichte und Sprachrichtigkeit' und 'Stil', ohne gerade
neues zu bieten, sind diese abschnitte doch von erfreulicher Selb-
ständigkeit des urteils; zu einem so vielerörterten problem wie dem
gebrauch der fremd Wörter weifs C. sehr wertvolles beizubringen, er
tindet vou da aus den Übergang, um das Verhältnis uubewuster
Sprachbildung zur nüchternen Überlegung im Sprachgebrauch klar-
zustellen, sehr hübsch sind seine ausführungeu über das über-
CAUER VON DEUTSCHER SPRACHERZIEHUNG 61
wuchern der abstracta, der substantivischen Umschreibungen von
verben, über die notwendigkeit, verblassten metaphern ihre bild-
kraft widerzugeben uä. gegenüber Wustmannscher schulmeisterei
berührt die mafsvolle Zurückhaltung dieses tapferen pädagogen
sehr angenehm. — auch dem capitel 'Interpunction' verleiht er
tiefere hedeutung, indem er die logischen functionen der Satz-
zeichen schwach betont.
Von allgemeinerem interesse ist noch, was C. über litteratur-
geschichte und lectüre sagt, ein gegner des systematischen,
litterarhistorischen Unterrichts am gymnasium gibt er eine reihe
hübscher beispiele, wie von der betrachtung einzelner werke aus
vor- und rückgreifend litteraturgeschichtliche erkenntnisse ge-
wonnen werden können, man kann principiell andrer meinung
sein — wie der referent — , dabei aber doch anerkennen,
wie kurz und treffend C. ganze reihen der entwicklung zu
zeichnen versteht, für die lectüre betont er die Wichtigkeit der
interpretation alles dessen, was verstandesmäfsig erfasst werden
kann; wider gibt er zahlreiche beispiele mitunter sehr feiner aus-
legung. nur selten wird man zum Widerspruch geneigt sein, am
meisten wol bei Schillers 'Ideal und das leben', das viel zu con-
cret moralisierend gefasst ist.
Die übrigen partieen des buches sind nur für den lehrer
der deutschen an höheren schulen bestimmt.
Wien. Valentin Pollak.
Bettine von Arnim und Friedrich Wilhelm iv. ungedruckte briefe
und actenstücke, herausgegeben und erläutert von Ludwig Geiger,
Frankfurt a. M., Litterarische anstalt Rütten & Loening, 1902.
xiv und 220 ss. 8<>. — Geigers buch über Bettine und könig
Friedrich Wilhelm iv ist von der tagespresse mit einer fülle von
besprechungen bedacht worden, so dass eine verspätete anzeige
an dieser stelle sich kurz fassen kann, dem Spürsinn des heraus-
gebers ist es geglückt, würklich hochwertvolles material zu ent-
decken und eine Veröffentlichung zu ermöglichen, die nicht nur für
die tiefere ergründung von ßettinens wesen von grofsem werte ist.
Geiger selbst will nur bausteine zur biographie und Charakteristik
Bettinens zusammentragen, begnügt sich indes nicht mit einem
blofsen abdruck der papiere und mit einem erläuternden com-
mentar, sondern sucht durch verbindenden text und durch saubere
disposition das ganze einer darstellung anzunähern, gearbeitet
hat er sicher mit liebe; und so lässt er denn entdeckerfreude
auch einmal zur geltung kommen, während er in seinen anderen
Veröffentlichungen gleichen inneren anteil nicht zu verraten liebt:
Bettinens brief an den könig vom 29 juli 1849, eines der
schreiben, in denen sie für Kinkel um des königs gnade wirbt,
veranlasst Geiger zu den worten : 'ich bin stolz darauf, dieses
schreiben mitteilen zu können; es ist ein ruhmestitel Bettinens,
wie es deren wenige gibt, selten erklingt ihr wort so mutig
'Ö^ Ö'"v« •^■igi. umiuji i.i. "^iv ov w.u^.p
62 GEIGER BETTINE VON ARNIM UND FRIEDRICH WILHELM IV
u ml kühn, wie die flammende stimme des propheten, selten weils
sie so das herz zu packen, das göttliche recht der gnade zu ver-
künden, die wahren Verehrer des konigs, die ihn als den mensch-
lichsten zu sehen wünschen, von denen zu unterscheiden, die
blofs in ihm den blutrichter erldicken' (s. 169).
Der menschliche gehalt der von Geiger entdeckten papiere
ist mehrfach, so insbesondere glücklich von Felix Poppeuberg
(Vossische Zeitung, Sonntagsbeilage 1902 nr 46) ausgeschöpft
worden, so seien denn hier nur einige positive daten gegeben,
im königlichen hausarchiv in Charlottenburg, im geheimen Staats-
archiv in Berlin und im nachlass Varnhagens auf der königlichen
bibliothek in Berlin hat Geiger das material gefunden : briefe
Bettinens an den künig und antworten des konigs, briefe Stahrs
an Bettine und au Varnhagen, einen brief George Sands an
Bettine und einiges weitere, er ordnet die von 1840 bis 1852
reichenden 27 briefe Bettinens in acht capitel : die brttder Grimm
und Dahlmann; das Königsbuch; Clemens Brentauos Frühlings-
kranz; politische tätigkeit; Polen vor der revolution ; die revolutiou
von 1848; befreiungsversuch für Kinkel; ausklang, schon diese
Überschriften bezeugenden historischen quellenwert der publication.
dass auf Bettine als menschen auch von dieser briefsammlung
reiches licht fällt, ist selbstverständlich, hat doch ein Wiener
Journalist sich zu der Wendung veranlasst gefühlt : 'mancher
von jenen, die sich immer durch das überreizte wesen und die
stilistischen wirbeltänze der dame abgestofsen fühlten, wird ihr
beim lesen dieser briefe an den könig, der Kinkelbriefe ins-
besondere, mit freude abbitte leisten' (Neue fr. pr. 1902 nr 13691).
genauere kenner von Bettinens wesen werden freilich von der ge-
stalt, in der sie sich hier zeigt, nicht in gleicher weise überrascht
sein, und nur züge stärker betont finden, die sich auch an anderer
stelle schon haben nachweisen lassen.
Über ihre beziehungen zu Goethe spricht Bettiue einmal
(s. 165Q ein beachtenswertes wort; sie werden da mit ihrem
interesse für den könig zusammengehalten : 'es ist nicht ambitioo,
ich habe von natur keine ambitioo — nein, gar keine! — ich
habe nie nach Verhältnissen getrachtet, die mir glänz gewährten,
meine Verhältnisse zur menschheit waren viel heimlicher, viel
inniger in ihren beziehungen'. nicht weil sie Goethe als grofsen
mann sich dachte, sondern weil er vor ihr verläumdet worden
war und zwar von engherzig conlessioneller seite, liebte sie ihn.
als man weiter sich erzählte, er habe ein böses herz, er sei ganz
hässlich geworden und habe ein gemeines ansehen, der adel
seiner gestalt sei verloren gegangen, da habe sie zu sich selber
gesprochen : es ist nicht wahr, was sie dort sagen! 'von der zeit
an war er der gegenständ meiner heimlichen betrachtungen . . .
mein Charakter entwickelte sich durch dies phänomen, einem
mann so herzlich zugetan zu sein, blofs weil ihm war unrecht
GEIGER RETTL\E VON ARNIM DKD FRIEDRICH WILHELM IV 63
getan worden in meiner gegenwarl'. wol kann auch gegen
dieses bekentnis Bettinens der Unglaube ins leid gefiibrt. werden,
den man ihr so gern entgegenbringt, trotzdem möchte ich es
gegen die worte Hebbels ausspielen, die jüngst wieder einmal
in einer Charakteristik Bettioens angerufen worden sind : 'der
brielweclisel zwischen Götbe und Betlina ist in seiner letzten
wttrkuog schauerlich, ja Furchtbar, es ist das entsetzliche Schau-
spiel, wie ein mensch den andern verschlingt, und selbst abscheu,
wenn nicht vor der speise, so doch vor dem speisen, hat' (Tage-
bücher 1836 ur 510). wenigstens wenn — wie man gedeutet
hat — Beltine hier das verschlingende subject sein soll, ist
das wort Hebbels mit dem cilierten bekennlnis Bettinens unver-
einbar.
Im anhang druckt Geiger ua. zwei kleinere ältere Ver-
öffentlichungen ab. neben dem aufsatz 'Wann ist Bettine ge-
boren?' (Allgem. ztg., beil. 14, juui 1894) erscheint die Studie
'Betline von Arnim mitarbeiten n an einein historischen werke'
(Enphorion bd 9 s. 122 IT), hier möchte Geiger die behauptung
Bettinens erhärten, sie habe zu JLSßartholdys buch 'Der krieg
der Tyroler landleute im jähre 1809' reiches material beigesteuert,
dieses material dann selbst im 'Briefwechsel mit einem kinde'
verwertet, dass der 'Brielweclisel' vielmehr in der erzählung der
Tyroler kämpfe von Bartholdy abhäugig sei, hat jüngst Oehlkc
(Palaestra lieft 41 s. 104 IT) wahrscheinlich gemacht.
Einen weiteren brief Bettinens an den könig (vom 5 Sep-
tember 1847) konnte Geiger in der Voss. ztg. 1903 beil. nr 14
nachtragen, ebenda nr 21 gab er nähere erläuterungen zu dem
s. 104 erwähnten 'process' Bettinens. das s. 41 berührte 'trauer-
spiel', das im ersten regierungsjahr könig Friedrich Wilhelms iv
aufgeführt worden sei, möchte OPfülf (Stimmen von Maria-Laach)
in gegensatz zu Geigers Interpretation (s. 43) auf Spontinis ent-
lassung und auf die Vorgänge beziehen, durch die sie herbei-
geführt worden sei.
Das in der anmerkung zu s. 53 angeführte büchlein 'Bucli-
losigkeiten der schrill : Dies buch gehört dem könig' (Bern 1844)
hab ich hier in der Schweiz nicht auftreiben oder auch nur
bibliographisch feststellen können.
Bern, 11 august 1905. Oskar F. Walzel.
Personalnotizen.
Am 30 december v. j. starb im 82 lebensjahre zu Königs-
berg Oskar Schade, der in den 1850 er und 60 er jähren als mit-
leiter des Weimarischen Jahrbuchs und als rühriger, wenn auch
oft eigenmächtiger herausgeber wol verdient, uns späten haupt-
sächlich durch die 2 ausgäbe s. Altdeutschen Wörterbuches zu
dauerndem danke verpflichtet hat.
64 PERSONALNOTIZEN
Mit Theodor Aufrecht in Bonn ist am 3 april der 85jährige
senior der indogermanischen Sprachwissenschaft geschieden, näher
als er stand der germanischen pliilologie Ferdinand Justi in Mar-
hnrg (f 17 febr. d. j.), der sie in früheren jähren auch als docent
mit reichem wissen vertreten hat.
Der tod Ludwig Traubes (f 19 mai, 46 jährig) bedeutet für
die mittelalterliche pliilologie, ja für die philologie überhaupt,
einen kaum ersetzlichen verlust. von der intimen betrachtung
der handschriften aufsteigend hat er uns die tiefsten einblicke in
die geschichle der Überlieferung erschlossen und die geistige
cullur des miltelaliers vielfach in neue beleuchtung gerückt, mit
jeder weitern arbeit auch die methode verfeinernd und bereichernd.
Am 8 juli entschlief zu Christiania 74 jährig Sophus Bügge,
das verehrte haupt der nordischen pliilologie, die er einst durch
seine grundlegende Edda- und inschriftenkritik ebenso erfolgreich
gefestigt hat, wie seitdem die geniale kühnheit und Uberkiihnheit
seiner mythologischen und sprachwissenschaftlichen Studien keim-
kräftige anregungen ausgestreut hat.
Am 5 juli f zu Heidelberg im 84 lebensjahre Kuno Fischer,
der redemächtige historiker der philosophie, der unsern classikern
fruchtbare arbeit gewidmet und zumal in seinen Faust- und Tasso-
studien auch bedeutende philologische probleme gestellt hat. —
am 12 juli f in Berlin Felix Bobertag, dessen arbeitsgebiet vor-
zugsweise die litteratur des 16 und 17 jh.s gewesen ist. —
Der ao. professor dr Budolf Much wurde zum ord. professor
für germanische Sprachgeschichte und altertumskunde an der Uni-
versität Wien ernannt; dr Felix Solmsen, ao. professor der vgl.
Sprachwissenschaft an der univ. Bonn, wurde zum Ordinarius be-
fördert; als ord. professor der indischen pliilologie u. vgl. Sprach-
wissenschaft geht der bisherige Berliner extraordinarius dr Karl
Geldner nach Marburg.
Der ord. professor dr Oskar F. Walzel in Bern hat die pro-
fessur der litteraturgeschichte an der technischen hochschule zu
Dresden übernommen.
Habilitiert haben sich : dr Reinhold Trautmann in Göttingen
für indogermanische Sprachwissenschaft, dr Arne Nova'k an der
cecischeu Universität in Prag für deutsche litteraturgeschichte.
Die philosophische facultät zu Rostock verlieh dem Oberlehrer
Richard Wossidlo in Waren die würde eines dr phil. h. c. die
gleiche auszeichnung hat, wie wir hier nachholen, vor zwei
Jahren die philosophische facultät zu Groningen dem reallehrer
S. F. D. Blöte in Tilburg erwiesen.
ANZEIGER
FUK
DEUTSCHES ALTERTUM UND DEUTSCHE LITTERATUR
XXXI, 2. 3 october 1907
Die Wortstellung im Beowulf von John Ries, (gedruckt mit Unterstützung
der kgl. gesellschaft d. Wissenschaften zu (Jöttingen.) Halle a. S.,
MNiemeyer, 19U7. xiv und 416 ss. 6°. — lü m.
Es war, wie der vf. in der vorrede andeutet, ein hartes
stück arbeit, dieses buch zu schreiben, es ist aber auch ein hartes
stück arbeit es zu lesen, der slofT ist in ungewöhnlicher weise
zerfasert, wie man schon daraus ersieht, dass die zum Schlüsse
zusammengestellten belege auf 368 gruppen verteilt sind; die
anordnung im grofsen ist dem von anderen sprachen herkommen-
den leser nicht sogleich eiuleuchtend; ein index ist nicht vor-
handen, was derjenige schmerzlich empfindet, der sich im zu-
sammenhange darüber unterrichten möchte, was der vf. über
enklise, auftact usw. zu sagen hat; die paragraphen sind oben
auf den Seiten nicht angegeben, was bei den häufigen Ver-
weisungen von einem paragraphen auf den andern sehr unbe-
quem ist; endlich will ich nicht verschweigen, dass (was viel-
leicht teilweise an mir ligt) mir die ausdrucksweise des vf.s oft
schwerverständlich erschienen ist. unter diesen umständen glaub
ich mich nützlich zu machen, wenn ich versuche, die allgemein
interessanten ergebnisse der mit unendlichem fleifse durchge-
führten arbeit kurz zusammenzufassen, und sie durch histori-
sierende betrachtung in den indogermanischen rahmen einzufügen.
Eh der vf. zur sache kommen kann, hat er zwei steine
aus dem wege zu schaffen, nämlich die Braunesche und
die Erdmannsche hypothese. Braune hat in den Forschungen
zur deutschen philologie (Festgabe für Hildebrand, Leipzig 1894)
über die Stellung des verbums im germanischen die folgende
grundansicht aufgestellt : 'ich halt es für unzweifelhaft, dass die
urgermanische verbalstellung eine freie war, dh. das verbum
konnte sowol in hauptsätzen als in nebensätzen ganz beliebig am
anfang, in der mitte und am Schlüsse stehn, je nachdem es im
bewustsein des sprechenden früher oder später in die erscheinung
trat', womit also das Vorhandensein überlieferter fester Stellungs-
typen des verbums in abrede gestellt wird, gegen diese auf-
stellung wendet sich der vf. in ausführlicher polemik s. 6 — 31,
der ich im wesentlichen zustimme, zwar gegen die logischen und
methodischen erörterungen liefse sich wol einiges einwenden, ent-
A. F. D. A. XXXI. 5
66 BIES DIE WORTSTELLUNG IM BEOWULF
scheidend aber scheinen mir die folgenden gesichlspuncte. zunächst
hat die weiterschreitende forschung gezeigt, dass feste typen doch
wol in gröfserem mafsstabe tatsächlich vorhanden sind, als Braune
annahm, und die schrift von Ries bringt nach derselben ricbtung
bin einen wertvollen beitrag. sodann fällt eine allgemeine er-
wägung, auf die Ries auch hindeutet, schwer ins gewicht. Braune
setzt eine freiheit des einzelnen gegenüber der Überlieferung
voraus, die jetzt nicht vorhanden ist und früher auch nicht vor-
handen gewesen sein dürfte, in dem gedäcbtnis des einzelnen
sind ja, wie bekannt, nicht etwa blofs Wörter und formen, sondern
es sind wortbildungs-, flexions- und satzbilduugs typen vorhanden,
welche zu dem festesten bestände gehören. namentlich sind
die wortstellungstypen, die wir jetzt in unserm sprachbewustseiu
haben, sozusagen unzerstörbar, ich darf mir vielleicht gestatten,
zum beweise eine beobachtung mitzuteilen, die ich in einem
vortrage über amnestische aphasie in der Jenaischen Gesellschaft
für medicin und naturwissenschaft (6 sitzung vom 7 mai, Jahr-
gang 1886) vorgetragen habe, es heilst dort s. 7 : 'ich habe
nicht gefunden, dass bei kranken der wortstellungstypus zerstört
würde, derartig, dass sie die worte beliebig durcheinander
schüttelten, einen positiven beweis, dass die wortstellungstypen
noch vorhanden sind, liefert selbst im vorgeschrittenen Stadium
diejenige ausdrucksweise, welche man die skizzierende nennen
könnte, ein kranker sagt zb. : *eine äuge immer tränen', er will
damit sagen : 'das eine äuge ist immer voll tränen', es sind nur
noch so zu sagen die am meisten hervorragenden redegipfel sicht-
bar, aber sie stehn an der richtigen stelle.'
Die Erdmannsche theorie spricht dem subject die ihm
gewöhnlich zugestandene Sonderstellung ab ('die verschiedeneu
nominalen bestaudteile desselben satzes haben eine fest bestimmte
rangordnung unter sich im deutschen nie gehabt; oft drängt sich
der subjectsnominativ hervor, aber keinem andern ist es verwehrt,
dasselbe zu tun' Erdmanu bei Ries s. 34). hiergegen richtet Ries
s. 40 ff das schwere geschütz der Statistik, und weist nach, dass
das nominale subject (das aus besondern gründen von dem pro-
nominalen gesondert ist) im satzanfang im Verhältnis fast 8 mal
häufiger erscheint, als die übrigen nominalen Satzglieder, da nun
auch in den andern germanischen sprachen, so viel ich sehe,
der subjectsnominativ gewöhnlich vorangestellt wird, und da im
sanskrit und sonst dasselbe der fall ist, so wüste ich nicht, was
man für die Erdmannsche annähme sagen könnte, es gibt eben
eine habituelle Wortfolge, bei welcher das subject den satz er-
öffnet, und eine occasionelle, bei welcher sich auch andre
nominalformen hervordrängen können.
Zu den vorbereitenden abschnitten ist im gründe auch die
erörterung über einen etwaigen einfluss des metrumsauf
die Wortstellung zu rechnen, welche Ries s. 68 ff anstellt.
RIES DIE WORTSTELLUNG IM BEOWULE 67
als ergebnis seiner nicht weiter ins detail gelinden betrach-
tung kann man ansehen, 'es sei nicht anzunehmen, dass
die Wortfolge im ganzen, in ihren gruodzügen und haupt-
gesetzen vom einfluss des metrums in beträchtlichem mafse be-
rührt und verändert sein könne' (s. 70). Ries stellt sich damit
auf den boden der Untersuchungen von Rieger (Zs. f. d. pb. 7, 1 IT),
von deren resultaten ich einige in der lassung, die ihnen Sievers
Altgerm, metrik s. 23 gegeben hat, zur Orientierung des lesers mit-
teile, der wichtigste satz lautet : 'steht eine einzelne nominalform
unter andern Wortarten allein in einer halbzeile, so hat sie in
der regel an der allitteration teil', daraus folgt, dass das nomen
hervorragender betont ist, als die (ihrigen Wortarten, namentlich
auch als das verbum finitum. der zweite satz lautet : 'von zwei
nominibus einer halbzeile allitteriert jedesfalls das erste', daraus
folgt, dass die weiter nach vorn liegende satzstelle hervorragender
betont ist. dass nun diese art der Satzbetonung die der natür-
lichen rede war, ist darum wahrscheinlich, weil man keinen
grund einsehen kann, weshalb gerade sie durch die forderungen
des metrums sollte hervorgerufen sein, die Wahrscheinlichkeit
wird aber, was Rieger damals nicht wüste, zu der in solchen
fällen erreichbaren höhe dadurch erhoben, dass das sanskrit den-
selben betonungstypus zeigt, der zugleich als indogermanisch zu
gehen hat. denn im hauptsatz des sanskrit ist das nomen be-
tont, das verbum aber hat keinen accent, und zugleich folgt aus
dem occasionellen grundgesetz ('jedes dem sinne nach hervor-
zuhebende wort rückt im satze weiter nach vorn'), dass der satz
absteigend verlief, wie weit nun etwa der dichter durch das
metrum veranlasst werden konnte, von diesem typüs abzuweichen,
lässt sich an einem beispiel zeigen, ich wähle den fall der occa-
sionellen vorschiebung des verbums an die spitze des aussage-
satzes, und bediene mich dabei der Stellensammlung bei Ries,
von solchen verben trägt in der ersten halbzeile allein die allit-
teration geworhton 3156, grette 652, gecyste 1870, oferhogode 2345,
ofereodon 1408, ymbeode 620, auch gefeng 1537, wenn nicht
mit Rieger feaxe statt eaxle zu lesen ist. mitbeteiligt an der
allitteration der ersten halbzeile sind byred 449, beer 896. 1506.
beorhtode 1161, bugon 1013, burston 818, egsode 6, eode 358, etect
449, ne-gefreegn 1027, ne-gefeah 109, geald 2991, ongeat 1518,
heold 2430, lieht 1807. 1114, hylde 688, hyrte 2593. hyrde 2172,
ne-hedde 2697, llxte 311. 1570, losad 2062, ne-gemealt 2628,
gemunde 758, mynte 712. 762, reste 1799, äräs 399. 2538, seege
590, seegad 411, geseah 2756, setton 325, oferswam 2367, ge-
swäc 2681, wearp 1531, oferwearp 1543, wene 338. 442, wende
2329, wand 1119, gewat 217. 234 gewiton 1125, wunad 1735,
forwrat 2705, ne-geweox 1711, wol auch wolde 664, obgleich
man allenfalls auch annehmen konnte, dass es in der Senkung
steht und die allitteration zufällig ist. nicht in allitteration, aber
68 RIES DIE WORTSTELLUNG IM BEOWULF
in hebung stehn* die vollverba com 720. 1623. 18S8, dyde 2809,
eode 1233, forgeaf 1020, ne-gefrcßgn 1011, gang 1316, ongunnon
3143, habbad 270 (nicht als hilfsverbum) , lieht 3110. 2337,
ahleop 1397, %rtfe 62. 2163, let 2550. 2977, sfe^rfo» 3141, nam
746, ne-nöm 1612, sende 471, <7csea/j 728, pes^f 2417, geslöh 459
(von Ilolthausen umgestelli), gesprcec 675, weard (nicht als hilfs-
verbum) 460. 1330, näf 681, wene 1184, ^etoöf 1963. 2401.
2949, gewüon 302. von hilfsverben witle 344, tcoMe 2305,
ne-meahle 1659. 2855. 2971, ne-meahton 3079, Äee/tfe 205. 1550,
Äa/as* 1221. 1855, was 262. 2304. 2435. 2946, nas 1455.
2432, wwron 1804. in der Senkung kommen vollverba sehr
selten vor. ich habe notiert ne-hyrde 3S; ferner findet sich 1210
gehwearf pa in Francna fcepm feorh cyninges, aber es wäre wol
nicht ausgeschlossen, Francna fwpm als eine art von compositum
zu betrachten und ihm nur einen hauptton zu geben, wodurch
dann gehwearf in die hebung käme, dasselbe wäre möglich in
bezug auf eorla hleo 1035 und 2190, wodurch het als hebung
gefasst werden könnte, übrigens wäre ja auch möglich, Massen'
zu den hilfsverben zu stellen, (dazu kommt noch zweimaliges
pä com, vgl. unten s. 73.) an hilfsverben kommen vor nolde
791 (als hebung aufzufassen, wenn eorla hleo als compositum gilt),
wolde 1010. 1791. 2858, mag 1484, sceall 1862. 2255, scolde
1443, hcebbe 433, hcefde 893. 2333. 2844, hoafdon 2381, was
102. 349. 549. 997. 1457. 2316, wwron 1620. — anders stellt
sich der befund bei der zweiten halbzeile. dort muss stets das
in der ersten hebung stehnde wort die allitteration tragen, es
kann also der fall nicht eintreten, dass ein den satz eröffnendes
verbum in eiüer allitterationslosen hebung steht, vielmehr steht
es entweder in der allitteration, oder ist unbetont, das erstere
ist der fall bei fehd 1755, fundode 1137, gyrede 1441, hruron
1872, rcehle 747, seah 2717. 2863, swigedon 1699, polode 1265,
Uhte 960, wisse 2339. 2725, also nicht eben häutig, sehr häufig
dagegen ist das verbum tonlos, und zwar erscheinen an dieser
stelle alle arten von verben, nämlich an vollverben ühte 487,
com 702, cüpe 359, eode 612. 640. 918. 1814, gwd 455, ne-
hyrde 1842, gehijrde 609, sprcec 1168, ne-seah 2014. 336, pühte
2461, gewät 1601, tie-wiston 181. auch ne-iceard 1709 ist hier-
her zu rechnen, an hilfsverben neue 2524, wolde 1805, nolde
2518, ne-mceg 2260. 2801, ne-mihte 191. 1150, ne-sceal 271,
3010, scolde 805. 819. 2341. 2442, ne-porfte 2995, hwbbe 408,
hcefde 665. 828, bid 1742, ne-bid 660. 949. 1940. 2541, is
375. 476, nis 249. 1361. 1372. 2262. 2458. 2532, dazu wces
ne-wccs und nies gegen 50 mal, wwron 536. es ist einleuchtend,
dass die vollverba in der zweiten halbzeile nur unter dem zwange
des melrums in die Senkung gekommen sind, woraus sich ergibt,
1 doch ist es hier und im folgenden manchmal zweifelhaft, ob man
hebung oder Senkung annehmen soll.
RIES DIE WORTSTELLUNG IM BEOWULF 69
dass man gut tut, in den fragen der Satzbetonung sich immer
zunächst an die erste halbzeile zu halten, eine lehre, die Rieger
schon ausgesprochen, Ries aber nicht gehörig beachtet hat. für
die prosa dürfte zu schliefsen sein, dass unbetonte vollverba
den satz nicht eröffnen konnten, es dürfte also damals eine
Satzbetonung wie die neuhochdeutsche in ich kam gestern spat
nach hause (wobei ich kam in der Senkung steht) noch nicht
üblich gewesen sein, ich komme auf diese dinge bei dem sog.
satzauftact zurück.
Mach diesen erörterungen über Braunes und Erdmanns an-
sichten und über den einfluss des metrums würde der leser
nunmehr vorbereitet sein, die wesentlichen ergebnisse der Ries-
schen arbeit in sich aufzunehmen, wenn nicht noch über eine
besondere terminologie zu berichten wäre. Ries nennt die
folge subject — verbum : gerade folge, verbum — subject : ungerade
folge; das, was vor dem subject bei gerader oder vor dem verbum
bei ungerader folge steht, nennt er spitze, was das besagen will,
sei an dem alten Schulbeispiel Ronmlus Romam condidit ver-
deutlicht, in diesem satze ligt die habituelle Wortfolge aus
indogermanischer zeit vor, welche occasionell in doppeller weise
geändert werden kann, wollen wir ausdrücken, dass Romulus
Rom nicht zerstört sondern gegründet habe, betonen wir also
das condidit, so sagen wir condidit Romam Romulus, wollen
wir hervorheben, dass es sich um Rom und nicht etwa um Alba
longa gehandelt habe, betonen wir also Romam, so heifst es
Romam condidit Romulus. Ries nun würde in condidit Romam
Romulus ungerade folge, in Romam condidit Romulus Spitzen-
stellung erblicken, er bringt also zwei erscheinungen, welche
unter genau denselben bedingungen stehn, unter zwei verschie-
dene kategorieen. das ist, wie ich meine, theoretisch verwerflich,
zugleich aber auch in praktischer beziehnng von übeln folgen,
weil zusammengehöriges in der darstellung getrennt wird, ich
werde also im folgenden diese terminologie möglichst vermeiden
und mich derjenigen bedienen, welche mir von meinen eigenen
arbeiten her geläufig ist.
Ich berichte zuerst über die traditionelle Stellung im
unabhängigen aussagesatz. dass das subject gewobnheits-
mäfsig den satz eröffnet, ist oben s. 66 bemerkt worden, jelzt
handelt es sich um das verbum finitum (Ries s. 57 ff. 209 ff
und passim). dieses hat entweder endstellung, zb. beornas
gearwe on stefn stigon 'die krieger stiegen gerüstet an bord' 211;
beorscealca swn füs ond föege flelrceste gebeag 'der zecher einer,
dem hintritt und tode gev\edit, legte sich zur ruhe in der halle'
1240; we purh holdne hige hläford plnne sunu üealfdenes secean
cwömon 'wir sind in freundlicher gesinnung deinen herrn, den
söhn des H., zu besuchen gekommen' 267. oder mittelstellung,
zb. monig of gescet, rice tö rüne 'mancher setzte sich oft. der
70 RIES DIE WORTSTELLUNG IM BEOWULF
herscher zu geheimer beratung* 171; wlg ealle fornam Finnes
pegnas, nemne feaum anum 'der krieg nahm alle (legen Finns
hinweg, außer einigen wenigen' 1080; wyrd oft nered unfcegne
eorl, ponne his eilen de ah 'das Schicksal erhält oft einen dem
tode noch nicht verfallenen mann am leben, wenn seine kraft
taugt 572; hl hyne pä atbleron tu brimes farode, swlese geslpas,
swä he selfa bwd 'sie brachten ihn da zur flut des meeres, die
liehen genossen, wie er selbst befohlen hatte' 28. oder das ver-
bum schliefst sich unmittelbar an das subject an, wofür man in
diesem zusammenhange den ausdruck 'contaclstellung' gebrauchen
könnte, zb. sele Mi fade heah ond horngeap 'der saal ragte hoch
und horngeschmückt' 81; heaporces fornam mihtig meredeor purh
mine hand 'der kampfsturm nahm das mächtige meertier durch
meine band hinweg' 557; se was moncynnes mcegenes strengest
on p cern dcege pysses llfes 'der war vom menschengeschlechte an
kraft der stärkste an dem tage dieses lebens' 196. über das Ver-
hältnis der Häufigkeit dieser Stellungen hat Kies (s. 212) das
folgende festgestellt : 'von 616 in betracht kommenden Sätzen
haben die alte verbstellung (di. : end- und mittelstellung) 426,
die neue Stellung (di. conlactstellung) 190 Sätze. es ist also
zunächst die für die geschichte der germanischen Wortstellung
überaus wichtige tatsache festzustellen, dass der später regel
gewordene anschluss des verbums ans subject der selbständigen
sätze sich im Beowulf erst in 30,8 %, also weniger als
einem drittel aller fälle findet, die alte verbstellung überwiegt
noch sehr beträchtlich, sie gilt noch in 69,2 o/o.' ich bemerke
dazu, dass man selbstverständlich aus der blofsen Häufigkeit eines
Stellungstypus nicht auf seine altertümlichkeit schliefsen darf.
Ries tut das aber auch im vorliegenden falle nicht, er hält viel-
mehr die endstellung des verbums deshalb für altertümlich, weil
die läge der Überlieferung im angelsächsischen und nordischen
darauf weist, dann aber und hauptsächlich, weil sich nicht ein-
sehen lässt, warum die conlactstellung, wenn sie die ursprüng-
liche gewesen wäre, sich zur endstellung umgestaltet haben sollte,
während sich gründe dafür finden lassen, warum das umge-
kehrte sich zutrug, ich bin derselben ansieht und nehme also
mit Ries an, dass der angelsächsische satzlypus, soweit es die
Stellung von subject und verbum angeht, dem indogermanischen
entsprach, aber auch in andrer hinsieht war das der fall. Wacker-
nagel hat bekanntlich ldg. forsch. 1, 333 ff an einem aufser-
ordentlich reichen malerial nachgewiesen, dass im indogermanischen
die enklitischen Wörter von dem (starkbetonten) anfangswort des
satzes (also bei traditioneller folge von dem subject) wie von
einem magnet angezogen werden, selbst auf die gefahr hin, dass
ihr grammatisches Verhältnis zu andern worteu des satzes ver-
dunkelt wird, dasselbe findet denn auch im Beowulf statt. Ries
hat über diese von ihm als gesetz der ersten Senkung bezeichnete
RIES DIE WORTSTELLU.NG IM BEOWULF 71
erscheinung s. 90. 177. 326 und sonst gehandelt, damit hängt
etwas andres unmittelbar zusammeu. wenn die stelle nach dem
ersten worte die tonschwächste ist, so müssen alle andern, auch
der satzschluss, tonslärker sein, ich hab im Zusammenhang
damit denn auch vermutet, das verbum habe im indogermanischen,
wenn es am satzschluss stand, mittlere hetonung gehabt, auch
Ries hat für den Beowulf eine derartige Wahrnehmung gemacht,
er stellt ein gesetz vom satzschluss auf, wonach dieser nicht in
besonderem mafse tonschwach gewesen sei. ich geh aber hier
auf diese frage nicht näher ein.
Die traditionelle Wortfolge nun, wie sie im indogermanischen
und nach ausweis der beobachtungen von Ries ebenso im angel-
sächsischen vorhanden war, konnte occasiouell verändert werden,
indem ein wort, welches einen stärkeren sinnton trug, weiter
nach vorn geschoben wurde, davon wird gleich unten zu handeln
sein, hier aber ist zunächst die schon oben angedeutete tatsache
zu besprechen, dass das verbum im angelsächsischen im gewöhn-
lichen salz, ohne dass es occasionell betont wäre, so häufig von
seiner überlieferten endstellung weg in die satzmitte oder un-
mittelbar an das subjeet gerückt wird, wie ist das zu
erklären? Ries bringt dafür zwei wie mir scheint durchschlagende
gründe bei, einen rhythmischen und einen, den man architek-
tonisch nennen könnte, was mit dem letzteren gemeint ist, leuchtet
sofort ein, wenn man die oben für mittelslellung angeführten
beispiele betrachtet, viele Sätze sind so lang, dass es untunlich
erscheint, die masse der andern Wörter zwischen subjeet und
verbum einzusperren, dass es sich aber hei der mittelslellung
stets um längere Sätze handelt, übersieht man recht deutlich,
wenn man die stellen in gruppe 4 — 9, welche meist einen stern
tragen, weil die Sätze nur dreigliedrig sind, mit denen in gruppe
10 — 15 vergleicht, welche keinen stern haben, weil die Sätze aus
mehr als drei gliedern besteh n. manchmal sieht man auch
deutlich, wie das objeet hinter das verbum rucken muste, weil
es mit einem anschlusssatz belastet ist, zb. wyrd oft nered un-
fwgne eorl, ponne his eilen deah 572. aber auch bei contact-
stelluug kann man oft die architektonischen rücksichten spüren,
oft wird zb. ein epitheton nachgeliefert, wenn es zu schwer
war, um gleich angefügt zu werden, so sele hlifade heah and
horngeap 81. nicht selten hat man auch den eindruck, dass der
dichter gern einen satz nach anleitung oder unter mitwürkung
des metrischen bedürfnisses in symmetrische teile zerlegen wollte,
zb. heaporäs fornam \ mihtig meredeor | park mine band 557. der
rhythmische grund ist der, dass die schwachtonigen hilfsverba
durch das starkbetonte erste wort angezogen werden, sei dieses
nun das subjeet oder ein andres wort, in grofsem mafsstabe
findet sich diese erscheinung in denjenigen Satzteilen, die Ries
spitzen nennt, wovon nacher zu sprechen sein wird, in kleinerem
72 RIES DIE WORTSTELLUNG IM BEOWULF
auch bei den Sätzen ohne spitze, dem satzbeginnenden suhject
des unabhängigen satzes folgt unmittelbar ein hilfsverbum in
39 fällen (Ries s. 61), während es in 7 fällen nicht geschieht.
in diesen kann man gelegentlich den grund wol finden, so ist
159 und 3028 klar, dass der dichter das hilfsverbum von dem
zugehörigen participium nicht trennen wollte, in Heorot innan
wces freondum äfylled 1017 hätte man des metrums wegen wol
sagen können Heorot wces innan, aber das stiefs (denk ich) den
dichter ab, weil es heifsen würde : Heorot war darin, die an-
ziehung der schwachbetonten hilfsverba durch die starkbetonte
erste satzstelle ist natürlich nur ein fall der seit urzeiten üb-
lichen behandlung der enklitika. in der urzeit aber konnten die
hilfszeitwörter nicht von diesem Schicksal betroffen werden, weil
es überhaupt weuiger gab (es fehlten zum grofsen teil die sog.
modalverba) und weil die vorhandenen nicht von so geringer
körperlichkeit waren, entspricht doch dem ags. wces altindisch
Üslt oder dbhavat, dem ags. mceg mihte : caknöti dcaknöt usw. es
braucht nicht bemerkt zu werden, dass die aualogie der hilfs-
verba geeignet war, andere verba nach sich zu ziehen und damit
der contactstellung der verba überhaupt zur herschaft zu verhelfen.
Die traditionelle Wortfolge des indogermanischen und also
auch des angelsächsischen kann verändert werden, indem ein
wort occasionell überhaupt und namentlich an die
spitze des satzes vorgeschoben wird, die stellen, an
denen dies mit dem verbum geschehen ist, sind oben s. 67f zu-
sammengestellt, die innern gründe für die voranstellung hat
Ries in dem ausführlichen abschnitt 118 — 156, der zu den ge-
lungensten des buches gehört, gut entwickelt, es kommt schliefs-
lieh, wie zu erwarten war, darauf hinaus, dass das verbum vor-
geschoben wird, weil ein ton des sinnes auf ihm ruht, hier
mögen noch ein paar beispiele für vorgeschobene nomina (prä-
dicatsnomen, objeet usw.) angeführt werden, de adis Aeschere
'tot ist Ä.' 1323; sttdmöd gestöd wid steapne rond winia bealdor
'festen mutes stand da hinter dem hohen schild der fürst der
freunde' 2566; sunu dead fornam 'den söhn hatte der tod hin-
weggenommen' (vorher ist von der mutier die rede) 2119; söd
ic talige 'die Wahrheit spreche ich' 532; pone hring hoefde Higeläc
Geata 'den haisschmuck hatte H. der könig der G.' 1202; tiänigne ic
under swegle selran hyrde 'von keinem bessern hörte ich unter der
sonne' 1197; gode ic panc seege 'Gott sage ich dank' 1997; dum
wife pä word wel licodon 'dem weihe gefielen die worte wol' 639 ;
me pone wcelrccs wine Scildunga feettan golde fela leonode 'mir
lohnte diesen kämpf der fürst derS. mit viel gold' (me hervorgehoben
im gegensatz zu Grendel) 2101; llgydum forbom bord 'durch die
feuerwogen (die eben erwähnt sind) verbrannte der schild' 2672;
cet pöem ade wces epgesfjne swätfäh syree 'auf dem Scheiterhaufen
war leicht sichtbar der blutbefleckte panzer' 1110.
RIES DIE WORTSTELLUNG IM HEOWULF 73
In diesem Zusammenhang ist nun auch die erscheiuung zu
erwähnen, welche Ries elwas grofsartig als das gesetz vom
satzauftact bezeichnet (vgl. namentlich s. 73). es ist damit
die tatsache gemeint, dass nicht seilen vor dem ersten worte des
satzes schwachbetonte Wörter erscheinen, welche sich an dasselbe
proklitisch anlegen, dahin gehören, wenn man die unabhängigen
salze allein berücksichtigt, vor allen dingen die Wörter von ana-
phorischer oder sonst satzverbindender bedeutung. nicht in be-
tracht kommeu natürlich die Wörter, welche sich zu Wörtern in
beliebiger satzstelle proklitisch verhalten, wie zb. der artikel, die
Präpositionen, die mit einem verbum verschmelzende negation,
gewisse adverbien (so namentlich steigernde). Ries hat den
gegenständ nicht erschöpfend behandelt, wenn dies in Zukunft
geschieht, wird man in einer beziehung anders verfahren müssen
als Ries es getan hat. man wird nämlich, da die zweite halbzeile
strengere metrische anforderungen stellt und also sich von der
spräche der prosa weiter entfernt, nicht von dieser, sondern von
der ersten halbzeile auszugehn haben, tut man das, so zeigt
sich bei einigen formen des anaphorischen substantivischen pro-
nomens und bei pä, die ich beispielshalber herausgreife, folgendes
ergebnis. htne steht im anfang der zweiten halbzeile 1 1 mal
tonlos, im anlang der ersten in hyne pa mid handa heoro dreo-
rigne 2720, also in einer hebung; him 23 mal schwach in der
zweiten halbzeile, in der ersten schwach 1192. 2903. 3047, wol
auch 312. 340, dagegen in der hebung in him se yldesta ondswarode
258 und him da gegiredon Geata leode 3137. fiä ist 37 mal
schwach betont in der zweiten halbzeile, in der ersten schwach
betont in da him Hrödgär gewüt 662, ebenso 74. 86. 229. 642.
710. 771. 980. 991. 2131. 2312. 2472. 2484. 2752. 2773.
3169, wol auch 64. 491. 1050. 1399. 1677. 2324.2561.2688,
endlich 1600 und 1644, wo auch com mit in der Senkung steht,
dagegen steht pä in der hebung in pä wces be mceste merehragla
sum 1905, ebenso 47. 53. 126. 128. 415. 544. 607. 837.
1095. 1288. 1629. 1647. 1866. 1884. 1896. 2860. 2982. da-
nach dürfte zu schliefen sein , dass auch in der gleichzeitigen
prosa die genannten Wörter sowol stark als schwach betont
werden konnten, es fragt sich, wie dieser zustand historisch
erklärt werden kann, nach meiner ansieht ist sicher, dass schwach-
betonter satzanfang in der indogermanischen grundsprache nicht
vorkam, denn, abgesehen vom griechischen und lateinischen, auf
das ich hier nicht eingehn will, das alliudische beginnt keinen
satz mit einem schwachbetonten worte. auch das urgermanische
dürfte die erscheinung, von der wir reden, nicht gekannt haben,
da das gotische sie, soviel ich sehe, nicht zeigt, wenn dort
panuh 'dann' stets an erster stelle, pan aber stets an späterer
steht, so kann ich das nur so verstehn, dass^on schwach betont
war, und daraus weiter den schluss ziehen, dass Wörter wie jaht
74 KIES DIE WORTSTELLUNG IM BEOWULF
ip usw. und die satzeinleilenden conjunctionen stark betont
waren, die schwachlonigkeil muss sich also wol später ein-
gestellt haben, und es ist anzunehmen, dass wir das angel-
sächsische des Beowulf auf dem Übergang von der alten stark-
lonigkeit zu der neuen schwachlonigkeil antreffen, für einen
solchen Übergang gibt es bekanntlich mancherlei analoga, so zb.
die Vorgänge bei den präposilionen (s. meine Vgl. synt. III 108).
Ries denkt sich den Vorgang älter, wenn ich seine ausführungen
s. 313 richtig versteh. darin würde ich ihm nach dem ge-
sagten nicht beistimmen künnen. verhält es sich so, wie ich
meine, so fallen also die sehr häufigen Wendungen wie pä
was uä. ursprünglich unter das oben besprochne gesetz, dass
schwachbetonte Wörter wie wees von dem starkbetonten anfangs-
wort angezogen werden.
Es bleibt nun noch eine cardiualfrage übrig, nämlich die
Stellung des verbums im abhängigen salze. Ries zeigt,
dass im Beowulf im wesentlichen die Stellung herscht, die wir
aus dem neuhochdeutschen kennen, denn von 639 in betracht
kommenden salzen haben 551, das sind 86,2%, die sog. alte
Stellung, di. die endstellung oder die (viel seltenere) mittel-
stellung; nur 88, di. 13,8%» d'e contactstelluug (vgl. Ries
s. 273 fl). aber auch bei vielen von diesen lässt sich ein be-
sonderer grund für die wähl der besonderen Stellung finden,
oft ligt es so, dass der sinn und das metrum eine teilung des
satzes begünstigten, so dass es nahe lag, den satz zunächst mit
dem verbum abzuschliefsen und dann noch etwas nachzuliefern,
so zb. pone god sende folee tö fröfre 'welchen Gott sante dem
volke zum treste' 13; pä>r Hrddgär scet eald ond unhär mid his
eorla gedriht 'wo H. safs alt und grau mit der schaar seiner
edlen' 356; od-peet öper com geär in geardas 'bis ein andres kam,
ein jähr in die häuser' 1134. es kann auch ein andres wort als
ein verbum den vers abschliefsen, zb. nympe llges fapm swulge
on swapule 'wenn nicht die umarmung der flamme sie verschlänge
im qualm' 781. auch die nicht am satzende stehnden hilfs-
verba stehn zum bei weitem grösten teile am ende einer halb-
zeile, in einigen fällen ist ein nomen hinter das verbum gerückt,
weil es noch einen anhang hat, so ncefne he wees mära ponne
änig man öder 'aufser dass er gröfser war als irgend ein andrer
mann' 1353, vgl. 1560; ic pat gehöre pcBt pis is hold weorod
frean Scyldinga 'ich höre, dass dieses volk dem herrn der S.
untertänig ist' 290, vgl. 388. keinen rechten grund für die un-
gewöhnliche Stellung weifs ich anzugeben 77. 1475. 2002. 2135.
bei den modalverben scheint man gern das verbum von dem
infinitiv zu trennen, zb. se-de wyle söd sprecan 'wer die Wahrheit
sprechen will' 2864; %oä bid peem-pe sceal purh slidne nid säwle
bescüfan in fyres feepm 'weh geschieht dem, der in gefähr-
licher bosheit die seele in des feuers schofs stofsen soll' 183.
RIES DIE \YOKTSTELLU;SG IM BEOWULF 75
da nun ferner die mittelslellung des verbums, wie oben gezeigt
ist, meist in der länge der sätze ihren grund hat, so lässt sich
behaupten, dass das verbum im abhängigen satz am ende sieht,
wenn nicht besondre gründe metrischer oder architektonischer
art hindernd dazwischen treten, was mag der grund dafür sein?
auf diese frage sucht Ries s. 273 ff die antwort, bat sie aber
nicht gefunden, er argumentiert so: nebensälze haben der natur
der sache nach häufiger ein pronominales, also schwach betontes
subject, als hauptsätze; aufserdem sind die Wörter, mit denen
die nebensätze beginnen (relativa, conjunctionen) schwach be-
tont: die nebensälze haben also eine Vorliebe für schwachtonigen
salzeingang. nun beruht aber im hauptsätze die conlactstellung
des verbums im letzten gründe auf dem umstände, dass es von
dem starkbetonten satzeingang angezogen wurde, also ist es ganz
natürlich, dass es im nebensätze überwiegend am ende verblieb,
der vf. sucht dann durch umständliche berechnungen festzustellen,
wie stark die oben genannten tatsachen im vergleich mit den
zuständen im hauptsätze gewürkt haben mögen, das ergebnis ist
aber nicht so durchschlagend, wie zu wünschen wäre, weil die
hauptsätze ja auch oft schwachtonigen anfang haben, es ist nicht
nötig, hier auf die details einzugehu, weil ich, wie der leser aus
den oben vorgetragenen darlegungen weifs, gegen das Fundament
der Riesschen beweisfiihrung einen einwand vorzubringen habe,
ich glaube nicht, dass (um von den pronomina zu schweigen)
die relativa und conjunctionen in älterer zeit schwachbetont
gewesen sind, man kann also von ihrer zur zeit des Beowulf
teilweise vorhandenen schwachbetontheit nicht eine Stellungs-
gewohnheit des verbums herleiten, welche doch sicher älter war
als der Beowulf. in der tat muss man meiner ansieht nach, um die
endstellung des verbums in germanischen nebensätzen zu erklären,
auf viel ältere zustände zurückgreifen, nämlich auf die indo-
germanischen beton ungs Verhältnisse, das verbum des altindischen
trägt im nebensalze den acceut, während es im hauptsätze un-
accentuiert ist. damit sind wahrscheinlich Verhältnisse zur
schriftlichen fixieruug gelangt, welche schon in der grundsprache
vorbanden waren und in das germanische übergiengen. das verbum
des nebensatzes war stärker betont als das des bauptsatzes und
konnte deshalb nicht wie dieses von dem satzanfang angezogen
werden.
Es ist hier nicht der ort zu zeigen , dass das gotische
und altnordische der vorgetragenen ansieht keine Schwierigkeiten
bereiten, weil dies in der hier erforderlichen kürze nicht ge-
schehen kann, dagegen mag versucht werden, zu zeigen, wie sich
das über die Stellung des angelsächsischen v er bums
ermittelte in indogermanischer beleuchtung aus-
nimmt, wir können als ergebnis der vergleichung der ein-
zelnen sprachen etwa folgende hypothese für die grundsprache
76 RIES DIE WORTSTELLUNG IM BEOWULF
aufstellen, der einfache unabhängige satz als rhythmische reihe
betrachtet begann mit einem hohen (bez. starken) ton, dann
folgte der tiefste, darauf ein ton, der zwar hoch aber doch
niedriger war als der erste, und von da gieng es abwärts, aber
nicht bis zur tiefe der zweiten stelle, der schluss der reihe
hatte also im vergleich zur zweiten stelle (der ersten Senkung)
mittlere betonung. als grammatische reihe betrachtet begann der
satz mit dem subject, dann folgten die enklitischen Wörter, darauf
die übrigen nominalen beslaudteile, den schluss bildete das verbum.
sollte ein wort um seiner Wichtigkeit willen besonders hervor-
gehoben werden, so rückte es weiter nach vorn, auf diese weise
konnten occasionell andre Wörter als das subject in die hauptton-
stelle kommen, so auch das verbum. im nebensatz war die
Stellung dieselbe, aber die betonung des verbums eine andre,
ich habe sie als schwebend bezeichnet, weil ich für wahrscheinlich
halte, dass sie sich im voranstehnden nebensatz entwickelt hat,
dessen ende gehoben wird, diese satztypen wurden von den
Germanen mitgebracht und erhielten sich in allem wesentlichen,
die einzige erhebliche änderung ist die, dass man im hauptsatz
sich immer mehr gewöhnte, das verbum an das subject an-
zuschliefsen. wahrscheinlich begann diese bewegung bei den
hilfsverben, deren geläufigste formen der anziehung durch die
erste haupttonstelle umso mehr ausgesetzt waren, je körperloser
sie infolge ihrer lautlichen enlwicklung wurden, das verbum des
nebensa-tzes war wegen seiner besonderen betonung dieser an-
ziehung nicht ausgesetzt.
Zum schluss sei zunächst hervorgehoben, dass nicht alle,
sondern nur die wichtigsten ergebnisse der besprochenen schrift
in dieser anzeige erwähnt worden sind, manches freilich, was
der leser vielleicht erwartete, konnte darum nicht behandelt
werden, weil es bei Ries fehlt, so zb. die Stellung des adjectivums
im Verhältnis zu seinem substantivum, die präposition im Ver-
hältnis zu ihrem casus, man darf wol hoffen, dass diese partieen
gelegentlich nachgeliefert werden, sodann gestatte man mir noch
eine allgemeine bemerkung. wenn ich bisweilen angedeutet habe,
dass eine stärkere berücksichtigung der Sprachvergleichung dem
buche zum vorteil gereicht hätte, so war damit weniger ein
tadel als eine Charakteristik beabsichtigt, die summe dessen, was
auf dem grammatischen gebiete gewust wird oder gewust werden
kann, ist so grofs, dass ein einzelner schwerlich alles umspannen
kann, wie ein indogermanist stets darauf gefasst sein muss, von
den specialkennern eines bessern belehrt zu werden, so wird
auch der detailforscher sich nicht wundern dürfen, wenn die
sprachvergleicher den von ihm gesammelten sloff nach ihren
eignen gesichtspuncten zurechtrücken.
Jena, juli 1907. B. Delbrück.
BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER N1BELUNGENSAGK 77
Untersuchungen über den Ursprung und die entwicklung der Nibelungen-
sage, von R. C. Boer. erster band. Halle aS., vertag der buch-
handlung des Waisenhauses, 1906. vn und 280 ss. 8°. — 8 m.
Das vorliegende buch besteht aus zwei teilen; der erste ist
eine etwas erweiterte und hier und da berichtigte Sonderausgabe
der Studien, die der vf. im 37 und 38 band der Zs. f. d. ph. hat
erscheinen lassen, der andre bietet reconstructionen von texten,
die er durch die krilik der nordischen Überlieferung und der
Thidrekssaga gewonnen hat. diese texte, besonders die beiden
darstellungen der Niflungasaga, auf deren Verbindung nach seiner
ansieht die Thidrekssaga beruht, sollen die Übersichtlichkeit för-
dern, 'die in einer abhandlung über einen so vielgestaltigen Stoff
nur angestrebt, niemals erreicht werden kann', der schwerpunet
der arbeit ligt in der abhandlung. 'die fragen, die darin zur
spräche kommen', urteilt der vf. mit recht, 'sind von solcher be-
deutung und die resultate von den hersebenden ansichten so sehr
abweichend, dass mir daran gelegen sein muste, die krilik zur
prüf'ung der methode und der resultate aufzufordern', indem
ich dieser aufforderung folge, muss ich zuvor bemerken, dass
eine erörterung der zahllosen neuen ansichten die der vf. auf-
stellt, im rahmen einer recension nicht möglich ist. ich be-
schränke mich also auf die betrachtung der Siegfriedssage, die
auch in der arbeit des vf.s den gröfsern räum in anspruch nimmt,
und versuche zunächst die Hauptergebnisse der verwickelten und
nicht eben übersichtlich geführten Untersuchung darzulegen, ich
hoffe damit nicht nur dem bedürfnis des lesers zu entsprechen,
sondern auch dem vf. am besten gerecht zu werden.
Boer sieht in den sagen von Siegfrieds tod und dem unter-
gang der Nibelunge nur Variationen desselben themas : schatzgier
veranlasst den mord des Schwagers, in der Siegfriedssage wurde
das thema au Hagen, seiner Schwester und Siegfried exemplifi-
ciert, in der Nibelungensage an Hagen, seiner Schwester und
einem könige, der später den namen Etzels erhielt. Günther
kam ursprüuglich weder in der einen noch in der andern sage
vor. er wurde aus der burgundischen geschichte aufgenommen,
zunächst in die Nibelungensage, dann aus ihr in die Siegfrieds-
sage, ursprünglich war die Nibelungensage ebensowenig histo-
risch, wie die Siegfriedssage mythisch.
Den kern der Siegfriedssage bildet der mord des beiden,
was ihm vorangeht, die erzählung von seiner geburt, sein kämpf
mit dem drachen, die erlösung der Sigrdrifa-Brynhild, ihre er-
werbung für Günther ist später teils frei erfunden, teils anders-
woher entlehnt, frei erfunden ist die erste tat Siegfrieds, man
fragte, woher der schätz, den der schwager ihm raubt, stamme,
und fand darauf eine doppelte antwort. allgemein bekannte
motive benutzend nahm man entweder an, dass er ihn einem
drachen abgerungen oder dass er ihn zwergen abgenommen habe.
78 BOER URSPRL'.NG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE
so ergab sich einerseits der kämpf mit dem drachen, wie ihn die
nordische Überlieferung und die Thidrekssaga erzählen, anderseits
die geschichte von den brüdern Schilbung und Nibelung, die wir
aus einer episode des Nibelungenliedes kennen. — die drachen-
sage führte zu einer neuen erfindung. man fragte : wie konnte
Siegfried den harten drachen überwinden? dazu bedurfte er eines
besonders guten Schwertes, nur der meister aller schmiede konnte
es liefern, so ergab sich die geschichte von Siegfrieds aufenthalt
bei Mime in der Ths. eine andre form ergab sich im norden
durch die einwürkung der Helgisage. aus ihr nahm man den
erzieher Regin auf. dass dieser Regin schmied ist, erklärt sich
daraus, dass die rolle Mimes auf ihu übertragen wurde; dass er
zwerg und dennoch bruder eines drachen ist, aus der einwürkung
der nibelungischen zwergensage.
Die beziehungen Siegfrieds zur Sigrdrifa-Bryuhild beruhen
darauf, dass ein altes märchen, eine erlösungssage, auf den helden
übertragen ist. er ist das glückskind, das dazu berufen ist, eine
im zauberschlaf ruhende Jungfrau zu befreien und zum weibe zu
gewinnen, in zwei verschiedenen formen ist das märchen mit
Siegfried verknüpft1, das eine mal ist es ein zauberkleid, das
den Schlummer bewürkt (märchen von der eingenähten Jungfrau.
KHM. 111). der zauber wird dadurch gehoben, dass das kleid
fortgenommen wird.- diese form ligt den Sigrdrifu-mql zu-
grunde, man fasste das kleid als einen panzer auf und daraus
ergab sich alles andre, man fragte : 'warum trug die Jungfrau
einen panzer? antwort : weil sie eine walküre war. frage : wie
konnte eine walküre in zauberschlaf versenkt werden? antwort:
weil Odinn ihr zürnte, frage : warum zürnte ihr Odinn? antwort:
weil sie seinem befehl nicht gehorcht hatte, frage (sehr jung):
durch welches mittel versenkte Odinn die walküre in den schlaf?
antwort : durch einen schlafdorn' (s. 19). so war die geschichte
fertig; nur ein moment fehlte noch, zu dem apparat der er-
lösungsmärchen gehört ein hinderuis, das sich dem entgegenstellt,
der es wagt, der verzauberten Jungfrau zu nahen, die hinder-
nisse sind bei demselben grundtypus nicht immer dieselben, der
nordische sagendichter griff zum vafrlogi, der in Skandinavien
auch in andern erzählungen begegnet, namentlich in den Svip-
dagsmq'l. 'auf welche sinnliche anschauung der flammenwall
zurückgeht, wird sich vielleicht mit Sicherheit nicht entscheiden
lassen, da er nur im norden begegnet, wird man wol an eine
nordische naturerscheinung denken müssen, und es ligt nahe in
ihm das nordlicht zu erkennen'.
Eine andre form der erlösungssage wurde in Deutschland
mit Siegfried verbunden, das hindernis, das sich dem befreier
entgegenstellt, bildet wasser; daher haust Brünhild in der Ths.
1 eine dritte, die der vf. s. 31 für das Siegfriedslied in anspruch
nimmt, iibergeh ich.
BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUX; DIR NIBELUNGENSAGE 79
auf Sepgard (= Stromberg I KI1M. 93); oder gefrornes wasser,
daher heifst ihre bürg im Nibelungenlied Isenstein (di. eisslein =
kristall = glasbergl KEIM. 93) und daroacb ihr land dann weiter
Island, die erlösung erfolgt durch das 'namentabuinotiv' (s. 2S):
'der Dame des hehlen ist das Zauberwort, das die Jungfrau er-
löst', freilich inuss der vf. zugeben, dass in der deutschen Über-
lieferung der name so nicht gehraucht wird, überhaupt in ihr
von einer erlösung nicht die rede ist. aber das seien äuderungen,
die durch die jüngere entwicklung der sage hervorgerufen seien
(25 f). dass der held einst den Zauber durch die nennung seines
namens gehrochen habe, zeige die Ths., wo Siegfried, als er den
saal der Brünhild betritt, seinen namen nennt, und seihst das M.
enthalte in str. 419 noch 'eine deutliche reminiscenz", indem
Brünhild hei der ankunft der hehlen in Island Siegfried vor allen
andern mit den Worten 'sü toillekomen her Sifrit' begrüfst.
aus Deutschland sei dann das namentabumotiv io die nordische
dichtung hinübergenommen, und die Sigrdrifumc'l böten 'ein
directes Zeugnis' dafür, dass es uicht Brünhild, sondern Siegfried
war, der seinen namen mitteilte, dort ist die erste frage der
erwachenden Jungfrau, wer ihr erlöser sei. und er antwortet:
Sigmuudar burr, sleit fyr skommu hrafns hrvelundir hjorr
Sigurüar.
Aus der Verbindung Siegfrieds mit dem märchen leitet der
vf. ferner her, was die sage vou seiner abkuuft zu erzählen weifs.
denn 'die herkunft des glückskindes ist unbekannt, in den
märchen sind es verstofsene königssühne oder kinder armer
eitern, die die prinzessiu erlösen, eine besondre bewantnis hat
es mit ihnen ausnahmslos' (s. 23). was die sage von Siegfried
berichtet, beruhe, abgesehen davon, dass er der söhn Siegmunds
ist, auf jüngerer erfindung. über die angaben der nordischen
Überlieferung, dass Siegfried als söhn einer kriegsgefangeneu im
reiche Alfs geboren wurde, spricht sich der vf. nicht aus. den
bericht der Ths. erklärt er folgendermafsen (s. 26). das gefähr-
liche wasser, das die bürg umgab, wurde als die weite Wasser-
fläche aufgefasst, über die ein relter aus der ferne herbeikommt,
das veranlasste die anknüpfung des Scßafmotivs (Sceaf, Wieland,
Lohengrin uva.), zumal Sceaf wie Siegfried als ganz kleiner knabe
ankommt, als kleiner knabe! 'also, folgerte man, war es seine
multer, die ihn ins wasser hinaussliefs. weshalb tat sie das?
sie war doch keine böse frau? — sie tat es in der höchsten
not, als sie im wähle in der einsamkeit ihr kind zur weit ge-
bracht halte und selbst schon dem tode verfallen war' (s. 27).
hieraus soll sich zugleich ergeben, dass die unfreiwillige wasser-
fahrt und die erlösung der Jungfrau einst unmittelbar aufeinander
folgten, der aufenthalt bei Mime sei dazwischen geschoben.
Es folgt der dritte abschnitt in Siegfrieds leben, seine Ver-
bindung mit den Giukungen und seine Werbung für Günther.
80 BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELU.NGENSAGE
die Verbindung mit den Giukungen ist alt und gehört zum kern
der sage, die Werbung wurde erfunden, um Siegfrieds unklares
Verhältnis zu zwei frauen aus dem wege zu räumen (s. 34). nach
der alten sage war er der gatte der Schwester Hageus, nach dem
erlösuugsmärchen gatte oder Verlobter der Brünhild. anfänglich
wurde der Widerspruch wol wenig gefühlt, aber als die hetero-
genen elemente als teile einer zusammenhängenden erzählung
miteinander in Verbindung gesetzt wurden, muste das doppelte
Verhältnis 'hinweg interpretiert' werden, man liefs Siegfried nach
wie vor eine braut vom felsen holen, aber nicht für sich, sondern
für einen andern, es geschah das eben zu der zeit, da durch
die Verbindung der Siegfriedssage mit den Burgundeu könig Günther
neben den alten beiden Hagen getreten war. für ihn muste eine
rolle gefunden werden, das geschah, indem man ihn zum ge-
niahl der Brünhild machte, so war beiden geholfen, Siegfried
und Günther.
In der art, wie die Werbung ausgeführt wird, hat die sage
verschiedene wege eingeschlagen, zunächst finden wir zwei dar-
stellungen, in der Ths. c. 227 und in der Sigurdarkvida en
skamma, in denen Siegfried die verlobte, ohne sie durch den
gestaltentausch zu trügen, einfach seinem freunde abtritt, in der
Ths. wird vorausgesetzt, dass Brünhild die Vermählung Siegfrieds
mit Gudrun bereits erfahren hat. sie empfängt ihn daher, als
er mit den andern helden nach Seegard kommt, unfreundlich,
lässt sich aber in einer Unterredung durch ihn bestimmen,
Günthers frau zu werden, weder von einem hindernis, das den
Zugang zur Brünhild versperrte, ist die rede — die erlösung
hat ja auch schon stattgefunden — noch bedarf es des gestalten-
tausches1. — in diesen wichtigen Voraussetzungen stimmt die
Sgkv. sk. mit der Ths. überein. in andern weicht sie ab. auf
specifisch nordischer erfindung beruht es, dass Brünhild als
Schwester Atlis angesehen wird und dass die werber — es sind
deren drei, Gunnarr, Hogni und Sigurd — sich zuerst an ihn
wenden, den frühern besuch Siegfrieds bei Brünhild ignorierte
der dichter, obgleich die S3ge der er folgt ihn voraussetzt und
einzelne Wendungen beweisen, dass er ihn kannte (s. 41). Brün-
hild verspricht sich dem könige, der mit dem golde auf Granis
rücken säfse. ungehindert, in seiner eignen gestalt, reitet
er zu ihr hinauf, und willig teilt sie mit ihm das lager. aber er
vollzieht den beischlaf nicht und tritt sie am folgenden
tage verabredetermafsen an Guuuar ab (s. 38). ein
betrug also hat auch hier nicht stattgefunden, als motiv für die
weitere entwicklung bleibt nur der schmerz der Brünhild, den
mann nicht zu besitzen, der um sie gefreit hat.
1 die seene im ehegemach (Ths. c. 22Sf) führt Boer auf eine andre
quelle zurück; s. 37 anm. 137.
BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE 81
Andre darstellungen lassen Brünhild durch betrug zu Günthers
weihe werden, aus der Volsunga saga lernen wir ein lied kenneu
— als Sigurdarkvida en ineiri bezeichnet es der vf. — , das
Siegfrieds ersten und zweiten besuch, erlösung (?) und Werbung
miteinander verband und folgendes erzählte: Siegfried findet
Brünhild in der nähe von Heimes hof in einem prunkvollen turm-
gemach, obwol sie sonst niäunern den zutritt versagt, empfängt
sie ihn zuvorkommend, reicht ihm den becher zum willkommen
und verlobt sich mit ihm. uud doch sieht sie ihr geschick
voraus und prophezeit Siegfried, dass er sich mit Gudrun ver-
mählen werde, was sie gefürchtet, geschieht, der llammenwall
hält zwar jeden aufser Siegfried fern; aber der kehrt in Günthers
gestalt wider uud gewinnt sie für diesen. Brünhild ahnt, dass sie
betrogen ist. lauge brütet sie über ihren schmerz, als Gudrun
sie eines tages nach ihrem kummer fragt, bricht er aus. sie
weifs alles: dass Grimhild dem Siegfried einen vergessenheitstruuk
gereicht hat und dass er es gewesen ist, der den llammenwall
durchritten und sie zum weibe eines andern gemacht hat (s. 49 f).
der schmerz um die verlorne liebe war für das folgende das
treibende motiv. der streit der königinnen kam in dieser Version
der sage nicht vor. aus der deutschen Überlieferung ist diese
sagenform nicht zu belegen, doch wird sie als notwendige
Zwischenstufe zwischen Ths. c. 227 und Nibl. vorausgesetzt, und
dass sie aus Deutschland in den norden übertragen ist, beweist
die figur Heimes (s. 55). die waberlohe habe der nordische
dichter an die stelle des wassers gesetzt, dass er sie nur bei dem
zweiten besuch erwähnt, obwol er sie sich als bleibendes hindernis
vorstelle, sei eine incongruenz, die sich leicht ergeben konnte,
da das hindernis, wasser oder flamme, nur an der zweiten stelle
gebraucht wurde.
Ein neuer schritt in der gestaltung der sage war, dass man
die erlösung als selbständigen teil der erzählung ganz fallen liefs,
erlösung und Werbung in eins zusammenzog. Siegfried kommt
mit Gibichs söhnen zur bürg der Brünhild. nie vorher hat er
sie gesehen, in G.untbers gestalt befreit er sie von den fesseln
des zauberschlafs, ruht keusch an ihrer seite und überliefert sie
Günther, erst durch den streit mit Gudrun erfährt sie, dass sie
hintergangen ist (s. 46 ff), diese sage setzt ein jüngeres Eddalied,
die Helreid Brynhildar, voraus, sie stammt aber, trotz des vafrlogi,
aus Deutschland und hat sich hier weiter entwickelt. — diese
jüngere deutsche entwicklung leitet der vf. aus der 'folgeschweren
änderung der localität' her. dadurch dass man den sitz der
Brünhild nach Island verlegt hatte, war an die stelle des glas-
berges, den nur ein einziger held zu ersteigen vermag, das Welt-
meer getreten, 'die reise von Worms nach Island liefs sich un-
möglich als eine solche darstellen, die nur Siegfried vollbringen
konnte, also musten die drei genossen die fahrt gemeinschaftlich
A. F. D. A. XXXI. 6
82 BOER URSPRUiSG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE
machen, und daraus folgte, dass nun auch Günther und Hagen
Zugang zu Brünhilds hurg haben' |(s. 47). das hindernis das
ursprünglich dem glückskinde im wege stand, war kein hindernis
mehr, ein neues muste ersonnen werden : Brünhild will Jungfrau
bleiben, nur Siegfried war im stände ihr das magdtum zu
nehmen und damit ihre kraft zu brechen 1. die jüngste neuerung
sind die kampfspiele, vielleicht ist sie erst im Nibl. vorgenommen,
auf keinen fall viel älter, die epische ausbildung der sage, meint
der vf., verlangte die Verlegung der hochzeit nach Worms, 'nun
aber staud man vor einer neuen Schwierigkeit: wenn Brünhild
nicht Günthers frau werden wollte, weshalb liefs sie sich dann
bewegen, ihm nach Worms zu folgen, ein neues motiv wurde
eingeführt, um auf diese frage die antwort nicht schuldig zu
bleiben, die kampfspiele, in Island muss Brünhild besiegt werden,
wenn nicht durch den raub ihrer jungfrauschaft, dann im kämpf.
Noch ein an. gedieht ist zu erwähnen, dessen ende im
Brot erhalten ist, dessen anfang wir nur aus der contamination
der Vqlsuugasaga kennen, der vf. nennt es Sgkv. eu yogri2.
in ihm sind verschiedne Versionen zusammengeflossen, die haupt-
quelle des dichters war die Sgkv. sk., sie ligt von anfang bis zu
ende seiner darstellung zu gründe, danebeu aber hat er die Sgkv.
en meiri und ein deutsches gedieht, das schon die jüngste ent-
wicklungsstufe darstellte, benutzt, einiges hat er selbst erfunden
(s. 82). im gefolge Atlis ist der vater Budli eingezogen (s. 54 f).
zu ihm kommen die Giukunge mit heeresmacht und drohen mit
krieg, wenn ihnen nicht Brünhild gegeben werde, vom vater
gedrängt, willigt sie ein, dessen weib zu werden, der ihren
flammenwall durchritte, gestaltentausch und flammenritt, die in
der Sgkv. sk. fehlen (s. 41), werden im anschluss an die Sgkv.
meiri erzählt, doch erscheint der vafrlogi nicht mehr als natür-
liche Umgebung der Jungfrau, sondern als eine maschinerie, die
sie anwenden kann, wann sie will, und der flammenritt nicht
mehr als eine tat, die zur erlösung führt, sondern als eine mut-
probe. dann wendet sich das lied zu der deutschen quelle, er-
zählt nach ihr den streit der küniginuen und lässt Brünhild, um
Günther zu reizen, behaupten, Siegfried habe ihr das magdtum
genommen, obwol er vorher in Übereinstimmung mit der Sgkv.
sk. an dem keuschen beilager festgehalten hatte. Brünhild greift
also, um ihre räche zu befriedigen, zu einer Verleumdung (81). —
Das sind die ergebnisse, zu denen der vf. durch seine Unter-
suchungen der Siegfriedssage geführt ist. zustimmen kann ich
ihnen nur in wenigen puneten. ich finde, offen gesagt, dass es
dem vf. an einem für sage und poesie empfänglichen sinn fehlt.
1 ob ich hiermit die gedanken des vf.s richtig getroffen habe, weifs
ich nicht, seine darstellung ist mir unverständlich.
2 hierzu rechnet der vf. (s. 42. 64 f ) Vols. c. 26, 36—58. 27, 1—4.
20-46. 56—66. 28, 1—16. 29, 5—48. 144—151. Brot.
BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE 83
nicht nur in der beurteilung des überlieferten tritt dieser mangel
hervor, mehr uoch in den eignen, seltsam ausgeklügelten con-
structionen. er verflüchtigt die anschaulichen gebilde der sage
zu wesenlosen ahstraclionen und sucht in ihnen den Ursprung
der sage, er folgt gar zu sehr dem hang, dinge aus dem über-
lieferten, guten Zusammenhang zu reifsen und willkürlich mit
andern zu combinieren. er verkennt oder berücksichtigt zu wenig
den in der geschichte der sage und namentlich in der Ths. stark
hervortretenden zug, das wunderbare auszuscheiden und zu einer
glaubhaften geschichte umzugestalten (vgl. den prolog zur Ths.).
ob ich mit diesen ausstellungen recht habe, muss die er fahrung
lehren, der vf. wird meine angehauungen, die dem herkömm-
lichen sehr viel näher bleiben, vermutlich für antiquiert und für
ebenso verfehlt halten, wie ich die seinen.
Ich gebe dem vf. zu, dass die taten, die von Siegfried ge-
meldet werden, keine alte einheitliche sage bilden, ebensowenig
wie die taten des Hercules, sie hatten keinen andern Zusammen-
hang als die person des hehlen und sind auch in unsrer poetischen
Überlieferung zum teil nur ganz lose verbunden, aber dass der
kämpf mit dem drachen erfunden sei, um zu erklären, dass
Siegfried einen schätz besitzt, dass die erlösung der Sigrdrifa,
ein willkürlich auf Siegfried übertragenes märchen sei, und dass
gar die werbungssage aus dem verlangen entsprungen sei, Sieg-
fried von seiner braut zu befreien und Günther zu einem weihe
zu verhelfen, das glaub ich nimmer.
Die erste heldentat Siegfrieds ist die erlegung des drachen.
die sage geht von der Voraussetzung aus, dass der held ohne
den schütz der eitern in fremder Umgebung aufwächst, was die
Ths. und VqIs. einleitend von seiner gehurt erzählen, ist, wie wol
allgemein angenommen wird, später erfunden, um diese Voraus-
setzung zu erklären, die Sisibegeschichte der Ths. ist aus ver-
schiednen elementen frei combiniert, der bericht der VqIs. ist
aus ihrer darstellung selbst leicht als eine jüngere Schicht zu
erkennen, sie gerät durch die angäbe, dass die mutter als ge-
mahliu könig Alfs am leben bleibt, bis Siegfried herangewachsen
ist, mit sich selbst in Widerspruch, hat aber insofern an der alten
sage festgehalten, als sie den jungen helden in das reich Alfs,
in das zwergenreich versetzt, die annähme des vf.s, dass diese
einleitung der sage ursprünglich zu dem erlüsungsmärchen gehört
habe, würde selbst dann unhaltbar sein, wenn dies märchen auf
Siegfried übertragen wäre, der held des erlösungsmärchens ist
kein unmündiges kind, sondern ein mannbarer Jüngling.
Ebenso unhaltbar ist es, dass der vf. für den Regiu der
nordischen sage einen andern Ursprung annimmt als für den
Mime der Ths., und wider einen andern für die sage von INibelunc
und Schilbunc. alle drei Überlieferungen bezeichnen vielmehr
verschiedne stufen in der eutwicklung derselben alten sage, der
84 BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE
vf. leitet Regin aus der Helgisage her, lässt ihn unter dem ein-
fluss Mimes zum schmiede, unter dem einfluss der nibelungischen
zwergensage zum zwerge und hruder des drachen werden, er
sieht in der nordischen sage die jüngste form, das umgekehrte
ist richtig. Regin war ursprünglich der pfleger Siegfrieds,
nach seinem amt war er genannt, swalaud melis swe arbinumja
niuklahs ist, uf raginjam ist, heifst es Gal. 4, 1; das war die
läge Siegfrieds. Regin war von anfang an zwerg und schmied;
das schmieden ist zwergenarheit. diese rolle ist nicht von Mime
auf ihn übertragen, sondern umgekehrt: weil Regin dem helden
das schwert lieferte, dessen er in dem kämpf mit dem wurm
bedarf, ist in der Ths. der berühmte schmied Mime an seine
stelle gesetzt und damit zugleich der zwerg beseitigt, die sage
von Nibelunc und Schilbunc ist neben der von Regin und Fafnir
keineswegs als eine selbständige erfindung anzuerkennen; sie ist
eine Umbildung, die voraussetzt, dass man den schätz, den der
wurm hütet, mit dem Nibelungenhort identificiert hatte, die
fabelwesen , zwerg und drache, sind aufgegeben, der wesentliche
inhalt der sage aber doch festgehalten, wie Regin und Fafnir
sind Nibelunc und Schilbunc brüder, die um die erbschaft
streiten und von Siegfried mit dem Schwerte, das sie ihm ge-
geben haben, erschlagen werden, auch die Verbindung mit dem
zwergenreich ist bewahrt (Alberich).
Diese ganze, alte sage soll nun ersonnen sein, um zu er-
klären, dass Siegfried einen schätz besitze, wegen dessen er er-
schlagen werde, denn dass Hagen den schwager töte, weil er
seinen schätz begehre, das würden die quellen trotz der vielen
änderungen nicht müde zu sagen, wenn etwas feststehe, so sei
es dies (s. 7). ich finde gar nicht, dass die quellen dem schätz
solche bedeutung beimessen, die Ths. erwähnt ihn in der dar-
slellung der Siegfriedssage überhaupt nicht, im Nibelungenliede
kommt er in den aventiuren, die den mord erzählen, auch nicht
vor; nur vorher, wo Gere von seiner gesantschaft reich be-
schenkt heimkehrt, wird flüchtig darauf hingedeutet, dass Hagen
lüstern ist nach dem schätz, und selbst in der nordischen Über-
lieferung, die dem schätz besondre aufmerksamkeit widmet und
ihm eine lange geschichte ersonnen hat, erscheint er beim morde
nur als ein untergeordnetes nebenmotiv. ich halte es hiernach
für wahrscheinlich, dass für den mord Siegfrieds der schätz ur-
sprünglich gar nicht in betracht kam. sollte es aber der fall
gewesen sein, so würd ich dennoch entschieden bestreiten, dass
diesem motiv der dracheukampf entprossen sei. denn dass Sieg-
fried einen schätz erwirbt, erscheint in dieser sage gar nicht als
das wesentliche, in der nordischen sage nimmt er zwar zwei
kisten voll gold und kostbarkeiten mit, das übrige aber lässt er
liegen, wo er es gefunden halte, im Nibl. lässt er den schätz
wider in den berg tragen, im Siegfriedslied schüttet er ihn in
BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE 85
den Rhein, weil er ihm unmcere ist. die Ths. übergeht ihn
ganz mit stillschweigen, das alles wäre doch sehr merkwürdig,
wenn es der sage darauf angekommen wäre, Siegfried in den
besitz des Schatzes zu setzen, neiul die ursprüngliche sage nahm
an, dass Siegfried den schätz dem gierigen drachen entreifst,
aber nicht, weil er ihn für sich in anspruch nimmt, er macht
ihn freil und wie sollte die dichtung, wenn sie das vom vf.
bezeichnete ziel erstrebte, dazu gekommen sein, Siegfried schon
im unmündigen alter in die hui des zwerges zu geben? und wie
zu der annähme, dass er diesen büter seioer Jugend erschlägt?
Durch die constructionen des vf.s ist die sage wahrlich nicht
erklärt, wenn man die frage nach ihrem Ursprung nicht als
doch unlösbar fallen lassen will, so hat man ihn da zu suchen,
wo die älteren forscher ihn gesucht haben, die sage ist sym-
bolische darstellung eines naturvorgangs. Kuhu hat schon vor
zwei menschenaltern auf den indischen mythus von Vrilhras und
Indras hingewiesen und aus ihm Siegfrieds sieg über den drachen
hergeleitet, der zweifei, oh diese anknüpfung berechtigt ist, mag
begründet sein, ich will auch nicht behaupten (obschou ich es
durchaus nicht für unglaublich halte), dass die Siegfriedssage ein
mythos sei, wenn man darunter etwas versteht, was höchstes
alter hat und mit irgend welchem cult zusammenhängt, aber
daran zweifle ich nicht, dass sie symbolisch ist oder vielmehr
war. wann die Symbole geschaffen wurden, weifs ich nicht,
die fähigkeit hat dem dichtenden menschengeschlecht nie gefehlt,
und ein lied wie das von Svipdag, das gewiss nicht zu den
ältesten gehurt, zeigt, dass sie. auch noch in junger zeit geübt
wurde, in unsrer sage ist der ürache symbol des winters, der
zwerg symbol des dunkeis, Siegfried bezeichnet den lichten
sommer, sein schwert den Sonnenstrahl, in den dunkeln tagen
des winters wächst das junge jähr allmählich heran, wenn seine
zeit gekommen ist, tritt es siegreich hervor und bereitet dem
dunkel und der winterlichen kälte den Untergang, im symbol
gewinnen die abstractereu Vorstellungen gestalt und leben, sie
werden zu personen und trägern von handlungen. das schwert
ist symbol und der zwerg ist symbol, aber er ist 'nicht mehr
symbol, indem er das schwert schmiedet, der dichter geht vom
symbol aus, aber er bleibt nicht dabei stehn; eine blofse alle-
gorie ist die Siegfriedssage nicht, so ist auch nicht überall
sicher zu scheiden, was noch als symbol aufzufassen ist. es wäre
möglich, dass der schätz erst durch die verbreitete Vorstellung
schatzhütender drachen in die dichtung gekommen ist. wahr-
scheinlicher dünkt mich, dass er symbolisch als der schmuck der
natur zu verstehn ist, der sich entfallet, wenn die gute Jahres-
zeit gesiegt hat. für diese deulung spricht Siegfrieds verhalten,
dass er den schätz nicht für sich erwirbt, seine tat ist, dass er
die natur aus den banden des winters befreit, natürlich kanu
SG BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE
ein symbol auch umgedeutet und dadurch der ursprüngliche sinn
verschoben oder verdunkelt werden, wenn der drache symbol
des winters war, so ist er anderseits auch ein nahe liegendes
hild für den gewundenen lauf des flusses — scatent dracontes
fluminum heifst es irgendwo in den carm. Bur. — und die
Vorstellung des flusses, dessen lauf rückwärts zu den schätzen
führt, die im schofs der erde ruhen, scheint im schluss der
Fafnismol vorzuliegen.
Siegfrieds aufenthalt bei Hegin und sein kämpf mit Fafnir
bilden in unsrer Überlieferung eine wolgefügte, einbeilliche sage,
trotzdem ist es möglich, dass sie aus einer älteren, einfacheren
sage hervorgegangen ist. der kämpf kann älter sein als der
aufenthalt bei Regin. ich denke dabei nicht an den indischen
mythus, sondern an die bekannte stelle im Beowulf, wo als eine
heldentat Siegmunds nur der kämpf mit dem wurm und die er-
werbung des schalzes erwähnt wird, dass da dieselbe tat gemeint
ist, die Siegfried vollbringt, ist ja unzweifelhaft, ob sie vom
vater auf den söhn übertragen ist, wie Mogk annimmt, oder um-
gekehrt vom söhn auf den vater, wie Boer glauben möchte (s. 94),
lass ich dahingestellt, wahrscheinlicher als beide annahmen ist
vielleicht eine dritte, dass Siegmund und Siegfried dasselbe wesen
bezeichnen, obschon sie in der sage als zwei personen, als vater
und söhn gelteu l. —
Der zweite act in Siegfrieds leben ist die erlösung der
Sigrdrifa-Brüuhild. nach der meinung des vf.s wäre dieser teil
der sage daraus entstanden, dass zwei verschiedue, aber denselben
typus darstellende märchen auf Siegfried übertragen wären, wie
man sich das vorstellen soll, ob er meint, dass zwei leute un-
abhängig voneinander auf den einfall gekommen sein sollen —
das wäre gevvis unwahrscheinlich — oder ob ein jüngerer an
die stelle des älteren märchens ein andres ähnliches setzte,
darüber spricht er sich nicht aus. genug, an den anfang setzt
1 auffallend ist, dass es im Beowulf von dem tödlich getroffenen
drachen heifst : wynn hat gemealt, 'der wurm heifs zerschmolz', entspross
diese Wendung aus der symbolischen bedeutung des Schwertes? und hängt
damit zusammen, dass Siegfried in der Ths. den drachen nicht mit dem
schwert, sondern mit einem feuerbrand erschlägt? und ist die annähme,
dass er durch das bad im diachenblut eine hornhaut erhielt, vielleicht
durch eine allere veranlasst, dass er in dem geschmolzenen schuppenpanzer
badete? — jedesfalls ist das baden im blut erst ein jüngerer ersalz für das
bluttrinken und das herzessen der nordischen sage, und allgemein anerkannte,
auch von Boer geteilte ansieht ist, dass dies auf dem glauben beruht, man
eigne sich dadurch die kräfte des getöteten an. aber mit unrecht denkt
Boer dabei nur an die stärke des wurms. nicht darauf kam es an. was
den drachen vor allem auszeichnet, ist sein harter und undurchdringlicher
panzer. die unverwundbarkeit, die dem lichtgott als eine natürliche eigen-
schaft zukam, wurde von der sage als eine erworbene hingestellt, dem
Sammler der Eddalieder, der Siegfried auch Regins blut trinken lässt, scheint
der sinn nicht mehr deutlich gewesen zu sein, in der deutschen sage ist
der alte zug durch das versländlichere bad ersetzt.
BOER URSPRUNG Ü>'D ENTWICKLUNG DKU NIDELL'NGENSAGE 87
er zwei verschiedene erzählungen. das ziel beider war die er-
lösung einer im zauberschlaf ruhenden Jungfrau, in der einen
erlöst der lield sie dadurch, dass er das zauherkleid zerschneidet,
in der andern durch das namentahumoliv; dort haust sie auf
einem hohen berge, hier auf einer fernen insel; dort stellt sich
dem beiden die waberlobe als hindernis entgegen, hier das weite
meer. ich vermag von dieser doppelheil nichts wahrzunehmen,
von dem namentahumoliv kann überhaupt nicht die rede sein,
ebensowenig von einem hindernis, das der held zu überwinden
hatte, nirgends wird das wasser als solches angesehen, die
waberlobe wol später, wo Günther um Brünhild wirbt, aber
nicht bei diesem ersten besuch, die Verschiedenheit des locals
ist da, aber sie ist unwesentlich, nur darauf kam es an, die
Jungfrau dem menschlichen verkehr zu entrücken, ob man sie
auf einen hohen felsen oder auf eine entlegene insel setzte, war
gleichgültig, nicht auf zwei verschiednen marchen beruht unsre
Überlieferung, sondern auf einer sage, deren wunderbare und
rätselhafte Voraussetzungen die dichtung in menschlich-natürliche
Verhältnisse hinüber zu führen gesucht hat.
Drei darstellungen kommen in betracht: die Sigrdrifumöl,
die VqIss. c. 24 und die Tbs. dem ursprünglichsten am nächsten
sind die Sgdrm. gebliebeu, die einzige quelle, in der noch von
einer erlösung die rede ist. hier ligt die Jungfrau auf einsamem
felsen in einer schildburg, angetan mit einer brünue, die sie so
fest umschloss, als wäre sie aus fleisch gewachsen. Siegfried
erweckt sie, indem er mit seinem schwert die brünue zerschneidet,
die beiden andern darstellungen haben den zauberschlaf und die
wunderbare brünne fallen lassen und durch nichts anderes er-
setzt, nur an der abgeschiedenbeit der Jungfrau halten sie noch
fest, in der Vqlss. bewohnt sie mit ihrem weiblichen gesinde,
jedem manne den zutritt versagend, einen prachtvoll ausgestalteten
türm — der vf. verlangt, dass man dabei an die türme von
lsenstein im Nibl. denke — , in der Ths. sitzt sie mit ihren
knechten und rittern in der wol verwahrten bürg Seegard. das
Verhältnis der drei darstellungen ligt so einfach und klar, dass
es wol noch niemand anders aufgefasst hat. ich begreife nicht,
wie der vf. dem gegenüber seinen willkürlichen doppelbau hat
errichten mögen.
Dass ich den Ursprung der sage nicht in einem oder zwei
märeben suche, ist selbstverständlich, selbst wenn die Überein-
stimmung sich ungezwungen ergäbe, würd ich es nicht wagen,
aus diesen jüngsten niederschlagen einer allen möglichen ein-
flössen ausgesetzten volkstümlichen Überlieferung uralte helden-
sagen wie die von Hilde und Siegfried zu erklären, erst wenn
es gelungen wäre, die geschichte der einzelnen märchen zu er-
gründen und ihre existenz für die ersten Jahrhunderte unsrer
Zeitrechnung nachzuweisen oder wahrscheinlich zu machen, würd
88 BOER URSPRUNG UND EMTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE
ich den versuch für methodisch berechtigt ansehen, unbedenklich
geb ich auch hier der alten symbolischen auffassung den vorzug.
die in ihrer festen brünne im Schlummer liegende Jungfrau ist
die unter winterlichem schnee und eis erstarrte natur. das
schwert Siegfrieds, der Sonnenstrahl des lenzes, durchschneidet
den panzer und erweckt sie zu neuem leben.
Das ganze wesen der Sigrdrifa kann freilich in dieser einen
Vorstellung nicht erschöpft sein, überall in unsrer sage erscheint
sie als die wissende, die lehrhaften Sprüche, die ihr in den Sgdrm.
in den mund gelegt werden, mögen ursprünglich in einem an-
dern Zusammenhang gestanden haben und gar nicht für sie be-
stimmt gewesen sein; aber dass man sie zur verkünderin dieser
dunkeln runenweisweit machte, setzt doch voraus, dass man in
ihr ein wesen sah, dessen blick in geheimnisvolle tiefen drang.
in der Ths. belehrt sie Siegfried über seine herkunft. in der
Volss. enthüllt sich ihrem prophetischen geist die dunkle Zukunft,
sie ahnt das unheil, das aus ihrer Verbindung mit Siegfried ent-
steht, sie legt der Gudrun ihre träume aus und sagt Günther
sein geschick voraus, man wird nicht umhin können, diese
überall festgehaltne Vorstellung für einen ursprünglichen zug
ihres wesens anzusehen, aber zu der annähme, dass sie die aus
den winterbauden befreite erde sei, passt er nicht, wie sollte
solches wissen dem dunkeln schofs der erde entsteigen, 'die
sonne bringt es an den tag!' als die sonne muss die allwissende
Sigrdrifa aufgefasst sein, wie Siegfried als lichtgott sowol auf
den sommer als auf den tag bezogen werden kann, so haben
sich auch in der Sigrdrifa zwei Vorstellungen verbunden: das
junge jähr weckt die keimkraft der natur, der junge tag die
sonne, dem jungen tage gilt in den Sgdrm. der erste grufs der
erwachten Jungfrau, der fruchtbaren flur der zweite, die morgen-
röte geht der sonne voran und zeigt, wo sie ruht, als Siegfried
zum Hindarfjall hinaufsteigt, heifst es in der einleitung zu den
Sgdrm., sah er auf dem berge ein helle sucht, als ob feuer darauf
brennte, und der schein leuchtete zum himmel empor.
Wer der Sigrdrifa diese bedeutung zuerkennt, wird nicht
zweifeln, dass die belehrung, die sie Siegfried über seine her-
kunft gibt, ein alter zug der sage ist, obwol nur die Ths. ihn
erwähnt, wie gut er zu dem wesen der wissenden Jungfrau
passt, ligt auf der hand. die nordische Überlieferung hat ihn
vergessen oder ausgeschieden, eine Version, die Siegfrieds mutter
als königin im reiche Alfs leben und dem herangewachsenen
söhn die bruchslücke von dem edeln schwert seines vaters über-
reichen lässt, konnte diesen zug überhaupt nicht mehr brauchen,
ebenso seh ich die rosswahl als alt an. sie kommt auch in
der nordischen sage vor, aber früher, während er noch unter
Regins mundschaft >leht. ganz kurz, in einer abgerissenen notiz,
wird sie in der einleitung der Reginsmol erwähnt, ausführlich in
BOEB URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER IHIBELUNGENSAGE 89
der Vqlss. c. 13 erzählt, dass sie an dieser stelle nicht echt ist,
ist schon daraus zu schliefsen, dass Siegfried das pferd noch gar
nicht braucht, weder in seinem kämpf mit dem drachen, noch
bei dem besuch der Sigrdrifa. ihr ursprünglicher platz war der,
den die Ths. ihr anweist, wenn der tag aus der dämmeruug
hervorgetreten ist und die sonne auf ihrem lager geweckt hat,
beginnt er seinen rastlosen lauf, der ihn am abend zum ziel
führt, die bestäligung, dass die rosswahl schon in der alten
sage, auf der sowol die Ths. als die nordische Überlieferung be-
ruht, bei der Brünhild staltfand, gibt die figur Heimes, die Ths.
bezeichnet an einer andern, mit der Siegfriedssage nicht ver-
bundenen stelle, wo sie ausführlich von dem gestüt der Brünhild
berichtet, Heime als dessen Verwalter, und diesen Heime kennt
auch die Vojss. in der nähe seines hofes steht der türm der
Brünhild; er wird als ihr pflegevater bezeichnet, bleibt aber eine
ganz mülsige figur. die saga hat eben nur den namen behalten,
bezeugt aber dadurch, dass die Ths. glauben verdient.
Schwer ist zu entscheiden, wie die scene ursprünglich schloss.
die Ths. und die nordische Überlieferung setzen übereinstimmend
voraus, dass Brünhild den jungen beiden als ihren befreier er-
wartet und willkommen heifst; aber nur in der nordischen Über-
lieferung (Vqls. c. 21) kommt es zum liebesgeständnis und zur
Verlobung, die Ths. weifs nichts davon, und ich halt es nicht
für unmöglich, dass sie auch in diesem puncte recht hat. denn
wenn es einerseits als möglich erscheint, dass der erzähler die
Verlobung fortliefs, weil es ihm seltsam vorkam, dass der ver-
lobte gleich weiter zieht, so ist es anderseits auch möglich, dass
in der nordischen sage, nachdem sie rosswahl und belehrung
verloren hatte, die Verlobung hinzugefügt wurde, um der scene
einen neuen gehalt und einen gewissen abschluss zu geben, ich
neige zu der annähme, dass es in der tat so war. denn auch die
älteste version der werbungsscene setzt eine Verlobung nicht
voraus (s. u.), und später, in den klagen der Brünhild, wird
stärker betont, dass sich ihr eignes stilles gelübde nicht erfüllt,
als dass Siegfried seineu schwur gebrochen habe, für ganz aus-
geschlossen halt ich, was manche und unter ihnen auch Boer
für das ursprüngliche ende der scene halten, eine Vermählung
des jungen paares. das erlösungsmärcheu führt freilich zu glück-
licher heirat; unsre sage aber, die gerade den momeot ins äuge
fasst, wo die sonne ihr lager verlässt, bot dazu keine gelegenheit1.
1 merkwürdig ist, wie nahe sich unsre sage mit dem berührt, was die
Parzivalsage von der Jugend ihres helden erzählt, auch Parzival wächst in
der einsamkeit auf. seinen vater hat er nicht gekannt, ängstlich hütet ihn
die mutter vor dem verkehr mit der weit, sie stirbt vor schmerz, da er,
ein noch unerwachsener knabe, einem unwiderstehlichen dränge folgend,
hinauszieht, unbekannt mit den sitten der weit, unbekannt mit seinem
geschleclit, aber trotz seiner läppischen unbehollenheil überall bewundert
und willkommen geheifsen, eine lichtgestalt wie Siegfried, wie Siegfried
90 BOER DBSPBÜWG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE
Erweckung, belehrung und rosswahl bildeten den inlialt der
alten sceue. jüngere, erfindung ist, was in einer episode der
Sigrdrifnmol erzählt wird: Odin liabe die Jungfrau, weil sie gegen
seinen willen dem Agnar den sieg verliehen batte, zur strafe in
schlaf versenkt und bestimmt, dass sie sich vermählen solle, sie
aber habe ihrerseits gelobt, sich keinem manne zu vermählen,
der sich fürchten könne, die erzählung soll ähnlich wie die
erzählungen von Siegfrieds gehurt den zustand erklären, den die
ältere sage voraussetzte1, dass sie einer Jüngern sagenschicht
angehört, ergibt sich auch daraus, dass die jungtrau als walküre
autgefasst ist. denn dass sie das nicht von jeher war, hat man
längst richtig bemerkt, die brünne, in der Siegfried das schlafende
weih findet, wird, wie Boer bemerkt, die erfindung angeregt
haben 2. die namen Hilde und Brünhilde können natürlich nicht
älter sein, ursprünglich hiefs sie Sigrdrifa oder war durch ein
dem Fafnir seinen namen nicht zu nennen weif;;, ergeht es dem Parzival:
hon fiz, schier ßs, bed fiz, sagt er, habe man ihn genannt, dass er Parzival
heilst und ein Anschewin sei erfährt er erst von Sigune. und diese Sigune
trägt, wie schon Bartsch vermutet hat (Germ. stud. 2, 141), einen germa-
nischen namen : Sigune di. Sigwine (vgl. Sigrdrifa und Siegfried), ich zweifle
nicht dass die jugendgeschichle Parzivals auf der Siegfriedssage beruht, und
glaube dass auch sein erstes abenteuer, die begegnung mit Jeschule, aus
ihr stammt, wie Siegfried, nachdem er das eibenreich verlassen hat, in der
einsamkeit in goldglänzender schildburg die Sigrdrifa findet, so findet
Parzival unter kostbarem zeit auf einsamem wiesenplan die schlafende
Jeschute. ungestüm stürzt er sich auf sie, schliefst sie in seine arme und
raubt ihr kuss und ring, aber nicht weil ihn sinnliches verlangen triebe —
im gegenteil, die scene soll zeigen dass sein kindlich reines gemüt von liebe
noch nichts weifs — , sondern weil pr unverständig einer Weisung seiner
mutler folgt, vielleicht geht der Zusammenhang noch weiter, von Parzival
wird zweimal erzählt, dass er ein ritterross gewinnt, das eine bald nach der
begegnung mit Sigune in der nähe von Artus hoflager, das andre im kämpf
mit den Templeisen in der nähe der Gralsburg, selbst die bedeutung, die
den reichen des Artus und des Gralkönigs ursprünglich zugekommen zu
sein scheint, erinnert an das dunkle reich der Nibelunge. Parzival erregt
am hofe Artus nicht geringere bewunderung als Siegfried, da er in den
lief Günthers einleitet. — die walisische bauernlracht, in der Parzival von
seiner mutier entlassen wird, schildert und benennt die Eirikssaga. als Leif
nach Grönland segelte und Amerika entdeckte, hatte er zwei Schotten bei
sich, Haki und sein weib Hekja. pau vöru tvä büin, at J>au hgfdu pal
klwdi, er P an kpllubu biafal; ]>al var tvä gOrt, at hgltrinn var a upp,
ok opit at htiHum, ok ens;ar ermar a, ok knept i mi/ti föta; helt par
saman knappr ok nezla, en her vöru annars slabar.
1 es sind zwei ganz verschiedene schicksalsbestimmungen, denen Brün-
hild in dieser einleitung unterworfen wird; und die lose aneinanderreihung
lässt vermuten, dass sie ursprünglich nicht zusammengehörten, dass Odin
sie mit dem schlafdorn sticht, bildete die einleitung zu der ersten begegnung
mit Siegfried; dass er die ehe über sie verhängt, weist auf die spätere er-
werbung für Günther (s. u).
2 übrigens ist zu bemerken, wie die annähme, dass Brünhild walküre
ist, in den Jüngern zweigen der nordischen sage weiter wächst, die Sgdrm.
nehmen an, dass ihr wildes gewerbe der Vergangenheit angehört, Vplss. c 24.
27. 29, dass sie es fortsetzen will.
BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE 91
ähnliches mit sigr- zusammengesetztes wort, in dem ihre be-
ziehung zu Siegfried zum ausdruck kam, bezeichnet.
Icli wende mich zu dem dritten abschnitt in Siegfrieds leben.
nirgends sind mir die daliegungen des vf.s weniger glaublich
als da, wo er die Werbung Günthers zu erklären sucht, in der
Ths., meint er, sei die ursprünglichste form der sage enthalten,
aher nimmer kann ihr verhunzter hericht alte sage sein, unmög-
lich kann auch der dichter der Sgkv. sk. sich die entwicklung der
handlung so vorgestellt haben, wie der vf. annimmt, und un-
denkbar ist, dass die ganze scene aus dem bedürfnis entstanden
sei, Siegfried von seiner braut zu befreien und Günther zu einem
weihe zu verhelfen, wie hätte in der Verfolgung dieses leicht
zu erreichenden zieles ein dichter darauf verfallen sollen, Sieg-
fried in die gestalt Günthers zu kleiden und ihn gar das lager
der für den freund bestimmten frau teilen zu lassen, diese höchst
eigentümliche Vorstellung : Siegfried in der gestalt Günthers auf
dem lager der Biünbild, muss einen andern Ursprung haben,
sie bildet den kern der scene, in ihr muss ihre ursprüngliche
bedeutung gesucht werden, ich halte an der auffassung fest, die
ich im Anz. xvm s. 72 f ausgesprochen habe, ich sehe in der
scene ein bild des Sonnenuntergangs, wie der junge tag am
morgen den berg erklimmt und die schlafende Sigrdrifa weckt,
um dann schnell weiter zu ziehen, so kehrt er abends zu ihr
zurück, wachend erwartet sie ihn jetzt, wider von der waber-
lohe umgeben, jetzt der abendröte. aber er kommt nicht mehr
leuchtend und jugendfrisch wie am morgen, sondern in der
dunkeln gestalt Günthers, um müde au ihrer sehe auszuruhen,
das bedeutet der gestallentausch und das beilager, beide sinken
in das reich der nacht hinab; das bedeutet die Werbung für
Günther. — der zweite besuch Siegfrieds bildet das gegenslück
zum ersten; doch nicht ganz, in den SigrdrifumQ'l bezeichnet
Siegfried sowol den tag als den sommer und dementsprechend
die Sigrdrifa sowol die sonne als die vom winter gefesselte natur.
hier haben wir es nur mit tag und sonne zu tun.
Wesentlich verschieden wird in beiden scenen die waberlohe
aufgefasst. in der ersten ist sie nur eine begleitende natur-
erscheinung, in der zweiten ein hindernis, das nur Siegfried auf
seinem aus dem gestüt der Brünhild stammenden ross überwinden
kann. die umdeutuug erklärte, dass Günther sich der liilfe
Siegfrieds bedienen muste, und ermöglichte weiterhin, dass Brün-
hild in der waberlohe ein mittel sah, durch das sie sich den
mann, den die natur ihr bestimmt und sie sich erwählt hatte,
glaubte sichern zu können, in gleichem schritt änderte sich ihr
Verhältnis zu Siegfried, tag und sonne gehören zusammen, es
war selbstverständlich, dass Brünhild, als Siegfried sie hinter
ihrem flammenwall aufsuchte, willig den platz auf ihrem lager
einräumte : als walküre aber wählt sie ihre liebliuge; nur dem
92 B0ER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE
unerschrockensten, kühnsten beiden will sie gehören, jeden an-
dern hält die waberlohe ab. schliefslich wird sie zur männer-
feindin überhaupt und hofft durch die waberlohe oder die sie
vertretenden kampfspiele jedem freier sich entziehen zu können.
— hiernach führ ich die hauptformeu der sage au.
Die älteste, die aus der nordischen Überlieferung zu erreichen
ist, hatte folgenden inhalt. Brünhild wohnt einsam, von waber-
lohe umschlossen, auf dem Hindarfjall. Günther will sie erwerben,
da er nicht imstande ist, den flammenwall zu durchreiten, tauscht
Sigurd seine gestalt mit ihm und sprengt statt seiner durch das
feuer. die bedingung ist erfüllt; in der nacht ruht er an ihrer
seile, aber das schwert trennt sie. am morgen tauschen sie
ringe, darauf kehrt Siegfried zu Günther zurück, vertrauensvoll,
ohne ahnuug eines betrugs hat Brünhild Günther zum gemahl
genommen, zufrieden lebt sie an seiner seile, bis die enthüllungen
der Gudrun ihr die äugen öffnen. . das ist im wesentlichen der
inhalt der erzählung in den Skäldskaparmo'l; nur dass im anfang
verwantschafilicher beziehungen zu Atli und Budli gedacht wird,
und der ring, den Siegfried ihr überreicht, als jener geheimnis-
volle ring Andvaranaut bezeichnet wird, der, mit dem fluche des
zwerges beladen, schon Hreidmar und seinen söhnen verderben
gebracht hat, notizen, die nur dazu dienen, die scene mit den
vorangehnden teilen der erzählung zu verbinden, aber die Ver-
bindung bleibt ganz äufserlich. in dem verhalten der Brünhild
zu dem scheinbaren Günther trilt nichts hervor, was darauf
schliefsen liefse, dass sie einen andern erwartete oder gar sich
einem andern verlobt hätte, irgend welche beziehungen auf den
ersten besuch Siegfrieds finden nicht statt. Brünhild ist sogar
stolz auf ihre Vermählung mit Günther, und gerade dieser stolz
ist es, der Gudrun zu ihren vernichtenden enthüllungen reizt,
beim bad im flusse bricht der streit aus. Brünhild will auf
ihrem köpfe nicht das wasser dulden, das aus den haaren der
Gudrun fliefst, und diese vergilt die kränkung mit dem Vorwurf,
dass Brünhild Siegfrieds kebse sei. eine sage, der diese höchst
altertümliche scene angehört, muss sehr früh ausgebildet sein,
und Boer will uns glauben machen, sie sei die dritte stufe einer
entwicklung, deren Vorbedingung erst dadurch geschaffen wäre,
dass der historische Burguodenkönig Günther durch Vermittlung
der Nibelungensage in die Siegfriedssage gedrungen war. un-
denkbar! zu den kern- und keimpuncten der Siegfriedssage
gehört die scene freilich nicht, wie noch jetzt Siegfrieds drachen-
kampf und sein besuch der Sigrdrifa unverbunden nebeneinander
stehn , so ursprünglich auch die Werbung und der mord. die
haderscene ist erst als verbindendes mittelglied geschaffen, aber
sie beweist durch ihre altertümliche gestalt, in wie ferner Vor-
zeit der grund zur sage gelegt sein muss. — jünger als die
Werbung, vielleicht auch jünger als die haderscene ist die oben
BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE 93
(s. 90 anm. 1) erwähnte einleitung, nach der Odin es über Brün-
hild verhängt hat, sich zu vermählen, und sie dagegen geloht
hat, nur den zum manne zu nehmen, der den flammenritt wagte,
denn die haderscene finden wir auf dem ganzen gebiet der sage,
die einwürkuug Odins nur in der nordischen Überlieferung.
Eine zweite version ligt dem 26 cap. der Volss. zugrunde,
sie unterscheidet sich von der ersten dadurch, dass sie Siegfrieds
ersten besuch und seine Verlobung voraussetzt, das beilager und
die haderscene aber entbehrt, die erste änderung zeigt das be-
mühen, die einzelnen teile der sage enger zu verbinden, die
andere unverständlich gewordenes zu beseitigen, deun dass
Siegfried, obwol er Brünhild für Günther erwirbt, dennoch ihr
lager besteigt, findet zwar in der symbolischen bedeutung der
scene seine erkläruug, muste aber ganz rätselhaft erscheinen,
nachdem diese vergessen war. mit dem beilager fiel die hader-
scene, denn Gudrun entbehrte nunmehr das beweisstück für ihre
anklage, den ring1. — den verlauf, den die handlung in dieser
version nahm, hat Boer richtig erkannt, er vereinigt die hierher
gehörigen teile der saga in seiner Sgkv. meiri. die erzählung
spinnt den faden weiter, den die saga in c. 23. 24 angeknüpft
hat. Brünhild wohnte bei ihrem pttegevater Heime, au ihn
wenden sich Günther und seine gefährten zuerst, er begrüfste
sie freundlich, erklärte aber, Brünhild habe über sich selbst zu
entscheiden, und sie werde den allein zum manne nehmen wollen,
der durch das lohende feuer ritte, das um ihren saal brenne,
darauf folgt der flammeuritt und eine Unterredung zwischen
Brünhild und Guuther-Siegfrid, die auf denselben trüben ton des
zweifeis und der sorge gestimmt ist, wie das gespräch in c. 24,
in dem sie widerstrebend, ihr schweres geschick voraussehend,
die band zur Verlobung reicht, zweifelnd betrachtet sie den
mann, der auf seinen schwertknauf gestützt vor ihr auf dem
estrich steht und ihr seine hand anträgt, sie weifs, dass nur
Siegfried die waberlohe durchreiten kann, und vermag ihn in
der gestalt, die sie vor sich sieht, nicht zu erkennen, 'sie ant-
wortete mit kummer von ihrem sitze wie ein schwan von der
woge und hatte das schwert in der hand und den heim auf dem
haupte und war in der brünne : "Gunnar", sagte sie, "rede nicht
solches zu mir, wenn du nicht vortrefflicher bist, als jeder an-
dere. . . ich war im kämpf mit dem Gardaköuig und meine waffen
waren gefärbt mit männerblut, und darnach verlangt mich noch!"
1 wer es unglaublich findet, dass ein dichter diese äufserst würksame
scene ausgeschieden habe, mag annehmen, dass er von einer sageuform aus-
gieng, in der dies bindeglied zwischen der Werbung und Siegfrieds niord
noch fehlte, jedesfalls scheint mir die annähme einer version, die sich ohne
sie behalf, unentbehrlich, schon im Anz. xvm 8U anm. hab ich das bemerkt,
Boer ist zu demselben ergebnis gekommen, als ein notwendiges Zwischen-
glied zwischen Ths. und Nibl. (Boer s. 44) vermag ich aber diese darstellung
nicht anzuerkennen.
94 BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE
aber er verweist sie auf ihr gelübcle : "manche heldentat habt ihr
vollbracht; doch gedenket nun au euer gelübde, falls dies feuer
durchritten würde, dass ihr dem manne folgen wolltet, der das
vollbrächte', und sie fand nun, dass er vollkommen recht habe',
hiermit hatte die Unterhandlung ihr ziel erreicht, was in der
saga zunächst folgt, dass Brünhild ihn freundlich begrüfst und drei
nachte das lager mit ihm teilt, gehurt nicht mehr dazu : mit dem
freundlichen grufs lenkt der bericht offenbar in die ältere version
ein (oder in die dritte) und kehrt erst, nachdem er deren iuhalt
angegeben hat, zu der Jüngern zurück, der Zusammenhang war
folgender : nachdem Brünhild anerkannt hatte, durch ihr gelübde
gebunden zu sein, kehrte Siegfried zu seinen gesellen zurück,
es folgte der abschiedsbesuch bei Heime, die Unterredung zwischen
Heime und ßrünhlid und dann die hochzeit im reiche Günthers1,
ein beilager Siegfrieds hatte nicht staltgefundeu; für die hader-
scene war kein räum, wozu hätte sie in diesem zusammen-
hange dienen sollen? Brünhild weifs, dass ihr der mann, den
sie allein liebte, nicht zu teil geworden ist, sie weifs, dass er
sein gelübde gebrochen hat, und sieht ihn mit grimmem schmerz
an der seite einer andern, sie weifs auch, dafs sie selbst,
gebunden durch einen frühern eid, ihren treuschwur nicht hat
halten können, sie ahnt, dass sie betrogen ist und dass Siegfried
bei dem betrüge geholfen hat. unter diesen umständen war die
alte haderscene zwecklos und unmöglich; die bedingungen zu
Siegfrieds mord waren ohnehin gegeben (vgl. die schönen Strophen
der Sgkv. sk. 6 — 12). eine auseinandersetzung zwischen den
beiden Schwägerinnen gehörtauch zu dieser jungem version, aber
sie trägt einen ganz andern Charakter, in der Vojss. c. 28 folgt
sie zusammenhangslos unmittelbar auf den streit beim bade.
Gudruu sieht mit kummer, dass schweres leid auf Brünhild lastet,
sie möchte den grund erfahren und will sie selbst fragen. Sieg-
fried warnt sie, doch vergebens, es folgt die Unterredung, in
1 auch einige andre angaben sind dem contamiuierenden bearbeiter
zuzuschreiben, die flüchtige art, in der ßudli an der handlung beteiligt
wird, vermutlich der ring Andvaranaut, und dass der gestaltentausch auf die
Zauberkraft der mutter Grimhild zurückgeführt wird, selbstverständlich die
erwähnung der Aslaug. dagegen wird ein Widerspruch zwischen der Unter-
redung der Brünhild mit Siegfried und der mit Heime von anläng an vor-
handen gewesen sein, der dichter, der die scene gestaltete, setzte voraus,
dass Brünhild sich mit Siegfried verlobt habe, durfte sie aber in dem
gespräch mit Günther - Siegfried nicht offen erklären lassen, dass sie Sieg-
fried erwarte und als ihren mann anerkenne, sie muste sich, damit die
weitere entwicklung der handlung überhaupt möglich erscheine, darauf be-
schränken, ihrem zweifei und ihrer enttäuschung ausdruck zu geben, wenn
sie also Heime gegenüber sagt, sie habe dem manne, der zu ihr gekommen
sei, erklärt, dass sie Siegfried als ihren galten ansehe und dieser allein ihre
waberlohe durchreiten werde, so entspricht das wol den Verhältnissen, die
das gespräch mit Günther-Siegfried voraussetzt, aber nicht den Worten, die
sie dort gebraucht hat.
BOER URSPRUNG U.ND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGB 95
der Giulriin freuudlich und milde die von mislrauen, eifersucht
und hass verzehrle BrOobild zu trösten und zu beschwichtigen
sucht, weilet- gehört zu dieser version das lange gespräch
zwischen Siegfried und Brünbild, Volss. c. 29, in dem alle möglich-
keiten den unentwirrbaren schicksalsknoteo zu losen erlogen
werden.
Eine dritte Version, die durch ihren inhalt der ersten näher
steht, bezeugt ein gespräch zu anfaog des 29 cap. der VqIss., das
Brünbild, nachdem der betrug enthüllt ist, mit Günther führt.
'was machtest du mit dem ring, den ich dir gab und den König
Budle mir beim letzten abschied geschenkt hatte?' ist ihre eiste
frage, dann erzählt sie, wie es bei der Werbung hergegangen
war. die Gjukunge waren zu ihrem vater Budle gekonnneu und
hatten ihn mit krieg bedroht, wenn er ihnen nicht seine lochter
gäbe, dieser fragte sie, wen von denen, die gekommen wären,
sie nehmen wolle, 'ich aber erbot mich das land zu verteidigen
und häuptling zu sein über ein dritleil des heeres. da war unter
zwei dingen zu wählen, dass ich dem mich vermählen müste, so
er wollte, oder alles gutes uud seiner freundschaft verlustig sein,
doch sagte er, seine freundschaft würde mir besser frommen als
sein zorn. da überlegte ich bei mir, ob ich seinen willen tun
oder manchen mann erschlagen sollte, doch fühlte ich mich uu-
lähig mit ihm zu streiten, uud es kam dahin, dass ich mich dem
verhiefs, der auf dem rosse Graue mit Fafuis erbe geritten käme
und durch meine waberlohe ritte', offenbar ist diese erzähluug
eine um- und Weiterbildung der scene, die der ersten versiou
zur einleitung diente, der vater Budli ist an die stelle Odins
getreten, das väterliche machtgebot an die stelle der Schicksals-
fügung, das ganze aber erscheint als ein teil der sage, die mit
c. 25 beginnend die ersten abschnitte von Siegfrieds leben wie
unser Nibelungenlied beiseite schob und alles folgende bis zum
Untergang der JNibelunge als einen kämpf zwischen den beiden
geschlechlern der Budlunge und Gjukunge ansah, der charakter
der Brünbild ist hier anders aufgefasst, als in der zweiten Version,
dort schwermütig und grüblerisch, hier berechnender, schatz-
lüslern und zornmütig, in der zweiten ligt sie in stummem
barm auf ihrem lager, hier rast sie, droht Günther zu erschlagen
und webt so heftig, dass die fäden zerreifsen. wenigstens zweifle
ich nicht, dass diese züge des 29 cap.s aus der dritten Version
genommen sind, der verlauf der haudlung ist aber nicht sicher
zu erkennen, nur so viel ergibt sich aus der frage : 'was mach-
test du mit dem ringe?' etc., dass das beilager Siegfrieds und die
hadersceue auch in dieser version vorkamen K
1 Boer sucht auch diese version bis ins einzelne zu reconstruieren und
teilt den zusammenhängenden text dieser ;Sgkv. yngri' auf s. 201 f mit.
ich glaube nicht, dass unsre Überlieferung für einen solchen versuch eine
genügende grundlage bietet, insbesondre bezweifle ich, dass Vplss. c. 27,
96 BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE
Eine mittlere stelluug nimmt die Sgkv. sk. ein. Brünhild ist
milder gezeichnet, wie in der zweiten version, der verlauf der
handluug ist im wesentlichen derselbe wie in der dritten, nur
dass der bruder Alle an stelle des vaters Budle steht l. auch die
drei Strophen 37 — 39 braucht man nicht als interpoliert anzu-
sehen, wenn man mit Bugge str. 39 auf str. 35 folgen lässt
(Boer s. 83f). — auf die abweichenden angaben in andern lie-
fern will icli nicht eingehn.
Alle Überlieferungen der nordischen sagenform stimmen
darin überein, dass Brünhild die notwendigkeit sich zu vermählen,
mag sie durch das Schicksal oder durch die umstände und den
zwang der verwanten gegeben sein, anerkennt; nur die wähl
des gatten will sie sich sichern, daneben aber zeigt sich früh,
dass sie die notwendigkeit ungern und widerwillig anerkennt,
was ursprünglich naturbestimmung gewesen war, wurde, als sie
zur walküre gemacht war, zum auferlegten zwang, dem sie sich
zu entziehen sucht, sehr stark tritt das schou in der dritten
nordischen version hervor, noch weiter gieng in derselben richtung
die deutsche sage, in ihr will Brünhild Jungfrau bleiben und
sucht selbst, als sie sich der Vermählung nicht mehr entziehen
kann, ihren jungfräulichen stand zu behaupteu. die sage gewann
dadurch ein mittel, Siegfrieds beilager zu motivieren, da Günther
nicht imstande ist, dem weibe mit dem magdtum ihre kraft zu
nehmen, muss er Siegfried auf das ehebett der frau rufen, in
ihrer ursprünglichen form ist diese burleske scene in der Ths.
erhalten, der dichter des Nibelungenliedes ist zu dem keuschen
beilager zurückgekehrt, hat dadurch aber dem Zusammenhang der
sage einen empfindlichen schaden zugefügt, in der Ths. nimmt
Siegfried noch den ring der Brünhild als zeichen der vollzogenen
Vermählung, im Nibl. entwendet er ihn, so dass er nachher in
der streitscene eigentlich gar keine beweiskraft haben kann.
Wenn Brünhild Günther ins ehegemach folgte, so muss
selbstverständlich etwas vorangegangen sein, was sie dazu ge-
zwungen hatte, im Nibl. sind es die kampl'spiele. durch sie ist
wie in der nordischen sage durch deu flammenritt die bedingung
erfüllt, an die Brünhild ihre Vermählung geknüpft halte, in der
Ths. lässt sie sich durch Siegfrieds Überredungskunst überwinden.
als Günther und seine genossen zur Brünhild gekommen sind,
hat sie zunächst eine Unterredung mit Siegfried, er setzt ihr
60—66. 28, 1 — 16 dieser version gemäfs sind, dagegen mag er aus manchen
berührungen mit der Ths. mit recht schliefsen (s. 72. 76 f. SOf), dass diese
dritte version unter der einwürkung einer jungem in Deutschland gebildeten
sagenform entslanden ist. vielleicht verdankte sie ihr noch mehr, als er
annimmt; s. 97 anm.
1 ob Budle an die stelle Atles getreten sei (Boer s. 54f), ist mir
zweifelhaft, obschon die Eddalieder dafür sprechen, das umgekehrte könnte
durch den wünsch veranlasst sein, Alles tod als bufse für seine schuld er-
scheinen zu lassen.
BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE 97
auseinander, warum er Gudrun zum weihe genommen habe, sie
habe den vorzug gehabt zu einer mächtigen sippe zu gehören,
während Brünhild allein stehe in der weit, sie könne nun nichts
besseres tun, als seinen freund Günther zum manne zu nehmen,
diesem vernünftigen Vorschlag folgt sie. warum sie sich dann
nachher doch gegen Günther streubt, bleibt freilich unerklärt,
dass diese unglaublich nüchterne und törichte erzählung nicht,
wie Boer annimmt, die ursprünglichste gestalt der sage ist, seh
ich als selbstverständlich an. es fragt sich nur: was bot dem
erfinder die vorläge, die er so greulich verunzierte? ich vermute,
dass er ein gespräch zwischen Siegfried und Brünhild schon vor-
fand, und schliefse daraus weiter, dass Brünhild noch nicht in
kampfspielen, sondern durch den flammenritt überwunden wurde;
denn nur dieser gab gelegenheit zu einer Sonderunterredung,
die handlung wird ähnlich verlaufen sein wie in der zweiten
nordischen Version. Siegfried ist durch die waberlohe zur Brün-
hild vorgedrungen, sie muss zugeben, dass ihre bedingung er-
füllt ist und folgt Günther in sein reich, dort spielte sich dann
die scene im ehegemach ab. dieselbe grundlage setzt das Nibl.
voraus, beide deutsche hearbeitungeu haben den wunderbaren
flammenrilt nicht mehr anerkennen wollen, im Nibl. ist er durch
eine neue erfindung ersetzt, die Ths. hat ihn ganz fallen lassen
und, um den zweck, dem er ursprünglich diente, zu erreichen,
dem gespräch zwischen Siegfried und Brünhild eineu neuen in-
halt gegeben, ebenso haben beide Überlieferungen den rätsel-
haften gestaltentausch aufgegeben, die Ths. begnügt sich mit
einem kleidertausch, das Nibl. hat die tamkappe zur hilfe ge-
nommen, doch ist diese änderung verhällnismäfsig spät ein-
getreten, sie muss jünger sein als die erfindung der kampf-
spiele; denn nur wenn Siegfried in Günthers gestalt der Brünhild
gegenüber tritt, kann man sie sich vorstellen1.
Für den vierten act der Siegfriedssage genügen wenige be-
merkungen. selbstverständlich seh ich auch in ihm wie die
älteren forscher symbolische darstellung eines naturvorganges,
nicht eine beliebige geschichte von einem habgierigen Schwager.
1 die scene im ehegemach ist nur durch die Ths. und das Nibl. bezeugt,
und doch inöcht ich annehmen, dass sie auch im norden nicht unbekannt
war. wenn in der dritten nordischen version Brünhild Günther fragt : 'was
machtest du mit dem ring, den ich dir gab und den könig Budli mir zum
abschied schenkte?', so scheint daraus zu folgen : 1) dass Siegfried gelegen-
heit gehabt hatte, einen ring als zeichen der Vermählung von ihr zu er-
langen, und 2) dass diese gelegenheit sich nicht unmittelbar nach dem
flammenritt bot, sondern erst als Brünhild sich von ihrem valer ver-
abschiedet hatte, also in Günthers reich, so scheint diese version in der
tat die scene in das ehegemach zu verlegen, aber die neuerung konnte der
alten sage gegenüber nicht zur geltung kommen, auch der dichter der
Sgkv. sk., so nahe er der dritten version steht, hält an der annähme fest,
dass das beilager auf den flammenritt folgte, denn er erwähnt das. trennende
schwert.
A. F. ü. A. XXXI. 7
9S BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE
er bedeutete den wintertod des Jahresgottes, im frühjahr hat er
mit jugendlicher kraft den winterdrachen getötet, im winter legt
er sich müde zur ruhe und wird heimtückisch von dem feind-
lichen dämon erschlagen1, dieser vierte act bildet also zu dem
ersten in ähnlicher weise ein gegenstück, wie der dritte zu dem
zweiten, und ebenso wenig wie der erste mit dem zweiten war
ursprünglich der vierte mit dem dritten verbunden, als die
dichtuug die Verbindung herstellte und Siegfrieds tod auf den
schmerz und die eifersucht der Brünhild zurückführte, war die
eigentliche bedeulung dieser wol schon ganz vergessen, ur-
sprünglich lag der grund jedesfalls lediglich in dem Verhältnis
Siegfrieds zu seinen mördern. Boer meint, anfangs habe Hagen
allein dem Siegfried gegenüber gestanden, ich sehe dazu keinen
grund, glaube vielmehr, dass Günther von jeher, wie im dritten
act so auch im vierten, als der eigentliche herscher im dunkeln
reich angesehen wurde, aber doch als ein unkräftiges wesen, das
die taten, die es plant, einen andern ausführen lässt, also das-
selbe Verhältnis wie zwischen Regin und Fafnir. viel berechtigter
wäre die frage, ob Hagen nicht etwa aus der Nibelungensage
stammt, denn nur die deutsche sage bezeichnet ihn als Sieg-
frieds mörder, die nordische Gutthorm, den Stiefbruder, und es
dünkt mich viel wahrscheinlicher, dass die deutsche sage diesen
hat fallen lassen, als dass die nordische ihn neu geschaffen hat.
denn weshalb sollte sie das getan haben? etwa um Günther und
Hagen von dem Vorwurf des treubruches zu entlasten? aber die
eigentliche schuld bleibt ja doch auf ihnen, dagegen begreift
man leicht, dass, als die Nibelungensage mit der Siegfriedssage
verbunden wurde, die kurze rolle Gutthorms auf Hagen über-
tragen wurde, zumal in der deutschen sage, die dadurch mo-
tivierte, dass Hagen gemeinsam mit Günther den tod erlitt, er,
der in der nordischen sage als der lieblingsbruder der Gudrun
erscheint, wurde so zum gegenständ ihres grimmigsten hasses.
ich bezweifle nicht, dass die sage sich würklich in dieser weise
entwickelt hat, und dass Hagen, wenn er in der Siegfriedssage
überhaupt erwähnt wurde, sich mit der unbedeutenden rolle be-
gnügen muste, die er in der nordischen sage hat. weder an der
Werbung um Brünhild noch am morde Siegfrieds ist er wesent-
lich beteiligt, daraus, dass er in der deutschen sage mit einer
1 dieselbe oder ähnliche bedeutung wie Siegfrieds mord hat der schuss,
durch den der wilde Jäger den sonnenhirsch erlegt (vgl. EHMeyer Germ,
myth. § 146). spielt diese tiersymbolik in die Siegfriedssage hinüber, wie
in dem kämpf mit dem drachen? hängt damit zusammen, dass er der
Gudrun im träum als hirsch mit goldnen haaren erscheint (Vplss. c. 27;
vgl. Gudr. ii 2. Helg. Hund. II 37)? und dass er auf Fafnis frage, wer er sei,
antwortet : Gefugt dyr heitik, en ek gengil hefk enn möpurlausi mpgr etc.
(Fäfn. 2)V und dass er die Sigrdrifa auf dem Hindarfjall, dem berg der
hinde, trifft? vielleicht auch dass er in der deutschen sage im walde auf
der jagd getötet wird?
BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER MBELUNGENSAGE 99
andern person verschmolzen ist, erklärt sich dann, dass er in
der nordischen sage als der echte bruder Günthers angesehen
wird, in der Ths. dagegen wie der Gutlhorm der nordischen sage
als sein Stiefbruder, und schließlich im Nihl. nur als ein ferner
stehnder verwanter und Untertan; besonders aber auch der eigen-
tümlich gemischte Charakter, den er in der deutseben sage bat.
die feige tat tückischer arglist kam ursprünglich einem andern zu.
Ähnlich wie mit Hagen muss es mit Gudrun ergangen sein,
in der JNibelungensage ist sie wesentlich und unentbehrlich, in
der Sieglriedssage spielt sie nur eine seeundäre rolle, sie mo-
tiviert, dass Siegfried die verlobte der Jugend für einen andern
wirbt und klärt Brünhild über den betrug auf. sie ist für die
dichtung von hohem wert, gehört aber nicht zum kern der sage1.
auch die haderscene ist erst zur Verbindung des dritten und vierten
actes geschahen, der name , den sie ursprünglich hatte , war
Gudrun, er bezeichnete sie als mit Günther zusammengehörig;
den namen Grimhild erhielt sie in der Siegfriedssage im gegen-
satz zur Brünhild. in der nordischen Überlieferung behauptete
sich jedoch der ältere name, der andre fiel der mutter zu. —
Die Untersuchung der sage vom Untergang der INibelunge hat
den vf. in manchen nicht unwichtigen puneten zu denselben an-
siebten geführt, zu denen ich mich bekannt habe, insbesondre
stimmt er auch darin mit mir überein, dass die sage sich nicht
aus historischen Vorgängen herleiten lässt; aber im ganzen ist die
Übereinstimmung doch gering, dass die sage vom Untergang der
Nibelunge im gründe identisch sei mit der von Siegfrieds tod,
dass Günther erst nachträglich aus der geschichte aufgenommen
und zum Schicksalsgefährten Magens gemacht sei, neben diesem
aber von anfang an ein freund gestanden habe, zuerst Gutthorm(I)
— keine Überlieferung kennt ihn in der Nibelungensage — , dann
als dessen Stellvertreter Gernot und schliefslich Volker, der ur-
sprünglich kein spielmann gewesen sei, dass die nachtwachscene
schon der ältesten gestalt der sage angehört habe, die Prophezei-
ung der meerweiber älter sei als die überfahrt, dies und vieles
andre kann ich als richtig nicht anerkennen, dass die Ths. auf
der contamination zweier verschiedener sagenformen beruht, ist
wol allgemein anerkannt, dass aber diese contamination erst in
der Ths. selbst erfolgt sei, glaub ich nicht, noch weniger, dass
es dem vf. gelungen sei, aus dem text der Ths. die beiden formen
wider herzustellen, seine kritik erscheint mir willkürlich, ihre
1 dass Gudrun als Siegfrieds weib eine jüngere erfindung ist, halt ich
deshalb für wahrscheinlich, weil die nordische Nibelungensage noch deutlich
auf eine ältere form hinweist, in der sie noch nicht als Siegfrieds witwe
galt, sollte sie dennoch zu den ältesten, symbolischen gestalten der Sieg-
friedssage gehört haben, so könnte sie nur das milde gestirn der nacht,
den mond, bezeichnet haben, dann aber müste ihre Verbindung mit Sieg-
fried erst geschlossen werden, nachdem Brünhild für Günther erworben war.
im Nibl. ist es ja so; aber zweifellos erst infolge jüngerer entwicklung.
100 BOER URSPRUNG UNI) ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE
ergebnisse unglaublich, auf eine erörterung des einzelnen muss
ich hier verzichten; doch mögen mir noch einige bemerkungen
gestattet sein, teils zur ergänzung, teils zur bericbtigung früherer
da riegungen.
Die historischen demente in der Nibelungensage will der vf.
erklären, indem er folgende 'gleichung' aufstellt (s. 129). 'die
sage lautete: Hagen wird von einem könig der Hünen (dh. der
NVcslfalen) erschlagen, die geschichte erzählte: die Burgunden-
köuige wurden von dem Hunnenköuig erschlagen, die aus dem
namen auf natürliche weise gefolgerte idenlität des gegners führte
zu der identification der angegriffnen könige und darum wurde
Hagen mit den Burgunden verbunden', ich kann schon die
richtigkeit der gleichuug nicht anerkennen; denn die Nibelungen-
sage ist in ihr auf eine formel reduciert, die ihrem weseu durch-
aus nicht entspricht, und selbst wenn sie richtig wäre, würde
wol niemand der erklärung des vf.s vor andern, die längst ge-
funden sind, den vorzug einräumen, zwei umstände vermittelten
die beziehungen zwischen sage und geschichte. den einen an-
knüpfungspunct bot der name Attila, der, wie schon die Grimm
gesehen haben , von anfang an dem mythus und der sage an-
gehörte und später begreiflicherweise auf den Hunnenkönig be-
zogen wurde, das zusammentreffen von sage und geschichte in
diesem namen ist zufällig, nicht zufällig nur insofern, als die
bedeutung des woites — ein eigentlicher name ist es ja gar-
nicht — es sowol zur bezeichnung mythischer als irdischer
herscher geeignet erscheinen liels. auch der söhn Mundiouchs
wird den namen wegen seines ranges und Standes erhalten haben,
ebenso wie der söhn des mythischen Botilo, des gebietenden, den
zweiten anknüpfungspunct gab, wie Vogt (Zs. f. d. ph. 25,41 1 f) über-
zeugend dargetan hat, die localisation des Nibelungenhortes, als
die Burgunden zu anfang des 5 jh.s ihr reich in den gegenden
errichtet hatten, wo der schätz in den fluten des Bheins ruhte,
wurden ihre könige alsbald als erben und rechtsnachfolger der
ältesten beherscher dieser lande, der Nibclunge, angesehen, das
bezeugt schon im 6 jh. die lex Burgundionum. könig Gundebald
führt da als seine vorfahren auf dem herschersitz an: Gibica,
Godomar, Gislahari und Gundahari, schliefslich, ohne ihre namen
zu nennen, seinen vater und oheim. von dem zweiten an tragen
sie nach der gewöhnlichen art gebildete, zusammengesetzte namen,
nur der erste nicht, er heilst wie der Stammvater der Nibelunge
Gibica. offenbar reichte die historische erinnerung nicht über
Godomar hinaus, mit Gibica senkt der königliche Stammbaum
seine wurzeln schon in das mythische reich der Nibelunge. selbst-
verständlich aber müssen diese, als die ankuüpfung erfolgte,
schon nicht mehr als zwerge, sondern, wie in unsrer sage, als
beiden angesehen worden sein, auf die die Burgunden mit gleicher
bewunderung blicken konnten, wie der dichter der Allamöl str. 99.
BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE 101
dass unter diesen umstanden umgekehrt personen und tatsachen
der burgundischen geschichte in die sage kommen und der
schwere schlag, den das königshaus im jähre 437 erlitt, zur
Nibelungensage in beziehung gesetzt werden konnte, ist leicht
begreiflich, so mögen in der tat die namen von Etzels brüder
ßleda und dem BurgumJen Giselher schon früh in die sage auf-
genommen sein, wenn auch die rollen, die sie in unsrer Über-
lieferung spielen, erst später ausgebildet sein können, zweifei
bleiben nur in betreu" Günthers, da eine JNibelungensage ohne
ihn undenkbar ist, müssen entweder der historische Günther und
der nibelungische zufällig denselben namen gehabt haben, oder
der sagenheld hat ursprünglich anders geheifsen. ich ziehe es
vor, zufall anzunehmen; denn der name Günther gilt überall in
unsrer Überlieferung, auch in der nordischen sage, die sonst
noch keinerlei beziehuugen zur geschichte zeigt, auch Akv.
str. 21 bietet kein Zeugnis dafür.
Viel älter als die anknüpfung an die burgundische geschichte
ist die beziehung der Nibelungen auf die Siegfriedssage, die darin
begründet sein muss, dass man das geschlecht, das Siegfried den
Untergang bereitete, als dasselbe ansah, das später durch Altila
vernichtet wurde, dass die Nibelungensage auch auf symbolischer
darstelluug eines naturvorgangs beruhe, folgt daraus nicht und
ist kaum anzunehmen, in unsrer Überlieferung wenigstens er-
scheint sie nur als ein kämpf um den goldschatz der natur, und
das kann ihre bedentung von jeher gewesen sein, die beziehung
ist all, eine engere Verbindung erfolgte erst später und auf sehr
verschiedene weise in der nordischen und deutschen Überlieferung,
dort betrafen die Änderungen vorzugsweise die Siegfriedssage.
Brünhild wurde zur Schwester Etzels gemacht, die beziehungen
der beiden nun doppelt verschwägerten geschlechter weiter aus-
gebildet, besouders aber das schatzmotiv eifrig gepflegt, hier er-
fuhr die iNibelungensage eine tiefgreifende Umgestaltung, indem
der Untergang der JNibelunge auf die rachsucht und habgier der
Kriemhild zurückgeführt wurde, um das Verhältnis der beiden
sagenformen zu erklären, hab ich früher auf eine vermittelnde
gestalt geschlossen, von der sowol die nordische als die
deutsche uach verschiednen richtungen abgewichen seien. Kriem-
hild habe ursprünglich im miltelpuucl der Handlung gestanden,
schatzgierig wie ihre brüder habe sie diesen den bort zu ent-
reifsen gesucht und sich Etzels als mittel bedient, ich habe
diese ansieht aufgegeben und nehme an, dass die nordische Über-
lieferung in allen wesentlichen puneten die ältere form der sage
darstellt : Atlila verlangt den schätz, Kriemhild steht durchaus
auf der seile der brüder und rächt sie. wie die Umwandlung
der deutschen sage vor sich gieng, vermag ich nicht zu sagen,
auf keinen fall wird man annehmen dürfen, dass ihre eigentüm-
liche form auf einmal geschaffen wurde, nicht unwahrscheinlich
102 BOER URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER NIBELUNGENSAGE
dünkt es mich, dass zunächst im anschluss und als fortsetzung
der Siegfriedssage eine dich tu ng geschaffen wurde, in der Kriem-
liild nur räche für Siegfried nahm und dass dann unter ein-
würkung der älteren im norden erhaltenen sage, die doch auch
in Deutschland einst gegolten haben muss, Etzels schatzgier auf
sie übertragen ist. den itihalt jener dichtuug mag man sich
etwa so vorstellen, dass Kriemhild gleich in der ersten nacht
nach ankunft der hriider, ohne dass Etzel etwas ahnte, feuer an
ihren schlafsaal legen liefs. Günther wird bei dem versuch, sich
aus den flammen zu retten, gefangen, Hagen widersteht der glut.
lring muss ihn angreifen und bringt ihm eine schwere wunde
hei. Kriemhild tötet den wehrlosen mit einem feuerbrand. gieng
die entwicklung der sage von solcher grandform aus, so hegreift
man, dass Etzel so geringen anteil an der handlung gewann, die
richtung, in der sich die sage entwickelte, war durch die grund-
form bestimmt, arduum est de his quae coniectura sequenda
sunt, aliquid certi promittere (Seueca).
Bonn. W. Wilmanns.
Geschichte der Wandalen, von Ludwig Schmidt. Leipzig, Teubner, 1902.
203 ss. 8°. — 2,80 m.
Die gegenstände, die hier einen historiker beschäftigen, haben
zu einem grofsen teil auch für germanisteu näheres interesse,
ja gehören sogar — sofern es sich um germanische altertümer
handelt — iu deren eigenes forschungsgebiet. dass auch unsere
kritik der vorliegenden arbeit gerade an stellen einsetzt, wo der
germanist mitzureden hat, bedarf in dieser Zeitschrift kaum einer
rechtfertigung.
Der verf. schliefst sich Kossinnas ansieht an, dass die Ost-
germanen von Schweden aus direct über das meer in Deutsch-
land eingedrungen seien, deren begründung durch den geuannten
Idg. forsch. 7, 176 ff aber, wie ich Anz. xxvu U4ff gezeigt habe,
zum teil hinfällig ist, und die in dieser allgemeinheit überhaupt
kaum begründet werden kann, wie sollte im besonderen von
den Wandalen bewiesen werden, dass sie nicht über Jülland aus
dem höheren norden gekommen sind?
• Seine annähme will Seh. unter anderem auch durch die
ursprungssage der Langobarden stützen, die jedoch von einer
fahrt über die Ostsee weder berichtet, noch auf sie schliefsen
lässt, und deren älteste historische sitze doch auch eher dafür
sprechen, dass sie den weg über die jütisch-dänische brücke
genommen haben, durch sie werden aber für eine nicht ge-
nauer bestimmbare vorgeschichtliche zeit auch die Wandalen
nach dem nordwesten gezogen, da die sage vom Ursprung des
Langobardennamens die nachbarschaft beider stamme zur Vor-
aussetzung hat, wozu die ein paar bildenden uamen Vinnili —
SCHMIDT GESCHICHTE DER WANDALEN 103
wie früher die Langobarden geheifsen haben — und Vandili
sehr gut passen, hat vielleicht erst ein unglücklicher zusanunen-
stofs mit den Langobarden die Wandalen veranlasst, sich aus
der gegend der unteren Elbe in die der oberen Oder und
Weichsel zu verziehen? man Übersehe hier auch nicht die
Stellung der Wendle in Nordjülland, die von den Wan-
dalen ganz zu trennen und bei der frage oach deren ur-
sitzen und wanderrichtung aufser acht zu lassen sich nicht
empfehlen wird.
Mit recht dagegen, wie ich denke, verwirft Seh. die auf die
autoritat des Plinius sich stützende annähme, dass der Wandalen-
name anfänglich allen Ostgermanen zukam, und erkennt ihn nur
der gruppe der Lugier zu, deren begrenzung übrigens auch nicht
ganz feststeht, so ist es eine Streitfrage, ob die Burgundionen,
deren name bei Tacilus fehlt, dessen Lygiero beizuzählen sind
oder nicht. Seh. entscheidet sich für letzteres, weil es, wie aus
dem namen Borgundarholm sich ergebe, schon vor der besied-
lung Deutschlands ein volk jenes namens gegeben habe, die
Lugier aber damals sicher noch einen stamm gebildet hätteu.
ohne jene frage selbst in gegenteiligem sinne beantworten zu
wollen, möchte ich doch auf die hiufälligkeit dieser prämissen
hinweisen, ob und wann die Lugier eine strenge einheit ge-
bildet haben, lässt sich jedesfalls nicht sagen, nicht einmal, ob
sie eine gruppe von haus aus verwanter stamme darstellen oder
nicht, und Borgundarholmr Borgund ist nicht schon nach einem
volk der Burgundionen so benannt, sondern bedeutet 'hoch-
gelegene oder hochragende örllichkeil' : Kossinua Idg. forsch. 7,
282 f.
Charini bei Plinius in der aufzählung der wandilischen
stamme als dittographie des nebenstehenden Varinne zu be-
trachten und zu streichen, verbietet sich schon wegen der
lygischen Harii des Tacitus. höchstens wäre zu erwägen , ob
nicht unter dem einfluss eines benachbarten namens ein älteres
Charit zu Charini geworden ist.
Der grund, den Seh. gegen die gleichsetzung der Victualen
und Hasdingeu geltend macht, dass nämlich Capitolin erstere
vor 169 nenne, der eiubruch der letzteren aber erst nach 170
erfolge, ist alles eher als zwingend; denn leicht kann das volk
bei einem besonderen ereignis den Bömern unter neuem uamen
bekannt geworden sein, und seine sitze sind auch vor dessen
eiuwanderung in Dacien nicht so weit von den reichsgrenzen
entfernt, um seine teilnähme am Markomanneukrieg auszuschliefsen.
vielleicht ist es kein Zufall, dass uns der name der Ilasdingen
zugleich mit dem von personen aus dem fürstengeschleclft (Baus
und Raptus) bekannt wird, an dem er ja ursprünglich allein
haftet. wenn Eutropius 8, 2 Victohali neben Taiphali und
Tervingi als die besitzer von Dacia nennt, und wenn sich zu
8
104 SCHMIDT GESCHICHTE HER WANDALEN
den Victualen (und Quaden) nach Amniianus Marcellinus 17, 12
die von ihren leibeigenen vertriebenen sarmatischen Ardaragantes
flüchten, stehen sie nirgends anders, als wo wir die Hasdingen
suchen müssen, und ist, was allgemein anerkannt wird, Asdingi
Hasdiugi eigentlich nur der name des herscherhauses und von
diesem auf den ganzen stamm übertragen, gerade wie rohd,
Amelunge an die stelle des Goten namens getreten ist, so müssen
wir neben ihm und neben dem über den einzelneu stamm hinaus-
greifenden Vandali noch einen dritten namen erwarten, und
Victuali füllt diese lücke sehr gut aus. nach Seh. haben wir
statt dessen allerdings an die \Nahanarvalen' des Tacitus an-
zuknüpfen, weil die *Hazdiggös — er folgt bierin bekannten
aufstellungeu Müllenhoffs — durch ihren von *hazds = anord.
haddr 'frauenhaar' abgeleiteten namen als das geschlecht des
sacerdos gekennzeichnet seien, der muliebri ornatu dem Heiligtum
der JNaharnavalen vorstand, ich möchte aber bei diesem muliebris
ornatus lieber würklich an weibliche kleidung denken, die ja in
verschiedenen eulten vorkommt; bei den *Hazdiggös aber an die
verbreitete silte germanischer fürstengeschlechter — man denke
an die reges criniti — langes haar zu tragen, daher scheint
es mir fraglich, ob man den Hasdingen mit Mülleuhoff aufser
den Victualen auch die INacharvalen gleichsetzen darf, dass diese
so — Naharvali oder Nacharvali — heifsen, habe ich Beitr. 17, 31
gezeigt, und jedesfalls bilden die namen Vkto-vali und Nachar-
vali ein paar, das sich als solches durch das gleicbe zweite
compositionsglied kennzeichnet, sie gehören wo] nachbarslämmeu,
und wenu die Victualen dieselben wie die Hasdingen sind, möchte
man hinter den Nacharvaleu die späteren Silingen vermuten,
der lucus apud Nacharvalos ist dann wol am altgeheiligteu
Zobtenberge zu suchen, an dem der name der Silingen in
slawischer Umgestaltung halten geblieben ist; s. Müllenboff DA.
ii 92.
Recht erwägenswert däucht mich, was Seh. gegen die nach-
richt des Jordanes Getica 22 vorbringt, die Wandalen hätten nach
dem fall könig Wisumars in Pannonien aufnähme gefunden, kaum
begründet ist dagegen die annähme frühzeitiger trenuung der Has-
dingen und Silingen, von denen Seh. letztere zugleich mit den
Burgundionen ende des 3 jh.s im rücken der Alemannen in die
oberen Maingegendeu einrücken lässt. sie sollen sich von dort
anfangs des 5 jh.s den nach westen ziehenden Hasdiugen an-
geschlossen haben, dass kaiser Probus mit wandalisch-burgundischeu
streifscharen einen kämpf auszufechten hat, ist im grund die
einzige tatsache, auf die man sich für diese ansieht berufen könnte,
doch wer damals, bevor sich die Alemannen über den bmes vor-
geschoben hatten, hinter ibuen noch niebt für einen neuen
stamm, geschweige denn für zwei platz geworden; jener streifzug
wird also noch von Ostdeutschland ausgehn, wo Wandalen und
SCHMIDT GESCHICHTE DER WANDALEN 105
Burgundionen Dachbarn waren, und resle von beiden, wie die
nameu Silesia und Burgundaib bezeugen, später noch vorhanden
sind, in Schlesien und allesfalls noch im angrenzenden Ober-
ungarn müchte man auch am ehesten die landlose suchen, auf
die der ausgewanderte volksteil der Wandalen noch nach seiner
niederlassung in Afrika den anspruch zu gunsten der zurück-
gebliebenen nicht aufgeben will; denn in dem Völkergedränge
Panuoniens konnte sich weder ein solcher volksrest noch freies
land so lange erhalten, auch hieraus lässt sich also — nebenbei
bemerkt — gegen Pannonien als ausgangsort der wandalischen
westwanderung scbliefsen.
Die bemerkungen über das Wirtschaftsleben der Wandalen
in ihrer allen heimat zeigen den verf. in ererbten Vorurteilen
befangen, was soll es heifsen, wenn er sagt : 'den zustand des
nomadentums halten dieselben damals bereits überwunden; sie
waren, wie wir sahen, zu einer gewissen sesshal'tigkeit gelangt.'
als ob sie früher einmal nomaden und zu beginn der geschichte
noch halbnomaden gewesen wären! es geht auch nicht an,
Cäsars angaben über den jährlichen Wechsel der fehler und der
Wohnungen bei den Germanen einfach auch für die Wandalen
gelten zu lassen, ohne es erst sich und andern klar zu machen,
wie weit es sich dabei überhaupt um wirtschaftlich mögliches
handelt und die mitteiluug glauben verdient.
Was über die kriegerische ausrüstung der Wandalen gesagt
ist, bedarf der berichtigung; vor allem die bemerkung, dass auch
schilde neben andern schutzwaffen ihnen fast völlig gefehlt zu
haben scheinen, offenbar ist es auch unrichtig, wenn Seh.
Geilamirs befehl vor der schlacht von Tricamarum, nur mit dem
Schwerte zu kämpfen, durch dessen einsieht erklärt, dass die
Wandalen in der anweudung der fernwaffen den gegn'ern, wol-
bemerkt selbst zum grofsen teile Germanen, nicht gewachsen
seien, bei einem reitervolk, wie sie es im wesentlichen waren,
würde gewis auch übung im gebrauch anderer waffen und vor
allem des Speers vorauszusetzen sein, selbst wenn sie nicht be-
zeugt wäre; und was hätte ferner jener befehl fruchten sollen,
da doch die feinde dadurch nicht zu zwingen waren, sich auch
auf den schwertkampf zu beschränken, der ungleiche Verlust
beider teile, 800 Wandalen gegen 50 Byzantiner, zeigt schon,
dass die anordnung nicht klug, sondern töricht und verhängnis-
voll war. was Dann meint : weder lanze noch wurfgeschoss zu
gebrauchen, nur mit dem schwelte anzugreifen, habe offenbar
als ein besonderes heldenstück gegolten, lässt sich eher hören.
Nicht weniges ist an der behandlung der namen auszu-
stellen, während Seh. zb. beständig Asdingen schreibt, obwol der
gewis richtige ansatz des namens als gotisch *Hazdiggös von
ihm anerkannt wird, und Hasdingi sogar belegt ist, setzt er die
106 SCHMIDT GESCHICHTE DER WANDALEN
formen Hraus und Hraptus in die 'Stammtafel der Asdingen'.
s. 7 beruft er sich für diese Schreibung auf Müllenhoff Zs. 7,
5*28, wo aber über beide namen durchaus unannehmbares gesagt
wird. ags. hreo (on möde) aus Beowulf, das *Hraus in dieser
gestalt und der bedeutung von 'Severus' rechtfertigen sollte, wäre
got. *hriggws; für das mit * Hraptus verglichene anord. Hrappr
kann, obwol es als adjectiv im anord. unbelegt ist, wegen dän.
rap, schwed. mndd. mengl. rapp 'rasch, heftig' die Übersetzung
'violentus' allenfalls noch hingehn; aber einen ansatz Hraptus
— was doch immer noch ein anderer name wäre — rechtfertigt
es nicht, und ebensowenig geschieht dies durch das von Müllenhoff
aufserdem noch beigezogene ahd. Hrafolt, auch wenn dieses nicht
für Rafolt verschrieben sein sollte, was ich Zs. 36,47 für die deu-
tung des überlieferten cPäog und cPd7ttog als got. Raus und Rafts
'röhr' und 'balken' vorgebracht habe, ist Seh. offenbar entgangen,
statt Kostoboken ist Koisloboken zu schreiben ; s. Müllenhoff DA.
ii 86; statt Yictofalen (so s. 15) Victovalen, Victoalen oder Victualen;
s. meine bemerkungen Beitr. 17, 29 f. Genserich, für das noch
FrKauffmaun Zs. f. d. ph. 33, 1 ff mit ganz unzureichenden gründen
eintrat, bleibt allerdings abgetan, es würde sich aber vielleicht
empfehlen, um jedes misverständnis auszuschliefsen, Geiserik statt
Geiserich zu schreiben und ebenso Hunerik usw.; auch sollte man
sich nicht scheuen, folgerichtig den letzten Hasdingen Geilamir
statt Gelimer zu nennen, dass nur Thrasa-, nicht Trasamund
das richtige ist, hätte Seh. bei Wrede Spr. d. Wand. 74 sehen
können. dagegen war diesem (s. 47 f ) , was den namen des
führers der verbündeten Burgunder und Wandalen betrifft, mit
denen Probus zusammenstiefs, nicht folge zu leisten, die einzige
quelle, die ihn bringt, Zosimos, hat 'iytXXog al. 'iyyi/J.og, woraus
sich unmöglich ein Igila oder — was Wrede auch erwägt —
Ingila herstellen lässt die berufung auf griech. KvQi'/J.og für
wand. Cyrila rechtfertigt die annähme von suflixtausch in der
griech. widergabe anderer namen nicht, am wenigsten wenn man
mit Wrede 69 f in diesem Cyrila selbst griech. KvQtog enthalten
sieht; denn dann ligt nichts näher, als Cyrila als germauisierung
von griech. KvqüJ.og zu betrachten, also von diesem auszugehn.
auf die einfachste weise lässt sich dagegen aus dem überlieferten
'iyyllXog l(~riAAOC ein irHAAOC, got. *Iggilds, ags. Ingeld
herstelleu.
Viel zu viel wird aus dem namen Ansila herausgelesen, wie
es scheint, dem eines feindlichen anlührers, der unter Guntha-
mund besiegt wurde, da Dracontius Satisfactio v. 213 f siege des
königs feiernd bemerkt : Contulit absenti terrae pelagique trium-
phos, Ansila testatur. Seh. vermutet in ihm einen führer ost-
gotischer truppen, die Theoderik nach Sicilien gesant habe, über
die Guuthamund freilich nur anfänglich einen vorteil davon-
getragen haben könnte, da sein versuch, sich in Sicilien festzu-
SCHMIDT GESCHICHTE DER WANDALEN 107
setzen, für ihn sehr unglücklich ausgieog. oh ein solcher vor-
übergehnder erfolg geeignet wäre, gerülmii zu werden, da damit
sofort die erinnerung an den gröfseren und endlichen miserfolg
wachgerufen würde, lassen wir dahingestellt, jedesfalls aher steht
die mutmafsung auf viel zu schwachen füfsen, wenn sie damit
hegründet wird, dass Ansila 'unzweifelhaft ein gotischer name'
sei. *Ansu- ist ein gemeingermanisches namenelemenl, und seiner
form nach könnte der kosename Ansila ehensogut wie den Goten
jedem andern ostgermanischen stamme einschliefslich der Wan-
dalen zugehören; ja es ist gar nicht zu hezweifeln, dass es würk-
lich hei ihnen allen leute namens Ansila gegehen hat.
Das sind ausstellungen, die sich zum teil auf nebensächliches
beziehen, im übrigen gehn wir hier auf fragen, die sich sonst
an den gang der ereignisse nach der auswanderung des Volkes
aus Deutschland und an die bei ihm beigebenden zustände
knüpfen — und somit auf den hauptinhalt des buches — mit
absieht nicht weiter ein. es sei nur bemerkt, dass uns sein vf.
die schwierige aufgäbe, die dabei dem historiker gestellt ist, aus
unzulänglicher und einseitiger Überlieferung schöpfend ein bild
der würklieben Vorgänge zu zeichnen, glücklicher zu lösen scheint
als seine Vorgänger, zumal seine aus gesundem tatsachensinn
entsprungene skepsis gegen die angaben des Prokopios verdient
volle billigung.
Wien. Rudolf Much.
Kristnisaga. f'ättr Torvalds ens yiSforla. Pattr 'Isleifs . biskups Gizurar-
sonar. Hungrvaka. hg. von B. Kahle. (Altnordische sagabibliolhek XI.)
Halle a. S., Niemeyer, 1905. xxxm und 144 ss. — 5 m.
Im Arkiv 20, 228 veröffentlichte BKahle 1904 eine Unter-
suchung über die hss. der Hungrvaka und kündigte gleichzeitig
die ausgäbe an, die uns seit 1905 vorligt. den lesern der ASB
wird damit auch eine probe der geistlichen geschichtschreibung
der Isländer geboten (schon 1892 hatte freilich Golthers Ari einen
Vorgeschmack davon geliefert), da die Biskupa sögur nicht jeder-
mann zugänglich sind, verdiente der gedanke, die vier ersten stücke
daraus gesondert zu edieren, sympathische aufnähme, auch wenn
der schwerpunet der arbeit nicht in den einleitungen und an-
merkungen läge, letzteres ist aber natürlich hier der fall, der
text seihst entfernt sich, vom äufseren gewande abgesehen, wenig
von dem Vigfüssons. (das als auhangzum börvalds pätt mitgeteilte
stück aus AM 62 war bisher ungedruckt.) das gilt auch von
der Hungrvaka. K. hat hier Vigfüssons Stammbaum nicht umge-
stürzt, sondern nur weiter ausgebaut und damit modificiert. sein
hauptergebnis war, dass von den hss. nicht 379, sondern 380
zu gründe zu legen sei und dass 205 gröfsere beachtung verdiene,
dieses ergebnis leuchtete ein. nur dass K. m. e. der abschrift des
108 KAHLE KRISTMSAGA
Jon Gizurarson (205) noch nicht ganz gerecht wurde, sein
argumentieren zu gunsten von 380 war stellenweise mehr ein
plaidieren. s. 101, 25. 26 kanu man nur schwanken zwischen
379 und 205, was im texte zu lesen ist, scheint sprachlich
unmöglich; ich möchte aher 205 den vorzug gehen (synir hans
gnduHuz allir d6r enn hann), weil fijrr sich hier normaler aus-
nimmt als riör und also leicht secundär hineingekommen sein
kaun. aus der lesart von 205 ist wahrscheinlich durch verschreiben
(äö> für allir, das ja auch entbehrlich ist, aber dann nachgeholt
wurde) die von 380 entstanden, aus dieser durch bewuste besserung
und zugleich Vereinfachung die von 379. dasselbe Verhältnis
besteht auch sonst. 93, 28 ist aus um mfödegi dags (205) in
380 durch nachlässigkeit das mindestens auffallende at mtöjum
degi dags (das K. in den text setzt) und daraus in 379 das ein-
fache at mföjum degi geworden, ebenso hat 121, 24 der autor,
der doch ein sorgfältiger Stilist ist, vermutlich geschrieben tföu-
bcekr miklar langt um betri (205), daraus macht 380 t. miklar
miklu betri, was 379 durch weglassuug von miklar sich wider um
zurechtschneidet (K. folgt hier 379). in diesen fällen haben die
richtigen lesungen von 205 schon in der gemeinsamen vorläge
Y gestanden, die Verderbnisse von 380 gehören der daraus ab-
geschriebenen vorläge Sk von 379 und 380 an, die dann in 379
freier behandelt ist als in 380. noch an andern stellen hat 205
wahrscheinlich das ursprüngliche, so 117, 2 (man lese : en pd er
üt spurtiiz andiät Halls Teitssonar til 'Islands, mdtti pd enn biskup
kjösa, pd vdru . . . das doppelte spyrja ist allzu ungeschickt), ferner
102, 12, wo 205 aliein die aus der quelle übernommene abnormität
biskup Gizurr bewahrt (s. darüber weiter unten).
Orthographisch und typographisch entspricht der text natürlich
der norm der sagabibliothek. die visur sind durch die bekannten
besonderen sprachformen abgehoben, zugegeben, dass damit den
Strophen selbst ihr recht wird, so tritt dieses verfahren jedesfalls
der saga als solcher zu nahe, verfälscht sie, indem es klüger ist
als der autor. doch das trifft nicht unsern herausgeber. ebenso
wenig, wenn ich die fetten paragraphenzahlen bedaure, die den
conlext unterbrechen, sie werden eine eigentiimlichkeit der saga-
bibliothek bleiben, die man nach c. und § citiren mag, schwerlich
werden sie sich auf die texte selbst übertragen, nach diesen texten
ist ja die nachfrage unvergleichlich schwächer als nach den
griechischen und lateinischen auloren oder gar nach der bibel,
die auswahl an zeitgemäfsen ausgaben wird daher voraussichtlich
immer gering bleiben und damit der nachteil, die citate an eine
bestimmte editiou zu binden, annähernd gleich null, warum also
nicht nach seiten und Zeilen citiereu, im Interesse der Über-
sichtlichkeit und der ästhetik? — s. 31 ist ein salz als prosa
gedruckt, den man im dringenden verdacht haben darf, dass er
als langvers concipiert und empfunden wurde : liggr per halmsvisk
KAHLE KRISTNISAGA 109
pars hjarta skyldi! s. 42 bemerkt der herausgeber selbst etwas
entsprechendes.
Umfangreicher als der text sind die aumcrkungen. zt. erklären
sie den wortsinn, grösseren teils bringen sie realien bei mit
reicblicben litteratnrangaben, wobei hier und da der nachweis
ziemlich entlegener litteratur besonders dankenswert ist. dagegen
können ungenaue anführungen wie 'Austfird. sog.', 'ßandamanna
saga ed. Ileusler', 'Fagrskinua' (es ist die alte ausgäbe gemeint)
jedesfalls dem anfänger wenig nützen, einige noten sind sprach-
licher art. im einzelnen hab ich folgendes zu bemerken, zu
s. 9, 9: 4des dieners der götter' ist ein verseben ; es muss heii'sen
'dem diener d. g.' — 14, 12. 13: mit / Vindlandi ist wahr-
scheinlich Jomsborg gemeint, dort wird I^angbrand auch die irische
sclavin gekauft haben. — 21, 20: über Galdra-llcdin ist nichts
bemerkt, vergl. dagegen 93,5.6. 97,5. — 23, v. 4: argr be-
zieht sich doch wol auch hier auf die langen gewänder des priesters,
vgl. s. 12. — 14, 4: Drofn (Drafn) leitet Heinzel Üb. d. Hervs.
478 aus russ. derevnja 'dorf her. — 88, 13. 14: es ist unzu-
trelfeud, dass afnyta sonst "nicht belegt' sei (so schon Ark. 20, 231),
denn afnyta oder af nyta, das Fritzner n 844 nachweist, ist
weiter nichts als die bei syntaktischer abhängigkeit mögliche
nebenform zu nyta af, vgl . das mit dem Sprachgebrauch der
überlieferten prosa nicht mehr übereinstimmende nutum af, Atlm.
94, 4. — 90, 4. 5: man sollte hier den leser darauf hinweisen, dass
der 'Hröll'r af GautlandT offenbar seine existenz dem Hrolf Gaut-
reksson verdankt. — 91, 6: in dem gedichte Schretel und wasser-
biir Zs. 6, 174 wird erzählt, wie der köuig von Norwegen dem
starken künege von Tenemarke sante ein zamen xoazzerbern. zwar,
ich wil iuch der ivdrheit wem : ez was der wizen einer, ein grözer,
niht ein kleiner; vgl. ASchultz, Hof. leben i 349. — 95, 9. 10:
aus den Stabreimen darf man wol kaum auf eine Strophe schliefsen,
sie sind einfach eine eigentümlichkeit des gehobenen prosastils,
s. xxiv. — 102, 21 : drepa fe manna war eine stehende redens-
art, vgl. lleidreksgätur 25 (Edd. min. 116): hvat er pat dyra, er
drepr fe manna. — 103, 6 : der traurige zustand des Röma-
borgarriki nach dem tode des papstes Gregor bedürfte wol einer
erläuterung. eine solche liefert das factum, dass Rom 1084 durch
die Normannen aufs grausamste verwüstet wurde und die be-
volkerung hierunter jedesfalls noch nach dem tode Gregors vn
(1085) zu leiden hatte. — 103, 9 worauf spielen diese Sätze an?
was ist der manndauüi z. 10? — besonders die personalgeschicht-
lichen angaben zeichnen sich durch umsieht und genauigkeit aus.
hier steckt eine fülle von arbeit und Gelehrsamkeit. Sammlungen
Gerings sind mitbenutzt, viele erläuterungen, besonders chrono-
logischer art, beruhen auf Vigfussons scharlsinnigen feststellungen.
des herausgebers eigene deutung von ärmaftr (6, 6) = drgofi
darf man aeeeptieren.
110 KAHLE KRIST.MSAGA
Was die anmerkungen übergehn, stil und litterarischen
Charakter der denkmäler, holen zt. die einleitungen nach, bei
der Krs. wird hauptsächlich nach interpolationen und nach den
quellen gefragt, mit Finnur Jönsson schreibt K. der saga den
Charakter einer compilation zu. das ist ohne zweifei richtig, aber
man sollte meinen, die interpolationsfrage müste sich, von diesem
gesichtspunct gesehen, sehr erheblich verschieben, ist der text
durch compilieren zustande gekommen, so haben wir nicht die
mittel, zwischen mehreren compilatoren zu unterscheiden. — einen
festen ausgangspunct für die kritik liefert das c. 5, das in der
tat, wie Meifsner Streng). 12 hervorhebt, stilistisch völlig abweicht,
es scheint mir klar, dass mit den Worten d dogum Haralds k.
Gormssonar ein ursprünglich selbständiger hält anhebt, er erzählt
zunächst von Pangbrand und Stefni. die stelle s. 17, 4 (allr Ijför
var pd heföinn d landi her) zeigt, dass dieser bätt älter ist als
c. 1 — 4, die von früheren bekehrungen im nordlande berichten,
nun zeigen c. 5 — 8 enge berührungen mit der grofsen Olafssaga
Tryggvasonar in Fms. i und Ftb. l. Finnur Jönsson (u 581) hat
das Verhältnis so aufgefasst, als wenn die Krs. einen auszug aus
der Olafss. gäbe, das scheint aber ausgeschlossen zu werden
durch die eben erwähnte inconcinnität, die gerade in der Olafss.
nicht vorligt : Flb. i 286 steht gerade das, was man nach dem
Zusammenhang der Krs. erwarten sollte {alt fölk var heiüit fyrir
sunnan landok um Vestfirfiinga fjörüung). es ist nicht anzunehmen,
dass der compilalor der Krs. diesen bericht zum schaden seiner
eignen darstelluug gekürzt haben sollte, vielmehr ligt entweder
eine gemeinsame quelle zu gründe, die mit c. 5 ff. der Krs. und
mit Ari Lib. c. 7 darin übereinstimmte, dass sie vor Olafs eingreifen
keine mission auf Island kannte — diese quelle könnte übrigens
nicht Gunnlaugs lat. werk gewesen sein, denn Gunnlaug war im
nordlaude zu hause, wo die tradition über Pörvald haftete, wie
sich denn auch der Porv. p. auf ihn beruft — oder c. 5 ff. der
Krs. sind die quelle für die jüngere Olafss., die dann den Zu-
sammenhang auf eigne hand hergestellt hat. (die noch übrig
bleibende möglichkeit, dass der verf. des 'Pangbrandpätt' selber
die Olafss. ausgeschrieben haben könnte, wird man nicht hoch
anschlagen, denn die Olafss. enthielt auch die Pörvaldepisode, die
er nach seinem eigenen indirecten Zeugnis nicht gekannt hat.)
übrigens kann man K. nicht zugeben, dass die lat. namenformen
in c. 5 auf eine lat. vorläge weisen, dann müsten auch zb. Aris
Libellus oder die Häkonarsaga Häkonarsonar lat. quellen haben, was
bisher m. w. niemand angenommen hat. nur das darf mit einiger
Wahrscheinlichkeit geschlossen werden, dass der verf. lateinkundig
war. betrachten wir seinen stil genauer, so scheint mir eine starke
ähnlichkeit mit der erwähnten Häkonarsaga unverkennbar, die
flielsende beredsamkeit der wol gerundeten, wol durchdachten
sätze ist die Sturlas. der eingang (d dogum . . . ) klingt wörtlich
KAHLE KßISTNISAGA 11 1
an den eingang der IMks. an. lelinvvorle wie pataldr, riddari
stimmen dazu, die declination der latinisierten namen ist dieselbe
wie dort (n. g. acc. Albertus, Vilbaldus, dat. Alberto, vgl. Kon.
sog. 245, 5. 256, 12. 260, 15. 2-14, 31. 260, 2). dass Sturla
persönlich an der Krs. tätig gewesen sei, haben schon Brenner
und Finnur Jönsson angenommen, aber die rolle eines müfsigen
und ungeschickten interpolators, die letzterer ihm zuweist, scheint
des bedeutenden Schriftstellers unwürdig, plausibler dürfte sein,
dass der gesamte grundstock unseres textes, dessen anl'ang bei
c. 5 deutlich ist, auf Sturla zurückgeht, schon in c. 6 setzt die
Überarbeitung ein. wir dürfen sie derselben band zuscbreiben,
die auch die anfaugscapilel hinzugefügt hat. ist diese hypothese
richtig, so lehrt sie für die datierung etwa dasselbe, was ohnehin
aus der erwähnung des bischofs ßötölf in dem meines bedünkens
ganz unverdächtigen c. 3 hervorgehn würde.
Folgendes kann noch zur stütze dieser Vermutung dienen,
dass Sturla den gedanken fassen konnte, Islands bekehrung durch
Olaf Tryggvason zu schildern, dürfen wir ihm schon zutrauen,
in der Hdks. werden einmal in frommem geiste Olafs Verdienste
um die Christianisierung Norwegens hervorgehoben (Kon. sog. 242 f.).
aufserdem schlägt die Krs. die brücke zwischen der von Sturla
überarbeiteten Laudnäma und seiner Sturlungasaga (F. J. Bauksbök
lxx). Sturla hat Aris bericht ergänzt durch mündliche Über-
lieferungen, besonders localtraditionen aus seiner heimat, der
Myrasysla und umgegend, wo die erinnerung an Pangbrand und
Stefni noch haftete, (die auffallende Ortskenntnis in diesem winkel
von Island hebt K. s. xi hervor), als familienerinnerung wird der
schriftsteiler den berühmten ausspruch des goden Snorri über-
kommen haben : hvat reidduz gobin pd, er her braun hraunit,
er nü stondu ver dl — ursprünglich ist dies wol eine tenden-
ziöse erfindung gewesen, vielleicht schon früh als ätiologische
sage an das furrärhraun angeknüpft (s. Kahle zu 38, 25). ebenso
wenig vertrauen verdient die episode von den sigrgjafir. wie
man in Pörläk auch ohne päpstliche consecration (ßaumgartner
Nord, fahrten 269 f.) einen heiligen hatte, so wünschte man für die
junge kirche auch den glänz des märtyrertums, und wenn die
erfindung eines richtigen märtyrers durch den gesunden sinn und
die geschichtskenntnis des volkes ausgeschlossen war, so liefs sich
doch die bereitwilligkeit zum martyrium innerhalb des festen
rahmens der Vorgänge vom jähre 1000 ganz gut in scene setzen
mittelst einer antiquarischen construction, wie sie dem volke
Snorris ähnlich sieht, an Aris ältere Islendingabök ist hier nicht
zu denken (vgl. K. xm); die darstellung des Libellus (Golther s. 13 f.)
macht an dieser stelle den eindruck, dass sie Aris ganzes
wissen gibt.
Die Krs. bringt nicht weniger als zwei berserkgeschichten.
sie sind localisiert auf der Bardastrond und bei Haukagil. beide
112 KAHLE EBISTNISAGA
künneu historisch sein, anzunehmen ist das aber nur von dei
ersten; die zweite, die von den beiden Haukar, wird eine Variante
sein, man hat an den Ortsnamen Haukagil angeknüpft und die
beiden personen erfunden unter dem eiufluss von versen wie
haukar bdbir (Hrök. 14, 2) oder ok tveir haukar (Sig. sk. 67, 6).
überhaupt scheint im nordlande die legendenbildung üppig ge-
wuchert zu haben, zeuge -dessen neben dem anfang der Krs.
namentlich der Porv. p., dessen einsiedlergeschichte zb. bei Kahle
mit recht keinen glauben findet.
Das interessanteste der vier denkmäler ist die Hungrvaka.
dieser nachdenkliche clericus sucht, wie K. bemerkt, von jedem
seiner neiden das beste zu sagen, und doch sind seine Charakter-
bilder differenziert und anschaulich, besonders die letzten, die des
Magnus und des Kleing. hier sieht er mit den äugen seines
gewährsmannes. Gizur Hallsson war etwa 20 jähre alt, als bischof
Magnus die grofse veizla in Skälaholt gab, mit dem drykk peim
enum dgceta. (das erinnert daran, dass BS i 108 porläk, der
heilige, drykkscell genannt wird : von dem alten bischof Kelil
von Hölar konnte das vielleicht nicht gesagt werden.) für den
älteren Zeitraum wird Ari die quelle sein ; K. meint s. xxvn, nur
durch Gizurs mündliche Vermittlung, dagegen zeugt c. 8. der
anfang entspricht Lib. 21, z. 8 — 11, stammt aber höchst wahr-
scheinlich nicht von hier, sondern aus der Isl. bök, auf die der
rest des capitels zurückgehn muss. die Pälssaga (BS i 145) citiert
nämlich einen ausspruch von Ari : Ari prestr hinn frödi ....
segir, hve mjgk vdrt land drüpfii eptir frdfall Gizurar biskups,
er menn virüu mestan skgrung verit hafa d 'Islandi. das weist
deutlich auf den satz des Hungrv. : svd hugdiz at enum vitrustum
mgnnum, at svd pötti drjüpa Island eptir frdfall Gizurar biskups,
sem Römaborgarriki eptir fall Gregori pdfa (103, 4). aus der
Übereinstimmung ergibt sich, dass die Pälssaga nicht mit eigenen
Worten referiert, sondern dass sie citiert1. mit vitrastir menn
zielt der verf. der Hungrv. auf Ari. dass ihm Aris werk schrift-
lich vorgelegen hat, geht aus dem parallelcapitel der Krs. hervor
(51, 9 — 5o, 4). vergleicht man die beiden texte, so kommt man,
auch ohne zu wissen, dass sie aus der 'Isl. bök stammen, zu dem
ergebuis : sie müssen auf einen dritten text als gemeinsame quelle
zurückgehn. dass dies eine schriftliche quelle war. zeigt besonders
die verschiedene Verteilung der satzschlüsse im worlmaterial,
daneben ein lesefehler wie d lopt um (102, 18) für ä lopti (52, 10).
wir besitzen also hier, in zwei einander recht nahe stehnden
recensionen, ein capitel der verlorenen 'Isl. bök. Aris dürre
1 der singulare gebrauch von drjüpa (drüpa) hat m. w. nur poetische
parallelen : Skwreict i Skiringssal of brynjalfs beinum drüpir, Yngl. t. 44
(Wisen), und drüpir H<?f<$i, dni&r er pengill, Ldn (angeführt von Detter —
Heinzel zu Gudr. 2, 5—8). an beiden stellen handelt es sich um verstorbene,
über deren leiche sich ein berg trauernd herabbeugt.
KAHLE KRIST.MSAGA 113
Schwerfälligkeit ist unverkennbar, sie reicht in der Hungrv. bis
103, 4. der folgeude satz ist eine freiere Umbildung der vorläge,
womit der verf. zu seinem eigenen resume übergeht die be-
merkung über Haflidi Mässon am scbluss des capitels wird dann
wider aus Ari stammen, doch kaum wörtlich ; die partieen der
Krs. 54 f., deren entsprechender bestandteil im Wortlaut abweicht,
erinnern stilistisch sehr an den Libellus. — eine einzelheit von
Aris diction können wir hier noch feststellen, die Jlauksbök
überliefert im anläng von Krs. c. 18 die auffallende Wortstellung
bükup Gizutr. so hat Ari geschrieben (vgl. Lib. 12, 7 : konun-
ginum Oldfi, dazu Nygaard Norroeu syntax § 352), deun an der
entsprechenden stelle der Hungrv. list die hs. 205 ebenfalls
biskup Gizurr (Kahle, Arkiv 20, 238). — die association von
Gizurs tode mit dem Gregors vn wird so zustande gekommen
sein : der achtzehnjährige Ari wurde vou seinem mentor Teit
Isleifssou auf das merkwürdige zusammentreffen jener heimsuchung
Roms mit dem tode des grofsen kirchenfürsten aufmerksam
gemacht, damals (ca. 1186) war Gizur schon bischof. als er
dann starb und Island nicht blos um ihn zu trauern hatte, war
die erinnerung an jenen starken Jugendeindruck für Ari von selbst
gegeben. —
Die Biskupa sögur sind eine literarische gattung von eigenem
reiz, sie verleugnen kaum irgendwo gänzlich die schule der saga,
haben aber dabei jenes intime und stimmungsvolle, das die altisl.
prosa sonst nicht kennt, das uns aber das christliche mitlel-
aller lieb macht, diese zt. geschmacklosen denkmäler sind quellen
ersten ranges für die culturgescbichte. selbst ein so unislän-
disches, von uunatur strotzendes machwerk wie der förvaldsbält
ist es auf seine weise, der leichte gesprächston des 'Isleifspätt
mutet modern au. möge die erste deutsche edition, die sich
diesem felde zuwendet, recht viele freunde finden.
Breslau, 28 Januar 1907. G. Neckel.
L. F. Anderson. The anglo-saxon scop. University of Toronto Studies,
philological series nr. 1. The University library : published by the
librarian, 1903. 45 ss. 8°.
Anderson hat die Zeugnisse über den englischen hofsänger
der stabreimendeu zeit sorgfältig gruppiert und ihnen ihre aus-
sagen abgefragt, durch die reichliche mitteilung der textstellen,
deuen sich der commentar unterordnet, und durch die übersichtliche
gliederuug nach gut gewählten Stichworten hat die arbeit einen
vorzug vor Arthur Köhlers aufsatz in der Germania bd 15. sie
ist als darstellende Zusammenfassung zu würdigen und als solche
ganz nützlich, probleme zu verfolgen, ligt der schrill weniger,
kaum gestreift werden fragen wie diese : wie sich der dichtende
und harfende gefolgskrieger germanischen Stiles abgrenzt gegen
A. F. D. A. XXXI. 8
114 ANDERSON THE ANGLO-SAXON SCOP
den joculator, das erbstück der südlichen cultur; wie sich die
geschichtliche gegenwartsdichtung mit dem heldenliede berührt;
wieweit der dichtersänger von seiner kunst lebte, also ein berufs-
mäfsiger dichtbetrieb im strengen sinne anzunehmen ist. für
diese fragen hätte allerdings das nordische Schrifttum reichere
ausbeute gewährt, es wird ein parmal unsicher tasteud heran-
gezogen (misverständnisse s. 21 und 26).
S. 38 ff. entscheidet sich A. für die verbreitete annähme,
der epische Vortrag mit harfenbegleitung sei ein melodram gewesen,
ob er dies für stichische und strophische dichtung gleichermafsen
annimmt, wird nicht klar (er citiert nebeneinander Kögel, der
an unstrophische epik denkt, und Weinhold, der von strophen-
mäfsigen abteilungen spricht), dass die bekannten Zeugnisse für
harfenbegleiteten Vortrag auf stichische gedichte zielen, m. a. w.
dass wir zwar nicht im Beowulfepos, aber doch im Finns- und
im Hildebrandsliede Vertreter jener zur harfe 'gesungenen' lieder
vor uns haben , das ist doch wol nicht so sicher, einige der
quellenstellen lenken bei unbefangener betrachtung die gedanken
nicht grade auf ein melodram, d. h. auf sprechstimme; so die
stelle Wids. 103 ff. {(tonne wit SciUing sciran reorde . . . song
ahofan hlude bi hearpan, hleopor sicinsade), besonders wenn hier
ein gleichzeitiges singen der beiden (doch gewis unisono) gemeint
ist. wenn aber das einzige musikalische am vortrage die harfen-
griffe waren, kann man nicht gut sagen, dass der scop neben
dem dichter und recitator auch componist war (s. 41 o.).
Die zwillingsformel 'singen und sagen' hat man seit Lachmann
so oft in dem sinne verwertet, als stelle sie dem gesang eine
bestimmte andere Vortragsweise gegenüber (s. 39 : . . the recilation
of the scop was somelhing intermediate between 'singing' and
'saying'). aber die specifische bedeutung von 'sagen,' die in den
älteren germanischen mdaa. noch klar hervortritt, ist 'erzählen,
berichten' (Zs. 46, 271). das zeitwort bezieht sich nicht auf den
akustischen Vorgang (wie ae. singmi, hleodrian, zt. cwedan u. aa.),
man kann in prosa, sprechvers, gesang, auch in buchstaben
oder bildern 'sagen' d, h. erzählen, den modernen sinn von
'singen und sagen' hätte man altwestgermanisch durch 'singan
andi spreka?i ausgedrückt, daher ist aus der formel 'singen
und sagen' weder ein gegensatz zweier Vortragsarten noch eine
Verschmelzung von musikklang und sprechstimme berauszulesen.
'singen und sagen' muss bedeutet haben 'singen und erzählen',
di. entweder 'singend, durch gesang erzählen'1 (vgl. Wids. 100
ponne k be songe secgan sceolde) oder 'singen und sonstwie, in
irgend einer andern form erzählen' — wobei der besondere sinn
1 'mit singender, dh. pathetisch gehobener stimme erzählen' übersetzt
Kögel Lg. 1, 143. aber dann dürfte er den technischen ausdruck für die
betr. art des Vortrages nur in dem verbum 'singen', nicht in der Verbindung
von singen und sagen suchen.
A.NDERS0N THE AISGLO-SAXON SCOP 115
des agerm. 'singen' dahingestellt bleibt, in tnhd. zeit bat sagen
zt. schon den neueren sinn, aber wenn man die stellen bei
Lachmann Kl. sehr, i 461 ff durchgeht, sieht man leicht, dass
gewöhnlich mit der akustisch neutralen bedeutung 'erzählen, be-
richten' auszukommen ist, besonders wo sagen allein steht (der
von hern Dietrich von Berne gesagenkan; als uns meister Walther
seit uä).
Berlin jan. 1907. Andreas Heusler.
James Edward Bouth jr., Two Studies on the Ballad Theory of the Beowulf
together with an introduetory sketch of opinion. (diss. der Johns
Hopkins Universität) Baltimore J. H. Fürst Company, 1905. 57 fs 8°.
Der titel des heftes trifft nicht zu. Routh will zeigen, dass
man gewisse Unebenheiten im Beowulf erklären kann, ohne ein-
schiebsei zu hilfe zu rufen, die annähme von einschiebsein alter
ist noch lange keine balladeutheorie. das dilemma lautet nicht:
entweder ballads oder unity. die Seitenblicke des vf.s gelten
meistens der Müllenhoffschen Beowulfgenese : Müllenhoff aber
nahm zwei selbständige lieder an, die zusammen noch nicht
30 °/o des epos bilden, alles übrige sollte fortsetzung, einleilung
oder einschiebsei sein : da kann mau füglich nicht von lieder-
tbeorie sprechen, diese wäre auch mit andern waffen zu be-
kämpfen — soweit dies grade beim Beowulf nach Kers buche noch
erforderlich schiene, nebenbei : 'Epic and Bomance' fehlt in der
bibliographischen skizze!
B. wendet sich also einfach gegen die interpolatoren; und
zwar unter zwei gesichtspuneten : die geistlichen stellen brauchen
nicht jüoger zu sein, denn das epos als ganzes ruht auf christ-
lichem gründe; die entbehrlichen auslaufe brauchen nicht jünger
zu sein, denn sie vertragen sich mit dem Stile der sicher ein-
heitlichen ae. epen. in beiden puneten wird der vf. keinen grund-
sätzlichen Widerspruch zu fürchten haben, dass das grofse
buchepos Beowulf die schreibezeit und damit die kirche voraus-
setzt, ligt am tage, des dichters versuche, das heidnische colorit
zu treffen, sind merkwürdig misglückt. in seiner Umgebung
müssen die religiösheidnischen Überlieferungen fast erstorben
gewesen sein, aus den monotheistischen Wendungen, die er
seinen helden leiht, darf man aber nicht schliefsen, dass er die
Dänen als Christen gedacht wissen wollte (s. 30. 53 1); daher
enthält auch der passus z. 175 — 88 (metod hie ne cuüori) — das
einzige von B. anerkannte einschiebsei — keinen sachlichen
Widerspruch.
Der ersten Studie, die sich hauptsächlich mit Grendels ab-
stammung von Cain befasst, schadet die unwahrscheinliche gleich-
setzuug von Grendel und der antiken hydra. recht verblüffend
wirkt die folgerung s. 26 : die anspielungen auf Cain gehören
s*
1 16 ItOUTH TWO STÜDIES 0.\' THE BALLAD THEORY OF BEOWULF
unlösbar zum epos, denn : Grendel ist ältester bestand der dichtung,
und 'Grendel in gestalt der hydra war in einer der unbekannten
vor-Beowulfischen quellen des gedichtes mit Caiu verknüpft',
selbst wenn es um die hydra und diese vor-Beowulfische quelle
besser bestellt wäre, brauchte nicht notwendig schon der epen-
dichter den gelehrten Stammbaum seines wasserriesen angebracht
zu haben. — dem zweiten abschnitt darf man eine besonnene,
tactvolle haudhahung der dichterischen belegsteilen nachsagen,
viel neues kann man dieser erstlingsschrift nicht entnehmen: die
warnung vor den allgegenwärtigen interpolatoren kommt ein wenig
post festum, und der positive beweis der eiuheit ist mit Wider-
legung der Unvereinbarkeiten noch nicht geführt.
Berlin, jau. 1907. Andreas Heusler.
Quellen und Untersuchungen zur lateinischen philologie des mittelalters.
herausgegeben von Ludwig Traube, i band. München, CHBecksche
Verlagsbuchhandlung, 1906. gr. 8°. — 15 m.
i 1. Sedulius Scottus von S. Hellmann, privatdocent der geschichte
a. d. Universität München. 1906. xv u. 203 ss. — einzelpreis 8,50 m.
i 2. Johannes Scottus von Edward Kennard Rand, assistant pro-
fessor of latin at Harvard TJniversity. 1906. xiv und 106 ss. —
einzelpreis 6 m.
Nur mit schmerzlicher trauer kann ich über die beiden vor-
liegenden werke berichten : eben hatte ich die feder angesetzt,
da traf die nachricht ein, dass der mann, der das neue unter-
nehmen ins leben gerufen hat, nicht mehr ist. schon hatte ihn
die hand des todes gestreift, als er sich noch entschloss die
'Quellen und Untersuchungen' erscheinen zu lassen, und nur die
ersten fruchte war ihm noch vergönnt zusehen; aber er konnte
mit der bestimmten erwartung scheiden, dass den ersten vor-
trefflichen leistungen der fortgang entsprechen werde.
Seit der berühmten Untersuchung 'O Borna nobilis' (Münchner
SB. 1891, 299 ff) und dem dritten band der Poetae Carolini hat
Traube den Sedulius Scottus nicht aus dem äuge verloren,
auf seine anregung hat nun Hell mann dem anziehenden manne
ein liebevolles und tief eindringendes Studium gewidmet, dessen
ergebnisse weit über die person des gelehrten Iren hinausgehn.
so zerfällt denn auch das buch in drei selbständige teile, von
denen jedoch der erste und zweite enger miteinander verbunden
sind. Angelo Mai hatte 1842 aus einer hs., Palatinus 591 der
Vaticana, den 'Liber de rectoribus christianis', den Sedu-
lius zwischen 855 und 859 für Lothar n verfassle, veröffentlicht,
zufälligerweise war es gerade die einzige hs., die das werk voll-
ständig mit einschluss der nach dem vorbilde des Boethius jedem
capitel angehängten gedichte einschliefst, und so hat Traube diese
hieraus in die PC m aufgenommen, im übrigen bietet aber diese
hs. den allerschlechtesteu text. Dümmler plante schon eine neue
TRAUBE QUELLEN D. UNTEB.SUCHU.NGEN Z. LAT. PHILOLOGIE Ü. MA.S 117
ausgäbe; nun hat Ihllmann das ganze material zusammengefasst.
aufser dem Palatinus benutzt er eine Berliner hs. B, ferner eine
Bremer A, die im besitze des Goldast war, und die verschollene
aber von ihm in einem sammelbande der Universitätsbibliothek
zu Jena aufgefundene ausgäbe Marquard Fiebers, F. (diese aus-
gäbe oder ihre vorläge beruht auf einer verlorenen hs., die von
dem berausgeber mit grofser Wahrscheinlichkeit der bibliothek
des klosters Gorze zugewiesen wird, wohin sie wol über Metz
gekommen ist.) auf grund dieser hss. wird nun ein text geboten,
dem man fast überall beistimmen muss. leider sind die gedichte,
wie erwähnt, nur in P enthalten, so werden sie im allgemeinen
in Traubes recension geboten, doch hat dieser selbst an einigen
stellen Änderungen vorgenommen, eine knappe, aber äufserst
lichtvolle einleituog orientiert über die fürstenspiegellitteratur und
weist dem Liber d. r. ehr. seine litterarische Stellung zu.
Aufser dew hss. standen dem herausgeber für seine arbeit
noch andere wertvolle hilfsmittel zu geböte : darüber handelt der
überaus wichtige zweite teil Das collectaneum des Sedu-
lius Sc. in dem codex Cusanus C14 nunc 37. dies flori-
legium, das schon widerholt die gelehrten beschäftigt hat, ist, wie
Traube aao. nachgewiesen hat, von Sedulius selbst angelegt, und
ein blick in den apparat zeigt, dass es im Liber d. r. ehr. auch
tleifsig benutzt ist. so muste Hellmanu diese Sammlung einer
sorgfältigen prüfung unterziehen, die ertragreich genug war. in
Lüttich, wo Sedulius lange würkte, wird sie entstanden sein; die
abschritt die uns vorligt zeigt deutlich, dass das original in
irischer Orthographie geschrieben war (anh. 1). leider sind 20 bll.
des Originals verloren gegangen, doch auch die erhalteneu,
über deren iuhalt ein überblick geboten wird, weisen einen
grofsen reichtum auf. an diesen nachweis knüpft Hellmann nun
eine Untersuchung über die Wechselbeziehung zwischen Irland
und dem festlande, deren ergebnis ich wegen der grofsen bedeu-
tung der sache wörtlich widergebe. s. 99 : 'man spricht so gern
und häufig von der bereicherung, welche die Ireu dem geistigen
leben des continents brachten, und bedenkt nicht, dass sie selbst
in den klüstern des festlandes reiche handschriftendepols, und,
wenigstens im 9 jh., eine durchaus selbständig entwickelte gelehr-
samkeit antrafen : über der betonung der Verdienste, welche sie
sich um das festland erwarben, vergisst man gerne die frage,
wieviel sie selbst binwiderum den anregungen des continents ver-
dankten, das collectaneum des Sedulius versetzt uns nun in die
glückliche läge, den gesichtskreis eines im fränkischen reiche
lebenden Iren des 9 jb.s ziemlich vollständig zu übersehen, noch
dazu eines mannes, dessen gelehrsamkeit aufsehen erregt haben
wird, und von dem sicher anregungen nach mehr als einer seite
ausgegangen sind, so können wir den versuch wagen, zu scheiden,
wieviel von seinem geistigeu gute irischer herkunft ist, wieviel
118 TRAUBE QUELLEN U. UNTERSUCHUNGEN Z. LAT. PHILOLOGIE D. MA.S
er den einwürkungen seiner zweiten, festländischen heimat ver-
dankte', dieser versuch erweitert sich zu der frage nach der
Überlieferung der lateiuischeu lilteratur während der ersten jhh.
des ma.s, und die antwort ist, dass die bedeutung der Iren auf
diesem gebiete doch erheblich überschätzt worden ist; ihre
neigungen zogen sie in erster linie zur patristischen litteratur,
und wenn wir sie im besitze von classischen schätzen finden, so
werden wir immer fragen müssen, ob sie diese nicht auf dem
festlande vorgefunden haben, eine hübsche bestätigung ergibt
die prOfuog der benutzten quellen : wo es möglich ist zu einiger-
mafsen sicheren ergebnissen zu kommen, weisen die excerpte aus
classischen Schriftstellern auf conti nentalen Ursprung hin.
fünf beigaben schliefsen diesen teil. — im zweiten anhang wird zum
erstenmal ein dialogfragment 'Senex et adolescens' veröffent-
licht, das, wie mit recht betont wird, stark an den dialog zwischen
Terentius und der persoua delusoris (Hrotsvit ed. vWinlerf. s. xx)
erinnert. — anhang in bringt eine bisher nicht völlig veröffentlichte
Sammlung, die am eingange des collectaneums steht, 'Proverbia
Grecorum', die mehrfach, aber in vollständigerer gestalt, im Liber
de r. ehr. verwertet ist. dass diese Sammlung ursprünglich umfang-
reicher war, geht daraus hervor, dass einzelne stellen des Liber
mit citaten stimmen, die anderweitig den Proverbia Gr. zuge-
schrieben werden, so scheint es mir nicht ausgeschlossen, dass
noch weitere stellen aus den Prov. stammen, wo wir es nicht
wissen, wie dies zu 25, 12 doch höchst wahrscheinlich ist. leider
sind die Prov. schlecht überliefert und schwer verständlich; den
gegebenen erläuterungen kann ich nicht überall zustimmen. —
anhang iv bringt im anschluss an das florilegium eine Unter-
suchung zur geschichte der irischen canonensammluug.
Der dritte teil, 'Sedulius u n d Pelagius', steht mit den
beiden ersten nur äufserlich, durch die person des S., in Zusammen-
hang, dieser hat auch eine erklärung sämtlicher Paulusbriefe
verfasst, in der ua. auch ein name sich findet, den wir sonst iu
tbeologischen Schriften der zeit nicht antreffen, der des grofsen
ketzers Pelagius. HZimmer ist in seinem buche 'Pelagius in
Irland' den spuren des Pelagiuscommentars nachgegangen und
hat mehrere wichtige quellen aufgedeckt, vor allem die schon im
ersten bibliothekskatalog von SGallen genannte Exposilio Pelagii
(jetzt nr 73), die ihn zu der ansieht führte, es sei eine doppelte
Überlieferung des Pelagiustextes anzunehmen, eine contiuentale
und eine speeifisch irische. Hellmaun weist nach, dass diese
gruppierung falsch ist. vielmehr ist zu scheiden zwischen einer
gekürzten recension, die von dem Sangallensis und Pseudo-
hieronymus repräsentiert wird, und einer vollständigeren, die in
den andern quellen erhalten ist. aber auch diese gruppe zeigt
in sich weitere Spaltungen, so dass der s. 170 aufgestellte Stamm-
baum zahlreiche gabelungen aufweist, das Verhältnis der einzelnen
TRAUBE QUELLEN ü. UNTERSUCHUNGEN Z. LAT. PHILOLOGIE D. MA.S 119
gruppen zu einander ist derart, dass eine reconstruction des
Pelagiuscommeutars vorderhand als aussichtslos erscheinen muss.
auch diesem teile sind mehrere anhänge beigefügt, sorgfältige
register schliefsen das inhaltreiche werk.
Wie oben hervorgehoben wurde, hat sich herausgestellt, dass
die Iren ihr interesse mehr zur patristischen als zur classischen
litteratur zog. diese beohachtung finden wir in dem 2 hefte
durch Rands darlegungen über Sedulius grofsen landsmann
Johannes bestätigt, zu den 'Opuscula sacra' des Doelhius (Peiper
149 ff) ist in zahlreichen hss. teils am rande und zwischen den
zeilen teils als selbständiges werk ein commentar erhalten, der
zwischen S67 und 891, also zur zeit des Johannes Scottus,
entstanden ist. man hat über der form und manchen triviali-
täten, die offenbar auf ein schülerheft hinweisen, bis jetzt ver-
kannt, dass der Verfasser ein bedeutender mann gewesen sein
muss. Rand weist im einzelnen nach, dass er ein vorzüglicher
grammatiker war, der die nicht ganz leichte spräche des Roethius
würklich versteht und mit liebe und Sorgfalt seinen Gedanken-
gängen nachgeht, dass er in den kirchlichen autoren sehr be-
wandert ist, das griechische gut beherscht und vor allem als
theologe eine ebenso tiefsinnige wie originelle persönlichkeit ist,
ein denker, der sich seiner vorläge gegenüber volle freiheit wahrt
und sich nicht scheut gelegentlich stark abweichende anschauungen
zu entwickeln, und man kann, darin hat Rand sicher recht, nicht
zweifeln, dass Johannes Scottus selbst der Verfasser war. dass
dieser nicht nur philosoph und Übersetzer war, sondern auch
jcommentator, geht ja auch daraus hervor, dass er, wie Haur&au
nachgewiesen hat, auch einen commentar zum Martianus Capeila
geschrieben hat, der vorläufig leider bis auf wenige notizen un-
bekannt ist. wenn Johannes sich entschloss den Martianus zu com-
meutieren, so spricht viel dafür, dass er auch den Boethius, der für
deu Unterricht nicht weniger wichtig war und der erläuterung
sehr bedarf, erklärt hat. ist so schon auf inductivem wege ein
kaum anfechtbares resultat gewonnen, so wird dies noch durch
äufsere momente gestützt, eine hs. in Florenz (mit insularer
schritt) enthält eine vita des Roethius, die dem Johannes Scottus
zugeschrieben wird, auch fiuden sich in dem commentar stellen,
die mit solchen aus andern Schriften des J. stimmen, hierbei
beruhigt sich der vf. aber nicht, sondern weist eine reihe von
einwänden, die er voraussieht, von vornherein ab. auf diesen
abschnitt möcht ich wegen der feinheit der beweisführuug und
der fülle neuen lichtes, das auf den Iren fällt — Johannes und
Heiricus, das Verhältnis des Johannes zu Roethius, die enlwick-
lung seiner Weltanschauung — , besonders aufmerksam machen,
ob freilich all die schönen etymologieen s. 14 f auf rechnung des
J. kommen, ist mir doch äufserst zweifelhaft. — es folgt dann
120 TRAUBE QUELLEN ü. UNTERSUCHUNGEN Z. LAT. PHILOLOGIE D. MA.S
der abdruck nach einer lis. unter ausdrücklichem verzieht darauf
einen abgerundeten kritischen text zu geben, doch mit anführung
der Varianten.
Neben dem commentar des Johannes hat der vf. durch
genaue prüfung einen zweiten, ebenfalls in form von glossen
erschienenen unterschieden, der dem des Johannes völlig nach-
gebildet ist, aber auch den 4 traetat des Boethius 'De fide
catholica', der bei J. fehlt, mit berücksichtigt, er ist teils als
alleiniger begleiter des textes, teils in Verbindung mit den glossen
des Johauues, in einer hs. auch als selbständiges buch erhallen,
dies werk steht auf viel niedrigerem uiveau und macht bei dem
früheren zahlreiche anleihen,, nicht ohne gelegentlich misverständ-
nissen anheimzufallen, das Charakterbild des vf.s ist deutlich zu
erkennen, ihm fehlt die philosophische begabuog seines Vorbildes
Johannes, dagegen ist er kirchlicher gefärbt als jener, es kanu
kein anderer sein als Remigius von Auxerre; die lange reihe
seiuer commentare wächst also um eine nummer, oder richtiger,
um zwei, denn auch zur 'Consolatio' hat er erklärungen
geschrieben — und zweifellos auch Johannes, also drei Boethius-
glossatoren treten uns entgegen : Johannes, Heiricus, Remigius,
wir wissen vom Martianuscommentar des Johannes, kurz wir
sehen, wie in jener ziemlich verschrieenen zeit des ausgauges
der Karolinger eine lebhafte wissenschaftliche tätigkeit hersclit.
es ist Rands verdienst, zur aulhellung dieser periode und zur
correctur der darüber herschenden Vorstellungen einen wesent-
lichen beitrag geliefert zu haben, damit aber zugleich eine be-
deutende Vorarbeit zu der von Traube in seinem gehaltvollen Vor-
wort geforderten neuen ausgäbe der werke des Johannes Scoltus.
Berlin. K. Strecker.
i 3. Untersuchungen zur überliefet ungsgeschichte der ältesten latei-
nischen mönchsregeln. i Die regelböcher Benedicts von Aniane.
ii Die Regula SBenedicli. von Heribert Plexkers. mit 2 tafeln in
lichtdruck. 1906. xi und 100 ss. — einzelpreis 7 m.
Von Plenkers wird in kürze im Wiener Corpus der kirchen-
schriftsteller der erste fascikel der 'Regulae monaslicae sae-
culo nono antiquiores' erscheinen, und die vorliegenden
beiden abhandlungen bilden eine art einleitung dazu, das Vor-
wort hat noch LTraube geschrieben, der seither leider allzufrüh
vom arbeitsfelde abgerufen wurde, das ist umsomehr zu be-
dauern , als er in seiner 'Textgeschichte der Regula SBenedicti'
seine schöne und scharfsinnige Untersuchung mit so glänzendem
ergebnis abgeschlossen hat. P. hat die Untersuchung dieses merk-
würdigen und anziehenden problems noch weiter geführt mit
hilfe des so plötzlich wider ans licht getretenen Codex regularum,
der seit dem 29 nov. 1902 als clm 28 118 eine sichere ruhe-
stätte gefunden hat, dank dem vereinten bemühen dr Grauerts
TRAUBE QUELLEN U. UNTERSUCHUNGEN Z. LAT. PHILOLOGIE D. MA.S 121
und dr Traubes. es ist der riesenfoliant von SMaximin in Trier,
im anfang des 9 jh.s geschrieben, von den Bollandisten benutzt,
seil dem anfang des 17 jh^ verschwunden, 1902 als das hervor-
ragendste slück der Bibliolheca Goerresiana wider zum Vorschein
gekommen, in ihm haben wir die einzige alte hs. der von
Benedict von Aniane gesammelten regelbiicher; zwei abschritten
davon aus den jähren 1466 und 1471 sind in Köln und Utrecht
erhallen, es sind im ganzen 24 klosterregeln zusammengestellt,
welche Benedict von Aniane in Frankreich und Spanien gesammelt
halte, und es lassen sich teilweise noch die nähte nachweisen,
welche die Vereinigung bewürkten. sie beweisen, dass der Trierer
codex der reinschrift Benedicts noch ganz nahe steht, in licht-
druck ist der schluss der regel Benedicts von Monte-Cassino und
eine seile der zweiten regel des Fructuosus beigegeben, daraus
lässt sich deutlich der unterschied der zwei bände erkennen.
Die zweite abhaudlung P.s bespricht die Überlieferung der
Begula SBenedicti. das original ist bekanntlich im jähre 896
verbrannt; verschwunden ist auch das normalexemplar, das Karl
der Grofse 787 von Monte-Cassino erhielt und von welchem die
hss. des normaltextes abstammen, hier kommt die Münchener hs.
der Coucordia erst in dritter linie. die führende rolle gebührt
der SGaller hs. 914, einer 'mit last photographischer treue ge-
fertigten abschrift des Aachener normaltextes', aber durch spätere
änderungen bis zur Unkenntlichkeit entstellt, immerhin ist darin
eine textquelle erhallen, wie sie reiner und zuverlässiger wol nur
wenige documente des alterlums aufzuweisen haben, um aber
dem urexemplar so nahe als möglich zu kommen,, müssen auch
die interpolierten hss. herangezogen werden. Plenkers sieht in
ihnen die phasen eines entwicklungsprocesses, dessen anfangs-
puncl Born oder Monte-Cassino ist. ob die von ihm darüber auf-
gestellte hypothese richtig ist, kann aber erst nach vergleichung
weiteren hss.-malerials entschieden werden.
Im an hang stehn zunächst brielauszüge mit kurzen erläu-
terungen aus dem briefwechsel des Holsteuius mit den Maurinern;
sie bezieben sich auf die erste ausgäbe des Codex regularum.
der zweite anhang bringt die sog. 'Begula Cassiani' aus dem
Münchener codex 28 118, deren existenz noch von Valllose in
abrede gestellt wurde, den schluss bildet ein kurzes martyro-
logium aus einem codex des Escorial, das älteste martyrologium
spanischen Ursprungs, das wir kennen, die aufnähme in den
anhang rechtfertigt sich durch den Zusammenhang mit der texl-
geschichte der Begula SBenedicti. schon Traube hat darauf auf-
merksam gemacht, dass mit dem normaltext der regel zusammen
in karolingischer zeit auch das martyrologium verbreitet wurde, die
kommende ausgäbe der Begula SBenedicti ist in den rechten häuden.
Einsiedeln. p. Gabriel Meier.
122 BELLAARD GEHT V. D. SCHURENS TEOTHOMSTA
Gert van der Schumis Teuthonista of Dtiytschlender. lexicographische
onderzoekingen en klankleer door It. H. G. Bellaard (Utrechter doctor-
dissertalion). 's Hertogenbosch, Teulings, 1904. vin und 204 ss. 8°.
Im Anz. xxiv 145 — 155 bah ich eine recension von Verdams
bearbeitung des Teuthonista veröffentlicht, auf die ich hier noch
einmal verweisen darf, ich beabsichtige jetzt nicht auf eiuzelheiten
einzugehn, und dort ist manches von dem gesagt, was ich vor-
zubringen hätte, der Utrechter doctordissertation Bellaards ist
jene meine recension unbekannt geblieben, und ich muss gestehn,
dass mich das trotz allen erfahrungen , die ich und andere in
dieser hinsiebt schon gemacht haben, denn doch überrascht hat.
ich veröffentliche in unserer ältesten und, wie ich immer dachte,
doch in allen unseren kreisen noch immer angesehenen Zeit-
schrift einen ausführlichen artikel, in dem, wie ich so unbescheiden
bin zu glauben, eine reihe von dingen stehu, die Bellaard auch
bei jahrelanger Beschäftigung mit dem gegenständ weniger richtig
beurteilt oder überhaupt nicht gesehen hat; ich darfauch anmerken,
dass man an den niederländischen Universitäten doch wol weifs,
dass ich mich um die dinge der nl. philologie aufmerksam
bekümmere; und nun wird an einer dieser Universitäten ein
buch genau über denselben gegenständ geschrieben, ohne dass
dem verfasset' mein artikel bekannt wird, ja, wer soll ihu
denn nuu wol kennen? und wozu veröffentlicht mau dann über-
haupt die fruchte monatelanger arbeit? der Vorwurf richtet sich
viel weniger gegen B. personlich als gegen die seilen, von denen
ihm, in mündlicher und gedruckter belehrung, sein wissen
zugekommen ist, und ein so crasser beweis für die freiwillige
Unfreiheit im betriebe unserer germanischen philologie, die sich
zu sehr an namen und moden bindet, sollte denn doch über das
persönliche hinaus eine starke mabuung enthalten , dass diesem
unserem betriebe objeetivität und erziehung der mitarbeiter zur
Selbständigkeit des urteils not täte.
Was ich aao. an Verdams buch vermisst habe, das ungefähr
bildet das thema der vorliegenden arbeit, die im ersten hauptteil
die entstehung von vdSchurens Wörterbuch, im zweiten dessen
Orthographie und laute untersucht, die durchführung dieser
themata ermöglicht es dem Verfasser, unser Verständnis des für
die geschichte der nl. spräche und der benachbarten mundarten
so wichtigen Werkes nicht unwesentlich zu fördern.
Der erste teil bringt einiges über den verlasser, den drucker *
und die äufsere form des Teuthonista, gibt eine interessante und
dankenswerte übersieht über die mittelalterliche lexikographie und
untersucht dann eingehend die entstehung von vdSchurens buch,
für den deulsch-lat. teil wurden eine anzahl lat. Wörterbücher,
' auf grund des noch nicht benutzten buches von Voullieme Der buch-
diuck Kölns bis zum ende des 15 jli.s (Bonn 1903) s. xu h" wäre einzelnes
zu berichtigen.
BELLAARD GERT V. D. SCIIURENS TEUTHOMSTA 123
besonders das des Ugutio und das Catliolicon des Johannes de
Janua, eine an/ahl sogenannter Vocabularia rerum und lat. -deutsche
vocabulare und glossare, auch hlofs deutsch«' sachliche Wörter-
verzeichnisse benutzt; dem lat.- deutschen, nachträglich in recht
kurzer zeit zusammengestellten teil ligt, unter mitbenutzung der
für deu ersten teil gehrauchten quellen, hauptsachlich das Catho-
licon zu gründe, ein besonderer abschnitt erörtert den wert des
buches für die Zeitgenossen und für uns. besonders die letzte
frage ist in der ganzen, gründlichen • quellenuntersuchung in
verständiger und lehrreicher weise erwogen.
Der sprachlichen Untersuchung lässt sich nicht das gleiche loh
spenden, bei diesem denk mal, das nur einen ausschnitt aus einem
sprachtypus in vielseitiger gebundenheit darstellt, kann eine solche
doch nur den zweck haben, Schreibung und laute für das richtige
Verständnis der einzelnen Wörter aufzuhellen und nicht, das
material lehrbuchartig auf 'westgerm. grundformen' zurück zu
führen, was kümmert es uns, oh das n in dem runtzel dieses
Wörterbuchs auf westgerm. n (* icrunktala?) zurückgeht oder
nicht? über hueveken scheint der Verfasser (s. 112 anm.) so zu
urteilen wie ich in meinen) Etym. wb. aber ich linde nirgends in
der lautlehre eine recbtfertigung, und gerade eine genaue Statistik
über die Schreibung der o- und w-laute, die uns in den stand
setzte, mit der möglichsten Sicherheit über das ue in diesem worte
zu urleilen, und überhaupt die erörterung aller schwierigen einzel-
heiten an der gehörigen stelle wäre doch das, was wir von einer
solchen Untersuchung zu erwarten hätten. der bedeutenden
Schwierigkeiten, die der Stoff allerdings bietet, indem er fast der
schlimmsten zeit der Orthographie angehört, den verdacht offen
lässt, fremdmundartliches überall her aufgenommen zu haben, und
nicht in der heimat des Verfassers gedruckt wurde, ist B. keines-
wegs herr geworden, dafür ist er noch zu wenig zu eigenem urteil
gelangt, er sieht wol die verschiedenen theoretischen möglichkeiten,
weifs sich aber nicht leicht zu entscheiden, er bringt es fertig, bei
get, dh. jet aus iet, einen Wechsel von g und w im anlaut fest-
zustellen, indem er get als lautliche nebenform von waz ansieht
(§ 266), und dabei lautet der artikel im Teuthonista „get, wat,
uyst, yet, yetswat, etswat aliquid usw.". da B sich auch nicht
die zeit nehmen konnte, die chronik Gerts vdSchuren zur ver-
gleicbung eiugehnder zu untersuchen, so kann dieser teil der
aufgäbe durch seine schritt nicht als gelöst augesehen werden.
Bonn. J. Francs.
Geschichte der heraldischen kunst in der Schweiz im xn und xm Jahrhundert,
von Paul Ganz, mit 101 abbild. im text und 10 tafeln. Frauenfeld,
JHuber 1899. 200 ss. 8° — 8, 50 m.
Über die entstebung und die anfange des wappenwesens in
Deutschland sind wir trotz den reich fliefsenden quellen noch
124 GANZ GESCHICHTE DER HERALD. KUNST IN DER SCHWEIZ
recht unvollkommen unterrichtet, es mag dies zum teil daran
liegen, dass die heraldik lange zeit als der ausschliefsliche besitz
des dilettantismus gegolten hat, und dass ihre wissenschaftliche
gleichberecbligung auch heule noch nicht unbestritten anerkannt
wird, zum teil allerdings bewürkt es die überreiche fülle des
oft schwer zugänglichen und umständlich zu sammelnden materials,
dass wissenschaftliche bearbeiter sich von dem gegenstände ferner
gehalten haben, der doch eine so bedeutende rolle in der cultur-
und kunstgeschichte des miltelalters gespielt hat.
In dieser beziehung ist das buch von Ganz eine sehr
erfreuliche erscheinung. es war auch ein glücklicher gedanke,
dass der verf. sich entschlossen hat, seiner forschung territoriale
grenzen zu ziehen, und man kann nur wünschen, dass sein
beispiel vorbildlich würken möge, nicht als ob es ihm gelungen
wäre, wesentlich neue momente für die entstehungs- und ent-
wicklungsgeschichte des wappenweseus im allgemeinen aufzufinden
oder etwa die heraldischen eigentümlichkeiten der Schweiz durch
den doppelten einfluss germanischer und romanischer cultur zu
erklären, aber er hat zum ersten male versucht, das gesamte
material eines bestimmten gebietes zu sammeln, zu verarbeiten
und für die vergleichung zugänglich zn macheu. ob es für den
wissenschaftlichen kern der sache von nutzen war, den kunst-
geschichllichen standpunct besonders hervorzuheben, mag dahin
gestellt sein, denn wenn anch die decorative Verwendung der
heraldik in der bildenden kunst des miltelalters den durch den
titel angedeuteten hauptteil (s. 93 — 158) des Werkes bildet, so
hat doch der verf. nicht umhin gekonnt, einen ersten teil
(s. 3 — 16) der allgemeinen geschichte der heraldik, und einen
zweiten (s. 17 — 92) der geschichte des heraldik in der Schweiz
zu widmen, bei dieser disponierung muste aber der stoff für
den, der sich nicht lediglich für die kunstgeschichtliche seite
interessiert, zersplittert werden und waren widerholungen nicht
zu vermeiden. Ganz hat auch seinen stoff — man muss sagen
leider — zeillich eingeschränkt, indem er das ende des 13 Jahr-
hunderts als ziel setzt, eine grenze die er allerdings nicht selten
überschreitet, wie er seine beispiele auch vielfach aufserhalb der
geographischen grenzen der Schweiz herholt, und nicht nur in
den anmerkungen (vgl. das Vorwort), namentlich da, wo die
einheimischen quellen nicht ausreichen.
Dass Ganz im zweiten (historischen) teile noch eine Unter-
teilung in 12 und 13 Jahrhundert vornimmt, wobei er die periode
des 12 Jahrhunderts aber wider nach formalen gesichtspuncten
(in Siegel, plastik und maierei und den reiterschild von Seedorf)
gliedert, ist mir nicht recht verständlich, der stoff ist für diese
älteste zeit nicht bedeutend, das älteste reitersiegel mit heral-
dischem schildbilde ist das Bertholds v vZähringen vom jähre 1187.
die plastik (ein pfeilerrelief vom grofsmiiuster in Basel und säulen-
GANZ GESCHICHTE DER HERALD. KUNST IN DER SCHWEIZ 125
capitelle daselbst) bietet eigentlich nichts heraldisches und auch
die maierei ist nur infolge der heranziehung des auf italienischem
boden entstandenen Carmen de hello Siculo des Petrus de Ebulo
und des Hortus deliciarum der llerrad von Landsberg vertreten,
ob der berühmte reilerschild von Seedorf, dem Ganz unter bei-
fügung einer vorzüglichen lichtdruckreproduction eine besondere
besprechung widmet (s. 26 — 30), noch dem 12 Jahrhundert an-
gehört, ist fraglich. Ganz hält ihn für einen kampfschild, wie
ich glaube mit unrecht, er ist wol ebenso wie die iMaiburger
schilde ein totenschild, ein prunk- und gedächtnisstück, wäre
es anders, so müste doch dieser oder jener eine spur des kampfes
zeigen, um so mehr, als der schild der den wafl'en des gegners
am meisten ausgesetzte teil der rüstung war. aber keine spur
gewaltsamer Verletzung ist sichtbar. das Vorhandensein der
beriemuug, an deren reconstruction sich Ganz versucht hat, ist
kein gegenbeweis, denn man brauchte sie zum aufhängen (vgl.
die pfeilersculpturen s. 110 fig. 71) und wollte das prunkstück
dem gebrauchsstücke so ähnlich als möglich machen.
Im folgenden (s. 30 lf) behandelt der verf. hauptsächlich
die verschiedenen für die heraldik in betracht kommenden teile
der rüstung, besonders schild uud heim, unwahrscheinlich ist
mir die von Ganz in gröfserem umfange angenommene bemalung
des helmes. bei den meisteu abbilduugen, die G. in diesem sinne
erklärt, wird der künstlet- versucht haben, das helmtuch, die
spätere helmdecke, anzudeuten, die sich ja ursprünglich fest an
den heim anlegte.
Der dritte teil, welcher die anwenduug der heraldik in der
kleinkunst, in der architektur, der maierei, der plastik und vor
allem in den siegeln eingehend behandelt, enthält eine fülle
sorgfällig gesammelten materials und viele feine beobachtungen.
die sehr seltenen bronceschildchen aus dem Berner museum
(s. 101) sind wol am ehesten als Schmuckstücke anzusehen, die,
ähnlich unseren cocarden , vorn an dem umgeschlagenen rande
der im ganzen mittelalter als kopfbedeckuug beliebten mutze
angebracht wurden, auffällig ist die äufserst geringe ausbeute an
heraldischem materiale, die die numismatik bietet. Ganz erklärt
diese erscheinung dadurch, dass das münzrecht in jener zeit fast
ausschliefslich von geistlichen fürsten ausgeübt worden sei (s. 98).
Einen schlussteil (s. 162 — 185) widmet Ganz, nachdem er
schon vorher zahlreiche belege der zeitgenössischen epik ent-
nommen hat, der heraldik in der schweizerischen dichtkuust,
die ja durch eine lange reihe von namen von Ulrich vZatzikhofen
an, vertreten ist. in einem anhange wird der Clipearius Teuto-
nicorum des Zürchers Konrad vMnre abgedruckt, ins deutsche
übersetzt und mit kritischen anmerkuugen versehen, ein register
der technischen ausdrücke und ein namenregister bringen das
werk zum abschlusse.
126 GANZ GESCHICHTE DER HERALD. KUNST IN DER SCHWEIZ
Alles in allem bietet Ganz ein reiches, sorgfältig gesammeltes
und unter heranziehuug einer umfangreichen litteratur verarbeitetes
material. dass er es verstanden hat, den Stoff auf verhältnismässig
geringem räume zusammenzufassen und vielfach auch zur bild-
lichen anschauung zu bringen, beruht nicht zum wenigsten auf
seinem zeichnerischen taleut. aufser den mechanischen repro-
ductionen nach Photographien, die besonders die 10 tafeln (davon
5 siegeltafeln, leider in verkleinertem mafstabe) euthalten, bringt
Ganz eine menge von textillustrationeu1, die zum grösten teile
auf eigene zeichnnngen zurückgehn. sein gewandter und sicherer
griffel hat aus siegelu, miniatureu, grabmälern usw. die wesent-
lichen und für den gerade vorliegenden zweck dienlichen einzel-
heiten herausgenommen und auf kleinem räume zusammen-
gestellt.
Besondere anerkennung verdient die verlagsfirma für die
vortreffliche ausstattung des werkes.
Marburg i. II. Küch.
Der sachkundigen besprechung meines freundes Küch, die
spät eingelaufen ist, aber durch verdriefsliche umstände noch
viel später in den druck kommt, füg ich mit erlaubnis des recen-
seuten noch ein paar bemerkungeu hinzu, um die germanisten
recht nachdrücklich auf ein werk hinzuweisen, dessen Studium
sie sich nicht entziehen dürfen, es ist schmerzlich, ich hab es
gerade hier aufs neue empfunden, dass zwischen den antiquarischen
Studien und unsern philologischen so gar wenig beziehungen
bestehn: die uukenntnis dieses buches würde für den deutschen
Philologen eine bedenkliche lücke seines Verständnisses von art und
kunst des mitlelalters bedeuten — und anderseits sind die einzigen
störenden flecken, welche dem schönen und anziehenden werke
von Ganz anhaften, durch die mangelhafte ausrüstung des Verfassers
in allen sprachlichen dingen verursacht, das tritt ganz besonders
deutlich hervor da, wo er sich veranlasst sieht, die mhd. dichter,
vor allem den Konrad vWürzburg, heranzuziehen : so wenn er
es s. 84 für möglich hält, dass ein harte wunneclicher vane Part.
13088 sich auf das 'steife Fahnentuch' beziehen könne, es ist
dringend notwendig, dass ein heraldisch geschulter oder doch
instruierter germanist das ganze material noch einmal durcharbeitet:
dass dabei auch für die litteraturgeschichte, insbesondere für die
Chronologie etwas abfällt, zeigt eben das beispiel des Konrad vWürz-
burg, dessen Turnei jetzt durch Laudan definitiv als spätestes werk
des dichters erwiesen ist : man sieht deutlich — was Ganz nicht
hervorheben konnte — dass die Wendung zu heraldischen interessen
zwischen dem Engelhard uud dem Partonopier ligt.
Um dem leser den appetit zu reizen, führ ich noch einiges
aus dem inhalt des werkes an, was uns recht nahe angeht,
so die besprechung der SGaller hs. von Rudolfs Weltchronik und
GA.\Z GESCHICHTE DER HERALI). KUNST IM DER SCHWEIZ 127
Strickers Karl s. 11711' — sie ist Rud. Kautzsch, dpr soeben in
den Kunstwissenschaftlichen beitragen Aug. Schmarsow gewidmet
(Leipz. 1907) die Stellung der hs. in der geschichte der maierei
festzulegen unternimmt, leider unbekannt »«'blieben; ferner die
kurzen bemerkungen über die Weingartner liederhs. und das
INaglersche bruchstiick. vor dem grofsen Manesse-codex macht
die darstellung leider halt — aber ich hoffe, dass sie in einer
Fortsetzung dieser Studien den mittel|)unct bilden und die
Würdigung erfahren wird, die einstweilen noch völlig aussteht.
vorläufig erhalten wir einen lockenden vorschmack auf s. 117:
in privalbesitz sind biälter aus einer französischen chronik des
13jh.s aufgetaucht, welche die directen vorlagen zu den bildern
42 uud 82 unseres codex C bieten! dass dieser auch weiterhin
'Manesse-codex' genannt werde, dagegen will ich nicht protestieren,
aber falsch ist die begründung : 'weil die sammelarbeit der beiden
Manesse für den codex aufser zweifel steht', diese aulfassung
scheint allgemeiu, darum ist es wol an der zeit, einmal scharf
den tatbestaud herauszustellen, der auch bei Baechlold Geschichte
d. deutschen litteratur in der Schweiz s. 142 IT noch getrübt scheint,
die berühmte stelle des Hadlaub (bei Bartsch Schweizer minne-
singer s. 296, Baechtold s. 144) spricht ausdrücklich von der
Sammeltätigkeit des Maness di. Rüdiger Maness n : der Maness
ranc dar nach endliche daz er diu liederbuoch nü hat. Rüdiger
starb 1304, sein söhn der domcustos Johannes, dem Hadlaub
ähnlichen kunstsinn nachrühmt, ist schon vor ihm (1297) ver-
schieden, diese beiden kommen für die herstellung des codex
schon zeitlich nicht in betracht, aber welches interesse hätten
sie überhaupt gehabt, oder hatten gar ihre erben, nachdem sie mit
schweren kosten eine Sammlung von liederbüchern zusammen-
gebracht hatten, noch einmal ein vermögen aufzuwenden, um diese
kleinem und grösseren Sammlungen (denn es war auch schon eine
illustrierte sammelhs. darunter) in den prachtcodex zu vereinigen,
der sie uns aufbewahrt hat? so natürlich mir die annähme scheiut,
dass die liederbuch-sammlung der familie Maness die vorlagen für
den codex C ganz oder in der hauptsache hergegeben habe, so
sehr widerstrebt mir die Vorstellung, dass die besitzer selbst —
es waren ja nicht einmal mehr die von Hadlaub gepriesenen
Sammler 1 — die grofse sammelausgabe veranstaltet hätten, es
muss irgend ein anderer, reichbegüterter kunstfreund aus dem
Zürich-Constanzer kreise gewesen sein : und von dieser erwägung
aus hab ich ein ausgesprochenes Vorurteil für die hypothese des
grafen Zeppelin, der für Constanz plädiert.
Am Schlüsse seines buches bringt G. (s. 174 — 155) das älteste
erzeugnis der heraldischen litteratur, den 'ClipeariusTheutonicorum'
des Züricher domcantors Konrad von Mure (f 1281) aufs neue
und unter beigäbe einer Übersetzung zum abdruck : ein werkcheo,
das — wahrscheinlich zwischen 1242 und 1249 verfasst — höchst
128 GANZ GESCHICHTE DER HERALD. KUNST IN DER SCHWEIZ
charakteristisch ist für die k in der jähre dieser mittelalterlichen
disciplin, indem es die strengen hlasonierungen der wappen des
südwestdeutschen hochadels untermengt mit allerlei phantasie-
gebilden aus der ferne, und sich nicht scheut unter nr 50 'Orlens
Wilhelmi clipeus' mit hineinzuziehen : mitten zwischen den wappeu
der gral'en von Pfirt und von Freiburg erscheint hier der schild —
aber nicht des Wilhelm von Orlens, sondern des Wilhelm von
Oranse (Wolfr. Wh. 328, 9 — 12) : der goldene stern im blauen felde.
Wilhelm von Orlens führte ein löwenwappen, wie aus den
(übrigens arg verderbten) verseu 7398 ff (ed. Junk) hervorgeht.
Konrad hat also die beiden beiden vermengt (worin ihm übrigens
vLiebenau und Ganz folgen), und das schwächt die an sich durch-
aus ansprechende hypothese ein wenig ab, dass der autor dem
Rudolf vEms persönlich nahestand und mit dieser einschaltung
dem freunde eine kleine huldigung darbrachte.
Der text des 'Clipearius' ist uns nur unvollständig in dem
alten druck von Felix Hemmerlins De uobilitate et rusticitate
erhallen und aus ihm erstmals durch Theodor von Liebenau
Anz. f. Schweiz, gesch. 1880 nr 1, s. 229 — 243) hervorgezogen
und mit trefflichen erläuterungen ausgestattet worden, die auch
Ganz dankbar benutzt, für den text aber haben beide heraus-
geber last nichts getan — und dieser text ist greulich entstellt!
gewis sind Konrads gereimte hexameter schlechte verse, aber diese
masse von metrischen und sprachlichen Ungeheuerlichkeiten,
die ihnen die Überlieferung aufgebürdet hat und die ihnen nun
schon der zweite herausgeber ruhig belässt, hat sich der wackere
cantor denn doch nicht zu schulden kommen lassen, indem ich
hier eine reihe von zumeist sichern oder naheliegenden besse-
rungen gebe, beton ich ausdrücklich, dass ich andern nicht nur
eine nachlese übrig lasse.
1, 1 1. profert (: clipeo fert); 1, 2 1. nigre forme. — 3, 1
verderbt; in 3,2 darf urbes rubeas (die türme von Castilien)
nicht mit 'städte' widergegeben werden. — 6, 1 1. Crux transü
rubea (forma). — 8, 1 der druck bietet : Vult Marrochi rex in
auris dominans truculentis, und der herausgeber übersetzt 'Der
könig von M., thronend in glitzerndem (1) golde'; zu lesen ist
M auris dominans trucuhntis 'herschend über die grim-
migen Mauren' 1 übrigens findet sich ein ähnliches wappen (im
gelben felde drei schwarze röche) in der Züricher WH. als nr 11
(zwischen den königeu), und hier hat eine haud des 16 jh.s
dabeigeschrieben Marzach. — 10 der vor Schweden und Nor-
wegen stehnde rex Dacus ist (trotz seinem phantasiewappen!)
kein 'fabelhafter könig auf dem boden des dacischen reiches,
vielleicht Bulgarien', sondern nach wolbekanntem Sprachgebrauch
des ma.s einfach der Dänenkönig! — 11, 1 1. in fulvo. — 13, 1
1. fertur habere. — 28, 2 1. Cui. — 33, 2 Dicque quod hie comes
est nostre 'concernimus' höre (von dem neugebackenen grafen von
GANZ GESCHICHTE DER HERALD. KOST IN DER SCHWEIZ 129
Rapperswil) ist sprachlich unmöglich, und die Übersetzung ebenso;
ich vermute etwa nostro concinnus honore. — 37, 2 I. Quod supra
lapidem vult Stare (rubens) ibi cerva. — 38, 1 I. Marggravio cui
Stiria dat (sui) germen honoris. — 46, 2 I. prefert (.* defert). —
52, l De Froburg aquila varie fert pellis amictum heifst einlach
*. . . hat vehfarbigen balg (gefieder)', aber nicht 'trägt einen
mantel ans buntem pelz'; vgl. die Züricher WH. nr 28. — 54,1
streiche in. — 56, 1 tacti halt ich für verderbt, die gebotene deutung
ist unmöglich. — 58, 1 comite (das erste) ist zu streichen. — 71, 2
1. Obliquam tabulam (gihani) geminosque leones. — 73, 2 1. rufa
st. rubea. —
Göttingen. Edward Schröder.
Die gedichte Oswalds von Wolkenstein hrsg. von J. Schatz, zweite ver-
besserte ausgäbe des in den Publicalionen der gesellschaft zur heraus-
gäbe der deokmäler der tonkunst in Österreich veröffentlichten textes.
Göttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht, 1904. 31*2 ss. 8°. — geheftet
6 m., in leinwandband 6,60 in.
Diese neue handlichere ausgäbe — kleineres format, gröfserer
druck — der Wolkensteintexte ohne die noten wird gewis sprach-
unil litterarhistorikern willkommen sein, in der einleitung wider-
holt sie auch die lebensskizze des dichters, die Schatz in der
grofsen ausgäbe (vgl. Anz. xxtx 227 II) gegeben hatte, geschickter
angeordnet und in kleinigkeiten deutlicher gefasst, sowie den
behebt über die bs. liehe Überlieferung, diesen erweitert und in
der anschauung über den wert der hss. insofern modificiert, als
jetzt C, entsprechend meiner aufforderung, den laa; von C mehr
beachtung zu schenken, 'kritischer wert' (s. 51) zugesprochen
wird, darin bestehend, 'dass fehlerhaftes in B hie und da in C
gebessert erscheint, der Schreiber von C wüste mit dem texte
umzugehn'. und so bringen denn auch die laa. der neuen ausgäbe
die G-varianten jetzt einigermafsen vollständig, für interessenlen
trag ich dazu aus einer allerdings auf Stichproben beschränkten
collation von C noch nach : 17, 3 und 97, 94 bistus (vgl. 13, 38.
43, 13. 44, 16. 108, 33), 17, 26 von dan, 17, 50 reyden, 63, 44
nit vast (st. nimmer), 63, 147 ye ainer (st. ain ander), 63, 173
teten, 64, 64 erstöret, 94, 55 der sünden gart, 95, 68 fürst enn
(st. künig), 96, 90 ger (st. ge), 112, 105 zuck, 112, 106 von
(st. an), 112, 122 wes, lesarten, von denen einige sehr beachtens-
wert sein dürften, die aber jedesfalls insgesamt, wenn auch von
Schatz widerum nicht mitgeteilt, eine stärkere eigenart von C
bezeugen, als sie Schatz anfangs annehmen zu sollen glaubte,
die tatsache eines nicht mehr zu bestreitenden kritischen wertes
von C wird sich am einfachsten so erklären, dass diese hs. zwar
im ganzeu wol unter Zugrundelegung von B geschrieben worden
ist, aber entweder noch zu lebzeiten Oswalds mit berücksichtigung
mündlich ausgesprochener Verbesserungen des dichters oder mit
A. F. D. A. XXXI. 9
130 SCHATZ DIE GEDICHTE OSWALDS VON WOLKESSTEIN
einsieht in verbesserte einzelahschriften — wie es Schatz bei
nr 118 erwiesen hat — , in letzterem falle natürlich vielleicht
auch nach des dichters tode, wenn auch nicht lange darnach,
was die ührigen hss. betrifft, so tritt Schatz jetzt lebhafter als
in seiner ersten ausgäbe für A als beste Überlieferung ein und
hat demgemäfs die fassung von A an einer anzahl von stellen
entgegen der ersten ausgäbe in den text aufgenommen. ich
glaube nicht, dass er daran recht getan hat; doch ein schade ist
der ausgäbe dadurch insofern nicht erwachsen, als man die laa.
von 13 jetzt gleich dabei hat — unter der columne — , auch dies
eine Verbesserung der neuen ausgäbe im praktischen.
Von einzelheiten aus dem texte darf ich vielleicht hier
46, 25. 26 zur spräche bringen, wo man nicht mit der neuen
ausgäbe
pin ich genzlich
des küenzleins auss dem edlen Zilerstal
zu lesen hat, sondern
pin ich genzlich
des küenzlis auss dem edlen Zilerstal
(Schatz betont die erste zeile nicht richtig, sucht einen binnen-
reim herzustellen, wo keiner hingehört, und verkennt den reim
genzlich : küenzlis), und 114,93, wo Schatz jetzt die conjeetur
in den text gesetzt hat:
si sach mich an, als ob ich war
ain plawer eisenhuet.
BC, die das gedieht allein überliefern, haben als ob ich trüg ain
blawen eisenhuet; der reim verlangt -är (: v. 99 mär), ich möchte
die Vermutung nicht unterdrücken, dass in der vorläge von ß
stand : als ob ich bar ain blawen e., und dass der Schreiber h
das veraltende wort durch das verständlichere trüg ersetzte,
gemä'fs der Schatzschen bevorzugung dialektischer Schriftbilder,
die leider auch das übereiustimmende in dem doch immer einiger-
mafsen schriftsprachlichen Charakter der hss. austilgt — Oswald
würde wol lebhaft über viele bauernformen seiner nach 500 jähren
so gedruckten gedichte erstaunen — , würd ich also vorschlagen,
pär ain plawen in den text zu setzen, zur erklärung will ich noch
erzählen, was mir selbst in Seis begegnet ist : ich kam vom ausflug
zurück, ein prachtvolles exemplar des blauen eisenhutes in der
hand; meine wirtin, eine Boznerin, fuhr mit abscheuverzogenem
gesicht zurück, weil ich eine so giftige pflanze trüge.
Was Schatz in der eiuleitung s. 55 gegen meine correcturen
seiner fassung von 84, 87 und 88, 6 einwendet, findet vielleicht
anderwärts anerkennung; ich vermag mich mit seinem trotz syntax
und gesamter Überlieferung erzielten 'glatten vers' des übel, güet
niemd pessern, pösern mag immer noch nicht zu befreunden,
gegen meine zeitlieh spätere ansetzung von nr 83 polemisiert er
ua. mit der erklärung : 'es ist scherzhaft, wenn der dichter v. 8
SCHATZ DIE GEDICHTE OSWALDS VON WOLKENSTEIN 131
[lis 4] den bauern Mosmair berichten lässt, dass die Schnee-
schmelze begonnen habe, denn das konnte der dichter von
Hauenstein aus besser als andere sehen', aber Hauenstein ligt
erstens unten an der nordwand des Schiern, wo der winter-
zustand bei dem langen fehlen jedes Sonnenstrahles am längsten
von allen bergwohnungeu des Umkreises andauert, und zweitens
kann mau von dort aus nicht die 500 bis 800 m höhere Seiser
alpe sehen, und das gedieht beginnt nun einmal:
Zergangen ist meins herzen we,
seit das nu fliessen wil der sne
ab Seuser alben und auss Flack1,
hört ich den Mosmair sagen.
gewis scherzt Oswald gern, öfter derb, manchmal auch sehr fein,
aber wo hier der witz liegen sollte, ist mir unerfindlich, ein
rätsei ist mir auch, warum Schatz nicht daran will, die Unger
von nr 114 für würkliche Ungarn zu nehmen, er beharrt auch
jetzt dabei, dass es Ladiner seieu, weil Lorenzen, der Schauplatz
des gedichts, an der mündung des Ennebergs liege; Oswald war
aber doch in Ungarn gewesen, und Ladiuer waren ihm doch
auch bekannt, soll der widerholte gebrauch der nationalbezeich-
nung Ungarn für Ladiner vielleicht auch ein scherz sein? das
entscheidende sind die worte Viegga waniadat. Schatz hält sie
für ladinisch (= kaltes wasser); ich verstehe nicht, wie man
jemand mit den Worten 'kaltes wasser' anreden soll, was übrigens
ladinisch jege freida heifsen würde, und ziehe es vor, der aus-
kunft zu trauen, die mir durch Vermittlung HStummes in Leipzig
JGoldziher in Budapest freundlicherweise aus dem ungarischen
gegeben hat : 'von dem mir vorgelegten viegg[a waniadat] ist mir
sicher, dass die umfriedeten buchstaben bedeuten : az anyddat
'deine mutier'; viegg scheint aus vigye 'er möge wegtragen' ver-
derbt zu sein, also . . . vigye az anyddat 'er möge wegtragen
deine mutter'; wer? natürlich der hier fehlende teufel {ördög
'der teufel')'. der teufel soll deine mutter holen 1 nämlich dass
sie dich geboren hat : mit diesem grufs fielen die Ungarn, leib-
haftige Ungarn, über den ritter her, wie das dutzend auverwante
der schönen müllerin über den edelkuaben in Goethes ballade.
Schatz bemerkt : 'wenn W.s angäbe, dass die Unger 114, 59
Ungarn seien , richtig wäre, liefse sich wol auch die zeit genau
feststellen', handelnde Ungarn mit ihren frauen dürften aber
wol sogut wie jetzt zu ostern nach Bozen schon damals zu den
^ehr belebten Loreuzer Jahrmärkten den weg gefunden haben,
was einen schluss auf ein bestimmtes jähr kaum zulassen wird.
1 welche örtlichkeit mit diesem namen gemeint sein mag, hab ich
mich bis jetzt vergeblich bemüht festzustellen.
Bozen, ostern 1905. Rudolf Wustmann.
9*
132 HAYM DIE KOMAMISCHE SCHULE
Die romantische schule, ein beitrat zur geschichte des deutschen geistes
von Rudolf Haym. zweite aufläge. Berlin, Weidmannsche buch-
handlung, 1906. xn und 950 ss. 8° — 16 m.
desammelte aufsätze von Rudolf Haym. ebda 1903. v u. 628 ss. 8°. — 12 m.
Dem anastatischen ueiulruck von RHayms werk über die
Romantische Schule, der unter dem namen des Verlegers
der ersten aufläge, RGaertner, 1902 ausgegeben worden ist, folgt
jetzt mit überraschender Schnelligkeit eine 'zweite aufläge' des
ausgezeichneten buches. offenbar ist der neudruck von 1902
ein dringendes bedürlnis gewesen und darum trotz seiner wenig
ansprechenden typographischen ausstattung in kurzer zeit ver-
kauft worden, ein sehr erfreuliches resultat und ein sehr be-
greifliches! denn noch ist Hayms arbeit für jeden unentbehrlich,
der das gebiet der frühromantik kennen lernen will.
Doch eben dieser tatsache wird die 'zweite aufläge', trotz-
dem sie nicht blofs auastatischer neudruck ist, nicht gerecht,
die frühere gestalt ist 'schlechthin bewahrt', der text ist dem
texte der 1 ausgäbe nicht Zeilen-, aber seitengleich; nur das
register ist etwas compresser gedruckt, hinzugetan sind lediglich
wenige fufsnoten, 'die teils auf Hayms handschriftlichen be-
merkungen beruhen, teils die Verweisung auf den anbaug zu
erleichtern bezwecken.' das ist des guten zu wenig 1 das werk
hat bessere fürsorge1 verdient, selbstverständlich wird kein ein-
sichtiger wünschen, dass die 'Romantische Schule' Hayms von
fremder hand überarbeitet und ergänzt werde, viel zu eigen-
willig ist die auffassung Hayms, viel zu persönlich seine an-
schauung von frühromantik, als dass ein anderer durch striche
oder zusätze ein lehrbuch aus dem werke machen könnte, sind
indes sachliche änderungen mit vollem recht ausgeschlossen
worden, so muste unbedingt in anmerkungen und anhang be-
rücksichtigt werden, was seit der abfassung des buches getan
worden ist, um das von Haym gesichtete material leichter zu-
gänglich zu machen, ich darf das wol sagen, ohne in den ver-
dacht zu kommen, als wolle ich pro domo sprechen, denn
es ist doch geradezu widersinnig, eiu buch mit dem datum 1906
dem leser in die hand zu geben, und durch dieses buch den
anschein zu erwecken, als ob WSchlegels Rerliner Vorlesungen
oder Friedrich Schlegels briefe an seinen bruder auch jetzt noch
nicht gedruckt, FrSchlegels Jugendschriften noch nicht gesammelt
seien, dinge, die in Hayms werk immer wider benutzt und
genannt sind, müssen dem naiven leser in der märchenhaft un-
zugänglichen ferne, in der sie um 1870 sich befunden habeu, noch
dauernd ansässig erscheinen, man wende nicht ein, dass alle
diese neueren ausgaben dem forscher so nahe liegen und durch
unsere bibliographischen hilfsmittel so sehr im gedächtuis aller
festgehalten werden, dass niisgrifle ausgeschlossen erscheinen,
im gegenteil : wenn noch vor kurzem arbeiten auf romantischem
HATM DIE ROMAMISCHE SCHULE 133
gebiete erscheinen konnten, die von den neuen Veröffentlichungen
nichts ahnten, weil sie ein buch vom jähre 1870 benutzten,
ohne sich um inzwischen erbrachte neuere arbeit zu kümmern,
so wird künftig die zweite aufläge von 1906 solchen umfug
noch fördern und ihm sogar ein gewisses recht zubilligen.
Wie handlich hätte ein kundiger Ilayms werk machen können,
wenn er an stelle umständlicher zit;tte aus ungedrucktem oder
schwer zugänglichem material verweise auf die neueren publi-
cationen geboten hätte, dass gleichzeitig kleinere versehen im
tatsächlichen, dass diese oder jene fragen Ilayms, die inzwischen
ihre antwort gefunden haben, ohne viel lärm hätten verschwinden
dürfen, ist selbstverständlich, berührt es doch seltsam, in einem
buche vom jähre 1906 Untersuchungen angeregt zu sehen, die
längst angestellt und abgeschlossen worden sind.
Dankbareren herzens durfte man die Sammlung von
Ilayms aufsätzen entgegennehmen, die Wilhelm Schrader 1903,
also kurz nach dem hingang des freundes, besorgt hat. wenn
da ein wünsch noch übrig blieb, so war es lediglich das bedauern,
diese aufsätze aus den bänden 1 — 86 der 'Preufsischen Jahr-
bücher' nicht schon längst an einer stelle und in einem bände
vereinigt besessen zu haben, in unserer zeit, da jeder möglichst
rasch mit einem 'buche' aufwarten will, werden jähr für jähr in
hülle und lulle Sammlungen von essays, Studien, l'euilletous ge-
druckt; leider indes lassen sich — sieht man von wenigen aus-
nahmen ab — durch diese überproduction von gesammelten
aufsätzen grade die bedeutendsten gelehrten abschrecken, ihre
kleineren scbriften zusammenzutragen, vielfach mag auch hemmend
einwürken, dass man kleine arbeiten aus verschiedenen jähren
gern einer bessernden und vereinheitlichenden redaction unter-
würfe, ehe sie nochmals in die weit hinaustreten, und dass dann
zu solcher umschmelzung zeit und lust fehlt, und doch : wie
dankbar nähme man einen neudruck dieser einzelstudien auch
in ihrer ersten, vom Verfasser längst überholten form dort ent-
gegen, wo unzulängliche bibliotheken die ersten drucke über-
haupt nicht, besitzen, wer das glück hat, an wissenschaftlichen
und culturellen centren tätig zu sein, der ahnt ja freilich nicht,
wie unvollständig anderwärts die reihen der Zeitschriften sind,
seminare vollends, die mit bescheidenen mittein rechnen,
müssen auf den ankauf unserer fachzeitschrifien oft, völlig ver-
zichten, wie soll da dem Studenten ein material dauernd zu-
gänglich gemacht werden, das als muster und wegeweiser ihm
genau so unentbehrlich ist, wie die grofsen werke unserer
disciplin?
Endlich bleibt die Sammlung ein mittel, einzelne Studien
auch eines grofsen gelehrten vor der Vergessenheit zu bewahren,
die menge der zeitschriftenlitteratur macht es dem bibliographen
nicht leicht, an versteckterem orte gedrucktes neben dem zu-
134 HAYM GESAMMELTE AUFSÄTZE
gänglicheren zu berücksichtigen, auch wenn jenes sehr wertvoll
und dieses wertlos ist. Hayms aufsätze, die in den Preufsischen
Jahrbüchern fast durchweg anonym erschienen waren, wissen
von bibliographischer nichtbeachlung etwas zu erzählen! gleich
die beiden ersten nummern des sammelhandes, der artikel über
Ulrich von Hütten (angeregt durch DFStraufs biographie) von
1858 uud der Jubiläumsaufsatz über Schiller von 1859 sind —
soviel ich sehe — irn neuen Goedeke unbeachtet geblieben, und
dabei handelt es sich nicht etwa um kleine skizzen : der aufsatz
über Schiller umfasst 70 eng gedruckte grofsoctavseiten, darf
also wohl eine kleine biographie genannt werden, die Charak-
teristik KAvVarnhagens von 1S63 — sie knüpft an die Veröffent-
lichung seiner tagebücher an — ist von dem bibliographen lange
zeit überhaupt ignoriert worden, ihrer habhalt zu werden durfte
als ein kunststück gelten.
Ich beabsichtige nicht, hier eine ausführliche analyse
der einzelnen aufsätze zu geben, so sehr die beitrage zur ge-
schieht und Würdigung der romantik zu längerem verweilen
einladen : die recension von Dillheys Schleiermacher, die Studie
über Karoline, die anzeige der 'Nachlese zu Novalis leben und
schrillen', den freund der romantik fesselt auch der nekrolog
Ernst Moritz Arndts, den litterarhistoriker nicht minder, was
Haym über Schopenhauer und Eduard von Hartmann vorbringt
und über den historiker Hermann Baumgarten, alle einzelbe-
trachtung jedoch bei seite schiebend, will ich nur mit wenigen
worten der kritischen methode Hayms gedenken, der Stellung,
die er den objeeteu seiner forsch ung und Charakterisierkunst
gegenüber eingenommen hat. wie der historiker der romantik
im innersten über romantik gedacht hat, lässt sich nur erkennen,
wenn seine kritische art und ihre entwicklung scharf und deutlich
erfasst wird.
WSchrader bemerkt in seinem Vorwort (s. iv) : 'nicht dass
es Haym früher an Gerechtigkeit gefehlt hätte; aber mit der
freude über die neuei blühte herrlichkeit seines volks und mit
dem klaren einblick in die auch dem philosophen gesteckten er-
kenotnisgrenzen war seine Stimmung, ohne an leben und stärke
711 verlieren, friedlicher, sein denken harmonischer geworden, die
durchdringung von milde und tiefe hatte wie überall, so auch
iu diesem freien geisle eine wärme und leuchtkraft erzeugt, die
die bekämpften irrtümer nicht nur zergliederte, sondern als er-
<cheinungsformen, als verschiedene farbentöne in dem gesamtbilde
des behandelten gegenständes aufwies und ausglich, das lieifst :
der kritische philosoph war allmählich zum psychologen, zum
historiker geworden.'
Die kritische schärfe Hayms zu beleuchten, wähle ich aus
den 'Gesammelten aufsätzen' einige proben:
1863 schliefst er die Charakteristik Varnhagens mit den
HAYM GESAMMELTE AUFSÄTZE 135
wnrteü : 'so hat er sich zwar wie ein Üppig treibender bäum
mit zahllosen wurzeln und würzelclien breilhin in unsere litte—
ratur hineinerstreckt, aber ohne nährende l'ruchl zu tragen ....
zum glück, denn an solchen Staatsmännern würde der staat, an
mehreren solchen Schriftstellern die litteratur zu gründe gehen . . .
möge es auch in Zukunft unter uns viele gleich grofse talente,
aber nie einen zweiten Varnhagen gehen, es ist genug und zu
viel an dem einen' (s. 23S).
Das facil der bewertung Schopenhauers (1864) lautet: 'ein
gemisch grofser schwächen und ungewöhnlicher trefl'lichkeiten
steht ... in selleuer durchsichtigheit vor uns ... er ist kein
philosoph, an dem mafsslab gemessen, den uns Kant oder Ari-
stoteles an die band geben, die intensität der einbildungskraft,
der reichtum poetischer anschauungen reicht weit nicht aus,
ihn zum dichter zu machen, mit wie Geistvollen blitzen er
einzelne wissenschaftliche regiouen beleuchtet hat, — in dem
bereicbe strenger Wissenschaft ist kein platz für ihn ... so ge-
bort er, wenn es doch eine kategorie sein soll, in die geschichte
der deutschen litteratur und steht hier als eine einzige erscheinung,
als eine rarität da. man wird ihn von dort am ende doch wider
für die philosophie reclamieren, aber die Wahrheit ist : nicht was
er gelehrt hat, sondern dass es einmal eine zeit gegeben hat,
in der, nach der Zersetzung grofser wissenschaftlicher Systeme,
ein lebhaft geträumter und geistreich ausgeführter träum für
philosophie gegolten hat, das ist die tatsache, welche in Zukunft
die geschichte der philosophie zu erzählen haben wird (s. 354 f)«
Das verdict über Eduard von Hartmann (1873) : 'nicht so-
wol trotz als vielmehr wegen ihrer ungesundheit sind wir geneigt,
allen ernstes uns dieser neusten philosophie zu freuen, dem feuer
muss luft gemacht, wenn es gelöscht, das geschwür muss auf-
gestochen werden, wenn es geheilt werden soll . . . wünschen
wie uns daher glück zu der von herrn Hartmann versuchten
radicalisierung und modernisierung des Schopenhauerschen
Systems : es ist die erschöpfende probe, dass die grundanschauung
dieses Systems gleich unhaltbar ist, wenu sie auf Kant und wenn
sie auf Hegel aufgepfropft wird, — gleich unhaltbar als das
impromptu eines genialen Sonderlings und als die sorgfältig nach-
gebesserte arbeit eines talentvollen grüblers' (s. 592).
Nur diese langen citate lassen erkennen, was mir vor allem
wichtig scheint : die epigrammatische schärfe und Schlagkraft von
Hayms essayistik. über das sachliche resultat hinaus greift sein
pointierter stil einen formalen schlussaccord, der im leser lang
nachklingen soll, mit solch antithetischer knappheit hat einst
Schiller in den 'Xenien' seinen Zeitgenossen ihr urteil geschrieben,
freilich : Hayms neigung zur antithese wurzelte in seiner Vorliebe
für Macaulay. so wenigstens urtedt Schrader.
Ein kritischer formkünstler also; bewust geübte Virtuosität
136 HÄYM GESAMMELTE AUFSÄTZE
kritischer fechlkunst! wie immer bei solchen neigungen ligt der
ton der kritik weniger auf der widergabe der besprochenen an-
schauungen als auf der polemik, zu der sie anlass geben. Haym
war kein positiver kritiker im sinne Goethes, so wenig, dass er
beinahe Varnhageu verdenkt, in seinen receusionen dem geiste
Goelhescher kritik nahegekommen zu sein : 'man erwarte alles
von Varnhagen', ruft er aus, 'nur nicht, dass ihm die kritik zu
dem mittel werde, grofse grundsätze, bedeutende oder neue ge-
sichtspuncte zu erarbeiten, von jener genialen, productiven kritik,
wie sie Lessing übte, ist keine spur in ihm; viel eher könnte
man sagen, dass hier würklich der geist, und nicht blofs die
manier Goethes auf ihm ruhe' (s. 221). gleichsam mit dem Storch-
schnabel gebe er gröfsere werke in verkleinerten ähnlichen bildern
wider. Haym, der sich Lessing verwandter fühlte, verlangte vom
kritiker mehr Selbständigkeit und schöpferische kraft, liebevoll
in das weseu einer persönlichkeit sich versenken, auch wenn
diese persönlichkeit dem betrachter im innersten nicht sympa-
thisch ist, war ihm fremd, bezeichnend erscheint mir, wie Haym
sich zu der verständnisvollen Würdigung stellt, die Friedrich
Schlegel in Diltheys werk über Schleiermacher gefunden hat. er
selbst war in seiner 'Romantischen schule' mit FrSchlegel nichts
weniger als schonend umgegangen. Dilthey, der hier, wie in der
positiveren erfassung von Hardenbergs geistiger arbeit, nunmehr
doch wol im wesentlichen recht zu behalten scheint, hatte als erster
den jungen FrSchlegel zu würdigen verstanden, ohne sich durch
die späteren Wandlungen seines Schützlings den blick beirren zu
lassen. Haym aber schreibt 1870 : 'das schöne streben, durch
'wahrhafte geschichte' dem viel geschmähten doctrinär der romantik
gerecht zu werden, muss volle anerkennung finden, und wenn
dabei ein rest von Parteilichkeit zurückgeblieben ist, wenn die
'rettung Friedrich Schlegels' nicht in allen puncten überzeugend
ist, wenn der biograph ein wenig doch mit den äugen Schleier-
machers, des mild entschuldigenden freundes, gesehen hat, so
legt er doch zugleich das tatsächliche in solcher Vollständigkeit
vor, dass ausdrücke wie die von dem 'strahl eines hohen sitt-
lichen gedankens', den Friedrich in seiner excentrischen bahn ver-
folgt habe, von selbst ihre berichtigende deutung empfangen'
(s. 381 f). wer hört aus dieser verclausulierten Zustimmung nicht
heraus, dass Haym Diltheys mühen in FrSchlegels wesen sich
einzufühlen, für unersprießlich und irreführend gehalten hat?
Zwei diametral entgegengesetzte kritische methoden stehn
sich da gegenüber : Dilthey vertritt historische einfühlung, der
volles verstehen höchstes gesetz bleibt, Haym will auch als
historiker ein Werturteil geben. Dillhey neigt darum naturgemäfs
zu positiven, Haym zu negativen lörmulieruugen. Haym fürchtet
die folgen, die aus rückhaltloser Würdigung einer persönlichkeit
sich ergeben könnten, deren würken einst von unerfreulichen
HAYM GESAMMELTE AUFSÄTZE 137
consequenzen begleitet war. erfühlt sich bemüßigt, vor FrSchlegel
zu warnen, weil er ihn noch immer für gefährlich hüll, er
schreibt nicht als historiker, sondern als persönlich beteiligter
Zeitgenosse; FrSchlegel war zwar langst gestorben, wol aber reichte
seine nachwürkung bis in Hayms zeit hinein.
Und als unmittelbarer Zeitgenosse hat Haym über Varnhagen,
Schopenhauer, Ilartmann geschrieben. die epigrammatischen
spitzen, die oben widergegeben worden sind, danken ihre ent-
Stehung nicht blofs einem trieb zu polemischer formkunst.
vielmehr stellt sich Haym, der publicisi, der tagesschri fisteller
als getreuer Eckart vor seine Zeitgenossen hin, um sie vor
einem gift zu schützen, das er von jenen mannen) ausströmen
sieht.
Das merkwürdigste aber bleibt noch zu sagen : dieser tempe-
ramentvolle Vorkämpfer, dieser allerschärfsle polemiker gibt in
seinen kritischen arbeiten doch weit mehr als blofse negation!
sie umschliefsen zugleich meist das beste, was zu seiner zeit über
die opfer seiner kritik und für ihr Verständnis gesagt worden
ist. Varnhagen hat bis heute keine erschöpfendere deutung ge-
funden, der aufsatz über Schopenhauer ist und bleibt ein vor-
zügliches mittel, Schopenhauer zu begreifen, heute, da wir aus
beruhigender und beschwichtigender historischer ferne diese
Zeitgenossen Hayms betrachten dürfen, brauchen wir nur von
seinen Werturteilen abzusebeu, um das grofse positive ergebnis
seiner arbeil rein zu geniefsen und aus seinen darstellungen
beste und echteste historische Würdigung zu holen.
Vor allem gilt, was ich hier sage, von der 'Romantischen
schule.' ich begreife sehr wol, dass heute viele das buch abge-
schreckt (um nicht zu sagen : abgestossen) aus der band legen,
wenn sie sehen, in wie abschätziger weise Haym von den roman-
tischen genossen spricht, ich habe mich längst dran gewöhnt,
das buch zu lesen, ohne diesen mir gewis unerfreulichen ueben-
tönen mein ohr zu leihen, vielleicht finde ich mich deshalb
durch die 'Romantische schule' immer wider belehrt und be-
reichert, dabei leugne ich nicht, dass Hayms neigung zu tem-
peramentvoller negation ihn gelegentlich hat fehlgreifen lassen;
er erfafste das und jenes nicht, weil er es unterschätzte, dass
er aber zuletzt selbst die frühromantiker positiver gesehen hat,
als früher, darf ich wol behaupten, ja ich scheue nicht die
vermulung, dass er meine oben umschriebene art, sein buch zu
lesen, gebilligt hätte.
Denn in dem augenblicke, da Haym nur als historiker (nicht
als kriliker einer noch immer nachwürkenden erscheinung) die
romantik zu betrachten begann, muste ihm auch die bist zur
polemik verschwinden, die fieude an verständnisvoller hingäbe
wachsen, ich besitze ein schreiben Hayms vom 8 august 1892,
in dem er sogar dem convertiten FrSchlegel gerecht zu werden
138 BATM GESAMMELTE AUFSÄTZE
sich anschickt, es bezieht sich auf meine auswahl von Schriften
der brüder Schlegel, ilie kurz vorher in Kürschners Deutscher
INatioualliteratur (bd. 143) erschienen war. ich bin indiscret
genug, dieses document hier vorzulegen :
Haym schreibt von meiner einleitung:
'Die apologetische tendenz, die sich in der Vorführung und
beurteilung des späteren Friedrich — zu Ungunsten Wilhelms —
bemerkbar macht, berührte mich bei meiner geringen Sympathie
für den Charakter des maunes und, wie ich hinzufügen will, bei
meinen rationalistisch protestantischen und preufsischen anschau-
ungen, namentlich anfangs etwas fremdartig, die billigkeit und
Sachlichkeit jedoch, die Sie in Dir urteil legen, hat mich zugleich
würklicb belehrt und auf gesichtspuncte hingewiesen, deren be-
rechtigung ich willig anerkenne, so wie die dinge jetzt stehen,
dürfen wir die parteiische haltung, die einst Gervinus einnahm,
nicht ohne weiteres fortsetzen; wir gewinnen ein treueres und
positiveres bild, wenn wir . . . verständnisvoller auch auf die-
jenigen seilen der katholischen und katholisierenden romantiker
eingehen, vor deren gefahrvollen consequenzen wir uns heute
nicht mehr zu fürchten brauchen.'
Diesen worten habe ich nichts hinzuzufügen, dagegen sei
nicht verschwiegen, dass Haym auch schon früher gelegentlich
von einem kritisch negativen zu einem positiv-begreifenden stand-
punct weitergegangen war. alle äufserungen, die ich oben als
Zeugnisse seiner polemischen neigungen angef'ührl habe, ent-
stammen den sechziger und ersten siebziger jähren, doch schon
1870 hat seine, unmittelbar nach dem abschluss der 'Roman-
tischen schule' abgefasste Würdigung Karolinens gezeigt, wie viel
anschmiegsames Verständnis in Haym schlummerte, schloss er
doch die Studie mit dem bekenntnis, dass auch ihm die klugen
und sanften äugen Karolinens, der lächelnde mund, der liebreiz
der züge es angetan hälteu. 'eine schöne erzählung der evan-
gelischen geschichte ist uns . . . niemals aus dem sinne gekommen
— der sich ohne sünde fühlt, der hebe den ersten stein gegen
sie auf (s. 460).
Hier kündigt sich an, was Schraders vorwort von dem
späteren Haym zu melden hat : die gesteigerte Fähigkeit, fremde
naturen nach ihrer eigenart zu würdigen. Schrader vergisst nicht
hinzuzufügen, dass Hayms eigenes wesen in gleichem Verhältnis
eine fülle von harmonie und liebe gewonnen habe, mir aber
wird es immer eine teuere erinnerung bleiben, der liebevoll
verstehenden und begreifenden gute Hayms im letzten decennium
seines lebens teilhaft geworden zu sein, dass er als alter mann
jugendliche Ungeduld zu ertragen verstand, dass er wissen-
schaftlich und menschlich dem so viel jüngeren aus der ferne
eine stütze gewesen ist. dass er auch zur allerbescheidensten
äufserung eines anfängers Stellung zu nehmen sich nicht gescheut
TARDEL STUDIE« ZUR LYRIK CHAMISSOS 139
hat : all dies beweist mir, wie mild und gut der schneidige
kämpfer von einst geworden war. diese milde und gute aber war
bis zuletzt mit einem .strengen Verantwortungsgefühl gepaart.
als ehrlicher und gewissenhafter bekeooer bat Haym im alter
wie in seiner publicistiscben kampfzeit seine worte gewählt, nur
dass er zuletzt da, wo er früher mit scharfer und spitzer klinge
drein gefahren wäre, nur noch mit einem milde abwinkenden
'antiquorum hominum sum' den gegensalz betonte, der zwischen
einer rasch vorwärts eilenden zeit und seinem eigenen naturell
sich mehr und mehr herausgebildet hatte.
Bern, 14. 2. 07. Oskar F. Walzel.
Studien zur lyrik Chamissos. von dr Hermann Tardel. beilage zum pro-
gramm der handelsschule (oberrealschule) zu Bremen, oütern 19n2.
Bremen, AGuthe, 1902. 64 ss. 8°,
Tardel hat zur erkundung der quellen von Chamissos gedachten
schon manchen wichtigen beitrag geliefert, sein Graudenzer pro-
gramm von 1896 'Quellen zu Chamissos gedichten' hab ich an dieser
stelle (xxm, s. 321) gewürdigt, seine 'Vergleichenden Studien zu
Chamissos gedichten' (ZVLR n. f. 13, 113—34) in den JBL 1899
iv 10 : 72. die neue arbeit ergänzt und erweitert die resultate
der beiden älterem sie will — ebenso wie die 'Vergleichenden
Studien' — nicht blofs quellennachweise geben, sondern stellt
auch bearbeitungeo des selben Stoffes durch andere dichter zu-
sammen, dann aher möchte sie durch den vergleich von
Chamissos Schöpfungen mit ihren quellen auffassungsarl und ge-
staltungskrafl des dichters ermitteln, leider ist das resultat dieser
beobachtungen nicht an einer stelle zusammengefasst; von
dichtung zu dichtung weiterschreitend, gibt Tardel nur einzelne
winke, keine allgemeine Charakteristik, und zwar hält er sich
fast ausschliefslich an Chamissos erzählende gedichte, während
der titel seines büchleins auch eine behandlung der reinen lyrica
erwarten liel'se. er teilt seine Studien in neun abschnitte:
1. 'Gedichte nach deutschen sagen: 'Riesenspielzeug', 'Die weiber
von Winsperg', 'Die männer im Zobtenberge', 'Der birnbaum auf
dem Walserfeld', 'Die Jungfrau von Stubbenkammer', 'Das burg-
fräulein von Windeck', 'Die sonne bringt es an den tag', und
das gegenstück 'Das äuge' besprechend liefert Tardel reiches
material zur vor- und nachgeschichte des Stoffes, schade, dass
er bei gelegenheit der 'Männer im Zobtenberge' nur das Wert-
urteil fällt, Chamisso schliefse sich zu sklavisch der vorläge an
(s. 10)1 eben diese merkwürdige art Chamissos, die vorläge fast
wort für wort in verse umzuschmieden, hätte eine eindringlichere
behandlung verdient, wenig glücklich ist die behauptung formu-
liert: 'Unland hatte zwei metrische formen für die bailade, ent-
weder die vierzeilige Chevy-chasestrophe und einfache strophen-
gebilde mit vorwiegend iambischem rhylhmus oder die moderni-
140 TARDEL STUDIEN ZUR LYRIK CHAMISSOS
sierte Nibelungenstrophe' (s. 5). kommt da nicht der reichtum
der von Uhland verwerteten formen zu kurz, der ihm ermög-
licht, das den romanlikern so wichtige elhos des metrums geltend
zu machen (vgl. RMMeyer Die deutsche litteratur des ]9jh.s s. 49)?
2. 'Bearbeitung von Volksliedern', und zwar von französischen,
deutschen ('Die liebesprobe'), litauischen, neugriechischen, dann
die Übersetzung von Puschkins 'Zwei raben'. es fehlt uns noch
eiue Untersuchung der elemente, die Chamisso aus dem 'Wunder-
horn' und aus dem deutschen Volkslied überhaupt aufgenommen
hat. ich selbst hätte da seinerzeit mehr geben müssen, als etwa
die anmerkung zu s. 53 meiner ausgäbe ('Geh' du nur hin'!),
so ist der refrain der nr 9 der 'Lebens-lieder und bilder' ('Es
stehen drei steine am himmel, die geben der lieb' ihren schein')
dem anfange des gedichtes 'Der eifersüchtige knabe' im 1 band
des 'Wunderhorns' entnommen, das gedieht 'Heimweh' gehört
mit seinem alphorn und mit seinem hirtenknaben zum reichen
gefolge von Arnims und Brentanos 'Schweizer' ('Zu Strafsburg
auf der schanz' . . .'). 'Sternschnuppe' scheint eine bewuste
nachbildung des schnaderbüpfels zu sein, nicht nur in der
metrischen form, insbesondere auch im gedankengang der ersten
Strophe: 'Wenn einer ausgegangen ist, So ist er nicht zu haus;
Und wird der winter hart, so friert Das Ungeziefer aus', man
vergleiche nur, was Chamisso selbst über diese tanzreime sagt
(in meiner ausgäbe s. 93 anm.). den vers 'Lass rauschen, lieb,
lass rauschen' des unter diesem titel im 2 band des 'Wunder-
horns' abgedruckten Volkslieds 'Ich hört' ein bächlein rauschen',
bildet Chamisso in der 'Müllerin' (strophe 2 'Lass sausen den
stürm und brausen') und in dem gedieht 'Lass reiten' nach.
3. 'Napoleon-Gedichte'. 4. 'Griecheulyrik'. 5. 'Ein sociales ge-
dieht' : 'Das gebet der witwe', verglichen mit Luther, Weimarer
ausgäbe bd 19, 639. 0. 'Korsika-gedichte' : Tardel polemisiert
gegen rector Kellers allzu enthusiastische bewertung des 'Mateo
Falcone' (s. 38 anm. 1); 'Korsische Gastfreiheit' wird auf ßen-
sons 'Sketches of Corsica' (1823, s. 47 f) zurückgeleitet, 'Die
Versöhnung' auf Bosseeuww Saint-Hilaire 'La treve de dieu'
('Souvenirs de Corse' in der 'Revue de Paris' 1830, bd 15, 65 f).
vgl. auch Tardel s. 61 ff, 7). 7. 'Ahasver-gedichte' : 'Abba Glosk
Leczeka' wird in Zusammenhang gebracht mit einem aufsatz
Friedrich Nicolais 'Wandernde polnische talmudisten' von 1809,
'Baal Teschuba' mit einer Studie David Friedländers, die den auf-
satz Nicolais ergänzt. 8. 'Die sage von Alexandern' : Tardel zieht
eine darstelluug heran, die in der Revue de Paris 1832 (t. 40
p. 103 IT) aus den 'Miscellanea hebraica' des rabbi Hymau ab-
gedruckt ist. 9. 'Vetter Anselmo' : ausführliche darlegung der
Stoffgeschichte vom miltelalter bis zu Chamisso und zu Julius
Grosses 'Domdechanten von Compostella'.
Bern, juli 1905. Oskar F. W'alzel.
BLOESCH DAS JUNGE DEUTSCHLAND 141
Das junge Deutschland in seinen beziehungen zu Frankreich, von Hans
Bloesch. [Untersuchungen zur neueren sprach- u. litteraturgeschichte,
hg. von prof. dr Oskar FVValzel, Bern. 1 lieft.] Bern, AFrancke,
1903. 136 ss. 8°. — 2,40 in.
Auf s. 127 und 128 dieser Broschüre findet sich eine lange
polemik gegen Proelss, der nach des vf.s meinuog den nationalen
Ursprung der jungdeutschen hevvegung zu stark betont, den
französischen einfluss unterschätzt, es ist gewis nicht allein die
wissenschaftliche ansieht, die Bloesch bekämpft: er, der gegen
den 'Teutonismus', gegen die 'unnötigerweise mitgeschleppte
deutscbtUmelei' manches scharfe wort richtet, wendet sich gegen
die deutlich wahrnehmbare nationale tendenz in Proelss buch,
die Verbindung zwischen französischem und deutschem geistes-
leben ist ihm höchst sympathisch, er verfolgt sie mit warmem
anteil, und das allein und der flotte stil machen sein büchleiu
sehr angenehm zu lesen.
Leider ist es gar zu unsystematisch gehalten; Bl. 'will seinen
Bienenstand gar nicht erschöpfen, sondern nur einen raschen
überblick über ein weites arbeilsfeld geben', das im einzelnen zu
bearbeiten er cavaliermäfsig anderen überlässt, geradeso wie er
es als 'starke Zumutung' zurückweist, alle 'schmöker' durch-
zulesen, die etwa in betracht kämen, trotzdem ist ihm Qeifs
nicht abzusprechen, er hat eine ganz stattliche anzahl Journale
für seinen zweck durchgesehen, er kennt die Jungdeutschen uud
die französischen romautiker. was aber gerade für ein solches
buch notwendig wäre, vollkommene klarheit über das ziel und
über das objeet der Untersuchung, vermisst man. . es ist nicht
klar, was Bl. unter 'jungem Deutschland' versteht; manchmal
scheint es, als interessierte ihn nur jener enge kreis, der durch
Menzels denunciation und durch die bundestagsbeschlüsse be-
troffen wurde und den Proelss allein behandelt, dann wider
erweitert sich sein gesichtskreis und er behandelt auch ganz
fernstehende Schriftsteller der 30er jähre, wenn sie nur in irgend
einem sinn zu der französischen romantik Stellung nehmen,
er geht so weit, Menzel wegen seiner anfänglichen Sympathie
für die Franzosen 'als einen der hauptkämpfer für die neuen
ideen und bestrebungeu' aufzufassen, ihn förmlich unter die
Jungdeutschen einzureihen. dabei siebt er ganz gut, dass
Menzel 'nie die ausgetreteneu kinderschuhe eines alten burschen-
schafters ausgezogen habe' : und doch ligt darin das wesentliche
trennende moment. die gegnerschaft gegen alle aus der Ver-
gangenheit abgeleiteten tendenzen, gegen romantik in weitestem
sinn und damit auch gegeu die burschenschaft ist schliefslich der
kern des jungdeutschen wesens, mögen immerhin die genossen
des 'jungen Deutschland' als Studenten starke oder schwache
burschenschaftliche anwandlungen gehabt haben : erst mit dem
augenblick, wo sich die nationale und die freiheitliche richtung
142 BLOESCH DAS JUNGE DEUTSCHLAND
zu sondern beginnen, etwa nach dem Hambacher fest, krystalli-
siert sich der begriff klarer heraus. — aus der auffassung Menzels
als eines innerlich modernen geistes ergibt sich dann der ver-
such, Menzels 'denuuciation' aus einem durch die angst ein-
gegebenen bestreben zu erklären , sich radical von der gefähr-
lichen sache der jungen Schriftsteller abzusondern; die erklärung
erscheint weder wahrscheinlich, noch würde sie Menzel be-
sonders heben.
Bl. teilt seine arbeit in zwei abschnitte : 'Die Julirevolution
uud ihre einwürkungen' und 'Frankreich im urteil der Deut-
schen', ohne sich gerade streng an diese gliederung zu halten;
das erste capitel behandelt nach einer kurzen Charakteristik der
julirevolution und ihrer bedeutung für Frankreich ihre wür-
kungen auf einzelne deutsche schriftsteiler und ihre direclen
litterarischen reflexe, das zweite schildert im wesentlichen die
Stellungnahme der deutschen Schriftsteller zur französischen
romantik. über 1840 geht Bl. nicht hinaus, höchstens in ein-
zelnen anspielungen. seltsam launenhaft ist seine auswahl. es
ist doch für dieses buch kaum nötig, Goethes damals nur auf
einen engen kreis würkende aussprüche über französische litte-
ratur ziemlich breit zu erörtern; eher kann man sich die be-
rücksichtigung Tiecks als eines ausgesprochenen gegners der Jung-
deutschen erklären, hingegen vermisst mau einen mann wie
Pückler-Muskau, der so entschieden im sinn einer europäischen
litteratur würkt, oder auch Gaudy und andere aus dem Berliner
kreise Chamissos. dieser selbst ist wider einbezogen, es sei be-
merkt, dass zu dessen durch die julirevolution angeregten ge-
dienten auch die Schlussgedichte aus dem cyklus 'Lebenslieder
und bilder' (18311) gehören, besonders das vorletzte, der held
dieses cyklus fällt als julikämpfer, das ergibt sich nicht nur aus
wörtlichen Übereinstimmungen der gedichte mit gleichzeitigen
briefen Chamissos, sondern es ist auch ganz deutlich auf die
veranlassung der revolulion, auf die Ordonnanzen hingewiesen
('und jene haben doch das wort gesprochen 1').
Sehr schwer wird der gesamteffect des buches dadurch ge-
schädigt, dass der Verfasser im zweiten capitel sich auf directe
urteile beschränkt, die übersetzungslitteratur hingegen und die
nachahmungen im allgemeinen — denn auch hier ist er nicht
consequent — aufser acht lässt. ausführlich behandelt er den
litterarischen einfluss der George Sand, will sogar constatieren,
dass durch sie eine art 'weibliches Wertherfieber' entstanden sei
(dem er ganz unverständlicherweise mitschuld an Grillparzers
ewigem brautstand zuschreibt); bei Victor Hugo begnügt er sich
mit der widergabe von kritischen bemerkungeu jungdeutscher
Schriftsteller, aus denen schliefslich nur deren persönliche an-
sieht hervorgeht, indes er Freiligraths Übersetzung nur ganz
zufällig erwähnt — und doch, Victor Hugo hat unsere dichtung
BLOESCB DAS JUNGE DEUTSCHLA.Mi 143
entscheidend beeinllusst. ganz ähnlich, nur noch inconsequenter,
geht er bei Beranger vor, wo er gerade eine Übersetzung und
die vielen äufserungen Goethes erwähnt. recensent hat seit
jahren die einwürkung dieses dichters auf die deutsche litteratur
zu verfolgen gesucht; sie ist bekanntlich für die politische lyrik
von gröster bedeutung. aus der beobachtuug der Übersetzungen
ergibt es sich nun ganz deutlich, dass bis 1830 im wesentlichen
B6ranger als Vertreter der echten 'chanson', des leichten couplet-
liedes würkt, wenn auch schon bei Chamisso seine politische
satire nachgeahmt wird, wahrend er von 1830 an meistens als
freiheitsdichter gefeiert wird: schlagender kann sich der directe
einfluss der julirevolulion auf die beurteilung französischer dich-
tuug nicht leicht äufsern. das sehr interessante capitel des
litterarischen Napoleoncultus, das Bl. bei Beranger streift, ist
ganz übergangen, Barlhelemy und Merys 'Napoleon en Egypte'
nicht einmal erwähnt, dessen spuren bei Gaudy so deutlich sind;
selbst Heines Stellung zu Napoleon bleibt unerürtert.
Es ist recht schade, dass die zahlreichen hübschen einzel-
hemerkungen der arbeit, besonders die über die einwürkungen
des französischen Journalismus auf den deutschen, nicht entweder
zu einer runden Studie verwendet oder für ein grösseres buch
über die lilterarischen beziehungen Deutschlands zu Frankreich
in den dreifsiger jahren gespart wurden; der engere rahmen
würde wol auszufüllen sein, der weitere würde alles fassen, was
in der vorliegenden arbeit störend würkt. reichliches material
dazu scheint Bl. ja gesammelt zu haben.
Wien. Valentin Pollak.
LlTTERATURNOTIZEN.
Die keltische Urbevölkerung Deutschlands, erklärung der namen
vieler berge, Wälder, flösse, bäche und Wohnorte besonders aus
Sachsen, Thüringen, der Bhön und dem Harze von W. Kraüsze,
pastor zu Wiederau (Sachsen). Leipzig, Paul Eger, 1904. vi und
135 ss. 8°. 2,50 m. — das hüchleiu ist wider einmal ein beleg
für den rückfall in eine, wie es schien, längst überwundene
krankheitsform — jetzt halt ich es auch gar nicht mehr für
ausgeschlossen, dass jener brave niedersächsische geistliche, der
den gipfel der Wissenschaft in der herleitung aller Ortsnamen
aus dem hebräischen erblickt, mit seiner Weisheit sich noch
ans licht der Öffentlichkeit wagt, ich kenne von den älteren
keltomanen nicht viele, aber ich glaube nicht, dass einer von ihnen
herrn pastor Kraufse an wagemut, freudigkeit — und glück im
finden übertroffen hat. das recept, nach dem hier Ortsnamen
aus keltischen und deutschen brocken zusammengeleimt werden,
ist überall anwendbar, und nachdem hier glücklich Altenburg,
Ansbach, Arnstadt, Augsburg, Bautzen, Berlin, Braunschweig,
144 KBAUSZE DIE KELTISCUE URBEVÖLKERUNG DEUTSCHLANDS
Bremen, Chemnitz, Crimmitschau, Dresden, Erfurt, Gera, Glauchau,
Gotha, Grimma, Hamburg, Hannover, Hildesheim, Kamenz, Kau-
fungen, Leipzig, Meifsen, Mühlhausen, Nürnberg, Osnabrück, Roch-
litz, Rudolstadt, Schandau, Schweinfurt, Soest, Strafsburg, Torgau,
Ursprung, Vacha , Weimar, Wetzlar, Zeitz, Zittau, Zwickati —
Kuhschnappel und Zippollenklippen und viele hundert ähnliche
namen deutschen, slavischen und römischen Ursprungs aus dem
keltischen etymologisiert sind, hegreift man altsolut nicht,
warum der Verfasser an Naumburg und Magdeburg, Köln und
Zahern, Breslau und Posen, Krähwinkel und Ritzebüttel vor-
übergegangen ist. wahrscheinlich wollte er andern doch die
l'reude einer kleinen nachlese gönnen. — das büchlein ist uns
ohne aufforderung zur recension zugeschickt worden : der Ver-
fasser, dessen etymologische Wahnvorstellungen offenbar von dem
unglückseligen tage herrühren, der ihm die Grammatica celtica
in die bände spielte, hat weder eine ahuung von deu grundzügeu
der worlbildungslehre, noch kennt er die einfachsten tatsacheu
aus der siedelungsgeschichle. E. S.
Nithardi Historiarum libri im. editio tertia post Georgium Hen-
ricum Pertz recognovit Ernestüs Müller, accedit Angelberti
rhythmus de pugna Fontanetica. [Scriptores rerum Germani-
carum in usum scholarum ex Monumentis Germaniae historicis
separatim editi.] Hannoverae et Lipsiae, impensis bibliopolii
Hahniani. 1907. xiv u. 61 pp. 8°. 0,75 m. — in den hand-
lichen octavausgaben, die früher zumeist nur schlichte abdrücke
aus den schwer zugänglichen folianten boten, vollzieht sich schon
seit längeren jähren in wachsendem umfang die erneuerung vor
allem der 'Scriptores'. unter den publicatiouen der letzten zeit
sind nicht wenige, die das interesse des germanisten beanspruchen
und zum teil auch bereits vor ihrem erscheinen gefunden haben,
ich hebe hervor die von dem frühgeschiedenen KAKehr mit aus-
gezeichneter akribie besorgte vierte aufläge des Widukind (1904),
in deren anhang man auch den Origo gentis Suevorum wider
abgedruckt findet, und vor allem die von Wilhelm Levison ver-
anstaltete Sammlung der Vitae sancti Bonifatii (1905) : eine überaus
solide und an neuen aufschlössen reiche arbeit.
Ihnen reiht sich jetzt als bescheidenere leistung, aber gleich-
falls durch gewissenhaftigkeit und Sauberkeit ausgezeichnet, der
neue Nithard von Ernst Müller an, in dem besonders die an-
merkungen auf die neue litteratur in einer weise rücksicht
nehmen, die mir gelegentlich fast zu weit geht : so wenn s. xiv
sieben zeilen auf die jeder erwähn ung unwerte schrift von
AKrafft Les serments carohngiens (Paris 1901) verwendet werden,
was die widergabe dieser Strafsburger eide (die uns germanisten
ja an IVithards werk besonders interessieren) auf s. 36 angeht,
so ist sie leider merkwürdig inconsequent : bruher wird im text
(zu bruodher) verbessert, uuerhen (st. uuerdhen) oben belassen
MÜLLER INITHARDI HISTORIARUM LIBRI IUI 145
und nur in der anmerkung corrigiert. Überhaupt ist mir der
Verfasser in der hehandlung des textes, der freilich nur in der
einen gegen ende des 10 jh.s bei SMedard zu Soissons geschrie-
benen Handschrift erhalten ist, gar zu zaghaft : es ist für mich
höchst anslöfsig, die beiden Schreiberzusätze s. 1,221 [hora vide-
licet plus minus diei terlia] und 40, 3 [qnod tum sedes prima
Franlie erat], die selbstverständlich als solche erkannt sind, ohne
jede markierung im Wortlaut einer kritischen ausgäbe zu lesen,
weiterhin dürften gewisse Unarten des französischen Schreibers
unbedenklich in die lesarten verwiesen werden; so wenn er
(41,16) edhilingui (neben frilingi) und (37,26) deguerint für
degerint schreibt : lediglich aus dem instinct des Romanen, der
hier der palatalen assibilation ausweichen will; in einem dritten
fall {Stellingua 42, 3f) bat er das u hinterher getilgt, als er sah
dass die (plural)lbrm (die hier zum ersten male vorkommt) nicht
Slellingi, sondern Stellinga lautete, wenn die spuren romanischer
laulbezeichnung hier deutlich zu tage treten, so darf man sie
namentlich in den eigennamen getrost weiterverfolgen und den
deutsch sprechenden und (wie die eide zeigen) in der schrift-
lichen widergabe deutscher laute und worte nicht unerfahrenen
Karolingerspross von mancher unschönen iuconsequenz ent-
lasten, ein autor der 3, 4 Irmengardis schrieb wird schwerlich
49, 2 die form Hirmentrudem gebraucht haben, und wenn wir
weiterhin bei ihm den Normannen Harald als Herioldus (39, 8)
finden, wird es weder glaublich scheinen, dass er 3, 33 Eribertus
noch dass er 26, 18 Hirmenaldum statt Irmenoldum geschrieben
habe; der Hegibertus, der wenige Zeilen vorher (26, 14) als abge-
santer Lothars erscheint, ist gewis mit dem Egbertus 43, 2 ('a parte
Lotharii') identisch, was der index übersieht, auch formen wie
Adelardus uä. neben Adhelhardus 44, 1 1 gehören dem Schreiber,
und wenn dieser 3, 31 uuterm copieren Rudulfum in Rodulfum
verändert, so sprechen anderwärts Uodo, bmodher dafür, dass die
vorläge Ruodulfum hatte, die doppelheil des namens Drogo-
Drugo ist leicht beseitigt, wenn man sieht, dass die zweite form
nur einmal vorkommt : 2, 20 neben Hugol hingegen möcht ich
der Leibnitzischeu conjectur Wilhelmus st. Vivianus (7, 18) keines-
wegs das wort reden. — es sind ja alles nur kleinigkeiten, aber
einmal interessiert uns die rheinfränkische spräche dieses schrift-
stellernden Karolingers bis iu jeden eiuzellaut hinein, und dann
ist der herausgeber so wie so in zahlreichen fällen gezwungen,
Schreibfehler in den eigennamen zu emendieren; meine forderung
fällt nicht aus der bahn seiner eigenen arbeit.
Zum Widerabdruck von Angilberts rhythmischer klage auf
die schlacht von Fontenay (841) notier ich hier Seemüllers Studien
zu den anlangen der altdeutschen historiographie (1898) s. 50 f. —
2, 1 ist zu interpuugieren : Bella clamant hinc et inde, pugna
gravis oritur. das gedieht weckt ein paarmal die erinnerung an
A. F. D. A. XXXI. 10
146 FEHSE DER URSPRUNG DER TOTENTANZE
parallelen aus germanischer dichtung, so zb. 14, 2 horum carnes
vultur, corvus, lupus vorant acriter. E. S.
Der Ursprung der totentänze. mit einem anhang : der vierzeilige
oberdeutsche Totenlauztext cod. pal. nr 314 B. 79 a — 80 b.
von Wilhelm Fehse. Halle, Niemeyer, 1907. (zugleich oster-
programm des kgl. Victoria-gymnasiums zu Burg b. M.) 1,60 m. —
für die anregung zu dieser arbeit darf man Philipp Strauch auf-
richtig dankbar sein. F. hebt am eingang scharf die bedenken
hervor, welche der von Seelmann vertretenen herleitung aller
totentänze aus einem drama eutgegenstehu, und tritt alsbald für
die Wahrscheinlichkeit ein, dass die bildliche darstellung das
primäre sei. er stellt dann in den mittelpunct seiner Untersuchung
den in sechs handschriften und blockbiichern des 15jh.s erhal-
tenen oberdeutschen text, den Seelmann mit unrecht bei seite
geschoben hat, indem er diesen tanz mit 24 paaren aus dem
Baseler mit 39 ableitete, es ist dies ein wiirklicher totentanz,
ein reigen der toten mit den lebendigen — der tod als person
tritt darin gar nicht auf, und so fehlt auch jede moralische ten-
denz. erst in Basel ist daraus ein 'tod e stanz' geworden, und damit
war die moralische tendenz gegeben, schon hier kommt F. in
klarer und präciser darlegung auch über WLSchreiber hinaus,
der als kunsthistoriker andere bahnen als Seelmann eingeschlagen
hatte (Die totentänze, Zs. f. bücherfreunde 1898/99). für das
Verhältnis der verschiedenen Baseler darstellungen unter einander
hatte AGoette (1897) im wesentlichen das richtige ermittelt, und
F. begnügt sich damit, die priorität von Klein-Basel noch mehr
zu festigen und das verfahren dieses Baseler todestanz-dichlers
im einzelnen zu demonstrieren, das resultat, zu dem dieser erste
hauptteil gelangt (s. 27 ff), ist vorläufig, dass der oberdeutsche text
mit 24 paaren der älteste aller uns überlieferten totentanztexte
(nicht nur der deutschen!) sei; damit ist F. wider bei der auf-
fassung Mafsmanns angelangt, der diese nur in Überlieferung des
15 jh.s auf uns gekommene fassung in die mhd. spräche umschrieb
und dem 14 jh. zuwies, zu dieser altersbestimmung muss ich
vorläufig ein kräftiges fragezeichen machen : ich möchte den text
keinesfalls über 1400 hinaufrücken und eine sprachliche normali-
sierung bestimmt ablehnen, das von Seelmann nachgewiesene,
allerdings verblüffende zusammenstimmen eines vereinzelten verses
der lübisch-revalschen fassuug mit der französischen (O redelike
creature = O creature raisonnable) wird einstweilen wegen seiner
absoluten isoliertheit bei seite geschoben, findet also keine
erklärung.
Im zweiten hauptteil seiner arbeit (s. 30 — 48) lehnt F.
zunächst die möglichkeit, dass der obd. totentanztext der hand-
schriften jemals als selbständiges gedieht (drama nach Seelmann
und Goette, eine art Volkslied nach Schreiber) bestanden habe,
entschieden ab. die beweisführung könnte hier schärfer sein:
FKHSK DER URSPRUNG DER TOTENTÄNZE 147
mich überzeugt die innere Wahrscheinlichkeit, er stellt dauo
noch einmal den französischen 'to destanz' und den ältesten
deutschen 'toten tanz' scharf gegenüber und beantwortet die
frage, welche von den beiden auffassuugen die ursprüngliche sei,
dh. welche von ihnen uns die rälsel und Widersprüche der ganzen
litterarisch-künstlerischen denkmälergruppe am einfachsten löse,
unbedenklich zu gunsteu des toten tanzes : 'aus der volksan-
schauung vom reigen der toten ist das erste totentanzbild, ist
der erste toteutanztext herausgeboren. ' die Widersprüche entstehu
einmal dadurch, dass in der hsl. Verbreitung des bildes der reigen
sich in einzelpaare auflöst, und dann durch eindringen der
moralischen idee, die aber nicht ausschließlich so theologisch
gefärbt ist, wie in F.s Formulierung : 'der tod ist der Sünde sohl.'
ein hinweis auf den in Holbein erreichten entwicklungsabschluss
des totentanzmotivs beendigt die fesselnde abhaudlung, die mich
in den hauptpuneten durchaus überzeugt hat, obwol ich zugebe,
dass die äuisere beweisfübrung einige lücken und zweifei lässt. —
als anhang ist der text des cod. pal. 314 beigegeben (s. 50 — 58),
der als bester repräsentant uns den mangel einer kritischen
ausgäbe vorläufig ersetzen soll : eine solche scheint der Verfasser
s. 27 n. 1 selbst in aussieht zu stellen, ich habe den eindruck,
dass F. bis dahin in sprachlichen dingen noch einiges lernen
muss, und hoffe dass er dann auch jene lücken ausfüllt, die
dieser erste hoffnungsvolle versuch lässt : zb. die Untersuchung
über das alter des lateinischen textes liefert, den er sonder-
barerweise so gut wie lotgeschwiegen hat. so grofs die litteratur
über die toteutänze ist, es gibt noch immer erscheinungen , die
dabei nicht genügend berücksichtigt sind : so aus der litteratur
die verschiedenen 'Contemptus mundi' des 12 u. 13 jh.s, zu deren
einem der lateinische text in naher beziehung stehn dürfte,
aus der kunstgeschichte die grabmonumente mit der doppelten
darstellung des lebenden in seinem irdischen glänz und ansehen
und des toten als gerippe : die mir bisher bekannten 8 (9) denk-
mäler dieser art fallen in die zeit von 1430 — 1520, also recht
eigentlich in die blühtezeit der totentänze : es sind bischöfe, geist-
liche, fürsten, ritter, professoren dabei vertreten. E. S.
Beiträge zur künde der lateinischen litteratur des mittelalters aus
baudschriften gesammelt von Jakob Werner, zweite durch einen
anhang vermehrte ausgäbe. Aarau, HRSauerländer u. co., 1905.
227 ss. 8. — s. 1 — 183 des buches sind die 1904 erschieuene
dissertation des vf.s 'Über zwei handschriften der Stadtbibliothek
in Zürich, beitrage zur künde der lat. litteratur des mittelalters'.
es sind dies die hss. C 58/275 (Z) und C 101/467. hinzu-
gekommen sind in dieser zweiten ausgäbe die hss. 3S3, 709, 710
der Stadtbibliothek in Bern und umfangreiche nachtrage.
Den lesern dieser Zs. ist Z uicht unbekannt, sie alleiu hat
das wunderschöne Schwabeulied 'Hospita in Gallia (Zs. 5, 296)
10*
148 WERNE« BEITRÄGE ZUR KÜNDE DER LAT. LITTERATUR DES MA.S
überliefert, aber aueb sonst birgt sie ganz ungeahnte schätze, die
nicht hiureicbend bekannt waren und deshalb auch nicht überall
gewürdigt worden sind, zb. von den herausgebern der Antbologia
latina. es ist ausserordentlich dankenswert, dass VV. (s. 1 — 151)
den gewaltigen iuhalt vor uns ausbreitet, ich kann bei dieser
kurzen anzeige auch nicht entfernt daran denken, eine genauere
Übersicht zu geben, sondern muss bitten, das buch selbst einzu-
sehen: florilegien aus Persius, Ovid, Horaz wechseln ab mit gramma-
tischen , moralischen und theologischen excerplen , fragmenten
eines briefstellers, syuonymensammlungen, auch einzelnen deul-
scheu stücken und vielem andern, kurz es ist ein unermesslicher
reichtum. vor allem heb ich die zahlreichen miltellateinischen
dichtungen hervor — auch vom Primas, Erzpoeten, aus der
vagantenlyrik findet sich einzelnes.
Nicht weniger anziehend als der iuhalt ist die hs. selbst, wie
es scheint, hat 6in Schreiber den ganzen stolf liebevoll gesammelt
und eigenhändig niedergeschrieben, nicht iu einem zuge, sondern
nach und nach, jenachdem sich zeit oder wol auch material bot.
über seine heimat ist nichts zu ermitteln , doch mag Werners
Vermutung das rechte treffen, dass es ein deutscher cleriker war,
der auf französischen schulen studierte und die blätter gewisser-
mafsen als frucht seiner studieu mit nach Deutschland heimbrachte,
für sangallische provenienz dürften sich kaum beweise beibringen
lassen, auch die zeit ist nicht genau zu bestimmen. Werner
denkt bei nr 386 'Abschied von der weit' an den archipoeta
Nicolaus des Caesarius vHeisterbach, doch scheint mir seine
beziehung mindestens äufserst fraglich zu sein.
Die zweite hs. ist von dem gelehrten SGaller mönche Gallus
Kemly(geb. 1417) geschrieben, der viel umherwanderte und überall
mit grofsem eifer sammelte, was ihm unter die bände kam:
deutsche und lateinische verse, recepte und kalender, trink- und
spiellieder uaa.
Von den hinzugekommenen Berner hss. trägt die letzte, 710,
einen ähnlichen Charakter wie Z, sie enthält vor allem poetische
excerpte, ua. auch aus der Alexandreis des Walther vChätillon.
die beiden andern bringen nichts poetisches, dafür wertvolle prosa,
vor allem synonymensammlungeu u. dergl.; in hs. 383 steht auch
der anfang des Graecismus von Eberhard vB6thune.
Die nachtrage s. 197 — 215 bringen zahlreiche Verweisungen
und ergänzungen, auch beigaben aus andern hss.; zb. von Carm.
bur. s. 135 wird aus einer SGaller hs. ein wesentlich ab-
weichender und bessere lesarten bietender text abgedruckt, be-
sonders dankbar bin ich dem vf., dass er für die 'generalbeichte'
'Estuans intrinsecus' das verstreute material sorgsam zusammen-
gestellt hat; nur hätte er den wert dieser gäbe nicht dadurch
beeinträchtigen sollen, dass er die hs. Z zugrunde legte.
Berlin. K. Strecker.
HEITZ EINE ABBILDUNG DEK HOHKONIGSBURG GEBOLD REDSLOB 149
Eine abbildung der Hohkonigsburg aus der ersten ballte des 16 jh.s.
gefunden und beschrieben von Paul Heitz. mit 2 abbildungen.
Strafsburg, JHEdlleitz (Heitz und Mündel), 1907. 9 ss. gr. fol.
2,50 m. — aus seiner schier unerschöpflichen Sammlung alter
holzstöcke hat herr PHeilz ein exemplar erneuter aulmerksamkeit
gewürdigt, nachdem er im landschaftlichen Hintergrund der sati-
rischen scene eine älteste abbildung der eindrucksvollen elsässi-
schen bergfeste Hohkonigsburg erkannt zu haben glaubte, und
bei dem zeitweise fast leidenschaftlich erregten inleresse, welches
der ueubau Bodo Ebhardts wachgerufen hat, darf auch dies blatt
die aulmerksamkeit weiter kreise beanspruchen, es handelt sich
um den stark abgenutzten holzstock eines flugblattes, das um
1530 in Strafsburg herausgekommen sein muss : den Zeichner
glaubt H. in der person des Hans Weiditz widerzufinden, der
1522 — 1536 für verschiedene Strafsburger firmen gearbeitet hat.
die absieht des künstlers aber bleibt unklar, und H. appelliert
an alle kenner der geschichle, der litteratur und der holzschneide-
kunst jener zeit, um vielleicht einen abdruck mit text oder Über-
schrift kennen zu lernen, dargestellt sind kämpfe zwischen
katzen und mausen (ratten) vor den mauern einer Stadt, welche
von den katzen belagert wird. H. bringt das bild mit dem
elsässischen bauernkriege 1525 zusammen, über die Stadt im
vordergruud bestehn zweifei : bald soll es Bergheim bald Schlett-
stadt sein, den hintergrund bilden drei von schlossern resp.
ruineu gekrönte berggipl'el, und das stattlichste dieser Schlösser
wird von H. als die Hohkonigsburg angesprochen, auch hier-
gegen sind bereits bedenken geäufsert (von Forrer Strafsb. Post
1907 ur 1078), aber nachdem KStatsmann der skizzenhaften dar-
stellung des holzschnitts ein nach dem grundriss reconstruiertes
schaubild der bürg gegenübergestellt hat (ebda nr 1125), wird
mau an der richtigkeit der deutung H.s kaum noch zweifeln
können, somit hätten wir also, wonach man so lange vergeblich
gesucht hat : eine bei einfachen mittein und beschränkter absieht
doch im ganzen zuverlässige darslellung der bürg in dem wol
fast ungestörten zustande des neubaus von 1479 ff. die bisher
älteste abbildung von 1633 setzt neben anderm die eingreifenden
baulichen änderungen des Jahres 1557 voraus, die schrift von
H. bringt aufser einem abzug des origiualstockes eine vierfache
photographische vergröfserung des bildausschnittes mit der bürg.
E. S.
Heinr. Bedslob. ein Strafsburger professor am anfang des 19 jh.s.
von Th. Gerold, mit einem auhang enthaltend briefe und ge-
dichte an DArnold , gedichle von FrHRedslob. mit 2 porträts.
Strafsburg, Heitz, 1906. 100 ss. 4 m. — ein berufsgenosse,
der durch heirat in Redslobs familie eingetreten ist, schreibt
dessen biographie mit familienhafter breite. aus den wirren
der napoleonischen zeit führt dies leben in idyllische ruhe im
150 GEROLD REDSLOB — W1TK0WSKI DAS DEUTSCHE DRAMA DES 19 JH.S
beruf; doeb dies glück des beldeu macht seine lebeusgeschichte
bald uninteressant, und R.s briefe beziehen sich auf jene erste
periode und zeigen liebenswürdig menschlichen anteil in nicht
immer ganz orthographischer form, liebenswürdig sind auch
die mitgeteilten dichlungen Redslobs und des Verfassers des
Pfingstmontags; eine eigene bedeulung kommt auch ihnen
nicht zu.
Berlin, 26 october 06. Richard M. Meyer.
Das deutsche drama des neunzehnten Jahrhunderts in seiner ent-
wicklung dargestellt von Georg Witkowski. [Aus uatur und
geistesweit, 51 bändchen.] mit einem bildnis Hebbels. Leipzig,
BGTeubuer, 1904. 172 ss. S°. 1 m. — der Ursprung dieses buches
aus volkstümlichen vortragen verleugnet sich keinen moment; die
meisten capilel runden sich zu in sich abgeschlossenen darstellungen,
wie sie im rahmen einer oder auch mehrerer vorlesuügen geboten
werden können, einzelne erscheinen fast als selbständige essays;
überall arbeitet W. auf klar heraustretende einzelbilder hin. die
rücksicht auf die tolalenlwicklung fehlt nicht; dennoch erscheinen
die allgemeinen zustände in dieser Schilderung wesentlich als folie
für die grofsen, die helden : Kleist, Grillparzer, Hebbel, Wagner,
Hauptmann, hinter denen einige andere wie Raimund, Ludwig,
Anzengruber, Sudermanu als nebeuacteure zurücktreten, ein
künstlerisches princip der anorduuug hat sogar über das sachliche
gesiegt, wenn der Verfasser Wagner gegen schluss der periode von
1830 bis 1885 einordnet, um iu dem Bayreuther unternehmen das
würksamste gegenbild zu dem geschäftsbetrieh der deutscheu theater
zu gewinnen, oder wenn er im letzten abschnitt Gerhart Haupt-
mann nach den modernsten behandelt, um mit einer bedeutenden
gestalt zu schliefsen. ein vortragender sichert sich durch dieses
verfahren den vorteil, auch einem nicht besonders zuverlässigen,
vielleicht wechselnden auditorium jedesmal würksames bieten
zu können; ob diese rücksicht auch pädagogisch — wenn das
wort hier erlaubt ist — anzuempfehlen ist, fragt sich allerdings,
vielleicht war es gut, ein publicum, das ohnedies geneigt ist,
nur das auffallende zu beachten, doppelt stark auf den inneren,
notwendigen Zusammenhang der entwicklung hinzuweisen, der
leser freilich wird den inuern gang des ganzen buches, der
durch eine entschiedene anschauuug vom werden des deutscheu
dramas im 19 Jahrhundert gegeben ist, bei einigem bemühen
erkennen und würdigen, in erfreulichem gegensatz zu anderen
werken dieser art kennt W.s buch keine andere tendenz als die
aufrichtiger liebe zur sache. im künstlerischen allein äufsert sich
die subjeclivität des autors, der auf kein dogma eingeschworen ist,
aber seine ehrliche meinung so offen sagt, wie es dem volkslehrer
ansieht, der erziehend würkeu will, das büchlein zeigt einen ge-
wissen heroencultus, dabei ingrimmigen eifer gegen alle geschäfts-
mäfsige mache; da schadet mancher vielleicht etwas zu scharfe
WITTKOWSKI DAS DEUTSCHE DRAMA DES 10 JM.S 151
hieb nicht, schlimmer ist es, wenn apodiktische Werturteile aus-
gesprochen werden wie das aufs. 69, wo die anerkennung Hebbels
als des grüsten deutschen dramatikers nach Schiller gefordert wird.
Im vorwort verhelfst W., er wolle die drei factoren der
dramatischen production : kunstanschauung, Schauspielkunst und
publicum, ihrer Wichtigkeit gemäfs berücksichtigen, indes wigt
der erstgenannte factor ganz bedeutend vor, die anderen werden
nur gelegentlich erörtert; am wenigsten ist das publicum zu
seinem recht gekommen, der Verfasser ist lilterarhisloriker im
engeren sinne; politische und sociale fragen liegen ihm ziemlich
ferne, die reaction der 20er und 30er jähre, die ernilchterung
des bürgertums nach 1848, die finanzkrise der 70er jähre, das
anwachsen der socialdemokratie, das wechselnde Verhältnis der
bürgerlichen Intelligenz zu dieser haben die struetur des theater-
publicums und damit die dramatische production ganz wesent-
lich bestimmt : hei W. sind diese dinge nur obenhin gestreift,
schärfere socialkritik hätte ihn auch vor der grundfalschen be-
hauptung zurückgehalten, die 'behaglichkeit des alten Wiens und
die frivolität der modernen grofsstadt' seien innig in Artur
Schnitzlers werken verbunden, 'weil sie aus dem boden desselben,
im gründe unveränderten volkscharakters erwachsen' seien, er
erkennt genau, dass in Berlin jüdischer einschlag das wesen der
litteratur bestimmt hat; er hätte sich auch leicht überzeugen
können, dass die ganze Jungwiener litteratur mit dem volks-
charakter nur insofern zu tun hat, als dessen objeetive betrachtung
den isolierten litteraten stoff, eventuell localton gegeben hat.
Mit besonderer Vorliebe sucht W. die leitenden ideen im
schaffen ganzer kunstepochen, aber auch bei einzelnen dichtem
und in einzelnen werken klarzustellen; sie geben ihm teil-
weise das einteilungsprineip, und nach ihnen prägt er seine
formein. das erklärt sich leicht aus der beherschenden Stellung,
die Hebbel in seiner Wertschätzung einnimmt, indes, abgesehen
von der frage, ob solche blutleeren abstractionen für volkstümliche
belehruug zweckdienlich sind, tut er damit manchem dichter
und manchem werk unrecht, und allzuoft vernachlässigt er über
diesen höchsten fragen das dramatische leben; so wenn er
Anzengrubers weltauffassung untersucht. und selbst Hebbel
gegenüber scheint es mir, dass für den geschichlschreiber des
dramas die gestallen, ihr tun und fühlen wichtiger sind, als die
dialektischen begriffe, welche der dichter durchaus in seinen
werken verkörpern wollte, befangen in der philosophischen
richtung seiner zeit, so kommt W. dazu," Hebbel und Ibsen
ganz dicht nebeneinanderzustellen, eigentlich nur durch die
technik unterschieden; die tiefe erolik Hebbels berührt er kaum,
dieselbe Unterschätzung des gefühlslebens begegnet ihm auch bei
Kleist und Grillparzer; ihm ist zb. die Libussa die darstellung
der menschheit im Übergang vom unbewusten, instinctmälsigen
152 W1TK0WSKI DAS DEUTSCHE DRAMA DES 19 JH.S
dasein zum bewusten wollen und bandeln, wie 'Herodes und
Mariamne' die des gegensatzes zwischen antiker und christlicher
ethik — das Verhältnis von mann und weib interessiert ihn gar
nicht, auch bei Wagner betont W. in erster linie die philo-
sophische Problemstellung; nur bei Gerhart Hauptmann, der mit
kühler objeclivität bebandelt ist, tritt die erörterung der Welt-
anschauung etwas zurück.
Das kleine bändchen enthält eine grofse lulle von namen,
die nicht blofs aufgezählt werden, sondern die verschiedenen
richtungen und ihre Vertreter kommen würklich zur anschauung;
ein register erleichtert die benützung. man wird im allgemeinen
nichts bedeutenderes vermissen und keine wesentlich andere Ver-
teilung des Stoffes wünschen, wenn auch der persönliche ge-
schmack des einzelnen vielleicht manches weggelassen, anderes
mehr betont sehen möchte, nur eine für die allerletzten jähre
des 19 Jahrhunderts so bezeichnende erscheinung wie die 'heimat-
kunsl' hätte doch erwäbnung verdient; die hieher gehörigen
Österreicher Schönherr und Kranewitler sind gar nicht genannt.
Nicht verschwiegen kann werden, dass die ausdrucksweise
mitunter bedenklich salopp ist, abgegriffenste phrasen oft ge-
braucht werden, sogar grobe flüchtigkeiten unterlaufen (so auf
s. 86, wo Anzengruber und der held seines 'Meineidbauer' in
heilloser weise ineinander verstrickt werden), solche kleine
flecken entstellen das hübsche buch doch recht unnötig.
Wien. Valentin Pollak.
Personalnotizen.
Als nachfolger Walzeis ist in die ordentliche professur für
neuere deutsche spräche und litteratur zu- Bern berufen dr Harry
Maync, bisher privatdocent in Marburg.
Der privatdocent dr R. Petsch an der Universität Heidelberg
erhielt den titel außerordentlicher professor.
In Tübingen hat sich für neuere deutsche litteratur dr Franz
Zinkernagel habilitiert.
An der deutschen Universität zu Prag haben sich habilitiert:
für neuere deutsche spräche und litteratur dr Ferdinand Josef
Schneider und der scriptor an der Universitätsbibliothek dr Spi-
ridion Wukadinowic; für neuere vergleichende lilteraturgeschichte
der gymnasialprofessor dr Josef Wihan.
ANZEIGER
KUR
DEUTSCHES ALTERTUM UND DEUTSCHE L1TTERATUR
XXXI, 4 märz 1908
Axel Olrik. Om Ragnarok. saertryk af Aarb. for nord. oldkynd. og bist.,
Kobenbavn, GECGads Universitetsbogbandel 1902. 135 ss. 8°.
Was die germanische göltersage in ihrer jüngsten nordischen
entwicklung vor andern mythologieen auszeichnet, ist ihr tra-
gischer inhalt, ihr ahschluss durch den 'heldentrotzigen unter-
gang der Äsen in welthrandlohen'.
Haben wir es hier mit Vorstellungen zu tun, die auch im
Süden der Ostsee einst lebendig waren oder doch mit einem
schoss, der aus bodenständigen keimen entsprossen ist? oder
handelt es sich um ein reis, das aus einer fremden weit in die
nordische verpflanzt wurde? mit dieser frage haben sich nam-
hafte gelehrte beschäftigt, ohne dass ein einleuchtendes ergebnis
erzielt worden wäre; sie haben dabei auch mehr oder weniger
aufser acht gelassen, dass der nordische Ragnarokmythus nichts
einfaches, sondern ein complex von motiven ist, von denen
jedes einzelne auf seine herkunft geprüft werden muss.
Das hält sich der bekannte dänische sagenforscher, dem wir
die vorliegende Untersuchung über Ragnarok verdanken, von
vornherein vor äugen und kommt auch tatsächlich zu dem er-
gebnis, dass heidnische und christliche züge sich im Ragnarok
der nordleute miteinander verschmolzen haben, der zahl nach
ziemlich einander die wage haltend, sind die christlichen motive
doch zum grofsen teil einzig in der Vojuspä nachweisbar, und
sie kennzeichnen sich auch im übrigen als jüngere schicht und
als minder gewichtig, was die aufsernordischen beziehungen
der echt heidnischen motive betrifft, unterscheidet 0. eine west-
liche, keltische gruppe und eiue östliche, deutsch-tinnisch-tar-
tarisch-persische.
Ein teil der von 0. behandelten probleme hat auch mich
in der schrill über den Germanischen himmelsgott bereits be-
schäftigt, und in mehreren puncten, so in der auffassung des
Verhältnisses zwischen Garm und Fenri, zwischen Nuadu und Ty,
ferner in der annähme seismischen Charakters des Midgardsorm
bin ich zu ganz ähnlichen ergebuissen gekommen, ohne dass
dies auf 0., der sichtlich meine ausführuugen nicht kannte, von
einfluss gewesen ist. umsomehr bin ich durch dieses zusammen-
treffen unsrer ansichten überzeugt, das richtige getroffen zu
A. F. D. A. XXXI. 11
154 AXKL OLRIK OM RAGNAROK
haben; und auch anderes, was ich aao. vorgebracht, scheint mir
mit O.s aufstellungen wol vereinbar, ja sich mit diesen zu er-
gänzen, nicht gilt das allerdings von meiner damaligen annähme,
dass die Vidarepisode, weil mit dem allgemeinen Untergang un-
verträglich, einen jungen spross der sage darstelle, ist aber der
gölterkampf von haus aus, wie 0. gezeigt hat, nicht notwendig
mit der Vorstellung der weltveruichtung und des völligen sieges
der Unheilsmächte verknüpft, und hat er im kämpf der irischen
götter mit den riesen sein seitenstück, so wird er ursprünglich
auch bei den Germanen mit dem Untergang einer alten, aber
dem sieg einer jungen göttergeneration geendet haben, der
rächende und überlebende göttersohn steht dann grade auf
älterer stufe.
Überhaupt scheint mir, was einzelnes betrifft, ein haupt-
verdienst O.s die Zusammenstellung des letzten götterkampfes
der nordischen Überlieferung mit den götterschlachten irischer
sagenberichte, in diesen erscheinen die götter (die Tüatha de
Danann), obwol deutlich noch als solche erkennbar, als histo-
rischer volksstamm aufgefasst und ebenso ihre riesischen gegner,
die Fomore, di. übermeerer (vgl. zum namen die läge des
nordischen Utgard). darin zeigt sich nach 0. christlich ge-
lehrter einfluss. und wenn in der zweiten schlacht auf dem
Turedfeltle träger von namen fallen, die uns aus heidnisch kel-
tischer zeit als die von göttern bekannt sind, die im cult eine
rolle spielen, so deutet er dies darauf, dass die alte und rein
heidnische Vorstellung von jenen kämpfen sie nicht in die Ver-
gangenheit, sondern nur in die Zukunft verlegt haben kann;
und diese folgeruug hat manches für sich, übrigens ligt es
im wesen aller naturmytheu, dass sie von haus aus in der zeit
gewissermafsen schweben, und auf jeden fall kann die ver-
schiedene zeitliche festlegung des irischen und des nordischen
götterkampfes uns nicht hindern, beide auf 6ine quelle zurück-
zuführen, wenn sich dies sonst empfiehlt, dafür spricht aber
eine reihe übereinstimmender züge auf beiden Seiten; und deren
sind wol noch mehr, als 0. in rechnung stellt.
Zur Vorgeschichte der zweiten mit Ragnarok verglicheneu
irischen götterschlacht gehört die erste ebenfalls auf mag Tured
stattfindende, in der die götter zwar siegen, ihr könig IS'uadu
aber seine rechte hand verliert, mit diesem körperlichen schaden
behaftet kann er sein königsamt nicht länger ausfüllen und au
seiner statt wird Eochaid Bress (di. Eochaid, der schöne) ge-
wählt, wodurch die gölter in freundschaftliche beziehung zu den
riesen treten; denn Bress, obwol unter die götter aufgenommen,
ist nur mütterlicherseits göttlicher abkunft als söhn der göltin
Brigit, sein valer dagegen ist der riesenkönig Elatha. mit hülfe
der riesen übt jedoch Bress eine drückende herschaft aus, was
zu seiner Vertreibung und der widereinsetzung Nuadus führt,
AXEI. OLRIK OM RAG.NAROK 155
der inzwischen für den verlust seiner hand ersalz durch eine
künstliche silberne erhalten hat.
Ich weifs nicht, worauf sich O.s angäbe gründet, dass der
nordische Ty an stelle der band, die ihm Fenn abgebissen
hat, eine eiserne erhall, in der einarmigkeil aber stimmen der
irische und nordische gott jedesfalls überein; und dies fallt
umsomehr ins gewicht, als beide — wie ich im Germ, himmels-
gott 27 f ausführlich gezeigt habe — in ihrer ursprünglichen
mythologischen bedeutung genau zueinander stimmen, da beide
fortsetzungeu des alten himmelsgoltes und götterkönigs sind,
da aber Ty letzteres längst nicht mehr ist, kann auch seine
Verstümmelung nicht die folgen für ihn haben wie bei Nuadu.
doch sei hier darauf hingewiesen, dass Loki ihm Lokasenna 'M
(B. 38) zuruft:
pp.gi pü, Ti/r!
pü kunnir aldreyi
bera tilt mep tueim.
handar ennar hcegri
mun ek hinnar geta,
er per sleit Fenrir frä.
und auch Sn. E. i 98 heilst es von ihm: ok er hann einhendr
ok ekki kallapr stvtlir manna. hier wie dort ist also die ein-
händigkeit in Verbindung gebracht mit der Unfähigkeit, einen
vergleich zu stände zu bringen, das ist, denke ich, nur zu ver-
stehen, wenn es rechtsbrauch war, dass bei feierlicher und förm-
licher Versöhnung der saktir mit seinen händen diejenigen der
bisherigen gegner ergriff und ineinanderlegte, ein Vorgang, der
sich empfehlen mochte; denn wenn man es den parleien allein
überliefs, auf Zuspruch einander die bände zu reichen, so konnte
es zu leicht geschehen, dass der eine teil sich weniger zurück-
hielt und nachher glaubte, sich etwas vergeben zu haben, ge-
rade zum rechtsleben hat aber Tlw(a)z besondere beziehung, wie
schon aus seinem namen Thingsus erhellt, für seinen eigensten
beruf also, den eines gei icbtsvorstaudes — den letzten rest seiner
alten herscherwürde — , erscheint der gott durch den verlust
seiner hand untauglich geworden.
Bei Bress findet 0. recht handgreifliche ähnlichkeit mit dem
nordischen Loki. aber Loki stammt nicht mütterlicherseits von
den göttern, wird auch nicht von diesen auf den thron erhoben,
nachdem sie ihren alten könig eines ihm anhaftenden fehlers
wegen abgesetzt haben, dass Bress wörtlich 'der schöne' ist,
und von Loki einmal ausgesagt wird, dass er 'schön von an-
gesicht' gewesen sei, hat allein wahrlich nicht viel zu bedeuten,
dagegen stimmt alles zug für zug auf einen andern nordischen
gott, auf Ullr, beziehungsweise auf Ollerus bei Saxo. eines sitt-
lichen makels wegen muss Othinus seinen platz als oberster der
götter räumen und in die Verbannung gehen, ganz wie Nuadu
11*
156 AXEI, OLRIK OM RAGNAROK
des Verlustes seiner band , also eines körperlichen Fehlers
halber, beide treten übrigens später in ihre würden wider ein.
Ollerus Uli, der Odins stelle einnimmt, um schließlich wider
vor dem zurückkehrenden gotte weichen zu müssen, ist der
Stiefsohn IVJrs, dh. der söhn der göttin Sil" und eines riesen.
oh es zufall ist, dass Uli (di. got. witlpus) 'herlichkeit' oder der
'herliche' bedeutet und Bress 'der schone', bleibe dahingestellt,
lediglich eine Variante des Ullmylhus ist die geschichte von
Mitothinus, und dessen name entweder als der falsche Odin zu
verstehen nach got. maidjan, aind. mühü 'falsch' usw. oder
als 'Nebenödin'; vgl. dän. medhuslru, medbeiler 'nebenweib, neben-
buhler'. auch Ollerus hatte den namen Othinus angenommen.
Uli ist ein winterliches wesen. das wird von den meisten
anerkannt und ergibt sich schon aus seiner beziehung zur winter-
lichen jagd, zu schnee- und Schlittschuhlauf, damit stimmt auch
einzig die annähme, dass er väterlicherseits von riesischer her-
kunft ist. aber seine rolle im götterstaale lässt ihn nicht als
winter schlechtweg erscheinen; als solcher würde er nur jahres-
zeitgötter aus ihrer Stellung verdrängen und sie zeitweilig ver-
treten können, und als das lassen sich weder Odin noch der
ältere gölterköuig Ty rechtfertigen. Uli als götterfürst ist also
wol der persönliche mythologische repräsentaut des fimbulvetrs,
der mit zu den erscheinungeu des nahenden weitendes gehört,
einer art von eiszeit, wie eine solche nach der nordischen kosmo-
gonie auch zu anfang der Zeiten steht, man erinnere sich dabei
auch des köuigs Snio oder Suser hinn gamli. freilich ist die
Ollerusepisode bei Saxo als eine in der Vergangenheit liegende
gedacht; aber dass das wenig zu bedeuten hat, wurde schon
bemerkt, während Saxo seinen auf seine Vertreibung folgenden
tod erzählt, setzt die Edda Uli überall als lebend uud dem
götterkreis angehörig voraus; man wird also anderswo seine
herscherrolle eher als eine zukünftige betrachtet haben.
Auf irischer seite ist aber von einer naturbedeulung der
personen nichts mehr zu sehen, und dieser ursprünglichere
Charakter des nordischen mythus selbst in seiner euhemerisieren-
den gestalt bei Saxo verträgt sich schwer mit der annähme seiner
entlehnung in der Vikingerzeit. warum auch hätte man damals,
wo doch die ursprüngliche ideulilät von Nuadu und Ty nicht
mehr zu erkennen war, einen sagenzug von jenem gerade auf diesen
übertragen sollen? und konnten schliesslich die schon sehr
verblassten und vom christlichen slandpunct aus euhemerislisch
umgestalteten irischen göüergeschichten noch auf den nordischen
lebendigen heidenglauben einwürken, ja einen neuen mythus ius
leben rufen? alles scheint mir dafür zu sprechen, dass der
austauscb in urgermanischer zeit im Süden der Nordsee an den
berührungspuncten der Kelten und Germanen stattgefunden hat.
ursprünglich wird auch auf germanischer seite alles von Tlw(a)z
AXEL 0KRIK OH RAGNAROR 1 .r)7
erzählt worden sein, an dem wol, durch einen lieinamen nacli
art von einhendr dsa Festgelegt, das dauernd haften blieb, was
von ihm auch dann noch erzählt werden konnte, als er seinen
thron an Wodan abgetreten hatte, auf diesen wurde die ge-
schichte später im übrigen übertragen, nur musle die absetzung
neu motiviert werden, an stelle des körperlichen trat dabei der
sittliche makel. über die richtung der enllehnung wag ich kein
bestimmtes urleil, denn die culturelle Überlegenheit der Kellen
über die Germauen, die übrigens allein auch noch keinen sicheren
schluss zulässt, reicht nicht allzutief in die vorgeschichtliche zeit
zurück, interessant ist, dass ü. zum fimbulvetr auch eine per-
sische parallele anführen kann.
Ob freilich die auch von 0. nicht ganz ohne vorbehält her-
beigezogenen oberpfälzischeu 'sagen' echt sind, scheint mir sehr
zweifelhaft, liefse sich aber an ort und stelle wol noch ermitteln,
verdächtig ist mir dabei vor allem 'der bäum, den niemand kennt',
was geheimnisvoll aussehen soll, im gründe aber unsinnig ist
und aus Ilävam. 134 (lt. 138): d peim meipi, er mangi veit,
huers kann af rötum renn oder Fiojsvinnsm. 20 : Mimameipr
kann heitir, en pat mangi veit, af huerium rötum renn geflossen
sein wird, bei der erzählung von dem hirten, der in dem hohlen
bäum seine wohnstalt nimmt und das ausgestorbene land neu
bevölkert, erinnere man sich daran, dass der name der örtlichkeil,
wo Lif und Lifbrasi während des fimbulvetr sich verborgen
halten, i Hoddmimis holti, bei Simrock mit 'in Iloddmimirs holz'
übersetzt ist.
Warum 0. besonders auch die lehre vom Weltuntergang
durch wasser weit eher von den Kelten zu den Germanen ge-
langen lässt als umgekehrt, ist mir unverständlich, da sie doch
am wahrscheinlichsten von dort ausgeht, wo Überschwemmungen
infolge von Sturmfluten sich am furchtbarsten bemerkbar machten,
auch auf die zeit der entlehnung wird man daraus nicht schliefsen
dürfen, dass uns zufällig aus der zeit um Chr. geburt von der
di indischen weltuntergangslehre berichtet wird, und aus dieser
zeit der Gundestruper silberkessel stammt, bezeugt dieser ein-
zelne zufällige fund wi'nklich, dass damals der kellische einfluss
auf den norden — besonders in religiöser hinsieht — am stärk-
sten war? deutlich ist ja auf ihm der gallische Cernuunos dar-
gestellt, aber auch den einheimischen Ursprung des objeets zu-
gegeben, beweist das nichts für eine religiöse anleihe aus dem
gallischen, besonders wenn von einem Cernuunos bei den Ger-
manen später nicht das geringste verlautet; kann es sich doch
auch um die ganz mechanische nachahmung einer gallischen
vorläge durch einen einheimischen künsller handeln.
Von den führern der riesen bei den Iren ist der hervor-
ragendste Tethra. mit ihm deckt sich wenigstens durch seinen
namen der nordische riesenfiirst frazi. dieser name ist deutlich
15S AXEL 0LR1K OM RAGNAROK
eine jener Wildungen mit s-suffix, die im nordischen durch
kosenamen wie Grimsi, vor allem aber durch tiernamen vertreten
sind, so durch aisl. bersi, schwed. dial. bj'ässe 'bar', isl. bangsi
'bar'; aller däu. und schwed. basse, weitergebildet aus germ.
baira-, Falk-Torp Et. Ob. 1, 40, 'Wildschwein'; scbwed. dial.
bürse, zu asl. bravü gehörig, 'hammel'; schwed. gumse 'widder';
aisl. gassi, dän. gasse 'gänser ich'; vgl. auch isl. assa, koseform
zu ari 'adler'; über vervvante formen des s- Suffixes, vor allem
die stark ilectierte in ahd. fuhs, luhs, dahs, lahs vorliegende s.
Kluge Nom. Stammbild.' 15 (§ 28). in Piazi muss der ab-
leilung ein zunächst nicht näher bestimmbarer dental voraus-
gehn. anknüpfung lässt aber das germanische keine zu aufser
an schwed. pjäder 'auerhahu', aisl. pföurr, ein wort, dessen idg.
verwante über ein weites gebiet verbreitet sind, so führt Walde
Lai. et. wb. 626 unter telrinnio tetrissito 'schnattern' (von enten)
aufser unserem piüurr an : griech. rergdiov, Tetqat,, rsTQadcbv
'auerhahn', abulg. tetrevii M'asan', tetrja 'fasanhenne', lit. teterva,
tetervinas 'birkhahn', apreufs. tatarwis dass., lit. tytaras 'Irulhahn',
npers. taüarv 'fasan', aind. tilliri 'rebhuhn', arm. tatrak 'turtel-
taube' und lat. turtur. zur mehrzahl dieser worte passt der
slammvocal von tjäder, der germ. e ist, besser als der von pifturr,
zu dem aber litliri stimmt; und auch sonst ist i in der redupli-
cationssilbe beliebt, und wie tjäder piüurr slehn zb. auch idg.
*bhebhru- und *bhibhru- 'biber' nebeneinander, bei hinzutritt
einer endung -si muste ein dem r vorausgehender mittelvocal,
wenn ein solcher vorhanden war, schwinden und das r selbst in
der Stellung zwischen zwei consonanten ausfallen; vgl. zb. ellri,
got. alpiza und fafogar aus fcehrgar. was anderseits Tethra be-
trifft, handelt es sich dabei, wie aus dem obl. casus Tethrach
erhellt, um einen consonantischen stamm kell. *Tetrak- und um
genaue entsprechung zu griech. rerga^ -ay.og (neben -ayog).
für ein aus tethra hervorgegangenes neuirisches teathra findet
sich bei Oreilly die bedeutung 'royston crow, raven' angegeben,
an welchen vogel man beim riesennamen ursprünglich gedacht
hat, ist danach zweifelbaft. Fiazi erscheint bekanntlich im mythus
als adler oder geier, doch kann es leicht vergessen sein, dass
ihm ursprüngliah eine andere vogelgestalt zukam, im übrigen
hat der nordische riesenkönig Piazi im Ragnarokmythus allerdings
nichts zu tun. bei der fülle von riesengeschichlen und riesen-
namen, die es gab, und der geringen Individualisierung der ein-
zelnen riesen ist es indes nicht zu verwundern, wenn einer davon
nicht dauernd mit einer bestimmten rolle in Verbindung blieb.
Der irische Tetlira ist übrigens kein gewöhnlicher riese,
sondern spielte auch im cult eine rolle, vor seinem mächtigen
Steinbild bei Cen Cruaich im westlichen Irland wurden menschen,
kleine kinder, geopfert, er wird nach 0. für einen lodesgott
oder beherscher des totenreiches gehalten, war das einmal auch
AXEL OLRIK OM RAG.NAKOK 159
I»iazi ? die entftthrung der ldun durch ihn würde sich dann
ganz jener der lTeQGecpövri durch W.ovxiov an die seile stellen,
mit der sie ohnedies viele ahn lieh keit zeigt, wird doch die
griechische göttin heiin blumeupflückeu gerauht, Idunn aber durch
LoUi dem Piazi in die bände gespielt, indem er sie unter dem
vorwand, ihr schöne äpfel zeigeu zu wollen, in den vvald lockt,
die eine wie die andre kehren schließlich wider zu den göttern
zurück, TleQGerfövi] ausgesprochenermafsen alljährlich, und auch
hei Idunn ligl gewis ein jahreszeitmylhus vor. uud Idunn mit
ihren das altern verhindernden äpfeln, die Vertreterin der Ver-
jüngung und erueuerung der uatur im frühling, hatte niemand
gröfseres interesse in seine gewalt zu bekommen, als der todes-
goti. es ist aber anderseits innerhalb der nordischen nalur auch
verständlich, wenn der rauher hier als winterlicher riese auf
tritt, ja für diese Verknüpfung der begriffe tod und winter
bietet die germ. mythologie seihst ein seitenstück in der silte
des 'Todaustragens', wobei die den 'Tod' vorstellende flgur eine
ähnliche rolle spielt, wie sonst der 'Winter'; auch als gegensatz
des 'Sommers' erscheint der 'Tod', wenn gesungen wird:
wir haben den Tod hinausgetrieben,
den lieben Sommer bringen wir wider,
den Sommer uud den Maien
mit Blümlein mancherleien.
ebenso tritt bei slawischen nachbarn der Deutschen bei dieser
gelegenheit Smrt' 'Tod' als widerpart des Leto 'Sommer' auf;
s. JGrimm D. Myth. 639 f. 642 f. an all das wird man umsoeher
enuuern dürfen, weil sogar die ganze geschichte von Piazis er-
mordung durch die Äsen ein mythologisches abbild des volks-
oder, wenn man will, alten eultgebrauches sein kann, bei dem
die den 'Tod' oder den 'Winter' vorstellende puppe von den
versammelten verbrannt oder ins wasser geworfen wird. Piazi
findet den tod, als er in adlergestalt den als falke die Iduuu zu
den göttern zurückbringenden Loki verfolgt, als diese die beiden
heraukommen sehen, zünden sie in Asgard einen häufen hobel-
späne an; der riese, der sich im fluge nicht aufhalten kann,
versengt sich daran sein gefieder und wird dann von ihnen ge-
meinsam vollends umgebracht, nach Lokas 49.50 (B. 50.51)
unter hervorragender beteiligung Lokis; dagegen rühmt sich
Härbardsl. 20 (B. 19) Pörr ihn erschlagen und seine äugen au
den himmel geworfen zu hüben, was aber nach Sn. E. i 214
ii 294 Odinn getan hat. auch in dem den kämpf zwischen
sommer uud winter darstellenden volksbrauch kommt öfter die
aufforderung vor, dem 'Winter' oder' Tod' die äugen auszustechen
— s. J. Grimm aao. 638 f — was schon F. Magnusen Lex. 615
mit der behaudlung Piazis in Zusammenhang gebracht hat. im
übrigen sind die Verbindung des geschehnisses mit der sommer-
160 AXEL OLRIK OM RAGNAROK
einholuiig, die beteiliguug vieler und die Verbrennung dem mythus
und volksbrauch gemeiü.
Dazu, den kämpf zwischen Loki und Heimdali, Garmund
Ty , sowie Frey und Surt mit 0. für erdichtungen Snorris zu
halten, kann ich mich nicht zwingen, solche würden zu dem
verfahren Snorris im übrigen nicht, stimmen, dem grofse eigen-
mächtigkeit nicht zugesprochen werden darf, auch scheint mir
nach wie vor (vgl. Der germ. himmelsgott 32 — 34) der kämpf
Odins mit Fenri ein abklatsch des kampfes Tys mit Garm zu
sein; der des Frey mit Surt hat in dem des Guömund mit Geirred
und vor allem des Frotho mit Svertingus germanische parallelen
(s. aao. 88), die seine echtheit beweisen.
Surt fasst 0. als riesen des erdinnern und zugleich als
feuerriesen, was im wesentlichen zu meinen ansichten über ihn
(aao. 55) stimmt, und bemerkt mit recht gegen den einwand,
dass im norden vor der besetzung Islands vulcanische erscheinungen
nicht zu beobachten waren, es sei garnicht ausgemacht, dass die
Vorstellungen von Surt auf nordischem naturgrund erwachsen
seien, ebenso habe ich mich seinerzeit (aao. 56) über die deutlich
erkennbare vulcanische natur eines teilesderRagnarokerscheinungen
geäufsert : 'auf germ. boden ist natürlich ein solcher mythus
nicht entsprungen und kann höchstens später auf Island frischere
färben angenommen haben; seine heimat wird vielmehr in den
vulcanischen gebieten des Miltelmeers zu suchen sein.' was
aber Surts Wohnsitz anbelangt, geht 0., der den nachweis führen
will, dass er nicht allgemein nach dem Süden verlegt wurde,
sichtlich zu weit, wenn er aus einem satze der HaustlQng: ^Ja vas
75- med jotnom -unn ntfkomin sunnan schliefst, dass hier im süden
kein platz für Surt übrig bleibe, jeue stelle besagt nur, dass man
sich Asgard als südlich von J^tunheim gelegen vorstellte,
aber deshalb nicht als die allersüdlichste örtlichkeit.
Für Fenri-Garm weist 0. recht schlagende parallelen bei
finnisch-türkischen stammen nach, die Übereinstimmung erstreckt
sich auf einzelne züge, vor allem auch darauf, dass das los-
brechen der gefesselten untiere, die als hunde vorgestellt werden,
den Weltuntergang herbeiführt, ihr bellen schon ihn ankündet,
auch für den den himmel berührenden aufgesperrten rächen Fenrirs
findet er in der östlichen mytbenüberlieferung seitenstücke. die
vulkanische natur auch dieser höllenbunde ist nicht zu bezweifeln
und daher — vielleicht hätte das hervorgehoben werden sollen —
die finnisch-türkische völkerweit nicht als ihr Ursprungsland zu
betrachten.
In dem capitel, das überschrieben ist 'Solen sluges' vermiss
ich die beleuchtung eines zuges am sonnenwolf der VQluspä,
der aber freilich auch sonst noch nicht beachtet worden ist.
0. gedenkt bei aufführung verwanter Vorstellungen über die
Ursachen der sonnen- und mondesfinsternisse auch der bei Süd-
AXEL 0LR1K OM RAGMAROE 161
Slawen und Madjaren gangbaren, hei denen man als ihre Ursache
einen drachen kennt, dessen name aber vrkolak, di. 'werwoll',
ist. damit vergleiche mau Vojuspa IJ9. 40 (B. 40. 41):
Austr sat in aldna Fylliz ßgrui
i Idrnuipi, feigra manna,
ok fceddi par rypr ragna sigt
Fenris kindir. ravpom dreyra.
uerpr af peim gllom sugrt nerpa sölskin,
einna ngkkorr of sumor eptir
tungls tingari uepr gll udlynd.
i trollz hami. uitop er enn epa Imat?
Da hier der sonnenwolf i trollz hami auftritt, haben wirs
auch hier mit einem werwolf zu tun, einem wesen von menschen-
art, das wolfsgestalt angenommen hat. berührt sich doch auch
Fenri selbst mit dem nach Sn. E. i 184 von den gültern in
einen vvolf verwandelten söhn Lokis. nach dem Volksglauben er-
zeugte die Sonnenfinsternis ansteckende krankheiten, wie Detter-
Heinzel h 56 bemerken; und dafür, dass die himmelsröte auf
grofses sterben hindeutet, finden sich aao. ebenfalls belege, es
wird sich dann aber um jene verbreitete art von werwölfen
handeln, die zugleich vampyrnatur haben, dh. menschen im schlafe
blut und lebenskralt entziehen, und zwar bedürfen sie solcher
nahrung, um ihr eigenes gespenstiges leben fortzuerhalten. die
Vorstellung von ihnen erwächst aus der beobachtung ansteckender
krankheiten, als deren Ursache sie gelten, dadurch wird uns
auch der Schlüssel zum sprachlichen Verständnis der behandelten
stelle gegeben, denn figr als 'fleisch' und feigr als 'tot' aul-
zufassen, was beides in der nordischen literatur sonst unhezeugte
bedeutungen dieser worte sind, ist mislich; und soll würklich
vom sonnenwolf blofs ausgesagt sein, dass er leichen frisst wie
jeder andere? ich denke, er wird viel eher als ein dämon hin-
gestellt sein, der selbst mordet: er lullt sich — so ist zu über-
setzen — mit der lebenskraft dem tode geweihter menschen.
Zu den wertvollsten abschnitten zähl ich den 'Ormen' über-
schriebenen. 0. weist hier eine reihe von Volksüberlieferungen
nach, die vou einem — fast immer als wurm vorgestellten —
ungeheuer in der tiefe handeln, das dereinst hervorkommen und
alles leben weit umher, ja wol auch die ganze weit vernichten
soll, dieses wesen wohut, von einer isländischen fassung ab-
gesehen, nicht im wasser, sondern unter der erde oder im berg,
und seine seismisch vulcanische natur ist unschwer zu erkennen.
an stelle dieses lindwurms, der sich gegen ende der weit aus
dem berg hervorwälzt und alles auf seinem wege zerstört,
habe — meint 0. — die nordische mylhendichtung ihr gröstes
ungeheuer gesetzt, den rein abstracten, weltumspannenden Mid-
gardsorm , was umso näher gelegen habe, da dieser auch schon
als der alte feind Pörs und der golter bekannt gewesen sei.
162 AXEL OLRIK OM RAG.\AROK
Ich bezweifle aber, dass schon aus hlofser abstraction —
vor ausbilduug des hier in betracht stehenden teiles des Ragnarok-
mylhus — ein selbständiges mythologisches wesen nach art des
Midgardsorm entsprungen war und in feindseliges Verhältnis zu
tltu gölteru gebracht wurde, was am Midgardsorm den eindruck
der abstraction macht, scheint mir eher jünger zu sein und an
Pörs gegner im Ragnarokkampfe sich angesetzt zu haben, un-
beschadet naher verwantschaft mit jenen unterirdischen lind-
würmern, darunter vor allem auch der indischen weltschlauge
Sesha, ist doch die beziehuug des Midgardsorm zum meere gevvis
eine alte, da ja auch die Griechen die Hydra und Echidua kennen,
die wegeu ihrer Verbindung mit Typhon nicht als Vertreter
irgend welcher gewöhnlicher erscheinuugen des meeres oder
anderer gewässer, sondern nur als solche der seismischen, di. durch
erdbeben erzeugteu, flut gelten können, der Midgardsorm scheint
mir darum in ähnlichem Verhältnis zum untergärig der weit durch
wasser, dem versinken der erde ins meer, zu stehn wie Surt
zum weltbrand: als mythologischer Vertreter des daneben selbst-
ständig erzählten naturereignisses. ähnlich verhält sich auch der
limbulvetr zur herschaft des Ollerus. und wenn dieser als ein
gegeuslück aus der Vergangenheit die des königs Snio und aufser-
dem die in der eddischen kosmogouie beschriebene ursprüngliche
eisweit genübersteht, so wird man mit der Ragnarokflut die
vorzeitliche flut zusammenstellen dürfen, dass die Vorstellung
von einer solchen allgemeinen Überschwemmung bei den Germanen
uralt ist, möchte man schon aus dem gotischen midjasweipains
für y.aTay.lvo/.i6g, diluvium folgern, das weder verständlich genug
ist, um den eindruck einer neuen, christlichen Wortschöpfung
zu machen, noch auch 'Überschwemmung' im allgemeinen bedeuten
dürfte, es ligt trotz v. Grienberger WSR. 142, 159 am nächsten,
in midja- hier ein substantivum, identisch mit schwed. und norw.
dial. midja, dän. midje, ags. midde 'mitte' und slav. mezda zu
sehen, das entweder im sinne von midjungards steht oder in dem
von griech. [teoö-yaia 'mittel-, binnenland' verwendet wird, ja
midjasweipains könnte selbst aus *midjalandasweipains oder einer
ähnlichen Zusammensetzung gekürzt sein.
Um die rolle, die Pör in Raguarok spielt, zu erklären, ver-
weist 0. auch auf den dem norden bereits bekannten schlangen-
kampf, das Reowulfmotiv. auch wenn sie nicht eiu ähnliches
tragisches moliv aus dem keltischen gölterkampf gekannt hätten,
den fall Ogmes, der zum typus des starken jungen gehört, hätteu
sie jenes Reowulfmotiv wohl umschaffeu können zu I*örs und des
Midgardorms letztem für beide teile verderblichen kämpfe, aber
wer sagt uns, dass in diesem falle der heroenmylhus älter ist als
der göttermythus? und beide können auch innerlich verwant, dh.
parallele enlwickluugen aus gemeinsamer gruudlage sein, an eine
iUifserliche Übertragung eines in seiner uatursymbolischenbedeutung
AXEL OLRIK UM RAGNAROK 1 G3
nicht mehr erkannten motivs denke ich jetzt umsoweniger, nachdem
der drache, den Beowulf bekämpft, in den von 0. seihst hehandellen
in unterirdischer Verborgenheit hausenden, aber einmal hervor-
brechenden lindwjiiinern der Volksüberlieferung seine ebenbilder
gefundeo hat, und durch diese, da sie doch gelegentlich mit dem
ende i\er well in beziehung gesetzt werden, der Zusammenhang mit
dem Midgardsorm hergestellt wird, dabei ist die Vorstellung von dem
verderblichen ungeheuer selbst das ältere element, und zu ihr
ist man durch beobachtung von erdbeben, vulcaniscben ausbrüchen
und seismischen Überschwemmungen gelangt, ihre göttlichen oder
heroischen geguer sind etwas jüngeres und als solche mehr der
dichtung als echtem naturmythus angehörig, und je nachdem
man durch jene ungeheuer die ganze well oder nur einen engeren
bereich gefährdet dachte, lag es näher, ihnen einen gott oder
einen heros entgegen zustellen. —
Indem wir hiermit einige durch die vorliegende schrift gegebene
anregungen aufgriffen, konnte ihr reicher inhalt doch nur auge-
deutet werden, möge ihr verf. auf dem betretenen wege weiter-
schreiten und nach und nach die ganze germanische mythenwelt
in den bereich seiner forschung ziehen, den beruf hierzu hat er
glänzend bewiesen.
Wien Rudolf Much.
Die allenglische Odoaker-dichtung von Rudolf Imelmann. Berlin, Springer,
1907. 48 ss. 8°. — 2 m.
Zeugnisse zur altenglischen Odoaker-clichtung. von dems. ebenda 1907.
47 ss. 8°. mil einer lafel. — 2 m.
Die beiden vorliegenden Schriften machen den versuch, aus
dem bisher 'Erstes rätsel' genannten (Imelmann: 'Zweite klage' K2)
ags. gedieht, ferner der 'Klage der f'rau' und der 'Bolschaft des
gemahls' eine einheitliche 'Odoakerdichtung' zu erschliefsen. von
einem einzigen dichter geschalfen, bestand sie ursprünglich aus
sieben slücken, uzw. 'darf man schliefsen, dass X, Yi, Y2, Z kurze,
knappe, einleitende, überleitende, abschliefseude prosa gewesen
ist.' eben ihres prosacharakters halber gingen diese verbinden-
den stellen verloren, es wird sodann diese dichtung örtlich und
zeitlich bestimmt und überdies der versuch gemacht, ihren ge-
scbicbtlichen hintergrund aufzuhellen. — als weitere Zeugnisse
zu dieser dichtung müssen iulerpretationen einer bisher un-
zureichend erklärten stelle in 'Deors klage' und der einen immer
noch rätselhaften seite vom 'Franks-Casket', dem berühmten wal-
fischbeinkästcben des British museum herhalten.
Der grund, auf dem sich dieses ganze gebäude verblüffend
kühner Schlüsse erhebt, ist die erklärung des ersten rätseis. so
dankenswert der versuch ist, in das dunkel hereinzuleuchten,
164 IMELMA.VN DIE ALTEMGLISCbE ODOAKER-DICHTU>G
da? trotz Bradley — Scliofields erklärung kommt gewis nicht
ernstlich in betracht — noch immer über diesen versen ruht,
wird doch schwerlich jemand die neue aufTassung Imelmanns
unbeanstandet passieren lassen, was er zunächst über 'Alter und
heimat' des gedichtes bemerkt (Anglien bzw. Kordhumbrien im
'mittleren drittel' des 8 jh.s), wird freilich an sich kaum Wider-
spruch finden, aber methodisch auffallend ist schon hier die art
der hegrüudung. wenn zb. für die zeit der entstehung ins feld
geführt wird, dass 'die nördliche poesie spätestens um die mitte
des 9 jh.s zu einem stillstand gekommen war' (s. 15), ja 'man
sogar zweifeln kann, ob nach 787, dem anfang der Wikinger-
einfälle die dichtung in Nordhumberland noch hätte enlstehn
können', so ist das ein argument von wenig gewicht, hier darf
Morsbach, der dasselbe vom ßeowulf bemerkt, gewis nicht als
eideshelfer angerufen werden, die bedingungen sind durchaus
ungleich, ein gedieht von 3200 versen, das zum Vortrag am
königlichen hof bestimmt ist, mag zur abfassung friedlichere zeiten
als die der unruhvollen Wikinger-einfälle verlangen; aber ein
lyrisches gedieht von 19 Zeilen?? denn das behauptete epos, dem
es entstammen soll, muss erst bewiesen werden, und wie denkt
sich der Verfasser einen 'stillstand der poesie', solange eine
völkische einheit vorhanden ist?
Was die speciellen gründe für den zeitansatz aus der 'nicht
mehr ganz rigorosen verstechnik' angeht, so hat schon Holthausen
in der Anglia, Beiblatt bd 18 s. 205 seinem erstaunen über
einige der metrischen auseinandersetzungen wie der rüge des
verses 10 a ausdruck gegeben, der als 'metrisch nicht auf der
höhe' bezeichnet wird, während er in würklichkeit ganz tadellos
erscheint. — einleuchtender sind die feststellungen über das
wortgut des gedichtes, obgleich hier auch eine gröfsere vorsieht
im schliefsen geboten ist, als sie der vf. walten lässt. seld-
cymas, meteliste sind 'alte bewahrungen, die später der spräche
verloren gingen und die dazu raten, die entstehuugszeit nicht
allzu weit über die mitte des 8 jh.s hinabzurücken', das wort
ac-treo kommt nur in der 'Klage der frau' und nicht wider vor.
ist auch das 'eiue alte bewahrung, die später der spräche ver-
loren ging'? — die anwenduug der bekannten dialectkriterien
ergab auch hier die zu erwartenden resultale. aber an dieser
stelle zuerst wird man stutzig über die eigentümliche methode
des vf.s. der vers 16 a heifsl: Gehyrest ßu Eadwacer. über ihn
argumentiert I. folgendermafsen : 'er stellt den wenigstens im
Beowulf sehr seltenen typus C mit viersilbiger eingangssenkung
dar; auch gehyrst ergäbe einen nicht häufigen vers; vgl. Sievers
PBrB. 10, 296 f. da, wie sich zeigen wird, der angeredete
identisch ist mit dem in der ferne weilenden Wulf, so ist ein
'hörst du' vielleicht nicht ganz natürlich, zumal das objeet des
höreus nicht genannt wird (so!), und eine interjeetion be-
IMELMANM DIE ALTBNGLISCHB ODOAE ER-DICHTUNG 165
friedigender. angliscli geherst jm ergab yeorstu, das lat. o wider-
gibt und wcsisiiclisiscli durch eala (eowlaa ersetzt wird; vgl.
BJordan Anglist. Forschungen 17, 41. auf diese weise wäre
16a nur leicht verändert, ein ganz gewöhnlicher vers, und ent-
hielte einen bioweis auf anglische herkunft. von Kj. daraufhio
(so!) wird ajmeb 2b, 7b mit Verschiebung, toslitefi 18a ohne Syn-
kope zu lesen sein'.
Diese stelle bedarf eigentlich keines commentars. ein innerer
grund und ein formeller grund tun sich zusammen, um einer
hsl. form den garaus zu machen, der innere grund ist der, dass
es 'vielleicht nicht ganz natürlich ist', dass in poetischer
rede eine frau ihrem abwesenden mann ein 'borst du' zuruft,
der formelle grund soll darin liegen, dass dieser halbvers 'den
wenigstens im Beowulf sehr seltenen typus C mit 4 silbiger ein-
gangssenkung darstellt', allein aus den ersten 1000 versen des
Beowulf stell ich aber dem vf. folgende beispiele zur Verfügung:
v. 38 ne-hyrde ic, 45 pe hine oet, 678 no ic me an, 719 ncefre
he on, 758 swylce he on, 863 ne hie huru. aber da der Kaluza,
dein ich sie entnehme, überall zugänglich ist, bedarf es keiner
weitern exempel. es finden sich ihrer über 14 in den ersten
1000 versen des Beowulf. Sievers aao. führt im ganzen 42 fälle an. —
und auf solchem schwankenden gründe führt man ein hypothesen-
gebäude auf!
Indessen die bedeulung des ort- und zeitansatzes des ge-
dichtes tritt zurück hiuter der frage der Interpretation, hier
ergibt sich I. folgendes handlungsbild : die frau des Eadwacer
klagt, ihr mann ist seit langem aus der heimat vertrieben und
weilt, an der heimkehr durch feindselige mäuner verhindert, jen-
seits des meeres. inzwischen ist sie durch hunger und allerlei
Unbilden genötigt das opfer eines andern manues geworden, dem
sie ein kind geboren, aber sie verwünscht dieses kind in den
wähl und spricht dem galten das gefühl ihrer treue aus.
Dass mit dieser erklärung eine 'zusammenhängende, ge-
schlossene handlung' gewonnen ist, wird niemand verkennen,
aber dass sie sich zwanglos aus dem text ergäbe, 'ohne ihm
gewalt anzutun', muss ich auf das entschiedenste bestreiten,
eine Vergewaltigung der ags. syntax ist gleich die auffassung von
swylce in der 1 zede. es heifst niemals:1 wenn auch', auch
nicht 'Klage der frau' v. 43 b. aus der Verschiedenheit ungelic v. 3
und ungelic e v. 8 ist der form kein strick zu drehen, da elision
möglich. — in v. 9 wulfes ic mines widlaslum ivenum hogode
(hs. dogode) übernimmt 1. die Übersetzung 'with lar-reaching
longin-js' in der form : 'mit weitschweifenden hoffnungen' von
Schofield. sie ist schwerlich möglich. — dass uncerne v. 16 sich
nicht auf die erste person und den dicht voiher genannten pu
Eadwacer beziehen sollte, ist ganz undenkbar, der angeblich
'genaue parallelfall' Klage der frau v. 21b ligt ganz anders, vor
allem aber : wie soll uncerne hwelp bireb wulf to wuda heifsen:
166 [HELMANN DIE ALTENGLISCHE ODOAKEU-DICHTÜNG
'unser bündlein soll ein wolf in den vvald schleppen"? — den
angelpunct der ganzen Interpretation aber bildet die aulTassung
des Vorgangs, der der erzählerin wyn to pon, hwcepre eac /aö war,
als coitus. man merkt hier, dass man im Zeitalter Wedeliiuds
lebt, vor 1200 jähren indes war man unfraglich minder vor-
urteilslos und behandelte derartige dinge, wie in den rätseln, als
obscönitä'ten.
Die priorilät für diese erklärung gebührt übrigens Schofield.
nach ihm ist die klagende die Signy, die, um einen rächer
ihres vaters und ihrer brüder zu erwecken, verkleidet zum
Sigmund schlich : 'In atlaining her end without Sigmund's know-
ledge Signy had joy; but she deaily bought her satisfaction, for
it was secured by au act she loathed — physical union with her
twin-brother.' — inwiefern diese erklärung doch noch physio-
logische Vorzüge vor der Imelmannscben besitzt, überlasse ich
competeuteren beurleilernl aber sprachlich lässt sich auf alle
fälle allerlei einwenden, der vers heifst:
ponne hit wces renig weder and ic reotugu swt
ponne mec se beaducafa bogum bilegde.
Hierzu bemerkt 1. : 's. 21 bogum bilegde wäre ein seltsamer
ausdruck l'ür 'umarmen'; boh heifst ae. auch bug, Schenkel
(rücken), wie im altnordischen, und ist für arm ein ganz un-
gewöhnlicher ausdruck, wo es sich um menschen handelt, in der
poesie in K2 einziges beispiel. zu der phrase 11 b kann man an
an. pu lagüir leer yfir (Lokasenna 20, 6) denken, es scheint,
dass hier eine Vergewaltigung gemeint ist; denn Wulf ist ja ab-
wesend, und die klagende sehnte sich nach ihm, als sie litt',
jedermann muss aus dieser darlegung den eindruck gewinnen,
als ob boh ein durchaus ungewöhnlicher ausdruck für den mensch-
lichen arm, dagegen ein geläufigerer für den menschlichen
schenket sei, denn sonst läge kein grund vor, in der Übersetzung
die letztere auffassung einzusetzen, in würklichkeit kommt nach
ausweis von Bosworth-Toller bog dreimal im sinne von (tier)-
schulter vor, und einmal überträgt es lateinisches lacertus = der
arm. woher also die bedeutung 'schenkel'? — dazu kommt
ein anderes, nach I.s auffassung wurde der mann, der die hülf-
lose vergewaltigt, in dem gauzen gedieht nur einmal benannt,
da aber würde man doch ein wort wie aglceca, 'bösewicht, un-
hold' oder dgl. erwarten, im gegenteil, sie nennt den verhassleu
mit dem rühmenden worte : se beadu-cafa = 'der kampfrasche' I
So scheint mir die erklärung l.s in sich zusammenzufallen,
auf einer interpretation, die dem text derart gewalt antut, ist
nicht weiter zu bauen, freilich setzt die dunkelheit des textes
der erklärung beinah unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen,
von den bekannten abgesehen, möcht ich hier noch eine neue
registrieren, man list seit Hicketier (Anglia 10, 579) für das
dogode des textes hogode und lässt davon den genitiv mines wulfes
IMELMANN DIE ALTENGLISCHE 0D0AKER-DICBTU1W5 1(')7
abhängig sein : 'ich dachte meines wolfes'. — aber das ist schwer-
lich möglich. Iiogian erscheint mit ymbe, mit be, auch to, on,
auch mit dem acc. im sinne von 'beschließen', 'ausdenken', aher
WO es mit einem gen. belegt ist, wie von Bosworlh-Toller in
dem falle : pces ateorigendlican Ufes hogiab oder dem lalle hei
Schofield yfeles hogode (Maldon 133), da heilst es deutlich : auf
etwas sinnen, hedacht sein, was man ausführen will.
Dieser Schwierigkeit wie den genannten andern geht I. aus
dem wege und sucht dafür neue stützen seiner theorie aus der
gedanklichen construction der Klage der frau und der Botschaft
des gemahls zu gewinnen, was die wörtliche interprelation der
Klage der hau angeht — in dem gleichzeitig erschienenen aufsatz
üher die Klage der frau Zs. 48, 436 IT hah ich einen versuch
gemacht, dasselbe problem zu lösen * — so bietet hier 1. einzelne
auffassungen, die sprachlich unmöglich sind, folgafo v. 9 schlecht-
hin als 'schütz' aufzufassen ermächtigt keine parallele. —
dass onginnan c. inf. eine neue handlung vermuten lässt,
vgl. Zs. 48, 442. — v. 19 list I. heardswligne hygegeomorre
(hs. -geomorne), um dann heardsa>h'g abweichend vom gewöhn-
lichen Sprachgebrauch als 'schlecht' aufzufassen und mit dem
folgenden eine neue femininform in das gedieht zu corrigieren.
er übersetzt das : 'hart gegen die unglückliche', aber ich be-
streite auf das entschiedenste die syntaktische möglichkeit dieser
Übersetzung. — swylce v. 43 heifst nicht : 'wenn auch', ähnliches
gilt von der Botschaft des gemahls. hier hat schon Holthausen
darauf aufmerksam gemacht, dass die lücke hinter wine v. 38
nicht beachtet ist, dass ofer v. 48 unmöglich = 'gemäfs' seiu
kann, dass die Übersetzung von v. 49 'um zu verheifsen' un-
zweifelhaft falsch ist uam. — am meisten scheint auf den ersten
blick die neue deutung der vielumstrittenen runen am eude der
Botschaft des gemahls für sich zu haben : I. ersetzt kurzerhand
das S durch C und erklärt sie dann als Eadwacer, aber Holt-
hausen aao. hat mit recht die dadurch herbeigeführte Vergewaltigung
des metrums betont, und überdies ist es nicht sonderlich wahr-
scheinlich, dass eine rune (E A) einmal als diphthong, und dann
als E + A benutzt wird, auf alle fälle könnte man von dieser
lösung doch nicht sageu (s. 39), 'dass der angelsächsische leser
nicht das gefühl haben sollte, vor einer crux interpretum zu
stehn, sondern ohne langes besinnen richtig raten sollte' 1
Wie aus dem gesagten hervorgeht, ist das licht, das aus
dieser neuen erklärung auf die in frage kommenden angel-
sächsischen gedichte fällt, so trügerisch, dass man den anscheinend
gewichtigen schluss-stein dieses gebäudes von Schlüssen schon
aus der ferne mit einigem mistrauen betrachtet, 'der geschicht-
1 wie Holthausen mich freundlicherweise aufmerksam macht, ist s. 447
der genitiv bei gebidan (in der bedeutung 'erleben') in einen aecusativ zu
verwandeln.
168 1MELMAISN DIE ALTENGLISCHE ODOAKER-DICHTUISG
liehe kern' verdient diesen argwöhn, er steckt in einer stelle
hei Gregor vTours n 18, 19. erzählt wird da, dass der Sachse
Odovaker i. j. 463 die inselu der Loiremündung besetzt, von denen
er raubzüge unternimmt, dann wenden sich Franken und Römer
gegen ihn und verheeren unter grofsem hlutvergiefsen seine
inseln. nach seiner Unterwerfung verbündet er sich mit dem
Frankenkönig Childerich und schliefst sich ihm auf seinem
feldzug gegen die Alemannen an.
Was findet sich davon in der handlung der drei gedichte —
wenn man, wie I. ihnen eine solche gemeinsame zuspricht —
wider? hier wird ein führer durch fehde aus seinem heimat-
laude vertrieben (Botschaft 18):
nyde gebeeded nacan ut a prong ond on ypa geong ana sceolde
faran on flotweg (39 ff).
Deutlicher kann man es wol nicht ausgedrückt wünschen,
dass er als armer flüchtliug und verbannter sein heimatland ver-
liefs. er irrt unglücklich und einsam am meere umher (Klage
der frau 47), auf einer insel (i rätsei 4), wird aber spater könig
bei einem andern volk (mid elpeode Botsch. 36).
Das wäre eine handlung, die bis auf die erlaugung der
königswürde in anderm lande nichts für jene zeit unrealistisches
hätte, (so hatte zb. Edwin, Aellas söhn, der aus Deira stammte
und von Adelfried von Nordhumbrien verfolgt wurde, lange hei-
matlos umherirren müssen, ehe er bei den Ostangeln aufnähme
fand. 616 nahm er sein väterliches reich wider ein und warb
nun um Ädelberga vKent [Winkelmann, Ags. geschichte s. 35 ff]),
aber was hat diese handlung mit der bei Gregor von Tours er-
zählten zu tun? in beiden kommt ein Eadwacer und eine insel
vor, damit ist die ähnlichkeit erschöpft, wie kann man damit
die Hygelac-nachricht vergleichen, die so über jeden zweifei er-
haben istl
Freilich kann ich dem vf. überhaupt nicht in der auffassung
einer einzigen einheitlichen handlung, die in den drei gedichten
verkörpert ist, zustimmen, aber diese ganze frage, die einer
principiellen erörterung wert wäre, wird durch die Ungeheuer-
lichkeiten in den schatten gedrängt, von denen l.s zweite schritt,
die 'Zeugnisse zur Odoaker-dichtung', förmlich strotzt,
man fühlt sich in das 'vorwissenschaftliche Zeitalter der englischen
Philologie' (Imelmann vou Leo s. 10) versetzt, in die zeit, wo der
angelsächsische stil absolute terra incoguita war, wenn man etwa
folgendes list (interpretation des Deorj : 'die predigthafle ein-
schaltung ist an sich verfehlt, weil sie als vorzeitiger abschluss
würkt' (s. 14); scelum bidceled 2Sb, phrase, ungeschickt wie
deel 30b, 34b'. auf grund solcher kriterien wird eine Strophe
ausgeschaltet 1 von einer weitein heifst es : 'die Strophe redet
von einer rnehrheit von bedrückten, secg monig, und deutet die
art der bedrückung nur vage an, was vom künstlerischen
IMELMAMN DIE ALTEISGLISCUE ODOAKER-MCHTUNG 1G1J
slandpuuct aus unwürksani bezeichnet werden muss
und aufserdem den refraiu1 ungeschickt erscheinen lässt : (so!) —
ungeschickt ist lern er we geascodan 2V <Ctoe . . gefrugnon 14;
ahte 22b < 18a; (-)rices 21b, 23\ 26b; ofercumon 26b, o/ereode 27* ;
23b ist nur lull sei, wenn es auch au Beowulf gemahnt. —
somit darf v als eiue interpolatiuu bezeichnet werden; da sie
aber, auch metrisch, besser ist als vi und dieser zum muster
gedient hat, so ist sie älter und wir erkenuen an dem texte
von i deutlich drei schichten der Überlieferung', das p<£t 10*
und 11" 'ist jedesfalls unbeholfen', danach kann man sich nicht
mehr über die au sich höchst erstaunliche feststellung verwundern:
der einschaller von v. 28 — 34 'ist identisch mit dem vf. von
Wanderer 19—20, 58—60'!
Was solche urteile ermöglicht, ist nur eine vollständige nicht-
beachtuug des angelsächsischen Stils und der einschlägigen litte-
ralur. über Svortwiderholungen', 'typische halbverse', formein
wie tce gefrugnon udgl. ist bis in die jüngste zeit so erschöpfend
gehandelt, und das material ligt so offen, dass es verlorene zeit
wäre, ein wort darüber zur Widerlegung l.s zu äufsern.2 die
Vergewaltigung des texles nimmt hier geradezu groteske formen
an. die schritt argumentiert nämlich folgeudermafsen : in der
1 Strophe von Deors klage ist von Wielaud die rede, in str. 2
von der schwangern Baduhild. dann folgt die rätselhafie 3 str.
v. 14—16:
We poet Mcebhilde monge gefrugnon
Wurdon grundlease Geates frige
Pcet him seo sorglufu slcBp ealne binom.
Nun schliefst I. : es muss doch eine 'disposition des Werkes'
vorhanden sein, der gedankenfaden von 2 zu 3 ist also offenbar
in einer Variation zu suchen, 'fasst man 14 — 16 ins äuge, so
hat man den eindruck, als ob diese Strophe ein Schicksal schildern
sollte, das dem vorher beschriebeneu der Beadohild in wesent-
lichen Zügen glich, wir haben hier wie dort ein weibliches
wesen, dem von einem manne, aber nicht dem gatten, übel mit-
gespielt wird, wenn dem so ist, dann hat der dichter, der doch
eine blofse widerholung vermieden hätte, eine Variation be-
absichtigt : erstens betont er die allgemeine bekanntschaft mit
1 der eigentümliche geuitiv in dem kehr reim ßces ofereode, pisnes swa
viaeg hat die verschiedensten Übersetzungen veranlasst:
ten Brink : 'das wurde überstanden, so kann auch dies überstanden werden.'
Wülcker : 'das ging vorüber, so mag auch dies vorübergehen.'
Brooke : 'hat the over-went, this also may I.'
Lawrence : 'hat the endured, this also can !.'
Iiinlmanns Übersetzung (s. 12) 'des kam ein ende, dieses mag es auch' findet
sich längst von Wülcker abgesehen bei Bosworth-Toller : 'it is all over with
that, so may it be with this.' —
a das gilt natürlich auch für die bestimmte behauptung s. 22, nach
der Deor 11 b, 12* ein 'citat' (!) aus Klage der frau 39b, 40 sei!
A. F. ü. A. XXXI. 12
170 IMELMANN DIE ALTENGLISCHE ODOAKER- DICHTUNG
dem Deuen gegenstände (inonge 14b); sodann geht er auf das
moliv dieser zweiten Vergewaltigung ein (frige 15b, sorglufu 16a),
und endlich nennt er den täter bei namen (Geat 156), während
Wieland in n nicht wider erwähut wird'.
Aber wo in aller weit steht in diesen drei Zeilen
ein wort davon, dass Msedhild eine verge walligte
fr au sei?
Dafür schafft nun der vf. rat, indem er kurz entschlossen
den v. 10 pcet heo gearolice ongieten hwfde als zweiten vers in
str. 3 versetzt, ist er doch schon vorher als 'jüngere einschiebung'
bezeichnet, uzw. einmal aus den oben charakterisierten stilistischen
gründen, und dann auch weil ja nicht die erkenntnis der Schwanger-
schaft, sondern die tatsache selbst (lla) das schmerzliche sei.
diese haarspalterei ist kaum mehr verständlich, nun steht also
der vers glücklich in der Mädhild-strophe. aber damit ist noch
nichts gewonnen, es gilt dem ongietan eiuen andern sinn zu
geben. I. übersetzt — man lese und staune : 'dass auch sie
völlig empfangen hatte', uzw. weil in nachahmung der
bibel in einer homilie gelegentlich ongietan = 'einen mann er-
kennen heifst'. so bekommen wir dann eine schwangere
Mädhild und einen schwängerer namens Geat. aber damit ist
immer noch nichts für die Eadwacer-sage bewiesen, das geschieht
nun auf folgendem wege.
In der 4 Strophe ist von Theoderich die rede, aber sie ist
auffallend kurz und hat nur zwei zeilen. die 5 Strophe redet
jedoch ausführlich von Ermanrich. diese 5 Strophe ist indes aus
stilistischen gründen (siehe oben!) unecht, sie ist später ein-
gesetzt, der mann, der sie einschob, kannte aber Ermanrich
als gegner Theoderichs. in dem ihm vorliegenden gedieht
aber fand er in der 4 Strophe gewis noch den Odoaker als feind
des Gotenkönigs von Bern, er strich ihn deshalb heraus 1! (so
zu lesen auf s. 21). damit wäre nun der Odoaker für die 4 slr.
gewonnen, aber, fragt man, dieser Od oaker ist doch nicht
der Sachse Odoaker? tut nichts! 'der Übergang von m zu iv
wäre unerklärlich, wenn dem dichter nicht Eadwacer — als
Scyrre oder Sachse oder beides zugleich — vorge-
schwebt hätte', also weil in der 4 Strophe der bekannte Usur-
pator Odoaker figuriert haben könnte, bezieht sich der iuhalt
der 3 Strophe auf den Sachsen Odoaker des Gregor von Tours!
mithin ist jetzt das trifolium sogar dem namen nach ermittelt,
Mädhild heifst die frau, die in der Klage der frau und im 1 rätsei
klagt, Geat heifst der beadu-cafa des 1 rätseis, der geong mong
der Klage der frau. über dieser erklärung sind freilich v. 21 — 35
zum teufel gegangen und v. 35 — 41 haben den platz tauschen
müssen und sind an den anläng geraten, aber darauf kommt
nichts an : 'jedesfalls haben wir in Deors klage jetzt ein kleines
meisterwerk kennen gelernt, das uns sehr viel neues sagt' (s. 2-1).
[MELMANN MB ALTENGLISCHE ODQAK ER- DICHTUNG 171
aber auch der Dame Geat wird noch erklärt, der gegner des
Sachsen ist offenbar ein Eulhio, ein 'Jute', den die sage dann
zum hruder gemacht hat. (wo stellt in den gedichtet) auch Hin-
ein wort davon, dass die Trau ihrem seh wager zum opfer lallt??).
Eutio, anglisch Juta, Jota (nordh.), merc. Eota. der dichter des
Deor schöpfte aus mercischer Überlieferung', 'und wie Asser aus
Geat Geata machte, was hei seinem henulzer widerkehrl und wo-
neben Eala steht, so konnte aus einer form, die aus Eutio regel-
recht entwickelt war, ohne weiteres Geata und weiter
durch misverslän dnis Geat werden.'
Sprach nicht Voltaire von einer elymologie, hei der auf die
vocale nichts, auf die consonanten wenig ankommt ? — und stimmen
wir selbst all diesen Schlussfolgerungen zu, wäre es nicht äul'serst
unwahrscheinlich, dass neben den eigenoamen der übrigen han-
delnden in der sage von dem einen der Stammesname bei-
behalten würde?
Als der vf. so weit gekommen war, scheint er umhergespähl
zu haben, ob sich nicht noch mehr bisher verschlossene tore
fänden, die mit dem Eadwacer-schlüssel zu offnen wären, und
siehe da, sein blick fiel auf das runen Kästchen! —
An der rechten seite des runenkästchens, seinen schrifi-
zeichen und seinen darstellungen hat sich der grusle Scharfsinn
der gelehrten seit jähren müde und stumpf gearbeitet. Hinz,
Holthausen, vGrienhergcr, Victor, Wadstein, Napier, Jiriczek,
Bradley haben alle dieses rätsei aus walfischbein vergebens zu
lösen versucht, nach Imelmann ist es spielend einfach, er lässt
zunächst die rune nbeiseite und geht von der erklärung der gruppeu
aus. ihrer sind drei, aber nur auf die mittlere und rechte von
ihneu will er nachher die runenschrift bezogen wissen, nur sie
beide gehören zusammen und verbildlichen die Odoakersage, die
erste, linke darstellung scheidet aus. sie bleibt unerklärt, das
ist schon a priori mehr als unwahrscheinlich, die darstellungen
auf dem runenkästchen bieten immer zusammenhängende Hand-
lung, wenn die front zwei darstellungen zeigt, die Wielandsage
und die anbetenden magier, so hat sie beide auftritle auch durch
eine deutliche, breite miltelleiste voneinander getrennt, so dass
nie jemand auf den gedanken geraten würde, diese bilder ge-
hörten zusammen, dagegen scheidet nichts die drei Vorgänge
auf unsrer seite, und wer sie ohne Voreingenommenheit be-
trachtet, muss gestehn, dass eine lösung die das erste bild nicht
mit einbezieht, a limine abzuweisen ist. höchstens könnte man jede
gruppe einzeln auffassen. — des weitem basiert I.s erklärung
auf der anschauung, dass in der letzten gruppe die Vergewaltigung
einer frau durch zwei männer dargestellt sei. 'die mittlere ge-
stall scheint weiblich wegen der Verschiedenheit ihrer kleidung
von der der zwei männer'. ich muss das entschieden bestreiten.
padurch dass die mittlere geslalt von vorn, die andern von der
12*
172 IMELMANN DIE ALTENGLISCHE ODOAKER-IMCHTUNG
seile gesehen sind, ergehen sich von selbst gewisse verschieden-
heilen in der darstellung. so sieht man zb. in den Überhang der
mittlem figur offen hinein, während er bei der figur links über
den rechten arm fallend den rock überschneidet, aber eine
würkliche Verschiedenheit der kleidung ligt gevvis nicht vor. wer
sehen will, wie der Schnitzer durch kleidung unterscheidet, der
blicke auf die Wieland-scene, wo die frauen, Baduhild und ihre
dienerin, sich durch völlig andere kleidung von dem unheil-
sinnenden schmied abheben, wer diese differenzierung gesehen
hat, wird nicht mehr zweifeln, dass es sich in der rechten gruppe
um personen desselben geschlechts handelt, damit wäre schon
die wichtigste stütze dieser erklärung hinfällig geworden, aber
nehmen wir einmal an, sie bestünde noch, was weifs uns
I. über die mittlere gruppe zu sagen? ihr centrum bildet, den
blick des beschauers zunächst ganz absorbierend, ein hengst,
darunter ein fliegender vogel, daneben eine höhle (grab?) mit
halber kauernder gestalt darin, ein Wächter mit einem schwert
(lanze?) daneben, aber alle diese dinge treten zurück hinter dem
grofs dargestellten pferde. nach I. ist das ganze eine Illustration
zur 'Klage der frau'. sie ist die gefangene in der höhle, der
Wächter ihr Verfolger, pferd und vogel sind ihre genossen im
walde. — wunderlich lyrisches moment in der darstellung epischer
handlung! der fürst in folgt ihr 'slreitross' (s. 33) in den wald,
wo sie in der höhle bewacht wird? irgend eine bedeutung für
die Handlung hat das nicht?
Abermals muss ich auf die Wieland-darslellung verweisen,
wie ist hier alles bedeutungsvoll! an der wand hängt ein blase-
balg und ein hammer (darunter nägel?) — der amboss, die
knabenleiche, alles voller sinn und hinweis, und hier sollte ein
pferd, das den miltelpunct der ganzen darstellung bildet, nur
lyrisch-decorativen Charakter haben? das wird niemand für mög-
lich halten, mit der erklärung von kleinigkeiten wie dem becher
vor dem köpf des pferdes gibt sich 1. überhaupt nicht ab.
Derart anfechtbar ist die basis der bild-erklärung, auf der
sich nun l.s interpretation der runen erhebt, aber wer an sie
mit der Hoffnung herantritt, alle knoten entwirrt zu sehen, der
erlebt eine arge enttäuschung. zunächst einmal ist die inschrift,
so wie sie vorhanden, nur aus der seele eines Schnitzers zu
begreifen, der 1) mit seiner vorläge nicht genau bekannt, 2) mit
dem sinn und der bedeutung der dargestellten Handlung auf dem
kästchen nicht recht vertraut und 3) ein so capitales rindvieh
war, dass er sich fortgesetzt in der unglaublichsten weise verlas,
er sollte nach I. schreiben:
Herh-husce silip in harmbergcn
aglac drigip swoe hirce Jula gücraf
sar end sorgw and sefa tornce.
'Im waldhause sitzt sie, im harmberge,
IMELMANN DIE ALTENGLISCHE ODOAK ER- DICHTUNG 173
erträgt elend wie Juta ihr verhängte,
schmerz und kuuimer und zornigen sinn'.
Nun beginnt aher die würkliche inschrill Her hos sücep.
nach I. ist das einfach zu erklären, die vorläge halte schon
herhuscB; 'der Schnitzer nahm her als besonderes wort, sah nichts
von einem hause, muste dagegen die sitzende geslalt ganz links
gleich bemerken, hielt sie mit seinen spätem erklärern für ein
pferd und setzte o statt u} und ganz consequent auch oh statt
m; aber ein -r- in hos setzte er nicht ein, wie er auch das
end-CE sparte. *horsce konnte ihm nicht einleuchten.'
Wunderbarer Schnitzer!! nach dieser probe kann man sich
nicht wundern, wie der Juta herausgebracht wird, sowol ertae
als bita des runenkästchens sind eine eutstellung dieses namens:
risci über dem pferde ist als wisci = 'wiesen', 'marschen' zu
lesen usw.
Demgegenüber sollte doch festgehalten werden an dem factum,
dass irrtümer des Schnitzers, von unserer seitenwand abgesehen,
auf den sämtlichen Seiten des runenkästchens nur in den lateinischen
worten der rückenseite festgestellt siud (vgl. Napier The Franks
casket s. 370 im Euglish Miscellany pres. to Furnivall, Oxford 1901),
so grofse Schwierigkeiten auch unsere inschrilt bietet.
Wir haben gesehen, dass I.s interpretation vor keiner
Schwierigkeit zurückschreckt, eine letzte und grofse gab es noch
zu überwinden : die frage der datierung. sie erheischt nach
1. die Vorfrage : ist das bild auf dem kästchen von der 'Odoaker-
dichtung' abhängig und also später anzusetzen? I. betrachtet
die bejahung dieser frage als ziemlich selbstverständlich, ich
kann ihm darin nicht beistimmen, wenn alles andere plausibel
wäre, dieses letzte hindernis brauchte keins zu sein, denn warum
muss die angebliche Odoaker-darstellung von der dichtung ab-
hängig sein? es muss ja nach 1. eine ganz geläufige Odoaker-
sage gegeben haben! auch die andern seiten des kästchens
beziehen sich doch offenbar auf sagenhafte oder historische ge-
schehnisse, nicht aber auf gedichte. der grund aber, den er
anführt, zeigt nur eine schon früher besprochne mangelnde be-
rücksichtigung angelsächsischen Stils, dh. in diesem falle des
formelwesens, der ähnlichen und gleichen halbverse, die bei ver-
wauten Situationen immer wider auftauchen, nur wenn es sich
auf dem kästchen um die genaue widerholung der worte aus der
Klage der frau handelte, liefse sich von entlehnung sprechen,
nicht aber bei blofs oberflächlicher ähnlichkeit. — so schafft sich
I. selbst ein hindernis, um dann freilich leicht darüber weg-
zukommen, die 'Odoaker-dichtung' rührt aus der zeit um 750
her (s. 44), das runenkästchen müsle deshalb nach I. gleichzeitig
oder später sein, aber das ist nicht möglich, denn die spräche
des fischbeinkästchens zeigt deutlich ein früheres gepräge. es-
erscheint auf ihm nämlich die form fläch mit erhaltenem w, und
174 GLTJAHR ZUR ENTSTEHUNG DER NHl). SCHRIFTSPRACHE
wie Morsbach noch jüngst in einer langen und sorgfältigen Unter-
suchung festgestellt hat (GGN. phil.-hist. cl. 1906 s. 251 ff.), war 'der
abfall des ■>« sowol nach hanpttoniger wie langer nebentoniger
silbe im anfang des 8 jh.s auf anglischem boden schon vollzogen',
die art und weise, wie I. sich mit dieser tatsache auseinander-
setzt, ist sehr erstaunlich, er erklart nämlich die Vorderseite
mit der flödu- form kurzerhand für älter, vielmehr die inschrift,
die 'auf jeden kunstgegenstand ans walfischbein gepasst', für
traditionell, dieser geilanke, die inschrift in einen neuen und
einen alten teil zu zerlegen ist aber ein ad hoc gefundener not-
behelf, der niemanden befriedigen wird, mehr gewicht legt I.
offenbar selbst dem argument bei, dass dem flödu mit erhaltenem
-M ein wort mit weggefallenem -u gegenüberstände, das den
moderneren lautstand darstelle, dieses wort ist — herhl aber
dieses herh ist ja eine gänzlich unbewiesene conjectur I.s, nnd
statt die aus flödu hergeleiteten Schlüsse zu entkräften, wird für
jeden unvoreingenommenen gerade im gegenteil dieses herh durch
flödu als unmöglich erwiesen! — und was die zu hülfe gerufenen
formen Romwalus, Reumwalus, sefa, wylif angeht, so hat iMorsbach
in der angezogenen arbeit, teilweise mit berufung auf Sievers
und Bülbring, sie als unglaubwürdige zeugen späterer entstehung
so beweiskräftig abgetan, dass man sich sehr wundern muss,
ihnen hier überhaupt wider ohne neues material zu begegnen.
Die reihe kühner conjecturen, die I.s arbeit darstellt, hat sich
als hinfällig erwiesen, die Odoaker-dichlung als 'milde neben-
sonne zum strahlenden, aber grellen gestirn des Beowulf (!?)
ist eine Sinnestäuschung, unter diesen umständen werden wol
nicht wenige dem herausgeber dieser Zeitschrift beipflichten, der
mich bittet, ich möge seinem mismut darüber ausdruck geben, dass
Vermutungen wie diese in einer form veröffentlicht werden, die
dem wissbegierigen ein opfer von vier mark auferlegt.
Göltingen. L. L. Schücking.
Zur entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache, sludien zur deutschen
rechts- und Sprachgeschichte von prof. dr Emil A. Gutjahr, ii. Die
Urkunden deutscher spräche in der kanzlei Karls iv. Leipzig, Diete-
richsche Verlags -buchhandlung Theodor Weicher, 1906. xiv und
499 ss. — 12 m.
Das buch will entgegen der bisher geltenden ansieht, dass
die wiege der nhd. Schriftsprache Böhmen und die böhmische
kanzlei war, erweisen, dass das ganze oslmd. 'sechsische' gebiet
und im 11 — 13 jh. vor allem die bergstadt Halle für die be-
gründung der Schriftsprache in frage komme, die sächsische
(hallisch-magdeburgische) schöffenpatriciersprache des 12 — 14 jh.s
sei unter dem einflusse der bürgerlichen innungen von der muud-
art zur Schriftsprache des rechts erhoben und von Eyke für alle
GUTJAHR ZUR ENTSTEÜU.NG DER MID. SCHRIFTSPRAC11K 175
zeit festgelegt worden, wer solches erweisen will, muss die bis-
herige Forschung auf den köpf stellen, muss die eiugehuden
Untersuchungen zur frage nach der nihd. lilteratur- und der nhd.
Schriftsprache beiseite schieben und einem vereinzelten, mehr
litterarisch zu würdigenden versuch, deutsche prosa zu schreiben,
wie er in Eykes Sachsenspiegel vorligt, eine über ein jh. hinaus-
reichende epochale würkung zuschreiben, die im weiteren erst
durch Böhmens kanzlei weilergeführt worden sei. es wird nötig
sein, Gutjahrs beweisgrundlagen wenigstens zu streifen, die in
seiner abhandlung Zur neuhochdeutschen Schriftsprache Eykes
vRepgowe, eine sprach- und rechtsgeschichtliche abhandlung als
prodromos, Leipzig 1905, vorliegen.
Dort geht Guljahr von der fiction einer 'schöffendeutschen
Umgangs- und Schriftsprache des 13 jli.s und einer socialeu mda.
des ostmd. innungspatriciats des 14 jh.s' aus : Eykes familie war
mittelfränkisch, er selbst hallischer palricier und schölle und
schrieb seine rechtsbücher in deutscher und zwar obersächsischer
spräche, manchmal mit entgleisung in seine mfr. heimat(l);
aber er begnügte sich bei seiner schwierigen arbeit nicht mit
einem neuen Schriftdeutsch, sondern schrieb je nach dem
publicum für das sein werk bestimmt war, mit aristokratisch
oberdeutscher oder mit innungsdeutscher volkstümlicher lärbung.
Roethes meinung, Eyke sei ein niederdeutscher gewesen, der
unter dem einfluss der dichter- und litteratursprache von seinem
sassischen deutsch abgewichen sei, trifft nicht das richtige. —
dass es social geschiedene mundarten oder besser gesagt, eine
nach ständen abgestufte Volkssprache gegeben habe, kann ein-
leuchten, wenn auch Gutjahrs beweis aus der urkundlichen Über-
lieferung auf verkennung der schriftlichen traditiou beruht und
mislungen ist. dass zb. die ostmd. palricier kämpf, klopfen
gesprochen haben (s. 5), kann nicht mit der tatsache bewiesen
werden, dass es im 14 jh. in einer für den öffentlichen gebrauch
bestimmten Urkunde geschrieben erscheint, ebenso unsicher und
unwahrscheinlich ist die behauptuug, dass die ostmd. ritter pf
gesprochen haben. — dass aber diese sociale Scheidung im
Sachsenspiegel und im weichbildrechte des 13 und 14 jh.s zum
schriftlichen ausdruck gekommen sei und noch heute von uns in
dem schöffendeutschen i, ü, mpf, pf gegenüber dem in-
nungsdeutschen ei, au, eu, mp, pp festgestellt werden könne,
ja dass diese, hypothese zum ausgangspuncte einer neuen an-
schauung über die entstehung der deutschen Schriftsprache ge-
macht wird, dagegen muss entschieden einspruch erhoben werden,
die entstehung unserer Schriftsprache ist von einer ganzen reihe
sprachlicher, socialer, politischer factoren abhängig, die zum
gröfseren teile aufgeklärt sind, die Prager kanzlei des 14 jh.s
kann ja auch Guljahr nicht aus seinen aufstellungeu ausschalten,
aber sie ist nach ihm nur der empfangende teil, indem sie blofs
176 GUTJAHR ZUR E.NTSTEHUIS'G DER NHD. SCHRIFTSPRACHE
das durch Eyke festgelegte sächsische deutsch hoffähig gemacht
haben soll, auf die frage, woher die sechsischen Innungen des
13 jh.s ei, au, eu aufgenommen hahen sollen, weifs Guijahr
natürlich eine antwort : die diphlhonge sind aus dem nieder-
fränkischen gekommen, und Eyke scheint ihm auch hier die
mittelsperson. aher die sprachlich -culturelle hedeutung Eykes
bedarf einer künstlichen erhehung zum schöpfer einer neuen
Schriftsprache nicht, und Guljalirs widerholte herufung auf Luther
als zeugen für die herleitung des schrifldeutschen aus der 'säch-
sischen kanzlei' ist unkritisch, ebenso unkritisch wie die er-
klärung der Prager kanzlei zur blofsen aufnahmestation für die
hallisch-sächsische Schriftsprache. Gutjahrs benützung der quellen-
schriften und seine citate früherer forschung sind oberflächlich und
nicht immer Selbstzweck, (so erfährt man Prodromos s. 3 ge-
legentlich einer herufung auf Pauls Principien, dass das schluss-
heft von Gutjahrs Beiträgen zur lateinischen grammatik im
sommer 1905 in Leipzig bei Alwin Schmidt erscheint), dabei
aber wird das endziel seiner arbeiten, das hallische sächsisch als
die grundlage der nhd. Schriftsprache und Eykes rechtsbuch als
das erste glied derselben darzustellen, mit Zähigkeit verfochten
und mit vieler mühe aus den aufzeichnungen zu erweisen ge-
sucht und zur Unterstützung der schwächlichen gründe die fictiou
mit beharrlicbkeit widerholt.
Dasselbe bild bietet das vorliegende buch, das im wesent-
lichen auf den im Prodromos aufgestellten und nun als erwiesen
betrachteten hypothesen beruht, die auf den eingehenden Unter-
suchungen der schriftlichen Überlieferung des 12 — 14 jh.s be-
gründete tatsache, dass die nbd. diphlhonge aus dem bairisch-
österreichischen hergeleitet werden müssen, wird mit der be-
merkung abgetan, dass diese diphlhonge nach Baiern-Österreich
erst zugewandert sind uzw. — aus Niederfranken, aus der mischung
von ndd. und ostmd. dementen in Halle (und Magdeburg) soll
eine Schriftsprache erwachsen sein, die von Böhmens kanzlei im
14 jh. aufgenommen und ausgebildet wurde, über diesen wich-
tigen umstand lässt sich allerdings der vf. nicht weiter aus, die
begründung soll wol folgender satz s. 8 anm. geben : 'Litterarisch
taucht die amtliche sächsische rechtssprache . . ., nachdem ca. 1235
der Sachsenspiegel von Halle ausgegangen war, wol in Böhmen
zuerst auf, wo sie Ulrich vEschenbach in seinem gedichte
'Wilhelm von Wenden' (a. 1287 — 97) verwante. UvEschenbach
war sicherlich selbst patricischer abkunft und stammte aus einer
(vielleicht aus Baiern) nach Böhmen zugewanderten familie.
für die herkunft der familie aus Oberdeutschland spricht der
name und an idiomen nit, starchen; dagegen sind auch nieder-
rheinisch-coloniale idiome wie bit (=■ mit), van, dann oi für ou,
selbst ai für ou nachweisbar, echt sechsisch ist freyden, freide,
frtiude; sechsisch-böhmisch ist es (für s) in czu, colonial ist
GUTJAHR ZUR ENTSTEHUNG DER MM). SCHRIFTSPRACHE 177
auch s (für 2) in das, bas, weis uam. und au (für ou) in auch,
frawen ; entgleisung ist bitz*. ich muste den salz herschreiben,
wenn er auch von einer so unheimlichen Verwirrung und Unkenntnis
sprachlicher erscheinungen Zeugnis gibt, dass man nach solchen
proben das buch ruhig zuschlagen möchte, jedes weitere wort
der aufklärung ist papierverschweodung. aber da der vf. hier
wie im Prodromos mit solcher Sicherheit auftritt und alle bis-
herige forsch u og von Müllenhoff bis Burdach, Kraus, Roelhe ua.
-o oeben bei abtut, mag zur näheren beleuchtung noch eine kleine
probe dieser über zeit und rautn schwebenden hypolhesen vor-
geführt werden, auf der eben genannten s. 8 list man : 'nach-
dem der innungspatricisch gesinnte Johann vFrankenstein in
Schlesien, der seinen 'Kreuziger' zu Wien 1300 dichtete, sogar
dem neueren ei schon eingang gewährt hatte, folgt die deutsche
ordenschronik des mehr schöffendeulschen Nicolaus vJeroschin,
die in den jähren 1335 — 41 abgefasst sein wird. Nicolaus
vJeroschin, offenbar ein nobilis vir, aber laicus, homo novus,
ein neufreier bürgerlicher herr, der das urbane deutsch, das
ordensdeutsch als dictator noch nicht ganz beherschte, gehörte
wol ebenso wie (JvEschenbach und JvFraukenstein nicht von
geburt, aber später durch rang dem sächsischen, schon nach
hofelichin Sitten lebenden und sprechenden patriciate Oslpreufsens
uz. einer vom INiederrhein (aus Miltelfranken) zugewanderten
familie an; wenigstens finden sich nicht selten niederrheinisch-
miltelfränkische idiome in seiner spräche' usw.
Stellen wir uns auf den standpunct des vf.s, dass die säch-
sische Schriftsprache nach Böhmen eingewandert sei, so verstehn
wir noch immer nicht, wie im 14 jh. Böhmen der ausgangspunct
der Schriftsprache wurde, was Burdach bisher schon an gründen
für diese merkwürdige neue cultur und spräche in Böhmen unter
Karl iv beigebracht hat, scheint an Gutjahrs Studien zur entstehung
der nhd. Schriftsprache ohne würkung vorbeigegangen zu sein,
und wo er auf diesen process zu reden kommt, gehl er in die
irre. Johann vNeumarkt soll in Böhmen die sächsische innungs-
deutsche patriciermundart Böhmens, die mit der patricischen mda.
seiner schlesischen heimat identisch und also seine mutter-
sprache(!) war, zur diplomatensprache des deutschen reiches
erhoben haben (s. 13). das ist eine völlige verkennung der tat-
sacben, der Vorgeschichte jener deutschen kanzleisprache und der
sprachlichen und politischen factoren bei der geburt dieser com-
promiss-sprache und kuustsprache, die aber ihrer realen Vor-
bedingungen keineswegs entbehrte, dass diese compromiss-sprache
in Böhmen empirisch schritt für schritt verfolgt werden kann und
für einzelne denkmäler schon verfolgt ist, weifs Gutjahr gar nicht,
er steuert sein schifflein mit sicherem mut über alle sprach-
geschichtlichen kuppen hinweg.
Doch wollen wir von dieser gänzlich verfehlten grundlage
178 GITJAHR ZUR ENTSTEHUNG DER INHD. SCHRIFTSPRACHE
der Untersuchung absehen und kurz anführen, welche forschung
(\vv vf. an die deutschen Urkunden Karls iv anknüpft, indem er
die eigentlichen kanzleiurkunden, die alle in der kanzlei selbst
aufgestellten mcrkmale und bedingungen äufserer und innerer
form aufweisen, von den partei- nnd kanzleiredigierten Urkunden
scheidet, belasst er sich vornehmlich mit jenen ersten, aus der
zahl von 1400 deutschen Urkunden der kanzlei Karls, die dem
vf. bekannt geworden sind, bezeichnet er 55 (davon 24 in Böhmen
ausgestellte) als voll kanzleigemäfs. leider muss schon hier ge-
sagt werden, dass G. sich um die eigentlich böhmischen Urkunden
soviel wie nicht gekümmert und, wie schon aus seinem
quellenverzeichnis hervorgeht, von den vielen hundert deutschen
Urkunden, die in Böhmen selbst zum abdruck gekommen sind
oder noch ungedruckt der Veröffentlichung harren, nur sehr
wenige — mau möchte fast sagen geflissentlich — herangezogen
hat. von den 1400 Urkunden der königl. und kaiserl. kanzlei
Karls, die G. vermerkt, sind aus böhmischen orten aufserhalb
Prags nur 55, davon kommen auf Karlstein als den gewöhnlichen
sitz Karls aufserhalb Prag 9, so dass G. zb. von Eger nur 7,
von Budweis 4, von Leitmerilz 2, von Kaaden 1 Urkunde zur
kenntnis gekommen sind, während Karl, 'der vater Höhmens',
wie man aus den gedruckten urkundenbüchern ersehen kann,
für und in diesen und andern Städten eiue erstaunliche anzahl
urkuuden ausgestellt hat. — dass es zb. für Aufsig, Budweis,
Saaz ua. eigene urkundenbücher gibt, scheint der vf. nicht zu
wissen; dazu kämen noch die zahlreichen klosterurkuuden, für
die wir auch wie bei Goldenkron, Hohenfurt gedruckte urkunden-
bücher haben. — das nur nebenbei als beleg für die souveräne
arl, mit der G. au dem quellenmaterial vorbeigeht. man
sollte meinen, die kanzlei Karls iv müste man am besten an den
in Böhmen entstandenen und vorhandenen Urkunden studieren
können, die folge ist natürlich, dass eine etwaige darstellung
der böhmischen kanzleisprache durch den vf., wie sie trotz G.
auch weiterhin die grundlage jeder forschung zur nhd. Schrift-
sprache bilden muss, höchst mangelhaft bleiben dürfte, wenn
man auch aus den behandelten und im anhang abgedruckten
55 diplomen und patenten den charakter der kanzleisprache er-
sehen kann, so ist damit für die organische grundlage und ent-
wicklung der kanzleisprache Karls, also für historische forschung
nicht viel geschehen, und doch wird jeder leser nach dem
doppeltitel des buches gerade das erwarten, aber auch davon
abgesehen, wäre eine gröfsere zahl von urkundenabdrücken
wünschenswert. — das buch enthält nun aufser der unglücklichen
einleitung und einer ähnlichen betrachtung s. 392 ff erst eine
auf'zählung der deutschen Urkunden Karls s. 47 — 104, dann eine
umfängliche und bis in einzelheiten gelinde darlegung der
äufseren einrichtung der kanzlei s. 105 — 187, der beamten 188
gutjahr zur Entstehung her nhd. Schriftsprache 179
bis 258, der verschiedenen arten der Urkunden 259 — 2S2, des
Formulars 283—392.
Unleugbar sind diese abhandlungen von wert, umsomehr als
alles tatsächliche mit fleifs zusammengetragen ist und die ver-
schwenderische art des abdrucks die henützung sehr erleichtert.
die capp. bringen für viele eine erwünschte übersichtliche und
im grofsen ganzen auch zuverlässige malerialsammlung. aber
Lindners buch Zum urkundenwesen Karls iv und seiner nach-
folger, Stuttgart 1882, und Bardachs Vom mittelalter zur re-
formation haben eine gute Vorarbeit geboten. Burdachs grund-
legende Studien zur frage der böhmischen kanzlei zieht G. aller-
dings nur spärlich heran, und wo es geschieht, ohne das richtige
Verständnis, der Vorwurf Zeumers gegen Burdach im Neuen
archiv f. ältere deutsche geschichtskunde 32, 557, dass G. irr-
lümer Burdachs herübergenommen, ist kaum berechtigt, da
Burdachs darstellung in seiner buchausgabe Vom ma. zur re-
formation, besonders nachtrage s. 134, wesentlich anders lautet,
im besonderen wird eben auch G.s arbeit im diplomatischen teil
des buches einer fachmännischen nachprüfung bedürfen, so hab
ich bedenken zu s. 263 f, s. 2661. im ganzen werke ist ja des
vf.s eiler und gute gesinnung nicht zu verkennen, das problem
selbst hat er aber nicht gefordert, ja durch eigenwillig aufgestellte
und hartnäckig widerholle hypolhesen, in denen die namen Halle,
Eyke, sechsische innungs- und patriciersprache immer widerkehren,
verwirrt, dem was der vf. zb. s. 392 über die bedeutung der
kanzleisprache sagt, kann man im ganzen zustimmen; wenn er
aber gleich darauf meint, 'diese kanzleisprache ermöglicht den
anschluss an die entvvicklung der voraufgehenden zeit und ge-
staltet ausblick wie rückblick auf den Charakter der spräche der
sächsischen kanzlei vom 12 bis zum 16 jh.' und weiter unten:
'schon Eyke redet und schreibt diese spräche der später so-
genannten sächsischen cantzelei', so ist eine solche Verkettung
ganz verschiedenartiger erscheinungen unwissenschaftlich zu
nennen, und dieser Vorwurf dürfte dem buche G.s von der
kritik kaum erspart bleiben. '
Leitmeritz, october 1907. Alois Bernt.
Die geschieht« des pfarrers vom Kaienberg. hrsg. von Viktor Dollmayr.
[= Neudrucke deutscher litteraturwerke des xvi und xviijh.s, nr 212
—214.] Halle aS., Niemeyer, 1906. Lxxxn und 104s8. 8°. — 1,80 m
Im 14 jh. sind vor den toren Wiens eine reihe bauern-
sch wanke entstanden, deren held, der 'pfaff vom Kaienberg' zu-
änchst gewis eine historische persönlichkeit, bald zur typischen,
namenlosen figur entwickelt ward und eine fülle verwanter
Schwankmotive um sich sammelte, namentlich ward eine gruppe
von hofnarrenstreichen, die sich am hofe herzog Ottos des Fröh-
lichen zugetragen hatten, wol noch in den letzten Jahrzehnten
ISO DOLLMAYR DIE GESCHICHTE DES PFARRERS VOM KALENBERG
des 14 jh.s mit der ersten gruppe vereinigt, jüngere Stoffe ver-
schiedener herkunft, eulenspiegeleien, ein rätselstreit zwischen
zwei pfarrern wuchsen an. doch erst als die schwanksammluug
unter fleifsigem weitererzählen um die mute des 15 jh.s zu einem
gewissen ahschluss gekommen war, als sich ihre verschieden-
artigen bestandteile durch eine lange, mündliche tradition in-
einander geschoben und gut verzahnt hatten, ward sie litterarisch,
ein sonst unbekannter bürgerlicher dichter Wiens brachte sie in
vierhebige reimpaare, gut und schlicht, sicherlich ohne stofflich
eigenes hinzuzutun, oft mit mangelhafter anknüpfung, gelegentlich
kurz bis zur unverständlichkeit und Verwischung der pointen.
er konnte sich das gestatten, deun er reimte für ein publicum,
dem sein Stoff zum voraus geläufig war. am ende seines gedichts
nennt er seinen namen : Villip Franckfürter. die klage mit der
er beginnt : Mein zunge die ist mir zu schwer will nicht be-
rechtigt erscheinen, mindestens hat das buch wesentlich in
Frankfurters fassung, mit den 37 holzschuitten geziert, die er
ihm mitgeben liefs, fortan das feld beherscht und dem Stoffe für
alle Zeiten genügt, bis 1620 ist sein Kaienberg auf hd. boden
in mindestens 20 ausgaben verbreitet gewesen, von denen 11 ganz
oder teilweis erhalten, die übrigen von den Zeitgenossen zerlesen
oder erst neuerdings verschollen sind, auch die nd. uud mit
ihr die nl. und englische recension der schwanksammlung geht
nach einer these Köppens, die Dollmayr näher begründet hat,
auf eine dieser ausgaben zurück, freilich der hd. druck von
etwa 1500, von dem diese recension abzweigt (*C), kann nur
erschlossen werden, von ihm stammen zugleich alle bekannten
hd. drucke des 16 jh.s und mittelbar alle spätere Überlieferung,
auch die vorläge dieser erschlossenen vulgata ist verloren , da-
gegen ist in Darmstadt ein Heidelberger druck von 1490 (A)
erhalten, der unmittelbar aus ihr geflossen ist. daneben belindet
sich in Hamburg ein vielleicht noch etwas älterer Nürnberger
druck (B), der mit der vorläge von A aus derselben Nürnberger
quelle stammt, endlich ist in einem bucheinband der hof- und
Staatsbibliothek zu München das bruchstück eines Augsburger
drucks von etwa 1472 (a) zum Vorschein gekommen, das widerum
mit der vorläge von B aus dem urdruck von Frankfurters gedieht
abgedruckt sein kann, die älteste Überlieferung des gedichts
lässt sich nach Dollmayrs überzeugender beweisführung in folgen-
dem Stammbaum darstellen :
O
A
a *ABC
A
B *AC
A
A*CNd.
DOLLMAYR I»1E r.ESCHICHTE DES PFARRERS VOM KALENBERG 181
Danach ist bei der kritischen herstellung von 0 von den
ca. 300 versen auszugehen, für die das bruchstück a erhalten
ist : hier wird, was den drei texten a AB gemeinsam ist, für 0
zu beanspruchen sein, ebenso was a mit A oder mit B allein
jeweils gegen den anderen vollständigen druck gemein hat. da-
gegen haben AB, wo sie gemeinsam von a abgehn, zusammen
nur eine stimme gegen das principiell gleichwertige a. aus den
kritischen erfahruugen an diesen 300 versen ist ein urleil über
die gute der drei drucke abzuleiten, und daraus siud die grund-
sätze für die herstellung der 1900 verse zu gewinnen, für die a
ausfällt. Dollmayr hat die Wichtigkeit des bruchstücks a für die
ttxlkritik s. xxm anerkannt, ohne doch daraus die notwendigen
folgerungen zu ziehen, so dass sich in v. 1733 — 2031 bei an-
wendung der eben aus seinem eigenen Stammbaum abgeleiteten
grundsätze nicht weniger als 91 abweichungen von seinem texte
ergeben.
Dass alle drei drucke irren, ist mit gewisheit uur zweimal
anzunehmen, v. 1744 und 1824, wo Dollmayrs lesungen : Ich
enweifs, ob ich im recht thue und : Vnd gieng so schnei vnd also
drat gute und notwendige conjecluren sind gegenüber dem über-
lieferten Ich weifs ob a AB, schnell also trat a AB : beidemal hat
eine veraltende ausdrucksweise schon 0 ins wanken gebracht,
das damit von der ursprünglichen fassung des gedichts doch auch
schon einen schritt absteht, zehn weitere fälle bessert Dollmayr
dem metrum zu liebe, dass *C dabei viermal schon die gleichen
plade wandelt, hat jedesmal nur den wert einer allen conjectur
und beweist nicht mehr, als dass *C mit Dollmayr das bestreben
teilte, glättere verse herzustellen, als sie 0 bot. wir werden uns
bescheiden müssen, aus der Übereinstimmung von aAC zu lernen,
dass Frankfuriers metrisches schema von regelmäfsigem Wechsel
von hebung und Senkung weit entfernt war; die Überlieferung
zwingt uns, zweisilbigen auflact v. 1910, synkope der 2 Senkung
1872 f, der 3 Senkung 1816. 37, zweisilbigkeit der 2 Senkung
1832. 65. 2012, der 3 Senkung 1809, der 2 und 3 1985 als
ursprünglich anzuerkennen.
Es schliefsen sich 33 fälle au, in denen B allein gegen a A
steht. Dollmayr gibt hier fünfzehn mal B gegen a A recht, acht-
zehnmal umgekehrt, das zweite ist das kritisch gegebene, das
erste (als leichte conjectur von B etwa annehmbar v. 1823)
nirgends geboten, über Dollmayr hinaus müssen wir annehmen:
aultacllos v. 1810, synkope der 2 Senkung 1755, der 3 Senkung
1823. 51. 54. 59. 69. 1982 f. 2011. 20, zvveisilhigkeit der
1 Senkung 1853. 1933, der 2 Senkung 1957, vor allem aber ist
v. 2000 doch mit a A gegen do B zu lesen, widerum erweist
sich die metrik von O als nicht so glatt wie B möchte, zwiefach
ist dieses fortan verdächtig : es will regelmäfsigen Wechsel von
hebung und Senkung herstellen und unbetonte e zufügen.
1V2 DOLLMAYR DIE GESCHICHTE DES PFAIUtERS VOM KALENBERG
A steht 64 mal gegen a B. Dollmayr hat fünfmal die la. von A
in den text gesetzt, weil *C mit A geht, zehnmal trotz Zusammen-
gehens von A*C den heiden andern (a B) recht gegeben, das
/weite verfahren ist das kritisch gegebene, die fälle der ersten
art (1836. 55. 88. 1960. 94) haben den wert alter conjecturen
von A*C, die ausnahmslos richtig sein werden, übrigens alle von
leichtester art sind. 49 mal steht A mit einem fehler allein, es
zeigt sich in den an a controlierbaren 300 versen viel ungetreuer
und in seinen fehlerquellen viel unberechenbarer als B. die
gröfsere treue von B hat zuerst wol Koppen im Nd. jb. 20, 98
bemerkt, Dollmayr hat sie zum kritischen grundsatz erhoben, so
dass sein text hierin nirgends zu beanstanden ist.
Dass alle drei drucke aAB auseinaudergehn, begegnet in den
300 versen zehnmal, bei Dollmayr bekommt B achtmal, A zwei-
mal recht, a nie, obwol es die hälfte der gesamten Überlieferung,
uzw. die ältere, vertritt, notwendig verderbt ist a nur mit v. 1871
all in, 1961 bleib, 1922 schämen; glättere verse gewinnt man
mit a 1961 heimmen bleibt, 2000 doch sein nit. dagegen hat es
nach dem vorangegangenen kein bedenken, mit a dem urdruck
zu vindicieren : synkope der 1 Senkung 1902, der 2 1941, der
3 1927 und 2002, zweisilbigkeit der 2 Senkung 1908. in diesen
sieben fällen gehörte die la. a in den kritischen text.
Bei gemeinsamem abweichen der drucke AB von a hat schon
Dollmayr neunmal a recht gegeben, alle neun fälle sind evident
(1757. 60. 93. 96. 99. 1822. 56. 1925. 98). viel zu oft be-
kommt dagegen die jüngere hallte der Überlieferung recht : nicht
zu retten sind für a nur 1792. 1926. 36. 38. 49. 63. 84, aufser-
dem ist kaum ein grund, von a abzugehu. man erhält dann auftact-
loseu vers 1789. 93. 1804 f. 1900. 20. 2008, zweisilbigen aul-
tact 1904, syukope der 1 Senkung 1739. 1858. 1924. 69, der
2 1750. 63. 71. 1805. 40. 47. 1904. 74, der 3 1760 f. 65. 85.
1829. 1919. 28. 68. 73. 92. 2004, zweisilbigkeil der 1 Senkung
1747. 1844. 53, der 2 1742. 1976, der 3 1916. 2010, lauter
erscheinungen, die Dollmayr selbst an andern stellen dem urtext
zuspricht, die aber *ABC mit ziemlich primitiven mitteln ein-
zuschränken sucht, das beliebteste mittel ist dabei die anwenduug
von do, mit dessen hilfe AB das metrum glätten 1765. 1908.
2008, dazu ändern sie so in do 1800. 27, noch schlechter ist
do 1810. 2000 bezeugt und damit fallen auch die beiden do
1870 und 1890 als zutat von AB. somit fällt die entscheidung
58 mal für, 10 mal gegen a. nach demselben Verhältnis sind dann
auch noch die bleibenden 14 fälle aufzuteilen, bei denen weder
sinn noch metrik eine sichere entscheidung erlaubt : AB werden
recht behalten 2013 (vgl. 1217) und 1770 {Sie in a aus der
(olgenden zeile vorweggenommen), dagegen geben wir gegen
Dollmayr a recht mit 1747 für ein. 1771 wol. 80. 86. 1928 So.
47. 60.' 64. 69 Darumb. 2026. 28 und bildüberschrift 35.
DÜLLMAYR DIE GESCHICHTE DES PFARRERS VOM KALE.NBERG 183
So ist für v. 1733 — 2031 eine Urilische herstellun^ von 0
sehr wol möglich, aher das verfahren ist so wesentlich auf a
gestützt, dass die hollnung aufgegeben werden muss, es auf die
teile des gedichts auszudehnen, für die a ausfällt, was Dollmayr
als ersatz bieten kann, ein mit hilfe der jüngeren drucke vor-
sichtig modificierter abdruck von B ist, soweit es über Bobertags
ausgäbe in Kürschners Nationalliteratur bd 11 hinausführt, nicht
das alte gedieht von 1450, es klingt vers für vers so gänzlich
anders, als jenes kritisch gesicherte stück mit der altertümlichen,
ungebändigten metrik der Übergangszeit, dass wir uns der ein-
sieht nicht verschliefsen können : Frankfurters Kalenberger ist für
uns verloren, bis etwa einmal neue funde der mislichen Über-
lieferung aufhelfen, doch dazu ist nach Schorbachs sorgsamer
umfrage nicht viel boffnung vorhanden, das ist eine resignation,
zu der EdwSchröder schon im Nd. jb. 13, 129 gelangt war.
die fleifsigen und in ihrem kreis erschöpfenden Untersuchungen
über metrik, spräche und slil des gedichts, die Dollmayr in seiner
einleitung vereinigt bat, verlieren darum nichts an ihrem wert,
dass sie uicht der verlorenen urform, sondern der ältesten er-
reichbaren fassung des Kalenbergers gelten; vollends an den
capiteln über das Verhältnis der drucke zueinander und über die
composition der Schwanksammlung würde nichts zu ändern sein,
auch wenn uns die urform erhalten wäre.
Besonders sei auf den lexikalischen reichtum, der in den
laa. steckt, hingewiesen; auf s. xf. xmf. xvi. xvm. xxi gibt Doll-
mayr Zusammenstellungen daraus, keine nachfolge dürfte ver-
dienen, dass in den laa. die siglen voraus, der Wortlaut nach-
gestellt wird, also v. 2 'C mir vast not' statt 'mir vast not C:
erstens ist das verfahren bei auslassungen uicht ohne Umständ-
lichkeit durchführbar und von Dollmayr selbst nicht innegehalten:
'v. 138 fehlt in A', dann aber muss man auf das praktische
zeichen ] verzichten, das die folge lesart des textes ] Variante,
siglen voraussetzt, und warum verschmäht Dollmayr in den laa.
die siglen *C und *D, die er im Stammbaum doch selbst ein-
geführt hat?
Freiburg im Br., im august 1907. Alfred Götze.
Die sage vom ewigen Juden in der neuern deutschen litteratur. von
dr Johann Prost. Leipzig, Georg Wigand, 1905. vm und 167 ss.
8°. -3m.
Nach Neubaurs gründlichen Untersuchungen über die sage
vom ewigen Juden lag der gedanke in der lull, die zahlreichen
neueren ausgestaltungen des alten Stoffes zusammenhängender
und vollständiger, als es bisher in einigen kleinen broschüren
geschehen war, zu behandeln, und so treten denn bezeichnender-
weise drei autoren: zwei junge lilterarhistoriker, Prost und
184 PROST HIE SAGE VOM EWIGEM JUUE.N
Soergel, und ein Journalist, Theodor Kappsteiu, ungefähr gleich-
zeitig mit einer Studie über Ahasverdichtuugen hervor, nur mit
Prosts werk, das sich abweichend von den beiden andern auf
die neuere deutsche litteratur beschrankt, hab ich mich hier zu
beschäftigen.
Prost führt in seiner bibliographie 69 Ahasverdichtungen
auf, während seine Vorgänger nie über 30 besprochen haben.
Soergel bietet allerdings, wenn man von den fremdsprachlichen
werken und den Volksliedern absieht, etwa das doppelte wie Prost,
so dass Prosts buch gleich bei seinem erscheinen nach der seite
der Vollständigkeit überholt worden ist. nur 4 nummern der
Prostscben bibliographie: nr 27 (Duller), nr 35 (Nestroy), nr 59
(Schädling) und nr 63 (Landsteiner) finden sich bei Soergel
nicht. ThvHaupts 'Ahasverus, der nie ruhende' muss als freie
bearbeilung eines französischen melodrams bei Prost gestrichen
werden.
Nun braucht ja gewis auch eine bibliographisch stark lücken-
hafte arbeit literarhistorisch nicht wertlos zu seio. leider sind
jedoch noch mehrere, und zwar schwerwiegende einwände gegen
das buch zu erheben, dass die gruppierung des Stoffes die denkbar
unglücklichste ist, zeigt ein blick auf die inhaltsangabe : 1. Ein-
leitung, 2. Goethe, 3. Schubart, 4. Haller, Schlegel, Schreiber,
Arnim usw. usw., 9. Im zeichen Eugen Sues . . . 14. Varii (so
könnte man die meisten capitel überschreiben) . . . 16. Tendenz-
poesie, interessante versuche, nach dem muster Helbigs, Novers
und Eschelbachs reiht Prost die einzelnen dichtungen einfach
chronologisch aneinander, und irgend eine bedeutungslose über-
gangsweudung stellt den Zusammenhang her. natürlich weist
Prost gelegentlich auf Verbindungslinien hin. so betont er zb.
die litterarischen abbängigkeilen und ist erfreut, wenn er einmal
ein capitel — das capitel 5 — auf diesen gesichtspuncl auf-
bauen kann, aber auf quellenuntersuchungen und auf feststellung
neuer züge lässt sich eine Untersuchung moderner Ahasver-
bearbeitungen nicht gründen, die methode, die bei einer sich
bildenden sage am platze ist, ist undurchführbar, wenn dargestellt
werden soll, wie die verschiedenartigsten und verschiedenwertig-
sten modernen dichter sich eines fertigen Stoffes bemächtigen,
von einer nur einigermaßen logischen summierung der motive,
von der herausarbeitung eines bestimmten modernen sagentypus
ist dabei keine rede, am allerwenigsten, wenn ein sageustoff so
viele experimente ausbält, wie die Ahasversage. was ist nicht
alles in dichtungen vom ewigen Juden hineingepackt worden, die
wirrsten abenleuer des Schauerromans wie die abstractesten philo-
sophischen ideen. der gedanke, einen steligen inneren fort-
schritt der bearbeitungen aufzuzeigen, den Heibig vergeblich
durchzuführen versucht hat, ist weiter nichts als eine baltlose
Construction. RHamerliugs Ahasver in Rom als philosophisch
PROST DIE SAGE VOM EWIGEN JUDEN 185
tiefste dichtung, als höhepunct der ganzen reihe zu bezeichnen,
das war schon 1874 ein misgriff und geht heute ganz und gar
nicht mehr an. so bleibt denn kein weg übrig, das chaos zu
ordnen, als der geistesgeschichtliche, und nicht blofs in ein-
zelnen andeutungen hatte Prost auf zeitgeschichtliche und indi-
viduelle bedingtheit der einzelnen Ahasverdichtungen hinweisen,
sondern er hatte diesen gesichtspunct zum beherschenden machen
sollen, hilflos und unselbständig wie in der gesamtanlage ist
Prosts arbeit auch in den einzelheiten. im Wortlaut ist sie
sclavisch von den vorgangern und von specialarbeiten abhängig,
allerdings sündigt hier Prost nicht allein, wer sich die mühe
nimmt, Heibig, Nover, Escbelbach und Prost hintereinander zu
lesen, der wird mit erstaunen eine ganze reihe von Übergangs-
wendungen, inhaltsangaben, selbst urteilen immer wider lesen.
man sehe sich nur einmal an, was die vier über LKöhler oder
Theodor Oelkers bieten, es könnte den anschein erwecken, als
ob Helbigs nachfolger die dichlungen überhaupt nie durchgelesen
hätten, besonders compromittierend ist Prosts schlusscapitel, das
nahezu vollständig aus Heibig, Eschelbach, Gervinus und Wilhelm
von Scholz zusammengeschrieben ist.
Die fehler der arbeit werden durch das eigene nicht auf-
gewogen, die breiten inhaltsangaben und detaillierten quellen-
nachweise, die Prost bei seinen lieblingswerken gibt, sind über-
dies meist trocken und oft mehr lästig als förderlich, auch an
stil und urteil liefse sich viel ausstellen, indes scheint es mir
zu genügen, die allgemeinen grundlinien zur bewertung des
Prostschen buches zu ziehen, die einzelkritik, die selbst zur
wissenschaftlichen förderung des wichtigen stoffgeschichtlichen
problems beitragen will, knüpft besser an die Studie Soergels:
Ahasverdichtungen seit Goethe an.
Leipzig, 22 September 1906. Friedrich Schulze.
Ahasver-dichtungen seit Goethe, von Albert Soergel. [= Probefahrten,
erstlingsarbeiten aus dem deutschen semiuar in Leipzig, hrsg. von
Albert Köster. sechster band.] Leipzig, RVoigtländer, 1905. vin und
172 ss. 8°. — 4,80 m.
Seit einer reihe von jähren ist eine immer noch steigende
zahl von doctor-dissertationen stoffgeschichtlichen Untersuchungen
gewidmet, wenn man diese arbeiten genauer betrachtet, so be-
obachtet man bei fast allen eine bedenkliche erscheinung. ein
stoff wird mit unheimlicher belesenheit durch die Jahrhunderte,
durch die nationallitteraturen verfolgt, und das endresultat ist
— null, dies wäre nicht der fall, stünde es besser um jene
belesenheit, nicht aus der kenntnis der litteratur ist die stoff-
geschichte hervorgegangen, sondern aus dem vorsatz, die geschichte
des Stoffes zu schreiben, eine durch blättern gewonnene kenntnis
A. F. D. A. XXXI. 13
186 S0ERGEL AHASVER-DICHTOiGE.N SEIT GOETGE
seiner bearbeitungen, aber ebeu auch nur diese, daher die Un-
fähigkeit, die verschiedenen t'ormungen des Stoffes miteinander
und mit der gleichzeitigen cultur und litteratur in einen andern
als chronologischen Zusammenhang zu bringen, daher auch die
eintönige gestalt dieser arbeiten, in denen analyse sich an ana-
lyse reiht.
Die vortreffliche Untersuchung Soergels macht eine umso be-
merkenswertere ausnähme, als hier ein anfänger einen oft poe-
tisierten, aber stets widerborstigen Stoff gewählt hat, dessen wissen-
schaftliche bearbeitungfast ebenso häufig und ebenso erfolglos unter-
nommen worden ist wie die dichterische, gerade in jüngster zeit hat
das neuerwachte interesse an religiösen problemen und Stoffen eine
ganze reihe literarhistorischer behandlungen der Ahasversagen
und -dichtungen hervorgerufen, von denen die Schriften von
Prost und Kappstein jene traditionelle form des catalogue
raisonn6 aufweisen, während EdRönig in seinem einseiligen,
aber geistreichen büchleiu von einem erklärungsversuche der
sage ausgehend nur einen kleinen teil der poetischen bearbeitungen
in seine betrachtung zieht. S. hat mit grofser Sorgfalt eine
reiche bibliographie der Ahasver-dichtungen zusammengestellt,
dann aber vor allem den versuch gemacht, gruppen und ent-
wicklungen in der bunten, starren masse zu finden, die
ästhetische, cultur- und litterarhistorische bedeutung nicht nur
der einzelnen dichtungen, sondern des ganzen Stoffes fest-
zustellen, denn er weifs es, dass stoffgeschichtliche Unter-
suchungen nur dann wissenschaftlichen wert besitzen, wenn sie
entweder die litterarisch-künstlerische erkenntnis fördern, indem
sie die Veränderung des Stoffes durch kunstformen und -epochen,
stilformen und -principien verfolgen , oder culturhistorischen
interessen dienend zeigen, wie zeittendenzen in den stoff ein-
dringen und ihn umformen (s. 1 I). er erkennt ohne die Vor-
eingenommenheit des anfängers für sein thema, dass bei der
behandlung dieses Stoffes mehr als der ästhetiker der cultur-
historiker auf seine kosten komme (s. 3), dass bei dem seltsamen
contraste zwischen der weite des historischen rahmens und der
armut des überlieferten Stoffes sich die forderung künstlerischen
gestaltens mit dem zwange der Umwandlung des Stoffes im sinne
der zeit verknüpfte (s. 4). so ergibt es sich von selbst, dass die
gliederung des buches nicht nach formellen gesichtspuncten,
sondern mit rücksicht auf die entwicklung des Ideengehaltes der
alten sage vorgenommen werden muste.
Sehr geschickt wird — freilich ohne dass hier wesentlich
neues geboten würde — die entstehung der sagengestalt dar-
gestellt, von dem 'wartenden gerechten' Johannes und dem
•wartenden Sünder' Malchus über Cartaphilus und Buttadeo bis zum
Ahasverus der Volksbuches, drei momente treten hier für Weiter-
entwicklung bedeutsam hervor : der Verfasser gibt die geschichte
SOERGEL AHASVER-DICHTUNGEN SEIT GOETHE 187
eines fluches; er gibt ein bild von Aliasver; er verleiht ihm eine
büfsende seele, ein frommes, mitleidiges herz, stille Sehnsucht
aus dem leben nach der ruhe des todes (s. 131'). die rolks-
phantasie bildet diese züge weiter aus. Ahasver nimmt Züge an
aus der sage vom wilden Jäger und von Wodan, man traut ihm
kenntnis der Zukunft zu, sein erscheinen weissagt unglilck, er
gewinnt einfluss auf die geschicke der menschen, man benutzt
sein leben als passenden rahmen für stofflich interessante mit-
teilungen. das französische Volksbuch macht das leben des ewigen
Juden zu einem stuck religionsgeschichte und fügt abenteuerliche
reiseberichte an. zum schluss erzählt es, wie Ahasver sich den
tod ertrotzen wollte, aber ihn in Jerusalem nicht finden konnte,
nicht in der schlacbt, nicht auf dem meere (s. 1 6 f). — Soergel
verfolgt die entwicklung des ewigen Juden in der volkspoesie,
die aus dem träger des fluches, aus dem erzähler wunderbarer
erlebnisse erst eine persönlichkeit bildete, der nun in Frankreich
leidenschaftliche complaintes in den mund gelegt werden (s. 18 IT),
in demselben 18 Jb., dessen gelehrte dichter die unverstandene
irestalt nur für possen und verkleidungsstücke zu verwenden
wissen (s. 21 IT). Goethe und Schubart ergreifen den Stoff mit
grofsen poetischen intentionen, beide lassen ihn bald liegen,
sehr hübsch zeigt Soergel, welche züge der sage die behandlung
erschwerten, wie die beiden dichter die Schwierigkeit zu über-
winden suchten : die sage gibt nur den anfang einer düstern
geschichte, sie hat keinen abschluss, sie verlegt ihr ende hinter
alle zeit; sie ist in der einzig ausgeführten scene, der darstellung
der Verfluchung, voller unwahrscheinlicbkeiten; sie spricht von
einem ewigen, und Steigerung und concentration in ein ewiges
leben zu bringen ist unendlich schwer, beide dichter suchen
das zweitausenrijäbrige leben zu füllen, indem sie zunächst Ahasver
als technisches mittel verwenden: Goethe will die kirchengeschichte
darstellen, Schubart alle natur- und menschenrevolutionen, die
der ewige Jude erlebt hat. beide suchen Ahasver selbst einen
inhalt zu geben : Goethe fasst ihn im späteren plan als symbol,
als contrast zu Christus, Schubart sieht in ihm ein übermensch-
liches wesen, das dennoch den vollen Stempel der menschlichkeit
trägt, beide dichter suchen die sage durch eine erlösung Ahasvers
abzuschliefsen. Schubart in der erhaltenen rhapsodie, dem ver-
zweiflungsmonolog Ahasvers [dessen litterarische würkung bis zu
Wagners 'Fliegendem Holländer' reicht], auf den die begnadigung
zum todesschlafe bis zum jüngsten tage folgt; wie Goethe seinen
Ahasver wollte enden lassen, wissen wir nicht — der wider-
kehrende heiland hat den ewigen Juden bei ihm verdrängt (s. 24 ff),
die Schwierigkeiten, mit denen Goethe und Schubart zu kämpfen
hatten, blieben auch allen späteren zu überwinden, und die
lüsungsversuche der beiden fragmente werden im wesentlichen
immer aufs neue widerholt, so hat Soergel mit der besprechung
13*
188 SOERGEL AHASVER-MCHTUrSGEN SEIT GOETHE
dieser ersten Ahasver-dichtungen die schranken ausgesteckt,
zwischen denen sich die fernere Untersuchung mit wenigen aus-
nahmen bewegt.
Er teilt nun den Stoff in zwei grofse hälften : von 1800 bis
etwa 1870, von da bis zur gegenwart. voraus geht den beiden
ahteilungen je eine übersieht über die enlwicklung der sage in
dem betreffenden Zeitraum, der ersten überdies ein abschnitt, der
die 'Weltgeschichten' des 18 jh.s behaudelt (die den lebensiauf
Ahasvers als technisches mittel der darstellung verwenden) und
vorher noch ein capitel, das eigentlich auf den abschnitt 'Welt-
geschichten' folgen und den Übergang zu den romantischen
Ahasver-dichtungen machen sollte: 'Todespoesie' (s. 35 ff), auf
knapp 4 Seiten wird hier eine sehr geistvolle darstellung der
enlwicklung des motivs der todessehnsucht gegeben, vom 17 jh.
ausgehend, das den tod als gegensatz des lebens fürchtete und
in scheufslichen färben malte, zu dem im allgemeinen den tod
ernst oder scherzhaft abweisenden 18 Jh., das aber schon die
sanfte wehmut der kirchhofsgedanken kennt, in dem Lessing
ausspricht 'Tot sein, hat nichts schreckliches', der junge Goethe-
Prometheus die Seligkeiten des Sterbens schildert, nun zur
todeserotik der romantiker von Novalis und ZWerner bis zu
RichWagner, und endlich zu der modernen naturwissenschaftlich
begründeten auffassung von dem tode als bildner neuen lebens
[wie schon der vielumslrittene 'Natur'-aufsatz Goethes es aus-
spricht : 'Der tod ist ihr kunstgriff, viel leben zu haben'].
Die romautiker erfassen den Stoff zunächst in christlichem
geiste, im geiste des Volksbuchs. Ahasver bringt unheil ins haus
uud enthüllt sich durch die äufseruug seiner gewissensqualen als
der ewige Jude, oder er ist ein frommer, ein asket, ein warner,
ein helfer (s. 43 — 49). Audersen, Joukoffsky, Paludan-Müller,
deren dichtuugen ausführlich besprochen werden, schildern seine
bekehrung, seine erlösung durch den tod (s. 49 — 57). — während
der emaneipationsbestrebungen der Juden wird er immer öfter
als Vertreter des jüdischen Volkes dargestellt, wie dies ja nach
der meinung einer reihe von gelehrten (s. 154), zu denen neuer-
lich sich EdRönig gesellt hat, der eigentliche sinn der sage ist.
zunächst von den jungen jüdischen dichtem, die ihn als dich-
terisches symbol für ihre schmerzen und hoffnungen auffassen,
dann aber auch von christlichen bearbeitern, die den jammer
eines heimatlosen volkes mit grofser Vergangenheit empßndeu
(s. 57 — 65). nur selten wird er der Vertreter der liberaleu
Opposition überhaupt, dann wider einmal ein lichtscheuer Schleppen-
träger der Jesuiten (s. 65 — 71). aber vor allem ergreift ihn der
weitschmerz als sein symbol, er wird ein zweiter hadernder pilger
Harold, ein neuer trotzender Prometheus, als deu 'ew'gen
menschen in menschenlust und -leide', der sich dem leben mit
all seinen leidenschaften in die arme wirft, fasst ihn Mosen;
SOERGEL AHASVER- DICHTUNGEN SEIT GOETHE 189
als den ewig strebenden menschen, der alle schmerzen der erde
treulich sammelt, Edgar (Juinet in seinem verzweifelt pessimistischen
mysterium (s. 71 — 88). und endlich dringen die socialen ten-
denzen der vierziger jähre in die sage ein, die Eugene Sue zu
einem aufregenden Schauerroman umgestaltet (s. 88 — 90). wie
man im 18 jh. Ahasver zum träger geschichtlicher erinne-
rungen gemacht hatte, so stellt man ihn nun in den mittelpunct
von culturgemälden einer zeit oder mehrerer epochen (Chrlvulfner,
Hamerling, SUeller); wider ist er nur ein bequemes hilfsmittel,
um glänzende Schilderungen, diesmal verbrämt mit billigem ideen-
flitter, zu entwerfen; aus dem symbol wird eine metaphysische
allegorie. so tritt auf die hochllut der Ahasver-dichtungen in den
dreifsiger und vierziger jähren die ebbe ein, zahl und poetischer
wert der bearbeitungen nehmen ersichtlich ab (s. 91 — 100).
In den achtziger jähren wird Ahasver wider modeproblem,
nachdem er eine zeillang in commersliedern und parodistischen
dichtungen 'ein beschränktes dasein geführt hatte (s. 101 — 109).
auch jetzt wissen viele dichter mit ihm nichts rechtes anzufangen,
die alten motive und formen leben, meist nur wenig oder gar
nicht modificiert, wider auf (s. 110 — 115); andere aber suchen
neue technische lösungen, zunächst auf dem gebiet des dramas.
es gilt die Stileinheit der dichtung. in welche Umgebung muss
man diese figur setzen, damit sie nicht störend empfunden werde?
die traditionelle auffassung is.t denkbar für alle zeitlich nicht be-
stimmten oder nicht scharf umrissenen zustände der ferne und
weite in Vergangenheit und Zukunft, für die gegenwart wird
eine neue lösung gefunden, indem man das Ahasver-schicksal
von der person des ewigen Juden ablöst (s. 115 — 119); vor allem
geschieht dies in den dichtungen, welche der modernen juden-
frage gewidmet sind. (s. 129 — 124). aber es dringen auch neue
ideen in die Ahasversage ein, vor allem der grundgedanke des
19 jh.s, der entwicklungsgedanke. ein gedanke von aufpeitschen-
der wucht, wenn er brennende zeitfragen entscheiden soll : Indi-
viduum oder masse? selbsterlösung oder wellerlösung? von
ausgleichend beruhigender gröfse, wenn er zeillos als ewiges
weltgesetz erfasst und gefühlt wird, wenn der tod als lebens-
bildner erscheint, wenn Nietzsches lehre von der widerkehr des
gleichen zu einer mystischen anwendungdesentwicklungsgedankens
vertieft wird, entweder ist Ahasver der einzige, dem die Weiter-
entwicklung versagt ist, weil ihm der tod versagt ist (Wilbrandt),
oder er wird als immer widergeborener durch die Weltgeschichte
begleitet (Lienhard) (s. 124—134).
In den neunziger jähren dienen einige Ahasver-gedichle
ebenso der ausspräche neuer socialistischer tendenzen, wie das
in den vierziger jähren der fall war. Ahasver erscheint als die
düstere Verkörperung Jahrtausende alter Unterdrückung, als ein
hadernder forderer irdischer gerechtigkeit , als ein neuer weit-
]90 SOERGEL AHASVER-DICI1TU.\GE> SEIT GOETHE
erlöser, der an den menschen, an der erde scheitert, der endlich
selbst durch den schmerz erlöst wird (GHenner) (s. 135 — 141).
und schliefslich scheint er dem erdenfrohen geschlecht unserer
tage als ein treues kind der erde, als geniefsender und ent-
sagender, als ewiger mensch (s. 142 — 144).
Die rückschau auf die entvvicklung der sage in der dichtung
gibt kein einheitliches bild. denn schon die Stellung der dichter
zu dem stolfe ist eine zwiespältige, die einen begeistern sich
für den Stoff als ganzes, die andern für die person Ahasvers;
die einen schildern den demütigen sünder, über dem ein höherer
steht, die andern verherlichen den kühnen geist, der in sich
kraft und sehnen der neuen zeit verkörpert, ja ein neuer Ahasver
wird geschaffen, der ein mythisches symbol für werdendes dar-
stellen soll, und weil nur kleine ansalze zu neuem vorbanden
sind, wächst der eklekticismus überall riesengrofs. Ahasver
nimmt züge an von Kain und Judas, von Prometheus, von Faust
und Don Juan; vor allem von diesen beiden, mit denen man ihn
oft in heziehung gebracht hat. Goethes 'Faust' würkt inhaltlich
und formell auf die Ahasver-dichtungen ein und stellt sie in den
schatten, vor allem aber steht der ewige Jude selbst im schatten
des heilands. Ahasver kämpft auch in den dichtungen gegen
Christus einen vergeblichen kämpf, und weil das viele dichter
nicht erkennen, gehn sie in die irre. Goethe hätte ihnen den
weg weisen können : als er sich dem widerkehrenden heiland
zuwante, war sein interesse für Ahasver dabin (s. 145 — 150). —
Nach dem zu anfang aufgestellten programm wird in diesem
buche die sloffgeschichte ästhetischen und culturhistorischen in-
teressen dienstbar gemacht, viel mehr diesen als jenen, dass
dies im wesen des Stoffes ligt, hat Soergel selbst hervorgehoben,
trotzdem hätte ich gerne anders als nur gelegentlich die frage
erörtert gefunden, welchen dichlungsgaltungen und -formen,
welchen slilprincipien die sage leichter oder schwerer zugänglich
ist, wie ihre auf- und abnähme iu gewissen epocben der htteratur
mit formellen und stofflichen Vorlieben und abneigungen des
Zeitalters zusammenhängt, ausführlicher hätte ich es ferner gerne
behandelt gesehen, wie verwante Stoffe und motive sich in die
sage vom Ahasver drängen, ob nicht da und dort eine tradition
aufzudecken wäre — ob etwa die späteren Vergesellschaftungen
mit DonJuan und Faust auf Seligmann Heller (s. 98) oder auf
jene bemerkung Auerbachs über die drei Stoffe des Weltschmerzes
(s. 77) zurückgehn. der einfluss der sagengestalt und ihrer
dichterischen bearbeitungen auf ähnlich todessehnende wie den
fliegenden Holländer (vgl. s. 29, 77), auf wandernde menschen-
verächter wie Peter Schlemihl (vgl. s. 24) hätte heachlung ver-
dient, oft ist die analyse der besprochenen dichtungen allzu knapp,
das urteil allzu scharf. — all diese ausstelluugen sollen das lob
dieses überaus klar, mitunter glänzend geschriebeneu buches ebeuso-
SOEBGEL All.VSVER-DICHTL'.MJEN SEIT GOETHE 191
wenig schmälern, wie die kleine liste von ergänzungen und be-
richtigungen, besonders der bibliographie, die ich hier anfüge:
s. 23 : jemand gibt sich für den ewigen Juden aus (Franklin),
vgl. Prost s. 26; — daneben der echte Ahasver s. 46 (Laun);
zwei Ahasvere s. 85 (JGSeidl).
s. 29 : ein enge! als fluchverkünder (Schubart); vgl. s. 79
(Mosen) und RichWagner.
s. 52 : Ahasver folgt Kolumbus (Andersen); vgl. s. 92 (Croly).
s. 85 : Liederbuch dreier freunde. Kiel 1843.
Zur bibliographie:
nr46a : JohSchön, Ahasver, der ewige Jude, ballade.
Hormayrs archiv 1826 nr 55.
Es schreitet ein Schatten über Feld und Flulh,
Das ist Ahasverus, der exoige Jud;
Und xoie er schreitet, so schauerlich,
Da spricht er und singet leise für sich:
in der alten riesigen zeit, da hatte noch manches sein aug
erfreut, nun aber ist die weit verkrüppelt, sie möge vermodern :
'Vielleicht wird dein Todeshauch mich hefreyn
Von solchem erbärmlichen Seyn.'
So murmelt der Schatten, der tausend Jahr' alt,
Und leise zerflie/set die Nebelgestalt.
nr 52 : die Übersetzung von Kaiser in 4 bänden, 'aus dem
englischen übersetzt' (Rl. f. litter. unterh. 1830 nr 71).
nr 59 : Wilhelm Jemand nach Prost = VVDevrient; Lange-
wiesche sei der Verleger, vgl. Rl. f. litter. unterh. 1832. nr 129.
nr 65 : die Übersetzung Ludwigsburg 1834 besprochen:
Rl. f. litter. unterh. 1835 nr 106.
nr 69 a : Ernst Ortlep p, Rede des ewigen Juden, gehalten
zum neujahr 1836, zur beherzigung für Juden und Christen mit-
getheilt. nebst litb. porträt des ewigen Juden. Leipzig, Schäfer, gr. 8.
vgl. WHges, Ernst Ortlepp s. 94 f (gedieht).
nr 69 b : FTh Wangen heim, Die Perle von Zion. 2 bänd-
chen. Leipzig, Weber 1839 (roman). vgl. Rl. f. litter. unterh. 1840
nr 268 : veranlassung des romanes ist das demselben vorgedruckte
gedieht 'Ahasver' von LWihl (das Soergel nicht kennt, vgl. Prost
nr 36 (identisch?)) : es ist der versuch einer lösung der juden-
frage vom jüdischen standpunete aus. 'die mislichste ßgur im
buche ist Ahasver. der vf. hat symbol und würklichkeit so
ineinander gezerrt, dass er sich selber nicht herausfinden kann
und der Ahasver ein wahres unding geworden ist.'
nr 75 : nach Prost (nr 16) entstanden 1826.
nr 85a : Prost nr 27 : Duller, Erzählungen. Frankfurt a'M.
1838 i 51—86. Ahasver.
nr S6 : nach Prost (nr 20) entstanden 1S32.
nr 109 : proben schon Theaterzeitung 1844.
nr 110 : Christoph Kuffner.
192 SOERGEL AHASVER-D1CHTUNGEN SEIT GOETHE
nr 110a : Prost nr35: JNestroy Zwei ewige Juden und keiner,
u. d. t. Der fliegende Holländer zu fufs, zum ersten mal auf-
geführt Wien, Leopoldstädter theater, 5augustl846. über den
titel 'Zwei ewige Juden und keiner' vgl. Theaterzeitung 1846
nr 292. 293.
nr 110b : Eginhard [GFrhvBuschmann], Ein neues lied
vom alten Ahasver. Aurora, taschenbuch für das jähr 1848.
Wien, s. 219.
Ahasver, ein verfluchter geist, muss in menschenleiber fahren
und sie zu ihrem verderben beseelen, ein reines mädchen leistet
dem dämon, von dem sie besessen ist, widerstand. Ahasver flieht
ergrimmt in die wüste:
'Schaut, in geburtswehn hingestreckt am Niger
Ein tigerweib, und wird — zum jungen tiger.'
nr 149a: Julius Sturm, Ahasver (gedieht). Euphorion xiv 617.
nr 167 : vgl. Prost nr 57.
nr 186a : Prost nr 59 : OvSchaching, Der ewige Jude,
geschichte aus den bergen. Regensburg 1895.
nr 193 a : Prost nr 63 : KLandsteiner, Ein jünger Ahasvers.
Regensburg 1900 (roman).
Der mangel eines registers oder wenigstens verweisender
Seitenzahlen in der bibliographie erschwert die gelegentliche aus-
nutzung des gebotenen materials.
Wien, 17 october 1907. Stefan Hock.
Historische romane deutscher romantiker (Untersuchungen über den einfluss
Walter Scotts), von dr Karl Wenger. [= Untersuchungen zur
deutschen sprach- und litteraturgeschichte. hrsg. vonprof. dr OFWalzel.
7 heft.] Bern, AFranke, 1905. vii u. 122 ss. 8°. — 2,40 m.
'Walter Scott hat für Frankreich, im besonderen für die
französischen romantiker, fast eine grundlegende bedeutung erlangt,
für die deutschen romantiker dagegen kommt er wenig in betracht'
(s. 23). verlohnt es sich dann, über diese geringe bedeutung
Walter Scotts für die deutschen romantiker eine eigne Unter-
suchung anzustellen? aber ganz so undankbar war die aufgäbe
des vf.s denn doch nicht : in cap. 4 und 5 seiner arbeit macht
er immerhin ausätze zur Würdigung eines Verhältnisses WS.s
zu Arnim und namentlich zu Tieck. diese beiden capitel sind
zugleich die einzigen, in denen wenigstens hier und da der
versuch tieferen eindringens in Stoff und aufgäbe gemacht wird,
die drei vorhergehnden stellen leichtgearbeitete skizzen dar,
die in bequemem anschluss an jeweilige hervorragende gewährs-
männer mehr zusammenstellen als untersuchen, nicht grund-
los ist daher die Unzufriedenheit des vf.s mit sich selbst,
die in der misglückten rechtfertigung seines 'Schlusswortes'
zu tage tritt, auch wenn man meint : 'die behandlung des
WENT.ER HISTORISCHE ROMANE DEUTSCHER ROMANTIKER 193
einflusses WScotts kann beliebig weit fortgeführt werden' —
aber wird es nicht immer eine zeitliche grenze geben, jenseits
derer ein einfluss zum mindesten nicht mehr feststellbar wird? — ,
ist 'eine einheitlich abgeschlossene composition zu erstreben',
und gerade bei einer so einfachen fragestellung. die Wahrheit
ist, dass der vf. nicht streng bei seiner fragestellung geblieben
ist. handelt es sich darum zu eruieren, 'welchen anleil Walter
Scott an dem entstehen historischer romane deutscher romanliktr
genommen hat' (p. v), so ligt es nachher nicht 'in der nalur der
sache, dass wir gleichsam unter dem zeichen VVSc.s vorgegangen
sind', wodurcb 'eine breitere basis bedingt' (!), aber auch 'mancher
ausblick auf verwantes in der ausländischen litteratur eröffnet'
worden sei (schlussw. s. 122). warum bei der einreihung der
romane Fouques, Arnims und Tiecks in die Scottsche Bewe-
gung 'der nachdruck auf diesen dichtem selbst ruhen', warum
auf einmal 'ihre historischen erzähluugen auf ihren anleil an den
anschauungen der zeit im allgemeinen und an den verschiedenen
kunstübungen im besonderen geprüft werden' sollen (p. vi), ist
vollends nicht verständlich, die Verschiebung des themas in
der richtung auf allgemeine betrachtung der betr. romane
verrät sich schon in der fassung des doppellitels, den der vf.
dem buche Maigrons 'Le roman bistorique ä l'epoque romantique.
essai sur 1'influence de Walter Scott' unglücklich nachgebildet bat.
Einen unfreiwilligen essai sur 1'influence de Maigron könnte
man das erste capitel nennen, mit recht findet W., dass zunächst
'das originelle der Waverley-novels einer eingebnden Untersuchung
bedürfe', zu diesem zwecke 'stützt' er sich auf Maigron, dessen
aufschlussreiche Untersuchungen er sich kürzend, ändernd, ver-
gröbernd oft auch da zu eigen macht, wo er ihn nicht aus-
drücklich citiert. als beispiel diene die Charakteristik der
gestalten des 'Ivanhoe' aufs. 12 ff., des Sachsen Cedric, der Nor-
mannen, weltlicher wie geistlicher, vgl. etwa:
Wenger s. 13. Maigron p. 89.
So sind die weltlichen ver- L'Eglise n'est pas moius nette-
treter der Normannen, so sind meut caracterisße que la nob-
auch die mitglieder der kirche, lesse : c'est le prieur Aymer,
unter anderm Aymer, abb6 de abbe de Jorvaulx, coquet, mon-
Jorvaulx, ein koketter, weltlich dain et galant — —
gesinnter, galanter priester, fer- — — — — — — — — ;
uer der brutale, lasterhafte, c'est le templier Brian de Bois-
kynische und atheistische, dabei Guilbert, brutal, insolent, d6-
kühne und männliche templer baucht, cynique etath6e; c'est
Brian de Bois-Guilbert, und Friar Tuck, le plus joyeux des
endlich ganz anderer art und joyeux moines d'autrefois —
doch ähnlich Friar Tuck, der , plus intröpide ä vider
lebensfreudigste aller mönche, une bouteille en joyeuse com-
dem jagd und kämpf über messe- pagnie qu'ä dire son of-
194 WENGER HISTORISCHE ROMANE DEUTSCHER ROMANTIKER
lesen und beichtehören gehen fice et chanter matines — brave
und der mit den 'merry out- eladroitcomme un outlaw — etc.
laws' ein herz und eine seele ist.
Ungebührlich lange wörtliche citate aus Carlyle Critical and
miscellaneous essays iv, von denen aus Maigron zu schweigen,
helfen das capitel vervollständigen, das bild des romandichters
Walter Scott war, bei so guter filhrung, nicht zu verfehlen.
Das zweite capitel schildert die aufnähme Scotts in Deutsch-
land auf grund der recensionen in Menzels Litteraturblalt von
1817 bis 1827, zu denen äufserungen von Heine, Hauff, Grabbe
und Alexis treten, während die anonymen besprechungen des
litteraturblattes in lob und tadel grundsatzlos wechseln, in bezeich-
nendem gegensatz zu dem ein für allemal begeisterten lesepub-
licum, präcisiert Wolfgang Menzel zum ersten male (1827) das
verdienst WScotls als des begründers des modernen historischen
romans, in dem nicht mehr der ideale Charakter eines einzelnen,
sondern das volk, in einem bestimmten momente seiner geschicht-
lichen entwicklung aufgefasst, der eigentliche held sei. die poesie
der 'walterscottisierenden' romane ist 'demokratisch', entsprechend
der 'praktischen und politischen richtung des gegenwärtigen Zeit-
alters'. Heine verhält sich bezeichnend skeptisch gegenüber der
historischen Wahrheit Scotts. Hauff wendet sieb gegen die
deutschen massenfabrikanten historischer romane. Grabbeschimpft
über den vielschreiber und verkleinerer Napoleons, in der tiefe
begriffen hat den schottischen realisten nur sein wahrer jünger
Alexis, der in der tendenzfreien anschaulichkeit Scotts den 'quell
der wahren poesie' im historischen roman entdeckt (Wiener Jahr-
bücher der lilteratur 1821 und 1823). vou hier aus ergibt sich
mit leichtigkeit die formulierung des (vou vornherein klaren)
gegensatzes zwischen Scott und den romantikern (cap. 2,
abschn. n) : sind sie aristokratisch, philosophisch, ironisch, so ist
er demokratisch, problemlos realistisch, positiv, demgemäfs setzt
sich anfänglich sein publicum in erster linie aus den lesern
Lafontaines, Schröders, Ifflands, Kotzebues (und aus deneu der
ritter- und räuberromane!) zusammen, auf diese weise gewinnen
endlich die auf das historische gerichteten tendenzen des —
Sturmes und dranges das publicum der aufklärungslitteratur; denn
es ist der 'Götz', dessen zeitschilderung sich Scott schon in seiner
Jugendzeit, da er ihn übersetzte, zum entscheidenden vorbild nahm,
in seinen romanen erhält also Deutschland nach so vielen ungeniefs-
baren endlich, aus dem auslande, die reifen fruchte jener begei-
sterung für 'das mittelalter'. eine in den grundlinien gewis
richtige auffassung, die man nur viel energischer begründet
sehen möchte.
Dass der vagphantastische Fouqu6, in dem sich die ältere
richtung des historischen romans fortsetzt, von dem kraftvollen
realismus des Schotten nichts lernen konnte, ligt auf der band
WEISGER HISTORISCHE ROMANE DEUTSCHER ROMANTIKER 195
(cap. 3). gerade ihm muste Scott besonders schaden. — die
combinalion dieser tatsache mit den oben angeführten charakte-
ristischen äufserungeu Menzels hätte den gewiesenen ausgangs-
puoct für die erklärt! Dg der raschen einbürgerung Scotts in
Deutschland ergehen : die entschiedene Wandlung des poetisch'
phantastischen Interesses für eine reichlich litterarisch angeschaute
bistorie in ein realistisches, wissenschaftliches, modernes, in dem
sich der erwachende politische sinn der reactionszeit in all seinem
liberalen bildungseifer kundgibt.
Auch Ami m ist zu anders geartet und selhsteigeu, als dass ihn.
nach \Y., Scott hätte irgendwie tiefer beeinflussen können (cap. 4).
der ausführliche vergleich beider, den W. danach auf 27 Seiten
wegen des 'interesses' das er biete gibt, gehört also streng-
genommen nicht hierher, die novellen 'Der Pfalzgraf als Gold-
wäscher', 'Isabella von Ägypten', 'Die drei liebreichen Schwestern und
der glückliche Farber' nehmen sich zwar wie Vorbereitungen auf
den historischen roman aus; aber schon hier trennt eine störende
phautastik (\en romanliker, in dem doch so viel würklichkeitssinu
war, von dem schottischen realisteu. auch die eigne anschauung
Englands und Schottlands, speciell der highlands, bringt Arnim
Scott nicht näher : Zeugnisse dafür sind die 'Ehenschmiede' und
'Owen Tudor', die ganz in der allen art gehallen sind, da auch
die möglichen äufseren zusammenhänge zwischen beiden versagen,
müssen weiter innere aufgesucht werden, zu diesem zwecke
gibt W. eine eingehende analyse der 'Kronenwächter', deren
ausführlichkeit stellenweise den ausgangspunct vergessen lässt.
die mit den meinungen anderer zu reich verbrämte Untersuchung
ergibt schliefslich, wie nicht anders zu erwarten, die charakte-
ristische Verschiedenheit beider : 'Scott sagt uns, wie schön und
kraftvoll etwas ist, Arnim, wie schön und kraftvoll es ihm erscheint'
(s. 84). das steht alles schon kürzer bei Scherer, den \Y. nicht
verfehlt zu citieren. ich halte den gegeusatz für überschärft;
und ob nicht eine exactere Untersuchung doch berührungen in
den einzelmotiven ergeben würde, bleibt fraglich.
Klarer liegen die dinge bei Tieck (cap. 5). hier lässt sich
wenigstens etwas wie eine enlwicklung im Verhältnis zu YVScolt
feststellen, nicht übel charakterisiert W. die anfängliche gegeu-
sätzlichkeit der beiden, die er durch gegenüberstellnng des 'Auf-
ruhrs in den Cevenuen' und der 'Old Mortalily' erweist, als in
der verschiedenheil der naturen begründet : hier der einfache
darsteller, dort der philosophierende problem- und ideendichter
(also in andrer nuance nur wider dasselbe hindernis wie bei
Fouque und Arnim : die auf subjeclivität geradezu aufgebaute
romantische poesie und der Scottsche realismus passen eben von
vornherein nicht zu einander; was jedoch berührungen im ein-
zelnen keineswegs ausschliefst), die folgen für charakterzeichnung
und spräche werden treffend hervorgehoben, kräftigere indivi-
196 WENGER HISTORISCHE ROMAINE DEUTSCHER ROMANTIKER
duellere gestaltung, gröfseren realismus als im 'Aufruhr' meint
W., gewis mit recht, im 'Wiederkehrenden griechischen Kaiser'
und im 'Ilexensabbath' anzutreffen, eine Wandlung, die er in
erster linie dem einflusse Scotts zuschreiben zu dürfen glaubt:
hier fehlt eine genauere Untersuchung, noch nötiger wäre sie
bei 'Vittoria Accorombona' gewesen , dem alterswerke Tiecks, in
dem W. den höhepunct Scottscher einwürkung, einen veritabeln
'historischen roman im sinne Walter Scotts' erblickt (Manzoni
und die französischen romantiker, auf die W. aufserdem hinweist,
sind ja selber von Scott abhängig), hier ist mit allgemeinen
Würdigungen nichts getan. —
So hat man überall gelegenheit den mangel tieferen, wissen-
schaftlichen eindringens zu bedauern, wichtige zusammenhänge
nur 'anzutönen' (s. 114), sollte dem vf. nicht genügen, spuren
flüchtiger arbeit zeigt das ganze buch. WAIexis' wahrscheinlich un-
deutliche handschrift fordert ein spätes opfer, wenn ihm die' berühmte
mühle des Garbin o', in der 'die beiden der vorzeit zerschroten
und zermahlen werden', auf s. 46 im citat nachgedruckt wird
(nach Jahrbücher der litteratur 22 band [Wien 1823] s. 12);
es ist natürlich die litteraturmühle in Tiecks Zerbino gemeint,
die bequemlichkeit der Zusammenfassung älterer und jüugerer
romantik in 6inem satze sollte nicht dazu verführen, ua. den
brüdern Grimm (!) eine liebe zur deutschen Vergangenheit 'ihres
philosophischen gehaltes wegen' zuzuschreiben (s. 24). bequem-
lichkeit und mangel an niveau verrät die massenhaftigkeit der
citate, mangel an philologischer haltung bisweilen ihre auswahl
(zb. s. 115 : Wiese und Percopo 'Italienische lilteraturgeschichte').
Das buch kann nur als eine der genaueren nachprüfung
bedürftige vorstudie zu einer würklich ausgreifenden und ein-
schneidenden arbeit gelten, wie sie für Frankreich Maigron geleistet
hat. der einfluss Walter Scotts auf Deutschland ist zu diffus,
als dass hei der beschränkung des themas auf drei romantiker
viel herauskäme, isolierung in solchem falle ist methodisch verfehlt.
Göttingen. Walther Brecht.
LlTTERATURINOTIZEN.
Notkers mischprosa in seinem commentar zu den psalmen x — xx
und c — civ incl. von K. Schiffmann, (progr. d. gymu. in Urfahr,
1903). 29 ss. 8°. — der vf. hat während seiner Untersuchungen
mitten unter problemen gestanden, die uns immer zu schaffen
macheu werden, und hat sie uicht gesehen, weil er nur nach dem
ausgeschaut hat, worauf Junghans in seiner Berliner dissertation
über Willirams mischprosa (1893) und dann Seemüller in der
rec. dieser schrift (Auz. xxi 228) hinwies : 'von Notker ist Williram
jedenfalls beeinflusst . . . inwieweit in der Sprachmischung, das
ist noch gar nicht untersucht', mit der vorgefassten absieht das
SCHIFFMAISX NOTKEHS MISCHPROSA 197
zu suchen gieng der vi. aus : er setzt, um hierbei ja nicht das
ziel zu verfehlen, den von Junghans eingeschlagenen weg vom
ende zum Ursprung der mischprosa ängstlich fort und beob-
achtet die mischprosa nur da, wo sie Williram übernimmt, so
findet S. nur das was er sucht : Willirain ist in der mischprosa
von Notker beeinflusst. — hätte aber der vf, den tadel Seemüllers
gegen Junghans sich zu nutze gemacht, welcher bedauert, dass
Junghaus die mischprosa nicht zuerst bei Notker untersucht habe,
hätte er da angefangen, wo die mischprosa anfängt, und ihre
natürliche entwicklung vom Ursprünge aus verfolgt, so hätte er
vieles neue in der mischprosa gefunden und gesehen, dass Notkers
mischprosa ungleich reicher ist als die Willirams, dass sie für
seine zeit eine geniale erfindung, deshalb für uus 'ein historisch
gar uicbt leicht erklärliches' problem ist, während Williram davon
soviel sclavisch imitiert als ihm verständlich geworden ist, und
deshalb uns kein problem aufgibt. —
Als künstlerische principien der mischprosa findet der vf.
i. Verknüpfung von bild und deutung, begriff und erklärung,
H. ebenfalls Verknüpfung von bild und deutung, begriff und
erklärung (!), in. autilhese, iv. parallelismus. zwischen den formu-
lierungen der principien i und u ist kein unterschied einzusehen:
der vf. hat sie wol deshalb geschieden, weil er richtig fühlt, dass
er vielerlei unter der einheit eines princips zusammenfasst, was
innerlich verschieden ist. s. 4 — 16 sind teils beispiele für
Vulgatacitate, die gehören nicht eigentlich zum problem 'misch-
prosa', teils sogenannter Jargon, s. 26 — 28 folgen Functionen,
die der vf. für unerklärlich hält, da also der vf. mit den von
Junghans übernommenen principien nicht auskommt, so hätte er
nach einem weiteren und freieren Systeme von principien suchen
müssen, von den 14 seilen füllenden, unaufgeklärten functionen
sind 13 Seiten ohne weiteres durch künstlerische principien zu
erklären, welche für Notker originell sind und deshalb für den
vf. unauffindbar waren, der vf. sollte nur einmal die probe
machen, sein enges Schema auf den philosophisch pointierten Stil
im Boetius oder den künstlerisch pointierten stil im Marcianus
Capella anzuwenden : er käme in peinliche Verlegenheit, würde
dann aber mit dem durch umwege geschärften äuge in dem von
ihm untersuchten stück eine grolse zahl functionen finden, die
er übersehen hat. merkwürdigerweise erklärt sich eine anzahl
von den für den vf. unerklärlichen functionen sogar nach den
von ihm selbst aufgestellten principien : lux unde tenebre, altioris
loci unde inferioris, justi unde peccatores, preterilorum aide
futurorum ordnen sich in kalegorie m (gegensatz) ein, eine ganze
anzahl lallen unter kalegorie n (parallelismus). — innerhalb des
willkürlich beschränkten gesichtskreises zeigt der vf. ein aufmerk-
sames äuge, sonst hätte er folgende interessante feinheil nicht
entdeckt : 'bei der copula et ist eine Unterscheidung in der an-
19$ SCHIFFMANN NOTKERS MFSCHPROSA.
wendiing zu beobachten : sie trat lateinisch auf, wenn Notker die
beiden damit verbundenen begriffe als zusammmengehörig hin-
stellen, deutsch, wenn er sie scheiden will', hier ist der vf.
einem probleme einmal nahe gekommen.
Göttingen. Paul Uoffmamv.
L'originalite' de Gottfried de Strasbourg dans son poeme de Tristan
et Isolde. 6tiule de litterature comparee par F. Piqcet — Lille, au
siege de l'universiie, 1905 [Travaux et mömoires de l'univ. de
Lille, nouvelle serie i fascic. 5], 380 ss. 8°. — so lange wir
die einheitliche mittelalter-philologie noch nicht besitzen, nach
der gerade in jüngster zeit der ruf wider so laut erschallt,
werden wir jedesfalls unter ihren ansätzen die erneuerung der
alten zusammenhänge von deutscher und romanischer philologie
mit besonderer freude begrüfsen. die frage nach der Originalität
der mittelhochdeutschen dichtung bildet da den natürlichen
angelpunct. für die lyrik wird wol von seilen der metrik
aus eiu neuer angriff auf diese probleme erfolgen müssen —
der einzigen seite dichterischen Schaffens übrigens, auf die P.
in seiner so umsichtigen Würdigung des dichters Gottfried mit
keinem wort eingeht; für die epik hat naturgemä'fs die ver-
gleichung der gedichte gleichen inhalts den ausgangspunct zu bilden.
P. ist in diesem sinn bereits mit seiner bekannten Unter-
suchung über Hartman vAue hervorgetreten, er ist ein dankbarer
schüler Bediers, ohne deshalb seine Selbständigkeit dem lehrer
gegenüber zu verleugnen (vgl. s. 166. 274, 2. 276). mit einer
gründlichen kenntuis der litteratur und lebhaftem psychologischen
interesse vereinigt er eine klare ruhige darstellung; das haupt-
verdienst aber der arbeit ligt in der musterhaften Sorgfalt der
vergleichung, die keiner Schwierigkeit aus dem wege geht, sie
vielmehr eher aufsucht (übertrieben scheinen zb. die 'eHran-
geles' s. 101), und mit feinheit (s. 108. 160) und genauigkeit
(s. 113, 1), vor allem aber mit folgerechter logik (s. 77) über-
windet.
Wenn uuu trotz dieser exaclheit und trotz der rühmlichen
objectivität, die im gegensatz zu Gollhers viel oberflächlicheren
urteilen Thomas (s. 242. 249. 343) vielleicht zu gering einschätzt,
Gottfrieds bild (s. 313 f) fast als das eines französischen muster-
poeten hervortritt, so zeigt sich darin doch vielleicht auch die
grenze unserer aufnahmefähigkeit für fremde eigenheit. Gottfried
ist ein 'observateur' (s. 339) und besitzt ein 'talent de diseur'
(s. 19, vgl. 349). seine 'clarte' (s. 338) und sein 'rationalisme'
(s. 334) werden hervorgehoben, seine 'deMicatesse' (s. 56. 33. 207),
seine beachtung der deceoz (s. 328 uö.) , seine psychologischen
interessen (s. 73. 75. 342), sein 'lyrisme' (s. 348), seine neiguug
zum moralisieren (s. 345) betont, sein 'goüt du recherche7 (s. 121
vgl. 340) nicht verschwiegen, erhielten wir da nicht vollkommen
das porträt eines französischen classikers, wenn als deutsche eigen-
PIQUET GOTTFRIED DE STRASBOURG 199
heiten nicht etwa die 'sensibilil6' (s. 47) und der humor (s. 3 17)
übrig bleiben?
Nun ist ja sieber Gottfried der französischste unter unseren
epikern ; man braucht nicht einmal an seinen gegenpol Wolfram
zu denken (Gottfried als kriliker : s. 332. 36G und seine moder-
nitäl s. 330), sondern nur etwa an Veldeke, um eine entschiedene
innere 'verwälschung' des grofsen Elsässers zu erkennen, trotz-
dem bleibt es merkwürdig, wie wenig eine in allem sachlichen
abschliefsende kritik in der geistigen Würdigung unser 'Hoheslied
der liebe' ('passion' s. 317) von den verwanten dichtem abzuheben
vermocht hat. hätte P. die trefflichen auseinamlerselzungen ins-
besondere zur Zeichnung der Charaktere (s. 340 f; ßlancheflor s. 70,
der seneschall s. 194, Mariadoc s. 242, Brangäne s. 237, der bischof
s. 262,2) für die gesamtwürdigung stärker ins äuge gefasst, so
wäre das deutsche in Gottfried so stark hervorgetreten, wie beim
vergleich mit Eilhart (s. 307) und Hartman (s. 353) das dichterische.
In diesem herausarbeiten von Gottfrieds technik (zb. s. 93)
ligt die hauptbedeutung des werkes; kleinere hinweise auf bezie-
hungen zu minnesängern (Bligger? s. 287, Morungen? s. 299,1 ;
vgl. allg. s. 323) sind stärkeren einwänden ausgesetzt, die gesanit-
deutung des durchaus 'diesseitigen' dichlers (s. 94), der deshalb
doch entschieden religiös war (s. 324; die berühmte frage des
gottesgerichls s. 265. 326), wird kaum angefochten werden können.
Gottfried ist uns nicht mehr der laseive gottesspötter Lachmanus
(s. 360), nicht mehr der laseive pfaffenfeind Hermann Kurtzens
(s. 265) — sondern ein grofser dichter, der Gott als einen teil
der angebeteten weltschönheit liebte.
30 august 1907. Richard M. Meyer.
Der minnesang im lande Baden von Fridrich Pfaff. [Neujahrs-
blätter der Badischen historischen kommissiou, n. f. 11.] Heidel-
berg, Carl Winter, 1908. xxm u. 71 ss. 8°. 1,25 m. — das
lieft empfiehlt sich durch gute ausstattung und billigen preis
den freunden des deutschen altertums in Baden, für die es die
landsmännischen dichter des 13 jh.s bequem vereinigt, der Ver-
fasser, der früher ausgesprochene annexionsgelüste zeigte, hat
sich im entscheidenden moment doch zu bezähmen gewust:
er blickt zwar etwas wehmütig auf den Kürnberger und auf
Hartmann von Aue hinüber, die er gar zu gern im Breisgau
ansiedeln mochte, hat sich aber im übrigen darauf beschränkt,
den von Bartsch mit guten gründen im Aargau festgehaltenen
Heinrich von Tettiugen auf die badische seite des Bodensees
herüberzuholen; vielleicht hätte ihn RiVJiVIeyers kurze Charakte-
ristik des Säugers (ADB. 37, 592) zu nochmaligem überdenken
der frage gebracht, wenn er die Allgemeine deutsche biographie
überhaupt berücksichtigt hätte, die übrigen sieben poeten wird
man hrn Pfaff als badische landsleute wol unbedenklich zugestehn:
Wizzeulo, Biuno von Homberg, meister Walther vBreisach, ßrun-
200 PFAFF DER MINNESANG IM LANDE BADEN
wart vAugheim, Burkart vHohenfels, Hug vWerbenwag und wol
auch den 'von ßüchein'. obwol der mit dem preise des verstor-
benen letzten grafen von Calw nach der württembergischen seite
des Schwarzwalds zu weisen scheint, alle andern werden durch
umfang und wert der production weit überragt von ßurkart
vHohenfels, der freilich der interpretation, wie die bemühungen
P.s aufs neue zeigen, grofse Schwierigkeiten bereitet, leider wird
der reinliche gesamteindruck des büchleins bei näherem zusehen
bald zunichte : die texte sind voll verdriefslicher unsauberkeiten,
aus denen es geuügen wird ein paar derbe proben herauszu-
greifen. Horuberg i 5,4 lit st. lide; n 1,6 gegen si st. gegen ir. —
Buchheim n 1,2 du fröist alle diu vogellin st. aber! — Hohen-
fels x 2,2 strich st. streich; xi 5,2 seit st. sist. — Werben-
wag i 1,1 Wol mir hirte st. Wol mich hiute. dazu kommt eine
weitgehnde freizügigkeit der circumflexe und noch anderes uner-
freuliche, wie die überreiche und oft recht verkehrte inlerpunction
und die den verständigen gepflogenheiten aller herausgeber von lyri-
schen gedienten eigensinnig trotz bietenden capitälchen am satz-
anfang, die immerfort das bild des strophenbaus stören, wie
sich P. zu den von seinem lehrer Bartsch aufgestellten regeln
über den binuenreim stellt, hab ich hier so wenig wie in der
ausgäbe der grofsen Heidelberger liederhandschrift ermitteln
können, ein feines ohr für metrische dinge hat P. nicht : die
ausgäbe wimmelt von kleinen austöfsen, die sich leicht hätten
beheben lassen, mehr mühe hat sich P. in den anmerkungen
mit der erklärung des textes gegeben, aber auch hier fehlt es
nicht an versehen und Wunderlichkeiten , deren ärgste wol das
misverstehn des Sprichworts Hohenfels xvi 2,10 ist : Id sin : selbe
tete, selbe habe schreibt der herausgeber und danach inter-
pretiert er!
In der einleitung hat P. alles zusammengestellt, was ihm
an tatsachen und Zeugnissen zur geschichte der litterarischen
eultur am Oberrhein bekannt geworden ist. dabei wird (s. xvii)
dem Heinzelein vKonstanz noch immer die 'Miunelehre' zuge-
schrieben, die nur durch einen machtspruch Pfeiffers auf seinen
namen getauft wurde und jetzt längst als ein um reichlich ein
menschenalter älteres werk erkannt ist. E. S.
Les plus anciens imprimeurs ä Perouse 1471 — 1482 par H. 0. Lange
[sa. aus Oversigt over det Kgl. danske videnskabernes selskabs
forhandlinger 1907 nr. 6] s. 265 — 301. — den ausgangs- und
mittelpunct der interessanten, mit drei tafeln ausgestatteten
Studie des Kopenhagener oberbibliolhekars bildet der Ham-
burger Stephan Arndes, der 1486 nach Schleswig berufen
wurde, um dort das prächtige 'Missale Slesvicense' zu drucken,
und dessen weitere tätigkeit in Lübeck 1487 — 1519 (die aber hier
nur gestreift wird) auch für die niederdeutsche litteratur bedeutung
gewonnen hat. Lange ist es hauptsächlich um Arndes italienische
LAISGK LES PLUS AiSCIlilNS IMPIUMKUHS A PfcHOUSE 1471 14S2 2ül
frühzeit zu tun, welche die jähre 147t> — 1482 umspannt, seiue
nachforschungeu greit'eu jedoch bis auf die aufäuge des buch-
drucks in Perugia 1471 zurück und erörtert) zumeist dinge, die
unserem Leserkreis lern liegen, aher etwas das uus vielleicht
angeht, hab ich doch noch gefunden, im jähre 147(3 war m
Perugia als technisches mitglied einer buchhändlerischeu societäl,
welche den ersten druck des 'Digestuni vetus' zustaude brachte
(s. 28211), Henricus Clayn Svevus tätig, dessen coelandi scul-
pendique ars das druckwerk selbst rühmt; dieser schwäbische
typeuschneider nun heilst am schluss des druckes Ulmae vetustu
et nobilissima germanie civitate ortus, iu dem conlract aber welcher
das unternehmen begründete, wird er maestro Arigo genannt.
nun ist ja um d. j. 1473 in Ulm — s. t. aber sicher bei Johann
Zaiuer — die vielbehaudelleüecameroue-übersetzung eines Deutschen
Arigo erschienen, der sich längere zeit iu Italien aufgehalten
haben muss, und es ligt immerhin nahe, bei dem iu Perugia
1476 tätigen und (wie L. wahrscheinlich macht) uoch im gleichen
jähre dort an der pest verstorbenen meister des lypeuschnittes
an den deutschen Übersetzer des Boccaz und der Fiore di virtü
zu denken, so hätten wir denn glücklich neben den beiden
INürubergeru Heinrich Leubing (Drescher QF. 86) und Heinz
Schlüsselleider (Bäsecke Zs. 47, 191) einen dritten caudidalen!
dass dieser, Heinrich Clayn (Klein), als 'Ulmae civitate ortus'
bezeichnet wird, scheint freilich dem gesicherten nachweis Dreschers
zu widersprechen, dass in Arigos spräche bair.-fränk. demente
stecken, die auf Nürnberg hindeuten; aber wenn der zweifellose
Hamburger Stephan Arndes iu Perugia mehrfach als Stefano (oder
Stefano Aquila) da Magonza (1476 : s.28l. 1477 : s.285) erscheint,
offenbar weil er in Maiuz den buchdruck und den lellernschuitt
gelernt bat, von Mainz aus nach Italien gelangt ist, so könnte
man ähnliches auch für Heinrich Clayn annehmen, der in Ulm
schon ein paar jähre früher als in Nürnberg Gelegenheit halle,
sich mit der neuen kunst vertraut zu machen, auch dass die
entslehung der beiden Übersetzungen wesentlich früher fällt:
die der Blumen der lugend 1468 und die des Decamerone vor
dies jähr (Dreschers ansetzuug [s. 188| 'lim 1460' ist unnötig
früh gegriffen), macht die gleichsetzung nicht unmöglich, man
könnte sich den lebenslauf des nianues sehr wol so vorstellen:
der Nürnberger Heinrich Clayn — der familienname ist für Nürn-
berg gut bezeugt, fehlt aber auch in Ulm nicht — , der einen
teil seiner bildung in Italien empfangen uud von dort den namen
Arigo heimgebracht hatte, fertigt in den 1460 er jähren zwei
übersetzuugeu besonders beliebter italienischer werke an und
begibt sich damit nach Ulm, um sie durch den buchdruck zu
verbreiten — oder aber wird durch einen zufälligen aufenthalt
in Ulm und die bekannlschaft mit Johann Zainer auf diesen ge-
dauken gebracht, zunächst gelangt das aussichlsvollere dieser
A. F. 1). A. XXXI. 14
202 LANGE LES PLUS ANCIENS IMPRIMEURS A PEROUSE 1471 1482
werke zur drucklegung, der Decamerone : dass im kolophon
(geendet seliglichen zu Ulm) der name des druckers Johann
Zainer fehlt, der sich doch in (wahrscheinlich) dem gleichen
jähre 1473 zu Stainhöwels Übersetzung von 'De praeclaris mulie-
ribus' bekennt, könnte man geradezu auf einen persönlichen,
technischen und geschäftlichen anteil des autors deuten, der in
Ulm inzwischen selbst typenschnitt und buchdruck gelernt hatte,
der kostspielige foliant des Decamerone aber hatte nicht den
gewünschten erfolg, und Clayn, der das rege geistige leben der
italienischen Universitäten aus eigener anschauung kannte, begab
sich zum zweitenmal nach Italien, diesmal um als typenschneider
und typograph sein glück zu versuchen, aber bald nachdem er
in Perugia seinen rühm in dem ersten drucke des Digestum ver-
kündet hatte, ist er gestorben.
Ich vermute, dass ich nicht der erste bin der diese mög-
lichkeit ins äuge fasst, sondern dass der vf. der abhandlung,
die sonst für den germanisten nichts bietet, sie eben wegen
dieses Arigo von Ulm an uns gesandt hat. ich möchte nun
nicht etwa den wackern Schwaben Heinrich Clayn gleich mit festen
ansprüchen in die litteraturgeschichte einführen, sondern nur
wünschen , dass die von Bäsecke in aussieht gestellte prüfung
der aurechte Heinz Schlüsselfelders an dem neuen coneurrenten
nicht vorübergeh. mag auch die Umformung des namens Heinrich
in Arigo ganz und gar nichts aulfälliges haben : ein 1476 in
Italien auftauchender slempelschneider 'maestro Arigo' von Ulm
konnte diese kunst doch damals in Ulm nur bei Johann Zaiuer
gelernt haben, der bis 1482 der einzige typograph der schwäbischen
reichsstadt blieb und dessen officin man den Decamerone des
Arigo von 1473 zuschreiben muss. der vergleich der lettern
des Digestum-textes mit denen des Ulmer Boccaz (den unsere
bibliothek ja besitzt) ergibt freilich keine so enge verwantschaft
wie man sie erwartet, lässt aber doch immerhin die gleiche
Schulung des typenschneiders erkennen. E. S.
Fischarts anteil an dem gedieht 'Die Gelehrten die Verkehrten' von
Ernst Hampel. wissenschaftliche beilage zum Jahresbericht d.
städt. realgymn. zu Naumburg aS. Naumburg, HSieling, 1903.
72 ss. 8 °. — Fischart hat die Bewärung vnd Erklärung des Vralten
gemeynen Spruchworts : Die Gelehrten die Verkehrten 1584 neu
herausgegeben, zwar nennt er sich nicht als herausgeber, aber
in der Unterschrift der vorrede Immundi Fimus Gratia Mundi ist
sein name längst erkannt worden, die ausgäbe ist nicht einheit-
lich, sondern verbindet zwei gedichte, die schon 1866 von Scherer
in der einleitung der Fischartausgabe von Kurz bd ii p. xliv f erkannt
und ausgeschieden worden sind, das eigentliche gedieht über die
gelehrten die verkehrten umfasst nach ihm die verse 191 — 852
und 1662 — 1996, es wird unterbrochen durch etwa 800 verse
'vom glaubenszwang'. innerhalb dieses zweiten gedichts ent-
HAMPEL FISCHARTS ANTEIL AN 'DIE GELEHRTEN DIE VERKEHRTEN* 203
halten v. 12071V eine deutliche Verweisung auf die verse 1437.
1476. 1537 und 1560, das ist die wichtigste stütze für die auch
anderweit begründete meiuung Scherers, dass v. 1383 — 1661 vor
851 — 1382 gehören. H. scheidet nun aufgrund sorgfältiger und
erschöpfender beobachlungeu über reim, verschleifung und auf-
tact, ferner über lautliche und stilistische eigentümlichkeitdn aus
dem ersteu gediente zwei kürzere stücke aus: v. 208 — 659, die
die Verkehrtheit der gelehrten durch die Weltgeschichte verfolgen,
und v. 710 — 759, die die scholastische Spitzfindigkeit verspotten,
die beiden stücke sind mit litel, vorspruch und aufruckung am
eingang und der Verwahrung des autoris am ende des gedichts
Fischart zuzuschreiben, dessen art und stil sie unverkennbar
zeigen, dazu v. 1371 — 82, die von der zweiten zur ersten bälfte
des gedichts vom glaübenszwang überleiten sollen, entstellt hat
Fischart dies gedieht dadurch, dass er oder sein drucker den
epilog v. 1927 fl", der dessen erste bälfte bei v. 1370 abschliefsen
sollte, erst so viel später bringt (vgl. Englert Deutsche litteratur-
zeitung 1903, 24831' und Hauffen Euphorion 11, 549—555).
die gereimte inhaltsangabe ist das werk eines vom Urheber der
gedichte verschiedenen 'allen reimislen', das Fischart schon vor-
fand, alles andere, also das ganze gedieht über die dulduog und
der kern des gedichts über die gelehrten stammt von einem dichter
aus der ersten bälfte des 16 jli.s. zusammengefügt wurden beide
gedichte wol erst von Fischart. über die person des alten dichters
hat Scherer nichts näheres ermitteln können, und H. hat diese
frage nicht in den kreis seiner Untersuchung gezogen, das ist
zu bedauern, denn da der anteil des unbekannten Urhebers viel
gröfser und wertvoller ist als der Fischarls, darf die frage nach
seiner person das hauptinteresse beanspruchen, vielleicht gelingt
es wenigstens, den kreis näher zu bestimmen, dem der unbekannte
angehört.
Er dürfte nicht vor 1530 geschrieben haben, denn v. 1440 ff
Es will vnd muss jetz jeder man
Den Christen glauben nemmen an,
Wie es gebeut die Oberkeyt
scheinen sich gegen den grundsatz des Augsburger religionsfriedens
cuius regio eius religio zu wenden, auch v. 1250 f
So mag man auch in glaub ens sachen
Kein beständigen friden machen
werden auf den religionsfrieden zielen, in diese zeit passt auch
das urleil über die Türken v. 1658 f, denn das jähr 1529 be-
deutet ja einen hauptgipfel der türkischen macht, und damals wurde
auch ablassgeld für den Türkenkrieg gesammelt (v. 1679). der
dichter war schon nicht mehr ganz jung, sonst würde er sein
erstes gedieht kaum beginnen:
Ich hab bey allen meinen tagen
Vil ghort von Erfahrung sagen.
14*
204 HAMPEL FISCHARTS ANTEIL AK 'DIE GELEHRTEiS D[E VERKEHRTEN'
er decliniert v. 1518 Vom Sergio Paulo vnd Feiice die lateinischen
eigennamen richtig, führt v. 1588 Sueton an und verrät vielfach
geschichtliche und iheologische kenntnisse, die er wesentlich
gegen das papstlum gebraucht. er ist aber kein strenger
Lutheraner, sondern hat seinen eignen slandpuuct, den er v. 692 f
gegen das lutherische schriftprincip, v. 1072 f gegen Luthers auf-
fassuug der obrigkeit gellend macht, am kühnsten ist seine
äufserung v. 1 165 f
So man on das bekennet frey,
Das jedermans ding der glaub nit sey,
Das man dar zu soll niemandt zwingen,
Auch nit zum Sacramenten dringen.
wegen solcher ansichlen wird der Verfasser verketzert, wie der
alte reimist v. 146 f und er selbst v. 1737 f zu berichten weifs,
und da dies urteil allgemein gewesen sein dürfte, werden wir ihn
tatsächlich unter den 'rottengeistern und Schwärmern' zu suchen
haben.
Seine spräche ist alemannisch, woran reime wie Reich:
gewaltigklich 945, sich : Reich 1274, öffentlich : allzugleich 1171,
freund : sind 1403, feind : sind 1409, sein: dienerin 1564, sein:
gwinn 1965, nit : zeit 1684, darinnen : scheinen 1691, neut:
leut 1761, zeyt : neut 1769, Pollicey : Moysi 1020, vermischt : ist
1110, : list 1438, die Verwendung von gsein für gewesen 1417.
1559. 1612 und Schreibungen wie frischt 1186, minischien 1221
keinen zweifei lassen, von den alemannischen mundarten kennt
allein das elsässische das masculinum Wacke, das unser dichter
v. 1826 braucht, besser zu dieser landschaft als zur Schweiz
passt der ausdruck
On die (länder), so Königlich majestat
In kurtzer zeit erst funden hat,
der v. 1 399 f von Amerika gebraucht wird, der Wortschatz stimmt
zu dem Geilers, Murners, Paulis usw., zb. hässig 767, taxieren —
tadeln 775, rachtung 883, Mess 1 142, michel 1396, beleyden 1511,
Kib (Keib) 1698. 1953, nach der schwer 1721, Sacher 1782,
kümmerlich = kaum 1866. demnach dürfte der begabte und
gebildete Verfasser in den kreisen der Strafsburger Schwärmer zu
finden sein, vielleicht ist sein schwärmertum auch mit daran
schuld, dass sich seine gedichte aufser in der von Fischart ent-
stellten form, wie es scheint, nicht erhalten haben.
Freiburg i. Br. Alfred Gütze.
Savonarola in der deutschen lilteratur von Maria Brie. Breslau,
M. u. II. Marcus, 1903. 8° 96 ss. 3 m. — die arbeit Maria
Blies ist eine Heidelberger dissertation. die Verfasserin hat viel
fleifs und sorgsames Studium an die lösung ihrer aufgäbe ge-
wendet, stoff ist da in reichem mafse aufgespeichert und ge-
ordnet worden, freilich nicht gerade erquicklicher, sieht man
von Lenau ab, so haben deutsche dichter von grösserer be-
RRIE SAVONAROLA IM DKR DEUTSCHEN UTTKRATUR 205
deulung sich mit Savonarola nicht befasst. über Lenaus werk
ist aber in jüngster zeit viel gutes vorgebracht winden, unter
anderem auch von JRoustan (Lenau et son temps [Paris 1898J
p. 196 — 217), den die Verfasserin nicht nennt, gern lassen wir
uns von ihr ein gedieht des 16 jh.s vorlegen, das 1556 von
Cyriacus Spangenberg verölTentlicht worden ist (s. 11), oder die
urteile des 18 jhs. über Savonarola mitteilen, doch die dramen
von Auffenberg und Lohmann, das jugendwerk von Richard Voss,
der romau von KvRolanden bleiben uns auch nach der hier ge-
gebenen ausführlichen darlegung ziemlich gleichgültig. fallen
schon einige der genannten dichtungen in den rahmen aller-
neuesler litteratur, so gehören die dramen Wilhelm Uhdes (1901).
Wilhelm Weigands (1891), Ludwig Reibers (1900), Hepps (1898)!
Ernst Hammers (1899), Helenens von Willemoes-Suhm (1902)
und Raimunds von Leon (1902) einer so jungen phase deutscher
poesie an, dass man die knappe behandlung begreift, die die
Verfasserin ihnen zum überwiegenden teile hat aiigedeihen
lassen. Vollständigkeit erreicht zu haben beansprucht sie nicht,
verzeichnet vielmehr nachträglich s. 87 anm. 1 einige novellen,
in denen Savonarola mehr oder weniger bedeutsam in die hand-
lung eingreift und auf die sie inzwischen geslofsen sei:
von Frenzel, Isolde Kurz und E. von Tymens. abschließend be-
merkt sie: 'Seine endgültige gestaltung hat das sujet in Deutsch-
land jedesfalls noch nicht gefunden, während es in Frankreich
und in England in je einer hervorragenden dichtung behandelt
wurde', gemeint ist 'La Renaissance' von Gobineau (1876) und
'Romola' von George Eliot (1863). — Der anbang wirft einen
blick auf die controverse über Savonarola, die durch LPastor
1895 angeregt worden ist; ferner auf englische, belgische und
russische dichterische behandlungen des Stoffes.
Die einzelnen dichtungen, bei denen die monographie länger
verweilt, werden von der Verfasserin gleichmäßig in folgender
weise besprochen : sie giebt eine lange, wenig übersichtliche
inhaltsangabe, die — es handelt sich ja fast durchaus um dramen
— von act zu act vorwärtsschreitet, hie und da ist eine an-
m erkung oder ein urteil eingefügt, dann folgen quellennach-
weise, Charakteristiken einzelner gestallen und der ganzen auf-
fassung. besonders viel ist über das jugendstück von Richard
Voss gesagt, der selbst der Verfasserin mitteilungen hat zukommen
lassen (s. 62 anm. 1). leider stehn diese angaben etwas un-
verbunden nebeneinander, die Wandlungen, die in der erfassung
der renaissance während des 19 jh.s sich vollzogen haben, sind
viel zu wenig hervorgehoben; auch was über die 'moderne
renaissancebegeislerung' (s. 76 f) gesagt ist, bleibt an der ober-
flache, von JBurckhardt und von CFMeyer wäre mehr zu melden
gewesen; ich kann jetzt dafür auf OBIasers arbeit (lieft vm
meiner 'Untersuchungen') verweisen, wenn ferner das stück von
206 BONUS ISLÄ.NDERBUCH
RVoss, das 1S74 entstand, 1878 gedruckt wurde, würklich in
gar keinem zusammenhange mit FGregorovius 'Lucrezia Borgia'
v. j. 1874 steht, so hätte diese auffallende tatsache eine erwäh-
nung verdient. Oskar F. Walzel.
Kleine M i t t e il ü is g e n.
Chpistus dnd dieSamariterlv In der handschrift ist altes p des anlauts
widergegeben durch
th d d < t t
in v. 1—9 13 1 1 0
10— daz 13 b 1 5 1 2
thu 1 3 b — 1 8 a 9 0 0 [bistu Vo]
18b— 31 8 18 0 1 mal.
In der ersten und drillen gruppe fast nur das im 9/10 jh. frän-
kische th, in der zweiten fast nur d, in der letzten schwanken;
deutliche absätze in v. 10, 13, 18. und mit v. 10 und 18 stofsen
wir zugleich auf zwei gedrängte häufen sonst fehlender nicht-
fränkischer, alemannischer formen : kecprunnen 11 (neben quam,
quena 3, quecprunnan 14, quat 24), disiu, buzza, tiuf, Huf 12;
trinchü 19 (sonst ist k immer uuverschohen), pruslon 20 (sonst
ist b im reinen anlaut unverschoben), thicho 21.
Eine solche spräche, in der abwechselnd der eine und
dann der andere dialekt überwigt, kann weder ein individuum
noch das 'grenzgebiet' haben, es bleibt nur übrig, dass eine
von beiden mechanisch hineingetragen, dh. dass hier ein denkmal
des einen dialekts von einem Vertreter des andern mangelhaft
abgeschrieben ist; das abschreiben bestätigt v. 6 : er steht nach-
getragen und durch verweisungszeichen falsch bezogen am rande.
War aber das original fränkisch oder alemannisch, der
Schreiber (in Lorsch) Alemanne oder Franke?
Ich glaube das erste, schon aus lilterarischen gründen,
besonders aber wegen der beiden lesarten daz <C taz 5 und dir
<[ tir 11 : dem Schreiber war das th der vorläge fremd, er sprach
es sich wie t vor, schrieb t und besserte nach seinem dialekte.
das umgekehrte, dass die vorläge d hatte, ist nicht glaublich,
weil man das abspringen zu t nicht verstünde, indes sonst meist
th geschrieben ist. so erklärt sich auch die hauplcrux des
gedichtes, thicho 21 : der Schreiber kannte das wort nicht und
suchte es mundgerecht zu machen, indem er fälschlich den gut-
tural (gg, cg oder cc) wie in trinchü 19 verschob.
Jener Wechsel in der spräche bedeutet also : sorgfältiges
beginnen, ermatten, sichaufraffen, widerermatten, bis schliefslich
die formen des eignen dialektes regelloser überhandnehmen (libiti,
hebiti, hebitos, sichure, belolon, suohlon etc).
Ich kehre damit über Braune, Kugel, Müllenhoff, Lachmann
zu JGiimnis meinung zurück. Georg Baesecke.
KLEINE MITTEILUNGEN 207
Eirs Gleichzeitiges Volkslied auf die heilige Elisabeth. Das buch
von dr Albert lluyskeus: Quellenstudien zur geschiente der
hl. Elisabeth, laudgräfin von Thüringen (Marburg 1908), ein
wesentlich erweiterter abdruck der im Histor. Jahrbuch d. Görres-
gesellschaft bd 28 (1907) erschienenen kritischen jubiläumsartikel,
bietet für uns mehrfaches inleresse, besonders durch die wert-
vollen quellenpublicationen des anhangs. da ist zunächst die, wie
der Verfasser behauptet und ich vorläufig zu glauben geneigt bin,
älteste bisher zugängliche fassuug des am 1 jan. 1235a ufgenom-
meueu protocolls (s. 110 — 140), welches die aussagen der beiden
thüringischen bofdamen Isentrud von Hörselgau uud Guda und der
beiden Marburger mägde Irmiugard und Elisabeth über lebenswandel
und sterben ihrer herrin bietet, dieses protocoll und seine lose
litterarische Überarbeitung zum 'Buch der vier dienerinnen' bildet
die quellenmäfsige gruudlage für alle biographischen darstellungen
des 13 jh.s : für Caesarius vHeisterbach wie für Dietrich vApolda
und durch diesen wider für das umfangreiche oberhessische
gedieht. — von hohem culturgeschichtlichen werte sind sodann
die bisher nur zum kleinen teile bekannten protocollarischen
aufnahmen über die wunderbaren heilungen, die sich nach dem
tode der laudgräfin (17 uov. 1231) bis zum februar 1233 an
ihrem grabe oder sonst auf anrufung ihrer türbitte ereignet haben
(s. 151 resp. 161 — 241, weiteres 242 ff), hier finden wir nun
(s. 225) ein höchst merkwürdiges Zeugnis zur geschichte des
Volksliedes, und zwar ein Zeugnis von so urkundlicher bestimmt-
heit, wie die litteraturgeschichle nicht viele aufweist, eine arme
frau Mechthild aus Biedenkopf a. d. Lahn (ca 24 kilometer oberhalb
Marburg) war im sept. 1232 wegen eines blinden auges zum
grabe der landgräfin gewallfahrt — mit einem recht zweifel-
haften erfolg, der sie zu hause dem gespütte preisgab : das kranke
linke äuge wurde sehend, aber das rechte verlor sein licht, dann
hat sie sich am 12 Januar 1233 noch einmal auf den weg naen
Marburg gemacht und auf wunderbare weise unterwegs oder in
Marburg selbst — das ergibt die aussage nicht deutlich — die
Sehkraft auf beiden äugen widererlangt: . . . audivit homines
cantantes Teutonice de separatione flebili Eflyzabet ]
et mariti sui Ludewici lantgravii in terram satictam
ituri. Quo audito predieta Mahthildis mola est ad lacrimas, et
cum lacrimaretur, visum oculi reeepit et nunc cum utroque oculo
videt clare.
Der herausgeber, der s. 91 f dies lied gern unter die quellen
der Elisabethlegende aufnehmen möchte, hebt hervor, dass die
trennungs-scene aus d. j. 1227, welcher es galt, schon in den
ältesten litterarischen wie künstlerischen darstellungen des lebens
der heiligen mit Vorliebe behandelt wird : er möchte dies auf das
lied direct zurückführen und glaubt spuren davon auch bei Dietrich
vApolda und Friedrich Ködiz widerzufinden. bei Dietrich irrt
208 KLEINE MITTEILUNGEN
er sich (s. u.), für Köditz aber (s. 57, vgl. Bechstein s. 140) wird
er recht behalten; ich ciliere aus ihm ohne änderung:
Ir ein daz ander nmbeving
gar frnntlich da mit armen,
groz jamer durch ir herze ging:
wen sold diz nicht erbarmen? —
ez wordin auch zere
vergozzin vil mere
den ich nu sprechen wel.
gleich hier im eingang der unhewuste eiofluss des tageliedes,
den wir im volksliede so oft wahrnehmen.
An dem bericht interessiert uns dreierlei : 1) das Zeugnis
für ein historisches lied an sich, denn derartige nachrichten, im
10 u. 11 jh. recht zahlreich, versiegen im 12 u. 13 jh. fast ganz;
2) die tatsache, dass dies offenhar von leuteo aus dem volke
gesungen, nicht etwa von einem spielmann vorgetragen wurde;
3) der stark lyrische Charakter und die gefühlsweichheit der dich-
tung und damit die Wahrscheinlichkeit, dass der minnesang schon
damals auf das Volkslied hinüberzuwürken begonnen hatte, dazu
kommt dann weiter der interessante umstand, dass derselbe Vor-
gang gleichzeitig von einem lateinischen dichter in der vaganten-
strophe behandelt worden ist. denn die 6x4 reimverse bei
DvApolda I. iv c. 2 (Canisius Lect. ant. v 177) sind nicht ein
'nachklang des deutschen Volksliedes', sondern das fragment eines
selbständigen latein. gedichtes, aus dem schon unmittelbar vorher
eine Strophe citiert ist. E. S.
Zu Zeitschr. 48, 187 ff [Heliand], Ernst Kock füllt mehrere Seiten mit
belegen für den parallelismus von Substantiv und satz im Heliand.
ist es wol sehr unbescheiden, wenn ich der meinung bin, dass
sich Kock vorher in meiner Heliandsyntax, zb. § 508 und 518,
hätte umsehen dürfen, vielleicht auch in meinen 'Modi im Heliand',
§ 14? in beiden schritten stehn zahlreiche belege für die von
ihm behandelte erscheinung; in den 'Modi' ist ihr eine besondere
zusammenfassende darstelluug gewidmet. 0. Behaghel.
Zu Zeitschr. 49, 239 ff [Ragnarökj. Björn Magnüsson Olsen macht
mich freundlichst darauf aufmerksam, dass ich an drei stellen
meines aufsatzes 'Ragnarök in der Völuspa' seine ansichten nicht
richtig widergegeben habe, ich berichtige diese bedauerlichen
irrtümer um so lieber, als in zwei fällen meine eigene auffassung
dadurch eine willkommene stütze erhält : s. 267 war nämlich
angegeben worden, dass Olsen die worte mono systrungar sifjom
spilla auf die verbotene verwantenehe beziehe, während er sie
tatsächlich ungefähr wie Müllenhoff und ich selbst versteht, ab-
weichend nur eine anspielung auf ein im jähre 997 ergangenes
gesetz in ihnen sieht (Um Kristnitökuna s. 23 f). ebenso ist
Olsen nicht, wie s. 268 angegeben war, gegen, sondern ebenso
wie ich, für die beibehaltung der Valistrophe R 33, 3. 4. 34,
KLEB« MITTEILUNGEN 209
1. 2 (Timarit 15, 83 0- »m dritten fall ist (s. 248) v. 66 mit zu
den visur gerechnet worden, die Olsen auf die widerkehr Christi
und das jüngste gericht bezieht, wahrend sie für ihn den epilog
des gedichtes darstellt (Timarit 16, 80 — 82). auf alle drei puncte
denke ich übrigens in einer späteren arbeit über den dichterischen
Vorwurf der Völuspa, die meinen ersten aufsatz ergänzen und
vervollständigen soll, so wieso noch eingehender zurückzukommen.
Berlin, d. 27 febr. 08. Felix Niedner.
Zu Zeitschr. 49, 395 [Eckart], verdriefslicher weise ist es mir ent-
gangen, dass die erste der beiden als ungedruckt bezeichneten
mystikerreden bereits bei FPfeiffer Deutsche mystiker u 38—42 als
nr vii der predigten meister Eckarts gedruckt steht; sie hat hier das
textwort : Vtdete qualem charitatem dedit nobis pater, nt filii dei
nominemur et simus (Jo. Ep. i 3, 1). M. Pahncke.
Zum Anzeiger oben s. 149. die hier besprochene publication von
Paul Heitz über die Ho hkü nigsbu rg ist bereits iu einer
2 aufläge erschienen (ebda 1908) : vermehrt um eine vergröfserte
abbildung des Stiches vom j. 1633, der nun mit der behaupteten
und bestrittenen abbildung der altern bürg aufs bequemste ver-
glichen werden kann, die gegenüberstellung ist wol geeignet
die these von Heitz zu stützen, dass der holzschneider von ca
1530 ein würkliches porträt der bürg habe geben wollen, hat
H. selbst nie behauptet, dass ihm aber bei der krönung seines
landschaftlichen hintergrundes die Hohkönigsburg vorgeschwebt
habe, ist das mindeste was man H. wird zugestehu müssen,
indem ich mich so abermals für den wert des fundes ausspreche,
muss ich es doch bestimmt ablehnen, wenn einzelne stimmen in
tageszeitungen und touristenblättern mich oder die Zeitschrift als
autorität in einer frage citiert haben, in der ich lediglich als ein
parteiloser beschauer mit dem interesse des alten Strafsburger
Studenten referieren wollte. — der hauptzweck meines referats
ist bisher nicht erreicht worden : die satirische darstellung des
grofsen holzschnitts hat noch immer keine erklärung gefunden.
E. Schröder.
Personalnotizen.
In der nacht zum 21 Januar 1908 starb im 60 lebensjahre der
ord. professor der vergleichenden Sprachforschung an der Univer-
sität Strafsburg dr Heinrich Hübschmann.
Am 3 februar 1908 verschied in Utrecht 60jährig der pro-
fessor dr Hendrik Johan Gallee, der in unermüdlicher, opfer-
freudiger hingäbe der niederdeutschen Sprachforschung und später-
hin besonders der geschichte des niederländischen Volkstums ge-
dient hat.
Am 12 februar ist im alter von 70 jähren zu Freiburg i. Br.
professor Elard Hugo Meyer gestorben, der, seit er 1876 die
210 l'ERSONALNOTIZEN
vierte ausgäbe von Jacob Grimms Deutseber mytbologie besorgt
hat, ganz der erforschung und darstellung der germanischen
und vergleichenden mytbologie sowie, mit unbestrittenen Ver-
diensten, der deutschen Volkskunde zugewant war.
Zu ao. professoren der deutscheu philologie wurden ernaunt:
der ao. honorarprofessor dr K. Drescher in Breslau und der
privaldocent dr Fr. v. d. Leyen an der Universität München; eine
ao. professur der vergleichenden Sprachwissenschaft wurde dem
tit. ao. professor dr A. Walde in Innsbruck übertragen, an der
technischen hochschule zu Dresden wurde der bisherige privat-
docent Oberlehrer dr K. Reuschel zum ao. professor für deutsche
spräche und litteratur befördert.
An der Universität Halle hat sich dr Kürt Jahn, an der Uni-
versität Zürich dr Rudolf Pestalozzi für deutsche philologie, an
der Universität Wien prof. dr Eduard Castle für neuere deutsche
litteraturgesebichte habilitiert.
REGISTER
Die zahlen, vor denen ein A steht, beziehen sich auf die seiten des Anzeigers,
die übrigen auf die Zeitschrift.
Abälard, 'Ad Astralabium' 407; 'Sic
et non' 415; versühnungslehre 432;
rechtfertigung 452
aeidia 444. 463«
Adelard vBath, 'De eodem etdiverso':
der christliche dualismus 108
• Ad hoc festum venia' 190 (str. 3)
adverbia zu adj. -ag und -ig 520 f;
adv. -leiko, -licho 525 ff. 539
'Aesluans inlrinsecus 190
-ag, bildungssilbe, herkunft und be-
deulung 4S5 — 506
*agan germ. 4S9 1
-ah neben -ag 492 11"
Ahasver, s. ewiger Jude
ai, got. =e A 5; — synkope im
allnord. 314 11
Alanus de lnsulis, 'Summa de arte
praedicat.' 410.455; 'Liber poeni-
lent.' 433. 441 f. 442. 443. 448;
'De temperantia vel modestia' 437;
seine philosophie 460
'Altercatio vini et cerevisiae' 199
Kv Ammenhausen, 'Schachzabel buch'
4283 : 428
iAmore summt iudicis' 234
Andreas Cappellanus 414
anemäl 356
Angilberl auf die Schlacht von Fon-
lenay A 145 f
Ansila A 106 f
aidlimallus 324. 331 1F
Antichrist s. 'Gomoedia'
anlithese 412. 461
'Apocalypsis Goliardorum' 222
DvApolda A 207 f
Archipoeta, 'Comoedia goliardorum'
(Generalbeichte) 185. 190; A 14s
Ari u. 'Kristnisaga' A 112 f
Aiigo A 201 f
Aristoteles, tugendlehre 436
SlArndes A 200
Av Arnim u. WScott A 195
Asdingi s. Hasdingi
ästhetik d. 18 jh.s A 40 ff
'■A laaro lorrida' 222
Altila u. die Nibelungensage A 100
au gol. =o A 4 f
HvAue, prologe 419; viäze 438;
askese des Gregorius 445; der hl.
geist im aHeinrich 460
Augustinus, 'Soliloquien' 412; pre-
digten 415; 'Enchiridiou' 447 f
ßalder in elsäss. Ortsnamen 481
'Baldrs draumar' 295, der Baldr-
mythus 296 f
Bandinus 433
beichtbücher 428. 433. 442. 444
Benedict v Aniane, regelbücher A 120 f
Benedictinerregel A 121
Beowulf : Wortstellung A 65 ff; be-
vorzugte wortclassen A 67 f ; —
interpolationen? A 67 f
Beranger u. die deutsche litt. A 143
Berthold, der Übersetzer der 'Summa
confessorum' A 23
Berthold s. Begensburg
Bettina vArnim, briefe an k. Friedrich
Wilhelm iv uaa. A 61 ff
bewerrd A 24
bilduogssilben -ag, -ig, -lik. herkunft
u. bedeutung 485 — 540 (Inhalts-
übersicht 540)
Biskupa sögur A 113
böhmische kanzleisprache A 177 ff
'Botschaft d. gemahls' A 167 ff
Bress und Ty A 154 f
Brünhild, ihre erlösung, Siegfried»
Verhältnis zu ihr A 79 ff". 86 ff ; ihr
walkürencharakter A 90; ihre Ver-
mahlung A 92 ff. 971
Brünhildenstein,Brünhildenstuhl480ff
Brunoldessluol 482 f
Burguuden, sind sie Lygier? A 103;
— in der Nibelungensage A 103
G. frhr vBuschmann A 192
bufsordnungen 435. 442
'Castigatio presbyterorum' 206
'Gato' nihd., prolog 418
Chalmout (Nannenstöl) 475 ff
Chamisso A 139 ff; beziehungen zum
Volkslied A 140, zur Julirevolution
A 142
Chicago, Sprachmischung A 54 f
Chrestien vTroyes, prieslerverehrung
im Perceval 446; mangel an selbst-
beherschung bei Erec u. Yvain 464
'Christherre - chronik', bruchst. aus
Posen 381
'Christus und die Samariterin' A 206
Bernhard vClairvaux, 'Tract. de in-
teriori domo' 409. 432 f; 'Tract.
de gradibus humilitatis' 411; pre-
digt 415; 'De modo bene vivendi'
416. 435. 444; 'De ordine vitae
212
REGISTEK
437; 'Liber ad sororem' 442; 'De
gralia et libero arbitrio' 451; 'Ex-
hortalio ad milites templi' 453;
christlicher ritter 459
HGlayn s. Arigo
'Comoedia de adventu Antichristi' 235
'Comoedia goliardorum' s. Archipoeta
'Comoedia magistralis redarguens vi-
tia' 236
composita, unechte nord. A 9
'•Cum ad verum ventum est' 213
'Cunctipotens genitor' 229
'Cur ultra studeam' 20S
'Deors klage' str. 3 : A 169 f
WDilthey A 136 f
dinge (guter dinge) = gedinge A 56
'Dives er am et dilectus' 217
'Doclor, ave, /los doctorum' 193
drachenkampf Siegfrieds A 78. 84 ff,
Sigmunds A 86
drama d. 19 jh.s, deutsches A 150
dreikönigsfeier aus Lambach A 14 ff
drjüpa A 112
ADürer, hl. Hieronymus und Melan-
cholia 465
RvDurne, 'hlGeorg' : slcete u. unslmte
412; mäze und kiusche 438
eb 'ehe' A 58
Eckart 404. A 209
Eckermann, s. redaction der aufzeich-
nungen Sorels A 43 ff, verlässlich-
keit s. Unterhaltungen m. Goethe
A 44 ff, redigiert äufserungen über
Schiller A 44 ff
edda aisl. 'urgrofsmutter' 314
Edda, s. Ragnarök, Vegtamskvida,
Völuspa
'Ego dixi: dii estis' 182
-eig, got. bildungen 518 ff
einag 501 ff
einig 515 f
eisenhut A 130
'Eliconis rivulo' 236
SElisabeth, gleichzeitiges Volkslied
A 207
Elisabeth vüngarn, Tösser vita A 22 ;
todeslag A 23
WvElmendorf 407. 428. 437
RvEms, 'Willehalm', prolog 419;
'Barlaam', 'Weltchronik1, prologe
460; 'gGerhard', epilog 419
'Erlösung' nach dem muster einer
theologischen 'Summa' aufgebaut
434. }
'hErnst' B, prolog 417
WvEschenbach, ethik 405—465;
Parzival einleitung406 — 424; buch
ix 422—449; Willehalm (ethik)
458—462. 415. 439 f; Titurel
(ethik) 462 f. 440; — Parz. 6, 19
(hantgemailde) 351; Parz. 399, 4 :
467; — bruchst. d. Parzival aus
Tübingen 123; bruchst. d. Wille-
halm aus Arolsen 462
UvEschenbach, spräche A 176
'Evangelium de illo qui incidit in
lalrones' 196
ewig, ewinig 516
AvEyb, 'Sittenspiegel': Petrus als
Zweifler 415
Ezzolied eine theologische Summa 434
f bei Ulfila A 2
Fenri A 160 f
fimbulvetr A 156 ff
Fischarts anteil an 'Die gelehrten die
verkehrten' A 202
KFlecke 'Flore' , prolog 420
Fouque u. WScott A 194 f
PhFrankfurler A 180 ff
fransmütikait A 24
fralze A 55 f
frauengebete, mhd. d. 12 jh.s aus
Upsala 363
Freidank slwle 406; anapher 433;
über die erkenntnis 433; eine
theologische Summa 434 ; diu mäze
438; richterliches standesbewust-
sein 456
'Friedrich von Schwaben' A 19
f'ustüch im fluch A 23
Geät A 170 f
'Genesis',Vorauer: hanlgemahele 349
genitherit anfrk A 10 f
JGeiler, 'Granatapfel' : Petrus als
Zweifler 415
gi hörig 517 f
genron 'generale' A 11
'Glaube u. beichte', Wessobrunner
411; Bamberger 411 ; Würzburger
448; Baierische 448; Benedict-
beurer i, n u. m 448; SGaller 448;
Münchener 448.
gleitlaute zw. vocal u. ;•, / A 8
Goethes Unterhaltungen m. Soret A
43 ff; äufserungen über Schiller A
44 ff ; — Faust u. Parzival 465
gotische Orthographie (u. alphabel)
A 2 ff; syntaktisches A 6f; —
Wortbildung s. -ag, -ah, -eig, -leik
götlerschlachten A 84 f
Grane A 88 f
iGratuletur omnis ?nundus' 192
WvGravenberg, 'Wigalois': prolog
IlKGISTEn
213
418 ; ritterliches standesbewustsein
456; — fragm. aus Göttingen 298 ff
AGryphius, darstellung des todes A
35 ff
guallih < guatlih 530
Gudrun in d. Nibelungensage A 99
Gullveig-Heid-Freyja 282 ff. 290
Gundestrup, silberkessel A 157
Günther in d. Nibelungensage A 99
Hagen in d. Nibelungensage A 98 f
AvHaller, 'Alpen' : überden Staubbach
A 59
Hamlet, s. krankheit die 'acidia' 465
handgemal32l— 362; litteratur 321 ff;
sprachliches 324 ff; sachliches
330 ff: bei den Langobarden 331 ff,
bei den Sachsen (Thüringern) 334 ff,
bei den Baiern 338 ff; handgemal
und Schwurbruderschaft 357 ff
handmahal as. 334 ff
handschriften aus Arolsen 159. 462;
Bern A 148; SGallen 395. A 148;
Göttingen 298; Heidelberg A 127;
Herdringen 161; Lambach A 14;
Melk A 20; Münster i. W. 135;
Posen 381 ; Stockholm 376; Tü-
bingen 123; Upsala 363; Zürich
A 147 f
hantgemäl, hanlgemcele 327
hanlgimahili 327 ff
hantmdl 356
Harris, einfluss auf MMendelssohn A42
Hasdingi A 103 ff. 105f
BHaym A 132 ff
Hebbel A 151 f; materialien A 60
hebig 516 f
heilag 497 ff
Heime in d. Siegfriedsage A 89
heldenlied, Vortragsweise A 114
Heliand, adjectiva -ag 496, -ig, -lik
534 ff; — parallelismus v. subst.
u. satz A 210; — handmahal
334 ff; — gestalt d. miles christi-
anus 429
heraldik, frühe in d. Schweiz A 123ff
Hildebert vLe Mans (?), 'Aloralis phi-
losophia' 407
BvHohenfels A 200
Hohkönigsburg A 149. 209.
BvHolle, 'Crane' und 'Demantin', pro-
loge 420
hornhaut Siegfrieds A 24
brHugo der provincial A 24
Hugo vSVictor: 'Arbor virtutum' 410.
428. 444 'De fructibus carnis et
Spiritus' 374
'Hunsjrvaka', handschr. A 107f. H2ff
tu bei Ulfila A 2
Mun-mythus A 159
-ig, bildungssilbe, herkunft u. be-
deutung 506 — 521
■iglih 538 f
Ingeld, Ingillos A 106
'Invectio contra sacerdotes' 187
'Invectio contra praelatos' 188
io und io westnord. A 8
Iren, ihre gelehrsamkeit A 117 f
irische mythologie, einflösse auf die
deutsche? A 154 ff
NvJeroschin, spräche A 177
Johannes Scottus A 119
jude, dichtungen über den ewigen,
A 183—192
junges Deutschland A 141 f
'Kaiserchronik', prolog 417; —
v. 7136ff : 354. 362
'pfvKalenberg' A 179 (T; Überlieferung
A 180 f; krit. Grundsätze A 181 ff;
metrik A 181 ff
katechismen, katholische 444
Kelten in Deutschland A 143 f
'Klage der frau' A 167 ff
FKödiz A 207 f
Kriemhildenstein 484
Kiiemhildenstuhl 483 f
'Kristnisaga' A 107 ff. 109; cap. 5:
A 110; cap. 18 : 113
HvKrölwitz, 'Vater unser' ; ellliche
untreue 415; prolog 460
Krumholzerstuhl 483 f
Kyot eine erfindung Wolframs 464
Lactanz, Sibylle 432
Lamprecht,'Alexander' 1401ff. 1421 ff:
467
Langobardensage A 102
Leberau, Schenkungsurkunde v.j. 774:
469 ff
'Lectio sancli evangelii' 197
-leih got. s. -Uli
leudi barbari 311 f
'Lex salica', langobard. extravaganten
324. 331 ff
UvLichtenstein als lyriker 1 — 122
(Inhaltsverzeichnis 122)
-lih, bildungssilbe, ihre herkunft u.
bedeutung 521 — 540
-lik, s. lih
'■Ludens ludis miscebo seria' 200
'Ludwigslied', Ludwig in. als christ-
licher ritter 430
MLuther, predigten d. jj. 1522. 1530:
A 25 ff; der angebl. brief von der
Wartburg A 26 ff; verhalten der
predigtdrucke zur lebendigen rede
A 28 f. 'Feine chiistl. gedanken
214
REGISTER
der alten heiligen väter* A 29 f;
verlässlichkeit der nachschriften
L.scher predigten u. gespräche
A 32 ff. — Tischreden in der Ma-
thesischen Sammlung A 32 ff
Lutwin : 'Adam u. Eva', prolog 420
Mädhild A 170
magierspiele A 12
rnalial ahd. 326
malhe 157
malhis 326
'Alanessische hs.' A 127
rnapl got. 326
mäze 438
Diu Mäze, mhd. gedieht, Sitten-
lehre für männer und flauen 421
Joh. Meier A 21
MMendelsohn u. die deutsche ästhe-
tik A 39 ff; einfluss Shaftesburys
A 40 ff; einfluss auf Moritz A 41 f;
beziehungen zu Bodmer n. Conti
A 42
WMenzel A 141 f
Midgardschlange A 161 ff
midjasveipains A 162
miles christianus 429. 447. 453. 455.
459
Mims hofop, Mims syner 277
'Der Minne Fürgedank', stwte und
unstwte 411
Mitothinus A 156
modag 503 ff
'Moralis philosophia' 407. 437. 456
EMörike, 'Maler Nolten' A 54
KPhMoritz s. Shaftesbury A 41 ff
KvMure, 'Clipearius Teutonicorum'
A 127 ff
Muspells söhne 273 ff
muspilli A 57 f
myrrhenbüschel, vierzig A 23
mystikerreden aus SGallen 395. A209
Aanna 477 ff
Nannenstein 481
JSannenstol 469 ff
vNeuenstadt, 'Gottes Zukunft' ist
nach dem muster einer theolo-
gischen 'Summa' aufgebaut 434;
prolog 460
Nibelungensage A 77 — 102; histor.
demente A 100 f; die Nibelungen
in der N.-sage A 101 f
Nithart, 'Historiarum libri rv' A 144;
nonnenklöster in karoling. zeit 309 ff
Notker m, mischprosa A 196
ob = e A 58
EvOberg, 'Tristrant'
prolog 417
Odoakerdichtung, ags.? A 163—174;
Odoakersage? A\168. 170 f
ogan got. 489 f
'Olafssaga Tryggvas.', verhälln. z.
'Krisinisaga' A 110
Orthographie, mhd. A 18 ff
Ostgermanen, ihre herkunft A 102
otag 497 ff
Otfrid, adj. -ag 496, -ig 509 ff, -lih
257 ff; — 'ad Ludovicum' : k. Lud-
wig als David 430
Ov(><piXa, s. Ulfila
Parma, 'De victoria Parmensi' 211
participialconstructioneD, got. A 7
Parzival, s. Jugend u. Siegfrieds
jugend A 89 n.
Passional i, Arolser bruchstück 159
Pelagius A 118
Petrarca, weitschmerz 465
Petrus, apostel, als Zweifler 415
Petrus Lombardus, sentenzen 433.
435. 444. 447 f
Plato, Timäus 408; PI. als prophet
432. 460; die drei giofsen guter
456
Pleier, 'Meleranz', prolog 420
Prädestination 453
Primas, 'Versus contra praelatos et
clericos' 20S; 'Conquestio expulsi
de domo leprosorum' 217; 'Petitio
porreeta papae pro beneficio obti-
nendo' 219
'Principium magistrale' 193. 202. 227
prologe mhd. dichtungen 417 — 421.
460
'Proverbia Grecorum' A 118
psalmen, altniederfränkische A 10 f
q bei Ulfila A 2 ■
quantität betonter vocale A 8
quantilätsbezeichnung got. A 5 f
Ragnarök, in der Völuspa 239 — 298,
bes. 265 ff. A 208 f; A 153 ff
Raptus A 106
rätsei, erstes ags. A 163 ff. 170
Raus A 106
'Vom Rechte', bestandteile d. rechts
428
HRedslob A 149
BvRegensburg, predigten : stwte und
unslcete 411; ehliche untreue 414;
Petrus als Zweifler 415
Regin A 84
Reinmar (vHagenau) : kreuzlied 433
Reinmar vZweter : anapher 433
Remigius vAuxerre, Boethius-com-
mentar A 120
REGISTER
215
EvRepgow, spräche des 'Sachsen-
spiegels' A 175 ff
'Rhythmus goliardorum' 194
Richard von SVictor, 'De slatu in-
terioris hominis' 40S. 410; De spi-
ritu blasphemiae, 448
'Rolandslied', Turpins kreuzpredigt
430
Rörers predigtnachschriften Luthers
A 32 ff
'Buch der Rügen', statte und unstcete
412
runenkästchen von Clermont A 171
s präfigiert A 55
A-suffix, nord. A 158
'Sachsenspiegel' : hantgemäl 336 f
sächsische innungs- und patricier-
sprache A 174 f
'Sacerdotes mementote' 187
'Samsonsvisa' A 8
satzanfang idg. betont A 73 f
satzauftact A 73 f
Savonarola in d. deutschen lilteratur
A 205
schätz in der Siegfriedssage A 84 f.
100
Scherzlieder d. 15 jh.s in Stockholm
378
SevSchifer und s. anleil an Luthers
Tischreden A 34
Schiller, 'Über d. erhabne' und 'Ge-
danken üb. d. gemeine in d. kunst'
A 48
FrSchlegel A 136 f
JESchlegel, 'Trojanerinnen' A 36
JohSchön, 'Ahasver' A 191
Schopenhauer A 135 ff
sc/tra?ine 'bergspall' A 58
schraube A 56
Schriftsprache, entstehung der nhd..
A 175 ff
GvdSchuren, Teuthonista A 122 f
Schweiz, frühe heraldik A 123 fi
Schwurbruderschaft 357 ff
scop A 113 f
WScott, würkung auf die romane
deutscher romantiker A 192 ff
Sedulius Scottus A 116 ff; sein col-
lectaneum A 117 f
Shaftesbury und Mendelssohn A 41 ff
Sibylle 432. 460
Siegfridsage A77ff. 83ff; ihr
bolischer gehalt A85f. 88;
frids rosswahl A 88 f; seine
bung um Brünhild A 92ff.
sein tod A 98
Siegmunds drachenkampf A 86
Sigrdrifa = sonne A88
sym
Sieg-
wer-
97 f;
Silingi A 104 f
singen und sagen A U4f
sonnenhirsch und Siegfriedsmythus
A 98
sonnenwolf der Völuspa A 160 f
FSoret, Unterhaltungen mit Goethe
\ 13 ff
'Speculum ecclesiae' 41<i. 446. 448
Spitzenstellung, occasionelle im germ.
satz A 72
EStagel, 'Leben der Schwestern zu
Töss' A 21 ff
Stempel, s. Ulfila
KStieler s. Rudolstädter festspiele
KvStoffeln, 'Gauriel', prolog 420
strak venje A 24
GvStrafsburg, Charakteristik A 198 f;
— ästhetische lebensanschauung
4181; gegner Wolframs 421
Sturla, bearbeiter der 'Kristnisaga'
A HOf
suffixe s. bildungssilben
'Summa theologiae' 434
'■Summe dalor munerum' 203
'Der Sünden Widerstreit' : der zweifei
416, ritterliches standesbewustsein
456
Surl A 160
tafel A 24
'Talrs versus facto' 185
'Tanto viro locuturi' 219
'Tempus acceptabile' 194
Thiazi = ir. Tethra A 1 57 ff
ßidwr an. A 158
LTieck und WScott A 195 f
•jüngerer Titurel', prolog 416. 420
tod im drama d. 17 jh.s A 35 f
tod und winler, mythol. A 159
todestanz s. totentänze
todespoesie A 188
Töss, leben d. Schwestern zu, A 21 ff
totentänze A 146 f
Thomas vAquino, 'Summa theologiae'
410. 411. 413. 426. 428.430. 431.
435. 436. 437. 439. 465
Thor und Beowulf A 102
'Tractatus de partu beatae virginis'
192
'De transfretantibus' 233
HvTrimberg,Renner:w?isfa?£e410.411.
412, ehliche untreue 414, zweifei
416; anapher 433; nach einer
theolog. Summa angeordnet 434;
mdze 438; acidia 444
'Trost in Verzweiflung', zweifei und
trägheit 416
tugenden und laster 405 — 465
HvdTürlin, 'Krone', prolog 420
216
KEGISTEIi
Ty, einhändigkeit A 155
M-brechung westnord. A 8
Ulfila, Stempel mit dem namen 146
Uli (Ollerus) A 156
underbint 421
undergang A 24
Ungarn bei OvWolkenstein A 131
vagantenliedersammlung aus Herd-
ringen 161—238
Varnhagen A 135
' Vegtamskvida' in alt. fassung quelle
d. Völuspa A 292
verbalstellung, germ. u. ags. A 70 ff;
im abhäng, satz A 74 f; indogerma-
nisch A 76
'De vestium transformatione' 181
Victovali A 103 f
Vidar A 154
HVintler, 'Blumen der tugend': stcete
u. unstwle 412
WvdVogel weide 18, 1 (polemik gegen
Wolfram?) 154; 25,35 f : 157;
39,11 ein tagelied? 386ff; 119,11:
420; mdze 438; guot, wertl. ere,
gotes kulde 456
Volkslied s. SElisabeth
'Völuspa', hsl. Überlieferung (Zusätze
der hs. H) 239 ff; unechtheit der
t. 65 : 251 ff; heidnischer Charakter
der schlusspartie 253 ff; keine
tendenzdichtung! 256; gegen Boers
Verteilung auf zwei dichter 258 ff;
die Ragnarökepisode u. ihre Vor-
geschichte 265 ff; Muspells söhne
273 ff; v. 46, 1. 2 unecht 276 ff;
composition der Ragnarökpartie
279 ff, festes Verhältnis zu frühern
abschnitten 280 ff; Gullveig-Heid-
Freyja-episode 282 ff; ein älteres
Vegtamslied quelle 292 ff. — v.
39 fi: A 161
waberlohe A 78. 91 ff
WWaiblinger A 52 ff
wällih <; wdtli/i 530
Wandalen A 102 ff
FThWangenheim, 'Perle von Zion
A 191
wappenwesen im ma. A 123 ff
'Warnung', mdze 438
wechselstrophen d. 15 jh. s. aus Stock-
holm 376
weihnachtfpiele, latein. A 12 f
ChrWeise, 'Jephthas tochtermord'
A 36
Werner, 'Deflorationes' 415. 444
Wilhelm vConches(?) 'Moralis phi-
losophia' 407
winileodes 306 ff
Winsbeke , mdze 438; der ritter
soll sich nicht verliegen 464; —
bruchst. aus Münster 135
wilin n. anfrk. A 11
wizago 497 ff
GhrWolff, sein Wortschatz A 56 f
brWolfram der provincial A 23f
LH Wolfram, Tauft' A 50 ff
OvWolkenstein A 129ff; hs. C s.
gedichte A 129f; 46, 25. 114, 93 :
A 130; 83 : A 131; 114 : A 131
Wortstellung im germ. A 65ff , in d.
allitteration A 67 f ; indogermanisch
A 76
JvWürzburg, 'Wilhelm von Oester-
reich', prolog 419
KvWürzburg, 'Partonopier', prolog
419; 'Trojanerkrieg', prolog 420;
die disputation im Silvester ist
nach dem muster einer theologi-
schen Summa angeordnet 434
'Ynglingasaga' c. 4 : 291
UvZazikhofen, 'Lanzelet', prolog 417
ThvZirclaria, 'WGast', stcete und
unstceleMG. 407. 408; prolog 418;
Sittenlehre für männer u. frauen
421; kreuzpredigt 430; göttl. liebe
431; mdze 438; unwissentliche
sünde 447; ritterliches standes-
be wustsein 456; der ritter soll
sich nicht verliegen 463
Druck von J. B. Hirschfeid in Leipzig.
PF
3003
Z5
Bd. 49
Zeitschrift für deutsches
Altertum und deutsche
Literatur
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