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Full text of "Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur"

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ZEITSCHRIFT 


FÜR 


DEUTSCHES  ALTERTUM 


UND 


DEUTSCHE  LITTERATUR 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


EDWARD  SCHROEDER  und  GUSTAV  ROETHE 


ZWEIUNDFÜNFZIGSTER  BAND 

DER  NEUEN  FOLGE  VIERZIGSTER  BAND 


BERLIN  1910 

WEIDMANNSCHE   BUCHHANDLUNG 
SW.  ZIMMERSTRASSE  94 


?F 

ßOOS 
'hol'  .S2, 


INHALT. 

Seito 

Heym,  Bruchstück  eines  geistlichen  Schauspiels  von  Marien  himmelfahrt  1 

Schröder,  'Diu  Mäze' 56 

Nolte,  Zu  Gottfrieds  Tristan.     Marke  der  tugenderiche 61 

Meissner,  Leudus 84 

Meissner,  Duißere 90 

Heusler,  Heldennamen  in  mehrfacher  lautgestalt 97 

Gottschick,  Der  anfang  und  der  schluss  von  Boners  Edelstein       .     .     .  107 

Lunzer,  Die  Virginal  A  und  Wolframs  Willehalm 113 

KInckhohn,  Ministerialität  und  ritterdichtung 135 

Patzig,  Zu  Zs.  51,  255.  •  'De  Servando  medico' 168 

Roth  und  Schröder,  Althochdeutsches  aus  Trier  (vgl.  396) 169 

Jellinek,  Studien  zu  den  altem  deutschen  grammatikern 

3.  Zu  Sebastian  Helbers  Syllabierbüchlein 182 

Schröder,  CoUation  und  kritik  von  Albers  Tundalus 190 

Droege,  Nibelungenlied  und  Waltharius 193 

Gottschick,  Über  einige  beispiele  Boners  und  ihre  latein,  vorlagen          .  231 

Bernt,  Zur  Heidelberger  hs.  cod.  pal.  germ.  341 245 

Pestalozzi,  Siegmunds  schwert 259 

Christ,  Münsterische  bruchstücke  der  niederdeutschen  Apokalypse     .     .  269 

Stange,  Hadlaub 276 

Leitzmann,  Zu  Berthold  von  Regensburg 279 

Franek,  Zur  Überlieferung  und  composition  des  Reinaert 285 

Hoflfa,  Antike  elemente  bei  Gottfried  von  Strafsburg 339 

Strfluch,  Fragmente  aus  Wolframs  Willehalm  und  Rudolfs  Barlaam  .    .  351 

Schneiderwlrth,  Fragmente  des  Nibelungenliedes  aus  Dülmen       .     .     .  356 

Schröder,  Zur  datierung  des  Herbort  von  Fritzlar 360 

Jttlicher,   Die  griechische  vorläge  der  gotischen  Bibel 365 

Leitzmann,  Zum  Trierer  Silvester 387 

Grüters,  Zu  Spervogel 388 

R.  M.  Meyer,  Trier  und  Merseburg 390 

Sehröder,   Zu  den  Trierer  Zaubersprüchen 396 


BRUCHSTÜCK    EINES   GEISTLICHEN 

SCHAUSPIELS 

VON   MARIEN  HIMMELFAHRT. 

I. 

Im  jähre  1896  wurden  hei  der  Ordnung  des  fürstl.  Leiningi- 
schen  archivs  in  Amorbach  von  h.  archivar  dr  Krebs  von  dem 
rücken  eines  actensammelbandes  2  kleine  fragmente  beschriebenen 
Pergaments  abgelöst,  wie  eine  vorläufige  prüfung  ergab,  gehörten 
die  beiden  stücke  einer  und  derselben  handschrift  an  und  enthielten 
lateinische  stellen,  z.  t.  mit  neumen  versehen,  iind  verse  in  nihd. 
spräche,  sie  wurden  mir  zur  näheren  Untersuchung  überlassen, 
dabei  ergab  sich,  dass  die  beiden  stücke  sich  zu  einem  vollständigen 
blatte  ergänzten,,  das  in  der  mitte  gebrochen  war,  und  dass  sie 
auch  das  mittelste  blatt  einer  läge  gebildet  haben  müssen,  es  findet 
sich  nämlich  am  ende  der  seile  2  die  eine  zeile  eines  reimpaares, 
die  zweite  oben  auf  seile  3;  ferner  ist  etwas  was  auf  seite  3  aus- 
gelassen ivorden  war,  auf  seite  2  am  unteren  rande  nachgetragen. 

Das  bruchstück  stammt  aus  einem  geistlichen  Schauspiel,  das 
halb   lateinisch,  halb  deutsch  die  himmelfahrt  Mariae  behandelte. 

Es  hat  durch  seine  Verwendung  zum  einbinden  sehr  gelitten; 
nicht  nur,  dass  es  durch  den  leim  so  angegriffen  wurde,  dass  teil- 
weise die  Schrift  bei  der  entfernung  des  leimes  mitverschwunden 
ist,  es  hat  auch  an  den  besonders  der  reibung  ausgesetzten  stellen 
mehrere    löcher    erhalten. 

Die  hs.  hatte  ein  sehr  kleines  formal,  das  sich  von  dem 
der  übrigen  uns  erhaltenen  schauspielhandschriften  auffällig  unter- 
scheidet, die  höhe  beträgt  130  mm,  die  breite  des  ganzen 
Mattes  171  mm,  die  columnenhöhe  102  mm,  die  zeilenlänge 
12  mm.  Seite  1  enthält  28  oder  29  Zeilen,  s.  2:  36,  s.  3:  37  und 
seile  4:  34  zeilen.  die  spielanw eisungen  sind  zuweilen  nicht  fort- 
laufend in  die  zeilen  des  textes  eingefügt,  sondern  bilden  neben 
diesen,  die  dann  kürzer  sind  als  sonst,  besondere  zeilen.  der 
obere  teil  zeigt  auf  der  einen  seite  einen  größeren  riss,  der  untere 
ist  mehr  beschädigt,  da  er  auf  beiden  seilen  einrisse  und  auch  in 
der  mitte  2  größere  (längliche)  und  5  kleinere  (runde)  löcher  hat. 
Z.  F.  D.  A.  LH.    N.  F.  XL.  1 


2  HEYM 

Das  fragnient  ist  in  fortlaufen deji  Zeilen  geschrieben;  in  den 
deutschen  teilen  sind  die  einzelnen  verse  meist  durch  puncte  und 
kleine  gekrümmte  über  der  zeile  stehnde  striche  unterschieden,  die 
anfangsbuchstaben  der  einzelnen  reden  sind  rot  übermalt,  in  den 
lateinischen  teilen  stehn  die  Zeilen  weiter  auseinander,  um  für 
darübergeschriebene  neumen  platz  zu  schaffen;  auch  sind  manch- 
mal die  einzelnen  silben  der  Wörter  durch  mehr  oder  minder 
große  Zwischenräume  voneinander  getrennt,  icenn  die  melodie  es 
erforderte,  die  neumen  sind  erst  später  eingeschrieben;  auf  der 
ersten  seile  finden  sich  z.  b.  die  größeren  abstände  der  zeilen  und 
die  zicischenräume  zwischen  den  silben,  aber  die  notenzeichen  fehlen, 
so  hat  das  fragment  etwas  unfertiges  an  sich. 

Die  Schrift  ist  die  niinuskel;  sie  ist  sehr  klein,  abkürzungen 
sind  häufig,  namentlich  im  lat.  ordo,  selten  in  den  gesungenen 
partien.  im  deutschen  text  finden  sich  dreierlei  abkürzungen: 
1)  der  wagerechte  strich  über  der  zeile  zur  bezeichnung  von  m 
und  n,  sowie  bei  vn;  2)  ^=  er;  3)  <  =  as  oder  az.  ,  schrift 
und  neumen  gehören  ihrem  Charakter  nach  etwa  dem  ausgehenden 
13,  höchstem  dem  beginnenden   14  jh.  an. 

Zwei  verschiedene  hände  haben  das  was  uns  vorligt  ge- 
schrieben, schon  der  äußere  eindruck  der  beiden  Schriften  ist 
ein  ganz  verschiedener,  der  erste  Schreiber  hat  eine  ivenig  gleich- 
mäßige Schrift;  weder  die  höhe  der,  buchstaben  noch  die  richtung 
ihrer  verticalen  striche  ist  gleich,  manche  buchstaben  erscheinen 
etwas  nach  links  geneigt,  die  meisten  stehn  senkrecht,  die  schrift 
gewinnt  dadurch  ein  krauses  aussehen,  der  zrveite  Schreiber  da- 
gegen schreibt  gleichmäßig,  sauber  und  deutlich,  auch  einzelne 
buchstaben  weisen  charakteristische  Verschiedenheiten  auf.  bei  dem 
ersten  Schreiber  ist  der  rechte  grundstrich  des  a  über  die  linke 
schleife  auficärts  verlängert  und  oben  nach  links  umgebogen,  beim 
ztveiten  sind  beide  meist  gleich  hoch.  in  dem  w  des  ersten 
Schreibers  erhebt  sich  der  mittlere  strich  über  die  beiden  andern 
und  die  zwei  vordem  sind  stark  nach  links  geneigt;  auch  stehn 
sie  eng  aneinander,  beim  zweiten  Schreiber  ist  auch  hier  die  höhe 
der  einzelnen  striche  gleichmäßiger,  ebenso  die  abstände  des  ersten, 
zweiten  und  dritten  Striches,  der  zweite  grundstrich  des  h  hat 
beim  ersten  Schreiber  die  form  eines  nach  links  geöffneten  bogens, 
beim  zweiten  die  einer  leichten'  Wellenlinie,  beim  f  macht  nur  der 
erste  den  oberen   querstrich  oft  so,    dass  seine  spitze  halb  rechts 


MARIEN  HIMMELFAHRT  3 

nach  unten  zeigt,  auch  ist  hei  ihm  der  querstrich  länger  ah  heim 
zweiten,  hei  dem  e  des  ersten  Schreibers  ist  die  schleife  meist 
rund  und  so  groß,  dass  innerhalh  ein  fleck  von  tinte  frei  hleiht; 
beim  zweiten  ist  die  schleife  gehrochen  und  zuweilen  nicht  ganz 
ausgeführt,  so  dass  das  e  einem  c  ähnlich  wird;  manchmal  ist 
sie  auch  so  klein,  dass  die  striche  einander  berühren  und  im 
innen  kein  fleck  frei  von  tinte  bleibt. 

Ferner  unterscheiden  sich  die  beiden  auch  in  der  Orthographie 
voneinander,  so  schreibt  der  erste  den  harten  gutturalen  oder 
palatalen  Spiranten  im  auslaut  stets  ch  ^  der  zweite  Schreiber  hat 
nur  die  beiden  ersten  male  ch,  sonst  stets  h^. 

Dem  ersten  Schreiber  gehören  auf  der  ersten  seile  die  obersten 
2V2  Zeilen,  dann  setzt  der  zweite  ein  mit  den  worten:  quam 
pulchra  es  und  schreibt  bis  auf  die  ztoeite  zeile  der  dritten  seile; 
mit  den  ivorten:  hie  vö  in  dine  minen  beginnt  der  erste  wider 
und  schreibt  bis  etwas  über  die  mitte  der  seile;  die  letzten  worte 
die  ihm  gehören  sind:  vn  mich  och  gehuldete  dir.  danach  hat 
der  zweite  Schreiber  ivider  angefangen,  aber  er  hat  etwas  aus- 
gelassen, denn  er  trägt  am  untern  rande,  durch  ein  kleines  kreuz 
bezeichnet,  5  verszeilen  nach,  von  hier  an  gehört  alles  folgende 
dem  zweiten  Schreiber. 

Wir  haben  also  augenscheinlich  nicht  das  original  der 
dichtung  vor  uns,  sondern  eine  abschrift. 

Ich  lasse  nun  den  text  des  fragments  folgen;  hiehei  hah  ich 
die  deutschen  stellen  mit  römischen  Ziffern,  die  lateinischen  mit 
huchstaben  bezeichnet,  nicht  deutlich  lesbare  buchstaben  sind  durch 
daruntergesetzte  puncte  kenntlich  gemacht,  durch  conjedur  ergänzte 
in  eckige  klammern  eingeschlossen,  die  enden  der  Zeilen  in  der 
hs.  sind  durch  senkrechte  striche  bezeichnet. 

'  I  3  ich,  mich,  4  dich;  VI  6  ich,  12  rieh,  13  mich,  15  mich,  16  dich; 
VII  1  dich,  2  sich,  6  dich,  8  nach,  10  vluch,  12  ich,  13  ich  (?),  14  mich, 
15  mich,  och;  ebenso  die  tat.  formen  michi  in  C  u.  F;  eine  ausnähme 
würde  nur  VII  2  ah  bilden,  das  aber  nicht  genau  lesbar  ist. 

2  II,  5  sich,  7  dich;  HI  11  ih,  17  mih,  18  sprah  dih  ih,  20  ih,  27  ih, 
31  mih,  32  mih;  IV  2  ih,  10  ih;  V  3  rih,  miöeclih,  4  lobelih,  5  sih,  7  ih, 
nah,  8  gab,  9  ih,  10  dih,  12  ih  dih,  14  sih  dih;  VI  4  dih;  VII  19  ih; 
IX  4  ih,  5  ih,  7  mih,  8  dih,  9  dih,  11  ih,  12  dih.  15  mih;  X  3  dih.  4  ih, 
5  dih,  15  solih,  19  dih,  20  ih,  himelrih;  XI  5  sih,  6  nah,  7  noh,  9  ih, 
10  mih;  XII  9  ih,  10  mih,  11  ih. 

1* 


4  HEYM 

I.    1.  Ift  vn!^  hvf  gemaket  wql. 
d<  an  ende  w^n  fol 
ze  dim  h'^zü  [wil]  ich  |  legen  mich, 
vnd  vf  din  arn  wä  ich  dvr  dich. 
5.  ze  tode  bereit  \  w<   ze  alP  zit. 

Mit   vro e  ane  wid^Itrit. 

dfif  arCvin^  es  |  fp'  ulna '  z  amp  |  efi  dicef. 

A.  Qnn  pulchra   ef ora  |  cariffima    mea 

in  deliciif  tuif  ftat  .  .  .  tua  alimilata  |  elt  palme  et  odo  .  ori . 
tai  ficut  ma  lorü  granato   .  .  |  guttur  tuu  ficut  vi  nn  Optimum 

Ms I 

B.  Sicut  m 36 

...  I  int'  filiol  fub  umbra  illiuf  .  .  .  defidera  bam  fedi  et  | 
nox  illiuf  dulciX  gutturi  meo  in  troduxit  me  .  .  .  in  |  cellam 
vinariu  ordinauit  in  me  caritat?  fulcite  me  |  floribur  ütipate  me 
malil  quia  a  more  langueo  |  leua  eiul  fub  capite  meo  et  dex- 
tera  illiuf  am  |  plexa  bitur  me. 
Eecl'ia  de  dfio.  | 

C.  Cum   effet   rex   i   acubitu  fuo  narduf  mea  dedit  o  dorem  |  fuü 

I.  in  der  lacke  haben  zwei  worte  qestanden. 

A.  die  spielanweisunfj  vor  A  steht  in  3  seilen  neben  seile  3  ?/.  4 
des  textes. 

A.  =  Canticum  canticorum  VII 6,  7  und  9  {teilweise),  nach  pulchra  ef 
sind  2  oder  3  silben  geschtoärst,  dann  vielleicht  jq,  nachher  eine  lücke 
dadurch  entstanden,  dass  die  oberste  haut  des  pergaments  ein  Stückchen 
abgestreift  ist;  dann  folgt  ora. 

granatorum  steht  nicht  im  oulgatatext ;  weggelassen  ist  hier  dagegen 
der  schluss  ton  r.  9:  dignum  dilecto  meo  ad  potandum.  vinariiTjrr/iVm- 
lich  statt  vinariam. 

B.  =  Cant.  cant.  n  3— 6.  im  vulgatatext  steht  an  stelle  von  uox 
vielmehr  fructus.  uox  ist  hier  anscheinend  irrtümlich  gesetzt,  denn  die 
deutsche  paraphrase  hat  an  der  entspreclienden  stelle  (Ul  13^;  sin 
fruet  sam  honegis  süzekeit  .  .  . 

Sicut  malus  inter  ligna  —  inter  filios  findet  sich  ots  antiphone  der 
assumptionsfeier  in  einem  antiphonale  des  13  oder  li  Jhs.  (German.  Mus. 
no.  4984;. 

Fulcite  me  floribus  — •  langueo:  responsorinm  in  nativitate  in  clm. 
23083  f.  97,  clm.  23046. 

C.  Cum  esset  rex  .  .  .  =  C.  c.  I  12  u.  13,  (es  findet  sich  auch 
als  antiphone  in  einem  Bamberger  nntiphonar,  ausc.  lit.  30,  XVjr/i.  pghs.) 
C  ist  links  aus  der  seile  herausgerückt,  rex  über  der  seile  eingefügt. 
II.   Was   in   der  spiel  an  uieisung  dthnico  hev^sen  soll,  darüber  nur  eine 


MAEIEN  HIMMELFAHRT  5 

falciculul  mirre   dilectuX   meul  michi  I  t^  vbera  mea  com  mo- 

rabi  tur 

Dnf  Me  äplexe  adhnc  |  dthnico  .  .  .  .  | 

n.   1.   Wie  hübfch  du  bift  ein  vrindin  min. 
Maria  magt  vn  min  |  vierweltü  brut. 
wie  fchon  dv  bist  i  den  vrode  din. 
Min  I  liebv  mvt^  vn  mini  h^zen  trut. 
5.  Din  gefchaft  gelikit  lieh  | 
D^  palme  fund^like. 
Inf  hat  du  kraft  d'  tugenden  dich  | 
[ejrhöhit  wnderlike. 
din  tuginde  nieman  gezellen  mak  | 
10.  alfam  ein  granat  ilt  din  fmak 
Din  kele  ift  aK  d'  beste  win.  | 

dv  lolt mir  lin. 

.  .  .""  .  .  .  ff  .  .  . 
III.   1 


5 

I 

ein    wruht  der  er  hat. 

Vermutung,  man  könnte  an  dicit  hymnico  (modo)  denken,  die  folgende 
deutsche  stelle  ist  die  einzige  in  form,  einer  strophe  gebaute,  das  toort 
hymnicus  fehlt  allerdings  bei  Du  Gange;  dagegen  finde  ich  dort  s.  v 
'hymnidicus',  folgende  stelle  angegeben:  'Placidi  Diaconi  Supplem.  vi- 
rorum  illustr.  Cassin.  cap.  8;  Extant  quoque  libri  duo,  in  quibus  celeber- 
rima  nonnulla  Sanctorum  et  Sanctarum  sacra  vario  describuntur  metro 
eorumque  gesta  Hymnidicis  proferuntur  modulis'. 

II  2,  vn  über  der  seile  eingefügt  (hs.) 

II  3,  L\Toden[der  nasalstrich  über  dem  e  scheint  nur  verwischt.  E.S.] 

n  8,  e  durch  einen  kleinen  klex  verdeckt. 

II  12,  mir  sin  halb  durch  ein  loch  zerstört. 

in.  der  ordo  vor  III  ist  fast  unlesbar,  ebenso  die  folgenden  3  seilen 
des  textes,  die  jedesfalls  6  deutsche  verse  enthalten  haben,  hiemit 
endet  die  erste  seite  des  fragments.  am  unteren  rande  sind  noch  spuren 
roter  schrift  sichtbar. 

m  6.  vielleicht  ist  doch  vruht  zu  lesen;  der  erste  strich  des  w 
scheint  mir  jetzt  nur  eine  falte  des  pergaments  zu  sein. 


)  HEYM 

dar  vnd^  vil  d^  raeren  g-at. 

In  gelik^  |  wif  gezieret  ist. 
10.  wr  alle  fvnerain  ilif  krift. 

an  ßne  |  Tchate.     ih  gefaz. 

nah  im  min  girde  w<   nit  1«. 

Sin  fruct  |  fam  honegil  fvzekeit. 

w<   [mir]  in  mine  munde  bereit. 
15.  Do  kam  d^  künig  falomon. 

vf  finem  hovbete  w<   dy  krö. 

In  fin  win  zellun  vürtte  er  mih. 

er  fprah  nv  wil  ih  leren  j  dih. 

tr^ye  minne  folt  du  han. 
20.  Ih  bin  dir  liep  vur  alle  man.  | 

Dar[um]be  ir  tqht'e  von  fyon. 

liget  wol  den  fvzen  don. 

vii  I en  mine  thron. 

Mit  apheln  vh  mit  blvmen  |  Ichon. 
25.  So  wirt  y  fundUike  Ion. 

d'  iem^  w4  vf  citaron.  | 

wand  ih  von  minni  v^wvndit  bin. 

lin  minne  kren  |  klt  mir  den  fin. 

Sin  hant  vf  rekit  d<   hobit  min. 
30.  vh  tvt  I  mir  finer  helfe  fchin. 

Sin  zefewe  mih  al  vmbevat. 

in  15,  vor  kunig  ein,  klex;  der  Schreiber  scheint  einen  irrtümlich 
fjeschriebenen  wortanfang  getilgt  zu  haben;  denn  der  Zwischenraum 
zwischen  dem  klex  und  den  beiden  worten  auf  beiden  Seiten  ist  gleich 
den  sonstigen  Zwischenräumen  der  einzelnen  worte. 

ni  19,  über  dem  w  von  trwe  sind  spuren  eines  i  sichtbar. 
in  23,  hinter  min  ein  loch,  darüber  aber  der  nasalstrich  sichtbar. 
ni  26,  die  beiden  ersten  buchstaben  con  citaron  sind  nicht  deutlich 
lesbar,     vielleicht    ligt  hier  eine  reminiscenz  an  eine   Tristanstelle  cor 
D.  4804  ff:  wie  si  ir  sanc  wandelieret! 
(ich  meine  ab  in  dem  döne 
daher  von  Zitherone, 
da  diu  gotinne  Minne 
gebiutet  üf  und  inne), 

wo  übrigens  die  Florentiner  hs.   Cytarone  hat. 
III  28.  nach  minne  hat  der  Schreiber  fälschlich  mih  geschrieben  und 
dann  ausgestrichen. 


MARIEN  HIMMELFAHRT  7 

In  I  vovden  er  mih  iemer  hat. 
EecPia  de  dno  c  eet  rex  expoiüt.  | 
IV.  1.  Do  d^  künig  in  fin^  wonuge  w<. 

Ih  y  .  .  lik  ZV  im  gefaz. 

Min  I  I  .  .  .  gab  ir  f\^zen  Imak. 

d<   ift  d^  lynagoga  ein  Hak. 
5.  vnz  I vnlern  beiden  torn. 

D  .  .  w<  V  .  .  llclie  gar  verkorn.  | 

S_zen  fmak  gab  min  [r]och 

V 

rechte  lofe  mirren  vu  wieroch.  | 

....  wern  .  .  nd'  .  einbvrchellin 
10.  bin  ih ben  liebe  |  min. 

vü  [zwujlchen  mine  bruften. 

wo  .  .  t  er  der  gelulten.  | 

w<  dilv  rede  betiite. 

Def  willen  nit  tumbe  Ivte. 
dnl*  äplec;tit  eccl'iam  maria  diniiffa. 
Eccl'ia  refpüdet.  ] 

D.  Wlneralti  cor  meü  foror  mea  fponla  wlneralti  cor  meu.  | 

E.  In    carita   te   perpetua  dilexilti   me  ideo  atraxifti   nie  |  mi  Ter 
tuf  mei. 

DiiC  ecerie 

V.   1.  frowe  min  trut  frun  |  dine. 
fweft^  vu  kyniginne. 
So  leiden  rih  fo  mineklih. 
So  I  fchon  lo  gvt  lo  lobelih. 
rV.  c  eet  rex  ist  der  anfang  von  C,  dessen  inhalt  IV  in  deutscher 
Sprache  widergibt. 

IV2.  im  anfange  des  sweiten  wortes  konnte  auch  w  gestunden  haben. 
3.  vielleicht  salbe? 

6.  vielleicht  da  was  velsche  gar  verkorn. 
D.  hinter  äplectit  ein  undeutliches  abldlrzungsseichen.  vor  Eccl'ia 
respondet  .stehn  2  dünne  schräge  striche,  die  sich  vor  dem  anfang  von 
E  widerholen;  sie  deuten  an,  dass  diese  worte  als  spielaniceisung  vor 
E  gehören,  dass  mit  den  worten  in  caritate  eine  neue  rede  beginnt, 
seigt  auch  der  um^stand,  dass  der  anfangsbuchstabe  I  rot  geschrieben 
ist.     I  ist  links  aus  der  seile  herausgerückt . 

D  =  C.  c.  IV  9;  dort  folgt  nach  cor  meum  noch  in  uno  oculorum 
tuorum  et  in  uno  crine  colli  tui. 

E  ist  für  die  liturgie  umgestaltet  aus  Jerern.  31,3,  wo  es  statt 
dilexisti  me  u/irf  attraxisti  me  heis.'^t:  dilexi  te  und  attraxi  te;  am  schluss 
tui  statt  mei. 


i  HEYM 

5.  Sih  von  din^  niine. 

v'wundit  fint  |  mine  i'inne 

ih  han  dir  vil  geftrikin  nah. 

mir  w<   her  nah  |  dir  l'o  gah. 

D<  ih  mit  erbeit  zeliken  litten. 
10.  vil  kumb'f  han  |  dur  dih  erlitten. 

Dv  folt  el  w[ol]  lehen   an. 

wie  gar  ih  dih  ge|[m]init  han. 

Ih   wil  dur  di [24] 

I  de  fih  dur  dih. 

15.  Dv  lolt  wizzen  d<  min  tot. 

[dih]  lofte  von  d'  |  helle  not. 

Dv  lolt  mit  mir  erbe  r[i]n. 

Minel  rikel  dohter  |  min, 
Ecclia  de  dno. 
VI.   1.  herre  d[u  bi]rt  milt  vü  gnade  ri[kej  | 

Dv  erkandelt  gettelike. 

Min  geben  vü  min  gir. 

vü  gebe  |  dih  ze  erkenenne  mir. 
5.  hie  vö  in  dine  minen. 

begvd  ich  lere  |  brTnen. 

Dv  tete  an  mir  gnade  Xchin. 

Dv  Tantelt  an  d<  h^ze  ml.  | 

Dinef  heilige  geiftel  gvte. 
10.  da  vö  Wirt  min  gemvte. 

vö  tu|gende  alle  gemeit. 

vü  rieh  mit  fo  mäg^  felikeit. 

D<   dv  mich  |  woldeft  mTnen. 

Mit  dine  gotliche  finne. 
15.  alle  halt  dv  mich   ge  |  wüne  dir. 

Dv  lolt  dich  lelbe  gebe  mir. 
Ecc'  erigit  fe  et  venit  fynag^  |  sid  pedefdni  flexi fgrenib'. 
V  11.  die  Worte  wol  sehen  an  sind  nur  in  ihrem  oberen  teile  lesbar. 

V  16.  möglicherweise  hat  über  o  in  loste  ein  e  gestanden,  schwache 
''puren  sind  sichtbar. 

VI  1.  am  ende  des  cerses  ist  die  oberste  schickt  des  pergaments 
abgerissen,  daher  der  schluss  von  rike  unlesbar. 

m,it  VI  1  schliesst  die  2  seite;  unten  am  rande  ist  mit  roter 
Schrift  die  spielanwei-ning  nachgetr-agen,  welche,  wie  das  dort  widerholte 
auslassungszeichen  andeutet,  zu  IX  gehört  und  daher  von  mir  an 
dieser  stelle  in  den  text  eingesetzt  ist.  (Jud'i  veniet  etc.). 


MARIEN  HIMMELFAHRT  9 

F.  Quil   michi    det  te  fratrem   lugente  |  ubera   matril   niee    :   ut 
ofculer  te  ne  quifquam  me  dei'piciat. 

DiiC  äplectit«    fynag-og-:  de  tibi  | 

G.  Ortuf  ocluluf  ef  Xoror  mea  fponl'a  |  ortuf    ocluruf    fonl  lignat^ 
hirge  ppera  amica  mea 


VII.   1.  herre  alle  gefchaft  luln  dich  loben. 
vnd  dir  ze  dienfte  gebe  |  lieh, 
wä  dv  bift  ir  fchephere. 
Dv  got  ananegfenjge  ie  were.  | 
5.  hVe  dv  folt  gemät  fin. 

wie  dich  erete  dv  mvt^  min. 
.  .  .  .  I  ir  e  dv  jvdefcheit. 
Nach  din^  gelezede  rechtekeit. 
....  I  foldif  ab^  fvge  ir  brvit. 
10.  vlvch  d'  krifteheit  akvit. 

.  .  .  yget  .  .  I  din'  mefcheheit. 

Ich  zewifel  and^  irrekeit. 

ah  mech  .  .  .  ch  einen  |  vrynt  gewIne. 

D^  mich  d^  warheit  brechte  Tnen. 

15.  vn  mich  |  och  gehvldete  dir. 

F.  die  erste  seile  der  Spielanweisung  steht  neben  VI  16,  die  zweite 
neben  den  ersten  Worten  Don  F.  F'^  Cant.  cant.  VIII  1.  nach  C  Marbach 
Carmina  scripturanim  6  Resp.  sept.  dolorum  B.  V.  M.  me  defpiciat 
durch  ein  loch  beschädir/t. 

G.  die  SU  G  gehörende  Spielanweisung  steht  rechts  von  den  ersten 
Worten  von  G,  in  der  Spielanweisung  ist  bei  sibi  vom  letzten  i  nur  der 
i-strich  sichtbar. 

ortus  —  signatus  aus  Cant.  cant.  IV  12;  surge  —  mea  =  C.  c.  II  10, 
ebenso  II  13.  im  assumptionsofficium  des  clm.  23083  (\2  Jh.)  findet 
sich  die  antiphone:  'Ortus  conclusus  es  dei  genitrix  ortus  conclusus  fons 
signatus  surge  propera  amica  mea  et  ueni.'  bis  signatus  auch  im  Antipho- 
nale des  Germ,  rnuseums  nr  4984. 

ferner  in  Bamberg   (msc.    Ut.  nr  24.  antiphonar  d.  12  Jhs.) 

VII  1;  lis  „loben  dich." 

h  in  herre  ist  nicht  rot  ausgefüllt. 

VII  6  min;  Don  i  ist  der  i-strich  sichtbar. 

7  über  e  scheint  ein  zweites  e  zu  stehn ;  dahinter  ein  punct. 

15.  mit  V.  15  bricht  der  erste  Schreiber  ab;  es  folgt  dann  von  der 
hand  des  zweiten  die  nächste  Spielanweisung  Dns  marie  mit  einem  drei- 
teiligen zeichen  am  schluss;  die  beiden  ersten  elemente  des  Zeichens  stehn 
auch  vor  dem  texte  K  u.  M.  ich  kann  sie  nicht  deuten;  auf  eine  aus- 


10  HEYM 

D<   du  genedeg  wurdeft  [mir] 
vfi  mir  dif  kuffef  fvzekeit.  | 
Gebeft  mit  def  vr[v]del  edelkeit 
h're  ih  gar  v'fmakt  bin.  | 
20.  d<  wer  danne  alle!  dahin. 
Dnf  marie'22C 
VIII.   1.  Mvt'  fw<   du  haft  gegert.  | 
Del  l'olt  tu  iem^  fin  gewH. 
poCt   h-  M   fur!?ef  nccip^  drini  ad  inan^  z  exibt  öf  plone  pt'  fyn- 
agogrn  maria  caiiete.  | 
H.  Egredimini  lilie  i'yon  et  yitete  regem   lalomone    in  diadema|te 
quo  corouauit  eun   mater   lua   in  die  defpöfacionil  illiuf  |  i   in 
die  leticie  cor  dif  vrT. 
pot't  h'  maria  recnb.  |  i  g^mio  dni  :  cätablt. 
I.    In  pace  inidipfü. 

quo  finito  |  ocenb;  2  mouetn  f  fet"»  ponet« 
oibuf  cätfitibnt'  |  :?, 
K.   felix  nanq  ef  T^  ora  prp  ppulo  in .  t^  v. 
9 V  v-fn  poCtea  1 

deportabitur.  öf  pfone  | 
L.   In  exitu  ilrahel  ex  egypto. 

qO   iportabit"  I  monaft^n  .  .  |  :? 
M.  Salue  nobilil  virga  Yelle  9f^  v^ 

lassung  aber  -oder  eine  störuntj  der  richtigen  Ordnung  scheinen  sie  mir 
nicht  hinsuioeüsen,  da  sie  nicht  vor  dem  ordo  stehn  und  der  text  in  der 
überlieferten  form  einen  guten  sinn  gibt,  übrigens  hab  ich  in  einem 
graduale  s.  XI/XII.  aus  Andechs  (dm.  3008^  fol.  59  ein  ganz  ähnliches 
seichen  hinter  dem  rot  geschriebenen  dominica  u.  vor  dem  text  gefunden, 
es  scheint  also  eine  bedeutung  für  die  liturgie  su  haben.  —  am  ende 
des  aerses  15  steht  ein  kleines  schwarzes  kreus.  mit  demselben  zeichen 
sind  die  letzten  5  verse  am  untern  rande  vom  2  Schreiber  nachgetragen. 

VIII  1.  halt  über  der  seile  eingefügt. 

H.  =  Cant.  cant.  III  11.  E  links  aus  der  seile  herausgerückt. 
corouauit  verschrieben  für  coronauit,  ebenso  eun  statt  eum.  der  culgata- 
text  hat  statt  vestri;  sui  oder  eius. 

I.  =  ps.  4,  9;  im  vulgatatext  fehlt  id. 

K.  ein  responsorium,,  an  Marienfesten  gebraucht;  text  s.  B.  bei 
Jod.  Clichtoveus  Elucidatorium  ecclesiasticum  fol.  94. 

L.  =  ps.  113,1-     (nach  der  Zählung  der  vulgata.) 

M.  die  letzten  buch.-<taben  von  monasterium  sind  beschädigt.  M  ent' 
weder  anfang  der  sequens,  deren  text  wir  bei  Kehrein  Lat.  sequ.  d.  m-a., 
nr  320 finden,  oder  wahrscheinlicher  ein  responsorium  der  assumptions' 


MAEIEN  HIMMELFAHRT  U 

N Cime 

9felTorib9  i  cipietib »  . : Iti | 

Ind'i  veuiet  ad  f'etrn  z  tu»  exeif  wlt  dic'e  corp»  M  cai  ad  h-ebit 
man  9  f-et»  ipe  ant  pet'  dic^ 

IX.  1.  Pete,  [lieb^h^jre  [mi]n 

[tv]  mir  din^  gnaden  fchin 
,  .  .  m[ir]  I  ef  Itat  [a]n  der  not. 
Aid  ih  mvf  leid^  geligen  tot. 
5.  ih  weif  d«  |  du  tuft  zeiken  groz. 
du  bilt  vf  erde  angelikin  genoz. 
Dv  folt  mih  def  genizen  lan. 
do  dih  die  luden  vahten  an. 
vü  I  Dih  weiden  vahen. 
10.  mit  dime  meift'  hahen. 
D<  ih  dir  do  heljfe  bot 
V  di  h  lölte  vö  d'  not. 
alle  löle  och  mir  min  hant. 
äd'  I  bare  vn  make  mir   ze  hant 

15.  min  hant  gelüt  y e  mih  | 

.  .  .  ini  .  .  ilt 

dnf  fynag  Heb' 

X.  1.  Liebv  doht'  yü  |  Iweft'  [z]ar[t] 

....  9  ...  .  mine  gart   .  . 
ob  du  dih   wilt  bekere.  | 
Ih  wil  din  [ere]  meren 

feier.     so  kenn    ich    es  aus    einem   Bamberr/er    antiphonar   d.    12  jhs. 
(msc.  lit.  24:)  und  einem  ebensolchen  des  11  Jhs.  (msc.  lit.  23^. 

IX.  eonfessoribus  incipientibos  durch  einen  riss  beschädigt,  neben 
den  leisten  seilen  der  seite  ist  am  rechten  rande  rote  schrift  sichtbar 
doch  ist  nur  wenig  zu  entziffern:  .  .  .  h'  p  .  .  . 

mit  ü.  6  schliesst  die  seite.  über  die  spielan Weisung  Judei  venient 
etc.  .9.  zu  Yl  1. 

IX  13  ff.  die  ungeschickte  häufung  des  wortes  „hanP'  lässt  mir 
die  richtigkeit  der  lesung  von  v.  14  (letzte  hälfte)  verdächtig  er- 
scheinen. 

IX  15.  vielleicht:  vn  ledege  mih,  vgl.  Konr.   v.  Heimesfurt  v.  689. 

16.  vielleicht:  wä  einic  ist  mir  heil  dur  dih. 

Im  anfang  von  X  hat  sich  der  Schreiber  verschrieben,  er  hatte 
wol  noch  den  anfang  der  vorigen  rede  im,  sinn,  wo  doch  jedesfalls 
petre,  lieber  herre  min  gestanden  hat,  nach  X  5  einige  Zeilen  unlesbar, 
sie  werden  etwa  6  verse  enthalten  haben. 

p.  11   vielleicht:  vn  ein  brunne  ift  dar  inne. 


12  HEYM 

5.  in  minen  garten  [wil  ihj  dih  wren.  | 

Den  han {ca  30  buchst.) 

aden  mag.  | 

12 ndl  .  . 

29 

10.  vfi 

49 ne.  I 

von  dem  mugen  dine  linne 
gewinnnen  ewig  vrode  |  groz. 
bezeikit  han  del  briinen  vloz. 
15.  Solih  dvgende  der  |  brünne  birt. 
Iw^  dar  inne  getofit  wirt. 
D«  d^  wirt  gar  rei  |  ne. 
vri  vor  allem  meine, 
kum  ze  mir  doht^  bekere  dih.  | 
20.  So  gib  ih  dir  d*  himelrih. 
tynagogra 
0.  Leua   eiuX  lub    capite  |  meo    et  dextera  illiuf  amplexabitur  me 

dfif  eccl'ie  d'  fynagg  | 
P.   vi  nea  mea  co  ram  me  elt  | 
(jnagoga  d'  diio. 

XL   1.  Ir  tohteran  von  ih'm. 

ir  mugent  alle  |  nu  wol  len.. 
D<  got  ilt  milt  vii  dabi  gvt. 
Sin  gnaden  tor  er  |  vf  tvt. 
5.  Sunden  die  lih  im  ergebent. 
ob  fv  dar  nah  in  recte  |  lebent. 
Sin  genade  fint  mir  noh  vnv^feit. 
£in  hant  het  er  |  mir  vnd^  geleit. 
vf  genade  bin  ih  zvzim  gegangen. 
Sin  I  zef''we  hat  mih  vmbe  vangen. 
dfif  eccl'ie  d'  fynagg  | 
XII.    1.  Trowe  ein  mvt^  d^  kriltenheit. 

X  17.  d*  über  der  seile  nachgetragen. 

0.  =  Cant.   c.  II  6   und  VIII  3.     hinter  dextera  steht  in  der    hs 
fälschlich  mea,  ist  aber  durchgeatrichetx. 
P.  =  C.  c.  Vm  12. 

XI  1.  cor  ih'm  stehn  2  schräge  striche  und  am  rande  mit  demselben 
zeichen  irl'm,  d.  i.  Jerusalem  (denii  ih'm  ist  abkürsung  für  Jhesum^. 

XII.  am  linken  rande  steht  neben  den  3  letzten  Zeilen  von  XI  mit 
roter  schrift: 


MARIEN  HIMMELFAHRT  13 

Iah  dir  d<   nit  wezen  leit. 
Min  I  wingarte  komin  ift  ze  mir. 
d'  mir  gar  leip  w<  vor  dir.  | 
5.  Nu  begonde  er  ab'  b'n  win. 

Der  trüken  makete  d<   volk  |  min. 
San  d<  ef  min  nit  erkennen  wil. 
fin'  bitt'keit  ift  |  alle  vil. 
Do  ih  in  allererft  getrank. 
10.  Def  todef  üaf  mih  |  Hafen  tvwank. 
Da  mit  ih  dinv  kint  erlofte. 
von  def  |  [alte  vin]def  rofte. 
[d]'  Jjnagoga  kint  ein  mikil  teil. 

w'  I    22 

Eccl'ia  dno 

Q.   lecte  mi 18 |  uor   fuper   mont 

26 I 

R.  adiuro  uos  filie 26 

post  h' 
i  g*mio 
.  .  0  ob 

V  rowe  ein  rnvt  .  ,  .  (den  anfang  con  XIIJ 

.  .  rmie 

XII  6.  volk  aus  wölk  riebeasert. 

Q.  ist  offenbar  C.  c.  II  17  entnommen:  revertere.  similis  esto, 
dilecte  mi.  capreae  hinnuloque  cervorum  super  montes  Bether,  oder 
"Vlil  14:  fuge,  dilecte  mi. 

hintervLoreinabkürsungsseichen,  das  Jedenfalls  die  silbe  -um  bedeutet. 
feR.  =  C.  c.  II  7  und  DI  5  und  VIII  4,  die  fast  denselben  Wort- 
laut haben,  oder  =  c.  c.  Y  8. 

c.  c.  V  8  findet  sich  auch  als  versus  eines  responsoriums  im  of- 
ficium, zu  Mariae  geburt,  clm,  23083,  fol.  100  b. 

am.  linken  rande  neben  den  letzten  3  seilen: 

nis  .  .  it  (üielleicht  auch  ie  oder  ir) 

.  .  .  sib. 

.  .  .  abus  (vielleicht  filiabur). 


14  HEYÄT 

II. 

Woher  stammt  unser  fragmentV  das  Amorbacher  archiv  enthält 
verschiedenartige  bestandteile  • :  zunächst  die  archivalien  deshauses 
Leiningen  und  seiner  verschiedenen  zweige  aus  der  zeit  ihrer 
herschaft  links  des  Rheines,  dann  diejenigen  die  sich  auf  die 
1803  erworbenen  gebiete  rechts  des  Rheines  beziehen,  alle  diese 
soweit  sie  nicht  verloren  oder  an  andere  regierungen  ausgeliefert 
sind;  schliefslich  ziemlich  vollständig  die  archivalien  der  ehe- 
maligen benedictinerabtei  Amorbach,  der  actenband  an  dem  sich 
das  fragment  fand,  gehört  der  ersten  gruppe  an;  es  war  ent- 
weder ein  altes  repertorium  oder  eine  Falkenberger  rechnung; 
er  mag  im   1 7  jh.  zusammengeheftet  worden  sein. 

In  der  Pfalz,  jedesfalls  in  der  gegend  von  Dürkheim  hat 
sich  demnach  die  hs.  vor  ihrer  Zerstörung  befunden;  vielleicht 
gehörte  sie  einstmals  der  bibliothek  des  benedictinerklosters 
Limburg  an,  die  kirche  von  kl.  Limburg  war  der  hl.  Maria 
geweiht  (W.  Manchot,  Kloster  Limburg  a.  d.  Hardt,  Mannheim 
1892,  s.  7  a.  2),  u.  1130  wird  von  bischof  Siegfried  v.  Speier 
eine  Mariencapelle,  anstofsend  an  den  chor,  geweiht,  die  abt 
Rupert  erbaut  hatte  (Manchot  s.  15).  damit  ist  nun  freilich 
nicht  gesagt,  dass  die  dichtung  selbst  dort  entstanden  sei;  sie 
kann  auch  von  einem  andern  oit,  vielleicht  ebenfalls  einem  kloster, 
dorthin  gebracht  worden  sein.  entscheidend  würde  hiefür  der 
dialekt  des  fragments  sein,  wobei  natürlich  in  erster  linie  der 
reim  zu  beachten  ist.  zu  diesem  zwecke  stehn  uns  aber  nur  83 
reimpaare  zur  Verfügung,  von  denen  überdies  noch  6  unsicher 
sind,  weil  ein  reimwort  ganz  oder  teilweise  ergänzt  ist. 

ä:a  reimt  in  3  fällen,  m  19  hän  :  man,  v  11  an:  hau  imi 
IX  7  län :  an.  dass  hän  auf  worte  mit  kurzen  a  reimt,  finden 
wir  sogar  bei  HvAue,  der  dagegen  län  nur  mit  langem  ä  bindet. 

Aulserdem  reimt  in  unserm  f ragm.  x  1 9  dih  :  himelrih. 
demnach  dürfte  wol  auch  v  3  minneklih :  lohelih  mit  kurzem  i 
anzusetzen  sein,  das  findet  sich  meist  im  alem.  und  rheinfrän- 
kischen (s.  Zwierzina  Zs.  45,  81  ff),  sonst  ist  die  Quantität  der 
vocale  beachtet,  und  auch  qualitativ  unreine  reime  fehlen:  e:^ 
kommt  nicht  vor,  freilich  überhaupt  kein  umlauts-f  im  reime,  und 
altes  e  nur  2  mal  (viu  1  u.  xi  5  f  j.    s  und  z  sind  im  allgemeinen  im 

*  ß.  Krebs  Archivgeschichte  des  hauses  Leiningen,  Speier  1898  (auch 
abgedruckt  in  den  Mitteilg.  des  hist.  ver.  für  die  Pfalz  li.  XXII). 


MARIEN  HIMMELFAHRT  t5 

reime  unterschieden,  doch  einmal  reimt  bereits  icas  (3  p.  sg):  gesaz 
(iv  1);  ferner  finden  wir  einmal  )ii :  n  gereimt  in  xi  1  Jerusalem: aen. 
das  ist  besonders  häufig  im  alem.,  der  reim  s  :  z  widerspricht  nicht. 

Da  die  reime  uns  also  nicht  genügend  auskunft  geben, 
können  wir  bei  der  dialektbestimmung  auf  den  übrigen  text  nicht 
verzichten,  hiebei  ergibt  sich  aber  die  frage:  wie  haben  sich 
die  beiden  abschreiber  ihrer  vorläge  gegenüber  verhalten?  in 
diesem  ihrem  verhalten  können  wir  einige  charaktei  istische 
unterschiede  feststellen,  wenn  wir  die  zahl  und  ait  der  offen- 
sichtlichen fehler  vergleichen,  die  ihnen  beim  abschreiben  unter- 
gelaufen sind,  so  ergibt  sich  folgendes,  der  erste  Schreiber 
schrieb  vn  1  dich  loben  statt  loben  dich,  sonst  können  wir  keinen 
fehler  feststellen,  gröfser  ist  ihre  zahl  beim  zweiten :  B  vinariü 
statt  vinariä,  C  rex  ausgelassen  und  übergeschrieben;  ii  2  vn 
ausgelassen  und  übergeschrieben:  in  15  scheint  ein  fälschlich 
geschriebener  wortanfang  getilgt  zu  sein,  iii  22  siget  für  siget; 
in  28  mih  fälschlich  geschrieben  und  ausgestrichen;  bei  D  und 
E  sind  die  Spielanweisungen  zusammengeschrieben;  von  vii  die 
letzten  5  verse  ausgelassen  (jedesfalls  noch  mehr;  vni  1  hast 
ausgelassen  und  übergeschrieben ;  H  corouauit  für  coronauit,  eun 
für  eum,  vri  für  eius  oder  sui;  vor  ix  ist  ein  teil  der  spielan- 
weisung  ausgelassen  und  auf  der  andern  seite  nachgetragen;  vor 
X  ist  der  anfang  des  deutschen  textes  zuerst  versehentlich 
falsch  geschrieben;  x  15  hrünne  also  mit  S  n  geschrieben; 
X  17  (Z^  ausgelassen  und  übergeschrieben;  0.  {dextera)mea  8ta,tt 
illius,  mea  ist  ausgestrichen  und  illius  dahintergeschrieben,  der 
Schreiber  hat  also  seinen  fehler  gleich  gemerkt,  xi  1  i'hm  für 
irl'm,  XI  10  in  zese^ve  das  mittlere  e  übergeschrieben  (m  21 
steht  zesewe  richtig);  xn  6  zuerst  ivolk  statt  volk,  nachträglich 
verbessert,  vielleicht  sind  auch  noch  hieher  zu  ziehen  vrindin 
(u  1)  und  leip  für  liep  (xn  4).  aufserdem  sind  am  rande  neben 
rx  und  xn  spuren  roter  schrift  sichtbar,  die  ebenfalls  auf  an- 
fängliche auslassungen  hindeuten. 

Das  wären  also  jedesfalls  20  fehler,  die  dem  zweiten  abschreiber 
zur  last  fallen;  dazu  kämen  vielleicht  noch  vier,  da  ihm  nun 
ungefähr  sieben  achtel  des  uns  vorliegenden  textes  gehören,  so 
dürften  wir  bei  gleicher  genauigkeit  der  beiden  abschreiber  nur 
etwa  7  fehler  bei  ihm  erwarten,  wir  finden  aber  bedeutend 
mehr,  die  freilich  meist  nachträglich,  teilweise  sofort,  verbessert 


16  HEYM 

sind;  es  ergibt  sich  demnach,  dass  auch  der  zweite  Schreiber  genauig- 
keit  beim  abschreiben  erstrebte,  dass  er  aber  öfter,  entweder 
seiner  vorläge  vorauseilend  oder  eigner  combination  folgend,  sich 
versehen  zu  schulden  kommen  liefs,  während  der  erste  sich  ängst- 
licher an  seine  vorläge  hielt. 

Was  nun  die  abweichungen  in  der  Orthographie  betrifft,  so 
sind  vor  allem  zu  beachten  die  Schreibung  des  harten  gutturalen 
Spiranten  im  auslaut  und  die  anwendung  des  -i  in  nachsilben. 
wie  schon  oben  erwähnt,  schreibt  der  erste  Schreiber  stets  -ch, 
der  zweite  am  anfang  zweimal  -ch,  sonst  immer  -h.  charakte- 
ristisch hiebei  ist.  dass  er  auch  inih  schreibt  an  der  stelle,  wo 
er  es  fälschlich  setzt  und  nachher  wider  ausstreicht  (in  28);  es 
lag  also  vermutlich  in  seiner  gewohnheit.  diesen  laut  mit  h  zu 
bezeichnen,  da  aber  der  erste  Schreiber  immer,  der  zweite 
wenigstens  zweimal  am  anfange,  wo  er  seiner  vorläge  noch  ge- 
nauer folgte,  ch  setzt,  so  dürfen  wir  annehmen,  dass  ch  in  der 
vorläge  stand. 

In  den  bildungssilben  mit  unbetontem  e  schreibt  der  erste 
Schreiber  immer  e,  nur  einmal  finden  wir  das  enklitisch  an  sold{e) 
angelehnte  es  mit  i  geschrieben,  anders  ist  es  beim  zweiten 
Schreiber,  er  hat  zwar  auch  meist  e;  es  finden  sich  aber  mit  i 
folgende  formen:  minnin  in  27,  gesfrikin  v  7,  angelikin  ix  6, 
komin  xn  3,  dazu  tuginde  n  9  (dem  stehn  49  -en  gegenüber); 
krenkint  iii  28,  hezeikint  x  14  (4 mal  -ent);  konegis  m  13 
(5 mal  -es);  mikll  xn  13  (Imal  -el)]  gelikit  n  5,  erhoehit 
n  8,  verwundit  m  27,  rekit  ni  29,  hovhit  in  29,  verwundit 
V  6,  geminnit  v  12,  gefovfif  x  16  (2 mal  -et),  im  ganzen 
haben  wir  also  17  mal  i;  das  ist  ein  bedeutend  gröfserer  procent- 
satz  als  beim  ersten  Schreiber;  besonders  aber  fällt  die  häufig- 
keit  von -i^  gegenüber -e^  auf.  auch  hier  deuten  die  tatsachen  da- 
rauf hin,  dass  in  der  vorläge  e  in  den  unbetonten  bildungssilben 
stand,  demgegenüber  waren  jedesfalls  beide  Schreiber  gewohnt, 
i  abwechselnd  mit  e  zu  gebrauchen,  der  zweite  hauptsächlich  in 
der  Silbe  -et.  ebenso  wie  im  oben  behandelten  falle  folgte  er 
seiner  schreibgewohnheit  in  solchen  dingen,  bei  denen  es  auf  die 
form  weniger  ankam;  der  erste  dagegen  schrieb  treuer  ab. 

Unter  diesen  umständen  werden  wir  wol  nicht  fehl  gehn, 
wenn  wir  folgendes  feststellen:  der  erste  Schreiber  war,  wie  schon 
seine  schrift  zeigt,  weniger  gewant  als  der  zweite,  hielt  sich  aber 


MARIEN  HIMMELFAHRT  17 

mit  ziemlicher  genauig-keit  an  seine  vorlag-e.  der  zweite  war  ge- 
wanter;  er  folgte  in  dingen  die  ihm  unwichtig  schienen,  seiner 
Schreibgewohnheit,  übersprang  anch  öfter  worte  oder  ganze  sätze 
indem  seine  gedanken  seiner  feder  vorauseilten,  war  aber,  wie 
die  zahlreichen  Verbesserungen  beweisen,  bestrebt,  ebenfalls  das 
original  getreu  widerzugeben,  es  ist  also  anzunehmen,  dass  in 
den  fällen  in  denen  beide  Schreiber  übereinstimmen,  die  abschrift 
der  vorläge  entspricht;  wo  sie  abweichen,  kommt  dagegen  dem 
ersten  Schreiber  die  gröfsere  glaub  Würdigkeit  zu. 

Der  vocalismus  weist  nun  in  alemannisches  Sprachgebiet, 
einerseits  sind  i,n  und  iu  nicht  diphthongiert,  anderseits  sind  ie 
und  uo  als  diphthonge  erhalten,  ebensowenig  findet  sich  der  um- 
laut  von  uo  als  monophthong.  statt  iu  erscheint  freilich  im  nom. 
sg.  fem.  oder  n.  acc.  pl.  ntr.  disv  rede  rv  13,  dinv  kint  xii  11, 
aber  dem  gegenüber  steht  7  mal  v^  davon  2  mal  beim  ersten 
Schreiber,  anderseits  treffen  wir  die  form  sv  (n.  pl.  m.)  xi  6 ; 
vermutlich  wüste  der  Schreiber  mit  der  ihm  fremden  endung 
nicht  recht  bescheid  und  machte  deshalb  beim  abschreiben  fehler; 
in  der  vorläge  wird  wol  meist  iu  anzunehmen  sein,  was  eben- 
falls nach  Alemannien  weisen  würde,  die  Schreibung  genizen 
IX  7  neben  zahlreichen  ie  dürfte  wol  auch  eine  entgleisung  des 
zweiten  Schreibers  sein,  andernfalls  würde  sie  nach  Mitteldeutsch- 
land weisen,  umgekehrt  schreibt  derselbe  iv  8  icierovch.  als 
parallele  hiezu  kauu  ich  aufser  den  bei  Weinhold,  AI.  gr.  §  63 
102  und  135  angegebenen  beispielen  noch  anführen:  S.  Trudperter 
H-lied  40.  z.  17  ivierovche,  während  s.  56,  21  weirouch  u.  sf 
56,  26  wirouch  steht. 

Das  w^ort  "freund"  erscheint  beim  ersten  Schreiber  als  vrvn 
(vii  1 3),  ■  der  zweite  hat  vn  18  den  genetiv,  doch  ist  gerade 
hier  nicht  zu  ermitteln,  ob  über  dem  v  ein  '  gestanden  hat,  da 
der  buchstabe  stark  verwischt  ist,  sonst  finden  wir  bei  ihm  die 
form  frundinne  (v  1 )  und  vrindin  n  1 ;  wir  können  also  auch 
hier  wider  ein  schwanken  in  der  Schreibung  feststellen,  frun- 
dinne ist  die  gewöhnlichste  md.  form,  vrindin  kann  ein  Schreib- 
fehler sein,  dann  würde  es  vielleicht  auf  iu  in  der  vorläge  hin- 
weisen, jedesfalls  dürfen  wir  in  der  vorläge  iu  in  diesem  worte 
voraussetzen. 

Der  Umlaut  ist  nicht  ganz  regelmäfsig  graphisch  ausgedrückt. 
a )  e.      beim   ersten   Schreiber    finden  sich  nur  die  umgelauteten 
Z.  F.  D.  A.  LH.    N.  F.  XL.  2 


18  HEYM 

formen,  der  zweite  hat  auch  meist  den  umlaut.  unter  andern  auch 
die  nid.  häutige  form  erbeit,  daneben  auch  ein  unumg:elautetes 
beispiel,  nämlich  apheln  (d.  pl.).  vielleicht  hat  hier  ebenfalls  e  in  der 
vorläge  gestanden,  doch  ist  die  form  auch  im  alemannischen 
immerhin  möglich. 

0  )  ö,  der  umlaut  kommt  nicht  vor.  es  linden  sich  folgende 
formen,  die  mhd.  auch  schon  umgelautetes  o  haben:  toläere  ni2\, 
tohteran  xi  1.  (jotUchen  vi  14;  davon  gehören  die  beiden  ersten 
dem  zweiten,  die  letzte  dem  ersten  Schreiber,  ein  kriterium  für 
die  herkunft  des  Stücks  lässt  sich  jedoch  hieraus  nicht  gewinnen. 

u )  ü.  der  umlaut  von  u  findet  sich  in  unserm  fragment 
8 mal:  huhsch  n  1,  ivr  snne  ni  10,  hfinifi  in  15.  iv  1,  käniginne 
V  2,  hüscheUin  iv  9,  jüdescheit  vn  7.  nicht  umgelautete  formen 
sind  die  folgenden:  vnr  m  20,  im  selben  stück  steht  mt,  s.  oben 
wwrc?esf  (2.  p.  s.  conj.  praet.),  hrusfeu  :  gelüsten  iv  11.  auch  hieraus 
können  wir  nichts  für  den  dialekt  entnehmen. 

ä )  ce.  dieser  umlaut  ist  vollständig  durchgeführt,  wird 
aber  nicht  von  dem  umlaut  des  a  unterschieden,  sondern  conse- 
quent  e  geschrieben. 

0  )  (B.  wie  die  reime  thron  :  schon  und  erloste  :  roste  (d.  sg.) 
beweisen,  gehört  hier  das  fehlen  des  umlautes  schon  der  vor- 
läge an.  aulserdem  kommen  noch  2  mal  die  formen  schon  vor 
n  3,  V  4,  ferner  loste  v  16,  während  sonst  n  S  erhöhit,  ix 
12  u.  13  löste  und  löse  steht,  der  normale  reim  loste:  röste  kommt 
auch  bei  Hartmann  vor,  Iw.  7871,  loste  überhaupt  im  reim 
1 1  mal.     auch  schon  ist  häufig. 

ü  )  iu  kommt  nicht  vor. 

QU )  öu.  das  wort  'freude'  finden  w'ir  3  mal  mit  unum- 
gelautetem  vocal:  n  3,  m  32,  x  13.  das  ist  sowol  alem.  wie  md. 
möglich. 

uo  )  üe.  HO  wird  regelmälsig  durch  v  (»)  ausgedrückt ;  nur 
in  vlnch  vn  1 0  beim  ersten  Schreiber  steht  u  mit  einem  zeichen, 
das  einem  circumflex  ähnelt,  es  sieht  nicht  aus,  als  ob  etwa 
der  untere  teil  eines  o  ver-svischt  und  nur  der  obere  übrig  ge- 
blieben sei.  sollte  es  langes  u  bedeuten,  so  würde  es  wol  ein 
Irrtum  des  md.  Schreibers  sein,  dier  umlaut  von  v  ist  durch  v 
ausgedrückt  in  svzen,  m  20,  iv  2,  iv  7  sv  vn  17,  eitzekda.- 
gegen  finden  wir  svzekeit  m  11,  wren  x  5,  vlrtte  in,  15,  alle 
diese  formen  beim  zweiten  Schreiber,     der  erste  bietet  den  reim 


MARIEN  HIMMELFAHRT  19 

gi-tc:  yemvte  vi  9:10.  der  reim  ist  -sicher  als  reiu  zu 
betrachten,  und  es  ligt  bei  dem  einen  reinnvorte  ein  Irrtum  des 
Schreibers  vor.  die  ganze  Sachlage  zeigt,  dass  in  der  gewöhnung 
der  Schreiber  der  umlaut  nicht  scharf  von  dem  unumgelauteten 
vocal  geschieden  wurde,  das  ist  vorwiegend  md.  eigentümlichkeit; 
die  vorläge  enthielt  jedenfalls  den  umlaut,  und  die  unumgelauteten 
formen  sind  auf  rechnung  der  md.  Schreiber  zu  setzen. 

Auf  dem  gebiete  des  vocalismus  mag  noch  folgendes  er- 
wähnt werden,  es  finden  sich  nur  die  formen  sol  und  soJt,  und 
zwar  bei  beiden  Schreibern,  niemals  sal  und  sali,  wie  das  wort 
in  md.  mundarten  meist  lautet. 

Was  die  vocale  der  endsilben  betrifft,  so  ist  oben  schon 
hingewiesen  auf  die  anwendung  von  i  für  tonloses  e.  besonders 
häufig  ist  dies  im  md.,  wenn  es  auch  im  alemannischen  durchaus 
nicht  fehlt,  vgl.  Weinhold  AI.  gr.  §  22  u.  145.  beim  ersten 
Schreiber  finden  wir  nur  einmal  -is  {-es  in  der  enklise),  der 
zweite  Schreiber  hat  15 mal  i;  charakteristisch  ist,  dass  er  2 mal 
int  schreibt,  aber  nicht  in  der  zweiten  pers.  plur.,  die  immer 
ent  lautet,  das  weist  im  verein  mit  dem  verhalten  des  ersten 
Schreibers  darauf  hin,  dass  in  der  vorläge  e  stand  und  dass  i  in 
der  Schreibgewohnheit  der  beiden  md.  Schreiber  seine  erklärung 
findet. 

Die  formen  zellun  und  toliteran  sind  ebd..  vgl.  AI.  gr. 
§  408  und  409. 

Secundärvocale  finden  wir  4 mal:  2 mal  zeseioe;  davon  ist 
einmal  das  mittlere  e  ausgelassen  und  dann  darübergeschrieben, 
das  zeigt  deutlich,  dass  es  in  der  vorläge  gestanden  hat.  ferner 
steht  tvwank  xii  10  und  zewifel  vii  12.  (vielleicht  käme  noch 
vuruht  ni  7  in  betracht,  wenn  es  sich  hier  nicht  um  einen 
schreib-  oder  lesefehler  handelt.)  die  verhältnismäfsige  häufig- 
keit  der  secundärvocale  weist  auf  Oberdeutschland  hin. 

Consonanten.  auch  hier  geb  ich  nur  das  was  nach 
irgend  einer  richtung  hin  auffällt. 

n  am  wortende  statt  m  ist  im  alemannischen  häufig  (Whd. 
Mhd.  gr.  §  215,  AI.  gr.  §  172  und  203);  in  unserm  fragment 
begegnen  wir  dem  reim  Jerusalem  :  sen  xi  1:2,  ferner  im  text 
arn  i  4. 

Das  n  der  inf.-endung  -en  ist  überall  wol  erhalten,  während 
es  im  md.  (thür.  ostfränk.)  leicht  verschwindet. 


20  HEYM 

vih  ist  erhalten  und  nicht  wie  im  rad.  in  iiini  übergegangen. 

In  der  gutturalreihe  fällt  die  Verwendung  des  k  für  ch  (h) 
auf.  es  finden  sich  folgende  formen:  gemaket  i  1,  gellkit  ti  5, 
sundedike :  iciinderlike  n  6 :  S,  geliker  m  9,  sunderlike  in  25, 
genirikin  v  7,  rlkes  v  18,  rike:  getfelikevi,]  :  2,  versmakt  \n  19, 
zeiken  ix  5,  angelikin  ix  6.  make  ix  14,  hezeikint  x  14,  mnkefe 
xn  (5,  wiä:j7  xn   13. 

Dazu  kommen  fruct  iii  13  und  rec^e  xi  6,  in  denen  c  an 
stelle  von  k  tritt,  demgegenüber  finden  wir  ch  oder  h  in  fol- 
genden formen:  tohtere  iii  21,  doJifer  v  18,  x  1,  19,  tohferan 
XI  1.  rechte  iv  8,  rechtekeit  vn  8,  merjite  vu  13,  hrechf e  vii  14. 
vahten  ix  8,  t;r?</<f  in  G. 

Da  beide  Schreiber  dieses  A'  schreiben,  so  dürfte  es  der  vor- 
läge angehören,  auch  das  ist  eine  vorwiegend  alemannische 
erscheinung;  vgl.  AI.  gr.  §  208.  ebenso  ist  alemannisch  das  c 
wie  in  fruct  und  rede,  die  allerdings  nur  bei  dem  zweiten 
Schreiber  vorkommen,  interessant  ist,  dass  dieses  k  auch  in  eine 
silbe  eingedrungen  ist,  in  der  es  gar  keine  berechtigung  hat 
nämlich  in  erbeitzeliken,  wo  eigentlich  g  stehn  müste.  es  ist 
offenbar  durch  falsche  analogie  entstanden,  ob  es  aber  dei-  vor- 
läge oder  dem  zweiten  Schreiber  unseres  fragments  zur  last  zu 
legen  ist,  lässt  sich  nicht  mit  Sicherheit  entscheiden. 

Über  das  auslautende  ch  und  h  ist  schon  oben  gehandelt 
worden,  hier  wäre  nur  die  form  Iah  xn  2  (2  p.  sg.  imper.)  nach- 
zutragen, die  nur  alemannisch  belegt  ist;  vgl.  AI.  gr.  s.  191. 
Whd.  Mhd.  gr.2  §  234. 

Dentale,  anlautend  steht  in  unserm  bruchstücke  ent- 
sprechend dem  westgerm.  d  abwechselnd  t  und  d:  tode  i  5,  tot 
V  65,  todes  xn  10,  tot  ix  4,  tugenden  n  7,  tuginde  u  9,  du- 
gende  x  15,  tohtere  in  21,  tohteran  xi  1,  dohter  v  18,  x  1  und 
19,  ii't  in  30,  XI  4,  tvst  ix,  5,  tete  vi  7  tor  xi  4,  tor7i  iv  5, 
tumbe  IV  14,  getovfit  x  16,  trunken  xn  6,  getrank  xii  9,  teit  xn 
13.  ferner  für  germ.  t  in  der  Verbindung  tr  truwe  m  19,  trut 
II  4,  V  1.  in  dem  lehnworte  thron  steht  th  (in  23)  und  in  don 
(m  22)  d.  statt  des  germ.  p  steht  anlautend  meist  d,  einige- 
male  jedoch  auch  t.  hieher  gehören  die  öfters  widerkehrenden 
formen  dur,  dir,  dich,  diu  usav.,  der  und  die  übrigen  formen 
dieses  pronomens,  dar,  do,  danne,  disv,  dagegen  betüte  iv  13, 
tu  VIII  2  und  tü/vauk  xn   10. 


MARIEN  HIMMELFAHRT  21 

In  bezug  auf  iulautendes  t  und  d  sind  zu  erwähnen  die 
formen  santent  vi  G,  waltest  vi  13,  gegenüber  erkundest  vi  2, 
soldis  VII  9  und  wolden  ix  9. 

In  der  anwendung  von  t  und  d  herscht  also  ziemliche  Will- 
kür, oberdeutsch  ist  wenigstens  im  anlaut  d  entsprechend  dem 
westgerm.  d  verhältnismäfsig  selten;  es  würde  also  diese  Will- 
kür wider  auf  md.  eigenart  des  Schreibers  hinweisen,  sie  ist 
aber  nicht  unbedingt  beweisend,  da  auch  obd.  das  gleiche  sich 
findet,  s.  AI.  gr.  §    179,    169  und   180. 

germ.  t:  bei  dem  zur  affricata  verschobenen  t  ist  im  anlaut 
nichts  zu  bemerken;  bei  dem  im  inlaut  stehnden  t  ist  nur  ge- 
sezede  mit  einfachem  consonanteu  zu  erwähnen. 

Das  zum  Spiranten  verschobene  germ.  t  muss  im  dialekt 
des  fragments  dem  germ.  s  schon  sehr  ähnlich  geklungen  haben, 
das  beweist  der  reim  was  (H.  p.  sg.  praet.):  gesaz  iv  1:2,  wäh- 
rend sonst  regelrecht  gereimt  wird  gesaz:  laz  m  11:12,  groz 
:  genoz  ix  5:6,  groz :  vioz  x  13:14.  das  zeichen  <  steht 
unterschiedslos  für  as  und  az;  17  mal  d!<  für  daz,  1  mal  l< 
für  laz,  1  mal  «■<  für  rvaz  (acc.  sg.),  7  mal  w<  für  was  (praet.) 
auch  sonst  steht  auslautend  s  öfter  für  z:  us  ii  2,  des  (acc.  sgV 
für  daz)  iv  14,  es  (acc.  sg.)  v  11,  soldis  (n.  sg.?)  vn  9,  alles 
(n.  sg.)  vn  20,  muos  ix  4,  loeis  ix  5,  es  (n.  sg.)  xii  7.  im  in- 
laut finden  wir  meist  z  richtig  verwant,  nur  einmal  steht 
ivissen  mit  ss,  iv  1 4,  während  das  wort  in  v  15  noch  richtig 
mit  zz  geschrieben  ist.  umgekehrt  steht  je  einmal  im  anlaut 
und  im  inlaut  z  für  s:  erheitzeliken  v  9,   wezen  xii  2. 

Die  vertauschung  von  s  und  z  gehört  offenbar  schon  der 
quelle  an,  gibt  jedoch  kein  sicheres  kriterium  für  die  herkunft 
des  fragments.  reime  zwischen  auslautendem  z  und  s  sind  seit 
mitte  des  1-3  jhs.  oberdeutsch  zahlreich  zu  belegen,  finden  sich 
aber  auch  im  mitteldeutschen  nicht  selten  (Whd.  AI.  gr.  §  188; 
Whd.  Mhd.  gr.2  §  204  u.  205). 

Als  dialektische  form  kommt  in  betracht  die  2  p.  pl.  auf 
-ent:sigent  (imper.)  ui  22  und  mugent  ix  2,  als  dialektisches 
wort  die  conjuuction  ald  ix  4  (Whd.  Mhd.  gr.'-^  §  33 1).  beides 
weist  W'ieder  auf  Aleraannien  hin. 

Man  darf  also  das  ergebnis  dieser  Untersuchung  dahin  zu- 
sammenfassen, dass  wichtige  und  entscheidende  gründe  dafür 
sprechen,  als  den  ursprünglichen  dialekt  der  dramatischen  dich- 


22  HEYM 

tung  den  alemannischen  anzunehmen,  dagegen  können  alle 
mitteldeutschen  eigentümlichkeiten  des  uns  vorliegenden  textes 
als  rückfälle  mitteldeutscher  Schreiber  in  ihre  schreib- 
gewohnheit  erklärt  werden,  daneben  verbleiben  eine  anzahl  von 
Schreibungen,  die  sowol  obd.  wie  md.  möglich  sind,  also  für  die 
dialektbestimmung  nicht  verwendet  werden  können. 

Zum  reirageb  rauch  des  vis  möcht  ich  aufser  dem  schon 
oben  gesagten  noch  folgendes  bemerken,  den  reim  handhabt 
der  dichter  mit  leichtigkeit,  wenn  auch  ohne  besondere  kunst. 
was  die  häufigkeit  der  reimvocale  betrifft,  so  fällt  mir  auf,  dass 
i  weitaus  am  meisten  im  reim  erscheint,  für  86  reimpaare  steht 
der  vocal  der  reim  tragenden  silbe  fest;  hie  von  haben  24  t,  also 
ca.  280/0,  12«  (ca.  14  Wo),  12  a  (ca.  14  0/o),  10  o  (11,  ßO/o), 
9  ei  (10,  4  "/o);  auf  diese  5  vocale  entfallen  also  78  "0  aller 
reime,  während  der  rest  sich  auf  die  übrigen  verteilt,  gar  nicht 
finden  sich  e,  ie,  ö,  oe,  öti,  ü. 

Wir  haben  hier  also  ein  ganz  anderes  Verhältnis,  als  zb. 
bei  Hartm.  v.  Aue,  bei  dem  die  reime  mit  ä  ungefähr  doppelt  so 
häufig  vorkommen  wie  die  reime  mit  I.  die  häufigkeit  des  i  in 
nnserm  fragment  hat  natürlich  z.  t.  ihren  grund  darin,  dass  in 
der  wechselrede  des  dramas  reime  auf  mir  und  mich,  dir  und  dich 
besonders  nahe  liegen,  diese  kommen  denn  auch  im  reime  auf- 
einander vor  an  folgenden  stellen  I  3  mich  :  dich,  II  5  :  7  sich  : 
dich,  III  17  mich  :  dich,  VII  1  dich  :  sich,  IX  15  mich  :  (dich) 
VI  1 5  dir  :  mir,  VI  3  mir  :  dir,  VII  1 5  dir  :  mir,  im  reime 
auf  andere  worte:  X  19  dich  :  himelrich,  VI  3  gir  :  mir,  ferner 

unsicher,  auf  welches  wort  V  14 .*  dih.     das  sind  also  von 

24  reimen  11 ;  es  bleiben  aber  noch  immer  mehr  reime  mit  i  übrig 
als  mit  ä.  auch  die  reime  auf  i  betragen  bei  Hartm.  nur  etwas 
über  ein  drittel  der  zahl  derjenigen  auf  ä;  in  unserm  fragment 
sind  sie  ebenso  zahlreich  wie  diese. 

Hiebei  ist  bemerkenswert,  dass  das  nachgestellte  possessivum 
mm  und  dhi  ziemlich  häufig  im  reime  verwant  wird,  min  8  mal 
(II  1,  III  29,  IV  10,  IV  18,  VI  8,  VII  6,  IX  1,  XII  6),  din  1  mal 
(II  3);  sin  kommt  nicht  vor.  es  schliefsen  also  mehr  als  5"/o 
aller  verse  mit  einem  dieser  worte,  während  bei  den  von  Zwier- 
zina  verglichenen  dichtem  mit  einer  ausnähme  (Rudolf)  sich  noch 
nicht  10/0  findet;  auch  Rudolf  hat  nur  1,7  c'/n  (s.  Zs.  45,  258ff.). 
in   unserm  fragment    reimt  sogar  1  mal  min  :  din  (II  1  :  3),    das 


MARIEN  HIMMELFAHRT  23 

ist  eine  bindung,  die  von  den  höfischen  dichtem  ebenfalls  f?e- 
mieden  oder  wenigstens  nur  zu  bestimmten  zwecken  angewendet 
wird,  hier  ist  eine  besondere  künstlerische  absieht  nicht  erkenn- 
bar, anderseits  wird  die  härte  des  reimes  dadurch  gemildert,  dass 
die  beiden  reimzeilen  durch  eine  anders  reimende  getrennt  werden. 

Auch  das  des  reimes  wegen  nachgestellte  untlectierte  adject. 
findet  sich  in  unserm  fragment;  es  kommt  4  mal  vor  und  zwar 
niemals  prädicativ  gebraucht:  zart  X  1,  schon  III  24,  groz  IX  5 
und  X  13.  wir  sehen  demnach,  dass  sich  der  dichter  gerne  formel- 
hafter Wendungen  für  den  reim  bediente  (auch  äne  iriderstnt 
I  6  ist  eine  solche,  vgl.  Zs.  45,  263),  um  sich  aus  der  Verlegen- 
heit zu  helfen,  dazu  kommt,  dass  auch  der  rührende  reim  recht 
häufig  verwendet  wird:  hant :  haut  IX  13,  süezekeit : edelkelt  VII 17, 
minneklich  :  lohelich  V  3,  sunäerlike  :  wiinderlike  II  6  :  8  •,  ronch  : 
ivierouch  IV  7.  das  sind  also  beinahe  6^/0  aller  reime,  und 
dabei  sind  noch  gar  nicht  mitgerechnet  die  reime  Jüdcschcit  : 
rechfekeif  VII  7  und  menscheheit :  irrekeit  VII  11,  die  der  dichter 
jedesfalls  gar  nicht  mehr  als  rührende  empfand,  die  aber  doch 
sonst  gemieden  werden.  Hartmann  reimt  z.  b.  ein  wort  mit  der 
endsilbe  heit  nie  mit  einem  gleichartigen'-,  sonst  ist  in  den  Hart- 
maunschen  epen  das  Verhältnis  der  rührenden  reime  zur  gesamt- 
zahl  im  Erec  1,14  Oq,  im  Gregor  0,55%,  im  a.  H.  0,46'Vii,  im 
Iwein  0,37"/,,. 

In  den  eben  besprochenen  eigentümlichkeiten  berührt  sich  der 
dichter  unseres  fiagments  eher  mit  dem  von  Milchsack  (P.  Br. 
Beitr.  5,  193)  herausgegebenen  gedieht  'Unser  vrouwen  klage' 
und  zwar  hauptsächlich  mit  den  von  dem  zweiten  bearbeiter  hin- 
zugefügten teilen  (hss.  G,  H,  I,  K,  L  u.  M).  während  bei  dem 
ersten  bearbeiter  die  reime  mit  ä  21,92  "/o  betragen,  machen  sie 
beim  zweiten  nur  10,84  o/^  aus.  dafür  sind  bei  diesem  16,260/o 
reime  mit  l  vorhanden  und  ebensoviel  mit  i,  beim  ersten  be- 
arbeiter nur  12,8 "^Vo  und  10,88  0/0,  immer  noch  verhältnismäfsig 
viel,  das  umlauts-e  kommt  beim  zweiten  bearbeiter  unter  203 
verspaaren  gar  nicht  vor,  beim  ersten  allerdings  auch  selten,  näm- 
lich unter  828  reimpaaren  nur  6  mal.     reime  mit  ei  finden  sich 

'  hier  scheint  allerdings  eine  absieht  vorzuliegen,  da  auch  der  erste 
bestandteil  der  beiden  worte  mitreimt. 

-  vgl.  die  ausführungeu  Zwierzinas  über  den  rührenden  reim, 
Zs.  45,  286  ff. 


24  HEYM 

beim  ersten  bearbeiter  6,58 '\o)  beim  zweiten  9,36  »/o,  solche  mit 
6  beim  ersten  7,78  **/o,  beim  zweiten  7,98 "/o-  <iie  reime  auf  diese 
5  vocale  machen  also  beim  ersten  bearbeiter  59,96,  beim  zweiten 
61,70%  aller  reime  aus  (im  fragment  78%).  reime  auf  ö  und 
iii(  kommen  bei  keinem  von  beiden  vor;  der  zweite  hat  ausserdem 
keinen  auf  f.  ü  und  üe;  bei  beiden  bleiben  die  procentzahlen  in 
den  reimen  mit  ce,  ou,  ce,  fi,  ü,  iu  und  üe  unter  1^'  o-  reime  von 
d  :  a  kommen  beim  ersten  bearbeiter  14  mal  vor  (2,24  ^/,j),  beim 
zweiten  6  mal  (2,98  "/(j);  nur  beim  ersten  finden  sich  /  ;  i  (2  mal) 
e  :  q  (2  mal),  i  :  ie  (1  mal),  a  :  o  (1  mal). 

Das  nachgestellte  Personalpronomen  min,  din,  sin  findet  sich 
beim  ersten  bearbeiter  30  mal  =  2,4 oj^,  beim  zweiten  6  mal.  in 
nahezu  l,5f'/o  aller  verse.  der  erste  bearbeiter  hat  13  rührende 
reime,  davon  3  auf  -keit,  außerdem  2  mal  -heit :  -keif,  die  der 
dichter  vermutlich  nicht  mehr  als  rührende  empfand,  der  procent- 
satz  der  würklichen  rührenden  reime  ist  also  1,04,  das  sind  nicht 
überraälsig  viele,  und  die  reime  auf  -keit  :  -keif  nehmen  keine  be- 
vorzugte stelle  ein.  der  zweite  bearbeiter  hat  6  rührende  reime, 
darunter  5  mal  -keit :  -keit,  das  sind  beinahe  3  %  aller  reime, 
dazu  kommen  noch  vier  reime  von  -keit  :  -heit. 

Wir  bemerken  demnach,  dass  unser  dichter  mit  dem  zweiten 
bearbeiter  in  der  reimtechnik  mancherlei  ähnlichkeiten  aufweist, 
doch  war  er  noch  weniger  sorgfältig  als  dieser;  er  bemüht  sich 
zwar,  rein  zu  reimen,  legt  aber  im  übrigen  kein  groCses  gewicht 
auf  abwechslung  und  auswahl  der  reime  und  begnügt  sich  sehr 
oft  mit  dem  nächstliegenden. 


III. 

Die    kirchliche    tradition    berichtet   über   den    tod   und   die 
himmelfahrt  Mariae  in  den  hauptzügen  folgendes  ^: 

Nach  der  himmelfahrt  ihres  sohnes  lebt  Maria  in  Jerusalem, 
über  die  dauer  ihres  lebens  schwanken  die  angaben,  drei  tage 
vor  ihrem  tode  erscheint  ihr  ein  engel,  der  ihr  einen  palmen 
zweig  aus  dem  paradiese  bringt  und  ihr  bevorstehndes  ende 
verkündigt,  am  tage  ihres  todes  werden  alle  apostel,  die  weit 
in  der  weit  zerstreut  sind,  plötzlich  bei  Maria  versammelt; 
Johannes    erscheint   zuerst.     Maria  bittet  sie  bei  ihr  zu  wachen 

'  .s.  Tischentlorf,  Apocalypses  apociyphae,  Leipzig  1866. 


MAEIEN  HIMMELFAHRT  25 

und  mit  ihr  zu  beten,  zur  vorher  bestimmten  zeit  kommt  Chri- 
stus und  nimmt  die  seele  seiner  mutter  in  den  himniel.  in 
einigen  bearbeitungen  geht  ein  Zwiegespräch  zwischen  dem 
Herrn  und  Maria  voraus,  die  apostel  tragen  dann  Maria  zu 
grabe  in  das  tal  Josaphat.  unterwegs  wird  der  zug  von  Juden 
überfallen,  die  den  leichnam  der  mutter  Christi  verbrennen 
wollen,  einer  von  ihnen  will  die  bahre  oder  den  leichnam 
selbst  zur  erde  werfen,  aber  er  bleibt  daran  hängen,  während 
der  übrige  häufe  mit  blindheit  geschlagen  wird  (so  wenigstens  in 
der  bekanntesten  recension,  bei  Tischendorf:  Transitus  Mariae 
[TM]  B,  cap.  XII  [XI  cod.  Yen.]),  er  bittet  die  apostel  oder 
Petrus  allein  (T  M.  B.)  um  hilfe,  bekennt  seinen  glauben  an 
Christus  und  dessen  jungfräuliche  mutter  und  wird  geheilt,  auch 
das  erblindete  volk  wird  wieder  sehend,  bis  auf  einige  die  im 
Unglauben  verharren  (T  M.  B.).  es  erfolgt  dann  die  beisetzung 
der  leiche.  am  dritten  tage  aber  erscheint  der  Herr  abermals 
und  nimmt  auch  den  körper  seiner  mutter  zu  sich  in  den  himmel. 

Das  Amorbacher  bruchstück  bietet  uns  die  scenen  beim  tode 
der  Maria  und  bei  ihrem  begräbnis.  es  treten  auf  1.  Dominus, 
2.  Maria,"  3.  Judaei.  4.  Petrus,  der  einmal  angeredet  wird,  und 
andere  confessores  (s.  im  ordo  vor  IX:  confessoribus).  das  sind 
dieselben  die  wir  in  sämtlichen  bearbeitungen  dieses  gegen- 
ständes finden,  es  kommen  ferner  hinzu  die  töchter  Syon,  die 
zwar  im  ocdo,  soweit  er  sicher  lesbar  ist,  nirgend  genannt,  aber 
im.  text  verschiedene  male  angeredet  werden:  III  21  Darumhe 
ir  tohtere  von  syon;  H.  Egr edimini  filie  Sion;  XI  1  Ir  tohte- 
ran  von  Jherusalem.  eingeführt  sind  sie,  wenn  sie  überhaupt 
würklich  auftraten  und  die  anrede  an  sie  nicht  blofs  conventioneil 
ist,  offenbar  im  anschluss  an  das  Hohelied;  mit  den  3  Jungfrauen, 
die  nach  T  M.  A.  bei  der  mutter  des  Herrn  sind,  möcht  ich  sie 
nicht  zusammenbringen. 

Aufserdem  aber  treten  hier  ganz  abweichend  von  den  sonsti- 
gen bearbeitungen  noch  auf  Ecclesia  und  Synagoga. 

In  bezug  auf  den  gang  der  handlung  ist  nicht  alles  klar, 
da  manche  stellen  des  textes  und  namentlich  der  lateinische  ordo 
nicht  überall  lesbar  sind,  die  handlung  setzt  ein  mit  den  dem 
tode  der  Maria  vorausgehnden  scenen.  der  gröfseren  Übersicht- 
lichkeit wegen,  und  weil  meines  erachtens  in  der  hs.  die  an- 
ordnung    erheblich   gestört   ist,    widerhol   ich  hier  den  text  und 


26  HEYM 

zwar  so,  dass  ich  die  entsprechenden  lateinischen  und  deutschen 
stellen  neben  einander  setze. 

1 .  Das  bruchstück  beginnt  mit  6  deutschen  versen,  zu  denen 
aber  die  spielanweisung  fehlt,     sie  lauten: 

I.  Ist  vnser  hvs  gemaket  wol, 

daz  an  ende  loern  sol, 

ze  dini  herzen  [ivil]  ich  legen  mich 

vnd  vf  din  am,  man  ich  dvr  dich 
5.  zem  tode  bereit  was  ze  aller  zit 

Mit  [viell. :  vrovden]  ane  widerstrit. 
die  Worte  gehören  offenbar  Maria  und  sind  an  den  Herrn  ge- 
richtet, denn  dieser  antw^ortet  darauf  mit  einer  anrede  an  Maria, 
(vgl.  ordo  vor  A  und  II).  er  hat  ihr  jedesfalls  vorher  seine 
absieht  verkündet,  sie  aus  diesem  leben  abzurufen  und  in  sein 
himmlisches  haus  zu  führen,  wo  sie  nach  der  seit  dem  1 1  jh. 
gang  und  gäbe  gewordenen  anschauung  mit  ihm  in  liebe  ver- 
bunden als  mächtige  himmelbeherrscherin  thronen  soll  (vgl.  die 
entsprechenden  stellen  in  dem  Innsbrucker  Marienhimmelfahrts- 
spiel: Mone  Altteutsche  Schauspiele  nr  1  v.  1473  ff,  ferner  Konr 
V.  Heimesfurt  v.  445 ff,  MH.  Zs.  5  v.  llOlffu.  ö.).  Maria  ant- 
wortet darauf,  dass  sie  bereit  sei,  ihrem  himmlischen  bräutigam 
in  sein  haus  zu  folgen  und  den  irdischen  tod  zu  erleiden,  die 
Worte 

ze  dim  herzen  wil  ich  legen  mich 
vnd  vf  din  am  .... 
beziehen  sich  m.  e.  nicht  auf  die  Situation  in  ihrem  zukünftigen 
haus,  sondern  auf  die  Stellung,  die  sie  zu  ihrem  abscheiden 
einnehmen  will;  denn  es  heißt  dann  vor  A^:  Dominus  assumit 
eam  super  ulnas  {iilnam?),  und  sie  stirbt  in  gremio  domini 
(ordo  vor  J). 

2.  Es  folgt  dann  eine  aus  A,  B,  C  und  II,  III,  IV 
bestehnde  scene.  der  ordo  vor  A  lautet  :  Dominus  assumit 
eam  super  ulnas  et  amplectitur  eam  dicens,  und  vor  II  steht: 
Dominus  Marie   amplexe    adhuc    dthnico der  Herr 

*  Zu    dem    ausdruck     .super    ulnas    vgl.    Kelirein    Lat.    Sequenzeu 
iir.  221,  3  n.     Daniel  Thesaur.  hymnologicus  V  240,  3: 
Senex  vero  mdens  lumen 
Susceptum  in  ulnis  Namen 
Benedicens  iubilat. 


MARIEN  HIMMELFAHRT  27 

nimmt  also  Maria  in  seine  arme  und  hält  sie  darin  während 
der  reden  B,  C,  II,  III,  IV  bis  zum  anfang  der  nächsten  scene. 
vor  D  steht  nämlich  Maria  dimissa.  in  seinen  werten  preist  er 
mit  einer  stelle  des  Hohenliedes  die  Schönheit  seiner  geliebten 
und  deutet  in  der  entsprechenden  deutschen  stelle  die  körper- 
lichen reize  in   sittliche  Vorzüge    um, 

A,.  Quam  pulchra  es  [et  quam      II.   Wie  hübsch  du  bist, 
dec\ora,  carissima  mea,  ein  vrindin  min, 

Maria  magt  vnd 

min  vserweltu  brat; 
in   deliciis  tuis.  wie  schon  dv  bist  in  den 

vrovden  dfn, 
min  liebv  muter  vnd 

mins  herzen  trut. 
stat[ura]      tua     asimilata      est        5.  Din  geschaft  gelikit  sich 
palme  der  palme  sunderlike, 

sus  hat  du  kraß  der 

tugenden  dich 
erhöhit  iciinderlike. 
din  tuginde  nieman 

gezellen  mak, 
et  odo\r  oris]    tut   sicut   malo-      \0.  alsam  ein  granat 
rum   granato[rum]  guttur   tuuni  ist  din  smak, 

sicut  vinuni  optimum.  din  kele  iM  als  der  beste  irin: 

du  solt  [iemer  bi\   mir  sin. 

Die  deutsche  paraphrase  hält  sich  ziemlich  eng  an  den 
lat.  Wortlaut,  nur  ist  carissima  mea  weiter  ausgeführt; 
hinzugefügt  sind  die  begründenden  verse  7  und  8  und 
V.  12,  der,  an  sich  ziemlich  inhaltlos,  den  fehlenden  reim- 
vers  bildet,  die  von  mir  vorgenommene  ergänzung  des  letzten 
verses  ligt  sehr  nahe,  und  die  zahl  der  eingefügten  buchstaben 
tenspricht  ungefähr  der  große  der  lücke. 

B.  und  III.  Von  der  spielanweisung  vor  B  ist  nur  lesbar: 
M{aria)  s  .  .  .  und  bei  III  .  .  .  s  s  .  .  .  (sollte  hier  vielleicht 
Maria  filiabus  sijon  gestanden  haben?),  die  worte  sind  offenbar 
Maria  zuzuweisen;  nach  dem  Wortlaut  von  III  sind  sie  an  die 
töchter  Sion  gerichtet;  sie  bilden  aber  indirect  eine  antwort  auf 
die  rede  des  Herrn. 

B.    Sicut  m\ahis   inter   ligna      III. —     —     —     —     — 
silvarum,  —     —     —     —     — 


28 


HEYM 


5. 


Sic   düectus   meua]    inter   filios. 


sub  umhra  Ulms,  [quem]  desi- 
derabam,  sedi:  et  vox  (richtig: 
fructus)  ilUus  dnlcis  yutturi  meo. 


int[ro]duxit  nie  in  cellam, 
vinariam,  ordinavit  in  me  cari- 
tateni. 


fulcite  me   ftorihus,  stipate  me 
malis, 


quia  amore  langueo. 


leva  eins  sub  capite  meo 


et   dextera    illius  amplexabitur 
me. 


ein  vruht.  der  er  hat, 
darvndervil  der  meren{?)gat, 
in  geliker   ivis  gezieret  ist, 
10.  vür  alle  svne  min 

ihesus  krist. 
an  sinem  schalen  ih  gesaz, 
nah  im  min  glrde 

vas  nit  laz; 
sin  frud  sam  honegis 

svezekeit 
icas  [mir]  in  minem 

munde  bereit. 
Ib.  do  kam  der  kunig  Salomon, 
vf  sinem hovbete  n:as  dv  krön, 
in  sin  icinzellun  vvortte 

er  mih; 
er  sptrah:  nv  ivil  ih  leren dih, 
trvive  minne  soll  du  han, 
20.  ih  bin  dir  liep  vur  alle  man. 
dar[iim]be  ir  tohtere 

von  syon, 
singent  wol  den  svezen  don 
vnd  [zieret  d]en  ininen  thron 
mit  apheln  vnd  mit 

blvomen  schon: 
25.  so  loii'-t  V  svnderlike  Ion, 
der  iemer  ivert  uf  citaron, 
loand  ih  von  minnin 

verwvndit  bin; 
sin  minne  krenkint 

mir  den  sin. 
sin  hant  vf  rekit  daz 

hovbit  min 
30.  vnd  tvot  mir  siner 

helfe  schin; 
sin  z-esetve  mih  al  vmbevat, 
in  vrovden  er  mih  iemer  hat^. 


Die    deutschen   worte  schließen    sich   ebenfalls   eng    an   die 
lateinischen    an.      die    ersten    6   verse    sind   verloren    gegangen 

'  V.  30    ist    ein    formelhafter   vers,   der   mit   geringen  Veränderungen 
unserem  dichter  immer  wider  in  die  feder  fliefst: 

IX  2:  tvo  mir  diiier  gnaden  schin 

VI  7:  Du  tete  an  mir  gnaden  schin 
auch  sonst  wird  die  weudung  in  der  geistlichen  dichtung  häufig  gebraucht. 


MARIEN  HIMMELFAHRT  29 

und  auch  v.  7  und  8  sind  mir  nicht  ganz  verständlich,  ordinnrlt 
in  nie  caritatem  ist  hier  in  directer  rede  ausgeführt,  hinzugefügt 
ist  die  erwähnung  des  thrones,  ferner  v.  22  und  v.  25  und  26, 
eine  Verheißung  an  die  töchter  Zion.  v.  28,  eine  widerholung 
des  gedankens  von  v.  27,  ist  des  reiraes  wegen  eingefügt, 
ebenso  v.  30  und  32. 

Die  rede  Marias  enthält  einen  preis  des  Herrn  und  eine 
seligpreisung  ihrer  selbst,  wobei  sie  die  töchter  Zion  auffordert, 
sie  zum  äußeren  zeichen  ihres  glückes  zu  schmücken,  eine  selig- 
preisung vor  dem  tode  findet  sich  auch  in  dem  Innsbrucker 
Schauspiel  von  Marien  himmelfahrt,  bei  Mone  Altt.  schausp.  v. 
15 12  ff.  Maria  stirbt  nun  aber  nicht  gleich,  sondern  an  dieser 
stelle  ist  ein  gespräch  zwischen  Ecclesia,  Synagoga  und  dem 
Herrn  eingeschoben,  während  das  gespräch  zwischen  Maria  und 
ihrem  söhn  mit  etwas  anderem  Inhalt  auch  im  Trans.  Mar.  B, 
in  d.  Vita  rhythmica,  bei  Mone,  Konr.  v.  Heimesfurt  und  Zs.  f.  d. 
a.  5  sich  findet,  ist  von  einem  dialog  der  zweiten  art  weder 
in  den  quellen  noch  in  den  genannten  bearbeitungen  eine  spur, 
erst  mit  VIII  wendet  sich  der  Herr  wider  zu  Maria  und  gewährt 
ihr  eine  bitte,  die  allerdings  in  dem  uns  überlieferten  texte  fehlt. 

C.  und  IV.  Der  ordo  vor  C  sagt:  ecclesia  dielt  domino. 
vor  IV  steht  die  spielan Weisung:  ecclesia  dielt  domino  cum  esset 
rex  exponit.  hier  ist  also  mit  deutlichen  werten  gesagt,  dass 
die  deutsche  Übertragung  bestimmt  ist,  die  lateinischen  stellen 
zu  erläutern,  denn  ^cum  esset  rex'  ist  der  anfang  des  verses  aus 
dem  Hohenlied,  der  unter  C  der  Ecclesia  in  den  mund  gelegt 
wird.     Ecclesia  spricht  also  zum  Herrn: 

C.   Cum  esset  rex   in  acubltic      IV.  Do  der  kunig  in  siner 
suo,  nardus   mea   dedit  odorem  wonunge  was, 

suum.  ih  V  .  .  Ilk  zvo  im  gesaz, 

min  [salbe]  gab  ir 

svezen  smak, 
daz  ist  der  synagoga  elnslak. 
b.vnz[wmchen?]  vnsern 

beiden  torn 
d[a\  was  v{elsch]e 

gar  verkorn. 
svozen  smak  gab  min  \r]ovch 
fasclcnlus  mirre  dilecfus    mens  rechte  sose  mlrreyi  vnd 

michi;  irierovch. 

. .  Avernsimder  . . .  bvschellin 


30  HEYM 

inter  nhera   mea  commorabitur.      10.  hin  ih  .  .  .  ben  liebe  min 

vnd  [zicii\schen  minen  bmsten 
u'o  .  .  t  er  des  (jelusten. 
loaz  disv  rede  hetute, 
des  wissen  nit  tumbe  lute. 

Die  einführung  der  Ecclesia  wie  nachher  der  Synagoga  unter- 
bricht die  eigentliche  handlung.  was  den  Inhalt  der  rede 
betriift,  so  rühmt  sich  Ecclesia  ebenfalls  ihrer  vertrauten  gemein- 
schaft  mit  dem  Herrn  und  preist  ihn  als  ihren  geliebten,  in  der 
deutschen  stelle  nicht  ohne  höhnischen  ausfall  (v.  4)  gegen  die 
vom  Herrn  verschmähte  Synagoga.  v.  1  u.  3  entsprechen  dem 
lateinischen,  v.  2  ist  ein  eingeschobener  vers,  der  die  Situation 
weiter  ausmalt,  v.  4  ist  der  oben  erwähnte  zusatz;  ebenso 
sind  V.  5  u.  6  Zusätze,  v.  7 — 12  entsprechen  jedesfalls  dem 
lateinischen  text,  doch  läßt  sich  wegen  ihrer  unvollständigen 
erhaltung  nichts  genaueres  sagen,  v.  13  u.  14  bilden  einen 
merkwürdigen  zusatz,  in  dem  der  Verfasser  darauf  hinweist 
daß  die  ganze  stelle  als  allegorie  verstanden  werden  wolle, 
wozu  freilich  nur  leute  mit  theologischer  bildung  befähigt  seien. 

3.  D.  E.  V.  VI. 

D  u.  E  sind  von  dem  Schreiber  ohne  Unterbrechung  durch 
eine  spielanweisung  geschrieben,  doch  ist  der  anfang  von  E 
durch  einen  roten  anfangsbuchstaben  gekennzeichnet,  auch  die 
beiden  Spielanweisungen  stehn  ungetrennt  vor  D.  vor  der 
zweiten  finden  sich  ebenso  wie  vor  der  zweiten  hälfte  des  textes 
als  zeichen  der  Zusammengehörigkeit  zwei  rote  parallele  schräge 
striche.  D  u.  V  sind  worte  des  Herrn,  gerichtet  an  Ecclesia. 
der  ordo  vor  D  ist  ausführlicher:  dominus  amplectitur  ecclesiam 
Maria  diniissa;  im  zweiten  heißt  es  bloß:  dominus  ecclesiae 
die  gruppe  schließt  sich  ganz  eng  an  die  vorhergehnde  an;  die 
Worte  des  Herrn  bilden  eine  antwort  auf  die  letzte  rede  der 
Ecclesia.  er  versichert  sie  seiner  liebe,  die  deutsche  Umschreibung 
zeigt  hier,  wie  nachher  öfter,  sehr  die  neigung  auszumalen. 

D.  [vgl.  nachher:  soror  mea      V.    frovwe,  min  trut  frundinne, 
sponsa.]  swester  vnde  kvniginne, 

so  seiden  rih,  so  minneklih, 
so  schon,  so  gvot,  so  lohelih, 
Vulnerasti     cor    meum,     soror        5.  sih,  von  diner  minne 
mea  sponsa,  verwundit  sint  min  sinne; 

ih  han  dir  vil  gestrikin  nah, 


MARIEN  HIMMELFAHRT 


31 


xmlnerasti  cor  meum. 


mir  icas  her  nah  dir 

so  gah, 
daz  ih  mit  erbeit 

zeliken  sitten 
10.  vil  kumhers  han  dur 

dih  erlitten, 
dv  solt  es  w[oI]  sehen  an, 
wie  gar  ich  dih 

[ge)n\innit  han. 
.  .  .  dur  di  .  .  .  [24  buchst.] 
.  .  .  daz  sih  dur  dih 
15,  dv  solt  lüizzen  daz  min  tot 
[dih]  loste  von  der  helle  not. 
dv  solt  mit  mir  erbe  sin 
mines  rikes,  dohter  min. 

In  der  deutsclien  stelle  ist  also  die  anrede  erweitert  und 
vorangestellt;  vulnerasti  cor  meum  ist  frei  widergegeben,  hinzu- 
gefügt ist  die  erwähnung  der  arbeit  und  der  leiden,  die  der 
Herr  für  die  Ecclesia  auf  sich  nehmen  mußte,  ferner  sein  tod 
und  dessen  bedeutung  für  die  christliche  menschheit.  E  u.  VI 
gehören  der  Ecclesia;  die  worte  sind  an  den  Herrn  gerichtet, 
die  Spielanweisung  vor  E  heißt:  ecclesia  respondet,  die  vor  VI: 
ecclesia  dielt  domino. 


E. 


In  caritate  x)erpetua  dilexisti 
nie:  ideo  attraxisti  me,  misertus 
mei. 


VI.  herre  d[v  b]ist  milt 

vnd  gnaden  ri[ke], 
dv  erkandest  gettelike ' 
min  geben  vnd  min  gir 
vnd  gebe  dih  zu 

erkennenne  mir. 
5.  hie  von  in  dinen  minnen 
begvnd  ich  sere  brinnen. 
du  tete  an  mir  gnaden  schin; 
du  santest  an  daz  herze  min 
dines  heiligen   geistes  gute, 
10.  da  von  wirt  min  gemvete 
von  tugenden  alse  gemeit 
vnd  rieh  mit  so 

manger  selikeit, 
daz  dv  mich  woldest  minnen 
mit  dinen  gotlichen  sinnen. 


^  die  form  gettelike  könnte  immerhin  für  f/oteliche  stehn,  aber  es 
■wird  sich  hier  doch  um  das  bei  Lexer  i  943  und  ausführlich  im  DWB. 
IV,  1  a,  1490  s    V.  gütlich  behandelte  wort  handeln. 


32 


HEYM 


auch  diese  grnppe 
F   und    VII   sind 

eccJesia    erigit   se 


\b.ahe  hast  dv  mich 

gewunnen  dir: 
dv  solt  dich  selben  geben  tnir. 

Die  übertrag'ung  ins  deutsche  ist  wider  erweitert  und  sehr 
frei.  V.  1 — 4  sind  hinzug-efügt  {min  geben  und  min  gir  =  die 
liebe,  die  ich  dir  gebe,  meine  hingäbe  und  meine  Sehnsucht  nach 
dir),  als  beweis  der  liebe  des  Herrn  für  die  Ecclesia  wird 
angeführt  die  sendung  des  heiligen  geistes.  v.  10 — 16  sind 
ebenfalls  hinzugefügt;  Ecclesia  preist  die  würkungen  des  heiligen 
geistes  und  schließt  mit  der  bitte  um  vollständige  gemeinschaft 
mit  dem  Herrn. 

4.  F.  G.  VII.  VIII  oder  X. 
Als  neue  person  tritt  die  Synagoga  auf. 
schließt  sich  eng  an  die  vorhergehnde  an. 
Worte  der  Synagoga ;  der  ordo  vor  F  lautet : 
et  venit  synagoga  ad  pedes  domini  flexis  genibiis;  vor  VII  steht 
Synagoga.  hatte  vorher  Ecclesia  höhnisch  über  die  Zurücksetzung 
der  Synagoga  ihr  gegenüber  gesprochen,  so  kommt  jetzt  diese 
und  erinnert  in  klagendem  tone  an  die  alten  Versprechungen 
des  Herrn. 

F.  VII.  herre,  alle  geschaft 

suhl  loben  dich 
vnd  dir  ze  dienste 

geben  sich, 
wan  du  bist  ir  schephere; 
du  got  an  ane[ge]nge 

ie  icere. 
5.  herre,  du   solt  gemant  sin, 
wie  dich  erete   dv 

jniUer  min. 
.  .  .  ir  e  dv  jvdescheit 
nach  diner  gesezede 

recMekeit 
.  .  .  soldis  aber  svgen 

ir  brvst 
10.  vluch  der  kristenheit  akvst. 
.  .  .  gent  .  .  diner 

menscheheit 
ich  zewifel  an  der  irrekeit, 
ah  mech\te  i\ch  einen 

vrvnt  gewinnen, 
der  mich  der  umrheit 

brechte  innen 


Quis  micki  det  te  fratrem 


sugentem  ubera  mafris  mee, 


MARIEN   HIMMELFAHRT  33 

15.  V7id  mich  orch  f/ehrJ'lete  dir, 
daz  du  genedeg 

icurdest  \mir\ 
et  ut  osculer  te,  vnd  mir  dins  küssen 

fiuzekeit 
gebest  ?nit  des  vr[v]ndes 

edelkeit. 
ne  quisquam  me  despiciat.  herre  (viell.  statt  here) 

ich  gar  versmakt  hiv^ 
daz  irer  danne  alles  dahin. 
Die  Übertragung  ist  hier  ganz  frei  und  sehr  erweitert,  der 
dichter  hat  eigentlich  nur  die  begriffe  sugere,  uhera,  mater, 
osndari  und  despicere  herausgegriffen  und  zueinander  in 
beziehung  gesetzt.  Synagoga  verspricht  zunächst  dem  Herrn 
als  dem  schöpfer  aller  dinge  lob  und  gehorsam ;  dann  mahnt  sie 
ihn  an  die  alte  e  (hier  sind  verschiedene  stellen  des  textes 
unlesbar,  und  der  sinn  der  verse  7  — 12  ist  mir  dunkel);  sie 
wirft  der  Christenheit  akust  vor.  zuletzt  betont  sie,  dass  sie 
ebenfalls  nach  der  Wahrheit  strebe  und  das  wohlwollen  des 
Herrn  widergewinnen  wolle. 

G.  Der  ordo  vor  G  heißt:  dominus  amplectitur  synagogam 
et  dicit  sihi.  die  fassung  der  spielanweisung  wie  die  folgende 
lateinische  stelle  lassen  meines  erachtens  nur  die  deutung  zu,  dass 
der  Herr  geneigt  ist,  Synagoga  seine  gnade  zu  schenken ;  er 
erkennt  ihr  verhalten  an  (ortus  occlusus  es,  fons  signatus),  nennt 
sie  mit  zärtlichen  namen  {soror  mea  sponsa,  amica  mea)  und 
fordert  sie  auf,  sich  wider  zu  ihm  zu  wenden  (siirge,  propera, 
amica  mea). 

Wo  ist  aber  die  entsprechende  deutsche  stelle?  VIII,  das 
im  texte  des  bruchstücks  auf  VII  folgt  und  also  eigentlich  die 
Übertragung  von  G  darstellen  müste,  kann  es  nicht  sein;  denn 
erstens  steht  darüber:  dominus  Mariae.  und  zweitens  spricht, 
selbst  wenn  man  im  ordo  einen  Irrtum  des  Schreibers  annehmen 
wollte,  auch  der  Inhalt  dagegen,  die  anrede  •muoter'  passt  nicht 
auf  die  Synagoga,  wol  aber  auf  Maria,  ferner  wäre  hier 
eine  vollständige  umkehrung  des  sonstigen  Verhältnisses  zwischen 
deutschem  und  lateinischem  text  festzustellen:  der  deutsche,  der 
sonst  dem  in  seinen  beziehungen  vielfach  schwer  verständlichen 
lateinischen  erst  fleisch  und  blut  gibt,  wäre  hier  kürzer  und 
inhaltsleerer  als  dieser,  wir  müssen  also  annehmen,  dass  etwas 
ausgefallen  ist. 

Z.  F.  D.  A.  LIII.  N.  F.  XL.  3 


34  HEYM 

Mit  V.  15  von  VII  bricht  der  erste  Schreiber  ab,  der  zweite 
beginnt  mit  dem  ordo  zu  VIII,  hat  aber  dann  die  verse 
in  —  20  von  VII  am  unteren  raude  nachgetragen,  dass  es  sich 
nicht  um  eine  Interpolation  handelt,  sieht  man  daraus,  dass  oben 
im  fortlaufenden  text  der  reimvers  zu  v.  15  fehlt,  es  war  also 
sicher  etwas  ausgelassen  worden;  und  als  der  schreiber  das 
nachher  merkte,  hat  er  den  n achtrag-  am  unteren  rande  der  seite 
gemacht;  es  fragt  sich  nur,  ob  er  auch  alles  nachgetragen  hat 
was  er  ausgelassen  hatte,  oder  ob  er  dies  aus  mangel  an  räum 
nicht  konnte,  es  ligt  nahe,  die  auslassung  auf  folgende  weise 
zu  erklären.  die  nächste  Spielanweisung  tieng  jedesfalls  mit 
dominus  an,  da  doch  der  Herr  eine  antwort  auf  die  rede  der 
Synagoga  geben  muß  und  im  lateinischen  text  auch  gibt,  die 
Spielanweisung  vor  VIII  beginnt  aber  ebenfalls  mit  dominus; 
der  Schreiber  könnte  also  von  der  fehlenden  zu  dieser  über 
gesprungen  sein,  doch  ist  es  möglich,  dass  die  sache  hier  anders 
zusammenhängt,  die  eben  erwähnte  erklärung  würde  voraus- 
setzen, dass  in  der  vorläge  VIII  in  der  nähe  von  VII  gestanden 
habe,  es  scheint  aber  nicht  bloß  eine  rede  zu  fehlen,  da 
nämlich  nicht  anzunehmen  ist,  dass  zweimal  hintereinander 
Worte  des  Herrn  gestanden  haben,  und  da  außerdem  die 
gewährenden  worte  des  Herrn  in  VIII  bittende  der  Maria 
voraussetzen,  so  müssen  wir  daraus  schließen,  dass  außer 
den  5  versen  von  VII  noch  mindestens  2  reden  fehlen,  von 
denen  die  erste  dem  Herrn,  die  zweite  Maria  zuzuweisen  sein 
wird,  haben  sich,  wie  zu  vermuten  ist,  auch  hier  lateinische 
gesänge  und  deutsche  reden  entsprochen,  so  erhöht  sich  die  zahl 
auf  mindestens  4.  es  will  mir  nun  erscheinen,  als  ob  das 
fehlende  auf  seite  4  unseres  fragmentes  nachgetragen  wäre, 
allerdings  ohne  ein  zeichen,  so  dass  man  es  äußerlich  nicht  als 
nachtrag  anerkennen  kann,  dabei  nimmt  der  nachtrag  mindestens 
die  letzten  5  sechstel  der  seite  ein  und  geht  auch  hier  noch 
nicht  zu  ende,  denn  es  fehlt  immer  noch  zum  wenigsten  eine 
deutsche  Umschreibung  der  mit  Q  u.  R  bezeichneten  verse  aus 
dem  Hohenlied  und  die  vor  VIII  vorauszusetzenden  bittenden 
Worte  der  Maria,  das  ausgelassene  stück  würde  dann  erheblich 
mehr  als  eine  seite  unseres  bruchstücks  betragen,  da  nun  hier 
auf  einer  seite  recht  viel  zusammengedrängt  ist,  so  ist  es  nicht 
ausgeschlossen,    dass  es    in   der   vorläge   gerade  2  selten   ausge- 


MAFvIEN  HIMMELFAHRT  35 

macht  hat,  und  dass  die  auslassung  durch  überschlagen  dieser 
2  Seiten  zu  ei'klären  ist. 

Die  G  entsprechende  deutsche  paraphrase  scheint  mir 
nämlich  in  X  zu  suchen  zu  sein.  X  steht  offenbar  nicht  au 
seinem  platz,  während  die  vorhergehnde  rede  IX  worte  des 
Juden  enthält,  der  den  angriff  auf  den  leichnam  der  Gottesmutter 
gemacht  hat  —  er  bittet  den  apostel  Petrus  um  gnade  — ,  so 
antwortet  in  X  nicht  Petrus,  wie  man  erwarten  sollte,  wenn  der 
Zusammenhang  nicht  gestört  wäre,  sondern  der  Herr,  und  die 
rede  hat  weder  beziehung  auf  den  bittenden  Juden  —  sie  beginnt 
vielmehr:  Liebv  dohter  vnd  sicester  zart  —  noch  auch  auf  den 
inhalt  seiner  bitte,  mit  G  aber  stimmt  X  übereiu  erstens  darin, 
dass  es  worte  des  Herrn  sind,  gerichtet  an  die  Synagoga  (der 
ordo  heißt:  dominus  sy7iag[ogae]);  zweitens  finden  wir  auch  im 
Wortlaut  starke  anklänge  an  den  lateinischen  gesang,  und  zwar 
in  ganz  ähnlicher  weise,  wie  bei  F  u.  VII;  es  sind  nämlich  die 
hauptbegriffe  des  lateinischen  textes  herausgegriffen  und  in 
beziehung  zueinander  gesetzt,  ohne  dass  diese  beziehung  dem 
sinne  des  lateinischen  Spruches  genau  entspräche,  diese  haupt- 
begriffe sind  'soror  mea\  'ortus'  (vermutlich  auch  'occIusks',  doch 
sind  hier  die  deutschen  verse  nur  zum  geringsten  teile  lesbar), 
'/bns  signatus' ;  während  'surge,  propera,  amica  mea'  dem  v.  1 9 
genauer  entspricht. 

Wie  es  kam,  dass  VII  u.  X  den  lateinischen  gesängen  so 
wenig  entsprechen,  ist  leicht  zu  erklären;  die  stellen  des  Hohen- 
liedes paßten  eben  schlecht  auf  die  Synagoga  und  musten  um- 
gedeutet werden,  was  natürlich  nicht  ohne  gezwungene  Wendungen 
abgehn  konnte. 

G.    Ortiis    oclusus    es,    soror      X.   Liebv  dohter  vnd 
mea  sponsa,  swester  zart, 

[ih  wil  dih  vüren 

iti]  niinen  gart, 
ob  dv  dih  icilt  bekeren, 
ih  wil  din  [ere]  meren 
ortiis  oclusus,  5.  in  minen  garten  [wil  ih] 

dih  vüren, 
Den  han  .  .  . 
.  .   [im  niht  (jesch]nden  mag 
....  ndl  .  .  . 


36  HEYM 

10. 


[vnd  ein  brunne  ist 

flar  in\ne, 

von   dem  mugen   dine  sinne 

(jeicinncn  ewig  vrovde  groz. 

bezeikint  han  des 

fons  signatus,  brunnen  vloz; 

\h.solik  dvgende  der 

brunne  birf 
swer  dar  inne  getovfit  wirt 
daz  der  tcirt  gar  reine, 
vri  vor  allem  meine, 
kum  ze  mir,  dohter, 
surge,  propera,  amica  mea.  bekere  dih, 

20.  60  gib  ih  dir  daz  himelrih. 
Die  erste  hälfte  des  lateinischen  gesanges=C.  c.  iv  12  wird 
sonst  häutig  auf  Maria  angewant,  auf  die  der  text  im  hinblick 
auf  ihre  ewige  jungfrauschaft  auch  gut  paßt;  hier  auf  die 
Synagoga  bezogen,  erscheint  er  auffallend,  die  deutsche  Über- 
tragung deutet  denn  auch  den  lateinischen  text  um.  in  der 
anrede  stimmt  zwar  swester  mit  soror  überein,  dohter  aber  nicht 
mit  sponsa.  dann  ist  hier  nicht  Synagoga  der  'ortiis  occlusus. 
oder  der  ^fons  signatus',  sondern  sie  soll  in  den  garten  (das 
himmelreich)  geführt  werden,  falls  sie  sich  bekehrt  und  sich  im 
brunnen  der  göttlichen  gnade  taufen  läßt. 

5.  Es  schließen  sich  dem  sinne  nach  unmittelbar  an  0,  P, 
XI  und  XII. 

0  sind  w'orte  der  S^magoga,  ebenso  XI;  auch  sie  können 
in  keine  beziehung  zu  den  bittenden  worten  des  Juden  (in  IX) 
gesetzt  werden ;  die  scene  zwischen  Dominus  und  Synagoga 
wird  vielmehr  fortgesponuen. 

Vor  0  steht  nur  Synagoga.  an  w'eu  die  werte  gerichtet 
sind,  ist  also  nicht  erkennbar;  vor  XI  steht  synagoga  d'  dno. 
d'  ist  hier  offenbar  nicht  abkürzung  für  dicit,  sondern  für  de, 
ebenso  nachher  vor  P  u.  XII.  denn  die  worte  sind  nicht  an 
den  Kerrn  gerichtet,  sondern  in  0  wird  von  ihm  in  der  dritten 
person  geredet,  und  in  XI  werden  die  tohteran  von  Jerusalem 
angeredet;  sie  handeln  aber  von  dem  Herrn,  ebenso  ist  P  u. 
XII,  wo  beidemal  die  spielanweisung  lautet:  dns  eccl'ie  d'  synagg., 
nicht  an  die  Synagoga  gerichtet,  sondern  an  die  Ecclesia,  was 
ja  hier  auch  durch  den  dativ  ecclesiae  zum  ausdruck  gebracht 
wird;  die  worte  reden  aber  von  der  Synagoga. 


MARIEN  HIMMELFAHRT 


37 


Leua  eins  suh  capite  meo 


et  dcxtera    illius   amplexabitiir 
me. 


0.  XI.  Ir  tohteran   von    ierusalem, 

ir  mngent  alle  nu  wol  sen, 
(laz  (jot  ist  milt  vnd 

dahi  gvot; 
sin  gnailen  tor  er  vf  tvot 
5.  sundern  die  sih  im  ergebent, 
ob  SV  dar  nah  in 

rede  lebent. 
sin  genade  sint  mir 

noh  vnverseit, 
sin  hant  liet  er  mir 

vndergeleit; 
vf  genade  bin  ih 

zvozim  gegangen, 
10,  si«  zesetve  hat  niih 

vmbevangen. 

Auf  die  gewähriuig  verheißende  antwort  des  Herrn  folgt 
hier  eine  jubelnde  danksagung  der  Synagoga.  v.  1 — 7  sind  im 
deutschen  frei  hinzugefügt. 

Nunmehr  wendet  sich  der  Herr  an  die  Ecclesia,  die  bisher 
schweigend  das  Zwiegespräch  zwischen  dem  Herrn  und  der 
Svnagoga  mit  angehört  hat,  und  bittet  sie  gewissermaßen  um 
entschuldigung,  dass  er  auch  die  Sj'nagoga  wider  zu  gnaden 
angenommen  habe. 

P.  XII.  Vrovive,  ein  nivoter 

der  kristenheit, 
Iah  dir  daz  nit  irezen  leit: 
min  wingarte  komin 

ist  ze  mir, 
der  mir  gar  leip 

was  vor  dir. 
5.  nu  begonde  er  aber  bern  ivin, 
der  trunken  makete 

daz  volk  min, 
San  daz  es  min 

nit  erkennen  wil. 
sin  bitterkeit   ist,  alse  vil, 
da  ih  in  allererst  getrank, 
10.  des  todes  slaf  mih 

slafen  twank, 
da  mit  ih  dinv  kint  erloste 
von  des  [alte7i  vin]des  roste, 
der  sinagoga  kint 

ein   mikel  teil 
wer  .... 


Vinea  mea  coram  me  est. 


38  HEYM 

Das  deutsche  ist  also  sehr  erweitert;  natürlich,  denn  es 
muss  doch  das  sonst  in  seiner  beziehung  unverständliche  vi))ea 
mea  coram  nie  est  verdeutlichen.  gerade  das  was  für  den 
Gedankengang  des  gespräches  zwischen  Dominus,  Ecclesia  und 
Synagoga  wichtig  ist,  muste  im  deutschen  unabhängig  vom- 
lateinischen  texte  ausgesprochen  werden,  also  namentlich  v.  l 
u.  2.  hinzugefügt  ist  eine  begründung  dafür,  warum  der  Herr 
seine  gunst  von  der  Synagoga  abgewant  habe ' . 

6.  Es  folgen  am  unteren  rande  noch  etwa  4  zeilen.  die 
aber  so  geschwärzt  sind,  dass  außer  der  nächsten  spielanweisung 
nur  ein  paar  bruchstücke  lesbar  bleiben,  die  spielanweisung  vor 
Q  lautet:  ecclesia  domino.  Q  ist  entweder  Cant.  cant.  ii  17 
entnommen,  wo  es  nach  der  Vulgata  heißt:  revertere:  similis 
esto,  dUerte  mi,  capreae  hinulorum  cervorum  super  montes 
Bether,  oder  C.  c.  vni  14,  wo  statt  revertere:  fuge  steht,  es 
ist  demnach  annzunehmen,  dass  wir  hier  die  antwort  der  Ecclesia 
auf  die  letzten  worte  des  Herrn  vor  uns  haben,  sie  fordert 
diesen  auf,  zu  ihr  zurückzukehren  oder  vor  der  Synagoga  zu 
fliehen;  sie  will  jedesfalls  auch  ferner  seine  liebe  allein  besitzen 
und  verspricht  ihm  für  die  gewährung  ihrer  bitte  besondere  ehre. 

Dann  ist  weiter  lesbar:  adiuro  vos  filie.  mit  diesen  worten 
beginnen  im  Hohenlied  mehrere  verse: 

1.  C.  c.  n  7:  Adiuro  vos,  filiae  Jerusalem  per  capreas 
et  cervas  camporum,  ne  suscitetis  neque  evigilare  faciatis  dilectam, 
quo  ad  usque  ipsa  velit, 

oder  C.  c.  vui  4  mit  demselben  Wortlaut ;  nur  steht  donec 
statt  quo  ad  usque. 

2.  C.  c.  V  8 :  Adiuro  vos,  filiae  Jertisalem,  si  inveneritis 
dilecium  nieum,  ut  nuncietis  ei,  quia  amore  langueo. 

Es  fragt  sich,  ob  das  eine  fortsetzung  der  rede  der  Ecclesia 
ist  oder  eine  neue,  ist  es  eine  fortsetzung,  so  müste  es  der 
unter  2  angeführten  stelle  des  Hohenliedes  entsprechen,  dem 
sinne  nach  würde  es  recht  gut  passen.  Ecclesia  würde  dann 
auch  die  töchter  Jerusalems  auffordern,  ihr  bei  ihrem  liebes- 
werben    um    den    Herrn    beistand    zu    leisten,      hat    aber    der 

•  zu  V.  14.  im  reim  auf  teil  hat  vielleicht  heil  gestanden,  u.  der 
Herr  hat  gesagt,  dafs  auch  ein  grofser  teil  der  Juden  ihrer  seele  heil  finden 
werden,  im  Transitus  Mariae  B  werden  ja  nach  dem  angriff  auf  die  leiche 
und  nach  der  sofortigen  bestrafung  die  meisten  Juden  gläubig. 


MARIEN  HIMMELFAHRT  39 

unter  1  erwähnte  vers  dagestanden,  so  können  die  worte  nicht 
der  Ecclesia  angehören,  sondern  nur  dem  Herrn,  denn  es  ist 
darin  von  einer  "dilecta  die  rede,  am  linken  rande  der  hs. 
steht  aber  neben  den  3  letzten  zeilen  mit  roter  schritt: 

nis  .  .  .   it 
.  .  .  sib 
.  .  .  ah  US     (?) 
man  könnte  daran  denken,  dass  ahus  die  endung  von  pliahus  sei. 
dann    würde    der   ordo    gut   zu  C.  c.   ii  7  oder  vm    4   stimmen, 
in  welchem  sinne  freilich    dieser   vers    gedeutet   worden  sei,   um 
in  den  Zusammenhang  zu  passen,    darüber   wage   ich   keine   Ver- 
mutung,    auch    ist    es    nicht    sicher,    ob    die    mit    roter    tinte 
geschriebenen  bruchstücke  von  worten  wirklich  als  spielanweisung 
zu  unserer  stelle  gehören;  ferner   ist   der  anfangsbuchstabe   von 
adiuro  nicht    rot,  sondern  schwarz    geschrieben,    so  dass    es  mir 
wahrscheinlich  ist,    dass    die    zuerst    geäuJ3erte    Vermutung    den 
Vorzug  verdient. 

Dies  alles  (von  X  bis  R)  und  noch  mehr  ist  also  in  die 
lücke  einzusetzen,  die  nach  VII  anzunehmen  ist.  wie  weit  die 
scene  noch  ausgesponnen  war,  ist  nicht  mit  Sicherheit  festzustellen; 
es  läßt  sieh  aber  annehmen,  dass  nicht  all  zu  viel  mehr  fehlt 
und  dass  das  ende  dieser  scene  eine  bedingte  einigung  zwischen 
dem  Herrn,  der  Ecclesia  und  der  Synagoga  gewesen  ist. 

7.  VIII.  H.  I.  K.  L.  M.  N.  IX. 

Wenden  wir  uns  nun  zurück  zu  VIII.  mit  der  auf  VIII 
folgenden  lateinischen  antiphone  H  beginnt  eine  neue  phase  der 
handlung,  die  uns  nunmehr  den  tod  und  die  bestattung  Marias 
vorführt,  aber  auch  VIII  steht  damit  im  engen  Zusammenhang; 
schon  diese  worte  sind  an  Maria  gerichtet,  zugleich  geht  aus 
der  auf  VIII  folgenden  spielanweisung  {post  hoc  Maria  surgens 
accipiet  dominum  ad  manus  et  exibunt  omnes  personae  ptraeter 
sißiagogam  Maria  canente)  hervor,  dass  VIII  der  schluss  der 
scene  gewesen  sein  muss,  in  die  das  gespräch  zwischen  Dominus 
und  Synagoga  eingeschoben  war.  während  nun  bisher  jeder 
lateinischen  stelle  —  von  I  u.  Q  R  seh  ich  hier  ab  —  eine 
deutsche  entsprochen  hat,  so  ist  dies  hier  nicht  der  fall,  nur 
deutsch  ist  vorhanden  VIII;  doch  kann  in  der  lücke  noch  die 
entsprechende  lateinische  stelle  gestanden  haben;  dann  folgen 
nur  lateinisch  H,  I,  K,  L,  M  u.  N,  sowie  nur  deutsch  IX. 


40  HEYM 

Der  ordo  vor  VIII  heißt:  dominus  Mariae;  die  rede  selbst 
umfasst  nur  2  verse  und  enthält  die  gewährun^  einer  bitte,  die 
Maria  an  den  Herrn  gerichtet  haben  muss.  welchen  inhalt  diese 
bitte  gehabt  haben  mag,  kann  man  nur  vermuten,  im  Transitus 
Mariae  B,  c.  viii  (vii  cod.  Ven.)  spricht  Maria  unmittelbar  vor 
ihrem  tode  ihrem  söhn  ebenfalls  eine  bitte  aus;  hier  heißt  es: 
Tiinc  Maria  prostravit  se  in  pavimento  adorans  deum  et  dixit: 
'.  .  .  memor  igitur  esto  mei,  rex  gloriae  .  .  .  suscipe  me  itaqne 
famulam  tuam  et  libera  me  a  potestate  tenehrarum,  ut  nullus 
Satanae  impetus  occurrat  mihi  nee  videam  tetros  Spiritus 
ohviantes  viilii'.  diese  bitte  wird  allerdings  nicht  vollständig 
gewälirt;  Christus  w^eist  seine  mutter  darauf  hin,  dass  ihm  selbst 
der  anblick  des  fürsten  der  linsternis  nicht  erspart  geblieben 
sei;  ebensowenig  könne  ihr  dieser  anblick  erspart  bleiben,  aber 
schaden  werde  sie  nicht  davon  gewinnen,  da  er  sie  schützen 
werde,  ähnlich  ist  die  sache  bei  Konr.  v.  Heimesf.  v.  460  ff 
und  M.  H.  Zs.  5,  v.  1057  ff,  im  mfr.  legendär  Zs.  f.  d.  ph.  10, 
v.  277  ff.  im  Innsbrucker  spiel  findet  sich  eine  ähnliche  bitte, 
jedoch  in  einer  früheren  scene,  nämlich  in  der  zwischen  dem 
erzengel  Gabriel  und  Maria  (Mone  Altt.  schausp.  I,  v.  1055  ff), 
hier  ist  die  bitte  an  Gabriel  gerichtet  und  tiudet  auch  nicht 
völlige  gewährung.  dagegen  wird  in  der  Breslauer  Marien- 
himmelfahrt (Zs.  50,  V.  172  ff)  diese  bitte  mit  den  worten  gewährt: 

v.  25  du  allirlipste  mutter  mein, 

allis  das  du  wilJt  das  sal  seyn. 

möglicherweise  hat  also  eine  solche  bitte  in  der  lücke  gestanden. 
Von  hier  an  schreitet  die  handlung  rasch  vorwärts,  die 
nächste  spielanweisung  lautet:  j^ost  hoc  Maria  surgens  accipit 
dominum  ad  manus  et  exibunt  onines  personae  praeter  synagogam 
maria  canente:  'Egredimlni,  fille  syon,  et  \vi\dete  regem  salomonem 
in  diademate,  quo  coronavit  eum  mater  sua  in  die  despovsationis 
illius  et  in  die  leticie  cordis  vestri\  diese  stelle  aus  dem  Hohen, 
lied,  von  der  kirche  als  antiphone  verwant,  enthält  einen  preis 
der  herlichkeit  des  Herrn.  dann  heißt  es  weiter:  j;o.s/  hoc 
maria  recumhet    in    gremio    domini   et   cantabit:   (I)   in  pace  in 

'  dieselbe  autiphone  findet  sich  auch  in  den  Fragmenta  Buraua 
(\V.  Meyer  tafel  XII  u.  XIII.  p.  137,  no  34).  der  vors  wird  ferner  sehr 
weitläufig   commentiert  in  der  2.  bear1)eitung    'Von  unser  vrouwen  klage'. 


MARIEN  HIMMELFAHRT  41 

id  ipstim;  dormiam  et  reffuiescam  (ich  habe  den  psalmvers 
(IV  9)  von  dem,  wie  es  in  liturg-ischen  hss.  vielfach  üblich  ist. 
nur  die  anfangsvvorte  angegeben  sind,  vollständig  hergesetzt), 
sie  legt  sich  also  in  den  schoß  des  Herrn  und  will  in  frieden 
schlafen  und  ausruhen,  nach  beendigung  des  gesanges  stirbt 
sie:  quo  finifo  occumhit  et  mouetur  in  feretrum  ponetur  omnihus 
cantantihus.  der  allgemeine  gesang,  der  nun  folgt,  ist  ein  bei 
mehreren  Marienfesteu  gebrauchtes  responsorium,  das  7  des  noch 
heute  gebräuchlichen  Marienofficiums.  der  vollständige  text 
lautet :  felix  namque  es,  Sacra  virgo  Maria :  et  omni  laude 
dignissima.  quia  ex  te  ortus  est  sol  iustitiae,  Christus  deus 
noster.  Vers  u  s.  Ora  pro  populo,  interveni  pro  clero,  inter- 
cede  pro  devoto  femineo  sexu.  sentiant  omnes  tuum  iuvamen, 
quicumque  celehrant  tuam  sanctam  festivitatem.  (im  Innsbrucker 
spiel  wird  dieses  resp.  von  den  engein  gesungen,  als  der  Herr 
bei  Maria  erscheint,  um  ihre  seele  zu  sich  zu  nehmen.)  nachdem 
nach  dem  ordo  bereits  vor  dem  gesange  des  fe^ix  namque  die 
Vorbereitungen  zu  der  bestattung  getroffen  worden  sind  — 
Maria  wird  auf  die  bahre  gelegt  — ,  wird  sie  jetzt  herab- 
getragen: postea  deportahitur.  dabei  singen  alle  personen:  in 
exitu  israhel  ex  egypto.  es  ist  der  anfang  des  1 1 3  psalraes 
(nach  der  Zählung  der  vulgata).  dieser  gesang  findet  sich  bei 
derselben  gelegenheit  bereits  im  Transitus  Mariae  B,  cap.  xi 
(x  cod.  Ven.)  und  ist  daraus  in  zahlreiche  bearbeitungen  der 
legende  übergegangen,  i  welchen  hinweis  die  worte  confer 
versiim,  die  im  ordo  vor  deportahitur  stehn,  geben  sollen,  ist 
nicht  recht  zu  erkennen,  es  folgt  dann  die  spielanweisung: 
quum  importahitur  in  monasterium  (seil,  cantetur) :  salve  nohilis 
virga  Yesse,  dann  steht  wieder  confer  versum,  und  von  dem 
folgenden  text  ist  nur  tunc  oder  cunc  lesbai'.  auch  salve  nohilis 
ist  jedesfalls  ein  responsorium,  das  allerdings  heute  nicht  mehr 
gebräuchlich  ist.  es  findet  sich  aber  in  der  feier  in  assumptione 
s.  Mariae  in  zwei  Bamberger  antiphonarien  (msc.  lit.  23,  1 1  jh. 
u.  msc.  lit.  24,  12  jh.),  während  in  den  antiphonarien  msc. 
lit.  22  (12,13  Jh.),  25  (13  jh.)  u.  26  (13  jh.)  dieses  respon- 
sorium in  der  im  übrigen  ziemlich    gleichlautenden   assumptions- 

'  Mone  Altt.    schausp.  vor  v.   1624.     Konr.  v.  Heimesfurt  v.  578  ff. 
Vita  rhythmica  v.  7342  ff. 


42  HEYM 

feier  fehlt,  der  text  lautet  nach  msc.  lit.  24,  bl.  75  a;  Rm. 
Salue  nohilis  uirga  iesse.  scclue  fios  campi  maria.  ex  te  ortum 
est  lyliiim  conualliuw  v.  Odor  tuus  super  cuncta  preciosa 
ungenta  fauus  distillans  lahia  tua  mel  et  lac  sub  Ivu/ua  tua. 
Ex  te  ortum. 

M  u.  N  unseres  fragmentes  sind  also  gleich  diesem  respon- 
sorium  nebst  dem  dazugehörigen  versus,  die  von  N  lesbaren 
4  buchstaben  werden  wol  das  vierte  wort  des  versus  cuncta  be- 
gonnen haben. 

Von  der  nächsten  spielan Weisung  ist  lesbar:  confessoribus 
incipientibus  et  (räum  für  ca.  7  buchstaben)  sii  .  .  .  vielleicht 
hat  dagestanden  cätätib^  u'sü.  dazu  gehört  dann  ferner  die 
auf  Seite  2  am  unteren  rande  nachgetragene  spielauweisung : 
ludei  venient  ad  feretrum  et  unus  ex  eis  vult  deicere  corpus 
Marie,  cid  adherebit  manus  feretro;  ipse  autem  petro  dicet 
während  also  die  bekenner  Christi  anfangen  (vermutlich  zu 
singen),  kommen  die  Juden,  und  einer  von  ihnen  will  den  körper 
der  Maria  herabwerfen,  jedoch  die  band  bleibt  ihm  an  der  bahre 
haften,  so  dass  er  sich  mit  der  bitte  um  hilfe  an  Petrus  wendet: 

Pete[r],  [lieJjer  herjre  [mi[u, 

[tvoj  mir  diner  gnaden  scliin, 

[loanj  mfirj  es  stat  an  der  not, 

ald  ih  muos  leider  geligen  tot. 
5.  ih  weis,  daz  du  tuost  zeiken  groz, 

du  bist  uf  erde  angelikin  genoz; 

du  solt  mih  des  genizen  lan, 

do  dih  die  iuden  vahten  an 

vnd  dih  loolden  vahen, 
10.  mit  dime  meister  hahen, 

daz  ih  dir  do  helfe  bot 

vnd  dih  Iceste  von  der  not, 

also  loese  ovch  mir  min  haut 

an  der  bare  vnd  make  mir  ze  hant 
15.  min  hant  gesunt  [und  ledege]  mih, 

[loän  ejinifcj  ist  [mir  heil  dur  dih]. 

Der   sinn    dieser  stelle  ist   klar,     die  bitte   ist  wie  im  TM 

B  cap.  XIII    (xii  cod.  Ven.)    au  Petrus  gerichtet,     während  sich 

im  TM.  A  der  Jude  au  alle  apostel  wendet,    auch  die  berufung 

auf  seine  Verdienste   um  Petrus,    als   die  magd  an  der  türe  des 


MARIEN  HIMMELFAHRT  43 

praetoriums  ihn  als  genossen  Jesu  bezeichnet  hatte,  findet  sich 
im  Trans.  B  (nicht  in  A).  hiemit  bricht  diese  scene  ab,  die  ant- 
wort  des  apostels  ist  nicht  erhalten,  wenn  die  bearbeitung 
weiter  dem  TM.  B  gefolgt  ist,  so  muss  der  Jude  nach  annähme 
des  Christenglaubens  Verzeihung  und  heilung  gefunden  haben, 
dann  wird  das  begräbnis  seinen  weitern  verlauf  genommen  haben. 


IV. 

Man  sieht,  dass  in  dem  fragment  zwei  verschiedene  hand- 
lungen  miteinander  verschmolzen  sind: 

1)  die    bekannte  legende    von   der  himmelfahrt  Mariae    und 

2)  eine  art  kampfgespräch  zwischen  Ecclesia  und  Syuagoga. 
der  ersten  gehören  an  I,  A,  B  II,  III,  VIII,  H,  J,  K,  L,  M,  N,  IX,  der 
zweiten  C,  IV,  D,  E,  V,  VI,  F,  G,  VII,  X,  0,  P,  XI,  XII  und  Q  (R  ?).  hie- 
bei  fällt  auf,  dass  bei  der  zweiten  handlung  ein  regehnäßiger 
Wechsel  von  gesungenen  lateinischen  und  gesprochenen  deutschen 
stellen  stattfindet,  so  dass  einer  lateinischen  allemal  eine  deutsche 
entspricht,  nur  bei  Q  läßt  sich  das  nicht  mit  Sicherheit  behaupten? 
weil  mit  diesem  gesange  das  bruchstück  schließt,  bei  der  ersten 
findet  sich  allerdings  im  anfang  i)  (A,  B,  II,  III)  dasselbe  Verhält- 
nis, allein  H,  J,  K,  L,  M,  N  werden  nur  lateinisch  gesungen,  und  IX 
ist  ohne  lateinische  unterläge,  woran  ligt  das?  fand  der 
dichter  keine  bibelstelle,  die  er  der  bitte  des  Juden  zu  gründe 
legen  konnte?  das  erscheint  nicht  recht  glaublich;  eine  bitte 
um  Gottes  gnade  oder  um  rettung  würde  sich  doch  sicher- 
lich gefunden  haben ,  die  in  ihrem  gedanken  so  gut  zu  jener 
gestimmt  hätte,  wie  etwa  F  zu  VII  oder  0  zu  XI.  oder  ist  die 
lateinische  stelle  ausgefallen?  das  würde  bei  dem  zustande 
unseres  fragments  durchaus  nicht  unmöglicii  sein,  oder  hat  aus 
einem  andern  grund  von  anfang  an  kein  lateinischer  gesang  an 
dieser  stelle  gestanden?  waren  ferner  H  bis  N  ohne  deutsche 
Übersetzung?  das  zu  entscheiden  scheint  mir  eher  möglich  zu 
sein,  der  ausfail  dieser  deutschen  stellen  würde  nur  erklärlich 
sein,  wenn  sie  nach  N  unmittelbar  aufeinander  gefolgt  wären, 
dann  hätte  aber  dieganze,  gerade  hier  rasch  fortschreitende  handlung 
noch  einmal  widerholt  werden  müssen;  Maria  hätte  noch  einmal 
sterben,    auf  die   bahre   gelegt    und   zu   grabe   geti-agen  werden 

'   lu.  VIII  muss  ichmangels  der  nötigen  unterlagen  hier  bei  seite  lassen. 


4  4  HEYJr 

müssen,  das  ist  unmijglich.  sieht  man  schärfer  zu,  so  bemerkt 
man  überhaupt  unterschiede  zwischen  diesen  nur  lateinisch  ge- 
sungenen partieen  und  den  übrigen  teilen,  abgesehen  davon  dass 
sonst  die  deutsche  Umschreibung  einen  großem  räum  einnimmt 
als  die  lateinische  grundlage,  so  entwickelt  sicii  hier  die  hand- 
lung  rasch,  dort  ist  rede  und  gegenrede  lang  ausgesponnen,  und 
die  handlung  steht  fast  still;  hier  haben  wir  verschiedene  demente 
der  liturgie  vor  uns,  dort  außer  der  Jeremiasstelle  nur  verse  aus  dem 
Hohenlied;  hier  werden  mit  ausnähme  von  'egredhnini' ^)  nur  die 
anfangsworte  der  gesänge  angegeben,  dort  die  ganzen  bibelstellen. 
Ich  möchte  deshalb  vermuten,  dass  wir  es  in  unserm  bruch- 
stück  mit  der  bearbeitung  eines  ursprünglich  lateinischen  spieles 
zu  tun  haben,  dieses  lateinische  spiel  war  der  liturgie  ent- 
nommen, worauf  ja  schon  die  gesangsnoten  hinweisen,  und  war 
für  den  gottesdienst  bestimmt,  vielleicht  für  den  in  einer  kloster- 
kirche,  vgl.  den  ausdruck  monasterimn.  es  entsteht  nun  die 
rage:  gab  es  überhaupt  solche  in  lateinischer  spräche  abgefassto 
unmittelbar  für  den  gottesdienst  des  1 5  august  bestimmte  feiern? 
eine  solche  dramatischen  Charakters  ist  mir  bisher  nicht  bekannt; 
trotzdem  ist  die  möglichkeit  nicht  abzuweisen,  dass  so  etwas 
existiert  hat.  das  fest  'Mariae  himmelfahrt'  nimmt  unter  den 
]\Iarienfesten  einen  hervorragenden  platz  ein,  es  heißt  in  vielen 
gegenden  der  große  Marientag.  da  konnte  man  leicht  auf  den 
gedanken  kommen,  wie  an  den  andern  festen  den  gegenständ  der 
feier  durch  handlung  den  gläubigen  laien  nahe  zu  bringen,  es 
ergaben  sich  dann  leicht  3  scenen ,  die  dramatisch  dargestellt 
werden  konnten:  1)  das  erscheinen  der  apostel  und  des  Herrn 
bei  Maria,  ihr  tod  und  die  auffahrt  ihrer  seele  in  den  himmel, 
2)  die  grabtragung  und  3)  die  aufnähme  auch  des  körpers  in  den 
himmel.  für  die  dramatische  darstellung  von  scene  1  oder  3 
kann  ich  ein  modernes  zeugnis  beibringen,  wie  mir  herr  schul- 
rat Eockstroh  in  Saalfeld  mitteilt,  hat  er  selbst  in  Niederdorf 
oder  Innichen  im  Pustertale  am  15  august  in  der  kirche  eine 
solche    dramatische   feier   mit  angesehen,   bei   der   die   seele   der 

'  ähnlich  ist  es  in  der  fortsetzung  des  spiels  vou  den  3  erscheiuungeu 
Christi  auf  s.  12  u.  13  der  Fragmenta  Burana.  auch  hier  ist  der  vers 
'efjredimini'  ganz  augegeben,  während  von  den  folgenden  antiphonen 
aufser  bei  nr  35  nur  die  anfangsworte  dastehn  (W.  Meyer,  Fragm.  Hurana 
s.  137). 


MARIEN  HIMMELFAHRT  45 

Gottesmutter  sichtbar  in  den  himmel  schwebte,  begrüßt  von  dem 
chore  der  engel.  es  wird  schwerlich  anzunehmen  sein,  dass  dieser 
brauch  erst  in  der  neuesten  zeit  entstanden  ist.  vielmehr  wird 
er  wol  bis  auf  das  mittelalter  zurückgehn. 

Scene  2  konnte  sich  sehr  wol  an  eine  procession  anschließen, 
wie  sie  innerhalb  der  kirche  am  assumptionstage  hie  und  da 
stattgefunden  haben,  für  die  existenz  einer  solchen  procession  haBe 
ich  ein  zeugnis  des  16  jh.  s.  nach  dem  Rituale  et  Processionale 
monasterii  s.  Michaelis  prope  Bambergam  o.  s.  Benedicti  (Bamberg, 
rase.  lit.  124  und  126,  beide  pghss.  16  jh.)  fand  dort  gelegent- 
lich der  assuniptionsfeier  eine  procession  statt;  von  wo  sie  aus- 
gieng,  ist  nicht  gesagt,  sie  begann  mit  absingung  des  respon- 
soriums:  Beata  es  virgo  Maria  dei  (jenitrix,  dann  heißt  es:  in 
capella  antipliona:  virgo  2)ruäentissi}ua  (mit  einem  versus),  beim 
verlassen  der  capella  wird  das  responsorium  gesungen  {exeundo 
de  capella  sequens  canitur  responsorium):  vidi  speciosam  siciit 
columham  ascendentem  desuper  rivos  aquarum,  an  das  sich  ohne 
weiteres  der  hymnus :  0  gloriosa  domina  (Wackernagel  Kirchenl.  I, 
nr  81  V.  6 — 8)  anschließt,  beim  eintritt  in  den  chor  wird  die 
antiphone  gesungen:  Hodie  Maria  virgo  celos  ascendif.  Auch 
dieser  kirchliche  gebrauch  wird  älter  sein  als  die  hss.  in  denen 
er  überliefert  ist,  und  wird  sich  auch  in  andern  kirchen  gefunden 
haben,  nicht  bloß  auf  dem  Michaefsberg  in  Bamberg ').  er  selbst 
weist  keine  spur  einer  dramatischen  darstellung  auf. 

In  diesem  Zusammenhang  möcht  ich  nun  auch  einmal  die 
lateinischen  gesänge  des  Innsbrucker  spiels  von  Mai'ien 
himmelfahrt  (Mone  Altt.  schausp.,  nr  I)  betrachten,  und  zwar 
nur  die   des   teiles    der   den   tod   und   die  assumptio  der  Gottes- 

1  in  einem  Graduale  des  12  jhs.  aus  Regensburg  (clm  131251 
fol.  78  stellt  eine  kurze  assumptionst'eier,  übersciirieben :  In  ass.  SCC.  3Iarie 
ad  processiouem  R  Vidi  sperio~   etr. 

Auch  in  Frankreich  fanden,  wie  aus  dem  Graduel  de  l'^glise  Cathddrale 
deRoueu  au  Xlllesiecle  (facsimileausgabe  1907)  hervorgeht,  zur  assumptions- 
feier  solche  processionen  statt,  in  der  vorausgeschickten  einleitg.  (Etüde 
liistorique  et  liturgique  sur  le  mauuscrit  904  du  fouds  latin  de  la  biblio- 
theque  nationale  par  Henri  Loriquet)  heilst  es  bei  besprechung  der 
assumptio:  'Procession  apres  vepres  et  apres  laudes  conime  a  la  puri- 
lication.  a  la  messe,  procession.de  la  chässe  de  Notre-Dame  autour  de 
l'eglise,  en  sortant  de  la  porte  de  la  Calende.  on  v  chante  notamment 
l'Inviolata'. 


46  HEYM 

miitter  behandelt  (v.  767 — 2513).  dabei  erkennt  man  zuerst, 
dass  diese  lat.  gesäng-e  zumeist  der  liturgie  und  zwar  dem  assump- 
tionsofticinm  entstammen,  ich  vergleiche  sie  hier  mit  dem  Bam- 
berger, wie  es  sich  in  den  früher  erwähnten  antiphonarien  findet, 
dabei  ist  zu  bemerken,  dass  der  text  der  feier  in  andern  kirchen 
und  kirchensprengeln  teilweise  ein  anderer  war,  sodass  auch 
stellen  die  nicht  in  dem  Bamberger  officium  vorkommen,  trotz- 
dem dem  Marienofticium  entlehnt  sein  können. 

1 .  11)0  rninc.  woher  das  stammt,  ist  mir  unbekannt.  Mone 
bemerkt  dazu:  /.  n.  bezieht  sich  nicht  auf  eine  bibelstelle,  sondern 
ist  vielleicht  der  anfang  eines  kirchentextes  oder  einer  lateinischen 
abfassung  des  Stückes. 

2.  Anima  mea  =  4  antiphone  des  Bamberger  assumptions- 
officiums  (B.  0.) 

3.  Christi  virgo;  anfang  eines  hymnus  auf  die  hl.  Katharina; 
das  passt  hier  natürlich  nicht,  doch  steht  in  einem  graduale  des 
12jh.  s.  aus  Eegensburg  (clm.  13  125)  fol.  22  bei  der  feier  zu 
Mariae  Verkündigung:  Iii  clioriim.  yoicti  uirgo  dilectissima 
uirüUum  operatrix  magnifica  opem  fer  miseris  sulmeni  domina 
clamantilms  ad  te  iiigiter.  bei  dem  allgemeinen  Inhalt  des  ge- 
sangs   könnte  dieser  auch  in  einer  assumptionsfeier  vorkommen. 

4.  Beati  mortui  =  Apocal.  14,  13,  ohne  beziehung  zur 
Marienliturgie;  es  ist  der  text  über  den  der  apostel  Johannes  predigt, 
als  er  von  dem  engel  nach  Jerusalem  zu  Maria  entrückt  wird, 
das  ist  wol  erst  eingeschoben,  als  die  ganze  apostelscene  vor 
vers  767  an  das  assumptionsspiel  angefügt  wurde. 

5.  Congregaho  Uli  sanctos  eins  (nach  ps.  49.5).  ob  eine 
beziehung  zur  Marienliturgie  vorhanden  ist,  weiß  ich  nicht;  die 
Veränderung  des  biblischen  congregate  mihi  in  congregaho  Uli 
weist  auf  ein  responsorium  oder  eine  antiphone  hin. 

6.  Gaude  Maria  =12  antiphone  B.  0. 

7.  Felix  namque  es  =  3  responsorium  des  noch  heute  ge- 
bräuchlichen Marienofficiums,  in  B.  0.  nicht  vorhanden. 

8.  Veni  electa  mea,  nach  C  Marbach  Carmina  scripturarum : 
Ant.  2.  ad  mat.  S.  Elisabeth,  Reg.  Portugalliae,  Viduae.  V.  in  R.  1. 
Veni  Sponsa  Christi  in  Com.  Virg.  et  Mart.  (psalm.  44,12). 

9.  Beatam  me  dicent  omnes  ==  resp.  4ai)  B.  0. 


MAEIEN  HIMMELFx\HRT  47 

10.  Veni  elecfa  mea,  veni,  coronaheris,  s.  nr  8. 

1 1 .  Beata  es  virgo  Maria  clei  genürix  =  5  responsorium  B.  0. 

12.  Siirge  virgo  vel  in  exitu  Israhel  de  Aegypto.  das 
erste  ist  mir  unbekannt,  das  zweite  =  ps.  113,1. 

13.  Alma  redemptoris,  eine  marianische  antiphone,  die  zu 
verschiedenen  festen  des  kirchenjahres  mit  wecliselndera  text 
gesungen  wird  (Daniel  Thes.  bymnol.  II,  s.  318J. 

14.  Super  salutem  =  14  antiph.  B.  ().,  oder  =  10  resp.  ebda. 

15.  Ornatum  cum  monililms  {ornatum  wol  verschrieben  für 
ornatam)  =  8  respons.  B.  0.  {ornatum  in  monUibiis). 

16.  Solem  iustitiae,  mir  unbekannt. 

17.  Siirge  propera  amica  mea  =  schluss  der  5  antiphone 
B.  0.  und  schluss  der  3 1 .  ant.  B.  0. 

18.  Virgo  prudentissima.  in  B.  0.  unbezeichnet.  (findet  sich 
übrigens  in  den  erwähnten  processionalien  mon.  S.  Michaelis  0. 
S.  B.   u.    als   antiphone   in    clm.  23083  bei  der  assumptionsfeier. 

19.  Vidi  speciosani  =  2  respons.  B.  0.  (ebenso  in  den  beiden 
processionalien). 

20.  Quae  est  ista  quae  processit  sicut  sol  =  4  respons.  B.  0. 

2 1 .  Ista  est  speciosa  inter  filias  Jherusalem  =  9  resp.  B.  0. 
(8  resp.  in  der  kürzeren  fassung.) 

22.  Quae  est  ista  quae  ascendit  per  desertum  =^  versus  zum 
2  und  4  responsorium  B.  0. 

23.  Quae  est  ista  quae  ascendit  sicut  aurora  =21.  ant.  B.  0. 

24.  Ista  est  speciosa  inter  filias  Jerusalem  =  nr  21. 

25.  Veni  in  liortum  meuni  =  C.  c.  5,1,  in  einem  antiphonarium 
des  13  jhs.  (clm.  23083,  herkunft  unbekannt,)  findet  sich  diese 
antiphone  beim  officium  zu  Mariae  himmelfahrt. 

26.  Ave  regina  coelorum.  s.  Daniel  Thes.  hymnol.  II  s.  319, 
nr  X.  D.  bemerkt  dazu:  cantatur  post  purificationem  i.  e.  a  fine 
completorii  illius  diei  II  febr.  incl.  etiam  quando  transfertur 
festum  purificationis  usque  ad  feriam  V  in   coena  domini  eccl. 

•  In   msc.   lit.  24  nicht  bezeichnet;  da  es  aber  einen  versus  hat,  ist 
es  wol  für  ein  responsorium  zu  halten. 


48  HEYM 

27.  Transite  ad  me  omnes  =  Ecclesiast.  24,  26,  auch  als 
predigttext  über  Maria  gebraucht  (s.  Mone  Altt.  'seh.  s.  182). 
nach  C  Marbach  Carmina  scripturarum  R.  2.  immac.  conceptionis 
B.  M.  V. 

28.  Tota  piilcra  es  amica  mea  =  5  antiphone  B.  0. 

29.  Qiii  sunt  hi  qui  ut  nubes  volant.  hymnus  de  apostolis 
et  evangelistis  (Mone  Lat.  hymnen  II  65,  nr  668).  dieser 
hymnus  ist  ohne  beziehung  zur  Marienliturgie,  doch  gilt  von  ihm 
dasselbe  was  von  nr  4  gesagt  worden  ist. 

Von  den  29  lat.  gesängen  sind  also  die  meisten  dem  Marien- 
officium  entlehnt,  und  von  diesen  findet  sich  widerum  die  große 
mehrzahl  in  einem  im  12  jh.  bei  der  feier  von  Mariae  hiramel- 
fahrt  gebrauchten  officium,  von  den  stellen  die  ich  aus  der 
liturgie  nicht  nachweisen  kann,  können  ebenfalls  dem  Marien- 
officium  angehört  haben  nrr  5.  8  und  10.  12.  16.  w^enig  wahr- 
scheinlich ist  dies  bei  nrr  1.  4  und  29;  mit  diesen  hat  es  jedoch 
seine  eigene  bewantnis;  sie  gehörten  wahrscheinlieh  nicht  zum 
alten  bestand. 

Es  entsteht  nun  die  frage:  würden  diese  lateinischen  gesänge 
genügen ,  um  eine  dramatische  Vorführung  der  Vorgänge  bei 
Marien  himmelfahrt  zu  begleiten?     das   ist  sehr  wol  möglich. 

Mai-ia  besucht  die  Stationen  der  passion  ihres  sohnes  und 
singt  dazu:  iho  nunc  ...  am  Schlüsse  klagt  sie:  anima  mea 
liquefada  est,  ut  düedus  locutus  est;  quesivi  et  non  inveni 
illum,  uocavi  et  non  respondit  mihi,  invenerunt  me  custodes  ci- 
vitatis, percusserunt  me  et  vulneraverunt  me;  tulerunt  palUum 
meuni  custodes  murorum.  filie  Jerusalem,  nuntiate  dilecto,  quia 
amore  langueo.  das  ist  also  ein  ausdruck  ihrer  Sehnsucht  nach 
ihrem  söhn  und  bräutigam.  darauf  erscheint  der  engel  bei  Maria 
und  begrüßt  sie  mit  dem  gesang:  Christi  virgo  .  .  .  dann  ver- 
sammeln sich  die  apostel  bei. ihr,  während  der  chor  singt:  con- 
gregaho  Uli  sanctos  ejus  .  .  .  die  apostel  begrüßen  die  Gottes- 
mutter mit  der  antiphone:  Gaude  Maria  uirgo,  cunctas  hereses 
sola  interemisti  in  uniuerso  mundo,  der  Herr  kommt  vom 
himmel  mit  den  engein,  und  diese  (oder  der  Herr  selbst)  singen: 
felix  namque  es  .  .  .  der  Herr  ruft  Maria:  veni  electa  mea,  und 
nachdem  diese  mit  einer  seligpreisung  geantwortet  hat  (beatam 
me  dicent  omnes  generationes ,  quia  fecit  michi  dominus  magna, 
qtäa   potens  est  et  sanctum  nomen  eius),  widerholt  der  Herr  den 


MARIEN  HIMMELFAHRT  49 

ruf:  veni,  electa  mea,  veni,  coronaheris.  Maria  stirbt,  der  Herr 
trägt  ihre  seele  zum  himmel  und  singt:  heata  virgo  Maria  dei 
genitrix  que  credidisti  domino.  2Jßrfecta  sunt  in  te  que  dicta  sunt 
tibi,  ecce  exaltata  es  super  choros  angelorum.  {intercede  pro  nobis 
ad  dominum  ihesum  christum.) 

Der  körper  wird  auf  die  bahre  gelegt  und  zu  grabe  ge- 
tragen; hiebei  wird  gesungen:  surge  virgo  oder  in  exitu  Israhel 
de  Aegypto,  ferner  alma  redemptoris  mater  und  schließlich  super 
salutem  et  omnem  pulchritudinem  dilecta  es  a  domino.  et  regina 
celorum  uocari  digna  es;  gaudent  cJiori  angelorum  consortes  et 
conciues  tui.  darauf  begräbt  man  den  leichnam  und  singt  dazu: 
Ornatam  cum  monilibus  filiam  ierusalem  dominus  concupivit, 
et  videntes  eam  filie  syon  beatissimam  predicaverunt  dicentes 
ungentum  effusum  nonwi  tuum.  dann  erscheint  der  Herr  beim 
grabe  und  singt:  solem  justitiae  .  .  .  zum  schluss  heißt  er  den 
körper  seiner  mutter  aufstehn  mit  den  worten:  surge  propera, 
amica  mea.  Maria  steht  auf  und  wird  zum  himmel  emporge- 
tragen unter  dem  gesange  der  apostel:  virgo  prudentissima,  quo 
progredieris  (in  msc.  lit.  124  und  126  que  progrederis)  quasi  aurora 
ualderutilans ;  filia  syon  tota  formosa  et  suauis  est  (124  u.  126:  es), 
pulcra  ut  luna,  electa  ut  sol.  im'  himmel  wird  sie  von  den 
Chören  der  engel  mit  wechselgesängen  empfangen,  es  werden 
nacheinander  gesungen:  1.  vidi  speciosam  sicut  columbam 
descendentem  desuper  riuos  aquarum,  cuius  inestimabilis  odor  erat 
nimis  in  uestimentis  eius,  et  sicut  dies  uerni  clrcumdabant  eam  flores 
rosarum  et  lylia  convallium.  2.  que  est  ista  que  processit  sicut 
sol  et  formosa  tamquam  iherusalem;  viderunt  eam  filie  syon  et 
beatam  dixerunt,  et  regine  laudauerunt  eam.  3.  ista  est  speciosa 
inter  filias  iherusalem,  sicut  uidistis  eam  plenam  caritate  et 
dilectione  in  cubilibus  et  in  ortis  aromatum.  4.  q^^e  est  ista  que 
ascendit  per  desertum  sicut  uirgula  fumi  ex  aromatibus  mirre  et 
thuris.  5.  que  est  ista  que  ascendit  sicut  aurora  consurgens 
pulchra  ut  luna,  electa  ut  sol,  terribilis  ut  castrorum  acies  ordinata. 
6.  ista  est  speciosa  =  3. 

Darauf  führt  sie  der  Herr  zu  ihrem  sitz  im  himmel  mit  den 
Worten :  veni  in  hortuni  nieum,  soror  mea  sponsa,  messui  mirram 
meam  cum  aromatibus  meis  (clm.  23083.)  dann  singen  die  engel: 
Ave  regina  coelorum,  Maria  selbst  übernimmt  ihr  neues  amt  als 
fürsprecherin  der  sünder  mit  dem  gesange:  transite  ad  me  omnes, 
Z.  F.  D.  A.  LH.  N.  F.  XL.  ^ 


50  HEYM 

qui  concupiscitis  me,  et  a  generationibus  meis  implemini.  endlich 
schließt  der  Herr  mit  der  antiphone:  tota  pulchra  es,  amica  niea, 
et  macula  non  est  in  te;  fauus  distillans  labia  tua,  mel  et  lac 
suh  lingua  tua,  odor  ungentorum  tuorum  super  omnia  aromata- 
iam  enim  yenips  transiit,  imher  ahiit  et  recessit,  fiores  afpa- 
ruerunt:  uinee  florentes  odorem  dederunt  et  nox  turturis  audita  est 
in  terra  nostra.  surije,  proper a,  amica  mea,  ueni  de  lybano, 
ueni,  coronaberis. 

Man  sieht,  die  lateinischen  gesänge  stellen  ein  vollständiges 
spiel  dar.  das  die  3  oben  erwähnten  scenen  enthält,  es  fehlt 
vollkommen  der  angriff  der  Juden  auf  die  leiche  Marias,  er- 
innern wir  uns  daran,  daß  auch  im  Amorbacher  bruchstück  kein 
lateinischer  gesang  auf  diesen  angriff  und  seine  weitern  folgen 
sich  bezieht,  so  muss  das  immerhin  auffallen,  und  es  mag  mit 
als  stütze  für  die  Vermutung  dienen,  dass  eben  nur  jene  3  scenen, 
die  sich  leicht  an  gottesdienstliche  gebrauche  anschließen  konnten, 
sich  auch  würklich  an  sie  angeschlossen  haben. 

Vielleicht  haben  wir  noch  eine  spur  eines  lateinisch  abge- 
fassten  Marienhiramelfahrtsspieles  in  den  Fragmenta  Burana 
(Meyer  A  bei  Wilhelm  tafel  XII  und  XIII,  dazu  s.  137.). 
auf  tafel  XII  und  XIII  steht  ein  aus  lauter  antiphonen  zusammen- 
gesetztes spiel  von  den  3  erscheinungen  Christi,  dessen  schluss 
aber  gänzlich  aus  dem  Zusammenhang  herausfällt,  nach  der  er- 
scheinung  Jesu  vor  Thomas  heißt  es  nämlich: 

32.  Tunc  apostoli  sinml  cantent  ymmim :  Jesu  nostra  redemptio  etc. 

33.  Hoc  finita  producatur  niater  domini,  cum  ea  duo  angeli 
portantes  sceptra  et  cum  ea  Maria  Jacobi  et  Maria  Salome: 

34.  Egredimini  et  videte,  filie  syon,  regem  Salomonem  in  dija- 
demate,  quo  coronavit  cum  mater  sua  in  die  desponsationis  sue  et 
in  die  leticie  cordis  eins,  alleluia  alleluia. 

35.  Vox  turturis  audita  est  in  turribus  Jerusalem,  veni,  amica 
mea.  surge,  aquilo;  et  veni,  auster,  perfia  ortum  meum  et  fluent 
aromata  illius. 

36.  Respondet  Maria:   Veniat  dilectus. 
Dominus  Commedi. 

Mar.  Talis  est  dilectus. 
Dominus  Tota  pulcra. 

Dieses  Stückchen  gibt  eine  reihe  von  rätseln  auf,  zumal 
da  nrr  33  und  34  noch  von  derselben  hand  geschrieben  sind,  die 


MAEIEN  HIMMELFAHRT  51 

das  ganze  spiel  geschrieben  hat,  während  nrr  35  und  36  von  einer 
andern,  aber  wol  nicht  viel  spätem  hand  geschrieben  sind  (WMeyer 
s,  138).  WMeyer  meint,  das  erscheinungsspiel  schließe  mit  nr  32.  ist 
min  nrr  33 — 36  eine  unmittelbare  fortsetzung  des  erscheinungs- 
spieles?  einen  befriedigenden  Zusammenhang  zwischen  beiden 
kann  ich  nicht  finden,  auch  der  herausgeber  hat  dasselbe  gefühlt 
und  spricht  zuletzt  und  nur  mit  großen  bedenken  die  Vermutung 
aus,  dass  Christus  hier  vielleicht  den  s.  6(1  besprochenen  besuch 
bei  seiner  mutter  mache,  allerdings  findet  er,  dass  die  liturgische 
ausgestaltuug  etwas  überschwänglich  wäre,  wenn  also  nr  33 — 36 
nicht  zum  erscheinungsspiel  gehören,  bilden  sie  dann  eine  einheit 
oder  nicht?  dem  sinne  und  Zusammenhang  nach  könnten  sie 
wol  eine  einheit  bilden.  W  Meyer  meint  auch,  daß  die  antiphonen 
(nrr  35  und  36)  am  ehesten  zu  Marien  himmelfahrt  passen;  sie 
finden  sich  auch  im  St.  Galler  antiphonar  Hartkers  s.  309  und  310, 
leider  gibt  M.  nicht  an,  bei  welcher  feier,  vermutlich  aber  doch 
beim  assumptionsofficium.  tota  puJcra  ist  außerdem  ==  5  antiph. 
B.  0.  und  eoDunedi  steht  in  der  assumptionsfeier  des  antiph.  Cister- 
ciense  (a.  kl.  Langheim)  15  jh.  (Bamb.  msc.  lit.  30).  außerdem 
ist  es  eine  autiphone  im  assumptionsofficium  des  antiphonariums 
clm.  23083.  (13  jh.).  dass  die  himmelfahrt  Mariae  ganz  außer 
Zusammenhang  mit  dem  erscheinungsspiel  hier  steht,  erscheint 
freilich  sicher,  dass  sie  aber  auch  nicht  zu  nr  33  passe,  wie 
Meyer  wil,  möcht  ich  nicht  so  ohne  weiteres  zugeben. 

Nrr  34  und  35  stehn  ohne  angäbe  der  Sprecher,  wenn 
33 — 36  eine  einheit  bilden,  so  ist  ganz  gewis  nr  34  Maria  und 
nr  35  dem  Herrn  zuzuweisen,  für  das  erste  spricht  auch,  daß 
im  Amorbacher  bruchstück  die  antiphone  egredimini  ebenfalls  von 
Maria  und  zwar  kurz  vor  ihrem  abscheiden  gesungen  wird,  dann 
wäre  es  doch  nicht  unmöglich,  daß  nr  33  die  spielanweisung 
zu  nrr  34   sein  soll. 

Könnte  sich  die  handlung  nicht  so  entwickelt  haben?  der 
Herr  kommt  mit  seinen  engein,  um  Maria  abzurufen,  auch  im 
Innsbrucker  spiel  steht  vor  v.  1485:  Et  sie  dominica  persona 
vadit  cum  angelis  ad  palatium  Mariae  et  cantant:  felix  namque 
es.     et  cum  venerit  ad  palatium,  Raphael  dicit.  .  .  .? 

Zwei  engel  treten  ihr  zur  seite,  es  folgen  ihr  beim  auf- 
treten die  beiden  Marien,  sonst  ist  Maria  wol  von  drei  Jung- 
frauen begleitet,  an  deren  stelle  hier  die  beiden  Marien  getreten 


52  HEYM 

sein  könnten,  die  wir  ja  öfter  in  entscheidenden  stunden  ihres 
lebens  an  Marias  seite  finden,  diese  singt  die  antiphone  cfjre- 
dimini  zur  begrüßung  des  Herrn,  darauf  folgt  das  liebesgespräch 
zwischen  Dominus  und  Maria,  das  der  auffassung  der  liturgie 
ganz  entspricht,  geschlossen  könnte  die  scene  damit  haben,  dass 
der  Herr  die  seele  seiner  mutter  in  empfang  nimmt  und  sie 
durch  enge!  in  den  himmel  tragen  läßt  (vgl.  Innsbr.  sp.  v.  1537  ff). 

Hiegegen  ist  auch  der  umstand  nicht  von  ausschlaggebender 
bedeutung,  dass  nrr  35  und  36  von  einer  andern  hand  hinzugefügt 
sind,  als  der  die  das  vorhergehnde  geschrieben  hat.  der  sie 
hinzufügte ,  muste  doch  \fo\  beabsichtigen ,  eine  ergänzung  zu 
dem  vorausgegangenen  zu  bieten,  und  wollte  schwerlich  nur  ein 
paar  zusammenhangslose  notizen  machen,  wir  dürfen  also  hier 
wol  einen  Zusammenhang  annehmen. 

Unter  diesen  umständen  haben  wir  vielleicht  sogar  die 
berechtigung,  für  unsere  scene  auch  noch  nr  32  in  anspruch 
zu  nehmen,  in  der  Sterbestunde  Marias  sind  bekanntlich  nach 
der  Überlieferung  die  apostel  um  sie  versammelt,  nr  32  könnte 
ganz  wol  ein  begrüßungsgesang  der  jünger  an  den  niedersteigenden 
Herrn  sein,  und  hier  haben  wir  vielleicht  auch  den  Schlüssel 
für  die  sonst  unverständliche  anfügung  jener  so  ganz  anders- 
artigen stücke  an  das  erscheinungsspiel.  dieses  konnte  sehr  wol 
mit  einem  hymnus  der  apostel  auf  den  auferstandenen  Herrn 
schließen  (deshalb  weist  ja  der  herausgeber  nr  32  noch  dem 
erscheinungsspiel  zu),  und  der  abschreiber  irrte  von  dieser  spiel- 
anweisung  ab  auf  eine  andere,  die  in  der  vorläge  einem  anderen, 
jedenfalls  dem  folgenden  spiele  angehörte,  als  er  dann  sein 
versehen  merkte,  hörte  er  auf  zu  schreiben,  ein  anderer 
Schreiber  hat  dann  das  angefangene  stück  entweder  aus  der 
vorläge  oder  aus  dem  gedächtnis  ergänzt. 

Wir  dürfen  also  annehmen,  dass  es  seit  dem  12  Jahrhundert 
lateinische  spiele  zu  Marien  himmelfahrt  gab.  spuren  davon 
kennen  wir  bisher  wenig,  und  auch  deutsche  bearbeitungen  dieses 
Stoffes  sind  selten,  trotzdem  dürften  diese  dramatischen  dar- 
stellungen  eine  größere  Verbreitung  gehabt  haben,  als  man  nach 
dem  umfang  des  erhaltenen  anzunehmen   geneigt   ist '.     es  wäre 

'  Auch  in  Frankreich  gab  es  spiele  zu  Marien  himmelfahrt.  den 
inhalt  eines  solchen  gibt  Petit  de  JuUeville  Les  mysteres  ii  470.  in 
Ronen    bestand  gleichfalls   eine   dramatische   feier,    wie   aus   folgender  be- 


MARIEN  HIMMELFAHRT  53 

wenigstens  sonderbar,  wenn  eine  so  häutig  von  maierei  und 
plastik  dargestellte  legende  (s.  0  Sinding  Mariae  tod  und  himmel- 
fahrt;  ein  beitrag  zur  kenntnis  der  frühmittelalterlichen  denk- 
niäler.  Christiania  1903)  nicht  auch  häutiger  dramatisch 
bearbeitet  worden  wäre,  dabei  ist  zu  beachten,  dass  bis  zum 
beginn  des  13  jh.s,  so  grenzt  Sinding  seine  arbeit  ab,  am 
häutigsten  die  erste  und  dritte  der  oben  angeführten  scenen 
abgebildet  werden;  scene  2  findet  sich  nur  einmal  auf  einem 
glasgemälde-medaillon  der  kathedrale  von  Angers,  wobei  auch 
das  strafwunder  mit  dargestellt  ist,  und  zwar  nach  dem  griechi- 
schen bericht,  denn  die  bände  des  frevelnden  Juden  hängen  nicht 
bloß  an  dem  feretrum  fest,  wie  in  den  lateinischen  bearbeitungen, 
sondern  sind  von  dem  unsichtbaren  erzengel  abgeschlagen 
(Sinding  s.  90  f).  von  einer  einwürkung  dieses  berichtes  aber 
auf  die  anschauung  des  abendlandes  ist  im  allgemeinen  wenig  zu 
spüren,  obwol  auch  eine  lat.  Übersetzung  des  büchleins  vorhanden  ist. 
Doch  kehren  wir  zu  unserem  bruchstück  zurück,  ich  bin 
also  der  ansieht,  dass  ihm  ein  ursprüngliches  lateinisches,  sich 
eng  an  die  liturgie  anschließendes,  also  wahrscheinlich  unmittel- 
bar für  den  gottesdienst  bestimmtes  spiel  zu  gründe  gelegen 
hat.  dieses  spiel  hat  vermutlich  den  angriff  der  Juden  auf  den 
leichnam  der  Gottesmutter  nicht  enthalten,  der  bearbeiter  der 
die  deutschen  Umschreibungen  hinzufügte,  führte  jedenfalls  auch 
Ecclesia  und  Synagoga  in  die  handlung  ein.  dabei  hatte  er  auch 
das  bedürfnis,  neue  lateinische  gesänge  einzulegen,  und  diese 
entnahm  er  ebenfalls  der  liturgie,  wie  die  ausstattung  mit 
neumen  zeigt,  sie  gehören  möglicherweise  auch  zur  feier  des 
assumptionsfestes,  denn  sie  passen  auf  das  Verhältnis  zwischen 
Maria  und  dem  Herrn;  es  will  mir  aber  wenig  wahrscheinlich 
vorkommen,  dass  in  dem  zu  gründe  liegenden  lateinischen  spiele, 
dessen    handlung    sonst    rasch    fortschreitet,    ein    so    lang    aus- 

merkung  bei  Henri  Loriquet  (a.  a.  o.  s.  128)  hervorgeht:  'Dom  Poinmeraye 
Dous  apprend  que,  le  21.  aoüt  1460,  ou  supprima  une  procession 
qu'  organisaient  les  maitres  de  la  confrerie  de  Notre-Dame ,  oii  figuraient 
les  apotres  assez  singulierement  costum^s,  mais  qu'  on  laissa  subsister  la 
representation  de  1'  assomption  de  la  Vierge,  'qu'  ils  faisoient  voir  daus  la 
chapelle  dite  Jardin ,  ä  condition  qu'  eile  se  faisoit  h  une  heure  qui 
n'  empescheroit  point  le  Service  de  1'  eglise  et  qu'  11  ne  s'  y  commettroit 
aucune  indecence,  tumulte  ou  taquelle  qui  fussent  indigiies  du  Heu'. 


54  HEYM 

gesponnenes  liebesg^espräch  zwischen  dem  Herrn  und  Maria  statt- 
gefunden liaben  sollte,  außerdem  können  zweimal  zwei  aufein- 
anderfolgende stellen,  nämlich  B  und  C,  sowie  E  und  F,  nur 
einer  weiblichen  person  in  den  mund  gelegt  werden,  da  nun 
Ecclesia  und  Synagoga  sicher  dem  ursprünglichen  spiel  fremd 
waren,  so  müssen  auch  einige  von  diesen  lateinischen  stellen 
eingeschoben  sein,  welche  das  sind,  ist  allerdings  schwer,  w^enn 
nicht  unmöglich  zu  bestimmen,  vielleicht  gehört  die  Jeremias- 
stelle  und  eine  oder  die  andere  stelle  aus  dem  Hohenliede  zum 
alten  bestand,  und  der  bearbeiter  hat  dann  die  andern  stellen 
aus  dem  Hohenlied  hinzugefügt,  doch  ist  das  nur  eine  höchst 
unsichere  Vermutung. 

Wie  kam  aber  der  bearbeiter  dazu,  überhaupt  die  beiden 
personen  einzuführen?  sie  stören  ganz  entschieden  den  Zu- 
sammenhang und  sind  hier  noch  weniger  am  platze  als  in  den 
übrigen  spielen,  in  denen  sie  vorkommen,  freilich  war  die 
gegenüberstellung  von  Ecclesia  und  Synagoga  im  M.A.  beliebt. 
(P.Weber  Geistl.  Schauspiel  und  kirchliche  kunst  usw.) 

Aber  meist  streiten  beide  um  die  richtigkeit  ihrer  lehre 
und  um  ihre  geltung  und  herschaft;  das  ende,  das  in  der  kirch- 
lichen kunst  häutig  dargestellt  wird,  ist  die  niederlage  der 
Synagoga,  die  ihres  herscherschmuckes  beraubt  und  geblendet 
wird,  in  den  verschiedenen  spielen  wo  die  Synagoga  auftritt, 
hat  sie  eine  ganz  verschiedene  bedeutung.  im  Innsbrucker 
Marienhimmelfahrtsspiel  heißt  es  einmal  vor  v.  573:  Ad  laudem 
vel  synagoga  cantat.  hier  ist  sie  nur  die  gesamtheit  der  zum 
gottesdienste  versammelten  Juden;  in  der  Frankfurter  dirigier- 
rolle ist  sie  die  führerin  der  gesamtheit  der  Juden,  eine  ähnliche 
rolle  spielt  sie  im  Alsfelder  passionsspiel.  beide  Schauspiele 
enthalten  ein  kampfgespräch  zwischen  Ecclesia  und  Synagoga; 
das  des  Frankfurter  spiels  schloss  sich  wenigstens  in  seinem 
äußeren  verlaufe  an  die  gewöhnliche  Vorstellung  an;  die  spiel- 
anweisung  am  Schlüsse  heißt:  Hie  Synagoge  cadat  pallium  de 
humeris  et  Corona  de  capite;  die  disputation  hat  also  den  zweck, 
den  sieg  der  kirche  über  das  Judentum  darzustellen,  im  Als- 
felder Passionsspiel  hat  das  kampfgespräch  einen  andern  zweck: 
es  soll  vor  dem  großen  frevel  der  Juden  noch  einmal  deren 
ganze  Verstocktheit  deutlich  zeigen.  Ecclesia  sucht  die  Synagoga 
zu  bekehi'en,   diese  aber  antwortet  verstockt   und  abweisend,  sie 


MARIEN  HIMMELFAHRT  55 

wolle  bei  der  alten  ee  bleiben,  und  Ecclesia  gibt  die  absieht 
zu  erkennen,  die  aide  ee  zu  verblynden  (v.  4042).  auch  im 
Tegernseer  Ludus  de  Antichristo  treten  Synagoga  und  Ecclesia 
auf^  daneben  auch  noch  Gentilitas.  diese  drei  gestalten  sind 
hier  vollkommene  personificationen  des  Judentums,  Christentums 
und  heidentums.  am  anfange  des  Stückes  lassen  sie  sich  eben- 
falls in  ein  kurzes  kämpf gespräch  ein;  alle  drei  verteidigen  ihre 
lehren,  am  schluss  dagegen  spielt  die  Synagoga  eine  eigentüm- 
liche rolle,  sie  ist  nach  dem  erscheinen  des  Enoch  und  Elias 
die  erste  die  von  dem  Antichrist  abfällt,  und  büßt  dieses  nach 
einem  glaubensmutigen  bekenntnis  mit  dem  tode;  sie  wird  hin- 
gerichtet, in  diesem  allerdings  auch  sonst  ganz  allein  für  sich 
stehnden  drama  ist  also  der  gegensatz  zwischen  Ecclesia  und 
Sj-'nagoga    nicht   so   schroff    wie   in  den  obengenannten  dramen. 

Man  sieht,  es  besteht  ein  bedeutender  unterschied  zwischen 
jenen  andern  kampfgesprächen  und  dem  Wettstreit  zwischen 
Ecclesia  und  Synagoga  im  Amorb.  bruchstück.  es  handelt  sich 
hier  nicht  um  einen  meinungsstreit  wegen  der  richtigkeit  ihrer 
lehren,  sondern  um  den  streit  zweier  liebenden  frauen,  deren 
jede  die  gunst  des  gemeinsamen  geliebten  besitzen  will,  die 
auffassung  des  Verhältnisses  steht  also  ganz  unter  dem  einfluß 
mystischer  anschauungsweise.  der  streit  wird  auch  nicht  bloß 
zwischen  den  beiden  ausgef ochten ,  sondern  sie  wenden  sich  an 
den  Herrn,  damit  er  ihren  streit  entscheide,  [und  dieser  zeigt 
neigung,  die  vorher  verschmähte  Synagoga  wieder  zu  gnaden 
anzunehmen. 

Anknüpfung  um  diese  scene  einzufügen  bot  einerseits  das 
Verhältnis  zwischen  dem  Herrn  und  Maria,  das  hier  wie  das 
zwischen  Christus  und  seiner  kirche  unter  dem  einfluss  der  mystik 
ganz  als  liebesverhältnis  erscheint,  anderseits  die  in  der  Über- 
lieferung der  legende  vorgefundene  tatsache,  daß  die  Juden  nach 
dem  versuchten  frevel  an  dem  leichnara  der  Gottesmutter  wider 
geheilt  und  bekehrt  werden.  damit  ist  ihnen  also  auch  anteil 
am  himmelreich  gegeben,  das  hat  vermutlich  auch  den  anlass 
geboten,  das  verhalten  des  Herrn  gegenüber  der  Synagoga  so  zu 
gestalten,  wie  es  hier  ganz  abweichend  von  den  andern  dramen 
geschieht,  nur  im  Tegernseer  spiel  konnte  man  eine  entfernte 
ähulichkeit  finden,  da  auch  hier  am  Schlüsse  alles  in  den  schoß 
der  Ecclesia  zurückkehrt. 


56  HEYM,  MARIEN  HIMMELFAHRT 

Der  dichter  der  deutschen  paraphrase  war  offenbar  ein  geist- 
licher, vielleich  ein  mönch,  der  sich  auf  seine  theologische  bildung 
nicht  wenig  zu  gut  tat,  der  stark  von  der  mystik  beeinflußt  war 
und  es  liebte,  sich  mit  den  geheimnisvollen  beziehungen  zu  be- 
befassen, die  zwischen  dem  Verhältnis  Christi  zur  kirche  und 
dem  Hohenlied  bestanden,  hieraus  erklären  sich  die  beiden  auf- 
fallenden verse  am  ende  von  IV  unseres  bruchstückes: 
waz  disv  rede  betute, 
des  ivissen  nit  tvmbe  Inte. 

Wenn  ich  in  dieser  arbeit  über  Inhalt,  Zusammenhang  und 
entstehung  des  Amorbacher  bruchstückes  eine  reihe  von  Ver- 
mutungen geäufsert  habe,  so  hoffe  ich  stütze  oder  Widerlegung 
von  weiterer  durchsieht  liturgischer  handschriften.  anderseits 
wäre  es  auch  nicht  unmöglich,  dass  noch  andere  teile  unseres 
Spieles  zum  Vorschein  kommen,  im  Amorbacher  archiv  allerdings 
scheint  nichts  derartiges  mehr  vorhanden  zu  sein,  teile  des 
alten  Leining.  archivs  aber,  die  früheren  besitzungen  auf  dem 
linken  Rheinufer  betreffend,  sind  1805,  1806  u.  1807  an  die 
generalpräfectur  und  das  generalconsistorium  zu  Mainz  und  an 
das  departement  der  Meurthe  zu  Nancy  abgegeben  worden '. 
auf  dem  rücken  des  einen  oder  andern  sammelbandes  dieser 
archivalien  könnten  sich  vielleicht  noch  streifen  von  blättern 
unserer  handschrift  finden,  vorläufig  ist  mir  über  das  weitere 
Schicksal  dieser  archivalien  nichts  bekannt. 

Saalfeld  a.  S.  Rudolf  Herrn. 


'DIU  MAZE'. 


Gustav  Rosenhagen  hat  uns  mit  der  ausgäbe  der  Heidel- 
berger hs.  341  (Deutsche  texte  d.  ma.s  bd  xvn)  ein  um  so 
wertvolleres  geschenk  gemacht,  als  er  selbst  in  der  einleitung 
mit  energischem  einsetzen  den  ausblick  auf  mancherlei  arbeit 
eröffnet,  welche  der  geschichte  der  altdeutschen  litteratur  und  der 
geschichte  des  mittelalterlichen  buchwesens  zu  gute  kommen  wird, 
ich  habe  gegenwärtig  nicht  die  zeit  und  es  war  nicht  meine 
absieht,  in  die  discussion  über  das  Verhältnis  der  grofsen  novellen- 
handschriften,  insbesondere  der  Heidelberger  (P)  und  der  Kalocsaer 

'  11    Krebs  Archivgeschichte  des  Hauses  Leiningen  s.    33  u.  34. 


SCHEÖDER,  DIU  MAZE  57 

(K)  einzugreifen,  ich  wollte  hier  nur  einspruch  erheben  gegen 
eine  bemerkung  auf  s.  103,  wodurch  das  zuerst  von  Bartsch 
(Germ.  8,  97  ff)  als  produet  der  frühzeit  herausgehobene  gedieht 
von  der  *Mafse'  als  ein  relativ  spätes  erzeugnis  verdäclitigt  wird 

—  denn  unsere  Überlieferung  für  das  1 2  jh.  ist  nicht  reich  genug, 
und  wir  glaubten  das  stück  seit  Scherer  (QF.  12,  89)  zu  gut 
in  den  historischen  Zusammenhang  eingefügt  zu  haben,  als  dass 
wir  jetzt  leichten  kaufes  darauf  verzichten  könnten,  nun  haben 
sich  mir  aber  wider  erwarten  bei  der  beschäftigung  mit  dem 
kurzen  gedieht  auch  neue  gesichtspuncte  für  das  Verhältnis  von 
P  zu  K  ergeben,  und  zwar  gründe  ich  diese  auf  eine  text- 
vergleichung  der  'Mai'se',  welche  mir  auf  meine  bitte  der 
erzbischöfliche  bibliothekar  in  Kalocsa  herr  Paul  Winkler 
übermittelt  hat;  ich  sage  ihm  für  seine  liebenswürdigkeit  hier 
verbindlichsten  dank. 

Aus  herrn  Winklers  collation  lass  ich  das  rein  orthogra- 
phische, das  sich  beständig  widerholt  (i  für  ei,  u  für  ou,  ou  für 
au,  ie  für  i:  ht  für  cid:  do  für  da,  unde,  umhe  für  unt,  umh 
u.  ä.),  fort,  schalte  wichtige  Übereinstimmungen,  auf  die  ;ich  mich 
nachher  ausdrücklich  beziehen  will,  in  klammern  ein  und  hebe 
die  bedeutsamen  abweichungen  durch  Sperrdruck  heraus:  (3  so 
(jenant)  —  28  iverst  du  —  58  mecht]  mohte  —  {gewerren  den) 

—  66  lebet  —  67  beide  —  69  zu  lob\  ze  lob  wol  —  70/71 
geren:  zu  eren]  gerne:  zu  erne  —  80  sol  niht  liegen  — 
(85  ist  liep)  —  (90  sinen  sanfte  haben)  —  95  desn  sol  — 
111  zallen  —  121  desn  —  127  minne]  minnen  —  135  ge- 
haben] betragen  —  (153  selesere)  —  159  riche  —  170  siten  — 
177  izn  darf —  192  gemechid  zeiniale —  193  ane  zemale  — 
202   im  —  208  beidev. 

Das  gedieht  gehört  zu  Rosenhagens  IV  gruppe  und  steht 
in  P  wie  K  hinter  dem  "Borten'  des  Dietrich  von  Glatz  und  vor 
Konrads  von  Würzburg  "Weltlohn'.  danach  hat  es  den  anscheiu, 
als  sei  es  schon  in  einer  der  kleineren  sammelhss.,  welche  den 
beiden  in  der  gleichen  Schreibstube  entstandenen  Codices  als 
vorlagen  dienten,  zwischen  diese  zwei  versnovellen  aus  der  zweiten 
hälfte  des  13  jh.s  eingekapselt  gewesen,  auch  die  vorläge  von 
K  hatte  die  meisten  Verderbnisse  welche  wir  aus  P  kannten: 
einmal  im  versinnern  solche  wie  in  3.  85.  90;  dann  aber  nament- 
lich im  versausgang:  a)  mechanische  glättung  des  reimbildes,  wie 


58  SCHRÖDER 

durch  liinzufügung  des  -n  in  irewen  v.  7  (1.  trhace :  germwen), 
durch  dessen  fortlassung  in  Inntmanne  v.  106  (1.  dinen  lant- 
mannen  :  schände);  weiter  die  ausgleichung  gerne:  gerveren  v.  82 f 
zu  gern:  geivem,  und  ferner  gerne:  eren  v.  70 f,  wo  freilicli  beide 
hss.  verschiedene  wege  gehn:  P  geren:  zu  eren,  K  gerne:  zu 
erne.  —  b)  gewaltsame  beseitigung  der  assonanz  durch  rohe 
hinzufügung  eines  neuen  reimwörtcheus :  58  gewerren  den  (ne): 
erkennen,  153  lere:  sele  sere.  —  c)  geschicktem  ersatz  des 
reimwortes  bietet  v.  161  (ez  zimet  icol  guoten  wihen:)  daz  si 
allen  zorn  vertriben,  wo  gewis  ursprünglich  vermiden  stand', 
eine  Verderbnis  vermut  ich  auch  in  v.  3f  Maze  ist  so  (\.  si)  genant: 
da  von  sit  gemant,  wo  das  reimbild  verdächtig  und  die  versmelodie 
gestört  ist,  es  ist  wol  zu  lesen:  Mäze  ist  sie  genennet,  da  von 
(oder  dar  an)  ir  sie  erkennet.  —  die  Schlusszeilen  v.  21  Bf  sind 
Schreiberzusatz,  reimtechnisch  unmöglich  und  obendrein  widersinnig. 
Nun  zeigt  sich  aber  in  K  die  eigentümliche  erscheinung, 
dass  es  über  diese  änderungen  der  vorläge  noch  hinausgeht,  und 
zwar  in  genau  der  gleichen  richtung:  a)  der  rein  mechanischen 
änderung  von  PK  7  (trewen)  entspricht  die  in  K  127  [minnen): 
b)  die  gleichen  rohen  anhängsei  wie  PK  58.  153  erlaubt  sich 
K  69.  193;  schliefslich  c)  hat  K  einen  guten  reimausgleich  ge- 
funden V.  135  betragen  {st.  gehaben):  sagen,  diese  vier  lesarten 
allein  schon  genügen,  um  K  als  vorläge  für  P  auszuschliefsen, 
ob  K  aus  P  abgeschrieben  hat,  würde  eine  confrontierung  der 
handschriften  gewis  entscheiden,  die  mir  zur  Verfügung  stehnde 
collation  genügt  dafür  nicht,  dass  der  Schreiber  von  K  nicht 
zugleich  der  Schreiber  von  P  sein  kann,  beweist  schon  die  Ortho- 
graphie, da  es  nun  immerhin  unwahrscheinlich  ist,  dass  zwei 
verschiedene  schreiber  dieser  zeit,  K  und  dessen  vorläge,  einem 
texte  gegenüber  so  ganz  das  gleiche  Verhältnis  zeigen,  so  scheidet 
zunächst  die  annähme  aus,  dass  P,  falls  es  die  vorläge  für  K 
bildete,  die  änderungen  selbst  vorgenommen  habe,  wir  müssen 
diese  vielmehr  in  die  vorläge  zurückverlegen,  und  so  drängt  sich 
uns   die  Vermutung  auf,  dass  der  schreiber  von  K  (zunächst  für 

'  einen  weitem  unreinen  reim  vermutet  Roethe  v.  138,  wo  über- 
liefert ist  ir  zimet  wol  i/uot  i/enende  und  auch  ein  r/tiot  ende  und  er 
vielmehr  anegenge:  ende  vorschlägt,  aber  so  sinnlos  fjenende  'person' 
(<i  ganetnnida)  wäre,  so  vortrefflich  ist  i/e/iende  'Unternehmung' ("<  (janen- 
dida),   und  darum  möcht  ich  doch  lieber  bei  der  Überlieferung  bleiben. 


DIU   MAZE  59 

unser  g-edicht)  zugleich  der  Schreiber  von  *KP  ist.  das  ist  eine 
möglichkeit  die  man  bisher  gar  nicht  erwogen  hat,  mit  der  man 
aber  durchaus  rechneu  muss,  sobald  man  erst  bei  der  tatsache 
der  gleichen  Schreibstube  angelangt  ist.  ich  betone  aber  weiter: 
diese  annähme  schliefst  die  möglichkeit  keineswegs  aus,  dass  K 
aus  P  copiert  ist:  die  hs.  *KP  konnte  längst  verkauft  und 
nur  die  abschrift  P  zurückgeblieben  sein,  als  der  schreiben 
K  einen  neuen  auftrag  erhielt,  für  den  ihm  nun  nicht  mehr  die 
eigene  ai^beit,  sondern  eine  fremde  abschrift  als  vorläge  dienen  muste. 

Unter  allen  umständen  ist  K  eine  spätere  stufe  als  P,  und 
diese  hs.  bleibt  die  grundlage  für  die  recension  des  gedichtes.  mit 
den  zurückhaltenden  änderungen  die  ich  oben  an  ihrem  text 
vorgenommen  habe  (Bartschs  behandlung  von  v.  11  f  lehn  ich 
mit  Rosenhagen  ab),  erhalten  wir  von  109  reimpaaren  (wovon 
eines,  v.  11,  unvollständig  ist)  bei  strenger  beurteilung,  d.  h. 
unter  ausschaltung  des  unsichern  mundartlichen  moments,  41 
unreine  bindungen,  also  37,5  ^h.  das  ist  ein  sehr  hoher  procent- 
satz,  denn  Heinrich  von  Melk  in  der  'Erinnerung'  hat  nur  2 1  %, 
Hartmann  im  'Glauben'  24  ^jo;  während  freilich  Wernhers 
'Marienleben'  in  der  ursprünglichen  fassung  noch  bei  33  '/:i  "^/o 
stehn  mag  (QF.  44,  21)  und  man  den  gleichen  procentsatz 
wol  auch  dem  'Anegenge'  zusprechen  darf  (ich  berechnete  aao.  20 
nur  31  %),  wenn  man  den  einen  und  andern  der  von  Bartsch 
Beitr.  8,  494  ff  gebotenen  vorschlage  acceptiert.  die  hohe  zahl 
der  unreinen  bindungen  hängt  natürlich  zusammen  mit  dem  starken 
bruchteil  welchen  die  klingenden  reime  darstellen:  es  sind  52, 
d.  h.  48  "/o,  eine  zahl  die  über  das  Anegenge  (kaum  42  *'/o) 
hinausgeht  und  nur  von  Wernhers  Maria  (58  o/o)  bedeutend  über- 
troffen wird,  die  grofse  zahl  der  klingenden  reime,  von  denen 
genau  die  hälfte  (26)  consonan tisch  unrein  sind,  schliefst  Jede 
möglichkeit  aus,  das  gedieht  in  die  zeit  des  Verfalles  zu  setzen, 
die  typen  dieser  unreinen  reime  sind  genau  die  gleichen,  wie  wir 
sie  in  den  obengenannten  und  andern  gedichten  des  12  jh.s 
finden,  nur  fehlen  bereits  ganz  die  bindungen  aus  der  zeit,  wo 
die  endsilbe  noch  träger  des  reims  war  {guote:  hetc,  wäre:  chöre, 
handen  :  sunden) ;  einen  deutlichen  Übergangsreim,  der  eben  nur 
im   12  jh.  möglich  ist,  bietet  aber  v.   34  f  zwäre:  wcßre. 

Gewis,  das  14  jh.  bringt  auch  wider  gedichte  mit  unreinen 
reimen,  und  es  lohnte  sich  wol,  einmal  den  unterschied  der  technik 


60  SCHRÖDER,  DIU  MAZE 

an  charakteristischen  producten  aus  der  zeit  des  aufstiegs  und  des 
Verfalls  nachzuweisen;  dazu  aber  ist  die  wenig  umfangreiche 
'Mal'se'  nicht  so  geeignet  wie  'Erinnerung'  und  Triesterleben', 
deren  alter  man  ja  auch  angefochten  hat.  dass  unser  kleines 
lehrgedicht  nur  der  frtihzeit  angehören  kann,  ergibt  aber  auch 
die  Prüfung  des  Wortschatzes  und  der  phraseologie.  das  hat  schon 
Scherer  richtig  herausgefühlt,  als  er  (QF.  12,  89)  die  'Mafse' 
zwischen  Meinloh  v.  Söflingen  und  ^Tougen  minne'  einerseits  und 
die  'Ratschläge  für  Liebende'  anderseits  stellte,  ich  will  nur 
eine  beobachtung  herausheben,  die  völlig  ausreicht,  dem  gedieht 
seinen  platz  in  der  zweiten  hälfte  des  12  jh.s  anzuweisen, 
widerholt  werden  mit  nachdruck  die  erstrebenswerten  prädicate 
der  vornehmen  dame  genannt,  v.   178f=194f: 

stvelch  frouwe  ditze  tuot, 

diu  ist  hiderhe  unde  guot. 
diese  ausdrücke  finden  wir  von  der  frau  nur  in  dichtungen  der 
mhd.  frühzeit  gebraucht:  Kehr.  12097 f  (Crescentia)  Diu  froic  e 
was  hiderhe  unde  guot,  harte  kPske  geniuot,  erhaft  und 
milte:  Dietmar  v.  Aist,  MFr.  33,  34  (vgl.  33,  31)  'frouwe 
hiderhe  unde  guot!';  Meinloh  v.  Söflingen,  MFr.  15,  If 
Vil  schoene  und  hiderhe  darzuo  edel  unde  guot,  so  iceiz  ich 
eine  frouicen.  später  tritt  die  formel  überhaupt  zurück  (vgl. 
etwa  noch  Nib.  1287,3  manic  riter  edele  hiderhe  unde  guot], 
und  der  gebrauch  von  hiderhe  schränkt  sich  mehr  und  mehr  auf 
die  männer  ein  —  wenn  Hartmann  einmal  im  Iwein  3860.  (i2 
sagt  ein  vrumer  man  .  .  .  sin  hiderhez  wlp,  so  hat  das  seine  ganz 
bestimmte  färbe,  schon  Walther  kennt  hiderhe  nur  als  prädicat 
von  männern,  auch  die  6 — 7  fälle  der  Nibelungen  und  die 
mindestens  18  belege  der  Kudrun  (s.  Martin  zu  189,  4)  gelten 
ausschlief slich  ihnen.  Wolfram  scheint  das  wort  direct  zu  meiden, 
der  formel  hiderhe  unde  guot  aber  hat  sich,  wie  es  scheint,  über- 
haupt kein  höfischer  dichter  mehr  bedient,  und  den  gebrauch 
welchen  das  16  jh.  von  'biderb'  und  'frumb'  machte,  wird  man 
für  die  'Mafse'  gewis  nicht  ins  feld  führen  wollen.  E.  S. 


zu  GOTTFRIEDS  TRISTAN 

Marke  der  tugendenche. 

tugent  s.  6] .  —  liöaesch  s.  66.  —  rjiiot  a.  69.  —  iirert  s.  71.  —  edel  s.  73  — 
die  Zusammensetzungen  mit  -rieh  bei  Hartmann  und  Gottfried  s.  76.  — 
die  Zusammensetzungen  mit  -beere  bei  Hartmann  und  Gottfried  s.  78.  — 
Marke  der  tugendenche  s.  80.  —  grenzen  innerhalb  des  Tristan  s.  81. 

Der  formelhaft  charakterisierende  vers  Marke  der  higende- 
ricJie  findet  sich  im  Tristan  zuerst  4S3,  ein  zweites  mal  33S1, 
dann  aber  im  ganzen  weitern  verlauf  des  umfangreichen  werkes 
nur  noch  einmal  13  189.  auch  Tristan  der  tugende-(^zvf. 
tugent-)riche  lesen  wir  zweimal  2226  und  5746,  später  nicht 
wider,  fügen  wir  noch  hinzu  4527  Büal  der  tugende  erkande 
(:  Tristande),  so  fallen  von  diesen  sechs  belegen  in  das  erste 
drittel  des  gedichts  fünf,  in  die  beiden  übrigen  drittel  nur  ein 
einziger,  ohne  hinzusetzung  des  eigennamens  steht  der  tugende- 
riche  von  Marke  4019,  von  Tristan  3621,  beidemal  am  vers- 
ande, dazu  kommt  noch  226S  der  tugentriche  jungelinc,  der  tvol 
gezogene  Tristan  und  2043  diu  tugentriche  marschalkin  (Floräte». 
endlich  steht  tugenderich  noch  einmal  4082  (im  stumpfen  reim) 
mit  beziehung  auf  Enal,  so  dass  also  von  insgesamt  zehn  belegen 
für  tugenderich  dem  ersten  drittel  des  gedichtes  neun,  den  beiden 
letzten  dritteln  nur  ein  einziger  angehören. 

Neben  tugenderkh  ist  im  Tristan  tugenthaft^  mit  gleichfalls 
zehn  belegen  vertreten,  die  Verteilung  der  belege  zeigt  zunächst 
nichts  auffallendes;  indessen  hat  es  doch  mit  den  fünf  letzten 
belegen  eine  besondere  bewantnis.  ganz  für  sich  steht  der 
letzte  beleg  15  739  der  vil  tugenthafte  Krist.  die  vier  voran- 
gehenden belege  drängen  sich  in  noch  nicht  tausend  versen  zu- 
sammen und  gehören  auch  sachlich  zueinander:  14  538  diu  ge- 
triuwe  Isöt,  diu  tugenthaftiu  künigin,  sind  worte  Melots  im  ge- 
spräch  mit  Tristan,  als  er  diesem  eine  falle  zu  stellen  versucht; 
und  tugeniliaftiu  künigin  wird  Isolde  15  433  auf  dem  concil  zu 
Lunders  von  dem  wortführenden  alten  bischof  angeredet,  ebenso 
aber  auch  von  Tristan,  als  dieser  bei  dem  verratenen  und  be- 
lauschten Stelldichein  Verstellung  üben  muss,   14809  tugenthaftiu 


s.  77  anm 


^   über   tugentHch    und    tugenthaft    bei    Hartmann    vgl.  s     76   und 


62  NOLTE 

kiiniglnne  und  14  903  vil  tugenthaftiu  kiinigin.  diese  vier 
beispiele  sind  mithin  belege  eher  für  den  Sprachgebrauch  der 
höflinge  als  des  dichters.  von  den  fünf  belegen,  die  für  die  ver- 
gleichung  mit  tngenderkhe  bleiben,  fallen  wider  vier  in  das  erste 
fünftel  des  gedichts:  455  will  Eiwalin  von  Marke  werden  tugent- 
haft;  513  der  tugenthafte  Rnvalin;  3264  als  man  dem  tugent- 
haften  sol;  3287  er  [Tristan]  ist  so  tugenthaft;  10  777  sagt 
Tristan  von  Kurvenal,  daz  disiu  sunne  nie  heschein  tugent- 
hafter  herze  kein. 

Dagegen  gehört  ein  drittes  adjectivum  ganz  dem  ersten 
fünftel  (oder  sechstel)  des  gedichtes  an:  tugentVich  wird  2207, 
3104,  3129  als  beiwort  zu  dinc,  muot,  ÄiMi  gefügt  mit  unmittel- 
barer beziehung  auf  den  wunderknaben  Tristan,  seinen  erzieher 
Kurvenal  und  seinen  „vater''  Enal,  auch  der  einzige  beleg  für 
tugentsam  steht  3277,  wo  diese  eigenschaft  an  Tristan  gerühmt 
wird,  von  sechs  belegen  für  das  adverbium  UigentHche(n)  stehn 
vier  widerum  im  ersten  fünftel  des  werkes  4S4,  2140,  3263, 
33S2,  der  fünfte  7479,  der  sechste  1 1  639.  im  gleichen  Zu- 
sammenhang wie  dieser  letzte  beleg  findet  sich  mit  beziehung 
auf  den  truchsessen,  der  Isoldes  band  beansprucht  hatte,  der 
einzige  beleg  für  tugendelos  11631  und  der  eine  der  beiden  be- 
lege für  untugent  11  633,  das  schon  2146  zum  erstenmal  gebraucht 
wurde,  auch  ein  verbum  lugenden  bildet  Gottfried  175  intran- 
sitiver, 17  975  in  intransitiver  bedeutung,  und  zu  der  ersteren 
bedeutung  10  032  das  participium  getugendet.  dass  von  den 
drei  belegen  für  diese  bilduug  einer  in  der  vielfach  gekünstelten 
einleitung,  die  beiden  andern  erst  in  der  zweiten  hälfte  des 
Werkes  stehn,  wird  leicht  verständlich,  fassen  wir  nun  aber  noch 
das  grundwort  selber  ins  äuge,  so  kommen  von  43  belegen  für 
das  substantivura  tugent  auf  die  ersten  6000  verse  allein  30, 
auf  die  übrigen  13  500  verse  nur  13;  und  wenn  wir  schliefslich 
alles  zusammennehmen,  so  zählen  wir  für  tugent  und  seine  sämt- 
lichen ableitungen  in  den  ersten  6000  versen  54,  von  da  an 
aber  nur  noch  26  belege.  Gottfried  braucht  also  tugent  mit 
seinen  ableitungen  in  den  letzten  13  500  versen  vier-  bis  fünf- 
mal seltener  als  in  den  ersten  6000  versen  i. 

'  die  sämtlichen  80  belegstellen  für  tiifient  und  seine  ableitungen  sind 
der  reihe  nach  37.  175.  176.  180.  190.  192.  258.  294.  455.  483.  484.  497. 
51S.  521.  638.  1032.  1146.    1150.  1681.  2043.  2140.  2145.  2146.  2188.  2226. 


zu  GOTTFRIEDS  TRISTAN  63 

Man  könnte  vermuten  wollen,  dass  es  sich  hiei'  um  die  ab- 
stveifung  eines  aus  der  tradition  übernommenen  motivs  handele, 
das  Gottfrieds  besonderer  art,  zumal  in  ihrer  späteren  reineren 
ausbildung-  nicht  mehr  gemäis  war.  indessen,  so  zweifellos  auch 
gerade  hier  der  Zusammenhang  mit  der  tradition  ist,  so  zweifel- 
los ist  es  auch,  dass  wir  es  mit  einem  durchaus  wesentlichen 
und  dauernd  lebendigen  bestandteil  aus  der  weit  Gottfriedischer 
Vorstellungen  zu  tun  haben,  das  ist  nach  der  bedeutung  von 
tugent  und  nach  Gottfrieds  genugsam  bekannter  art  ja  beinahe 
selbstverständlich,  wird  zudem  durch  die  grofse  zahl  der  belege 
und  mehr  noch  durch  die  ungewöhnlich  grofse  zahl  verschieden- 
artiger ableitungen  bezeugt  und  ergibt  sich  auch  u.  a.  einerseits 
aus  der  stelle  der  einleitung  172 — 192  und  dann  wider  ge- 
legentlich der  allegorischen  ausdeutung  der /"os.SMtre  16  947 — 66. 
in  der  erzählung  aber  wird  dies  motiv  gleich  zu  anfang  kräftig 
angeschlagen,  wenn  es  von  Riwalin  heifst:  an  ime  brast  al 
der  tngende  niht,  der  Jierre  ^  haben  solde.  nun  ist  diese  stelle 
allerdings  deutlich  genug  von  Hartmann  beeinflusst  (aH.  'A2 — 35). 
aber  für  die  sache  ist  diese  abhängigkeit  bedeutungslos,  höch- 
stens ergibt  sich  dadurch  eine  kleine  Unebenheit,  wenn  nun 
tugent  geradezu  zum  ersten  bewegenden  moment  der  ganzen  er- 
zählung gemacht  wird.  Riwalin  hat  (418 — 420)  vil  gehceret 
sagen,  wie  hövesch  und  wie  erbcere  der  junge  künic  [Marke]  iccere 
(wo  die  paarung  hövesch  und  erbcere  wol  reminiscenz  aus  Iw. 
1 1  6  ist)  und  möchtefnun  von  Marke  werden  tugenthaft  und  lernen 
niuwe  ritterschaft  und  ebenen  sine  site  baz  (455 — 457,  vgl.  auch 
458 — 462).  dieser  wünsch  ist  es,  der  Riwalin  an  Markes  hof 
führt  und  somit  alle  weitere  entwicklung  erst  möglich  macht, 
es  ist  also  auch  nicht  zufall  und  nicht  blofs  formelhaft,  wenn  es 

2264.  2267.  226S.  2276.  3072.  3104.  3125.  3129.  3263.  32ö4.  3277.  3287. 
3381.  3382.  3621.  4019.  4039.  4055.  4082.  4089.  4420.  4508.  4527.  4531. 
4538.  5004.  5256.  5746.  57S3.  —  7479.  8460.  10032.  10778.  11164.  11631. 
33.  39.  47.  131S9.  14539.  14801.  14809.  14903.  15433.  15621.  15739. 
16397.  16947.  50.  59.  66.  17125.  17975.  18706.  18790.  besondere  hervor- 
hebung  verdient  noch,  dass  die  reimbindung  Juijent:  twjent  (ju'jeiule: 
tugende  fehlt  im  Tristan)  nach  acht  belegen  293.  1149.  2275.  3126.4040. 
4419.  4507.  4537  in  den  letzten  15000  versen  nicht  ein  einziges  mal  mehr 
verwant  wird. 

^  vgl.  herren  tugent  294.  1150.  1681,  das  später  nicht  widerkehrt 
{herren  muot  4477). 


64  NOLTE 

von  Riwalins  aufnähme  heiCst  Marke  der  tugenderlche  der 
enpfienc  in  tugentlkhe  (483  f,  vgl.  3381  f);  vielmehr  wird  gleich 
hinterher  von  Riwalin  selber  bestätigt,  dass  er  gefunden  habe, 
was  er  suchte:  497  swaz  ich  von  Markes  higenden  ie  gehörte 
sagen,  deist  allez  hie.  dass  der  aufenthalt  an  Markes  hofe  den 
gewünschten  erfolg  hat,  soll  wohl  518 — 521  ausgedrückt  sein; 
und  solange  Riwalin  im  Vordergründe  der  erzählung  steht,  bleibt 
tugent  vorzugsweise  für  ihn  typisch. 

Erst  recht  typisch  wird  dann  (2140  usw.)  tugent  für 
den  wunderknaben  Tristan,  dessen  tilgende  freilich  weder  mit 
dem  mangel  alles  kindlichen  oder  knabenhaften  wesens,  noch  mit 
seiner  Virtuosität  im  erfinden  von  lügengeschichten  versöhnen 
können,  aber  nicht  nur  bei  Marke,  Riwalin  und  Tristan,  sondern 
auch  für  jede  andere  hauptperson  der  Vorgeschichte  wird  uns 
ihre  tugent  bez.  tilgende  mehr  oder  minder  nachdrücklich  bezeugt : 
für  Rual  3104,  4039  ff,  4527  ff,  für  Floräte  2043  und  5256, 
für  Kurvenal  2264 — 67.  nur  Blanschefiurs  tilgende  werden  uns 
mit  einer  gewissen  feinheit  634—638  mehr  angedeutet,  als  vor- 
gerechnet, was  der  würkung  dieser  gestalt  zu  gute  kommt. 

Hat  man  die  54  belege  für  tugent  aus  den  ersten  6000 
Versen  nicht  nur  gezählt,  sondern  auch  einzeln  verglichen  und 
gewogen,  so  tritt  das  entgegengesetzte  verhalten  der  folgenden 
grofsen  hauptmasse  des  gedichts  erst  in  voller  schärfe  hervor, 
die  nächsten  6000  verse  bieten  gerade  neun  belege,  in  diese 
6000  verse  fällt  aber  die  einführung  der  Isolde,  des  weiblichen 
gegenstücks  zu  dem  wunderknaben  Tristan,  aber  an  keiner  der 
stellen,  an  denen  uns  Gottfried  dies  unglaublich  seelenlose  ge- 
geschöpf  als  ein  musterbild  weiblicher  Vollkommenheit  aufreden 
möchte,  braucht  er  von  ihr  das  wort  tugent,  obwohl  die  sache 
und  der  begriff  gerade  nach  des  dichters  auffassung  in  höchster 
Vollendung  voi-handen  sind  ^  und  wie  mit  Isolde,  so  ist  es  von 
nun  an  mit  allen  übrigen  personen,  mit  den  älteren  nicht  minder, 
wie  mit  den  neuauftretenden,  weder  die  sache,  noch  der  begriff, 
noch    auch   das    wort   tugent  verschwinden,    es  verschwindet  nur 

»  man'  vgl.  zb.  3620  (von  Tristan)  tind  alx  ei  ie  se  staten  kam,  f<6 
lie  der  tugenderlche  suoze  unde  wunnecliche  sine  srhamüne  fliegen  in. 
er  .sanc  diu  leichnotelin  .  .  .  so  suoze  mit  dem  munde,  das  .  .  .  mit 
8000  (von  Isolde)  ouch  sanc  diu  sceldenriche  [nicht  diu  tugenderiche] 
suose  unde  lool  von  munde. 


zu  GOTTFRIEDS  TRISTAN  65 

die  dem  aiifang  des  werkes  eigentümliche  geflissentliche  hervor- 
kehrung gerade  dieses  begriffs  von  selten  des  dichters.  be- 
zeichnend hierfür  ist,  dass  in  den  späteren  partieen  tugent  über- 
wiegend in  den  reden  der  auftretenden  personen,  und  auch  in 
diesen  nicht  ohne  würkliche  sachliche,  durch  die  haudluug  ge- 
gebene veranlassung  erscheint.  indessen  ist  die  Veränderung 
auch  nicht  lediglich  als  ein  fortschritt  zu  einer  weniger  vor- 
dringlichen und  mehr  objectiven  haltung  des  erzählers  zu  be- 
greifen. Gottfried  übt  in  den  späteren  partieen  noch  darüber 
hinaus  eine  unverkennbare  enthaltsamkeit  im  gebrauche  des  wortes 
tugent,  die  nur  als  reaction  auf  den  etwas  übertriebenen  gebrauch 
der  ersten  6000  verse  verständlich  wird. 

Dies  an  den  einzelnen  stellen  zu  zeigen,  würde  hier  zu  weit 
führen,  statt  dessen  mag  noch  auf  einige  mehr  stilistische 
Wandlungen  hingewiesen  werden,  die  doch  auch  das  verschiedene 
gewicht,  welches  tugent  in  den  früheren  und  in  den  späteren 
teilen  des  Tristan  hat,  erkennen  lassen,  warum  gerade  von  den 
zehn  belegen  für  tugenderich  neun  den  ersten  6000  versen  an- 
gehören, wird  uns  noch  weiterhin  beschäftigen,  hier  beachten 
wir,  dass  die  spielende  widerholung  desselben  wortes  oder  wort- 
stammes,  worin  Gottfried  virtuos  ist,  sich  für  tugent  nur  aus  den 
ersten  4000  versen  belegen  lässt:  483  Marke  der  tugenderiche 
der  enphienc  in  tug entliche]  3381  Marke  der  tugenderiche  der 
gewarp  vil  tugentUche  ^ ;  3262  die  danketen  dem  kinde  vil  tu- 
gentUchen  unde  tvol,  ah  man  dem  tugenthaften  sol  (vgl.  4097  f); 
2145  des  muot  nhoan  ze  tugenden  stät  der  alle  untugende  un- 
mcere  hat;  174  ez  liebet  liebe  und  edelet  muot,  ez  stcetet  triiiwe 
und  tugendet  leben,  ez  kan  wol  lebene  lügende  geben  ;  vgl.  auch 
2267  f.  anderseits  zeigt  das  substantivum  tugent  in  den 
späteren  partieen  mehr  als  in  den  früheren  die  neigung,  formel- 
hafte Verbindungen  mit  anderen  stammfremden  abstracten  ein- 
zugehn,  wobei  es  an  selbständiger  bedeutung  verliert.  die 
paarung  tugent  und  ere  steht  unter  den  dreifsig  belegen  der 
ersten  6001)  verse  zweimal  (190.  2l8S),  unter  den  dreizehn  be- 
legen der  übrigen  13  500  verse  aber  dreimal  (14  801.  18  79U 
und  in  dreigliederiger  forrael  11647    guot  unde  tugent  und  ere). 

'  aber  13189  Marke  der  tu<ienderirhe  der  bat  in.  ojfenliche.  vgl. 
auch  5685  Tristan  der  sinneriche  der  kam  eil  sinnecliche  sines  loillen, 
über  ein;  und   10855  f. 

Z.  F.  D.  A.  LH.  N.  F.     XL.  5 


66  NOLTE 

die  paarung  an  fugenden  unde  an  l/be  steht  18  706  und  in  drei- 
gliedriger formel  8460  an  gehurt,  an  tugent,  an  Hbe.  dazu 
kommt  noch  15  621  ze  fugenden  und  ze  hövescheit,  sodass  also 
von  den  dreizehn  beispielen,  die  die  letzten  13  500  verse  des 
Tristan  für  das  substantivum  iugent  bieten,  fast  die  hälfte  uns 
tugent  als  glied  einer  innerhalb  desselben  verses  enggeschiirzten 
formel  zeigen,  dem  lassen  sich  von  den  30  belegen  der  ersten 
6000  verse  aufser  den  bereits  angeführten  beispielen  (190.  2188) 
unmittelbar  nur  noch  vergleichen  5256  ir  fugenden  unde  ir 
fuogen  und  4420  üf  icer dekeif  unde  üf  tugent;  denn  638  wip 
unde  fugende  gehört  nicht  eigentlich  hierher,  nur  der  Voll- 
ständigkeit halber  sei  noch  verwiesen  auf  5003 f.  1680f  und 
zur  vergleichung  auf  3263.  74781  3276 f.  im  übrigen  bringt 
es  der  besondere  gebrauch  der  ersten  6000  verse  mit  sich,  dass 
wir  gerade  hier  tugent  am  häufigsten  neben  andern,  teils  ver- 
wanten  teils  entgegengesetzten,  begriffen  genannt  finden,  und 
dies  führt  uns  zu  einer  erweiterung  der  bisherigen  beobachtungen. 

Mit  tugent  und  seiner  sippe  berührt  sich  im  Tristan  nach 
bedeutuug,  gebrauch  und  Schicksalen  am  nächsten  das  adjectivum 
hövesch  und  die  davon  abgeleiteteten  oder  verwanten  bildungen. 
hövesch  selbst  ist  im  Tristan  mit  46  belegen  vertreten';  davon 
stehn  in  den  ersten  6000  versen  allein  28,  von  da  bis  13  942 
weitere  15,  nachher  nur  noch  18  695.  18  742.  19  215.  die  ad- 
jectiva  höveschlkh  (3727.  3917.  5904),  hovelich  {3051.  5745), 
hovebcere  (2285.  2732.  2866.  3978.  13  188),  unhovebcere  (4027) 
und  das  adverbium  hoveUche  (2271.  4020.  4097)  lassen  sich  aus 
den  letzten  13  500  versen  mit  nur  einem  einzigen  von  insgesamt 
14  beispielen  belegen,  für  das  adverbium  höveschliche  (592. 
2671.  3398.  3699.  4328.  5183.  5358.  5382.  10458.  10947. 
14  817)  stellen  die  ei'sten  6000  verse  acht,  der  rest  des  ge- 
dichtes  nur  noch  drei  belege,  für  die  sämtlichen  erwähnten  ad- 
jectiva  und  adverbia  ist  die  zahl  der  belege  in  den  ersten  6000 
versen  49,  von  da  bis  14  817  nur  19,  später  folgen  überhaupt 
nur  noch  die  drei  schon  angeführten  belege  für  hövesch.  aber 
die  substantiva  hövescheit  (2260.  2967.  3344.  5748.  7566.  7709. 

'  Paul  R.  Pope,    Die   anwendung  der  epitheta  im  Tristan  Gottfrieds 
von  Strafsburg,  diss.  Leipzig  1903  s.   Ib.  65. 


zu  GOTTFEIEDS  TRISTAN  67 

7986.  8087.  13  161.  14816.  15556.  15621.  19  186=19338) 
und  unhövescheit  (13  172.   13  614)  gehn  ihren  eigenen  weg. 

Im  einzelnen  wäre  zunächst  hovehwre  zu  beachten,  das 
eich  mit  tilgend erich  in  parallele  stellen  lässt.  dreimal  heilst  es 
von  Tristan  2732  Tristan  der  hovebcere,  2866  der  hovehcere, 
2285  der  hövesche  hovehcere.  anderer  art  sind  die  beiden  stellen 
3978  und  4027  (unhovebcere).  nach  diesen  fünf  anwendungen, 
die  sich  in  noch  nicht  2000  aufeinanderfolgenden  versen  zu- 
sammendrängen, wird  das  wort  ebenso  wie  tugenderich  offen- 
sichtlich gemieden  bis  auf  die  eine  stelle,  die  gleichzeitig  auch 
den  einzigen  rückfall  für  tugenderich  bringt  13  188  der  küner. 
der  hovehcere,  Marke  der  tugenderkhe.  wie  hovehcere  wird  ein- 
einmal  auch  hoveUch  gebraucht:  5745  Kurvenal  der  hoveliche 
(:  Tristan  der  tiigenderiche).  da  hövesch  von  der  reimstellung 
ausgeschlossen  ist,  so  findet  es  sich  mit  dem  artikel  dem  eigeu- 
namen  nachgestellt  nur  in  der  von  Gottfried  nach  Hartmanns 
Vorgang  mit  Vorliebe  gebrauchten  aneinanderreihung  mehrerer 
adjectiva:  625  Marke  der  guote,  der  hövesche  höhgenmote  (vgl. 
499),  1164  sin  Blanschefür  diu  reine,  diu  hövesche  diu  guote, 
3981  Rüal  der  hövesche  guote,  10  781  min  frou  Brangcene,  diu 
hövesche  und  diu  tvol  gesite.  ohne  beigefügten  eigennamen 
2285  der  hövesche  hovehcere  (Tristan),  1075  diu  hövesche  guote 
(Blanscheflur),  5235  diu,  hövesche  diu  guote,  diu  guote  gemuote, 
diu  werdeste  diu  beste  (Floräte),  10  469  die  höveschen  süezen 
(die  beiden  Isolden  und  Brangäne),  dem  eigennamen  vorangestellt 
der  hövesche  Eiualin  693.  751,  Tristem  2791.  3425.  4551.  6362. 
13942,  Kurvenal  5267,  Kdedin  18742,  diu  hövesche  niarschal- 
kin   1977. 

Bei  dem  substantivum  {un)hövescheit  macht  sich  wie  schon 
oben  (s.  65)  bei  tugent  Gottfrieds  wachsende  neigung  zu  formel- 
hafter wortpaarung  bemerklich,  das  gespann  ze  tugenden  und 
ze  hövescheit  (15621)  haben  wir  schon  oben  kennen  gelernt,  wie 
5256  ir  tugenden  unde  ir  fuogen  verbunden  ist,  so  lesen  wir 
7564  ich  was  ein  hövescher  spilman  und  künde  genuoge  höve- 
scheit unde  fuoge:  sprechen  unde  steigen,  liren  unde  gigen,  harphen 
unde  rotten,  schimpfen  unde  spotten.  7709  an  fuoge  unde  an 
hövescheit  hcjete  er  gewendet  unde  geleit  dne  tage  und  sine  sinne. 
7985  si  [Isolde]  künde  e  schcene  fuoge  und  hövescheit  genuoge 
mit  hanclen  und  mit  munde.     13172  unhövescheit   unde  unfuoge 


68  NOLTE 

(vgl.  3916  f  manege  fuogo  und  mancge  höveschUchiu  fUnc  und 
2830  ff.),  dazu  kommt  8087  von  scJicene  und  von  hövescheif, 
13159  er  fragte  in  aller  hande  ran  Hute  und  von  lande,  von 
frouwen  und  von  hövescheif.  von  den  zwölf  beispielen,  welche 
die  letzten  13500  verse  für  (un)hövescheit  bieten,  waren  nicht 
weniger  als  sieben  hier  anzuführen,  denen  sich  von  den  vier 
beispielen  der  ersten  6000  verse  nur  eines  vergleichen  lasst,  das 
aber  von  formelhafter  geschlossenheit  weit  entfernt  bleibt:  2260 
daz  knappe  nie  von  hövescheit  und  von  edeles  herzen  art  baz 
noch  schöner  gedelt  tvart. 

Die  entsprechung  zwischen  den  beiden  sippen  tugent  und 
hÖvesch  Heise  sich  im  einzelnen  noch  weiter  verfolgen,  als  hier 
geschehen  ist.  doch  dürfen  die  beiden  darum  nicht  vorbehaltlos 
durcheinandergeworfen  werden,  das  beiwort  hövesch  erhält  neben 
den  andern  personen  der  Vorgeschichte  auch  Blanscheflur 
(1075.  1165),  und  auch  Isoldens  hövescheit  wird  ausdrücklicher 
als  ihre  lügende  hervorgehoben  (7986.  8087  vgl.  8460).  in  den 
späteren  partieen  tritt  tugent  mit  seinem  anhang  verhältnismäfsig 
stärker  zurück  als  hÖvesch  und  dessen  sippe.  mau  könnte  das 
umgekehrte  erw-arten,  weil  tugent  doch  wol  das  poetischere 
wort  ist.  indessen  könnte  gerade  dieser  umstand  wegen  der 
dem  wort  tugent  aus  der  älteren  epik  anhängenden  ideenassoci- 
ationen  die  Ursache  der  Verschiedenheit  sein,  wenn  ich  das  auch 
nicht  für  sicher  ausgeben  möchte,  auch  in  des  dichters  eigenem 
gebrauche  konnte  sich  das  allgemeinere  wort  leichter  abnutzen 
als  das  speciellere.  dafür  hätte  sich  aber  auch  das  allgemeine 
wort  tugent  leichter  und  häufiger  anbringen  lassen,  als  das  weit 
speciellere  wort  hÖvesch.  und  so  übertrifft  denn  auch  tatsächlich 
der  rückgang  bei  tugent  den  rückgang  von  hövesch  weit  mehr, 
als  in  den  blofsen  häufigkeitszahlen  zum  ausdruck  kommt,  der 
rückgang  von  hövesch  ist  mehr  als  der  von  tugent  eine  folge 
des  wechselnden  Inhalts,  selbstverständlich  ist  es  nicht  meine 
meinung,  als  müsten  eigentlich  die  worte  tugent  und  hövesch  in 
beliebigen  6000  aufeinanderfolgenden  versen  des  Tristan 
ebenso  oft  vorkommen  wie  in  den  ersten  6000  versen.  vergleicht 
man  etwa  die  drei  partieen  1—6000,  6000—12000,  12000— 
18000,  so  liegen  schon  von  selten  des  Inhalts  die  dinge  keines- 
wegs gleich,  in  der  dritten  partie  hat  der  rückgang  im  gebrauch 
der  beiden  sippen  tugent  und  hövesch  an  sich   nichts  auffälliges. 


zu  GOTTFRIEDS  TRISTAN  69 

auch  ein  geringer  rückgang  schon  in  der  zweiten  partie  könnte 
nicht  wunder  nehmen,  aber  der  rückgang  vollzieht  sich  nicht 
in  einer  solchen  entsprechung  mit  dem  inhalte;  auch  nicht  so, 
dass  der  dichter  mit  der  zeit  darauf  verzichtete,  die  an  ihrem 
orte  nach  gebühr  gerühmten  und  allmählich  selbstverständlich 
gewordenen  tugenäe  und  hövescheit  seiner  personen  immer  von 
neuem  wider  zu  betonen.  dieser  letztere  gesichtspunct  würde 
allenfalls  den  rückgang  in  der  dritten  partie  erklären,  nicht 
aber  den  in  der  zweiten,  der  rückgang  nach  den  ersten  6000 
versen  ist  so  stark,  dass  er  nur  als  reaction  auf  den  überwuchern- 
den gebrauch   der   ersten  6000  verse  erklärbar  scheint '. 

Neben  hövesch  erscheint  besonders  gern  yaot,  allerdings 
fast  nur  in  den  ersten  6000  versen  (vgl.  die  beispiele  s.  67). 
von  den  214  belegen  die  Pope  (Epitheta  s.  63,  vgl.  s.  15  f)  für 
das  adjectivum  guot'  verzeichnet,  stelin  in  den  ersten  5000 
versen  allein  82.     dieses  übergewicht  ist  fast  lediglich  die  folge 

'  zu  beachten  ist  noch,  dass  auch  die  fremdworte  cürtois  (2395. 
3237.  3276.  3362.  3614)  und  cürtösie  (2294)  nur  in  der  partie  2000—4000 
vorkommen.  —  als  ein  interessantes  gegenbeispiel  aus  dem  gebiet  der 
formelhaften  paarungen  sei  das  gespann  hof  unde  laut  erwähnt,  welches 
immer  in  dieser  reihenfolge,  meist  im  reim  und  mit  besonderer  Vorliebe 
in  versfüllender  Wendung  gebraucht  wird,  das  einfache  hof  unde  laut 
steht  nur  16608  und  18957,  dagegen  schon  1145  in  dem  höre  and  in  dem 
(ende,  aber  dies  ist  auch  in  den  ersten  7000  versen  das  einzige  beispiel, 
es  folgt  7458  in  den  hof  und  in  das  lant.^  aber  wiedr  gehn  fast 
4000  verse  vorbei,  ehe  sich  das  dritte  beispiel  findet:  11431  se  hoce  und 
in  dem.  lande,  ausnahmsweise  nicht  im  reim,  die  nächsten  2000  verse 
bleiben  wider  ohne  beleg,  dann  kommen  die  beispiele  reichlicher: 
18  457  =  17664  :se  hoce  und  in  dem  lande  (aus  vers  11431  wider- 
holt, aber  jetzt  beidemal  den  vers  füllend);  14090  =  14945  =  18  395 
=  19077  übe/-  hof  und  über  laut;  15487  beide  über-  hof  und  über  lant ; 
15451  i'on  hoce  und  von  lande;  18  954  da  ze  kooe  und  da  ze  lande. 
endlich  ist  noch  zu  vergleichen  14999  und  läset  in  m.it  eren  von  iuicerrn 
hoce  keren  und  von  dem.  lande  scheiden,  von  insgesamt  15  belegstellen 
bietet  die  erste  hälfte  des  gedichts  nur  zwei  (in  Wendungen  die  sjjäter 
nicht  widerholt  werden),  die  ersten  zwei  drittel  des  gedichts  erst  drei,  die 
hauptmasse  von  zwölf  belegen  drängt  sich  im  letzten  drittel  des  werkes 
zusammen,  man  vergleiche  auch  hof  und  {/e.n/ide  8330  f.  14  065  {con 
hoce  und  con  rjesinde).   17  712. 

-  für  wol  hab  ich  aus  Bechsteins  text  in  allen  seinen  Verwendungen 
insgesamt  599  belege  (einschl.  Tr.  13052)  in  der  folgenden  bemerkens- 
werten Verteilung  von  1000  zu  1000  versen  der  üblichen  Zählung 


70  NOLTE 

der  bis  etwa  5500  ziemlich  häufigen,  nachher  weit  selteneren 
anwendung  dieses  beiworts  auf  personeu.  so  führt  Pope  für 
guot  als  epitheta  von  liutc  und  man  je  fünf  stellen  an,  die 
sämtlich  dem  ersten  viertel  des  g-edichts  angehören.  hier 
interessieren  besonders  diejenigen  fälle,  in  denen  guot  als 
schmückendes  beiwort  von  den  personen  der  erzählung  gebraucht 
wird,  es  kommen  dafür  die  folgenden  vierzig  stellen  in  betracht 
625.  719.  1075.  1165.  1679.  1702.  1903.  1929.  1953.  27S3. 
3041.  3392.  3484.  3608.  3981.  3998.  4060.  4105.  4153.  4169. 
4219.  4231.  4268.  4284.  4288.  4321.  4376.  522S.  5235.  6525. 
—  10008.  10241.  10375.  10641.  10738.  12094.  12105.  15444. 
15647.  15658.  der  unterschied  zwischen  dem  ersten  und  den 
übrigen  dritteln  des  gedichts  springt  in  die  äugen  und  wird 
noch  auffallender,  wenn  wir  auf  die  art  des  gebrauchs  im  ein- 
zelnen achten,  wir  haben  025  Marke  der  guote,  der  hövesche 
hdhgemuote:  719  Blanscheflür  diu  guote;  1679  Kanelengres 
der  guote;  3392  Tristan  der  guote;  3981  Rual  der  hövesche 
guote;  4105.  4231.  4284  Rüal  der  guote;  4268  Rfial  der  guote 
man;  ferner  1164  sin  Blanscheflür  diu  reine,  diu  hövesche, 
diu  guote;  und  ebenfalls  von  Bl.  1075  diu  hövesche  guote;  1902 
diu  scelige  marschalkin,  diu  guote,  diu  stcete,  diu  reine  Florcete; 
und  von  derselben  5235  diu  hövesche,  diu  guote,  diu  guote  ge- 
muote,  diu  u-erdeste,  diu  beste^;  von  Isolde  10008  diu  schoene 
guote;  10241  diu  süeze,  diu  guote;  15658  diu  wise,  diu  guote. 
es  schlief sen  sich  an  4288  der  guote  und  der  geiccere  Marke; 
4153.  4321  der  guote  Marke;  1702  der  guote  Biwalin;  2783. 
3041.  3484  der  guote  Tristan;  4169  der  guote  Rüal;  15647  diu 
guote  künigin  Isolt;  4219.  6525  der  guote  künic  Marke;  sodann 
von  Marke  3608.  4060  der  guote  künic;  von  Rual  3998  der 
guote  man;  4376  der  guote  marschalc ;  von  Floräte  1929.  1953. 
52  28  diu  guote  marschalkinne  (1953  -7n)  von  der  älteren 
36       31        48        45  50        26       49       41  26       25       36       24 

160  166  Tu 

24        24        28       27  16        20        16  7 


103  59 

ich  hebe  hervor,  dass  die  allitterierende  paarung  icnf — loe  (Eilh.  Tristr. 
4122.  7066.  7338.  8504.  a.Heinr.  714)  von  Gottfried  erst  ganz  am  schluss 
zweimal  gebraucht  wird  (18993.  194841,  und  dass  die  zweite  stelle  zugleich 
die  erste  und  einzige  ist,  an  der  lool  substantiviert  erscheint. 

'    13656  der  getriuweste  unde  der  lje.-ite,  der  einealte  Marke. 


zu  GOTTFEIEDS  TRISTAN  71 

Isolde  10375.  10641.  10738  diu  gitote  kiinigm;  endlich  wird 
Isolde  von  dem  bischof  angeredet  15444  sceligiu  guotiu  künigln, 
und  Brangäne  von  Tristan  12094  sceligiu  guotiu,  12105  getriu- 
wiu  guotiu.  diese  beispiele  sind  nun  unter  sich  keineswegs 
gleichartig;  die  drei  letzten  sind  überhaupt  nur  mit  rücksicht 
auf  die  häufung  der  epitheta  hergesetzt,  achtet  man  auf  die 
Verschiedenheit  des  gebrauchs  im  einzelnen,  so  wird  man  linden, 
dass  beispiele  einer  bestimmten  art  im  allgemeinen  um  so  früher 
verschwinden,  je  mehr  sie  einen  übeiiieferten  oder  formelhaften 
Charakter  haben,  beispiele  wie  Tristan  der  guote  (3302)  felilen 
den  letzten  150i)0  versen  ganz,  aber  auch  in  den  ersten  4500 
Versen  sind  die  früheren  beispiele  ziemlich  nichtssagend,  während 
dem  mehrfach  widerholten  Enal  der  guote  in  seinem  zusammen- 
hange eine  ungleich  gröfsere  charakterisierende  kraft  innewohnt, 
der  einwand  dass  Gottfried  eben  je  länger  je  weniger  veran- 
lassung gefunden  habe,  den  personen  seiner  erzählung  das 
epitheton  giiot,  sei  es  in  unbestimmt  lobendem  sinne,  sei  es  in 
prägnanterer  bedeutung,  beizulegen,  hat  wol  einige  berechtigung, 
erklärt  aber  im  ganzen  bei  nicht  blols  oberflächlicher  ver- 
gleichung  so  wenig,  dass  er  ohne  allzu  grofsen  schaden  vernach- 
lässigt werden  kann  '. 


Zu  denjenigen  adjectiven,  die  innerhalb  des  Tristan  früh- 
zeitig veralten,  gehört  ?vert,  das  ingesamt  an  den  folgenden  23 
stellen  belegt  ist:   17.   191.  451.  (490  adv.)   510.  652.  654.  685. 

1)  wer  der  sache  noch  weiter  nachgehn  will,  sei  noch  auf  die  voü 
Kraus  in  der  Festgabe  für  Heinzel  s.  169  aufgereihten  belege  für  den 
reimtypus  -uote  verwiesen  (vgl.  auch  Zs.  51,  137  f).  die  geschichte  dieses 
reims  hat  im  Tristan  zwei  wendepuncte:  den  einen  nach  6049,  wo  der 
reimtypus  -uote  oder  eigentlich  die  reimformel  ijuote:  muote  oder  miiote: 
guote  die  gunst  des  dichters  derart  einbüfst,  dass  er  nach  35  bezw.  32 
belegen  für  die  nächsten  mehr  als  3000  verse  einfach  verschwindet  und  es 
später  nur  noch  auf  24,  die  reimformel  gar  nur  noch  auf  13  belege  bringt; 
den  andern  schon  etwa  bei  4300,  wo  die  folge  </uute:  muote  die  vorher- 
schaft  an  die  umgekehrte  reihenfolge  muote:  ijuate  abgeben  muss.  es  sind 
nämlich  die  zahlen  für 

-uote        guote:  muote         muote:  gunte 
Tr.   141—4231  19  14  4 

4441—6049  16  6  8 

9453—18179  24  5  S 


72  NOLTE 

1133.  2180.  3793.  3914.  4329.  43S0.  4590.  4979.  500S.  5237. 
6006.  6581.  9195.  9S41.  12777.  19207.  also  in  den  ersten 
700  Versen  sieben,  in  den  ersten  7000  versen  neunzehn,  in  der 
ganzen  zweiten  hälfte  nur  zwei  beispiele.  in  eigentlicher  be- 
deutung  ist  das  adjectivum  selten:  Preisangaben  verschmäht 
Gottfried  (man  sehe  die  charakteristische  stelle  657  7 — 81).  mit 
dem  genetiv  steht  wert  nnr  9841  (anklingend  an  Greg.  869). 
häufiger  ist  wert  in  der  bedeutung  [geschätzt,  schätzenswert  in 
Wendungen  wie  einen  werden  hän  schätzen,  einem  wert  sin  ge- 
schätzt werden  {liejy  imde  wert  510.  19207.  Erec  4950;  tmr 
unde  wert  17).  von  hier  aus  führen  in  der  bedeutungsent- 
wickelung  weiter  die  stellen  9194  ich  hin  gefrinnt  unde  geman, 
so  wert  und  so  genceme  .  .  .  (meint  der  truchsess  von  sich); 
4379  (Rual  zu  Tristan)  ja  bistu  von  der  kilnfte  mm  werder 
dan  du  wändest  sin ;  und  die  stelle  aus  der  einleitung  191  so 
manc  wert  leben,  so  liehe  frumet,  so  vil  so  tugende  von  ir  kvmet. 
hieran  schliefst  sich  nun  durchaus  organisch  die  Verwendung 
von  ivert  im  sinne  eines  lediglich  schmückenden  beiworts,  die 
bis  6006  elfmal,  nachher  nur  noch  einmal  (12777)  belegt  ist: 
654  der  werde  Marke;  1133  der  werde  Eiwalln;  3793  der 
werde  dan  Rnalt;  6006  die  werden  Börne,  ir  frouwen;  12777 
(von  Brangäne)  die  getriiaren  und  die  werden  (:zer  erden)] 
685  Blanschefl'ur  diu  werde,  ein  tcunder  nf  der  erde,  was 
4329  f  wörtlich  auf  Eual  übertragen  wird;  652  die  werdesten 
und  die  besten  (plur.)  und  dieselbe  Verbindung  der  beiden  epitheta 
an  der  schon  zweimal  angeführten  stelle  5237  von  Floräte; 
endlich  noch  von  Tristan  4979  den  werden  man:  4590.  5008  der 
werde  hoiibetman.  im  Zusammenhang  der  ersten  6000  verse 
des  Tristan  wird  dieser  letzte  gebrauch  kaum  als  altertümlich 
empfunden;  natürlich  ist  aber  kein  zweifei,  dass  sich  Gottfrieds 
spätere  abneigung  in  erster  linie  gegen  ihn,  und  —  wenn  über- 
haupt —  dann  erst  mittelbar  gegen  die  sonstige  Verwendung 
des  adjectivums  tvert  richtet,  unter  der  gleichen  abneigung  hat 
auch   das    abstractum  werdekeit    zu    leiden,    das    sich   bis    6579 


im  reimtypus  -xiot  schafft  auiser  dem  stumpfen  ausgang  schon  das  reim- 
wort  tuut  von  vornherein  andere  bedingungen;  doch  wird  auch  hier  die 
reimformel  muot:  (juot  (meist  in  dieser  reihenfolge)  nach  13013  sehr  ent- 
schieden zurückgedrängt. 


zu  GOTTFRIEDS  TRISTAN  73 

neunmal,  nachher  nur   noch    dreimal  findet:    518.    1612.    1761. 
4409.    4420.    5085.  5101.  5663.   6579.    8329.     15326.    18011  i. 

Den  sonderbarsten  schicksalsvvechsel  von  gröster  bevor- 
zugung  bis  zu  fast  gänzlicher  Vernachlässigung  erfährt  im 
Tristan  das  wort  edel,  dieses  adjectivum  findet  sich  allein  in 
der  einleitung  neunmal,  in  den  ersten  1000  versen  der  erzählung 
(24  3  ff)  achtmal,  in  den  ersten  6000  versen  des  Werkes  36  mal, 
dagegen  in  den  letzten  6000  versen  gerade  zweimal,  in  den 
ersten  9000  versen  54  mal,  in  den  letzten  9000  versen  6  mal, 
und  überhaupt  nach  vers  9000  nur  noch  9  mal.  das  Verhältnis 
verschärft  sich  noch,  wenn  wir  die  ableitungen  berücksichtigen: 
edelich  2855.  4032.  6660.  15350;  edelkeit  5025.  6051.  965  7; 
edelen   174.  2262  ■^. 

Im  einzelnen  zeigt  sich  mancherlei  bemerkenswertes,  für 
die  grundbedeutung  ('aus  edlem  geschlecht')  scheint  der  bürger- 
liche dichter  kein  sehr  lebendiges  Verständnis  zu  besitzen,  in 
den  ersten  5000  versen  herscht  die  uneigentliche  bedeutung 
durchaus  vor,  erst  von  vers  6000  an  macht  sich  die  grundbe- 
deutung mehr  geltend,  das  bedeutet  aber,  dass  der  rückgang 
im  gebrauch  des  wortes  in  voller  schärfe  gerade  die  Gottfried 
besonders  eigentümliche  übertragene  bedeutung  trifft,  einmal 
und  zwar  in  der  anrede  übersetzt  Gottfried  durch  edel  das 
französische  gentil:  3353  gentil  rois,  edeler  künec  Kurnewalois! 
so  steht  noch  16191  gentil  Tristan!  13302  gentil  schevaliers! 
7  745  edeliu  künigin!  8189  edeliu  kiiniginne!  und  sogar  2228 
und  2323  edelen  koufman!  jedesmal  in  der  anrede,     als  formel- 

'  icin/e  5737.  8403.  8405.  15439.  1S745;  icirdeit,  werden  1650. 
4468.  4995.  5031.  7802.  8401.  1S045.  18059.  18671;  mit  unwerde  (:erde) 
12345.  ü;  (iro:;em  unwerde  er  ■<praih  13346.  unwertdch  er  im  nach  (zun) 
■•sprach  13414.  15984  (vgl.  Erec  691).    unwert  (adj.)  1481.   12  294. 

-  die  sämtlichen  belege  für  edel  und  seine  ableitungen  sind  der 
reihe  nach  47.  117.  121.  126.  141.  170.  174.  201.  216.233.458.  551.583. 
642.  667.  1025.  1072.  1157.  1709.  2176.  2199.  2224.  2228.  2261.  2262. 
2323.  2543.  2855.  3123.  3354.  4032.  4077.  4087.  4092.  4680.  4767.  499'.. 
5025.  5435.  5702.  5721.  6039.  6051.  6070.  6083.  6147.  6148.  6325.  6479. 
6545.  6551.  6660.  6723.  6793.  7745.  7880.  7946.  8018.  8131.  8189.  8917. 
9657.  10454.  10511.  10515  11914.  12616.  13111.  13466.  15350.  15805. 
19205.  zum ,  folgenden  vergleiche  man  die  Zusammenstellungen  Popes, 
Epitheta  s.  59  (wo  2176  und  10454  fehlen). 


74  NOLTE 

liaft  schinückeudes  beiwort  von  personen  kommt  ccld  kaum  vor. 
ein  einziges  mal  lesen  wir  2176  der  edele  Rüal,  niemals  Tristan 
der  edele  man  oder  älmliclies.  aucli  10515  ein  ritt  er  edel  und 
HZ  erkorn  (von  Marke)  bleibt  vereinzelt,  überhaupt  steht  edel 
besonders  in  der  übertragenen  oder  in  der  dieser  sich  nähernden 
bedeutung  auffallend  wenig  mit  bestimmter  beziehung  auf  die 
hauptpersonen  der  erzählung,  verhältuismäfsig  häutiger  mit  be- 
ziehung auf  die  bei  Gottfried  meist  doch  recht  schattenhaft 
bleibenden  Statisten  und  in  noch  allgemeinerer  anwendung,  in 
der  es  dann  besonders  gern  auf  das  publicum  des  werkes  erstreckt 
wird,  dieser  letzte  gebrauch  steht  aber  innerhalb  des  Tristan 
nicht  am  ende,  sondern  am  anfang  der  entwickeluug.  die  eigent- 
liche bedeutung  des  wortes  tritt  dabei  naturgemäfs  ganz  zurück, 
und  damit  hängt  es  zusammen,  dass  in  dem  zu  anfang  fast 
allein  herschenden  übertragenen  gebrauch  in  der  regel  nicht 
die  leser  oder  allgemeiner  die  personen  selbst  das  beiwort  edel 
erhalten,  sondern  ihr  herze,  nniot,  zunge,  ore,  liant.  ein  lieblings- 
ausdruck  Gottfrieds  ist  das  edele  herze,  das  uns  sofort  in  vers 
47  fertig  ausgebildet  entgegentritt:  edelen  herzen  zeiner  hage 
will  Gottfried  sein  werk  abfassen.  167  was  aber  min  lesen  dö 
tocere  von  disem  senenicere,  daz  lege  ich  nihier  ivillekiir  allen 
edelen  herzen  viir  .  .  .  232  ir  [Tr.  u,  Is.]  herzeliep,  ir  herzeleit 
deist  aller  edelen  herzen  brot.  aber  Wolframs  Parzival  kann 
edelen  herzen  nicht  gefallen:  4679  ir  rede  ist  niht  also  gevar, 
daz  edele  herze  iht  lache  dar,  was  Wolfram  mit  gutem  humor 
ertragen  haben  dürfte.  8012  moräliteit  daz  siieze  lesen  .  .  .  ist 
edelen  herzen  allen  zeiner  ammen  gegeben,  gelegentlich  des 
maifestes  549  bluomen  gras  lotip  Wide  bhiot  und  swaz  dem  ouge 
sanfte  tuot  und  edele  herze  erfröuiven  sol,  des  was  diu  sumer- 
ouive  vol:,  578  diu  scelige  nahtegal^  daz  liebe  siieze  vogelin  .  .  . 
daz  kallete  üz  der  blüete  mit  solher  iibermüete^  daz  da  manc 
edele  herze  van  fröude  und  höhen  muot  geican;  639  diu  scelege 
ougemceide  (Blanscheflur)  diu  machete  üf  der  heide  .  .  .  manec 
edel  herze  höhgemuot.  Blanscheflur  sinnt  1071  der  siieze 
herzesmerze,  der  vil  manec  edele  herze  quelt  mit  süezem  smerzen, 
der  lit  in  minem  herzen,  hervorgehoben  sei  noch  aus  der  für 
Gottfrieds  weichliche  und  oberflächliche  art  so  ungemein  be- 
zeichnenden stelle  1702  ff.  er  ist  tot  der  guote  Biwalin  .  .  . 
man  sol  und  muoz  sich  sin  bewegen,  und  sol  sin  got  von  himele 


zu  GOTTFRIEDS  TRISTAN  75 

pflegen,  der  edeler  herzen  nie  vergaz.  im  ganzen  erscheint  das 
edele  herze  nicht  weniger  als  18  mal:  allein  5  mal  in  der  ein- 
leituug,  bis  4767  noch  10  mal,  dann  nur  noch  8018.  8131. 
11914,  von  da  an  bleibt  es  verschwunden,  viel  früher  schon 
verschwindet  nach  sechs  belegen  der  edele  muot  (zuletzt  6723, 
man  sehe  besonders  4993.  5702,  vgl.  auch  174).  daneben  haben 
wir  noch  6477  da  rief  an  der  stunde  von  herzen  und  von  munde 
manc  edeliu  zunge  hin  ze  gote;  6791  hie  wart  sin  llp  und  onch 
sin  leben  von  manegem  munde  gote  ergehen,  itn  tcart  von  maneger 
edelen  hant  manec  süezer  segen  nach  gesant;  7946  in  edelen 
ören  Ifdet  haz  ein  wort,  daz  schöne  gezimt,  dan  daz  man  üz  der 
hiihsen  nirnt.  für  edel  als  epitheton  von  herze,  muot,  zunge,  öre, 
hant  zählen  wir  bis  8131  insgesamt  26  belege,  nachher  nur 
noch  einen  einzigen  (11914),  die  letzten  7500  verse  des  gedichts 
kennen  diesen  gebrauch  überhaupt  nicht'. 

Wir  haben  zu  anfang  gesehen,  dass  tugender'ich  im  Tristan 
bis  vers  5746  neunmal,  in  den  übrigen  mehr  als  13000  versen 
des  gedichts  nur  noch  einmal  (13189)  gebraucht  wird,  zur  er- 
klärung  dieser  erscheinung  vermag  nicht  nur  der  erste,  sondern 
auch  der  zweite  bestandteil  des  wortes  einen  beitrag  zu  liefern, 
neben  tugenderich  finden  sich  im  Tristan  noch  sieben  andere 
Zusammensetzungen  mit  -r'ich.  schon  in  vers  925,  aber  auch 
nur  an  dieser  einen  stelle  erscheint  fröuderich :  den  fröuderichen 
östertac,  der  lachende  in  ir  ougen  lac  (vgl.  17559  da  der 
österliche  tac  aller  siner  fröuden  lac).  zweimal  findet  sich  das 
ungewöhnlichere  rederich-,  das  erste  mal  in  der  litterarischen 
stelle:    4722    ir   ist   und   ist  genuoc  gewesen   vil   sinnec   und  vil 

^  erst  nachdem  das  obige  geschrieben  war,  kam  mir  Friedrich  Vogts 
rectoratsrede  Der  bedeutungswandel  des  wertes  edel  (Marburg  1909)  zur 
band,  es  wird  dem  leser  nicht  entgehn,  dass  ich  das  Gottfriedische  edele 
herze  mit  anderen  äugen  ansehe  als  Vogt  s.  11  f.  dass  Gottfried  auf  dies 
requisit  mit  der  zeit  immer  mehr  und  schliefslich  ganz  verzichtet,  scheint 
Vogt  entgangen  zu  sein,  in  der  anmerkung  zu  s.  11  hätte  Vogt  den  oben 
zuletzt  angeführten  versen  7946  ff  nicht  wider  die  so  unnötige  wie  un- 
wahrscheinliche beziehungauf  Wolfram  geben  sollen  (Lachmann  zu  Iwein  4533 ; 
Bechstein  zu  Tristan  7939,  dem  sich  FPiquet,  L'originalite  de  Gottfried 
de  Strasbourg,  Lille  1905,  s.   177  auschliesst). 

2  will  man  4834  ein  rederuher  man  lesen,  so  ändert  das  für  das 
folgende  aufser  der  zahl  der  belege  nichts. 


76  NOLTE 

redench,  und  ein  zweites  mal  von  dem  zwerg  Melot:  14253 
listic  unde  rederich.  Tristans  schwertleite  bringt  4998  der 
muotrlche  der  erengire  Tristan:  5010  der  muotr'iche.  der  voget 
von  Parmeme;  womit  verglichen  werden  mag  5676  er  [Tristan] 
sol  an  eren  riehen  und  sügen  an  dem  muote.  in  diesem  letzten 
Zusammenhang  erhält  Tristan  zum  ersten  und  einzigen  male  das 
epitheton  sinnerlch,  das  weiterhin  viermal  der  älteren  Isolde 
beigelegt  wird:  5685  Tristan  der  sinneriche  der  kam  vil 
sinnecliche  sines  willen  über  ein:  7188  diu  sinnerIche,  diu  v1se 
küniginne :  7303  diu  sinnerIche  künigin;  9470  diu  sinnenche 
Isöt;  10416  Isot  diu  sinneriche.  in  derselben  partie  erhält  die 
jüngere  Isolde  dreimal,  an  der  dritten  stelle  zugleich  mit  ihrer 
mutter  und  Brangäne  das  epitheton  soeldenrich:  8000  ouch 
sanc  diu  sceldenriche  suoze  unde  icol  von  munde;  8090  die 
schienen  sceldenrichen ;  10856  die  dri  sceldenriche.  zu  den 
bisher  aufgezählten  beispielen  kommen  in  den  übrigen  7500  versen 
nur  noch  zwei:  16511  \ir  gesihte]  daz  was  so  rehte  minnecUch, 
so  süeze  und  also  senerich,  daz  .  .  .;  16735  ester icher  linden  dri. 

Auf  grund  der  Verteilung  der  Zusammensetzungen  mit  -rieh 
ergeben  sich  innerhalb  des  Tristan  drei  merkwürdig  scharf  ge- 
schiedene teile,  in  den  ersten  6000  versen  (483 — 5746)  haben 
wir  tugenderlch,  fröuderlch.  rederlch,  muotrlch,  sinnerich  mit 
9-f-l-|-l-|-2+l  belegen ;  in  der  folgenden  partie  und  zwar 
von  7188 — 10856  nur  sinnerich  und  sceldenrUh,  das  erste  als 
epitheton  der  älteren,  das  zweite  als  epitheton  der  jüngeren 
Isolde,  mit  4  +  3  belegen;  nach  10856,  also  in  einer  partie  von 
annähernd  8000  versen  haben  wir  zwar  vier  verschiedene 
Zusammensetzungen  mit  -i-lch  {tugenderlch,  reder'ich,  senerich^ 
cstrrich)  aber  jede  nur  ein  einziges  mal  (13189.  14253.  16512. 
16735),  mithin  gegenüber  den  14  belegen  der  ersten  6000, 
bezw.  gegenüber  den  21  belegen  der  ersten  11000  verse  nur 
vier  belege '. 

Der  eben  dargelegte  tatbestand  gewinnt  an  interesse  dadurch 
dass  Gottfried  hier ,  eine  eutwickeluug  widerholt,  die  sich  — 
mit  überraschenden  Übereinstimmungen  in  den  einzelheiten  — 
schon  bei  Hartmann  von  Aue  feststellen  lässt.  Hartmann 
braucht  tugentrich  nur  im  Erec:  IS06  (do  gedäht  der  tugentrlche 
Erve  vil  ritterliche),  4629',  4S9S  (Güirein  der  tugentriche  gruozte 

'  vgl.  Zs.  51,  135  anm.   1   über  den  reimtypus  -('7/e  im  Tristan. 


zu  GOTTFRIEDS  TRISTAN 


77 


in  minnecltcJie),  5712  (der  tugentriche  Erec  .  .  .  snohte  den  wec). 
5933  (von  Erec),  6795  (von  Enite),  8116  (von  Erec).  zwei 
andere  zusammenfüguugen  sind  Erec  und  Greg-,  gemein:  Er.  9793 
ez  wart  nie  man  so  freudennch ;  Greg.  1971  daz  er  sich  duhte 
freudenrich;  Er.  8562  und  Greg.  2061  so  ivirde  (bin)  ich  eren 
riche.  sonst  ist  aus  dem  Erec  noch  zu  vergleichen  10091  so  er 
sich  des  niuotes  richet.  nur  im  Greg,  tinden  sich  sinnerlch  (1178) 
und  scelde{7i)rich  (1277  [zu  vergleichen  mit  Er.  9793]  und  324  l). 
aH.  und  Iw.  liefern  keine  beispiele. 

Die  Zusammensetzungen  mit  -rirh  bei  Hartmann  und  Gottfried 


Erec 

Greg. 

Tristan 

1806 

4629^—8562— 
8116      10091 

483— 
4082 

4723- 
5746 

7188— 
10856 

13189— 
16735 

tugenderich 

1 

6 

8 

1 

1 

erenrich 

1 

1 

(1) 

fröudenrich 

1 

1 

1 

muot(es)ri.r,h 

(1) 

2 

sinnerich 

1 

1 

4 

stelde(n)rich 

2 

3 

rederich 

1 

1 

senerich 

1 

esterich 

1 

Hartmann  scheint  sich  die  bildungen  mit  -rieh  im  fort- 
schritt  seiner  arbeit  am  Erec  als  eine  neue  errungenschaft  an- 
geeignet zu  haben  ^j.  denn  es  kann  doch  kaum  zufall  sein,  dass 
wir  in  den  ersten  4629  versen  des  Erec  nur  den  einen  beleg 
für  tugentrich  tinden  (1806),  und  dann  bis  etwa  8500  tugentrich 
mit  sieben  belegen  die  einzige  bildung  der  art  bleibt,  erst 
nachdem  tugentrich  bereits  wider  aus  Hartmanns  Wortschatz 
verschwunden  ist,  erscheinen  in  den  letzten  2000  versen  des 
Erec  zwei  neue  bildungen  (freudenrich,  erenrich),  die  im  Greg, 
widerholt  und  durch  sinnerich  und  sieldenrich  vermehrt  werden. 


'  dass  insbesondere  tuf/entrirli  für  Hartmann  eine  neuerwerbuug 
bedeutete,  scheint  die  vergleichung  von  tuf/e/ithaft  zu  bestätigen :  Er.  961. 
1695.  1749.  1890.  2784.  2811.  2876.  3798.  4056.  4443=4739  durch  dinen 
tugenthaften  muot  (dazu(I)B.  1499;  sonst  nur  von  personen).  4817.  5026. 
5338.  —  7242.  von  den  15  belegen  des  Erec  stehn  vor  dem  zweiten  beleg 
für  tugentrich  zehn,  nach  5338  neben  vier  belegen  für  tugentrich  nur 
ein  einziger,     vgl.  Zwierzina  Zs.  45,  340  ff. 


78  NOLTE 

im  aH.  und    im  Iw.    enthält  sich   Hartmann    der   bildungen   mit 
-nch  gänzlich. 

Wir  haben  also  bei  Hartmann  wie  bei  Gottfried  eine 
doppelte  entwickelung.  zunächst  ein  schrittweises  aneignen  der 
einzelnen  bildungen;  dann,  während  die  aneignung  noch  fort- 
dauert, ein  widerfallenlassen,  das  bei  Hartmann  schon  nach  dem 
Grregorius  zur  völligen  meidung,  bei  Gottfried  wenigstens  zu 
einer  höchst  sparsamen  anwendung  dieser  bildungen  führt,  wie- 
weit die  Übereinstimmung  zwischen  Hartmann  und  Gottfried  bei 
den  einzelnen  bildungen  geht,  bringt  die  beigefügte  tabelle  zu 
genauer  darstellung.  das  wesentlichste  ist,  dass  die  ersten  HOOO 
verse  des  Tristan  ungefähr  auf  dem  standpunct  des  Erec,  die 
nächsten  6000  verse  auf  dem  des  Greg,  stehen. 

Eine  nicht  minder  interessante  beobachtung  ergibt  sich 
wenn  wir  anknüpfend  an  hovebcere,  das  schon  oben  (s.  67)  mit 
tugenderich  in  parallele  gestellt  werden  konnte,  Gottfrieds  ab- 
leitungen  auf  -beere  mit  denjenigen  Hartmanns  vergleichen. 
Hartmann  verwendet  an  insgesamt  27  stellen  die  folgenden 
adjectiva  auf  -beere,  deuen  ich  sogleich  die  belege  aus  dem 
Tristan  hinzufüge: 
freudebeere  (I)  B.   729;  Er.  1379;  Iw.  1144;  —  Tr.  622.   16387. 

18093. 
lobe(s)bcere  Er.   1778.   1967;  Greg.   1878;  —  Trist.  2136.  3234. 

3630.  6577.  6626. 
unklagebeere  Er.  3169. 

Magebeere  Iw.  1566.  6909;  —  Tr.   167  5.    1713. 
unJiOLebeere  Er.  3636.  5064;  —  Tr.  4027. 

hovebeere  Tr.  2285.  2732.   2866.  3978.   13188. 
unu-anelelbeere  Er.  6791;  aH.  42.   1172;  Iw.  3252. 

ivandelbcere  Iw.  199;  MFr.  206,3;  —  Tr.   10014. 
sagehcßre  Er.  7570.  8372;  —  Tr.  659.  4006.  5864.  6568. 
ahtebcere  Er.  6246;  —  Tr.  6077  (ahtbceren  vb.) 
genisbeere  aH.  172.  vribeere  aH.  225  =  447. 

erboere  Iw.  116.  931.  4248;  —  Tr.  419.  4317. 
lasterboere  Iw.  2600;   —  Tr.  6267.   11320. 

Hartmann  verwendet  diese  bildungen  verhältnismäfsig  gerade 
nicht  selten,  aber  doch  ohne  besondere  verliebe,  aufser  den 
beiden  nur    im  aH.  vorkommenden  genisbeßre   und   vribeere  sind 


zu  GOTTFRIEDS  TRISTAN  79 

Hartmanns  sämtliche  adjectiva  auf  -beere  auch  im  Tristan  belegt, 
und  zwar  im  ganzen  absolut  und  relativ  häufiger;  denn  den 
22  belegsteilen  aus  Hartmanns  epischen  werken  stellt  der 
Tristan  26  belege  gegenüber:  419.  622.  659.  1675.  1713.  2136. 
2285.  2732.  2866.  3234.  3630.  3978.  4006.  4027.  4317.  5864. 
6077.  6267.  6568.  6577.  6626.  —  10014.  11320.  13188. 
16387.  18093.  von  diesen  26  belegen  stehn  nun  aber  bis 
Tr.  4317  allein  15,  bis  6626  insgesamt  21,  in  den  übrigen  zwei 
dritteln  des  gedichts  nur  noch  5.  sonst  finden  sich  im  Tristan 
vor  5963  noch  die  folgenden  bildungen,  für  die  ich  sogleich 
sämtliche  belegstellen  angebe: 
einlmreUche'^  911.   10194. 

einhcere  2391.  5244.  6613.   100S7.   10988.   11734.   16969. 
scJünbcereliche  932.^  scJünhcere  14344. 

offenbeere   1496.  9698.   10997.    12993.    14285.   17715.   19280. 
offenbare  15069.    15749.  off'enbeerllche  18220. 

offenbeeren   11917.    13640.   15293.    15737.    16784'. 
nun  sind  aber  die    bisher   erwähnten    bildungen    doch  nicht  die 
einzigen  deren   sich  Gottfried  bedient,     von  5963  anhaben  wir: 
(Jienestbeere  5963.  knrbeere  6185. 

sigebeere  6189.  angestbcere  6438.   17453. 

wd.rbeere  6880.  wärbeeren  6471.   15545. 

schimpfbeere  6755.  simiebeere  7913. 

Jönheere   12349.  tragebeere  12412.    18444. 

mreitbeere  12431.  tötbeere  12864. 

Ifdbeeren  13615. 

irrebeere   15847.  unsckadebeere  18949. 

das    sind    18    belege   (5963.    6185.    6189.    6438.    6471.    6755. 

1  für  -lHiir(e)Urh(e)  setzt  prof.  Schröder  -bwre(U<-h(e)  oder  -bdrluh(e). 

-  Er.  7595  (Haupt:  diu  tier  elementä  stuonden  schinlichen  da) 
gibt   die  hs.  srliei/iperlichen.  das  adjectivum   i^rhinlich  steht  Iw.  1526. 

3  es  fällt  auf,  dass  vou  den  15  belegen  für  off'enbcere  und  seine 
ableitungeu  vor  9698  nur  ein  einziger  steht  (1496).  was  keineswegs  aus  dem 
inhalte  verständlicli  wird,  man  vergleiche  dazu  den  mit  zwölf  belegen  ganz 
der  zweiten  hälfte  des  Tristan  angehörenden  reimtypus  —  ceret(e)  (Zs.  51.140). 
auch  von  den  zwölf  belegen  für  das  adverbium  qffenliche  steht  vor  8117 
unreiner:  1626.  8117  =  11510=16349-  16557  qff'enliche  und  toucjen.  8119. 
8123  lüte  und  oJfenUche.  10002.  13190.  15297.  16543.  18834.  das  adjec- 
tivum offeidich  steht  5975.  9580.  11370.  12994.  15447.  18841.  —  man 
übersehe  nicht,  dass  die  auffällige  ableitung  mit  -/ic7)e  sich  nur  in  der  gruppe 
einhcere,  schinbKre,  offenbeere  findet. 


so  NOLTE 

6880.  7913.  12349.  12412.  12431.  12864.  1301.3.  15545. 
15847.  17453.  18444.  18949),  deren  Verteilung  mm  wider 
bemerkenswert  ist.  lassen  wir  die  schon  erwähnten  bildungen 
einhcerc,  schinbtere,  offenbiire  mit  ihren  ableitungen  bei  seite, 
so  zerfallen  Gottfrieds  adjectiva  auf  -Innre  in  zwei  deutlich 
geschiedene  gruppen: 

1)  diejenigen  die  auch  Hartmann  kennt  und  fast  allein 
anwendet, 

2)  diejenigen  die  Hartmann  und  zugleich  fast  dem  ganzen 
ersten  drittel  des  Tristan  fremd  sind,  bis  Tr.  4317  zählen  wir 
für  die  adjectiva  der  ersten  (Hartmannschen)  gruppe  die  hohe 
zahl  von  15  belegen,  von  4318 — 5863  fehlen  alle  ableitungen 
auf  -h(ere  (aufser  einbcere  5244).  von  5864 — 6S80  sind  beide 
gruppen  mit  6  +  7,  danach  nur  noch  mit  5  -f-  11  belegen  ver- 
treten, von  denen  vor  12349  nur  24-1,  von  da  an  3-f-lO  stehn. 

Das  für  uns  wesentlichste  dieses  tatbestandes  ist,  dass  die 
Hartmannsche  gruppe  der  adjectiva  auf  -beere  es  nach  2 1  belegen 
der  ersten  7000  verse  nur  noch  auf  fünf  weitere  belege  bringt, 
während  gleichzeitig  schon  von  5693  an  eine  gröfsere  anzahl 
vorher  nicht  belegter  adjectiva  auf  -beere  erscheint,  die  zt. 
sicherlich  Grottfriedische  neubildungen  sind. 

Wir  kehren  nochmals  zu  unserm  ausgangspunct  zurück, 
apposition  zum  eigennamen  nach  dem  muster  von  Marke  der 
tugenderiche  oder  Rual  der  (juote  mcui  findet  sich  im  Tristan  an 
folgenden  stellen:  475.  483.  625.  685.  719.  737.  1164.  1330. 
1679.2226.  2330.  2481.  2732.  2841.  2919.  3260.  3381.  3392. 
3459.  3512.  3561.  3585.  3981.  4105.  4231.  4268.  4284.  4329. 
4527.  49301  49481  56S5.  5745.  5746.  5S77.  59541  7032. 
7297.  7977.  8271.  8344.  10416.  107811  11437.  12055. 
12877.  13189.  14663.  15145.  15190.  154731  16060.  161791 
=  162151  16665.  18017.  18756.  18940.  das  sind  58  bei- 
spiele,  davon  in  den  ersten  6000  versen  allein  36.  unter  sich 
zeigen  die  beispiele  eine  reiche  mannigfaltigkeit  von  abstufungen 
und  Schattierungen,  jedoch  so,  dass  die  früheren  beispiele  im 
allgemeinen  dem  altern  epischen  stil  näher  stehen.  Marke  der 
ingendcriche  (483.  3381.  13  189)würkt,  obwol  tugenderiche  eine 
junge  bildung  zu  sein  scheint,  an  Gottfrieds  stil  gemessen  noch 
fast  mit  dem  vollen  Schwergewicht  der  altepischen  formel,  selbst 


zu  GOTTFRIEDS  TRISTAN  Sl 

wenn  folgt  (484)  der  enpfienc  in  tugentJkhe  oder  (3382)  der 
geicarp  vil  tugentlidie.  Tristan  der  ivgenderkhe  (2226.  5746) 
ist  schon  etwas  anderes,  und  wider  etwas  anderes  Tristan  der 
smnenc/ic  (5685).  m  Brangonie  diu  reine  (14  663.  16  665)  scheint 
der  starre  formelhafte  Charakter  durch  den  bau  des  verses  auf- 
gehoben zu  werden.  Morolt  der  listige  man  (7  032)  ist  ganz  die 
alte  formel,  die  in  Tristan  der  sorchafte  man  (7297),  JJrgün  der 
schadehafte  man  (16060j,  auch  in  Tristan  der  sigescelige  man 
(16  179 f.  162 1 5 f)  individualisiert,  und  in  Marke  der  verdähte 
man  (15145)  beinahe  schon  parodiert  wird,  wie  Gotfried  die 
alte  formel  umzubiegen  weils,  zeigt  besonders  hübsch  15  473f 
Isot  diu  u-ol  gesinne,  diu  gesinne  küniginne.  merkwürdig  ist 
das  alleinstehnde  lS0l7f  mäze  diu  here  diu  heret  l/p  und  ere  : 
vgl.  Otfrid  IV  29,  51  karitas  thiu  guata;  V  23,  120  Caritas 
thiii  diura:  H   129  viinna  thiu  diura   {theist  kar-itas  in  wara)\ 

Wir  haben  fast  bei  jeder  einzelnen  unserer  beobachtungen 
eine  grölsere  oder  geringere  Verschiedenheit  zwischen  den  611OO 
ersten  versen  des  Tristan  und  den  übrigen  13  500  versen  fest- 
stellen können,  genauere  betrachtung  besonders  einiger  neu  auf- 
tretender erscheinungen  führt  darauf,  die  grenze  vor  vers  5871 
anzunehmen,  also  genau  da,  wo  die  erzählung  mit  der  einführung 
Morolds  nun  endlich  zu  einer  handlung  von  würklich  entschei- 
dender bedeutung  übergeht,  der  dichter  scheint  sich  freilich  der 
Wichtigkeit  des  Überganges  nicht  sonderlich  bewust  zu  sein:  er 
vollzieht  ihn  mit  einem  ungeschickten  und  nichtssagenden  waz 
lenge  ich  nu  me  hier  an?  und  unterlässt  es  ganz  und  gar,  das 
ermattende  Interesse  des  lesers  auf  das  bevorstehnde  neue  und 
wichtige  zu  spannen,  auch  eine  arbeitspause  ist  an  dieser  stelle 
nicht  eben  wahrscheinlich,  denn  der  stilistische  unterschied 
zwischen  dem    was   vorangeht   und   folgt,   ist   zwar  vollkommen 

'  wer  die  oben  zusammengestellten  beispiele  durchmustert  und  viel- 
leicht auch  eigene  Zusammenstellungen  vergleicht,  möchte  leicht  finden,  dass 
die  Sammlung  zu  viel  oder  auch  zu  wenig  enthält,  die  abgrenzung  des 
würklich  hierhergehörigen  ist  eben  unsicher,  nach  dem  ersten  drittel  des 
Tristan  werden  gewisse  arten  der  apposition  häufig,  die  sich  vorher  kaum 
belegen  lassen  und  hier  nicht  zu  berücksichtigen  waren,  z.  15.  Marke  der 
swicehcre  14014.  17716  (vgl.  auch  15269),  was  ebenso  eine  stilistische 
neuerung  ist  wie  der  traroere  Tristan  14502.  14917.  15790.  15854.  18649. 
vgl.  auch  Zwierzina  Zs.  45,  267  anm.  2. 

Z.  F.  D.  A.  LH.  N.  F.  XL.  6 


S2  NOLTE 

deutlich,  aber  wenigstens  an  der  g:renze  nicht  so  stark,  dass  er 
nns  zur  annähme  einer  längeren  Unterbrechung  der  arbeit  nötigen 
niüste.  was  der  grenze  vorangeht  ist  in  sich  so  wenig  gleich- 
artig und  einheitlich  wie  das  was  folgt,  es  ergibt  sich  ungefähr 
1500  verse  vor  5870  mit  nicht  geringerer  deutlichkeit  eine 
zweite  grenze,  die  ich  nach  vers  4330  ansetze,  an  dieser  stelle 
ist  eine  arbeitspause  schon  wahrscheinlicher. 

Auch  die  partie  l — 4330  ist,  selbst  wenn  man  von  dem 
einfluss  des  mannigfaltigen  Inhalts  absieht,  keineswegs  einheitlich, 
doch  kann  sie  für  den  äuge nbl ick  allem  folgenden  gegenüber  als 
eine  verhältnismäfsig  homogene  masse  gelten,  die  oben  zusammen- 
gestellten den  ersten  6000  versen  eigentümlichen  erscheinungen 
treten  zt.  schon  nach  4330  —  und  nicht  etwa  nur  in  der  litte- 
rarischen stelle  —  so  weit  zurück,  dass  ein  deutlicher  unterschied 
fühlbar  wird,  anderseits  begegnen  alsbald  nach  vers  4330  die 
ersteh  aus  der  stetig  wachsenden  schar  von  erscheinungen,  deren 
fehlen  oder  Seltenheit  in  den  früheren  teilen  des  gedichts  weder 
als  Zufall  noch  aus  dem  Inhalte,  auch  nicht  etwa  aus  bewusster 
künstlerischer  enthaltsamkeit ,  sondern  nur  aus  der  stetigen 
spontanen  Wandlung  des  Vorrats  an  worten,  reimen,  formein  usw. 
sich  erklären  lässt.  ^ 

'  man  sehe  oben  uamentlicli  guot  s.  69  und  s.  71  anm.  und 
die  tabelle  s.  77.  hier  noch  einige  weitere  beispiele.  auf  eine  hierher- 
gehörige besonders  interessante  tatsache  aus  Gottfrieds  reimtechnik  ist 
Zs.  51,  140  ff  hingewiesen,  dass  Gottfried  den  reimtyijus  -ugent  d.  h.  die 
reimformel  Jtige/it:  tucjent  nach  achtmaliger  anwendung  (293 — 4537)  in  den 
drei  letzten  vierteln  des  Tristan  verschmäht,  wurde  oben  s.  (32  anm.  be- 
merkt, umgekehrt  ist  der  17  mal  belegte  reimtypus  -ogen  dem  ersten 
viertel  des  Werkes  fremd:  .5027.  5.575.  6665.  7049.  8753.  10199.  10377. 
11591.  13421.  14931.  15263.  15403.  15665.  16157.  17109.17795.19401.— 
üf  legen  ein  charakteristischer  lieblingsausdruck  Gottfrieds  (meist  üf 
r/eleit  im  reim)  steht  in  den  ersten  6000  versen  nur  einmal,  vor  4561  über- 
haupt nicht:  4561.  6016.  6243.  6633.  6655.  6767.  7038.  9179.  9280.  9658. 
9S45.  9899.  11097.  11214.  11441.  11587.  13508.  13738.  13744.  13S59. 
14171.  (14654.)  14733.  15515.  15688.  15816.  15942.  16224.  (16551.) 
16582.  1S470.  (vgl.  Benecke  und  Lachmann  zu  Iwein  1190.)  —  die  vers- 
füllende formel  sehant  und  an  der  .stunde  braucht  Gottfried  1126  =  3818 
=  4196,  nachher  nicht  wider,  und  auch  nichts  was  sich  direct  vergleichen 
liefse,  obwohl  sehant  nicht  etwa  seltener,  sondern  häutiger  wird  (von  105 
ereimbelegen  für  sehant  stehn  im  ersten  drittel  des  Tristan  nur  23).  es 
ist  auch  nicht  etwa  die  formel  als  solche  die  Gottfried  meidet,  in  der 
kleineren  zweiten  hälfte  des  Tristan  findet  sich  in  verschiedenen  Variationen 
neunmal   die   folgende    versfüllende  formel  11521  =  12415=  14486    dick 


zu  GOTTFRIEDS  TRISTAN  83 

Die  beiden  eben  erwähnten  grenzen  sind  nicht  die  einzigen 
innerhalb  des  Tristan,  wol  aber  nach  meinen  bisherigen  beob- 
achtungen  die  deutlichsten,  in  der  folge  dürfte  die  wichtigste 
grenze  ungefähr  da  anzusetzen  sein,  wo  sich  die  tendenz  zur 
Vermehrung  der  klingenden  reimpaare  mit  voller  entschiedenheit 
und  nachhaltiger  würkung  durchsetzt,  also  bei  vers  11371.  die 
festlegung  solcher  grenzen  soll  übrigens  hier  —  wie  ich  zur 
Vermeidung  jeglichen  misverständnisses  ausdrücklich  bemerke  — 
zunächst  nur  der  klareren  erfassung  der  im  Tristan  sich  voll- 
ziehenden entwicklungen  dienen,  darüber  hinaus  dürften  diese 
grenzen  gerade  für  Gottfried  kaum  sonderliche  bedentung  ge- 
winnen können,  der  Tristan  ist  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
in  nicht  allzu  langer  zeit  in  ziemlich  gleichmäfsig  fortschreitender 
arbeit  entstanden,  dass  auch  Gottfried  nicht  20  000  verse  schreiben 
konnte  ohne  mancherlei  abzustreifen  oder  einzuschränken,  anderes 
zu  entwickeln,  ist  so  selbstverständlich,  dass  das  gegenteil  des 
beweises  bedürfte,  zwar  ist  der  dichter  des  Tristan  von  anfang 
an  raeister,  aber  an  seiner  eigenen  entwicklung  gemessen  könnte 
er  bis  etwa  4330  noch  ein  w^enig  anfänger  heifsen,  wenn  auch 
natürlich  ganz  und  gar  nicht  in  dem  sinne,  wie  Hartmann  in 
den  3000  ersten  versen  des  Erec.  vergleicht  man  mit  den 
Versen  243 — 4330  die  fast  genau  gleich  grofse  partie  7235 — 1 1370 
so  wird  man  den  fortschritt  nicht  verkennen ;  und  still  steht  die 
entwickhing  auch  nachher  nicht ',  wenn  auch  nicht  alles  was 
neu  ist,  darum  schon  einen  gewinn  bedeutet. 

und  se  manegem  male,  139S8  dick'  und  se  maneger  stunde,  15079 
dick'  und  z-e  manegen  ziten,  16485  ml  dicke  und  se  maneger  Sit,  16501 
oft'  und  ze  manegen  stunden,  18485  oft'  und  se  maneger  stunde, 
1S859  vil  ofte  und  ze  manegem.  tage,  ebenfalls  erst  in  der  zweiten 
hälfte  des  Tristan  findet  sich  11 758  (versfüllend)  und  19209  (am  versan- 
ang)  ofte  unde  dicke,  16492  vil  ofte  und  alse  dicke,  17119  dicke  dar 
und  ofte  dan,  13054  dicke  und  iegedihte,  19454  als  ofte  und  alse  eil, 
womit  aus  dem  früheren  nur  362  f  zu  vergleichen  ist.  —  ich  erwähne  noch, 
dass  sich  das  wörtchen  et  (in  Bechsteins  text,  3.  aufläge)  an  folgenden 
stellen  findet:  302.  1290.  1552.  1741.  2414.  4385.  4469.  5476.  6064.6130. 
6255.  7031.  8558.  10590.  10S18.  11074.  11752.  12106.  12S38.  13506. 
14216.  14221.  —  19527. 

•  meinen  —  minnen  1111.  13919  f  19150.  minnen  —  meinen 
11787.  19154.  19315.  19546.  minne  —  meine  (subst.)  17733.  19305.  19463. 
meine  —  minne  (subst.)  18066. 

Kassel.  Albert  Ä'olte. 

6* 


LEÜDÜS 

In  dieser  Zeitschrift  bd.  49,  306  hat  Jostes  uninileodos  als 
'sicherheitsmannen'  erklärt  und  Jeudos  bei  Venantius  Fortunatus 
mit  'mannen,  vasallen"  übersetzt,  diese  Übersetzung  wird  in  dem 
aufsatz  durch  Sounenburg  verteidigt. 

Die  stelle  aus  dem  an  herzog  Lupus  gerichteten  gedieht 
lautet  (7,  8,  62): 

et  qua  quisque  valet  te  prece  voce  sonet, 
Bomanusqve  lyra,  plaudat  tibi  barharus  harpa, 
Graeciis  Achilliaca,  crotta  Brittanna  canat  .  .  . 
nos  tibi  versicidos,  dent  barbara  carmina  leudos  ^). 
hierzu  bemerkt  Sonnenburg:  'würde  hier  leudos  lieder  bedeuten, 
so  wäre  es  neben  barbara  carmina  unverständlich,     da  nun  aber 
zum  ersten  gliede  des    verses  aus    dem  zweiten  ein  demus  (oder 
damus)  ergänzt  werden  muss,   so  ist  offenbar   ein  gegensatz  ge- 
wollt  zwischen    versiculi,    dh.    versen    classischer    art,    wie    sie 
Fortunatus  widmet,  und  barbara  carmina.     dann  aber   muss  im 
zweiten  gliede    ein   gegenstück   vorhanden   sein  zu    dem  nos  am 
anfang  des  verses,    dh.  es    muss   gesagt  sein,    wer   die   barbara 
carmina  spenden  soll,  und  dies  ist  der  fall,  wenn  das  letzte  wort 
das  dann  leudes  zu  schreiben  wäre,    eben  bedeutet:    die  mannen 
des  germanischen  Stammes'. 

Neben  carmina  ist  leudos  nur  so  lange  unverständlich,  als 
man  es  mit  'lieder'  übersetzt,  die  alte  bedeutung  des  wertes  ist 
aber  unzweifelhaft  'strophe'  (im  musikalischen  und  metrischen 
sinne),  es  entspricht  als  ein  technisches  wort  den  versiculi, 
womit  Fortunatus  seine  dichtung  ihrer  form  nach  charakterisiert: 
suscipe  versiculos,  Anthimi  pignus  amantis.  3,  29,  1. 
Nehmen  wir  das  durch  conjectur  eingesetzte  leudes  als 
subject,  so  ergibt  sich  zwar  grammatisch  ein  tadelloser  vers 
(nos,  leudes  und  versiculos,  carmiwastehnsich  gegenüber,  aus  dent  ist 
zu  710S  ein  demus  zu  ergänzen,  wie  app.  2,  67:  vir  Constantinum, 
Helenam  pia  f'emina  reddis,    ein  reddit  zu   vir)  —  aber  leudes 

'  es  ist  zu  beachten,  dass  der  cod.  S.  Galli  196  (9  jh  )  zu  leiidoif 
die  glosse  giebt:  i.  e  uninileodos.  dieser  beleg  ist,  wie  es  scheint,  über- 
sehen -worden.  auch  Kögel  (im  Grundriss^  ^  51)  verzeichnet  ihn  nicht, 
er  scheint  mir  für  die  bedeutungsgeschichte  des  wortes  nicht  unwichtig 
zu  sein. 


MEISSNER.  LEUDUS  85 

wäre  ein  schiefer  ausdruck.  wir  würden  ein  wort  verlangen, 
das  bestimmt  den  Franken  gegenüber  dem  Romanus  bezeichnet, 
das  ist  barbarus  an  vielen  stellen  bei  Fortunatus.  leudus  kann 
es  nicht  sein,  mir  fehlen  die  kenntnisse,  in  den  streit  der 
historiker  einzugreifen,  ich  verweise  nur  auf  Roth  Gesch.  des 
beneficialwesens,  bes.  s.  115.  27S  und  s.  293.  Waitz  Verf.- 
gesch.*  II  273  ff.  für  unsere  stelle  genügt  es,  dass  im  reiche  der 
Merowinger  unter  leudes  sowol  alle  freien,  Römer  wie  Germanen, 
verstanden  werden,  die  den  von  Marculf  (1,  40)  leudesamio  ge- 
nannten eid  schwuren ',  als  auch  solche,  die  in  näherer  abhängig- 
keit  zum  könige  standen,  besonders  die  proceres,  optimates  2  seiner 
Umgebung,  das  wort,  das  in  karolingischer  zeit  verschwindet,  hat 
in  der  zeit  des  Fortunatus  einen  staatsrechtlichen  sinn  und  ist 
schon  seiner  Unbestimmtheit  wegen  durchaus  ungeeignet,  den 
germanischen  dichter  gegenüber  dem  römischen  zu  bezeichnen. 
Eine  leichte  incongruenz  entsteht  freilich  dadurch,  dass 
grammatisch  nos  und  barhara  carmina  sich  entgegentreten, 
person  und  sache;    aber   ein   ähnlicher   fall    ligt   in   v.   64   vor: 

Gr accus  AcMlliaca,  crotta  Britanna  canat. 
carmina  ist  hier  in  freierer  weise  zu  nehmen,  fast  persönlich;  vgl. 
carmina  quin  etiam  divini  p>ectoris  eius 
vociferantur  et  exponunt  jJi'aec-lara  reperta. 

Lucr.  1,  731. 
Die  zweite  stelle  steht  in  der  an  Gr-egor  gerichteten  prae- 
fatio.  Fortunatus  will  sagen,  dass  man  an  seine  unter  den  ver- 
ständnislosen germanischen  barbaren  entstandenen  gedichte  keinen 
hohen  malsstab  anlegen  dürfe:  iibi  mihi  tantundem  valebat 
raacum    gemere    quod   cantare,    apud    quos    nihil    disparat    aut 

*  es  ist  doch  als  sicher  anzunehmen,  dass  unter  den  minores,  in- 
feriores, leudes,  der  untersten  classe  der  freien  im  burgund.  recht,  sich 
Römer  befanden,  wie  es  für  die  erste  (optimates)  bezeugt  ist.  —  leudes 
in  dem  sinne  von  homines,  knechte  ist  an  unserer  stelle  wegen  des  gegen- 
satzes  zu /<o*  immöglich,  die  formel  pro  stabil itate  re;ini  vel  [irn  i-unctis 
leudis  nostns  (MG.  Diplom,  fol.  I  72,  52;  Dipl.  Karol.  I  1.  10.  45  u.  6.) 
deutet  auf  eine  hergebrachte  bezeichnung  aller  Untertanen  des  fränkischen 
königs. 

^  lex  Sal.  41,  5;  si  quis  rero  Romano  homine  concira  ref/e  orciderit. 
die  stelle  zeigt,  dass  sich  Römer  auch  unter  diesen  leudes  befanden. 
anno  11.  re'ini  Teuderiri  subro<iatti.<  major  domus  Claudiu--<  ijenere 
Romanus.     Fredegar  4,  28. 


86  MEISSNER 

Stridor  anseris  autcanor  oloris,sola  saepe  bomhicansharharoslendos 
arpa  relidens;  ut  inter  illos  egomet  non  musicus  poeta,  sed  muricus 
deroso  flore carminis 2)oema  non  canerem,  sed  garrirem  quo  residentes 
aiiditores  inter  acernea  pocula  sahite  bihentes  insana  Baccho  iudice 
dehaccharent 

zu  raucum  geniere  vgl.: 

scabrida  nunc  resonat  mea  lingua  rubigine  verba 
exit  et  incompte  raucus  ab  ore  fragor.  2,  9,  7. 
uhi  mihi  tantundem  valebat  bis  cantare  heilst:  'wo  mir  künst- 
lerische und  unkünstlerische  dichtung  gleich  hoch  angerechnet 
wurde';  dem  entspricht  dann,  dass  den  Germanen  das  geschrei 
der  gans  und  der  gesang  des  schwans '  gleichwertig  ist.  zu  sola 
bis  relidens  bemerkt  Sonnenburg:  'sola  saepe  bombicans  arpa 
kann  wol  nur  harfenspiel  ohne  text  bedeuten;  würde  nun  bar- 
baros  leudos  relidens,  wie  man  annimmt,  heifsen:  'barbarische 
lieder  ertönen  lassend',  so  wäre  entweder  mit  leudos  auch  nur 
'musikalischer  Vortrag'  bezeichnet,  so  dass  bombicans  und  relidens 
parallel  stünden  und  ein  verbindendes  et  fehlte,  oder  leudos  be- 
zeichnete eben  text  im  gegensatz  zur  musik.  ersteres  ist 
undenkbar,  weil  Jedesfalls  seine  sonstigen  gedichte  (dh.  texte)  in 
gegensatz  gestellt  werden  zu  denen,  die  seine  zuhörer  gewohnt 
sind  .  .  .,  und  weil  bei  dieser  auffassung  die  beiden  participien 
ganz  in  der  luft  schweben  und  der  gedanke  weder  an  das  vor- 
hergehnde  noch  an  das  folgende  sich  natürlich  anschliefsen 
würde;  und  letzteres  scheint  ausgeschlossen,  weil  dann  ein  gegen- 
satz zwischen  Instrumentalmusik  {sola  bombicans  arpa)  und 
liedertexten  {barbari  leudi)  vorläge,  der  doch  irgendwie  ausge- 
drückt sein  müsste.  fasst  man  aber  leudi  in  der  bedeutung 
'mannen',  und  relidens  nicht  in  der  für  diese  stelle  besonders 
angenommenen,  sondern  in  der  gewöhnlichen  'znrückstofsen',  und 
nimmt  man  an,  dass  die  participien  entsprechend  dem  fehlen 
einiger  (einer?)  Verbindungspartikel  im  Verhältnis  der  unter-  und 
Überordnung  stehn,  so  ergibt  sich  mit  der  unbedenklichen  ergän- 
zung  von  est  der  einfache  sinn :  'wenn  die  harfe  oft  allein  ertönt, 
stöfst  sie  die  barbarischen  mannen  ab,  so  dass  trotz  der  vorher 
angegebenen  mängel  ich  als  verschlechterter  poet  mein  lied  her- 
leierte, um  ihren  beifall  zu  finden'. 


'  o/o/- und  unser:  hoc  more  tu  et  olorinis  cantibus  unseres  racos 
sociarens.     Sidou.  Apoll,  ep.  9,  2,  2. 


LEUDUS  87 

Zunächst    hat   S.    die   grammatische   construction   verkannt, 
das  part.  präs.   ist   hier  wie   oft  bei  Fortunatus  (s.  Leos  index 
s.  411")    absolut   gebraucht;    eine   verbindungspartikel    zwischen 
den  beiden  absoluten  part.  ist  überflüssig,  vgl. : 
extollens  (=  sich  erhebend)  cervix  domini  iuga  ferro  recusam, 
sie  tumidis  animis  tiirget  inane  cutis.  5,  5,  21. 

Leos  beispiele  zeigen,  dass  ein  solcher  participialsatz  dem 
regierenden  satz  vorausgehn  oder  folgen  kann;  der  zweite 
fall  zb.: 

mors  et  origo  simul  misero  processit  ab  alvo, 
extinctam  generalis  mater  anhela  inamim.  2,  16,  135. 
warum  sola  homhicans  arpa  mstriMnentilyortrag  bedeuten  muss, 
versteh  ich  nicht;  nehmen  wir  sola  in  dem  sinne  von  'nur, 
allein"',  fügt  sich  der  participialsatz  dem  vorhergehnden  gedanken 
ganz  natürlich  an:  'in  dieser  barbarischen  Umgebung  hör  ich 
nur  immer  wider  den  klang  der  arpa'  —  und  niemals  den  der 
dulce  sonans  lyra.  die  arpa  ist  ein  barbarisches  instrumenta, 
bomhicans  bezeichnet  ihren  rauhen,  fremdartigen  klang  als  eine 
eigenschaft  (klangfarbe).  bei  dieser  auf fassung  fällt  die 
djroQia,  die  durch  relidens  leudos  für  S.  entsteht,  fort,  es 
bleibt  die  ungewöhnliche  anwendnng  von  rcJidere.  zwar  die  be- 
deutung  die  S.  braucht  (zurückstofsen),  kann  man  nicht  als  die 
'gewöhnliche'  bezeichnen,  das  verbum  ist  überhaupt  selten,  keine 
der  bei  Forcellini  angeführten  stellen,  auch  nicht  die  aus  Au- 
sonius  —  und  ein  anderes  material  scheint  S.  nicht  im  sinn  zu 
haben  —  zeigt  reliderem  dem  übertragenen  sinne  'zurück- 
stofsen' =  'abneigung  erwecken'  (subject:  eine  sache,  object:  eine 
person).  Fortunatus  braucht  relidere  einmal  im  sinne  von 
schlagen: 

sed  qiiia  dulcedo  pulsans  quasi  malleus  instat, 
et  velut  incudo  cura  relisa  terit  2,  9,  12. 
dann  mit  bezug  auf  seitenspiel: 

per  lyricos  modulos  et  fila  loquacia  plectris, 

qua  (wenn)  citharis  Erato  dulce  relidit  ebur.  6,  10,  4. 
dulce  heilst  das  plectrum,  weil  es  den  klang  hervorruft :  relidere 

^  ein  beispiel  freier  construction:  <il((dii<qne  firacatas  ante  tnanus 
solas  iussi portare  catenas.     Sidon.  Apoll,  carm.  7,  77. 

-  aus  Sidon.  Apoll,  epist.  5,  5,  3  ergibt  übrigens  sich  sieh,  dafs  die  bur- 
gundische  harfe  nur  drei  selten  hatte. 


S8  MEISSNER 

heilst  hier:  ■tönend  anschlagen  lassen  gegen',    in  dei-  praefatio  ist 
relidens  leitdos  allerdings  sehr  frei  gebraucht:  die  leudi  sind  das 
beim    anschlagen    hervorgebrachte,    rehdeiifi  =  tönend    zurück- 
werfend;   doch  ligt   ein  solcher  bedeutungsübergang   nicht  allzu 
fern;  man  vgl.  folgende  stelle: 
iiicipiat  (seil,  imer)  teneros  ut  dare  voce  sonos, 
inperfecta  rudis  conlidens  niurmura  lingiiae.  S,  3.  355. 
der  geblümten  rede  der  praefatio  ist  eine  solche  Verwendung  des 
Wortes  wol  zuzutrauen. 

Nehmen  wir  aber  einmal  relidens  und  Icudos  in  dem  sinne 
der  von  S.  vorgeschlagenen  Übersetzung,  ich  dächte,  man  müste 
die  unerträgliche  sinnverrenkung  die  dann  entsteht,  sofort 
empfinden.  Fortunatus  erklärt  die  Germanen  erst  für  stumpf- 
sinnige barbaren,  denen  jedes  Verständnis  für  seine  poesie  fehlt; 
er  trägt  ihnen  aber  doch  seine  gedichte  vor,  weil  sie  sich  durch 
den  blofsen  instrumentalvortrag  abgestofsen  fühlen,  mit  der 
logik  dieses  gedankens  im  Zusammenhang  der  ganzen  stelle  mag 
sich  abfinden  wer  kann  —  ich  frage  nur:  avo  steht  ein  wort 
davon,  dass  Fortunatus  den  beifall  der  barbaren  erringen  will? 
den  sinn  'um  ihren  beifall  zu  finden"  kann  S.  nur  aus  dem  satze 
quo  residentes  auditores  inter  acernea  pocula  salute  hlhentes  insana 
Bacclio  iudice  dehacharent  herauslesen  wollen,  quo  aber  kann 
hier,  wie  an  zahlreichen  andern  stellen  des  Venautius  Fortunatus, 
nur  'wo'  bedeuten,  der  sinn  ist  hier  wie  in  den  berühmten 
versen  inter  eils  goticum  usw.,  dass  in  einer  germanischen  trink- 
halle  der  römische  dichter  kein  gehör  findet;  das  wird  dann 
gleich  weiter  ausgeführt:  quid  ihi  fahre  dictum  sit  uhi  quis 
saniis  vix  creditur,  nisi  secum  pariter  insanitur,  quo  gratulari 
magis  est  si  vivere  licet  post  hibere. 

Wenn  man  auch  bei  Fortunatus  meiner  ansieht  nach  zur 
alten  auffassung  von  leudos  zurückkehren  muss,  könnte  doch 
winileodos  im  capitulare  Karls  d.  Gr.  von  Jostes  richtig 
erklärt  sein. 

Jostes  veiwirft  die  bisherigen  Übersetzungen  der  stelle  aus 
sachlichen  und  einem  formalen  gründe,  er  traut  es  Karl  d.  Gv. 
nicht  zu,  dass  er  Verordnungen  über  so  wunderliche  einzelheiten 
erlassen  haben  soll.  —  die  Vorschrift  über  die  'bleiche  gesichts- 
farbe'  der  nonnen  und  den  aderlass,  die  mit  dem  vorhergehnden 
satze  nicht  das  geringste  zu  tun  hat,  ist   besonders  durch  Kelle 


LEÜDÜS  89 

(Wiener  Sitzungsber.  161.  nr  9,  s.  15  ff.)  völlig  sichergestellt 
und  durch  eine  Vorschrift  aus  der  regula  sanctimonialiuni  des 
abtes  Robertus  von  Arbrisello  (gest.   1117)  gestützt. 

Bei  dem  satze  et  nullatenus  ibi  icinlleodof  scrihere  vel 
mittere  praesumant  ist  zu  bedenken,  dass  den  nonnanes  vor  allem 
jeder  verkehr  mit  der  aufsenwelt  abgeschnitten  werden  soll,  wie 
die  vorhergehnden  worte  beweisen;  damit  erledigt  sich  Jostes 
frage,  warum  das  aufschreiben  und  zusenden  (auf  das  mittere  ist 
gewicht  zu  legen),  nicht  das  singen  von  icimUodi  verboten 
wird.  Kelle  hat  vergeblich  nach  einer  ähnlichen  bestimmung  in 
andern  Verordnungen,  die  sich  auf  nonnenklöster  beziehen, 
gesucht;  wir  haben  es  hier  aber  mit  keiner  ausgeführten  Ver- 
ordnung sondern  einer  Instruction  für  aufsichtsbeamte  zu  tun. 
für  diese  Instructionen  ist  es  charakteristisch,  dass  einzelheiten,  auf 
die  durch  irgend  eine  veranlassung  die  aufmerksamkeit  gelenkt 
wird,  herausgegriffen  werden,  man  darf  nicht  annehmen,  dass 
es  sich  hier  um  eine  gewohnheitsraäfsige  beschäftigung  der 
canonisch  lebenden  nonnen  handelt,  dem  könige  sind  solche 
fälle  zu  obren  gekommen,  ebenso  wie  er  gehört  hat,  dass  geist- 
liche den  psalter  und  das  evangelium  zum  zauber  benutzen 
(dasselbe  capitul.  unter  20)  oder  zaubertafeln  gegen  hagel  an 
Stangen  aufhängen  (34),  oder  vgl.  Cap.  pag.  116,  12  de  canibus  qvi 
in  dextro  anno  tunsi  sunt.  —  dass  die  uninlleodi  lieder  sind,  wird 
durch  die  glossen  zu  den  canones  (dazu  tritt  jetzt  die  glosse 
aus  dem  St.  Galler  codex  des  Venantius  Fortunatus)  über  allen 
zweifei  erhoben,  denn  Jostes  erklärung,  dass  der  erste  glossator 
die  stelle  des  capitulars  im  sinne  gehabt  und  raisverstanden  habe, 
enthält  zwei  annahmen  die  gleich  willkürlich  sind. 

Ein  wort  noch  über  den  formalen  grund,  der  Jostes  veran- 
lasst hat,  nach  einer  andern  deutung  von  uninüeodi  und  leudus 
bei  Venantius  Fortunatus  zu  suchen,  "wer  leodes  oder  leodos  als 
den  acc.  plur.  von  Jeod  auffasst,  geht  über  das  schwere  gramma- 
tische bedenken,  welches  dabei  das  geschlecht  des  wortes  bildet, 
leicht  hinweg',  hier  ist  zu  bemerken,  dass  die  m.  und  n.  der 
zweiten  lat.  declination  in  der  romanischen  Volkssprache  zusammen- 
fallen musten,  dass  das  n.  überhaupt  untergeht,  sodass  der 
Sprachgebrauch  des  späten  lateins  nur  unsicher  zwischen  m.  und 
n.  scheidet,  so  braucht  Venantius  Fortunatus  (s.  Leos  index) 
Signum,   ingenium,  sepidchrum,  cor  gelegentlich  als  m.     deutsche 


90  MEISSNER 

lelinwürter  im  späten  latein  behalten  meist  iliv  gescblecht,  aber 
Schwankungen  sind  nichts  ungewöhnliches,  und  besonders  der 
Übergang  des  n.  zum  m.  ist  sicher  bezeugt;  ich  begnüge  mich 
auf  mallus  und  weregihlm  hinzuweisen:  secl  jproxhmis  mallus 
comitis  ei  concedatur.  capit.  1,  2'J2,  16;  weregiUhis  eins  äomwo 
solvatur  1,  139,  32. 

Königsberg.  Rudolf  Meissner. 


DÜLGERE. 

Das  edictum  Chilperici  (Capitularia  ed.  Boretius  1,  S)  be- 
stimmt für  den  fall,  dass  ein  sclave  einen  freien  getötet  hat, 
folgendes:  quare  condictione  x>lamit  atque  convenit,  ut  si  servus 
h  ominem  ingenuum  occiderit,  tunc  dominus  servi  cum  vi.  iuramento, 
(erg.  iuret)  qiiodjJura  sit  conscimtia  sua  nee  suum  consilium  factum 
Sit  nee  vohmtatem  eius,  et  serviim  ipsum  det  ad  vindictam.  Et  si 
servum  dare  non  potuerit,  in  ipso  iuramento  fide  data  donet,  nee 
ibi  sit  ubi  eum  sensit  nee  seit  nee  eum  atingere  possit,  dulgat 
servum  hoc  est  de  licentia  parentibus  cor  am  parentes  qni  hocci- 
sus  est  et  de  ipso  quod  voluerint  faciant,  et  ille  sit  exolutus.  — 
über  den  sinn  des  ganzen  Zusammenhanges  besteht  kein  zweifei: 
eine  haftung  des  herrn  für  einen  von  seinem  sclaven  begangenen 
totschlag  tritt  nicht  ein,  wenn  der  herr  durch  den  eid  feststellt, 
dass  er  nicht  ein  mitwisser  der  tat  gewesen  ist:  nun  werden 
zwei  fälle  unterschieden;  befindet  der  sclave  sich  in  der  gewalt, 
seines  herren,  muss  dieser  ihn  den  verwanten  des  getöteten  zu 
willkürlicher  räche  übergeben,  ist  der  sclave  entflohen,  so  muss 
der  herr  einen  zweiten  eid  schwören,  dass  er  nicht  wisse,  wo  der 
sclave  sich  aufhalte,  und  dass  er  ihn  auch  nicht  erreichen  könne, 
dann  soll  er  vor  den  verwanten  des  getöteten  erklären,  dass  er 
den  sclaven  preisgebe  und  es  ihnen  überlasse,  mit  dem  sclaven 
(ergänze:  wenn  sie  ihn  fassen)  nach  gutdünken  zu  verfahren. 

Das  edictum  ist  nur  in  einer  Leidener  hs.  des  9  jh.s  er- 
halten, die  einen  schlechten  text  der  lex  Salica  emendata  über- 
liefert (Lex  Salica  ed.  Hesseis,  einl.  xviii).  —  die  worte  de 
licentia  parentibus  coram  j)arentes  sind  unsinnig.  Kern  schlägt 
vor:  det  licentia:  zweifellos  wird  durch  das  Iwc  est  ein  verbum 
erfordert,  der  sinn  muss  sein:  dass  er  den  angehörigen  des  ge- 
töteten das  recht  erteilt,  mit   dem  totschläger   nach   belieben  zu 


LEUDUS  —  DULGERE  9 1 

verfahren;  und  ferner  ist  in  dem  satz  ausgedrückt,  dass  diese 
Übertragung  von  angesicht  zu  angesicht  stattfindet,  vielleicht 
ist  ])arentihus  zu  streichen  {det  licentiam  coram  parentes). 

Der  eigentümliche  ausdruck  dulgat  ist  der  aufmerksamkeit 
der  herausgeber  nicht  entgangen.  Boretius  in  der  Ausgabe  der 
Lex  Salica  von  Behrend  (Berlin  1874,  s.  106,  4)  nimmt  dulgere 
im  sinne  von  cessionem  faccre  und  setzt  zweifelnd  indulqeat 
dafür  ein';  indulgat'^  ist  von  Geffcken  (Lex  Salica,  Leipzig 
1898,  s.  84)  in  den  text  gestellt.  Kern  (Lex  Salica  ed.  Hesseis, 
London  1880,  sp.  514)  erklärt  dulgere  als  ein  latinisiertes  ger- 
manisches verbura:  'dnlgan  =  didigan  =  dulian,  on.  dyija,  dan. 
dölge,  to  conceal;  to  disavow'.  den  sinn  der  stelle  gibt  Kern 
richtig  wider:  "the  master  of  the  slayer  is  obliged  to  give  him 
up,  disown  him;  disavowing  and  disowning',  sagt  er,  'are  uearly 
allied  notions,  and  are  often  expressed  by  one  word;  e.  g.  as. 
wid^sacan,  negare,  renunciare,  abdicare,  repudiare;  d.  versahen 
is  not  only  e.  ,to  forsake',  but  also  ,negare,  inficiari'.'  —  Clement 
(Forschungen  über  das  recht  der  salischen  Frauken,  Berlin  1876, 
s.  270)  übersetzt  den  satz  von  dulgat  ab  so:  "er  darf  den  sclaven 
töten,  das  heifst  mit  erlaubnis  der  verwanten  in  gegenwart  der 
verwanten  des  getöteten,  und  mit  diesem  (sclaven)  dürfen  sie 
tun  nach  ihrem  gutdünken'.  auch  er  sieht  dulgere  für  germa- 
nisch an:  'bei  dulgat  servmn  ist  zu  bemerken,  dass  das  ostfris. 
doljen  prügeln,  das  nordfris.  an  dellang  tracht  schlage,  das 
altfris.  dolg,  dolch  wunde  und  das  altengl.  tholigen  töten,  um- 
bringen heifst'  (s.  274). 

Bei  der  schlechten  Überlieferung  wäre  eine  textverderbnis 
dulgat  für  indulgat  wol  möglich;  diese  annähme  fällt  damit  hin, 
dass  dulgere  an  andern  orten  sicher  bezeugt  ist.  die  bei 
Ducange  angeführten  belege  scheinen  den  herausgebern  der  Lex 
Salica  entgangen  zu  sein,  während  widerum  bei  Ducange  die 
stelle  aus  dem  edictum  Chilp.  fehlt.  die  Lorscher  annalen 
bringen  dulgere  an  drei  stellen;  die  Überlieferung  zeigt,  dass 
man  bemüht  war,  das  wort  zu  glossieren: 

Annales  Laurissenses  majores  (Annales  regni  Francorum)  ed. 

•  ebenso  MGLeg.  II,  1,  8,  6;  es  ist  nicht  klar,  ob  Boretius  an  eine 
verderbniss  des  textes  denkt,  oder  ob  er  ein  verbum  dulgere  =  indulgere 
annimmt. 

-   inf.  pass.  ii^dnhji  z.  1).  Jordanes  cap.  S. 


92  MEISSNER 

Kurze  p.  14  (ad  756):  dum  reversus  est  Pippinus  rex,  cupieba^ 
supradictus  Haistulfus  nefandus  rex  meniiri,  quae  antea  poUicitus 
fuerat ,  obsides  dulgere  (var. :  denegare,  relinquere,  indulgere), 
sacramenta  inrumpere;  p.  44  (ad  776):  nuntius  veniens,  qui 
dicit  Saxones  reheUatos  et  omnes  obsides  suos  dulgtos  (var.: 
tultos,  dultos;  Ademar  von  Chabannes  Chron.  2,4:  et  obsidibus 
mentitis)  et  sacramenta  rnpta\  p.  4S  (ad  777):  secundum  morem 
lllorum  oninem  ingemtitatem  et  alodem  manibus  diilgtwn  (var.: 
dulgium,  diiltum,  indulgtum;  Ademar  von  Chabannes  Chron.  2,5: 
omnem  ingenuitatem  illorum  et  alodem  manibus  giirpierunt) 
fecerunt,  si  amplius  inmutassent  secundum  malam  consuetudinem 
eorum;  nisi  conservarent  in  omnibus  christianitatem  vel  fideli- 
tatem  supradicti  domni  Caroli  regis  et  filiorum  eins  vel 
Francormn.  Ducange  weist  aufserdem  noch  auf  eine  Urkunde 
von  804  hin  (aus  Martenius  Amplissima  collectio  i  57);  die 
stelle  lautet:  ad  die  praesente  trado  dulgo  aique  conscribo;  es 
handelt  sich  um  Schenkung  an  geistliche  band,  die  Urkunde 
gehört  nach  Prüm. 

Ist  dieses  nun  zweifellos  festgestellte  dulgere,  für  das  sich 
wohl  noch  andere  belege  finden  werden,  etwa  eine  rückbildung 
aus  indulgere?  —  in  den  romanischen  sprachen  ist,  so  viel  ich 
sehe,  keine  spur  eines  dulgere:  indulgere  findet  sich  nur  im 
italienischen  (Diez  Gr.^  11  163).  die  aphärese  des  verbalen  prä- 
fixes  in  würde  auf  dem  gebiete  des  französischen  etwas  durch- 
aus ungewöhnliches  sein,  man  kann  sich  für  didgere  nicht  auf 
die  ganz  vereinzelten  fälle  berufen,  in  denen  sonst  ein  an- 
lautendes in  abgefallen  ist:  franz.  trosque,  tresque  aus  introusqueK 
unter  diesen  umständen  ist  jedesfalls  eine  ableitung  aus  dem 
germanischen  vorzuziehen,  schon  das  hoc  est  nach  dulgat  könnte 
darauf  hindeuten,  dass  ein  technischer  ausdruck  der  german. 
rechtssprache  erläutert  werden  soll  (in  duropullo  hoc  est  in 
limitare.  Lex  Sal.  58 ;  si  quis  alterum  herburgium  clamaverü 
hoc  est  strioporcium.  64,  1);  und  die  glossierenden  Varianten  zu 
den  stellen  der  Ann.  Laur.  sprechen  ebenfalls  dafür,  dass  dulgere 
nicht  ein  wort  der  lat.  Volkssprache  ist. 

'  Schultz-Gora  verweist  mich  auf  prov.  rjenli  neben  engen h  (m- 
f/eniiim),  prov.  tro  aus  i/itrn  und  auf  Toblers  ableitung  von  Ju.'^t/tK'  (en- 
jusque)  aus  inde  usque.  —  anders  zu  beurteilen  (wegen  des  zusammen- 
treffens  von  n  und  .s)  ist  strumentum  MG  dipl.  I  62,  53.  (35,  7 ;  estronientum 
74,  7 ;  liiiedema  instrumenta.  72,  37. 


DULGERE  93 

Boretius  verweist  auf  den  Pactus  pro  tenore  pacis  Childe- 
berti  et  Clilotarii  12  :  si  servus  ante  admonitum  domimun  defuerit, 
capitaJe  dominus  restituat  et  de  servo  faciat  cessionem,  iit  cum 
inve^üus  fuerit  detur  vindictam.  dass  aber  mit  cessionem  faciat 
der  eigentliclie  sinn  von  duhjat  nicht  widergegeben  wird,  be- 
weisen die  stellen  der  Lorscher  Annalen.  die  geiselu  werden 
nicht  cediert,  sondern  preisg-eg-eben,  zur  willkürlichen  räche 
überlassen,  sie  werden  verwürkt.  sie  verfallen,  ebenso  ist  es  im 
edictum  Chilperici  mit  dem  totschläger.  die  würkung  ist  dieselbe 
wie  bei  einer  Übergabe,  die  rechtshandlung  aber  die  durch 
dulgerc  ausgedrückt  wird,  ist  eine  andere,  sie  ist  einseitig:  der 
besitzer  des  sclaven  entäursert  sich  seines  eigentums.  es  bleibt 
nun  den  angehörigen  des  getüteten  überlassen,  den  herrenlosen 
totschläger  in  ihre  gewalt  zu  bekommen  und  nach  willkür  die 
räche  zu  vollziehen,  die  stelle  ad  a.  77  7.  zeigt  dulgtiim  facere 
in  der  bedeutung  'zum  pfand  setzen':  aber  das  berührt  sich 
nahe  mit  dem  eben  festgesetzten  sinn;  freiheit  und  eigen  soll 
dem  Franken  verfallen  sein,  wenn  diesmal  die  treue  nicht  ge- 
halten wird;  so  umschreibt  denn  auch  Mühlbacher  (Deutsche 
geschichte  unter  den  Karolingern,  Stuttg.  1896,  s.  121)  die  stelle 
wie  von  selbst  in  zwiefacher  weise:  'mit  ihren  besten  gütern, 
freiheit  und  besitz  hafteten  sie  jetzt',  'ihre  persönliche  freiheit 
und  ihr  eigentum  verwürkt  zu  haben',  in  der  verblassten  all- 
gemeinen bedeutung  von  cessionem  facere  tritt  dann  das  wort  in 
der  Urkunde  von  804  auf. 

Dass  Clements  Übersetzung  von  didgat  servum  ('er  darf  den 
knecht  töten')  unsinnig  ist,  ergiebt  sich  aus  dem  Zusammenhang 
von  selbst;  mit  seiner  etymologie  aber  war  er  auf  dem  richtigen 
wege.  Kern  will  dulgere  mit  altn.  dtjlja  in  Verbindung  setzen, 
der  Übergang  des  ableitenden  j  zu  g  wäre  ungewöhnlich,  man 
müste  dulire  oder  duliare  erwarten,  vor  allem  aber  ligt  die 
bedeutung  'verhüllen'  sehr  weit  ab;  Kerns  versuch  eine  Verbin- 
dung herzustellen,  ist  sehr  künstlich,  welche  grundbedeutung 
für  dulgere  anzunehmen  ist,  dafür  gibt  das  gurpierunt  bei 
Ademar  von  Chabannes  für  dulgtum  fecerunt  in  den  Ann.  Laur. 
ad  777  einen  deutlichen  tingerzeig;  wurf  ist  ja  symbol  für  die 
preisgäbe,  zu  unterscheiden  ist  das  blofse  werfen,  wegwerfen, 
und  das  zuwerfen,     ersteres    ist   svrabol   eines    einseitigen 


9  4  METPSXER 

rechtsg-eschäfts ',  beim  zuwerfen  ist  noch  ein  zweiter  beteiligt, 
z.  b.  bei  der  laeso  icerpitio  (Grimm  RA-'  i  1G8),  wo  die  festuca 
einem  anderen  in  den  schols  geworfen  wird,  beispiele  iür  lossag- 
iiug-  durch  wurf  der  festuca  (  irerpitio.,  exfestucatio )  stellt 
v.Amira  zusammen  (Der  stab  in  der  german.  rechtssymbolik, 
München  1909,  s.  145),  für  Verbindung  von  verzieht  und  Über- 
tragung durch  \\\\Yi,  der  dann  der  natur  des  Vorgangs  entspre- 
chend in  ein  legen,  überreichen  sich  verwandelt  s.  147.  —  ein 
späteres  zeugnis  für  den  wurf  als  symbol  des  Verzichtes  ent- 
nehm ich  einem  Aufsatze  J  Gierkes  (Zeitschr.  f.  rechtsgeschichte, 
germ.  abt.  28,315):  eine  witwe  verzichtet  auf  den  nachlass 
ihres  mannes,  met  eenen  halin  in  hare  Jiand,  dien  zij  ivegiüierp, 
ten  teeken,  dat  zij  ook  alzoo  haars  mans  nalatenschaj)  liet  dt'ijven. 
vgl.  franz.  guerpir,  deguerpir,  'verzieht  leisten',  dulgjan,  werfen 
kann  ohne  Schwierigkeit  mit  der  wortgruppe  verbunden  werden, 
die  Ehrismann  in  der  Beitr.  20,  60  behandelt  hat:  ags.  dolg,  n. 
•wunde";  davon  abgeleitet  dolgian,  'verwunden';  altfries.  dolg,  dulg 
mittelnd.  dolk,  'wunde,  schmarre'".  bei  Otfrid  ist  dolk  m.  (joh 
tJmrtih  sinan  einan  dolk  wari  al  gihaltan  ther  folk.  m  26,  29), 
doch  ist  auch  das  n.  sicher  bezeugt,  tolg  glossiert  vulnus,  aber 
auch  livor  (Graff  V  4  20);  dann  für  ulcus  fulcus  suo  sponte  nascltur 
tolc.  vulnus  ferro  fit  et  dicitur  mmta.  Steinmeyer-Sievers  I, 
2it5,  8;  dagegen  ulcus,  uunta  349,  40;  354,  7).  Ehrismaun 
nimmt  'schlag'  als  gruudbedeutung  von  dolg;  da  aber  die  begriffe 
w^erfen  und  schlagen  in  der  spräche  sich  nahe  berühren  (vgl.  z.  b. 
schnei fsen,  engl,  to  smite,  schlagen,  treffen,  töten,  schmiss,  schlag, 
wunde),  so  ist  die  auffassung  von  dulgian  =  werfen  damit 
wol   zu  vereinigen. 

'  bezöge  sich  ftecundurn  tnorern  illorum  in  den  Ann.  Laur.  ad  777 
auf  manibus,  so  könnte  man  in  der  stelle  ein  zeugnis  dafür  sehen,  dass 
bei  den  Sachsen  die  blofse  handbewegung  ein  symbol  der  preisgäbe  war, 
während  die  Franken  die  festuca  warfen  (Grimm  RA'  i  192),  die  Wort- 
stellung spricht  freilich  dagegen.  —  in  der  von  Grimm  ebda  170  aus 
Ademar  von  Chabannes  angeführten  stelle  {festucas  inanibus  projicientes) 
steht  manibus  im  sinne  von  e  ma/iibds,  wie  es  in  einem  andern  von 
Grimm  a.a.O.  angeführten  beispiel  halfst :  stipulas  de.etns  in  inanibus 
teßientes,  easque  propriis  e  inanibus  ejicientes.  eine  solche  anwenduug 
ist  aber  in  Ann.  Laur.  ad  777  nicht  möglich. 

-  JGrimm  (Gesch.  d.  d.  spr.  -  433)  benutzt  dobj  zur  erklärung  des 
stammuamens  Dulfiubiai  (Tac.  Germ.  34). 


DULGESE  95 

Bei  der  latinisierung  wurde  iluhjerc  in  der  endung-  an  nilat. 
indulgere  (das  doch  avoI  indnlr/erc  zu  betonen  ist)  ange- 
schlossen, ebenso  wie  in  den  Annal.  Lauriss.  ad  75()  ein  sclireiber 
indulgere  für  dnlgere  eingesetzt  hat,  so  mag  das  öfter  geschehen 
sein,  wo  uns  die  ursprüngliche  fassung  nicht  mehr  erhalten  ist; 
indessen  ist  zu  beachten,  dass  indulgere  im  mittelalter  allmählich 
auch  die  bedeutung  'schenken,  übergeben,  abtreten'  (mit  sinn- 
lichem object)  annimmt,  so  dass  es  sich  mit  dulgere  ganz  nahe 
berührt,  dieser  bewegung  folgt  auch  indulgentia;  das  parti- 
cipium  perf.  indultum,  zunächst  Svoltat.  erlaubnis'  (Archiv  f.  lat. 
lex.  S,  391),  bekommt  den  sinn  von  'abtretung,  Schenkung'  (quo- 
circa  me  quoque  volente  posside  indultum.  Sidon.  Apoll,  epist.  9.  10): 
dieser  Übergang  ist  von  Wendungen  wie  indulgere  beneficia  (so 
öfters  zb.  bei  Cassiodor)  aus  leicht  zu  verstehn;  indulgentia  im 
sinne  von  Schenkung  (freilich  immer  doch  mit  betonung  der  huld) ; 
ut  intulgentia  nostra  maximeat  illos  jjerveniat  qui  suis  viribus pasci 
minime  potueruni.  Cassiod.  var.  10,  27;  accipiat  minus  habens  in 
dulgentiam  principalem.  ib.  12,  27.  einige  beispiele  für  die 
weitere  entwicklung  (vgl.  Bonnet  Le  latin  de  Grog,  de  Tours 
p.  296):  rem  ipsa  volemus  esse  translatuin  adque  indultum  (an 
die  kirche).  Zeumer  Formulae  Merovingici  et  Karolingici  aevi  20, 
H5;  vgl.  44,  9.  107,  22.  112,  8;  quidquid  inibi presenti  tempore  mea 
videtur  esse  possessio,  totum  et  ad  integrum,  a  die  presente  tibi 
volo  esse  concessum  atque  indultum.  147,  6.  vgl.  MG.  Dipl.  i 
44,  5;  .51,  46  u.  ö. ;  confirmatum  atque  indultum  .55,  45.  conser- 
vatum  atque  indultum  75,  10.  indulgere'^  bezeichnet  hier  durchaus 
die  Übertragung  von  eigentum  oder  rechten,  wie  dulgere  in  der  oben 
nach  Ducange  erwähnten  Urkunde,  nur  dass  bei  dulgere  ursprünglich 
die  Vorstellung  der  preisgäbe  betont  ist,  aber  beides,  preisgäbe 
und  Übergabe,  ist  ja  meist  vereinigt,  daher:  necnon  omnem  iusti- 
tiam  et  res  proprietatis,  quantum  Uli  aut  filiis  vel  filiabus  suis 
in  ducato  Baioariorwm  legitime  pertinere  debuerant,  gurpivit 
atque  2^^'oiecit  et,  in  postmodum  omni  Ute  calcanda,  sine  ulla 
repetitione  indulsit.  Capit.  1,74,  9;  gleich  darauf  in  alter  be- 
deutung: et  idcirco  domnus  noster,  misericordia  motus,  praefato 
Tassiloni  gratuitu  animo  et  culpa s  perpetratas  indulsit 
et  gratia  pleniter  concessit. 

'  'ersetzen':  et  ipsi  Magnoaldus  üla  fructa,  hoc  est  cintta  cel  anno- 
nas  aut  je/acs,  quod  exinde  missi  sui  decastaverunt,  ei  indalgire 
debirit.     MG.  Dipl.  i  63,  8. 


96  MEISSNER,  DULGERE 

Auch  aufserhalb  des  westgermanischen  hat  duh/cre  ver- 
wante:  altn.  (hhj,  n.  kämpf,  feindscbaft,  chh/r,  m.  feind,  dylgia, 
f.,  kämpf,  feindschaft  und  got.  dulg  oder  diilgs  in  dulgis  skida  und 
dnJgahaitja.  —  altn.  dolg  und  doJgr  sind  Wörter  der  poetischen 
spräche.  Eilif  Gudninarson  nennt  das  herz  dolgs  akarn,  'eichel 
der  feindschaft'  (Sn.  Edda  I  29G);  aus  kenningar  wie  dolghrandr, 
-limir,  -liös  'schwerf,  dolglid,  'blut'  könnte  man  an  sich  auf  ein 
nordisches  doJg  Svunde'  schliefsen,  doch  ist  doJg  selbst  in  diesem 
sinne  nicht  bezeugt,  und  eine  ganze  gruppe  von  kenningar  ver- 
langen die  bedeutung  'kämpf  für  dolg.  auch  doJgr  *feind"  ist 
zunächst  durchaus  poetisch  uud  erscheint  in  zahlreichen  Verbin- 
dungen, auch  freier  gewendet  wie  in  ofdolgr  Draujmis  nidia 
(Egil  Arinb.  kv.  22),  'goldspender',  Umdolgr.  "feuer.  wie  ßdndi 
wird  auch  dolgr  bezeichnung  des  teufeis.  s^kudolgr  ist  'feind 
durch  Verschuldung'.  —  dolg  und  dolgr  weisen  zunächst  auf 
würklichen  kämpf,  damit  auf  eine  ursprünglich  sinnliche  bedeu- 
tung des  wortstammes,  die  sich  mit  den  westgermanischen  Zeug- 
nissen wol  vereinigen  lässt.  norweg.  dolg,  dolk  bedeutet 
^klumpen'  ('klump,  knude,  tykkere  punkt  paa  traad  eller  i  toi'. 
Aasen  Norsk  ordbog  1081);  hier  wäre  vielleicht  als  ursprüng- 
liche bedeutung  'beule  die  durch  schlag  entstanden  ist'  anzu- 
setzen (anders  Falk-Torp  Etym.  ordbok  unter  dolk  II).  — 

Im  gotischen  sind  zwei  composita  bezeugt,  die  als  ersten 
bestandteil  dulg-  enthalten,  Luc.  7,41:  ticai  dulgis  skulans 
wesun  dulgahaitjin  sumamma  {ovo  yQEtocfei/.ercu  r^oav  öavsiGrf] 
Tivi).  man  hat  mit  rücksicht  auf  die  westgerman.  Zeugnisse 
angenommen,  dass  das  wort  zunächst  'bufse  für  eine  Verwundung' 
bedeutet  habe  (Feist  Etym.  wb.  1909).  eiue  einfachere  er- 
klärung  wird  durch  den  gebrauch  von  dulgere  nahegelegt. 
didgs  oder  dulg  bezeichnet  das  pfand,  das  preisgegeben  werden 
muss,  wenn  die  Verpflichtung  niclit  erfüllt  wird  {manihus  dulc- 
tum  fecerunt).  —  es  würde  nun  zu  prüfen  sein,  in  welchem  Ver- 
hältnis die  germanische  sippe  zu  den  Wörtern  steht,  die  man 
mit  got.  dulgs  zu  vergleichen  pflegt:  altslav.  ■dlUgu  'schuld"; 
cymr.  dleu,  dyleu,  corn.  dylly  'debere';  ir.  dligim  'ich  verdiene'; 
bret.  die  'schuld',  dleout  'Schuldigkeit'  (Bezzenbergers  Beiträge 
16,  243;  Mömoires  de  la  sociöte  de  linguistique  7,  293). 

Königsberg.  Rudolf  Meissner. 


HELDENNAMEN 
IN  MEHRFACHER  LAÜTGESTALT. 

Für  den  meisterschniied  Wieland  hat  mau  die  wgerm. 
namensform  Weland  mit  e-  anzusetzen,  in  den  aisl.  quellen 
heißt  er  Vglunär,  nisl.  Vöhoidur,  und  dies  würde  man  nach  ge- 
wöhnlicher nordischer  lautentwicklung  nur  auf  ein  ^Walund- 
zurückführen,  dazu  stimmt  auch  der  normannische  Walander, 
1 1  jahrh.,  und  der  französische  Galand  (Jiriczek  Deutsche 
heldensagen  i  22 fj.  also  zwei,  nach  ablaut  oder  sonstigem 
lautgesetz  nicht  vereinbare  grundformen,    H  e^  und   Wal-. 

An  dieser  doppelheit  nahm  man  anstols.  man  wollte  sie 
beseitigen,  indem  man  für  aisl.  Vglundr  ein  ^Velundr  einsetzte, 
das  aus  *Wel-iind-  hervorgegangen  wäre  entweder  durch  com- 
binierten  labialumlaut  (vgl.  -fradr  <  *-freJ)uR,  systur  <  *swysttir 
<  *sivistur)  oder  durch  würkung  des  -l-  (vgl.  halzti  <  helzti, 
Holgi  <:  Helgi). 

Die  beobachtung,  dass  unser  name  in  dem  eddischen  Wie- 
landsliede  mehrmals  als  -^  :i-  gemessen  wird,  vermag  jedoch  dieses 
^'Yelundf  nicht  zu  stützen,  sagt  überhaupt  von  dem  vocal  der 
ersten  silbe  gar  nichts  aus.  denn  ein  Vqlundr  konnte  die  be- 
tonung  und  Silbentrennung  eines  compositums  haben:  Vgl-undr; 
dann  war  es  =  -^  a.  ebenso  wird  öfter  der  nauie  Sig-iirdr  ge- 
messen, vgl.  ok  liiQr-imdud  Sg.  sk.  48,  3;  at  ban-or&i  Hild. 
1,  4.  auch  auf  simplicia  wie  un-andi  Sg.  sk.  16,  5,  kon-ungum 
Gu.  II  34,  2,  kon-wigi  Vik.  9,  10,  kon-ungar  Mann.  14,  3.  19,  7, 
veg-gudum  Gu.  ii  4,  8,  sce-ingu  Gu.  i  20,  2  ist  diese  Silbentrennung 
angewandt  worden  und  damit  die  rhythmisierung  ^  ^^^  hier  war 
es  gewis  nur  dichterische  licenz,  wie  es  sich  auch  auf  jüngere 
gedichte  beschränkt. 

Eine  entwicklung  *  Welund-  >  *  Velund-  >  Vglund-  kann  zwar 
nicht  widerlegt  werden,  da  genau  dieselbe  lautreihe  im  nordischen 
nicht  widerkehrt  und  aufserdem  bei  einem  lehnworte  mit  be- 
sonderen Schicksalen  zu  rechnen  wäre  (in  erbwörtern  wäre  v»- 
zu  e-  geworden),  aber  mehr  als  ein  postulat  ist  ^Vulundr  jedes- 
falls  nicht. 

Einen  andern  Vorschlag,  Vplundr  und  Weland  zu  vereinigen, 
machte  Brate  Zs.  f.  deutsche  Wortforschung  10,  173  ff.  auch  er 
Z,  F.  D.  A.  LH.  X.  F.     XL.  T 


98  HEüSLFR 

folgert  irrigerweise  aus  jener  raetrisclien  messung  von  Vglundr 
die  vocalläuge  in  der  ersten  silbe.  und  zwar  vermutet  Brate 
ein  *V^l-  <.*Wäl-.  dieses  *Wal-  glaubt  er  mit  wgerm.  Wel- 
zusammenbringen  zu  können  —  auf  einem  wege,  der  durch 
analogieen  nicht  genügend  befestigt  ist,  denn  für  nord.  ä  gegen 
wgerm.  e-  bringt  er  nur  die  zwei  gleichnngen  bei:  an.  landa- 
mceri  'grenze' :  ahd.  gi-mierit  'ans  land  gekommen"  und  an.  kväda 
'harz' :  ahd.  ken,  klen :  der  erste  fall  aus  begrifflichem,  der  zweite 
aus  lautlichem  gründe  zu  bezweifeln,  die  grundform  Wel-  soll 
dann  weiterhin  die  Vorstufe  von  got.  K-aiJa  (wg.  icela,  ivel,  nord. 
vel)  sein,  und  der  gesamtuame,  das  compositum  *Wela-handuz, 
wäre  schliefslich  eine  gotische  Übersetzung  des  griechischen  sv%siq, 
das  bei  Sophokles  ein  beiwort  des  andern  meisterschmiedes,  Dai- 
dalos,  ist.  hierüber  wäre  ja  das  eine  und  andre  zu  sagen  I  auch 
wer  einem  zusammenhange  zwischen  der  Daidalos-  und  der  Wie- 
landsage  geneigt  ist,  wird  doch  nicht  gern  annehmen,  dass  die 
classische  tragüdie  den  unmittelbaren  Zwischenträger  bildete; 
noch  weniger,  dass  der  germanische  dichter  einer  heldensage 
ein  gelegentliches  epitheton  ornans  seiner  hohen  quelle  exact  auf- 
tieng  und  dem  wahren  eigenuamen  unterschob,  dass  aber  ein 
wort  wie  svyjiQ  in  der  schlichten  griechischen  erzählsprache  der 
Völkerwanderungszeit  als  beiname  des  Daidalos  üblich  gewesen 
wäre,  ist  wol  ausgeschlossen. 

Doch  ich  will  hier  nicht  nach  dem  Ursprung  des  Wieland- 
namens  forschen:  das  vorgebrachte  sollte  nur  zeigen,  welche  an- 
strengungen  man  machte,  um  eine  von  unsern  quellen  dargebotene 
lautliche  doublette  auf  regelrecht  sprachgeschichtlichem,  'laut- 
gesetzlichem' wege  zu  ihrem  einheitlichen  ausgangspuncte  zurück- 
zuführen, das  folgende  Verzeichnis  doppelter,  drei-  und  vierfacher 
namensformen  aus  der  germanischen  heldensage,  das  dem  kenner 
keine  Überraschungen  bringt,  erweist  sich  vielleicht  nützlich,  in- 
dem es  vor  äugen  stellt,  in  wie  zahlreichen  fällen  heroische  namen 
lautgesetzwidrig  vertreten  sind,  niemand  denkt  daran,  ae.  Wiht- 
Iceg  und  adän.  Viglek,  ae.  Hlidfe  und  aisl.  Hlgdfr,  ae.  Heorrenda  und 
mhd.  Hörant  als  lautliche  gegenwerte  zu  retten,  im  blick  auf 
diese  lange  reihe  wird  man  sich  auch  eher  dazu  verstehn,  bei 
der  doppelheit  Weland:  *Wahind  eine  Spaltung,  eine  entgleisung 
anzunehmen,  die  nicht  unter  die  paragraphen  der  germanischen 
lautgeschichte  fällt. 


HELDENNAMEN  IN  MEHRFACHER  LAÜTGESTALT    9!» 

Ich  beschränke  mich  auf  personell-  und  dynastieennamen; 
die  Ortsnamen  der  heldensage  würden  sehr  geringe  ausbeute  ge- 
währen, bloße  Schreibfehler  oder  misverständnisse  des  einzelnen 
Verfassers  sind  nach  möglichkeit  ausgeschieden,  im  besonderu  die 
vielen  abweichenden  Schreibungen  bei  Saxo  und  in  der  [jidreks- 
saga,  auch  eine  subjectiv  Saxonische  gleichung  wie  'Gotricus 
qui  et  Godefridus  est  appellatus'  (s.  435).  die  Ordnung  ist  alpha- 
betisch, vorangestellt  ist  die  namensform,  die  in  der  ältesten 
quelle  begegnet  oder  aus  Innern  gründen  als  die  ursprünglichere 
vermutet  wird,  genauere  angaben  über  das  vorkommen  der 
einzelnen  formen  waren  für  unsere  zwecke  entbehrlich;  näheres 
findet  man  bei  den  citierten  forschern.  Müllenhoff  ZE.  meint 
die  Zeugnisse  und  excurse  in  dieser  Zschr.  band  12.  priv.  be- 
deutet: nur  als  privatname,  in  keinem  sagendenkmal  belegt. 

1)  got.  Attüa,  ae.  priv.  Eila  (Liber  vitae),  mhd.  Etzel  — 
ae.  Mtla  (Wids.,  Waldere),  an.  Attl.  vgl.  Symons  Grundr. 
in-!  700. 

2)  ae.  Bt'aw  Stammtafel,  n.  1.,  an.  Binr,  Biör  Biarkarimur 
s.  113.  118  (vgl.  paare  wie  sidr:  siör,  mar:  mör)  —  ae.  Beö/ca 
stammt.,  n.  1.  —  Beon-ulf:  falls  mit  jenen  zu  verbinden,  zuletzt 
darüber  Lawrence  Publ.  of  the  Mod.  lang,  assoc.  24,  245  ff; 
Panzer  Beowulf  s.  395  ff. 

3)  ae.  Becca  Wids.  19.  115  —  an.  ßikki  Edän  u.  ö.,  Bicco 
Saxo. 

4)  ae.  priv.  Bkedia  Liber  vitae  (Priscus  ß/.i]dc(c)  —  mhd. 
Bl(£del{in). 

5)  an.  BuMi,  Atlis  vater  —  mhd.  Botelunc. 

6)  ae.  Eadfjils,  der  Schwedenkönig,  Beowulf  —  an.  Adils 
Ynglingatal  u.  ö.,  Äthislus  Lejrechronik,  Saxo.  vgl.  Noreen  Up- 
salastudier  s.  195;  Levander  Antikv.  Tidskrift  för  Sverige 
18,  3,   1. 

7)  an.  Egill,  der  meisterschütze,  Strophen  des  Eyvind  skäl- 
dasp.  und  Hallfred,  Vkv.  u.  ö.,  ahd.  priv.  Egil  —  ahd.  priv.  Ei- 
gll.  Ae.  ^(jili  auf  dem  runenkästchen  kann  <  *A:;il-  oder 
*Ai^il-.     vgl.  von  Grienberger,  Anglia   1904  s.  444. 

8)  ae.  Emerca,  der  Harlung,  Wids.  113,  Embrica  Quedl. 
ann.,  ahd.  priv.  Ambricho,  Emricho  —  Imbrecke  Biterolf.  vgl. 
Kögel  Litgesch.  n  214. 


100  HEUSLER 

9)  got.  Ermanarints,  ae.  Eormanric.  mhd.  Ennennch  — 
an.  I^rmun-rekkr :  die  kurzverse  Igrnmnrekki  Hamct.  19,  2. 
Ghv.  5,  6  erheischen  länge  der  pänultima;  aber  in  dem  alten 
Hani(^iliede  lautete  es  gewiß  einst  -riki. 

10)  ae.  Frrkla,  an.  Froffi.  mhd.  Fruofe  —  mhd.  Fruot,  gen. 
-es.     vgl.  Haupt  Engelhard  s.  xf. 

11)  Godomaris  Lex  Burg.  —  an.  Gofhonnr  <:*God-J)ormr 
( —    mhd.    Ger  not). 

12)  an.  Grimhüdr,  hd.  seit  8  jahrh.  priv.  Grtmhild  —  hd. 
seit  8  jahrh.  Crem-,  ChriemhiU  —  auch  hd.  C(h)rimhiJt  und 
mit  kürze  Grim-,  Krim-,  vgl.  MüUenhoff  DAk.  iv  676  note, 
Bohnenberger  Beitr.  24,  221  ff,  Schütte  Arkiv  24,  3. 

13)  fries.  oder  sächs.  Gudrun  —  hd.  seit  10  jahrh.  Küdrün, 
CMdrün.     MüUenhoff  ZE.  nr  19. 

14)  ahd.  Hadubrant  —  J3S.  Alibrandr,  jung.  Hildebrands- 
lied Alebrant.     vgl.  MüUenhoff  ZE.  nr  26. 

15)  Hammius,  Jordanes  Ammius,  ahd.  priv.  Hammi,  Hemmi, 
ae.  priv.  Hemmi  —  an.  Hamcfir  <  *IIama-pewaR,  ahd.  priv. 
Hamadeo  —  Hemidus  Quedl.  ann.  —  ahd.  Hamidiech  Eckehart 
von  Aura,  priv.  Hamadeoch  uä.     vgl.  Kögel  Litgsch.  n  2 1  8. 

16)  mhd.  Hartnit  von  Riuzen,  ]is.  Hertmd  in  RolrngSirdf  — 
mhd.  Ortnif,  kaiser  in  Garte,  vgl.  MüUenhoff  ZE.  nr  24,  Vo- 
retzsch  Epische  Studien  i  339  f. 

17)  ae.  Headoric  Wids.  116  —  an.  Hei&rekr  in  der  Her- 
varar  saga.  vgl.  Binz  Beitr.  20,  207 f,  Much  Zs.  46,  315, 
Schütte  Arkiv  21,  37.  41.  44. 

18)  ae.  Heoden,  an.  Hedinn  {<* Hedann  wie  Odinn<''W(j- 
dann),  ahd.  priv.  Hetan  fauch  Hetin)  —  mhd.  Hetele.  vgl. 
Schatz  Zs.  50,  341  ff,  Baesecke    Der  Münchener  Oswald   s.  284. 

19)  ae.  Heodeningas  Deors  Klage  36.  au.  Hiadningar  — 
mhd.  Hegelinge.     vgl.  Martin  Kudrun^  s.  lvi. 

20.  ae.  Heremöd  Beowulf  —  aisl.  Armö&r  {Ar-  ?)  Fiat,  i 
354,  Fas.  m  406.     vgl.  SBugge  Beitr.  12,  44. 

21)  an.  Herkia  Gu.  in,  mhd.  Herche  Rosengarten  (Priscus 
KQsy.a)  —  t»s.  Erka  —  mhd.  Helche.  vgl.  Holz  Roseng. 
s.  CXI. 

22)  ahd.  priv.  Herrant,  ae.  Heorrenda  Deors  klage,  an. 
Hiarrandi  —  Hörant  Kudrun.  [Hiarno  bei  Saxo  s.  258,  falls 
hierher  gehörig,  kann  wol    lautliche   fortsetzung  von  Hiarrandi 


HELDENNAMEN  IN  MEHRFACHER  LAUTGESTALT  101 

sein.)  vgl.  Kögel  Litgesch.  i  169f,  Panzer  Hilde -Gudrun 
s.  309  f. 

23)  Hiorvardr  Yltingr  Ynglinga  saga  c.  37  —  Hervardr 
Ylfingr  Fas.  i  375.  vgl.  SBngge  Home  of  the  eddic  poems 
s.   142. 

24)  ae.  Hlide    Wids.   116  {<^*Hhjde,  für  fränk.   Chlodio?) 

—  an.  HlQ&y  Hunnenschlacht.  vgl.  Heinzel  Hervararsaga 
s.  50  ff.   77. 

25)  ahd.  priv.  Hludowlg  —  an.  Hlgdver  Vkv.,  Gu.  u  (ein 
Zusammenhang  mit  dem  Franken  Chlodowech  braucht  nicht  zu 
bestehu).     vgl.  Müllenhoff  Zs.  23,   167. 

26)  ae.  Hnedas,  dichterischer  name  der  Goten,  Wids.  120 
an.  Hreidgotar   Vafpr.   12,   vgl.  aschwed.  Hraip-marR  Rokstein 

—  ae.  Hrtdyotan  Wids.  57,  Elene  20,  Hrddia  Jiere  Elene  58  — 
an.  Reidgotar  Herv.  s.,  SnE.,  Yngl.  s.  vgl.  Müllenhoff  ZE.  ur  4, 
Heinzel  Ostgotische  Heldensage  s.  2 6  ff. 

27)  ae.  In(c)genpeoic  Wids.  116,  entstellt  aus  Ongenpeow 
*Änganpewa  i?  s.  u.  nr  31  —  an.  AnganUjr,  der  gotische  sieger 
in  der  Hunnenschlacht,  vgl.  Heinzel  Hervararsaga  s.  80  f,  Much 
Zs.  46,  314. 

2S)  Xauäungr  ])s.  c.  369.  370  —  mhd.  Xuodunc  Nl.,  Alph.7 
Dietrichs  Flucht.  Rabenschlacht. 

29)  mhd.  Xibelungfe),  ahd.  priv.  Xihelung  —  an.  Knifiungar 
Ghv.  12,6  (der -ff-anlaut  durch  den  stab  erwiesen),  vgl.  HHu.  i 
48,   10;  Hniflungr.  Hognis  Sohn,  Am.  8S,  5. 

30)  an.  Xi&udr  Ykv.  <  *Xip-JiaJju-  —  ae.  Xidhäd:  Wald. 
B.  8  der  kurzvers  XWhädes  mmj,  D.kl.  Xidhäd  —  Jjs.  Nldwigr. 
vgl.  Kluge  Engl.  stud.  21,  44^. 

31)  ae.  Ongenpeow,  Schwedenkönig,  W'ids.  31,  Beowulf  (laut- 
lich =  ^n^antZeo,  Dänenfürst  bei  Einhard  ad  a.  811,  vgl.  Anga- 
theiis  Lex  Burg.)  —  an.  fehlt  der  entsprechende  name  '*Angan- 
pe'r,  dafür  in  mehreren,  auch  schwedischen  sagen  Angantijr.  vgl. 
0.  nr  27. 

32)  |)S.  Osanctrix,  latinisiertes  nd.  Osrik  (Osantrlk  ?)  — 
mhd.  Oserich  Biterolf  1962  und  bair.  urk.  12  jahrh.  vgl. 
MüUenhoff  Zs.  10,  171  f,  DAk.  iv  668;  Laistner  Zs.  38.  133, 
Schatz  Zs.  43,  39 f. 

33)  Sarus  Jordanes  —  an.  Sp-li  <.*Sarulo,  as.  priv.  Sa- 
rulo,  ahd.  priv.   Sarah,  Eckeh.  v.  Aura  Sarelo  —  Serila  QuedJ. 


102  HEÜSLER 

ann..  laugob,  priv.  Sarilo  —  ahd,  priv.  Saraleoz  (Urk.  786  neben 
Suanailta).     vgl.  Kög-el  Litgesch.  ii  217. 

34)  ae.  Seafola  Wids.  115,  ahd.  priv.  Sahulo  —  rahd.  Sa- 
hene.     vgl.  MüUenhoff  Zs.  6,  459. 

35)  mhd.  Sigestap,  ahd.  priv.  Sigistab  —  Sigestaj)ims  rhein. 
Ulk.  1191  (hd.  *-staph),  schwed.  Jjs.  Segistop.  vgl.  Müllenhoff 
ZE.  nr  26. 

36^  hd.  Sigifriä  (seit  7  jahrh.),  Slvrit,  ae.  priv.  Slg{e)fre9, 
-ferd  —  an.  Sigurdr  <  *Sigvgrdr  statt  SigrBdr  <  *frepuli  — 
Säufritz  in  der  unterfränkischen  volkssage.  vgl.  Müllenhoff 
ZE,  nr  32,  Sievers  Arkiv  v  195  f. 

37)  ahd.  priv.  SintarvizziJo  —  an.  Sinfigtli,  <  *&'»-  oder 
*Sindr-fetulo  (in  erb  Wörtern  wäre  sin-  vor  /'  zu  s(-  geworden) 
—  ae.  Fitela  Beowulf,  ahd.  priv.  Fizzilo.  vgl.  Müllenhoff  ZE. 
nr  14,  Kugel  Litgesch.  i   173,  Weyhe  Beitr.  30,  97  f. 

38)  an.  Siarkadr,  Stgrkudr  —  ahd.  priv.  Starchant  — 
mhd.  StarMn  Dietr.  fl.,  Rab.  vgl.  Müllenhoff  ZE.  nr  23.  der 
Zusammenhang  des  nordischen  namens  mit  den  deutschen  ist  frag- 
würdig. SBugge  deutete  Starkadr  als  *Stark}iapu-  (Home  of 
the  eddic  poems  s.  165  ff),  zur  zeit  unsrer  quellen  wurde  es 
sicher  als  einfaches  nom.  ag.  empfunden. 

39)  Stuotfuhs  Biterolf  —  Stütfuhs  Dietr.  fl.,  Rab.,  Stüden- 
vtihs  Alph.,  Roseng.  A.  vgl.  Müllenhoff  ZE.  nr  44,  Holz  Roseng. 
s.  cv, 

40)  ae.  Wcels  Beowulf  898  —  an.  Vglsungr  als  name  von 
Sigmunds  vater  {Wcelsing  Beowulf  878,  ahd.  priv.  WeJisung 
u.   Wellsing).  vgl.  Müllenhoff  ZE.  nr  10. 

41)  ae.  W(ermund,  vater  Offas,  stammt,  und  priv.,  Ydr- 
mundr  enn  vitri  im  Langfe^atal  AM.  22  a  fol.  —  aisl.  Ver- 
mundr  enn  vitri  Hauksb.  s.  504,  Fiat,  i  27,  Vermundus  Sven 
Agesen,  Saxo,  Arngrim  ( —  Vt'mundr  enn  vitri  Fiat,  i  27  unt. 
ist  wol  nur  schreiberversehen)  —  Gdrnmnd  Beovfuli  1963.  vgl. 
Müllenhoff  Beowulf  s.  72.  81,  Olrik  Arkiv  8,  369  f.  Kögel  Lit. 
I,   159  f. 

42)  ae.  Weland,  ad.  Wieland,  —  an.  Vglundr  <C*Walund-, 
norm.   Walander,    afrz.    Galand ,   s.  o.  s.  97. 

43)  got.  Widigoia  Jordanes,  ahd.  priv.  TT7//-.  Wita-,  Witu- 
gouuo,   mhd.    Witegouive   Rab.,   Dietr,   fl..   vorw.  z.  Hb.  (unter- 


HELDENNAMEN  IN  MEHRFACHER  LAUTGESTALT  103 

schieden  von  Witege)  —  mhJ.  Witege  —  ae.  Widia  "Waldere  — 
ae.    }Vudga  Wids.     vgl.  ]\Iüllenhoff  ZE.  ur  3. 

44)  ae.  Wihiheg^  vater  AV?ernninds,  stamnit.  —  adän.  Viq- 
lek  (entstellt  zu  Vlgletus,  Vifhlek  u.  a.).  vgl.  Müllenhoff  Beowulf 
s.  71f.  81. 

Man  sieht,  die  meisten  sagen  stellen  ihren  beitrag  zu 
der  liste,  es  handelt  sich  bei  diesen  abweichungen  imi  sehr  un- 
gleichartige Vorgänge,  zunächst  kann  man  die  äußerliche  Unter- 
scheidung vornehmen: 

die  Verschiebung  betriöt  das  suftix:  nrr  5.  10.  18.  33.  34. 
37  (-fetulo:  -fitilo).  40; 

sie  betrifft  einen  wurzelhaften  teil,  und  zwar: 

ein  Simplex:  nrr  3.  7.  8.  21.  22.  24.  2S.  29.  43  {WüUa: 
Wudga) ; 

(Wurzel  +  suflix  weichen  ab:  nrr  2.  4.   19); 

das  erste  glied  eines  compositums:  nrr  G.  12.  J  3.  14.  16.  17 
20.   23.  26.  32.  39.  41.  42: 

das  zweite  glied  eines  compositums:  nrr  9.  11.  15  {-diech). 
30.  31.  35.  36.  38; 

beide  glieder  eines  compositums:  nrr  25,  27.  36  {Säu- 
fritz).    44; 

ein  Simplex  steht  einem  compositum  gegenüber:  nrr  2.  15. 
30.  {XWungr).  33  {Saraleoz).     37.  3S.  43. 

Ferner  kann  man  fragen,  ob  die  entgleisung  bloXs  lautlicher 
art  ist  oder  ob  eine  begriffliche  umdeutung,  ein  lexikalischer  oder 
morphologischer  austausch  mitspielt,  von  eigentlicher  Volksety- 
mologie kann  nur  selten  die  rede  sein:  nr  22  Hörant  zu  hoeren^, 
nr  26  ae.  Hre'ögotan  'die  ruhmreichen',  an.  Reidgotar  zu  rei9 
'ritt'  (oder  'wagen')?  nr  36  Säufritz,  dass  nr  12  Kriemhilt 
auf  krimmen  anspiele,  ist  unglaubhaft,  und  bei  nr  4  Bioedel  wird 
die  anknüpfung  an  hlosde  durch  die  epische  rolle  nicht  gerecht- 
fertigt, sofern  man  Atli  verband  mit  atall  'ferox'  (H.  Hi^rv.  15)^ 
adän.  B.oe  (==  ae.  Hrödgär)  mit  ro  'ruhe',  hat  dies  doch  nicht 
die  lautgestalt  der  naraen  hervorgerufen. 

Dagegen  ist  es  allerdings  das  häufigere,  dass  entweder  mit 
der  lautäuderung  eine  neue,  der  betr.  spräche  vertraute  vocabel 
siel)  einstellt: 

z.  b.  nr  24  HU^dr  kommt  als  appellativum  vor.  'prostrator'. 
ur  19    Hegelinge  lehnt  sich  an  einen  Ortsnamen  an;  nr  36   ''Sig- 


104  HEUSLER 

vgrd^r  setzt  ein  neues,  bekannteres  namenwort  ein;  nr  42  '^Val- 
undr  hat  mehrere  n.  pr.  mit  Val-  zur  seite  (Valhigrn,  -  hrandr,  - 
als,  -  fjardr,  -  (jatitr,  -  gerör,  -  Jnöfr,  vgl.  valfg^r);  nr  44  It'gh'k 
frischt  seine  beiden  bestaudteile  auf,  usw.  — 

oder  dass  die  doppelformen  auf  zwei  grammatische  kategorieen 
entfallen :  schwacher  stamm  neben  starkem  nr  10;  ableitung  neben 
grundwort  nrr  4.  33,  imbesondern  patronj'mikon  für  den  ein- 
fachen namen:  nrr  5.  40  (vgl.  Berhter  Eother:  Berhtung  Wolf- 
dietrich); Simplex  neben  compositum  s.  o. 

Eein  lautliche,  mechanische  ausweichuug  bleibt  dann  in  fol- 
genden K;  fällen:  nrr  1.  3.  4.  7.  8.  12.  13.  18.  21.  17  [Ingen-). 
28.  29.  32.  34.  37   (im  suffixi.  43  (Widia). 

Endlich  kann  man  noch  eine  Unterscheidung  vornelimen. 
wenn  älteres  Hrced-  zu  jüngerem  KreS-gotan  wurde,  Herrant  zu 
Rörant,  Herche  zu  HelcJie;  wenn  man  Vglsungr  statt  *Vgls(i) 
einsetzte,  Hegelinge  statt  *Hetelmge,  Angantyr  statt  ^\higanper 
usw.,  so  sind  dies  Vorgänge,  die  mit  der  Wanderung  aus  einer 
mundart  in  die  andere  nicht  zusammenhängen;  die  z.  t.  nach- 
weislich innerhalb  eines  Sprachgebietes  eingetreten  sind,  von  dieser 
art  ist  die  mehrheit  unsrer  doppelformen,  wenn  dagegen  *God- 
marr  durch  *  God^pormr  ersetzt  wurde,  Sigfrßdr  durch  Sigvgrdr, 
ae.  Wihtlceg  (an.  *Vetttagr\)  durch  adän.  Vlglekr,  so  hat  sich 
der  name  lexikalisch  dem  neuen  dialekte  angepaßt;  die  sprach- 
liche änderung  wäre  oder  ist  innerhalb  der  heimischen  tradition 
unterblieben,  hierher  wol  noch  nrr  24.  25.  42;  auch  nr  0,  wo- 
fern Eadgils  erst  angleichung  an  die  beliebten  engl.  ^fl/Z-namen 
ist  (die  einsetzung  von  nord.  Ad[al-  für  ^4?/^- wäre  schwerer  be- 
greiflich), auch  in  nr  17  kann  man  an  die  priorität  der  nord. 
form  denken;  jedenfalls  war  an.  Heid-  kein  übliches  erstes  namens- 
glied,  während  '*Hapu-  vorkam  in  Hgdhroddr,  vielleicht  auch  in 
Hglfr,  Hgvardr,  Hgvarr,  Hgrekr,  Hgmundr. 

Dazu  treten  die  acht  fälle,  wo  die  Verpflanzung  in  eine 
andre  spräche  zu  einer  rein  lautlichen  Störung,  einer  'unorgani- 
schen' form  geführt  hat.  nr  1  Attila  muste  bei  interner  eut- 
wicklung  ae.  Etla,  an.  *Etli,  ergeben:  die  formen  ^Etla,  AfU 
setzen  eine  Vorstufe  voraus,  die  das  -i-  nach  der  langen  Wurzel- 
silbe umlautslos  verloren  hatte,  also  wohl  ein  nd.  *Atlo.  nr  28 
Nuodunc,  statt  *Xdtunc.  hat  ein  nd.  Xödung  falsch  verhocli- 
deutscht,     nr  32    üsench  hat  die   Umsetzung  des  nd.  ös-  in  hd. 


HELDENNAMEN  IN  MEHEF ACHER  LAUTGESTALT  105 

uas-  unterlassen,  nr  41  an.  YermiuuJr  setzt  das  •li'-  von  ae. 
Wännund  als  -e-  fort  (wie  in  derselben  Uffosag-e  der  schwertname 
Skrep  auf  ae.  *Scrcep  fußt);  denn  dieses  erste  namensglied  ist 
das  fem.  alid.  wura,  ae.  tcm-,  an.  var  'gelübde.  treue",  wo  ein  i- 
umlaut  nicht  in  rechnung'  kommt,  nr  43  Widia  scheint  ein 
mechanisch  übernommenes  *  TT'ü?<3:o  (während  Wudga  lautgesetzlich 
<.*Widngo  oder  angleichung  an  ae.  tvudu).  nr  30  Nldhäd  hat 
ein  nd.  -had  an  ae.  häd  statt  an  hceä  angelehnt  (vgl.  die  n.  pr. 
Beorn-,  Beorht-,  Ead-hceff  u.  aa.).  schliefslich  noch  die  beiden 
vielgenannten  nr  12  Kriemlidd  und  13  Kudrun.  während  Kud- 
den  vocal  der  nd.-fries.  grundform  mechanisch  beibehält,  ist 
das  e  >  ie  oder  i  in  Kriemhild  ein  auffallender  ersatz  von  -l- ; 
man  hat  die  dreiheit  Frls-,  Fr  es-,  Ins-  verglichen,  der  beiden 
namen  gemeinsame  wandel  von  g  >  ch,  k  könnte  auf  zwei  ent- 
gegengesetzte arten  erklärt  werden,  die  empfangende  mundart, 
die  anl.  g  als  verschlusslaut  sprach,  suchte  den  (stimmhaften) 
reibelaut  ;:  der  gebenden  mundart  durch  ihr  stimmloses  ch  nach- 
nachzuahmen ;  für  dieses  ch-  konnte  dann  auch  das  etymologisch 
gleichwertige  Ä-  eintreten,  oder  aber  die  gebende  mundart  sprach 
anl.  verschluss-^,  die  empfangende,  der  das  reibelaut-^  geläutig 
war,  bildete  jenen  fremdklingenden  anlaut  durch  die  fortis  k- 
nach,  wofür  auch  das  gleichwertige  ch-  eintreten  konnte,  die 
erste  dieser  erklärungen  verdient  hier  den  Vorzug-  (gegen  Boer 
Nibelungensage  n  108),  da  die  ausbreitung  der  beiden  sagen- 
stoffe  im  grofsen  und  ganzen  in  nord-südlicher  richtung  geschah, 
von  friesischen,  niedersächsischen,  nieder-  und  mittelfränkischen 
gegenden  nach  hochdeutschen,  dass  der  blofse  unterschied 
stimmhafter  und  stimmloser  lenis  g-  die  entgleisung  zu  k-,  ch- 
herbeiführen  konnte,  ist  undenkbar  (vgl.  Bohnenberger  aao.): 
eine  mundart  mit  stimmhaften  g  d  h  gibt  die  stimmlosen  g  d  h 
des  nachbars  eben  durch  ihre  g  d  b  wider,  und  doch  nicht  dui-ch 
die  weitabliegenden  aspiraten  oder  affricatenl  auch  eine  sprach- 
form mit  ungehauchter  fortis  k-  für  g-  im  satzanlaut  (Schatz 
Altbair.  gramra.  §  70)  würde  das  g-  des  nachbars  nicht  mit  dem 
gehauchten  Ä-  bezw.  ch-  zusammenwerfen.  Schuttes  gedanke, 
die  form  Kriem-hild  sei  die  ältere,  der  name  sei  aus  KQev.a  und 
Hildikö  addiert,  hat  die  tatsache  gegen  sich,  dass  Kq€7m  in  der 
germ.  heldendichtung  nur  mit  anl.  h-.  nicht  mit  k-  weiterlebt: 
0.  nr  21.     man  müsste    dann  schon  zu  der  annähme  greifen,  die 


106  HEÜSLER 

Franken,  die  scliöpfer  der  Kriemhildgestalt,  hätten  den  namen  von 
Attilas  hauptgeniahlin  in  anderer  lantform  gehört  als  die  Ostgoten, 
bei  denen  er  als  Ilerkia-Herche  weiterlebte. 

In  den  meisten  der  zuletzt  besprochenen  acht  fälle  kann 
man  von  einem  misverstehn  der  lautform  reden:  die  aufnehmende 
mundart  besafs  zwar  das  sprachmaterial,  dem  sich  der  entlehnte 
heldenname  formal  anpassen  konnte  (man  kannte  namen  oder  doch 
appellativa  mit  not-,  gnnd-,  fjrtm-  usw.);  aber  die  sprachliche 
Zugehörigkeit  des  namens  wurde  nicht  durchschaut,  ähnliche 
misverständnisse  begegnen  bei  geschichtlichen  eigennamen. 
so  haben  die  Norweger-Isländer  der  wikingzeit  zwar  die  engl, 
namensglieder  cedfel,  ned,  geh-,  stav,  iveard  etymologisch  richtig 
empfunden  und  durch  ihre  nordischen  gegenwerte  adal,  radr 
geirr,  steinn.  vanJr  widergegeben,  bei  dem  engl,  ead-  dagegen 
versagte  ihr  Sprachgefühl;  sie  ersetzten  es  nicht  durch  ihr  autJ-, 
sondern  mechanisch  durch  eadf-  oder  eat-  oder  iat-:  latgeirr, 
-mundr,  -vardr.  der  Engländer  Eadric  streona  (anf.  1 1  jahrh.) 
erscheint  in  den  isl.  sagas  als  HeWrekr  oder  Heinrekr  sfriöna. 
das  ae.  ^^Ifgifu  nahm  man  als  Älfifa,  statt  ^'Alf-gir^f.  auf.  die 
nordischen  namen  auf  -piöfr  erklärte  SBugge  aus  umdeutung 
des  engl,  -peow  (Arkiv  6,  225).  sieh  ferner  aus  dem  namen- 
schatz  der  Heimskringla:  Apal-hrikt  statt  -hiartr,  Baldvini  statt 
-vinr,  Emiindr  (schwed.)  statt  JEy-,  Gonnr  (dän.)  statt  Gothormr; 
GiiUini  JJlfnadrs  son  für  ae.  Godwine  Widfnöds  siinu.  Lözartiis 
(Lothar)  statt  *Hlodarr,  Maktüdr  statt  *  Mdfthüdr,  Ötta  (Otto) 
statt  Auffi,  Reinaldr  statt  Rggnvaldr,  Rödhert  statt  *  Hrödhiartr, 
Rodgeirr  statt  Hrö&-,  panghrandr  statt  *  ßakk-,  pyri  (dän.)  statt 
pöra.  noch  zahlreicher  sind  die  in  englischer  widergabe  ent- 
gleisten nordischen  namen,  worüber  jetzt  Köpkes  dissertation 
handelt,  auffällig  sind  die  misgriffe  bei  den  isl.  literaten  des 
13  jahrhs,  die  ohne  eine  stützende  volkstümliche  tradition  zu 
den  namen  der  ae.  Stammtafeln  nordische  gegenstücke  aufsuchten: 
Freodegär,  er  ver  kgllum  Fröffa;  Getvis,  er  vir  kgllum  Gave  u.dgl. 
(verf.,  abh.  der  berl.  ak.  1908  s.  68  ff),  auch  Snorri.  Heims- 
kringla I  20,  hält  AuJon  für  eine  ableitung  von   Odinn. 

Anders  lag  es  bei  den  slavischen,  keltischen,  lappischen, 
romanischen  und  hebräischen  namen,  bei  denen  die  möglichkeit 
einer  sprachrichtigen  acclimatisierung  von  vornherein  wegtiel. 
hier  ist  das  streben   nach    lautähnlicher   copie    die    entschiedene 


HELDENNAMEN  IN  MEHRFACHER  LAUTGESTALT  107 

regel  doch  fehlt  es  nicht  ganz  an  volksetymologischer  oder 
nur  lautlicher  angleichung  an  heimische  vvortbilder  (z  b.  EUi-sif 
für  EUsaheth,  Vissi-vnJclr  für  russ.  Vsevolod).  so  wie  die 
gelehrt  getauften  zwillingsgipfel  der  Monterosakette,  Kastor  und 
Pollnx,  im  munde  der  Zermatter  als  Kaspar  und  Pollux  erscheinen. 
Berlin,  märz  1910.  Andreas  Hcuslor. 


DER  ANFANG  UND  DER  SCHLUSS 
VON  BONERS  EDELSITJN. 

Boner  hat  die  vorrede  zu  seinem  Edelstein  ^von  dem  an- 
vange  diss  hiioclies',  wenigstens  v.  30  —  53  und  64 — 76,  erst 
verfasst,  als  das  buch  fertig  war,  wie  er  selbst  sagt  v.  41  ich 
hab  mange  bzschaff  gemacht  .  .  .  ze  tiutsch  .  .  .  von  lat/ne,  als 
ich  ez  vanf  geschriben.  auch  v.  64 — 66  diz  büechlin  mag  der 
edelstein  wol  heizen,  icand  ez  in  im  treit  bischaft  manger  kliiog- 
keit  usw.,  und  besonders  noch  v.  74  als  wol  hie  nach  geschriben 
stät  setzen  die  Vollendung  des  werkes  voraus,  die  abfassung 
der  einleitung  fiele  somit  zeitlich  mit  der  des  nachwortes  'von 
dem  ende  diss  buoches'  zusammen,  das  zuletzt  gedichtet  wurde: 
V.  9  hundert  bischaft  hab  ich  geleit  an  diz  buoch.  damit  wäre 
durch  Boners  eigne  w^orte  Schönbachs  annähme  Anz  vii  33  (1881), 
dass  die  vorrede  eine  widmung  an  den  noch  lebenden  herrn  von 
Ringgenberg  enthalte,  die  vei'se  des  Schlusses  aber  erst  nach 
dessen  tode  gedichtet  sein  könnten,  widerlegt,  da  nun  aber 
soeben  Leitzmann  PBBeitr.  35,  574 — 577  (1909)  Schönbachs 
ansieht  wider  aufgenommen  und  durch  neue  gründe  zu  stützen  ge- 
sucht hat,  muss  die  frage,  über  die  ich  mich  in  dem  programm 
Über  Boners  fabeln,  Charlottenburg  18S6,  s.  l.  2  u.  7  verbreitet 
hatte,  nochmals  behandelt  werden. 

Aui'ser  dem  schon  angeführten  spricht  für  die  gleichzeitige 
abfassung  des  anfangs  und  sclilusses  zunächst  die  benutzuug  der 
präfatio  des  Anonymus  Neveleti  und  seines  schlussdistichons  für 
beide  abschnitte.  Bon.  anf.  v.  4  9.50  ein  icort,  daz  ich  gelesen 
hän:  'schade  und  schände  ist  müezig  gän'  entspricht  An.  praef. 
V.  7  'ne  mihi  torpentem  sopiret  inhercia  sensum;'  anf.  v.  65 
ez  in  im  treit,  v.  71.  72  wer  oben  hin  die  bischaft  sieht  tind 
inwendig  erkennet  nicht  oj  An.  schL  'Fabula  dat  quod  intus 
habet';    anderseits  B.  schl.  v.  2  der  setz  sich  üf  des  endes  zu. 


108  GOTTSCHICK 

der  nutz  Ut  an  dem  ende  (/ar  der  h'ischaf't  oc  An.  schl.  'Fine 
sui  versus  geraino  quod  cogitat  omnis  Fabula  declarat";  schl.  v. 
15  ein  dürre  schal  dik  in  ir  treit  ein  kernen  grözer  süezekeit 
CO  An.  präf.  v.  12  'nucleura  celat  arida  testa  bonum';  schl.  v.  17 
ein  kleiner  garte  dik  gehirt  die  vrnclit  '^w  An.  präf.  v.  3  'Ortulus 
iste  parit  fructum'. 

Ein  zweiter  griind  ist.  die  inhaltliche  und  teilweise  wört- 
liche Übereinstimmung  von  Bon.  schluss  v.  1 — 45  mit  dem 
anfang  v.  39 — 74.  beide  preisen  den  wert  der  'bischaft',  schlichter, 
ungekünstelter  worte  und  den  nutzen  rechter  erkenntnis  und 
wahren  Verständnisses,  im  einzelnen  entspricht  schl.  v.  8 
duz  unser  werd  des  menschen  muot  co  auf.  v.  32  diu  sterket 
manges  menschen  muot ;  schl.  v.  1 1  mit  kluogen  icorten,  v.  1 2 
einvalt  an  allen  orten  co  anf.  v.  45  mit  siechten  worten,  v.  46 
einvalt  an  allen  orten;  schl.  v.  14  kluoger  sinnen  hört  rx.  anf. 
V.  66  ,  67  b (Schaft  manger  kluogkeit,  und  gehirt  ouch  sinne 
guot:  schl.  v.  23  ,  24  tcem  slechtiu  wort  niut  nütze  sivi,  kein 
nutz  er  von  den  krumhen  nint  r^j  anf.  v.  45  mit  siechten  icorten, 
v.  7  3  vil  kleinen  nutz  er  da  von  hftt;  auch  schl.  v.  1,  2  be- 
deutet dasselbe  wie  anf.  v.  71,  72.  endlich  gleichen  die  wid- 
mungsverse  schl.  v.  35 — 45  denen  des  anf.  v.  39 — 48.  der 
schluss  ist  eben  nur  eine  Umschreibung  der  vorrede  mit  den  not- 
wendigen änderungen.  drittens  wäre  es  auch  sehr  sonderbar, 
wenn  Boner  bei  dieser  gleichheit  der  gedanken  und  so  mancher 
ausdrücke  des  Schlusses  und  anfangs  und  trotz  seiner  ausdrück- 
lichen Versicherung  erst  nach  der  einleitung  seine  100  fabeln 
gedichtet  und  nach  deren  Vollendung  den  schluss  angefügt  hätte. 
Aber  nach  Leitzmann  dürfte  es  bei  Schönbachs  anschauuug 
sein  bewenden  haben,  schl.  v.  35 — 45  könnten  nur  von  einem 
toten  gesagt  sein,  wenn  er  an  meiner  allzuwörtlichen  Über- 
setzung von  iemer  me  mit  "stets  oder  immer  mehr  anstols  nimmt, 
so  heifst  es  allerdings,  wie  auch  in  Beneckes  Wörterbuch  zu 
lesen  ist,  'beständig,  (für)  immer',  aber  auch  nicht  ohne  weiteres 
'für  ewige  zeiten',  wie  niemer,  niemer  me  verneinend,  so  könnte 
man  Bon.  10  ,  20  iemer  muoz  ich  (die  erde  durch  die  sonne) 
verdorben  sin,  v.  23  verdorben  iemer  me.  mit  'für  ewig'  wider- 
geben, aber  nicht  B.  58  ,  50 '51  doch  er  (der  tote  ehemann)  in 
ganzer  minne  stät  mfs  (der  witwe)  herzen,  lehent  iemer  me,  er 
lebt  beständig,    für   immer   in   ihr.    d.  h.    wie  v.  52  da  von  ich 


ANFANG  UND  SCHLUSS  VON  BONERS  EDELSTEIN  109 

ma()  nicht  me  zer  e  konien  zeigt,  solange  sie  auf  erden  weilt; 
ebenso  B.  64,  36  vliegens  glust  mich  nienier  me.  auch  v.  36/37 
rcesen  vrl  vor  allem  unglUk,  kann  durchaus  von  einem  lebenden 
gesagt  sein,  wie  anf.  v.  20  vri  vor  allen  Sünden  s7n.  ferner 
müste  man  schl.  v.  35  ez  ze  liehe  si  getickt  das  plusquam- 
perfect  erwarten,  wenn  der  gönner  nicht  mehr  lebte,  weiter 
scheint  nach  Leitzmann  die  ausdrückliche  hervorhebung  der 
seele,  die  ewig  von  schmerzen  befreit  sein  möge,  im  munde  eines 
geistlichen  am  natürlichsten  in  Schönbachs  sinne  verständlich 
s/n  sei  V.  3S  könnte  freilich  als  die  seele  nach  verlassen  des 
leibes  gedacht  werden,  aber  nötig  ist  es  nicht,  denn  sehr  häutig 
erscheint  bei  B.  der  gegensatz  von  leib  und  seele  bei  lebenden : 
9,  34  Wirt  manig  sei  verlorn; 

17,  28  lip  tmd  sei  mit  ivirt  verlorn; 

22,  14/15  verderben  an  der  sei,  44  an  der  sei  genesen,  52 
der  seien  nütze;  54  nutz  der  sei,  60  der  seien  schedUch; 

37,  52  sin  sei  mit  Sünden  ladet; 

38,  28  der  sei  gezierde  stüende  baz  denn  dem  Hb,  31 — 33 
diu  Sei  den  lip  ivol  zieren  mag,  der  lip  der  sei  tuot  grözen 
slag.       icaz  sol  ein  lip  an  sele? 

57,  55  waz  lip  und  sei  erziugen  mag; 
85,  55/57  dur  sin  sei,  ivunt  an  der  sele: 
92,  80  siner  sele  schaden  tuot; 

96,  57  lip,  sei  unde  muot: 

97,  38  sei  und  lip; 

98,  39/40  mange  sele  hänt  bevoln  dem,  64  die  sele)i  werden 
verlorn,  66  war  diu  sele  var,  68  seien  äne  zal.  nur  in  74,  67 
der  armen  seien  pine,  90  der  armen  seien  uyigemach,  und  89,  3 
er  schichte  siner  sele  ding,  13  diz  selgeraet,  handelt  es  sich  um 
Seelen  von  abgeschiedenen  oder  um  die  eines  sterbenden,  sonst, 
so  weit  ich  sehe,  nirgend. 

Sodann  glaubt  Leitzmann  in  v.  40  got  müeze  er  iemer  sin 
bekant  eine  stütze  für  seine  ansieht  zu  haben,  da  dieser  vers 
natürlich  nicht  bedeute  'Gott  möge  er  immerdar  bekannt  sein', 
sondern  'Gottes  antlitz  möge  er  immerdar  schauen',  wenn  nun 
auch  Beuecke  in  seinem  Wörterbuch  verzeichnet:  beke7inen=^sehei3.\ 
mir  Wirt  bekant  =  'ich  bekomme  zu  gesicht',  mit  anführung  der 
beiden  von  Leitzmann  behandelten  stellen  in  Bon.  3,  und  die 
gleiche    bedeutung    von    erkennen,     erkant     samt    den    ebenfalls 


n  0  GOTTSCHICK 

von  Leitzraaun  besprochenen  versen,  so  haben  diese  beiden 
Wörter  die  rein  sinnliche  bedeutung  nicht  immer,  hekant  freilich 
kommt,  so  weit  ich  sehe,  nur  noch  B.  98,  42  der  itich  ist  hekant 
bei  Benecke  nach  C  H  B  n  vor,  wofür  Pfeiffer  nach  A  hat:  der 
iu  was  erkant.  doch  zeigt  diese  stelle,  dass  Benecke  auch  den 
jetzigen  sinn  des  wortes  bei  Boner  annahm:  'bekannt',  ebenso 
hat  das  zeitwort  erkennen  mit  seinem  particip  erkant  die  jetzt 
geläufige  bedeutung  bei  Boner  häufig:  1,  19.  35;  10,  4;  4U,  7; 
41,  67;  43,  76;  67,  38.  60;  74,  10;  78,  54;  81,  50  die  weg 
sint  alle  mir  erkant  (dem  kranich  bekannt)  was  Leitzmann  irr- 
tümlich unter  'gesehen  werden'  zählt,  81,  73;  82,  42.  49:  83, 
29;  86,  48;  88,  7.  nur  in  den  andern  drei,  auch  von  Leitzmann 
angeführten,  stellen  herscht  die  rein  sinnliche  bedeutung  des 
gesehenwerdens. 

Aber  selbst  wenn  an  unsrer  stelle,  schl.  v.  40,  hekant  sin  = 
'gesehen  werden'  wäre,  lautete  die  Übersetzung  doch  nur:  'er 
möge  von  Gott  immer  gesehen  werden,  Gott  möge  ihn  immer 
sehen',  jedoch  nicht,  wie  Leitzmann  mit  vertauschung  der  subjecte 
sagt:  vE.  möge  stets  Gott  schauen,  ein  sinn,  wie  er  freilich  nach 
Leitzmann  'der  einzig  brauchbare'  ist,  da  hiermit  Boner  seinem 
gönner  das  ewige  anschauen  Gottes,  d.  h.  die  ewige  Seligkeit 
wünscht,  wie  aber  kann  statt  der  passiven  bedeutung  'gesehen 
werden,  zu  gesicht  kommen"  (videri)  die  des  activen  auschauens 
'videre  (spectare)'  eingesetzt  werden?  Leitzmann  allerdings  meint 
nach  seiner  auseinandersetzung  annehmen  zu  müssen,  dass  vR. 
bei  abfassung  von  Boners  Epilog  nicht  mehr  am  leben  war. 

Dagegen  sage  ich:  wenn  würklich  v.  35 — 40  nach  Leitz- 
manns  auslegung  zu  übersetzen  wären,  was  ich  zu  widerlegen 
gesucht  habe,  so  brauchte  in  ihnen  trotzdem  noch  nicht  der  tod 
vRinggenbergs  zu  önden  zu  sein,  sondern  nur,  dass  es  ihm  und 
seiner  seele  künftig  im  himmel  gut  ergehn  möge,  nicht  viel 
anderes  wünscht  sich  Boner  selber  im  folgenden  v.  41  ff:  des 
müez  gedacht  iemer  ze  guote  werden  in  himel  und  nf  erden,  'dass 
der  epilog  des  verstorbenen  Johann  von  Rinkenberg  gedenkt',  ist 
ebensowenig  eine  auch  'nur  relative  (?)  tatsache'.  wie  'dass  es 
sicher  auch  zu  Boners  zeit  handschriften  gab",  die  den  Anonymus 
und  x\vian  hinter  einander  enthielten,  sondern  nur  eine  annähme 
Leitzmanns  und  ein  erklärungsversuch  von  ihm. 

Was  übrigens  durch  diese  'erkenntnis'  Leitzmanns  gewonnen 


ANFANG  UND  SCHLUSS  VON  BONERS  EDELSTEIN  1 1 1 

wird,  sieht  man  nicht,  denn  seine  ausführlichen  angaben  über 
J.  V.  Ringgenbergs  urkundliche  erwähuung  sind  längst  bekannt, 
auch  von  mir  (Boner  u.  s.  lat.  vorl.,  Charlottenburg  1901,  s.  1) 
nach  Bcächtold  in  den  hauptsachen  abgedruckt  worden,  auch 
Leitzmanns  Schlussfolgerung,  'dass  der  abschluss  von  Boners  werk 
jedesfalls  mindestens  in  den  anfang  des  6  Jahrzehnts  des  14  Jahr- 
hunderts fällt',  ist  zu  bestreiten,  da  vR.s  todesjahr  nicht  etwa,  wie 
Leitzmann  schreibt,  'nicht  genau",  sondern  überhaupt  nicht  be- 
kannt ist,  er  1350  (s.  Bächtoldi  möglicherweise  nocli  lebte,  so 
könnte  Boner  sein  buch  in  dessen  todesjahr,  aber  auch  längere 
zeit  danach  abgeschlossen  haben  —  falls  eben  das  schlusswort 
des  toten  gedenkt:  es  bliebe  nach  1349/50  ein  unbestimmt  langer 
Spielraum  übrig,  hat  Boner  aber  den  schluss  vor  seines  gönners 
tode  verfasst,  dann  kommen  wir  nach  den  vorliegenden  urkund- 
lichen angaben  nicht  über  1349/50  als  den  äufsersten  zeitpunct 
des  abschlusses  des  Edelsteins  hinaus. 

Noch  eins  kommt  hinzu  was  Leitzmann  nicht  erwähnt, 
nämlich  dass  die  verse  v.  35 — 40,  auf  denen  sich  seine  ganze 
beweisführung  gründet,  in  der  Strafsburger  hs.  B  fehlen:  daher 
und  auch  aus  andern  gründen  hielt  sie  Benecke,  dieser  gründ- 
liche kenner  Boners,  für  spätem  zusatz  (s.  369  s.  ausgäbe)  und 
hat  sie  ausgelassen,  wir  hätten  an  ihnen  auch  nichts  verloren, 
es  müste  denn  die  nachricht  vom  tode  vRinggenbergs  sein,  denn 
Boners  gedanken  über  das  Schicksal  der  menschlichen  seele  nach 
dem  tode  darin  zu  sehen,  wie  Leitzmann  es  zu  tun  scheint,  lassen 
die  einfachen  worte  kaum  zu.  wenigstens  äufsert  B.  sonst  in 
dieser  hinsieht  nur  den  schlichten  Volksglauben,  b7,  34  der  hüet 
sich  vor  der  helle  not;  schl.  47  vrist  uns  von  der  helle  gluot; 
74,  57  ivie  mich  ein  engel  schön  vuorte  hin  vilr  gottes  trön,  da 
er  sitzet  ze  himelrlch,  64  wie  mich  zer  helle  ein  tiuvel,  der 
IV as  ung estalt,  vuorte,  da  ich  manigvalt  der  armen  seien pine  sach; 
86  einr  was  ze  himelrich  erkorn,  da  vuort  in  hin  ein  engel 
guot.  der  ander  in  der  helle  gluot  wart  gevüeret,  da  er  sach  der 
armen  seien  ungemach,  92  daz  ieman  st  har  wider  kamen  von 
der  helle  oder  von  himelrich,  der  dar  was  komen. 

Was  dann  noch  Leitzmanns  behauptung  anlangt,  die  ent- 
stehung  der  fabelsammlung  im  einzelnen  läge  in  völligem  dunkel, 
die  versuche,  in  dieses  dunkel  auf  irgend  einem  wege  hineinzu- 
leuchten, seien  gescheitert,  so  scheint  er  dabei  die  quellen  Boners 


112  GOTTSCHICK,  ANFANG  UND  SCHLüSS  VON  BONER 

nicht  im  sinne  gehabt  zu  haben,  vielmehr  wol  nur  die  Zeitfolge 
in  der  abfassung  der  einzelnen  stücke,  indessen  glaube  ich 
(Über  Boners  fabeln  s.  25)  wahrscheinlich  gemacht  zu 
haben,  dass  B.  zuerst  die  Anon^'mus-.  darauf  die  Avian- 
fabeln,  inzwischen  und  zum  teil  nachher  die  übrigen  dichtete, 
von  denen  manche  schon  iliren  Stoffen  und  den  angeknüpften 
betrachtungen  nach  sich  als  zuletzt  verfasst  darstellen,  etwas 
zeitlich  genaues  lässt  sich  der  natur  der  sache  nach  über  die 
entstehung  des  werkes  nicht  erweisen,  ebenso  wenig  wie  Leitz- 
manns  behauptung:  'es  kann  sehr  wol  auch  ununterbrochen,  wenn 
auch  natürlich  in  langsamer,  sich  über  jähre  erstreckender  arbeit 
entstanden  sein'. 

In  einer  anmerkuug  handelt  Leitzmann  noch  von  lesarten 
zweier  stellen  Boners.  mit  Schönbach  spricht  er  sich  B.  41,  39 
für  die  la.  von  AE  hüfen  statt  hüse  der  andern  hss.  aus;  der 
Anonymustext,  *ludo  mersa  cavis',  sei  geeignet,  diese  la.  zu  unter- 
stützen, auch  Benecke  schreibt  Jmff'en,  Pfeiffer  Inise.  beide  worte, 
hüfen  und  fiüs,  stehn  freilich  schon  vorher  v.  27.  und  v.  30,  trotz- 
dem erscheint  hüfen  v.  39  mehr  am  platze,  doch  nicht  wegen 
der  worte  des  Anon.  37,  13  'ludo  mersa  cavis',  wie  Leitzmann 
meint,  vielmehr  entsprechen  sich  B.  41,  39.  40  mh'  (der  anieise) 
ist  in  vi'inem  hüse  haz  denn  dir  (der  fliege)  in  des  künges  palas 
und  Anon.  37,  15  'me  letam  videt  (od.  iubet)  esse  cavus  (die 
höhlung,  das  loch),  te  regia  tristem'. 

Aufserdem  will  Leitzmann  mit  Schönbach  die  nach  B.  18,  32 
in  BCD  überlieferten  verse,  den  kres  der  vuchs  az>  äne  brdt. 
der  rappe  leit  von  hunger  not,  die  weder  Benecke  noch  Pfeiffer 
aufgenommen  haben,  in  den  text  einsetzen,  wegen  der  worte  des 
Anon.  15,  7  'hoc  fruitur  vulpes'.  aber  B.  18,  29  —  32  in  dem 
gesange  enpfiel  im  dö  der  kces;  des  warf  der  vuchs  vil  vrö. 
des  muost  der  rappe  schäme  enpfän,  dar  zuo  muost  er  den 
schaden  hän,  geben  ja  möglichst  genau  Anon.  1 5,  6 — 8 
wider:  'Dum  canit,  ut  placeat,  caseus  ore  cadit.  Hoc 
fruitur  vulpes,  insurgunt  tedia  corvo.  Asperat  in  medio  dampna 
dolore  pudor'.  die  worte  'hoc  fruitur  vulpes'  entsprechen  des 
wart  der  vuchs  vil  vrö,  aber  nicht  den  beiden  versen  in  B  C  D, 
die  beim  Anon.  keine  entsprechung  haben  und  für  unecht  zu 
halten  sind. 

Charlottenburg  3.  ii.   1910.  Reinhold  Gottsehick. 


DIE  VIRGINAL  A  UND  WOLFRAMS 
WILLEHALM. 

In  seiner  ergebnisreichen  Untersuchung  'Virginal  und 
Dietrichs  Ausfahrt'  (Zs.  50,  1  ff)  bespricht  Carl  vKraus  (s.  111  ff) 
auch  das  'köstliche  intermezzo',  das  'dadurch  hervorgerufen  wird, 
dass  der  zwerg  Bibung  sich  in  Unkenntnis  hötischer  sitte  ge- 
waffnet  zu  tisch  setzt',  der  dichter  sagt:  slnes  sivertes  er  vergaz 
gebunden  an  der  slten  (Dietrichs  Ausfahrt  353,  2  f  in  der  von 
Kraus  widerhergestellten  ursprünglichen  gestalt).  mit  diesen 
Versen  vergleiche  man  Wolframs  Willehalm  430,  14f:  stns  edeln 
swertes  er  vergaz  in  der  scheiden  an  der  slten.  aber  nicht  blofs 
diese  werte  erinnern  an  das  gedieht  Wolframs:  auch  dort  wird 
erzählt :  dö  der  {=  Rennewart)  nider  was  gesezzen  {an  der  taveln 
ort),  er  muoste  gewäpent  ezzen  (312,  9f),  also  wie  Bibung,  der 
da  ze  tische  saz  ....  veru-dpent  (353,  1.10).  das  schwert  wird 
dann  in  Dietrichs  Ausfahrt  noch  355,  5.358,.  13  und  im  Wille- 
halm 312,  11  ft'  ausdrücklich  hervorgehoben,  an  die  Schilderung 
des  mahles,  dem  Rennewart  in  so  ungewöhnlichem  aufzuge  bei- 
wohnt, gemahnt  das  "intermezzo'  mehrmals: 

Dietrichs  Ausfahrt  352,   10  ff:        Wh.  312,  5  ff 
von  im  so  icard  gesessen.  ieslicher  saz  an  sine  stat. 

der  icirt  da  von  dem  orte  gie,      Helmrich   dö  Rennewarten    hat 
er  pat  in  sitzen  an  sein  stat.        .  .  .  sitzen  .  .  .  an  der   taveln 

ort. 

Man  vergleiche  ferner  D.  A  336  (=Virg.  214),  2.3  swenne 
ir  ivehit,  her  Dieterich.  so  sülnt  ir  nemen  ivazzer  und  Wh.  312, 
2  den  vürsten  man  daz  wazzer  truoc,  die  erwähnung  der  schnnen 
vromven  und  der  ritter'^  in  D.  A.  337  (=  Virg.  215),  2.4 
und  der  vrouwen  tvol  gevar  und  der  ritter  in  Wh.  312,  3  f.  und 
das  lob  der  bewirtung  in  D.  A.  337  (=  Virg.  215)  und  Virg. 
216,  Iff  (die  verse  fehlen  in  der  Hs.  w2)  und  Wh.  312,  170', 
in  denen  die  worte  wiri  und  guote  3)  {hezzer)  spise  gehen  in  beiden 
dichtungen  begegnen.  Rennewart  wird  dadurch  ausgezeichnet, 
dass  er  sich  zer  küneginne  setzen  muss  (312,  7),  zu  Dietrich 
setzt  sich  diu  herzogin  (D.  A.  336   =  Virg.  214,  7).     der  vers 

*  in  w  337,  4  allerdings  ersetzt  durch  gesfe. 
■•'  vgl.  Kraus  s.  5. 
^  ebenda  s.  48,  z.  5. 
Z.  F.  D.  A.  LH.     N.  F.  XL.  8 


1 1 4  LÜNZER 

D.  A.  358,  6  ez  muoz  mir  missevallen  steht  genau  so  im  Wh., 
wenn  auch  an  ganz  anderer  stelle:  131,  16.  Hildebrands  worte 
stüende  ez  mir  also  D.  A.  355,  13  klingen  an  Wh.  460,  15  an: 
iedoch  stet  ez  mir  also,  daz  wilde  und  daz  zam  wird  wie  in 
Wh.  177,  3  (vgl.  448,  4)  aufgetragen  in  D.  A.  354,  7.  Hilde- 
brand ist  in  D.  A.  355,  7  der  der  ie  mit  zühten  wielt  (w  ie 
hoher  züchte  tvilt^),  wie  es  im  Wh.  415,  24  von  Rennewart 
heilst:  siis  künde  er  zUhte  walden.  schliefslich  lautet  D.  A. 
361,  1  Unlange  da  (nit  lang  dar  nach  f  w)  gehifen  wart  ähn- 
lich wie  "Wh.  354,  6  da  emvart  so  lange  niht  gebiten.  —  die 
Schilderung  des  mahles  stimmt  also  in  kleinen  einzelheiten,  die 
bei  einer  solchen  höfischen  Veranstaltung  selbstverständlich  sind, 
und  in  dem,  was  dabei  unerhört  war,  überein,  und  Wendungen 
kehren  wörtlich  wider.  jedoch  ist  die  darstellung  in  dem 
Dietrichsepos  (D.  A.  336 f,  h  216,  D.  A.  338.  353 f)  ausführ- 
licher als  die  im  Willehalm  (312,  1 — 24),  sie  wird  durch  den 
bericht  von  Bibuugs  fahrt  und  ankunft  unterbrochen  und  leitet 
zu  dem  erwähnten  Intermezzo  über,  sie  verdient  völlig  das  ihr 
von  Kraus  gespendete  lob.  es  fehlt  ihr  auch  —  trotz  der  vor- 
geführten parallelen  —  keineswegs  an  Originalität:  in  Wolframs 
legende  ist  der  gewappnete  gast  der  höfischer  sitte  wenig 
kundige  riesige  Rennewart,  hier  der  bis  auf  seine  gröfse  völlig 
rittermälsige  böte  und  vertraute  einer  köuigin,  der  kleine  kurze 
man,  der  zwerg  Bibung,  und  die  in  ihtn  verbundenen,  gerade 
jetzt  doppelt  würksamen  gegensätze  nutzt  der  dichter  aufs 
lustigste  aus.  bemerkenswert  ist  auch,  dass  die  eingangs 
citierten  verse  sins  edeln  swertes  er  vergaz  in  der  scheiden  an 
der  siten  im  Willehalm  nicht  der  Schilderung  des  festmahles  an- 
gehören, sondern  Rennewarts  gebaren  in  der  schlacht  begrün- 
den, also  gleich  mehreren  später  angeführten  aus  ganz  anderem 
zusammenhange  hieher  gerückt  sind. 

Der  heidnische  könig  Aroffel  von  Persia  ist  von  Willehalm 
besiegt,  und  es  wird  daz  houbet  —  ab  im  geswenket:  noch 
solden  kristenlichiu  wip  klagen  sinen  ungetouften  Itp  Wh.  81, 
16  ff.  —  Hildebrand   fällt   den  beiden  Virg.  66:    daz   houbet  er 

im  abe  stvanc.     er  sprach nu  klagte  ich  den   gemeiten 

llp  {der  ungetoufte  wird  Orkise  genannt  59,  8).-  da  hazzent  dich 

'  vgl.  auch  der  zühfe  tcielt,  Verbesserung  von  Kraus  (s.  119, 
anm.  3  zu  s.  118)  für  w  383,  9. 


VIRGINAL  A  U.  WOLFRAMS  WILLEHALM 


115 


megcl  iinäe  w7p.  .  .  .  des  siiln  dich  rltter.  me<idc,  vrmven  iemer 
deste  minner  klagen,  es  sind  wider  älinliclikeiten  im  Wortlaut 
und  in  der  sache.  der  heidnische  gegner  ist  in  beiden  dichtungen 
glänzend  gerüstet,  ein  streitbarer  held,  der  schon  viele  kämpfe 
siegreich  bestanden  hat.  aber  auch  an  Verschiedenheiten  mangelt 
es  nicht:  Aroffel  hat  seine  taten  im  dienste  der  minne  verrichtet, 
Orkise  ist  ein  erbarmungsloser  Verfolger  wehrloser  frauen.  da- 
her trotz  der  gleichheit  entscheidender  ausdrücke  der  gegensatz 
im  inhalte  der  letzten  verse.  die  aus  der  Virginal  herbeige- 
zogene versgruppe  übertrifft  abermals  an  umfang  jene  des 
Willehalm,  von  der  sie  angeregt  zu  sein  scheint. 

Beziehungen  bestehn  auch  zwischen  Wh.  246,  29  ff  und 
Virg.  133  ff.  wie  Giburg  nach  dem  entsatze  von  Oransche  ihre 
Jungfrauen  auffordert,  sich  zum  empfange  der  befreier  festlich 
zu  schmücken,  so  mahnt  die  königin  ihr  Ingesinde,  Hildebrand 
und  den  Berner,  die  sie  vor  dem  heidnischen  bedränger  gerettet 
haben,   in  reichstem  schmucke  zu  begrülsen. 


Willehalm. 

246, 29ffm/r  u-as  nü  lange  trüren  hl: 
da  von  bin  ich  ein  teil  nii  vri. 
al nüne  juncvrouwen  ichmane. 


leget  iuwer  besten  kleid er  ane: 
ir  sult . . .  vel  und  här  so  zieren, 
daz  ir  minneclichen  sit  getan. 
247, 19ff  wan  iuwer  künfteclicher  trost 
hat  u)is  vintllcher  not  erlöst, 
weit  ir  uns  iuwer  helfe  tvern 

so  muge  wir  trürens  wol  enbern 
248,  1  f  diu  ivipliche  güete 


Virginal. 
133,  5      sU  iutver  sorge  ein  ende  hat. 


lOff 


249,  6 


git  dem  man  höchgemüete 
. . .  die  vroutven  und  der  palas 
wünneclich  wären  an  ze  sehen, 
man  muoste  den  vrouwen 
allen  jehen, 
daz  si  triiogen  guot  getvanf. 
si  bejagete  et  al  der  herzen 
gunst. 


134,1 


136.6 
134,7 
136,  If 

133,  11 


138, 

1 

133, 

9 

136, 

11 

132, 

1 

138, 

7 

135, 

4f 

136,  13 


3  Sivaz  si  des  ingesindes  (es 
sind  juncfrouwen)  sach, 
dö  gebot  si  unde  sprach 
legt  an  iur  besten  kleider. 
und  zierent  iurh  nfz  beste 
daz  ez  die  vürsten  dunke  guot. 
S/t  uns  der  Wiilßnge  trost 
hat  von  sorgen  groz  erlöst, 
sit  uns   ir   helfe   hat   ernert 
vgl.  132,  6. 
Ir  jämersorge  was  da  hin. 
wir     (=   wlp)      suhl     dem 
Berner  vröude  geben. 
Süllen  wir  höchgemüete  tragen, 
diu  tvunnecliche  maget. 
in  einen  wünnecUchen  sal. 
(die    Jungfrauen)    leiten   ane 
r'ich  geivant, 
swaz  iegelichiu  guotes   vant. 
länt  herze  wunsch  (w:  lust) 
an  in  bejagen. 


116  LUNZER 

Wider  stimmt  vieles  inhaltlich,  nicht  weniges  auch  formell 
überein,  wider  ist  die  Virginal  viel  breiter  (besonders  der 
wünsch,  die  Jungfrauen  mögen  vel  und  Mr  zieren,  hat  den 
jüngeren  dichter  zu  eingehenderen  angaben  begeistert:  128,  9 
mündel  rosevar,  133,  7  oh  rceselehten  /vangen,  128,  10  f  vil 
schapel    unde    kröne   zesamene   vf  reiden   locken  bran,    133,  6 ff 

daz  locke  reide sweben  gelich  den  goldes  drceteyi,  135,  8  . 

setz  eben  mir  daz  krenzel  i),  wider  sind  bei  allen  ähnlichkeiten 
die  umstände  in  beiden  dichtungen  verschieden:  Giburg  muss 
ihre  Jungfrauen  mahnen,  festlichen  schmuck  anzulegen,  weil  sie 
bisher  gekämpft  haben:  sie  muss  ir  wdpenror.  von  ir  legen,  sie 
und  die  mädchen  daz  harnasräni  tuon  von  dem  vel,  Virginal 
und  ihre  meide  sind  dagegen  ganz  unkriegerisch  und  haben 
wehrlos  ihre  leiden  ertragen:  diese  haben  ihre  rvengellv  und 
mundel  rot  dicke  missevar  gemacht.  —  bezeichnend  für  die  art 
der  einwürkung  (oder  Verwertung)  sind  die  oben  neben  einander 
gestellten  verse  Wh.  247,  19f  und  Virg.  136,  1  f :  das  wort 
tröst-  hat  an  den  zwei  stellen  ganz  verschiedene  bedeutung; 
man  hat  es  also  trotz  dem  ähnlichen  klänge  der  beiden  vers- 
paare keineswegs  mit  bequemer,  geistloser  entlehnung  zu  tun. 

Ich  möchte  hier  gleich  Wh.  253,  8f  und  Virg.  59,  3,5 
anreihen : 

Wh.  alze  vruo  er  (=  got)  nun  gedahte.     Virg.  daz  got  dar  an  gedcehte, 
ich  schür  slner  hantgetät.  daz  ich  bin  shi  hantgetät. 

Trotz  dem  ähnlichen  klänge,  zu  dem  hier  innerhalb  der 
verspaare  der  reim  gar  keinen  anlass  bot,  ist  das  syntaktische 
gefüge  und  der  sinn  völlig  verschieden. 

In  Wh.  99,  15  ff  wird  der  verwundete  markgraf  von  seiner 
gattin  aufgenommen,  sie  hilft  ihm  die  rüstung  ablegen  und  ver- 
bindet ihn.  —  der  junge  Dietrich  findet  in  Arone  freundliche 
aufnähme,  frauenhände  entledigen  ihn  seiner  rüstung,  und  die 
herzogin,  die  herrin  der  bürg,  verbindet  seine  wunden. 
Willehalm.  Virginal. 

99,  15  ff  in  ein  kemenäten  gienc  206,  2  ff  dan   vuorfen   si   den  jungen 

lip  —  —  — 
Giburc  —  —  —  uf  in   ein   ivunnecUchen   sal 

*   die   von    Kraus    als  jüngerer  einschub  nachgewiesene  Strophe  119 
bringt  mit  vers  7  ff  noch  einiges. 
^  vgl.  Kraus  s.  48  anm. 


VIRGINAL  A  U.  WOLFRAMS  WILLEHALM         117 

Willelialm.  Virginal. 

da  entiväpende  in  dm  uise:  sin  harnesch  wart  enp fangen 

si  schouwete  an  den  stunden,  von  maneger  sckosnen  vrou- 

wen  haut, 

oh   er   hete  deheine   icimden,  diu  herzogln  die  wunden  bant. 

diu  künegin  mit  ir  blanken  Jiant 
—  —  —  bant  in.  . 

Angeboten  hatte  dasselbe  die  befreite  Jungfrau  Hildebrand 
Virg.  (57,  2ff:  lierre,  Udent  ir  iht  not  von  keiner  slahte  ivunden, 
die  sullent  ir  mich  läzen  sehen  und  dieser  hatte  seinen  herrn 
aufgefordert  114.  1  fl  so  wol  dan  mit  mir  zuo  den  vroutven :  ir 
suhlt  die  wunden  sehen  län  und  st  den  schaden  schouwen.  auch 
da  sind  berührungen  mit  dem  Willehalm,  die  Stimmung  ist  aber 
wider  ganz  verschieden:  Hildebrand  und  Dietrich  werden  als 
Sieger  von  der  dankbaren  herrin  einer  fremden  bürg  willkommen 
geheifsen,  Willehalm  'kommt  als  unglücklicher,  schlachtmüder 
mann,  verzweifelt,  zum  tode  erschöpft  nach  hause',  wider  ist 
die  erzählung  Wolframs  kürzer  (obwohl  die  heilmittel  angegeben 
werden  und  eine  anspielung  auf  die  Gralsage  eingeflochten  ist, 
reichen  17  verse  aus),  in  dem  anderen  gedichte  wird  die  sache 
zweimal  vorweg  genommen,  und  als  es  dann  würklich  zur  gast- 
lichen aufnähme  der  beiden  recken  kommt,  umgibt  sie  ein 
menschengewiramel,  und  der  dichter  kann  sich  nicht  genug  tun 
in  der  Schilderung  all  der  freundlichkeiten  die  ihnen  zu  teil 
werden,  der  scherz  mit  dem  erschrecklichen  eiiernen  mann  auf 
der  burgbrücke  und  über  Dietrichs  puppen  erweitern  seine  er- 
Zcählung.  Kraus  stellt  aao.  s.  56,  anm.  1  von  dem  ältesten 
teile  des  Dietrichsepos,  den  er  Virginal  A  nennt,  fest:  'eine  be- 
trächtliche anzahl Wörter  führt  in  die  Sphäre  der 

Wolframischen  kunst.'  er  verweist  zugleich  auf  Heinzel  Kl. 
sehr.  s.  222,  'wo  auch  einiges  an  Wolfram  gemahnende  erwähnt 
ist.'  Heinzel  bespricht  dort  die  ausgäbe  der  Virginal  im 
Deutschen  Heldenbuch  und  sagt:  'was  den  dichterischen  stil 
anbelangt,  so  scheint  mir  einfluss  Wolframs  einigemal  nicht 
abzuweisen.     Zupitza    vermutet    ihn    nur   bei  ein  paar    namen, 

s.  xxvu    ['der   name Orklse    (im   reime   83,  3)   könnte 

seine  entstehung  dem  ländernamen  in  Wolframs  Willehalm 
Orkeis  (zb.  395,  3.  447,  26)  verdanken,  wie  vielleicht  der  fluss 


118 


LUNZER 


Larmant    oder    Lonriant  — daz    rcazzer   Larkant^    im 

Willehalm  ist,  wie  w  792  würklicli  schreibt.']  aber  auch  die 
gehäuften  genetive  —  Virg.  312,  10.  325,  10,  s.  xxi  von  kindes 
jugende  Ursprünge  sind  wolframisch,  Wh.  240,  3.  332,  4.  349, 
11.  362,  18.  389,  14.  422,  17.  433,  28.  456,  25.  Tit.  138,4; 
oder  kerne  mit  genetiven  als  auszeichnendes  prädicat  s,  xx  der 
ere  ein  kerne  =  Fdivz.  429,   25.'^ 

Ich  möchte  nun  auf  die  eingangs  vorgelegten  parallelen  eine  reihe 
einzelner  stellen  folgen  lassen,  die  gleichfalls  darauf  hindeuten,  dass 
die  Virginal  A  unter  dem  einflusse  von  Wolframs  Willehalm  steht. 
dabei  zieh  ich  aus  dem  bestände  der  handschriftlichen  Überlieferung 
der  Virginal  nur  verse  heran,  die  sich  auch  nach  den  Untersuchungen 
von  ESchmidt  (Prager  Deutsche  Studien,  heft  2)  und  Kraus  als  echt 
bewährt  haben,    die  wenigen  anderen  werd  ich  hervorheben. 


Willehalm. 

70,  11   dierehtensträzeergarvermeit, 
13  gein  der  muntäne  er  kerte 

101,  16  nü    lerne   ich,    des    ich    nie 

heg  an 

195,  2  f  si    emvären    da    man    noch 

wihe  kunt, 
der  doch  die  stimme  hörte 

59,  24  hl  maneger  steinwende 

230,  30  wcere  tal  und  herc  der  hei- 

den  vol 

466,  25  vor  dem  möhte  ich  hie  wol 

genesen 


Virginal. 

19/ 2  ff   die  rehten  sträze  si  vermiten 

und  Uten  .  .  .  gegen  eim  ge- 

hirge. 

2 1 ,  7  f      so  lere  (für  lerne)  ^    ich  daz 

ich  niht  enkan 
und  selten  han  hegunnen 

22,  1        Ein  stimme   hörte  er  Hilte- 

hrant 

2        diu  .  ,  .  ^  5  was  in  beiden 

gar  unkunt 

24,  10     hi   dirre  Steines  ivende  (ähn- 

lich öfter) 

25,  1        diz  lant  ist  herren  (=  heiden, 

so  w)  vol 

30,  7        mac  nieman  vor  in  genesen 

[vgl.  w  83,  13.] 


'  zu  dem  namen  Larkant  bemerkt  schon  Franz  Stark  in  seiner 
ausgäbe  von  'Dietrichs  erster  Ausfahrt'  (Bibl.  d.  Litt,  ver.  in  Stuttgart  52) 
s.  345:  'in  Wolframs  Wh.  sehr  oft'. 

-  Heinzel  hält  in  dieser  (aus  dem  jähre  1870  stammenden)  be- 
sprechung  mit  Zupitza  an  der  einheit  der  ganzen  Virginal  fest. 

^  Virg.   1 — 18    sind   nach    Kraus   a.a.O.   s.   18  f,    vgl.   s.  98  f  unecht. 

*  Heinzel  s.  223. 

^  Virg.  22,  2  diu  was  in  heiden  unbekant:  22,  2  und  5  können 
wegen  der  widerholung  nicht  ursprünglich  sein  (Kraus  s.  19)  —  ver- 
mutlich ist  es  aber  der  eine  der  beiden  verse. 


VIRGINAL  A  U.  WOLFRAMS  WILLEHALM  119 

Willehalm.  Virginal. 
216,2^1  got,  der  des  alles  hat  gewalt 

\93,  lOädaz  ich  slner  hei  fehin  verzaget  40,  1  f      nu  helfe  mir  der  Krist, 

und   hän    michs   nfi    gehabet  der  alles  des  geivaltec  ist 

an  Krist, 

dem  du  undertcenec  bist.  . 

101,  15    die  mir  waren  undertan  ^^' ^        ^'^  "'^^  ^''■"^««  undertän^ 

157,21    da   solt  si  min  geniezen  län  47,12      länt  ir  s%  niU  geniezen  min- 

423,  6     er   mohte   da   kiesen  wunder  52,  6        du  möht  man  vunder  schon- 

wen  vgl.  18S,  6.  219,  3. 

413,  2     und  tvaz  da  viurs  üz  helmen  52,  7f     man  sack   mz  herten  helmen 

spranc  varen  daz  viur' 

351,19  damaht  dievindewmecsparn  52,9       emceder    wolde    den   andern 

sparen 

418,23  hl  dem  schilt  (des  was  doch  53,  2f     daz   vil    lützel    ganz    beleip 

wenec  ganz)  des  schiltes 

85,27  da   witrden    bürgen   vür  sin  54,  7  f     wie  vür  daz  leben  der  grimme 

leben  tot  ir  beder  bürge  wurde 

150,  5     u.  öfter  überlesteclich  54,  10     überlestec 

253,  8f  s.  oben  59,  3.  5  s.  oben 

58,  14  in  sinem  zorne  er  do  sprach  61,  1       In  zorne  sprach  her  Hiltebrant 

'ir  .  .  .  Sarrazin  4       '.  .  .  ein  .  .  .  Sarrazin  .  .  .' 

219,  9  zuü  dem  hän  ich  kleinen  tröst  64,  1        Ich  hän  uf  iuch  vil  kleinen 

{:erldsf)  tröst  (;  erlöst) 

131,  \Si  die  vil  gerne  miner  hant  64,  3f     die  dicke  miner  hende 

etswenne  durch  mm  gäbe  nigen  durch  riche  gäbe  hänt  genigen 

424,  16  die  heten  schaden  e  genomen  65,  5       ir  hänt  den  schaden  von  mir 
399,  15  schaden  von  in  nemen  genomen 

8 1 ,  2 1  ff  (klage  um  einen  gefallenen  66            s.  oben. 

beiden)  s.  oben. 

99,  19  f  (eine     frau     verbindet     die  67,  2  ff    s.  oben. 

wunden)  s.  oben. 

100,  18 f  ich  wcene,  dö  ninder  swcere  70,  12f    von  scharfen  siverten  ivunden 

tief, 

den  marcgräven schuz nochslac  daz  im  darnächvil  langesicirf 


'  Virg.  48,  12  f  Krist  und  die  im  cd  sint  undertan  führt  Kraus  auf 
Virg.  40,  1.  45,  2  zurück. 

^  vgl.  Virg.  49,  2  f  icelnt  ir  si  .  .  .  min  niht  geniezen  läzen?  (die 
Strophe  ist  'jünger'.) 

^  vgl.  w  18,5  das  feür  auß  herten  helmen  glast,  w  197,  12  f  auß 
seinem  lichten  heim  das  feür  .  .  .  hran,  w  198,  5fat(/J  Iren  lichten  helmen 
flugen  die  flammen  rot  von  feüre,  w  207,  9  f  auß  seinem  helme  flugen  die 
lichten  funken  helle,  w  434,  12  f  die  funken  und  die  flammen  rot  auß 
helmen   .  .  .  schoß,     w  467,  11  f  das  feur  da  stob  von  heim. 


120 


LUNZER 


Willehalm. 
360,  29 inü  lät  Terrameren  riten: 
hoerf,   wie   die  ersten  striien 


405,  8     icsUcher  da  hesunder  reit  73,  2  f 


3,  20  der  den  heim  fifz  houbet  haut 
455,  \hivon  icemst  mich  vf  gerbet 
daz  ich  bin  sua  verderbet 


179,  1      als    ander    künege    ie    täten 

(:  beraten) 

431,  10.  12  von  .  .  .  bluotes  vloze  daz 

velt  begunde  roten 

70,  15  iedoch  vart  er  an  gerant  (\  7 

ir  ivas  et  im  ze  vil) 

242,  29  hat  er  den  kummer  mm  ver- 

nomen 

40,  1      von  maneger  hurte  stoze 

50,  22  u.  oft  poinder 

73,  If  s'tns  sn-ertes,  da  mit  er  ma- 

negen  sicanc 

tet,  der  durch  künege  hehne 

erklanc 

vgl.  4  13,  1    waz   do   s werte 

erklanc,    380,  24    des   wart 

erklengetmanec swert,  4 1  i'>,  3(> 

der  üf  helme  .  .  .  klanc 

54,  24  sin  sivert,   der   heiden  hagel 

(.•  nagel) 
12,  Wimanegen  werden  Sarrazin 

dem  töde  ergap  ze  zinse 


Virginal. 
72,  4  f     mi  läzen  ivir  sl  riten  hie 

und    sagen    wiez    dem    Ber- 
ncere  ergie. 
ir  viere  sunder  durch  den  walt 
f(f'  starken  rossen  kamen ' 
Den  heim  üf  der  von  Berne  bant 
wie  hdstu  mich  verderbet 
nun     wirt     dir    doch    mtns 
erbes  niht, 
swie    man     mich     hie    ver- 
derben siht  '^. 
als    vor    mir    vürsten    taten 
{•.verraten)'' 
77,  lOf  daz  sich  begunde   raden  von 
bluote  sin  .  .  .  gewant 
da    komen    zirelf    dort    her 
gerant 
und  ist  dir  kunt,  daz  ez  mir 
kummerlichen  (so  B,  angest- 
lichen  ausg.)  stdt. 
94,  1        des  hurtes  stoz 
94,  4       poinder. 


95,  6f     vil  von  swertes  sntden 

üfsime starken  helme  erklanc'^ 


96,  1       Sin   swert    wart  der  heiden 

hagel  (.•  nagel.) 

96,  11  ff  ma Hehrer    [Sarrazin\    muoste 

do  sin  leben 

ze    zinse    vür    den  grimmen 

tot  .  .  ,  geben  ^ 


74,  1 
74,  3 


T),  6 


93,  4 


93.  12 


'  vgl.  8!    (interpoliert),  3  durch  iraz  rifent  ir  besiinder? 

2  die  brücke  bildete  wohl  Wh.  455,  13  der  ivas  min  herre  und  niht 
min  mäc :  ich  hin  din  herre  tind  niht  din  mnc  ist  der  gedanke,  der  auch 
Dietrichs  worten  74,  2  flf  zugrunde  liegt. 

3  vgl.   14,    10  als  ie  die  besten  täten  (.-  geraten). 

*  vgl.   wl51,  2f  und  hieben  auf  die  hehne  dar,  das  sisolaut  erelungen. 

*  vgl.  w  445,  7  f  sie  {die  heiden)  miisten  all  ir  .  .  .  leben  dem  tode 
da  verzinse7i  {:  flinsen;  Vfh,  :  flinse). 


VIRGINAL  A  U.  WOLFRAMS  WILLEHALM 


121 


Willehalm. 

72,  29  da  zorse  er  käme  vor  in  besaz 

vgl.  388, 20  swer  im  da  zorse  vor  gesaz 

418,  18  sin  ellenthaftiu  mäht 

57,  1 1   äf  in  ze   vol(/e  und  engegen 

59,  17   ez  (daz  ors)  dreste  undegrnzte. 

s.  oben  zu  Virg.  52,  7. 
17  2,  30  hogen  oder  sicert  als  waffen 
der  beiden. 
s.  zu  Virg.  95,  6 f. 

213,  G     mit  nrloube  er  dannen  schiet 

(.■geriet) 

152,  5f  da    wart   .   .   .    manec  Märe 

hant  gewunden 

435,  12  die  Christen  stürmten  vor  so 

der  edel  vorloufe, 

1 5  swenne   er  gesvnmmet  durch 

den  loäc 

455,  17   waztoucmirnüvürstenname? 


428,  1 9 f  Pwrrels  ors  mit  hurtein  truoc      108,  7 
dem  siine  ze  helfe 


32,  20  inz  gedrenge 
381,  15  ff  manec    stvertes     ecke    aldä 

hegoz, 

daz     daz     hluot     über     die 

blicke  vlöz: 

si  wurden  almeistec  rot  gevar. 


22,  1      dürkel   wart   do   der   heiden 

schar 


Virginal. 

97,  12   daz  er  den  heiden  vor  gesaz 
(auf  dem  rosse) ' 

97,  13  sin  ellenthaftiu  kr  äff ^ 

98,  4     vor  ime,  hinden  unde  eneben 
98,  7     sin  ras  gräzte  unde  grein 
9S,  9    dazviiir HZ hertenhelmen schein 

98,  11   bogen  unde  swert  als  waffen 

der  heiden. 

99,  2f  von  sinenhendend icke erklanc 

ein  swert  fif  helmen  veste 
102,^2    mit  urlouhe   er  von    dannen 
schiet  (:  beriet) 
102,  4     ir  wizen  hende  si  do  vant* 

105,  4  ff  er  (Dietrich)  fuot  (im  kämpfe) 

reht  als  ein  edel  hunt, 
dem  daz  wazzer  in  den  munt 
gel,  und  er  [dayme  swimmet 

106,  1      IVaz   solte  zeime   herren   er 
4     und  trüege  er  danne  vürsten 

namen  (vgl.  w  142,  3) 
Lew    (Hildebrands    ross)    in 
gewillecUchen    truoc 
(seinem  herrn  zu  hilfe;  hilfe 
in   w    228,  12  =  dem  ver- 
lorenen    verse   h      107.    12) 
[vgl.  w  112.  12  f] 
108,  8     in  daz  gedrenge 

108,  9  ff  ftf  starke  helme   er  Vreisen 

[==  sin  sicei't]  sluoc, 
daz  vil  der  viures  blicke 

enzunten  lichten  helmes  dach. 

dar  nach  man  manege  brünje 

wiz 

mit   bluote  sich  diirchgiezen 

sach. 

109,  2     daz  dürkel  wart  der  heiden 

schar 


'  vgl.  w  207,  5  der  junge  fürst  in  vor  gesas  (auf  dem  rosse). 

-  vgl.  w  378,  7. 

^  von  den  str.  101  und  102  urteilt  Kraus:  'der  Inhalt  ist  dürftig', 
aber  es  'lassen  sich  durchschlagende  gründe  gegen  ihre  echtheit  nicht 
anführen.  .  .  .  Weniger  bedenklich  [als   101]  erscheint  str.  102'. 

'  vgl.  w  12,  10  sein  hend  hegund  es  tvinden  und  w.  61, 2f.  64,  6.  70,  'A. 


122  LUNZER 

Willehalm.  Virginal. 

240,  21frr  helei])  da  maneger  vor  im      109,7.9  er   sluoc   ir   vier   und  ziven- 
tot  (vgl.  54.  18)  zec  tot 

Glich  muoste  er  von  .in  kamen  die   andern   hräht  sin  herre 

mit  not  in  not. 

346,  4ff  unbe  süeze  .  .  .'  110,  l2fsU  iuicer  hant  so  höhen  pris 

sol  iucli  Mute  leren  durchwerdiuwipervohtenhät 

iuwern  pris  M  vinden  nieren 
413,  15  altgrtse  •  113,  3     altgrlse- 

418,  18  ff  (?oc/i    icas    sin    eUenthaftiu      114,  4  f  so  vihte  ich  (sin  ellenthaftiu 

mäht  kraft 'dl,  1 3)  disen  ganzen  tac, 

müede,     wände     er    al    den  daz     ich     von    müede    niht 

tac  .  .  .  des  stritcs phlac  enmac^ 

99,  19  f  (eine     frau     verbindet     die      114,7 — 10    s.    oben    (vgl.    zu   Virg. 

wunden)  s.  oben.  ö7,  2  ff) 

244,  9     die  soltü  schöne  emphdhen         119,  10  da  wert  ir  schöne  enpfangen 

(vgl.   191,  8  u.  w  491,"  2) 

66,  1 0  f  waz  koste  ich  dö  die  künegin !      1 24,  5  ff  er  muoste  haben  keisers  gelt . . . 

des    iccere   den    keisern   gar  ein   kiinec   wcer   der  kost  ze 

genuoc  swach, 

123,  8     mit  so  höher  kost 

10  sich    möhtes   ein   heiser  niht  daz  ers  iht  möhte  erliden.* 

erivern 
385,  19  soldez  ein  keiser  gelten 
246,  29ff(frauen  empfangen  ihre  be-      133.134  s.  oben. 

freier)  s.  oben. 
340,  21  nemt  alle   mins  gehotes  ivar      135,  1     Der  rede  (134,  2  dö  gehöt  si) 

namens  alle  war 
418,  16 iHalzebier  vor  in  .  .  .  vaht      147,  1      Vor  ime  vaht  her  Hiltehrant 

59,  24  147,  2     s.  oben  zu  Virg.  24,   10. 

428,  20  dem  sune  ze  helfe  147,  8     ze  helfe  sinen  kinden 

388,  19  daz  er  der   heiden  hete  haz      157,  13   tragent    dem    icilden   wurme 

haz  vgl.  w    116,  2.  153,  9. 
372,  \2ialrest  nü  donerf  der  walt         164,  9f  sirie  vil  der  dunderslege  [in 
vonlanzenkracheunddersper.  würklichkeit  sind  es  schwert- 

hiebe |  var, 
da  von  der  walt  erhrinnet. 
166,  3  f  die  siege  .  .  .  da  von  vlammet 
sich  der  tv alt  vgl.  143,  7 f.* 
'  vgl.  w  28,  9  f  schoti  frau'en  brachten  in  darzue  mit  irer  süssen  minne. 
-  vgl.  Kraus  s.  56. 

■*  vgl.    w    470,    9.    11.    ir    grosses   fechten    al    den    tag    .    .    .    ir  arme 
wurden  jniiede  gar. 

*  vgl.    w    458,  5  fl"  ir  kost  kan  niemant  wider  wegen,  ican  si  was  wol 
die  peste,  die  kunig  noch  kaiser  nie  gewan. 

'  vgl.   w    148,  4   der  schefte  krach  so   laut  erhal.    recht  als  ein  n-ilder 
doyiderfal. 


VIRGINAL  A  U.  WOLFRAMS  WILLEHALM  123 

Willehalm.  Virgin?,!. 

54,  18     ir  lac  vil  maneger  vor  im      167,  5  f  ez  lac  vil  maneger  vor  mir  tot 
tot  vgl.  240,  21. 
427,  2\iwie  man    in  stürmen  dienen  in  stürmen  unde  in  striten^ 

miwz  (=210.  10.236,  6  w  456,  8) 

hohe  minne  und  den  iverden      167,  1  &.  der     minneclicher     vrouwen 

gruoz  gruoz 

mit  dienste  wil  ern-erben, 

den  Up  er  sere  ivägen  muoz. 

423,  14  si    körnen   alrest   nn,    da  si      170,  1      Si    körnen    da     der    vürste 

striten  streit 

I9\,\6igeret    tvcere   daz  seihe  wip.      110,  1  ftichgeloubenihtdazdekeinwip 
diu  in  zer  werlde  brähte.  ie  tiurren  helt  .enpfienge, 

oder  geboren  u-urde  ein  lip 

162,  28  ff  er     möhte     erbarmen,     die      112,  i.^  und  lietez  einlieiden  an  gesehen, 

halt  sint 

—  —  —  Heiden  — sin  not  müest  in  erbarmen 

422,  13  Willehalm  sich  muoste  wem  173,4  da  muoste  ersetzen  sich  ze  wer 
59,  24  180,  5.  184,  10  vgl.  zu  Virg.  24,  10. 
413,  15                                                        186,  11  (der  alte  gr'ise)  vgl.  zu  Virg. 

113,  3. 
304,  19  si  nämen  daz  kriuze  über  al      205,  9     er   hat    daz  kriuze  üf  mich 

genomen  2 
99,  15  ff  (eine     frau     verbindet    die      206         s.  oben, 
wunden)  s.  oben. 
296,22.24  Eenneivart  zen  juncvrou-      207,  2  f  vil    schmier    vrouwen    umbe 

tven  saz,  in  saz, 

si  begunden  kürzen  im  die  zU.  die   kürzten  ime  die  stunde. 

312,  5ff  (festmahl)  s.  oben.  214  ff      s.  oben. 

423,  14  si   körnen   alrest  nü,    da   si      218,  4f  er    kam   .   .  .   da    der    von 

striten  Berne  hete  gestriten. 

423,  13  manec  enger  vurt,  densiriten  220,  4.6  mangen  pfat  eng  unde  smal 

muost  er. . .  rtten'^  vgl.  143, 4  f 

171,  2     mirst     vreude     wilde     und  226,  10  sorge  wart  im  ivilde^ 

sorge  zam 

99,  5  ff  daz  so  manec  kosteboere  gezelt  229,  3  ff  ein  rtchiu  küneginne 

—  —  —   über  al  daz  velt  diu  hat  geslagen  üf  ein  velt 
so  richltch  würde  üf  geslagen  .  .  .    ein   wwmeclich   gezelt^ 

»  =  w  99,  10.  106,  3. 

2  gegen  Virg.  201 — 205  liegen  allerdings  'verdachtsgründe'  vor, 
s.  Kraus  s.  28;  ebenso  gegen  220.  die  erste  Strophengruppe  wird  aber 
doch  gestützt  durch  die  Unmöglichkeit,  von  200  auf  206  überzugehn.  mit  220 
müßte  auch  221  fallen,      die   Strophen   werden   wol   nur  überarbeitet  sein. 

^  vgl.  Kraus  s.  49. 

*  vgl.  die  jüngere  str.  123,  7  flf.  (Kraus  s.  26). 


124 


LUNZER 


Willehalm. 
171,  8  f  ich  enmüeze  in  mtnem  herzen 

tragen 

leit,  äaz  mich  immer  tnnnget 

228,  2Aivon  slner  kunft  was  in  he- 

nonien 
vil  angest,  der  si  phlagen  e. 


Virginal. 
231,  2  ff  n-ir  halten  getragen  manec  jär 

groz   leit   in  unserm  herzen, 
da  von  hilnt  ir  uns  genomen 


und  sint   ouch  her  ze  lande 
komen  vgl.  193,  11  ff. 

Einen  blick  verdienen  noch  die  'wapenlieV.  sie  sind  in  der 
fassung  h*  zweimal  überliefert:  Virg.  3— H  und  31 — 37.  gegen 
beide  Strophengruppen  haben  ESchmidt  §  85  und  §  89  und 
Kraus  s.  18  und  s.  19  f  bedenken  erhoben,  jedoch  findet  Kraus 
'einzelheiten  zu  hübsch  für  den  späteren  bearbeiter'  und  kommt 
zu  dem  Schlüsse :  'ursprünglich  war  das  ganze  wol  in  2  oder  3 
Strophen  gesagt,  und  zwar  nicht  zweimal,  sondern  blofs  einmal.' 
auch  diese  Schilderung  mag  vom  Willehalm  angeregt  sein: 


Willehalm. 
63,  30    (din   schilt)    der   koste  vünf 
hundert  marc 

249,  9     edel  steine  drüf  verwieret 

22,  28  lüter  als   ein  Spiegelglas  == 

416,  20  ff —    —    manegen,   der  solh 

harnasch  triioc 

sich  mähte  ein  heiser  wäpen 

drin, 

swä  der  in  stürme  sohle  sin 


Virginal. 

3,  2f  hezzer  vil  wan  tüsent  marc 

so  was  sin  harnesch  vgl.  16,5. 
31,  5. 

4,  9  f  daran  lac  jnanec  edel  stein  ver- 

wilrket  vgl.  37,  7 

4,  5.  37,  9. 

5,  1  ff  S%n     brünje     (harnesch    1,  12. 

3,  3)  .  .  . 
einie  keiser  zceme 

ze  tragen  rvolin  sinre  not,  . . . 
und  obe  ez  also   kceme 
daz  er   in  strite  müeste  stn. 


Gerade  die  Strophe  5,  aus  der  die  längste  dieser  parallelen 
stammt,  nennt  Kraus  'eine  gute  strophe'. 

Im  Willehalm  verehren  die  beiden  drei  götter  17,  20  f 
ApoUe  und  Tervigant  und  .  .  .  Mahmete  und  rufen  sie  oft  an. 
in  der  Virg.  63  ruft  der  beide  Mahemet,  .  .  ,  Apollo  und  ouch 
Trevtant  an  und  fügt  bei :  der  vierde  ist  Jupiter  genant. '  (Tre- 
viant  ist  schon  62,  12  genannt.)  Kraus  schwankt,  ob  die  strophe 
63  'stark  überarbeitet  oder  überhaupt  jung"  ist.    ich  möchte  das 

'  das  gedieht  scheint  selbst  zu  sagen,  daß  dieser  erst  dazu  gekommen 
ist;  vgl.  w  93,  12  der  ßrd  der  heissef.  Jupiter,  (einen  vierten  heidengott 
erfinden  auch  h  91,  12  [Medelbolt]  und  w  440,  12  [Mercurius]). 


VIRGINAL  A  U.  WOLFRAMS  WILLEHALM  12r. 

erstere  annehmen:  die  Strophen  62  und  64,  die  auch  Kraus  un- 
echt hält,  schliefsen  nicht  aneinander  an.  die  heraustorderung, 
die  darin  ligt,  dass  Hildebrand  62,  12  den  gott  Treviant  mit 
höhn  nennt,  mufste  den  heiden  zu  irgendeiner  äufserung  über 
seine  götter  treiben,  und  die  namen  dieser  götter  gehüren  dann 
schon  zum  alten  bestände  des  gedichtes.  die  Strophen  Virg. 
1  — 18  'gehören  nach  Kraus  s.  98  t'  'dem  dichter  der  Muterepisode 
oder  sind  von  ihm  überarbeitet.'  ich  möchte  eher  das  letztere 
vermuten:  mit  Virg.  19,  l  Nu  namens  urlotip  undc  riten  kann 
natürlich  das  gedieht  nie  begonnen  haben,  und  es  ist  immerhin 
wahrscheinlicher,  dass  eine  zweite  band  hier  wie  sonst  vorge- 
fundenes benutzt,  als  dass  sie  den  ganzen  alten  anfang  wegge- 
lassen und  durch  neues  ersetzt  habe,  ich  lasse  demnach  hier 
folgen,  w'as  mir  in  diesen  Strophen  aufgefallen  ist,  wobei  ich  von 
den  eben  besprochenen  wäpenliet  str.  3 — 6  absehe: 

Willehalm.  Virginal. 

183,  24  si  habent  iu  frninde*  vü  he-        2,  4     er  hei  ir  al  ir  vriunt  betwmen 

nomen 
182,  24  weit  ir  nü   Terramere  9,  \Otuir  Mn  sin  iemer  schioide 

ze  wüesten  staten  iuwer  laut,  daz  man    (nämlich  der  beide) 

des   ivirt  diu  kristenheit  ge-  sus  ivüestet  nnser  lant 

schant 
225,  9f  er  huop  sich  an  die  vart,  13,  12  vil  snellecUche  an  dirre  vart' 

mit  im  sin  vriunt  Bennewart      14,  3  f  her  Dietertch  von  Herne, 

mit  ime  sin  meister  Hiltehrant 
12   innen  des  gienc  üf  der    tac      15,  1     Eins      morgens     vrüeje     da: 

geschach 
366,  15   af  dem  plane  16,     11   =   17,   13  iif  den  phhi 

In  den  anderen  von  Kraus  aus  der  partie  1  —  233  als  jünger 
herausgehobenen   Strophen  bez.  versen    finde    ich,   widerholungen 
aus  dem  anerkannt  echten  abgerechnet  '\   nur  eine  parallele : ' 
Willehalm.  .  Yirginal. 

103,  2     der      hat     mich     dicke     uz      64,  7     si   hänt    mich    dicke  üz  WKten 
angest  hräht  bräht 

'   so  Lachmann  mit  Km(n),    Leitzmann  diensfea  mit  lopt. 

-   vgl.  w  41  (=  h  13),  12  vii  schnell  si  eilten  auf  die  Ja rt. 

^  diese  habe  ich  oben  in   den  anmerkungen  angeführt. 

*  insbesondere  die  längere  interpolation  79  —  92,  die  Kraus  S.  9S 
dem  bearbeiter  (nicht  dem  dichter)  der  Muterepisode  zuweist,  bietet, 
80  viel  ich  sehe,  nichts  oder  fast  nichts,  man  könnte  höchstens  vergleichen 
Wh.  430,  27  des  leben  miioste  sin  ein  phant  und  Virg.  79,  5  ir  müezent 
pfant  des  Todes  tcesen. 


126  LÜNZER 

Die  einfachste  annähme  ist  wol,  dass  wir  es  auch  bei 
diesen  Übereinstimmungen,  soweit  sie  beweiskräftig  sind,  mit  dem 
vf.  des  ursprünglichen  gedichtes  zu  tun  haben,  dessen  verse  und 
Worte  hier  aus  der  Überarbeitung  hervorschimmern. ' 

Mit  Str.  h  239,  bzw.  w  36 f''  hört  für  die  Virginal  A  die 
möglichkeit  des  Vergleiches  mehrerer  älterer  handschriften  auf, 
und  damit  vermindert  sich  die  deutlichkeit  des  erkennens.  was 
in  h  weiter  folgt  rührt,  wie  die  arbeiten  von  Wilmanns  (Zs. 
15,  294ff),  mir  (Zs.  -13,  193  ff),  Ernst  Schmidt  aao.  und  von 
Kraus  a.a.o.  mit  steigender  Sicherheit  erwiesen  haben,  nicht 
von  dem  dichter  der  Virg.  A  her,  sondern  von  zwei  späteren 
Verfassern  (Schmidt  s.  58ff,  Kraus  s.  44ffj.  ich  lasse  diese 
partieen  aus  dem  spiel. 

Die  bisher  vorgelegten  parallelen  sind  gewis  nicht  alle 
gleich  überzeugend,  werden  aber  in  ihrer  gesamtheit  wol  nicht 
auf  Zufall  beruhen,  sondern  berechtigen,  wie  ich  glaube,  zu  der 
annähme,  dass  die  Virg.  A  von  Wolframs  Willehalm  beeinflusst 
ist.  jene  geistesart  ihres  dichters,  wie  sie  die  gegenüberstellung 
zusammenhangender  versgruppen  zu  anfang  meiner  betrachtung 
zeigte,  ergeben  auch  die  einzelnen  verse,  die  vielfach  in  beiden 
werken  in  ganz  anderer  Umgebung  stehn,  anders  gemeint  sind 
und  sich  trotz  ihrer  ähnlichkeit  wider  mannigfaltig  unterscheiden, 
es  liegen  auch  hier  nicht  geistlose  entlehnungen  eines  plagiators, 
sondern  geschmackvoll  verwertete  erinuerungen  eines  dichters 
vor,  der  sich  zwar  dem  einflusse  eines  grofsen  Vorbildes  nicht 
entzieht,  <  aber  darüber  seine  Selbständigkeit  und  eigenart  nicht 
verliert,     ich  greife  einige  beispiele  heraus: 

'  w  8 — 24  sind  nur  in  w  überliefert  und  entstammen  dort,  wenn 
ich  recht  habe  (Zs,  43,  210.  215),  der  mit  h  verwarnen  vorläge  des 
Schreibers,  ich  schalte  daher  hier  ein,  was  diese  Strophen  zum  vergleiche 
liefern : 

Willehalm.  Dietrichs  Ausfahrt. 

364,  2.  403,27  (/c/^ömrc/ vgl.  352,  13  u.  oft.       w  10,  6     f^oriret  (vgl.  90,  6.  373,  10.) 
430,  7äder  künec  lac  unvcrsunnen.  18,  12idas   manger  sich   da   nit   versan, 

schiere  kotn  gerunnen  daz  pliit  auß  mund  rtnd  naß 

US  munde,  üz  6ren  unde  nasen  im   schos    (vgl.   394,    2 f.  [473,  12. 

476,  13.) 
79,  8     des  küneges  wer  wart  dö  kraue  19,  1  f  Ic  doch  so  was  der  risen  wer 

zu   krank   da  gen   des  haiden  her 
188,  26  grdnät  jächant  23,  8f  zivcn    Jachande    und    ein    qranat 

(vgl.  94,  8  f.) 
■-   Mit  w  361,  5  endet  f  (hgg.  v.  Lexer,  Zs.  13,  377  ff),  über  den  wert 
dieser  hs.  vgl.  Kraus  s.   111  ff. 


VIRGINAL  A  U.  WOLFRAMS  AVILLEHALM  127 

Was  Willehalm  und  Rennewart  miteinander  sprechen,  ver- 
steht niemand,  weil  sie  Kaldeis  und  heidensch  reden,  die  verse 
in  denen  Wolfram  das  auffallende  hervorhebt,  dass  die  zeugen 
die  stimme  hören  und  doch  diu  u-orf  nicht  verstehn  (195,  2  f), 
kommen  dem  dichter  der  Virg.  in  den  sinn,  als  er  erzählt,  wie 
Hildebrand  und  Dietrich  von  ferne  das  Jammergeschrei  der  be- 
drängten Jungfrau  hören,  ihre  spräche  verstehn  sie,  wie  sich 
zeigt,  noch  aber  können  sie  nicht  ausnehmen,  ob  die  stimme 
von  menschen  oder  von  eines  tourmes  nmnt  kommt  (Virg.  22). 
die  Situation,  die  gründe  und  der  Zusammenhang  sind  also  ganz 
verschieden.  —  der  vergleich  mit  dem  edebi  vorloiifen  (Wh. 
435,  12 ff)  wird  in  die  Virg.  übernommen  (105,  4  ff),  der  weid- 
männische ausdruck  vorloufe  wird  zwar  durch  das  gewöhnlichere 
wort  hunt  ersetzt ',  aber  edel,  welches  hier  in  beiden  dichtungen 
keineswegs  inhaltsleer  ist*  —  denn  wenn  der  hund  nicht  edel 
ist,  stimmt  der  ganze  vergleich  nicht  —  bleibt,  im  Wh.  werden 
die  siegreich  und  unaufhaltsam  vordringenden  Christen  mit  dem 
Jagdhunde  verglichen,  und  die  ähnlichkeit  besteht  eben  darin, 
dass  sie  sich  durch  hindernisse  ebensowenig  von  der  Verfolgung 
abbringen  lassen,  wie  der  hund  durch  das  wasser  von  seiner 
fährte,  der  von  heidnischer  Übermacht  umringte  Dietrich  aber 
kann  mit  dem  hunde  nur  darin  verglichen  werden,  dass  er  die 
fähigkeit  zeigt,  unter  geänderten  umständen  auch  anders  zu 
handeln:  wie  der  hund,  wenn  ihm  das  laufen  nichts  mehr  nutzt, 
schwimmt,  so  schwingt  der  junge  Berner  nun.  da  das  frühge- 
lernte Waffenspiel  (vgl.  Virg.  75)3  gar  ernst  geübt  werden 
muss  —  in  mvten  — ,  sein  schwert  mit  grimmigem  kampfeszorne. 
der  vergleich  ist  also  ganz  anders  und  originell  gewendet  \  — 
Willehalm,  der  bei  Alischanz  sein  ganzes  wackeres  beer  ver- 
loren hat  und  sich  um  die  belagerte  gattin  sorgt,  dünkt  in 
seinem  leide  den  dichter  so  wert  des  allgemein  menschlichen 
mitgefühls,  dass  er  meint:  er  möhte  erbarmen  die  halt  sint  des 
wären  gelouben  äne,  Juden,  heiden,  puhlicdne  (162,  28  ff).  Diet- 
rich ergeht  es  im  kämpfe  mit  einem  drachen  so  übel,  dass  sich 

'  für    seine    zwecke    braucht  der  dichter  auch   gar  nicht  an  einen 
Jagdhund  zu  denken. 
^  vgl.  Kraus  s.  45. 

3  so  wird  die  sache  auch  w  27,  7  ff  im  gegensatze  zu  27,  2  ff  aufgefasst. 
'»  vgl.  Kosenhagen  Zs.  f.  d.  Ph.  41,  69. 


128  LUNZER 

dem    erzähler    ein    ähnlicher   gedanke    aufdrängt,     er    lässt   die 
Juden  und  die  publiciine  weg,  verstärkt  aber  dafür  den  eindruck, 
dass    beim    anblicke    des    bedrängten    beiden  das  unwahrschein- 
lichste möglich  geworden  wäre,  indem  er  von  dem  beiden  voraus- 
setzt,   dass    dem    leit    tvture    von   im  geschehen  (17  2,  5).  —  von 
dem  reichsheere,  das   Oransche  entsetzt,    berichtet  Wolfram:    si 
nämen  daz  krhize    äheral  (304,  19),   und  das  ist  natürlich  ernst 
gemeint    und    ganz    wörtlich    zu    nehmen;    in  der  Virg.  205,  9 
beschuldigt  der  junge  Dietrich  in  komischer  Verzweiflung  seinen 
strengen    Waffenmeister:    er    hat    daz    krmze   df  mich  genomen. 
ich  glaube,  dass  unsere  achtung  vor  dem  dichter,  den  Kraus  aus 
dem   schütte   der   Überlieferung   herausgegraben   hat  und  dessen 
'ungemein  zierliches'  werk  er  so  warm  charakterisiert  (vgl.  be- 
sonders   8.   122),    durch  "meine    beobachtuugen    nicht    gemindert 
wird.     Kraus   findet:    'höfisch   ist   an   diesem  gedichte  alles  und 
jedes  bis  auf  die  namen  des  Dietrich  und  Hildebrand',     wie  ist 
nun  aber  dieser  höfische  dichter  darauf  verfallen,  seineu  beiden 
namen    aus   der  heimischen  volkssage  zu  geben?     Wolfram,  der 
ausgesprochen  höfische  epiker,  behandelt  ausländische  Stoffe,  aber 
er    kennt    und    schätzt    die    deutsche    heldensage.     auch  in  den 
Willehalm    bringt    er  beziehungen  auf  sie  herein,    er  nennt  ge- 
rade   meister  Hildebyant  (439,  16)'.   er  unternimmt  es.    ein  hö- 
fisches epos  in  strophischer  form  zu  dichten,    mag  nicht  eben 
sein  beispiel  mafsgebend  gewesen  sein  für  den  jüngeren  dichter? 
dessen  Vorgang  kann  es  ihm  auch  erleichtert  haben,  sich  seinen 
humoristischen  einfallen  hinzugeben,     endlich  ist  auch  ein  wich- 
tiger   teil    der    handlung:    kämpf   gegen    heidnische    Übermacht, 
rettung  einer    hart  bedrängten  trau  '^,  beiden  dichtungen  gemein- 
sam,    dem  Schöpfer   der  Virginal  A  bleibt  deswegen  im  ganzen 
und  im  einzelnen   eigenes  genug,     er  wird  nur  in  einen  liUera- 
rischen  Zusammenhang  gestellt,  dessen  er  sich  nicht  zu  schämen 
brauchte.  —  gekannt  hat  er,  wenn  meine  erörterungen  beweisend 
sind,  den  ganzen  Willehalm:    die   ersten  aus  diesem  benutzten 
stellen    sind  3.  20.   12,   14  f;    die    drei    götter  werden  Wh.   17. 

'  die  dort  ebenfalls  erwähnte  Uote  bringen  spätere  bearbeiter  der 
Virg.  nach:  s.  die  namenverzeichnisse  von  Stark  und  Zupitza. 

-  dass  eine  christin  aitß  Iicideiiischoi  Imidrn  stammt  (wie  im  Wh.), 
berichtet  w  79,  3.  gelehrig  im  aufsuchen  derselben  quelle  zeigen  sich  die 
bearbeiter  auch  sonst. 


VIRGINAL  A  U.  WOLFRAMS  WILLEHALM  129 


I 


20  f  genannt  (allerdings  auch  sonst),  die  verse  22.  1  und  22.  2S 
kehren  in  der  Virg.  wörtlich  oder  fast  würtlich  wider,  die 
letzten,  zu  denen  ich  belege  gefunden  habe,  sind  Wh.  -135,  12. 
15.  455,  15  f.  4  55,  17.  466,  25.  mit  467,  23  bricht  Wolframs 
werk  bekanntlich  ab.  allenthalben  zwischen  anfang  und  ende 
verstreut  liegen  die  anderen  verse,  die  sich  in  der  Vii;^-.  wider- 
spiegeln '.  in  dieser  widerum  ziehen  sich  die  parallelen  ziem- 
lich ununterbrochen  durch  die  echten  Strophen. 

Kraus  findet  die  fortsetzung  von  Virg.  A  in  w  353 — 372. 
375—381.  383—393.  396f.  404—406.  408  ff.  2  aus  dieser 
partie  stammen  zuvörderst  jene  Übereinstimmungen,  von  denen 
diese  arbeit  ihren  ausgang  genommen  hat:  w  353,  2  f  ex.  Wh. 
430,  14  f;  w  353,  lOf^Wh.  312.10;  w  354,  7 'x.  Wh.  177,3. 
448,  4;  w  355,  7  cx)  Wh.  415,  24:  w  355,  13  ^  Wh.  460, 
15;  w  358,  6  «^  Wh.  131.  16;  w  361,  1  ex;  Wh.  354.6  (der 
gewappnete  tischgast). 

Andere  lassen  sich  anreihen: 


312, 


377, 
70. 

186, 


186, 

390, 

70. 


Willehalm. 
27  ff  die  vürsten  nrloiq)  durch  daz 

nämen:  si  irolden  vürhaz 

keren 
3     gogel  f:  antvogelj 
14  als  in  dm  angfst  lerte 

21  i  der  künec  zu  Munleun  helelp, 

unz  er  die  zelien  tage  vertreip 

29  er    wart    da    suier    wunden 
heil  (:  geil) 

22  man  darf  mich  harte  icenec 

laben 
19  iesUcher  sin  sper  sancte 


Dietrichs   Ausfahrt, 
w  362,  11   her  Bihung   der  wolt  Ur- 
laub han 
363,  3     ich  muß  hin  wider  keren. 

37(1,  9     gogl  (:  foglj 

37!,  ()     dar  von   ich   angsfe  lerne 

*372.  If  HerDiterichzuAronbleib,' 

pis    das    er    dreissig    tag 

vertraib 

*37  2,  4     da  wurden  im  sein  tvunden 

hail  (."  gail)  ^ 

384,  9     man  must  den  jungen  herzog 

labn 

388,  7    iglicherneigetschonseinsper 

vgl.  197,5  206,7.  392.12. 


'  Zupitza  bemerkt  zu  Virg.  60,  5,  dass  der  dichter  'das  präsens  des 
reimes  wegen'  gebrauche,  'wo  man  das  präteritum  erwartet',  auch  dieser 
gebrauch  des  'histor.'  präs.  ist  im  Wh.  vorgebildet,  zb.  212,  26.  229,  4  f. 
251,  4.  264,  26.  269,  12. 

2  w  382  hat  Kiaus  als  jünger  erkannt,  aus  ihr  merk  ich  an  v. 
10  das  roß  und  man  erkrachr  ^  Wh.  429,27  Furrdlc  erkrarhrten  gar  diu  lit. 

■'  mit  *  bezeichne  ich  die  nur  in  w  (nicht  auch  in  D(  bezeugten 
Strophen,      vgl.  Zs.  43,  247. 

■*   vgl.  w  490,  10 f  de7n  wurden  seine  rcundcn  .  .  .  Iiail. 

Z.  F.  D.  A.  LIL     N.  F.  XL  9 


130  LUNZER 

Willelialm.  Dietrichs  Ausfahrt. 

430.  8f  schiere  kom  gerunnen  394^  2f  das  plut  im  aus  dem  munde 

f(z  munde  tviel, 

7     und  der  künec  lacunversunnen  da  lag  er  unversunnen 

10  da/ machet  al  rot  den  griienen  391,  9f  sm    harnasch     was    von 

wasen  pJute  rot, 

v^l.  350,22    da   von    hegozzen    wirt  der  cleezind  auch  der melme 

der  melm 

356,  28   ir  sntde  was  ein  grtf'en  kld  403,  13  dashornwas  eines  greifen  da 

197,  1      sus  tcart  bereitet  Rennewart  *405,  4f  manch   ritter  da  verwap- 

net  wart, 

und   manec   ander  gein   der  die  mit   in  sollen  auf  die 

hervart  fart  vgl.  *494,   1  ff 

Libertein  heifst  von  Palerne  w  376,  3.  390,  3.  437,  3. 
dieser  beiname  erscheint  im  Wh.  205,  23  u.  ö. 

Den  schluss  von  Virg.  A  erkennt  Kraus  (s.  99 — 110.  122) 
in  w  767 — S66,  'im  einzelnen  hundertfach  entstellt,  im  grofsen 
aber  treu  bewahrt',  in  diesem  abschnitte  habe  ich  nichts  ge- 
funden, was  geradezu  auf  den  Willehalm  hinwiese,  er  ist  üb- 
rigens, wenn  alles  ausgeschieden  wird,  was  sich  mit  dem  dichter 
von  Virg.  A  nicht  vereinen  lässt  (vgl.  Kraus  s.  102  ff),  beträcht- 
lich kürzer. 

Der  im  früheren  vornehmlich  betrachtete  anfang  der  Vir- 
ginal  —  die  partie  bis  str.  h  233  —  ligt  in  w  in  stark  erwei- 
terter fassung  vor.  die  letzte  mit  h  unmittelbar  vergleichbare 
Strophe  ist  w  352.  es  sind  zwei  schichten  von  erweiterungen 
zu  unterscheiden:  die  Strophen  der  älteren  schichte  sind  auch 
in  der  vorläge  des  auszuges  d  gestanden,  den  das  Dresdener 
heldenbuch  enthält,  die  der  jüngeren  nicht. '  auch  diese  erwei- 
ternden Strophen,  uzw.  solche  beider  gruppen,  weisen  berührungen 
mit  dem  Willehalm  auf.  einige,  die  sie  mit  dem  echten  kerne 
des  gedichtes  gemeinsam  haben,  die  also  aus  diesem  stammen 
können  und  nicht  unmittelbar  aus  Wolframs  werk  hergeleitet 
werden  müssen,  sind  schon  in  den  anmerkungen  namhaft  ge- 
macht, andere  mögen  nun  folgen,  die  Strophen  der  jüngeren 
schichte  bezeichne  ich  wider  mit  *.  (w  8 — 24,  die  anderer  her- 
kunft  sind,  hab  ich  schon  besprochen.) 

1  'Über  Dietrichts  erste  Ausfahrt',  Zs.  43,  247. 


VIRGINAL  A  U.  WOLFRAMS  WILLEHALM  i:hi 


Wülehalm. 
340,  3     üf  die  kristenheit  durch  räche 

225,  8f  halde  wart  im   Volatin    [== 

sin  ors]  gezogen 

46,  16  daz  er  dieschar  mit  hurte  brach 

171,  \9f  daz iesUch zäher  den  andern 

dranc ^ 
445,  1.  h.  Rennewart  den  grözen  scha- 
den  sach   (:  geschach) 
.  .  ob  im  den  jämer  also  groz 
166,  IM  daz  er  (der  Heiland)  durch 

uns  göz 

üf  die  erde  üz  sinen  iminden 

bluot 

219,  1 0  f  erlöst  .  .  .  von  hellebanden 

224,  6  f  mirst  min  dinc  na  kamen  also, 

dazichbedarf{deheines  zagen) 

172,  22  also  mit  siverten  rüeren 

363,  26  wart  vil  gevellet  uf  daz  gras 

vgl.      409,    S.       411,    201 

419,   lOf 

426,  20  die  enkunde  niht  geicinnen 

376,  19  von  den  viiezen  unz  anz  houbet 

352,  1 1  iwie  von  golde  und  mit  gesteine 

lüter  unde  reine 
188,  6f  ^col  sehs  manne  sterke 

an  sin  eines  Übe  lac 

22,  2^)ivon  rubin  ein  kröne 

üf  stnem   liehten  helme  was 


367,  27  gap  .  .  .  solhez  brehen 

376,  30  sin  heim,  mit  listen  was  geworht 


Dietrichs  Auslahrt. 

2,  7f  auf  die   crisfenheit,  das  er 

sie  solte  töten . 

42,  2     zivei  schnelle   roß  zoch  man 

in  nach  vgl.   381,  11. 

57,  5     prechen durch d er haiden schar 

62,  12  ein  zeher  da  den  andern  schlug 

'69.  1     Da    Hildebrant    den  Jamer 
sach  {:  geschach) 

'IS,  3  ü  der  ...  vergos  für   uns  sein 
plut  so  rot  (der  Heiland), 


erlost  um  von  der  helle  not 

*  80,  2  f  mein  ding  das  ist  also  gewant, 

das  ich  nit  darf  (der  weibe) 

*  81,  7.9  das    schwert  .  .  .  wo    er   die 

held   dar  mit  berürt 
*81,  11  er  feilt  si  nider  in  das  gras 

*82,  6f  ir  .  .  .  kunt  sein  nit  gewinnen 
84,9     vom  heim  pis  auff  die  f Hesse  '^ 

*89,  3     von  gold  und  von  gesteine: 
reine  vgl.  85,12*  9U,  4.95,8. 9. 

*  90,  11    das     geit    dem    held    zwelf 

mannen  kraft. 

(vgl.  99,  7  zivelf  roß  sterk  es  .  .  .  hat 

und  106,  5.) 

95,  1.2.5.    Und  oben  auf  des  helmes 

thron 

fürt  er  von  gold  ein  reiche 

krön  .  .  . 

vonlicht  gestein  ist  sienprant.-^ 

98,  8     si   gend    im    lichtes  pretwn  * 

*  1 03,  I  ff  Nu  merket  den  vil  klugen  list, 


*  vgl.    auch  w  24,  2  das  ir  manch  lichter  zahcr  drang. 
^  vgl.  w  375,  5  vom  fus  bis  auf  den  heim. 

^  vgl.  *w  374, 3  f  ein  heim  so    wol    zimiret   mit    gold    und   auch    mit 
rubein  rot. 

*  die  Strophe   steht  auch  in  h  als  32.,  aber  v.  1—8   sind  in  w  stark 
verschieden. 


132 


LUNZER 


Willebalm. 
421,  BOtmit  guoter  kirnst  .  .  .  geicorht 


181,25  so    vliuhe    ich,     e    ich    den 

vient  sehe 

253,  6  ff  fgotj  der  mich  von  nihte 
ze  dirre  werkle  brühte, 
alze  vriio  er  min  gedähte 


39,  H     überlast  (auch  sonst.) 

61,  2     tot,  nü  nim  din  teil  an  mir 


Dietrichs   Ausfahrt. 

icie   der   satel   gexcurket   ist 

mit      kilnsienreicheni     sinne 

Vgl.   101,  3.  8 

getoorcht    .  .    mit     künsten- 

r eicher  hende. 

115,  2     fJiich  ich   ein,    den  ich  nie 

gesach 

117,  1 1  ff  n-es  hast  du  (=  got)  mich 

zur  weit  gebracht? 

vil  pesser  deucht  mich  sein 

gewest, 

und   daz  mein  got  nie  het 

gedacht. 

124.  13  überlast 

127,  11   kum     Tot     und     nim     daz 
leben  mein 
93,  30  daz  der  tot  sin  jungez  herze      *  128,  5     ach,  junges  herz,  itrich  mir 


brach 


enzwet. ' 


351,  23  von  spern  manec  lüter  krach      *148,  3f  die  sper  si  baid  zerstachen, 


vgl.    57,  10     diu    sper    mit    krache 

wären  hei 

350,  21  houwen     durch     vil    Herten 

heim  (.•  melm) 

383,  4  ff  da   von    wart   harnasch   ze- 

tränt  .  .  . 

vil    schilte  .  .  .   wurden    da 

zevüeret, 

manec  heim  also  genieret 

74,  26  daz     bluot     in     durch     die 

ringe  vloz 

439,  8f  .  .  .  manec  ritter  sere  wunt, 

verhouwen    durch   sin   har- 
nasch 
245,  19  vreude  gröz 
83,  26  sin  manheit  in  lerte 
76,  If  ir  ehte  vluhen  durch  not, 
siben  aldä  belägen  tot 


der  schefte  krach    so    laut 

erhal 

157,  1     Er  schriet  dem  Heiden  durch 

den  Helm  {:  melm) 

157,  7f  mir    ward    nie    mer    mein 

heim  zertrant, 

mein  schilt  also  zu  drumet 

vgl.  208,   1-2. 

166,  7  f  daz  plut . . .  floß  dem  Heiden 
durch  die  ritige  vgl.  *2 1 0, 9.  ^ 

168,  7     der   Haiden   der   tvard  ser 

verwunt 
durch  sein  prün'^ 

180,  7     freüden  groß. 
199,  3     sein  manhait  im  das  riete 
199,  12f(?a  lagen   auch  fünf  hai- 
den tot* 


'  vgl.  w  62,  7  f  mir  tut  mein  junges  herz-e  icee,  cor  laid  wil  es 
zubrechen. 

^  vgl.  auch  h  171,  7  f  der  sweis  im  durch  die  rinfie  ran  c/everwet 
rot  m,it  bluote. 

3  Die  Strophe  entspricht  h  62,  wo  aber  die  verse  anders  lauten. 

*  vgl.  w  438,  3.  440, 5.  445, 12. 


VIRGINAL  A  U.  WOLFRAMS  WILLEHALM 


i:^3 


Willehalm, 

430. 

26  sxvelher  im  da  niht  entran 

414, 

1 1  f  äaz  er  .  .  .  alrest  der  vhide 
nceme  war 

206,  5 

375, 

6     ein  poinder  stach,  der  ander 

208,  7 

I 


18, 

40S. 

■  '^, 
102. 


sluoc 
vgl.  365,  4.  439,  22.  441,  24. 

16  daz   er  die  schar   mit  hurte 

brach 

2Qüdie   heiden  .  .  schriten  alle 
Tervigant. 
daz   was  ein    ir  werder  got 
2Sf  ...  den  künec  sluoc 

durch  den  heim  anzüfdiezene 


Dietrichs  Ausfall  rt. 

der  sechst  entran  im  kaum 

vgl.  201,9,  209,  12  f. 

der  junge  helt  ward  ir  (der 

feinde)  gewar. 

der    ein    der    schlug,    der 

ander  stach 


340, 


208,  9     her  Ditrich  durch  den  häu- 
fen (4  schar)  brach. 

vgl.  57,  5. 

209,  2.  4  vil  manqer  [haiden]  seinen 
got  an  rief 

Machmet,  Apoll  undTerfiant. 

209,  7  f  sein    schivert    durch    herte 

helme  wut, 

want  auf  den  zenen   wider. 

1      Er    enthielt    dem    orse    und      *210,  2     der  Ferner  hielt  und  sach 

sach  hin  ivider  im  nach 

29  f  .  .  .  gap  der  känegin  guoten        258,  11  ff  si  gaben  all  ein  ander  trost 

tröst  und  sagten  all  got  lob  und 

und  jach,  si  würde  wol  erlöst  dank, 

das  ers  aus  sorgen  het  er  lost.* 
Von    259  bis    352  hat  w  nur  4  Plusstrophen  (vgl.  Zs.  43, 
2 1 3  anm.). 

Auf  den  vf.  der  eben  betrachteten  plusstrophen  von  (D)  vv 
1 — 352  führt  Kraus  (s,  119  ff)  die  partie  w  41S — l'.tl  zurück, 
aus  dieser  bietet  sich  dar: 

W^illehalm.  Dietrichs  Ausfahrt. 

8     daz    die     dem    töde    wceren      w  432,  11  pis  er  dem  tode  ward  ge- 
gegeben gebn   vgl.  70,  7.    451,  11. 
454,  12f  h   115,  11. 
436,  If  Dawasderhaidentiberkraft 


458,  9f  an  der  Überkraft 

an  stolzer  .  .  .  haidenschaft 
306,  12  der  tötltche  val 
389,  1     siicoldenvristen  gerne  ir  leben 

425,  21  ft  halsberc,  schilt  und  heim 
aus  eines  ivurmes  hiute 
Die   annähme,   dass   von    den  männern,    die  sich  an  der  alten 
grundlage    unserer    Virginai    erweiternd   und  umgestaltend  ver- 
sucht   haben,    ein    zweiter  und  ein  dritter  gleichfalls  unter  der 

'   die  Strophe  liegt  auch  iu  h  als  135.  vor.  aber  mit  anderem  Schlüsse. 
—  Vgl.  w  492,11  ff. 


gar  nahend t  worden  sigehaft 

450,  5.  478,9  des  todes  fal 

451,  5f  die    fursten  .  .  .   ir    leben 
künden  fristen 

462,  11   ein  riese  trägt  eins  icurmes 

haut. 


134  LUNZER,  VIRGINAL  UND  WILLEHALM 

einwürkuag'  der  legende  Wolframs  stehn,  hat  nichts  unwahr- 
scheinliches, sie  war  weithin  verbreitet  und  bekannt,  und  wenn 
uns  heute  im  ältesten  bestände  anklänge  an  den  Willehalm 
auffallen,  konnte  sie  ein  bearbeiter  der  Virg.  A  natürlich  auch 
bemerken  und  für  seine  tätigkeit  aus  derselben  quelle  anregung 
schöpfen,  es  fände  bei  dieser  annähme  ein  ähnliches  Verhältnis 
späterer  fassuugen  der  Virg.  zum  Wh.  statt  wie  zum  Lauriu  A: 
auch  von  diesem  zeigen  sich  mehrere  schichten  der  Virg.  beein- 
flusst  (vgl.  den  Jahresbericht  des  Franz  Josef-Gymn.  in  Wien 
V.  19ul,  s.  l:ift).  1  ein  geistesverwanter  des  grofsen  höfischen 
epikers  ist  deswegen  im  besonderen  der  vf.  der  Orteneck-episode 
nicht  gewiesen:  wie  in  absichtlichem  Widerspruche  zu  Wolframs 
Stellungnahme  den  beiden  gegenüber  und  namentlich  zu  den 
ergreifenden  Worten  Giburgs  (306,  12ffj,  die  weinend  für  sie 
bittet  und  ihnen  auch  nicht  jegliche  hoffnung  auf  das  ew'ige  heil 
abspricht:  die  heiden  hin  zer  vlust  sijü  alle  nicht  benennet  (307,  1 4fj, 
entscheidet  der  jüngere  kurz  und  hart:  der  helle  si  geporen  sind 
all  heidenman  und  auch  die  iveip^.  (Dietrichs  Ausfahrt  450, 12fj. 
Ich  habe  hiemit  der  Vollständigkeit  wegen  auch  die  nur  von 
w  überlieferten  partieen  herangezogen,  weil  die  Untersuchungen 
von  Kraus  zu  dem  ergebnis  geführt  haben,  dass  auch  in  einigen  von 
diesen  so  manches  auf  den  vf.  der  Virg.  A  hinweist,  geringere  zahl 
und  deutlichkeit  der  Übereinstimmungen  war  hier  wegen  der  un- 
günstigeren Überlieferung  ^  im  voraus  zu  erwarten  und  mag  zum  teil 
auf  deren  rechnung  kommen,  wie  es  sich  aber  auch  damit  und  mit 
den  späteren  bearbeitern  verhalte,  das  wichtigere  und  interessantere 
wäre,  wenn  uns  die  betrachtung  des  in  h  usw.  erhaltenen  echten 
bestandes  zu  der  annähme  berechtigt,  dass  dessen  dichter,  den 
Kraus  als  einen  'guten  schüler  Konrads  von  Würzburg'  erwiesen  hat 
(ss.  16,  92  ff),  auch  unter  der  einwürkung  Wolframs  gestanden  ist. 

'  vgl.  Kraus  s,  122. 

-  vgl.  Zs.  43,  251;  vgl.  Kraus  s.  119  ff. 

■'  auch  Ki'aus,  der  auf  grund  eingebndster  prüfung  vor  der  uiiter- 
schätzung  von  w  warnt  und  diese  handscbrift  selbst  nach  gebühr  würdigt  und 
ausnutzt,  stellt  sie(  auch  in  deu  weniger  überarbeiteten  Strophenteilen  inicht  höher 
als  'eine  spätere,  nicht  besonders  gute  hs.  eines  beliebigen  höfischen  textes'  (s.  1). 

Graz.  Jostus  Lunzer. 


MINISTERIALITÄT   UND   RITTERDICHTUNG. 

I. 

DIEXESTMAN  UND  EIGEX  IN  DER  HÖFISCHEN 
DICHTUNG,  BESONDERS  IM  MINNESANG. 

Eiu  grofser  teil  der  deutschen  litteischaft  gehörte  dem  stände 
der  ministerialeu  an.  ja  diese  waren  in  der  blütezeit  der  hüti- 
sehen  cultur  ihre  bei  weitem  zahlreichsten  Vertreter,  in  meiner 
arbeit  "Die  rainisterialität  in  Südostdeutschland  vom  zehnten  bis 
zum  ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts'  (Quellen  und  Studien  zur 
Verfassungsgeschichte  des  deutschen  reiches  hg.  v.  Zeumer  bd  iv  h.  1 ) 
hab  ich  die  entwicklung  dieses  Standes  ausführlich  dargestellt, 
seine  entstehung  aus  der  unfreien  familia  der  bischofskircheu 
und  fürstenhöfe,  bei  der  nicht  sowol  die  hofämter  als  vielmehr 
derkriegsdienstdas  für  die  Standesneubildung  entscheidende  moment 
waren,  und  die  allmähliche  annäherung  der  dienstmannen  an  die 
freien  ritter  in  ihrer  wirtschaftlichen  und  politischen  bedeutung, 
das  einströmen  freier  demente  in  den  neuen  stand,  trotz  dessen 
sich  momente  seiner  rechtlichen  Unfreiheit  bis  zum  ende  des 
dreizehnten  jahrhundei-ts  hielten,  ich  habe  diese  Untersuchung  im 
wesentlichen  auf  südostdeutsches  gebiet  beschränkt,  eine  be- 
grenzung,  die  mir  da  geboten  erscheint,  avo  locale  Verschieden- 
heiten eine  nicht  unbedeutende  rolle  bei  der  Standesneubildung 
spielen  '.  für  dieses  gebiet  hab  ich  dort  auch  kreuzfahrerlisten 
zusammengestellt,  aus  denen  sich  ergab,  dass  das  Verhältnis  der 
freien  kreuzritter  —  die  fürsten  und  grafen  ungerechnet  —  zu 
den  unfreien  in  procenten  ausgedrückt  folgendes  war; 

^  Für  Bayern  und  die  Marken  habe  ich  alles  nur  erreichbare  material 
auszuschöpfen  gesucht,  besonders  auch  dichtungeu.  in  der  Verwendung 
dieser  als  socialgeschichtlicher  quellen  ligt  etwas  methodisch  neues,  über 
das  ich  in  der  einleitung  jener  arbeit  ausführlich  gesprochen  habe,  hier 
sei  besonders  auf  die  Schlüsse  hingewiesen,  die  sich  aus  der  beobachtung 
des  gebiauchs  des  wertes  'dienstinan'  —  bei  aufzähluug  der  stände,  wo 
es  vielfach  das  'nie'  ganz  verdrängt,  und  für  sich  allein,  in  letzter  ent- 
wicklung als  bezeichuung  des  ritters  überhaupt  —  für  das  vorhersehen  der 
ministerialeu  innerhalb  des  ritterstandes  ziehen  lassen,  ja  auch  für  die  da- 
tierung  oder  localisieruug  eines  gedichtes  können  solche  beobachtungeu 
von  wert  sein. 


136  KLUCKHOHN 

in  den  jähren   1096—1146  freie  71  ('/»    ministerialen  29  % 
1147  —  1191     ,,      230/0  „  770/0 

1192—1250     „         3  0/0  „  970/0. 

So  wenig  zuverlässig-  diese  zahlen  an  sich  sind  —  wir  ver- 
danken sie  der  willkür  unserer  Überlieferung  — ,  das  was  sie 
hier  zeigen  sollen,  das  stetige  zunehmen  der  ministerialen  inner- 
halb des  ritterstandes,  wird  deutlich  genug,  daraus  ergibt  sich  weitei-, 
dass  auch  all  die  culturellen  eintlüsse  der  kreuzzüge,  die  würkungen 
der  internationalen  vergesellschaftlichung  des  ritterturas  in  erster 
linie  den  ministerialen  zu  gute  kommen  musten,  die  danach  auch 
einen  wesentlichen  anteil  an  der  herausbildung  der  hütischen 
cultur  in  Deutschland  gehabt  haben  werden,  diese  selbst  aber 
erscheint  trotz  der  rechtlichen  Verschiedenheiten  ihrer  ti'äger  als 
ein  ganz  einheitliches  gebilde.  freie  und  ministerialensöhne 
machten  dieselbe  ritterliche  erziehung  unterschiedslos  neben- 
einander durch,  empfiengen  zusammen  am  festlichen  tage  den 
rittergürtel,  waren  genossen  im  kämpf  und  genossen  im  leben 
der  gesellschaft,  von  demselben  ideal  des  vollendeten  ritters  er- 
füllt. —  dies  ideal  jener  zeit  darf  man  freilich  nicht  einseitig 
nach  den  sogenannten  höfischen  epen  zeichnen,  in  der  gleichen 
zeit  wie  diese  wurden  der  arme  Heinrich  und  das  Nibelungen- 
lied, der  Ortnit  und  die  mancherlei  Dietrichsepen  von  deutschen 
dichtem  geschaffen,  die  ideale  die  diese  verschiedenen  dichtungs- 
arten  repräsentieren,  waren  in  ein  und  derselben  zeit  lebendig; 
bieten  sie  contraste,  so  sind  das  Widersprüche,  unter  denen  diese 
zeit  zu  leiden  hatte;  ihr  grundzug  muss  als  ein  einheitlicher 
gefasst  werden. 

Doch  das  nur  nebenbei,  genug,  der  deutsche  ritterstand 
tritt  uns  in  seiner  culturellen  erscheinungsweise  ganz  als  eine 
einheit  entgegen,  wie  er  sich  auch  durch  Barbarossas  reichs- 
gesetze  fest  gegen  jeden  zutluss  von  unten  abgeschlossen  hatte 
oder  wenigstens  abschliefsen  wollte,  bilden  sich  innerhalb  der  ritter- 
schaft  Unterscheidungen  heraus,  so  sind  das  nicht  die  alten  land- 
ständischen nach  frei  oder  unfrei,  sondern  die  nach  der  lebeus- 
weise,  den  materiellen  lebensbedingungen  und  der  culturstufe  der 
einzelnen,  höfisch  oder  bäurisch. 

Hier  drängt  sich  uns  nun  die  frage  auf,  ob  diese  in  sich 
einheitliche  ritterliche  cultur  in  Deutschland,  deren  zahlreichste 
träger   ministerialen   waren,    nicht  vielleicht  in  ihrer  gesamtheit 


MINISTERIALITÄT  UND  RITTERDICHTUXG        137 

Züge  aufweist,  die  sie  dem  staudescliavakt^T  eben  diesen  mini- 
sterialen  verdankt,  und  damit  Iiängt  die  weitere  frage  zusammen 
ob  hierin  nicht  einer  der  entscheidenden  unterschiede  zwisclien 
der  deutschen  und  der  romanischen  hötischen  cultur  liegt. 

Denn  jene  ist  nicht  einfache  nachahmuug  dieser,  ihr  nicht 
gleich  in  ihren  erscheinungsformen,  so  stark  sie  auch  in  vielem 
unter  ihrem  einflusse  stehn  mag.  dafür  nur  ein  beispiel:  die 
ceremonie  der  ritterweihe  war  in  Deutschland  eine  andere  wie  in 
Frankreich,  das  bad  des  knappen,  die  nachtwache  vor  der  feier, 
der  ritterschlag  tinden  sich  in  keiner  deutschen  quelle  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  erwähnt,  die  messe  und  das  segnen  des 
Schwertes,  die  feierliche  umgürtung  des  knappen,  das  sind  die 
einfachen  momente  der  deutschen  ritterweihe,  erst  im  vier- 
zehnten Jahrhundert  tritt,  zunächst  in  den  grenzgebieten ,  der 
ritterschlag  bei  uns  auf,  der  das  charakteristische  moment  der 
romanischen  feier  bildet',  daraus,  dass  alle  deutschen  epen  ohne 
ausnähme,  auch  solche,  die  sich  eng  an  französische  vorlagen 
anschlielsen,  wie  der  'Willehalm  von  Oranse',  nie  die  französische, 
nur  die  deutsche  form  der  schwertleite  schildern,  ist  auf  eine 
relativ  grofse  Selbständigkeit  der  deutschen  rittercultur  sowol 
wie  der  höfischen  epen  zu  schlielsen. 

Doch  ein  eingehender  vergleich  der  beiden  culturen  kann 
hier  nicht  gegeben  werden,  dazu  fehlt  es  noch  zu  sehr  an  den 
nötigen  vorarbeiten,  zumal  die  frage  nach  der  französischen 
ministerialität,  nach  den  bezeichnungen  und  den  eigentümlichkeiten 
der  unfreien  ritter  in  Frankreich,  ist  noch  zu  wenig  untersucht 
worden",  immerhin  darf  das  als  sicher  gelten,  dass  es  eine 
ministerialität  von  der  bedeutung  der  deutschen  auf  romanischem 
boden  nicht  gab,  dass  das  hauptcontingent  der  französischen 
ritter  freie  vasalleu,  nicht  ministerialen  waren. 

Diese  verschiedenen  Standesverhältnisse  scheinen  nun  auch 
Verschiedenheiten  in  den  ausdrucksformen  der  höfischen  cultur  in 
Deutschland  und  in  Frankreich  bedingt  zu  haben,    auf  ein  moment 

'  vgl.  s.  140  anm.  2  meines  oben  genannten  buches.  ich  denke  an 
anderer  stelle  diese  frage  ausführlicher  zu  untersuchen.  -  einen  anfang 
bedeutet  die  arbeit  von  Ganzenmüller,  Die  tiandrische  ministerialität  bis 
zum  ersten  drittel  des  zwölften  Jahrhunderts  (Tübinger  diss.  1907),  die  für 
flandrisches  gebiet  manche  der  deutschen  ministerialität  analoge  er- 
schein uugen  nachweist. 


138  KLUCKHOHN 

will  ich  hier  näher  hinweisen,  auf  die  Verwendung  des  wortes 
dienstman  und  des  ihm  correspondierendeu  vigen  in  der  conven- 
tioneilen Standessprache  des  deutschen  rittertums.  man  bedient 
sich  der  ausdrücke  ministerialischer  abhängigkeit,  um  einen 
andern  seiner  ergebenheit  und  dienstbereitschaft  zu  versichern, 
als  übertriebene  höflichkeitsbezeugung,  um  das  gefühl  starker 
dankbarkeit  und  Verpflichtung  zum  ausdruck  zu  bringen,  so 
nennt  sich  Iwein  seines  freundes  Gawein  (jeuissen  diemtman\ 
Marke  wird  als  Tristans  'freund  und  dienstmann'  bezeichnet 
(Tristan  v.  6553),  während  an  anderer  stelle  sich  Tristan  Markes 
'dienstmann'  nannte-,  im  'Erec' heilst  es:  ^herre,  in  iuwer  gwalt 
suhl  wir  uns  für  eigen  gehen:  von  iu  so  haben  wir  daz  Jeheti' 
(v.  5632 ff.),  ähnlich  sagt  die  königin  Virginal  zu  Dietrich: 
'des  hin  ich  iuicer  eigen''  (Virginal  str.  974s,  vgl.  1066 4).  und 
in  Konrads  vWürzburg  Partonopier  (v.  20090  f)  bittet  Walther 
seinen  gegner  um  schütz  gegen  sein  heer:  ''dar  muhe  daz  ich 
iemer  wese  für  eigen  iuwer  dienestman/  dass  eine  solche  er- 
klärung  meist  nur  als  eine  conventioneile  ausdrucksform  auf- 
zufassen ist,  wird  ganz  deutlich  im  Tandareis  (v.  17 949 ff):  ein 
graf  trägt  einem  boten  auf,  dem  beiden  zu  sagen:  Hch  s'i  viir 
war  s7n  dienstman  mit  hin  im  dienstes  iindertän.'  der  böte 
richtet  nur  aus  (v.  17956),  der  graf  sei  ihm  'mit  triuwen  dienstes 
undertän.' 

Mit  ähnlichem  übertragenem  gebrauch  des  wortes  werden 
auch  die  beiden  von  ihren  dichtem  mehrfach  Gottes  oder  einer 
tugend  dienstmann  genannt  3. 

^  Iwein  V.  7477.  die  französische  quelle  hat  nichts  entsprechendes, 
die  bildliche  meinuug  wird  aus  v.  7528 f  deutlich:  'ican  da^  ich  iuch 
ere  als  iuicer  liter  und  iuicer  Iniehf.  ^  Tristan  v.  3373.  'iuicer  jäger 
und  iuicer  dieneslman  das  bin  ich  so  ich  be^:te  Lern',  ich  glaube  nicht, 
dass  sich  Tristan  hier  tatsächlich  in  die  ministerialität  Markes  begibt,  es 
wird  sich  nur  um  eine  höflichkeitsform  handeln,  da  das  wort  dienestman 
als  Standesbezeichnung  bei  Gottfried  —  und  anderen  höfischen  epikern  — 
gar  nicht  vorkommt,  nur  einmal  in  coUectiver  Verwendung  (v.  5S12).  damit 
widerspreche  ich  den  ausführungen  von  Kotzenberg,  Man  frouwe  juncfrou- 
we  S.  35,  gegen  den  auch  meine  oben  citierte  arbeit  s.  12.127  zu  vergleichen 
ist.  ^  so  schon  im  Rolandslied  2, 2,2c.  26,2S.  2fc2,25.  155,3;  dann  auch  in 
höfischen  epen:  Tristan  v.  6SS9,  Wilhelm  von  Orleus  v.  15593,  Engelhard 
V.  4122,  Wolfdietrich  B  str.  902;  vgl.  auch  Kourad  von  Würzburg  Der 
weit  lohn  v.  130.  15b. 


MINISTERIALITÄT  UND  RITTERDICHTUNG         1311 

Erklären  sich  besiegte  als  eigen  des  Siegers,  so  steht  hier 
das  bild  der  ursi)rünglicheu  bedeutimg  noch  am  nächsten  '. 

Dieser  übertragene  gebrauch  auf  der  einen,  die  zunehmende 
zahl  der  ministerialen  auf  der  andern  seite  lassen  das  wort 
(Uenstman  schliei'slich  auch  für  freie  ritter  oder  lehnsmannen 
überhaupt  verwant  werden,  ohne  dass  an  ein  specielles  minis- 
terialitätsverhältnis,  tatsächliche  eigenschaft  dabei  noch  gedacht 
würde  -'.     das  ist  die  letzte  entwicklung. 

Eine  besonders  grofse  rolle  spielen  die  ministerialischen 
abhängigkeitsverhältnisse  in  conventionellem  bildlichem  gebrauche 
im  deutschen  minnesang.  darauf  will  ich  etwas  näher  eingehn, 
da  von  hier  aus  auch  die  frage  nach  dem  Ursprung  und  der 
Selbständigkeit  des  deutschen  minnesangs  eine  neue  beleuchtung 
erfährt. 

Dass  die  deutsche  höfische  13'rik  sich  zunächst  aus  selb- 
ständiger Wurzel  entwickelt  habe,  das  scheinen  mir  entgegen 
der  auch  heute  noch  litterarisch  am  stärksten  vertretenen  ansieht 
von  der  nachahmung  romanischer  Vorbilder  schon  chronologische 
erwägungen  nahe  zu  liegen,  nach  dem  zeugnis  Heinrichs  von 
Melk  (Erinnerung  v.  607  ff)  ist  das  preisen  der  frauen  ein  typi- 
scher zug  des  deutschen  rittertumes  um  1160,  das  heifst  zu  einer 

*  Eolandslied  305,15  'ich  löirde  hie  se  stete  diu  man';  Alexanderlied 
V.  1177  ff.  'da  mit  er  (Darius)  mir  (Alexander)  behaute  da:-  er  f-iih  mir 
seinen  icelle  [/eben';  Eosengarten  A  str.  377  f,  Dietrich  sagt,  nachdem  er 
Gibich  besiegt  hat: 

'iuwer  cater  Gibeche  mito;  min  eigen  sin. 
stete  bürge  Hute  und  ouch  darsuo  diu  lant 
muos  er  se  lehen  enpfähen  oon  unser  frien  hanf. 
.  .  .   also    wart    der  bünec    eigen    und  ouch  cd  sin  guot.      der  Rosen- 
garten D,    die  thüringische  fassung,    spricht    (str.  566.  564.  573)   nur  von 
sin  undertan;  se  dienste  brüht,   zu   lehen   empfangen   udgl.  -  vgl. 

s.  128  meiner  oben  citierten  arbeit.  —  in  manchen  der  sogenannten  volks- 
epen  erscheinen  die  dienstmannen  als  ausschliefsliche  begleiter  und  kämpfer 
ihres  herrn.  —  der  reimchronist  Ottokar  sagt  von  drei  königen,  die  vom 
könig  von  Ungarn  lehnsabhängig  sind:  und  dienent  im  als  sin  die/ist- 
man  (v.  41348).  Partonopier  redet  seine  fürsten  an :  'nü  Sit  ir  miue 
dienestmcm  (v.  18826,  vgl.  18819).  ähnlich  sagt  SOswald  zu  seinen  Unter- 
tanen: königen,  herzogen,  grafen:  'ir  herren,  ir  .<i'lt  mir  triire  erzeigen, 
ican  ir  sit  cd  min  eigen  (ed.  Ettmüller  v.  ;1494ff).und  im  Wolfdietrich 
B  (str.  763)  eine  königin  von  einem  grafen:  •nn  icccs  der  e  min  eigen, 
sol  ich  den  hän  se  einem  man?' 


140  KLrCKHOHN 

zeit,  da  die  bedeutenderen  und  am  weitesten  würkenden  Ver- 
treter der  provenzalischen  minnelj'rik  erst  eben  zu  dichten  be- 
gannen, da  ihr  einfluss  noch  nicht  nach  Nordfrankreich  gedrungen 
war ',  da  auch  in  Italien  die  troubadours  noch  nicht  zu  singen 
begonnen  hatten'-. 

Sodann  glaub  ich  auch,  dass  sich  das  aufblicken  zur  frau, 
die  frauenverehrung  —  diese  nmkehr  des  natürlichen  erotischen 
Verhältnisses,  wie  man  sagt  —  in  allmählicher  entfaltung  band 
in  band  mit  der  entwicklung  neuer  ritterlicher  lebensformen 
unter  ähnlichen  bedingungen  in  Deutschland  wie  in  Frankreich 
herausgebildet  hat.  denn  auch  bei  uns  lässt  sich  eine  allmähliche 
annäherung  an  diese  neue  Stellung  der  frau  beobachten:  das 
Waltharilied  zeigt  die  alte  form  des  brautwerbens;  das  mädchen 
fügt  sich  als  dienende  dem  manne,  anders  im  'Ruodlieb'.  die 
lierilis,  die  mit  Ruodliebs  neffen  verlobt  wird,  verlangt  von 
diesem:  ^serviat  obnixe  volo  quo  mihi  nocte  dieque'  (xv  55).  der 
Zusammenhang,  in  dem  diese  äufserung  steht,  ist  scherzhaft  ge- 
meint; allein  nicht  ganz;  sie  entspricht  immerhin  dem  selb- 
ständigen auftreten  des  mädchens  und  zeigt  uns  damit,  dass  schon 
im  elften  Jahrhundert  die  Stellung  der  frau  innerhalb  der  ritter- 
lichen gesellschaft  sich  zu  verschieben  begann  3.    die  entwicklung 

'  Nach  Jeanroy  Les  origines  de  la  poesie  lyrique  en  France  au 
moyen  äge  (Paris  1889  s.  306),  kam  die  ritterliche  provenzalische  dichtung 
kaum  vor  dem  zweitletzten  Jahrzehnt  des  zwölften  Jahrhunderts  nach 
Nordfraukreich. 

Jeanroys  versuch,  die  abhängigkeit  auch  der  ältesten  deutschen  lyrik 
von  romanischen  mustern  zu  erweisen,  hat  mich  nicht  überzeugen  können, 
die  parallelen,  die  er  (s.  292  ff)  anführt,  sind  entweder  zu  wenig  ähnlich, 
um  dies  beweisen  zu  können,  oder  können  das  schon  deshalb  nicht,  weil 
das  deutsche  gedieht  wahrscheinlich  ebenso  alt,  wenn  nicht  älter  ist,  als 
das  romanische,  so  hat  der  burggraf  von  Rietenburg  nachweislich  vor 
11S4  gedichtet,  Folquet  von  Marseille  dagegen  nach  Diez-Bartsch  IISO  bis 
1195,  Peirol  1180 — 1225.  —  ich  kann  zu  denen  bei  Jeanroy  noch  eine 
weitere  parallelstelle  hinzufügen,  bei  der  die  beeinflussung  des  deutschen 
ausdrucks  durch  den  provenzalischen  zeitlich  wol  weit  eher  möglich  wäre; 
doch  können  beide  auch  sehr  wol  selbständig  sein: 

Kürenberg  Sl5.  Bernhard  v.  Ventadour  xi.\5 

'J6  enwas  ich  niht  ein  her  'Ors  ni  leos  non  ets  po.s  (jes 

wilde,  so  sprafh  (hiz  ici/i.  que  m    aucisats  s' a  cos  nii  ren. 

^  vgl.  Casini  in  Gröbers  Grundriss  II  s.  73  und  Jeanroy  aao.  ^  auch 

an  andern  stellen  im  ßuodlieb  wird  der  frau  mit  grofser  ehrerbietung  l)e- 
gegnet;  vgl.  zb.  vii21. 


\ 


MINISTEEIALITÄT  UND   RITTERDICHTUNG        141 

schritt  fort,  das  zeugnis  Heinrichs  von  Melk  erwähnte  ich  schon. 
Wernhers  Marienleben  von  1172  ist  von  einer  zarten,  huldigenden 
auffassung  dem  weiblichen  wesen  g:eg-enüber  erfüllt,  der  dichter 
lässt  Joseph  durch  einen  engel  ermahnen:  'dine  ur  (Maria)  immer 
gerne  mit  vUze  und  mit  eren,  als  du  seist  ir  eigen,  des  evschaltn 
nilit  geweigern' ^ .  und  der  fromme  mann  spricht  denn  auch  von 
Maria  in  ausdrücken  dienender  erg-ebenheit. 

Dient  hier  Joseph  seiner  frau,  wie  wenn  er  ihr  eigen  wäre, 
freilich  auf  grund  einer  göttlichen  Sendung,  entbietet  weiter  in  der 
etwas  älteren  Kaiserchronik  ein  söhn  seiner  mutter,  der  königin. 
'dienest  und  minne'  (v.  8345),  so  ist  von  da  aus  der  Übergang 
zur  engen  Verbindung  der  begriffe  dienest  und  minne  im  engeren 
sinne  der  geschlechtlichen  liebe  nicht  mehr  weit. 

Drittens  aber  —  und  das  ist  das  wesentlichste:  in  Deutsch- 
land sind  die  conventionelleu  bildlichen  'ausdrücke  des  minne- 
dienstes  andere  wie  in  Frankreich  und  in  der  Provence. 

Wechfsler"  hat  durch  zahlreiche  belege  gezeigt,  dass  die 
provenzalischen  troubadours  in  der  darstellung  ihres  frauen- 
dienstes  viele  bilder  der  Sphäre  des  vasallitätsverhältnisses  ent- 
nahmen. Überaus  häutig  ist  das  vei'b  servire  in  der  proven- 
zalischen lyrik,  um  das  Verhältnis  des  dichters  zu  seiner  danie 
zu  bezeichnen^,  er  nennt  sich  auch  ihren  servidor^  und  servire'-; 
häutiger   noch    hom^,    litges'  udgl.,   sie   dagegen   seinen    senhor, 

'  Hartsch,  Beiträge  zur  quelleakunde  der  altdeutschen  literatur 
s.  43.  diese  stelle  steht  nur  in  den  Heidelberger  bruchstiickcn 
des  14.  jh.s,  die  aber  nach  den  Untersuchungen  Bruiniers,  Kritische 
Studien  zu  Wernhers  Marienleben  (dissertation  Greifswald  lb90)  dem 
original  näher  stehn  als  die  texte  von  Wien  und  Berlin,  auch  die 
unreinen  reime  sprechen  für  das  alter  der  oben  citierten  verse. 
2  'Vasallität  und  fra  uendienst'  (Zs.  f.  franz.  spr.  u.  litt,  bd.24  [1902],s.l59ff). 
ich  drücke  mich  oben  vorsichtiger  als  er  aus.  denn  dass  es  sich  um 
eine  bewuste,  ja  geforderte  technik  handle,  das  eigene  liebeswerben  sich 
genau  in  den  formen  der  einzelnen  stufen  des  vasallitUtsdienstes  abspielen 
zu  lassen,  das  scheint  mir  nicht  erwiesen  und  auch  nicht  zu  erweisen. 
^  vgl.  Wechssler  a.a.O.  s.  169  ff,  175  ff  und  dann  G.  de  Cabestaiug  iv 
Str.  38  'Que  tis  cunes  e  us  sertift'.  —  ich  citiere  die  troubadours  nach 
der  ausgäbe  von  Mahn  Werke  der  troubadours.  *  Arnaut  de  Marueil 

n.  in,  Pons  de  Capdoill  n.  x  gel.,  E.  de  Toulouse  xii  str.  23,  B.  de  Veutadour 
(Wechfsler  s.  167) ;  Peire  Vidal  ed.  Bartsch  n.  xiii  59  ff.  *  Peirol  xxn   1  v, 

^  ib.  XIV  45,  Peire  Vidal  n.  359,13,14,  Pons  de  Capdoill  x  gel.,  Augler  Novella 
IV  1  (Mahn  in  s.   17S).  '  Wilhelm  von  Saint  Didier  (Wechfsler  s.  165). 


142  KLUCKHOHN 

senhoratge '  und  ähnlich,  alle  diese  ausdrücke  sind  der  vasallitäts- 
sphäre  entnommen,  in  keinem  ligt  ein  hinweis  auf  den  stand 
unfreier  ritter,  die  den  deutschen  ministerialen  entsprächen,  auch 
servidor  und  servire  sind  nicht  so  aufzufassen  wie  Weclifsler 
(s.  167  21)  das  tut;  sie  können  vielmehr  auch  den  als  vasall 
dienenden  bezeichnen-,  entsprechend  der  bedeutung  des  lateini- 
schen scrvitor  im  13  jh.,  soweit  sie  nicht  eine  ganz  allgemeine 
bedeutung  haben,  ebenso  werden  die  ausdrücke  sich  ergeben 
{s'antrejar^,  se  rendre'')  und  'der  ihre  sein" "  sich  auf  vasallitäts- 
verhältnisse  beziehen,  das  beweist  ein  vers  von  Peirol  'a  lieis 
ni'aufrei  litges  deserenan''^,  während  ein  anderer  Augier  Novellas 
^Vostr  hom  suy  ses  tricharia  E  si  us  platz  podetz  m'  auclre'' 
uns  zeigt,  dass  sogar  das  vollkommen  übersichverfügenlassen  mit 
dem  bilde  des  vasalleuverhältnisses  vereinbar  ist.  wir  werden  da- 
nach auch  bei  versen  wie  ^sui  seus  per  vendr'e  per  dar'^,  ^Per 
vos,  dona,  a  cui  mi  sui  donatz' ^,  ^Per  qu'ieu  me  sui  del  tot  a 
vos  donatz' ^^,  ^que  vostr'  om  domenjatz  sui  cum  sera  compratr'^^ 
nicht  an  ein  ministerialisches  abhängigkeitsverhältnis  denken 
müssen,  um  so  mehr  als  das  bild  des  sichschenkens  ja  auch  aus 
einer  ganz  andern  Sphäre  stammen  kann,  der  des  haudels 
etwa'",     so  werden  wir  auch  den  übrigens  ziemlich  seltenen  aus- 


'  Wechfsler  s.  167  u.  a.,  176.  ^  vgl.  die  Verbindung  hom  e  sercire 

(Augier  Novellav3,  E.V.Toulouse  iv  3  4,  Pons  de  Capdoillxn  26),  'Midons  soi 
hom  et  amicäe  e  sercire'  (Diez  Poesie  der  troubadours  s.  138),  'sercidor  et 
amic     (Peire    Vidal  iv    12).  ^    'Quar    rostres    suy    e    per    costre 

m'autreV.  Amaut  de  Marueil  xi  5  4.  vgl.  Peirol  bei  Wechfsler  s.  169. 
*  'A  cos  mi  ren  per  far  costre  coman  Pons  de  Capdoill  xii  gel.,  vgl. 
derselbe  bei  Wechrsler  s.  177  und  B.  de  Ventadour  ib.  167.  —  'De  cor  a  cos 
renduti  G.  de  Cabestaing  v  3s.  ^  vgl.  o.  anm.  3.  —  'Sieus  sui  e  sieus 
serai  Jasse'  Peirol  i  6,7,  'per  qu  eu  sui  seus  e  serai  tan  quan  vica  Peire 
Vidal  4335,  'Non  die  ieu  tjes  que  totz  temps  sieus  nofos'  Pons  de  Capdoill 
111  3l.  *^  Wechfsler  s.  168,  vgl.  auch  ib.  s.  165  die  ersten  verse. 

■^   Mahn   iii   s.  178.  '^   Peire    Vidal    xiii    41.  "   Pons    de    Cap- 

doill XII  40.  '"  Amaut   de   Marueil  xii  str.  2.  ^'  R.V.Toulouse 

XII  3;  Wechfsler   s.   172;  vgl.  ib.  B.  de  Ventadour.  ^'■^  Es  ist  oft  mit 

der  möglichkeit  zu  rechnen,  dass  ein  bildlicher  ausdruck  zwei  ganz  ver- 
schiedenen lebenssphären  entnommen  sein  kann,  das  deutsche  undertän 
z.  b.  wird  sich  meist  auf  rechtliche  abhängigkeitsverhältnisse  beziehen,  aber 
der  dichter  kann  auch  durch  ein  ganz  anderes  bild  zu  diesem  ausdruck 
kommen,  wie  Dietmar  von  Aist  3834:  'der  bin  ich  icorrlen  undertän  ulx 
daz  schij'  dem  stiurem.an'. 


MINISTERIALITÄT  UND  RITTERDICHTUNG       143 

druck  scr.s'  nicht  bestimmt  auf  einen  unfreien  ritter  beziehen; 
dies  wort  kann  eben  auch  ein  gar  nicht  der  versallitätssphäre 
entnommenes  bild  sein,  um  niederste  Unterwürfigkeit  zu  bezeichnen, 
wie  in  der  Verbindung-  ohedlent  plus  qne  serf  »l  judeus'-. 

Dass  irgend  ein  bild  der  provenzalischen  troubadours  den 
Verhältnissen  unfreier  ritter  entnommen  sei,  ist  meines  erachtens 
aus  alledem  nicht  zu  erweisen^. 

Die  französische  minnelyrik  übernimmt  von  den Provenzalen 
die  bilder  des  vasallitätsdienstes.  Die  ausdrücke  servir\  Service '•y 
Jwmmage^',  lic/ement\  liges'^,  hom^.  signourage^^,  vasselaje^* 
u.  ähnl.  sind  in  ihr  häutig,  daneben  kommen,  seltener,  andere 
verwante  bilder  vor  wie  'sui  en  vostre  justice'  '*,  *a  vostre  de- 
ri.9f''-,  'en  sa  vouerie'^^,  *me  seux  donee'^^,  ^suis  vostre'^'^  und  ähn- 
liche, vereinzelt  servaje.  sergant,  wobei  aber  entweder  diese  werte 
mit  vasselaje  gleichstehn '",  oder  eine  allgemeinere  bedeutung 
haben '^  im  ganzen  sind  bei  den  Franzosen  diese  bilder  aus  dem 
vasallitätsdienste  viel  einförmiger  und  starrer  als  bei  den 
Provenzalen;  ministerialitätsverhältnisse  scheinen  mir  auch  hier 
nicht  vorzukommen. 

Auch  im  deutschen  minnesang  ist  das  wort  dienen  sehr 
häutig,    das  aber  vorher  schon  übertragen  gebraucht  wurde  und 

*  '.^tä  costre  sers  (serf)  leyalmeti  Pods  de  Capdoill  iv  4,  Arnaut 
de  ^larueil  xm  3;  'sui  vostre.''  bendizens  e  sers  obediens'  Peire  Vidal 
(Wechfsler  s.  171).  ^  Folquet  de  Romans  (Wechfsler  s.  172).  ^  um 

ganz  sicher  zu  gehn,  müste  man  die  gesamte  provenzalische  lyrik  darauf- 
hin [durchsehen,  ich  habe  das  noch  nicht  getan  und  kann  darum  hier 
nur    Vermutungen    aussprechen.  *    ich    habe    die    Sammlungen    von 

Mätzner,  Altfranzösische  lieder  (Berlin  1863)  und  Wackernagel,  Altfran- 
zösische lieder  und  leiche  (1846)  und  die  älteren  dichter  bei  Tarbe, 
Chansonniers  de  la  Champagne  (Eeims  1850)  daraufhin  durchgesehen,  dort 
fand  ich  sercir:  Mätzner  n.  i  43  (von  der  dame  gesagt),  v  7,  ni  29,  vni 
34,  IX  5.  18.  48;  xm  10  u.  ö.,  xiv  8.  16,  xvii  30,  xviii  25.  35,  xx  7.  24; 
XXI  11,  XXII  1  {seif/nours  sercir),  xxiii  6.  29,  xxiv  5.  27,  xxv  20,  xxvi  27. 
Wackernagel  n.  x,  xn,  xrv,  xxviii,  xxxiii,  xxxiv,  xlvi;  Tarbe  s.  1.  2, 
10.   11.  5  Mätzner  i  7,  26,  xiv  18,  xvm  30,  xx  26,  xxv  27,  xxix  6; 

Wackernagel  viii  13.  "  Mätzner  viii  41,  xm  34,  xxxvii  2.  ^  ib. 

XV  19.  *   'seux  res  lif/es  kons  sou{ifs'.  Wackernagel  n.  xlvi  str.  2. 

ä  Mätzner  i  32  u.  a.,  Wackemagel  xxviii.  '"  Mätzner  xm  37.  "  ih. 

xm  18.  '-  ib.  i  24.  ^^  ib.  i  19.  "  ib.  xxvii  31.  '^  Wacker- 

nagel xxxm  Str.  1  ib.  ix  str.  3:  'en  cos  ai  mis'.  '"  Tarbe  s.  2.  Wacker- 

nagel XXXIII   str.  2 :    'rui  sui  et  seuse  et  serai.  ''  Mätzner  xin  20. 

'•*  ib  XIV  38. 


144  KLUCKHOHN 

im  minnesang  selbst  noch  in  bildein  ganz  anderer  Sphäre  ver- 
want  wird '.  ja  mehrfach  nocli  das  Verhältnis  der  frau  zum 
manne  bezeichnet"-,  ob  in  den  meisten  fällen  bei  der  Verwendung 
dieses  wortes  an  vasallitäts-  oder  ministerialitäts-dienst  gedacht 
sei,  das  ist  aus  ihm  selbst  nicht  zu  entnehmen,  der  Zusammen- 
hang spricht  vielfach  für  letzteren. 

Der  dienst  wird  geboten,  d.  h.  dargebracht.^  es  wird  ein 
lohn  dafür  erwartet',  etwa  ein  kuss,  der  als  leheu  der  miune 
bezeichnet  wird^,  um  'genade'  gebeten.*  specialitäten  des  vasalli- 
tätsverhältnisses ,  die  im  provenzalischen  so  häufig  sind,  fehlen 
im  deutschen  fast  ganz,  nur  einmal,  von  Burkart  von  Hohenvels, 
wird  das  bild  des  lehnsmannes  breit  ausgesponnen',  der  um  ein 
lehen  bittet,  es  in  gewere  zu  haben  und  einen  zins  dafür  zu 
entrichten,  der  es  empfängt,  indem  er  nach  mannes  relü  seine 
bände  faltet. 


'  Qote     dienen     MFr.     96ll,2rt.      1S1S,25,     dem     heiser    und    den 
leihen     11622,     der    werlt    1647,     den    leuten    1695.  -    MFr.  3533. 

38 12  (Dietmar),  1331  (Meinloh),  106 212  (Rugge)  'nu  Jone  aU  ich  gedienet 
habe',  200  1t  iReinmar)  'im  z-e  dienste,  2155  i Hartmann)  'Du  solt  im  minen 
dienest  sa;/en'.  ^  MFr.   II4  (Meiuloh),  IS23  (Eietenburg),  1223.  1423C 

(Morungeu),  MSH.  i  45b  (Neifen),  156a.  160a  (Wintersteten)  u.  ä.  häufig. 
*  'Ich  iril  um  ein  lehen  nu  clehen  vrouwen  .  .  .'  MSH.  11  321b 
(K.v.Würzburg).  — 'Minne,  ich  diene  dir,  du  solt  solt  mir  geben  minnek- 
lichen'.     MSH.   i   52  b    (Neifen)  und  ähnlich.  ^  MSH.  i    20  b    (könig 

Wenzel   von   Böhmen),  24a  (graf  von  Kilchberg).  "  Das  ist  überaus 

häufig,  z.  b.  'nü  nim  mich  in  dine  gendde'  MFr.  372  (Dietmar); 
'Vrouwe,  habt  genäde  min  MS.  i  204  a  (Hohenvels);  'unt  icil 
üf  genade  nige/i  MSH.  11  72  a  (Trostberg).  solche  und  ähnliche 
■Wendungen  (vgl.  auch  MFr.  7722  Gutenburg)  brauchen  nicht  immer  der 
Sphäre  der  lehnsverhältnisse  entnommen  zu  sein,  sind  es  aber  meist,  seltener 
ist  die  Wendung,  dass  die  frau  genäde  widerseit  (MFr.  20616  Hartmann), 
cerseit  ir  genäde  (ib.   133  7  Morungen).  ''  MSH.  i  209.     vielleicht  ist 

auch  das  bild  bei  Morungen  (MFr.  135  3S),  zumal  in  Schönbachs  lesung 
(WSB.  141  s.  137):  'min  hende  ir  calde  ich  und  nige  üf  ir  fuos'  und 
das  verwante  im  Frauendienst  394  2G:  'min  hende  ich  ralde  mit  triicen 
algernde  üf  ir  füese'  der  lehnssphäre  entnommen;  doch  braucht  das  falten 
der  hände  nicht  ausschliefslich  als  zeichen  eines  vasallitischeu  ergeben- 
heitsverhältnisses  aufgefasst  zu  werden,  wie  gewis  nicht  bei  Veldeke  (MFr. 
58 15):  'dem  wünsch  ich'  des  paradises  tinde  ccdde  im  mine  hende'.  — 
bei  dem  bilde  des  um  Urlaub  bittens  (z.  b.  MSH.  i  154  b  Wintersteten)  und 
anderen  ist  es  ebenfalls  ganz  unsiclier,  ob  sie  der  vasallitätssphäre  ent- 
nommen sind. 


MINISTERIALITÄT   UND  EITTERDICHTUNG          1  I.3 

Hier  ist  der  dichter  der  »um  seiner  g-eliebten.  dies  wort 
entspricht  dem  französischen  Jiom.  im  gegensatz  zu  diesem  aber 
kommt  es  im  deutschen  minnesang  so  gut  wie  gar  nicht  vor;  bei 
Heinrich  v.  Morungen  rührt  die  Verbindung  '/>•  vian  und  ir  diensf 
von  Haupt  her,  wogegen  schon  Paul  (PBB.  2,  549)  und  SchriJder 
(Zs.  33,  105)  protestierten;  sonst  nur  beim  Winli:  ^als  ir  mir  sit 
vrouive,  als  hin  ich  in  man''^.  an  diesen  zwei  oder  drei  stellen  hat 
das  wort  die  bedeutung  des  lehnsmannes  oder  vielleicht  auch  des 
dienstmannes.  ein  ander  mal  erscheint  es  als  bezeichnung  des 
geliebten;  'daz  ich  der  liehen  vrotiwen  min  sohle  heizen  werder 
man''',  es  mag  sein,  dass  eben  wegen  dieser  do'ppelten  bedeutung: 
lehnsmann  und  geliebter  das  wort  man  manchmal  gemieden 
wurde  —  auch  jener  vers  des  Winli  könnte  immerhin  eine 
doppelte  Interpretation  zulassen;  ich  glaube,  dass  es  hier  für 
lehnsmann  steht.  —  in  den  meisten  fällen  aber  würde  es  aus 
dem  zusammenhange  doch  vollkommen  klar  geworden  sein,  in 
welcher  bedeutung  das  wort  gemeint  sei.  in  dieser  doppeldeutig- 
keit kann  demnach  nicht  der  einzige  grund  dafür  liegen,  dass 
das  wort  )nan  im  deutschen  minnesang  sich  nur  in  verschwindend 
wenig  fällen  —  ich  zählte  vier  im  ganzen  —  ündet. 

Auch  andere  worte,  die  den  vasalleu  bezeichnen,  werden 
von  deutschen  minnesingern  nie  verwant,  um  ihr  Verhältnis  zu 
ihrer  dame  auszudrücken,  das  wort  ritter  etwa,  nur  Ulrich  von 
Lichtenstein  nennt  sich  einmal  so,  aber  mit  dem  zusatz: 
eigen:  'ir  eigen  ritter  (Frauendienst   1 7  1:). 

Dagegen  bezeichnen  die  dichter  sich  häufig  als  V?ie«.sYmrt«' ihrer 
dame 'S  oder  der  minne",  auch  verstärkt  als  'eigen  dienstman'^  und, 

'  MFr.  130  20.  der  dienst  für  diener  ist  in  Deutschland  selten,  vgl. 
Kotzeuberg  aao.  s.  16.  der  ausdruck  findet  sich  noch  einmal  bei  Kein- 
mar  17Gll,  einmal  im  Wolfdietrich  A  str.  234.  vgl.  auch  unten  s.  147 
anm.  4.         2  j^gH.  11  28  a.  Mb.   i  104  a  (von  Gliers).         "  Hartmann 

I  r.iichlein  v.  1507;  U.v.Lichtenstein,  Frauendienst  S21.  1007.  112l.  13322. 
30S32.  47720.  4990.  51631. 5602. 5622(;,  Frauenbuch  59415;  Neidhart  s.  16. 122; 
MSH.  1  52b  (Neifen),  104  (Gliers),  34Tb  (Ehcnhein)  11  305a  (Hadloub). 
häufig  findet  sich  das  wort  auch  in  epeh  im  gleichen  sinne,  so  im  Parzival 
19911.  5S014.  6947.  7152'.i.  74021;  Wigalois  v.  9677;  Tandareis  v.  10076, 
10472.  10587;  Wilhelm  von  Orlens  v.  8922.  15658;  Stricker,  Kleinere 
gedichte    (hg.  v.  Hahn)    xu    402.  *  MSH.   i  109b    iTiufenl,    11    265a 

(Rudolf  der  Schreiber),  300a  (Hadloub),  317a  (Komad  v.Würzburg),  364b 
(der  wüde  Alexander).  ^  ;^jsh   j  26b  (graf  v.Kilchbergi,   90b  (Saxi. 

Z..F.  D.  A.  LH.     N.  F.  XL.  10 


146  KLUCKHOHN 

ganz  gleichbedeutend,  ^eigen  man ' ',  ^elgen  dienen  oder  einfach'  'eigen'^, 
^eigenlichen'*.  sie  gehen'',  nigen^,  bieten',  oier  jehen'^  sich  ihrer 
dame  oder  der  minne  vür  eigen,  wollen  ihr  vür  eigen  leben^, 
dienen  ihr  eigenlichen^'^,  sind  ihr  gebunden  gar  mir  eigen  ^\  dienst- 
lich gar  din  eigen  ^^,  geborn  ze  dienste  ir  werdekeit"  usw. 

In  allen  diesen  ausdrücken  ist  die  beziehung  auf  die 
Sphäre  des  ministerialitätsdienstes  unverkennbar,  wenn  Winter- 
steten sich  abwechselnd  eigen  diener  und  diener  seiner  geliebten 

i   MHS.    I  113  a  (Hamle),    282  b    (Schwangau).  -  MHS.    i    17  b 

(herzog  von  Brabant),  150b.  151a  (Wintersteten);  ii  21a  (Luppin), 
ä  MFr.  7125  (Gutenburg),  8234  (Fenis);  Walther  v.d. Vogelweide  11624. 
2178;  MSH.  i  16a  (herzog  von  Brabant),  29b  (Botenlauben),  57b.  58b 
(Neifen),  64  a  (Hornberg),  66  b  (Warte),  88 b  (Rotenburg),  148  a.  156a. 
167  b  (Wintersteten),  282  b  (Schwangau),  289  b  (Singenberg),  305  a  (Heinzen- 
burg),  II  23  a.  24  b  (Wizense)^  27  b  (Dürink),  28  a  (Winli).  der  dichter 
sagt:  ich  bin  nicht  mehr  min  selbes  eü/en^  (MSH.  ii  30b  Winli),  sondern 
'iiuoer  (der  dame)  rri/es  eif/e7i'  (MSH.  i  44b  Neifen);  'nü  bin  ich  din 
ledig  eigen,  worden  gcw'  (MSH.  ii  265  b  Rudolf  der  Schreiber),  die  dame 
sagt:  'wcBT-  er  miJi  eigen  den/ie,  irh  Uese  in  üri'.  (MFr.  110 10  Rugge). 
vgl.  ferner  Wilhelm  von  Orlens  v.  6879,  die  'Heidin'  (Gesamtaben- 
teuer n.  18)  V.  7784  u.  a.  im  Borten  (ib.  n.  20)  v.  717  sagt  ein  mann 
zu  einem  andern  in  bewuster  copierung  der  ausdrücke  des  minnedienstes: 
'ich  teil  iuicer  eigen  sin'.  ^  MSH.  i  78a  (Rotenburg),  92b.  93a  (Sax), 

354b  (Landegge).  ^   MFr.  4021    (Dietmar),    18218   (Reinmar);   MSH.  i 

19  a  (Neuenburg),  203  a  (Hohenvels);  ii  130  b  (Teschler),  160  b  (Gresten), 
226b  (Obeniburg).  'do  gab  ich  mich  dir  als  eigenlichen,  daz  ich  dir 
die  eigenschaft  nie  sit  serbrach'  MSH.  i  296b  (Singenberg).  'mich  selben 
hän  ich  dir  gegeben'  ib.  ii  166  b  (Gv.d.Forste).  ähnlich,  ohne  cur  eigen 
MFr.  7122.  7732  (Gutenburg:  'ich  ergibe  mich  unde  enbar  an  ir  gendde 
gar).  MSH.  I  111b  (Stretlingen),  288b  (Singenberg).  —  vgl.  auch  Frauen- 
dienst 98,  Peter  r.Staufenberg  v.  417  ff,  die  Heidin  v.  633  ff.  823.  "  MSH.  i 
202  a    (Hohenvels),    345  b    (zum   Turne).  "  MSH.  i    33  a   (Hohenburg), 

280b  (Schwangau).  **  MFr.  89lS  (Johannsdorf),  Walther  v.d. Vogelweide 

112211;  MSH.  ii83a  (Tannhäuser), 'in418a  ungenannt.  —  die  frau  im  tagelied 
dem  ritter  sich  'vür  eigen  jach'  MSH.  ii  67  a   (Hornberg).  '■•  MSH.  i 

93b  (Sax),  306b  (Seven.  'ich  was  cii,  nü  hat  min  her:-e  sich  ergeben, 
in  der  dienste  ich  muoz  ersterbe/i,  eines  wlbes,  der  ich  muos  cur  eigen 
leben'),  n  182b  (Samen),  ähnlich,  ohne  cur  eigen:  'ich  hän  ir  eil  ma nie 
jdr  gelebt'  MFr.  17211  (Reinmar),  'der  ie  min  lip  al  einer  lebt'  MSH.  i 
29b  (Botenlauben).  >o  MSH.  i  53a.  61  b  (Neifen).  '»  MSH.  i  164a 

(Wintersteten),  ib.  133a  (Limburg):  'in  ir  dienst  bin  ich  gebunden,  vgl. 
'cur  eigert   ir  gebunden'   Partonopier  v.  1591.  7240f.  '-  MSH.  i  173b 

(Wintersteten).  '^    MSH.  i    78  b    (Rotenburg),      ähnlich    MFr.    15926 

(Reinmar). 


MINISTERIALITÄT  UND  RITTEEDICHTUNG        147 

nennt  ' ,  wenn  der  Düring  sagt  ^daz  ich  ir  eigen  luv  und  ir 
gesinde'',  Hohenburg  sich  als  undertän  seiner  frau  ze  eigen 
bietet^  und  Walther  sich  seiner  daine  eigenUchen  undertän 
erklärt  (12016),  so  werden  wir  annehmen  dürfen,  dass  auch  in 
andern  fällen,  in  denen  die  dichter  sich  diefner" ,  gesinde ''  nnd 
undertän''  ihrer  dame  nennen,  sie  ihre  ergebenheit  ihr  gegenüber  mit 
den  bildern  dienstmännischer  abhängigkeit  bezeichnen  wollen,  ob- 
wol  diese  worte  an  sich,  ebenso  wie  das  meist  niedriger  stehnde 
knehf,  auch  andere  abhängigkeitsverhältnisse  ausdrücken  könnten, 
das  gleiche  werden  wir  sagen  dürfen,  wenn  der  sänger  sich  in  der 
gewalt  seiner  geliebten  fühlt**,  sie  seiner  gewaltic  isf\ 

Mag  man  so  in  einzelnen  fällen  auch  verschieden  inter- 
pretieren können,  das  dürfte  aus  der  fülle  der  eben  gegebenen 
belege  doch  deutlich  hervorgehn,  dass  im  deutschen  minne- 
sang  das  ergebenheitsverhältnis  des  liebenden  seiner  dame  gegen- 
über vielfach  mit  dem  bilde  des  ministerialenverhältnisses  aus- 
gedrückt wird,  fast  nie  aber  mit  dem  des  vasallitätsverhältnisses. 

Darin  scheint  mir  der  romanischen  haük  gegenüber  etwas 
neues   zu   liegen;    und  etwas    das  wir  schon  in  die  anfange  des 

^  eii/en  dienev  MSfl.  i  150b.  151a;  dwner  154b.  159a.  170a 
im    refrain.  2    mSH.  ii  27  b.  ^   MSH.    i  33  a.  *    MSH.  i 

73b  (Klingen),  11  307b  (Hadloub),  in  489b  (ungenannt),  vgl.  Willehalm  268. 
diener  steht  vielfach  mit  i/ieiistnuot  synonym,  wechselt  /.b.  mit  diesem 
Worte:  Partonopier  v.  20091.  20097,  Tandareis  10387.  12486.  •'  MFr. 

50 15  (Hausen),  'min  herze  ist  ir  i/t;/esinde'.  dasselbe  bild  findet  sich  auch 
sonst,  in  andern  Verhältnissen,  zb.  'so  bin  ich  der  weit  f/esinde'  MSH.  11 
129b  (Teschler),  'Jrimer  liät  mich  gin'jefiindet'  MSH.  i  202a  (Hohenvels). 
«MFr.  402«  (Dietmar),  435.  5124.  523C  (Hausen),  633.".  (Veldeke),  7129. 
782  (Gutenburg),  1050  (Eugge),  148 IS  (Adelnburg),  15930  (Reinmar) ; 
MSH.  I  17a  (herzog  von  Brabant),  17b  (Neifen),  74b.  76b.  82b  (Rotenburg), 
96a  (Frauenberg),  139b.  143a.  154b.  161a.  167b  {üf  f/e/tfide,  Wintersteten), 
208b.  209b  (Hohenvels),  296a  (Singeuberg),  11  70b  (Püller),  75b  (Oukheiu), 
m  331b  Niune,  446b  (ungenannt).  —  von  der  frau  gesagt  MFr.  I62.  — 
die  enge  begriffliche  Verbindung  des  wortes  'untertan'  mit  'dienst'  in 
den  meisten  fällen  geht  auch  aus  herzog  Ernst  B.  v.  2092 f  'd((r((tn  icir 
immer  saht  ■■^in  dir  mit  dienert  undertnrt ,  ähnlich  ib.  2S91 ;  aus  Tandareis 
V.  17949  verglichen  mit  17956,  aus  Parzival  199 11  'dienstman  die/ist- 
lirher  dienste  undertän  aus  der  Heidin  v.  S23f  u.  a.  hervor,  undertfenir 
MSH.  I   109  b  (Tiufen).  '^  MSH.  i  76  b    (Rotenburg),    132  a    (Limburg), 

347a  (Ehenheim).  einen  hnelit  MSH.  i  lUb  (Stretlingen),  11  282b 
(Hadloub).    vgl.  ferner  Tandareis  v.  11525,  Heidin  v.  924  u.  a.  »  MSH.  i 

155  b  Wiutersteten.  ''  MSH.  i   132  a    (Limburg),     i57a   (Wintersteten). 

10* 


148  KLUCKHOHN 

deutschen  miunesanges  zurückverfolgen  können,  in  einem  der 
lieder  Dietmars  von  Aist  findet  sich  der  vers  ril  yar  ir  eigen 
ist  min  Up\  ich  glaube,  man  darf  dies  nicht  neuhochdeutschem 
empfinden  entsprechend  mit  ich  hin  dtn  -  und  ähnlichem  in  i)arallele 
setzen  —  das  eigen  trägt  mittelhochdeutsch  einen  starken  ton  — , 
sondern  der  vers  beruht,  worauf  schon  Paul  gegenüber  Scherer 
hinwies,  auf  einer  dem  frauendienst  mindestens  verwanten  an- 
schauung  oder  empfindung.  das  beweisen  die  vielen  oben  an- 
geführten beispiele.  pointiert  gesagt:  es  handelt  sich  um  ein 
bewust  gebrauchtes  bild,  entnommen  der  Sphäre  des  mini- 
sterialitätsdienstes"'.  dies  lied  gehört  aber  zu  den  ältesten  des 
deutschen  minnesanges.  seine  entstehungszeit  ist  freilich  um- 
stritten, nach  Lehfeld"*,  dem  ich  mich  anschlief sen  möchte,  ge- 
hört es  in  die  zeit  1160  —  70;  nach  Scherer  erst  in  den  anfang 
der  achtziger  Jahre,  in  eine  zeit  also,  wo  provenzalischer  ein- 
fluss  eben  zu  würken  beginnen  mochte,  doch  auch  bei  dieser 
datierung  kann  der  frauendienst,  dessen  anfange  dies  gedieht 
zeigt,  nicht  gut  auf  romanischen  einfluss  zurückgeführt  werden, 
denn  wäre  er  in  Deutschland  etwas  so  unerhört  neues  gewesen, 
so  würde  das  doch  zunächst  mit  möglichst  getreuer  nachahmung 
der  betreffenden  Conventionellen  ausdrücke  übernommen  worden 
sein,  statt  dass  man  nur  die  anschauung  entlehnte  und  einen 
neuen  bildlichen  ausdruck  dafür  schuf,  und  dies  gilt  ganz  all- 
gemein, auch  wenn  man  meine  Interpretation  jenes  verses  von 
Dietmar  nicht  anerkennen  mag. 

Es  ergibt  sich  hieraus  die  relative  Selbständigkeit  des 
deutschen  minnesanges  und  des  deutschen  frauendienstes,  von  der 
ich  oben  sprach;  und  wir  gewinnen  die  erkenntnis,  dass  trotz 
der  unzweifelhaft  starken  abhängigkeit  des  deutschen  rittertums 
vom  französischen  jenes  doch  so  manches  dem  romanischen  ver- 
wante  selbständig  entwickelt  oder,  wenn  auch  beeinflusst  von 
der    romanischen    gesellschaf t ,    doch   in    ganz  eigener  form  zum 

*  MFr.  33 15,  vgl.  4021  'der  ich  den  llp  hdn  gegeben  cur  evjen' . 
ob  dieses  lied  auch  Dietmar  zugehört,  ist  freilich  sehr  zweifelhaft. 
-MFr.  li;    ähnlich  599;    MSH.  i   166a,    ii   83a.  ^    die   beteuernden 

Worte  eil  r/ar  sprechen  m.  e.  nicht  gegen  eine  solche  rechtliche  Situ- 
ation, denn  das  gar  findet  sich  unter  den  oben  angeführten  belegen 
mehrfach  zu  dem  eigen  hinzugesetzt,  so  MSH.  i  29  b  (Botenlauben), 
1<>4  a.  173  b  (Wintersteten),  ii  l32  b  (Samen),  160  b  (Gresten),  265  b 
(Rudolf  der  Schreiber).  *   PBBeitr.  2,  371. 


MINISTERIALITÄT  UND  EITTERDICHTÜNG       149 

ausdruck    gebracht   hat:    eigeueii   lebensbediugungeu.    dem    mini- 
sterialeucharakter  der  mehrzahl  seiner  Vertreter  geraäfs'. 

II. 

DER  STAND  DER  EINZELNEN  SÜDOSTDEUTSCHEN 
DICHTER  DER  HÖFISCHEN  ZEIT. 

1.    Die  lyrischen    dichter. 

Dem  bisher  dargelegten  entspricht  es,  dass  die  überwiegende 
mehrzahl  der  deutschen  minnesänger  dem  stände  der  ministerialen 
angehörte,  das  hat  vor  allem  der  aufsatz  von  Aloys  Schulte, 
■Standesverhältnisse   der  minuesinger'    (Zs.  39)   deutlich   gezeigt. 

Allein  gerade  Schulte  gegenüber  seh  ich  mich  zu  einigen 
einschränkenden  bemerkungen  veranlasst,  die  die  Schwierigkeit 
der  Standeszuweisung  bei  den  einzelnen  dichtem  heraustreten 
lassen  sollen. 

Die  angaben  der  grofsen  liederhandschriften  sind  ganz  un- 
zuverlässig, selbst  wenn  Schulte  mit  allen  aufstellungen  seiner 
arbeit  recht  hätte,  so  hätte  allein  der  recht  beträchtliche  umfang 
der  von  ihm  den  Schreibern  der  grolsen  Heidelberger  handschrift 
zugestandenen  Irrtümer  ihn  davor  bew^ahren  sollen,  die  these 
n.  5  aufzustellen:  'wir  haben  nach  alledem  recht,  bei  einem 
seinen  lebensumständen  nach  unbekannten  minnesänger  den 
Charakter  der  gruppe  auf  ihn  zu  übertragen,  mit  um  so  gröfserer 

'  Schon  Schönbach  wies  ( Bettelheims  Biographische  blätter  1.44)  auf 
einzelne  züge  in  der  ausbildung  und  gestaltung  derselben  motive  hin,  in 
denen  sich  der  dfeutsche  minnesang  vom  romanischen  unterscheidet,  und  be- 
tonte auch  die  bedeutung  der  ministerialität  in  Deutschland  als  eventuell 
wichtig  für  solche  differenzen.  wenn  er  dies  aber  dahin  formuliert,  'dass 
die  deutschen  sänger  die  frauenhuldigung  sofort  in  die  formen  des  lehens- 
dieustes  bringen,  das  rainnewesen  feudalisieren'  ('Die  anfange  des  minnesangs' 
s.  95),  so  wird  er  durch  Wechfslers  nachweise  widerlegt,  und  keineswegs 
ligt  der  hauptunterschied  zwischen  dem  deutschen  und  französischen  minne- 
sang in  einer  gröl'seren  ständischen  differenzierung  von  dame  und  sänger  in 
Deutschland,  in  dem  Sehnsuchtscharakter  des  liedes,  der  sich  daraus  ergeben 
soll,  denn  erstens  waren  die  troubadours  vielfach  niederen  Standes  (vgl. 
Wechfsler  s.  187);  und  zweitens  überschätzt  Schönbach  die  standesunter- 
schiede  zwischen  freien  und  ministerialen  innerhalb  der  höfischen  gesell- 
schaft,  in  Österreich  zumal,  war  die  besungene  fürstlichen  ranges,  so  stand 
ein  freier  ritter  ziemlich  gleich  weit  unter  ihr  wie  ein  dieustmanu;  war 
sie  das  nicht,  so  kann  sie  ebensogut  eine  dame  aus  ministerialengeschlecht 
wie  aus  freiem  gewesen  sein. 


150  KLUCKHOHN 

Wahrscheinlichkeit,  je  näher  die  heiniat  an  Zürich  rückt.'  das 
ist  methodisch  verfehlt. 

Und  um  so  gefährlicher  darum,  weil  die  ergebnisse  vonSchultes 
Untersuchungen  keineswegs  so  sicher  sind,  wie  viele  mit  ihm 
angenommen  haben,  meines  wissens  hat  zuerst  Wallner  ('Herren 
und  spielleute  im  Heidelberger  liedercodex,'  PBBeitr.  33,  4S3ff) 
naheliegende  und  schwerschwiegende  bedenken  gegen  Schulte 
ausgesprochen,  danach  ist  der  anteil  der  phantasie  bei  der 
Zeichnung  der  wappen,  noch  mehr  bei  der  der  bilder.  ein  recht 
beträchtlicher  gewesen,  was  irgendwelche  rückschlüsse  aus  diesen 
verbietet,  vor  allem  bei  nicht  alemannischen  dichtem,  die  an- 
ordnung  Schultes  ist  dahin  zu  ändern,  dass  Mure  und  Morungen 
schon  zur  gruppe  der  dienstmanuen  gehören,  womit  die  auch 
sonst  mehrfach  durchbrochene  Scheidung  von  reichsministerialen 
und  andern  fortfällt,  und  dass  Schultes  vierte  gruppe,  ein  con- 
glomerat,  in  dem  eine  einheit  kaum  zu  erkennen  ist,  nebst  einem 
rest  der  dritten  von  n.  7;^  ab  überhaupt  nicht  zu  der  ursprüng- 
lichen, ständisch  geordneten  Sammlung  gehört,  sondern  einen  un- 
geordneten nachtrag  darstellt,  das  hat  "VVallner  meines  erachtens 
einleuchtend  bewiesen,  sodann  hat  er  auch  darauf  hingewiesen, 
dass  Schultes  einteilung  die  niederen  ritter  gar  nicht  berück- 
sichtigt, sondern  mit  den  dienstmannen  identiticiert.  darin  aber 
ligt  gerade  wol  die  gröfste  Schwierigkeit,  zu  unterscheiden 
zwischen  einem  dienstmann  oder  freiherrn  auf  der  einen  und  dem 
ihm  zugehörenden  eigenritter  auf  der  andern  seite;  da  letzterer 
das  gleiche  besitzprädicat  führen  kann ,  eine  vielfach  nicht  mit 
gewisheit  durchzuführende  Scheidung. 

Daraus  ergibt  sich:  aus  den  handschriften  können  wir  über 
den  stand  eines  dichters  keine  sichere  auskunft  erhalten,  ihn, 
auch  wenn  wir  seinen  familiennamen  kennen,  mit  urkundlich  be- 
legten personen  des  gleichen  namens  zu  identiticieren ,  ist 
schwierig,  der  eigenritter  von  seinem  herren  dabei  kaum  zu 
trennen. 

Aber  auch  die  inneren  kriterien  geben  uns  nicht  immer 
sichere  aufschlüsse.  dafür  nur  ein  drastisches  beispiel:  Friedrich 
von  Sonnenburg.  Burdach  spricht  von  der  aristokratischen  ge- 
sinnung,  von  der  dieser  erfüllt  sei;  'so  scheidet  er  sich  selbst- 
bewust  von  der  gewöhnlichen  schar  der  fahrenden,  durchaus 
höfisch-weltlich    sind    seine   tendenzen"   usw.     Schulte  aber  sagt: 


MINISTEEIALITÄT  UND  RITTERDICHTUNG        151 

'wer  bei  Friedrich  von  Sonnenburg  geneigt  sein  könnte 

ihn  für  adlich  zu  halten,  der  sehe  sich  einmal  die  treffliche 
Charakteristik  Sonneuburgs  von  Roethe  an,  der  den  dichter  in 
das  richtige  milieu  setzt,  danach  kann  es  gar  kein  zweifei  sein, 
dass  Sonneuburg  ein  fahrender  lehrdichter  bürgerlichen  Standes  war.' 

Trotz  all  diesen  Schwierigkeiten  hat  mühevolle  einzelarbeit 
für  einen  grofsen  teil  der  deutschen  liederdichter  schon  sicheren 
boden  gewonnen,  wenn  ich  im  folgenden  die  ergebnisse  der  bis- 
herigen forschungen  zusammenstelle  und  ergänze,  so  will  ich 
mich  auf  die  dichter  Südostdeutschlands  beschränken,  da  mir  das 
quellenmaterial    für   diese   gebiete   vertrauter   ist  als  für  andere. 

Unter  den  älteren,  denen  die  in  Minnesangs  Frühling  auf- 
genommen sind,  ist  der  burggraf  von  Regensburg,  mit  dem  der 
von  Rietenburg  doch  wol  identisch  ist,  unzweifelhaft  ein  freier. 
Dietmar  von  Aist  ist  wahrscheinlich  derselbe  mit  dem  urkundlich 
belegten,  1171  schon  verstorbenen  freiherren  dieses  namens'- 
Scherer  freilich  setzt  ihn  später  an;  wir  müssen  mit  der  mög- 
lichkeit  rechnen,  dass  die  unter  seinem  namen  überlieferten  lieder 
von  zwei  verschiedenen  dichtem  herrühren,  dass  einer  dieser 
oder  auch  der  dichter  ein  jüngerer  ritter  des  freiherrn  von 
Aist  war.  Sicherheit  über  den  stand  des  dichters  haben  wir 
also  nicht. 

Dagegen  möcht  ich,  im  Widerspruch  mit  der  grofsen  Heidel- 
berger und  der  Weingartener  handschrift  und  mit  der  allgemeinen 
ansieht  Engelhart  von  Adelnburg  mit  bestimmtheit  für  einen 
freien  halten". 


'  zu  deD  quellenstellen  in  MFr.  s.  248  ergänze  Hauthaler  Salzburger 
urkundenbuch  i  s.  375  c.  1140  (früher  abgedruckt  Zs.  37,  420  von  vGrien- 
berger).  -   in  allen  von  der  bisherigen  forschung  gefundeneu  zeugeu- 

listen,  in  denen  ein  mann  dieses  namens  vorkommt,  steht  er  entweder 
an  erster  stelle  (so  in  einer  Urkunde  von  1202  im  Bamberger  archiv 
Brenner  Geschichte  von  Waldsassen  s.  26)  oder  zwischen  unzweifel- 
haft freien  und  ministerialen  in  der  mitte  (Monumenta  Wittelsbacensia 
in.  12a  1224)  oder  inmitten  freier,  letzteres  'ist  der  fall  in  den  Ur- 
kunden ib.  I  n.  18  a.  1230  und  Monumenta  Boica  ix  466  c.  1180.  in  der 
letzteren  folgen  ihm  Heinric  de  Biburc,  der  ib.  vii  431  c  1190  als  Tir 
jio/nlis'  bezeichnet  wird  und  häufig  in  zeugenlisten  als  erster  zwischen 
freien  erscheint  (vgl.  ib.  xiii  324,  xiv  194,  vii  488f;  xiii  5,  333,  xiv  137, 
IV  75,  258,  VIII  466,  494),  sodann  ein  Cunrat  de  Moseburc,  der  mit  dem 
gleichnamigen  grafen  identisch  sein  mag,  und  andere,  von  denen  Uatoldus 


152  KLÜCKHOHN 

Albrecht  von  Johanusdorf  und  Hartwig  von  Raute  waren 
wol  sicher  ministerialen,  letzerer  wahrscheinlich  dem  grafen  von 
Wasserberg  zugehörig',  ersterer  dem  bistum  Bamberg,  eventuell 
auch  Passau  ■.  —  Reinraar  von  Hagenau  gehört  seiner  herkunft 
nach  nicht  zu  den  Österreichern,  wol  aber  nach  seinem  schaffen 
und  würken;  er  war  wahrscheinlich  einem  dienstmannengeschlechte 
entsprossen,  kann  aber  auch  ein  eigenritter  der  reichministerialen 
von  Hagenau  gewesen  sein'*.  —  der  Kürnberger  war  wahr- 
scheinlich ein  ministerial'.  Meinloh  von  Sevelingen  war  dienst- 
mann der  grafen  von  Dillingen'',  der  bairischen  grenze  nicht 
allzufern. 

Unter  den  späteren  lyrikern  Südostdeutschlands  ist  keiner 
mit  Sicherheit  als  freier  nachzuweisen,  der  von  Suonegge  mag 
dem  steirischen  freiherrngeschlecht  von  Sanek  angehört  haben", 
kann  aber  auch  deren  ritter  gewesen  sein. 

Alle  andern  sänger  waren  entweder  dienstmannen  und 
eigenritter  oder  spielleute.  nicht  bei  jedem  lässt  es  sich  sicher 
entscheiden,  welcher  dieser  beiden  classen  er  angehört,  natürlich 
genug,  da  zwischen  armen  rittersöhnen,  die  fern  von  haus  sich 
durch  die  weit  schlugen,  und  den  bessern  dementen  bürgerlicher 
fahrender  die  grenzen  sich  leicht  mögen  verwischt  haben,  so 
lassen    sich    bei   Friedrich    von  Sonnenburg'    und    beim    Tanu- 

de  Relnprestorf  ib.  vii  487  ausdrücklich  unter  freien  genannt  wird  (vgl. 
auch  ib.  xiii  155,    aber   auch    122,  vii  487).  '  vgl.  Kummer  Herrand 

vou  Wildonie  s.  65f.  "-^  vgl.    MFr.    s.  269f    und    Zs.  30,    171  ff.     dort 

sucht  Wolfram  den  bischof  von  Bamberg  als  herrn  zu  erweisen,  freilich 
nicht  'mit  überzeugenden  gründen.  MFr.  und  Bartsch-Golther,  Lieder- 
dichter s.  xLi  halten  den  Johannsdorf  für  einen  Passauer  miuisterialeu. 
er  erscheint  in  Passauer  und  Bamberger  Urkunden.  ^    vgl.    Burdach 

Reinmar  der  Alte  und  Walther  von  der  Vogelweide  s.  4.  P>ur- 
dachs  ausdrucksweise  ist  hier  irreführend.  die  reichsministerialen 
gehörten  nicht  zum  hohen  adel.  sie  hatten  ihrerseits  auch  keine  dienst- 
mannen. "  MFr.  s.  230.  ^  MFr.  s.  232,  Bartsch-Golther 
s.  XXXVI.  ^  vgl.  ib.  s.  i.xxiv  und  die  dort  citierte  litteratur.  — 
die  hs.  C  rechnet  ihn  zu  den  unfreien  rittern.  "  die  handschrift  C 
nennt  ihn  'mei.<ter'.  es  gab  ein  Tiroler  geschlecht  wahrscheinlich  zur 
abtei  Sonnenburg  im  Pustertale  gehöriger  ritter,  unter  denen  der  name 
Friedrich  vorkommt,  vgl.  Zingerle  in  der  einleitung  seiner  ausgäbe  und 
Strauch  (Anz.  IV  50ff)  sowie  Grimme  (Germania  32,  34f):  alle  drei  halten 
ihn  für  einen  angehörigen  dieses  geschlechts,  jedenfalls  für  einen  ritter. 
anders  Roethe  in  der  ADB.  (bd  37,  780 ff j  und  Golther  (liederdichter  s.  Lxxv). 


I 


illNISTERIALITÄT  UND  RITTERDTCHTUNG        IT. 3 

liäiiser  '  für  die  eine  wie  für  die  andere  herkunft  momente  anfüliren, 
ohne  dass  ich  eine  sichere  entscheidung  zu  treffen  vermöchte, 
ganz  mit  recht  hat  Schulte  darauf  hingewiesen,  dass  so  manche 
ministerialensöhne,  die  der  herr  nicht  in  seinem  dienst  gebrauchte, 
für  die  eigengut  des  vaters  nicht  ausreichend  vorhanden  war  — 
wie  auch  vom  väterlichen  erbe  ausgeschlossene  freie''  —  auf  gut 
glück  in  die  weit  hinaus  ziehen  musten;  und  für  die  entwicklung 
der  höfischen  cultur  und  litteratur  fiel  diesen  eine  nicht  un- 
bedeutende Vermittlerrolle  zu.  aber  selbstverständlich  ist  daraus, 
dass  einzelne  ritterliche  dichter  fahrende  waren,  nicht  zu  schliefsen, 
dass  alle  wie  spielleute  umhergezogen  seien,  viele  waren  auf 
ererbten  gütern  sitzende  dienstmannen,  die  nur  in  mufsestunden 
sich  mit  höfischer  lyrik  befafsten,  wie  Ulrich  von  Lichtenstein 
und  Herrand  von  Wildonie,  die  eine  so  bedeutende  rolle  im 
politischen  leben  der  Steiermark  gespielt  haben. 

manche  seiner  Sprüche  lassen  in  der  tat  auf  ritterlichen  stand  schliefsen 
—  vgl.  auch  o.  s.  150  — ;  andere  widersprechen  dem,  eine  sichere  entschei- 
dung  ist  hier  nicht  zu  treffen,  jedesfalls  war  der  dichter,  auch  wenn 
ritterhürtig,  ein  fahrender  und  gehrender.  —  ein  geschlecht  von  Sonnenburg 
gab  es  auch  in  Osterreich;  es  zählte  dort  zu  den  landesministerialen  (vgl. 
Monumenta  Boica  xxxi*  s.  438,  xxix'»  s.  244  f).  auch  in  ihm  ist  der  name 
Friedrich  bezeugt  (vgl.  Fontes  rerum  Austriacarum  abt.  ii  bd.  18  n.  291). 
'  dass  er  zu  dem  Salzburger  •  ministerialengeschlecht  von  Tannhausen 
gehört,  wie  noch  Bartsch  und  Golther  s.  lxviii  und  RJOIeyer  in  der  ADB. 
annehmen,  ist  nicht  wahrscheinlich,  er  wird  von  einem  der  mehrfach 
belegten  orte  Tannhausen  stammen,  so  heifst  zb.  ein  dem  kloster  Neustift 
gehöriger  hof  (Mairhofer  TTrkunden  von  Neustift  n.  340.  341).  C  rechnet 
ihn  nach  Schulte  zu  den  dienstmannen,  in  seinen  gedichten  selbst  aber 
erscheint  er  nur  als  'der  Tanhüsicre'  (MSH.  it  82b.  90b).  an  einzelnen 
stellen  scheint  er  sich  gegen  die  herren  zu  contrastieren:  'Da:-  ich  :-e 
herreii  niht  eiurait,  das  müese  got  erbarmen'  (95b  und)  92b,  wo  er 
tausend  speere  verstechen  unter  den  unmöglichen,  naturwidrigen  taten  auf- 
zählt, die  seine  dame  von  ihm  verlange,  sicheres  ist  aus  diesen  stellen 
aber  nicht  zu  schliefsen.  er  ist  arm,  scheint  früher  reicher  gewesen  zu 
sein  (96  a),  lebt  ganz  von  anderer  gaben,  spielt  bei  der  dorflinde  zum 
tanze  auf  und  macht  bäurischen  dirnen  sinnlich  deutlich  den  hof.  er  ver- 
spottet höfisches  minnewerben  und  überrascht  zugleich  durch  die  kenntnis 
f ranzösich  -  höfischei-,  ja  auch  antiker  sagen  (85).  auf  grund  letzterer 
möchten  ihn  Scherer  in  seiner  Litteraturgeschichte  s.  214  und  Kück  (Anz. 
XVII  208)  zu  den  vagierenden  clerikern  rechnen,  dagegen  hat  Siebert 
(Tannhäuser,  Berlin  1894)  einige  beachtenswerte  gründe  vorgebracht,  ohne 
dass  seine  beweisführung  für  ritterliehen  stand  völlig  zu  überzeugen  ver- 
möchte. -  vgl.  Wolframs   "Willehalm   243 10  ff. 


1 54  KLUCKHOHN 

Für  bürgerliche  (oder  bäurische)  fahrende  halte  ich  folgende: 
Geltar ',  Dietmar  den  Setzer,  Kol  von  Neunzen,  den  Litschauer"", 
Kelin^,  Pfeffel ',  bruder  Wernher^,  Friedrich  den  Knecht'',  un- 
sicher scheint  mir  auch  der  stand  von  dem  von  Obernburg ",  von 
Kunz  von  Rosenheim*'  und  von  Niuniu'',  wenn  dies  nicht  gar 
blols  ein  sammlername  ist. 

Alle  andern  späteren  sänger  Südostdeutschlands  waren 
höchstwahrscheinlich  unfreie  ritter,  minist  er  iales  oder  milites. 
nämlich:  Eeinmar  von  Brennberg'",  Rapoto  von  Falkenberg", 
Zachäus  von  Himelberg  ^'-,  Ulrich  von  Lichtenstein  *^,  der  burggraf 

'  vgl.  Bartsch-Golther  s.  i.xxni,  Burdach  s.  131.  dass  ur  ein  fahrender 
ist,  geht  aus  seinen  gedichten  uuzweifelliaft  hervor.  C  gibt  ihm  das  prädicat 
her  in  grujjpe  i\-  nach  Schulte.  -  vgl.  über  diese  Kummer  Herrand  von 

Wildonie  s.  62  f.  ^  ygj  j^,  g_  gg_  i  q  führt  ihn  mit  dem  prädicat  her  in 
gruppe  iii  am  ende  vor.  '•>  vgl.  EMMej'er  ADB.  42,  470  ff  und   die  aus- 

führlichen   erläuterungen    Schönbachs    WÖB.    bd.  148,150.  ^  C    nennt 

ihn  he/,  der  inhalt  seiner  lieder  lässt  auf  einen  fahrenden  spielmaun 
schlielsen.  vgl.  auch  Burdach  s.  133.  er  selbst  nennt  sich  'der  hueht' . 
es  gab  familien  des  namens /»/e/*.  vgl.  Ried,  codex  diplomaticus  episcoi^atus 
Ratisponensis,  index;  Necrologia  Germauiae  ii  519  (13  u.  l.ö  jh.).  aus  dem 
15  Jahrhundert  ist  eine  nonue  'kuechtlin'  bezeugt.  (WSB.  xiu  110,  fragment 
eines    liber    dativus).  "  Kummer  s.  68.     vielleicht    gehört    er   zu   der 

steirischen  Stadt  Oberuburg,  vielleicht  zu  der  in  den  Monumenta  Boica  in 
473.  512.  v  364  erscheinenden   ritterfamilie.  ^  aus  den  drei  Strophen 

in  MSH.  ist  über  seinen  stand  nichts  zu  entnehmen,  mehrere  milites  de 
Rosenheiin,  aber  mit  andern  vornamen,  sind  in  den  Monumenta  Boica 
bezeugt.  die  bürg  ßosenheim  gehörte  den  grafen  'von  Wasserberg, 
'^  die  handschrift  gibt  ihm  das  prädicat  hei'  in  gruppe  in.  aus  der  er- 
wähnung  des  vil  liehen  herren  min  (MSH.  Iii  331b)  muss  man  nicht  un- 
bedingt auf  den  stand  eines  unfreien  ritters  schliefsen.  *°  ein  Regens- 
burger ministerialengeschlecht.  ob  Reinmar  ii  (1238  bezeugt)  oder  Rein- 
mar  iii  (1271  —  76)  der  dichter  war,  ist  umstritten,  vgl.  Bartsch-Golther 
s.  XLVI  und  Liese  (progr.  Posen  1S97);  Schröder  GGA.  1910,  320f.  "  vgl. 
Seifrid  Helbling  xiii  42  und  Seemüllers  aumerkung  dazu.  ^-  vgl. 
Frauendienst  199 12.  2Ü4l4ff.  er  zeugt  zwischen  steiriscii-kärntischen 
ministerialen  (Steiermärkisches  urkundenbuch  hg.  v.  Zahn  ll  n.  377  a. 
1239).  '3  jig  meisten  urkundlichen  erwähnungen  Ulrichs  sind  zu- 
sammengestellt bei  Falke  Geschichte  des  hauses  Lichtensteiu;  vollständiger 
von  Schöubach  Zs.  26,  307 — 326;  seitdem  sind  neu  gedruckt  im  Steiermärki- 
schen  Urkb.  iii  n.  33.  70  ff.  265.  396.  über  das  Verhältnis  des  geschicht- 
lichen Ulrich  von  Lichtenstein  zu  den  erzählungen  seines  Frauendieustes  vgl. 
Schönbach  in  Bettelheims  Biographischen  blättern  ii.  dort  finden  sich 
auch  gute  bemerkungen  über  die  litterarisch-höfische  cultur  der  Steiermark 
im    13    Jahrhundert. 


MINISTERIALITÄT  UND  RITTERDICHTUNG        155 

von  Lüenz\  Walther  von  Metze",  Heinrich  von  der  Mure', 
Neidhart  von  Reuental'  und  Rubin",  der  von  Sachsendorf',  der 
von  Scharf enberg-',  Liutold  von  Seven',  der  von  Stadeck" 
Hartmann  von  Starkenberg "",  von  Wildonie",  Reinmar  vonZweter"! 

'  zu  den  belegeu  bei  Kummer  s.  71  bietet  Grimme  (Germania 
32)  ergänzungen;  man  füge  dazu  noch  die  zeugenliste  Monumenta  Boica 
xxxi"     573:    'Heinricus    burchgraHus    de    luen<'.  -    es    gab    ein 

Tiroler  rittergeschlecht  de  Mets,  in  dem  der  name  "Walther  aber  nicht 
bezeugt  ist.  vgl.  Mairhofer  Urkunden  von  Neustift  n.  204.  2ltj,  Fontes 
rerum  Austriacarum  abt.  II  bd.  1,  77.  USf;  bd.  5  das  register.  •'  die 

handschrift  rechnet  ihn  nach  Schulte  zu  den  freien,  nach  Wallner, 
dem  ich  mich  hier  anschliefse,  als  ersten  zu  den  ministerialen.  ein 
bairisches  dienstmannengeschlecht  von  der  Mur,  auch  ein  Heinrich  am 
ende  des  13  Jahrhunderts  ist  nachgewiesen,  vgl.  Grimme  (Alemannia  22, 
38—40)  und  Monumenta  Boica  xxxi»  52Sa  1227  und  zahlreiche  Urkunden 
bei  Lefflad  Regesten  der  Bischöfe  von  Eichstätt.  —  es  gab  auch  ein 
steirisches  miuisterialengeschlecht  de  Mflre.  vgl.  Steiermärkisches  urkunden- 
buch  III  n.  242  a  1258;  auch  n.  227  c.  1145  (Heinrich  de  Mora). 
*  vgl.  die  ausgäbe  seiner  gedichte  von  Keinz  uud  die  weitere  litte- 
ratur.  '•'    Wallner  aao.    hält   diesen    namen    für    einen    spielmanns- 

namen,  entsprechend  dem  französischen  rorin.  die  handschrift  C  rechnet 
ihn  zu  den  dienstmannen,  nennt  ihn  mit  dem  prädicat  her  neben  den 
Tirolern  Sehen  und  Metz,  auch  Zeitgenossen  nennen  ihn  nur  Rubin,  aber 
zusammen  mit  andern,  z.  t.  gewis  ritterlichen  dichtem,  die  auch  ohne 
hei-  und  nur  bei  nachuamen  genannt  werden,  die  betreffenden  stellen  sind 
bei  Bartsch-Golther  s.  lxxi  angegeben,  zu  den  urkundlichen  erwähnungen 
dort  ergänze  Fontes  rerum  Austriacarum  abt.  ll  bd  1  s.  49.  179.  vielleicht 
gehört  der  dichter  nicht  zu  diesem  Tiroler  dienstmannengeschlecht  'de  Kuvin', 
sondern  ist  ein  vorfahr  des  c.  1270 — SO  in  den  Traditionen  von  Brixen 
(hg.  V.  Redlich)  n.  588.  611.  615.  630.  634.  635.  641.  642  erscheinenden 
Riibelinus,  der    ein    unritterlicher   officialis    war.  "   Bartsch-Golther 

s.  Lxii.  vgl.  Urkundenbuch  des  Landes  ob  der  Enns.  bd  II  n.  304,  Monu- 
menta Boica  XXIX "  232  =  xxxi"  386.  —  Schulte  nennt  ihn  einen  dienst- 
mann der  Kuenringer.  das  ist  nicht  erwiesen,  doch  möcht  ich  den 
Sahsendorf  nach  seiner  Stellung  in  der  zeugenliste  der  ersten  Urkunde 
den  niederen  rittern  zuzählen.  "  ein  steirisches  miuisterialengeschlecht; 

vgl.  Kummer  s.  77.  weitere  belege:  Jaksch  Gurker  geschichtsquellen  n.  600, 
Steiermäikisches  urkundenbuch  bd  II  u,  III  (vgl.  das  register l.  *  Brixener 

ministerialen  'de  Säben'  erscheinen  häufig  in  den  Traditionen  vou  Brixen 
uud    Neustift.      ein    Liutold    ist    nicht    darunter.  '•*    ein    steirisches 

ministerialengeschlecht,  das  im  Steiermärkischen  urkundenbuch  häufig  auf- 
tritt, die  belege  von  Grimme  (Germania  32,  426)  liel'sen  sich  leicht  ver- 
mehren. '"  ein  niederöstreichisches  ministerialengeschlecht  dieses 
namens  ist  häufig  bezeugt  (Gundacher  1227.  1236.  1241.  1243.  1275.  u.  ö.; 
Frauendienst    67 13;     Babenberger    regesten    15639.    157  4ip.    16993.   177  I2t;, 


156  KLÜCKHOHN 

Zu  diesen  gehurt  auch  Wa  1 1  h  e  r  von  d e  r  Vo  g  e  1  \v  e  i  d  e ,  über 
dessen  stand  ich  etwas  ausführlicher  sprechen  muss,  da  diese 
frage  durch  AWallner  (PBBeiträge  bd.  33)  aufs  neue  in  fluss 
gebracht  ist.  Dieser  sieht  den  dichter  als  einen  spielmann  an, 
während  die  bisherige  forschung  sich  wenigstens  über  seine 
ritterliche  herkunft  einig  war  und  nur  zweifelte,  ob  sie  ihn  den 
freien,  den  ministerialen  oder  den  niederen  rittern  zuzählen  solle. 

Die  erwähnungen  bei  gleichzeitigen  oder  späteren  kunst- 
genossen» tragen  nur  wenig  zur  lösung  dieser  frage  bei.  einige 
nennen  ihn  'meist er',  was  sich  nur  auf  seine  kunst  bezieht-; 
etwa  die  hälfte  gibt  ihm  das  prädicat  'Äer'.  dieses  kann  auch 
nichtrittern  beigelegt  werden,  allein  das  geschieht  doch  nur 
ausnahmsweise,  der  schluss  auf  ritterlichen  stand  lässt  sich 
immerhin  mit  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit  daraus  ziehen, 
besonders  aus  der  erwähnung  im  Renner  (ed.  Ehrismann  v.  1 187  ff), 
wo  her  Walter  von  der  Vogelweide  zwischen  ritterlichen  dichtem 
genannt  wird,  die  in  ihrer  gesamtheit  als  edel  herren  bezeichnet 
werden,  später  folgen  der  Manier  und  meister  Cunrat.  in  den 
liederhandschriften  freilich  ist  der  titel  her  ebenso  bedeutungslos 
wie  die  wappen,  soweit  es  sich  nicht  um  den  Schreibern  nahe 
wohnende  geschlechter  handelt,  das  hat  Wallner  überzeugend 
nachgewiesen. 

Mehr  gewicht  als  wie  das  bisher  geschah,  möcht  ich  auf 
die  erwähnung  Walthers  bei  Thomasin  von  Zircläre  legen; 
'■guoter  kneht'  ist  eine  formelhafte  Verbindung,  die  auch  im 
dreizehnten  Jahrhundert  noch  ausschliefslich  von  ritterbürtigen 
gebraucht  wird^ 

Wolfram  spricht  mehrmals  von  Walther.    aus  dem  gegensatz 

Fontes  rerum  Austriacarum  abt.  Ii  bd  33  n.  76  u.  ö. ;  im  zwölften  Jahr- 
hundert Düring  und  Ulrich,  für  ein  Tiroler  geschlecht  von  6tarkenberg 
giebt  V.  d.  Hagen  zahlreiche  belege;  vgl.  ferner  Mairhofer  Urkunden  von 
Neustift  n.  248.  466.  "  vgl.  Kummer  a.a.o  '"-  nach  Eoethe  (vgl. 

die    einleitung    seiner    ausgäbe)    ein    niederer    ritter    aus   dem    rheinischen 
Zeutern,  der  in  Österreich  lebte,  doch  ist  die  herkunft  nicht  sicher  erwiesen. 
•  sie    sind    zusammengestellt    von    Burdach   in   der    A.Ü.H.    41,    37; 
hinzuzufügen  wäre  Wilhelm  von  Orlens  v.  4466  f: 

als  uns  maister  Walther  seit         ron  der  Vof/elicaide. 
^  vgl.  Marner  (hg.  v.  Strauch)  s.  113:  mi/i   nteister  her   Walther.         •'  vgl. 
die  ausreichende  Zusammenstellung   in   meiner   oben  citierten  arbeit  s.  139 
anm.  5. 


MINISTERIALITÄT  UND  RITTERDICHTUNG        157 

des  standesstolzen  ritters  zu  dem  genossen,  der  seinem  beruf, 
seiner  neigung  und  seinem  leben  nach  mehr  sänger  als  dichter 
war,  den  sein  stand  nicht  abhielt,  nach  art  der  fahrenden  zu 
singen,  vielleicht  auch  aus  persönlichen  gründen  noch,  die  wir 
nicht  kennen,  wären  die  spöttischen  worte  im  Parzival  (294  23  ff) 
zu  erklären,  die  ohne  namensnennung  vielleicht  auf  Walthers  verse 
4026  bezug  nehmen  und  nach  Burdach  dessen  überschwänglich- 
keit  im  minnedienst  ironisieren,  den  dichter  mit  dem  wort  (/ehfire 
abweisen,  wenn  man  schon  eine  anspielung  auf  den  stand  Walthers 
in  diesem  worte  sehen  wollte,  müste  man  ihn  für  einen  bauernsohn, 
nicht  für  einen  nicht  ritter  gewordenen  söhn  ritterlicher  eitern 
halten,  wie  Burdach  das  tut,  der  gerade  in  dieser  frage  von  solchen 
inconsequenzen  und  Widersprüchen  nicht  frei  ist.  ich  möchte  es 
ablehnen,  aus  diesen  in  kämpf esstiramung  gefallenen  worten 
überhaupt  Schlüsse  zu  ziehen,  auch  die  erwähnung  im  Willehahn 
2S619,  die  über  liebeswerben,  stn  frouwe,  scherzt,  kann  uns  nicht 
weiter  führen,  wie  übrigens  hier  'her  VogehceUV,  so  nennt 
Wolfram  den  dichter  an  der  andern  stelle,  wo  er  ihn  namentlich 
einführt  (Parz.  297  24)  'her  Walther'  —  und  in  seinem  munde 
ist  dies  prädicat  nicht  gleichgiltig! 

Die  einzige  urkundliche  erwähnung  Walthers,  die  in  den  reise- 
rechnungen  bischof  W^olfgers  von  Passau  besagt,  dass  dieser 
WaJthero  cantori  de  Vogehceide  ein  geschenk  machte.  rnUes 
wird  er  nicht  genannt,  allerdings;  aber  das  wort  cantor  er- 
scheint sonst  nicht  in  diesen  reiserechnungen  — .  nur  einmal  de- 
cnntatores  des  papstes  — ,  die  sehr  viele  gaben  an  fahrendes  volk 
aufzählen,  dies  aber  immer  anders:  mit  Joculatores,  mimi  und  der- 
gleichen bezeichnen,  das  wort  cantor  scheint  höher  zu  stehn,  war 
es  doch  auch  die  bezeichnung  einer  kirchlichen  würde,  des  domcantors! 
die  gäbe  Walthers  entspricht  manchen  andern  der  reiserechnungen, 
die  an  einzelne  milites  gegeben  w^erdeu,  an  niedere  umherziehende 
ritter.    Walther  könnte  danach  recht  vvol  zu  diesen  gehören. 

Ganz  sicheren  aufschluss  gewinnen  wir  aus  alledem  nicht, 
immerhin  sprechen  sehr  viel  mehr  momente  für  ritterlichen  stand 
als  für  den  eines  spielmanns.  etwas  weiter  führt  uns  Walthers 
dichtung  selbst,  zwar  in  der  Verwendung  von  einzelstellen  und 
einzelinterpretationen  muss  man  m.  e.  sehr  vorsichtig  sein,  un- 
zweifelhaft hat  Wallner  für  einzelne  verse  durch  seine  spielmanns- 
theorie    einleuchtende   Interpretationen  gefunden,   so    für  fi  I  •'^i   1t 


1 58  KLUCKHOHN 

besonders',  allein  alle  diese  stellen  lassen  sich  auch  anders  verstehen, 
der  ausdruck  sirie  nider  ich  sl  (6637)  zb.  ist  auch  in  dem  munde 
eines  niederen  ritters  und  im  gegensatz  zum  tatendeu  ritter  möglich 
—  zumal  mit  dem  folgenden  der  werden  ein  — ,  würde  zu  einem  an- 
gesehenen ministerialen  oder  gar  einem  freien  allerdings  kaum  passen. 
Nach  ^Vallner  rechnet  sich  Walther  (25  28)  zum  fahrenden 
Volke,  das  scheint  mir  falsch,  gerade  das  dur  ere  contrastiei-t 
ihn  und  seine  genossen  von  den  spielleuten,  die  guot  für  vre 
nehmen,  wie  auch  die  art  der  gaben:  silber,  reiche  gewänder 
und  pferde  besser  zu  rittern  passt^.  solche  gaben  teilt  Walther 
auch  selbst  einmal  aus  (24 33 ff);  und  an  anderer  stelle  (84  IS) 
rechnet  er  sich  ausdrücklich  nicht  zum  fahrenden  volke. 

Wallner  legt  wert  auf  den  ausdruck  lät  mich  an  ebne 
Stabe  yän,  der  mir  hier  (6633)  bildlich  gebraucht  zu  sein  scheint,  aus 
der  resignation  eines  alten  ijiannes  zu  erklären,  worauf  das  von 
kinde  (d.  h.  wie  in  meiner  kindheit)  hinweist.  Wallners  Inter- 
pretation wird  durch  mehrere  stellen  Walthers  widerlegt,  aus 
denen  hervorgeht,  dass  er  beritten  war  (2430.  53 IS.  82 11.  1047). 
und  zwar  erwähnt  er  das  beiläufig,  nicht  mit  jener  betonung 
des  bürgerlichen  meisters  Sigeher  (MSH.  II  s.  361): 

60  rtte  ich  hin  ze  walde,      daz  ist  ein  herren  site  an  mir. 
Aus  8212  geht  auch  hervor,  dass  der  dichter  einen  knappen 
hatte,    der    selbst    beritten    war    und    ihn   mit   'herre  "anredet^ 

•  dass  diese  Strophe  sich  nicht  auf  ein  einzelnes  gedieht,  sondern  auf 
sein  bisheriges  dichten  überhaupt  bezieht,  ist  sehr  wol  möglich :  doch  wird 
der  ihm  verbotene  teil  dann  eher  die  spruehdichtung  als  der  minnesang 
sein.     V.  36.  37  scheinen  mir  darauf  hinzudeuten.  ^  zwar  Veldekes 

'Eneide'  (v.  13)84 ff)  erzählt,  dass  auch  spielleute  solche  gaben  erhielten; 
allein,  das  ist  entweder  dichterische  ausschmückung  oder  doch  nur  ein  aus- 
nahmefall.  vgl.  auch  Walther  633  f/etrof/e/ie  weit  ich  tue  fieiran  und 
dazu  den  von  Buwenberg  (MSH.  II  263  b):  sioer  fietragener  kleiden 
(jert,  der  ist  niht  rninriesant/es  wert.  ^  auf  Wallners  versuch,  diese 

stellen  und  alle  zeitgenössischen  erwähnungen  mit  diesem  priidicate  als 
ironisch  hin-  zustellen,  braucht  man  wol  nicht  im  ernste  eiuzugehu.  — 
die  auffassung  Wallners,  dass  'von  der  Vogelweide'  ein  fingierter  spielmanns- 
uame  sei,  wird  ausführlich  zurückgewiesen  von  O.  v.  Zingerle  Über  un- 
bekannte Vogel weidhöfe  in  Tirol  (Innsbruck  1909)  s.  17  ff.  dieser  bringt 
zahlreiche  urkundliche  belege  für  das  tatsüchliclie  vorkommen  vieler  namen, 
die  als  spielmannsnamen  angesehen  wurden,  und  für  die  nennung  'her'  mit 
besitzprädicat  ohne  'von'  —  der  Wolframschen  erwähnung  'her  Vogelweid' 
entsprechend,  die  trotz  Zingerle  noch  unsichere  heimatfrage  gehört  nicht 
in  unseren  Zusammenhang. 


MINISTERIALITÄT  UND  RITTEEDICHTUNG        ir)9 

Walther  nennt  sich  selbst  so  (186.  11)  und  lässt  in  einem  andern 
gedieht  seine  dame  von  sich  als  einem  'ritter'  sprechen  (11333). 
das  kann  man  freilich  mit  Burdach  als  conventioneile  fiction 
auffassen;  Walther  hätte  sie  dann  von  Eeinmar  gelernt,  aber 
wie  kam  dieser  dazu,  einen  jungen  spielmann,  einen  strafsen- 
gesellen,  seiner  intimen  lehre  zu  würdigen? 

Walther  spricht  mehrfach  von  seiner  ehre  (fil  24)  und  würde 
(2436.  4312.  4931),  nennt  sich  'biderher  man'  (3 5 2oj  und  ähnlich, 
duldet  als  'hUheschcr  man'  'mange  nnfuoge'  (62 7 1,  was  alles  besser 
einem  ritter  als  einem  spielraann  ansteht. 

Walther  erhält  ein  lehen  vom  reiche  (283.1936.277).  nicht- 
ritter  erhielten  ein  solches  nur  in  ganz  seltenen  fällen. 

Alle  diese  stellen  scheinen  doch  auf  ritterlichen  stand  zu 
deuten,  dass  aber  Walther  nicht  zu  den  österreichischen  raini- 
sterialen  gehörte  —  auch  seine  armut,  seine  Wanderschaft  sprechen 
dagegen  — ,  scheint  mir  36  7  deutlich  gesagt  zu  sein,  zu  den 
'hehle  üz  Osterriche'  rechnet  er  sich  nicht,  auch  nicht  zu  den 
kreuzfahrern  in  seiner  elegie.  hier  redet  er  die  ausziehenden 
ritter  an,  bleibt  selbst  zurück,  allerdings,  aber  dies  wird  genug 
erklärt  durch  seine  armut  (vgl.  10  7.  28  2.  125  5  u.  a.)  auf  der 
einen,  sein  alter  (vgl.  6633]  auf  der  andern  seite. 

Genug  der  einzelstellen.  wesentlicher  zur  beantwortung 
unserer  frage  scheint  mir  der  gesamtcharakter  von  Walthers 
dichtung.  unzweifelhaft  zeigt  diese  manche  züge,  die  sich  in 
den  Versen  fahrender  widerfinden.  Walther  bittet  wie  diese 
(20  31  ff.  1(15  33 ff.  106  3  ff.),  er  preist  die  freigebigkeit  mancher 
herren  oder  ermahnt  zu  solcher,  ja  schilt  selbst  die  kargen' 
und  will  sogar  das  lob,  für  das  er  nicht  gelohnt  wurde,  lier 
wider  nemen  ze  hove  und  an  der  stmzen  (lObSG).  allein  das  tun 
andere  wie  der  Archipoeta  noch  derber  und  häufiger,  und  dieser 
war  nach  eigenem  zeugnis  unzweifelhaft  ritterlicher  herkunft: 
ortus  ex  militihus  (gedieht  IV),  freilich  ein  cleriker. 

'  Wallher  1630.  19l7.  Sil  uö.;  s.  die  Zusammenstellung  bei  Wilmanns 
s.  44.  vgl.  auch  das  in  der  Jenaer  handschrift  dem  Rubin  zugeschriebene 
gedieht  (Zupitza  Rubin  s.  viii)  '  Walther  .  .  .  (fii  liefe  owh  herren  i/uit.it'. 
doch,  braucht  man  den  Rubin  nicht  mit  Wallner  für  einen  fahrenden  zu 
halten,  so  kann  man  auch  nach  diesen  versen  Walther  nicht  jenem  stände 
zuzählen,  ^ver  dai'auf  angewiesen  war,  durch  sein  singen  seinen  lebens- 
unterhalt  zu  verdienen,  für  den  war  'herrengunst'  etwas  sehr  wesentliches. 


lüü  KLUCKHOHN 

Walther  fühlt  sich  im  dieiiste  der  hütischeu  gesellschaft 
stehend,  die  ihm  zu  siugen  gebietet  (7  231Ö'.  6übl.  110  33)  und 
seine  lieder  zu  schätzen  weifs  (114  34.  69  2üj,  für  deren  freuden  und 
schmerzen  er  töne  findet  (481  ff.  9111.  11735)  und  die  dafür  an 
den  seinen  teilnimmt,  allein  alle  diese  momente  gehören  zum 
hütischen  niinnesang  und  lassen  sich  bei  diesem  durch  zahlreiche 
parallelstellen  belegen,  das  hat  die  sonst  wenig  ergiebige  arbeit 
Schillers,  Der  minnesang  als  gesellschaftspoesie  (diss.  Bonn  19U7) 
mit  voller  klarheit  gezeigt,  und  auch  die  mancherlei  klagen 
über  Verleumder  und  neider  (5830.  6133.  4125.  32  7ff.)  kehren 
bei  höfischen  dichtem  immer  und  immer  wider  (Schiller  s.  40  ff) 
und  brauchen  keineswegs  durch  das  einzigartige  Verhältnis  eines 
spielmanns  zur  Wiener  hof gesellschaft  erklärt  zu  werden'. 

Walther  fühlt  sich  durchaus  als  Vertreter  höfischen  lebens, 
höfischer  zucht,  sitte  und  ehre  (24  3ff.  4736  u.  ö.);  er  scheidet 
sein  singen  als  höfisches  von  den  weisen  niederer  sänger  (3l3üff. 
32  3.  11.  80  34.  4125.  64  31.  8034.  15089),  von  denen  er  verächtlich 
als  von  bäurischen  spricht  (6531). 

Sicher  und  selbstbewust  steht  er  inmitten  der  höfischen 
gesellschaft,  ein  berater  der  grofsen,  lehrmeister  ihrer  Jugend, 
von  ihren  idealen  erfüllt,  diesen  dienend  im  streiten  und  singen. 

Freilich  Walther  ragt  hinaus  über  die  höfische  gesellschaft 
und  ihre  zeit  als  ein  wahrhaft  grofser  dichter,  und  seine  aus- 
nahmestellung  wird  sich  nie  in  irgend  eine  Schablone  festlegen 
lassen,  etwas  unerhörtes  war  es,  wenn  ein  mann  ritterlichen 
Standes  töne  des  fahrenden  Volkes  aufgriff,  wie  dieses  in 
malmenden  Sprüchen  .zu  seiner  zeit  zu  reden,  er  war  der 
erste,  der  das  wagte,  aber  nicht,  wie  Wallner  behauptet,  der 
einzige.  Reinmar  von  Zweier  und  andere  sind  ihm  darin  gefolgt, 
so  steht  er  nicht  allein,  wie  er  auch  als  gehrender  rittersohn 
die  gesellschaft  des  freilich  in  geistlichem  gewand  einherziehenden 
Archipoeta  findet. 


'  Wallner  zählt  sehr  viele  stellen  auf,  an  denen  Walther  über  die 
höfische  gesellschaft  klage,  an  manchen  dieser  beschwert  er  sich  über 
feinde  und  neider;  an  andern  klagt  er  über  uuhöfische  (243  ff.  31 33  ff. 
32'.  15090).  ISl  ist  ein  kampfs2)ruch,  dessen  aulass  uns  unbekannt  ist, 
in  dem  aber  die  höfische  gesellschaft  gar  nicht  vorkoujuit.  auch  2S3" 
*i7ll.   104?  beziehen  sich  gar  nicht  auf  diese. 


MINISTERIALITÄT  UND  RITTERDirHTT'Xa        K.i 

2.    Die   epischen   dichter. 

Den  stand  der  minnesänger  und  spruchdichter  küniR-n  wir 
in  den  meisten  fällen  doch  mit  annähernder  gewisheit  bestimmen, 
weit  schAvieriger  wird  das  für  die  epiker  jener  zeit,  da  viele 
epen.  gerade  aus  Südostdeutschland,  uns  anonj-m  überliefert 
wurden,  sind  wir  vielfach  ganz  auf  innere  kriterien  angewiesen. 

Die  epischen  dichter  des  zwölften  Jahrhunderts  waren 
entweder  geistliche  wie  die  pfaffen  Konrad  und  Lamprecht, 
oder  spielleute  wie  die  Verfasser  des  'König  Rother'  und  'Herzog 
Ernst',  dass  Reinbot  von  Durne  etwa  wie  der  in  höfischem 
Stil  geistliche  Stoffe  behandelnde  Konrad  v.  Heimesfurt  zu  den 
geistlichen  gehöre,  wie  mau  früher  annahm,  ist  mehr  als  un- 
sicher, wir  werden  über  seinen  stand  nichts  bestimmtes  aus- 
sprechen dürfen,  solange  man  noch  zweifelt,  ob  der  heilige  Georg 
überhaupt  in  Baiern  oder  in  Schwaben  entstanden  ist',  die 
fahrenden  dichter  fanden  nachfolger  im  Stricker,  wol  auch  im 
dichter  des  'Helmbrecht',  vielleicht  in  dem  des  'Wigamur'"  und 
in  den  Verfassern  einiger  der  jüngeren  sogenannten  volksepen. 
darüber  später. 

Das  hauptcontingent  epischer  dichter  aber  stellten  seit  dem 
ende  des  zwölften  Jahrhunderts  die  ritter,  überall  in  Deutschland, 
die  zunächst  Stoffe  französischer  erzähler  bearbeiteten,  so  im 
bairisch-fränkischen  grenzlande  Wolfram  von  Eschenbach,  ein 
ministerial,  und  Wirnt  von  Gravenberg,  wahrscheinlich  auch  ein 
dienstmann  ^;  im  eigentlichen  Baiern  der  dichter  von  'Mai  und 
Beaflor',   dessen    namen  wir  nicht  kennen,   Albrecht,    der  dichter 

'  vgl.  V. Kraus  (s.  256  seiner  ausgäbe);  Helm  (.\nz.  x.xxii  "278 ff); 
FWilhelm  Beitr.  35,  360  f.  aus  vers  56  könnte  man  auf  ein  ministerialitäts- 
verhältnis  zum  hei'zog  von  Bayern  sehliefsen.  —  die  identitication  mit  dem 
'notarius'  Ileinbot  ist  jetzt  wol  allgemein  aufgegeben.  ^  dafür  bringt 

Sarrazin  QF.  85  beachtenswerte  momente  bei,  ohne  dass  er  mich  voll- 
kommen zu  überzeugen  vermöchte,  zudem  stützt  er  sich  nur  auf  eine 
späte  und  schlechte  Überlieferung.  eine  eingehende  Untersuchung  der 
bearbeitungsvveise  dieser  Wolfenbütteler  handschrift  ist  von  Maufser  zu 
erwarten  (vgl.  dessen  Münchener  dissertation  1006,  Reimstudien  zu  Wiga- 
mur). 3  2war  Konrad  von  Würzburg  (Weltlohn  v.  234)  hält  ihn  für 
einen  freien;  doch  kennen  wir  nur  ritter  von  Gravinberge  die  ministeri- 
alen  sind.  vgl.  die  zeugenlisten  in  der  Urkunde  der  Monumenta  Boica 
11  334  von  c.  1160  und  der  bei  Roth  Kleine  Beiträge  l  208  leider  ohne 
angäbe  der  quelle  angeführten  Urkunde. 

Z.  F.  D.  A    LH.  X.  F.     XL.  11 


162  KLUCKHOHN 

des  jüngeren  Titurel,  und  später  der  fortsetzer  des  'Lohengrin'  i  — 
ob  diese  freie  oder  unfreie  ritter  waren,  das  entzieht  sich  ganz 
unserer  kenntnis;  immerhin  erscheint  das  letztere  wahrschein- 
licher —  ;  weiter  südöstlich  der  Pleier,  dessen  dichtungen  mehrere 
momente,  nicht  sprachliche  allein,  in  die  gegend  Salzburg-Steier- 
mark weisen"-,  er  mag  ein  niederer  ritter  gewesen  sein,  ge- 
tr'mwer  diencere  eines  herru  Wimar.  eine  Salzburger  familie 
seines  namens  ist  uns  bekannt',  aus  Ktäriiten  stammt  der  dichter 
der  'Krone',  Heinrich  von  dem  Türlin,  ein  ritterbürtiger  bürger-»; 
vielleicht  aus  dem  gleichen  geschlecht  der  in  Böhmen  dichtende 
Ulriche  steirischer  ministerial  war  der  schon  oben  erwähnte 
Ulrich  von  Lichtenstein. 

Ein  ritter  war  auch  der  dichter  der  'Kindheit  Jesu',  Konrad 
von  Fussesbrunnen,  wahrscheinlich  identisch  mit  dem  öster- 
reichischen ministerialen  gleichen  namens''. 

Zahlreicher  als  französische  vorwürfe  wurden  in  Südost- 
deutschland deutsche  sagenstoffe  seit  dem  ende  des  zwölften 
Jahrhunderts  bearbeitet,  fast  ausschliefslich  in  Österreich  und 
der  Steiermark,  zwei  momente  machen  das  einigermafseu  ver- 
ständlich, einmal  die  greise  entfernung  der  östlichen  Alpen- 
länder von  Frankreich,  wol  mochten  Oberitalien  und  Friaul  die 
einflüsse  romanischen  rittertums  nach  dort  vermitteln,  aber 
schwerlich  die  der  specitisch  französischen  litteratur,  der  epen 
aus  dem  kreise  der  Artussagen,  die  die  Westdeutschen  un- 
mittelbar aus  erster  band  bekamen  und  wol  erst  in  ihren  eigenen 

'  vgl.  Panzer,  Loheugrinstudien  s.  54  ff.  -  so  das  fast  vollständige 

verschwinden  des  wertes  r/ie  bei  aufzählungen  der  ritterlichen  stände  und 
die  grofse  rolle  die  das  arat  des  marschalls  spielt,  worüber  ich  a.a.O. 
s.  123.  162  gesprochen  habe,  sodann  auch  der  umstand,  dass  sich  Garel 
'f/eborri  von  Stire  nennt  (v.  4191,  vgl.  11715.  IböfiSf)  und  dies  die  einzige 
deutsche  örtlichkeit  ist,  die  in  diesen  gedichten  erwähnt  wird.  ^  vgl, 

Monumenta  Boica  lil  569  a.  1305  'her  Chan  rat  der  PUiyer.  der  name 
'Pleyer'  ist  auf  Salzburger  grabdenkmälern  späterer  zeit  häufig;  vgl.  Walz 
in  der  einleitung  seiner  ausgäbe  des  Garel;  dazu  auch  Necrol.  Germ. 
II  223  (10/4  Heinricus  Pleiser  occisus  saec.  xiiil.  —  die  neue  arbeit  von  Otto 
Seidl,  Der  schwan  von  der  Salzach  (1909)  war  mir  nicht  zugänglich.  *  vgl. 
Schönbach  PBBeitr.  33,  351  ff  uud  soeben  Graber  Zs.  f.  d.  phil.  42,  U6ff. 
•''  vgl,  Singer  in  der  einleitung  seiner  ausgäbe  des  Willehalm.  <»  vgl.  die 
auch  von  Diemer  (Kleine  beitrüge  xv,  Wiener  Sitzungsberichte  xviii  1855 
s.  269)  angeführten  Urkunden:  Fontes  rerum  austriacaruni.  abt.  ii  bd  iv  n. 
344.  3S2.  550,  die  jedoch  nicht  genau  zu  datieren  sind. 


MINISTERIALITÄT  UND  RITTERDICHTUNG         lti3 

formuü^en  nach  osten  weitergaben,  diese  deutseben  bötischen 
epen  aus  dem  westen  waren  in  Österreich  und  der  Steiermark 
freilich  wol  bekannt'. 

Sodann  scheint  sich  im  Südosten  der  ritterstand  inuner  in 
etwas  näherer  berührung  mit  dem  volksmäfsigen  gehalten  zu 
haben  als  in  andern  gegenden,  ein  freilich  schwer  zu  be- 
rechnendes moment,  das  durch  den  volksliedmälsigen  Charakter 
der  älteren  h'rik,  die  bessere  Stellung  der  spielleute  an  bairischen 
und  österreichischen  höfen  seit  dem  ende  des  zwölften  Jahr- 
hunderts' und  anderes  gestützt  wird,  das  vielleicht  auch  damit 
zusammenhängt,  dass  die  ministerialen,  die  mit  den  unteren 
kreisen  immerhin  ursprünglich  mehr  fühlung  hatten,  ja  zum  teil 
aus  bäurischen  hintersassen  hervorgegangen  waren,  dort  inner- 
halb des  ritterstaudes  einen  besonders  hohen  procentsatz  aus- 
machten '. 

Wie  dem  auch  sei,  die  mehrzahl  dieser  epen  ist  meiner 
meinung  nach  von  ritteru  gedichtet,  ich  widerspreche  damit 
der  vorhersehenden  anschauung,  die  diese  Volksepen'  zu  denen 
nach  romanischen  Vorbildern,  den  'höfischen',  in  contrast  setzt  und 
fahrende  spielleute  für  ihre  dichter  hält,  allein  diese  anschauung 
ist  nicht  bewiesen ;  sie  bewegt  sich  vielfach  in  einem  cirkel  * 
oder  stützt  sich  auf  unbedeutende  einzelheiten,  aus  denen  sich 
nichts  schlielsen  lässt''.  an  eindringenden  Untersuchungen  fehlt 
es  hier  noch  ganz. 

'  vgl.  Nagel  und  Zeidler  Deutschösterreichische  litteraturgescliichte 
s.  200  und  Schönbach  Die  anfange  des  minnesanges  s.  83 ff.  -  vgl. 

Zappert,  Wiener  Sitzungsberichte  xil  s.  15Sff;  Kettner  Die  oesterreichische 
Nibelungendichtung  s.  2S7.  ^   auf   diese   momente  hat  zum  teil  schon 

Panzer  in  seinem  vortrage  Das  altdeutsche  volksepos  hingewiesen  (s.  27  ff), 
dass  freilich  die  ministerialen  weniger  bodenständig  gewesen  seien  als  die 
freien,  nicht  selten  den  dienstherren  gewechselt  hätten,  das  scheint  mir 
für  jene  zeit  allgemein  nicht  zuzutreffen.  '^   so  Jänicke  in  seiner  ein- 

leitung  zum  Biterolf  s.  XXIX,  der  einen  bürgerlichen  für  den  Verfasser  dieses 
epos  hält  mit  der  begründung:  'ein  ritterlicher  dichter  ist  nicht  wahr- 
scheinlich, weil  sich  für  den  aiifang  des  dreizehnten  Jahrhunderts  die 
dichterische  teilnähme  der  ritter  am  deutschen  volksepos  nicht  nachweisen 
lässt'.  '■>  Martin   sagt,    der  Verfasser  von    'Dietrichs  Flucht'  sei  'ohne 

zweifei  ein  fahrender  sänger',  da  er  freigebigkeit  gegen  rorende  diet  preise. 
als  ob  das  nicht  auch  in  gedichten  unzweifelhaft  ritterlicher  autoren  ge- 
schähe, weil  es  eben  zum  bilde  eines  festes  gehörte,  vgl.  zb.  Guter 
Gerhard  6409  f,  Veldekes  Eneideu.  a. 

11  •' 


164  KLUCKHOHN 

Zwei  inomente  scheinen  mir  wesentlich,  um  auf  den  stand 
der  dichter  dieser  epen  rückschlüsse  zu  erlauben,  einmal  der 
geist  dieser  dichtungen,  das  —  ich  finde  kein  besseres 
■wort  —  ethische  moment,  die  gefühle  mit  denen  der  dichter 
seinen  beiden  gegenübersteht,  was  er  an  ihnen  bewundert,  die 
heldendarstellung  des  Nibelungenliedes ,  des  Wolfdietrich  und 
anderer  epen  ist  ganz  von  ritterlichem  geiste  getragen,  man 
vergleiche  damit  einmal  Strickers  'Daniel',  um  zu  sehen,  was  ein 
fahrender,  ein  ergötzer  des  Volkes,  an  seinen  beiden  liebt:  die 
Schlauheit  die  über  die  stärke  siegt '. 

Sodann  der  stil.  das  ist  nun  gerade  der  punct.  an  dem 
die  allgemeine  anschauung  einsetzte,  unzw^eifelhaft,  die  so- 
genannten volksepen  sind  in  ihrem  stile  ganz  verschieden  von 
den  höfischen,  allein  der  stil  dieser  —  das  hat  Panzer  gezeigt  — 
ist  zum  grolsen  teile  durch  ihren  stoff  bedingt,  deutsche  helden- 
sage,  die  die  dichter  vielfach  oder  meistens  schon  in  bestimmter 
formung  vorgefunden  haben  werden,  in  einer  formung,  die 
einmal  dem  alten  charakter  des  Vorwurfs  entsprach,  auf  der 
andern  seite  der  art  der  spielleute.  denn  Stoffe  der  heldensage 
gehörten  freilich  stark  zu  deren  repertoire,  doch  nicht  aus- 
schliesslich 2.  hier  müsten  nun  einzeluntersuchungen  einsetzen, 
um  zu  zeigen,  wie  weit  ein  teil  der  sogenannten  volksepen, 
vielleicht  auch  die  meisten,  sich  in  ihrem  stile  doch  von  werken 
der  spielleute  unterscheiden,  besonders  deutlich  gerade  in  der 
verschiedenen  anwendung  verwanter  oder  gleicher  Stilmittel -^ 


'  vgl.  besonders  v.  74S7ff:  aice/-  iht  i/uoter  lü~te  kan,  den  solde 
wip  Uli  de  man  gerne  eren  dester  bas.  ein  man  tuot  m-it  liste  das 
das  tüsent  niht  enüeten       swie  r/röser  kraft  si  hceten  ^  vgl.   den 

Mamer  (hg.  v.  Strauch)  der  s.  125  vielerlei  Stoffe  der  heldensage  als  zu 
seinem  repertoire  gehörig  aufzählt,  s.  127  aber  auch  die  Gralsage  nennt. 
•*  WVogt,  Die  wortwiderholung  ein  stihnittel  im  Ortnit,  Wolfdietrich  A 
und  den  spielmaunsepen  Orendel,  Oswald,  Salman  und  Morolf  (Germanisti- 
sche abhandlungen  h.  20,  Breslau  1902)  weist  nach,  dass  der  gebrauch  der 
Variationen^  formein  und  wortwiderholungen  in  den  spielmaunsepen  ein 
mafsloser  ist,  im  Ortnit  und  Wolfdietrich  aber  sich  in  den  grenzen  bewuster 
Stilmittel  hält.  LWolf,  Der  groteske  und  hyperbolische  stil  des  mhd 
volksepos  (Palaestra  h.  25,  1903)  will  die  volksepen  in  drei  stilgruppen 
sondern,  zu  deren  erster,  den  höfisch  stark  beeinflussten  epen,  er  Nibl., 
Kudrun,  Biterolf  u.  a.,  zu  deren  letzter,  den  spielmännisch  gefärbten  er 
grade  Ortnit  und  Wolfdietrich  rechnet,  freilich  ohne  die  grenzen  scharf  zu 


MINISTERIALITÄT  UND  RITTERDICHTUNG         165 

Es  mag-  sein,  dass  die  dicliter  der  jüngeren  volksepeu 
fahrende  spielleute  waren,  erst  solche  genauen  stiluutersucliungen 
würden  das  erweisen  können,  aus  den  beiden  einzigen  nanien  von 
dichtem,  die  wir  kennen  —  'Heinrich  der  Vogela-re'  nennt 
sich  der  Verfasser  von  'Dietrichs  Flucht'  (v.  8000),  Albrecht  von 
Kemenaten  der  des  'Goldemar' '  —  ist  nichts  zu  schlieL'sen.  die 
dichter  der  älteren  epen,  wie  Ortnit,  Wolfdietrich,  Kudrun, 
Biterolf  u.  a.  halte  ich  für  ritter. 

Auch  den  dichter  des  Nibelungenliedes,  schon  EKettner 
aao.  machte  dessen  ritterlichen  stand  wahrscheinlich  und  wies 
auf  die  zahlreichen  Schilderungen  höfischen  lebens  hin,  durch  die 
er  die  alte  dichtuug  erweiterte  habe-,  darauf  gestützt  suchte  Zal- 
linger-^  einen  engen  Zusammenhang  zwischen  dem  problera  und  der 
darstellungsart,  den  bezeichnungen  der  beiden  im  Nibelungenliede 
einerseits  und  der  eutwicklung  der  ministerialität  in  Österreich 
anderseits  nachzuweisen,  und  zog  weiter  den  schluss,  dass 
grolse  partieen  der  dichtung  nicht  vor  beginn  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  entstanden  sein  könnten,  ja  dass  die  Stellung 
Rumolts  als  küchenmeister  einen  terminus  ante  quem  non  für 
die  abfassung  des  gedichtes  gebe,  das  erst  nach  der  einrichtung 
des  reichsküchenmeisteramtes  (1202)  entstanden  sein  könne. 
Zallinger  setzt  sich  damit  zu  allen  ergebnissen  germanistischer 
forschung  in  Widerspruch,  ohne  seinerseits  überzeugen  zu  können. 
es  ist  unmöglich,  in  einer  dichtung,  zumal  wenn  sie  eine  so  lange 
entstehungsgeschichte  hat  wie  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  das 
Nibelungenlied,  jede  tigur  ganz  scharf  einem  bestimmten  land- 
rechtlichen Stande   zuweisen   zu   wollend     und  was  das  küchen- 

zieheu.  einen  vergleich  mit  den  höfischen  epen  gibt  Wolf  nicht :  aber  auch 
diese,  zumal  die  jüngeren,  verwenden  manche  dieser  'grotesken'  Stilmittel. 
1  ob  dieser  mit  dem  von  Rudolf  von  Ems  genannten  dichter  identisch  ist 
und  ob  er  zu  einer  der  schwäbischen  ministerialen  familien  von  Kemenaten 
gehört,  das  ist  ganz  unsicher.  -  auf    eine    Scheidung  zwischen  einem 

mittleren  und  einem  jüngeren  dichter  und  auf  die  annähme,  drei  selbständige 
liederbücher  hätten  die  vorläge  des  ersten  gebildet,  brauch  ich  hier  nicht 
einzugehen.  ^  'Die  rechtsgeschichte  des    ritterstandes  und  das   Nibe- 

lungenlied'   (Jahrbuch   der   Leogesellschaft,  Wien   1S99).  "  darin  dass 

Hagen  Kriemhildens  antrag,  sie  als  heiin;ie-<inde  an  Etzels  hof  zu  begleiten, 
ablehnt  mit  der  begründung,  er  müsse  bei  Günther  bleiben,  sieht  Zallinger 
eine  analogie  zur  Scheidung  zwischen  reichsdienstmannen  und  solchen  des 
königlichen  hauses.  danach  hätte  Hagen  also  zu  den  letzteren,  den  un- 
zweifelhaft niedrigeren  gehört,  das  ist  absurd. 


166  KLÜCKHOHN 

lueisteraiiit  betrifft,  so  ist  ein  solches  schon  vor  der  Schaffung 
des  reichsamtes  an  fürstlichen  höfen  nachzuweisen,  g-erade  in 
Österreich '.  die  rolle  Euniolts  im  Nibelungenliede  war  freilich 
auch  schon  den  Zeitgenossen  auffällig.    Wolfram  spottet  darüber-. 

Kotzenberg  aao.  weist  die  zu  weitgehenden  folgeruugen 
Zallingers  mit  recht  zurück,  doch  seinen  eigenen  aufstellungen 
vermag  ich  ebenso  wenig  beizustimmen,  die  Unstimmigkeiten 
und  Widersprüche  in  den  Standesbezeichnungen  des  liedes,  vor 
allem  das  absolute  fehlen  des  Wortes  dieneabnan  will  er  durch 
den  spielmannscharakter  des  dichters  erklären,  dieser  habe 
einerseits  als  spielmann  mit  den  ministerialen  nähere  berührung 
gehabt  als  mit  andern  gliedern  der  hötischen  gesellschaft  — 
eine  unbewiesene  behauptung  — ,  sie  darum  auch  eine  grofse 
rolle  spielen  lassen,  anderseits  aber,  um  sie  auszuzeichnen,  sie 
den  freien  herren  ganz  gleichgesetzt,  ihnen  das  prädicat  wm« 
verliehen,  mir  scheint  diese  erklärung  gewunden;  dass  man 
im  Nibelungenliede  noch  ausschlieslich  in  der  bedeütung  vasall  ge- 
braucht wurde,  wird  nicht  bewiesen  und  ist  sehr  wol  zu  bestreiten, 
und  wenn  die  spielleute  das  wort  dienestman  w'ürklich  darum  ver- 
mieden, weil  sie  ihre  beiden  mit  möglichst  auszeichnenden  namen 
nennen  wollten,  warum  sind  es  dann  gerade  der  Wolfdietrich  und 
andere  sogenannte  spielmannsepen,  die  zuerst  und  am  schroffsten 
auch  freie  und  fürsten  als  dienestman  bezeichnen?^ 

Meines  erachtens  ist  aus  dem  vollkommenen  fehlen  dieses 
Wortes  im  Nibelungenliede  nichts  sicheres  zu  schlieisen.  es  lässt 
sich  durch  den  typisierenden  stil  der  dichtung  erklären,  durch 
ihren  alten  Stoff,  dem  ministerialität  fremd  war;   vielleicht  auch 


'  ein  inrajister  coquine  von  Österreich  wird  c.  1195  erwähnt  (traditiouen 
von  Formbach  u.  221  im  Urkundeubuch  des  Landes  ob  der  Enns  l);  von 
Steiermark  118S.  1195.  1200  (Steiermärkisches  urkiindenbuch  i  n.  691.  il 
n.  13  s.  35;  Urkundenbuch  des  Landes  ob  der  Enns  ii  n.  329);  von  Salz- 
burg gegen  1200  (Monumenta  Boica  iii  218).  -  Parzival  42025  ff; 
vgl.  Biterolf  120 14  ff.  12698  ff.  •''  so  werden  im  Wolfdietrich  A  (str. 
:i44.  371.  382.  437.  445.  454.  487.)  und  B  (str.  126.  286.  307.  539.  540. 
631.  858)  der  herzog  Berhtung  von  Merau  und  seine  söhne  Dietrichs  einlif 
dienstman  genannt,-  ja  auch  ei'/p/i  (B  str.  278.  303).  vgl.  auch  Wolf- 
dietrich \i  Str.  319  ff.  —  ebenso  nennt  der  dichter  des  jüngeren  Eosen- 
garten  Dietrichs  zwölf  recken,  zu  denen  gleichfalls  herzöge  gehören,  seine 
(lipjistmaii'.   fstr.  12.   189.  223.  343.  345). 


MINISTERIALITÄT  UND  RITTERDICHTUNG        167 

damit,  dass  der  dichter  etwas  von  fraiizüsiseber  epik  wüste 
und  deren  beispiel  folgend  einen  einlieitliclien  ausdruck  zur  be- 
zeicbnung-  des  dort  einheitlichen  ritterstandes  verwante,  ent- 
sprechend den  deutschen  nachahniern  franzijsischer  epen.  dem 
dichter  selbst  freilicli,  der  mit  den  äugen  seiner  zeit  seinen  stoff 
ansah,  waren  die  mannen  dienstmannen  ihrer  hejren.  so  stellte 
er  sie  sich  vor,  auch  wenn  er  diese  bezeichnung-  vermied, 
einzelne  züge  seiner  vorläge  aber  waren  nicht  damit  in  einklang 
zu  bringen,  auf  die  er  doch  in  der  composition  des  ganzen  nicht 
verzichten  konnte,  so  kamen  Unstimmigkeiten  in  den  Standes- 
verhältnissen der  beiden  in  sein  werk. 

Hagen  und  sein  bruder  Dankwart  erscheinen  darum  gleich- 
zeitig als  verwante  des  königlichen  hauses  und  als  seine  '»m»'  mit 
ausgesprochen  dienstmännischem  Charakter.  Dankwart  bekleidet 
zugleich  ein  hofamt,  wie  auch  andere  besonders  gerühmte  recken, 
und  zwar  handelt  es  sich  dabei  nicht  um  ehren-  oder  erzämter, 
sondern  wir  sehen  sie  verschiedentlich  ihren  amtspflichten  nach- 
kommen', das  passt  auffallend  zu  der  ganz  siugulären  ent- 
wicklung  der  hofämter  in  Österreich"'^,  dort  gab  es  keine  erz- 
ämter, aber  die  erbbeamten,  die  sich  um  1200  noch  nicht  ganz 
von  ihren  amtsfunctionen  gelöst  hatten,  gehörten  zu  den  be- 
deutendsten männern  des  landes.  es  ist  wol  möglich ,  dass 
diese  Verhältnisse  den  dichter  in  der  ausgestaltung  einiger  einzel- 
heiten  bestimmt  haben,  das  wäre  ein  neues  moment  für  die 
österreichische  heimat  des  Nibelungenliedes,  doch  ich  möchte 
das  nicht  urgieren. 

Gerade  auf  Österreich  weist  ja  auch  die  Verwendung  des 
Wortes  vtan  für  vasallen  und  dienstleute,  das  ineiuanderaufgehn 
dieser  beiden  begriffe  in  der  einen  gemeinsamen  bezeichnung, 
bei  der  doch  der  gedanke  an  die  ministerialen  überwog,  so 
kann  Brunhild  die  erklärung  Siegfrieds,  er  sei  Günthers  man 
dahin  verstehn,  dass  sie  ihn  für  eigen  hält,  die  frage,  wie 
weit  es  dabei  bewuste  absieht  des  dichters  war,  dass  'Sieg- 
fried den  unfreien  stand  eines  königlichen  ministerialen 
tingiert'    (Zallinger),    wie    weit    er    überhaupt    diese    ausdrücke 

1  Dankwart  als  niarschall  str.  15S5.  1674.  1S08.  183Sf;  sein  neffe 
Ortwin  als  truchsess  str.  719.  122S;  Rumolt  als  küchenmeister  str.  720. 
1228.  1405:  Siudolt  als  schenke  720.  ^  vgl.  Kluckhohn  aao.  209. 


lOS  KLUCKHOHN,  MINISTERIALITÄT  U.  RITTERDICHTG 

begrifflich  ganz  scharf  fasste  ',  wird  sich  schwer  mit  Sicherheit 
beantworten  lassen. 

Und  auch  die  frage  nicht,  ob  der  dichter  ein  freier  ritter, 
eiii  ministerial  oder  ein  miles  war.  der  geringe  procentsatz  der 
freien  innerhalb  der  ritterschaft  Österreichs  freilich  macht  den 
unfreien  stand  des  dichters  wahrscheinlich. 

Das  gleiche  lässt  sich  für  die  Verfasser  anderer  und  viel- 
leicht der  meisten  sogenannten  volksepen  vermuten. 

'  dass  der  dichter  das  wort  eii/e/i  schon  in  der  späteren  verblassten 
bedeutung  verwaut   hätte,    das   ist  mir  für  seine  zeit  nicht  wahrscheinlich. 

Göttingen.  Paul  Kluckhohn. 


ZU  ZS.  51,255.    DE  SERVANDO  MEDICO. 

Vielleicht  ist  Auth.  lat.  i '  204  doch   ohne   annähme   wanda- 
lischer  bestandteile  auszukommen,     ich  schlage  vor: 
Servande  in  parte  misera !  anabrasta  nosesis: 
Vi  tibi  alasve  almam  vitam,  icl  vis?     tandem  ahi  tritani! 
Copiates  gihhatus  enim  transire  volehat. 
'Reserviert    must    du    werden   am    jammerort!      wie    spreu 
geschüttelt  wirst    du    pein    leiden  {dvüßQaOTU  voo))ösiq).     oder 
willst  du  mit  gewalt  dein   wertes   leben   fristen,   willst  du  das? 
dann  mach  dich  endlich  fort  auf  den  gewohnten  weg!'  ein  buck- 
liger totengräber  wollte  nämlich  gerade  vorbeigehn. 

V.  1  wäre  medentem  oder  monstrumqiie  modernum  nicht  aus- 
geschlossen; mit  V.  3  beginnt  der  neue  satz,  misus  ist  absolut 
gebraucht  gleich  'dreist';  für  terrq  rtpetam  ist  wol  terrae  repe- 
titae  (oder  terra  repetita)  zu  lesen,  'als  er  mitten  auf  der 
widergewonnenen  erde  stand',  die  messungen  alu  und  copjates 
stimmen  zu  den  metrischen  schwächen  des  gedichts,  und  das 
zweimal  für  h  gesetzte  u  entspricht  der  gewohuheit  des  Salma- 
sianus,    die  beiden  laute  zu  verwechseln  (vgl.  superua). 

H.  Pal  zig. 


ALTHOCHDEUTSCHES  AUS  TRIER. 

MITGETEILT  vox  F.  W.  E.  ROTH. 

Die  handschrift  nr  40  {num.  loc.  1018)  der  Trierer  stadt- 
hibliothek  ist  von  MKeuffer  in  seinem  Beschreibenden  Verzeichnis 
der  hss.  d.  Tr.  sthihl.  i  (1888)  41  nur  einer  sehr  knappen  In- 
haltsangabe geKürdiyt  worden,  aus  der  kein  germanist  ihren 
wert  ahnen  mochte,  es  ist  ein  pergamentcodex  des  10  jh.s^  in  sog. 
qnartformat  (133x177  mm),  132  blätter  (13x8+1x12+2x8) 
nmfassend,  in  altem  einband  vollständig  und  fast  unbeschädigt 
erhalten,  als  provenienz  gibt  Keuffer  zweifelnd  das  Augustiner- 
stift an.  eine  eintragung  des  \bjh.s  auf  bl.  i'^  {tvo  aufserdem  eine 
erklärung  des  hebräischen  alphabets  steht)weist  auf  das  aus  Cäsarius 
von  Heisterbach  bekannte  cistercienserkloster  Himmerod  {Hemmen- 
rode) bei  Manderscheid  in  der  Ei  fei:  Liber  mouachorü  fce  marie 
T  hymerode  ord.  cift.  Treuerü.  dyoc.  den  hauptinhalt  des  codex 
bilden  glossensammlungen  resp.  glossare:  i.  bl.  \^  ( — 33'')  ein 
b  ib  elgl ossär  (Glosae  dyvinorum  librorum)  beginnend  mit  De 
prologo  libri  Genesis  und  schliefsend  mit  der  Apokalypse :  — 
u.  bl.  ii3^  { — 41^)  lucipiunt  glosse  hebreoriim  nominum, 
beginnend:  Aaron  Mons  fortitudinis.  Abrä  Pat  excelfus  — 
schliefknd  mit  Zorobabel.  ipfe  magifter  de  babilone;  vgl.  CGL. 
n p.  xi.iv  {cod.  Cantabrigiensis);  —  m.  bl.  41''  ( — 53'')  Incipiuiit 
glosse  grecorum  verborum  {anfang:  Ablida.  lucida),  das 
glossar  welches  im  Corpus  Glossariorum  Latinorum  {CGL.)  in 
487 — 506  aus  dem  cod.  Bern.  688  saec.  xm  abgedruckt  ist:  — 
IV.  bl.  53''  ( — 132'')  lucipiunt  glosse  latinorum  nominum 
{anfang:  Abactus  abactu  remotus),  offenbar  dasselbe  glossar 
welches  auch  in  dem  Bernensis  QS8  unmittelbar  auf  ui  folgt,  vgl. 
CGL.  ni  j).  XXIX,  wo  noch  andere  Codices  nachgewiesen  sind, 
darunter  der  Cantabrigiensis,  der  auch  ii  enthält. 

Dieser  hauptinhalt  der  handschrift  birgt  gewis  nichts  was 
nicht  auch  anderwärts  überliefert  wäre,  dürfte  aber  schon  durch 
sein  alter  für  die  herausgeber  des  CGL.  von  interesse  sein,  von 
gröster   bedeutung   aber   sind   die   eint  ragungen,   mit  icelchen 

'  diei^er  dcctienui;/  Keuffer^  stimm  ich  unbedenklich  su,  nach- 
dem auch  W Meyer  dasselbe  urteil  gefällt  hat;    Roth  war  geneigt  die 

hs.  höher  hiriaufsurücken. 


170  ROTH  UND  SCHRÖDER 

tcenig  jüngere  hände,  die  aber  ganz  geivis  auch  nocli  dem  \0  jh. 
angehören  \  die  unfern  r  ein  der  des  codex  bis  bl.  64*  bedeckt 
haben,  es  handelt  sich  um  eine  niedicinische  com^yHation,  die 
dem  Schreiber,  n-ie  ich  vermute,  in  einer  handschrift  vorlag,  dort 
aber  aus  verschiedenen  quellen,  die  uns  zum  teil  anderweitig  be- 
kannt sind,  zusammengetragen  tcar:  krank heitsnamen,  diätetische 
Vorschriften,  recepte  mit  eingestreuten  deutsch en  zauber- 
S2)rüchen  christlicher  einkleidung,  kräuterlisten  (u'ider  mit  ein- 
zelnen krankheitsnamenund  körpert eilen)  mit  deutsch  en  glossen 
ustv.  die  gröfseren  abschnitte  haben  meist  und  die  einzelnen 
recepte  vielfach  Überschriften,  die  bald  in  majuskeln  (unten  Ver- 
salien), bald  in  rtdrritm  (unten  fetterere  typien)  gegeben  sind'^,  z.  tl 
aber  sich  garnicht  besonders  abheben,  mit  bewahrung  dieser  in- 
consequenz  haben  die  drei  (?)  copisten,  die  sich  hier  ablösten, 
offenbar  die  vorläge  wid ergegeben,  icelche  ihrerseits  ivol  all- 
mählich zustande  gekommen  irar. 

Den  nicht  nur  cidturgeschichtlich,  sondern  auch  sprachlich 
wichtigen  altdeutschen  Inhalt  der  handschrift  hat  F.  W.  E.Roth 
zuerst  erkannt  und  mir  in  einer  sehr  sorgfältigen  abschrift  zur 
Verfügung  gestellt,  zu  der  ich  nur  tcenig  nachzutragen  fand, 
nachdem  mir  die  direction  der  Stadtbibliothek  den  codex,  der  fortan 
eines  ihrer  wertvollsten  besitztiimer  bilden  wird,  nach  Göttingen 
gesant  hatte,  bin  ich  bemüht  gewesen,  Roths  abschrift  in  der  ireise 
zu  ergänzen,  dass  auch  die  Umgebung,  in  der  sich  die  deutsch- 
sprachlichen  stücke  finden,  den  Usern  ersichtlich  wird,  ich  bin 
aber  nicht  der  meinung,  diese  marginalien  ganz  ausgeschöpft  zu 
haben,  wenn  sich  einmal  unter  den  germanisten  der  midige  arbeiter 
findet,  der  das  gewaltige  material  der  medicinischen  Überlieferung 
des  frühen  mittelalters  sichtet,  dann  wird  er  unsere  beschreibung 
nur  als  eine  abschlagszahlung  hinnehmen  dürfen. 

[Zusatz,  erst  bei  der  correctur  entdeckte  ich,  dass  auch 
in  den  eintragungen  der  obern  r an d er  deidsche  glossen  stecken: 
ich  tverde  sie  hinten  (s.   180 ff)  nachtragen.     E.  S.] 

Zunächst  bl.  1  —  *:)%  anfangs  schwer  leserlich,  ein  Verzeichnis 
griechischer  krankheitsn amen  mit  erklärung,  ans  dem  ich 
hier  ein  paar  proben  gebe:  Apostoma-^  coUectioiie  nome/?  accepit. 

•   auch   darin    stlmmX    mir   W Meyer  bei.  -  der  .•sperrdriul. 

der  deutuvhen  Wörter  und  ab.«-hnitte  ist  natürlich  nur  für  die  ausi/ahe 
angeordnet.  ^  di.  apostema. 


ALTHOCHDEUTSCHES  AUS  TRIER  171 

Nam  collectiones  greci  apostoma  uocant.  —  Epaticus  morbus  e 
iecoris  passione  iiomc»  accepit.  greci  -H-epaton  iecur  iiocaut.  — 
Lyenosis  a  splene  uocabulu)»  su»/pfit.  greci  euim  spien  lien  uocant. 

—  sodann  heginnen  hl.  9"  (llätefische  mafsrajeln,  reccjjte, 
segen  und  zaiiherformeln,  mit  iihcrschriften  in  ruJmim, 
majuskeln  oder  gewölmlicher  sckrift  eingeleitet,  zunächst  hl.  9''  /f. 
Ilec  oft  cei-ti(Tiiiia  salus  corporis  —  A«l  capitis  purffalioiioiii  A<l 
lacriiiioTos  oculos  —  Ad  raucitudiiiem  —  Itcin  —  Ad  deiitiuiii 
dolorem.  —  hl.  12"  ISTI  iii  DIES  PERICVLOSSIMI  SL-ATIN  ANNO. 

—  6/.  1 2  '•  AD  VEEMES  TOLLENDOS  CAUUEN.  {zauherworte  und 
kreuze  dazicischen).  —  />/.  13"''  AD  TORTIONES  VENTRIS  — 
AD  PVLICES  —  AD  NARES  STAGNANDAS.  Pone  manum  super  Caput 
et  die.  Vnde  venis  tu  iordane  sanguis  et  aqua.  Pe/iuro  te  iu 
nomine  dei  patris  et  tilii  et  Ipiritus  kmcti,  ut  redeas  et  ultra  now 
exeas  de  naribws  istlus  hominis  trihus  uicib?<.v.  —  hl.  14''  AD  APES 
CONFIRMANDAS.  Vos  estis  ancille  dei.  uos  facitis  .  .  .  (leider 
weggeschnitteii).  —  hl.  15'"'  GARGARISSLMV3/ '  AD  FLECMA  P7?0- 
ICIENDA.  —  hl.  16'  AD  LYBRICOS  TOLLENDO-S.  —  Potio  ad  pa- 
ralysin. —  hl.  IG''  Ad  ueutris  dolore///.  —  Ad  calculu/zt  in  uesica. 

—  hl.  17'  Ad  morsum  serpentis.  —  hl.  17''.  18'  Si  quis  pc/'cussus 
fuerit  de  sagitta.  —  Ut  capilli  non  canescant.  —  Ad  sanguincm 
de  naribus  sistendu///.  —  hl.  IS''.  IQ'  Ad  difficultate///  pariendi  res 
p/obatissima.  Elisabet  peperit  prccursore///  Sancts.  Maria  genuit 
saluatore///.  Adiuro  te  per  chri/'tum  ut  sine  tu  es  puer  siue  puella. 
exeas  foras  q//ia  saluator  te  uoeat.  Omnes  sancti  dd  intercedant 
-p/o  ista  femina.  Item  in  alia  me///bi'anula  scribat  et  swper  pect//.s 
eins  ponat.  Lazare  ueni  foras.  —  hl.  1 9''  Ad  Candida?//  facie/// 
agenda///.  Eadice/;/  lubestici  bullies  in  aqua  rf  inde  facie///  laua. 
\A\  Ad  catarrum  die.  Cr  ist  uuarth  giuund  tho  uuarth  he 
helgi'^  ok  gifund.  that  bluod  forftuond^  fo  duo  thu 
bluod.  amen  ter.  Pate/-  nofter  ter.  —  hl.  20'  Qne///cu///que 
fpina  uel  stips  punxerit  et  in  manu  ue\  pede  manserit.  Sumat  radice/« 
polipodii  ac  cnm  axungia  terat  ueteri.  et  altera  parte  raan»*  seu 
pedis  econtra  mittat,     et  mox  pe/'  uulnus  regreditur   sine  dubio. 

—  hl.  21"  weitere  recepte.  —  hl.  21 '' — 24"  De  iuquisitione  fleoto- 
mie.     Inq^isitiones  uenaru///  s/n/t  multe  etc. 

Nun  folgen  hl.  24'' — 27 ''?<//(/,  nach  einer  ahermal igen  unter- 

'   (/i.  gargaiisiiia  ''lurfieliffcis.-^er.         -  rersrhiieben.  ^  /•  forl'tuod 

(:  bluod). 


172  ROTH  UND  SCHRÖDER 

hrechiing  durch  recepte,  hl.  34" — 36''  zivei  listen  officineller  kräuter 
mit  vielen  deutschen  glossen.  wir  geben  alles  deutsch  glossierte 
und  ivas  für  den  Zusammenhang  ivichtig  scheint,  und  deuten  die 
auslassiingen  durch  puncte  an.  die  deutschen  und  anscheinend 
angedeutschten  Wörter  sind  gesperrt  gesetzt  und  numeriert,  um 
sie  citieren  zu  können,  die  wenigen  anmerkungen  sollen  nur  den 
zweck  haben,  hemmungen  zu  beseitigen,  iveJche  beim  aufschlagen 
der  bekannten,  für  das  Verständnis  lateinischer  [und  griechischer) 
pfianzennamen  usw.  unentbehrlichen  hilfsmittel  entsteht  könnten: 
neben  Ähd.gll.m,  Pritzel-Jessen  Pflanzennamen  undvFischer-Benzon 
Altdeutsche  gartenflora  kommt  jetzt  vor  allem  in  betracht  Goetz 
TJiesaurus  glossarum  emendatarum  in   CGL.  vol.  vi.  vn. 

bl.    24"    NO-MIXA  OLEßVJ/.      Ypericum.     hardenhoi    (1). 
Plantago.     Wegebreida  ("2).  Tanaceta.     Reniuano    (3). 

Febrifugium.  materna  (4).  Abrotamux.  afreta  (r>).  Sature- 
gia  1  serpillum.  Connela  (6).  Alteia,  iuifca  (7).  Seneciou. 
Rotlacha  (8).  [bl.  25']  Millefoliiu».  garauua  (9).  Poten- 
tilla.  grell  fing  (10).  Acero.  gundraua  (11).  Balsamita. 
Silumbra  (12).  Origanum.  thofto  (13).  Cerafolium  1  sar- 
minia.  kieruila  (14).  Marubium.  andor  (15).  Rafanu»t. 
meredich  (16).  Celidonia.  Sceluurz  (17).  [6^.25']  Arte- 
misia.  biuoz  (18).  LupiniDH.  ficbona  (19).  Lacteridia. 
ipriucuurz  (20).  Cocouidiuj».  zuilinberi  (21).  Gentiana. 
heraera(22).  Colocasia.  wildiminza  (23).  Coniua.  haiiup 
(24).  Peftinaca.  Morha  (25).  Lapatium.  latucha  (26). 
Cicuta.  coniza  1  kanna.  Scierlinc  (27).  Tiibura.  erthnuz 
(28).  Fungnsi.     luam    (29).  Kalcatrippa.    karda  (30). 

[?>' 26]  Bladonia.  uuillina  (31).  Acitula.  amphara  (32). 
lusqiiiamui».  bilina'^  (33).  Musica.  basilisca.  Yulgago  1  asero. 
haialuurz  (34).  Xepeta.  liminca  (35).  Elleboru)»  albuw. 
optarmiciDU.  hnioluurt  (36).  Ellebonuu  uigru>».  fiteruurz 
(37).  Dipta»ipnum.   uuizuurz  (38).  Elua.   Alant  (39). 

[fcZ.  26'']  Sanguinaria.  umbitreida  (40).  Ebuliu».  aduk  (41). 
Filix.  fan  (42).  Polpodiiuu.  ftenfarn  (^3).  Septeneruia. 
Arnoglossa.  Wegirihc  (44).  Lupesticum.  lubbiCtechcho  (45). 
Maratru»i.  feiiiculuiu.  fenucal  (46).      Rumicedo^   branlof  (47). 

'  aus  Flangus  corrigiert.  ^  l.  bilisa.  ^  Alid.  ;ill.  Ill  438,  17 

Rumicedo  bramlob  und  Steinmeyers  anmerlainn. 


ALTHOCHDEUTSCHES  AUS  TRIER  173 

Acalissa.  Urtica  maior.  Arciotidas.  bacas  iuuiperi.         Moi-a. 

dufberi  (48).  Bolbu/u  .i.  radix  l  caput.  [hl.  27']  Ancura 
1  solseqz/ia.  hringilla  (49).  Acorus,  fuuerdnla  (50).  Maura. 
trol'uurz  (51  j.  Alosautcr  \  absinthiu»/.  uuermoda  (52).  Italioa. 
luioluualTepa  (53).  Didimo.  auricula  leporis.  Hulserida'. 
uuahfhollendar  (54).  Verruca,  uuarta  (55).  Stantin?<&. 
Groztharm    (56).  [bl.    27''J    symphoniaca.     bilina-     (57), 

Sifter.  Meu.  Raphanu/u.  uuildecreCfo  1  uuilderadich  (59). 
Ang-ina.  Keleluth  (60).  NOCOC  i.  lang-uor.  Bralfica.  roma- 
uus  caulis.  Lelisfagus.  feluia"*  (61).  Bricius.  t'ragilis.  Malag-ma. 
eraplastruw.  Timbra.  i.  latureia.  [bl.  28*]  Scirosis  i.  duricia. 
Clister  i.  potio   subterior.  Suabalum.   l'terc^s  durum.  Ad 

Caput  purganduwi  1  uoce>»  exclaranda»«  liue  glandulas  reprime»- 

das folgen  recepte  bis  bl.  29''  unten. 

hl.  3n'  HE  INI'ENTIONES  ATQUE  PRECEPTA  HYPOCEA- 
TIS  MEDICE  H3'pocras  ad  precauendas  imbecillitates  ita 
dicit.  Itaq?^'  exordiu»<  iucipiam^^s  a  solsticio  ab  \ui  kh  ianuarii, 
ex  qua  die  humor  corporib^^^v  crescit . . .  reicht  bis  bl.Si'  —  hl.  34" 
.  .  .  NOM/TA  HERBAKV3/.  Unctolenta  dicitur  herba  cito  sa- 
nans  uulnera.  Aspaltu/H  i.  bitume».  Acantu»i  i'eme«  urtice. 
Agallis  i.  loliu»t  1  zizania.  Agaric«.s'  i.  fuug»«  albus  \  spongi- 
ola.  Brasicia.  uuirz  (62).  [f.  34'']  Alumen.  calTalder  \ 
Icilt  Ctein  (63).  Pastillus.  cuochilo  (64).  Polipodiura.  hane- 
foz  (65j.  Glicon2<.5  .i.  Pulegium.  Glaucia  .i.  celidonia.  Gleu- 
con  .i.  mustu>u.  Melilotuju.  fenogrecuwi  agreste.  Ozimu»;  .i. 
herba  basilisca.  Pegauu»i  .i.  ruta.  SarcocoUa '  agrimouia. 
Galatida  i.  telimula.  Vrtica  greganica.  heidarnezela  (66 1. 
Psylatrum.  lleipha  (67).  [hl.  35 'J  timus.  feltconila  (68'. 
Epithim?<s  i.  flos  thimi.  Michones  .i.  papanera.  Glauca  .i.  uiola. 
Omoptoi«6'  ■'•  qui  sauguinem  spuit.  Agacia  "  .i.  sncus  rose  sil- 
uestris.  Iris  iliricws  .i.  uuatuurz  (69).  Sanguinaria.  Ipuri- 
gras  (70).  Diogredium^  Sca;umonia.  Sprintilla.  hnieluurtz 
(71).  Coli  passio.  ilium  dolor.  Strugn^s  ^  .i.  nua  lupina. 
[/'/.  35'"]    Scotomatici    .i.   qwi  uertigine    paciuntur.       Apostoma ". 

'  .f  Ahd.  ßU.ul  520,28  Husorida  wachalter,  521,-11  Vberida  lief- 
wurtz  and  Steinmeyers  anmerkunf/  ;u  505,  16  Nulserida  balisicr. 
2  /.  bilifa.  3  oder  feliua?  "*  au.<  Salcocolla  roi-r/'/icrt.  ■'  1.  Eniop- 
toius  di.  haemoptoicus.  ^  di.  Acacia.  '  di.  diaffridiuiu  n'^ia-^^v^ior 

—   SuxovSior).  **   arovyvui.  '^  l.  Aposteiua. 


174  ROTH  UND  SCHRÖDER 

collectio  puris(!j.  Sagapiniuu.  genus  resine.  Myrra  stacten  .i. 
myrra  in  lexiua  lauata  et  inde  renouata.  qu/a  stacten  iicitur 
cerus  de  foco.  Stactis  aute/u  ilcifur  gutta  de  mirra.  Ideoqwe 
differt  inter  stacten  et  stactis.  Agra  .i.  canabis.  lianuf  (72). 
BdelliuJ/i  .i.  folliculus  qui  in  foliis  ulmi  nascitnr  et  intro  iacef 
similis  myrre  perlucidum.  Vinum  stipticu»i  .i.  rubeu»«.  [hl.  36'] 
Actix  1.  h  oll  ander  (73).  Meactix"'^.  athuc  (74).  Animonis.  rosa 
agrestis.  Ampellus.  uitis  alba.  Bratens,  lauina  \  Lexiua  .i. 
longa  (75).  Politricon  .i.  coriandrum.  Rartilia  .i.  turuell(a). 
Calame«tis.  .i.  nepeta.  Tellis  '^  .1'.  fenogrecum.  Conidion  agrion. 
papauer  agrestis.  Brionia  .i.  Cucurbita  siluatica.  Brittannica.  beta 
agrestis.  Brasion  .i.  marubium.  [1)1.  36'']  Concordia  1  raaior  raercu- 
rialis  .i.  heimuurz  t  cvouurz  (76).  Bletus  pastenaca.  Cissus 
liedera.  Cromion''  agrion  .i.  cepa  canina.  Centauria.  erth- 
galla"  (77).  daran  schliefst  sich  unmittelbar  (auf  hl.  36'' 
unten)  das  hei  iveitem  wichtigste  stück  der  handschrift,  das  ich 
hier  unter  beihehalfting  aller  ahkürzungen  und  Schreibfehler  gebe. 

[B\  INCANTACIO  CONTRA  EQVORV  EGRITYDIXE  QA^\  NOS  DICDI' 
SPVRIALZ. 

Quam  krilt  endi  Ice  Itpelian  zi  ther^  bürg,  zi  la- 

n  _  h 

lonlu  .  thar  uuarth  [hl.  37'|  Ict*  Ttephanel'  rol"  entphan- 
gan.  So  so  krilt  gibuozta  themo  Ice  Itephaü  |  hrofl'e 
thaz  entphangana.  lo  gibuozi  ihc  it  mid  kriltes  ful- 
lel'ti  thelTemo  hronj  Paternr.  üuala  krilt  thu  ge- 
uuertho  gibuozian  thuruch  thina  ginatha  ^"  [/>/.  37''|  the- 
Temo  hrol'fe  thaz  antphangana.  atba  tliaz  l'purialza. 
lofe  thu  themo  I  fce  Ttphanel'  rolle  gibuoztol'  zithero 
bürg  faloniu".     am. 

In  derselben  zeile  \bl.  37"  rinten\  geht  es  dann  mit  andrer 
hand  wider  mit  lateinischen  recepten  iveiter:  Accipe  cerebrum 
usic.  —  es  kommt  nun  überhaupt  nichts  deutsches  mehr,  aus  dem 
folgenden  heb  ich  nur  noch  heraus  [hl.  41'']:  AD  ÜERMEM  QVI 
DICITC/E  TALPA  TOLLENDUM.     Si  quls  homo  uel  equus  uei  aliud 

*  unbekannt.  -  L  meatrix.  •'  icef/en  des  fehlenden   umJauts 

icol  noch   als  lateinisch  anzusehen.  *  h  ausradiert.  *  rij/.fi. 

•^  y.QÖfiuvor.  '  r  nachnetragen.  ^  so!  °  es  kann  allenfalls 

noch  ein  buchstabe  dagestanden  haben;  am  seilenschluss  hat  der 
Schreiber  das  wort  anscheinend  abgebrochen.         ^°  oder  gnatha.? 


\ 


ALTHOCHDEUTSCHES  AUS  TRIER  175 

peciis  habt'^  illui/i  uermey;<  qui  dicit«;-  talpa.  accipe  iWnm  ac  conuerte 
in  orientale/M  plag-a^u.  in  decrescente  luna.  |  hl.  42  "|  tun/»que  dextnim 
pedem  pone  super  illius  dextruw  pede»t.  et  die  in  eins  aureni  sub- 
scriptajH  sententiam  cum  dommica  oratione,  et  pnst  semel  dictuMi. 
gira  ewn  pe>-  dextram  parte»*,  ac  die  iterum  sicut  prius  feceras. 
[hl  42'']  iteruwque  gira.  sicq?<e  facias  tercia  uice  usn\  usn: 

Auf  hl.  44*  beginnt  dann  eine  abschrift  des  iveitverbreiteten 
bächleins  von  den  kräften  der  betonica,  dem  iihnlich  wie 
in  der  hs.  der  Prager  Universitätsbibliothek  vii  G.  25  (13./Ä.) 
die  plantagorecepte  angefügt  sind  (s.  Ahd.  Gll.  iv  606, 12/f). 
beginn:  Prfcatio  retoiiice  Iierbe.  Herba  betonica  que  prima 
inuenta  e.v  ab  esculapio  his  precib«.«  adesto.  Feto  magna  her- 
baruwi  dowiina  per  liunc  qui  te  creavit.  ut  cum  xl**  vii  tuis  uir- 
tutib?/.9  ades.se  [hl.  44 "]  uelis.  Legis  eas  ante  solis  ortu^j.  Jlense 
?ii\gusto  cum  radicib?<.s  ac  foliis.  Prima  cum  eius  ad  capitis  frac- 
turawi.  es  folgen  nun  mit  roten  Überschriften  die  (47  ?j  betonica- 
recepte,  anfangs  {bis  xxxiu,  aber  nicht  genau)  numeriert  —  bis 
hl.  59''  unten,  hier  schliefsen  sich  recepte  zur  verioertung  von 
Plantago  sine  arnoglossa  an,  beginnend  mit  Prima  cura  eii*.« 
ad  capitis  dolorem:  ich  zähle  23,  den  schluss  bildet  bl.  64' 
die  üherschrift  Ad  morsum  caiiis  rabiosi,  mit  der  dieser  text  ab- 
bricht und  die  beschreihung  des  untern  randes  üherhaiqyt  aiifhört. 
die  eintragungen  gleichen  schrifttyps  aber  andern  inhalts  auf  dem 
obern  rande  der  blätter  reichen  noch  von  bl.  64'^  bis  bl.  76'. 
irgend  etwas  deutsches  enthalten  sie  nicht  mehr. 

Ich  füge  nun  einige  bemerkungen  zu  den  deutschsprachlichen 
bestandteilen  der  hs.  hinzu,  wobei  ich  bemerke,  dass  mit  A  der 
gereimte,  mit  B  der  ungereimte  Zauberspruch  gemeint  ist  und  von 
den  glossen  nrr  1 — 61  zu  den  'Nomina  Olerum'  (NO),  nrr  62 
his  77  zu  den  'Nomina  Herbarum'  (NH)  gehören. 

Herr  Roth  hatte  richtig  erkannt,  dass  die  deutschen  bestand- 
teile  sehr  viel  älter  seien,  als  die  handschrift  nach  Keuffers 
(zweifellos  richtiger)  datierung.  es  genügt  vollständig,  hier  auf 
die  erhaltung  des  anlautenden  h  vor  n  und  r  hinzmveisen  (hl 
und  hw   kommen  nicht  vor):    NO  hnioluurt '  (36).  hringilla  (49); 

'  die  beiden  bele'je  für  'nieswur;'  .<ind,  soriel  ich  sehe,  die  ersten 
icestgenn.  seunen  für  den  h-ardaut  des  cerbum-^  'niesen  ,  der  /« 
freilich  auch  durch  an.   hnjösa  gesichert  war. 


176  ROTH  UND  SCHRÖDER 

XH  hniel'uurtz  (71);  dazu  in  B  ror\  lirolTe,  hro-,  hrolTe,  rolle; 
diese  erscheinung  weist  unbedingt  auf  das  erste  viertel  des  9  Jh.s 
als  spätestes  datuni  der  vorläge  hin,  denn  schon  der  Tatian  kennt 
das  h  nicht  mehr  (s.  zuletzt  Franck  AUfränk.  gramm.  s.  139). 
die  festigkeit  des  lautes,  der  noch  in  der  ahschrift  überall  be- 
wahrt ist,  dürfte  vielleicht  gar  die  datierung  'um  800'  empfehlen, 
ich  habe  dafür  freilich  nur  noch  zivei  vereinzelte  anhaltspuncte: 
einmal  das  einmalige  antphangana  neben  zweimaligem  entphan- 
gan(a)  B,  und  dann  ebenfalls  in  B  den  merkwürdig  altertümlichen, 
bisher  fränkisch  und  für  das  9jh.  nicht  mehr  bezeugten  Inf  sie. 
V.  I  cl.  gibuozian,  über  dessen  lesung  kein  zweifei  besteht,  diesen 
gesicherten  altertümlichkeiten  der  vorläge  gegenüber  kommt  alles 
was  auf  eine  jüngere  sjprachperiode  hinweist,  auf  das  conto  des 
abschreibers,  dessen  zeit  vielleicht   150  Jahre  später  fällt. 

JJyiter  den  vier  deutschen  partieen  sind  die  'Nomina  Olermn' 
alte  bekannte:  unsere  hs.  stellt  nämlich  nur  eine  ältere  schtvester 
dar  zu  den  drei  hss.,  aus  welchen  Steinmeyer  ni  5 1 2  /f  die 
pflanzennamen  unter  nr  mxv  ediert  hat:  a)  =^  clm.  14584 
{s.  xiv),  b)  =  cod.  SGalli  292  ^;.  196  (s.  x)  und  c)  ==  cod. 
Bonn.  218  /'.  84''i  (i.  xi).  in  dem  SGaller  codex  führt  die  liste 
auch  die  gleiche  Überschrift  'Nomina  holerum',  und  die  beiden 
hss.  bc  bewahren  {s.  513,57  la)  im  lateinischen  lemma  denselben 
fehler  Flangus,  den  die  Bonner  dann  ganz  wie  die  unsrige  in 
Fungus  gebessert  hat!  auch  sonst  stehn  bc  der  Trierer  hs.  recht 
nahe  {man  vgl.  z.  b.  nr  21  mit  513,41),  b  tcol  noch  näher  als 
c  {vgl.  die  anmm.  zu  513,24.  53  tisiv.),  nur  dass  es  früher 
abbricht  und  auch  c  nicht  bis  zum  ende  reicht,  aber  niemals 
würde  ich  auf  griind  der  drei  bisher  vorliegenden  hss.  darauf 
verfallen  sein,  das  urglossar  bis  in  den  anfang  des  9  jh.s  hin- 
aufzurücken, tvie  es  jetzt  schon  für  die  directe  vorläge  von  Trier 
feststeht,  und  dabei  hat  diese  vorläge  schon  merkwürdige  Schick- 
sale hinter  sich :  ihr e  Vorstufe  ist  nämlich  durch  die  hände  eines 
niederdeutschen  Schreibers  gegangen,  der  1)  einige  ausgesprochen 
niederdeutsche  lautgebungen  in  gemeinsamen  glossen  verschuldet : 
so  hanup  (24),  aduk  (41),  Itenfarn  (43),  fenucal  (46),  (uaoluualj 
fepa  (53),  uuarta  (55);  2)  in  Zusätzen,  d.  i.  in  glossen  welche 
'    über    dies    z-eicheii   \    das   in.   B   uucli    noch   in.    der    überi^chrift 

SPUEIALZ,   in  NH  74  :!ur  einsrhaltung  eines  h  ui  atuc  rencendet  t.^t, 
cf/l.  W'attenbach  Latein,  /jaläographie^  s.  51 


ALTHOCHDEUTSCHES  AUS  TRIER  177 

ahc  fehlen,  ausgesprochen  niederdeutsche  formen  bietet:  so  afreta' 
(5),  100  nur  b  übergeschrieben  eine  (abweichende!)  glosse  {zu  abro- 
tdknnm)  bringt:  stabeuurz;  und  an  folgenden  stellen  ivo  die  andern 
hss.  weder  lemmn  noch  glosse  bieten:  hnioCuurt''  (36),  branlof 
(47),   dufberi  (48),  imermoda  (52). 

Die  glosscn  XO  sind  aber  auch  die  einzige  deutsche  partie, 
welche  niederdeutsche  elemente  aufweist,  und  es  geht  darum  nicht 
an,  das  altertümliche  h-  vor  cons.  aus  dem  niederdeutschen  zu 
erklären  und  so  die  vorläge  etwa  um  ein  oder  zicei  menschen- 
alter herabzudrücken,  denn  zb.  hr-  ist  ja  auch  in  hringilla  (49), 
einer  alten  glosse  {vgl.  514,34),  gesichert  und  kehrt  in  den  hros 
von  B  mehrfach  wider,  und  der  glosse  Elleborum  album.  optar- 
micum.  hniofuurt  (36)  von  NO  steht  die  davon  gänzlich  unab- 
hängige  glosse   Sprintilla.   hnieliiurtz    (71)   in  NH  gegenüber,  — 

Für  die  glossen  KH,  welche  die  lautverschiebung  in  allen 
fällen  vollzogen  zeigen  und  in  denen  nichts  aus  dem  oberfrän- 
kischen gebiet  hinausiceist,  hab  ich  irgend  ein  näheres  verwantschafts- 
Verhältnis  nicht  ermittelt  und  verzichte  darauf,  für  die  bekannten 
unter  den  glossen  nachweise  zu  geben,  das  hohe  alter  auch  dieser 
kleinen  gruppe  icird  insbesondere  durch  cuochilo  (64)  erwiesen: 
bekanntlich  sind  derartige  geschlechtliche  deminutivbildungen  nur 
bis  in  den  an  fang  des  9  jh.s  nachweisbar  (s.  Wilmnnns  DGr.  ii 
27U),  spjäter  tritt  überall  das  neutrale -lin  ein:  so  auch  Ahd.  Gll. 
lu  253,  18  Pastillus  cuochelin. 

Die  beiden  Zaubersprüche  zeigen  mittelfränkische  laut- 
gebung:  es  ist  sehr  wol  möglich,  dass  sie  in  der  vorläge  unserer 
hs.  zum  ersten  male  zur  niederschrift  gelangten.  aus  den 
mangeln  der  aufzeichnung  gewinn  ich  entschieden  den  eindruck, 
dass  schon  der  alte  Schreiber,  der  den  z.  tl  doch  recht  schwierigen 
glossen  gegenüber  sich  leidlich  sattelfest  zeigt,  hier  vor  einer  andern 
aufgäbe  stand:  er  schaltete  diese  stücke  eben  aus  dem  köpfe  ein. 
für  ein  paar  tveitere  fehler  darf  man  auch  den  Schreiber  unserer 
Trierer  handsclirift  selbst  v er antrv ortlich  machen,  von  den  beiden 
stücken,  die  man  ivol  künftig  als  erste n  und  zweiten  Tr iere r 
Zauberspruch  bezeichnen  wird,  geb  ich  A  noch  einmal  mit 
abgesetzten  reimzeilen  und  mit  den  kleinen  schon  olien  ange- 
deuteten Verbesserungen. 

'  hochdeutsch    ist    ebereiza    uä.    bezeuQt,    :-.  h.   521,    23.    523,   16. 
533,  10.  547,  5.       ^  ^f,,.  einzige  heispiel  für  -uurt  neben  ßinalinen  -iiurz 
Z.  F.  D.  A.    LIT.     N.  F.    XL.  12 


178  ROTH  UND  SCHRÖDER 

Ad  catarrum  die: 
Crist  uuarth  giuuud. 
tho  uuarth  he  hei  ok  gisund, 
that  bluod  forstuod: 
so  duo  tliu  bluod! 
Amen  ter.  '     Pater  nolter  ter. 

Die  la.  helgi  {oder  hei  gi)  erklär  ich  mir  aus  einem  irrigen 
vorausnehmen  des  gi  von  gilund;  den  reim  forstuod  :  bluod  hat 
u'ol  erst  der  zweite  Schreiber  durch  einfügung  seiner  hochdeutschen 
form  getrübt;  die  nasallose  form  kommt  im  9  jh.  noch  allen  frän- 
kischen dialekten  zu,  vgl.  Franck  s.  238.  bemerkenswert  ist  das 
constante  uo,  ivo  ivir  in  beiden  glossengruppen  u.  zio.  in  ver- 
schobenen ivörtern  festes  o  finden:  NO  biuoz  (18),  trol'uurz  (51). 
XH  hanefoz  (65),  denen  kein  uo  gegenübersteht :  aber  anderseits 
hei  für  heil,  ok  für  ouch.  die  Glieder  deutsche  {niederfränkische) 
herkunft  des  Spruches  muss  jedesfalls  als  möglich  gelten,  dem 
niederfränkischen  würde  dann  auch  das  später  besonders  bei 
hessischen  autoren  belegte  adj.  giuund  zuzuschreiben  sein. 

Da  catarrus  auch  im  ma.  nichts  anderes  bedeutet,  als  tvas 
wir  heute  unter  'katarrh'  verstehn,  nämlich  'reumaticus  humor 
in  pectore'  {CGL.  in  598,  41),  'tussis  humida'  (ib.  599,  16),  so 
ergibt  sich,  dass  der  segen  oder  Zauberspruch,  icas  bei  derartigen 
aufzeichnungen  bekanntlich  nicht  selten  ist.  eine  ungenaue  Überschrift 
trägt:  es  handelt  sich  um  ein  mittel  gegen  blutfluss  irgend  welcher 
art,  am  ehesten  wol  bluthusten  oder  'blutsturz'. 

Von  irgend  einer  Verwundung  des  Heilands  bei  lebzeiten^), 
bei  der  das  blut  zum  stehn  gebracht  sei,  weifs  iveder  die  Bibel 
noch  die  litterarische  legende  etivas;  wir  blicken  hier  hhiein  in 
eine  merkunlrdige  anschauungssfhäre,  wie  wir  sie  wol  eher  der 
niedern  religion  ganz  junger  Zeiten  zugetraut  hätten  —  und  dabei 
stehn  tvir  eben  erst  am  ausgang  der  missionsperiode ! 

Der  Spruch  selbst  enthält  sprachlich  nichts  ivas  über  die 
zeit  unserer  handschrift  hinausdeutete,  aber  er  steckt  fest  drin 
in  einem  handschriftlichen  complex,  den  wir  der  zeit  um  800  zu- 

'  über  die  rolle  von  Christi  todeswunden  in  den  russischen  sauber- 
sprüchen  handelt  jetst  anziehend  VJMansikka  Über  russische  sauber- 
formeln  mit  berücksichtir/iing  der  blut-  oder  verrenkungssegen  (diss. 
Helsingfors  1909;  .«'.  260  flf. 


ALTHOCHDEUTSCHES  AUS  TRIER  179 

schreiben  musten.  wird  dies  nicht  bestritten,  dann  haben  7vir  in 
ihm  das  früheste  document  für  den  deutschen  reim:  für 
den  reim  in  vulgärer  dichtung! 

Der  ziveite  Trierer  Zauberspruch  [B)  ist  in prosa  über- 
liefert, und  keine  spur  von  reim  oder  allitteration  weist  darauf 
hin,  dass  er  Jemals  wesentlich  anders  ausgesehen  habe,  schon  das 
ist  bemerkenswert:  für  die  frühe  zeit  um  800,  der  wir  die  vorläge 
unserer  hs.,  vielleicht  die  erste  niederschrift  zuzuschreiben  haben. 

Nun  aber  der  inhalt!  Christus  kam  einst  mit  dem  heiligen 
Stephan^  nach  der  stadt  Salonium'^.  (beide  waren  beritten.)  dort'^ 
zog  sich  SStephans  ross  eine  entzündtmg  (im  fufsgelenk)  zu*. 
(Christus  heilte  diese  krankheit.)  so  wie  Christus  dem  rosse  des  hl. 
Stephan  die  ent Zündung  vertrieb,  so  möge  Jesus  es  mit  Christi 
hilfe  diesem  rosse  gutmachen,  nun  folgt  das  paternoster,  dann 
eine  nochmalige  anrufung,  in  der  neben  thaz  antphang-ana 
als  ein  zweites  mögliches  pferdeleiden  thaz  spuri(h)alza  gestellt 
wird,  und  zum  Schlüsse  'A  men' ! 

Was  unr  oben  bei  dem  ersten  Spruche  bemerkten,  trifft  bei 
dem  zweiten  in  erhöhtem  mafse  zu:  wäre  er  irgendwo  im  hinter- 
land  unter  einfältigen  bauern  im  19  jh.  aufgezeichnet  —  oder 
meinetivegen  aucli  schon  in  dem  protokoll  einer  kirchenvisitation 
des  secfizehnten^ ,  so  7vilrden  wir  ihn  Jiinnehmen,  als  einen  späten 
entarteten  sprössling  des  zweiten  Merseburger  Zauberspruches, 
wie  ähnlich  so  viele  ans  licht  getreten  seien,  aber  nicht  nur  dass  unsere 
Trierer  handschrift  selbst  reichlich  so  alt  ist  wie  die  Merseburger 
—  ihre  schriftliclie  vorläge  liaben  tcir  oben  mit  grofser  bestimmt- 
heit  bis  um  800  hinaufgerückt !  wir  besitzen  also,  da  die  hand- 
schrift selbst  getrost  mit  der  vorläge  identificiert  werden  darf^ 
nunmehr   einen  'christlicfien    Zauberspruch'  in    litter  arischer  auf- 

*  dem  protomartyr,   der  erst  Acta    ap.  c   6  auftritt.  '^  der 

name  dieser  unbiblischen  Stadt  klingt  gelehrt:  ein  Salonia  lau 
in    Bithynien,    ein    anderes   in   Illyrien.  ^    man    erwartet:   auf 

dem  icege  dorthin,  aber  e«  steht  quam  .  .  zi  Salonium.  thar  .  .  . 
'*  ich  vermag  dies  uuarth  entphangan,  dem  nachher  die  ureimalifie  he- 
seichnung  des  leidens  als  thaz  ent-,  antphangana  entspricht,  corläuflg 
nicht  anders  ^r<  übersetzen;  die  analogieen  int  DWB.  iii  422  i«.  c. 
empfangen,  empfengen  liegen  freilich  eticas  weit  ab;  Cf/l.  noch  HöfJer 
Krankheitsnamenbuch  s.  117.  '-  also  die  rerren/.unfjsformel,  die 

mit  diesem  epischen  eingang  untrennbar  verknüpft  schien,  hier  fehlt  ."ie! 
*  nicht  alhuweit  von  der  mutmafslichen  heimat  der  Trierer  cersion  (in 
der  !j raf Schaft  Sponheim)  ist  Iblb  die  fassum/  Zs.  21,  211  aufnezeichnet. 

12* 


180  ROTH  UND  SCHRÖDER 

Zeichnung,  der  äUer  ist  als  alle  heidnischen  stücke  unserer  Über- 
lieferung^ und  der  sich  inhaltlich  mit  dem  unstreitig  nichtigsten 
dieser  heidnischen  deckt,  zum  mindesten  das  zeitliche  neheneinander 
heidnischer  und  christlicher  Zaubersprüche  des  gleichen  typus 
ist  erwiesen,  die  Sphäre  in  der  dieser  Spruch  entstanden  ist 
lernten  wir  schon  beim  ersten  kennen :  es  gab  in  sehr  früher 
zeit  eine  populäre  Überlieferung  oder  fortbildung  der  heiligen 
geschichte,  die  den  erlöser  in  allerlei  der  Bibel  und  auch  den 
apokryphen  unbekannte  Situationen  hineinführte ;  gelehrte  remi- 
niscenzen  und  die  vorstellungsweise  des  volkes,  bibelschrvache 
cleriker  und  phantasievolle  laien  wilrkten  dabei  zusammen 
-  und  schliefslich  konnte  es  wol  gar  dazu  kommen,  dass  der 
heiland  in  zicei  persönlichkeiten  gespalten  wurde,  dass  Jesus 
angerufen  ward,  'mit  Kril'tes  fulleJ'ti'  ein  krankes  pferd  zu  curieren. 

Ob  das  geschichtchen  von  der  heilung  des  kranken p)ferdefufses 
zuerst  von  Wodan  und  Balder  oder  von  Christus  und  SStephan 
erzählt  worden  ist?  ob  man  früher  den  heidengott  oder  den 
menschgewordenen  gott  der  Christen  in  solcher  form  angeru,'  ifh  c.i? 
vor  einigen  jähren  hätte  man  diese  frage  für  überflüssig,  reo  nicht 
für  töricht  gehalten  —  hat  es  doch  ernsthafte  gelehrte  gegeben, 
die  den  Vorgang  welchen  der  ziveite  Mersebiirger  Zauberspruch 
erzählt,  für  einen  'mythus'  hielten!  ich  habe  darin  nie  etwas 
anderes  als  eine  'götteranekdote'  erblicken  können,  und  ich  gesteh, 
dass  ich  mich  jetzt  der  auffassung  KKrohns  zuzuneigen  beginne, 
wonach  alle  heidnischen  Zaubersprüche  des  europäischen  nordens 
erst  Umformungen  frühchristlicher  Vorbilder  oder  Substrate  sind, 
die  discussion  über  diese  rvichtige  frage,  zu  der  neuerdings 
die  arbeiten  von  Krohns  Schülern  Brummer  und  Mansikka  höchst 
wertvolles  material  beigesteuert  haben,  hat  in  Deutschland  kaum 
erst  begonrien.  jetzt  wo  die  Trierer  Zaubersprüche  vorliegen 
darf  sie  nicht  länger  aufgeschoben  werden. 

Göttingen.  E.  S. 

NACHTRAG.  An  den  oberen  rändern  finden  sich  von 
bl.  2' an  eintragungen:  grofsenteils  von  derselben  hand  welche 
die  meisten  abschnitte  unten  geschrieben  hat.  der  umstand  dass 
zufällig  diese  deutschen  elemente  etiva  da  ihr  ende  erreichen,  wo 
die  auf  dem  untern  rande  aufzutauchen  beginnm,  hatte  sie  an- 
fangs unserer  aufmerksamkeit   entzogen,     ich  bin   auch  jetzt  in 


ALTHOCHDEUTSCHES  AUS  TRIER  181 

der  eile  nicht  in  der  läge,  die  z.  tl  schwer  lesbaren,  weil  stark 
verblassten  glossen  {nur  um  solche  handelt  sichs)  volhtiindig  zu 
entziffern,  und  muss  die  volle  ausbeute  andern  überlassen,  der 
anfang  ist  völlig  erloschen;  es  sind  zunächst  griechAatein.  glossen, 

aus  denen  ich  das  erste  lesbare  heraushebe:  Pastoforia  cellule 

circuitus  templi.  Poliandrum.  multorum  mortuorum  sepnlcrum  usw. 
bl.  2"  GENERA  NUMERORLW  IN  SENSIBT-S'  SECVNDV3f 
AVGVSTINVil/  etc.  etc.   —    bl.    4»    fischnamen  :  Mulliuii  .i. 

fturio.  Esox. .?.  falmo.  Mugil  .i ?  .  .Squilla  .i.  forna.  Allebros 

.i.  gubio.  inde  e.s'^.  Ne  queras  mullu»i  cwn  sit  .  .  .  unleserlich. 
Ypodemata  .i.  calceamenta.  Chiroteca  .i.  digitales.  Crotta  .i.  liar- 
pha.  Ceuto  .i.  opertorium  tiltri.  Trige  .i.  feces  uini  1  inipedimenta 
equorum.  Supparum.  curtebaldum'.  Aspidopia  .i.  pictura  scuti. 
[bl.  4'']  Agatos.  bonus  usw. 

bl.  5 ''  Rubisca  genus  auicule  que  rubicunda  eft  sub  pectore. 
Figulina.  ars  tiguli.  Anabolarium  .i.  amictum.  Hec  suut  uudecira 
nomiua  que  faciunt  accusatiuum  casum  in  im  usw.  —  abermals 
lateinische  und  griechisch-lateinische  glossen,  —  bl.  6''  beginnt 
dann  ein  kurzes  alphabetisches  glossar,  das  sotvol  im  latein 
wie  in  den  anfangs  spärlich,  nachher  zahlreicher  auftretenden 
deutschen  Wörtern  mancherlei  bemerkensioertes  aufweist \  ich  no- 
tiere als  mehr  oder  weniger  sichere  lesungen:  [bl.  1 '']  Aucipula 
fugelclouo.  Ära  .  .  .  porcorum  .  inde  areola  .  Itiga.  .  . .  Amites 
.i.  rethueres.  Andeda  .i.  Brantreide.  [6/. 7"]  Aurifodina.  Golt- 
grüua.  Arpago.  Cruuil  . . . .  Acinmu.  hintbere.  Ascia.  lul- 
acvs.  Artem(o?2).  legal.  Allabrox  (?).  ursus.  Bouellum.  faled. 
Bailena,  huual.  Bibliopola  etc.  Bruncus  etc.  Berna.  higara. 
Bumaste.  genus  uue.  Bucularius.  osnere.  [bl.  8'J  Categita  .i. 
magistra  etc.  Calmetum.  mefc.  Citropoda.  CroV  .  .  . .  i.  Iura. 
Coclea.  uuindell'tein.  Camillum  efc.  Cincindula.  uuacco. 
Caricius.  quecbom.  Calciculum.  cuokar.  Carpella.  Tadel  böge 
Crater.  bulla.  Carceria.  summitas  mali.  Carpepo.  grunzun_ 
Compluuia.  drupia.  Cranie(?).  cruowil.  Cauteriola.  cantere 
Deliquium  etc.  Degenies  etc.  Delenificus  e/c.  [/v/.  S'']  Eudemos. 
nobiles.  Epitome.  breuiarium  etc.  etc.  Galmum.  molken,  far. 
amer.  Sigalus.  rocke  (?)  e^r.  Manula  (V).  hantfane.  Gabalum. 
galge. ...  Lucanica.    Mara.  Ludaris.  ftir.  Lodix.  Lode.  [/^/.  9"] 

'  di.  kurzebolt. 


182  ROTH  U.  SCHRÖDER,  AHD.  AUS  TRIER 

zunächst  unleserUch.  filcina.  kesekorf.  Catapulta.  Sper.  Semi- 
l'pata.  rec.V.  Panica.  bekker.  Gigarte  '  .i.  trapen.  Mulio  .i. 
i'tuodere.  Poledrus.  fola.  Glis  gliris.  ratta.  Glis  glitis 
Clette.  Glis  glissis.  Gleba.  Goftrux  (?),  bina  iiuiso.  Ci- 
cendula.  cleno.  Caradrio.  leuuerca.  Fringilla.  i.  vvinco. 
Loaticus    et    merops.    GroenCpecht.      Merula.  amfla.    [hl  9'] 

....  Turdella.  TroTla.  uuefpa  (?) damit  scheinen  diese 

deutschen  ylossen  zu  schliefsen.  trotz  manchen  jungen  formen  be- 
steht kein  zweifei  darüber,  dass  auch  sie  aus  einer  hs.  des  zei- 
tigen 9  jh.s  abgeschrieben  sind:  dafür  genügt  schon  ein  tcort 
wie  huual  ('balaena').  neben  einigen  unzweifelhaft  angelsäch- 
sischen Wörtern  finden  sich  auch  in  der  Zusammensetzung  des  ganzen 
und  im  latein  allerlei  anzeichen,  welche  auf  insularen  Ursprung 
oder  doch  Zusammenhang  himveisen.  E.  S. 


STUDIEN  ZU  DEN  ÄLTEREN  DEUTSCHEN 
GRAMMATIKERN^ 

3. 

ZU  SEBASTIAN  HELBERS  SYLLABIEEBÜCHLEIN. 

Sebastian  Helber  würkte,  soviel  man  weifs,  auf  alemannischem 
gebiet  als  sclmlmeister:  zuerst  in  Altdorf  in  Schwaben,  dann  in 
Freiburg  im  Breisgau;  vgl.  Roethes  einleitung  zu  seiner  ausgäbe 
des  Syllabierbüchleins  s.  vi.  ist  er  aber  auch  von  geburt  ein 
Alemanne?  ich  habe  gründe  diese  frage  zu  verneinen,  und 
wenn  ich  meine  argumente  auch  nicht  für  unbedingt  beweisend 
halte,  so  scheinen  sie  mir  doch  stark  genug,  um  ihre  Veröffent- 
lichung zu  rechtfertigen. 

S.  15,  19 — 21  der  ausgäbe  von  Roethe  bemerkt  Helber, 
dass  Wörter  Avie  hoblen,  übles,  fiebrische,  übrige  'ein  lindes  b' 
enthalten,  'welliches  nie  in  eim  Teütschd  Wort  (wie  im  Benignus, 
rhabarbara,  etc.)  der  erste  Bflchstab  ist',  nach  5,  23 f  lautet 
das  'Mittel  B'  (d.  h.  b  im  inlaut)  'vast  so  lind  als  der  jene 
Bnchstab  den  man  das  doppel  v  heilst,  nemlich  das  W.  hält 
man  beide  stellen  zusammen,  so  ergibt  sich,  dass  Helber 
lateinisches  b  auch  im  anlaut  (vgl.  benignus)  wie  w  ge- 
sprochen hat. 

Das  ist  aber  altbairische  ausspräche  des  latein.  auf  diese 
hat  meines  wissens  zuerst  Lessiak  aufmerksam  gemacht,  er  ver- 
weist PBBeitr  28,  125  auf  die  bairisch-österreichische  ersetzung 

'  yiya^ros. 

2  s.  Zs.  48,  227  ff.  3 13  ff. 


JELLINEK,  SEBASTIAN  HELBER  183 

des  b  durch  iv  in  personennamen  wie  Benedikt  uud  auf  die 
heutig-e  praxis  des  lateinsprechens  in  Kärnten. 

Für  das  17  jh.  kann  ich  das  zeug-nis  des  Oberpfälzers 
Scioppius  (1576 — 1649)  beibringen.  in  seiner  Granimatica 
philosophica  (editio  Petri  Scavenii,  Amstelodami  1664,  p.  1S7) 
wendet  er  sich  gegen  die  behauptung,  dass  die  Deutschen  lat. 
h  wie  p  sprechen:  ^Hanc  jjronunciandi  raiionem  qui  Gernianis 
hodie  in  usu  esse  praedicat,  quos  ille  Germanos  dicat  nescio. 
Ego  quidem  numquam  ejus  nationis  quemquam  audire  memini, 
qui  Ponum  pro  Bono  eff'eii-et.  Sed  plerosque  scio  i)ro  B  efferre 
digamma  sive  V  consonantem  quam  dicunt,  sed  sine  adspiratione 
ulla  \  nt  in  Bene  perinde  sonet  atque  V  in  Quaene.  sive  W, 
quomodo  ipsi  scrihunt.  Maxime  vero  omnium  in  eo  sunt  ridiculi 
qui  Bavarica  diaJecto  utuntur.  Wacchus  enim  dicunt  pro 
Bacchus.  Wuacca  i>ro  Bacca.  Wonus  pro  Bonus,  sicut  ü  in 
Quoniam'  -. 

Nun  wäre  freilich  zu  zeigen,  dass  die  »--ausspräche  des 
anlautenden  lat.  h  auf  Baiern  und  Österreich  beschränkt  war. 
aus  den  worten  des  Scioppius  scheint  auf  den  ersten  blick  das 
gegenteil  zu  folgen,  aber  sie  halten  einer  scharfen  Interpretation 
nicht  stand,  wenn  unter  den  plerique  die  h  in  bene  wie  n- 
sprechen,  auch  Nichtbaiern  sind,  inwiefern  sind  dann  gerade  die 
Baiern  ntaxime  ridiculif  soll  das  vielleicht  heifsen,  dass  alle 
v/-sprecher  lächerlich  würken  und  der  Vorrang  der  Baiern  darin 
besteht,  dass  bei  ihnen  diese  ausspräche  allgemein  ist,  während 
sie  aulserhalb  Baierns  seltner  vorkommt? 

Wie  dem  auch  sei,  das  eine  kann  ich  zeigen,  dass  man 
im  16  jh,  in  Schwaben  einen  andern  ausweg  fand,  um  den 
unterschied  zwischen  lat.  b  und  p  sinnfällig  zu  machen,  nämlich 
die  gehauchte  ausspräche  des  p.  Hieronymus  Wolf  sagt  in 
seiner  abhandlung  *De  orthographia  Germanica  ac  potius  Suevica 
nostrate'  im  anhang  seiner  ßivius-ausgabe  von  1578  s.  607: 
'Ph  in  uocabulis  non  semper  siue  uocali,  siue  consonante  sequente 
jnonunciamus,  Sueuice  quidem,  ut  plei,  prassen,  post,  peter,  pastei. 
Bhenenses  dicunt  Pheter,  Phetersam-  Latinas  tarnen  uoces 
sequente  uocali  pierunqne  aspiramus.  Phater,  Phetrus,  phanum 
dicentes'.  zwischen  anlautendem  b  und  pj,  wie  auch  d  und  t,  sei 
in   deutschen  Wörtern  der  unterschied  gering,     und  dann  s.  611: 

'  dh.  ohne  r  nach  romanischer  art  spirantisch  oder  wie  f  zu  sprechen. 
diese  letztere  ausspräche  des  im  freien  anlaut  stehenden  r  war  in  Deutsch- 
land allgemein,  deshalb  vergleicht  Scioppius  den  postconsonantischeu  laut 
in  quae/ie  und  qtionünn. 

'^  ebenso  wie  Helber  die  linde  ausspräche  des  inlautenden  h  mit  dem 
hinweis  auf  das  lateinische  h  erleutert ,  so  im  IS  jh.  der  Österreicher 
Antesperg,  der  in  seiner  deutschen  grammatik  (s.  319  der  2.  aufläge  von 
17491  lehrt,  da^s  h  zuweilen  (d.  h.  im  etymologischen  anlauti  hart  zn 
sprechen  sei,  z.  b.  in  Bett,  aufbetten,  Gebet,  sonst  leicht'  wie  im  lat.  bunus 
z.  h.  in  haben. 


1S4  JELLINEK 

'P  promoicianua  (ut  ante  dtxi)  in  Latino  sennonc  aan  aspira- 
tione:  quod  ne  in  uernaculo  quidem  f'acimiis,  n^  phater  ^f^ro  pater, 
suher  past,  uinculum  pand' '. 

Dass  Helber  eine  lebendige  kenntnis  des  bairischeu  dialekts, 
nicht  blols  der  bairischen  drucksprache  besals,  ist  sicher,  es 
beweist  dies  die  angäbe  der  Wörter,  in  denen  die  'gemeinen 
Donawischen',  d.  h.  Schwaben  und  Baiern,  cii  wie  oi  oder  ui 
aussprechen-,  ferner  der  ansatz  von  ei  für  bairisch  fleisch,  geisf, 
Jieilig,  auf  den  Helber  schwerlich  durch  bloise  philologische 
Untersuchung  der  bairischen  drucke  geführt  worden  wäre,  ebenso 
dürfte  ihm  die  orthographische  Unterscheidung  des  Zahlworts  und 
des  artikels  ein  (s.  25,  26  ff)  in  der  Jugend  eingeprägt  worden  sein. 

S.  31,  5.  32,  25  nennt  Helber  vntau/jJic//.  teiigJich  unter  den 
Wörtern,  die  höchstrheinisch  mit  it.  bez.  /;  gedruckt  werden, 
dass  es  mit  diesen  u,  ii  eine  andere  bewantnis  hat  als  mit  den 
sonstigen  höchstrheinischen  entsprechungeu  von  donauischen  cm, 
eüy  darauf  wäre  Helber  doch  vielleicht  aufmerksam  geworden, 
wenn  er  ein  Schwabe  gewesen  wäre  und  in  taugen  das  au  mit 
dem  lautwert  der  sonstigen  abkömmlinge  von  mhd.  ou  gesprochen 
hätte,  vgl.  Kauffmann  Geschichte  der  schwäb.  mundart  s.  93 
unten,  war  er  aber  ein  Baier,  so  sprach  er  in  diesem  wort  den 
laut,  der  in  der  mehrzahl  der  fälle  aus  mhd.  f(  hervorgegangen 
war.  zu  den  Wörtern  die  höchstrheinisch  ü  haben  stellt 
Helber  32,  22  fälschlich  erseüffen.  nach  Schmeller,  Bair.  wb.  ir 
231  scheint  das  wort  nicht  dem  eigentlichen  dialekt  anzugehören, 
das  eu  der  schriftform  konnte  aber  nur  als  umlaut  zu  dem  au 
von  sauffen  aufgefasst  und  muste  dann  mit  dem  laut  gesprochen 
werden,    der  sonst    höchstrheinisch   durch  ü  ausgedrückt   wurde. 

'  ebenso  wie  p  wurde  auch  t  behandelt,  vgl.  s.  613. •  'T  pri/icipio 
uoca/mli  in  Latino  sermone  fere  aspirnmas,  secus  qttäw  in  uernaculo, 
thua,  thibia,  pro  tua,  tibia,  proniinciatites.  item  vnderthenig  .  .  .  scH- 
bimus,  cum  pro/auiciemu-'^  vudertenig.  Sic.  .  .  tun  vnd  lassen  pronun- 
ciamtcs,  mni  pileiiqne  fcril/unt  thun'. 

'^  einige  fehler  des  Verzeichnisses  32,  7  ff.  lassen  sich  leicht  erklären 
der  Setzer  setzte  mechanisch  vor  jedem  neuen  anfangsbuchstaben  ein  kolon. 
daher  die  falschen  kola  nach  <_'reü~-,  eüterlein,  (jehreüset,  meüs,  Preüi<sen, 
(lnr<-h<iet eütteii  und  der  Verbindung  er  streüsst  .sich  cor  30rn.  kolon 
und  virgel  sind  vertauscht  hinter  den  nachbarwörtern  .^^teüdlein  wnA  spreüer 
für  das  letztere  wort  gibt  zwar  Schmeller  Bair.  wh.  II  695  die  ausspräche. 
Sprdid  an,  aber  wie  nach  neu,  ijetreü  wäre  auch  hier  kolon  zu  erwarten, 
im  schwäbischen  hat  das  wort  den  laut  des  nicht  umgelauteten  iit,  vgl. 
Fischer  Geographie  der  schwäb.  mundart  s.  42.  Eck  schreibt  .-^ju-uir,  vgl. 
Keferstein  Der  lautstand  in  den  Bibelübersetzungen  von  Emser  und  Eck 
§  37.  richtig  ist  das  kolon  nach  .<eiaii'in,  vgl.  Schmeller  Bair.  wb.  II 
322,  Schatz  Mundart  von  Imst  s.  65. 

^  die  bemerkung  über  Mnnthr/v--'  30,  17  kann  nicht  eigentlich  als 
fehler  bezeichnet  werden.  denn  durch  sein  'vileicht'  gibt  ja  Helber  zu  er- 
kennen, dass  er  das  wort  in  höchstrheinischer  form  nicht  kennt,  sehr  begreif- 
lich, da  es  eben  ein  bair.-österr.  wort  ist,  ebenso  war  sein  'vileicht'  bei  dem 
bair.-österr.  Auf  31,  S    gerechtfertigt,     dass  Helbers  zweifelnde  Zuweisung 


SEBASTIAN   HELBER  185 

Mit  liilfe  meiner  annähme  lassen  sich  auch  Helbers  angaben 
über  die  c-laute  gut  verstehn.  er  war  da  vor  eine  besonders 
schwierige  aufgäbe  gestellt,  da  innerhalb  der  einzelnen  dialekte 
die  laute  den  drei  zeichen  e,  ä,  ö  nicht  eindeutig  zugeordnet 
waren,  die  dialekte  in  der  Verteilung  ihrer  e-laute  auf  den 
Sprachschatz  von  einander  abwichen  und  auch  bei  gleicher  Ver- 
teilung die  absoluten  qualitäten  der  laute  nicht  identisch  waren. 

S.  22,  26  ff  heilst  es:  'A]'J  oder  (?  wird  in  etlichen  Landen 
auf  seine  besondere  weis  ausgesprochen  mit  einfachen  getün:  in 
andern  Landen  aber  wie  ein  (langgezogenes)  e,  so  wol  im  Druck 
als  in  der  Aussprach',  es  folgt  eine  stattliche  anzahl  von 
Wörtern,  beinahe  durchweg  mit  etymologischem  ce  oder  ä.  an- 
ordnung  nach  grammatischen  gruppen  ist  angestrebt ',  dann  die 
bemerkung  23,  I5f:  'Dise  vnd  andere  jhnen  gleicher  formierung 
seiud  Baierländisch :  sunst  aber  find  ich  auch'  —  und  nun  folgen 
IS  Wörter,  von  denen  4  umlauts-c,  eines  ce,  die  andern  e  ent- 
halten, die  Scheidung  zwischen  den  bairischen  Wörtern  und  den 
andern  ist  auffällig,  auf  den  ersten  blick  sieht  es  so  aus.  als 
ob  Helber  die  Wörter  der  ersten  liste  für  nur  bairisch  erklären 
wollte,  das  kann  er  natürlich  nicht  gemeint  haben,  er  wollte 
nur  sagen,  dass  die  ä  der  zweiten  liste  unbairisch  seien,  so  hat 
unsere  stelle  schon  vBahder  Grundlagen  des  nhd.  lautsystems 
s.  123  interpretiert,  abei'  er  nimmt  an,  dass  'Baierländisch' 
hier  so  viel  besagen  solle,  wie  sonst  'donauisch',  dazu  be- 
rechtigt uns  aber  gar  nichts,  so  bleibt  es  dabei,  dass  Helber, 
unbekümmert  um  die  Verhältnisse  in  den  andern  dialekten,  alle 
ii  in  bairische  und  unbairische  teilt,  sehr  begreiflich,  wenn  er 
ein  Baier  war.  mit  den  bairischen  ä  verband  sich  für  ihn  die 
Vorstellung  eines  bestimmten  lautes,  des  hellen  a;  die  andern 
(i,  die  er  sich  aus  drucken  notiert  hatte,  sind  für  ihn  eine  unter- 
schiedslose fremdartige  masse.  er  sprach  in  diesen  Wörtern  ja 
teils  geschlossenes,  teils  offeneres  (mittleres)  e;  nxeger,  das  einzige 
wort  mit  mhd.  ce,  war  ihm  ungeläuüg. 

Die  Wörter  mit  6,  das  nach  23,  21f  'bei  etlichen  mit  seinem 
besonderen  hall,  vnd  bei  andern  in  vilen  Worten  wie  ein  e'  ge- 
sprochen wird,  zerfallen  in  drei  gruppen,  die  durch  schlusspunct 
von  einander  geschieden  sind,  die  dritte  gruppe  enthält-  lauter 
Wörter,  in  denen  für  Helber  eine  e-artige  ausspräche  nur  durch 
die  Schrift  vermittelt  war.     zu  pförtner  bemerkt  er    selbst  24,  5 

von  MatiT  zu  den  ow-wörtern  vom  historischen  standpunct  unriclitig,  die 
von  Auf  zu  den  H-wörtern  richtig  ist,  tut  natürlich  nichts  zur  sache.  — 
autor  30,  21  meint  nicht  das  lateinische  wort,  sondern  ist  druclifehler 
für  auter. 

'  das  letzte  Wort  ilni/l.  das  von  den  vorhergehnden,  lauter  deminu- 
tiven, nicht  durch  ein  kolon  getrennt  ist,  ist  verdruckt  für  /'mel,  'grofs- 
mutter'.  die  meisten  deminutiva  setzt  Helber  in  die  schriftsprachliche 
form  auf  feix  um;  bei  dem  femininum  änel  war  dies  ebenso  unmöglich 
wie  bei  dem  masculinum  Han.^el. 


186  JELLINEK 

'sonst  portner',  die  andern  Wörter  trökencn.  Körnherg,  Mönch, 
vermögUdi,  können  gehören  zu  denen,  die  man  nach  2^,  24  'auch 
mit  ü  geredt  vnd  gedruckt"  tindet.  Helber  sprach  hier  /.  die 
erste  gruppe  wird  gebildet  durch  fünf  Wörter  mit  Ö:  Oel,  knöpf, 
köpf,  kodier,  vögel,  fünf  mit  c:  verdorben,  wollen,  schröcken, 
gedörret,  löschen  und  das  fremdwort  Höroldsstah.  von  den  25 
Wörtern  der  zweiten  gruppe  enthalten  14  mhd.  <m;  mhd.  ö  steht 
in  hönig,  mörder,  örter,  embörung,  dazu  kommt  das  fremdwort 
Föfel  und  der  name  Cölen;  mhd.  e  steht  in  gewönen,  ent>rönen; 
mhd.  ce  in  n-öncn,  argn-önig.  endlich  wird  noch  aufgeführt  der 
name  Böheim. 

Diese  gruppierung  ist  höchst  charakteristisch,  im  baii'.- 
österreichischen  sind  ö  und  ce  im  allgemeinen  getrennt,  aber  in 
der  Stellung  vor  r  fallen  sie,  wenn  auch  nicht  auf  dem  ganzen 
gebiet,  zusammen,  u.  zw.  hat  dann  ö  den  (offenen)  laut  des  «•  und 
ist  getrennt  von  e.  mit  dem  es  sonst  gleichlautet,  vgl.  Schmeller 
Die  mundarten  Bayerns  §  349;  Schwäbl  Die  altbayerische 
mundart  s.  29  f;  Schatz  Die  mundart  von  Imst  §§  46.  48, 
Die  tirolische  mundart  s.  30f;  Lessiak,  PBBeitr.  28,  73 f.  87.  nun 
erscheint  in  Helbers  erster  gruppe  wol  e  aber  nicht  ö  vor  r, 
in  der  zweiten  ist  es  gerade  umgekehrt,  ferner  ist  auf  bair.- 
österr.  gebiete  weit  verbreitet  der  zusammenfall  der  e-  und  ö'-laute 
vor  nasal,  vgl.  Schwäbl  §  11  in  Verbindung  mit  §  14,2; 
Luick,  PBBeitr.  14,  137.  man  beachte  nun,  dass  e  und  ö  vor 
nasal  nur  in  der  zweiten  gruppe  erscheinen.  u-Önen  empfindet 
Helber  als  fremdartig,  er  erklärt  es  24,  3:  "das  ist  achten  oder 
meinen',  er  sprach  hier  nicht  den  laut,  der  sonst  mhd.  te  ent- 
spricht, sondern  einfach  nach  der  schrift.  war  ihm  aber  vor 
n  nur  ein  e-laut  geläufig,  so  muste  er  eben  diesen  einsetzen, 
die  absolute  qualität  des  e  vor  n  ist  freilich  schwankend: 
Schwäbl  gibt  dafür  geschlossenes  e  an,  den  laut  der  sonst  um- 
laut-e  entspricht,  Luick  einen  mittellaut  zwischen  dem  geschlossenen 
und  dem  offenem  e  seiner  mundart,  in  Nagls  mundart  steht  ein 
diphthong.  zu  beachten  ist  auch,  dass  in  der  von  Lessiak  be- 
schriebenen mundart,  wo  ce  aufser  vor  r  l  diphthongiert  ist. 
also  nicht  direct  verglichen  werden  kann,  v  vor  nasalen  dieselbe 
entsprechung  hat  wie  ö  und  ce  vor  r:  vgl.  PBBeitr.  28,  87.  ich 
glaube,  dass  Helber  in  den  Wörtern  seiner  zweiten  gruppe  einen 
offenem  laut  gesprochen  hat  als  in  den  Wörtern  der  ersten, 
kleinere  untei-schiede  mögen  dabei  immerhin  innerhalb  der 
zweiten  gruppe  bestanden  haben.  Schwierigkeit  macht  nur  das 
fremdwort  Pöfcl,  da  nach  Schmeller  Bair.  wb.  i  384  dieses 
wort  geschlossenes  e  enthält.  Böheim  ist  in  der  Ordnung;  vgl. 
Schmeller  Bair.  wb.  i   188. 

Die  drei  gruppen  der  ö-wörter  sind,  wie  wir  jetzt  erkennen, 
23,  21  —  24  angekündigt,  es  heilst  ja  dort,  ö  sei  'bei  etlichen 
mit  seinem  besonderen  hall,  vnd  bei  andern  in  vilen  Worten  wie 


SEBASTIAN  HELBER  1S7 

ein  e'.  etliche  Wörter  tinde  man  statt  mit  ö  auch  mit  ;V  'geredt 
vnd  g-edruckt'.  man  beachte  nun  wol:  auch  die  'andern'  z.  22 
sprechen  nicht  überall  <*  statt  ö,  sondern  nur  'in  vilen  Worten', 
mit  dem  'besondern  hall'  meint  Halber  das  geschlossene  e,  mit 
dem  e  das  etliche  in  vielen  Wörtern  sprechen,  das  offenere,  der 
sinn  der  stelle  ist,  dass  etliche  das  ö  überall  geschlossen 
sprechen,  andre  in  vielen  (aber  nicht  allen)  Wörtern  offeneres  e 
dafür  setzen,  die  erste  gruppe  enthcält  nun  Wörter,  in  denen  ö 
bei  allen,  auch  den  'andern',  seinen  besondern  hall.  d.  h.  ge- 
schlossene ausspräche  hat,  die  zweite  gruppe  umfasst  die  vielen 
Wörter,  in  denen  die  'andern'  ö  wie  e  dh.  offen  sprechen,  die  dritte 
gruppe  endlich  die  Wörter,  in  denen  statt  Ö  auch  ü  gesprochen 
und  geschrieben  wird,  und   reste  (pförtuer). 

Ich  verweise  noch  auf  die  abweichungen  der  aussage  über 
das  ä.  dieses  wird  "in  etlichen  Landen  auf  seine  besondere  weis 
ausgesprochen  mit  einfachen  getön:  in  andern  Landen  aber  wie 
ein  (langgezogenes)  e',  dh.  gewisse  länder  sprechen  es  immer, 
nicht  nur  in  vielen  Wörtern,  wie  ein  e,  und  dieses  e  ist  nicht 
schlechtweg  ein  e,  sondern  ein  'langgezogenes'  e. 

Nun  können  wir  eine  Interpretation  der  bemerkungen 
Helbers  über  den  lautwert  des  buchstabens  e  versuchen,  s.  IS,  l'2: 
'E  finde  ich  in  dreien  weisen  ausgesprochen',  die  zweite  betrifft 
unbetontes  e  und  geht  uns  hier  nichts  an.  für  die  erste  weise, 
nach  der  e  'in  vih^  Worten  starck  vnd  völlig  gepronunciert' 
wird,  gibt  Helber  beispiele  in  satzform,  ich  hebe  die  t'-würter 
durch  Sperrdruck  hervor:  Der  Herrn  ernst  zu- enden  vnd 
enden,  Send  vnd  lend  daher  die  bh  enden,  Mit  fremdem 
t'tind  sie  zu  blenden.  also  e  vor  r,  e  vor  nasal,  etj^mologisches 
e  nur  in  Herrn. 

S.  18,  27  ff:  'die  Dritte,  ist  etwas  dicker  vnd  langsamer  dan 
die  Erste  Weise,  vnd  ündt  sich  in  denen  AVörtern,  w-elliche  von 
andern  Worten  herkomen,  die  an  stat  des  e  ein  a  gehabt, 
welliches  e  in  etlichen  Landen  mit  irem  ae  geredt  vnd  ge- 
schriben,  oder  wie  ir  oe  ausgesprochen  wirdt.  Dises  vom  d 
vnd  6  sag  ich  delswegen,  dieweil  auch  die  jenigen,  welliche  das 
ä  schreiben  vnd  reden,  vnd  das  o  in  etlichen  Worten  pronun- 
eieren,  in  etlichen  sollichö,  das  e  nach  der  Ersten  weis  aus- 
sprechen', folgen  beispiele  dafür:  hend,  tempfig,  genns,  erlengert, 
meiigel,  lietie. 

Das  'defswegen'  19,3  ist  nicht  recht  logisch,  aber  der  sinn 
der  stelle  ist  klar,  wir  erfahren  1.  dass  in  einigen  Wörtern 
der  Umlaut  des  a  als  e  geschrieben,  aber  wie  ö  (d.  h.  geschlossen) 
gesprochen  wird;  2.  dass  auch  die  Ö-  (und  ä-)  Sprecher  in  ge- 
wissen Wörtern  das  umlauts-  e  nach  der  ersten  weise  aussprechen; 
3.  dass  für  das  ä  und  ö  anderwärts  ein  eigentümlicher  c-laut 
eintritt.  Die  ausspräche  dieses  e  ist  'dicker  vud  langsamer"  als 
die   erste  weise;  das  erinnert  an  das  langgezogene  c  22,  2S. 


1 88  JELLIXEK 

Die  Wörter,  in  denen  die  (V-ö-sprecher  das  e  der  ersten  weise 
sprechen,  haben  alle  mit  ausnähme  von  hefte  hinter  dem  e  einen 
nasal,  daraus  schlielst  vBahder  a.a.O.  s.  124,  fulsnote  l,  dass 
Helber  an  solche  (alemannische)  dialekte  gedacht  habe,  die  vor 
nasalen  einen  sowol  von  ä  als  ö  (=  geschlossenem  e)  unterschie- 
denen, aber  mit  ('  zusammenfallenden  laut  sprachen,  diese  dialekte 
müsten  zu  Heuslers  i  Germania  34,  125)  dritter  gruppe  gehören. 
vBahders  ansieht  ist  sehr  bestechend,  aber  wenn  Helber  eine  so 
intime  kenntnis  der  Schweizer  mundarten  gehabt  hat.  ist  es  da 
nicht  sehr  auffällig,  dass  er  die  richtige  und  eigentliche  ausspräche 
des  H  'als  ein  mittelding  zwischen  dem  u  und  dem  i'  19,  30 
(vgl.  auch  21,  5  ff.)  den  'Mitteren  Teütschen'  zuschreibt?  und  dass 
er  von  der  gerundeten  ausspräche  des  ö  überhaupt  nichts  sagt? 
denn  der  'besondere  hall'  des  ö  kann  nichts  anderes  meinen  als 
das  geschlossene  e,  das  beweist  die  liste    19,    1  5  ff '. 

Ich  glaube  vielmehr,  dass  Helber  mit  dem  e  der  ersten  weise 
sein  offeneres  e  meint,,  das  bair.-öst.  ja  immer  für  c  und  e  vor  r 
steht,  und  das  er,  wie  ich  oben  angenommen  habe,  auch  für  e 
vor  nasal  sprach,     auch    hette    kommt    bair.-öst.    dieser   laut  zu. 

Die  liste  der  Wörter  mit  e  statt  ä  enthält  nichts  interessantes, 
wol  aber  die  liste  der  beispiele  für  das  'ausgesprochene  oe'  19, 15  ff. 
die  meisten  enthalten  umlaut-c'-,  enregen  ist  zweideutig,  unbedingt 
fehlerhaft  ist  dcsselbigen:  es  passt  gar  nicht  in  das  Verzeichnis, 
das  nur  solche  wörtei'  enthalten  soll,  die  verwante  formen  mit 
a  zur  seite  haben*,  dagegen  sind  abgemessen  und  fressen  unan- 
fechtbar; vgl.  maß,  fraß,  diese  Wörter  haben  aber  e  und  ihre 
ausspräche  mit  geschlossenem  e  ist  widerum  für  das  bairische 
charakteristisch. 

An  stelle  des  gesprochenen  und  geschriebeneu  ä  und  des  ge- 
sprocheneu (aber  e  geschriebenen)  ö  etlicher  lande  gebrauchen 
andere  das  dritte,  langsamer  und  dicker  gesprochene  c.  schon 
vBahder  a.a.O.  s.  124  hat  hier  eine  ungenauigkeit  Helbers  ange- 
nommen ;  er  bezieht  seine  äufserung  auf  mitteldeutsche  mundarten. 
eine  kritik  dieser  ansieht  unterlass  ich  der  kürze  wegen  und 
gebe  meine  auffassung,  indem  ich  das  bisher  gesagte  zusammen- 
fasse und  ergänze. 

Helbers  darstellung  ist  durchaus  an  seiner  bairischen  aus- 
spräche der  e-laute  orientiert,  der  lautwert  des  ä,  die  'besondere 
weis'  auf  die  es  ausgesprochen  wird,  ist  für  ihn  das  bairische 
helle  a,  der  eigentliche  laut  des  buchstabens  e  das  offenere  e  seines 
dialekts,  der  eigentliche  lautwert  des  Ö,  sein  'besonderer  hall', 
geschlossenes   e.      Helber    weifs    aber,    dass    auch    in    bairischen 

'  vBahder  ist  in  der  auffassung  unsicher,  vgl.  s.   176  f. 

2  an  o-umlaut  (vgl.  vHahder  s.  177 1  braucht  man  bei  keinem  einzigen 
wort  zu  denken. 

*  da>>  wort  stammt  vielleicht  aus  einer  Sammlung  für  das  suffix-j//; 
das  folgende  wort  ist  imsihle'jige. 


SEBASTIAN  HELBER  1S9 

drucken  e  und  ö  nicht  immer  den  ihnen  eigentlich  zukommenden 
wert  haben,  dass  e  in  einer  reihe  von  Wörtern  wie  ö,  d.  h.  ge- 
schlossen, gesprochen  wird  :  beispiele  dafür  gibt  er  19,  15—18 
—  und  dass  anderseits  ö  in  vielen  wüitern  wie  c,  d.  h.  offen, 
klingt  :  belege  dafür  gibt  die  zweite  efruppe  der  ö-wörter 
23,26-24,4. 

Verglich  Helber  seine  heimatliche  ausspräche  mit  der  anderer 
gegenden.  so  fand  er  bezüglich  seines  offenen,  mit  einfachem  e  ge- 
schriebenen ('  keine  wesentlichen  unterschiede,  in  einer  grofsen 
anzahl  von  Wörtern,  wo  er  es  sprach,  nämlich  in  Worten  mit  e 
vor  nasal  und  e  vor  r  (wir  dürfen  getrost  hinzufügen,  auch  vor 
l  und  h)  hörte  er  ungefähr  denselben  laut,  daher  betrachtete  er 
die  erste  weise  der  ausspräche  des  e  als  allgemein  deutsch,  anders 
lagen  freilich  die  dinge  bezüglich  des  alten  e.  dem  aufserhalb 
Baierns  vorwiegend  der  geschlossene  laut  zukam,  aber  er  nennt 
das  einzige  wort  Herrn,  in  dem  vielfach  das  früh  verkürzte  e 
mit  e  zusammengefallen  war. 

Helbers  geschlossenes  e  hatte  zwei  zeichen,  Ö  und  e.  so- 
weit ö  geschrieben  wurde,  herschte  die  geschlossene  ausspräche 
auch  aufserhalb  Baierns;  wurde  doch  da  sogar  entgegen  dem 
bairischen  gebrauch  ö  viel  consequenter  mit  dem  ihm  eigent- 
lich zukommenden  laut  gesprochen  —  daher  die  bemerkung 
23,  21  f.  schwanken  herschte  dagegen  bezüglich  der  mit  e  ge- 
schriebenen Wörter,  in  einigen  wurde  auch  aulserhalb  Baierns 
geschlossenes  e  gesprochen,  in  andern  —  namentlich  dort  wo  e 
zu  gründe  liegt  —  offenes. 

Dieses  offene  e  war  auch  der  Vertreter  des  bairischen  liellen 
a,  des  eigentlichen  lautes  von  ä.  diese  unbairischen  offenen 
e  meint  Helber  mit  der  dicken  und  langsamen  weise,  mit  dem 
langgezogenen  e.  er  denkt  nicht  an  die  quantität  des  lautes, 
sondern  gibt  nur,  so  gut  er  kann,  den  eindruck  wider,  den  ihm 
die  fremdartige  e-qualität  macht,  er  vergleichi  ferner  diese 
offenen  e  nur  mit  den  bairischen  entsprechungen  in  denselben 
Wörtern,  dem  hellen  a  und  dem  geschlossenen  e.  von  denen  sie 
weit  abstanden;  ob  sie  nicht  im  gründe  dem  gemeindeutschen 
e,  dem  e  der  ersten  weise,  ähnlich  oder  gleich  waren,  darüber 
macht  er  sich  keine  gedanken.  nur  die  relative,  nicht  die  ab- 
solute qualität  berücksichtigt  er;  bairisch  oder  nichtbairisch.  das 
ist  für  ihn  hier  ebenso  der  einzige  gesichtspunct.  wie  in  seinen 
auslassungen  über  den  buchstaben  ä  s.  23,    15  ff'. 

Zu  den  Schwierigkeiten,  die  die  lautverhältnisse  bereiteten, 
kamen  noch  orthographische,  in  Oberdeutschland  wurde  auch 
aufserhalb  Baierns  das  zeichen  ä,  wenn  auch  mit  anderem  laut- 
wert, gebraucht,  zum  grol'sen  Teil  in  denselben  w;>rtern  wie  in 
Baiern.-  in  Mitteldeutschland  herschte  die  Schreibung  c.  dieser 
Schwierigkeiten  ist  der  sonst  im  ausdruck  so  klare  Helber  nicht 
herr  geworden,    er  hat  es  nicht  deutlich  zu  machen  verstanden, 


190  JELLINEK,  SEBASTIAN  HELBER 

dass  hinter  der  gleichen  Schreibung  ü  sich  eine  verschiedene 
ausspräche  verbirgt,  angedeutet  hat  er  es  freilich  2;-i,  15  ff.  er, 
der  sonst  so  scharf  die  drei  Varietäten  des  hochdeutschen  unter- 
scheidet, spricht  in  den  bemerkungen  über  die  e-laute  unbestimmt 
von  'etlichen  landen',  'etlichen',  'andern'. 

Seine  behandlung  der  tj-laute  ist  auch  nicht  erschöpfend,  wie 
steht  es  z.b.  mit  mhd.  e,  abgesehen  von  Herrn,  mit  Wörtern  wie 
ere  mer,  sc  u.a.,  die  keine  verwanten  a-formen  neben  sich  haben? 
bair.-öst.  haben  sie  zwar  das  e  der  ersten  weise,  aber  in  anderen 
dialekten  nicht,  so  namentlich  nicht  in  den  alem.  dialekteu,  auf 
die  vBahder  die  bemerkung  über  dieses  erste  e  beziehen  wollte, 
für  diese  Wörter  ist  in  Helbers  kategorieen  kein  platz. 

Wien,   12.  märz   1910.  M.  H.  Jellinek. 


COLLATION  UND  KRITIK  VON 
ALBERS  TUNDALUS. 

Die  textabdrücke  von  K.  A.  Hahn  sind  als  zuverlässig  bekannt, 
und  so  hat  denn  Albr.  Wagner  geglaubt,  für  den  Tuudalus  auf 
eine  vergleichung  der  einzigen  hs.  verzichten  zu  können,  nach- 
dem die  collatiou  des  Anegenge  durch  Jos.  Seemüller  kurz  zuvor 
so  sehr  wenig  ergeben  hatte  (QF.  44,  92).  immerhin  haben 
Kochendörffer  und  ich,  als  wir  im  märz  1894  den  cod.  vindob. 
2696  in  Marburg  studieren  durften  (Zs.  45.  217  ff),  die  leichte 
mühe  einer  vergleichung  nicht  für  überflüssig  gehalten,  ihre 
geringfügigen  ergebnisse  leg  ich  hier  vor,  nachdem  ich  letzthin 
die  lis.  noch  einmal  revidiert  habe,  und  ich  füge  eine  reihe  von 
bemerkungen  hinzu,  besonders  über  stellen,  wo  ich  die  (auch 
Wagner  bekannte )  Überlieferung  gegen  eingriffe  des  herausgebers, 
resp.  älterer  kritiker  denen  er  gefolgt  ist,  verteidigen  möchte. 
eine  gründliche  revision  der  Überlieferung  stellt  dieser  lücken- 
büfser  nicht  dar,  eine  solche  ist  nur  auf  grund  einer  Untersuchung 
von  Abers  metrik  möglich. 

Ich  lege  Hahns  abdruck  (Gedichte  des  xii.  und  xiii.  jh.s, 
Quedlinburg  1840)  zu  gründe  und  gebe  die  Zählung  Wagners  in 
klammern. 

41,  43  (44)  hs.  mvnich  —  41,  55  (56)   ze/räre  (hs.  zicare) 
gebunden  mit  niumcere  ist  reim   der   Übergangszeit  und  nicht  in 
zewcere  zu  ändern.  —  das  reimpaar  42,   17  f  (89  f) 
österhalp  Schotten,  Britanje, 
norder  Engellant,  wester  Hispanje 
darf  im  hinblick  auf  die  quelle  (6,  9f)  wol   in    seinem    Wortlaut 
bezweifelt,  in  seinem  bestände  aber  nicht  angetastet  werden;  der 


SCHRÖDER,  KRITIK  DES  TüNDALUS  191 

Schreiber  mag  sich  in  den  himnielsrichtungeii  versehen  haben, 
hinzugefügt  hat  er  diese  bestimiuung-en  gewis  niclit.  —  42,  58 
Sprengers  änderung  von  //aj-feCvocabulo")  in  cirarfc  ist  absolut  sinn- 
los; die  anspräche  geht  ja  von  dem  heiligen  an  den  könig!  —  42, 
87  (159)h  s.  bitten,  das  dem  reimbild  s)intte  :  bitte  53.  50  f  (1(I71  f) 
entspricht.  —  44,  1  (240)  hs.  yc^pizet  —  44,  30  (275)  hs. 
biyiiffen  —  45,  82  (412)  das  lisl.  euch  ist  beizubehalten.  -  • 
46.  4(t  (458)  ze  dem  engel  desgl.  -  46,  41  (459)  das  hsl.  hf-re 
(:  «''i-e)  durfte  nicht  in  herre  umgedeutet  werden.  —  47,  60 
(  64)  die  Wortstellung  bleibt!  —  47,  61  (565)  hs.  bitfe  — 
48,  11  (601)  von  rncche  unt  von  hitze(n)  war  beizubehalten 
(Wagner  unterdrückt  sogar  die  hsl.  lesartj;  ahd.  raclii  Cfumus'- 
rui-hi  im  sog.  Raban.  glossar  R,  Ahd.  gll.  i  147,  S),  mhd.  rucke, 
rücke  ist  eine  von  Schmeller-Fr.  ii  48  gewürdigte,  auch  Helmbr. 
1250  gerettete,  bairische  ablautsform  zu  rouch.  —  48,  37  (627) 
den  wie  Hahn  bietet!  —  49,  79  (7  56)  ich  lese  deutlich  (fein  vnde, 
freilich  ohne  t-strich.  —  50,  45  (809)  hs.  geborn  —  51,  41 
(890)  von  der  manicvalten  sere  darf  nicht  mit  Sprenger  in 
dem  geändert  werden,  denn  das  stfem.  diu  sere  ist  gerade  im 
Tund.  bezeugt:  46,  42  (460)  yroz  sint  mine  sere,  50,  84  (848) 
Xu  hete  der  engel  here  yeheUet  ir  sere,  57,  71  (1436)  diu  un- 
mcezUche  sere-,  demnach  w^ar  vielmehr  v.  42  (891)  daz  in  diu 
zu  ändern.  —  51,60  (909)  hs.  fliefeyit  —  51,  66  (915)  das  über- 
lieferte die  bicherten  (:  merten)  mit  Heinzel  z.  Erg. 2 7  in  be- 
scherten zu  ändern  geht  nicht  an:  die  dreiteilung  lelen,  pfaff'en, 
bicherten  ist  doch  ganz  deutlich  'laici,  clerici,  conversi*.  — 
52,76  (1011)  hs.  munde  —  54,10  (1117)  die  form  lAiespeJiye 
wird  durch  die  bindung  plaspaliyen  :  allenthalben  56,41  (1319f) 
corrigiert:  1.  blüsbalye.  —  der  vers  54,65  (1172)  sä  bi  dem 
warte,  der  wörtlich  47,7  (511)  und  leicht  variiert  auch  43,76 
(235)  vorkommt  [vgl.  noch  65,63  (2117),  durfte  nicht  geän- 
dert werden!  —  57,52  (1417)  hs.  reichent  corrigiert  aus 
rechent  -  58,  43  f  (1495  f)  die  Wortfolge  der  hs.  ist  beizube- 
halten. —  58,58  (1511)  die  initiale  /fehlt.  —  58,66  (1519) 
h  s.  (nu  muyet  ir  vernemen  hie)  von  schonhmt  ir  u  n  d  e  r 
IC un  der ;  dies  doppelte  tvunder,  das  Hahn  übersah,  ist  so  recht 
in  der  art  des  dichters,  der  dies  sein  lieblingswort  gern  häuft: 
h-aiider  unde  rounder  49,  43  (720).  63,  6  (1888).  —  59,  14  (1553) 
hs.  gidayte  —  59,  40  (1579)  Mit  vrlivges  neides  l'pil  ist 
gewis  nur  eine  entgleisung  des  Schreibers  für  mit  urliuges  nit- 
spll.  —  62,28  (1825)  lis  liehte  —  62,63  (18()U)  dife  das  e 
ist  ausradiert.  —  63,7  (1889)  hs.  Si  sach  —  64,48  (2016) 
das  hsl.  (/^  in  der  den  sceliyen  nimmer  zerinnet  durfte  keines- 
falls in  diu  geändert  werden.  —  64,  58  r2026)  die  hsl.  Über- 
lieferung ist  beizubehalten.  —  66,  12  (2152)  1.  der  manic  guot 
(werc)  beyut.  —  66,  31  (2171)  hs.  Die  werlde  e  (nicht  ic)  ver- 
lazze.  — 


192  SCHRÖDER,  KRITIK  DES  TUNDALUS 

Der  Schreiber  der  handschrift  hat  keinerlei  bewuste  tendeiiz  die 
form  zu  glätten,  aber  er  gleicht  mechanisch  gewisse  reimgruppen 
aus,  wie  die  mit  überschüssigem  -n.  weder  Hahns  abdruck  iii)ch 
die  ausgäbe  von  Wagner  lassen  diese  freiheit  archaischer  technik 
so  hervortreten,  wie  sie  der  dichter  übte,  wol  hat  Wagner 
richtig  geändert  b6,  25  (2125)  der  gert  an  in  allen  {alle  hs.): 
gevalle,  aber  selbstverständlich  muss  anderseits  auch  47,  24  (528; 
eticennen  (:  brennen)  sowie  58,  56  (1508)  enhorlangen  (:  begangen) 
das  n  einbülsen,  und  der  dat.  sg.  samenungen  (:  muinenj  41,  46 
(47)  darf  ebensowenig  die  schwache  flexion  behalten,  wie  64,17 
(1!)85)  der  dat.  sg.  mandungen  (:  Idungen).  wenn  48,11  (601) 
richtig  geändert  wird  (von  roiiche  [resp.  rucke]  und)  von  hitze 
(:  sn-ltzenj,  so  darf  der  herausgeber  54,  12(1119)  vor  der  ändernng 
von  mit  vil  nianigen  liitzen  f:  sivitzenj  in  m.  v.  maniger  hitze  selbst- 
verständlich nicht  zurückschrecken. 

Bei  vorsichtiger  Zählung  stell  ich  1 7  klingende  reimpaare 
mit  überschiefsendem  -n  fest,  ob  aber  einem  dichter  der  diese 
freiheit  so  ungeniert  benutzt,  die  doppelformen  inne— innen, 
hinne — hinnen,  danne — dannen  und  gar  vorne— vornen  zuzutrauen 
sind,  wird  man  mit  grund  bezweifeln. 

Die  vorläge  scheint  bereits  die  neuen  diphthonge  gehabt  zu 
haben:  darauf  weist  die  nachträgliche  correctur  von  rechent  in 
reirhent  (mhd.  richenf)  57,  52  (1417)  und  wol  auch  die  (deutliche) 
trennung  von  ginunde  in  gein  vnde  49,  79  (756)  hin.  die  Sorg- 
falt des  copisten  tritt  mehrfach  zu  tage:  so  etwa,  wenn  er  ein 
in  der  vorläge  offenbar  eng  zusammengedrängtes  buchez  (di. 
buche  ez)  nachträglich  doppelt  verdeutlicht,  indem  er  das  apo- 
kopierte  e  zunächst  klein  dazwischen  und  dann  noch  einmal  dar- 
über schreibt.  —  die  vorläge  hatte  gewis  noch  das  h-ähnliche 
z  mit  langer  hasta:  47,  49  (553)  hat  der  copist  zuerst  zet  ge- 
schrieben und  dies  in  het  umgeändert,  dass  sie  in  unabgesetzten 
Versen  geschrieben  war,  möcht  ich  glauben:  51,  52  scheint  der 
abschreiber  zunächst  über  den  versschluss  hinausgeschrieben 
und  diesen  überschuss  dann  wegradiert  zu  haben,  auch  die 
lücken,  deren  drei  nachweisbar  sind,  lassen  sich  so  erklären, 
eine  volle  reimzeile  (schwerlich  mehr)  fehlt  nach  58,57  (I5ü9),  zu- 
gleich aber  auch  die  initiale  /des  nächsten  absatzes  (1511), 
die  einzige    die    wir  vermissen,     zweimal    bricht    der    Schreiber 

in  der  zeile  ab:    56,  8    (1286)   ob    einen und    62,  63 

(1860)    der  iß  dife —  (wobei    das  e  ausradiert    ist);    in 

diesen  beiden  fällen  hat  er  die  lücke  durch  ein  zeichen  am 
rande  markiert.  mau  hat  beidemal  den  eindruck,  dass  der 
Schreiber  mitten  im  copieren  die  Verstümmelung  des  textes 
in  seiner  vorläge  gewahr  wurde.  E.  S. 


NIBELUNGENLIED  UND  WALTHAHIUS. 

Als  Vorstufe  unseres  Nibelungenliedes  hab  ich  Za.  51,   177  ff 
ein  spielmannsepos  zu  erweisen  gesucht,    das  vermutlich  im  Zeit- 
alter  des   letzten  salischen  kaisers,    etwa  um   1115 — 1120,   ent- 
standen sei.    zeitgeschichtliche  auspielungen  auf  die  Sachseukriege 
Heinrichs  IV    und  Heinrichs  V,    auf    die    zeit    nach  dem  ersten 
kreuzzuge,    auf   die  bestattung-  Heinrichs  IV   u.  a.   waren  anlass 
für    diese    Vermutung,      sie    schien    bestätigt    zu    werden    durch 
spuren  einer  altern  Nibelungendichtuug,  die  bis  über  1200  hinaus 
verfolgt   werden   konnten;    auch   wurde    wahrscheinlich  am  ende 
des    12  jh.s   die  Nibelungendichtung  in  Soest  localisiert.     dieses 
ältere  Nibelungenepos,  das  wol  schon  in  kurzer  fassung  den  ersten 
teil  unseres  liedes  enthielt,  wurde  erst  um   1200,   namentlich  im 
ersten    teil,    durch    umfangreiche   Schilderung  von  höfischen  fest- 
lichkeiten  erweitert,  im  zweiten  durch  manche  schöne  scene  ver- 
mehrt,  in  manchen   einzelheiten  geändert  und  so  zu  unserm  Ni- 
belungenliede umgedichtet  (vgl.  Zs.  48,  471  ff),     in  jenem  älteren 
epos  finden    sich    aber  auch  anzeichen,    die  auf  eine  noch  ältere 
fassung  hinweisen,  so  scheint  der  saalbrand  früher  eine  wichtigere 
rolle    gespielt    zu    haben,    als    selbst    in    der   Thidrekssaga,    die 
Eckewart-episode   wies   früher   noch   keine   Vermischung  mit  der 
gestalt  des  grafen  Eckewart  auf,  denn  dass  Hagen  in  der  Ths.  den 
an  der  grenze  schlafenden  mann  durch  einen  fufstritt  weckt  und  auch 
im  Nl.  des  Schwertes  beraubt,  entspricht  keineswegs  der  Stellung 
des  edlen  grafen,  wie  er  etwa  um  1000  an  den  Wormser  hof  ein- 
geführt sein  mag.     überhaupt  sind  es  die  geschichtlichen  beiden 
&ero  und  Eckewart,  sowie  der  bischof  Pilgrim  und  vielleicht  auch 
Rüdiger,    die  uns  zunächst  veranlassen,    auf  eine  ältere  stufe 
zur   zeit   der  Ottonen    zu    schliefsen,    welche    eben  wegen  dieser 
eingeführten,   ausschmückenden   nebenpersonen   wol   schon  ausge- 
sprochen   epischen    Charakter    hatte,     auch    manche    einzelheiten 
wurden    früher   anders    erzählt,   so    ist  die  fährmann-episode  wol 
erst  in  das  epos  der  Salierzeit  aufgenommen,    die  erzählung  der 
Ths.   scheint,    wie  Wilmanns'    bemerkt    hat,    erweitert   zu   sein, 
denn  ursprünglich  fanden  die  Nibelungen  ein  kleines  führerloses 

'    Untergang    der  Nibelunge   s.  31. 
Z.  F.  D.  A.  LH.     N.  F.  XL.  13 


194  DROEGE 

boot,  auf  dem  sie  die  überfahil  versuchten,  wir  werden  demnach 
geneigt  sein,  vor  dem  Nl.  der  Stauferzeit  und  vor  dem  altern 
epos  der  Salierzeit  auch  in  der  zeit  der  sächsischen  kaiser  schon 
ein  episches  gedieht  kürzeren  umfangs,  aber  doch  mit  manchen 
nebengestalten  bereichert,  zu  vermuten. 

I 

Dass  der  Waltharius  in  erheblichem  grade  die  eutwick- 
lung  der  Nibelungendichtung  beeinflusst  hat ,  sucht  Roethe  i 
zu  erweisen,  er  sieht  als  grundlage  unseres  liedes  die  'Nibe- 
lungias'  meister  Konrads  in  einer  deutschen  Übertragung  an. 
an  einer  lateinischen  Nibelungendichtung  wird  mau  besonders 
nach  den  gründlichen  erörterungen  Eoethes  kaum  mehr  zweifeln, 
schwerlich  aber  düi-fte  die  bedeutung  des  Waltharius  für 
unser  nationales  epos  so  grofs  sein,  wie  Roethe  annimmt.  — 
wie  WMeyer  und  KStrecker  gezeigt  haben,  hat  Ekkehard 
mit  frei  gehaudhabter  epischer  technik,  die  an  Vergil  geschult 
wurde,  seine  dichtung  gestaltet,  namentlich  die  einzelkämpfe 
der  von  ihm  eingeführten  personen  selbständig  geschildert, 
wobei  die  dichterkraft  des  jugendlichen  klosterschülers  oft  in 
sichtbarer  Übertreibung  sich  gefiel,  so  führt  er  uns  Etzel  als 
einen  äufserst  gutmütigen  herrscher  vor  und  schildert  ihn  v.  362 ff 
als  hilflos  unselbständig,  in  der  Ths.  erscheint  Etzel  dagegen 
längst  nicht  so  schwach  wie  in  unserm  Nl.,  er  hat  Kriemhild 
gegenüber  seinen  eignen  willen,  er  ruft  die  seinen  zum  kämpfe 
auf  und  befehligt  sie  vom  castell  mit  kräftigem  anruf  (c.  379. 
380).  den  grundzug  des  zurückhaltenden  Hunnenkönigs  bot 
aber  schon  die  Nibelungensage,  in  der  die  rachsüchtige  Kriemhild 
an  die  stelle  des  goldgierigeu  Etzel  getreten  und  dieser  mehr 
im  hintergrund  verschwunden  war.  —  auch  Günther  ist  noch  in 
unserm  liede  zu  zeiten  tapfer  und  königlich,  vor  allem  aber  in 
der  Ths.  selbstbewust  und  entschlossen,  wenn  er  gegen  Hagens 
rat  den  zug  ins  Hunnenland  befiehlt  und  am  ende  mutig  um  sein 
leben  streitet,  die  grundlage  der  schwächlichen  gestalt  fand 
Ekkehard  auch  nicht  in  seiner  vorläge,  wie  ja  die  Waldere- 
bruchstücke Günther  prahlerisch  und  tatkräftig  zeigen,  der  an- 
lass  zu  der  ungünstigen  Charakteristik  im  Waltharius  ligt  in 
der  Wormser   sage,   die  Günther   so    schwach    im   vergleich  mit 

'  Sitzungsberichte  d.  preufs.  akad.  1909  s.  Gß5,  vgl.  Zs.  51,  20Sff.  200 f. 


NIBELUNGENLIED  UND  WALTHARIUS  1!)5 

Siegfried  erscheinen  lässt,  wenn  auch  im  10  jh.  der  kämpf  in 
der  kamnier  wol  noch  nicht  vorlianden  war.  so  liat  EkkeharJ 
die  in  der  sag-enüberlieferung  gefundenen  grundzüge  übertrieben 
und  unnatürlich  gesteigert.  die  Hunnen  sind  bei  Ekkehard 
so  feige,  dass  sie  nicht  einmal  in  scharen  dem  flüchtling,  den 
nur  eine  Jungfrau  begleitet,  nachzusetzen  wagen,  während  sie  in 
der  Ths.  nicht  so  tapfer  kämpfen  wie  die  Nibelunge,  aber  doch 
nicht  ohne  eifer  und  erfolg  sich  in  den  streit  stürzen. 

In  anderer  art  ist  bei  dem  verhalten  Hageus  gesteigert;  er, 
der  sich  in  der  Nibelungendichtung  nur  schwer  entschliefst  gegen 
die  freunde  zu  kämpfen,  weigert  im  Waltharius  offen  seinem 
herrn  den  beistand,  und  während  er  im  Nl.  seinen  herrn  warnt, 
dann  aber  begleitet,  sitzt  er  bei  Ekkehard  nach  vielfaclier 
Warnung  abseits  und  sieht  in  fast  knabenhaftem  eigensinn 
dem  kämpfe  zu.  in  den  Waldere-bruchstücken  scheint  Ilagen 
sich  auch  zurückzuhalten,  aber  in  der  anscheinend  altern  sagen- 
form der  Ths.  (c.  244)  schreitet  er  nachts  zu  hinterlistigem  an- 
griff und  wird  schmachvoll  mit  dem  eberknochen  verwundet  und 
zurückgetrieben,  und  ganz  ist  ja  die  tücke  Hagens  auch  aus 
dem  Waltharius  nicht  geschwunden  (v.  1 1 1 G  ff),  daher  ist  es 
anderseits  seltsam  gesucht,  wenn  gerade  Hagen,  dem  der  Nibe- 
lungenhort so  sehr  am  herzen  ligt,  v.  857  ff  über  die  verdei'b- 
liche  goldgier  predigen  muss.  bis  zur  unwahrscheinlichkeit  über- 
treibt Ekkehard  aber  die  wunden,  namentlich  bei  Günther,  dem 
das  bein  abgehauen  wird,  auch  die  abstufung  des  band-,  augen- 
und  beinverlustes  scheint  künstlich  geschaffen. 

An  andern  stellen  des  Waltharius  scheint  eine  absichtliche 
änderung  im  vergleich  mit  der  Nibelungensage  vorzuliegen,  in 
der  Ths.  {c.  361)  wirft  in  offenbar  altem  zusammenhange  Günther 
Hagen  das  verhalten  seines  vaters  vor:  'diesen  rat  gibst  du  mir, 
wie  dein  vater  meiner  mutter  riet',  da  jedesmal  der  folgende 
schlimmer  war  als  der  vorhergehende',  offenbar  ist  die  stelle 
verwant  mit  Walth.  629 ff,  wo  Günther  den  vater  Hagens  als 
feigling  schilt : 


'  so  ist  mit  hs.  A  zu  lesen  (ßi/)/>  fadir  rjaj  ininni  mcBäir),  s.  Roethe 
aao.  671;  die  mutter,  die  vielleicht  ursprünglich  die  albin'  gewesen  ist, 
passt  nicht  in  den  Zusammenhang,  dann  ist  aber  auch  gegen  ende  des 
cap,  ''vater'  zu  lesen, 

13* 


196  DROEGE 

üt  Video,  genitorem  imitaris  Hagathien  ipse. 
Hie  qnoque  perpavidam  gelido  siih  peciore  mentem 
Gesserat  et  multis  fastidit  proelia  verhis. 
vgl.  V.  10671  wider  erkennen  wir  bei  Ekkehard  die  unwahr- 
scheinliche Steigerung,  aus  dem  schlechten  rat  ist  feigheit  ge- 
worden; hat  Günther  grund  den  vater  des  tapfersten  helden  feige 
zu  nennen?  eine  höchst  auffallende  erfindung  Ekkehards  ist 
ferner  Hagens  neffe  Patavrid,  dessen  name  an  den  gleichfalls 
später  eingeführten  Ekivrid  anklingt.  Ilagen  steht  sonst  als 
finstrer  albensohn  allein,  ist  auch  im  Waltharius  nicht  in  die 
familie  der  Eurgundenkönige  eingereiht,  und  nun  hat  er  einen 
neffen,  von  dem  wir  sonst  niemals  hören;  der  tod  dieses  neffen 
trifft  ihn  aufs  schmerzlichste,  sodass  er  zum  kämpfe  geneigt  ist 
und  den  bitten  seines  königs  endlich  folgt,  weit  mehr  begründet 
ist  ein  ähnlicher  fall  in  der  altern  Xibelungendichtung.  Wolf- 
hart, Hildebrands  neffe  und  Dietrichs  verwanter,  fällt  und  wird 
von  Dietrich  aufs  lebhafteste  beklagt,  und  bevor  Eüdiger  ein- 
geführt wurde,  scheint  der  Berner  sich  Wolfharts  wegen  zum 
kämpfe  entschlossen  zu  haben.  Patavrid  und  Wolfhart  sind  aber 
einander  sehr  ähnlich,  beide  stürmen  jugendlich  unbedacht  in  den 
kämpf  und  schelten  den  feind,  Patavrid  scheint  ein  abbild  und 
eine  nachahmung  Wolfharts  zu  sein. 

Ein  bewuster  gegensatz  gegen  die  folgen  von  Wolfharts 
fall  scheint  aber  in  den  worten  Hagens  zu  liegen,  mit  denen  er 
ablehnt,  wegen  des  Verlustes  seines  eigenen  verwanten  den 
kämpf  aufzunehmen;  für  ihn  soll  der  entscheidende  grund  die 
ehre  seines  königs  sein,  v.  1112ff: 

Naiu  propter  carum  fateor  iihi  domne  nepoiem 
Promissam  fidei  normam  corrumpere  nollem. 
Ecce  in  non  duhium  pro  te,  rex,  iho  periclum. 
vgl.  auch   llOOf: 

Compatior  p r op r  i iisque  dolor  succ u m  hit  honor i 
Regis:  et  ecce  viam  conor  reperire  sahitis  ,  ,  . 
im  weitern  verlauf  der  handlung  fällt  auf,  dass  Hagen  sich  mit 
ungerechtem  tadel  gegen  Walther  wendet,  er  habe  zuerst  gewalt 
gebraucht  und  den  frieden  gebrochen,   1266 ff: 

Vim  prius  exerces,    Walthari,  postque  sopliaris. 
Tute  fidem  ahscideras,  cum  memet  adesse  vidercs. 
Et  tot  stravisses  socios  immoque  propinquos. 


NIBELUNGENLIED    UND    WALTHARIUS  197 

g-aiiz  niibeg-ründet  und  ung-erecht  ist  hier  der  Vorwurf,  weil  doch 
der  einzelne  Walther  sich  gegen  die  augril'te  der  zahlreichen, 
immer  neu  heranstürmenden  feinde  wehren  muss  und  Hageus 
netten  nicht  schonen  kann,  und  der  dichter  scheint  selbst  etwas 
ähnliches  zu  empfinden,  wenn  er  nachdrücklich  hervorhebt,  Walther 
habe  keine  entschuldigung,  v.  12 69  ff: 

Excusare  nequis,  quin  me  tunc  afjf'orc  /(uwt-.v. 

Cuius  si  fades  lafuit,  tarnen  arma  videbas. 

Nota  satis'  hahltuque  uiruiii  rescire  valehas. 

Anders  liegt  die  sache  in  der  Nibelungendichtung,  wo  auf 
beiden  selten  eine  groCse  anzahl  kämpft  und  Hagen  nach  dem 
fall  von  freunden  und  verwanten  beider  parteien  zu  Dietrich 
sprechen  kann  (Ths.  c.  ;^91):  'nun  scheint  es  mir,  als  ob  hier 
unsere  freundsciiaft  sich  scheiden  wird,  so  grofs  sie  auch  gewesen 
ist',  das  lied  bietet  das  richtige  und  natürliche,  Ekkehard  hat 
wider  verstärkt  und  übertrieben',  auch  bei  dem  lob  der  milden 
Hunnenkönigin  findet  sich  eine  ähnlichkeit.  von  Helche  wird 
im  Nl.  gerühmt,  sie  habe  des  gesindes  sich  freundlich  ange- 
genommen, was  nun  Kriemhilde  zufalle,   1379,  3,  4: 

Daz  Heichen  ingesinde,        des  e  diu  vrouwe  pflac, 

Gelehte  bi  Kriemhilde         sit  manigen  vroelichen  tac. 

Von  Ospirin  wird  grofse  gute  gegen  Hildegunde  gerühmt, 
aber  wider  übertreibt  der  dichter  erheblich,  sie  sei  so  von 
der  königin  gehalten,  dass  sie  beinahe  selbst  regiert  habe. 
I13ff: 

Postremum  custos  thesaiiris  provida  ciinctis 

Eff'icitur,  modicumque  deest,  quin  regnet  et  ipsa: 

Nam  quidquid  voluit  de  rebus  fent  et  actis. 

Auch  bei  der  Schilderung  von  Walthers  tapferkeit  werden 
stärkere  färben  aufgetragen,  er  kämpft  gegen  die  ganze  reihe 
der  feinde  und  besiegt  einen  nach  dem  andern,  und  wenn  im  Nl. 
Dietrich  den  verwundeten  und  matten  Hagen  und  bald  darauf 
den  ermüdeten  Günther  überwältigt,  so  ist  Walther  doch  ein 
gröfserer  held,  da  er  selbst  schon  lange  schwer  bedrängt  gegen 
die  beiden  frischen  Streiter  Hagen  und  Günther  gleichzeitig  mit 
erfolg  ankämpft,     so  erscheint  uns  auch  Walther  bei  Ekkehard 

'    dass  der  träum  Hagens  wahrscheinlich  den  träumen  der  ängstlichen 
frauen  nachgebildet  ist,  hab  ich  schon  Zs.  51,  20S   vermutet. 


198  DROEGE 

in  seinem  wesen  erheblich  gesteigert,  während  er  in  den  Waldere- 
bruchstücken einer  ermutigenden  zurede  bedarf. 

Haben  wir  nun  als  Ekkehards  art  der  dichtung  mehrfach 
Steigerung  und  Übertreibung  einzelner  züge  erkannt,  so  künnte 
man  vielleicht  auch  im  schluss  des  Waltharius,  wo  wir  die  drei 
beiden  trotz  schwerster  Verwundung  in  etwas  unnatürlichem 
humor  scherzen  und  trinken  sehen,  eine  Übertreibung  des  jugend- 
lichen dichters  finden,  dem  tragischen  schluss  der  Nibelungen- 
dichtung, die  den  tod  der  letzten  beiden  beiden  erzählt,  steht 
ein  heiteres  abbild  gegenüber,  alle  kämpfer  sind  am  leben,  und 
ihnen  naht  statt  der  rachsüchtigen  Kriemhild  mit  dem  feuer- 
brand  (Ths.  c.  392) '  nunmehr  als  milde  pflegerin  Hildegunde  mit 
dem  tröstenden  becher. 

Der  planmäfsige  aufbau  in  beiden  dichtungen,  der  gewis 
auf  bewuste  epische  technik  schlielsen  lässt,  ist  aber  keineswegs 
so  ähnlich,  dass,  wie  Roethe  meint  ■^,  'das  Vorbild  des^\Yaltharius 
macht  über  Konrads  künstlerseele  gewann'  und  'soweit  es  der 
gröfsere  Stoff  erlaubte,  der  äuisere  rahmen  Ekkehards  dichtung 
angepasst  wurde',  schon  der  'dreiheldenkampf  ist  nicht  so  stark 
zu  betonen,  denn  in  der  vorläge  unseres  liedes  ist  keine  dreizahl 
von  kämpfern  am  ende  tätig,  sondern  Günther  ist  schon  früher 
durch  Osid  gefangen,  dass  die  reihe  der  kämpfe  sich  erst  all- 
mählich in  der  entwicklung  der  dichtung  zusammenfügt  und  um- 
gestaltet, indem  sich  immer  neue  beiden  zu  den  alten  Nibelungen- 
streitern gesellen,  werden  wir  später  genauer  sehen,  die  pausen 
und  retardationen  aber  ergeben  sich  naturgemäfs  aus  dem  be- 
dürfnis  der  kämpfer  nach  ruhe,  zumal  wo  eine  minderzahl  oder 
gar  ein  einzelner  gegen  die  Übermacht  sich  verteidigen  muss; 
auch  in  der  Ilias  und  in  der  Äneis  wird  die  nächtliche  ruhe  den 
beiden  nicht  versagt,  auch  die  notwendigkeit  eines  Schutzes  er- 
gibt sich  für  die  Nibelunge  und  für  Waltharius  aus  den  Ver- 
hältnissen, der  saal  in  der  Nibelungendichtung  ist  aber  uralt, 
während  der  felsenspalt  im  Wasgau  erst  in  der  phantasie 
Ekkehards  entstanden  zu  sein  scheint  '^,  der  ja  auch  die  gröCsere 
zahl  der  kämpfer  einführte,  nach  Roethe  (s.  674)  ist  Konrads 
strategischer  plan  im  ganzen  festgehalten,  aber  einmal  dem 
spätem    dichter    eine   entgleisung   begegnet,    da   zuerst  der  saal 

•  vgl.  Wihiianus  aao.  s.  10.  ^  Zs.  51,  290  f  u.  aao.  680 f.         ^  ^gl. 

Strecker  Neue  jahrbb.  3  (1899),  63S. 


NIBELUNGENLIED    UND    WALTHARIUS  199 

als  Schutzstätte  dient,  nachher  aber  Gernot  (str.  2097  ff.  2033  ff  L.) 
die  befreiung  aus  dem  sichern  saale  verlangt.  aber  dieser 
wandel  erklärt  sich  aus  der  vergrülserung  der  kämpferzahl,  die 
beiden  wünschen  einen  freien  kampfplatz,  um  den  streit  schneller 
zu  entscheiden,  während  ursprünglich  von  einem  offenen  kämpfe 
der  wenigen  Nibelungen  gar  nicht  die  rede  sein  konnte,  auch 
au  andern  stellen  nimmt  Roethe  eine  deutliche  einwirkung  Ekke- 
bards  auf  die  Nibelungendichtung  an,  wo  sich  eine  einfachere 
erklärung  bietet,  so  soll  die  anwendung  des  Sängers  in  der 
düstern  nachtscene  durch  den  Waltharius  angeregt  sein  (s.  67ß  f), 
aber  diese  scene  ist  schwerlich  im  10  jh.  vorhanden  gewesen, 
auch  ist  der  Vorgang  in  den  dichtungen  ganz  verschieden:  llilde- 
gunde  singt,  um  nicht  einzuschlafen,  der  Sänger  Volker,  der  wol 
erst  später  eingeführt  wurde,  singt  nachts  den  müden  beiden  ein 
Schlummerlied,  und  wir  haben  hier  die  gerade  bei  unseren 
Nibelungenliede  häutig  beobachtete  Verdoppelung  des  motives  '  — 
früher  hatte  er  der  gattin  Rüdigers  ein  abschiedslied  gesungen 
— ,  offenbar  späte  züge  der  dichtung  aus  dem  Zeitalter  des 
minnesanges. 

Einen  einfluss  des  Waltharius  auf  den  dichter  unseres 
liedes  um  1200  hab  ich  Zs.  51,  209  angenommen,  vielleicht  hat 
aber  doch  die  vielgelesene  dichtung  Ekkehards  schon  früher  auf 
die  entwicklung  des  Nibelungenliedes  eingewürkt,  und  so  ist  denn 
'die  compliciertere  möglichkeit'  zu  erwägen,  von  der  Roethe 
Zs.  51,  290  spricht,  ob  etwa  im  laufe  der  zeit  die  beiden 
dichtungen  sich  wechselseitig  beeinflusst  haben,  von  vornherein 
wird  man  geneigt  sein,  einen  einfluss  des  vollendeten  epos 
Ekkehards  auf  die  offenbar  noch  im  fluss  betindliche  Nibelungen- 
dichtung anzunehmen,  zumal  da  der  Waltharius  nachweislich 
bald  nach  Mainz  übertragen  und  damit  in  den  kern  des  reiches 
und  in  die  gegend  eingeführt  wurde,  wo  die  Nibelungensage 
ihren  eigentlichen  sitz  und  mittelpunct  hatte"-.  so  halt  ich 
es  für  möglich,  dass  der  seelenkampf  Hagens  zwischen  lehns- 
und  freuudestreue  auf  die  gestaltung  der  Persönlichkeit  Rüdigers 
(wol  um   1000)  eingewirkt  hat,  wenngleich  die  jetzige  form  der 

'  Zs.  48,  461  f.  -  auf  Worms  als  sitz  der  Nibelungensage  weist 

besonders  nachdrücklich  hin  GMatthaei  Beiträge  zur  gesch.  der  Siegfried- 
sage, progr.  Grofs-Lichterfelde  1905  s.  33. 


200  DROEGE 

episode  das  gepräg-e  der  Stauferzeit  trägt.  die  rolle  des 
Zauderers  spielte  vor  1000  wahrscheinlich  Dietrich,  der  sich  aller- 
dings selbständiger  entscheidet. 

Vor  allem  mag  die  epische  dichtung  Ekkehards  auf  die  ver- 
gröfserung  des  Nl.  eingewirkt  haben,  als  es  galt,  den  ersten 
teil,  die  Wormser  ereignisse  mit  den  vergangen  im  Hunnenlaude 
in  einem  epos  zu  vereinigen;  hatte  doch  umgekehrt  Ekkehard 
den  kämpfen  im  Frankenlande  die  Vorgeschichte  an  Etzels  hofe 
und  deren  Ursache  in  ausführlicher  darstellung  vorausgeschickt, 
so  mag  auch  Ortwin  von  Metz  damals  ein  neffe  Hagens  ge- 
worden sein,  seitdem  der  finstere  mann  bereits  in  Patavrid  einen 
neffen  gefunden  hatte,  auf  einer  noch  spätem  stufe  ist  dann 
um  1200  sogar  ein  leiblicher  bruder  hinzugefügt,  auch  kann 
Hagen,  der  allerdings  in  'der  Nibelunge  not'  schon  früh  als 
freund  und  helfer  und  viel  anziehender  als  in  der  Siegfried- 
dichtung erschien,  unter  dem  eindruck  der  trefflichen  tigur  im 
"Waltharius  noch  günstiger  charakterisiert  sein,  namentlich  in 
der  treuen  sorge  für  die  seinen,  wenn  er  auch  die  äufseren  züge 
alter  grausamkeit  beibehielt. 

Vielleicht  hat  auch  das  Vorbild  Ekkehards  auf  die 
Schilderung  der  Verhältnisse  eingewürkt,  namentlich  soweit  sie 
"Worms  betreffen,  in  beiden  dichtungen  ist  Worms  nebst  seinen 
nachbarstädten  besonders  berücksichtigt,  die  Stadt  V^^orms  wird 
im  "Waltharius  als  königssitz  genannt,  fast  als  wenn  ein  Zeitgenosse 
und  augenzeuge  spräche  v.  431  ff: 

Venerat  ad  fluvium  iam  vespere  tum  mediante, 
Scilicet  ad  Rliemmi,  qua  cursus  tendit  ad  iirheiii 
Nomine   Wormatiani  regali  sede  nitentem. 
vielleicht    denkt  Ekkehard    an   den   hoftag   926 '.     Gerwitus  er- 
scheint als  einer  der  grafen  von  Worms  oder  im  Wormsgau,  wie 
sie  damals  eine  besondere  rolle  spielen,  v.  940: 

Ideni   Wo7'matlae  campis  comes  exstitit  ante. 
von  Metz  erscheint  v.  581  ff  Camalo  als  stadtpräfect,  der  geschenke 
gebracht  hat: 

Praeclpit  ire  vlntm  cognomlne  rex  Camalonem 
Inclita  Mettensi,  quem  Francia  miserat  urhi 
Praefectum,  qui  dona  ferens  devenerat  illo 
Anteriore  die  quam  princeps  noverat  ista. 
'    Strecker  aao.  5S1. 


NIBELUNGENLIED    UND    WALTHAEIUS  201 

so  kommt  auch    1009  f  ein  lield  aus  Stralsburg  und  ein  anderer 
aus  Speyer: 

Argentina  qnicJem  decimum  dant  opjyida  Trocjum, 
Exiulit  undecinmm  pollens  urhs  Spira  Tanasfum. 
In  ähnlicher  weise  rückt  im  ersten  teil  des  Nl.  Woi-ms  in 
den  Vordergrund  und,  wie  wir  später  sehen  werden,  gerade  in 
dem  Zeitalter  der  sächsischen  kaisei-,  unter  denen  auch  der 
AValtharius  gedichtet  wurde,  wir  tinden  einen  grafen  in  Worms 
als  besonderen  freund  der  königin,  Eckewart,  und  die  nachbar- 
stadt  Spej'-er  entsendet  an  den  Wormser  hof  merkwürdigerweise 
ihren  bischof  str.  1508.  auch  werden  die  Verhältnisse  der 
Wormser  Verwaltung  auffallend  eingehend  geschildert  Ths.  c.  342, 
worauf  wir  unten  zurückkommen,  die  rangverhältnisse  bei  hofe 
werden  in  beiden  dichtungen  eingehend  berührt  und  damit  die 
Ottonenzeit  gekennzeichnet,  wir  tinden  den  'marcgraven  Gere' 
und  den  'gräven  Eckewart',  der  nur  einmal  marcgrave  genannt 
wird,  bischöfe  und  des  königs  hofcaplan  und  die  reihe  der  könig- 
lichen hofbeamten.  im  Waltharius  kommen  die  deutschen  Standes- 
verhältnisse sogar  am  Hunnenhof  zur  geltung.  als  kein  gefolgs- 
mann  des  königs  Attila  zur  Verfolgung  der  flüchtlinge  bereit  ist, 
da  heilst  es  v.  408f : 

Sed  nullus  fuit  in  tanta  regione  tyranmis 
Vel  dtix  sive  comes  seu  miles  sive  ministe)-. 
vielleicht  hat  bei  der  einführung  der  fürsten  an  den  Wormser 
hof  der  Waltharius  die  Nibelungendichtung  beeinflusst.  wie 
Günther  den  grafen  Gerwitus  bei  sich  hat  und  den  flüchtigen 
Sachsen  Ekivrid  aufnahm,  so  kamen  an  den  Wormser  hof  des 
Nibelungenliedes  Gero  und  Eckewart.  Roethe  meint  zwar  ',  Gero, 
der  jetzt  nur  im  ersten  teile  des  liedes  sein  'röllchen  spiele', 
habe  in  der  lateinischen  Nibelungendichtung  'jedesfalls  zu  der 
gruppe  der  markgrafen  der  Ostmark  gehört  und  sich  bei  Attila 
aufgehalten',  aber  tatsächlich  kommt  er  jetzt  ausschliefslich  am 
Wormser  hof  vor,  und  es  ist  auch  kaum  denkbar,  dass  man  in 
einer  den  Ungarn  gegenüber  so  sieges-  und  selbstbewusten  zeit 
—  Hunnen  und  Ungarn  werden  ja  immer  gleich  gerechnet  — 
den  glänzenden  Zeitgenossen  und  Vorkämpfer  für  deutsches  wesen 
als   flüchtling   oder  vasall  au  den  liof  des  Hunnenkönigs  gesetzt 

^    aao.  G5tl. 


202  DROEGE 

habe.  Rüdiger  steht  insofern  doch  anders,  als  er  selbständig 
eine  mark  verwaltet,  die  recht  äulserlich  Etzels  herschaft  be- 
nachbart oder  angegliedert  erscheint,  die  übrigen  fürsten  an 
Etzels  hofe  sind  aber  durchaus  sagenhaft,  vielleicht  ist  nun 
nach  dem  Vorbild  der  alten  fürsten  an  Etzels  hofe  Ekivrid  als 
flüchtling  an  den  Wormser  hof  gebracht,  jedesfalls  ist  Ekivrid 
als  verbannter  jünger  als  die  bei  Etzel  im  'elend'  lebenden  Dietrich 
und  Irnfried,  und  ein  nach  Ekkehard  arbeitender  dichter  des 
Nibelungenepos  hat  widerum  neue  persönlichkeiten  an  den  hof 
Günthers  geholt. 

Ob  sich  unter  den  namen  der  beiden  des  Waltharius,  die 
Ekkehard  zusammenstellte,  zeitgeschichtliche  namen  verbergen, 
lässt  sich  nicht  ergründen,  doch  lässt  das  auftreten  des  Sachsen 
Ekivrid,  der  in  eigentümlicher  mundart  spricht,  auf  persönliche 
beobachtung  schliefsen'.  der  markgraf  Gero  und  der  graf  Ecke- 
wart führen  uns  aber  geradezu  in  die  zeit  des  ausgehenden 
10  jh.s,  denn  mit  recht  hat  schon  Neufert-  betont,  es  sei 
nicht  anzunehmen,  dass  der  rühm  Eckards  'noch  lange  nach 
seinem  tode  (1002)  einen  dichter  hcätte  zu  seiner  Verherrlichung 
begeistern  können',  wenngleich  sein  tragischer  tod  seine  ein- 
führung  veranlasst  haben  mag.  an  den  geschichtlichen  Gero 
scheinen  im  Nl.  noch  einige  züge  zu  erinnern,  er  dient  freund- 
lich nach  Siegfrieds  tode  der  köuigin  Kriemhild,  zu  deren  ver- 
wanten  er  gemacht  wird,  wie  der  geschichtliche  Gero  sich  gütig 
der  witwe  seines  sohnes  annimmt,  der  ja  auch  Siegfried  heifst, 
und  bei  dem  andern  freunde  der  königin  Kriemhild,  dem  grafen 
Eckewart,  der  am  Wormser  hofe  lebt  (str.  llOl)  und  erst  später 
mit  dem  mythischen  Eckewart  au  der  grenze  verschmilzt  ^,  ligt 
eine  beziehung  auf  den  bekannten  Eckard,  söhn  des  grafen 
Günther,  nahe,  denn  gerade  jener  angesehenste  mann  in  den 
sächsisch-thüringischen  gegenden,  in  dem  etwas  von  der  art  Geros 
lebte,  hielt  treu  zu  Theophano,  der  kaiserin-witwe  und  empfing 
als  lohn  seiner  treue  nicht  allein  die  markgrafschaft  seines  vaters 
zurück,  sondern  die  thüringische  mark  in  ihrem  ganzen  umfange  i 
beide,    Gero  und  Eckewart,    werden   auch   einmal  zusammen  ge- 

'  Strecker  aao.  5S0f.  -  Der  weg  der    Nibelungen,     progr.    Char- 

lottenburg  1892,   s.  29.  ^   auch   bei  Rüdiger   und  Iring    scheinen  ge- 

schichtliche und  mythische  personen  verschmolzen  zu  sein,  ^  Giese- 

brecht  Gesch.  d.  deutschen  kaiserzeit  I^,  G35. 


NIBELUNGENLIED  UND  WALTHARIUS  203 

nannt.  str.  1227,  2.  3:  die  zwene  marcgraven  nah  tiuut  vor  ir 
stän,  Eckewart  unt  Geren,  die  edeln  recken  guot,  als  Rüdiger 
bei  der  Werbung  Etzels  empfangen  wird,  die  bearbeitung  C* 
weils  mit  diesem  ehrendienst  bei  der  königin  nichts  rechtes  an- 
zufangen und  ändert:  sack  man  vor  in  stän.  Gern  und  Ecke- 
warten:  daz  schuof  diu  künigin,  aber  gerade  das  nähere  Ver- 
hältnis zur  königin  scheint  beiden  eigentümlich  zu  sein;  wenn 
dagegen  in  einer  geschichtlichen  quelle  einmal  'Ekkihardus  ac 
Gero  marchioues'  zusammen  genannt  werden  ',  so  ist  zwar  der 
bekannte  markgraf  Eckard,  aber  ein  jüngerer  Gero  (y  1015) 
gemeint. 

Führen  so  spuren  in  die  zeit  des  letzten  sächsischen  kaisers, 
so  weisen  andere  beziehungen  auf  die  nächsten  Jahrzehnte,  näm- 
lich berührungspuucte  der  Nibeluugendichtung  mit  dem  Ruodlieb, 
von  welchem  sich  ja  fäden  zur  deutschen  heldensage  zurück- 
spinnen, auch  im  Ruodlieb  spielt  das  höfische  beamtentum,  be- 
sonders auch  bischöfe  und  capläne  eine  rolle  -,  auch  die  zeitsitte 
erinnert  an  alte  züge  der  Nibelungendichtung,  so  die  Weisung, 
dass  bei  hofe  die  waffen  nicht  getragen  werden  dürfen,  vgl.  Ths. 
c.  3  77  u.  Nl.  Str.  1745:  man  sol  deheiniu  icäfen  tragen  in  den 
sal  und  Ruodlieb  (ed.  Seiler)  i  81:  Dum  venit  ad  curtem, 
quis  munera,  quis  gerit  enseni?  das  neigen  und  nament- 
lich das  aufstehn  vor  den  frauen  wird  schon  oft  erwähnt  und 
schreibt  sich  wol  aus  der  strengen  ottonischen  hofetikette  her. 
auffallend  ist,  dass  in  unser m  liede  zwar  auch  das  küssen  eine 
grofse  rolle  spielt,  aber  nicht  zwischen  männeru  vorkommt, 
während  in  der  Vorstufe  der  Ths.  und  im  Ruodlieb  auch  männer 
sich  küssen,  als  Hagen  und  Dietrich  sich  als  freunde  linden, 
heifst  es  Ths.  c.  358:  'könig  Gunnar  ritt  vor  könig  Attila  und 
begrüfste  ihn  und  sein  bruder  Högni  vor  könig  Thidrek,  und  sie 
küssten  sich  und  trafen  sich  nun  als  die  besten 
freunde',  fast  wörtlich  stimmt  damit  eine  stelle  des  Ruodlieb 
überein,  i   120: 

Oscula  dando  sibi  firmi  statuuntur  amici. 
der   Vorliebe  für  die  jagd   im  Ruodlieb    entspricht  manches  aus 
der  schon   in    der  altern  Nibelungendichtung  vorhandenen  Schil- 
derung der  jagd  Siegfrieds,    die  hunde  werden  wiederholt  schon 

1  Thietmari  Merseb.  ohron.  iv  52  (a.  10()2).  ^  vgl.  Seiler  zum 

Ruodlieb  s.  83. 


204  DROEGE 

Ths.  347  erwähnt,  und  aus  der  allerdings  erweiterten  beschreibung 
unseres    liedes    weist  bemerkenswerte  ähnlichkeit  die  stelle  über 
den  Spürhund  auf  {investigntor  im  Euodlieb)  i  44  ff: 
Pr^slUt  Imnc  post  mox  canis  in  cursu  bene  velox 
luvest l(/ator.  quo  non  melior  fuit  alter, 
Prq  quo  hestiola  vel  granäis  sive  minuta 
Xon  abscondere  quit  se,  quin  lianc  mox  reperiret. 
vgl.  XI.  933  ff: 

Do  nam  ein  alter  jäger     einen  guoten  spürehunt: 

er  brühte  den  lierre n     i n  einer  k u r z e n  s t u n t , 

da  sie  vil  tiere  funden  .  .  . 

Swaz  ir  der  brache  ersprancte,    diu  sluoc  mit  smer  hant 

Sifrit  der  i'il  küene.  — 

II 

Wenn  auch  eine  so  eindringliche  würkung  des  "Waltharius 
auf  das  Nibelungenepos,  wie  Eoethe  vermutet,  nicht  nachzuweisen 
ist,  so  führen  doch  manche  spuren  auf  eine  erhebliche  tätigkeit 
an  der  Nibelungendichtung  um  die  wende  des  1 0  und  1 1  jh.s. 
eine  lateinische  bearbeitung  in  den  kreisen  des  bischofs  Pilgrim 
von  Passau  mit  so  zahlreichen  beziehungen  zur  Donaugegend, 
wie  sie  namentlich  Neufert  gezeigt  hat,  ist  kaum  zu  bezweifeln, 
es  wäre  jedoch  wunderbar,  wenn  sich  die  entwickelung  der 
dichtung  auf  jerjes  Gebiet  beschränkt  hätte  und  auch  um  1200 
das  lied  widerum  von  einem  österreichischen  dichter  umgestaltet 
wäre  auf  grund  jener  dichtung  Konrads  oder  ihrer  Übertragung, 
ohne  dass  der  eigentliche  mittelpunct  der  sage  und  des  reiches 
an  der  ausgestaltuug  beteiligt  wäre,  schon  Gero  und  Eckewart 
führten  auf  Worms;  andere  beziehungen  auf  Worms  und  die 
andern  grofsen  städte  der  oberrheinischen  ebene  schienen  sich 
für  die  Vorstufe  unseres  Nl.  um  1115  zu  ergeben,  vgl.  Zs.  51, 
179  ff.  184 f,  und  werden  uns  auch  für  die  zeit  um  1000  noch  be- 
gegnen, daher  ist  von  vornherein  eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit 
vorhanden,  dass  die  in  Passau  geförderte  dichtung  in  Worms, 
dem  häutigen  sitz  der  hofhaltung  unter  den  sächsischen  kaisern, 
weiter  gepflegt  wurde,  es  mögen  lateinische  bearbeitungen  der 
wichtigsten  nationalen  dichtung  nach  dem  vorgange  des  Passauer 
dichters   auch  in  den  grofsen  rheinischen  bischofssitzen  versucht 


NIBELUNGENLIED  UND  WALTHARIÜS  2(i5 

sein,  zumal  da  auch  der  Waltliarius  in  den  letzten  Jahrzehnten 
des  10  jh.s  nach  Mainz  gelangte  und  Avahrscheinlicli  von 
dieser  zeit  an  in  abschriften  durch  Deutschland  verbreitet  wurde  • ; 
eine  so  lebenskräftige  dichtung-  wie  das  Nl.  wird  aber  nicht  auf 
die  fremde  spräche  beschränkt  gewesen  sein,  mit  i-echt  sagt 
FPanzer-':  'der  litterarische  hunger  blieb  auch  in  den  breiteren 
schichten  der  laien  stets  rege;  er  konnte  aber  nur  mit  dem 
brote  der  heimischen  dichtung  g-estillt  werden,  nicht  mit  dem 
golde  einer  lateinischen  poesie'. 

Gerade  um  die  wende  des  10  und  11  jh.s  bestanden  rege 
beziehungen  zwischen  Baiern  und  Franken,  sächsische  herzöge 
waren  nach  Baiern  gekommen,  und  ein  bairischer  herzog  war 
deutscher  könig  geworden,  die  Babenberger  markgrafen  der  Ost- 
mark hatten  reiche  besitzungen  in  Franken,  mannigfacher  ver- 
kehr aber  knüpfte  sich  zwischen  den  bistümern  und  geistlichen 
schulen,  sodass  sicherlich  die  kenntnis  der  lateinischen  Nibelungen- 
dichtung meister  Konrads,  mit  der  wir  jetzt  sicherer  rechnen, 
in  Worms  angenommen  werden  darf,  zu  verwundern  war  es, 
wenn  die  epische  gestaltung  des  teils  der  Nibelungensage  der 
im  Donaugebiet  spielt,  nicht  auch  für  das  Eheingebiet  mit  seinem 
eigentlichen  kern  der  sage  dichterische  tätigkeit  angeregt  hätte, 
auf  eine  solche  gestaltung  des  ersten  teiles  der  dichtung  nach 
dem  Vorbild  eines  epos  von  'der  Nibelunge  not'  führen  auch 
innere  gründe,  dass  man,  wie  es  im  Waltharius  der  fall  war, 
auch  für  dieses  epos  eine  Vorgeschichte  wünschte,  ligt  nahe, 
und  wenn  die  'Not'  die  grofsen  feste  am  hofe  Etzels  aufwies,  so 
musten  auch  die  Burgundenkönige  ihre  hof feste  haben;  so  wurde 
denn  die  hochzeitsfeier  Etzels  und  Kriemhilds  durch  die  doppel- 
liochzeit  in  "Worms  überboten,  statt  des  einen  bischofs  in- Passau 
wurden  in  Worms  zwei  bischöfe  verwendet,  um  die  künigin  zu 
hofe  zu  führen,  und  so  ergeben  sich  auch  andere  auffallende 
parallelen.  Eüdiger  ist  vermutlich  von  Konrad  an  Etzels  hof 
gebracht -^  mag  man  nun  in  ihm  eine  beziehuug  auf  den  mark- 
grafen Burkhard^  oder  auf  Liutpold  I,  den  Babenberger^  linden. 


'    vgl.   Strecker  aao.    576.  -  Das  altdeutsche  'volksepos   (Halle 

1903)  s    7.  vgl.  Wilmanns  aao.24.     Zs.  51,  20Sf.  ^  vgl.  Eoethe  aao.  6S3. 

^    Vancsa    Geschichte    Nieder-    uud    Oberösterreichs    (Gotha  1905)    i    196. 
^  Neufert  aao.  30. 


20G  DROEGE 

am  hofe  Günthers  sind  zwei  solcher  hohen  gaste  vorhanden, 
die  sicherlich  zeitg-enüssische  fürsten  sind.  Hagen  hatte  in  der 
alten  dichtung  einen  treuen  freund  am  Hunnenhofe,  Dietrich, 
dem  er  an  mehreren  stellen  des  liedes  in  hei-zlicher  freundschaft 
beigesellt  ist.  nun  bekommt  er  auch  einen  Wormser  freund  in 
dem  offenbar  von  rheinischen  dichtem  eingeführten  Volker  von 
Alzei.  die  ähnlichkeit  der  freundschaft  geht  so  weit,  dass  in 
der  Ths.  sowohl  Dietrich  wie  Volker  mit  Hagen  zusammen  gehen, 
indem  sie  deu  arm  um  des  freundes  schulter  legen  (c.  373  und 
375).  auch  Hagen  könnte  zu  gleicher  zeit  wie  Volker  im  gebiet 
der  Wormser  könige  localisiert  sein.  —  die  erweiterung  des 
epos  durch  eine  Vorgeschichte  ist  sehr  begreiflich,  vor 'der  räche 
Kriemhilds  will  man  die"  schuld  Hagens  genau  erzählt  haben, 
vor  Kriemhilds  und  ihrer  brüder  ende  auch  Siegfrieds  tod  im 
epos  lesen,  daher  ist  es  sicherlich,  nachdem  einmal  ein  episches 
gedieht  von  dem  untergange  der  Nibelunge  vorhanden  war,  eine 
frage  nicht  langer  zeit  gewesen,  auch  von  den  freuden  und  festen 
in  Worms  mit  dem  nachfolgenden  leid,  dem  geschick  Siegfrieds, 
ein  ausführliches  epos  oder  eine  erweiterte  Vorgeschichte  zu  der 
vorhandenen  Nibeluugendichtung  zu  schaffen,  so  wird  auch  in 
der  Vorstufe  unseres  liedes  (Ths.  c.  342)  mit  bemerkenswerter 
ausführlichkeit  von  der  glänzenden  regierung  der  Burgunden- 
könige  in  Worms  erzählt:  'und  vou  dem  an,  dass  Sigurd  Grim- 
hild  zur  ehe  erhalten  hatte,  stand  dieses  reich  in  grolser  herr- 
lichkeit  auf  alle  weise  (.  .  sto&  pefta  riki  med  inikilJt  pry&l  a 
alla  lund  .  .),  zuvörderst  dadurch,  dass  so  manche  häuptlinge 
auch  dort  herschten,  sich  doch  keine  ebenso  streitbare  und 
mächtige  fanden,  und  alle  ihre  feinde  vor  ihnen  in  furcht 
waren  .  .  .' 

Gerade  um  die  wende  des  10  und  11  jh.s  erlebte  Worms 
einen  glänzenden  aufschwnng,  der  die  blütezeit  Passaus  unter 
Pilgrim  bei  weitem  übertraf,  damals  regierte  in  Worms  der  von 
den  Zeitgenossen  vielgerühmte  bischof  Burchard  (lOOO — 1025), 
unter  dessen  herschaft,  vielleicht  auch  einfluss,  das  epos  von 
den  Wormser  königen  sich  neu  belebt  und  gestaltet  haben  wird, 
als  freund  könig  Heinrichs  II,  der  widerholt  selbst  in  Worms 
erschien,  trat  Burchard  in  aufserordentlicher  würksamkeit  hervor  ', 

'  HGrosch  Burchard  I,  bischof  von  Worms,  Leipziger  diss.  Jena  1890. 
Ilauck    Kirchengeschichte    Deutschlands   lll    (Leipzig    1896)    s.  435  ff. 


NIBELUNGENLIED  UNI)  WALTIIARIUS  207 

der  mächtige  fränkische  graf  Konrad.  der  sich  herzog-  von 
Worms  genannt  hatte,  muste  ihm  weichen,  und  die  alte  Stamm- 
burg der  Konradiner  in  der  Stadt,  von  denen  einer,  Schwieger- 
sohn des  königs  Otto  I,  auf  dem  Lechfelde  gegen  die  Ungarn 
955  gefallen  und  in  Worms  unter  grofser  teilnähme  der  be- 
völkerung  beigesetzt  war,  wurde  vom  könige  Burchard  über- 
geben, der  sie  zu  der  stattlichen  Paulskirche  mit  der  vielge- 
priesenen Inschrift  oh  lihertatcm  civitati'^  umbaute  '.  mag  auch 
der  Verfasser  seiner  vita,  der  ihn  persönlich  gekannt  hatte, 
vielfach  übertreiben,  jedesfalls  gilt  Burchard  den  Zeitgenossen 
als  der  neugründer  der  vollständig  durch  die  Ungarnzüge  und 
manche  misstände  zerrütteten  Stadt,  er  wird  der  gerechte  herscher 
genannt  und  bewährt  sich  als  kundiger  begründer  des  rechts 
und  eifriger  förderer  des  landfriedens,  von  Heinrich  11  durch 
eingreifende  Verordnungen  unterstützt''.  schon  979  hatte 
Otto  II  dem  Wormser  bischof  das  erste  richterliche  privileg  ge- 
geben, die  volle  gerichtsbarkeit  erhielt  Burchard  IUI 4  bestätigt, 
die  gegend  von  AVorms  vfar  in  jenen  zelten  bekannt  geworden 
durch  blutige  familienfehden  unter  den  eingeborenen  geschlechtern 
die  sich  nach  alter  grausamer  sitte  mit  todschlag,  meineid  und 
blutigen  greueln  bekämpften,  sodass,  wie^Nitzsch^  meinte,  durch 
solche  taten  jenen  kreisen  die  Nibelungendichtung  "vollständig 
verständlich'  war.  wir  können  sogar  vermuten,  dass  durch  die 
mächtigen  laiengewalten,  die  vögte  und  grundherren,  gegen  deren 
übergriffe  Burchard  in  seinem  hofrecht ^  und  in  seiner  vei- 
waltuugstätigkeit  ankämpft,  jene  rätselhaften  häuptlinge  ihre 
erkläruug  finden,  die  den  Wormser  Königen  zu  schaffen  machen. 
(Ths.  c.  342).  Burchard  bändigte  die  hof genossen  in  kirchlicher 
zucht,  ordnete  die  guter  und  suchte  an  stelle  der  blutrache  die 
geldbufse  einzuführen  ^.     so  galt  er  durch  seine  tatkraft  als  der 

'  Vita  Burchardi  c.  9  (MG.  SS.  iv  830  ff.)  '^  Hauck  aao.  s.  392. 

ADB  3,  56.3.  ^  Deutsche  geschichte  ii  34.  "  vgl.  Gengier  Das 

hofrecht  des  bischofs  Burchard  v.  Worms,  (Erlangen  1859)  s.  5.  Burchard 
spricht  im  vorwort  von  den  crehrae  insidiae  multorum  qui  inore 
canino  fainiliam  S.  Petri  dilacerabant  .  .  .  iiijirmiores  suis  iudiciis  oji- 
primentes  .  .  .  vgl,  auch  Vita  Burch.  7:  Castello  itaque  conflrmutu 
et  constructo  inimioorum  audadter  /actis  fortiter  resistebat  et  s/iein 
suis  augebat,  plerurnque  etiam  ipsos  hostes  di(;ti--<  etfaitis 
entrepidus    terrebat.  ^    Nitzsch    Minlsterialität    u.   bürgertuni 

(Leipzig  1859),  131. 


20S  DROEGE 

tüchtig-ste  regent  und  richter  im  lande  und  durch  die  auf- 
zeichung  des  Wormser  hofrechts,  für  welches  er  auf  alte  volks- 
rechtliche Satzungen  zurückgriff,  sowie  durch  seine  Sammlung 
von  decretalen,  die  auf  umfassenden  quellenstudien  beruhte,  als 
der  rechtskundigste  und  gelehrteste  mann  seiner  zeit,  bischof 
Thietmar  von  Merseburg,  'dessen  chronik  uns  am  lebendigsten 
in  die  ganze  atraosphäre  der  zeit  einführt' ',  wird  durch  Burchards 
persönlichkeit  zu  begeisterten  versen  angeregt"-: 

Ui'hs   Wormacensis  gaudet  temp  oribus  istis 

Libertate  sua,  cuius  manebat  in  umbra 

Hactenus,  atgue  ducnm  fuerat  sub  lege  suoram. 

Bnrchard  antistes  laetatiir  et  inter  heriles 

ex  anirno  jiroceres,  qnod  non  timet  amplius  host  es 

nunc  ex  contiguo,  longe  semotiis  ab  illo. 

Aula  ducis  doniini  domus  est  iam  praeclua  Christi, 

et  iudices  varios  clenis  nunc  deprimit  illos. 

Ein  solcher  mann  wird  sicherlich  durch  seine  Persönlichkeit 
und  durch  seine  Studien  des  alten  rechts  auch  den  sinn  für  die 
geschichte  und  sage  der  Stadt  Worms  belebt  haben,  vielleicht 
liefs  seine  glänzende  regierung  die  alte  zeit  burgundischer  herr- 
lichkeit  gerade  so  wider  lebendig  werden,  wie  die  hofhaltung 
des  erzbischofs  Philipp  von  Köln  1177 — USO  in  Soest  eifrige 
beschäftigung  mit  der  Nibeiungendichtuug,  vielleicht  sogar  deren 
localisierung  veranlasst  haben  wird^. 

Sogar  in  unserm  Nl.  scheint  noch  eine  spur  vorhanden  zu 
sein,  die  ein  abbild  jener  zeit  in  der  friedevollen  und  gesegneten 
regierung  der  königlichen  brüder  und  ihres  Schwagers  Siegfried 
erkennen  lässt. 

In  der  Ths.  c.  342  fällt  auf,  dass  Siegfried  nicht  nur  wegen 
seiner  stärke  und  tüchtigkeit,  sondern  vor  allem  wegen  seines 
edelmuts,  seiner  Weisheit  und  umsieht  gepriesen  wird  {hugprySti 
ok  spnjeki  oc  framvisi).  im  Nl.  ist  die  erzählung  von  Siegfrieds 
regierung  in  Xanten  eine  änderung  des  stauöschen  dichters,  der 
die  herschaft  Siegfrieds  in  dessen  erbland  verlegt  hat,  das  lob 
ist  urspi'ünglich  auf  seine  tätigkeit  in  Worms  gerichtet,  be- 
merkenswert ist  auch  hier  die  starke  betonung  des  gerichts 
V.  7  14  ff: 

*  Nitzsch  Deutsche  geschichte  ii  36S.  ^   prolog  zu  buch  vi. 

3  Zs.  51,  213f. 


NIBELUNGENLIED  UND  WALTHARIUS  209 

Er  bevalch  im  sine  kröne,       gerihte  nnde  lant, 
Sit  waser  ir  aller  meister.       die  er  ze  rehte  vant 
unt  dar  er  rihten  solde,       daz  wart  also  getan 
daz  man  sSre  vorhte       der  seinen  Kriemhilde  man. 

In  disen  grozen  eren  lebet  er,  daz  ist  war, 
und  rihte  ouk  under  kröne  unz  an  daz  zehende  jär. 
dass  in  den  folgenden  Strophen  zugleich  von  Günthers  regierung 
die  rede  ist,  beweist,  wie  die  beziehung  ursprünglicli  eine  andere 
war,  nach  der  art  unseres  Nibelungendichters  aber  geändert 
wurde,  das  ursprüngliche  findet  sich  eben  in  der  Ths.  c.  342, 
wo  die  herrlichkeit  des  Wormser  reiches  gepriesen  wird. 

In  die  zeit  um  1000  fügen  sich  auch  passend  der  graf 
Eckewart  und  der  "herzog  Gero':  so  wird  nämlich  Gere  einmal 
genannt  und  zwar  in  altem  Zusammenhang,  während  C*  in  marc- 
gräve  ändert  (str.  582,  1).  von  Wormser  grafen  und  herzögen 
wurde  aber  in  der  zeit  Burchards  in  erinnerung  an  die  Konra- 
diner  noch  oft  gesprochen,  und  so  dürfte  denn  auch  aus  der  alten 
dichtung  jener  rätselhafte  bischof  von  Speyer  seine  erklärung 
finden,  der  so  plötzlich  am  Wormser  hofe  erscheint  und  den  aus- 
ziehenden Burgunden  seinen  segen  wünscht  str.  1508: 

Do  truoc  man  diu  gereite       ze   Wormez  über  den  ho  f. 
dö  sprach  da  von  Splre       ein  alter  bischof 
zuo  der  schcenen    Uoten       'unser  friunde  tcellent  varn 
gegen  der  höhgeztte:      got  müeze  ir  ere  da  beivarn". 
der   alte  bischof   scheint  doch  eine  ganz  besondere  person  zu 
sein,  weil  er  so  unvermittelt  in  den  gang  der  erzählung  tritt  und 
wie  ein  rest  älterer  zeit  ja  auch  bezeichnet  wird,  bischof  Burchards 
langjähriger  freund  und  treuer  helfer  bei  abfassung  seiner  kirchen- 
rechtlichen Sammlung  war  aber  Walther  von  Speyer,  der  seinen 
freund  oft  in  seiner  'cella'  vor  der  Stadt  besuchte,  ein  gelehrter 
und  seit  frühster  Jugend  in  lateinischer  dichtkunst  geübter  bischof '. 
und  nun  erklärt  sich  auch  wol  jene  andere  bemerkenswerte  stelle, 
wo  am  Wormser   hofe   zwei  bischöfe  erwähnt   werden,   str.  658: 
Von  rossen  unt  von  Hüten       gerümet  ivart  der  hof. 
der  vrouwen  iesliche       fuorte  ein  bischof, 
dö  si  vor  den  künegen       ze  tische  solden  gän. 

1  Vita  ßurchardi  c.  10  .  .  .  domino  Walterio  Spirensi  episcopo 
adiucante  .  .  .  canoiies  in  unum  corpus  collegit.  vgl.  Hauck  Kirchen- 
geschichte III  325f.  437. 

Z.  F.  D.  A.  LIII.  N.  F.     XL.  14 


21(1  DROEGE 

die  erklärung  ergibt  sich,  wenn  wir  an  Burchard  und  seineu 
freund  Walther  von  Spej-er  denken  und  erwägen,  dass  im  zweiten 
teil  der  dichtung  bereits  bischof  Pilgrim  und  zwar  ausdrücklich 
mit  namen  ebenfalls  als  geleiter  der  königin  eingeführt  war. 
um  1000  stehn  auch  die  bischöfe  in  engem  Verhältnis  zum  könig, 
sie  sind  ihm  vertrauter  als  weltliche  fürsten  und  'wandeln  ganz 
auf  den  pfaden  des  hoflebens'  •.  der  hof  Heinrichs  II  aber,  der 
häutig  in  Worms  residierte,  war  der  kirchlichste  Europas,  und 
die  Zeitgenossen  wie  Thietniar  werden  nicht  müde,  die  bischöfe 
in  ihrer  treue  als  diener  des  königs  dem  laienadel  gegenüber- 
zustellen. 

Auch  andere  zeitgeschichtliche  beziehungen  scheinen  auf  die 
Wormser  Verhältnisse  um  1000  zu  weisen,  die  streitscene  vor 
dem  Wormser  münster  gehört  zwar  erst  dem  dichter  um  1200 
an,  aber  wahrscheinlich  ist  in  der  alten  dichtung  schon  von 
Siegfrieds  bestattung  die  rede,  und  so  wird  damals  auch  schon 
der  dom  hineingebracht  sein,  er  als  durch  Burchard  grofsartig 
erbaut  und  von  dem  kaiser  Heinrich  persönlich  auf  seinen  aus- 
ausdrücklicheu  wünsch  unter  grofsem  gepränge  geweiht  wurde'-, 
ob  auch  das  haus  bei  der  Stadt,  das  sich  Burchard  erbauen  lief?, 
um  sich  zum  gebet  und  zur  arbeit  an  seiner  kirchenrechtlichen 
Sammlung  zurückzuziehen,  an  jene  wohnung  Kriemhilds  uns  er- 
innern darf,  in  der  sie  einsam  ihrem  schmerz  sich  hingeben 
konnte?  vgl.  Vita  Burch.  10  .  .  .  cellam  egreglam  con- 
struxit.  Illuc  se  post  concUia  regiaque  colloqiäa  .  .  .  diver- 
sosque  mundi  strepitus  receperat  und  Nl.  str.  1102.  ze  Wormez 
hl  dem  münster  ein  gezimber  man  ir  slöz,  wit  unt  vil 
michel,  rieh  unde  gröz,  da  si  mit  ir  gesinde  sit  dne 
vreude  saz.  —  jedesfalls  aber  wurde  in  Worms  zu  jener  zeit 
viel  vom  Odenwalde  gesprochen,  der,  wie  ich  Zs.  51,  208  aus- 
geführt habe,  wahrscheinlich  erst  um  1200  aus  der  kenntnis  des 
Waltharius  in   den  Wasgenwald    verwandelt   wurde,     bald  nach 

*  Nitzsch  Deutsche  gesch.  i  368.  Laniprecbt  Deutsche  gesch.  Ii214. 
^  Vita  Burchardi  14:  Eodem  tempore  quippe  Heini-icus  impe/alnr 
lUtn  exercitw  in  Burijun'diain  ire  disposuit  et  eo  itinere  Wo/-- 
mutiam  cenit.  Cum  autem  egregium  illud  monaster  ium 
cidisset,  episcopum  ut  se  praesente  consecraretur,  assiduis  rogationibus 
peticit  .  .  .  imperatore  praesente  et  iubente  cum  magnis  laudibus  et 
maicimo  cleri  plebisque  tripudio  midtis  episfopis  praesentdjus  Deo  dii-utd 
est  haec  domus. 


NIBELUNGENLIED  UND  WALTHARIUS  211 

1000  spielen  streitig-keiten  zwischen  Worms  und  Lorscli  um  die 
grofsen  wald-  und  Jagdbezirke  des  Odenwaldes.  im  Jahre  10(i2 
schenkte  Heinrich  II  den  königlichen  wildbann  in  dem  grol'sen 
reichsforste  zwischen  Bergstralse,  Rhein  und  Neckar,  der  sich 
also  an  den  Odenwald  anschloss,  an  Worms,  trotzdem  der  gröste 
teil  von  grund  und  boden  innerhalb  desselben  zu  Lorsch  ge- 
gehörte; im  jähre  1012  aber  wurde  nach  langen  Verhandlungen 
und  einem  durch  eidliche  aussagen  begründeten  verfahren  von 
könig  Heinrich  II  selbst  eine  Urkunde  ausgestellt,  welche  den 
wüldbanu  im  Odenwald  zwischen  Worms  und  Lorsch  teilte  '.  wie 
nah  lag  es  während  solcher  erörterungen  und  Streitigkeiten  in 
Worms,  die  königliche  Jagd,  an  der  die  alten  burgündischen 
könige  und  der  herrliche  Siegfried  teilnahmen,  in  jenen  von  den 
Wormser  herren  beanspruchten  forst  zu  verlegen,  vielleicht  um 
das  recht  der  Stadt  Worms  zu  bekräftigen,  in  derselben  zeit 
taucht  auch  die  wichtige  burgundische  frage  auf,  Heinrich  zieht 
von  Worms  aus  nach  Basel,  um  aus  der  später  ihm  zufallenden 
burgündischen  erbschaft  bereits  jene  wichtige  stadt  zu  besetzen '-. 
in  unserm  liede  weist  vielleicht  noch  eine  stelle  auf  jene  zeit 
hin,  wo  man  von  Worms  aus  nach  jener  gegend  jenseits  des 
Wasgenwaldes  blickte,  in  der  am  eingang  des  Burgundenlandes 
Basel  lag.  bei  den  rüstuugen  zur  fahrt  ins  Hunnenland,  die 
auch  in  der  vorläge  unseres  Nl.  schon  ausführlich  beschrieben 
wurden  (vgl.  Ths.  c.  30 1),  heilst  es  str.  1522: 

Die  snellen  Burgonden       sich  üz  Imohen. 

do  wart  in  dem  lande       ei)}  michel  nohen. 

h  e  i  d  enth  a  Ijj  d  er  he  r  g  e       wein  de  uip  un  d  m  a  n . 

üirie  dort  ir  volc  f/eftefe,  si  fuoren  vr(£l7che  dan. 
unter  den  bergen  kann  nicht  gut  etwas  anderes  verstanden 
werden  als  der  Wasgau,  es  wird  also  die  gegend  um  Worms 
einerseits  und  anderseits  um  Basel  geraeint  sein,  die  bearbeitung 
C*  weii's  mit  den  bergen  nichts  anzufangen  und  ändert  in  hei- 
denthalp  des  Rines. 

Durch  die  burgundische  frage,  die  um  1000  so  lebhaft  auf- 
taucht, möchte  auch  die  tatsache  ihre  erklärung  finden,  dass, 
während    im    Waltharius   die   Wormser  immer  Franken   heifsen, 

'  FKieser  Beiträge  zur  geschichte  des  Klosters  Lorsch  i,  progr. 
Bensheim  1908,  s.  43.  -    Ann.  Einsidl.  1006:   Ueiiirirus  rex  in  re;j- 

num  Burnundio/ium  ceniens  Ba^xlearn  licitateni  re<ino  suo  adi^ricit. 

14» 


212  DRODGE 

dass  Nibelungenlied  mit  grolser  bebarrlichkeit  regelmäfsig  den 
alten  Biirgundennamen  festgehalten  hat.  in  jener  zeit  nun,  wo 
aller  herzen  im  kern  des  reiches,  der  oberrheinischen  ebene, 
durch  die  burgundische  frage  bewegt  wurden,  wo  Burchard  von 
Worms  die  alten  rechte  der  Burgunden  für  sein  hofrecht  durch- 
forschte, das  ein  mittelglied  wurde  zwischen  den  alten  volks- 
rechten und  den  spätem  mittelalterlichen  Satzungen,  in  jener 
zeit  erregte  das  alte  burgundische  königshaus  das  lebhafteste 
Interesse,  damals  konnte  in  der  tat  geschehen,  was  schon  früher 
vermutet  ist^  dass  die  namen  der  Burgundenkönige  Gernot  und 
Giselher  durch  'den  einfluss  gelehrter  Überlieferung'  in  die  Nibe- 
lungendichtung kamen',  ich  glaube  allerdings,  dass  Gernot  sich 
neben  Günther  als  alte  person  der  sage  gehalten  hat,  aber 
Giselher  ist,  wie  wir  später  beobachten  werden,  offenbar  so 
äufserlich  in  den  Zusammenhang  eingefügt,  dass  sein  eindringen 
um  1000  wahrscheinlich  wird,  und  was  Heusler-  gegen  Wilmanns. 
der  den  einfluss  meister  Konrads  annimmt,  mit  recht  vorbringt, 
es  sei  'unwahrscheinlich,  dass  ein  dichter,  und  wäre  es  auch  der 
latinist  meister  Konrad,  seinen  historischen  Spürsinn  bis  auf  das 
burgundische  gesetzbuch  ausgedehnt  hätte',  dieser  einwand  wird 
hinfällig,  wenn  wir  nicht  Konrad  als  tiuder  jeuer  namen  ver- 
muten, sondern  einen  Wormser  dichter  aus  der  zeit  und  Um- 
gebung Burchards,  der  die  burgundischen  rechtsquellen  nach- 
weislich studierte  und  als  freund  des  königs  der  burgundischen 
erbschaftsfrage  und  der  Burgundengeschichte  besondere  teilnähme 
entgegenbrachte. 

Noch  eine  andere  tigur,  die  ebenso  unvermittelt  erscheint, 
wie  die  zwei  bischöfe  und  der  alte  bischof  von  Speyer,  dürfte 
schon  in  der  Ottonenzeit  in  die  dichtung  eingeführt  sein,  eine 
ganz  besondere  rolle  spielen  in  Worms  und  im  reiche  unter 
Heinrich  II  die  königlichen  capläne.  Burchard  selbst  war  wie 
sein  bruder  und  Vorgänger  Franko  königlicher  caplan  gewesen  •*, 
wie  überhaupt  zu  jener  zeit  fast  alle  bischofstühle  des  reiches 
mit  hofcaplänen  besetzt  wurden^,  nach  Frankos  frühem  tode 
wurden   nacheinander  die    capläne  Erpo    und  Eazo    als   bischöfe 

'  Wilmanns  aao.  2:$.  '^  Geschichtliches  und  mythisches    in  der 

germanischeu  heldensage,  (Sitzungsberichte  der  preufs.  akad.  1909)  s.  932, 
anm.  1.  ^    Grosch  aao.  s.  7.  ^    Giesebrecht  il  82.     Hauck 

kirchengesch.  iii  404. 


NIBELUNGENLIED   UND  WALTHARIUS  213 

von  Worms  in  aussieht  genommen,  aber  der  eine  starb  schon 
am  dritten  tage,  der  andere  in  demselben  Jahre,  keinem  wurde 
die  würde  zu  teil ',  dann  wurde  Burchard  bischof.  gewis  wurden 
diese  Vorgänge  um  das  jähr  1000  in  dem  kreise  Burchards 
viel  besprochen,  und  der  königliche  caplan  mag  auf  derartige 
anregung  in  die  dichtung  gekommen  sein,  noch  in  unserem 
liede  heilst  er  mehrfach  ganz  ofticiell  (1542,  3.  1574,  4.)  des 
kiineges  kapelän,  die  bearbeitung  C*  findet  jedoch  die  plötzliche 
einführung  des  caplans  befremdlich  und  sucht  die  stelle  vorzu- 
bereiten durch  den  zusatz   1523,  5f: 

in  den  seihen  ziien  was  der  gelouhe  kranc. 

doch  frumtens  einen  k ajjelan,  der  in  messe  sanc. 
allerdings  scheint  das  unchristliche  vorgehn  Hagens  gegen  des 
königs  caplan  ertindung  des  spielmannsepos  um  1115  zu  sein 
(vgl.  Zs.  51,  191),  in  dem  die  Vorgänge  an  der  Donau  erweitert 
Avurden,  die  persönlichkeit  des  caplans  aber  kann  vorhanden  ge- 
wesen sein,  mag  er  nun  früher  umgekehrt  oder  beim  kentern 
des  kleinen  bootes  (Ths.  c.  3G6)  unter  den  'wenigen  männern' 
ans  linke  ufer  gerettet  sein. 

Noch  andere  geschichtliche  beziehungen  weisen  auf  die  zeit 
der  Sachsenkaiser,  so  ist  zu  jener  zeit  der  eigentümliche  ge- 
danke  Etzels  nicht  unwahrscheinlich  (Ths.  c.  360),  das  Hunnen- 
reich für  den  unmündigen  söhn  von  den  Burgundenkünigen 
regieren  und  den  kleinen  Ortlieb  am  Rhein  erziehen  zu  lassen 
(Nl.  1915f).  unter  dem  eindruck  der  deutschen  erfolge  nach 
der  grofsen  Ungarnschlacht  und  der  bekehrung  der  Ungarn  zum 
Christentum  konnte  eine  solche  absieht  leichter  aufkommen,  als 
zu  einer  spätem  zeit,  in  der  die  Ungarn  sich  mehr  und  mehr 
vom  reiche  entfernten,  schon  zur  zeit  Geisas  2,  der  sich  dem 
chi'istentum  geneigt  zeigte,  giengen  gesantschaften  hin  und  her, 
und  später  erhob  Waik,  der  den  christliehen  namen  Stephan 
annahm  und  sich  mit  Gisela,  Schwester  des  Baiernherzogs,  spätem 
königs  Heinrich  II  vermählte,  das  Christentum  zur  Staatsreligion'* 
und  trat  in  enge  beziehung  zum  deutschen  könig.  —  anderseits 
ist  die  bekriegung  der  Dänen,  die  sich  noch  in  unserm  Nl.  merk- 


'  Thietmar  iir  G2 :  Yoluit  iinpendor  capellanos  saunet  .  .  .  epi.<- 
coprdi  fira</u  subliinare  .  .  .  uterqae  sine  sr.icerdotali  unrtione  discessit. 
-  Riezler  Geschichte  Baierns  (Gotha  1878)  l  393f.        ^  Vancsa  aao.  s.  202 


2 1 4  DROEGE 

würdig  gegenüber  den  Sachsen  in  den  Vordergrund  schieben 
(str.  167  ff),  wol  verständlicli  gerade  zur  zeit  der  Sachsenkaiser, 
einmal  weil  am  ende  des  10  jh.s  die  Dänenzüge  wieder  eine 
rolle  spielen,  so  hat  namentlich  Otto  II  die  Dänen  tief  gedemütigt, 
und  dann,  weil  die  alten  Sachsenkriege,  von  denen  man  seit 
Karl  dem  grofsen  sang,  doch  nicht  gut  gepriesen  werden  konnten, 
wenn  ein  sächsischer  kaiser  auf  dem  throne  sal's.  die  Sachsen- 
kriege werden  erst  unter  den  Saliern  Heinrich  IV  und  Heinrich  V 
durch  geschichtliche  ereignisse  auch  in  der  Nibelungendichtung 
von  neuem  belebt. 

So  fallen  manche  beziehungen  auf  die  zeit  um  lOdO  an  der 
Donau  und  am  Rhein,  unter  Pilgrim  und  Burchard,  auffallend 
zusammen,  gewis  sind  nicht  alle  puncte  sicher  und  greifbar, 
und  das  ist  auch  bei  einer  doppelten  umdichtung,  um  1115  und 
um  1200,  nicht  zu  verwundern,  aber  sie  genügen,  um  Jedesfalls 
eine  erhebliche  einwirkung  auf  die  dichtung  auch  der  umgegend 
von  Worms  zuzuschreiben,  die  annähme  einer  dichtung  meister 
Konrads  und  einer  Umarbeitung  durch  einen  österreichischen 
dichter  reicht  nicht  aus,  die  vielfachen  anklänge  an  die  Ver- 
hältnisse im  kern  des  reiches  um  Worms  zu  erklären,  auch 
die  berechtigte  frage,  die  schon  Neufert  (aao.  29)  stellte,  findet 
so  ihre  einfache  antwort,  wie  'gerade  die  beiden  sächsischen 
markgrafen  den  meister  Konrad  für  sich  erwärmt  haben  sollten, 
dass  er  sie  von  den  vielen  heldengestalten  der  Ottonenzeit  her- 
ausgriff und  neben  seinem  bischof  verherrlichte',  der  grund 
dass  sie  in  ihrem  Charakter  'mit  Pilgrim  in  mancher  beziehung 
wahlverwant'  seien,  ist  nicht  stichhaltig;  bei  der  annähme  eines 
Wormser  dichters  zur  zeit  des  letzten  Sachsenkaisers  erklärt 
sich  die  einführung  einfacher:  sie  finden  ihren  platz  in  Worms, 
wo  die  sächsischen  kaiser  vielfach  residieren,  als  gegenstnck  zu 
den  vielen  fürsten  des  barbarenhofes,  dem  nunmehr  der  Bur- 
gundenhof  in  reicherer  ausgestaltung  gegenübergestellt  wird'. 

III 
Wie    für   Ekkehard    das    bestreben,    Walthers    gefalir   und 
rühm  zu  steigern,    anlass  gab,    die  gruppe  der  kämpfer  zu  ver- 

'  auf  der  andern  seile  ist  vielleicht  gerade  in  diesem  Zeitalter  der 
sächsische  Iring  an  den  hof  Etzels  gebraclit,  wie  Ekkehard  den  Sachsen 
Ekivrid  eingeführt  hatte.  Irnfried  scheint  der  dichtung  sclion  früher 
anzugehören. 


NIBELUNGENLIED  UND  WALTHARIUS  2ir, 

mehren,  ueue  namen  und  kampfarten  bis  xur  wunderlichsten,  der 
anwendung-  des  seiles ',  zu  erfinden,  so  sind  auch  in  der  Nibe- 
lungendichtung-  besonders  die  kämpfe  mannigfach  erweitert  und 
verändert  worden,  g-erade  in  diesem  teil  der  dichtung-,  der  zur 
mehrung  und  Verstärkung-  am  meisten  lockte,  der  auch  in  den 
einzelheiten  schwerer  im  gedächtnis  zu  behalten  war  und  viel- 
leicht deshalb  auch  schon  in  den  liedern  häufiger  verändert 
wurde,  lässt  sich  die  allmähliche  entwicklung  beobachten,  schon 
bemerkt  wurde,  dass  Giselher  vermutlich  erst  später  eingeführt 
ist,  in  der  nordischen  sage  fehlt  er  ganz,  und  in  der  Ths.  lässt 
sich  sein  äufserliches  einwachsen  noch  erkennen.  nachdem 
Rüdiger  —  vielleicht  von  Konrad  —  eingeführt  und  besonders 
seine  milde  gastlichkeit  mit  bemerkenswerter  wärme  geschildert 
war,  sucht  der  dichter,  welcher  der  burgundischen  königsfamilie 
seine  teilnähme  zuwendet,  die  freundschaft  zwischen  Rüdiger 
und  den  königlichen  brüdern  enger  zu  knüpfen,  und  gibt  dem 
jungen  königssohn,  dessen  name  um  1000  der  lex  Burgundionum 
entnommen  sein  mochte,  die  junge  markgräfin  zur  braut,  diese 
Verlobung  und  ihre  folgen  bilden  den  eigentlichen  kern  von 
Giselhers  handlung.  sonst  wird  er  immer  nur  im  anschluss 
an  Gernot  genannt,  c.  360  grüfst  ihn  Attila  mit  den  andern 
brüdern,  mit  denen  er  c.  361  auch  zur  Unterredung  kommt, 
c.  362  hat  Ute  vergeblich  die  söhne  gewarnt  und  ist  von  Hagen 
abgewiesen,  in  einem  zusatz,  der  von  unserm  Nl.  einfach  weg- 
gelassen werden  konnte"^,  fleht  sie,  ihr  w'enigstens  den  jüngsten 
söhn  zu  lassen,  der  aber  will  vor  den  brüdern  nicht  zurück- 
bleiben, und  so  will  er  —  eine  widerholung  des  motivs  —  auch 
später  im  kämpfe,  als  Hagen  c.  390  für  ihn  bittet,  nichts  vor 
den  brüdern  voraushaben,  sonst  ist  er  bis  auf  die  freundliche 
begrüfsung  durch  Kriemhild  (c.  373)  nur  eine  ergänzung  zu  Gernot. 
wie  Gernot  hat  er  einen  roten  schild  mit  goldenem  Habicht 
(c.  363),  374  sitzt  er  neben  Gernot  an  der  königstafel,  377  wird 
er  ausnahmsweise  neben  Günther  gestellt,  sonst  folgt  er  Gernot, 
382.  384.  385,  bis  er  sein  eigentliches  werk  vollzieht,  um 
dessen  willen  er  eingeführt  wurde,  er  erschlägt  den  vater 
seiner  braut  mit  dem  geschenkten  Schwerte,  ihn  aber  tötet,  wie 
auch  den  bruder  Gernot,  der  alte  Hildebrand,  der  nun  durch 
den  kämpf  mit  den  beiden  tapfern  königssöhnen  auffallend  reich- 
^  Walth.  V.  9S2  ff.  -  vgl.  Wilmanns  aao.  20. 


216  DROEGE 

lieh  belastet  erscheint,  bei  der  gestaltung  der  Persönlichkeit 
Giselhers  hat  vielleicht  der  im  Waltharius  bei  Etzels  einfall 
noch  ganz  zarte  Günther  anregung  geboten  v.  29f  .  .  .  Guntharius 
nonihüu  pisrvenit  ad  aevum.  ut  sine  matre  qucnt  vita^n  re- 
tiner e  tenellam,  vgl.  Ths.  390,  wo  Giselher  sagt:  'ich  war 
fünf  winter  alt  und  lag  im  bett  meiner  miitter. 

Auch  sonst  ist  in  der  Vorstufe  unseres  liedes,  wie  wir  sie 
im  wesentlichen  in  der  Ths.  zu  finden  meinen,  bei  der  Schilderung 
der  kämpfe  nicht  alles  ursprünglich,  es  fällt  zb.  auf,  dass 
Dietrich  nach  dem  falle  Eüdigers  zu  den  waffen  ruft  und  mit 
seinen  mannen  vordringt,  aber  die  Nibelunge  erschlagen  ihm 
seine  Amelungenrecken,  im  erneuten  kämpfe  erschlägt  Dietrich 
Volker,  Hildebrand  wird  auf  Geruot  und  Giselher  abgelenkt, 
und  schlieCslich  erklärt  Hagen  Dietrich,  ihre  freuudschaft  müsse 
nunmehr  geschieden  sein,  zwischen  Hagen  und  Dietrich  kommt 
es  zu  einem  laugen  und  schweren'  kämpfe,  sie  ermüden  und 
verwunden  sich  gegenseitig,  dann  folgt  die  scheltscene  zwischen 
beiden  beiden  und  endlich  die  Überwältigung  Hagens  durch 
Dietrich,  zunächst  kommt  Volker  im  letzten  kämpfe  etwas  un- 
gelegen dazwischen,  er  trat  wol  erst  später  an  dieser  stelle 
ein,  wie  ja  seine  person  als  Hagens  freund  jünger  zu  sein 
scheint;  ferner  versetzt  Hildebrand  erst  Gernot  und  bald  darauf 
ebenfalls  Giselher  die  todeswunde.  Wir  hätten  als  ein- 
facheren aufbau:  Dietrich  zürnt  wegen  Rüdigers  fall  und  ent- 
sendet seine  mannen:  als  ihm  diese  erschlagen  sind,  stürzt  er 
sich  auf  Gernot  und  Giselher,  für  welche  dann  Hagen  auftritt; 
und  auf  einer  noch  früheren  stufe,  als  Rüdiger  und  Giselher 
fehlten,  würde  als  einfaches  motiv  genügen,  dass  der  tod  der 
Amelungen  einerseits  und  Gernots  anderseits  Hagen  und  Dietrich 
zum  letzten  kämpf  zusammenführt,  dass  wie  in  der  Ths.,  so 
auch  in  der  dichtung  des  lü  jh.s  herzog  Osid  den  küuig  Günther 
erschlug,  schliel'se  ich  daraus,  dass  es  als  eine  wolerwogene 
und  passende  ähnlichkeit  erscheint,  wenn  der  verwante  Attilas 
den  bruder  Günthers  erschlägt  und  Günthers  bruder  Gernot  den 
bruder  des  Hunnenkünigs  Bloedelin;  der  name  Osid  ist  aber 
offenbar  dem  auch  schon  im  10  jh.  vorkommenden  namen  Ospirin 
verwant. 

In  der  Ths.  scheint  gerade  am  schluss  die  vorläge  erheblich 
gekürzt  zu  sein,  und  so  sind  wol  namentlich  bei  der  kurzen  be- 


NIBELUNGENLIED  UND  WALTHARIUS  217 

merknag  in  c.  389,  dass  die  Nibelunge  die  mannen  Dietrichs 
fällten,  einige  einzelheiten  ausgefallen,  dass  hier  auch  AVolfhart, 
der  vervvante  Dietrichs  und  Hildebrands  neft'e,  eine  gröfsere 
rolle  gespielt  habe,  dürfen  wir  mit  grund  vermuten,  in  unserm 
Nl.  und  auch  wol  schon  in  der  altern  dichtuug  wird  er  be- 
sonders geehrt,  er  allein,  der  edle  Jüngling  aus  dem  geschlecht 
der  "Wöltinge,  wird  auf  den  königssitz  Attilas  gezogen  und 
später  gewürdigt,  von  dem  königssohn  Giselher  erschlagen  zu 
werden  und  auch  ihn  zu  fällen,  so  wird  er  auch  in  der  altern 
dichtung  seine  rolle  gespielt  haben,  aber  in  anderer  weise,  denn 
dass  sich  Giselher  und  Wolfhart  ebenso  gegenseitig  erschlagen, 
wie  Rüdiger  und  Gernot,  ist  sicherlich  nicht  die  alte  Über- 
lieferung, in  der  schönen  scene  unseres  liedes,  die  Wolfharts 
tod  behandelt,  fällt  es  sehr  auf,  das  Wolfhart  von  Volker  nur 
zum  'straucheln'  oder  zum  'stieben'  gebracht  wird  (str.  2277: 
(Ja  sluog  er  Wolfharten,  daz  er  stieben  hegan  A  B,  strachen  C). 
offenbar  soll  er  für  den  kämpf  mit  Giselher  aufgespart  werden, 
kurz  vor  seinem  tode  aber  warnt  er,  von  Giselher  schwer  ge- 
troffen, den  meister  Hildebrand  2301:  'mi  hü  et  et  iiich  vor 
Hagenen:  ja  dtinket  ez  mich  guot.  er  treit  in  sinem  herzen 
einen  grimmigen  inuot'.  der  alte  Zusammenhang  wird  gewesen 
sein,  dass  Hagen  Wolfhart  den  todesstreich  versetzt  und  dadurch 
vor  allem  Dietrichs  grimm  erregt,  in  unserm  liede  wird  jetzt 
höchst  wunderlich  Hagen  durch  Hildebrand  abgelenkt.  in 
Str.  2274  stürmt  Wolfhart  vor,  ohne  sich  von  Hildebrand  halten 
zu  lassen,  in  str.  2275  heilst  es  darauf:  I)o  gespranc  zuo  Hagenen 
meister  Hildehrant  und  schon  in  der  folgenden  Strophe:  zehant 
dö  wände  Hildehrant  von  Hagenen  wider  dan:  dö  lief  der 
starke  Wolfhart  den  küenen  Volkeren  an,  sodass  an  die  stelle 
Hagens  erst  Volker,  dann  Giselher  getreten  zu  sein  scheint, 
an  denselben  personen  lässt  sich  auch  sonst  die  entwicklung  der 
dichtung  erkennen,  sobald  Hildebrand  die  tötung  Gernots  und 
Giselhers  abgegeben  hat,  Avird  er  frei  für  den  kämpf  mit  Volker, 
den  er  in  unserm  liede  str.  2287  erschlägt;  Ths.  c.  389  erschlägt 
ihn  Dietrich  selbst,  überhaupt  scheint  der  letzte  dichter  nicht 
mehr  so  grofses  gewicht  auf  die  auswahl  der  sieger  zu  legen, 
wird  doch  der  vielgerühmte  Dancwart  von  dem  unbedeutenden 
Statisten  Helferich  gefällt,  von  einer  'grundanlage  der  kämpfe' 
(Roethe  aao.  G73)   kann  bei    der  allmählichen  ausgestaltung  des 


218  DEOEGE 

epos  kaum  die  rede  sein,  ebenso  wenig  von  einem  'dreimänner- 
kampf  am  schluss,  wenn  wir  an  Osid  als  besieger  Gunthers 
festhalten  nnd  Günther  schon  frülior  ans  dem  kämpfe  aus- 
scheiden lassen. 

Wenn  wir  nun  vor  unserm  XL  zwei  stufen  bemeikenswerter 
entfaltung  wahrgenommen  haben,  so  ist  damit  nicht  ausdrücklich 
ausgeschlossen,  dass  nicht  schon  früher  ausätze  zum  epos  gemacht 
sein  mögen,  wie  auch  nach  der  entstehung  des  epos  noch 
einzellieder  weiter  gesungen  werden  konnten,  wenn  ein  junger 
klosterschüler  sich  um  930  einer  sage  zuwante.  die  längst  nicht 
so  gewaltig  und  berühmt  war,  wie  die  Nibelungensage,  so  ist 
es  nicht  unwahrscheinlich,  dass  sich  schon  früher  epische  tätig- 
keit  mit  der  gröfsten  und  herrlichsten  sage  beschäftigte,  zumal 
da  schon  in  dem  Zeitalter  karolingischer  renaissance  Stoffe  aus 
dem  alten  germanischen  sagenschatz  in  reicher  ausführung  zb. 
von  Paulus  Diaconus  zusammengefasst  wurden,  anderseits  schon 
in  der  ersten  hälfte  des  9  jh.s  ein  geistlicher  stoff  in  volks- 
tümlich epische  form  sich  kleidete. 

Während  Eoethe  die  dichtung  Konrads  mit  der  einladung 
Etzels  und  dem  aufbruch  von  Worms  beginnen  lässt,  möcht  ich 
als  anfang  des  altern  epos  vor  der  Wormser  erweiterung  die 
Werbung  Etzels  annehmen,  wie  ja  die  Ths.  und  unser  Nl.  an 
dieser  stelle  einen  scharfen  einschnitt  erkennen  lassen,  wir 
haben  dann  in  der  Ths.  etwa  ein  Verhältnis  beider  teile  wie  1  :  2, 
während  in  unserm  liede  beide  teile  nahezu  gleich  gemacht  sind, 
es  kommen  jetzt  auf  den  ersten  teil  str.  1  — 1142  und  auf  den 
zweiten  str.  1143 — 2379,  also  1236  Strophen;  bis  auf  94  Strophen, 
die  der  zweite  teil  mehr  enthält,  sind  also  beide  hälften  aus- 
geglichen, das  ist  sicher  kein  zufall,  sondern  eine  beabsichtigte 
planmäfsige  auffüllung  des  ersten  teiles,  und  schon  der  alte 
dichter  wird  jene  beiden  hälften  unterschieden  haben,  dass  die 
Vorstufe  unseres  liedes  schon  die  Siegfriedsage  enthielt,  betonte 
ich  Zs.  51,  177f,  und  allem  anschein  nach  ist  die  Siegfried  be- 
handelnde Vorgeschichte  in  Worms  um   1000  hinzugefügt. 

Die  ursprünglich  getrennte  dichtung  des  ersten  und  zweiten 
teils,  ein  episch  erweitertes  lied  von  Siegfrieds  tod  und  das  epos 
von  'der  Nibelunge  not',  würkte  auf  die  ausgestaltung  der 
Charaktere  in  verschiedener  richtung  ein :  der  Günther  des 
ersten  teils  ist  der  grundstock  des  Gunthers  im  Waltharius,  der 


NIBELUNGENLIED  UND  WALTHARIUS  219 

Günther  des  zweiten  teils  ist  viel  edler  und  feuriger  und  mit 
dem  tückischen  und  feigen  kämpfer,  der  mit  seinen  gefäiirten 
am  seile  den  schild  des  matten  gegners  niederziehen  will,  nicht 
zu  vergleichen,  die  anfügung  des  Siegfriedepos  wird  aber  den 
Charakter  Günthers  im  Nl.  gedrückt  haben,  da  nun  der  Sieg- 
fried so  sehr  nachstehnde  könig  auch  im  zweiten  teile  der 
dichtung  zurücktritt,  Günther  hat  keine  eigentliche  heldentat 
verrichtet,  nur  im  massenkampf  zeigt  er  sich  tapfer.  Hagen  ist 
der  eigentliche  held  des  gesamtepos,  aber  auch  er  zeigt  zwei- 
fache Charakterzüge,  die  sich  zum  teil  aus  der  zusammenfngung 
der  epen  ergeben,  der  mürder  Siegfrieds  und  der  trost  der 
Nibelunge  waren  auszugleichen.  —  ob  für  Konrad  oder  allge- 
meiner für  das  epos  um  1000  die  dichtung  noch  'das  epos  vom 
kämpf  um  den  Nibelungenhort"  war',  ist  zweifelhaft,  gewis 
spielte  das  alte  schatzmotiv  noch  eine  gröfsere  rolle,  aber  in  der 
Ths.  ist  Etzel  nicht  mehr  der  habsüchtige,  in  c.  359  ist  die 
bemerkung:  'Etzel  war  der  habsüchtigste  aller  männer  .  .  .'  ein 
fremder  zusatz  (vgl.  Zs.  51,  189.);  auch  c.  376  will  er  auf 
gold  und  Silber  kein  gewicht  legen,  in  der  werbungsage,  die  in 
gegensatz  zu  der  alten  hortsage  trat,  ist  das  schatzmotiv  zurück- 
gedrängt-, und  in  der  Thidrekssaga  scheint  Kriemhild  vor  allem 
auf  ihr  eigentum,  das  sie  durch  Siegfried  bekommen  hat, 
hinzuweisen,  c.  373  sagt  sie:  'hast  du  mir  der  Niflunge  schätz 
mitgebracht,  den  jung  Siegfried  hatte?"  und  c.  359:  'meine 
brüder  wollen  mir  nicht  einen  pfennig  davon  gönnen',  in 
unserm  liede  wird  der  schätz  ausdrücklich  als  persönliches 
eigentum  Kriemhilds  aufgefasst,  er  ist  ihre  morgengabe,  str.  1116, 
4  und   1118.  4,  und   1741    betont  sie: 

^hort  der  Nibelunge,       war  habet  ir  den  getan:' 

der  was  doch  min  eigen,       daz  ist  iu  wol  bekanf ; 

auch  2367  wird  ihr  anrecht  hervorgehoben,  vielleicht  geht 
diese  Wendung  nach  der  privatrechtlichen  seile  in  das  10/11  jh. 
zurück,  im  Wormser  hofrecht  wird  über  das  besitztum  der 
frau  nach  dem  tode  des  mannes  gehandelt,  und  in  der  lex  Bur- 
gundionum    war    die   morgengabe    mit   besonderm  nachdruck  er- 


•  Roethe  aao.  s.  6S5,  vgl.  s.  672.       ^  ygi  L^on  Polak  Untersuchungen 
über  die  Sigfridsagen  (Berliner  diss.  1910)   s.  62. 


220  DROEGE 

wähnt,    während  sie   in    andern   rechten   zb,   in    der  Lex  Salica 
früh  in  der  'dos'  verschwand  •. 

Auch  andere  änderungen  scheinen  über  die  Ths.  hinaus  in 
die  zeit  der  Sachsenkaiser  zurückzuweisen.  so  verniut  ich. 
dass  die  streitscene  der  beiden  königinnen,  in  der  Krierahild 
nicht  vor  Brunhild  aufsteht,  auf  die  strenge  hütische  etikette 
der  Ottonenzeit  zurückführt,  das  derbere  spielmannsgedicht, 
das  der  Ths.  zu  gründe  liegt,  hätte  kaum  so  hötisch  geändert; 
auch  im  Ruodlieb  ist  das  aufstehen  vor  einem  höheren  besonders 
stark  betont '-.  als  die  scene  später  in  einen  streit  um  den  vor- 
tritt verwandelt  wurde,  ist  von  dem  stautischen  dichter  nach 
seiner  art  das  motiv  nicht  ganz  fallen  gelassen,  sondern  in  einer 
andern  scene  in  av.  29  'Wie  er  niht  gen  ir  üf  stuont'  verwertet 
worden. 

Ebenso  setz  ich  eine  ausführlichere  Schilderung  der  jagd  schon 
in  die  Wormser  dichtung,  da  auch  im  Ruodlieb.  wie  schon  erwähnt, 
mit  Vorliebe  von  jagd,  Jägern  und  Spürhunden  gesprochen  wird; 
die  Ths.  erwähnt  mehrfach  die  hunde.  auch  die  Umwandlung  des 
gestaltentausches  in  die  Verwendung  der  tarnkappe  möcht  ich 
in  dieselbe  zeit  setzen,  schon  in  dem  letzten  an  die  heldensage 
anklingenden  teil  des  Ruodlieb  (xviii,  Iff)  kommt  die  fesselung 
eines  zwerges  vor,  der  durch  seine  worte  (v.  4  ff)  au  Alberich 
erinnert  (Nl.  str.  497  f)  und  wol  derselbe  ist,  weil  auch  in  der 
Ths.  ein  Alfrikr  mit  Rozeleif  zusammengebracht  wird-,  mit 
diesem  zwerge  besonders  ist  aber  die  tarnkappe  verbunden,  und 
so  wird  auch  in  jener  zeit  schon  von  der  tarnkappe  im  epos 
gefabelt  sein,  wie  denn  ein  unsichtbar  machender  heim  oder 
mantel  von  dem  'helithhelm'  des  Heliand  bis  zum  'unsichtigen 
rock'  bei  Hans  Sachs  in  Deutschland  bekannt  war  ■*.  gerade  in 
den  Wormser  kreisen,  die  von  Burchard  beeinflusst  wurden,  ist 
der  ersatz  des  alten  aberglaubens  vom  gestaltentausch  durch 
eine  immerhin  wunderbare,  aber  nicht  so  stark  heidnische  an- 
schauung  deshalb  wahrscheinlich,  weil  Burchard  in  seinem  verbot 


»  Gengier  Hofrecht  c.  i.  Lex  Burg.  XLII  (MG.  LL.  in  549):  de 
morgenr/eha  vero,  quod  jiriori  lege  statutum  eft,  permaneliit.  -  Seiler 
zu  Ruodlieb  s.  87.  '-'  AVGrimm  HS^  63.  '  vgl.  JGrimm  Myth.^ 

1  383.      Hans  Sachs  Fabeln    u.  schwanke  ed.  Got-tze  (Hallische  neudrucke 
110/17)  I  447. 


NIBELUNGENLIED  UND  WALTHARIUS  2  21 

des   heidnischen   Unwesens    vor  dem  glauben  an  einen  gestalten- 
tausch in  jeder  form  warnt '. 

Wenn  Hagen  im  epos  Konrads  als  eine  freundliche  tigur  er- 
scheint, so  mag  das  zum  teil  durch  den  auffallend  günstig  ge- 
schilderten Charakter  Hagens  im  Waltharius  veranlasst  sein,  aber 
die  anläge  zu  dieser  günstigeren  auffassung  war  schon  in  der 
Stellung  des  beiden  im  zweiten  teil  des  Nl.  begründet;  wie  grau- 
sam anderseits  Hagen  auch  später  noch  ist,  hebt  die  Thidreks- 
saga  noch  recht  getlissentlich  bei  der  tütung  des  fährmanns  hervor, 
und  auch  unser  lied  betont  deutlich  den  gegensatz  in  seinem 
Charakter,  str.  219S: 

Sivie  grimme  Hagene  wcere  laul  swie  herte  gemuot, 
ja  erbarmet  im  diu  gäbe  die  der  helt  guot 
bi  s'men  lesten  ziien  so  nähen  hete  getan, 
vil  manic  riifer  edele  mit  im  truren  hegan. 
von  einer  absichtlichen  'schmälerung  der  Sympathie  für  Hagen'  ■^ 
durch  den  stautischen  Dichter  des  Nl.  kann  daher  nicht  die 
rede  sein,  gewis  wird  Dancwart  auf  seine  kosten  hervorgehoben 
und  Volker  als  Verre  sterker'  gerühmt,  aber  Hagen  bleibt  doch 
der  'trost  der  Nibelunge'  und  übertrifft  str.  1843  Volker  an 
einsieht,  auch  Siegfried  hat  nicht  immer  den  vollen  rühm;  als 
Lüdiger  ihn  bedrängt,  wird  er  von  den  andern  beiden  unter- 
stützt fstr.  211),  und  Dancwart  muss  es  sich  gefallen  lassen,  von 
dem  unbedeutenden  Helferich  erschlagen  zu  werden,  so  bleibt 
Hagen  die  mit  besonderer  Vorliebe  ausgeführte  gestalt  des  dichters, 
gerade  in  der  staufischen  zeit  ist  grol'se  Sorgfalt  auf  die  feinere 
behandlung  seines  gefühlslebens  verwendet,  wie  uns  lebhaft  die 
empfindungen  Rüdigers  geschildert  werden,  so  zeigt  sich  auch 
Hagen  empfindungsreicher  und  weicher,  er  ist  es  ja  wuuder- 
barerweise,  der  die  Verlobung  Giselhers  mit  der  markgrafentochter, 
die  in  der  Ths.  einfach  von  den  eitern  dem  königssohne  gegeben 
wird,  'harte  güetlichen'  begünstigt,   1677  f: 

des  aniiciirie  Hagene       vil  harte  güetlichen  dO: 
'Nu  sol  min  herre  Giselher      nemen  doch  ein  idj)-' 
ez  ist  so  höher  mdge       der  marcgrävinne  llp, 

'  Burchards  decret  bei  Grimm  aao.  in*  449,  wo  bei  gelegenlieit  das 
aberglaubens  vom  werwolf  auch  von  transformari  in  aliain  alK/tiaiii  fl- 
(jurain  die  rede  ist.  *  ßoethe  aao.  689. 


222  DROEGE 

daz   icir   ir  gerne  dienden,        ich  and  sine  man, 

und  Soldes  under  kröne       da  zen  Burgqnden  yän\ 
und  Str.   1679  heilst  es  wieder: 

Diu  rede  Rüedeyeren  dulde  harte  guot. 
dasselbe  motiv  wird  auch  str.  531  f  benutzt,  wo  Hagen  Siegfried 
mit  Kriemhild  zusamnieiiführeu  will,  die  rührende  scene  aber, 
zu  der  Hagen  schon  in  der  Ths.  anlass  gab,  indem  er  beim 
abschied  den  schild  Nuodungs  sich  ausbittet,  wird  in  würksamer 
weise  abgeschlossen,  indem  Volker  vor  Gotelinde  tritt  str.  1705: 

er  videlte  süeze  doene       und  sanc  ir  siniu  liet: 

da  mite  nam  er  urloup,       dö  er  von  Bechelären  seiet. 
Hagen    und     Volker     spielen    in     den     meisten    Zusätzen     der 
staufischen  dichters  die  hauptrolle,  namentlich  in  av.  29  und  in 
einer  stelle  von  30,  in  der  Hagen  seine  freundschaft  mit  Volker 
aufs  innigste  empfindet,  str.    1831: 

'yCi  lone  iu  got  von  himele,       vil  lieber  Volker. 

zallen  niinen  sorgen       son  gerte  ich  niemen  mir, 

niivan  iuch  aleine,       stvä  ich  hete  not 

ich  sol  ez  icol  verdienen^  mich  enwendes  der  töf. 
Werden  uns  so  die  Charaktere  gefühlvoller  geschildert,  so  tritt 
auch  das  bestreben  des  dichters  deutlich  hervor,  die  Charaktere 
zu  veredeln  und  zu  vertiefen,  indem  ihrem  wesen  weniger  ange- 
messene handlungen  andern  personen  übertragen  werden,  und 
da  sollte  dieser  dichter  so  minderwertig  sein,  dass  er,  wie  Roethe 
(s.  672)  meint,  'nicht  freien  und  unfreien  adel  sondern  kann', 
die  behandlung  von  Siegfrieds  abhängigkeitsverhältnis  scheint  ge- 
rade die  auffassung  des  ausgehuden  12  jh.s  wiederzuspiegeln. 
wenn  Siegfried  bei  der  begegnung  in  Iseustein  von  Günther  sagt 
Str.   420: 

'ican  der  ist  nun  herre', 
so  denkt  er  an  den  könig  als  lehnsheri-n  und  will  sich  als  freien 
lehnsträger  bezeichnen,  damit  verschmilzt  aber  in  der  auffassung 
Brunhilds    den    Zeitverhältnissen    entsprechend    der    begriff    des 
ministerialen.     sie  trauert  deshalb  schon  str.  620: 

yich  mac  wol  halde  weinen',       sprach  diu  scoene  meit. 

'umhe  dtne  sioester       ist  mir  von  herzen  leit. 

die  sihe  ich  sitzen  nähen       dem  eigenholden  dtn: 

daz  muoz  ich  immer  weinen,       sol  si  also  verderbet  sin\ 
sie  hält  Siegfried,   der  doch    Günther   als    eine    art    von    reise- 


NIBELUNGENLIED  UND  WALTHARIUS  223 

marschall  begleitet  hat  und  später  eiu  auswärtiges  land  wie  ein 
reichsministeriale  verwaltet,  für  nicht  ebenbürtig,  und  sie  kann 
es  glauben,  weil  in  der  Stauferzeit  reichsministeralen  die  höchsten 
ämter  und  ehren  bekleiden  und  doch  für  unfrei  gelten,  selbst  in 
den  höchsten  hof-  und  reichsämtern,  obwol  ihr  einfluss  den  fürst- 
lichen überflügelt  und  die  glänzendsten  Vertreter  unter  ilinen 
zu  markgräflichen  und  herzoglichen  würden  gelangen,  selbst 
mänuer  wie  Markward  von  Anweiler  und  Werner  von  Bolauden, 
die  fast  eine  herscherstellung  bekleiden,  haben  noch  den  makel 
der  Unfreiheit,  und  dieser  trifft  besonders  auch  die  gemahlin; 
noch  am  ende  der  13  jh.s  hält  die  rechtstheorie  an  der  Un- 
freiheit der  ministerialen  fest '.  —  In  solchen  erwägungen  kann 
die  stolze  Brunhild  den  glänzenden  und  gefeierten  Siegfried  aller- 
dings wiegen  der  mangelnden  freiheit  als  nicht  ebenbürtig  an- 
sehen, und  dieser  puuct  ist  der  gegenständ  des  Streites  vor  dem 
münster.  in  dieselben  anschauungen  über  die  rangverhältnisse 
dieser  stauüschen  zeit,  in  der  kein  grol'ses  hoffest  ohne  die  ge- 
hässigsten rangstreitigkeiteu  verlief-,  führt  uns  der  streit  der 
köuiginnen.  der  dichter  konnte  ein  lebendiges  Vorbild  gerade 
aus  jenen  jähren  vor  äugen  haben,  denn  auf  dem  berühmten 
reichsfest  zu  Mainz,  ptingsten  11S4,  das  auch  sonst  seinen  ab- 
glanz  im  Nibelungenliede  zeigt,  kam  es  mitten  in  der  begeisterten 
festfreude  zu  einem  vielbesprochenen  rangstreit  zwischen  dem 
erzbischof  von  Köln  und  dem  abt  von  Fulda'^.  in  der  kirche  er- 
eignete sich  vor  den  versammelten  grofsen  eine  erregte  scene  in 
gegenwart  des  kaisers,  da  der  abt  nicht  vor  dem  erzbischof  zu- 
rücktreten wollte;  der  erzbischof  drohte  mit  abreise,  aber  der 
junge  könig  fiel  ihm  um  den  hals,  um  ihn  zu  versöhnen,  aucli 
der  im  verlaufe  von  aventiure  14  von  Siegfried  angebotene  eid, 
den  Günther  ablehnt,  hat  in  der  Mainzer  begebenheit  ein  eigen- 
tümliches gegenstück.  Friedrich  erbietet  sich,  seine  Unschuld  an 
der  herabsetzung  des  erzbischofs  durch  einen  eid  zu  erweisen 
aber  der  erzbischof  erklärt,  die  worte  genügten,  Arnold,  Chron, 
Slav.  HI,  y  erzählt:  Imperator  dixit:  Innocentlam  quidcnt. 
no-^tram  )>uper  hac  impositione  verb  is  pr  aetendim  us, 
sed  sc  adhuc  diffiditis,  iuramento  nos  in  praesenti  expurgare  non 

'  Nitzsch  DGesch.  ii  274.  Heusler  Deutsche  Verfassungsgescbichte 
(Leipzig  1905),  165.  vgl.  ADB.  i  499f;  in  95 f.  -  vgl.  lleusler  aao.  s.  187. 
■*  vgl.  Giesebreclit  vi  hg.  v.  bimson  s.  65 f. 


224  DROEGE 

dubitefis  .  .  .  et  extendit  manum,  quasi  iam  super  reliqnias 
positnrus.  Ad  haec  verba  requievit  Spiritus  archiepiscopi  et  dixit: 
Suf ficit ,  quid  verba  vestra  pro  iuramento  mihi 
sunt. 

Vgl.  dazu  Nl.  Str.  S60: 
Sifrit  der  vil  kiiene      zem  ei  de  bot  die  ha'nt. 
do  sprach  der  künic  r'iche       ^mir  ist  so  tvol  bekant 
iuver  groz  unschulde:       ich  wil  iuch  ledec  Idn, 
des  iuch  mm  swester  zViet,       daz  ir  des  niene  habet  getan'. 
Solche  vermuteten  spuren  zeitgeschichtlicher  Vorgänge  sind 
ja    keineswegs    bestimmt    erkennbar,    indes    dürften   sie   im    Zu- 
sammenhang  mit  den   oben  besprochenen  sicherern  beziehungen, 
soweit  überhaupt  bei  den  dürftigen  geschichtlichen  anklängen  im 
epos  dieser  ausdruck  gebracht  werden  darf,  einige  beweiskraft  be- 
sitzen,    besonders  deutlich  lässt  sich  die  stufenweise  entwicklung 
des  epos  an  den  örtlichkeiten  im  Donaugebiet  beobachten,  wo  der 
einfluss  der  Passauer  dichtung  und  die  tätigkeit  des  dritten,  öster- 
reichischen dichter  bemerkbar  sein  wird,   in  unserm  Hede  str.  1332 
scheint  noch  die  Traisen  grenze  des  Hunnenreiches  zu  gein: 
Bt  der  Treisem  hete       der  künic  von  Hinnen  lant 
eine  pure  vil  riche,       diu  rvas  n-ol  bekant, 
geheizen  Treisenmüre:       vrou  Helche  saz  da  e 
unt  pflac  so  grözer  lügende^      daz  wcetlich  nimmer  mer  erge  .  . 
dort  bleibt  Kriemhilde  drei    tage,     könig  Etzel  kommt  ihr  bald 
darauf  in  Tulln  entgegen,  es  hat  indes  noch  in  unserm  Hede  den 
anschein  (vgl.  str.  1334),  als  ob  die  begegnung  früher  in  Treisen- 
müre stattgefunden  habe,     das  ursprüngliche   war  die  einholung 
der  braut  durch  Etzel  von  Worms   aus,    an   der  grenze  werden 
ihm  seine  mannen  begegnet  sein,  vgl.  Zs.  48.  480.    in  der  wei- 
tern Schilderung   fällt   auf,    dass  grofse    feierlichkeiten  in  Tulln 
veranstaltet  werden,  dann  die  reise  weiter  geht  und  noch  grölsere 
feste  in  Wien  gefeiert^werden  (str.  1361  ff),  wo  auch  die  eigent- 
liche hochzeit  ist;   darauf  erst  geht  die  fahrt  nach  der  residenz 
Etzelburg.     so  ist  eine  stufenreihe   von   Traismauer   über  Tulhi 
nach  Wien  erkennbar,     die  grenze,  die  zuerst  angenommen  wird, 
ist  aber  die  historische  grenze  von  970  i,   die    bald   nach  dieser 

'  OKämmel  Die  besiedlung  des  deutschen  Südostens  vom  anf.  des 
10  bis  ende  des  11  jh.s  (progr.  des  Nikolaigymnasiums,  Leipzig  1909) 
s,  7  anm.  3. 


NIBELUNGENLIED  UND.  WALTHARIUS  225 

zeit  in  das  lied  hineingekommen  sein  muss.  Tulln  ist  den 
Deutschen  besonders  nahe  gerückt  seit  dem  heereszuge  Heinrichs  V 
im  jähre  11  OS,  vgl.  Zs.  51,  183  f,  auch  scheint  der  ort  erst  im 
laufe  des  1 1  jh.s  zu  gröfserer  bedeutung  gelangt  zu  sein,  seit 
Leopold  II  sich  hauptsächlich  dort  aufhielt,  endlich  tritt  Wien 
hervor  und  zwar  erst  in  der  Stauferzeit,  1172  bezeichnet  Arnold 
von  Lübeck  die  stsiit  als  metropoUta7ia,  1189  als  quae  maior  est 
in  terra,  erst  ganz  am  ende  des  12  jh.s  ist  sie  die  bedeutende 
handelsstadt ',  wie  sie  im  liede  erscheint',  daher  wird  die  her- 
vorhebung  Wiens  bei  Etzels  hochzeit  offenbar  unserm  letzten 
dichter  verdankt;  es  ist  keineswegs  nötig  mit  Neufert-  'eine 
spätere  Interpolation'  anzunehmen.  —  auf  der  mittleren  stufe 
werden  die  in  str.  1376f  zusammen  genannten  Städte  Heim- 
burg und  Wieselburg  mit  besonderem  nachdruck  betont  sein,  da 
sie  durch  wichtige  ereignisse  den  Deutschen  im  gedächtnis  waren, 
wie  ja  auch  Tulln  für  die  Deutschen  durch  eine  heerfahrt  wichtig 
wurde,  in  Heimburg  hatten  1050  deutsche  scharen  drei  tage 
lang  den  brandgeschossen  der  Ungarn  widerstanden,  und  bei 
Wieselburg  hatte  1060  das  deutsche  heergefolge  des  flüchtenden 
Ungarnkönigs  Andreas  unter  markgraf  AVilhelm  von  Sachsen  und 
graf  Poto,  söhn  des  pfalzgrafen  Hartwich  von  Regensburg,  den 
nachdringenden  Ungarn  tag  und  naclit  widerstand  geleistet,  bis 
beide  von  hunger  und  durst  überwältigt  sich  ergaben^,  gewis 
haben  gerade  diese  kämpfe  des  salischen  Zeitalters  die  dichter 
zu  neuer  begeisterung  für  die  alten  mären  angeregt,  wie  über- 
haupt in  jener  zeit  das  deutsche  nationalgefühl  den  Magyaren 
gegenüber  auf  das  lebhafteste  gesteigert  war.  Poto  erschien  den 
Zeitgenossen  wie  ein  recke  der  alten  zeit,  und  der  annalist  von 
Nieder-Altaich,  der  Zeitgenosse  und  geschichtsschreiber  jener  kämpfe, 
meint,  dass  alle  heldentaten  der  vorzeit  durch  diese  ereignisse  ver- 
dunkelt würden-l.  in  demselben  Zeitalter  erzählte  ein  deutscher 
Chronist  vom  Schwerte  Attilas,  das  Otto  von  Nordheim,  herzog  von 
Baiern,  von  der  königin-witwe  Anastasia,  der  mutter  Salomos,  als 

*  Vancsa  aao.  342  f  399  f.  ^  s.  32.  ^  vgl.  Kämmel  aao.  1). 

"*  Ann.  Altah.  1060:  ut  ea,  quae  pridem  de  fortissimis  quibusque 
admiratu  digna  hahehantur,  modo  in  comparatione  istorum  parva 
cideantur.  Ann.  Saxo  1104:  Pannonia  .  .  .  talem  illum  .  .  .  (Botonem) 
ac  tantum  $e  fatetur  aliquando  sensisse,  ut  w  cere  de  gif/antibus  an- 
tiquis  apud  illos  fuisse  rredatur. 

Z.  F.  D.  A.  LH.  N.  F.  XL.  15 


226  i>KOEGE 

dank  für  seine  Hilfe  g"egen  Bela  empfing-.  Lampert.  Hersf.  1071  K 
keineswegs  branchen  wir  mit  Neufert  anzunehmen,  dass  die  be- 
zeichnung  Heimburgs  als  einer  hunnischen  Stadt  in  die  zeit  Pil- 
grims  führen  müsse^,  da  der  ort  seit  1042  dau'ernd  in  deutschem 
besitz  gewesen  sei ;  halten  doch  die  späteren  dichter  auch  an  der 
abhängigkeit  der  mark  Eüdigers  A'on  Etzels  reiche  fest,  dass 
Heimburg,  str.  1376  'die  alte'  genannt  wird,  scheint  unsere  Ver- 
mutung zu  bestätigen,  der  stautische  dichter  fand  die  Stadt  in 
seiner  vorläge  und  nannte  sie  'die  alte',  weil  sie  zu  seiner  zeit 
wider  viel  besprochen  wurde,  das  lösegeld  von  Richard  Löwen- 
herz wurde  nämlich  nach  1193  zum  teil  zu  einer  neubefestigung 
von  Heimburg  verwant'',  und  so  konnte  die  in  der  dichtung  ge- 
nannte Stadt  von  dem  umdichter  ebenso  als  'die  alte'  bezeichnet 
werden,  wie  derselbe  dichter  den  'alten'  bischof  von  Speyer,  den 
er  in  seiner  vorläge  fand,  so  zubenannt  hat. 

Auf  weitere  beziehungen  des  liedes  zum  Zeitalter  Friedrich 
Barbarossas  und  seines  nachfolgers,  namentlich  auch  auf  die  zeit 
des  dritten  kreuzzuges  hab  ich  schon  Zs.  48,  486  hingewiesen- 
hier  spielt  die  Stadt  Gran  eine  rolle,  die  aber  nicht  mit  Neufert 
s.  5  anm.  5  als  die  hauptstadt  Etzels  anzunehmen,  sondern  der 
residenz  Etzelburg  (Ofen)  gegenüber  zu  stellen  ist.  in  str.  1497 
heifst  es  von  Wärbel  und  Swäramel: 

Gallen  mit  den  mceren       sah  man  die  spileman. 

Etzeln  si  fanden  in  der  stat  ze  Gran. 
die  Worte  wollen  offenbar  sagen,  dass  Etzel  damals  gerade  in 
Gran  gewesen  sei,  und  dem  entspricht  auch  ein  Vorgang  aus  der 
Zeitgeschichte,  bei  Gran  kam  auf  dem  dritten  kreuzzuge  der 
könig  von  Ungarn  dem  kaiser  Friedrich  Rotbart  mit  grofsem  ge- 
folge  feierlich  und  freundlich  entgegen,  vgl.  Arn.  Lub.  iv  8: 
Cum  autem  domnus  Imperator  in  civitatem.  venisset,  quae  Grane 
dicitur,  rex  ei  in  propria  persona  cum  mille  militum  comitatu 
soUempniter  occurrit.  später  wird  der  kaiser  von  dem  könige 
von  Gran  nach  der  Etzelburg  bei  Ofen  geleitet-*,    so  ist  auch  im 

'  ungefähr  um  dieselbe  zeit  las  bischof  Günther  von  Bamberg, 
(f  1065)  lieber  von  Etzel  und  Amalung  und  andern  heidnischen  beiden  als 
vom  hl,  Gregorius  und  Augustinus,  vgl.  Giesebrecht  lll^  60,  Bresslau 
ADB  10,  189.  '■^  s.  21.  ^  Vancsa  aao.,  397f.  *  iiide    domiiU'< 

Imperator   a    rege   deductus    est  in    xirhem  Adtile  dictam,   uhi 
domnus  imperator  quatuor  diebtis  cenationi  operam  dedit. 


NIBELUNGENLIED  UND  WALTHAKIÜS  227 

liede  Gran  von  Etzelburg;  zu  unterscheiden.  —  zu  den  be Zie- 
hungen auf  das  Zeitalter  Heinrichs  IV  und  Heinrich  V,  auf  das 
ich  Zs.  51.  17Sff  vor  allem  wegen  der  Sachsenkriege  geschlossen 
habe,  füg  ich  zur  ergänzung  nach,  dass  es  auffällt,  wie  Lüdeger 
und  Lüdegast  sogar  das  siegesfest  in  Worms  mitmachen  und  der 
Dänenkünig  sich  harmlos  und  friedlich  über  das  Verhältnis  Sieg- 
frieds zu  Kriemhild  äufsert  str.  298  ; 

Der  künec  von  TenemarJce       der  sprach  sd  zestunt 
'diss  vil  hohen  griiozes       lit  maneger  ungesitnf, 
des  ich  vil  wol  empfinde,       von  Sivrides  haut, 
got  enläze  in  nimmer  mere       komen  in  mtniu  künges  lanf.' 
Diese  bemerkung.  besonders  aber  die  milde  behandlung  der  über- 
mütigen feinde  lässt  sich  erklären,  wenn  wir  an  die  geschichtliche 
Unterwerfung    und    Versöhnung    des     Sachsenherzogs    in    Mainz 
unter  Heinrich  V  denken,  die  dem  dichter  als  Vorbild  diente  (Zs. 
51,   ISOf). 

Nach  solcher  Umwandlung  der  dichtung  in  drei  zeitaltein 
wird  sich  von  dem  einfluss  des  Waltharius  schwerlich  viel  er- 
kennen lassen,  wenn  sich  aber  einige  beziehungen  ganz  deutlich 
herausheben,  so  ist  von  vornherein  wahrscheinlich,  dass  sie  sich 
schwerlich  durch  den  waudel  des  epos  von  der  zeit  um  1000  her 
werden  erhalten  haben,  sondern  um  1200  sich  neu  eindrängten, 
und  das  ist  auch  durchaus  nicht  mit  Roethe  (s.  6 SO)  so  schroff 
abzulehnen,  denn  unser  nicht  unbedeutender  dichter  (vgl.  Zs.  51, 
210)  konnte  um  12(iO  den  Waltharius,  der  bis  in  jene  zeit  oft 
abgesclirieben  und  gelesen  wurde,  noch  kennen  und  benutzen, 
so  enthält  eine  offenbare  anspielung  auf  den  Waltharius  sti-. 
2344: 

Des  anticurte  Hildehrant       'zwiu  verwizet  ir  mir  daz: 

nu  teer  icas  der  üfme  Schilde       vor  dem  IVaskensteine  saz, 

dö  im  V071  Spanje   Walther       so  vil  der  frinnde  shioc? 

ouch  habt  ir  noch  ze  zeigen       an  in  selben  genuoc'. 

ohne  frage  wird  auf  die  scene  bei  Ekkehard,   der  den  Wasgen- 

stein  und  das  eigentümliche    verhalten  Hagens    in    die   dichtung 

einführte,    bezug  genommen,  aber  in  Nl.  ist  die  stelle  eine  ganz 

junge,    denn    noch    in    der  Ths.  steht    für    den    streit    zwischen 

Hagen  und  Hildebrand  die  altertümliche   scheltrede  Hagens  und 

Dietrichs  (c.   391).     diese    scheltrede    ist   aber    nicht    eine  copie 

(Roethe  677,  anm.  I)  der  in  der  handlung  gar  nicht  begründeten 

15* 


228  DROEGE 

bezeichnung  Walthers  als  'faunus'  (v.  763),  denn  wenn  auch  nur 
die  Ths.  Hagen  einen  albensohn  nennt,  so  ist  doch  Hagen  der 
eigentliche  Nibelung  und  in  ältester  sage  wunderbarer  abkunft, 
besonders  wol  mütterlicherseits'.  —  auch  die  erinnerung  an 
Hagens  aufenthalt  bei  Etzel  stammt  aus  dem  Waltharius,  sie 
findet  sich  in  dem  jungen  abenteuer  29,  das  wol  ganz  auch  dem 
Stoffe  nach  unserm  dichter  gehört,  vgl.  str.  1797,  wo  ein  Hunne 
über  Hagen  und  Walther  spricht: 

Er  unt  der  von  Späne       die  träten  manigen  stic, 

dö  si  hie  hl  Etzeln       vähten  manigen  wie, 

zen  eren  dem  künege:       des  ist  vil  geschehen. 

dar  unihe  muoz  man  Hagenen       der  eren  pilliche  jehen. 
die   Worte  erinnern  lebhaft  an  die  verse   106  ff  des  Waltharius: 

Militiae  primos  tunc  Attila  f'ecerat  illoSy 

Sed  haud  immerito,  qiioniam,  si  quando  moveret 

Bella,  per  insignes  isti  micuere  tritimphos; 

Idcircoque  nimis  in'inceps  dilexerat  ambos. 
vgl.  auch  die  worte  Hagens   1109  f: 

Compatior  propriusque  dolor  siiccumbit  honori 

Regis. 
die  andere  stelle  entspricht  der  darstellung  der  Ths.  und  ist  dem 
Stoffe  nach  älter.     Etzel  fragt  nach  dem  fremden  recken  und  auf 
die  antwort,  es  sei  Hagen,  sagt  er  str.   1755  f: 

Wol  erkande  ich  Aldriänen:       der  was  min  man. 

lob  und  michel  ere       er  hie  bt  mir  gewan. 

ich  machet  in  ze  ritter      und  gap  im  min  galt. 

Reiche  diu  getriuwe      was  im  inneclichen  holt. 

Da  von  ich  wol  erkenyie       allez  Hagenen  sint. 

ez  wurden  mtne  gisel       zwei  wcetltchiu  kint, 

er  und  von  Späne  Walther;       die  ivuohsen  hie  ze  man. 

Hagenen  sande  ich  widere:  Walther  mit  Hiltegunde  entran. 
Vgl.  Ths.  H75:  Attila  fragte,  wer  dort  mit  könig  Gunnar  und 
könig  Thidrek  ginge,  da  antwortete  herzog  Blodlin:  'es  wird 
Högni  und  Volker  sein',     da  antwortete  der  könig:  Svol  möchte 

'  auch  das  auffallend  häufige  köpfen  der  helden  (Eoethe  674 f)  ist 
im  Nl.  keine  uachahmung  des  Waltharius,  denn  im  XI.  ist  das  kopfab- 
schlagen als  eine  art  strafe  bei  manchen  personen  wol  begründet,  während 
gerade  bei  Ekkehard  dies  motiv  durch  das  wiederanfügen  der  köpfe  an  die 
rümpfe  eine  wunderliche  Steigerung  erfährt. 


NIBELUNGENLIED  UND  WALTHARIUS  229 

ich  Högni  erkennen,  denn  er  war  einige  zeit  bei  mir,  und  ich 
und  königin  Erka  schlug  ihn  zum  ritter,  und  fürwahr  war  er 
da  unser  guter  freund',  auch  hier  ligt  kenntnis  des  Waltharius 
vor,  wenigstens  der  sage,  ob  bei  Konrad  oder  dem  salischen 
dichter  lässt  sich  nicht  ausmachen,  beides  ist  möglich,  aber  unser 
Staufischer  dichter  hat  nach  seiner  art  ohne  bedenken  die  sage  ge- 
ändert, indem  er  dem  Zusammenhang  des  liedes  entsprechend  die 
eigenmächtige  flucht  Hagens  in  eine  freundliche  entlassung  durch 
Etzel  änderte,  er  hat  auch  aus  eigener  genauer  kenntnis  der 
sage  die  stelle  erweitert,  indem  er  von  Hagens  vater  etwas  hin- 
zufügte. 

Eine  weitere  bekanntschaft  unseres  dichters  mit  dem  Wal- 
tharius kann  auch  aus  anderen  stellen  erschlossen  werden,  so 
wäre  es  möglich,  dafs  Dietrich  Günther  und  Hagen  besiegt,  wie 
Walther  sich  gegen  Günther  und  Hagen  wehren  muss,  während  in 
der  alten  dichtung  Osid  Günther  gefangen  nahm,  der  neue  krieg 
gegen  die  eben  besiegten  Sachsen,  den  Hagen,  um  Siegfried  ins 
feld  zu  bringen,  vorschützt,  könnte  durch  Walth.  v.  170  if  an- 
geregt sein: 

Venerat  interea  satrapae  certissima  fama 

Quandam,  quae  miper  super  ata,  resistere  (f  entern. 
ferner  erkennt  Hagen  ebenso  schnell  Siegfried  bei  seiner  ankunft 
in  Worms,  wie  Hagen  im  Waltharius  gleich  von  der  ankunft 
Walthers  überzeugt  ist  (Nl.  str.  S6  u.  Walth.  v.  464  ff),  auch 
möcht  ich  den  vergleich  Dancwarts  mit  dem  zum  walde  eilenden 
eber  (str.  1947)  lieber  aus  dem  Waltharius  v.  1337  ff  her- 
leiten, als  mit  Roethe  (s.  679)  aus  Vergil  Aen.  x  707  ff,  da 
hier  das  hervorbrechen  des  aufgescheuchten  wildes  aus  dem  ver- 
steck den  vergleich  bildet,  während  im  Waltharius  und  Nl.  der 
vergleich  auf  dem  umdrängen  der  hunde  und  dem  zurückgehen 
des  tieres  beruht.  —  vielleicht  mag  auch  der  Hagen,  welcher  im 
Waltharius  Hildegunde  so  freundlich  zuredet,  zuerst  für  ihren 
verlobten  zu  sorgen  (v.  1418  f:  ^Defer  alt  'prius  Alpharidi 
sponso  ac  seniori,  Virgo.  tito'  .  .  .),  dem  dichter  die  anregung  ge- 
geben haben,  Hagen  'harte  güetlichen'  zureden  zu  lassen,  Giselher 
möge  sich  mit  Rüdegers  tochter  verloben. 

Sprachliclie  spuren  der  älteren  dichtung  haben  sich  bei  der 
mehrfachen  Umarbeitung  des  epos  in  unserm  liede  kaum  erhalten 
können.     Roethe.  der  unsern  dichter  im  zweiten  teile  des  liedes 


230  DROEGE 

uuiiiittelbar  auf  die  Übertragung  des  Konradschen  epos  sich  stützeu 
lässt,  glaubt  den  Wortschatz  dieser  quelle  trotz  der  bearbeitung 
durch  den  Nibeluiigendichter  noch  durchschimmern  zu  sehn  (s. 
ö65  u.  055),  und  in  der  tat  sind  unterschiede  in  Wortwahl  und 
wortgebrauch  in  beiden  teilen  des  liedes  nicht  zu  verkennen,  so 
viele  unterschiede  möcht  ich  zwar  nicht  annehmen,  mehr  auch 
als  Roethe  aus  dem  behandelten  Stoffe,  erklären,  so  wird  zb. 
die  von  Roethe  besonders .  betonte  Vorliebe  des  ei'sten  teils  für 
den  Superlativ  sich  doch  wol  aus  den  vielen  übertreibenden  lob- 
preisungen  der  festlichen  pracht  und  des  königlichen  reichtums, 
der  ritter  und  frauen  ergeben,  auch  ist  es  eine  häufige  erschei- 
nung,  dass  ein  liebliugswort  des  dichters  streckenweise  besonders 
oft  widei'kehrt,  wie  das  wort  minne  und  minnecUch  in  den  Strophen 
281  —  294.  die  vielfache  Umschreibung  mit  Uj)  mag  sich  daraus 
erklären,  dass  sie  meist  auf  wij)  reimt  und  von  den  königlichen 
frauen  besonders  oft  im  ersten  teil  die  rede  ist.  dass  Hagene  : 
degene  im  letzten  drittel  so  sehr  tiberwiegt,  mag  mit  dem  haupt- 
helden  jenes  teües  zusammenhängen,  vor  allem  wird  sich  aus 
der  geringeren  handlung  und  der  umfassenderen  Schilderung  von 
festlichkeiten  herschreiben,  dass  sich  im  ersten  teil  die  vierte 
zeile  oft  als  schleppender  füllvers  findet  und  erst  im  zweiten 
eine  kräftigere  rolle  bekommt,  daher  werden  sich  die  unterschiede 
beider  teile  nicht  so  sehr  aus  der  vorläge  erklären  lassen  als 
aus  der  andern  aufgäbe,  im  zweiten  teil  war  eine  rüstig 
fortschreitende  handlung  darzustellen,  im  ersten  galt  es,  durch 
oft  einförmige  und  unbedeutende  Schilderung  von  höfischen  fest- 
lichkeiten und  zurüstungen  die  zahl  der  Strophen  zu  mehren,  um 
der  ersten  hälfte  des  liedes  den  gleichen  umfang  zu  schaffen. 

Die  drei  stufen  des  Nl.  fallen  in  drei  Zeitalter  der  mittel- 
alterlichen kaiserzeit,  und  zwar  in  den  ausgang  der  herscher- 
geschlechter  der  Sachsen,  dei'  Salier  und  der  deutschen  Staufer,  die 
zeit  jedes  geschlechtes  hat  also  ihren  anteil  an  der  entwicklung 
des  nationalepos,  in  dem  sich  die  Verhältnisse  jener  drei  Zeitalter 
spiegeln,  das  erste  epos  baut  sich  auf  einer  grundlage  auf, 
welche  ein  Passauer  dichter  förderte,  dieser  wurde  wahrschein- 
lich angeregt  durch  Ekkehards  Waltharius,  ebenso  wirkte  aber 
auch  der  Waltharius  auf  die  in  Worms  weiter  gepflegte  dich- 
tung.  Ekkehard  anderseits  benutzte  bereits  für  sein  gedieht 
eine  ausführliche  Nibelungendichtung,  wol  nicht  nur  liedei'.  son- 


NIBELUNGENLIED  UND  WALTHARIUS  231 

deru  auch  epische  Vorstufen,  die  blütezeit  bischöflicher  politik, 
die  strenge  ottonische  hofetikette  und  die  verhältuisse  der  Stadt 
Worms  haben  in  dem  epos  der  sächsischen  kaiserzeit  spuren 
hinterlassen,  das  salische  epos  führt  etwa  1 00  jähre  später  auch 
auf  den  nördlichen  teil  der  oberrheinischen  tief  ebene,  den  kern 
des  mittelalterlichen  reiches,  und  weist  erinnerungen  an  die 
Sachsenkriege  Heinrichs  IV  und  Heinrichs  V  und  andere  heer- 
fahrten  jener  zeit  auf;  durch  ihren  derberen  ton  kennzeichnet 
sich  die  dichtung  als  spielniaunsepos.  der  dichter  der  Staufer- 
zeit  hat  um  1200  unserem  Hede  schöne  scenen  zugefügt,  sich 
aber  auch  in  kleinlichen  änderungen  gefallen  und  uns  üde 
Schilderungen  nicht  erspart,  die  zeit  Friedrich  Rotbarts,  nament- 
lich des  dritten  kreuzzuges  spielt  in  die  dichtung  hinein,  der 
dichter  kennt  das  Donaugebiet,  namentlich  die  blühende  handels- 
stadt  Wien;  er  betont  mehr  das  gefühlsleben  der  handelnden 
personen,  namentlich  Hagens,  der  neben  der  in  Vordergrund  ge- 
stellten Kriemhild  doch  der  lieblingsheld  des  dichters  geblie- 
ben ist. 

Dass  diese  ergebnisse  meiner  drei  aufsätze  über  das  Nl. 
sicher  sind,  glaub  ich  nicht,  hoffe  jedoch  nicht  ohne  gründe 
in  zusammenhängender  hypothese  gezeigt  zu  haben,  wie  sich  die 
entwicklung  der  dichtung  erklären  lässt.  für  unsere  drei  er- 
kennbaren dichter  oder  umdichter  bestätigt  sich,  was  Heusler 
aao.  s.  94;^  sagt;  'die  heldendichter  schöpften  aus  der  geschichte, 
dem  Privatleben,  eigener  ertindung  und"  vorhandenem  erzählgute 
—  auch  mythus  und  märchen  — ,  und  zwar  sowol  die  ersten 
Schöpfer  einer  heldensage,  wie  die  späteren  umdichter:  ein  grund- 
sätzlicher unterschied  zwischen  beiden  besteht  nicht'. 

Wilhelmshaven.  Karl  Üroege. 


ÜBER  EINIGE  BEISPIELE  BONERS 
UND  IHRE  LATEINISCHEN  VORLAGEN. 

Zs.  46,  341 — 359  stellt  ChrWaas  die  ergebnisse  zusammen, 
die  er  für  die  quellen  einer  reihe  von  fabeln  und  erzählungen 
Ulrich  Boners  aus  haudschrifteu  der  Pariser  Nationalbibliothek 
gewonnen  hat.  besonders  wertvoll  ist  die  entdeckung  einer  vor- 
läge von  Bon.  89  'Von   einem   esel  und   drin   bruodern'  ('asinus 


232  GOTTSCHICK 

trium'),  da  für  diese  geschichte  bisher  weder  quelle  noch  parallele 
aus  der  zeit  vor  Boner  bekannt  war,  in  den  3  hss.  des  Alpha- 
betum  narrationum  Etiennes  de  Besanron  hat  "Waas  sie  gefunden, 
die  übrigens  auch  im  Münchener  pergamentcodex  14752  steht, 
wie  ESchröder  aao.  s.  353  n.  1  angibt,  die  Übereinstimmung 
zmschen  B.  und  EdeBesangon  ist  unbestreitbar,  im  einzelnen 
entspricht  sich:  B.  v.  1  ein  man:  'quidam';  v.  5  hat  drt  säne, 
V.  7  den  gab  er  einen  esel,  'tribus  filiis  suis  legavit  unum  asinum'; 
V.  10/11  wer  den  esel  vuorte  kein,  des  tages  sölt  er  im  splsc  geben, 
'unus  uno  die,  alius  alio  uteretur  et  eum  sustentaret,  quilibet  die 
suo';  V.  17  erbeit  er  den  langen  tag,  'eum  multum  laborare'; 
V.  19  muost  an  ezzen  sin,  'nichil  ei  pro  pabulo  dedit';  v.  20 
gedächt,  'cogitabat';  v.  21  sptst  in  morne  irol,  'in  crastino  satis 
ei  daref;  v.  27/28  in  hmte  wol  gespiset,  "illum  bene  paverat'; 
V.  29  wand  er  was  rieh,  'eo  ditior';  v.  43  der  esel  starp,  'asinus 
mortuus  est';  v.  60  si  des  erbes  wurden  blöz,  'legatum  amittitur' 
(Überschrift). 

Wichtig  ist  ferner  die  auf  findung  eines  B  o  n.  49  'Von  einem  habke 
und  einer  kraejen'  ähnlichen  lateinischen  abschuit  tes  aus  der  hs.  1 6  5 1 5 
des  Liber  de  abundantia  exemplorum  i  unter  'Exempla  varia'  fol. 
157:  'Item  pica  fovit  ovum  accipitris,  ut  haberet  defensorem 
contra  aves  rapaces,  et  pullus  accipitris,  quando  crevit,  comedit 
picam  cum  pullis  suis',  also  fremde  eier  werden  ausgebrütet 
zum  eignen  schütz,  doch  in  würklichkeit  zum  eignen  verderben, 
dass  dieser  gedanke  der  Bonerschen  fabel  näher  steht  als  der 
Aom  kuckuck  und  der  grasmücke,  wo  eier  ausgebrütet  werden, 
die  •  ein  fremder  vogel  ins  nest  gelegt  hat,  ist  zuzugeben,  wenn 
Waas  aber  meinen  hinweis  auf  die  fabel  Odos  (Boner  u.  s.  lat. 
vorlagen,  Charlottenburg  1901,  s.  20)  mit  den  w^orten  abzutun 
glaubt,  diese  fabel  habe  mit  B.  49  gar  nichts  zu  tun,  weil  sie 
die  alte  geschichte  vom  kuckucksei  sei,  so  hat  zwar  bei  Bon. 
der  habicht  seine  eier  nicht  in  das  krähennest  gelegt,  aber  er 
weifs    um   das  brüten    der  krähe,  wie    der  kuckuck  um  das  der 

*  in  meiner  oben  angefülirten  arbeit  s.  29.  30.  36  hatte  ich  den 
Liber  d.  ab.  ex.  nach  dem  titel  des  von  mir  benutzten  druckes  mit  Albertus 
Magnus  bezeichnet,  dies  rügt  Waas,  Litbl.  f.  germ.  u.  rom.  ph.  22  nr  10 
s.  822/323.  freilich  hatte  schon  ESchröder  Zs.  44,  425  ausgeführt,  das 
werk  würde  recht  verkehrt  dem  Alb.  Magnus  zugeschrieben  und  stelle 
eine  nachahniung   und  gründliche  ausschöpfung   Etiennes  de  Bourbon  dar 


QUELLEN  EINIGER  BEISPIELE  BONERS  233 

grasmücke,  und  lässt  es  in  derselben  absieht  geschehen,  auch 
bleibt  im  2  teil  in  beiden  fabeln  der  gleiche  grundgedanke : 
Undank,  übler  lohn  für  aufgewante  mühe  und  schliefslicher 
Untergang  statt  gewünschter  erhöhung.  anderseits  sind  auch 
Verschiedenheiten  zwischen  dem  neuentdeckten  stück  und  Bon. 
vorhanden:  dass  *nur  statt  der  krähe  die  noch  diebischere  elster 
eingesetzt'  ist.  wie  "Waas  schreibt,  ist  nicht  das  einzige  ab- 
weichende, "die  Pflegemutter  stiehlt  selber  die  eier  des  grölseren 
Vogels,  um  kräftigere  jungen  zu  erziehen'  hatte  AVaas  Die  quellen 
der  beispiele  Boners  s.  47  als  Inhalt  von  B.  49  angegeben, 
doch  in  dem  lat.  stück  steht  einmal  nichts  vom  stehlen  der  eier, 
und  dann  wird  als  besonderer  zweck  des  brütens  schütz  vor 
raubvögeln  angeführt,  wenn  Waas  nun  abweichend  von  seiner 
früheren  angäbe  hier  als  zweck  des  brütens  bei  Bon.  49  be- 
zeichnet 'um  einen  mächtigen  beschützer  zu  erhalten',  so  lässt 
sich  das  bei  B.  nicht  nachweisen,  von  den  w'orten  des  lat. 
Stücks  finden  sich  nur  'fovit  ovum  accipitris':  v.  35  si  stal  dem  hahk 
sin  eiger  dd;  v.  43  die  krä  saz  uf  den  eigern  dö,  wider,  wobei 
auch  noch  der  numerus  abweicht;  denn  'quando  crevif,  v.  65 
ir  gevider  ivart  bereit;  'pullus  comedit  picam',  v.  6S  des  muoste 
si  verliern.  ir  leben,  v.  82  sus  starp  diu  arme  brüeierhi,  ist  nur 
inhaltlich,  nicht  dem  ausdruck  nach  ähnlich,  überhaupt  ist  bei 
Bon.  manches  anders:  die  krähe  ist  garnicht  von  raubvögeln  be- 
droht, sondern  v.  9/10  diti  krä  lud  not  und  erbeit  um  sicache 
spis,  V.  23  kein  vogel  kunnen  wir  gevän,  v.  27  daz  unser  nest 
icirt  spise  vol;  und  edle,  kraftvolle,  stets  satte  kinder  wünscht 
sie;  V.  31  so  iverdent  edel  unser  kint  und  vrech  (=  stark),  v.  33 
und  Wirt  unser  gesiechte  gröz,  und  werden  niemer  spiselös. 
darauf  geht  auch  der  anfang  der  nutzanwendung,  v.  84  wer  er- 
hcehen  wil  sin  gesiecht  über  daz  daz  es  sol  n-csen.  vom  stehlen 
der  eier,  von  der  Schadenfreude  des  habichts,  der  es  bemerkt  hat, 
aber  schlauer  weise  die  krähe  beim  brüten  nicht  stört,  sondern 
noch  dazu  zum  stillsitzen  ermahnt,  da  er  das  ende  voraussieht, 
hat  das  lat.  stück  nichts,  dagegen  bringt  es,  'picam  cum  pullis 
suis',  die  jungen  der  krähe  hinein,  deren  tod  bei  Bon.  nicht  vor- 
kommt, die  Schlussfolgerung  des  lat.  Stücks  handelt  von  dem 
eigennutz  der  zum  schütz  fremden  besitzes  in  sold  genommenen 
advocati,  während  Bon.  nur  die  überhebung  geiselt  und  den 
schaden  beklagt,   den  der  hoifärtige  sich  selbst  zufügt;  v.  91/92 


234  GOTTSCHICK 

ez  vichtet  manger  wnb  daz  gHot,  daz  im  vil  grözen  schaden 
tuot;  V.  93  es  h nietet  manrjer  sinen  tot,  v.  'J9  iccr  im  selber 
schaden  tuot  von  hochvart.  bedenken  wir,  wie  wörtlich  g-euau 
Bon.,  bei  aller  freien  beliandlung  seiner  vorlagen,  diese  benutzt, 
so  können  wir  nur  zu  dem  schluss  kommen,  dass  die  von  Waas 
mitgeteilte  fabel,  die  nicht  einmal  inlialtlich  B.  49  genau  ent- 
spricht, in  dieser  form  die  quelle  nicht  gewesen  ist,  höchstens 
ein  kurzer,  gedrängter  auszug  einer  parallele,  die  Bon.  nicht 
vorgelegen  hat. 

Von  andern  bisher  unbekannten  quellen  Boners  hat  Waas 
seiner  eigenen  darlegung  nach  n  u  r  für  Bon.  94  eine  solche  in 
den  Pariser  hss.  gefunden,  die  übrigen  Bon.  ähnlichen  stücke 
lehnt  er  entweder  selbst  als  quellen  ab,  oder  sie  sind  schon  von 
ESchröder  Zs.  44,  420  f  bei  Etienne  de  Besangou  nachgewiesen 
worden. 

Die  parallele  zu  B  o  n.  2  aus  Etienne  de  Bourbon  entspricht 
fast  wörtlich  der  von  mir  Zs.  f.  d.  ph.  11,  329  (IS79)  aus  Vin- 
cejitius  Bellovacensis  abgedruckten  und  kommt  auch  nach  Waas 
für  B.  nicht  in  betracht. 

Zu  Bon.  4  teilt  Waas  aus  der  von  Hervieux  für  Avian 
benutzten  hs.  aufser  den  sclion  früher  abgedruckten  4  ersten 
Versen  eines  gedichts  nun  auch  noch  die  nächsten  (5  mit,  die  zum 
lernen  auffordern,  eh  es  zu  spät  ist  und  der  tod  naht,  die  an- 
klänge an  die  moralisation  bei  B.  sind  auch  nach  Waas  nicht 
der  art,  dass  die  verse  als  B.s  quelle  gelten  können,  allerdings 
die  Sätze  'mors  instat,  etas  matura  negabit  vires,  quas  iuveni 
grata  iuventa  dabit'  decken  sich  nicht  mit  B.  v.  43  ff  n-er  släft 
in  siner  jugent,  noch  eren  gert,  noch  kunst  noch  tugent  von  träg- 
keit  nicht  erwirhet,  wel  not,  üb  der  verdirbst  an  kunst  und  an 
wisheit  gar?     v.  50  so  der  wirt  alt,  ez  v)irt  im  leit. 

Dagegen  führt  Waas  auch  hier  widerum  das  Sprichwort 
'radicis  amaritudinem  dulcedo  fructuum  compensat'  an,  aus  dem 
er  Bon.  4'  herzuleiten  gesucht  habe,  ebenso  widerholt  er  Lii- 
bl.  f.  germ.  u.  rom.  ph.  22  nr  10  (s.  o.),  dass  B.  das  Sprichwort  in 
ii'gend  einer  form  benutzt  habe,  könne  keinem  zweifei  unter- 
liegen, wenn  ich  mich,  wie  Waas  aao.  sagt,  'weitläufig  in 
den  Zusammenhang'  der  stelle  bei  Hieronymus  eingelassen  habe, 
dadurch  dass  ich  sie  abdruckte  und  möglichst  kurz  erläuterte,  so 
schien  mir   dies   nötig   dem   leser   gegenüber,    damit   er  sich  ein 


QUELLEN  EINIGER  BEISPIELE  BONERS  2:^5 

urteil  bilde,  au  beiden  orten  sucht  Waas  seine  ansieht  durch 
deu  hinweis  darauf  zu  stützen,  dass  'tatsächlich  aus  sprich- 
würtern  oder  sprichwörtlichen  Sentenzen,  aus  einem  apophthecrina 
fabelartige  erzähluugen  herausgespounen  worden  siiuV.  und  führt 
zum  beweise  dafür  an  beiden  orten  Hausrath  Das  problem  der 
äsopischen  fabel  für  die  griechische  literatur  an.  demgegen- 
über sag  ich:  für  Boner  ist  sonst  dergleichen  nirgends  erwiesen, 
daher  abzulehnen,  im  übrigen  verweis  ich  auf  meine  ausführungen, 
Boner  u.  s.  lat.  vorlagen  1  7- — !  9.  von  denen  durch  Wuas  nichts 
widerlegt   ist. 

Für  Bon.  43  hat  Waas  in  einer  hs.  vom  j.  1322  eine 
parallele  gefunden,  von  der  früher  nur  der  anfang  bekannt  war ; 
obwol  sie  in  mancher  beziehung  Bon.  nähei"  steht  als  die  bisher 
in  ermangelung  einer  andern  quelle  geltende  Appendixfabel  des 
Anon.  vet.  ined.  bei  Robert  u.  Hervieux,  bleibt  Waas  doch  bei 
seiner  früheren  annähme,  ein  hauptunterschied  von  B.s  dar- 
stellung  ist  nach  Waas  die  aufforderung  der  alten  maus,  das 
nest  zu  verlassen:  indessen  in  der  Appeud.  heifst  es  auch:  'cum 
procul  exieris  foramine  nostro',  freilich  "lusura'  oder  'lu.strura', 
nicht  wie  in  dem  neuen  stück,  'ut  quererent  sibi  pascua";  auch 
in  der  zweimaligen  widerkehr  der  mutter  braucht  man  nicht  mit 
Waas  etwas  besonders  unterscheidendes  zu  sehen,  ebenso  wäre 
es  nicht  mehr  nötig,  eine  Umsetzung  der  lehre  seiner  vorläge 
in  die  handlung  seitens  Bon.,  über  die  sich  Waas,  D.  quellen  d.  beisp. 
Boners  s.  18  f  so  weit  verbreitet  hatte,  anzunehmen,  für  diese 
Weiterbildung  einer  fabel  hatte  ich,  B.  u.  s.  1.  vorl.  s.  5,  eine 
reihe  von  belegen  angeführt,  von  denen  Waas,  Litbl.  f.  g.  u. 
r.  ph.  22,  10  s.  322,  die  in  B.  1.  75  u.  Sl  für  zu  geringfügig 
hält,  indes  wenn  B.  1  auch  nur  einen  vers  hinzufügt,  so  er- 
zählt er  doch  etwas  neues,  ebenso  B.  75  v.  39/40,  nur  dass  hier 
Avian  1    10,  10    'distulit  admota  calliditate  iocum'  schon   die  fol- 

'  dass  ich  Avian  in  das  2  oder  3  jahrh.  versetzt  habe,  rügt  Waas 
aao.  die  bezeichuung  Avians  als  'eines  fabeldichters  aus  dem  2  oder 
3  jh.'  hatte  ich  von  meiner  ersten  arbeit  von  1875  heriibergenomnien 
Lachmann  De  aetate  Flavi  Aviani  wies  ihn  noch  ins  2  Jh.,  in  l'auly- 
"Wissowas  Realencyklopädie  htifst  es:  'A.  miiss  nach  der  mitte  des  3  jh. 
und  wird  e.  4  anf.  5  gelebt  haben';  in  Teuffels  Gesch.  d.  r.  litt.  (1890): 
'ungefähr  aus  d.  4  od.  5  jahrh.  sind  wol  die  42  fabelö  Av.'.  hiernach 
herscht  Unsicherheit,  am  richtigsten  setzt  man  den  A.  wol  mit  Teuflei- 
Schwabe  ins  4  od.  5  jahrh. 


236  GOTTSCHICK 

gende  handhing  enthalten  sein  könnte,  sowie  B.  81,  54/55,  wo 
wenn  auch  nur  in  2  versen,  doch  folgerung-  aus  der  rede,  also 
erweiterung  der  quelle  vorliegt,  im  einzelnen  tinden  sich  auch 
manche  Übereinstimmungen  zwischen  Bon.  43  und  der  lat.  prosa- 
fabel:  v.  22  dö  kam  ein  harte  in  daz  Ms,  'in  media  domo 
gallum";  v.  24/25  smes  kambes  sciün,  sin  sporn,  v.  59  ein 
krventer  her  mit  sinen  sporn,  'habentem  in  tibiis  (Schienbeinen) 
suis  aculeos  et  in  capite  quasi  galeam';  v.  40/41  dö  lag  ein 
kaize  hi  der  gluot  vil  senftekUchen,  v.  44/45  dö  tvas  vil  geistUch 
getan  ir  geh(?rd,  v.  67/68/69  bldem  viure  ein  tierli,  was  gehiure 
(angenehm,  freundlich),  e:;  häte  gar  geisUchen  scMn,  'iuxta 
ignem  cattum  ita  humiliter  iacentem,  quasi  esset  sanctus  homo, 
sauctus  heremita';  v.  62/63  neinä!  er  tiiot  niut,  *noli  timere  quod 
numquam  mali  faciet  tibi',  demnach  würde  man  in  diesem  stück 
B.  s  vorläge  sehen  können,  läge  nicht  die  Appendixfabel  vor,  die 
auch  entsprechendes  bietet,  jedenfalls  ist  die  entscheidung 
fraglich  geworden. 

Für  Bon,  48  hat  Waas  in  hs.  15913  Etiennes  de  Besannen 
einen  mit  dem  text  des  Jacques  de  Vitry  bis  auf  unbedeutende 
Varianten  genau  übereinstimmenden  gefunden,  sodass  er  die  ent- 
scheidung offen  lässt.  die  nutzanwendung  JdeVitrys,  wie  sie 
Job.  Junior  überliefert :  'qui  plures  delicias  habent,  .  .  frequentius 
intirmantur',  entspricht  indessen  Bon.  v.  149/150:  üherig  gemach 
gesunde  Hute  machet  sn-ach  genauer  als  die  Etiennes:  'delicati 
frequentius  intirmantur.  doch  dürfte  es  nicht  genügen,  um 
Etienne  als  quelle  zu  verwerfen. 

Zu  Bon.  52  hat  Waas  nichts  neues  bringen  können,  da  die 
stelle  Etiennes  de  Bes.  schon  von  P.Meyer,  Nicole  Bozon  s.  2S5 
mitgeteilt  worden  war.  es  bleibt  also  auch  hier  die  entscheidung 
zwischen  Jacques  de  V.  und  Etienne  de  Bes.  unbestimmt,  s. 
ESchröder  aao.  s.  423  und  meine  arbeit  B.  u.  s.  1.  vorl.  s.  21. 
wenn  ich  dort  bei  P.Meyer  und  Waas  ein  versehen  hinsichtlich 
der  angäbe  der  reihenfolge,  in  der  vater  und  söhn  sich  mit  dem 
esel  abfinden,  zu  sehen  glaubte,  so  bezog  ich  mich  dabei  auf  die 
lat.  Übersetzung  Bozons,  während  Waas  das  altfranzösische 
original  im  äuge  hatte,  in  welchem,  wie  W.  richtig  schreibt, 
3  und  4  bei  Bon.  umgestellt  ist,  beide  zuerst  zu  fufs  gehn  und  dann 
reiten,  während  sie  bei  Bon.  zuerst  beide  auf  dem  esel  reiten  '. 

*  zugleich  berichtige  ich  hier  einen  Irrtum  meinerseits,   Bon.  u.  s.  1. 


QUELLEN  EINIGER  BEISPIELE  BONERS  237 

Für  Bon.  58  teilt  Waas  die  autwort  der  dritten  witwe.  die 
ESchröder  auch  in  den  2  Müuchener  hss.  Etiennes  de  Bes.  fand, 
aus  der  Pariser  hs.  15913  mit  mit  dem  bemerken:  hier  hat  also 
Bon.  aus  ergiebigerer  quelle  geschöpft,  worin  dies  liegt,  ist 
nicht  zu  erkennen,  da  bei  Jac.  de  Cessolis  und  Hieronj'mus  das- 
selbe zu  lesen  ist.  ja  bei  ersterm  steht  etwas  am  schluss  was 
Bon.  vor  sich  gehabt  haben  muss:  'castitatem  servare',  v.  78 
ivil  ein  kiusche!;  leben  hau,  worauf  ich  nochmals  hinweise  (s.  Bon. 
u.  s.  1.  vorl.  s.  23).  danach  bliebe  es  bei  meinem  frühereu 
ergebnis. 

Ebenso  wenig  bringt  Waas  für  Bon.  71  neues. 

Für  Bon.  71  hat  er  zwar  eine  parallele  in  der  hs.  Etiennes 
de  Bourbon  fol.  189  gefunden,  doch  lehnt  er  selbst  sie  als  vor- 
läge ab,  obschon  gerade  die  anfangsworte  'de  duobus  sapientibus 
et  tercio  siraplici'  bei  B.  v.  11  ff  widergegeben  zu  sein  schienen: 
zwen  wären  an  den  sinnen  kluog,  und  da  bi  schalkhaft 
ouch  genuog ;  der  dritte  was  ein  einvalt  man,  wofür 
sich  bei  Petrus  Alfonsi,  der  bisher  als  quelle  galt,  nichts 
entsprechendes  fände,  doch  bei  ihm  heilst  es  ja  ebenfalls:  'de 
duobus  burgensibus  et  rustico',  und  später :  'haec  artiticiose  dice- 
bant,  quia  siraplicem  rusticum  ad  hujusmodi  öctitia  putabant', 
dann  'rusticus  percepta  eorum  astutia'.  da  Waas  nun  auch,  wie 
ESchröder  in  den  2  Münchener  hss.,  ein  von  der  Disciplina 
clericalis  wenig  abweichendes  stück  Etiennes  de  Bes.  in  der 
Pariser  hs.  15193  gefunden  hat,  so  hält  er  eine  entscheidung 
zwischen  beiden  für  unmöglich,  während  nach  ESchröder  eine 
unmittelbare  benutzung  der  Disc.  der. '  wahrscheinlich  ist,  da 
B.  v.  S/9  Tvallende  ivolten  si  dö  yän  mit  einander  in  ein  lant 
die  Worte  'causa  orationis  Meccam  adeuntibus'  voraussetzten,  die 
Worte  Etiennes  de  B.  'simul  ibant  in  peregrinatiouem'  ent- 
sprechen m.  e.  allerdings  weniger  denen  Boners.  doch  dürfte 
dies  zur  quellenbestimmung  nicht  genügen,    daher  schreibt   auch 

vorl.  s,  8,  wo  ich  Bozon  als  etwas  älter  als  1350  bezeichnet  hatte,  während 
er  nach  Meyer,  introduction  II,  nicht  viel  später  als  1320  seine  erzählungen 
geschrieben  hat. 

1  die  parallelen  oder  vorlagen  der  D.  cl.  für  B.  71.  72.  74.  76.  92 
findet  man  jetzt  auch  bei  Ulrich  Proben  d.  lat.  novellistik  d.  ma.,  Leipzig 
1906,  ebenda  die  aus  Jacques  de  Vitiy  für  B.  82.  92,  aus  Etienne  de 
Bourbon  für  B.  100,  aus  d.  Gesta  Rom.  für  B.  71.  92.  97.  100. 


23b  GOTTSCHICK 

EScbröder.   aao.   s.    422:    für    iir  74    ist   eine    entscheidiing  uii- 
müglich. 

Die  beiden  parallelen,  die  Waas  für  B  o  n.  7G  in  der  lis. 
Etiennes  de  Bourbon  g-efunden  hat.  siebt  er  selbst  nicht  als  seine 
vorlagen  an,  wol  aber  die  Etiennes  de  Besan^on,  hs.  15193  fol. 
27,  die  Schröder  schon  in  den  2  Münchener  hss.  entdeckt  hatte, 
die  Pariser  hss.,  die  zn  anfang  die  lesart  'civitatis'  haben,  kann 
Bon.  nicht  benutzt  haben,  da  er,  wie  Schröder  nachgewiesen  hat, 
statt  dessen  'comitis'  las,  was  die  Münchener  hs.  A,  7995,  bietet, 
er  machte  nun  den  'janitor  zum  zolner,  den  'comes'  zu  einem 
gräven.  den  er  v.  II  der  Jierre  nennt,  und  liefs  den  'rex'  ('donum 
habebat  a  rege')  ganz  fort,  dies  liegt  m.  e.  näher,  als  dass  er 
nach  Schröders  annähme  den  'comes  und  rex'  zu  einer  person 
dem  gräven.  gemacht  hätte,  hiervon  abgesehen  dürfte  Etienne 
de  Bes.  auch  deshalb  den  Vorzug  verdienen,  weil  er  die  um- 
ständliche einleitung  des  Petr.  Alf.  fortgelassen  hat  und  dann 
die  unabhängige  form  der  rede  Avie  Bon.  anwendet  gegenüber 
der  erzählenden  der  Diso.  der.  v.  27  gip  har  zwen  plienninge! 
'duos  debes';  v.  30  gip  drie  har!  'nunc  mihi  tres  debes';  v.  32 
nu  gip  har  vier  phenninge!  'modo  quattuor  mihi  debes';  v.  36 
gip  har  vünf  phenning  dne  kip  (Widersetzlichkeit) !  'certe  mihi 
debes  quinque  denarios';  ferner  entspricht  v.  24  geriet  wider 
streben  'quo  recusaute';  v.  33  er  geriet  sich  teeren  'luctantibus 
jllis'.  Etienne  de  Bes.  dürfte  daher  als  quelle  zu  gelten  haben, 
da  hier  nichts  bei  Bon.  die  benutzuug  der  Disc.  der.,  trotz 
seiner  bekanntschaft  mit  diesem  werke,  voraussetzt. 

Die  Bon.  82  entsprechende  erzählung  Etiennes  de  Besan(,'on 
hat  Waas  in  den  Pariser  hss.  nicht  linden  können,  daher  bietet 
er  dessen  text  nach  den  2  Münchener  hss.  in  denen  Schröder 
ihn  gefunden  hatte.  die  abweichung  von  Jacques  de  Vitr}-  ist 
sehr  gering,  wegen  der  Überschrift  des  catalanischen  Recull 
'Cantus  pomposus  usw.'  und  anderer  stellen  glaubte  ich  bisher, 
in  der  vorläge  des  catalanischen  Eecull  müsse  die  quelle  Boners 
gesehen  w^erden.  indessen  könnte  Bon.  bei  seiner  Überschrift 
Von  iippekeit  der  stimme  auch  das  'presumptuosi'  des  Jacques  de 
Vitry  vor  sich  gehabt  haben,  die  Übereinstimmungen  des  Recull 
mit  Bon.  aber  würden  noch  eine  andere  fassung  Etiennes  d.  Bes. 
voraussetzen  als  die  der  Münchener  hss.  jedenfalls  lässt  sicli 
eine  entscheidung  zwischen  Jac.  d.  V.  und  Etienne  nicht  treffen. 


QUELLEN  EINIGER  BEISPIELE  BONERS  2a<> 

In  der  exempelhs.  d.  Bibl.  nat.  151)71  hat  Waas  eine 
B  0  n.  85  entsprechende  geschichte  gefunden  in  einer  fassung 
des  Jac.  d.  Vitry  und  in  hs.  15193  fol.  74  Etiennes  de  Bes.  ein 
stück,  das  den  von  Schröder  in  den  2  Münchener  hss.  nachge- 
Aviesenen  entspricht,  beide  geben  der  fassnng  Etiennes  den 
Vorzug,  für  diese  soll  sprechen,  dass  sich  wie  bei  Bon.  nur  der 
abt  ohne  die  mönche  an  der  Züchtigung  des  laienbruders  beteil  ist. 
indes  bei  Et.  heilst  es  ja  auch:  'accusavit  eum  in  capitulo'.  und 
nachher:  "quibus  ille  dixit'.  hinsichtlich  der  verse  B.  v.  36 — 39, 
die  nach  Schröder  fast  wie  eine  wörtliche  Übersetzung  Etiennes 
aussehen,  sei  darauf  hingewiesen,  dass  in  Waas  hs.  nur  steht 
"et  depilantur'  ohne  das  "ita"  in  der  mitte,  also  noch  weniger 
entsprechend  als  des  J.  de  V.  'et  ideo'.  dagegen  stimmt  anderes 
bei  Bon.  mit  J.  de  V,  überein:  v.  8  icöJfl  varn  in  yelstlich  leben, 
"ut  in  pace  et  humilitate  deo  serviret';  v.  25  dd  er  hin  ze  margfe 
kan,  'cum  autem  ad  forum  pervenisset'  (fassung  v.  Wright);  v.  43 
vuor  er  icider  hehi,  'cum  ad  claustrum  fuisset  reversus";  alles 
dies  fehlt  bei  Etienne.  ferner  entspricht  v.  52  liegen  mag  mir  nicht 
gevromen  'nolui  mentiri'  besser  als  'veni  huc,  non  ut  mentirer' 
bei  Et.,  sowie  v.  56/57  icerde  mint  an  der  sele,  'ledere  animam 
meam'  besser  als  'salutarem  a.  m.'  bei  Et.,  und  das  was  Waas 
zu  gunsten  Etiennes  anführt,  v.  14  wand  er  e  was  ein  niser  man, 
Et.  "virum  sapieutem',  spricht  gerade  für  J.  de  V.,  *quod  fuisset 
industrius  in  seculo':  e  vertritt  das  plusquamperfectum,  'industrius 
in  seculo'  fasste  B.  auf  als  einen  in  der  weit  tätigen  und  ge- 
wanten  mann  und  gab  daher  zu  anfang  die  ausführliche  Schilde- 
rung V.  1  —  3  ein  ritter  icas  an  sinnen  kluog  und  hat 
ouch  alles  des  genuog,  so  man  zer  weite  haben  sol.  demnach 
lässt  sich  eine  benutzung  J.  de  V.s  durch  Bon.  schwei- 
licli  bestreiten,  mag  er  auch  Etienne  aufserdem  vor  sich  gehabt 
haben,  worauf  dessen  catalanische  Übersetzung,  besonders  mit 
den  Worten  'mantenir  Verität',  v.  53  an  der  n-ärheit  gestnn, 
allerdings  hindeutet. 

Bei  Bon.  87  schwankt  Waas  zwischen  Etienne  de  Besan<;on, 
dessen  erzählung  er  in  der  Pariser  hs.  15913  fol.  58  gefunden 
hat,  und  der  schon  bekannten  stelle  des  Liber  de  abund.  exempl.: 
durcli  textvergleichung  allein  liefse  sich  nichts  feststellen. 
Schröder  jedoch,  der  aus  den  2  Münchener  hss.  die  stelle 
Etiennes  kennt,   schliefst    aus  B.  v.  25  26    als  bald   diu  houbet 


240  GOTTSCHICK 

wirt  bedacht  mit  erde,  im  vergleich  mit  Et.  de  Bes.  'posito 
super  vos  pulvere  in  morte'  uud  Lib.  d.  ab.  e.  'positus  in  pul- 
vere', dass  die  Version  Etiennes  Bon.  entschieden  näher  stehe, 
aber  im  Lib.  d.  ab.  heilst  es  ja  ebenfalls  'posito  vero  pulvere 
super  lapidem',  B.  v.  11  ivenn  er  bedacht  mit  eschen  wart,  und 
für  B.  V.  25/26  sind  die  beiden  lat.  fassungen  keine  wörtliche 
Übersetzung,  'positus  in  pulvere'  entspricht  m.  e.  insofern  mehr 
B.s  Worten,  als  es  auch  den  tod  nur  mittelbar  bezeichnet  ohne 
seine  ausdrückliche  erwähnung. 

Die  beiden  andern  stellen,  die  Waas  aus  Pariser  hss. 
Etiennes  de  Bourbon  und  der  Exempla  varia  abdruckt,  sieht  er 
selbst  nicht  als  quellen  B.s  au.  der  text  E.  de  Bourbons  ent- 
spricht genau  dem  Martins  von  Troppau.  nun  finden  sich  aber 
in  diesen  2  stellen,  die  mit  Bon.  genau  übereinstimmen:  'coopertus 
pulvere',  v.  1 1  bedacht  mit  eschen ;  'vivus'  und  noch  genauer 
^quamdiu  viveret'  in  d.  Ex.  var.  (16515  fol.  213j,  v.  19  die  wil 
du  macht  daz  leben  hän.  wo  Et.  de  Besanron  und  der  Liber  de  ab. 
nur  'nunc'  bieten,  auch  der  catalanische  Recull  hat  übrigens 
'que  ara  mentre  s  o  t  s  v  i  u'.  hiernach  erscheint  trotz  Waas' 
entdeckungen  eine  sichere  entscheidung  zwischen  den  3  vorlagen 
nicht  angängig  '. 

Für  Bon.  92  hat  Waas  die  von  Schröder  nachgewiesene 
erzählung  Etiennes  de  Besan(;on  auch  in  der  Pariser  hs.  15913 
fol.  22  gefunden  und  tritt  Schröders  ansieht,  dass  diese  Bon.s 
vorläge  gewesen  sei,  bei.  nur  hebt  er  hervor,  dass  auch  hier 
die  reihenfolge  der  3  lehren  mit  der  Bouerschen  nicht  überein- 
stimme, indessen  schien  Bon.  wol  durch  vertauschung  der  ersten 
und  dritten  eine  begrifflich  richtigere  Stufenfolge  zu  entstehn, 
ein  hinaufsteigen  vom  denken  zum  handeln,  unglaublich,  unwider- 

1  in  m.  Programm  B.  u.  s.  lat.  vorl.  s.  29,  hatte  ich  bezüglich 
Waas  bemerkung  in  seinem  Schlussverzeichnis  (Die  quellen  d.  beisp.  Bon. 
8.  74)  Et.  de  Bourbon  sei  vielleicht  auch  noch  für  B.  87  die  quelle,  gesagt: 
'B.  87  ist  hier  wol  nur  ein  versehen  statt  B.  85',  da  er  in  seinem  text 
Et.  de  Bourbon  für  B.  87  nicht  erwähnte  und  nachher  den  Lib.  d.  ab.  ex. 
als  quelle  angibt  ohne  hinzufügung  v.  Et.  de  Bourb.,  diesen  aber  unter 
B.  85  nennt,  wenn  er  auch  schliel'slich  dort  Jac.  de  V.  als  unmittelbare 
quelle  bezeichnet.  Waas  erklärt  Lit.bl.  f.  g.  u.  r.  ph.  22,  10  dies  nun 
dahin,  dass  der  Lib.  d.  ab.  nur  eine  bearbeitung  d.  1  buches  v.  Et.  de 
Bourb.  sei.  indessen  liegen  ja  gerade  für  B.  87  verschiedene  fassungen 
dieser  beiden  werke  vor. 


EINIGE  BEISPIELE  BONERS  241 

bringlich,    unerreichbar,    zugleich    ein    beweis    für    seine    freie, 
selbständige,  nicht  urteilslos  nachahmende  benutzung  der  quellen. 

Aber  wenn  auch  Boners  eingangsverse  aus  Et.  d.  Besanyon 
stammen,  wie  Schröder  aao.  s.  424  darlegt,  so  muss  ich  doch, 
nachdem  nunmehr  der  ganze  text  Etiennes  vorliegt,  die  aus- 
schal tung  des  Jacques  de  Vitry  anfechten,  da  für  ihn  manches 
bei  Bon.  spricht,  v.  35/37  du  hast  tüvoiaUch  gar  getan,  daz 
du  mich,  tdre,  hast  geldn  vUegen,  hat  J.  de  V.:  'o  miser,  quid 
fecisti,  quia  nie  dimittere  voluisti',  während  Et.  de  Bes.  've  tibi, 
quam  malum  consilium  hodie  habuisti'  bietet,  ohne  etwas  ent- 
sprechendes für  V.  35,  obwol  anderseits  'malum  consilium'  und 
uninslich  sich  ähnlich  sehn.  v.  3S  ich  trag  in  dem  l'ihe  mhi 
entspricht  J.  de  V.  'h  a  b  e  o  in  visceribus  meis',  Et. :  est  enira 
i.  V.  m.';  V.  48  er  ic  a  r  t  betrüebt  als  umb  sin  leben,  J. 
d.  V.  "contristatus  est  valde'  (wie  auch  im  Barlaam 
und  Josaphat  und  bei  Odo  de  Ceritona,  Hervieux  ii  595),  was 
bei  Et.  fehlt;  v.  50  wart  gevlizzen  ser  fif  daz,  wie  er  den  vogel 
möcht  gevdn,  J.  d.  V.  'eam  apprehendere  conabatur',  während 
Et.  mit  den  worten  'eam  arte  et  promissis  capere  attemptaret' 
mehr  zu  entsprechen  scheint;  v.  54  niut  hästu  der  lere 
m.l  n  behebt,  J.  de  V.  'doctrina  mea  nihil  pro- 
fecisti'  (wie  auch  in  Bari.  u.  Jos.  'nulluni  ex  his  proticuuni 
assecutus  es',  bei  Odo  'fructum  habuisti'),  was  wider  bei  Et.  fehlt ' 
V.  59/61  leit  und  smerzen  hästu  in  dinem  herzen,  daz  du  mich, 
tore,  hast  verlorn,  J.  de  V.  'doles  de  re  perdita,  quam  recuperare 
non  potes'.  wo  Et.  nur  'dolens'  bietet.  demnach,  und  zwar  be- 
sonders wegen  der  zwei  stellen  v.  48  und  54,  für  die  Et.  de 
Bes.  nichts  entsprechendes  hat,  muss  Boner  hier  auch  Jacques 
de  Yitiy  benutzt  haben. 

Für  Bon.  94  hat  Waas  die  entsprechende  erzählung 
Etiennes  de  Bourbon  in  der  Pariser  hs.  fol.  154  gefunden,  sie 
stimmt  genau  mit  der  von  mir,  Bon.  u.  s.  lat.  vorl.  s.  30,  aus 
Martin  v.  Troppau  abgedruckten,  nur  steht  dort  'constantinopoli- 
tanura'  statt  'Constantinopolis'  bei  Mart.  und  'unam'  statt  'aliquara'. 
dieser  lat.  text  muss  Bon.  vorgelegen  haben,  da  Et.  de  Besan^on 
nach  Schröder  für  v.  23  ff  nichts  entsprechendes  hat.  Waas  hat 
hier  das  betreffende  stück  aus  der  Pariser  hs.  15913  nicht  mit- 
geteilt, weil  es  wie  das  des  Liber  de  ab.  exempl.  hier  nicht  in 
betracht  käme,  indes  findet  sich  in  ihm  zu  anfang  eine  stelle 
Z.  F.  D.  A.  LH.     N.  F.  XL.  16 


242  GOTTSCHICK 

'miilta  promittebat  ei  se  daturum  cum  f  o  r  e  t  d  i  v  e  s',  die 
Et.  de  Bourbon  nicht  hat,  Bon.  aber  mit  v.  19  alles  des  mich  he- 
rietc  got  widergegeben  haben  dürfte,  ferner  entspricht  die  lat. 
Überschrift  des  catal.  Recull  'Amici  falsi  multa  promittunt  usw.', 
die  sich  in  den  andern  vorlagen  nicht  findet,  der  Bon.s  'Von  be- 
trogener vriuntschaft',  worauf  ich,  Avie  auf  die  weiteren  an- 
klänge im  ßec,  von  neuem  hinweise.  meine  Vermutungen 
erledigen  sich  also  nicht,  wie  Waas  meint,  Bon.  könnte  Et.  de 
Bourb.  ja  noch  in  einer  andern  fassung  als  der  von  ihm  mitge- 
teilten benutzt  haben,  hierüber  äufsert  auch  A.Borgeld  seine 
ansieht,  Tijdschr.  v.  nederl.  taal-en  letterk.  xxvi,  10  s.  23/24, 
'Don  Torribio  en  de  deken  van  Badajoz',  wo  er  diese  erzählung 
durch  die  literatur  hindurch  verfolgt  bis  zu  Rückerts  gedieht 
'Die  Freundschaftsprobe'.  hinsichtlich  der  stellen  des  Recull 
schreibt  er:  'de  overeenstemmingen  zullen  zeker  ewel  toevallig 
moeten  zijn ;  zoo  bijzonder  groot  kernen  ze  mij  trouwens  ook 
niet  voor'. 

Die  vorläge  für  Bon.  95  hat  Waas  auch  in  der  Pariser 
hs.  15913  fol.  13  Etiennes  de  Besanrou  gefunden,  nachdem  sie 
von  Schröder  in  den  2  Müuchener  hss.  nachgewiesen  worden  war. 
hier  entspricht  B.  v.  30  ein  schmie  kuo  'pulchram  vaccam' 
genauer  als  bei  Job.  Junior  'v.  pinguem',  ebenso  v.  39—43  dur 
m'inen  iriUen  hilf  dem  man,  daz  er  sin  suche  miig  behau  und 
ouch  shi  (juot;  des  hit  ich  dich!  der  bette  nicht  entere  mich!  der 
herre  lobt  der  vrouwen  daz,  'que  (uxor)  tam  institit  apud 
ballivum,  quod  ipse  promisit  se  facturum,  quod  ipsa  petebat',  was 
bei  J.Jun.  fehlt;  ferner  v.  55  der  herre  sprach,  mit  dem  nicht 
der  streitende  gemeint  sein  kann,  welcher  immer  nur  als  man 
bezeichnet  wird,  sondern  der  richter,  der  widerholt  als  herre 
auftritt,  bei  Et.  'ballivus  respondit',  während  bei  J.  J.  'respondit 
adversarius'  zu  lesen  ist.  anderseits  scheint  v.  50/51  red  ochse! 
wiltu  nicht  reden?  es  ist  zit,  und  v.  57/58  diu  kuo  den  munt 
heslozzen  hat  dem  ochsen,  eher  die  worte  des  Joh.  Jun.  *bos  meus 
quando  loquetur?'  und  'vacca  mea  eins  gulam  stringit'  voraus- 
zusetzen als  die  Etiennes  'bos  loquere!  vacca  non  perraittit'. 
jedoch  könnten  diese  auch  als  ausreichende  vorläge  für  B.  gelten, 
zumal  da  der  catal.  Recull,  den  ich  B.  u.  s.  lat.  vorl.  s.  31  ver- 
glichen habe,  ihnen  meist  genau  entspricht,  danach  bliebe  es 
bei  Schröders  ergebnis. 


EINIGE  BEISPIELE  BONERS  243 

Zu  B  0  11.  90  bringt  Waas  aus  der  Pariser  lis.  1  (i  1 5  der 
Exempla  varia  den  satz  bei:  'item  catus  discurrendo  aniittit 
pellem  et  excoriatur  sepe;  qui  fuisset  domi.  vixisset':  auf  eine 
Bon.  älinliche  geschichte  bezw.  das  ihr  zu  gründe  liegende 
Sprichwort  werde  darin  angespielt,  aber  weder  von  einem  um- 
herlaufen, noch  einem  Verluste  des  felis  oder  einer  abhäutung,  no'h 
von  einem  schlielslichen  sterben  der  katze  enthält  B.  Ü6  etwas, 
sondern,  wie  Waas  selbst  sagt,  ein  versengen  des  felis  zum 
schütze  vor  den  nachstellungen  des  nachbarn.  da  liegt  ja  des 
Jacques  de  V  i  t  r  y  stück  (2p9  bei  Crane,  s.  m.  arb.,  B. 
u.  s.  1.  vorl.  s.  31j    noch   näher. 

Für.  Bon.  97  lehnt  Waas  selbst  den  text  Etiennes  de 
Besancon,  den  er  in  den  Pariser  hss.  gefunden  hat,  wie  er  auch 
von  Schröder  in  den  Müuehener  hss.  nachgewiesen  wird,  als  vor- 
läge ab.  Etienne  müsse  hier  unbedingt  ausscheiden,  es  bleibt 
also  bei  meinem  ergebnis,  B.  u.  s.  lat.  vorl.  s.  34,  dass  Jacobus 
de  Cessolis  oder  die  lat.  vorläge  des  Libro  de  los  enxemplos  die 
quelle  war,  wie  dies  letztere  werk  für  B.  72  neben  Valerins 
Maximus  und  Joh.  Junior  Boner  vorgelegen  hat. 

Zu  B  0  u.  100  druckt  Waas  das  bereits  von  Schröder  in 
den  Münchener  hss.  nachgewiesene  stück  Etiennes  de  Besangon 
aus  der  Pariser  hs.  15913  fol.  19,  wo  er  es  gefunden  hat,  ab, 
mit  der  lesart  *iu  tualia,  cum  qua  solebat  radi',  die  die  Münchener 
hs.  B  abweichend  von  A  bietet,  es  stimmt  sonst  im  wesent- 
lichen mit  dem  des  Liber  de  ab.  ex.  überein,  das  ich  aao.  s.  36 
abgedruckt  hatte,  da  Waas  einen  neuen  fund  nicht  gemacht 
hat,  verweise  ich  nur  auf  meine  ausführlichen  früheren  ausein- 
andersetzungen.  aber  Waas  kommt  trotz  Schröders  klaren 
darlegungen  über  den  Dialogus  creaturarum  nicht  hinweg,  und 
doch  hatte  er  in  seiner  dissertation  s.  41  gesagt:  auszuschliefsen 
von  der  vergleichung  mit  Bon.  ist  die  erzählung  im  Dialogus 
creat.,  da  .  .  .  dieses  werk  wahrscheinlich  erst  1355  abgefasst 
ist;  ebenso  s.  52:  nun  kann  aber  Bon.  den  Dial.  creat.  aus 
chronologischen  gründen  nicht  mehr  benutzt  haben;  und  s.  63: 
aus  chronologischen  gründen  sind  auszuschliefsen  der  Dial.  creat 
und  Bromyard,  für  Bon.  100  aber  erscheint  ihm  im  Wortlaut 
des  Dial.  er.  mit  nicht  allzu  grofsen  Varianten  der  text  einer 
gemeinsamen  vorläge  vorzuliegen,  da  Bon.  und  der  Dial.,  die 
direct    mit  einander    nichts    zu    tun    haben,    im    gegensatz    zur 

Ifi* 


244         GOTTSCHICK,  EINIGE  BEISPIELE  BONERS 

sonstigen  Überlieferung  so  übereinstimmend  erzählen,  das  wäre 
freilich  kein  andres  ergebnis,  als  wenn  man  auf  Bromj'ard  oder 
die  Gesta  Romanorum  als  mittelbare  quellen  zurückginge,  wo 
diese  geraeinsame  quelle  zu  suchen  sei,  ist  nach  Waas  schwer 
zu  sagen,  allerdings  müste  man  dann  für  B.  100  eine  ganz 
neue  quellenschrift  annehmen,  nach  meinen  ausführungen  aao. 
s.  3  7/38  wäre  es  die  lat.  vorläge  des  catal.  Recull.  der  nach 
Schröder  aao.  428  den  Etienne  de  Besauyon  recht  wol  ersetzen 
kann,  also  Etienne  de  Besan§on  selbst;  Etienne  de  Bourbon 
und  der  Liber  de  abundantia  exemplorum  kommen  aufserdem  in 
betracht. 

Gerade  die  benutzung  der  vorlagen  für  beispiel  100 
durch  Boner  ist  m.  e.  bezeichnend  und  zugleich  lehrreich  für 
seine  art  zu  dichten,  während  Waas  auf  seine  annähme  einer 
exempelsammlung  in  der  band  Boners  (Die  quellen  d.  beisp.  Boners 
s.  75)  nicht  wider  zurückgekommen  ist,  sondern  für  die  einzelne 
fabel  eine  einzige  bestimmte  quelle  zu  ermitteln  sucht,  so 
komme  ich  nach  allem  was  nunmehr  vorligt  zu  dem  schluss, 
dass  B  0  n  e  r ,  der  doch  die  sämtlichen  lat.  exempla  der  ver- 
schiedenen Verfasser  kannte,  auch  für  seine  einzelnen 
beispiele  öfter  zugleich  mehrere  vorlagen, 
wenigstens  niqjit  immer  eine  allein,  benutzt  hat,  vielleicht 
in  der  weise,  dass  er  zunächst  eine  zu  gründe  legte  und  sie 
nachher  hier  und  da  aus  einer  andern  ergänzte,  nur  eben  für 
B.  100  setzt  Waas,  so  weit  ich  sehe,  derartiges  voraus,  hier 
äufsert  er  auch,  aao.  358,  Boner  könne  in  'der  erinnerung  an 
früher  gelesenes  hie  und  da  von  der  darstellung  seiner  quelle 
abgewichen  sein,  eine  Vermutung,  die  gegenüber  dem  streng  an 
seine  Überlieferung  sich  haltenden  dichter  zu  weit  gehn  dürfte. 
auch  E.Schröder,  aao.  428,  nimmt  für  Bon.  76  eine  con- 
tamination  aus  Petrus  Alphonsi  und  Etienne  de.  BesanQon 
an,  wie  auch  für  B.  100  zwei  vorlagen,  eine  Verwertung  nicht 
einer  quelle  allein  seitens  Boners  wäre  also  überall  da  anzu- 
nehmen, wo  eine  entscheidung  zwischen  den  vorlagen  nicht  zu 
treffen  war,  nach  diesen  meinen  Untersuchungen  bei  B.  43.  48. 
52.  58.   72.   74.  82.   85.  87.  92.  94.  97.   loO. 

Charlottenburg,  7  october  1909.  Reinhold  Gottselüek. 


ZUR  HE1DELBP:RGER  HANDSCHRIFT 
COD.  PAL.  GERM.  341. 

Rosenhagen  hat  in  seiner  ausgäbe  eines  teiles  der  Heidel- 
berger hs.  341  in  den  DTexten  des  ma.  XVII.  eine  so  treffliche 
Untersuchung  zur  äufseren  kenntnis  der  hs.  und  ihrer  localisierung 
geliefert  und  aufserdem  so  viel  licht  über  die  heute  leider  fast 
unbenutzbare  Caloczaer  hs.  verbreitet,  dass  seine  arbeit  der  aus- 
gangspunct  für  weitere  ergebnisse  sein  wird,  ein  erster  schritt 
soll  der  vorliegende  beitrag  sein,  wenn  ich  mich  im  folgenden 
häutig  selbst  eitlere,  so  ist  das  eben  durch  die  frage  bedingt,  die 
auf  dem  boden  spielt  wo  ich  heimisch  bin. 

Ich  muss  zuerst  in  eigener  sache  ein  wort  verlieren.  Rosen- 
hagen  hat  in  der  einleitung  p.  vii  in  der  besprechung  der  Über- 
lieferung gegen  mich  einen  ungerechtfertigten  Vorwurf  erhoben, 
er  sagt:  'der  letzte  teil  der  hs.  bestand  also  aus  vier  lageu  zu 
6  blättern,  dies  hat  vdHagen  bereits  richtig  erkannt,  ist  aber 
neuerdings  unrichtig  dargestellt  worden  von  Berni  (HvFreiberg 
s.  20  f.).'  wer  meine  darstellung  liest,  findet  kein  wort  einer 
erwähnuug  von  den  lagen  der  hs.  oder  auch  nur  der  letzten 
läge,  welche  das  Schrätel  und  die'  Ritterfahrt  enthält,  ich  gebe 
blofs  die  selten  und  spalten  an,  auf  denen  sie  stehn,  und  zwar 
genau  so  wie  Rosenhagen,  ich  habe  schon  vor  1 5  jähren  selbst 
die  Sachlage  betreffs  der  einfügung  des  heutigen  halbblattes  370 
mit  dem  Schlüsse  des  Schrätel  richtig  vermutet  —  was  übrigens 
nicht  schwer  war  —  indem  ich  ohne  weitere  auslassung  sagte: 
'es  liegt  nahe,  zwischen  dem  manco  hier  und  dort  einen  Zu- 
sammenhang anzunehmen.'  in  der  erklärung  die  Rosenhagen 
zur  anordnung  der  Ritterfahrt  an  den  schluss  des  codex  gibt, 
bleibt  der  eine  punct  ungeklärt,  warum  der  abschreiber  zwischen 
dem  schluss  des  Schrätels  (bl.  370^,  das  als  inneres  lagenblatfc 
nach  bl.  372  einzuschalten  ist)  und  dem  beginn  der  Ritterfahrt 
6-'/4  spalten  leer  gelassen  habe,  um  dann  die  10  vv.  (mit  der 
Überschrift  12),  die  heute  fehlen,  in  die  7  spalte  unten  derart  ein- 
zusetzen, dass  mit  den  folgenden  2  bll.  das  gedieht  beendet  und 
das  pergament  bis  zur  letzten  zeile  ausgenützt  wurde,  denn 
das  ist  der  grund  den  Rosenhagen  angibt:  'der  freie  platz  wurde 


246  BERNT 

so  benutzt,  duss  die  Ritterfahrt,  für  welche  der  nötige  räum 
sich  leicht  berechnen  Hess,  genau  bis  ans  ende  reichte',  dafür 
fehlen  in  dei-  praxis  die  analogieen,  wenigstens  dafür  dass  ein 
Schreiber  12  zeileu  vor  schluss  eines  sonst  leeren  bhittes  ein 
neues  gedieht  beginnt,  wenn  er  nicht  mit  niiuiatui'en  und  bilder- 
initialen zu  rechnen  hat.  die  Ritterfahrt  stand  schon  bl.  90*^, 
z.  3  5  ff.  und  wurde  dort  ausradiert,  um  einem  andern  gedichte 
platz  zu  machen;  sie  wurde  am  schluss  eingefügt  und  ist  dort 
heute  ohne  anfang  erhalten.  Rosenhagen  erwähnt  meine  Ver- 
mutung nicht,  dass  vielleicht  die  ersten  10  vv.  des  gedichtes 
etwas  enthielten,  was  entweder  dem  abschreiber,  oder  der  per- 
sönlichkeit für  die  der  codex  hergestellt  wurde,  in  irgend  einer 
richtung  anstöfsig  erschien,  diese  Vermutung  ist  denn  doch 
nicht  mit  stillschweigen  zu  übergehn,  zumal  wenn  sie 
durch  keine  wahrscheinlichere  ersetzt  wird,  auch  hätte  der 
liebhaber  des  schönen  pergaments  vielleicht  den  schluss  des 
Schrätels  auf  dem  erhaltenen  halbblatte  ebensowenig  verschont 
wie  den  anfang  der  Ritterfahrt,  denn  dass  er  den  anfang  der 
Ritterfahrt  'übersehen'  habe,  ist  avoI  ausgeschlossen,  die  sache 
ist  mit  unsern  mittein  nicht  zu  entscheiden  ^. 

Meine  oben  citierte  Vermutung  wegen  des  abschreibers,  oder 
der  persönlichkeit  für  die  der  codex  hergestellt  wurde,  hat  mir 
schon  längst  die  frage  nach  der  localisierung  der  hs.  nahe- 
gelegt, und  ich  freue  mich,  dass  Rosenhagen  die  sache  auf 
einem  andern  wege  verfolgt  hat:  die  anzeichen  weisen  nach 
Böhmen  und  sind  durch  sprachliche  und  litterargeschichtliche 
Untersuchungen  zu  erhärten,  ich  kann  heute  meine  abhandlung 
zu  den  im  Heidelberger  codex  Jüberlieferten  deutschböhmischen 
gedichten  nicht  vorlegen,  obwol  ich  schon  in  meinem  HvFreiberg 
s.  199  einen  für  die  mhd.  litteraturgeschichte  interessanten  bei- 
trag  versprach,  ich  gebe  hier  nur  einige  ausschnitte,  die  das 
buch  von  Rosenhagen  ergänzen  sollen:  den  nachweis  der  bürg 
Dewin  in  der  Wiener  Mervart,  um  den  sich  ohne  rechten  erfolg 
ESchröder  Zs.  29.  355 ff.  bemühte,  als  er  zuerst  das  gedieht 
der   böhmischen    literatur  zusprach;    eine  darstellung  der  ortho- 

'  meine  ansieht,  dass  die  rückseite  des  halbblattes  370  ausgeschabt 
sei,  widerlegt  Rosenhagen,  ich  hatte  jedenfalls  vor  15  jähren  diesen 
eindruck  und  nehme  die  berichtigung  gern  zur  kenutuis.  die  spalte  ist 
also  blofs  leer. 


COD.  PAL.  GERM.  341  247 

graphie  von  vier  sicherlich  deutschböhmischen  gedichten  und  ihr 
ergebnis  für  die  herkunft  der  hs.,  sowie  gründe  für  die  ent- 
stehung-  des  gedichtes  vom  'Bergmann'  auf  dem  boden  des  Iglauer 
bergrechtes. 

Die  bürg  Dewin  der  Wiener  Mervart  (v.  32  von  Dewiti 
Jnirgräve  Heniian),  die  'Maideburg',  liegt  am  Hammerteiche  süd- 
lich des  Lausitzer  gebirges,  an  der  alten  heerstrafse  die  von 
Prag  über  Jungbunzlau  im  tale  der  Iser  nach  norden  und  einer- 
seits an  den  bürgen  der  Wartenberger  vorbei  ins  Lausitzerge- 
birge  und  von  da  nach  Zittau  führt,  anderseits  über  Turnau  zu 
den  Strassen  über  das  Iser-  und  Riesengebirge  nach  Schlesien 
gieng.  im  besitze  der  bürg  war  in  der  ersten  hälfte  des  1 3  jh.s 
das  geschlecht  der  Michelsberge,  docli  verloren  sie  ihn  unter 
könig  Premysl  Ottokar  II,  die  bürg  wurde  königlich  und  von 
einem  burggrafen  verwaltet;  so  wird  1260  Heinricus  hurgravius 
de  Dewin  genannt  (Emier  Regesta  Bohemiae  n  p.  99,  vgl. 
Hohenfurter  urk.buch  p.  9) '.  erst  Johann  von  Michelsberg, 
derselbe  dessen  Ritterfahrt  nach  Paris  von  Heinrich  von  Frei- 
berg besungen  wurde,  erhielt  über  Verwendung  seiner  freunde 
von  könig  Wenzel  am  2b  august  1283  (Emier  ii  56u)  castra 
Weleschin  (in  Südböhmen),  Schar fenstain  et  Dewin  cum  civitatibns 
et  villis  pertinentH)us  ad  eadem;  ^vgl.  meinen  HvFreiberg  einl. 
s.  188.  um  1310,  wahrscheinlich  aber  schon  seit  dem  tode 
Johannes  vor  1306,  ist  die  den  Michelsbergen  verwante  linie 
der  Wartenberge  im  besitz  des  Dewin,  während  erstere  nunmehr 
ihren  hauptsitz  in  Südböhmen  auf  der  bürg  Weleschin  haben, 
wo  nach  Johannes  tode  dessen  söhn  Benesch  residierte,  ein 
tapferer  und  einfiussreicher  herr,  der  zwischen  1322  und  1327 
gestorben  ist  und  als  haupt  des  geschlechts  seinen  nicht  minder 
bedeutenden  söhn  Johann  II  hinterliels  (vgl.  Klimesch,  Mitteil, 
des  Ver.  f.  gesch.  d.  Deutschen  in  Böhm.  22,  185  ff.),  in  der 
mitte  des  14  jh.s  spielt  der  Dewin  eine  bedeutende  rolle  in  den 
f  eh  den    der  Wartenberge   gegen  Zittau,   ebenso  in  der  Hussiten- 

'  er  ist  auch  unter  den  rittern  die  sich  bei  Laa  in  Niederösterreich 
zum  kämpfe  mit  Bela  von  Ungarn  versammeln,  Palacky  II  1,  176.  also 
hat  auch  dieser  burggraf  von  Dewin  damals  Wien  gesehen,  die  dichtung 
nennt  aber  einen  späteren  burggrafen  Hermann,  vielleicht  war  er  121(3 
unter  den  zahlreichen  böhmischen  edlen  im  gefolge  könig  Wenzels 
und  seiner  gemahlin  in  Wien,  wo  sie  12  tage  in  fröhlichen  festen 
zubrachten. 


248  BERNT 

zeit,  wo  er  1441  von  den  Laiisitzeni  vergeblich  belagert  wurde, 
über  den  Dewin  und  seine  geschlchte  vgl.  WFeistner  Die  bürg 
Dewin  (Mitteil,  des  Nordböhm,  excursionsclubs  187b.  41 — 51); 
auch  Schaller  Topogr.  des  k.  Böhmen  iv  2  ."'.9;  Sommer  Das 
königreich  Böhmen  u  253.  vorstehendes  wird  hinreichen,  um 
die  entstehung  der  WMervart  ohne  Zuhilfenahme  innerer  gründe 
in  Böhmen  wahrscheinlich  zu  machen,  dafür  sprechen  auch 
andere  namen  des  gedichts,  so  die  Zusammenstellung  von  Akers 
mit  Prag  (v.  136)  und  die  Preufsenfahrt  (v.  147),  wie  sie  von 
Böhmen  aus  1254  und  1268  mit  so  grolsem  erfolge  unternommen 
wurde,  mir  ist  auch  der  name  Brandeiz  (v.  360)  entscheidend, 
dass  Brindisi  gemeint  ist,  liegt  auf  der  hand;  und  doch  scheint 
die  anspielung  nach  einer  andern  seite  berechnet.  Brandeis  a.  d. 
Elbe  ist  bürg  und  Stadt  auf  der  eben  erwähnten  alten  heerstrasse 
von  Prag  nach  dem  norden,  und  dieses  Brandeis  war,  ebenso 
wie  der  Dewin,  im  besitz  der  Michelsberge,  und  zwar  bis  zur 
hussitenzeit  (über  Brandeis  vgl.  Heber  Böhmens  bürgen  vi  24^ ff.). 
zwischen  dem  Dewin  und  Brandeis  ligt  bei  Jungbunzlau  die  noch 
heute  imposante  ruine  der  bürg  Michelsberg  (abbildung  und  ab- 
handlung  bei  Heber  i  35  ff).   — 

Ich  gebe  im  folgenden  eine  auf  eigenen  abschriften  aus 
dem  codex  beruhende  darstellung  der  Orthographie  der  vier 
deutschböhmischen  gedichte  Wiener  Mervart,  Rädleiu,  Schrätel, 
Ritterfahrt,  wozu  ich  als  ergänzung  für  den  Schreiber  ,j  gelegent- 
lich den  leich  RvZweters  heranziehe,  das  vorgebrachte  statistische 
niaterial  wird  Rosenhagens  aufstellung  willkommen  ergänzen 
und  hat  als  hauptzweck  den  nachweis.  dass  wir  es  mit  ostmd. 
und  zwar  böhmischer  Orthographie  des  14  jh.s  zu  tun  haben, 
die  spräche  der  dichter,  soweit  sie  in  den  reimen  zutage  tritt, 
bleibt  ausdrücklich  unberücksichtigt. 

Zuerst  das  wichtige  capitel  der  nhd.  zerdehnung:  WMervart 
t  als  '/,  ausgenommen  2  sei  (682.696)'  und  ht  (378),  das  nach 
dem  diakritischen    zeichen  hieher  zu  setzen  ist  2.    —    h  erhalten 

'  hs.  F  des  HvFreibg.,  um  1300  in  Böhmen  geschrieben  (ein),  p.  3 
und  11),  die  teine  zerdehnung  >  ei  aufweist,  abgesehen  von  kleineu 
stücken  der  nebenhand,  schreibt  gern  .<ie,  sies  (und  hie),  was  immerhin 
der  erwähnuug  wert  ist.  -  ich  geb  die  diakritischen  zeichen,    die  als 

e,  als  V,    als  halbbogen,  als    zwei   einem  flüchtigen   e  ähnliche  puncte  er- 
scheinen, aus  typographischen  gründen  als  e  wieder. 


COD.  PAL.  GERM.  341  219 

als  V,  selten  ii,  in  24  fällen,  wozu  noch  die  15  lalle  von  rf 
kommen,  die  ausnahmslos  ohne  zerdehnung  überliefert  sind,  ent- 
sprechend dem  in  Böhmen  g-eläufigen  vff'\  dem  stehn  jaregenüber 
V  398 f;  av  11  G.  17(1.  424.  625.  Ü3  7;  an-  626;  avir  642;  ov  4b5f. 
488.  553.  585,  also  14  fälle,  ausschliefslich  auf  die  Wörter 
gerfiDiet,  versümet,  käme,  sure,  nakehüre  verteilt,  also  vor  m  und 
>•  (s.  u.).  —  iu  )  et',  eic,  ew  in  15  fällen  (2.  15  f.  24.  48.  164. 
218.  356.  373.  406.  407.  568.  661.  670.  704),  dazu  prvzzen 
(147)  und  die  Schreibung  ür,  die  hier  als  Verlegenheitsschreibung 
gelten  kann,  in  triwe,  getriwe  (38.  285.  551).  das  wort  vriunt 
bedarf  besonderer  behandlung.  der  reim  vrvnden  :  svnden  (40  f.) 
sichert  und  überliefert  auch  hsl.  die  md.  form,  dazu  kommt 
vrvnde  :  svnde  (131);  daneben  aber  im  verse  vrvnt  564.  vrint 
252;  aber  urevnt  281.  606.  vrevnde  bbb.  592.  die  Überlieferung 
erweist,  dass  dem  Schreiber  neben  der  durchgängigen  zerdehnung 
)  ev  die  böhmisch  im  14  und  15  jh.  ganz  allgemein  geltende 
form  fnnf,  f runde  bekannt  war;  über  ihre  weite  Verbreitung  in 
unserem  gebiete  vgl.  Jelinek  Die  spräche  der  Wenzelsbibel 
(Görz  1899)  s.  45  f.  —  nicht  zerdehnt  öndet  sich  noch  die  form 
rvicet  352.  wir  sehen  also  ein  ganz  klares  Verhältnis  zur  neuen 
diphthougieruug. 

Im  Eädlein,  von  der  band  des  Schreibers  y,  ergibt  sich  fol- 
gendes: i  als  i  erhalten,  ü  als  v  erhalten  (29.  71.  77.  12S.  136. 
168.  169.  178.  194.  210.  233.  268.  329.  357.  393.  448.  454. 
466.  492)  in  19  fällen,  wozu  die  17  fälle  von  r/treten,  dazu 
kommt  als  Verlegenheitsschreibung  trvren  124.  gebrvchte  :  ge- 
dvcJite  91  und  die  zwei  fälle  von  zerdehnung  dovhte  128.  davcJite 
445.  —  iu  in  regelraäfsiger  zerdehnung  )  ev  (193.  197.  223. 
236.  298.  327.  339.  3r.O.  364.  393.  477.);  der  Schreiber  y  ist 
also  in  dieser  zerdehnung  weitergegangen  als  ß.  eine  ausnahrae- 
stellung  verlangt  bei  ihm  das  pronom.  iiich.  erscheint  schon 
iiocer  in  verlegeuheitsschreibung  itcer  (s.  ob.)  80.  81.  185.  302. 
498  neben  einem  iiiver  184,  so  ist  vch  in  alter  erhaltuug  (81. 
83.  172.  294.  299.  301.  508)  neben  einem  einzigen  ecch  79. 
wenn  Rosenhagen  (einl.  xxiv)  sich  damit  durch  die  bemerkung 
abfindet  'regelmäfsig  eiy'ch,  auch  vch  geschrieben',  so  will  ich  un 
einem  parallelfalle,  ohne  weitere  deutschböhmische  quellen  heran- 
zuziehen, die  Sache  beleuchten,  der  cgm.  579,  den  ich  in  der 
einleitung   zum  'Ackermann   aus  Böhmen'   in  Böhmen  localisiere, 


250  BERNT 

überliefert  für  diese  diclitung  bei  sonst  völliger  diphthongierung 
(aul'ser  dem  md.  rff'  imd  vereinzelten  frunt)  neben  10  euch  38 
vch.  im  Rädlein  steht  ein  evcli  (79)  neben  7  vch.  das  wort 
dürfte  sonach  als  merkwort  neben  vf  und  frvnt  rücken,  ander- 
seits will  ich  nicht  verschweigen,  dass  in  nordböhraischen  und 
schlesischen  quellen  gerade  euch  als  eines  der  ersten  Wörter  mit 
der  neuen  zerdehnung  vorkommt;  so  find  ich  es  in  der  nach 
Schlesien  gehörigen  Krummauer  deutschen  Bibelübersetzung 
(Mitt.  des  Vereins  f.  g.  d.  Deutschen  i.  B.  38,  38 li,  und  in  dem 
von  mir  bekannt  gemachten  reste  des  deutschen  Weichbildrechtes 
von  Leitmeritz  (Mitteil,  des  Vereins  42,  199)  finden  sich  neben 
der  völligen  erhaltung  von  fi  und  In  (als  u)  5  zerdehnte  euch. 
vielleicht  dass  sich  südliches  und  nördliches  Böhmen  darin  ver- 
schieden verhalten,  denn  ebenda  ist  T  durchaus  ei  geworden, 
während  im  Heidelberger  cod.  341  ei  nur  ganz  sporadisch  auf- 
tritt, die  glatte  entscheidung,  ob  hier  landschaftliche  und  sprach- 
liche factoren  malsgebend  gewesen,  oder  ob  zufall  und  schreiber- 
gewohnheit  den  ausschlag  gaben,  will  ich  seinerzeit  bringen, 
ich  will  hier  nur  noch  das  von  Rosenhagen  (einl.  ix)  heraus- 
gehobene hehevten  =  hehileten  berühren,  ich  habe  bei  bekannt- 
machuug  eines  in  Böhmen  ('in  Prag  oder  nördlich  davon')  ge- 
schriebenen deutschen  Psalters  (Mitteil,  des  Vereins  39,  23  ff.) 
neben  der  verglßichsweisen  darstellung  deutschböhraischer  kenn- 
zeichen  s.  42  auch  ein  ausnahmsweises  ich  han  gehevtet  ('custo- 
divi')  verzeichnet;  die  parallelen  aus  deutschböhmischem  Schrift- 
tum lassen  sich  aber  mehren,  auch  im  Rädlein  steht  ein  ganz 
merkwürdiges  hivte  =  hüete  (363),  dessen  normale  entwicklung 
ein  hevte  gäbe,  wenn  ich  noch  in  Pietsch,  Trebn.  Psalm.,  einl. 
XLVii  die  form  beheute  ('custodi')  und  irhJeide  ('refloruit')  finde, 
so  kann  die  erscheinung  als  ostmd.  erwiesen  gelten. 

Im  Schrätel  zeigt  sich  folgendes  Verhältnis  zur  neuen  zer- 
dehnung :  i  als  i  erhalten,  ü  als  v  erhalten  in  25  fällen,  worin 
die  Schreibung  mvl  227.  svste  :  prvste  22  If  einbezogen  ist; 
dazu  kommen  die  18  fälle  vf.  die  zerdehnung  erfolgte  in  sovmte 
35.  kovme  187.  rovmen  207.  hovman  319.  324.  346.  348.  ge- 
boirer  :  sower  55  f.  son-ev  160,  also  vor  m  und  r  wie  beim 
Schreiber  ß.  man  bemerkt,  dass  der  Schreiber  y  seit  der  nieder- 
schrift  des  Rädleins  der  eindringenden  diphthongierung  weniger 
standgehalten   hat    und   sich    dem    verhalten    von  ß  nähert,     zu 


COD.  PAL.  GEEM.  341  251 

der  zerdehniing-  vor  iit  notiere  ich,  dass  gerade  kocme  auch  in 
schlesischen  denkmälerii  frühzeitig  auftritt,  so  lind  ich  es  in 
der  oben  erwähnten  Bibelübersetzung  (Mitt.  des  Vereins  3S,  3S3) 
neben  durchgängigem  it  und  einzelnen  n.  —  tu  steht  im  Schrätel 
in  der  zerdehnung  ev,  ew  (3.  4.  70.  92.  138.  144.  170.  181. 
188.  201.  334.).  ebenso  zu  betrachten  ist  die  Schreibung  v 
((i9f.  97j  und  l/c  (195 f.).  dazu  tritt  nun  das  schon  oben  ge- 
sondert betrachtete  iicer  (67.  83.  86.)  neben  lacer  (134.  135.) 
und  als  ausnähme  wie  oben  vch  (16.  64.  84.  luS.  121.  111. 
146.   150.),  also  kein  evch,  und  das  als  erhaltung  anzusprechende 

e 

vrvnt  66. 

Der  Schreiber  d,  der  die  Eitterfahrt  anfügte,  hat  n  in  den 
Wörtern  vz  (9  fälle)  und  Ivte  (229)  erhalten  und  nur  die  zer- 
dehnung travren  (79),  also  vor  r.  dazu  kommen  die  13  fälle 
von  vf.  dieser  conservativen  haltung  entgegen  findet  sich  eine 
zerdehnung  des  ?  in  enheizzen  :  vleizzen  (65 f).  die  in  sind 
diesmal  ausnahmslos  zerdehnt,  die  bei  ß  und  ;/  gewöhnliche 
Schreibung  ev  ist  aber  seltener  (55.  108.  IT.'.  150.  199;  hieher 
auch  creatüre  '■  f'evre  197f);  gewöhnlicher  ist  eiv,  auch  ew  (2S. 
85.  117.  185.  273.  287);  auffällig  und  für  ö' charakteristisch  ist 
vvw  (136.  143.  1(14.  178)  und  ebenso  die  zerdehnung  ev  =  /;/t7/  61. 

Die  zerdehnung  der  alten  monophthonge  zeigt  also  in  den 
behandelten  gedichteu  ein  für  die  zeit  der  niederschrift  der  hs. 
rüstiges  vorschreiten  der  neuen  Schreibung,  wie  es  nachweislich 
nicht  in  dem  nördlichen  Deutschböhmen  der  fall  war.  es  zwingt 
das  zu  dem  Schlüsse,  dass  der  Schreiber,  wenn  er  im  nördlichen 
Böhmen  geschrieben  hat,  mit  dem  südböhmischeu  und  mährischen 
schriftgebrauche  vertraut  war  oder  aus  dieser  gegend  stammte, 
die  um  1300  geschriebene  hs.  F  des  Tristan  HvFreibergs  weist 
nur  in  kleinen  stücken  der  nebenhand  solche  zerdehnungen  auf 
(eiul.  p.  2),  hat  aber  sonst  eine  etwas  schärfere  md.  färbe  in 
den  ver  )  vor^  vur  )  vor,  ze  )  zu,  die  in  der  Heidelberger  hs. 
nur  in  mehr  oder  minder  starken  ausätzen  voi-handen  sind,  denn 
ver  )  vor  kennen  die  hier  behandelten  stücke  überhaupt  nicht. 
vur  >  vor  nur  Eädl.  9,  Schrat.  129,  166,  Eitt.  180;  daneben 
aber  vur  Merv.  103.  415.  641.  fv^haz  430;  Eädl.  (aufser  den 
reimbelegen)  v.  390.  fvrhaz,  vurbaz  83.  142.  im  Schrat,  aufser 
den  reimbelegen  v.  112.  152.  219.  Eitt.  44.  235'.  umgekehrt 
'  rerioar  in  Merv.  356.  476.  5  IS.  564.  644. 


252  BERNT 

wird  vor  )  fvr  Merv.  319,  neben  cor  355.  422.  —  die  angäbe 
Rosenhagens  (einl.  xxiv;  "die  Vorsilbe  zer-  ist  immer  zii-  ist 
ungenau;  ich  notiere  aus  der  Mervart  zehrochen  448  neben  zv- 
hrochen  567.  zvhrach  420;  Rädl.  zetriben  414  ist  falsche  Über- 
lieferung, aus  dem  Schrat,  aber  zestoret,  zervttet  130.  zekratzt 
300.  315.  zehizzen  315.  zerirzen  316  neben  zvzerren  240.  316. 
—  das  Verhältnis  der  präpos.  zu  (md.)  zu  ze  (bayr.  öst.)  ist  in 
Merv.  35  :  10,  in  Eädl.  13  :  17,  im  Schrat.  3  :  14,  in  Ritt.  14  :  4. 
wollen  wir  verallgemeinern,  so  sehen  wir,  dass  die  bemerkung 
Rosenhagens  (xxiv)  nur  für  p'  und  ö  passt,  für  ;'  nicht;  aber 
auch  in  ,?  weist  zb.  der  leich  RvZwet.  zu  :  ze  ein  Verhältnis 
4  :  10  auf.  —  als  monophthongierung  sind  die  von  uo  )  v  ge- 
setz,  die  von  ie  )  i  ausnähme,  nämlich  vom  standpunct  der 
Orthographie,  und  zwar  in  Merv.  schlre  in  allen  3  fällen  (59. 
17  7.  487)  1  und  si  in  56  fällen  —  auch  in  RvZweters  leich 
stehn  10  si  desselben  Schreibers  —  beim  Schreiber  y  im  Rädlein 
ist  es  schire  20S  und  imant  892"  (neben  niemnnt  432.  453.).  im 
Schrätel  findet  sich  nur  idoch  321  und  der  reim  zieh  :  vidi  121 
(darüber  HvFreib.,  einl.  97).  in  der  Ritterfahrt,  also  beim 
Schreiber  Ö,  steht  neben  5  si  (96.  166.  246.  254.  256)  und 
doch  318  noch  geziret  202,  gehijsiret  220  (neben  gezieret 
219.  271).  wir  haben  einen  ähnlichen  bestand  wie  in  hs.  F 
des  HvFreiberg. 

Im  folgenden  seien  nun  kennzeichnende  md.  und  auch  für 
böhmische  herkunft  beweisende  formen  angeführt,  das  ist  md. 
iz,  so  in  der  Merv.  in  18  fällen,  dem  nur  2  ez  (196.  357)  ent- 
gegenstehn;  im  Rädl.  11  iz  neben  l  ez  (192.  221.  222.  305); 
im  Schrat,  (also  bei  demselben  Schreiber  wie  im  Rädl.)  aber  nur 
e  in  iz  (234)  gegenüber  44  ez ;  in  der  Ritterf.  (dem  Schreiber  J) 
nur  iz  (70.  158.  160).  —  beweisend  ist  weiter  qvam,  quam'-: 
Merv.  6()5.  637  —  ebenso  RvZweter  leich  71  —  Rädl.  103. 
511,  Schrat.  43.  275.  280.  285.  346;  plur  qvamen,  quamen 
Merv.  497.  584,  Schrat.  28.  31;  conj  quem{e)  Rädl.  159.  Ritt. 
69.  daneben  aber  kom  Merv.  268,  Ritt.  54.  221.  267;  plur. 
komen  Merv.  494,  Ritt.  254  ;  dazu  auch  eine  conj. -form  kom 
Merv.  196.  —  nicht  minder  bekannt  aus  hss.  des  mittleren  und 
nördlichen  Böhmens    ist   die  form  nakehur,    die  in  der  Merv.  in 

'    ein    hier.  :   mter    Merv.    381  f.     ist    durch    deu    reim    erzwungen, 
nordböbmisch  noch  heute  ha'  quam. 


COD.  PAL.  GEEM.  341  253 

der  Schreibung  nakehavr  176.  nakehvr  335.  nak(/ehvr  398.  nah- 
gehaicr  62(i.  nachtgehvr  4U5i.  nachgehavr  117  überliefert  ist. 
—  dass  sich  die  kennzeichnende  nordbühmische  form  kcf/cii,  kein 
nicht  findet,  soll  nicht  unerwähnt  bleiben;  es  steht  (jC(jen  in  der 
Merv.  in  S  fällen;  im  Eädl.  v.  386;  Eitterf.  248.  '274.  31". 
engegen  267;  und  gein  im  Schrat.  20.  38.  188.  272.  belege  für 
kegen  für  unser  gebiet  bei  Jelinek  Wenzelsbibel  s.  68.  —  hier 
mag  auch  die  form  vude,  die  in  Böhmen  md.  von  obd.  ein- 
tragungen  zu  scheiden  pflegt,  erwähnt  werden,  allerdings  tritt 
vnde  auch  in  Böhmen  nur  in  wenigen  Urkunden  und  Schrift- 
werken ausschliefslich  auf,  vnd  und  vFi  stehn  gewöhnlich  dabei, 
die  untersuchten  gedichte  bieten  folgendes  Verhältnis:  Merv.  (■]) 
33  vnde,  56  vvd,  17  rii-:  Eädlein  {-/)  li  vnde,  30  vnd,  \i  vn; 
Schrätel  (/)  23  V7ide,  48  vnd,  17  r«;  Eitterf.  (d)  11  vnde,  12 
md,  kein  vii.  während  also  die  Schreiber  ,j'  und  y  ziemlich  den- 
selben gebrauch  aufweisen,  tritt  bei  d  in  der  Eitterf.  vnde  mehr 
in  den  Vordergrund,  während  vü  fehlt,  demnach  ist  also  die 
bemerkung  Eosenbagens  (einl.  x  vgl.  auch  ix  unten),  'dass  ;' 
meist  vnde,  nie  vn  schrieb'  unrichtig,  ebenso  wie  seine  bemerkung 
über  d  mit  berufung  auf  meine  notiz  zu  z.  14  der  Eittei-f. 
dort  habe  ich  die  1 1  belege  von  vnde  genau  angeführt,  mi  hr 
nicht!  dass  weitere  12  vnd  in  dem  gedichte  stehn.  erweist 
ein  blick ;  sie  in  den  laa  aufzuführen,  war  kein  grund  vor- 
handen, für  alle  Schreiber  kann  also  vnde  als  zeichen  md.  Ortho- 
graphie in  anspruch  genommen  werden.  —  für  charakteristisch  •'■ 
halt  ich  auch  die  form  6i-/r/<  Merv.  262.  422.  529.  67^,  Schiät. 
16S.  über  die  Verbreitung  von  suIcJi  in  unserem  gebiet  vgl. 
Jelinek  s.  32.  noch  mehr  bezeichnend  für  böhmische  denkmäler. 
besonders  in  Prag  und  dem  südlichen  und  südöstlichen  Böhmen 
entstandene,  sind  die  bair.-österr.  Schreibungen  schuUen  neben 
snllen.  sie  sind  nicht  nur  eine  Schreibeigentümlichkeit  von  ^^ 
(Eosenhagen.p.  xxv)  und  haben  eine  gröfsere  beweiskraft  eben 
wegen   ihres  gemischten  auftretens.     wir  linden  sie  allenthalben 

'  nachtgepaicer,  naehtpaicer  kennt,  auch  die  Wenzelsbibel,  vgl. 
Jeliuek  s.  39.  ^  in  EvZweters  leicli  steht  aber  von  demselben  Schreiber 
fast  aus  nahmslos  rn,  nur  einmal  (v.  40)  cnd  und  einmal  (v.  55)  r/'/fe. 
^  die  form  neu,  die  auch  Eädl.  465  steht,  nennt  Mourek  Zum  Prager 
deutsch  des  14  jh.  p.  43  'eigentümlich  pragerisch';  sie  ist  aber  überhaupt 
ostmd.,  belege  bei  Jeliuek  aao.  s.  38. 


254  BERNT 

in  böhmischen  und  mährisi-hen,  auch  schlesischeu  quellen,  zumeist 
neben  stillen,  sollen,  hier  zeigt  Merv.  57S  scJtvlle  wir  (neben 
sollen,  svlt  172.  506);  Rädl.  ir  schilt  497.  scholt  (impf.)  358. 
schulde  70.  135.  291.  427.  490  (neben  svlt,  svl  81  f.  172.  282. 
300.  sohle  242.  257).  auch  sonst  sind  die  für  spräche  und 
Orthographie  entscheidenden  verbalformen  in  der  Heidelb.  hs. 
dieselben  wie  sie  in  böhmischen  Urkunden  auftreten,  so  nur 
gen,  sten  in  allen  untersuchten  gedichten,  die  belege  sind  zahl- 
reich, die  a-form  in  den  reimen  wie  Schrat.  53.  147.  20  1. 
Ritt.  249  sind  eben  litterarische  reime,  die  auch  die  Schreiber 
nicht  beseitigen  konnten,  litterarisch  scheinen  überhaupt  diese 
rt-formen  bei  HvFreiberg  zu  sein,  wenn  er  auch  nur  vereinzelte 
conj.  e-formen  reimt.  —  dazu  koncle  (nur  Ritt.  256  kvncle),  he- 
(jonde,  sohle,  ivolde,  torste,  mochte,  dorfte,  iceste  (die  im  ostmd. 
auch  bekannte  form  woste  ist  grob  mundartlich)  in  hinreichenden 
belegen,  schrei  ist  von  den  Schreibern  im  versinnern  überliefert 
Merv.  445,  Rädl.  168,  Schrat.  243;  auch  im  reim  Merv.  45(i; 
schre  :  u-e  nur  im  Schrat.  235,  sie  ist  bei  HvFreib.  (einl.  110) 
als  litterarisch  angesprochen.  —  die  prät.-form  von  fiän  ist  im 
indic.  het  Mery.  474,  Rädl.  35.  102,  Schrat.  190.  192.  290, 
Ritt.  106.  288;  hete  Merv.  484.  486,  Ritt.  202.  219;  plur.  heten 
Merv.  102.  215.  242.  245.' 250.  527.  562.  604,  Ritt.  238.  es 
werden  alle  diese  formen  das  von  mir  (HvFreibg  einl.  1 05)  aus- 
führlich besprochene  hete  (hcete)  meinen,  dass  beim  Schreiber  / 
auch  hat  und  zwar  im  Rädl.  29.  50.  66.  98.  318.  470;  hatte 
(hsl.  harte)  61;  plur  hatten  26.  95.  466  vorkommt,  wird  mit 
der  beschaffenheit  der  vorläge  zusammenhängen,  den  einfiuss 
der  vorläge  auf  die  Schreiber  zu  untersuchen,  Aväre  ja  von  in- 
teresse,  gewis  aber  wird  das  ergebnis  nicht  sehr  viel  eindeutiges 
material  liefern.  denn  wir  haben  es  bei  den  von  Rosen- 
hagen nachgewiesenen  schreiberhändeu  mit  einer  im  ganzen 
recht  gefestigten  und  einheitlichen  Orthographie  zu  tun.  wichtiger 
ist  die  frage,  ob  die  Heidelb.  und  Caloczaer  hss.  originalarbeiteu 
nach  demselben  plane  oder  abschriften  sind,  ich  bin  bei  allen 
beobachtungen  zur  Überzeugung  gekommen,  dass  wir  es  mit  ab- 
schriften zu  tun  haben,  die  eine  ziemliche  reihe  von  jähren 
nach  der  anläge  des  Originals  entstanden  sind,  die  Heidelberger 
hs.  weist  soviel  jüngere  sprachliche  erscheinungen  auf,  dass  sie 
vor    1320 — 1330    kaum    geschrieben    sein    kann,     eine    genaue 


COD.  PAL.  GERM.  3-11  255 

iintersuchuug  der  ortliogiaphie  aiicli  der  Colaczaer  hs.  würde 
durch  den  geg-enseitig-en  vergleich  und  durch  die  Zusammen- 
stellung mit  dem  reichen,  wenn  auch  weit  auseinanderliegenden 
materiale  in  Böhmen  unanfechtbare  ergebnisse  bringen,  und  eine 
solche  Untersuchung  wäre  im  Interesse  der  litterarisch  und 
culturgeschichtlich  inerkwüi'digen  frage  lebhaft  zu  wünschen. 

Anhangsweise  will  ich  noch  auf  einige  orthographisch-sprach- 
liche kennzeichen  aus  der  vorliegenden  hs.  aufmerksam  machen, 
dass  s  und  z  nicht  selten  permiscue  gebraucht  erscheint,  betont 
Roseuhagen.  die  beispiele  treffen  besonders  z  für  s;  so  hab  ich 
aus  der  Mervart  allein  13  iraz  =  was  notier.t.  —  den  bair.  an- 
laut  ch  für  k  beleg  ich  ganz  vereinzelt:  cbavkeit  Merv.  689.  — 
auch  ij  für  /  tritt  selten  auf.  ich  bemerke,  dass  die  Schreibung 
mit  ij  vornehmlich  Nordböhmen  und  noch  mehr  Schlesien  charak- 
terisiert, in  unsern  gedichten  gerne  zwischen  vocalen.  Rädl. 
mei/en  :  zweyen  467,  eya  1S7;  Schrat,  eyer  156;  sonst  neyi/e 
Schrat.  2,  ysenin  193.  tyer  Ritt.  155,  gyres  129.  133,  banyr 
150,  tyiist  214.  236,  geleysiret  220,  tvrneys  306  und  mehrere 
eigennamen.  —  das  bair.  cd,  das  besonders  in  der  ersten  hälfte 
des  14  jh.  in  Böhmen  neben  ei,  ey  auftritt,  zeigt  sich  in  den 
untersuchten  gedichten  nur  auf  wenige  worte  beschränkt.  Rädl, 
maidelin  (Überschrift),  maitin  49,  maytin  55,  maytvm  252.  258. 
277,  mayi  5ul.  malt  3S8.  485  :  verzait  169  :  gesait  507.  Ritt.  37. 
Schrat,  er  mite  161.  169;  Ritt,  gesait  300,  sait  324,  also  nur 
in  Wörtern,  die  die  kontraktion  aus  -age  erkennen  lassen  '.  da- 
neben megetin  Rädl.  357,  gescit  Ritt.  190.  sonst  tindet  sich 
nur  schaitel  Rädl.  59.  rait  Ritt.  178.  —  auch  die  rundung  des 
a  ist  ganz  vereinzelt:  Rädl.  139.  209  er  moJet,  268  gemolt : 
Ritt.  167  nohen.  310  hegoliet.  diese  verdurapfungen  treten  in 
Böhmen  gewöhnlich  in  mit  dar-  und  icar-  zusammengesetzten 
adverb.  und  sonst  nur  häutig  gegen  das  schlesische  Sprachgebiet 
hin  auf.  —  die  Mervart  überliefert  durch  H  und  C  v.  561 
ir  krenket  im  sin  ere.  die  von  Hagen  und  Lambel  gebrachte 
conjectur  ez  (iz)  krenket  ist  unnötig;  wir  haben  crkrenken  vor 
uns  und  zwar  in  md.  Orthographie  irkrenket,  um  die  es  mir  hier 
zu  tun  ist.  —  unorganisches  -e  (s.  Rosenhagen,  einl.  xxv)  in 
Merv.  339  läge,  420  zvhrache,  575  ivire  (-=  /rir);  Ritt.  118. 
125  gäbe,  221  kome.  —  von  der  Schreibung  oe  für  ö  bietet 
'  im  leiche  KeimvZwet.  meide  56.   68,   maf/tcm  80,   maf/et  117.  163. 


256  BERNT 

Merv.  hoese  21.  200.  421.  590.  G97.  —  auslautend  </  erscheint 
in  Merv.  als  ch,  k  nnd  ck,  selten  als  c;  im  Eädl.  als  c,  selten 
als  k  und  ch;  im  Schrat,  als  c,  selten  als  k;  in  der  Ritt,  als 
k,  selten  als  c  und  ,7,  wozu  noch  4  fälle  der  Schreibung  kvnich 
kommen.  über  die  entsprechungen  in  unserem  gebiete  im 
späteren  14  jh.  vgl.  Jelinek  Wenzelsbibel  p.  6  7  ff.  —  die  Schreibung 
]it  statt  des  späteren  cht  scheint  mir  einer  der  gründe,  dass 
wir  es  mit  der  abschrift  einer  älteren  vorläge  zu  tun  haben  \ 
so  in  niht  Rädl.  25  fälle,  Merv.  21  fälle,  Schrat.  10  fälle;  da- 
neben Schreibungen  Merv.  mohte  160.  239,  moht  409,  iht  503. 
576  (neben  icht  675),  liht  119.  475,  hinaht  508,  nehten  566, 
vehten  b9S,  reht  197.  287.  482.  573.  577.  655.  681,  des  naht  es 
222.  481,  mäht  :  naht  267,  trehtin  388,  niht :  schiht  296  :  geriht 
255  u.ö,;  Rädl.  iht,  mohte,  lieht,  dovhte.  nehten  u.  a.;  Schrat. 
Uhte,  lieht,  dähte,  gdhte;  'Ritt,  zvht,  wobei  ich  von  se//f  u.  ähnl. 
absehe,  nur  die  Ritterf.  hat  nicht  in  7  fällen,  icht  v.  12,  licht 
118.  125;  dafür  aber  merkwürdig  ovh  224.  296.  326.  in  Merv. 
steht  übrigens  auch  darnah  475,  nah  (=  nach)  681.  wenn 
man  dann  noch  reimbilder  sieht  wie  naht :  gewacht  Merv.  500; 
sieht  :  recht  Rädl.  129,  brachte  :  hedahte  3S7,  envachte  :  gedahte 
107;  und  dann  wieder  fälle,  wo  das  c  über  der  zeile  eingefügt 
wurde,  wie  dalite  :  hralite  Rädl.  245,  übrigens  auch  v.  68  hra'ht, 
so  muss  das  den  gedanken  einer  in  älterer  Orthographie  ge- 
schriebenen vorläge  nahelegen. 

Da  Rosenhagen  sich  die  entstehung  des  gedichtes  vom 
'Bergmann'  in  Böhmen  denkt,  Avas  auch  schon  der  erste 
herausgeber  Pfeiffer  (Germ.  1,  353)  vermutete,  will  ich  im  fol- 
genden notizen  beisteuern,  die  diese  annähme  stützen  kimnen, 
indem  ich  aus  dem  in  Böhmen  geltenden  Iglauer  bergrecht  zu- 
sammenstelle, was  der  erklärung  dienen  kann,  ohne  Pfeiffers 
erklärung  und  belege  zu  widerholen,  einige  stellen  werden  be- 
weisen, dass  das  gedieht  aus  der  genauen  kenntnis  des  Iglauer 
bergrechts  heraus  entstanden  ist.  ich  beziehe  mich  dabei  auf 
Zycha  Das  böhm.  bergrecht  des  raa.,  vor  allem  auf  die  im  11  bde 

'  auch  Verschiedenheiten  im  gebrauche  desselben  Schreibers  bei  ver- 
schiedenen gedichten  wie  f/egen  und  i/ehi  (s.o.),  eö  und  ?>  (s.o.),  liefe  nnd 
hat,  harte  (s.  0.),  auch  dass  im  leich  RvZweters,  der  nach  Rosenhagen  von 
demselben  Schreiber  wie  die  Mervart  gesclirieben  ist,  fast  nur  rn  steht, 
könnten  auf  differenzen  in  den  vorlagen  zurückgehen. 


COD.  PAL.  GERM.  341  257 

niedergelegten  textquellen;  auch  konnte  ich  in  einer  reihe  von 
bogen  schon  Jelineks  im  erscheinen  begriffenes  Wörterbuch  be- 
nutzen. —  V.  15  eine)ii  ausläuten  heilst  in  Böhmen  auch  heute 
'jem.  zum  begräbnis  läuten'.  —  v.  39  ff  sicher  ist  bei  dieser 
wol  schon  in  der  vorläge  verderbten  stelle,  dass  grüner  su-eif 
eine  bestimmte  färbung  des  minerals  bedeutet,  die  auf  das  auf- 
treten von  Silber  schlief sen  lässt,  vgl.  hleiscluceif  bei  Göpfert 
(Zs.  f.  d.  wortf.,  III  beiheft).  'schweif  hat  dabei  immer  die 
bedeutung  'ende,  ausläufer",  von  dem  die  hauptsache,  der  köpf, 
nicht  weit  ist.  gemeinsamer  fehler  ist  v.  42  guUUn,  das  die 
Schreiber  für  das  anspruchlosere  silber  gesetzt  haben,  um  das 
es  sich  im  gedichte  handelt,  vielleicht  ebenso  v.  468.  als  ein 
glas  kann  wol  richtig  sein;  es  bedeutet  eben  'glaserz'  =  'silber- 
glanz',  eines  der  wichtigsten  erze  für  die  Silbergewinnung,  vgl. 
V.  472.  alsani  ein  gras  wird  dann,  wie  Rosenhagen  vermutet, 
nur  der  formelhafte  mhd.  vergleich  sein  zur  Verdeutlichung  des 
grünen  gesteins.  —  v.  46  einen  gang  bestechen  ist  der  terminus 
für  die  prüfung  auf  den  erzgehalt;  im  Igl.  bergrecht  allent- 
halben. —  V.  47  eines  lachters  lanc;  mindestens  eine  klafter 
lang  muss  ein  neuer  stellen  erz  aufweisen.  Igl.  bergr.  §  13,  3 
das  ercz  sal  czum  minsten  eins  lochters  lang  sin;  man  bemerke 
die  wörtliche  Übernahme  des  ausdrucks.  —  v.  48  vnvorschroten  ; 
Vgl.  ebd.  §  5  findet  er  ahir  ercz  an  gengen,  di  vor  vnvor- 
schroten vnde  vnvorhawen  sin.  auch  in  Mathesius  Sarepta  Id, 
447  unverschrotten  gang.  —  v.  49  gevilde  in  den  Iglauer  ober- 
hofentscheidungen  nr  1,  7  terminus  für  den  zu  untersuchenden 
bergbereich.  —  v.  55  das  ligende  ==  gesteiu  unter  dem  gang, 
vgl.  Igl.  Urkunde  A  §  2  u.  B  §  2.  obeihofentscheidungen  nr  3. 
—  V.  66  ztcene  schepfen,  vgl.  zum  folg.  vers.  —  v.  67  lener  ist 
der  Verleiher  des  abbaurechtes,  vgl.  Igl.  bergr.  §  13.  Newe  genge 
habin  das  recht,  das  man  si  emphfahen  sal  von  nimande  wenne 
alleine  von  dem  liher.  Von  rechte  gibt  er  im  nicht  mer  denne 
ein  czweiunddrisigteil.  Vnde  dem  finder  sal  man  heissen  rumen 
ein  Wien.  Der  darnach  ist,  is  sie  der  andir,  der  dritte  adir 
der  virde,  hat  dasselbe  recht.  Findet  er  ercz,  do  er  der  masse 
czu  gert,  di  schepphin  sullen  sinen  gang  hamcen  czu  minsten 
czwene.  Das  ercz  sal  czum  minsten  eins  lochters  lang  sin  czu 
fusse  in  siner  sale.  Gibet  das  einen  firdimg  silbers  obir  alle 
sine  hutiekoste  und  das  die  schepphin  begrifen  mit  irem  eide,  ap 
Z.  F.  D.  A.  LH.     N.  F.  XL.  17 


25S  BERXT,  COD.  PAL.  GEEM.  341 

si  (jefraget  tcerden  von  dem  urharer,  so  ist  is  der  maße  wert. 
diese  stelle  erklärt  auch  die  gauze  Situation  unseres  gediclites; 
vgl.  auch  V.  97  und  26Gf.  wer  bergverleiher  sein  kann,  bestimmt 
das  DIgl.  bergrecht  §  17.  —  v.  72  sin  teil  =  V32  mitbaurecht 
fiel  auf  den  Verleiher.  —  v.  97  die  kost  =  hergkost,  der  von 
jedem  teilhaber  zu  leistende  beitrag  für  den  aufwand  beim  bau, 
der  wöchentlich  zu  zahlen  war  (vgl.  v.  131.  184.  307  f.  421),  auch 
wenn  noch  nichts  gefördert  wurde.  —  v.  141  kratze,  in  deutsch- 
böhmischen mdaa.  ganz  gewöhnlich,  auch  in  urk.  B  des  Igl. 
bergr.  §  19  belegt.  —  v.  142  kaurce  'schachthäuschen'.  auch  dem 
Iglauer  bergr.  geläufig.  —  v.  166  swartz  sam  ein  bli:  die  böh- 
mischen Silberbergwerke  um  Iglau  förderten  hauptsächlich  blei- 
gianz.  —  V.  226.  über  die  vorschriftsmäfsige  ausbeute  Igl. 
urk.  B.  §  8  vnd  daz  ez  (=  ercz)  auch  also  versuecM  si,  daz  sin 
ein  liicz  czu  dem  ministen  einen  vierdunc  uher  die  hutenkost  gebe, 
hier  also  auch  die  bedeutung  der  hitz  (v.  229)  als  schmelz- 
process;  vgl.  DIgl.  bergr.  §  13,  3.  —  v.  255  u.  339  richtschacht, 
terminus  auch  im  Igl.  bergrecht.  —  v.  319  wird  man  wol  dar 
nach  lesen  wie  v.  316.  —  v.  348  wer  von  den  gewerken  seiner 
Verpflichtung  gegen  den  betrieb  nicht  nachkommt,  dessen  anteil 
verfällt  nach  dreimaliger  Versäumnis.  DIgl.  bergr.  §  28  Ist  das 
iemant  tail  hat  an  eim  gepirge  und  aiizerhalb  landes  ist,  ver- 
säumet sein  hesteUer  oder  sein  pfleger  drei  gedinge,  daz  er  seiner 
cost  dar  czu  nicht  geit,  er  verleust  sein  tail  mit  rechte.  —  v.  362 
beweist  wol  auch,  dass  wir  auf  deutschem  neuland  stehn.  im 
Osten,  wo  meifsnische  und  fränkische  colonisten  sich  betätigten ; 
dasselbe  geht  aus  v.  60 f  hervor,  der  wol  freibergische  ent- 
stehung  ausschliefst.  —  v.  4  02  ff  bulgen  auch  in  Wenzels  Con- 
stitution des  bergrechts,  Zycha  I  7,  16  das  man  furpas  nimande 
Ionen  noch  begaben  sol  mit  ercze,  ausgeniimen  di  di  bulgen 
machen  vnd  pessern.  v.  404  f  wird  erst  durch  diese  bestimmung 
des  bergrechts  verständlich,  da  nur  diese  arbeiter  (und  noch 
zwei  gattungen  fachleute)  statt  gemünzten  geldes  mit  erz  ent- 
lohnt werden  durften,  redet  sich  der  Schwindler  über  die  fehlende 
föi'derung  leicht  aus.  —  v.  442  kVuft  im  gestein  ist  in  der 
bergsprache  dem  gehauenen  gang  (v.  443)  entgegengesetzt,  'leiten' 
ist  in  Böhmen  nur  der  glänzende,  undurchlässige  tonmergel, 
nicht  lehm.  bei  Mathesius  Sarepta  5,  222  heifst  es  zeher  Letten 
oder  pichichter  Leim.  —  v.  472  pli  linden  (auch  in  K)  ist  kaum 


SIEGMUNDS  SCHWERT  259 

etwas  anderes  als  hühlinde  =  'bleiblende,  bleiglanz":  vgl.  zn 
V.  166.  —  V.  492  grelle  'gabel"  steht  in  der  Wenzelsbibel; 
Grell ensmid  ist  ein  eigennarae  in  den  Iglauer  oberhofent- 
scheidungen  nr.  36. 

Das  im  vorstehenden  gesagte,  besonders  bei  v.  47:  67  u. 
402,  beweist  den  engen  Zusammenhang,  ja  die  wörtliche  kenntnis 
und  benütznng  der  bestimnuingen  des  Iglauer  bergrechts.  so 
dürfte  der  Wortschatz  allein  die  entstehung  des  gedichtes  in 
Böhmen  sichern. 

Leitmeritz.  im  februar   1910.  Alois  Bornt. 


SIEGMUNDS  SCHWERT. 

In  seinem  vortrefflichen  abriss  der  deutschen  heldensage  in 
der  Sammlung  Göschen  ^  klagt  Jiriczek  s.  80  über  den  mangel 
an  Zusammenhang  in  der  von  der  Vf^lsungasaga  erzählten  Sieg- 
mundsage:  "das  siegschwert,  das  Siggeirs  gier  erweckt  und  das 
ganze  drama  von  verrat  und  räche  einleitet,  spielt  weiter  keine 
rolle  darin.  Siggeir  kümmert  sich  nicht  um  seinen  verbleib  und 
wird  nicht  mit  dem  Schwerte  gefällt',  weiter  heilst  es  s.  81  : 
'das  siegschwert  muss  in  der  alten  Siegmundsage  eine  entschei- 
dendere bedeutung  gehabt  haben,  als  die  Überlieferung  erkennen 
lässt'.  und  s.  82:  'die  sage  verliert  den  festen  motivreif,  der  sie 
umschliefst,  wenn  man  das  irotiv  des  Wodansschwertes  beseitigt' ; 
denn  wie  sie  mit  der  Verleihung  des  Schwertes  durch  Wodan 
anhebt,  so  endigt  sie  mit  der  Zertrümmerung  der  waffe  durch 
den  gott.  —  versuchen  wir,  die  berechtigung  der  von  Jiriczek 
ausgesprochenen  Vermutung  prüfend,  uns  vorzustellen,  wie  etwa 
das  Schwert  früher  in  der  sagenhandlung  mitwürkte,  so  kann  es 
zb.  in  der  schlacht  der  Volsungen  gegen  Siggeir  wol  eine  rolle 
gHspielt  haben,  dass  sein  träger  in  die  gefangenschaft  geriet, 
ist  dann  vielleicht  nicht  denkbar;  aber  es  scheint  sehr  wol 
möglich,  dass  Siegmunds  Überwältigung  secundär  ist.  dass  er  in 
der  alten  sage  dem  feinde  dank  seinem  Schwerte  entrann, 
während  der  vater  und  die  brüder.  falls  der  held  schon  solche 
hatte,  dem  verderben  anheimfielen,  eine  derartige  reconstruction 
der  ursprünglichen  sagenform  muss  selbstverständlich  als  gewagt 
bezeichnet  werden,  direct  unhaltbar  aber  wird  man  sie  nicht 
nennen,     dagegen,   kann    das  schwert  Siegmunds  jemals  bei  der 

17* 


260  PESTALOZZI 

Vollendung  der  räche  an  Siggeir  in  action  gebraclit  worden  sein? 
dass  eine  solche  annähme  unzulässig  ist,  kann  zur  evidenz  er- 
wiesen werden,  vielleicht  ist  es  kein  primärer  zug,  dass  Siguy 
die  eigenen  kinder  opfert;  jedenfalls  aber  erzählte  die  sage  von 
allem  anfang  au,  wie  sich  Signy  mit  ihrem  bruder  verband,  da 
nun  die  räche  vollbracht  ist,  besteht  für  Signj'  keine  andere 
müglichkeit  aufser  der  die  sie  selbst  nennt:  'soviel  habe  ich 
getan,  die  räche  auszuführen,  dass  es  mir  nicht  erlaubt  ist,  länger 
zu  leben',  so  erscheint  es  als  unumgängliche  psychologische 
notwendigkeit,  dass  Signy  mit  ihrem  gemahl  in  den  tod  geht, 
für  den  gemeinsamen  tod  des  paares  ist  aber  offenbar  der  mord- 
brand  die  einzige  in  betracht  kommende  form,  das  siegschwert 
wurde  mithin  bei  der  katastrophe  nicht  geschwungen,  ist  aber 
die  göttliche  waffe  von  jeher  dem  ziel  der  handlung  des  Sigu}'- 
dramas  fern  geblieben,  so  kann  der  zweifei  nicht  unterdrückt 
werden,  ob  denn  das  siegschwert  überhaupt  zur  rachesage  gehörte, 
nimmt  man  mit  Jiriczek  und  allen  andern  auCser  Boer  an,  dass  die 
schlusscene,  in  welcher  Odin  seinem  liebling  das  schwert  zer- 
bricht, zur  alten  sage  gehöre,  dann  allerdings  bleibt  dem  gesagten 
zum  trotz  kaum  eine  andere  auffassung  übrig  als  die,  dass  die 
inneren  glieder  der  schwertmotivkette  ausgewittert  seien,  dass 
aber  jene  eindrucksvolle  scene  verhältnismäXsig  jung  ist,  dürfte 
sich  aus  folgendem  ergeben,  die  Siegmundsage  ist  verbunden 
worden  mit  der  Siegfriedsage,  zu  den  alten  dementen  der  Sieg- 
friedsage gehört  das  motiv,'  dass  dem  jungen  beiden  von  einem 
schmiede  ein  unübertreffliches  schwert  geschmiedet  wird,  am  reinsten 
ist  der  zug  erhalten  in  Reginsm^l  und  Skälda :  das  schwert  wird 
für  den  drachenkampf  geschmiedet  und  in  2  proben  geprüft, 
durch  die  zerschneidung  der  wollflocke  und  durch  die  Spaltung 
des  ambos.  die  V^lsungasaga  compliciert  die  erzählung  dadurch, 
dass  der  schmied  zuerst  2  mal  gewöhnliches  eisen  nimmt ;  erst  als 
Sigurd  die  daraus  verfertigten  Schwerter  nacheinander  zerschlägt, 
werden,  nun  mit  vollem  erfolg,  die  trümmer  des  Schwertes  Siegmunds 
verwendet,  die  Thidrekssaga  hat  vergessen,  dass  das  schwert 
ausdrücklich  für  Sigurd  geschmiedet  w^rd,  der  schmied  schenkt 
dem  beiden  das  beste  schwert  aus  seinem  Vorrat,  im  Siegfrieds- 
lied endlich  ist  blofs  noch  die  ruinierung  des  ambos  durch  Sieg- 
fried erhalten,  die  ursprünglich  eine  schwertprobe  bedeutete,  hier 
aber    Siegfrieds    unbändige    kraft    illustrieren    muss.     dass    das 


SIEGMUNDS  SCHWERT  261 

Nibelungenlied  den  schmied  nicht  kennt  und  die  erwerbung  des 
Schwertes  zur  erwerbung-  des  hortes  gerückt  hat,  ist  bekannt. 
—  die  verschiedenen  Zeugnisse  beweisen  die  echtheit  des  niotivs, 
das,  wie  Boer  Untersuchungen  i  98  mit  recht  sagt,  offenbar  ein 
alter  zusatz  zum  drachenkampf  war,  eine  einleitung  zu  diesem 
abenteuer,  bestimmt,  über  die  bei  der  tötung  des  Ungeheuers  ver- 
wendete waffe  einige  auskunft  zu  gewähren.  —  da  nun  die 
sage  von  Siegmund,  der  ein  göttliches  schwert  besitzt,  mit  der 
sage  von  Siegfried  verknüpft  wurde,  trat  die  notwendigkeit  ein. 
die  beiden  Schwerter,  das  des  sohnes  und  das  des  vaters.  in  eine 
beziehung  zu  bringen,  die  Schwerter  einfach  zu  identiücieren 
und  Siegraunds  schwert  geradeswegs  als  erbstück  an  Siegfi-ied 
übergehu  zu  lassen,  war  nicht  möglich;  dagegen  protestierte  der 
zug,  dass  dem  jungen  drachentöter  ein  schwert  geschmiedet 
wird,  so  entschloss  man  sich  denn  zu  dem  compromiss:  Sieg- 
niunds  schwert  wird  in  stücke  gebrochen,  aus  diesen  stücken  mag 
dann  der  schmied  dem  söhne  das  drachendurchbohrende  scliwert 
schmieden,  jetzt  mündet  die  Siegmundsage  glatt  in  die  Sieg- 
friedsage ein.  —  es  fragt  sich,  ob  Odins  auftreten  und  der 
schwertbruch  schon  vor  der  V^lsungasaga  erzählt  wurden,  oder 
ob  die  scene  ei'st  vom  Schreiber  der  Saga  erfunden  ist,  wofür 
verschiedene  umstände  sprechen,  der  Sagaschreiber  hat  nach- 
gewiesenermafsen  Odinserscheinungen  erdichtet;  dass  mindestens 
ein  teil  der  rede,  in  welcher  der  sterbende  Siegmund  im  beisein 
seiner  gattin  sein  testament  macht,  von  ihm  herrührt,  ist  schon 
früh  erkannt  worden,  hier  in  der  Saga  wird  extra  hervor- 
gehoben, dass  Siegfrieds  schwert  aus  jenen  bruchstücken  gemacht 
wird,  es  könnte  also  scheinen,  als  ob  die  beiden  partieen  mit 
und  für  einander  geschrieben  wären.  dass  überhaupt  kein 
anderer  ein  so  grofses  Interesse  an  einer  gutgefügten  Verbindung 
der  beiden  biographieen  hatte  wie  der  Sagaschreiber,  ligt  auf 
der  band,  endlich  haben  wir  neben  der  erzählung  von  Sieg- 
munds fall,  capp.  11  und  12,  noch  zwei  andere  berichte,  cap.  25 
und  das  Eddastück  Frä  dauj^a  Sinfj^tla:  in  beiden  erscheint 
Odin  nicht;  das  kann  eine  einfache  folge  der  kürze  sein,  mit 
welcher  die  sage  hier  resümiert  wird,  oder  ligt  hier  eine  ältere 
odinlose  sagenform  vor?  —  was  uns  hindert,  die  Odinscene  dem 
Sagaverfasser  zuzusprechen,  ist  die  tatsache,  dass  im  Sinfjotli- 
prosastück  Odin    den    unbedeutendei-en    der    beiden   beiden  Imlt. 


262  PESTALOZZI 

dass  zuerst  diese  scene,  nachher  die  action  Odins  bei  Siegmunds 
tode  entstanden  sei.  scheint  recht  unwahrscheinlich.  SinfJQtlis 
entrückung  ist  doch  wol  in  anlehnung  an  die  erscheinung  des 
gottes  in  Siegmunds  letzter  Schlacht  erfunden  worden,  es  ergibt 
sich  also,  dass  die  Saga  die  Zertrümmerung  des  Schwertes  durch 
Odin  aus  dem  liede  herübergenommen  hat,  dessen  existenz  aus 
der  dichterischen  ausdrucksweise  der  capp.  1 1  und  1 2  er- 
schlossen ist. 

Wenn  Boer  Untersuchungen  in  93  meint,  der  dichter,  der 
die  traditionen  von  Siegmund  und  Siegfried  aneinander  geleimt 
habe,  habe  auch  das  zerbrochene  schwert  wider  zusammengeflickt, 
so  fasst  er  also  den  hergang  verkehrt  auf.  die  früheren  sagen- 
kritiker  haben  die  scene  für  alt  gehalten,  weil  sie  schön  ist; 
oder  geschah  es,  weil  Odin  darin  auftritt?  aber  für  das  alter 
kann  die  erscheinung  Odins  natürlich  nichts  beweisen,  dem 
dichter,  der  Siegmunds  schwert  in  trümmern  an  den  söhn  über- 
gehen lassen  wollte,  blieb  nichts  übrig,  als  den  gott  herzube- 
mühen; nur  dieser  vermag  die  von  ihm  geschenkte  waffe  zu 
zertrümmern,  sie  auf  andere  weise  zerstören  zu  lassen,  gieng 
nicht  an.  —  dass  die  scene  so  lange  unbesehen  und  unberedet 
für  alt  gelten  konnte,  verdankt  sie  wol  auch  ihrer  verhältnis- 
mäCsig  guten  structur.  man  könnte  einwenden,  es  sei  unglaub- 
lich, dass  Siegmund  gegen  den  gott  das  schwert  erhebe,  schon 
daran,  dass  Odin  im  costüm  des  Wanderers  durch  das  Schlacht- 
gewühl schreite,  sollte  der  held  den  übernatürlichen  erkennen 
und  vor  ihm  zurückschrecken,  wie  Diomedes  vor  dem  gotte,  den 
er  in  Glaukos  wittert,  und  weiter,  der  tag  an  dem  Siegmund 
alle  andern  beiden  überstrahlend  in  seines  vaters  halle  das 
schwert  aus  dem  stamme  riss,  war  doch  wol  der  schönste  seines 
lebens.  sollte  ihm  nicht  der  geheimnisvolle  fremdling,  der  ihm 
damals  die  waffe  und  den  triumph  bescherte,  in  unauslöschlicher 
erinnerung  geblieben  sein?  ist  es  zu  glauben,  dass  er  nun  den 
im  selben  gewand  daherkommenden  einäugigen  nicht  wider  er- 
kennt? diesen  einwürfen  ist  aber  dadurch  vorgebeugt,  dass 
Siegmund  im  getümrael  keine  zeit  zu  betrachtungen  hat,  er 
handelt  in  notwehr,  wenn  er  das  schwert  zückt,  man  könnte 
anderseits  tadeln,  dass  der  gott  den  speer  schwingt,  ohne  den 
stofs  zu  ende  zu  führen,  das  heifst  ohne  den  gegner  zu  ver- 
nichten,    die    halbe  action  stehe  dem  gott  übel  an;    allein  auch 


SIEGMUNDS  SCHWERT  263 

hier  ist  die  Schwierigkeit  behoben,  diesmal  durch  unbestimmte 
ausdrucksweise:  Oäinn  hrä  ^ipp  {/eirinum  f'{frir  hoyium,  also  nicht 
direct  'gegen  ihn',  die  darstellung  ist  also  zwischen  der  Sc^'lla 
eines  freiwilligen  angrilt'es  des  menschen  auf  den  gott  und  der 
Charybdis  eines  würklichen  aber  nicht  vollführten  angrift'es  des 
gottes  auf  den  menschen,  so  gut  es  gieng,  hindurchgeglitten,  der 
abgang  Odins  ist  allerdings  bei  weitem  nicht  so  natürlich  wie 
in  der  scene  in  V^lsungs  halle,  dort  behält  der  gott  seine  an- 
genommene gestalt  bei,  solange  menschliche  äugen  ihn  verfolgen; 
erst  draufsen  hinter  der  hallentür  verschwindet  er.  hier  ist  von 
ihm  plötzlich  einfach  nicht  mehr  die  rede;  wie  er  abgeht,  wird 
nicht  gesagt,  tilgt  man  nun  die  scene,  in  der  Odin  Siegmunds 
Schwert  zertrümmert,  aus  der  alten  sage,  so  bleibt  der  eigent- 
lichen handlung  von  schwertscenen  nur  noch  die  Verleihung  der 
waö'e  durch  Odin,  schon  Wilhelm  Grimm  hat  Altdeutsche 
Wälder  I  212  auf  die  ähnlichkeit  dieser  partie  mit  der  bei 
Jordanes  mitgeteilten  gotischen  sage  vom  schwert  des  Mars,  das 
in  Attilas  bände  kommt,  hingewiesen,  wir  dürfen  wol  die  beiden 
sagen  als  parallelen  auffassen;  auch  darin  stimmen  sie  tibereiu, 
dass  die  sage  zu  ende  ist,  sobald  das  schwert  dem  bestimmten 
beiden  gehört,  weder  verrichtet  Attila  besondere  taten  mit  dem 
Schwerte,  noch  zieht  sich  die  schwertsage  in  die  erzählung  vom 
Untergang  Vnlsungs  und  der  räche  an  Siggeir  hinein,  so  er- 
kennen wir  denn  zwei  heterogene  sagen  in  der  Sieg- 
mundsage, die  schwertsage  und  die  rachesage,  über  die 
alte  form  der  selbständigen  schwertsage  etwas  festzustellen,  ist 
schwierig,  fand  der  held,  allein  durch  den  wald  schweifend,  das 
schwert  in  einem  eichenstamra,  oder  war  schon  ein  Wettstreit 
dabei,  sodass  durch  das  erfolglose  bemühen  mindestens  eines 
concurrenten  der  erfolg  des  siegers  erst  ins  rechte  licht  gerückt 
wurde?  ziemlich  sicher  scheint,  nach  dem  Zeugnis  der  gotischen 
sage,  dass  der  gott  nicht  persönlich  auftrat,  er  blieb  wol  hinter 
den  coulissen.  wie  die  urform  der  schwertsage  ungewis  bleiben 
muss,  so  ist  auch  die  veranlassung  zu  der  combination  mit  der 
rachesage  nicht  deutlich,  dürfte  mau  die  episode  vom  mis- 
glückten  racheversuch  für  sehr  alt  halten,  so  konnte  man  an- 
nehmen, dass  das  schwert,  mit  dessen  hilfe  die  beiden  be- 
grabenen sich  retten,  einen  dichter  auf  die  schwertsage  hinge- 
wiesen habe,     allein  die  episode  ist  sicher  jünger,  erfunden  von 


204  PESTALOZZI 

einem  der  die  bereits  mit  der  racliesage  verbundene  sclnvert- 
sage  ausbeuten,  das  güttliclie  schwert  irgendwie  in  die  handlung 
einfügen  wollte,  als  einzige  Wahrscheinlichkeit  bleibt  vorläufig, 
dass  die  schwertsage  eingesetzt  wurde,  um  den  streit  zwischen 
den  VQlsungen  und  Siggeir  zu  motivieren,  eine  begründung  der 
verhängnisvollen  fehde  kann  schon  in  der  alten  sage  nicht  ge- 
fehlt haben,  aber  der  streit  um  das  göttliche  schwert  schien  sich 
als  glänzender  eingang  zu  empfehlen.  —  wie  sich  die  rache- 
sage der  innerlichen  Vereinigung  mit  dem  fremden  gebilde  wider- 
setzte, wurde  gezeigt;  doch  als  die  Siegfriedsage  antrat,  da 
wurde  die  frage  nach  dem  verbleib  des  göttlichen  Schwertes  ge- 
stellt, welche  beantwortung  sie  fand,  ist  besprochen. 

Der  damit  gewonnene  standpiinct  erlaubt  einen  neuen  aus- 
blick  auf  die  umstrittene  frage  nach  der  rolle  Odins  oder 
Wodans  in  der  alten  Siegmundsage,  von  den  in  der  V^lsunga- 
saga  erzählten  handlungen  des  gottes  scheiden  ohne  weiteres 
diejenigen  aus,  die  in  der  erfundenen  Vorgeschichte  stehn. 
Aveiter  die  Sendung  des  heilkräftigen  blattes  im  capitel  vom 
werwolfsleben,  vgl.  Boer  iii  85.  als  junge  erfindung  ist  vorhin 
das  auftreten  des  gottes  in  Siegmunds  letzter  schlacht  erkannt 
worden;  so  bleiben  die  heimholung  des  Sinfjotli  und  die  er- 
scheinung  in  V^lsungs  halle,  die  entrückung  des  Sinfjytli  braucht 
nicht  sehr  alt  zu  sein,  vgl.  die  notiz  bei  Rassmann  i  9 1 ;  dass 
wir  in  ihr  wol  ein  pendant  zur  'abberufung'  Siegmunds  zu  sehen 
haben,  wurde  vorhin  bemerkt. 

So  erkennt  man  denn:  der  gott  gehört  ausschliefs- 
lich  zur  schwertsage,  in  der  rachesage  hatte  er  keinen 
platz;  ist  es  doch  eine  durchaus  menschliche  sage,  die  der  götter 
nicht  bedarf,  erst  durch  die  Verbindung  mit  der  schwertsage 
kam  der  gott  in  die  Siegmundsage  hinein,  vielleicht  war  es 
ursprünglich  übrigens  eine  andere  gottheit,  die  in  der  schwert- 
sage genannt  war,  als  Odin ;  des  gewittergottes  leibwaffe  ist  ja  der 
Speer,  und  hinter  dem  Mars  des  Jordanes  ist  schwerlich  Odin 
verborgen,  das  schwert  ist  wol  die  waffe  des  vom  himmelsgott 
zum  kriegsgott  gewordenen  Tiwaz  gewesen,  wenn  nun  Odin 
als  Spender  der  waffe  erscheint,  so  kann  man  schwanken,  ob  das 
nordische  neuerung  ist,  oder  ob  schon  bei  den  Franken  die  waffe 
dem  untergeordneten  gotte  aus  der  band  genommen  und  dem 
höchstverehrten    übergeben   worden   ist.     darin    aber   möcht   ich 


SIEGMUNDS  SCHWERT  265 

das  werk  eines  nordischen  dichters  sehen,  dass  der  schwertver- 
leihende gott  nicht  nur  beim  nanien  genannt  wird,  sondern  dass 
er  selbst  hervortritt,  sein  schwert  vor  den  äugen  der  menschen 
in  die  eiche  sticht  und  in  kurzer  rede  sein  tun  erklärt,  eines 
der  schönsten  bilder  ist  damit  entstanden,  ein  bild  in  dem  alles 
überzeugend  würkt;  dass  die  schwerteiche  in  der  mitte  der 
künigshalle  steht,  nicht  mehr  im  einsamen  walde,  kann  kein 
Widerspruch  gegen  die  altgermanische  baukunst  sein,  die  scene 
gehört  zu  den  würkungsvollsten  in  welchen  die  nordische  poesie 
das  erscheinen  des  fürstengottes  besungen   hat. 

Ist  die  möglichkeit  zuzugeben,  dass  erst  die  skandinavische 
dichtung  Odin  zum  herrn  des  siegschwertes  gemacht  habe,  so 
scheint  auch  nicht  ausgeschlossen,  dass  die  schwertsage  erst  im 
norden  mit  der  rachesage  combiniert  wurde,  in  diesem  falle 
würde  sich  als  zweck  der  Verbindung  die  beziehung  der  Sieg- 
muudsage  auf  Odin  herausstellen,  es  lässt  sich  aber  vielleicht 
doch  dartun,  dass  schon  in  Deutschland  und  schon  in  sehr  früher 
zeit  die  beiden  sagen  sich  vereinigten.  Siegmunds  vater  heilst 
Walis  'der  auserwählte".  wie  kommt  er  zu  diesem  aus- 
zeichnenden nameu?  seine  taten  geben  ihm  kein  recht  darauf, 
mit  denen  ist  es  nicht  weit  her.  sehen  wir  von  dem  ab  was  er  in 
seiner  trotzrede  von  sich  erzählt,  so  bleiben  als  wesentliche  tat- 
sachen  nur,  dass  er  tüchtige  kinder  erzeugt  und  in  tapferem  kämpfe 
gegen  eine  Übermacht  fällt,  der  name  sticht  auch  merkwürdig 
ab  von  den.  andern  namen  der  sage,  die  alle  zusammengesetzt 
und  zwar  mit  ausnähme  des  sohnes  der  blutschande  mit  Sieg  - 
zusammengesetzt  sind,  gibt  es  doch  eine  erklärung  für  Walis  ? 
die  schwertsage  erzählt  von  einem  göttlichen  schwert,  das  einem 
auserwählten  beiden  zufällt,  der  gedanke  lässt  sich  nicht  ab- 
weisen, der  auserwählte  habe  Walis  geheiCsen.  wer  sich  zu 
dieser  ansieht  entschliefst,  kann  ohne  bedenken  annehmen:  der 
hauptheld  der  rachesage  behielt  seinen  alten  namen  Siegmund, 
auch  als  er  mit  dem  schwerthelden  identillciert  wurde,  der  alte 
name  war  gestützt  durch  die  namen  des  gegenspielers  und  des 
weibes  der  sage,  der  name  Walis  aber  wurde  nicht  fallen  ge- 
lassen, man  gab  ihn  dem  vater,  der  seinen  ursprünglichen  namen 
verlor.  —  wäre  der  schwertname  Weisung  nicht  erst  durch  den 
Biterolf,  sondern  aus  früheren  Jahrhunderten  überliefert,  so  würde 
er    die    vorgelegte    theorie    bestätigen,     dass   personennamen   zu 


266  PESTALOZZI 

schwertnamen  werden,  kommt  sonst  nicht  vor.  man  könnte  sich 
also  geneigt  fühlen,  den  männernamen  der  Urkunden  von  dem 
schwertnamen  zu  trennen  und,  diesen  als  erinnerung  an  die 
Welssage  erklärend,  annehmen,  hier  liege  die  Vorstellung  zu 
gründe,  dass  ein  Wels  ein  gutes  schwert  besessen  habe, 
dabei  möchte  der  Irrtum  untergelaufen  sein,  dass  man  Wels  als 
den  Schmied  der  wat'fe  betrachtete,  wie  Mime  der  verfertiger  des 
Miniing  war.  in  anbetracht  des  umstandes,  dass  erst  das  mhd. 
volksepos  den  schwertnamen  überliefert,  ist  aber  diese  folgerung 
doch  schwerlich  erlaubt,  dass  die  uralte  schwertsage  noch  so 
lange  selbständig  fortexistiert  habe,  obwol  sie  in  die  rachesage 
eingetreten  war,  ist  kaum  glaublich,  und  so  wird  man  den 
uamen  der  waffe  wol  oder  übel  auf  Siegmund  den  W^elsung 
zurückleiten  müssen. 

Die  sceue  welche  die  Zertrümmerung  des  Siegmundschwertes 
durch  Odin  darstellt,  ist  als  hauptzeugnis  dafür  verwendet 
worden,  dass  die  alte  Siegmundsage  mit  dem  tode  ihres  beiden 
schloss.  nachdem  wir  sie  ausgeschieden  haben,  fragt  es  sicli, 
ob  andere  gründe  für  die  altertüralichkeit  der  'nachgeschichte' 
sprechen,  die  geschichte  von  Siegmunds  (zweiter)  heirat  zeigt 
lauter  nordische  namen;  was  vom  tode  des  Sinfjotli  erzählt 
wird,  ist  wie  bemerkt  nicht  dazu  angetan,  irgend  welche  aus- 
kunft  über  das  alter  der  fortsetzung  der  rachesage  zu  geben, 
wurde  in  deutschland  nur  die  rachesage  gesungen,  und  ist  viel- 
leicht eine  fortsetzung  erst  im  norden  hinzugefügt  worden?  das 
seheint  möglich,  die  alte  sage  war  eine  frauensage,  in  der  achse 
der  handlung  stand  Siginiu.  mit  ihrer  Vermählung,  der  sie  sich 
ahnungsvoll  widersetzt,  beginnt  das  Verhängnis,  sie  sucht  vater 
und  brüder  zu  retten,  sie  rettet  zweimal  ihrem  bruder  Siegraund 
das  leben,  sie  opfert  ihre  eigenen  kinder,  sie  begeht  um  der 
räche  willen  den  incest  und  verschafft  dem  bruder  den  helfer, 
sie  stirbt,  als  die  räche  vollendet  ist.  wie  viel  von  diesen 
motiven  die  deutsche  sage  schon  hatte,  ist  schwer  zu  sagen; 
ganz  sicher  gehört  der  incest  zum  grundstock.  in  dieser  Über- 
zeugung geh  ich  einig  mit  John  Becker  Die  Atlilieder  s.  S7,  dessen 
radicale  skepsis  mir  aber  übertrieben  scheint;  diese  Überzeugung 
zwingt  mich  im  verein  mit  andern  momenten,  Boers  theorie  über 
die  Sieg  mundsage  abzulehnen,  wie  unglaublich  ist  seine  ansieht 
von    der    entstehung    des    incestmotivs!     die    Siginiusage    geht 


SIEGMUNDS  SCHWERT  207 

zweifellos  auf  würkliche  ereignisse  zurück,  unter  diesen  war  die 
unerhörte  tat  eines  weibes,  das  um  die  räche  für  den  erschlagenen 
vater  zu  ermöglichen,  vor  der  blutschänderischen  Verbindung  mit 
dem  bruder  nicht  zurückschreckte.  sobald  wir  Siginiu  als 
centraltigur  erkennen,  so  stellt  sich  die  einfachheit  und  ge- 
schlossenheit  der  alten  sage  dar.  was  aus  den  beiden  über- 
lebenden beiden  wurde,  diese  frage  beschäftigte  die  der  Siginiu 
zugewante  aufmerksamkeit  zunächst  sicher  nicht,  die  inhaltlich 
einheitliche  sage  von  Siginiu  hat  wol  auch  in  einer  formalen 
einheit  ihre  existenz  geführt,  in  einer  bailade,  die  wir  das 
Siginiulied  nennen  könnten,  ob  nun  bereits  in  Deutschland  diese 
grundsage  schon  erweitert  worden  ist  bis  zum  tod  der  beiilen 
beiden?  dass  Siegmund  und  sein  schwestersohn  schon  auf 
deutschem  boden  das  Interesse  des  publicums  auch  füi-  ihre 
eigenen  personen  gewonnen  hatten,  bezeugt  der  Beowulfbericlit 
von  ihren  fahrten  und  riesenkämpfen.  er  geht  wol  auf  ein  lied 
zurück,  dessen  Inhalt  die  zeit  ausfüllen  sollte,  bis  der  knabe 
Fitela  zum  mann  herangewachsen  war,  mit  dem  zusammen  Sieg- 
mund den  feind  zu  vernichten  hoffen  durfte,  die  ballade  ist 
nach  England  verschlagen  worden  und  hat  dem  Beowulfdichter 
direct  oder  indirect  zu  seiner  unsicheren  Weisheit  verholfen. 
ti'eten  uns  die  beiden  gefährten  hier  als  beiden  eines  selbständigen 
liedes  entgegen,  so  wird  sich  die  phantasie  der  sagenpfleger  auch 
mit  ihren  späteren  geschicken  beschäftigt  haben,  ob  auch  mit 
ihrem  ausgang,  bleibt  dunkel,  in  der  einzigen,  der  nordischen 
Überlieferung  erscheint  Siegmunds  tod  als  folge  der  Verbindung 
mit  Siegfrieds  mutter,  die  an  die  Siegmundsage  angeschlossene 
Siegfriedsage  also  hat  dem  ende  des  beiden  die  form  gegeben, 
ist  das  die  älteste  fassung  der  sage  von  Siegraunds  tod,  ist  das 
überhaupt  alt?  gab  es  in  Deutschland  eine  sage,  in  der  Sieg- 
frieds mutter  Sieglinde  im  Vordergrund  stand  und  wo  erzählt 
war,  wie  Siegmund  Siegfrieds  vater  wurde?  während  die  Über- 
lieferungen der  nordischen  dichtung  und  der  Thidrekssaga  durch 
ihre  gänzliche  Verschiedenheit,  sowie  durch  die  weitgehende  be- 
nützung  fremder  sagenniotive  verblüffen,  wird  im  Nibelungenlied 
und  im  Siegfriedslied  die  ehe  von  Siegfrieds  eitern  einfach  vor- 
ausgesetzt, diese  tatsache  wird  gewöhnlich  so  ausgelegt,  dass  die 
frühere  heiratssage  abgewelkt  sei;  warum  soll  aber  die  statisteu- 
rolle   des   elternpaares    nicht    alt.    nicht  das  ursprüngliche  seia? 


268  PESTALOZZI 

es  wäre  sicher  verfehlt  zu  glaiibeu,  dass  die  beziehung  Sieg- 
frieds auf  Siegniund  erst  zu  der  zeit  erfolgte,  wo  von  diesem 
nichts  mehr  übrig  war,  als  der  glänzende  uame  und  die  frän- 
kische herkunft.  so  jung  ist  Siegmunds  Vaterschaft  nicht;  zur 
zeit  ihrer  entstehung  hat  die  Siginiusage  noch  in  vollem  flor 
gestanden,  dennoch  zweifei  ich,  ob  die  beiden  sagen  durch  eine 
zu  diesem  zwecke  erfundene  erzählung  von  Siegmunds  heirat  zu- 
sammengefügt wurden,  es  sei  hier  auf  die  combination  der 
Siegmundsage  mit  der  Helgisage  hingewiesen,  die  Volsungakvi|:»a 
en  forua  constatiert  einfach:  'könig  Siegmund,  der  söhn  Vf^lsungs, 
hatte  Borghild  von  Brälund  zur  frau,  sie  nannten  ihren  söhn 
Helgi'.  ebenso  V^lsungasaga  cap.  8:  'Siegmund  hatte  die  frau, 
welche  Borghild  hiels,  sie  hatten  zwei  söhne,  Helgi  und  Hämund'. 
die  Verbindung  der  beiden  sagen  ist  also  hier  einfach  so  her- 
gestellt, dass  der  eine  held  mit  der  mutter  des  andern  vermählt 
ist,  eine  besondere  sage  ist  nicht  vorhanden,  ähnlich  liegen  die 
dinge  bei  der  Verknüpfung  von  Nibelungensage  und  Ermenrich- 
sage,  Gu|)rünarhvot  und  Yf)lsungasaga  39:  Jünak  heiratete 
Gu|)riin,  ihre  Söhne  waren  Sorli  und  Erp  und  Hampi,  auch 
hier  von  einer  heiratsgeschichte  keine  rede,  nur  muste  natürlich 
die  translocation  der  heldin  erklärt  werden:  es  geschah  durch 
die  geschichte  von  der  fortführung  GuJ)rüns  durch  die  meeres- 
wogen.  analog  diesen  fällen  von  sagenverknüpfung  denk  ich 
mir  die  ursprüngliche  Verbindung  von  Siegmundsage  und  Sieg- 
friedsage, die  alten  Siegfriedsballaden  hoben  so  an  wie  das  lied 
vom  hürnen  Seyfrid.  —  man  muss  sagen,  es  war  eine  seltsame 
procedur,  den  elternlosen  märchen-  oder  mythenhelden  zum  söhne 
Siegmunds  zu  machen,  ihn  aber  auch  weiterhin  seine  Jugend  als 
findelkind  verleben  zu  lassen.  hier  war  die  literarische  mode, 
die  familienverhältnisse  der  sagenhelden  durch  Zuweisung  eines 
vaters  zu  regeln,  ganz  und  gar  nicht  am  platz,  vielleicht  hat 
die  vorsl eilung  von  Siegfrieds  elternlosigkeit,  die  in  seiner 
fränkischen  heimat  fest  eingewurzelt  Avar,  beigetragen,  die  ent- 
stehung einer  eiternsage  hintan  zu  halten,  durch  welches  motiv 
übrigens  der  königsohn  zum  waldleben  kam,  ist  unmöglich  aus- 
zumachen; auf  keinen  fall  glaube  ich,  dass  der  narae  Hjalprek- 
Chilperich  genannt  wurde;  wozu  noch  ein  weiterer  könig,  wenn 
es  sich  darum  handelte,  den  prinzen  zum  schmiedelehrling  umzu- 
costumieren?  —  zu  der  ansieht,  dass  Siegmunds  name  nur  in  ganz 


SIEGMUNDS  SCHWERT  269 

äulserlicher  weise  au  den  anfang-  der  Siegfriedsage  gesetzt 
wurde,  stimmt,  dass  keine  deutsche  quelle  von  seinem  tode  etwas 
M^eiCs.  wäre  die  kindheit  Siegfrieds  im  walde  durch  deu  hin- 
schied des  Vaters  motiviert  gewesen,  so  würde  man  nicht  be- 
greifen, wie  diese  durch  ilire  einfachheit  überzeugende  erkläruiig 
so  radical  vergessen  werden  konnte,  es  scheint  darum  sehr 
wahrscheinlich,  dass  erst  die  nordische  poesie  Siegmunds  tod 
erfand,  oder,  falls  das  motiv  in  Deutschland  in  anderem  Zu- 
sammenhang schon  erzählt  wurde,  dasselbe  mit  der  Siegfriedsage 
verknüpfte.  ob  schwertbruch  und  tod  von  demselben  dichter 
stammen,  oder  ob  der  schwertbruch  in  eine  ältere  Überlieferung 
von  Siegmunds  tod  eingesetzt  wurde,  bleibt  unentschieden,  wer 
gegen  letztere  mögiichkeit  einwendet,  Siegmunds  tod  sei  über- 
haupt nur  denkbar  gewesen  unter  der  Voraussetzung,  dass  der 
held  von  seiner  waffe  im  stich  gelassen  wurde,  schätzt  das  be- 
dürfnis  der  sage  nach  logischer  consequenz  zu  hoch  ein;  auch 
in  der  Siginiusage  wird  ja  der  besitzer  des  gütterschwertes  über- 
wältigt, gerade  so  wie  seine  mit  gewöhnlichen  waffen  fechtenden 
brüder.  — 

Zürich  im  Januar   1910.  Rudolf  Pestalozzi. 


MUNSTERISCHE  BRUCHSTÜCKE  DER 
NIEDERDEUTSCHEN  APOKALYPSE. 

Psilanders  verdienstvolle,  auf  heranziehiing  aller  bekannten 
handschriften  beruhende  ausgaben  der  nd.  Apokahjpse  {TJpsnla 
universitets  ärsskrift  1901  und  1904)  haben  erneut  die  auf- 
merksamkeit  auf  dieses  alte,  aber  durch  eine  gröstenteils  trihnnwr- 
hafte  und  junge  Überlieferung  sprachlich  und  textlich  vielfach 
entstellte  denkmal  nd.  dichtung  gelenkt,  einen  willkommenen  zu- 
tvachs  des  besonders  gegen  das  ende  des  gedichts  dürftigen  hand- 
schriftlichen Materials  bieten  die  einem  codex  des  14  Jahrhunderts 
entstammenden  nd.  bruchstücke,  welche  die  Universitätsbibliothek 
zu  Münster  in  ihrer  Sammlung  von  handschriftenlAättern  be- 
wahrt, ihre  kenntnis  verdank  ich  einem  freundlichen  hinneis 
von  Professor  Bömer,  der  bei  seinen  inventarisierungsarbeiten 
für  die  Deutsche  commission  auf  sie  aufmerksam  wurde,  erhalten 
ist  das  pergamentdoppelblatt  einer  läge,  das  unter  beibehaltung 
der  tirsprünglichen  faltung  später  als  Umschlag  diente,  wie  die 
stärkere  abnutzung  der  aufsenseiten  beweist,  die  höhe  des  ge- 
falteten blattes  beträgt  20,8  cm,  die  breite  14  cm,  die  höhe  des 
Schriftfeldes   15,7  cm,   die  breite  11,5  cm.     der  obere  rand  des 


270  CHRIST 

stark  gebräunten  pergaments  ist  zerfetzt:  es  sind  hier  lilchen  ent- 
standen, die  bis  in  die  oberste  zeile  hineinreichen,  sonst  ist  die 
erhaltung  eine  gute,  die  kräftige,  grofse  bvchschrift,  einer  hand 
der  2  häJfte  des  1 4  jh.s  angehörend,  ist  von  tvenigen  stellen  ab- 
gesehen gut  lesbar,  der  text  endet  mit  der  ersten  spalte  der 
letzten  seile,  den  noch  frei  bleibenden  räum  haben  spätere  hände 
zu  lateinischen  sehr eibühun gen  verivandt;  solche  finden  sich  auch 
am  rande  der  rückseite  des  ersten  blaues,  eine  spätere  hand 
hat  auch  auf  der  ersten  und  letzten  seite  verblasste  bnchstaben 
nachgezogen,  die  verse  sind  fortlaufend  geschrieben,  aber  in  üb- 
licher iveise  durch  puncte  getrennt  und  beginnen  meist  mit  rubri- 
cierten  majuskeln.  die  anfange  gröfserer  abschnitte,  ein  stück 
der  Apokalypse  oder  die  folgende  auslegung  umfassend,  tcerden 
durch  alinea  und  rote  initialen  hervorgehoben,  von  abkürzungen 
kommt  nur  der  wagrechte  strich,  meist  als  Vertreter  des  nasals, 
vor.  Das  y  erhält  immer  zwei  striche,  das  i  einen  und  nur  da, 
ICO  es  die  deutlichkeit  erfordert,  die  liicke  zicischen  beiden 
teilen  beträgt  nach  Psilanders  letzter  ausgäbe  {].204)^  319  ferse 
oder  2  doppclblütter. 

Die  spräche  der  bruchstücke,  die  ich  fortan  als  M  bezeichnen 
werde,  weist  nach  dem  westen  des  nd.  Sprachgebiets,  von  md. 
einflüssen,  die  der  ganzen  nd.  Überlieferimg  der  Apokalypse  eigen- 
tümlich sind,  ist  auch  sie  nicht  frei. 

Erhalten  sind  die  verse  2117  &w  2214  und  der  schluss 
von  V.  2534  ab.  für  diese  teile  des  gedichts  legte  Psilander 
bei  der  herstellung  seines  textes  die  dem  ende  des  15  Jh.s  ange- 
hörende Trierer  hs.  T  zu  gründe,  die  einzige  vollständige  hs. 
neben  der  etwa  gleichzeitigen,  aber  frei  umdichtenden  Wie^ier 
hs.  W.  bis  V.  214  4  reichen  ferner  die  an  T  sich  eng  an- 
schliefsenden  Trierer  fragmente  Tf,  bis  v.  2390  die  im  Britischen 
museum  befindliche  hs.  ß.  alle  diese  hss.  gehören  dem  1 5  jh.  an, 
die  älteste,  Tf,  ist  um  1400  geschrieben,  die  spräche  von  Tf 
und  ß  ist  nd.,  die  von  W  rein  md.,  T  zeigt  bei  md.  grundlage 
starke  nd.  einflüsse.  M  übertrifft  also  alle  anderen  hss.  an 
alter,  und  für  v.  2 öS 4 /f.  ist  es  die  einzige  hs.  die  uns  die 
spräche  des  alten  gedichts  bewahrt  hat.  entspricht  auch  der  text 
nicht  allen  erwartungen  —  besonders  gegen  schluss  häufen  sich 
nachlässigkeiten  und  misverständnisse  — ,  so  bietet  er  doch  eine 
reihe  von  lesarten,  die  zur  textbesserung  zu  verwerten  sind 
{zb.  2141,  42.  2147.  2148.  2150.  2541.  2558.  2582.  26u;i.  2606), 
und  zum  teil  werden  conjectiiren  Psilanders  handschriftlich  ge- 
stützt {so  2133.  2135.  2150.  2152,  53.  2190.  2200.  2589.  2600). 

Da  M  auch   eine   reihe  von    schlechteren  lesarten  aufweist, 

die  nur  ihm  eigen  sind  (zb.  2211.  2549.  2563.  2576,  auch  2163, 

wo   es   offenbar  glättet)    und    ferner    die  schlussverse   2618 — 19 

sich    sonst  nicht  finden,  so  kann  es  keiner  der  anderen  hss.  als 

'  die  i<h  aitch  iceiterhin  allein  benutze. 


ND.  APOKALYPSE  27  1 

vorläge  gedient,  haben,  am  nächsten  steht  M  der  IitsUii  hs.  T 
und  dem  dieser  eng  folgenden  fragment  Tf.  T  und  M  haben  ge- 
meinsame fehler  {zb.  '2212,  i:^.  2586)  und  setzen  so  eine  gemein- 
same vorläge  voraus,  die  indessen  noch  nicht  die  von  Fsilander 
für  T  und  Tf  angesetzte  hs.  *T  ist,  sondern  eine  frühere  sein 
)iiuss.  das  zeigt  in  v.  2130  die  T  und  Tf  gemeinsame  Ver- 
schlechterung dyre,  n-ährend  M  und  ß  die  richtige  lesart  cleider 
zeigen,  auch  sonst  zeigt  M  eine  reihe  von  Übereinstimmungen  in 
besseren  laa.  mit  der  sonst  minderivertigen  hs.  ß  (zb.  2166.  2169. 
220ti.  2208,  ick  für  he  2157.  2198),  sodass  den  Münsterer  brurh- 
sfücken  eine  selbständigere  stelle  innerhalb  der  handschriftengruppe 
zukommt. 

Ein  vollständiger  abdruck  erscheint  schon  des  nd.  sjjrach- 
charakters  ivegen  erwünscht,  ich  gestalte  ihn.  abgesehen  von  der 
einführung  der  interptinction,  der  i-puncte  und  der  trennung  der 
verse,  in  engem  anschluss  an  die  hs.  unter  hinzufügung  der  vers- 
zählung  Psilanders.  ergänzungen  sind  in  klammern  eingeschlossen; 
aufser  den  blattan fangen  {v.  2117.  2-'S34),  dem  nur  teiltveise 
lesbaren  ghedaen  (f.  2141)  und  wante  he  [v.  2142)  betreffen 
sie  buchstaben,  die  durch  risse  im  pergament  verloren  ge- 
gangen sind.  rote  initialen  sind  durch  fetten  druck  wider- 
gegeben. 

bl.   1  ra.  2117   [He  fach]  de  hemel  porten  ope[»/if]aen  vile  wide 
vnde    fach   vp  einen  blanken    rolle   einen   man 
De  was  truwe  vü  warachtich,  [riden. 

2 1 20       eme  ue  was  neniä  ghelyc. 

He  vacht  mit  rechte  in  deme  lande 

weder  sine  viande. 
Sine  oughen  waren  tiammen  ghelyc, 
he  droch  eine  crone  herlyc, 
2125  Cleider  wit  vnde  goede; 

vnde  was  b[e]rprenget  mit  deme  bloede. 
He  was  herlic  vnde  vronie, 

he  was  gheheteu  godes  föne. 
AI  hemelche  here  volghede  hera  to  hant; 
2130       ere  ros  vn  ere  cleider  waren  blanc. 
He  ret  bevore  eü  to  allen  Itnnden; 

ein  fwert  fcarp  ginc  vte  finen  munde. 
Dat  ne  was  nicht  vermeten, 

vppe  finen  cleide  was  ghefcreuö, 
2135  Dat  he  conig  bouen  alle  conige  were 
vnde  here  bouen  allen  heren. 


272  CHRIST 

Got  feine  betekenet  den  de  dar  reet, 

dat  blanke  ros  de  criltenheit, 
Dar  got  fachte  vppe  ridet, 
2140       also  he  des  felighen  herte  bestridet. 
hl.  Irl».  Sin  oughen  w[arjen  na  einer  flammen  g[/«e(7a]en', 

wan[^e  he]  unfen  danken  mit  den  werken  fut  an. 
AI  hemelfche  here  volgbede  eme  mit  witte  cleiden, 
dar  he  de  lieuen  fceidet  vnde  de  leiden, 
2145  In  der  ftat  to  iofaphat, 

alfe  he  feinen  ghelouet  hat. 
Dat  fine  cleider  vau  bloede  fin  roet, 
dat  is  dat  he  wart  ghemarteloet. 
De  felue  verfcheu  wonden 
2150       toghet  he  daer  to  ftunden. 

Dat  fnert  dat  vte  fine  munde  ghet, 

dat  is  dat  ordeel  dar  he  mede  flet 
Aller  manlike  na  finen  werken; 
dat  moghet  gi   .vol  merken! 
2155  He  is  ein  coning  gheher 

vnde  is  dan  daer  ein  recht  richtere. 
Hir  na  fach  ich  einen  engel  ftaen  in  der  fünen, 

de  riep  mit  groter  ftemme. 
He  ladede  de  voghele  dat  fe  quamen, 
2160       dar  fe  wertfcaf  vernamen. 

Dar  folden  fi  eten  beide  ros  vnde  man, 
wante  fe  weder  got  hadden  ghedan. 
hl.   Iva  Do  qua  daer  ein  dier  vte  de  |  mere 

2165       mit  [eijnen  michelen  here. 

Se  wolden  ftriden  weder  godes  holden 

de  de  wertfcap  befitten  folden. 
Dat  dier  wart  fegheloes  alto  haut, 
wo  uafte  men  do  dat  dier  bant 
2170  Vnde  fine  feilen. 

men  fände  fe  dar  men  fe  folde  quellen 
An  den  vure  vnde  an  den  fueuele 
vnde  an  maniger  hande  ouele. 
Somelike  worde  fe  doet  ghefleghen; 
*  cgi.  p.  883 — 84;  auch  nach  anwendung  oon  gallustinctur  blieben 
die  eingeklammerten  bwhstaben  in  i\  2141 — 42  unlesbar,  he  fehlt  wahr- 
scheinlich mit  T  Tf. 


ND.  APOKALYPSE  273 

2175       l'e  verloren  dat  h'f  alle  bofe  faghe. 
De  engel  de  in  der  Tfinen  fteit, 

dat  is  de  pdlket  van  der  gotheit 
Vri  de  vns  ladet  vlitelike 
to  fine  hemelrike, 
2180  Beide  dach  vnde  nacht 

to  den  [!]  lamraes  wertfcap, 
De  dar  comet  na  de  leften  daghe, 

alfo  vns  de  fcrift  laghet. 
De  hemelii'chen  voghele  lin  de  l'elig?, 
2185       de  mit  eren  goeden  werken  na  gode  vleghet, 
Dar  fi  de  vrowede  i'olen  befittö. 

dat  fe  ros  vnde  man  folen  eten, 
Dat  is  de  wrake  de  le  lolen  lien, 
do  godes  viande  Tai  bel'cen. 
bl.   Ivb.  2190  Godes  torn  fal  fe  |   verll[w/t]en;  > 

le  ne  moeten  der  vrowede  nicht  ghebriiken. 
Dat  is  iv  ghefaghet  oc  er: 

antixpc  is  dat  dier, 
De  fich  weder  got  ghefettet  in  den  leften  ftunden; 
2195       de  wert  gheuägen  vnde  ghebunden 
Van  gode  vnlen  heren 

vnde  wert  mit  finer  fellefcaf  verdoraet,  iummer 

[mere. 
Hir  na  fach  ich  comen  eine  engel  alto  hant; 
de  verde  den  flutel  des  afgrundes  in  der  hant 
2200  Vnde  eine  rekenten  de  was  groet. 
de  nam  den  alden  drakeu  oc 
Vnde  bant  ten  in  der  feiner  ftunt 

in  der  diepen  hellen  grünt 
Vnde  befloet  ene  dar  dufet  iaer, 
2205       dat  he  dat  volc  ne  verledede  nicht  meer. 
Vnde  alfe  de  fun  vergangen, 

fo  loft  men  en  doch  nicht  lange. 
Dar  na  fach  ich  fitten  vppe  ftoelen  de  tuelf  holde, 
de  al  mancunne  ordelen  folten, 

»  lacke  im  perr/ament,  sodass  von  den  in  klammern  stehenden 
buchstaben  nur  noch  teile  vorhanden  sind,  die  jedoch  nur  ron  u  ynd 
k  herrühren  können. 

Z.  F.  D.  A.  LH.     N.  F.  XL.  1'' 


274  CHRIST 

2210  Vnde  al  de  martelere 

de  duruen  dor  god  vnfen  heren, 
De  anderes  waren  doch  ' 
de  waren  al  i'under 
hJ.   2'-a. 

[Ere  //reiten  fin  van  roden  golde 
2535        vnde  fin  nianich  volde. 
Se  iin  Intter  alfo  ein  glas. 

negliein  bedehus  dar  inne  was; 
Got  is  i'elue  dat  bedehus, 
iohan  faghet  uns  aldus. 
2540  Dar  ne  leinet  noch  de  ITine  noch  de  mane; 
god  is  Telue  dat  licht  fcone. 
De  conige  vh  de  heren 

brenget  in  de  l'tat  al  ere. 
De  porten  Itaet  open; 
2545       £e  ne  werdet  nunimer  beüoten. 
It  ne  wert  dar  nummer  nacht; 

it  is  dar  iummer  clare  dach. 
De  l'tat  is  van  dogheden  wlle  vrome, 

dar  ne  mach  nicht  rechtes  2  inne  comen. 
2550  Doe  fente  iohannes  hadde  ghefen  delle  wnne, 
doe  fach  he  vleten  einen  lütteren  brunne 
In  der  wonlicher  ftat, 

al  daer  dat  lamp  uppe  fat. 
An  beiden  haluen  der  vlot, 
2555       ftunt  dat  holt  oc. 

Vrucht  gaf  dat  aKo  ghedane. 

de  £e  at,   he  wart  forghen  ane; 
Noch  he  ne   mochte  ghefteruen, 
noch  he  ne  mochte  verderuen-*. 
25^0  De  bome  waren  clare; 

le  gauen  tuelf  warue  in  deme  iare. 
Er  loef  to  aller  ftüt 

wart^  dar  manighe  ghefunt. 
hl.  2i-»^>.  In  der  Itat  lolen  le  g[od]e  len, 

*  doch  statt  doet,  das  reirmcnrt  icnr  noet.  -'  varechtes  T,  keü 

vnrecht   W.  ^  Psilander  Pi-iiän:!:  voiwcrdeii;   njl.  c.  21,22.   1646,47. 

173S,  39.         'S  makede   7\\ . 


ND.  APOKALYPSE  275 

2565       de   nu  to  eine  willet  vlen 

Vnde  linen  nameii  in  den  vorhouede  draghet, 

dat   i'i  iv  war  ghei'aghet. 
Deffe  betekenige  is  vrome: 
dat  lamp  is  godes  föne, 
25  70  De  brunne  is  de  dope  vnde  Tun  bloet; 
de  holpc  vns  beide  vter  noet. 
De  bome  de  des  plaglien, 

dat  le  gode  vrucht  gauen, 
Beteikenet  dat  heilige  cruce  dar  got  ani'tunt; 
2575       he  felue  is  de  vrucht  lo  goet. 
De  ene  nemet  '  mit  rechten  finne, 

de  mach  dat  dar  mede  ghew^innen, 
Dat  he  nicht  ne  vervverdet 

noch  des  ewigen  dodes  iteruet. 
25S0  In  der  Itat  is  alfo  grote  wunne; 
were  alle  de  werelt  eine  tunge, 
Se  ne  eundent  nicht  vorebringen: 

dar  is  Ifider  ende 
Got  vnfe  here 
2585       vnde  vrowede  iummer  mere. 
De  engel  fprac  do  muenlike'-: 
dele  wort  lin  war  werlike. 
Du  falt  Xe  fcriuen  openbare 
vnde  doen  Te  widemare. 
2590  Got  heuet  di  laten  ghefen 

al  de  dinc  de  folen  ghefcen, 
Dat  lieue  vnde  dat  leide; 
bl.  2va.  ich  lal  nu  |  van  di  [/cj beiden. 

Do  wart  bedrouet  fere 
2595       iohannes  de  here. 

He  vel  neder  vnde  wolde  den  engel  anbededen  [/|; 

des  ne  wolde  he  eme  nicht  fteden, 
He  fprac  :  iohan  leue  man, 

ich  ne  dunke  di  nie  fo  wol  ghedaen, 
2600  Du  bift  wol  min  ghenot 

vn  myn  rechte  hus  ghenoet 

'  anebedet   T.         -  do  Dienliche   T  zu  myr  endelich  W  do  mer  ende- 
liche  Psilander. 

IS* 


27 G  CHRIST,  XD.  APOKALYPSE 

In  der  henielelcheu  ienüalem; 

des  M  ich  di  dur  rechte  ghen. 
Got  is  vnfer  beider  here. 
2605       de  engel  begonde  denen  keren 
Vnde  vor  to  heraelrike  an  richte  ' 

to  iohannes  ouchfichte. 
Vnde  iohannes  dede  alfo  eme  de  engel  boet 
vnde  fcreef  apokaliprim  dat  boec. 
2610  Dar  an  Iteit  allet  dat  he  hadde  ghelen, 
dat  in  der  werelde  folde  ghefchen 
Bit  an  deine  leiten  Itunden^ 

got  dar  line  vjf  wonde 
Helpe  vns  to  den  belten 
2615       vn  moet  viis  lo  lange  verlten 
Hir  in  ertrike, 

dat  wi  verdinen  dat  hemelrike. 
Des  gheunne  vns  got  de  henielche  vader. 
nu  leget  amen  alle  gader.     Amen  Amen. 
AMEN 
Münster  i.   W.  K.  Christ. 


HADLAUB. 

Über  Johannes  Hadlaub,  den  Zürcher  minnesänger, 
musten  wir  uns  bisjetzt  mit  den  beiden  urkundlichen  notizen 
begnügen,  dass  er  am  4  jan.  1 302  in  Zürich  im  Neumarkt- 
quartier ein  haus  kaufte  und  an  einem  16  märz  vor  1340 
gestorben  ist.  auch  die  jüngste  arbeit,  KBertrams  quellenstudie 
zu  GKellers  'Hadlaub' (Leipz.  lOOii)  verzichtet  auf  weitere  forschung. 

I.  Schon  bekannt  und  bereits  gedruckt l  ist  die  Ur- 
kunde (Zürcher  Staatsarchiv  nr.  85),  in  der  der  Zürcher 
rat  anzeigt,  dass  Nikiaus  Oclis  und  seine  frau  ihr  haus 
im  Neumarktquartier  an  Johannes  Hadlaub  verkaufen:  4  Januar 
1302  .  .  .  dasselbe  hus  gab  Nidaus  Ochse  ze  koufenne  vür 
ledig  eigen  Johannese  Hadeloube  iimb  sechs  und  fünfzig 
2jfunt  und  vier  Schillinge  mit  allem  rehte  so  derzü  gehöret  und 
sunderliche  mit  dem  rehte  das  demselben  huse  du  gesicht  hin- 
denan  niend.   v'slagen  sol  tverden  von  deni  höuelin  2  Josebeiles  se- 

*  Psilander  hat  al  gerichte;  rgl.  r.  248.  1128.  ^  Vor  ftunden 

ist  mit  rotem  strich  f/eti/i/t  ende. 

'  vgl.  Escber  und  Schweizer  Urkiindeubuch  der  stadt  und  landschaft 
Zürich     bd  vii    (1297— 1;!03),  Zürich   1908,  s.  221,  ur.  2628  -  auch 

heute   uoch   liegt  im  Neuiiiarkt(iuartier,    Froschaugasse  nr  3    (wahrschein- 


STANGE,  HADLAUß  277 

ligen  des  Juden  .  .  —  .  .  und  hat  Xiclai<s  Ochse  gelobt  und  bin- 
det ouch  dar  zu  sin  erben  desselben  huses  mit  dem  vor  ge- 
schribene  und  mit  allem  rehte  teer  ze  sinne  Johäses  Hadeloubes 
und  siner  erben  für  ledig  eigen.  —  .  .  so  geben  wir  Johanse 
Hadeloube  disen  brief  besigelt  mit  unscrre  bürg'  ingesigcl. 

Bei  einer  durchsieht  der  Urkunden  und  urbare  in  Zürich  ' 
fand  ich  einige  notizen.  die  bisher  noch  nicht  bekannt  waren; 
in  der  einen  wird  die  gattin  des  Johannes  Hadlaub  erwähnt. 

II.  urbar-rolle  propstei  nr.  2  a.  Staatsarchiv  Zürich  (un- 
gedruckt): if  uxor  Jolns  Hadelöp  i.  q.  t.  [item  uxor  Johanni.s 
Hadeloup  1  quartale  tritici].  zeit:  anfang  des  14jh.s,  da  propst 
Johannes  vorkommt,  ferner  ein  kauf  von  1293  erwähnt  wird. 

III.  das  haus  des  Johannes  Hadlaub  wird  erwähnt:  cN'er- 
zeichnui'sen  umb  das  ynnemen  der  Abbtey  Frauwenmünster  ab 
anno  1318  ad  annum  146S';  Stadtarchiv  Zürich  iii  1.  fol.  4) 
ungedruckt:  item  P.  Hadelöb  l  /'[er/oj  cere  de  domo  Jo[hannis] 
qnondam  Biberli.  die  zeit  ergibt  sich  aus  fol  3:  anno  dni 
m"cccfxxn  [1322]  corrigiert  aus  xv. 

IV.  tod  des  Johannes  Hadlaub  (MG.  hist.  Necr.  Germ,  I 
559),  original  Stadtbibliothek  Zürich  niscr.  c.  10:  xvii  Kai. 
(Martins  16)  Johannes  dicfns  Hadloiip  ob.  zeit:  die  eintragungen 
ins  anniversar  fallen  vor   13-10. 

V.  Johannes  Hadlaubs  haus  wird  noch  erwähnt  (ebda  s.  557): 
Februarius  23.  vn  Kai.  Riiedgerus  filius  C.  dicti  Fhentzi  ca- 
merarii  accolitus  est.  (anm):  Fr.  de  dimidia  parte  domns  patrü 
eius  ad  Novum  Forum  quae  qnondam  fuit  Johannis  dicti  Hadloup. 

Dieses  sind  sämtliche  urkundliche  nachrichten,  die  sich  über 
Johannes  Hadlaub  ermitteln  liefsen.  von  seiner  Jugendzeit  er- 
fahren wir  nichts,  erst  1302  wird  er  als  käufer  eines  hauses 
erwähnt;  er  hängt  sein  bürgersiegel  an  die  Urkunde,  das  ge- 
kaufte haus  lag  zwischen  'Jacob  Brunen  huse  und  Wernhers 
Finken  huse',  den  vornehmen  bürgern,  die  im  kreise  der  Manesse 
verkehrten,  möglicherweise  hat  auch  Hadlaub  durch  sie  dort 
eingang  gefunden.  eine  wichtige  perspective  eröffnet  die 
uotiz,  in  der  die  gattin  des  Johannes  Hadlaub  erwähnt 
wird:  die  leiden  und  freuden  eines  familienvaters,  die  uns  H.  in 
seinen  gedichten  so  anschaulich  schildert,  sind  also  nicht  fingiert, 
sondern  würklichkeit.  über  sein  weiteres  leben  erzählen  uns 
die  Urkunden  nichts;  zweimal  wii'd  noch  sein  haus  erwähnt, 
nur  den  todestag  ( 1  ti  märz)  meldet  uns  noch  das  anniversar. 

Aufser  Johannes  Hadlaub  wird  noch  in  einigen  Urkunden 
Peter  Hadlaub  und  seine  familie  erwähnt,  dass  beide  ver- 
lieh Hadlaubs  haus)  gegenüber  der  einzige  kleine  freihof,  heute  Burghof, 
Froschaugasse  nr.  4.  *  für  bereitwillige  erlaubiiis  die  originale  be- 

nutzen zu  dürfen  dank  ich  auch  an  dieser  stelle  den  directionen  des 
Staats-  und  des  Stadtarchivs,  der  üniversitäts-  und  der  Stadtbibliothek 
zu  Zürich  besonders  herrn  archivar  dr  Hegi. 


27  S  STANGE 

wantschaftliche  bezielmngen  hatten,  lässt  sich  wol  annehmen, 
da  der  familienname  so  selten  vorkommt,  beide  als  hausbesitzer 
im  Neumarktquartier  erwähnt  werden  und  Peter  abgaben  für  das 
haus  des  Johannes  entrichtet. 

I.  Der  Stellvertreter  des  propstes  von  Zürich  verleiht  von 
Peter  Hadlaub  und  seiner  gattin  Adelheid  hiezu  aui'gegebne 
guter  am  Schmelzberg  dem  kloster  Selnau.  13Ü8,  7  februar, 
Zürich  K  Noverint  quos  nosse  fuerint  oportunum,  qiiod  Petrus 
dictus  Hadelöp  et  Adelh.  uxor  sua  coram  nohis  constituti  in  Thu- 
rego  vineam  unius  iugeris  sifam  an  Snelsberch  '^,  que  quondam 
fuit  converse  de   Wien  .  .  . 

IL  Peter  Hadlaub  als  Zeuge  (abtei  Urkunde  99  anno  1310 
IX  14)  ungedruckt,  zeugen  bei  einem  güterverkauf  des  Heinrich 
von  Freinstein  an  die  abtei.  Acta  sunt  hoc  in  choro  monasterii 
predicti  p)resentihus  domino  Chünrado  de  Sancto  Gallo,  capellano 
altaris  sanctorum  Jacobi  apostoU  et  Leodgarii  martirum  (?), 
Johanne  nobili  de  Frienstien,  R.  de  Limkhuft  milite,  H.  ab  dem 
Wasen,  Petro  Hadlob  .  .  . 

in.  tod  der  frau  Adelheid  Hadlaub  (Necr.  Germ,  i  55ß) 
vxi  Kai.  (14  februar  las)  Adelh.  uxor  Petri  Hadloup  ob.  (anm): 
Pr.  de  quarta  parte  domus  dictorum  Vischer  sita  ad  Novum 
Forum  iuxta  donium  praedicti  Petri,  quae  quideni  quarta  pars 
pertinet  Buod.  Vischer. 

IV.  frau  Anna,  Peter  Hadlaubs  [zweite]  frau.  (spital-ur- 
kunde  nr  150.  a.  1315.  ni.  26,  ungedruckt:)  .  .  .  unt  hat  mich 
iu  Wien  der  erberen  frowen  frou  Aminen,  Peters  Hadelöbes  Sucher 
wirtin  ze  rechtem  erbe  . .  —  ...  och  sol  man  tvissen,  daz  dieselbe 
fro  Anne  mit  miner  haut  willen  und  gunst  den  vorgenanden  acker 
Peter  Hadelöbe,  ir  elichen  wirte  gemachet  het  ze  lipgedinge. 

V.  Peter  Hadlaub  zahlt  abgaben  (Staatsarchiv  Zürich  3.  G  I. 
135  (22)  urbarbuch  des  kelleramtes  pag.  3:  n.  f.  k.  un  ein 
hanen  vö  den  gutem  der  vö  loien  einr  beginen  git  pet.  hadlob. 
[zwei  viertel  kernen  und  einen  hahn  von  den  gütern  der  von 
Wien  einer  laienschwester  gibt  P.  H.] 

VI.  Peter  Hadlaub  zahlt  abgaben.  'Verzeichuufsen  umb  das 
ynnemen  der  Abbtey  Frauwenmünster  ab  anno  lolSadannum  1468' 
(Stadtarchiv  Zürich  ui.  1);  ungedruckt  fol.  3.  anno  dni  m^ccc  xxn 
corrigiert  aus  xv.  de  possessionibus,  areis,  domibus,  vineis,  et  arvis 
census  cere  in  hunc  modum  est  solutus,  fol.  4  item  P.  Hadelöb  1 
f[erto\  cere  de  domo  Jo[hannis\  quondum  Biberli.  fol.  12,  anno  dni 
m  ccc  xvm  .  .  .  Petrus  Hadelöb  di\midi]iün  [librum]  cere  de  domo 
et  II  d[enarios\.  fol.  21.     Anno  dni  m^ccc  xlii  ....  fol.  22  item 

*  Urkundenbuch  vni  185,  nr.  2907.  -  diesen  weinberg  hatte 

Rudolf  V.  Ottikon  1300  an  die  laienschwester  Elisabeth  von  Wiea  ver- 
kauft. (Urkb.  VII  nr  2561),  diese  verkaufte  ihr  erblehnrecht  an  das  kloster 
Selnau  (ürkb.  vii  nr  272H).  prof.  Schweizer  möchte  annehmen,  dass  die 
Hadlaub  mit  Elisabeth  verwant  waren. 


HADLAUB  279 

Haälöp  C/a)  f'\ertonem]  cere  et  j  dlenarhonl  de  domo  sua;  für  das 
icachs  sint  pfen[inge]  genommen,  fol  24 :  anno  dni  m"^ccc  xmi  .  .  . 
fol27:  item  Hadlöp  d[enarmm]  et  (V2)  f{ertonem]  cere  de  domo 
und  j  d[€narlum]  de  vineis. 

VII,  tod  des  Peter  Hadlaub  (Necr.  Germ.  i.  s.  51)2)  Mains. 
14.  II  id.  ob.  Petrus  dictus  lladlotih. 

Urkundlich  ist  also  Peter  Hadlaub  zunächst  13üS  nachge- 
wiesen; er  ist  verheiratet  mit  Adelheid  und  besitzt  einen  Wein- 
garten am  Schmelzberg;  Adelheid  scheint  jedoch  bald  gestorben 
zu  sein,  ihr  todestag  ist  urkundlich  ein  14  februar.  13  LS  wird 
Anna  als  frau  des  Peter  Hadlaub  erwähnt,  da  nach  1343  Peter 
Hadlaub  im  abgabenregister  nicht  mehr  erwähnt  wird,  ist  damit 
wol  sein  todesjahr  gegeben.  —  zur  form  und  bedeutung  des 
namens  'Hadlaub',  den  Keller  so  nett  umgedeutet  hat,  weist  mich 
prof.  Schröder  darauf  hin,  dass  er  in  würklichkeit  ein  frauenuame 
ist,  der  aus  Hnthu-Jouy  erst  spät  in  Hathu-loub  umgedeutet 
ist.     die  familie  ist  also  raetronym  benannt. 

Erwähnen  will  ich  noch,  dass  der  name  Hadlanb,  der  sonst 
nur  in  Zürich  und  der  Ostschweiz  (ürkb.  d.  abtei  SGallen)  vor- 
kommt, sich  noch  findet  im  notizblatt  zum  Archiv  für  künde 
österreichischer  geschichtsquellen  18.t6  s.  19.  Omnibus  notum 
sit.  quod  quidam  vir.  N.  Wezil  ancillam  suam.  X.  Hadaloup 
et  eins  filium  TJuoJfram  pro  quingue  denariis  dedit  ad  altare 
sancti  Petripro  anima  nidelicet  sua.  et  uxoris  sue  Wezele.  Si  autem 
per  tres  annos  neglexerint  et  in  qicarto  non  emendaverint.  mo- 
nachoruni  servituti  subdantur.  Engilsalch.  Eizo.  Megingoz.  Richarth. 
Oze.  Lixitolt.  et  eius  filius  Oze.  Suitker.  cod.  Salisb.  lib  I.  anno 
1004.     pag.  3.  nr  12. 

Königsberg,  im  juni  1910.  Erich  Stange. 


ZU  BERTHOLU  VON  REGENSBURG. 
1. 

Die  predigt  von  den  rufenden  sünden,  die  sechste  der  Heidel- 
berger handschrift,  an  die  sich  Pfeiffer  anschliefst,  ist  für  die 
neuere  forschung  besonders  wichtig  geworden,  denn  sie  enthält 
die  historische  anspielung,  die  nach  Schönbachs  überzeugenden 
darlegungen  (Stud.  z.  gesch.  d.  ad.  predigt  6,  92j  erst  nach  Bertholds 
tode  in  den  text  hineingekommen  sein  kann:  die  stelle  von  den 
fünf  kriegen,  die  frühestens  1278  oder  1279  verfasst  ist.  in  der- 
selben predigt  ist  noch  eine  weitere  sehr  auffällige  stelle  ent- 
halten, die  der  wissenschaftlichen  beachtung  bisher  völlig  ent- 
gangen zu  sein  scheint,  obwol  sie  für  die  deutsche  verfassungs- 
geschichte  von  der  grösten  bedeutung  ist. 

Berthold  sagt  von  den  vier  rufenden  sünden,  die  in  der 
predigt  behandelt  werden  (I  88,  3 ;  es  liegt  nur  die  eine  Heidel- 


•280  LEITZMANN 

berg-er  Überlieferung  vurj:  mtde  relii  ze  gelivhtr  ir ine  als  da  vier 
hohe  vürsten  sinf,  die  vor  einem  roemeschen  kiinege  stent,  die 
gar  gröziu  dinc  ze  klagen  hceten,  und  als  man  die  vier  vürsten 
vor  dem  kiinege  miieste  hceren  vor  aller  dief,  so  sie  mit  lüter 
stimme  da  ruoften,  also  ruofent  die  vier  silnde  vor  dem  almehtigen 
gote  ze  aller  zit  tac  unde  naht  mit  lüter  stimme  über  sinen  lip 
und  über  sine  sele,  siver  in  der  selben  vier  sünder  einer  ist. 
auf  welche  rechtliche  Institution  wird  hier  angespielt?  mein 
College  Keutgen,  der  sich  seit  langem  mit  Verfassungsgeschichte 
des  Deutschen  reichs  eingehend  beschäftigt,  belehrt  mich,  dass 
es  sich  hier  wol  um  eine  ähnliche  einrichtung  handeln  müsse, 
wie  sie  der  Sachsenspiegel  angibt:  nach  den  bestimmungen  dieses 
rechtsbuches  sind  vier  pfalzgrafen.  für  jeden  der  deutschen  haupt- 
stärame  einer,  die  pfleger  des  königsgerichts,  wie  es  der  pfalz- 
graf  schon  in  karolingischen  zeiten  gewesen  war  (vgl.  Sachsen- 
spiegel landrecht  m  52,  :).  53,  1).  die  historische  bedeutsarakeit 
dieser  stelle,  die  unsre  geringe  kenntnis  von  der  einrichtung 
und  function  des  pfalzgrafeugerichts  und  der  pfalzgrafenwürde 
selbst  um  ein  weniges  zu  erweitern  imstande  ist,  wird  Keutgen 
selbst  demnächst  in  einem  artikel  beleuchten. 

Falls  ein  directer  Zusammenhang  der  stelle  Bertholds  und 
der  des  Sachsenspiegels  angenommen  werden  müste,  eine  mög- 
lichkeit,  die  für  diejenigen  nahe  läge,  die  in  jener  stelle  über 
die  competenzen  der  pfalzgrafen  keinen  factischen  rechtszustand, 
sondern  eher  eine  juristische  construction  sehen  möchten,  so  darf 
daran  erinnert  werden,  dass  Schönbach  (Studien  7,  13)  einen 
Studienaufenthalt  Bertholds  auf  der  für  die  minoriten  der  deutschen 
Ordensprovinz  eigens  gegründeten  lehranstalt  Magdeburg  äufserst 
wahrscheinlich  gemacht  hat.  wenn  B.  sich  dort  in  der  ersten 
hälfte  des  vierten  Jahrzehnts  des  13  Jahrhunderts  aufhielt,  so 
war  das  dieselbe  zeit,  in  der  Eike  von  Reppichau  sein  werk 
abgeschlossen  hatte,  die  räumliche  nähe  Magdeburgs  und  An- 
halts dürfte  man  dann  wol  als  erleichterndes  raoment  einer  be- 
rührung  ins  feld  führen  (vgl.  auch  Schönbach  Studien  6,  97). 


Eine  weitere  stelle  aus  der  sich  chronologische  Schlüsse 
ziehen,  ja  genaue  zeitliche  bestimmungen  entnehmen  lassen, 
findet  sich  in  der  25  predigt,  wo  von  drei  Sonnenfinsternissen 
die  rede  ist.  schon  Jacob  Grimm  hat  in  seiner  berühmten  be- 
sprechung  von  Klings  ausgäbe  der  predigten  Bertholds  in  den 
Wien.  Jahrb.  d.  litt.  1825  (Kl.  sehr,  iv  304)  ausfülirlich  über  sie 
gehandelt,  aber  seine  ausflihruugen  bedürfen  der  correctur,  die 
mit  unsern  heutigen  astronomischen  hilfsmitteln  nicht  schwer  zu 
gewinnen  ist.  da  Schönbach  auf  die  stelle  nicht  näher  eingegangen 
ist,  so  gebe  ich  hier,    was  sich  aus  Oppolzers  für  solche  fragen 


zu  BERTHOLD  VON  REGENSBURG  281 

unentbehrlichem  Kanon  der  tinsternisse  (WienlSST)  zur  feststellnng: 
der  dort  augeführten  himmelsereignisse  ergibt. 

Die  Worte  lauten  (i  400,88;  ich  folge  \videi'  der  Heidel- 
berger Überlieferung):  tcan  so  verre  ist  u»s  duz  icol  kioü,  daz 
eteweune  der  mäne  dem  sunnen  s'inen  schvi  nnderyet,  daz  uir  des 
sunnen  diu  zwei  teil  küiite  gesehen,  alse  verveiit  an  sant  Osicaldes 
tage  (dö  hete  der  mäne  daz  vierdege  teil  icol  verdecket,  daz  man 
sin  niht  gesehen  mohte)  nnd  ouch  eins  andern  mäles  an  der  mitte- 
Wochen  in  den  krivzetagen  vor  den  phingesten.  und  da  vor  eins, 
dö  hete  er  den  sunnen  vil  nahe  ve)  decket,  des  da  lanc  ist,  nnde 
wanden  die  ungelerten  Hute,  diu  u-erlt  u-olte  zergen.  die  BiüsseltM- 
Überlieferung,  die  Strobl  in  den  lesarten  des  ii  bandes  zum  ver- 
gleich heranzieht,  tilgt  diese  genauen  anspielungen  als  für  das 
erbauliche  bedürfnis  der  zeit  störend  und  belanglos:  sie  schreibt 
statt  evrneut  einfach  eticenne  und  lässt  den  ganzen  passus  von 
dem  ersten  dö  hete  an  ganz  fort,  während  sie  das  datum  des 
Oswaldstages  unversehrt  lässt.  in  bezug  auf  die  auffassmig  der 
Verschiedenheiten  beider  piedigtredactionen  im  ganzen  stimme 
ich  ganz  dem  bei,  was  Schünbach  im  Anzeiger  vii  872  und 
Studien  ü.  74  ausgeführt  hat. 

Drei  tinsternisse  werden  erwähnt.  1.  am  Oswaldstage  des 
vorigen  Jahres,  bereits  Grimm  konnte  feststellen,  dass  hiermit 
nur  der  ö  august  1263  gemeint  sein  kann,  da  1244  schon  des- 
halb nicht  in  betracht  kommt,  weil  da  nur  ein  ganz  kleiner 
teil  der  sonne  vei-tinstert  war.  diese  finsternis  war  ringförmig, 
und  die  centralcurve  ihrer  Sichtbarkeit  verlief  nach  der  dem 
werke  von  Oppolzer  beigegebenen  karte  quer  durch  Russland 
etwa  von  Odessa  nach  den  Ostseeprovinzen,  sie  war  also  zweifel- 
los in  Deutschland  zu  sehen  und  wird  auch  von  historikern  der 
zeit  hie  und  da  erwähnt:  eine  stelle  hat  schon  Grimm  (s.  80()) 
angeführt,  drei  weitere  bringt  Schultz  (Höf.  Leben  i'^  188)  bei. 
die  betreffenden  worte  müssen  also  im  jähre  nach  der  tinsternis, 
d.  h.  1264  aufgezeichnet  sein  (Grimm  s.  305). 

2.  an  einem  mittwoch  in  den  krenztagen  vor  ptingsten, 
d.  h.  an  einem  mittwoch  vor  himmelfahrt.  nach  Grimm,  der  die 
stillschweigende  annähme  macht,  als  müsse  diese  zweite  tinster- 
nis zeitlich  vor  der  ersten  liegen,  die  allerdings  für  den  not- 
wendig ist,  der  in  den  deutschen  texten  Bertholds  wörtlich  so 
gehaltene  oder  vom  Verfasser  selbst  niedergeschriebene  predigten 
vor  sich  zu  haben  glaubt,  wäre  die  tinsternis  vom  8  mai  I2öü 
gemeint:  er  selbst  gibt  allerdings  zu,  dass  die  rechnung  nicht 
genau  stimmt,  da  ostern  in  *  diesem  jähre  auf  den  27  märz 
fiel,  der  von  Berthold  bezeichnete  kreuzmittwoch  also  dei-  4  mai 
war.  eine  differenz,  die  er  glaubt  übersehen  zu  dürfen,  diese 
annalime  ist  schon  deshalb  ganz  ausgeschlossen,  weil  nach 
Oppolzers  karte  diese  finsternis  nur  im  südlichen  Africa  und 
im    indischen    ocean    zu    sehen    war.     es   lässt  sich  nun  aber  in 


282  LEITZMANN 

der  ganzen  in  betracht  kommenden  zeit  nur  eine  einzige  tinsternis 
belegen,  die  sowol  dem  verlauf  ihrer  centralcurve  nach  in 
Deutschland  gesehen  werden  konnte  als  auch  Bertholds  angäbe 
vom  kreuzmittwoch  ganz  genau  und  ohne  abweichung  auch  nur 
eines  tages  entspricht:  die  totale  vom  2i>  mai  l'ifiß  (ostern  tiel 
in  diesem  jähre  auf  den  1 7  april),  deren  centralcurve  durch 
Sicilien,  Griechenland  und  das  nördliche  Kleinasien  geht,  ein 
historisclies  zeiignis  gibt  Grimm  (s.  306). 

Es  ist  nun  aber  ohne  weiteres  deutlich,  dass  derjenige  dem 
die  tinsternis  von  12(13  ein  ereignis  von  vcrnent  war,  nicht  un- 
mittelbar anschliefsend  von  einer  tinsternis  von  1267  be- 
richten konnte,  dass  also  die  erwähnung  der  zweiten  tinsternis 
erst  später  eingesetzt  worden  sein  kann  und  in  der  vorhergehnden 
redaction  dieser  predigt  nicht  enthalten  war.  damit  ist  ein  neuer 
anhält  für  Schönbachs  auffassung  gewonnen,  dass  die  vorliegenden 
deutschen  texte  Bertholds  nicht  authentische  und  intact  über- 
lieferte, würklich  so  gehaltene  predigten  sein  können,  so  gut  wie 
bei  der  stelle  von  den  fünf  kriegen  hat  hier  eine  jüngere  band 
eine  actuellere  auspielung  eingesetzt. 

3.  gedenkt  Berthold  einer  offenbar  länger  zurückliegenden 
sonnentinsternis,  für  die  er  eine  genauere  angäbe  des  tages 
leider  nicht  beifügt.  Grimm  ist  auf  sie  niclit  näher  eingegangen: 
nach  Oppolzers  karten  kann  nur  entweder  die  tinsternis  vom 
6  october  1241  oder  die  vom  3  juui  1231)  gemeint  sein,  die 
beide  auch  von  historikern  erwähnt  werden  (Schultz  i'^136). 
die  centralcurve  der  ersten  verlief  durch  Norddeutschland,  speciell 
durch  die  gegend  von  Magdeburg,  die  der  zweiten  durch  die  drei 
südlichen  halbinseln  Europas,  ist,  was  gröfsere  Wahrscheinlich- 
keit für  sich  hat,  die  erste  gemeint,  so  kommen  wir  widerum  auf 
die  zeit  von  Bertholds  wahrscheinlichem  Magdeburger  aufenthalt. 

Nach  Schönbachs  tabelle  (Studien  6,  66)  besitzen  wir  die 
unsrer  predigt  entsprechende  lateinische  fassung  als  ersten  der 
Sermones  speciales,  auf  meine  bitte  hat  Sievers  durch  einen 
seiner  schüler  die  Leipziger  handschrift  nr  4  96  (vgl.  Schönbach, 
Studien  5,  60)  einsehen  lassen:  wie  ich  nach  Schönbachs  dar- 
legungen  über  das  gegenseitige  Verhältnis  der  lateinischen  und 
der  deutschen  Bertholdtexte  schon  vorher  vermutete,  hat  sich 
dabei  herausgestellt,  dass  die  lateinische  predigt  specielle  andeu- 
tungen  über  sonuentinsternisse  überhaupt  nicht  enthält. 


Mit  recht  hat  Schönbach  (Studien  6,  7S)  die  vermeintlichen 
anleihen,  die  Berthold  nach  Strobls  darlegungen  in  der  einleitung 
zum  zweiten  bände  (s.  xxiv)  bei  dem  dichter  des  jüngeren 
Titurel  gemacht  haben  soll,  bis  auf  die  eine  bekannte  stelle  vom 
lobe  Gottes    in   der   creatur    (i  157.  I3j   als   irrig  bestritten  und 


zu  BERTHOLD  VON  REGEXSBURG  2h;^ 

aucli  jene  einzige  anführung-  'unbedenklich  dem  bearbeiter  des 
deutschen  textes,  nicht  Berthold  selbst'  zugewiesen,  es  gibt  noch 
eine  zweite,  weder  von  Strobl  noch  von  Schönbach  bemerkte 
stelle,  wo  ein  bearbeiter  eine  reminiscenz  an  den  Titurel  nicht 
hat  unterdrücken  können,  in  der  predigt  von  den  sieben  siegeln 
di^r  beichte  heilst  es  von  Gott,  der  die  menschen  mit  milde  und 
treundlichkeit  zu  sich  ruft  (i  566,  23):  da  sprichet  unser  lierre 
.  .  .  und  ladet  uns  mit  dein  zarte,  daz  nie  vater  shieni  kinde  so 
mit  minnecllchem  zarte  yeböt.  im  jüngeren  Titurel  (761,  1;  die 
haupthandschriften  der  von  Zarncke  aufgezeigten  verschiedenen 
redactionen.  die  ich  verglichen  habe,  stimmen  hier  völlig  zusammen) 
spricht  Herzeloide  zu  Sigune: 

Got  lone  dir  sielden  rlche:     swes  muoter  ie  ir  kinde 
mit  zarte  ininnecUche  erbot,  die  seilten  triutre  ich  andirvinde. 

schon  bei  Wolfram  steht  die  stelle  und  lautet  dort  so   (115,  1): 
Got  sol  dir  Ionen:  swaz  ie  muoter  ir  kinde 

mit  m innerlichem  zarte  erbot,  die  selben  triutre  ich  hie  rinde 
diese  fassung  des  älteren  dichters  mit  dem  vorangestellten  ad- 
jectiv  min)iecl7ch  klingt  noch  genauer  in  Bertholds  prosa  wieder 
als  die  veränderte  bei  Albrecht,  worauf  man  aber  wol  kaum 
einen  sicheren  schluss  bauen  kann,  dass  nicht  diese,  sondern 
jene  dem  bearbeiter  der  predigt  bekannt  war  und  in  die  feder 
kam.  der  paralleltext  der  Brüsseler  handschrift  (der  beiläufig 
bemerkt  572,  16  die  interessante  Variante  Zitel  für  ziten  bietet) 
hat  die  anspielung  nicht,  sondern  schreibt  (ii  551):  er  ladet  uns 
so  vriuntltchen.  daz  kein  rater  sin  kint  so  vriuntllchen  nie  (feluot. 


Ich  schliefse  mit  drei  kleinen  sprachlichen  bemei'kungen. 

In  der  predigt  von  den  zwei  wegen  der  niarter  und  bavm- 
herzigkeit  ist  vergleichsweise  von  den  zwei  arten  von  wegen  die 
rede,  die  zu  hohen  bürgen  hinaufführen:  die  eine  geht  sanft  und 
gemächlich  im  kreise  herum  und  dauert  länger,  die  andei'e  geht 
gerade  aus  und  rasch  zur  höhe  und  ist  kürzer,  von  den  pfaden 
der  letzteren  art  heilst  es  (i  171.  3):  si  sint  aber  sticket  nnde 
ireseht  unde  rüch  unde  gar  steinec  und  dornec.  das  Mhd.  wb. 
(iii609a)  erklärt  iceseht  zweifelnd  durch  "rauh'  und  knüpft  es 
ebenso  zweifelnd  an  u-as  'scharf  an;  Lexer  (in  79S)  wiederholt 
beide  angaben,  aber  ohne  fragezeichen.  ich  halte  diese  etynio- 
logie  für  falsch,  glaube  vielmehr,  dass  weseht  an  wase  anzu- 
knüpfen ist  und  'mit  rasen  bewachsen,  grasig"  bedeutet,  eine 
Vorstellung  die  auf  solche  bergpfade  durchaus  passt.  den  um- 
laut  haben  die  adjectiva  auf  -cht  nicht  nur  im  ags.  zuweilen 
{pyrncht,  stceneht:  Kluge  Nominale  stammbilduug''  §  218),  auch 
im  deutschen  kommt  er  vor  {hü rieht,  höckericht,  töricht,  schon 
jnhd.  schereht:  vgl.  Grimm  ii38l.  382  und  Wilmanns  D.  gramni. 
II  469).    das  vom  Mhd.  wb.  noch  verglichene  wesereht  hat,  wenn  di.- 


284  LEITZMANN,  ZU  BERTHOLD  VON  REGENSBURG 

lesart  überhaupt  richtig-  ist  (im  Liedersaal  i  Itil  steht  dafür 
miteUrahsen),  jedenfalls  nichts  mit  iceseht  zu  tun. 

Von  der  Jungfrau  Maria  heilst  es  in  der  predigt  von  der 
messe  (i  4  4!),  4):  da  von  ho  sidt  ir  si  vluedichen  an  ruofhi, 
daz  si  iurver  erenhote  si  an  nnsern  Herren,  daz  er  iu  gencedec 
■s%,  daz  er  sich  über  itich  erbarme,  also  daz  uns  sin  geburt  er- 
loese  Hon  dem  eivegen  töde.  was  ist  ein  erenbote^  die  Wörter- 
bücher geben  keinen  weiteren  beleg,  die  Heidelberger  hs.,  auf 
der  Pfeiffers  text  beruht,  hat  crnboie  (die  Brüsseler  setzt  dafür 
vorSprecherin)  und  so  mit  e,  nicht  mit  r  ist  das  wort  anzusetzen, 
das  ich  für  identisch  mit  arnebote  halte,  für  das  wir  zwei  belege 
haben,  der  eine  findet  sich  in  dem  prosaischen  Petrusgebet 
der  neuerdings  wider  aufgefundenen  haudschrift  von  Muri  (Wacker- 
nagel Altdeutsche  predigten  und  gebete  77,  29:  Piper  Nachträge 
zur  älteren  deutschen  litteratur  s.  320);  den  andern  hat  Diemer 
im  Vorauer  Himmlischen  Jerusalem  (371,  12)  aus  einem  fehler 
der  handschrift  zweifellos  richtig  gewonnen,  ich  lasse  dahin- 
gestellt, ob  der  Erenhote  vom  Rheine,  den  Roethe  nach  Wacker- 
nagels Vorgang  für  identisch  mit  Reinmar  von  Zweter  hält 
(s.  166),  nicht  gleichfalls  eigentlich  ein  Ernhote  war,  den  man 
früher  oder  später  volksetjnnologisch  umdeutete ;  die  versmelodie 
in  Regenbogens  strophe  (Meisterlieder  der  Kolmarer  hs.  S2,  3)  lässt 
sowol  e  als  e  zu,  wenn  auch  ersteres  besser  passt. 

In  der  predigt  von  den  vier  stricken  wird  die  vision  der 
Apokalypse  (9,  7)  von  den  siniUitudines  locustarum  zitiert  (ii  144, 
12):  ez  sach  saut  Johannes  in  apocalipsi  drüster,  diu  heten  islne 
halsberge  an  und  heten  skorpenzegele  an  und  menschenantliitze  und 
leioenzene  und  vrowcenhär.  nü  seht,  disiu  drüster  bezeichenent  die  g'\- 
tegen,  wan  der  gitege  ist  an  der  natüre  ein  heuweschrickel.  was 
sind  drüster  (zeile  21  trüster)?  Lexer  (Nachtr.  s.  376)  setzt 
die  bedeutung  'monstrum'  an,  die  er  wol  ad  hoc  und  ohne  ein- 
sieht der  bibelstelle  aus  dem  zusammenhange  construiert  hat. 
ich  sehe  zwei  möglichkeiten:  entweder  wir  haben  das  wort  mit 
dem  getn'iste  der  Strafsburger  chionik  ('schar,  zug,  gedränge' 
Mhb.  wb.  iir  I2lb)  und  weiter  mit  dem  ahd.  trust  {^agmincC,  wie 
in  unsrer  stelle  neutrum),  einem  «Vrai"  '/.eyöuevov  des  Murbacher 
glossars  Ic  (Ahd.  gll.  i  2,  4)  zu  verbinden,  oder  es  liegt 
ein  sonst,  soviel  ich  sehe,  allerdings  nicht  nachweisbarer  dialek- 
tischer ausdruck  vor,  der  direct  'heuschrecke'  bedeutet,  im 
ersten  falle  hätten  wir  ein  neutrum  vor  uns,  dem  analogisch 
die  pluralendung  -ir  angefügt  wäre,  die  in  dem  ahd.  beleg  sich 
noch  nicht  findet  (managin  trusi);  gegen  die  zweite  auffassung 
brauchte  es  nicht  zu  sprechen,  dass  auch  der  gewöhnliche  aus- 
druck heuweschrickel  daneben  im  texte  vorkommt,  eine  ent- 
scheidung  vermag  ich  nicht  zu  treffen. 

Jena,  30.  november  1909.  Albert  Leitzmanu. 


ZUR  ÜBERLIEFERUNG  UND  COMPOSITION 
DES  REINAERT. 

Die  auffindung-  und  Veröffentlichung  einer  neuen  handschrift 
des  älteren  flämischen  Eeinaert  (Bein,  i)  durch  Degering'  hat 
der  Untersuchung  der  an  dieses  ausgezeichnete  gedieht  sich 
knüpfenden  fragen  einen  neuen  anstols  und  teilweise  auch  eine 
neue  richtung  gegeben  ■•^. 

I. 

Zunächst  ist  die  Dj-cker  handschrift  von  der  grüsten  be- 
deutung  für  die  textkritik.  diese  war,  von  den  288  versen 
abgesehen  für  die  seit  Martins  Veröffentlichung  18S9  (QF.  lxv) 
die  teilweise  noch  verstümmelten  Darmstädter  fragmente  {e)  vor- 
liegen, auf  die  mittelbaren  hilfsquellen,  die  lateinische  Übersetzung 
/  und  die  jüngere  flämische  bearbeitung  (Rein,  ii;  nach  der  hs. 
b)  und  deren  weitere  nachkommenschaft  angewiesen,  konnte  hier 
immerhin  bei  kritischen  fragen  der  einwand  erhoben  werden, 
dass  es  sich  eben  um  bearbeitungen  handle,  und  also  mit  ab- 
sichtlichen änderungen  gerechnet  werden  müsse,  so  liegt  nunmehr 
für  den  ganzen  text  dieser  unmittelbare  zeuge  /  vor,  der  weit 
höher  zu  bewerten  ist,  als  die  früher  in  dieser  eigenschaft 
einzig  vorhandene  Comburger  hs.  a.  auch  ohne  /  waren  eine 
sehr  grofse  anzahl  stellen  der  hs.  a  verbessert  worden,  würk- 
lich  verbessert;  denn  wir  erleben  die  genugtuung,  dass  fast  alle 
conjecturen  die  weiteren  beifall  gefunden  hatten,  sich  durch  / 
bestätigt  finden,     daneben    aber  werden  von  ihr  noch  sehr  viele 

'  Van  den  vos  Reynaerde,  nach  einer  handschrift  des  xiv  Jahrhunderts 
im  besitze  des  fürsten  Salm-Reifferscheidt  auf  Dyck  herausgegeben  von 
Hermann  Degering.     Münster  (Westf.),  Coppenrath  1910.  -  nur  nicht 

bei  dem  unverständlichen  versuch  von  F.  Buitenrust-Hettema,  trotz  allem 
auch  jetzt  noch  die  sich  immer  mehr  als  minderwertig  herausstellende 
Comburger  hs.  als  die  älteste  und  womöglich  ganz  authentische  Über- 
lieferung durchzusetzen :  im  eben  erschienenen  ii  teil  (Inleiding.  Aanteeke- 
ningeu.  Glossarium)  der  ausgäbe  des  'Van  den  vos  Reynaenl«-'  in  >\>-n 
'Zwolsche  herdrukken'. 

Z.  F.  D.  A.  LH.     N.  F.    XL.  19 


286  FRANCK 

andere  Verbesserungen  an  die  hand  gegeben,  ich  habe  den  ein- 
druck,  dass  wir  uns  nunmehr  fast  tiberall  auf  sicherem  boden 
bewegen,  und  ein  zukünftiger  herausgeber,  der  mit  der  ge- 
nügenden sprachlichen  und  philologischen  ausrüstung  ans  werk 
geht,  der  das  tatsächliche  richtig  zu  beurteilen,  dann  aber  auch 
jede  richtig  bewertete  tatsache  über  die  im  nebel  neumodischen 
dünkels  auftlickernden  ideen  und  ideechen  zu  stellen  versteht,  mit 
einigen  ausnahmen  für  den  ganzen  text  zu  sicheren  ergebnissen 
gelangen  kann,  eine  frohe  botschaft  bei  einem  werk  von  so 
hohem  werte!  der  herausgeber  wird  freilich  noch  eingehende 
Voruntersuchungen  über  den  Charakter  der  einzelnen  texte  und 
ihres  Verhältnisses  untereinander  anzustellen  haben,  die  über 
die  andeutungen  die  ich  im  folgenden  zu  geben  beabsichtige, 
hinauszugehn  hätten. 

Die  wesentlichste  frage  dabei  wäre  für  uns,  ob  die  hss.  a 
und  f  in  einer  näheren  beziehung  zueinander  stehn.  sie  scheinen 
in  der  tat  eine  anzahl  gemeinsamer  fehler  zuhaben.  23 If  (ich 
eitlere  immer  nach  Martin)  schreiben  die  ausgaben  auf  grund 
der  lesart  von  b  Isengrine  :  ende  hondert  werven  meere  pine 
während  a  statt  meere  pine  liest  wieer  dan  ic  hu  rime  und  des- 
gleichen f  meer  dan  ic  v  rime.  es  wäre  nicht  ganz  ausge- 
schlossen, dass  die  Verschiedenheit  der  lesarten  an  dieser 
stelle  in  irgend  einem  Zusammenhang  mit  den  laa.  der  un- 
mittelbar vorhergehnden  verse  stünde  (darüber  s.  unten 
s.  292  f).  doch  ist  dies  so  wenig  wahrscheinlich,  dass  es 
geboten  sein  dürfte,  die  stelle  ohne  rücksicht  auf  diese 
möglichkeit  zu  prüfen.  die  cpnjectur  ist  wol  hauptsächlich 
wegen  der  assonanz  gemacht  worden,  und  dann  weil  der  vers 
in  der  überlieferten  form  für  metrisch  zu  lang  gelten  würde, 
der  Wortlaut  von  /,  v.  109f  graviora  hiis  et  maiora  SustuUt 
iUe  lupo  enthält  auch  wenigstens  nichts  dem  dan  ic  u  rime  ent- 
sprechendes, indessen  genügen  diese  gründe  nicht,  um  die 
richtigkeit  der  conjectur  über  den  zweifei  zu  erheben,  und  die 
anscheinend  gröCsere  Übereinstimmung  von  /  mit  b  besagt,  genau 
betrachtet,  nicht  viel,  da  das  lat.  zugleich  auch  v.  230  vertritt 
und  in  dem  meer  wahrscheinlich  der  adjectivische  comparativ, 
maiora,  zu  verstehen  ist.  lassen  sich  reim  und  versbau  recht- 
fertigen, so  ist  gegen  die  ursprünglichkeit  von  dan  ic  u  rime 
nichts  einzuwenden,     die  gleiche  reimbindung  an  Isengrine  :  rime 


REINAERT  287 

—  so  ist  zu  lesen  ;  riine  in  einem  anderen  sinn,  was  natürlidi 
hier  gleichgiltig  ist  —  kehrt  20!):^  wider,  ist  niitliin  nicht  zu 
beanstanden,  entweder  ist  die  assonanz  als  zulässig-  anzusehen, 
oder,  da  die  anderen  assonanzen  vor  der  textkritik  wahrschein- 
lich alle  verschwinden  werden',  die  dichter  gebrauchten  für  den 
namen  des  wolfes  neben  der  franz.  form  auf  }i  auch  die  germ. 
auf  m.  das  ist  nach  dem  von  JWMuller  De  oudere  en  de  jong-ere 
bew^erking-  van  den  Reinaert  (Ojb.)  s.  197f  erörterten  tatbestaud 
wahrscheinlich  genug-,  in  den  verschiedenen  hss.  wechseln  die 
formen,  die  neue  /  hat  immer  die  auf  m,  sogar  gegen  den  reim, 
der  dichter  von  Rein,  n  scheint  nur  die  form  auf  n  gebraucht 
zu  haben,  sie  ist  häufig  bei  ihm  im  reim  bestätigt,  diesen  zahl- 
reichen reimen  in  Rein,  ii  gegenüber  fällt  es  sogai-  auf,  dass  in 
Rein,  i  die  //-form  nur  dreimal  im  reim  vorkommt  (neben  den 
eben  erörterten  2  reimen  mit  )u).  und  man  könnte  darnach  sogar 
vermuten,  dass  sie  hier  nur  einigermafsen  zaghaft  gebraucht  sei. 
die  franz.  namensform  der  wöltin  Hersant  ist  stets  durch  eine 
eigene  form  auf  -.sinf,  oder  -sent  vertreten,  und  für  den  baren 
werden  Brune  und  Brunn  nebeneinander  gebraucht,  was  das 
andere  bedenken  gegen  den  vers  in  af  betrifft,  so  hat  b  nicht 
Jiondert  irerveii  sondern  tireeu-aerf',  das  lat.  spricht  auch  eher 
für  einen  milderen  ausdruck,  und  mit  den  zahlen  gehn  die  hss. 
ja  recht  willkürlich  um.  zumal  wenn  sie  mit  Ziffern  geschrieben 
sind,  ein  vers  Ende  tn-eeiverven  —  oder  mit  einer  anderen  ein- 
silbigen zahl;  die  form  n-aerf  mit  höheren  cardinalzahlen  scheint 
nicht  dem  älteren  text  gemäl's  —  meev  (Jan  Ic  u  rinie  gienge 
nicht  über  die  Wahrscheinlichkeit  hinaus,  als  gemeinsamkeit 
von  af  würde  also  nur  die  Übertreibung  giade  mit  honJert 
übrig  bleiben,  die  jedoch  zu  einem  beweis  nicht  genügt,  möglicher- 
weise steckt  auch  in  <"  irerue(n)  [tn-eewaerf)  irgend  ein  anderei-, 
in    gleicher   weise   veränderter  oder  misverstandener  ausdruck-^. 

'  ich  glaulie  sogar  auch  die  reime  mit  überschüssigem  //.  -  eine 

wörtliche  entsprechung  von  ijracvjm  et  maioirt  in  l,  l'icaerre  en  ineerre, 
würde  graphisch  dem  C  icaeruen  meer  nahe  stehn.  aber  wenn  ersteres 
die  echte  lesart  sein  sollte,  müsten  a,  /  und  b  wol  nuay»hängig  von  ein- 
ander auf  die  ihre  gekommen  sein,  das  wäre  unwahrscheinlioli.  also  wenn 
die  graphische  ähnlichkeit  mehr  als  zufall  ist,  würde  sie  dann  eher 
ein  Zeugnis  für  die  ursprünglichkeit  von  ''  ireruen  sein,  das  /  in  ««-inpr 
vorläge  misverstanden  hätte. 

19' 


288  FRANCK 

2041  haben  beide  hss.  te  hove  hringhen  für  das  unzweifelhaft 
richtig  durch  conjectur  hergestellte  te  hovede  hr.  (Martin  s.  li 
nach  Verwijs)  und  2243  overdadich  statt  hoverdirh  oder  Jiovaer- 
dich  (ende  fier:  Verdam,  Tijdschr.  v.  nl.  taal-  en  letterkunde 
1,21  f.  und  Mnl.  Woordenb.  v  2109)  (auch  /  1069  hat  die 
Synonyma  superhus  et  elatus,  b  so  fier,  so  hooch  ghemoet).  der 
fehler  liegt  an  beiden  stellen  sehr  nah ;  für  die  erste  ist  auch 
noch  das  überaus  häutige  vorkommen  von  hof,  te  hove  im  ge- 
dieht zu  berücksichtigen,  für  die  zweite  die  möglichkeit  der 
Schreibung  overdich  oder  umgekehrt  der  lesuug  hover-  als  over-. 
auch  2265  haben  beide  hss.  sduvels  ghe>reU,  wo  ich  als  die 
richtige  lesart  spenninx  gheivelt  vermutet  habe  (Ojb.  69),  gegen 
diese  conjectur  liefse  sich  der  einwand  ins  feld  führen,  dass  die 
nun  auch  von  /  gebotene  anaphorische  und  tautologische  aus- 
drucksweise hi  sduvels  cracht  ende  hi  sduvels  ghewelt  gerade  im 
Stil  des  gedichtes  liege,  man  hat  sich  mit  dieser  erscheinuug 
schon  öfter  beschäftigt:  Martin  xlvi.  Buitenrust-Hettema  aao. 
XXIX  f.,  am  ausführlichsten  Jonckbloet  Kein.  xxiv.  es  läfst  sich 
ja  bei  diesen  durch  ende  oder  durch  no  oder  in  sonst  einer  weise 
verbundenen  ausdrücken  schwer  entscheiden,  ob  ein  neuer  begriff 
oder  blofse  Verstärkung  durch  widerholung  beabsichtigt  ist.  ich 
würde  das  erstere  annehmen  zb.  bei  405  bewachten  no  bescaermen, 
1432  suchfic  ende  heve,  2313  verbeet  ende  verslant,  2635  smekedi 
ende  roemt,  wol  auch  zb.  bei  2158  of  ghi  n-eet  von  enegher  moort 
of  enen  viordeliken  raet,  2291  daer  ic  was  ende  soe  mi  vant. 
aber  sehr  reichlich  sind  auch  die  stellen,  wo  die  tautologie  nicht 
zu  bestreiten  ist,  zumal  bei  abstracten  begriffen,  so  230  u.  573 
plne  ende  onghemac,  485  smeken  ende  lieghen,  668  onteert  ende 
ontervet,  743  met  aerheide  ende  met  pinen,  853  verdoemen  ende 
verivaten,  912  rouwe  ende  toren,  915  toren  ende  nijt,  933  siec 
ende  onghesont,  1046  [ebenso  2384  aber  nur  in  a]  sachi  ende 
vernani,  1048  u.  ä.  2106  vro  ende  in  hoghen,  1103  quedden  ende 
groeten.  1168  tornich  ende  gram,  1176  traghe  no  lat,  1548 
vloecte  ende  swoer,  1591  bersen  ende  jaghen  (s.  unten),  1672 
tüijs  ende  vroet,  1892  mercte  ende  verstoet,  2068  weisen  ende 
leren,  2089  fei  ende  loreet,  2184  die  torment  ende  die  pine, 
2350  badic  gode  ende  maende,  2367  henen  trac  ende  henen  liep, 
2358  in  diepen  ghepeinse  ende  in  groten,  2717  claghede  ende 
caermede,    3012    smeken    ende    losengieren,     3388    droeve    ende 


REINAERT  2S9 

erre.  man  hat  immer  ang-enommen,  dass  die  häutigkeit  dieser 
ausdrucksweise  auf  stilistischer  absichtlichkeit,  'der  vielleicht 
ironischen  lust  des  dichters  am  epischen  pleonasmus'  (Martin), 
beruhe,  die  absichtlichkeit  tritt  noch  mehr  hervor,  wenn  die 
Verbindungen  weniger  einfach  sind:  183  verstaet,  neemt  miere 
talen  yoom,  484  f  hi  sal  u  smeken  ende  lieghen,  mach  hi, 
hi  sal  u  hedrieghen,  577 f  die  ic  voor  alle  gherechten  prine 
ende  voor  alle  gherechten  minne,  1055  dit  tekijn  ende  dit 
ghemoet,  1273  dit  vernoi  ende  dese  scame,  1094f  hets  beter 
raet  ende  het  dinct  mi  het  ghedaen.  1287  f  laet  sinken  descn 
routve  ende  laet  hliven  mven  toren,  1526f  ic  maecte  groot 
gheluut  int  dorp  ende  groot  gherochte,  2309  met  groten  ghecraie, 
met  groten  ghehide,  1880f  sine  consten  niet  verdraghen,  no  sine 
consten  niet  ghedoghen :  in  f:  sine  constent  niet  verdraghen,  no 
ghedulden,  no  ghedoghen.  vgl.  auch  3364 ff  dese  lettren  dichte 
ic  hem,  gaet  te  goede  of  te  quade.  dese  lettren  svjn  In  viinen 
rade  aldns  ghemaecf  ende  ghescreven.  zwei  auffällige  stellen 
linden  sich  in  der  froschfabel  :  2314  ff  in  allen  landen,  daer  hise 
vant  hede  in  water  ende  in  vell,  daer  hise  vant  in  sine  ghewelt 
und  2318f  het  was  te  spade.  het  u-as  te  spade,  ic  secht  u  twi, 
wo  also  ein  satzteil  wörtlich  wieder  aufgenommen  wird,  für 
das  unmittelbar  darnaoli  folgende  doe  droeghic  sorghe  voor  ons 
allen,  dns  hehhic  gesorghet  voor  u  ist  wol  die  la.  nach  b  2354f 
(und  f  2294  f)  zu  gestalten,  wobei  die  tautologie  gemindert  er- 
scheint, bei  2361)  ff  n-acst  hi  nachte,  tvaest  hi  daghe  ,  ic  was 
emmer  in  die  laghe  ;  waest  hi  daghe,  tvaest  hi  nachte,  ic  was 
emmer  in  die  wachte  ist  die  textkritik  zu  beachten;  s.  unten 
s.  312.  in  manchen  fällen  dient  die  häufung  zweifellos  der 
absieht,  eine  angeführte  rede  recht  nachdrücklich  zu  gestalten, 
wie  der  widerholte  ausruf  2 150  ff  o  7vi,  Reinaert!  o  ici,  Reinaert, 
0  wi,  0  ici!  owi,  Reinaert,  wat  sechdi'^  o  wi,  lieve  Reinaert.  ic 
meine  u  etc.  (der  Wortlaut  nach  hs.  /).  nach  den  vorangehnden 
Zusammenstellungen  kann  die  lesart  daer  quamen  si  hi  sduvels 
cracht  ende  hi  sduvels  gheu-elt  sdlerdingH  der  tautologie  wegen  nicht  an- 
gezweifelt werden,  aber  b  hat  offenbar  etwas  anderes  gelesen,  von  af 
aus  ist  seine  bearbeitung  nicht  zu  verstehn,  wol  aber  von  sjienninx^ 

'  belege  für  penniiic  im  sinn  von  'geld'  s.  Mnl.  AVoordenb.  \  i  250  ; 
ferner  Heets  Cato  iv  4,  1;  Sp.  bist.  1«,  33,  31.  53,  IG;  3^  15,  72ff  (m.  an- 
uierkung);  Sp.  der  sonden  6051.  G409  u.  oft  in  diesem  text 


290  FRANCK 

f/hen-elt  aus,  einem  ausdruck  den  der  bearbeiter  dann  zu  ver- 
deutlichen gesucht  hätte:  ende  mines  vaders  fjheicelde,  dien 
dwanc  mit  sinen  ghelde.  die  fassung-  des  relativsatzes  ist  mir 
auffällig-;  es  ist  mir  nicht  recht  klar,  wie  der  bearbeiter  sich 
vorgestellt  haben  soll,  dass  der  alte  fuchs  den  teufel  mit  seinem 
geld  gezwungen  habe,  verständlicher  schiene  mir  diese  dwanc 
oder  auch  dien  hi  (der  teufel)  divanc.  im  letzteren  fall  würde 
der  schätz  als  vom  teufel  stammend  hingestellt,  aber  der  relativ- 
satz  nicht  zur  erklärung  des  begriffes  der  gheivelt  dienen,  in 
/  sind  die  verse  nicht  übersetzt,  doch  darf  vielleicht  darauf  hin- 
gewiesen werden,  dass  diese  bearbeitung  von  sich  aus  die  macht 
des  geldes  an  zwei  stellen  in  diesem  Zusammenhang  hervorhebt: 
V.  1071  Es  Uli  (jHoniam  corda  tnmere  facif  und  v.  1092f,  im 
anschluss  an  227  4  ff  des  Originals,  Nani  imter  hos  censii  remo- 
veret,  copia  cuiiis  magna  patri  fecit  omnia  posse  fidem.  ist  nun 
die  conjectur  richtig,  so  braucht  der  fehler  doch  kein  engeres 
Verhältnis  von  af  zu  beweisen,  da  die  auffassung  der  Schreibung 
d  oder  d'  für  penninc  {denarius)  als  duvel  natürlich  vor  der 
band  lag.  —  2459  finde  ich  den  ausdruck  dit  telde  hi  te  speie, 
der  in  a  und  /  steht,  etwas  auffällig,  und  wenn  man  die  la. 
von  b  berücksichtigt  dit  telde  hi  die  vier  feile  verrader  sowie 
die  bezeichnung  der  mitverschworenen  v.  2356  als  ghespelen, 
so  könnte  man  wol  auch  2459  an  den  ghespelen,  also  an  einen 
übereinstimmenden  fehler  in  a  und  /  denken.  —  auffällig  ist  die 
Übereinstimmung  3375 f  {nanien)  die  scaerpe  van  den  halse 
Bellijns,  die  hi  der  dompheit  sijns,  wo  die  ausgaben  nach  b 
eingesetzt  haben  Beline  :  sine,  man  könnte  ganz  vereinzelte  bei- 
spiele  für  den  gen.  des  personale  statt  des  possessivums  geltend 
machen  (Mnl.  gr.  §  214).  aber  es  ist  doch  recht  unwahrschein- 
lich, dass  unser  dichter  sich  einer  so  ungewöhnlichen  und  aus 
einem  unsicheren  Sprachgefühl  hervorgehnden  ausdrucksweise 
bedient  haben  sollte,  die  auf  b  gegründete  conjectur  wird  also 
richtig  sein,  indessen  lag  der  Irrtum  den  gen.  Belijns  statt  des 
dativs  zu  setzen  wider  vor  der  band,  und  da  es  in  solchen 
fällen  ein  ganz  gewöhnliches  auskunftsmittel  dieser  Schreiber  ist, 
ihren  fehler  zu  vertuschen,  indem  sie  einfach  den  reim  ganz 
äufserlich  angleichen,  so  kann  man  auch  auf  diese  stelle  nicht 
viel  gewicht  legen',  ebensowenig  auf  3425 f,  wo  dem  zweifellos 
'    auffallend    ist,   das.s  die  gesamte  Überlieferung  hier  auf  einen  vers 


REINAERT  291 

für  imsern  text  uiimüglich  ursprünglidien  i'eim  f/hdict  :  ccrriet 
in  /  ein  doppelter  reim,  mit  viei-  versen  an  stelle  der  beiden 
von  a,  entspricht:  beliet  :  gefief,  rerricl  :  gcsclef,  eine  lesart.  ilie 
in  ihrer  lahmheit  keiner  für  ursprünglich  ansehen  wird,  ich 
halte  es  immer  noch  für  die  einfachste  und  an  sich  überzeugende 
annähme,  dass  ursprünglich  heghiet  :  verriet  stand,  wie  genau  im 
selben  sinn  und  in  derselben  Verbindung  2U56  Reinaert  hevet 
selve  heghiet.  die  beiden  verba  werden  fortwährend  miteinander 
vertauscht,  und  es  kann  an  unserer  stelle  schon  in  einer  alten 
hs.  oder  mehr  als  einmal  geschehen  sein,  der  jüngere,  nach- 
lässige und  grade  auch  für  die  reinheit  des  reims  wenig  emprind- 
liche  Schreiber  von  a  begnügte  sich  mit  ghellet :  verriet,  während 
der  von  /  durch  eine  mislungene  nachdichtung  wenigstens  den 
reinen  reim  zu  retten  suchte,  vielleicht  ist  ein  ähnliches  ver- 
fahren des  letzteren  bei  1)59 f  festzustellen,  wie  auch  das  bei 
367 — 371  angewante  zu  vergleichen  ist  (s.  unten);  und  noch 
bequemer  hat  er  es  sich  nach  1 146  =  a  1158  gemacht,  offenbar 
hat  er  1157  als  abschnittsschluss  genommen  und  muste  nun 
einen  neuen  abschnittsanfang  haben,  zu  welchem  zweck  er  die 
vorhergehnden  reime  einfach  widerholte,  auf  ähnliche  weise 
hat  auch  der  Schreiber  von  a  bei  105  aus  einem  reimpaar  ein 
doppeltes  fabriciert.  vgl.  auch  unten  über  2369  ff.  von  geringerer 
bedeutung  ist  783,  wo  beide  die  een  sloech  lesen,  das  wird 
allerdings  falsch  sein,  da  es  gleichlautend  im  vers  vorher 
steht,  aber  ob  Martins  die  een  hieu  die  richtige  fassung  bietet, 
ist  darum  nicht  ausgemacht,  noch  eher  würde  ich  an  die  een 
scoot  denken.  —  über  211  f.  959 f,  1900  und  32  17  s.  unten 
s.  300  ff. — 3l04f  nimmt  Leon.  Willems.  Ti.jdschr.  v.  nl.  taal-  en 
letterkunde  27,  82 f  sogar  einen  gemeinsamen  fehler  in  a,  e 
und  f  an,  da  in  b  und  /  neben  palster  ende  scaerpe  auch  die 
scliuhe  Keinaerts  besonders  erwähnt  werden,  und  es  unbegreiflich 
wäre,  dass  sie  nicht  besonders  genannt  sein  sollten,  ein  Ver- 
hältnis a  e  f  ist  aber  sonst  nirgends  erwiesen,   und  wir  müssen 

hinführt  der  zu  kurz  ist,  wenn  man  nicht  die  form  domiilwide  einsetzen 
darf,  man  möchte  darum  erwägen,  ob  nicht  ursprünglich  geschriei)en  ge- 
wesen sein  könnte  In  der  dompheit  aelces  ■•iijuf,  und  .-ielce--^  infolge  der 
ungewöhnlichkeit  seiner  Stellung  von  verschiedenen  Schreibern  ausgelassen 
worden  wäre,  allein  die  Stellung  f^elces  si//h-i  statt  i<i/ns  ■'<elres  ist  nicht 
nur  ungewöhnlich,  sondern  mir  überhaupt  sonst  nicht  bekannt,  mit  der  ge- 
wöhnlichen Stellung  Ruysbr.  i  21,  9  in  beiden  siden  ans  selres. 


292  FRANCK 

annebmen,  entweder  dass  der  dichter  doch  in  der  tat  Eeinaerts 
wundersame  erscheinung  in  der  erinnerung  der  leser  durch 
pnlster  ende  scaerpe  als  genügend  gekennzeichnet  ansali,  und 
die  Verfasser  von  /  und  b,  welche  letzterer  aus  irgend  welchen 
anderen  gründen  an  der  stelle  sowieso  ändert,  von  sich  aus 
darauf  kamen,  auch  die  im  Zusammenhang  ja  allerdings  wichtigen 
schuhe  zu  erwähnen,  oder  aber  dass  die  drei  texte  unabhängig 
voneinander  etwas  verloren  haben,  in  dem  falle  würde  ich  aber 
noch  eher  als  an  die  von  Willems  vorgeschlagene  lesart  an  einen 
ausfall  von  scoen  oder  ende  scoen  in  v.  3105  glauben  (ende  scoen, 
palster  ende  scaerpe  oder  ende  palster,  scoen  ende  scaerpe  oder 
aber  e.  p.  ende  scoen  ende  scaerjje).  natürlich  könnte  es  sich 
in  diesem  falle  auch;  und  noch  leichter,  um  ein  zufälliges  zusammen- 
treffen von  e  und  der  vorläge  von  af  handeln,  wenn  sonst  ein 
Verhältnis  af  als  erwiesen  zu  gelten  hat. 

Recht  auffällig  scheinen  sich  einige  beziehuugen  zwischen 
der  lateinischen  und  der  jüngeren  flämischen  bearbeitung  vor- 
zutun, die,  wenn  sie  stich  halten,  entweder  zu  der  annähme 
zwingen,  dass  der  Verfasser  von  Rein,  ii  auch  die  lat.  Übersetzung 
benutzt  habe,  oder  dass  früh  in  dem  älteren  text  einige  Verän- 
derungen eingetreten  waren,  die  in  die  vorlagen  von  /  und  b 
übergiengen,  oder  aber  dass  a  und  /  noch  in  einigen  weiteren 
fällen  gemeinsame  fehler  enthalten,  sie  erfordern  darum  eine 
sorgsame  erwägung. 

Gleich  die  erste  stelle  ist  auch  die  auffälligste,  und  von 
der  entscheidung  über  diese  hängt  hauptsächlich  die  über  die 
ganze  frage  ab.     bei  230 ff 

vinc  ende  waerpene  in  sinen  sac. 

dese  pine  ende  dit  onghemac 

hevet  hi  leden  dor  Isengrime 

ende  tweewerven  meer  dan  ic  u  rime  (s.  oben  286  f) 
hat  /einen  neuen  gedanken  :  In  sacco  capitur;  sicque  retentus 
erat;  II le  per  ing eniiim  licet  evasit.  graviora  etc.  den 
gleichen  gedanken  flnden  wir  in  b  wider: 

in  enen  sac 
daer  hi  met  groten  anxt  uut  brac 
ende  was  wel  na  op  die  doot. 
dit  misval  ende  desen  noot  etc. 
ligt  in   a  und  /  ein  fehler  vor,  so  könnten  folgende  erwägungen 


REINAEKT  293 

platz    greifen,     als   ursprünglich    Heise  sich,  in  combination  von 
/  und  b,  eine  textgestalt  wie  die  folgende  vermuten 

sac; 
ne  wäre  dat  hiere  ute  brac 
met  siere  list,  hi  wäre  doot. 
dese  pine  ende  desen  noot 
das  mittlere  verspaar  könnte  verloren  gegangen  und  der  reim 
durch  einsetzung  von  onghemac  für  noot  wiederhergestellt  worden 
sein,  dann  wären  a  und  /  nicht  unabhängig  voneinander,  aber 
es  könnte  sich  auch  um  einen  ursprünglichen  vierreim  handeln 
(s.  gleich  zu  3 107  ff  und  weiter  unten  zu  1732f),  auf  dessen 
ergänzung  durch  stac  etwa  das  lat.  retentus  erat  leiten  könnte: 
sac  :  (daer  hl  op  die  doot  [oder  inet  groten  anxte]  in)  stac  :  {ne 
wäre  hiere  uut  met  liste)  hrac  :  onghemac.  dann  brauclite  man 
aus  der  auslassung  nicht  notwendig  auf  eine  abhängigkeit  zu 
schliefsen.  wäre  dagegen  der  neue  gedanke  unursprünglich,  so 
niüste  er  entweder  durch  eine  nähere  verwantschaft  von  bl  in 
dem  oben  angedeuteten  sinne  bedingt  oder,  was  an  und  für  sich 
sehr  viel  unwahrscheinlicher  ist,  es  müsten  /  und  b  unabhängig 
voneinander  auf  ihn  gekommen  sein,  weil  sie  es  für  notwendig 
hielten,  ausdrücklich  zu  sagen,  dass  R.  aus  einer  so  bedrängten 
läge,  nachdem  er  schon  im  sacke  stak,  doch  noch  entkommen 
sei.  merkwürdig  ist,  dass  uns  nachher  ein  zweiter  fall  be- 
schäftigen wird,  V.  2457  ff,  wo  sich  bei  einer  genau  entspredienden 
Sachlage  ein  genau,  in  /  auch  wörtlich  ziemlich  genau,  entsprechendes 
plus  findet,  wird  die  annähme  einer  verwantschaft  von  bl  durch 
andere  stellen  einigermal'sen  nachhaltig  unterstützt,  so  wird  man 
sich  natürlich  für  die  ursprünglichkeit  von  af  entscheiden. 
Im  anschluss  an  v.  733  list  /  306  ff 

Sicque  ruunt  vetule,  que  vix  dentes  habuere 

Queque  movere  pedes  vix  valuere  suos. 

Sic  fit,  ut  a  vulgo  solet  assidue  recitari. 

Dum  currus  stat  aque  plurima  verba  sonant. 

Quisque  sibi  caveat,  dum  danipna  pericula  servat 

Sepe  gravare  magis  nititur  oninis  eum; 

Quod  patet  in  Bruno,  cui  nmlti  multa  niinantur 

Qui  non  auderent,  si  suus  ipse  foret. 

Brunns  stat  dubius;  licet  ipse  pericula,  penas 

Atque  metus  retinet,  deteriora  timet. 


294  FRANCK 

es  bringt  also  nach  733  die  Übersetzung'  von  7Ü)J  —  776  unseres 
textes,  und  dann  schliefst  die  Übersetzung  von  736 ff  an; 
734  f  voor  hem  allen  quam  f/heronnen  Lanip-oit  met  ere  scaerper 
aex  fehlt;  er  war  schon  vorher,  in  Übereinstimmung  mit  699 f 
erwähnt,  desgleichen  schliefst  b  die  verse  766 — 768  unmittelbar 
an  733  an,  und  734 f  gehn  verloren;  aber  769 — 776  bleiben 
abweichend  von  /  an  ihrer  alten  stelle,  hier  handelt  es  sich 
sicher  um  einen  zufall,  denn  b  lässt  sich  aus  /  durchaus  nicht 
erklären,  in  af  ist  die  darstellung  in  der  tat  etwas  breit,  das 
herannahen  der  bäuerlichen  gesellschaft  wird  eigentlich  zweimal 
geschildert,  und  dieser  umstand  mag  beide  bearbeiter  zur  änderung 
veranlasst  haben,  bei  der  sich  die  gleiche  Umstellung  von  766 — 768 
zufällig  ergab. 

Für  840  ff  ende  ghlnghen  daer  die  pape  gheJ)Oot,  hede  met 
strmghen  ihs.  /  stocken)  ende  inet  haken.  die  tvile  dat  si  die 
vrowve  imt  traken  hat  l  (dbO)  parentque  moventis  Indictis,  do- 
minant fltictihus  eripiunt.  Talihus  intentos  dum  Brunus  viderit 
onines  und  b  ende  ghinghen  daer  die  pape  ghehoot.  als  Bruun 
sacli  dat  die  Heden  altemale  van  hem  scieden  ende  trecken 
gingen  over  dat  oude  tvijf.  beide  stimmen  also  darin  überein 
dass  sie  die  stringhen  ende  haken  weglassen  (die  letzteren  hat 
/  jedoch  schon  vorher,  v.  347,  angebracht)  und  das  verbum  sien, 
videre  einfügen,  aber  das  kann  auch  sehr  gut  zufall  sein,  der 
anlass  zur  änderung  für  b  war  wol  die  form  traken. 

Kaum  zu  nennen  ist  1107,  wo  dem  herber ghet  tavont  j)iet 
mi  von  a,  ghi  moet  te  nachte  herhergen  mit  mi  von  f  in  l 
ergo  morare  veni,  in  b  daerom  hlijft  te  nacht  met  mi 
entspricht. 

Nicht  unwichtig  ist  die  stelle  2255 ff,  wo  af  lesen 

ende  quam  in  Waes,  int  soete  lant, 

daer  hi  minen  vader  vant. 

mijn  vader  ontboot  Grimbeert  den  wisen. 
in  /   1078  ff  heilst  es  In  Wasiam  venit,  a  patre  recepttis  ibidem. 
Eins    in  adventu  gaudet  et  ipse  pater.       Grimbertumque  vocant. 
in  b  2279  ff 

(maecte  hi  hem  te  Viaenderen  waert) 

daer  hi  minen  vader  vant, 

dien  wel  ontfenc.     doe  te  hant 

sende  hi  om  Grimbeert  den   wisen. 


REINAERT  295 

der  Verfasser  des  Rein,  ii  hat  die  ervvähnung  von  ll'aes  wegge- 
lassen und  füllte  das  reimpaar  mit  dien  wel  ontfenc.  <loe  fe  haut 
an,  während  in  l  a  patre  recephis  ibidem  an  stelle  von  darr  hl 
iniiien  vader  vant  stehn  kann,  insofern  ist  also  eine  besondere 
Übereinstimmung  zwischen  bl  nicht  vorhanden,  doch  würde  bei 
/  dann  noch  weiter  v.  1079  auffallen,  wenn  kein  anlass  für 
seinen  Wortlaut  in  der  vorläge  gegeben  gewesen  wäre.  es 
scheint  mir  darum  möglich,  dass  in  a  und  /  zwei  verse 
verloren  gegangen  sind  des  ungefähren  inhalts  und  Wortlautes 
(vgl.  3301) 

diene  harde  wel  onttinc 
want  hi  was  blide  van  dier  dinc. 
träfe  der  Wortlaut  das  richtige,  so  könnten  ja  unabhängig  von- 
einander zwei  Schreiber  von  {va)nt  auf  {di)nc  abgeirrt  sein,  in- 
dessen stofs  ich  mich  weiter  ein  wenig  aucli  am  anfang  von 
2257  mijn  vader  onfhoof.  ein  ende  onfhodrn  würde  /  (zum  teil 
auch  b)  besser  entsprechen,  so  dass  hier  doch  vielleicht  die 
möglichkeit  einer  engeren  berührung  von  af  übrig  bleiben 
könnte. 

Auf  2456 ff  ist  schon  hingewiesen,     a  und  f  lesen 
daer  die  jagheren  na  hem  (/  iaghers  an)  reden 
alle  daghe  met  hären  honden, 

die  hem  vervaerden  (/  diene  verraden)  te  meneghen  stonden 
aber  /  1  178   Ipswn  nam  canihus  vendtores  agitahant;  Hos  tarnen 
evasit  artihus  ille  suis  und  b  2474  ff 

daer  die  jagher  na  hem  reden 

mit  hären  honden  alle  daghe, 

so  dat  hi  nau  ontdroech  die  craghe. 

Mau  würde  hier  wol.  wenn  eine  sichere  entscheiduug  nicht 
möglich  ist,  an  sich  den  Inhalt  von  Ib  für  das  ursprüng- 
lichere ansehen,  und  dann  würde  die  stelle  wider  für  eine  mög- 
liche beziehung  zwischen  af  sprechen,  wenigstens  wenn,  wie  es 
doch  wahrscheinlich  ist,  verraden  und  vervaerden  auf  eine  ge- 
meinschaftliche lesart  zurückgehn.  sonst,  wenn  das  letztere 
nicht  der  fall  wäre,  könnte  allerdings  die  Umstellung  in  2457 
auch  wol  zufällig  übereinstimmen,  und  auf  das  auskunftsmittel 
te  menifjhen  stonden  auch  zwei  leute  unabhängig  voneinander 
gekommen    sein.      ich  glaube    indessen,    dass  wir  auch  hier  die 


29G  FRANCK 

raöglichkeit   einer  zufälligen  Übereinstimmung  zwischen  l  und  b 
nicht  für  ganz  ausgeschlossen  anzusehen  brauchen. 

Für  die  stelle  3107  ff  liegen  die  dinge  klar  genug,  sie  sind 
aber  auch  lehrreich  genug,  um  uns  einen  augenblick  mit  ihnen 
zu  beschäftigen,  a  und  /  haben,  mit  kleinen  abweichungen 
untereinander, 

soe  was  blide  ende  sprac  säen 

'Reinaert,  hoe  sidi  ontgaen?' 

"ic  bem  worden  peelgi'ijn". 
b  3096  ff  hat  die  beiden  verse  mehr  in  Reinaerts  antwort 

*ic  was',  sprac  hi,  'int  hof  ghevaen, 

mer  die  coninc  liet  mi  gaen. 

(ic  moet  werden  pelgrijn)' 
und  /  1566  Captus,  ait,  fueram:  me  rex  dimiserat  ire,  Deheo 
nani  fieri  jam  j^ere^Wwws  ego.  hier  hat,  nachdem  einmal  die 
Vermutung  ausgesprochen  war,  dass  die  verse  die  b  mehr  hat 
dem  original  angehören,  und  ihr  fehlen  dadurch  hervorgerufen 
worden  ist,  dass  das  äuge  des  Schreibers  von  einem  gaen  auf 
das  andere  abirrte,  was  natürlich  auch  mehr  als  einmal  vor- 
kommen konnte,  niemand  an  diesem  Sachverhalt  gezweifelt,  bis 
auf  B.-Hettema  allerdings,  der  sich  auch  durch  die  hs.  e  nicht 
irre  machen  liel's,  die  würklich  die  beiden  verse  aufweist,  vier- 
facher reim  ist  nicht  selten,  er  ist  aufserdem  fürs  original  an- 
zunehmen (230 ff?  s.  oben  292  f).  261  ff.  267ff.  367ff.  1301  ff. 
1495ff.   1731ff,   2057ff.   2747ff.  2783ff. 

Es  sind  aber  noch  mehrere  andere  stellen  zu  erörtern, 
wegen  2656 — 2661  verweis  ich  auf  die  besprechung  weiter 
unten.  Muller  hat  Ojb.  50  v.  1428  geltend  gemacht,  ich  halte 
das  zusammentreffen  hier  für  zufall.  jedesfalls  hat  Muller  selber 
schlagend  nachgewiesen,  dass  der  bearbeiter  in  seiner  nl.  vor- 
läge grade  so  wie  a  las.  1735f  (Ojb.  55;  Tijdschr.  27,  67  f)  bleiben 
unsicher,  das  reimwort  in  1736  kann  nach  ö  and  fverstoort,  aber 
auch  nach  a  verstorbeert  gewesen,  und  die  laa.  von  b  und  /  können 
durch  das  schwer  zu  erratende  verbum  in  1735  oder  aber  durch 
ein  wort  veranlasst  sein,  woraus  das  (mine)  herte  von  a  und  / 
entstellt  ist.  dem  sinn  nach  würde  in  letzterem  falle  ja  das 
germ.,  im  mnl.  nicht  nachgewiesene  wort,  auf  dem  haest  beruht, 
von  der  grundform  haist  oder  haiß  sehr  gut  passen,  jedesfalls 
brauchen    thiris   verhis  von  /  und  overlopende  n-oort  von  b,    die 


EEINAERT  297 

g-anz  verschieden  construiert  sind,  keine  nähere  beziehuug'  zu 
einander  zu  haben,  als  dass  sie  gleicherweise  durch  die  ursprüng- 
liche, verlorene  la.  hervorgerufen  sind,  die  Ojb.  <)3  hervor- 
gehobene Übereinstimmung  zwischen  b  und  /  an  der  1974  ent- 
sprechenden stelle  halte  ich  wider  für  belanglos.  /  hat  die 
vorhergehenden  verse  verkürzt  und  gleicht  mit  einem  kleinen 
Zusatz  aus,  und  b  ändert  an  der  stelle  wegen  gaste,  wegen 
möglicher  trugschlüsse  sei  auch  auf  die  erörterung  über  3247 
weiter  unten  verwiesen,  und  selbst  einer  anscheinend  so  schla- 
genden Übereinstimmung  gegenüber  wie  bei  3418  0'  (s.  unten) 
ist  alle  vorsieht  geboten,  schlagender  scheint  noch  das  zu- 
sammentreffen bei  V.  1295  (Ojb.  48),  welches  sicher  einen  Zu- 
sammenhang beweisen  würde,  wenn  nicht  die  möglichkeit  bestünde, 
dass  eine  so  interessante  erzählung  auch  aufserhalb  der  uns  be- 
kannten litteratur  verbreitet  gewesen  wäre,  und  der  Wortlaut 
einer  bestimmten  fassung  hier  in  unsere  texte  hineinspielen  könnte, 
oder  aber  dass  die  redensart  'es  ist  keine  schände  für  die 
capelle  mit  einer  glocke  zu  läuten'  auch  spricliwörtlifh  be- 
standen habe,  von  dieser  redensart  abgesehen  zeigt  b  keine 
nähere  bezeichnung  zu  /  als  zu  af. 

Was  bei  dieser  erörterung  als  einigermal'sen  gewichtiges 
Zeugnis  für  eine  besondere  beziehuug  zwischen  b  und  der  lat. 
Übersetzung  übrig  bleibt,  vor  allem  die  zuerst  besprochene  stelle, 
scheint  mir  eine  zu  schwache  unterläge,  um  den  schluss  zu 
tragen,  der  bearbeiter  war  ein  gebildeter  mann  und  könnte 
natürlich  das  lat.  gedieht  gekannt  haben,  da  ihm  aber  zweifel- 
los genügend  nl.  texte  zu  geböte  standen,  so  wäre  es  merkwürdig, 
wenn  er  daneben  auch  einen  lat.  zu  rate  gezogen  hätte,  und 
wenn  das  doch  der  fall  gewesen,  so  hätte  er  ihm  dann  nur  einen 
recht  vereinzelten  und  oberflächlichen  einfluss  auf  seine  arbeit 
gestattet,  und  das  müste  einen  an  der  annähme  wider  irre 
machen,  beide  texte,  /  und  b,  sind  eben  bearbeitungen,  und  es 
ist  nur  natürlich,  dass  ihre  Veränderungen  mehr  oder  weniger 
auch  nach  derselben  richtung  liegen  können,  überhaupt  muss  bei 
allen  handschriftenuntersuchungen  dieser  möglichkeit  mehr  als 
es  häutig  geschieht  rechnung  getragen  werden. 

Weniger  wag  ich  eigentlich  die  möglichkeit  irgend  einer 
verwantschaft  zwischen  a  und  /  zu  bestreiten,  doch  muss  auch 
dem    gegenüber    hervorgehoben    werden,    dass    bei   der    überaus 


298  FRANCK 

grolsen  anzahl  der  abweiclienden  lesarten  in  unserer  Überlieferung 
sonst  engere  beziehungen  zwischen  den  beiden  liss.  niclit  zu  ent- 
decken sind,  dass  sich  die  etwaige  verwantscliaft  also  nur  auf 
einen  noch  wenig  von  fehlem  entstellten  und  in  der  zeit  weit 
zurück  liegenden  text  beziehen  könnte,  und  die  beiden  hss.  mit- 
hin in  den  allermeisten  fällen  doch  als  unabhängige  zeugen  zu 
gelten  hätten,  da  mir  auch  andere  gruppieiungen  bei  stärkeren 
textlichen  abweichungen  nicht  aufgefallen  sind',  so  liegen  also 
die  dinge  für  die  textkj'itik  recht  günstig,  zumal  eine  genauere 
vergleichung  von  a  f  und  e  auch  für  die  entscheidung  bei 
den  zahlreichen  abweichungen  der  sprachformen  und  des  aus- 
drucks  willkommene  anhaltspuncte  an  die  band  gibt,  am  wenigsten 
natürlich  für  rein  mundartliche  dinge,  bei  denen  jeder  Schreiber, 
ohne  den  text  stärker  anzutasten,  seiner  neigung  und  seinen 
bedürfnissen  folgen  konnte,  in  den  bei  e  erhaltenen  versen 
habe  ich  mir  94  mal  die  Übereinstimmung  von  ef,  58  mal  ae - 
und  52  mal  af  angemerkt,  und  wenn  natürlich  die  betreffenden 
lesarten  auch  erst  genauer  auf  ihre  echtheit  oder  unechtheit  zu 
untersuchen  wären,  so  erhellt  doch  auch  ohne  das  schon  der 
Vorzug  von  ef  gegenüber  von  a.  in  dieser  partie  ergibt  sich 
mir  kaum  eine  beziehung  von  b  zu  /  gegen  ae  ■',  eher,  aber 
dann  auch  nur  recht  leise,  eine  solche  von  b  zu  e  gegen  af, 
während  eine  solche  von  b  zu  a  gegen  ef^,  auch  in  lesarten  die 
wol  auf  einen  jüngeren  sprachcharakter  weisen,  nicht  zu  ver- 
kennen sein  dürfte,  die  fragen  wären  für  den  übrigen  text 
weiter  zu  verfolgen  und  entsprechend  bei  der  kritik  zu  verwerten, 
eine  bestätigung  für  die  oben  offen  gelassene  möglichkeit  eines 
engeren  Verhältnisses  af  ist  aus  den  eben  genannten  hl  af 
kaum  zu  gewinnen-^. 


'  Für  al  s.  unten  über  (;22ft'.  812  f.  860.  2655.     das  ist  natürlich  zu 
wenig  und  zu  unsicher,  um  einen  schluss  darauf  zu  bauen.  -  darunter 

nicht  der  fehler  330  fihema/,elil,e  (s.  unten),  bei  dem  die  Übereinstimmung 
gewis  Zufall  ist.  ^  s.  unten  zu  860.  "  vgl.  unten  zu  211  f.  3196f. 

•'  beide  hss.  stimmen  auch  3164  mit  hoenre,  wo  e  vor  lioenre  an  den  tag  brachte, 
dies  hat  Verdam  Tijdschr.  9,  23Sf  überzeugend  als  iroerhoen  gedeutet,  was 
zu  meinem  grösten  bedauern  bei  der  bearbeitung  der  lesestücke  für  die 
2  ausgäbe  meiner  Mnl.  gramm.  meinem  gedächtnis  entfallen  war.  ein  ver- 
meintlicher eigener  einfall,  der  in  würklichkeit  also  nur  eine  unbewuste 
erinnerung    war,    brachte  mich  erst  wider  darauf,  und  ich  l^aun  jetzt  eine 


REINAERT  299 

Auch  ohne  die  genauere  vergleichung;  ergibt  sich  aber  sclion 
aus  den  stärkeren  textabweichuugen,  dass,  wie  es  auch  der  Her- 
ausgeber hervorhebt.  /  dem  original  wesentlich  näher  geblirbeii 
ist  als  a,  jedoch  auch  seinerseits  zahlreiche  fehlei-  enthält  (von 
denen  auch  e  nicht  frei  ist),  die  änderungen  in  /  sind  aber  im 
allgemeinen  weniger  eingreifend,  sie  erklären  sich  vielfach  als 
Verlesungen  und  Tüchtigkeiten,  während  die  von  a  den  text 
häutig  weit  stärker  umgestaltet  haben.  nicht  blol's  in  dem 
jüngeren  alter  von  a  dürfte  seine  geringere  Originalität  begiündet 
sein,  sondern  sie  düi-fte  auch  darauf  hinweisen,  dass  die  hand- 
schrift  das  glied  eines  stärkeren  abschreibebetriebs  ist.  /  mag 
einer  tradition  angehören,  die  verhältnismäfsig  früh  aus  dem 
fläm.  heimatsland  lieraus  gelangte  und  seltenere  abschritten  ei- 
zeugte.  man  kann,  glaub  ich,  nicht  einmal  sagen,  dass  in  a 
die  tiära.  sprachform  so  sehr  viel  besser  gewählt  sei  als  in  /, 
wie  man  es  sonst  von  einer  fläm.  haudschrift  einer  aufserfläm. 
gegenüber  erwarten  könnte. 

Von  den  zahlreichen  weniger  wesentlichen  Verschiedenheiten 
abgesehen,  verteilen  sich  die  m.  a.  nach  richtigen  lesarten  auf 
beide  hss.  folgendermalsen'. 

Vv.  1 — 6  wird  wol  eine  combination  von  a  und  /  not- 
wendig   sein,    s.   auch  unten  s.  321  ff.   —    25  f  nach  a  (und  b). 

—  32  nach  a  fund  b).  —  33  in  a,  34  in  /nach  a  (und  b).  — 
37  f.  kaum  zu  entscheiden.  —  39  vielleicht  nach  /;  vgl.  b  41  ff. 

—  55 — 57  nach  f  (und  b;  vgl.  auch  /  33  venu  ad  luccm  invite.) 

—  97  nach  f.    —    Idö — 108  nach/.    —    124  omheret  nach/ 


längere  begriindeude  auiuerkung,  die  an  dieser  stelle  stehn  sollte,  streichen, 
übrigens  wäre  auch  eine  andere  form  statt  irm'r  denkbar,  das  ononiato- 
poietisch  ist  oder  doch  so  aufgefasst  werden  konnte. 

'  Ich  geh  nicht  auf  alle  stellen  ein,  die  schon  früher,  auch  ohne 
rücksicht  auf  /  ni.  a.  nach  richtig  behandelt  worden  sind,  noch  weniger 
werd  ich  die  begründungen  widerholen,  die  jetzt  also  vielfach  durch  f 
eine  weitere  bestätigung  erfahren.  die  litteratur  in  der  die  einzelnen 
stellen  früher  behandelt  sind,  führe  ich  im  allgemeinen  nicht  besonders 
an.  es  kommen  neben  den  verschiedenen  ausgaben  in  betracht  .IWMuller 
De  oudere  en  de  jongere  bewerking  van  den  Reinaert;  Tijdschrift  voor 
nederl.  taal-en  letterkunde  1,1 — 29  (Verdam);  5,  245 — 2(i4  (van  Heltcn) ; 
9,  236—243  (Verdam);  12,  1—24  (Buitenrust-Hettema);  19,  137—149 
(Verdam);  27,  50 — 98  (Leon.  Willems);  JWMuller  in  Verslagen  en  nicdedpc- 
lingen  d.  Kon.  Vlaam.sche  academie  190S,  s.  109 — 188. 


300  FRANCK 

120  (und  ö  132;  /  66  desinat  iude  queri).  übrigens  könnte 
auch  die  starke  form  omboren  ursprünglich  gestanden  haben.  — 
135  ist  die  la.  der  hss.  afb  saghe  {a  verlesen  Jacjlie)  beizu- 
behalten. —  163f  nach/  159f  (und  b  I71f).  —  175  nach 
a  noch,  nach  /  171  in  (oder  bin  nach  aV)  derre;  b  1S3.  — 
186—192  nach  /  182—184  (und  b  194—196);  es  ligt  hier 
eine  starke  Umarbeitung  in  a  vor.  —  198,  /  190  und  ähnlich 
wie  letzteres  b  202,  scheint  mir  nicht  sicher  zu  entscheiden, 
auch  nicht  nach  /  97.  —  203  f.  die  beiden  verse  fehlen  in  / 
(nach  194),  und  man  wird  wol  zunächst  geneigt  sein,  das  für 
ein  blolses  versehen  der  handschrift  zu  halten,  aber  auch  weder 
in  b  noch  in  /  findet  sich  etwas  entsprechendes;  im  gegenteil 
könnte  man  grade  211  von  b  als  veranlasst  ansehen  durch 
Reinaerts  worte  in  hebbe  daer  an  niet  gheloghen,  wenn  diese 
nicht  durch  Isengrijns  frage  hervorgerufen  waren,  ich  glaube 
also,  dass  wir  von  den  beiden  versen  für  den  alten  text  absehen 
müssen,  wenn  man  sie  auch  ungern  missen  sollte,  da  der  lebhafte 
einwurf  die  lange  rede  Grimberts  in  nicht  unwillkommener 
weise  unterbricht.  —  2 1 1  f  wird  schwerlich  zu  entscheiden  sein, 
die  Übereinstimmung  von  ab  scheint  auf  uplaset  zu  führen,  die 
von  a  f  und  /  (102  niminin  satiiratus  eras)  im  folgenden  vers 
auf  versadet.  aber  die  assonanz  laset :  versadet  bleibt  für  das 
alte  gedieht  wenig  wahrscheinlich,  und  die  conjectur  äset  oder 
gheaset  oder  veraset  (Tijdschr.  2,  206  ff)  nach  b  wird  sonst  durch 
die  Überlieferung  nicht  gestützt,  mechanisch  am  sichersten  wäre 
somit  als  ursprünglich  nach  /  anzusetzen 

ende  ghi  die  goede  {oder  vette)  pladise  (up?)  aet, 
daer  ghi  u  selven  mede  {oder  ane)  versaet  {oder  an  hadt  versaet?). 
auf  uplaset  müsten  a  und  b  nach  dem  Zusammenhang  selbständig 
gekommen  sein  oder  b  es  bereits  in  der  vorläge  gefunden  haben, 
vielleicht  ist  aber  doch  uplaset  :  veraset  die  echte  lesart  und  a 
und  /  kamen  unabhängig  voneinander  auf  versadet  {l  auf  satu- 
rafus).  —  219  butseel  nach/  2U9  (und  b  223).  —  234  nach/ 
222  (und  b  240;  /Hl  est  mirandum).  —  237  nach  a  (und  b 
243)  gegen  /'225;  auch  /  114  betont  die  beiderseitige  liebe: 
fervenfes  .  .  .  dedere  fidem.  —  242  ende  of  nach  /  230  (und  b 
246;  /  115  si).  —  243  nach  /  231  (und  b  247).  —  245  nach 
a  (und  b  249;  auch  /  115  quod  inde?}.  —  258  nach  /  246 
(und    b   270).    —    273   stimmt  /  261    mit  b,    indem  beide  hier 


ßEINAERT  301 

Reinaerts  gewöhnliche  bürg-  Malpertuus  nennen,  sie  könnten 
dazu  gekommen  sein,  weil  sie  vielleicht  in  dem  namen  Malcrois 
Schwierigkeiten  fanden,  und  sachlich  eigentlich  kein  grund  vor- 
liegt, hier  an  eine  andere  als  Reinaerts  gewöhnliche  wohnuiig 
zu  denken,  bei  diesem  Sachverhalt  muss  man  allerdings  fragen, 
wie  kam  der  dichter  dazu,  hier  nacli  einem  namen  aus  einer  ganz 
anderen  branche  zu  greifen  (Martin  s.  xvii)?  rührt  Malcrois 
doch  von  einem  Schreiber  her?  —  284  eher  nach  /272;  b  'M2 
dem  sinne  nach  vom  letzteren  abweichend  nederwaert  ten  dale)), 
aber  /  131  de  valle.  nedenvaerf  war  also  vermutlich  für  •unten', 
ohne  den  begriff  der  richtung  gebraucht  (vgl.  Mnl.  woordenb. 
IV,  2291),  wurde  aber  misverstanden.  —  33S  nach  /  326  (und 
b  366).  —  351f  nach/339f  (und  b  389f).  —  358  nach/ 
346  (und  b  386).  —  364  nach  a  (und  b  392)  gegen/  352, 
aber  vielleicht  mit  coyiincrike  nacli  /  (und  b).  —  367 — 371 
nach  a  (und  b  395 — 399)  gegen  /  355—359.  die  beiden 
letzten  verse  sind  wol,  z.  teil  nach  /  (und  b),  etwa  zu  lesen 
ende  hadde  ghedaen  sware 

pinen  {oder  carinen?)  vor  die  sonden  sine  {oder  pine  im  reim?) 
die  Übereinstimmung  von  /  das  mit  den  reimen  in  Unordnung 
geraten  war,  und  b  in  penitencien  kann  zufällig  sein.  —  378 
bestätigt  /  336  die  an  sich  zweifellose  conjeetur.  —  405 — 408 
nach  a  (und  b  433 f)  gegen  /  394.  der  anlass  für  die  ein- 
greifende änderung  von  /  bestand  vielleicht  blos  darin,  dass  es 
versehentlich  statt  heivarhten  no  hescaermen  geschrieben  hatte 
hescermen  no  beivachten.  —  425  nach/ 411  (und  b  453).  — 
451—455  nach/ 437— 441 

doe  leidemen  Coppen  in  dat  {oder  een)  gracht, 
dat  met  sinne  {oder  engiene)  was  gewracht  {eher  als  graf :  glie- 
onder  die  {oder  een)  linde  in  dat  gras.  [maect  was) 

een  maerbersteen  siecht  alse  glas 
was  die  saerc  die  up  haer  {oder  daer  up)  lach. 
466  nach  /  {onthoot?)  (und  b  496).  —  470  bestätigt  /456  van 
Heltens  conjeetur.  —  502  nach/  488  (und  b  528;  l  215  per 
opaca).  —  508  nach  /  494  (und  ö  532;  /  219  vicinus).  — 
530  nach  /  516  (und  b  554);  vgl.  auch  /  226  ff.  —  über  die 
Stellung  557  f  =/  543 f  wird  sich  schwerlich  entscheiden  lassen. 
niewer  von  a  (und  b  614,  /  238  novis  cihis)  neben  vremder  von  / 
(Rom.  de  Ren.  504  mervellos)  ist  wol  ursprünglich.  —  562  nach 
Z.  F.  D.  A.  LH.  N.  F.  XL.  20 


302  FEANCK 

/  548  (und  &  617;  /  211).  —  575  nach  /  561  (und  b  629; 
vg-1.  Rom.  de  Ren.  537  f  'nomine  dame  Crisfmn  file'  dit  li  ors 
'por  le  cors  sainf  Gile').  —  608  nach  /  594  (und  h  660).  — 
6 1 5  nach  a  gegen  /  60 1 ,  das  helet  mare  beseitigt  hat.  wie  1072  (aber 
nicht  3243)  helet  vri.  dagegen  ist  im  folgenden  vers/zu  folgen,  das 
mit  b  607  und  /  261  tibi  tarn  promptum  foret  omne,  Brune,  honum 
stimmt,  die  la.  von  a  wäre  überhaupt  dem  sinne  nach  ganz  falsch, 
wenn  wir  nicht  honich  aus  Reinaerts  gesinnung  heraus  als  bild- 
lichen, ironischen  ausdruck  auffassen  wollen.  —  622  bleibt  mir 
einigermafsen  zweifelhaft;  /  264  ridet,  vix  quoque  cessat  ah  hoc 
stimmt  eher  mit  a,  dagegen  &  671  eher  mit  ^  608.  die  la. 
des  letzteren  erinnert  einigermafsen  an  eine  spätere  stelle,  2570, 
—  624  nach  a  (und  b  673)  gegen  /  610;  vgl.  /  265  si  vim 
tenet  ars  mea.  —  650  nach  /  636  (und  b  702).  —  658 f  nach 
/  643f  (und  ö  709f).  ob  im  folgenden  vers  das  sacket  von 
/"richtig  ist?  vielleicht  i-oeket?  —  682  nach  a,  dessen  smeken 
in  b  734  erhalten  ist,  gegen  /  668.  —  704  nach  /  690  (und 
/  295  Gaude,  manduca,  my  Brune).  —  752  =/738  ist  auch 
nach  b  804  nicht  sicher  zu  entscheiden,  besser  gefällt  mir 
eigentlich  die  lesart  von  f,  bei  der  hem  bedenken  entweder  im 
sinne  von  'zu  mute  sein'  oder  auch  'verdruss,  reue  empfinden' 
(Mnl,  woordenb.  bedenken  iv  4  und  iv  B)  oder  von  'überlegen', 
mit  bezug  auf  die  unentschlossenheit  des  baren,  zu  verstehn 
wäre.  —  766.  die  conjectur  staf  für  stap  in  a  wird  durch  staf 
in  y  752  noch  nicht  erwiesen,  zumal  ich  die  Verbindung  te  hären 
staf  nicht  versteh,  sie  könnte  fast  vermuten  lassen,  dass  irgend 
ein  verkanntes  compositium  von  stap  in  der  stelle  stecke,  so 
würde  sich  auch  begreifen,  dass  b  788  nichts  entsprechendes 
hat,  während  man  die  angäbe,  wenn  staf  gestanden  hätte,  oder 
auch,  was  ich  bezw'eifle,  stap  'krückstock'  bedeuten  könnte,  in  b 
und  /  wol  widerzufinden,  erwarten  könnte,  vgl.  Tijdschr.  v.  nl. 
taal-en  letterk.  17,277.  —  777  nach  /  763.  —  786  recht- 
fertigt f  112  die  auf  /  334  contum  cornutum  gegründete  con- 
jectur. —  805 — 816  muss  das  ursprüngliche,  soweit  es  über- 
haupt möglich  ist,  aus  a  und  besonders  aus  f  zusammengesucht 
werden,  ich  geh  von  812f  aus,  wo  durch  die  Übereinstimmung 
von  f  19bf  ghedichte  gaen  in  sinen  hals,  entie  coster  als  ende 
als  und  b  84  If  dicke  gaen  omtrent  sinen  hals,  die  coster 
maecte    hem    coc  seer  mals  f  gegenüber  a  als  ursprünglich  er- 


RETNAERT  303 

■wiesen  wird,  daraus  eigibt  sich  notwendig  aber  auch,  dass  zu- 
gl(i(;li  die  vorangehnden  und  folgenden  verse  nach  f  zu  ge- 
stalten sind,  wo  gleichfalls  grol'senteils  wider  die  Übereinstimmung 
von  b  hinzutritt,  anderseits  wird  SOr)f  von  /  3M0  wörtlich  be- 
stätigt, wähi'end  entsprechendes  allerdings  in  b  ebenso  wie  in 
/  fehlt,  am  schwierigsten  scheint  815,  wo  f  das  was  a  von 
Lamfreit  sagt  einem  andern  angreifer.  Otram,  zuschn-ibt  auch 
h  nennt  an  der  stelle  Lanüreit,  sagt  aber  von  ihm.  was  in  a 
an  einer  etwas  frühern  stelle,  796 ff,  von  einem  anderen  gesagt 
war  und  teilt  dann  das  von  Otram  erzählte  einem  brudei-  Lam- 
freits  zu.  auch  /  abei'  nennt  an  der  stelle,  v.  336,  Tjanfrciilus, 
schreibt  jedoch  in  unmittelbarem  anschluss  daran  den  angriff 
mit  dem  bell  einem  Hatto  zu.  es  ist  also  eine  gewisse  Über- 
einstimmung zwischen  a,  /  und  b  gegen  f  vorhanden,  die  sich 
aber  kaum  weiter  erstreckt,  als  darauf  dass  Lamfreit  genannt 
wird,  sollte  es  nicht  denkbar  sein,  dass  alle  drei  von  selbst 
darauf  verfallen  wären,  der  hauptperson  eine  rolle  beim  angriff 
zu  geben,  wobei  a  ihm  einfach  die  einer  anderen  person  über- 
tragen hätte  V  grade  ihm  den  beilliieb  zuzuschreiben  lag  nach 
G9üff  und  734  f  nah  genug,  wenn  Lamfreit  ursprünglich  genannt 
war,  wird  es  sich  nicht  mehr  feststellen  lassen,  was  der  dichter 
von  ihm  gesagt  hatte,  ich  erinnere  noch  einmal  daran,  wie 
unsere  erörterung  auch  früher  schon,  oben  293  f,  ergeben 
hat,  dass  diese  stelle  zu  änderungen  reizte,  abgesehen  nun  von 
der  möglichen  erwähnung  Lamfreits  könnte  etwa  der  folgende 
Wortlaut  ursprünglich  gewesen  sein: 

805  Ander  w'ijf  ende  ander  man, 

meer  dan  ic  ghenoemen  can, 

daden  Brunen  groot  torment. 

Brune  sat  ende  sach  omtrent 

ende  nam  dat  men  hem  gaf. 
810  die  pape  liet  den  cruusstaf 

ghedichte  gaen  in  sinen  hals, 

entie  coster  als  ende  als 

ghinkene  nopen  metter  vane, 

ende  Otram  warp  hem  sere  ter  bane, 
815  diene  sloech  ter  selver  wile 

met  ere  harde  scaerper  bile 

so  tusschen  hals  ende  hovet  etc. 

20* 


304  FRANCK 

das  so  dat  hem  dhloet  mit  lac  in  a.  von  dem  schon  vorher 
blutüberströmten  baren  gesagt,  scheint  auch  etwas  niülsig, 
während  man  anderseits  den  wol  der  natur  abgelauschten  zug 
in  f  Bntne  sat  ende  such  onitrent  nicht  gerne  missen  möchte, 
man  sieht  freilich  nicht,  was  für  a  der  anlass  zur  Umgestaltung 
gewesen  sein  könnte,  oder  blofs  die  verschreibung  onghemac  für 
toDiient:'  —  860  wol  wider  nach/  844  (und  b  898).  zwar 
verflucht  in  /  362  f  wie  in  a  der  bär  auch  den  Lamfreit;  aber 
die  Übereinstimmung  zwischen  b  und  /  wäre  sonst  schwer  ver- 
ständlich. /  nennt  neben  Lamfreit  ausdrücklich  auch  noch  ver- 
schiedene andere  von  der  gesellschaft  und  könnte  wol  auch  von 
der  lesart  fb  aus  selbständig  zu  seiner  darstellung  gekommen 
sein,  während  a  möglicherweise  blofs  auf  einem  lesfehler  beruht. 

—  Sl'6  =f  Sbl  ist  unsicher,  von  a  aus  ist  vielleicht  das 
enen  in  b  906  eher  zu  verstehn.  —  9U2=/S86.  die  con- 
jectur  JWMullers  Vv'ird  durch  /  schön  bestätigt,  nur  bleibt  auch 
rerslejjhen  erhalten,  nicht  aber  kann  auch  int  oever  von /richtig 
sein,  jedoch  ist  es  auch  fraglich,  ob  dies  nun  einfach  nach  a 
durch  thims  zu  ersetzen  wäre,  es  hat  wol  ursprünglich  etwas 
anderes  dagestanden,  vielleicht  ende  tsinen  hehoeve  hadde  gevleghen. 

—  914  f  nach  /  898  f  (und  /  385).  —  934  nach  /  918  (und  b 
953,  /  392  et  vulnera  multa  g  er  entern).  —  938 — 940  nach  / 
922—924  (und  b  958—960).  —  944  nach  a  (und  b  97u) 
gegen  f  628.  —  945  f  ist  wol  nach  a  bei  pri[h)ore  :  ore  zu 
bleiben  gegen  /  629  f.  zwar  hat  auch  b  972  oren,  aber  /  397 
spricht  von  leva  aure.  für  den  nom.  sing,  jjriore  wünschte  man 
allerdings  noch  eine  bessere  bestätigung  als  im  Mnl.  woorden- 
boek.  —  954  nach  /  938  (und  b  98ü),  aber  wol  mit  anderer 
interpunction  als  bei  Degering  und  mit  hine  für  M.  l  403  sed 
aurdu  preterit  aure  prohra  gibt  keine  genügende  handhabe.  — 
959  f.  sowol  /  944  wie  b  985  haben  hier  ant  ander  lant,  ent- 
sprechend /  405  ad  ripant  nlterioris  a^/ue.  der  begriff  'ans 
andere  ufer'  muss  also  ursprünglich  da  gestanden  haben,  doch 
auch  der  begriff  des  in  b  und  /  auffälliger  weise  fehlenden  ende 
ghinc  ligghen  up  dat  sunt  muss  nach  der  Übereinstimmung  af 
als  ursprünglich  angesehen  werden,  dass  aber  diesmal  die  vier 
verse  auf  -ant  von  /  als  richtig  anzusehen  seien,  scheint  mir 
ausgeschlossen,  sie  sehen  in  ihrer  mangelhaften  fügung  und  mit 
dem    wenig    sagenden    daer   hijt   alre  naest  vant  f  946  zu  sehr 


REINAERT  305 

darnach  aus,  als  ob  der  Schreiber  sich  ans  einer  Verlegenheit 
herausgeholfen  habe;  vgl.  s.  291.  man  könnte  nun  denken,  es 
habe  ursprünglich  wie  in  a  gelautet,  nur  mit  xjjf  (oder  aut) 
ander  saut  in  960.  daraus  künnte  bei  verschiedenen  Schreibern 
unabhängig  voneinander  ander  laut  entstanden  sein.  /  hätte 
aber  auch  dat  sant  nicht  missen  wollen  und  umgearbeitet,  in- 
dessen habe  ich  bedenken  bei  dat  ander  sant  für  'das  andere 
ufer".  das  wort  sant  für  'ufer'  ist  noch  häufig  genug  belegt, 
aber  wol  nicht  die  Verbindung  mit  ander,  vielleicht  lautete  959 
ursprünglich  metten  ströme  driven  ant  ander  lant,  und  das  ist 
aus  versehen,  oder  um  den  längeren  vers  (mit  zweisilbigem  auf- 
tact)  zu  kürzen  umgeändert  worden,  wobei  a  und  f  zufällig 
beide  auf  te  hant  (vgl.  te  Jiant :  serjnnt  983 f)  gekommen  sein 
können,  das  fi;elox  in  /  404  entspricht  keineswegs  dem  te  hant, 
sondern  ist  durch  sloech  955  hervorgerufen,  a  hätte  sich  bei 
der  änderung  te  hant  begnügt,  während  f  beizuarbeiten  suchte. 
—  969 f  =f  954 f  lässt  sich  wol  wider  nicht  sicher  entscheiden. 
es  ist  möglich  dass  die  ungenaue  consecutio  in  a  (s.  Martins 
anm.)  nicht  ursprünglich  ist,  aber  auch  dass  /  die  genaue  her- 
stellen wollte,  a  hat  die  gewöhnlichere  Wortstellung  hoe  hi  die 
vaert   hestaet. 

1023.  da  auch  f  mit  der  bisherigen  Überlieferung  ein- 
stimmt, ist  natürlich  von  einer  weitergehnden  conjectur  abzu- 
sehen, die  schände  für  die  sippe  besteht  darin,  dass  die  dritte 
ladung  zur  endgiltigen  aburteilung  des  eines  ehrenrührigen  Ver- 
brechens bezichtigten  und,  bei  seinem  nichterscheinen,  zur  fried- 
loserklärung  und  Verurteilung  in  abwesenheit  führt.  I33S  ver- 
langt dann  allerdings  Grimbert  die  dritte  ladung  als  Reinaerts 
recht,  in  der  tat  ist  sie  ja  das  recht  des  bezichtigten,  abei- 
ihr  Charakter  als  einer  Verurteilung  nahe  stehend  wird  darum 
nicht  geschwächt,  zudem  muss  Grimbert  jenes  recht  betonen 
gegenüber  dem  meneghen  raet  der  durchweg  feindlich  gesinnten 
mannen,  die  auch  schon  ohne  die  gerichtliche  Untersuchung 
Eeinaerts  handlungsweise  als  overdaet  oder  als  mordaef  if) 
stempeln,  ter  redenen  bringhen  1331  kann  wol  schon  wie  unser 
'zur  Verantwortung  bringen'  denn  sinn  von  *zur  strafe  bringen' 
haben,  obwol  man  nun  auch  den  ausdruck  mit  der  cardinalzahl, 
den  a  1023  und  ebenso  1007.  133S  hat,  im  selben  sinne  wie 
den    mit    der   Ordinalzahl  verstehn  kann,   so  ist  doch  die  hs.  a 


306  FRANCK 

nicht  so  zuverlässig-,  dass  man  nicht  die  viel  deutlichere  ordinale 
ausdrucksvveise,  die  die  übrigen  texte  an  allen  drei  stellen  auf- 
weisen, vorziehen  dürfte.  —  1060  nach  ^  1052  (und  b  1094;  / 
459  ante  })ortam).  —  1072./"  105S  stimmt  mit  b  1096  darin 
dass  es  statt  des  helet  vri  von  (t  das  pronomen  {sid)i,  gki  im 
reim  hat.  dagegen  könnte  das  tu  inichi  dilectiis  (neben  ccdx) 
von  /  466  wol  durch  das  helet  vrl  veranlasst  sein,  neve  von  a, 
b  und  /,  anderseits  sere  (recht)  von  f  und  b  (Rom.  de  Renart 
780  bien  soiez  venus  hautement)  dürften  als  ursprünglich  anzu- 
seheji  sein,  neve  wäre  aber  in  f  nicht  so  leicht  unterzubringen, 
nur,  mit  zweisilbigem  auftact,  vor  oder  hinter  Tibeert.  f  scheint 
darum  geändert  zu  haben,  und  so  hat  doch  wol  helet  vri  die 
Wahrscheinlichkeit  für  sich  echt  zu  sein,  wie  v.  3243  und  wie 
hdet  niare  615  und  vielleicht  34  69;  s.  unten  s.  337.  — 
1075—1083  nach/  1061  —  1071  (und  b  1099—1108,  /  467  — 
471).  in  einzelnen  ausdrücken  mag  a  echter  sein,  so  1083 
(jcuvi  statt  aulwi  f  1070,  wenn  nicht  etwa  dort  im  folgenden 
vers  cjaen  einzuschieben  ist.  dass  in  der  sprichwörtlichen  redens- 
art  1079f  Une  als  'zeile'  oder  metonymisch  'vers.  gedieht'  zu  ver- 
stehn  ist  (vgl.  Mnl.  woordenb.  iv,  654  und  656)  erhellt  jetzt 
aus  f\  vgl.  auch  noch  Troyen  1010  eert  S2)eel  ten  einäe  wort 
ghelesen.  —  1092  ist  al  sonder  luaen  gegen  f  1080  (und  b 
1116;  auch  /  480  ibo)  nicht  unverdächtig,  doch  ist  dat  sal  ic 
durch  die  Übereinstimmung  von  af  gesichert^  und  dazu  gehört 
dann  notwendig  auch  viet  u.  wenn  wir  combinieren,  so  kämen 
wir  auf  ein  zeugma,  etwa  dat  sal  ic  met  u  (so)  sal  ic  gaen, 
was  nicht  wahrscheinlich  ist.  vielleicht  ist  die  echte  lesart 
beiderseits  verloren  gegangen.  —  1110  nach/  1098  (und  b 
1134).  man  kann  hier  an  sich  die  lesart  von  a  vorziehen,  aber 
auch  /  483  hat  nichts  dem  sorghic  entsprechendes.  —  1154 
wird  man  U2)  die  ghelede  erklären  'auf  ein  geleite  unter  dieser 
bediugung',  und  das  ist  eigentlich  verständlicher  als  ojj  u  ghe- 
leide  von  f  1 142  und  b  1178.  doch  auch  dies  kann  verstanden 
werden  'auf  das  geleite  das  du  mir  jetzt  anbietest';  1151  ic 
lede  u.  —  1162  nach  a  (und  /  l^M paries  terreiis;  vgl.  b  1186 
steenre  mure)  gegen  f  1152.  —  1165  nachtes  nach/ 1155  (uiid 
b  1189;  /  498  preterita  nocte).  —  1184  nach/  1174  (und  b 
1208).  —  1187  dem  sinne  nach  nach  a;  doch  ist  wol  'vel  nicht 
das  ursprüngliche  wort,  sondern  eins,  aus  dem  das  merkwürdige 


REINAERT  307 

{o))se)  heiach  von f  Uli  verlesen  sein  kann ;  b  1211  mit  hViacap. — 
1 IIU  ist  die  echte  lesart  sehr  zweifelhaft,  hesteken  ist  in  der 
verlangten  bedeutung-  (/  atiemptare)  nicht  so  recht  bezeugt,  he- 
stoken  ist  etwas  stark,  ans  bestoetse  b  =  hestoedese  würde  sich 
die  Überlieferung  auch  gut  erklären;  /  1181  hat  bestaese.  — 
1192  nach  /  1182,  ohne  so,  wie  b  121G;  vgl.  /  509  aiidax  esse 
soles.  —  1201  nach  a  (und  b  1225)  gegen/  1191.  —  1213ff. 
die  beiden  ersten  verse  nach  a  (und  b  1235f)  gegeu  /  12011 
auch  Jwvesch  von  a  im  folgenden  vers  ist  riclitig;  dagegen  1216 
wider  nach  /  (und  b).  —  1224  =/  1212.  mit  letzterem  stimmt 
b  1247  insofern  als  hole  darauf  weist,  dass  in  lach  auch  ein 
verbum  für  eine  schmerzensäulserung  zu  stecken  scheint,  und  beide 
dann  zwei  solcher  verba  nebst  einem  adverbium  haben,  trotzdem 
ist  mir  die  Sache  hier  zweifelhaft,  die  Schilderung  des  Originals 
war  hier  wider  einmal  nicht  ganz  anstandslos,  die  erzählung  von 
1202 — 1205  wird  mit  1224  nicht  grade  geschickt  wider  auf- 
genommen, was  für  /  auch  der  anlass  gewesen  sein  mag,  das 
Zwischenstück  zu  übergehn.  da  wäre  nun  grade  das  veran- 
schaulichende stont  ende  in  er,  das  wir  mit  'er  stand  noch  immer 
da  und'  widergeben  dürfen,  und  wovon  auch  stat  catus  l  518 
trotzdem  es  eigentlich  an  anderer  stelle  steht,  ein  nachklang 
sein  könnte  (wie  auch  <lie  niet  enkan  ontghaen  von  b?),  be- 
sonders passend,  es  scheint  mir  nicht  unmöglich,  dass  /  und  b 
zufällig  zu  der  Übereinstimmung,  soweit  eine  solche  vorhanden 
ist,  gelangt  sind.  /  kann  auf  stau  durch  Verlesung  gekommen 
sein  und  sein  iamerlike  aus  (a)  1205  haben,  und  0  muste 
zur  versfüllung  einen  zusatz  machen,  clamorem  miserum  pro- 
tulit  /  519  ist  Übersetzung  von  a  1204f,  nicht  etwa  von/ 1212 
{a  1224).  —  123S  wahrscheinlich  nach/  1226  oder  genauer  nach 
b  1262  mit  upvaren:  /  523  transvolat.  —  nach  1263  sind  die 
beiden  verse  /  1253f  einzusetzen  (nach  b  12S4 — 1286  und/ 
531  f  dentibiis,  ungue  fero  Extrahit  hie  unum  de  testibiis).  —  1365 
nach/  1355  (und  Ö  1385).  —  1416— 1419  nach/ 1406  — 1409 
(und  b  1460 — 1463;  /  61 6f  Sique  bonum  facis  natis,  si  venero 
sospes,  Grates  condignas  reddere  promptiis  ero).  ■ —  1433  f  nach 
/  1423—1426  (und  b  1477— 14S0,  /  624f  Jamque  mori  vereor, 
contricio  magna  movet  me  De  culpe  fadis  preteritisque  malis). 
—  1477—1480  nach  /  1469—1472  (und  b  1519-1522;  / 
646 f  Ac  Isengrinum  plus  quam  tibi  dicere  possum  Decepi  tociens, 


308  FRANCK 

nee  SUMS  exsto  nepos).  —  1545f  ist  es  unsicher,  ob  die  reime 
nicht  nach  /  1537  f  hoodi  und  l-Jooc/i  gewesen  sind.  —  doch  scheint 
b  1584  das  reimwort  hooch  aus  seiner  vorlag-e  (=  a)  beibe- 
halten zu  haben,  und  dann  dürfte  a  recht  behalten.  —  1591  wahr- 
scheinlich nach  /  1583  bersen  und  wol  auch  ende  (ghinghene 
nach  a);  l  733  Hortanturque  canes,  hunc  ayitare  Student.  — 
1610  nach/  1G02  (und  b  1624;  l  683  ter  quater).  —  1633 
nach/  1625  hortene.  —  1678  eher  nach/  1670  (und  b  1704, 
/  762  tit  pscdmos  legat).  doch  liat  l  im  folgenden  vers  auch 
vigilet,  also  anscheinend  dem  u-akene  a  1678  entsprechend,  es 
könnte  sich  wol  ohne  anlass  in  der  vorläge  neben  jejunet  ein- 
gestellt haben  —  b  hat  nichts  entsprechendes,  ebensowenig  wie 
/ — .  würde  man  es  in  a  1679  unterbringen  wollen  —  etwa 
te  wakene,  vastene  ende  te  vierne  — ,  so  gienge  die  jetzt  vor- 
handene genaue  Übereinstimmung  von  a  1679  und/  1671  ver- 
loren. —  1683  eher  nach  a  gegen  f  1675;  vgl.  l  764 f  am- 
modo  vivat  Contentus  propriis.  —  1686  wird  die  conjectur  durch 
/  1678  bestätigt.  —  1707  nach  a  (und  b  1727)  gegen/ 1699; 
vgl.  auch  1733.  —  1730  nach  a  (und  b  1750)  gegen/  1722. 
—  1732f  hat  /  hinter  1723  vergessen,  das  kam  wol  wider 
durch  die  vier  gleichen  reime.  —  1746 — 1748  nach/  1736 — 
1738  (und  b  1766 — 176S);  im  letzteren  verse  jedoch  mehr  nach 
a  (und  b)  Jioe  sere  (oder  so  sere'^  vgl.  3208)  bevede  B.;  auch 
?  798 ff  lässt  Eeinaert  hier  nicht  sprechen.  —  1770  nach  a 
(und  b  1790)  gegen  /  1760.  möglicherweise  könnte  aus  b 
groot  (ere)  zu  behalten  sein;  doch  spricht  l  809  Semper  honor 
tibi  Sit  nicht  dafür.  —  177  7  ist  es  wahrscheinlich,  dass  nochtan 
von  a  und  wanic  von  /  1767  an  stelle  eines  anderen  wortes 
getreten  sind;  s.  Ojb.  56.  wenn  es  nicht  dem  fremde  von  l  und 
mit  logen  von  b  dem  sinne  nach  entsprach,  könnte  man  an 
mocJdsi  denken.  —  1785  enthält  vielleicht/ 1775  /«o«yV;//.sca/Ä:ers' 
das  ursprüngliche;  l  823  hat  falsus  adiilator,  und/  1805  scheint 
ein  unbequemes  wort  entfernt  zu  haben.  —  1786  steht/  17  76 
gleichfalls  der  echten  lesart  näher.  —  1788  nach/  17  78  (und 
b  1808,  l  823  habetque  locum).  auch  der  reim  spricht  hier  mit; 
s.  Muller  Tijdschr.  7,  29  ff.  da  auch  loghe  :  lioglie  2659  sich 
jetzt  als  unursprünglich  ergibt,  so  hat  Rein,  in  der  tat  keinen 
einzigen  reim  von  gedehntem  zu  langem  o  ausser  vor  r.  — 
1789f  nach  a  (und  b    1809  f).     auch  l  821    Qui  bene  noverunt 


REINAERT  309 

ledere  fremde  bonos  dürfte  für  Cl  und  gegen  ^  1779f  sprechen, 
vgl.  auch  Rom.  de  Ren.  1231  eil  qui  sont  serf  par  nature.  — 
ISOO— 1802  steht  jedesfalls  wider  /  1790— 1792  dem  echten 
näher  nach  b  1820f  und  ?  831f  Quod  tibi  gratus  eram,  quod 
servieras  tibi  reddam  Grates  condignas.  auch  mit  seinem  Wort- 
laut könnte  /  das  richtige  erhalten  haben;  es  wäre  zu  inter- 
pungieren  danc  hebt !  ghi  hebbes  icel  verdient,  nach  l  könnte 
man  wo!  glauben,  dass  in  dat  wort  u  nu  te  rechte  ghegouden 
etwas  ursprüngliches  stecke;  doch  kann  das  tibi  reddam  grates 
condignas  auch  schon  durch  dank  hebt!  ghi  hebbes  wel  verdient 
hervorgerufen  sein,  auch  1803  hat  f  das  richtige  vrede.  — 
nach  1820  sind  die  vier  verse  von  f  1809 — 1812  einzusetzen 
nach  b  1841 — 1844,  l  846  ff  «S'i  rapuit  Brunus  Lanfreidi  rneUa, 
quid  ad  me?  Si  Lanfreidus  dedecus  intulerif,  Ex  hoc  vindictam 
potuit  sumpsisse  p)riusquam  Fugerat  in  fluvium,  si  foret  ille 
Valens  und  Rom.  de  Ren.  1244  ff  se  Bruns  menja  li  miel  Lan- 
froi,  et  li  vileins  le  ledenja,  et  ü  por  quoi  ne  s'en  venja?  ja 
a  il  tex  meins  et  tex  pies,  ci  granz  musteax  et  si  grant  giez.  — 
lS34f  nach  a  (und  b  1858 f);  l  860f  Justa  licet  fuerit  mea 
causa  nimisve  nocens  sim,  Sive  gravare  velis  sive  levare,  potes. 
doch  steht  die  echte  lesart  {hoe  goet  of  quaet'^)  nicht  fest;  s.  Ojb. 
58 f.  —  1840  wird  die  conjectur  starc  durch/  1830  bestätigt. 
—  1846  nach  ii  sine  hie  oder  nach  b  1870  sine  ooie  (l  866 
uxor)  gegen/  1838.  —  auch  für  1850  ff  ist  nach  /  1842  ff 
einiges  zu  ändern  und  zu  ergänzen;  vor  allem  darf  Cuwaert 
nicht  fehlen,  der  auch  in  b ,  l  und  Rom.  de  Ren.  genannt  ist. 
das  ursprüngliche  wird  sich  indes  in  vollem  umfang  nicht  ge- 
winnen lassen.  —  nach  1868  ist  in  a  lS65f  von  /oder  die 
diesen  entsprechenden  ursprünglichen  verse  ausgelassen,  auch 
nach  l  8S2f  Si  velleni  cuncfas  ex  ordine  pandere  causas  Hinc 
illinc  und  b  1901  ff  sowie  offenbar  aus  der  construction  von  a 
1869  selbst  geht  der  Sachverhalt  hervor.  —  1900  wird  jetzt 
durch/  1898  vollkommen  bestätigt,  und  der  Übereinstimmung 
von  a,  f  und  l  894  [rex]  loquitnr  Brunoque  lupoqne  catoqne 
gegenüber  ist  die  auffassung  von  b,  welches  die  dem  könig  zu- 
geschriebenen Worte  vielmehr  Tibert  in  den  mund  legt,  in  keiner 
weise  aufrecht  zu  erhalten.  1897  hier  mach  in  lopen  ander 
raet  bedeutet  nicht  'hier  könnte  eine  andere  fmir  gefährliche) 
Überlegung    sich  einstellen",    wie  ?  897    es  aufgefasst  hat:    hinc 


310  FRANCK 

posset  forte  venire  malum.  sondern  'hier  dürfte  (von  meiner  seite) 
(vorteilhaft)  eine  andere  überlegunj^  einfliefsen',  (vgl.  DWB  iii 
222  einlaufen  4  'mit  einlaufen,  mit  unterlaufen'),  wie  b  192S 
es  versteht:  doe  (locht  lii  mit  vroeden  gronde,  ^hier  toe  hoorde 
wel  ander  raef,  und  in  dieser  voraussieht  hält  es  auch  der  könig 
für  wünschenswert,  dafür  zu  sorgen,  dass  zunächst  Eeinaerts 
hauptfeinde  vom  Schauplatz  entfernt  werden,  um  vielleicht  ge- 
legenheit  für  diesen  'anderen  rat'  zu  gewinnen,  gerade  so  wie 
Reinaert  ihre  entfernung  absichtlich  betreibt,  in  v.  1  !»02  ist 
aber  a  gegen  die  anderen  texte  unursprünglich.  —   1 94 1  f  nach 

/  1935 f.  auch  aus  l  925  f  und  b  197Gf  ergibt  sich,  dass  a 
1941  eine  ganz  willkürliche,  vielleicht  durch  den  verlust  eines 
Verses  in  der  vorläge  veranlasste  Änderung  ist.  —  1957  f  nach 
a  gegen/  l'J5If,  das  sich  verschrieben  hatte  und  willkürlich 
einen  neuen  reim  macht.  —  1964  wird  die  auf  l  9:^S  quos  non 
Reynardiis  ainavit  und  v.  1999  gegründete  conjectur  r/te  i?.  sere 
hadde  leet  durch  /  1958  bestätigt,  das  allerdings  wider  ver- 
schrieben hat  die  Jx.  hadden  harde  leit.  —  1987  ist  vielleicht 
der  satz  nicht  so  eng  mit  dem  vorangehenden  zu  verbinden  und 
ende  mit/  1981   wegzulassen;  vgl.  b    1995.  — 

Bei  2005  gibt/  1998  Enne  dar  ?rel  steruen  enetvarf  leider 
ein  neues  kleines  rätsei  auf.  ist  eH«e  nur  verschrieben  für  e?i Je  i'^ 
an  die  von  dem  Glossar.  Bernense  überlieferte  fragepartikel  ene 
'numquid'  (vgl.  daselbst  ie)ie  und  Inleid,  xxvii)  zu  denken  lässt 
die  fügung  bei  der  sonstigen  Übereinstimmung  von /mit  a  nicht 
zu.  jedesfalls  steht  a,  wenn  es  nicht  ganz  das  echte  ist,  ihm 
nahe,  w-egen  der  bedeutung  der  stelle  vgl.  anmerk.  zu  i  Mart. 
948.  —  2007  wird  durch/ 2000  die  conjectur  sor^/jt'?i  bestätigt. 
—  2057 f  ist  nach/  2042  (und  l  981  innocuus)  jedesfalls 
onsculdeghen  einzusetzen;    vgl.  auch  b    2 084  enen  anderen,   dies 

■  niet  enbestaet.  doch  könnte  nach  b  2085  na  desen  tiden  auch 
namaels  von  a  oder  ein  synonymes  wort  ursprünglich  sein,  das 
in  2058  räum  fände.  —  2084  nach  /  2069  (und  b  2114).  — 
2093  nach  /  2077  (und  &  2123;  Z  998  lupum  invenio).  s.  oben 
s.  287.  —  2096  nach  a  (und  l  999  patrmmi  se  tulit  esse  nieum) 
gegen  /  2081;  auch  ^2125f  ist  gewis  Isengrim  als  subject  zu 
verstehn.  möglicherweise  hiess  es  auch  im  alten  text  tatsächlich, 
mit  ungenauer  construction,  Ende  rekende,  woraus  sich  das  mis- 
verständnis   von  /  erklären  würde.    —   gegen  2105  stimmen    b 


REINAERT  311 

2135  und  f  2U89  bis  auf  ao  f.  also  b  mit  der  zweifellos  echten 
lesung-  überein.  —  2148  hat  jedesfalls  a  mehr  gewähr  als  / 
2132;  vgl.  l  1026  quod  amkis  dedecus  esf>et.  b  hat  nichts 
entsprechendes,  so  dass  es  immerhin  nicht  ganz  sichor  ist,  ob  a 
die  ganz  echte  lesart  bewahrt.  —  2l53f  nach  /  2137  f  (und  b 
2l74f;  vgl.  l  1028  ff).  —  2168  steckt  vielleicht  in  hief  noch  etwas 
ursprüngliches  gegen  /  2152,  aber  das  verbum  (prät.)  ist  schwer- 
lich richtig.  —  21S2f  jedesfalls  weniger  ursprünglich  als/ 
2166f  (und  b  2202  f).  vielleicht  blofs  inach  lichte  mi  g/ievielc 
in  die  helle  daerom  te  sine,  dagegen  2184  nach  Cl  (und  b).  — 
2234  nach  /  2200  kern  einzufügen,  das  man  aber  wol  besser 
auf  viande  als  auf  den  vater  und  Grimbert  bezieht.  —  2273  f 
nach  a  (und  b  2297  f;  l  1089  regia  sceptra  geret).  dagegen 
könnte  nach/ (/er er. /er/Aen  stiinen  ursprünglicher  sein  als  dat  weder 
aegghen  von  a  2275.  —  2279  stimmen  a  und  b  im  präsens 
ivetic,  während/  2245  >r  ist  i  c  Imt;  l  1094  Omnia  prenovi.  wenn 
aus  ab  auf  die  ursprünglichkeit  von  wetic  zu  schliei'sen  ist,  so 
scheint  mir  ein  merkwürdiges  beispiel  des  präs.  hist.  vorzuliegen, 
auch  2331  und  2336,  wo  das  präsens  für  uns  eher  begreiflich 
ist,  hat  a  beidemal  kenne,  b  2357  ken,  aber  2362  kende,  f 
2297  und  2302  kende,  l  1118  und  1120  cognovi.  —  2282 
dürfte,  trotz  b  2306,  in  hoghen  von/  2248  (Jetum  l  1095) 
eher  ursprünglich  sein  als  dronken  von  a.  —  2283 — 2285  nach 
/  2249— 2251  (und  ö  2308).  —  2287  wol  nach  «gegen/ 
2253.  —  2300  würde  die  verbesserte  lesart  von/ 2266  ic  ghe- 
peinsde  hoedane  ndjs  zu  l  1106  Ranarnnique  viemor  stimmen, 
während  die  abweichende  lesart  von  a  allerdings  auf  einen  ähn- 
lichen sinn  wie  62328  hinausläuft,  aber  es  könnte  zufall  sein, 
dass  die  beiden  letzteren  auf  das  adj.  icijs  gekommen  wären.  — 
2302f  nach/  2268  f  (und  b  2330f).  —  2318  würde  die  lesart 
nach  /  2284  het  u-are  te  spade  gegen  a  und  b  2344  liet  iras 
te  spade  die  auffällige  construction  des  wörtlich  wiederholten  het 
was  te  spade  beseitigen,  aber  die  erklärung  'sie  beklagten  sich, 
es  wäre  jetzt  zu  spät',  nämlich  'sie  könnten  sich  jetzt  nicht  mehr 
an  einen  könig  gewöhnen'  kommt  mir  wenig  wahrscheinlich  vor. 
—  2333f.  die  stelhmg  nach  /  2299 f  (und  b  2359f).  —  2343 
stimmt  Jetzt  /  230*J  mit  pensde  zu  a,  während  b  2369  pijnde 
hat  und  auch  l  1123  nur  lahoro  nimis.  pensde  ist  wol  beizu- 
behalten; auch  /hat  an  der  2300  entsprechenden  stelle  (s.  vorher) 


3 l 2  FRANCK 

ghepijmle  für  ghepeinsde.  allerdings  war  anderseits  10  verse 
vor  2343  peinsde  vorausgegangen.  —  2345  f  nach  y  2311  f  (und 
b  2371  f).  —  2359  nach  a  (und  b  23S5)  gegen/ 2323;  im 
folgenden  vers  vielleicht  hevimlen  statt  vinden,  was  allerdings 
gegen  /  wäre.  —  für  2369 — 237  2  hat  /  nur  die  beiden  verse 
2333  f,  wörtlich  gleich  den  beiden  letzten  von  a,  b  gleichfalls 
nur  zwei  verse  2393  f,  wörtlich  gleich  den  beiden  ersten 
von  a.  das  sieht  so  aus,  als  ob  von  der  tautologischen  aus- 
drucksweise von  a  die  beiden  Schreiber  sich  in  weiser  be- 
schränkung  je  eine  hälfte  ausgesucht  hätten,  ich  glaube  aber 
doch,  dass  die  sache  in  würklichkeit  anders  liegt,  dass  f  das  ur- 
sprüngliche enthält  —  auch  l  1132  hat  nnr  sum  ciistos — ,  dass 
a  zu  der  häufung  kam  entweder  in  absichtlicher  Übertreibung, 
oder  weil  es  versehentlich  waest  bi  nachte  waest  hi  daghe  ge- 
schrieben hatte,  dazu  einen  neuen  reim  schuf,  aber  auch  das 
ursprüngliche  nicht  missen  wollte,  dass  a  und  b  beide  auf  das 
reimwort  laghe  gerieten,  ist  nicht  auffällig,  da  dies  wort  auch 
im  original  (=  a  2370)  stand,  wachte  mag  b  beseitigt  haben, 
weil  es  unmittelbar  vorher  und  nachher  das  verbum  icachten 
gebrauchte.  —  2373 f  ist  das  ursprüngliche  schwerlich  mit  Sicher- 
heit widerzufinden.  diurnare  ist  für  unseren  text  nicht  wahr- 
scheinlich, noch  weniger  daernaren,  und  daerna  von  f  2335 
durch  den  reim  ausgeschlossen,  was  die  satzfügung  betrifft,  so 
müsten  wir,  wenn  sonst  nichts  dagegen  spricht,  f  den  vorzug 
geben  und  die  ganze  stelle  etwa  gestalten 

tenen  stouden  dat  ic  (mi?) 

(mi?)  hadde  bedect  {oder  decte)  met  groenen  [oder  groten)  varen 
ende  lach  ghestrect  neven  deerde,  \ioder  sing,  vaerne?) 

ende  van  den  scatte  dien  ic  begheerde 
gherne  iewet  hadde  vernomeu, 
doe  sach  ic 

l  1134  hat  Äst  intra  philicem  cum  quondam,  mane,  iacerem 
Fronus  humi  tectus  meque  latere  volens.  der  letztere  ausdruck 
legt  nun  für  das  reimwort  der  ersten  zeile  das  verbum  daren{en) 
'verborgen  sein'  oder  'sich  verbergen'  sehr  nahe:  dat  ic  (mi?)  te 
darene  {:varene),  oder  dat  icomme  (oder  dor)  darev{en)  (:varen{en)). 
das  verbum  ist  meines  wissens  bis  jetzt  nicht  belegt  (Kluge  hat 
in  der  ö  und  7  aufläge  neben  mengl.  auch  mnl.  daren:  woher Vj, 


I 


REINAERT  313 

da  aber  noch  das  adverb  danienlike  nachgewiesen  ist  (Tijdschr. 
voor  nl.  taal-  en  letterk.  17,  274),  kann  es  wol  noch  bestanden 
haben.  —  23S3— 2385  nach  /  2345—2347  (und  b  2405  — 
2407).  —  2394  nach  /  2356  (und  b  2416;  l  1145  sujnaque 
pedum).  —  2404f  nach/  2364f  (und  b  2426f;  l  1149  et 
invenio,  jam  hene  nosco  locum).  —  2419  könnte  gleichfalls  f 
23S0  in  dem  allerdings  verderbten  manliken  das  ursprüngliche 
beiwort  gegenüber  overgroten  (b  groten)  erhalten  haben;  etwa 
maerliken?  ein  mhd.  magenlih,  meinUh  'gewaltig'  entsprechendes 
wort  ist  im  nl.  nicht  nachgewiesen.  —  2420  staf  statt  gat  nach 
/  23S1  (und  b  2440;  l  1156  Inqtie  locum  fidwn,  j>»/^^s•  notnm 
(hs.  notiim)  plusque  placeniem).  das  lat.  bestätigt  zugleich 
das  het  a  2421  (und  b).  —  2439 f  werden  die  Schwierigkeiten 
wider  durch  f  24ü0f  einfach  gelöst,  die  genauere  Überein- 
stimmung von  b  2460  vonden  und  l  reperire  gegen  gewonnen 
ist  also  zufällig,  a  hat  hier  durch  seine  änderung  zu  verdeut- 
lichen gesucht,  da  das  logische  Verhältnis  von  vorder-  und  nach- 
satz  etwas  eigenartig  ist.  —  2473  nach  /  2434  (und  b  2491)- 
—  2492  nach  a  gegen  /  2453  statet  sivare,  wo  der  sprich- 
würtliche  ausdruck  ungeschickt  beseitigt  ist;  auch  b  2507  und 
besonders  ?  1  195  Postponor,  jam.  sinn  vilis  hahendus  ego  sprechen 
für  eine  weniger  blasse  ausdrucksweise.  —  2500  nach  a  und 
b  2520  gegen  /  2461;  in  l  dürfte  übrigens  nach  120  0  ein  vers 
verloren  gegangen  sein,  dieser  fall,  wo  hanglien  doet  zu  anxt 
doet'  geworden  ist,  sei  nur  als  beispiel  für  häutigere  fehler  ähn- 
licher art  in  /  angeführt,  die  hier  nicht  weiter  berücksichtigt 
sind.  —  auch  25lSf  stimmt  b  2542  noch  ganz  wörtlich  mit  a, 
während  /  24  79,  diesmal  aus  schwer  erkennbarem  grund,  wider 
abweicht,  vielleicht  war  lieghen  schon  in  seiner  vorläge  aus- 
gelassen, und  /  hat  dann  das  ende  statt  auf  das  subject  aufs 
prädicat  bezogen.  —  2525—2530  nach  a  (und  b  2549 — 2554) 
gegen  /  24S6 — 2491 ;  auch  l  1219.  aliis  feris  bestätigt  in  einer 
einzelheit  die  lesart  der  ersteren.  —  2531  f  nach/  2492  f  (und 
Ö2555f).  —  2533 f  ist  vielleicht,  mehr  nach  a  als  nach/ 2494 f, 
zu  schreiben 

so  ^cil  ic  (dan?)  up  u  ghenent 
dese  vorwoorde  ende  dit  covent 
uj)  Beinaerts  trainve  laten  staen. 
2556 — 2558    eher   nach/ 2517 — 2519;    dagegen  ist  2561f  die 


:^14  FRANCK 

Stellung  von  a  vorzuziehen,  über  ende  viiere  frauireu  a  2561, 
hi  iniere  ircmn-en  f  bin  ich  zweifelhaft,  jedesfalls  steht  das 
erstere  sonst  nirgends,  und  auch  das  hi  miere  traiiwe  a  2556, 
das  dort  nach  unserer  annähme  nicht  ursprünglich  ist,  darf  dabei 
nicht  übersehen  werden.  Eni  es  scaftes  f  2523  ist  wahrschein- 
lich nur  dadurch  veranlasst,  dass  der  schreiber  2521  (a  2560) 
als  vollständigen  satz  fasste.  ic  sei  daerom  denken  ö  2578  stützt 
einigerraai'sen  die  lesart  /  2518  ic  merke  icel.  —  2569  nach  a 
(und  l  1243f  ?(f  .s/  Tocius  hunc  mnndi  constituisset  herum)  gegen 
y  2530.  —  2580.  ob  dem  tromphoem  vonflhAl  eine  bedeutung 
beizumessen  ist  (Muller,  VI.  acad.  s.  38f),  scheint  mir  doch 
zweifelhaft,  es  ist  ja  an  der  hs.  einer  beteiligt,  der  trotz  dem 
namen  Kriekepit,  und  trotzdem  nachher  von  dem  putte  die  rede 
ist,  würklich  gemeint  hat,  es  handle  sich  um  einen  bäum  (v.  2549), 
und  der  mag  zur  vermeintlichen  Verbesserung  een  cromj)  hoem 
geschrieben  haben,  was,  wenn  wir  an  den  ortsnamen  Trompe 
zu  denken  hätten,  dann  mit  een  tromphorne  gemeint  sein  könnte, 
wäre  doch  schwer  zu  sagen.  —  2594  nach  ^  und  y^  2555  elwaer. 
—  2597 f  nach  /  2558 f  und  e  (und  b  2G(i9f);  dagegen  2599 ff 
nach  a  und  e  (und  b  2611  ff)  gegen  /  2560 ff.  —  2602  nach 
e  und  /  2563.  dass  Ö  2614  ändert,  erklärt  sich  auch  leichter 
aus  ef  als  aus  u.  ~  2648  nach  /  2609  (und  b  2660).  —  2650 
nach  e  f  2611  (und  l  1294  irepjidatqne  iiniore  Cnardus).  — 
2655  nach  e  und/  2616  (und  b  2665)  gegen  a  (und  l  1299 
monet);  vgl.  Anz.  xv215.  —  2656 — 2661.  der  von  Jonckbloet 
(und  Martin)  nach  b  (und  l),  mit  bestechenden  conjecturen,  ge- 
staltete text  ist  jetzt  nach  der  ganz  abweichenden  lesart  von  e 
und  f  2617 — 2626  herzustellen',  die  Übereinstimmung  von  b 
van  des  ic  u  vraglie  mit  l  1299  Tc  de  querendis  dicere  vera 
monet  muss  zufällig  sein,  wenn  man  nicht  eine  benutzung  von 
l  durch  den  bearbeiter  zugibt.  —  267  4  nach  e  und  /  2639 
sies,  dem  a  selber  mit  ries  näher  steht  als  dem  vries  von  b 
2686.  s.  Muller,  VI.  acad.  s.  39.  auf  eine  kritik  der  namens- 
form verzieht  ich.  jedesfalls  stehn  sich  f  Synion  und  b  Simonet 
verhältnismässig  nahe  und  wol  auch  nicht  so  weit  vom  ursprüng- 
lichen; SJmout':!'^.  —  2683  f  steht/ 2649  f  dem  ursprünglichen 
näher:   Ghi  soid  foghen  (oder  wol  tughen)  vor  dese  dier  Met  sconen 

'  vgl.  schon  Schröder.s  Vorschlag  DLZ  1889  sp.  970. 

-  Dass    die   dichtung   mit    den    falscbmünzern   hunde   gemeint   habe 


REINAERT  315 

rime.  —  2700 f  siet  den   raet  nach  e  und  a  (und  b  2712)  gegen 
f  2065 f.  —  2702  wird  die  conjectur  herke  (nach  b  und  l)  durch 
e  sowie  durch  f  26G7   weitei'  befestigt.  —  2748.  wie  sclion  Ojb. 
79    richtig-   gesehen  ist.    nach/  27 IH  (und  l)  'hier  für  dat.    — 
2761   wäre,  da  andere  beweise  fehlen,  nach  f  2725  zu   lesen.  — 
2765  (nicht  in  a).   2766—2774   nach  /  27:^0—2734.     von  dem 
kleinen  gespräch  zwischen  R.  und  der  königin  weifs  die  sonstige 
Überlieferung    nichts,     es   mag    einem  Schreiber  nötig  erschienen 
sein,  dass  der  höflichkeit  halber  R.  nicht  stumm  neben  der  fürstin 
stehe,     bemei'kenswert  ist  auch  der  gegensatz  der  nun  zwischen 
dieser  stelle  und  2832  ff  entsteht,  wo  Isengrim  sich  mit  ungestüm 
an    die    königin    herandrängt   und   rücksiclitlos  in  heftige  worte 
ausbricht,     es  entspricht  aber  auch  gar  nicht  den  tatsachen,  dass 
wie    in    a,    der   könig   und   die  königin  jetzt  vor  die  tiere  hin- 
treten;   sie    stehn    schon    an    ihrem    platz,     wer    diesen   zusatz 
machte,    mag    dann   bei   den   folgenden  versen  absichtlich  etwas 
gekürzt  haben,     ich  will  aber  nicht  sagen,  dass  hiermit  die  ent- 
stehung  der  lesart  von  a  völlig  erklärt  sei.     ob  gerade  alles  in 
f  echt  ist,  sei  dahin  gestellt,    man  könnte  einigermafsen  zweifeln 
an  heghinnen  und  ferner  an  conincUke,  wo  a  rriendelikc   und  b 
\die  C07iinc]  sonder  gheJiJc  hat.     l  hebt  nur  die  nachdrücklichkeit 
der  königlichen  rede  hervor.  —   2777  nach  /  2737,  da  weitere 
anhaltspunkte  fehlen.  —  2800  nach  a  (und  b  27!»6)  ende  dnnen 
comen  nemmermee  gegen  f  2760.  —  2S04  müssen  wir  allerdings 
nach  Verdams    schöner    erklärung  (Tijdschr.  19.  149)  annehmen. 
dass    a    mit    dnnen    ganz  allein  das  richtige  bewahrt  hat  gegen 
/   2764    te.^,    b     2S0O    daer,    l    1389  quo.    —    2814  wol  nach 
a    gegen  f  2774.     die   übrigen  texte  geben  keine  entscheidung. 
möglicherweise  hat  f  den  rührenden  reim  beseitigen  wollen.    — 
2828    nach    a  (und  b    2820)    gegen  /  27SS.    —    2862    nach  / 
2822    (und  b  2S52;    l   1420  soleas  f'ae  anteriores.  Aptas  nempe 

(Tijdschr.  voor  iil.  taal-  en  letteik.  9,  242),  wird  mir  schwer  zu  glauben, 
natürlich  konnte  auch  eiu  mensch  den  beinamen  sie.<  tragen,  und  dann 
auch  der  Übersetzer  ihn  mit  catulu.'i  bezeichnen,  wenn  er  von  dem  falscii- 
münzer  sagt  Et  cum  complicihus  hominum  consorria  fwßt,  so  scheint  er 
mir  nicht  an  tiere  zu  denken,  wie  weit  auch  Arnold  die  vermenschlichung 
treibt,  so  würden  mir  doch  hunde,  die  mit  schmelztiegel  und  münzstempL'l 
umgehn  und  um  geld  ihren  lebensunterhalt  erwerben,  über  die  man  si.-li 
in  einzelnen  franz.  erzählungcn  allerdings  nicht  zu  verwundern  brauchte, 
unter  seinen  Schöpfungen  fremd  vorkommen. 


316  FRANCK 

viichi,  det  lupus  ipse  duas).  möglichei-weise  hatte  auch  der  alte 
text  wie  h  blosses  doen  im  sinn  von  'gewähren'  (Mnl.  woordenb. 
II  247)  oder  'leihen'  wie  im  mnd.  und  nnd.  —  2S70  nach/ 2830 
{b  2860  und  l  1423  Et  de  jure  potest).  —  2878—2881  nach/ 
2838—39  (und  b  2868—2870).  —  2925  hat  Jonckbloet  nach 
a  ne  wäre  beibehalten,  und  es  scheint  jetzt  von  /  2883  mare 
bestätigt  zu  werden,  aber  es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  dies 
adversativum,  das  sich  nur  auf  sweech  stille  beziehen  würde,  zum 
ganzen  satze  aber  sonst  nicht  passt,  zumal  so  allein  und  mit 
enjambement  in  den  verschluss  gestellt,  als  störend  empfunden 
werden  kann,  l  1449  knüpft  diesen  satz  sogar  mit  namque  an; 
Ö  2911  hat  voor  tvaer.  das  epithethon  die  mare  scheint  mir 
in  diesem  Zusammenhang  auch  nicht  recht  passend;  es  wäre  nur 
als  besonders  starke  Ironie  zu  verstehn.  vielleicht  war  hier 
Brune  mit  dem  zusatz  de  hare  gebraucht,  wie  vier  verse  weiter 
Tiheert,  die  cater,  3o82  neve  Belijn,  de  ram  (letzteres  bei  der 
anrede).  —  2934  wol  nach  /  2892  te;  vgl.  Ojb.  84.  —  2935f 
wird  die  conjectur  durch/ 2893  f  vollauf  bestätigt.  —  2942 
stimmen  /  2900  und  b  2928  mit  bilden  gegen  soeten  in  a  über- 
ein, aber  damit  ist  die  sache  nicht  erledigt;  27  72  erwies  sich 
met  enen  hliden  sinne  nicht  als  original.  —  2948  eher  nach  / 
2906;  vgl.  b  2904  und  l  1462  rex  accersiri  BelUnum  precipit. 
—  2966  nach/  2924.  —  2968  bestätigt  /  2926  die  conjectur 
Ojb.  84.  —  2989  mit/ 2947  een  palsterUjn?  b  2981  een  dein 
palsfer,  aber  /  1484  cum  baculo.  —  2995 f  nach/  2953f 
(und  b  2987  f;  l  1492  f  Nee  dolor  ullus  erat,  aut  quod  quos 
deserat  onines  Non  gravat). 

3030  e  gemakelike,  a  ghemakelijc ,  f  2988  gemeenlike 
ö  3018  gJievensdelic.  mir  scheint  dass  hier  die  Überlieferung 
zwingend  auf  ghemenlike  oder  ghemelike  führt;  s.  Mnl.  woordenb. 
II  1347  f.  zwar  ist  die  bedeutung  an  die  wir  zunächst 
hier  denken  würden,  'lustig,  possierlich'  im  mnl.  nicht  belegt, 
aber  sie  muss  einmal  vorhanden  gewesen  sein,  und  sonst 
würde  auch  'fremdartig,  wunderlich'  genügen,  wie  im  vers 
vorher  wonderlike  steht.  —  3034  f  nach  e  und  /  2992  f 
(und  l  1515  Huncque  peregrinum  calceamenta  docent).  — 
3047 f  mit  e  und  /  3005  gode  (be)volen  gegen  a  und  b 
3039;  s.  Anz.  xv215;  dagegen  sonst  nach  a,  e,  b  gegen/  — 
3049  f  nach  e  und/  3U07f,  an  deren  lesung  nichts  auszusetzen 


REINAERT  317 

ist.  —  3069f  nach  e  und/  3ü27f  (und  h  3061  f;  l  1538  Fdix 
est  vestra  vita,  giiia  vivitis  olim  Sicut  ego  vixi).  auch  felix 
'heilig'  steht  der  lesart  gheestelic  'fromm,  gottesfürchtig',  bei 
Kiliaan  'religiosus  pius".  nahe  genug.  —  3157  bestätigt /"  31 16 
abermals  die  Vermutung  Ojb.  89,  doch  ist  vielleicht  die  lesart 
von  e  vorzuziehen;  s.  Tijdschr.  27,  84.  —  3177f  nach  a  gegen 
/  3135 — 3137  faber  3176  nach  /  .Ve).  die  verse  in  /  zeigen 
uns,  wie  die  Schreiber  oft  verfahren,  unserer  hat  in  nemmennce 
3177,  wahrscheinlich  bei  einem  ganz  flüchtigen  blick,  geglaubt 
mit  Ermeline  zu  lesen,  und  nun  brachte  er  auf  die  törichteste 
weise,  u.  a.  mit  einem  vers  vom  kaliber  cd  noch  seide  Ermelijn 
)nee  die  stelle  wieder  in  die  reihe.  —  :U  96 f  wahrscheinlich  nach 
y  3156f  (und  l  1624f  Sic  latitare  magis  michi  quam  proiJesseA 
ahire,  Kam  non  discedens  ipse  redire  qiieam);  vgl.  Tijdschr.  27, 
S8ff.  die  stelle  beieitet  insofern  Schwierigkeit,  als  der  gegensatz 
an  sich  sowol  auf  die  pilgerfahrt  oder  das  bleiben  im  lande  als 
auch  auf  Eeinaerts  Vorschlag,  ihren  wohnsitz  in  eine  wilde  gegend 
zu  verlegen,  bezogen  werden  könnte,  die  letztere,  m.  a.  nach 
nicht  zutreffende  auffassung  scheint  bei  a  vorzuliegen,  vielleicht 
auch  bei  b.  dieses  hat  hier  eine  längere  auseinandersetzung 
eingeflochten,  worin  Ermeline  Reinaerts  plan,  den  wohnsitz  zu 
wechseln,  widerspricht  und  auf  die  vorteile  von  Malpertus,  dessen 
gelegenheiten  ihnen  bekannt  sind,  hinweist,  das  ist  zweifelsohne 
hauptsächlich  mit  rücksicht  auf  die  fortsetzung  des  alten  Eeinaert 
geschehen,  aber  eine  misverständliche  auffassung  von  a  3 1 96  f  mag 
bei  dem  Wortlaut  der  ganzen  stelle  3183 — 3220  doch  auch  im 
spiele  sein,  in  dem  hliven  b  3196  und  3211  könnte  man  den 
gegensatz  von  hliven  und  varen  3196f  in  der  fassung  von  a 
widererkennen  wollen,  aber  das  zusammentreffen  kann  zufällig 
sein,  möglich  aber  auch  dass  der  gegensatz  seiden  und  varen 
in  der  Überlieferung  früh  zu  hliven  und  varen  geworden 
war.  beides  ist  wahrscheinlicher  als  die  annähme,  hliven  und 
varen  sei  das  ursprüngliche  und  f  und  /  hätten  das  unab- 
hängig voneinander  in  sculen  (im  lande  bleiben  und  sich  ver- 
stecken) und  varen  und  in  latitare,  ahire  gesteigert.  —  3202. 
das  dem  ausdruck  nach  (trotz  Mnl.  woordenb.  iv  2049  nr.  3) 
auffallende  und  auch  dem  sinne  nach  wenig  passende  die  na  mijn 
oom  tcas  scheint  sich  nach  /  3162  in  die  na  mi  comen  was 
aufzulösen.  freilich  ist  dieser  an  sich  ja  ganz  klare  ausdruck 
Z.  F.  D.  A.  LH.     N.  F.  XL.  21 


318  FRANCK 

hier  aucli  etwas  unerwartet,  wenn  er  nicht  besagen  soll  'der 
sicli  gleichfalls,  er  der  erste  baron  des  hofes,  als  böte  um  mich 
bemüht  hatte',  das  auf  Grimbert  bezügliche  michi  carus  an  der 
entsprechenden  stelle  von  l,  v.  1626,  hat  wol  mit  dem  in  frage 
stehnden  ausdruck  nichts  zu  tun.  —  3240  nach  /  32uO  (und 
b  3254)  (Jat  herie  oder  ähnlich  statt  teu  eersten.  —  3243  nach 
/  3203  (und  b  3257);  vgl.  Tijdschr.  27,  93f.  —  3247  wird  die 
lesart  von  u  jedesfalls  wider  von  f  3207  und  der  Überein- 
stimmung der  übrigen  texte  gebessert,  man  könnte  sich  aber 
gegen  die  einfache  Übernahme  der  lesung  von  f  sträuben,  mit 
rücksicht  darauf  dass  b  3261  Bellijn  die  niet  iras  fei  auffällig 
mit  y^  1650f  Belinus  ad  Isin,  Sicut  erat  slmplex,  jani  heue 
credo,  rcfert  übereinstimme,  so  ergäbe  sich  entweder  eine  nähere 
beziehung  von  b  zu  1,  oder  aber  von  a  zu  f.  letzteres  in  bezug 
auf  die  Übereinstimmung  ja  ne  waest  el:  ende  niet  el.  sollte 
das  aber  nicht  ein  trugschluss  sein?  sagt  die  niet  was  fei  würk- 
lich  dasselbe  wie  sicut  erat  simplex,  d.  h.  Mn  seiner  leicht- 
gläubigkeit"?  es  wäre  doch  für  den  dichter  des  Reinaert  ein 
wenig  glücklicher  ausdruck.  ich  glaube  vielmehr,  dass  jam  bene 
credo  die  Übersetzung  von  ja  ne  ivaest  el  und  sicut  erat 
Simplex  ein  erläuternder  zusatz  ist.  die  lesart  von  b 
wird  durch  verlesen  aus  der  von  /  oder  als  ersatz  für 
diese  entstanden  sein,  mit  einem  durch  den  leim  nahegelegten 
epitheton  ornans  des  widders.  —  3254  nach  a  (und  /  326S) 
gegen/  3214.  —  3300  nach  /  3260  (und  b  3314;  /  16S2  f. 
in  altunt  unius  in  spacium  dimidiiqne  pedis).  —  3304 — 3307 
nach/  3264—3267  (und  b  3316—3319;  /  1684  ff  Dominerpie 
Rei/narde,  scio  quod  me  diligis,  inquit,  Extolli  nnn  me  queris 
honore  magis:  Sic  per  te  cunctis  regis  venerahor  in  anla,  Cum 
scierint  etc.).  einige  einzelheiten  mögen  in  a  echter  sein.  —  3314 
stimmt  zwar  b  3326  mit  a,  doch  dürfte  trotzdem  f  3214  (etwa 
zu  lesen  n-als  n  lief:")  zu  berücksichtigen  sein.  /  1 692  f  Mi/ 
domine!  Ciiardus  quid  dicit?  stimmt  nicht  genau  zu  ab.  —  3336 
ist  wahrsclieinlich  nach  /  3296  das  niciit  unauffällige  dese  in 
des  (tes?)  si  zu  verbessern.  —  3339  nach  /  3299  (und  b  3337)? 
die  umständliclie  Schilderung  von  /  1710  ff  Ad  mediam  celi  spa- 
cium jam  duxerat  axem.  Chirius  ac  umhras  fecerat  exiguas,  Per- 
que  polum  jam  declivem  descendere  querens  Versus  ad  occasum, 
themo  refiexus  erat  würde  jedoch  eher  für  a  spreclien.  —  33S2 


REINAERT  3 1 9 

ist  die  genaue  füguiig  nach  /  3342  und  b  3378  nicht  zu  er- 
mitteln, das  demonstrative  dat  in  Martins  text  scheint  mir  am 
wenigsten  gewähr  zu  haben:  entweder  Botsaert  ende  saecht.  hi 
sprac,  oder,  mit  zurückgreifendem  dat  (vgl.  3475;  Mnl.  wordenb. 
II  83),  i>.  ende  saecht  (oder  blois  sach,  also  ganz  nach  a),  dat 
hi  sprac.  —  3395  f  nach  a  (und  b  3392;  /  1739  f  cuncte  contre- 
muere  fere,  Horrihllique  sono  percussa  tbnore  ferarum  Stat  .... 
tnrlja.)  —  3407  f  nach  /  3367  f  (und  b  3404).  dagegen  hat 
3405  natürlich  a  recht  gegen  /.  —  3414  f  in  näherem  anscliluss 
an  /  33  74  (und  b  3408)  die  (oder  auch  ohne  die)  heuet  mi  een 
valsch  peelgrijn  doen  veriverken  so  (oder  also)  sere.  b  stimmt  wider 
scheinbar  zu  a  mit  3410  dat  rouwet  mi  int  herfe  mijn  [a  3415 
dat  (jact  }nierc  herten  na  so  sere).  aber  der  vers  von  b  ent- 
spricht vielmehr  dem  dat  ics  hem  erre  3408  und  dat  ic  recht 
nii  seJren  hnfc  3410.  —  3419  bestätigt  ^^  3380  widerum  eine 
glückliche  conjectur.  die  Übereinstimmung  von  a  und  derhand- 
schrif  t  b  bereitet  keine  Schwierigkeit,  da  es  nicht  im  mindesten 
über  die  Wahrscheinlichkeit  hinausgeht,  dass  beide  Schreiber  selb- 
ständig auf  doen  comen  geraten  sind,  aber  die  ganze  stelle  wirft 
noch  einmal  schwere  bedenken  auf.  Willems  hat  Tijdschr.  27,  9  7 
bei  3418  eine  lücke  vermutet,  indem  er  auf  das  zusammentreffen 
von  /  175Gf  Ilanc,  FyrapeUis  aif,  rex,  praetermitte  loqiielam, 
Tu  quia,  cum  sis  rex,  non  querulosus  eris  und  b  3420  wats  dan 
heer  coninc?  warts  anders  te  rade!  hinweist,  er  hätte  noch  her- 
vorheben sollen,  dass  der  anscheinend  auffällige  gedanke  des 
zweiten  lat.  verses,  den  man  in  a  vergeblich  sucht,  sich  auch  in 
b  findet,  3402  f  sidi  niet  heer  van  cd  den  lande:'  is  niet  onder  « 
al  dat  hier  es'^  dagegen  beruht  es  auf  einem  Irrtum,  dass/ verse 
mehr  enthalten  solle,  die  dem  in  a  vermissten  irgendwie  ent- 
sprechen könnten,  der  von  mir  als  auffällig  bezeichnete  ge- 
danke steht  nun  in  b  und  /  nicht  an  gleicher  stelle,  in  b  folgt 
er  auf  a  3405,  in  /  auf  a  3418,  und  ich  glaube,  dass  er  auch 
nach  dem  Wortlaut,  den  wir  als  den  echten  vorauszusetzen  haben, 
doch  nicht  so  sehr  fern  lag.  auch  er  betont  das  ungebührliche 
in  Nobels  betragen  als  künig;  seine  erregung  brauchte  nicht 
grölser  zu  sein,  wenn  die  königin  tot  wäre,  es  wäre  nicht  nur 
H-el  gehandelt  sondern  auch  wijsheit  groot,  wenn  er  sich  mäfsigte, 
der  lat.  Übersetzer  hat  auch  an  der  ersten  der  beiden  stellen 
dieser  ansieht  noch  einen  besonderen   ausdruck    verliehen,    indem 

21* 


320  FRANCK 

er  den  vers  Xon  pHlchnnn  //ere  rcfjihus  esse  reor  hinzufüg-t.  b  liat 
an  der  ersten  stelle  offenbar  den  ansdruck  doet  ireJ  oule  vijs- 
lu'if  (jroot  entfernen  wollen  nnd  konnte  dadurch  zu  einem  znsatz 
kommen:  ende  grljpt  enen  nioet:  hef  is  grool  scande,  und  dann  die 
beiden  vorher  genannten  verse  sidi  vi  et  etc.  es  bleibt  aber  auch 
noch  eine  andere  müg-liclikeit.  statt  a  3405  ende  slaect  vjven 
rauwe  een  deel  {: Fierapee.l)  liest  f  ^2>^h  ende  mafet  uiren  sin  ende 
u  seer.  mit  unrichtigem  reim  zu  Fierapeel.  es  könnte  darum 
entweder,  was  mir  weniger  wahrscheinlich  ist,  ein  verspaar  ver- 
loren gegangen  sein,  oder  3  105  ursprünglich  einen  anderen,  dem 
sinne  nach  mehr  mit  f  und  b  sich  berührenden  Wortlaut  gehabt 
haben  {niaet  uwen  sin  ende  u  riveel?);  een  deel  kommt  hier  in 
a  etwas  häufig  hintereinander  vor.  auch  3398  und  3434.  3407 
bis  3409  sind  dann  offenbar  wider  nach  /  3367—3369  (und  b 
8404)  zu  lesen;  desgleichen  341 4f  idi  hevet  mi)  f  3374  f 
(und  b  3408),  3411  nach  /  vielleicht  auch  herte:  miere  lierten 
a  3415  und  int  herte  niijn  6  3410  mag  dadurch  veranlasst  sein. 
von  leven  3417  in  a  und  y^  findet  sich  nichts  in  b  und  /,  deren 
ausführungen  eher  an  einen  begriff  für  'herschaft'  (erve?)  denken 
lassen  würden,  es  bleibt  nun  noch  die  anscheinende  Überein- 
stimmung zwischen  b  und  /  bei  v.  3417.  b  hatte  liier  wider 
einen  zusatz  gemacht  über  den  verhängnisvollen  einfluss  der  frau, 
er  war  also  untei'  umständen  infolgedessen  genijtigt.  dem  vers 
und  reim  zu  lieb  noch  nach  einem  neuen  gedanken  zu  suchen, 
und  die  Übereinstimmung  wats  dem,  heer  coyiinc?  n-arts  anders 
te  rade!  und  ]uinr.  rex.  praetermitfe  loquelani  ist  niclit  so  wijrt- 
lich.  es  könnte  sich  also  doch  auch  hier  wider  um  einen  zufall 
handeln,  wenn  nicht  etwa  das  echt  von  a  und/",  wie  man  wegen 
des  metrums  fast  vermuten  könnte  (es  rindet  sich  auch  gleich 
darnach  3432  and/rorde  ....  echt),  nicht  das  ursprüngliche,  sondern 
an  die  stelle  einer  interjection  oder  sonst  eines  kurzen  ausdrucks 
getreten  ist,  aus  dem  sich  der  Wortlaut  von  b  und  /  erklären 
würde,  an  sich  könnte  irat  echt  oder  nrits  echt  denselben  sinn 
haben  wie  wat  dan  oder  wats  dem;  doch  ist  die  Verbindung  m. 
w.  nicht  nachgewissen  '.  —  3422—3424  nach/ 3382-  3384  (und 
b  3424—3426). 

'  Vielleicht  steckt    ein    alles,  bis  jetzt  nicht   genügend   belegtes  wort 
auch    in  v.    21b8,  wo  statt  des  unwahrscheinlichen  feile  anticoorde  von/ 


REINAERT  321 

II. 
Noch  mehr  beaclitung  als  die  textkritische  bedeutung'  des 
neuen  textes  hat  eine  angäbe  über  die  Verfasserschaft 
gefunden,  die  die  haudschrift  in  ihrem  eingang  bringt,  und  die 
eine  noch  vollständigere  Überraschung  gewesen  wäre,  wenn  nicht 
iin  j.  1897  Leonard  ^Villenls  (Tijdschr.  voor  nl.  taal-  en  letterkunde 
16,  2bS  ffl  eine  hypothese  ausgesprochen  hätte,  die  wenig  beitall 
fand,  aber  nun  vollauf  bestätigt  wird,  die  hs.  a  enthält  in  ihrem 
eingang  angaben  über  den  dicliter  Willem  und  sein  werk  in 
irgend  einem  Zusammenhang  mit  franz.  Reinaertdichtungen,  die 
im  überlieferten  Wortlaut  unverständlich  sind,  die  lat.  Übersetzung 
enthält  die  angaben  nicht,  verständlich  an  sich  ist  was  b  aus 
den  Worten  gemacht  hat.  aber  das  ursprüngliche  kann  seine 
fassung  nicht  enthalten,  die  herausgeber  vermochten,  auch  mit 
einer  gar  nicht  enthaltsamen  kritik,  nicht  zu  einer  allgemein  über- 
zeugenden lösung  zu  gelangen,  vor  allem  LWillems  ist  seinen 
eigenen  weg  gegangen  und  hat  die  Vermutung  ausgesprochen, 
dass  ursprünglich  von  dem  werk  eines  namentlich  genannten  an- 
dern dichters  und  dem  Verhältnis  von  Willems  arbeit  zu  der  des 
Vorgängers  die  rede  und  gesagt  gewesen  sei:  'Willem,  der  früher 
den  Madoc  gedichtet  hat,  bedauerte  sehr,  dass  die  abenteuer 
Reinaerts  im  flämischen  unvollendet  geblieben  sind;  darum  hat 
er  die  franz.  brauches  aufgesucht  und  sich  an  die  arbeit  be- 
geben", in  V.  G  war  ursprünglich  der  name  des  Vorgängers  ge- 
nannt, der  nicht  alles  gedichtet  hatte.  Willem  selbst  fügte  den  an- 
fang  bis  etwa  v.  1750  hinzu,  und  das  was  LWillems  ver- 
mutete steht  nun  tatsächlich  und  unverkennbar,  mit  einer  kleinen 
abweichung  nur,  in  der  neuen  hs. 

Willam,  die  Madocke  makede, 

Daer  hi  dicke  omme  wakede, 

•2122  das  noch  weniger  passende  ■■selue  anticoorde  gebracht  wird,  uacli 
den  bearbeitungen  wäre  auch  ein  stärkerer  ausdruck  als  siielle  zu  erwarten; 
V.  Tijdschr.  1,  2Ü.  ein  wort  dass  mir  hier  sehr  passend  schiene  wäre  das 
mhd.,  Irühnhd.  sriiel  'auffahrend,  aufgeregt,  rasch',  s.  schel,  S'-helle<-  bei 
Lexer  und  siltell,  fchelli;/  DWB.  aber  im  mnl.  ist  das  einfache  wort  liis 
jetzt  nicht  gefunden,  wol  eine  zugehörige  merkwürdige  bildung,  in.«hel, 
insrhellich.  die  anschliessenden  worte  der  königin  in  der  vorliegenden 
Situation  sind  richtig  'schel'.  jedesfalls  scheint  mir  die  echte  lesart  niclit 
erhalten  zu  sein. 


322  FRANCK 

Hern  vernoide  so  haerde, 

Dat  een  avonture  van  Reinaerde 

In  dietsche  was  onvolmaket  bleven, 

Die  Arnout  niet  en  liadde  bescreven, 

Dat  hi  die  vite  dede  soeken 

Ende  hise  uten  waischen  boeken 

In  dietsche  (dus  nach  a  und  b?)  hevet  begonnen. 
Die  lesart  een  v.  4  wird  richtig  sein,  es  wäre  wenigstens 
sonst  unerfindlich^  wie  so  sie  hätte  in  die  hs.  f  liineingeraten 
können,  um  so  berechtigter  erscheint  sie,  wenn  wir  berück- 
sichtigen, dass  die  avonture  um  die  es  sich  handelt,  der  einheit- 
lichen franz.  erzählung,  dem  Plaid,  entspricht,  zu  lesen  ist  der 
vers  wol  dat  een  avonture.  indessen  braucht  een  nicht  notwendig 
betont  zu  sein,  so  dass  vielleicht  auch  zweisilbiger  auftact  an- 
genommen werden  könnte,  onvolmaket  könnte  hier  im  Zusam- 
menhang unmöglich  etwas  anderes  bedeuten  als  'unverfertigt'. 
dass  volmaken  diese  bedeutung  haben  könnte,  zeigt  eben  unser 
'fertigen,  verfertigen',  aber  wahrscheinlicher  ist  mit  hs.  a  onghc- 
maket  zu  lesen,  es  war  für  die  abschreiber  schwer,  den  rich- 
tigen Zusammenhang  zu  verstehen,  und  so  mag  einer  zu  onvol- 
maket für  onfjhcmaket  gekommen  sein,  ähnlich  wie  im  folg.  vers 
a,  wie  ich  vermute,  vulscreven  für  das  ursprüngliche  ghescreven 
von  f  (und  b  ?)  geschrieben  hat. 

Glänzender  kann  eine  kühne  hypothese  nicht  bestätigt  wer- 
den, als  hier  die  von  LWillems.  Es  ist  begreiflich,  dass  sich  noch 
leise  widerstände  regen,  wenn  jetzt  die  Vorstellung,  wie  man  sie 
sich  seit  langem  zurecht  gelegt  hatte,  umgewertet  werden  und 
der  alte  Reinaert  nicht  mehr  für  ein  einheitliches  werk  gelten 
soll,  aber  ich  glaube,  dass  die  widerstände  schwinden  werden, 
der  Sachverhalt  ist  aber  wert,  noch  einen  augenblick  mit  einer 
allgemeinen  bemerkung  bei  ihm  zu  verweilen,  die  tatsächlichen 
angaben  die  der  dichter  Willem  in  den  eingangsversen  gemacht 
hatte,  waren  in  der  bis  dahin  einzigen  handschrift  seines  Werkes 
heillos  zerrüttet,  eine  ganze  reihe  namhafter  forscher  hatte  sich, 
auch  mit  Zuhilfenahme  der  Überlieferung  in  b,  vergeblich  um 
den  richtigen  sinn  bemüht,  von  den  lesern  zu  geschweigen,  die 
sich  durchweg  bei  den  ansichten  der  herausgeber  beruhigt  haben 
werden,  der  Verfasser  von  Rein,  ii  läfst  die  worte  Wlllams,  die 
Madoc  maecte  ruhig  als  seine  eigenen   durchgehn,    trotzdem  sie 


EEINAERT  323 

auf  seine  eigene  arbeit  ebensowenig-  passen,  wie  ilir  der  usur- 
pierte Verfassername  zukommt,  und  auch  heute  wissen  wir  noch 
nicht  genau,  ob  die  verse  11  —  40  des  prologs  gleichfalls  von 
Willem  herrühren,  oder  ob  sie  schon  der  ältere  dichter  Arnold 
ähnlich  seinem  werk  voraufgeschickt  hatte.  die  gleiche  er- 
falirung  machen  wir  aber  fast  jedesmal  da,  wo  es  sich  in  der 
handschriftlich  überlieferten  litteratur  um  angaben  über  die 
dichter,  über  ihr  werk  oder  sonst  um  tatsächliches  aus  der  Zeit- 
geschichte handelt,  also  überall  wo  die  sachkritik  sich  nicht  so 
leicht  abweisen  lässt  wie  in  der  erzählung,  d.  h.bei  den  Schöpfungen 
der  dichterischen  phantasie.  einen  besseren  beweis  für  das  recht 
und  für  die  pflicht  der  textkritik  kann  es  doch  nicht  geben, 
dass  nun  ein  Wortführer  der  gegner  der  textkritik,  Buitenrust- 
Hettema,  auch  heute  noch  grade  diesen  Reinaert  sich  auswählt, 
um  seinen  antiphilologischen  standpunct  bis  in  die  äufsersten 
fol gerungen  zu  vertreten,  das  ist  schwer  begreiflich,  der  neuen 
liandschrift  gegenüber  hat  doch  in  diesem  falle  gerade  die  so- 
genannte conservative  richtung  vollständig  Schiffbruch  gelitten. 
Im  j.  1894  hatte  ich  auf  der  Versammlung  des  Niederd. 
Sprachvereins  zu  Köln  einen  Vortrag  über  die  composition  des 
Eeinaert  gehalten,  der  nicht  veröffentlicht  worden  ist.  ich  hob  da- 
mals —  was  in  dem  bericht  des  Korrespondenzblattes  17,  4S  ff 
nicht  zur  geltung  kommt  —  den  starken  unterschied  hervor,  der 
innerhalb  des  alten  Rein,  inbezug  auf  die  vermenschlichung  der 
tiere  zu  bemerken  sei.  ich  brachte  ihn  in  Verbindung  mit  der 
bekannten  tatsache,  dass  der  erste  teil  der  dichtung  sich  genau 
an  das  franz.  Plaid,  die  1  brauche  in  Martins  ausgäbe  des  Rom. 
de  Ren.,  anlehnt,  die  fortsetzung  hingegen,  von  Reinaerts  Ver- 
urteilung an,  im  wesentlichen  auf  der  eigenen  erfindung  des 
flämischen  dichters  beruht,  ich  beruhigte  mich  also  bei  der  an- 
nähme, dass  dieser  dichter,  soweit  er  eine  vorläge  hatte,  ungefähr 
bei  dem  grade  der  anthropomorphisierung  den  er  vorfand,  stehn 
geblieben  sei,  hingegen  da  wo  er  freier  gestalten  muste,  einen 
weit  höheren  grad  der  vermenschlichung  für  gut  befunden  habe, 
auf  den,  in  Verbindung  mit  den  angaben  der  eingangsverse  von 
a  und  b  gar  nicht  so  fern  liegenden  gedanken,  dass  wir  es  mit 
zwei  verschiedenen  dichterindividualitäten  zu  tun  hätten,  war  ich 
nicht  gekommen,  obwol,  von  einem  andern  gesichtspunct  aus, 
dieser  gedanke  auch  schon   früher   aufgetaucht    war.     der  ange- 


324  FEANCK 

deutete  unterschied  ist  nicht  leicht  zu  verkennen,  man  erregt 
zwar  eine  falsche  Vorstellung,  ^veun  man  im  gegensatz  zum  zweiten 
teil  den  ersten  teil  desReinaert  als  eine  genaue  Übersetzung  des  franz. 
bezeichnet,  auch  hier  bewegt  sich  der  tläm.  dichter  frei  und  selb- 
ständig genug,  fortwährend  wird  die  erzählung  in  einzelzügen 
umgestaltet  und  ergänzt,  und  zwar  geschieht  das  ganz  besonders 
auf  grund  einer  vortrefflichen  und  überlegenen  psychologischen 
beobachtungsgabe,  die  in  meisterhafter  weise  die  figuren  gegen- 
einander bewegt  und  die  geschehnisse  aus  ihren  gesinnnngen 
und  Stimmungen  entwickelt,  so  ist  auch  hier  die  vermensch- 
lichung der  tiere,  die  ja  von  anfang  an  ein  grundpfeiler  der 
ganzen  gattung,  und  in  Frankreich  aufs  glücklichste  weiter- 
gebildet war,  zu  einem  recht  hohen  grad  gediehen,  aber  die 
erzählung  bleibt  dabei  doch  meistens  nahe  bei  dem  was  sich 
aus  der  augenblicklichen  Sachlage  und  den  instincten  der  tiere 
ergibt,  oder  bei  den  geläutigen  schwanktheraata,  wie  der  beichte 
Eeinaerts  vor  Grimbert.  am  weitesten  geht  die  einleitung  des 
Brunabenteuers,  das  ausdrücklich  als  die  frucht  einer  Überlegung 
Reinaerts,  den  feind  te  scherue  zu  driuen  (v.  545)  hingestellt 
wird,  wie  denn  auch  v.  900  f  ausdrücklich  Reinaerts  freudige 
hoffnung,  den  hauptgegner  am  hof  unschädlich  gemacht  zu  haben, 
betont  wird,  und  wenn  er  1218  ff  wünscht,  dass  auch  Isengrim 
neben  Tibert  im  strick  säfse,  so  kaun  auch  dabei,  neben  dem 
traditionellen  hass,  an  die  besorgnis  wegen  der  hof  Verhandlung 
gedacht  sein,  aber  eine  so  planvoll  angelegte  handlung  wie  die 
entfernung  der  gegner  vom  hofe  durch  die  weitblickende  Über- 
legung von  könig  und  Reinaert,  wie  überhaupt  die  ganze  schatz- 
geschichte,  die  lüge  vom  bann,  die  berückung  von  Cuwaert  und 
Belijn,  kurz  wie  im  ganzen  von  anfang  bis  zu  ende  planvoll 
ineinander  gefügten  zweiten  teil  würde  man  im  ersten  vergeblich 
suchen,  und  die  hauptlist  hat  Reinaert  sich  bereits  in  der  nacht 
vorher,  d.  h.  nachdem  er  die  untat  an  Tibert  begangen,  ausge- 
dacht (2040  ff),  auch  darauf  sei  aufmerksam  gemacht,  wie  Isen- 
grim sich  an  den  tod  seiner  brüder  (1913  ff),  und  Reinaert  an  den 
seines  vaters  erinnert  (2006  f).  daneben  tritt  bei  Arnold  eine 
andere  eigenart  hervor,  auch  Willem  hat  zwar  die  natürlichen 
eigenschaften  der  tiere  ausgezeichnet  beobachtet,  wie  das  hühner- 
volk  sich  im  freien  ergeht,  die  lienne  den  boden  scharrt,  Bi'un 
über  die  erde  rutscht  und  mit  den  lanken  schlägt,  Tibert  in  der 


REINAERT  325 

schlinge  laut  gellt  usw.  auch  die  eigenaitige  haltung,  die  Bnin 
V.  808  f  einnimmt,  meine  ich  bei  einem  tier  das  schwere  prügel 
empfängt,  in  der  natur  geschaut  zu  haben,  aber  während  dieser 
dichter  mit  den  äul'serungen  der  tiere  bei  ihren  natürlichen  be- 
weggründen  bleibt,  knüpft  Arnold  sie  an  mehr  als  tierische  ge- 
mütsstimmungen  an.  in  dieser  weise  ist  v.  2026  ff  beim  fuchs, 
der  seinen  feinden  gedankenvoll  nachschaut,  eine  eigentümliche 
art  verwertet,  in  der  z.  b.  hunde  manchmal  andern  hunden  beim 
spielen  zusehen,  wenn  bär  und  wolf  auf  die  nachricht  vom  Um- 
schwung am  hofe  ihre  lede  recken  und  in  ungebührlicherweise  vor 
die  königin  (jhedronghen  kommen,  so  tun  sie  es  aus  blinder  angst 
vor  dem  drohenden  unheil.  der  alte  fuchs  taucht  aus  der  höhle 
auf  und  schaut  sich  vorsichtig  um,  um  das  versteck  seines  Schatzes 
nicht  zu  verraten,  der  eigenartige  hochsprung  des  widders  mit 
gleichen  fülsen  ist  die  äufserung  seines  glückes  über  die  bevorstehn- 
den  ehren,  am  höchsten  ist  es  dem  dichter  gehingen  v.  2820  bis 
2831.  wir  haben  da  das  bekannte  bild,  wie  ein  kater  auf  hoher  stelle 
sitzt  und  in  den  abend  hinein  heult,  wie  wunderbar  ist  das  mit 
der  Sachlage  verflochten,  in  der  Tibert  das  unheil,  das  er  sich 
mit  dem  bund  gegen  Reinaert  heraufbeschworen  hat,  voraussieht, 
und  den  tag  verwünscht  an  dem  er  Reinaert  kennen  lernte!  eigen- 
artig scheint  mir  auch  die  naturanschauung  zu  sein,  in  der 
Reinaert  die  wildnis,  in  die  er  sich  mit  seiner  familie  zurück- 
ziehen will,  und  die  noch  schauerlichere,  wo  der  schätz  vergraben 
sein  soll,  zu  schildern  versteht,  mit  dieser  stiramungsmalerei  hat 
der  dichter  vielleicht  etwas  zu  viel  getan  bei  der  ganzen  Schil- 
derung der  Vorbereitungen  zu  Reinaerts  hinrichtung,  wo  er 
gradezu  die  emptindung  eines  hereinbrechenden  schweren  Ver- 
hängnisses erzeugt. 

Mit  dem  verschiedenen  grad  der  vermenschlichung  hängt  es 
wol  zusammen,  dass  im  1  teil  für  die  einzelnen  mitspieler 
häutig  dier  gebraucht  wird,  im  zweiten  aber  nie:  Eeinaeit,  dat 
feile  dier  88.  85ö.  940  (hs. /).  956.  993.  1173,  een  clene  dier 
(Tibert)  1027,  ßriiun,  onsalichat  alre  diere  768,  Cwvaert  dat 
hlode  dier  1850  (der  hs.  /).  daneben  al  es  R.  andren  dieren 
fei  1019,  [tus.ichen  R.  ende  dandre  dier  1868]  ';  und  allgemein 
dier,  sing.,    diere,    dier  plur.,    [alle  diere   1839.   1866],    und   so 

*  bei  den  folgenden  erörterungen  sollen  die  verse  von  denen  es  nicht 
sicher  ist,  zu  welchem  teile  sie  gehören  in,  [     ]  gesetzt  werden. 


326  FRANCK 

häutig-  anch  später  2244.  233S.  2527.  26S4.  2762.  2773.  3050. 
3068.  3395.  3396.  vgl.  auch  nie  (die)  feile  creature  (Reinaert) 
1348.   1698;  später  nur  allgemein  creature   die  heret  li/f  2590. 

Über  den  anteil  der  beiden  dichter  lässt  sich  meiner  ansieht 
nach  an  L6on.  Willems  auffassung  nicht  zweifeln.  Willem  be- 
dauerte, dass  Arnold  einen  teil  der  erzählung  von  Reinaert  —  ich 
drücke  mich  absichtlich  nicht  bestimmter  aus  —  unausgeführt  ge- 
lassen hatte;  er  suchte  die  französische  erzählung  auf  und  über- 
trug sie  ins  niederländische,  da  "wir  nun  im  ersten  teil  die 
nachfolge  des  franz.  Plaid,  im  zweiten  eine  im  ganzen  freie  dich- 
tung  haben,  so  ist  doch  das  ältere  werk  Arnolds  im  späteren 
teil,  das  jüngere  Willems  im  früheren  teil  der  vorliegenden 
composition  zu  suchen.  Degering  erklärt  allerdings  (s.  xx)  grade 
der  entgegengesetzten  ansieht  zuzuneigen,  dass  der  zweite  teil 
Willem  gehöre,  seine  gründe  verspricht  er  an  einer  andern 
stelle  darzulegen  und  hat  vorläufig  auf  jede  andeutung  verzichtet, 
bei  der  Verschmelzung  der  beiden  teile  durch  Willem  kann  es 
ganz  ohne  eingriffe  nicht  abgegangen  sein ;  ein  etwaiger  prolog 
Arnolds  muste  beseitigt  oder  versetzt  werden,  mit  Sicherheit 
wird  sich  die  naht  nicht  angeben  lassen,  die  freiere  dichtung 
beginnt  bei  1 883,  wo  auch  ganz  wol  ein  anfang  sein  könnte, 
aber  natürlich  kann  Arnold  auch  etwas  früher  eingesetzt  haben, 
so  bei  1751  mit  der  ankunft  Reinaerts  am  hof.  gehört  das  wort 
(coninc)  Uoen,  das  1831.  34ü0  u.  3466  begegnet,  nur  Arnold  an, 
so  wäre  letzteres  die  richtige  annähme,  unter  den  klägern  rückt 
1843  ff  Belijn  an  die  erste  stelle  (franz.  1315  f  Isengrins  et  li 
motons  sire  Beim),  und  es  wird  ihm  noch  seine  dame  Haud  bei- 
gesellt, also  eine  persönlichkeit,  der  in  der  fortsetzung  eine  be- 
sondere rolle  zugedacht  ist,  und  unten  ergibt  sich  für  1801  ff 
ein  gewichtiger  grund  für  die  annähme,  dass  diese  verse  schon 
dem  älteren  dichter  angehört  haben,  mithin  wird  auch  in  der 
abgrenzung  der  beiden  teile  L^onAVillems  schon  das  richtige  ge- 
troffen haben. 

Bei  erörterung  der  vorliegenden  frage  ist  bereits  die  tatsache 
ins  feld  geführt  worden,  dass  in  sprachlicher  und  stilistischer 
hinsieht  keine  unterschiede  zu  entdecken  seien,  die  für  zwei  ver- 
schiedene dichter  sprächen,  der  ausweg,  dass  der  jüngere  dichter 
die  verse  seines  Vorgängers  zugleich  stilistisch  umgearbeitet  habe, 
kommt  mir  w^enig  wahrscheinlich  vor.    beide  männer  waren,  wie 


REIXAERT  327 

wir  aunehmeu  müssen,  engere  landesgenossen  und  müssen  sich 
zeitlich  ganz  nahe  stehen;  sie  behandeln  den  gleichen  stoft'  und 
im  ganzen  auch  mit  der  gleiclien  aulYassuug,  und  zwar  einen 
Stoff,  der  ohne  zweifei  in  viellacher  mündlicher  erzählung  schon 
einen  bestimmten  stil  ausgebildet  gehabt  haben  muste.  dabei 
erweist  sich  Arnold  durch  seine  ertindung  als  ein  so  geistvoller 
köpf,  dass  wir  doch  kaum  annehmen  können,  der  nachfolger 
werde  an  seiner  einkleidung  viel  auszusetzen  gehabt  haben,  dieser 
wird  wol  das  werk  des  Vorgängers,  soweit  die  composition  nicht 
etwa  eine  änderung  erforderte,  wörtlich  und  höchstens  mit  gelegent- 
lichen naclihilfen  nach  dem  eigenen  geschmack  übernommen  haben, 
die  vorauszusetzende  gleichheit  der  bedingungen  unter  denen  sie 
schufen  lässt  es  wol  auch  glaublich  erscheinen,  dass  beide  dichter 
sich  auch  in  bezug  auf  spräche  und  ausdruck  in  weitgehndem 
mafse  decken,  zumal  ja  der  nachfolger  immerhin  unter  dem  ein- 
fluss  des  Vorgängers  gestanden  haben  wird,  dass  trotzdem  die 
Übereinstimmung  allerdings  manchmal  auffallend  erscheinen  kann, 
will  ich  nicht  leugnen,  aber  ich  weii's  nicht,  wie  man  die  son- 
stigen gründe  und  die  bestimmte  angäbe  umdeuten  könnte,  denn 
die  annähme,  dass  der  dichter  des  zweiten  teils  nachträglich 
selber  den  erst  ausgelassenen  anfang  hinzugefügt  und  mit  einem 
angenommenen  verfassernamen  sich  seinem  publicum  gegenüber 
einen  scherz  erlaubt  habe,  scheint  mir  doch  ihm  ein  seiner  nicht 
würdiges  verfahren  zuzuschreiben,  eher  würde  ich  an  die  mög- 
lichkeit  denken,  dass  beide  männer  sich  auch  persönlich  nahe- 
gestanden und  Willem  mit  vorwissen  und  tätiger  anteilnahme 
Arnolds  den  anfang  bearbeitet  habe,  zudem  fehlen  doch  auch 
wol  die  unterschiede  nicht  ganz,  was  ich  in  diesem  sinne  an- 
zuführen habe,  wigt  freilich  im  einzelnen  nicht  schwer;  manches 
könnte  sich  auch  sicherlich  in  dem  werk  eines  und  desselben 
Verfassers,  das  nicht  an  einem  tag  entstanden  ist,  so  darstellen, 
und  mehreremal  zeigen  die  hier  aufgegebenen  stellen  selber,  wie 
leicht  der  zufall  es  mit  sich  bringen  kann,  dass  irgend  eine 
eigentümlichkeit  für  längere  zeit  einmal  zurücktritt;  aber  alles 
in  allem  dürften  die  Zusammenstellungen  doch  die  Verschieden- 
heit der  Verfasser  bestätigen  helfen. 

Der  schon  hervorgehobene  unterschied  im  gebrauche  von 
(Her  ist  zwar  mit  dem  unterschied  in  der  anthropomorphisie- 
rung  verknüpft,    aber   schlielslich    doch   auch    schon    sache    des 


32S  FRANCK 

Stils,  ebenso  ist  auf  den  gebrauch  von  liocn  eben  schon  hin- 
gewiesen. Degering  hat  auf  t-iueu  unterschied  in  den  formen 
des  prät.  von  counen,  gönnen  und  beghinnen  aufmerksam  gemacht. 
II  und  /  haben  gonste  :  conste  3311  (auch  b),  ronste  2715  (auch 
e:  b  conde),  3124  (auch  e;  b  mocht),  3232  {b  anders),  3358 
[b  fehlt),  3371  (b  fehlt);  hegonste  3393  (b  hegonde);  dagegen  a 
hegonste,  f  hegonde  64  {b  hegonde),  142  {b  hegonsfen),  a  conste, 
f  conde  (b  const)  342.  755  (b  anders),  757  {b  anders),  ti68 
{b  997  cond),  1029  (b  romie);  ferner  a  conde  202  (f  dorste; 
b  conde),]  a  hegonden  (auch  b)  1707,  f  anders;  dagegen  a  und 
f  conste  953  {b  conde);  ferner  a  hegonste  1317  (/und  b  hegan) 
a  conste  (auch  b)  1494.  in  /  anders  gewendet,  das  umgekehrte 
Verhältnis  a  encondi,  f  en  conste  hl  {b  enmocht  In)  1525.  starke 
formen  von  heginnen  a,  f  101  (reim).  538  (reim;  auch  ö),  2236 
(reim;  auch  b).  693  (auch  b).  972  fauch  b).  1749  (auch  b).  2097. 
darnach  ist  es  allerdings  wahrscheinlich,  dass  conste,  onste,  he- 
gonste (neben  starken)  die  geläutigen  formen  für  Arnold,  dagegen 
vonde,  onde,  hegonde  (neben  starken)  für  Willem  waren,  und  es 
ist  interessant  genug,  dass  Degering  dies  vei-hältnis  noch  in  der 
hs. /zu  entdecken  vermochte,  aulserdem  will  Degeriug  s.  xviii  ff. 
noch  einen  unterschied  im  gebrauch  von  vroince  bei  enklise,  näm- 
lich als  ver  bei  Arnold,  vrauwe  bei  AVilhelm,  sowie  zwischen 
sj'nkopierten  und  nichtsynkopierten  verbalformen  beobachtet  haben, 
schon  Jonckbloet  hatte  von  anderen  erwägungen  aus  die  möglich- 
keit,  dass  wir  es  mit  dem  werk  zweier  dichter  zu  tun  hätten,  ins 
äuge  gefasst,  um  dann  aber  mit  entschiedenheit  die  stilistische 
einheit  zu  verteidigen,  von  einigen  gründen  die  er  s.  xxiii  für 
das  gegenteil  angeführt  hatte,  sind  mehrere  in  der  tat  zu  be- 
achten, altoos  begegnet  nur  2969  und  3008;  erre  2836.  3378. 
3388.  3408;  hem  errew  3210;  iet  als  adverb  1946.  2211.  2583. 
2633.  2699.  2733.  3255  (558  steht  es  substantivisch);  indien  dat 
2185.  2470.  2509.  2827.  ich  füge  weiteres  hinzu,  avonittre  ht  m 
verschiedenen  bedeutungen  nach  den  glossaren  in  dem  teil  den 
wir  Willem  zuschreiben  (W.)  10  mal  belegt  —  darunter  auch 
401  nach  a  und/ — ,  in  dem  vermutlich  Arnold  zugeliörigen  (A.j 
nur  einmal  in  hi  avontiiren  'zufällig',  bei  W.  zähl  ich  6  hestaen 
'unternehmen'  553.  970.  1040.  1091.  1352.  1691,  bei  A.  nur 
2625  (ausserdem  einmal  htst.  =  'vevwant  sein';,  auch  verbal- 
umschreibungen    mit    gaen    63.    1-14.   388.  522.  608.  682.   789. 


REINAERT  320 

S49.  95(1.  060.  1177.  1247.  1591.  1760.  1S62.  207  1.2758. 
3048.  3134,  mit  doev  43.  144.  531.  552.  859.  995.  1464.  1484. 
1497.  1500.  1515.  1518.  1614.  1864.  1942.  2689.  2745.2904. 
2938.  2948.  2950.  3221  und  heghinnen  146.  361.  693.  972. 
1317.  1749.  2097.  2102.  2813.  3393  machen  den  eindnick  in 
W.  beliebter  zu  sein  als  in  A.  dinken  mit  goet  u.  ä.  W.  128. 
148.  665.  1014.  1056.  1005.  1397,  bei  A.  2982;  (Unken  allein 
im  sinne  von  goet  d.  A.  2091.  2708.  (sonst  dinken  uocli  233. 
362.  499.  054.  1366;  2217.  2752.  3006.  3(»23.  3106). 
verschiedene  composita  mit  nies-  sind  nur  in  W.  belegt:  mes- 
doen  'schlecht  behandeln'  1452.  mededen  20S,  mesmaken  987. 
mesprisen  168,  mesprijs  1473.  niesraken  496.  747.  1750,  mesval 
[401;  s.  s.  328]  1355  {niesvallen  aber  3250),  mesvoeren  74.  auch 
der  gegensatz  zu  mesval,  nämlich  gheval  erscheint  nicht  gleich- 
mäfsig:  46.  617.  1059.  1396;  2217.  overal  findet  sich  45. 
[325  nur  in/].  612.  1411.  1636.  [1787].  2218;  prenden  nur 
bei  W.  zweimal;  aufserdem  1691  hs.fpranf,  a  aber  nam]  qnalic 
258.  259.  550;  1802  wahrscheinlich  nicht  ursprünglich,  s.  oben; 
rinnen  'laufen'  118.  734.  760.  1319;  aul'serdem  noch  in  /  344 
[a  und  u  ghinc).  756  (auch  in  b;  a  liep);  sint  xmd  sint  äat  78. 
79.  217.  264.  356.  402.  1497.  1502.  1604;  3302,  aufserdem 
2741  causal  nur  in  f  {a  und  b  na  daf);  spei  bei  W.  gern  ge- 
braucht findet  sich  bei  A.  nur  in  dem  nicht  ganz  unverdächtigen 
fe  speie  2459,  s.  oben;  icatfan  bei  W.  dreimal,  bei  A.  einmal 
wats  dan\  (al)  sonder  nmen  als  bequemer  ausdruck  90.  636.  900. 
1092  (nur  iw  f  und  vielleicht  unursprünglich,  s.  oben).  1381; 
vgl.  noch  na  ntlnen  ivane  298.  1299;  im  späteren  teil  nur  einmal 
und  mit  mehr  bedeutung  sonder  iraen  2536.  der  versinnlichende 
Zusatz  al  daer  Jii  leghet  2515  hat  doch  etwas  bedeutungsvolleres, 
und  daer  hi  stoef  3299  ist  eher  notwendiges  relativum;  sonst 
kommen  derartige  zusätze  vor  75.  171.  623.  (1207  wol  bedeutungs- 
voller, vielleicht  auch  1553).  1536.  [1805  (in  /  und  b)].  vgl. 
etwa  noch  die  ])lirasen  wie  nieer  dan  ic  ghenoemen  can  Martin 
s.  XLV.  ausrufsätze  mit  Aop  finden  sich  747.  753.  921.  923.  926. 
1423;  später  nur  einmal  ai,  //oe  3142  wie  1423.  die  erzählung 
wird  fortgesetzt  durch  nu  mit  präs.  bist,  oder  perfectum,  aber  auch 
mit  prät.  61.  465.  495.  497.  518.  684.  1043.  16S6.  1689.  1602. 
[1865.  1SS2].  1963.  3019.  3337.  ich  will  auch  einmal  anmerken  iah' 
107.    170.    183.  246.  283.  426.  539.  641.  909.   959.    1009  {tale 


330  FRANCK 

ende  wedertale)  1075.  [1867].  2757.  2S03.  3092  und  «v//c  180. 
SOI.  1076.  1407;  3091.  3146.  andere  Wörter  die  sich  nur  in 
W.  ünden,  ohne  dass  ihre  Vereinzelung  grade  in  der  natur  der 
Sache  läge,  %\i\A  noch  ouiihemac,  ccrlics.  anegaen  i\%l.  261.  814}, 
niemare  (367.  157  1.  1597),  recht  adv.  bei  örtlichen  und  zeit- 
lichen bestimniungen  (282.  1301.  1613;  aber  auch  1844.  wäh- 
rend der  gebrauch  3053  und  3410  wol  nicht  genau  damit  zu 
vergleichen  ist),  schinen  'zum  Unglück  deutlich  werden'  (424. 
773.  1250.  1263).  anderes  begegnet  überwiegend  oder  ausschliefs- 
lich  im  späteren  teil:  Jiedraghen  in  verschiedenen  bedeutungen, 
hejaghen  (7 mal;  allei'dings  umgekehrt  hejach  4 mal  nur  bei  W.). 
echt  hat  A.  dreimal  in  Verbindung  mit  spreken  und  antiroorden, 
bei  W.  kommt  es  nur  einmal,  und  zwar  in  anderem  sinne  vor; 
ghewelt  zweimal  (neben  gheirout);  goeder-  und  arghertiere  nur 
2337.  2528.  3067;  openljare  vor  1883  nur  ghiughen  openhare 
staen  1862,  sonst  2062.  2157.  2161.  2209.  2221.  2298.  2491. 
2645;  säen,  imr  im  reim  vorkommend,  64.  82.  398.  (442  nur  in 
/gegen  ab).  1236.  (1434  nur  in  a  gegen /Ö).  1590;  1941. 
2625.  2838.  2947.  3107.  3126.  3132.  31S0.  3316.  3344;  die 
Verbindung  von  staen  mit  ende  und  einem  anderen  verbum  hat 
A.  dreimal,  W.  einmal  (Martin  anm.  zu  i  1224);  phrasen  mit 
stont,  stonde  161.  282.  (934  nur  in  a;  s.  oben  s.  304).  1279;  2237. 
2242.  2373.  2458.  2928.  die  einleitungsphrase  nu  hoort!  be- 
gegnet 877.  970.  1428.  (1528  in  der  rede  einer  handelnden 
person);  2162.  2236.  2268.  2766  (nach/;  s.  oben).  2806.  2848. 
2856.  2906.  3056.  3324;  dazu  nu  vernemet  2225.  selbst  wenn 
man  entsprechende  phrasen  in  anderer  sj'ntaktischer  form  dazu 
nimmt,  bleibt  ein  beträchtliches  übergewicht  für  A. ;  s.  Martin  xlv; 
Buitenrust-Hettema,  Ee^maert  2  s.  xx.  das  umständlich  eine  er- 
klärung  einführende  ic  seclit  ii  tirl  treffen  wir  2382.  2911,  ferner 
2319  in  der  fabel  von  den  f röschen,  ic  segglie  u  hoe  2279  (wo- 
mit Martin  noch  Ic  secht  u  3159  vergleicht),  die  phrase  icat 
liolpe  vele  hier  of  ghesproken  2482,  ähnlich  2923,  findet  sich 
nicht  ebenso  bei  W. ;  1869  ff.  ist  wesentlich  anders,  aufserdem 
ist  es  nicht  sicher,  wem  die  stelle  gehört. 

Ein  recht  wesentlicher  unterschied  ergibt  sich  vielleicht  noch 
in  bezug  auf  die  relativsätze.  relative  fügung  ist  überhaupt  im 
ganzen  gedieht  sehr  häutig,  und  im  zweiten  teil  kaum  weniger 
als  im  ersten,     aber    der    sogenannte    'anknüpfende    relativsatz', 


REINAERT  331 

der  gar  niclit  dazu  dient  den  hauptsatz  oder  ein  glied  desselben 
näher  zu  bestimmen,  sondern  eine  neue  behauptung  als  fortsetzung 
der  erzählung  enthält,  ist  in  W.  stark  ausgeprägt,  während  er 
in  A.  sehr  zurück  tritt,  die  sache  ist  freilich  nicht  so  einfach, 
da  man  häutig  über  den  Charakter  des  satzes  verschiedener  an- 
sieht sein  kann,  ich  führe  folgende  stellen  an,  wo  das  relativuni, 
in  der  regel  im  anschluss  an  einen  hauptsatz,  ohne  weiteres  mit 
■und'  und  dem  demonstrativ  übersetzt  werden  kann:  46.  153. 
202  (bei  einem  nebensatz;  f  und  h  weichen  übereinstimmend  ab). 
215.  296.  452.  652.  700.  1567;  andere  sind  unsicherer :  330.331. 
360.  643.  1044.  1695.  die  einzige  stelle  welche  die  gleiche 
aulfassung  nahe  legt,  die  ich  im  späteren  teil  bemerkt  habe,  ist 
2438,  wo  man  jedoch  den  relativsatz  enger  auf  den  vorhergehen- 
den satz  beziehen  kann :  'dass  die  diebe  so  gründlich  über  seinen 
schätz  gekommen  waren,  dass  er  keine  drei  pfennige  davon 
wiedergefunden  hätte",  aufserdem  könnte  das  einem  nebensatz  sich 
anschliefsende  die  2449  mit  'und  diese'  übersetzt  werden.  Arnold 
scheint  in  solchen  fällen  die  demonstrative  anknüpfung  vorge- 
zogen zu  haben,  wie  2096  und  3164  (die  aber  natürlich  auch 
bei  Willem  nicht  fehlt,  zb.  526).  2408  wäre  diese  darum  nicht 
mit  rücksicht  auf  b  und  /  in  die  relative  zu  ändern  gewesen; 
die  neue  hs.  bestätigt  jetzt  gleichfalls  die  erstere.  ich  müchte 
noch  auf  1161  — 1167  aufmerkam  machen,  wo  wir  in  einem 
und  demselben  Satzgefüge  drei  oder,  mit  hinzunahme  eines  doe- 
satzes,  vier  relativsätze  haben,  etwas,  was  bei  Arnold  nicht  vor- 
kommen dürfte: 

eer  si  quamen  tes  papen  scure, 

die  met  ere  erdinen  mure 

al  orame  ende  omme  was  besloten, 

da  er  Reinaert  in  was  ghebroken 

des  ander  daghes  daer  te  voren, 

doe  die  pape  hadde  verloren 

enen  haue,  die  hi  hem  nam. 
Man  kann  solcher  unterschiede  vielleicht  noch  mehr  tindeii, 
aber  es  wird  mühe  machen    sie  aufzuspüren,    und  es  wird  ihnen 
vielleicht   nicht    jeder  die    genügende   beweiskraft    zuerkennen '. 

1  Fremdwörter  sind  in  beiden  teilen  recht  häufig,  abgesehen  von 
einer  anzahl  die  gemeinsam  sind,  ist  ihr  bestand  freilich  recht  verschieden, 
aber  bei  einer  anzahl  hätte  die  textkritik  erst  zu  entscheiden,  und  aufser- 


332  FRANCK 

jedesfalls  haben  die  früheren  behandlungen  dieser  frage  gezeigt, 
dass  im  ganzen,  auch  bis  in  einzelheiten  hinein,  in  dieser  Reinaert- 
dichtung  auch  in  sprachliclier  hinsieht  Übereinstimmung  herscht 
bis  zu  einem  grade,  der  bei  zwei  verschiedenen  Verfassern  über- 
raschen niuss.  das  gleiche  scheint  vom  metrum  gesagt  werden 
zu  müssen  ich  habe  wol  zu  bemerken  geglaubt,  dass  im  ersten 
teil  ein  ausgeprägterer  monopodischer  rhythmus  hersche.  aber 
Prüfungen  die  ich  über  einschlägige  einzelheiten  anstellte,  wie 
über  das  enjambement  und  die  Verwendung  schwächer  betonter 
Wörter  im  reim,  haben  nichts  greifbares  ergeben,  und  solche 
Untersuchungen  werden  auch  besser  gespart,  bis  einmal  ein  zu- 
verlässiger text  hergestellt  sein  wird,  mag  man  sich  wundern, 
dass  zwei  verschiedene  Individualitäten  zu  einem  solchen  einklang 
untereinander  gekommen  sein  sollen,  mag  man  darin  geradezu 
ein  phänomen  erblicken,  man  gelangt  damit  über  die  bestimmte 
nachricht  nicht  hinweg. 

Dass  das  werk  inhaltlich  einheitlich  geworden  ist.  ist 
durch  seine  entstehung  bedingt.  Arnold  setzte  entweder  das 
franz  Plaid  oder  diesem  entsprechende  mündlich  umgehende  er- 
zählungen  voraus',  eine  bearbeitung  des  Stoffes  in  nl.  verseu 
gab  es  nach  Wilhelms  zeugnis  vorher  nicht.  W.  selber  schuf 
eine  solche,  aber  eben  mit  rücksicht  auf  Arnolds  gedieht.  Wider- 
sprüche sind  also  von  vornehein  ebensowenig  zu  erwarten,  wie 
bei  einem  einheitlichen  werk,  wenn  wir  von  der  psj'^chologischen 
Vertiefung  der  ganzen  anläge  absehen,  so  scheint  W.  jedoch  auf 
die  fortsetzung  nicht  einmal  besondere  rücksicht  genommen  zu 
haben  in  dem  sinne,  dass  er  seine  erzählungen  in  noch  engere 
beziehungen  zu  den  von  A.  gestalteten  ereignissen  gesetzt  hätte, 
allerdings  mag  er ,  wenn  er  v.  1 74  ff  einen  seiner  vielen  so 
wirkungsvollen  zusätze  anbringt:  'wird  das  Eeinaert  jetzt  durch- 
gelassen, so  dürfte  bald  auch  einer  von  ihm   geschädigt  werden, 

dem  ist  es  schwer,  die  richtige  grenze  zwischen  eingebürgerten  und  weniger 
eingebürgerten  Wörtern  zu  finden,  im  ganzen  aber  ist  der  unterschied  im 
V)estand  dui'ch  die  Situationen  bedingt,  und  es  wird  sich  von  hier  aus 
kaum  ein  kriterium  gewinnen  lassen. 

'  Vielleicht  hat  er  mit  bedacht  eine  gewisse  Zurückhaltung  gegen- 
über dem  Verhältnis  zwischen  Eeinaert  und  Hersent,  wie  es  in  seiner  quelle 
stand,  beobachtet,  nur  in  den  versen  1981  ff  spielt  er  in  malsvollem 
ausdruck  darauf  an,  während  er  sich  2897  ff,  wo  gleichfall.s  gute  gelegen- 
heit  gewesen  wäre,  dessen  enthält. 


REINAERT  333 

der  sich  dessen  nicht  versieht',  eine  bemerkung,  die  in  so  ge- 
schickter weise  Isegrims  absieht  zu  hetzen  dient,  auch  insbeson- 
dere daran  gedacht  haben,  wie  in  Arnolds  ertindung  der  könig 
selber  in  kläglicher  weise  zum  opfer  von  Reinaerts  ranken  wird, 
aber  ob  es  auch  erlaubt  wäre,  die  oft  bemerkte  Unterdrückung 
einer  sehr  hübschen  episode  des  franz.  Originals  aus  der  rück- 
sicht  auf  die  späteren  ereignisse  zu  erklären?  als  die  hühner- 
familie  mit  der  gemordeten  henne  am  hof  erscheint,  brüllt  der 
löwe  vor  zorn  so  schrecklich,  dass  der  hase  aus  angst  das  fieber 
kriegt,  nachher  schläft  er  auf  dem  grab  der  henne  ein  und  er- 
wacht gesund,  an  diesem  wunder  erkennt  man,  dass  die  henne 
eine  heilige  war,  und  Reinaerts  untat  erscheint  in  um  so  schlim- 
merem lichte,  diese  reizvolle  geschichte  fehlt  im  niederländischen 
ganzi.  wenn  man  meint,  W.  habe  sie  weggelassen,  weil  sie  doch 
das  religiöse  gefühl  mehr  als  er  es  sonst  tut  habe  verletzen 
können,  so  scheint  mir  das  wenig  glaublich,  eher  würde  ich 
schon  einfach  den  rein  episodischen  Charakter  der  geschichte  als 
eine  genügende  erkläruug  ihrer  nichtbeachtung  ansehen,  früher 
hatte  ich  freilich  noch  einen  andern  beweggrund  vermutet,  der 
könig  des  nl.  gedichtes  nimmt  Reinaerts  untat  viel  gelassener 
auf  als  im  französischen  (vgl.  v.  425  ff.),  erst  als  Reinaerts 
streiche  ihm  selber  an  die  ehre  gehn,  ihn  persönlich  schädigen, 
lässt  der  dichter  seinen  zorn  so  hoch  steigen,  dass  er  alle  tiere 
durch  sein  gebrüll  erbeben  macht  (3391  ffj.  für  diese  auffassung 
der  dinge  hätte  also  an  der  früheren  stelle  die  Voraussetzung 
für  das  fieber  und  die  genesung  gefehlt,  unter  den  heutigen 
umständen  scheint  mir  ein  zweifei  gegen  diese  erklärung  um  so 
berechtigter,  aber  sie  darf  trotzdem  vielleicht  einmal  zur  spräche 
gebracht  werden,  bei  der  Schilderung  von  Reinaerts  einwilligung, 
mit  Grimbert  an  den  hof  zu  gehn,  v.  1391  ff,  ist  seine  hoff- 
nung,  seinem  Schicksal  doch  noch  zu  entgehen  sogar  merklich 
schwächer  betont  (1396  quame  ic  danen,  het  wäre  gheval,  1398 
ghenese,  of  ic  mach  ghenesen,  1417  f  ic  sali  mi  nemen  harde 
na,  up  dat  ic  mach,  dat  ic  ontga)  als  man  es  mit  rücksicht  auf 

'  wenn  hier  der  zum  zeugnis  über  Kriekepit  vor  den  könig  ge- 
rufene hase  zittert,  als  ob  er  coude  hätte  (2650  ff),  so  dürfte  das  eine  er- 
innerung  an  diese  episode  sein,  übrigens  bedarf  es  kaum  eines  besonderen 
beweises,  dass  sowol  Arn.  wie  Wilh.  jene  franz.  erzählung  gekannt  haben 
werden. 

Z.  F.  D.  A.  LH.     N.  F.  XL.  22 


334  FRANCK 

die  spätere  erzählung,  nach  der  er  mit  einem  in  der  hauptsache 
fertigen  plan  auszieht,  erwarten  könnte,  so  dass  hier  Wilhelms 
darstellung  eigentlich  besser  zu  der  des  Plaid  als  zu  der  Arnolds 
passt,  und  noch  etwas  mehr  tritt  das  v.  1749  ff  harde  sere  heefde 
Reinaert,  doe  hi  began  den  hove  nahen,  daer  hi  waende  sere 
mesraken,  also  unmittelbar  vor  dem  anfang  des  zu  ergänzenden 
gedichts  Arnolds  hervor,  die  ziemlich  genau  den  franz.  versen 
1192  ff  entsprechen,  aber  auch  wie  Arn.  sich  die  sache  vorstellt, 
ist  der  ausgang  ja  noch  sehr  ungewis,  und  aufserdem  könnte 
Wilh.  sich  absichtlich  zurückgehalten  haben,  um  die  Überraschung 
des  Umschwungs  nicht  abzuschwächen,  wenn  er  1385  ff  Grimbert 
die  Worte  in  den  mund  legt:  'es  ist  ungewis,  wie  die  sache  aus- 
geht; du  hast  schon  gröfseres  unerwartetes  glück  gehabt  als  es 
eins  wäre,  wenn  du  diesmal  frei  vom  hof  abziehen  würdest',  so 
kann  er  dabei  an  Arnolds  neue  erfindung  gedacht  haben,  doch 
hätte  er  auch  ohne  das  Grimbert  diese  tröstlichen  werte  gebrau- 
chen lassen  können,  zumal  ja  auch  im  Plaid  Reinaert  frei  kommt 
und  met  des  coninx  orlove  den  hof  verlässt.  eine  stelle  wäre 
hervorzuheben,  wo  die  beziehung  allerdings  eine  recht  enge  ist. 
mit  1801  ff  ist  nach  der  echten  lesart  zweifellos  der  angriff  auf 
Cuwaert  (136  ff)  gemeint;  es  werden  an  dieser  stelle  die  untaten 
Reinaerts,  die  sich  tatsächlich  in  unserer  erzählung  selber  ab- 
gespielt haben,  der  reihe  nach  aufgezählt,  auf  diese  stelle,  die 
nicht  etwa  nach  dem  franz.  gearbeitet  ist,  bezieht  sich  3115  ff. 
Wilh.  müste  also  hier  besonders  aufmerksam  auf  das  einstimmen 
mit  dem  werk  Arnolds  hingearbeitet  haben,  aber  eher  dürfte 
die  einstimmung  ein  beweis  dafür  sein,  dass  hier  bereits  Arn. 
selber  am  wort  ist.  ein  schlagender  beweis  dafür,  dass  der  Ver- 
fasser des  ersten  teils  mit  besonderer  rücksicht  auf  den  zweiten 
arbeitete,  fehlt  also,  so  viel  ich  sehe,  wenn  man  nicht  das  über 
die  episode  der  heiligen  henne  gesagte  gelten  lässt.  aber  es 
fehlen  auch  wtirkliche  Widersprüche,  so  dass  von  hier  aus  nicht 
einmal  die  annähme  eines  einzigen  Verfassers  für  das  ganze  wider- 
legt werden  könnte. 

Wilhelm  setzt  bei  einzelnen  erzählungen  in  Reinaerts  beichte 
vor  Grimbert  eine  über  seine  andeutungen  hinausgehnde  bekannt- 
schaft  bei  seinen  hörern  voraus,  ebenso  ist  es  im  franz.  Plaid, 
nur  dass  der  fläm.  dichter  im  einzelnen  geändert,  auch  ausge- 
lassen und  hinzugefügt  hat,  dem  entsprechend   was    er  eben  bei 


REINAERT  335 

seinem  publicum  voraussetzen  durfte,  eine  selbständige  ausge- 
staltung  einzelner  erzählungen  durch  den  dichter  ist  dabei  nicht 
ausgeschlossen.  Arnold  redet  andeutungsweise  vom  galgentod 
der  brüder  Isengrims  (1918  ff),  eine  übereinstimmende  erzählung 
ist  uns  nicht  überliefert,  aber  ich  glaube,  dass  wir  unbedingt  eine 
solche  voraussetzen  müssen,  die  wol  mit  den  Vorstellungen  und 
anspielungen  im  wallfartsabenteuer  des  Ysengrimus  im  Zusammen- 
hang stand;  vgl.  auch  Voigt  Ecbasis  captivi  s.  36  f.  ebenso  ver- 
hält es  sich  mit  dem  hund  Eijn  (2678  ff),  der  auch  an  ganz 
anderen  orten,  merkwürdigerweise  auch  nur  in  für  uns  dunklen 
anspielungen,  erwähnt  wird;  s.  Martin  xxxvin,  Muller  Taal  en 
letteren  14,  490.  eine  grolse  rolle  spielt  der  hund  Rhyn  im 
Henninck  de  Haan  von  Renner  aus  den  30er  jähren  des  18  jhs. 
(hg.  von  Nie.  Meyer,  Bremen  1831).  was  hier  von  ihm  erzählt 
wird  ist  freie  erfindung  Renners,  lässt  jedoch  vermuten,  dass 
auch  damals  noch  den  lesern  von  Ryn  mehr  bekannt  war,  als  sie 
hätten  aus  dem  Reinke  entnehmen  können,  der  nicht  mehr  von 
ihm  sagt  als  auch  unser  Reinaert.  was  den  tod  von  Reinaerts 
eigenem  vater  am  galgen  betrifft,  so  könnte  man  ihn  für  eine 
freche  lüge  Reinaerts  ansehen,  wenn  nicht  die  anspielung  schon 
in  den  versen  2006  f  es  doch  wahrscheinlich  machte,  dass  auch 
hiervon  eine  erzählung  unter  dem  volk  umlief. 

Wenn  nun  Arnold  das  Plaid  bei  Reinaerts  erscheinen  am 
hof  oder  bei  seiner  Verurteilung  aufnahm,  dessen  letzte,  wenig 
geschickten  züge  fallen  liefs  und  ihm,  in  freierer  anlehnung  an 
franz.  fuchsgeschichten  oder  an  heimische  dichtungen,  wie  viel- 
leicht Karel  ende  Elegast  (Muller  Taal  en  letteren  14,  heft  11), 
aber  überwiegend  mit  eigener  ertindung,  und  zwar  auf  grund 
eines  in  ganz  unerhörter  weise  zielbewusten  Vorgehens  von  Rei- 
naert, eine  fortsetzung  gab,  die  in  streng  einheitlicher  compo- 
sition  die  geschehnisse  zu  ende  führt,  so  müssen  wir  annehmen, 
dass  es  ihm  dabei  auch,  und  zwar,  wie  ich  glaube,  ganz  haupt- 
sächlich um  den  abschluss  der  handlung  zu  tun  war,  um 
das  was  ihr  trotz  aller  glänzenden  ertindung  in  der  tat  bisher 
fehlte,  versuche  nach  dieser  richtung  sind  ja  von  früh  an  ge- 
macht worden,  aber  die  phantastische  Verwertung  einer  fremden 
geschichte  beim  Verfasser  des  Ysengrimus,  die  häufung  unmoti- 
vierter greuel  bei  Heinrich  dem  Glichezaere,  die  willkürlichen  und 
märchenhaften    ertindungen    franz.  brauchen    schufen   wol    einen 

22* 


336  FRANCK 

schluss,  aber  keinen  abschluss.  in  der  natur  des  Stoffes  lag  hier 
auch  wirklich  eine  besondere  Schwierigkeit,  leben  doch  Eeinaert 
und  Isengrim  und  die  andern,  von  denen  die  geschichten  erzählen, 
noch  Stets  und  noch  in  den  gleichen  verhälthissen  vor  den  äugen 
der  hörer!  mit  einer  leisen  und  fast  unmerklichen  tiction  rückt 
Arnold  die  zeit  der  geschichten  und  die  zeit  der  hürer  auseinan- 
der. Reinaert  zieht  sich  mit  seiner  familie  aus  der  alten  wohii- 
stätte  in  eine  abgelegenere  wildnis  zurück,  er  hat  ewige  fehde 
gegen  bär  und  wolf  zu  bestehn,  die  dafür  straflos  bleiben,  wie 
sie  straflos  auch  die  schafe  zerreiCsen  dürfen,  wo  sie  sie  treffen, 
die  zustände  wie  sie  vorher  waren,  unter  denen  der  fuchs  noch 
etwas  näher  an  den  menschlichen  wohuungen  zu  suchen  ist,  und 
die  gegenseitigen  Schädigungen  der  tierweit  untereinander,  so  sehr 
sie  an  der  tagesordnung  waren,  noch  keine  ausdrückliche  könig- 
liche bestätigung  erfahren  hatten,  klingen  durch  den  schluss  der 
ereignisse  aus  in  diejenigen  zustände,  wie  sie  zur  zeit  des  hörers 
bestehn.  die  prachtvolle  ertindung  von  der  betörung  des  blöden 
Belin  liegt  ganz  im  character  Reinaerts;  auch  ganz  im  geiste 
der  dichtung,  denn  Belin  empfängt  nur  seinen  lohn  dafür,  dass 
er  sich  mit  lügen  unverdiente  ehren  erschleichen  will,  aber  in 
ihrem  ganzen  wert  erscheint  sie  doch  erst,  wenn  wir  erkennen, 
dass  sie  eben  zu  dem  zwecke  des  abschlusses  gemacht  ist,  um 
mit  der  preisgäbe  des  geschlechtes  der  schafe  die  schwer  ge- 
kränkten barone  zu  versöhnen. 

Der  schluss,  wie  er  in  der  hs.  a  vorliegt,  gehört  also  not- 
wendig zu  der  genialen  ertindung  Arnolds,  wie  trefflich  stimmt 
es  auch  zu  dessen  sonstiger  auffassung,  w^euu  der  edle  könig,  der 
todfroh  ist,  aus  der  schweren  klemme  herauszukommen  und  seine 
barone,  ohne  dass  es  ihn  einen  pfenning  kostet,  zu  versöhnen 
doch  die  gelegenheit  benutzt,  um  doch  auch  noch  einen  persön- 
lichen vorteil  heraus  zu  schlagen  und  sich  vom  hären  und  wolf 
von  neuem  treue  schwören  zu  lassen!  der  lat.  Übersetzer  hat  den 
schluss  auch  so  verstanden  wie  ich  ihn  auffasse,  und  gar  nicht 
ungeschickt  den  gedanken  noch  weiter  ausgesponnen:  der  fried- 
lose Belijn  unterstellt  sich  gegen  jährlichen  abstand  seines  vlieses 
dem  schütz  der  hirten  und  hunde,  der  kater,  der  verängstet  auf 
dem  galgen  sitzen  geblieben  war,  kommt  gleichfalls  herbei  und 
erhält  die  wohnung  im  hause  des  menschen  mit  dem  recht  auf 
die  mause  angewiesen,     dann  erzählt  der  Übersetzer   noch,    wie 


I 


REINAERT  337 

der  köiiig  mit  den  seinen  vor  Malperlus  zieht,  natürlich  das  nest 
ausgeflogen  tindet,  Reinaert  für  vogelfrei  erklärt  und  die  biirg 
dem  erdboden  gleich  macht,  und  wie  der  hof  dann  auseinander- 
geht, das  ist  nur  eine  ausführung  des  beschlusses,  der  im  original 
342S  ff  erzählt  wird,  es  ist  nicht  im  mindesten  notwendig  an- 
zunehmen, oder  auch  nur  wahrscheinlich,  dass  der  Übersetzer  hier 
irgend  eine  andre  erzähluug  mit  einem  dem  seinen  ähnlichen 
schluss  im  äuge  gehabt  habe,  anderseits  entbehren  wir  nichts, 
wenn  diese  dinge  nicht  ausdrücklich  erzählt  werden,  wir  wissen 
ja,  dass  die  Urteilsvollstrecker  das  nest  ausgeflogen  finden,  und 
auch  die  mitteilung,  dass  das  leere  schloss  zerstört  wird,  durfte 
uns  Arnold  ruhig  vorenthalten,  in  der  bearbeitung  b  fehlt  der 
ganze  schluss,  weil  er  zu  der  fortsetzung  nicht  passte. 

Man  hat  aber  die  abweichung  von  /  und  b  von  a  benutzt, 
um  allerlei  zweifei  gegen  diesen  schluss  zu  erheben  und  sogar 
den  ganzen  teil  von  3397  an  als  unursprünglich  zu  verdächtigen, 
und  auch  Muller  (VI.  Academie  s.  44  ff)  hält  die  zweifei  noch  auf- 
recht, die  sogar  jetzt  eine  neue  nahrung  erhalten,  indem  in  hs.  / 
zwar  nicht  die  letzten  80,  aber  doch  die  letzten  46  verse  von 
a  fehlen,  ohne  dass  die  hs.  eine  lücke  andeutete,  das  kann  nur 
ein  zufälliges  zusammentreffen  sein;  jedesfalls  kann  es  die  hypo- 
thesen  in  keiner  weise  unterstützen,  denn  es  fehlt  nicht  das  was 
man  als  unecht  vermutet  hatte,  noch  wird  in  sonst  einer  weise 
das  was  hypothetisch  verlangt  war,  bestätigt,  verschiedene  ein- 
zelheiten  die  man  zur  Unterstützung  der  zweifei  geltend  gemacht 
hatte,  erledigen  sich  jetzt  durch  die  neue  hs.  und  die  textkritik. 
die  nicht  ganz  gewohnte  wortform  vanghen  wird  durch  f  bestätigt, 
wenn  man  eine  ernste  beschwerde  daiin  findet,  könnte  man,  auch 
gegen  beide  hss.,  den  reim  durch  vaen :  haen  ersetzen,  den  reim 
here  (mit  gedehntem  e) :  bere  3469  f  halt  ich  in  der  tat  nicht 
für  ursprünglich  (Tijdschr.  7,  7  ff),  aber  die  schlechte  hs.  a  kann 
sehr  leicht  wider  einen  fehler  haben,  und  nahe  genug  liegt  bare : 
mare  oder  noch  besser:  Brunn,  helet  mare  wie  615.  auf  keinen 
fall  könnte  /  den  richtigen  schluss  enthalten,  das  mit  v.  3430 
aufhört: 

ende  daerna  sullen  wi  alle  lopen 

na  Eeinaerde  ende  sulne  vanghen 

ende  sullen  sine  kele  hanghen. 
so  kurz  kann  Arnold  sein  gedieht  nicht  abgebrochen  haben,  und 


338  FRANCK,  REINAERT 

wenn  man  sich  sonst  schon  daran  stolsen  wollte,  dass  ganz  gegen 
ende  noch  eine  neue  persönlichkeit,  Fierapeel,  in  die  handlang 
eintrete,  so  würde  das  hier,  wo  nun  noch  viel  weniger  von 
Fierapeel  gesagt  ist,  noch  anstölsiger.  die  fehlenden  46  verse 
mögen  auf  der  letzten  seite  der  vorläge  von  /  oder  einer  früheren 
handschrift  gestanden  haben  und  unleserlich  geworden  oder  aus 
irgend  einem  andern  gründe  ausgelassen  worden  sein,  ich  meine, 
wir  sind  nicht  verpflichtet,  die  tatsache  zu  erklären,  dass  a  in 
der  tat  den  echten  schluss  enthält,  ergibt  sich  auch,  was  man 
gewöhnlich  übersehen  hat,  daraus,  dass  die  in  ihm  erzählten 
dinge  bereits  in  den  unverdächtigen  versen  3376  ff  angekün- 
digt sind. 

Die  neue  hs.  enthält  auch  die  froschfabel,  die  von  den 
verschiedensten  selten  mit  gröCserer  oder  geringerer  bestimmtheit 
als  ein  unechtes  und  störendes  einschiebsei  betrachtet  worden 
ist,  aber  durch  die  Überlieferung  einmütig  bezeugt  wird,  man 
behauptet,  ein  solches  dement  stimme  nicht  recht  zu  der  ge- 
schickten erzählungskunst  und  überlegenen  Ironie  des  dichters. 
man  vergesse  aber  nicht,  welche  rolle  die  fabel  im  Schulunter- 
richt, in  der  litteratur  und  vermutlich  auch  im  leben  spielte. 
mir  scheint  es  dem  erzheuchler  Reinaert  ganz  wol  anzustehen, 
wenn  er,  um  seinen  lügen  Überzeugungskraft  zu  verleihen,  sich 
mit  der  miene  des  richtigen  lehrmeisters  auch  dieses  mittels  be- 
dient, einerlei,  ob  die  fabel  logisch  so  besonders  passt  oder  nicht; 
für  seine  Zuhörerschaft  passt  sie  genügend,  einige  stilistische 
bedenken  erledigen  sich  wider  durch  die  neue  hs.  oder  bilden 
eine  frage  der  textkritik,  und  wenn  die  sonst  in  unserm  text 
nicht,  aber  anderorts  wol  bezeugte  anaphorische  tautologie  liet 
was  te  spade  2318f  übrig  bleibt  (s.  oben  s.  31 1),  so  wäre  es  mög- 
lich, dass  der  dichter  sich  an  eine  schon  bestehnde  nl.  fassung 
der  fabel  angeschlossen  hätte,  oder,  was  mir  noch  wahrscheinlicher 
vorkommt,  dass  er  hier  den  stil  irgend  eines  bestimmten,  ver- 
mutlich lehrhaften  gedichtes  parodiert,  man  muss  also  mindestens 
so  vorsichtig  sein  wie  Martin  und  Muller  Ojb.  s.  70  ff  (gegen 
Muller  VI.  acad.  s.  31),  und  der  herausgeber  hat  m.  a.  nach 
keinesfalls  das  recht,  diese  stelle  aus  dem  text  zu  beseitigen. 

Bonn.  J.  Franck. 


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ANTIKE  ELEMENTE  BEI  GOTTFRIED  VON 
STRASSBURG. 

Dem  Verhältnis  Cxottfrieds  von  Strafsburg  zum  classischen 
altertum  hatten  bereits  Heinzel,  Preufs  und  Bahnsch  ^  einzelne 
abschnitte  ihrer  Untersuchungen  gewidmet,  doch  erst  das  starke 
neue  licht,  das  die  Tristanforschungen  von  Bödier  und  Piquet^ 
über  Gottfried  und  seine  quelle  verbreitet  haben,  ermöglicht  es, 
würklich  scharf  zu  scheiden  zwischen  den  antiken  elementen  aus 
Gottfrieds  eigenbesitz  und  denen,  die  er  aus  seiner  französischen 
quelle  übernommen  hat.  ohne  diese  Scheidung  aber  ist  nichts 
für  die  erkenntnis  von  Gottfrieds  bildungskreis  zu  gewinnen. 

Einige  anspieluugen  auf  antike  sagen  in  Gottfrieds  Tristan 
und  Isolde  verraten  sich  ohne  weiteres  durch  die  mythologischen 
namen.  freilich  der  im  v.  16695  genannte  Corineus  (Verg.  Aen. 
IX  571)  entstammt  nicht  Gottfrieds  eigner  kenntnis;  als  epony- 
men  von  Cornwallis  hatte  ihn  vom  Anglonormannen  Wace  be- 
reits Thomas  übernommen,  und  auf  demselben  wege  sind  die 
merkwürdigen  angaben  über  Rom  und  römische  geschichte  v.  5987, 
5910,  18449  zu  Gottfried  gelangt 3;  mit  unrecht  also  flöfsen  sie 
Bahnsch  (s.  7)  mistrauen  gegen  Gottfrieds  geschichtliche  kennt- 
nisse  ein.  nach  Bediers  ansieht  (i  52  -)  gehört  auch  die  erwäh- 
nung  des  leiches  von  Thisbe  dem  gedieht  des  Thomas  an,  den 
Tristan  v.  3614  zusammen  mit  dem  leich  von  Gralant  an  Markes 
hofe  vorträgt,  dieser  leich  von  Gralant  und  ebenso  des  walli- 
sischen harfners  leich  von  Gurun  sind  von  Bedier  als  franzö- 
sische lais  nachgewiesen  und  waren  gewis  von  Thomas  genannt, 
indem  nun  Bedier  an  andere  bretonische  lais  mit  antiken  Stoffen 
erinnert,  zählt  er  auch  den  von  Thisbe  zu  diesen  und  fordert 
ihn  damit  für  Thomas,  dem  widerspricht  folgendes:  Tristan  hat 
nach  V.  3625  und  3689  aufser  bretonisch,  wallisisch,  französisch  auch 
lateinisch  in  den  vorgetragenen    liedern    gesungen,    und    diesen 

»  Heinzel,  Zs.  f.  österr.  gymn.  1868,  539  [=  Kl.  sehr.  s.  27] ;  Preufs, 
Stralsb.  Studien  I  (1881)  67.  Bahnsch  Tristanstudien,  progr.  Danzig 
1885.  -  Sedier  Le  roman   de  Tristan   par   Thomas,     i,  ii.  Paris  1902, 

1905,     Piquet  L'originalite  de  Gottfried  de  Strasbourg.  Lille    (Travaux  et 
m^moires  de  l'univ.)  1905.  ^  Bedier  i  236  *  u.  i  76'. 


340  HOFFA 

lateinischen  Vortrag  wird  man  naturgemäfs  auf  den  Stoff  von 
Pyramus  und  Thisbe  beziehen;  damit  fällt  der  zwang-,  ihn  der 
französischen  vorläge  zuzuweisen;  auch  der  ausdruck  de  la 
curtoise  Thispe  beweist  nichts,  da  G.  solche  französische  Wen- 
dungen oft  eigenmächtig  erfindet,  weiterhin  nun  nennt  Tristan 
V.  3Ü77  als  seine  lehrer  nur  einen  für  wallisisch  und  einen  für 
bretonisch,  vom  lateinlehrer  ist  da  auffallenderweise  keine  rede, 
dadurch  wird  die  möglichkeit,  dass  die  lateinische  sangeskunst 
erst  von  G.  hineingetragen  und  zwar  an  zwei  stellen  berück- 
sichtigt, an  einer  dritten  aber  vergessen  wurde,  näher  gerückt; 
sie  wird  zur  Wahrscheinlichkeit  erhoben  durch  die  tatsache,  dass 
G.  in  der  aufzählung  der  musikalischen  vortrage  von  Thomas  ab- 
gewichen ist:  statt  der  drei  lieder,  welche  die  an.  saga  für  Thomas 
bezeugt,  hat  G.  nur  zwei,  das  von  Gralant  also  hat  er  beibehalten, 
die  beiden  andren  hat  er  durch  den  einen  leich  von  Thisbe 
ersetzt. 

Im  V.  13351  fordert  Gandin  Tristan  auf,  mit  dem  leich  von 
Didöne  die  traurige  Isolde  zu  trösten,  in  der  saga  cap.  50 
wird  der  namen  Didos  nicht  erwähnt,  und  die  aufforderung  lautet 
dort  allgemeiner:  vinr,  kvadf  kann,  gör  nie'r  nü  aära  skemfan 
at  hugga  meSf  Isond,  frü  mina,  svä  pü  komir  af  henni  harmi 
simmi.  hat  nun  Robert,  der  Verfasser  der  saga,  den  namen 
Dido  zwar  bei  Thomas  vorgefunden,  ihn  aber  unterdrückt,  weil 
er  ihm  oder  seinen  lesern  unbekannt  war?  nein,  denn  er  nennt 
Dido  cap.  4.  erst  Gottfried  hat  also  die  f orderung  eines  be- 
liebigen trostliedes,  die  an  sich  dem  sachlichen  Zusammenhang 
genügte,  in  die  angäbe  eines  bestimmten  themas  verwandelt, 
noch  einmal  erscheint  Dido  in  Gottfrieds  gedieht  im  v.  17193 
zusammen  mit  Phyllis,  Canace,  Byblis ;  es  sind  die  heldinnen  der 
liebeslieder,  aus  denen  Tristan  und  Isolde  in  der  einsamkeit  der 
minnegrotte  ihre  herzen  mit  schmerzlich-seliger  liebesstimmung 
erfüllen,  wie  in  v.  13351  wird  auch  hier  nicht  das  stoffliche 
der  Didosage,  sondern  ein  lied  von  Dido  erwähnt,  das  mit  seinem 
erotisch-elegischen  Inhalt  das  gefühl  der  liebe  im  hörer  wecken 
soll,  diese  gleichartige  Verwendung  des  motivs  spricht  für  ^inen 
Verfasser,  und  dass  wir  in  diesem  bei  der  behaudlung  des  v.  13351 
mit  recht  Gottfried  erblickt  haben,  findet  von  andrer  seite  lier 
eine  bestätigung:  in  einem  excurs  v.  12187 — 12438,  den  Piquet 
s.  232  überzeugend  als  gottfriedischen  zusatz  nachweist,  spricht 


ANTIKE  ELEMENTE  BEI  GOTTFRIED  341 

G.  V.   12326  ff  von  der  liebewerbenden  kraft,   die    den  historien 
von  wahrhafter  liebe  innewohnt 

swaz  ivir  mit  rede  vür  bringen 
von  den  die  wilent  wären 
vor  manegen  hundert  jären, 
daz  tuot  uns  in  dem  herzen  ol.w 
gerade  die   tragischen  liebesgeschichten  haben   diese    starke  see- 
lische würkung,  und  so  will  G.  sein   ganzes   gedieht   verstanden 
haben,  denn 

der  edele  senedcere 
der  minnet  senediu  nicere  (v.  121). 
ob  aber  G.  die  sagen  von  Thisbe.  Dido,  Phyllis,  Byblis,  Canace 
aus  Ovid  selbst  kannte,  wage  ich  bei  der  grofsen  Verbreitung 
dieser  Stoffe  im  mittelalter  nicht  zu  entscheiden ;  und  dass  Blickers 
Umbehang  als  vermittelnde  dichtung  in  betracht  kommt,  wie 
Bahnsch  will,  lässt  sich  so  wenig  beweisen  wie  widerlegen. 

Eine  fülle  mythologischer  namen    tritt  von  v.  4729  an  auf 
in  dem  berühmten    abschnitt   über    die    deutschen    dichter,    hier 
braucht  Gottfrieds  Selbständigkeit  nicht  erst  bewiesen  zu  werden, 
das  urteil  über  Heinrich  von  Veldeke  lautet  v.  4728. 
ich  wcene,  er  sine  tvisheit 
üz  Fegases  urspringe  nam, 
von  dem  diu  wisheit  elliu  kam. 
G.  will  Veldekes   dichtkunst  durch  die  wunderbare  herkunft  auf 
eine  besonders  hohe  stufe  stellen,  eine  innere  beziehung  zwischen 
Pegasus    und   dem   antiken   stoff    der    Eneide  (Zs.  39,  308)  soll 
man  darin  nicht  erblicken,    sonst  müste    man   auch  für  v.  4788 
nach  einer  beziehung  zwischen  Orpheus   und  Reimar  von  Hage- 
nau  suchen.     Ovid   hat   Met.   v  262  die    entstehuug    der  Hippo- 
krene  durch  den  hufschlag  des  Pegasus  erzählt;    dass  G.  grade 
diese  stelle  vor  äugen  gehabt  hat,  lässt  sich  höchstens  vermuten, 
aber  es  wäre  eine   trügerische   stütze   dieser   Vermutung,   wollte 
man  aus  demselben  Metamorphosenbuch  (5,  254)  die  gottfriedische 
Schilderung  des  Helicon  (v.  4860)  herleiten: 
nivie  flehe  und  mine  bete 
die  teil  ich  erste  senden 
mit  herzen  und  mit  henden 
hin  ivider  ze  Elicöne 
ze  dem  niunvalten  tröne, 


342  HOFFA 

von  dem  die  hrunnen  diezenf, 

nz  den  die  gäbe  fliezent 

der  Worte  und  onch  der  sinne. 
bei  Ovid  ist  weder  an  dieser  noch  an  irgend  einer  stelle  von 
den  vielen  bächen  die  rede,  die  dem  Helicon  entströmen.  G. 
aber  hat  nicht  etwa  in  selbständiger  ausschraücknng'  die  eine 
Hippokrene  des  Ovid  vervielfältigt,  denn  auch  die  Vorstellung 
der  zahlreichen  quellen  ist  antik ;  im  ausgeführten  bilde  gibt  sie 
Statius  Silv,  ii  1,  36,  für  G.  lag  noch  näher  die  Serviuserklärung 
zu  Verg.  Ecl.  6,  64  Helicon  mons  est  Boeotiae,  quae  et  Aonia  dicitur; 
de  hoc  plurima  cadunt  flwnina,  inter  quae  etiam  Permessm. 
wer  im  mittelalter  Vergil  las,  las  ihn  mit  dem  commentar  des 
Servius,  der  in  vielen  handschriften  verbreitet  war,  und  auf 
Gottfrieds  Vergilkenntnis  grade  führt  der  ganze  Zusammenhang 
der  beiden  zuletzt  behandelten  stellen:  G.  ist  sich  bei  der  dar- 
stellung  fremder  dichtergröfse  der  eignen  Schwachheit  recht  be- 
wust  geworden  (v.  4831),  schon  will  er  verzagen,  da  greift  er 
zum  letzten  unversuchten  mittel;  zum  Helicon,  zu  den  musen 
und  ihrem  führer  Apollo  ^  richtet  er  sein  gebet  um  erleuchtung. 
genau  so  hatte  Vergil  die  musen  angerufen,  ihm  den  Helicon 
zu  eröffnen,  wenn  er  in  der  darstellung  auf  eine  Schwierigkeit 
stiefs,  die  nur  mit  besonderer  dichterischer  kraft  überwunden 
werden  konnte,  zwei  mal  in  der  Aeneis  (vn  641  und  x  163) 
findet  sich  das  gebet  pandite  nunc  Helicona  deae  cantusque  mo- 
vete,  öfters  die  allgemeine  bitte  an  die  musen  um  belehrung  und 
beistand  in  den  nöten  der  kunst.  Gottfried  aber  hat  aus  der 
fast  traditionellen  epischen  formel  Vergils  heraus  in  kraftvollen 
färben  vor  seinem  leser  das  bild  des  musenberges  entwickelt, 
dagegen  treten  die  kleineren  mythologischen  Schnitzer,  die  Bahnsch 
zu  der  ansieht  gebracht  hatten,  die  antike  weit  sei  in  G.  über- 
haupt nicht  lebendig  geworden,  doch  zurück ;  so  die  gleichsetzung 
der  musen  mit  den  Sirenen  im  v.  4869 

Apollo  und  die  Camenen 
der  ören  niun  Sirenen. 
hier  mag  immerhin  eine  erinnerung  an  die  antike  tradition  der 

'  es  verdient  beachtung,  dass  Apollo  hier  der  echt  antike  musagetes 
ist,  nicht  der  Sarazenengötze,  zu  dem  ihn  und  Jupiter  das  mittelalter  oft 
gestempelt  hatte;  vgl.  Bartsch  Albrecht  v.  |Halberstadt,  einl.  s.  xlvi  und 
Cholevius  Gesch.  d.  d.  poesie  nach  ihren  nntiken  dementen  i   184. 


ANTIKE  ELEMENTE  BEI  GOTTFRIED  343 

abstammung  der  Sirenen  von  einer  der  neun  musen,  wie  sie 
Serv.  zu  Aen.  v  864  Sirenes  .  .  Acheloi  flmninü  et  Calliopes 
Musae  f'iliae  bietet,  die  an  sich  schon  vorhandene  ähnliclikeit 
zwischen  den  wunderbar  singenden  musen  und  den  wunderbar 
singenden  sirenen  für  G.  noch  gesteigert  haben '.  eine  leise 
mittelalterliche  änderung  wird  an  der  gestalt  des  Sängers  Orpheus 
vorgenommen,  v.  4788 

ich  u'cene  Orphees  zunge, 
diu  alle  dcene  künde, 
diu  dcenete  üz  ir  munde. 

die  alten  betonen  stets  die  gewaltige  würkung,  die  Orpheus 
gesang  auf  natur  und  menschen  ausübt,  den  mittelalterlichen 
dichter  interessiert  die  Vielseitigkeit  des  könnens;  auch  von 
Tristan  wird  es  gerühmt  (v.  3624),  dass  er  alle  dcene  beherrscht. 
Kassandra  tritt  v.  4  930,  4948,  4970  im  verein  mit  Vulcan  auf 
und  wird  als  meisterin  der  webekunst  genannt,  Vulcan  den 
Waffenschmied  hat  G.  aus  der  Eneide  Veldekes,  auf  dessen  schilde- 
rungssucht  er  ironisch  anspielt,  die  frage,  wie  aus  der  Seherin 
Kassandra  die  Weberin  geworden  ist,  müsten  wir  hier  auf- 
werfen, wenn  es  sich  dabei  um  einen  Irrtum  oder  eine  änderung 
Gottfrieds  handelte;  aber  diese  Umgestaltung  war  durch  eine 
allgemeine  mittelalterliche  Überlieferung,  die  ESchröder  Zs.  4  3,  257 
bis  auf  den  frz.  Aeneasroman  verfolgt  hat,  für  G.  etwas  ge- 
gebenes,    in  den  versen  4805 — 8 

ich  meine  abr  in  dem  döne 
da  her  von  Zitheröne, 
da  diu  gotinne  Minne 
gehiutet  üf  und  inne 

sind  sichtlich  der  musenberg  Kithaeron  und  Kythere  die  insel 
der  Aphrodite  verwechselt  (Bahnsch  s.  6).  möglicherweise  durch 
Gottfrieds  eigene  schuld,  denn  belegt  ist  diese  Verwechslung 
aulser  dieser  stelle  bisher  noch  nicht,  aber  der  fall  der  weberin 
Kassandra  rät  zur  vorsieht  in  der  Verwendung  eines  solchen  argu- 
mentum ex  silentio;  auch  sie  wurde,  bis  Schröder  sie  im  Aeneas- 
roman  fand,    für   Gottfrieds    eigentum    ausgegeben,     wir    lassen 

*  von  der  Vereinigung  der  sirenen  und  musen,  die  im  gelehrten  ge- 
spräch  bei  Plutarch  Quaest.  conviv.  ix  14,  5  behandelt  wird,  führen  keine 
fäden  zu  Gottfried. 


344  HOFFA 

daher  auch  hier  die  müglichkeit  offen,  dass  das  zusammenwerfen 
von  Kythere  und  Kithaeron  älter  und  allgemeiner  war. 

Der  ganze  abschnitt  von  der  schwertleite  und  der  damit 
verbundenen  dichterbesprechung  ist  in  gehobenem  stile  gehalten 
und  wird  durch  eine  fülle  poetischer  bilder  charakterisiert;  erst 
gegen  ende,  von  v.  4906  an.  bricht  die  sclialkhafte  Stimmung 
der  gegen  Veldeke  gerichteten  Ironie  durch',  in  diesem  ab- 
schnitte des  gesteigerten  tones  nun  linden  sich  bei  weitem  die 
meisten  antik-mythologischen  anspielungen  des  ganzen  gedichtes; 
wir  können  daher  an  dieser  ihrer  Verwendung,  mögen  sie  nun 
aus  der  antiken  quelle  oder  aus  der  mittelalterlichen  Wasserleitung 
geschöpft  sein,  die  w^ertschätzung  des  classischen  altertums  durch 
Gottfried  ermessen:  die  gestalten  der  antike  leben  in  seinem 
geiste,  um  ihm  dann  ihre  dienste  zu  leihen,  wenn  es  gilt,  über 
das  alltägliche  hinaus  in  höherem  schwunge  die  darstellung  zu 
führen. 

Nur  wenige  mythologische  anspielungen  aus  andern  teilen 
des  gedichts  sind  noch  übrig,  v.  8091  und  8115  lässt  G.  die 
Sirenen  mit  ihrem  sänge  auf  dem  ag  est  eine  die  schiffer  zum 
scheitern  bringen,  vielleicht  kannte  er  wider  aus  Serv.  zu  Verg. 
Aen.  V  864  (vgl.  s.  342)  die  felseninseln,  an  denen  vom  Sirenen- 
gesang bezaubert  die  schiffer  strandeten;  sie  wurden  ihm  unter 
dem  einfluss  des  orientalischen  märchens  zum  magnetstein,  als 
originales  erzeugnis  Gottfrieds  werden  die  verse  8080 — 8135 
durch  die  von  Piquet  s.  179  vorgebrachten  gründe  sowie  durch 
das  mehrfache  reden  in  erster  person  (8089,  S094)  erwiesen, 
und  auch  hier  ist  es  ein  stück  gehobenen  Stiles,  die  Schilderung 
von  Isoldens  herrlicher  sangeskunst,  in  das  der  dichter  den  ver- 
gleich aus  der  antiken  mythologie  einfliefsen  lässt.  wenn 
bald  danach  Tristan  (v.  8256)  die  Schönheit  Isoldens  preist,  so 
hören  wir  die  namen  Aurora,  Tyndaride^,  Mykene,  Griechenland 

'  Schröder  Zwei  altdeutsche  rittermären,  einl.  s.  xv. 

2  die  auffallende  Form  Tyndaiides  (8271),  das  männliche  patrony- 
mikon  statt  der  im  lat.  allein  möglichen  form  Tyndaris  nimmt  eine  Sonder- 
stellung ein;  die  Verwechslung  begieug  G.  wol,  weil  er  die  obliquen  casus 
aus  Vergil  und  Ovid  im  ohr  hatte,  aber  sonst  meidet  er  überhaupt  latei- 
nisch anmutende  formen  in  den  eigennamen  j  oft  sind  die  deutschen  decli- 
nationsendungen  durch  den  reim  gesichert  (zb.  3615.  4806.  4863.  4895. 
4930.  13351).  dies  verfahren  ist  für  mhd.  dichter  keineswegs  gesetz  (s. 
Kinzel,  Festschr.  f.  Zacher  [Halle  1880]  s.  66)  und   zeigt  daher  Gottfrieds 


ANTIKE  ELEMENTE  BEI  GOTTFRIED  345 

abermals  im  schwung  der  lobrede  erschallen,  wol  enthielt  auch 
Thomas  gedieht  diese  lobrede,  aber  einstimmig  weisen  Bddier  i 
104'  und  Piquet  s.  181  auf  grund  der  stilistischen  eigentüm- 
lichkeiten  die  ausschmückung  im  einzelnen  Gottfried  zu.  als 
vorläge  hat  bereits  Bahnsch  (s.  6)  Verg.  Aen.  ir  589 ff  erkannt, 
eine  unmittelbare  benutzung  Vergils  durdi  Gottfried  anzunehmen, 
ist  nach  dem  oben  gezeigten  durchaus  ohne  Schwierigkeit;  natür- 
lich hat  er  sich  nicht  um  des  Vergleiches  mit  Helena  willen  in 
ein  genaueres  Studium  der  Aeneis  eingelassen,  vielmehr  war  ihm 
aus  einer  früheren  lectüre  das  Selbstgespräch  des  Aeneas  im  ge- 
dächtnis',  und  die  gedächtnismäfsige  widergabeliefs  die  Verwechslung 
der  Aurora  mit  Leda  unterlaufen  ^. 

Auch  wo  der  hinweis  durch  antike  namen  fehlt,  vermögen 
wir  bisweilen  zu  zeigen,  dass  G.  aus  lateinischen  dichtem  poetische 
motive,  bilder  und  gedanken,  entnommen  hat.  die  verse  Ovids 
Remed.  am.  441  ff  hat  Heinzel  s.  539  widererkannt  in  Gottfrieds 
werten  v.  19436 — 51.  hier  ist  einmal  würklich  das  entsprechende 
stück  aus  Thomas  in  dem  fragment  Sne3^d  erhalten,  v.  235ff  B6d. 

Zwar  erzählt  auch  Thomas  den  plan  Tristans,  sich  durch 
eine  neue  liebe  vom  kummer  der  ersten  zu  befreien  und  zu 
heilen,  aber  die  erläuternden  gleichnisse  vom  zerteilten  fluss  und 
vom  zerteilten  feuer  gehören  G.  allein,  und  sie  stimmen  wörtlich 
zu  den  beiden  ersten  beispielen  Ovids: 

grandia  per  muUos  tenuantur  fltimina  rivos 
magnaque  diducto  stipite  flamnia  perit. 
in  G.    tauchte   also,    als   er   in   den  versen  des  Thomas  den  ge- 
danken   von    der    heilenden    kraft    der    zweiten    liebe    las,    die 
erinnerung    an  Ovids  Remedia.  amoris   auf,    wo   er  den  gleichen 
gedanken   einst   gelesen    hatte;    eine  zweite  gedankenverbindung 

absichtj  den  einheitlichen  stil  seines  deutschen  gedichtes  nicht  durch 
formen  wie  Pegasi  oder  Vulcanus  zu  stören,  wodurch  das  hypothetische 
akrostichon  in  latinisierter  form  GODE(FR>IDUS  (vKraus  Zs.  ,50,  221) 
etwas  an  Wahrscheinlichkeit  einbiifst. 

'  der  monolog  war  berühmt,  er  bildete  schon  den  scholiasten  (Serv, 
zu  II  56G)  wegen  der  fraglichen  echtheit  ein  problem  und  wurde  in  der 
mittelalterlichen  Vergilerklärung  gewiss  ebenso  oft  behandelt  wie  in  der 
modernen. 

-  Bahnsch  irrt  in  der  angäbe,  Leda  werde  zur  tochter,  Helena  zur 
enkelin  der  Aurora  gemacht,  tohter  unde  ir  kint  ist  in  der  form  des 
iv  8iA  SvoTv  gesagt,  die  G.  liebt;  vgl.  Kottenkamp  Germ.  26,  399. 


346  HOFFA 

trat  helfend  hinzu:  wenige  verse  später,  Remed.  475,  tröstet  sich 
Agamemnon  mit  dem  besitz  der  Briseis,  die  den  platz  der  ihm 
genommenen  Chryseis  einnehmen  soll: 

est,  alt  Atrides,  illius  proxima  forma 

et,  si  prima  sinat  syllaba,  nomen  idem. 
also  wie  bei  Thomas  v.  249.  50**  gibt  auch  bei  Ovid  die  namens- 
ähnlichkeit  der  neuen  geliebten  einen  trostgrund  ab,  den  alten 
schmerz  zu  verwinden ;  auch  diese  Übereinstimmung  wies  G.  bei 
der  lectüre  des  Thomas  auf  Ovids  Remedia  hin.  von  dort  holte 
er  sich  seine  beiden  gleichnisse,  aber  was  in  der  rhetorisch  zu- 
gespitzten und  kunstvoll  gearbeiteten  spräche  Ovids  6m  distichon 
füllt,  nimmt  im  breit  und  behaglich  flieisenden  stil  des  mhd. 
reimpaares  12  zeilen  ein.  G.  liefs  in  feinsinniger  bewertung 
dieses  stilunterschiedes  die  beiden  folgenden  gleichnisse  Ovids 
(447.   48) 

non  satis  una  tenet  ceratas  ancora  pup2)es, 
nee  satis  est  liquidis  unicus  hamus  aquis 
in  der  widergabe  fallen,  das  erste  wol  auch  deshalb,  weil  er  das 
bild  vom  ankerlosen  schiff  schon  einmal  v.  8090  ausgeführt 
hatte,  durch  die  einsetzung  des  Rheins-  statt  des  allgemeinen 
'grofsen  flusses'  gewinnt  Gottfrieds  gleichnis  vor  dem  des  Ovid 
an  frische  und  lebendiger  kraft. 

Die  rede  von  minnen,  durch  die  v.  12187  — 12361  die  er- 
zählung  vom  liebesieben  Tristans  und  Isoldens  auf  der  fahrt 
unterbrochen  wird,  fehlte  wahrscheinlich  im  gedieht  des  Thomas, 
da  die  saga  und  Sir  Tristrem  keine  spuren  von  ihr  zeigen; 
jedenfalls  gehört  ihre  persönliche  und  lebhafte  ausführung  Gott- 
fried (vgl.  Piquet  s.  232);  in  v.  12236 ff  spricht  dieser  von  der 
liebe  unter  dem  bilde  von  saat  und  ernte: 

wir  miiezen  daz  her  icider  lesen, 

daz  da  vor  gewerket  wirt, 

und  nemen  daz  uns  der  säme  birt. 

wir  miiezen  smden  zinde  mcen 

daz  selbe  daz  tvir  dar  gescen. 
hiermit    möchte    ich    die    verse   Ovids   Ars   amat.  n    319  ff  ver- 
gleichen 

'  der  gedanke  ist  nicht  eigentuui  des  Thomas,  sondern  gehört  auf 
grund  von  Eilhart  5690  (vgl.  Piquet  s.  310*)  schon  dem  Urtristan  an. 


ANTIKE  ELEMENTE  BEI  GOTTFRIED  347 

,  .  sed  si  male  firma  cuhabit 

et  Vitium  caeli  senserit  aegra  sui, 
tunc  amor  et  pietas  tua  sit  manifesta  puellae; 
tum  sere,  quod  plena  postmodo  falce  metas. 
den  Zufall  für  diese  Übereinstimmung  verantwortlich  zu  machen, 
geht  nicht  an ;  denn  noch  eine  andere  stelle  Gottfrieds  aus  dem- 
selben Zusammenhang  stimmt  zusammen  mit  einer  Ovids  aus  un- 
mittelbarer   nachbarschaft    der  genannten   verse.     beide  dichter 
klagen  über  den  niedergang  der  zeiten  und  die  feilheit  der  liebe 
in  ähnlichen  Worten: 

Gottfr.  V.  12304  minne,  aller  herzen  künigin, 
diu  frie,  diu  eine 
diu  ist  umbe  kouf  gemeine 
und  Ovid  Ars  amat.  n  277 

aurea  sunt  vere  nunc  saecula,  plurima  auro 
venit  lionos;  auro  conciliatur  amor. 
in  einem  längeren,  ihm  eigenen  lehrhaften  excurs  über  die  liebe 
sagt  G.  V.  17 983 ff 

swä  so  daz  wlp  ir  wtpheit 
unde  ir  herze  von  ir  leit 
17985  und  herzet  sich  mit  manne, 
da  honeget  diu  tanne, 
da  balsemet  der  scherlinc; 
der  nezzelen  ursprinc 
der  röset  oh  der  erden. 
der  gedanke  lag  so  in  der  form  des  ddvvarov  geprägt  in  einem 
lateinischen    Sprichwort    MSD^    xxvn    2,90   ==  Floril.    Gotting. 
3 1   vor: 

Immutando  locum  non  mutant  poma  saporem 
Non  mutare  valet  innatuni  femina  morem. 
die  einzelausdrücke  lieferten  Vergil  und  Ovid:  zu  v.  17986  Verg. 
ecl.  4,  30  (=  Horaz  Epod.    16,  47) 

et  durae  quercus  sudabunt  roscida  mella^ 
zu    17988.  89    Ovid    Remed.    46     et     urticae    proxima    saepe 
rosa  est. 

Anklänge    an    lateinische    Sprichwörter,    auf   die   das  letzte 

1  bekanntlich  die  lieblingsecloge  des  mittelalters,  vgl.  E.Schröder 
Zs.  43,  371  und  ThCreizenacb,  Aeneis,  iv.  Ecloge  und  Pbarsalia  im  ma, 
progr.  Frankf,  1864. 


348  HOFFA 

beispiel  bereits  hinwies,  sind  in  Gottfrieds  gedieht  sehr  zahlreich, 
doch  da,  wo  als  seine  muster  lateinische  verse  solcher  mittel- 
alterlichen sprichwörtersammluugen  wie  MSD'  xxvn  2  erscheinen, 
ist  es  nicht  auszumachen,  ob  er  die  Sprichwörter  in  der  uns 
überlieferten  lateinischen  form  durch  den  Unterricht  kannte,  oder 
ob  sie  seinem  munde  aus  der  eignen  spräche  zugewachsen  waren; 
dies  gilt  für  die  von  Preufs  s.  67  behandelten  verse 

Gottfr.  5460  =  MSD3  xxvn  2,   139 
10430=       „  „         „    237; 

hierzu  gesellt  sich  noch  der  zweifei  an  Gottfrieds  Selbständig- 
keit für  V.  16477  =^MSD  xxvn  2,  81  u.  82,  da  bereits  Thomas 
geschildert  hatte,  wie  allmählich  der  argwöhn  in  Marke  erwacht, 
und  daher  die  veranlassung  zum  argwöhn  in  der  form  des  lat. 
Sprichwortes  ausdrücken  konnte: 

illic  est  oculus,  qua  res  sunt  quas  adamamus, 
est  ibi  nostra  manus  qua  nos  in  parte  dolemus. 
hinzuzufügen    ist  dagegen,    aus   dem   gleichen  Gottfried  eigenen 
excurs    wie    die  oben  behandelten  verse   17983  ff  stammend,    die 
ausspinnung  des  lat,  Sprichwortes  MSD  xxvn  2,  65  femina  raro 
bona,  sed  quae  bona  digna  Corona  in  den  versen  17975 — 82. 

Mit  gröl  serer  Sicherheit  lässt  sich  von  lateinischem 
sprichwörtergut  bei  Gottfried  da  reden,  wo  verse  des  Publilius 
Syrus  in  deutschem  gewande  in  seinem  gedieht  erscheinen,  über 
die  Zusammenstellungen  von  Preufs  i  hinaus  habe  ich  für 
Publilius  sicheres  nicht  ermitteln  können;  zu  v.  13899 ff  möcht 
ich  folgendes  bemerken:  G.  soll  nach  Preufs  (s.  70)  und  Piquet 
(s.  251)  in  den  worten 

wan  an  den  frouwen  allen 

enist  nie  mere  galten, 

als  man  üz  ir  munde  giht, 

noch  enhahent  dekeiner  trüge  niht 

noch  aller  valsche  dekeinen, 

toan  daz  si  kunnen  tveinen 

äne  meine  unde  äne  muot, 

als  ofte  so  si  dunket  guot 

1  sie  betreffen  die  sprüche  Gottfrieds  und  aus  dem  Tristan  die  verse 
8409  (=  PS.  315),  17895  (==  PS.  53,  also  eine  lesefrucht,  sodass  Kotten- 
kamp  Germ.  26,  400  falsch  interpretiert),  17921  (=  PS.  18),  18047  (=  PS. 
3401  und  13043  (  =  PS.  37,  der  in  Wahrheit  ein  Terenzvers  ist,  s.  u.). 


ANTIKE  ELEMENTE  BEI  GOTTFRIED  349 

den  vers  des  Publilius  130  M(eyer)  benutzt  haben  didicere  flere 
feminae  in  mendaciioii.  aber  G.  ist  in  der  ganzen  Umgebung 
dieser  verse  ein  getreuer  Übersetzer  seiner  vorläge,  und  bereits 
diese  vorläge  enthielt  Sprichwörter,  so  wird  grade  in  nächster 
nähe  unsrer  stelle  das  Sprichwort  v.  13991 

7nan  sprichet  von  den  frouwen,  daz 
si  tragen  ir  manne  friunden  haz 
durch  seine  genaue  Übereinstimmung  mit  saga  cap.  53  '  als  eigen- 
tum    des    Thomas    erwiesen;    dieser    gibt    in    den    betreffenden 
Versen  ein  lateinisches  Sprichwort  wider,  Disticha  Catonis  i  8 
nil  temere  nxori  de  servis  crede  querenti, 
semper  enim  muUer,  quem  coniunx  dilü/it,  odit.'^ 
und  so  hat    Thomas   auch   ein    anrecht    auf    das    wort    von  den 
trügerischen  weiberträlmen  in  v.  13899  ff,   um  so  mehr,  da  eine 
viel  mehr  ins   einzelne   gelinde   lateinische    entsprechung  als  bei 
Publilius  sich  widerum  in  den  Disticha  Catonis  findet,  die  bereits 
eben  als  Thomas  quelle  erschienen,  aber  sich  nie  in  einem  sicher 
originalen  stücke  Gottfrieds  nachweisen  lassen;   dist.  Cat.  iii  20 
lautet: 

coniugis  iratae  noli  tu  verba  timere, 
nam  lacrimis  struit  insidias,  cum  feniina  plorat. 
völlig  und  ohne  weiteres  freilich  erscheint  der  Zusammenhang 
mit  G.  nicht;  aber  galle  (v.  13900)  passt  gut  zu  irata,  die  zweite 
zeile  des  distichons  passt  zu  13902 — 6.  v.  13901  findet  sich 
im  distichon  nicht,  und  bei  genauerem  zusehen  ist  der  gedanke 
'der  frauen  zorn  ist  erloschen,  sobald  man  ihnen  nach  dem  munde 
redet'  im  gottfriedischen  Zusammenhang  unberechtigt  und  störend, 
vielleicht  hat  G.  ungenau  übersetzt  und  bei  Thomas  folgten  die 
gedanken  so  auf  einander:  Isolde  weinte  so,  dass  Marke  ihre 
trähnen  für  echt  hielt;  sie  versuchte  ihre  absieht  nicht  durch 
zorn  zu  erreichen,  denn  wirksamer    als   frauenzorn  sind  frauen- 

'  ßri  at  pat  er  opinberliga  ordkvcedi,  at  fertigt  kann  cerda  lun- 
derni  kvenna,  at  konur  unna  ekki  frwndtim  boenda  sinna  eda  cilja 
hafa  ßa  ncer  rcedu  sinni  eda  verkum  ncetr  sem  daga. 

2  so  lautet  der  vers  in  den  meisten  hss,  so  wurde  er  also  im  raittel- 
alter  am  meisten  gelesen,  so  passt  er  auch  am  besten  zu  Gottfr.  13991, 
und  in  dieser  fassung  steht  er  in  einer  der  mhd.  Übersetzungen :  Zarneke, 
Deutscher  Cato  s.  35,  v.  141 — 4.  Nemethy  in  der  ausg.  des  Cato  (Buda- 
pest 1895)  schreibt  im  anschluss  an  den  Veronensis  coniunw-  sercum  quem 
dUiijit  odit. 

Z.  F.  D.  A.  Lir.  N.  F.     XL.  23 


350     HOFFA,  ANTIKE  ELEMENTE  BEI  GOTTFRIED 

trähnen,  die  sie  jederzeit  zur  Verfügung  haben,    so  schliefst  sich 
Thomas  eng  an  Cato  an. 

In  den  versen  13043—49  hat  Preufs  s.  71  Publ.  Syr.  37 
amantium  irae  amoris  integratio  est  erkannt;  in  der  tat  ist  das 
ein  vers  des  Terenz  (Andria  555),  den  G.  natürlich  nur  als  Sen- 
tenz, herausgebrochen  aus  seinem  ursprünglichen  zusammenhange, 
kannte,  genau  so  möchte  ich  Gottfrieds  worte  i  v.  9890  be- 
urteilen: 

der  iucli  da   )ril,  desn  ivelt  ir  nilü. 
es  ist  das  antitheton  des  Terenz  über  die  frauen  Eun.  812 

nolunt  tibi  velis,  tibi  nolis  cupiunt  idtro. 
die  existenz  als  spruchvers,  die  für  Andr.  555  durch  den  über- 
tritt in  die  Publiliussammlung  erwiesen  ist,  können  wir  mit 
fug  und  recht  von  dort  auf  Eun.  812  übertragen;  eine  allge- 
meine bestätigung  bieten  würklich  vorhandene  Sammlungen  excer- 
pierter  Terenzverse,  wie  sie  beispielsweise  cod.  lat.  Monac.  17210 
s.  xni  zusammen  mit  Publiliussprüchen  und  Sentenzen  aus  Sal- 
lust  und  Cicero  enthält-. 

Die  ausgiebige  benutzung  der  lateinischen  spruchverse  be- 
weist, dass  G.  auf  einer  gelehrten  schule  lätein  gelernt  hatte, 
und  man  mag  mit  Bedier  (i  31)  eine  etwas  unbehagliche  er- 
innerung  an  den  zwang  dieser  Schuljahre  in  der  Schilderung  von 
Tristans  ersten  Studien  (v.  2066  ff)  erblicken;  auch  die  theolo- 
gische quisquilienfrage,  welche  frucht  eigentlich  die  begierde 
Evas  gereizt  habe  (v.  17947),  verrät  nur  allzu  deutlich  den 
klösterlichen  magister.  doch  jene  sententiae,  unpersönliche  ex- 
cerpte,  an  denen  der  schüler  Gottfried  grammatik,  logik,  moral 
gelernt  hatte,  machen  seine  classische  bildung  nicht  aus:  der 
dichter  Gottfried  hat  die  alten  auctores  selbst,  Ovid  besonders 
und  Vergil,  gelesen;  ihre  gedanken  und  ausdrucksformen  fügt  er 
mit  sicherer  künstlerhand  dem  eigenen  werke  ein,  die  gestalten 
ihrer  götterlehre  sind  in  ihm  lebendig,  sind  ihm  mittel  der  ge- 
steigerten dichterischen  anschauung,  schmuck  der  gehobenen  rede, 
wenn  auch  bisweilen  dem  antiken  körper  ein  mittelalterliches 
mäntelchen  umgehängt  ist. 

*  die  Selbständigkeit  der  stilistischen  ausschmückung  erweist  Piquet 
8.  205.  -  WMeyer    Die  Sammlungen    der    spruchverse    des  Publilius 

Syrus.  s.  25. 

Cassel.  Wilhelm  Iloffa. 


FRAGMENTE   VON   WOLFRAMS   WILLEHALM 
UND  RUDOLFS  BARLAAM. 

Herr  hür  germeist  er  Schrader  in  Schafstädt  übersandte  vor 
einiger  zeit  herrn  collegen  Saran  eine  aufsen  mit  gepressfem  leder 
überzogene  holzeinbanddecke,  deren  Innenseiten  mit  resten  von  be- 
schriebenen pergamentblättern  beklebt  sind,  zivecks  deren  näherer 
bestimmung  überliess  mir  College  Saran  freundlichst  den  einband, 
über  dessen  herkunft  herr  bürgermeister  Schrader  mir  folgendes 
mitzuteilen  die  gute  hafte.  'in  dem  fraglichen  einbände  befand 
sich  zu  der  zeit,  als  ich  ihn  erhielt,  nur  noch  ein  teil  des 
früheren  inhalts:  die  psalterausgabe  von  Bugenhagen,  Basel  1526. 
die  dem  angegebenen  vorgebunden  geicesenen  icerke  waren  heraus- 
geschnitten, ericorben  habe  ich  den  band  aus  der  antiquariats- 
buchhandlimg  von  dr.  Julius  Determann,  Heilbronn',  der  Inhalt 
der  von  mir  abgelösten  hslichen  fragmente  war  leicht  festzu- 
stellen: sie  enthalten  abschnitte  aus  Wolframs  Willehalm  und 
Rudolfs  Barlaam. 

1.  FRAGMENT  AUS  WOLFRAMS  WILLEHALM. 

Auf  der  innenseite  des  vorderen  holzdeckels  war  vor  seiner 
ablöstmg  in  längsrichtnng  ein  pergamentstreifen,  bis  hart  an  den 
Innern  bandrücken  reichend,  aufgeklebt,  der  in  seiner  länge  1 6  cm, 
in  seiner  ganzen  breite  27,  4/5  cm  mass.  abgelöst,  ergab  sich  als 
ursprünglich  ein  zweispaltig  beschriebenes  doppelblatt  mit  40  zeilen 
auf  der  spalte,  von  dem  jetzt  das  obere  drittel  (13/14  zeilen)  fehlt, 
von  bl.  1  ist  nur  noch  die  erste  und  vierte  spalte  vorhanden,  in 
seinem  jetzigen  umfang  9,3  cm  breit,  tcährend  bl.  2  in  voll- 
ständiger breite  (18,  1/2  cm)  vorliegt,  von  bl.  2"*  sind  oben  auf 
spalte  a  die  eingänge  weiterer  4  zeilen  {Lachm.  270,  29 — 271,  2) 
erhalten:  das  kleine  pergamentstückchen  war  ursprünglich  um 
den  rand  des  holzdeckels  nach  innen  zu  gebogen  und  hatte  seinen 
platz  zwischen  holz  und  leder.  bl.  1^.  2°"  waren  sehr  fest  auf- 
geklebt: durch  die  ablösung  ist  die  schtvärze  der  schriftzüge 
zumeist  auf  das  holz  übertragen  worden,  so  dass  es  sich  empfahl, 
bei  der  lesung  den  Spiegel  zur  hilfe  zu  nehmen. 

23* 


352  STRAUCH 

£"6"  handelt  sich  um  eine  sorgfältig  geschriebene  Willehalmhs. 
des  \Ajh.s  {u-ol  aus  der  ersten  hälfte)  in  4**  mit  rot  äurch- 
strichener  majuskel  zu  eingang  jeder  verszeile  und  einzelnen 
gröfseren  rot  —  einmal  auch  violett  —  ausgemalten  initialen. 
das  nur  fragmentarisch  auf  uns  gekommene  doppelblatt  umschloss 
früher  zwei  iceitere  und  umfafsfe  mit  diesen  Willeh.  243,  27  bis 
276,  6.  davon  standen  24 9^  7 — 270,  20  auf  den  beiden  in  unser 
doppelblatt  eingelegten,  dh.  614  =  4  x  160  zeilen  -\-  4;  das  plus 
von  4  Zeilen  (nach  Lachmanns  Zählung)  reduziert  sich  tvol  in 
Übereinstimmung  mit  der  hss.grnppe  opt  durch  den  ausfall 
von  252,  29 f.  264,  21  f.  imser  doppelblatt  bot  ursprünglich 
243,  27—249,  6  und  270,  21—276,  6.  davon  ist  folgendes 
erhalten: 

bl.  V  244,    10—245,  6;    es  fehlen  243,    27—244,  9    sowie 
bl.  \^:   245,  7—246,  16;   bl.  V:   246,  17—247,  26; 

bl.  i^  248,  10—249,  6;  es  fehlen  247,  27—248,  9; 

bl.  2^   270,  29—272,  2;  es  fehlen  2J0,  21—28; 

bl.  2"  272,  17—273,  14;  es  fehlen  2T2,  3—16; 

bl.  2'   273,  28—274,  26;  es  fehlen  273,  15—27; 

bl.  2^  275,  10—276,  6;  es  fehlen  274,  27—275,  9. 
so  viel  ich  sehe,  kommt  von  den  sonst  vorhandenen  bruchstücken 
von  gleicher  anläge  (s.  Zs.  24,  84)  keines  für  das  neue  in  be- 
tracht.  der  text,  ivelchen  unser  fragment  bietet,  ist  nicht  frei 
von  misverständnissen ;  er  steht  der  gruppe  lopt  sehr  nahe  (271, 
23.  273,  3.  274,  9f  seien  nur  als  besonders  beiveisend  angeführt) 
und  innerhalb  dieser  wieder  It  (271,  25f.  272,  19f.  273,6.  274, 
13f);  zu  t  stellen  sich  die  lesarten  248,  12.  274,  24.  275,  24. 
30,  zu  1  275,  25.  die  spräche  zeigt  md.  einflüsse:  e  =  se;  fnre 
kure  kunic;  konde  begonde  kolter;  neben  ü  vereinzelt  u,  aber 
auch  ü  für  ii:  künst  gimst  künt  dründer;  ture;  vereinzelt  steht 
ie  für  i:  fliez;  gesehen;  craclie:  lache  (Inf);  gehen  =  jehen; 
wil  =  vil;  vmbere  =  unmaire  273,  11;  viant. 

1^ 

Lachm.  244,  10  Vii  hiez  1 1  ze  allen  (o(^/er  allem?)  site  12  Von 
semftem  plvmiten  13  [und]  teppit  vil  da  füre 
14  [üf  diu]  Plumit  kolter  v.  d.  kvre  15  in  ture 
mvse  16  sie  [liie]  vf  -rucke  solte  s.  (!)  17 
phellel      gaben      1 8  [hin  abe]  zv  dem       1 9  scheitis 


FRAGMENT  AUS  WOLFRAMS  WILLEHALM        353 

21  ime  gnvc  22  nenne  23  relite  25  od  daz] 
oder  28  al  fehlt  an  deme  29  da  fehlt  ime 
30  Die  245,  1  gröfsere  rote  initiale  D  marcgraue 
zime  4  gesehen  marcgrauj'n  G  lobte  kvnic 
Tandernas 

1' 

248,  11  (Wa)ren  wunneclich  zeselien  12  (D)es  mvse 
man  d.  frowen  gehen  15  tepich  vfi  dar  vnder 
plvmit  16  (V)on  koltern  was  och  18  (H)ei- 
raerich  geselle  19  der  andern  [gar]  20  vor- 
dest  22  sehene  23  (D)ie  24  (0)ch  25 
darliehe  26  (M)it  phellel  27  beidiu  fehlt  28 
[also]  gnnc  29  (H)ete  ferifiez  30  (G)eben 
nich  kostlichen  fliez  249,  1  (Mjochte  vf  dem  bilde 
2  mantel  mvse  offenre  snvre  phl.  4  wene  daz 
iemau  konde       5  dan       6   beiagete  aller  herren(!) 

271,  2  die  do  3  gröfsere  rote  initiale  A  5  Die 
drungen  den  7  ime  sölhe]  die  selben  8  al  sin] 
Alyzen  9  al]  dar  zv  1 0  Sin  blic  erwarp  1 1 
Der  keine  hazzen  1 2  sage  lobes  v.  ime  gnuc 
13  Genaht  dem]  des!  14  und  fehlt  15  Eines 
dinges  17  durch  den  rost  gap  die  m.  18  do 
fehlt  parzifal  19  vant]  Wart  (!)  20  Garnach 
Garnanz  22  Seht  Rennewarte  23  Der  selben 
schone  der  selben  craft  25.  26  fehlen  27  kvne- 
ginne  heymerich  28  menlich  29  in  fehlt 
30  einer  so]  siner  272,  1  Kyburch,  gröfsere  rote 
initiale  K 


272,  18  ouch  fehlt  19.  20  fehlen  22  trurich  23 
ich  in  24  noch  fr.  od'  25  gesehen  26  ant- 
litzes  27  etslich  29  ich  si  ime  30  gein  mir 
lihte  273,  1  gröfsere  rote  initiale  R  3  Vil 
schiere  d.  marcgrauen  4  da  vor  ime  6  gein 
dir]  durch  zuht  7  Ganc  8  in]  den  9  iiat] 
hin  (!)       beidiu  fehlt       10  sich       lebelichez       11 


354  STRAUCH 

Er  mir  niht  ist  vmbere  13  Er  erfluge  d.  cranich 
würfe  ich  iu  dar       14   Swie  zegeliche  er  si  g. 

273,  30  viant  gesiu  274,  2  Heymerich  bat  d.  3  bat 
fehlt]  4  tepich  tafeln  5  kvneginne  6  konde 
in  7  Der  knappe  koni  m.  8  Heymerich  lide 
9.10  fehlen  11  kvnegin  13.14  Sie  mit  guten 
willen    (ruckte).     Rennewart    sich  nig(ens    bückte) 

15  die    kvneginne     ime     16  houbt  was  wil  hoher 

17  müste  18  Sie  vn  er  ir  beider  19  konde 
20  beide  22  gahes  drabe  23  daz]  Ez,  gröfsere 
rote  initiale  E  24  were  uv  1.  wer  sie  25  Man 
kür       wol  fehlt       26  gelich       beider 

2' 
275,   10  waren  bi  s.        11   Gestricket       dem]  daz       13 
gröfsere  violette  initiale  \      komen      15  han      oder 

1 6  Doch    mohte    ein    starker    wagen        1 7   crache 

18  hegende  lache  12  und]  Er  20  sulich  22 
Oder  erzürne  etliches  23  sie  heben  iwern 
toten  24  Ich  swere  iv  bi  den  zwelf  b.  25  wont 
einer  26  den]  in  27  lazen  sulich  28  Ez  w. 
etlichen  29  Jo  zerte  30  mer  d.]  Baz  denne 
deine  276,  1  iwerme  2  [nu]  Hvtet  vnge- 
limphe  4  Da  endorfte  nieman  5  tauein  6 
Syropel. 

2.  FRAGMENT  AUS  RUDOLFS  BARLAAM. 

Auf  der  Innenseite  des  hinteren  holzdeckels  ivar  vor  seiner 
ablösung  in  längsrichtung  und  zwar  hart  am  rücken  des  handes 
ein  .pergamentstreifen  aufgeklebt,  9,  ö  cm  lang  und  in  seiner 
ganzen  breite  25,  7  cm;  dieser  muss  ursprünglich  so  ziemlich  die 
mitte  des  deckeis  eingenommen  haben  und  erst  später  bis  an  den 
bandrücken  vorgeschoben  sein,  nachdem  ein  tüeiterer  pergament- 
streifen, dessen  schriftzüge  sich  im  abdrnck  auf  dem  holzdeckel 
noch  wol  erkennen  lassen,  abgelöst  war.  dass  dies  wiirklich  der 
fall  gewesen,  beweist  der  umstand,  dass  in  dem  abdruck  des 
abhanden    gekommenen    Streifens    gelegentlich   auch   reste  solcher 


FRAGMENT  AUS  RUDOLFS  BARLAAM  355 

verszeilen  durchschimmern,  die  dem  erhaltenen  streifen  angehören, 
nach  ablösung  des  letzteren  ergab  sich,  dass  es  sich  um  den 
oberen  teil  eines  der  quere  nach  durchschnittenen,  ziveispaltig  be- 
schriebenen doppelblattes  handelt,  dessen  zweites  blatt  15,  4  cm 
breit  ist;  vom  ersten  blatt  (10,  3  cm  breit)  fehlen  auf  \^  die 
ziveiten  vershälften,  auf  V  die  versanfänge.  das  fragment  ent- 
stammt einer  hs.  von  Rudolfs  Barlaam  aus  dem  1 4  jh.  4"  und 
zeigt  in  schönen  schriftzügen  einen  fast  tvörtlich  mit  Pfeiffer 
übereinstimmenden  text.  die  erste  zeile  jedes  reimpaares  ist  durch 
eine  mit  rubrum  geschmückte  majuskel  gekennzeichnet ;  auch  finden 
sich  reste  gröfserer,  blau  oder  rot  gemalter  initialen  bei  einzelnen 
abschnitten,  es  standen  ursprünglich  28  Zeilen  in  der  spalte, 
von  denen  die  13  ersten  erhalten  sind,  auf  bl.  l^  und  V, 
wie  schon  bemerkt,  mir  in  ihrem  an  fang  resp.  ende,  ausserdem 
lassen  sich  aber  für  bl.  l*^**  2'''  jedesmal  noch  6 — 8  weitere  verse 
durch  Spiegellesung  des  deckelabdriicks  verhältnismässig  leicht  ge- 
winnen, es  ergibt  sich,  dass  zwischen  den  blättern  unseres 
doppelblattes  ein  zweites  lag  und  zii-ar  die  verse  151,  13 — 156,  34 
umfassend;  da  dies  nicht,  tcie  eigentlich  zu  erwarten  wäre,  224 
(8x28),  sondern  nur  222  verse  sind,  so  dürften  auch  unserer 
hs.  wie  ABCE  die  verse  155,  19.  20  gefehlt  haben,  das  fragment 
enthält : 

bl.  V   148,  21 — 33,  es  fehlen  die  folgenden  15  Zeilen; 

hl.  i^  149,  9 — 21,  7iur  die  ersten  vershälften  sind  erhalten;  es 
fehlen  die  folgenden  15  Zeilen; 

bl.  r  149,  37 — 150,  9,  nur  die  zweiten  vershälften  sind  er- 
halten, durch  Spiegellesung  auch  noch  die  versausgänge 
von  150,  10—15; 

bl.  1''   150,  25 — 37,  sowie  durch  spiegellesung  150,  38 — 151,  4; 

bl.  2'   156,  35 — 157,  7  so^vie  durch  spiegellesung  157,  8 — 15; 

bl.  2''  157,  23 — 35,  sowie  durch  spiegellesung  157,  36 — 158,  3; 

bl.  2'   158,   11 — 23,  es  fehlen  die  folgenden  15  Zeilen; 

bl.  2'^  158,  39  —  159,  11,  es  fehlen  die  folgenden  15  Zeilen, 
so  viel  ich  sehe,  steht  das  fragment  mit  keinem  der  sonst  be- 
kannten in  näherer  beziehung.  zu  besonderen  textkritischen  be- 
merkungen  findet  sich  kein  anlass;  erwähnt  sei  nur,  dass  der 
Umlaut  von  u  und  6  nicht  bezeichnet,  der  von  ä  durch  e  wider- 
gegeben, dass  für  iu  :  u  geschrieben  ist;  bei  der  inversion  sind 
Schreibungen  7vie  lobich,  mvsich,  woltich,  dvlitin  (150,  27j,  kaner, 


356  STRAUCH  —  SCHNEmERWIRTH 

versinnich  helieht;  auch  die  Schreibungen  nah.  nob,  durh  dur, 
armecheit,  stetecheit  seien  angemerkt,  von  Varianten  verdienen 
allenfalls  folgende  aufzeichnung :  14S,  26  enpfahet  27  mvsich 
37  Do  blaue  initiale  149,  17  zeinem  150,  6  (vurste)clich ? 
27  lideliche  28  stette  31  lidelichem  33  Do  rote  initiale 
37  demvtlichen  156,  40  sundeclichen  157,  24  dvs  28 
vragest  dv  32  vunve  34  inseien  158,  20  naher  159,  1 
libes  fehlt       5  wehseliche       10  zebrochen. 

Halle  aS.,  sept.  1910.  Philipp  Strauch. 


FRAGMENTE  DES  NIBELUNGENLIEDES 
AUS  DÜLMEN. 

Bei  der  inventarisierung  der  herzogl.  Croyschen  archive  zu 
Dülmen '  entdeckte  herr  prof.  dr  Schmitz- Kallenb er g  aus  Münster 
unter  dem  einbandmaterial  zu  rechnungen  aus  dem  11  Jahrhundert 
ztvei  kleine  fragmente  einer  handschrift  des  Nibelnngenliedes,  die 
er  mir  freundlichst  zur  Verfügung  stellte,  das  gröfsere  der  beiden 
pergamentblätter  misst  16  cm  in  der  höhe;  die  obere  breite  beträgt 
6V2,  die  untere  7  cm;  das  kleinere  ist  8  cm  hoch  und  7  cm  breit, 
jede  Seite  weist  2  columnen  auf;  von  der  ersten  col.  ist  der  anfang 
der  einzelnen  Zeilen  der  scheere  des  biichbinders  zum  opfer  ge- 
fallen, von  der  zweiten  col.  der  schluss,  sodass  nur  der  schluss 
der  ersten  col.  und  der  anfang  der  ziveiten  auf  beiden  seilen  er- 
halten sind,  die  einzelnen  Strophen  sind  nicht  stichisch  geschrieben, 
sondern  5  zeileyi  der  handschrift  bilden  jedesmal  eine  Strophe, 
deren  anfang  abwechselnd  mit  grofsen  roten  und  blauen  buch- 
Stäben  bezeichnet  ivird.  der  schluss  der  einzelnen  reimzeilen  ist 
durch  einen  punct  kenntlich  gemacht,  beide  fragmente  haben  ur- 
sprünglich ein  blatt  der  handschrift  gebildet;  rechnet  man  die 
am  obern  rande  und  in  der  mitte  tveggeschnittenen  Zeilen  zu  den 
erhaltenen  einer  col.  hinzu,  so  ergibt  sich,  dass  ivir  es  mit  den 
fragmenien  einer  50  zeiligen  handschrift  des  Nibelungenliedes  zu 
tun   haben,     nach   dem   Charakter   der  sehr  säubern  schrift  {got. 

'  vrjl.  Schmitt- Kall enberg  Inrentare  der  nichtstantl.  archire  der 
proüins  Westfalen  bd.  I  (Münster  1908).     .<--.  870'. 


FRAGMENTE  DES  NIBELUNGENLIEDES  357 

minuskel.)  zu  urteUen,  dürfte  die  ahfassung  der  hs.  spätestens  in 
den  beginn  des  14  Jahrhunderts  zu  verlegen  sein,  ein  vergleich 
der  fragmente  mit  den  drei  grofsen  Nibelungencodices  ergibt,  dass 
die  bruchstücke  einer  handschrift  angehört  haben,  die  in  ihrem 
verwantschaftlichen  Verhältnis  B  am  nächsten  steht,  ich  lasse  einen 
genauen  abdruck  der  fragmente  folgen,  nur  mit  dem  unterschiede, 
dass  zur  besseren  Übersicht  die  5  Zeilen  der  hdschr.  in  die  4 
reimzeilen  der  Nibelungenstrophe  umgeschrieben  sind,  die  Strophen- 
zahlen  gebe  ich  nach  Lachmann. 

2205.    1 

2 

3  daz  kan  ich  niht  gehei       .     .     .      annes  mut 

4  diu  rede  düht gesellen  gut 

220  6.    1   .     .     .     ,      ht  gelangen  sprach  aber      .     .     . 

2  .     .  rihte  iu  so  die  selten  daz     .     .     .     vart 

3  ritet  gein  rine  daz sagen. 

4  iwer  über  mute     ....    er  niht  vertragen. 
2207.     1  .     .  .     .     videlaere  swenne  ir  die    ...     . 

2  .     .     .     r  irret  guter  done  iwer 

3  der  muz  vil  trübe  wer    ....     inen  hant. 

4  swie  halt er  burgunden  lant, 

220S.     1   .     .     .     .    uo  im  springen  wan  daz    .    .    .    ie 

2  hiltebrant  sin  oheim gevie 

3  ich   wen   du  weitest     .     .     dinen  tümben  zorn. 

4  mi     .     .     .     hülde  hetestu  immer  mer    .     .     . 

2209.  1 ewen  meister  grimme  ist      .     . 

2  .     .  ümt  er  mir  zeuhanden    .    r  der  degen  gut. 

3  het  er     .     .     le  mit  siner  hant  erslagen 

4  .     .     .     daz  erz  widerspei  nimer   .    .    gesagen. 

2210.  1   .     .     .     .     harte  erzürnet  der  ber      .... 

2  den  schilt  den  zuhte  wolf    .    .    nelle  degen  gut 

3  alsam  ein 

2213.  1   .     .     .     .     gescheiden   in  des   stur     .... 

2  .     .     aten  die   von  berne  als  ir 

3  zehant  do  wante  hilte     .     .     .    gen  wider  dan 

4  do  lief     .     .     Ifhart  den  chunen  volke    .     .     . 

2214.  1  .     .     .     delaere  uf  den  heim  gut. 

3 kune      .... 

4 daz  er 


358  SCHNEIDER  WIRTH 

2215.  1   Des  fiw 

2  daz  ir 

3  die  seh win 

4  0 nimme 

2216.  1   Günther 

2  enphie lant 

3  gi heim  v     .     .     . 

4 von  bl     .     .     .     .     . 

2217.  1  Dankw mich      .     . 

2 getan 

3  d wint 

4  n aldrian      .     . 

2218.  1   Rischart 

2  die  het sich  ge      .     . 

3 die  gun 

4  .     .     .     .      pranden      

2219.  1   Do  vaht 

2  vil  der haut 

3  m ten  in  d      .     . 

4 die  rek 

2220.  l   Do  vaht 

2222.  4 brent  al 

2223.  1  Owe  lie ster  hi     .     . 

2 von  Volke      .... 

3 langer  n 

4 chune  vo 

2224.  1  Do  slük  er bant 

2  stü 

2225.  1 ie  dietri     .     .     . 

2 ringe  verre 

3 der   swerte 

4 z  den  heim 

2226.  1 olkern  tot. 

2 sin  meiste     . 

3 nen  an  mage     .     .     . 

4 e  hagene 

2227.  1 alte  hüte    .     .     . 

2 en  von  des 


FRAGMENTE  DES  NIBELUNGENLIEDES  359 


3  .     .     .      ergesellen 

4  ....     t  rükter e  dan. 

222S.    1 varten  sink. 

2 11  was  ez  leit 

3 11  in  der  star     .     .     . 

4 liandeii  wol 

2229.  l 

2  .     .     lez  howende       ....     untheres  man 
3 nen  in  dem    . 

4 en  mauik 

2230.  1 olfharten 

2 vinde  ze 

2233.  l durch  sine     .     .     .     . 

2  von  der  wine      

3  er  wimte  zu man 

4  ez  het en  getan. 

2234.  1 er  wunden 

2  .     .     .     r  Valien  hoher 

3  .     .     .     starkez  waffen 

4 sluk. 

2235.  1   Si  heten  bede  ein  an       ....      tot  getan. 

2  done   leb        der  dietriches  man. 

3  .     .     .     .      alte  wolfharten  val 

4  .     .     .     vor  sime  tode  im  n 

2236.  1  Nu  warn  gar  erstorbe man 

2  nnde  ouch  die  d was  gegan 

3  da  was nider   in   das    .    bluot 

4  e armen  den  helt  ch      .     .     . 

2237.  1  Er  weit  in  uz  dem  s dan 

2  er  was  ein  teil ligen  lan 

3  do  blik der  rewende  man 

4  .      .      .     .      im   gerne  sin  neve  h       .     .     . 

2238.  1   Do  sprach  der  tot  wu min 

2  ir  muget  an  dis vruom  gesin 

3  nu  hüte     .     .     .      ja  dunket  ez  mich  g 

4  .      .      .     .       nem    herzen    einen  g      .     .     . 

2239.  1    Unde  ob  mich  min  mage      ....       klagen 
2  den  nächsten ir  von  mir  sagen 


360         SCIINEIDERWIRTH,  NIBELUNGENFRAGM. 

3  da weinen  wan  ez  ist  a     . 

4  .      .     .     cliuniges  banden  lige 

2240.    1   Ich  lian  ouch  hie  im nen  lip 

2  daz  ez  wo 

3 

4 

2243.  1  Der  reke  dietriches 

2  uf  den  helt  von  tro sere  sneit. 

3  done  chu den  den  gunthere     .     . 

4  ...     in  hagene  durch  ei      

2244.  1   Do  der  alte  hiltebran enphaut. 

2  do  vorht     ....      von  der  hageneu  h   .     . 

Bonn  {Kreuzhercj).  V.  M.  Schneiderwirth. 

0.  F.  M. 


ZUR  DATIERUNG  DES  HERBORT 
VON  FRITZLAR. 

Im  ersten  teile  des  'Liedes  von  Troja'  schaut  der  trojanische 
könig  von  der  mauer  herab  auf  die  andrängenden  feinde,  da  er- 
blickt er  (v.  1326  ff)  als  erstes  unter  dem  beere 

einen  schilt  von  lasüre, 

darinne  einen  lewen  glizeu 
1330    von  röten  und  von  wizen, 

und  eine  baniere  dämite 

harte  glich  an  dem  snite 

an  dem  zindäte 

als  der  schilt  in  varwe  bäte. 
und  er  erkennt  daraus  berkunft  und  Zugehörigkeit  der  gegner; 
es  sind  die  Griechen  des  Hercules!  die  quelle,  der  Roman  de 
Troie  des  Beuoit  (ed.  Constans  v.  2365ff)  hat  nichts  entsprechen- 
des, dass  Herbort  dem  löwenbezwinger  als  wappen  einen 
löwen,  das  symbol  der  stärke  gibt,  ist  verständlich,  das  ausge- 
führte wappenbild  aber,  ein  rot  und  weifs  gestreifter  löwe  im 
blauen  felde,  das  ist  eine  charakteristische  Schöpfung  der  damals 
noch  jungen  heraldik,  und  Herbort,  der  Schützling  landgraf 
Hermanns,  hat  es  aus  seiner  unmittelbaren  nähe  genommen:  es 
ist  das  thüringische  wappen  das  er  hier  eingeführt  hat! 

Diese  beobachtung  ist  nicht  etwa  neu:  schon  der  herausgeber 
Frommann  hat  sie  gemacht  (anm.  zu  1328),  dann  hat  Georg  Landau 


SCHRÖDER,  HERBORT  VON  FRITZLAR  3r.  1 

in  der  Zs.  d.  ver.  f.  hess.  gesch.  u.  landeskde  bd  3  (1843)  s.  396 
auf  diese  'älteste  beschreibuiig-  des  hessischen  lijwen'  hingewiesen, 
und  seitdem  ist  die  stelle  von  den  heraldikern  widerholt  in 
diesem  sinne  angezogen  worden:  so  auch  von  Seyler  Geschichte 
d.  heraldik  s.  179  und  zuletzt  noch  von  Posse  Die  Siegel  der 
Wettiner  und  der  landgrafen  von  Thüringen  tl  n  (1893)  s.  lOf 
und  von  Küch,  Zs.  d.  ver.  f.  hess.  gesch.  u.  Ideskde  bd  43  (1909) 
s.  3;  in  der  regel  verknüpft  man  damit  die  70-- SO  jähre  jüngere 
blasonierung  welche  Konrad  v.  Würzburg  im  Turnei  von  Nantheiz 
v.  479  von  dem  wappen  des  landgrafen  [Albrecht]  von  Thüringen 
gibt:  .  .  .  einen  schilt  von  lasnr  hlä,  darin  einen  löuiven  .  .  .: 
rot  unde  wU  stückehfe  [\.  strtfehte]  was  er  von  hermtn  und  von  kein. 

Dass  Herbort  von  Fritzlar  hier  tatsächlich,  mit  bewustsein 
und  absieht,  das  wappen  seines  fürstlichen  gönners  eingeschmuggelt 
hat,  kann  keinem  zweifei  unterliegen;  es  ist  die  einzige  der- 
artige beschreibung  die  er  bietet,  und  es  ist  zugleich,  wie  immer 
man  Herborts  werk  datieren  mag,  die  älteste  heraldisch  treue 
Vorführung  eines  historischen  wappens  in  unserer  litteratur. 
betont  werden  muss  dabei,  dass  der  enge  Zusammenhang  des 
schildbildes  mit  dem  vielfach  altern  fahnenbilde,  wie  ihn  die 
neuere  Wissenschaft  für  die  anfange  der  heraldik  wider  zugesteht, 
bei  Herbort  deutlich  hervortritt;  die  für  den  thüringisch- 
hessischen löwen  charakteristische  rot-weifse  streifung  kann  recht 
wol  in  der  wirktechnik  des  fahnentuches  älter  sein  als  in  der 
schildbemalung.  erhalten  ist  uns  ein  solches  wappen  zufrühst 
in  dem  Originalschild  des  1240  gestorbeneu  landgrafen  Konrad 
von  Thüringen,  des  deutschordensmeisters,  s.  Warnecke  [und 
Bickell]  Die  mittelalterlichen  heraldischen  kampfschilde  in  der 
St.Elisabethkirche  zu  Marburg  (Berlin  1S84)  s.  22  taf.  l:  'er  ist 
von  leuchtendem  kobaltblau,  und  der  löwe  achtmal  rot  und  weifs 
schräg  gestreift',  von  der  Übernahme  dieses  wappenlüvven  der 
Ludowinger  durch  die  prätendenten  der  thüringischen  erbschaft 
und  speciell  durch  Sophie  von  Brabant  (1248)  und  ihre  nach- 
kommen   die  hessischen  landgrafen  handelt  eingehend  Küch  aao. 

Es  ist  ein  ungewöhnlicher  glücksfall,  dass  wir  in  der  kecken 
maskerade  des  Herbort  von  Fritzlar  die  genaue  farbengebung 
eines  deutschen  fürstenwappens  aus  dem  anfang  des  13  jh.s 
kennen  lernen,  denn  die  sphragistik  und  numismatik,  die  zumeist 
allein  über  die  schwelle  dieses  Jahrhunderts  zurückführen,  kennen 
noch  keine  schraftierung,  die  uns  hier  aufscliluss  geben  könnte, 
und  es  wäre  daher  für  die  heraldik  ganz  und  gar  nicht  gleich- 
giltig,  wenn  Baesecke  mit  seiner  von  mir  (GGN.  1909,  s.  92  ff) 
bekämpften  these  über  Herbort  (Zs.  50,  377  ff)  recht  behielte, 
und  somit  jene  Wappenbeschreibung  nicht  in  den  ausgang,  sondern 
in  die  ersten  jähre  der  regierungszeit  landgraf  Hermanns  fiele: 
wir  kämen  dann  mit  dieser  form  und  färbe  des  thüringischen 
Wappens    noch    um  20 — 25    jähre   hinauf,     fragen  wir  aber  die 


362  SCHRÖDER 

sachkundigen,  was  sie  über  die  anfange  des  thüringischen  wappens 
wissen,  —  so  verweisen  sie  uns  auf  die  beschreibung  des  Ilerbort 
von  Fritzlar,  wo  die  streifen  das  löwen  und  überhaupt  die 
tincturen  zum  ersten  male  zu  tage  treten.  Posse  tl  i  sp.  7 
betont,  dass  die  anfange  des  wappenwesens  bei  den  Ludowingern 
nicht  über  Ludwig  in  (1172 — 1190),  ja  wahrscheinlich  nicht 
über  1 1 80  hinaufgehn.  der  älteste  siegelstempel  Ludwigs  iii  aus 
d.  j.  1174  ist  noch  ohne  spur  von  wappen  (taf.  xi  l);  ein 
solches,  und  zwar  einen  löwen,  weist  das  nächste  siegel  fxi  2) 
auf:  zugleich  mit  dem  titel  als  pfalzgraf  von  Sachsen  (1180); 
und  mit  diesem  titel  schwindet  der  löwe  wider  auf  dem  dritten 
Siegel  (xi  3),  während  er  auf  den  siegeln  seines  bruders  Hermann, 
der  an  stelle  Ludwigs  1181  die  pf alzgrafschaft  Sachsen  erhielt, 
constant  erscheint  (taf.  xi  4  ff)  und  dann  weiterhin  von  landgraf 
Ludwig  IV  und  dessen  bruder  Konrad,  dem  regenten  von  Hessen, 
festgehalten  wird  (taf.  xn.  xiiii.  wenn  so  Posse  auf  die  Ver- 
mutung gekommen  ist.  der  löwe  als  Wappentier  hänge  mit  der 
erwerbnng  der  pf  alzgrafschaft  Sachsen  zusammen,  so  ist  das 
doch  nicht  so  zu  verstehn,  als  ob  er  von  ihr  übernommen  sei :  das 
Wappentier  der  pfalzgrafschaft  ist  vielmehr  der  adler  des  reiches 
(Posse  tl  II  sp.  7.;  vgl.  auch  das  wappen  Friedrichs  d.  Frei- 
digen  taf.  vii  3.  4);  es  handelt  sich  also  um  ein  neues,  freige- 
wähltes hoheitszeichen. 

Ähnliche  aufschlüsse  wie  die  sphragistik  ergibt  die  numis- 
matik.  schlagen  wir  zb.  in  HBuchenaus  schöner  publication 
Der  bracteatenfund  von  Seega  (Marburg  1905)  die  tafeln  13 — 15 
auf,  so  finden  wir  auf  den  reiterbracteaten  Ludwigs  iii  den  schild 
entweder  ganz  bildlos  oder  aber  mit  sternförmigem  innenbeschlag 
resp.  den  schildbuckel  mit  strahlen  umgeben,  dh.  den  vorheral- 
dischen spangenschmuck  des  Schildes,  ähnlich  scheint  es  anfangs 
bei  den  bracteaten  Hermanns  i  zu  sein,  wenn  die  versuchsweise 
chronologische  anordnung  bei  Buchenau  zutreffend  ist:  neben 
anfangs  wappenlosem  schilde  taucht  einmal  der  löwe  im  felde 
hinter  dem  reifer  auf  (nr.  261,  taf.  14,  4),  dann  aber  wird  er 
stehnde  schildtigur:  nrr  269—304  (taf.  14,  12  bis  15,  22).  dass 
dieser  thüringische  löwenschild  der  Ludowinger  von  dem  kaum 
altern  meifsnischen  löwen  der  Wettiner  (schwarz  in  gold)  und 
dem  alten,  aber  eben  erst  heraldisch  gewordenen  weifischen 
löwen  Heinrichs  des  Löwen  (wahrscheinlich  gold  in  schwarz)  in 
den  tincturen  abgewichen  sei,  ist  so  gut  wie  selbstverständlich. 
aber  um  ihn  von  diesen  zweien  zu  unterscheiden,  genügte  doch 
die  tingierung  silber  in  blau,  wann  ist  nun  die  hervorragend 
charakteristische,  nirgends  anderweit  widerkehrende  rot-weifse 
streifung  des  löwen  üblich  geworden  ?  mit  Sicherheit  kann  man 
nur  sagen:  unter  landgraf  Hermann  i  —  die  nähere  zeit  inner- 
halb seiner  die  jähre  1190 — 1217  umspannenden  regierung  wird 
sich  kaum  feststellen  lassen,  es  ist  nur  wahrscheinlich,   dass  der 


/ 
ZUR  DATIERUNG  DES  HERBORT  VON  FRITZLAR  363 

löwe  sich  eine  Zeitlang  ungestreift  (silber  in  blau?)  gehalten 
habe,  nachdem  er  erst  1 1 80  aufgekommen  war. 

Es  gibt  freilich  eine  theorie  über  das  aufkommen  des  ge- 
streiften löwen,  die,  wie  mir  CKnetsch  freundlich  nachweist,  auf 
Joh.  George  Estors  Probe  einer  verbesserten  heraldik  an  dem 
hochfürstl.  hessischen  wappen  (Giefsen  1728)  s.  8f  zurück- 
geht, und  sie  wird,  wie  von  Ströhl  Deutsche  wappenrolle  (Stuttg. 
1897)  s.  38,  so  eben  wider  von  dem  bearbeiter  der  'Heraldik' 
in  Meisters  Grundriss  der  geschichtswissenschaft,  EdGritzner  (bd.  i 
s.  390),  als  tatsache  und  hier  sogar  als  paradigma  vorgetragen: 
danach  'ist  der  bekannte  quer  rot-  und  weilsgestreifte  thüringisch- 
hessische gekrönte  löwe  im  blauen  schild  so  entstanden,  dass  auf 
den  ursprünglich  weifsen  löwen  im  blauen  felde  die  roten  quer- 
balken  des  ungarischen  Wappens  seit  der  Vermählung  der 
ungarischen  königstochter,  der  hl.  Elisabeth,  mit  dem  landgrafen 
von  Thüringen  gelegt  wurden',  die  Verheiratung  der  14  jährigen 
Elisabeth  mit  dem  21  jährigen  Ludwig  iv  fand  im  j.  1221  statt, 
vier  jähre  nach  dem  tode  Hermanns,  bei  dessen  lebzeiten  unter 
allen  umständen  das  werk  Herborts  begonnen  wurde,  in  der 
obigen  form  ist  also  die  these  keinesfalls  aufrecht  zu  erhalten, 
an  sich  wäre  sie  nicht  so  wunderlich,  wie  sie  dem  laien  wol 
klingen  mag:  haben  doch  um  dieselbe  zeit  die  söhne  und  enkel 
Heinrichs  des  Löwen  statt  des  weifischen  stammwappens  die 
leoparden  der  Mathilde  von  England  und  anderseits  den  blauen 
löwen  der  Helene  von  Dänemark  angenommen;  HGrote  in  seiner 
'Geschichte  der  weifischen  Stammwappen'  (Münzstudien  iii  [1863] 
s.  3 1 2),  der  dafür  den  beweis  erbracht  hat,  ist  geneigt,  auch 
unsern  fall  ähnlich  zu  beurteilen,  aber  alle  von  Grote  sonst 
nachgewiesenen  beispiele  betreffen  die  annähme  des  mütterlichen 
Wappens  durch  den  söhn:  wollten  wir  nun  würklich  auch  für 
Thüringen  den  fall  zugestehn,  dass  der  gatte,  Ludwig  iv,  den 
überkommenen  Wappenschild  durch  tincturen  aus  dem  wappen 
seiner  frau  bereicherte,  so  bliebe  es  doch  sonderbar,  dass  auch 
der  Schwager,  Konrad,  dies  neue,  so  zu  sagen  monogrammatische 
wappen  führte,  und  vollends  unbegreiflich,  dass  schon  der 
Schwiegervater,  eben  landgraf  Hermann,  die  neuerung  zu  einer 
zeit  eingeführt  haben  müste,  wo  die  zukünftige  Schwiegertochter 
nur  eben  als  kindliche  braut  an  seinem  hofe  weilte,  ich' bin 
also  durchaus  abgeneigt,  diese  hypothese  von  dem  unionsAvappen 
zu  acceptieren,  die,  wäre  sie  in  irgend  einer  form  zutreffend, 
freilich  einen  trefflichen  terminus  ante  quem  non  für  Heiborts 
werk  abgeben  würde:  denn  die  nähern  beziehungen  Thüringens 
zu  Ungarn  beginnen  erst  mit  der  Überführung  der  kleinen  Elisabeth 
nach  Eisenach  im  j.  1211. 

Immerhin  sollen  diese  etwas  umständlichen  erwägungen 
für  die  frage  der  entstehungszeit  des  Trojaliedes  nicht  ganz 
resultatlos   bleiben,     es  steht  zunächst  fest,    dass  die  ersten  an- 


364  SCHRÖDER,  HERBORT  VON  FRITZLAR 

fange  der  heraldik  in  Thüringen,  wie  ähnlich  in  Meilseu  und 
Niedersachsen,  nicht  übers  jähr  1180  hinauf  zu  verfolgen  sind. 
es  wird  ferner  von  allen  heraldikern  die  sich  zu  der  sache  ge- 
äulsert  haben,  ohne  weiteres  angenommen,  dass  die  streifung 
des  löwen  erst  ein  zweites  Stadium  in  der  entwickeln ng  des 
thüringischen  wappens  darstelle,  eine  jener  complicationen,  wie 
sie  anderweit  nicht  vor  dem  anfang  des  13  jh.s  nachgewiesen 
sind.  Siebmacher-Hefner  Wappenbuch  bd.  i  (1856)  s.  30  ver- 
zeichnet neben  der  annähme,  dass  auf  den  löwen  der  Ludowinger 
die  balken  des  ungarisclien  Wappenschildes  übertragen  seien,  die 
andere,  dass  die  rot-weifse  streifuug  von  den  kriegsfahnen  der 
Thüringer  herrühre ;  ich  möchte  dieser  annähme  den  Vorzug 
geben  vor  der  erstem,  denn  um  ein  eigentlich  uniertes  wappen 
kann  es  sich  doch  bei  laudgraf  Hermann  als  dem  präsumtiven 
Schwiegervater  einer  ungarischen  königstochter  unmöglich 
handeln,  dagegen  soll  die  möglichkeit  eines  einflusses  oder  Vor- 
bildes von  Ungarn  her  doch  nicht  ganz  abgewiesen  werden, 
unter  den  ältesten  beispielen  für  'unierte  wappen',  w'elche  Seyler 
Geschichte  der  heraldik  s.  I78f  vorführt,  ist  auch  ein  Siegel  von 
Elisabeths  vater,  könig  Andreas  ii  von  Ungarn  (1205 — 1235», 
w'o  die  weifseu  (silbernen)  balken  des  ungarischen  Wappenschildes 
mit  schreitenden  löwen  belegt  sind,  in  welchen  Seyler  das  haus- 
w^appen  des  königs  sehen  möchte:  also  in  Ungarn  die  balken 
mit  den  löw^en,  in  Thüringen  der  löwe  mit  den  balken'.  es  ist 
nicht  ausgeschlossen,  dass  landgraf  Hei'mann  die  heraldische 
neuschöpfung  seines  gegenschwähers  nachgeahmt  und  contra- 
stiert hat. 

Was  von  unsern  betrachtungen  bestehn  bleibt  ist  dieses: 
der  ausgebildete  thüringische  Wappenschild,  wie  ihn  mit  den 
balken  des  löwen  und  der  genauen  angäbe  der  tincturen  zuerst 
Herbort  von  Fritzlar  vorführt,  hat  in  der  heraldik  des  12  jh.s 
keine  parallele,  fügt  sich  aber  sehr  wol  ein  in  die  neuerungen, 
denen  wir  seit  dem  anfang  des  13  jh.s  mehrfach  begegnen;  es 
ist  mindestens  unwahrscheinlich,  dass  Herbort  von  Fritzlar  um 
1190  schon  ein  solches  wappenbild  zu  gesiebt  bekommen 
konnte. 

1  ein  charakteristisches  gegeustück  zu  dem  thüringisch-hessischen 
wappen  bietet  das  luxembuigische:  löwe  rot  in  achtfach  quergeteiltem  feld 
weifs-blau. 

E.  S. 


DIE  GRIECHISCHE  VORLAGE  DER 
GOTISCHEN  BIBEL. 

An  der  widerherstellung  des  von  Ultilas  benutzten  grie- 
chischen Bibeltextes  haben  theolog-en,  soweit  sie  textkritischen 
Studien  obliegen,  und  germanisten  ein  gleich  grol'ses  Interesse: 
sonach  werden  beide  für  jeden  versuch  einer  reconstruction  der 
Ultilas-vorlage  dankbar  sein.  nach  einigen  vorarbeiten  von 
Kauffmann,  Stolzenburg,  Odefey  und  anderen,  die  ich  bei  den 
lesern  dieser  Zeitschrift  als  bekannt  voraussetzen  darf,  hat 
WStreitberg  in  seiner  Gotischen  Bibel  i  (1908)  zu  allen  noch 
vorhandenen  gotischen  Bibelfragmenten  den  griechischen  grund- 
text  beigefügt,  er  erklärt  im  vorwort,  dass  der  Charakter  des 
griechischen  Originals  für  Ultilas  durch  die  forschungen  de  La- 
gardes,  Kauffmanns,  und  von  Sodens  in  allen  wesentlichen 
Zügen  bestimmt  sei ;  seine  aufgäbe  sei  es  gewesen,  den  glücklich 
gefundenen  pfad  entschlossen  zu  ende  zu^'gehn  und  durch  eine 
streng  sj^stematische  herstellung  des  griechischen  textes  die 
sicherste  probe  auf  die  richtigkeit  des  exempels  zu  machen. 

In  den  kreisen  der  germanisten  scheint  man  vielfach  anzu- 
nehmen, dass  die  probe  gelungen  und  die  arbeit  beendet  sei ; 
wenigstens  gibt  eine  autorität  wie  WBraune  im  Lit.-bl.  f.  germ. 
und  roman.  phil.  1908  s.  325  ihr  urteil  dahin  ab,  Streitbergs 
text  komme  dem  original  des  Ultilas  so  nahe,  als  es  zur  zeit 
möglich  erscheine;  und  ein  sachkundiger  theologe  wie  Burkitt  im 
Jouru.  of  theol.  studies  11,  613  scheint  wenigstens  an  dieser 
'excellent  edition"  nichts  auszusetzen,  die  neue  ausgäbe  Streit- 
bergs ist  in  der  tat  sehr  praktisch  eingerichtet ;  in  dem  doppelten 
oder  auch  dreifachen  apparat  steckt  viel  gründliche  und  auch  nütz- 
liche arbeit,  aber  seine  reconstruction  des  griechischen  grund- 
textes  selber  muss  ich  gegenüber  der  Bernhardtschen  eher  für 
einen  rückschritt  als  für  einen  fortschritt  ansehen,  und  ich 
glaube  mit  diesem  urteil  nicht  allzulange  zurückhalten  zu 
dürfen,  damit  sich  nicht  erst,  weil  kein  Widerspruch  erfolgt  sei, 
der  Streitbergsche  text  der  reconstruierten  vorläge  in  die  apparate 
zu  unsern  Bibelausgaben  als  'gotischer'  einschleicht,  die  gefahr 
ligt  nahe,  denn  eine  so  luftige  hypothese  wie  die  von  der 
Z.  F.  D.  A.  LH.     N.  F.  XL.  24 


366  JÜLICHER 

Sunnia-Fretela-recension  der  Ultilas- Übersetzung  ist  in  einem 
Jahrzehnt  zu  fast  kanonischem  ansehen  gelangt:  Odefey  rechnet 
mit  ihr  wie  mit  einer  über  allem  zweifei  stehnden  tatsache, 
und  der  theologe  Glaue  verwendet  in  der  ausgäbe  des  gotisch- 
lateinischen fragments  von  Arsinoe  diese  angebliche  kritische 
ausgäbe  zur  Zeitbestimmung  für  seinen  pergament-fetzen.  ich 
muss  als  nichtkenner  der  gotischen  spräche  um  nachsieht  bitten, 
wenn  ich  meine  stimme  erhebe:  ich  bringe  nur  ein  wenig  be- 
kanntschaft  mit  der  geschichte  des  Bibeltextes  in  der  alten  kirche 
mit;  als  berater  in  bezug  auf  das  gotisch-sprachliche  hat  mir 
mein  freund  FWrede  zur  seite  gestanden;  aus  einem  langen 
Verzeichnis  von  zweifelfragen,  die  sich  ihm  bei  vergleichung  des 
Goten  mit  dem  Streitbergschen  Griechen  aufdrängten,  hab  ich 
die  anregung  zu  diesem  aufsatz  empfangen  und  einen  grofsen 
teil  des  hier  nur  in  knapper  auswahl  anzuführenden  Stellen- 
materials bezogen. 

Die  mängel  des  eklektischen  Verfahrens,  mit  dem  einst  Bern- 
hardt unter  auffälliger  bevorzugung  des  codex  Alexandrinus  (A) 
die  griechische  vorläge  des  Ulfilas  widerzugewinnen  meinte,  liegen 
klar  zu  tage,  dass  Bernhardts  griechischer  text  aber  nicht 
selten  genauer  zum  gotischen  stimmt  als  der  Streitbergs,  hat 
auch  Braune  bemerkt;  er  will  nur  nicht  zugeben,  dass  dies  zu 
einigem  mistrauen  gegen  Streitberg  reize,  in  dem  nicht  unerheb- 
lichen abstand  zwischen  Streitbergs  Goten  und  Griechen  trete 
eben  der  starke  einfluss  zu  tage,  den  in  den  Jahrhunderten 
zwischen  Ulfilas  und  den  uns  erhaltenen  gotischen  handschriften 
der  altlateinische  text  (Itala)  'durch  gotische  kritiker'  auf  den 
Ulfilas-text  geübt  habe,  soll  denn  nun  aber  die  von  Jacob  Grimm 
als  'das  förderlichste  und  unerlässlichste  für  das  Verständnis  der 
gotischen  arbeit'  verlangte  nebeneinanderstellung  von  vorläge 
und  text  der  Übersetzung  blos  dazu  dienen,  den  process  der  Zer- 
störung des  Ulfilas-textes  durch  fremde  zutaten  zu  veranschau- 
lichen? Streitberg  stimmt  ausdrücklich  Kauffmann  zu,  wenn  der 
erklärt,  dass  die  gotischen  sprachreste  ohne  die  quellen  unver- 
ständlich seien,  ist  dem  so,  dann  hat  der  germanist,  der  die 
gotische  bibel  studiert,  nichts  so  nötig,  als  dass  ihm  die  unmittel- 
bare vorläge  des  jetzt  noch  vorhandenen  gotischen  textes  vor 
die  äugen  gehalten  wird,  in  der  regel  also  ein  griechischer,  in 
den  ausnahmefällen,  wo  die  Itala  sich  —  was  ich  durchaus  nicht 


GRIECH.  VORLAGE  D.  GOTISCHEN  BIBEL         367 

bestreite  —  eing-edrängt  hat,  ein  lateinischer  text.  ihm  nützt 
es  wenig-,  zu  wissen,  was  Ultilas  in  seiner  vorläge  gelesen  haben 
kann,  wenn  ihm  nicht  genau  gesagt  wird,  welcher  griechische 
(oder  lateinische)  text  dem  gotisch  überlieferten  entspricht  und 
in  den  gotischen  Überresten  widergegeben  werden  will.  ich 
glaube,  es  würde  für  ihn  das  lehrreichste  sein,  genau  und  voll- 
ständig die  griechischen  lesarten  mitgeteilt  zu  erhalten,  die, 
handschriftlich  bezeugt,  dem  Wortlaut  des  heutigen  Goten  ent- 
sprechen: dass  er  zb.  nicht  blofs  n'Lolu  als  griechische  vorläge 
list,  wo  auch  nKOiäquc,  nicht  blofs  oSv,  wo  auch  6i  und  yccQ, 
nicht  blofs  iv  odßßaoiv,  wo  auch  oaßßaroig,  nicht  blofs 
dQxi£Q€vs,  wo  auch  icQevg  nach  klaren  analogieen  oder  nach 
anderen  zeugen  gestanden  haben  könnten. 

Aber  noch  gefährlicher  wird  die  benutzung  der  Streitberg- 
schen  Bibel  für  theologische  textkritiker  werden,  wenn  sie, 
was  bei  Streitberg  auf  der  griechischen  seite  gedruckt  ist,  auf 
diese  autorität  hin  als  durch  gotisches  zeuguis  gedeckt  hinnehmen, 
wer  gröfsere  Sammlungen  veranstaltet,  wird  ja  wol  bald  darauf 
aufmerksam  werden,  dass  unzähliche  male  das  was  in  Tischendorfs 
'octava'  unter  der  marke  'go'  läuft,  sich  bei  Streitberg  nicht 
findet:  es  ist  auch  eine  eigne  fügung,  dass  die  meisten  der  sonder- 
lesarten  des  Goten,  die  von  Soden  noch  mühsam  erklärt,  bei 
Str.  in  der  griechischen  vorläge  überhaupt  nicht  auftauchen, 
bei  gelegentlichem  nachschlagen  indessen  muss  eine  einrichtung 
schaden  stiften,  die  vorläge  und  Übersetzung  nebeneinander 
druckt,  ohne  durch  zeichen  im  text  das  übereinstimmende  und 
sichere  von  dem  blofs  angenommenen  und  differierenden  zu  unter- 
scheiden, die  fanmerkungen  zählen  längst  nicht  alle  fälle  auf 
wo  die  correspondenz  zwischen  Goten  und  Griechen  eine  unbe- 
friedigende ist,  aber  auch  wenn  sie  es  täten  —  und  mau  muss 
sie  schon  immer  aus  den  verschiedenen  apparaten  zusammen- 
suchen — ,  so  wird  der  nicht  mit  dem  gotischen  idiom  vertraute 
forscher  manches  mal  zu  einem  falschen  urteil  verleitet  werden, 
sollte  es  nicht  das  zweckmäfsigere  verfahren  sein,  im  griechischen 
text,  meinetwegen  eklektisch,  immer  die  lesart  aufzunehmen, 
die  dem  Goten  genau  entspricht,  und  im  apparat  das  material 
mitzuteilen,  das  auf  Umwandlung  des  echten  Ulfilastextes 
schliefsen  lässt?  in  den  fällen  wo  blofs  Lateiner  den  vom  Goten 
gebotenen   text   bezeugen,    wie  in  denen    wo    aufser  allen  Itala- 

24* 


368  JÜLICHER 

zeugen  andre  zweifellos  vom  Lateiner  unbeeinflusst  gebliebene 
Versionen  mit  dem  Goten  gehn,  wie  endlich  auch  in  den  wenigen 
fällen  wo  der  Gote  ganz  allein  steht,  könnte  man  das  grie- 
chische correspondens  in  klammern,  mit  kleineren  typen  oder 
einem  ähnlichen  mittel  aus  dem  gesicherten  griechischen  text 
herausheben.  Streitberg  aber  nimmt  in  mengen  lesarten  in 
seinen  Griechen  auf,  die  er  lediglich  durch  eine,  allerdings  syste- 
matische, conjecturenarbeit  zwar  nicht  überhaupt  erfunden,  aber 
doch  an  diesen  platz  gebracht  hat:  ist  das  nun  'gute  philo- 
logische methode',  solche  conjecturen  ohne  jede  auszeichuung 
in  den  text  einzuschieben  ?  der  einwand  ligt  freilich  nahe,  dass 
dieser  Streitbergsche  Grieche  ja,  wie  jeder  wisse,  nicht  etwas 
handschriftlich  überliefertes,  sondern  aus  anderer  Überlieferung 
erschlossenes  sei.  indessen  wird  doch  niemand  bestreiten,  dass 
wir  bei  der  textkritik,  zumal  der  ungeheuer  complicierten  text- 
kritik  der  Bibel,  um  jeden  preis  das  arbeiten  mit  'erschlossenen' 
texten  vermeiden  müssen:  die  lesarten  die  ich  in  einem  Varianten- 
apparat mit 'go' als  die  von  der  gotischen  bibelübersetzung  gestützten 
anführe,  dürfen  immer  nur  die  in  den  gotischen  Codices  gebotenen 
sein:  nicht  was  Streitberg  der  vorläge  der  Ullilas  zuschreibt, 
sondern  was  in  gotischen  Urkunden  aus  dem  6  oder  7  jh.  erhalten 
ist,  hat  zeugniswert:  wer  wird  den  sinaitischen  Syrer  ('syr  sin"), 
die  oberägyptische  ('sah")  und  die  armenische  Version  ('arm'),  das 
Speculum  Pseudo-Augustini  eitleren  und  unter  solchen  sigla  einen 
text  geben,  den  er,  wenn  auch  mit  den  besten  gründen,  nur  für 
den  verlorenen  archetyp  jener  Übersetzungen  in  anspruch  nimmt? 
wie  hat  es  John  Gwynn  in  seiner  musterhaften  reconstruction  der 
griechischen  vorläge  des  philoxenianischen  Syrers  zu  u  Ptr.  ii 
III  Joh.  Jud.  (Remnants  of  the  later  Syriac  versions  of  the  Bible, 
London   1909)  gehalten? 

Und  selbst  dem  Verständnis  der  geschichte  der  gotischen 
Bibel  und  der  Würdigung  ihres  litterarischen,  vielleicht  sogar 
religiösen  wertes  könnte  die  methode  der  textreconstruction  bei 
Streitberg  nur  dann  gute  dienste  leisten,  wenn  sie  von  ganz 
sicheren  prämissen  ausginge,  das  gegenteil  ist  der  fall,  weder 
Kauffmann  noch  de  Lagarde  noch  von  Soden  haben  ein  fundament 
zu  legen  vermocht,  auf  dem  Streitberg  seine  külinen  bauten  ohne 
bedenken  aufrichten  dürfte. 

Gewis   ist  a  priori    wie   durch   vergleichung    der   gotischen 


GRIECH.  VORLAGE  D.  GOTISCHEN  BIBEL         369 

liandschriften  auf  den  strecken,  wo  ihrer  zwei  den  gleichen  ab- 
schnitt der  Bibel  überliefern,  dass  wir  den  Ulfilas-text  nicht 
mehr  völlig  unverändert  besitzen;  ei-  hat  wie  alle  andern  grund- 
und  Übersetzungstexte  in  2  Jahrhunderten  mehrfache  depravationen 
erlitten,  dass  es  aber  nach  Ulfilas  noch  eine  neue  recension 
seiner  Übersetzung  gegeben  hat,  ist  nicht  erwiesen;  auf  die 
legende  von  den  gotischen  kritikern  werde  ich  unten  genauer 
eingehen,  im  gegenteil  existieren  wol  von  keiner  Version,  selbst 
die  sj'rische  eingeschlossen,  so  wenige  erhebliche  Varianten 
wie  von  der  gotischen,  freilich,  seit  man  gotische  Bibelbücher 
neben  einem  lateinischen  text  abschrieb,  hat  hier  wie  bei  andern 
bilinguen  der  eine  text  auf  den  andern  etwas  abgefärbt;  bei  dem 
codex  Brixianus  (f)  soll  ja  nach  der  feinen  Burkittschen  h3'po- 
these  lediglich  der  Lateiner  der  leidende  teil  gewesen  sein:  in 
sonstigen  fällen  darf  man  auch  mit  dem  umgekehrten  rechnen,  und 
darum  bleibt  überall,  wo  eine  lesart  des  Goten  nur  noch  durch 
altlateinische  zeugen  unterstützt  wird,  die  raöglichkeit,  bisweilen 
Wahrscheinlichkeit,  bestehn,  dass  hier  der  erste  Ulfilas-text 
einem  lateinischen  einfluss  erlegen  ist.  solche  latinisierung  der 
gotischen  Bibel  wird  man  aber  nicht  früher  als  seit  dem  5  Jh., 
wo  die  Goten  ganz  in  die  abendländische  weit  herübergerückt 
sind,  ansetzen ;  um  dieselbe  zeit  hört  der  connex  der  Goten 
mit  der  griechischen  Überlieferung  auf;  nach  griechischen  hand- 
schriften  vorgenommene  emendationen  im  Ulfilas-text  würden 
nur  in  das  erste  Jahrhundert  nach  Ulfilas  noch  hineinpassen, 
aber  wer  von  der  alleinherschaft  der  lucianischen  Bibel  in  der 
diöcese  Konstantinopel  so  fest  überzeugt  ist  wie  die  neueren 
germanistischen  bibeltextkritiker,  müste  doch  erst  ein  motiv  für  die 
correctoren  aufw'eisen,  den  Ulfilas  zu  verbessern,  wenn  diese 
lediglich  die  gleichen  griechischen  handschriften  vor  sich  hatten 
wie  Ulfilas.  factisch  ligt  aber  an  dieser  stelle  der  verhängnis- 
vollste Irrtum  in  den  anschauungeu  Streitbergs,  die  drei  recen- 
sionen  der  griechischen  Bibel,  die  vSoden  nachgewiesen  haben 
will,  K,  J  und  H,  sind  vorläufig  noch  nicht  mehr  als  ein  ver- 
such, Ordnung  in  die  vaiiantenraassen  zu  bringen:  ob  er  sich 
besser  bewähren  wird  als  ältere  versuche  gleicher  art,  zb.  als  der 
von  Westcott-Hort,  der  über  15  jähre  in  weiten  kreisen  fast 
als  infallibel  galt,  muss  sich  erst  zeigen,  dass  es  eine  Lucian- 
und  eine  Hesychius-recension  vom  Alten  Testament  gegeben  hat, 


370  JULICHER 

dass  die  erste  von  Antiochien  aus  über  Asien  nach  Konstan- 
tinopel gedrungen  ist  und  schliefslich  mit  Bj'zanz  allein  das  feld 
behalten  hat,  die  zweite  in  Ägypten  und  seinen  nachbarländeru 
dominiert,  dort  aber  mit  dem  griechischen  Christentum  ausstirbt, 
steht  allerdings  aufser  zweifel.  viele  eigentüralichkeiten  Lucians 
und  des  'Hesychius'  sind  auch  bei  den  neutestamentlichen  texten 
zu  beobachten,  und  auch  da  weichen  aulfällig  schroff  die  ägyp- 
tischen lesarten  von  den  späteren  konstantinopolitanischen  ab. 
vielleicht  kommen  wir  noch  einmal  bis  dicht  heran  an  die  Ur- 
form von  K  (dh.  die  des  späteren  textus  receptus  =  -/.OLvri)  und 
an  die  von  H  (dh.  die  des  Ägypters),  aber  bisher  sind  die  Ur- 
formen noch  nicht  rein  herausgeschält  worden,  der  text,  den 
de  Lagarde  für  die  historischen  bücher  des  Alten  Testaments 
als  'echten  Lucian'  ediert  zu  haben  glaubte,  ist,  wie  jeder 
Septuaginta-forscher  weifs,  keineswegs  der  reine  Lucian,  noch 
weniger  stimmt  der  reine  Lucian  beim  Alten  oder  Neuen 
Testament  mit  dem  uns  wolbekannten  typus  des  'textus  receptus' 
überein;  und  die  von  den  kirchenschriftstellern  des  4  und  5  jh.s, 
insbesondere  auch  von  Chrysostomus,  benutzten  handschriften 
bieten  mischtexte,  es  wäre  ein  wunder,  wenn  dem  Ulfilas  in 
seinem  abgelegenen  winkel  bei  Nikopolis  ein  musterexemplar  der 
vorläufig  noch  imaginären  reinen  K  zur  Verfügung  gestanden 
hätte;  er  wird  in  gutem  glauben  an  die  Zuverlässigkeit  seiner 
handschrift  sich  auch  nicht  viel  um  Varianten  bekümmert  haben, 
woher  nimmt  man  das  recht,  dem  Ulfilas  gerade  einen  neu- 
testamentlichen  text  als  vorläge  zuzudictieren,  der  entweder  mit 
der  handschriftengruppe  KL  bei  den  Paulusbriefen  und  EGH  bei 
den  evangelien  oder  mit  Chrysostomus,  oder  doch  mit  KU  bei  den 
evangelien  zusammenzutreffen  hatV  woher  weifs  man,  dass  speci- 
fisch  abendländische  lesarten  erst  nachträglich  in  Ulfilas  Bibel 
hineingelangt  sein  können?  kann  denn  nicht  seine  vorläge,  eine 
sonst  nicht  oder  noch  nicht  weiter  bemerkte  classe  des  KoivrJ- 
textes  darstellen,  die  von  lateinischer  seite  allerlei  merkwürdig- 
keiten  aufgenommen  hatte?  wir  finden  Ulfilas  in  regem  freund- 
schaftlichen verkehr  mit  den  arianischen  bischöfen  der  Donau- 
provinzen, deren  gemeinden  gröstenteils  zweisprachig  waren, 
die  jedenfalls  lateinische  und  griechische  bibeln  nebeneinander 
benutzten :  das  geistige  leben  war  in  den  Donauprovinzen  gerade 
im  4  jh.   äufserst    frisch,    wie    später    nie    wider:    pannonische, 


GRIECH.  VORLAGE  D.  GOTISCHEN  BIBEL         371 

mösische,  dacische  bischöfe  gehören  zu  den  führern  der  kirch- 
lichen Parteien:  welche  provinz  war  geeigneter  zur  geburtsstätte 
eines  latinisierenden  K-textes  als  das  Mösien  des  4  jh.s.  aus  dem 
ülfilas  doch  wol  sein  bibelexemplar  bezogen  haben  wird?  ich 
will  damit  durchaus  nicht  spätere  eindringlinge  lateinischer 
herkunft  in  den  Ultilas-text  ableugnen,  ich  warne  nur  vor  dem 
Vorurteil  von  dem  Streitberg  sich  beherscht  zeigt,  wonach  eine 
lesart  des  Goten,  die  nicht  durch  einen  zweifellosen  K-zeugen, 
dagegen  durch  einen  oder  mehrere  Lateiner  bezeugt  ist,  sofort 
dem  verdacht  nachulfilanischen  Ursprungs  verfällt,  sehr  häufig 
handelt  es  sich  dabei  um  lesarten  von  zweifellos  nur  latei- 
nischem Ursprung  —  mit  vSoden  zu  reden,  sind  es  aus  J  oder 
aus  H  geflossene  — ,  warum  sollen  diese  denn,  wie  sie  ins  abend- 
land  wanderten,  nicht  auch  schon  vor  360  in  Ulfilas  griechische 
Bibel  hineingelangt  sein? 

Wenn  vollends  der  überlieferte  Gote  lesarten  bringt,  die  zu 
K  nicht   passen,   dagegen  in    einer  morgenländischen  Über- 
setzung,   bei   welcher  Itala-einflüsse  ausgeschlossen  sind,  beim 
Armenier,  bei  den  Syrern,   Kopten,  genaue  parallelen  finden,    so 
darf    man    diese   keinesfalls  als  spätere  lateinische  eindringlinge 
in   den  Ulfilas-text  beseitigen,    blos   weil   sie  irgendwo  auch  ein 
Lateiner   unterstützt,     wie  die  griechische  Bibel  des  Ulfilas  aus- 
gesehen   haben  muss,    wissen  wir  eben  nicht,    sondern   werden 
dem    auch   nach   den   forschungen    von  de  Lagarde,    Kauffmann 
und  vSoden  weiter  nachforschen  müssen;    und  hoffnung  das  ziel 
zu    erreichen     haben    wir    nur,    wenn     wir  uns   so   streng    wie 
möglich    an    den   gotischen   text  halten,    nicht  wenn  wir  diesen 
nach    einer    vorgefassten    meinung    über  die  handschriftenclasse, 
zu    der   des  Ulfilas    vorläge  gehört  haben  müsse,    meistern,     an 
einigen    stellen    verrät    der    überlieferte    gotische    text    in    der 
structur  sclavische]  abhängigkeit  von  einem  Lateiner:  solche  wird 
mit  recht  dem  Ulfilas  nicht  zugetraut.    Str.  hört  sogar  Störungen 
der  ursprünglichen  satzmelodie  in   dem  jetzt   überlieferten  goti- 
schen  text   heraus  —   eine    Sinneswahrnehmung,    zu   deren  höhe 
ich  mich  bei  einer  so  auf  wörtlichkeit  bedachten  Übersetzung 
nicht  aufzuschwingen  vermag:  doch  darf  man  diese  störungsfälle 
aus  der  discussion  herauslassen,     wo  aber  kein   mensch   an  eine 
andere  als  eine  griechische  vorläge  denken  würde,  sollten  wir  m.  e. 
eben  jenen  griechischen  text  'reconstruieren',  selbst  wenn  er  bis- 


372  JULICHER 

her  nicht  griechisch,  wol  gar  nur  bei  lateinischen  zeugen  nach- 
gewiesen wäre,  dass  der  so,  allein  oder  doch  ganz  vorwiegend 
auf  grund  der  gotischen  Überlieferung  hergestellte  text  der 
griechischen  Ulfilas-vorlage  keiner  bisher  bekannten  handschrift 
der  Bibel  und  auch  keiner  'classe'  genau  entspricht,  dass  er  den 
eindruck  macht,  durch  eklektisches,  soll  heifsen  willkürliches  ver- 
fahren construiert  zu  sein,  gereicht  ihm  lediglich  zur  empfehluug. 
durch  Willkür  waren  ja  die  meisten  Bibelhandschriften  des  4  jh.s 
das  geworden  was  sie  sind:  warum  soll  gerade  die  von  Ultilas 
benutzte  so  correct  einen  t3'pus  repräsentieren?  zum  min- 
desten in  der  vorarbeitsperiode  der  biblischen  textkritik  in  der 
wir  heute  noch  stehn,  darf  eine  systematische  'reconstruction' 
der  griechischen  vorläge  überhaupt  für  keine  Übersetzung  unter- 
nommen werden,  weil  kein  'system'  sich  fest  genug  begründen 
lässt.  damit  wir  später  ein  System  gewinnen,  müssen  wir  vor- 
läufig von  dem  einzelnen  statt  vom  ganzen  ausgelm.  die  vor- 
läge des  Ulfilas  ist  durch  möglichst  getreue  rückübersetzung 
des  gotischen  ins  griechische  mit  hilfe  der  griechischen  Bibel- 
ausgabe und  ihres  Variantenapparats  zurückzuerobern,  nicht 
durch  eine  angleichung  des  Goten  an  einen  in  Wahrheit  gar  nicht 
bestimmbaren  K-  oder  Chrysostomus-text.  doch  halt  ich  es 
für  noch  bedenklicher,  wenn  Streitberg  die  abweichungen  der 
gotischen  handschriften  von  der  griechischen  vorläge  fast  ebenso 
oft  wie  durch  concessionen  an  die  Itala  durch  beeinflussung  von 
parallelstellen  her  erklärt  und  bei  Mc.  in  der  griechischen  vor- 
läge des  Goten  fortlässt,  was  dieser  aus  der  parallelstelle  bei 
Lucas  widerrechtlich  hinzugefügt  haben  soll.  die  profunde 
bibelkenntnis,  die  damit  vorausgesetzt  wird,  ist  wahrlich  leichter 
den  Griechen  zuzutrauen,  die  u,  a.  auch  Ulfilas  vorläge  ge- 
schrieben haben,  als  den  theologisch  offenbar  nicht  gerade  tief 
gebildeten  Halbgoten  oder  Goten:  und  wenn  das  streben  nach 
buchstäblicher  treue  dem  Übersetzer  Ultilas  auf  der  stirn  ge- 
schrieben steht,  soll  e  r  nun  gerade  für  alle  möglichen  confor- 
mationen  weit  auseinanderliegender  textstellen  verantwortlich 
sein,  die  doch  vornehmlich  die  lieblingsbeschäftigung  der  grie- 
chischen abschreiber  bildeten?  der  gefahr  des  gedächtnismäfsigen 
conformierens  ähnlicher  sätze  unterligt  der  blofs  mit  der  band 
beschäftigte  belesene  abschreiber,  nicht  der  arbeiter,  der  die 
mühe  des  suchens  nach  treffender  Übersetzung  hat. 


GRIECH.  VORLAGE  D.  GOTISCHEN  BIBEL.        373 

Es  handelt  sich  um  mehrere  huuderte,  vielleicht  über 
1000  stellen,  an  denen  nach  den  eben  ausgeführten  grundsiitzen 
der  griechische  text  Streitbergs,  sofern  er  die  vorläge  des  Ul- 
filas  darstellen  soll  und  nicht  das  Idealbild  einer  Bibel  aus  der 
Konstantinopler  diöcese,  ersetzt  werden  muss  durch  eine  dem 
gotischen  Wortlaut  genau  entsprechende  gestalt!  ich  begnüge 
mich  einige  belegstellen  anzuführen,  kleinigkeiten  der  Wortstellung 
gemischt  mit  sachlich  bedeutsamen  Varianten,  wobei  nebenher  auch 
die  Unmöglichkeit  für  Streitberg  bei  seinem  system  consequent 
zu  verharren  herausspringen  wird. 

Rom.  7,  4  Str.:  ÜGve,  dde'/.cpoi  /iiov,  y.ai  vf.i£ig.  nach  go 
wäre  zu  schreiben:  wGze  v.cd  v^ietg,  döelcpol  /.lov.  nicht  blofs 
cod.  Sinait.  und  '2  Minuskeln",  sondern  der  Armenier  und  Johannes 
Damascenus  haben  mit  dem  Goten  diesen  text:  den  von  Str.  be- 
vorzugten bieten  sowol  K  als  alle  Lateiner,  mithin  versagt  der 
lateinische  einfluss,  um  an  dieser  stelle  die  abweichung  des  Goten 
von  K  zu  erklären,  aber  eine  H-Iesart  —  wie  cod.  Sin.  sie  bietet  — 
darf  einfach  dem  Ulfilas  nicht  vorgelegen  haben! — Luc.  15,  12 
Str.  ymI  dul/.€v  avroTg  xöv  ßiov.  der  Gote  las  töv  ßiov  avxov 
{sices  sein):  Str.  notiert  die  abweichung  nicht  einmal,  die  von 
Tjateinern  nur  der  africanische  codex  e  vertritt,  sonst  aber  Syrer 
und  Ägypter.  —  gerade  so  steht  es  um  den  singular  eig  rdv 
dyQÖv  avrov  v.  15  statt  des  von  Str.  in  den  griechischen  text 
recipierten  Tovg  dyQOvg,  wo  aber  auch  noch  einige  Griechen  den 
Goten  unterstützen:  gehört  nicht  beidemal  das  genau  dem  Goten 
entsprechende  in  die  'griechische  vorläge'?  —  v.  Soden  hat 
s.  1470  als  einen  der  wenigen  Fälle  von  'Omissionen'  im  gotischen 
bibeltext  das  bei  Tischendorf  nicht  notierte  fehlen  von  y.al  in  Mt. 
8,  33  aufgeführt;  Str.  setzt  in  seiner  griechischen  vorläge  ein- 
fach jtdvra  y.al  rä  twv  6af.ioyi^0f.üvwv  und  lässt  uns  über 
den  grund  des  verschwindens  von  y.ai  trotz  dem  verweis  auf  Mc. 
5,  16  im  dunkeln.  —  Mt.  8,  32''  lautet  sein  Grieche  näoa  i)  dye/.r] 
Tö)'  yoiQiov,  sein  Gote  blols  alla  so  hairda:  laut  App.  in  fehlt 
Twv  yoiQcor  nach  Lc.  8,  33  Mc.  5,  13  vgl.  SinBC^M^  it  vg.  die 
rechtfertigung  dieser  auslassung  mit  dem  hinweis  auf  die  synopti- 
schen parallelen  ist  mir  unbegreiflich ;  ich  dächte,  wo  in  3  Zeilen 
dreimal  wie  im  K-text  von  Mt.  8,  3 1  f.  das  breite  ^  dye/.rj  rCJv 
XOiQiov  sich  lästig  maclite,  konnte  selbst  Ullilas  es  ohne  einen 
Blick  auf  Lc.  und  Mc.  bei  der  letzten  widerholung  abkürzen :  und 


374  JÜLICHER 

wenn  auch  cod.  J  in  v.  32''  sich  mit  ^  d/£'/.j^  begnügt,  ob- 
gleich er  31  und  32"  treulich  K*  inj)  dyelt]  tQv  y^lgtov  ge- 
folgt war,  möcht  ich  den  gleichen  mut  schon  der  vorläge  des 
Ultilas  zutrauen,  bei  einem  so  wenig  zu  'Omissionen'  neigen- 
den textzeugen  wie  dem  Goten  ist  Streitbergs  entscheidung  noch 
besonders  kühn;  aber  zb.  Mc.  6,  25  setzt  er  ebenso  unbedenk- 
lich das  von  go  fortgelassne  iBavrfjg  in  die  vorläge  ein,  ver- 
weist wieder  bloss  im  dritten  apparat  auf  Mt.  14,  8  und  c  f  (D)  — 
obwol  er  uns  gelehrt  hat,  f  als  einen  nach  dem  Goten  corrigierten 
Lateiner  gar  nicht  mitzuzählen.  —  Job.  7,  46  hat  vS.  die  Aus- 
lassung eines  ovrcog  {ovölnore  o^Twg  i'/.a'/.rjOev  ävd-qtOTtog  cbg 
o^tog  6  ävd-QWTtog)  im  Goten  constatiert;  bei  Str.  bietet  die  vor- 
läge gleichwol  ovTcog  i'/Mlrjaev:  eine  anmerkung  belehrt  uns  dann, 
das  ovriog  sei  nicht  ausgedrückt,  vgl.  n  Cor.  9,  5.  aber  ii  Co.  9,  5 
steht  ovriog  unmittelbar  vor  wg  und  konnte  leicht  untergehn; 
mit  der  fortlassung  in  Joh.  7,  46  —  der  die  Umstellung  elälrjoev 
ovTiog  vorausging  —  hat  der  Gote  den  Armenier  zur  Seite. 

Mt.  5,  19'^  druckt  Str.  y.ai  didd§r],  o-örog.  der  Gote  bietet 
jali  laisjai  stva,  sah  .  .  Str.  notiert  dazu,  swa  -  sei  zusatz  nach  stva^, 
vgl.  b  c  h  m.  was  soll  die  doppelerklärung?  wenn  in  19''  su-a 
aus  19'  eingedrungen  ist,  so  bedarf  es  doch  der  beruf ung  auf 
die  Lateiner  nicht,  bei  denen  s/c  an  beiden  stellen  steht:  und  kann 
diese  conformation  von  19''  nach  19 »  nicht  gleich  gut  in  der  grie- 
chischen vorläge  gestanden  haben,  zumal  dort  nicht  wenige  Grie- 
chen ovTcog  statt  otrog  lasen?  —  Mc.  16,  8  lautet  Str.s  Grieche 
Y.ai  s^el&ovGaL  ecpvyov  oltcö  tov  fivrjfxeiov;  der  Gote  vertritt 
mit  seiner  Stellung  jah  usgaggandeins  af  pamma  hlaiwa  gaplau- 
hun  sogar  einen  andern  Sinn,  der  Af  ricaner  k  schreibt  auch: 
cum  exirent  a  monumento  fiigenmt  gegen  vg.:  exeuntes  fugerunt 
de  monumento.  sollte  das  keine  Variante  sein?  und  sollte  sie  in 
den  Goten  nur  durch  lateinischen  einfluss  nachträglich  eingedrungen 
sein?  —  Joh.  10,  4  liest  man  im  Griechen  bei  Str.  rä  i'dia  Ttgößara, 
im  Goten  po  swesona  (lamha):  'die  ergänzung  lamba  entspricht 
dem  text  der  recension  *K'!  im  ersten  apparat  hiefs  es  rä  cöia 
nQÖßaTa*Kigvg,Td  löia'ftävTa Tecens\on*J ,rd  löia  Sin**^^  hätte 
die  ergänzung  ngößata,  wenn  eine  andere,  nämlich  Ttdvra,  auch 
im  K-gebiet  bezeugt  ist  und  das  blol'se  rd  i'öiu  —  hinter  v.  3  doch 
völlig  ausreichend!  —  eine  alte  handschrift  für  sich  hat,  nicht 
im  griechischen  text  mindestens  auch  durch  ein  zeichen  als  frag- 


GRIECH.  VORLAGE  D.  GOTISCHEN  BIBEL  375 

lieh  hingestellt  werden  müssen?  vSoden  ergänzt  ja  doch 
Ttävzal  — 

Luc.  L  10  schreibt  Str.  in  der  vorläge  nQOö€v-/öi.ievov, 
trotzdem  der  Gote  beldandans  bietet,  "änderung  nach  v.  21'  — 
wo  TtQOodoy.äv  dem  beidandans  entspricht,  nnn  wissen  wir  durch 
Gregory  Textkritik  in  s.  10,  32,  dass  einer  der  besten  Codices 
der  K-classe,  Y,  in  Luc.  I,  10  rtQOodexöiisvov  hat;  sollte  nicht 
in  der  vorläge  des  Goten  v.  10  dasselbe  gestanden  haben? 

Mc.  2.  4  heifst  Jesus  hinter  örcov  ^v  bei  Str.  'zusatz  aus 
einem  lectionar':  wenn  Str.  zugleich  daran  erinnert,  dass  beinahe 
alle  Lateiner  das  Jesus  im  text  haben  (ebenso  übrigens  syr^'^^ 
arm  aeth.  I),  sollte  man  dann  nicht  lieber  die  Lateiner  als  ein 
so  uraltes  'lectionar'  für  die  quelle  dieser  wahrlich  naheliegenden 
ergänzung  halten,  falls  man  sie  der  Ulfilasvorlage  nun  einmal 
nicht  zuweisen  will?  und  empfähle  es  sich  nicht  den  griechi- 
schen text  dann  zu  drucken  öftov  ^v[6  IrjOovg],  wie  in  einem  falle 
sicherer  Interpolation  Mt.  27,  42  auch  unzweideutig  -/.araßärio  vvv 
unö  xov  oravQOv  [tva  i'öw/^iev?]  y.al  TtLarevGOjiiev  avr<r)  (nicht 
irt  avT(ß,  trotz  *K)?  wenn  an  letzterem  orte  Str.  TtLarevooiiiev 
en  cciJT(p  druckt  und  unter  dem  text  notiert,  avrcp  sei  die  lesung 
von  AD  it  vg,  so  scheint  er  zu  glauben,  der  Gote  habe  dem 
Lateiner  zu  liebe  ein  ursprüngliches  £7r'  gestrichen,  ich  gesteh 
beim  Goten  die  bewusten  Omissionen  überhaupt  für  äufserst  un- 
wahrscheinlich zu  halten,  diese  aber  für  besonders  wenig  glaub- 
haft —  zumal  es  an  rein  orientalischen  zeugen  für  das  blofse 
avTCü,  auch  von  A  abgesehen,  nicht  fehlt! 

Statt  indess  eine  bunte  reihe  von  beispielen  aufzuführen, 
in  denen  mir  die  textconstitution  Streitbergs  auf  der  griechischen 
Seite  bedenklich  erscheint,  will  ich  lieber  einen  abschnitt  heraus- 
greifen, bei  dem  ich  gegen  seine  entscheidungen  verhältnismäfsig 
selten  etwas  einzuwenden  habe,  an  dem  sich  eben  deshalb  aber 
vielleicht  am  ehesten  demonstrieren  lässt,  dass  nach  Streitbergs 
System  nicht  alle  aufgaben,  die  er  sich  bei  dieser  Bibelausgabe 
stellt,  gelöst  werden  können,  ich  wähle  die  Überbleibsel  von 
I  Cor.  6,  1  bis  7,  17  etwa  eine  seite  griechischen  texts  254. 
256.  6,  1  schreibt  Str.  rokua  rig  v/.icöv  rcgäyiia  i'/cov  nQÖg 
xov  iregov.  nach  dem  Goten  wäre  zu  schreiben:  To'/.fiä  xig 
vuäjv  TCQÖg  xov  ixEQOv  Trgä'/fia  exiov.  wenn  auf  das  Verhält- 
nis von   go  zu  den  textclassen  hingewiesen  werden  soll,  so  ver- 


37G  JULICHER 

diente  erwähnung,  dass  Tig  v^iGJv  die  lesart  von  ■  H  und  DEFGit  vg 
ist,  die  wichtigsten  *K-zeugen  xig  i'i  vf.iojv  bieten,  das  rör  vor 
dör/.iov  (fram.  inivindaim)  ist  fraglich,  weil  bei  Theodoret,  dem 
kronzeugen  für  K,  eni  ddr/.wv  und  Int  c'r/Uov  überliefert  ist.  die 
Stellung  von  Ttgäy/^ia  ixcor  vor  ttqöq  töv  l'.  ist  allerdings  die 
von  LP.  zwei  haupthandschriften  der  *K-gruppe,  aber  Chrys.  und 
Theodoret  sprechen  dagegen,  und  das  töv  döe'/.rföv  avrov  statt 
TÖV  S'zeQov  bei  Chrj's.  verdiente  doch  auch  erwähnung. 

Str.  nötigt  dem  leser  den  glauben  auf,  das  gotische  jtQÖg 
TÖV  €T€QOv  7tQ.  Eitov  Sei  blofs  willkürliche  assimilation  an  den 
abendländischen  text  der  gruppe  DEFG.  hat  denn  die  Zustim- 
mung der  koptischen  Übersetzung  und  der  minuskel  119,  die  selbst 
in  döehpöv  statt  etsqov  mit  Chrysostomus  geht,  zu  der  Wort- 
stellung des  Goten  als  einem  ursprünglichen  bestandteil  der  Ulfilas- 
version keine  bedeutung?  —  7,  5  bezeugt  der  Gote  die  *K-inter- 
polation  T?y  vrjOTeiq  v.al  zweifellos,  aber  Str.  hätte  nicht  blols 
mitteilen  sollen,  dass  die  drei  werte  bei  P  und  Chr.  fehlen  — 
das  letztere  ist  nicht  einmal  richtig  —  sondern  dass  sie  bei  allen 
Lateinern  fehlen,  also  uns  bestätigen,  wie  wenig  im  gotischen 
text  den  Lateinern  zuliebe  gestrichen  worden  ist.  und  wenn  der 
Gote  sagt:  paproh  pan  samap  gawandjaip,  so  darf  man  dem 
nicht  einfach  das  griechische  y.al  nd'/.iv  inl  tö  avxö  ovvegyjjod-e 
gegenüberstellen,  sondern  sollte  ovveQxeo^e  (auch  avvegxeaihcu) 
als  Variante  notieren,  erst  recht  aber  aufser  auf  das  —  in  der  tat 
ursprüngliche  —  r;r£  (so  auch  DEFG!)  und  auf  die  paar  zeugen  die 
das  verb  ganz  auslassen,  darauf  aufmerksam  machen,  dass  Latei- 
ner, Syrer  und  Armenier  revertimini  bieten,  man  hat  also  für 
go  zwischen  dem  *K-text  und  dem  von  Lateinern  wie  von  orienta- 
lischen Übersetzungen  gebotenen  zu  wählen.  —  7,  7  ist  ^e'/.tt) 
yäg  statt  go  ip  tviljau  und  d)g  y.al  ifiavTÖv  statt  go  swe  mik 
silban  sicher  *K-text,  ^e'/.to  de  und  die  auslassung  von  y.al  haben 
vor  allen  dingen  bei  Lateinern  ihre  Unterstützung,  aber  wenn 
Str.  doch  im  apparat  in  auf  die  analogie.  von  7,  8  verweist, 
wo  offenbar  der  Übersetzer  das  pleonastische  y.al  der  vorläge 
{(bg  y.dycb)  wie  auch  sonst  oft  nicht  übertragen  habe,  so  hätte  er 
im  apparat  i  für  das  fehlen  von  y.aL  nicht  erst  halb  die  Latei- 
ner verantwortlich  zu  machen  brauchen.  t9  «'/w  8  e  statt  yäg  be- 
gegnet übrigens  in  allen  classen.  entschieden  vermisst  hab  ich 
bei  d)g  y.al  IfiavTÖv  die  notiz,  dass  Chrysostomus  hier  einen  zu- 


GRIECH.  VORLAGE  D.  GOTISCHEN  BIBEL         37  7 

satz  fv  syy.Qareia  vertritt,  von  dem  sonst  niemand  zu  wissen  scheint: 
9,  20  lesen  wir  beim  Goten  hinter  ni  luisand  silba  uf  witoda  einen 
ähnlichen  zusatz  ak  nf  anstai  (=  nU.ä  V7iö  yäqn>).  in  seiner  grie- 
chischen abteilung  nimmt  Str.  hiervon  keine  notiz,  markiert  nicht 
einmal  die  stelle  wo  die  Interpolation  eingedrungen  ist;  im  appa- 
rat  in  verzeichnet  er  sie  als  zusatz  aus  Rom.  6,  1 4.  1 5.  aber  warum 
dieser  zusatz  nicht  gerade  so  gut  schon  (wie  iv  kyv.qctxEic^  7,  7  bei 
Chrys.)  in  der  vorläge  des  ülfilas  gestanden  haben  soll,  verrät  er  uns 
nicht,  alle  jene  conformationszusätze  werden  weit  leichter  einem 
griechischen  bibelkundigen  vor  360  zuzutrauen  sein,  als  dem  Über- 
setzer, zumal  einem  so  auf  buchstäblichkeit  und  treue  bedachten 
wie  es  der  Gote  ist.  wenn  7,  8  *K  avroig  iariv  (P  blofs 
avTOiQ)  der  Gote  aber  ist  im  schreibt,  als  ob  er  ioriv  airoig 
in  seiner  vorläge  läse,  so  glaubt  ihm  Str.  das  nicht,  setzt  einfach 
avxoTg  eoziv  ein:  est  Ulis  defg  vg.  glaubt  er  im  ernst,  dass 
aufser  bei  anfertigung  einer  interlinearversion  ein  gotischer  ab- 
schreiber  oder  Übersetzer  sich  zu  dieser  Umstellung  durch  latei- 
nisches Vorbild  hätte  verführen  lassen?  —  7,  11  schützt  hoffent- 
lich P  mit  ro)  tdito  dvögl  den  Goten  vor  dem  verdacht,  sein 
seinamma  hinter  abin  aus  Vulg.  bezogen  zu  haben,  warum  wird 
aber  nicht  das  gotische  aft7"a  gagaivairpjan  beim  Griechen  durch 
[/ra/.iv?]  y.ata'/.layfivat  widergegeben  und  notiert,  dass  das 
rcd'/.ii'  sonst  unbezeugt  sei?  —  auch  7,  12  würde  ich  ni  afletai  po 
qen  nicht  dem  f.irj  drfiezco  avxriv  gleichsetzen,  und  qen  als  zusatz 
nach  ahan  v.  13  (das  seinerseits  der  Itala  zu  entstammen  scheint) 
verwerfen,  diese  ableitung  ist  bei  der  glänzenden  Vertretung  des 
röv  ävdoa  v.  13  durch  Griechen  doch  etwas  zu  kühn:  und  t^v 
yvvcuY.a  konnte  geradesogut  ein  Grieche  in  v.  12  der  gleich- 
mäfsigkeit  zuliebe  einsetzen  wie  ein  Gote.  wenn  in  v.  13  vom 
Goten  {sa)  otrog  statt  des  *K-  avTÖg  wiedergegeben  wird,  so  ge- 
hört es  in  den  griechischen  text:  der  apparat  darf  nicht  den 
anschein  erwecken,  als  stützten  es  nur  P  und  die  Lateiner:  es  ist 
die  aufser  bei  *K  durchweg  herschende  und  nicht  einmal  in  *K 
ganz  durchgedrungene  lesart.  —  7,  14  druckt  Str.:  i)yLaoTai  ydg. 
der  Gote  hat  blofs  weihaida  ist.  sollte  die  fortlassung  von  yÜQ 
sowohl  in  P  wie  in  go  nicht  der  berücksichtigung  wert  sein?  die 
Umstellung  der  glieder  14"  und  ii^  braucht  auch  nicht  auf  rech- 
nung  des  Goten  zu  kommen,  keinesfalls  aber  durfte  in  dem  apparat 
verschwiegen  werden,  dass  die  bei  den  Abendländern  so  beliebten 


378  JÜLICH  ER 

Zusätze  T^^  TtLOzf^  zu  iv  z?)  ywar/d  und  to»  tziotiC  zu  toT 
ccvÖQi  den  Goten  nicht  zur  nachahmung  gereizt  haben:  sogar  P 
teilt  die  glänzend  bezeugte  lesart  iv  riü  dÖ£?,cf(p  statt  ev  t(^ 
dvögi  reo  TTiorcp:  ist  er  vielleicht  darum  von  Lateinern  abhängig? 

—  7,  16''  scheint  bisher  nochicein  Grieche  rrjv  yvvaty.ä  oov  zu 
bezeugen,  aber  wenn  der  Gote  16''  qen  peina  gegenüber  blofsem 
aban  16^  vor  ^«was;;'ai.s  setzt,  wird  er  dazu  wol  durch  seine  vor- 
läge veranlasst  worden  sein.  —  v.  17  setzt  der  Gote  gup  in 
beiden  Vordersätzen,  während  die  übrigen  zeugen  in  verschiedner 
reihe  mit  ö  ^sög  und  ö  y.vQiog  abwechseln  :  Str.  setzt  an  zweiter 
stelle  trotz  dem  Goten  6  y.vQiog  in  den  griechischen  text  und 
scheint  die  corruption  auf  die  schuld  der  Lateiner  zu  schieben: 
könnte  dann  nicht  eher  noch  eine  dogmatische  reflexion  heran- 
gezogen werden,  die  die  'beruf ung'  der  menschen  laut  Eöm.  8,  29  f. 
gott  dem  vater  vorbehalten  zu  sollen  glaubte?  —  mit  recht 
schreibt  Str.  v.  \7^  ovriog  iv  xaig  i/,/.?j]oiaig  näoaLg  diazdo- 
GOf^iai.  aber  er  hätte  mitteilen  können,  dass  DEFG  und  die 
Lateiner  hier  diddGy.to  (doceo)  bieten.  —  wenn  Str.  v.  18^ 
Tig  iyJ.Ti^^t]  dem  gotischen  galapoda  ivarp  liicas  vorzieht,  trotz- 
dem auch  die  ägyptischen  Versionen  rig  nachstellen,  so  hätte 
er  sich  nicht  auf  Joh.  6,  46  berufen  dürfen,  wo  die  Stellung  von 
Tig  genau  so  unsicher  ist.  —  den  schluss  mag  heut  eine  besonders 
lehrreiche  stelle  aus  i  Cor.  9,  27  bilden,  dort  lautet  der  wahr- 
scheinlich echte  text  VTtcoTtid^io  /nov  rd  ocö(.ia  y.al  öovXayioyoi. 
*K  hat  statt  v7t(.07tiä'l(.o  die  lesung   VTtonie'^io  sich  angeeignet 

—  auch  Chrysostomus  durchweg,  trotzdem  es  nach  Tischendorfs 
apparat  anders  aussieht,  die  Lateiner  raten  an  dem  begriff 
herum  und  sind  zuletzt  bei  dem  farblosen  castigo  hängen  ge- 
blieben, der  Gote  hat  VTtiOTtidCio  richtig  verstanden  {wlizjan 
zu  anda-iüleizn  ^TtqöoioTtov'  wie  v/icoTtiÜLoi  zu  VTtcb/iia),  war 
also  gut  unterrichtet:  ak  leik  mein  wlizja  (jah  anapiioa),  und 
auch  spätere  gotische  recensenten  haben  sich  durch  keinen  La- 
teiner irre  machen  lassen,  nun  kommt  dasselbe  verb  noch  ein- 
mal vor  Luc.  18,  5.  wider  schreibt  *K  VTtOTtieLjj  /iie,  wider 
sind  die  Lateiner  in  vei'legenheit.  diesmal  heilst  es  beim  Goten: 
nsagljai  mis.  sollte  da  nicht  der  Gote  einer  deutung  im  sinne 
der  *  K-lesart  gefolgt  sein?  muste  im  apparat  nicht  min- 
destens auf  die  Unsicherheit  des  griechischen  textes  und  aufser- 
dem  bei  Lc.  18,  5  auf  i  Cor.  9,  27  und  umgekehrt  hingewiesen 


GRIECH.  VORLAGE  D.  GOTISCHEN  BIBEL.        379 

werden?  wäre  dieser  hinweis  nicht  ebenso  nötig  für  den  germa- 
nisteu,  der  die  bedeutung  gotischer  verba  feststellen  will,  wie  für 
den  textkritiker,  der  ohne  das  auf  Streitbergs  autorität  hin  an 
beiden  stellen  den  Goten  unter  die  V7iw7iia^€iv-zeügen  ein- 
reihen wird? 

Für  mich  unterligt  es  keinem  zweifei,  dass  die 
griechische  vorläge  des  Ulfilas  dem  jetzt  gotisch 
überlieferten  texte  viel  ähnlicher  gesehen  hat,  als 
sie  es  bei  Streitberg  tut.  doch  kann  ich  einen  stricten 
beweis  für  meine  meinung  so  wenig  beibringen,  wie  Str.  einen  für 
die  seinige.  ich  mache  ihm  auch  nur  den  einen  Vorwurf,  dass 
er  zu  rasche  und  sichere  folgerungen  aus  hypothetischen  Voraus- 
setzungen gezogen  hat.  er  will  uns  gebacknes  brot  vorsetzen, 
statt  das  körn  auf  der  tenne  zum  drusch  auszubreiten:  vorderhand 
ist  uns  aber  nur  diese  Vorarbeit  gestattet,  an  dem  gotischen  text 
sind  recht  wenig  spätere  emendationen  und  corruptionen  nach- 
weisbar: auffällig  ist  sein  schwanken  zwischen  *K-  und  abend- 
ländischen lesarten.  aber  weil  er  in  nicht  ganz  wenigen  fällen 
auch  einen  weder  von  *K  noch  von  den  Lateinern  stammenden  text 
vertritt,  in  einigen  wenigen  sogar  ganz  allein  einen  text  der  sehr 
wol  griechisch  reconstruiert  werden  kann,  fast  niemals  einen,  bei  dem 
das  geradezu  ausgeschlossen  wäre,  da  bei  den  Übereinstimmungen 
zwischen  ihm  und  den  Lateinern  gegen  *K  meist  auch  noch 
andere  Orientalen  ihn  unterstützen,  so  ist  es  vorläufig  noch  nicht 
erlaubt,  a  priori  nach  einem  kanon  abzumessen,  was  der  Gote 
aus  seiner  ursprünglichen  griechischen  vorläge  bezogen  haben, 
und  was  in  seinen  text  später  eingedrungen  sein  niuss.  es  wird 
noch  langer  arbeit  bedürfen,  ehe  wir  solch  einen  kanon  überhaupt 
aufstellen  können;  zunächst  scheint  mir  eine  der  nützlichsten 
vorbereitenden  arbeiten  eine  durchforschung  der  bilinguen 
Bibelhandschriften  —  gleichviel,  ob  lateinisch-gotisch  oder  kop- 
tisch-griechisch oder  griechisch-lateinisch  — ,  weil  wir  dadurch 
bestimmtere  mafsstäbe  gewinnen  werden  für  die  einschätzung  der 
einflüsse,  die  bei  dieser  einrichtung  von  der  einen  seite  auf 
die  andre  ausgehen,  namentlich  auch  für  die  entscheidung  der 
frage,  welcher  seite  dabei  die  passive  rolle  zuzufallen  pflegt, 
nach  der  Streitbergischen  construction  hätte  der  Gote  zugleich 
—  cod.  f!  —  den  Lateiner  zu  sich  herabgedrückt,  und  ander- 
seits —  vorher  —  bei  Lateinern  die  stärksten  anleihen  erhoben. 


380  JÜLICHER 

man  muss  sich  erst  einmal  klar  darüber  werden,  unter  welchen 
umständen  allein  dies  letztere  wahrscheinlich  zu  machen  ist.  bis 
heut  brauchen  wir  'go'  notwendigst  als  sigle  für  die  gotisch 
überlieferten,  nicht  für  die  von  Streitberg  reconstruierten 
lesarten.  und  es  ist  sehr  schade,  dass  die  dringend  erwünschte 
ergänzung  und  revision  des  apparats  bei  Tischendorf,  soweit  es 
den  Ultilas  angeht,  durch  diese  sonst  so  fleifsige  arbeit  nicht 
gefördert  wird. 

Etwas  kritischer  als  den  neuesten  hypothesen  über  die  text- 
classen  verhält  sich  Streitberg  ja  gegenüber  der  Sicherheit,  mit 
der  andre  nach  namen  für  die  eingebildeten  Überarbeiter  des 
Ulfilas  gesucht  haben:  gründlich  aufgeräumt  aber  hat  auch  er 
keineswegs  mit  dem  traumbild  der  Sunnia-Fretela- 
recension.  vielleicht  darf  ich  das  hier  nachholen,  über  die 
beiden  männer,  die  da  als  herausgeber  eines  verbesserten 
gotischen  bibeltextes  gelten,  wissen  wir  nichts  aufser  dem  was 
ein  an  sie  adressierter  brief  des  Hieronymus  (ep.  106)  erraten 
lässt.  FrKauffmann  erklärte  1900,  dass  dieser  brief  bisher 
gründlich  misverstandeu  sei.  seine  absieht,  ihn  an  seinen  wahren 
geschichtlichen  platz  zu  rücken,  ist,  wie  die  äufserungen  seiner 
Schüler  Mühlau,  Odefey,  aber  auch  des  ganz  unbeteiligten  theo- 
logen  Glaue  bezeugen,  glänzend  erreicht  worden:  hier  gilt  es 
fast  als  axiom,  dass  diese  beiden  gotischen  presbyter  eine  revision 
der  Ulfilas-Bibel  vorgenommen  haben,  und,  dass  ein  namenloser 
in  cod.  f  überlieferter  prolog  zu  einer  gotisch-lateinischen  evan- 
'gelienausgabe  das  werk  derselben  beiden  theologen  ist,  da  im  prolog 
der  gleiche  Widerwille  gegen  die  willkürlich  freie  Übersetzungs- 
technik des  Hieronymus  zum  ausdruck  gelange,  wie  —  nach  der 
antwort  des  angegriffenen  Hieronymus  zu  schliefsen  —  einst  in 
ihrem  briefe. 

Was  lehrt  uns  jeuer  Hieronymus-brief  in  würklichkeit? 
zunächst  bleibt  seine  abfassungszeit  ungewis.  sie  anfang  der 
90  er  jähre  anzusetzen,  war  ein  arger  fehler  von  Ohrloff,  denn  Hie- 
ronymus —  was  auch  Mühlau  richtig  erkennt  —  hat  bei  abfassung 
des  briefes  seine  drei  psalterübersetzungen,  also  auch  die  aus  dem 
hebräischen  längst  hinter  sich,  leider  hat  man  die  abfassungs- 
zeit dieses  Psalterium  iuxta  Hebraeos  noch  nicht  festgestellt, 
Lagarde  meinte  405,  Grützmacher  glaubt  392/93!  das  jähr  403 
schlug  Martianay   für  die  abfassung  von  ep.   106  vor,    weil  den 


GRIECH.  VORLAGE  D.  GOTISCHEN  BIBEL         3S1 

brief  der  Goten  an  Hieronymus  überbracht  und  die  antwort 
wider  mitgenommen  hat  ein  presbyter  Firmus,  'frater  noster',  c.  2. 
dieser  selbe  Firmus  hat,  jedenfalls  um  405,  einen  brief  von  Hiero- 
nymus an  Augustin  übermittelt;  vor  ep.  lOtJ  aber  war  er  aus 
Africa  nach  dem  osten  abgereist,  ohne  Augustin  von  seiner  reise 
benachrichtigt  zu  haben,  stünde  es  fest,  dass  auf  eben  der  reise, 
wo  Firmus  ep.  115  des  Hier,  an  Augustin  zu  bestellen  über- 
nahm, er  auch  die  ep.  106  an  die  Goten  mitgenommen  hat,  so 
läge  die  zeit  nahezu  fest,  aber  der  presbyter  Firmus  begegnet 
uns  in  der  correspondenz  des  Hieronymus  öfter;  er  wird  von  ihm 
zu  allerlei  botschafteu  verwendet,  muss  ein  durch  kein  festes  amt 
gebundener  mann  gewesen  sein;  und  wenn  er  auch  mehrmals 
gerade  in  Africa  auftaucht,  so  darf  man  doch  nicht  sicher  be- 
haupten, dass  er  dort  heimisch  war.  ebensowenig  wissen  wir 
dann,  ob  er  seine  reise  vor  ep.  1 1 5  direkt  von  Africa  nach 
Palästina  gemacht  und  mit  ep.  115  in  der  tasche  den  gleichen 
rückweg  gewählt  hat;  wäre  es  der  fall,  so  dürften  wir  als  Wohn- 
sitz der  beiden  Goten  ja  nur  eine  Stadt  in  Africa  vermuten, 
aber  Firmus  kann  über  Rom,  aucli  über  Konstantinopel  vom 
Westen  nach  Jerusalem  gereist  sein  und  ebenso  seine  rückreise, 
weil  er  vielerlei  geschäfte  zugleich  besorgte,  in  grofsem  bogen 
genommen  haben,  von  hohem  Interesse  ist  aber  gewis  die  frage, 
wo  wir  uns  die  gotischen  briefschreiber  zu  denken  haben, 
weiter  als  der  name  des  Firmus  könnte  uns  ein  vierter,  den 
ep.  106  enthält,  führen,  c.  2  vermerkt  Hieron.,  die  gleiche 
hauptfrage  wie  die  Goten  habe  schon  mehrfach  Avitus  'sanctus 
tilius  mens'  an  ihn  gerichtet.  Hier,  fährt  dann  fort,  da 
Firmus  zur  bestellung  eines  briefs  bereit  sei,  wolle  er  gleich 
beiden  schreiben  und  so  gemeinsamen  bescheid  erteilen;  ich 
beziehe  dies  'duohus'  auf  die  Goten  einer-  und  den  Avitus 
anderseits,  aber  auch  wenn  man  diese  deutung  misbilligt,  er- 
fährt man  aus  c.  86,  dass  Avitus  und  die  beiden  Goten  zu- 
sammengehören: dieselben  lexikalischen  aufschlüsse  wie  sie  hatte 
er  —  widerum  'sanctus  filius  meus  Avitus'  —  von  Hier,  erbeten, 
wenn  Hieron.  nicht  ein  narr  ist,  notiert  er  das  nur,  um  dadurch 
auch  die  anfrage  des  Avitus  als  erledigt  zu  erklären:  also  be- 
finden sich  die  drei  an  einem  orte  und  stehn  in  guten  beziehungen 
zu  einander,  jenen  Avitus  nun  glaub  ich  —  um  zweifelhafte  com- 
binationen  aulser  betracht  zu  lassen  —  widerzutinden  in  dem 
Z.  F.  D.  A.  LH.     N.  F.    XL.  25 


38  2  JÜLICHER 

brief  des  Hieron.  79,  an  Salvina,  die  witwe  des  Nebridius.  tochter 
des  tyrannen  Gildo.  den  brief  (ungefähr  400  anzusetzen)  bat 
Hieron.  laut  c.  1  an  die  ihm  persönlich  unbekannte  frau  in  der 
aula  reg-alis  geschrieben  vornehmlich  auf  das  drängen  des  'filius 
nie  US  Avitus',  der  sonach  zu  hotischen  kreisen  beziehungen  ge- 
habt hat.  Salvina  aber  hat  404  zu  den  intimsten  Verehrerinnen 
des  Chrysostomus  gehört,  den  wenigen  von  denen  er  sich  vor 
seiner  zweiten  Verbannung  persönlich  verabschiedete  (s.  Palladius 
dial.  de  vita  s.  Job.  Chrj-s.,  p.  90  der  ed.  princ):  dadurch  ist 
Konstantinopel  als  ihr  witwensitz  wenigstens  für  die  letzten 
jähre  des  Chrysostomus  erwiesen,  ihr  gemahl  Nebridius  ist  auch 
nur  im  Orient  als  beamter  tätig  gewesen,  wenn  wir  also  über- 
haupt eine  Stadt  für  Salvina  —  Avitus  —  Sunnia  und  Fretela 
in  Vorschlag  bringen  dürfen,  so  ist  es  Konstantinopel,  dass  dort 
Goten  in  freundschaftlichem  verkehr  mit  einem  zu  dem  kreis 
einer  africanischen  prinzessin  gehörigen  manne  wie  Avitus  treten 
konnten,  wird  niemanden  wunder  nehmen,  der  sich  schon  blos 
an  die  Gainas-affäre  von  400  erinnert,  wes  Standes  mögen  aber 
unsre  beiden  Goten  gewesen  sein?  man  stempelt  sie  zu  presbytern 
mit  ebenso  viel  recht  wie  einst  Richard  Simon  sie  für  frauen  hielt. 
Hieron.  deutet  mit  keiner  silbe  an,  dass  sie  clerikalen  rang  be- 
safsen:  'dilectissimis  fratribus  Sunniae  et  Fretelae  et  ceteris  qui 
vobiscum  domino  serviunt,  Hieronyrmis%  so  lautet  die  Über- 
schrift über  ep.  106.  dass  der  presbyter  Hieronymus  als  ge- 
liebte brüder  nicht  etwa  nur  amtsgenossen  anredet,  dass  er  bei 
würklichen  presbytern  den  titel  sorgsam,  und  sogar  unnötig  oft 
hinzufügt,  und  dass  der  zusatz  ceteri  qui  vobiscum  domino  ser- 
viunt auf  eine  zu  frommem,  dh.  asketischem  leben  verbundene 
gemeinschaft  schliefsen  lässt,  nehme  ich,  bis  sich  dagegen  Wider- 
spruch erhebt,  als  zugestanden  an.  auch  der  ton  den  der  verf. 
im  brief  anschlägt,  klingt  dem  ganz  unähnlich,  in  dem  sonst 
Hieronymus  selbst  seinem  ingrimm  über  höhere  cleriker  ausdruck 
zu  verleihen  weifs.  ein  unbefangener  kann  aus  ep.  106  nur 
heraushören,  dass  unwissende,  aber  wegen  ihrer  weltlichen  rang- 
stellung  nicht  zu  misachtende  laien  von  einem  'meister  abge- 
fertigt werden,  der  an  ihnen  keine  clerikale  würde  zu  schonen 
braucht,  ebenso  sicher  oder  noch  sicherer  scheint  mir,  dass 
Hieron.  nichts  von  ketzerischen  neigungen  der  Interpellanten  weis, 
wenn  Sunnia  und  Fretela  Goten   waren,  die  wie  die  hauptmasse 


GRIECH.  VORLAGE  D.  GOTISCHEN  BIBEL         383 

der  damaligen  Westg-oten  dem  arianisclien  bekeuntnis  aiihieugen, 
so  hätte  sich  erstlich  —  selbst  trotz  seinem  'söhne  Avitus'  — 
Hieron.  nie  zu  einer  so  eingehnden  beantwortung  ihrer  fragen 
herbeigelassen,  erst  recht  aber  hätte  er  es  nimmermehr  unter- 
lassen, ihnen  bei  solcher  gelegenheit  ins  gewissen  zu  reden,  sowie 
aus  ihrem  geliebten  psalter  feine  gegengründe  gegen  ihre 
arianischen  Irrtümer  aufzubringen,  für  einen  so  fanatischen 
ketzerhasser  wie  Hieron.  können  arianische  Goten  —  noch  dazu 
arianische  presbyterü  —  gar  nicht  zu  einem  kreise  von 
'dienern  des  herrn'  gehören. 

Nun  wissen  wir  aber  durch  die  kirchengeschichte  des 
Sokrates  und  aus  predigten  des  Chrysostomus,  auf  die  auch 
Mühlau  aufmerksam  geworden  ist,  von  einer  kirche  in  Konstan- 
tinopel, in  der  orthodoxe  Goten  gottesdienst  gehalten  haben,  in 
ihrer  eigenen  und  in  griechischer  spräche,  eben  in  der  zeit, 
aus  der  unser  brief  106  stammen  muss.  ob  diese  homousianischen 
Goten  es  gewagt  haben,  die  Übersetzung  des  ketzerhauptes  Ulfilas 
im  gottesdienst  zu  verwenden?  ob  sie  sich  überhaupt  um  die- 
selbe bekümmert  haben?  das  erste  ist  höchst  unwahrscheinlich; 
und  es  wäre  schon  ein  auffälliger  ausnahmefall,  wenn  die  ortho- 
doxen goten  Sunnia  und  Fretela  sich  etwa  die  aufgäbe  gestellt 
hätten,  die  Übersetzung  des  ketzers  durch  die  sorgfältigste 
prüfung  am  urtexte  —  und  das  hiefs  für  sie  an  der  Septuaginta  — 
von  allen  teuflischen  Irrtümern  zu  reinigen,  lediglich  dies  wäre 
als  zweck  einer  von  ihnen  ins  äuge  gefassten  ülfilas-revision  zu 
begreifen,  aber  das  hätten  sie  zweifellos  dem  berühmten  ge- 
lehrten in  Bethlehem  auch  verraten,  schon  um  sein  Interesse  an 
ihren  Studien  zu  steigern;  und  wenn  er  das  gewust  hätte,  stünde 
recht  deutliches  darüber  in  seinem  brief.  statt  dessen  lässt  der 
aufserordentlich  umfangi-eiche  brief  schlechthin  nichts  von 
weitergehnden  arbeitsplänen  der  fragesteiler  merken,  Avitus,^ 
sicher  kein  Gote,  und  schwerlich  für  Ulfilas  interessiert,  hat 
genau  die  gleichen  fragen  wie  sie  gestellt;  fragen,  wie  sie  aus- 
gezeichnet in  den  mund  ungelehrter  bibelleser  passen,  die  haben 
in  ihren  mufsestunden,  aufmerksam  gemacht  auf  die  Unsicherheit 
der  bibeltexte,  die  bei  den  kirchlichen  kämpfen  oft  peinlich  zu 
tage  trat,  ihre  lateinische  psalmenübersetzung  —  es  war  die 
zweite  von  Hieronymus  bearbeitete,  das  sog.  Psalterium  Gallicanum, 
im   wesentlichen  der   psalter   der  heutigen  Vulgata  —  mit  dem 


384  JÜLICHER 

ihnen  zugänglichen  griechischen  texte  verglichen,  den  sie  naiv 
genug  für  den  unfehlbar  richtigen  text  des  göttlichen  buchs 
jialten;  dabei  ist  ihnen  eine  reihe  von  differenzen  aufgestofsen. 
ihr  freund  Avitus,  der  selber  nicht  rat  weifs,  ermutigt  sie,  sich 
an  den  verehrten  Verfasser  der  lateinischen  Version  zu  wenden 
und  ihn  um  die  erklärung  für  so  viel  discrepanzen  zu  bitten, 
so  schicken  sie  denn  an  ihn  ein  langes  register  der  von  ihnen 
wahrgenommenen  Varianten  ein.  nicht  weil  sie  für  eine  grolse 
arbeit,  wie  die  revision  einer  gotischen  bibel  es  wäre,  klare 
entscheidung  brauchten,  sondern  weil  sie  ihre  frommen  bedenken 
los  werden  möchten.  Mühlau  zwar  beruft  sich  auf  eine  phrase 
am  anfang  des  Hieron.-briefes  zum  beleg  der  these,  dass  von 
einem  gotischen  text  in  irgend  einer  form  in  dem  anschreiben 
der  Goten  an  Hieron.  die  rede  gewesen  sei:  quis  hoc  crederef,  ut 
harhara  Getarum  Lingua  Hehraicam  quaereret  veritatem.  die 
Wendung:  dudum  callosa  tenendo  capulum  manus  .  .  .  ad 
stilum  calamumque  mollescit  setzt  nach  ihm  bei  Hieron.  eine 
kenntnis  dessen  voraus,  dass  die  Goten  sich  schon  seit  lange 
mit  gelehrten  Studien  beschäftigen,  und  er  nennt  es  sehr  nahe- 
liegend, diese  worte  auf  das  grolse  Übersetzungswerk  des  Ultilas 
zu  beziehen,  dabei  ist  das  dudum  jedenfalls  falsch  ausgedeutet, 
es  heisst  bei  Hieron.  nicht  'sehr  lange',  sondern  'ehemals'  und 
gehört  hier  zu  tenendo;  st  Uns  und  calanms  sind  nicht  die  in 
ülfilas  bänden,  sondern  die  von  Sunnia  und  Fretela  gebrauchten, 
die  harhara  lingua  aber  war  durch  das  vorangehende  schrift- 
wort  aus  Rom.  10,  18  wahrhaftig  nahegelegt;  doch  hätte  auch 
ohnedies  Hieron.  in  erinnerung  an  die  ptiugstgeschichte  gern  zu 
dem  wort  gegriffen:  dreifach  nahe  lag  es  hier,  wo  er  über 
differenzen  zwischen  der  gleichen,  aber  in  3  sprachen  (hebräisch, 
griechisch,  lateinisch)  verschieden  ausgedrückten  offenbarungs- 
wahrheit  sein  urteil  fällen  sollte:  wer  würde  ohne  besondere 
wünsche  aus  cap.  1  etwas  andres  heraushören  als  die  freude, 
dass  nun  selbst  die  kriegerischsten  barbaren  sich  schon  so  leb- 
haft für  Gottes  wort  interessieren,  wie  jene  Goten  mit  ihrem, 
in  der  form  wol  noch  die  barbarenzunge  verratenden,  frage- 
register? 

Völlig  verfehlt  erscheint  mir  denn  auch  alles  was  dem  aus 
Hieronymus  zu  reconstruierenden  Gotenbrief  an  verteidigungs- 
und    anklagetendenz    nachgesagt   wird,     selbstverständlich    fühlt 


GRIECH.  VORLAGE  D.  GOTISCHEN  BIBEL         385 

sich  Hieron  da  wo  seine  lateinische  Übersetzung  vom  griechiscliea 
abweicht,  ohne  dass  ers  mit  dem  hebräischen  urtext  rechtfertigen 
kann,  als  angeklagter;  der  ganze  brief  der  Goten  wäre  ja  unge- 
schrieben geblieben,  wenn  sie  einen  sinn  für  die  höhere  über- 
setzungsmethode  des  Hieronymus  besessen  hätten,  sie,  die  ihre 
Jugend  wol  im  waffenhandwerk  zugebracht  haben,  unterscheiden 
nicht  wie  er  zwischen  geist  und  buchstaben:  sie  kennen  nur  den 
gegensatz  von  wahr  und  unwahr;  ahnen  nicht,  dass  eine  Über- 
setzung immer  nur  relativ  wahr  sein  kann,  und  sind  über  ein 
fehlendes  v.ai  und  ein  zugesetztes  dorn  in  i  ebenso  beunruhigt,  wie 
wenn  im  griechischen  durch  die  negation  verneint  war,  was  der 
Lateiner  behauptete,  weil  sie  ihren  Griechen,  trotzdem  sie  vom 
hebräischen  urtext  haben  läuten  hören,  für  den  normaltext  halten^ 
lauten  ihre  fragen  natürlich  zu  Ungunsten  des  Lateiners,  des 
einzigen  ihnen  bekannten,  dh.  des  Hieronymus:  er  soll  ihnen 
nun  bescheid  sagen,  ob  er  seine  abweichung  vom  normaltext 
rechtfertigen  kann,  und  empfindlich  wie  der  eitle  Hieronymus 
ist,  damals  besonders  gereizt  durch  den  vielfachen,  meist  recht 
törichten  Widerspruch  gegen  seine  Übersetzertätigkeit,  wird  er 
bisweilen  grätig,  fast  grob  in  der  beantwortung  dieser  fragea 
von  leuten,  die  es  wahrhaftig  nicht  böse  gemeint  hatten,  aber 
wenn  er  ihnen  ^veritas'  und  ^mendacium'  so  gegenüberhält,  dass 
sie  sich  im  besitz  der  lüge  erkennen  müssen,  so  ist  das  erstlich 
in  seinen  äugen  schon  nicht  ein  so  schwerer  Vorwurf  wie  in  den 
unsern,  vor  allem  aber  meint  er  damit  nicht  eine  von  ihnen 
beabsichtigte  oder  ihm  untergeschobene  fälschung;  ^mendacwm* 
heisst  ihm  jede  objectiv  falsche  lesart,  jede  unrichtige  wider- 
gabe  des  wortes  gottes.  wer  mit  seinem  ton  in  den  späteren 
Jahren  vertraut  ist,  wer  sich  erinnert,  wie  schroff  er  aus  ähn- 
lichem anlass  sogar  gegen  einen  Augustin  ausfällt,  der  wird  sieht 
über  ein  paar  gallige  passagen  im  brief  106  nicht  wundern^ 
und  daraus  nicht  folgern,  dass  die  Goten  ihm  mit  schlimmei» 
grundsätzen  der  Übersetzungstechnik  in  den  weg  gerannt  sind. 
Um  dieser  g  r  u  n  d  s  ä  t  z  e  willen,  die  er  im  vorwort  zum  codex: 
Brixianus  widertindet,  wagt  aber  Kauffmann  jene  Goten  für 
die  Verfasser  des  Vorworts  zu  erklären,  als  ob  die  gleichen 
bedenken,  die  in  jenem  prolog  gegen  zu  freie  Übersetzungen  ge- 
äufsert  werden,  nicht  von  der  mehrheit  aller  Christen  im  5  u.  6  jh. 
geteilt  worden  wären!  für  die  neugierde,  die  sich  selbst  bei  diesem 


386  JÜLICHER,  VORLAGE  D.  GOT.  BIBEL 

kümmerlichen  machwerk  eines  lateinisch  stammelnden  Schreibers  den 
verzieht  auf  das  wissen  um  den  namen  des  Verfassers  nicht  zumuten 
mag,  fehlt  mir  das  Verständnis,  ebensowenig-  will  mir  in  den 
sinn,  dass  Sunnia  und  Fretela  geeignete  männer  gewesen  sein 
sollten,  um  die  dort  beschriebenen  vulpres  zu  dem  gotischen  text 
der  bi-  (oder  tri-)  lingue  anzubringen.  Hieronymus  brief  106 
c.  68  lehrt  uns,  dass  sie  die  griechischen  Wörter,  die  Hieron.  in 
seinem  Psalterium  Gallicanum  aus  dem  Lxx-text  beibehalten  hatte, 
nicht  verstanden  und  ihn  um  eine  gute  lateinische  widergabe 
baten:  darunter  so  gewöhnliche  wie  neomenia,  eremus,  thronus. 
die  art  wie  Hieronymus  sie  instruiert,  setzt  bei  den  fragestellern 
eine  minimale  kenntnis  des  griechischen  voraus,  darum  haben  sie 
auch  den  Graecus  so  bewundert,  den  sie  als  urtext  mit  Hieronymus 
Version  collationierten,  weil  er  ihrem  begreifen  so  überaus  ferne 
stand,  und  diese  männer  sollten  eine  revision  der  Ultilas-bibel 
geplant  haben,  die  nach  ihren  'grundsätzen'  ja  gerade  nur  eine 
weitere  annäherung  an  den  griechischen  text  bezwecken  konnte? 
und  sie  leiten  eine  epoche  von  gotischen  bibelrecensionen  ein,  bei 
denen  nach  autoritäten  der  forschung  wie  Kauffmann  und  Streit- 
berg das  ergebnis  vielmehr  ein  starkes  hereinfluten  latei- 
nischer Sonderlesarten  in  den  Gotentext  gewesen  ist?  der 
Brixianus,  der  das  vermeintliche  Snnnia-vorwort  birgt,  ist  ja 
unendlich  viel  reichlicher  von  Hieronymus  als  von  Ulfilas  ab- 
hängig —  gerade  auch  nach  Burkitts  hypothese:  also  hätten 
die  gotischen  revisionisten  in  der  theorie  ihrer  wut  über 
Hieronj'mus  die  zügel  schiefsen  lassen,  in  der  praxis  ihn  aufs 
erbärmlichste  ausgeplündert?! 

Man  überlege  auch  noch,  welch  genaue  kenntnis  des  grie- 
chischen und  welch  respectable  gelehrsamkeit  Ullilas  besessen 
haben  muss,  um  die  Bibel,  um  auch  nur  Psalter,  Nehemias  und 
das  Neue  Testament  ins  gotische  zu  übersetzen,  man  erinnere 
sich,  wie  gut  er  bescheid  weifs  bei  widergabe  von  technischen  worten 
wie  y.fjvoog  und  rpÖQOC,  sogar  bei  dem  eyy.üDeroL  Luc.  20,  20, 
das  keiner  der  alten  Lateiner  verstanden  hat  —  und  dessen 
Bibel  sollen  jene  beiden  Goten  einer  correctur  haben  unterziehen 
wollen,  die  die  ersten  fruchte  ihrer  dilettantischen  mufse  dem  alten 
in  Bethlehem  zur  begutachtung  vorgelegt  hatten?  wir  haben 
alle  Ursache,  das  gründliche  misverständnis  von  Hieron.  ep.  106, 
das  seit    10  jähren   als  verstehen  ausgegeben  wird,    abzulehnen 


LEITZMANN,  TRIERER  SYLVESTER  387 

und  Sunnia  und  Fretela  endgültig  aus  der  geschichte  des  gotischen 
bibeltextes  auszuschalten:  vor  der  hand  wissen  wir  von  ihm 
nichts  weiter,  als  dass  er  im  4  jh.  von  Ulfilas  geschaffen 
worden  ist  und  wie  er  im  6  jh.  ausgesehen  hat,  als  die  frag- 
mentarischen handschriften,  aus  denen  wir  ihn  kennen,  geschrie- 
ben wurden. 

Marburg.  A.  Jülicher. 

ZUM  TRIERER  SILVESTER. 

Der  text  dieses  gedichts,  wie  ihn  Kraus  in  den  MG.  im 
I  bände  der  Deutschen  Chroniken  (Hannover  1895)  mit  pein- 
lichster Sauberkeit  und  akribie  hergestellt  hat.  lässt  doch  noch 
an  ein  paar  stellen  begründete  zweifei  an  der  richtigkeit  der 
lesart,  sei  es  einer  handschriftlichen,  sei  es  einer  von  ihm  durch 
conjectur  hergestellten. 

67  nianic  Homere  wart  irstruhet  sere,  daz  ir  wenigen 
kindelin  al  virJoren  solden  sin.  schon  Roediger  (Zs.  22,  181) 
glaubte  das  mhd.  Wörterbuch  durch  er.sfrfiben  'in  schrecken  setzen' 
bereichern  zu  können;  Kraus  (s.  136a)  stimmt  ihm  bei.  dieser 
auffassung  steht  einmal  entgegen,  dass  strfihen,  dessen  Zusammen- 
setzung mit  er-  sonst  nicht  belegt  ist,  nur  intransitiv  ('starren, 
rauh  emporstehn.  sich  sträuben')  gebraucht  wird,  niemals  transitiv 
("zum  starren  bringen'),  wie  es  hier  gefasst  werden  müste  (Mhd. 
wb.  11  2,  702  a);  dann  aber  auch,  dass  ii  nach  der  Orthographie 
der  fragmente  überwiegend  für  uo  und  nur  höchst  selten  für  h 
steht  (Kraus  s.  41).  ich  lese  mit  Streichung  eines  buchstaben 
irtruohef.  das  je  einmal  im  Nibelungenlied  und  der  Krone  belegt 
ist  (Lexer  i  686)    und  mindestens  so  gut  passt. 

89  ich  netveiz  waz  daz  meinet,  daz  daz  Hut  so  sere 
klaget  unde  iceinet:  ich  nemac  die  vor  niet  getun.  die  letzte 
zeile  hat  Bartsch  (^Germ.  26,  58)  zuerst  gelesen,  was  Kraus  aus- 
drücklich bestätigt,  ohne  die  differenz  zwischen  di  bei  ihm  selbst 
und  die  bei  Bartsch  zu  besprechen  und  nach  einer  seite  hin  zu 
entscheiden.  Kraus  setzt  im  text  dit  mort  statt  die  vor  ein, 
Bartsch  wollte  vor  zweifelnd  als  vuore  fassen:  beides  befriedigt 
nicht,  zumal  ersieres  ist  zu  gewaltsam,  ich  schlage  vor,  die  in 
hie  zu  ändern  und  vor  unangetastet  zu  lassen,  und  erkläre:  'ich 
kann  vor  diesem  klagen  und  weinen  nichts  unternehmen',  will 
man  vorziehen  statt  vor  -vür  zu  schreiben,  so  gäbe  auch  das  einen 
guten  sinn:  'ich  kann  nichts  dagegen  machen.' 

299  dö  her  die  kristenheit  intvieno,  die  hüt  ime  gare  intviel: 
line  ivart  al  der  lip  sin  als  ein  niave  gehören  kindeUn.  Roe- 
digers  besserung  des  verderbten  line  in  ime  (Zs.  22,  154),  die 
Kraus   in    seinen   text  aufgenommen  hat,   befriedigt   mich  nicht 


388  LEITZMANN,  TRIERER  SILVESTER 

obwol  sie  nahe  zur  Kaiserchron.  7946  jti  wart  im  der  Up  sin 
stimmt;  das  würde  nach  den  eigenen  Zusammenstellungen  des 
Herausgebers  (s.  30)  nicht  ausschlaggebend  sein,  das  pronomen 
ist  in  keiner  weise  betont  und  steht  daher  auch  in  der  Kaiser- 
chronik enklitisch  in  der  Senkung  des  inneren  verses:  im  eingang 
des  verses  in  erster  hebung  hat  wol  ein  prägnanteres  wort  ge- 
standen, ich  vermute  linde,  was  eine  passende  bezeichnung  so- 
wol  für  die  neue  haut  des  vom  aussatz  geheilten  als  für  die  des 
neugeborenen  kindes  ist. 

4  78  wen  ein  dinc  hän  ich  küme  ertragen,  so  bessert  Kraus 
nach  dem  vorgange  von  Bartsch  (Germ.  26,  59)  den  hsl.  fehler 
ertagen.  das  ist  aber  unmöglich,  denn  ertragen  ist  gar  kein  mhd. 
wort;  die  Avörterbücher  haben  nicht  einen  einzigen  beleg,  aufser- 
dem  heilst  das  präfix  in  unserm  denkmal  nie  anders  als  ir- 
(Kraus  s.  41).  es  muss  vertragen  gelesen  werden,  was  Roediger 
(Zs.  22,   159)  fälschlich  in  der  hs.  selbst  zu  lesen  glaubte. 

S23  an  der  selben  stunt  wart  ime  [Abraham  bei  den  engein 
im  hain  Mamre]  sin  besmerunge  kunt.  Bartsch  (Germ.  26,  63) 
hat  die  stelle  zuerst  gelesen  und  vermutlich  auch  richtig  aufge- 
fasst,  da  er  keine  änderung  macht.  Kraus  setzt  statt  besmerunge 
bescherunge  in  den  text,  das  er  (s.  134b)  als  'schicksal'  erläutert. 
es  ist  aber  alles  in  der  Überlieferung  in  Ordnung:  besmerunge 
ist  das  ahd.  bismarunga  (Graff  vi  834),  das  im  Tatian  viermal 
(54,5.  62,8.  84,9.  191,2)  als  Übersetzung  von  'blasphemia' 
erscheint,  was  gemeint  ist,  zeigt  die  Genesis  17,  17:  'cecidit 
Abraham  in  faciem  suam  et  risit,  dicens  in  corde  suo:  putasne 
centenario  nascetur  filius?  et  Sara  nouageuaria  pariet?'  aus  dem- 
selben capitel  der  Genesis  (24)  stammt  ja  auch  die  angäbe  über 
Abrahams  alter,  die  unser  dichter  kurz  vorher  (821)  verwertet 
hat.  da  das  wort  besmerunge,  für  das  wir  hier  den  ersten  und 
einzigen  mhd.  beleg  erhalten,  auch  im  ahd.  nur  bei  Tatian  be- 
gegnet, so  hätten  wir  hier  doch  wol  ein  sicheres  häkchen,  an 
dem  sich  eine  heimatsbestimmung  des  Silvester,  an  der  Kraus 
(s.  43)  verzweifelt,  befestigen  liefse:  wir  würden  nach  Hessen  ge- 
wiesen und  das  constante  dit  des  Schreibers  könnte  doch  viel- 
leicht schon  dem  dichter  gehören. 

Jena,    10.  juni   1910.  Albert  Leitzniaun. 


ZU  SPERVOGEL. 

Die  heiniat  des  Spruches  MFr.  22,:i3  sucht  Scherer  DStud. 
I'^  15  f  am  Rhein,  etwa  am  Mittelrhein,  und  Roethe  schliefst  sich 
ihm  ADB.  xxxv  s.  142  unter  'Spervogel'  mit  vorsichtigen  worten 
an.  Öchönbach  Beitr.  z.  erklärung  altdeutscher  dichtwerke  i  1 7 
neigt  dazu,  den  Rhein  blofs  'typisch'  für  ström  zu  nehmen:  er 
berücksichtigt  nicht,   dass   die  bestimmungen  hie  vor  (23, i)  und 


GRUTERS,  ZU  SPERVOGEL  3Sy 

nCi  (23,3)  voraussetzen,  dass  fahrender  und  Zuhörerschaft  den 
ström  vor  äugen  hatten,  aber  auch  Scherers  und  Roethes  an- 
nähme ist  nur  dann  zu  halten,  wenn  man  die  worte  23,:i  i: 
nü  ist  er  worden  also  groz  daz  in  nieman  mac  gerlten  als 
eine  starke  Übertreibung  ansieht:  denn  am  ganzen  Mittel-  und 
Niederrhein  gibt  es  keine  stelle,  wo  der  ström  wegen  seiner  breite 
nicht  mit  dem  pferde  zu  durchschwimmen  wäre.  (23,3  groz  steht 
im  gegensatz  zu  23, 1  enge  und  ist  daher  gleich  'breit'.)  von  den 
ältesten  zeiten  bis  zur  gegenwart  haben  hier  berittene  den  ström 
durchschwömmen;  vgl.  Müllenhoff  DA.  iv  334  und  unter  den 
stellen  auf  die  hier  verwiesen  wird,  bes.  Tacitus  Hist.  iv  66. 
wie  allgemein  es  im  ma.  bekannt  war,  dass  man  zu  pferde  durch 
den  Rhein  kommen  könne,  lehrt  des  altfranz.  dichters  Jehan 
Bodel  (anfang  des  13  jh.s)  Chanson  des  Saisnes,  wo  einzelne 
beiden  und  ganze  scharen  unterhalb  Köln  die  fluten  durchreiten, 
auch  heute  noch  durchschwimmt  deutsche  cavallerie  den  ström 
an  den  breitesten  stellen  seines  mittleren  und  unteren  lautes, 
am  Mittelrhein  könnte  der  spruch  also  nur  gedichtet  sein,  wenn 
die  worte  23,3.4  so  viel  hiefsen,  als  dass  es  schwer  sei,  hier  zu 
pferde  durch  den  ström  zu  kommen,  da  es  aber  allen  zuhörern 
selbstverständlich  war.  dass  man  den  Rhein  wol  durchreiten 
könne,  wäre  solch  eine  Übertreibung  mit  der  stark  betonten  Ver- 
neinung nieman  am  Schlüsse  des  gedichtes  so  ungeschickt  wie 
möglich  gewesen,  da  sie  den  Widerspruch  geradezu  herausge- 
fordert und  damit  den  eindruck  vernichtet  hätte,  wir  werden 
daher  Spervogels  behauptung  lieber  wörtlich  verstehn  und  dann 
als  die  stelle,  wo  der  Rhein  zu  breit  ist  um  durchritten  zu  wer- 
den, den  Bodensee  ansehen  müssen,  hier  muste  der  vergleich 
22,30  f  würken;  nur  wenn  man  es  sich  hier  vorgetragen  denkt,  wird 
aus  einem  matten  gedichte,  das  wenig  lob  verdiente,  ein  hoff- 
nungsfreudiger ,  fast  schalkhafter  spruch  mit  witzig  geprägtem 
abschluss.  nicht  nur  schmaler  und  breiter  ström,  nein,  flüsschen 
und  see  stehn  sich  eindrucksvoll  gegenüber,  dem  armen  schlucker 
winkt  in  der  zukunft  ein  meer  des  reichtums,  wie  jenes  daraus 
er  nach  MFr.  23,i3f  so  gern  geschöpft  hätte. 

Bestätigt  wird  diese  deutung  dadurch,  dass,  wenn  sie  zu- 
trifft, das  gedieht  in  ein  altdeutsches  Sprichwort  ausläuft,  um 
ein  unterfangen  als  unmöglich  hinzustellen,  pflegte  man  ehemals 
zu  sagen,  es  sei  vergebliche  mühe,  das  meer  zu  durchreiten: 
als  Morolf  seine  beiden  anfeuern  will,  hält  er  ihnen  vor,  Salm, 
u.  Mor.  486,1 :  uns  sint  die  fürte  gar  zuo  dief,  wir  mögen  daz 
niere  nit  herzten,  ganz  ähnlich  sagt  Freidank  132, 20:  daz  mer 
mac  nieman  üherwaien.  (zu  erinnern  ist  auch  daran,  dass  der 
Bodensee  'Schwäbisches  meer'  hiefs.)  durch  einen  merkwürdigen 
Zufall  trifft  es  sich,  dass  uns  gerade  in  beziehung  auf  den  Boden- 
see aus  späterer  zeit  eine  scherzhafte  anspielung  auf  jenes  Sprich- 
wort erhalten  ist:  in  einem  spottlied  auf  Ludwig  iv  von  Bayern, 


390  GRÜTERS,  ZU  SPERVOGEL 

Lassberg  liedersaal  iii  12.'>  (ur  187,  S2):  Si  iechent  der  Bin 
sy  ze  groz,  Mag  nieman  für  Breyentz  kamen.  Bregenz  ligt  ja 
nun  gar  nicht  am  Rhein,  sondern  ein  gutes  ende  davon  entfernt 
am  Bodensee :  so  wird  denn  wenigstens  zu  kaiser  Ludwigs  zeiten 
in  der  Umgebung  des  Bodensees  der  scherz  im  schwänge  gewesen 
sein,  den  Rhein  hier  für  zu  breit  zu  erklären,  um  hinüberzu- 
reiten I.  ob  Spervogel  erst  diesen  witz  erfunden  hat,  oder  ob  er 
gerade  so  wie  der  Verfasser  des  spottliedes  nur  auf  ein  gäng  und 
gäbes  Sprichwort  zurückgreift,  lässt  sich  wol  nicht  entscheiden. 
Düsseldorf,  den  27   august  1910.  Otto  (xrüters. 


TRIER  UND  MERSEBURG. 

'Ich  gesteh,  dass  ich  mich  jetzt  der  auffassung  KKrohns 
zuzuneigen  beginne,  wonach  alle  heidnischen  Zaubersprüche  des 
europcäischen  nordens  erst  Umformungen  frühchristlicher  Vorbilder 
oder  Substrate  sind,  die  discussion  über  diese  wichtige  frage,  zu 
der  neuerdings  die  arbeiten  von  Krohns  schülern  Brummer  und 
Mansikka  höchst  wertvolles  material  beigesteuert  haben,  hat  in 
Deutschland  kaum  erst  begonnen,  jetzt  wo  die  Trierer  Zauber- 
sprüche vorligen  darf  sie  nicht  länger  aufgeschoben  werden'. 

Mit  diesen  werten  schliefst  Edward  Schröder  (Zs.  f.d.  Alt.  52, 
1 80)  seine  einführung  von  FWERoths  höchst  wertvollem  fund  (oben 
s.  169).  der  verehrte  freund  darf  es  mir  nicht  übel  deuten,  wenn 
ich  mir  diese  aufforderung  in  eigenem  sinne  auslege,  wenn  ein 
kenner  und  forscher  wie  er  sich  jenen  anschauungen  zuzuneigen 
beginnt,  in  denen  ich  wenigstens  nur  die  periodische  widerkehr 
einer  verhängnisvollen  mythologischen  krankheit  zu  sehen  ver- 
mag; wenn  er  gerade  in  diesem  fund  für  die  nachträgliche 
Christianisierung  des  allerheidnischsten  einen  anhaltspunct  erblickt 
—  dann  darf  der  widersprach  nicht  länger  aufgeschoben  werden, 
und  um  ihn  gleich  erheben  zu  können,  wag  ich  ihn  in  bücher- 
ferner emplindungsfrische  zu  erheben. 

Schröder  scheint  eine  allgemeine  erörterung  der  frage  für 
möglich  zu  halten,  ob  'alle  heidnischen  Zaubersprüche  des  euro- 
päischen nordens'  einem  bestimmten  Ursprung  verdankt  werden, 
ich  halte  eine  solche  Untersuchung  nur  in  dem  sinn  für  denkbar, 
dass  eben  für  all  diese  sprüche   in  eine  specielle  prüfung  einge- 

^  Lassberg  m  119    erläutert  die  stelle  anders;    Inhalt    und  stil  des 
gedachtes  sprechen  gegen  ihn. 


MEYER,  TRIER  UND  MERSEBURG  391 

treten  wird,  natürlich  ohne  eine  irreführende  Isolierung,  aber 
doch  zunächst  mit  principiellem  absehen  von  analogieen'.  ich 
möchte  an  litterarische  fragen  erinnern  wie  die  der  deutscheu 
Strophen  in  den  Carmina  Burana.  mit  recht  hat  der  letzte 
sorgfältige  beobachter  hervorgehoben,  dass  die  discussion  frucht- 
bar erst  wurde,  als  man  sich  von  dem  Vorurteil  frei  machte, 
alle  deutschen  Strophen  müsten  entweder  originale  oder  nach- 
bildungen  sein,  auch  bei  den  Zaubersprüchen  einerseits  heid- 
nischen anderseits  christlichen  Charakters  handelt  es  sich  doch 
nicht  um  einen  zweisprachigen  text,  der  im  ganzen  aus  dei- 
einen  spräche  in  die  andere  übersetzt  ist.  vielmehr  enthält  der 
radicalismus,  der  überall  sei  es  heidnischen  sei  es  christlichen 
Ursprung  postuliert,  die  gleiche  fehlerquelle,  wie  etwa  die  an- 
schauung,  im  minnesang'  müsse  jeder  ton,  jeder  gedanke  entweder 
altheimisch  sein  oder  entlehnt,  ich  vermag  nicht  einzusehen,  wie 
eins  von  beiden  auch  nur  denkbar  wäre. 

Aber  wir  wollen  Schröders  wort  gewis  nicht  pressen,  so 
sicher  es  allerdings  den  anschauungen  Krohns  entspricht,  ich 
kann  nicht  leugnen,  dass  dessen  gewis  höchst  dankenswerte 
Untersuchungen  für  mich  wenig  Überzeugungskraft  haben,  ich 
sehe  keinen  einzigen  fall,  der  annähernd  so  sicher  wäre,  wie  zb. 
umgekehrt  die  Christianisierung  des  Beowulf. 

Aber  will  man  sich  auch  nicht  mit  KKrohn  auf  den  boden 
des  'alles  oder  nichts!'  stellen,  so  kann  man  doch  Schröder  sicher 
soweit  entgegenkommen,  dass  man  eine  principielle  erörterung 
darüber  zulässt,  ob  im  allgemeinen  die  eine  oder  die  andere 
lierleitung  eine  gröfsere  Wahrscheinlichkeit  für  sich  habe, 
dieser  erörterung  wollen  wir  keineswegs  ausweichen;  am  besten 
aber  gehn  wir  auch  hierfür  von  dem  einzelfall  aus. 

*0b  das  geschichtchen  von  der  heilung  des  kranken  pferde- 
fufses  zuerst  von  Wodan  und  Balder  oder  von  Christus  und 
SStephan  erzählt  ist?'  (aao.  s.  180).    ich  gesteh,  dass  ich,  mindestens 

•  Schröder  glaubt,  wie  er  mir  unter  der  correctur  schreibt,  dass  erst 
jetzt  mit  dem  grofsen  werke  von  AFranz,  Die  kirchlichen  benedictionen  des 
mittehilters  (2  bde.,  Freiburg  i.  B.  1909)  für  derartige  Untersuchungen  die 
wünschenswerten  grundlagen  geboten  seien,  und  er  möchte  daher  ohne 
gründliches  Studium  dieses  werkes  vorläufig  auf  die  fortsetzung  der  discussion 
verzichten,  den  Trierer  sprach  hält  er  nicht  für  die  vorläge  des  Älerse- 
burgers,  sondern  für  eine  der  vielen  sprossfornien  dieser  chrisilichen 
Vorstufe. 


392  MEYER 

bei  der  vergleichiing  von  Trier  und  Merseburg-,  keinen  aug-enblick 
zweifle. 

Von  jenem  methodischen  gesichtspunct,  dass  die  anorga- 
nische form  die  abgeleitete  sei,  hat  man  gewis  zuweilen  ■ —  etwa 
in  Iherings  dilettantisch-geistreicher  Vorgeschichte  der  Indo- 
europäer  —  einen  zu  weitgreifenden  gebrauch  gemacht;  und 
selbst  die  berühmteste  anwendung  der  regel,  Benfeys  schakal- 
wolf  in  der  tiersage,  ist  neuerdings  nicht  ohne  anfechtung  ge- 
blieben, aber  wenn  auf  der  einen  seite  ein  völlig  klares  orga- 
nisches gebilde  vorligt,  auf  der  andern  ein  innerlich  durchaus 
haltloses  —  kann  man  dann  würklich  das  conglomerat  als  muster 
für  den  Organismus  ansehen? 

Ich  darf  hier  auf  die  frage  nicht  eingehn,  ob  ich  den 
zweiten  Merseburger  Zauberspruch  zu  ernsthaft  genommen  habe, 
als  ich  in  meiner  Altgermanischen  religionsgeschichte  ihn  aller- 
dings als  vollwichtigen  mythus  auszudeuten  suchte,  mag  er  denn 
für  jetzt  nur  eine  'götteranekdote'  (aao.  s.  180)  sein  —  worin 
ich  übrigens  nur  eine  stilistische,  aber  keine  inhaltliche  Ver- 
schiedenheit vom  typus  des  mythus  sehen  würde,  jedenfalls  — 
bei  diesem  Spruche  ist  alles  in  schönster  Ordnung,  dass  Wodan 
ze  liolze  fährt,  stimmt  mit  seiner  erscheinung,  mag  er  nun  von 
anfang  an  oder  erst  spät  der  wilde  Jäger  sein;  dass  Balder,  der 
ritterliche  gott,  ihn  begleitet,  hat  nichts  irgend  verwunderliches, 
auf  dieser  jagd  begegnet  einem  ross  ein  unfall  —  ein  auf  tau- 
sendfältiger erfahrung-  beruhender  zug.  man  müht  sich  ihn  zu 
heilen,  was  erst  dem  heilgott  gelingt,  eine  höchst  einfache  er- 
zählung,  die  einem  uralten,  unzähliche  mal  belegten  typus  in 
classischer  strenge  entspricht. 

Nun  die  Trierer  fassung.  'Christus  kam  einst  mit  dem  heiligen 
Stephan  nach  der  Stadt  Salonium'  (aao.  s.  179).  dass  beide  be- 
ritten waren,  muss  Schröder  ergänzen:  der  Schreiber  wagte  es 
nicht  zu  sagen,  und  wie  käme  Christus  zu  einem  ross?  und  wie 
gar  der  diakon  Stephanus?  wie  kommen  beide  zusammen?  ein 
anachronismus,  der  auch  der  naivität  ungelehrter  cleriker  nicht 
zuzutrauen  ist,  geschweige  der  eines  gelehrteren,  und  'Salonium', 
bemerkt  Schröder  selbst,  'klingt  gelehrt';  ob  es  eine  anlehnung 
an  salu  zu  dem  'dunkelen  tann'  der  (meiner  ansieht  nach)  alten 
fassung  sei,  bleibe  dahin  gestellt,  'dort  zog  sich  SStephans  ross 
eine  entzündung  zu'  —  was  wider  der  herausgeber  selbst  wunder- 


TRIER  UND  MERSEBURG  393 

lieh  tindet:  'man  erwartet:  auf  dem  wege  dorthin",  jedes 
sätzchen  eine  inconcinnität,  jede  aussage  eine  willkür! 

Wenn  würklich  christliche  medicinmänner  einen  heilspruch 
für  eine  Verletzung  des  fufsgelenkes  bei  einem  reitpferd  gesungen 
hätten  —  fehlte  es  denn  an  reisigen  heiligen?  genoss  doch 
Michael  genügende  popularität.  selbst  an  Paulus  könnte  eher 
gedacht  werden,  der  doch  würklich  einen  reiterunfall  erlitt,  wie 
Salomou  Landolt,  der  landvogt  von  Greifensee,  seinem  lieblings- 
apostel  etwas  spöttisch  vorzuwerfen  pflegte,  aber  zwischen 
Stephanus  und  der  erkrankung  eines  pferdes  besteht  dann 
doch  gar  zu  wenig  Verbindung!  und  nimmt  man  Christus  als 
den  arzt,  der  für  alles  rat  weifs  —  wie  seltsam  bleibt  die 
gesellschaft  des  heiligen,  der  nur  durch  seinen  tod  zum  rühm 
eingieng! 

Ferner:  gesetzt  dieser  Trierer  spruch  wäre  ursprünglich 
—  wie  soll  man  sich  seine  Übersetzung  ins  heidnische  vorstellen? 
wie  sollte  die  biu-g  in  den  wald  verwandelt  werden?  wie  die 
ganze  Umgebung  der  göttinnen  hinzuerdichtet  sein? 

Umgekehrt  aber  ist  alles  wider  verständlich,  den  höchsten 
gott  ersetzt  Christus;  Balder,  der  durch  Wurfgeschosse  getötete 
gott,  wird  zu  Stephanus,  dem  gesteinigten,  oft  heilst  es  in  der 
Bibel,  dass  Christus  zu  einer  Stadt  kam;  so  muss  auch  hier  der 
im  Neuen  Testament  fehlende  wald  fallen,  und  selbstverständ- 
lich  schwinden  Frija,  Volla,  Sunna,  Sinthgunt. 

Mit  dem  ersten  Trierer  spruch  steht  es  nicht  ganz  so  schlimm, 
aber  wider  hat  Schröder  selbst  zu  bemerken:  'von  irgend  einer 
Verwundung  des  Heilands  bei  lebzeiten,  bei  der  das  blut  zum  stehn 
gebracht  sei,  weifs  weder  die  Bibel  noch  die  litterarische  legende 
etwas'  (s.  178  fj.  freilich  ist  auch  der  Strafsburger  blutsegen 
nicht  so  klar  wie  der  zweite  Merseburger  spruch. 

Nun  aber  beachte  man  noch  das:  die  Überschrift  'ad  catar- 
rum'  ist,  wie  Schröder  milde  sagt,  'ungenau .  die  ''Überschrift 
'contra  equorum  egritudinem  quam,  nos  dicimus  spurialz' {S.  179) 
stimmt  auch  nicht;  Schröder  hilft  sich  (s.  179)  mit  der  annähme, 
dass  neben  thaz  antphangana  als  ein  zweites  mögliches  pferdeleiden 
thaz  spuri{h)alza  gestellt  werde,  ligt  die  annähme  nicht  näher,  dass 
Überschriften  einer  Sammlung  verwechselt  wurden,  deren  eines  stück 
wie  MSD  IV  4  überschrieben  war?  denn  dass  die  Trierer  Sprüche 
in    der    vorläge    unserer   hs.  zum    erstenmale    zur    niederschrift 


394  MEYER 

g-elangten  (s.  177),  stellt  ja  auch  Schröder  nur  als  'sehr  wol 
möglich'  dar.  der  abschreiber  hätte  dann  sein  atha  thaz  spuri- 
alza  beigefügt,  um  die  Überschrift  nachträglich  zu  rechtfertigen; 
denn  blutsprüche,  die  sich  zweifelnd  gegen  ein  oder  das  andere 
übel  richten,  erwecken  schwerlich  zutrauen!  in  solchen  fällen 
unsicherer  diagnostik  werden  viel  eher  mehrere  verschiedene 
incantationes  versucht  werden. 

Und  somit  scheint  mir  bei  einer  vergleichung  der  von  den 
fernsten  enden  Deutschlands,  aus  dem  keltoromanischen  Trier  und  dem 
slavogermanischen  Merseburg  zusammengetroffenen  Zaubersprüche 
alles  für  die  originale  fassung  des  heidnischen  textes  zu  sprechen. 

Und  dieses  specielle  ergebnis  möchte  ich  nun  allerdings  auch 
durch  eine  allgemeinere  betrachtung  ergänzen. 

Wie  sollen  wir  uns  denn  nur  jenen  generellen  christlichen  Ur- 
sprung heidnischer  Zaubersprüche  vorstellen  ? 

Niemand  ist  gegen  die  in  der  mythologie  mode  gewordene 
Überschätzung  des  zaubers  entschiedener  aufgetreten  als  ich 
selbst,  aber  schlielslich  ist  doch  kein  ergebnis  der  vergleichen- 
den mythologie  neueren  Stils,  der  ethnologie,  der  folkloristik  sicherer 
als  dies,  dass  bei  allen  primitiven  der  zauber  und  der  Zauber- 
spruch in  mächtiger  Verwendung  standen  und  stehn.  ich  kann 
mir  nicht  helfen:  mir  scheint  alles  dafür  zu  sprechen,  dass  ursprüng- 
lich wort  und  werk  untrennbar  verbunden  sind  und  aller  stum- 
mer zauber  secundär  ist.  für  die  Indogermanen  wenigstens  sind 
verchristliche  Zeugnisse,  wenn  wir  vom  norden  ganz  absehen,  bei 
Indern,  Hellenen,  Römern  doch  wahrlich  in  genügender  fülle 
vorhanden,  soll  nun  all  dies  beim  einzug  des  Christentums  spur- 
los verschwunden  sein,  so  dass  der  bedarf  an  heilsprttchen  nur 
mit  christlichen  subStraten  zu  befriedigen  war?  'und  dabei  stehn 
wir  eben  erst  am  ausgang  der  missionsperiode !'  (s.   178). 

Oder  sollen  wir  annehmen,  Germanen,  Slaven,  Finnen  hätten 
es  zu  der  kunst  des  zaubergesangs  damals  noch  nicht  gebracht, 
die  wir  doch  bei  den  rohesten  Völkern  linden?  während  doch 
desTacitusbericht  über  die  runen  allein  schon  das  gegen  teil  verbürgt. 

Und  nun  weiter,  wie  w^oUen  wir  uns  die  Umsetzungen  der 
christlichen  vorläge  ins  heidnische  psychologisch  oder  culturhisto- 
risch  erklären  ?  es  ist  durchaus  verständlich,  dass  ein  heidnischer 
segen  getauft  wird,  nachdem  die,  die  ihn  anzuwenden  gewohnt 
waren,  Christen  geworden  waren :    die  materie   blieb,    aber  statt 


TRIER  UND  MERSEBURG  395 

des  Thor  oder  Balder  wurde  ein  heiliger  zum  vorbeter.  solche  er- 
setzung  ist  uns  oft  genug  bezeugt,  und  Chlodwig  bei  Tolbiacum 
ist  das  grofse  beispiel.  wie  aber  umgekehrt?  die  neubekehr- 
ten glauben  entweder  heimlich  doch  noch  auch  an  die  alten 
götter  —  auch  dies  ein  begreiflicher  und  bezeugter  zustand  — , 
warum  sollen  sie  dann  diese  nicht  auch  noch  anrufen?  oder  sie 
glauben  nicht  an  sie  —  warum  sollen  sie  dann  in  christliche 
Sprüche  verrufene  namen  einschmuggeln?  die  mission  kann  das 
Versteckespiel  heidnischer  sprüche  mit  christlichen  heiligen  namen 
bewürken;  was  aber  die  lästerliche  umtaufe  solcher  namen  in 
'Phol  enti  Wodan'? 

Die  absolute  Chronologie,  so  wichtig  sie  (s.  179)  in  litterar- 
historischer  hinsieht  ist,  beweist  ja  doch  nichts  gegen  die  relative ; 
natürlich  können  geistliche  einen  segen  in  christlicher  form  auf- 
gezeichnet haben,  der  noch  Jahrzehnte  lang  auch  in  heidnischer 
gestalt  umlief,  vor  allem  aber,  können  sie  nicht  selbst  in  be- 
greiflicher scheu  vor  den  'laicorum  cantus  obscoeni',  und  doch 
mit  unsicherem  glauben  an  die  heilkraft,  die  neuen  namen  ein- 
gesetzt haben?  etwa  wie  der  aufzeichner  des  Voluspa  sich  durch 
christliche  schlussverse  salvierte?  ist  nicht  auch  diese  annähme 
einfacher  als  die  jener  'merkwürdigen  anschauungssphäre',  die 
Schröder  (s.  178)  voraussetzt?  —  man  denke  auch  an  zweifel- 
haftere analogieen  wie  die  der  beiden  hälften  des  Wessobrunner 
gebets !  oder  immer  wider  auch  an  die  päpstliche  Weisung  an  den 
bekehrer  der  Angelsachsen. 

Niemand  wird  bestreiten^  däss  christlicher  aberglaube  reci- 
piert  werden  konnte,  immerhin,  die  missionsregeln  wenden  sich 
gegen  heidnischen,  gegen  dadsisas  und  anderes,  was  auf  dem  boden 
primitiver  Zauberkunst  steht,  eine  anpassung  heidnischer  an 
christliche  art  ist  in  zahlreichen  fällen  sichergestellt,  bei  den 
Germanen  und  sonst;  ich  verweise  nur  etwa  auf  Saint  Yves 
'Les  saints  successeurs  des  dieux'.  sie  ligt  im  germanischen 
norden  in  einigen  beispielen  mit  aller  deutlichkeit  vor.  eine 
paganisierung  christlicher  gebrauche  ist  ebenfalls  hin  und  wider 
erwiesen,  aber  unendlich  viel  seltener,  all  diese  erfahrungen 
wendet  Krohn  ins  gegenteil.  wir  wissen,  dass  die  berühmte 
Petrusstatue  in  San  Pietro  zu  Rom  eine  heidnische  culttigur  war; 
Usener  hat  uns  —  nach  anderen  —  über  den  Ursprung  der  hl. 
Pelagia  dasselbe  gelehrt,    was    man    über    die    grundlagen  zahl- 


396  MEYER,  TRIER  UMD  MERSEBURG 

reicher  ceremonien  in  der  katholischen  kirche  schon  längst  wüste, 
nnn  wird  vielleicht  bald  gelehrt  weiden,  die  altgermanischen 
culttiguren  seien  entstellte  heiligenbilder  .  .  . 

Gewis  haben  wir  unter  dem  eindruck  von  J.  Grimms  geni- 
alen Irrtümern  die  Volkstümlichkeit,  bodenständigkeit,  altertüm- 
lichkeit vieler  mythologeme,  sitten,  formein  überschätzt,  ent- 
entdeckungen  wie  die  Schwieterings  über  'singen  und  sagen'  mah- 
nen zur  vorsieht,  nun  aber  kommt  als  reaction  ein  romantischer 
rationalismus  auf,  der  aus  furcht,  zu  viel  für  autochthon  zu 
halten,  alles  für  entlehnt  halten  möchte,  statt  der  hundert  kleinen 
mythen  glaubt  mau  lieber  den  einen,  dass  die  nordeuropäischen  Völker 
auf  einmal  aus  dumpfem  nichts  in  allmächtiges  Christentum  hinüber- 
gewandert seien,  diesen  anschauungen  kommen  neubelebte  roman- 
tisch-mythologische ideen  anderer  art  zu  hilfe:  Andrew  Lang  ver- 
lieht wider  die  decadenztheorie,  nach  der  alles  heidentum  ver- 
derbter^ offenbarungsglaube  wäre;  Leopold  vSchroeder  lehrt  einen 
ursprünglichen  monotheismus,  wie  ihu  trotz  mancher  Überein- 
stimmung selbst  Ehrenreich  ablehnen  muss.  all  diese  tendenzen 
bedi'ohen  die  ruhige  entwicklung  einer  Wissenschaft,  die  trotz 
aller  zweifei  der  Skeptiker  in  ruhig  sicherem  f ortschritt  begriffen 
ist;  bedrohen  sie  von  neuem,  wie  sie  sie  unter  Creuzer  uud 
Kanne  und  wider  unter  Bang  und  Bugge  bedroht  haben. 

Überall,  im  sprachlichen  leben  wie  im  litterarischeU;  lernen 
wir  immer  mehr  erkennen,  dass  alle  historische  evolution  im 
wesentlichen  anpassuug  ist.  wer  glaubt  noch  an  all  die  früher 
postulierten  katastrophen,  ungeheuere  Wanderungen,  radicale  ten- 
denzen der  Weltanschauung?  es  wird,  ausnahmen  gewis  vor- 
behalten, wol  auch  damit  sein  bewenden  haben,  dass  das  alt- 
heidnische  zauberwesen  sich  dem  christlichen  anpasste  und  die 
uralten  heilsprüche  biblische  namen  aufzunehmen  gezwungen  wurden ! 

Berlin  21.   S.   10.  Richard  M.  Meyer. 


ZU  DEN  TRIERER  ZAUBERSPRÜCHEN.  Aufs.  179  z.l3 
V.  0.  (vgl.  180  z.  14  V.  0.)  ist  mir  ein  lapsus  passiert,  der 
den  lesern  des  zweiten  Zauberspruches  auf  s.  174  ganz  unver- 
ständlich erscheinen  muss.  hier  list  man  /b  gibiiozi  ilic  it  mid 
kriftes  fuUefti,  und  das  heifst  natürlich  'so  möge  ich  es  mit 
Christi  hilfe  heilen'!  in  der  abschritt  die  ich  in  den  druck  gab 
stand  aber  iTic,  und  das  hab  ich,  als  ich  die  correctur  nach  der 
hs.  las,  mechanisch  gebessert,  ohne  die  consequenz  zu  ziehen,  ich 
habe  mich  jetzt  nochmals  überzeugt,    dass  würklich  ihc  dasteht. 

F.  Burg,  dessen  scharfem  äuge  der  anstofs  nicht  entgangen  war, 
weist  gleichzeitig  darauf  hin,  dass  s.  174  z.  1  v.  o.  coUectio  puris 
für  ^Apostoma'  in  Ordnung  ist:  'eiteransammlung'.  E.  S. 


Druck  von  J.  B.  Hirschfeld  in  Leipzig. 


ANZEIGER 


FÜR 


DEUTSCHES  ALTERTUM 


UMD 


DEUTSCHE  LITTERATUR 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


EDWARD  SCHROEDER  und  GUSTAV  ROETHE 


VIERUNDDREISSIGSTER  BAND 


BERLIN  1910 

WEIDMANNSCHE   BUCHHANDLUNG 
SW.  ZIMMERSTRASSE  94 


INHALT. 


Seite 

Alt-Frankfurt  bd  ii  h.  1 ,  von  Schröder 296 

Banz,  Christus  und  die  minnende  Seele,  von  Strauch 255 

Beck,  Ekkehards  Waltharius,  von  Baesecke 296 

Beywl,  Reimwörterbuch  zu  Ulrichs  Lanzelet,  von  Schröder  .     .     .     .     Hl 

Bjarni  p(5rsteinsson,  Islenzk  pjodlög,  von  Heusler 238 

Björnsson,  s.  Oddur 

Blümml,  Zwei  Leipziger  liederhandschriften  des  17  Jahrhunderts,  von 

Schröder 185 

Bodtker,  Critical  contributious  to  early  euglish  syntax ,   von  Mouxek     298 
Böhmer,  Sprach-  und  gründungsgeschichte  der  pfälzischen  colonie  am 

Niederrhein,  von  Teuchert 21 

Bohn,    Die  nationalhymnen  der  europäischen  Völker,  von  Bietsch      .       38 
Boer,  Untersuchungen    über  den  Ursprung    und  die  entwickelung  der 

Nibelungensage  bd  iii,  von  Neckel 135 

Brockstedt,  Floovent-studien,  von  Blöte 49 

,  Das  altfranzösische  Siegfridlied,  von  Blüte 53 

Büchner,  s.  Landau 

Buchwald,  Joachim  Greff,  von  Michel 171 

Bürklen,    Die    bau-   und    kunstdenkmale  von  Wiener-Neustadt,    von 

Schröder 183 

Christus  und  die  minnende  seele,  s.  Banz 

SColumbus,  s.  Hesselmann 

Curme,  A  grammar  of  the  german  laaguage,  von  Jellinek    ....     106 

Dähnhardt,  Natursagen  bd  n  und  iii,  von  Meyer 139 

Dahm,  Der  gebrauch  von  rji-  zur  Unterscheidung  perfectiver  und  im- 
perfectiver  actionsart  im   Tatian   und  in  Notkers  Boethius,   von 

Mourek 182 

Elster,  Tannhäuser  in  geschichte,    sage  und  dichtung,  von  Schulze    .     113 
Engel,  Kurzgefasste  deutsche  litteraturgeschichte,  von  Schröder    .     .     105 

Finnur  Jönsson,  Brennu-Njälssaga,  von  Neckel 40 

Franck,  Altfränkische  grammatik,  von  Lessiak 193 

Friedemann,    Die   götter  Griechenlands    von   Schiller  bis  Heine,    von 

Schulze 188 

Fröberg,    Beiträge   zur  geschichte   und   Charakteristik   des   deutschen 

Sonetts  im  19  Jahrhundert,   von  Schulze 188 

Glaue  und  Helm,  Das  gotisch-lateinische  bibelfragment  der  Universitäts- 
bibliothek zu  Giei'sen,  von  Wrede 107 

Haakh,    Die  naturbetrachtung   bei  den  mittelhochdeutschen  lyrikern, 

von  Wallner 157 

Habermann,  Die  metrik  der  kleinem  althochdeutschen  reimgedichte, 

von  Baesecke 222 

Halldör  Hermannsson,  Bibliography  of  the  icelandic  sagas  ....     179 
Hartmann,  Historische  Volkslieder  und  zeitgedichte  vom  16  bisl9jh. 

bdn,  von  Schröder 118 

Hebbels  werke,  s.  Poppe 

Heidrich,    Christnachtsfeier  und  christnachtsgesänge  in  der  evangeli- 
schen kirche,  von  Vogt 143 

Heitz,  s.  Schreiber 

Heitz  und  Major,  Hohenküngsperg 183 

Heldmann,  Mittelalterliche  volksspiele  in  thüringisch-sächsischen  lan- 
den, von  Hoff  mann -Kray  er 116 

Helm,  s.  Glaue 
Hermannsson,  s.  Halldör 


JV  INHAIiT 

Seite 
Heeeelmann,  Sam.  Columbus,  En  swensk  orde-skötsel,  von  Kahle  .  109 
Heusler,  Lied  und  epos  in  germanischer  Sagendichtung,  von  Seemüller  130 
Hoeber,  Beiträge  z.  kenntnis  d.  Sprachgebrauches  im  volksliede  d.  xv 

und  XVI  jh.s,  von  Gusinde 299 

vHovorka  u.  Kronfeld,  Vergleichende  volksmedicin,  von  Hoff  mann-Krayer    115 
Hudson,  The  Elizabethan  Shakespeare  vol.  3.  4,  von  Schröder       .     .     185 
Islandica  i,  s.  Halldör 
Jäschke,    Lateinisch  -  romanisches    fremdwörterbuch    der   schlesischen 

mundart,  von  Lessiak 31 

Jahn,  Goethes  Dichtung  und  Wahrheit,  von  Pniower 265 

Joachimi-Dege,  Deutsche  Shakespeare-probleme  im  xvui  Jahrhundert 

und  im  Zeitalter  der  romantik,  von  Köster 73 

Jonas  Jönasson,  s.  Oddur  Björnsson 
Jönasson,  s.  Jonas 
Jönsson,  8.  Finnur 

Kettner,  Studien  zu  Schillers  dramen,  i.  Wilhelm  Teil,  von  Wackerneil       84 
Klatscher,  Zur  metrik  und  textkritik  von  HHeslers  Evangelium  Nico- 
demi, von  Helm 167 

vKralik,  Zur  nordgermanischen  sagengeschichte,  von  Ranisch  .     .     .     178 

Kronfeld,  s.  vHovorka 

Kubier,  Die  deutschen  berg-,  flur-  und  Ortsnamen  des  alpinen  Hier-, 

Lech-  und  Sannengebietes,  von  Schatz 145 

Kühn,  Rhythmik  und  melodik  Michel  Beheims,  von  Dollmayr ...       67 
Kyrieleis,  MAvThümmels  'Reise  in  die  mittägl.  provinzen  von  Frank- 
reich', von  Riemann 301 

MLaudau,  Hölle  und  fegfeuer  in  Volksglaube,  dichtung  und  kirchen- 

lehre,  von  RMMeyer 294 

PLandau,  Georg  Büchners  Gesammelte  Schriften,  von  Schröder  .  .  188 
Leach,    The    relations    of    the    norwegian    with    the    english    church 

1066—1399,  von  Schröder HO 

Leihener,  Cronenberger  Wörterbuch,  von  Teuchert 15 

Liederhandschriften,  s.  Blümml 

Löwe,   Bücherkunde    d.  deutschen  geschichte   3.  Aufl.,   von   Schröder     303 

Lutz  und  Perdrizet,    Speculum  humanae  salvationis,  von  Polheim     .       55 

Major,  s.  Heitz 

Martiny,    Geschichte   der    rahmgewinnung,    i.    Die  aufrahmung,    von 

Schröder 1*^3 

Meifsner,  Römveriasaga,  von  Heusler 239 

Mildebratb,  Die  deutschen  Avanturiers  des  18  Jahrhunderts,  von  Brecht     175 

Nidlssaga,  s.  Finnur  Jönsson 

Oddur  Björnsson  ok  Jonas  Jönasson,    pjödtrü    ok   I)jöasagnir  i,    von 

WHVogt 232 

Ohrt,  Kalevala,  von  RMMeyer ^»^ 

Panzer,  Das  altdeutsche  volksepos,   von  Seemüller 1-^9 

Perdrizet,   s.  Lutz 

Pestalozzi,  Systematik  der  syntax  seit  Ries,  von  Mourek  (vgl.  304)  .  180 
Pinger,  Der  junge  Goethe  und  das  publicum,  von  RMMeyer  .  .  .  303 
Plüss,  Leutholds  lyrik  und  ihre  Vorbilder,  von  Meyer  .....  189 
Pohnert,  Kritik  und  metrik  von  Wolframs  Titurel,  von  Martin     .     .111 

Poppe,  Hebbels  werke,  von  Muucker 291 

Preitz,  Gottfried  Kellers  dramatische  bestrebungen ,  von  Walzel  .  .  96 
Priebsch,  Die  heilige  regel  für  ein  vollkommenes  leben,  von  Rieder  261 
Ramisch,'  Studien  zur  niederrheinischen  dialektgeographie,  von  Schatz  7 
Ranke,  Sprache  und  stil  im  Wälschen  gast  des  Thomasin  von  Circlaria, 

von  Bernt 

Regel,  heilige,  e.  Priebsch  ,  ^  .  or^r^ 

RickJinger,  Studien  zur  tierfabel  von  HSachs,  von  Geiger  .  .  .  .  dUü 
Römveriasaga,  s.  Meifsner 


INHALT  V 

Seite 
Schaer,  Die  dramatischen  bearbeitungen  der  Pyramus-Thisbe-sage  in 

Deutschland  im   1(3  und  17  Jahrhundert,  von  Schröder  ....  184 

Scheinert,  WvHumboldts  Sprachphilosophie,  von  Lewy 294 

Schiepek,  Der  satzbau  der  Egerländer  mundart  ii,  von  Ries     ...  22 
Schreiber  uud  Heitz,    Die    deutschen    'accipies'-   und   'magister   cum 

discipulis'-holzschnitte  von  Götze 70 

Schuder,  FrHebbel,  denker,    dichter,  menscb,  von  Freye       ....  288 

Schulze,  Die  Franzosenzeit  in  deutschen  landen  1S06 — 1815,  von  Roethe  93 

Seidl,  Der  schwan  von  der  Salzach,  von  Rosenhagen        101 

Shakespeare,  s.  Hudson 

Soein,  Mittelhochdeutsches  namenbuch,  von  v.  Grienberger       .     .     .  150 

Speculum  humauae  salvationis,  s.  Lutz  und  Perdrizet 

Speyer,  W.  Raabes  'Hollunderblüthe',  von  Freye 189 

Suolahti,  Die  deutschen  vogelnamen,  von  Schröder i 

Tiedt,  Witziges  und  spitziges,  von  Meyer 118 

pjüdlög,  Islenzk,  s.  ßjarni  porsteinsson 

pjödtru  ok  pjüdsagnir,  s.  Oddur  Björnssou  ok  Jonas  Jönasson. 

p('irsteinsson,  s.   Hjarni 

vUnwerth,    Die  schlesische  mundart   in   ihren    lautverhältnissen,   von 

Lessiak 33 

Voges,     Aus    der    heidenzeit    des    braunschweigischen    landes,     von 

Schröder 295 

FVogt,    Das    königs-    und    kaiserideal     des     deutschen    mittelalters, 

von  Schulze        113 

WHVogt,  Zur  composition  der  Egilssaga  cap.  i — lxi,  von  Neckel     .  297 

Volkslieder,  s.  Hartmann 

Wallberg,  Hebbels  stil  in  seinen  ersten  tragödien  'Judith'  und  'Geno- 

veva',  von  Freye 290 

Walser,  Die  theorie  des  witzes  und  der  novelle,  nach  dem  'de  sermone' 

des  Jovianus  Pontanus,  von  RMMeyer 117 

'Waltharius',  s.  Beck 

Walzel,  Hebbelprobleme,  von  Freye 285 

Warnecke,  Goethe  und  Schiller,  von  RMMeyer .     .  303 

Wegner,  Die  'Christliche  warnung  des    treuen   Eckarts',   von   BRing- 

waldt,  von  Götze 114 

Weston,  The  legend  of  Sir  Perceval  ii,  von  Biöte 242 

Witkowski,  Aus  Schillers  Werkstatt,  von  Kettner 278 

Wrede,  Die  diminutiva  im  deutschen,  von  Schatz 9 

Zincke,  FHebbels  philosophische  jugendlyrik,  von  Freye      ....  2SI 
,  Die  entstehungsgeschichte   von  FHebbels  'Maria  Magdalena' 

von  dems 283 

Bresslau,  Volker  der  spielmann 120 

Leitzmann,  Zum  Vorauer  Alexander 305 

,  Bemerkungen  zur  Mllstätter  handschrift 122 

Margadant  und  Brecht,  Das  geburtsjahr  des  Simon  Lemnius     .     .  125 

Neuber,  Lyrische  federproben 305 

Schmidt,  Heriman 191 

Schröder,  Biterolf 191 

Personalnotizen 128  192  306 

Register 307 


ANZEIGER 

FÜR 

DEUTSCHES  ALTERTUM  UND   DEUTSCHE   LITTERATUR 

XXXIV,   1,  2  mai  1910 


Die  deutschen  vogelnamen.  eine  wortgeschichtliche  Untersuchung 
von  Hugo  Suolahti,  doceut  an  der  Universität  Helsingfors.  Strafs- 
burg.  Trübner  190!).     xxxiii  u.  540  ss.  S".  —  16  m. 

Herr  Suolahti  hat  vor  10  jähren  unter  seinem  schwedischen 
namen  Palander  "die  althochdeutschen  tiernamen"  und  zwar  zu- 
nächst 'die  namen  der  Säugetiere'  behandelt  (Darmstadt  1899): 
das  war  eine  fleiisige  doctordissertation ,  die  aber  bei  der  be- 
schränktheit  und  Umgrenzung  des  materials  wenig  ergiebig  schien 
und  gerade  vor  den  interessantesten  fragen  halt  machte.  Palander- 
Suolahti  hat  dann  zunächst  begonnen  die  versprochene  fortsetzung 
in  derselben  weise  auszubauen:  darauf  weist  die  besonders  ein- 
gehnde  und  gewissenhafte  prüfung  des  glossenmaterials  der  ahd. 
(und  frühmhd.)  zeit  hin.  welche  jedem  einzelnen  artikel  voran- 
gestellt ist,  und  deren  ertrag  nicht  immer  der  mühe  zu  ent- 
sprechen scheint  die  sie  erfordert  hat,  und  dem  räume  den  sie 
hier  beansprucht,  in  der  beurteilung  und  wertung  dieses  oft 
recht  zerrütteten  lexikalischen  Stoffes  hat  S.  gegen  früher  grofse 
fortschritte  gemacht:  es  gelingt  ihm  nicht  selten,  aus  dem  Schutt- 
haufen der  Varianten  wertvolle  anzeichen  der  dialektischen  und 
landschaftlichen  Spaltung  eines  namens  zu  ermitteln,  welche  die 
spätere  Überlieferung  oder  die  heutige  Volkssprache  bestätigt, 
so  zb.  unter  'Würger'  s.  146 — 148  (vgl.  s.  vi);  hier  wo  die 
nomenclatur  ganz  besonders  reich  und  mannigfaltig  ist,  kann  ich 
zu  /vürf/elhdhe  (s.  150  f)  noch  eine  gesicherte  Variante  aus  einem 
eigennamen  anführen :  Marcliwardus  w u  rgel h a  «  e  erscheint  drei- 
mal im  Cod.  trad.  Garzensis  um  1200  (Drei  bayer.  traditions- 
bücher  aus  d.  12  jh.  [München  1880]  s.  59.  63.  7o).  ein  wahrer 
meisterfund  ist  dem  geduldigen  Spürsinn  des  vf.s  mit  der  aufdeckung 
des  altbairischen  namens  für  den  schwarzen  storch  gelungen: 
utinswal ,  Uttenschicalb,  was  der  gotländischen  bezeichnung 
odensvala  genau  entspricht  (s.  372  f).  dass  ihr  eine  ältere  form 
*Wnotanes-siialwa  (sical)  vorausligt,  leidet  keinen  zweifei:  in  ihr 
ist,  möglicherweise  nach  Verschiebung  der  silbengrenze  {*  Wicotanes- 
walu-a),  die  dissimilatorische  behandlung  des  anlauts  eingetreten, 
die  ich  in  meiner  abhandlung  über  'Blachfeld'  erläutert  habe, 
und  für  die  auch  das  vorligende  buch  wider  sehr  hübsche  be- 
lege bietet:  so  zu  tu rtel taube  (s.  217)  einerseits  das  bairisch- 
A.  F.  D.  A.    XXXIV.  1 


2  SCHRODKR    ÜBEK 

österreichische  (/iirtel taube  (schon  beim  Teichner)  und  ander- 
seits das  luxemburgische  ürteldau  /;  dann  zu  d  o  rndräel  {s.]Al  f) : 
aus  Baiern  do  rnkr{iel  und  aus  Österreich  r/or«f/rez(e/,  mit  fort- 
t'all  des  zweiten  anlauts  aber  doarnraJe  in  Lienz  usw. 

Nicht  überall  freilich  kann  ich  den  angaben  der  alten  glossen 
und  glossare  den  zeugniswert  beimessen,  den  ihnen  S.  zubilligt: 
so  wenn  er  auf  s.  vi  der  einleitung  (vgl  s.  3  7  (5)  die  Übersetzungen 
erdhuon  und  pirchJiven,  welche  Admonter  hss.  der  Versus  de 
volucribus  für  "ibis'  bieten,  als  echte  (obwol  sonst  ganz  unbe- 
zeugte  und  höchst  unpassende)  namen  jener  ibis-art  ('geronticus 
eremita")  besonders  betont,  von  der  der  artikel  'Waldrabe'  s.  373  ff 
sehr  anziehend  nachweist,  dass  sie  einst  in  den  felsschluchten  der 
Schweiz  wie  Steiermarks  nistete  und  hier  wie  dort  auch  einge- 
fangen und  gezähmt  gehalten  wurde,  dass  es  sich  dabei  um 
einen  4bis'  handelte,  hat  zwar  ein  gelehrter  ornithologe  vom 
j.  1591  schon  richtig  gesehen,  aber  die  Admonter  schreiberhaben 
es  doch  gewis  nicht  gewust! 

Es  sind  aber  nicht  eben  viele  fälle,  in  denen  ich  in  der  be- 
wertung  der  glossen  von  dem  Verfasser  abweiche:  im  allgemeinen 
operiert  seine  behandlung  gerade  dieses  ältesten  quellenstoffes  mit 
allen  wünschenswerten  cautelen:  er  reduciert  eine  scheinbare 
Vielheit  der  Zeugnisse  auf  eines  oder  zwei,  er  deckt  Verwechselungen 
und  misverständnisse  auf,  scheidet  die  glossen  angelsächsischer 
herkunft  aus  und  nimmt  überall  rücksicht  auf  das  alter  und 
womöglich  auf  die  heimat  der  einzelnen  handschriften.  es  gibt 
bisher  keine  Wortuntersuchung,  welche  die  grofse  publication 
Steinmeyers  mit  soviel  vorsieht  und  mit  so  reichem  nutzen  ver- 
wertet. 

Aber  würklich  fruchtbar  und  historisch  lebendig  ist  die  arbeit 
freilich  erst  geworden,  indem  S.  sich  entschloss,  die  weitere  lit- 
teratur,  die  er  anfangs  wol  nur  zu  seiner  eigenen  Orientierung 
mehr  gelegentlich  herangezogen  hatte,  in  vollem  umfang  auszu- 
beuten und  die  naraensgeschichte  eines  jeden  deutschen  oder  in 
Deutschland  populär  gewordenen  vogels  bis  in  die  gegenwart 
und  über  den  ganzen  umfang  des  deutschen  Sprachgebiets  zu 
verfolgen,  wobei  dann  das  skandinavische,  englische  und  nieder- 
ländische durchgehends  herangezogen  werden,  und  für  die  grenz- 
gebiete  die  volkstümliche  nomenclatur  der  Franzosen,  Italiener 
und  Slawen  ausreichend  berücksichtigt  erscheint,  unter  den 
deutschen  quellen,  die  nunmehr  einen  erstaunlichen  reichtum  her- 
gegeben haben,  stehn  zwei  gruppen  im  Vordergründe,  einmal 
die  ornithologische  litteratur,  die,  nachdem  Albertus  Magnus  recht 
interessante  beitrage,  Konrad  von  Megenberg  aber  nur  wenige 
specimina  geboten  hat,  im  1 6  jh.  mit  dem  in  Köln  sesshaften 
Engländer  William  Turner  (1544j  einsetzt  und  dann  alsbald  in 
Konrad  Gesners  von  Zürich  Historia  animalium  (bd  in  1555)  ihre 
erste  classische   höhe  erreicht  —  ihm  treten  dann  im   19  jh.  die 


SUOLAUTI    DIE  BEUTSCHEN  VOOKLXAJIEN  3 

beiden  Naumann,  vater  und  söhn,  mit  ihrer  groi'sen  Naturgeschichte 
der  Vögel  Deutschlands  gegenüber;  rieben  diesen  hätte  aber 
Christian  Ludwig  Brehm  (der  vater)  mit  seinen  Beiträgen  zur 
Vogelkunde  (3  bde.,  Neustadt  a.  d.  0.  1821,22)  nicht  vergessen 
werden  sollen,  es  trifft  sich  für  unser  gebiet  aufserordentlich 
günstig,  dass  Gesner,  der  autor  des  "Mithridates",  mit  dem  Inter- 
esse an  der  naturgeschichte  das  an  der  s|n-achwissenschaft  ver- 
band, und  zwar  ein  höchst  intensives  und  zugleich  praktisches 
Interesse,  das  ihn  bei  der  Schaffung  einer  wissenschaftlichen 
nomenclatur  leitete  und  ihn  correspondenzen  nach  allen  richt- 
nngen  anknüpfen  liefs ;  und  dass  anderseits  der  anhaltische  bauer- 
ornithologe  Johann  Adam  Naumann  mit  seiner  reichen  kenntnis 
der  Volkssprache  seinem  söhne  Johann  Friedrich  zur  seite  stand.  — 
die  zweite  hauptabteiluug  sind  die  Idiotika,  die  S.  in  respectabler 
zahl  ausgebeutet  hat:  ich  habe  nur  wenige  Kicken  bemerkt,  die 
auffälligste  bedeutet  das  fehlen  von  WvGutzeits  Wörterbuch  der 
deutschen  spräche  Livlands,  wie  überhaupt  aller  litteratur  über 
das  baltische  deutsch,  mit  der  excerpierung  dieser  mundartlichen 
Wörterbücher  hat  man  nun  freilich  keineswegs  die  volkstümliche 
vogelnomenclatur  der  betr.  landesteile  beisammen,  wie  ich  das  an 
meinem  eigenen  hessischen  besitz  erprobt  habe,  denn  die  meisten 
'Idiotika'  verzeichnen  nur  das,  was  ihren  Verfassern  nicht  als 
Schriftsprache  oder  allgemein  üblich  erschienen  ist.  S.  kennt  alle 
unsere  hessischen  Wörterbücher  (Vilmar,  vPtister,  Saul,  Crecelius), 
gleichwol  fehlt  Hessen  bei  vielen  bezeichnungen  die  aus  andern 
landschaften  notiert  werden,  zb.  heilst  es  unter 'Gimpel'  (s.  138:) 
'heute  kommt  hluetfinJc  in  der  Schweiz  und  im  Elsass  vor,  auch 
in  der  Siegerländer  mundart  hlotfenke'  —  auch  in  Hessen  ist 
hlaifinke  m.  w.  die  aligemeine  bezeiclinung,  neben  der  das  von  den 
Harzer  vogelhändlern  importierte  dompf'affe  namentlich  für  den 
kätigvogel  gilt.  —  ähnlich  steht  es  bei  feldhuhn  für  'rebhuhn", 
das    keineswegs  blofs   in  den  Rheingegenden  üblich  ist  (s.  257). 

Mit  unsern  deutschen  landschaften  passieren  dem  ausländer  hier 
und  da  misverständnisse :  'Hessen-Nassau'  (wofür  Kehrein  citiert 
wird)  ist  ein  ganz  moderner  politischer  Sammelname,  und  mit 
'preufsisch'  darf  man  nicht  die  Neumark  und  noch  weniger  den 
nach  Berlin  eingewanderten  Oberpfälzer  Job.  Leonh.  Frisch  be- 
zeichnen, würklich  anstöisig  aber  ist  der  Irrtum,  dass  im  register 
zwischen  'Niederländisclr  und  'Englisch'  einen  besondern  platz 
'Friesisch'  erhalten  hat:  mit  einer  wortlese  die  zum  größern  teil 
aus  dem  modernen  plattdeutsch  Ostfrieslands  (ten  Doornkaat 
Koolman)  stammt. 

Auch  abgesehen  von  den  ornitholog.  special  werken  und  den 
Idiotiken  zählt  das  Verzeichnis  der  'angeführten  litteratur"  (s.  527 
bis  540)  eine  fülle  von  z.  tl  recht  abgelegenen  büchern  auf  und 
liefert  jedesfalls  den  beweis,  dass  der  Helsingforser  docent  seine 
ferienaufenthalte    in  Deutschland    sehr    gründlich    und  energisch 


4  SCHKüDER    UBKK 

aiisg-eiuitzt  hat.  ein  paar  irrtümer  laufen  mit  unter,  der  wunder- 
lichste, weil  sich  beständig  widerholend,  ist :  'Tremsens  plattdeutsche 
gedichte  hrsg.  von  Karl  Eggers,  Breslau  1S75'  —  gemeint  sind 
'Tremsen,  plattdeutsche  gedichte  von  Karl  Eggers  u.  Fr.  Eggers, 
hrsg.  von  Karl  Nehring' !  —  vermisst  hab  ich  JWintelers  wich- 
tiges Programm  'Naturlaute  und  spräche.  ausführungen  zu 
WWackernagels  Voces  variae  animantiura'  (Aarau   1892).  — 

Nach  einer  einleitung  (s.  i — xxxiii),  welche  die  quellen  und 
die  wege  der  forschung  bespricht  und  die  wichtigsten  ergebnisse 
für  alter,  herkunft,  geltungsbereich  und  geschichte  der  deutschen 
vogelnamen  an  beispielen  erläutert:  wert  und  einfluss  der  orni- 
thologischen  litteratur,  culturentlehnung  aus  der  fremde,  Import 
durch  vogelhändler  (italienischer  u.  besonders  slawischer  nationali- 
tät !),  Jägersprache,  anwachsen  der  onomatopoietischen  synonyma, 
Zeugnisse  des  Volksglaubens,  scherzhafte  und  vertrauliche  benennun- 
gen,  kurzformen  und  andere  kosenamen  usw.  usw.,  folgen  die  einzel- 
nen Vögel  nach  der  üblichen  zoologischen  einteilung,  wobei  dann  frei- 
lich der  fremde  papagei  den  reigen  führen  und  der  ebenso  fremde 
nordische  tord-alk  ihn  schliel'sen  muss.  regelmäl'sig  stehn  die 
ertrage  der  ahd.  glossen  voran,  es  folgen  die  Zeugnisse  für  die 
hauptnamen  aus  der  poetischen  und  wissenschaftlichen  litteratur, 
und  das  oft  sehr  reiche  und  bunte  material  aus  den  dialekten 
bildet  den  schluss.  dies  Schema  wird  aber  ohne  pedanterie  be- 
handelt und  überall  durchbrochen,  wo  es  die  darstellung  wünschens- 
wert erscheinen  lässt.  die  einzelnen  abhandlungen  lesen  sich 
durchweg  angenehm  und  vielfach  interessant,  dabei  vermeidet 
der  Verfasser  jede  unnütze  breite,  und  nur  der  unbehaglich  hohe 
preis  des  Werkes  (es  war  zu  'ca.  8  m.'  angekündigt  und  kostet 
schlielslich  das  doppelte)  legt  uns  die  frage  nahe,  ob  nicht  hier  und 
da  durch  knappere  aufreihung  räum  gespart  werden  konnte.  — 
die  angehängten  texte   liefsen  sich  auch  anderweit  unterbringen. 

Besonderes  lob  verdient  die  Zurückhaltung  und  der  vornehme 
tact  des  Verfassers  in  etyraologicis :  so  verfährt  nur  jemand  der 
mit  vollster  kenntnis  der  Wörter  und  sachen  ein  grofses  gebiet 
überblickt  und  darin  würklich  heimisch  geworden  ist.  die  ety- 
mologen  von  beruf  und  die  sportsmen  auf  diesem  felde  werden 
oft  genug  durch  den  hinweis  auf  parallelerscheinungen  oder  auch 
durch  feststellung  der  sachlichen  Unmöglichkeit  widerlegt,  aber 
auch  deutungen  die  sich  bereits  eines  festen  ansehens  erfreuten, 
werden  gründlich  abgetan  und  hier  und  da  glücklich  ersetzt: 
wie  die  grasmücke,  die  uns  schon  lang  als  *gra-smucca  gegolten 
hat,  nun  höchst  einleuchtend  als  ''grasa-smucca  'grasschmiegerin', 
'grasschlüpf  erin'  durch  schwedische,  dänische,  englische  und 
niederdeutsche  parallelen  erwiesen  ist  (s.  69).  die  Schwierigkeit 
dieses  gebietes  der  volkstümlichen  nomenclatur  tritt  besonders 
da  zu  tage,  wo  alte  klangmalende  bezeichnungen  später  etymo- 
logisierend umgeformt  sind  (das  bekannteste  beispiel  n-ituhopfa). 


SUOLAHTI    r>IK  DEUTSCHEN  VOGELNAMEN  D 

oder  umgekehrt  echte  bildungen  einer  durchsichtigen  verbalwurzel 
später  eine  onomatopoietische  Umgestaltung  erfahren  haben,  wie 
das  in  den  dialekten  hundertfach  geschehen  ist.  in  der  kritik 
fremder  einfalle  wird  man  S.  fast  durchgehend  beistimmen  müssen, 
mit  eigenen  vorschlagen  ist  er  so  zurückhaltend,  dass  er  sich 
selten  eine  blöfse  gibt,  ein  fall  wo  ich  ihm  nicht  zu  folgen  ver- 
mag, ist  die  behandlung  der  geschichte  und  etymologie  des 
falken  (s.  327);  ich  geh  darauf  etwas  näher  ein,  weil  hier 
principiell  wichtige  fragen  hineinspielen. 

GBaist  hatte  in  einem  gelehrten  und  anregenden  artikel  der 
Zs.  (27,60  ff)  die  erklärung  des  falkennamens  aus  einem  bei  Paulus 
resp.  Festus  bezeugten  latein.  faico  "einer  der  krumme  zehen 
liat'  zurückgewiesen  und  unter  hinweis  auf  den  starken  germa- 
nischen einschlag  der  romanischen  jagd-  und  falknerei-nomenclatur 
die  germanische  herkunft  des  wertes  behauptet,  das  er  am  liebsten 
zu  fallaii  stellen  wollte,  diese  etymologie  bekämpft  S.  s.  329, 
und  ich  glaube  mit  recht,  aber  wenn  er  meint,  dass  das  gänz- 
liche fehlen  des  germanischeu  wertes  in  England  und  sein  spätes 
auftauchen  im  Norden  (wo  der  Jagdfalke  zunächst  valr  hiefs,  wie 
in  England  /reaJhhafoc)  zur  Widerlegung  des  germanischen  Ur- 
sprungs hinreiche,  so  zieht  er  einen  voreiligen  schluss.  es  unter- 
ligt  ja  keinem  zweifei,  dass  das  wort  seine  weite  Verbreitung 
nicht  etwa  der  Volkssprache,  sondern  ausschliefslich  dem  tech- 
nischen Sprachgebrauch  der  beizjagd  verdankt:  deshalb  kann  es 
sehr  wol  in  Deutschland  geographisch,  sagen  wir  auf  den  süden  oder 
Südwesten,  beschränkt  und  dort  in  die,  wie  S.  selbst  zeigt,  aus  ger- 
manischen und  romanischen  dementen  gemischte  internationale 
spräche  der  falkner  aufgenommen  sein ;  in  einer  gegend  mit  der  die 
festländischen  vorfahren  der  Angelsachsen  keinen  culturaustausch  zu 
haben  brauchten,  wenn  falcJi,  /aZAie  heute  noch  im  deutschen  Südwesten 
ein  pferd  (oder  ein  rind)  von  'fahler  färbe  bezeichnet  (vgl.  zuletzt 
Anz.  XXXIII  1 19),  so  ist  das  doch  gewis  ebenso  aufzufassen,  wie  ra})}}^ 
für  ein  schwarzes,  helcJie  u.  bh'fsf>e,  hlässchen  (Suolahti  s.  304)  für 
ein  weilsstirniges  pferd,  spechf  für  einen  gesprenkelten  ochsen 
(Much,  Zs.  f.  d.  wortf.  2,  284).  damit  ist  zugleich  der  deutsche 
Ursprung  und  die  etymologie  gegeben :  die  Übertragung  vom  vogel 
auf  das  pferd  hat  möglicherweise  schon  zu  einer  zeit  statt- 
gefunden, wo  man  diese  etymologie  noch  verstand  oder  fühlte  — 
notwendig  (wie  das  Much  aao.  anzunehmen  scheint)  ist  das  aber 
keineswegs,  vgl.  rappe ! 

Dem  alten  gemeinbesitz  der  Germanen  —  oder  aucli  nur 
der  Westgermanen  —  an  vogelnamen  gehört  also  fa^ko  ganz 
gewis  nicht  an,  wie  es  denn  auch  heute  noch  der  Volkssprache 
weiter  deutscher  landschaften  gänzlich  unbekannt  ist.  diesen 
gemeinbesitz  festzustellen  macht  S.  in  der  einleitung  s.  xvi  einen 
anspruchslosen  versuch,  ich  glaube,  man  kann  darin  weiter- 
kommen und  zugleich  einiges  für  die  heimatsfrage  der  Germanen 


b  SCHRÖDER    ÜBER 

gewinnen  oder  zur  bestätigung  der  anerkannten  ergebnisse  ver- 
Avenden.  hier  eine  probe.  Suolahti  stellt  s.  292  ganz  richtig 
mnd.  krbn,  md.  knion  in  dasselbe  ablautsverhältnis  zu  germ.  krana, 
wie  hon,  liuon  zu  hana;  er  unterlässt  aber  die  gleiche  beob- 
achtung  s.  408  bei  mnd.  swon  zu  sicana.  obwol  nun  krön  und 
sU'ön  nur  als  masculina  bezeugt  sind,  glaub  ich,  dass  es  sich 
dabei  um  alte  neutrale  .s-stämme  wie  bei  hm  handelt,  ich  ver- 
mute dass  dies  neutrum  auch  noch  in  den  ahd.  fraueunamen  auf 
-suon  {Ewjihuon,  Innansuon)  steckt,  danach  besafsen  die  Ger- 
manen drei  vogelnamen.  die  sämtlich  von  der  stimme  benannt 
waren,  in  doppelter  form,  für  das  männchen  und  für  das  weibchen: 

hana  m.  —  hm  n. 

swana  m.  —  sivön  n. 

krana  m  —  krön  u. 
diese  doppelnamen  müssen  in  derselben  zeit  aufgekommen  sein, 
und  ihre  Schaffung  niuss  Jägern  zugeschrieben  w^erden,  welche  den 
wilden  hahn  (welchen  V),  den  singschwan  und  den  kranich  jagten : 
denn  aufser  haustieren  haben  nur  die  geläufigsten  jagdtiere  die 
zwiefache  benennuug  aufzuweisen,  dass  eine  der  beiden  bezeich- 
nungen  später  vernachlässigt  und  dass  die  bezeichnung  des  Weib- 
chens auch  auf  das  männchen  angewendet  wird,  erleben  wir  auch 
bei  andern  jagdtieren,  vgl.  einmal  den  Untergang  von  wülpe  und 
hirin,  und  dann  den  gebrauch  von  vohe  für  fuhs. 

Eine  sehr  interessante,  urzeitliche  Verhältnisse  der  Sema- 
siologie und  nomenclatur  widerspiegelnde  erscheinung  ist  die 
gleiche  benennung  ganz  verschiedener  vügel,  nicht  etwa  in  ver- 
schiedenen landschaf ten ,  sondern  offenbar  in  derselben  gegend. 
unter  denselben  menschen,  gegen  Osthoffs  bekannte  herleitung 
des  hähers  und  des  reihers  aus  derselben  grundform  hraiffr-, 
hrigr-  hab  ich  mich  früher  gesträubt;  wie  sie  hier  von  S.  wider- 
holt ward  (s.  198  ff.  378),  ist  gar  kein  zweifei  mehr  möglich: 
die  Vögel  haben  einmal  beide  mit  derselben  schallnachahraung 
den  namen  'schreihals'  geführt,  überzeugend  sind  vor  allem  die 
parallelen,  welche  unser  buch  bietet,  so  ahd.  creia  für  'grus' 
(s.  293),  craia  für  'coturnix'  (s.  178f,  wo  übrigens  die  erörterung 
dieser  form  unterblieben  und  ihr  heutiges  fortleben  nicht  er- 
wähnt ist). 

Dass  bei  einem  umfangreichen  werke  wie  diesem,  das  einen 
Vorrat  von  über  6000  verschiedenen  wortbildern  oft  der  wunder- 
lichsten gestalt  aus  allen  arten  von  litteratur  heranholt,  hier  und 
da  kleine  versehen  unterlaufen,  ist  entschuldbar;  aufgefallen  sind 
mir  besonders  allerlei  ungeschicktheiten  in  der  citierung  der 
mhd.  poetischen  litteratur.  aber  es  ist  wol  kaum  etwas  darunter, 
was  der  Wissenschaft  gefahr  bringen  oder  sich  als  dauernder  irr- 
tum  in  unserer  litteratur  festsetzen  könnte  —  wie  das  in  der 
ornithologischen  namengebung  nichts  ganz  seltenes  zu  sein 
scheint,     statt  mit  der  aufzählung  von  irrigen  citaten  und  druck- 


SUOLAHTI    DIE  DEUTSCH KX  VOGELNAMEN  7 

fehlem  will  ich  also  lieber  mit  ein  paar  dieser  alten  und  zäh- 
lebigen wechselbälge  schliefsen,  die  S.  als  solche  entlarvt  hat. 
da  hat  ein  schalk  von  Schweizer  um  1540  dem  Engländer 
Turner  den  namen  des  'Ziegenmelkers'  als  'paphum.  Id  est  saccr- 
döteni  angegeben,  und  obwol  Turner  selbst  den  verdacht  aus- 
spricht, dass  ihn  der  mann  zum  besten  gehabt  habe,  ist  dieser 
name  jjßfl  durch  die  ornithologische  litteratur  von  vier  Jahr- 
hunderten gewandert  (s.  19).  noch  schlimmer  aber  ergieng  es 
dem  "Dickfurs*  ('oedicnemus') :  er  heilst  ot'ticiell  in  der  gesamten  wissen- 
schaftlichen und  populären  litteratur  triel  —  und  sollte  eigent- 
lich griel  heifsen,  denn  diese  lautform  allein  ist  (zb.  in  Holland) 
nachweisbar  (s.  268).  schuld  trägt,  und  zwar  höchst  unschuldiger 
weise,  Gesner,  der  in  der  Hist.  avium  s.  'J45  sagt:  'ea  germa- 
nice  alicubi,  ni  fallor,  Trlel  uel  GrieJ  nominatur".  von  diesen 
zwei  zur  nachprüfung  hingestellten  namen  haben  dann  die  spä- 
teren gelehrten  gerade  den  falschen  gewählt,  und  die  wissen 
schaftliche  nomenclatur  hat  ihn  festgenagelt,  schade  dass  ihn 
noch  keiner  unserer  berufsetyraologen  etymologisiert  hat! 

Güttixigen.  Edward  Schröder. 


Deutsche  dialektgeographie.  berichte  und  Studien  über  GWenkers 
Sprachatlas  des  Deutschen  reiches,  herausgegeben  von  Ferdinand 
Wrede.    heft  I: 

Studien  zur  niederrheinischen  dialektgeographie  mit  einer 
karte  und  drei  pausblätteru  von  Jacob  Ramisch.  Die  diminu- 
tiva  im  deutschen  von  Ferdinand  Wrede.  Marburg,  Elwert 
190S.    XIII  u.  144  SS.  so.  —  3,20  m. 

Eamisch  legt  für  seine  Studien  zur  niederrheinischen  dialekt- 
geographie ein  linksrheinisches  gebiet  mit  dem  hauptorte  Krefeld 
und  etwa  70  Ortschaften  zugrunde;  er  stützt  sich  dabei  auf  das 
Studium  der  SA. -karten  Wenkers,  auf  Wredes  berichte  darüber 
und  auf  eigene,  ort  für  ort  lückenlose  materialsammlung  für  einige 
eigenheiten  der  mda.  in  lautlichen  unterschieden,  und  es  soll  ge- 
zeigt werden,  wie  der  SA.  von  nutzen  werden  könne,  wenn  man 
sich  damit  für  die  locale  detailforschung  orientiert.  R.  tindet 
durch  seine  Specialuntersuchungen  'die  wertvolle  Zuverlässigkeit 
des  SA.  aufs  neue  bestätigt'. 

Nach  erörterung  der  niederrhein.  zweigipfligen  silben- 
betonung,  die  sich  gegen  das  gebiet  mit  eingipfiiger  nicht  immer 
scharf  abgrenzen  lasse,  behandelt  R.  die  grenze  der  hochd.  laut- 
verschiebung,  der,  so  wichtig  sie  für  das  grofse  Sprachgebiet  auch 
ist,  zur  abgrenzung  des  lautlichen  Unterschiedes  dieses  linksrhein. 
gebietes  nur  eine  beschränkte  Avichtigkeit  zukomme,  weil  andere 
Sprachgrenzen  nicht  damit  stimmen,  die  hauptlinie  der  lautver- 
schiebung  verläuft  südlich  von  dem  behandelten  gebiet,  das  von 
der  "Wenkerschen  Ürdinger  linie  durchschnitten  wird;  R.  bestimmt 
die  grenze  zwischen  k  und  ch  in  ich,  auch  genau  von  oit  zu  ort 


8  SCHATZ    ÜUEK 

und  bestätigt  die  karte  Wenkers.  was  sich  sonst  an  verschobenen 
formen  hier  findet,  ist  entlehnung  aus  dem  süden  oder  der  Schrift- 
sprache, wenn  R.  mit  beruf ung  auf  Wenker  angibt,  dass  die 
Verschiebung  in  mich,  dich,  sich  am  weitesten  nach  norden  reiche, 
die  unverschobenen  formen  (mik  .  .  .)  überliaupt  nicht  vorkommen, 
so  möchte  mau  wissen,  wo  vtich  mit  »ti  (vgl.  Maurmunn  Gi'amm. 
der  mda.  von  Mülheim  a.  d.  Ruhr  ij  221)  zusammentrifft,  eine  eigene 
grenze  hat  Idk  —  ^9/,  das  suftix  hd.  -lieh,  beide  formen  kommen 
nijrdlich  und  südlich  der  Ürdinger  linie  vor  und  auch  neben- 
einander, die  'vocalisierung  der  spirans  in  der  Verbindung  chf 
trifft  den  südlichen  teil  des  gebietes,  reit  'recht',  lout  'luft',  die 
grenze  reicht  um  einige  Ortschaften  weiter  nördlich  als  die  ik-ich- 
linie.  im  norden  ist  t  abgefallen,  ch  erhalten,  der  vocal  meistens 
gedehnt,  es  besteht  nun  ein  Zusammenhang  zwischen  dieser  ent- 
wicklung  und  der  Vertretung  des  germ.  g,  welches  nördlich  an- 
und  auslautend  stimmloser,  inlautend  stimmhafter  gutturaler  reibe- 
laut  ist,  südlich  aber  im  anlaut  stimmhafter  palataler,  im  inlaut 
stimmhafter  gutturaler  oder  palataler,  im  auslaut  stimmloser  pala- 
taler oder  gutturaler  spirant,  je  nach  den  vorausgehenden  vocalen. 
ein  kleiner  teil  im  Südwesten  hat  allgemein  gutturalen  reibelaut 
und  acht  zu  out  gewandelt,  während  sonst  dafür  eit  erscheint; 
das  erweist  den  Zusammenhang  in  der  entsprechung  für  cht 
und  g.  —  mit  dieser  grenze  deckt  sich  die  'gutturalisierung  von 
n  4-  dental'  nach  kurzem  vocal,  zwei  orte  des  c/j^gebietes  haben 
noch  daran  teil.  germ.  nd,  np  zu  uk  auslautend,  u  inlautend, 
hd)jk  'hund',  öv9r  'unter',  rewk  'rind';  nördlich  ist  nd  erhalten, 
auslautend  nt.  die  erscheinung  hängt  mit  dem  wandel  von  n.  d 
zu  ij.  g.  k  nach  altem  7,  «,  iu  zusammen,  der  aber  nicht  so  weit 
nördlich  reicht,  dass  ihn  R.  noch  behandeln  könnte;  doch  macht 
er  auf  einige  iu  für  -in-  aufmerksam,  die  auch  hier  vorkommen.  — 
vom  'ausfall  des  intervocalischen  dentals"  d,  p  wird  dieses  ganze 
gebiet  getroffen,  im  nordwesten  ist  dafür  j  vorhanden,  nicht  als 
Vertreter  des  dentals,  sondern  hiatusdeckend,  die  grenze  wird 
genau  bestimmt,  die  belege  werden  sorgfältig  gesichtet  bei- 
gebracht. — -  Svestgerm.  sk  im  auslaut"  wird  im  norden  als  .y  ge- 
sprochen, im  Süden  als  s,  fles  —  fles  'flasche'.  im  anlaut  kommt 
im  nordwesten  auch  s  -\-  x  vor  wie  im  westfälischen,  doch  ist 
die  grenze  gegenüber  s-  nicht  deutlich  zu  bestimmen.  —  'das 
diminutivum  ndl.  -je'  wird  im  nordwesten  mit  dem  stimmhaften 
palatalen  reibelaut,  sonst  mit  s  gesprochen,  die  grenze  deckt  sich 
zum  gröfsten  teil  mit  der  von  -s.  -.s.  —  es  werden  im  weitern  noch 
die  grenzen  für  fälle  der  dehnung  und  kürzung,  für  die  ent- 
sprechung von  westgerm.  ö,  ai,  au,  eo  und  e  bestimmt  und  be- 
urteilt, endlich  noch  die  pluralfornien  hd.  wir,  ihr,  uns,  euch,  für 
welche  noch  keine  SA. -karte  vorligt.  icir,  ihr  sind  einheitlich 
vertreten,  nördlich  we/.  jei  {xei),  südlich  icer,  er  [ivi,  gi  —  wir,  ir). 
uns  lautet  im  nördlichsten  teil  07is,  sonst  os:  für  iti  hat  der  süden 


EAMISCH    XIKDKItUHEIXISC  HE  DIALEKniKOCRAPHl  K  0 

OY,  der  norden  o<<.  diese  grenze  deckt  sich  mit  der  der  vocali- 
sierung  des  ck  in  cht .  es  überrascht ,  dass  also  im  Süden ,  wo 
nacht  als  uout,  neu  vertreten  ist,  0/  gesprochen  wird,  im  norden, 
wo  die  spirans  erhalten  ist,  aber  öu :  einen  Zusammenhang  dürfte 
man  natürlicli  nicht  erwarten,  weil  die  doppelheit.  die  in  mhd. 
iu  —  luch  vorligt.  die  erklärung  gibt,  bei  der  besprechung  der 
grenze  zwischen  nördlichem  i  und  südlichem  e  für  westgerm.  vo 
und  e  wäre  wol  auch  die  kürzung  dieses  1  in  fiigg —  'fliegen'  zu 
berühren  gewesen,  die  Wrede  im  Anz.  xxi  287  zwischen  Krefeld 
und  Geldern  notiert;  auf  diese  Notiz  weist  R.  hin,  ohne  sich 
weiter  auszusprechen. 

Der  historisch -erklärende  teil  erörtert  die  geschichtlichen 
unterlagen  der  Sprachgrenzen,  sie  sind  zum  grösten  teile  alt  und 
weisen  auf  das  14  jh. ,  dh.  die  damals  vorhandenen  territorial- 
grenzen sind  heute  Scheidelinien  für  die  mda. ;  sie  auf  alte  herzog- 
tums-  oder  Stammesgrenzen  zurückzuführen,  lehnt  R.  ausdrück- 
lich ab.  nun  hier,  wo  es  sich  um  die  grenze  zwischen  mittel-  und 
niederfränkisch  handelt,  kann  man  beim  14  jh.  es  nicht  wol  be- 
wenden lassen,  wenn  auch  von  gesicherten  Schlüssen  auf  Salier 
und  Ripuarier  nicht  die  rede  sein  kann,  dafür,  dass  die  alten 
stammesgrenzen  in  den  mdaa.  noch  zu  finden  sind,  haben  wir  doch 
genügend  sichere  tatsachen.  im  gegensatz  zu  R.  hab  ich  die 
Überzeugung,  wir  dürfen  nicht  darauf  'verzichten,  in  unsern 
dialektgrenzen  uralte  gau-  und  stammesgrenzen  w'ieder  zu  erkennen', 
gerade  weil  man  festzustellen  vermag,  dass  heutige  Sprachgrenzen 
sich  mit  politischen  grenzen  durch  Jahrhunderte  hindurch  gedeckt 
haben,  muss  man  diese  gemeinsamen  grenzen  im  princip  in  die 
älteste  uns  erreichbare  zeit  zurückverlegen,  die  ik-tch-grenze  zb. 
hat  ein  alter  von  etwa  dreizehn  Jahrhunderten  und  kann  nur  durch 
eine  Stammes-  und  politische  grenze  erklärt  werden  sie  verläuft 
heute  linksrhein.  zum  guten  teile  isoliert  von  andern  sprach-  und 
politischen  grenzen,  das  ersieht  man  gut,  wenn  man  die  von  R. 
beigegebenen  pausblätter  auf  seine  kartenskizze  legt,  wie  man 
nun  diese  abweichung  von  ein  paar  orten  sich  auch  zurecht  legt, 
das  eine  muss  festbleiben,  die  Ursachen,  nach  welchen  sich  in 
jüngerer,  uns  erreichbarer  zeit  Sprachgrenzen  gebildet  haben,  haben 
auch  in  der  älteren,  nur  erschließbaren  zeit  dieselbe  würkung  gehabt. 

Wredes  arbeit  über  die  diminutiva  im  deutschen  s.  71  ff. 
enthält  im  1  teile  einen  bericht  über  sechs  diminutivkarten  des 
Wenkerschen  Sprachatlas  des  Deutschen  reiches,  ausführlicher  als 
die  bekannten  im  Anz.  xviiiff.  erschienenen  berichte,  doch  im 
kerne  von  gleicher  art.  die  SA.-karten  haben  bisher  sieben  von 
den  acht  diminutiven  der  Wenkerschen  sätze  zur  darstellung  ge- 
bracht, ÄpfcJfhcn  steht  noch  aus,  Äugenhlickclicn  ist  'das  am 
wenigsten  glückliche;  es  ist  selten  auch  nur  einigermalsen  volks- 
tümlich   und   seine    dialektkarte    deshalb  nur  verschwommen  und 


10  SCHATZ    ÜBKR 

nur  von  relativem  wert"  s.  79.  die  sechs  diminutivkarten,  denen 
dei'  bericht  gilt,  enthalten  die  singulare  ein  hisschen.  kein  Stückchen, 
auf  dem  Mäuerchen  und  die  plurale  nom.  Aiyfelhäumchen.  Vögelchen, 
acc.  Schäfchen :  der  bericht  darüber  berücksichtigt  nur  die  suflixe. 
auf  grund  dieser  sechs  dirainutiva  sucht  W.  ein  bild  von  der 
geographischen  Verbreitung  der  diminutivsuftixe  des  Deutschen 
reiches  zu  geben,  ausdrücklich  darauf  hinweisend,  dass  damit 
noch  nicht  'die'  dirainutivbildung  des  deutschen  geboten  werden 
könne. 

In  die  topographischen  angaben,  die  von  nordwest  ausgehend 
die  drei  gruppen  niederdeutsch,  mitteldeutsch,  oberdeutsch  aus- 
sondern, sind  erwägungen  über  die  herkunft  und  Übertragung  der 
Suffixe  eingeschoben,  jene  die  sich  nach  des  vf.s  anleitung  diese 
sechs  diminutivgestalten  auf  pausblättern  umgrenzen,  werden  die 
mischung  von  beschreibung  und  Untersuchung  nicht  störend  em- 
pfinden; andere  aber  haben  mühe,  sich  über  diese  diminutive  ein 
klares  bild  zu  machen,  und  würden  es  vielleicht  lieber  sehen, 
dass  beides  getrennt  wäre  und  die  arten  dieser  sechs  suffixe  noch 
besonders  in  einer  Übersicht  gruppiert. 

Im  niederdeutschen  stellt  der  vf.  als  die  ursprüngliche  dimi- 
nutivform  -kin  auf,  aus  welcher  alle  belege  der  SA.-karten  ihre 
erklärung  finden;  das  pommersche  -ing  ist  davon  zu  trennen, 
hier  mache  sich  nun  die  friesische  (ingwäouische)  palatalisierung 
des  k  vor  l  geltend,  durch  welche  die  suffixformen  -je,  -tje.  -in, 
-tin.  -ske.  -sehe  usw.  im  westlichen  niederdeutschen  ihre  erklärung 
fänden;  dies  palatalisierte  -kJn  sei  also  weit  über  jenes  gebiet 
hinaus  verbreitet,  in  welchem  alle  /.■  vor  palatalen  vocalen  mouilliert 
worden  sind,  fürs  mitteldeutsche  (aufser  dem  östlichsten  teile,  der 
bekanntlich  -l-  hat)  ist  -chen  aus  -chin,  fürs  oberdeutsche  /-suffix 
kennzeichnend,  dass  die  sechs  belege  einen  einblick  in  die  art  und 
Verbreitung  der  deutschen  diminutivbilduug  (im  Deutschen  reiche) 
geben,  wird  man  zugestehn.  jedoch  ist  es  befremdlich,  dass  sich 
der  vf.  so  wenig  mit  der  vorhandenen  dialektliteratur  beschäftigt, 
aus  dem  niederdeutschen  stehen  mir  hier  nur  Maurmanns  Gram- 
matik von  Mülheim  a.  d.  Ruhr,  Holthausens  Soester  mda.  und  Teucherts 
behandlung  der  neumärkischen  mda.  zur  Verfügung.  Maurmann 
handelt  in  §  211  über  die  diminutivbilduug,  die  mit  den  Suf- 
fixen -s9,  -kd,  -skd  geschehe  (der  plural  stets  auf  -s).  W.  führt 
§  1 3  aus,  dass  am  Niederrhein  westlich  der  ausgang  der  diminutiv- 
endung  im  sing,  -e  sei,  östlich  des  Rheins  -en.  dies  reiche  bis  an 
den  Rhein,  von  Ürdingen  bis  Oi'sa}'  noch  aufs  linke  ufer;  dem- 
nach müste  Mülheim  und  das  Ruhrgebiet  ausschliefslich  -en  haben, 
wovon  aber  Maurmann  nichts  angibt,  seine  diminutivbeispiele 
enthalten  die  Wenkerschen  diminutiva  nicht  (doch  hitss  bisschen 
§  151,  1).  sind  nun  diese  in  Mülheim  mit  -en  vorhanden?  oder 
gilt  Maurmanns  angäbe  für  alle  diminutiva  seiner  mda.  ?  oder  hat 
sich  in  ihr  die  diminutivbilduug  in  den  zehn  bis  fünfzehn  jähren 


WREDE    DIMIXUTIVA    IM    DEUTSCHEN  11 

zwischen  der  beautwortung-  der  Wenkerschen  fragebogen  und  der 
abfassung  dieser  grammatik  (die  1898  erschienen  ist)  geändert? 
dass  auch  ans  Mülheim  eine  Umschrift  der  Wenkerschen  sätze 
vorligt.  ersieht  man  aus  s.  86  scWusszeile.  —  bei  Holthausen  find 
ich  in  §  380  die  diminntivbildung  -kn,  -skn,  plural  -kjs.  -sk9s, 
also  im  sing,  silbisches  n,  das  die  -ken.  -sken.  -.sehen  bei  W.  nicht 
erkennen  lassen,  ob  sich  aber  -hi  und  -ke  oder  -ken  und  -ke 
gegenüberstehn ,  ist  doch  nicht  gleichgültig,  zumal  ja  W.  §  17 
annimmt,  dass  der  ursprüngliche  sing,  -e  gehabt  habe  (mit  ingwäo- 
nischem  «-abfall)  und  n  durch  niederd.  einfluss  restituiert  sei. 
—  Teuchert  gibt  als  diminutivsuflix  im  sing.  k>j  an  (§§  49.  226. 
382  na.  seiner  abhandlung  in  der  Zs.  f.  dtsch.  mdaa.  1907  und  1908); 
nach  W.  §  28  lauten  die  Singularparadigmen  im  niederdeutschen 
östlich  der  Oder  'im  allgemeinen  auf  -ke  aus  {-ke)i  öfter  in  Pommern, 
besonders  im  westen,  tei*ner  im  Weichseldelta  und  in  seiner  nach- 
barschaft  bis  Danzig  und  Elbing)'. 

Bei  der  darstellung  der  oberdeutschen  (obd.  nach  W.)  dimi- 
nntivbildung interessiert  vor  allem  die  eigenartige  pluralbildung 
auf  -lieh,  die  heute  in  einem  streifen  im  nordöstlichen  Württem- 
berg, im  nordwestlichen  Bayern  nördlich  von  Schweinfurt  und  in 
der  bayrischen  Eheinpfalz  vorkommt;  im  Judeudeutsch  ist  sie  weit 
verbreitet,  nach  Fischer  Geographie  der  schwäb.  mda.  s.  73  steht 
im  nördlichen  schwäbisch  dem  sing,  mit  -h  der  plur.mit  -li  gegen- 
über, die  adjectiva  auf  mhd.  -lieh  haben  hier  ebenfalls  -li,  folg- 
lich kann  der  unterschied  zwischen  sing,  -b,  plur.  -li  hier  überall 
so  gedeutet  werden,  dass  der  plur.  ursprünglich  das  collective 
-lieh  (ans  -lahi)  hatte.  W.  dehnt  die  annähme  eines  diminutiv- 
plurals  auf  -lach,  -lieh  auf  alle  gebiete  aus,  in  welchen  der  plur. 
vom  sing,  verschieden  ist,  ausgenommen  die  plur.  auf  -ler.  so  dass 
also  der  gröfsere  teil  des  obd.  Sprachgebietes  diese  pluralbildung 
gekannt  hätte,  vgl.  die  Zusammenfassung  in  §  75. 

Im  norden  des  Bodensees  und  Badens  gibt  es  plurale  auf  -lin, 
-len,  ebenso  am  rechten  Lechufer  bis  zum  Walchensee  hin ;  das  -n 
hält  W.  für  eine  junge  nenbildung,  ein  ersatzmittel  für  das  einstige 
den  plur.  charakterisierende  -eh.  man  vermisst  es  hier  sehr, 
dass  W.  über  die  diminutiva  des  deutschen  handelt,  ohne  das 
deutsch  aufserhalb  der  reichsgrenze  gehörig  heranzuziehen ;  wenn 
schon  die  tatsache  widerholt  festgelegt  wird,  dass  das  süddeutsche 
seit  jeher  diminutivreicher  war  als  der  norden,  so  muss  bei  der 
erklärung  der  suffixarten  doch  auf  den  gesamten  Sprachbereich 
]"ücksicht  genommen  werden,  aus  Kärnten  und  Tirol  kennen  wir 
zb.  sing.  nom.  acc.  liercße  'berglein',  dat.  und  plur.  perejlan  oder 

entsprechend  j^e/Y/Z — perglan,    -l hn ,    -Id lan,   westtirol. 

-li U.  zugrunde  ligt  für  den  sing.  nom.  acc.  -ili,  für  den  dat. 

-iline,  für  den  plur.  illt).  -illnun:  von  der  ahd.  flexionsform  ist 
der  nom.  acc.  plur.  abgewichen,  der  aus  den  obliquen  casus  -n 
angenommen    hat.     damit  vgl.    die    schweizerischen   Verhältnisse 


12  SCHATZ    ÜBER 

(zb.  bei  Winteler  Kerenzer  nida.  s.  ISI  und  Odermatt  Die  dimi- 
nutiva  in  der  Nidwaldner  mda.  s.  15)  mit  -U  im  sing-,  und  nom. 
acc.  plur.,  mit  -Jdna  im  dat.  plur.  hier  ist  also  die  ahd.  art  reiner 
erhalten;  dass  -li  (welches  auf  -ll  und  -liu  zurückg-ehn  kann) 
und  nicht  etwa  -Un  anzusetzen  ist,  ergibt  sich  aus  dem  -li  der 
Brienzer  mda.,  in  w^ elcher  die  auslautenden  -n  alle  erhalten  sind, 
der  schwäbischen  endung  -Ic  im  sing,  kann  l'i  zugrunde  liegen; 
wo  im  nordöstlichen  schwäbisch  der  plur.  -b  dem  sing,  -le  gegen- 
übersteht, ist  eine  secundäro  Umbildung  von  -Un  (dat.  Unim,  llneH) 
anzunehmen,  vgl.  auch  Fischer  aao.  und  etwa  bei  Kauffmann 
§  110,  4  hnexe,  mhd.  hnochhi,  tiectiert  buexdne.  ich  bin  also  nicht 
damit  einverstanden,  dass  für  den  sing,  des  diminutivs  -Jui  vor- 
ausgesetzt wird,  es  kann  für  manche  gebiete  vorliegen,  für  den 
gröfsern  teil  des  oberdeutschen  ist  das  alte  -li  ohne  n  geblieben, 
mit  Wilmanns  Gramm.'-  II  §  247  nehm  ich  an,  dass  die  bereits 
im  mhd.  auftretenden  formen  auf  -el  {wengel,  kindel)  aus  -ill 
herzuleiten  sind;  vgl.  -ele,  -ile  in  den  Windberger  psalmen :  über 
chalh  daz  viiiwele  'super  vitellum  novellum'  68,  36,  i^lur.  zesaDiene- 
chumftile  'conventicula'  15,  5,  dagegen  der  chnappelin  =  der  iunge- 
linch  'adolescentulus'  67,  30,  dazu  in  der  2  hälfte  des  11  jh.s 
Pezile  aus  Freising  bei  Meichelbeck  nr  1248,  im  Salzburger  ur- 
kundenbuch  zb.  s.  288  Pezili  und  Pezile.  Totile,  Azile,  s.  289 
WisUe  (s.  290  Oze.  WaWiere,  s.  291  Özl  et  Oze,  s.  292  Tagine 
=  Tagani,  im  12  jh.  s.  408  Tagtno,  ein  beleg  für  den  zus^immen- 
fall  von  altem  -7,  -i  und  o,  s.  43S  Witige,  s.  43 1  Witigo.  der  Schwund 
des  auslautenden  vocals  nach  l  und  r  ist  bereits  im  12  jh.  zu 
belegen,  s.  450  Wezile,  s.  462  Wezel,  Alhero,  s.  459  Wolfper, 
s.  auch  unten  note).  wenn  in  der  mhd.  literatur  auch  auf  bair. 
gebiet  die  formen  auf  -Un  verbreitet  sind,  kann  das  nur  eine 
bestätigung  für  die  annähme  von  doppelformen  -li  und  -Iin  sein. 

Im  gröfsern  teil  des  bair.  ist  heute  der  sing,  auf  -l  gebildet, 
für  den  plur.  ergibt  sich  aus  den  angaben  bei  W.  §  73,  dass  in 
Niederbaiern  die  pluralcharakteristica  fast  ganz  fehlen,  vereinzelt 
kommt  -erln  vor,  in  Oberbaiern  findet  sich  öfters  -In,  dessen  -n 
ich  aber  nicht  mit  W.  als  jung  ansehen  kann,  weil  ja  das  süd- 
bair.  in  Tirol  und  Kärnten  es  als  ursprünglich  erweist;  über- 
haupt sollte  man  endlich  von  ansichten  abkommen,  wie  die  von  W. 
§  64  geäufserte,  das*  alle  bair.  apo-  und  synkopen  im  süden  be- 
gonnen hätten  und  nach  norden  fortgeschritten  seien,  man  braucht 
etwa  nur  an  den  in  verschiedenen  gegenden  Tirols  noch  be- 
stehenden unterschied  der  -er  von  'vater,  meister  und  'krämer, 
Schneider"  zu  denken,  altbair.  -er  und  -ari. 

Das  bild  das  W.  von  der  art  und  Verbreitung  der  diminutiv- 
formen  im  deutschen  gibt,  liätte  sowol  im  beschreibenden  wie  im 
erklärenden  teile  sich  klarer  gestalten  lassen,  wenn  auf  die  mund- 
artliche literatur  mehr  rücksicht  genommen  wäre. 

Der  2  teil   s.  127f   handelt   von  der  herkunft    der  diminu- 


WKEDE    DISIIXl'TIVA     IM    DEUTSCHEN  13 

tiva  im  deutschen.  AV.  stellt  zunächst  fest,  dass  die  altgenn.  dia- 
lekte  nur  sehr  wenig  dirainutiva  kennen,  dass  im  besondern  das 
hochdeutsche  in  Übersetzungen  aus  dem  lateinischen  sich  gegen 
diminutiva  ablehnend  verhält;  erst  im  spätahd.  mehren  sich  die 
deutschen  dirainutiva.  Polzin  hat  diese  erscheinung  dadurch  zu 
erklären  versucht,  dass  es  der  einfluss  der  diminutivreichen  latei- 
.  nischen  spräche  gewesen  sei,  der  die  diminutivbildung  im  deutschen 
in  Schwung  brachte  (vgl.  Wilmanns  Anz.  xxix  17Ht).  W.  will 
im  gegensatz  dazu  ansetzen,  dass  die  appellativa  dini.  des  deut- 
schen ihren  Ursprung  bei  den  eigennamen,  den  personennamen 
haben;  sie  seien  von  haus  aus  gar  keine  Verkleinerungswörter, 
sondern  ursprünglich  verschärfte  Individualisierungen,  personi- 
ticationen.  nun  ist  zwar  die  ähnlichkeit  zwischen  kosenamen  und 
Verkleinerungen  von  sachwürteru  zu  allen  zeiten  zu  beobachten, 
doch  ist  die  gegenseitige  beziehung  nicht  derartig,  dass  jene  den 
ausgangspunct  für  diese  gebildet  haben  müssen;  wir  linden  näm- 
lich im  diminutivarmen  altern  ahd.  das  suftix  -iU{n)  bereits  fest- 
stehend bei  sachnamen.  dagegen  bei  personennamen  gegenüber 
andern  koseformen  nur  vereinzelt  im  gebrauch,  wie  sich  in  dieser 
hinsieht  die  namen  aus  alem.  und  fränk.  gegenden  verhalten, 
kann  ich  nicht  übersehen,  ich  empfinde  es  als  mangel,  dass  W. 
die  diminutivformen  der  altdeutschen  und  germ.  namen  nicht 
wenigstens  skizzenhaft  vorgelegt  hat.  Fürstemanns  namenbuch 
reicht  für  fragen  der  namenbildung  nicht  hin,  aus  dem  was  es 
von  namen  auf  -ili(n)  enthält,  scheint  man  schliefsen  zu  können, 
dass  sie  im  alem.  und  fränk.  etwas  häutiger  sind  wie  im  bair. 
die  ausgaben  der  SGaller,  Weifsenburger  und  Fuldaer  Urkunden 
sind  mir  hier  nicht  zugänglich;  so  kann  ich  auch  über  die  zeit 
der  niederdeutschen  namen  auf  -ikin  kein  urteil  gewinnen  (vgl. 
zu  -chln.  -kln  Wilmanns  Deutsche  gramm."'^  II  i^  24S).  Im  lango- 
bard.  finden  sich  nach  Brückners  Verzeichnis  Borgolinus,  Gundo- 
linus,  Ottelinus,  Azolinus,  Bobulenus,  Ägelenus,  es  ist  nicht  zweifel- 
los, ob  das  suffix  langobard.  oder  roman.  ist.  aus  dem  alt- 
bair.  kenn  ich  nur  Pöpili  um  das  jähr  SOO,  Mon.  boica  xxvmb 
nr.  68.  53  (Populi  nr  86),  im  jähre  784  im  Salzburger  vb.  76.  21; 
hier  auch  ein  Tatili  84.  26  um  das  jähr  SOO  K  etwas  öfter  kommen 
im  altbair.  personennamen  auf  -ill  erst  vom  1 1  jh.  an  vor.  in 
Salzburger  Urkunden  aus  der  1  hälfte  des  10  jh.s  trifft  man 
Mazlli.  Razili,  Azili,  Uuazili,  Mannili,  Uuoppili,  aus  der  2  hälfte 
Azili.  Razili.  Pezili,  Uuizili:  denen  sieht  man  es  übers  gewand 
an,  wie  jung  sie  sind,  und  neben  ihnen  stehn  Äzo,  Mazo,  Razo, 
Manno.  genannt  sei  noch  aus  Salzburg  Ekkili,  Gunzili.  Rizili, 
aus  Brixen  Frouuili.  aus  Freising  Gozili.  Liiizili.  aus  Passau 
Izili,  Chazili.  aus  dem  Salzb.  vb.  Totili,  Tizelinus,  alle  aus  dem 
11  jh.    (Wiftilinespah .   Witeleinespach   bei  Meichelbeck  nr  1325. 

*    Ei y ill  Mou.    boica  xxvmb  nr   36  gehört  zu  Eiijil  und  Mahali    zu 
Mahal-  (-g'ts,  -hcriit);  ob  Situli  das  Suffix  -li  enthält,  steht  dahin. 


14  SCHATZ    ÜMHH    WKKDIO    DIMIXITTIVA    IM    PKUTSCHEX 

1319,  Vgl.  Wittilo  nr  1325);  viel  mehr  solcher  namen  wird  das 
altbair.  nicht  gehabt  haben.  Aväre  nun  die  fonnung  von  kose- 
nanien  auf  -ilt  alt.  so  müsten  wir,  wenn  schon  nicht  mehr  namen, 
so  doch  bei  den  umlautfähigen  den  nmlaut  erwarten,  wie  ihn  die 
alten  bildungen  auf  -l  und  -ilo  regelraäi'sig  aufweisen,  vgl.  etwa 
altbair.  Mazii  —  Mezzi.  Uuatfi  —  JJueUi  oder  Tassilo  —  Tessilo, 
Azilo — Ezilo,  Magilo — Meqüo,  Amilo — Emilo  aus  dem  8jh. ; 
ebenso  alte  formen  wie  Pirlitilo,  Sintarfizzilo  (Fizzilo  in  Salzburg 
aus  dem  10  jh.  Siniarfezzil  inßegensburg  um  das  jähr  900  bei  Ried 
nr  79),  Uuirclilo,  LyJiila.  Hulzllo.  Uulfilo.  diese  suffixe  welche 
die  koseuamen  neben  der  consonantenverstärkung  {Deoito,  Isso, 
Hucco  ua.)  beherschen,  kommen  bei  sachnanien  nur  sehr  selten 
vor,  vgl.  etwa  Ukaniilo  'corpusculum',  scJiaUülo  "servulus'  in  den 
Murbacher  hymnen,  hurglla  'castellum'  im  Tatian,  eimheri  'urna' 
bei  Notker  und  bair.  scirpi  'testa'.  im  Tatian  linden  sich  (nach 
Polzin  s.  25  f)  gerhilin,  skifilin,  kindilin,  Imoniclin,  tubiclm  und 
das  einzige  dim.  der  Monseer  bruchst.  lautet  sceffilin:  ebenso 
haben  die  ältesten  glossen  das  dim.  auf  -iU .  zb.  hdiliili  Pa, 
spirilin  gl.  K,  hlaufili  E,  ruchili  Gx,  uugilUi  Em.  demnach  kann 
die  Verkleinerung  mit  -Hin  nicht  von  den  personennamen  aus- 
gegangen sein,  eher  kann  man  das  gegenteil  annehmen,  dass 
nämlich  die  sachdiminutiva  auf  -ill  den  anlass  zur  bildung  von 
Personennamen  wie  Pöpili  gaben ;  man  darf  nicht  übersehen,  dass 
die  namen  auf  -ilo  wol  alle  aus  einstämmigen  formen  hervor- 
gegangen sind,  die  zum  teil  schon  den  Charakter  von  koseformen 
tragen:  Pöjjo — Pöpilo  {weibl.  Pö2nla),  Pöso — Pösilo,  Hntto  — 
Hettllo^,  Zeizo  —  Zeizilo,  Nando  —  Nendilo  —  Xenzüo.  Dato  — 
Oazo — Oatilo  —  Oazilo  (weibl.  Uoia — TJotila),  Enzilo,  Cunzo. 
Cunzi  —  weibl.  Cunzila,  Tozi  —  Tozzilo  ua.  so  werden  auch 
namen  wie  Gerilo,  Deotilo,  Gundilo,  Waltilo  (weibl.  Gundila, 
Waltila)  einstämmige  formen  Gero,  Deoto  usw.  als  grundlage 
haben,  wenngleich  ger,  deot,  gund,  ivalt  in  zusammengesetzten 
namen  sich  häutig  genug  und  seit  frühester  zeit  linden,  ich 
stimme  Wilmanns  Anz.  xxix  177  bei,    wenn   er   dem  suftix  -illn 

'  Hcftilo  in  einer  Freisinger  Urkunde  von  804 — 806  (Bitterauf  nr  208), 
bei   Förstenaann  i-  741,    in    Salzburg   im  11    und  12  jh.   (Mon.  Germ.  necr. 

11  s.  616;  vgl.  auch  i  s.  499  -''/>  Hcffcl,  s.  500  "/s  Hetfil  14  jh.  aus  Schaff- 
hausen). FWilhelm  hat  Beitr.  33,  570  ['P>in  wichtiges  Regensburger  Zeugnis 
für  die  Hildesage  im  12  jh.']  aus  dem  vorkommen  des  namens  Mcttil  in  einer 
zeugenreihe  (abschrift  des  14  jh.s)  den  schluss  gezogen,  dass  die  Hildesage 
in  Baiern  im  frühen  12  jh.  schon  den  namen  Hefin  in  der  Form  gekannt 
hat,  in  der  er  in  der  Kudrun  erscheint  (doch  Hctel,  denn  Heftel  fällt  der 
Ambraser  hs.  zu)  und  damit  auch  die  spätere  mhd.  sage  in  ihrem  wesent- 
lichen bestände,  dieser  schluss  ist  m.  e.  völlig  haltlos,  denn  diese  form 
Heffil  kann  aus  Hcttilo  entstanden  sein,  wenn  auch  neben  ihr  Sarhilo 
(sowie  Baho)  altes  -o  erhalten  zeigt;  übrigens  kann  Heftil  auch  echt  und 
alt  oder  aus  Hettili  hervorgegangen  sein.     vgl.  im  Salzburger  vb.  aus  dem 

12  jh.  WüJiil  s.  363,  44,  16:  395,  124,  26,  WluiU  s.  299  »/v,  s.  149  -"p  B, 
Wulfilo  s.  378    87,  4  oder  Wesil,  Wesili,  ]Ve;:ilo,  Esil,  Hezil. 


TEUCHEET   IH.   LEIIIEXER  CKUNKNHKIUIKK  ■\V]!.  15 

eine  selbständige,  aus  heimischem  boden  quellende  lebenskraft 
zuerkennt,  und  ich  halte  es  für  sicher,  dass  es  sich  an  sachnanien 
selbständig-  gebildet  hat. 

Lemberg,  S  jänner  1909.  J.  Schatz. 


Deutsche  dialektgeographie  herausgegeben  v.  Ferdhuiud  Wrede 
heft  II  und  III: 

II.  Cronenberger  Wörterbuch  (mit  ortsgeschichtlicher,  gramma- 
tischer und  dialektgeographischer  einleitung)  von  Erich  Leihener. 
mit  einer  karte.     Marburg,  Elwert  IDOS.  lxxxiv  u.  142  ss.  —  5  m. 

Mit  dieser  Veröffentlichung  ist  das  zweite  heft  der  von  Wrede 
herausgegebenen  berichte  und  Studien  über  Wenkers  Sprachatlas 
des  Deutschen  reiches  erschienen,  die  in  glücklicher  weise  dessen 
frühere  mitteilungen  über  den  fortgang  dieses  großen  werkes 
fortsetzen  und  eine  in  wissenschaftlicher  hinsieht  ubschlielsende 
bearbeitung  der  mundarten  des  behandelten  gebietes  darstellen, 
vorliegende  arbeit  geht  über  den  rahmen  des  Unternehmens  noch 
beträchtlich  hinaus,  indem  sie  den  gesamten  Wortschatz  der  mund- 
art  von  Cronenberg  vermittelt,  es  ist  eine  forderung  der  mund- 
artenforschung,  wie  sie  erst  in  der  letzten  zeit  erhoben  worden  ist, 
die  hier  wenn  auch  nicht  zum  ersten  male  verwirklicht  wird,  nicht 
nur  ein  Idiotikon  zu  geben,  sondern  auch  über  alle  aus  der 
Schriftsprache  in  die  mundart  eingedrungenen  Wörter  aufschlnss 
zu  gewähren,  dass  diese  forderung  allerdings  aufs  engste  mit 
der  dialektgeographie  zusammenhängt,  ist  ersichtlich,  denn  so 
M'ird  es  allein  gelingen,  die  Verbreitung  eines  wertes  festzustellen 
und  etwa  den  grund  seines  fehlens  in  der  Verdrängung  durch 
ein  schriftsprachliches  wort  zu  finden,  so  ist  auch  der  dialekt- 
geographie gedient,  denn  diese  darf  sich  nicht  auf  die  festlegung 
von  grenzen  nach  lautlichen  oder  flexionserscheinungen  beschrän- 
ken, sondern  hat  eine  sehr  wesentliche  aufgäbe  in  der  begren- 
zung  eines  wortes  auf  landschaften  und  stamme  zu  sehen. 

Der  Cronenberger  dialekt  gehört  wie  alle  in  dem  gebiet  der 
niederdeutsch-ripuarischen  grenzmundarten  gelegenen  zu  den 
interessantesten  die  die  rheinische  mundartenforschung  kennt. 
es  kam  L.  zu  gute,  dass  bereits  gute  bearbeitungen  der  benach- 
barten mundarten  von  Eonsdorf',  Remscheid-  und  Wermelskir- 
chen  •*  vorliegen,  so  konnte  er  sich  darauf  beschränken,  eine 
kurze  lautlehre  seines  heimatdialektes  zu  geben  und  diesen  zu- 
gleich mit  den  nachbarmundarten  zu  vergleichen,  dieser  teil 
bietet  sich  in  tabellenform    und  beansprucht  nur  14  seiten.     zur 

»  Holthaus  Zs.  f.  d.  pb.  19,  339  ff  u.  421  ff.  ^  Holthausen  PBrBeitr. 
10,  403  ff  u.  546  ff. 

■'  Hasenclever,  Der  dialekt  der  gemeinde  Wermelskircheu,  diss.  Mar- 
burg 1904. 


16  TKUCHKKT    ÜBER 

selben  zeit  diente  vf.  so  auch  am  besten  den  zwecken  der 
Wredescben  saramlung. 

Doch  begnügt  sich  L.  damit  nicht,  er  hat  sich  die  aufgäbe 
gestellt,  das  Verhältnis  des  bezeichneten  dialektbezirkes  zu  den 
weiteren  mundarten,  die  ihn  im  osten,  norden  und  westen  um- 
geben, festzustellen,  er  hat  das  gebiet,  welches  im  osten  an  die 
westfälische  Sprachgrenze  {-dn:  -dt  im  pl.  ind.  prs.)  herantritt  und 
im  norden  durch  5 1 »  20 ',  im  westen  7  '»  abgeschlossen  wird,  in 
monatelangen  Wanderungen  durchforscht  und  dabei  alle  laut- 
erscheinungen,  für  die  ihm  die  Weukerschen  karten  richtlinien 
boten,  genau  von  ort  zu  ort  untersucht,  doch  nicht  genug  damit  : 
er  hat  auch  den  wortbestand  zu  beiden  seiten  von  fünf  haupt- 
linien  des  gebietes  verglichen  und  dabei  festgestellt,  dass  die 
lautlichen  grenzlinien  auch  lexikalische  scheiden  darstellen,  [die 
fünf  Knien  sind  die  Ürdinger  oder  Ik  \  ich-lime  von  Sonnborn  bis 
Eonsdorf,  dieselbe  linie  von  Eonsdorf  bis  zur  Eschbachquelle, 
der  Eschbach,  der  Wupperlauf  von  Burg  bis  Leysiefen,  der 
Wup perlauf  von  Sonnborn  bis  Burg.]  es  ist  interessant  zu  sehen, 
wie  zahlreich  die  ausdrücke  sind,  die  rechts  und  links  einer 
solchen  grenze  voneinander  abweichen  oder  wofür  auf  der  einen 
Seite  überhaupt  kein  wort  vorhanden  ist.  so  sagt  man  nördlich 
der  an  erster  stelle  genannten  Scheidelinie  für  'kaufen'  köp9n, 
südlich  davon  g^ibn,  d.  i.  gelten,  nördlich  heißt  es  wat,  südlich 
gqt  für  'etwas",  auch  auf  redensarten  hat  vf.  geachtet,  die  ja 
von  landschaft  zu  landschaft  erheblich  wechseln,  auf  der  seite 
von  Solingen-Gräfrath  finden  sich  zb.  300  redewendungen,  die 
in  Cronenberg  und  Eemscheid  nicht  vorkommen,  für  9  Wörter 
hat  vf.  auch  für  ein  größeres  gebiet  die  lexikalische  grenze  fest- 
gelegt, für  weinen,  Schwester,  pflanzen,  kaulquappe,  tolle  launen, 
panas  —  wofür  besser  ein  nicht  mundartliches  wort  gesetzt 
worden  wäre  — ,  Stachelbeere,  himbeere.  heben. 

Nach  den  erfahrungen  des  vf.s  haben  sich  die  karten  des 
Wenkerschen  Sprachatlas  als  völlig  zuverlässig  gezeigt,  ein  ein- 
ziger kleiner  Irrtum  verdient  diesen  nameu  nicht,  weil  die  für 
den  einen  ort  angegebene  form  neben  der  häufigeren  auch  vor- 
kommt, dieses  urteil  ist  recht  willkommen,  da  es  die  mancherlei 
angriffe  die  das  bedeutende  werk  erfahren  hat,  für  dieses  ripu- 
arisch-niederdeutsche  grenzgebiet  rechts  des  Eheins  als  hinfällig 
erweist,  immerhin  dürfte  doch  für  viele  kenner  des  Sprachatlas 
erst  jetzt  nach  dem  vorliegen  der  Leihenerschen  Untersuchungen 
die  zeit  gekommen  sein,  die  dialektgeographische  arbeit  für  diesen 
teil  Deutschlands  als  erledigt  oder  wenigstens  gesichert  anzu- 
sehen. 

Die  methode  mit  der  L.  die  ergebnisse  seiner  lautlichen 
Vergleichungsarbeit  zur  darstellung  bringt,  genügt  für  ein  solch 
relativ  nicht  umfangreiches  gebiet;  ich  ziehe  seine  karte  der  karte 
Eamischs  im  ersten  heft  derselben  Sammlung  vor.    46  einzellinien 


LETHENElt    CROXENBERGEK    AVÖRTERBUCH  17 

hat  er  gezeichnet,  durch  deren  addition  erliält  er  grofse,  das 
ganze  gebiet  durchschneidende,  so  die  Ürdinger  linie  als  1  +  2 
4-3-1-4-1-5-4-6  4-7  +  8,  und  die  Benrather  setzt  sich  zu- 
sammen aus  li  -\~  154-  16-f-  17-1-  8.  zugleich  kann  vf.  leicht 
kleinere  oder  gröfsere  gebiete  umschreiben,  immerhin  Avürde  diese 
primitive  methode  für  ein  grölseres  arbeitsfeld  versagen,  aus 
den  teilstrecken  setzen  sich  19  gröfsere  linieu  zusammen,  die  wie 
die  westfälische  und  die  Ürdinger  in  der  hauptrichtung  von  sso 
nach  nnw  verlaufen  oder  auch  Verbindungen  zwischen  diesen  her- 
stellen, oder  schliel'slich  linien,  die  wie  die  Benrather  von  osten 
nach  Westen  ziehen,  indem  L.  die  anzahl  in  der  sich  diese  19 
linien  als  grenzen  für  die  von  ihm  behandelten  lauterscheinungen 
finden,  feststellt,  ergibt  sich,  dass  am  häufigsten  als  Scheide- 
linie die  Ürdinger  linie  und  sogar  noch  etwas  öfter  der  lauf  des 
Eschbaches  auftreten,  und  dann  die  Wupper  von  Burg  bis  Ley- 
siefen.  die  erste  erscheint  als  normallinie  des  ganzen  gebietes. 
die  zweite,  deren  letzter  teil  mit  der  Benrather  linie  zusammen- 
fällt, ist  in  ihrer  gesanitheit  wichtiger  als  die  Benrather.  sie 
gibt  die  grenze  für  die  Verschiebung  der  tenuis  nach  alter  er- 
haltener kürze  an.  an  bedeutung  überragen  die  übrigen  linien 
noch  der  Wupperlauf  von  Sonnborn  bis  Burg  und  das  nördlich 
Barmen  gelegene  stück  der  westfälischen  grenzlinie. 

Nun  erhebt  sich  die  frage,  woher  diese  bedeutung  der  an- 
geführten Sprachgrenzen  komme,  für  das  Eschbachtal  und  das 
Wupperbett  von  Sonnborn  bis  Lej'siefen  ergibt  sich  leicht  als 
grund  der  natürliche  wert  dieser  wasserläufe  als  grenze,  wenn 
auch  die  Eschbachlinie  nie  eine  rein  politische  grenze  gewesen 
ist.  der  Wupperlauf  ist  mit  einer  kurzen  Unterbrechung  auf  der 
strecke  zwischen  Sonnborn  bis  Burg  zu  anfang  des  19  jh.s  stets 
politische  und  kirchliche  grenze  gewesen  und  eignet  sich  daher 
als  dialektscheide,  interessanter  gestalten  sich  die  Verhältnisse 
bei  der  Ürdinger  linie.  hier  sind  keine  natürlichen  grenz- 
scheiden vorhanden,  und  politische  grenze  der  gegenwart  ist  sie 
nur  —  dabei  auch  nocli  nicht  ganz  genau  —  auf  einer  kurzen 
strecke,  diese  mundartengrenze  verläuft  zwischen  Cronenberg 
und  Elberfeld.  nun  aber  gehörte  Cronenberg  noch  im  jähre  1789 
zum  amt  Elberfeld  und  hat  vom  anfang  seiner  geschichte  an  stets 
in  diesem  abhängigkeitsverhältnis  gestanden,  doch  wird  es  seit 
1264  von  Burg  aus  verwaltet,  diese  wirtschaftliche  trennung 
und,  was  nach  L.  wichtiger  ist,  die  tatsache  dass  die  Ürdinger 
linie  heute  wie  früher  kirchspielgrenze  gewesen  ist,  erheben  diese 
Sprachgrenze  zu  einer  hauptgrenze  des  gebietes.  für  den  teil 
der  Ürdinger  linie  zwischen  Remscheid  und  Lennep  ist  kirchliche 
trennung  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  grund  für  die  dialekt- 
scheide, für  den  übrigen  verlauf  dieser  wichtigen  dialektgrenze 
ist  nicht  sicheres  auszumachen. 

Der   vom   vf.  für  das  alter  der  hauptsächlichen  mundarten- 
A.  F.  D.  A.     XXXIV.  2 


18  TEUCHKRT    ÜBEK 

grenzen    geführte    nachweis   ist   sehr  dankenswert  und  m.  e.  ein 
beweis  für  das  alter  der  heutigen  dialekte  selbst. 

Zum  wertvollsten  in  dem  buche  gehört  das  capitel  über  den 
circumflectierten  accent.  diese  reizende  erscheinung  im  gebiete 
der  rheinischen  mdaa.  war  allerdings  durch  die  arbeiten  früherer 
in  allen  einzelheiten  nachgewiesen  und  als  ein  ersatz  für  apokope 
und  Synkope  eines  a  erklärt  worden,  jedoch  hatte  man  sich  zur 
annähme  des  spontanen  eintretens  dieser  betonuug  bei  einigen 
langen  vocalen  und  diphthongen  genötigt  gesehen.  L.  räumt 
mit  der  Spontaneität  auf,  die  er  mit  recht  für  das  eingeständnis 
mangelnder  erklärung  ansieht,  nach  ihm  tritt  der  circnmliec- 
tierte  accent  nur  lautcombinatorisch  auf.  zunächst  stellt  er  eine 
Unterscheidung  dieser  betonung  nach  dem  Verhältnis  der  exspira- 
tionsdauer  und  des  musikalischen  intervalles  der  beiden  accent- 
gipfel  auf.  drei  gruppen  A,  B  und  C  ergeben  sich  hierbei,  wo- 
bei A  die  geringsten  unterschiede  aufweist,  das  musikalische 
Intervall  beträgt  bei  A  höchstens  eine  terz,  bei  B  mindestens 
eine  quinte  und  bei  C  die  octave.  nun  zeigt  sich,  dass  stufe  C 
nur  bei  synkope  oder  apokope  eines  d  erscheint,  also  nur  laut- 
combinatorisch. aufserdem  aber  tritt  sie  mit  vollem  recht  bei 
allen  alten  diphthongen  oder  aus  diesen  contrahierten  mono- 
phthongen  auf,  also  bei  wgm.  e,  ö,  ai  (>  ahd.  e),  au  (>  ahd.  ö), 
i'O;  denn  auch  die  entstandenen  monophthonge  sind,  wie  viele 
deutsche,  auch  ndd.  mdaa.  beweisen,  stets  zweigipflig  gewesen, 
auch  ahd.  ou  und  ei  haben  circumflectierten  ton,  aber  auf  stufe 
A,  ein  beweis  dafür,  dass  der  accent  erst  in  der  entwicklung 
ist.  noch  weiter  zurück  befindet  sich  wgerm.  ä,  das  erst  in 
wenigen  Wörtern  aus  dem  zustande  der  Überdehnung  auf  stufe  A 
angelangt  ist.  1  und  ü  zeigen  Überdehnung,  doch  schon  mit  den 
anzeichen  einer  circumflectierung,  diese  ist  in  Wermelskirchen 
bereits  eingetreten. 

So  sehen  wir  den  begriff  des  spontanen  accentes  verschwinden, 
und  dafür  erhalten  wir  endlich  die  gewünschte  Verbindung  mit 
dem  accent  mindestens  der  ahd.  zeit,  seit  dieser  zeit  tritt  die 
circumflectierte  betonung  in  neue  gebiete  ein,  indem  sie  erstens 
band  in  band  geht  mit  der  abschleifung  der  endungen,  und  zwei- 
tens die  immer  weiter  platz  greifende  diphthongierung  langer 
vocale  begleitet. 

Die  circumflexion  ist  der  ausdruck  des  gesetzes  von  der 
erhaltung  der  kraft  auf  sprachlichem  gebiete,  man  hatte  sich 
bisher  begnügt,  sie  nach  kürze,  wenn  ein  d  geschwunden  war, 
bei  folgendem  nasal  oder  liquida  zu  constatieren.  L.  zeigt  nun, 
dass  sie  immer  eintritt,  wenn  ein  d  schwindet,  oder  w^enigstens 
stellvertretende  erscheinungen.  bei  folgendem  sth.  reibelaut  er- 
scheint zerdehnung  des  vocals,  der  stl.  reibelaut  wird  gedehnt; 
es  ist  ein  unterschied  zwischen  dem  nom.  und  dat.  hri^t  zu  be- 
merken. 


LEIHENKR    CRONENBEEGER    WOKTKKKUCH  19 

Auch  die  circumflectierte  betonung-  in  fällen  wie  (ß'e.lt 
gold,  sH-o'm.  schwamm  erklärt  sich  aus  lautcombinatorischer  ver- 
anlassung'. Ursache  ist  die  zerdehnung-  dei-  liquida  und  nasale, 
die  in  andern  fällen,  hier  vor  einer  spirans,  das  svarabhakti-e 
zeitigt  {kaldf  kalb:  hTce.lt  holz),  das  ö-element  tritt  im  ersten 
falle  nur  vor  der  ganzen  consonantengruppe  auf. 

So  gelingt  es  L.,  über  dieses  gebiet,  das  bisher  so  viel  des 
rätselhaften  bot,  licht  zu  verbreiten,  Avenn  auch  noch  einzelne 
wenige  erscheinungen  sich  der  regel  nicht  fügen  und  gesonderte 
wege  einschlagen. 

Es  mag  mit  einem  worte  noch  des  umstandes  gedacht  werden, 
der  bisher  eine  crux  der  rheinischen  mnndartenforschung  war, 
nämlich  des  nebeneinander  von  circumflectiertem  accent  und 
diphthong  in  verschiedenen  casus  desselben  wortes  (nom.  dl'e.l: 
dat.  de'i.l  teil),  dies  erkfärt  sich  nach  L.  aus  der  annähme  von 
drei  stufen  des  accentes,  die  ja  die  beobachtung  bestätigt,  wäh- 
rend der  nom.  sich  noch  auf  stufe  B  befindet,  ist  der  dat.,  da 
hier  noch  ein  -c  zu  ersetzen  war,  bereits  bis  zu  stufe  C  (neben 
de'i.l  hört  man  noch  dr e.l  in  stufe  C)  oder  über  diese  hinaus 
zur  diphthongierung  gelaugt. 

Man  sieht^  welche  prächtigen  ergebnisse  hier  vorliegen,  man 
muss  dem  vf.  glück  wünschen  und  dem  geschick  dankbar  sein,' 
dass  es  ihm  gerade  diese  mdaa.  zur  bearbeitung  überwiesen  hat. 

Nun  noch  einiges  über  das  Wörterbuch!  dem  titel  nach  ist 
es  die  hauptsache  am  ganzen  buche,  das  übrige  gibt  sich  ja  nur 
als  einleitungl  es  ist  für  manche  menschen,  zu  denen  ich  ge- 
höre, ein  genuss,  ein  Wörterbuch  durchzugehn,  wenn  es  zuver- 
lässig ist.  und  das  ist  hier  der  fall,  der  ganze  wertschätz  von 
Cronenberg  wird  im  geiste  des  lesers  lebendig  mit  seinen  redens- 
arten  und  Sprichwörtern,  8140  Wörter  zählt  vf.,  darunter  4260 
concreta,  2 1 0  abstracta,  770  adjectiva,  400  adverbia,  2080  verba. 
diese  zahlen  stimmen  allerdings  kaum,  da  vf.  viele  syntaktische 
Verbindungen  als  neue  Wörter  einführt,  so  kroianplaydn  refl.  sich 
krumm  lachen  u.  a.,  ferner  zb.  hemdUd  a'u.sf  für  sich  angibt, 
auch  halt  ich  die  angäbe,  dass  sich  220  gallicismen  in  der  mda. 
finden,  für  nicht  richtig.  L.  überschätzt  den  frz.  einfluss.  eine 
anzahl  von  Wörtern,  die  er  für  frz.  ausgibt,  sind  echtes  germa- 
nisches gut.  wieviele  mag  er  noch  für  frz.  ansehen,  bei  denen 
eine  bemerkung  fehlt!  auf  die  etymologie  geht  vf.  nicht  ein; 
nur  gelegentlich  treffen  wir  auf  einige  kurze  angaben,  hier 
möchte  ich  fragen,  Avoher  L.  mnd.  gJijppe  kellerloch  (s.  unter 
gllpd),  mnd.  puve  kissen  (unter  puf)  und  mnd.  khingel  fetzen, 
zeug  kennt:  ich  habe  diese  Wörter  nicht  finden  können,  es  wäre 
aber  dankenswert  gewesen,  wenn  er  gelegentlich,  wo  er  aus  seiner 
kenntnis  der  lautgesetze  der  mda.  es  leicht  hätte  tun  können,  dem 
Verständnis  eines  wortes  nachgeholfen  hätte  durch  beifügung  der 
eigentlichen  bedeutung,  so  zb.  bei  wa)jkrr)Z9ii  sich  vor   wut   wie 

2* 


20  TEUCHEET  ÜBER 

toll  gebärden  (eigentlich:  [gegen  die]  wand  rasen),  wie  dies  bei 
f^lydr  'fell-loher'  geschehen  ist. 

Gegenseitige  Verweisung  wäre  notwendig  gewesen  zwischen 
verschiedenen  formen  desselben  wortes,  also  zwischen  fäddr  und 
fä:r  vater,  zan  um^l  zi' e.n  sehen,  die  geschlechtsbezeichnung  hätt 
ich  regelmäfsig  gewünscht,  der  accent  konnte  in  fällen  wie 
hehöudn,  fdrklgpdv  fehlen,  dass  L.  auch  vor  den  sogenannten 
unanständigen  ausdrücken  nicht  zurückschrickt,  ist  zu  loben;  nur 
wäre  eine  etwas  verhülltere  ausdrucksweise  angebracht  gewesen, 
etymologisch  verschiedene  Wörter  hätten  getrennt  werden  sollen 
(s.  knik  'genick',  'biegung  am  wege';  icl'e.kd  f.  "lampendocht', 
'aufweichen'],     wozu  auch  die  gänsefülschen  bei  den  bedeutungen? 

Noch  einiges  wenige  über  die  etymologie!  s.  27  ündet  sich 
^i9rpä:l  eierschale,  92  pä:l  (vgl.  frz.  peler)  schale  junger  kar- 
toffeln,  der  bäume  des  eies  und  s.  93  pebn  (vgl.  frz.  peler) 
schälen  (von  eiern  und  jungen  kartoffeln).  nun  kommt  frz.  peler 
von  lat.  pUäre  enthaaren,  dagegen  pebn  nach  malsgabe  vieler 
ndd.  mdaa.  von  ndd.  f^h  f.  schale  der  kartoffel  (<  lat.  pellem).  die 
form  pä.-l  kann  füglich  nach  den  gesetzen  der  mda.  nur  auf  eine 
form  '"pale  zurückgehen,  die  ich  indessen  grofse  bedenken  trage 
niederzuschreiben,  denn  sie  stünde  verwaist  da.  da  kein  an- 
derer ansatz  möglich  ist,  bleibt  nur  entlehnung  dieser  lautform 
aus  einer  mda.  übrig,  die  die  form  '^pale  lautgesetzlich  entwickelt 
hatte.  Mi  hat  palen  entschoten,  Richey  paJde  hülse,  pahlen, 
uthpahlen  abschälen,  bei  beiden  aber  steht  a  für  tonlanges  o, 
wie  knake  knoche,  hase  strumpf  beweisen,  pahle  ist  pgrßd  zu 
sprechen  nnd  ist  mit  nnd.  pole  zu  pfden  klauben  zu  stellen, 
eine  form  mit  a  könnte  nicht  platz  linden.  —  donndln  leicht 
schlafen  ist  nicht  von  frz.  dormir  abzuleiten,  sondern  mit  schwäb. 
diirmelig  schwindlig,  schläfrig  (Fischer  II  500),  durmb  taumeln, 
leicht  schlafen,  dremdl,  dronial  Schwindel,  taumel  (II  423),  neu- 
märkisch drqmdln  leise  reden,  murmeln  (Zfdma.  1909,  70)  zu  ver- 
binden; vgl.  das  von  L.  genannte  dromdln  duseln!  —  dßrpdl 
türschwelle  will  vf.  doch  nicht  ernstlich  aus  dem  lat.  herleiten? 
—  re.ddr  euter  entspricht  mnd.  ieder,  wie  das  überlieferte  jefZe»- 
zu  deuten  ist,  und  bedeutet  eine  ablautsstufe  zu  as.  üdar. 
übrigens  gehört  hierzu  nyddrn  vom  dickwerden  des  euters: 
^eutern'.  —  louis  links  war  schon  aus  Remscheid  bekannt;  es 
setzt  mnd.  lucht  links  fort ;  hierzu  engl.  left.  —  piif  m.  kugel- 
rundes sofakissen  mit  mnd.  pfi(ie  (nicht  pugel)  zusammenzustellen, 
ist  doch  völlig  unmöglich.  —  rVe.pdln  pl.  masern  ist  wieder  nicht 
frz.,  sondern  entspricht  dem  mnd.  repel  riffel.  —  wie  soll  dann 
smüderlaydn  hinterlistig  lachen  gleich  mnd.  smuserlaelien  sein 
können?  —  sßt  Öffnung  am  ishm,  durch  welche  das  wasser  auf 
das  rad  stürzt,  wird  mit  frz.  clmte  fall,  stürz  zusammengebracht! 
es  ist  natürlich  mnd.  schütte  f.  schütze,  hier  hätte  aber  die 
genusangabe    nicht  fehlen  sollen.    —  spildr  m.  dünne  Speiche  von 


LKIIJENKK    CROXKXBKHGER    WÖRTERBUCH  21 

rand.  spile  dünner  stabV!  wenn  doch  die  qiiantitätsverhältnisse 
im  Mnd.  wtb.  angegeben  wären!  es  ist  das  mhd.  spi-lter,  spilter 
scheit,  Splitter.  —  warum  soll  tt^nts  ortsbezeichnung  bei  Lennep 
n.  a.  frz.  fente  sein?  —  tre.f  weiblicher  hund  hat  nach  L.  männ- 
liches geschlecht;  das  ist  auffallend,  aber  möglich,  vgl.  neumärk. 
tel»  (ndd.  tcild)  f.  für  jeden  häfslichen  hund.  —  ifl.  schlanker 
ton-  oder  emaillekrug  mit  henkel  identificiere  ich  nicht  mit  yl. 
eule,  trotzdem  diese  krüge  früher  mit  eulen  bemalt  gewesen  sein 
sollen,  sondern  mit  dem  rip.  ül  topf  (<  lat.  oUa).  —  tseimpon 
weinen  bestätigt  wie  westf.  Uimpdn  Uhnpdfn  weinen  den  von 
Franck  ausgesprochenen  onomatopoetischen  Ursprung  des  wertes 
zimpferlich. 

Zur  vergleichenden  laut-  und  flexionslehre  von  Cronenberg, 
Remscheid,  Ronsdorf  und  Wermelskirchen  kann  ich  aus  mangel 
an  räum  nicht  mehr  alles  augeben,  was  ich  mir  notiert  hatte, 
ich  hätte  vor  allem  gröfsere  Sorgfalt  im  ansatz  der  historischen 
laute  und  formen  gewünscht,  es  berührt  eigentümlich,  in  einer 
Sammlung,  die  darauf  ausgeht,  'alle  dialektische  localchronologie' 
als  'problematisch'  hinzustellen,  Svie  sie  so  gern  und  so  oft 
auch  in  neuester  zeit  versucht  worden  und  in  den  kunstvollsten 
und  gelehrtesten  tabellen  und  Stammbäumen  construiert  worden 
ist',  denn  was  ist  es  anders  als  peinlichste  'dialektische  local- 
chronologie', wenn  ein  mundartliches  q  in  Qyi  ach,  Sngrkdn 
schnarchen,  o  in  ho'D.  band,  ö  in  gö : f  gab  auf  wgerm.  a  zu- 
rückgeführt oder  auch  nur  noch  wgerm.  öht  in  zont  suchte  ge- 
funden wird  (vgl.  übrigens  richtig  erklärt  fdr-kaut  verkauft)? 
unt  weifs  wird  doch  sicher  auf  as.  l  zurückgehen,  abs  alles 
ist  bekanntlich  ein  genitiv. 

Es  sei  noch  des  anhanges  gedacht,  der  die  vornamen  und 
Ortsbezeichnungen  (besser  flurnamen)  bringt. 

Trotz  einiger  mängel  eine  gute  und  ergebnisreiche  arbeit, 
die  für  das  rheinische  Wörterbuch  eine  dankenswerte  Vorarbeit 
und  für  die  gesamte  mundartenforschung  einen  fortschritt  bedeutet. 

III.  Sprach-  und  gründungsgeschichte  der  pfälzischen 
colonie  am  Xiederrhein  von  Emil  Böhmer,  mit  einer  karte. 
Marburg,  Elwert.     Hi09.  91  ss.  S«.  —  2  m. 

Vf.  behandelt  die  siedelungsgeschichte  und  mundart  der 
pfälzischen  colonie  am  Niederrhein,  die  aus  den  orten  Pfalzdorf, 
Louisendorf  und  Nenlouisendorf  besteht  und  südlich  von  Cleve 
auf  der  Gocher  beide  in  den  jähren  1741 — 43  angelegt  worden 
ist.  ihr  hd.,  von  der  niederfränkischen  mda.  der  Umgebung  ab- 
weichender dialekt  hat  sich  infolge  des  gegensatzes  der  confession 
noch  rein  erhalten,  ein  vergleich  mit  den  heimatmdaa.  könnte 
zur  localisirung  der  colonisten  in  der  gegend  von  Kusel  in  der 
bairischen  pfalz  führen:  denn  damit  stimmt  die  mda.  der  colonie 
heute   am   meisten  überein.     die    siedelungsgeschichte  aber  zeigt, 


22       TEl'CKERT    ÜB.    BÖHMER    PFALZ.    COLONIK    AM    XIEDEHRIIEIX 

dass  die  auswanderer  aus  den  frühern  pfälzischen  oberämtern 
Simmern  und  Kreuznach,  und  zwar  in  etwas  gröfserer  zahl  aus 
dem  letztgenannten  stammen,  eine  dialektgeschichtlich  sehr  inte- 
ressante feststellung,  aus  der  man  die  gröfste  vorsieht  in  der 
localisierung  von  colouiemdaa.  zu  entnehmen  hat.  die  behandlung 
der  siedelungsgeschichte  ist  anziehend  und  geschickt,  die  dar- 
stellung  der  lautlehre  ist,  abgesehen  von  einigen  nicht  vorsichtig 
genug  gegebenen  etymologieen,  einwandfrei,  die  vergleichung  der 
colonistenmda.  mit  der  heimischen  von  S.  und  K.  geschieht  unter 
benutzung  der  formulare  des  Sprachatlas,  bisweilen  unter  anwen- 
dung  philologischer  methode,  wie  sie  ja  Wrede  für  Wenkers  und 
sein  werk  für  notwendig  erklärt  hat.  wenn  hier  demnach  auch 
keine  absolute  gewähr  für  Sicherheit  der  dialektgeographischen 
Statistik  geboten  ist,  so  genügen  für  den  beabsichtigten  zweck 
immerhin  annäherungswerte. 

Eine  interessante  these  Wredes  lernen  wir  s.  87  kennen, 
diese  lautet:  'der  grenzzusammenfall  für  dieselbe  mundartliche 
erscheinung  bei  verschiedenen  paradigmen  ist  um  so  eher  zu  er- 
warten, je  geringeren  accent  diese  im  satzzusammenhange  trägt, 
daher  zeigen  die  immer  unbetonten  endungen  gröi'sere  Überein- 
stimmung als  die  betonten  Stammsilben,  und  in  letzteren  wieder 
die  consonantischen  teile  gröi'sere  als  die  den  ictus  repräsentieren- 
den vocalischen'.  mit  dieser  these  wird  sich  die  mundarten- 
forschung  auseinanderzusetzen  haben. 

Wertvoll  ist  noch  die  beobachtung,  dass  sich  gewisse  laut- 
erscheinungen  in  der  colonie  länger  erhalten  haben  als  in  der 
heimat.  im  ganzen  ist  die  neue  ma.  der  colonie  das  product 
aus  der  mischung  zweier  erheblich  verschiedener  dialekte  mit  dem 
ergebnis  des  überwiegeus  und  des  ausgleichs  zu  gunsten  des 
stärker  vertretenen. 

Eine  interessante  Studie,  der  andere  und  zwar  compliciertere , 
nachfolgen  mögen! 

Berlin.  H.  Teuehert. 


Der  satzbau  der  Egerländer  miiudart.  von  Josef  Sehiepek. 
II  teil.  [Beiträge  zur  keuutuis  deutsch-böhmischer  mundarten. 
hrsgg.  v.  Haus  Lambel  I.]  Prag,  Oalve,  190S.   S.  207  -  610.  gr.  S". 

Mit  diesem  zweiten,  über  400  selten  starken  bände  hat  Sehiepek 
seine  grofse  dialektsyntax,  deren  i  teil  1899  erschienen  und 
Anz.  xxvn  238  fi"  besprochen  ist,  zu  glücklichem  ende  geführt,  er 
enthält  die  fortsetzung  des  iv  capitels,  Wortclassen:  2.  Verbum  C. 
3.  Substantivum.  4.  Adjectivum.  5.  Pronomina.  G.  Adverbium: 
dann  cap.  v  Congruenz;  vi  Verneinung;  vii  Wort-  (und  satz-) 
Stellung;  viir  und  ix  Sparsamkeit  und  fülle  des  ausdrucks;  ferner 
ein  Schlusswort,  nachtrage  und  ein  reichhaltiges  wort-  und  Sach- 
register zu  beiden  teilen:  endlich  ein  ausführliches  iuhaltsverzeich- 


KIES  ÜBER  St'HIEPEK  SATZBAU   DER  EGERLÄNDKK  MDA.  23 

iiis  ZU  teil  II.  da  die  seilen  vom  i  teil  durchgezählt  sind,  wird 
man  nun  leider  im  zusammengebundeneu  werk  das  Verzeichnis 
der  abkürzungen  und  des  Inhalts  an  zwei  verschiedenen  stellen 
aufzuschlagen  haben:  s.  xv  und  xxi.  und  s.   565  und  597. 

Dies  buch  anzuzeigen  ist  eine  freude:  es  ist  nicht  nur,  was 
freilich    die    hauptsache    ist,    an  sich  eine  vortreffliche  und  sehr 
verdienstvolle   leistung,    durch    die  unsere   syntaktische  litteratur 
die    wertvollste    bereicherung    erfährt,    sondern   es  bereitet  auch 
den  referenten    eine   nicht    gerade   alltägliche  genugtuung;  denn 
es  zeigt,  dass  ihre  nicht  immer  erfreuliche  und  oft  wenig  erfolg- 
reiche   arbeit    mitunter    auch  gute  früclite  trägt  und  sichtbaren 
nutzen  stiftet,     der  vf.    hat  sich  der  berechtigung  mehrerer  der 
ausstellungen    und     einwände     nicht    verschlossen,     die    in    den 
—    übrigens     durchaus    anerkennenden    —    besprechungen    des 
I  teils  seines  Werkes  erhoben  worden  waren,  und  er  ist  mit  er- 
folg bestrebt  gewesen,  sie  sich  für  den  ii  teil  zunutze  zu  machen, 
soweit   davon  die  anordnung  und  stoffbegreuzung  im  ganzen  be- 
troffen wurde,  waren  diesen  "bemühungen  durch  die  im  j  teil  ge- 
zogenen grundlinien   der  arbeit  natürlich  enge  grenzen  gezogen' 
(s.  539).     aber   nicht  nur  durch  eine  bessere  anordnung  im  ein- 
zelnen hat  der  ii  teil  gegenüber  dem  i  gewonnen,  vielmehr  ver- 
danken, wie  der  vf.  selbst  im  Schlusswort  hervorhebt,  die  meiner 
ansieht    nach    wertvollsten    abschnitte    des    vorliegenden   bandes 
teils  ihre  entstehung,  teils  doch  ihre  gestaltung  anregungen,  die 
er   aus   den  anzeigen  des  i  teils  und  aus  der  früher  noch  unbe- 
achtet   gelassenen    neueren    syntaktischen    litteratur,    besonders 
Behaghels  Heliandsyntax    geschöpft    hat.     dahin    rechne   ich  die 
capitel  über  congruenz  und  Wortstellung,  vor  allem  aber  die  ab- 
schnitte C   über  die  'Verbindungen"  der  einzelnen  wortclassen,  in 
denen  der  vf.  'dem  neuen  gesichtspunct  der  wortgruppe  gerecht 
zu  werden  suchte"   (s.  539).     so  ist  durch  die  einfügung  solcher 
abschnitte,   die    im    eigentlichen    sinne  sj'utaktische  Stoffe  behan- 
deln,   das  Verhältnis  dieser  zu  den  capitel n,  deren  Inhalt  meiner 
auft'assung   nach   die  syntax  nur  indirect  oder  gar  nicht  angeht, 
im    vorliegenden    bände    weit    günstiger   geworden    als  in  teil  i. 
Die    mitbehandlung  von    dingen    die  ich  in  die  wort(bedeu- 
tungsllehre  verweisen  würde,  entschuldigt  der  vf.  (s.  540)  damit, 
dass    'eine    erschöpfende    Satzlehre    eigentlich    eine  erschöpfende 
wortlehre  als  unterbau  verlange,  eine  solche  jedoch  das  Egerlän- 
dische    noch   nicht   besitze',     dass   solche   begründung  der  altge- 
wohnten   stoft'verteilung   zur    zeit    einer    gewissen    berechtigung 
noch    nicht    entbehrt,    hab   ich    mit    ähnlichen  Worten  nicht  nur 
für    einzelne  dialekte,    sondern    ganz  allgemein  anerkannt  (Anz. 
xxix  2 1 ).     bezweifeln    möcht    ich    aber    doch,    ob  sich  auf  diese 
weise  die  hineinziehung  alles  dessen,  was  Schiepek  hier  aus  dem 
gebiet    der    wort(bedeutungs-    und  auch  formen)lehre,    ferner  an 
stilistischem    und   rein  lexikalischem  mitbehaudelt  und  mitten  in 


24  RIKS    ÜBKR 

die  erörterung  des  syntaktischen  eingeschoben  hat.  im  rahmen 
einer  lehre  vom  'satzbau'  rechtfertigen  lässt.  wenn  das  ziel  einer 
sachgemäfsen  gliederung  der  syntax  jemals  erreicht  und  die  be- 
handlung  vor  der  gefahr  bewahrt  werden  soll,  die  eigentlich 
syntaktischen  gesichtspuncte  aus  den  äugen  zu  verlieren,  wenn 
überhaupt  in  systematischer  und  methodischer  hinsieht  entschie- 
dene fortschritte  gemacht  werden  sollen,  muss  doch  an  der  tor- 
derung  festgehalten  werden,  dass  sich  die  erörterung  der  aus  den 
andern  gebieten  der  grammatik  herbeigezogenen  stoffe  streng  auf 
das  beschränke,  was  zum  Verständnis  der  syntaktischen  erschei- 
nungen,  zur  begründung  ihrer  auffassung  und  erklärung  würklich 
erforderlich  ist,  und  ferner,  dass  dies  alles  möglichst  auch  räumlich 
abgesondert  oder  sonst  durch  typographische  hilfsmittel  als  aufsen- 
werk  und  Vorarbeit  gekennzeichnet  werde,  unter  diesem  ge- 
sichtspunct  erweckt  trotz  der  besseruug  die  Stoffbegrenzung  und 
-Verteilung  auch  im  ii  teil  noch  manches  bedenken,  im  ganzen 
und  einzelnen,  so  ist  auch  in  den  die  'Verbindungen'  behandeln- 
den abschnitten  trotz  dieser  Überschrift  der  gesichtspunct  der 
gruppe  nicht  immer  festgehalten,  vgl.  zb.  §  263  'erstarrte  dative'. 
an  falscher  stelle  steht  zb.  der  Inhalt  des  §  265,  der  unter 
•genitiv  bei  verben'  fälle  behandelt,  in  denen  die  Schriftsprache 
diesen  casus  setzt,  die  mundart  aber  nicht,  wie  kommen  die^ 
4j§  352 — 54  (formenunterschied  von  singular  und  plural)  unter 
die  casus?  aus  dem  lückenhaften  zustand  unserer  syntaktischen 
litteratur  erklärt  und  entschuldigt  sich  zum  teil  die  ausführlich- 
keit,  mit  der  vieles  behandelt  wird  was  nicht  dem  mundartlichen 
Sprachgebrauch,  geschweige  dem  egerländischen  eigentümlich, 
sondern  gemeingut  der  Umgangssprache  ist,  nicht  selten  auch 
der  lebendigeren  Schriftsprache  angehört;  vgl.  zb.  ijij  292.  294 
über  den  bildlichen  ausdruck  (abgesehn  davon,  dass  das  meiste 
davon  in  die  Stilistik  oder  ins  lexikon  gehört). 

Aber  was  in  dieser  hinsieht  zu  beanstanden  wäre,  tritt  weit 
hinter  die  vielen  und  grol'sen  Vorzüge  des  werkes  zurück,  sein 
reicher  Inhalt  und  die  durchweg  gediegene,  gründliche  behaud- 
lung  verdienen  gleich  uneingeschränktes  lob.  es  erfreut  des 
vf.s  volle  beherschung  seiner  mundart,  die  fülle  scharfer  beob- 
achtungen  über  eigenheiten  des  mundartlichen  Sprachgebrauchs 
überhaupt,  die  feinsinnige  aufspürung  der  zugrunde  liegenden 
auffassungen  und  die  meist  einleuchtenden  erklärungen  dieser 
letztern  aus  dem  besonderen  wesen  der  mda.  mit  umsieht  und 
sicherem  Sprachgefühl  geht  der  vf.  der  entstehung  von  bedeu- 
tungs-  und  gebrauchserweiterungen  nach  und  leitet  sie  aus  der 
ursprünglichen  bedeutung  her,  dabei  zeigt  sich  gelegentlich,  wie 
die  mda.  durch  die  noch  eingehalteneu  grenzen  solcher  gebrauchs- 
erweiterung  erkennen  lässt,  dass  in  ihr  das  gefühl  für  die  grund- 
bedeutung  bisweilen  noch  lebendig  ist.  wo  es  der  Schriftsprache 
schon  verloren  gegangen  ist  (vgl.  zb.  §  ^S6).     das  besonders  ge- 


SCHIKI'KK    TtF.I!   SAr/l'.AU    l>KR  E(iKHI,.\N"Iii;i!    MUNDAKT  2;> 

lungeue  capitel  über  die  Wortstellung  enthält  manche  gute  ein- 
zelbeobachtung  und  hübsche  bemerkung;  so  ist  zb.  die  originelle 
i'assung  'kurzschluss  des  physisch-sprachlichen  mechanismus  der 
mündlichen  rede'  an  der  stelle  (s.  5  1 5)  sehr  treffend,  interessant 
war  mir  der  wichtige  naehweis  is.  503),  dass  in  der  eg.  mda. 
der  gebrauch  der  ungi'aden  folge  mit  syntaktischer  bedeutung 
an  stelle  bei- oder  unterordnender  conjunction  (vgl.  QF  -11,  25  ff; 
Zs.  -10,  273;  Wortstellung  im  Beow.  4j  31)  nicht  unbekannt  ist. 

Auch  in  der  auffassung  der  sprachlichen  erscheinungen  dürfte 
der  vf.  meistens  das  richtige  getroffen  haben,  abweichende  an- 
sohauung  geltend  zu  machen  seh  ich  wenig  anlass;  etwa  §  -162,4: 
ich  linde  nicht,  dass  ^der  beinahe  zum  artikel  herabgedrückt  ist, 
wenn  es  ein  Substantiv  vertritt  das  ein  präpositionalattribut  bei 
sich  hat',  das  gegebene  beispiel  scheint  mir  im  gegen  teil  deut- 
lich zu  zeigen,  dass  hier  der  rein  determinativ  und  betont  ist, 
gleich  derjenige,  wofür  auch  die  volle  form  de.)  spricht,  während 
nach  §  458  'der  artikel  die  stark  abgeschlift'ene  form  de)'  hat. 
auch  die  auffassung  des  §  419ia  ist  mir  zweifelhaft. 

Von  principieller  bedeutung  ist  wol  nur  folgendes,  der  auf 
den  ersten  blick  bestechenden  ansieht,  dass  'in :  morgen  ist  Feier- 
tag: zu  dir  ist  )nir  zu  ireit  das  adverb  die  stelle  des  subjects 
einnimmt',  "als  satzhauptteil  dient'  (s.  4G8)  kann  ich  mich  nicht 
ohne  weiteres  anschliel'sen  zunächst  sind  die  beiden  sätze  nicht 
gleichartig,  im  zweiten  beispiel  ligt  einer  der  zumal  in  der 
mündlichen  rede  häutigen  fälle  vor,  wo  ein  (und  zwar  der  all- 
gemeinere) teil  eines  vorstellungscomplexes  ohne  sprachlichen 
ausdruck  geblieben  ist,  weil  der  speciellere,  der  auf  den  das 
interesse  sich  richtet,  allein  zum  Verständnis  genügt,  wenn  wir 
hier  heute  auch  mit  recht  nicht  mehr  von  eigentlicher  ellipse 
reden,  nicht  sagen,  dass  das  wort  gang,  n:eg  oder  entfernung  aus- 
gefallen sei,  weil  eine  bestimmte  wortfassung  eines  derartigen 
begriff's  überhaupt  nicht  vorhanden  gewesen  zu  sein  braucht,  so 
bleibt  anderseits  doch  immer  die  tatsache  bestehn,  dass  hier  die 
präpositionalverbindung  inhaltlich  reicher  ist  als  gewöhnlich,  dass 
sie  allein  sagt,  was  sonst  durch  ein  Substantiv  (oder  einen  In- 
finitiv) mit  derselben  präpositionalverbindung  gesagt  wird,  diese 
stellt  sich  ein,  wo  —  und  kann  sich  eben  nur  deshalb  ein- 
stellen, weil  eine,  wenn  auch  ganz  unbestimmte  entfernungs- 
oder  bewegungs Vorstellung  dem  sprechenden  vorschwebt:  man 
baut  den  satz  correct  nach  dem  grammatischen  scheina.  das 
richtig  functioniert,  auch  ohne  dass  sich  die  undeutlich  bleibende 
vorsteUuug  in  ein  bestimmtes  wort  verdichtet,  von  dem  die  prä- 
positionale  weudung  abhängen  könnte,  und  von  dem  sie  doch 
auch  tatsächlich  abhängt,  trotzdem  weder  der  begriff  noch  sein 
sprachlicher  ausdruck  zu  vollem  leben  erwacht  sind,  so  ist  es 
mindestens  ungenau  zu  sagen,  dass  hier  die  präpositionalverbin- 
dung   als    solche    selber  subject  sei:    sie  ist  nur  der  allein  zum 


26  RIES    ÜBER 

ausdruck  gelangte  teil  einer  unvollständig  gebliebenen  wortgruppe, 
die  das  subject  bildet,  da  es  sich  also  nicht  um  eine  besondere 
'gebrauchsform  des  adverbs'  handelt,  gehört  die  ganze  erschei- 
nung  nicht  hiei'her,  sondern  in  das  gebiet  'ersparung',  'kürze  des 
ausdrucks'  uä. 

Durchaus  anders  ligt  es  in  dem  satz:  morgen  ist  Feiertag, 
für  den  ich  nur  unter  starken  vorbehalten  und  in  beschränktem 
umfang  zugeben  müchte,  dass  in  ihm  das  adverb  subject  ist.  oder 
'dessen  stelle  einnimmt',  möglich,  dass  der  vf.  auf  diesen  leisen 
unterschied  der  fassung  wert  legt;  aber  sofern  ich  ihn  richtig 
versteh,  heilst  das  doch  immer:  das  adverb  hat  hier,  da  es  'als 
satzhauptteil  dient',  die  syntaktische  function  des  subjects. 
das  kann  zunächst  jedesfalls  nur  im  psychologischen,  nicht  im 
grammatischen  sinne  gelten,  man  kann  den  begriff  'morgen'  als 
psychologisches  subject  bezeichnen  in  bestimmten  zusammenhängen, 
w^o  aus  dem  vorausgehnden  oder  der  Situation  dieser  begriff  als 
der  bekannte  und  zu  prädicierende  vorschwebt,  oder  man  kann 
sagen:  eine  noch  dunkele  gesamtvorstellung  klärt  sich  begrifflich, 
indem  sie  sich  in  ihre  teilvorstellungen  (hier:  morgen  und  Feier- 
tag) gliedert,  wie  sie  nacheinander  in  den  blickpunct  treten;  und 
man  mag  auch  in  vergleichender  Übertragung  der  üblichen  gram- 
matischen termini  diese  beiden  teilbegriffe  als  subject  und  prä- 
dicat  dieses  psychischen  processes  bezeichnen,  aber  das  bleibt 
ein  vergleich,  und  das  Verständnis  und  die  erklärung  der  sprach- 
lichen form,  in  die  sich  der  ausdruck  dieses  deukvorgangs  kleidet, 
wäre  damit  nur  dann  gefördert,  wenn  feststünde,  dass  jeder 
sprachsatz  das  sich  formal  genau  deckende  abbild  des  ihm  zu- 
grunde liegenden  denksatzes  wäre,  man  kann  vermuten,  dass  das 
in  den  ersten  anfangen  schöpferischer  Sprachtätigkeit  der  fall 
gewesen  sein  wird,  würde  aber  das  Verhältnis  des  deukvorgangs 
zum  sprechen  in  einer  der  in  vieltausendjähriger  entwicklung  und 
Übung  ausgebildeten  cultursprachen  schwer  verkennen,  wenn  man 
auch  hier  formale  Übereinstimmung  beider  processe  als  allgemein- 
giltig  voraussetzen  wollte. 

Was  ist  also  mit  jenem  vergleich  gewonnen,  da  erst  in 
jedem  einzelnen  falle  festgestellt  werden  muss,  ob  und  inwieweit 
sich  die  form  des  sprachsatzes  der  des  denksatzes  anschliefst? 
zunächst  ist  nur  für  die  sätze,  in  denen  dies  nicht  der  fall  ist, 
eine  neue  gefahr  des  verkennens  ihrer  grammatischen  form 
heraufbeschworen,  indem  die  ganz  unbegründete  Vermutung  nahe- 
gelegt wird,  dass  jene  formale  Übereinstimmung  würklich  vor- 
handen sei. 

Bezieht  man  die  angefochtene  behauptung,  das  adverbium 
nehme  die  stelle  des  subjects  ein,  ausschliefslich  auf  den  denk- 
vorgang,  so  bleibt  davon  die  syntaktische  form  des  sprachlichen 
gefüges  unberührt  und  somit  unerklärt,  wollte  man  aber  (und 
es   scheint   fast,    als   ob    eine  allermodernste  richtung  dahingeht) 


SCHIEPKK    PKR   SATZBAU  DEK   KGKHLAXDKR  MUXDAHT  ll 

die  grammatischen  kategorieeii  einfach  den  psychologischen  gleich- 
setzen, d.  h.  also  die  syntaktischen  termini  subject  und  prädicat 
rein  psychologisch  definieren  und  in  der  erklärung  der  psychi- 
schen entstehung  einer  sprachäufserung  auch  die  erkenntnis  ihrer 
syntaktischen  form  sehen,  so  wäre  das  ein  gefährlicher  Irrweg, 
und  sollte  dies  verfahren  damit  begründet  werden,  dass  die  etwa 
abweichende  ursprüngliche  function  der  glieder  eines  gefüges  nur 
die  historische  Sprachforschung  angehe,  die  beschreibnng  und  er- 
klärung der  gefüge  der  würklichen,  der  lebendigen  spräche  aber 
allein  die  zugrunde  liegenden  seelischen  und  gedanklichen  Vor- 
gänge zu  berücksichtigen  habe,  so  wäre  eben  zu  betonen,  dass 
sich  das  sprechen  seit  undenklichen  zeiten  nicht  mehr  blofs  durch 
neuschöpfung  oder  doch  durch  ein  jedesmaliges  neunachschaffen  von 
sprachformen  vollzieht,  sondern  zu  einem  guten  teil  durch  rein 
mechanische  Verwendung  fertiger,  fester,  altgewohnter  formen, 
die  zur  aufnähme  des  gedankeninhalts  bereit  stehn  und  sich 
automatisch  einstellen,  in  die  er  hineingegossen  wird,  teils  im 
anschluss  an  den  denkvorgang,  teils  aber  auch  von  diesem  unab- 
hängig, bald  ihm  genau  entsprechend,  bald  mehr  oder  minder  von 
ihm  abweichend. 

Würkliche  gleichsetzung  der  ps3'chologischen  und  gramma- 
tischen kategorieen  würde  in  letzter  linie  auf  eine  völlige  Ver- 
wischung, ja  auflösung  der  grammatischen  grundbegriffe  hinaus- 
laufen, die  freilich  über  manche  klippe  in  der  definition  des  satzes 
und  seiner  hauptteile  hinweghülfe,  aber  nicht,  indem  sie  die  vor- 
handenen Schwierigkeiten  löst,  sondern  indem  sie  diese  verschleiert 
und  umgeht,  es  ist  ja  sehr  bequem  zu  sagen,  die  zwei  haupt- 
begrift'sworte  eines  'satz'  genannten  gefüges  seien  sein  subject  und 
prädicat.  dann  müste  aber  als  definition  von  subject  (von  der 
des  prädicats  zu  schweigen)  gelten:  sprachlicher  ausdruck  des 
ersten  der  beiden  wichtigsten  begriffe  eines  satzes  (wie  immer 
dessen  definition  laute),  wobei  dann  über  den  grad  der  Wichtig- 
keit wider  nur  vom  ps^'chologischen  standpunct  entschieden 
werden  könnte,  so  dreht  man  sich  im  kreise  und  gelangt  nie 
zu  einem  erfassen  der  sprachlichen  form,  und  mit  dem  hinzu- 
treten jedes  weitern  begriffswortes  entstehn  sofort  zahllose  neue 
Schwierigkeiten,  die  zeigen,  dass  der  grammatische  begriff 
des  subjects  einerseits  unentbehrlich  ist,  anderseits  nicht  mit 
dem  '^nur  vergleichsweise  so  genannten)  psychologischen  subjects- 
begriff  zusammengeworfen  werden  darf,  w'ie  steht  es  in  Sätzen 
mit  zwei  adverbien?  {heute  ist  in  Neudorf  Kilbe;  morgen  ist 
hei  uns  frei,  auf  der  Mädchenschule  nicht),  nimmt  da  die  zeit- 
oder  die  Ortsangabe  die  stelle  des  subjects  ein?  oder  in:  heute 
friert  mich,  das  adverb  oder  der  accusativV  und  im  vergleich 
der  Sätze:  heut  ist  bei  uns  frei  und:  heut  haben  u-ir  frei  und: 
wir  haben  heute  frei,  ist  da  im  ersten  satz  heut  oder  bei  uns 
subject,    da    doch    im  zweiten,  ganz  gleichbedeutenden  satz  wir 


28  RIES    ÜBER 

sicher  grammatisches  subject  ist,  und  im  dritten  grammatisches 
und  psychologisches  subject  zugleich?  alles  fragen,  die  nur  von 
fall  zu  fall  und  jedesmal  anders  oder  nach  Willkür  entschieden 
werden  könnten,  auch  der  satzformunterschied  der  gleichbedeu- 
tenden gefüge:  ich  friere  und:  mich  friert  lässt  sich  nicht  mehr 
fassen,  wenn  sowol  ich,  wie  mich  die  stelle  des  subjectes  ein- 
nimmt, was  wol  psychologisch,  aber  nur  psychologisch  richtig  ist. 
aber  auch  psych  ologie  ist  nicht  grammatik,  so  wenig 
wie  logik  und  rhetorik  es  sind.  Franz  Kerns  mahnung:  'nur 
meine  man  nicht,  dass  man  mit  dieser  beschäftigung  [aufsuchen 
des  sogen,  logischen  subjects],  die  geflissentlich  von  der  form 
auf  den  Inhalt  übergeht,  noch  grammatik  treibe'  —  "rhetorische 
Übungen  vornehmen  und  grammatik  treiben  ist  zweierlei'  (Die 
deutsche  Satzlehre"^,  1888,  s.  74.  146.)  ist  von  neuem  der  be- 
achtung  eindringlich  zu  empfehlen,  mit  der  besonders  zeitgemäfsen 
erweiterung  auf  die  Übertreibungen  und  Irrwege  der  psycholo- 
gischen behandlung.  es  ist  von  entscheidender  Wichtig- 
keit für  die  klarheit  der  begriff e  und  die  richtigkeit 
der  auffassung,  dass  die  psj^chologisch-genetische 
erklärung  einer  sp  rachäuf  serung  mit  der  gramma- 
tischen analyse  der  bestimmten  syntaktischen  form, 
in  die  sie  sich  kleidet,  weder  verwechselt  noch  ver- 
mischt werde,     (vgl.  Wortstellg.  im  Beowulf  s.  376.) 

Es  steht  mit  dem  adverb  morgen  in:  morgen  ist  Feiertag 
grammatisch  zunächst  nicht  anders  als  mit  den  adverbien  in: 
heute  wird  geschlachtet,  hier  wird  gerollt,  oben  lolrd  getanzt,  in 
denen  gewis  auch  Schiepek  bedenken  tragen  würde,  heute,  hier, 
oben  als  subject(svertreter)  anzusehen,  was  er  consequenterweise 
doch  müste;  nicht  anders  als  in:  gestern  war  mir  übel:  heute  friert 
mich,  wo  auch  die  psychologische  betrachtung  eher  dem  casus 
obliquus  des  pronomens  als  dem  adverb  die  rolle  des  subjects  zu- 
weisen würde,  oder  auch  in:  heut  morgen  hat  es  gefroren,  jetzt 
ist  Tawvetter,  wo  zuerst  unfraglich  das  begrifflich  leere  'es'  gram- 
matisch heute  die  stelle  des  subjects  einnimmt  und  die  adverbia 
heut  morgen  und  jetzt  functionell  gleichstehn.  denn  es  unterligt 
für  mich  keinem  zweifei,  dass  morgen  ist  Feiertag  der  form  und 
ursprünglichen  bedeutung  nach  jener  crux  der  syntaktiker,  den 
sogen,  subjectlosen  Sätzen,  zuzurechnen  ist,  deren  grammatische 
form  und  entstehung  aber  weder  richtiger  beschrieben  noch  klarer 
erkannt  wird,  wenn  man  eine  adverbiale  Zeitbestimmung  der  aus- 
sage als  ihr  subject  bezeichnet, 

Dass  ein  adverb  überhaupt  die  stelle  des  subjects  einnehmen 
könne,  scheint  mir  eine  grammatische  Unmöglichkeit,  selbst- 
verständlich von  der  Substantivierung  abgesehen  (one  to-day 
is  worth  two  to-morroirs:  morgen  ist  du  Adverb)  oder  von  der 
Verkürzung  des  ausdrucks,  die  zur  Substantivierung  hinführt 
(siehe  oben  s.  25),    wie  wenn    etwa  morgen    steht    für  der  Tag 


SCHIKPEK    DER  SATZBAU  J)KH  EGERLÄKDER  MUNDART  29 

morgen,  der  morgige  Tag  {morgen  eignet  sich  nicht  zu  unserm 
Ausflug). 

Nun  soll  mit  diesem  Widerspruch  gegen  Schiepeks  auffassung 
(oder  nur  formulierung?)  der  wert  der  psychologischen  analyse 
weder  im  allgemeinen  noch  für  ein  vertieftes  Verständnis  gerade  auch 
der  besprochenen  fügung  bestritten  werden;  sie  ist  im  gegenteil 
auch  hier  sehr  fruchtbar,  sie  zeigt  nicht  nur  an  einem  deut- 
lichen beispiel  die  erwähnte  Verwendung  einer  vielgebrauchten 
syntaktischen  form  zum  ausdruck  auch  eines  anders  geformten 
denkvorgangs.  sondern  sie  leitet  auch  zur  erkenntnis  der  sonst 
leicht  übersehenen  tatsache  hin.  dass  so  dieselbe  satzform  zwei, 
zwar  einander  ähnliche,  aber  doch  scharf  unterscheidbare  be- 
deutungen  hat.  man  braucht:  morgen  ist  Feiertag  l)  der  form 
und  bedeutung  des  'subjectlosen'  satzes  genau  entsprechend  in 
seinem  ursprünglichen  sinne  einer  antwort  auf  eine  würklich  ge- 
stellte oder  vorschwebende  frage,  wann  das  'feiertagsein'  statt- 
hat, zb.:  wann  wirst  du  dich  mal  an  einem  Ausflug  beteiligen  können::' 
wann  habt  ihr  mal  frei:'  —  morgen  {ist  frei,  ist  Feiertag).'  und  2) 
darüber  hinaus  mit  der  von  Schiepek  wol  allein  ins  äuge  gefassten 
bedeutung,  bei  der  'Feiertag'  von  'morgen'  würklich  prädiciert 
wird,  im  sinne  einer  antwort  auf  die  frage:  was  für  ein  tag 
ist  der  morgige?  denn  die  kürzere,  natürlicher  klingende,  be- 
quemere form  schiebt  sich  an  die  stelle  der  grammatisch  correc- 
teren.  aber  steifern  und  umständlichem:  {der  Tag)  morgen  ist 
ein  Feiertag,  zb.:  kannst  du  mir  das  morgen  beschaffen'':'  —  schwer- 
lich^ morgen  ist  {ein)  {israelitischer)  Feiertag,  da  sind  die(se)  Ge- 
schäfte geschlossen. 

Die  psychologische  analyse  lehrt  so  erkennen,  wie  die  spräche, 
indem  sie  sich  gewisser  gefüge  auch  zum  ausdruck  von  etwas 
anders  gearteten  denkinhalten  bedient,  die  äufserlich  gleichblei- 
benden alten  formen  doch  durch  eine  innere  Umbildung  neu  be- 
lebt, diese  Umbildung,  die  Überführung  aus  der  syntaktischen 
function  der  adverbialen  bestimmung  der  aussage  in  die  des  sub- 
jects,  kann  sich  aber  nur  einstellen  —  und  daraus  ergeben  sich 
die  grenzen  ihres  auftretens  —  wo  die  form  des  gefüges  gleich- 
zeitig auch  den  Übergang  seiner  übrigen  worte  in  die  function 
des  prädicats  ermöglicht  und  begünstigt:  die  den  kürper  des 
ganzen,  in  sich  vollständigen  'subjectlosen'  satzes  bildenden 
worte:  ist  Feiertag,  ist  frei  sind  hier  äufserlich  der  häufigen  form 
des  prädicats  ('copula'  mit  prädicatsnomen)  gleich  und  deshalb  in 
diese  verschiebbar,  nur  weil  hier,  und  nur  wo  der  subjectlose 
satz  diese  form  des  prädicats  vortäuscht  und  in  dessen  function 
übertritt,  wird  auch  das  adverb  in  die  stelle  des  subjects  gerückt. 

So  ist  zwar  die  behauptung  des  vf.s  über  die  innere  structur 
solcher  sätze  für  einen  teil  ihrer  Verwendung  und  in  der  ent- 
wickelten auffassung  als  richtig  anzuerkennen,  aber  auch  hier 
handelt  es  sich  um  ein  andres  s^'ntaktisches  problem,  als  der  vf. 


30  HIES    ÜBKR 

meint,  niclit  um  eine  besondere  gebrauchsweise  der  wortclasse 
des  adverbs,  sondern  um  eine  functionsverschiebung  der  Satz- 
glieder. 

Aus  ähnlichen  erwägungen  heraus  erheb  ich  die  entsprechen- 
den einwände  gegen  einen  teil  der  ausätze  im  absatz  b)  desselben 
§  503,  wo  mir  verschieden  geartete  fälle  zusammengeworfen 
scheinen,  dass  von  alters  her  im  deutschen  adverbien  und  ad- 
verbiale präpositionalverbindungen  prädicativ  gebraucht  werden, 
ist  kein  zweifei;  ich  bestreite  aber,  dass  jedes  bei  einer  form  des 
verbums  sein  stehende  adverb  als  prädicativ  anzusehen  sei. 
würkliches  prädicativum  ist  es  in  sätzen  wie:  das  Theater  ist 
aus:  die  Tür  ist  zu;  aber  nicht  in:  das  Theater  ist  auf  dem 
Neuen  Markt:  die  Tür  {zu  seinem  Ämtszimmer)  ist  am  Ende  des 
Ganges  rechts:  also  auch  nicht,  wie  Schiepek  will,  in:  er  ist 
oben;  das  war  gestern,  wo  es  vielmehr  rein  adverbiale  orts-  oder 
Zeitbestimmung  ist  zu  dem  in  prägnantem  sinne  von  sich  befinden, 
statthahen,  geschehen  gebrauchten  verbum.  dagegen  wider  prä- 
dicativ in:  das  ist  oben,  vorne  uä.  im  sinne  von:  dies  ist  der 
obere,  vordere  Teil,  die  äulserliche,  aber  doch  nur  scheinbare 
formengleichheit  des  syntaktischen  gefüges  darf  nicht  zur  ver- 
kennung der  verschiedenartigkeit  der  beziehung  und  damit  der 
syntaktischen  function  seiner  glieder  verführen,  es  wäre  ein 
misverständnis  der  von  mir  'Was  ist  syntax'?"  s.  13  ff.  ver- 
fochtenen  ansieht,  wenn  man  in  obigen  fällen  aus  der  gleichheit 
der  wortformen  und  der  wortart  auf  gleichheit  der  syntaktischen 
form  und  function  schlielsen  zu  müssen  glaubte,  mit  der  Ver- 
schiedenheit der  bedeutung  desselben  wortes  hängt  überaus  häufig 
eine  verschiedene  constructionsweise  zusammen  (w'obei  es  hierfür 
gleichgiltig  ist,  welches  das  prius  ist),  und  dass  das  verbum  sein 
verschiedener  bedeutung  fähig  ist,  dürft  unbestritten  sein,  daraus 
folgt  ohne  weiteres,  dass  das  adverb  bei  einem  vollverb  mit  der 
bedeutung  geschehen,  oder  sich  befinden  in  andrer  syntaktischer 
function  steht  als  bei  dem  reinen  verbum  substantivum,  der 
'copula'  (vgl.  ebenda  s.   161    anm.  78  gegen  Paul). 

Noch  ein  paar  einzelheiten :  die  s.  517  anm.  1  erwähnte 
dnö  y.oivov  Stellung  ist  gewis  nicht  nur  schlesisch,  auch  wol 
überhaupt  nicht  blofs  mundartlich,  sondern  aller  affectisch  beleb- 
ten Vulgärsprache  eigen,  auch  im  englischen  häufig.  —  nach- 
§  567  a)  "hindert  die  durchwegs  proklitische  uatur  der  artikel- 
formen jede  einschiebung  attributiver  bestimmungen  zwischen 
artikel  und  Substantiv',  das  ist  sicher  ein  versehen,  weder  die 
behauptung  selber  kann  in  dieser  allgemeinheit  richtig  sein,  noch 
ist  es  die  begründung:  die  proklise  würde  durch  das  zwischen- 
geschobene attribut  nicht  gehindert  werden,  vgl.  die  beispiele 
s.  ;]41:  bdn  helllöichtn  Töch,  bd  dd  stii9kfinz9n  Nacht,  d  dumma 
dalkdtd  Gods,  d  dimmd  Idsl:  s.  343:  dd  gung  Hös,  zdn  näid 
Gaud,  d  glücksölle's  ndis  Gäud,  d  bairischd  Herzog,  dd  prdissisch 


SCHIEPEK    DKR  SATZBAU   DEK  E(;EHT.ÄXÜEI{  MUNDAHT  31 

Könich  usw.  —  wichtig"  ist  die  angäbe  über  die  Stellung'  unbe- 
tonter pronominalformeu  ij  567,  b.  1.  Schiepeks  fassung  lässt  die 
annähme  zu,  dass  in  der  Schriftsprache  auch  abweichende  Stellung 
correct  sei;  es  finden  sich  ja  leider  beispiele  genug-  dafür,  auch 
bei  guten  Schriftstellern;  sie  beweisen  aber  nur,  dass  das  feinere 
gefühl  für  den  rechten  satzrhythmus  vielfach  verloren  gegangen 
ist.  —  zum  selben  §  b.  1  —  3  vgl.  Wortst.  im  Beow.  §  81  und 
s.  43.  54.  352.  —  s.  427  wird  'wegen  der  regelmätsigen  vor- 
anstellung-  des  genitivs'  auf  §  367 — 373  verwiesen;  ich  finde 
dort  nichts  darüber  gesagt;  die  gegebenen  beispiele  zeigen  aller- 
dings diese  Stellung,  bis  auf  Mutter  Gottes,  EInd  Gottes  in 
ij  368.  —  die  Sorgfalt  des  vf.s  hat  sich  auch  auf  die  druck- 
berichtigung  erstreckt;  von  den  wenigen  fehlem,  die  ich  bemerkt 
habe,  ist  nur  s.  468:  Erdmann-Mensing  ii  (lies:  i)  erwähnenswert. 

Durch  die  fleifsige  heranziehung  der  übrigen  mundarten, 
zumal  der  oberdeutschen  und  besonders  regelmäi'sig  der  oster- 
reichischen,  und  die  gewissenhafte  ausnützung  der  einschlägigen 
litteratur  hat  sich  Schiepeks  buch  in  den  umfänglichen  und  in- 
haltreichen anmerkungen,  zu  denen  auch  der  herausgeber 
manche  wertvolle  beisteuer  geliefert  hat,  zu  einem  wahren  re- 
pertorium  der  deutschen  dialektkunde  ausgewachsen,  das  weit 
über  das  gebiet  des  satzbaus  hinausgreifend  auch  reiche  belehrung 
über  formenlehre.  Wortbildung  und  wortgebrauch  der  deutschen 
mundarten  bietet. 

Neben  dem  vf .  gebührt  dem  herausgeb  er  L  a  m  b  e  1  und  dem 
drucklegenden  Verein  für  geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen 
unser  wärmster  dank. 

Strafsburg  i.  E.,  märz    1909.  John  Ries. 


Wort  und  Brauch.  Volkskundliche  arbeiten  namens  der  Schlesischen 
gesellschaft  für  Volkskunde  in  zwanglosen  heften  hrg.  von  dr 
Theodor  Siebs  und  dr  3Iax  Hippe.    Breslau,  M.  &  H.  Marcus.   8  °. 

2  heft.  Lateinisch-romanisches  fremd  Wörterbuch  der 
schlesischen  mundart  von  Erich  Jäschke  16ö  ss.  —  5,60  m. 

3  heft.  Die  schlesische  mundart  in  ihren  lautverhält- 
nissen  grammatisch  und  geographisch  dargestellt  von  Woli"  von 
Unwerth.    94  ss.  —  3,60  m. 

Jäschkes  arbeit  bietet  eine  Zusammenstellung  von  fremd- 
wörtern  in  der  schlesischen  mundart  und  kann  als  brauchbarer 
beitrag  zur  deutschen  lexikographie  angesehen  werden,  fast 
gänzlich  vermiss  ich  allerdings  den  versuch  zu  ermitteln,  auf 
welchem  wege  die  Wörter  in  die  mundart  gedrungen  sind.  Ich 
glaube,  dass  man  auf  grund  verschiedener  lautlicher  Ver- 
änderungen (ob  zb.  fremdes  h,  ä  durch  h,  d  oder  ^j,  t  vertreten 
sind,  ob  fremdes  a  als  ä  oder  ö  erscheint  usw.)  zu  mancherlei 
Schlüssen  gelangen  kann;   dasselbe  gilt  für  die  altersbestimmung 


32  LESSIAK    IHKK 

(vgl.  etwa  afJcöfe  neben  atwökofe).  freilich  müste  dann  die  aus- 
wahl  nicht  so  willkürlich  erfolgen,  sondern  womöglich  alles 
niaterial  verwertet  werden,  und  gerade  die  älteren  entlehnungen 
wie  Soldat,  sellerie.  anis,  lavendel  uaa.  sollten  nicht  aufser 
acht  gelassen  werden,  da  sie  sicher  von  gröfserem  Interesse  sind 
als  etwa  Wörter  wie  schneiderieren,  schauderös  ua.  bedenken 
hab  ich  gegen  gewisse  formen  wie  'Moritz'  für  'mores  (lehren)' 
n.  ähnl.,  für  die  belege  dem  einen  oder  andern  volksschriftsteller 
entnommen  sind;  denn  bekanntlich  lieben  es  manche  unserer 
volkstümlichen  humoristen.  dergleichen  verballhornungen  selbst  zu 
construieren.  auch  die  sogenannten  volksetymologieen  bestehn 
zum  teil  nur  auf  dem  papier,  indem  mit  hilfe  der  Orthographie 
solche  vermeintliche  umdeutungen  künstlich  gemacht  werden,  so 
wenn  viehsasclie  für  flsäze  geschrieben  wird,  was  sich  dann 
natürlich  als  lächerliche  composition  'viehs-asche'  repräsentiert, 
tatsache  ist,  dass  bei  ungewohnten  lautverbindungen  häutig  ersatz 
durch  geläufige  lautfolgen  vorgenommen  wird,  ferner  auch,  dass 
bekannte,  ähnlich  klingende  Wörter  diese  Umgestaltungen  beein- 
flussen, ja  gelegentlich  sogar  eine  bedeutungsverschiebuug  ver- 
anlassen, aber  die  Substitutionen  und  anlehnungen  —  ergeb- 
nisse  einer  ungenauen  reproduction  —  erfolgen  in  der  regel 
durchaus  nicht  bewust.  und  nicht  selten  handelt  es  sich  nur  um 
ein  zufälliges  zusammentreffen  einer  in  der  mda.  lautgesetzlich 
entwickelten  form  mit  irgend  einem  andern  bekannten  laut- 
complex.  auch  der  vf.  überschätzt  das  etymologische  denken  im 
Volke,  so  wenn  er  zb.  s.  128  unter  ^scliandärnC  meint:  'man 
zerlegt  sich  im  volke  dieses  wort  wohl  in  'schände'  und  'arm' 
in  entrüstung  über  die  angeblich  so  schändlich  tätigen  'arme' 
dieses  beamten'.  kvxyprize  erklärt  J.  als  hervorgegangen  durch 
anlehnung  an  'hupp'  köpf.  vergleicht  man  jedoch  kuptäl, 
kurakter,  kustänie  s.  8,  auch  kuppdral  u.  ähnl..  so  scheint  die 
form  vielmehr  auf  irgend  einem  mundartlichen  wandel  von  vor- 
tonigem a  in  guttui'aler  Umgebung  (über  o)  zu  u  zu  beruhen. 
jyangenett  (bajonett)  soll  von  'bange'  beeinflusst  sein,  abgesehen 
davon,  dass  bange  in  Schlesien  nicht  pange  lautet,  warum  er- 
scheint das  wort  auch  im  süddeutschen,  wo  'bange'  gar  nicht 
volksläufig  ist,  mit  vorweggenommener  nasalierung?  allzuoft 
spricht  J.  von  entstellung  udgl.  Latwerge,  zb.  nennt  er  eine 
Verstümmelung  des  lat.  electuarium,  während  es  doch,  vom  a  ab- 
gesehen, eine  ganz  lautgesetzliche  Umbildung  des  fremden  wertes 
ist  (vgl.  lattich,  ferge;  a  kann  rom.  Ursprungs  sein,  ital.  lattovaro). 
das  schlesische  lakwerk  beruht,  worauf  mich  ESchröder  aufmerk- 
sam macht,  auf  dem  mitteldeutschen  Übergang  von  tw  >  ktv. 
Bemerkenswert  sind  formen  wie  zimiätdr  <^  signator,  da  sie 
für  einstige  Verbreitung  der  roman.  ausspräche  v  für  lat.  gn  in 
Deutschland  zu  sprechen  scheinen;  ebenso  kann  z  in  zmnäsium 
auf    romanischer   ausspräche   des  g  vor   palatal   beruhen,    die  in 


LESSIAK    ÜBER    V.    UNWERTH    8CHLESISCHE    MINDAHT  33 

fremdwörtern  im  westlichen  Mitteldeutschland  zt.  nocli  heute 
üblich  ist:  zeografi,  zlnDidsium,  es  wäre  noch  manches  anzu- 
merken, denn  das  lautliche  ist  nicht  gerade  die  stärkste  seite 
des  vf.s  direct  zu  tadeln  ist  die  anordnung  der  Wörter  nach 
einer  beliebig  herausgegriffenen  dialektform;  dass  die  brauchbar- 
keit  der  arbeit  als  eines  nachschlagt  werk  es  sehr  darunter  leidet, 
hätte  sich  der  vf.  doch  denken  sollen. 

Bedeutender  ist  die  zweite  arbeit,  der  ich  wünsche,  dass  sie 
recht  zahlreiche  nachfolger  auf  andern  dialektgebieten  finden 
möge.  V.  Unwerth  gibt  uns  allerdings  kein  vollständiges  bild 
von  den  schlesischen  dialektverhältnissen.  wie  in  Schatzens 
Tirol,  niundart  wird  nur  die  lautliche  seite  behandelt,  auch  hat 
der  vf.  abstand  genommen  von  einer  vergleichung  mit  aufser- 
schlesischen  mundarten  und  einer  begründung  seiner  ansieht  über 
den  lautlichen  entwicklungsgang  durch  urkundliche  belege,  wie 
sie  etwa  Weinhold  in  seiner  schrift  'Über  deutsche  dialekt- 
forschung'  angestrebt  hat.  vU.  hat  es  verstanden,  das  reiche 
material  bei  aller  gedrängtheit  klar  und  übersichtlich  zu  gliedern; 
freilich  werden  bei  der  gruppierung  manche  erscheinungen  zu- 
sammengefasst,  die  sich  in  ihrer  tatsächlichen  Verbreitung  nicht 
völlig  decken,  aber  dem  vf.  war  es  ja  in  erster  Knie  nicht  darum 
zu  tun  grenzen  festzustellen,  als  vielmehr  einen  überblick  zu  er- 
möglichen, und  man  darf  sagen,  dass  er  bei  der  notwendigen 
schematisierung  die  gebotenen  grenzen  im  gi'ofsen  und  ganzen 
nicht  überschritten  hat.  dabei  ist  ihm  der  umstand  zustatten 
gekommen,  dass  das  schlesische,  obschon  oder  wol  besser  gerade 
weil  es  eine  colonialmda.  ist,  ein  einheitlicheres  gepräge  aufweist 
als  die  meisten  stammesmdaa.  nicht  einverstanden  bin  ich  Jedoch 
mit  seiner  beschränkung  auf  Preufsisch-Schlesien.  wol  werden 
auch  die  schlesischen  mdaa.  auf  serhalb  der  reichsgrenze  berück- 
sichtigt, aber  recht  stiefmütterlich  in  einem  anhange,  der  an  Voll- 
ständigkeit viel  zu  wünschen  übrig  lässt.  es  ist  ein  bedenken 
principieller  art,  das  ich  hier  ausspreche:  denn  nur  dann  kann 
der  sprachliche  Werdegang  innerhalb  eines  näher  zusammenge- 
hörigen dialektgebietes  annähernd  richtig  beurteilt  werden,  wenn 
zum  mindesten  sämtliche  dazugehörigen  dialekte  gleichmälsig 
herangezogen  werden,  und  wenn  aufserdem  auch  dem  Übergangs- 
gebiete  die  nötige  beachtung  geschenkt  wird,  leider  scheint,  seit 
der  Sprachatlas  an  der  reichsgrenze  halt  machen  muste,  die 
politische  Scheidewand  auch  in  der  dialektologle  eine  gröfsere 
rolle  spielen  zu  wollen,  ich  zweifle,  ob  vU.  bei  seiner  auf- 
fassung  der  Chronologie  der  lautlichen  entwicklung  (§  114)  ge- 
blieben wäre,  wenn  er  sich  näher  mit  den  schlesischen  mdaa. 
aufserhalb  der  preufsischen  provinz  befasst  hätte,  jedenfalls 
hätte  er  die  entrundung  schwerlich  an  erste  stelle  gesetzt,  noch 
heute  wird  unmittelbar  an  der  reichsgrenze  in  Üsterr.-Schlesien 
A.  F.  D.  A.    XXXIV.  3 


34  LESSIAK    ÜBKK 

rahd.  et!  von  (*  geschieden  (vgl.  Seemüller  Deutsche  mdaa.  n,  s.  3  t). 
da  die  gerundeten  und  ungerundeten  parallellaute  sich  nur  durch 
Vorhandensein  oder  fehlen  der  lippenarticulation  unterscheiden, 
kann  der  zusaramenfall  erst  spät  im  sonderleben  der  einzelnen 
nntermdaa.  eingetreten  sein,  zweifelhaft  erscheint  es  mir  teruer, 
ob  e  (te)  bereits  zu  i  geworden  war,  als  i  gedehnt  wurde  und 
ob  der  zusammenfall  von  e  mit  gedehntem  l  überhaupt  als  ge- 
meinschlesischer  Vorgang  aufzufassen  ist.  die  eben  genannte  mda. 
hat  wol  e  <^  /.  aber  e  «<^  e.  auch  der  Schönhengster  gau  bietet 
zwar  ai  für  gelängtes  i  (ü),  aber  e,  ue  bleiben  auf  der  z-stufe, 
ein  beweis,  dass  diese  hier  erst  nach  der  dehnung  des  i  erreicht 
wurde.  allein  auch  im  preufsisch-schlesischen  selbst  scheint 
manches  dafür  zu  sprechen,  dass  der  zusammenfall  sich  keines- 
wegs so  gleichmäfsig  vollzog,  so  hat  das  glätzische  wol  mhd. 
c,  0  vor  r  zu  offenem  e,  ö  gewandelt,  nicht  aber  gelängtes  /,  u. 
für  einen  teil  der  diphthongierungsmdaa.  belegt  vU.  hair  wir, 
niair  mir,  während  dieselbe  entwicklung  bei  e  [mj  zu  fehlen 
scheint;  es  begegnen  da  vielmehr  im  süden  ausweichungen  nach 
l  hin  {zir  sehr,  rivd  röhre  gegen  sonstiges  e)  ^ 

Die  beurteilung  der  Verhältnisse  in  den  'diphthongierungs- 
mdaa.' bekundet  eine  treffliche  sprachwissenschaftliche  Schulung 
des  vf.s.  dass  er  die  top  (topf),  snetd  (schnitte)  auf  diphthongische 
Vorstufen  zurückführt,  ist  sicher  richtig,  über  die  beziehung  der 
beiden  niederschles.  diphthongierungsgruppen  zu  einander  habe  ich 
allerdings  eine  abweichende  meinung,  zu  der  mich  die  geographische 
Verteilung  der  diphthongierungs-  und  mouophthongierungserschei- 
nungen  veranlasst,  mit  der  ich  aber  aus  mangel  an  genügendem 
belegmaterial  noch  zurückhalten  will,  der  ansieht,  dass  ein  Zu- 
sammenhang zwischen  dem  nördlichen  (niederschles.)  diphthon- 
gierungsgebiet  und  dem  südlichen  (österr.-schles.  und  mährischenj 
unwahrscheinlich  ist,  kann  ich  nur  beipflichten,  nur  hätte  sie  vU. 
mit  einem  andern  hinweis  begründen  sollen  als  damit,  dass  auch 
die  Sprachinsel  Schönwald  bei  Gleiwitz  ähnliche  züge  aufweist 
wie  der  österr.-schlesische  süden.  der  umfang  der  diphthongierung 
ist  nämlich  im  süden  ein  wesentlich  andrer:  während  im  nieder- 
schlesischen  auch  die  mhd.  e,  <e.  ä,  o  davon  betroffen  wurden, 
bleiben  sie  im  süden  als  einfache  längen  erhalten,  umgekehrt  er- 
scheinen die  mhd.  ie,  uo  im  norden  als  monophthonge,  während 
sie   im   süden   als    ei,   ai,  äi  bzw.  als  ou,  cm,  au  auftreten;  nur 

'j  von  principiellem  standpunct  möchte  ich  auch  das  transscriptious- 
verfahren  beanstanden,  wiewol  es  vU.  eigentlich  nicht  zur  last  gelegt 
werden  kann ;  so  die  nichtbezeichnung  der  offenen  laute,  die  widergabe 
von  bilabialem  ir  durch  v,  von  labiodentalem  durch  iv.  es  ist  bei  dem 
grofsen  gewirr  auf  diesem  gebiete  zu  beklagen,  dass  immer  wider  neue 
Iransscriptionssysteme  erfunden  werden,  welche  die  dialektvergleicliung 
aufserordentlich  erschweren  und  schliefslich  doch  gar  keine  nennenswerten 
vorteile  bieten. 


V.    rN'WKKTll    SCHLESISCHE    MUNDART  35 

die  (iiphthongieruug  von  mlid.  /.  ü,  a  deckt  sich  vollständig,  nicht 
völlig  aber  die  monophthongierung  von  ei,  ou  (ai,  au)  <;  mhd. 
t,  /'(.  mit  rücksicht  auf  die  noch  weitverbreitete  ansieht,  dass 
diphthongierung  mit  apokope  zusammenhängt,  sei  besonders 
darauf  hingewiesen,  dass  sich  das  gebiet  der  diphthongierung 
keineswegs  mit  dem  der  apokopierung  deckt,  dass  vielmehr  der 
weitaus  gröfsere  teil  desselben  die  alten  endungsvocale  er- 
lialten  hat. 

Von  den  eischeiuungen  auf  dem  gebiete  des  vocalismus  sei 
noch  hervorgehoben  die  besondere  entwicklung  des  ei,  öu  in 
Wörtern  wie  mhd.  ei,  hau,  also  im  au^laut,  wo  es  mit  dem 
dehnungsproduct  von  mhd.  e  zusammenfällt,  ferner  die  eigenartige 
gestaltung  der  coutractionsproducte  aus  mhd.  aye,  eye,  (ige,  äge, 
oge,  (ige  (§  106  ff),  die  licht  zu  werfen  geeignet  ist  auf  Verhält- 
nisse in  anderen  mdaa.  die  erklärung  der  verschiedenen  Ver- 
tretung von  mhd.  i'ge  scheint  mir  verfehlt,  bei  gegen,  egede, 
egesaui  handelt  es  sich  einfach  um  isolierte  formen,  in  denen 
früh  die  lautgesetzliche  diphthongierung  eintrat,  bei  treget  usw. 
wurde  sie  zunächst  durch  systemzwang  verhindert,  auf  lautana- 
logie  beruht  sicherlich  der  übeigang  von  s  >  5,  z  nach  öa  <^ 
age  (wie  in  zoa-z-a  sag  es  ihnen),  da  es  mit  öa  ■<]  or  zusammen- 
fiel, es  ist  im  gründe  derselbe  fall,  wenn  in  niederösterreichischen 
dialekten  mda.?<3  <C  uo  nach  analogie  von  lo  <C  ur  unter  umständen 
zu  nr  umgebildet  wird. 

Von  hohem  Interesse  ist  der  schlesische  consonantismus  des- 
halb, weil  er  (wie  auch  der  moselfrk.  und  ripuar.)  von  der 
grofsen  consonantenumwälzung,  die  das  nordobd.  und  centralmd. 
betroffen  hat.  verschont  blieb  (ein  charakteristisches  merkmal,  das 
vU.  nicht  genügend  hervorhebt)  und  rückschlüsse  auf  die  eh- 
maligen  Verhältnisse  in  den  östlicheren  mdaa.  zu  machen  er- 
laubt, mhd.  6,  V  haben  den  stimmton  in  sonorer  Umgebung  be- 
wahrt, fortes  und  lenes  werden  im  hauptgebiet  noch  genau  ge- 
schieden, in  bezug  auf  die  Verschiebung  des  d  nach  cons.  steht 
das  schlesische  insofern  auf  nordmd.  stufe,  als  nur  nach  r  die 
fortis  erscheint  (görtn),  dagegen  d  nach  /,  n  (natürlich  nicht  in 
'winter,  munter'),  die  bemerkung  s.  49  §  67  'altes  (westgerm.J 
d  ist  im  iulaut  nach  r  geschwunden'  gilt  nicht  einmal  für  die 
angeführten  drei  Wörter  ('werden  (!),  ordentlich,  pferd',  vgl.  ahd. 
jjf'arif'rid).  bemerkenswert  ist.  dass  die  nachträgliclie  Verschiebung 
von  d'^  t  im  anlaut  fast  ganz  mit  dem  obd.  übereinstimmt,  be- 
sonders hinweisen  möcht  ich  auch  auf  die  Verteilung  von  rz  und 
rs  für  rs,  die  ganz  mit  der  Anz.  xxxn  133  gemachten  be- 
obachtung  übereinstimmt,  vor  allem  da  vU.  ihr  keine  aufmerk- 
samkeit  schenkt,  es  steht  in  den  mdaa.,  die  rs  und  rz  scheiden, 
nicht  nur  örs  neben  örze,  auch  kirsd  kirsche,  pgrs9  bursche  neben 
hirh,  merzl  ua.  wenn  daneben  farsd  ferse,  kirSnä  auftritt  (vgl. 
Michel,  Mda.  von  Seifhennersdorf  §  134,   135  u.  §  23),  so  beruht 

3* 


36  LESSIAK    ÜBER 

das  darauf,  dass  in  dife.sen  Wörtern  s  infolge  synkope  vor  con- 
sonanten  zu  stelin  kommen  konnte:  fersana'^  fersne  (daher 
bair.-üsterr.  auch  fersfn  wie  kerstn  neben  ferzn,  ßzn),  kürsencere 
]>■  kürsncere  und  weiterhin  so  behandelt  wurde  wie  sn  im  an- 
laut,  d.  h.  stimmlos  ward,  daher  Schriftdeutsch  kürschner,  dessen 
erklärung  ich  aao.  schuldig  blieb. 

An  den  urspr.  Verhältnissen  hat  das  schlesische  auch  inso- 
fern festgehalten  als  es  wenigstens  zum  teil  die  alten  geminaten 
noch  bewahrt  hat.  wie  vU.  dazu  kommt,  die  möglichkeit  der 
erhaltung  alter  doppelconsonanz  abzulehnen  f§  105),  ist  mir  in 
anbetracht  des  sonstigen  conservativen  Verhaltens  des  schlesischen 
gerade  in  bezug  auf  den  consonantismus  unverständlich,  nur  darin 
stimmt  es  zum  teil  mit  dem  östl.  md.,  einschliefslich  des  rhfrk.  und 
östl.  obd.  überein,  als  es  auch  den  wandel  von  inl.  ft,  g  zu  reibelauten 
mitgemacht  hat.  es  muss  aber  nachdrücklich  betont  werden,  dass 
diese  spirantische  ausspräche  nichts  ursprüngliches  ist  (vU.  spricht 
§  7S  von  alter  spirans),  dass  im  gesamten  ostmd.  (ostfrk.-thüring.) 
und  rhfrk.  in  ahd.  periode  verschlusslaut  gesprochen  wurde; 
wie  wären  sonst  die  auslautenden  j;,  A-,  die  verschlusslaute  vor 
stimmlosen  consonanten  hßi  alter  synkope  (vgl.  gibt  gegen  mfrk. 
gift)  zu  erklären?  damit  soll  aber  nicht  gesagt  sein,  dass  die 
im  schlesischen  zum  teil  vorkommenden  intersonoren  h,  g  gerade 
4\e  ahd.  verschlusslaute  repräsentieren,  es  kann  sehr  wol  neue 
rückbildung  aus  der  Zwischenstufe  tr.  ,^  vorliegen,  eine  weitere 
neuerung  des  schlesischen  ist  der  teilweise  erfolgte  Übergang  von 
mhd.  Spirant,  fortes  nach  erhaltener  länge  oder  diphthong  zu 
lenes,  für  die  weiterhin  sogar  stimmhafte  laute  eintraten,  da- 
gegen hat  es,  wie  bei  einer  nicht  'erweichenden'  und  nicht 
apokopierenden  mda.  zu  erwarten  ist,  die  mhd.  auslautregel  fast 
in  vollem  umfange  bewahrt  (vgl.  auch  fälle  wie  Slunp  —  inlaut 
slimd),  und  zwar  herscht  noch  ganz  der  alte  zustand:  es  wechselt 
nicht  nur  rot  mit  rödA')  sondern  auch  mit:  a  röd  is  ein  rad 
ist  .  .  .  auf  analogie  beruht  es  natürlich,  wenn  diese  regel  zum 
teil  auch  auf  urspr.  fortes  übertragen  wird:  top  topf:  iöh  aus 
(§   62). 

Die  erscheinung  der  'apokope  im  satzinlaut'  d.  i.  im  hiatus 
(vgl.  §  62,  anm.  1  strimp  aus  für  strimpe  aus)  hätte  wol  eine 
besondere  hervorhebung  verdient,  die  tatsache,  dass  die  mdaa. 
mit  erhaltenem  endvocal  (auch  die  südobd.)  vor  vocalischem  an- 
laut  apokopieren,  ist  wichtig  für  die  beurteilung  der  hiatuselision 
im  mhd. 

Im  übrigen  vermiss  ich  noch  folgendes:  eine  darstellung 
der  Umlautsverhältnisse:  1)  Verbreitung  des  e-e  und  e'-ä 
uml.  (vor  st  -h  er  scheint  das  gemeinschles.  den  e  -  e  uml. 
aufser  gestern  nicht  zu  kennen,  also  swastdr,  doch  um  Mährisch- 
Trübau  hier  c  nicht  e!  man  beachte  ferner  das  teilweise  auf- 
treten von  offenem  e-umlaut  in  kasl  kessel,  kafyi  käfig,  knrzs  kerze, 


V.    UNWERTH    SCHLESISCHJE    MUNDAKT  37 

mda.  von  Sebnitz.  auch  Schockau.  {masv  inesser  dagegen  weist 
wie  die  alem.  und  auch  die  bair.-österr.  mdaa.  welche  e  und  e 
scheiden  auf  urspr.  e).  2)  Verteilung  des  ou  -  öu  unil.  (vgl.  das 
eigenartige  verhalten  der  mdaa.  in  der  Schnitzer  gegend.  wo  das 
land  uml.  hat  in  kaufen,  raufen,  taufen,  erlauben,  trimmen, 
während  ihn  die  Stadt  nicht  kennt.  Meiche  ^91).  3)  Ver- 
teilung des  u  -  ü  uml. 

Zu  berichtigen  bezw.  ergänzen  wäre  folgendes:  §  9,  2:  das 
nebeneinander  von  ^  —  a  vor  r  -j-  cons.  beruht  darauf,  dass  nament- 
lich vor  rn,  rd  frühzeitig  dehnung  eintrat,  uzw.  früher  als  in 
offner  silbe  (vgl.  dazu  Zs.  f.  d.  mdaa.  1909  s.  5).  —  §  16:  u  gilt  in 
den  betr.  Wörtern  auch  sonst  im  nordmd. ;  fast  die  gleichen  fälle 
kehren  zb.  im  moselfrk.  wider.  —  §  79:  weder  (/uarh  noch  kalk 
sind  fürs  altschlesische  mit  k  anzusetzen,  qtiark  beruht  auf 
slaw.  tvarog,  kalk  erscheint  auch  sonst  im  ostmd.  mit  ver- 
schobenem k.  sarg  ist  entweder  lehnwort  aus  der  schriftsp.,  es 
kann  aber  auch  analogische  Umbildung  nach  hark:  harjes  vor- 
liegen.—  §  103:  vor  ht  scheint  die  Verkürzung  nicht  allgemein 
zu  sein,  vgl.  österr.-schles.  hröxfa,  Seifhennersdorf  cjvlaytn 
(Michel  §   25). 

Zum  Schlüsse  sei  noch  ein  wünsch  ausgesprochen:  wir  wären 
vU.  sehr  zu  danke  verpflichtet,  wenn  er  seine  arbeit  ergänzte: 
einerseits  durch  eine  sprachkarte  des  schles.  dialektgebiets 
—  die  beiden  beigefügten  kärtchen  sind  doch  gar  zu  unzu- 
reichend, anderseits  durch  eine  darstellung  der  geschichtlichen 
entwicklung  der  mda..  wobei  vor  allem  die  slaw.  Ortsnamen  eine 
reiche  ausbeute  versprechen,  dabei  müsten  allerdings  auch  die 
Verhältnisse  in  den  südlichen  und  östlichen  Sprachinseln  (Galizien!)! 
eingehend  berücksichtigt  werden,  sowie  auch  das  sprachlich  sehr 
interessante  judendeutsch,  das  trotz  seiner  vielfachen  Schattierung 
wie  das  schlesische  eine  einheitliche  grundlage  voraussetzt  und 
das  im  consonantismu;-  dem  schlesischen  sehr  nahe  kommt  (doch 
vgl.  das  altertümliche  v  für  ss),  dagegen  im  vocalismus  sich  frei- 
lich stärker  davon  unterscheidet  (gedehntes  /,  ü  und  c,  oe ;  a  und 
0;  0  und  u  sind  nicht  zusammengefallen),  nach  diesen  vor- 
arbeiten wird  es  auch  möglich  sein,  die  näheren  zusammenhänge 
des  schles.  mit  den  übrigen  ostmd.  mdaa.  festzustellen,  eine  für 
die  sprach-  und  Siedlungsgeschichte  höchst  wichtige  aufgäbe, 
eine  beträchtliche  anzahl  von  entwicklungstendenzen  hat  ihre 
parallele  in  den  andern  md.  mdaa.  sowie  im  nordbair.  am  auf- 
fallendsten ist  wol  die  doppelte  Vertretung  des  uml.  von  mhd. 
(/  durch  a  und  e  {käzj  käse:  tsej  zähe)  §  24,  25,  die  fast  genau 
in  derselben  Verteilung  in  Unterfranken,  im  östl.  Thüringen  und 

'  ich  weise  bei  dieser  gelegenheit  liiii  auf  die  wol  wenig  bekannte 
Schrift  von  Llltj-nels  'Xarzecze  wilamowickie  (Wilheluisauer  dialekt)',  Tar- 
now  1907,  die  eine  reihe  von  Wilhelmsauer  spraohproben  bietet,  allerdings 
in  einer  sehr  primitiven  phonet.  transscription  (püln.  6  für  d.ul) 


3S  LKSSIAK     ÜJ5KK    V.     rNWr.KTIl     S(  1 1 1.KMSfll  K    MIXDAHT 

zum  teil  auch  in  Sachsen  begegnet;  vgl.  etwa  Schmidt,  Zs.  f. 
hd.  mda.  6,  332  {a  :  p:  die  ö'a  des  bonnländischen  sind  natürlich 
als  junge  analogiebildung  von  der  vergleichung  auszuschalten), 
Lang,  Zschorlauer  mda.  s.  13  ua.  im  üstl.  Thüringen  entspricht 
dem  ä  :  c  meist  e  (ä) :  e.  dass  eine  eingehndere  kenntnis  der 
entwicklungsgeschichte  des  ostmd.  die  lösung  des  problems  von 
der  entstehung  der  nhd.  Schriftsprache  fördern  wird,  steht  aufser 
frage. 

Freiburg  i.  Ue..  d.  30.  vi.  1909.  p.  Lessiak. 


Wort  uud  Brauch,  4  heft.  Die  natioiialhj'muen  der  euro- 
päischen Völker  von  prof.  dr  Emil  Bohn.  Breslau,  M.  &  H. 
Marcus  190S.    75  ss.  —  2,40  m. 

Der  um  die  musikpflege  in  Breslau  und  um  die  musikbiblio- 
graphie  hochverdiente  Verfasser '  gibt  hier  einen  für  den  druck 
weiter  ausgestalteten  Vortrag  wider,  den  er  im  112.  historischen 
concert  des  von  ihm  begründeten  gesangvereins  gehalten  hat. 
in  diesen  berühmten  historischen  concerten  hat  Bohn  äufserst 
glücklich  seine  eigenschaften  als  musikforscher  und  praktischer 
musiker  zu  einem  ziele  zu  verwenden  gewust.  gehn  in  unserm 
falle  auch  die  einzelnen  beispiele  nicht  zu  weit  in  die  Vergangen- 
heit zurück,  so  ist  doch  die  Zusammenstellung  in  anderer  weise 
anziehend,  denn  abgesehen  von  der  allen  diesen  gesängen  ge- 
meinsamen eigenschaft  politischer  richtung  spielt  bei  ihnen  auch 
das  volkstümliche  wesen  eine  mehr  oder  minder  große  rolle,  und 
die  erforschung  volkstümlicher  einrichtungen  in  kunst  und  leben 
ist  ja  heute  stark  in  den  Vordergrund  getreten,  von  dieser  seite 
ist  denn  auch  der  anstofs  zur  Veröffentlichung  ausgegangen, 
dabei  konnte  natürlich  im  rahmen  eines  Vortrages,  der  zunächst 
die  Vorführung  der  wichtigsten  europäischen  volkshymnen  be- 
zweckte und  nur  über  entstehung  von  wort  und  weise  das  nötigste 
hinzufügte,  eine  Untersuchung  über  den  grad  der  Volkstümlich- 
keit der  einzelnen  weisen,  über  die  technischen  Vorbedingungen 
hierzu,  über  das  Verhältnis  der  ursprünglichen  und  der  zersungenen 
fassungen  usf.  nicht  platz  linden,  auch  in  dieser  anzeige  kann 
nur  auf  einiges  leicht  hingewiesen  werden,  in  einem  puucte 
müssen  nationalhj'mnen  mit  Volksliedern  übereinstimmen:  sie 
müssen,  wenn  schon  nicht  einstimmig  erfunden,  doch  bei  ein- 
stimmiger widergabe  (ohne  simultanharmonische  beigäbe  'be- 
gleitung'  wie  man  sagt)  durchaus  verständlich  sein,  dagegen 
zeigt  sich  bei  vielen  dieser  gesänge  die  eigentümlichkeit,  dass 
die  dichtungen,  wenn  man  diesen  ausdruck  übei'haupt  gebrauchen 
darf,  weder  volkstümlich  sind  noch  künstlerischen  wert  besitzen, 
und    dass    die    tragfähigkeit    ihrer    melodie  allein  den  ausschlag 

'  er  ist  iiizwischeu  —  am  5  juli  1909  —  verschieden. 


BIETSCH    ÜBER  BOHX  XATIUXAI.H VMNKN  39 

gibt,  dadurch  unterscheiden  sie  sich  natürlicli  von  echten  volks- 
g-esängen,  die  auch  aus  der  Volksseele  heraus  g-edichtet  sind,  in 
einer  folgeerscheinung  berühren  sie  sich  allerding-s  wieder:  auf 
eine  beliebte  weise  werden  neue  texte  ang-ewendet.  Carej's  'God 
save  the  King'  mit  den  vielen  deutschen  umdichtungen  ist  der 
nächstliegende  fall,  andere  fälle  erinnern  an  eine  erscheinung 
in  der  geschieh te  des  kunstliedes  vom  17  zum  18  Jahrhundert, 
wie  man  damals  etwa  beliebten  sarabandenmelodien  texte  unter- 
gelegt hat,  so  werden  hier  beliebte  spielweisen,  insbesondere 
märsche,  zu  nationalweisen  erklärt,  denen  dann  irgendein  vater- 
ländischer text  zugesellt  wird,  manchmal  ist  es  zu  dieser  nach- 
träglichen textunterlegung  gar  nicht  gekommen,  und  wir  haben 
dann  gewissermafsen  ein  nationallied  ohne  worte  (zb.  die 
'Marcha  reale'  in  Spanien). 

Endlich  möcht  ich  noch  erwähnen,  dass  wir  bei  diesen  ge- 
sängen  aufser  der  auch  hier  würksamen  volksmäfsigen  abschlei- 
fung  von  wort  und  weise  (man  vergleiche  die  hier  gegebene 
alte  lesart  des  'God  save  the  King'  mit  der  heute  gebräuchlichen 
weise)  noch  eine  zweite  kennen  lernen,  die  amtliche  änderung 
und  feststellung  einer  bestimmten  lesart.  ein  beispiel  bietet  die 
österreichische  volkshymne,  bei  der  vor  einigen  jähren  durch 
Weisung  an  alle  militärcapellen  und  schulen  die  fassung  derart 
festgestellt  wurde,  dass  der  lange  Vorschlag  im  viertletzten  tacte 
gänzlich  zu  entfallen  habe,  während  er  im  nächsten  tact  beibe- 
halten ist. 

Bohn  bietet  35  melodieen.  von  denen  aber  drei  (aus  Serbien 
und  Montenegro)  nur  mit  den  anfangstacten  angegeben  sind, 
zweifach  vertreten  sind  England,  die  drei  nordischen  Staaten,  Nie- 
derlande, Preufsen.  Frankreich,  Ungarn;  Polen  sogar  dreifach, 
unter  Böhmen  ist  hier  nicht  die  von  Deutschen  und  Tschechen  be- 
wohnte österreichische  provinz  zu  verstehen,  sondern  die  tsche- 
chische nation.  bei  der  aber  das  von  Bohn  gebrachte  sanfte  Skroup- 
sche  lied  gegenwärtig  zugunsten  schärferer  gesänge  allslawischer 
richtung  zurückgetreten  ist. 

Die  älteste  unter  diesen  weisen  ist  das  holländische  'Wil- 
helmus  von  Nassawe'.  hier  ist  der  Verfasser  einen  schritt  weiter- 
gegangen und  bringt  drei  fassungen  des  liedes,  übersichtlich  unterein- 
ander gestellt,  darunter  ist  die  bekannte  lesart  aus  Valerius 
'Gedenck-clanck'  weitaus  die  beste,  man  möge  es  nicht  als  klein- 
liche Verfassereitelkeit  ansehen,  wenn  ich  hier  das  bedauern  aus- 
spreche, dass  sich  Bohn  der  landläutigen  tacteinteilung  bedient, 
deren  falsche  rhythmisierung  ich  in  meiner  Untersuchung  über 
'Die  deutsche  liedweise"  (Wien  1904)  s.  62 — 65  glaube  nach- 
gewiesen zu  haben,  es  muss  für  moderne  niederschrift  mit  tact- 
strichen  nach  dem  ersten  ''/4  tact  ein  -ji  tact  und  dann  erst 
der  zweite  ^/4  tact  kommen,  so  im  Stollen,  ähnlich  am  schluss 
des  abgesanges. 


40  RIETSCH    ÜBER    BOHN  NATIONAJ^HYMNEN 

Der  Verfasser  beschränkte  sich  auf  die  hymnen  der  euro- 
päischen Staaten  und  Völker,  vielleicht  wäre  zugunsten  der  drei 
repräsentativg-esänge  der  amerikanischen  Unionstaaten  eine  aus- 
nähme willkommen  gewesen,  umsoniehr  als  zwei  von  iiinen 
('Yankee  doodle'  und  'Star  spangled  banner')  englischen  Ursprungs 
sind  und  die  dritte  ('Hail  Columbia'J  wahrscheinlich  einen  Deut- 
scheu zum  componisten  hat.  eine  Studie  über  dieses  lied  hat 
Sonneck  in  den  sammelbänden  der  Internationalen  musikgesell- 
schaft  (III  139)  veröffentlicht',  es  ist  merkwürdig  und  ein  be- 
leg mehr  für  die  fast  naturgeschichtliche  erscheinung,  dass 
gewisse  ideen  in  der  luft  liegen  und  zugleich  an  verschiedenen 
orten  gestalt  gewinnen,  wenn  wir  sehen,  wie  um  das  Jahr  1901 
plötzlich  den  volkshymuen  eine  besondere  aufmerksamkeit  ge- 
widmet wird.  nachdem  Abert  in  der  Zeitschrift  der  Intern, 
musikgesellschaft  schon  im  november  1900  darüber  eine  Studie 
veröffentlicht  hatte,  die  eine  Sammlung  der  hymnen  in  aussieht  stellte, 
erschienen  im  folgenden  jähre  auiser  jener  Studie  von  Sonneck 
nicht  weniger  als  vier  Sammlungen  von  nationalgesängen;  je  eine 
in  englischer  (Brown  und  Moffat),  französischer  (Rousseau  und  Mon- 
torgueil),  tschechischer  spräche  (Schimatschek )  und  eine  allerdings  auf 
die    Staaten   des  Deutschen  reiches  beschränkte  deutsche  (Böhm). 

Die  reihenfolge  der  hymnen  und  ihres  erklärenden  textes, 
w^obei  aus  technischen  gründen  die  melodieen  in  einer  gesonder- 
ten notenbeilage  erscheinen,  ist  nach  Sprachengruppen  geordnet 
(Germanen,  Romanen,  Griechen,  Osmanen,  Madjaren,  Slawen.  Liv- 
länder  und  Finnen),  ein  alphabetisches  Verzeichnis  erleichtert 
das  aufsuchen,  den  melodieen  ist  je  die  erste  textstrophe  in  der 
betreffenden  spräche  untergelegt,  was  nur  gebilligt  werden  kann, 
die  Übersetzung  dieser  und  jeweileu  auch  einer  weiteren  Strophe 
ist  im  erklärenden  text  gegeben,  ihre  beigäbe  zur  melodie 
unterhalb  des  Originaltextes  wäre  etwa  ein  wünsch  für  eine 
zweite  aufläge. 

Prag  im  märz   1909.  Heinrich  Kietseh. 


Brennu-Njälssaga,  herausgegeben  von  Fiuiiur  Jönsson.  [Altnordische 
sagabibliothek  xiii]  Halle  a.  S.,  Xiemeyer,  190S.  xlvi  u.  452  ss.  — 
12  m. 

Eine  neue  Njälaausgabe  ist  ein  frohes  ereignis;  die  editionen 
des  Oldskrift-selskab  leiden  an  äufseren  und  inneren  mangeln, 
die  einen  neuen  text  längst  wünschenswert  machten,  man  darf 
sagen,  dass  die  hoft'nungen,  die  mau  au  die  ankündigung  von 
Finuur  Jönssons  neuer  Njäla  knüpfen  muste,  durch  die  vor- 
liegende  ausgäbe  erfüllt  werden,     die   Strophen  erfahren  die  be- 

'  ein  mittlerweile  erschieneiie.s  buch  desselben  Verfassers  über  diese 
drei  lieder  und  ein  viertes  ('America')  [Washington  1909]  habe  ich  noch 
nicht  einsehen  können. 


NECKEL    ÜBEK    FINNUR   JONSSON    BRKXNU-NJALSSAGA  41 

handlung  die  schon  Giulbrandur  Vigfusson  als  richtig  erkannte, 
und  die  dann  nanientlicli  Lehmann-Sclinorr  und  Finnur  selbst 
des  näheren  begründet  haben,  das  ist  der  am  meisten  in  die 
äugen  springende  fortschritt.  zu  den  abweichungeu  im  einzelnen 
bemerk  ich  nur  folgendes  wenige.  s.  87,  13.14  ist  e2)tir 
Bry)ijölfi  rösta  beibehalten,  aber  der  Olvir  rösta  der  Ftb.  (ii 
436  uö.)  zeigt,  dass  hiei'  mit  GJ  röstii  zu  lesen  ist.  auch  kann 
man  mit  der  Wortstellung  näher  bei  den  hss.  bleiben:  eptir  Br. 
fremd a  sfnum,  röstu.  —  126,11  vermisst  man  den  satz  kann 
spuröi  at  pingf'esti  ok  at  heimüisf'angl  (vgl.  Aarboger  1904, 
122  f.  und  zu  161,11).  —  144,8  ist  dagegen  wol  at  henjum  zu 
streichen;  die  benjar  dürften  von  fällen  wie  124,24  übertragen 
sein,  aber  nicht,  wie  Lehmann-Schnorr  wollten,  durch  den  verf., 
sondern  durch  einen  gedankenlosen  Schreiber;  diese  aus  inneren 
gründen  sich  am  meisten  empfehlende  auffassung  wird  durch  das 
fehlen  der  beiden  worte  in  der  wichtigen  hs.  Gr  unterstützt.  — 
155,  23.  24  ist  die  interpunction  vor  und  hinter  Mdeidarhväl 
aus  der  älteren  ausg.  übernommen,  die  damit  gegebene  Inter- 
pretation verträgt  sich  jedoch  schwerlich  mit  151,1.  152,  2 — 4. 
Njäl  führt  an,  Gunnar  habe  für  den  Möeidarhväl,  auf  den  sein 
bruder  berechtigten  anspruch  erhoben  hat,  andere  werte  als 
sonarhoeir  geboten,  was  jenen  anspruch  des  Kolskegg  betrifft, 
so  versteht  man  ihn  und  den  ganzen  Zusammenhang,  glaub  ich, 
erst  recht  bei  der  annähme,  dass  Gunnar  und  Kolskegg  ver- 
schiedene mütter  hatten,  wozu  auch  stimmt,  dass  die  Laudnama 
letzteren  nicht  kennt.  Kolsk.  hatte  von  seiner  mutter  den 
Möeidarhväl  geerbt,  da  aber  die  brüder  zusammen  wirtschafteten 
(vgl.  zb.  93,18.  115,8.  132,18),  so  konnte  das  Sondereigentum 
des  jüngeren  wol  einmal  in  Vergessenheit  geraten. 

Störend  würken  gewisse  ungleichmäfsigkeiten  der  Orthographie, 
man  liest  hefnä  96,20.  292,6.  398,5,  sigWu  199,4,  405,15, 
flfidl  199,16,  hvüdi  303,17.  319,15,  hjfldiz  ?,n,1b;  Aber  hefnda 
299,18,  mannhefnäir  310,26,  stefndi(u)  295,18.  301,22,  slgndu 
301,34,  efldi  235,0.  237,3,  sigldi  177,8.  181,5  und  sogar  skildu 
152,14  uö.  ein  teil  dieser  formen  ist  in  einem  text  des  13  jh.s 
nicht  zu  rechtfertigen:  wir  müssen  schreiben  skildu,  aber  hvildi, 
s.  Geländer  Arkiv  22,24  (über  hefnd,  sigldi  ebd.  28.  33).  —  die 
interpunction  ist  öfters  etwas  sorglos  behandelt,  teils  fehlen  die 
anführungszeichen  (79,9.  80,19.  103.29.  30.  304,25.  315,8. 
337.14.  347,3.  355,13.  368,5),  teils  sind  sie  fälschlich  und  den 
anfänger  irreführend  gesetzt  (66,1.  315,2.  317,9.  328,4).  ähn- 
lich steht  es  mit  fragezeichen  und  komma.  (an  sonstigen  druck- 
und  Schreibfehlern  hab  ich  notiert:  132,21  1.  eigi.  zu  175,5.  6  1. 
seine  mutter.  zu  115,14  1.  Hrafnkdl.  269,30  1.  gllmn. 
340,8  1.  vldf.  3b9,H  \.  söknargggn.  zu  386,24  1.  ist  statt,.  401 
note  r.  zeile  5  1.  tochter.  421,5  1.  h'tti.)  während  die  texte 
der  sagabibliothek  und  so  auch  der  unsrige  im  allgem.  mit  absätzen 


42  NKCKKL    i'JiKH 

sehr  freigebig'  sind,  begegnet  es  hier  sehr  oft,  dass  ein  wichtiger 
Sinnesabschnitt  sich  niclit  anders  im  drucke  ausprägt  als  durch 
die  fette  Ziffer. 

Auch  die  aunierkungen  machen  hie  und  da  den  eindruck. 
als  hätten  sie  die  allerletzte  redaction  entbehren  müssen,  wenn 
der  ausdruck  reyndr,  der  schon  70,17  vorkommt,  erst  bei  71,17 
erkläit  wird,  so  ist  das  nur  ein  beispiel  für  mehrere,  um  nicht 
zu  sagen  viele,  derselben  art.  unpraktisch  find  ich  noten  wie 
diese:  ^Lwidi,  ein  haupthof  des  tales,  das  infolgedessen  auch 
Lundarreykjardah'  heifst'  (23,9);  ^Bjarnarfirdfl,  dieser  fjord  .  .  .' 
(2ß,2i);  'BergpörslrvnU ,  dieser  berühmte  hof  .  .  .'  (4S,5); 
^Rimmugygi,  hier  zum  ersten  male  mit  namen  genannt  .  .  .' 
(212.5).  der  buchstäbliche  anschluss  an  den  Wortlaut  im  texte 
mutet  dem  leser  zu  wenig  zu,  die  verschweigung  der  grundform 
aber  vielleicht  manchmal  zu  viel!  ein  nachdenklicher  mag  auch 
wol  fragen,  wie  denn  jener  hof  im  mittelalter  eigentlich  hiefs, 
ob  Lmulr,  wie  das  register  zur  Landnämabok  angibt  (heute 
Lundur),  oder  vielleicht  cd  Lundi?  in  der  zweiten  hälfte  des 
bnches  ändert  sich  übrigens  das  verfahren.  da  wird  auf 
/  VeUaudkgtlu,  frä  Gjähakka  bezug  genommen  mit  ^VeUandkatln', 
'Gjdbakki'  (244,15,  vgl.  293,1.  332,12). 

Die  Übersetzungen  erfreuen  häufig  durch  äufserst  präcise 
fassung  des  phrasensinnes.  doch  wäre  eine  erklärung  an  einigen 
stellen  förderlicher  als  die  beste  Übersetzung,  bei  einem  begriff 
wie  hgffr  gerzkr  (70,11)  ist  letztere  allein  überflüssig,  allzu 
frei  widergegeben  ist  209,26  margir  kjösa  eigi  or&  n  sik  ('man 
kann  sich  die  scheltreden  nicht  immer  aussuchen'),  wenn  Hrödny. 
Niäls  frühere  f'rlUa,  an  das  bett  des  ehepaares  tritt  mit  den 
Worten  statt  'pi'i  vpp  ör  hingiimm  frä  elju  iiiiiDii  .  .  .'  (22  7,4). 
so  ist  das  für  den  commentar  ein  'ungewöhnlicher  gebrauch  des 
Wortes,  das  sonst  nebenweib,  kebse  bezeichnet;  es  war  also  eher 
Hrödn}'  selbst,  die  eine  elja  BergJ)öras  war',  das  wort  bezeichnet 
hier  nichts  anderes  als  sonst,  das  besondere  ist  nur  die  pointe 
die  die  Sprecherin  in  ihre  aufforderung  legt,  derselbe  einwand 
richtet  sich  gegen  13S.  23,  wo  die  formulierung  'uneigentlicher 
gebrauch'  die  sache  wenig  trifft.  252,10  handelt  es  sich  um 
keinen  Widerspruch  im  texte,  sondern  einfach  um  eine  lüge. 
274,29:  das  mit  dem  'unhistorischen  ist  gewis  richtig,  aber  es 
hätte  dabei  auch  hervorgehoben  werden  müssen,  dass  die  scharfe 
antwort  psychologisch  sehr  wol  begründet  ist;  unheilsweissagung 
grenzte  an  beleidigung.  vgl.  in  der  Njäla  selbst  I'örir  138,25, 
Brödir  408,3;  Asgrim  kennt  Skarphedins  Stimmung  (277,  3 — 4. 
279,12).  denselben  übel  angebrachten  rationalismus  —  wenn 
ich  so  sagen  darf  —  find  ich  in  der  erklärung  von  .sr^r  koihhir 
29,13.  der  ausdruck,  der  auch  (16,22  vorkommt,  ist  ni.  e.  über- 
tragen aus  haf  kolhlätt  (vgl.  eddisch  hUay  unnir)  und  bezeichnet 
einfach   das    tiefe    meer  oder  den  dickea  wasserstrom.   —   spar- 


FINNUR    JONSSOX    BREXXU-N.TALSSAGA  43 

sam  ist  der  commentar  in  syntaktischen  erläuterung-en,  auch  da. 
wo  sie  vielleicht  manchem  nützen  könnten,  so  passieren  die 
nicht  ganz  seltenen  anakoluthe  des  autors  öfters  ohne  note 
(50,8  — 10.  69,26);  38.2  ist  eine  durchsichtige  contamination,  wie 
es  scheint,  nicht  klar  erkannt,  dass  ek  vi!  ißr  heitt  hafa  (328.1) 
nicht  'eine  art  fut.  ex.'  ist,  zeigen  schon  die  parallelstellen 
358,27.  386,18.  besser  als  das  Schlagwort  'attraction'  wäre  bei 
taka  fari  (vgl.  fä  fari),  es  unerkLärt  zu  lassen  (388,9).  —  eine 
erläuterung  der  namensform  Ska)nkell  (=Ketill  hin  skammi, 
Gislason  Nj.  ii  261)  wäre  nicht  überflüssig  gewesen  (106,2).  zu 
dem  skarhand  70,11  hätte  auch  auf  336,12,  auf  Kormäks  Sigur- 
dardräpa  und  das  Ingeldslied  verwiesen  werden  können;  bei 
134,4.  5  auf  Storni  Arkiv  9,213;  bei  220,8  auf  adän.  nueth  od 
oc  mceth  ceg;  bei  häkr  276,14  auf  ordhnkr;  bei  sannasf  ok 
rettast  ok  heizt  af  Iggum  349,22  auf  den  formelhaften  Charakter 
dieser  kette  (Heusler  Zwei  Isl.-geschichten  xlii);  bei  37,5  auf 
Heinzel  Beschreibung  288  f.  (vgl.  auch  Bärdar  s.  17:  kann  var 
i  gram  ktifU  ok  svardreip  um  sik).  firn  145,3  würd  «ch  auf 
das  ausgraben  der  leichen  beziehen;  das  sfef'na  til  nhelgi  wurde 
ja  sonst  anders  gemacht  (Austfird.  sog.  156  f.).  —  dass  Kol  von 
Gunnar  'geschlagen'  worden  sei  (146,5.  6  uö.,  schon  in  der 
abhandlung  von  1904),  beruht  auf  Verwechslung.  —  der  satz 
90,1  bezieht  sich  auf  Njäls  äufserung  87,9 — 11.  —  gö&r  af 
hestinum  132,26  kann  m.  e,  nur  heifsen  'freigebig  mit  dem 
hengst',  und  dies  allein  passt  in  den  Zusammenhang.  —  Orgum- 
leiöi  188,10  kann  mit  fqgmmkinni  offenbar  nicht  verglichen 
werden,  es  ist  ==  qrgtim  leifJr,  'den  bösen  verhasst  oder  feind- 
lich", also  ein  ironischer  heldenname  wie  Gelrölfr  gerpir.  — 
grau  207.23  dürfte  eine  beziehung  zu  grdlyndr  usw.  haben, 
nicht  einfach  auf  die  'natürliche'  hautfarbe  gehn.  —  strandar 
val  in  der  Strophe  der  Steinun  240  f.  wird  doch  wol  wörtlicher 
zu  nehmen  sein,  jedesfalls  ist  val  gesagt  in  beziehung  auf  das 
verbum  rnku,  also  halbkenning  wie  die  von  Gudbrandur  Vigf. 
Bärd.  144  aufgeführten.  —  ofarUga  klegja  359,21  zielt  klärlich 
auf  das  kopfkratzeu  des  sorgenvollen.  —  die  skjnldhorg  des 
Brjän  stellte  der  sagaschreiber  sich  etwa  so  vor,  wie  der  Edda- 
sammler und  schon  der  dichter  der  Helreid  sich  den  schildzaun 
der  walkyrje  dachten  (vgl.  410,4.  411,20 — 21),  und  insofern  hat 
FJ.  Aarboger  1904,  163  und  note  zu  409,20  recht,  dass  diese 
Vorstellung  aber  auf  einem  epigonenhaften  misverständnis  beruht, 
zeigen  unzweideutige  stellen  wie  Egilss.  (Kopenh.  ausg.)  64  f., 
Hkr.  2,459.  die  echte  schildburg  bestand  aus  schildtragenden 
kriegern,  so  noch  bei  Stiklastadir  und  später,  von  hier  aus 
fällt  erst  das  rechte  licht  auf  das  Verhältnis  der  saga  zu  der 
irischen  Überlieferung.  —  ßanghrandv  (231,15)  'entspricht'  nicht 
TJanchrant,  sondern  ist  an  aisl.  pang  {Jx^nguU)  angelehnt  {ng 
bezeugt    durch    reim    bei  Steinun    2  11.7).  —  die  erklärung  von 


44  NECKEL    ÜBER 

vmdrcedi  340,30  ist  ein  lapsus:  den  e-ablaut  zu  vandr  repräsen- 
tiert vielmehr  vindr.  das  e  erklärt  sich  durch  einen  ähnlichen 
vorg'ang-  wie  das  a  von  nakkvai-,  wie  dieses  neben  nekkvat  zu 
nekkverr  gebildet  wurde,  so  —  umgekehrt  —  vendrwdi  neben 
vandrce(Ji  zu  candrädr,  vandrdd'mn. 

Zu  dem  münzkundlichen  'nachtrag'  s.  422  sei  bemerkt,  dass 
neuerdings  \'altyr  Gudmundsson  in  der  festichrift  für  Wimmer 
(=  Tidsskr.  f.  til.  in  r.,  1 7)  eine  ganz  andere  —  m.  e.  die  einzig 
richtige  auffassung  geltend  gemacht  hat.  aus  der  niQrk  vaömäls 
darf  man  nicht  ohne  weiteres  auf  die  'eile  silbers'  schliefsen. 
diese  bleibt  unbegreiflich,  während  die  Silbergewichtsangabe  beim 
i-admdl  darauf  beruhen  wird,  dass  vor  der  Avikingzeit  G  eilen 
vaömal  wirklich  1  eyri  silfrs  galten;  der  h^geyrir  ist  ein  vor- 
geschichtlicher münzfuls.  Valtys  darlegung  von  der  unzuver- 
lässigkeit  der  Gragässtelle  verträgt  übrigens  noch  eine  ergänzung. 
die  tendenz  der  stelle  ist  nämlich  deutlich  die  eines  laudator 
temporis  acti.  von  den  Verhältnissen  der  eigenen  zeit  ausgehend, 
construiert  der  verf.  zaghaft  ein  ideales  altertum.  das  in  wichtigen 
beziehungen  noch  weit  hinter  der  historischen  würklichkeit  zu- 
rückbleibt, der  satz  ok  var  pd  alt  eitf,  talit  ok  regit  besagt 
nicht  'man  wog  die  münze  damals  nur',  sondern  'die  gezählte 
münze  hatte  immer  das  volle  gewicht'. 

Die  einleitung  bringt  ua.  eine  chronologische  Übersicht  über 
die  in  der  saga  erzählten  ereignisse.  diese  an  sich  dankenswerte 
tabelle  beruht  auf  der  Voraussetzung,  dass  die  saga  in  ihren 
factischen  angaben  wesentlich  historisch  sei,  eine  annähme,  die 
z.  t.  starken  bedenken  unterligt.  FJ.  hält  selbst  den  quellen- 
wert der  Gunnargeschichte  für  gering,  und  doch  setzt  er  für 
Hnits  Weissagung,  seine  reise  nach  Norwegen,  ünns  beide  thing- 
reisen udgl.  bestimmte  Jahreszahlen  an.  dass  diesen  zahlen 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  jegliche  realität  abgeht,  darüber 
muss  sich  der  beuutzer  des  buches  klar  sein,  dies  hängt  zu- 
sammen mit  der  frage  nach  der  entstehung  der  saga,  nach  dem 
Verhältnis  des  Verfassers  zu  seinen  quellen,  der  herausgeber  hat 
seine  anschauungen  hierüber  etwas  geändert  —  die  Gunnarge- 
schichte ist  ihm  jetzt  'ein  fabricat  von  verhältnismäi'sig  jungem 
datum,  zusammengestellt  auf  grund  alter  und  verblichener  er- 
iunerungen  und  verderbter  traditionen'  — ,  aber  er  steht  doch 
methodisch  noch  auf  dem  früheren  standpunct:  er  hält  es  für 
ausgemacht,  dass  der  überlieferte  text  durch  flicken  und  inter- 
polieren aus  einem  alten  kern,  der  eigentlichen  Njälssaga,  ent- 
standen sei,  und  erklärt  infolgedessen  eine  Charakteristik  des 
vf.s  für  unmöglich,  die  beobachtungeu  auf  die  sich  diese  auf- 
fassung beruft,  sind  gewiss  nicht  alle  belanglos:  im  gegenteil,  es 
bieten  sich  der  textkritik  sogar  noch  mehr  handhaben  als  FJ. 
angreift,  aber  teils  aus  diesem  gründe,  teils  weil  aus  richtigen 
Prämissen    anfechtbare   Schlüsse   gezogen   werden,    kann    ich   die 


FINNUR    JOXSSOX    imKXNU-NMALSSAGA  45 

constructioü  des  herausgebers  nicht  gelten  lassen,  eine  würkliche 
auseinandersetzung  mit  ihr  erfordert  einen  eigenen  aufsatz.  hier 
darf  ich  mich  mit  einigen  tatsachen  begnügen,  aus  denen  her- 
vorgehn  dürfte,  dass  wir  es  mit  einem  würklichen  Verfasser 
der  Njäla  so  wie  sie  ist'  zu  tun  haben. 

1)  Der  Kristni{)ätt,  der  an  unrichtiger  chronologischer  stelle 
steht,  spielt  gleichwol  die  rolle,  dass  er  das  isländische  leben 
plötzlich  mit  bis  dahin  ganz  unbekannten  christlichen  glaubens- 
und  cultuseleraenten  durchsetzt:  Ämundi  248  (hierauf  hat  schon 
BSäth  hingewiesen).  Valgard  250,  H(jskuld  255,  Hildigunn  265, 
fyrir  guös  sakir,  kirkjugardr  285,  tidir  294  usw.  —  mindestens 
24  erwähnungen,  der  Schlussversöhnung  zu  geschweigen.  2)  das 
juristische  in  l*orgeirs  erwägungen  246  erinnert  an  Njals 
äulserung  155,  21.  3)  ebenso  das  religionsgespräch  zwischen 
I*angbrand  und  Steinun  240  f.  an  das  rechtsgespräch  zwischen 
Njal  und  M^rd  147 f.  und  den  dialog  Njäl-Skapti  220  f.  4)  die 
saga  hat  die  auffallende  ueigung.  die  directe  rede  durch  ein  in- 
quit  an  stellen  zu  unterbrechen,  au  denen  keinerlei  natürliche 
pause  ligt.  so  zb.  146,4.  150,11.  153,29.  171,1.  175,16. 
183,22.  387,19.  und  ebenso  239,3,  im  KristnilDätt.  5)  ebenso 
wie  das  charakteristische  gespräch  zwischen  Njäl  und  seinen  auf- 
brechenden söhnen  zweimal  vorkommt  (101.  210j,  so  auch  eine 
äufserung  Njäls  über  seine  söhne:  mit  97,  15 — 18  vgl.  230, 
6 — 8,  eine  stelle,  die  der  Lyting-episode  angehört.  6)  H^skuld 
Njälsson  wird  auf  einsamem  ritt  überfallen,  an  diese  möglichkeit 
denkt  sein  bruder  schon  102,4.  7)  einer  der  auffallendsten  und 
eigenartigsten  züge  der  saga  ist  ihr  interesse  für  recht,  rechts- 
formen und  rechtsformeln.  in  letzteren  schwelgt  sie  geradezu, 
je  mehrfach  begegnen  lysi  ek  Igglysing,  kved  ek  yör  l(^gkv(^d, 
haud  kann  Iggboäfi,  einmal  stefni  ek  Iggstefnu.  nach  diesem  so- 
mit ganz  geläufigen  typus  bildet  Skarphedin  seinen  scherz  eggjar 
mödir  vär  oss  nü  Iggeggjan  (228,  4).  das  ist  beim  aufbruch  zur 
räche  an  Lyting.  solche  anspielungen  liebt  der  vf.  auch  sonst, 
vgl.  at  eigi  skapi  HaUgerdr  per  aldr  87,  2  (vgl.  pessar  meyjar 
skapa  mgnnum  aldr,  SnE,  von  den  nornen).  8)  in  der  Njäla 
wie  in  andern  sogur  spielt  die  Steigerung  eine  grofse  rolle, 
wie  im  einzelnen,  so  im  aufbau  des  ganzen,  wie  schon  Heinzel 
Beschreibung  284  bemerkt  hat,  stilisiert  sie  den  verlauf  der  feind- 
schaft  zwischen  Bergpöra  und  Hallgerd;  die  auslandreisen  der 
Isländer  werden  immer  länger,  ereignis-  und  personenreicher,  sie 
steigen  zu  kleinen  und  grofsen  staatsactionen  empor;  ebenso  be- 
wegen sich  die  widerkehreuden  processschilderungen  von  der  skizze 
zum  ausgeführten  colossalgemälde.  9  u.  10)  die  saga  ist  reich 
an  menschlichen  Werturteilen,  deren  ethos  überall  dasselbe  bleibt, 
aber  keineswegs  überall  mit  dem  ethos  des  Stoffes  übereinstimmt,  ihre 
liebling-sbelden  sind  nicht  blofs  ehrlich  und  gerecht;  ein  hervor- 
stechender   zug    bei    Hrüt    ist  grofsmut,    bei    Gunnar    und  Njal 


46  XECKEL    ÜBEK  FIXXUK  JciNSSOX    BitEXXU->'JAL,Si<;AÜA 

friedfertigkeit,  bei  eisterem  aufserdera  wohvollen  und  Zartgefühl, 
Kari  würde  ohne  das  gebot  der  blutrache  vor  der  christlichen 
moral  glänzend  dastehn,  Hnskuld  Hvitanessgodi  vollends  ist  die 
bescheidenheit  und  Sanftmut  selbst  und  stirbt  einen  märtyrertod. 
ein  ähnlicher  märtyrer  ist  Brjän,  und  das  lob  das  ihm  gespendet 
wird,  erinnert  auch  an  Hfjskuld.  Korml^d  dagegen  ist  eine 
Schwester  der  Hallgerd,  ihre  Charakteristik  402,1  — 3  passt 
auch  auf  diese,  und  die  sehr  eigenartige  wendung  mit  s/dif'rntt 
kennen  wir  aus  19,  11,  wie  själf'rddr  überhaupt  ein  lieblings- 
ausdruck  der  Njdla  ist  (s.  Fritzner  iii  262).  wer  freilich  für 
die  oft  handgreiflich  stilisierende  Charakteristik  in  den  sagas  aus- 
schliefslich  die  historische  würklichkeit  verantwortlich  macht, 
wird  diese  beobachtung  leicht  abtun  wollen,  wie  schlecht  be- 
gründet aber  jene  ansieht  ist,  sieht  man  —  um  nur  ein  beispiel 
zu  nennen  —  an  Käri,  dessen  wesen  zum  guten  teil  nur  das 
negativ,  das  vornehme  widerspiel ,  zu  dem  seines  genossen 
Björn  ist. 

Würkliche  Interpolationen  tinde  ich  keine  einzige,  die  un- 
leugbaren schlechten  nähte  und  Verschiedenheiten  zwischen  den 
teilen  der  composition  können  zt.  auf  der  Verarbeitung  fertiger 
schriftlicher  quellen  durch  den  autor  beruhen  (vgl.  Heusler  DLz. 
1909,  735j,  teils  werden  sie  schon  zwischen  den  einzelnen  stücken 
der  tradition  vorhanden  gewesen  sein,  diese  Verhältnisse  im 
einzelnen  zu  untersuchen  —  wozu  uns^  wie  ich  meine,  nicht  alle 
mittel  fehlen  —  ist  hier  nicht  der  ort.  —  warum  kann  nicht 
ein  meisterwerk  wie  die  Njäla  noch  am  ausgange  des  13  jh.s 
geschaffen  worden  sein?  zu  diesem  zeitpunct  passt  auch  die 
'mislungene  nachbildung  einer  legende',  die  der  hgb.  in  der  er- 
zählung  von  Amundis  räche  findet,  eine  sehr  ähnliche  religiöse 
Verklärung   erfährt  die   rachepflicht  in  der  Hävardarsaga  (c.  xi). 

Breslau,  april   1909.  Gustav  Neekel. 

(Nachtrag  vom  december  1909.)  Die  redaction  gestattet 
mir,  hier  Stellung  zu  nehmen  zu  einem  kritischen  angriff,  den  ich 
soeben  durch  Finnur  Jönsson  erfahre  (Zs.  f.  d.  ph.  41,  381 — S8). 
FJ.  versteht  so  wenig  die  fragestellung  und  betrachtungsweise 
meiner  Beiträge  zur  Eddaforschung,  dass  er  dem  vf.  meinungen 
beilegt,  die  dieser  nirgends  ausgesprochen  hat,  mit  entrüsteten 
ausrufen  und  unklaren  allgemeinheiten  zu  felde  zieht  und  selbst  da, 
wo  seine  ausstellungen  im  kern  berechtigt  sind,  durch  wolfeiles 
wirtschaften  mit  losgerissenen  einzelheiten  sich  selbst  ins  unrecht 
setzt,  allerdings  konnte  ich  von  diesem  beurteiler  am  wenigsten 
erwarten,  dass  er  versuchen  würde  etwas  aus  meinem  buche  zu 
lernen,  hat  doch  FJ.  schon  seit  jähr  und  tag  aus  den  arbeiten 
seiner  fachgenossen  so  gut  wie  nichts  gelernt;  und  überdies 
wandle  ich  auf  wegen,  die  seinen  geleisen  nur  selten  parallel 
gehn.     am  meisten  verdrossen  hat  ihn,  so  scheint  es,  meine  these 


NECKEL    GEGEN  FINNUR  JONSSON  17 

Über  das  Ynglingatal.  obgleich  ich  nicht  der  erste  ketzer  bin, 
versteht  FJ.  noch  immer  nicht,  wie  man  an  der  überlieferten 
datieriing  zweifeln  kann,  für  ihn  ist  es  einerlei,  ob  man  ein 
werk  wie  das  Yt.  der  isländischen  gelehi'samkeit  des  12  jh.s  oder 
ein  werk  wie  die  Voluspä  dem  S;emund  zuschreibt!  so  bleiben  ihm 
manche  skrupel  erspart,  dass  ich  einen  zwingenden  beweis  für  meine 
ansieht  nicht  führen  könne,  hatte  ich  von  vornherein  zugegeben, 
ich  bilde  mir  auch  heute  nicht  ein,  das  problem  des  Yt.  aus  der 
weit  geschafft  zu  haben,  doch  auch  FJ.  kann  dies  verdienst  nicht 
für  sich  in  anspruch  nehmen,  die  anzeichen  mehren  sich,  dass 
der  bequeme  glaube  au  die  Zuverlässigkeit  der  isl.  traditiou 
schlimmen  Zeiten  entgegengeht.  —  das  Yt.  ist  das  einzige  der 
von  mir  behandelten  denkmäler,  auf  das  der  rec.  näher  eingeht, 
er  spricht  6  engbedruckte  Seiten  lang  über  Beiträge  zur  Edda- 
forschung mit  excursen  zur  heldensage  (und  zwar  angeblich 
über  die  hauptpuncte),  ohne  bei  einem  einzigen  Eddaliede  oder 
einer  einzigen  frage  der  germanischen  heldensage  zu  verweilen, 
dagegen  ergeht  er  sich  etwas  ausführlicher  über  meine  Inter- 
pretation einzelner  stellen  und  auch  über  die  beweiskraft  der  von 
mir  untersuchten  bindungsverhältnisse.  was  jene  betrifft,  so  tinde 
ich  FJ.s  abweichende  auft'assung  (die  er  in  die  form  einer  dog- 
matischen belehrung  kleidet)  nur  in  einem  teil  der  fälle  annehm- 
bar oder  doch  erwägenswert,  es  steht  keineswegs  so,  dass  ich 
nach  neuen  Interpretationen  'geradezu  jage',  vielmehr  befestigt 
sich  bei  mir  immer  mehr  die  Überzeugung,  dass  unter  den  her- 
kömmlichen interpretationen  der  isl.  gelehrten  viele  nieten  sind, 
manches,  was  mehr  aus  einer  seichten,  papierenen  logik  fliefst, 
als  aus  dem  lebendigen  Sprachgefühl  (das  gegenüber  den  alten 
texten  eben  manchmal  versagt),  geschweige  aus  einem  hineindenken 
in  den  Zusammenhang,  einem  einfühlen  in  stil  und  geist  des 
dichters.  wie  es  gerade  in  dieser  letzten  hinsieht  FJ.  an  sich 
fehlen  lässt,  dafür  hab  ich  oben  und  Zs.  51,  llOf.  ein  paar  be- 
lege gegeben;  weitere  liefert  er  in  seiner  rec.  und  der  iv  band 
der  Heimskringla  verdient  es  von  dem  benutzer  daraufhin  ge- 
prüft zu  werden,  was  sleglnn  sess7neidum  und  andere  stellen  be- 
trifft, bei  deren  beurteilung  die  Sprachgeschichte  in  betracht  kommt, 
so  hat  FJ,  mich  einfach  nicht  verstanden,  'die  einzig  richtige 
auffassung  ist  die  alte';  'ich  halte  an  meiner  erklärung  fest'  — 
wenn  man  solche  sätze  list,  denkt  man  sie  sich  als  motto  über 
FJ.s  gesamter  kritischer  schriftstellerei.  —  und  nun  zu  den  bin- 
dungen!  ich  muss  hier  zunächst  feststellen,  dass  der  rec.  meine 
äufserungen  in  wesentlichen  puncten  falsch  widergibt,  keineswegs 
hab  ich  die  'gefährliche  behauptung'  aufgestellt,  dass  jede  Über- 
schreitung der  helminggrenze  von  vornherein  irgend  eine  'an- 
nähme begründe'  (s.  bei  mir  s.  22).  ich  habe  nichts  dergleichen 
'beweisen'  wollen,  wie  mir  s.  384  untergeschoben  wird,  was  mit 
meiner   eben   dort   erwähnten   und   verurteilten   'theorie'  gemeint 


48  NKCKEL    GEGEN  FINNüR  JONSSON 

ist,  bleibt  mir  dunkel,  von  dieser  gar  nicht  vorhandenen  theorie 
wird  weiter  gesagt,  sie  müsse  an  der  form  des  Yt.  'scheitern', 
und  zwar  nach  meinen  'eigenen  Worten",  diese  letzte  Wendung 
zielt  auf  s.  389  meines  buches.  dort  ist  nicht  nur  dem  Wort- 
laut nach  etwas  anderes  gesagt,  sondern  FJ.  presst  auch  den 
Zusammenhang  in  einer  weise  die  befremden  muss,  auch  wenn 
man  berücksichtigt,  dass  er  augenscheinlich  für  mein  buch  wenig 
zeit  übrig  gehabt  hat.  skeptische  beobachtungeu  am  Yt.  (und 
an  der  Ragnarsdräpa)  haben  sich  mir  schon  aufgedrängt,  eh  ich 
anf  die  bindungen  aufmerksam  wurde,  und  eh  ich  von  den  ar- 
beiten Bugges  und  meiner  andern  Vorgänger  wüste,  ich  consta- 
tiere  dies  ausdrücklich,  weil  mein  gegner  es  so  hinstellt,  als 
könne  man  nur  aus  gründen  die  eigentlich  aulserhalb  der  sache 
liegen,  oder  um  einer  verzweifelten  'theorie"  willen  an  der  echt- 
heit  des  Yt.  irre  werden.  —  in  seinen  'erwägungen,  deren  be- 
rechtigung  nicht  zweifelhaft  sein  kann',  tind  ich  keinen  bessern 
sinn  (sie  sind  offenbar  sehr  flüchtig  hingeschrieben),  als  dass  FJ. 
meine  beiden  grundvoraussetzungen  leugnet:  die  erkennbare  würk- 
samkeit  einer  tradition  und  eine  erkennbare  gleichartigkeit  im 
verfahren  des  einzelnen  dichters.  wer  diese  Voraussetzungen 
leugnet,  setzt  sich  in  Widerspruch  zu  offenkundigen,  zt.  trivialen 
tatsachen.  muss  ich  wirklich  an  den  wgerm.  hakenstil  erinnern, 
an  die  erblichkeit  des  festen  helmings  im  skald.  kviduhätt,  an 
das  zusammengehn  skald.  bindungen  mit  skald.  habitus  überhaupt 
in  gewissen  Eddatexten,  an  das  widerkehren  ganz  bestimmter 
gliederungstypen  (vgl.  Anz.  xxxii  269) V  neben  dem  traditio- 
nellen factor  kann  der  individuelle  hauptsächlich  insofern  zur 
geltung  kommen,  als  er  aus  einer  etwa  vorhandenen  mannig- 
faltigkeit  von  Vorbildern  eine  auswahl  trifft,  hieraus  erklärt  es 
sich,  dass  dichter  von  verschiedenem  formgefühl  gleichzeitig  sein 
können.  FJ.  hält  mir  diese  selbstvei'ständlichkeit  entgegen,  als 
wenn  sie  mir  ganz  entgangen  wäre,  hat  er  mein  buch  würklich 
ganz  gelesen?  was  zweitens  den  einzelnen  dichter  betrifft,  so 
kann  sich  zwar  das  formgefühl  im  laufe  eines  lebens  verschieben 
(wir  wissen  derartiges,  um  eine  nicht  sehr  fernliegende  parallele 
zu  nennen,  von  Shakespeare),  aber  in  so  kurzen  liedern  wie  den 
eddischen  dürfen  wir  eine  weitgehnde  gleichförmigkeit  erwarten, 
soweit  sie  von  einer  band  herrühren,  überall,  wo  wir  diese 
gleichförmigkeit  finden,  da  spricht  auch  sonst  alles  für  einheitlich- 
keit  des  textes.  wo  hingegen  die  bindungen  bunt  durcheinander 
gehn,  da  pflegen  auch  andere  kriterien  ungleichen  alters  nicht 
zu  fehlen,  die  fruchtbarkeit  dieses  gesichtspunctes  mein  ich  an 
mehr  als  einem  beispiel  erwiesen  zu  haben.  —  es  seh  eint  aber 
(klar  ausgesprochen  wird  es  nicht),  als  hätte  der  rec,  wenn  er 
von  meiner  'theorie'  spricht,  noch  ein  drittes  im  äuge:  die  an- 
nähme ags.  einflusses.  diese  annähme  ist  natürlich  FJ.  höchst 
unsympathisch,     ob    er    sie  für  die  Hofudlausn    bestreiten  kann, 


NECKEL    GEGEN  FINNUK  JÖXSSON  49 

weii's  ich  nicht,  im  übrigen  muss  ich  hervorheben,  dass  ich  mir 
das  aufliommen  des  festen  helmings  auch  ohne  jene  annähme  er- 
klären könnte  (s.  s.  4M!  meines  buches).  das  letzte  wort  über 
diese  entwicklungsgeschichtlichen  fragen  ist  noch  nicht  gesprochen, 
aber  selbst  wenn  man  jenen  bindnngstypus  schon  für  das  9  jh. 
ansetzen  müste,  so  tiele,  soweit  ich  sehe,  keiner  von  dim  Schlüssen 
die  ich  aus  den  bindungsverhältnissen  gezogen  habe,  sondern  nur 
jene  annähme  ags.  einflusses.  F.T.  erregt  seinen  lesern  den  un- 
klaren eindruck,  als  huldige  ich  einer  willkürlichen  und  unge- 
heuerlichen methode.  in  würklichkeit  hab  ich  bei  keinem  denk- 
mal  das  alter  unmittelbar  aus  den  bindungen  ablesen  wollen, 
ich  habe  mich  im  gegenteil  bemüht,  möglichst  viele  und  ver- 
schiedenartige kriterien  mobil  zu  machen,  um  über  die  entstehung 
der  überlieferten  einheiten  und  ihre  litterarhistorische  Stellung 
klarer  zu  werden,  als  man  es  bei  der  lectüre  von  FJ.s  litteratur- 
geschichte  mit  ihren  kategorischen  entscheidungen  wird,  dass 
dies  verfahren  einen  fortschritt  bedeute,  für  die  textkritik  und 
für  die  altersfragen ,  das  hoffte  ich  anerkannt  zu  sehen,  statt 
dessen  schlägt  der  autor  der  Lit.  bist,  blindlings  los  auf  das 
wichtigste  der  von  mir  verwerteten  neuen  kriterien.  seine  'er- 
wägungen'  können  mich  in  keiner  weise  davon  überzeugen,  dass 
ich  von  den  bindungen  einen  principiell  unzulässigen  gebrauch 
gemacht  hätte,  nach  wie  vor  behaupt  ich,  dass  sie  nicht  blofs 
für  die  beschreibung  der  Eddalieder,  sondern  für  die  eddische 
litteraturgeschichte  von  bedeutung  sind,  gewis  hätte  ein  meister 
die  aufgäbe  sicherer  angegriffen  und  besser  gelöst  als  ich,  das 
empfind  ich  längst  sehr  lebhaft;  aber  FJ.s  recension  ist  nicht 
dazu  angetan,  mir  die  vollkommene  leistung,  die  mir  vorschwebt, 
anschaulicher  zu  machen.  G.  N. 


Floovent-studien.  Untersuchungen  zur  altfranzösischen  epik.  von 
«ustav  Broekstedt.  Kiel,  Robert  Cordes,  19üT.  Vlli  u.  164  ss. 
8°.  —  7  m. 

Diese  Flooventstudien  bestehn  aus  zwei  teilen,  in  beiden 
zeigt  der  vf.,  dass  er  über  hübsche  kenntnisse  verfügt,  dass  der 
umfang  seiner  lectüre  ein  erfreulicher  ist,  dass  er  die  gäbe  be- 
sitzt, seiner  darstellung  ein  lebhaftes  gepräge  zu  verleihen,  aber 
um  sein  combinationstalent  und  die  handhabung  der  methode  ist 
es  schlimm,  sehr  schlimm  bestellt,  allerdings  treten  diese  mängel 
in  dem  ersten  teil,  der  als  Kieler  dissertation  gedruckt  ist,  nicht 
so  sehr  hervor,  denn  hier  bewegt  der  vf.  sich  in  einem  engeren 
kreise,  hier  gilt  es  nämlich  den  grad  des  Zusammenhanges  zwischen 
dem  afrz.  Floovent  und  den  ital.  Fioravante  und  Buovo  festzu- 
stellen, und  so  tragen  die  resultate  dieses  ersten  teils  im  grofsen 
und  ganzen  einen  gesunden  Charakter,  aber  der  zweite  teil,  der 
sich  mit  den  quellen  der  genannten  dichtungen  beschäftigt!  ich 
A.  F.  D.  A.    XXXIV.  4 


50  BLÖTE    ÜBER 

habe  beim  durchlesen  manchmal  nicht  anders  gedacht,  als  dass 
in  dem  vf.  eine  humoristische  ader  stecke,  und  dass  er  die  in  der 
Sagenforschung  beliebte  beweisführung  mit  weitentlegenen  paral- 
lelen einmal  gehörig  habe  parodieren  wollen,  ich  muste  aber  all- 
mählich diesen  gedanken  aufgeben,  nicht  weil  es  an  humoristischen 
momenten  irefehlt  hätte  (zb.  Sigurds  mutter  als  Pariser  kauf- 
mann;  der  nordische  Gripir  als  Pariser  bürger,  als  eremit,  als 
Eicliier,  Floovents  freund:  Odin  angedeutet  als  papst  oder  als 
Alexander  der  Grofse;  Krynhild  als  bezaubertes  Ijronzenes  bild 
udgl.),  aber  das  auf  gebot  der  verschiedenartigsten  sagen-  und 
märchenstoffe  sah  denn  doch  für  eine  parodie  zu  ernst  aus. 

Er.  hat  eine  wahrhaft  visionäre  gäbe  für  sagenparallelen, 
die  aufserdem  voneinander  abhängig  sein  sollen,  da  er  besonders 
betont,  dass  der  Flooventdichter,  von  dem  übrigens  auch  der 
Fioravante  und  die  bearbeitung  des  Beuve  de  Hanstone  zum  Buovo 
herrühren  sollen,  die  nordische  Sigurdsage  für  seine  dichtungen 
benutzt  hat  und  infolgedessen  aus  diesen  dichtungen  wertvoller 
aufschluss  für  den  ursprünglichen  Charakter  der  nordischen  sage 
zu  erwarten  ist,  so  greif  ich  aus  den  vielen  sich  auf  diesen  Zu- 
sammenhang beziehenden .  verzweifelten  'parallelen"  eine  einzige 
zur  Charakterisierung  heraus,  die  ich  nicht  weiter  zu  commen- 
tieren  brauche,  wenn  im  Buovo  der  bruder  des  künigs  die  könig- 
lichen kleider  und  insignien  anlegt,  um  den  beiden  (Buovo)  ins 
verderben  zu  locken  (dieser  soll  einem  sultan  einen  brief  über- 
bringen, der  den  befehl  enthält,  den  Überbringer  zu  töten),  so 
heilst  es  bei  Br.:  'die  quelle  dieser  episode  ist  offenbar  das  ,,ge- 
staltenaustauschmotiv  der  Sigurdsage,  die  geschichte  der  über- 
listung Brynhilds  durch  Sigurd,  der  in  Gunuars  gestalt  vor  ihr 
erscheint  und  sie  dadurch  zu  einem  entschluss  bringt,  den  sie, 
hätte  sie  gewust,  wer  vor  ihr  stand,  nie  gefasst  hätte'  (s.  130).  — 
auf  diese  weise  gewinnt  der  vf.  mehrere  scheinresultate.  ich  nenne 
einige:  der  ital.  Fioravante.  die  ital.  bearbeitung  des  Beuve  de 
Hanstone  sind  arbeiten  des  Flooventdichters  (s.  65),  oder  wahr- 
scheinlicher, die  verschiedenen  Versionen  sind  aus  einer  von  ihm 
inspirierten  schule  (s.  64)  lauch  der  Hüon  von  Bordeaux  [s.  159],' 
das  Coronement  Loois,  der  Gormont  et  Isembart,  das  Moniage 
Guillaume  [s.  155]  haben  ihn  —  oder  seine  schule?  —  zum  Ver- 
fasser, der  beweis  wird  allerdings  erst  in  späteren  Studien  ge- 
geben werden);  der  Flooventdichter  hat  den  Floovent,  den  Fiora- 
vante und  den  Buovo  ua,  aus  motiven  der  Sigurdsage  aufgebaut 
bezw.  durchsetzt;  als  der  dichter  seine  Jugendarbeit  —  den  Floo- 
vent —  im  alter  wider  aufnahm,  verarbeitete  er  auch  noch 
motive  aus  dem  Nibelungenlied  hinein;  auch  das  Siegfriedlied  — 
entstanden  aus  concurrenz  zum  Nibelungenlied  (s.  162)  —  gieng 
aus  seinem  geiste  hervor. 

Bei    der    letzten    behauptung   —    das    lied   vom   gehörnten 
Siegfried    sei    das    werk    des   französischen   Flooventdichters  — 


BROCKSTEDT    FLOOVENT-STUDIEX  51 

ninss  ich  noch  einen  augenblick  verweilen,  in  der  1908  von 
Br.  veröffentlichten,  gleich  unten  zu  besprechenden  Studie  'Das 
altfranzösische  Siegfridlied"  ertönt  nämlich  s.  ',\  in  einer  note 
der  jammerschrei:  'dass  die  kritik  die  folgenschweren  deductionen 
der  selten  93 — 95  der  Floovent-studien,  die  logisch  durchaus  un- 
angreifbar sind,  aber  freilich  von  einem  anfänger  stammen,  ent- 
weder überhaupt  keiner  beachtung  würdigte  oder  ohne  prüfung 
kühl  und  überlegen  ablehnte,  entspricht  zu  sehr  dem  gewöhnlichen 
verhalten  der  menschen  neuen  erkenntnissen  gegenüber,  als  dass 
man  sich  groß  darüber  zu  wundern  brauchte",  prüfen  wir  die 
verkannten  'logisch  durchaus  unangreifbaren'  'folgenschweren 
deductionen'  der  ss.  93  —  95  der  Floovent-studien.  das  material 
worauf  Br.  sie  aufbaut,  ist  folgendes,  im  afrz.  Floovent  be- 
schließt der  von  seinem  vater  verbannte  held  (Floovent)  zu 
könig  Flore  von  Ausai  zu  gehn,  der  mit  den  Sarazenen  krieg 
führt.  unterwegs  jagt  er  drei  sarazenischen  räubern  eine 
Prinzessin  ab.  es  ist  die  Florete,  Flores  tochter,  die  in  die 
bände  dieser  beiden  gefallen  ist,  nachdem  sie  ohne  hülfe  irgend 
eines  beiden  vier  'felons  paiens'  entflohen  war,  die  sie  entfuhrt 
hatten.  Floovent  tötet  zwei  der  Sarazenen,  der  dritte  entkommt, 
aber  auch  diesen  ereilt  sein  geschick.  denn  der  freund  Floovents, 
Eichier,  macht  ihn  nieder,  nachdem  er  erfahren  hat,  wo  Floovent 
sich  befindet,  darauf  hat  Floovent  widerum  einen  kämpf  zu 
bestehn,  diesmal  mit  dem  riesen  Fernagu,  dem  söhn  des 
Sarazenenfürsten  Galien,  der  die  Jungfrau  für  sich  verlangt. 
Floovent  verwundet  ihn,  Fernagu  bekommt  aber  hülfe  von  vier 
Sarazenenfürsten,  der  Floovent  hat  hier  eine  lücke.  nach  dem 
Fioravante  unterligt  Fl.,  wird  aber  von  Richier  gerettet.  —  das 
deutsche  Volksbuch  vom  gehörnten  Siegfried  (18  jh.j  erzählt  also: 
Siegfried  zieht  mit  dem  zwecke  aus,  die  Worraser  königstochter 
Florigunda  aus  der  gewalt  des  drachen  zu  erlösen,  nach  be- 
siegung des  drachen  begibt  er  sich  mit  Florigunda  und  dem 
schätz  vom  drachenstein  nach  Worms,  wird  aber  unterwegs  von 
13  räubern  überfallen,  die  ihm  schätz  und  Jungfrau  nehmen 
wollen,  er  tötet  sie  bis  auf  einen,  der  in  einen  morast  läuft 
und  bis  an  den  hals  darin  einsinkt.  S.  ruft  diesem  zu,  dass, 
wenn  ihn  jemand  treffe,  er  sagen  solle,  der  gehörnte  S.  habe 
ihm  das  getan,  der  auch  die  anderen  räuber  getötet.  —  Br. 
sieht  nun  in  den  beiden  berichten  trotz  der  differenz  'Überein- 
stimmungen so  schlagender  natur,  dass  der  Zusammenhang  der 
beiden  dichtungen  nicht  geleugnet  werden  kann',  zunächst  darin, 
dass  in  beiden  die  rettung  der  Jungfrau  in  zwei  stufen  statt- 
findet, im  Floovent  befreiung  von  4  felons  paiens  und  3  Sara- 
zenen (ich  zähle  hier  übrigens  drei,  sogar  vier  stufen,  Br. 
schweigt  nämlich  s.  93 — 95  von  dem  kämpfe  mit  Fernagu,  und 
Fioravante  macht  noch  anderes  durch),  im  Volksbuch  von  dem 
drachen  und  den   13  stralsenräubern.     dass  im  Floovent  wie  im 

4* 


ü2  lUiÖTE     l'liKK    HlJOCKSTEDT  FLuOVKNT-STUPIKN  U.  ÜBER 

Volksbuch    der    held    einen    räuber   nicht    tijtet.    ist   für    Br.  der 
l<eiMipiuict  für  die  j^leichheit  der  niotive.     noch  mehr:  er  foig'ei't 
(lai'aus  ohne  weiteres  die  abhän^-is?keit  der  züg'e  des  Volksbuches 
von    denen  der  Flooventdichtun;^  odei-,    was  für  ihn  dasselbe  ist. 
die  abhängigkeit  des  ui-sprünglichen  Siegfriedliedes  vom  Floovent. 
daran    schliefst   sich   wider   eine   andere   'logisch  durchaus  unan- 
greifbare,   folgenschwere  deduction':    das  motiv  der  einstweiligen 
Schonung   des    einen    räubers  sei  im  Floovent  vollständig  ausge- 
arbeitet,   denn    der  räuber  entkommt   aus  den  bänden  Floovents, 
fällt   aber    durch  Richier.     das    motiv  im  Volksbuch  dagegen  sei 
nur    ein    'torso'.     das   torsoartige    sei  aber  gerade  'ein  wichtiges 
kriterium     für    die    beurteilung    des    zwischen    dem    Siegfridlied 
(sc.  Volksbuch)    bestehnden    beziehungen'.     in    dem  Floovent    sei 
nämlich    die    Schonung   zu   keinem   andern  zweck    erfunden,    als 
um   Richier    warnen  zu  können,      der  dichter  des  Siegfriedliedes 
aber  habe  das  motiv  aufgenommen  und  es  nicht  zu  ende  geführt, 
weil  eben  im  Siegfriedlied  keine  person  vorkomme,    die   gewarnt 
werden  muss.    der  dichter  des  Siegfriedliedes  —  fährt  Br.  fort  — 
kannte  also  die  natur  dieses  motivs,  kannte  außerdem  den  Sieg- 
friedcharakter   des   Floovent,    er   wüste   um    den   Zusammenhang 
zwischen  Floovent  und  dem  nordischen  Sigurd.    infolgedessen  .  .  . 
es  folgen  jetzt  eine  anzahl  rhetorische  fragen,  vermutlich  damit  'die 
neue  erkeuntnis'  den  leser  nicht  ganz  unvorbereitet  treffe,  und  dann 
blendet    ihn    (dh.  den  leser)    mit    einem    schlage  das    grelle  licht 
der  'logisch  durchaus  unangreifbaren  deduction":  'in  der  tat,  das 
Siegfrid-lied     ist    ein    französisches    werk ,      ein     werk    unseres 
Floovent-dichters'.    da  aber  Br.  doch  vorhersieht,  dass  ungläubige 
Zweifler    nicht    von    der   strengen   logik   der   Schlüsse  überzeugt 
werden,  so  bringt  er  s.  95  noch  rasch  zwei  'weitere  entscheidende 
belege':   J.  der  name  Florigunda  gehört  zu  Florete,  er  'führt  uns 
auf  directestem  wege  in  die  Werkstatt  des  dichters";  2.  der  titel 
des    Volksbuches    (18    jh.)    sagt    'aus    dem    Frantzösischen    ins 
Teutsche    übersetzt'    (kein    geringerer    als    Jacob    Grimm    habe 
schon    1851     die    bedeutung    dieses    Zusatzes    erkannt).    —    wer 
nach  'mehrjähriger   forscherarbeit'    (Altfr.  Siegfridlied,    Program- 
matisches vn)    solche    lose    aneinander   gereihten,    mit   dem    zur 
Verfügung  stehnden  material   nicht  zu  beweisenden  behauptungen 
•logisch     durchaus     unangreifbare,      folgenschwere     deductionen' 
nennt,  sollte  nachgerade  das  forschen  einstellen  oder   wenigstens 
andere   leute    nicht   mit    so   törichtem    zeug  behelligen.  —  nicht 
nur    die    ss.  93 — 95    der  Flooventstudien    sind   wertlos,    sondern 
auch    die    sonstigen   resultate    des    2  ten    teils,     die   darauf    ver- 
wante  mühe  hätte  immerhin  besseres  verdient. 

Tilburg.  J.  F.  D.  Blöte. 


BROCKSTEDT    I)A!>  ALTFRAXZDSISCH  K  SI  Kt;  KHIDM  HI)  53 

Das  altfranzösisch  e  Siegfridlied.  eine  rekonstruktion.  mit  einem 
schlnsswort:  zur  geschichte  der  Siegfridsage.  von  (iiistav  Brock- 
stedt.    Kiel,  Robert  Cordes,  1908.    xri  u.  178  ss .    s".  —  S  ni. 

Auch  in  dieser  sclirift  des  vf.s  der  Floovent-studieu  rindet 
sich  ein  reiches,  zu  gleichungen  angeliäuftes,  wider  von  helesen- 
heit  zeugendes  niaterial.  die  zusaninienstellungen  sind  aber  durch 
die  Willkür  mit  der  Br.  verfährt,  für  den  beabsichtigten  zweck 
unbrauchbar;  außerdem  geben  die  folgerungen  aus  den  unhalt- 
baren parallelen  trotz  der  redekünste  des  vf.s  auch  diesmal  keine 
liohe  meinung  von  seiner  Übung  im  denken  und  schließen,  ich 
greife  auch  hier  ein  beispiel  heraus,  nicht  weil  es  das  charakte- 
ristischste wäre,  sondern  weil  es  neulich  seine  schatten  sogar  in 
die  spalten  dieser  zs.  geworfen  hat.  s.  90  ff.  soll  bewiesen 
werden,  dass  die  Hvensche  chronik,  "diese  seltsame  und  in  ihrem 
wesen  niemals  richtig  verstandene  Siegfridüberlieferung'  'zum 
allergrösten  teil  die  bearbeitung  einer  sonst  nicht  erhaltenen 
Version  des  Siegfridliedes"  ist.  "der  richtigen  idee  kamen  die 
jbisherigen]  forscher  [Br.  nennt  hier  Grundtvig,  Döring,  Storra 
und  Boer,  an  anderer  stelle  noch  andere]  vor  allen  dingen  des- 
halb nicht  auf  die  spur,  weil  sie  keine  Vorstellung  vom  ur- 
sprünglichen Siegfridlied  besaßen".  Br.  führt  (>  puncte  an,  die 
weder  einzeln  noch  in  ihrer  gesamtheit  imstande  sein  werden, 
die  genannten  forscher  oder  jemand  anders  davon  zu  überzeugen, 
dass  der  chronik  eine  fassung  des  Siegfriedliedes  zugrunde  ge- 
legen hat.  der  6  te  punct  ist  dieser:  in  der  chronik  ist  von  der 
heldennatur  Siegfrieds  wenig  übrig  geblieben;  da  nun  Hans 
Sachs  in  seiner  tragödie  sagt,  dass  es  Siegfried  an  feiner  sitte 
mangelte  iBr.  führt  die  stellen  s.  9t)  wörtlich  an),  so  sollen 
chronik  und  Sachs  ihre  auffassungen  aus  der  gleichen  (luelle  be- 
zogen haben.  Br.  sagt  es  zwar  nicht  wörtlich,  aber  es  ligt  iu 
der  beweisführung:  'vergleichbar  ist  der  herab  Würdigung  Sieg- 
frids  in  der  Hvenschen  chronik'  'allein  die  auffassung,  die  Hans 
Sachs  vom  beiden  hat".  in  der  weise  wird  ein  punct  aus 
Cyriacus  Spangenbei-g  zur  vergleichung  herangezogen,  einer  aus 
dem  Rosengarten,  zwei  aus  dem  erhaltenen  Siegfriedlied  und 
einer  aus  dem  Volksbuch  des  I S  jh.s .  und  damit  ist  dann  die 
abhängigkeit  der  Hvenschen  chronik  von  irgendeiner  fassung 
des  Siegfriedliedes  constatiert.  man  wundert  sich  nur,  dass  die 
Charakterisierung  der  personen  in  der  Hvenschen  chronik,  ihre  bis 
zur  Unkenntlichkeit  mit  der  Hagen-Volker-Siegfried-Kriemhild- 
überlieferung  schaltende  handlung,  ihre  merkwürdigen  moti- 
vierungen  des  einzelnen  Br.  selbst  nicht  irremachen  an  der 
richtigkeit  oder  nur  berechtigung  seiner  methode.  nach  Br.  soll 
dennoch  die  Hvensche  chronik  mit  als  quelle  zur  widerherstellung 
der  ursprünglichen  gestalt  der  rachesage  des  Siegfriedliedes 
dienen  können,  und  dazu  lese  man  nun  s.  289  f.  des  am  4  oct. 
1909    ausgegebenen  heftes   dieser    zs.     da  arbeitet  Br.  mit  dem 


54  BLUTK    i'HKH 

gedanken,  dass  die  Hvensche  chronik  und  Cyriacus  Spangeuberg 
(1594)  dieselbe  fassung  des  Siegfriedliedes  l)enutzt  haben  sollen, 
denn  Spangenberg  sagt  'Sigfried  von  Hörn'  und  die  chronik 
'Sigfred  Hörn',  und  das  weise  auf  eine  fassung,  die  nach  der  hin- 
richtung  des  niederländischen  grafen  von  Hörn  (1568)  entstanden 
sei ;  und  als  ob  kein  sehr  berechtigter  zweifei  an  Br.'s  aus- 
führungen  in  seinem  letzten  buch  möglich  wäre,  heißt  es:  dass 
die  Hvensche  chronik  'eine  fassung  des  Siegfridliedes  widergibf, 
'ist  erst  von  mir  [sc.  Br.]  auf  s.  96  ff.  meines  Altfr.  Siegfrid- 
liedes dargetan  worden'.  — 

Auch  dieses  werk  —  das  altfr.  Siegfridlied  —  zerfällt  in 
zwei  partieen,  wie  schon  im  titel  angegeben  ist.  s.  6 — 157  hat 
die  reconstruction  des  Inhaltes  des  ursprünglichen  Siegfriedliedes 
zum  gegenständ,  s.  158  — 178  hat  als  übei-schrift  'Zur  geschichte 
der  Siegfridsage.  ergebnisse  und  konsequenzen'.  hätte  Br.  in 
der  ersten  partie  erwiesen  was  er  erweisen  wollte,  so  hätte  das 
ursprüngliche  Siegfriedlied  einen  Stoff  urafasst,  der  bei  den  eitern 
des  beiden  antieng,  sich  dann  verbreitete  über  Siegfrieds  erleb- 
nisse,  seine  erraordung,  die  räche  der  Kriemhild  als  gattin 
Etzels,  ferner  über  die  rückkehr  Dietrichs  in  sein  land  (ein- 
schließlich den  kämpf  Hildebrands  mit  seinem  söhn),  Etzels  tod, 
Dietrichs  tod,  und  das  leben  und  die  taten  von  Siegfrieds  söhn 
Löwhardus.  Kriemhild  hat  nach  ausweis  des  Volksbuches  v.  1  8  jh. 
im  ursprünglichen  Siegfriedlied  Florigunda  geheißen ;  Günther  Hagen 
Gernot:  Ehrenbertus,  Hagenwald  und  Walbertus.  —  es  ist  mit  den 
resultaten,  auch  da  wo  einmal  ein  vernünftiger  ansatz  gemacht  wird, 
nichts  anzufangen,  die  verschiedenen  beweise  sind  sammelkästen 
von  rohmaterial,  womit  selbst  die  methodisch  geübte  band  eines 
meisters  kein  gebäude  wird  erricliten  können,  geschweige  denn 
Br.  — •  im  zweiten  teil  —  zur  geschichte  der  Siegfridsage  — 
feiert  die  Willkür  ein  wahres  bacchanal.  nicht  nur  das  ur- 
sprüngliche Siegfriedlied  sei  vom  französischen  Flooventdichter 
verfasst,  sondern  auch  das  Nibelungenlied.  Br.  führt  drei  gründe 
an.  ich  schreibe  den  zweiten  als  den  kürzesten  aus.  s.  166: 
'nach  Nibelungenlied  str.  1296  ff  [ed.  Bartsch]  ist  das  erste  er- 
lebnis  der  Kriemhild  auf  ihrer  fahrt  ins  land  Etzels  ihr  zu- 
sammentreffen mit  dem  bischof  Pilgrim  von  Passau,  dem  bruder 
ilirer  mutter,  der  ihr  bis  Mutaren  das  geleit  ins  Hunnenland 
gibt  (str.  1329 — 30).  im  zweiten  teil  des  Fioravante  :nian  be- 
denke, dass  nach  Br.  auch  der  Fioravante  vom  Flooventdichter 
herrührt]  wird  erzählt,  wie  der  aus  der  heimat  ins  Sarazenen- 
land eilende  held  zunächst  zu  einem  eremiten  kommt,  der  der 
bruder  seiner  mutter  ist  und  ihm  den  weg  ins  Sarazenenland 
zeigt  (bei  Pio  Rajna  cap.  43 — 45;  in  den  Eeali  di  Francia  cap. 
26 — 27).  es  leuchtet  ein,  dass  wir  es  hier  mit  korrespondieren- 
den berichten  zu  tun  haben,  wider  aber  ligt  die  priorität  nicht 
beim  Nibelungenliede,    sondern    bei    der    Flooventüberlieferung. 


BROCKSTKDT    DAS  ALTFKAXZ(i>.1m  m;  MK(iKKlL)l>l  Kl>  55 

denn  wie  die  ss.  85 — SU  der  Floovent-studien  des  ntälieren  dar- 
tun, ist  der  ereniit  des  Fioravante,  der  dem  beiden  nicht  nur 
den  weg  ins  Sarazenenland  zeigt,  sondern  ihm  auch  den  glück- 
lichen ausgang  seiner  Unternehmung  prophezeit,  aus  der  mit  der 
Sehergabe  ausgerüsteten  Gripirgestalt  der  Sigurdsage  (und  also 
nicht  aus  der  Pilgrimgestalt  des  Nibelungenliedes,  von  deren 
Sehergabe  nichts  verlautet)  hervorgegangen.  da  nun  aber 
niemand  anders  als  der  mit  den  Siegfridqualitäten  des  Fiora- 
vante vertraute  Flooventdichter  darauf  verfallen  konnte,  diese 
dichtung  als  Vorbild  für  ein  Siegfridepos  zu  benutzen,  so  er- 
gibt sich  also  auch  aus  der  Pilgrimsage  des  Nibelungenliedes, 
dass  das  epos  ein  werk  des  Flooventdichters  ist'.  —  mit  solcher 
begründung  empfehle  ich  den  nachweis.  dass  Wolframs  Kiot  der 
französische  Flooventdichter  ist,  denn  auch  in  den  Gral-  und 
Perchevaldichtungen  kommen  torsoartige  Flooventmotive  vor,  die 
wol  an  irgendeiner  stelle  des  Floovent  usw.  vollständig  vorhanden 
sein  werden.  —  dieser  Flooventdichter  war  übrigens  der  reinste 
kosmopolitische  Völkerbeglücker.  das  Nibelungenlied  und  das 
ursprüngliche  Siegfriedlied  —  er  concipierte  die  beiden  gleich 
zeitig  —  sowie  die  Virginal  (Deutsches  Heldenbuch  v)  bestimmte 
er  'von  vornherein  zur  Verbreitung'  in  Deutschland  (s.  172  f.), 
wie  er  auch  für  Italien  sorgte,  indem  er  die  vorlagen  des  Fiora- 
vante und  des  Buovo  ausarbeitete  (s.  173);  auch  Spanien  hat  er 
beschenkt  mit  einem  epos  —  die  Sieben  Infanten  von  Lara  — , 
das  "bis  jetzt  ein  jeder  für  ein  spanisch-nationales  gehalten' 
habe  (ebd.);  außerdem  gedachte  er  auch  der  Nordländer,  denn 
die  vorläge  der  nordischen  Moniageredaction  hat  'kaum  jemals 
in  Frankreich  kurs  gehabt'  (ebd.).  wer  sich  interessiert  für  das 
was  Br.  über  meister  Konrad  schreibt  oder  über  die  ungeheuren 
leistungen  Snorri  Sturlusons,  tindet  bescheid  aufs.  176  —  17S.  — 
es  wäre  möglich,  dass  der  unsinn  in  der  nächsten  schrift  als 
'logisch  durchaus  unangreifbare  folgenschwere  deduction'  hinge- 
stellt würde,  aber  ich  frage  im  ernst,  ob  die  beiden  werke  Br.s 
nicht  beabsichtigte,  allerdings  etwas  zu  weit  ausgesponnene,  den 
eigentlichen  zweck  zu  wenig  verratende  und  immerhin  zu  grobe 
parodieen  einer  sagenhistorischen  methode  sind,  die  nur  in  dei' 
festen  band  des  umsichtigen  forschers  zu  resultaten  führen  kann? 
Tilburg.  j.  F.  D.  Blöte. 


Speculum  human  ae  salvationis.  kritische  Ausgabe.  Über- 
setzung von  Jean  Mielot  (144S).  die  quellen  des  Specnlums  und 
seine  bedentung  in  der  Ikonographie,  besonders  in  der  elsäs- 
sischen  kuust  des  xiv.  Jahrhunderts,  mit  der  widergabe  in  licht- 
druck  (140  tafeln  I  der  Schlettstädter  haudschrift,  ferner  sämt- 
licher alten  Mülhauser  glasmalereien,  sowie  einiger  Scheiben  aus 
(jolmar,  Weißenburg  etc.  von  J.  Lutz  und  P.  Perdrizet.  Mül- 
hausen,  buchdruckerei  Ernest  Meininger.  (in  commission  bei  Carl 


56  POLHEIM    (HER 

Beck,   Verlagsbuchhandlung-   in    Leipzig),    r.Mi7  — 1909.     2  bände. 
XX  und  351  ss.,  140  tafeln,     gr  folio.  —  12ü  m. 

'Au  XIV  siecle  la  celebiitt'  du  sp.  etait  purenieut  litteraire, 
aujoui-d'hui  eile  est  deveinie  purement  t3-pographique'  sagte 
,1.  Marie  Guichard  in  der  'Notice  sur  le  Sp.  h.  s.'  (Paris  1S40). 
in  der  tat  stand  das  Sp.  wol  ein  Jahrhundert  lang  im  niittel- 
punct  eines  Streites,  der  sich  um  die  priorität  des  ersten 
deutschen  oder  holländischen  druckes  entsponnen  hatte,  denn  das 
Sp.  zählt  zu  den  ersten  gedruckten  büchern  des  abendlandes  und 
ward  schon  als  blockbuch  verbreitet,  nach  der  entscheidung  zu 
gunsten  der  deutschen  drucke  wante  sich  die  wissenschaftliche 
Forschung  gemach  wider  dem  inhalt  und  der  form  des  merk- 
würdigen denkmals  zu.  im  Jahre  1861  erschien  zu  London  das 
buch  von  Ph.  Berjeau  *Sp.  h.  s.  le  plus  ancien  monument  de 
la  Xylographie  et  de  la  typographie  reunies,  en  fac-simile  avec 
introduction  historiqne  et  bibliographique',  ein  unzuverlässiger 
abdruck  mit  übler  widei-gabe  eines  unvollständigen  textes.  erst 
neuestens  zeitigten  die  bemühungen  der  herren  Jules  Lutz, 
pfarrer  in  Illzach  und  conservator  des  museums  in  Mülhausen, 
und  Paul  Perdrizet,  professeur  ad  Joint  an  der  Universität 
Nancy,  wertvolle  ergebnisse,  die  in  mehreren  verdienstlichen 
büchern  und  broschüren  niedergelegt  sind  und  nun  in  der 
zu  besprechenden  großen  ausgäbe  ihren  vorläufigen  abschluß 
fanden. 

Hr.  Perdrizet  hat  so  unrecht  nicht,  wenn  er  über  die  "bib- 
liographes",  die  'etranges  gens'  die  schale  seines  spottes  aus- 
giefst.  die  dem  Sp.  als  gedrucktem  individuum  ihre  peinlichste 
anfmerksamkeit  zugewendet  hatten,  ohne  sich  mit  seinem  inhalt 
vertraut  zu  machen  oder  es  nur  zu  lesen,  das  Sp.  hat  im 
wesentlichen  die  erlösungsgeschichte  zum  inhalt.  das  leben 
Mariae  und  ihres  sohnes  wird  in  einzelneu  begebenheiten,  deren 
Jede  in  einem  capitel  erzählt  wird,  in  typologischer  art  vorge- 
tragen, so  zwar  dass  Jedem  dargestellten  ereignis  drei  *prae- 
figurationes'  oder  'tigurae"  als  erläuternde  parallelen  beigefügt 
sind,  der  Verkündigung  der  geburt  Mariae  im  3  capitel  wird 
erstens  ein  träum  des  Astyages  an  die  seite  gestellt,  der  aus 
dem  schofs  seiner  tochter  Mandane  eine  weinrebe  (Cyrus)  er- 
wachsen sieht,  die  herrlich  emporspriefst  und  Asien  überschattet, 
zweitens  der  'hortus  conclusus'.  'fons  signatus'  aus  dem  Hohen- 
lied, drittens  die  erscheinung  des  engeis  vor  Balaam  und  seiner 
eselin.  so  der  geburt  Mariae  im  4  capitel  die  wurzel  Jesse, 
die  verschlossene  tempelpforte  aus  Ezechiel  44,  der  tempel 
Salomonis  usf.  die  folge  der  ereignisse  vernachlässigt  in  auffallender 
weise  die  Wundertaten  Christi,  M'endet  sich  alsbald  der  passion 
zu  und  schliefst  mit  dem  Jüngsten  gericht  und  der  Schilde- 
rung der  verdammten  in  der  hölle  und  der  Seligkeit  im  himmel, 
denen    (cap.    41    und    42)    die   episoden:    Davids   räche    an   den 


LUTZ  UND  PBRDBIZET    SPECULUM  HUJIANAE  SALVATIONIS  57 

einwohneni  von  Rabba,  Gideon  züchtigt  die  ihn  beschimpft 
hatten,  Pharao  ertrinkt  mit  seinem  beere,  und:  Salomo  und  die 
königin  von  Saba.  festmahl  des  Assuerus  und  der  kinder  Hiobs 
als  praetigurationes  beigesellt  sind. 

Jedes  capitel  umfasst  also  vier  begebenheiten,  die  stets  ia 
100  gereimten  zeilen  abgehandelt  werden;  in  illustrierten  hss. 
stellen  aulserdem  je  vier  miniaturen  die  Vorgänge  dar.  solcher 
capitel  zählt  das  Sp.  10,  und  zwar  3 — 12.  capitel  1  und  2 
enthalten  die  Vorgeschichte  von  Lucifers  stürz  bis  zur  sintflut. 
ein  proömium  von  100  zeilen  ist  dem  werke  vorgeschoben,  drei 
capitel  (die  sieben  Stationen  der  passion,  die  sieben  schmerzen 
und  die  sieben  freuden  Mariens)  folgen  in  vielen  hss.  nach,  diese 
letzten  stücke  sind  in  je  S  abschnitte  zu  26  zeilen  gegliedert: 
so  zählt  ein  vollständiges  Sp.  4924  zeilen  und  1 92  abbildungeu. 
meist  eröffnet  diesen  complex  noch  ein  kurz  zusammenfassendes 
inhaltsverzeichuis,  'summula'  oder  'compendiura',  das  auch  selb- 
ständig als  eine  art  "Sp.  pauperum',  wie  man  es  nennen  dürfte, 
häutig  genug  vorkommt.  leider  wird  uns  dieses  nicht  mit- 
geteilt. 

Bilder  und  Vorbilder  des  Sp.  stammen  aus  der  Bibel,  aus 
der  Legenda  aurea  des  Jacobus  a  Voragine,  aus  der  Summa  des 
hl.  Thomas,  und  aus  der  Historia  scholastica  des  Petrus  (Comestor) 
von  Troyes.  daneben  kommen  Valerius  Maximus  und  andere 
autoren  für  einzelne  stellen  in  betracht. 

Die  kunstform  des  Sp.  ist  die  r  e  i  m  p  r  o  s  a.  jedoch  ist 
festzustellen,  dass  die  gewöhnliche  reimprosa  des  10 — 12  jh.s, 
deren  entwickelung  P.  in  einer  kurzen  einleitung  hübsch  zu- 
sammenstellt, mit  der  kunstform  des  Sp.  kaum  viel  zu  tun  hat 
(vgl.  auch  AVMej-er  Ges.  aufs.  I  s.  248  fj.  ich  hoffe  in  kurzer 
zeit  die  ergebnisse  einer  eingehenden  Untersuchung  über  lat.  und 
deutsche  reimprosa  vorlegen  zu  können;  vorläufig  sei  nur  be- 
merkt, dass  der  dichter  des  Sp.  auf  seine  reime  ganz  anderen 
wert  legt,  als  jene  prosaisten  welche  die  satzpausen  mit  reimen 
versahen,  das  Sp.  bezeichnet  seine  reime  in  den  hss.,  setzt  sie 
sogar  meist  ab,  was  in  der  eigentlichen  reimprosa  nie  geschieht, 
die  reime  sind  ungemein  reich,  meist  zwei-,  oft  dreisilbig,  nicht 
blofse  einsilbige  endungsreime;  die  zeilen  schliefsen  gleichmäfsiger 
im  tonfall,  sie  nähern  sich  einer  einheitlichen  länge :  eine  kunst- 
form,  die    ich  als  'prosa  mit  reimclausel"  bezeichnen  möchte. 

Zwei  Pariser  hss.  des  Sp.,  die  aus  demselben  scriptoriuni 
stammen,  tragen  das  datum  1324:  "editae  sub  anno  domini 
millesimo  cccxxiv;  nomen  nostri  auctoris  humilitate  siletur.'  es 
ligt  kein  grund  vor  die  angäbe  zu  bezw^eifeln;  für  die  person 
des  Verfassers  aber  sind  wir  auf  inhaltliche  kriterien  angewiesen, 
da  auch  die  spräche  keinen  anhält  zu  seiner  ermittlungdarbietet,  dem 
Verfasser  gilt  eine  Untersuchung  von  P.,  die  erst  in  kleineu 
schritten  vorschreitend,  die  möglichkeiten  allmählich  einschränkt, 


58  rOLHKIM     ÜUKK 

dann  aber  rasch  und  kaum  lückenlos  enteilt,  so  dass  ich  mich 
frage,  ob  würklich  der  weg  der  Untersuchung  so  führte,  oder  ob 
es  nicht  vielmehr  ein  aufbau  vom  resultat  aus  ist. 

Der  Verfasser  des  Sp.  war  ein  inijnch.  der  für  münche 
schrieb,  und  zwar  ein  dominicaner.  dies  erhellt  aus  der 
Stellung,  die  das  Sp.  h.  s.  in  dem  streit  über  die  Immaculata 
conceptio  einnimmt,  dieser  these  entsprechen  die  quellen  und 
viele  stellen  in  wort  und  bild.  der  vf.  ist  kein  Italiener,  viel- 
mehr ein  Sachse,  der  im  Elsass  oder  in  Schwaben  lebte:  er 
spricht  vom  ritterschlag  'alapa  militaris'  als  einem  ihm  fremden 
brauch,  der  'more  alamannico"  geübt  werde,  es  sei  ein  mönch 
in  Stralsburg,  sei  Ludolfus  de  Saxonia,  der  gegen  1314  in  den 
orden  der  Predigermünche,  13  40  in  den  Carthäuserorden  trat, 
und  der  neben  Tauler  in  Strafsburg  eine  bedeutende  rolle  spielte, 
in  Ludolfs  Vita  Christi  nämlich  stehn  einzelne  abschnitte  und 
gereimte  zeilen  des  Sp.  h.  s.  mitten  in  der  scholastischen  prosa 
'redige  en  un  latin  diffus',  unvermittelt,  ohne  quellenangabe,  und 
dies  obzwar  Ludolf  sonst  seine  quellen  sorgsam  eitlere. 

Ich  kann  an  die  Verfasserschaft  Ludolfs  nicht  glauben, 
schon  die  logische  folgerung  reizt  zum  Widerspruch,  den  einen 
einwand  hat  P.  selbst  vorausgesehen .  dass  Ludolfs  schweigen 
nichts  beweise.  er  citiert  die  Bibel,  heilige  Schriften  und  be- 
rühmte kirchenlehrer  und  —  die  quellen  die  ihm  das  Sp.  angibt, 
dass  er  das  (anonyme)  Sp.  nicht  nennt,  wundert  mich  keineswegs. 
Aväre  aber  Ludolf  der  vf.  gewesen,  derselbe  der  seinen  namen 
das  einemal  aus  humilitas  verschwieg,  das  andre  mal  aber  ge- 
bührend zu  nennen  nicht  unterlassen  hätte,  woher  käme  dann 
der  auffällige  unterschied  zwischen  der  scholastisch  weitläuftigen 
und  verworrenen  'prose  ordinaire'  der  Vita  und  der  abstechenden 
des  Sp.  h.  s.?  die  tatsache  dass  sich  zwei  legenden  (^bisher; 
nur  in  diesen  beiden  werken  nachweisen  liefsen,  kann  natürlich 
ebensowenig  zum  beweise  dienen,  wie  die  notiz  eines  Schreibers 
von  164G  im  clm.  9491  'lAidolpkus  Carthusiensis  habet  eadem 
metra  quam  plurima,  et  üsdeni  verhis  utitur  in  suo  opere  de 
vita   Christi,  unde  videtiir  ipsemet  author    exstitisse   huiiis   lihri' 

In  der  Vita  Christi  des  Ludolf  oder  Landulf  von  Sachsen 
steht,  freilich  oft  in  abweichender  folge,  weit  mehr  von  dem  gut 
des  Sp.  als  die  herausgeber  angemerkt  haben,  ich  habe  eine 
mir  zugängliche  ausgäbe  der  Vita  (Augustae  Vindelicorum, 
sumptibus  Martini  Happach  et  Franc.  Xav.  Schlüter,  anno 
MDCCxxix)  zu  rate  gezogen  und  führe  einige  beispiele  an. 
Ludolfs  zweites  capitel  gleich  ist  ein  mosaik  aus  stellen,  die  vom 
Sp.  übernommen  sind,  es  hebt  mit  1.  7 — 16  des  Sp.  an.  dem 
ohne  Übergang  2,  87 — 97  folgt,  daran  schliefst  sich,  nicht 
genau  1.  23.  zu  ende  desselben  capitels  folgen  stellen  aus  dem 
3.  4  und  5  cap.  des  Speculum  wörtlich  und  in  Umschreibungen, 
mittelbar  und  unmittelbar  aufeinander.  —  so  finden  sich  7.  57  ff 


LUTZ  UND  PERDRIZET    SPECULUM  HUMAXAH  SALVATIOXIS  59 

=  Ludolf  pars  i  cap.  5;  8,  25  =  Lud.  i  9;  14,  23  vgl.  Lud.  i 
60;  33,  11=  Lud.  11  82;  34,  81  —  86,  89—92,  95— 98  =  Lud. 
II  84;  36,  33  =  Lud.  ii  86,  und  so  wird  es  wol  nicht  viele 
capitel  des  Sp.  geben,  die  Ludolf  nicht  ausgebeutet  hätte. 

Werfen  wir  noch  einen  blick  auf  die  allgemeine  anläge  der 
Vita,  um  sie  mit  dem  oben  besprochenen  plane  des  Sp.  zu  ver- 
gleichen, so  ergibt  sich  sogleich,  dass  Lud.  einen  unendlich  aus- 
gesponnenen abklatsch  des  Sp.  bringt,  der  das  leben  Christi  ent- 
sprechend vervollständigt,  die  ereignisse  aus  dem  leben  Mariae 
beschneidet,  man  sehe  nur:  cap.  I  "De  divina  et  aeterna  Christi 
generatione' :  2  'De  inventione  remedii  pro  salvatione  generis 
humani  et  nativitate  Virginis  Mariae';  3.  'De  desponsatione  ^Mariae'; 
5.  'De  conceptione  Salvatoris',  und  so  fort,  immer  weiter  aus- 
holend und  die  Wundertaten  in  vielen  capiteln  einbeziehend,  mit 
der  passion  kommt  dann  Lud.  wider  in  den  bereich  des  Sp., 
dessen  beiden  letzten  capiteln  (s.  oben)  bei  Ludolf  ii  88  ent- 
spricht: 'De  poena  infernali  et  gloria  coelesti.'  selbst  den  brauch 
des  Sp.,  das  jedes  capitel  mit  einer  anrufung  '0  hone  Jesu  .  .' 
schliefst,  finde  ich  in  der  Vita  wider  'Domine  Jesu  Christe  .  .'. 
'0  Jesu  .  .',  '0  virgo  .  .'  uä. 

Ich  fasse  schliefslich  zusammen:  der  beweis  für  P.s  geist- 
reiche hypothese  ist  nicht  erbracht;  mir  ist  es  wahrscheinlicher, 
dass  Lud.  wie  viele  andere  corapilatoren  das  Sp.,  vor  allem  dessen 
praetigurationes,  für  sein  werk  einfach  übernommen  hat.  indem 
er  zugleich  die  erbaulich-poetische  richtung  der  vorläge  seinen 
gelehrten  zwecken  aufopferte. 

Als  grundlage  des  kritischen  textes  haben  die  heraus- 
geber  die  Schlettstädter  hs.  clm.  146  vor  allem  ihres  elsässischen 
Ursprungs  wegen  erwählt,  es  fehlt  leider  eine  darlegung  der 
handschriftenverhältnisse,  ihrer  gruppen  und  familien,  welche  die 
vorzügliche  eignung  gerade  dieser  hs.  beweisen  könnte,  auch 
wäre  eine  weit  eingehndere  beschreibung  wenigstens  Jener  hss. 
zu  wünschen,  die  zu  den  lesarten  herangezogen  worden  sind,  ich 
kann  also  über  die  Zuverlässigkeit  des  textes  kein  urteil  abgeben, 
gern  stelle  ich  fest,  dass  es  ein  gut  lesbarer  text  ist.  nebenher  sei 
bemerkt,  dass  die  lesarten  durch  Verwendung  des  cursivdrucks  für 
Zusätze  des  autors  übersichtlicher  gemacht  werden  könnten,  der 
commentar.  der  dem  textabdruck  folgt,  ist  reich  und  ausführlich. 

Die  Schlettstädter  hs.  ist,  obwol  ihre  bilder  unausgeführt 
(nur  die  'einsetzung  der  ehe'  im  1  cap.  scheint  vollendet)  und  von 
geringem  künstlerischen  werte  sind,  in  text  und  bild  photo- 
graphiert  und  in  vorzüglichen  lichtdrucktafeln  reproduciert 
worden.  zum  vergleich  dienen  die  schönen  miniaturen  der 
Pariser  hs.  der  Bibl.  nat.  fr.  6275,  die  in  kleinen,  aber  sauberen 
bildern  widergegeben  sind  (tafel  133  und  134  sind  durch  eine 
Verwechslung  der  eingedruckten  capitelangaben  vertauscht;  also 
XXV   1   statt  XXXI  1   usf.  und  ebenso  umgekehrt). 


60  POLHKIM    ÜBER 

Eine  überaus  wertvolle  entdeckung  danken  wir  hm.  Lutz, 
der  in  den  g-lasmalereien  der  Stefanskirche  zu  Mülhausen, 
eine  dem  Sp.  durchgängig  gleich  gestaltete  darstellung  tj-po- 
logischer  art  aufgezeigt  hat.  nicht  nur  in  der  auswahl  des 
Stoffes,  sondern  auch  in  den  meisten  einzelheiten,  in  der  Ver- 
teilung von  räum  und  masse,  in  der  anordnung  und  Stellung  der 
tiguren  ua.  stimmen  die  glasmalereien  mit  den  miniaturen  der 
Schlettstädter  hs.  übei'ein.  ein  Zusammenhang,  'wol  gemeinsame 
abhängigkeit .  steht  ganz  auiser  frage,  die  glasfenster,  die 
wahrscheinlich  auf  veranlassung  Ulrichs  ii  von  Pfirt  (f  1324)  von 
einem  unbekannten  meister  ausgeführt  worden  sind,  haben  nach 
abbruch  der  alten  kirche  gar  abenteuerliche  Schicksale  erlebt, 
sie  sind  nun  zum  grössten  teil  in  die  neue  kirche  eingefügt  und 
harren  dort  der  endgültigen  Ordnung,  wie  sie  nach  dem  vorbilde 
der  Sp.-hs.  im  tafelband  in  vorzüglichen  reproductionen  vorge- 
bildet ist.  auch  sonst  finden  sich  im  Elsass  typologische  glas- 
malereien, so  in  der  Stiftskirche  zu  Weifsenburg  und  in  der 
SMartiuskirche  zu  Colmar,  die  gleichfalls  in  die  ausgäbe  auf- 
genommen wurden  (die  fenster  der  SArbogast-kirche  in  Eufach 
sind  verschollen). 

Die  typologische  manier  war  in  der  litteratur  und  bildenden 
kunst  beliebt  und  viel  geübt,  ihre  keime  birgt  schon  das  Neue 
Testament ;  Origenes  und  Augustin  brachten  sie  in  schwang, 
schon  vor  dem  vSp.  bedienten  sich  künstler  des  rigurativen 
Symbolismus,  der  bedeutendste,  Nicolaus  von  Yerdun.  schuf  den 
altaraufsatz  im  chorherrenstift  Klosterneuburg,  die  bilderfolge 
und  -gestaltung  wie  wir  sie  im  Sp.  linden,  übte  anderseits  ihren 
einfiuss  bis  ins  17  jh.  unmittelbare  nachfolger  sind  die  fresken 
im  kreuzgang  am  dom  zu  Brixen.  in  England  die  glasfenster 
der  abtei  SAlban.  die  van  Eyck.  der  meister  der  Tres  heiles 
heures  des  duc  de  Berry,  Conrad  Witz  zeigen  sich  beeinflusst. 
Wandteppiche  und  andere  denkmäler  gehören  in  diesen  kreis  (vgl. 
dazu  Emile  Male,  L'art  religieux  de  la  tin  du  mo.ven  äge  en  France. 
Paris   190S.   chap.  5,  p.  240ffJ. 

Ebenso  steht  das  Sp.  h.  s.  auch  in  litterarischer  hinsieht  inmitten 
einer  reihe  typologischer  b  ilderbücher,  von  denen  die 
Biblia  picta  dem  Sp.  an  beliebtheit  nahe  kommt,  in  einem  be- 
lehrenden cap.  handeln  die  beiden  vff.  von  den  'Livres  typo- 
logiques  ä  Images  du  xiv  et  xv  siecle",  die  allesamt  deutschen 
Ursprungs  seien,  die  bezeichnung  'Biblia  pauperum"  wird  meist 
irrig  angewendet;  sie  nennt  einen  kurzgefassten  abriss  der  Bibel, 
ein  summarium,  wol  auch  ein  häuflein  von  memorialversen  mit 
namen,  das  würklich  armen  clerikern  diente,  die  sich  die  teure 
Bibel  nicht  kaufen  konnten,  die  kostbaren"  bilderhandschriften 
der  Biblia  picta  tragen  den  namen  zu  unrecht,  dass  die  Biblia 
picta  mit  dem  Sp.  h.  s.  in  directem  bezuge  stehe,  dass  sie  jene 
*vetus    compilatio'    sei,    auf    die    der    eingang    des    Sp.    anspielt 


LUTZ   UND  PEEDRIZET    SPECULUM  HUMAXAE  SALVATIOXIS  6  l 

(^Incipit  prooemiicm  cidusdam  novae  compilationis')  ist,  soweit  ich 
sehe,  zuerst  von  Ludw.  Friedr.  Hesse  (in  Naumanns  Serapeuni, 
I  6  jahi-g.  [  I  S55],  s.  1 93 — 202  mit  1  fortsetznng-en)  und  ausführlicher 
von  FFalk  (Centralblatt  f.  bibliothekswesen  xv  [  1S9S]  s.  42(t— 23) 
bedeutet  worden,  in  der  tat  haben  die  beiden  werke  wesentliche 
dinge  g-emeinsam,  in  andein  trennen  sie  grundlegende  unterschiede, 
lypologische  bilderbücher  sind  ferner  die  'Rota  Ezechielis'  (eine 
aneinanderreihung  übereinstimmender  stellen  des  Neuen  und  Alten 
Testaments,  mit  parallelen  aus  der  naturgeschichte),  die  "Concor- 
dantiae  caritatis'  des  abtes  Ulrich  von  Lilienfeld  gegen  I  350  (in 
denen  jeder  evangelischen  begebenheit  zwei  alttestamentliche  und 
zwei  naturhistorische  gegenstücke  angefügt  werden),  endlich  das 
werk  des  Wiener  dominicaners  Franz  von  Retz  (1385 — 1411) 
'Defensoriiim  inviolatae  virginitatis  beatae  Mariae',  das  die  frage 
der  unbefleckten  empfängnis  mit  unwahrscheinlichen,  aber  wahren 
begebenheiten  aus  der  heiligengeschichte,  der  geschichte  der 
menschen  und  tiere  parallelisiert. 

Weitaus  am  verbreitetsten  war  das  Speculum  humanae  sal- 
vationis.  abgesehen  von  den  drucken  ist  uns  eine  ungeheure 
anzahl  von  handschriften  mit  und  ohne  miniaturen  überkommen, 
das  wertvolle  vei-zeichnis,  um  das  sich  hr.  Lutz  verdient  gemacht 
hat,  zählt  nahe  an  300  hss.  auf.  die  masse  derselben  enthält  das 
lateinische  original;  übersetzt  wurde  das  Sp.ani  öftesten  ins  deutsche, 
dann  ins  französische,  englische,  niederländische  und  tschechische, 
die  französische  Übersetzung  von  Jean  Mielot  ist  in  die  ausgäbe 
vollständig  aufgenommen  worden,  der  französische  text  liest 
sich  hübsch  in  der  gotischen  schrift.  die  seitliche  Zeilenzählung 
wäre  auch  hier  dringend  zu  wünschen,  das  glossar  gewänne  erst 
durch  sie  seinen  beabsichtigten  wert.  Jean  Mielot  verfasste  die 
Übertragung  im  j.  1448  für  Philipp  den  Guten,  in  dessen  dienste 
er  ein  jähr  darauf  trat,  auch  unter  Philipps  söhn,  Karl  dem 
Kühnen,  blieb  er  in  dieser  Stellung  als  bücherschreiber  tätig, 
seine  leistung  als  Übersetzer  ist  sehr  umfassend,  über  30  werke 
konnte  P.  von  ihm  aufzählen.  Mielot  hat  stärker  auf  die  französ. 
prosa  gewirkt,  als  man  es  bisher  wüste  und  würdigte. 

Es  möge  mir  noch  gestattet  sein,  einige  anmerkungen  zur 
liste  der  deutschen  hss.  mitzuteilen. 

Nachzutragen  sind  zwei  Berliner  hss.  der  Kgl.  bibliothek : 
ms.  germ.  quart.  124b  papier,  lateinisch  mit  abgesetzten  versen 
und  einer  Übersetzung  in  deutscher  prosa,  und  die  in  reimzeilen 
verfasste  Übertragung  im  ms.  germ.  fol.  245,  papier,  mit  kunst- 
losen miniaturen,  in  federzeichnung  mit  färbe  angelegt,  sie  ent- 
behren nicht  einer  grotesken  naivität.  die  zur  salzsäule  ver- 
wandelte frau  Lots  zb.  wird  dadurch  gekennzeichnet,  dass  ein 
Ziegenbock  an  ihr  leckt,  diese  beiden  hss.  hat  schon  Schmidt- 
Wartenberg  besprochen  und  in  einigen  proben  bekannt  gemacht  — 
unzuverlässig,  wie  ich  urteilen  muss.    er  erwähnt  auch  noch  ein 


62      POLHEIM  ÜB.  LUTZ  U.  PERDRIZE'l'  SPECÜLUM  H u:\IAXAE  SALVATIONIS 

fragraent  der  Berlinei-  bibl.  quarto  57  4  (Pnblications  of  the 
modern  language  association  of  America  xiv  [Baltimore  1899] 
s.  i3ü — I6b).  es  wäre  ferner  die  von  AESchönbach  er- 
wähnte 1  hs,  der  Leipziger  nniv.-bibl.  und  die  von  Schauenburg 
auf  der  philologenversammlnng  in  Wiesbaden  vorgelegte  ale- 
mannische hs.  (vgl.  Zs.  f.  d.  ph.  9,  lOS)  zu  untersuchen,  proben 
niederdeutscher  hss.  hat  Erasm.  Nyerup  ^  und  HOesterley-* 
veröffentlicht;  weitere  nachweise  finden  sich  in  den  berichten 
Borchlings. 

Von  den  gereimten  deutschen  Übersetzungen  sind  die  von 
Heinrich  Laufenberg  ^,  Andreas  Kurzmann  ■'  und  Konrad  von 
Helmsdorf  '■  in  metrischer  form  abgefasst.  ob  die  übrigen,  die 
ohne  den  namen  des  autors  überliefert  sind,  einer  einheitlichen 
tradition  angehören  oder  nicht,  ist  bisher  nicht  bekannt,  es  sind 
dies,  soviel  uns  erschlossen  ist,  hss.  in  Berlin,  Darmstadt, 
Hannover,  Jena.  Karlsruhe,  München  und  Wolfenbüttel.  PPoppe 
hat  die  mitteldeutsche  Version  untersucht  und  auszüglich  ab- 
gedruckt (Straßburger  dissert.,  Berlin  18S7).  die  form  dieser 
fassung  ist  soweit  ich  sehe  die  reimprosa,  die  von  hier  einen  weg 
zu  den  andern  poetischen  werken  in  deutscher  reimprosa  ge- 
funden haben  mag. 

Die  besprochene  ausgäbe  des  Sp.  von  Lutz  und  Perdrizet 
ist  eine  leistung,  vor  der  ich  mich  in  respect  beuge,  rühmens- 
wert ist  nicht  minder  die  prächtige,  fast  allzu  splendide  aus- 
stattung  des  werkes.  eine  knappe  billige  textausgabe  des 
wichtigen  denkmals  wäre  nun  wol  zu  wünschen. 

Graz,  im  december   19Ü9.  Karl  Polheim. 


Sprache  und  stil  im  Wälschen  gast  des  Thomasiu  von 
Circlaria.  von  Friedrich  Kanke  (Palaestra  lxviii).  Berliu, 
Mayer  u.  Müller  1908.     178  ss.  -  4,80  m. 

Über  Thomasins  Verhältnis  zur  deutschen  spräche  hatten  wir 
bisher  keine  klarheit,  da  sich  widersprechende  ansichten  ent- 
gegenstanden; weil  aber  ein  urteil  über  stil  und  arbeitsweise 
ohne  erledigung  dieser  Vorfrage  kein  endgültiges  sein  kann,  haben 

'  iu  der  unten  angeführten  abh.   über  A.  Kurzmann,  s.  810  aniu. 

■■'  [Nyerupl  Symbolae  ad  Literaturam  Teutonicam  antiquiorem  .  . 
Havniae  1787:  xi.  Speeuli  h.  s.  in  linguam  saxoniae  inferioris  rhythmice 
versi  praefatio.  s.  445  46 — 451/52  und  .\ii.  Specimina  alterius  translationis 
eiusdem  libri.  s.  453/54—459/60. 

3  Hermann  Oesterley,  Niederd.  Dichtung  im  Mittelalter.  Dresden  1871. 
s.  49—52. 

■«  Ed.  Rieh.  Müller,  Heinrich  Loufenberg.   Strafsb.  Dissert,   Berlin  1888. 

^  Anton  ESchönbach,  Wiener  Sitzungsber.  phil.  el.  bd.  88.  Wien  1877 
s.  807  —  849.  hr.  Lutz  teilt  eine  nachricht  des  Vorauer  bibliothekars  mit, 
dass  die  hs.  sich  seit  wenigstens  10  jähren  nicht  mehr  in  der  bibliothek 
befinde,     nebenbei:    Vorau   in  Steiermark,  nicht  in  Mähren. 

'■  ebenda  s.  810.     anm. 


HEKXT   i'HEK   KANKE    SPRACHE  X'NP  STIL   IM    WAI.SCHEX  GAST  63 

die  reichen  untersuclmngen  der  letzten  Jahre  über  äufsere  und 
innere  form  Thomasin  nicht  g-estreift.  umsomehr  kann  man 
Rankes  von  Roethe  angeregte  arbeit  begrüfsen,  man  müste  es 
auch  dann,  wenn  sie  mit  so  völliger  beherschung  der  raethode 
keine  so  glatten  und  gesicherten  ergebnisse  verbunden  hätte,  es 
ist  kein  zweifei,  dass  durch  R.s  Untersuchung  die  ansieht  über 
Thomasins  arbeitsziel  und  arbeitsweise  sowie  über  seine  sprach- 
lichen kenntnisse  eine  klärung  und  teilweise  erledigung  gefunden 
haben. 

Noch  Zs.  44,  274  hat  Zwierzina  von  einem  reimkauderwälsch 
des  dichters  gesprochen.  R.  geht  in  der  Sprachbehandlung  eben 
von  diesen  reimen  aus.  da  eine  Untersuchung  der  spräche  über- 
haupt erst  eine  revision  von  Rückerts  ausgäbe  zur  Voraussetzung 
hätte.  Thomasin  ist  arm  an  reimwörtern,  32"5  o/o  aller  reime 
werden  von  15  reimwörtern  gebildet;  doch  ist  der  grund  dafür 
nicht  sprachliche  unbeholfenheit,  sondern  geht  auf  die  anläge  des 
dichters  zurück,  der  überall  den  Inhalt  über  die  form  stellt,  wie 
später  erwiesen  wird,  daraus  erklären  sich  auch  die  reimun- 
genauigkeiten.  die  reimbindungen  zeigen  im  allgemeinen  öster- 
reichischen sprachbestand,  wie  von  vornherein  anzunehmen  war; 
dahin  gehören  auch  die  weitgehende  apokope,  die  jedes  aus- 
lautende -e  treffen  kann  (s.  25  ff),  und  synkope  sowie  die  ge- 
sicherten seit,  geseit  neben  seltenerem  leit,  geleit.  da  in  den  un- 
reinen reimbindungen  auch  assonanzen  nicht  selten  sind,  würde 
ich  auch  für  die  reime  kunst:  wünscht,  rnogten:  sxiochten  nicht 
lautliche  entsprechungen  in  heutigen  südösterreichischen  mdaa. 
suchen,  denn  auch  wenn  wir  daraus  auf  die  zeit  des  13  jh.s  zu- 
rückschliefsen  könnten,  beweisen  solche  Übereinstimmungen  neben 
so  vielen  andern  nicht  im  dialekt  begründeten  assonanzen  nichts, 
für  die  bindung  ht :  ft,  w'ozu  R.  alem.  und  österr.  parallelen 
findet,  verweis  ich  noch  auf  Banz  Christus  und  die  Minnende 
seele  v.  514  kraft :  macht  {?,.),  wo  übrigens  auch  die  Identität 
der  Verfasserin  mit  dem  von  R.  auch  angezogenen  'Des  Teufels 
Netz'  nachgewiesen  ist.  auch  diese  bindung  war  für  Thomasin 
nur  assonanz"  bei  gän,  stän  herschen  nach  R.  im  intin.  und  in 
der  3  sg.  ind.  die  (?-formen,  sonst  soll  e  gelten,  das  wäre  eine 
auffällige  Verteilung,  aber  die  von  R.  angeführten  e-bindungen 
für  den  indicativ  (7909.  11545;  577)  sind  ebenso  ohne  ent- 
scheidung  wie  die  reime  sten  :  gen,  stet :  get.  es  bleibt  also  nur 
eine  sichere  conjunctivform  mit  ('  (5531.  14217),  was  zum  ge- 
brauche vieler  mhd.  dichter  stimmt.  die  von  R.  angeknüpfte 
betrachtung  ist  demnach  einzuschränken;  der  beweis  ex  silentio 
für  die  1  und  2  pers.  sg.  und  plur.  hat  keine  bedeutung,  wie 
ein  blick  in  die  reimverzeichnisse  andrer  dichter  lehrt. 

Zu  den  wenigen  verstöfsen  gegen  die  deutsche  spräche 
(endungsloses  adj.  nach  dem  bestimmten  artikel  43  f)  würde  ich 
auch  den  starken  gebrauch  einzelner  sw.  substantiva  und  manche 


64  BERNT    ÜBER 

apokopen  rechnen,  fehlgriffe  in  der  Wortwahl  sind  ihm  von 
WGrimm  und  Schönbach  nur  wenige  nachgewiesen ;  die  gerügte 
stelle  nerrischeif  -  'stultitia',  oheristez  guot  -  'sunimum  bonuni'  er- 
weist der  vf.  als  einwandfrei,  gewisse  unregelmäfsigkeiten  will 
R.  aus  dialektischem  gebrauche  erklären  (shi  in  beziehung  auf 
femin.  und  plural  s.  6u).  vieles  geht  auf  reimnot,  den  einfluss 
lateinischen  gebrauchs  —  doch  ist  Thom.  auch  nicht  mehr  vom 
latein  beeintlusst  als  andere  geistliche  poeten  seiner  zeit,  s.  66  — 
und  nur  zum  geringsten  teile  auf  sprachliches  Ungeschick  zu- 
rück, wenn  aber  E..  aus  einzelnen  erscheinungen  der  Umgangs- 
sprache schliefst,  dass  Thom.s  Sprachgefühl  nicht  höfisch-literarisch 
gebildet  war,  so  kann  ich  aus  diesem  umstand  nur  folgern,  dass 
bei  ihm  eben  das  lebendige  Sprachgefühl  stärker  war.  als  die 
sicherlich  nicht  geringe  litterarische  beeinflussung.  Thom.  wollte 
kein  nachahmer  der  höfisclien  aventiuren  sein,  auf  die  er  spöttisch 
herabblickt,  vgl.  v.  11 13  ff  3535  ff  und  Latzke  Subjectives  aus 
mhd.  dichtem  (programm,  Korneuburg  1906)  s.  23  f,  und  darum 
wol  auch  der  geringe  einfluss  ihrer  formalen  kunst  auf  ihn. 
ß.s  bemühungen  aber,  Thomasins  ausdruck  möglichst  an  die  Um- 
gangssprache anzulehnen,  geht  zu  weit,  wenn  man  auch  die 
meinung,  seine  dichtung  sei  die  unbeholfene  arbeit  eines  land- 
fremden, nach  R.s  arbeit  wird  stark  modirtcieren  müssen,  denn 
das  bedeutendste  ergebnis  seiner  Untersuchung  ist  der  erweis, 
dass  Thomasins  spräche  keine  buchsprache  ist,  sondern  dass  er 
sein  deutsch  auch  gesprochen  und  gehört  hat.  dass  aber  der 
gesprochene  dialekt  in  Thomasins  reimen  überwiege,  wie  der 
vf.  meint  (reimarmut,  fehlen  der  specifiscli  litterarischen  doppel- 
formen, einzelne  mundartliche  erscheinungen),  ist  mit  so  äufser- 
lichen  mittein  nicht  erweisbar,  nur  eine  behandlung  des  vers- 
innern,  vornehmlich  in  hinsieht  der  syntax,  könnte  entscheidende 
gründe  bringen,  da  die  bekanntschaft  des  dichters  mit  bedeu- 
tenden litterarischen  deutschen  werken  nicht  bezweifelt  werden 
kann  und  sogar  verloren  gegangene  niederrheinische  litteratur 
umfasst  haben  dürfte,  wird  man  bis  auf  weiteres  dem  dichter  die 
genaue  bekanntschaft  mit  der  lebenden  spräche,  wie  sie  sich  in 
R.s  arbeit  erweist,  und  die  bekanntschaft  mit  der  deutschen 
litteratur  seiner  zeit  in  gleicher  weise  zuerkennen  müssen,  und 
wird  das  geringere  hervortreten  rein  litterarischer  reime  aus 
seiner  sonstigen  reimarmut  und  seiner  eigenart  erklären  müssen, 
auch  R.s  schluss  auf  die  heimat  des  Friaulers  in  einstmals  zwei- 
sprachiger gegend  an  der  italienischen  Sprachgrenze,  wenn  er 
auch  nur  spärliche  Übereinstimmungen  mit  einzelnen  mundart- 
lichen formen  der  Sprachinseln  beibringen  kann,  die  ich  nicht 
einmal  hoch  anschlage,  ist  bei  dem  grade  seiner  sprachbe- 
herschung  einleuclitend,  denn  auch  ein  häufiger,  nur  vorüber- 
gehnder  aufenthalt  in  deutscher  Umgebung  hätte  ein  solches 
werk    nicht   hervorbringen   können,     auch   die   wortneubildungen 


«ANKE    SPRACHE  UXD  STIL  I.M   WÄLSCHEX  GAST  65 

des  dicliters  bezeugen  doch  eiu  lebendig-  entwickeltes  Sprachgefühl. 
R.  nennt  allerdings   die   zwölf   nicht  littei-arischen  dialektwörter 
Thomasins  (s.   50)  'eine  verschwindend  geringe  ausbeute'  —  man 
vgl.  dazu  den  bestand  an  volkstüniliclien  redensarten  sprichwört- 
licher natur  s.  145f,  was  ihn  ja  neben  Freidank  stellt  — ,  aber 
mancher  höfische  dichter  bringt  diese  zahl  nicht  auf,  die  seichte 
höfische  allerweltssprache  lässt  wenig  bodenständiges  aufkommen, 
und    nur   an    solchen    dichtem    darf   man    Th.  messen,     mit  den 
lebhaft     und     charakteristisch    schaffenden    innerösteneichischen 
dichtem   darf  mau    ihn   nicht    in    vergleich   bringen.     Th.  bleibt 
eiu    höfischer    poet,     dem    nur    der    lebendige    einschlag    seines 
naturells,    die    bekanntschaft    mit  der  gelehrten    und   lehrhaften 
dichtung  sowie  das  verwachsen  mit  der  predigt  und  sein  eigener 
lehrhafter   eifer   eine   besondere   färbe  geben,     auch  seine  vielen 
exempel  aus  dem  menschenleben,  die  nach  R.  dem  dichter  hätten 
die  gelegenheit  für  dialektwörter  geben  können,  kommen  bei  ihm 
aus    dem   munde   des  gelehrten    priesters   und   höfisch  gebildeten 
mannes,    der    sich    zur   belehrung   an   ritter   und  damen  wendet, 
aber  ein  vollständiges  Wörterbuch  des  WG.  würde  seine  spräche 
gar  nicht  als  ärmlich  erweisen;  ich  würde  zum  erweise  eine  Zu- 
sammenstellung   für   zwei    buchstaben    und    einen    vergleich  mit 
dem    wortbestande    in  Hartmanns   Iw..    Greg,   und   aHeinr.  emp- 
fehlen,   die    zusammen   etwa   den   umfang   von  Th.s   gedieht    er- 
reichen,    dass    er   deutsch   dachte,    beweist   auch  das  vorkommen 
der    vielen    sjaitaktischen   iucongruenzen,    zu    denen  nur  die  ge- 
sprochene spräche  und  der  sichere  halt  im  Sprachgefühl  verleitet 
(vgl.  s.  58  ff),    'solche  anakoluthe  sind  das  beste  zeichen  für  ein 
sicheres,  sorgloses  sprachempfinden'  (s.  65).     so   scheint   mir  der 
ausgebildete    gebrauch    der    rhetorischen    prolepse    auf    liäufige 
mündliclie     Verwendung    hinzuweisen;     ich    denke    an    deutsche 
predigten,     als    prediger    denkt    sich    unseren    dichter    auch   R... 
vgl.  s.   77. 

Auch  die  Stilbehandlung  des  vf.s  geht  auf  gebiete,  die  den 
herkömmlichen  stiluntersuchuugen  ferneliegen,  für  Th.  gilt  der 
grundsatz,  dass  der  Inhalt  über  die  form  gieng  (s.  89);  das  er- 
klärt auch  die  eintönigkeit  und  geringe  kunst  seiner  reime,  die 
menge  seiner  rührenden  reime  ist  bekannt,  aber  viele  von  ihnen 
liegen  in  der  absieht  der  hervorhebung  desselben  wortes  (s.  80); 
dazu  kommen  die  116  reichen  reime;  mögen  sie  auch  nur  selten 
künste  formaler  natur  sein,  überall  erkennen  wir  den  in  künst- 
liclier  rhetorik  und  schlagfertigkeit  geschulten  raeister  der  rede 
(trotz  V.  59  ff),  so  besonders  im  anaphorischen  reim;  man  vgl. 
R.s  tabellen  s.  S2  ff.  einzelne  stellen  können  sogar  mit  Gott- 
frieds wort-  und  reimkünsten  verglichen  werden,  dass  im  WGaat 
das  Wortspiel  nicht  häufig  sei,  weil  es  eine  freiere  sprachbeher- 
schiing  erfordere  als  Thora.  hat  (s.  129),  scheint  mir  eine  un- 
richtige  begründung.     es   fehlt    ihm    niclit  die  sprachgewantheit, 

A.  F.  D.    A.    XXXIV.  5 


66  BERNT    ÜBER    RANKE    SPRACHE   L'NI)  STIL  IM  WÄLSCHEN  GAST 

sondern  der  gefällige  und  spielende  tormensinn.  der  dem  nur  auf 
die  eindringlichkeit  und  klarheit  des  ausdrucks  bedachten  dichter 
abgeht,  überhaupt  ist  die  s.  152  gerügte  armut  an  Stilmitteln 
im  vergleiche  zu  andern  mhd.  dichtem  nicht  eigentlich  vor- 
handen, sie  sind  nur  etwas  einseitig  entwickelt,  zb.  das  zurück- 
treten der  bilder  gegenüber  dem  reichtum  an  vergleichen  und 
gleichnissen ;  aber  auch  in  der  besprechung  der  bildlichkeit  des 
ausdrucks  geht  R.  von  den  höchsten  anforderungen  aus.  wie 
arm  und  abhängig  darin  sonst  formgewandte  dichter  derselben 
zeit  sind,  ist  doch  bekannt.  R.  selbst  bemerkt  (s.  139),  dass 
Th.  dabei  nur  wenig  mit  überkommenem  gute  arbeitet,  im 
ganzen  allerdings  haben  die  verse  des  Friaulers  wenig  rhythmus 
und  form,  auch  die  harten  enjambements  mögen  dazu  beitragen, 
wenn  auch  da  nicht  alle  gleichmäfsig  verszerstörend  wirken,  wie 
ja  manche  dichter  gerade  durch  dieses  kunstmittel  den  eindiuck 
einer  eleganten  leistung  erzielen;  bei  Th.  ist  diese  würkung 
wenigstens  nicht  beabsichtigt.  —  bei  der  mitteilung  seines  meist 
verstandesmäfsigen  Stoffes  geht  der  dichter  vor  allem  auf  deut- 
lichkeit  und  logische  klarheit.  das  Schlagwort  'parallelismus', 
unter  dem  E.  (s.  9 Off)  stellen  sammelt,  in  denen  derselbe  ge- 
danke  durch  die  Zerlegung  in  gegensätzliche  glieder  klargemacht 
wird,  ist  misverständlich,  da  man  darunter  sonst  nur  ganz  all- 
gemein synonj^me  und  syntaktische  doppelbildungen  versteht,  was 
bei  Th.  eben  gegensatz,  antithese  in  parallelem  ausdruck  ist,  wie 
die  beispiele  v.  1326.  2683.  2747  usw.  und  besonders  v.  5479 ff 
beweisen;  hieher  gehört  auch  das  von  E.  s.  130f  gesam- 
melte. —  über  blofse  synonyme  zwillingsformen  handelt  E. 
s.  118  ff.  zu  Thomasins  wissenschaftlichem  stil  gehören  dann 
die  widerholungen,  die  Variation,  die  wideraufnahme  desselben 
Wortes  zur  gedankenverknüpfung.  ein  volkstümliches  imd  rheto- 
risches kunstmittel,  das  sich  manchmal  bis  zur  logischen  schluss- 
kette  entwickelt  (zb.  v.  7241  ff),  auch  hier  zeigen  sich  überall 
die  sprachbeherschung  und  die  kleinen  kunstgriffe  des  predigers. 
dazu  kommt  die  Vorliebe  für  zahlenmäfsige  einteilung  des  ge- 
botenen Stoffes  nach  drei  oder  fünf  gliedern  und  die  Vorliebe  für 
recapitulation  am  buchanfang  und  buchschluss.  diese  und  andere 
zeichen  deuten  darauf  hin,  dass  der  Friauler  vor  seinem  dichte- 
rischen werke  'eine  längere  lehrtätigkeit  irgendwelcher  art  hinter 
sich  gehabt  hat'  (s.l06);  jedenfalls  ist  die  schematische  anläge  und 
logische  gründlichkeit  seines  werkes  ein  beweis  seiner  wissen- 
schaftlichen durchbildung,  vielleicht  kommt  auch  das  fehlen  des 
humors  auf  diese  rechnung. 

Wie  schon  oben  gesagt,  haben  wir  es  bei  der  vorliegenden 
arbeit  mit  einer  methodisch  tüchtigen  und  erfolgreichen  leistung 
zu  tun ;  das  vorsichtige  abwägen  der  möglichkeiten  und  die  gute 
beobachtungsgabe  —  man  vgl.  den  besonnenen  excurs  s.  70  ff 
über  das  prosavorwort    der  dichtung,    das  E.  mit  guten  gründen 


DOLLMAYH    ÜBER    KTHX    RHYTHMIK     M.     HKHKIMS.  67 

für  Tli.  selbst  in  ansprnch  nimmt  —  lassen  den  vf.  selten  über 
die  grenzen  des  erweisbaren  hinausg-ehn,  und  das  erhülit  den 
wert  seiner  arbeit. 

Leitmeritz,  im  Jänner   1910.  Alois  IJenit. 


Rhythmik   und   melodik    Michel   Beheims   von    dr  Alfred 
Küliu.     Bonu,  Cohen  1907.     160 ss.     8»  -   5  m. 

Dass  Michel  Beheims  meisterlieder,  welche  erst  zum  ge- 
ringsten teile  veröffentlicht  sind,  vor  andern,  bereits  edierten 
meistersingern,  die  obendrein,  wie  Frauenlob,  ein  viel  reicheres 
bild  meistersingerischer  kunst  bieten  würden,  eine  eingehende 
Untersuchung  auf  ihren  rln'thnüschen  bau  und  melodischen  ge- 
halt  hin  erfahren,  nimmt  zunächst  wunder,  doch  findet  dieses 
unternehmen  seine  erklärung  und  rechtfertigung  in  der  selten 
günstigen  Überlieferung  der  gedichte,  die  in  der  Heidelberger 
liederhandschrift  nr  312  von  des  dichters  eigener  hand  ge- 
schrieben auf  uns  gekommen  sind,  auf  diese  handschrift  basiert 
K.  auch  hauptsächlich  seine  Untersuchung,  neben  ihr  zieht  er 
noch  die  Münchner  handschrift  cod.  germ.  nr  291,  Karajans 
ausgäbe  des  'Buches  von  den  Wienern'  und  die  von  CHofmann 
herausgegebene  chronik  Friedrichs  des  Siegreichen  von  der  Pfalz 
heran. 

Seiner  Untersuchung,  die  in  drei  capiteln  den  rhythmus 
der  verse,  die  melodie  und  die  beziehungen  zwi  sehen 
text  und  melodie  bei  Beheim  behandelt,  schickt  K.  eine 
kurz  orientierende  Übersicht  voraus  über  die  verschiedenen  an- 
sichten,  welche  in  den  letzten  Jahrzehnten  bezüglich  der  rhyth- 
mik  des  sprechverses  der  Übergangszeit  aufgestellt  wurden,  fixiert 
den  standpunct  der  'jambiker'  sowie  ihrer  gegner,  der  anhänger 
einer  'natürlichen  accentuierung  im  reimvers  ohne  feststehende 
läge  und  zahl  der  accente'  und  bringt  die  einschlägige  literatur 
in  guter  Übersicht. 

Da  man  bei  metrischen  Untersuchungen  gegenwärtig,  wo 
grundsätzliche  fragen  noch  immer  nicht  zu  sicherer  entscheidung 
gebracht  sind,  meist  das  gefühl  hat,  gewissermafsen  gleichungen 
auflösen  zu  müssen,  die  eine  unbekannte  zu  viel  haben,  nimmt 
man  gerne  seit  CvKraus  metrischer  abhandlung  über  Reinbots 
'Georg'  zu  hilfsconstructionen  Zuflucht,  es  ist  principiell  also 
nichts  einzuwenden,  wenn  K.  nach  dem  beispiele  von  ChrAMayers 
arbeit  (Die  rhythmik  des  Hans  Sachs,  PBBeitr.  28,  457  ff)  zu- 
erst den  versuch  macht,  die  Beheimschen  verse  nach  den  regeln 
der  mhd.  blütezeit  zu  lesen,  und  die  fälle  vermerkt,  in  denen  die 
betonung  der  blütezeit  zu  unmöglichkeilen  führen  würde.  K.  stellt 
fest,  dass  die  meisten  8-  (bezw.  9-)  silbler  4  hebungen  ver- 
langen, die  10-  (bezw.  ll-j  silbler  5,  die  r2-silbler  6  und  die  6- 
(bezw.  7-)  silbler  3.    bei  jedem  typus  sammelt  er  nun  die  verse, 


68  DOI.LMAYR   i-BER 

in  denen  —  mhd.  scansion  vorausgesetzt  —  eine  hebung  mehr 
gefoi'dert  wird,  um  von  dem  so  gewonnenen  material  aus  die 
Unmöglichkeit  einer  solchen  scansion  zu  erweisen,  das  haupt- 
gewicht  legt  er,  wider  nach  Mayei-s  Vorbild,  auf  verse  in  denen 
die  letzte  Senkung  fehlt,  zb.  achtsilblor  folgender  art:  xxxxxxxx 
oder  xxxxxxxx,  die  an  dem  sonst  emptiudlichen  versausgang  eine 
rhythmische  besonderheit  haben,  hier  scheidet  er  je  nach  der 
schwere  des  verstofses  fünf  Unterabteilungen:  1)  zwei  betonte 
selbständige  Wörter  im  versausgang  ohne  dazwischenliegende 
Senkung,  2)  nominalcompositum  am  versende,  3)  nomen  4-  ab- 
leitungssilbe  an  dieser  stelle,  4)  verbalcompositum  am  versaus- 
gang und  5)  tonlose  suftix-  oder  flexionssilbe  als  alleinige 
trägerin  des  reinies.  alle  fälle  lassen  sich  bei  Beheim  belegen, 
die  übrigen  rh3^thmusniüglichkeiten  bei  5  hebigen  S- silblern, 
6  hebigen  10-silblern,  7  hebigen  12-silblern  usw.  werden  nicht  ge- 
sondert untersucht,  sondern  in  einer  einzigen  gruppe  unter  jedem 
typus  aufgezählt,  ein  allzu  summarisches  verfahren,  bei  dem  auf 
positiven  gewinn  nicht  zu  rechnen  ist.  —  noch  grölsere  bedenken 
muss  aber  die  art  der  scansion  erregen.  K.  bringt  die  belege 
als  einzelne  verse  aufserhalb  ihres  inhaltlichen  und  syntaktischen 
Zusammenhangs,  sodass  dem  nachprüfenden  leser,  der  die  hs. 
nicht  einsehen  kann,  oft  die  beurteilung  schwer  wird,  aber 
selbst  bei  gutem  willen,  dem  besser  orientierten  autor  zu  folgen, 
wird  lebhafter  Widerspruch  gegen  seine  scansion  wach,  in  dem 
bestreben,  möglichst  viele  zeugen  gegen  mhd.  scansionsmöglich- 
keit  zu  sammeln,  führt  er  eine  reihe  von  versen  an,  die  zum  teil 
durchaus  einwandfreie,  zum  teil  doch  mögliche  rhythmustypen  der 
blütezeit  darstellen,  so  müste  zb.  seite  22  der  vers  irann  czüht, 
snpttlkelt,  c'r,  künst,  weh  nach  den  regeln  der  blütezeit  keines- 
wegs ein  5-hebiger  vers  mit  drei  icten  in  den  letzten  drei  vers- 
silben  sein,  kunst  tritt  unter  dem  rhythmuszwange  gegenüber 
den  starkbetouten  nachbarwörtern  er  und  weh  ohne  weiteres  in 
die  Senkung;  und  ähnliches  gilt  bei  den  meisten  der  zahlreich 
angeführten  belege,  wo  häufung  einsilbiger  hauptwörter  besteht, 
ich  begreife  nicht,  warum  K.  hier  das  tongewicht  der  nachbar- 
silben  gar  nicht  ei'wog,  da  er  doch  unten  bei  anderer  gelegenheit 
das  Verhältnis  zu  den  benachbarten  silben  wol  beachtete  und 
danach  gruppen  unterschied,  ich  begreife  auch  nicht,  warum  K. 
niemals  die  möglichkeit  versetzter  betonuug  im  auftact  ins  äuge 
fasst.  verse  wie  clüg,  listig,  weis  von  synn  oder  röss,  esell, 
Jielffent  gross  müssen  nicht  4-hebig  gelesen  werden,  sie  wären 
auch  in  der  lyrik  des  13  jh.s  als  dreiheber  möglich,  fast  die 
hälfte  aller  angefühlten  beispiele  sind  bei  annähme  mlid.  technik 
möglich,  wenn  man  das  relative  gewichtsverhältnis  der  silben 
untersucht,  die  möglichkeit  versetzter  betonung  zugibt  und  den 
satzaccent  neben  dem  wortaccent  beachtet,  etwa  die  hälfte  aller 
verse  sind  dann  aus  K.s  listen  zu  streichen. 


KÜHN    RHYTHMIK  V.  MELODiK    MK  lli;i,   liKllKl.MS  69 

Übeizeugender  ist  dei-  abschnitt,  der  über  Verletzungen  des 
wortaccentes  im  reime  handelt,  hier  sind  fälle  gesammelt  wie 
kercke'r:  ser,  schneidt'r:  nier:  vatr'r:  mer,  schüssel.spüh'r:  der; 
des:  manne's.  K.  kommt  zu  dem  Schlüsse,  dass  Beheim  nicht 
nach  mhd.  art  seine  verse  gebaut  haben  kann,  im  folgenden 
führt  K.  den  nachvveis,  dass  B.  silbenzähler  war,  und  gibt  ein 
übersichtliches  bild  von  dem  umfange  der  angewendeten  apo- 
kopen,  Synkopen,  epithesen  und  epenthesen  von  e  und  doppel- 
formen, dass  die  langen  reihen  von  doppelformen,  die  K.  ans 
der  hs.  gesammelt  hat,  nur  aus  der  silbenzählenden  technik  des 
dichters  erklärt  werden  kijnnen,  ist  gewis.  es  ist  aber  nicht 
der  einzige  weg,  diese  zu  erweisen.  K.  hätte  unschwer  aus  der 
hs.,  die  wir  uns  nach  den  eingetragenen  geburtsdaten  seiner 
kinder  als  handexemplar  des  dichters  vorstellen  müssen,  fälle 
beibringen  können,  wo  Beheim  durch  nachträgliche  besserungen 
—  einschub  von  flexions-e  udgl.  —  seine  silbenzählende  technik 
verrät,  auch  später  nachgetragene  gedichte,  weggestrichene  ver- 
suche, gedichte  die  in  der  hs.  ausdrücklich  als  Jugendleistungen 
bezeichnet  sind  (s.  Bartsch  Die  altd.  hss.  dei-  bibl.  Heidelberg 
s.  (iSb)  udgl.  hätten  sorgfältig  und  gesondert  untersucht  werden 
sollen. 

Die  tabellen,  in  denen  eine  Statistik  der  Verletzungen  des 
wortaccentes  bei  streng  jambischer  s  c  a  n  s  i  o  n  der 
verse  geboten  wird,  scheiden  acht  gruppen  von  accentverstöfsen, 
bei  den  schwersten  fällen  beginnend  (flexionssilbe  in  hebung, 
Stammsilbe  in  Senkung,  zb.  spih'n,  ianczcn,  manches),  w-arum  K. 
zwei  töne,  die  'slehtguldin'  und  die  'hohe  guldin'  weise,  die  er 
'wegen  der  ungeheuren  masse  von  reimen'  hier  von  der  Unter- 
suchung ausschloss,  überhaupt  nicht  weiter  bespricht,  ist  mir  un- 
klar geblieben,  auch  wird  nicht  deutlich,  ob  daraus  allein  sich 
eine  reduction  des  beobachteten  materials  von  1 1  000  versen  auf 
S850  ergab,  die  wie  es  scheint  sorgsam  geführte  Statistik  er- 
gibt, dass  mehr  als  85  "o  der  untersuchten  verse  mit  jambischem 
rhythmus  gelesen  werden  können,  ohne  dass  der  Avortaccent  ver- 
letzt wird. 

Im  zweiten  und  dzitten  capitel  versucht  K.  nach  S  a  r  a  n  s 
Vorbild  (Die  Jenaer  liederhs.  1901)  und  mit  dessen  terminologie 
die  töne  Beheims  zu  anah'sieren  und  sein  musikalisches  können 
zu  erwägen,  und  macht  auch  von  dieser  seite  her  wahrscheinlich, 
dass  Beheim  seinen  versen  jambischen  rhythmus  zugrunde  ge- 
legt hat. 

Das  resultat  das  K.  aus  der  breitangelegten  Untersuchung 
gewinnt,  dass  nämlich  Beheim  keine  freie  füllung  der  Senkungen 
kannte,  sondern  die  hauptmasse  seiner  verse  bei  fester  silbenzahl 
jambisch  scandierte.  ist  durchaus  sicher,  sind  aber  alle  verse 
und  töne  von  diesem  princip  beherschtV  zeigen  alle  lieder  das 
gleiche  Verhältnis?    vermag  man  nirgends  einen  fortschritt  seiner 


7  0  DOLLMAYE    ÜBKU    KL'HX    HIIYTHMIK    M.    BKHKIM» 

kunst  gegenüber  metrisch  schlechter  gebauten  versen  zu  er- 
kennen? K.  behandelt  die  ganze  masse  der  reime  als  eine  ein- 
heit.  nur  an  einer  stelle  weist  er  darauf  hin,  dass  sich  ein  be- 
stimmter accentverstoi's  (vorsilbe  ge  in  liebung  zb.  unihgi'uiirgt, 
gedenk)  auffallend  oft  in  einem  nachträglich  in  die  hs.  einge- 
tragenen gedichte  findet,  es  bleibt  zu  erwägen,  ob  sich  nicht 
von  der  nunmehr  sicher  erwiesenen  grundlage  streng  alternieren- 
der rhythmik  liedergruppen  mit  besserer  und  schlechterer  kunst 
zusammenstellen  lassen.  K.  verspricht  eine  auswahl  aus  den 
werken  Beheims  zu  veröffentlichen,  vielleicht  holt  er  dort  nach 
was  er  hier  zu  geben  versäumte,  vor  allem  auch  eine  Unter- 
suchung über  den  satzaccent  und  über  die  strophe  in  Beheims 
'Buch  von  den  Wienern*. 

Wien   12.3.10.  Viktor  Dollmajr. 

Die  deutschen  'accipies'  und  'magist er  cum  discipuli s' -Holz- 
schnitt e  als  hilfsmittel  zur  incunabel-bestimmung  vouW.  L.  Schreiber 
und  Paul  HeitZ  mit  77  abbildungen  [=  100  heft  der  Studien 
zur  deutschen  kunstgeschichte].  Strafsburg,  Heitz,  1908.  71  ss.  und 
77  tafeln.    8".  —  10  m. 

Zu  ende  des  1 5  und  im  anfang  des  1 6  jh.s  haben  drucker 
von  Schulbüchern  in  Holland,  England,  Deutschland  und  Italien 
ihre  erzeugnisse  gern  mit  titelholzschnitten  nach  Vorbildern  aus 
mittelalterlichen  handschriften  geschmückt,  die  in  allgemeinsten 
Zügen  schulscenen  schildern  und  mit  ihrer  auf f orderung  'accipies 
lanti  doctoris  dogmata  sancti'  auf  werke  des  verschiedensten 
lehrinhalts  passen,  wenn  sich  der  hexameter  auch  von  haus  aus 
auf  Thomas  von  Aquiuo  bezieht,  diesen  nachweis  hat  WLSchreiber. 
dem  dabei  ein  grofses,  zt.  von  Paul  Heitz  gesammeltes  und  re- 
produciertes  material  zu  geböte  stand,  überzeugend  geführt,  er 
leitet  zugleich  nach  Proctors,  Voulliemes  und  Haeblers  Vorgang 
dazu  an,  die  accipies-bilder,  die  ja  einmal  neben  einem  impressum, 
mit  Vorliebe  aber  auf  undatierten  drucken  stehu.  zur  bestimmung 
heimatloser  und  undatierter  drucke  zu  verwerten,  und  bringt  sein 
material  in  eine  so  praktische  folge  nach  der  zahl  der  abgebildeten 
Schüler,  dass  das  hülfsmittel  seineu  zweck  prächtig  erfüllt,  wie 
ich  au  unsern  Freiburger  beständen  habe  erproben  können. 

Der  Antwerpener  drucker  Gerhard  Leeu  ist  mit  der  Ver- 
wendung der  accipies-bilder  14  86  vorangegangen,  in  Deutschland 
hat  im  gleichen  jähre  der  Basler  Johann  Amerbach  als  erster 
den  brauch  aufgenommen  (Schreiber  nr  1 5),  doch  erst  das  accipies- 
bild  des  Kölners  Heinrich  Quentell  von  1490  (nr  18)  hat  der 
Sitte  bahn  gebrochen,  und  rings  im  lande  nachfolge  gefunden,  so 
dass  jetzt  insgesamt  gegen  4  00  incunabeln  mit  solchen  holz- 
schnitten  vorliegen  schuld  daran  ist  nach  S.s  einleuchtender 
beweisführung  der  gute  ruf  den  sich  die  Quentellschen  Schul- 
bücher erworben  hatten,  und  von  dem  die  nachdrucker  nutzen  zu 


GÖTZE    Ü15EE  SCHKKIliEK  ÜN1>  HEI'I'Z    DIE  ^VCCIPIES'-Jd  )i,zsrnNITTK     71 

ziehen  hofften,  wenn  sie  seinen  titelholzschnitt  nachahmten,  in 
dieses  g-esamtbild  kommt  ein  stürender  zug  durch  S.s  annähme, 
dass  sich  Qnentell,  als  sein  altes  accipiesbild  1495  durch  vielen 
gebrauch  verdorben  war,  einen  'magist er  cum  discipulis' 
(ur  56)  durch  nachahmung  eines  Nürnberger  Schnittes  von  Fried- 
rich Kreusner  1491  (nr  55)  verschafft  haben  soll,  doch  diese 
incongruenz  lässt  sich  beseitigen:  die  'Dicta  versoris  (  super  septö 
tractatus  magistri  |  petri  h3fspani  cum  textu'  (Hain  16038,  in 
Freiburg  B  1917  bu)  tragen  S.s  holzschnitt  56  auf  dem  titel- 
blatt,  sind  aber  nach  ihrem  Impressum  'per  honestum  virum 
Henricü  Quentell  Ciuü  Coloniensem.  Anno  octuagesimo  nono'  ge- 
druckt, dabei  macht  dieser  abzug  von  1489  nicht  einmal  den 
eindruck  völliger  neuheit.  so  bleibt  auch  in  diesem  falle  Quentell 
führer  und  muster  für  die  übrigen  deutschen  drucker,  die  lebens- 
zeit  seines  Schnittes  56  erweiteit  sich  auf  die  jähre  1489  bis 
1500,  das  gesamtbild  gewinnt  erheblich  an  geschlossenheit. 

Eine  Verschiebung  des  datunis  erfährt  auch  S.s  nr  4  3,  ein 
schnitt  Konrad  Hists  in  Speier,  der  von  1496  bis  97  gebraucht 
sein  soll,  übrigens  das  einzige  bild  ohne  linieneinfassung  in  dem 
ganzen  buche.  erwünscht  ist  hier  zunächst  Hains  nr  9036  a 
(in  Freiburg  D  6217)  mit  Hists  Impressum  von  1497,  nament- 
lich aber  der  druck  D  6208  h,  dessen  auch  von  S.  s.  43  mit- 
geteilte schlussschriit  nichts  anderes  bedeuten  kann  als  'Conradus 
Hist  de  Spira  1517'.  —  der  bei  S.  folgende  humoristische  schnitt 
nr  4  4  steht  1504  auf  zwei  drucken  Hüpfuffs  in  Strai'sburg,  be- 
gegnet aber  auch  schon  vor  1500  und  ist  da  typographisch 
schwer  unterzubringen.  S.  vermutet  einen  Strafsburger  drucker, 
aber  eine  bisher  nicht  gebuchte,  mit  diesem  schnitt  geschmückte 
ausgäbe  des  "Es  tu  scholaris'  o.  o.  u.  j,  (in  Freiburg  D  4263) 
stimmt  nach  allen  Haeblerschen  indicien  (M  88,  kegelhöhe  82/83 
und  alle  einzelheiten  der  texttype)  so  völlig  zu  drucken  Michael 
Greiffs,  dass  wir  den  Ursprung  des  Schnitts  wol  nach  Reutlingen 
und  in  die  zeit  vor  1496  verlegen  müssen.  —  widerum  zeitlich  er- 
weitern lassen  sich  die  grenzen  des  Quentellscheu  Schnittes  nr  52, 
der  bei  S.  1500  bis  1508  bezeugt  ist,  aber  auch  auf  einem  bis- 
her nicht  gebuchten  druck  'AUctoritates  |  Aristotelis  oim  recte 
philosophntiii  facile  |  p'ncipis  .  .  .'  (Freiburg  D  436  an)  erscheint, 
der  'Anno  redemptionis  Nono  supra  Millesimum  quingentesimum' 
gedruckt  ist.  eine  frühere  aufläge  desselben  werks  von  1504 
'in  profesto  Laurentij  martyris'  (D  436  ak),  die  'Tractatus  duo- 
I  decim  Petri  hispani"  vom  'Anno  christi.  iiij.  supra.  M.  ccccc.  ad 
fine  menfis  Julij'  (B  1905  p)  und  ein  'Chato  cü  glosa  \  et 
moralisatione'.  'lucente  vigilia  apostolorum  Symonis  et  Jude 
Anno  incarnationis  düice.  M.  ccccc  i.'  (D  5637  mo)  verstärken  auch 
nach  rückwärts  den  eindruck,  dass  der  schnitt  52  zu  den  meist- 
gebrauchten bei  Quentell  gehörte.  —  S.s  nr  1 S  steht  auch  auf 
Quentells   druck  Voullieme    1080,    nr  56  auf  VouUieme  981    und 


72    GÖTZE   (BER  SCHREIBER  TXD  HEITZ   DIE  'AfCIPIES'-HOLZSCHMrrK 

1017,  nr  60  auf  Hain  17  27  und  auf  einem  sonst  nicht  be- 
schriebenen druck  'ORationes  familiäres  <  Eleg-.i  [  tissime  ex  omib? 
Publij  Ouidij  libris  formale'  'Impresse  Colonie  ]>  Martinum  de 
werdena.  prope  domum  Consulatus.  in  vico  Burgensi.  Anno.  M. 
d.  ix',  einen  unbekannten  naohsclinitt  zu  nr  60  tind  ich  auf 
NMichaelis,  Arg'umenta  communia.  Basel  'Jacob  vPforzheim  ?)  1511. 
l'anzer  9,  393. 

S.  hat  vorausgesehen,  dass  sich  in  drucken  die  ihm  unbe- 
kannt geblieben  sind  weitere  abzüg-e  der  von  ihm  beschriebenen 
bilder  finden  würden,  und  auch  auf  die  erweiterung  der  ver- 
wendungszeit  bei  nr  4  3  und  52  ist  gewis  kein  übertriebener  wert 
zu  legen,  aber  wenn  einfach  durch  aufündung  zweier  neuer 
drucke  das  abhängigkeitsveihältnis  der  wichtigen  blätter  nr55f 
umgekehrt  und  der  ausgangspunct  von  nr  44  fixiert  wird,  scheint 
doch  die  frage  erlaubt,  ob  das  bei  bibliographischen  arbeiten 
dieser  art  befolgte  verfahren  der  umfrage  bei  bibliotheken  eigene 
Umschau  genügend  ersetzt,  die  umfrage  nach  den  'accipies"  ist 
seinerseits  in  Freiburg,  wie  ich  versichern  kann,  mit  mehr  Inter- 
esse und  Zeitaufwand  erledigt  worden,  als  normaler  weise  ein  viel- 
geplagter ausleihbeamter  dafür  aufbringen  kann,  und  hat  auf  die 
gestellten  bestimmten  fragen  pnnct  für  punct  antwort  erhalten, 
die  Schwierigkeit  ist  aber,  dass  die  aufgäbe  im  grund  höchst  un- 
bestimmte fragen  verlangt  hätte,  die  den  bibliotheken  einen  un- 
möglichen Zeitaufwand  zugemutet  hätte  —  aus  ähnlichen  er- 
wägungen  ist  auch  die  leitung  der  Weimarischen  Lutherausgabe 
neuerdings  vom  System  der  umfragen  abgegangen.  5  Freiburger 
drucke  hat  S.  nach  jener  auskunft  verwerten  können,  mir  liegen 
jetzt,  nach  weiterer  Sammlung  und  dank  dem  änderglück  meines 
collegen  Bruno  Claufsen  41  voi-.  und  gewis  birgt  das  haus  noch 
ein  teil  mehr,  unter  ihnen  hätten  S.  zb.  für  seine  nr  20  in 
D  8184  af  oder  D  8195  vorlagen  ohne  bibliotheksstempel  zur  Ver- 
fügung gestanden,  für  nr  21  in  D  5246  ein  früherer  abzug  mit 
unversehrtem  rande,  für  nr  27  in  D  4267  ein  klares  bild  statt 
des  verklecksten  Olmützer  exemplars,  für  nr  67  in  D  1466  ein 
besser  erhaltener  stock  mit  alter  Inschrift,  die  den  zweck  des 
Spruchbands  veranschaulicht,  anderseits  weisen  unsere  nrr  B 
1905  k,  D  1466,  146Sc,  4263,  4976,  5637  m  und  mo.  6960  und 
K  55481  starke  spuren  alten  gebrauchs  auf:  in  ihnen  werden 
manche  exemplare  aus  lehreihand,  einzelne  sogar  aus  schülerhand 
durch  bibliotheken  der  Breisgauklöster  den  weg  in  die  gegenwart 
gefunden  haben. 

Der  vergleich  der  originale  mit  S.s  abbildungen  zeigt  durch- 
weg, dass  diese  ihren  zweck  durchaus  erfüllen;  hie  und  da  ist. 
wenn  ich  die  erscheinung  i'echt  deute,  auf  dem  weichen  kunst- 
druckpapier  die  schwärze  ein  wenig  geflossen,  störend  auf  nr  26 
und  30,  in  nr  56  ist  dadurch  das  rechte  fenster  völlig  schwarz 
geworden,   umgekehrt   hat   bei  nr  60  wol   ein  zu   blasser  abzug 


KÖSTER   CbER  .TOACIIIJII-DEOE  DEUTSCHE  SHAKESPEARE-rRdHI.EME       7  3 

vorgelegen,  die  mafse  stimmen  bisweilen  nicht  scharf  znr  vor- 
läge, doch  wol  nur,  wo  Heitz  und  Schreiber  die  aufnähme  nicht 
selbst  besorgen  konnten  wie  bei  nr  9,  wo  auch  über  den  zustand 
des  arg  zerrissenen  und  mit  federzeichnung  gedickten  Originals 
berichtet  sein  sollte,  auf  interessante  einzelheiten  kann  hier  nur 
eben  hingedeutet  werden:  die  art  wie  auf  nr  16  die  folianten 
auf  dem  bücherregal  nicht  stehn  sondern  liegen,  auf  nr  45  (der 
einzige,  von  S.  vergebens  gesuchte  abzug  des  holzschnitts  Frei- 
burg D  4146  b)  der  kalender  an  der  wand  und  die  tintenhürner 
am  pult  hängen,  sowie  die  auf  nr  48,  64,  75  widerkehrende  art, 
wie  ein  schüler  die  gelesene  zeile  mit  dem  griffel  verfolgt,  nr  4  9 
und  57  die  form  des  lesepults  mit  zweifach  gebogenem  fuls  usf. 
Mit  der  vorliegenden  arbeit  haben  die  Heitzschen  Studien 
zur  deutschen  kunstgeschichle  die  zahl  von  hundert  heften  er- 
füllt —  in  I  5  Jahren  haben  sie  ihrem  gebiete  reiche  förderung 
gebracht  und,  worauf  hier  alles  ankommt,  einem  weiten  kreis 
eine  fülle  von  änschaunngsmaterial  zugänglich  gemacht,  das 
vom  Verlag  ausgegebene  Übersichtsheft  läfst  die  reiche  ernte  in 
aller  kürze  noch  einmal  an  uns  vorüberziehen. 

Freiburg  i.  Br.  Alfred  Götze. 


Deutsche     Shakespear e-probleme      im      XVIII    Jahrhundert 
und  ira   Zeitalter  der  romantik  von  Marie  Joachimi-Dege. 

Leipzig,  Haessel.  1907.  [Untersuchungen  zur  neueren  sprach-  und 
literaturgeschichte,  hg.  v.  Oskar  F.  Walzel,  12  heft]  296  s.  8. 
—  H  m.  (geb.  T  m.). 

Ein  gescheites  buch,  das  nur  im  detail  nicht  überall  so  gut 
ist  wie  im  ganzen,  es  scheint  mit  ungleichem  Interesse  ge- 
schrieben zu  sein,  das  verrät  schon  der  stil,  der  bisweilen  ge- 
want  und  geschmackvoll  ist,  bisweilen  tief  in  die  niederungen 
des  schlechten  Journalistendeutsch  hinabsinkt,  es  kommen  partieen 
vor.  die  die  Verfasserin  wol  ohne  inneren  anteil,  nur  aus  Pflicht- 
gefühl abgefasst  hat;  da  ist  der  Vortrag  trocken,  an  den  stellen 
aber,  wo  der  eifer,  und  offenbar  ein  sehr  reger,  fliegender  eifer 
erwacht,  da  wird  die  rede  triumphierend  und  pompös. 

Das  ganze  zerfällt  in  zwei  teile;  der  erste  (s.  6 — 1  2S)  be- 
handelt die  Shakespearefragen  des  18  jh.s,  der  zweite  (s.  131  — 
296)  erörtert  die  Verdienste  der  romantiker,  d.  h.  im  wesentlichen 
der  brüder  Schlegel,  um  den  grofsen  englischen  dramatiker.  eine 
merkwürdige  Verschiedenheit  der  räumlichen  ausdehnung  fällt 
dabei  gleich  ins  äuge:  während  der  intensiven  kritischen  tätig- 
keit  zweier  (zählen  wir  Tieck  hinzu:  dreier)  geister  etwa 
1 60  textseiten  zufallen,  müssen  sich  die  generationen  Gottscheds, 
Lessings,  Gerstenbergs,  Herders  und  der  jungen  genies  zusammen 
mit  120  selten  begnügen,  aber  auch  in  ihrer  inneren  structur 
sind  die  beiden  hälften  des  buches  verschieden :  die  erste  wählt 
den  ton  des  historischen  referats,  während  die  zweite  zum  grösten 


I  4  KOSTEU  LBEK 

teil  in  sj-stematisiereudem  Vortrag  abgefasst  ist  und  nur  gegen 
das  ende  wider  historisch-chronologisch  vorschreitet. 

Das  räumliche  niisverhältnis  wird  noch  auffallender,  wenn 
man  die  feinere  gliederung  der  beiden  hauptabschnitte  betrachtet, 
jeder  von  ihnen  zerfällt  wider  in  di-ei  teile,  die  Shakespeare- 
bemühungen des  18  jh.s  zerlegt  die  Verfasserin  sehr  beifalls- 
würdig in  drei  perioden :  dem  Gottschedischen  Zeitalter  der 
polemik  und  apologie  widn)et  sie  unter  einschluss  der  entwicklung 
des  jungen  Lessing  rund  30  selten;  der  productiven  kritik 
Lessings  und  den  praktischen  versuchen  FLSchröders  fallen  im 
zweiten  abschnitt  rund  6(J  selten  zu,  während  für  die  ganze 
dritte  periode,  d.  h.  alles  was  von  Gerstenberg  bis  zu  den  ro- 
mantikern  geschehen  ist,  nur  30  selten  übrig  bleiben.  —  und 
ebenso  verrät  der  zweite  hauptabschnitt  durch  seine  gliederung, 
dass  das  Interesse  der  Verfasserin  nicht  überall  gleich  stark  ist. 
das  eintreten  für  Shakespeai-e  muste  sich  für  die  brüder 
Schlegel  notgedrungen  zu  einem  kämpf  für  Shakespeare  zu- 
spitzen, und  da  dieser  nach  drei  fronten  geführt  wurde,  so  er- 
gaben sich  daraus  drei  (diesmal  natürlich  nicht  chronologisch  von 
einander  abgehobenej  capitel:  dem  kämpf  wider  die  'correcten' 
widmet  frau  J.-D.  wenig  mehr  als  zehn  selten,  dem  gegen  den 
Sturm  und  drang  wenig  mehr  als  20  selten,  während  mehr  als 
ein  drittel  des  ganzen  buches,  über  1 00  selten,  dem  kämpf  gegen 
die  classiker  zufällt,  so  wird,  ob  man  die  hauptteile  oder  die 
Unterabschnitte  betrachtet,  das  buch  gegen  das  ende  hin  immer 
ausführlicher. 

Diese  Ungleichheit  der  behandlung  wird  ja  zum  teil  durch 
die  gröfsere  Wichtigkeit  oder  unwichtigkeit  der  materie  bedingt; 
aber  doch  nur  zum  teil,  ein  rest  von  willkür  bleibt  übrig,  und 
da  ich  auch  diesen  lieber  erklären  als  verurteilen  möchte,  so  ist 
mir  wol  die  Vermutung  erlaubt:  ist  vielleicht  das  ganze  buch 
rückwärts  concipiert  worden?  bestand  vielleicht  anfangs  nur  die 
absieht,  das  Verhältnis  der  romantiker  zu  den  classikern  an  einem 
der  hauptprobleme,  der  Shakespeare-frage,  zu  erörtern?  wurden 
dann  kleine  ergänzende  partieen  (teil  2  abschnitt  1  und  2)  nötig? 
forderte  darauf  Lessing,  soweit  er  aureger  für  die  Schlegel  war. 
seine  Würdigung?  und  wurden  dann  vielleicht  erst  hinterdrein 
die  lücken  etwas  eilig  und  ohne  die  erste  frische  anteilnahme 
ausgefüllt  ? 

Ich  möchte  mir  gern  die  entstehungsgeschichte  der  einzelnen 
capitel  so  zurechtlegen,  aber  schliefslich,  für  die  beurteiluug 
müssen  wir  das  buch  so  nehmen  wie  es  nun  einmal  geartet  ist. 
und  da  ist  leider  zu  sagen,  dass  der  erste  teil,  der  dem  leser 
vorführen  soll,  wie  dem  deutschen  volke  langsam  das  Interesse, 
wenn  auch  noch  nicht  das  Verständnis  für  Shakespeare  zuteil 
wurde,  wenig  gelungen  ist.  frau  J.-D.  zeigt  sich  trefflich  be- 
gabt,   wenn  es  gilt,   reichlich  und  offen  bereit  liegendes  material 


JOACHIMI-nEOE   DEUTSCHE  SIIAKESPEAHE-I'KOIU.E.ME  10 

klwg  ZU  deuten,  wo  also  Shakespeares  einfluss  klar  zu  tage 
tritt,  wo  die  quellen  ergiebig  flieisen,  da  bringt  ihr  buch  das 
beste,  aber  jenen  rückwärts  dringenden  historikergeist,  der  zu 
den  Ursachen  nochmals  die  Ursachen  aufspüren  und  erkennen 
möchte,  und  sich  drum  über  ein  weit  zurückliegendes,  aufschluss 
bietendes  symptom  oft  mehr  freut  als  über  den  materialreichtum 
späterer  zelten,  diesen  leidenschaftlichen  entdecker-  und  Spürsinn 
hat  frau  J.-D.  nicht,  und  doch  sind  für  alle  literarhistorischen 
und  überhaupt  biologischen  forschungen  die  embryonalen  zustände 
oft  reichlich  so  wichtig  und  interessant  wie  die  erscheinungen, 
die  die  voll  entwickelten,  eigenlebigen  wesen  aufzeigen. 

Wie  selten  ist  bei  uns  Deutschen  die  entsagungsvolle  lust 
am  materialsammeln  und  au  mikroskopischer  betrachtung  ver- 
bunden mit  der  gäbe  der  geistigen  durchdringung-  und  der  ab- 
rundenden darstellung.  wir  haben  staunenswerte  bibliographieen 
des  kirchen-,  des  volks-,  des  Studentenliedes,  und  doch  keine 
einzige,  zum  kunstwerk  erhobene  darstellung  dessen,  wie  diese 
lieder  im  volke  gelebt  haben,  wir  erfreuen  uns  zweier  bände 
voll  Faustsplitter,  und  haben  keinen  der  das  geistige  band 
zwischen  diesen  tauseuden  von  fragmenten  nachweist.  —  auf 
der  andern  seite  aber  treten  viele  Schriftsteller  auf  mit  der  be- 
gabung,  in  schlankem  stil  ein  anmutendes  buch  zu  schreiben,  aber 
sie  nehmen  sich  nicht  die  zeit,  ihr  werk  gründlich  vorzube- 
reiten; ja,  sie  schätzen  in  vielen  fällen  die  'kärrnerarbeit'  wol 
gering  und  betrachten  sich  selbst  als  bauende  könige.  Selbst- 
täuschung in  menge. 

Hübsch  gezimmert,  aber  leider  etwas  unsolide  ist  das  erste 
capitel  des  buches  der  frau  J.-D.  ich  halte  vom  nachtragen  ein- 
zelner materialstückchen  sehr  wenig  und  will  daher  das  register 
alles  dessen,  was  an  fehlem  in  den  angaben  der  fi-au  J.-D.  steckt 
und  was  überhaupt  nicht  vorhanden  ist.  nicht  widerholen.  Kurt 
Richter,  der  sich  seinerseits  um  die  Sammlung  von  Shakespeare- 
splittern verdient  gemacht  hat,  gibt  in  den  Studien  für  ver- 
gleichende literaturgeschichte  8,  ;-i8Sff  viele  ergänzungen.  Wo- 
rauf es  mir  ankommt  ist,  an  ein  paar  beispielen  zu  zeigen,  dass 
mit  so  unvollständigem,  genügsam  gesammeltem  material  eine 
darstellung  wie  frau  J.-D.  sie  beabsichtigt,  nicht  durchzu- 
führen ist. 

Die  Verfasserin  möchte  Deutschland  während  der  ersten  vier 
Jahrzehnte  des  IS  jh.s  in  tiefster  Unkenntnis  über  Shakespeare 
zeigen,  gewis  trifft  das  für  die  groise  masse  des  Volkes  zu;  wo 
ist  aber  nur  der  geringste  beweis  dafür  erbracht,  dass  es  auch 
für  die  Wortführer  bedingungslos  gilt? 

Gottsched  tritt  in  den  gesichtskreis  der  frau  J.-D.  ich  stehe 
weitab  von  der  jetzt  durch  Reichel  proclamierten  bewunderung 
dieses  verdienstvollen,  aber  einer  vergehnden  zeit  angehörigen 
mannes.      ihn    jedoch    heute    noch    mit    dem    alten,    wolfeil    ge- 


76  KÖSTER  rBEU 

wordenen  spott  abzufertigen,  und  mit  der  Verachtung  die  in 
Lessings  munde  erklärlich  ist.  das  ist  noch  unhistorischer  als 
Reicheis  Überschätzung-,  vor  allen  dingen:  mögen  Gottscheds 
kunstanschauungen  schon  bei  seinen  lehzeiten  noch  so  rückständig 
gewesen  sein.  Unkenntnis  auf  dem  gebiet  der  internatinnalen 
dramatischen  literatur  darf  man  ohne  zwingende  beweise  dem  vf. 
des  Nötigen  Vorrats  niemals  vorwerfen,  das  tut  aber  fi'au  J.-D. 
sie  behauptet,  Gottsched  habe  bis  1741,  d.  h.  bis  zum  erscheinen 
von  Borcks  'Julius  Cäsar',  Shakespeare  nicht  gekannt:  '  'er  (Gott- 
sched) hatte  Shakespeare  erst  jetzt  durch  die  Übersetzung  kennen 
gelernt",  heißt  es  s.  10  f.  nun  hatte  aber  Gottsched  doch  schon 
seit  langen  jähren  den  'Spectator'  gelesen,  der  ihn  widerholt  auf 
den  englischen  dramatiker  hinwies,  aus  Gottscheds  eignem  hause 
war  1739  die  Übersetzung  des  'Zuschauers'  hervorgegangen; 
jahrelang  mochten  und  musten  der  dictator  und  seine  geschickte 
freundin  den  Inhalt  der  neun  bände  zum  gegenständ  ihrer 
Unterhaltung  gemacht  haben,  wie  sollte  ihm,  der  doch  auch  alles 
aufgestöbert  hat,  was  vielleicht  einer  theaterreform  dienen  konnte, 
der  gepriesene  englische  dramatiker  dauernd  unbekannt  ge- 
blieben sein?  frau  J.-D.  kann  diese  Unmöglichkeit  nur  dadurch 
möglich  machen,  dass  sie  die  würkung  der  moi'alischen  Wochen- 
schriften in  Deutschland  gänzlich  ignoriert,  und  das  scheint  mir 
ein  großer  fehler,  wir  haben  die  wähl  zwischen  zwei  ur- 
teilen über  Gottscheds  Shakespearekenntnis  bis  1741:  entweder  er 
kannte  nichts  von  dem  englischen  dichter,  wollte  sich  auch  gar 
nicht  belehren  lassen,  und  verwarf  seine  Averke  aus  blofsem  ver- 
urteil; oder  er  hatte  doch  einige  dramen  Shakespeares  gelesen 
und  muste  sie  nur  eben  nach  mafsgabe  seiner  kunstanschau- 
ungen misbilligen.  das  letzte  scheint  mir  das  einzig  mögliche, 
das  einzige  was  zugleich  der  wissbegier  und  der  beschränktheit 
Gottscheds  entsprach,  ja,  selbst  dies  urteil  ist  vielleicht  schon 
zu  scharf,  denn  zeugt  es  nicht  von  einer  erheblichen  Unbe- 
fangenheit, dass  Gottsched  in  denselben  Jahrgang  derselben  Zeit- 
schrift, in  der  er  eben  erst  Borcks  'Julius  Cäsar'  verurteilt  hatte, 
Elias  Schlegels  vergleich  zwischen  Gryphius  und  Shakespeare 
aufnahm,  in  dem  der  englische  dichter  so  manches  lob  erhielt? 
als    er   dann  freilich  hinterdrein  gewahr  wurde,  welche  begriffs- 

'  Frau  J.-D.  kann  sicli  natürlich  auf  Lessing  berufen,  der  behauptet 
hat,  da.ss  Gottsched  Shakesjjeare  'aus  stolz'  nicht  habe  kenneu  lernen  wollen, 
aber  ganz  abgesehen  davon,  dass  'kennen  lernen'  dort  im  Zusammenhang 
des  17  literaturbriefes  vielleicht  soviel  wie  'prüfen,  studieren,  und  also  er- 
gründen, verstehn'  heilsen  kann,  ist  es  doch  bei  den  mancherlei  Unge- 
rechtigkeiten Lessings  gegen  Gottsched  zweifelhaft,  ob  diese  behauptung 
sich  auf  Sachkenntnis  stützt,  was  wüste  denn  Lessing  von  Gottscheds 
Shakespeare-lectüre?  er  durfte  doch  höchstens  behaupten,  dass  der  Leip- 
ziger geschmacksrichter  Shakespeare  niemals  anerkannt  habe,  uud  daraus 
erst  auf  mangelndes  Verständnis  und  vielleicht  auf  wenig  willen  ihn  zu 
begreifen  schliefsen. 


JOACHIMI-DEOE   DEUTSCHE  SHAKESPEAKE-rROIU.EME  77 

Verwirrung-  der  Schlegelsche  aufsatz  hervorrut'eii  konnte,  da  zog 
er  1742  seinerseits  noch  einmal  gegen  Shakespeai-e  zu  felde. 
und  da  fielen  dann  worte,  wie  "niederträchtig,  ekelhaft',  die 
Gottsched  (was  bei  frau  J.-D.  nicht  zu  lesen  ist)  allerdings  nach 
dem  Sprachgebrauch  des  18  jh.s  verstanden  wissen  wollte,  und 
die  abermals  beweisen,  dass  ihm  der  englische  dichter  doch  nicht 
fremd  gewesen  ist. 

Neben  der  unvollständigkeit  der  Zeugnisse  ist  auch  die  Ver- 
bindung zwischen  ihnen,  die  frau  J.-D.  herstellt,  bisweilen  an- 
fechtbar, es  gibt  geschichtsschreiber,  die,  vielleicht  nur  unbe- 
wust,  jeder  einmal  geschehenen  tat  oder  äui'serung  eine  würkung 
zuschreiben,  das  ist  eine  grofse  Übereilung,  die  aufgäbe  des 
historikers  kann  nur  die  sein,  solche  factoren  geistig  mit  ein- 
ander zu  verbinden,  die  nachweisbar  im  Verhältnis  von  Ursache 
und  würkung  zu  einander  gestanden  haben  müssen,  alle  übrigen 
aber,  die  für  die  fürderuug  oder  heramung  eines  historischen  Ver- 
laufes ohne  belang  gewesen  sind,  einfach  beiseite  zu  lassen,  sie 
mögen  an  sich  so  interessant  gewesen  sein  wie  sie  wollen,  wenn 
wir  wissen,  dass  Leonardo  da  Vinci  flugmaschinen  auf  dem  papier 
construiert  hat,  so  beweist  das  nur,  dass  ein  vorgeschrittener 
geist  sich  schon  im  1 5  oder  1 6  jh.  mit  problemen  beschäftigt 
hat,  deren  lösung  dem  20  jh.  vorbehalten  war.  in  eine  blofse 
aufzählung  solcher  versuche  gehört  der  seine  hinein,  in  eine  ge- 
schichte  im  strengen  sinne  nicht. 

Daraus  ergibt  sich  schon,  wie  ich  die  früher  gebrauchten 
Wörter  'Vollständigkeit'  und  'unvollständigkeit'  verstanden  sehen 
möchte,  dem  bloi'sen  registrator  ziemt  die  absolute  Vollständig- 
keit der  documente,  Zeugnisse  oder  was  es  sei,  dem  historiker 
nur  relative  Vollständigkeit,  d.  h.  eine  möglichst  lückenlose  reihe 
der  Zeugnisse  die  in  ursächlichem  Verhältnis  unter  einander 
stelin,  mit  allem  was  ihre  deutung  fördert,  daneben  aber  eine 
bewuste  ablehnung  alles  dessen,  was  zwar  stofflich  verwant  ist, 
aber  die  reine  darlegung  der  historischen  Vorgänge  stört,  eine 
Schlussfolgerung  aus  einem  überflüssigen  document  erzeugt  einen 
ebenso  großen  fehler,  wie  die  auslassung  eines  für  den  Zusammen- 
hang notwendigen  beleges. 

Mess  ich  an  diesen  forderungen  die  leistung  der  frau  J.-D., 
so  tut  die  Verfasserin  bisweilen  zu  wenig,  bisweilen  zu  viel,  von 
der  auslassung  wichtiger  historischer  quellen  ist  schon  die  rede 
gewesen;  aber  auch  das  gegenteil,  folgerungen  aus  material  das 
keine  folgerungen  zuließ,  kommt  vor.  ein  beispiel:  s.  15  ff  be- 
lichtet frau  J.-D.  von  jenem  erstaunlichen  artikel,  der  anonym 
1753  in  den  'Neuen  Erweiterungen  der  Erkenntnis  und  des  Ver- 
gnügens' erschien,  und  den  Litzmann  (F.  L.  Schröder  I  76  anm.) 
geneigt  ist  Ast  zuzuschreiben,  nur  einer  der  in  englischer  lite- 
ratur  sehr  belesen  war,  kann  den  aufsatz  verfasst  haben ;  Shake- 
speare   wird   hier  mit    leuchtenden   äugen   betrachtet   und   unbe- 


78  KOSTE R   ÜliEK 

fangen  an  den  alten  gemessen;  probleme  tauchen  auf,  die  Lessing 
und  die  jungen  genies  erst  nach  jähren  streifen  sollten,  ganz 
einsam  steht  dieser  rätselhafte  autor  da.  als  er  1753  seine  aus- 
fülirungen  veröffentlichte,  hat  offenbar  selbst  der  vorgerückteste 
ihm  nicht  nachkommen  können;  wir  vermögen  nicht  den  kleinsten 
beweis  dafür  zu  erbringen,  daß  sein  aufsatz  beachtet  wurde  und 
folgen  hatte,  und  als  in  späterer  zeit  andre  dort  angelangt 
waren,  wo  er  schon  1753  gestanden  hatte,  da  waren  die  'Neuen 
Erweiterungen'  längst  begraben  und  vergessen,  der  anonymus 
von  1753  gehört  zu  jenen  millionen  überflüssiger,  die  es  im  welt- 
getriebe  gegeben  hat  zu  j'^nen,  die  zu  früh  geboren  sind  oder 
ihre  erkenntnis  nicht  laut,  nicht  oft  genug  ausgesprochen  haben, 
wollte  man  die  geistige  arbeit  einer  nation.  das  ererben  und 
vererben,  in  der  form  eines  großen  Stammbaumes  darstellen,  so 
würde  man  den  Verfasser  solch  eines  aufsatzes  eingliedern  als 
einen,  dessen  ahnen  man  nachweisen  kann,  der  aber  keine  kinder 
gehabt  hat.  man  muß  die  existenz  solcher  naturen  achten,  muß 
sie  hinnehmen  wie  sie  sind,  als  fruchtbringende  ideenträger,  die 
aber  keine  fernere  aussaat  geboten  haben,  man  darf  ihnen  aber 
nicht,  weil  ihre  gedanken  später  in  andern  menschen  wider 
aufgelebt  sind,  eine  directe  einwürkung  auf  diese  späteren  an- 
dichten. 

Wie  stellt  sich  nun  aber  frau  J.-D.  zu  dem  aufsatz  von 
1753?  sie  sagt  (s.  18):  'mit  diesem  artikel,  der  selbstredend 
unter  englischem  einfluss  steht,  tritt  die  Shakespearefrage  schon 
in  ein  helleres  licht,  von  der  Streiterei  über  regelmäfsigkeit 
und  unregelmäfsigkeit,  bei  der  Shakespeare  als  muster  für  die 
regellosigkeit  dient,  geht  man  in  literarischen  kreisen  zur  lectüre 
Shakespeares  im  original  über,  es  bereitet  sich  ein  Umschwung 
vor;  ganz  allmählich  fängt  man  an,  in  Shakespeare  einen  grofsen 
meister,  ein  genie  zu  sehen,  für  das  die  landläufigen  wertmafs- 
stäbe  und  die  bisher  gültigen  grundsätze  und  regeln  der  kritik 
viel  zu  eng  und  einseitig  sind',  also  'man'  geht  über,  'man' 
fängt  an,  in  'literarischen  kreisen"  (sogar  im  plural)  liest  man 
Shakespeare,  welch  ein  ganz  irriges  bild  entsteht  durch  solche 
Verallgemeinerung!  in  würklichkeit  ist  es  unseres  wissens  im 
anfaug  der  fünfzigerjahre  noch  fast  ebenso  still  über  Shake- 
speare geblieben  wie  vorher,  als  die  ersten  gerüchte  laut  werden, 
dieser  verschollene  englische  dramatiker  sei  ein  ansehnlicher 
dichter  gewesen,  da  nehmen,  so  viel  wir  erkennen,  einige  wenige 
seine  werke  zur  band:  Gottsched  der  überzeugungstreue,  um  ihn 
zu  bekämpfen  und  kommendem  übel  vorzubeugen:  wahrheitsucher, 
wie  Elias  Schlegel  und  Lessing,  um  ausschau  zu  halten,  ob  von 
England  vielleicht  das  heil  kommen  könne,  bis  man  aber  'in 
literarischen  kreisen  zur  lectüre  Shakespeares  im  original  über- 
gieng',  dazu  hatte  es  noch  gute  weile,  die  Verfasserin  hätte  den 
artikel  der  'Neuen  Erweiterungen'  von   1753  so  vorsichtig  beur- 


JOACHIMI-DECK   DEUTSrilE  SnAKESl'EAUIM'RdIM.EME  79 

teilen  sollen,  wie  sie  wenige  selten  spät»'r  (s.  34)  den  von  175G 
würdigt:  *wir  erstannen  über  die  frühreife  dieses  Urteils,  es  war 
wohl  für  seine  zeit  zunächst  noch  zu  reif,  es  weist  schon  auf 
Gerstenberg  und  Herder". 

Etwas  festeren  boden  unter  den  füfsen  hat  frau  J.-D.,  so- 
bald sie  an  den  jungen  Lessing  herantritt,  hier  ist  manche  alt- 
vertraute tatsache  neu  beleuchtet,  manche  combination  beachtens- 
wert, aber  selbst  wenn  ich  auch  hier  der  materiellen  lücken, 
der  falschen  datierungen  (Nicolais  Bibliothek!)  nicht  gedenke,  so 
bleibt  neben  dem  anregenden  doch  viel  unerwiesenes  stehn.  ein 
temperament  das  die  Verfasserin  gewis  persönlich  als  ein  glück 
betrachten  darf,  geht  hier,  wie  an  andren  stellen,  einfach  mit 
ihr  durch,  sie  sieht  ein  ziel  für  ihre  Untersuchung  vor  sich, 
sie  weifs  den  weg  dahin;  sie  erkennt  ganz  richtig,  wie  sich  im 
18  ]h.  die  Shakespearekenntnis  und  Shakespearebegeisterung 
im  grolsen  und  ganzen  entwickelt,  aber  es  geht  ihr  offenbar  zu 
langsam,  sie  lässt  die  menschen  des  1 8  jh.s  ihre  einsichten  nicht 
in  dem  tempo  gewinnen,  wie  es  nun  einmal  tatsächlich  geschehen 
ist,  sondern  sie  hetzt  sie  noch  nachträglich. 

Lessing  hat  darunter  zu  leiden,  bei  ihm  hat  es  —  anders 
wissen  wirs  nicht  und  werden  es  auch  wol  schwerlich  anders  er- 
kennen —  bis  gegen  das  ende  der  fünfzigerjahre  gedauert,  dass 
er  ein  überzeugter  anhänger  Shakespeares  auf  grund  würklicher 
kenntnis  wurde;  und  Moses  und  Nicolai  haben  und  behalten  das 
verdienst,  ihm  auf  diesem  wege  anregungen  zugetragen  zu  haben, 
frau  T.-D.  möchte  ihn  aber  schon  1755  als  shakespearereif  und  1757 
als  Shakespearekenner  hinstellen,  und  das  gelingt  ihr  nur  da- 
durch, dass  sie  den  tatsachen  resultate  abpresst,  die  diese 
schlechterdings  nicht  hergeben  wollen,  da  wird  zunächst  Lille 
als  ein  Shakespeare  im  kleinen  dargestellt,  nur  damit  an  dem 
dichter  der  "Miss  Sara  Sampson"  schon  1755  eine  entscheidende 
annäherung  an  Shakespeare  zu  erkennen  sei.  was  bei  Lillo  das 
neue  war,  so  heilst  es  s.  32,  war  shakespearisch.  'man  braucht 
es  sich  nur  (nur!j  ins  grandiose  gesteigert,  oder  ins  künstlerische 
gemildert  vorzustellen,  um  die  hervorstechenden  merkmale  des 
Shakespeareschen  dramas  zu  bekommen',  mit  solchem  'nur'  kann 
man  aus  einem  tisch  einen  vogel  machen. 

Und  ebenso  gewagt  erscheint  mir  der  zweite  schluss  (s.  37): 
weil  Lessing  1757  die  bemerkung  macht,  Mendelssohn  habe  den 
Hamletmonolog  'vortrefflich  übersetzt',  so  erführen  wir  dadurch 
"mit  bestimmtheit',  dass  Lessing  in  diesem  jähre  Shakespeare  im 
original  kannte,  für  mich  folgt  aus  Lessings  worten  nur,  dass 
er  die  Übersetzung  des  monologes  mit  dem  original  verglichen, 
günstigstenfalls  dass  er  dann  auch  den  ganzen  'Hamlet'  in  eng- 
lischer spräche  gelesen  hat.  aber  dass  er  'Shakespeare'  (das  soll 
im  Zusammenhang  der  selten  37  und  38  so  viel  heilsen,  wie: 
mindestens  eine  gröfsere  zahl  der  wichtigsten  dramen  von  Shake- 


80  KÖSTER  ÜBER 

speare)  schon  1757  im  original  gekannt  habe,  geht  aus  dem  ur- 
teil über  den  einen  mouolog  nicht  hervor,  es  ist  bei  der  geistes- 
art  Lessings  allerdings  so  gut  wie  selbstverständlich,  dass,  als 
ihn  der  'Hamlet'  gepackt  hatte,  ihn  auch  nach  weiterer  kennt- 
nis  gelüstete,  aber  wie  bald  und  wie  umfänglich  er  sie  sich 
verschafft  hat,  wissen  wir  nicht  genau,  wir  müssen  da  vor- 
sichtig sein,  im  februar  1759  natürlich  war  ihm  Shakespeare 
wolvertraut;  und  er  kannte  mehr  als  die  drei  stücke,  die  er  im 
17  literaturbrief  citiert. 

Frau  J.-D.  führt  dann  mit  sicherer  hand  die  Untersuchung 
bis  dahin,  wo  Lessing  für  die  zukunft  der  deutschen  literatur 
die  losung  gewonnen  hat:  antik  und  germanisch  zugleich  (ob 
sie  dabei  die  stelle  von  den  '»lühsMiien  Vollkonimeiiheiten  der 
Kirnst'  s.  -13  richtig  interpretiert  hat,  bleibe  dahingestellt). 
Lessiug  interessiert  sie  und  ist  ihr  mit  seinem  ringen  nach  form 
und  'höheren  gesichtspuncten"  verständlich,  obvvol  sie  vor  den 
titeln  seiner  werke  (Der  Jude,  Hamburger  Dramaturgie)  und 
dem  datum  seines  berühmtesten  literaturbriefes  nicht  viel  respect 
hat.  bei  Wieland'  lässt  die  anteilnahme  schon  wieder  etwas  nach, 
ganz  richtig  wird  der  gesinnuugswechsel  verzeichnet,  der  zwischen 
AVielauds  brief  an  Zimmermann  aus  dem  jähre  1758  und  den 
aumerkungen  zu  seiner  Shakespeare -Übersetzung  besteht;  aber 
eine  erklärung  wird  nicht  versucht,  und  doch  ligt  in  der  ent- 
wicklung  dieses  einen  künstlers  (wie  die  geschichte  aller  kunst 
überhaupt  von  vielen  solcher  individuellen  factoren  abhängt)  ein 
stück  Schicksal  für  uusre  literatur  enthalten,  denn  in  welcher 
gestalt  der  übersetzte  Shakespeare  zum  ersten  mal  vor  die  deut- 
schen leser  trat,  so  rauste  er  eine  Zeitlang  vor  ihrer  phantasie 
weiter  leben. 

Abermals  tut  darauf  die  Untersuchung  der  Verfasserin  einen 
Sprung,  man  darf  das  an  und  für  sich  nicht  tadeln,  die  zu- 
sammenfassende darstellung  eines  geschichtlichen  Vorgangs  kann 
nicht  die  zitterigen  curven  aller  eiuzeluntersuchungen  mitmachen, 
sondern  wird  einfachere,  ausgeglichenere  bogen  ziehen  müssen, 
aber  statt  zweier  katheten  einfach  die  hypotenuse  zeichnen,  das 
dürfte  doch  etwas  zu  summarisch  sein,  und  doch  geht  frau  J.-D. 
in  der  Vereinfachung  der  entwicklungslinien  soweit,  es  galt 
zweierlei  zu  zeigen:  die  folgen  von  Lessings  und  die  von  Wie- 
lands Shakespeare-propaganda.  auf  der  einen  seite  war  die  frage 
zu  beantworten :  verstand  man  im  deutschen  publicum  oder  auch 
nur  in  der  schriftstellerwelt  Lessings  anregungen  richtig?  dar- 
auf konnte  und  muste  eine  betrachtung  von  Weifses  dramen  aus 
der  Shakespeareschen  sphäre  antwort  geben,    die  für   eine    reihe 

^  '  beiläufig:    dass  Wielaiid  'der  Genie'  statt  V/o.s  (tc/uV^  schreibt,  sollte 

man  nicht  mit  einem  '(sie!)'  versehn,  das  ist  älterer  Sprachgebrauch,  her- 
vorgegangen aus  einer  sehr  schönen  Vorstellung,  worüber  Rud.  Hildebraud 
trefflich  im  Grimmschen  Wörterbuch  s    v.  Genie  unterrichtet. 


JOACHIMI-DEGE    DEUTSCHE    SIlAKESl'EARE-PKom.EME  81 

von  jähren,  mitsamt  den  kritiken  die  sie  erfahren  haben,  ein 
Gradmesser  für  die  Shakespearereife  in  Deutschland  sind  und  auch 
noch  manche  züge  späterer  Shakespeare -bearbeitung-en  erklären, 
und  auf  der  anderen  seite  war  (wie  übrigens  frau  J.-D.  s.  62 
selbst  ganz  richtig  bemerkt)  die  zunähme  der  Shakespearekennt- 
nis und  -bewunderung  in  Deutschland  seit  der  Wielandschen 
Übersetzung  zu  verfolgen,  die  Verfasserin  behauptet  nun  zwar, 
das  sei  nicht  möglich ;  aber  es  ist  nur  schwierig  und  zeitraubend, 
in  den  briefwechseln  und  Zeitschriften,  auch  den  kleineren,  der 
Sechzigerjahre  steckt  das  material;  mau  muss  es  nur  heben,  der 
ertrag  wird  gar  nicht  so  gering  sein;  denn  die  entwicklung  des 
publicums  neben  der  der  dichter  und  kritiker  gehört  auch  in  die 
litteraturgeschichte. 

Nun,  frau  J.-D.  geht  den  h3^potenusenweg  und  ist  mit  einigen 
schritten  von  Lessing  zu  Friedrich  Ludwig  Schröder  gelangt, 
und  hier,  wo  nun  die  beiden  trefflichen  bände  von  Berthold  Litz- 
mann überreiches  material  boten,  hier  gesellt  sich  zur  linien- 
führung  auch  die  färbe;  die  hastige  erürterung  macht  ergiebigerer 
erzähluug  platz,  mit  sicherem  gefülil  weifs  die  Verfasserin  die 
älteren,  im  einzelnen  richtigen,  aber  des  lechten  gesamturteils 
entbehrenden  Untersuchungen  über  Schröders  bühnenbearbeitungen 
von  Merschberger  in  historische  beleuchtung  zu  rücken:  Schröders 
verfahren  war  in  anbetracht  des  damaligen  publicums  das  einzig 
('mögliche'   ist  wol  zu  viel  gesagt,    aber   das    einzig)   praktische. 

Auffallend  kurz  ist  der  abschnitt  über  die  jungen  genies 
von  1770 — 1780,  frau  J.-D.  wird  ihnen  gerecht,  das  ist  ihr 
nicht  abzustreiten,  aber  diese  gerechtigkeit  äufsert  sich  bis- 
weilen kühl,  bisweilen  mit  Überlegenheit,  es  sind  ihr  (Goethe 
natürlich  stets  abgerechnet,  und  auch  Schiller)  lärmende,  irrende 
knaben,  die  man  nicht  ganz  für  voll  zu  nehmen  braucht,  dies 
urteil  trifft  man  bei  manchen  an  die  durch  Oskar  Walzeis 
schule  gegangen  sind;  es  hat  auch  seine  berechtigung,  sobald 
man  den  blick  auf  die  bi'üder  Schlegel  gerichtet  hält,  Lenz  und 
seine  altersgenossen  mit  ihnen  vergleicht  und  die  beiden  gruppen, 
wie  es  die  romantiker  wünschten,  in  gebührender  entfernung  von 
einander  hält,  aber  wenn  man  in  einer  selbständigen  hälfte  eines 
buches  alle  Shakespeare-bemühungen  des  18  jh.s  um  ihrer  selbst 
willen  schildert,  so  dürfen  auch  die  Stürmer  und  dränger  ver- 
langen, zu  ihrem  rechte  zu  kommen,  gewis  sind  die  romantiker 
die  reiferen,  einerseits  weil  sie  die  geborenen  theoretiker  und 
kritiker  waren,  eigenschaften  also  besafsen,  die  die  genies  weder 
pflegten  noch  besonders  schätzten;  dann  aber  auch,  weil  ihnen 
die  einsieht  dreier  Jahrzehnte  zugute  kam,  die  den  leidenschaft- 
lichen früheren  dichtem  noch  fehlte,  alles  'zueigenmachen',  alles 
'auffassen'  von  Shakespeares  künstlerischen  grundsätzenhat  aber  den 
romantikern  für  ihre  dichterischen  leistungen  so  gut  wie  nichts 
genützt,  sie  waren  und  blieben  kluge  kritiker,  während  die 
A.  F.  D.  A.    XXXIV.  ,  6 


82  KÖSTER    ÜBER 

Stürmer  luid  dränger,  über  die  sie  sich  so  sehr  überhoben,  dichter 
waren,  dichter  sehr  verschiedenen  Schlages,  aber  dichter,  drum 
muss  man  bei  ihnen  ihre  poetischen  leistungen  aufsuchen,  in 
denen  sie  ihre  *Shakespeare-probleme"  praktisch  zu  lösen  ver- 
suchten, dass  frau  J. -D.  das  so  gut  wie  ganz  unterLässt, 
wenigstens  sehr  rasch  über  diese  fragen  hinweghuscht,  ist  aus 
gründen  der  gerechtigkeit  nicht  gutzuheil'sen.  denn  nun  spielen 
die  jungen  genies,  für  sich  allein,  wie  auch  später,  als  sie  von 
den  romantikern  angegriffen  wurden  und  sich  nicht  mehr  wehren 
konnten,  eine  klägliche  rolle. 

So  habe  ich  den  eingangspartieen  des  buches  der  frau  J.-D. 
wie  man  sieht,  manche  bedenken  entgegenzustellen,  die  Vor- 
geschichte der  Shakespeare-bewegung  wird  wol  noch  einmal  mit 
reicherem  detail  geschrieben  werden  müssen,  die  grundgedanken 
der  ersten  capitel  kann  man  sich  aneignen;  vor  den  Übertrei- 
bungen jedoch  wird  man  sich  zu  hüten  haben,  und  das  stille 
sammeln  und  vorsichtige  deuten  einzelner  in  betracht  kommender 
Symptome,  für  das  die  Verfasserin  dieses  buches  anscheinend  nicht 
viel  hochachtung  hat,  wird  noch  fernerhin  eine  wichtige  aufgäbe 
bleiben,  der  name  Shakespeare  braucht  in  solchen  dokumenten 
gar  nicht  immer  ausdrücklich  genannt  zu  werden,  das  deutsche 
Volk  ist  auch  durch  andre  mittel  als  durch  Shakespeare -lectüre 
für  Shakespeare  reif  geworden. 

In  der  gröfseren  zweiten  hälfte  des  buches  ist  nun  aber  die 
Verfasserin  in  ihrem  element.  diese  capitel  über  die  romantik 
sind  aus  dem  vollen  geschöpft  und  durchweg  aus  primären  quellen, 
romantische  doktrin,  die  ja  unter  lebhafter  anregung  einer  der 
genialsten  deutschen  frauen  sich  ausbildete,  wird  wol  stets  in 
frauen  congeniale  auslegerinnen  finden,  die  discussionen  der 
brüder  Schlegel  durchlebt  denn  auch  frau  J.-D.  noch  einmal 
mit  hoher  erregtheit.  ihre  ganze  liebe  gehört  den  romantikern. 
sie  haben  den  process  der  einbürgernng  Shakespeares  vollendet, 
die  krönung  des  werkes  danken  wir  ihnen;  drum  gebührt  auch 
ihnen  selbst  eine  kröne. 

Für  diesen  teil  der  aufgäbe  bringt  frau  J.-D.  ausgesprochene 
begabung  mit,  energie  des  denkens  und  eine  fähigkeit,  aus 
längeren  gedankenreihen  ein  klares  facit  zu  ziehen',  es  berührt 
sympathisch,  wie  sie  nie  des  dankes  für  Oskar  Walzel  vergisst, 
in  dessen  schule  sie  sich  gebildet  hat,  wie  sie  sich  aber  Selb- 
ständigkeit des  Urteils  und  den  mut  ihrer  meinung  wahrt  und 
eine  frische  des  Vortrags,  die  nur  zuweilen  ins  saloppe  fällt. 

Ihre  grundtendenzen  und  hauptresultate  sind  ausgezeichnet, 
ohne  zweifei  ist  erst  die  romantik  Shakespeare  gerecht  geworden, 
und  wenn  um  dieses  nachweises  willen  licht  und  schatten  manch- 

1  ist  in  den  abschnitten  über  Schiller  (s.  216  uö.)  die  beständige  Ver- 
wechslung von  'sentimetifaP  und  'soitimentalisch'  gleichgültigkeit  gegen  die 
begriffsverschiedenheit  oder  absieht? 


JOACHmi-DE(!E    DEUTSCUE    SHAKESPEARE-PUUliLEME  83 

mal  etwas  stark  contrastiert  sind,  so  schadet  das  nichts,  mäisigen 
kann  man  da  leicht,  es  bleibt  zb.  noch  einmal  erneuter  nach- 
prüfung-  vorbehalten,  ob  der  gegensatz  zwischen  den  genies  und 
den  romantikern  nicht  vielleicht  etwas  zu  unversöhnlich  formu- 
lirt  ist;  ob  die  brüder  Schlegel,  zwar  ausgehend  von  richtigen 
Voraussetzungen,  aber  durch  Widerspruch  ins  extrem  gedrängt, 
sich  in  ihren  letzten  folgerungen  das  schaffen  Shakespeares  nicht 
vielleicht  um  einen  oder  einige  grade  zu  bewust  und  absichtlich 
vorgestellt  haben  (wie  übrigens  die  Verfasserin  s.  207  selbst  in 
erwägung  zieht),  besser  ist  es  jedenfalls,  frau  J.-D.  accentuiert 
hier  ein  wenig  zu  stark,  als  wenn  sie  die  grenzlinien  zwischen 
den  Parteien  mit  unentschiedener  band  gezogen  hätte,  an  ein 
paar  stellen  wären  sogar  ein  paar  kräftigere  wörtlein,  auch  im 
Werturteil,  am  platze  gewesen:  nämlich  überall  da,  wo  es  gilt 
die  brüder  Schlegel  abzurücken  von  dem  Schwätzer  Tieck. 

So  habe  ich  nicht  allem  zustimmen  können  w^as  frau  J.-D. 
vorträgt,  ich  tinde,  dass  etAva  die  ersten  70  selten  ihres  buches 
etwas  obenhin  gearbeitet  sind,  aber  man  list  die  ausführungen 
einer  so  begabten  frau,  besonders  den  zweiten  teil,  dennoch  mit 
gewinn  und  wird  weiteren  arbeiten,  auch  dem  essaj^  den  die 
Verfasserin  s.  70  in  aussieht  stellt,  mit  anteil  entgegensehen. 

Am  schluss  des  buches  fällt  die  Verfasserin  in  den  apolo- 
getischen ton;  sie  meint,  noch  im  jähre  1907,  die  romantik  als 
die  'unpopulärste  und  fast  verachtetste  literaturepoche'  gegen 
ein  weit  verbreitetes  'odium'  in  schütz  nehmen  zu  müssen,  und 
behauptet  (s.  296):  'es  gibt  fast  keinen  jungen  Studenten  von 
literarischem  ehrgeiz,  der  nicht  einmal  auf  kosten  Friedrich 
Schlegels  die  nase  gerümpft  oder  hell  aufgelacht  hätte',  wo  frau 
J.-D.  diese  beobachtungen  gemacht  hat,  weifs  ich  nicht;  mit 
meinen  erfahrungen  decken  sie  sich  keineswegs,  so  viel  ich  fest- 
stellen kann,  begegnet  unter  der  akademischen  Jugend  die  roman- 
tik eher  einer  Überschätzung,  und  wenn  ich  im  hörsaal  über 
Friedrich  Schlegel  gesprochen  habe,  erhalte  ich  fast  regelmälsig 
besuch  von  jungen  fremden  Studenten,  die  aber  nicht  geneigt 
sind  zu  spotten  oder  zu  lachen,  sondern  mit  grofsen,  beinahe 
ängstlichen  äugen  dasitzen  und  fragen:  woher  ich  das  alles 
wisse  und  ob  ich  gestern  würklich  von  Friedrich  Schlegel  ge- 
sprochen und  nicht  vielmehr  ihr  eignes  Innenleben  meinem  audi- 
torium  erläutert  habe,  in  der  akademischen  Jugend  von  heute 
fühlen  sich  viele  —  ob  mit  recht  oder  unrecht,  weiß  ich  nicht  — 
den  romantikern  verwant. 

Leipzig,  den  24  october  1909.  Albert  Köster. 


84  WACKEUXEI-I.    {■•I:EK 

Studien  zu  Schillers  dramen  von  Gustav  Kettner.  Erster  Teil: 
Wilhelm  Teil,  eine  ausleguug.  Berlin.  Weidmann,  ISOO.  xii  \m>\ 
180  SS.    8».  —  3.50  m. 

Öfters  wurde  schon  beklagt,  dass  die  berufsgermanisten  die 
erklärung  und  wissenscliaftliche  durcharbeitung  der  neuhochdeut- 
schen classikerwerke  viel  zu  selir  halbgermanisten,  lehrern,  schau- 
spielern und  blolsen  liebhabern  überlassen.  nichts  ist  be- 
zeichnender hiefür,  als  dass  noch  immer  Düntzers  "Erläuterungen', 
diese  mit  schlecht  verarbeiteten  und  teilweise  auch  unverläss- 
lichen  notizeu  vollgepfropften  Zettelkasten,  den  markt  beherschen. 
das  übel  ist  in  den  letzten  jähren  nicht  wesentlich  kleiner  ge- 
worden: noch  immer  'stecken  wir  zu  sehr  im  alten',  wie  EHeinzel 
einmal  selbstironisch  gemeint  hat,  trotzdem  die  zunehmenden  be- 
dürfnisse  des  lebens  und  namentlich  der  schule,  die  sich  noch 
vor  zwei  menschen  altern  um  die  nhd.  classiker  so  viel  wie  nicht 
kümmerte,  wenn  sie  die  lesung  derselben  etwa  nicht  gar  verboten 
hatte,  andere  wege  weisen,  es  verdient  daher  dank,  wenn  sich 
ein  berufener  wie  Kettner  auf  diesem  gebiete  häuslich  einrichtet, 
seinen  arbeiten  über  Lessings  dramen  lässt  er  nun  die  Studien 
zu  denen  Schillers  folgen,  nachdem  er  schon  früher  den  drama- 
tischen nachlass  dieses  dichters  einer  sorgfältigen  neuausgabe  unter- 
zogen und  manche  fruchtbare  eiuzeluntersuchung  veröffentlicht  hat. 

Dieses  Teilbüchlein  soll  der  erstling  aus  der  geplanten  reihe 
der  Schillererklärungen  sein,  der  Untertitel  desselben,  eine  "aus- 
legung',  könnte  eine  irrige  meinuug  über  den  Inhalt  hervorrufen : 
es  gibt  nicht  eine  durchgehende  erklärung  dieses  dramas,  es 
handelt  nicht  über  den  dramatischen  stil.  über  spräche  und 
metrik,  über  scenen-  und  actbau  udgi.,  sondern  bietet  einzel- 
studien  zu  verschiedenen  fragen,  deren  klarlegung  das  Verständ- 
nis des  dramas  wesentlich  fördert,  und  nicht  alle  diese  Studien 
sind  gleichwertig. 

Die  erste  [cap.  1,  s.  1 — 23]  gibt  einen  knappen  überblick  über 
die  Stoffgeschichte,  der  in  späteren  capiteln  und  in  den  anmer- 
kungen  am  Schlüsse  des  buches  gelegentlich  ergänzt  wird  zu 
den  bekannten  quellen,  die  man  in  Tellcommentaren  verzeichnet 
findet,  fügt  K.  das  'Tagebuch'  von  Friederike  Brun  und  die 
'Reise'  von  Leop.  Stolberg  hinzu,  die  alten  Teildramen  werden 
nur  kurz  erwähnt,  weil  K.  darüber  eine  eigene  abliandlung  im 
Marbacher  Schillerbuch  3,  64  —  124  niedergelegt  hat.  der  ein- 
fluss  Müllers  wird  stärker  betont  als  es  bisher  der  fall  war, 
wobei  freilich  fraglich  bleibt,  wieviel  an  idealisierung,  an  •modernem 
historischen  gepräge',  an  'ideellem  gehalt'  Schiller  auch  ohne 
Müller  in  das  draraa  gebracht  hätte,  da  er  davon  jedenfalls  mehr 
besafs  als  der  Schweizer  historiker.  sonst  bietet  das  capitel 
nichts  neues. 

Im  zweiten  und  dritten  capitel  wird  eine  vorzügliche  ent- 
stehuugsgeschichte  des  dramas  entworfen,     nur  Schillers  brief  an 


KETTXEU    STUDIEN    ZU    SCHILr.EUS     rEI.I.  85 

Kurner  vom  15.  xi  1802  vermiss  ich  uug-ern,  weil  der  dichter 
darin  andeutnug-en  o:ibt.  wie  die  antike  dramenform  der  Braut 
auch  auf  den  Teil  hiuübervvürken  soll.  —  das  nächste  capitel  unter- 
sui'ht.  wie  Schiller  natur  und  volk  schildert  und  dabei  die  denk- 
und  empfindungsweise  des  18.  jh.s  zur  g-eltung  kommen  lässt. 
—  das  fünfte  und  sechste  capitel  gehn  der  anläge  und  Zeichnung 
der  dramatischen  Charaktere  nach,  zunächst  der  Gesslers,  dann 
Gertruds,  Stauffachers,  und  verfolgen  die  Vorbereitung  und  grün- 
dung  des  Volksbundes  auf  dem  Rütli,  den  dichter  erklärend, 
rechtfertigend,  bewundernd,  man  wird  meist  beipflichten  können, 
bis  auf  die  auslegung  des  Schlusses  der  Rütliscene,  mit  der  dann 
viele  andere  stellen,  ja  eine  grundauffassung  Kettners  zusammen- 
hängen. K.  meint  s.  100:  'so  grols  dieses  Volk  [der  Schweizer 
auf  dem  Eütli]  in  seinem  alle  einmütig  beseelenden  nationalgefühl 
und  freiheitsbestreben  dasteht,  so  schwach  erweist  es  sich,  wenn 
es  gilt  zur  tat  zu  schreiten';  der  'aristokiat' '  Schiller  komme 
zum  Vorschein  und  lasse  selbst  bei  'dieser  idealen  Volksversamm- 
lung die  mängel  hervorbrechen,  die  in  seinen  äugen  dem  gesamt- 
willen  als  solchem  anhaften  und  ein  rasches,  einmütiges,  ent- 
schiedenes handeln  lähmen  ,  sodass  'Unklarheit,  Planlosigkeit,  Zer- 
fahrenheit herschen.  die  verschiedenen  Interessen  sich  vordrängen, 
ohne  entschieden  ausgeglichen  oder  überwunden  zu  werden;  dies 
alles  führt  zu  entschlüssen,  die  an  bedenklichen  halbheiten  kranken', 
und  schon  s.  7 1  hatte  er  aus  derselben  auffassung  geschrieben:  'der 
verstand  (dieses  Volkes)  haftet  nur  an  dem  nächstliegenden,  zu 
weit  aussehenden  planen  und  raschem  entschluss  ist  es  wenig  ge- 
eignet, so  erscheint  es  in  der  stunde  der  entscheidung  zaudernd, 
unselbständig  und  unentschieden  in  seinem  handeln'. 

K.  beruft  sich  für  seine  meinung  zunächst  auf  die  verse 
137b  ff.,  denen  er  eine  auslegung  gibt,  der  nicht  zugestimmt 
werden  kann.  Stauffacher,  Walther  Fürst,  Rösselmann  und  der 
Sigrist  sind  für  das  nächstliegende:  die  vögte  zu  überraschen  und 
gleich  loszuschlagen,  die  Unterwaldner  dagegen  entwickeln  einen 
weit  aussehenden  plan:  erst  die  gelegenheit  abzuwarten,  um  am 
einfachsten  und  sichersten  die  festen  schlüsser  der  vögte  zu 
brechen,  dabei  wird  Meier,  der  schon  1087  ff.  als  streithansl 
eingeführt  wurde,  seinem  Charakter  entsprechend  etwas  hitzig, 
aber  alsbald  wider  ins  richtige  geleite  gebracht,  dass  gerade 
die  Unterwaldner  den  eroberungsplan  für  die  festun  gen  ent- 
wickeln, geschieht  nicht,  weil  Stauffacher  und  Walther  Fürst 
'keinen  rat  wissen,  wie  man  dem  feinde  begegnen,  die  bürgen 
in  Unterwaiden  brechen  soll',  wie  K.  s.  101  behauptet,  sondern 
weil    die   Unterwaldner    naturgemäi's    die   festungen   und   die  sie 

'  der  verweis  auf  Goethes  gespräche  ist  ohne  wert  schon  deswegen, 
weil  da  nicht  von  Schillers  Teil  gesprochen  wird  und  das  augenmerk  zu- 
nächst auf  die  französische  revolution  gerichtet  ist,  der  gegenüber  Schiller 
bekanntlich  seine  ansieht  sehr  geändert  hat.  überdies  tritt  Goethes  ab- 
siclit  allzuklar  hervor. 


86  WACKERNEIX    ÜBER 

umgebenden  örtlichkeiten  ihres  landes  genauer  kennen,  zumal 
einer  von  ihnen,  Melchtlial,  gerade  vorlier  Samen  ausgekundschaftet 
und  in  seinem  canton  bereits  den  landsturm  organisiert  hat.  bei 
der  entscheidung  über  den  antrag  der  ünterwaldner  stimmen  20 
(das  ist  die  'mehrheit,  der  verhängnisvolle  factor  in  jeder  demo- 
kratie',  wie  K.  s.  IUI  meint)  dafür  und  12  dagegen;  da  die  ünter- 
waldner nur  über  1 1  Vertreter  verfügen,  müssen  auch  männer 
von  Schw3'tz  und  Uri  mit  ihnen  gestimmt,  sich  also  von  der  rich- 
tigkeit  ihrer  auffassung,  dass  zuerst  die  zwei  festungen  zu  be- 
seitigen seien,  selbst  auf  die  gefahr  hin  dass  unterdes  eine  andere 
(Twing  Uri)  vollendet  werde,  tiberzeugt  haben,  sobald  jedoch 
der  beschluss  gefasst  ist,  herscht  einigkeit,  hält  sich  jeder 
an  den  beschluss  gebunden;  der  dichter  hat  das  deutlich  dadurch 
ausgedrückt,  dass  nun  Walther  Fürst,  der  früher  anderer  raeinung 
war,  den  weiteren  plan  entwickelt,  wie  der  landsturm  aufgeboten 
und  die  vügte  zur  flucht  gedrängt  Averden  sollen.  —  wo  ist  also 
hier  'Unklarheit,  Planlosigkeit,  Zerfahrenheit"?  wo  sind  'die 
mängel  des  gesamtwillens'?  die  'verschiedenen  unausgeglichenen 
interessen' ? 

Warum  Seh.  diese  rasch  vorübergehnde  meinungsverschie- 
denheit  hervortreten  lässt  und  den  kleinen  streit  des  hitzigen 
Meier  eingeschoben  hat,  kann  man  leicht  ersehen:  einerseits  um 
mehr  lebenswahrheit  zu  erzielen,  da  solche  Streitigkeiten  eine 
regelmäfsige  begleiterscheinung  politischer  erörterungen  zwischen 
mehr  oder  weniger  verschiedenen  interessensphären  sind,  und  zwar 
beim  adel  nicht  weniger  als  beim  volk;  anderseits,  und  das 
dürfte  ihm  wichtiger  gewesen  sein,  um  von  der  gradlinigen  ent- 
wicklung  des  dialoges  abzukommen  und  für  denselben  mehr  dra- 
matische form  zu  gewinnen,  wie  er  schon  früher  den  gleichför- 
migen gang  der  scene  und  die  epische  breite  der  Stauffacher- 
erzählung  durch  kleinere  Unstimmigkeiten  zu  unterbrechen  und 
dramatisch  zu  beleben  suchte ;  man  vergleiche  etwa  den  edlen 
Wettstreit  1127  ff.  und  den  tumult  welchen  Eösselmann  erregt 
1290  ff.  wie  sollte  denn  dramatisches  leben  entstehen,  wenn  alle 
überall  der  gleichen  meiuung  wären? 

Anders   zu   beurteilen  ist    die   nächste   stelle   welche  K.  für 

seine  meinung  ins  feld  führt:    'der  sorgenvollen  frage  Stauffachers, 

wie  man  des  furchtbarsten»gegners,  Gesslers,  sich  erwehren  wolle, 

entschlägt  man  sich  in  dem  bequemen  vertrauen  auf  die  zukunft: 

Die  Zeit  bringt  Ratli.     Ericartets  in   Geduld! 

Man  muss  dem  Ang&nhlick  auch  ivas  vertrauen!' 

Schon  Stauffachers  frage  legt  K.  nicht  ganz  richtig  aus; 
denn  sie  ist  in  erster  Linie  nicht  als  'sorgenvoll'  zu  charakteri- 
sieren, sondern  entspringt  me  hr  dem  bedürfnis  des  dichters.  Gesslers 
stärke  und  Wichtigkeit  besonders  hervorzuheben;  dementsprechend 
trägt  Stauffacher  bedenken.  Gessler  so  wie  die  übrigen 
Vögte  zu  'schonen',  dh.  am  leben  zu  lassen,  was   Walther  Fürst 


KETTNEK    STUDIEN    7X    SCIIII.I.KUS    TEI.I.  87 

I367f  gefordert  hatte;  das  Svhrver  ista  und  fast  gefährUch 
kanu  sicli  nur  auf  ihn  zu  schonen  beziehen,  aber  noch  schlimmer 
ist,  dass  K.  in  seinem  citat  gerade  die  wiclitigsten  verse  aulser 
betraeht  lässt:  auf  Stauffachers  frage  antwortet  nämlich  zuerst 
Baumgarteu: 

Wo's  halsgefährlich  ist,  da  stellt  mich  hin, 
Dem  Teil  verdank  ich  mein  gerettet  Leben, 
Gern  schlag  ichs  in  die  Schanze  f'ilr  das  Land, 
Mein'  Ehr  hah  ich  beschüzt,  mein   Herz  hefriedigt. 
es   zeugt   so  recht  wider   für   Schillers   dramatischen  Scharfsinn, 
dass  er  gerade  Bauragarten  auf  diesen  posten  stellt,  weil  dieser 
schon  in  der  ersten  scene  den  burgvogt  Wolfenschiefseu  kurzweg 
mit   der  axt   erschlagen,   somit   seinen  raut,    seine   raschheit  und 
entschlossenheit   bewährt    hat;    er    weifs,    wie    man   mit    diesen 
Vögten   abzurechnen   hat.     bei   der  aufführung   des   dramas    soll 
man  die  Baumgartenrolle  freilich  nicht  einem  hohlbrüstigen,  vogel- 
beinigen  Schauspieler  auflasten,  sondern  einer  kraftgestalt,  dann 
ist  sie  glaubwürdig. 

Recht  jedoch  hat  K.,  wenn  er  die  beiden  ersten  verse 
Redings  1437  f  beanstandet:  man  darf  dem  Augenblick  auch  was 
vertrauen,  besonders  in  einem  krieg,  wo  ja  so  viel  von  der 
augenblicklichen  Lage  abhängt;  aber  nicht  das  wichtigste,  als 
was  die  beseitigung  Gesslers  jetzt  erscheint.  der  gesammelte 
leser  oder  Zuschauer  merkt  gleich  die  absieht  des  dichters, 
eine  lücke  für  die  Tellhandlung  in  der  hohlen  gasse  zu  schaffen ; 
deshalb  erinnert  er  ein  paar  verse  vorher  geradezu  an  Teil  und 
dessen  rettung  Baumgartens,  wobei  Teil  sich  noch  kühner  und 
stärker  gezeigt  hat  als  dieser,  nicht  aus  dem  gesichtspunct  der 
Volkscharakteristik  sind  die  stellen  mit  K.  zu  erklären,  sondern  aus 
den  bedürfnissen  der  dramatischen  technik :  hier  schon  soll  die  dritte 
scene  des  iv  actes  als  wichtige  ergänzung  der  Schweizerhandlung 
vorbereitet  und  eingenietet  werden. 

K.  findet  noch  andre  mängel  an  den  Schweizern  der  Eütli- 
sceue,  die  ebensowenig  begründet  sind.  nach  seiner  meinung 
sollten  die  Schweizer  auch  noch  die  'fülle  der  möglichkeiten,  die 
eintreten  können',  bedenken,  allein  wenn  sie  das  täten,  würden 
sie  wol  überhaupt  nicht  zu  einem  entschluss  kommen,  er  findet 
ferner  den  'glauben  der  Schweizer,  der  gegner  werde  in  frieden 
weichen  wenn  er  das  volk  in  waffen  erblickt,  naiv',  ich  möchte 
da  gerade  die  Jahrhundertfeier  von  1809  vorübergerauscht  ist,  K. 
vorschlagen,  JHirns  buch  über  'Die  Erhebung  Tirols',  die  mit 
der  im  drama  dargestellten  erhebung  der  Schweizer  manche 
ähnlichkeit  hat,  durchzublättern:  da  wird  er  finden,  wie  die 
gegner  widerholt  fersengeld  gegeben,  nur  weil  sie  das  'volk  in 
waffen  erblickt'  haben;  er  wird  weiter  finden,  wie  man  öfter 
früher  losschlug,  als  man  unter  andern  Verhältnissen  verabredet 
hatte;  desgleichen  wird  er  finden,  wie  die  Tiroler  ihre  kriegspläne 


8S  WACKEUNEI.r.    ÜBER 

nicht  besser  ausgedacht  hatten  als  die  Schweizer  bei  Schiller; 
und  trotzdem  haben  diese  wie  jene  gesiej^t,  denn  was  etwa  im 
plane  mangelte,  das  ersetzte  reichlich  die  geeinte  volkskraft,  vor 
der  K.  zu  wenig  respect  zu  haben  scheint,  wahrscheinlich  weil 
er  sie  zu  viel  mit  der  haltlosigkeit  des  grol'sstädtischen  Prole- 
tariats zusammenbringt;  deshalb  lässt  er  sich  auch  verleiten,  den 
ausdruck  'demokratie'  auf  die  Schweizer  anzuwenden,  ungeachtet 
Schiller  in  verschiedenen  versen  und  noch  kurz  vorher  v.  1356 
einer  solchen  Verwechslung  beinahe  ängstlich  vorgebeugt  hat: 
grade  die  demokratie  seiner  zeit  kämpfte  gegen  die  historischen 
rechte  und  suchte  sie  durch  neue  volksrechte  zu  ersetzen;  die 
Schweizer  im  drama  aber  kämpfen  für  die  historischen  rechte, 
welche  die  vögte  beseitigen  wollen ;  diese  sind  hier  die  revolu- 
tionäre, jene  die  conservativen. 

Endlich  erklärt  K.  es  für  töricht  von  den  Schweizern,  dass 
'die  Versammlung  .  .  .  bedingungslos  das  handeln  jedes  einzelnen 
bindet'  (1 454  ff),  und  meint,  'das  wort,  mit  dem  Stauffacher  schliefst 
Denn  Rauh  begeht  am  allgemeinen  Gut, 
Wer  seihst  sich  hilft  in  seiner  eignen  Sache 
zeige  sich  denn  auch  sofort  im  nächsten  act  in  seiner  ganzen 
kurzsichtigkeit'.  das  ist  wider  schon  sachlich  nicht  ganz 
richtig:  die  'Versammlung'  bindet  nicht,  ihre  beschlüsse  enden 
mit  vers  1453,  und  bereits  Hoffmeister  hat  gesehen,  dass 
es  sich  um  einen  rat  oder  besser  um  eine  ermahnung 
Stauffachers  handelt;  ferner  hilft  sich  von  den  Rütlibündlern 
keiner  'selbst  in  seiner  eignen  sache',  das  tun  nur  Teil  und 
Eudenz,  die  aber  nicht  mitgeschworen  haben;  auch  die  'kurz- 
sichtigkeit' im  in  act  ist  nicht  zu  finden,  denn  die  ereignisse 
kommen  da  so  plötzlich  und  unerwartet,  dass  die  unbewaffneten 
den  aufstand  gegen  die  bewaffneten  niemals  wagen  könnten,  wie 
der  dichter  ausdrücklich  hervorhebt  196Sf;  im  iv  act  geht  es 
dann  wirklich  los  trotz  des  'bedingungslos  bindenden  beschlusses'. 

Somit  ist  alles  was  K.  als  beweis  für  Schillers  'indirecte 
kritik  der  Schweizer  beschlüsse'  anführt,  entweder  unrichtig  oder 
anders  zu  erklären.  In  den  nächsten  zwei  absätzen  und  im 
folgenden  (siebten)  capitel  findet  K.  noch  einen  weiteren  wichtigen 
grund,  warum  Schiller  das  Schweizervolk  so  unfertig,  ungeschickt 
planlos,  zerfahren  hinstelle:  um  dadurch  eindringlich  zu  machen, 
dass  demselben  'eine  feste,  tatkräftige  leitung  fehlt,  ...  die  starke 
übertragende  persönlichkeit,  die  den  unklaren  und  schwankenden 
willen  der  vielen  einheitlich  zusammeufasst  und  rasch  ent- 
schlossen zur  entscheidenden  tat  lenkt',  durch  Schillers  'loslösung 
des  Volkes  vom  adel'  sei  'nicht  nur  ein  riss  in  das  unternehmen 
der  Schweizer  gedrungen',  sondern  das  volk  auch  um  'die  ge- 
wohnten führer'  gekommen. 

Wer  immer  das  drama  vorurteilslos  auf  sich  würken  lässt, 
wird   leicht   erkennen,    dass    das  Schillers   auffassung   nicht   sein 


KETTNER    STUDIEN    ZV    SCIIILI.EKS    TEI.!.  89 

kann.  Seh.  sondert  den  adel  nicht  ab,  um  ihn  zu  heben,  um 
seine  gröfsere  Wichtigkeit  oder  notweudigkeit  dadurch  zu  zeigen, 
sondern' grade  umgekehrt,  um  einerseits  ihn  als  unzuverlässig  oder 
als  Volksverräter  zu  brandmarken,  anderseits  darzustellen,  wie 
das  Volk  ohne  ihn  sich  erhebt  und  zusammenschlielst,  um  seine 
adelichen  bedränger  in  den  staub  zu  werfen;  Schillers  Teil  ist 
ein  hochgesang  auf  des  Volkes  macht  und  herrlichkeit,  neben 
welcher  der  adel  seine  bevorrechtigte  Stellung,  seine  führerrolle 
einbüfst;  das  wichtigste  litterarhistorische  Charaktermerkmal  dieses 
Schauspiels  ligt  ja  darin,  dass  es  das  erste  deutsche  volksdrama 
im  eigentlichen  und  edlen  sinn  des  Wortes  ist.  der  adel  erscheint  bei 
Schiller  in  zwei  teile  geteilt:  im  Vordergrund  des  ersten  steht 
Gessler,  der  blutige  tj-rann,  mit  seinen  mitschuldigen  unter- 
tyrannen  und  spiei'sgesellen ;  der  junge  schweizeradel  strömt  ihm 
mehr  und  mehr  zu  (945  ff  u.  952  ff),  sodass  eigentlich  nur  der 
alte  Attinghausen  als  Vertreter  des  volkstreuen  adels  übrig 
bleibt ' ;  durch  dessen  raund  aber  verkündet  der  dichter,  dass  das 
Volk  des  adels  nicht  mehr  bedarf  (24 16  ff),  dass  der  adel  in  den 
büigerlichen  aufgeht  (2430  ff)  und  dass  das  volk  weiter  nichts 
braucht  als  einigkeit  (2446  ff).  Kettner  stützt  seine  ansieht  be- 
sonders auf  Rudenz,  den  er  (noch  s.  118)  einen  'jugendlichen 
realpolitiker'  nennt,  dem  "neben  der  passion  noble  auch  die 
passion  belle  nicht  fehlt',  nein!  ein  windbeuteliger  streber  ist 
er,  der  gern  die  göttliche  Vorsehung  für  das  volk  spielen  möchte 
(869  ff),  das  sich  abel-  auf  sein  eignes  glück  besser  versteht  (l634f), 
der  hinter  dieser  maske  der  volksbeglückung  nur  auf  den 
sehnödesten  eigennutz  bedacht  und  bereit  ist,  das  volk  an  den 
landesfeind  zu  verraten  (7  90  ff),  dazu  noch  den  ehrlichen  alten 
bespöttelt  (811  ff'),  bis  diesem  die  geduld  ausgeht  und  er  ihm 
die  wolverdiente  leetion  erteilt  (839  ff,  893  ff  und  909);  darauf 
tibernimmt  es  Bertha  (16u2ft'),  diesem  'führer'  mit  der  'passion 
noble  und  der  passion  belle'  grtindlich  die  Wahrheit  zu  sagen  und 
ihm  entrüstet  seinen  verrat  an  volk  und  vaterland  vorzuhalten, 
bis  er  seine  vollendete  Charakterlosigkeit  in  die  worte  auswimmert: 
^0  Bertha,  alles  lä/'st  mich  eure  Liebe  sein  und  werden.''  als  sie 
ihn  langsam  zur  Vernunft  bringt,  lässt  er  sich  belehren,  wie  er 
die  'schlinge  lösen  soll,  die  er  sich  törigt  selbst  ums  haupt  ge- 
legt' (17  23  f).  er  tritt  dann  dem  tyrannen  mit  grofsen  worten 
entgegen ;  doch  bleibt  eigennutz  auch  weiterhin  sein  leitmotiv ; 
nur  versteckt  er  ihn  jetzt  unter  dem  vorwand,  er  müsse  die 
Schweizer    beschtitzen    (2490).      allein    Melchthal    weist    diesen 

*  s.  115  will  K.  am  dichter  nicht  loben,  dass  er  sich  bei  darstellung 
des  Schweizer  adels  auf  Attinghausen  und  Eudenz  beschränkt  hat :  'der 
lebendigen  fülle,  in  der  das  volk  erscheint,  treten  so  nur  zwei  Vertreter 
des  adels  gegenüber',  das  war  eben  Sch.s  absieht,  weil  so  schon  rein  äufser- 
lich  des  adels  bedeutung  weit  hinter  der  des  Volkes  zurücktritt,  das  'bild 
derzeit' wurde  dadurch  freilich  nicht  gewahrt ;  aber  hätte  es  der  dichter  darauf 
angelegt,  hätte  er  den  "Wilhelm  Teil  überhaupt  nicht  schreiben  können. 


90  WACKEItXELL    ÜBER 

schütz  zurück  und  betont  ausdrücklich,  der  hauer  vermöge  sich 
selbst  zu  schützen  (2491  ff),  da  er  sich  aber  noch  einmal  als 
Volksschützer  anbiedern  will  (2517),  lehnt  ihn  sogar  der  saufte 
Walther  ab,  indem  er  ihm  seine  nächste  pflicht  am  toten  Atting- 
hauseu  vor  äugen  hält  (2518f).  jetzt  erst  fällt  die  maske,  und 
die  'eigne  sache'  kommt  zum  Vorschein :  Eudenz  wird  der  bittende, 
der  beim  volk  angstbeklemmt  um  hilfe  fleht,  um  seine  bedrohte 
Bertha  retten  zu  können,  weil  nun  diese  befreiungsangelegenheit 
mit  der  befreiungshandlung  der  Schweizer  gleichläuft  und  die 
Schweizer  in  der  vorausgegangenen  Tellscene  erfahren  haben, 
dass  weitere  Verschiebung  von  übel  sei,  erklären  sie  sich  bereit, 
ihm  zu  folgen,  und  es  geht  auf  die  bürgen  los.  Eudenz  führt 
sie  aber  nicht  'rasch  zum  stürm  auf  die  bürgen',  wie  K.  (s.  103) 
sachlich  unrichtig  schreibt;  sondern  zuerst  ersteigt  Melchthal  den 
Rossberg,  und  erst  am  nächsten  tag  'gewann  Eudenz  mit  männlich 
kühner  wagetat'  das  schloss  Sarnen  (287 3  ff),  wo  seine  Bertha  in 
gewahrsam  gehalten  wurde;  trotzdem  hätte  er  seine  braut  nicht 
bekommen,  wenn  ihm  Melchthal  nicht  ein  tapferer  helfer  gewesen 
wäre,  dem  der  dichter  die  bezeichnende  rede  in  den  mund  legt: 
—  War  er  nur  unser  Edelmann  gewesen, 
Wir  hätten  unser  Lehen  wohl  geliebt, 
Doch  er  tvar  unser  Eidgenoss  und  Bertha 
Ehrte  das  Volk  —  So  sezten  ivir  getrost 
Das  Leben  dran  und  stürzten  in  das  Feuer  (2888). 
diese  w^orte  sind  weit  entfernt,  den  adel  als  den  'gewohnten 
führer'  zu  bezeichnen,  sondern  klingen  geringschätzig  genug! 
damit  aber  niemand  über  des  dichters  auffassung  im  zweifei  bleiben 
kann,  bringt  er  sie  am  schluss  des  ganzen  dramas  (3282  ff)  noch 
einmal  in  wort  und  handlung  zum  ausdruck:  Bertha  stellt  sich 
unter  den  schütz  der  Eidgenossen  und  bittet  um  die  aufnähme  in 
deren  bund;  sie  will  nichts  mehr  als  'bürgerin'  sein,  und  als 
solche  reicht  sie  Eudenz  die  hand,  der  nicht  mehr  herr,  sondern 
nur  'Jüngling'  genannt  wird,  dieser  ist  damit  einverstanden  und 
erklärt  alle  seine  knechte  frei,  so  hat  ihn  der  dichter  aus  seinem 
früheren  verräterischen  adelsstolz  herausgeläutert  und  ihm  den 
eigennutz  abgestreift,  des  dichters  auffassung  ligt  klar  zu  tage: 
nicht  blofs  des  adels  bedeutuug  ist  in  der  Schweiz  vorüber, 
sondern  auch  der  adel  selbst;  es  gibt  nur  mehr  Eidgenossen: 
das  abgelebte  und  unbrauchbare  ist  im  grofsen  und  lebeusstarken 
aufgegangen.  Schillers  aristokratentum  im  Teildrama,  die  adelichen 
als  'gewohnte  führer',  die  'Unklarheit,  Planlosigkeit  und  Zerfahren- 
heit' des  Volkes  sind  lauter  ungittckliclie  einbildungen  Kettners, 
denen  man  nicht  rasch  genug  entgegentreten  kann,  bevor  sie 
Unheil  anrichten. 

Das  siebte  capitel,  'Die  Sonderbestrebungen'  überschrieben, 
anah-^siert  im  weiteren  den  Teilcharakter,  der  aber  nicht  glücklich 
mit  dem  Wallensteincharakter  zusammengestellt  wird;  denn  beide 


KETTNEK    STUPIEX    ZU    SCHII.l.ERS    TEI.I.  91 

sind  in  allem  wesentlichen  verschieden,  ja  geg-eusätze:  bei  dem 
einen  ist  alles  bereclmung,  der  andere  kann  nicht  rechnen  und 
will  nicht  überlegen  (44  3),  er  handelt  mehr  instinctmäfsig  und 
wird  nur  langsam  durch  die  eigene  not  zum  Verständnis  der  all- 
gemeinen gebracht,  das  grüblerische  Wallensteins,  das  träumerische 
Teils  und  das  visionäre  der  Jungfrau  gehören  verschiedeneu 
weiten  an,  so  sehr  sie  sich,  äuiserlich  genommen,  zu  gleichen 
scheinen.  auch  möchte  ich  angesichts  des  duologes  zwischen 
Teil  und  .Stauffacher  (380 — 445)  nicht  mit  K.  behaupten,  er 
habe  'keinen  tropfen  von  der  phlegmatisch-behaglichen  art'.  welche 
Goethe  seinem  lastträger  verleihen  wollte.  mit  vieldeutigen 
ausdrücken  wie  'Individualismus'  und  'altruismus',  die  zudem  nach 
der  Studierlampe  der  philosophen  riechen,  kommt  man  einem  Tell- 
charakter  nicht  aufs  mark ;  K.  hat  ihn  nur  teilweise  richtig 
nachgezeichnet. 

Das  achte  capitel  untersucht  die  einzelnen  teile  der  Tell- 
handlung  und  deren  Zusammenhang,  um  des  dichters  absiebten  in 
ihrer  tiefe  zu  ergründen,  zieht  er  auch  die  philosophischen 
Schriften  und  gedichte  herbei,  der  Wahrscheinlichkeitsgrad  der 
vielumstrittenen  apfelschussscene  hängt  davon  ab,  wie  weit  es 
dem  dichter  gelungen  ist.  in  Teil  das  bewustsein  zu  wecken, 
dass  er  auch  in  dieser  läge  den  schuss  mit  Sicherheit  abgeben 
kann:  dazu  dienen  der  höhn  des  vogtes  und  die  vertrauensvollen 
zurufe  des  knaben.  das  urteil  wird  immer  mehr  oder  weniger 
subjectiv  bleiben,  und  daher  wird  der  streit  nie  ganz  aufhören, 
in  der  polemik  Kettners  mit  Bellermann  über  Teils  entschluss 
den  vogt  zu  töten  scheinen  mir  beide  unrecht  zu  haben,  es 
handelt  sich  um  den  scheinbaren  Widerspruch  zwischen  2060  ff 
und  2579  ff.  K.  sucht  sich  (s.  129  und  178)  zu  lielfen,  indem 
er  die  erste  stelle  anders  deutet,  als  sie  jeder  unbefangene  list: 
Teil  beschliefse  schon  nach  1990,  den  vogt  für  jeden  fall,  auch 
wenn  der  schuss  gelingt,  zu  erschiefsen  und  später  zeit  und  ort 
für  diesen  zweiten  schuss  zu  wählen:  er  sage  daher  (2060 ff) 
dem  vogt  nur  einen  teil  der  Wahrheit,  indem  er  zwischen  dem 
zweck  des  zweiten  pfeiles  und  des  'nächsten  Schusses 
erstem  ziel' unterscheide,  allein  eine  so  kniffige  denkweise  ist 
bei  Teils  argloser  natur  gänzlich  ausgeschlossen;  K.s  erklärung 
widerspricht  überdies  der  ganzen  Situation:  nur  dadurch  dass  Teil 
die  volle  Wahrheit  mit  külinheit  heraussagt,  kann  er  sein  über- 
volles gemüt  entladen,  erlangt  er  den  auf  wägenden  ausgleich;  sie 
widerspricht  endlich  der  vom  dichter  nicht  umsonst  ausdrücklich 
hervorgehobenen  Versicherung  Teils,  er  wolle  dem  vogt  die  'Wahr- 
heit gründlich"  (dh.  ohne  rückhalt)  sagen,  an  dieser  stelle  ist 
also  nicht  zu  rühren. 

Aber  auch  bei  der  zweiten  stelle  braucht  man  nicht  mit 
Bellermann  eine  'Selbsttäuschung'  Teils  anzunehmen,  sie  erklärt 
sich  glatt  aus  dem  gang  der  handlung.     Teil  hatte  den  entschluss 


92  W.VCKKU.NT.LT.    ÜUKR 

allerdings  mit  einer  beschränkenden  bedingnng-  gefasst:  Wenn 
ich  mein  liebes  Kind  getro/foi  hiHtc.  das  ist  nicht  geschehen; 
aber  dafür  ist  ein  anderes  ung-lück  eingetreten :  die  gefangen- 
nähme Teils  und  die  bedrohung  der  ganzen  familie ;  denn  sobald  der 
vogt  arglistig  sein  wort  bricht,  kann  sich  auch  Teil  der  Über- 
zeugung nicht  verschliefsen,  dass  zwischen  ihm  und  dem  vogt 
der  kämpf  auf  leben  und  tod  geführt  werden  muss,  dass  der  vogt 
ihn  und  seine  familie  (2577f)  vernichten  wird,  wenn  er  ihm 
nicht  zuvorkommt ;  das  kind  ist  zwar  nicht  durch  den  vom  vogt 
erzwungenen  schuss  gefährdet  wie  vorher,  als  er  den  schwur  ge- 
tan, aber  dies,  er  selbst  und  die  ganze  familie  durch  die  sicher 
kommende  rachetat  des  vogtes,  und  in  diesem  wie  in  jenem  falle 
ist  der  vogt  die  Ursache  des  Übels,  ganz  naturgemäfs  bleibt  der 
schwur  in  kraft,  Teil  braucht  keinen  neuen  zu  schwören,  wie 
Bellei'mann  und  andre  meinen,  sondern  nur  die  gelegenheit  zu 
erspähen  um  ihn  auszuführen,  und  er  wird  dann  auch  genau  aus- 
geführt: des  nächsten  Schusses  (mit  dem  zweiten  pfeil)  erstes 
ziel  ist  der  vogt.  der  beschränkung,  die  nur  einige  minuteu 
geltung  hatte,  braucht  Teil  daher  im  monolog  nicht  zu  er- 
wähnen. 

Kettner  bezeichnet  Teils  monolog  (2560  ffj  kurzweg  als  'lyrisch' 
und  stellt  ihn  dem  'reflexionsmonolog'  Wallensteins  (vor  dessen 
verhängnisvollem  entschluss)  gegenüber,  als  wenn  er  nicht  gleichfalls 
reflexiouen  enthielte  und  dieselben  mit  dem  Offenbarungsmonolog 
und  dem  monolog  der  abwägenden  Überlegung  wechseln  liefse: 
gerade  die  mischung  der  verschiedenen  monologarten  ist  für  diesen 
grofsen  monolog  charakteristisch,  unbegreiflich  ist  mir  K.s  tadel 
über  Teils  zuruf,  als  der  vogt  am  boden  ligt  (2792f):  er  sei 
'theatralisch'  und  mache  den  abschluss  zu  einem  abgang  für  den 
Schauspieler,  ja  sollte  Teil  still  und  unsichtbar  davonschleichen? 
er  enthält  auch  kein  selbstlob,  sondern  ist  der  unmittelbar  her- 
vorbrechende aufschrei  des  Siegers  in  diesem  furchtbaren  kämpfe, 
der  die  Spannung  löst  und  mit  unübertrefflicher  kürze  die  be- 
freienden folgen  für  den  einzelnen  wie  für  das  ganze  land  ver- 
kündet, er  ist  stilistisch  unentbehrlich;  dass  er  auch  dem  Schau- 
spieler zu  gute  kommt,  ist  selbstverständlich,  wie  meistens  wo 
das  ergebnis  einer  langen  hochgespannten  dramatischen  entwick- 
lung  mit  überraschender  klarheit  und  Vollständigkeit  aufspringt. 
statt  dieser  stelle  hätte  K.  eine  andere,  die  er  im  nächsten  capitel 
'Die  Vereinigung  von  volk  und  adel'  bespricht,  tadeln  sollen:  es 
sind  die  verse  2090  ff,  welche  die  führer  des  Volkes  unmöglich 
so  sprechen  können,  weil  sie  früher  bei  ihren  beschlüssen  TeUs 
hilfe  in  keiner  weise  in  rechnung  gezogen  haben;  wenn  sie  früher 
alles  ohne  ihn  vollbringen  wollten,  wie  kommen  sie  jetzt  auf  ein- 
mal zur  meinung,  das  alles  von  ihm  abhänge:  0  nun  ist  alles, 
alles  hin!  Mit  euch  Sind  wir  gefesselt  alle  und  gebunden!  usw. 
die  verse  sind  ein  beleg,    dass  auch  der  reife  Schiller  vereinzelt 


KEITNER    STUDIEX    ZU    SCHILLEKS    TEI.l.  93 

noch  die  würkung' einer .scene  auf  kostender  iolgerichtijrkeit  der 
handlang  zu  erhöhen  sucht,  was  beim  jungen  Schiller  häulig  war, 
besonders  im  Don  Carlos,  aber  K.  glaubt,  entsprechend  seiner 
früheren  ansieht,  dass  'die  Eidgenossen  jetzt  die  kurzsichtigkeit 
ihi'er  beschlüsse  auf  dem  Rütli  und  ihre  Ohnmacht  erkennen 
müssen"  (s  141),  was  ihn  nicht  hindert,  gleich  darauf  hinzuweisen, 
wie  'die  führer'  in  zwei  scenen  später  'das  ganze  hochgefühl  der 
verbündeten  aussprechen',  im  übrigen  weist  K.  an  verschiedenen 
stellen  richtig  nach,  wie  die  'müde  eile'  den  dichter  gehindert 
hat,  den  schluss  des  dramas  mit  derselben  Sorgfalt  auszuarbeiten 
wie  die  früheren  acte. 

Das  letzte  capitel  handelt  vom  'sieg  des  Volkes"  und  von  der 
Verknüpfung  der  Schweizerhaudlung  mit  der  Tellhandlung.  dass 
der  dichter  die  ersteigung  des  Rossbergs  nicht  ausführt  und  nur 
melden  lässt,  hat  wol  noch  seinen  besonderen  grund:  schon  beim 
blofsen  Vorschlag  Melchthals  auf  dem  Rütli  iüne  Diriv  des  Schlosses 
ist  mir  hold  usw.  (14 13  ff)  erwehrt  man  sich  nicht  der  un- 
angenehmen enipfindung,  dass  der  dichter  ein  lustspielmotiv  aus 
der  geschichtlichen  Überlieferung  herübergenommen  habe,  das  in 
den  pathetischen  schluss  jener  scene  und  in  dieses  heroische 
Schauspiel  überhaupt  nicht  passt;  bei  näherer  ausführung  nun 
würde  das  erst  recht  unangenehm  ius  äuge  gefallen  sein.  Schiller 
hätte  hier  im  Interesse  reiner  kunstwürkung  die  überliefei'ung 
ändern  müssen,  wie  er  es  an  andern  stellen  mehrfach 
getan  hat. 

"Was  K.  über  die  Parricidascene,  über  die  Schilderung  der 
Gotthardstrafse,  über  das  'tableau'  sagt,  darf  der  Zustimmung 
sicher  sein,  am  Schlüsse  zeigt  er,  wie  Schiller  im  "bilde  der  Ver- 
gangenheit die  ideale  der  eignen  zeit  spiegelt' ;  auch  in  f rülieren 
capiteln  hat  er  gern  durch  solche  beobachtungen  seine  Unter- 
suchungen vertieft  und  mitunter  noch  durch  nachweise,  wie 
einzelne  bestandteile  der  Weltanschauung  des  18  Jahrhunderts  ent- 
standen sind,  ausgeweitet,  bezeichnend  für  K.s  methode  ist,  dass 
er  bei  allen  wichtigen  scenen  die  benützten  quellen  vergleicht 
und  klarlegt,  was  Schiller  davon  herübergenomraen,  was  er  ver- 
schmäht uud  was  er  geändert  hat,  wodurch  seine  arbeit,  die 
jeder  Teilerklärer  mit  gewinn  benutzen  wird,  wesentlich  an 
festigkeit  gewinnt. 

Innsbruck.  J.  E.  Wackerneil. 


Die  Franzosen  zeit  in  deutschen  landen  1806 — 1S15  in  wort 
uud  bild  der  mitlebendeu,  hsg.  von  Frledr.  Scliulze,  2  bde. 
Leipzig,  R"^oigtläuder  190S.  XII  336;  IX  3TS.  s.s.  gr.  S".  —  l^  m. 

Der  herausgeber.  der  sich  in  einer  hübschen  Studie  über 
Arnims  Dolores  als  verständnisvollen  kenner  der  Jüngern  rom an- 
tik   bewährt    hat.    führt  in    dem    vorliegenden  werke  mit  glück 


94  ROETHE    ÜBER 

einen    glücklichen    gedanken   durch,    der  seiner  arbeit  ihren  be- 
sondern platz  nnter  der  Jubiläumslitteratur  der  befreiungskriege 
sichert,    er  baut  ein  bild  jener  tage  auf  aus  Zeugnissen  der  zeit  und 
der  Zeitgenossen ;  er  selbst  nimmt  nur  zu  kurzen,  recht  geschickten 
einführungen    das  wort,    sonst   blofs  in  ausvvahl  und  anordnung 
sich    betätigend,      einer    Verteidigung    dieses    planes    gegen    die 
'überwissenschaftlichen',  wie  die  einleituug  sie  für  nötig  hält,  be- 
darf es  heute  kaum ;  im  gegeuteil :  auch  die  sprödeste  geschichts- 
wissenschaft  weils  den  wert  subjectiver  privatzeugnisse,  die  macht 
der    imponderabilien    und  der  Stimmungen  richtig  einzuschätzen, 
und  gerade  für  die  periode  der  vSch.s  werk  gewidmet  ist,    sind  sie 
kaum    je   misachtet   worden,     tatsächlich   unterscheidet    sich  das 
bild  das  Sch.s  Sammlung  ergibt,  nicht  nennenswert  von  dem  uns 
allen  geläufigen,     er  überschaut  die  memoiren-  und  briefliteratur 
vortrefflich,  setzt  manche  hübsche  nüance  auf  (unbekannt  war  mir 
zb.  der  kosmopolitisch-enthusiastische  'Magische  Spiegel') :  aber  die 
vertrauten  zeugen,  Arndt  und  Steffens,  Fichte  und  Görres,  die  be- 
kannten schriftstellernden  Offiziere  Reiche,  Rühle,  BoA'en,  Clausewitz 
usw.  stehn  doch  durchaus  im  Vordergrund ;  wir  freuen  uns  an  dem 
labsal  Blücherscher  kraftworte  und  begegnen  in  den  schreiben  der 
zürnenden     reformhelden    wie    Stein,     Gueisenau,     Scharnhorst 
wesentlich   äufserungen,    die  sie  allenfalls  hätten  drucken  lassen 
können;    die   grofsen  schlachten,   vor  allem  Leipzig,  sind  bevor- 
zugt vor  den  Innern  Vorgängen,    der  gesamteindruck  entspricht  so 
dem    populären    bilde    der    zeit    weit    genauer,    als  das  zb.  für 
Meineckes  doch  auch  gemeinverständlich  gedachtes  'Zeitalter  der 
deutschen  erhebung'  zutrifft,     auch  darin  zeigt  der  herausgeber 
seinen  guten  tact:  die  moderne  histoiie  ist  begreiflicherweise  nur 
allzu    geneigt,    zb.   den    schönen    bund  naiver  und  sentimentaler 
kriegspoesie,   wie  ihn   die  heeresleitung  Blücher-Gneisenaus  dar- 
stellt, nach  seiner  intellectuellen  seite  hin  abzuschätzen,  während 
die  zeit  das  umgekehrte  unrecht  übte. 

Ich  bin  mit  Sch.s  auswahl  also  durchaus  einverstanden  und 
hätte  nur  in  seltenen  fällen  andre  zeugen  gewünscht  (für 
Spanien  zb.  Heinr.  v.  Brandt),  aber  mir  kam  doch  der  gedanke, 
dass  sich  Sch.s  plan  auch  ganz  anders  hätte  ausführen  lassen, 
wenn  er  die  post  eventum  redigierten  memoiren  ausgeschaltet 
und  sich  auf  die  würklich  zeitgenössischen  stimmen  in  briefen, 
flug-  und  denkschriften,  zeitungen  beschränkt,  diese  dafür  gerade 
in  ihren  extremen  augenblicksgeständnissen  belauscht  hätte, 
gewis,  weder  der  Rheinbund  noch  der  Tugendbund,  weder  die 
feudale  Opposition  Preufsens  noch  die  revolutionären  und  antidy- 
nastischen tendenzen  im  weitern  Deutschland,  weder  Österreichs 
noch  der  Kheinlande  Indifferenz  noch  die  kurzsichtigen  Interessen 
der  städtischen  kirchtumpolitik  werden  ganz  ignoriert;  aber  das 
alles  verschwindet  doch  hinter  den  siegreichen  mächten  nationalen 
strebens;   Preufsen  fälirt  sogar  schlecht  dabei,  Aveil  seine  unter- 


SCHULZE    DIE    FRAXZOSENZEIT    IX    DEN    DEUTSCHEN    LANDEN  95 

lassungssünden  vor  1806  iii  üblicher  weise  stark  unterstrichen 
werden,  während  den  kleinstaaten  (aulser  etwa  Sachsen)  solche 
cnltnrbilder  erspart  bleiben,  das  material  für  diese  dinge  ligt. 
gerade  weil  da  der  all  tag  zu  worte  kommen  müste,  nicht  ganz 
bequem  vor,  aber  vorhanden  ist  es  schon,  und  es  scheint  mir 
auch  heute  keineswegs  überflüssig,  jene  bilder  zu  beschwüren; 
Süden  und  norden  hätten  daraus  zu  lernen,  freilich  der  Südwesten 
immer  noch  viel  mehr  als  der  norden,  des  prachtvollen  Mar- 
witz  conservative  Opposition  hätte  bei  Seh.  umsoweniger  schlank- 
weg durch  Boyen  abgetan  werden  sollen,  da  Marwitz  doch  sonst 
ein  sehr  geschätzter  kronzeuge  ist  und  wir  seinem  christlich- 
germanischen kreis  mit  gutem  grund  von  andrer  seite  her  näher 
gekommen  sind. 

Es  war  nicht  Sch.s  absieht  derartige  wünsche  zu  befriedigen; 
das  hätte  den  populären  Charakter  seines  werkes  umgeworfen, 
nur  eins  hätte  doch  auch  mit  seinen  zielen  sich  vertragen,  ja 
wurde  eigentlich  durch  sie  gefordert,  die  gröfse  Napoleons  kommt 
gar  zu  wenig  zur  geltung.  die  bekannten  worte  Goethes  und 
Hegels  würken  so  in  der  Vereinzelung  fast  wie  abnormitäten, 
ein  paar  oftizielle  Eheinbundwedeleien  wie  lächerliche  niederträch- 
tigkeiten:  dass  in  einer  zeit  die  dem  individuum  wachsende  ehr- 
furcht  entgegenbrachte,  der  grofse  kaiser  auch  menschlich  eine 
macht  war,  dieser  gar  nicht  unerfreuliche  zauber  seiner  persön- 
lichkeit kommt  bei  Seh.  nicht  zu  seinem  recht,  nicht  einmal 
Johannes  von  Müller  nimmt  das  wort,  und  das  ,  rgreifende  drama 
der  hundert  tage  entbehrt  so  des  eindrucks. 

Seh.  hat  ausländisclie  stimmen  im  ganzen  nicht  hereingezogen, 
aber  unter  den  beigegebeneu  bildern  sind  doch  —  mit  recht  — 
russische  und  englische  carrikaturen.  sehr  wenig  französisches, 
das  ist  schade,  gerade  Napoleons  rückkehr,  die  stunde  da  er 
die  Bourbonen  hinwegfegte,  hat  sehr  würkungsvolle  bilder  her- 
vorgebracht, etwa  Louis  xvni  und  seine  creaturen  die  krondia- 
manten zusammenraffend,  während  aus  dem  meer  Napoleons  ideal- 
büste  auftaucht,  von  strahlen  umleuchtet,  mit  der  Unterschrift: 
les  hrillans  les  plus  purs  sont  Vi'dat  de  ta  gloire.  selbst  Napo- 
leons feinde  ehren  in  Frankreich  seine  gröfse,  wenn  sie  ihn  auf 
Schädeln  thronen  oder  ein  beer  von  gerippen  und  krüppeln  an- 
führen lassen  (der  schädelthron  wurde  in  Deutschland  nachgeahmt), 
auch  sonst  bietet  gerade  die  französische  carrikatur  manches 
interessante:  mit  den  Preufsen  beschäftigt  sie  sich  viel  weniger 
als  mit  Russen  und  Engländern;  doch  tritt  schon  damals  der 
ulan  hervor  als  abnable  Prussien.  wenn  die  königiii  Luise  als 
kriegslustige  amazone  dargestellt  wird,  so  ist  das  ein  merk- 
würdiger beleg  dafür,  wie  wenig  sich  Völker  in  ihren  idealen 
kennen  und  verstehn. 

Die  deutsche  carrikatur  steht  erheblich  hinter  Frankreich 
zurück.     Schadows   Zeichnungen,   von    denen  Seh.  vieles  mitteilt. 


96  ROETHE  rHEK  SCHULZE  DIE  FHAXZ«  »SEXZEIT  IX  DEX  DEUTSCHEN  I.AXDEX 

sind  mehr  geistreich  als  durchschlagend,  und  was  populär  würken 
sollte,  ist  ineist  recht  plump,  aus  den  mappen  des  Berliner 
kupferstichkabinets,  die  auch  Seh.  herangezogen  hat,  notiere  ich 
noch  als  würksam  ein  bild  Napoleons  in  teufelsgestalt.  hinter 
dem  die  Rheinbundfürsten  und  -minister  in  die  hülle  tanzen; 
recht  volkstümlich  das  bild  der  auf-  und  absteigenden  treppe, 
die  sonst  die  altersstufen.  hier  aufstieg  und  fall  des  Corsen  ver- 
sinnbildlicht; zu  dem  capitel  'Das  ende  der  deutschen  ausläuderei' 
(Seh.  II  253)  hätte  hübsch  gepasst  ein  etwas  jüngres  bild,  das 
Hermann.  Barbarossa  und  den  herzog  von  Braunschweig-Oels 
gegen  den  costumier  allemand  Tartuffe  aufstehn  lässt.  im  ganzen 
steckt  wenig  witz  in  diesen  barbierstuben,  nussknackern  usw.; 
schon  damals  diese  köpfe,  die  aus  leibern  oder  landkarten  mehr 
oder  weniger  geschickt  zurechtgemacht  waren,  grade  so  wie  man 
sie  anno  70  zu  sehen  bekam  und  jetzt  noch  sieht,  die  erinne- 
rung  an  die  tageskunst  von  1870  kann  uns  überhaupt  vor  hoch- 
mut  bewahren,  auch  wenn  wir  über  manche  bilderbogen  (Schlacht 
bei  Jena,  bei  Halle.  Erfurter  congress)  lächeln  möchten,  die  Seh. 
mitteilt,  immerhin  würde  es  uns  heute  wol  besser  gelingen, 
hass  und  liebe  des  krieges  drastisch  im  bilde  zu  gestalten. 

Der  bilderschmuck  des  Sch.schen  werkes,  der  wie  der  text 
Zeugnis  ablegen  soll  von  dem  geiste  der  zeit,  ist  ein  wesentlicher 
bestandteil  des  ganzen:  freilich  wüste  man  damals  im  durch- 
schnitt besser  deutsch  zu  schreiben  als  deutsch  zu  zeichnen, 
zumal  die  Jostschen  Sammlungen  in  Leipzig,  das  Völkerschlacht- 
museum  am  Napoleonstein  und  das  Köruermuseum  in  Dresden 
haben  sehr  wertvolles  bildermaterial  beigesteuert :  schlachtenbilder 
(meist  von  dem  Augsburger  Rugeudas,  aber  auch  allerlei  ge- 
schicktere französische  Stiche)  und  andere  politische  scenen,  sol- 
datenbilder,  feuerwerke  und  festdarstellungen,  landschaftsbilder, 
facsimiles,  vor  allem  eine  grofse  fülle  ausgezeichneter  portraits. 
und  in  diesen  portraits  hat  Preufsen  durchaus  die  führung,  wenn 
nicht  durch  die  kunst  der  darsteiler,  so  durch  die  in  diesen  ge- 
siebtem erfrischend  lebende  geistige  und  sittliche  bedeutung  der 
dargestellten. Roethe. 

Gottfried  Kellers  dramatische  bestrebuugeu  von  dr.  3Iax 
Preitz  [Beiträge  zur  deutschen  literaturwissenschaft  heraus- 
gegeben von  Ernst  Elster  nr.  12.]  Marburg,  Elwert.  1909.  185 
SS.  8".  —  4,  4U  m. 

Eine  fleifsige  arbeit!  doch  leider  steckt  sie  sich  zu  hohe 
ziele  und  gerät  dadurch  mehrfach  in  seichtes  ästhetisieren. 
hätte  der  vf.  fein  bescheiden  sich  begnügt,  das  material  in 
sauberer  anordnung  und  mit  erläuterung  alles  erläuternswerten 
vorzulegen,  seine  leistung  hätte  dann  vielleicht  noch  mehr  den 
eindruck  einer  commentierten  ausgäbe  gemacht,  er  aber  wäre 
von  dem  vorwürfe  frei  geblieben,  dass  er  ein  schönes  thema  mit 
unzulänglichen  mitteln  bearbeite. 


WAI.ZEL    ÜBER    PREITZ    KELLERS    DRAMATISCHE    BESTREBUNGEN       97 

Selbstverständlich  ist  Kellers  Verhältnis  zum  drania  eine 
monographische  Untersuchung'  wert.  das  beweist  auch  dem 
Zweifler  die  Studie  von  Preitz.  mag  doch  angesichts  dieser  zu- 
sammenstelhing  selbst  der  kenner  von  Kellers  schaffen  staunen, 
wieviel  kraft  und  wieviel  sinnen  Keller  an  die  kunst  der  bühne 
gewant  hat.  der  gesamteindruck  ist,  dass  Keller  nicht  blofs 
die  malerei  in  vergeblichem  ringen  und  ohne  ertrag  sich  zu  eigen 
hat  machen  wollen,  sondern  dass  auch  das  drama  für  ihn  ein 
heifsersehntes  und  nie  ganz  gewonnenes  land  der  verheifsung 
war.  Keller  verzichtete  spät  genug  auf  die  hoffnung,  ein  maier 
zu  werden,  aber  er  legte  den  pinsel  nie  ganz  aus  der  band; 
den  drang  nach  der  bühne  unterdrückte  er  viel  später,  doch  auch 
dramatische  gedanken  beschäftigen  ihn  noch  lange  zeit,  bis  er 
endlich  18S1  zu  der  resignierenden  erkeiintnis  kam,  dass  die 
plane,  die  er  von  der  Berliner  zeit  her  noch  als  anonj'me  passa- 
giere  im  hirnkasten  mit  sich  führte,  wol  nicht  mehr  aus- 
steigen würden,  trotzdem  taucht  die  absieht  ein  drama  zu 
schreiben  noch  in  den  nächsten  jähren  gelegentlich  auf.  ein  end- 
giltiger  verzieht  kam  nur  ein  jähr  vor  seinem  tode  zustande,  in 
dem  augenblick  da  er  sich  entschloss,  einige  der  dramatischen 
projecte  seiner  Jugendzeit  zu  erzählungen  werden  zu  lassen,  um 
sie  als  schatten  der  erinnerung  zu  erhalten  und  zu  gewahren, 
ob  die  weit  vielleicht  doch  ein  ausgelöschtes  lampenlicht  darin 
erkennen  wolle,  allein  auch  in  epischer  form  sollten  die  alten 
entwürfe  nicht  zur  weit  kommen,  das  tagewerk  des  Züricher 
meisters  war  schon  abgeschlossen.  — 

Preitz  will  nicht  nur  einen  überblick  über  Kellers  ringen 
mit  der  bühnenkunst  geben,  vielmehr  denkt  er  die  von  ihm  in 
folgenden  worten  ausgedrückte  frage  zu  beantworten:  'Hatte 
Gottfried  Keller  nach  dem  ureigenen  wesen  seiner  poetischen 
begabung  und  nach  dem,  was  er  dramatisches  hinterlassen,  das 
recht,  auch  das  drama  als  sein  erntefeld  anzusehen,  warum  hat 
er  im  drama  trotz  starken  Avillens  nichts  geleistet,  und  hätte  er 
darin  etwas  von  dauerndem  werte  leisten  können?'  (s.  2.)  gegen 
Bächtold  erhebt  P.  den  Vorwurf,  dass  er  seinen  ausführungen 
über  Kellers  dramatische  arbeiten  die  spitze  nehme,  wenn  er 
sage:  man  brauche  sich  über  die  frage  nicht  zu  ereifern,  ob 
Keller  das  zeug  zum  dramatiker  überhaupt  besafs;  er  sei  vor 
allem  ein  ganzer  dichter  gewesen,  und  das  bleibe  die  erste  be- 
dingung  für  den  dramatiker,  alles  übrige  komme  in  zweiter  linie. 
auch  ich  kann  Bächtolds  werte  nicht  gerade  glücklich  tinden. 
sie  zeigen,  wie  leicht  ein  historisch  denkender  gelehrter  auf  ab- 
wege  gerät,  wenn  er  an  eine  historisch  gegebene  tatsache  mit 
der  frage  herantritt,  ob  sie  unter  gewissen  bedingungen  auch 
anders  hätte  werden  können,  der  tatsächliche  ablauf  von  Kellers 
dramatischen  bemtihungen  spricht  eine  so  deutliche  spräche,  dass 
er  alles  spintisieren  über  andere  möglichkeiten  von  Kellers 
A.  F.  D.  A.     XXXIV.  7 


98  WAI.ZEI.    riJER 

schaffen  auszuschliefsen  scheint,  seine  begabung  lag  —  so  sieht 
es  wol  jeder  an  der  Keller  etwas  näher  kennt  —  nicht  auf  der 
Seite  des  dramas;  hätte  er  sich  dennoch  ein  fertiges  drama  ab- 
gerungen, es  wäre  kaum  ein  freier  und  glücklicher  wurf  ge- 
worden, ungefähr  dasselbe  meint  P.,  wenn  er  am  ende  seiner 
Studie  seinen  'spruch'  formt:  "dramatisch  zu  gestalten  wäre  bei 
Gottfried  Keller  ein  act  des  willens  gewesen,  nicht  ein  ergf-bnis 
seiner  innersten  natur'  (s.  17  5).  freilich  möchte  P.  da  nicht 
einen  allgemeinen,  ungefähren  eindruck  niederlegen,  sondern  er 
glaubt,  in  seiner  arbeit  den  nachweis  dieses  "Spruches'  geliefert 
zu  haben,     und  da  täuscht  er  sich. 

P.  scheint  sich  nicht  bewust  zu  sein,  dass  er  vorschnell  an 
ein  thema  die  band  legt,  das  von  aufserordentlicher  Schwierigkeit 
ist.  mit  mühe  und  not  besinnen  wir  uns  heute,  während  eine 
periode  grundsätzlicher  vei'schmähung  fast  aller  charakteristischen 
Züge  der  kunstgattungen  und  dichtungsarten  ihrem  ende  zustrebt, 
älterer  versuche,  die  grenzen  und  die  eigenheiten  der  einzelnen 
gruppen  künstlerischer  formen  zu  erkennen,  wider  möchte  man 
herausbekommen,  worin  der  stil  des  dramas,  der  erzählung,  des 
lyrischen  gedichtes  ruht,  zeigen  sich  schon  bei  diesem  streben 
Schwierigkeiten  in  hülle  und  fülle,  so  scheint  es  im  augenblick 
eine  schier  unlösbare  aufgäbe  zu  bedeuten,  wenn  die  begabuug 
und  anläge  zu  einer  bestimmten  kunstform  umschrieben  werden 
soll,  denn  selbstverständlich  wollen  wir  doch  nicht  einfach  zu- 
rückgreifen und  ohne  einschräiikung  aufnehmen  was  vor  dreifsig 
und  fünfzig  und  hundert  jähren  festgesetzt  worden  ist.  nicht 
ganz  umsonst  sollen  die  künstler  und  deuker  geschaffen  haben, 
die  in  den  letzten  Jahrzehnten  zeigten,  welche  fülle  von  mög- 
lichkeiten  innerhalb  einer  kunstform  steckt,  was  alles  eine  kunst- 
gattung  und  eine  dichtungsart  leisten  kann,  wenn  sie  über  ihre 
nächsten  grenzen  hinauslangt. 

Bei  so  unsicherem,  schwankendem  boden  hätte  P.  gewaltig 
tief  graben  müssen,  wenn  sein  bau  nicht  ins  wanken  kommen  sollte, 
er  scheint  indes  anzunehmen,  dass  nicht  nur  die  wesentlichen 
Züge  dramatischer  form,  sondern  auch  die  charakteristischen 
eigenheiten  dramatischer  begabung  etwas  allgemein  bekanntes, 
feststehendes,  unbezweifelbares  seien,  und  von  dieser  Voraus- 
setzung aus  schreitet  er  rasch  weiter  zu  seinem  'spruch'. 

Das  problem  kommt  überhaupt  nur  im  schlusscapitel  zur 
erwägung  (s.  15!) ff.),  ich  referiere:  Keller  erblickte  selbst  im 
drama  die  höchste  gattung  der  poetischen  kunst  und  machte 
seinen  Zeitgenossen  zum  Vorwurf,  dass  sie  ihn  zu  einem  grofsen 
dichter  stempelten,  während  er  doch  keines  seiner  dramen  fertig- 
gebracht hätte,  schon  seine  epische  technik  strebte  einer  unge- 
bundenen form  zu;  sein  gebiet  ist  "die  von  jeder  formsatzung 
losgelöste  freie  erzählung,  in  der  er  göttlich  fabulieren,  in  der 
er    den    werg    von    seiner   kunkel  abspinnen  kann  in  beliebiger 


PKEITZ    GO'ITFRIED    KELLERS    DKAMA'nSCHE    BESTIIEBUNGEN  99 

geschwindigkeit  des  rades  und  beliebiger  stärke  des  fadens' 
(s.  1611.  sein  epischer  sprachstil  gelit  deingemäls  auf  behagliche 
ruhe  und  breite  aus.  'seine  erzählung  ist  ein  langes,  gemäch- 
liches ausatmen  des  epikers,  nie  kurz  oder  krampfhaft'  (s.  1 62). 
dabei  steigerte  sich  während  seiner  schaffenszeit  die  neigung  zum 
zartanmutigen,  die  starken  effecte.  die  von  der  bühne  gefordert 
werden,  lagen  ihm  deshalb  fern,  strenge  concentration  und 
gedruugeuheit  widersprach  ebenso  seiner  anläge:  seine  Unbe- 
fangenheit wäre  verloren  gegangen,  wenn  er  auf  seine  klein- 
malerei  verzichtet  und  'kräftig  aufzutreten'  versucht  hätte, 
wenn  in  jungen  jähren  der  ruf  nach  freiheit  ihn  zu  heller  be- 
geisterung  und  feurigem  zorn  entflammte,  so  entwuchs  er  doch 
rasch  seinen  pathetisch-dramatischen  Vorbildern  und  strebte  be- 
wust  der  Schlichtheit,  einfachheit  und  ruhe  zu,  die  seinem  wesen 
entsprach.  P.  fasst  zusammen:  'wie  im  leben,  so  fehlte  ihm 
auch  in  der  kunst  das  pathetische  und  heroische,  alles  theatra- 
lische, gedrungene  concentration,  die  kraft  gewaltige  contraste 
nebeneinander  aufzutürmen,  und  das  stehn  über  der  form  des 
dramas,  welches  allein  die  Unbefangenheit  des  Schaffens  aus- 
macht' (s.    174). 

In  dieser  auseinaudersetzung  ist  manches  feine  enthalten, 
wenn  es  auch  nicht  gerade  immer  neu  ist.  doch  auch  manches 
falsclie. 

Auf  fünf  selten  is.  162 ff.)  ist  eine  hübsche  blüteniese  an- 
^  gestellt,  die  Kellers  neigung  zum  zierlichen  und  anmutigen  be- 
weisen soll,  die  häutigen  diminutiva  und  die  oft  widerkehrenden 
Worte  zierlich  und  anmutig  werden  von  P.  herangeholt,  dennoch 
entstünde  ein  ganz  falsches  bild  von  Kellers  dichternatur,  wenn 
die  gegenteiligen  züge  nicht  auch  beachtung  fänden,  gibt  es 
doch  heute  noch  —  in  Deutschland  und  in  der  Schweiz  —  leser, 
denen  Keller  zu  derb  und  zu  grob  ist.  Storm  schrieb  am 
27  februar  1878  an  Keller:  ^Ich  für  meine  Person,  z.  B.  wenn 
.das  SeUhvyler  Kriegsheer  den  Quast  in  seinen  schwarzen  Farbe- 
topf taucht  [anfangs  der  novelle  "Dietegen'],  stemme  dann  die 
Hände  in  die  Seite,  sehe  ruhig  zu  und  denke:  'Ja  so!  der  Gott- 
fried miiss  erst  seinen  Spass  zu  Ende  machen!'  Und  er  macht 
ihn  dann  auch  jedesmal  zu  Ende.  Aber  es  sind  Leute,  kein 
schofles  Volk,  sondern  gute  Leute,  denen  ich  gern  den  kräftigen 
Born  Ihrer  Dichtung  gönnen  möchte;  die  rufen:  'Das  halt  der 
Deuwel  aus!'  und  laufen  mir  davon.'  wir  empfinden,  längst  an 
Kellers  'späfse'  gewöhnt,  diese  drastischen  dinge  nicht  mehr  so 
stark,  doch  äufsernngeu  wie  diese  citierte  —  sie  liefsen  sich 
leicht  vermehren  —  sollten  Keller  davor  bewahren,  den  Gleim 
und  JGJacobi  so  nahe  gerückt  zu  werden,  wie  es  bei  P.  tatsäch- 
lich geschieht. 

Denn  Keller  liebt  das  anmutige,  wie  der  sentimentalische 
von  der  natur  sich  angezogen  fühlt,   aus  dem  gegensatz  heraus, 

7* 


100  WAI>ZEI.    ÜBER 

in  dem  er  sich  dem  anmutigen  gegenüber  erblickt,  und  das  ist 
echt  schweizerisch!  im  bewustsein  imgebrocliener,  gelegentlich 
ungefüger  kraft  spricht  der  Schweizer  mit  Vorliebe  in  diminu- 
tiven, wenn  er  sich  des  dialekts,  ebenso  wie  wenn  er  sich  der  Schrift- 
sprache bedient.  Kellers  diminutiva  unterscheiden  ihn  gewis 
nicht  von  seinen  landsleuten.  weil  er  ein  echter  Deutschschweizer 
war,  packt  er  die  dinge  mit  zarter  band  an;  denn  er  war  sich 
wol  bcAvust,  dass  er  sie  zerbräche,  wenn  er  mit  ganzer  kraft 
Zugriffe:  ein  riese,  in  dessen  taust  menschen  und  menschenworte 
zum  Spielzeug  werden. 

Pr.s  beobachtung  ist  also  nicht  ganz  richtig  gesehen,  nicht 
auf  ihre  wahre  Ursache  zurückgeführt  und  beweist  nichts  für 
oder  gegen  Kellers  dramatische  begabung.  eher  möcht  ich  P. 
zustimmen,  wenn  er  Kellers  abneigung  gegen  straffe  und  ziel- 
bewuste  composition  ins  feld  führt,  freilich  kann  auch  da  leicht 
übertrieben  werden;  denn  der  künstlerische  aufbau  des  'Sinn- 
gedichtes' mag  immerhin  noch  eine  schwierigere  architektonische 
leistung  darstellen  als  die  gestaltung  eines  dramas.  im  ganzen 
aber  dürfte  es  wol  richtig  sein,  dass  ein  dichter  der  den  aufbau 
einer  dichtung  von  anfang  an  vor  seinem  inneren  äuge  erblickt, 
auf  dramatischem  felde  würksameres  leistet,  als  ein  poet  der 
sich  von  seiner  phantasie  tragen  lässt.  Keller  selbst  ge- 
stand nur  dem  dramatiker  das  recht  zu  'über  die  mache  zu 
grübeln',  es  geschah  bei  gelegenheit  von  Otto  Ludwigs  äufse- 
rung  über  den  ersten  band  der  'Leute  von  Seldwyla'  (an  Kuh, 
12  februar  1874);  Keller  tiel  da  'wieder  das  Grübeln  über  die 
Mache  auf,  dieses  aprioristische  Spekulieren,  das  beim  Drama 
noch  am  Platz  ist,  aber  nicht  bei  der  Novelle  und  dergleichen'. 
auch  die  folgenden  sätze  sind  wichtig:  'Das  ist  bei  dieser  Schule 
ein  forttvährendes  Forschen  nach  dem  Geheimmittel,  dem  Rezept 
und  dem  Goldmacher elixir,  das  doch  einfach  darin  besteht,  dass 
man  unbefangen  etiuas  macht,  so  gut  man's  gerade  kann,  und  es 
das  nächste  Mal  besser  macht,  aber  beileibe  auch  nicht  besser 
als  man's  kann,  das  mag  naturburschikos  klingen,  ist  aber  doch 
wahr'. 

Nach  solchen  naturburschikosen  principien  haben  jedoch  auch 
manche  dramatiker  gearbeitet,  bestenfalls  also  liefse  sich  nur 
sagen,  dass  Keller  seine  dramen  schliefslich  doch  immer  wider 
ungeschrieben  gelassen  hat,  weil  er  würklich  grofse  dramatische 
kunst  zu  seiner  zeit  nur  von  zwei  männern  vertreten  sah,  die 
nicht  naturburschikos  ihr  werk  anpackten:  von  Hebbel  und 
Otto  Ludwig. 

Endlich  Kellers  allmählich  sich  durchringende  neigung  zum 
schlichten  und  einfachen,  seine  abneigung  gegen  alles  pathetische 
und  heroische!  ich  möchte  nicht  einmal  P.  vorwerfen,  dass  er 
den  dramatiker  zu  sehr  auf  äufserliche  würkung  stellt,  wenn  er 
die   schönste    und  anziehendste  eigenheit  Kellers,    seine  sclilichte 


PREITZ    KELLERS    I)R.\MA'nSCHE    BESTREBUNGEN  10  I 

Wahrhaftigkeit  und  seine  Verachtung  alles  gemachten,  als  gegen- 
satz  zu  dramatischer  begabung  empfindet,  dennoch  ist  auch 
hier  zu  sehr  verallgemeinert.  Conrad  Ferdinand  Meyei-  liebte 
das  pathetische  und  heroische,  die  gewaltigen  contraste,  die  ge- 
drungene conceutration  ebensosehr,  wie  Keller  all  das  meidet, 
und  auch  Mej'er  hat  keine  dramen  veröffentlicht,  noch  weniger 
haben  die  pathetisch-dramatischen  Vorbilder  von  Kellers  politi- 
scher jugeudlyrik  es  zu  dramen  gebracht. 

Die  Vermutung  ligt  nahe,  dass  zu  allen  gründen  die  P. 
anführt  auch  noch  als,  wenn  nicht  entscheidender,  so  doch  ge- 
wichtiger die  tatsache  hinzukommt,  dass  Keller  wie  Meyer  in  einem 
land  geboren  worden  ist.  gelebt  und  gewürkt  hat.  in  dem  ein 
echter  dichter  nur  schwer  zu  dramatischem  schaffen  kommt,  "die 
Schweiz',  sagt  P.  (s.  174),  'sollte  auch  in  Keller  keinen  be- 
gründer  einer  eigenen  dramatischen  kunst  besitzen',  würklich 
hat  die  deutsche  Schweiz  auch  nach  Keller  keinen  eingeborenen 
dramatiker  gesehen,  wenigstens  nicht  auf  dem  gebiet  des  üblichen 
btthuendramas.  nur  das  massenfestspiel  ist  seit  Keller  zu  viel- 
versprechenden anfangen  gediehen,  er  selber  hat  es  anregen 
helfen;  aber  seine  dramatischen  plane  blieben  in  der  überkom- 
menen form  stecken,  und  ein  stück  im  sinne  der  neueren 
Schweizer  festspiele  hat  er  nicht   geschrieben,    kaum   entworfen. 

Ich  wundere  mich,  dass  F.  in  der  analyse  und  Charakteristik 
von  Kellers  entwürfen  und  planen  nicht  von  diesem  gesichts- 
punct  ausgegangen  ist.  die  frage  des  festspiels  ist  heute  in 
der  Schweiz  so  lebendig,  dass  P.  sie  hätte  berücksichtigen 
sollen. 

In  zwei  capiteln  seiner  arbeit  entwickelt  P.  Kellers  dra- 
matische bestrebungen:  das  erste  gibt  in  fünf  abschnitten 
(s.  3 — 46)  einen  überblick  über  die  phasen  seines  dramatischen 
bemühens,  das  zweite  bespricht  zunächst  das  jugenddrama  'Der 
Freund'  und  die  "politischen  Schweizerschauspiele',  schiebt  dann 
einen  abschnitt  ein,  der  "Gottfried  Kellers  dramaturgie'  über- 
schrieben ist  (s.  73 — 99),  lässt  Kellers  "Therese'  und  zwei  Ber- 
liner lustspielfragmente  folgen  und  schliefst  mit  den  gänzlich  un- 
ausgeführten planen,  von  diesen  abschnitten  beschränkt  sich  der 
teil  der  Kellers  dramaturgie  erörtert  auf  eine  etwas  äufser- 
liche  anordnung  der  b  rief  stellen,  in  denen  Keller  fragen  der 
dramatischen  kunst  und  dramatische  dichtungen  bespricht ;  diese 
stellen  sind  in  vollem  umfange  abgedruckt,  eine  gedankliche 
ausmünzung  ist  nicht  versucht,  ein  comraentar  nur  angedeutet, 
benutzt  wurden  zur  erläuterung  die  ungedruckten  antwortbriefe 
in  Kellers  nachlafs.  einmal  wird  festgestellt,  dass  Hettners 
'Modernes  drama'  einen  brief  Kellers  'teils  wörtlich'  verwertet 
(s.  7  5  anm.   1). 

Der  ungedruckte  nachlass  ist  auch  den  mitteilungen  über 
die  einzelnen  fragmente  und  plane  zugutegekommen,    naturgemäfs 


102  WAT.ZEr,    IBER 

fand  P.  auf  dem  dramatischen  gebiet  mehr  unbekanntes  und  un- 
gedrucktes,  als  Paul  Brunner  auf  dem  felde  der  Ij'rik  (Studien 
und  beitrage  zu  Gottfried  Kelleis  lyrik.  Züricher  dissertation 
19»>6).  ebenso  indes  wie  Brunuer  lässt  er  philologische  schärfe 
und  genauigkeit  vermissen,  vor  allem  wäre  es  selbstverständliche 
pflicht  gewesen,  stets  anzugeben,  welche  texte  schon  von  Bäch- 
told  mitgeteilt  worden  sind;  vielleicht  hätte  P.  sich  überhaupt 
den  abdruck  dieser  texte  ersparen  können,  die  kleinen,  freilich 
oft  sehr  bezeichnenden  erweiterungeu,  die  P.  den  texten  Bäch- 
tolds  werden  lässt,  konnten  meist  auch  ohne  neue  widergabe 
mehr  oder  minder  umfänglicher  aufzeichnungen  zur  geltung 
kommen,  so  fügt  er  nach  der  handschrift  den  notizen  'Der 
Prozessliebhaber'  und  'Der  neue  Graf  von  Gleichen'  (Bächtold, 
GKellers  leben  bd.  n  511  f)  die  gewährsmänner  an,  denen 
Keller  die  geschichtchen  verdankte,  bei  der  zweiten  notiz  ist 
auch  der  held  etwas  näher  bestimmt  durch  den  zusatz:  'Wag- 
ner X  in  Zofingen',  ungedrucktes  dient  vor  allem  der  Charakte- 
ristik der  versuche  aus  den  knaben-  und  jünglingsjahren  (s. 
6  ff.) ;  die  decorationseffecte  des  knaben  (s.  6  und  8)  sind  würk- 
lich  verblüffend;  züge  aus  Shakespeares 'Hamlet'  werden  (s.  11  f) 
sehr  früh  frischweg  übernommen,  dann  kann  P.  in  grofser  breite 
das  Jugenddrama  'Der  Freund"  (s.  47  ff)  vorführen,  eine  Studie 
nach  Ijessiugs  'Emilia,  mit  einzelheiten  die  echt  schweizerisch 
genannt  werden  dürfen,  alle  kritiker  die  am  ende  von  Lessings 
stück  lieber  den  prinzen  als  Emilia  von  Odoardo  erdolcht  sähen, 
können  an  Kellers  versuch  ihre  helle  freude  haben,  anlässlich 
der  'Schweizerschauspiele'  (s.  6 1  ff)  hätt  ich  gern  mehr  über 
die  ganze,  in  der  Schweiz  beliebte  gattung  gehört,  seine  be- 
hauptung-,  dass  Bächtold  mit  unrecht  den  'Vaterländischen  schwank' 
und  den  "Sonderbund'  getrennt  habe,  und  dass  der  schwank  den 
prolog  zum  'Sonderbund'  darstelle  (s.  69  f.),  hat  P.  nicht  be- 
wiesen, mit  gutem  recht  ist  'Therese'  (s.  100  ff)  ausführlich 
besprochen;  auf  einen  abdruck  verzichtet  P.;  eine  discussion 
seiner  aufstellungen  über  entstehung,  milieu  und  Stimmung,  hand- 
lung  und  personen,  technik  und  spräche  der  'Therese'  unter- 
lass  ich  und  weise  nur  aiif  die  bemerkung  über  die  cjniische 
Schlussvignette  hin  (s.  1 1  7f).  bei  den  Berliner  lustspielfragmenten 
(s.  118  ff)  ist  abermals  recht  schwer  zu  erkennen,  was  nach 
Bächtold  und  was  zum  ersten  male  gedruckt  ist.  den  unaus- 
geführten planen  (s.  1 34  ff)  dient  der  nachlass  Kellers  auch 
mehrfach  zu  näherer  ergründung,  vorzüglich  sprechen  hier  brief- 
liche Zeugnisse,  die  zt.  noch  nicht  bekannt  waren,  durch  die 
Verwertung  dieser  papiere  kommt  P.  beim  'Savonarola'  (s.  146ff) 
in  gegensatz  zu  Bächtold  (in  26),  dessen  darstellung  er  von 
verschiedenen  selten  aus  bekämpft,  ganz  unbekannt  ist  bisher 
das  patriarchalische  lustspiel  (s.  lo4fi  gewesen,  dessen  concep- 
tion  P.    aus   Kellers    notizbuch    erschliefst.     fraglich   bleibt  mir 


PREITZ    KELLERS    DRAMATISCHE    BESTREBUNGEN  103 

nur,  ob  würklich  alle  notizen,  die  hier  zu  unausgeführten  planen 
gestempelt  werden,  zum  zwecke  dramatischer  tormuug  von  Keller 
niedergeschrieben  worden  sind,  und  mit  einiger  Sicherheit  darf  be- 
hauptet werden,  dass  'Eutj'chus'  (s.  157  f)  kein  drama  abgegeben 
hätte,  die  quelle  von  P.s  mitteilungen  ist  ein  bericht  CFMeyers 
(Deutsche  Dichtung  ix  25).  Meyer  gibt  Kellers  werte  wider: 
'Denken  Sie  sich  die  scene  in  England  während  der  bürger- 
kriege.  ein  Wachtposten,  ein  junger  royalist,  entschlummert  in 
einer  hohen  schanze,  die  Puritaner  kriechen  nächtlicher  weile 
heran,  ein  bibelfester  alter  packt  den  Jüngling  und  schleudert 
ihn  in  den  abgrund  mit  den  worten:  fahre  wol,  Eutychns!' 
Keller  gibt  da  mit  absieht  der  erzählung  von  Eutychus  in  der 
Apostelgeschichte  (20,9  f)  ein  andres  kostüm.  doch  ein  drama 
hätte  kaum  aus  dem  Vorgang  erwachsen  künnen.  und  wahr- 
scheinlich hat  Keller  auch  nie  diese  absieht  gehabt. 

In  den  capiteln  die  Kellers  dramatische  arbeit  buchen  und 
analysieren,  ligt  der  hauptwert  von  P.s  arbeit,  dass  auch  da 
manches  genauer  und  tiefer  angepackt  werden  konnte,  ist  ge- 
wis;  doch  bei  einer  erstlingsarbeit  legt  man  nicht  strengste 
mafsstäbe  an.  es  hätte  zb.  nahegelegen ,  die  ausführlichen  aus- 
einandersetzungeu  über  maierei  und  maier,  die  'Der  Freund" 
(s.  52  f.)  bringen  sollte,  mit  der  so  überaus  fruchtbaren  Conti- 
episode  der  'Emilia"  zusammenzuhalten;  die  nachahmung  von 
Lessings  drama  tritt  da  besonders  stark  hervor,  von  Johann 
xsepomuk  Bachmayer  aber,  dem  unglücklichen  Österreicher,  dem 
Keller  starkes  Interesse  zuwendete,  durfte  P.  (s.  27  fj  nicht  so 
ausführlich  reden,  ohne  Minors  Studie  (Grrillparzerjahrbuch  10, 
129  ff)  zu  nennen. 

Dresden,   25.  -!.  09.  Oskar  Walzel. 

LITTERAT  URNOTIZEN. 

Geschichte  der  rahmgew Innung,  von  Benno  Martiny. 
I  teil:  Die  aufrahmung.  geschichte  ihrer  entwicklung  von 
den  frühsten  Zeiten  bis  zur  gegenwart.  mit  3  Vollbildern  und 
151  abbildungen  im  text.  Leipzig,  M.  Heinsius  naclif.  1909. 
X  und  155  SS.  51  ss.  33  ss.  4^'.  geb.  18  m.  —  Dr  Martiny 
hat  vor  einigen  Jahren  von  gönnern  seiner  milchwirtschaftlichen 
Studien  den  auftiag  angenommen,  eine  geschichte  der  niilch- 
sc  bleu  der  zu  schreiben  —  eines  für  die  technik  der  molkerei 
höchst  bedeutungsvollen  instrumentes,  mit  dem  sich  aber  die  Zeit- 
schrift für  deutsches  altertum  nicht  abzugeben  braucht,  mit  der 
gründlichkeit  die  alle  seine  arbeiten  auszeichnet,  hat  M.  diesen 
auftrag  zu  einer  'Geschichte  der  rahmgewinnung"  erweitert,  die 
in  dem  vorliegenden  bände  bis  zum  abschluss  der  geschichte  der 
aufrahmung  gelangt:  die  milchschleuder  hat  auch  über  alle  mo- 
dernen  versuche   die    aufrahniung   zu   vervollkommnen    den    sieg 


104  LITTEUATUKXOIIZEX 

davongetragen,  den  leser  des  Anzeigers  interessieren  nur  die 
ersten  capitel  des  buches:  'Herkunft  und  gewinuung  des  i-ahms' 
(s.  1 — 3),  'Der  eintritt  des  rahms  in  die  geschiclite'  (s.  4 — IG), 
'Art  und  anwendung  der  autraliuigetäfse"  (s.  17 — 66j;  sie  sind 
aus  umfassender  belesenheit  geschrieben  und  verschwenderisch 
illustriert,  die  wärme  mit  der  der  vf.  die  historische  seite  seines 
faches  umfasst,  nimmt  jeden  leser  ein  der  für  diese  dinge  nur 
ein  wenig  anschauung  mitbringt,  überraschend  würkt  der  nach- 
weis,  wie  spät  der  rahm  als  ein  besonderes  product  von  der  milch  in 
derben  ennung  unterschieden  worden  ist:  das  frühste  litterarische  Zeug- 
nis hat  M.  bei  Venantius  Fortunatus  1.  xi  carm.  1 4  gefunden,  die  alten 
culturvölker  haben  dafür  keinen  besonderen  ausdruck  besessen,  und 
bei  den  Nordeuropäern,  besonders  bei  den  Germanen,  die  an  den 
fortschritten  der  molkerei  bis  in  die  jüngste  zeit  am  stärksten 
beteiligt  sind,  spricht  gerade  die  fülle  der  ausdrücke  {rahm, 
saline,  kern,  flott,  nidel,  schmand  usw.  s.  9j  dafür,  dass  wir  es 
mit  einem  jungen  culturgewinn  zu  tun  haben,  hier  tut  sich  einem 
sprachlich  geschulten  culturhistoriker  das  feld  für  eine  aussichts- 
volle Studie  auf.  interessant  scheint  mir  auch  der  anteil  der 
Balten  und  Slaven,  wie  er  in  dem  schwedischen  grädde  und  dem 
deutschen  smant,  schmand  zu  tage  tritt,  in  meinen  studenteu- 
tagen,  als  ostpreufsische  commilitonen  mein  guthessisches  schmand 
als  heimatlich  vertraut  begrülsten,  hab  ich  mir  den  köpf  zer- 
brochen, wie  dies  unzweifelhaft  slavische  wort  nach  dem  deutschen 
Avesten  gelangt  sein  möge,  wo  es  derartig  heimatsrecht  erlangt 
hat,  dass  es  Vilmar  (s.  359)  als  das  in  Hessen  ausschliel'slich  ge- 
brauchte wort  für  *rahm"  bezeichnet  und  Ptister  (s.  25S)  schlank- 
weg als  'eigens  chattischen  ausdruck'  annectiert,  der  'durch  hessische 
auswanderer  im  ma.  nach  Ostpreulsen  übertragen'  wurde,  in  würk- 
lichkeit  ligt  die  sache  umgekehrt:  durch  die  gutswirtschaft  der 
Deutschordensritter  ist  das  wort  von  Preufsen  nach  Hessen  usw. 
gelangt !  dieser  w^eg  lässt  sich  aus  der  Wanderung  eines  andern 
Wortes  mit  Sicherheit  erschlielsen.  jeder  Ostpreui'se  hat  noch 
heute  eine  mehr  oder  weniger  deutliche  Vorstellung  von  dem 
brauche  des  schmackosterns  { s.  Frischbier  Preufs.  wb.  ii  292  und 
DWB.  IX  900) ;  das  wort  ist  über  Ost-  und  WestpreuXsen,  Lausitz, 
Schlesien  bis  nach  Siebenbürgen  verbreitet  und,  wie  man  auch 
über  die  grundbedeutung  urteilen  mag,  in  der  form  unzweifelhaft 
slavisch.  nun  kennt  aber  wort  und  brauch  der  Jurist  Estor, 
Teutsche  rechtsgelahrtheit  iii  (hrsg.  v.  JAHofmann,  Frankfurt 
1767)  s.  1421  aus  seiner  oberliessischen  heimat:  'schniakusteni, 
auf  Ostern  einem  mit  der  rute  begegnen,  übh.  die  rufe  geben'; 
und  Estors  engster  landsmann  Sippel  (JGEstor,  Marburg  1874, 
s.  28 f)  bemerkt  dazu:  'dieser  gebrauch  des  schmakusterns  am 
ostermorgen  wurde  noch  um  d.  j.  1855  in  Cappel  bei  Marburg 
von  dem  bäuerlichen  gesinde  in  oft  derber  und  roher  weise  aus- 
geübt',    also    ganz    wie  an  Pregel  und  Weichsel,    wo  ich  schon 


LirrERATURXOTIZEX  105 

z.  j.  1409  einen  beleg  im  Marienburg'er  Trefslerbuch  ed.  Joachim 
nachweisen  kann:  item  4  scot  den  fiimaijäen,  ah  s\i  smaliosterten 
(s.  537,  25 f);  wahrscheinlich  wurden  die  viehmäg-de  dafür  dass  sie 
nicht  über  die  kammern  der  knechte  in  den  schlafsaal  der  ritter 
vordrangen,  mit  einer  geldspende  abgefunden.  —  als  ich  selbst  im 
j.  1S9S  nachforschuugen  in  der  Marburger  gegend  anstellte,  hab 
ich  zwar  das  wort,  aber  nur  unklare  reminiscenzen  an  den  brauch 
gefunden.  E.  S. 

Kurzgefasste  deutsche  literaturgeschichte.  ein 
Volksbuch  von  Eduard  Engel,  mit  33  bildnissen  und  14  hand- 
schriften.  Wien,  Tempsk}^  und  Leipzig,  Fre^^tag  1909.  370  ss. 
S".  geb.  4  m.  —  Herr  Engel  hat  eine  masse  deutscher  und 
aui'serdeutscher  literatur  gelesen:  er  ist  ein  temperamentvoller 
leser  und  rasch  mit  dem  urteil  fertig,  um  dessen  prägung  er 
sich  nicht  lauge  müht ;  oft  trifft  er  den  nagel  auf  den  köpf,  nicht 
selten  haut  er  mit  einer  dei'ben  trivialität  gründlich  daneben, 
die  spätem  abschnitte  des  vorliegenden  Volksbuchs'  bringen  eine 
fülle  von  namen,  daten  und  censureu,  die  zusammen  gewis  noch 
keine  literaturgeschichte  ergeben,  aber  doch  in  ihrer  übersicht- 
lichen anordnung  manchem  erwünscht  sein  werden,  sie  bedürfen 
freilich  der  entlastung,  der  Sichtung  und  Säuberung,  die  auch 
dinge  herausschafft  wie  den  falschen  vornamen  Schleiermachers 
(Ernst  s.  218).  die  angäbe  dass  Goethe  und  Klinger  sich  'als 
Studenten  in  Strafsburg  näher  kennen  gelernt'  hätten  (s.  159), 
und  gar  vieles  ähnliche.  —  den  anspruch  als  geschichtsschreiber 
ernst  genommen  zu  werden,  hat  sich  E.  völlig  verwürkt  durch 
die  art,  wie  er  auch  über  die  altdeutsche  literatur  mit  kenner- 
miene  redet,  ohne  hier  die  demente  zu  beherschen.  es  handelt 
sich  da  nicht  um  Schnitzer  die  leicht  beseitigt  Averden  könnten, 
auch  nicht  immer  um  Selbsttäuschung,  die  ich  etwa  zugeben  will, 
wenn  E.  s.  26  aus  dem  liebesgrufs  im  "Euotlib'  (so !)  'die  deutsche 
vorläge  des  dichters  ahnen'  will,  oder  wenn  es  s.  35  heifst:  'der 
fruchtbarste  erzähler  volkstümlicher  richtung  (!)  war  der,  sonst 
meist  den  hötischen  sängern  zugesellte,  Konrad  von  Würzburg', 
vielmehr  ist  es  zumeist  seichtes  halbwissen,  das  unter  dem  trü- 
gerischen scheine  quellenmäfsiger  kenntnisse  auftritt,  so  gleich 
s.  IS:  'Der  gesamteindruck  aus  allen  berichten  griechischer  und 
römischer  Schriftsteller  (Cäsars,  Pliuius"  d.  alt.,  Ammianus',  Si- 
donius',  Plutarchs,  Diodors,  Jordanes")  [welche  entzückende  reihen- 
folge!]  ist  der,  dass  es  eine  hochentwickelte  (!)  heldendichtung  bei 
den  Germanen  schon  in  den  ältesten  geschichtlichen  zeiteu  ge- 
geben haben  muss' ;  oder  s.  19:  '.  .  .  die  Edda,  eine  altisländische 
kunstdichtung,  deren  uns  überlieferte  form  frühstens  aus  dem 
9  Jh..  vielleicht  sogar  erst  aus  dem  1 1  oder  1 2,  jedenfalls  (!)  aus 
christlicher  zeit  stammt',  aus  der  einen  seite  62,  wo  die  prosa 
des  14  und  15  jh.s  absolut  unzulänglich  besprochen  wird,  heb 
ich   zur   erbauung   der  kundigen   folgende  sätze  heraus:  '.  .  .  die 


106  LITTERATURXOTIZEN 

Chroniken,  von  denen  die  inlialtlich  und  sprachlich  (!)  wertvollste 
die  Limbniger  chronik  ist.  ihr  Verfasser  .  .  .  streut,  wo  er  nur 
kann,  lieder  auf  die  erzählten  begebenheiten  (!)  ein'.  —  "daneben 
wurde  eine  Verdeutschung  der  Gesta  Eoraanorum  . . .  mit  wahrer 
leidenschaft  (!)  g'elesen  und  von  vielen  dichtem  benutzt".  —  'be- 
deutsam und  von  bleibendem  werte  sind  die  predigten  der  sog. 
mystiker  des  15  (!)  jh.s'  ....  'die  beiden  classiker  der  mystischen 
prosa  .  .  .  waren  Tauler  und  Geiler  von  Kaisersberg'.  —  'von 
.  .  .  Seuse,  gestorben  um  (!j  13Gt>  haben  wir  gleichfalls  eine  Samm- 
lung inhaltlich  und  sprachlich  meisterhafter  predigten  (!)".  —  'der 
berühmteste  unter  den  mystikern  (!i  war  Johann  Geiler  von  Kaisers- 
berg' usw.  ich  denke  die  leser  dieser  Zeitschrift  haben  genug 
von  dem  historiker  und  Volksschriftsteller  Eduard  Engel. 

E.  8. 

A.  grammar  of  the  german  language  designed  for  a 
thorough  and  practical  studj'  of  the  language  as  spoken  and 
written  to-day  by  George  0.  Cnrme,  professor  of  gernianic  philo- 
logy  in  Northwestern  university.  New  York,  the  Macmillan 
Company.  1905.  XIX  undGGl  ss.  So.  —  Das  vorliegende  werk, 
die  fruclit  langjähriger  arbeit,  zeugt  von  lebendiger  sprachkenutuis, 
grolser  belesenheit  und  vollkommener  beherschung  der  gramma- 
tischen literatur.  es  ist  geschrieben  mit  rücksicht  auf  die  be- 
dürfnisse  von  benutzern,  deren  muttersprache  das  englische  ist; 
daher  hinweise  auf  abweichungen  des  deutschen  vom  englischen 
Sprachgebrauch  und  die  behandlung  mancher  dinge,  die  sonst  von 
der  grammatik  dem  Wörterbuch  zugewiesen  werden,  vgl.  den  ab- 
schnitt über  die  bedeutung  der  modalen  hilfsverba  {dürfen,  können 
usw.)  s.  328—335. 

Aber  auch  Deutsche  werden  diese  reichhaltige  grammatik  sehr 
oft  mit  nutzen  aufschlagen  ich  verweise  zb.  auf  den  abschnitt 
von  den  Schwankungen  im  gebrauch  der  beiden  adjectivdeclinationen 
s.  134  ff.,  die  darstellung  der  substantivdeclination.  die  eingehend 
die  fremdwörter  berücksichtigt,  die  erörterung  des  gebrauches 
von  es  s.  491  ff.  auch  manche  interessante  einzelheit  wird  durch 
die  belesenheit  des  Verfassers  zu  tage  gefördert;  aus  s.  550  hab 
ich  gelernt,  dass  die  sonst  für  ausschliefslich  bairisch-österreichisch 
geltende  Verbindung  auf  etwas  vergessen  sich  auch  bei  Storm 
findet. 

Der  Verfasser  strebt,  in  der  darstellung  dem  neueren  Sprach- 
gebrauch gegenüber  der  engherzigkeit  der  grammatiker  zu  seinem 
rechte  zu  verhelfen  ').  die  unterschiede  nord-  und  süddeutschen 
gebrauchs  werden  gebührend  hervorgehoben,  so  weit  in  fällen 
des   Schwankens  die    eine  form   oder    wendung  als  die  üblichere 


'  deshalb  wundert  micli  die  1>enierkuiig  über  conjuuctivfornien  wie 
heurh(e)len  s.  259.  wer  heutzutage  diese  formen  braucht,  steht  ganz  gewis 
unter  schulmeisterlichem  einfluss. 


T.ITTEUATrRX()TIZKX  107 

bezeichnet    wird,    trifft    die    entscheidung-    meiner  meinung  nacli 
meist  das  richtig-e. 

Nur  selten  versagt  das  Sprachgefühl  des  Verfassers,  in  dem 
satzfs.  227 j:  als  .  .  sie  .  .  ihm  die  Birne  der  elektrischcK  Klingel 
auf  das  Tischchen  .  .  hingelegt,  falls  er  etiras  brauche,  schlich 
sie  sich  .  .  davon  ist  brauche  eine  art  conjunctiv  der  abhängigen 
rede;  an  sich  kann  nach  falls  nicht,  wie  der  Verfasser  lehrt,  der 
conjunctiv  das  präsens  stehn:  ein  satz  wie  falls  du  nicht  ei^}- 
verstanden  seist,  telegraphiere  wäre  ja  unmöglich.  —  als  beispiel 
für  die  Verbindung  des  passivs  von  lassen  mit  einem  intinitiv 
stünde  s.  263  statt  des  undeutschen  Der  Arzt  wurde  kommen 
gelassen  besser  ein  anderes  beispiel,  etwa  der  Plan  wurde  fallen 
gelassen.  —  In  zürnt  nicht  der  dreisten  Frage  (s.  55  t)  ist  der 
abhängige  casus  dativ,  nicht  genitiv.  auch  würde  ich  den  genitiv 
in  dem  Grillparzerschen  vers  Zwei  Huderer  ermüdeten  der  Fahri 
(s.  55 Üj  nicht  auf  eine  stufe  stellen  mit  den  geuitiven  nach  verben 
wie  enthehren,  denn  die  Grillparzersche  fügung  ist  ganz  indi- 
viduell;  man  wird  kaum  ein  zweites  beispiel  auftreiben  können. 

—  aber  wie  gesagt,  solche  Irrtümer  sind  in  dem  trefflichen  buche 
ganz  selten. 

Wien,   13.  october  1909.  M.  11.  Jellinek. 

Das  gotisch-lateinische  Bibelfragment  der  Uni- 
versitätsbibliothek zu  Gleisen  von  Paul  Glaue  und 
Karl  Helm,  mit  einer  Tafel,  [sa.  aus  der  Zeitschr.  für  die  neu- 
testamentl.  Wissenschaft]  Giefseu.  ATöpelmann  1910.  ;^8  SS.  S'. 
1,50  m.  —  "Das  älteste  uns  erhalten  gebliebene  litterarische  do- 
cument  unserer  germanischen  Vergangenheit"  's.  1):  dieser  respect 
vor  dem  alter  des  neuen  Gielsener  bruchstücks  muss  uns  trösten 
über  die  enttäuschung.  die  wir  wol  alle  bei  der  dürftigkeit  seines 
gotischen  inhalts  empfinden,  die  altersbestimmung  wird  richtig 
sein,  freilich  Irgendwelche  Schlüsse  auf  das  alter  des  fragments 
im  Verhältnis  zu  anderen  gotischen  handschriften  zu  ziehen,  da- 
für reichen  die  schriftzüge  nicht  aus;  wir  müssen  uns  in  diesem 
punct  ganz  auf  die  ergebnisse  der  lateinischen  paläographie  ver- 
lassen' (s.  18);  diese  aber  weisen  in  den  anfang  des  5  jh.s  (s.  i4'. 
wofür  namentlich  die  unbestreitbare  ähnlichkeit  mit  tafel  20.21 
der  Exempla  von  Zangemeister-Wattenbach  spricht,  ob  die  über- 
geschriebenen dicken  und  dünnen  striche  lediglich  als  federproben 
und  willkürliches  gekritzel  abzutun  sind  (s.  ^S),  mögen  kundigere 
entscheiden;  bemerkt  sei,  dass  sie  erst  nach  dem  zerschneiden 
des  Originalblattes  aufgetragen  scheinen,  da  keiner  von  ihnen, 
weder  am  unteren  rande  noch  an  den  selten,  beim  zerschneiden 
getroffen  wurde;  dann  aber  wäre  vielleicht  zu  beachten,  dass 
der  autor  dieser  jüngeren  cursiven  kritzeleien  den  Inhalt  des  ur- 
sprünglichen blattes  gekannt  haben  wird:  unter  ihnen  meine  ich 
auf  s.  16  des  quaternio  oben  das  wort  LUCAS  deutlich  zu  lesen. 

—  wichtiger  als  die  wenigen  srotischen  brocken,  die  keine  einzige 


108  LITTEKATL'KXUTIZEN 

neue  vocabel,  keine  einzige  neue  form,  keine  neue  einzelheit 
enthalten,  ist  zunächst  der  fundort  des  fragments,  die  gegend 
des  alten  Antiuoe  in  Ägypten;  auf  welchem  wege  es  dorthin  ge- 
langt sein  könnte,  darüber  gibt  Glaue  (s.  4  ff)  eine  reihe  von 
Vermutungen,  wie  sie  bei  unsern  heutigen  hilfsmitteln  eben  mög- 
lich sind,  wichtig  ist  aber  ferner  vor  allem  die  tatsache,  dass 
auch  dieser  gotische  Bibelrest,  ebenso  wie  der  des  Carolinus  in 
Wolfeubüttel,  sich  in  gesellschaft  eines  lateinischen  textes  be- 
tindet,  der  sich  widerum  zum  cod.  Brixianus  der  Itala  zu  stellen 
scheint,  die  folgerungen  hieraus  hat  sich  Glaue  nun  sehr  leicht 
gemacht,  indem  er  einfach  die  forschungen  und  hj^pothesen  des 
letzten  Jahrzehnts  übernimmt,  die  Überschätzung  des  bekannten 
Hieronymusbriefes  ebenso  wie  die  phantasievolle  Vorstellung  von 
einer  art  textkritischer  Bibelcommission  bei  den  Goten;  und  so 
bezeichnet  er  nach  laugen  citaten  aus  Kauffmanns  arbeiten  das 
neue  pergament  als  einen  rest  'von  einer  der  bald  nach  der  ent- 
stehung  der  kritischen  ausgäbe  des  Suuja  und  Frithila  ver- 
fertigten abschrifteu  der  gotisch-lateinischen  Bibel  bzw.  Evan- 
gelien, also  etwa  aus  der  zeit  bis  40S'  (s.  13).  es  wäre  für  uns 
germanisten  erwünschter  gewesen,  wenn  grade  von  theologischer 
Seite  einmal  die  Zuverlässigkeit  dieses  ganzen  hypothesenturmes 
gründlich  nachgeprüft  worden  wäre.  —  s.  2  will  Glaue  berichten, 
durch  welche  berechnung  die  stelle  der  gotischen  bibel  heraus- 
gefunden w^orden  sei,  bewegt  sich  aber  dabei  in  einem  unver- 
ständlichen circulus.  indem  er  bei  feststelhmg  des  einheitsmafses 
der  lateinischen  seite  den  Inhalt  der  zu  eruierenden  gotischen 
stelle  bereits  voraussetzt.  —  die  gotischen  brocken  hat  Helm 
ohne  frage  richtig  gelesen,  was  namentlich  auf  s.  16  des  qua- 
ternio  keine  leichte  aufgäbe  war.  ausdrücklich  bemerken  möcht 
ich,  dass  der  unterschied  der  beiden  j-schreibuugen  auch  in 
diesem  fragraent  vorhanden  ist:  auf  s.  2  des  quateruio  ist  in 
zeile  4  das  puuctierte  T  der  praeposition  tn  auch  auf  der  Photo- 
graphie ganz  deutlich  (selbst  auf  s.  16  z.  lü  glaub  ich  reste 
der  puncte  beim  accusativ  hia  noch  zu  erkennen),  während  im 
Innern  der  worte  die  puncte  fehlen  {managein  u.  ö.).  nun  sind 
aber  von  dem  widerum  orr/r^Ööv  geschriebenen  texte  nur  knappe 
Zeilenausgänge  erhalten,  und  Helm  hat  sich  der  mühe  unter- 
zogen, die  fehlenden  längeren  anfange  zu  reconstruieren.  für  das 
gelingen  solches  gefährlichen  Versuchs  schienen  ihm  die  umstände 
besonders  günstig,  da  wir  ja  seit  Streitbergs  ausgäbe  in  der 
glücklichen  läge  seien,  'die  vorläge  der  gotischen  Bibel  ziemlich 
genau  zu  kennen'  und  danach  "in  den  handschriften  der  soge- 
nannten antiücheuischen  recension  einen  sicheren  ausgangspunct 
haben'  (s.  19).  Helm  folgt  also  Streitbergs  Weisungen  ebenso  be- 
denkenfrei, wie  dieser  bei  seiner  reconstruction  den  Weisungen 
vSodens,  wie  wenig  aber  das  so  gewonnene  bild  von  AVultilas 
griechischer   vorläge    richtig  sein  kann,    das  soll  demnächst  hier 


LITTERATURXOTIZKX  109 

ausführlich    dargetan   werden.    —    das  Verzeichnis  der  gotischen 
wortformen  am  schluss  enthält  etliche  druckfehler. 

Marburg:  i.  H.  Ferd.  AVrede. 

Samuel  Columbus.  En  swensk  orde-skütsel,  med  au- 
märkningar  och  ordlista  utgifven  af  Beugt  Hesselniauu.  190b, 
Uppsala,  A.-B.  akademiska  bokfürlaget.  VII  u.  122  s.  b".  2  kr.  — 
Der  vollständige  titel  dieser  im  jähre  1678  von  dem  schwedischen 
dichter  8.  Columbus  verfassten  schritt  ist :  'En  swensk  orde-skütsel  an- 
gäende  bokstäfwer,  ord  ok  ordesätt'.  Noreen  Viht  sprak  I,  192 f. 
charakterisiert  sie  als  eine  alle  grammatischen  arbeiten  der  zeit 
übertreffende,  in  Wirklichkeit  glänzende,  die  vor  allem  deshalb  so 
grofsen  wert  hat,  weil  Columbus  principiell  in  seiner  schrift  die  ge- 
sprochene spräche  seiner  zeit  anwendet,  so  gut  er  dieselbe  bezeichnen 
kann,  eine  richtige  anordnunglässt  die  schrift  vermissen,  der  Verfasser 
äufsert  sich  über  fragen  der  phonetischen  Schreibung,  Verwendung 
der  antiqua,  Sprachrichtigkeit  und  über  mancherlei  anderes,  man 
muss  oft  staunen  über  für  jene  zeit  feine  beobachtungen,  zb. 
wie  er  die  lehnwörter  auf  ihre  verschiedene  herkunft  mustert, 
herausgegeben  wurde  die  arbeit  zuerst  von  Gust.  Stjernström  und 
Ad.  Noreen  1881  in  der  serie  'AfSvenska  literatursällskapet  utgifna 
skrifter'.  dem  text  lagen  drei  handschriften  der  Nordinschen 
Sammlung  der  Universitätsbibliothek  zu  Uppsala  zu  gründe:  nrr 
()22.  023.  024  =  A,  B,  D,  und  eine  handschrift  der  Ihreschen 
bibliothek  auf  Ekeb^'hof  •=  C.  A  gilt  für  die  älteste,  unmittelbar 
vom  verlorengegangenen  original  genommene,  B  für  eine  abschrift 
zweiter  band  mit  A  als  mittelstufe ;  das  gleiche  nimmt  Stjernström 
von  C  an,  D  ist  jünger  als  die  übrigen,  und  nach  H.s  meinung 
eine  abschrift  von  B.  nach  1881  tauchte  inzwischen  eine  neue 
abschrift,  K,  in  der  Kgl.  bibliothek  auf,  die,  älter  als  A,  gleich- 
falls direct  auf  das  original  zurückgehn  und  kurz  nach  1BS9 
verfasst  worden  sein  soll,  darüber  berichtete  Aksel  Andersson 
in  'Samlaren'  von  1883.  auf  diesen  aufsatz  wird  nur  kurz  vei- 
wiesen,  er  ist  mir  nicht  zugänglich,  abgesehen  von  dem  auf- 
tauchen dieser  hs.  war  die  nächste  veranlassung  zu  einer  neuen 
ausgäbe  die,  dass  die  kenntnis  der  schrift  des  Columbus  jetzt 
im  Staatsexamen  für  nordische  sprachen  in  Schweden  verlangt 
wird.  H.  hat  nun  die  hs.  K  seiner  neuen  ausgäbe  zu  grund- 
gelegt, deren  text  er,  nach  seiner  angäbe,  was  wortformen  und 
Schreibung  betrifft,  so  genau  wie  möglich  widerzugeben  sucht, 
auch  die  interpunction  hat  er  in  der  regel  in  Übereinstimmung 
mit  K  beizubehalten  gestrebt,  nur  an  einigen  stellen  hat  er,  ohne 
dies  jedoch  anzumerken,  sie  verändert,  und  alsdann  meistens  in 
Übereinstimmung  mit  dem  gebrauch  von  A.  in  der  regel  ist  er 
auch  K  gefolgt  in  der  wähl  der  grolsen  oder  kleinen  anfangs- 
buchstaben.  in  den  anmerkungen  werden  Varianten  aus  A  an- 
geführt, doch  nicht  vollständig,  sondern  nur  solche,  von  denen  H. 
glaubte,  dass  sie  gröfsere  bedeutung  für  den  text  oder  in  sprach- 


1  1  0  LITTE  RATUENOTIZEN 

lieber  beziehung  baben.  lesarten  von  A,  die  unbedingt  den  Vor- 
zug vor  sülcben  von  K  zu  baben  scbeineu,  sind  in  den  text  ein- 
gesetzt, die  von  K  alsdann  in  die  anmerkungen  verwiesen  werden, 
bierbei  bat  H.  gewisse  principien  zu  verfolgen  gesucbt,  obne 
dass  es  ibm  —  uacb  eigenem  geständnis  —  geglückt  wäre,  diese 
mit  grösserer  consequenz  durcbzufübren.  lesarten  von  B  und  D 
sind  nur  in  einigen  fällen  augefübrt  worden.  C  bat  H.  nicbt 
vei'glicben  —  warum  nicbt,  erfabren  wir  nicbt.  die  beispiel- 
wörter  sind  cursiv  gedruckt  worden,  die  in  K  unterstricbeneu 
Wörter  gesperrt  cursiv,  aber  nur  zum  teil. 

Soweit  die  angaben  H.s  über  die  art  seiner  textgestaltung. 
icb  muss  gestebn,  dass  icb  diese  art  und  weise  für  gänzlicb 
verkebrt  balte.  die  ausgäbe  ist  nicbt  fiscb  nicbt  fleiscb,  sie 
ist  keine  diplomatiscbe,  und  sie  ist,  nacb  den  angewandten  prin- 
cipien, keine  die  den  urtext  berzustellen  sucbt.  nicbt  einmal 
alle  bandscbriften  sind  benutzt  worden,  man  ist  der  willkür 
H.s  mit  gebundenen  bänden  überliefert,  mit  der  früheren  aus- 
gäbe die  neue  zu  vergleicben,  bin  icb  bier  nicbt  in  der  läge. 
Heidelberg.  B.  Kahle. 

Tbe  relations  of  tbe  norwegian  witb  tbe  englisb 
cburch  10B6 — 1399,  and  tbeir  importauce  to  comparative  lite- 
rature  by  Henry  Goddard  Leaoh  [Proceedings  of  tbe  American 
academ}»-  of  arts  and  sciences  vol.  xliv  nr  2n,  may  19u9j.  32  ss. 
8  f'.  —  Dass  der  Import  franzüsiscber  scbriften  und  sagenstoffe 
noch  Norwegen  im  13  jb.  bauptsäcblicb  durcb  geistlicbe  erfolgte, 
ligt  klar  zu  tage,  aber  berubte  er  auf  directen  beziebungen 
zu  Frankreicb?  wie  Meifsner  annabm  •  ,  oder  war  England 
der  Vermittler?  wofür  sieb  Finnur  Jönsson  entschieden  batte. 
L.  bat,  da  sieb  die  frage  aus  den  litteraturwerken  selbst  nicbt 
beantw^orten  liefs,  den  umweg  über  die  kircbengescbicbte  einge- 
schlagen und  aus  englischen  und  norwegischen  quellen  aller  art 
die  beziebungen  des  christlichen  Norwegens  zu  England  seit  den 
tagen  der  normannischen  eroberung  klarzustellen  gesucht,  der 
historiker  wird  daran  manches  auszusetzen  baben,  die  kritik  ist 
nicht  des  Verfassers  starke  seile,  und  entgieisungeu  wie  wenn 
s.  559  z.  12  V.  u.  der  erste  abt  des  cistercienserklosters  Lyuse 
(südlich  von  Bergen)  'tbe  ürst  bishop  of  Lyse'  genannt  wird, 
erwecken  kein  vertrauen  zu  den  Vorstellungen  L.s  vom  mittel- 
alterlichen kirehenwesen.  aber  das  culturgescbiehtlicbe  ergebnis 
scheint  doch  gesichert:  Norwegen  bat  nicbt  nur  sein  Christentum 
von  England  empfangen,  es  bat  auch  bis  gegen  den  ausgang  des 
1  3  jb.s  andauernd  die  engsten  beziebungen  zur  englischen  kirche 
und  zu  den  geistlichen  bildungsanstalten  Englands  unterhalten; 
die  directen  Verbindungen  mit  Frankreich  treten  dem  gegenüber 
zurück,  gerade  die  regierungszeit  kg  Häkon  Häkonarsons  (1217 
bis  1263)  und  namentlich  das  dritte  Jahrzehnt  des  13  jb.s 
zeigen    das    Verhältnis    besonders  innig,    und  jedenfalls   wird  es 


LITTE KATURNOTIZEN  1 1  I 

damals  auch  litteiarisch  fruchtbar  geworden  sein,  um  12U0  t'ällt 
ein  wendepunct:  von  da  ab  tritt  Frankreich  durchaus  in  den 
Vordergrund,  und  soweit  es  einer  vermittelung  französischer  cultur 
bedarf,  wird  diese  jetzt  durch  Flandern  geleistet,  und  nicht  mehr 
durch  England,  die  kirchengeschichte  wird  sich  bei  der  Heifsigen 
notizensammlung  L.s  nicht  beruhigen,  für  die  litteraturgeschichte 
bietet  sie  zunächst  einen  ausreichendt^n  anhält.  E.  S. 

Reim  Wörterbuch  zu  Ulrichs  Lanzelet  von  Cleoplias 
Beywl  [Präger  Deutsche  Studien  15  heft,  hersg.  v.  C.  v.  Kraus]. 
Prag,  Bellmaun  1909.  IV  u.  91  ss.  S"  3  m.  —  Eine  grölsere 
anzahl  von  reimregistern  wichtiger  mhd.  Dichter  wäre  als  hand- 
werkszeug  für  uuseie grammatischen  und  litterarhistorischen  Studien 
gewis  erwünscht,  und  wenn,  wäe  im  vorliegenden  falle  von  der  Ge- 
sellschaft zur  fürderung  deutscher  Wissenschaft,  kunst  und  litteratur 
in  Böhmen,  die  mittel  zur  herausgäbe  zur  Verfügung  gestellt  werden, 
kann  man  sich  die  gäbe  wol  gefallen  lassen,  die  erste  bedingung, 
saubere  arbeit  und  verständige  anordnuug,  hat  der  verf.  erfüllt, 
sein  ehrgeiz  geht  nicht  darüber  hinaus,  einen  reimindex  zu  Hahns 
ausgäbe  zu  bieten,  dem  s.  6;> — 91  ein  .  Verzeichnis  sämtlicher 
reimwörter  nach  den  anlauten  augehängt  ist:  bemerkenswerte 
lesarten  sind  notiert,  ein  paar  hinweise  auf  Zwiei'zinas  Mhd.  Studien 
und  auf  gelegentliche  notizen  Behaghels  eingeschaltet;  eigener  vor- 
schlage enthält  sich  B.  durchweg,  leider  hat  er  es  aber  auch 
verschmäht,  durch  Verweisungen  die  schaden  aufzuheben,  welche 
die  Zufälligkeiten  der  Orthographie  herbeiführen:  gleiche  und 
gleichartige  bindungen  muss  man  unter  ande  und  ante,  unter 
OLDE  und  ÖLTE  zusammeusucheu.  auch  verweise  wie  von  niht  auf 
nieht  und  umgekehrt  wären  dringend  erwünscht,  ein  weiterer 
mangel  ist  der,  dass  mehrdeutige  reimwörter  nicht  definiert  werden: 
dass  hie  im  reim  durchweg  das  adverbium  (iiic'),  dass  die  form 
malüeiii)  ausschliesslich  das  prät.  des  vb.  iiiagen  vorstellt  (trotz 
14  fächern  part.pt.  yeinaht  "factus"!),  das  und  sehr  vieles  andere 
kann  man  erst  durch  aufsuchen  sämtlicher  fälle  ermitteln,  gewis, 
man  wird  schon  beim  blofsen  blättern  in  diesem  reimregister 
allerlei  lernen,  aber  zum  raschen  nachschlagen  ist  es  leider  nicht 
eingerichtet.  E»  ^• 

Kritik  und  metrik  von  Wolframs  Titurel  von 
L.  Polinort.  [Prager  Deutsche  Studien  hgb.  von  C.  v.  Kraus  und 
A.  Sauer,  xii  heftj.  Prag,  C.  Bellmann  190S.  iv.  99  ss.  2,50  m. 
—  Der  erste  teil  dieser  sehr  sorgfältigen,  umsichtigen  arbeit  tritt 
der  Überschätzung  des  Münchner  fragments  für  die  herstellung 
der  Titurelbruchstücke  Wolframs  überzeugend  entgegen,  im  ein- 
zelnen weicht  P.  auch  mit  guten  gründen  von  Lachmann  ab:  die 
zahlreichen  stellen  sind  am  Schlüsse  zusammengestellt;  nicht  über- 
all könnte  ich  beistimmen,  doch  sagt  der  verf.  mit  recht  s.  5, 
dass  30,  2  mit  I  zu  lesen  sei  vollen  tocken  ni'tnen  schrin,  da 
der  so  entstehnde  cäsurreim    auf    veterlin    gewis    in   der  absieht 


I  1  2-  I.ITTEKATÜENOTIZEX 

des  zudichters  gelegen  habe,  weniger  mücht  ich  dies  für  51].  1 
zugeben,  wo  der  jüngere  Titurel  mit  der  wendung  phleijendc  sin 
die  nocli  dazu  von  dem  coordinierten  reimworte  Ji^iteii  in  tempus 
und  modus  abweicht,  spätere  ummodelung  erkennen  lässt.  s.  it 
bespricht  der  verf.  die  vielumstrittene  Strophe  Gl,  das  lob  des 
verstorbenen  landgrafen  Hermann,  aber  wenn  er  gegen  die  echt- 
heit  dieser  Strophe  einwendet  (s.  10),  'der  Schreiber  von  G  sollte 
gerade  diese  Strophe,  die  dem  zeitgeiste  so  sehr  entsprach,  aus- 
gelassen haben?'  so  nimmt  er  doch  s.  13  an,  dass  G  für  str.  3B 
und  53  eine  lücke  habe,  so  dass  doch  wol  auch  die  auslassung 
von  56  zufällig  sein  könnte. 

Die  metrischen  Untersuchungen,  die  sich  ganz  an  die  an- 
sichten  anschliefsen  welche  vKraus  vorgetragen  hat,  verdienen 
airf  jeden  fall  ernste  erwägung.  vieles  kann  ich  ohne  weiteres 
annehmen,  in  einzelnen  puncten  weich  ich  ab.  s.  77  anm.  1 
zeigt  der  verf.,  dass  Wolfram  fürhaz  im  versinnern  ganz  über- 
wiegend auf  der  1  silbe  betont,  nur  ein  paarmal  soll  fürhäz 
gelesen  werden,  so  401,.  29  unt  sag  iu  fürhaz  niht  nitre,  aber 
der  andere  reimvers  hat  4  hebungen  bei  klingendem  ausgaiig: 
danach  wird  man  auch  v.  29  betonen  fürhäz  niht  mere  [furhaz 
niht  mere  wäre  weniger  wahrscheinlich).  448,  21  wäre  n^  (anstatt 
ritet)  furhaz  üf  unser  spor  möglich.  471,  24  od  (anstatt  OfZej  ob  ers 
färhäz  verlos.  Wh.  26,  5  les  ich  der  mag  in  fl'irbdz  vernemen. 
die  sechs  stellen  wo  fürhaz  im  verseingang  steht,  haben  hier 
schwebende  betonung.  und  so  zwingt  keine  der  16  von  P.  für 
den  versschluss  angeführten  stellen  zur  betonung  fürhaz.  in  den 
meisten  fällen  geht  eine  schwache  nebensilbe  voraus,  z.  b.  123,  3 
der  knappe  fragte  fürhaz.  hier  die  silbe  -te  über  für  zu  erheben 
heilst  die  von  Lachmann  bestrittene,  von  mir  auch  nur  stellen- 
weise zugestandene  erhebung  der  uebensilben  über  darauf  folgende 
selbständige  Wörter  gegen  die  natürliche  betonung  mit  gewalt 
durchsetzen,  zur  doppelhebung  fürhaz  zwingt  Wh.  76,  3  von 
dm  reit  da  fürhaz;  aber  auch  P.  204,  14  der  künec  mit  her 
reit  fürhaz  wird  man  doch  lieber  künec  verschleifen,  als  mit  Jw)- 
betonen,  ebenso  ist  3ü0,  12  si  sprach  'nu  vräge  in  fürhaz''  kaum 
mit  hiatus  zu  lesen;  530,  4  sagt  an,  weit  ir  iht  fürhaz  wird 
man  doch  nicht  betonen  sägt  an]  ebenso  wenig  Wli.  105,  7  und 
loht  in  dennoch  fürhäz  anstatt  und  loht  in  dennoch  fürhäz  \  end- 
lich wäre  430,  13  mit  der  fiuste  väht  t-V /Mr?>a^  ganz  unbeholfen, 
nirgends  also  eine  stelle,  wie  sie  allerdings  Gottfried  oder  Wirut 
bieten,  wo  di)  oder  niht  vorangeht  und  gemäfs  dem  mit  hebung 
und  Senkung  abwechselnden  rhythmus  betont  werden  muss.  die 
Nibelungen  haben,  wie  es  scheint,  durchweg  die  erste  silbe  be- 
tont, notwendig  314,  2  und  daz  die  recken  edele  fürhäz  hewarn 
vientltchen  riten.  für  die  doppelhebung  spricht  auch  die  Schrei- 
bung vürehaz,  im  Pilatus  vorehaz. 

In  der  Titurelmetrik  nimmt  P.  Verbindung  von  volkstümlichen 


LITTEKATITKXOTIZKX  *  113 

einflüssen  mit  solchen  der  romanischen  verskunst  an,  was  gewis 
auch  nicht  leicht  zugegeben  werden  kann. 

Gut  ist  der  nachweis.  dass  die  von  Bartsch  aus  dem  jüngeren 
Titurel  herausgenommenen  und  Wolfram  zugeschriebenen  stücke 
sich  auch  metrisch  von  den  echten  unterscheiden. 

E.  Martin. 

Das  königs-  und  kaiserideal  der  deutschen  dich- 
tung  des  mittelalters.  kaisergeburtstagsrede  von  Friedrieh 
To^t.  [Marburger  akademische  reden  nr  19]  Marbui'g,  Elwert 
ItiOS.  8".  28  ss.  0.50  m.  —  Das  herscherideal  des  mittelalters 
ist  nach  Vogt  nicht  einheitlich:  vielmehr  bestehn  zwei  anschau- 
ungen  vom  königtum:  eine  particulare  und  eine  national-univer- 
sale nebeneinander,  die  mittelhochdeutschen  volksepen  kennen 
nur  das  (ältere)  Stammeskönigtum,  mit  den  engen  beziehungen 
zur  Umgebung  des  fürsten,  die  das  gefolgschaftswesen  geschaffen, 
seit  ende  des  1 1  Jahrhunderts  aber  kommt  —  interessanterweise 
vielfach  in  clericalen  dichtungen,  wie  dem  Aunolied  und  der 
Kaiserchronik  —  die  Idee  des  deutschen,  über  den  stammen 
stehndon  nationalkönigtums  auf.  von  anfang  an  hat  sie  einen 
stark  imperialistischen  einschlag :  der  deutsche  kaiser  ist  schutz- 
herr  der  Christenheit  gegen  den  Islam,  das  ist  der  ursprüng- 
liche Inhalt  der  Barbarossasage,  ,die  sich  ja  eigentlich  auf 
Friedrich  ii  bezieht,  die  Barbarossasage  ist  zugleich  ein  lehr- 
reiches beispiel  für  die  Umbildung  der  universalen  mittelalter- 
lichen kaiseranschauung  zur  rein  nationalen  der  neuzeit.  die 
alte  idee  vom  Stammeskönigtum  lebt  dagegen  im  heutigen  parti- 
cularismus  fort,  in  jener  starken  dynastischen  gefühlsweit,  die 
fürst  Bismarck  in  den  "Gedanken  und  Erinnerungen'  verlebendigt 
hat.  und  Bismarck  ist  es,  der  die  beiden  mittelalterlichen 
königsideen  innerlich  umfasst  und  den  Zeitverhältnissen  ent- 
sprechend iu  actuelle  energie  verwandelt  hat.  —  so  schliefst  die 
rede  Vogts,  die  als  vorsichtig  fundierte  und  beherschte  skizze 
eines  fachgelehrten  beginnt,  mit  einem  persönlichen  bekenntnis, 
und  ich  muss  gestehn,  dass    darin    ein    nicht   geringer    reiz  ligt. 

Leipzig.  Friedrich  Schulze. 

Tannhäuser  in  geschlchte,  sage  und  dichtung. 
ein  Vortrag  gehalten  am  7  october  1'JÜ7  von  Ernst  Elster. 
Bromberg  1908.  Mittlersche  buchhandlung  (A.  Fromm)  in  com- 
mission  [==  Veröffentlichungen  der  abteilung  für  litteratur  der 
Deutschen  gesellschaft  für  kunst  und  Wissenschaft  zu  Bromberg 
3  heft.J  VI  u.  26  ss.  8"  0,60  m.  —  So  controvers  die  entstehung 
der  Tannhäusersage  noch  ist  (Fr.  Kluges  vorsichtige  Scheidung 
einer  deutschen  Tannhäusersage  und  einer  italienischen  sage  vom 
Venusberg,  die  sich  aus  noch  unaufgeklärten  gründen  und  in 
noch  nicht  genau  feststellbarer  weise  verschmelzen,  scheint  mir 
die  meiste  Wahrscheinlichkeit  zu  besitzen),  so  verhältnismäXsig 
einfach  ist  ihre  entwicklung  in  neuester  zeit,     hier  ist  die  arbeit 

A.  F    D.  A.    XXXTV.  8 


1  1  4  LITTERATURNOTIZEN 

im  wesentlichen  eine  darstellerisch-ästhetische,  und  mau  muss  es 
an  Elsters  Vortrag-  rühmen,  dass  die  aufgäbe  mit  eleganz,  knapp- 
heit  und  dem  blick  für  das  wichtige  gelöst  ist.  hauptsächlich 
werden  die  drei  grofsen  formen  der  sage :  die  ursprünglich  volks- 
tümliche, die  Heines  und  die  Richard  Wagners  behandelt  und 
zeit-  oder  individualpsA'chologisch  erklärt,  in  der  ältesten  fassung, 
die  freilich  selbst  einer  entwicklung  uuterligt.  herscht  der  Zwie- 
spalt von  früminigkeit  und  sünde,  in  Heines  weit-  und  sinnen- 
freudigem lied  nur  ein  schwanken  zwischen  Inst-  und  ruhebe- 
dürfnis,  bei  Wagner  der  grofse  gegensatz  von  irdischer  und 
himmlischer  liebe,  der  durch  die  Verbindung  von  Tannhäusersage 
mit  der  sage  vom  Sängerstreit  gewonnen  wird,  im  Volkslied 
und  bei  Heine  zieht  Tannhäuser  in  den  Venusberg  zurück,  im 
Volkslied  als  verlorener,  bei  Heine  als  allen  päpstlichen  Urteils- 
sprüchen zum  trotz  genielsender  —  der  papst  Heines  ist  ja  nur 
ein  gespenst  — ,  bei  V/agner  wird  er  erlöst  durch  himmlische  liebe, 
oder  in  der  spräche  Wagners  zu  reden:  durch  "die  einzig  erlösende 
Verneinung  des  willens',  (leider  verzichtet  E  beim  Wagnerschen 
•Tannhäuser"  ganz  auf  zeit-  und  individualpsychologische  be- 
trachtung).  jede  der  drei  grofsen  fassungen  ist  in  sich  berechtigt, 
ist  trotz  einzelnen  inconsequenzen  abgeschlossen,  aber  Wagner 
'ist  und  bleibt  der  echte  und  eigentliche  Interpret  der  ergi-eifenden 
volkssage,  er  hat  ihre  letzten  geheiranisse  erschöpft  in  worten 
und  in  tönen,  die  unser  herz  im  innersten  aufrühren  und  die 
in  unvergänglicher  gewalt  erklingen  werden,  so  lauge  liebes- 
wirren und  bul'sfertige  Zerknirschung  die  seelen  der  menschen 
erschüttern'. 

Leipzig.  Friedricü  Schulze. 

Die  'Christliche  warnung  des  treuen  Eckarts"  des 
Bartholomäus  Riugwaldt  untersucht  von  Franz  Werner  [Germani- 
stische abhandlungen  h.  33j.  Breslau,  Marcus  1909.  115ss.  8''3,HÜm. 
—  Wegners  Marburger  docturschrift  behandelt  ihren  dankbaren 
gegenständ  geschickt  und  verständnisvoll  nach  allen  selten  :  biblio- 
graphie  und  textgeschichte,  metrik  und  Sprachgebrauch,  litterarische 
beziehungen  und  quellen,  Vorbilder  und  nachwirkung  des  Treuen 
Eckart  werden  erschöpfend  dargestellt.  dabei  zeigt  sich  die 
literarhistorische  seite  der  Untersuchung  ergiebiger  als  die  sprach- 
liche, es  gelingt  W.,  des  Irenaeus  Spiegel  des  ewigen  lebens 
von  1562,  Johann  Krügingers  Historia  vom  reichen  mann  und 
armen  Lazaro  von  1555  und  Ludwig  Milichs  Schrapteufel  von 
1569  als  quellen  Ringwaldts  nachzuweisen,  indessen  die  benutzung 
von  Gregor  AVeisers  Christlichem  bericht  von  Unsterblichkeit  und 
zustand  der  seelen  1588,  Jörg  Wickrams  fastnachtsspiel  vom 
Treuen  Eckart  1538,  Braut,  Murner  und  Fischart,  an  die  man 
sonst  wol  gedacht  hat,  widerlegt  wird,  so  stellt  W.  den  dorf- 
pfarrer  Ringwaldt  gut  und  glaubhaft  in  seinen  kreis,  den  viel 
mehr  die  allgemeine  atmosphäre  der  zeit  charakterisiert,  als  die 


LITTERATURNOTIZEN  1  1  5 

litterarische  aneignuug  einzelner  gedanken  imd  motive  is.  67).  er 
zeigt,  wie  Eingwaldts  art.  die  öffentlichen  zustände  in  scharfem 
umriss  zu  zeichnen,  in  dieser  lebendijikeit  erst  möglich  ist.  nach- 
dem Luther  die  reformbedürftigkeit  auch  des  politischen  lebens 
nachgewiesen  hat  (s.  86),  und  erweist  Ringwaldt  als  geistigen 
nachkommen  Luthers  auch  darin,  dass  ihm  die  Wanderung  seines 
beiden  durch  himmel  und  hölle  nicht  freigewählte  poetische  ein- 
kleidung  seiner  ermahnungen  ist,  sondern  dass  er  durch  seine 
beschreibung  theologisch  belehren,  einen  punct  für  punct  auf  die 
Bibel  gestützten  bericht  geben  will  (s.  68). 

Einigem  zweifei  müssen  W.s  metrische  aufstelluugen  be- 
gegnen, zunächst  sind  verse  wie  Philip,  Luthenis,  Brentius 
s.  37,  Amen,  amen,  ich  fahr  daher,  und  ehrvester  herr  burg- 
meüiter  klug  s.  42  als  vierfüssige  Jamben  völlig  in  Ordnung,  denn 
für  Ringwaldts  zeit  und  gegend  haben  die  betonungen  Lutherus, 
dürr  und  hürgemeister  nicht  das  geringste  auffällige,  sodann 
hätte  sich  W.  durch  Kösters  spott  über  die  (an  andern  stellen 
gewis  über  das  mafs  cultivierte)  schwebende  betonung  nicht  ab- 
halten lassen  sollen,  mit  ihrer  hilfe  verse  wie  der  nußgang  der 
driiten  person  s.  39  vierhebig  zu  lesen,  denn  sein  Vorschlag  der 
äußgang  der  dritten  person  bricht  durch  jedes  schema. 

Freiburg  i.  Br.  Alfred  Götze. 

Vergleichende  volksmedicin.  eine  darstelluug  volks- 
medicinischer  sitten  und  gebrauche,  anschauungen  und  heilfac- 
toren.  des  aberglaubens  und  der  zaubermedicin.  unter  mitwirkung 
von  fachgelehrten  herausgegeben  von  dr.  0.  v.  Hovorka  und  dr. 
A.  Kronleid,  mit  einer  eiuleitung  von  dr.  M.  Neuburger.  Stutt- 
gart. Strecker  &  Schröder,  2  bde.  xxni  u.  459;  ix  u.  960  ss. 
8".  br.  22.40  m.,  geb.  26  m.  —  Das  gebiet  der  volksmedicin 
ist  in  den  letzten  Jahrzehnten  von  ethnographen  und  natur- 
wissenschaftlern  hin  und  wider  gepflegt  und  sowol  unter  stoff- 
lichen als  auch  geographischen  gesichtspuncteu  bearbeitet  worden, 
besonders  reichen  Stoff  haben  die  ethnographisch-volkskundlichen 
Zeitschriften  in  neuerer  zeit  beigebracht;  darunter  manches  be- 
deutungsvolle aus  altern  arzenei-  und  zauberbüchern.  das  gebiet 
ist  aber  so  vielgestaltig  und  weitschichtig,  und  die  ethnographisch- 
volkskundlichen  publicationen  sind  so  zahlreich,  dass  ein  über- 
blicken der  gesaraten  litteratur  für  den  nichtspecialisten  zur  Un- 
möglichkeit geworden  ist.  es  kann  daher  nur  mit  dank  begrüfst 
werden,  dass  sich  männer  gefunden  haben,  die  den  mut  besaßen, 
sich  au  das  gewaltige  unteinehmen  einer  zusammenfassenden  dar- 
stelluug der  volksmedicin  heranzuwagen. 

Die  Verfasser  haben  ihre  arbeit  in  zwei  hauptteile  ge- 
schieden, deren  erster  in  alphabetischer  reihenfolge  vorwiegend 
die  von  der  volkstherapie  verwendeten  mittel,  der  zweite  in 
sachlicher  Ordnung  die  krank heiten  und  die  an  ihnen  haftenden 
volksmedicinischen    anschauungen    (ätiologisch,    pathologisch    und 

S* 


1  l  6  LITTEKATUKXÜTIZEX 

therapeutisch)  behandelt,  eine  solche  Scheidung  läßt  sich  natür- 
lich ohne  widerholungen  nicht  dui-chlühren.  und  so  werden  wir 
zb.  im  I  band  nicht  nur  eine  anzahl  tiere  vermissen,  deren 
glieder  volksmedicinisch  verwendet  WM'den.  sondern  namentlich 
symbolische  oder  zauberische  handlungen.  wie  messen,  verkaufen, 
schwemmen  usw.  von  krankheiten. 

Dass  das  werk  lückenhaft  sein  werde,  konnte  man  bei  den 
riesenhaften  dimensionen  des  Stoffes  erwarten ;  immerhin  scheinen 
uns  die  naturvölker  gegenüber  Europa  etwas  zu  kurz  gekommen 
zu  sein,  und  innerhalb  dieses  erdteils  vermisst  man  aul'ser  den 
volkskundlichen  zeitscliriften  Skandinaviens  namentlich  das  groise 
werk  St'billots  'Folklore  de  France"  und  die  spezialwerke  von 
Gaidoz,  "Un  vieux  rite  medical'  und  von  De  Cock,  'Volksgeneeskunde 
in  Viaanderen"  iGent  1S9I).  ferner  lassen  uns  die  verff..  und 
das  halten  wir  für  einen  grundsätzlichen  fehler,  in  unzählichen 
fällen  im  unklaren,  in  welcher  gegend  die  genannte  anschauung 
herscht  oder  aus  welcher  quelle  sie  ihre  angaben  schöpfen. 

Ob  sich  dieses  erste  und  auf  Jahrzehnte  hinaus  wol  einzige 
compendium  der  volksmedicin  wissenschaftlich  bewähren  wird, 
kann  nur  die  zukunft  lehren,  sicher  ist,  dass  uns  die  verff.  in 
ihm  ein  umfassendes  grundwerk  und  ein  denkmal  rastlosen  fleifses 
geschenkt  haben. 

Basel.  E.  Hoffiiiaim-Krayer. 

Mittelalterliche  volksspiele  in  thüringisch- 
sächsischen  landen,  von  prof.  dr.  Karl  Heldiiianii.  [Neujahrs- 
blätter, hsg.  V.  d.  Hist.  komm.  f.  d.  prov.  Sachsen  nr.  32 1. 
Halle  a.  S.,  Hendel  1908.  5s  ss.  S".  I  ni.  —  Der  titel  der 
schritt  ist  nicht  ganz  klar,  unter  'volksspielen'  sind  hier  die- 
jenigen spiele  verstanden,  'durch  die  das  volk  selbst  in  seinen 
verschiedenen  schichten  aus  seinem  natürlichen  empfinden  heraus 
sich  gesellschaftlich  unterhielt  und  belustigte,  ausgeschlossen 
bleiben  daher  einerseits  die  volkssitten  und  -brauche,  die  nicht 
zugleich  einen  unterhaltenden  Charakter  haben,  anderseits  alle 
spiele,  die  keinen  volksraäfsigen  Charakter  trugen',  der  verf.  be- 
schränkt sich  aber  nicht  auf  die  thüringisch- sächsischen  lande, 
sondern  greift  auf  die  angaben  über  die  glucks-,  kämpf-  und 
Jahreszeitenspiele  der  alten  Germanen  zurück,  um  sich  dann 
über  die  neuerungen  in  römischer  und  christlicher  zeit  zu  ver- 
breiten, die  s.  11  genannten  brettspiele  werden  wol  kaum  echt 
volkstümlich  gewesen  sein,  der  dritte  abschnitt  beschäftigt  sich 
mit  den  mittelalterlichen  spielen:  den  kampfspielen  (darunter  das 
Eolandsreiten),  Schützenfesten,  zunfttänzen,  den  glücksspielen 
(brett-  und  kartenspielen,  glückshäfen.  dem  kegeln  uam.),  —  die 
arbeit  enthält  manches  wertvolle  material  und  in  den  sorgfältigen 
anmerkungen  zahlreiche  hinweise  auf  die  quellenlitteratur  zur 
mittelalterlichen  Volkskunde. 

Basel.  E.  Hottinanu-Kraver. 


LITTERATURXOTIZKN  1  1  7 

Die  theorie  des  witzes  und  der  novelle  nach  dem 
'de  sermone'  des  Jovianus  Poutanus.  ein  gesellschaftliches 
ideal  ums  ende  des  xv  Jahrhunderts  von  Ernst  Walser.  Strafs- 
burg-, Trübner  1908.  xii  u.  13'»  ss.  g-r.  8^.  4  m.  —  Der  moderne 
mensch  stammt  aus  der  renaissance,  und  erst  recht  die  moderne 
'gesellschaff;  deren  held.  der  'homo  facetus',  hat  sich  erst  nach 
antikem  muster  bilden  müssen,  bis  er  spät  genug-  in  dem  'abbe' 
der  aufklärungszeit  seine  Vollendung  erreichte,  natürlich  gab  es 
immer  witzige  leute.  und  immer  stand  der  witz  hoch  im  preis; 
wenn  das  feine  Athen  apophthegmata  sammelte,  weil's  der  kosak 
in  der  steppe  den  nicht  minder  zu  schätzen  der  ihn  lachen  macht, 
wie  Gogols  Tarass  Bulba  zeigt,  aber  von  der  naturwüchsigen  Im- 
provisation zur  gesellschaftlichen  kunst  hat  auch  hier  die  theorie 
den  weg  gewiesen:  erst  die  der  alten  (Aristoteles,  Cicero,  Quintilian), 
dann,  an  ihrem  spalier  sich  aufrichtend,  die  der  humanisten.  hier 
steht  Jovianus  Pontanus  voran,  dessen  lehre  von  witz  und  er- 
zählungskunst  Walser  in  klaren  analysen  vorführt,  der  didaktische 
zweck  bleibt  aber  auch  an  witz  und  novelle  selbst  haften;  sie 
wollen  erziehen,  abschleifen,  beispiele  geben;  die  'vulgäre  ethik' 
herscht  bei  aller  rhetorik  noch  bei  Boccaccio  (s.   1 1 6). 

Der  witz,  von  Cicero  als  forensisches  kampfmittel  geschildert, 
wird  unmerklich  zum  ausdruck  feiner  bildung  und  'urbanitäf 
(s.  63);  die  erzählung  wird  zum  zeugnis  und  gradmesser  einer 
gleichartigen  ethischen  emptindung  (s.  127).  diese  wichtigen 
socialen  momente  hat  W.  aufmerksam  beobachtet,  sorgfältiger  so- 
gar als  die  entwicklung  der  technik. 

In  der  anekdote  finden  also  witz  und  erzählung  ihren  treff- 
punct.  für  eine  entwicklungsgeschichte  sowol  des  modernen  Witzes 
als  auch  der  neueren  erzählungskunst  brauchen  wir  eine  littera- 
rische geschichte  der  anekdoten,  nach  der  inhaltlichen  wie  nach 
der  formellen  seite.  die  grofsen  werke  zur  geschichte  des  humors 
wie  Seh  nee  g  ans  Geschichte  der  grotesken  satire  und  Tullio 
Massasaranis  'Arte  del  ridere'  streifen  dies  thema  nur  eben; 
W.  Carey  Hazlitt  (Studies  in  jocular  literature,  London  1904) 
behandelt  nur  englische  anekdotenbücher,  und  auch  diese  mehr 
vom  gesichtspuncte  der  Sammlung;  doch  fällt  bei  ihnen  immerhin 
einiges  für  unser  problem  ab.  unausgenulzt,  liegen  noch  immer 
die  schätze  von  KJWebers  'Demokritos'  —  einem  buch,  das  als 
ganzes  freilich  so  arm  ist  wie  im  einzelnen  reich,  ein  paradoxon, 
das  auf  manches  buch  von  polyhistoren  passt.  kommt  so  eine 
breite  Verarbeitung  der  praxis  zu  umsichtigen  behandlungen  der 
theorie  wie  in  A^'s.  buch  hinzu,  so  Averden  wir  nicht  nur  für 
Stilistik  und  allgemeine  litteraturgeschichte,  sondern  auch  für  die 
beurteilung  mittelalterlicher  und  neuerer  anekdoten  nicht  wenig 
gewonnen  haben,  und  da  ligt  ja  dann  in  Boltes  ausgaben  der 
Schwankbücher  und  andern  Sammlungen  das  material  in  bequem- 
ster fülle  ausgebreitet!  R.  31.  Meyer. 


118  ,  LITTEBATURNOTIZEN 

Witziges  und  Spitziges,  sinniges  und  inniges  in  spruch 
und  nam  auf  haus  und  kraus,  gesammelt  und  gesichtet  von 
Ernst  Tifdt.  Stuttgart,  E.  R.  Moritz  o.  j.  vm  und  246  ss. 
80.  4  m,  geb.  4.50  m.  —  Unsere  volksepigrammatik  ist  ausge- 
breitet und  vielfältig;  aber  die  künde  liegt  noch  ganz  im  argen. 
Tiedts  reichlialtige  und  im  ganzen  geschmackvolle  auswahl  reizt 
mehr  die  lust  auf  eine  räumliche  einteilung  nach  litterarischen 
quellen  und  localen  Umgrenzungen,  als  dass  sie  sie  befriedigt, 
ist  die  specitische  form  der  "marterln'  auf  das  bairische  gebiet 
beschränkt?  was  für  kategorieen  der  namengebung  für  hausrat  und 
Waffen  sind  vorhanden  ?  gibt  es  periodeu  des  breiteren  und 
des  conciseren  inschriftstils?  finden  sich  berufsmäßige  verfertiger 
solcher  Inschriften  ?  diese  und  ähnliche  fragen  sind  freilich  leider 
leichter  aufzuwerfen,  als  zu  beantworten! 

Wertvoll  scheint  mir  besonders  die  Sammlung  der  grabschriften; 
und  die  stilproben  der  öffentlichen  Warnungstafeln  (s.  120 f.)  haben 
Interesse  als  zeichen  der  stilistischen  durchschnittsbildung.  auch 
fehlt  es  sonst  nicht  an  curiositäten  wie  den  Inschriften  an  contor 
und  casse  is.  I7  8i.  —  die  beziehungen  zu  dem  'geflügelten  wort' 
und  dem  Sprichwort  sind  mannigfach :  fast  nie  aber  scheint  die 
'Inschrift'  der  gebende  teil  zu  sein,  wenigstens  in  dem  litterarischen 
Deutschland. 

Der  verf.  muste  mit  dem  räum  rechneu;  natürlich  hätte 
jeder  leser  noch  ein  paar  beispiele  zusteuern  können,  würklich 
wünschenswert  wäre  aber  ein  etwas  ausgedehnterer  litteratur- 
nachweis  gewesen.  ß.  M.  3Ieyer. 

Historische  Volkslieder  und  zeitgedichte  vom  16 
bis  19  ]h.  gesammelt  und  erläutert  von  Aug^ust  Hartniaini.  mit 
melodien  herausgegeben  von  Hyacinth  Abele.  II  bd.  von  mitte 
des  17  bis  zu  der  des  18  jh.s.  mit  Unterstützung  der  Histo- 
rischen coniniission  bei  der  Kgl.  bayer.  akademie  der  Wissen- 
schaften. München,  Beck  1910.  vi  u.  354  ss.  gr.  8".  12  uj.  — 
Der  zweite  band  des  von  mir  Anz.  xxxii  196  ff  nach  anläge  und 
ausführung  näher  charakterisierten  Werkes  bringt  die  urr 
97 — 181.  er  beginnt  mit  zeitgedichten  auf  Karl  x  Gustaf 
(1656 — 58),  der  s.  4  nicht  ganz  richtig  'der  eiste  könig  Schwedens 
aus  dem  hause  Witteisbach'  genannt  wird  (vgl.  könig  Christoph!), 
und  schliefst  mit  einem  strophischen  Zwiegespräch  zwischen  dem 
marschall  von  Sachsen  und  dem  tod  (1750);  dazwischen  srehn 
lieder,  relationen,  bildsprüche  und  gereimte  dialoge  ua.  auf  Zi  iny 
(1664):  nr.  106,  auf  die  belagerung  von  Rheinfelden  (1678): 
m^  107,  auf  den  fall  Strafsburgs  (1681):  nr  109,  auf  den  ersatz 
Wiens  und  die  weitern  siege  über- die  Türken  (16S3 — 88):  nrr 
110 — 121,  wobei  dann  auch  der  junge  Bayernheld  Max  Emanuel 
(nr  120)  zuerst  auftritt;  ihm  begegnen  wir  noch  oft  genug,  zu- 
letzt in  nr  154,  die  ein  klagelied  über  seinen  tod  (1726)  bringt. 
weiterhin  sind  für  den  Inhalt  unseres  bandes  besonders  ergiebig 


LITTERATURNOTIZEN  119 

der  spanische  erbfolg-ekrieg  (1701  — 13):  nrr  124  — 144  und  die 
rückkehr  Max  Emanuels  (17  15):  nr  145  146,  der  Türkenkrieg 
von  1716 — 171S:  nrr  148  — 152,  die  Lieder  der  Salzburger 
emigranten  (1730  —  32):  nrr  158 — 172  (173?),  der  österreichi- 
sche erbfolgekrieg  (1741 — 45):  ur  177  —  179.  eingestreut  findet 
man  noch  allerlei  lustiges  und  trauriges  was  mit  der  Weltge- 
schichte weniger  zu  tun  hat,  wie  die  lange  Regensburger  mord- 
geschichte  von  1723  in  nr  i53  oder  das  vacanzlied  der 
Münchener  'Studenten'  von  1741:  nr  176.  gegen  die  aufnähme 
mancher  stücke  liefsen  sich  bedenken  erheben:  so  haben  die  bild- 
sprüche  für  sich  so  gut  wie  gar  kein  Interesse,  etwa  ein 
vierteil  der  gedichte  ist  im  dialect  gehalten,  wobei  dann  die 
gattung-  des  "bauerngesprächs'  eine  hauptrolle  spielt.  neben 
verschiedenen  mehr  oder  weniger  geschickt  widergegebenen 
Schattierungen  der  bajuvarischen  mundart  kommt  auch  das 
schwäbische  und  vor  allem  das  schlesische  (nrr  122.  143)  zum 
wort,  worauf  ich  ausdrücklich  hinweise. 

Die  einrichtung  ist  die  gleiche  geblieben:  der  herausgeber 
beharrt  dabei,  Überschriften  und  Übersichten  fernzuhalten,  er  ver- 
langt also,  dass  man  sein  werk  studieren  und  sich  in  die  ein- 
zelnen tliemata  einarbeiten  soll,  was  nicht  jedermanns  sache  ist, 
und  wofür  vor  allem  die  wenigsten  zeit  liaben.  im  übrigen  hat 
er  für  die  erläuterung  nach  der  sprachlichen  wie  nach  der  sach- 
lichen Seite  wider  vortrefflich  gesorgt:  in  den  anmerkungen 
stecken  zuweilen  sehr  eindringende  excurse,  die  nicht  zum  min- 
desten den  wert  des  buches  ausmachen,  die  herstellung  der 
texte  ist  zumeist  wol  erwogen,  nur  hätten  metrische  bedenken 
öfter  eintreten  dürfen:  sie  empfehlen  zb.  97.  S 2  Kalkstein  st. 
Könchenstein  und  hätten  103,  5  l.-i.T  dazu  führen  sollen,  die  formen 
Kirchevinren :  L'hre)i  in  den  (klingenden!)  reim  zu  setzen,  in 
den  Worterklärungen  laufen  hier  und  da  misverständnisse  unter: 
zu  nr  120,19  4  Der  Weingott  gihet  aus  dem  Fass  Blei, 
Pulver,  süsse  Landen  ist  die  widergabe  ^Lunden  wellen,  wogen" 
sprachlich  wie  sachlich  unmöglich;  nr  121,211  liederlicher 
Lamp  durfte  nicht  auf  den  hasen  der  tierdichtung  bezogen 
werden;  der  süsse  Xeckarsafi.  mit  welchem  nr  176,4"  der  pater 
kellermeister  von  kl.  Schäftlein  die  Münchener  lateinschüler 
tractiert,  ist  gewis  nicht  'einer  der  im  Neckartal  wachsenden 
weine'  gewesen,  sondern  einfach   aus  Nectarsaft  corrumpiert. 

E.  h. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 

Volker  der  spielinann.  Das  merkwürdige  'zeugnis  zur 
heldensage' ,  auf  das  ich  im  folgenden  aufmerksam  machen 
will,  ist  in  einer  Urkunde  des  grafen  Dietrich  {des  Elsässers) 
von  Flandern  vom  27  mai  1130  oder  1131  enthalten,  deren 
original  sich  im  Staatsarchiv  zu  Brügge  hSfindet.  von  der  für 
das  kloster  Oudenhurg  (belgische  provinz  Westflandern)  aufge- 
stellten Urkunde  waren  kurze  auszüge  schon  von  Vredius 
Genealogia  comitum  Flandriae  i  186  und  Miraeus  Opera  diplo- 
matica  ed.  Foppens  i  679  mitgeteilt,  den  vollständigen,  text  hatte 
Van  de  Putte  Chronique  du  monastere  d' Oiidenbourg  {Gent  1843) 
s.  90  puhliciert.  aber  in  jenen  auszügen  fehlt  der  uns  hier 
interessierende  passus,  und  der  abdruck  Van  de  Püttes  beruht 
auf  einer  abschrift  und  bietet  den  namen  auf  den  es  ankommt 
in  entstellter  und  unerkennbarer  gestalt.  so  lässt  erst  das  fac- 
siniile  der  Urkunde,  das  ivir  in  dem  von  HPirenne  im  verein 
mit  andern  belgischen  gelehrten  herausgegebenen  prächtigen 
Album  beige  de  diploi)iatique  {Jette-Bruxelles  1909)  auf  lüanche 
XI  erhalten  haben,  den  Sachverhalt  erkennen,  ich  widerhole  hier 
die  transscription,  die  JGuvelier  gegeben  hat;  einige,  lese  fehler 
dieser  transscription  verbessere  ich  stillschweigend  und  ändere 
die  Schreibung  und  interpunction  nach  den  in  den  diplomata- 
ausgaben  der  Monumenta  Germaniae  üblichen  grundsätzen. 

In  nomine  sancte  et  individue  trinitatis.  Ego  Theodericus 
dei  gratia  comes  Flandrensium  notnm  esse  cupio  cunctis  tidelibus 
presentis  temporis  et  futuri,  qiiod,  dum  causa  orationis  intrassem 
ecclesiam  beatorum  apostolorum  Petri  et  Pauli  sitam  in  oppido 
Aldenborg,  accesserunt  ad  me  mouachi  ibidem  deo  servieutes 
cum  suo  abbate  Hariolfo  et  suppliciter  petieruut,  ut  causa 
salutis  anime  mee  illis  remitterem  ac  indulgeudo  perdonarem 
quandam  census  redditionera,  quam  annuali  debito  michi  et 
antecessoribus  nostris  liactenus  persolvere  cogebantur.  Quorum 
humili  peticione  compulsus,  beati  etiam  Petri  apostoli  patroci- 
nium  impetrare  avidus,  prout  rogaverunt,  benigne  concessi  et 
predictam  census  annui  reddibitionem  in  perpetuum  perdonavi 
remisi  et  indulsi.  Quarum  etiam  rerum  ne  in  posterum  qu^- 
libet  fallacia  surrepat,  veracem  noticiam  hie  ponimus.  In  ministerio 
Wilranni  preconis  de  terra  conductili:  terra  sancti  Petri  de 
Auinemed  xx  den.,  de  Hunimmed  xxi  den.,  de  terra  Eeinfridi 
Sassa  vm  den.;  in  Port  Oldenborg  i  terra  Ae  de  Pola  viiu  1/2 
den.,  terra  sancti  Petri  vi  den.,  terra  Robbert  Baites  vm  den.," 
terra  Oldunt  filii  Einard  ii  den.,  terra  Godeliui  -  clerici  xn  den., 
terra  Eumold  ülii  Siberti  vni  den.,  terra  Eluardi  tilii  Eluard 
II  1/2    den.,   terra   Alberti    ex   Artrica  ii   den.,   terra   Thedbert- 

•  Oldent)  or.,  so  r/n.-<.-<  auch  Oldenburg  (jelesen  werden  hnnntp. 
'■'  Godelii  or. 


KLEINE    MITTEILUNGEN  1  2  1 

tilii  Erclit  im  12  den.,  terra  Gildwif  ii  1/2  den.,  terra  Weremi 
bolchverric  xvi  den.,  terra  Arnold!  clerici  im  1/2  den.  In 
ministerio  Willelmi  preconis  de  terra  conductili:  terra  Hiddonis 
et  t'ratrum  eins  vi  den.,  in  Port  Oldenborg  terra  Eremljolt  xun 
1,2  den,  terra  Kicardi  xim  den.,  terra  Vogaliui '  xiiii  den.,  terra 
sancti  Petri  in  den.,  item  terra  sancti  Petri  x  den.,  terra  Herred 
Boschincab  ii  den.,  terra  Popliui  -  vu  den.,  terra  Folperti  Vog:al 
XII  1/2  den.,  terra  Sibrand  viiii  den.,  terra  Folkir  iocula- 
toris  VI  den.,  terra  Rattard  v  den.,  terra  Euerolfi  presbyteri  v 
den.,  terra  Sig-erd  filii  Walkirs  ii  den.,  terra  Folperti  tilii 
Lettard  iii  den.  In  ministerio  Dodini  preconis  de  terra  conduc- 
tili :  terra  P>ertolf  tilii  Oppes  xviii  den.,  terra  sancti  Petri  ex 
Rep  IUI  den.;  de  censu  in  Clemeskerca  terra  Beitranni  vi  den., 
terra  Oldfridi'*  Wldel  vii  den.  In  ministerio  Cristiani  ex  Mor: 
terra  Reinfridi  Calui  xxvii  den.  In  ministerio  Walteri  de 
Lisvveg  ex  viscali:  terra  Liuildis  xv  1.2  den.,  item  terra 
Hathawif  monialis  de  Hem  xxi  den.,  qui  pertinebant  ad  piper 
comitis  in  ministerio  Grei-ardi  breviatoris.  Per  totum  xxviii  sol. 
vii  den.  Horum  igitur  censuum  aunuam  Solutionen!  pro  remissi- 
one  peccatorum  meorum  atque  pro  requie  animarum  omnium 
antecessorum  meorum  nee  non  pro  pace  et  statu  comitatus 
nostri  et  pjo  salute  omnium  tidelium  nostrorum  omnipotenti  deo 
et  sauctis  apostolis  P.  et  P.  condonaudo  remisi  et  remittendo  in- 
dulsi,  quatenus  monaclii  in  prefato  loco  deo  famulantes  Christi 
domini  luisericordiam  pro  nobis  assidue  implorent.  Et  ut  liuc 
nostra  largitio  inviolabilem  obtineat  firmitatem,  haue  inde  tieri 
kartam  decrevimus  et  signis  nostrorum  tidelium,  qui  interfuerunt, 
consignamus  atque  nostri  sigilli  impressione  roboramus. 

Signum  Teoderici  comitis  Flandrensis.  Signum  coniugis 
eins  Svanahildis  comitissr. 

Signum  Arnulti  nepotiscomitum.  Signum  Godzvini  de  Sellegahem. 
Signum  Girardi  cubicularii.  Signum  Huberti  Cubuc. 

Signum  Rogeri  prepositi  Signum  Angelranui  fratris 

Brugensis  Arnulti  cubicularii^ 

Signum    Odgarii   geruli    sigilli.      Signum  Reingeri  Gemraonis. 
Signum  Frumaldi  iunioris  Signum  Adalardi  cognati 

breviatoris.  Fruinoldi. 

Signum  Gerardi  breviatoris.  Signum RaineriUolakin.  Signum 

Raineri  Suogres''  amans. 

Actum  apud  Aldenborg  in  ecclesia  apostoloruni  vi.  kall. 
iunii  indictione  viiii,  sub  anno  dominier  incaruationis  mcxxx, 
regnum  Francorum  tenente  Hludouico  rege  tilio  Philippi  regis 
anno  xxin.  comitatus  Teoderici  anno  u. 

Die  Urkunde  ist  von  zwei  gleichzeitigen  liänden  geschrieben, 

'  Vogali  Ol-.,  die  ergäiizung  ist  unsicher.  -  Popli  o/-.,.s.  iwte  3. 

^  das  erfite  d  übei'  der  ;erle  nafhffetra'/en.  '•  cubicularii  über  der  seile 
nachfietrccjen.  '  Suogres  ül/er  der  <eile  nachgetrai/en. 


122  KLEINE    MITTE II.rxriEN 

(leren  zweite  die  signa  und  die  datieriaig  herqi'steUt  hat.  zivische» 
dem  context  und  den  signa  ist  ein  grofser  zu-ischenraum;  oh  der 
zweite  teil  nachgetragen  oder  voraufgefertigt  ist,  lüsst  sich  nicht 
entscheiden,  die  datiernng  ist  widerspruchsvoll,  denn  dem  jähre 
1131  entsprechen  son-ol  die  neunte  indiction  als  das  23.  regie- 
rnngsjnhr  Ludwigs  vi  von  Frankreich,  das  vom  todestage 
Philipps  I  (29.  juli  1108)  ah  gerechnet  werden  niuss:  diese  daten 
stimmen  also  nicht  mit  dem  incarnationsjahre  1130  üherein, 
während  das  zweite  Jahr  des  grafen  Dietrich  sich  mit  dem 
letzteren  vereinharen  last,  oh  das  itinerar  des  grafen  hier  die 
entscheidung  ermöglicht,  entzieht  sich  meiner  kenntnis.  rechts 
von  der  zeugenliste  hat  der  Schreiber  der  Urkunde  über  tod  und 
hegräbnis  der  flandrischeti  grafen  von  Balduin  von  Lille  his 
auf  Wilhelm  von  der  Normandie  angaben  verzeichnet,  die  ich 
oben  nicht  abgedruckt  habe,  weil  sie  mit  dem  inhalt  der  Urkunde 
nichts  zu  tun  haben,     das  sieget  ist  verloren. 

Ein  spielmann  Folker  war  also  im  jähre  1130  oder  ll.'^l 
im  besitz  eines  grundstückes  in  Flandern,  das  im  obereigentiim 
des  klosters  Oudenburg  stand  und  dem  grafen  von  Flandern  zu 
einem  jahreszins  von  sechs  denaren  verpflichtet  nmr,  auf  den 
dieser   1130  oder   1131  verzichtete. 

Strafsburg-.  H.  Bresslaii. 

Beinerkungen  zur  Millstätter  handselirift.  1.  Zu  Karajans 
einleitnng.  —  Bei  der  frag'e  nach  der  herkiinft  der  hs.  zieht 
Karajan  (s.  vm)  eine  alte  pergamenths.  deutscher  predigten  (aus 
der  Mone  in  seinem  anzeiger  auszüge  gegeben  hatte)  zum  vergleich 
heran,  die  aus  MKuppitschs  besitz  damals  in  das  Britische  museum 
gelangt  war  und  die  aus  dem  17  Jh.  stammende  aufschrift  trug: 
"Besidentiae  S.  Jesu  in  MiUstaf.  in  Priebschs  sorgsamem  Ver 
zeichnis  der  deutschen  handschriften  in  England  bd.  ii.  (Erlangen 
lyOl),  der  die  bestände  des  Britischen  museums  mustert,  fehlt 
zwar  dieser  predigtcodex  völlig,  dagegen  lässt  sich  eine  andre 
angäbe  bei  ihm,  die  auf  einem  lesefehler  beruhen  niuss,  mit  hülfe 
von  Karajans  bemerkung  berichtigen,  er  führt  (ii  136  unter  nr  1  5*.)) 
ein  gebetbuch  des  14  jh.s  auf,  dessen  erstes  blatt  den  vermerk 
'Jesid  Millst  S.  J.  1740'  trägt,  und  deutet  diesen  als  'namen  eines 
früheren  besitzers'  (so  auch  im  register  s.  :U2).  es  kann  keinem 
zweifei  unterliegen,  dass  diese  unformen  keinen  personeunamen  dar- 
stellen, sondern  dass  ^Besid.\enfiae]  2Iinst.[at]  S.\oriefafis]  J.[esu\' 
zu  lesen  ist.  somit  wäre  ein  weiteres  stück  aus  dem  handschrift- 
lichen bestände  der  alten  Millstätter  jesuitenbibliothek  festgestellt, 
die  nach  der  aufhebung  des  ordens  zerstreut  worden  ist. 

2.  Zur  Hochzeit.  Die  in  einander  greifenden  bemühungen 
von  Kraus,  Schri3der  und  Eoediger  haben  in  dem  text  dieses  ge- 
dichtes  nahezu  alles  in  Ordnung  gebracht,  Avas  in  der  handschrift- 
lichen Überlieferung  anstols  erregt,  auf  discutable  möglichkeiten 
oder  Wahrscheinlichkeiten    will    ich   nicht   eingehn.    sondern  nur 


KLEINE    .MITTEILUNGEN"  123 

zwei  stellen  besprechen,  von  denen  mir  bei  der   einen  eine,    wie 

ich  g-lanbe,  evidente  Verbesserung  gelungen  ist.  während  bei  der 

andern  eine  Schwierigkeit  des  sinnes  eine  kurze  erürterung  nötig 

macht. 

30,  3  (491  Waag)  den  vrostigen  sohle  er  heicceten, 

den  hungerigen  nerigen. 
au  dem  sonderbaren  reim  hewveten-.nerigen  hat  Kraus  (Vom  Rechte 
s.  42)  keinen  anstoß  genommen,  da  nach  seiner  aulfassung  ähn- 
lich wie  42,  7  (1009  Waag)  nur  die  unbetonte  schlusssilbe  den 
reim  trägt :  was  die  letztere  stelle  angeht,  so  möcht  ich  aller- 
dings ebenfalls  mit  Roediger  (Zs.  36,  2 (»4)  glauben,  dass  der  reim 
'kaum  zu  dulden'  ist,  wenn  ich  auch  seine  einsetzuiig  von  sc  liiere 
nicht  für  sicher  halte.  Schröder  und  Roediger  haben  auf  ver- 
schiedenen wegen  den  reim  durch  beseitigung  des  zweiten  reim- 
worts  zu  reinigen  versucht:  jener  (Anz.  xvii  299)  will  unter 
berufung  auf  Kaiserchr.  17  176  {heiväten  :  berieten}  beraten  für 
nerigen  einsetzen,  während  dieser  (Zs.  36,  260)  lieber  an  ver- 
derbniss  aus  c(;zen  denken  möchte,  beide  conjecturen  haben  das 
gegen  sich,  dass  man  keinen  psychologischen  grund  dafür  zu 
linden  vermag,  warum  ein  gleich  gutes  synonymen  für  das  andre 
und  zwar  ein  den  reim  völlig  zerstörendes  für  ein  gut  reimen- 
des eingeführt  sein  sollte,  dass  der  Millstätter  Schreiber  den 
reim  durch  beseitigung  eines  reimwortes  tatsächlich  zerstört  hat, 
scheint  auch  mir  sicher:  aber  es  muss  sich  um  ein  entweder 
veraltetes  oder  dialektisch  begrenztes,  in  beiden  fällen  also  um  ein 
schwer  verständliches,  den  Schreiber  und  hörer  beirrendes  wort 
gehandelt  haben;  eine  conjectur  muss  also  dieser  erwägung  rech- 
nung  tragen,  ein  tadelloser  reim  entsteht  nun,  wenn  man  im 
ersten  verse  beicceten  durch  teerigen  ersetzt,  das  dem  got.  icas- 
Jan  entsprechende  ahd.  tverien  in  der  sinnlichen  grundbedeutung 
'bekleiden',  die  wir  an  unsrer  stelle  brauchen,  ist  im  mhd.  aus- 
gestorben (vgl.  Mhd.  wb.  III  586a;  auf  den  rechtsterminus,  der 
dort  belegt  ist,  brauch  ich  hier  nicht  einzugehen),  die  ahd. 
belege  stellt  Graff  i  928  zusammen;  vgl.  auch  Erdmann  zu 
Otfried  ii  22,  12.  danach  begegnet  das  wort  aufser  bei  Otfried 
nur  in  den  glossaren  K  und  Rd-Ib  (bei  Steinmeyer- Sievers  I 
268,  38.  281,  5.  294,  69)  und  in  den  Monseer  fragmenten  (bei 
Hench  15,  26).  alle  diese  denkmäler  sind  im  alemannischen  oder 
dem  diesem  benachbarten  südrheinfränkischen  Sprachgebiet  zu 
hause,  dürfen  wir  auch  an  unsrer  stelle  irerigen  als  veraltet- 
dialektisch ansehen,  so  wäre  die  alemannische  herkuuft  der  Hoch- 
zeit, die  ja  auch  sonst  höchst  plausibel  ist,  noch  durch  ein 
weiteres  kräftiges  moment  gestützt,  discutiert  und  entschieden 
kann  die  l^ßimatsfrage  allerdings  nur  für  die  gesamtheit  der  vor- 
lagen des  Schreibers  weiden:  eine  erörterung  dieser  frage,  die 
ich  seit  langem  plane,  muss  erst  das  erscheinen  der  vollständigen 
abhandlung  vonBulthaupt  (alsPalaestra  72  angekündigt)  abwarten. 


124  KLEINE    MITTEILUNGEN 

37,  10  (S07  Waag)  ihiz  hezeichenf,  daz  der  gotes  man 
niht  \_b{\  yemaiton  sol  stau: 
der  sol  ie  singen, 
daz  lop  ze  gote  hringen. 

was  heilst  hier  [in]  genieiton  stdn?  das  s\v.  fem.  gemeite  wäre,  so- 
viel ich  sehe,  üjcai  Ä€yÖ!.itvov  und  sonst  nnbelegt:  der  von 
Lexer  (uachtr.  s.  191)  noch  aus  Heinrich  vNeustadt  angeführte 
beleg  muss  auf  Irrtum  beruhen,  er  findet  sich  weder  in  Strobls 
noch  in  Sing-ers  text.  im  Mhd.  wb.  ii  1,  132a  fehlt  das  wort 
überhaupt.  Lexer  (i  844)  erklärt,  'frühlichkeit,  eitle  last'  und 
will  also  in  unsern  versen  denselben  sinn  erkennen  wie  in  Hein- 
richs von  Melk  Priesterleben  52S  n-ar  zuo  sol  dem  hriester  ge- 
nuelfheif  y  einer  stelle,  die  bei  genauerer  ansieht  nicht  das  mindeste 
gemeinsame  hat.  Waag  (s.  xxxi)  nimmt  Lexers  erklärung  wört- 
lich auf.  Kraus  (Vom  Recht  s.  121)  verweist,  leider  nur  zu  ab- 
rupt, auf  Gramm,  iii  154,  wo  in  gimeitnn  aus  Otfried,  Tatian 
und  Notker  im  sinne  von  frustra,  otiose  vielfach  belegt  ist  (vgl. 
auch  Grraff  u  701),  und  das  ist  das  richtige'.  'Vidit  alios  stantes 
in  foro  otiosos'  (Matth.  20,  3)  wird  im  Tatian  (109,  1)  durch 
gisah  andre  stantente  in  sträzii  in  gimeUfin  verdeutscht;  vgl. 
die  ganz  ähnliche  stelle  Otfr.  v  6,  16.  ein  adverbium  gemeiten 
im  sinne  von  'müßig'  hat  jüngst  Helm  (Zs.  f.  d.  wortf.  10,  217) 
in  Heslers  Apokalypse  wie  etwas  überraschend  neues  aufgezeigt 
und  nur  noch  einen  hochdeutschen  beleg  (Kaiserchr.  2639  ze/ciu 
treistfi  den  [Jq^]  gemeiten?)  beigebracht:  unsre  stelle  und  die  ahd. 
belege  sichern  seinen  etwas  zaghaften  semasiologischen  ansatz  und 
geben  ihm  reichlichen  hintergrund.  die  adverbielle  form  ge- 
meiten bei  Hesler  macht  nun  allerdings  recht  zweifelhaft,  ob 
einerseits  Karajan,  dem  offenbar  die  ahd.  belege  im  sinne  lagen, 
die  durchgängig  die  präposition  in  zeigen,  recht  daran  getan 
hat,  das  hier  nicht  überlieferte  in  in  den  text  zu  setzen,  und 
ob  anderseits  Schröders  ansatz  eines  adjectivums  gemeit  'unnütz, 
zwecklos'  im  glossar  zur  Kaiserchronik  (s.  428c)  notwendig  war: 
in  beiden  stellen  kommen  wir  mit  dem  einfachen  adverbium  ge- 
meiten vollkommen  aus.  es  könnte  leicht  sein,  dass  diese  be- 
deutung  des  Stammes  sich  eben  nur  in  dem  adverbiell  erstarrten 
dat.  plur.  des  Substantivs  (ahd.  gimeüün)  erhalten  hätte,  während 
das  adjectivum,  wie  bekannt,  seine  eigenen  wege  gieng.  dieses 
letztere  zeigt  übrigens  auch  in  der  Hochzeit  25,  6.  26,  2  (264, 
304  Waag)  die  landläufige  bedeutung.  weiterer  forschung  muss 
vorbehalten  bleiben  zu  bestimmen,  ob  vielleicht  noch  an  andern 
stellen  frühmhd.  texte  (z.  b.  etwa  Milst.  Genesis  67,  10;  die 
Wiener  hs.  49,  7  weicht  etwas  ab)  ein  bisher  immer  als  flectierte 
adjectivform    gedeutetes  gemeiten    nicht  besser    oder   gleich    gut 

'  Diemer  (Genesis  und  Exodus  ii  141)  erliläit  unsre  stelle  falsch  und 
zugleich  i-ichtig  mit  'eitle  lust,  lässigkeit'. 


KLEINE  mitteili:x(;ex  125 

adverbiell  zu  fassen  ist  und  damit  noch    weitere   belege   für  die 
hier  besprochene  bedeutung-  gewonnen  werden  können. 

3.  Zur  Sündenklage. 
48,  24  (71  Roediger)  nfi  vernim  mich  st(n(l[i(/en  man], 
wand  ich  gandert  hän 
einen  sun,  [der  sinen]  vater  hat. 
das  transitive  andern  des  zweiten  verses  fehlt  im  Mhd. 
\vb.  I  37  a.  Lexer  fii  56)  erklärt  unter  berufung  auf  unsre  (in 
der  ersten  zahl  verdruckte)  stelle:  'ändern',  scheint  also  sich 
den  sinn  des  verses  nicht  genügend  klar  gemacht  zu  haben. 
Roediger  giebt  keine  anmerkung  die  seine  auftassung  des  Wortes 
erkennen  ließe:  ich  nehme  an,  dass  er  so  wie  die  meisten 
von  uns  an  die  verbale  ableitung  vom  ordinale  ander  ge- 
dacht und  sich  bei  dem  ganz  gut  passenden  sinne  'widerholen' 
(lateinisch  etwa  iterare)  begnügt  haben  wird,  diese  auffassung 
ist  unrichtig,  es  ligt  vielmehr  ein  retlex  von  ahd.  antarfm  'nach- 
ahmen' vor,  das  mit  ander  zunächst  nichts  zu  tun  hat  und  fast 
durchweg  t  im  stamm  aufweist  (zur  etymologie  vgl.  die  aller- 
dings zweifelhaften  bemerkungen  bei  Grimm  D WB.  i  311).  reiche 
ahd.  belege  aus  glossen  und  aus  Notker  gibt  Graff  i  378.  aus 
der  mhd.  literatur  war  bisher  nur  ein  einzelner  beleg  aus  Konrad 
von  Megenberg  (199,  12)  und  zwei  aus  Walther  von  Rheinau 
(168,  20.  181,  4)  bekannt  (vgl.  Lexer  i  SU;  uachtr.  s.  28).  ich 
kann  noch  eine  weitere  stelle  aus  dem  Prosaphysiologus  beibringen: 
wenn  die  serra  ein  schiff  sieht,  so  hebt  sie  federn  und  schwänz 
in  die  höhe  unde  wil  die  segela  antderdn  (Fundgr.  i  21,  3).  mit 
einer  einzigen  ausnähme  gehören  alle  genannten  belege  dem  alem. 
Sprachgebiet  an,  was  widerum  für  die  heimatsfrage  unsres  ge- 
dichtes  (Roediger  zu  441  und  s.  317  widerspricht  sich)  von  be- 
deutung werden  kann. 

49,  21  (107  Roediger).  Karajans  ergänzung  [inirt]stein, 
die  Roediger  beibehalten  hat,  schafft  ein  sonst  niemals  belegtes 
mhd.  wort,  was  immer  sein  bedenkliches  hat.  Diemer  hat  irgendwo 
in  einer  anmerkung  (ich  kann  momentan  die  genaue  angäbe  nicht 
auffinden)  schürstein  vorgeschlagen  (vgl.  JGrimm  Klein,  sehr. 
II  425).  die  ergänzung  muss  in  der  schwebe  bleiben,  da  wir 
nicht  wissen  können,  ob  die  bildliche  Vorstellung  von  atmosphä- 
rischen niederschlagen  oder  von  der  belagerungstechnik  herge- 
nommen war.  im  ersten  fall  könnten  noch  donerstein  oder  hacjeJ- 
stein,  im  zweiten  das  aus  dem  12  jh.  belegte  läzstein  (Jänicke  zu 
Bit.   1595;  vgl.  noch  Eilh.  86 19)  zur  wähl  gestellt  werden. 

53,  3  (252  Roediger)  ist  doch  wol  schon  des  reinis  auf  gesäten 
wegen  das  lisl.  stcete  mit  Bartsch  (Germ.  7,  279)  in  State  zu  bessern; 
Roediger  führt  diese  conjectur  im  apparat  überhaupt  nicht  au. 

Jena,  7  oct.    1908.  Albert  Leitzinjinn. 

Das  Geburtsjahr  von  Simon  Lemnins.  1 .  Es  ist  herrn  Merker, 
dem     autor    der    interessanten    monographie    über  Lemnins,   ge- 


120  KLEINE    AUTTEILUNGEN 

lung-en,    eine    andeiituug    des    bisher   unbekanuten  geburtsjahres 
dieses    dichters  zu  rinden  im  folgenden  distichon: 

Bis  clenas  nnmero  terna  trieteride  messes, 
Si  de  uif/inti  dempserls  Ipse  dicas. 
herr  Merker  macht  hieraus  2u  —  2  -|-  9  =  27,  gesteht  aber 
selbst  seiner  lüsuug  nicht  ganz  sicher  zu  sein,  die  folgende 
dürfte  gröfsere  Wahrscheinlichkeit  beanspiuchen.  man  nelime  die 
distributiva  deni  und  terni  correlativ,  so  gibt  die  erste  zeile: 
2  (10  4-  3X3)  =20-1-18.  die  zweite  berichtigt  dies  zu: 
20  —  2  -f-  18  =  36.  da  das  distichon  im  jähre  1538  geschrieben 
ist,  ergibt  sich  als  geburtsjahr  des  Lemnius   1502. 

Auch  aus  dem  folgenden  gründe  scheint  mir  das  jähr  1511, 
welches  Merker  ausrechnete,  weniger  passend  zu  sein,  der  dichter 
erzählt  nämlich,  dass  unter  denjenigen  die  1499  aus  dem  Prätigau 
flüchteten,  sich  auch  seine  eitern  befanden: 

Äufugere  Iwmines,  et  uos,  o  cara  parentum 
Pectora  :  nee  tum  natus  eram. 
im  j.  1499  waren  also  seine  eitern  w'ahrscheinlich  schon  ver- 
heiratet, nun  ist  es  nicht  wol  anzunehmen  dass  Lemnius,  der 
noch  einen  jüngeren  bruder  hatte  (weiter  hatte  er  nur  eine 
ältere  Schwester),  erst  12  jähre  danach  geboren  sein  sollte,  das 
jähr  1502  ist  mit  diesen  tatsachen  in  besserem  einklang. 

Haag.  S.  AV.  F.  Mar^^adant. 

2.  Die  auffassung  des  herrn  Margadaut  könnte  plausibel  er- 
scheinen, besonders  da  das  epigramm  gerade  153S  publiciert  und 
vermutlich  gedichtet  ist  —  wenn  sie  sprachlich  möglich  wäre. 

Bei  den  römischen  dichtem,  denen  Lemnius  hier  folgt,  ist 
es  so  gut  wie  stehender  gebrauch,  bei  zahlen-  und  speziell 
bei  den  üblichen  autobiographischen  altersangaben  statt  der  als 
prosaisch  gemiedenen  cardinalzahl  die  distributive  Umschreibung 
zu  wählen,  die  sich  meist  auch  dem  rhj^thmus  besser  einfügt; 
eine  ja  auch  unserer  classischeu  dichtung  [und  schon  Otfried,  wie 
ESchröder  hinzufügt]  nicht  fremde  gewohnheit.  bis  deni  ist  fest- 
stehende Umschreibung  für  viginti,  besonders  in  formelhaft-ty- 
pischer Verwendung  am  beginn  des  Verses  und  mit  zugehörigem 
nomen  am  schluss,  wie  hier  (inesses,  das  gebräuchliche  wort), 
es  geht  also  nicht  an,  wie  M.  will,  die  arithmetische  Klammer 
zwischen  die  beiden  festzusammengewachseuen  Wörter  zu  legen: 

ßis  {denas  nuniero  terna  trieteride)  messes  =2  (10  4-3. 
3)  =  38.     dann  hätte  Lemnius  schreiben  müssen: 

Bis  numero  denas  terna  trieteride  messes,  was  der  vers  ohne 
weiteres  erlaubt  hätte.  —  wol  aber  schreibt  er  zwei  selten  vor- 
her (Epigramm,  libri  III,  D  4  b): 

Äd  Phedilmn. 

Bis  denas  nondum  nunieras  si  Phedile  messes, 

Tunc  poteris  nullas  attribuisse  tibi.  — 

die    eigentliche    Schwierigkeit    liegt   vielmehr   in    dem  gesuchten 


1 


KLEIXE     MITTEILUNGEN  127 

Zusatz  tenia  trieteride,  dessen  offenbar  additiver  sinn  nicht  ohne 
weiteres  klar  ist.  anreger  ist  hier  (worauf  mich  herr  dr.  Hol^a 
aufmerksam  macht)  offenbar  Martial.  der  überhaupt  als  Vorlage 
für  das  distichon  gedient  hat:  er  hat  mehrfach  me.ssi.s  =  anaus 
und  drückt  an  vier  stellen  altersangaben  durch  Umschreibungen 
mit  trieteris  aus:  VI  38,  I.  VII  96,  3.  IX  84,9.  X  53,  3.  bei 
sämtlichen  fällen  erscheint  der  abl.  trieteride,  in  VII  90,  3: 

sex  mihi  de  prima  deerant  trieteride  menses 
in    einem    stark    an    Lemnius    anklingenden    hexameterausgaug. 
vielleicht   durch    den  klang  bestimmt  hat  also  der  humanist  den 
abl.    im   sinne   von    adiuncta   terna  trieteride  (Martial  IX  84,  9) 
gewagt,  nicht  gerade  coi-rect. 

da  auch  das  zweite  argument  M.s  nicht  zwingend  ist,  halte 
ich  an  der  erklärung  Merkers:  2  .  10  -|-  3  .  3  —  2  =  27  fest. 

Nur  eins  wäre  vielleicht  zu  erinnern.  nach  Censorinus  De 
die  natali  cap.  1 8  war  eine  trieteris  im  gründe  nur  ein  Zeitraum 
von  zwei  jähren  und  einem  monat  '.  wir  würden  also,  vor- 
ausgesetzt, dass  Lemnius  dies  gewusst  hat,  auf  ein 
lebensalter  von  24  jähren  und  3  mouaten,  mithin  auf  das  Jahr 
1514  oder  1513  als  geburtsjahr  kommen;  was  allerdings  reichlich 
spät  wäre. 

bei  dieser  gelegenheit  stoß  ich  in  der  Raeteis  des  Lemnius 
auf  folgende  verse  (I,  516ff.): 

Initrea  mm  cohors  populis  veniebat  ab   Uris 

Auxilio  Raetis,  prisca  sub  imagine  tauri 

Signa  ferens  armis  et  spirans  robora  2Jartis, 

Excita  a  sociis,  habitant  qui  saxa  Tisentis. 

At  gens  Urorum,  Tauriscis  orta  propago, 

Inde  Caput  tauri  clypei  sub  imagine  gestaut, 

Vnde  etiam  prisci  Taurisci  nomine  dicti. 

TJri  etenim  tauri  dicuntur  gentibiis  istis, 

At  non  siivestres  qui  sunt  in  saltibus   Uri. 

Hinc  quando  arma  vocant,  et  surgit  pugna  tumultu, 

Signa  so7io  liorrendo  perjiantur  corna  bello. 

Quiqiie  sonum  reddit  crudeli  taurus  ab   Uro 


*  Censor.  cap.  18,2:  eeterei^  in  Graecia  civitates  cum  animad- 
rerterent,  dum  ■•^ol  anmio  owmu  orbem.  säum,  drcumit,  lunam  nocam 
interdum  tHden'e.f  exorin  idque  saepe  alternv^  fieri,  arbitrati  .sunt 
lunare.-<  dufide<im  menses  et  dim.idiatum  ad  annum  naturalem,  concenire. 
itaque  annos  ciriles  sie  statuerumt,  ut  intercalundo  farerent  alternos 
duodeiim  mensum,  alternos  tredecim,  utr-umque  annum  .■<eparatim  ver- 
tentem,  ninctos  ambo  annum  rnagnum  voran  tes  idque  tempus 
trieterid a  appel labant,  quod  tertio  q  uoque  anno  intercala- 
batur,  quumcis  biennii  circuitus  et  re  cera  dieteris  esset; 
unde  mysteria,  quae  Libero  ulternis  Jiunt  annis,  trieterica  a  poetis 
dicuntur.  postea  cognito  errore  hoc  tempus  duplicarunt  et  tetraeterida 
fecerunt  :  ."ed  eam,  quod  quinto  quoque  anno  redibat,  pentaeterida 
nominabant. 


12S  KLEIXE    MITTEILIXGEX    PEKSOXAI.XOTIZEX 

Dicitur,  horrenäumque  boat,  quo  terra  remngif. 
Duxerat  Henricus  Vollebns,  heiliger  armis  — 
die  stelle  hat  wol  C.  F.  Meyer  im  sinn  gelegen,  als  er  den  4tisten 
gesang  von  'Huttens  letzten  tagen'  dichtete: 
'Bei  meinem  Eid  und  Schivur! 
So  tätischeud  muht  der  Heini   Wo  lieb  nur!'  — 
In  sumpf'gem  Alantoranerboden  ruht 
Der  Heini,  der  so  trefflich  hat  gemuht. 
der  Uruerführer  von   1499  hat  sich  ihm  freilich  in  einen  lands- 
knecht    verwandelt,    der    durch    'Muhen'    den    heimwehkranken 
Urner  verhöhnt. 

Göttingen.  Walther  Brecht. 

P  E  E  S  0  N  A  L  N  0  T  I  Z  E  N. 

Am  8  februar  ist  zu  Leipzig  der  professor  der  englischen 
Philologie  Richabd  Paul  Wuelkee  im  65  lebensjahre  verschieden, 
am  2;-i  juni  zu  Freiburg  i.  Br.  sein  fachgenosse  Wilhelm  "Wetz, 
51   jähre  alt. 

Am  <)  mal  starb  zu  Südende  bei  Berlin  im  43  jähre  Fkaxz 
Nicolaus  Fixck,  dem  vor  kaum  Jahresfrist  die  alte  Steinthalsche 
Professur  verliehen  war.  er  pflegte  die  allgemeine  Sprachwissenschaft 
im  geiste  Wilhelm  vHumboldts  und  hat  in  zahlreichen  schritten 
dafür  Zeugnis  abgelegt,  mit  welcher  hohen  energie  und  geistes- 
kraft  er  die  verschiedensten  typen  des  menschlichen  Sprachbaues 
beherschte. 

Am  6  juni  schied  dicht  vor  Vollendung  seines  8<t  lebens- 
jahres  von  uns  der  ehrwürdige  senior  der  Indogermanisten  Leu 
Meyer,  der  nach  34  jähriger  gesegneter  würksamkeit  in  Dorpat 
den  abend  seines  lebens,  tätig  bis  zuletzt,  in  Güttingeu  zubrachte. 

Nach  Straßburg,  wo  Ernst  Martin  zum  1  april  vom  lehramt 
zurücktrat,  wurde  als  ao.  professor  der  deutschen  philologie  prof. 
dr.  Feaxz  Schultz  von  Bonn  berufen.  —  in  Fieiburg  i.  Br. 
wurde  nach  dem  freiwilligen  rücktritt  des  ord.  professors  dr 
Roman  Wörner  der  privatdoeent  für  ästhetik  und  neuere  littera- 
tur  an  der  Universität  Heidelberg  dr  Philipp  Witkop  zum  ao. 
professor  ernannt. 

In  der  besetzuug  der  lehrstühle  für  englische  philologie  sind 
folgende  änderungen  eingetreten:  auf  das  Ordinariat  in  Münster 
wurde  (für  Jiriczek)  der  ao.  professor  Wolfganc;  Kelij:e  berufen; 
dessen  stelle  in  Jena  erhielt  der  privatdoeent  dr.  Ludwig  Levin 
ScHUECKixG  von  Güttingen.  nachfolger  Wülkers  in  Leipzig  w'urde 
prof.  Max  Foerster  von  Halle,  und  nach  Halle  kam  als  Ordi- 
narius der  ao.  professor  Max  Deutschbeix  von  Leipzig. 

Habilitiert  haben  sich:  für  deutsche  philologie  dr  Friedrich 
Ranke  in  Straßburg  und  dr  Haxs  Schulz  in  Freiburg  i.  Br. ; 
für  englische  philologie  dr  Fritz  Roeder  in  Göttingen;  für  alt- 
germanische philologie  dr  Gustav  Neckel  in  Breslau. 


ANZEIGER 

Füll 

DEUTSCHES   ALTERTUM  UND  DEUTSCHE  LITTERATUR 

XXXIV,    3    September  1910 


Das  altdeutsche   volksepos.    eiu  Vortrag  von  Friedrich   Panzer. 
Halle  a  S.,  Nienieyer  1903.  34  ss.  S".  —  1  m. 

Lied  und  epos  in   germanischer   Sagendichtung  von  Aitdi'eas 
Heusler.    Dortmund,  Ruhfus  1905,  52  ss.  bo.  —  im. 

Diese  beiden  Schriften  sind  aus  der  bewegung  gegen  die 
Lachmaunsche  höhere  Nibelungenkritik  hervorgegangen,  und  ihre 
—  so  sehr  verspätete  - —  anzeige  hier  ist  vielleiclit  doch  noch 
am  platze,  weil  die  jüngst  wider  lebhaft  gewordene  sagenkritik 
mafs  und  leitlinien  aus  litterarhistorischen  gesichtspuncten  ge- 
winnen kann,  die  von  Panzer  und  Heusler,  besonders  frucht- 
bringend von  diesem,  betont  werden. 

Panzer  schreibt  aus  der  allgemeinen  richtung  heraus,  die 
zwar  alte  lieder  als  grundlage  des  epos  annimmt,  aber  die  Un- 
möglichkeit erkannt  hat,  mit  Lachmanns  mittein  aus  dem  gefüge 
des  epos  sie  wider  herauszuschälen,  er  will  von  der  negieruug 
zu  positivem  gelangen;  nicht  die  alten  lieder,  sondern  das  ganze 
des  mild,  'volksepos",  das  aus  ihnen  entstanden  ist,  soll  betrachtet 
werden,  und  zwar  in  Unterordnung  unter  die  allgemeinen  erschei- 
nungen  der  blütezeit.  irreführend  sei  der  titel  'volksepos',  er 
setze  nur  alte  romantische  Vorstellungen  fort:  die  epen  der  helden- 
sage  sind  Standespoesie,  wie  das  höfische,  die  unterschiede  findet 
P.,  vom  Stoff  abgesehen,  im  fortwürken  von  stilformen  der  typi- 
sierenden altgermanischen  poesie.  hübsch  werden  diesem  gesichts- 
punct  kennzeichnende  Stileigentümlichkeiten  eingeordnet:  die  "ob- 
jectivierende"  Umschreibung  der  handlung,  das  fortleben  alter,  im 
individualisierenden  stil  des  höfischen  epos  gemiedener  poetischer 
ausdrücke,  die  dem  täglichen  leben  fremd  geworden  waren,  auch 
das  pathos  der  alten  poesie  wäre  unter  solchen  erbstücken  zu 
nennen :  ihm  —  mehr  als  der  Vorliebe  für  den  typus,  wie  Panzer 
will  —  entsprang  die  tigur  der  Variation,  zum  typischen  rechnet 
Panzer  auch  die  'Widersprüche' in  zahlen-,  orts-und  anderen  angaben, 
hier  wünschte  man  freilich  schärfere  sonderung.  der  verf.  weist 
auf  die  reichhaltigen  ausführungen  seines  buches  Hilde-Gudrun; 
aber  was  dort  gesammelt  ist,  erlaubt  noch  nicht  methodische  Ver- 
wendung, weil  es  auch  erscheinungen  aufnimmt,  die  als  stileigen- 
tünilichkeiten  nur  dann  angesehen  werden  können,  wenn  man  den 
A.  F.  D.  A.    XXXIV.  9 


130  SEEMÜLLER    ÜBER    PANZER,    VOLKSEPOS 

begriff  des  formelhatten  ins  ungemessene  ausdehnt  und  mit  der 
müglichkeit,  ja  walirscheinlichkeit  nicht  rechnet,  dass  die  epische 
Überlieferung  die  uns  vorligt,  nicht  die  originale  fassung  ist; 
der  begriff  des  'echten'  und  'unechten',  dh.  älteren  und  jüngeren, 
muss  nach  wie  vor  im  gesichtsk reise  bleiben,  auch  wenn  man 
Lachmanns  liedertheorie  nicht  anhängt  und  das  'echte"  in  einem 
gröfseren  Spielraum  der  möglichkeiten  sucht. 

So  nützlich  und  notwendig  es  ist.  die  mhd.  epen  der  helden- 
sage  von  den  hötischen  nicht  zu  isolieren,  so  wird  dadurch  erst 
einsieht  in  die  gesellschaftlichen  antriebe  gewonnen,  die  für  beide 
gattungen  wirksam  waren,  noch  nicht  aber  etwas  positives  der 
älteren  liedertheorie  gegenübergestellt,  dh.  noch  nichts  über 
den  weg  ausgesagt,  auf  dem  stilmittel  der  germanischen  poesie 
in  diese  jüngeren  formen  herüber  sich  fortpflanzten.  P.  redet  im 
text  seines  Vortrags  vom  'altgermanischeu  epos',  auch  von  'alten 
liedern'  (s.  26),  die  die  vorläge  des  epos  waren,  aber  erst  die 
anm.  9  (s.  34)  bestimmt  etwas  näher,  was  er  mit  diesen  aus- 
drücken meint:  es  seien  'epen  von  nicht  zu  geringem  umfang' 
gewesen;  denn  'unsere  epen  haben  die  grundlagen  ihres  Stils 
sicher  aus  ihren  vorlagen  übernommen,  seine  haupteigenschaft 
der  variierenden  breite  hat  aber  nur  im  rhapsodischen  epos,  nie 
in  einer  ballade  räum'  (und  ballade  ist  ihm  hier  der  ausdruck 
für  die  Vorstellung,  die  Lachmann  von  den  liedern  hatte),  aber 
die  'variierende  breite"  —  merkmal  des  sprach  Stiles  —  kommt 
doch  gewis  auch  den  liedern,  die  nicht  epen  sind,  zu:  Hildebrands- 
lied, Finnsburg,  sie  allein  würde  die  vorlagen  des  epos  keineswegs 
schon  zu  epen  machen,  es  sei  dahin  gestellt,  ob  P.  zwischen 
formen  wie  Hildebrandslied  und  Nibelungenlied  mittelstufen  denkt, 
die  epen  zu  nennen  wären;  nicht  das  'altgermanische  epos' 
noch  jenes  'rhapsodische"  sind  gröCsen,  die  irgendwie  greifbarer 
wären  als  Lachmanns  'lieder'.  weder  der  Beowulf  noch  weniger 
der  Heiland  sind  beweisstücke  für  ein  'germanisches  epos'.  und 
über  das  Verhältnis  dessen  was  uns  gleichmäl'sig  vom  norden, 
Süden  und  der  mitte  her  wirklich  überliefert  ist,  des  epischen 
liedes,  zum  epos  finden  wir  nach  der  positiven  seite  hin  bei 
Panzer  nichts. 

Eben  diese  frage  beantwortet  Heuslers  schrift.  Den  leiten- 
den grundgedanken  entnimmt  sie  Kers  buch  Epic  and  Romance 
(1897 1:  dass  das  Verhältnis  des  epischen  liedes  zum  epos  nicht 
durch  die  Vorstellung  der  aneinanderreihung  von  teilen  zu  einem 
ganzen,  sondern  des  Wachstums  vom  kleineren  zum  grölseren  zu 
verstehn  sei,  dass  das  epos  nicht  durch  summierung  von  einzel- 
liedern,  sondern  durch  anschwellung  des  liedinhaltes  zur  gröfseren 
form  entstehe.  H.  wendet  ihn  sofort  auf  concrete  fragen  der 
philologischen  kritik  und  der  litteraturgeschichte  an,  fasst  die 
charakteristischen  eigentümlichkeiten  der  älteren  'sammeltheorie' 
im  gegensatz    zu    jener    'anschwellungstheorie'    in    scharfer   und 


8EEMÜIXKK    ÜBER    HEUöLER,    LIED    UND    EPOS  131 

klarer  forraulierung  zusammen  und  macht  die  probe  an  ausge- 
wählten litterarischen  denkmälern. 

Der  springende  punct  ist  die  beobachtung,  dass  das  lied 
eine  abgeschlossene  fabel  enthält,  es  ist  nicht  episodisch,  dh. 
setzt  zu  seinem  Verständnis  nicht  ein  oder  mehrere  andere  lieder 
voraus,  und  ist  nicht  unvollständig,  dh.  bedarf  nicht  der  fort- 
setzung  durch  ein  anderes,  um  den  Inhalt,  handlung  oder  Situation, 
als  abgeschlossen  erscheinen  zu  lassen,  das  ist  der  herschende 
zustand,  ausnahmen  sind  selten;  H.  fasst  im  verlaufe  der  Unter- 
suchung solche  fälle  ins  äuge;  ein  epos  wird  auch  aus  der  Ver- 
bindung solcher  einzeln  unselbständiger  lieder  nie,  auch  das  ganze 
bleibt  lied.  sowol  die  denkmäler,  die  vor  der  zeit  des  epos  liegen, 
als  auch  die  späteren  fügen  sich  dieser  beobachtung,  die  H.  in 
dem  satze:  'liedinhalt  und  epische  fabel  decken  sich'  formuliert, 
die  berechtigung,  das  jüngere  material  ebenso  wie  das  ältere 
heranzuziehen,  schöpft  er  daraus,  dass  der  liedinhalt  des  älteren 
llildebrandsliedes  wie  der  eddischen  Hamdismal  in  gleicher  ab- 
grenzung  durch  Jahrhunderte  fortlebt  und  im  jüngeren  Hilde- 
brandslied und  dem  Lied  von  Ermenrichs  tod  wiederauftaucht. 

Die  epischen  fabeln,  die  liedinhalte,  sind  an  reichtum  sehr 
verschieden,  neben  stoffarmen  wie  dem  3  Gudrunlied  steht  der 
reiche  verlauf  zb.  der  Atlamal.  ein  lied  kann  auch  zwei  fabeln 
haben,  wie  deutlich  das  Wielandslied  und  wol  auch  die  Hymis- 
kvida.  hier  wie  dort  ist  jede  der  beiden  fabeln  für  sich  selb- 
ständig, jede  für  sich,  nach  H.s  terminologie ,  eine  'sage';  sie 
stehn,  dort  die  beiden  Wielands-,  hier  die  beiden  Thorssagen,  in 
einer  'sagenreihe',  welche  gestalt  die  teile  des  neuen  ganzen  in 
ihrer  selbständigen  form  hatten,  wissen  wir  nicht;  dass  weder 
Wielandslied  noch  Hymiskvida  eine  bare  addition  vorhandener 
lieder  sind,  lehrt  die  analyse  der  geste  von  Robin  Hood,  die  H. 
s.  37  ff  vornimmt:  mit  Child  und  Brandl  sieht  er  sie  als  über- 
arbeitende Zusammensetzung  aus  drei  selbständigen  Robinfabeln 
und  -liedern  an,  und  sprachliche  unterschiede  der  teile  weisen  hier 
auf  addierende  tätigkeit  des  redactors. 

Nach  dem  kriterium  der  epischen  fabel  verglichen,  unter- 
scheiden sich  lied  und  epos  nicht  wesentlich  von  einander,  es 
gibt  epen  mit  einer  fabel  (Waltharius,  Alphart,  Rabenschlacht) 
und  solche  mit  zwei  (Beowulf,  Nibelungenlied)  oder  mehreren 
(Kudrun,  Ortnit- Wolfdietrich),  nicht  in  der  fabel  sondern  im  stil 
ihrer  darstellung  ligt  der  unterschied,  der  des  liedes  ist  knapp, 
des  des  epos  breit,  nicht  sowol  der  sprach-  als  der  compositions- 
stil.  der  gegensatz  kann  direct  beobachtet  werden,  wenn  man  eines 
der  Eddalieder  die  die  Burgundensage  darstellen  mit  dem  zweiten 
teil  des  Nibelungenliedes  vergleicht.  H.  illustriert  ihn  hübsch, 
indem  er  zum  stoff  des  liedes  Hamdismal  möglichkeiten  seiner 
Verbreiterung  zum  epos  aufzählt,  der  nachschaffende  philologe  hat 
natürlich   verbreiterungsmotive   aus    der    tradition   des    epos  ge- 

9* 


132  SEEMÜLLER    ÜBER    HEUSLER 

schöpft,  im  überlieferten  epos  hat  aber  die  fabel  zwf-ifellos  auch 
durch  erfundene  niotive  erweiterunp:  erfahren,  sehr  lehrreich  ist 
ein  beispiel,  das  H.  aus  der  liedüberlieferung:  nimmt:  die  kurzen 
dänischen  Marsk-Stig-visen  FG,  K,  H.T  sind  ältere  fassungen  des 
Stoffes  und  selbständige  lieder;  die  kurze  vise  CDE  ist  entweder 
unvollständig  oder  verlangt  die  existenz  einer  verlornen  fort- 
setzung  fi  v7toh]ii,iewg;  aus  CDE,  HJ  und  FG  schuf  ein  dichter 
die  grofse  vise  A,  jedoch  nicht  durch  bare  aneinanderreihung, 
sondern  in  gestaltung  eines  teilweise  neuen  Zusammenhanges 
und  durch  zudichtung  neuer  teile  (das  ganze  noch  immer  im 
knappen  liedstil). 

Solche  erscheinungen  am  lied  —  reflexe  der  bewegungen  in 
einer  sage,  einer  sagenreihe  —  müssen  uns  den  weg  zum  Verständ- 
nis des  sageninhalts  beim  epos  weisen,  es  ist  denkbar,  dass  eine 
fabel  —  dem  entsprechend  ein  lied  —  die  grundlage  bildet  und 
zu  seiner  anschwellung  raotive  aus  einem  oder  mehreren  anderen 
liedern  herangezogen  werden,  es  kann  summierung  von  lied- 
inhalten  (nicht  Wortlauten)  stattfinden,  wenn  die  liedinhalte  durch 
Identität  des  beiden  (wie  in  den  beiden  fabeln  des  Beowulf)  oder 
innre  Verbindung  der  handlungen  (wie  in  der  Siegfriedfabel  und 
der  vom  Untergang  der  Burgunden)  mit  einander  verknüpft  sind, 
auch  contamination :  in  den  Melanges  Kurth  hab  ich  zu  zeigen 
versucht,  dass  der  Inhalt  des  Waltharius  (gewis  eine  innerlich 
einheitliche  fabel)  spuren  der  benützung  zweier  verschiedener 
fassungen  der  fabel  zeigt,  also  zweier  Waltherlieder,  deren  jedes 
wahrscheinlich  die  flucht,  Verfolgung  und  den  kämpf  enthielt,  das 
zweite  und  dritte  motiv  aber  in  verschiedener  gestaltung:  im 
Waltharius  stamme  das  erste  aus  dem  einen,  die  beiden  anderen 
aber  aus  dem  zweiten  lied.  in  keinem  dieser  fälle  übernimmt 
das  epos  den  ganzen  Wortlaut  des  liedes  oder  der  lieder  — 
stilistisch  entsteht  jedesmal  etwas  davon  ganz  verschiedenes. 

Die  frage,  ob  die  grundlage  des  epos  —  die  fabel  —  jedes- 
mal liedmäfsige  form  gehabt  haben  müsse  oder  auch  in  (münd- 
licher) prosaischer  erzählung  dem  epiker  tiberliefert  worden  sein 
kann,  ist  für  den  Zusammenhang  H.s,  der  das  Verhältnis  zwischen 
den  Wortlauten  des  liedes  und  des  epos  im  äuge  hat,  gleichgiltig. 
sie  wird  auch  schwerlich  für  jede  periode  mit  Sicherheit  zu  be- 
antwortensein, in  Deutschland  schwellen  liedfabeln  erst  im  12  Jahr- 
hundert zu  deutschen  epen  au.  zu  jener  zeit  sind  sagen  gewis 
auch  prosaisch  überliefert  worden  (vgl.  die  Quedlinbui'ger  annalen, 
immerhin  auch  die  chronik  von  Novalese),  die  mitwirkung  pro- 
saischer sagenberichte  unter  den  quellen  des  epos  hilft  uns  jedes- 
falls  anschwellungsmotive  zu  erklären,  wol  auch,  innerhalb  der 
liedformen  selbst,  die  mehrheit  von  fabeln. 

Man  darf  der  Ker  -  Heuslerschen  grundanschauung:  einer- 
seits, epische  fabel  und  liedinhalt,  liedinhalt  und  fabel  des  epos 
können  sich  decken;  anderseits,  der  liedinhalt  gibt  dem  epos  nur 


LIED    UND    EPOS  133 

den  umriss  des  ganzen,  das  epos  entsteht  aus  ihm  durch  anschwel- 
lung  —  eine  fruchtbare  zukunft  voraussagen,  zunächst  drängt 
sie  die  einheitliche  dichtende  persönlichkeit,  die  die  Umgestaltung 
vornimmt,  in  den  Vordergrund:  die  formel  'ein  epos  habe  sich 
zusammengesungen'  ist  bedeutungslos  geworden,  sie  hat  höchstens 
für  die  liedfabel  noch  einigen  sinn,  und  auch  da  dürfte  man  nicht 
mehr  'zusammengesungen',  sondern  müste  'ersungen"  sagen,  man 
wird  ferner  fragen:  wolier  kam  die  änderung  des  gesclimackes, 
die  am  lied  nicht  melir  genüge  liatte  und  die  gröisere  furm  ver- 
langte V  dabei  wird  man  niclit  übersehen  dürfen,  dass  das  deut- 
sche epos  erst  im  12  jh.  erscheint,  dass  es  in  lateinischer  spräche 
aber  schon  im  10  jh.  vorhanden  ist.  der  Waltharius  trägt  un- 
zweideutige merkmale  des  antiken  einflusses  auf  seine  form,  der 
Rother  ist  ohne  Alexander  und  Roland  kaum  denkbar,  und  der 
frülie  Beowulf  hat  in  seinen  reflectierenden,  elegischen  bestand- 
teilen  deutlich  merkmale  der  ags.  geistlichen  poesie.  im  norden 
hat  die  liedform  nicht  zum  epos  sich  entwickelt  —  die  erweite- 
rung  der  liedform  geschah  dort  nach  dem  muster  der  prosaischen, 
gelegentlich  verspartieen  einmischenden  saga.  die  alten  liedinhalte 
scheinen  überall  nicht  aus  dem  bedürfnis  ihrer  eignen  form  und 
tradition,  sondern  —  in  England  und  Deutschland  wenigstens  — 
durch  einflüsse  auswärtiger  kunstformen  zum  epos  erweitert 
worden  zu  sein. 

Etwas  den  triebkräften,  die  das  lied  zum  epos  schwellten, 
ähnliches  kann  aus  zeiten,  in  denen  die  epische  form  bereits 
vollentwickelt  war,  an  der  technik  des  reimchronisten  Ottokar 
beobachtet  werden,  eine  kurze  hochzeitsnachricht  seiner  quelle 
wird  zu  einer  breit  und  reich  ausgeführten  scene.  je  entfernter 
der  Schauplatz,  dürftiger  die  tatsächliche  grundlage,  desto  auf- 
fallender tritt  diese  fähigkeit  des  schrankenlosen  fabulierens  zu- 
tage, am  stärksten  in  den  rund  1 0000  versen,  die  der  eroberung 
Accons  und  ihren  folgen  gewidmet  sind,  auch  Enikel  bietet  bei- 
spiele.  ich  wähle  diese  zwei  autoren,  weil  bei  ihnen  das  an- 
schwellen der  vorläge  am  deutlichsten  an  der  quellennachricht 
gemessen  werden  kann,  man  bemerke  dabei,  dass  Ottokar  lokal- 
sagen wie  die  vom  ring  des  Scharfenbergers  oder  vom  bürger 
von  Verdun  zwar  auch  rund  und  breit  darstellt,  aber  jenes,  das 
innere  gefüge  der  grundlage  zugleich  anschwellende  verfahren, 
das  in  der  Ackers-episode  am  besten  hervortritt,  stellte  sich  doch 
vorwiegend  bei  haupt-  und  staatsactionen  ein  mit  ihren  höfischen 
festlichkeiten  oder  kampfscenen. 

Man  kennt  eben  diese  schösslinge  am  volksepos.  aber  nicht 
sie  allein  haben  den  alten  liedinhalt  ei'weitert;  neben  diesen 
typischen  motiven  stehn  gehaltvollere,  wie  zb.  im  Nibelungenlied 
die  jagd,  die  saalwacht  ua.  hier  werden,  auch  auf  dem  boden 
der  Heuslerschen  anschauungen,  zeitliche  Scheidungen  einzutreten 
haben.      denn    jene    Verschiedenheiten    der    anscliwellungsmotive 


134  SEEMÜl.I.KR    i'BKK    HKUSI.ER 

scheinen  verschiedenen  fähigkeiten  dichterischer  gestaltung  ent- 
sprungen, dass  vor  unserem  Nibelungenlied  eine  dichtung  lag 
aus  der  es  schöpfte,  weil's  man  aus  den  parallelen  der  Thidreks- 
saga.  H.  beobachtet  sehr  hübsch,  dass  einzelne  abschnitte  aus 
der  erzählung  vom  Untergang  der  Burgunden  in  der  Ths.  ihrer 
composition  und  breite  nach  auf  ein  epos,  nicht  ein  lied  zurück- 
weisen, das  ältere  deutsche  Nibelungenepos  des  12  jh.s  tritt  so 
in  greifbarere  nähe,  die  entwicklung  von  diesem  zu  unserer 
Überlieferung  geht  aber  schon  im  bereiche  des  epos  vor  sich,  vor 
diesem  liegen  die  zwei  fabeln,  die  Siegfried-(Brunhild-)  geschichte 
und  die  vom  Untergang  der  Burgunden.  H.  setzt  ihre  verbin- 
bindung  zur  deutschen  sagengestalt  ins  8  jh.  beide  fabeln  kijnnen 
in  je  einem  selbständigen  lied  gesungen  worden  sein;  das  zweite 
brauchte  nicht  das  erste  'fortzusetzen'  —  es  konnte  aus  der  Vor- 
stellung von  der  Verknüpfung  der  ereignisse  heraus  ohne  weiters 
mit  der  Situation  einsetzen,  die  durch  Siegfrieds  tod  für  Kriem- 
hild  entstanden  war,  und  die  Selbständigkeit  der  beiden  fabeln 
und  lieder  scheint  selbst  noch  in  der  composition  unseres  epos 
nachzuwürken,  in  welchem  die  längere  ebene  strecke  der  witwen- 
schaft  Kriemhilds  zwischen  den  zwei  höhepuncten  liegt,  ob  nun 
die  Verbindung  beider  fabeln  in  der  geschwellten  epischen  dar- 
stellungsform  mit  dem  älteren  deutschen  epos  des  12  jh.s  ein- 
setzte, oder  ob  schon  zur  zeit  Pilgrims  von  Passau  ein  latei- 
nisches Nibelungenepos  solcher  gestalt  entstanden  war,  steht  dahin, 
diese  'Nibelungias'  würde  sich  jedesfalls  gut  in  das  10  jh.  ein- 
fügen, das  die  neue  richtung  liedinhalte  zum  epos  zu  schwellen, 
und  zwar  vorerst  in  lateinischer  spräche  aufweist. 

Von  diesen  und  ähnlichen  weitergehnden  folgerungen  aber 
abgesehen  lehrt  uns  H.  unmittelbar  die  regel,  im  gefüge  des 
epos  zuerst  die  fabel  oder  die  fabeln  zu  erkennen;  jedesmal  ist 
an  und  für  sich  die  möglichkeit  da,  dass  der  fabel  einst  ein  lied 
entsprach,  innerhalb  der  fabel  des  epos  ist  die  episode  denkbar: 
auch  diese  kann  in  einem  liede  gelebt  haben,  aber  es  war  selb- 
ständig, es  kann  ins  epos  seinem  Inhalt  nach  übergehn,  aber 
nicht  nach  seinem  Wortlaut,  denn  es  verliert  bei  der  aufnähme 
seinen  liedstil.  der  keim  der  episode  kann  schon,  aber  muss 
nicht  in  dem  lied  enthalten  gewesen  sein,  das  dem  epos  die 
grundfabel  lieferte,  der  ependichter  kann  aber  auch  liedinhalte, 
die  von  haus  aus  nichts  mit  seiner  hauptfabel  zu  tun  hatten, 
hereinziehen  und  aus  ihnen  anschwellungsmotive  gewinnen 
(Gere,  Iring).  das  epos  wird  dadurch  zum  reflex  von  mehr  liedern, 
als  seiner  hauptfabel  entspräche,  aber  nicht  addition,  sondern 
erweiternng  hat  stattgefunden,  und  die  ursprünglich  sagenfrem- 
den lieder  brauchen  nicht  ihrem  ganzen  Inhalt  nach  aufgesogen 
worden  zu  sein. 

All  das  sind  Vorgänge  auf  dem  wege  vom  lied  zum  epos. 
davon  wird  der    kritiker  die  im  sonderleben  des  epos  möglichen 


LEED    UND    EPOS  135 

ZU  scheiden  haben,  fremdartige  scenenreihen,  durchgreifende 
unterschiede  des  sprachlichen  ausdrucks  und  Stiles  weisen  nicht 
mehr  auf  eine  mehrheit  von  liedquellen,  sondern  auf  eintiüsse 
von  vorlagen,  die  bereits  die  form  des  epos  hatten,  wenn  zb. 
ESchmidt  (Prager  Studien  ii)  für  die  Yirginal  wahrscheinlich 
macht,  dass  ein  altes  gedieht,  aus  dem  Virg.  A  stammt,  mit  einem 
anderen  alten  gedichte  Virg.  B '  verbunden  und  dieses  ganze  von 
einem  dichter  redigiert  wurde,  der  Virg.  B^  hinzufügte  (vgl. 
auch  V.  Kraus,  Zs.  50,  121  ff),  so  ist  dieser  ganze  verlauf  schon 
in  der  stilform  des  epos  vor  sich  gegangen. 
St.  Martin  b.  Klagenfurt,   7.  mai   1910. 

Joseph  SeeiiiüIIer. 


Untersuchungeu  über  deu  Ursprung  uud  die  eutwickluug 
der  Nibeluugeusage  vou  R.  C.  Boer.  iii.  baud.  Halle,  Waisen- 
haus 1909.     191  SS.  gr.  8".  —  S  lu. 

R.  C.  Boer  ist  einige  jähre  hindurch  der  fruchtbarste  autor 
auf  dem  gebiete  der  germanischen  sagengeschichte  gewesen,  mit 
dem  vorliegenden  bände,  der  im  sommer  lOOS  abgeschlossen  ist, 
scheint  seine  production  vorläufig  abzubrechen',  gern  möchte  man 
hoffnungen  knüpfen  an  dieses  verstummen,  ist  Boer  im  stillen 
beschäftigt,  seine  methode  zu  revidieren?  sind  ihm  zu  guter 
stunde  die  zweiteilige  'Hagensage'  und  die  'anpassungstheorie" 
in  ihrer  ganzen  blutleeren,  freischwebenden  Unmöglichkeit  auf- 
gegangen? beginnt  er  mir  den  homuuculus  zu  verzeihen?  wenn 
anzunehmen  wäre,  dass  etwas  derartiges  im  werke  ist,  so  könnte 
ich  mich  sehr  kurz  fassen,  ich  würde  mich  begnügen  zu  sagen: 
zur  zeit  wo  der  Verfasser  dieses  buch  schrieb,  teuschte  er  sich 
noch  immer  grundsätzlich  und  verhängnisvoll  über  die  natur 
seines  Stoffes;  er  hielt  den  sinn  hai'tnäckig  verschlossen  gegen 
alle  menschlichen  und  stilistischen  werte  in  den  denkmälern;  er 
liel's  sich  infolgedessen  fortgesetzt  von  seinem  Scharfsinn  zu  den 
haltlosesten  folgerungen  hiureifsen,  und  sein  buch  ist,  von  einzel- 
heiten  abgesehen  (Hialli  in  den  Atlamäl  s.  24)  wertlos,  er  würde 
das  verschmerzen  und  auf  den  trümmern  seiner  "Untersuchungen' 
vielleicht  ein  ei-freulicheres  gebäude  aufführen,  aber  ich  muss 
mich  doch  wol  auf  den  fall  einrichten,  dass  B.  noch  heute  seine 
aufstellungen  vertritt  und  gestimmt  ist,  sie  durch  persönliche 
Verdächtigungen  unwürdiger  und  sinnloser  art  (wie  s.  116)  zu 
decken,  diese  Wahrscheinlichkeit  nötigt  mich  leider,  etwas  aus- 
führlicher zu  werden,  vielleicht  ist  aber  auch  feinerstehndeu 
mit  einer  kritischen  beleuchtung  gedient. 

Den  hauptgegeustand  des  bandes  bilden  die  Nibelungenlieder 
der  Edda,  der  verf.  sucht  festzustellen,  welchen  platz  sie  in 
der    von    ihm   angenommenen   entwickluug   der   sage  einnehmen. 

'  s.  das  datum  unten ! 


136  NECKEL   ÜBER   BOER 

er  beginnt  mit  einem  hiernach  orientierten  commentar  zu  den 
Atliliedern,  vornehmlich  der  Atlakvida,  mit  der  er  text- 
kritische experimente  macht,  zb.  nimmt  er  daran  anstoss,  dass 
Atli  nach  Gudruns  grausamer  enthüllung  keine  mafsregeln  gegen 
sie  ergreift  und  in  str.  40  sich  nichts  böses  von  ihr  versieht, 
das  sei  allzu  naiv,  um  ursprünglich  sein  zu  können,  nun  sei 
aber  'die  natürlichste  form  der  räche"  die,  dass  'Gudrun  Atli, 
nicht  dass  sie  seine  kinder  angreift',  also  sei  das  'das  älteste'; 
Str.  35  —  38  seien  jünger I  w^er  so  schliefst,  wer  Gudruns  tat 
'eine  zwecklose  grausamkeit  und  eher  ein  hindernis  als  ein  mittel 
zur  erreichung  ihres  Zweckes'  nennt,  der  hat  den  nerv  des 
ganzen  letzten  teils  der  Akv.  nicht  gefühlt:  Gudrun  Giakaäöttir 
liefndi  broedra  sinna  svä  sem  frcegt  er  ordit.  hon  drap  fyrst 
sonu  Ätla,  en  eptir  drap  hon  Ätla  ok  hrenndi  hglHna  ok  hirffina 
alla.  Gudnin  lässt  ihre  räche  anschwellen,  sie  martert  ihr 
opfer  seelisch  zu  tode,  ehe  sie  es  leiblich  ersticht,  der  rhythmus 
dieser  handlung  könnte  nicht  ungestört  ablaufen,  wenn  Atli  anders 
als  rein  passiv  dargestellt  würde,  das  mag  unrealistisch  sein, 
es  ist  jedenfalls  stärker  stilisiert  als  Niduds  demütigung,  als 
Fr<k1is  feuertod,  auch  als  J^rmunreks  Verstümmelung  und  Fengos 
fall  durch  Hamlet;  aber  das  geht  dichter  und  hörer  nichts  an, 
die  nur  den  triumph  der  rächerin  im  äuge  haben,  wenn  ein 
germanist  das  nicht  einzusehen  vermag,  so  ist  er  poesieblind 
und  sollte  sich  darüber  klar  werden,  dass  heldensagen  und  Edda- 
lieder nicht  das  rechte  object  für  ihn  sind,  ja,  wenn  noch  ^in 
anderes  kriterium  jener  inhaltlichen  reflexion  zur  seite  träte! 
B.  gibt  Vermutungen  darüber,  wie  'der  bericht  von  dem  tode 
von  Attilas  söhnen'  in  die  Akv,  hineingekommen  sei;  aber  er 
wird  nicht  meinen,  damit  den  angenommenen  Vorgang  selbst  zu 
stützen.  —  dies  als  ein  beispiel  für  mehrere!  "ursprünglich 
wurde  die  an  H^gni  zu  vollziehende  strafe  gewis  nicht  von 
Gunnar,  sondern  von  Atli  bestimmt';  'die  phrase  ykvicf  er  hve'l- 
vQgnnm!  haptr  er  ml  i  hQndiim  schliefst  sich  nicht  gut  an  ein 
längeres  gespräch  mit  dem  gefangenen  Gunnar  über  den  schätz, 
sondern  nur  an  Gunnars  gefangennehmung  an';  'obgleich  dieser 
dichter  fortwährend  Gunnars  namen  nennt  .  .  .  ,  ist  er  dadurch 
doch  nicht  interessanter  geworden'  —  solche  kurzsichtigkeiten 
sind  für  das  buch  bezeichnend,  das  letztgenannte  seltsame  mis- 
verständnis  inbetreff  Gunnars  hängt  zusammen  mit  des  verf.  s 
meinung  von  Hagens  ursprünglichem  königtum  (Zs.  47,  128.  133. 
156;  Zs.  f.d.ph.  37,  323:  Günther  'le  mari  de  sa  femme'!).  wäre 
ihm  Zs.  47,  128  die  Atlakvida  (und  auch  der  Waldere,  den  er 
Zs.  f.d.ph.  40  höchst  künstlich  ausdeutet)  würklich  bekannt  ge- 
wesen, so  hätte  er  vielleicht,  statt  sich  um  die  abstracte  formel 
seiner  'Hagensage'  zu  bemühen,  einfach  die  Verbindungslinie  ge- 
zogen zwischen  dem  historischen  königtum  des  Gundicarius  und 
den  beiden  königlichen  auftritten  Akv.  9.  21  ff.,  und  er  brauchte 


UNTEKSUCHIINGEN    ÜBER    DIE    NTBELUNGENSAGE    III  137 

jetzt  nicht,  den  quellen  zum  trotz.  Gunnars  bedingung  als 
'neuerung'  zu  erklären  und  (s.  28)  die  einfachste  und  nächst- 
liegende auftassuug  des  wechseis  der  rollen  als  'absurd'  abzutun 
zu  gunsteu  der  annähme,  dass  die  Atlakvida  auf  das  Nibelungen- 
lied eingewirkt  habe,  dabei  wird  ständig  die  Thidrekssaga 
schwer  in  die  wagschale  gelegt,  genauer  die  beiden  quellen  ihres 
Nibelungenabschnitts,  die  B.  in  seinem  ji.  band  festgestellt  zu 
haben  glaubt,  ich  halte  diese  quellen  für  nicht  sicher  erschlossen 
und  kann  schon  deshalb  einen  teil  von  B.s  folgerungen  nicht 
mitmachen. 

Im  II.  Gudriinliede  findet  B.  eine  sagenform  die  ihm 
hochwillkommen  ist,  nämlich  die  Nibelungensage  ohne  Brynhild. 
das  ist  natürlich  nur  durch  Schlüsse  ex  silentio  möglich,  und  ob- 
gleich der  verf.  anderswo  bedenken  gegen  solche  Schlüsse  äufsert, 
bedient  er  sich  ihrer  hier  in  höchst  bedenklicher  weise,  man 
sieht  aus  allem,  der  andeutende,  springende  stil  der  Eddalieder,  der 
gerade  in  Gudr.  u  sehr  charakteristisch  sich  ausprägt,  ist  ihm 
nie  bewust  geworden,  angesichts  str.  39  behauptet  er,  der  dichter 
kenne  den  brand  von  Atlis  halle  nicht,  es  ligt  aber  auf  der 
band,  dass  die  zukunftskundige  Gudrun  hier  ebenso  eine  nur 
ihr  und  dem  publicum  verständliche  anspielung  im  munde  führt, 
wie  in  str.  10  Hogni.  was  die  angeblich  nicht  vorhandene  Brynhild 
betrifft,  so  bereitet  der  verf.  sich  selbst  eine  gesteigerte  Schwierig- 
keit bei  Str.  27.  wo  Atli  als  sonr  Buöla  und  als  Bninhihlar 
hröSir  eingeführt  wird,  nach  B.  nennt  die  Sprecherin  (Gudrun) 
hier  Atlis  verwantschaft  mit  Brynhild  als  grund,  weshalb  sie 
ihn  nicht  heiraten  könne  —  eine  Interpretation,  deren  ein  Student, 
der  hundert  verse  Stabreimdichtung  gelesen  hat,  sich  schämen 
müste.  aber  sie  ist  eine  eigenste  geistesblüte  unseres  autors, 
der  die  texte  ungefähr  wie  actenmaterial  ansieht,  der  im  einzelnen 
sehr  vieles,  z.  t.  recht  gleichgültiges,  zu  wissen  meint,  im  grolsen 
aber  herzlich  wenig  weil's.  weiter  findet  er  in  str.  27  einen 
Widerspruch  gegen  31.  weil  hier  Gudrun  sich  angeblich  mit 
ihren  brüdern  'solidär'  erklärt,  und  er  tilgt  str.  27.  2&.  dass 
Gudrun  dreimal;  mit  verschiedener  begründung,  erklärt:  'Atli 
will  ich  nicht',  das  ist  ihm  unverdaulich,  mir  ist  gerade  die 
dreiheit  mit  dem  stärksten  trumpf  am  ende  ein  indicium  für  die 
echtheit  des  textes.  aber  auch  wenn  Brynhild  nicht  ausdrücklich 
erwähnt  wäre,  fände  ich  es  indiscutabel.  dass  wir  hier  eine 
Brynhildlose  sageuform  haben  sollten,  denn  eine  solche  sagenform 
widerspricht  allem  was  uns  die  quellen  lehren,  und  ist  durch 
keine  Untersuchungsmethode  erschlielsbar.  —  ein  erwähnenswertes 
beispiel  textkritischer  willkür  ist  noch  die  Verwerfung  von 
Gudr.  n  2  {Svd  var  Sigurdir  .  .  .)  s.  1221  diese  lyrische  lob- 
preisung  störe  den  erzählenden  Zusammenhang,  weil  sie  'absolut' 
sei  und  'mit  der  zeit  nichts  zu  schaffen'  habe,  und  doch  fühlt 
jeder  hörer,  wie  sich  in  dieser  Strophe  die  erinnerung  der  witwe 


138  NECKEL    ÜBER    BOER 

an  die  zeit  ihrer  ehe  ausspricht,  obgleich  auch  ich  annehme, 
dass  der  dichter  sich  "hier  eng-  au  Vorbilder  anlehnt,  tind  ich 
den  Zusammenhang  durchaus  stilgemäfs  und  natürlich,  die 
preisenden  vergleiche  sind  eben,  wenn  man  so  will,  eine  latente 
erzählung,  und  das  zeitlich  fortschreitende  unz  :<,1  schliefst  sich 
zwanglos  an.  nach  B.  weist  es  'unmittelbar  auf  str.  1  zurück', 
also  der  dichter  soll  gesagt  haben:  "ich  lebte  im  eiternhause 
(sprach  Gudrun),  bis  mein  vater  mich  dem  Sigurd  vermäl)lte.  bis 
meine  brüder  mir  den  herrlichen  mann  misgönuten'.  man  denkt 
unbedingt  zunächst  an  satzvariation !  soll  man  nicht  daran 
denken,  so  bleibt  nichts  übi'ig  als  die  annähme,  der  dichter  sei 
der  spräche  nicht  mächtig  gewesen. 

Ein  abschnitt  über  die  Bry nhildpoesie  tindet  seine  an- 
mutige krönung  in  einem  persönlichen  ausfall  gegen  mich,  der 
ich  schon  Zs.  f.  d.  ph.  37  und  39  gewagt  hatte  B.  zu  wider- 
sprechen, wohin  dieser  passus  als  document  humain  gehört, 
lass  ich  unerörtert  (vgl.  Rask  Vejledning  xLin).  zur  sache  be- 
merk ich  folgendes,  quellenkritik  ist  ohne  Stilanalyse  nicht 
möglich;  B.  aber  zeigt  und  zeigte  keine  spuren  davon,  dass  er 
jene  stelle,  inbetreff  deren  ich  von  ausbeutung  gesprochen  hatte, 
stilistisch  zu  wägen  weils.  die  'sehr  zahlreichen  übrigen  stellen' 
sind,  soweit  ich  sehe,  drei  an  der  zahl,  von  diesen  führt  die 
eine  (Zs.  f.  d.  ph.  37,  457)  zum  Brot,  das  der  verf.  der  Thidr.  so 
gut  wie  andere  Eddalieder  gekannt  haben  Avird;  die  zweite 
(aao.  458)  steht  und  fällt  mit  B.s  Zerlegung  von  V^ls.  c.  xxx, 
die  ich  nicht  mitmachen  kann  (Zs.  f.  d.  ph.  39,  311);  die  dritte 
kann  wie  Vols.  c.  xxu  zu  beurteilen  sein,  doch  hab  ich  schon 
früher  (aao.  328,  vgl.  Beitr.  z.  Eddaforschg  231  f.)  B.s  annähme 
bedingt  zugestimmt.  —  die  von  B.  vermisste  parallele  zu  doppelter 
paraphrasierung  in  der  Vols.  glaub  ich  Beitr.  z.  Eddaforschg.  320 
beigebracht  zu  haben. 

Boers  schlusscapitel  handelt  von  Sigrid  en  stiirräda  als  dem 
urbilde  der  Brynhild.  man  hat  bei  dieser  zugleich  breit  und 
notizenhaft  geführten  Untersuchung  den  eindruck:  der  boden, 
aus  dem  des  verf.s  einfall  entsprang,  war  die  Wertung  der 
königssagas  als  ungetrübte  geschichtsquellen.  bei  näherem  zu- 
sehen muste  er  diese  Voraussetzung  stark  einschränken,  und 
darüber  verflüchtigten  sich  selbst  für  ihn  die  auhaltspuncte  fast 
ganz,  das  ergebnis  ist  denn  auch  dürftig  genug,  trotz  der 
kühnsten  Voraussetzungen,  nun  sind  aber  auch  diese  Voraus- 
setzungen keineswegs  stichhaltig,  die  ähnlichkeit  zwischen  Sigrid 
und  Brynhild  ist  nicht  derart,  dass  die  eine  gestalt  als  vorbild 
der  andern  auch  nur  discutabel  wäre,  es  fällt  B.  leicht  zu 
zeigen,  dass  die  Sigridgeschichte  nicht  unter  dem  einfluss  der 
Brynhildsage  ausgestaltet  ist.  er  hätte  dann  den  spiefs  um- 
kehren sollen! 

Folgendes  nennt  B.  eine  "sage' :  'Sigurd  erlöst  Brynhild  vom 


mfTEKSUCHUXGEX    ÜBER    DIK    MHELUNGENSAGE    III  139 

felsen  und  verspricht  ihr  seine  liebe,  darauf  übergibt  er  sie  dem 
Gunnar  und  heiratet  dessen  Schwester,  bald  nachher  tüten 
Gunnar  und  Hogni  Sigurd  wegen  seines  gutes  oder  '"aus  neid", 
was  wol  dasselbe  bedeutet',  das  ist  immer  noch  die  alte  be- 
ti'achtuugs weise,  mit  der  B.  die  sagenstudien  begann,  diese 
seine  Studien  sind  eine  grofse  parodie  des  entwicklungsgedankens 
und  des  grundsatzes,  jede  quelle  nach  ihrem  eigenen  gesichtskreis 
zu  beurteilen,  wer  sich  um  germanische  sagenforschung  be- 
mühen will,  der  zieht  grüfseren  nutzen  aus  einer  guten 
Sammlung  nacherzählter  heldensagen,  als  aus  Boers  'Unter- 
suchungen'. 

Bresku,  februar   1910.  Gustav  »ekel. 


Natursageu.  eine  Sammlung  iiaturdeutender  sagen,  mcärchen,  fabeln 
und  legenden  herausgegeben  von  Oskar  Dähuhardt.  bd.  ii 
Sagen  zum  Xeuen  Testament,  bd.  in  Tiersagen  i  teil  Leipzig, 
Teubner  lfl09.  1910.  xiv  u.  314.     xvi  u.  bbS  ss.  b".  —  8  u.  15  m. 

Schon  das  unübersehbare  litteraturverzeichnis  zu  band  ii 
beweist,  dass  D.  seinem  umsichtigen  fleifs  treu  geblieben  ist. 
nicht  minder  bewährt  sich  die  Sorgfalt  seiner  kritik  und  die 
Übersichtlichkeit  seiner  anordnung.  im  allgemeinen  ist  er  in  der 
annähme  von  entlehnungen  sehr  vorsichtig,  und  ich  muss  deshalb 
besonders  anführen,  dass  er  (ß.  213)  von  der  Unabhängigkeit  der 
Balderlegende  gegenüber  jüdisch-christlichen  legenden  iwie  ich 
doch  noch  immer  glaube,  mit  unrecht)  nicht  überzeugt  ist. 

Weit  übei'wiegend  sind  die  neutestamentlichen  sagen  duich 
historisierung  gewonnen,  d.  h.  eine  schon  vorhandene  sage  Ist  auf 
bekannte  gestalten  und  momente  der  Bibel  übertragen,  die  alte 
Jägererzählung  von  dem  mann,  der  sich  vor  den  griffen  eines 
riesen  unter  dem  schwänz  eines  tieres  versteckt  (Polyphem  und 
Odysseus)  wird  (s.  5ß)  auf  das  Christuskind  angewant;  die  anek- 
doten  von  der  mislungenen  nachahmung  (s.  155fj  —  die  D.  in 
besonders  kunstvoller  anordnung  vorführt  —  auf  Peti'us  als 
nachahmer  Christi,  zuweilen  ist  eine  ganze  reihe  von  histori- 
sierungen nachzuweisen:  die  spinne  webt  (s.  66)  ihr  netz  vor 
der  höhle  Davids — Mahomeds — Christi. 

Einige  sagen  aber  machen  den  eindruck,  als  seien  sie  würk- 
lich  erst  dem  christlichen  anschauungskreis  entsprungen,  zwar  die 
interessanten  legenden  von  der  Verlängerung  des  tagewerks 
(s.  ]4()f)  lassen  sich  mit  dem' stillstand  des  mondes  zu  Ajalon 
vergleichen,  aber  die  schüne  sage  von  dem  raschen  wachsturn 
des  getreides  (s.  6 1  f)  hängt  mit  der  segenspendenden  gegenwart 
heiliger  männer  zusammen,  wie  sie  sich  auch  in  der  Umwandlung 
von  stein  oder  brot  zu  rosen,  in  der  vei'leihung  von  duft  an  die 
Lagerstätte  usw.  kundtut,  die  Mariensagen  vollends  (s.  24  2fJ 
wird  man  überwiegend  als  original  ansprechen  dürfen,  weil  die  ge- 


140  MEYER    ÜUER    ÜÄIIXHAKDT 

stalt  der  klagenden  mutter  Gottes  zwar  schon  viel  früher  begegnet 
(Demeter;  ähnlich  Isis),  aber  ohne  die  weichen  züge  der  Maria, 
wie  nah  auch  die  pflanzensage  von  den  Muttergottesträhnen  (s.  255) 
au  den  Phaethoumythus  von  der  entstehung  des  bornsteins  heran- 
rücken mag.  es  bleibt  doch  ein  cliarakteristischer  unterschied,  der 
bernstein  ist  eine  versteinerte  träline,  die  marienblümchen  aber 
sind  durch  die  Zauberkraft  der  trälinen  Mariae  erweckt:  also  auch 
hier  jenes  motiv  von  der  segensreichen  berührung,  das  man  nach 
seiner  zwar  gröbsten  aber  auch  bekanntesten  gestalt  das  Midas- 
motiv  nennen  mag. 

In  die  mitte  einer  in  vollem  fluss  begriffenen  sagenmenge 
tauchen  die  gestalten  Christi,  der  Maria,  des  Petrus,  und  an 
ilinen  krystallisieren  sich  alte  legenden  Avie  von  Philemon  und 
Baucis  (s.  133),  oder  wie  eine  glatze  entsteht  (s.  172;  ein  'witz' 
—  s.  173  —  ist  es  wol  erst  durch  die  spätere  auffassung  ge- 
worden, freilich  spricht  Wundt  bei  den  ätiologischen  märchen 
überhaupt  gern  davon,  dass  sie  'witzig  erdacht'  seien),  oder 
die  'schöpfungsschwänke'  (s.  I84f),  in  denen  die  lieben  nachbarn 
sich  gegenseitig  die  entstehung  aus  schmutz  und  feuer  nach- 
sagen, werden  zu  den  heiligen  personen  in  ein  bestimmtes  Ver- 
hältnis gebracht,  das  merkwürdigste  ist  wol  die  Übertragung 
des  uralten  mythus  von  der  aufteilung  eines  riesenkörpers  (Ymi, 
Adam)  auf  Judas  (s.  241).  —  nun  aber  würkt  diese  entstehung 
eines  christlichen  sagenschatzes  durch  adaptation  und  adoption 
weiter:  es  entstehn  neue  legenden  wider  von  den  nageln  (s.  214) 
und  den  vögeln  am  kreuz  (s.  228)  oder  der  rose  von  Jericho 
(s.  258).  willkürliche  Verbindungen  zwischen  beiden  typen 
bringen  (zb.  s.  250)  merkwürdige  erzählungeu  hervor,  die  man, 
wären  sie  bei  einem  dichter  überliefert,  als  contaminiert  an- 
sehen müste. 

Diese  üppige  legendenflora  bedeckt  alles,  die  heiligsten  ge- 
stalten wie  die  alltäglichsten  erscheinungen ;  der  Calabreserhut 
fs.  289j  ist  ihr  nicht  zu  gewöhnlich  und  die  flöhe  (s.  Ulf)  ge- 
hören zu  ihren  lieblingen.  der  Zimmermann,  der  bei  der  holz- 
bearbeitung  durch  die  knorren  im  holz  (s.  179)  geärgert  wird, 
tröstet  sich  mit  einer  legende,  die  ihn  zu  heiligen  in  beziehung 
bringt,  und  die  metapher  vom  grünen  des  geschälten  Stabes  treibt 
im  namen  Josephs  (s.  265)  bluten  hervor,  im  mittelpunct  aber 
steht  des  kreuzes  holz  (s.  207)  als  träger  des  grösten  religiösen 
Wunders,  als  Substrat  der  passion  und  symbol  der  menschlichen 
grausamkeit.  und  von  hier  hätte^eine  Charakteristik  der  speciflsch 
christlichen  'natursagen"  wol  auszugehn. 

Ihr  wesen  ligt  natürlich  in  der  moralisierung.  lohn  und 
strafe  (für  die  trägheit  s.  1 10  f  so  gut  wie  für  den  verrat  s.  235  f) 
beseelen  fast  durchweg  die  ursprünglich  viel  objectiver  geraeinten 
legenden;  die  Verbindung  mit  dem  göttlichen  ist  unmittelbar 
zauberhaft,  wie  die  berührung  einer  reliquie,  so  zwar  dass  beides 


NATURSAOEX  II   111  111 

dem  unwürdigen  zum  geiicht  wird,  grade  dadurch  entstelm 
paradoxe  Wendungen:  die  gute  wird  übel  belohnt,  wenn  auch  nur 
auf  erden  (s.  131).  oder  das  mittelglied  ist  ausgefallen,  so  dass 
eine  krüppelhafte  legende  entsteht:  die  Madonna  hat  einer  •tollen 
katze'  einen  stockschlag  über  das  kreuz  versetzt  (s.  2ü2)  -  ur- 
sprünglich doch  gewis  einer  büsen.  ein  rechtes  beispiel  für  den 
gewaltsamen  versuch,  allen  aberglauben  moralisierend  zu  retten, 
ist  (s.  107)  die  'Entstehung  der  Schnecke':  'eine  arme  frau,  die 
während  der  osterfasten  über  mangel  an  nahrung  klagte,  bat 
Christus,  entweder  die  fastenzeit  zu  verkürzen,  oder  ihr  eine 
andere  speise  zu  geben.  Christus,  unwillig  über  das  verlangen, 
spuckte  zur  erde;  aus  dem  Speichel  entstand  die  Schnecke,  die 
die  fastenspeise  der  armen  sein  sollte',  welche  entstellung  des 
bildes  Jesu,  der  über  das  gebet  der  armen  empört  ausspucken 
soll!     aber  die  teleologie  kennt  keine  rücksicliten. 

So  bietet  das  vortreffliche  werk  für  die  populäre  mythologie 
des  Christentums,  für  die  Völkerpsychologie,  für  die  allgemeine 
mythologie  unschätzbaren  Vorrat;  möge  des  verf.s  tagewerk 
fruchtbar   wie   das  der  gastlichen  frau    (s.    141)  fortdauern!    — 

Inzwischen  ist  der  dritte,  stattliche  band  rasch  gefolgt,  und 
ich  darf  in  meinen  lobsprüchen  fortfahren. 

Was  D.  allzu  bescheiden  als  'herausgäbe'  bezeichnet,  ist  in 
würklichkeit  die  denkbar  complicierteste  tätigkeit  des  sammelns, 
sichtens,  ordnens.  die  Schwierigkeit  ist  nirgends  grölser  als  hier 
bei  den  'ätiologisclien"  oder  'explications'-mythen.  denn  diese 
erzählungen  von  dem  strecken  und  eindrücken  der  tiergestalt,  von 
gaben  und  namen  der  geschöpfe.  von  entstehung  des  Ungeziefers, 
vom  Ursprung  der  tierstinimen  werden  nicht  durch  eine  art  tradi- 
tioneller heiligkeit  gewahrt,  wie  die  sagen  zum  Alten  und  Neuen 
Testament,  die  D.  vorher  behandelt  hat;  sondern  viele  von  ihnen 
behalten  selbst  für  die  primitiven  den  Charakter  der  hypothese, 
einige  vielleicht  selbst  den  des  scherzes.  daher  sind  sie  beweg- 
licher, können  vertauscht  und  versetzt  werden,  überhaupt  zeigt 
sich  bei  dieser  sachlichen  Volksetymologie  die  ganze 
gefahr  aller  etymologie:  neben  dem  phantastischen  raten  der 
bann  bestimmter  lieblingsvorstellungen.  insbesondere  moralische 
anwendung  ist  früh  würksam:  die  häufige  empfehlung  der  milde 
(zb.  s.  95)  lässt  vielleicht  einen  schluss  zu  auf  die  entstehung  in 
gewissen  kreisen  ('Spielmannsdichtung',  würde  man  bei  uns 
sagen)  und  die  grausamkeit  etwa  in  der  erzählung  von 
blendungen  (zb.  s.  20  f)  einen  solchen  auf  die  culturelle  atmos- 
phäie,  die  freilich  in  ihrem  grundton  wenig  wechselt. 

Diese  gleichartigkeit  wird  allerdings  wol  nur  auf  der  Ober- 
fläche liegen ;  eine  prüfung  nationaler  Charakteristika  ergibt  viel- 
leicht doch  handhaben  für  Ursprungshypothesen,  daneben  dürfte 
wol  doch  auch  die  würkliche  Volksetymologie  stärker,  als  in  den 
Übersetzungen  sichtbar  wird,  mitgespielt  haben,     denn  in  vielen 


142  MEYER    ÜBER    DÄHNHARDT,    NATÜKSAGEN  H  m 

fällen  ist  ja  an  Wanderung  kaum  zu  zweifeln,  obwol  ich  D.s 
methodischen  grundsatz,  sie  bei  gleichheit  mehrerer  niotive  zu 
postulieren  fs.  vi),  nicht  unterschreiben  kann,  es  gibt  auch  eine 
wahlverwantschat't  der  motive:  verbrechen  und  strafe  sind  ein 
seil  wer  zu  vermeidender  'gedankenreim',  und  eine  gewisse  analogie 
zwischen  der  art  des  Verbrechens  und  der  der  strafe  kann  die 
motive    noch  näher  aneinander  bringen,     dies  nur  ein  einzelfall. 

Anzumerken  ist  ferner,  dass  auch  jedes  wichtigere 
motiv  seine  stileigen  heit  besitzt,  die  gewinnung  des 
feuers  (s.  99)  wird  überall  als  eine  listige,  abenteuerliche  Unter- 
nehmung geschildert,  mit  aller  schelmischen  freude  an  der  über- 
tijlpelung  der  geizigen  urbesitzer,  etwa  wie  die  schwanklitteratur 
des  mittelalters  von  betrogenen  eheleuten  spricht ;  die  Schilderung 
der  'suchenden  tiere'  (s.  272)  dagegen  hat  überall  einen  fast 
pathetischen  ton.  wider  ein  anderes  ethos  haben  die  sagen  von 
freundschaft  und  feindschaft  unter  den  tieren  (s.  321).  die  vügel 
bringen  einen  leicht  spielenden  Charakter  mit  sich,  man  gefällt 
sich  in  farbensj-mbolik  (s.  48u)  und  noch  mehr  als  sonst  in  tier- 
stimmennachahmung  (s.  355f).  wer  kann  von  einem  frosch  in 
derselben  manier  reden  wie  von  einem  adler? 

Auffallend  ist,  wie  die  tiersage  sexuelle  probleme  vermeidet. 
von  dem  liebesieben  der  tiere  weifs  doch  das  Volkslied  und  der 
volkstümliche  schwank  manches  zu  melden ;  auch  die  mj^thologie. 
sollte  die  beobachtung,  die  gestalt,  haltung,  spräche,  nahrung  so 
sorgfältig  studierte,  hier  versagt  haben? 

Die  seltsamsten  erfindungen  setzen  sich  decorativ  an  alle 
Stoffe;  denn  wie  gern  erweitert  wird,  zeigt  die  Indianergeschichte 
(s.  vnfj  höchst  lehrreich,  selten  sind  die  kernmotive  wunderlich, 
wie  die  köstliche  geschichte  vom  fliehenden  pfannkuchen  (s.  272), 
die  wol  auf  uralte  küchenneckereien  zurückgeht,  (als  ich  kind 
war,  erzählte  man  mir  in  Frankfurt  von  einer  geizigen  familie, 
es  wäre  einmal  ein  groser  lärm  entstanden  —  vater,  mutter, 
kinder,    dienstboten  auf  den  treppen:    'halt  sie  —  da  lauft  sie!' 

—  nämlich  eine  vom  tisch  gefallene  kartoffeüj.  wo  dagegen  die 
Symbolik  am  werk  ist,  führt  die  deutung  der  schwarz  und  weilsen 
Vögel  (s.  59)  in  Kärnten  zu  ähnlichen  moralisierungen  wie  im 
eingang  des  Parzival  —  oder  sollte  Wolfram  volkstümliche  predigt- 
märlein  benutzt  haben? 

Motivierungen  werden  nachträglich  eingehängt  (s.  272 — 283) 

—  so  früh  beginnt  die  'gelehrte'  arbeit  an  der  sage!  und  dass 
die  besonders  wichtigen  ortssagen  über  aufenthalt  oder  fehlen 
von  tieren  (s.  21 7  f)  so  ganz  unlitterarisch  scheinen,  gibt  bei  der 
heutigen  neigung,  das  locale  Interesse  und  seine  litterarische  aus- 
münzung für  die  heldensage  zu  überschätzen  (Bedier,  PhABecker) 
wol  auch  eine  beachtenswerte  analogie.  kurz  —  lehrreich  ist 
jede  Seite  —  durch  den  Inhalt  wie  durch  die  Verarbeitung! 

Berlin,  nov.   1909  n.  juni   1910.         Richard  M.  Meyer, 


VOGT    ÜBER    HEIDRICll,    CHRISTNACHTSFEIER  143 

Christuaclitsfeier  und  christiiach tsgesänge  in  der  e  van- 
iieli scheu  kirche  nach  den  acten  der  consistorien  und  den 
Überlieferungen  der  i>-enieiudeu  von  iirof.  R.  Ileidrich.  (iöttiugen, 
Vindenhoeck  u   Rnprcclit  1907.  vi  u.  194  ss.  S".        4,S()  ui. 

Der  Inhalt  des  buches  ist  enger  begrenzt  als  es  der  titel 
vermuten  lässt;  er  beschränkt  sich  im  wesentlichen  auf  die  reste 
der  Christmette  in  den  evangelischen  kirchen  der  östlichen  pro- 
viuzen  des  königreichs  Preufsen.  was  der  verf.  hierüber  mit- 
teilt, ist  das  ergebnis  sorgfältiger  erhebungen  bei  consistorien 
und  gemeinden,  und  so  ist  er  in  der  läge,  aus  167  Ortschaften 
Christnachtslieder  mitzuteilen,  die  dort  nicht  nach  beliebiger  aus- 
wahl  sondern  nach  festem  herkommen  als  einzellieder  oder  wechsel- 
gesänge  beim  nacht-  oder  frühgottesdienst  hauptsächlich  von  der 
Schuljugend  vorgetragen  werden  oder  doch  bis  ins  1 9  jh.  vorgetra- 
gen wurden.  S3  von  ihnen  fanden  sich  in  keiner  der  zu  rate  ge- 
zogenen kirchlichen  oder  nichtkirchlichen  liedersammlungen.  dieser 
ausgäbe,  dem  umfänglichsten  teil  des  buches,  in  dem  auch  die 
Verbreitung  und  teilweise  der  Ursprung  der  einzelnen  lieder  fest- 
gestellt wird,  sind  ausführungen  über  Vortragsweise  und  Über- 
lieferung der  gesänge  sowie  über  die  mit  der  christmette  über- 
haupt verbundenen  gebrauche  vorausgeschickt. 

Die  angegebene  örtliche  begrenzung  seines  materials  lag  nicht 
in  der  absieht  des  Verfassers,  er  hat  seine  anfragen  durch  ganz 
Deutschland  ausgeschickt,  aber  aufserhalb  der  genannten  preu- 
fsischen  provinzen  sind  ihm  keine  oder  nur  ganz  vereinzelte  mit- 
teilungen  zugegangen,  dass  dort  die  sitte  wenig  oder  garnicht 
geübt  und  bekannt  sei,  darf  man  jedoch  daraus  noch  nicht 
schliefsen,  ein  umfassendes  durchforschen  der  vom  verf.  merk- 
würdig selten  herangezogenen  volkskundlichen  litteratur,  besonders 
auch  der  Zeitschriften,  würde  ihn  weiter  geführt  haben,  am 
meisten  befremdet  es,  dass  er  am  königreich  Sachsen  vorbeigegangen 
ist.  da  ihm  doch  dessen  preulsische  nachbarschaft  besonders  reiches 
material  geliefert  hat.  in  den  Mitteilungen  des  Vereins  für 
sächsische  Volkskunde  konnte  er  wichtige  Zeugnisse  finden,  beson- 
ders bd.  2,  s.  268  ff.  302  ff.  in  den  'Beiträgen  zur  geschichte 
der  Christmetten  in  Sachsen",  durch  die  er  auch  auf  handschrift- 
liehe berichte  ehemals  chursächsischer,  jetzt  preulsischer  superin- 
tendenturen  an  das  leipziger  consistorium  über  den  gegenständ 
geführt  worden  wäre.  vgl.  auch  das  erzgebirgische  christraetten- 
spiel  ebenda  bd.  3,  s.  6. 

Bei  eindringlicherem  verfolgen  der  historischen  zusammen- 
hänge würde  gleichfalls  die  betreffende  litteratur  in  ganz  anderm 
umfange  berücksichtigt  werden  müssen,  und  die  beziehungen  zu 
den  entsprechenden  feiern  in  katholischen  kirchen  sowie  zu  den 
weihnachtsspielen  und  den  umzügen  wären  zu  verfolgen,  während 
der  verf.  diese  dinge  nur  gestreift  oder  auch  absichtlich  beiseite 
gelassen  hat.     bei   alledem  bleibt    ihm    das  verdienst,    innerhalb 


144  VOGT    ÜBER    HEIDRICH 

der  bezeichneten  grenzen  wesen,  formen  und  litterarische  erzeug- 
nisse  einer  sehr  beachtenswerten  volkstümlich  kirchlichen  Weih- 
nachtsfeier sorgfältig  festgestellt  und  zugänglich  gemacht  zu 
haben,  für  den  germanisten  scheint  mir  im  anschluss  an  diese 
feststellungen  folgendes  bemerkenswert. 

In  den  evangelischen  christnachtsmetten  hat  sich  stellenweise 
bis  auf  heute  noch  der  gesang  lateinischer  weihnachtslieder  mit  der 
jeder  Strophe  folgenden  deutschen  umdichtung  dem  gebrauche  der 
geistlichen  spiele  des  mittelalters  gemäls  erhalten,  unter  diesen 
lateinischen  liedern  findet  sich  noch  das  als  älteste  begleitung 
des  kindelwiegens  bekannte  resonet  in  laudihiis ,  ferner  dies  est 
laetitiae,  puer  natus  in  Bethlehem,  magmim  nomen  domini  (nunc 
angelorum  gloria)  —  alle  ebenso  wie  das  resonet  auch  im  althessischen 
weihnachtsspiel  vertreten  —  und  vor  allem  das  quem  pastures 
laudavere,  welches  für  den  ganzen  wechselgesang  der  christnacht 
den  namen  quempas  hergegeben  hat.  doch  wurden  die  alten 
gesänge  vielfach  durch  rein  deutsche  ersetzt,  auch  durch  freie 
neudichtungen,  die  sich  dann  statt  ihrer  in  bestimmten  gebieten 
festsetzten,  bis  ins  1 8  jh.  hinab  lässt  sich  die  entstehung  solcher 
in  die  feste  tradition  übergegangenen  lieder  verfolgen. 

Die  eigentlichen  träger  der  tradition  sind  die  schüler,  und 
die  art  wie  sich  unter  ihnen  die  gesänge  fortpflanzen,  entspricht 
der  noch  heute  üblichen  Überlieferung  von  Volksliedern  und  volks- 
schauspielen  wie  auch  der  der  mittelalterlichen  lyrik:  neben  ge- 
dächtnismäfsiger  tradition  geht  schriftliche  aufzeichnung  der  texte 
in  liederheften  einher;  die  melodieen  sind  ganz  der  mündlichen 
Überlieferung  anheimgegeben,  sodass  der  cantor  sie  von  den  schülern 
lernen  muss,  wenn  er  nicht  einheimisch  ist.  erst  in  neuster  zeit 
sind  drucke  mit  noten  eingeführt,  die  sonst  üblichen  'quempas- 
hefte'  erinnern  in  den  schrift-  und  malkünsten,  welche  die  schüler 
im  Wetteifer  an  sie  wendeten,  an  mittelalterliche  briefmalerei,  wie 
sie  auch  bei  poetischen  liebesbriefen  und  Sprüchen  unter  dem 
Volke  noch  fortdauert,  die  typischen  bilder  die  dabei  aus  der 
weihnachtsgeschichte  gewählt  werden,  sind,  wenn  nicht  letzte  aus- 
läufer  von  scenen  der  weihnachtsspiele,  so  doch  wenigstens  Zeug- 
nisse für  das  bedürfnis  nach  sichtbarer  darstellung  des  Inhaltes  der 
gesänge.  —  im  übrigen  zeigen  sich  berührungen  mit  den  alten 
spielen  in  den  Umzügen,  der  rollenverteilung  und  der  costümierung 
der  Sänger,  die  feier  wurde  gewöhnlich  durch  eine  processiou  von 
Schülern  eröffnet,  die  in  bestimmter  kleidung,  lichter  in  der  band, 
unier  dem  gesang  eines  weihnachtsliedes,  meist  des  puer  natus, 
aus  der  schule  in  die  kirche  zogen,  in  einem  weiteren  umzug, 
der  hier  um  den  altar  unter  dem  gesang  des  resonet  erfolgt,  ist 
leicht  ein  rest  des  kindelwiegens  zu  erkennen,  dann  kommt  das 
eigentliche  quempas,  der  wechselgesang  der  an  ganz  verschiedene 
stellen  der  kirche  verteilten  einzelgruppen  des  schülerchors,  dessen 
älteste  bestandteile  die  Strophe  um  Strophe  wechselnd  gesungenen 


CHRISTNACHTSFEIER    UXD    CHRISTNACHTSGESÄNGE  145 

lieder  qiiem  pastores  und  nunc  angelorum  t/loria  bildeten,  costü- 
mierung  solcher  gruppen  als  engel  und  als  hirten  deutet  auf  die 
dramatischen  feiern  zurück,  in  der  beherschung  der  christmette 
durch  .die  schaler,  die  dabei  stellenweise  sogar  die  kaiizel  betreten 
dürfen  (vgl.  auch  Mitt.  d.  Ver.  f.  sächs.  volksk.  2,  3u;-ij,  darf  mau 
wol  noch  eine  nachwirkung  ihrer  mittelalterlichen  weihnachts- 
privilegien  sehen.  Zusammenhang  mit  den  volkstümlichen  Um- 
zügen und  deren  natursymbolischem  hintergrund  lassen  wol  die 
weil'sen  bebänderten  gewänder  und  die  grünen  oder  bluraenkränze 
der  von  der  schule  zur  kirche  ziehenden  knaben  sowie  die  dar- 
stellung  von  sonne,  mond  und  Sternen  in  der  kirche  erkennen 
(Heidrich  s.    19  und  meine  Schlesischen  weihnachtsspiele  s.  107  ff). 

Dem  aufserkirchlichen  fortleben  von  christnachtsbräuchen  und 
liedern  ist  verf.  nicht  nachgegangen,  soweit  sie  nicht  mit  den 
übrigens  weit  über  die  behandelten  gebiete  hinaus  nachweisbaren 
einläutegebräuchen  zusammenhängen,  ich  möchte  aus  meiner 
neuvorpomraerschen  heimat,  die  in  den  Sammlungen  des  verf. 
nicht  vertreten  ist  und  aus  der  auch  mir  kein  quempas-zeugnis 
bekannt  ist,  den  einzigen  kleinen  rest  der  alten  dramatisch-litur- 
gischen Weihnachtsfeier  beisteuern,  den  ich  aufzutreiben  wüste, 
einen  letzten  nachklang  des  kindelwiegens.  als  meine  Schwester 
in  den'  Schlesischen  weihnachtsspielen'  auf  das  ^Joseph  lieber  Joseph 
mein,  hilf  mir  iciegen  das  kindelein',  ^tvie  soll  ich  denn  das 
kendla  wieja'  —  Stiels,  erinnerte  sie  sich,  dass  mich  mein  kinder- 
mädchen  einst  mit  folgendem  liedchen  in  schlaf  gesungen  hatte: 

^Süse  leiive  hrfise,  wo  tveiet  de   Wind! 

klimm  her,  min  oll  Grisvadding,  und  toeig  mi  dat  Kind'. 

„Wo  sull  ik  dat  denn  iveigen? 

dat  is  jo  nich  mm  eigen. 

süs  wull  ik  dat  wol  weigen, 

dat  Köpping  sull  em  fleigen". 

Marburg    17.  sept.   1909,  F.  Vogt. 


Die  deutschen  berg-,  flur-  und  ortsnameu  des  alpinen 
Hier-,  Lech-  und  Sanneugebietes,  gesammelt  und  erklärt 
von  dr.  August  Kubier,  herausgegeben  mit  Unterstützung  des 
deutscheu  und  österreichischen  Alpenvereins.  Amberg  1909. 
Pustetsche  buchbandlung  fHans  Mayr)  in  comm.  viii  u.  213  ss. 
lex.  8".  —  10  m. 

Für  die  fleifsige  sammelarbeit  verdient  K.  dank,  umsomehr 
weil  er  es  sich  angelegen  sein  liefs,  die  mit  hilfe  der  karten  aus 
der  mda.  gesammelten  naraen  durch  heranziehung  älterer  quellen 
zu  ergänzen:  er  schätzt  die  anzahl  der  nameu  auf  etwa  15  000; 
und  weil  er  sich  auch  beniülit  hat,  die  mda.liche  ausspräche  fest- 
zustellen und  verständlich  widerzugeben,  kann  das  buch  als  nütz- 
licher beitrag  zur  ortsnamenforschung  bezeichnet  werden,  in 
A.  F.  D.  A.     XXXIV.  10 


146  SCHATZ    ÜBKR    KÜBLER 

drei  alphabetischen  gruppen  sind  die  namen  vorgelegt,  die  erste 
ordnet  mit  1060  nummern  'namen,  die  ans  appellativen  hervor- 
gingen', die  zweite  mit  382  'namen,  die  ans  personennamen  her- 
vorgingen', die  dritte  mit  lii"25  'dunklere  namen  und  nachtrag'. 
in  der  einleitung  werden  die  i-omanischcn  namen  zusammengestellt. 
das  gebiet  dem  die  namen  entnommen  sind,  erstreckt  sich  über 
das  Algäu  bis  Immenstadt,  östlich  bis  Pfronten  und  Füssen;  von 
Nordwesttirol  ist  das  Lechtal  mit  Heiterwang,  Biechlbach  und 
Berwang  herangezogen,  dann  das  Paznaun  und  das  Stanzertal 
bis  Grins-Pians,  —  im  ganzen  69  gemeinden,  von  welchen  25 
zu  Bayern  gehören,  'in  sprachlicher  hinsieht  haben  wir  es  hier 
mit  den,  soweit  die  alpen  reichen,  am  weitesten  nach  osten 
vorgeschobenen  alemannisch-schwäbischen  mundarten  zu  tun,  die 
hier,  an  bayrisches  Sprachgebiet  stolsend,  teilweise  schon  zahl- 
reiche bayrische  eigentümlichkeiten  in  sicli  aufgenommen  haben' 
s.  2.  dies  befremdliche  urteil  hat  K.  nicht  begründet,  er  sagt 
nur,  dass  das  schwäbisch-alemannische  früher  weiter  nach  osten 
gereicht  zu  haben  scheint. 

Auf  fragen  der  besiedelungsgeschichte  lässt  sich  K.  gar 
nicht  ein,  nicht  einmal  der  Verbreitung  der  roman.  namen  wird 
gröfsere  beachtung  zu  teil,  aus  der  tatsache  dass  die  roman. 
namen  im  Hier-  und  Lechgebiet  völlig  fehlen,  hat  bereits 
Christian  Schneller  (Zs.  des  Ferd.  Innsbruck  1877)  den  schluss 
gezogen,  das  tirol.  Lechtal  sei  erst  durch  deutsche  ansiedier 
urbar  gemacht  worden,  roman.  Ortsnamen  sind  im  Inn-  und 
Stanzertal  häutig,  sie  reichen  auch  noch  in  das  flussgebiet  des 
Lechs  über  den  gebirgskamm  hinüber,  der  das  Inn-  und  Lech- 
gebiet scheidet;  sie  reichen  aber  nur  so  weit,  so  weit  heute  noch 
der  weidebesitz  der  alten  gemeinden  Tarrenz,  Imst,  Zams, 
Grins  usw'.  reicht  oder  doch  nachweisbar  ist:  Kaisers  gehört 
heute  noch  politisch  nach  Landeck,  Gramais,  Bschlabs  nach  Imst, 
diese  namen  geben  die  nordgrenze  für  die  ausdehnung  des 
roman.  bezw.  nichtdeutschen  dementes  vor  der  ausbreitung  des 
deutschen,  war  also  das  Lechtal  neuland,  so  muss  sich  doch 
aus  der  spräche  ergeben,  woher  die  bewohner  gekommen  sind, 
weil  nun  die  spräche  des  Lechtals  von  Steg  bis  Forchach  in 
den  wesentlichen  puncten  zu  der  des  Oberinntals  stimmt,  muss 
die  besiedelung  vom  Oberinntal  aus  erfolgt  sein,  die  merkwürdige 
angäbe  bei  K.,  das  Lechtal  spreche  von  Forchach  bis  Kaisers 
ua  für  ahd.  ei,  ist  doch  w^ol  nur  ein  lapsus:  ei  ist  überall  durch 
Qci  (vor  nasalen  durch  üä)  vertreten,  dagegen  hat  das  obere 
Lechtal  von  Häselgehr-Gramais  bis  Steg-Kaisers  für  altes  ö  und 
für  or  den  diphthong  na  statt  dem  allgemeinen  ^a\ 

'  Ich  berichtige  hier  ein  versehen:  in  meiner  Tirol,  mda.  soll  es 
s.  27  z.  2  heifsen  'bis  Steg'  statt  'bis  Forchach' :  auf  der  karte  ist  die 
linie  richtig  gezogen,  dies  versehen  ist  aber  an  K.s  irrtum  nicht  schuld, 
um  die  lautlehre  der  tirol.  mda.  hat  er  sich  nicht  gekümmert. 


OKTSNAMEX    DES    IMJOR-    UND    LECHGEBIKTES  147 

Ebenso  wenig  findet  sich  über  die  Verbreitung  einzelner 
namen  etwas  gesagt;  man  kann  sich  aus  den  belegen  zusammen- 
suchen, dass  zb.  gund,  hahlc  nur  dem  alera.-schwäb.  gebiet  an- 
gehört, dem  bair.  völlig  fehlt,  die  viel  berufene  Wortgeographie 
hätte  hier  greifbare  anhaltspuncte,  wenn  dergleichen  von  K. 
herausgehoben  wäre,  aber  den  problenien  der  sprach-  und  be- 
siedelungsgeschichte  ist  K.  überhaupt  nicht  näher  getreten,  ob- 
wol  dei-  boden  auf  dem  er  arbeitet  dafür  ungewöhnlich  günstig 
ist.  wir  haben  da  deutsche  namen  über  romau.  (auch  die  roman. 
können  noch  anderssprachliche  Vorgänger  haben,  vgl.  FStolz,  Die 
Urbevölkerung  Tirols,  Innsbruck  1892,  AWalde,  Über  .  .  tirol. 
Ortsnamenforschung,  Innsbruck  1901)  ausgebreitet  und  von 
Deutschen  frisch  besiedelte  gebiete. 

Die  lebende  mda.  ist  mit  den  drei  zweigen,  bair.,  alem. 
und  Schwab,  vertreten,  zum  alem.  kommt  noch  die  Walser  siedelung. 
die  wege,  auf  welchen  die  deutsche  spräche  hieher  gekommen 
ist,  sind  klar  und  einfach,  das  alem.  ist  von  westen  her  bis 
zur  landesgrenze  zwischen  Vorarlberg  und  Tirol  vorgedrungen 
und  hat  im  Illtal,  im  Montavon  und  Klostertal  das  roman. 
unterdrückt,  im  Bregenzerwald  und  Tannberg  (Lech,  Wart) 
finden  sich  nur  deutsche  namen,  ebenso  im  obersten  Illergebiet, 
also  waren  diese  gegenden  früher  unbesiedelt;  dies  gilt  auch  für 
das  Tannheimer  und  Reuttener  gebiet,  in  dem  schwäb.  ge- 
sprochen wird,  das  schwäb.  hat  hier  den  Lech  überschritten, 
und  ihm  gehören  auch  die  orte  bis  zum  Fernpass  an  (Biechel- 
bach,  Leermos,  Ehrwald,  Biberwier).  das  bair.  ist  im  Inntal 
nach  Westen  bis  zur  tirolischen  westgrenze  vorgerückt,  es  hat 
hier  überall  eine  fremdsprachige  bevölkerung  in  sich  aufgesogen, 
deren  besitzverhältnisse  übernommen  Avorden  sind;  sonst  wäre 
die  besiedelung  des  Lechtals  von  Forchach  bis  Steg  vom  Ober- 
inntal aus  nicht  zu  verstehn.  in  Vorarlberg  ist  wie  im  Vinsch- 
gau  in  Tirol  die  vordeutsche  bevölkerung  noch  in  geschichtlicher 
zeit  erweislich,  im  Oberinntal,  dessen  älteste  geschichte  sich 
durch  Zeugnisse  nicht  erhellen  läfst,  muss  der  gleiche  Vorgang 
stattgefunden  haben,  das  geben  die  zahlreichen  nichtdeutschen 
Ortsnamen  an  die  band,  die  wir  z.  t.  in  Vorarlberg  und  Grau- 
bünden widerfinden,  die  Vorarlberger  in  alter  form  erhalten,  die 
tirolischen  nach  den  lautgesetzen  geändert,  die  sich  in  der  mda. 
am  ererbten  sprachgut  zeigen. 

W^enn  einmal  die  roman.  namen  dieser  gegend  in  ihren 
lautverhältnissen  klargelegt  sind,  dann  wird  auch  über  die  jetzt 
in  deutschem  munde  lebenden  fremden  namen  licht  verbreitet 
werden,  ich  will  hier  nur  einen  punct  berühren,  die  grenze 
zwischen  Tirol  und  Vorarlberg  ist  die  lautgrenze  zwischen 
diphthongischem  ai,  au,  und  monophthongischem  i,  m,  ü;  das 
spiegelt  sich  in  den  Ortsnamen  wider,  heilst  es  in  Vorarlberg 
wie  im  roman.   Gavalina,  Flatina,  Älpila,  so  entspricht  in  Tirol 

10' 


148  SCHATZ    ÜBER    KÜBLER 

Ggflai,  Plgta'i,  OlpailK  der  name  des  tales  Paznaun  ist  als 
Patzenun  belegt,  Serfaus  und  Nnuderti  im  Oberinntal,  Graun, 
Tau  fers,  Burgeis,  Schleis  im  Obervinschgau  als  Serfüs,  Nüders, 
Grün,  Tüvers,  Burgüs,  Slius.  diese  diphthongierungen  sind  er- 
gebnisse  der  bair.  sprachentwickelung,  die  beispiele  lassen  sich 
mehren,  und  wenn  jemand  im  ernst  wider  einmal  behaupten 
will,  dass  in  Westtirol  alem.  oder  schwäb.  gesprochen  werde,  so 
möge  er  sich  mit  solchen  tatsachen  auseinander  setzen;  denn 
wenn  die  bair.  ai,  au  in  Westtirol  nicht  autochthon  wären,  wie 
liefse  sich  der  bair.  diphthong  in  den  fremden  namen  erklären? 
sollten  sich  sichere  l,  ü  in  roman.  namen  Westtirols  linden,  so 
bedenke  man,  dass  die  roman.  bevölkerung  in  manchen  gegenden 
dichter  sass  und  zb.  im  Paznaun  die  roman.  Ortschaft  Galtür 
von  alem.  sprechenden  Siedlern  aus  dem  Prättigau  bezogen  wurde, 
deren  spräche  erst  vor  kurzem  durch  das  talaufwärts  dringende 
bair.  verdrängt  worden  ist. 

Von  den  heute  als  deutsch  geltenden  sachnamen  sind  mehrere 
von  der  vordeutschen  bevölkerung  übernommen,  man  sähe  sie  in 
dieser  arbeit  gerne  zusammengestellt;  das  wort  alpe,  albe  (glm 
aus  allm,  alben),  das  heute  im  gesammteu  Alpengebiet  für  Weide- 
land im  gebirge  vorkommt,  kann  nur  durch  die  vergleichung 
mit  andern  ausdrücken  für  die  alpenwirtschaft  in  seiner  ge- 
schichte  klar  gestellt  werden,  zu  dieser  gruppe  würde  ich  das 
wort  j^lciis,  plaisd  fem.  stellen,  das  K.  s.  31  Blaiss  schreibt;  die 
inlautformen  haben  nur  lenis  s,  dem  entspricht  im  Tannberg 
Mise,  K.  kennt  im  Algäu  Blissa,  er  hält  es  für  deutsch,  ohne 
eine  erklärung  zu  bieten,  ganz  Westtirol  kennt  das  wort,  das 
ich  als  roman.  im  namen  Blisadöna  im  vorarlbergischen  Kloster- 
tal suche,  er  bedeutet  'Pleisenalpe',  preise  (diese  form  sollten 
die  karten  anwenden,  die  so  ziemlich  alle  möglichen  Schreibungen 
aufweisen)  ist  ein  grashang  im  hochgebirge,  -dona  muss  eine 
bezeichnung  für  alpenweide  sein,  für  alpe  überhaupt:  in 
Vorarlberg  noch  Schadona,  Radona,  Gamperdona,  Stafeldona,  in 
der  Schweiz  südw.  von  Pfäffers  Sardona,  in  Tirol  Maldon 
-mgldöü  bei  Imst  und  das  beweisende  Tarredon-tgrrddöü, 
die  zu  Tarrenz  -  tgrts  {s  ist  roman.  pluralendung,  vgl.  tgrtdr 
einer  von  Tarrenz)  gehörende  alpe.  mit  diesem  -dona  ist  nun 
auch  der  name  Thanella  bei  Berwang  klar  zu  legen,  er  bedeutet 
'die  kleine  alpe'  und  ist  ein  roman.  diminutiv.  K.  verzeichnet 
den  namen  s.  168,  weifs  aber  nichts  rechtes  anzufangen.  Thanella 
gehört  mit  den  namen  Rais'^,  Keimen,  Namlos  zu  den  nördlichen 
grenzorten  des  roman.  gebietes.     K.s  Sassltöu  hat  ebenfalls  -dona. 

•  es  sind  fem.,  in  Vorarlberg  südlich  von  Bludenz,  in  Tirol  nördlich 
von  Imst  (Gaflein,  Platein,  Alpeil i. 

^  K,  s.  97  stellt  Rats  zu  'rat'  =  magistrat,  aber  diese  alpe  gehörte 
in  alter  zeit  nach  Imst  und  ihr  name  ist  sicher  nicht  deutsch. 


ORTSNAMEN    DES    lI,rj:R-    UND    LECHGEBIETES  149 

Auf  solche  art  kann  man  zu  lautlich  unanfechtbaren  er- 
klärungen  dunkler  namen  kommen;  freilich  darf  man  nur  schritt 
für  schritt  vorgehn  und  hat  sorgfältig  auf  die  lautgesetze  der 
mda.  zu  achten,  das  tut  K.  zu  wenig,  er  verzeichnet  zb.  Blfang 
s.  26  ^  ahd.  pifang  mit  kurzem  /;  unter  den  belegen  erscheint 
aber  auch  Baifi  i.,  das  hier  unmöglich  untergebracht  werden 
kann,  allerdings  scheint  K.  stillschweigend  1  und  /  gleich  zu 
werten,  wie  er  auch  Schindle  im  Stanzertal  s.  lüS  unbedenklich 
zu  mhd.  schinne  'scheune'  (im  Algäu  schimh')  stellt,  anstatt  das 
einzig  mögliche  'schindel'  für  'dünne  Steinplatte"  anzusetzen, 
solche  fehler  ergeben  sich  aus  der  annähme,  dass  die  alem.-schwäb. 
mda.  durch  die  bair.  verdrängt  werde;  da  müsten  natürlich 
mischungen  doppelter  lautentwickelungen  vorkommen,  der  name 
des  tirol.  dorfes  Biechlbach  wird  zu  bühel  gestellt,  obwol  die 
lautform  Biachlbach  (K.  s.  36)  mit  diphth.  ia,  b  und  fortis  ch 
nur  auf  eine  ableitung  von  huoche  buche  schlieCsen  läfst.  zu 
grissd  im  Stauzertal  ist  s.  146  der  urkundliche  beleg  Griess  bei 
Biechelbach  v.  j.  1427  genannt  —  i  und  ie!  Schimmel  ist 
s.  108  als  weil'ses  pferd  erklärt,  aber  die  mda.  hat  diesen  aus- 
druck  für  verdorrtes  langes  gras,  das  zumal  nach  der  Schnee- 
schmelze sehr  licht  gefärbt  ist.  zu  Ried  führt  K.  s.  99  nur  die 
bedeutung  sumpf  an  (mit  sumpfgras  bewachsener  boden),  scheint 
also  ried  rodung  gar  nicht  zu  kennen,  auf  das  ihn  doch  Schmeller 
II  60  hätte  aufmerksam  machen  können,  ganz  abgesehen  davon, 
dass  unter  seinen  namen  wol  keiner  auf  das  alte  hreof  zurück- 
geht. —  die  gedruckten  weistümer  Tirols  scheint  K.  nicht 
benützt  zu  haben,  es  ergeben  sich  aus  ihnen  nachtrage  zur 
namensammlung,  ebenso  aus  der  Alpenvereinskarte  der  Algäuer 
und  Lechtaler  alpen  (1906  und  1907). 

In  den  einleitenden  bemerkungen  sucht  K.  auch  die  Suffixe 
seiner  namen  auszusondern,  nicht  immer  mit  erfolg,  so  wenn  zb. 
s.  14  hirchig  und  plattig  als  adj.  auf  -ig  erklärt  werden;  es 
sind  coli,  auf  -ach,  mda. -lieh  im  Lechtal  -ig,  im  Stanzertal  -/. 
ich  kann  nicht  zustimmen,  wenn  hier  und  s.  88  der  name  Medrige 
im  Paznaun  vom  plur.  'mähder'  -j-  adj.  -ig  abgeleitet  wird;  ebenso 
wie  in  Battri  im  Paznaun,  das  K.  s.  162  zum  personennamen 
ahd.  Paturih  stellt;  diese  beiden  namen  haben  ein  auffallendes 
Seitenstück  in  den  alpenuamen  Fairiol,  Medriol  nördlich  von 
Zams,  deren  roman.  Charakter  deutlich  ist.  hat  man  nun  im 
Paznaun  die  roman.  grundworte  patr-,  medr-  noch  verstanden 
und  mit  dem  deutschen  coll.-suffix  -ach  versehen?  überhaupt 
müste  die  annähme  K.s,  dass  adj.  allein  zu  ortsnameii  geworden 
sind,  erst  erwiesen  werden,  es  ligt  auf  der  band,  dass  in  den 
namen  Brunniger  alpili.  Durriger  hlaisse  s.  1 4  die  coli,  hrunnach, 
durrach  stecken  (wie  etwa  in  hd.  Steinach-er,  was  zur  örtlichkeit 
Steinach  gehört)  und  nicht  adj.  auf  -ig.  Talliger  s.  38  ist  täl 
teil  und  liger  lagerplatz,  nicht  aber  tali  tälchen  mit  sufi.  -ig-er. 


150  V.   GRIENBEBGER    ÜBER    SOCIN 

So  lässt  diese  arbeit  gar  manches  zu  wünschen  übrig,  wenn 
man  auch  bei  der  benützung  dem  sammelfleifse  K.s  alle  an- 
erkennung  zollt.  J.  Schatz. 


Mittelhochdeutsches  n amenbuch  nach  oberrheinischen  quellen 
des  12ten  und  13ten  Jahrhunderts  von  Adolf  Soein.  Basel, 
Helbiug  und  Lichtenhahn  1903.  xvi  u.  7S7  ss.  lex.  8".  — .40  m. 

Der  titel  dieses  werkes,  in  dem  eine  erstaunliche  menge 
von  Stoff  zusammengetragen  und  behandelt  ist  —  der  index 
weist  27.855  namenformen  nach  • —  liefse  nur  auf  eine  lexi- 
kalische, allenfalls  nach  compositionsteilen  geordnete  Sammlung 
von  Personennamen  des  12  und  13  Jahrhunderts  schliefsen.  man 
wäre  zu  der  annähme  versucht  in  ihm  einer  fortsetzung  des 
Förstemannschen  namenbuches  zu  begegnen,  die  nur  dort,  d.  i. 
mit  dem  jähre  1100  anhöbe,  wo  dieser  abgebrochen  hatte,  aber 
weder  die  beschaffenheit  des  bearbeiteten  Stoffes,  noch  die  tat- 
sächliche einrichtung  die  Socin  seinem  buche  gegeben,  entspräche 
dieser  nicht  zureichenden  Voraussetzung,  denn  der  verf.  hat  aufser 
den  Personennamen  der  bezeichneten  zeit  und  quellen  auch  die 
familiennamen  nach  bestimmten  gesichtspuncten  gruppiert  und  in 
den  einleitenden  worten,  sowie  in  den  erörterungen  am  fufse 
der  naraenlisten,  ferner  in  einer  reihe  besonderer  capitel,  viel- 
fach an  der  band  älteren  materials,  so  ziemlich  die  gesamte 
theorie  der  german.  persönlichen  namenkunde  in  den  bereich 
seiner  ausführungen  gezogen. 

Ist  aber  auch  das  werk  weit  mehr  als  ein  blofses  namen- 
buch,  so  ist  es  doch  wieder  kein  lehrgebäude  mit  strenger 
gliederung  des  Stoffes  und  paragraphischer  anordnung,  d.  h.  es 
ist  ihm  nicht  eigentlich  die  theorie,  sondern  der  stoff  die  haupt- 
sache;  nicht  lehrsätze  werden  in  ihm  mit  beispielen  belegt, 
sondern  eben  diese  durch  abgezogene  lehrsätze  erläutert,  zur 
auftindung  der  grammatischen  feststellungen  dient  ein  be- 
sonderer index. 

Wie  sehr  die  Stoffsammlungen  den  begleitenden  text  über- 
wiegen, zeigt  eine  orientierende  durchzählung.  auf  691  selten 
entfallen  an  alphabetisch  geführten  namenlisten  405  selten,  d.  i. 
etwa  59  0(,,  wobei  doch  die  kleineren  oder  nichtalphabetischen 
Verzeichnisse  ausser  berechnung  gelassen  sind. 

Das  werk  ist  so  umfangreich  und  so  schwer  an  gehalt, 
dass  sich  eine  ins  einzelne  gehende  recension  von  selbst  ver- 
bietet, der  berichterstatter  muss  sich  von  vornherein  der  ent- 
schuldigung  versichern,  dass  er  seinem  auftrage  mehr  durch  auf- 
zählung  des  Inhaltes,  als  durch  handhabung  der  kritischen  sonde 
zu  genügen  vermag. 

Sammlungen  von  personennamen  im  engeren  sinne,  d.  i. 
einzelnamen  aus  dem  erbe  des  germanischen  namenschatzes  ent- 


IVnTTELHOCHDEUTSCHES    NAMENBUCH  151 

hält  das  capitel  1:  'Deutsche  taufnamen  des  12  uud  13  jhs.*, 
in  gesonderten  reihen  männliche  und  weibliche,  ferner  der  anhang 
zu  cap.  5:  'Deutsche  vornamen  des  12  jhs.  nach  dem  Rotulus 
Sanpetrinus'.  männliche  und  weibliche  taufnamen  fremder,  d.  i. 
latein.,  griech.,  romanischer,  biblischer  herkunft  verzeichnet  das 
cap.  2,  in  dem  anschliefsend  an  Jacob  Grimms,  Mones  und 
Müllenhoffs  nachweise  die  Übertragung-  von  personennamen 
aus  der  german.  volkssage  und  der  mhd.  epischen  litteratur 
illustriert  wird. 

Eine  angelegenheit  der  vornamen  ist  auch  das  in  cap.  4 
behandelte  vorkommen  des  identischen  namens  bei  brüdern:  de 
Buhele  Burchart  .  .  .  Burchart  jratres  1135,  sowie  die  seit  dem 
1 3  jh.  auftretende  sitte  der  beilegung  mehrerer  taufnamen  für 
^in  Individuum:  Cnnradus  Bertoldus  de  Gättcnl)urch  noJjilis  1275, 
auch  zusammengezogen  Chunradbcrtoldus  1276  wie  Hugdietrich 
und    Wolfdietrich  der  german.  heldensage. 

Den  Übergang  zu  den  familiennamen  vermittelt  das  Ver- 
zeichnis cap.  6:  'Altgermanische  namen  sowie  sonstige  taufnamen 
als  einzelnamen  fortgepflanzt  oder  als  familiennamen  gebraucht', 
das  allerdings  keinen  einheitlichen  eindruck  macht,  denn  es  sind 
in  ihm  personennamen  verschiedener  art  und  verschiedenen 
grammatischen  Verhaltens:  zvveistämmige  composita  Madilger, 
Wernher  dictus  Meingos,  patronymische  genitive  Heinriciis  dictiis 
Arnolz,  kurzformen  Slnzo,  Wilhelmus  Atze-,  deminutiva  Mencelin, 
Zepellinus,  Johannes  Becellinus,  beinamen  Stolle  (ahd.  stollo  'basis, 
gradus'),  Rudolf  Isenhart  u.  a.  zusammengetragen,  nach  der 
übersclirift  des  capitels  müste  man  aber  nur  die  primären  namen 
des  gemeingermau.  Vorrates  und  ihre  derivate,  sowie  die  quali- 
tativ gleichzuhaltenden  taufnamen  fremden  Ursprunges  Mertin, 
Quirinus,  Stephan  erwarten,  wozu  man  ja  sicherlich  auch  die 
adjectivische  /sc/i-ableitung  aus  Peter  :  Peters\ch]a  ziehen  kann, 
doch  nicht  secundäre  namen  wie  Colbo,  Nabo,  Nase,  Strübo, 
Hurreboldns  (ahd.  kolho  'clava,  fustis'.  naba  'modiolus',  mhd. 
strübc  'starrend'  vom  haar  gesagt,  mhd.  hurren). 

Gleichfalls  als  ausgangspunct  späterer  familiennamen  sind 
die  genitivischen  namen,  mit  dem  worte  sun  verbunden  oder 
elliptisch  gebraucht  zu  betracliten,  die  an  die  stelle  der  älteren 
patronymischen  ableitungen  mit  suftix  -ia  oder  -inga  ge- 
treten sind. 

Sehr  zahlreich  ist  die  reihe  der  Übernamen  cap.  1 9,  seltener 
allein  stehend  wie  Diirrevinger,  [quidam]  dictus  Egel,  dictus 
gekke,  Crumbo  carnifex  (mhd,  egel,  g'ec.ke,  krump),  zumeist  in 
Verbindung  mit  dem  primären  namen  Odalric  Chastelose  (mhd. 
käste  'kornhaus'),  Walter  Groshoubet,  Welti  Eephun  über- 
liefert, s.  454 — 7  sind  diese  beinamen  nach  sachlichen  gesichts- 
puncten  geordnet. 

Über  die  frage,   ob  ein  Übername  als  individueller  oder  als 


152  V.    GRIENBEEGEK    ÜBE    SOCIN 

festgewordener  familieimame  anzuseilen  sei,  äussert  sieb  Socin 
s.  425  iu  dem  sinne,  dass  bei  den  Übernamen  des  12  bis  13  jbs. 
die  erbliclikeit  als  regel,  die  bezieliung  auf  ein  einziges  indi- 
viduum  als  ausnabme  zu  betrachten  sei.  nun  ist  ja  sicherlich 
dort  wo  mehrere  individuen  mit  gleichem  beinamen  erweisbar 
sind,  die  function  dieses  als  familienname  unzweifelliaft.  aus 
den  belegen  Socins  ergeben  sich  deutlich  die  familien  Esterlin, 
Geilf'us,  Grave,  Manezzo.  licJin,  Biso,  Unmus  u.  a.  —  wo  aber 
nur  ein  träger  des  Übernamens  bekannt  ist,  kann  man  selbst- 
verständlich nicht  wissen,  ob  dieser  erst  ihm  oder  schon  seinem 
vater  oder  grofsvater  zugelegt  w^orden,  ob  er  mit  ihm  erloschen 
oder  auf  allfällige  nachkommen  übertragen  worden  sei.  nur 
selten,  wie  in  dem  falle,  canonicus  Henricns  Episcopohis  wird 
man  aus  dem  namen  selbst  vermuten  dürfen,  dass  er  individuell 
gewesen  nnd  geblieben  sei. 

Dass  eognatus  in  der  Verbindung  BerclüoJdiis  coc/natus  Senf- 
telini  1275  Übername  sei,  ist  nicht  zuzugeben;  Socin  ist  ja  an 
anderer  stelle  s.  582  keineswegs  dieser  meinung.  die  combination 
frater  Jo.  de  Vrienisperc  preshyter  dictus  eognatus  1295  ge- 
währt kein  analogon  für  die  vorhergehende. 

Diesen  Übernamen,  im  Verzeichnis  Socins  selbst  schon  zum 
nicht  geringen  teile  familiennamen,  schlief sen  sich  cap.  20  die 
Satznamen  an,  die  nur  in  ihrer  grammatischen  form,  nicht  in 
ihrer  onomatologischen  Wertigkeit  von  den  Übernamen  abweichen. 
s.  4(35  teilt  sie  Socin  etwas  summarisch  iu  die  zwei  hauptgruppen 
'imperativnamen'  und  'redensarten'.  auch  bei  ihnen  treten  als 
namen  von  familien  die:  Änesorgen,  Hehestrit,  Mornenwech,  Scur- 
pesac,  Wollebe  (mhd.  Itehen  'beginnen',  schürpfen  'ausweiden') 
u.  a.  deutlich  heraus. 

Moviert  mit  umlautwärkung  sind  die  Übernamen  der  relicta 
dicta  Bitzenechtin,  Mezzi  Schafretin,  ohne  umlaut  Berclüa  dicia 
Stetenratin,  dicta  Tanzuffin,  die  masculine  formen  '■'Bitzetiacht, 
Schafrät,  Stetenrät,  Tanzüf  (mhd.  hitzen,  schaffen,  stceten)  vor- 
aussetzen. 

Eine  weitere  ergiebige  quelle  der  modernen  deutschen 
familiennamen  ist  die  kategorie  der  gewerbs-  und  berufsnameu. 
sie  ist  bei  Socin  auf  zwei  capitel  verteilt,  von  denen  das  eine 
21  'Namen  von  amt  und  stand',  das  andere  22  'Namen  vom 
beruf  verzeichnet,  im  zweiten  überwiegen  die  gewerbe,  im 
ersten  die  amts-  und  Standesbezeichnungen,  über  deren  nähere 
einteilung  s.  505  rechenschaft  gegeben  ist.  s.  506 — 8  und 
544 — 8  werden  die  kriterien  erwogen,  die  für  die  beurteilung  der 
frage,  ob  in  einem  gegebenen  falle  die  blofse  berufsbezeichnung, 
oder  der  festgewordene  familienname,  oder  beides  vorliege,  als 
mal'sgebend  angesehen  werden  können. 

An  die  spitze  der  namen  mit  localen  beziehungen  stelle  ich 
cap.   23  'Stammesnamen',    eine    nicht   eben   sehr  zahlreiche  liste 


MITTELHOCHDEUTSCHES  NAMENBUCH  153 

von  ethnographischen  und  provinziellen  bezeichnungen:  Beiger, 
Rlnfrank,  Sarracin,  Schotte,  Sungotver.  auf  engere  heiniats-.  i.  b, 
besitzverhältnisse,  gehu  die  zahlreichen  combinationen  mit  einem 
Ortsnamen  oder  gutsnamen  an  zweiter  stelle,  die,  insoferne  es  sich 
um  eine  latinisierte  combination  handelt,  in  der  regel  mit  der 
Präposition  de  verknüpft  sind,  diese  bildungen  sind  bei  Socin 
in  drei  capiteln  abgehandelt  und  zwar  in  1 2  'Die  ältesten  namen 
mit  ile'  aus  dem  11  und  12  jh.,  vermehrt  mit  einem  Verzeich- 
nis der  bis  1200  im  bistum  Basel  und  am  Oberrhein  vorkom- 
menden mit  de  gebildeten  namen  s.  25;^ — 64,  ferner  in  14  'Der 
adel  des  13  jh.s  mit  de',  cap.  16  Die  bürgerlichen  namen  mit 
de%  wozu  im  anhange  zu  30  eine  aufzählung  der  mit  de  gebun- 
denen namen  von  geistlichen,  im  anhange  zu  3 1  ein  solches  der 
mit  von  gebildeten  bauernnamen  zu   rechnen   wäre. 

Der  gebrauch  von  de  beginnt  nach  Socin  s,  246  um  1050, 
die  deutsche  vorläge  der  präposition:  ro7i  und  vone  ist  in  der 
Augsbnrger  Urkunde  von   1063 — 7  7  zum  erstenniale  bezeugt. 

Eingestreut  sind  in  den  capiteln  13  'Die  familiennamen 
des  12  jh.s  ohne  de',  die  doch  eigentlich  kein  Vergleichsmaterial 
bieten,  denn  sie  sind  keineswegs  als  familiennamen  verwante 
Ortsbezeichnungen,  sondern  Übernamen  und  patronymica,  des 
weiteren  in  15  'Die  ritternamen  ohne  de:  allein  stehende  Vornamen, 
zum  teil  mit  zu  familiennamen  gewordenen  beinamen,  auch  patro- 
nymischen  bildungen,  oder  mit  ijrtlichen  bezeichnungen  versehene 
combinationen,  die  nur  mit  andren  localen  präpositionen  als  de, 
vermittelt  sind,  ebenda  sind  aber  auch  namen  wie  Conr.  de 
Eiethusen,  Schoelimis  de  Enesheim  untergebracht,  deren  Anord- 
nung der  capitelüberschrift  nicht  entspricht. 

Ein  solches  Vergleichsmaterial  enthält  aber  das  cap.  17: 
'Ortsnamen  oder  ableitungen  von  diesen  mit  dem  suftixe  -f-  er  als 
familiennamen',  in  dem  unter  l  vorzugsweise  die  typen:  vorname 
-|-  Ortsname,  oder  vorname  -|-  örtlicher  ableitung  auf  -er  er- 
scheinen, wozu  s.  361—  64  die  den  sprachgescliichtlichen  Vorgang 
der  entwicklung  der  letzteren  beleuchtenden  typen:  vorname  -h 
de  (von)  -\-  ortsname  gleich  vorname  -f-  ortsname  oder  gleich 
vorname  -\-  örtlicher  er-ableitung  in  individuellen  beispielen 
nachgewiesen  werden,  ein  paarmal  s.  364  sind  sogar  alle  drei 
typen  an  ein  und  demselben  familiennamen  erweislich,  wie  ma- 
gister  Petrus  de  Rinvelden  124'i,  magister  Petrus  Rinvelden, 
Johans  Rinvelder  1299. 

Mit  den  namen  von  der  wohnstätte:  häusern,  hausschildern, 
gassen,  Auren  cap.  18  ist  die  kategorie  der  örtliche  beziehungen 
enthaltenden  namen  erschöpft,  die  auswahl  der  präpositionen 
bei  dieser  Unterabteilung  ist  eine  buntere,  denn  ausser  de  findet 
sich  lat.  auch  apud ,  aulser  von  deutsch  auch  an  dem,  an  der. 
Mm,  bt  der,  in,  in  der,  Of  dem,  von  der,  ze,  zim,  zem,  ze  der, 
zer  (cer),  wobei  im  besonderen  das  auftreten  des  bestimmten  ar- 


154  V.    GRIENBERGEK    ÜBER    SOCIN 

tikels  in  der  combinatioii  als  charakteristisch  angesehen  wer- 
den muss. 

In  cap.  24  sind  oberrheinische  geschlechtsnamen  fremder, 
zumeist  französischer  lierkunft.  mehrfach  mit  dem  zusatze  GalUcus 
gfekennzeichnet,  vereinigt,  onomatologisch  sind  sie  von  verschie- 
dener dignität. 

Mit  german.  naraentheorie  befassen   sich  die  capitel  7  —  IL 

In  7  'Die  altgerm.  knrznameu"  ist  aus  unterschiedlichen,  bereit- 
liegenden quellen,  vorzugsweise  Grimms  Grammatik,  Förstemanns 
Namenbuch  und  Longnons  Polyptychon  Irminonis  eine  serie  von 
beglaubigten  Identitäten  von  voUname  und  kurzform  zusammen- 
gestellt, eine  erwünschte  ergänzung  zu  Starks  und  Brückners 
listen,  denn  auf  den  nachweisbaren  Identitäten  beruht  ja  unsre 
ganze  Wissenschaft  von  der  entwicklung  der  kurznamen  aus  den 
vollen  Zusammensetzungen,  niemand  wäre  imstande,  die  namen 
Hltta  und  Hizila  richtig  zu  beurteilen,  wenn  uns  nicht  die  zu 
ihnen  bezeugten  vollnamen  Hildiberga  und  Hlltipurch  in  den  stand 
setzten,  sie  aus  diesen  durch  die  zwischenformen  Hiltu  und 
*Hilza  (masc.  Hilzo  bei  Fm.  bezeugt!)  abzuleiten. 

Cap.  S  ist  der  bedeutung  der  altgerm.  namen  gewidmet,  die 
anfänglich  appellativische  Wertigkeit  der  ursprünglichen  germ. 
namen  läugnet  Socin  nicht,  meint  aber  für  die  zeit,  aus  der  uns 
germ,  namen  überliefert  sind,  müsse  man  den  grundsatz  der 
mechanischen  fortpflanzung  als  vorhersehend  annehmen. 

Dass  die  mittelalterlichen,  gelehrten  etj^mologieen  german. 
namen,  wie  zb.  die  des  Smaragdus,  falsch  und  daher  vollgültige 
documente  des  zeitgenössischen  Unverständnisses  seien,  ist  aller- 
dings richtig,  aber  wenn  dieser  abt  von  St.  Michael  an  der  Maas 
Rainmir  doppelt  unzutreffend  als  'nitidus  mihi',  dh.  den  gotischen 
namen  aus  ahd.  material  übersetzt,  so  kann  diese  erklärung 
eines  wahrscheinlich  aus  ehemals  gotischem  gebiete  stammenden, 
aber  erst  zu  beginn  des  9  jh.s  lebenden  mannes,  der  selbst  ver- 
mutlich Romane  war,  nichts  für  die  zeit  beweisen,  da  die  gotische 
spräche  noch  lebendig  und  ihre  namen  in  ftihlung  mit  der  leben- 
den spräche  waren,  um  so  weniger,  als  namenschöpfung  und 
namenerklärung  zwei  ganz  verschiedene  tätigkeiten  sind,  die  sich 
so  verhalten  wie  sprechen  und  verstehn,  die  sich  zwar  nicht  aus- 
schliefsen,  aber  zu  keiner  zeit  und  bei  keinem  Individuum  selbst 
hinsichtlich  der  eigenen  spräche  einander  völlig  deckend  erwartet 
werden  dürfen. 

Auch  andere  äulserungen  Socins  in  diesem  cap.  fordern  zum 
Widerspruch  heraus. 

Dass  der  erste  teil  in  Adalleoz.  soferne  der  zweite  überhaupt 
an.  Ijötr  ist,  steigernd  sein  kann,  hat  sich  Socin  entzogen,  und  schwer 
begreiflich  ist  es,  dass  Harfger  als  appellativisches  compositum 
angesehen  unlogisch  sei,  da  doch  ags.  fruuigär  keineswegs  unlo- 
gisch   ist.      wenn   s.  200   Grimms    gleichsetzung    von    Hütirün 


MITTELHOCHDEUTSCHES    NAMEXBt'BH  155 

und  Bankilt  anscheinend  gebilligt  und  für  die  these  der  rein 
mechanischen  Zusammensetzung-  der  namen  verwertet  wird,  so 
ist  es  nützlich  zu  erinnern,  dass  die  qualität  der  beiden  elemente 
in  den  beiden  namen  ganz  verschieden  sein  kann,  dass  sich  HU- 
tirfin  anstandslos  aus  dem  vollsinnigen  worte  für  'kämpf  und 
einer  entsprechung  zu  an.  rün  'fortrolig  veninde',  ags.  in  Inirh- 
rünan  'parcae',  liünhüt  aber  aus  dem  primären  appellativum  ags. 
rün  'rat,  beschluss'  mehr  dem  zur  ableitung  gewordenen  elemente 
-hüll  rechtfertigen  lasse,  ebensowenig  kann  icji  der  auffassung 
von  Naniirlc  und  Wicnant  als  additionscomposita,  bei  denen  die 
folge  der  beiden  teile  gleichgültig  sei.  beitreten,  denn  abgesehen 
davon  dass  die  syntaktische  Verknüpfung  beider  namen  eben 
nicht  additiv  sein  muss,  sondern  auch  bahuvrihisch  sein  kann, 
sind  auch  die  nhd.  beispiele  Socins  Sturmwind  gleich  windsturm 
und  schirarziceifs  gleich  veifssch/carz  verfehlt,  das  seltene  wort 
irindsturm  (Sanders  II  2.  s.  1258)  ist  doch  nicht  additiv,  sondern 
contrastiert  die  heftige  bewegung  des  windes  mit  irgendeinem 
andren  stürmischen  vorgange,  und  slurnncind  ist  einfach  ge- 
steigerter wind.  schumrzK-eifs  aber  ist  etwas  ganz  anderes  als 
ireißschwarz,  worüber  man  nicht  erst  die  meinung  eines  heral- 
dikers einzuholen  nötig  hat. 

Die  Sache  ist  ja  die,  worauf  ich  schon  einmal  hingewiesen 
habe,  dass  im  germ.  namenschatze  eines  beliebigen  zeitlichen  und 
örtlichen  durchschnittes  altes  und  neues,  au  [serhalb  des  appella- 
tivischen Zusammenhanges  stehndes  und  appellativisch  lebendiges, 
unproductiv  gewordenes  und  in  irgendeinem  betrachte  productives. 
onomatologische  formen  und  appellativische  elemente  unmittelbar 
neben  einander  liegen,  sodass  ein  urteil  das  auf  alles  passte 
überhaupt  gar  nicht  gefällt  werden  kann. 

Für  das  fortleben  der  appellativischen  triebkraft  in  ahd. 
zeit  zeugen  unverkennbar  einige  der  processe,  dieSocin  im  10.  cap. 
'Jüngere  schichten  im  agerm.namenbestande"  bespricht :  neuschöpfung 
von  namen,  i.  b.  christlicher  provenienz  mit  dem  genitiv  (/otes- 
ira  ersten  teile;  dazu  aucli  Berhthimil  z.  j.  900  aus  Fm.  687 
(Socin  s.  200);  herstellung  vollerer  formen  ansteile  der  ge- 
kürzten lautgesetzlichen;  neubildung  sclnvachformiger  namen  auf 
-como  (-a),  -geha,  -f/ainio,  -säzo;  ersatz  des  einfachen  nomens  im 
ersten  compositionsteile  durch  ein  adjectiv  mit  l-,  n-,  oder  r- 
suffix,  wie  (jundil-,  sigin-  für  gund-,  sigi-,  während  andere  in 
diesem  cap.  behandelte  Vorgänge,  wie  die  Verkürzung  der  ersten 
compositionsteile  oder  der  austausch  der  fugenvocale  ekka- 
u-illa-  für  ekki-,  irilli-,  rein  sprechmechanisch,  beziehungsweise 
analogisch  sind  (ahd.  nom.  sing,  ekka,  ivülo)  und  die  motion 
mit  -in  nur  den  namen  als  solchen,  nicht  seinen  möglichen  appel- 
lativischen wert  berührt. 

Als  jüngere  bildungen  betrachtet  Socin  auch  völkernamen 
und  composita  mit  solchen,  ferner  namen,  die  ohne  als  beinaraen 


156  V.    GRIENBERGKK    ÜBER    SOCIX 

ZU  fungieren,  dooli  kraft  ihres  zu  tage  liegenden  appellativischen 
Sinnes  solchen  gleichgehalten  werden  müssen,  also  bezeichnungen 
von  berufen,  stand  und  Wohnverhältnissen,  verwautschaftswörter 
und  eigentliche  Übernamen,  endlich  abstractwörter,  adjectiva  und 
participia,  wozu  bemerkt  sei,  dass  die  beiden  letzteren  sich  ganz 
mit  den  römischen  cognominibus  decken. 

Das  material  dieser  listen  ist  zum  grolsen  teile  aus  Förste- 
mann  entnommen;  wie  man  sieht,  sind  in  ihnen  alle  kategorieen 
von  einzelnamen  der  eigentlichen  Sammlung  Socins  d.  i.  der 
oberrheinischen  namen  des   12  und  13  jh.s  vorgebildet. 

Der  unterschied  ist  nur  der,  dass  das  was  früher  als  einzel- 
name  ersclieint,  später  als  zusatz  zum  taufnamen  auftritt,  die 
bildkraft  der  alten  germ.  vornamen  war  im  12  jli.  sicher  er- 
loschen, und  es  ist  kein  zufall,  dass  zur  gleichen  zeit  die  appella- 
tivischen beinamen  an  ausdehung  gewinnen,  in  denen  sich  nunmehr 
die  sprachschöpferische  tätigkeit  in  weiterem  umfange  offenbart, 
während  die  alte,  erste  schiclit  der  personennamen,  zum  onomato- 
logischen  erbteil  geworden,  nur  mehr  mit  persönlichem  bezuge 
fortgeführt  wird  und  in  ihrem  bestände  fortschreitende  einbufsen 
erleidet. 

Diese  Verluste  beginnen,  wie  Socin  im  5  cap.  ausführt,  um 
die  mitte  des  1 1  jh.s  und  steigern  sich  rascli  von  1 150  an.  einen 
ursprünglichen  Zusammenhang  mit  dem  auftreten  der  Zu- 
namen glaubt  doch  Socin  in  abrede  stellen  zu  sollen,  doppel- 
namigkeit  und  Vereinfachung  des  namenbestandes  seien  zwar 
zwei  sich  gegenseitig  fördernde,  aber  doch  nur  nebeneinander 
hergehnde  processe. 

Allgemein  theoretisch  ist  auch  das  cap.  9,  in  dem  die  stil- 
gesetze  und  moden  der  namengebuug  innerhalb  der  agerm.  sippefge- 
schlechtsgenossen ) :  allitteration,  gleichheit  des  ersten  oder  zweiten 
compositionsteiles  in  der  descendenz  1  und  2  grades,  sowie  auf 
der  gleichen  stufe  der  generation,  Vererbung  des  ganzen  namens^ 
an  älteren  beispielen  nachgewiesen  werden,  dazu  gehört  im 
wesentlichen  auch  cap.  3 :  'Vererbung  der  taufnamen',  deren  ge- 
brauch in  verschiedenen  familien  an  beispielen  aus  dem  10  bis 
14  jh.  aufgezeigt  wird. 

Cap.  1 1  'Früheste  spuren  der  doppelnamigkeit',  d.  i.  des 
alternativen  gebrauches  zweier  namen,  bringt  eine  reihe  authen- 
tischer Verzeichnisse  got. ,  langobard. ,  ahd.  provenienz.  die 
namencombinationeu  in  der  regel  mit  qui  et  gebunden  enthalten 
an  erster  stelle  zumeist  einen  germ.  volluamen,  oder  einen  ent- 
sprechenden namen  fremder  herkunft,  an  zweiter  entweder  einen 
zweiten  germ.  vollnamen  oder  einen  fremdnamen,  eine  germ. 
kurzform  oder  einen  beinamen  zb.  Sundehadus  qui  et  Alipertus, 
Ademmü  qui  et  Andreas^  Vltns  qui  et  Sigefredus.  ArnoJdus 
qui  et  Bezo,  Conradus  qui  Curcipoldus.  es  handelt  sich  hier 
um  officielle  oder  familiäre  umnennung.     hiervon  zu  trennen  ist 


MITTELHOCHDEUTSCHES    NAMENBUCH  157 

jedoch  die  bleibende  Verbindung  eines  germ.  vollnamens,  mit 
einem  praenomen  nach  römischer  art  wie  Sejitimius  Aistomodius 
oder  Flavlm  Pertharituti. 

Dem  syntaktischen  ausdrucke  der  Verbindung  zweier  namen 
ist  s.  549 — 52  ein  besonderer  excurs  gewidmet:  'Über  dictus 
und  verwante  praedicate'  mit  den  deutschen  Varianten:  dem  man 
spricht,  dem  man  sprichet  ze  ndnamen,  heizet,  der  da  heizet,  ge- 
heizen,  genant,  der  do  ivas  genemmet. 

Als  abschnitte  namengeschichtliclien  inhaltes  möchte  ich  noch 
den  rest  der  capitel  des  buches  kurz  erwähnen. 

Cap.  30  constatiert,  dass  schon  im  12  und  13  jh.  der  clerus 
vorwiegend  nur  mit  taufnamen  und  titel  benannt  ist;  cap.  31 
stellt  die  vorhersehende  einnamigkeit  bei  den  bauern  bis  1250 
fest;  cap.  25  handelt  von  den  judennamen,  die  gleichfalls  zu- 
meist einnamig  und  deren  material  hauptsächlich  alttestamentarisch 
ist.  cap.  32  verbreitet  sich  über  die  beifügung  des  mädchen- 
namens  bei  frauen  des  12  und  13  jh.s,  cap.  33  spricht  vom 
Wechsel  des  zunamens,  der  durch  die  eigentliche  und  ursprüng- 
liche function  der  örtlichen  bezeichnungen  als  besitzanzeigende 
bedingt  ist,  wie  liunwlt  von  Striibe,  dessen  bruder  aber  Gerrunc 
von  Breidenhach  1156.  cap.  34  wird  die  weglassung  der  tauf- 
namen bei  zeitlicher  und  örtlicher  notorietät  eines  Individuums: 
der  ritter  von  Vluinkon  1256,  der  von  Hilteningen  1295,  sowie 
die  zur  Unterscheidung  dienende,  pleonastische  erweiterung  einer 
ganzen  namengruppe:  her  Cünrat  von  Eschon  der  elter  1293, 
lohannes  de  Blämenherg  dictiis  de  Sunthiisen   1281   erläutert. 

In  cap.  27  hat  Socin  einige  zunamen  mit  dem  gemeinsamen 
auslaute  -a  vereinigt,  sie  bestehn  aus  aÄfl-compositionen  Lütra, 
«Ät-ableitungen  Holza,  deutschen  fem.  ?i-stämmen  Brunnadra  und 
romanischen  Wörtern  wie  Crapella.  cap.  'IS  enthält  einige  vom 
verf.  als  unerklärbar  angesehene  zunamen. 

Dies  in  allgemeinen  umrissen  der  Inhalt  des  Werkes,  das 
eine  quelle  allerersten  ranges  für  sprachliche  und  geschichtliche 
Studien  ist  und  in  seinen  Sammlungen  und  erörterungen  zahl- 
reiche fragen  der  namenkunde  beantwortet  und  anregt,  probleme 
löst,  aber  auch  aufrollt. 

Czernowitz,   1   sept.    1 909.  v.  Grienberger. 


Die  naturbetrachtung-  bei  den  mittelhochdeutschen  lyri- 
kern  von  Elisabet  Haakh  [=  Teutonia,  arbeiten  zur  germ. 
philulogie,  her.  von  Wilh.  Uhl,  9  heft],  Leipzig,  Avenarius  1908. 
88  SS.     2  m.  — 

Übersichtlichkeit  ist  die  erste  forderung,  die  man  an  eine 
bearbeitung  dieses  themas  stellen  muss.  dass  es  der  vorliegen- 
den Schrift  völlig  daran  gebricht,  verrät  schon  das  äufsere:  kein 
register,  kein  inhaltsverzeichnis.     selbst  die  einteilung  in  capitel 


158  WALl.NER  ÜBKK  HAAK}) 

oder  Paragraphen,  die  doch  die  Verlegenheitsübergänge  erspart 
hätte,  fehlt,  die  einleitung  —  sie  will  den  spuren  des  deutschen 
iiaturgefülils  vor  dem  12  jh.  nachgehn  —  ist  von  naiver  Unzu- 
länglichkeit. AvHuniboldts  Kosmoscapitel  oder  Bieses  buch  über 
das  naturgefühl  war  der  Verfasserin  offenbar  ganz  unbekannt, 
nach  einem  excurs  über  Volkslied  und  minnesang  fauf  den  ich 
noch  zurückkomme)  werden  dann  die  demente  der  naturschilde- 
ruug  vorgenommen:  landschaftsbild;  linde,  rose,  wald;  vügel  und 
andere  tiere,  mineralien;  gestirne,  wölken,  wind,  luft,  tau,  wasser; 
personitication  der  Jahreszeiten,  das  alles  wird  ohne  straffe 
gliederung  (landschaftsbild  s.  22  ff.  48  f.  74)  feuilletonmälsig 
durchgeplaudert,  über  das  aufkommen  und  veralten  der  ein- 
zelnen Züge,  über  tj-pisches  und  eigenartiges,  über  den  anteil 
der  einzelnen  dichter  an  der  ausbildung  des  apparates  erfährt 
mau  nur  wenig,  in  gelegentlichen  bemerkungen.  spruch  und 
minnelied  werden  nicht  geschieden,  was  EHaakh  hier  alles  ver- 
säumt hat,  das  zeigt  schon  ein  vergleich  mit  den  einschlägigen 
partieen  in  Schisseis  abhandlung  über  das  epitheton  im  liebeslied 
des  12  jh.s.  —  dass  die  vf.  auch  die  miniaturen  des  Manesse- 
codex  heranzieht,  wäre  nur  zu  loben;  doch  müste  auch  dies 
weniger  oberflächlich  geschehen,  sie  vermeint  in  den  landschafts- 
und  tierbildern  fortschritte  von  blatt  zu  blatt  zu  erkennen 
(s,  22);  ob  diese  blätter  von  einem  maier  herrühren,  darnach  wird 
nicht  gefragt,  den  Veldeker  sähe  sie  gern  im  lindenschatten 
abgebildet,  'aber  leider  war  dem  maier  die  künstlerische  Ver- 
wertung des  baums  noch  nicht  so  geläufig  wie  dem  dichter' 
(s.  27).  zufällig  stand  der  bäum  tatsächlich  in  der  vorläge,  wie 
die  Weingartener  hs.  lehrt,  und  ist  in  C  nur  aus  raummangel 
fortgeblieben.  Ulrich  von  Liechtenstein,  bekanntlich  als  'frau 
Venus'  abgebildet,  soll  als  kreuzfahrer  die  meereswogen  durch- 
schiffen (s.  73)  —  zu  pferde!  charakteristisch  ist  auch  die  mis- 
handlung  der  eigennamen:  Habardslioji  s.  3,  Täler  s.  21,  Winli 
s.  41,  Oucholf  s.  85.  Niuniu  heilst  einmal  Niunin  (s.  31),  das 
andere  mal  Niniun  (s.  59)  und  der  hl.  Bernhard  gar:  von  Clair- 
veaux  (s.  7).  sonderbare  mhd.  sprachkenntnisse  enthüllt  die  be- 
merkung  zu  bere  {der  ivilclc  viscli  in  dem  here)  s.  63:  "mit  ale- 
mannischer vertauschung  anlautender  labiale'. 

Wie  die  vf.  im  Vorwort  gesteht,  hat  sie  die  neueste  litteratur 
nicht  verwertet,  im  ganzen  fufst  ihre  arbeit  wol  auf  Uhland 
(Sehr.  III  1.  V  120),  über  den  sie  fast  nirgends  hinaus  kommt, 
in  der  blühenden,  kühn  bildernden  spräche  freilich  kann  sich 
der  dichter-germanist  nicht  mit  ihr  messen:  'seltsam  nimmt  sich 
die  linde,  dies  erbe  schlichter  Volkstümlichkeit,  im  munde  des 
lüsternen  und  mit  krauser  modegelehrsamkeit  verschnörkelten 
Tannhäuser  aus'  (s.  30).  'der  ritterliche  dichter  setzt  die  minne 
als  herscherin  ein  und  weist  der  naturbetrachtung  etwa  die  rolle 
der  gürtelmagd  zu.     in  diesem  dienste  werden    ihre    frischen 


NATUKBKTKACHTUNG    BEI    DEN    MHI).    lAKIKEKN  159 

roten  wangen  von  der  blässe  der  reflexion  und  Symbolik  ange- 
kränkelt —  zumal  der  cleriker  gleichzeitig  ihre  hilfe  für  seine 
geistlichen  lieder  verlangt'  (s.  S7j. 

Neben  Uhland  werden  noch  RMMeyer  und  Burdach  ge- 
legentlich erwähnt,  den  namen  Arnold  Bergers  aber  nennt 
die  vf.  nirgends,  und  doch  hätte  sie  dringenden  anlass  gehabt, 
seines  aufsatzes  über  die  volkstümlichen  grundlagen  des  uiinne- 
sangs  (Zs.f.d.ph.  19,  440j  dankbar  zu  gedenken,  man  vergleiche 
Haakh  s.  lOf  und  Berger  s.  472:  'die  spuren  alter  lieder  oder 
liedchen  zu  verfolgen,  hat  sich  besonders  RMMeyer  angelegen 
sein  lassen  in  seiner  bedeutsamen  abhandlung  (*in  seiner 
scharfsinnigen  und  eingehenden  abhandlung'  B.) 
"Alte  deutsche  volksliedchen",  aus  den  vielen  sich  widerholenden 
versen  bei  den  alten  minnesängern'  ('aus  jenen  feststehen- 
den versen,  die  einer  gröfsern  zahl  von  dichtem 
gemeinsam  sind'  B.)  .  .  'will  er  "einen  grofsen  Vorrat  fester 
.  .  fornieln  für  natureingänge  herauslesen  .  .  jedenfalls  lässt  sich 
aus  seiner  annähme  erklären,  was  sonst  unbegreiflich  blieb:  das 
überraschende  auftauchen  derselben  typischen  bestandteile  des 
natureingangs  bei  örtlich  und  zeitlich  getrennten  sängern'  ('aus 
gewissen  tA'pischen  reimpaaren.  deren  er  eine  über- 
raschende fülle  zusammenstellt,  aus  solchen  formel- 
haften Wendungen,  die  unmöglich  auf  gegenseitiger 
entlehnung  beruhen  können,  da  sie  von  dichtem  aus 
den  verschiedensten  gegenden,  aus  den  verschieden- 
sten Perioden  .  .  verwant  wurden'  B.).  'der  verrat  mag 
sogar  zu  grofs  angenommen  sein,  denn  die  Variation  eines  für 
das  minnelied  unentbehrlichen  ausdrucks  .  .  muss  doch  nicht 
immer  notwendig  auf  einen  festgeprägten  vers  zurückgehn' 
('man  könnte  geneigt  sein,  die  quelle  einfach  in  der 
Umgangssprache  zu  suchen,  deren  redewendungen 
jeder  dichter  nach  seinem  jeweiligen  bedürfnis  um- 
geformt habe'  B.).  'wie  schwierig  es  ist,  aus  den  wenigen 
resten  alter  volkslyrik'  ('nur  dürftige  reste'  B.)  'grundlagen 
für  eine  mit  einiger  Sicherheit  auftretende  theorie  herauszu- 
ünden,  hat  der  verf.  gewis  selbst  empfunden,  als  er  die  worte 
schrieb,  die  fast  etwas  von  seinen  aufstellungen  zurückzunehmen 
scheinen  (p.  208),  dass  solche  typischen  verse  "blumen  enthalten, 
wie  sie  überall  aus  der  erde  hervorbrachen  und  nur  zu  sträufsen 
zusammengebunden  zu  werden  brauchten"  ('es  gab  also  eine 
grofse  menge  l3-rischer  verse  ,  .  "blumen,  wie  sie 
überall  aus  der  erde  hervorbrachen  usw."'  B.)  'mit  einiger 
zuversichtlichkeit  wird  die  annähme  auftreten  dürfen'  ('und  ich 
glaube,  diese  annähme  lässt  keinen  zweifei  zu'.B.  s.  451j, 
'dass  schon  vor  der  entfaltung  der  ritterlichen  rahd.  lyrik  verse 
vorlagen  in  volkstümlichen  maigrülsen'  ('die  Vorbilder  dazu 
in     jenen     volk  smäfsigen     f  rühlingsreihen     zur     be- 


160  WALLXER    ÜBER    JIAAKH,    NATURBETR ACHTUNG 

grüisung  der  milderen  Jahreszeit'  B.).  'die  raaifeier 
kann  man  sich  ohne  reigen  und  den  reigen  ohne  gesang  nicht 
vorstellen  und  die  Verbindung  von  naturfreude  und  liebesgrufs 
stellt  sich  dabei  im  gesange  wohl  von  selbst  ein'  ('und  wie 
können  die  alten  frühlingsreihen  ihrer  ganzen  be- 
stimmung  nach  anders  begonnen  haben,  als  mit  einer 
ankündigung  und  begrüfsung  des  sommers?'  B.).  '"liebe 
und  laub",  "minne  und  vogelwonne"  stellt  schon  der  oft 
citierte  liebesgrufs  im  Euodlieb  zusammen  und  weist  durch  die 
allitteration  '  in  der  ersten  formel  auf  eine  entstehungszeit  zu- 
rück, die  um  Jahrhunderte  früher  fällt  als  die  mhd.  lyrik'  (in 
dieser  Jahrhunderte  lang  gepflegten  gattung  kann 
sich  auch  nur  jener  festgeprägte,  starre  formel- 
schatz  entwickelt  haben'  B.).  ' —  sollte  der  reigenlustige 
Jüngling  nicht  schon  früh  die  erkorene  durch  einen  vers  aufge- 
fordert haben,  das  maifest  mit  ihm  zu  geniefsen,  und  vielleicht 
die  zusage  gleichfalls  in  gereimter  formel  erhalten  haben?' 

Auch  noch  andere  stellen  verraten  sich  als  derlei  discrete 
anleihen  bei  Berger:  'sie  (die  linde)  ist  der  bäum  der  bäume  .  . 
sie  ist  unstreitig  auf  deutschem  boden  gewachsen'  s.  25  ('wie 
die  rose  die  königin  der  blumen  ist  [vgl.  Haakh  s.  33], 
so  ist  die  linde  der  deutsche  bäum  -/.ax  eioyj\v'  B.  448). 
—  'Dietmar  von  Aist  zieht  in  einem  vereinzelten  beispiel,  MF 
38,  34  .  .  die  Schiffahrt  .  .  heran'  s.  74  ('Eist  3S,  35  weif  s  ich 
sonst  nicht  nachzuweisen'  B.  447).  'bei  Hartmann  von 
Aue  MF  213,  7  nennt  die  dame  mit  scharfer  Ironie  ihren  un- 
getreuen freund  alse  valsclielös  sani  daz  mer  der  ünde  ('d  a  s 
meer  als  Sinnbild  der  Unbeständigkeit  verwendet 
Hartmann  213,  7  in  witziger  weise'  B).  —  die  gelehrt 
mythologische  abhandlung  über  den  wind  auf  s.  3  (st.  Voluspö50 
1.  Vafl)rü|)nesm.  37)  verdankt  ihren  Ursprung  Bergers 
schlichter  bemerkung  (s.  449)  über  Veldeke  66,  5  mit  dem  hin- 
weis  auf  Grimms  myth.  527.  auch  die  —  haltlose  —  deutuug 
von  Reinm.  169,  11  (s.  17)  ist  wol  durch  Berger  angeregt 
('charakterisch  ist  Reinmars  Stellung  zum  naturein- 
gang:  169,  12'  B.  445).  sonst  stammt  der  gelehrte  aufputz 
von  Ühland,  RMMeyer  und  Burdach  her. 

^  vgl.  Berger  s.  452 :  'das  älteste  und  bereits  gereimte  beispiel 
der  liebesgrüfse  ist  bekanntlich  im  Ruodlieb  erhalten  .  .  man  könnte 
solche  Wendungen  aus  dem  geselligen  leben  ableiten  und  für  feststehende 
redensarten  der  Umgangssprache  erklären'. 

Graz.  Autou  Wallner. 


EOSEKHAGEN    ÜBEK    SEIDL,    SCHWAN    V.    1).    ijALZACU  161 

Der  Schwan  vou  der  Salzach.  nachahmun^  und  motiv- 
mischung-  hei  der  Pleier  von  Otto  Seidl.  üortniuud,  Ruhfus 
1909  75  SS.  8".  —  2ni. 

Seitdem  die  drei  werke  des  Fleiers  im  drucke  vorliegen 
(1892  erschien  als  letztes  der  Garel),  hat  sich  eine  im  ganzen 
übereinstimmende  meinung  über  ihn  gebildet '.  er  darf  als  der 
typische  epigone  gelten,  der  für  einen  bereits  ausgebildeten  ge- 
schmack  nach  wünsch  liefert,  im  ausdruck  steht  er  so  ganz  unter 
dem  eintluss  seiner  Vorbilder  —  es  sind  besonders  Wolfram, 
Wirnt,  Hartmann  und  Stricker  — ,  dass  seine  langen  bücher  aus 
den  entlehnten  verszeilen  geradezu  zusammengesetzt  erscheinen, 
sein  gedächtnis  ersetzt  ihm  das  genie.  etwas  anderes  ist  es  mit 
dem  Inhalt  seiner  gedichte.  er  gibt  jedesmal  an,  einer  wälscheu, 
dh.  französischen  vorläge  zu  folgen,  wir  haben  aber  allen  grund 
das  nicht  zu  glauben,  sondern  es  als  eine  vom  publicum  verlangte 
falsche  Ursprungsbezeichnung  anzusehen,  entlehnt  hat  er  die 
einzehien  bestandteile,  aber  frei  umgestaltet  und  frei,  auch  hierin 
bekannten  mustern  folgend,  angeordnet  und  zu  einheiten  verbun- 
den: 'er  ertiudet  nichts  und  findet  alles'  (Zwierzina),  'er  hat  den 
Stoff  frei  entworfen,  aber  nicht  frei  erfunden'  (Ehrismann),  man 
könnte  sich  damit  begnügen,  aber  gegen  diese  sonst  einmütige 
auffassung  von  der  entstehung  der  Pleierschen  romane  ist  ein 
sehr  bestimmter  Widerspruch  laut  geworden.  EWechfsler  (Jahresber. 
üb.  die  fortschritte  d.  rom.  phil.  iv  2,  s.  399  f)  behauptet  für 
diese  gedichte  wie  auch  für  den  Daniel  des  Strickers  frz.  vorlagen 
und  stellt  besonders  für  die  frz.  quelle  des  Garel  eine  eigene  ab- 
handlung  in  aussieht,  diese  abhandlung  ist  bisher  nicht  er- 
schienen, aber  die  allgemeinen  gründe,  welche  dort  zu  der  ganzen 
frage  vorgebracht  werden,  verdienen  berücksichtigung.  aufser- 
dem  bestehn  auch  für  die  anhänger  der  andern  auffassung  noch 
gewisse  zweifei,  kaum  für  den  Garel,  aber  doch  für  einzelne 
elemente  der  beiden  anderen  bücher;  man  vgl.  die  vorsichtigen 
äufserungen  von  Zwierzina  (aao.  s.  355)  und  die  darlegung  von 
Ehrismann  (aao.  s.  95  note).  auch  in  der  beurteilung  des  dich- 
ters  findet  sich  ein  gegensatz.  nach  Steinmeyer  hat  er  den 
Inhalt  'zusammengebettelt',  auf  der  andern  seite  hat  Vogt 
(Zs.  f.  d.  phil.  26,  126)  das  verdienst  hervorgehoben,  das  in  der 
selbständigen  composition  liegt,  zweifellos  mit  recht,  aber  Stein- 
meyers schroffes  urteil  ist  sehr  begreiflich,  wenn  man  seine  und 
Egelkrauts  (Der  einfluss  des  Daniel  vom  blühenden  tal  auf  die 
dichtungen  des  Fleiers,  diss.  Erlangen  1896j  listen  der  entleh- 
nungen  ansieht,  nur  ist  mit  diesen  listen  auch  über  den  stil  des 
Fleiers  nicht   das    letzte   Wort    gesprochen,     wir    sehen    daraus, 

'  vgl.  bes.  Steinmeyer  GGA.  1887.  785-811.  1893,  97—125;  Zwier- 
zina Anz.  XXII  353—363;  Vogt  Zs.  f.  d.  phil.  26,  122 — 126;  Ehrismann 
Anz.  XXX  87  —  97. 

A.  F.  D.  A.     XXXIV.  11 


162  KOSENHAGEN     lUEK    SEIDL 

welche  werke  er  ganz  genau  gekannt  hat,  und  auch  welches  sein 
schriftstellerisches  streben  gewesen  ist,  nämlich  das,  wie  seine 
Vorbilder,  also  'classisch',  zu  schreiben,  aber  wir  sehen  nicht 
daraus,  wie  er  im  zusammenhange  seiner  erzählungeu  jene  verse, 
formein,  beiwörter  verwant  hat.  wir  müssen  doch  fragen,  ob  in 
der  art,  wie  und  wo  diese  nachahmung  erscheint,  nicht  noch 
etwas  pers(3nliches  zu  erkennen  ist,  ob  es  nicht  trotzdem  einen 
Pleierschen  stil  gibt,  es  bleibt  also  die  aufgäbe,  einerseits  die 
Züge  des  Individuums  PL,  die  wenn  auch  erkennbar,  noch  unter  der 
capuze  des  stofflichen  etwas  verhüllt  sind,  deutlicher  zu  erfassen, 
anderseits  durch  eine  jeden  Widerspruch  beschwichtigende  lösung 
der  quellenfrage  die  Stellung  dieser  denkraäler  in  der  litteratur- 
gescliichte  endgültig  festzulegen,  daraus  ergeben  sich  für  den 
der  den  fall  neu  aufnimmt,  nicht  unbedeutende  aufgaben,  das 
wichtigste  was  über  den  PI.  bisher  gesagt  ist,  steht,  von  der  ab- 
handlung  von  EIlMeyer  abgesehen,  in  recensionen.  es  sind,  wenn 
man  will,  lesefrüchte,  allerdings  sehr  gehaltvolle,  und  sie  machen 
nicht  den  anspruch,  den  gegenständ  zu  erschöpfen,  diesen  anspruch 
muss  man  aber  an  eine  neue  arbeit  stellen,  weil  sie  sonst  eigent- 
lich überflüssig  ist,  es  sei  denn  dass  sie  etwas  ganz  neues  zu 
bieten  habe,  und  das  kann  man  von  der  Studie  von  Seidl  nicht 
sagen,  sie  bespricht  im  ganzen  die  dinge  die  schon  besprochen 
waren,  nur  in  andrer  anordnung  und  beleuchtung.  damit  kann 
sich  nur  ein  subjectives  ergebnis  erzielen  lassen,  vielmehr  lässt 
es  sich  jetzt  nicht  mehr  umgehn,  das  gesamte  material  welches 
der  PI.  bietet,  mit  der  gesamten  litteratur  die  für  ihn  als  vor- 
bildlich in  betracht  kommen  kann,  zu  vergleichen,  es  muss  mit 
einer  vollständigen  analyse  der  drei  i-omane  begonnen  und  es 
müssen  die  daraus  sich  ergebenden  bestandteile  mit  den  möglichen 
quellen  verglichen  werden;  und  zwar  müste  das  nicht  nur  eine 
art  von  fortlaufendem  commentar,  welcher  schritt  für  schritt  die 
einzelnen,  kleinsten  momente  der  handlung  begleitet,  wie  Zwier- 
zina  fordert  (aao.  s.  3ö5),  sondern  auch  die  Zusammensetzung 
im  grofsen,  Verhältnis  und  Verknüpfung  der  mythisch-heroischen 
demente  mit  den  höfisch-ritterlichen,  dasselbe  zwischen  rahmenhand- 
lung  und  episodenreihen  berücksichtigt  werden,  erst  dann  sehen 
wir  deutlich,  wo  die  vergleichbaren  beziehungen  in  der  deutschen 
litteratur  versagen,  erst  dann  werden  wir  auch  sagen  können, 
ob  die  darstellung  desselben  motivs  beim  Pleier,  wie  behauptet 
worden  ist  (Wechfsler  aao.  400)  ursprünglicher  ist;  und  dann 
erst  können  wir  fragen:  woher  hat  der  PL  das?  aber  auch  so 
sind  wir  nicht  fertig,  der  stil  des  PL,  sein  ausdrucksvermögen 
muss  so  eindringlich  untersucht  werden,  dass  wir  genau  wissen, 
welches  geistes  kind  er  war.  dazu  gehört  nicht  nur  der  aus- 
druck  an  der  einzelnen  stelle,  Ordnung  der  periodischen  gruppen, 
gespräch,  Schilderung  usw.,  sondern  auch  die  gesamtcomposition 
- —  allerdings    mit    beschränkung  auf    solche    teile    und   erschei- 


DER    SCHWAJN'    VON    DER    SALZACIl  1G3 

iiUDgen,  wo  wir  uns  nicht  mit  der  quellenfrage  kreuzen,  zb.  die 
grofse  heeresschlacht  im  Garel. 

Der  verf.  der  arbeit  die  uns  hier  beschäftigt,  hat  nun  wol 
gesehen,  in  welcher  richtung  die  Pleierstudien  eine  ergänzung 
vertragen  können,  er  stellt  sich  seine  aufgäbe  so  umfassend  wie 
möglich :  er  möchte,  das  ist  doch  wol  der  sinn  seiner  einleitenden 
bemerkungen  (s.  4),  die  einwürfe  Wechfslers  durch  seine  beobach- 
tungen  sachlich  widerlegen,  aber  es  ist  ein  versuch  mit  untaug- 
lichen, oder  doch  vollkommen  ungenügenden  mittein.  er  nimmt 
nur  eine  art  der  möglichen  Untersuchungen  vor,  und  diese  durch- 
aus unvollständig,  auf  die  stilfrage  geht  er  gar  nicht  ein  und 
findet  nur  gelegentlich  für  die  Sammlungen  Steinmeyers  und 
Egelkrauts  ein  wort,  das  bald  gönnerhaft  ('Sammeleifer'  s.  3) 
bald  geringschätzig  klingt  ('entlehntes  sprachgut  sorgfältig  auf- 
stapeln' s.  70).  das  ist  zum  mindesten  undankbar;  denn  seine 
eigenen  beobachtungen  würden  an  bedeutung  wesentlich  einbüi'sen, 
wenn  nicht  durch  jene  vorarbeiten  es  absolut  sicher  bewiesen 
wäre,  welche  werke  der  PI.  ganz  genau  gekannt  hat.  aber  auch 
in  der  beschränkung  auf  den  Inhalt  fasst  er  das  thema  zu  eng. 
er  beschäftigt  sich  nur  mit  den  motiven,  also  den  einzelnen 
raomenten  der  erzähluug,  und  läfst  die  fragen  der  Zusammen- 
setzung und  anordnung  bei  seite,  und  grade  dieser  punct  ist  sehr 
wichtig  für  die  quellenfrage  —  wenn  sie  eine  frage  ist.  aller- 
dings verfolgt  der  verf.  bei  diesen  dingen  noch  ein  weiteres  ziel, 
er  will  zeigen,  wie  der  PI.  die  verschiedenen  demente  und  an- 
regungen,  die  er  von  seinen  Vorbildern  empfing,  verarbeitete, 
mischte,  und  findet  darin  den  anlass,  das  urteil  über  den 
dichter  zu  heben,  damit  hat  er  recht,  besonders  Steinmeyer 
gegenüber,  er  sagt  zutreffend  und  vorsichtig,  das  des  PI.  Um- 
gestaltungen von  technischem  geschiok  zeugen  (s.  4);  anderswo 
braucht  er  aber  stärkere  worte,  wie  das  modische  'groCszügig' 
(s.  15),  was  übers  ziel  hinausschielst.  dabei  macht  er  immerhin 
einige  hübsche  beobachtungen,  und  es  ist  auch  anzuerkennen,  dass 
der  Zusammenhang  inhaltlicher  und  wörtlicher  beziehungeu  ge- 
bührend ins  äuge  gefasst  wird,  und  wenn  der  ausdruck  auch 
öfter  etwas  vorbeitrifft  oder  mehr  auffallend  als  richtig  ist, 
so  sind  die  einzelnen  bemerkungen  lebhaft,  gescheit,  nicht  ohne 
geist,  und  verraten  einen  empfindlichen  sinn  für  ausdruck  und 
darstellung.  aber  einen  wert  für  unsere  erkenntnis  haben  sie 
kaum,  sie  sind  durchweg  subjectiv,  oft  oberflächlich,  oft  über- 
spitzfindig, es  ist  ein  bouquet  von  ersten  eindrücken,  das  er 
uns  präsentiert,  die  arbeit  ist  sozusagen  im  ersten  Stadium  ihrer 
entwicklung  schon  zum  druck  gekommen,  in  dem  Stadium  wo  der 
Stoff  interessiert,  wo  die  ersten,  fruchtbaren  gedankeu  entstehn. 
aber  die  dann  folgende  zusammenhängende  planmäfsige  Unter- 
suchung ist  ausgeblieben,  sollte  dies  urteil  falsch  sein,  so  hat 
der  autor  selber  schuld  daran,     was  er  bietet,    ist  auch   in  dem 

11* 


164  ROSENHAGEN    ÜBEK    iSEIDL 

rahmen  seines  tliemas  durcliaiis  unvollständig,  innerhalb  der 
grenzen  seines  beobaclitungsfeldes  muste  er  aber  vollständig  sein, 
denn  an  einzelnen  beispielen  hatte  bereits  Zvvierzina  die  motiv- 
mischung  des  PI.  genügend  dargetan  (aao.  s.  356  ff),  wenn  der 
verf.,  wie  er  mitteilt,  erst  nachträglich  bemerkt  hat,  dass  ihm 
dadurch  ein  grofser  teil  seiner  arbeit  vorweggenommen  war,  so 
111  liste  ihm  das  umsomehr  ein  wink  sein,  zu  ergänzen  was  noch 
fehlte,  aufserdem  ist  die  anorduung  der  arbeit  derartig,  dass  man 
sie  mit  dem  worte  'locker'  sehr  milde  bezeichnen  würde,  sie  bildet 
für    den  der  sich  unterrichten  will,    ein  fortwährendes  hemmnis. 

Die  behandlung  des  eigentlichen  themas  gliedert  sich,  wie 
folgt;  1)  Beimischung  von  eiuflüssen  der  volkstümlichen  dichtung, 
2)  Ethik  und  Weltanschauung,  3j  Taten  und  geschehnisse,  4)  Son- 
stiges, also  die  hauptsache  und  grundlage  als  nummer  3  bei- 
nah am  ende,  dinge  die  erst  von  da  aus  zu  beurteilen  sind  voran, 
bei  nummer  2  kann  man  überhaupt  zweifeln,  ob  es  noch  zur  sache 
gehört:  sind 'treue',  'aberglauben' motive?  ferner  verspricht  der 
verf.  unter  nr  1  die  motive  (die!)  anzugeben,  an  denen  die  ein- 
würkung  volkstümlicher  dichtung  zu  spüren  ist.  dann  müste 
doch  der  folgende  teil  sich  mit  der  einwürkung  der  höfischen 
dichtung  beschäftigen,  aufserdem,  und  das  ist  wichtiger,  führt 
hier  die  abtrennung  der  'volkstümlichen  gedichte'  irre,  es  kommt 
für  die  Pleierfrage  die  deutsche  Epik  als  ganzes  in  betracht. 
dieser  unterschied  darf  hier  nicht  gemacht  werden,  für  den  PL 
hat  er  sicher  nicht  existiert. 

In  dem  ersten  teile  bringt  nun  der  verf.  zuerst  'Streiflichter 
auf  den  wort-  und  namenschatz'  und  sagt  wörtlich  'einmal  Garel 
11398  entschlüpft  dem  PI.  eine  volkssängerische  aufmerksamkeits- 
erregung  nu  miiget  ir  hceren  une  er  sprach,  der  in  Dietrichs 
Flucht  so  häutig  (4  112  u.  ö.)  vorkommende  ermunterungsruf:  nu 
sult  ir  hceren  wie  er  sprach  kommt  recht  nahe,  aber  auch  die 
(damit)  gleichlautende  zeile  Parz.  310,  14.  Lanz.  4276  stimmt 
mit  der  Garelzeile  völlig  übei-ein.  es  ist  ganz  bezeichnend,  dass 
dem  PL  gerade  bei  der  besprechung  eines  riesenkampfes  diese 
Wendung  aus  dem  stile  des  volkstümlichen  Vortrags  in  den  mund 
kommt',  das  ist  das  'Streiflicht  auf  den  Wortschatz',  in  dem 
letzten  satz  ligt  im  kern  eine  richtige  tendenz,  nur  ist  sie  falsch 
angewant,  weil  dem  verf.  die  kenntnisse  fehlen,  um  zu  beurteilen 
was  bezeichnend  ist.  es  ist  zu  fürchten,  dass  er  sie  auch  gar 
nicht  gesucht  hat.  dann  folgen  unter  dem  'volkstümlichen'  noch 
drei  stücke,  von  denen  nur  nr  3  'zwerge'  hinpasst,  während  in 
nr  2  'riesen'  und  nr  4  'gärten'  motive  behandelt  werden,  die 
grade  aus  höfischen  romanen  stammen,  es  zeigt  sich,  wie  miss- 
lich es  ist,  die  sogen,  volktümliche  dichtung  abzusondern. 

Die  weitere  gliederung  der  arbeit  zu  widerholen,  ist  hier 
nicht  am  platze,  dies  'Streiflicht'  mag  genügen,  nur  einige  ein- 
zelheiten  mögen  noch    folgen,     die    'wilden    leute'    im    Meleianz 


DEIi    SCHWAK    VON    DKK    SAT.ZACH  165 

werden  zu  unrecht  mit  den  zwergen  vermischt  (s.  18),  sie  sind 
etwas  ganz  anderes,  wie  man  sie  sich  dachte  und  mimisch  dar- 
stellte, zeigen  viele  bilder  in  handschriften,  für  jedeiunann  zu- 
gänglich das  bild  vom  schembartlaufen  in  Vogts  Litteratur- 
geschichte.  die  befreiung  des  Tandareis  durch  die  Schwester 
seines  feindes  auf  dem  schlösse  Montane  kluse  will  der  verf. 
alleine  auf  eine  Vermischung  der  besonders  im  Lanzel.  gegebenen 
litterarischen  motive  zurückführen,  es  ist  doch  aber  einer  der 
fälle,  wo  der  PI.  eine  form  der  erzählung  bietet  die  ihr  analogon 
nur  in  Frankreich  hat,  nämlich  im  Karrenritter  Clirestiens,  und 
die  möglicherweise  ursprünglicher  ist.  mein  versuch,  diese  tat- 
sache  aus  einem  verloren  gegangenen  deutschen  Lanzelot  zu  er- 
klären (Zs.  f.  d.  phil.  29,  155  ffj.  war  allerdings  nicht  ausreichend 
begründet,  wie  von  Wechlsler  mit  recht  gerügt  worden  ist.  aber 
erklärt  ist  die  sache  damit  noch  nicht,  auch  ist  da  noch  immer 
die  anspielung  Wolframs  im  anfang  des  xii  buches.  die  müssen 
wir  doch,  ob  Kyot  sei  oder  nicht  sei,  als  eine  anspielung  auf 
etwas  in  Deutschland,  doch  wahrscheinlich  in  litterarischer  form, 
bekanntes  ansehen,  wie  die  auf  Laneien  rat,  auf  den  Iwein;  sonst 
kommen  wir  noch  dazu,  auch  das  citat  aus  Walther  auf  die  frz. 
vorläge  zurückzuführen',  s.  38  wird  Stricker  Daniel  1051  des 
vart  er  nächjagete  falsch  gedeutet,  vart  heilst  hier  nicht  'fährte', 
sondern  es  liegt  eine  sachliche  confusion  vor.  die  worte  be- 
deuten 'hinter  dem  er  her  ritt',  der  riese,  um  den  es  sich  han- 
delt, ist  aber  gar  nicht  vor  ihm.  sondern  bei  Artus  geblieben. 
§  21  trägt  die  Überschrift  'entzündung  und  heilung".  das  wort 
entzündung  soll  aber  etwas  ganz  anderes  heil'sen,  als  man  in  der 
nachbarscliaft  von  'heilung'  erwarten  muss.  der  verf.  meint  da- 
mit das  beliebte  motiv,  dass  der  kämpfer  durch  den  gedanken 
an  die  geliebte  neue  kräfte  gewinnt,  dann  geht  es  weiter:  'etwa 
die  entgegengesetzte  Wirkung  dieser  von  den  dichtem  oft  ge- 
brauchten kampfaufreizung,  heilung  der  geschlagenen  wunden, 
üben  die  salben  aus",  und  es  folgen  beispiele,  wo  ritter  durch 
wunderbare  salben  geheilt  werden,  an  diesen  salto  schlielst  sich 
wider  die  durchaus  richtige  bemerkung  an,  dass  der  PI.  anre- 
gungen  aus  dem  wunderbaren,  unwahrscheinlichen  ins  nüchterne, 
denkbare  überträgt,  das  ist  ja  des  pudels  kern !  der  PI.  ist 
weder  ein  gedankenloser  plagiator,  noch  ein  erfindungsreicher 
poet,  sondern  ein  mann  des  gesunden  menschenverstandes,  des 
nur. gesunden  menschenverstandes,  ein  wahrer  Schulmeister  mit 
seiner  deutlichkeit  und  Umständlichkeit,  der  nicht  ruht,  bis  alle 
es  begriffen  haben,  die  arf.  wie  er  jedes  ding  zu  seiner  zeit 
nicht  zu  widerholen  unterlässt,  erinnert  an  die  methode  Gouin: 
'ich  stehe  auf,  ich  verlasse  meinen  platz,  ich  gehe  nach  der  tür, 
ich  fasse  den  drücker  an  usw.'  eben  darum  ist  er  auch  in  der 
läge,  die  compositionen  von  planer  Übersichtlichkeit  anzulegen 
^  vgl.  Martin  Parzival  n,  xi.vii. 


166  ROSEXHAGEN    ÜBEß    SEIDL 

und  durchzuführen,  der  richtige  'aufbauarchitekt' !  wie  dieser  als 
dichterinterpret  und  jene  metliode  als  Unterrichtsmittel  versagt 
wo  es  über  das  ewig  äulserliche  hinausgeht,  so  geht  es  auch 
dem  PI.  ein  gutes  beispiel  dafür  ist  die  rahraengeschichte  im 
Tandareis,  wo  das  'don',  jenes  vor  äufserung  der  bitte  von  Artus 
gewährte  versprechen,  die  armatur,  das  äul'serlich  zusammenhal- 
tende gerüst  für  den  ganzen  roman  liefert,  dringt  man  nicht 
weiter  in  die  tiefe,  so  ist  die  sache  würklich  nett,  beinah  archi- 
tektonisch durchgeführt,  aber  in  der  nähe  besehen  ist  alles 
hohl,  und  die  fugen  der  verschiedenen  hier  aneinandergeklebten 
motive  lösen  sich,  dabei  ist  aber  ganz  deutlich  zu  sehen,  was 
der  PL  gewollt  hat.  im  einzelnen  das  auszuführen,  würde  zu 
viel  räum  in  anspruch  nehmen. 

Ein  hinweis  sei  noch  verstattet,  auf  welche  weise  vielleicht 
aus  dem  stil  Schlüsse  gezogen  werden  können.  Die  formel  nv 
läze  wir  die  rede  heUhen  in  ihren  verschiedenen  Varianten  wird 
sehr  häutig  im  Grarel,  etwas  weniger  oft  im  Tandareis  gebraucht, 
aber  in  beiden  an  wichtigen  Übergängen  in  der  deutlichen  gliede- 
rung,  speciell  im  Tand,  sind  es  deutliche  neue  anfange  1590.  4891. 
5540.  8301.  9668.  11662.  11746.  11931f.  13263.  13496. 
13779.  144^3,  15453.  im  Meleranz  kommt  der  formeltypus,  so- 
weit ich  sehe,  nur  3  mal  vor,  an  der  einen  stelle  an  einem  wich- 
tigen anfange,  dem  beginn  der  zweiten  abenteuerfahrt  4133 
(weniger  scharf  2743.  11513).  ähnlich  ist  es  in  der  Gudrun 
67.  563.  630.  951.  1071.  1165,  auch  1695.  daraus  kann  natür- 
lich nichts  weiter  geschlossen  werden,  als  dass  derjenige  welcher 
die  formel  braucht,  und  der  welcher  den  plan  der  erzählung  ent- 
worfen hat,  dieselbe  person  sind,  jedenfalls  würde  es  sich  ver- 
lohnen, solche  Überleitungsformeln  in  gröl'serem  zusammenhange 
zu  studieren,  früher  kann  man  nichts  damit  beweisen,  auch  nicht 
dass  etwa  die  Gudrun  hierin  ein  vorbild  des  PI.  wäre. 

Der  Garel  ist  sicher  älter  als  der  Tand.;  im  übrigen  ist 
die  reihenfolge  der  drei  werke  nicht  bestimmbar,  das  hat  wol 
nicht  viel  zu  bedeuten,  immerhin  ist  der  versuch  den  Seidl 
macht,  hierin  weitere  klärung  zu  schaffen,  als  solcher  begreiflich, 
nur  bringt  er  ihn  an  verkehrter  stelle,  vor  dem  hauptteil,  und 
seine  gründe  sind  so  dürftig,  dass  er  selber  erklärt,  einen  un- 
mittelbaren beweis  nicht  geben  zu  können,  nun,  dann  hätte  seine 
ganze  ausführung,  welche  dahin  geht,  dass  der  Meleranz  das 
erste  stück  sei,  nicht  gedruckt  zu  werden  brauchen,  wo  nicht, 
wie  im  Tand.,  die  anspielung  auf  das  frühere  werk  klar  vor 
äugen  liegt,  können  solche  reihenfolgen  nicht  auf  grund  einzelner, 
zufälliger  beobachtungen  bestimmt  werden,  man  darf  von  dem 
autor  verlangen,  dass  er  weil's,  was  für  mühe  man  sich  in  der- 
selben frage  etwa  bei  Hartmann  und  Konrad  von  Würzburg 
gemacht  hat.  er  konnte  vom  standpuncte  seines  themas  die 
frage  ganz  unberührt  lassen,    aber   sie  so  schlankweg  unter  der 


DER  SCHWAN  VON  DER  SALZ  ACH  167 

eleganten  rubrik  'einleitendes  und  vorwegnahmen'  zu  erledigen, 
das  ist  doch  allzu  schlank. 

Es  kann  also  der  arbeit  nach  genauer  prüfuug  nur  das  ver- 
dienst zugesprochen  werden,  darauf  aufmerksam  gemacht  zu  haben, 
dass  auch  am  Pleier  noch  allerlei  zu  tun  ist.  umsomehr  als  der 
bald  verjährte  angriff  Wechfslers  gegen  die  Originalität  der  werke 
des  Strickers  und  Fleiers  noch  nicht  erledigt  ist.  meiner  meinung 
nach  ist  die  unter  den  germanisten  herschende  auffassung  richtig, 
das  darf  aber  nicht  dagegen  blind  machen,  dass  bei  beiden  dich- 
tem manches  ungeklärt  ist,  dass  im  Daniel  des  Strickers  sogar 
Unklarheiten  eigener  art  vorkommen,  und  wir  müssen  den.  kennern 
der  französischen  litteratur  dankbar  sein,  wenn  sie  uns  das  zur 
vergleichung  nötige  material  liefern,  nur  rauss  uns  es  frei 
stehn,  es  zu  beurteilen,  das  was  einem  mhd.  dichter  zuzutrauen 
ist  an  eigener  leistung,  das  lässt  sich  mit  einzelnen  inhaltlichen 
parallelen  nicht  alleine  feststellen. 

Noch  eins:  was  soll  der  'schwan  von  der  Salzach'?  ist  das 
spass:  ein  theaterscliwan  mit  aufgeklebtem  gefieder?  oder  ernst? 
ist  der  PL  ein  heros  des  localpatriotismus  für  Salzburg  ge- 
worden ? 

Hamburg.  G.  Rosenhagen. 


Zur  metrik  und  textkritik  von  Heinrich  Heslers  Evan- 
gelium Nicodemi  von  Arthur  Klatscher.  Jahresberichte  der 
k.  k.  staats-oberrealschule  in  Eger  für  das  Schuljahr  1907  — 190S, 
Eger  190S,  24  ss.  und  d.  Schuljahr  190S— 1909,  Eger  1909, 
31  SS.  8". 

Der  Verfasser  untersucht,  in  der  hauptsache  auf  grund 
meiner  ausgäbe,  an  deren  text  er  indessen  in  ca.  200  versen 
änderungen  wünscht,  in  i  die  metrische  Verwendung  der  namen 
und  composita,  das  vorkommen  einsilbiger  substantiva  in  der 
Senkung,  die  abweichungen  vom  natürlichen  accent ;  in  ii  die 
Synkope  der  senkungssilben,  die  zweisilbigkeit  der  Senkung 
nach  langer  hebung,  die  zahl  der  fülse,  den  auftact  und  das 
vorkommen  des  liiatus.  daran  schliefsen  sich  die  betrachtungen 
einiger  doppelformen,  bemerkungen  über  die  metrische  stelle 
Heslers,  endlich  eine  Zusammenstellung  der  vorgeschlagenen  text- 
änderungen. 

Wenn  ich  Klatschers  aufstellungen  nur  zum  teil  zustimmen 
kann,  so  ligt  das  daran,  dass  seine  auffassung  von  Heslers  vers 
sich  von  der  meinen  in  zwei  wichtigen  puncten  unterscheidet, 
und  ich  mich  von  der  richtigkeit  seiner  ansieht  nicht  zu  über- 
zeugen vermag. 

K.  meint,  für  Hesler  sei  die  principiell  gleiche  silbenzahl 
der  reimpaare  nicht  anzunehmen,  ich  habe  sie  aus  seiner 
metrischen    stelle    in    der  Apokalypse    herausgelesen    und    mich 


168  HELM    ÜBER    KLATSCHER 

bei  der  textherstelluiig  darnach  gerichtet,  nach  K.s  Widerspruch 
muss  ich  auf  diesen  punct  wo]  nochmals  eingehn.  die  genannte 
forderung  und  ich  zunächst  in  v.  1442  ff  ausgesprochen,  ich 
gebe  zu,  dass  die  stelle  nicht  ganz  einfach  zu  deuten  ist,  ganz 
unverständlich  ist  mir  aber,  wie  K.  sie  wider  auf  den  endreim 
hat  beziehen  können,  mit  ihr  stehn  doch  die  verse  1446 — 1459, 
in  denen  von  der  silbenzahl  der  verse  gesprochen  wird,  in  engstem 
Zusammenhang,  schon  daraus  folgt,  dass  1442f  auf  den  vers  zu 
beziehen  sind.  Hesler  redet  also  hier  von  dem  vollständig 
gleichen  i  abwägen  der  verse,  also  —  da  er  als  mafstab  für 
dieses  abwägen  nur  die  silbenzahl  kennt  —  von  ihrer  gleichen 
silbenzahl.  da  er  ja  nun  aber  gleiche  silbenzahl  für  alle  verse 
des  gedichtes  nicht  im  entferntesten  fordert,  muss  sich  seine 
forderung  an  dieser  stelle  auf  kleinere  textgruppen  beziehen; 
ich  fasse  deshalb  die  fime,  für  die  er  die  forderung  aufstellt,  als 
reimpaar,  im  hinblick  auf  Jeroschin  v.  239,  wo  auch  von  reim- 
paaren  die  rede  ist.  darin  seh  ich  nicht,  wie  K.,  einen  schluss 
von  Jeroschin  auf  Hesler;  vielmehr  wird  nur  die  aus  H.  wahr- 
scheinlich gemachte  Interpretation  durch  die  deutlichere  äufserung 
Jeroschins  gestützt,  sie  lässt  sich  aber  auch  aus  H.  selbst  weiter 
stützen,  zunächst  durch  v.  1383;  denn  in  v.  1379 ff  wird  eben- 
falls nicht  nur  von  reim-,  sondern  auch  von  versfehlern  ge- 
sprochen, ich  interpretiere  die  stelle:  '.  .  die  leichtfertigen,  die 
bücher  machen  wollen  .  .  .  und  einen  vers  zum  anderen  finden 
(also  reimpaare  bilden),  aber  beide  verse  nicht  durch  den  richtigen 
reim  verbinden  und  auch  nicht  gleich  abwägen',  es  ist  also  auch 
hier  von  reimpaaren  die  rede,  und  es  wird  ein  fehler  in  ihrem 
bau  gerügt,  den  vermieden  zu  haben  H.  in  v.  1442f  von 
sich  rühmt. 

Endlich  v.  1473ft";  auch  diese  fasst  K.  falsch  auf,  wenn  er 
1473f  auf  die  zweisilbig-stumpfen  reime,  v.  1475  f  auf  die  silben- 
verschleifung  bezieht,  die  ganze  partie  ist  vielmehr,  obwol  sie 
zwei  verschiedene  einzelerscheinungen  (1473f  und  1476  ff)  nennt, 
doch  als  eine  in  sich  einheitliche  ausnahmelicenz  aufzufassen, 
das  wird  durch  die  einleitenden  worte  doch  dinge  ich  onch  uz 
diz  eine  sicher  gestellt,  einheitlich  gefasst  kann  die  stelle  aber 
nur  den  sinn  haben,  sie  soll  abweichungen  von  der  zu  erwarten- 
den silbenzahl  rechtfertigen,  man  könnte  nun  meinen,  und 
Bartsch  hat  dies  auch  getan,  dass  H.  solche  fälle  im  äuge  habe, 
in  welchen  das  festgesetzte  maximum  oder  minimum  der  silben- 
zahl überschritten  bzw.  nicht  erreicht  sei.  aber  derartige  fälle 
kommen  entweder  gar  nicht  vor,  oder,  wenn  einige  solche  verse 
anzunehmen  wären,  in  so  geringer  zahl,  dass  der  Wortlaut  von 
V.  1473  daz  ich  dicke  usw.  nicht  gerechtfertigt  wäre,  wider 
bleibt  nur  die  annähme  übrig,  dass  von  ausnahmen  die  rede  ist, 

•  ebe/i(/Uche.'     das    ebe/i    darf    bei    der    Interpretation    nicht     über- 
sehen werden. 


METRIK    UND    TEXTKRITIK    HESLEES  169 

durch  welche  die  gleichsilbigkeit  der  verspaare  gestört  wird, 
wenn  in  einem  vei^s  zwei  silben  eintreten,  wo  der  entsprechende 
reimvers  nur  6ine  hat.  es  ist  also  wider  dasselbe,  was  Jer. 
deutlicher  in  v.  297f  ausdrückt,  ich  halte  also  an  der  prin- 
cipiellen  gleichsilbigkeit  der  verse  eines  reimpaares  fest  und 
daran,  dass  es  richtig  war  sie  durchzuführen,  dass  es  mir  in 
jedem  einzelnen  fall  gelungen  sei  richtig  zu  erkennen,  ob  dies 
princip  bewahrt  oder  durchbrochen  ist.  behaupt  ich  natürlich 
nicht  und  will  deshalb  gerne  textbesserungen,  wenn  sie  genügend 
begründet  werden  können,  anerkennen. 

Ein  zweiter  punct,  in  dem  ich  mit  K.  nicht  übereinstimme, 
ist  der  rhythmus  der  verse.  K.  stellt  selbst  fest,  dass  H.  sich 
Synkope  von  Senkungen  in  grofsem  umfang  gestattet:  etwa  540 
fälle  erkennt  er  an,  in  welchen  einsilbler  oder  nicht  componierte 
zweisilbler  beschwerte  hebung  tragen ;  dazu  kommen  rund  400 
fälle,  in  welchen  diese  auf  compositis  und  fremden  namen  ligt. 
nicht  selten  begegnen  in  einem  vers  zwei  beschwerte  hebungen. 
aus  diesen  Verhältnissen  folgert  K.  mit  recht,  dass  es  nicht  an- 
gehe, H.  'mit  dichtem,  welche  den  regelmäfsigen  Wechsel 
von  hebung  und  Senkung  anstreben,  in  eine  reihe  zu  stellen'. 

Dasselbe  folgt  aus  den  zweifellos  vorhandenen  zweisilbigen 
Senkungen,  von  denen  K.  wenigstens  einen  teil  anerkennen  muss 
(vgl.  ii  s.  22  und  27  A,  iva).  in  würklichkeit  ist  ihre  zahl  viel 
gröfser ;  denn  was  K.  §  6  über  die  möglichkeit  sagt,  einsilbigkeit 
herzustellen,  gibt  natürlich  keine  Wahrscheinlichkeit  dafüi-,  dass 
sie  von  H.  beabsichtigt  ist.  und  kein  recht  sie  durchzuführen, 
wenn  nicht  die  von  H.  selbst  aufgestellten  regeln  es  fordern, 
ihr  widerspricht  auch  nicht  selten  der  schreibgebrauch  jener  hss., 
welche  sprachlich  dem  original  nahestehn. 

Trotz  dieser  Verhältnisse  nimmt  K.  nun  aber  in  weit- 
gehndem  umfang  alternierenden  rhythmus  bei  Hesler  an.  ich 
glaube,  dass  dies  mit  den  genannten  beiden  tatsachen  nicht  zu 
A^ereiubaren  ist.  und  lehne  deshalb,  auch  auf  die  gefahr  hin  dass 
gelegentlich  schwere  zweisilbige  Senkungen  oder  schwaclie  hebungen 
mit  in  kauf  zu  nehmen  sind,  änderungen  die  zu  alternation  füliren 
sollen  ab.  ebenso  les  ich  alle  die  verse,  bei  welchen  K.  unter 
beibehaltung  meines  textes  alternierend  skandiert,  anders  als 
er;  also  3402  du  vorriete  mit  nnkust  nicht  dn  vorriete  mit 
nnkiist  (i  s.  12);  4739  swen  daz  urteil,  nicht  fiwen  ddz  urteil 
(i  s.  13),  denn  hier  den  artikel  zu  betonen,  ist  ganz  gegen  den 
sinn  des  verses;  2831  daz  n-ärt  in  sneUichen  hrdht,  nicht  ddz 
wart  in  usw.  (i  s.  15);  1303  daz  Jt'sus  hlihit,  nicht  ddz  Jesus 
hlihc'ty  3564  daz  ivir  niht  werden  vorlörn,  nicht  daz  wir  niht 
werden  vorlörn  (i  s.  23)  usw.  so  schwindet  der  gröste  teil  der 
in  §  4  verzeichneten  abweichungen  vom  natürlichen  accent,  und 
auch  in  den  andern  paragraphen  sind  zahlreiche  beispiele  anders 
einzuordnen,  §  5  und  6  erhalten  grolsen  Zuwachs. 


170  HELM    ÜBER    KLATSCHER 

Auch  abgesehen  von  der  bevorzugung  der  alternation  ist 
K.s  accentuierung  in  manchen  versen  nicht  gut,  so  muss  in 
V.  545  (n  s.  6)  slüc  unbedingt  den  accent  tragen,  was  K.  nur  in 
den  anmerkuugen  als  eine  nach  seiner  ansieht  offenbar  weniger 
gute  lesung  verzeichnet,  in  v.  1448  fii  s.  12}  ist  ebenso  genüc 
oder  gnnc  mit  beschwerter  hebung  zu  betonen. 

Auf  alle  einzelheiten  der  lesungen  K.s  und  der  von  ihm 
vorgenommenen  textänderungen  im  einzelnen  einzugelm  ist  un- 
möglich, übrigens  auch  unnötig,  da  meine  Stellung  dazu  aus  dem 
ausgeführten  in  den  meisten  fällen  klar  ersichtlich  ist.  eine 
zwingende  notwendigkeit  ligt  abgesehen  von  den  änderungen  in 
v.  1732  und  2515,  die  in  meinem  text  versehentlich  elfsilbig 
sind,  nur  selten  vor.  in  einer  ziemlichen  anzahl  muss  die  mög- 
lichkeit,  dass  K.s  änderung  das  richtige  trifft,  zugegeben  werden, 
so  ist  gegen  die  enklise  von  sie  in  fällen  wie  sprachens  1480 
usw.  principiell  nichts  einzuwenden,  soweit  die  Silbengleichheit 
der  reimpaare  dadurch  gestört  wird,  sind  solche  verse  den  von 
Hesler  gestatteten  ausnahmen  zuzuzählen,  ein  teil  von  K.s  än- 
derungen ist  dagegen  nicht  haltbar;  so  die  in  v.  4087  gegen 
die  hss.  GS.  —  in  v.  1888  (i,  s.  4  anm.  4)  muss  die  von  mir 
vorgenommene  tilgung  von  zu  bestehn  bleiben,  da  die  von  K. 
augeführten  parallelstellen  nichts  beweisen:  in  v.  697  ist  zu  eben- 
falls zu  streichen,  hauen  in  v.  842  ist  nicht  inönitiv  sondern 
Substantiv  (vgl.  auch  Ap.  7242.  14329).  —  v.  2811  (K.  n  s.  13, 
anm.  9)  ist  bei  ^veres  du  zu  bleiben,  denn  es  ligt  wie  sonst 
nach  al,  alein  der  conjunctiv  vor;  vgl.  4147,  Ap.  13054 f.  17706. 
usw.  und  die  reimbelege  Ap.  14087  und  EN.  4140.  —  y.  5175 
(K.  n  s.  13,  anm.  2)  ist  von  mir  geändert,  weil  bereits  v.  5168 
nemac  steht  und  der  Schreiber  wol  aus  nachlässigkeit  den  aus- 
druck  nochmals  aufgenommen  hat.  —  3194  (n  s.  \^)  sunnenUeJit 
(adj.)  ist  beizubehalten ;  nur  daraus  erklärt  sich,  dass  die  anderen 
hss.  ändern.  —  meine  lesart  in  v.  233  (i  s.  4)  beruht  auf 
einem  druckfehler,  ebenso  in  8  und  13  (siehe  PBBeitr.  33,  402) 
und  3914. 

Zu  bedauern  ist,  dass  K.  die  von  mir  PBBeitr.  24  ange- 
wendete namensform  Heinrich  Hesler  acceptiert  hat,  obwol  sich 
schon  ESchröder  Zs.  43  mit  recht  dagegen  gewendet  hat  und  ich 
selbst  in  der  einleitung  zu  meiner  ausgäbe  s.  lxxxii  auf  grund 
von  Heslers  eigenen  Worten  (Ap.  16480)  zeigen  konnte,  dass  er 
zweifellos  ritterlichen  Standes  war.  hoffentlich  geben  ihm  andere 
hinfort  seinen  richtigen  namen. 

Endlich  muss  ich  leider  noch  auf  die  druckfehler  zu  sprechen 
kommen,  ich  tu  es  nicht  gern,  denn  wir  sündigen  alle  in  diesem 
punct  und  müssen  deshalb  auch  gegen  andere  nachsieht  üben, 
aber  es  gibt  doch  auch  da  grenzen,  die  eingehalten  werden 
sollten,  bei  K.  stehn  aufser  den  von  ihm  ii  s.  31  verbesserten 
druckfehlern    noch    dutzende    im    text.     dabei   will  ich  von  den 


METRIK    UND    TKXTKMTIK    HESLERS  1  7  1 

buchstabenverwechslungen  gar  nicht  reden,  die  mögen,  so  häutig 
sie  sind,  noch  hingehn.  schlimm  ist  aber  die  häuHgkeit  falscher 
accente.  hauptsächlich  wird  sie  dadurch  hervorgerufen,  dass  l 
statt  i  steht,  aber  auch  andere  buchstaben  sind  fälschlich  mit 
accent  gesetzt;  so  stehn  in  beiden  heften,  namentlich  im  ersten, 
versteile  die  zu  viel  accente  haben  (zb.  i  s.  15:  wir  nlewerlde 
usvi^.)  und  ganze  verse  mit  fünf  oder  gar  sechs  accenten,  w^ie 
IS.  19,  V.  2226  und  alle  die  le  Hb  he'ten,  s.  23,  v.  4895  vll  sät, 
noch  werdet  Ir  säter ;  ii  s.  9,  v.  1278  die  säzni  mit  Ime  daran. 
gelegentlich  v^'ird  dadurch  K.s  auffassung  gar  nicht  auf  den 
ersten  blick  kenntlich,  wenn  man  erst  nachsehen  muss,  welche 
accente  nach  der  Überschrift  des  paragraphen  die  richtigen  sein 
müssen;  man  vgl.  noch  i  s.  23,  v.  4837  ob  ienihi  ungütl-v,  gemeint 
ist  6b  iemen  mit  versetztem  accent.  gezählt  habe  ich  diese 
fehler  nicht;  hier  nur  drei  Stichproben:  heft  ii  s.  5  haben  unter 
04  versen  vier  je  fünf  accente,  zwei  nur  drei  accente;  in  heft  i 
stehn  auf  der  halben  seite  19  (§  3  a)  unter  35  versen  vier  mit 
je  fünf  accenten,  einer  mit  sechs,  einer  mit  drei,  s.  23  la  unter 
36  versen  gar  elf  mit  je  fünf,  zwei  mit  sechs,  einer  mit  drei 
accenten,  hier  also  rund  zw^ei  fünftel  mit  fehlerhafter  accentuierung 
—  und  dabei  sollte  gerade  in  einer  metrischen  Untersuchung  der 
Verfasser  es  sich  doch  in  erster  linie  angelegen  sein  lassen,  für 
möglichste  genauigkeit  der  accentuierung  zu  sorgen. 

Giessen,  2   april   1910.  Karl  llelin. 


Joachim  Greff.  untersuciiunofen  über  die  anfange  des  reuais- 
saucedramas  in  Sachsen  von  Keinhard  ßiiclnvald,  [Probefahrten 
11.  baud.l    Leipzig-,  RVoigtläuder,  1907.   X  u.  S9  ss.  8".  —  3,60  m. 

Für  die  oft  beobachtete  tatsache,  dass  eines  dichters  histo- 
rische bedeutung  erheblich  gröfser  sein  kann  als  der  ästhetische 
wert  seiner  litterarischeu  production,  dafür  ist  Joachim  Greff  ein 
besonders  markantes  beispiel.  er  gehört,  ästhetisch  angesehen, 
unzweifelhaft  zu  den  am  wenigsten  begabten  dramatikern  des 
16  jh.s,  und  die  leisen  versuche  Buchwalds,  auch  ihm  'ästhetische 
kunstbetrachtung'  (s.  43)  und  'sinn  für  psychologische  feinheiten' 
(s.  51)  zuzuschreiben,  werden  gewis  nicht  auf  billigung  rechnen 
können,  aber  Greffs  historische  Stellung  berührt  das  kaum:  mag 
er  ein  noch  so  kümmerlicher  poet  gewesen  sein,  ihm  bleibt  der 
rühm  als  erster  die  neue  form  des  deutschen  renaissancedramas 
in  das  mutterland  der  reformation  eingeführt  zu  haben,  der  be- 
queme ausdruck  'deutsches  renaissancedrama'  soll  nicht  etwa 
ästhetische  emptiudungen  wecken,  sondern  nur  andeuten,  dass  es 
sich  um  ein  drama  in  deutscher  spräche  handelt,  dessen  compo- 
sition  im  wesentlichen  der  römischen  komüdie  nachgebildet  ist. 
in  welcher  weise  Greff  diese  neue  form    des    dramas    bemeistert 


172  MICHEL  ÜBER  BUCH  WALD 

hat,  das  zu  zeigen,  wird  somit  die  bauptaufgabe  einer  ihm  ge- 
widmeten monographie  sein.  B.  verwendet  nur  den  vierten  teil 
seines  buches  (s.  64 — 86)  auf  die  besprechung  der  dramatischen 
technik,  aber  bei  dem  erstaunlichen  maugel  an  Untersuchungen 
dieser  art  müssen  wir  ihm  auch  hierfür  dankbar  sein,  zumal  da 
er  durchaus  den  blick  für  die  in  frage  kommenden  problenie  be- 
sitzt, so  hat  er  zb.  richtig  erkannt  (s.  69  f),  dass  die  actein- 
teilung  bei  Greff  keine  nachträgliche  oder  äulserliche  zutat  ist, 
sondern  'ein  von  vornherein  constructives'  —  ich  würde  sagen: 
ein  constitutives  —  'nionienf.  genauere  betrachtung  hätte  ihn 
belehrt,  dass  auch  die  sceneneinteilung  nicht  ganz  so  unklar  ist 
wie  sie  ihm  erscheint  (s.  71  ff),  wobei  vor  allem  ort  und  zeit 
und  deren  Veränderlichkeit  auf  der  bühne  (s.  77  ff)  mehr  zu 
berücksichtigen  gewesen  wären,  freilich  ist  zuzugeben,  dass  bei 
Greff  in  diesei'  hinsieht  nicht  selten  eine  gewisse  Verworrenheit 
zutage  tritt,  weil  ihn  die  Vorstellung  des  mittelalterlichen  bühnen- 
bildes  trotz  allen  antikisierenden  tendenzen  noch  stark  beherscht. 
lässt  sich  doch  ähnliches  selbst  beim  'Acolastus'  des  Guapheus  be- 
obachten, dessen  einfluss  auf  Greffs  dramatische  technik  B.  allzu 
zögernd  andeutet  (s.   78). 

Um  die  bedeutung  der  scene  bei  Greff  festzustellen,  hätte  er 
auch  die  anderen  dramatiker  der  ersten  hälfte  des  16  jh.s  unter 
diesem  gesichtspunct  prüfen  müssen,  aber  daran  hat  er  es  leider 
fehlen  lassen,  —  und  das  lenkt  uns  auf  einen  grundmangel  seiner 
Untersuchung:  sie  zeigt  zu  wenig  Vertrautheit  mit  den  Zeitgenossen 
Greffs  und  wirtschaftet  zu  viel  mit  der  litteratur  über  die  litt^- 
ratur.  ich  würd  es  bedauern,  wenn  Creizenachs  unschätzbares 
repertorium,  wie  es  beinah  den  anschein  hat,  dazu  verführen 
sollte,  das  legimus  aliqua,  ne  legantur',  dessen  er  sich  rühmen 
durfte,  allzu  wörtlich  zu  nehmen;  und  es  bedarf  nicht  erst  der 
hervorhebung,  dass  für  die  lectüre  der  quellen  auch  die  special- 
litteratur  keinen  ersatz  bieten  kann,  selbst  wenn  man  sie  in 
gröfserer  Vollständigkeit  heranzieht  und  kritischer  bewertet,  als 
B.  es  tut.  wer  das  drama  des  1 6  jh.s  einigermafseu  kennt,  wird 
auf  bücher  wie  Zellwekers  'Prolog  und  Epilog*  (1906),  das 
B.  oft  citiert,  getrost  verzichten  können,  dagegen  lässt  sich  aus 
Franckes  'Terenz  und  die  lateinische  schulkomödie  in  Deutsch- 
land' (1877)  auch  heute  noch  einiges  lernen,  vorausgesetzt  dass 
man  den  chronologischen  Wirrwarr  des  ganzen  beseitigt  und  keine 
einzige  der  vielfach  ungenauen  angaben  kritiklos  übernimmt.  B. 
hat  weder  das  eine  noch  das  andere  getan,  und  so  linden  wir 
auch  bei  ihm  jenes  unhistorische  gleichsetzen  der  verschiedensten 
epochen,  wenn  etwa  s.  35  Eudolf  Agricola  (der  14  85  starb)  und 
die  Württemberger  kirchenordnung  (die  1559  erlassen  wurde) 
in  einem  atem  genannt  werden,  oder  Adam  Puschmann  (1532 — 
1600)  mehrfach  (bes.  s.  68)  als  kronzeuge  für  drama  und  bühne 
der  ersten  hälfte  des   16  jh.s  herhalten  muss.     so  scheint  B.  gar 


JOACHIM    GKEFP  173 

nicht  zu  bemerken,  dass  er  eine  ansieht  Franckes  trotz  dem  hin- 
weis  auf  diesen   g-eradezu    widerlegt,    wenn    er  s.  41  f   ausführt, 
dass  bereits   Greff   die    abneigung    vieler    dramatiker   gegen  die 
'fictae  fabulae'  teilt,  während  Francke  (Terenz  s.  59)  diese  Oppo- 
sition   vor   allem   von  den  Jesuiten    ausgehn    lässt.     was  hat  es 
überhaupt    für    einen   zweck,    zunächst   zu   erklären  (s.  41),  des 
Euanthius  theorie  einer  'historica  fides  verae  uarrationis'  habe  in 
der  bevorzugung  einer  komödie  fortgewirkt, 
Welche  nit  ist  ein  falsch  gedieht, 
So)idern  ein  gewiß  vnd  tvar  geschieht, 
und  dann  erst  Greffs  Stellung  zu  dieser  frage  zu  erörtern?    die 
eben  angeführten  verse,    die  B.  einem   etwas    längeren    citat  bei 
Francke  entnommen  hat,   stammen    aus    einem   deutschen  prolog 
zu  einem  lateinischen  drama  'Damascenus'  (cod.  lat.  monac.  ü32), 
das  ohne  zweifei  erst  der  zweiten    hälfte   des   16  jh.s  angehört. 

Ähnliche  beispiele  einer  aulserachtlassung  der  Zeitfolge 
machen  sich  auch  in  den  capileln  'Greffs  theoretische  anschau- 
ungen'  (s.  32 — 54)  und  'Quellenstudien'  (s.  55 — 63)  bemerkbar, 
die  sonst  gleich  dem  abschnitt  über  die  dramatische  techuik  neben 
manchem  zutreffenden  und  förderlichen  auch  allerlei  gewagtes, 
überflüssiges  und  unrichtiges  enthalten,  die  cxistenz  sächsischer 
fastnachtsspiele  scheint  mir  durch  die  abrupten  bemerknngen  s. 
59  ff  durchaus  nicht  'sicher  nachgewiesen'  is.  61).  über  den  dra- 
matiker Johannes  Rasser  (s.  48)  hätte  sich  B.  durch  einen  blick 
in  den  Goedeke,  vor  allem  aber  in  die  Allgemeine  Deutsche 
Biographie  27.  ;^32  f  unterrichten  können,  andere  einzelheiten 
übergeh  ich. 

Weniger  hat  das  erste  capitel  (s.  1 — 31)  unter  dem  mangel 
an  chronologischem  sinn  gelitten,  es  berichtet  unübersichtlich 
und  unlebendig,  doch  kundig  und  mit  neuen  ergebriissen  im  ein- 
zelnen über  Greffs  leben  und  werke,  überzeugend  find  ich  den 
nachweis  (s.  13  ff),  dass  Greff  den  'Jacob'  allein  verfasst  hat 
und  Georg  Major  dabei  nur  die  rolle  des  anregers  und  beraters 
zufällt,  dies  drama  wurde  übrigens,  was  B.  noch  nicht  wissen 
konnte,  1544  in  Altenburg  gespielt  (vgl.  MMeifsner,  Geistliche 
aufführuugen  und  schulkomödien  in  Altenburg:  Mitteilungen  der 
Geschichts-  und  altertumsforschenden  gesellschaft  des  Osterlandes 
bd.  11  [1907],  s.  351  ff),  das  gedruckte  stück  übersante  Greff 
bald  nach  der  Magdeburger  Uraufführung  im  jähre  1534  seinem 
väterlichen  freunde  Stephan  Roth  zugleich  mit  einem  briefe,  worin 
er  ihm  seine  zukunftspläne  auseinandersetzte,  dieser  wichtige 
brief,  den  Suhle  in  einem  Dessauer  schulprogramm  von  1888 
s.  30  f  zuerst  veröffentlicht  hat,  ist  bereits  von  Creizenach  und 
anderen  beachtet  worden;  eine  neue,  höchst  wunderliche  aus- 
legung  läfst  ihm  B.  zuteil  werden,  er  findet  darin  die  angäbe, 
Greff  habe  sich  durch  die  abfassung  und  buchhändlerische  Ver- 
breitung von  lesedramen  eine  materielle  existeuz  schaffen  wollen, 


174  .MICUEL    ÜBER    BUCHWALD,    JOACHIM    GREFF 

—  'ein  vorhaben,  das  in  solch  bewuster  und  extremer  form  trotz 
Gengenbach,  Henselj'n.  Folz  u.a.  originell  erscheint'  (s.  10).  ganz 
abgesehen  nun  davon,  dass  hier  der  'Henselyn'  offenbar  als  ein 
autorname  fungiert,  wie  in  aller  weit  konnte  der  verf.  den  Wort- 
laut jenes  briefes  nur  so  misverstehuV  mit  keiner  silbe  ist  da- 
rin von  einer  buchhändlerischen  Verbreitung  die  rede,  und  ich 
wüste  auch  nicht,  wie  ein  dramatiker  des  1  6  jh.s  auf  die  absurde  idee 
kommen  sollte,  sich  durch  den  vertrieb  von  selbstverfassten  lese- 
dramen  zu  ernähren,  bei  Gengenbach  ligt  die  sache  doch  ganz 
anders,  da  er  buchdrucker  und  dichter  in  einer  person  war. 
Greff  aber  hätte  sich  mit  dem  honorar  begnügen  müssen,  und 
wie  es  damit  im  16  jh.  stand,  das  kann  man  sich  schon  aus 
Kapps  mitteilungen  (Gesch.  des  deutschen  buchhandels  i  312  ff) 
vergegenwärtigen:  hätte  der  verf.  diese  gekannt,  die  unwahr- 
scheinlichkeit  seiner  Vermutung  wäre  ihm  wol  selbst  aufgegangen, 
seine  existeuz  auf  den  ertrag  zu  gründen,  den  man  von  Ver- 
legern für  dramatische  werke  bekam,  war  im  16  jh.  schlechter- 
dings unmöglich  —  und  ists  ja  bis  heute  geblieben. 

Und  dann  jener  unglückliche  einfall,  Greff  als  'schöpfer  des 
deutschen  buchdramas'  hinzustelleu,  ein  einfall,  der  im  verlauf 
der  Untersuchung  immer  widerkehrt  (s.  9  f.  16.  46.  77)!  gewis 
war  die  fragwürdige  zwittergattung  des  buchdramas  im  1 6  jh. 
beliebter  als  in  unseren  tagen,  und  es  wäre  keine  uninteressante 
aufgäbe,  die  deutschen  und  lateinischen  dramen  des  16  jh.s  ein- 
mal daraufhin  zu  durchmustern,  ob  sie  für  die  bühne  berechnet 
waren  oder  nicht,  aber  Greffs  bedeutung  ligt  doch  gerade  da- 
rin, dass  er  —  soviel  ich  sehe:  ausnahmslos  —  aufführbare 
dramen  geschrieben  hat,  von  denen  er  niemals  wünschte,  dass  sie 
nur  gelesen,  sondern  stets,  dass  sie  ^verstanden,  gelesen  vnd  an- 
gehört möchten  werden',  wie  er  es  in  der  vorrede  zu  seiner 
Aululariaübersetzung  ausgedrückt  hat  (s.  17).  und  was  speciell  sein 
erstes  und  in  mancher  hinsieht  wichtigstes  drama,  den  'Jacob',  an- 
langt, so  begründet  er  die  drucklegung  mutatis  mutandis  mit  nicht 
viel  anderen  werten  als  ein  paar  Jahrhunderte  später  der  junge 
Grillparzer  die  Veröffentlichung  seiner  'Ahnfrau'  (Sauer  4,  126): 
'^s  ist  damit  nicht  gemeint,  das  Meer  der  deutschen  Litter atur 
mit  einem  neuen  Buche  zu  vermehren,  oder  etwas  für  sich  Be- 
stehendes, Unabhängiges  dem  Leser  in  die  Hände  zu  liefern; 
vielmehr  ist  dies  Büchlein  hlofs  für  den  Zuschauer  bestimmt; 
es  soll  nur  die  Darstellung  unterstützen  und,  je  nachdem  es  kömmt, 
u'ieder  von  ihr  unterstützt  tverden'. 

Berlin,  mai   1910. 

Hermann  Michel. 


BRECHT    I":BER    :MIX,DEBRATH,    die    IIEUTSCHEX    AVANTURIEßS    175 

Die  deutschen  A  v  a  u  t  u  r  i  e  r  s  des  a  o  h  t  z  e  li  n  t  e  n  j  a  li  r  - 
huuderts  von  Berthold  lUildebrath.  Würzburger  diss.  Grä- 
feuliainichen  190".     147  ss.     S°. 

Eine  fleil'sig-e  arbeit,  die  den  nachweis  führt :  die  deutschen 
'Avanturiers'  gehören  nicht,  wie  bisher  meist  angenommen,  zu 
den  nachahmungen  von  Defoes  Robinson  Crusoe,  sondern  bilden 
eine  eigene  gattung:  als  die  letzten,  im  gegensatz  zu  Defoes 
werk  unveredelten  ausläufer  des  Schelmenromans  in  Deutschland, 
dessen  ursprüngliche  herkunft  aus  dem  picarischen  roman  der 
Spanier  sich  auch  in  keinem  deutschen  Avanturier  verleugnet, 
der  lierkunft,  dem  litterarischen  grundcharakter  und  also  dem 
gattungsbegriff  nach  vom  Avanturier  zu  scheiden  ist  die  Robin- 
sonade, als  ihr  kriterium  hat  Ullrich  (Robinson  und  Robinso- 
naden s.  XIV)  'iusularische  abgeschlossenheit  von  der  mensch- 
lichen gesellschaft',  entweder  als  'mittelpunct  der  erzählung'  oder 
doch  in  "episodischer  Verwertung'  bezeichnet.  M.  schliefst  sich  ihm 
an ;  und  in  der  tat  muss  dieser  unterschied  mit  strenge  festgehalten 
werden,  wenn  nicht  die  alte  Unklarheit  weiter  bestehn  soll,  leider 
verwischt  Ms  eigne  terminologie  den  unterschied  wider. 

Defoes  1719  erschienener  Robinson  hat  nämlich  sogleich 
starken  einfluss  auf  die  in  Deutschland  noch  junge  Avanturier- 
gattung  gewonnen,  und  so  entsteht  eine  Spaltung:  neben  den 
Avanturiers  echten  alten  stils.  die  durchaus  zu  der  grofsen  classe 
der  Schelmen-  und  landstreicherromane  zu  rechnen  sind,  giebt  es 
von  jetzt  an  auch  solche,  die  in  allen  Schattierungen  den  Über- 
gang zur  Robinsonade  darstellen;  sie  werden  von  M.  unglück- 
licherweise ebenfalls  geradezu  Robinsonaden  genannt,  ich  würde 
sie  als  Avanturiers  mit  (mehr  oder  weniger  betontem)  Robinson- 
motiv bezeichnen,  auch  Ullrich  hat  nur  vier  Avanturiers  zu  den 
Robinsonaden  in  seinem  sinne  zu  zählen  gewagt,  ich  möchte 
noch  weiter  gehn  und  aus  seiner  detinition  der  Robinsonade 
die  möglichkeit  der  blofs  episodischen  Verwertung  des  R.- 
motivs  ausscheiden;  denn  hierdurch  wird  die  so  nötige  abgren- 
zung  wider  illusorisch  gemacht,  und  ob  in  einem  werke  der 
mischgattung  das  Avanturier-  oder  das  specifisch  Robinsonmälsige 
tiberwigt,  wird  sich  in  jedem  falle  ausmachen  lassen,  ein  Avan- 
turier, der  ua.  eine  Robinsonepisode  erlebt,  bleibt  deswegen  doch 
ein  Avanturier. 

Der  erste  Av.  mit  Robinsonfärbung  —  ich  folge  M.  —  fällt 
schon  ins  jähr  1724:  'Des  seltsamen  Avanturiers  sonderbare  be- 
gebenheiten' ;  um  die  mitte  des  Jahrhunderts  folgen  der  Bremische, 
Dänische,  Asiatische,  Dresdner  Avanturier.  die  neue  gattung  zehrt 
allmählich  die  alte  auf,  nachdem  sie  ihr  durch  ihr  grundmotiv 
noch  eben  frische  nahrung  gegeben,  statt  des  Avanturiers  wird 
der  Robinson  mode,  und  der  buchhändlerische  reclamespeculant, 
der  früher  Pseudoavanturiers,  die  den  abkömmling  des  alten  Vaga- 
mundo  nur  auf  dem  titelblatte  führten,  au  den  mann  brachte,  wirft 


176  BRECHT    ÜBER    MILDEBRATH 

jetzt,  und  nun  erst  in  massen,  Pseudorobinsonaden  auf  den  markt, 
immerhin  sind  würkliche  Avanturiers    noch  bis   1766  erschienen. 

Von  solchen  deutschen,  z.  t.  übersetzten  Avanturiers,  mehr 
Schelmen-  oder  mehr  robinsonartigen  Charakters,  und  Pseudo- 
avanturiers  hat  M.  20  zusammengebracht,  vom  'Vermaekelijken 
Avanturier'  des  Nie.  Heinsius  16!)5  an,  der  als  vorderhand  erster 
deutscher  Av.,  noch  vor  Defoes  Robinson,  1714  unter  dem  titel 
'Der  kurzweilige  Av.'  erschien,  bis  zu  den  'Gaskonischen  Avan- 
turiers' von  1769.  zwei  sind  nicht  aufzutinden  gewesen:  der 
Fränkische  Avanturier  von  Karl  Friedrich  Tröltsch,  den  Heinsius 
erwähnt,  und  der  Holländische,  angezeigt  im  messkatalog  der 
Grossischen  handlung  ostern  1737,  möglicherweise  eine  deutsche 
Übersetzung  der  franz.  ausgäbe  des  Heinsius:  'L' Avanturier  Hollan- 
dois'  1729. 

Ob  M.s  (unausgesprochener)  grundsatz  richtig  ist,  nur  solche 
romane,  die  sich  selbst  im  titel  als  Avanturiers  bezeichnen,  der 
gattung  zuzurechnen,  darf  man  bezweifeln,  mit  gutem  gründe 
hat  Ullrich  keinen  wert  auf  die  titelbezeichnung  Eobinson  oder 
Robinsonade  gelegt,  wohin  soll  man  zb.  'Den  in  dem  wilden 
Amerika  von  seiner  Wildheit  befreyeten  Europäer,  oder  merk- 
würdige und  lustige  Lebens-Geschichte  des  Herrn  von  M  .  .  . 
Frankfurth  und  Leipzig  1756'  [Göttingeu  und  Berlin  KB.]  rechnen, 
wenn  nicht  zu  den  Avanturiers?  die  kleine  Robiusonepisode, 
wenn  man  sie  ja  so  nennen  darf,  wie  überhaupt  die  auswande- 
rung  nach  dem  stillen  weltfernen  Amerika  am  schluss,  so  unge- 
heuer interessant  sie  auch  litterarhistorisch  ist  (Prevosts  Manon 
Lescaut  war  1731  erschienen),  macht  das  buch  noch  zu  keiner 
Robinsonade,  wogegen  alle  hauptingredienzien  des  Avanturiers 
vorhanden  sind,  und  wenn  M.  den  didaktischen  dialog  zwischen 
'Bruder  Studeo'  und  'Bruder  Lustigmacher':  'Zwej  im  Coffee- 
Lande  herumschweiffende  Avanturiers'  (1744)  zu  den  Pseudo- 
avanturiers  rechnet,  so  muss  er  auch  den  ganz  analogen  dialog 
'Wunderbare  Avauturen,  bestehend  in  einem  lächerlichen  Ge- 
spräch zweyer  lustigen  Welt-Brüder,  namentlich  Bruder  Philip 
und  Bruder  Stephan  —  —  Avelche  der  curieusen  Welt  zur  Be- 
lustigung entworffen.  Der  wolbekanNte  TeutscHe.  Franckfurt  und 
Leipzig,  1750'  [Göttingen  und  Berlin  KB.]  dazu  rechnen,  wenn- 
gleich das  Wort  Avanturier  im  titel  nicht  vorkommt. 

Den  ausschlag  geben  kann  allein  der  litterarische  Charakter. 
Es  gibt  viel  mehr  Avanturierromane  als  die  20  zufällig  so  be- 
nannten, der  unterschied  gegen  den  Robinson  ist  ein  begriff- 
licher; der  vom  Picaro  oder  Rogue  im  gründe  nur  ein  unterschied 
der  zelten,    aber  nicht  jeder  Picaro  nennt  sich  jetzt  Avanturier. 

Den  Inhalt  seiner  20  Avanturiers  erzählt  M.  eingehend,  und 
nach  reichlich  genommeneu  Stichproben  zuverlässig,  jedem  seine  be- 
sondere 'würdigling'  beifügend,  in  der  stilistische  und  andere  eigen- 
tümlichkeiten  gut  beobachtet  werden,  am  ausführlichsten  behandelt 


DIE    DEUTSCHEN'    AVAXTUKIEKS  177 

er  den  'Kuitzweiligen  Avanturier'  des  Heinsius,  mit  recht,  denn 
er  ist  das  einzige  leidlich  kunstmäl'sige  werk  der  gattung,  zugleich 
dasjenige  an  dem  sich,  da  es  noch  vor  dem  Robinson  erschien, 
die  gesamte  progenitur  bequem  und  sicher  messen  lässt.  ob  von 
den  20  Inhaltsangaben  oder  wenigstens  den  Würdigungen  hier 
und  da  einige  hätten  zusammengelegt  werden  können,  im  Inter- 
esse gröl'serer  Übersichtlichkeit  und  belebtheit,  wage  ich  nicht  zu 
entscheiden,  jedenfalls  tritt  die  'zusammenfassende  schlussbetrach- 
tung'  3.  r2() — 137  (der  eine  sorgfältige  bibliographie  angehängt 
ist)  einigermafsen  zurück  gegen  die  vielen  einzelheiten  des  vor- 
hergehenden capitels  (s.  14 — 1261,  so  brauchbare  Zusammen- 
stellungen über  zeit  und  ort  der  roraanhandlungen,  art  und  an- 
zahl  der  auftretenden  personen,  leiclitfertigkeit  der  motivierung 
(motivtabelle  nach  procenten  s.  133)  und  sonstige  technik  sie  auch 
gibt,  die  wichtigsten  den  Avanturierroman  betreffenden  litterar- 
historischen  fragen  sind  klar  formuliert,  aber  noch  nicht  voll- 
ständig beantwortet.  M.  hat  das  verdienst,  das  material  zusammen- 
gebracht, gesichtet  und  seine  bearbeitung  angegriffen  zu  haben; 
aber  die  hauptfragen:  nach  dem  Zusammenhang  des  deutschen 
Avanturiers  mit  dem  spanischen,  französischen,  wol  auch  eng- 
lischen Schelmenroman  und  mit  dem  spätgriechischen  roman 
(seeräubermotivei,  nach  der  art  des  ohne  zweifei  gelegentlich  be- 
stehnden  Verhältnisses  zu  schwank-  und  anekdotensaramlungen, 
nach  dem  publicum,  das  noch  in  den  sechziger  jähren  des  IS  jh.s 
für  die  Avanturiers  vorhanden  war  —  war  es  noch  dasselbe,  für 
das  Lessing  den  Dänischen  und  den  Russischen  Avanturier  in 
der  Berlinischen  privilegierten  zeitung  1751  und  54  besprochen 
hatte?  —  endlich  die  frage  nach  der  sittengeschichtlichen  be- 
deutung  dieser  rohen  aber  wertvollen  vorform  des  socialen  romans: 
sie  bedürfen  noch  weiterer  Untersuchung,  welche  motive  des 
Avanturiers  zb.  sind  es,  die  nach  aufhören  der  speciellen  gattung 
im  roman  weiterwürken,  welche  werden  verschmäht?  welche 
übernimmt  zb.  der  'komische  roman'  späterer  Jahrzehnte  (vor 
mir  liegt  der  so  bezeichnete  'Die  Pilgrimme'  1773.  der  noch 
recht  viel  davon  hat)?  welche  der  reifgewordene  entwicklungs- 
roman?  welche  noch  der  roman  des  19  Jahrhunderts?  ohne  zweifei 
würde  die  auswahl  uns  über  das  —  gerade  hier  vielleicht  recht 
langsame  —  tempo  des  steigens  ästhetischer  und  moralischer 
cultur  belehren,  die  problematische  erscheinung  des  gesamten 
Schelmenromans,  dessen  letzte  form  nur  der  Avanturier  ist  (aber 
eine  wie  bezeichnende  für  den  anfang  des  IS  jh.s),  vom  16  bis 
zum  letzten  drittel  des  18  säculums,  ist  doch  wol  nur  im  engsten 
zusammenhange  mit  den  politischen,  wirtschaftlichen  und  geistigen 
bedingungen  der  damaligen  hauptländer  Europas  zu  verstehn, 
von  weit  gröfserer  grundlage  aus,  als  eine  dissertation  sie 
geben  kann. 

Göttingen.  Walther  Brecht. 

A.  F.  D.  A.     XXXIV.  12 


LITT  ER  AT  URNOTIZEN. 

Zur  n  0  r  cl  g  e  r  m  a  n  i  s  c  h  e  n  s  a  g  e  n  g'  e  s  c  h  i  c  h  t  e  von 
R.  von  Krulik.  [Quellen  und  forschungen  zur  deutschen  Volks- 
kunde herausg.  von  E.  K.  Blümml,  bd.  iv].  Wien,  dr.  Rud. 
Ludwig  1908.  122  ss.  8".  —  4.80  m.  —  Der  verf.  will  mit  fri- 
schem aulauf  den  versuch  unternehmen,  die  richtige  Ordnung  der 
sagen  in  Saxos  neun  ersten  büchern  seiner  Dänischen  geschichte 
wie  in  Suorris  Ynglingensage  zu  entwirren,  er  will  versuchen, 
jene  beiden  hauptquellen  nordgermanischer  sage  in  harmonie  mit 
sich  selbst,  mit  einandei\  mit  den  übrigen,  besonders  den  islän- 
dischen sagen  und  schlielslich  mit  unserem  eigenen  deutschen  sagen- 
ganzen zu  bringen,  er  erkennt  die  scharfsichtigen  Untersuchungen 
Heinzeis,  Jiriczeks,  Olriks  uaa.  an,  aber  er  möchte  zu  ihrer  er- 
gänzung  auf  das  gemeinsame  in  allen  Verschiedenheiten  hinweisen, 
die  geschichte  der  Nibelungensage  hat  ihn  gelehrt,  dass  durch 
alle  Jahrhunderte  und  durch  alle  Völkerstämme  hindurch  ein  ge- 
meinsames bewustseiu  geht,  eine  lebendige  wechselwürkung.  er 
möchte  daher  die  Vereinigung  der  einzelsage  mit  der  gesamtüber- 
lieferung  versuchen,  freilich  ist  er  sich  dessen  bewust,  dass  die 
ergebnisse  seiner  arbeit  hypothetisch  bleiben  müssen,  so  unge- 
fähr —  nur  etwas  ausführlicher  —  spricht  sich  vK.  über  die 
absieht  seines  buches  aus. 

Nach  einem  kurzen  blick  auf  die  Zusammensetzung  der 
hauptwerke,  der  Ynglingensage,  der  Dänengeschichte  des  Saxo, 
der  Flateyjarbok,  der  dänischen  Chroniken,  geht  er  an  die  'neu- 
ordnung':  'Also  vorbereitet  will  ich  versuchen  die  ganze  nor- 
dische Sagengeschichte  in  möglichst  guter  Ordnung  zu  skizzieren, 
ich  will  damit  nicht  ein  irgendeinmal  bestandenes  sagenwerk 
widerherstellen,  vor  Saxo  und  Snorri  gab  es  kaum  ein  solches 
.  .  .  nein,  der  zweck  des  folgenden  Versuches  ist  kein  anderer, 
als  die  ganze  fülle  der  sagen,  die  dem  Saxo  und  Snorri  vor- 
lagen, mit  hilfe  dieser  ordner  selber  ein  klein  wenig  besser 
zu  ordnen",  es  ergibt  sich  dem  verf.  eine  Scheidung  des  ganzen 
nordgermanischen  sagenschatzes  in  drei  hauptgruppen  mit  feste- 
rem epischen  zusammenhält,  die  durch  vorspiele,  Zwischenspiele 
und  nachspiele  um  weitere  vier  gruppen  vermehrt  werden.  Die 
erste  hauptgruppe  (==  gruppe  n)  überschreibt  er  'Von  Odins  aus- 
zug  bis  zu  seinem  verschwinden';  er  rechnet  dazu  ausser  den 
wandersagen  die  geschichte  n  von  Frodi  i,  Frithjof,  Balder,  Rolf 
Kraki;  diese  gruppe  müste  nach  angäbe  der  geuerationen  in  den 
sagenquellen  etwa  die  zeit  von  6(j  vor  Chr.  bis  66  nach  Chr.  um- 
fassen, die  zweite  hauptgruppe  (=  gruppe  iv)  vereinigt  unter  dem 
titel  'Völkerwanderungsgruppe'  die  sagen  von  Fridlef  I,  Frotho  in, 
Fridlef  ii,  Frotho  iv  dem  Starkadzögling,  Ingeld  (366 — 500  nach 
Chr.).  die  dritte  hauptgruppe  (=  gruppe  vi),  der  'Brawallasagen- 
kreis',  umfasst  die  sagen  von  Harald  Hildezahn  (?),  der  Brawalla- 


IJTTEK ATUKX«  »TIZEN  179 

Schlacht,  von  Ragnar  Lodbiok  und  den  Rag'narssöhnen  und  vou 
Harald  Haarschön  (733 — &tJG  i.  mit  den  nordischen  sagen,  besonders 
denen  der  Völkerwanderungszeit,  werden  junge  und  jüngste  süd- 
gernianische  sagen  teils  gleichgesetzt,  teils  in  Verbindung  gebracht. 

Die  grundanschauuug,  auf  der  die  ganze  neuordnuug  der 
sagen  durch  vK.  beruht,  ist  diejenige,  dass  in  der  Sagendichtung 
'durch  alle  Jahrhunderte  und  durch  alle  vülkerstämme  hindurch 
ein  gemeinsames  bewustsein  geht,  eine  lebendige  Wechselwirkung, 
dass  eine  einheitliche  'gesamtüberlieferung'  bestanden  hat,  mit 
andern  Worten,  dass  ein  auch  im  einzelnen  durchgeführter  grund- 
riss  der  germanischen  sagen  in  den  köpfen  der  sagenerzähler  und 
sagendichtor  in  nord  und  süd  gelebt  habe,  diese  anschauung  ist 
an  sich  unwahrscheinlich;  sie  widerspricht  der  bisherigen  sagen- 
forschung,  die  nur  wenige  Übertragungen,  in  der  hauptsache  aber 
einzelentwicklung  in  verschiedenen  gegenden  feststellen  konnte; 
sie  wird  auch  vom  verf.  weder  durch  eine  allgemeine  betrach- 
tung  noch  durch  die  in  seinem  buch  geleistete  arbeit  annehmbar 
gemacht.  —  auf  den  wegen  die  vK.  einschlägt,  werden  ihm  nur 
wenige  folgen  wollen,  die  gleichsetzung  von  Healfdene  Hrodgar 
Halga  Hrodulf  im  Beowulf  mit  Haidan  Roe  Helgo  Rolf  Kraki 
bei  Saxo  gehört  zu  den  sichern  ergebnissen  der  Wissenschaft ;  der 
verf.  lehnt  sie  mit  einem  'kaum'  ab;  'die  haupthandlung  im  Beo- 
wulf gehört  ganz  sicher  in  einen  späteren  Zusammenhang,  in  den 
Völkerwanderungskreis  unter  Frotho  iv  und  Ingeld'.  wenn  er 
hier  zusammengehöriges  trennt,  so  verknüpft  er  fortwährend 
leichten  herzens  unzusammenhängendes.  Humblus  soll  gleich  Heim- 
dali sein,  so  wird  ohne  begründung  behauptet.  Njord  wird  mit 
Hading  gleichgesetzt,  und  zum  beweise  dafür  wird  angeführt, 
dass  gattenwahl  und  gattenstreit  in  den  sagen  beider  überein- 
stimmen, aber  die  ähnlichkeit  bei  der  gattenwahl  bezieht  sich 
nur  auf  einen  nebensächlichen  punct,  und  die  berühmten  streit- 
verse  zwischen  Njord  und  Skadi  sind  sehr  zu  unrecht  auf  Hading 
und  Regnilda  übertragen :  sie  passen  in  die  Verhältnisse  der 
Hadingsage  gar  nicht  hinein.  Hadings  vater  Gram  bei  Saxo 
soll  gleich  Halfdan  dem  Alten  sein,  was  auf  s.  30  folgender- 
mafsen  begründet  wird:  'als  den  höchsten  (ersten?)  Schildung 
kennt  das  Hyndlulied  den  alten  Half  da  n.  damit  stimmt  es,  dass 
Saxo  Skjolds  söhn  und  nachfolger  Gram  nennt,  unter  welchem 
ehrennamen  für  könige  nur  Halfdan  verstanden  sein  kann,  denn 
Saxo  bringt  im  7  buch  eine  andere  Variante  der  sage  von  Hai- 
dan, mit  dem  beinamen  Berg-Gram'.  —  und  ähnlich  geht  es 
weiter  durch  das  ganze  buch!  "\V.  Kanisch. 

Islandica.  an  annual  relating  to  Iceland  and  the  Fiske 
Icelandic  coUection  in  Cornell  university  library  edited  by  George 
William  Harris  librarian.  vol.  i.  Bibliography  of  the  icelandic 
sagas  and  minor  tales  by  Halhlör  Herniannsson.  Ithaca  N.Y., 
Cornell  university  library   1908.     126  ss.  gr.  b'K   l  doli.  —  Der 

12* 


180  '  HTTERATUKXOTIZEN 

vorliegende  band  eröffnet  eine  reihe  bibliographischer  publicationen, 
die  ihre  quelle  in  dem  testamente  des  1904  verstorbenen  Willard 
Fiske  hat  und  nach  und  nach  die  von  ihm  der  Cornell  university 
vermachte  Sammlung  Islandica  bekannt  geben  soll  [vgl.  schon 
Anz.  XXXIII  308].  Fiske  hat  so  erfolgreich  gesammelt,  dass  der 
katalog  seiner  Tsländersagas  einer  erschöpfenden  bibliographie  nahe 
kommt,  die  fehlenden  titel  hat  der  bearbeiter  zu  ergänzen  gesucht 
und  kenntlich  gemacht  doch  nur  nebensächliches  fällt  als  so  ergänzt 
ins  äuge,  das  Verzeichnis  bringt  nicht  nur  die  selbständigen  werke, 
sondern  auch  die'  minor  tales',  zb.  die  [laettir  der  Morkinskinna. 
erstaunlich  ist  der  reichtum  an  Übersetzungen;  zur  Gunnlaugssaga 
werden  deren  24  aufgeführt,  auch  die  gelehrte  litteratur,  recen- 
sionen  nicht  ausgenommen,  ist  umsichtig  zusammengestellt,  so  dass 
wir  ein  schätzbares  hilfsmittel  erhalten,  das  unter  umständen 
viel  nachschlagen  erspart,  die  alphabetische  anordnung  und  der 
übersichtliche  druck  heben  darüber  hinweg,  dass  die  mehrzahl 
der  aufgeführten  titel  nur  für  den  bücherliebhaber  Interesse  hat. 
—  eine  zutat  die  wir  lieber  entbehren  würden,  sind  die  be- 
merkungen  über  das  alter  der  einzelnen  werke,  sie  sind  urteils- 
los aus  Finnur  Jönssons  Litteraturhistorie  entnommen,  oder  ist 
es  kritik,  wenn  bei  der  Heidarvigasaga  aus  Finns  'sikkert'  ein 
'probably'  wird  oder  bei  der  Hcensnajjörissaga  der  autor  ausnahms- 
weise auf  die  geteiltheit  der  meinungen  hinweist?  es  verschlägt 
am  ende  nicht  viel,  wenn  unkundige  leser  das  Svritten  in  the 
last  decades  of  the  12th  Century'  für  ein  gesichertes  ergebnis 
nehmen,  aber  wir  müssen  doch  an  der  forderung  festhalten,  dass 
auch  eine  bibliographie  in  wissenschaftlichem  geiste  gehalten  sein 
soll,  das  wäre  in  diesem  fall  sehr  einfach  durch  weise  be- 
schränkung  zu  erreichen  gewesen. 

Breslau.  O.  Neebel. 

Systematik  der  syntax  seit  Ries  von  Rudolf  Pestalozzi 
(Teutonia  xii  heft,  Leipzig  Avenarius  1909)  22  ss.  1  m.  —  Die  zeit 
über  welche  Pestalozzi  berichtet  umfasst  zwölf  jahre(l 894 — 1906). 
er  ist  mit  der  entwicklung  der  Systematik  in  dieser  spanne  zeit 
ziemlich  zufrieden,  obzwar  er  hie  und  da  auch  etwas  einzuwen- 
den öndet.  er  recapituliert  kurz  die  grundsätze  von  Eies,  dass 
die  grammatik  als  ihr  object  die  form  der  spräche  erfassen  und 
dieselbe  als  laut-,  wort-,  und  wortgruppen-lehre  behandeln 
soll,  'nicht  aber  sätze'  weil  es  wortgefüge  gibt,  die  'keine  sätze 
sind'  und  doch  'als  thema  der  syntax  angesehen  werden  müssen' ; 
und  weil  ferner  'an  wort  und  wortgefüge  form  und  b  e  d  e  u  - 
tung  zu  unterscheiden  sind,  so  umfassen  sowol  wortlehre  als 
syntax  (dh.  wortgruppenlehre)  je  zwei  specialgebiete:  formen- 
lehre  und  bedeutungslehre'.  P.  bedauert  mit  recht,  dass  'Eies 
darauf  verzichtet  hat,  seine  ideen  eigenhändig  in  einer  syntak- 
tischen darstellung  zu  realisieren';  die  erklärung  findet  er  in 
einer    äusserung  R.s  (Anz.  xxix  16),    wo  derselbe    zugibt,    dass 


Lrn'ERATURXOTIZEX  181 

'jeder  versucli,  seine  theorien  iu  einer  vollständigen  S3'ntax  .  .  . 
zu  erproben,  vorläufig-  Stückwerk  bleiben"  müsse,  beim  'bisherigen 
betriebe  sei  Vollständigkeit,  gleichmäfsige  ausführlichkeit  und 
durchgängige  Sicherheit  der  ergebnisse  als  ausgeschlossen  zu  be- 
trachten'. —  P.  gibt  dann  gleich  eine  aufzählung  der  arbeiten  — 
zunächst  der  germanistischen,  denn  der  gesamtphilologischen  — 
die  sich  R.s  ideen  entweder  völlig  oder  doch  teilweise  zur  richt- 
schuur  genommen  haben  und  den  gegenständ  seiner  erwägungen 
abgeben,  und  legt  dann  dar,  wie  sich  die  einzelnen  S3'ntaktiker 
zu  dem  Kiesischen  fuudamentalsatze  (laut,  wort,  wortgefüge) 
stellen,  dann  zu  dem  Verhältnis  von  wortgruppen  und  satz,  des 
weiteren  zur  frage,  inwiefern  die  Wortbedeutungslehre  in  die 
sj^ntax  gehört,  der  nächste  abschnitt  ist  dem  gegenseitigen  Ver- 
hältnis von  Wortbedeutungslehre  und  gruppenlehre  gewidmet 
(hauptsächlich  in  bezug  auf  die  casuslehre),  der  weitere  dem 
Verhältnis  von  wortformenlehre  und  gruppenlehre  (zb.  wo  die 
periphrastische  conjugation  einzureihen  istV).  die  zwiespältige 
behandlung  der  syntaktischen  mittel  zur  herstellung  syntak- 
tischer gebilde  (nämlich  in  der  wortlehre  und  iu  der  syntaxi, 
die  dann  zunächst  an  die  reihe  kommt,  bildet  eine  hauptschwierig- 
keit  des  R. sehen  Systems  und  hat,  wie  verf.  zugibt,  bisher  keine 
verwürklichung  gefunden,  dann  geht  er  über  zur  frage,  'wie 
weit  für  die  Schaffung  höherer  kategorieen  die  form,  wie  weit 
die  bedeutung  malsgebend  sein  soll',  anders  gesagt,  nach  wel- 
chem princip  die  teilung  der  wortgruppen  und  dann  auch  der 
uebensätze  geschehen  soll?  —  selbstverständlich  überall  mit  dem 
nachweise  der  Stellung  seiner  einzelnen  gewährsmänner  zum  gegen- 
stände der  erörterung.  zum  Schlüsse  folgt  dann  noch  die  con- 
statierung  der  tatsache,  dass  'merkwürdigerweise  von  der  art, 
wie  Ries  von  der  Stilistik  redet,  in  der  litteratur  kaum  gespro- 
chen worden  ist',  die  berechtigung  der  ansieht  R.s  —  dass  die 
Stilistik  nur  der  gesamtgrammatik  gegenübergestellt  werden  kann, 
nicht  etwa  der  syntax  allein  —  wird  verteidigt  und  abweichende 
anschauungen  werden  zurückgewiesen.  —  verf.  ist  selbst  ent- 
schiedener 'Riesianer'  und  verteilt  Zustimmung  und  gegnerschaft 
darnach,  wie  sich  die  einzelnen  syntaktiker  zu  Ries  stellen,  aber 
überall  ruhig  und,  was  ebensoviel  bedeutet,  lichtvoll  und  trotz 
der  knappheit  erschöpfend,  mit  Delbrück  und  seiner  'auseinander- 
setzung  mit  Ries'  (Syntax  in  s.  1 — 5)  ist  er  natürlich  nur  wenig 
zufrieden,  ref.  ist  dem  gegenüber  viel  eher  geneigt,  Delbrück 
beizustimmen,  umsomehr,  als  er  auch  Brugmanns  —  auch  vom 
verf.  citierte  —  meinung  (Griech.  gramm.-^  [19üü]  s.  3(53)  teilt, 
dass  man  die  theoretische  richtigkeit  der  neuen  lehre  zugeben 
kann,  dass  aber  der  praktiker  nicht  überall  wird  folgen  können, 
aus  des  verf.s  eigener  darstellung  der  schwankenden  ansichten 
tritt  namentlich  dieser  umstand  mit  überwältigender  klarheit  hervor. 
Prag  30  märz    1910.  V.  E.  Mourek. 


1  S2  LITTEKATUENOTIZEN 

Der  gebrauch  vonffi-  zni-  unterscheidiiiig'  perfec- 
tiver  und  imperfectiver  actionsart  im  Tatian  und  in 
No  t  k  e  r  s  B  o  e  t  h  i  n  s.  (Leipziger  doctordissertation)  von  Karl 
Dahin  190!».  92  ss.  8".  —  Der  verf.  der  vorlieg-enden  äufserst 
fleifsigen  und  sorgfältig-en  arbeit  steht  —  für  den  gebrauch  von 
gi-,  die  übrigen  verbalprättxe  lässt  er  unberücksichtigt  — 
ganz  auf  dem  standpuncte  Streitberg-s,  der  in  seiner  Untersuchung 
über  perfective  und  imperfective  actionsart  im  germanischen 
(PBBeitr.  15,  70 — 177,  lSS9j  die  anschauung  aufgestellt  hat, 
dass  im  germanischen  wie  im  slavischen  die  composition  mit 
prätixen  alle  imperfectiven  verba  zu  perfectiven  umwandelt. 
Dahm  leitet  aus  der  angenommenen  völligen  perfectivierung 
durch  gi-  alle  anderen  functionen  ab,  die  gi-  im  laufe  der  zeit 
auf  syntaktischem  gebiete  angenommen  hat,  und  bespricht  im 
ersten  teile  seiner  arbeit  (nach  einer  einleitung  s.  9 — 15j  zu- 
nächst allgemein  die  Verwertung  des  Unterschiedes  der  actions- 
arten  bei  tempus-  und  modusunterscheidung  (s.  16 — 33),  uzw. 
1.  gi-  beim  präsens  im  allgemeinen;  2.  gi-  beim  präsens  im  sinne 
eines  relativen  perfects;  3.  gi-  beim  präsens  zur  bezeichnuug  des 
I  futurs;  4.  gi-  beim  präsens  zur  bezeichnung  des  ii  futurs; 
5.  gi-  beim  imperativ  und  optativ;  6.  gi-  beim  Präteritum;  7.  gi- 
beim  prät.  zur  bezeichnung  des  plusquamperfects ;  S.  gi-  beim 
part.  präs.;  9.  gi-  beim  part.  prät.;  10.  gi-  beim  infinitiv;  11.  ^i- 
in  verallgemeinernden  Sätzen,  als  ii  teil  schlielst  D.  (s.  34 — 92) 
eine  vollständige  aufzählung  aller  im  Tatian  und  Boethins  vor- 
kommenden verbalen  belege  an,  in  der  er  die  bedeutung  der  sim- 
plicia  und  composita  sorgfältig  vergleicht  und  dann  auch  eine 
betrachtung  der  vermeintlichen  perfectiva  simplicia  und  eine 
erwähnung  der  nicht  perfecti vierbaren  durativa  folgen  lässt. 

Ref.  steht  nicht  ganz  auf  dem  standpuncte  Streitbergs,  son- 
dern muss,  trotz  allem  was  über  den  gegenständ  seit  Streitbergs 
grundlegender  arbeit  (vom  j.  1889)  geschrieben  worden  ist  — 
Dahm  führt  auf  s.  7  eine  artige  liste  einschlägiger  arbeiten  auf 
— ,  auf  demjenigen  beharren,  was  er  im  j.  1895  in  seiner  an- 
zeige von  AVustmann  Verba  perfectiva  im  Heliand  fAnz.  xxi  198) 
gesagt  hat:  'es  wird  .  . .  eine  resultative  würkung  des  präfixes 
anzuerkennen  sein,  veranlasst  durch  dessen  eigene  materielle  be- 
deutung —  bei  gi-  das  zusammenfassen  der  tätigkeit  —  und 
eine  perfective,  die  sich  aus  jener  durch  fortgesetzte  ent- 
wicklung,  gleichsam  durch  vorausnähme  des  angedeuteten  endes 
ergeben  hat.  —  der  unterschied  zwischen  den  germanischeu  und 
den  slavischen  sprachen  scheint  mir  nun  der  zu  sein,  dass  diese  (die 
slavischen) .  .  .  fast  ausnalimslos  zur  zwingend  und  momentan  per- 
fectivierenden  würkung  des  prätixes  fortgeschritten  sind,  jene  (die 
germanischen)  in  den  meisten  fällen  bei  der  resultativen  stehn 
bleiben  und  nur  ausnahmsweise  —  aber  [im  got.]  doch  wenig- 
stens bei  ga-  (gi-  ge-}    sicher  —  das    Stadium    der   würkllichen 


LITTEKATURXOTIZEX  1  S3 

momentanen  perfectivierung  erreicht  haben,  doch  ergibt  sich  das 
immer  eher  aus  der  ganzen  Situation  und  den  begleitenden  um- 
ständen der  handlung,  als  etwa  aus  dem  prätix  an  sich,  welches 
so  gut  wie  niemals  eine  zwingend  und  unausweichlich  perfectivie- 
rende  würkung  äufsert.  das  hatte  wol  Grimm  im  sinne,  als  er 
in  ganz  richtiger  erkenutuis  der  Sachlage  nur  von  "spuren' 
dieses  grol'sen  bedeutungsunterschiedes  der  Zeitwörter  im  deutschen 
sprach;  der  anlauf  ist  unzweifelhaft  vorhanden,  die  Scheidung 
aber  niemals  zu  so  entschiedenem  durchbruch  gelangt,  wie  im 
slavischen'. 

Dahms  sorgfältige  Untersuchung  der  Verhältnisse  im  Tatian 
und  in  Notkers  Boethius  erbringt  —  für  mich  wenigstens  —  den 
vollgiltigen  beweis,  dass  im  ahd.  noch  viel  weniger  als  im  goti- 
schen von  einer  vollkommenen  zwingenden  perfectivierung  der 
verba  durch  prälixe  die  rede  sein  kann. 

Prag  24  märz   1910  V.  E.  Mourek. 

Die  bau-  und  kunstdenk  male  von  "Wiener -Neu- 
stadt in  ihrer  unterrichtlichen  bedeutung.  von  hauptlehrer 
Karl  Biirkleu.  mit  70  abbildungen.  Wiener-Neustadt,  A.  Folk 
comm.-verlag.  1910.  84  ss.  8".  1  kr.  40  hlr.  —  "Wiener-Neu- 
stadt, bekanntlich  eine  gründung  des  Babenbergers  Leopold  v, 
bietet  in  seinen  kirchlichen  und  profanen  denkmälern  von  der 
romanischen  periode  bis  herab  zum  barock  und  rococo  eine 
reiche  fülle  guter  beispiele  für  den  gang  der  kunstentwickelung. 
mit  sicherer  localkunde,  guter  beherschung  der  allgemeinen  kunst- 
geschichte  wie  der  technischen  ausdrücke  und  grofsem  päda- 
gogischem geschick  hat  der  Verfasser  dies  günstige  material 
sowol  zur  einprägung  der  einzelnen  stilepochen  wie  der  haupt- 
tatsachen  der  ortsgeschichte  verwendet,  dazu  ist  das  büchlein, 
durchweg  nach  eigenen  Zeichnungen  B.s,  so  trefflich  illustriert, 
dass  es  über  seinen  nächsten  zweck  hinaus,  die  candidaten  des 
Neustädter  lehrerseminars  in  die  kunstgeschichte  einzuführen 
und  mit  den  grundbegriffen  der  Stadtanlage,  fortiheation  usw. 
vertraut  zu  machen,  belehrung  bietet  und  als  ein  gutes  muster 
zur  nachahmung  empfohlen  werden  kann.  freilich  dürften 
nicht  für  viele  anstalten  die  örtlichen  Verhältnisse  gleich 
günstig  liegen.  E.  S. 

"Wie  man  vor  Hohenküngsperg  gezogen  ist  und  wie  es 
gewunnen  wart.  Zuo  nutz  und  fromm  all  derer  /  so  der  altten 
vesten  und  purgen  liebhabere  sint  /  ans  liecht  gestellet  und  mitt 
figurlin  gezieret  /  von  eim  truckerherren  und  eim  magistro  ar- 
tium.  Anno  Christi  1909.  [Strafsburg,  Heitz]  53  ss.  S  ^K  2,50  m.  ~ 
Der  streit  um  die  Hohkönigsburg,  der  hier  von  p.  Heitz  von  Strafs- 
burg und  dr  E.  Major  von  Basel  in  altertüraelnder  spräche  sieg- 
haft augekündigt,  aber  —  zum  glück  —  in  unserem  heutigen 
deutsch  ausgefochten  wird,  spitzt  sich  in  der  sache  mehr  und 
mehr  auf  die  frage  nach  der  gestalt  des   grofsen   bergfrieds  zu. 


184  IJTTERATURXOTIZEN 

hier  ist  Bodo  Ebhardt  zweifellos  unterlegen:  dass  der  Oberteil  des 
bergfrieds  im  15  und  16  jli.  rund  gewesen  sei,  kann  wol  keinem 
zweifei  mehr  unterliegen,  im  übrigen  darf  der  moderne  architekt 
gerade  mit  der  auf  findung-  der  ältesten  abbildung  (kupferstich 
nach  einer  Zeichnung  des  Hans  Baidung  von  1514)  recht  wol  zu- 
frieden sein,  die  gegenüberstelluug  des  neubaus  und  dieser  Zeich- 
nung auf  s.  12.  13  baut  ihm  in  der  tat  *ain  gülden  prucke'. 
dass  die  neue  Hohkönig-sburg  für  sich  ein  eindrucksvolles  bau- 
werk  ist,  bezeugen  alle  besucher,  dass  sie  in  der  landschaft  eine 
höchst  reizvolle  Silhouette  bildet,  geb  auch  ich  zu,  obwol  es  mich 
nicht  lockt  zu  ihr  hinanzusteigen  —  sowenig  wie  zu  dem  krieger- 
denkmal  auf  dem  K3"ffhäuser.  —  die  kritische  prüfuug  der  altern 
beschreibungen  und  der  von  Ebhardt  und  seinen  freunden  ange- 
zogenen oder  angefochtenen  bilder  ist  mehrfach  methodisch  lehr- 
reich; so  wird  der  ganze  bericht  Pfenuingers  v.  j.  ISOO  zuver- 
lässig und  wertvoll,  nachdem  der  eine  fundamentalirrtum  in  der 
Orientierung  aufgedeckt  ist  (s.  18).  recht  unsicher  bleibt  noch 
die  älteste  baugeschichte ;  wenn  hier  (s.  28)  'an  den  um  1170 
vollendeten  kaiserpalast  in  Gelnhausen'  erinnert  wird,  so  ist  das 
ein  mehr  als  unsicheres  datum :  der  beste  kenner  der  Geinhäuser 
baudenkmäler  LBickell  war  überzeugt,  dass  die  kaiserpfalz  in 
der  hauptsache  erst  nach  dem  tode  Friedrichs  i  erbaut  sei:  schon 
die  einwürkung  der  sicilischen  sculptur  weise  darauf  hin. 

E.  S. 

Die  dramatischen  bearbeituugen  der  Pyramus- 
Thisbe-sage  in  Deutschland  im  16  und  17  Jahrhundert, 
von  Alfred  Schaer.  Schkeuditz,  Schäfer  1909.  127  ss.  80.  2,40  m., 
geb.  3,40  m.  —  S.  verfolgt  den  novellenstoff  von  Pyramns  und 
Thisbe  durch  die  ältere  literatur,  das  Volkslied,  die  localsage 
und  die  bildende  kunst  (s.  9 — 53j,  wobei  auch  die  vor-  und  nach- 
geschichte  des  'Peter  Squenz',  ohne  neue  aufschlüsse,  mitbehandelt 
wird  (s.  43  ff,  dazu  s.  106  ff),  und  gibt  dann  im  'speciellen  teil' 
zunächst  s.  54 — 81  sehr  ausführliche  Inhaltsangaben  von  sechs 
recht  geringwertigen  niederländischen  und  deutschen  dramen  aus 
der  zeit  von  ca  1520—1623;  s.  82  —  90  wird  das  Verhältnis 
dieser  stücke  und  die  'entwickelung  des  Stoffes'  in  ihnen  be- 
sprochen, s.  91 — 105  werden  ihre  beziehuugen  zu  den  Volks- 
liedern des  gleichen  motivs  erörtert  —  alles  sehr  brav  und 
gründlich,  aber  so  wenig  unterhaltsam  wie  die  dramen  selbst, 
übersehen  hat  der  verf.  das  1 30  verse  umfassende  Zwischenspiel 
CIlaQegyov  dum  venit  Actaeon'),  welches  Isaac  Gilhusius  in  seine 
komödie  'Grammatica"  (Frankfurt  a.  M.  1597)  s.  75 — 80  einge- 
schaltet hat  (act  in  sc.  7). 

Mit  einigem  schrecken  hat  mich  die  ankündigung  des  Vorworts 
erfüllt,  dass  drei  dieser  öden  stücke,  darunter  zwei  handschrift- 
liche, in  einer  publication  des  Stuttgarter  Litterarischen  Vereins 
zusammengef  asst  werden  sollen,   hat  der  Litterarische  verein  würk- 


UTTERATURNOTIZEN  185 

lieh  nichts  besseres  zur  hand  als  diesen  abfall  der  literatur,  den 
selbst  die  drucklustigen  Zeitgenossen  der  Veröffentlichung  nicht  für 
wert  gehalten  haben?  E.  S. 

Zwei  Leipziger  liederhandschr if ten  des  17  j  ahr- 
hunderts.  als  beitrag  zur  kenntnis  des  deutschen  volks-  und 
Studentenliedes  herausgegeben  von  Karl  Ernst  Blümiiil  [==Teutonia 
hrsg.  V.  W.  Ulli  10  heftj.  Leipzig,  Avenarius  1910.  xxiii  u.  1  17  ss 
8  0.  3,50  m.  —  Das  liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Christian 
Clodius  von  1669,  aus  dem  der  erste  teil  schöpft  —  es  war  der 
grofsvater  des  Medondichters  goethischen  andenkens  —  ist  seit 
1S91  durch  die  Berliner  dissertation  von  WNiessen  näher  be- 
kannt und  nach  der  musikalischen  seite  gewürdigt,  dann  hat 
Bolte  (1896)  einzelne  lateinisch-deutsche  stücke  daraus  publiciert 
und  schlielslich  den  grob-erotischen  abschaum  Blümml  selbst  in  dem 
unappetitlichen  büchlein  'Aus  den  liederhandschriften  des  Studenten 
Clodius  und  des  fräuleins  von  Crailsheim'  (Wien  1908)  ge- 
schöpft, jetzt  gibt  B.  ein  vollständiges  Inhaltsverzeichnis  mit 
breiten  litteraturnachweisen  und  druckt  von  den  im  ganzen  108  nrr 
29  weitere  stücke  ab,  die  entweder  unbekannt  oder  doch  nicht 
jedermann  zugänglich  sind.  —  den  zweiten  teil  des  heftes  füllen 
mitteiluugen  aus  der  liederhs.  dreier  Leipziger  Studenten  (1683,95), 
auf  die  zuerst  Zarncke  (1888)  hingewiesen  hatte:  hier  wird  die 
grölsere  hälfte  (25  von  47  nrrj  zum  abdruck  gebracht,  obwol 
darunter  sehr  bekannte  und  oft  gedruckte  stücke  (zb.  von  ChrWeise) 
sind.  —  herr  Blümml  hat  sich  nach  seiner  weise  mühe  gegeben : 
einmal  hat  er  die  personalien  der  familie  Clodius  ermittelt, 
dann  aber  eine  menge  bücher  zusammengeschleppt  und  diese  so- 
gar —  zum  wievielten  maleV  —  auf  s.  ix — xxiii  verzeichnet: 
'Litteratur  über  das  ältere  deutsche  Volkslied',  aber  er  verrät 
wie  früher  einen  stumpfen  geschmack  —  und  mit  der  'germa- 
nischen Philologie'  hat  auch  dieses  lieft  der  Teutonia  nur 
einen  stofflichen  Zusammenhang.  E.  S. 

The  Elizabethau  Shakespeare,  w    iutroductions  a.  notes  by 
William  Henry  Hudson.    London,   G.  Harrap  &  co.   o.  j.  kl.    8". 

3.  The  Tragedie  of  Julius  Caesar,     xl  u.  168  ss.  (u.  14  bil.  un- 
paginiert). 

4.  The  Winters  Tale,  xlviii  u.  210  ss.  (u.  13  bll.  unpagiuiert). 
Die  ausgäbe,  die  ich  Anz.  xxxii  107  ff  kurz  charakterisiert 

habe,  geht  ihren  gang  unbeirrt  weiter,  da  die  bändchen  für  den 
einzelverkauf  berechnet  sind  (der  preis  ist  vor  nr  4  auf  je  1  s. 
6  d.  angegeben,  statt  wie  bisher  2  s.  6  d.),  so  wird  vor  jedem 
die  'general  preface'  widerholt,  welche  die  wunderlichen  principien 
des  herausgebers  entwickelt,  ich  vermag  nach  wie  vor  nicht  ein- 
zusehen, wieso  einem  leser  der  elisabethanische  Shakespeare  näher 
gerückt  werden  soll  durch  die  peinliche  bewahrung  von  druck- 
fehlern  wie  rhen  (für  then),  gtacious  (für  gracious),  Ant.  für  Aut., 
Beleeee  (für  Beleece),  Sphephenl,  H.dke,  zumal  die  einrichtung  der 
ausgäbe   im  übrigen  durchaus  kein  bild  des  zu  gründe  gelegten 


186  LITTEKATURNOTIZEN 

druckes  gibt,  dabei  verfälirt  der  herausgeber  in  den  fulsnoten, 
die  den  leser  stets  gewissenhaft  darauf  aufmerksam  machen,  dass 
er  hier  einem  druckfehler  der  ersten  folio  gegenübersteht,  ganz 
inconsequent ;  man  list  etwa  .1.  C.  s.  44:  ^Artimedorus :  misprint 
1   F',  aber  s.  66:  'Brntus:  Brutus  —  2-4  F'. 

Die  Überlieferung  der  beiden  neuen  stücke  beginnt  mit  der 
ersten  folio  (1623)  und  ist  gut,  beim  J.  C.  sogar  recht  gut;  die 
neue  aufläge  der  vortrefflichen  ausgäbe  AlSchmidts,  welche  HCon- 
rad  (Bej'lin  1905)  besorgt  hat,  lässt  die  puncte  an  denen  kri- 
tische zweifei  aufgetaucht  sind,  bequem  hervortreten,  die  be- 
kannteste stelle  ist  wol  ii  1,45  (der  Zählung  Hudsons)  'Im  not 
to  morron-  {Boy),  the  first  of  MarcJi?'  wo  H.  der  seit  Theobald 
in  England  recipierten  änderung  uhs  folgt,  während  die  deutschen 
editoren  Delius  und  AlSchmidt  (Conrad)  m.  e.  mit  gutem  gründe 
bei  der  Überlieferung  bleiben;  ich  begreife  vor  allem  nicht,  wie 
man  bei  der  einführung  von  ides  an  dem  sing,  is  festhalten  kann, 
Shakespeare  selbst  weils  doch,  dass  das  ein  plural  ist,  und  sagt 
so  III  1,5  T/ie  Ides  of  March  are  come\  —  die  anmerkungen 
geben  in  grofser  ausführlichkeit  die  quellenstellen  aus  Norths 
Plutarch,  ohne  gebührend  hervorzuheben,  wo  sich  der  dichter 
(wie  in  iii  2)  ganz  von  der  vorläge  frei  macht. 

Die  nichtbeachtung  der  deutschen  forschung  tritt  wie  in  der 
textkritik  so  auch  in  den  beigaben  über  die  quellen  zu  tage,  wo 
im  übrigen  die  neuste  literatur  benutzt  scheint,  dass  es  Jusserand 
vorbehalten  war  1907  zu  entdecken,  woher  der  prinzliche  schäfer 
Florizel  stammt,  ist  um  so  merkwürdiger,  als  doch  Dunlop  in 
seiner  History  of  tiction  von  dem  10  buche  des  Amadis  (Florisel 
de  Niquea)  eine  ausführliche  Inhaltsangabe  geboten  hatte.    E.  S. 

Beiträge  zur  geschichte  und  Charakteristik  des 
deutschen  sonetts  im  19.  Jahrhundert,  von  dr.  Theodor 
Fröberg.  St.  Petersburg,  commissionsverlag  Eggers  und  Co. 
1904.  80.  VIII  -4-  212  SS.  4  m.  —  Welti  hat  seine  ge- 
schichte des  deutscheu  sonetts  bis  auf  Platen  und  damit 
seiner  meinung  nach  von  ihren  anfangen  bis  zu  ihrem 
höhepuncte  geführt.  Früberg  giebt  jetzt  die  fortset^ung  bis 
zur  gegenwart.  fortsetzung  freilich  nicht  in  dem  sinne,  dass 
er  sich  auf  den  boden  von  Weltis  anschauungen  stellte,  er 
polemisiert  im  gegenteil  häufig  gegen  seinen  Vorgänger  und  ver- 
wi)"ft  vor  allem  die  ansieht  Weltis,  dass  Schlegels  und  Platens 
dichtung  ein  für  alle  mal  dem  deutschen  sonett  die  richtungs- 
linien  vorgezeichnet  hätten,  an  diesem  einspruch  ist  manches 
berechtigt,  sicher  schnürt  die  Schlegel-Platensche  sonett-doctrin 
die  f ormentwicklung  des  sonetts  zu  sehr  ein  und  nimmt  ihm 
manche  möglichkeit  künstlerischer  Wirkung,  was  Fröberg  über 
die  Verwendung  des  stumpfen  reimes  und  über  den  freieren  bau 
im  allgemeinen  schreibt,  wird  man  nur  billigen  können,  nicht 
dagegen,    was    er  über  die  inhaltliche  seite  der  frage  denkt. 


LITTERATUKNOTIZEN  1  S  7 

die  Worte  A.  W.  Schleg-els,  dass  das  sonett  'die  durch  philusopliie 
gesteigerte  und  so  auch  in  die  poesie  tibergehende  selbstanschauung 
des  geistes'  ausdrücken  soll,  mögen  uns  zu  sehr  nach  roman- 
tischer speculation  klingen,  dass  ein  wertvoller  in  lebendige 
reflexion  eingetauchter  Inhalt  für  diese  kunstvolle  form  nötig  ist, 
scheint  mir  unurastöfslich,  und  ich  muss  defshalb  Fröberg  wider- 
sprechen, der  in  Heyses  sonettgenrebildchen  wegen  ihrer  unbe- 
streitbaren leichtigkeit  der  form  einen  gipfel  deutscher  sonett- 
dichtung  entdeckt,  mir  erscheint  diese  Verwendung  der  sonettform 
einfach  als  ein  mifsgriff  und  ich  empfinde  bei  den  meisten  stücken 
des  "Italienischen  skizzenbuchs'  einen  jede  stärkere  Wirkung  ver- 
nichtenden Widerspruch  von  form  und  Inhalt,  die  'gemessenheit 
und  spröde  würde  eines  Platen'  wurzelt  meiner  meinung  nach 
in  einem  tieferen  Verständnis  des  sonettes  als  Heyses  Virtuosität, 
freilich  sind  andrseits  manche  ausstellungen  Fröbergs  an 
Platenschen  sonetten  nicht  unberechtigt. 

Fröbergs  arbeit  zerfällt  in  einen  principiellen  und  einen 
historischen  teil,  gut,  wenngleich  eben  nicht  in  jedem  satze  zu 
unterschreiben,  ist  der  principielle.  dagegen  hat  die  geschicht- 
liche darstellung  arge  mängel.  es  wäre  wol  besser,  nachdem  im 
ersten  teil  ausschliefslich  vom  formalen  die  rede  war,  nun  vom 
inhaltlichen  aiiszugehn  und  etwa  das  politische,  das  charakteri- 
sierende, das  stimmnngssonett  für  sich  zu  betrachten,  es  liefse 
sich  dann  die  Stellung  des  sonetts  in  der  deutschen  litteratur 
viel  klarer  herausarbeiten  und  die  frage  der  ausdrucks  möglich - 
keit  viel  schwerer  umgehn  als  bei  der  jetzigen  anläge,  auch 
ein  historischer  verlauf  ergäbe  sich  dabei  eher  als  bei  Fröbergs 
anordnung.  Fröberg  gruppiert  nämlich  die  dichter  in  der  haupt- 
sache  nach  ihrer  geographischen  Zusammengehörigkeit,  nach 
einem  rückblick  von  Wirsung  bis  auf  Platen,  nach  den  politischen 
lyrikern  der  vierziger  jähre,  bringt  er  den  Münchener  dichter- 
kreis (bei  dem  man  am  ehesten  von  gemeinsamen  zügen  reden 
kann),  die  Schweizer,  die  Österreicher,  am  schluss  giebt  er  durch 
das  kapitel:  'Andere  dichter'  die  untauglichkeit  seiner  anordnung 
gleichsam  selber  zu.  die  einteilung  ist  denn  auch  äufserliches 
Schema  geblieben  und  hat  Fröberg  verleitet,  ohne  rechten  ge- 
sichtspunkt  zu  arbeiten,  bald  wird  inhaltliches,  bald  formelles 
herausgegriffen,  und  überdies  herschteine  unerträgliche  citiermanier, 
die  einzelne  verse  mit  berichtender  prosa  fortwährend  zusammen- 
koppelt, damit  habe  ich  an  den  wundesten  punkt  des  buches 
gerührt,  und  es  ist  meine  pflicht,  in  abschliefsender  Charakteristik 
einen  allzu  ungünstigen  eiudruck  meiner  kritik  zu  verhindern, 
das  positive,  fördernde  überwiegt  an  dem  buche  durchaus,  es 
steckt  trotz  aller  unfertigkeit  voll  guter  eiuzelbeobachtungen  und 
entschiedener  urteile,  die  auch  dann  zu  bedenken  geben,  wennsie 
mir  falsch  zu  sein  scheinen. 

Leipzig,  den  23  august  1909.  Friedrich  Schulze. 


188 


LITTEBATüENOTIZEN 


Die  götter  Griechenlands,  von  Schiller  bis  zu 
Heine.      Berliner    dissertation    von   Herinaim  Friedomaun  76  ss. 

8°.  —  Mit  der  sprachkunst  und  dem  unruhigen  reicbtum 
der  Berliner  litteraturkritik  ausgestattet,  verfolgt  Friedemann, 
wie  die  'parole',  die  Schiller  178S  mit  den  •Göttern  Griechenlands' 
ausgab,  in  der  deutschen  litteratur  weiter  würkte.'  Griechentum' 
ist  in  diesem  verlauf  ebensowenig  ein  gleichbleibender  historischer 
wert,  wie  sein  gegensatz:  'Christentum',  beide  sind  nur  'symbole 
streitender  Weltanschauungen',  von  wechselndem  Inhalt,  dauernd 
nur  in  ihrem  dualistischen  Verhältnis,  letztes  ziel  aber  ist  die 
'Überwindung  des  dualismus  durch  das  zeitlose  menschentum'. 
schon  Schiller  hat  es  geahnt,  er  selbst  kommt  aus  der  negation 
nicht  heraus,  aber  er  erwartet  die  Vereinigung  der  gegensätze 
von  einer  kommenden  zeit.  (anmerkuug  zu  einem  aufsatz 
WvHumboldts,  s.  Friedemann  s.  66).  auch  bei  Heine,  'dem  recon- 
valescenten  der  romantik',  der  bald  mit  ironisch  durchsetztem 
mitgefühl,  bald  mit  unverhtilltem  spott  die  depossedierten  Griechen- 
götter  darstellt,  leuchten  über  Siegern  und  besiegten,  Nazarenern 
und  Griechen,  'die  Sterne  eines  neuen  glaubens'.  überwunden 
aber  ist  der  gegensatz  nur  von  Goethe:  'durch  langsames  Wachstum 
von  anbeginn'.  Goethe  prägt  die  formel:  'jeder  sei  auf  seine 
art  ein  Grieche'  und    weist   mit    ihr  am  meisten  in  die  zukunft. 

Leipzig.  Friedrich  Schulze. 

Georg  Büchners  Gesammelte  Schriften  in  2  bänden 
herausgegeben  von  Paul  Lundiiu.  Berlin,  P.  Cassirer  1909.  254 
u.  207  SS.  8".  10  m.  —  Über  den  wert  dessen  was  uns  Georg 
Büchner  von  litterarischer  production  hinterlassen  hat,  und  über 
die  hoffnungen  die  mit  seinem  frühen  tode  begraben  worden 
sind,  darf  man  recht  wol  andrer  meinung  sein  als  der  heraus- 
geber  —  unzweifelhaft  ist  dieser  revolutionär  mit  den  aristo- 
kratischen allüren  eine  anziehende  erscheinung,  und  für  den 
litterarhistoriker  doppelt  interessant,  weil  er  aus  dem  jungen 
Deutschland  heraus  zurückweist  auf  die  zeit  des  Sturms  und 
drangs  (Lenz)  und  der  romantik  (Brentano)  und  vorausdeutet 
auf  den  naturalismus  vom  ende  des  19  jh.s.  um  Büchners  nach- 
lass  hat  sich  KEFranzos,  dem  wir  die  erste  gesamtausgabe 
(1879)  verdanken,  mit  wahrhaft  rührender  hingäbe  bemüht,  und 
es  ist  ihm  von  der  familie  mit  schnödestem  undank  gelohnt 
worden,  was  Franzos  in  der  'Deutschen  Dichtung'  bd  29  (1901), 
s.  195 ff.  289ff  notgedrungen  —  aber  leider  allzu  umständ- 
lich —  von  der  eitelkeit,  dem  eigennutz  und  der  unwahr- 
haftigkeit  der  geschwister  Büchner  berichtet  hat,  stellt  wol  die 
schlimmste  erfahrung  dar  die  je  einem  herausgeber  begegnet 
ist.  darum  war  es  nicht  nur  anstandssache,  sondern  ehrenpflicht 
für  Landau,  des  verdienten  Vorgängers  anders  zu  gedenken,  als 
flüchtig  da  wo  er  von  ihn:  abweicht,  wie  in  der  scenenordnung 
des  'Wozzeck'.     auf  die  handschriften,   mit  denen   sich   Franzos 


LITTER  ATUBXOTIZEX  189 

SO  viel  mühe  gegeben  hatte,  ist  doch  L.  offeubar  nirgends  zu- 
rückgegangen, der  wert  der  neuen  ausgäbe  ligt  hauptsächlich 
in  der  umfangreichen  biographie  (bd  i  s.  I  — 169)  und  den  ein- 
leitungen  zu  den  einzelnen  werken,  die  aber  gewis  zu  ihrem  vor- 
teil knapper  ausgefallen  wären,  wenn  sie  der  verf.  nach  statt 
vor  der  biographie  geschrieben  hätte,  mit  der  ausgäbe  selbst 
hat  er  sich  nicht  viel  mühe  gegeben:  die  bände  haben  kein 
Inhaltsverzeichnis,  und  die  druck  versehen  der  früheren  ausgäbe 
kehren  selbst  in  der  falschen  typeuwahl  mancher  scenischer  be- 
merkungen  wider;  dass  das  personenverzeichnis  zum  'Danton' 
unvollständig  war  (es  fehlen  Amar  und  Vouland  s.  23Sf),  hat  L. 
selbstverständlich  übersehen,  der  satz  ist  hier  und  da  peinlich 
unsauber,  und  beim  druck  sind  auf  manchen  selten  meines 
exemplars  !zb.  bd  i  s.  194.  l'K'i)  die  spiefse  in  einer  weise  her- 
vorgetreten, dass  der  kunstverlag  von  PCassirer  mit  der  äulsern 
erscheiuung  dieser  ausgäbe  keine  ehre  einlegt.  E.  S. 

Leutholds  lyrik  und  ihre  Vorbilder  von  Margaretlia 
Plüss.  diss.  Bern.  VI.  92  ss.  8^.  —  Mit  scharfem  äuge  hat 
die  verf.  Leutholds  lyrik  duchmustert  und  charakteristische 
reminiscenzen  (bes.  aus  Lenau,  s.  31)  herausgehoben,  ganze  stil- 
eigenheiten  wie  (s.  36)  die  metaphern  mit  einem  im  genetiv 
stehnden  abstractum  {Wüstcnstauh  des  Lel>ens,  bei  Lenau  Wüsfen- 
sand  des  Lehens)  entnimmt  er  dem  virtuosen  des  pessimismus. 
selbst  im  Sprachgebrauch  bleibt  er  (mit  Geibel,  s.  38)  von  Lenaus 
compositis  mit  ge-  in  der  fuge  {Lenzgekose,  Apenningeklilf)  ab- 
hängig, und  wie  von  Lenau  ist  er  von  Heine  (s.  38),  von  Platen 
(s.  49)  in  der  lyrik,  in  der  satire  widerum  von  Heine  (s.  52.  55) 
bedingt,  das  ist  alles  unwiderleglich  erwiesen,  und  doch  — 
wenn  die  verf.  (s.  56 f  bes.  s.  58)  eigentlich  nichts  originelles 
übrig  lässt,  hat  sie  unrecht,  die  milderung,  er  sei  'kein  simpler 
nachahmer',  aber  fast  alles  sei  bei  ihm  nachempfunden  (aao.) 
genügt  nicht.  es  hätte  ausgesprochen  werden  müssen,  dass 
Leuthold  bei  aller  abhängigkeit  im  einzelnen  im  ganzen  neues 
schafft  —  wie  ein  mittelhochdeutscher  oder  romanischer  kunst- 
dichter, im  hijheren  grade  als  alle  seine  Vorbilder  besitzt  er  die 
kunst  der  liedmelodie,  des  durchcomponierens.  Platen  mangelt  sie 
gänzlich;  Lenau  hat  sie  bei  kleinen  abständen  der  Stimmungen; 
Heine  besitzt  sie  souverän,  aber  mehr  in  der  Virtuosität  der 
inneren  melodie  als  der  eigentlichen  klangführung.  Leuthold 
aber  schafft  hierin  ganz  neues,  um  so  erstaunlicher  als  er  es 
aus  mosaiksteinchen  schuf.  Ricliard  M.  Jlcjer. 

Raabes  Hollunderblüte  von  Marie  Speyer.  Regensburg, 
Habbel  1908.  [Deutsche  quellen  und  Studien,  hsg.  von  prof.  dr. 
WKosch  1.  heft.]  127  ss.  8''.  2,40  m.  —  Die  Verfasserin 
überschätzt  die  bedeutung  der  kleinen  erzählung  WRaabes  ganz 
gewis.  weder  gesondert  betrachtet  noch  innerhalb  des  Raabeschen 
Schaffens  verdient  die  28  selten  lange  'Hollunderblüte'  (jetzt  im 


190  LITTEKATUKXOTIZEN 

1  bde  der  'Gesammelten  erzählungen)  eine  wissenschaftliche  be- 
handlnng-,  die  121  selten  beansprucht,  für  Marie  Speyer  (s.  119 
ihrer  schrift)  ist  die  erzählung-  'nicht  liaabes  gröste,  nicht  seine 
bedeutendste  und  tiefste  dichtung,  vielleicht  aber  in  seinem 
ganzen  schaffen  die  schönste',  wäre  die  erzählung  würklich  so 
bedeutsam,  so  lohnte  es  sich  zweifellos,  die  beziehungen  zu 
andern  Schriftstellern  und  litterarischen  richtungen  sowie  ihr  Ver- 
hältnis zu  gröl'seren  werken  des  dichters  (geschrieben  ist  die 
Hollunderblüte  1862)  aufzuzählen,  aber  die  eifrigen  bemühungen 
M.  Sp.s  stehn  in  keinem  Verhältnis  zu  ihrem  gegenständ:  denn 
es  handelt  sich  nur  um  eine  dichtung  mittleren  wertes,  fast  um 
eine  skizze. 

Die  heldin  der  erzählung,  die  herzkranke,  nicht  zum  leben 
berufene  Jemima  wird  (s.  32  ff)  mit  Goethes  Mignon  und  Immer- 
manns Fiametta  in  Verbindung  gebracht,  dem  kann  man  zu- 
stimmen; nur  müste  gesagt  werden,  dass  es  sich  bei  Raabe 
nicht  um  eine  so  sehr  besondere  gestalt  handelt,  sondern  dass 
es  in  der  neueren  novellistik  überhaupt  sehr  viele  solcher 
zigeunerartiger  wesen  gibt,  die  ein  kurzes  traumdasein  führen, 
und  dass  Jemima,  wie  solche  spätromantische  novellenheldinnen 
öftei",  ein  wenig  schwächlich  und  blass  gezeichnet  ist.  scheinen 
mir  hier  die  beziehungen  Raabes  zur  romantik  keineswegs  sehr 
rühmlieh  für  ihn  zu  sein,  so  muss  ich  an  andrer  stelle  rund  ab- 
streiten, dass  solche  beziehungen  überhaupt  vorhanden  sind. 
wenn  einmal  zwei  deutsche  philister  vom  dichter  ironisch  be- 
trachtet werden,  so  ist  es  ganz  und  gar  unnötig,  dabei  an  den 
philisterhass  Friedrich  Schlegels  oder  Brentanos  zu  denken 
(s.  52  f).  und  so  eröffnet  M.  S.  auch  sonst  bei  geringfügigen 
gelegenheiten  gewaltige  perspectiven,  die  man  nicht  ernst 
nehmen  kann. 

Raabes  eigenart  scheint  mir  die  vf.  im  allgemeinen  richtig 
erfasst  zu  haben,  trotz  ihrem  grundirrtum  über  die  bedeutung 
der  Hollunderblüte.  der  gegensatz  seiner  meist  um  ideen  be- 
mühten darstellungsart  zu  Storms  Stimmungsnovellen  wird  (s.  54) 
richtig  hervorgehoben,  trotzdem  wird  es  schwer,  ein  wissen- 
schaftliches buch  zu  lesen,  in  dem  schliefslich  jeder  vierte  satz 
einer  so  kurzen  erzählung  besonders  behandelt  wird,  man  muss 
an  andrer  stelle  mit  der  Raabeforschung  einsetzen;  es  ist  dem 
dichter  wenig  damit  gedient,  wenn  zb,  möglichst  alle  werke  auf- 
gezählt werden  die  Prag  poetisch  schildern,  nur  weil  er 
hier  einmal  Prag  geschildert  hat.  der  stimmungsgehalt  der 
Hollunderblüte  war  leicht  und  kurz  zu  charakterisieren; 
einen  motivenreichtum  kann  man  ihr  überhaupt  nicht  zu- 
sehreiben, da  sie,  wie  gesagt,  skizzenhaft  gehalten  ist.  begreift 
man  doch  kaum,  wie  dies  kurze  merkwürdige  erlebnis  so  grofse 
bedeutung  in  dem  leben  des  gealterten  arztes  hat  gewinnen 
können,  den  Raabe  zum  erzähler  macht. 


LITTEßATUKXÜTIZEX    KLKIXE    MITTEILUNGEN  191 

Im  ganzen  muss  ich  über  die  besprochene  schrift  trotz  dem 
eifer  der  Verfasserin  sagen:  derartige  arbeiten,  die  zum  grüi'sern 
teile  uuuotwendig  und  überflüssig  sind,  nützen  dem  ruf  der 
litteraturgeschichte  nicht,  und  man  sollte  aufhören,  sie  für  den 
druck  zu  schreiben  und  in  Sammlungen  aufzunehmen. 

Karl  Frevo. 


KLEINE    MITTEILUNGEN. 

Herinian.  Zs.  35.  264  fügt  Kossinna  zu  den  ebenda  s.  172 ff 
von  Mommsen  mitgeteilten  quellenstellen  für  herlman  als  be- 
zeichnung  der  von  dem  oströmischen  Oberbefehlshaber  Justinian 
gegen  die  Perser  im  j.  575  jenseits  der  Alpen  geworbenen  liilfs- 
truppen  noch  das  zeugnis  des  Johannes  von  Ephesus,  wonach 
unter  diesen  Söldnern  sich  60  000  Langobarden  befunden  haben 
sollen,  kürzlich  hat  auch  WSchulz  in  einer  besprechung  von  Bla- 
sels  Wanderzügen  der  Langobarden  (Mannus  2,253)  die  angäbe 
des  syrischen  historikers  als  beleg  dafür  verwertet,  dass  auch 
nach  dem  jähre  56S  noch  Langobarden  nördlich  der  Alpen  ge- 
sessen hätten,  in  Wahrheit  kann  hiervon  keine  rede  sein,  an 
dem  zuge  nach  Italien  war  das  ganze  volk  beteiligt,  wie  die 
quellen  (Marius  chron.  a.  569;  Paul.  Diac.  ii,  7 ;  Prosp.  Havn.: 
Chron.  min.  i  337)  ausdrücklich  angeben,  ebenso  fehlt  jeder 
anhält  dafür,  dass  von  den  Langobarden  au  irgend  einer  früheren 
Station  ihrer  Wanderung  ansehnliche  reste  zurückgeblieben  seien, 
wenn  die  bewohner  der  Stadt  Tela  von  einem  starken  (die  zahl 
60000  ist  natürlich  auf  alle  fälle  Übertreibung)  langob ar- 
dischen hilfsheer  gesprochen  haben,  so  kann  dies  nur  in  der 
absieht  geschehen  sein,  den  Persern  furcht  einzuflöfsen;  der  uralte 
kriegsruhm  der  Langobarden  hatte  infolge  der  ereignisse  der 
letzten  jähre  (Vernichtung  des  Gepidenreiches ;  eiuzug  in  Italien) 
eine  erhebliche  Steigerung  erfahren. 

Dresden.  Ludwig  Schmidt. 

Biterolf.  KObser  macht  mich  dankenswert  darauf  aufmerk- 
sam, dass  über  das  'alte  Freiburger  geschlecht"  der  Biterolf  Kindler 
von  Knobloch  in  seinem  Oberbadischen  geschlechterbuch  bd  i 
(1898)  s.  95  nähere  angaben  bietet,  danach  tritt  ein  'Chuno 
bitterolf  schon  1213  auf:  in  einer  Urkunde  der  grafen  von  Pfirt 
für  das  kloster  Pairis;  erloschen  scheint  das  geschlecht  1592  mit 
dem  kammerrat  und  landschreiber  der  markgrafschaft  Hachberg 
Jacob  Bitterolf  von  Elchingen.  —  die  Wahrscheinlichkeit  dass  der 
Alexanderdichter  'her  Biterolf,  den  Rudolf  von  Ems  seinen  freund 
nennt  (Beitr.  29,461;  Zs.  51,  152  n.  l),  dieser  alemannischen 
familie  angehörte,  ist  durch  den  Chuno  Bitterolf  von  1213  noch 
gröfser  geworden,  und  damit  empfiehlt  sich  auch  mein  einfall 
(Zs.  51,  153),  dass  der  Alexander  des  herrn  Biterolf  in  enger  be- 


192  KLEINE    MITTEILUNGEN    PEESONALNOTIZEN 

ziehunj?  zu  dem  Alexander  des  herrn  Bertliold  von  Herbolzlieim 
gestanden  habe,  vielleicht  nur  eine  fortsetzung  dieses  für  Bert- 
hold V  von  Zähring-en  (t  1218)  geschriebenen,  nach  Rudolfs  an- 
gäbe unvollständigen  werkes  gewesen  sei,  ernsthafter  erwägung. 

E.  S. 


PERSONALNOTIZEN. 

Am  28  juni  endete  ein  tragischer  tod  im  59  jähre  das  er- 
tragreiche leben  Heinrich  zimmeks.  nachdem  er  den  deutschen  und 
indischen  Studien  den  rücken  gekehrt,  hat  er  mit  unvergleichlicher 
energie  die  keltische  philologie  in  allen  ihren  zweigen  umfasst 
und  bis  tief  hinein  in  kirchengeschichte  und  wirtschaftsgeschiclite 
bahnbrechende  arbeit  geleistet. 

Am  13  august  verschied  in  Strafsburg,  69  jähr  alt,  ernst 
MARTIN,  der  der  spräche  und  litteratur  des  Elsass  durch  die 
mehr  als  30  jähre  seiner  Strafsburger  würksamkeit  seine 
freudige  arbeit  geweiht,  aber  auch  sonst  auf  den  verschiedensten 
gebieten  unserer  Wissenschaft  eine  ungewöhnlich  reiche  production 
entfaltet  hat.  die  litteratur  der  deutschen  heldensage,  der  gral- 
sage, der  tiersage  verdankt  ihm  die  wertvollsten  förderungen, 
das  band  mit  der  niederländischen  philologie  hat  er  neu  ge- 
knüpft, die  enge  Verbindung  unserer  Studien  mit  der  romanischen 
philologie  tätiger  als  irgend  ein  anderer  unserer  fachgenossen  auf- 
recht erhalten. 

Als  dritter  Strafsburger  germauist  ist  diesen  beiden  am 
1  1  august  KARL  KOCHENDÖEFFER  im  tode  gefolgt,  der  am  1 4  august, 
nach  langen  qualvollen  leiden,  53  jährig  in  seiner  Vaterstadt 
Kassel  gestorben  ist.  noch  auf  seinem  krankeusessel  hat  er 
sich  mit  der  deutschordenslitteratur  beschäftigt,  der  er  in  seiner 
Königsberger  amtszeit  näher  getreten  war.    — 

Der  Senat  der  freien  und  hansestadt  Hamburg  hat  auf 
einen  neubegründeten  lehrstuhl  für  deutsche,  insbesondere  nieder- 
deutsche spräche  den  professor  dr  conrad  borchling  zu 
Posen  berufen. 

Der  privatdocent  dr  friebrich  brie  zu  Marburg  folgt 
einem  ruf  als  ao.  etatmäl'siger  professor  der  englischen  philologie 
an  die  Universität  Freiburg  i.  Br.  ebendort  erhielt  der  privat- 
docent der  englischen  philologie  dr,  eduard  Eckhardt  den  titel 
eines  ao.  professors. 

Der  Ordinarius  der  deutschen  spräche  und  litteratur  an 
der  Universität  Lemberg  dr  bichard  maeia  werner  ist  wegen 
seines  gesundheitszustandes  um  Pensionierung  eingekommen. 


ANZEIGER 

FÜR 

DEUTSCHES  ALTERTUM  UND  DEUTSCHE  UTTERATUR 

XXXIV,   4.  december  1910 


Altfränkische  gramixiatik  vou  dr.  J.  Franck.  [Grammatiken  der 
althochdeutschen  dialekte  ii.  band].  Göttingen,  Vandenhoeck  und 
Ruprecht  1909.     viii  u.  271  ss.  —  7.80  m. 

Der  altbairlsclien  grammatik  hat  sich  nun  die  altfränkische 
beigesellt,  dass  ihr  Verfasser  Franck,  der  schon  auf  dem  ge- 
biete des  älteren  niederfränkischen  seine  kraft  erprobt,  die  an 
ihn  gestellten  erwartungen  erfüllen  werde,  war  vorauszusehen, 
und  wir  dürfen  uns  seiner  leistung  freuen,  mag  auch  das  eine 
und  das  andre  daran  verbesserungsbedürftig  sein,  die  anordnung 
ist  im  wesentlichen  dieselbe  wie  bei  Schatz;  einen  fortschritt  in 
der  gruppierung  bildet  zweifellos  der  abschnitt  über  den  vocalis- 
mus  nebentoniger  silben:  die  vocale  in  der  compositionsfuge 
werden  selbständig  behandelt,  desgleichen  werden  assimilation, 
vocalschwächung  usw.  von  den  übrigen  erscheinungen  abgetrennt, 
dass  dabei  manches  unsicher  bleibt,  ist  bei  der  Schwierigkeit  der 
Probleme  begreiflich. 

Verwickelter  als  auf  obd.  sprachboden  sind  die  sprachlichen 
Verhältnisse  des  ahd.  auf  fränkischem  gebiete,  dem  verhältnis- 
mäfsig  einheitlichen  lautstand  im  altbair.  und  altalem.  steht  hier 
eine  mundartliche  mannigfaltigkeit  gegenüber,  die  zudem  vielfach 
verschoben  und  verwischt  wird  durch  ausgleichungen  und  beein- 
flussungen  orthographischer  art.  unangenehmer  als  anderswo 
emplindet  man  hier,  wo  infolge  der  gröfseren  dialektischen  Ver- 
schiedenheiten die  zahl  der  möglichkeiten  eine  gröfsere  ist,  den 
schillernden  lautwert  einzelner  zeichen:  2>h  kann  affricata  und 
Spirans  bezeichnen,  scheint  aber  gelegentlich  auch  für  aspirata 
verwendet  worden  zu  sein,  so  wol  im  Leid.  Williram.  aber  trotz 
diesem  übelstand  und  obwol  sichere  daten  für  eine  genauere  loca- 
lisierung  der  texte  fast  durchaus  fehlen,  lässt  sich  doch  mit  hilfe 
urkundlichen  schreibgebrauches,  jüngerer  sprachquellen  und  der 
heutigen  mdaa.  für  die  mehrheit  der  sprachlichen  reste  wenig- 
stens die  einreihung  in  eine  der  vier  hauptgruppen  des  hoch- 
deutschen fränkisch  bewerkstelligen. 

Bei  den  gröfseren  texten  ist  man  sich  in  der  hauptsache  ja  im 
klaren :  nicht  im  selben  mafse  bei  den  kleineren,  vor  allem  bei  den 
glossen.   da  wäre  der  versuch  einer  Zugehörigkeitsbestimmung  denn 
A.  F.  D.  A.    XXXIV.  1.3 


194  LESSIAK    ÜBEK    FßANCK 

doch  wol  angebracht  gewesen,  und  wenn  der  verf.  bei  seinem 
skepticismus,  der  einl.  s,  iv  und  anderwärts  zum  ausdruck  kommt, 
schon  ghaubte  von  einer  anordnung  der  belege  für  die  einzelnen 
erscheinuugen  nach  dialektgruppen  abstand  nehmen  zu  müssen, 
so  hätte  er  doch  dem  Verzeichnis  benutzter  quellen  eine  kurze 
Charakteristik  der  einzelnen  glossensammlungen  nach  den  wich- 
tigsten merkmalen  beifügen  sollen,  womöglich  mit  statistischen 
angaben,  dadurch  wären  die  belege  erst  so  recht  brauchbar  ge- 
worden: so  aber  stehn  die  beispiele  verstreut  unter  den  einzelnen 
Paragraphen,  und  dem  benutzer  der  grammatik  bleibt  nichts  anders 
übrig,  als  sich  selbst  eine  solche  Übersicht  anzulegen,  wenn  er 
nicht  für  jedes  wort  immer  die  betreffenden  glossare  durchmustern 
will,  zu  bedauern  ist,  was  ich  auch  gelegentlich  der  be- 
sprechung  der  altbair.  grammatik  angemerkt  habe,  dass  die  ur- 
kundlichen belege  nicht  datiert  sind ;  zum  mindesten  hätte  in  der 
einl.  einiges  über  das  Verhältnis  der  numerierung  in  den  ur- 
kundensammluugen  zur  Chronologie  angeführt  werden  sollen,  wich- 
tigere beispiele  hätten  aber  unter  allen  umständen  die  datierung 
verdient. 

Fr.  hat  sich  (s.  vorw'ort  s.  iii)  zur  aufgäbe  gemacht,  das 
mittelfränkische  quellenmaterial  möglichst  vollständig  auszubeuten, 
in  anbetracht  des  mangels  an  gröfseren  mfr.  denkmälern  lässt 
sich  dieses  verfahren  wohl  rechtfertigen,  aber  er  hätte  deshalb  doch 
nicht  oberfr.  Urkundenwerke  wie  Dronkes  Cod.  dipl.  Fuld.  ganz 
beiseite  schieben  sollen ;  leider  ist  auch  das  thüringische  unbe- 
rücksichtigt geblieben. 

Bevor  ich  auf  einzelheiten  eingeh,  möchte  ich  einige  allge- 
meineren Probleme  erörtern,  in  deren  beurteilung  ich  vom  verf. 
abweiche. 

I.  Conso  nan  tismus.  a)  germ.  h,  d,  g.  mit  der  in  ij  G6 
ausgesprochenen  ansieht,  dass  /;  (»')  g  im  westgerm.  (ja  im  germ. 
überhaupt?  so  wenigstens  lässt  sich  die  bemerkung  s.  86  unten 
auslegen)  stimmhafte  verschlusslaute  waren,  dürfte  Fr.  ziemlich 
isoliert  dastehen,  da  vom  d  abgesehen  sämtliche  westgerm.  sprachen 
bis  auf  den  gröfseren  teil  des  hd.  darin  übereinstimmen,  dass  sie 
aufser  in  gewissen  Stellungen  (anl.,  gemin.,  mh,  log)  dafür  stimm- 
hafte reibelaute  haben,  und  das  hd.  auch  sonst  auf  einer  jüngeren 
stufe  der  consonantenentwicklung  steht,  scheint  es  mir  ein  ge- 
wagtes stück,  an  der  bisherigen  auffassung  rütteln  zu  wollen. 
"Wilmauns  Gramm.  I  §  63  und  Behaghel  Grundr.  i-  7  22,  auf  die 
Fr.  hinweist,  nehmen  Übergang  von  h,  g  m  b,  g  nur  für  das  hd.  au.  die 
schiefe  bzw.  schwankende  auffassung  des  lautwertsvon  inl.  '/;,  g'  im 
vorahd.  wurde  veranlasst  durch  falsche  beurteilung  mundartlicher 
Vorgänge:  md.  mdaa.  und  auch  ein  teil  des  obd.  haben  heute  Spi- 
ranten, während  ihre  ahd.  Vorstufe  entschieden  auf  verschlusslaut 
schliefsen  lässt.  nun,  es  Aväre  allerdings  sehr  verkehrt  anzu- 
nehmen,    die    inlautenden  v;  g  oder  eh,    die   jetzt   fast  dem  ge- 


ALTFKÄNKISCHE    ÜRAMMATIK  195 

samten  md.  und  zt.  auch  dem  obd.  eig'nen,  setzUn  übenill  die 
altgerm.  reibelaute  fort,  gegeu  diese  annähme,  die  namentlich  in 
dialektgrammatiken  begegnet,  spricht  nicht  nur  die  alte  Ortho- 
graphie, dagegen  sprechen  vor  allem  auch  die  auslautverhältnisse 
in  diesen  mdaa.  auf  dem  ganzen  rhein-  und  ostfr.  gebiet  sowie 
in  ostmittel-  und  oberdeutschland  erscheint  im  echten  auslaut  ahd. 
h,  (j  als  JA  k.  freilich  sind  davon  in  einer  reihe  von  mdaa.  nur 
mehr  reste  in  isolierten  Wörtern  vorhanden,  da  —  zumal  in 
mdaa.  mit  früher  apokope  —  der  ausl.  consonant  durch  den  inl. 
verdrängt  wurde  [llw  statt  Vq)  nach  llwer  usw. ),  aber  noch  ist 
mir  keine  von  den  genannten  mdaa.  untergekommen,  die  nicht 
wenigstens  spuren  des  alten  lautgesetzes  aufwiese,  und  nirgends 
aufser  im  mfr.  erscheint  ausl.  /'  etwa  in  ah,  gab  usw.  tritt  inl. 
w  analugisch  in  den  auslaut,  so  wird  es  nicht  zu  f,  was  damit 
zusammenhängt;  dass  dieses  sekundär  aus  verschlusslaut  entstan- 
dene w  nicht  Spirant,  sondern  (bilabialer)  sonor  ist.  wenn  da- 
gegen in  entsprechendem  falle  ch  auftritt,  so  ist  dies  ganz  in 
der  Ordnung,  denn  y  ist  im  inl.  zu  wirklichem  Spiranten,  oft  ge- 
radezu zu  stimmlosem  ch  geworden;  isolierte  Wörter  wie  iveg 
(adv.)  haben  in  echter  mdaa.,  soviel  ich  sehe,  überall  Ä '. 
daraus  ergibt  sich  mit  völliger  Sicherheit,  dass  im  ganzen  oberfr. 
(rhein-  und  ostfr.)  und  ostmd.  zur  zeit  der  auslautverhärtung, 
und  die  reicht  ja  in  die  ahd.  periode  zurück,  h  und  (j  als  ver- 
schlusslaute gesprochen  wurden;  nur  nach  r,  /  und  in  dem  suftix 
-i(l  scheint  y  früher  als  sonst  zur  spirans  geworden  zu  sein,  wir 
haben  übrigens  für  dieses  wiederaufgeben  des  verschlusses  noch 
ein  weiteres  Zeugnis:  den  Übergang  von  anl.  Z^  in  m;  in  alten 
zusammenszttuugen,  vor  allem  in  ortsn.:  rheinfr.  Frkvrig  Fried- 
berg, klraltcdr  <  stn[d)baire,  ostfr.  Fraiwriv  Freiberg,  Es^wox 
Eschenbach  usw.  (vgl.  dazu  aus  dem  bair.  die  beispiele  bei  Schatz, 
Imster  mda.  s.  83  und  Beitr.  28,  114);  in  mfr.  mdaa.  ist 
mir  dergleichen  nicht  vorgekommen,  aufser  im  siegerläud.,  das 
eine  ganz  merkwürdige  mittelstellung  zwischen  hessisch  und  mfr. 
einnimmt,  auch  bilab.  iv  nicht  v  spricht. 

Anders  verhält  es  sich  im  mfr.  dieses  weist  seit  dem  ahd. 
hinter  vocal  und  nicht  homogenem  sonorcons.  nur  spirantischen 
auslaut  auf:  vej  weg,  af  ab  usw.,  aber  joßk  jung,  ravk  ring, 
klnndk  künig,  laiiij)  lamm,  khamp  kämm  (die  beisp.  sind  dem 
luxemb.  entnummeu),  und  es  ligt  (ebenso  wie  für  das  ndfr.  und 
ud.)  durchaus  kein  grund  zur  annähme  vor,  es  sei  in  vorlitte- 
rarischer  zeit  aufser  in  den  bekannten  ausnahmsstellungen  ein 
Wandel  der  germ.  spirans  zum  verschlusslaut  eingetreten,  das 
mfr.  steht  überhaupt  hinsichtlich  der  behandluug  des  b  und  y 
fast  vollständig  auf  derselben  stufe  wie  das  ndfr.  und  nd.  das 
zeigen  auch    die  mit    alter    Silbentrennung    zusammenhängenden 

'  soweit  daneben  formen  mit  ■/  vorkoiuiueii,  \verdi;u  .*ie  iu  der  rejjcl 
als  tleui  jüngeren  geschlecht  angehörig  bezeichnet. 


10(5  LEÖSIAK    ÜBER    FRANCK 

überg-änge  von  h  vor  souorcons.  in  stimmloses  /'  zb.  moselfr.  gäf9l, 
rip.  javf'dJ  gabel,  ^f9n  eben,  von  ^  in  /  zb.  moselfr.  iydl,  eydl  igel 
(die  regelmäfsige  Vertretung  wäre  ./),  die  auch  für  das  ndfr.  (s. 
Grundr.  I^  833.  83(i)  und  für  das  nd.,  zt.  sclion  in  as.  periode 
(Holthausen  As.  elementarb.  §  222,  232)  bezeugt  sind  und 
auf  der  Silbentrennung  gah-la  beruhen,  vgl.  auch  Sievers  Ags. 
gramm.  §  193,  2  anm.  und  §  214,  1  anm.  2  '.  wenn  irgend- 
etwas für  die  annähme  Francks  spräche,  so  wäre  es  die  behand- 
lung  der  b  in  lehnwörtern:  vgl.  moselfr.  äbf  alba,  kiidrdf  korb, 
rip.  kQr3f  u.  ähnl.  (franz.  auhe,  corheille),  aber  hier  liegt  doch 
sicher  blofser  lautersatz  vor  wie  auch  in  den  oi'tsnamen,  wenn 
sie  nicht  schon  mit  rom.  v  <  h  übernommen  sind,  beispiele  wie 
Hupert,  Ruocger  §  107,  soweit  sie  mfr.  herkunft  sind,  beweisen 
für  urspr.  verschlusslaut  nichts:  Hii:^berht  wurde  über  Hngherlit 
zu  Hübberht,  Hrödger  über  Hrödger  zu  Hrögger  assimiliert  und 
diese  bb,  gg  wurden  natürlich  wie  in  den  übrigen  fällen  behan- 
delt, ebensowenig  besagt  gelegentliches  ausl.  c  (§  106,  3;  die 
meisten  angeführten  belege  scheinen  übrigens  nicht  mfr.  zu  sein) ; 
denn  nach  §  111,  §  117,  3  wird  c  auch  für  ch  <  k  und  sogar 
für  germ.  li  geschrieben,  darauf  hätte  Fr.  an  der  betr.  stelle 
auch  hinweisen  sollen. 

Natürlich  hat  spirant.  ausspräche  des  b,  g  ursprünglich  auch 
in  den  andern  hd.  mdaa.  bestanden,  und  es  ist  anzunehmen,  dass 
der  Übergang  zum  verschlusslaut  am  frühesten  im  obd.,  am 
spätesten  im  rheinfr.  erfolgt  ist.  ein  consequenter  wandel  zum 
verschlussl.  ist  aber  nur  dann  zu  erwarten,  wenn  die  Verhärtung 
vor  der  westgerm.  apokope  stattfand,  fürs  obd.  wird  dies  wol 
vorauszusetzen  sein,  dagegen  sprechen  die  prät.  büciph,  screiph 
(jih  =  bilab.  /'?)  im  Isidor  dafür,  dass  in  seiner  mda.  die  reibeenge 
zu  gunsten  des  verschlusses  erst  nach  beginn  der  apokope  auf- 
gegeben wurde,  dass  also  zunächst  noch  inl.  b  ausl.  f  nebenein- 
ander standen  2,  wenigstens  in  bestimmten  fällen :  die  Verhärtung 
könnte  in  der  Isid.  mda.  etwa  erst  erfolgt  sein,  nachdem  die  -e 
der  3  pei"s.  prät.  verstummt  waren,  und  ausl.  e  scheint  ja  in  der 
tat  am  frühesten  verklungen  zu  sein  (Streitberg,  Urgerm.  gr. 
§  65,  2).  gegen  diese  Vermutung  sprechen  freilich  seine  gab,  mac, 
(Inioc;  doch  mag  sich  ausgleichung  früh  geltend  gemacht  haben. 

'  bei  der  Silbentrennung  ga-dla  konnten  sich  dieselben  laute  in 
gleicher  Stellung  auch  zu  verschlusslauten  entwickeln,  zb.  lux.  nudhdl 
nabel,  westlothr.  iiebdl  aber  lux.  nä)tdl  nebel,  rip.  icaf/ald  wackeln  usw. 
die  beiden  entwicklungsphasen  sind  wol  chronologisch  verschieden,  die 
entwicklung  zum  stimmlosen  reibelaut  ist  anscheinend  älter,  gemination 
ist  in  fällen  wie  nn.dbdl  nicht  anzunehmen:  während  sich  im  moselfr.  hb 
zum  stimmlosen  verschlusslaut  /)  entwickelt  hat,  bleibt  hier  das  It 
erhalten,  auch  das  mittel-  und  nordbair.  setzen  in  solchen  fällen  keine 
gemination  voraus. 

-  darauf  weisen  auch  einzelne  mdaa.,  namentlich  das  siegerländische, 
aber  aucli  ein  teil  der  hessischen  und  siebenbürg,  dialekte. 


ALTFBÄNKISCHK    GKAMMATIK  197 

Unrichtig  oder  nur  zum  teil  richtig  ist  Fr.s  beinerkung- 
in  §  123,  dass  das  moselfr.  an  der  consonantenerweichung 
(dh.  am  Übergang  von  fortis  zur  lenis)  teilgenommen  habe, 
das  gilt  nur  für  das  östl.  gebiet,  die  untere  ]\Iosel-  und  die 
Rheingegend  bis  liinauf  gegen  das  Siegerland,  im  ganzen  westen 
—  und  auch  im  siebenbüi'gischen  —  wird  fortis  und  stimmhafte 
lenis  scharf  auseinandergehalten;  nur  anlautend  vor  sonorcons. 
ist  in  der  Trierer  gegend  Übergang  von  b,  g  in  ^j,  Ä:  eingetreten 
(viell.  schon  früh,  vgl.  §  77).  im  übrigen  geht  die  Unterschei- 
dung so  weit,  dass  das  zu  tt  verschobene  germ.  cid  auch  nach 
länge  stets  als  fortis  erscheint:  zb.  lux.  däit3n  deuten,  zäit  seite, 
pl.  zäiidn  ahd.  sltta,  zet  saite  pl.  zeton  {*seitfa;  daher  auch  west- 
lothr.  zeit  mit  ei  uml.  nicht  zäit;  vgl.  dazu  Anz.  xxx  48.  die 
Übereinstimmung  zwischen  dem  moselfr.  und  mittelbair.  zeigt, 
dass  die  gemin.  allgemein  galt),  andei'seits  reicht  die  'erweichung' 
weit  über  das  rheinfr.  hinaus,  sie  umfasst  auch  das  ostfr.  und 
ostmd.  mit  ausnähme  des  schlesischen  und  greift  über  auf  das 
nordoberdeutsche,  aus  dem  schlesischen  geht  hervor,  dass  zur 
zeit  der  colonisation  der  unterschied  zwischen  lenes  und  fortes 
im  thüring.  noch  bestanden  haben  muss.  vom  südrheinfr.  und 
westl.  ostfr.  dürfte  die  erscheinung  ausgegangen  sein  (vgl.  §  123 
und  die  dort  angefülirten  verweise,  die  beispiele  mit  sh,  sg  sind 
allerdings  nicht  alle  beweiskräftig,  ebensowenig  wie  die  mit 
hd,  fd,  sd  %  101,  denn  />  und  k  u.  zt.  auch  ^  waren  aulserhalb 
des  rip.  aspirierte  laute,  s.  u.  s.  203,  es  lag  daher  nahe,  unasp. 
qualitäten,  wie  sie  den  genannten  Verbindungen  zukamen,  mit 
dem  leniszeichen  widerzugeben),  diese  consonantenschwächung 
ist  es,  die  uns  den  einblick  in  den  urspr.  lautstand  des  oberfrn. 
und  nordobd.  in  vieler  beziehung  erschwert,  umsomehr  muss  den 
beiden  äufsersten  Hanken  des  md.,  die  die  alten  Verhältnisse  im 
wesentlichen  rein  erhalten  haben,  beachtung  geschenkt  werden, 
daraus  ergibt  sich  u.a.  mit  voller  Sicherheit,  dass  der  osten  die 
volle  Verschiebung  des  d  zu  t  durchgeführt  hat:  ganz  entsprechend 
der  Schreibung  in  den  alten  ostfr.  denkmälern  (nur  in  der  Ver- 
bindung germ.  Id,  nd  hat  das  schlesische  die  lenis).  während 
aber  das  westl.  moselfr.  und  das  rip.  sich  vom  urspr.  laut- 
wert fast  gar  nicht  entfernt  und  auch  das  alte  stimmhafte 
d  bewahrt  haben,  ist  das  rheinfränkische  auf  halbem  wege 
stehn  geblieben:  alles  deutet  darauf  hin,  dass  hier,  vielleicht 
mit  ausnähme  der  randgebiete,  stimmlose  lenis  d  gesprochen 
wurde;  daher  die  Unsicherheit  in  der  widergabe  das  lautes, 
nur  war  der  süden  doch  wol  insofern  auf  dem  wege  zur  Ver- 
härtung, als  hier  inlautend  eine  mehr  fortisartige  articulation  des 
d  bestand,  die  annähme,  dass  die  für  Otfrid  charakteristische 
Schreibung  deta  eine  rein  orthographische  regelung  sei,  wie  Fr. 
mit  Paul  (Gab  es  eine  mhd.  Schriftsprache  s.  26)  und  Braune 
(Beitr.    I,  52)  nipint.  i«t  zwar  sehr  bestechend,  aber  wie  erklärt 


198  LESSIAK    ÜBEK    FRANCK 

sich  dann  der  gebraucli  eines  teils  der  späteren  südrlieinfr.  Ur- 
kunden (vg-1.  die  Schrift  von  Rülnne),  die  d  und  t  im  selben  sinne 
zu  scheiden  bestrebt  sind  wie  Ottr.,  und  dies  zu  einer  zeit,  da 
nicht  mehr  das  nebeneinander  von  anl.  th  inl.  d  {=  ä)  die  Vertei- 
lung begünstigen  konnte?  dazu  kommt,  dass  der  lautstand  des 
südfr.  sich  ganz  vortrefflich  in  die  allgemeine  Verschiebung  ein- 
fügt, wornach  die  Veränderung  im  inlaut  früher  (und  intensiver) 
vor  sich  geht  als  im  anlaut.  aspirata  darf  man  natüi'lich  hinter 
dem  aiis  germ.  d  entstandenen  laut  nicht  suchen,  und  ich  weifs 
nicht,  was  Fr.  dazu  bewogen  hat  anzunehmen,  es  könnte  t  <.  d 
schon  in  ahd.  zeit  gelegentlich  aspirieit  gewesen  sein  (§  87  s.  106 
n.  107).  wenn  die  heutigen  mdaa.  in  einzelfällen  dafür  //?  sprechen, 
so  handelt  es  sich  durchaus  um  schriftsprachliche  lehnwörter 
oder  um  einfluss  der  schulaussprache.  (eine  würkl.  auffallende 
ausnähme  ist  thaisl  deichsei  im  raoselfr..  wo  aber  urspr.  /;  vor- 
liegt, regel  ist  hier  ih  in  unverschobenen  Wörtern  wie  thäiis 
tausch,  thysdn  zwischen,  flnrix  tiog). 

Dass  das  germ.  d  im  rheinfr.  im  gegensatz  zum  mfr.  kein 
stimmhafter  laut  war,  scheint  sich  aufser  der  Vertretung  von 
germ.  tr-  bei  Otfr.  aus  der  behandlung  der  fremden  (roman.)  t 
zu  ergeben;  im  mfr.  bleiben  sie  fortes:  rip.  t,  moselfr.  anl.  th 
inl.  t,  zb.  lux.  thur  türm,  th^s  tasche,  th^br  teller,  thynt  ^  tinte, 
kh^tdn  kette  usw.,  aber  etwa  prdihjdn  vertilgen,  khitidd  quitte. 
hiddn  bütte  (vgl.  ags.  hyden;  offenbar  mit  d  aus  dem  rom.  über- 
nommen) usw.  im  rheinfr.  erscheint  dagegen  schon  in  ahd.  zeit 
d,  vgl.  dunicha  bei  Otfr.  neben  t,  dasga  Fr.  s.  108.  rheinfr. 
stimmloses  d  konnte  eben  die  fremde  unasp.  fortis  leicht  ver- 
treten, nicht  so  das  stimmhafte  d  des  mfr.  Isidor  steht  hier  auf 
mfr.  Standpunkt,  auch  schreibt  er  ja  anl.  tr-. 

Aus  dem  umstand  dass  rhein-  und  ostfr.  l>  g  den  stimmton 
früh  eingebüfst  haben,  erklär  ich  mir  die  hier  übliche  Schreibung 
hl),  gg  für  die  gern  in.  (vgl.  Otfr.  Tat.),  während  das  mfr.  meist 
ph,  cg,  wenn  nicht  geradezu  pi>.  kk  aufweist;  Isid.  und  Cant. 
schliefsen  sich  der  letzteren  gruppe  an.  es  wäre  sehr  auffallend, 
dass  die  in  der  consonantenverschiebung  sonst  vorgeschritteneren 
mdaa.  in  diesem  falle  das  ursprüngliche  behalten  haben  sollen, 
der  unterschied  kann  also  doch  nur  orthographisch  sein: 
da  &,  g  im  mfr.  stimmhafte,  ja  zt.  spirantische  laute  waren,  in 
der  gemin.  jedoch  immer  als  verschlusslaute,  im  moselfr.  sicher 
als  stimmlose  explosive  gesprochen  wurden,  so  war  hier  das 
bedürfnis  nach  einer  Unterscheidung  vorhanden  (freilich  ist  da- 
durch, dass  man  für  hh,  gg  auch  pp,  cc  schrieb,  in  der  schrift 
teilweise  ein  zusammenfall  mit  den  germ.  fortisgeminaten  einge- 
treten), heute  ist  das  Verhältnis  so :  das  moselfr.,  soweit  es  nicht 
der  consonantenschwächung  anheimgefallen  ist,   spricht  für  gemin. 

'  ij  ist,  ein  palatovelarer  laut,  älinlicli  dem  russ.  //,  uur  offener, 
ö  ähnlicher. 


ALTFRÄNKISCHE    GRAMMATIK  1  99 

h,  d,  g  die  fortes  />,  t,  k  (die  gegenwärtig-  mit  den  alten 
PI',  1>P,  ^f^  identisch  sind,  da  p,  k  in  diesen  ihre  aspiration  ver- 
loren haben),  es  ist  fraglich,  ob  sie  schon  in  ahd.  zeit  als  wirk- 
liche fortes  gesprochen  wnrden.  die  rip.  dial.  haben  für  urspr. 
bh,  (hl,  (jg  stimmhafte  verschlusslaute,  was  allenfalls  als  rück- 
bildung  betrachtet  werden  kann;  fortes  allerdings  können  die 
laute  hier  nie  gewesen  sein. 

b)  Zur  lau t Verschiebung,  zunächst  die  Verschiebung 
im  auslaut.  in  betreff  der  ausl.  •neutralen'  t  des  mfr.  neigt  Fr. 
der  ansieht  zu,  dass  der  grund  des  unterbleibens  der  Verschie- 
bung in  der  geringeren  Intensität  zu  suchen  sei,  die  das  -/  in 
den  bekannten  ausnahmen  besafs.  fälle  wie  ohaz  beruhten  auf 
ausgleichung.  diese  auffassung  hat  manches  für  sich,  freilich 
die  Schreibung  d  für  t  {thad  usw.)  kann  nicht  als  beweis  für 
urspr.  Schwächung  gelten,  denn  hier  kann  und  wird  einfach 
analogie  nach  dem  Wechsel  von  inl.  d  ausl.  t  vorliegen,  riet : 
ried  1)110  darnach  that  :  thad  ist'^  und  wie  oft  ried  für  gespro- 
chenes riet  auch  im  auslaut  geschrieben  wurde,  so  konnte  das 
natürlich  auch  bei  that  usw.  geschehen.  —  nun  sollte  man  aber 
die  Schwächung  doch  unter  entsprechenden  bedingungen  auch  in 
anderen  fällen,  so  bei  ausl.  p,  k  erwarten,  von  nebentonigen 
Wörtern  mit  -p  käme  da  nur  vp  in  Betracht,  das  aber  pp  haben 
kann  (jedoch  nicht  muss,  vgl.  rheinfr.  uf,  of  mit  kurzem  vocal 
auch  in  Zusammensetzungen  wie  drof  herauf),  von  solchen  mit 
-k  die  pronomina  ik,  mik  usw.  und  ouk  auch,  bekanntlich  aber 
linden  sich  im  mfr.  hier  nur  formen  mit  -ch,  ja  -ch  reicht  in 
diesen  fällen  sogar  beträchtlich  über  die  verschiebungsgrenze 
hinaus,  bei  ik,  oi<k,  denen  sich  noch  das  suftix  -Uk  anschliefst, 
bis  ungefähr  in  die  höhe  von  Düsseldorf  ('Uerdinger  linie') ',  bei 
))iik  dik  (sik)  sogar  noch  viel  weiter:  »lix,  dix  herrscht  in  der 
ganzen  Rheinprovinz,  in  Belgisch-Luxemburg  und  südöstl.  Brabant. 
die  sache  ist  auffällig,  und  dabei  ist  die  erscheinung  sicher  alt, 
vgl.  Heinzel  s.  18S  und  bes.  Braune  Beitr.  1,  21.  nun  vielleicht 
könnten  diese  ch  doch  mit  der  für  t  in  dat  vorauszusetzenden 
Schwächung  zusammengebracht  werden :  in  schwachtoniger  Stellung 
entwickelte  sich  aus  ik,  mik  usw.  ig,  rnig  und  diese  //  wären 
(zunächst  vielleicht  in  der  proklise  vor  vocalischem  anlaut,  also 
in  fällen  wie  ig-ouk  ich  auch  bzw,  oug-ik)  zu  5:  geworden,  dem- 
nach mit  germ.  ^  zusammengefallen,  und  dazu  wären  neue  aus- 
lautformen iy,  oux  usw.  gebildet  worden,  die  auf  mfr.  boden  mit 
den  in  tonsilbe  regelrecht  entwickelten  iy,  ouy  zusammengefallen 
wären,  damit  aber  wäre  die  erscheinung  den  Verschiebungs- 
gesetzen teilweise  entrückt  und  hätte  ihre  eigene  geschichte, 
welche  auch  ihre  besondere  Verbreitung  rechtfertigen  würde,  die 
gröfsere  ausdehnung  des    mich-{dich-)  gebietes  hängt    möglicher- 

'  die  ik-,  oA -linie  und  die  /j'/, -linie  fallen  nicht  ganz  zusammen;  vgl. 
ßamisch   Studien  z.  ndrliein.  dialektgeogr.  §  18. 


200  LESSIAK  ÜBEK  FKANCK 

weise  damit  zusammen,  dass  diese  pron.  häutiger  in  unbetonter 
Stellung  gebraucht  wurden  als  etwa  ouk  und  ik  (das  beim  verb. 
urspr.  doch  nur  gesetzt  wurde,  wenn  es  irgendwie  hervorgehoben 
werden  sollte),  wir  hätten  es  also  mit  einer  ähnlichen  erschei- 
nung  zu  tun  wie  bei  der  bildungssilbe  -lg,  deren  g  in  vielen 
mdaa.,  die  sonst  im  ausl.  k  sprechen,  zb.  dak,  Si^k  als  /  er- 
scheint. 

Dieser  hypothese  steht,  wie  bekannt,  die  von  Paul  (Beitr. 
ö,  554)  gegenüber,  wonach  ausl.  t  überhaupt  nicht  verschoben 
würde,  die  ü,  dat  usw.  also  die  regel  darstellen,  während  formen 
wie  faß,  hiß  auf  ausgleichung  beruhen,  auch  dafür  scheint 
manches  zu  sprechen,  das  rip.  kennt  das  prät.  let  liefs  neben 
les  (Münch  Eip.  gramm.  ?-  61,  §  96,  §  1 28  /e^  //,  §  231.  da 
doppelformen  bestehn,  so  ist  es  im  gründe  nicht  auffällig,  wenn 
die  altkölnischen  urkk.  die  anscheinend  regelrechte  form  liez  leys 
verwenden,  s.  Braune  Beitr.  1,  26;  Paul  Beitr.  6,  554).  im  alt- 
kölnischen  begegnet  auch  moit  muss  (Braune  aao.  s.  6),  und  ganz 
vortrefflich  würde  dazustimmen  das  bei  Heinzel  Geschäftsspr.  232 
erwähnte  SaUga^^yen  (gegen  Salzga:;^en  s.  370  aus  rheinfr.  quelle) 
und  auch  einzelne  von  Fr.  §  100,  4  zusammengestellte  fälle,  ob 
das  von  Münch  §  96  und  in  der  anm.  dazu  erwähnte  hat  besser, 
noch  der  Volkssprache  angehört,  ist  nicht  zu  ersehen,  jedesfalls 
aber  besteht  rip.  hätd  bessern,  nützen  (auch  hädd  vgl.  das  oben 
zu  dad  bemerkte),  moselfr.  hudtdn,  budyfyn;  zu  yt  s.  unten  s.  220, 
das  als  neubildung  zu  einmal  bestehendem  hat  aufgefasst  werden 
kann,  ferner  finden  sich  im  rip.  und  nordthür.  in  der  Steigerung 
von  'grofs'  ^formen:  rip.  jrhds,  jrydtdr,  jrydts  Münch  s.  158,  thür. 
jrösz,  jretter,  jretste  Liesenberg  Stieger  mda.  s.  64.  im  rip. 
liefsen  sich  die  ^formen  allenfalls  noch  als  analogiebildungen 
zu  fällen  wie  ley  leicht,  lidtsr,  lidts  erklären,  wo  lautgesetzliche 
Wechsel  von  /  und  t  {{ht)  vorligt,  dagegen  fehlt  eine  solche 
erklärungsmöglichkeit  für  das  thüringische,  man  könnte  dem- 
nach daraus  schliefsen,  dass  einmal  ausl.  gröt  inl.  grö:^e  gegen- 
überstanden; während  aber  die  wirkliche  auslautform  unter 
dem  einfiuss  der  flectierten  formen  verloren  gegangen  sei,  hätte 
sie  sich  in  der  Steigerung  erhalten,  die  analogisch  an  den  unflect. 
nom.  anknüpfte,  das  wäre  nicht  auffallend,  denn  in  der  Steige- 
rung wird  öfter  die  auslautform  des  positivs  beibehalten,  vgl. 
westlothr.  khalt  flect.  khal-  ((  khahl-)  aber  comp,  khaltdr.  nur 
freilich,  wenn  man  sich  mit  der  Panischen  hypothese  befreundet, 
so  muss  man  consequent  sein  und  annehmen,  dass  dasselbe  gesetz 
dereinst  auch  für  ausl.  ])  und  k  galt.  Paul  selbst  hat  Beitr.  6 
den  gedanken  nicht  folgerichtig  durchgeführt,  indem  er  die  aus- 
lautregel  nur  für  t  und  p  gelten  läfst,  nicht  aber  für  k,  und 
doch  könnten  gerade  bei  k  noch  am  ehesten  beweise  für  leben- 
digen Wechsel  von  ausl.  unverschobenem  und  inl.  verschobenem 
k  beigebracht  werden,  ich  verweise  auf  Notkers  hog-hocches.  auch 


ALTFRÄNKISCHE    GRAMMATIK  201 

die  schreibuDg  Isidors  und  Ott'rieds  deutet  darauf  liiu,  dass  ihre 
ausl.  k  im  gegensatz  zu  den  inl.  nicht  behaucht  waren,  es 
wäre  auch  leicht  verständlich,  warum  gerade  in  diesem  falle  die 
alte  norm  länger  der  ausgleichung  widerstand:  die  Verschiebung 
von  k  nach  n  und  in  der  gemin.  zu  kh  bzw.  kch  ist  eine  der 
jüngsten  entwicklungsphasen  im  ganzen  verschiebungscomplex. 
ja  mit  hilfe  dieser  hypothese  liefsen  sich  mancherlei  besonder- 
heiten  des  obd.  (und  oberfr.)  erklären,  vor  allem  der  auffallende 
Wechsel  zwischen  //-  und  /i-fornien:  da  ausl.  g  im  obd.  u.  oberfr. 
früh  ein  fortisartiges  gepräge  annahm  (vgl.  die  c  bei  Isidor,  im 
altbair.  Schatz  $  73,  im  altalem.  Wilkens  s.  72,  Bohnenberger 
Beitr.  31,  412),  also  mit  altem  k,  da  es  im  ausl.  unasp.  ge- 
sprochen wurde,  zusammeutiel,  konnte  infolge  Verwechslung  iul. 
eil  gelegentlich  durch  g  ersetzt  werden  und  umgekehrt,  mög- 
licherweise gehören  hierher  formen  wie  obd.  »larcJi,  barch  neben 
marg,  barg  (sowie  sarg,  werg  neben  sark,  iverkf),  vielleicht 
auch  kluog,  kruog  neben  kluoch,  kruoch  {chluacli  mda.  v.  Alagna 
Anz.  XXI  34,  x^^^X»  yj^^X  Beitr.  31,  411),  hlüch  neben  bliig,  vgl. 
kämt,  plaux  (demnach  könnte  ch  in  bluchisoe  bei  Isid.  doch  für 
hk  stehn).  allerdings  lässt  die  so  erweiterte  Panische  hypothese 
auch  manches  rätselhaft,  vor  allem  lassen  sich  die  obd.  daz,  fif, 
iy  usw.  damit  nicht  erklären,  man  nähme  denn  an,  es  hätten 
sich,  was  ja  an  und  für  sich  wahrscheinlich  ist,  auch  hier 
doppelformen  ergeben:  dat :  daz-ist.  diese  wären  im  obd.  u. 
oberfr.  verallgemeinert  worden,  jene  im  mittelfr.  ich  muss  ge- 
stehn,  es  fällt  mir  schwer,  mich  in  dieser  frage  zu  entscheiden, 
solange  die  mdaa.  und  vor  allem  die  Ortsnamen  nicht  gründlich 
untersucht  sind,  von  denen  ich  noch  manche  aufklärung  erwarte  '. 
zwei  mfr.  Ortsnamen,  die  mir  ganz  zufällig  untergekommen  sind, 
mögen  hier  erwähnt  werden,  da  sie  vielleicht  zur  fördernng  des 
Problems  beitragen  können:  Heinzel  Geschäftsspr.  122  citiert 
aus  Beyer  1,  22  (770)  Bemiizfelt,  das  mit  'Beuonchamp  bei 
Clairvaux  im  luxemburgischen'  identiticiert  wird,  da  lux.  Bins- 
feld  im  Ösling  (gespr.  Bentsdit  mit  altem  ts\)  keinen  franz. 
namen  hat,  so  kann,  falls  nicht  doch  eine  Verwechslung  vorligt, 
nur   Benonchamp    in    Eelgisch-Luxemburg   nah    der  grenze   des 

'  Das  Paulsche  auslautgesetz  wäre  am  ehesten  annehmbar,  wenn 
man  es  in  seiner  vollen  Wirkung  aufs  mfr.  beschränken  könnte,  und  diese 
mögliehkeit  wäre  vorhanden  unter  folgenden  Voraussetzungen:  in  den  obd. 
mdaa.  hätte  die  Umgestaltung  im  consonantismus,  die  zur  Verschiebung 
führte  und  die  vermutlich  in  der  aspiration  bestand  (welche  sich  aber  auf 
den  auslaut  nicht  erstreckte)  bereits  begonnen  vor  der  apokope,  so  dass 
auch  die  t,  /.  in  fällen  wie  ßat-,  mil,-  noch  afficiert  wurden,  in  einem 
teile  des  nördl.  md.  wäre  sie  erst  nach  derselben  eingetreten,  so  dass  aus- 
lautendem, nnverschobenem  laut  inlautend  verschobener  gegenüberstand, 
aber  auch  im  obd.  hätte  sich  in  einzelnen  lallen,  nämlich  da  wo  die  Ver- 
schiebung erst  später  (dh.  nach  der  apokope)  einsetzte,  so  bei  nk,  /,/,■ 
dieser  zustand  ergeben,  die  rhein-  und  ostfr.  mdaa.  haben  von  haus  aus 
viel!,  eine  mittelstellung  eingenommen. 


202  LESSIAK    ÜBER    FEANCK 

grofsherzogtums  s\v.  von  Klerf,  zwischen  Wiltz  und  Bastnach 
gelegen,  gemeint  sein,  welches  —  vgl.  Deutsche  Erde  1909, 
s.  142  —  deutsch  Blmhlt  lautet,  das  doch  nur  auf  Bimd-velt 
zurückgehn  kann,  in  volkstümlicher  ausspräche  hätte  sich  hier 
also  die  alte  unverschobene  form  erhalten,  während  die  urk.  des 
S  jh.s  bereits  tz  bietet,  der  2.  name  ist  Böukdls  bei  Klerf, 
d.  i.  Buchliolz.  geschrieben  wird  zwar  Bockholz,  aber  mit 
bok  <  buk  hat  der  name  sicherlich  nichts  zu  tun,  öu  deutet 
auf  uo,  vgl.  zb.  böufavk  buchfink  (das  fem.  buche  hat  wie  in 
den  meisten  mfr.  mdaa.  uml.  hiy-,  i  <  üe  regelra.  vor  y^).  ein 
Bochholz,  dessen  mdal.  bezeichnung  mir  nicht  bekannt  ist,  findet 
sicli  in  Belg.-Luxemburg. 

Dass  auiser  dem  moselfr.  urspr.  auch  einzelne  rheinfr.  be- 
sonders nordrheinfr.  mdaa.  an  der  Verschiebung  der  ausl.  t  nicht 
teilgenommen  haben,  steht  nach  den  häutigen  belegen  bei  Böhme 
s.  80,  Weinhold  §  197  wol  fest,  und  Weinhold  s.  535  führt 
nach  Weigand  deatt  neben  deatz  als  wetterauisch  an;  wat  kommt 
auch  im  nördl.  elsass  neben  n-as  vor :  Lienhart  Laut-  u.  flexions- 
lehre  des  mittleren  Zorntales  im  Elsass  §  1 6  f.  Es  ist  auf- 
fallend, dass  gerade  dit  im  rheinfr.  solange  widerstand  leistet, 
noch  bis  ins  15  jh.  hinein  ex'hält  es  sich  in  Frankfurt  (Wülcker, 
Beitr.  4,  4  3).  man  könnte  dies  damit  zusammenbringen,  dass 
dem  Worte  infolge  urspr.  geminata  eine  kräftigere  articulation 
des  t  eigen  war:  das  wäre  allerdings  nur  bei  annähme  der 
Panischen  hypothese  möglich. 

Als  compi'omissformen  bedingt  durch  das  nebeneinander  von 
dat  und  daz  sind  wol  aufzufassen  die  rheinfr.  (zt.  auch  moselfr.). 
etz,  datz,  bitz,  allitz.  vgl.  Böhme  s.  41.  7ß.  81;  Heinzel  349, 
379.  die  bis  auf  hitz  heute,  wie  es  scheint,  in  der  Volkssprache 
ausgestorben  sind,  ferner  Hetz  im  Ludwigsliede  (vgl.  Fr.  §  99,  1). 
ob  satz,  gesatz  Heinzel  415  hierher  gehört,  ist  zweifelhaft:  es 
kann  analogie  nach  dem  inf.  vorliegen,  zumal  auch  der  pl.  sätzen 
vorkommt,  vgl.  saitzen  Heinzel  246.  die  formen  satz,  satzen 
sind  noch  heute  einzelnen  md.  mdaa.  eigen,  so  dem  lux.  und 
thür.  dass  es  sich  in  allen  diesen  fällen  lediglich  um  Schreibung 
handelt,  kann  ich  unmöglich  glauben,  und  es  ist  mit  Kögel. 
Litbl.  1887  anzunehmen,  dass  ausl.  t  gelegentlich  zur  affricata 
'verschoben'  wurde,  wobei  es  sich  aber  schwerlich  um  wirkliche 
Verschiebung  handelt,  wie  Kögel  meint,  der  die  affricaten  als 
regelrechte  entsprechung  urspr.  ausl.  verschlussfortes  im  obd. 
auffasst.  tz  in  bitz  •  erklärt  man  aus  hi-ze  mit  hinweis  auf 
selten  bezeugtes  mhd.  bitze,  das  aber  sein  -e  wol  eher  unter 
dem  einfluss  von  tinze  bekommen  haben  wird,  ähnlich  wie  auch 
Schweiz,    büs    (Idiot,  iv  1700)  aus  bis  -\-  v.s  (<  unz)   entstanden 

•  diese  form  ist  vor  allem  noch  in  Lothringen  und  Elsass  lebendig, 
vgl.  Follmann  Wb,  der  deutseh-lothr.  mdaa.  39'',  Martin  u.  Lienhart  VVb. 
der  elsass.  mdaa.  ii,   127. 


ALTFRÄNKISCHE    GRAMMATIK  203 

ist.  wenn  heute  die  dat2  usw.  vei'schwunden  sind,  so  kann  dies 
auf  verdräng-uug  durch  die  r/az-fürmen  beruhen,  es  mag  aber 
auch  die  affricata  unter  schwachton  zur  spirans  geworden  sein 
(Franc.k  §  99,  3  nimmt  dieselbe  entwicklung  für  diz  an),  wol 
kaum  gehört  hierbei'  das  nordbair.  dz  ihr,  das  als  iats,  diats, 
dids  defs-  in  den  mdaa.  auftritt,  vgl.  Gradl  Bayerns  nidaa.  n 
237.  344  (dort  auch  die  weiteren  belege,  denen  ich  noch  ets 
aus  dem  Prager  judendeutsch  beifüge) ;  denn  nahe  ligt  es 
hier,  beeinflussung  seitens  der  mit  der  prononiinalendnng  ver- 
schmolzenen 2.  pars.  pl.  anzunehmen,  zb.  häbfs  habt  ihr.  auf 
eine  anzahl  alem.  Wörter  mit  ausl.  -fz  für  -ß  {bitz  'biss',  schütz, 
guiz,  schlitz)  hat  Kögel  Litbl.  1887,  111  hingewiesen;  vgl. 
noch  ivats  eifer  und  bair.-österr.  siniis  neben  smis  knallfaden  an 
der  peitsche,  nun  ergibt  sich  im  hinblick  auf  Kögels  auffassung 
des  tz  eine  Schwierigkeit,  da  entsprechende  formen  auch  im  mfr. 
auftreten,  wo  man  doch  -t  erwarten  würde,  vgl.  westlothr.  suis, 
lux.  sots  schuss,  khrets  kreis,  rip.  krets  (Fick -^  53  wird  mit 
bezug  auf  diese  form  ein  germ.  kraitia  neben  kraita  angesetzt), 
ets'ydn)  neben  es{ydn)  hitzbläschen  (rahd.  elz),  frqts  frafs,  Kisch 
Beitr.  12,  1(V2,  westlothr.  gdhits  gebisS  (Tarral,  s.  21);  ich  er- 
wähne noch  thür.  strids  straufs  (blumenstraul's?  Liesenberg 
Stieger  mda.  60).  wäre  Kögels  ansieht  richtig,  so  müste  man 
die  tz  des  mfr.  anders  erklären  als  die  des  obd.,  es  ist  dem- 
nach wahrscheinlicher,  dass  die  -tz  auch  im  obd.  nicht  die 
eigentlichen  auslautforraen  darstellen,  sondern  irgendwelche  con- 
taminationsbildungen  sind  —  sei  es  nun  dass  sie  aus  dem  neben- 
einander von  urspr.  ausl.  t  und  inl.  z  hervorgegangen,  oder  ein- 
fach auf  einwürkung  anderer  wortformen  zurückzuführen  sind, 
wobei  namentlich  verbalformen  in  betracht  kommen,  vgl.  satz 
zu  setzen  usw. 

Stellung  zu  nehmen  ist  gegen  Fr.,  wenn  er  ij  83  sagt: 
anl.  p  ist  im  mfr.  und  dem  grösten  teil  des  rheinfr.  unver- 
schoben,  und  wenn  er  §  118  an  mehreren  stellen  die  aspiration 
des  A;  im  fränk.  in  frage  stellt,  in  Wahrheit  sind  p  und  k  nur 
im  rip.  unverschoben ;  in  allen  übrigen  hd.  mdaa.  haben  sie  die 
Verschiebung  mitgemacht,  wenngleich  zt.  nur  bis  zur  aspirata. 
es  gehört,  worauf  schon  Paul  Beitr.  9,  383  f.  naciidrücklich  hin- 
gewiesen hat.  noch  heute  zu  den  wesentlichen  unterschieden 
zwischen  rip.  und  moselfr.,  dass  dieses  aspirierten  laut  spricht, 
obschon  gegenwärtig  meist  nur  mehr  im  anl.  von  vocalen.  die 
geringschätzung  oder  nichtberücksichtiguug  dieser  tatsache  hängt 
mit  dem  nicht  genug  zu  tadelnden  transscriptionsverfahren  der 
meisten  dialektarbeiten  zusammen,  die  die  aspiration  nicht  be- 
zeichnen, weil  sie  mit  jj/,  t,  k  den  heutigen  schriftdeutschen  laut- 
wert verbinden,  es  ist  charakteristisch  für  das  nördl.  rheinfr., 
dass  es  im  anl.  vor  vocal  ph,  kh  spricht,  chaiakteristisch  hin- 
gegen etwa  für  das  schlesiche,  dass   es  nur   asp.  k  im   anl.  hat, 


204  LESSIAK    ÜBER    FRAXCK 

dagegen  in  fällen  wie  pulvdr,  paur  (gegenüber  haie  bald  usw.) 
stets  ungehauclites  p  spricht,  weil  eben  anl.  germ.  p  hier  zu  yf 
verschoben  wurde,  die  alten  Verhältnisse  sind  heute  insofern 
getrübt,  als  inlautend  und  anlautend  vor  cons.  im  rheinfr.,  ostfr., 
thüring. -Sachs,  und  nordobd.  die  aspiration  des  k  (bzw.  p  und  A) 
aufgegeben  wurde,  die  grolse  Umwälzung  die  der  consonantis- 
mus  dieser  dialekte  erfuhr,  verhindert  einen  genaueren  einbiick 
in  die  ursprünglichen  Verhältnisse,  aber,  ist  es  schon  an  und 
für  sich  höchst  unwahrscheinlich,  dass  etwa  rheinfr.  oder  ostfr. 
graiid,  wolge  (die  g,  d  sind  stimmlose  lenes)  seit  jeher  mit  un- 
asp.  k  gesprochen  wurde,  wenn  es  daneben  khind  usw.  heilst,  so 
ist  diese  annähme  ganz  unmöglich  für  den  inl.  verschlusslaut  in 
gravgdd  krankheit,  söng^fdr  'sau-'  d.  i.  maikäfer  (neben  kh'qfdr) 
u.  ähnlichen  alten  Zusammensetzungen,  die  deutlich  dartun,  dass 
das  aufgeben  der  aspiration  ein  jüngerer  akt  ist,  ebenso  wie 
etwa  das  aufgeben  des  verschlusses  in  fällen  wie  EsHcgy.  offen- 
bar nicht  anders  verhält  es  sich  mit  rheinfr.  blandse,  abdl  [b  stimm- 
lose lenis)  neben  phunt  usw.  aber  auch  andere  rückschlüsse  auf 
urspr.  Vorhandensein  von  aspiraten  gestatten  uns  die  heutigen 
mdaa.  von  den  beiden  (konservativen  flügeln  des  md.  hat  das 
preulsisch-schlesische  allerdings  die  aspiration  aufser  vor  vocal 
nur  mehr  vor  r  erhalten,  zb.  khrauf,  aber  in  den  schles.  mdaa. 
von  Österreichisch- Schlesien  und  Mähren  herscht  es  anl.  vor 
cons.  noch  allgemein,  so  zb.  in  der  Schünhengster  Sprachinsel, 
wie  ich  mich  selbst  überzeugen  konnte,  zt.  auch  noch  inlautend, 
man  vergleiche  probe  v  von  Seemüllers  Deutschen  mdaa.  i 
{sfgrkh,  trenkha).  im  luxemb.  spricht  man  aspiriertes  k  im  anl. 
allgemein  auch  vor  cons.  zb.  klüamdii  klimmen,  klirenkdri  kränken, 
dasselbe  gilt  fürs  siebenbtirgische,  hier  auch  inl.,  ja  an  einzelnen 
orten  wird  geradezu  affriziertes  k  gesprochen,  vgl.  Scheiner 
Beitr.  12,  123  (§  24  anm.).  p  ist  im  moselfr.  westen  anl. 
durchaus  stark  aspiriert,  auch  vor  cons.  —  im  inl.  scheint  die 
asp.  gegenwärtig  überall  aufgegeben  zu  sein,  im  siebenbürgischen 
Zt.  auch  im  anl.  diese  reste  zeigen,  mein  ich,  doch  deutlich 
genug,  dass  p,  k  einmal  im  moselfr.  allgemein  aspiriert  waren; 
umsomehr  gilt  dies  (bei  k)  von  den  oberfr.  und  ostmd.  mdaa. 
und  vom  nordobd.,  vgl.  Anz.  xxxn  131.  es  ist  begreiflich,  dass 
in  den  Sprachinseln  sich  der  ursprüngliche  zustand  in  vieler 
hinsieht  besser  erhalten  hat;  unbegreiflich  aber  wäre  es,  dass 
hier  inmitten  einer  fremdsprachigen  bevölkerung,  die  doch  un- 
aspirierte fortes  spricht  ',  die  aspiration  sich  erst  nachträglich 
entwickelt  hätte.  Otfrieds  beobachtung,  dass  sich  das  deutsche 
k  'ob  faucium  sonoritatem'  von  dem  romanischen  unterscheide, 
kann  daher  nicht  misverstanden  werden:  der  unterschied 
zwischen  aspiriertem  und  nichtaspiriertem  k  fällt  nicht  nur  einem 
Phonetiker  auf;  man  spreche  doch  nur  irgendwo  in  Süddeutsch- 
^  so  jedesfalls  die  Slawen  und  Rumänen. 


ALTFRÄNKISCHE    GRAMMATIK  205 

land  koi)f\  kind,  ohne  für  einen  Eonianen  oder  Slawen  gehalten 
zu  werden!  dagegen  kann  ich  mir  nicht  recht  vorstellen,  wie 
deutsches  k  sich  durch  die  articulationsstelle  von  franz.  c,  so- 
weit dieses  überhaupt  noch  als  verschlusslaut  gesprochen  wurde, 
so  sehr  unterscheiden  konnte,  dass  Otfr.  sich  deshalb  nach  einem 
besonderen  zeichen  umzusehen  bemüfsigt  fühlte,  wie  dies  Fr.  für 
möglich  hält,  der  lautlich  fein  beobachtende  Isidorübersetzer 
schreibt  an  allen  stellen  wo  wir  aspir.  k  zu  erwarten  haben 
ch,  aufser  im  auslaut;  bei  p  konnte  er  die  aspiration  nicht  be- 
zeichnen, weil  man  mit  pli  einen  anderen  lautwert  verband,  mit 
Fr.s  hypothese,  Isidor  habe  ausl.  c  deshalb  gesetzt,  "weil  hier 
für  die  von  den  Romanen  ausgehende  Orthographie  kein  anlass 
vorgelegen  hatte,  von  c  abzuweichen',  kann  ich  mich  nicht  be- 
freunden, warum  schreibt  er  auch  clineht,  chrump  usw.? 
warum  wird  cc  <  gg  und  c  in  der  Verbindung  sc  davon  ge- 
schieden? offenbar  weil  in  diesen  fällen  das  ,k*  dem  lautwert 
des  rom.  c  ganz  oder  nahezu  entsprach,  in  jenen  dagegen  nicht 
(vgl.  auch  Hench  s.  85).  und  ist  es  ein  zufall,  dass  bei  Otfr. 
da,  wo  Isid.  c  schreibt,  auch  g  erscheint,  dass  Notker  dafür  /r, 
ausl.  auch  g,  aber  nicht  ch  oder  cch  schreibt?  eine  möglich- 
keit,  ausl.  unaspiriertes  k,  das  für  mich  durch  diese  Schreibungen 
als  erwiesen  gilt,  zu  erklären,  wurde  bereits  angeführt,  die 
Übereinstimmung  zwischen  Otfr.  und  Notker  in  fällen  wie  ivangta 
—  bei  Isid.  fehlen  die  belege  —  last  auch  schlieisen,  dass  die 
Verschiebung  des  k  (und  p  im  rheinfr.  (vgl.  Otfr.  intslupta)  zur 
aspir.  bzw.  affricata  erst  nach  der  synkope  eintrat  (die  neben- 
formen  mit  k  bei  Otfr.,  mit  ch  bei  Notker  sind  analogiebildungen, 
die  sich  ja  fast  notwendig  einstellten);  ebenso  muss  synkope  vor 
der  f-verschiebung  eingetreten  sein,  sonst  wären  fälle  wie  satte 
setzte  ein  rätsei,  s.  unten. 

Zur  Verschiebung  des  p  im  anl.  sei  erwähnt,  dass  es  zwar 
richtig  ist,  wenn  Fr.  sagt,  Otfr.  habe  p  in  abweichung  vom 
Weilsenburger  dialekt.  heute  wird  in  Weifsenburg  zwar  pf- 
gesprochen,  aber  wenn  man  sich  Bolinenbergers  karte  in  Zs.  f.  hd. 
mdaa.  6  vor  äugen  hält,  so  sieht  man  deutlich,  dass  das  nicht 
<las  ursprüngliche  sein  kann:  die  linie  mit  anl.  pf,  die  auf  links- 
rheinischem gebiet  durchweg  südlich  der  geogr.  breite  von 
Weifsenburg  verläuft,  biegt  in  der  nähe  der  Stadt  nach  norden 
aus,  so  dass  Weifsenburg  und  das  benachbarte  Schweigen  wie 
eine  halbinsel  ins  /^-gebiet  hineinragen  (vgl.  dazu  Bohnenberger 
aao.  s.  156  1).  anders  ist  es  mit  der  linie  für  inl.  pf:  die 
läuft  vom  Rhein  bis  ungefähr  zur  Sauer  nördlich  der  geogr. 
breite  von  W'eifsenburg,  gegen  den  Rhein  hin  sich  sogar  recht 
bedeutend  von  der  linie  mit  anl.  pf  entfernend.  Otfr.  kann 
demnach  sehr  wol  den  alten  Weifsenburger  dialekt  verwendet 
haben,  dieselbe  erscheinung  anl,  ph  gegenüber  inl.  pf  widerholt 
sich    bekanntlich  im  nördl.  Baden,    u.  zw.  reicht    pf   vor    cons. 


206  r^rssiAK  übek  fbanck 

weiter  gegen  norden  bzw.  nordwesten  als  pf  vor  vocalen;  man 
kann  daraus  vielleicht  schliel'sen,  dass  die  aspir.  im  rheinfr.  nicht 
nur  in  der  geniin.,  sondern  auch  anl.  vor  cons.  eine  stärkere 
war  als  anl.  vor  vocalen.  umgekehrt  war  es  wol  im  thürin- 
gischen. 

§  38  heilst  es:  Otfr.  hat  in  den  eingebürgerten  (lehn-) 
Wörtern  heh,  brediga,  bredigon  festes  b,  allerdings  im  gegensatz 
zu  pina,  pinon  und  zu  puzzi,  wenn  letzteres  der  lehntorm  mit 
p,  b  und  nicht  der  mit  pf  entspricht,  der  schlusssatz  ist,  so 
wie  er  da  steht,  völlig  unklar:  />  in  plna  usw.  kann  natürlich 
nur  ph-  meinen,  wie  denn  auch  heute  im  rhein-  und  moselii-.  in 
diesen  Wörtern  ph  gesprochen  wird:  phainiyd,  pliids.  Fr. 
denkt  offenbar  an  chronologische  unterschiede,  wichtiger  aber 
als  die  frage  nach  früherer  oder'  späterer  entlehnung  ist  hier 
die  nach  der  sprachlichen  Vermittlung,  d.  h.  ob  die  Wörter  über 
das  obd.  ins  rheinfr.  gekommen  sind  oder  über  das  moselfr.  un- 
mittelbare entlehnung  aus  dem  romanischen  kann  man  für  die 
Rheintranken  natürlich  nicht  als  regel  feststellen,  das  moselfr. 
hat  für  anl.  rom.  p  folgerichtig  sein  ph  gesetzt  rphells,  pharais 
Paris  usf.)  das  ihm  offenbar  näher  liegen  muste  als  sein  stimm- 
haftes b.  das  obd.  schlug,  solang  es  noch  p  oder  ph  sprach, 
denselben  weg  ein;  nachdem  dies  aber  zu  pf  verschoben  und 
anl.  b  stimmlos  geworden  war,  wurde  naturgemäfs  letzteres  zum 
ersatz  verwendet.  wenn  Otfr.  beh,  bredigon  schreibt,  ent- 
sprechend dem  heutigen  rheinfr.  bcx,  breriyd  (letzteres  ist  frei- 
.  lieh  nicht  beweisend,  da  auch  phr-  zu  /;/-  geworden  ist),  so 
zeigt  dies  dahin,  dass  diese  Wörter  aus  dem  obd.  (oder  ostfr.) 
übernommen  sind,  das  moselfr.  hat  hier  ph-,  vgl.  lux.  phqx, 
phridddjdn,  hat  aber  b  zb.  in  bidr  birne,  bols  puls,  bäts  peitsche 
(westlothr.  auch  bels,  bdpS,  gegen  lux.  ph^lts  phöpst),  fälle  die 
deutlich  dartun,  dass  nicht  jedes  fremde  p  durch  ph  ersetzt 
wurde,  sondern  dass  bei  entlehnungen  aus  dem  Süden  oder  osten 
für  rheinfr.  oder  alera.  stimmloses  b  der  nächstliegende  laut, 
stimmhaftes  b  eintrat;  es  ist  daher  auch  garnicht  auffallend, 
wenn  in  Par.  Verg.  n  704.  53  Passau  als  Bazzoua  er- 
scheint, für  'pech'  usw.  muss  also  für  das  moselfr.  (bzw. 
nordmd.  ndl.  nd.)  eine  vom  obd.  unabhängige  entlehnung 
angenommen  werden  (ausgangspunct  für  beide  gruppen  West- 
frankreieh).  Wanderung  von  nord  nach  süd  ist  wol  so  ziemlich 
ausgeschlossen,  da  man.  würklich  volkstümliche  entlehnung  und 
nicht  sprunghaftes  vordringen  des  wortes  vorausgesetzt,  rhein- 
bzw.  moselfr.  ph  im  angrenzenden  /^/-gebiet  doch  durch  pf  er- 
setzt hätte,  das  hier  angedeutete  problem  wäre  wol  einer  Unter- 
suchung wert:  noch  viel  zu  wenig  sind  die  wege  erforscht,  auf 
welclien  lateinische  cultur  in  Geinianien  einzog! 

Schwierigkeiten  bietet  die  behandluug  der  gruppe  rp,  Ip 
(§  85).     vollständig    klar    ist    das    rip.  mit    seinen    rp,   Ip    ent- 


ALTFRÄNKISCHE    GRAMMATIK  207 

sprechend  der  heutigen  nida.  im  moselfr.  und  rheinfr.  lierscht 
heute  /'auch  in  fällen  wie  scharf,  schärfen,  westlothr.  Artr/karpfen; 
doch  lux.  khärdp,  snrdp,m,  lothr.  surpon  (bezeichnet  das  geräusch, 
welches  ein  harter  über  den  boden  rutschender  gegenständ  ver- 
ursacht oder  welches  beim  zerreiisen  von  Stoffen  entsteht;  vgl. 
bair.  schurpfen) ;  harfe  ist  nicht  recht  volksüblieh.  es  herscht 
indessen  kein  zweifei,  dass  die  verscliiebung  von  asp.  p  nach  >• 
in  litterar.  zeit  hier  noch  im  gange  war,  und  zwar,  wie  die 
quellen  deutlich  zeigen,  über  pf;  zu  den  in  §  85  angeführten 
belegen  vgl.  noch  Didimthorpf  kreis  Prüm,  Heinzel  318  und  in 
Altdorpfo  Trad.  Wiz.  193  (Beitr.  14,  113).  das  pf  konnte 
umso  eher  dem  /'  weichen,  als  es  im  grösten  teil  des  gebietes 
auf  die  wenigen  fälle  nach  /,  r  beschränkt  war.  die  aus- 
gleichung  ist  zunächst  wol  im  iul.  erfolgt  und  von  da  auf  den 
ausl.  übertragen  worden  (anders  Fr.  5j  103);  die  auch  im  obd. 
auftretenden  scharpf  gelpf  wären  solche  erhaltene  auslautformen, 
vgl.  auch  Zusammensetzungen  wie  Gelpf-rat,  Helpf-rich,  -rat 
(consonantengemin.  vor  folg.  r  wird  denn  hier  doch  nicht  anzu- 
nehmen sein),  harfe  und  karpfen  weisen  entschieden  auf  ab- 
weichenden consonantismus,  der  auf  urspr.  geniination  beruhen 
kann,  oder  der  sich  daraus  erklärt,  dass  es  sich  in  beiden  fällen 
um  später  ins  hd.  eingedrungene  'culturwörter'  handelt:  für 
letzteres  spricht  der  auffallende  Ä'-unil.  des  bair.  [harpfii.  kharpfn 
mit  hellem  a),  den  die  übrigen  obd.  itnd  die  md.  mdaa.  nicht 
kennen  (von  denen  mit  regelmäfsigem  r-uml.  uatüilich  abgesehn) 
und  der  auf  irgendwelcher  Substitution  zu  beruhen  scheint. 

Von  den  in  §  84  angeführten  fällen  können  sicher  mit 
urspr.  p  angesetzt  werden,  da  sie  sich  auch  in  andein  dialekten 
mit  //"  nachweisen  lassen:  najicidtni  auch  bair-üsterr.  mit /uneben 
pf,  ganz  abgesehen  von  vielen  älteren  belegen;  profan  vgl.  lux. 
j)hra/9n  rip.  pr^fo,  die  Verschiebung  ist  hier  genau  so  in  Ord- 
nung wie  bei  mfr.  kliofdr  bzw.  kofdr  kupfer.  effe  lat.  apium 
kann  ganz  gut  die  urspr.  nominativform  api  repräsentieren; 
vgl.  mild,  effen. 

Beachtenswert  ist  das  gelegentliche  auftreten  von  affricaten 
statt  des  reibelautes  in  fällen  wie  entetzigaz  §  98,  muniza  §  99,  2; 
ciuch  für  ahd.  hnliz  pilz  muss  wol  eine  nebenform  mit  z  ange- 
nommen werden,  auf  tz  neben  x;  in  samstag  weisen  obd.  dialekt- 
Ibrmen,  zb.  Lusern  sautstv.  man  beachte  ferner  moselfr.  qrn^ts 
oder  ^m^tsdl  ameise,  pts  erbse,  hgrcisal  hornisse  (<  hurnat- ; 
daneben  liTadl  <  htirsl-),  hr^n^tsdl  brennessel,  Urtsan  speisenüber- 
reste,  rip.  üdtS3  beim  essen  übrig  lassen,  dag.  obd.  ürasn,  urse{n) 
<  Kzetan.  auch  hi)tz  (so  allgem.  mfr,  soweit  nicht  die  schriftd, 
form  hirsch  eingedrungen)  und  *l)lnutz  (vgl.  Benutz  feit  s.  201) 
könnte  hierher  gehören,  in  einzelnen  fällen  mag  consonanten- 
gemination  vorligen,  so  sicher  im  noi-dthür.  jäfze  gasse  (das 
nebeneinander  von  tz   und  ^^y  erklärt  sich   hier  offenbar  aus  der 


208  LESSIAK    ÜBER    FRANCK 

flexion:  nom.  gatu  <  gatuu  gen.  gaUiä  usw.  vgl.  auch  aha  neben 
aliha  u.  a.),  aber  andere  scheinen  doch  dafür  zu  sprechen,  dass 
die  Verschiebung  in  nebentoniger  silbe  später  eintrat  oder  doch 
gehemmt  wurde.  —  nicht  gerade  auffallend  ist  mfr.  ä;  in  'suchen', 
das  Fr.  §  117,  1  als  eine  noch  nicht  erklärte  ausnähme  bezeich- 
net: es  darf  nicht  übersehen  werden,  dass  die  mdaa.,  welche  k 
haben,  durchaus  uml.  aufweisen:  rip.  zökd,  siebenbürg,  zeik», 
zäkdn  (vgl.  Münch  §  233,  Frühm  Vgl.  flexionslehre  der  Jaader 
und  moselfr.  mda.  §  28,  Beitr.  12,  163;  auch  da  wo  spirans 
verallgemeinert  ist,  erscheint  uml.,  vgl.  trier.  lux.  ziydn;  erst  im 
lothr.  begegnet  die  nicht  umgel,  form,  die  aber  auch  im  obd. 
nicht  ausschlierslich  herscht,  s.  Anz.  xxxn  126).  der  consonan- 
tismus  steht  genau  auf  derselben  stufe  wie  etwa  im  bair. 
walken  einweichen,  in  alem.  hleike{n)  usw.  oder  in  moselfr.  (zt. 
auch  rip.)  7-ötzen  flachs  rösten,  fiötzen,  heitzen,  hützen  nähen,  das 
liier  ganz  zum  alem.  stimmt  (zahlreiche  belege  für  die  erhaltung  der 
gemin.  nach  länge  im  alem.  bietet  Anz.  xxi,  32). 

Da  das  fränkische  fast  alle  abstufungen  der  lautverschiebung 
aufweist,  war  in  dem  einleitenden  §  66  wol  eine  etwas  eingehendere 
darstellung  der  Verhältnisse  angebracht  gewesen,  das  5 — 6  jh.  als 
zeit  der  lautverschiebung  im  allgemeinen  ist  wol  zu  früh  angesetzt, 
die  anfange  reichen  natürlich  viel  weiter  zurück.  Kluge  in 
seinem  schönen  aufsatze  Beitr.  35,  153  meint  mit  rücksicht  auf 
die  behandlung  des  urspr.  k  in  gemse  sogar,  dass  die  Alemannen, 
als  sie  im  6  jh.  die  Schweiz  besetzten,  schon  anlautendes  ch  ge- 
habt haben,  aber  bis  an  die  heutige  deutsch-rom.  Sprachgrenze, 
bis  an  den  Neuenburger  see,  finden  sich  fälle  mit  Verschiebung, 
sogar  solche  mit  t  >  ts  vgl.  Zihl  (tsii)  urk.  Tela,  franz.  Thiele; 
die  Zihl  bildet  noch  heute  zt.  die  Sprachgrenze,  ebenso  bietet 
das  sprachliche  grenzgebiet  zwischen  der  Aare  und  dem  Bie- 
lersee  ein  paar  ortsn.  mit  anl.  /  für  fremdes  k:  y^ertsdrs  Kerzers 
nördl.  V.  Murten,  franz.  Chietres,  yabiax  Kallnach,  sicher  eine 
bildung  auf  -acum  wie  so  viele  andere  in  der  gegend  '.  auch 
die  Baiern  haben  erst  zu  anfang  des  6  jh.s  ihr  heutiges  stamm- 
gebiet besiedelt,  und  doch  finden  sich  da  alle  Verschiebungsstufen 
in  vorgerm.  ortsn.  zudem  gibt  es  eine  reihe  von  'kirchenwörtern', 
die  Kluge  nicht  berücksichtigt  hat,  welche  Verschiebung  auf- 
weisen und  von  denen  man  nicht  durchgehends  annehmen  kann, 
dass  sie  sehr  früh  übernommen  worden  seien,  vgl.  pfeüer  < 
patrinus,  dechant  für  älteres  techän,  klerich  (bei  Schmeller  i, 
1339  viit  den  klerichen,  also  nicht  bair.  auslautschreibung  für 
A-    oder    ^7),    manch,    knünich    [knich;     Schmeller    Fr.    i     1345 

'  die  verscbiebungsgrenze  zieht  sich  im  westen  etwa  von  Erlach  am 
Bielersee  über  Kerzers  in  der  richtung  gegen  Bern,  die  orte  südlich  davon 
haben  nicht  mehr  -/  sondern  7  für  rom.  k:  Gempenach-ChampaQuy 
("'Cnmpaniacum),  Galmi:-Chnriney  usw.;  ausl.  -ach  für  -acum  wurde 
verallgemeinert. 


ALTFRÄNKISCHE    GltAMMATIK  209 

<  canonicus,  auch  rip.  knöndx,  Münch  65.  das  wort  war  dem- 
nach allgemein  hd.  dass  es  alt  ist,  zeigt  auch  der  Übergang 
von  0  >  M  vor  i;  auch  rip.  ö  geht  auf  ü  zurück),  ich  ver- 
weise ferner  auf  ahd.  laikman,  leiikhiu,  leichmannes  bei  Graff 
n,  152.  740,  woneben  als  jüngere  entlehnung  formen  mit  </  be- 
gegnen, auch  Pfründe,  kelch,  phatelaf,  i  lassen  sich  nur  schwer 
von  der  genannten  gruppe  trennen;  vgl.  noch  Schweiz,  ylöütdr, 
Xappdl  <  capella  ua.  dass  die  Chronologie  der  Verschiebung 
mit  der  geogr.  Verbreitung  der  einzelnen  Verschiebungsstufen 
band  in  band  geht,  halte  ich  für  sicher,  ebenso  dass  die  Ver- 
schiebung zur  Spirans  relativ,  dh.  bei  demselben  consonanten 
früher  begann  als  die  zur  affricata;  letzteres  zeigen  deutlich 
fälle  wie  nhd.  pfropfen,  rip.  muts  mauser,  die  erst  übernommen 
wurden,  als  inl.  p  bzw.  t  bereits  zur  affricata,  der  Vorstufe  des 
reibelautes,  geworden  war;  auch  das  oben  erwähnte  muniza 
könnte  hierhergestellt  werden,  aber  auch  die  Verschiebung  zur 
Spirans  ist  allem  anschein  nach  nicht  bei  allen  cons.  gleichmäl'sig 
vor  sich  gegangen :  manches  spricht  dafür,  dass  wie  bei  der  Ver- 
schiebung zur  affricata  zunächst  t,  dann  p  und  schliesslich  k  von 
der  bewegung  ergriffen  wurden  {k  sogar  erst  nach  der  Ver- 
schiebung von  t  zur  affricata,  vgl.  tunihha)  ^ ;  so  ist  mir  in 
Luxemburg  und  Lothringen  kein  sicheres  beispiel  mit  Verschie- 
bung von  t  untergekommen,  wol  aber  solche  mit  ch  <  k  vgl. 
die  -macher{n)  <  maceria,  -ach,  -ich  <  -acum. 

Immerhin  bleiben  noch  einige  rätsei  übrig:  zb.  mhd. 
schnauze  neben  thür.  snüse,  rip.  Snys,  khetdbn  kitzeln  (lux.), 
sofdl  Schüssel  (rip.  und  nordwestmoselfr.  <.  *kitlön,  *skutla?  dag. 
S0S91,  Siisdl  im  süden)  und  vor  allem  das  seit  dem  frühmhd.  be- 
zeugte tuschen  geschr.  meist  tuschen  zwischen  (rip.  tös9,  lux. 
thysdn,  westlothr.  thisdn),  das  heute  bis  nach  Lothringen  hinab- 
reicht und  früher  wie  es  scheint  noch  weiter  verbreitet  war 
(Weinhold  Alem.  gr.  §  169;  Braune  Beitr.  1,  6;  Heinzel  232. 
246.  273.  349.  370.  379.  393.  427.  Weinhold,  Mhd.  gr.  §  196 
wo  auch  twist,  twelif,  angeführt  werden;  Nobiling  Voc.  d.  dial. 
d.  Stadt  Saarburg  42).  es  erinnert  einerseits  an  das  unterbleiben 
der  Verschiebung  in  der  gruppe  tr,  anderseits  an  die  eigenartige 
behandlung  des  germ.  dw  (piv),  das  auch  in  obd.  mdaa.  nicht 
überall  zu  tsiv-  geworden  ist  (vgl.  hochalem.  twerg  neben 
tswerg  u.  a.).  sollte  das  ti  in  einzelnen  fällen  früher  stimmlos 
geworden  sein?  die  Stellung  vor  consonant  verhinderte  die  Ver- 
schiebung auch  in  fällen  wie  thagta  (Otfr.)  und  *satta,  gesät, 
wofür  moderne  dialekte  noch  mehrfach  belege  bieten  (lux.  g9sät, 
gdnät  zu  n^tsan,  gdstvät  zu  swqtsdn,  gdsmolt  zu  sm^ltsdn)\  hierher 

'  phatelat  Schweiz,  id.  v  1200;  pfadlät,  pfaceldt  (c  offenbar  für  t), 
pfälät,  Lexer  Hwb.   n  220,  Schmeller  i  428  <  mlat.  pateUata. 

^  kappes  (kabus)  und  obd.  putze,  hütze  pfütze,  haben  natürlich 
rem.  s  bzw.  ts. 

Ä.  F.  D.  A.     XXXIV.  14 


210  LESSIAK    ÜBEB    FRANCK 

gehört  auch  als  secundäre  bilduiig  rip.  *iiiotta  muste  (jetzt 
7nodt;  dazu  Beitr.  ö,  555),  ferner  ist  sicher  hierherzustellen  das 
gemeiniglich  als  nd.  lehnwort  angesehene  fett  <  f'aitida-  (zur 
Verkürzung  des  diphthongs  vgl.  zespret  Cant.,  das  nicht,  wie 
Franck  ij  31,  2  meint,  für  zespreidit  verschrieben  ist);  wahr- 
scheinlich wird  auch  hlutt  so  zu  erklären  sein  {*blautida-) ;  dän. 
hlof  ist  doch  wol  aus  dem  nd.  entlehnt  ^. 

Auffallend  sind  mit  rücksicht  auf  die  sonst  im  md.  unter- 
bliebene Verschiebung  des  k  nach  l,  r  die  im  moselfr.  auftreten- 
den iridldx  welk  (auch  rip.  iv^hy^  neben  w^bk  Münch  64), 
siebenbürg.  khf)li/,  das  freilich  auch  im  ostfr.  und  ostmd.  be- 
gegnet, und  rip.  teere/  werg  (moselfr.  hier  -rak).  allgemein 
scheint  im  mfr.  stgre/  zu  sein;  doch  hat  das  rip.  jj^ra/c  pferch 
(Münch  7  6)  gegen  moselfr.  phfrdy.    urspr.  parrich  aber  parkes  .^ 

Zum  lautwert  der  buchstaben  /'  und  s.  §81  meint  Fr., 
der  eintritt  der  Schreibung  v  (u)  für  /'  im  anlaut  sei  rein  ortho- 
graphisch, in  der  tat  haben  die  heutigen  mittelfr.  mdaa.  nur  im 
inl.  dafür  v  (?<;),  das  völlig  mit  dem  aus  germ.  b  hervorgegan- 
genem zusammenfällt,  in  einigen  dialekten  sogar  mit  diesem  zu 
h  weiterentwickelt  ist.  stimmhafte  ausspräche  hat  im  inl.  sicher 
schon  in  ahd.  zeit  bestanden,  und  es  ligt  durchaus  nahe,  den 
Wechsel  in  der  Schreibung  von  germ.  f  im  ahd.  (§  82)  mit  dem 
stimmhaftwerden  zusammenzubringen,  zumal  auch  ein  teil  des 
obd.  für  einen  solchen  Übergang  spricht,  natürlich  muss  dann 
dieser  process  aber  auch  für  den  anl.  angenommen  werden,  da- 
für sind  auch  wirklich  gründe  vorhanden,  ich  verweise  auf  die 
völlig  überzeugenden  ausführungen  Nörrenbergs,  Beitr.  9,  391 
(wenn  anl.  /"  in  jüngeren  lehn  Wörtern  fortis  bleibt  und  nicht 
wie  entsprechendes  s  durch  affricata  ersetzt  wird,  so  hängt 
dies  mit  dem  mangel  eines  pf  im  mfr.  zusammen ;  damit 
ist  aber  auch  der  spätere  zusammenfall  mit  urspr.  anl.  v  er- 
klärt) ;  ferner  auf  fälle  wie  lux.  Devdlt  Deifelt,  klüvdl  lothr. 
kkivdr  kiefer  (<  kienföhre),  siegerl.  härwds  barful's,  driwdn  drei- 
fufs  (Heinzerling  s.  63),  die  deutlich  auf  urspr.  v^lt,  vös  usw. 
weisen,  vorausgesetzt,  dass  die  Zusammensetzung  nicht  schon  vor 
dem  stimmhaftwerden  des  f  erfolgte,  der  Übergang  von  v  >  /'  im 
anl.  ist  wol  verknüpft  mit  dem  wandel  von  u  fgeschr.  w)  >  v.  die 
parallele  bietet  das  ndl.  im  süden  d.  i.  im  flämischen,  wo  germ, 
w  noch  bilabial,  ja  zt.  noch  «/-artig  gesprochen  wird,  ist  anl.  v 
stimmhaft  geblieben,  im  norden  dagegen,  wo  jenes  zu  v  geworden 

'  Ob  uicht  auch  iiihd.  lät  läfst  auf  fi-ühsynkopiertem  lutid  beruht? 
es  wäre  dies  die  ausgangsform  für  inf.  lau,  imp.  lä  usw.  die  umlautform 
Uet  wäre  dann  analogie-  oder  contaminationsbildung,  —  aucli  vor  p  blieb 
bei  früher  synkope  t  unverschoben,  wie  rip,  Jryddd  gröfse  zeigt,  Münch 
§  148 ;  doch  ist  das  resultat  nicht  t  sondern  d  wie  in  köln.  medd  mitte. 
jryddd  scheint  der  einzige  rest  alter  bildung  zu  sein,  die  übrigen  wie  hetsdd 
hitze,  n^tsd^  nässe  sind  wol  neubildungen. 


ALTFKÄNKISCHE    GRAMMATIK  211 

{vatdr  für  wätdr),  wird  anl.  stimmloses  /'  gesprochen,  der  frühe 
zusammenfall  von  inl.  germ.  /'  mit  h  im  mfr.  hatte  dieselbe  be- 
handlung  beider  laute  vor  sonoren  zur  folge,  wie  h  (s.  oben 
s.  19ü)  wurde  auch  v  zu  /'  verhärtet,  vgl.  die  belege  bei  Fr. 
§  82,  5  und  etwa  rip.  sufdl  schaufei,  ifdr  eifer  gegen  sonstiges 
V.  auch  fremdes  v  nimmt  an  dieser  erscheinung  teil,  darauf 
weist  die  Schreibung  eff'en,  eiff'en  für  eveti  (haber  *avina  <  lat. 
avena;  Nobiling  s.  70).  die  mdaa.  scheinen  nur  evdn  zu  kennen 
(vgl.  auch  Hecking  Die  Eifel  in  ihrer  mda.  31).  wie  bei 
b  findet  sich  aber  auch  Verhärtung  zum  verschlusslaut: 
lothr.  swihdln  zweifeln,  stihdl  Stiefel,  dazu  stimmt  diuhü  bei 
Isid.  '.  das  in  §  82,  6  erwähnte  Isid.  hepfu,  -liepfendi  hat  pf 
denn  doch  wol  mit  der  geltung  einer  affricata,  wie  sie  ja  auch 
durch  alem.  und  bair.  mdaa.  bezeugt  wird  (Schweiz,  id.  ii  1190, 
Schmeller  i  1141).  allerdings  fällt  j;/' aus  dem  lautsystem  des 
Isid.  heraus,  ähnlich  wie  cripp{e)a  im  Tatian.  handelt  es  sich 
um  ein  obd.  lehnwort?  hat  der  Wechsel  heffu  —  hebis  eine  con- 
taminationsform  hepfu  (d.  i.  hebfu)  ins  leben  gerufen?  —  was 
von  der  erweichung  des  /'  gesagt  wurde,  gilt  natürlich  auch  für 
s ;  doch  haben  die  mfr.  mdaa.  die  stimmhafte  ausspräche  im  anl. 
behalten,  inl.  vor  sonoren  begegnen  ähnliche  Verschärfungen 
wie  bei  /'.  betreffend  den  Übergang  von  sk  >  5  Fr.  §  116,  3 
lässt  die  Schreibung  ss  der  Par.  Verg.  über  ihren  lautwert 
keinen  zweifei  übrig:  ss  wurde  ja  doch  fast  wie  s{s)  gesprochen 
(die  später  in  mfr.  westen  auftretende  Schreibung  ch  ist  natür- 
lich nicht,  wie  Meier,  Jolanthe  s.  xv  meint,  als  palatales  ch  zu 
nehmen,  sondern  beruht  auf  französicher  Orthographie,  vgl.  aucli 
die  belege  bei  Heinzel  334).  das  aus  sk  hervorgegangene  s  war 
im  fr.  sicher  palatal,  da  es  in  den  meisten  mdaa.  uml.  be- 
wirkt wie  im  alem.  und  westbair.  vielleicht  ist  für  diese  dialekte 
doch  Übergang  über  6/  (mit  palat.  yj  oder  sj  anzunehmen. 

II.  Vocalismus.  1)  uml  au  t.  ein  hauptunterschied 
zwischen  altfr.  und  altobd.  besteht  in  der  durchführung  des 
i-uml.,  aber  es  darf  dabei  nicht  übersehen  werden,  dass  dieser 
unterschied  im  wesentlichen  nur  chronologischer  art  ist,  insofern 
als  die  würkungen  sich  im  fr.  früher  zeigen:  die  tendenzen  sind 
im  gründe  dieselben,  wir  dürfen  uns  durch  die  Orthographie 
nicht  beirren  lassen:  nur  dort,  wo  auch  das  fr.  in  ahd.  zeit  den 
uml.  nicht  schreibt,  ist  das  obd.  auf  einer  ursprünglicheren  stufe 
geblieben,  dh.  es  spricht  offenen  e-uml.,  dagegen  da  wo  das 
altfr.  bereits  e  hat,  also  vor  l  oder  r  -j-  cons.  (aufser  natürlich 

'  da  gerade  im  lothr.  solche  formen  auftreten,  wäre  dies  ein  weiterer 
hinweis  auf  ostlothr.  herkunft  des  Isidoriibersetzers,  wofür  ja  so  viele  an- 
zeichen  sprechen;  hier  allein  berührt  sich  'nordrheinfr.'  mit  alem.  und 
moselfr.,  in  dessen  nähe  der  mangel  an  consonantenschwächung  den  text 
rückt;  s.  ferner  das  unten  über  den  uml.  in  der  flexion  der  schwachen 
subst.  und  adj.  gesagte. 

14* 


212  LESSIAK  ÜBER  FKANCK 

liv,  rir)  und  vor  h,  ist  auch  das  olid.  mit  wenigen  ausnahmen, 
die  in  der  regel  ihre  besondere  erlilärung  liaben,  bis  zu  ge- 
schlossenem uml.  vorgedrungen,  so  dass  heute  die  obd.  mdaa.  im 
wesentlichen  auf  derselben  stufe  stehn  wie  die  obfr.  und  ostmd.  '. 
allerdings  nur  diese,  denn  im  mfr.  sind  mit  ausnähme  vor  allem 
der  südl.  grenzgebiete  die  kurzen  e-laute  ganz  oder  doch  meistens 
zusammengefallen,  so  dass  das  mfr.  auch  in  dieser  hinsieht  dem 
nd.  näher  tritt,  die  umlautsentwicklung  scheint  im  fr.,  wenigstens 
im  obfr.,  denselben  verlauf  genommen  zu  haben  wie  im  obd: 
arhes,  garclea  bei  Isidor  und  slahif,  arslahit  der  Lex.  sal.  weisen 
darauf  hin,  dass  auch  hier  r  -j-  c<ms.  und  h  zunächst  umlaut- 
hemmend würkten;  vielleicht  ist  auch  aldin  bei  Isid.  so  aufzu- 
fassen, denn  die  übrigen  fälle,  welche  vor  der  flexionsenduug 
-in  nicht  umgelautet  sind,  hinamin,  liihamin  haben  nebentoniges 
a,  das  wie  eine  beträchtliche  zahl  von  belegen  dartut  (Fr.  §  10, 
Wilmanns  i  §  195,  b,  vgl.  bes.  Otfr.s  antfangi,  gaganent,  gisa- 
)Hani,  uagalen),  der  umlautswürkung  weniger  stark  ausgesetzt 
ist;  s.  auch  bälgen,  aneuallit  {-balge,  -balgin)  s.  22.  zur  zeit 
Otfrids  war  diese  phase  bereits  überwunden-^,  sein  auffalleude.s, 
viell.  aualogisch€s  u-ehsit  hat  entsprechung  in  den  heutigen  dia- 
lekten:  Heilig  Mda.  d.  Taubergrundes  §  51:  tvegst  aber  n^yt, 
gslqyt  usw. ;  ebenso  Knauls  §  1 1 ,  2  e ;  hier  aber  auch  fies9 
<  vlehsin).  auf  das  zeitlichere  eintreten  der  umlautbewegung 
im  fr.  weisen  hin  die  schon  verhältnismäfsig  früh  belegten  fälle 
mit  uml.  hervorgerufen  durch  /  in  zweiten  compositionsgliedern 
von  eigennamen  (Fr.  s.  23).  über  das  obd.  geht  das  fränkische 
hinaus  in  fällen  wie  kentzler  Heinzel  398,  moselfr.  ziddldr 
Sattler,  -mqydr  -macher  usw.,  wofür  Leid.  Will.  (Fr.  s.  21) 
einen  frühen  beleg  bietet,  sie  erklären  sich,  wie  der  vorsprung 
des  md.  in  der  umlautentwicklung  überhaupt,  daraus,  dass  im  fr. 
früher  als  im  obd.  die  nebensilben  an  schwere  einbüfsten.  daher 
auch  jene  fürs  obd.  unerhört  starken  Verkürzungen  nebentoniger 
Silben  oder  Wörter,  wie  zb.  in  salsd  Seligenstadt,  hirby  <  Hüh- 
nerbach usw. 

S.  22  bemerkt  Fr.:  'Summar.  geht  im  umlaut  sehr  weit, 
hat  aber  plur,  bladerm  92,  31,  bladir  100,  43'.  dies  ist  nichts 
zufälliges,  zumal  auch  das  heutige  rip.  bladdr  hat.  es  steht 
aufser  zweifel,  dass  in  der  flexion  der  6-stämme  im  ahd.  urspr. 
ir  und  ar  (entsprechend  idg.  -es  -os)  wechselten  und  hinter  dem 
rindares  des  2.  Eeichenauer  glossars  (Braune  Ahd.  gram.  §  197, 
a.  1)  und  dem  holar  bei  Schatz  Altbair.  gr.  §  98  steckt  sicher 
mehr  als  blofse  Orthographie,     dafür  haben  wir  Zeugnisse  in  den 

'  bair.-österr.  formen  wie  Imitat  hält,  beweisen  natürlich  uiclit 
das  'unterbleiben  des  uml.'  vor  I  -j-  cons. ,  wie  man  gelegentlicli 
lesen  kann. 

-  doch  haben  einzelne  md  mdaa.  noch  heute  vor  /  -f~  cons,  offenes 
f ,  vgl.  Knaufs  Mdaa.  von  Atzeiihain  und  Grünberg  §  1 1,   3. 


ALTFBÄNKISCHE    GRAMMATIK  213 

heutigen  mdaa.:  iiiederrhein.  kah'dr  Hasenclever  Dial.  d.  gmde. 
"Werraelskirchen  <j  47,  siegerl.  kalwdr  Heinzerling  s.  (iO,  nirär 
rüder  s.  119,  siebenbürg.  r^(/ar  räder,  ^>-'J&ar  gräber,  Frühm  Vgl. 
flexionslehre  d.  Jaader  und  moselfr.  mda.  s.  21.  unilautlos  sind 
chalhdr  und  Jamvh>r  in  den  meisten  hochalem.  mdaa.;  ich  könnte 
eine  reihe  von  belegen  anführen,  es  ist  zu  beachten,  dass  in 
den  angeführten  mdaa.  in  überwiegender  zahl  'regeimäfsige"  fälle 
mit  geschlossenem  e-uml.  daneben  stehn;  nur  das  rip.  scheint 
nicht  umgel.  formen  zu  bevorzugen,  Münch  §  209.  vgl.  noch 
kämt.  KliQlsp^rg  für  urk.  Chalherspei-g  und  Caluerespach  Fr. 
§  1 16,  6  anm.,  spaclier  §  132,  2.  ältere  belege  gibt  auch  Wein- 
hold Mhd.  gr.  8.4  86:  rarere  (gen.  pl ),  hladere.  in  ostmd.  dia- 
lekten  kommt  bei  dieser  gruppe  häutig  offner  e-uml.  vor,  der 
auf  ursprüngliches  nebeneinander  von  umgel.  und  nicht  umgel. 
formen  deutet. 

Im  Anz.  XXXII  127  hab  ich  einige  belege  zusammengestellt, 
aus  denen  hervorgeht,  dass  j-uml.  stärker  würkte  als  i-uml.: 
dazu  scheint  die  behandlung  des  -ari  beim  Schreiber  ;'  im  Tat. 
zu  stimmen  nri^  in  der  fiexion  C'arj-)  aber  mit  einer  ausnähme 
67'-,  Vgl.  Sievers  §  76;  freilich  ist  /  ein  Oberdeutscher. 

Wie  das  mfr.  und  das  angrenzende  westndfr.  sich  in  der 
behandlung  der  kurzen  e-laute  dem  nd.  nähert,  so  auch  darin, 
dass  es  früh  und  intensiv  das  lange  a  umlautet,  wodurch  es 
sich  sowol  vom  ostndfr.  wie  von  den  meisten  oberfr.  mdaa. 
stärker  abhebt;  allerdings  ist  der  Übergang  im  süden  und  Süd- 
osten nicht  unvermittelt,  es  ist  jedoch  fraglich^  ob  man  dieser 
starken  entfaltung  des  uml.  von  ä  eine  besondere  sprachliche  be- 
deutung  beilegen  soll:  der  fall  widerholt  sich  im  westl.  hoch- 
alem.. auch  hier  ist  ce  mit  e  in  einen  geschl,  e-laut  übergegangen, 
der  in  einzelnen  dialekten  sogar  zu  io  wird,  in  ahd.  zeit  war 
mfr.  'ce'  sicher  noch  ein  offner  laut,  wie  die  noch  zahlreichen 
a-schreibungen  lehren  (§  24).  —  die  beispiele  mit  e  für  ei  §  21,2 
dürfen  m.  e.  nicht  unterschätzt  werden:  in  den  meisten  der  an- 
geführten belege  kann  <-uml.  angenommen  werden;  und  dass 
j-uml.  des  ei  in  einem  teile  des  fr.  bestand,  steht  aufser  zweifei 
[n-enig  und  heäe  gehören  selbstverständlich  nicht  hierher),  reste 
solcher  umlautwirkung  kennt  das  ndfr.  und  moselfr. ;  ganz  deut- 
lich ist  die  Sache  im  lothringischen,  vgl.  Tarral  s.  30  u.  75  zb. 
säiydn  zeichen:  iceiyon  <.n-aikjan.  dass  einzelne  ausgleichungen 
stattgefunden  haben,  kann  nicht  wunder  nehmen,  man  beachte, 
dass  die  ausnahmen  wie  'u-eide'  teilweise  zum  ndfr.  und  nd. 
stimmen,  ich  halt  es  für  sicher,  dass  das  ganze  mfr.  gebiet  im 
anschluss  an  das  ndfr.  und  nd.  uml.  des  ei  kannte,  nur  ist  in 
dem  gröfsten  teil  desselben  infolge  jüngerer  monophthongierung 
zu  e,  q  der  unterschied  verwischt  worden. 

Ebenso  wie  einen  uml.  des  ei  weist  das  md.  (hier  in  Über- 
einstimmung mit   dem   obd.)    einen  uml.  des  iu  auf,    von  dessen 


214  LESSIAK    ÜBER    FEANCK 

Vorhandensein  einzelne  mfr.,  hessische  und  thüring-.  mdaa.  zeugnis 
geben,  der  alte  nicht  umgel.  dii)hthong  iu  ist  in  den  genannten 
dial.  zunächst  zu  ü  geworden  (und  zwar  nicht  allein  vor  ?/•,  vgl. 
Fr.  §  41,  5  zu  Xuenhiirg),  das  umgel.  iu  dagegen  ist  mit  dem 
uml.  von  lang  ii  in  Ü  zusammengefallen,  heute  stehn  sich  die 
beiden  laute  in  nicht  diphthongierendem  gebiet  als  u  und  t,  in 
diphthongierendem  als  au  und  oi,  al  entgegen,  vgl.  7iau  neu,  au^ 
euch,  haud  heute,  aut  <  int  <  iuirlht,  faudr  feuer,  haior  'heuer' 
unlängst  oder  vergangenes  jahi-,  aber  etwa  iloia7~  teuer,  loiyjh 
leuchten  usw.  sehr  klare  beispiele  bietet  Heinzerling:  nin  neun 
<  ninni  od.  niuniii  aber  nwotse  19,  mmtsiy  90;  tmy^  zieh  (imp. 
neben  analog,  tsiy).  der  einblick  in  die  Verhältnisse  wird  des- 
halb erschwert,  weil  gegenwärtig  die  u-  bzw.  f«<-formen  überall 
vor  den  i-  bzw.  ai-,  oi-formen  im  schwinden  begriffen  sind  und 
sich  zt.  nur  mehr  in  ortsn.  gehalten  haben,  die  Verteilung  der 
'm'-  und  'm'-formen  im  md.  stimmt  mehr  zu  der  des  hochalem. 
'ÖM  -  u  gebietes'  (südl.  und  südwestl.  Schweiz,  wo  umgel.  iu  durch 
ü,  nicht  umgel.  durch  öu  oder  deren  Weiterentwicklung  vertreten 
ist)  '.  im  gegensatz  zur  schwäb.-bair.  gruppe  herschen  mit  wenigen 
ausnahmen  uml.-formen  in  der  2.  und  3.  sg.  der  verba  der  2.  cl. 
(analogisch  auch  in  der  1.,  sowie  meist  auch  im  imp.)  und  in 
jenen  fällen,  wo  iu  nicht  auf  germ.  eu  zurückgeht,  sondern  durch 
contraction  usw.  entstanden  ist,  oder  auf  fremdem  diphth.  beruht, 
so  zb  in  freund,  teufel;  nur  bietet  feuer,  heuer,  heute  im  md. 
zum  unterschiede  vom  südwestalem..  wo  fnr,  hür,  Imt  gesprochen 
wird,  die  entsprechung  des  nicht  umgel.  iu,  wenn  auch  nicht 
(mehr?)  überall,  abweichend  von  den  schwäb.-bair.  mdaa.  bildet 
r  im  hochalem.  wie  im  md.  kein  umlauthindernis,  daher  'irt'  in 
teuer  usw.,  wol  aber  w "-. 

2)  Brechung,  das  nördl.  md..  insbes.  das  mfr.  unter- 
scheidet sich  von  den  übrigen  hd.  mdaa.  dadurch,  dass  in  einer 
reihe  von  fällen  die  brechung  des  u  unterblieb,  wodurch  es  der 
nd.  und  angelfries.  dialektgruppe  näher  rückt,  vgl.  Fr.  §  21,  5. 
auch  das  Verhältnis  von  %  :  e  weist  mancherlei  unterschiede  gegen- 
über dem  obd.  auf.  zur  ergänzung  der  ahd.  belege  stell  ich  hier 
eine  liste  derjenigen  Wörter  zusammen,  die  heute  in  nordmd. 
mdaa.  u  aufweisen  oder  deren  heutiger  lautstand  sicher  auf 
früheres  u  deutet,  ohne  gerade  Vollständigkeit  zu  beanspruchen: 
ofen,  offen,  hoffen,  oben,  hof,  stopfen,  stoppel,  geschloffen,    hobel, 

1  vgl.  zb.  Haldimann,  Zs.f.hd.mdaa.  4,  318. 

-  Die  ansieht,  dass  md.  au  nicht  umgel.  in  entspricht,  wurde,  soviel 
mir  bekannt,  zuerst  von  Brenner  Beitr.  20,  80  vorgetragen,  der  auch  auf 
Heinzerling  aufmerksam  macht,  abzulehnen  ist  die  beschränkung  der  an- 
fornien  auf  einsilbige  Wörter,  Behaghel,  Grundr.  I^  705,  ebenso  die  er- 
klärung  Weises  Zs.f.d.mdaa.  1907,  20Gf,  der  die  rat  von  benachbartem 
dental  oder  h  abhängig  macht  und  Wörter  wie  Iniaul,  raude,  saule, 
srhlaader,  haune,  aul  damit  verquickt,  die  urspr.  u  haben  und  zt.  auch 
im  obd.  nicht  umgelautet  sind. 


ALTFRÄNKISCHE    GRAMMATIK  215 

—  frosch,  fort  (dies  auch  obd.)  spott,  spotten,  bock,  boden,  gebot, 
moos,  motte,  Mosel  (vg-J.  dazu  Fr.  §  21,  7  anm.  1),  kommen, 
Sommer  —  voll,  volk,  vogel,  woche,  wolf,  wölke,  wolle,  ge- 
schwollen, wort,  folgen  —  kohle,  holen,  gold,  holz,  toll,  stolz, 
schölle,  wie  häufig  auch  im  obd.  in:  honig,  donner.  trocken, 
trotz,  deutlich  geht  aus  diesen  beispielen.  deren  Verteilung  nicht 
gleichmäfsig  ist,  hervor,  dass  fast  überall  die  conson.  Umgebung 
(labial  od.  /)  von  einfluss  war;  vgl.  die  bei  Franck  i;  21,  5  an- 
geführte litteratur.  in  einzelnen  fällen  spielt  Wechsel  im  voca- 
lismus  der  folgesilbe  herein,  freilich  wird  die  sache  dadurch 
kompliziert,  dass  in  den  hierhergehörigen  mdaa.  unter  gleichen 
bedingungen  auch  brechung  eingetreten  ist,  zt.  im  gegensatz 
zum  obd.,  so  etwa  in  stube,  furche,  zupfen,  rupfen. 

Die  erklärung,  dass  sich  in  sicester,  gester  das  offene  e  über 
swestir,  gestir  zu  geschl.  e  entwickelt  habe.  Fr.  5^  16.  halt  ich 
wie  die  (ja  wol  allgemein  abgetane)  hypothese  eines  .s/-uml.  für 
unrichtig,  es  handelt  sich  vielmehr  um  contaminationsformen, 
wie  sie  zb.  auch  für  die  e  und  e  scheidenden  mdaa.  des  südbair. 
iu  schef  schiff,  anzunehmen  sind  (Zs.  f.  d.  mdaa.  1909.  s.  12,  vgl. 
auch  pl.  pretdr  gegen  sg.  prqt).  dass  i-formen  bei  diesen  Wörtern 
bestanden  haben,  zeigen  aufser  siiister  im  Tat.  und  im  2.  Merseb. 
zauberspr.  auch  die  jetzigen  mdaa.  rafr. — mhd.  siister  d.  i.  süster, 
heute  zijstdr,  zoster  (vgl.  auch  Franck  Zs.  35,  385)  kann  nur  aus 
.sirister  hervorgegangen  sein  2,  das  selbst  natürlich  auf  flexions- 
formen  wie  ''siristri  beruht,  lux.  gißt{dr)  deutet  entschieden  auf 
urspr.  (',  das  im  westlothr.  gistdr  noch  rein  erhalten  ist  wie  im 
ndl.  -nist  in  den  Oxf.-AVürzb.  gl.  findet  seine  parallele  in  west- 
lothr. nist,  lux.  naU  (a<i;  für  das  verhältnismäfsig  seltene  nest 
gilt  also  dieselbe  erklärung  wie  für  sw'ester.  die  contaminations- 
formen herschen  auch  in  swester  und  gester  nicht  überall:  die 
meisten  nordrheinfr.  und  ostmd.  mdaa.  weisen  auf  e).  beachtens- 
wert ist  lothr.  jetwid9r;  es  erklärt  das  in  den  mdaa.  häufige 
geschl.  e  in  {et-,  ent-)weäer.  viell.  ist  auch  geschlossenes  e  in 
jener  aus  dem  nebeneinander  von  i  und  e-forraen  hervorgegangen, 
i-formen  kennen  die  moselfr.  mdaa.,  vgl.  siebenbürg,  giner  (Beitr. 
17,  382,  wobei  freilich  der  nasal  mitgewirkt  haben  kann),  s.  auch 
Weinh.  §  488.  *,jin-  bzw.  mit  brechung  Jen-  wären  dann  ablaut- 
formen zu  got.  jain  ;  auch  obd.  ener  liefse  sich  so  leicht  erklären: 
iinn->  ina->  ena-.  Otfrieds  nihul{nissi)  lebt  fort  in  hess.  niicdl, 
lux.  nivol  (daneben  ni9V9l  mit  ursprüngl.  e).  mit  entschieden- 
heit  auf  ursprüngl.  e  deutet  lux.  khrips,  khripds.  westlothr. 
khribis'-K  wie  denn  auch  bair.-üsterr.  khrips  germ.  e  voraussetzt 

*  auffällig  ist  westlothr.  u  in  rotz,  rost,  knochen. 

2  wegen  des  uml.  in  '.nister  kann  daher  kuman  §  69,  2  nicht  auf 
qid-  zurückgeführt  werden. 

^  p,  b  für  r  im  moselfr.  ist  wol  in  formen  wie  khrips-  für  /  ein- 
getreten ( fs  >  ps). 


216  LESSiAK  übp;k  fkaxck 

(Fick  ■•  52,  Weigand  ■'  nehmen  unil.  e  an.  Kluge  lässt  die  frage 
unentschieden),  erwähnt  sei  noch  lux.,  eifelländ.  viit  met.  (vgl. 
Wb.  d.  lux.  mda.  288,  Hecking  58).  —  vedar  in  Cant,  als  ver- 
dächtig anzusehen  (Fr.  §  19,  5)  ligt  kein  grund  vor.  rheinfr. 
mdaa.  setzen  in  diesem  wort  wie  auch  in  'nieder'  zt.  e  voraus, 
vgl.  etwa  Handschuchsheim :  n-^rp  wieder,  «er»  nieder  (adv.), 
während  i  sonst  aulser  vor  altem  r  erhalten  bleibt:  ksnird  ge- 
schnitten, slird  Schlitten  (Lenz,  Vgl.  wb.);  auch  werd  in  Naun- 
heim  neben  frire  friede  weist  auf  e;  genauere  musterung  der 
mdaa.  dürfte  wol  noch  mehr  belege  zu  tage  fördern. 

Nicht  sehr  wahrscheinlich  dünkt  es  mich,  dass  e  in  Wörtern 
wie  pfeff'ar,  segan,  heh,  h'ehhar,  messa  auf  rom.  e  zurückzuführen 
sei  (Fr.  §  20,  6).  ich  verweise  auf  ableitungen  wie  kämt,  ppjf'ern 
(pfeffern)  <  piprjan,  ahd.  pfifera,  Schweiz,  pfiff'ere  nhd.  pfiffer- 
ling,  'pfefferschwamm',  nhd.  verpichen,  erpicht,  bair.-österr. 
pik-pn  {viörAl.  pikii)  kleben  <  bikjan^.  freilich  kann  hier  auch 
erhöhung  von  e  zu  i  vorliegen ;  es  ist  jedoch  zu  beachten,  dass 
i  im  rom.  nicht  zu  ?  sondern  zu  e  geworden  ist  und  dass  dafür  in 
einem  teile  des  mfr.  und  nordrheinfr.  jener  zwischenlaut  zwischen 
i  und  e  (oder  dessen  moderne  eutsprechuug)  zu  erwarten  wäre, 
der  für  germ.  i  vor  folgendem  vocal  mit  tiefer  zungenlage  hier 
angesetzt  werden  muss:  dicko  (od.  decko?)  aber  dicki,  s.  Fr. 
§  20.  —  diese  von  BSchmidt  in  seinem  Vocalismus  der  Sieger- 
länder mda.  zuerst  bemerkte  lautregel  verdient  von  selten  der 
deutschen  grammatik  eingehendste  beachtung ;  sie  ist  sicher  sehr 
alt,  da  sie  auch  die  Wirkung  des  geschwundenen  j  noch  erkennen 
lässt,  vgl.  dazu  Hörn  Zs.f.hd.mdaa.  6.  lOß.  dadurch  wird 
wenigstens  für  einen  teil  des  Sprachgebietes  die  ausnahmslosigkeit 
der  einwirkung  von  a,  e,  o  auf  vorausgehendes  i  der  tonsilbe 
sichergestellt,  und  es  ist  nicht  ausgeschlossen,  dass  die  erscheinung 
ursprünglich  viel  weiter  reichte,  trotzdem  halt  ich  im  gegensatz 
zu  Fr.  §  1 9  e  noch  immer  als  das  lautgesetzliche  brechungsproduct 
von  i  vor  a,  e,  o  und  diesen  für  die  genannten  mdaa.  voraus- 
zusetzenden mittellaut  nur  als  compromisslaut.  ^  die  annähme,  i 
sei  zu  e  nur  gebrochen  worden,  wenn  betontes  ä,  T,  e  unmittel- 
bar folgte,  erscheint  mir  unwahrscheinlich,  weil  assimilations- 
vorgänge  viel  rascher  und  intensiver  vor  sich  gehn,  wenn  unbe- 
tonte vocale  folgen  als  solche  mit  nebenton.  wenn  zum  unter- 
schied von  i  die  brechung  des  ii  zu  o  consequenter  durchgeführt 
wurde,  so  ist  dies  nicht  so  auffällig,  man  halte  sich  die  ab- 
lautsreihen  vor  äugen;  auf  der  einen  seite:  l,  ai,  i,  i,  auf  der 
andern:  e  (i)  a,  u,  u;  e  (i)  a,  m,  u;  eu,  ou,  u,  u.     hier  ist  der 

1  ein  fall  der  deutlich  zeigt,  dass  consonantengemination  auch  nach 
abschluss  eines  teils  der  lautverschiebung  noch  wirksam  war;  dazu  mfr. 
Türines  <  (Anjtoniiis  (Frank  s.  32)  und  Görres  ■<  (Gre)qorUis.  bei 
ersterem  beachte  man^die  erhöhung  von  o>u\  vgl.  dazu  Anz.  xxxii  122  und 
tiifiäure  Fr.  s.  28  <  *se<ietarium. 


ALTFRÄNKISCHE    GRAMMATIK  217 

M-vocalisraus  auf  den  pl.  des  prät.  und  das  part.  beschränkt,  ja 
in  einer  reihe  sogar  auf  das  part.  allein,  während  dort  infolge 
früher  assim.  von  ei  >  t  die  i-formen  mit  ausnähme  des  sg.  prät. 
durch  das  ganze  paradigma  gehn,  allerdings  mit  quantitativen 
differenzen.  kein  wunder  wenn  in  diesem  falle  sich  früh  das 
streben  geltend  machte,  den  i-charakter  beizubehalten,  wenn 
dann  infolge  dieses  starken  systemzwanges  in  der  verbalflexion 
die  psycho-physiologische  norm  der  Senkung  von  l  >  e  vor  vocal 
mit  tiefer  zungenlage  durchbrochen  wurde,  und  man  sich  ge- 
wöhnte i  in  dieser  Stellung  (unverändert  oder  doch  nur  wenig 
verändert)  beizubehalten. 

Zur  flexion.  vom  obd.  unterscheidet  sich  das  fr.  da- 
durch, dass  für  obd.  in,  un  in  den  endungen  der  subst.-flexion 
in  der  regel  en,  on  auftritt,  der  grund  dieser  verschiedenen  Ver- 
tretung ist  nicht  ganz  klar,  doch  scheint  nach  Walde  Germ, 
auslautgesetze  s.  17S  das  fränkische  das  ursprüngliche  zu  be- 
wahren, von  Wichtigkeit  wäre  die  feststellung,  wie  sich  die 
enjm  bzw.  oiijWi  formen  im  fr.  verteilten,  sie  ist  nicht  unmög- 
lich: für  die  Verbreitung  von  on  bzw.  un  fehlen  uns  allerdings 
anhaltspuncte,  wol  aber  haben  wir  solche  für  die  von  w  (en), 
und  zwar  im  auftreten  (oder  nichtauftreten)  des  uml.  in  alten 
Zusammensetzungen,  namentlich  in  Ortsnamen,  so  erscheint  montag 
mit  uml.  (urspr.  mänintag)  im  südwestl.  ostfr.,  vgl.  Zs.  f.  hd.  mdaa. 
6,  333,  Heilig  Mda.  v.  Tauberbischofsheim  s.  68,  im  moselfr., 
sowol  im  westlothr.  wie  im  lux.  dagegen  scheinen  nur  umlaut- 
lose formen  dieses  Wortes  vorzukommen  im  rip.,  im  rheinfr. 
(aulser  dem  Südwesten;  vgl.  den  beleg  im  Wb.  d.  dentsch-lothr. 
mda.  s.  369  für  Rieding  bei  Saarburg  und  Nobiling  Vocalism. 
d.  dial.  d.  stadt  Saarburg  etc.  s.  45),  im  östl.  ostfr.  und  im 
ostrad. ;  doch  beachte  man  ortsn.  wie  Lengen-,  Lenge-,  Ijengfehl 
in  Thüringen,  Sachsen,  Unterfranken,  Bötenhach  in  Ober-  und 
Mittelfranken  u.  a.  m.  bemerkenswert  ist  Lengfeld  so.  Darmstadt 
und  Lengef'eld  im  waldeckischen,  also  noch  auf  rheinfr.  boden. 
(weit  verbreitet  sind  die  Zusammensetzungen  mit  Grafen-,  doch 
ist  hier  vorsieht  geboten,  da  auf  md.  boden  auch  die  nebenform 
greve  <  grävio  vorkommt),  eine  Untersuchung  dieses  problems 
wäre  dringend  notwendig;  vielleicht  weisen  doch  auch  andere 
gegenden  reste  solcher  umlautformen  auf.  zu  den  in  §  164  er- 
wähnten Ortsnamen  mit  -in  -en  bei  weibl.  grundwort  kommen 
noch  die  in  Beitr.  14,  108  angeführten  hinzu;  auch  dafür  bieten 
die  heutigen  ortsnamenforraen  belege,  vgl.  Längnau  in  Ober- 
franken. —  die  beispiele  mit  uml.  bei  folgendem  -in  hätten 
übrigens  zusammengestellt  werden  sollen. 

Einzelnes:  s.  8  zum  'taufgel.':  Fulda  ist  doch  auch 
rheinfr.!  §  9  vgl.  noch  Wolperoni  Heinzel  s.  37  2.  §  12  wäre 
eine  Zusammenfassung  der  belege  für  uml.  hervorgerufen  durch 
i  in    3.  Silbe    erwünscht,    vgl.  ss.  17.  22.  64.     auch    fälle    wie 


218  LESSIAK    ÜBER    FKAXCK 

Weitere  <  Waltliari,  Eltevile  <  AUavilla  s.  23  gehören  natür- 
lich hierher.  —  4>  1 2  anm.  werden  beispiele  von  Ortsnamen  gegeben, 
in  denen  nichtdeutsches  (kelt.)  a  scheinbar  ohne  palatalgehalt  der 
folgenden  silbe  heut  als  e  erscheint;  Fr.  erklärt  dies  aus  pala- 
talerer  articulation  des  kelt.  a.  diese  hypothese  hätte  wol  nur 
beweiskraft,  wenn  sämtliche  keltische  a  in  der  betr.  gegend  als 
c  aufträten,  viell.  beruht  der  uml.  doch  nur  auf  secundär  ent- 
wickeltem i.  —  zu  §  13,  1  vgl.  hess.  him  handschuh,  westlothr. 
liimt  hemd,  lux.  int  ente,  simt  schäm;  auf  hingst  hengst  deuten 
siebenbürg,  dialekte  (Beitr.  12,  356).  —  §  14  den  .y-uml.  kennt 
auch  das  (westl.)  ostfr.  —  §  1 7,  3  zum  Übergang  von  icer  >  ^vor 
vgl.  auch  die  alte  hd.  bezeichnung  Antorf  für  Antirerpen.  —  §  1 9. 
1  (unten)  wären  auch  die  formen  emo  der  lex.  sah,  era  bei 
Otfr.  und  hero  im  Leid.  Will,  zu  erwähnen  gewesen  (doch 
ij  171).  Lesiira  Lieser  s.  30  dürfte  urspr.  i  haben,  vgl.  den 
kämt,  flufsnamen  Lieser,  älteste  form  Lisara.  —  ie  in  §  19,  5 
wird  schwerlich  dehnung  bedeuten;  es  ist  offenbar  nur  die  in 
späterer  zeit  so  häufige  Schreibung  für  offenes  i  oder  geschl.  e 
und  steht  auf  gleicher  stufe  wie  die  uo  für  u  (ö)  in  §  22,  7 
anm.  ie  und  uo  hatten  im  grössten  teil  des  fr.  nach  der  monophthon- 
gierung l.  T[,  ergeben,  die  im  mfr.  bes.  im  rip.  qualitativ  mit  kurzem 
i,  u  (d.  i.  7,  ?/)  zusammengefallen  waren,  weshalb  für  letztere  auch 
die  Schreibung  ie,  uo  eintreten  konnte;  quantitativer  zusammen- 
fall ist  deshalb  nicht  erfolgt,  natürlich  konnten  ie  und  uo  da- 
neben gelegentlich  zur  längenbezeichnuug  verwendet  werden.  — 
§  29  vgl.  auch  das  auffallende  hiziitnta  'sepsit'  Würzb.  n  622. 
41.  —  §  30  anm.  2  den  Übergang  von  e  >  i  kennt  auch  ein  teil 
des  nordrheinfr.  —  §  31  ie  in  siesnon  könnte  auch  ie  bedeuten; 
im  lux.  lautet  sense  heut  zeisdl  mit  demselben  ei,  das  sonst 
altem  ie  oder  e  entspricht  (altes  ei  dagegen  erscheint  als  ^). 
dagegen  steht  ie  in  Riele  §  42,  3  sicher  für  t.  —  §  33  Hoeste 
dürfte  einfach  *H6hsteti  fortsetzen.  —  §  34,  2  wäre  auf  die  oug  < 
ouu  in  §  68  zu  verweisen.  das  lux.  struom  weist  viell.  auf 
frühen  zusammenfall  von  no  und  ö  in  dieser  mda.;  sie  hat  heute 
für  beide  laute  du  (ö  =  palatovel.  o),  vor  m.  auch  palatovel.  u. 
—  §  35  die  aualogische  Übertragung  des  umlautzeichens  oi  auf 
nicht  umgel.  ou  ist  viell.  so  zu  erklären:  nicht  alle  ostfr.  mdaa. 
unterscheiden  zwischen  umgel.  und  nicht  umgel.  ou.  in  den 
dial.  des  Südostens,  Südens  und  Südwestens,  also  in  den  ans  bair. 
und  alem.  grenzenden  teilen  sind  alle  ou  zu  ä  geworden,  da- 
gegen wird  im  nordwesten  und  norden  ou  und  öu  deutlich  aus- 
einandergehalten, zb.  Bonnland  dläwa  glaube  (subst.)  aber  gddle 
glauben  (verb.).  während  man  also  im  norden  ou  und  oi  aus- 
einanderhielt, waren  die  beiden  zeichen  für  Schreiber  aus  dem 
Süden  gleichwertig,  sie  konnte  sie  daher  leicht  vertauschen.  —  §  36 
mit  dem  oye  für  oiiwe  sind  viell.  die  oi  bei  Schatz  §  14,  b  zu 
vergleichen;  s.  auch  Pinzgoy  Prager  D.  Stud.  vin  267.  —  §  38,  6 


ALTFBÄNKISCHE    GRAMMATIK  2  1  9 

der  ausdruck  'der  heutige  mfr.  monophthong'  ist  unriclitig,  da 
doch  auf  einem  groi'sen  gebiet  ie  (und  uo)  nachträglich  wider 
diphthongiert  wurden:  lux.  ei,  moselländ.  ij  (Ludwig  Mda.  v. 
Sehlem  §  52),  im  siebenbürg,  begegnet  sogar  äi,  ai  und  daraus 
entstandenes  «;  vgl.  Siebenbürg,  sächs.  wb.  lauttafel.  auch  wird 
nicht  überall  wo  monophthong  blieb,  e  gesprochen,  fiihemes  bei 
Otfr.  ist  eher  mit  spiohan  zusammenzubringen:  h  war  vermut- 
licli  ein  stark  velarer  laut,  vor  dem  helle  vocale  (schwach) 
diphthongiert  wurden  und  sich  so  mit  alten  diphthongen  be- 
rührten, was  gelegentlich  zur  umgekehrten  Schreibung  führen 
konnte.  —  §41,2  wird  Franck  im  recht  sein,  wenn  er  für  e 
in  freuua  usw.  geschlossene  qualität  vermutet,  in  den  hochalera. 
mdaa.,  wo  die  e/c  noch  zt.  erhalten  sind,  wird  hier  dasjenige 
mittlere  e  gesprochen,  das  sonst  dem  uml.  -e  zukommt,  vgl.  aus 
der  Umgebung  von  Brig:  reivu.  yeicu^  <  hreuuan,  cheiman  (dag, 
rillt,  yjid,  tyiivi  <  riunit,  clüuuit,  triuni).  —  §  41,  5  s.  auch  oi  in 
Loitherti  Heinzel  240.  §  43,  2  den  Übergang  von  ehe  >  ie  haben 
auch  die  meisten  moselfr.  dial.  mitgemacht;  auch  der  vocalismus 
von  'vielr  weist  daselbst  auf  urspr.  ie  <  eh  +  vocal.  —  in  §  45  oder 
47  wäre  auf  die  in  §  4  erwähnten  fälle  mit  ?/o  hinzuweisen  ge- 
wesen; dazu  Anz.  xix  239.  —  §  54  zu  den  Zusammensetzungen 
mit  käsi-  käse  wäre  zu  bemerken,  dass  die  obd.  dial.  mehr- 
fach umlautlose  formen  aufweisen,  also  käs-  voraussetzen;  in 
md.  mdaa.  ist  mir  dergleichen  allerdings  nicht  vnrgekommen.  - — 
§  55,  2  die  erhaltung  des  nebentonigen  tu  der  adj.  endung  im 
obd.  und  südl.  md.  hängt  wol  eher  mit  verschiedenen  betonungs- 
verhältnissen  zusammen  obd.  blinüu  :  md.  hlindih.  das  obd.  ist 
hier  wie  auch  sonst  in  nebentoniger  silbe  conservativer  geblieben. 
—  zu  §  57  vgl.  jedoch  auch  Heinzel  s.  242  {Unkeisteina,  Ossen- 
berga). —  in  §  57, 2  hätte  auf  Pietsch350  hingewiesen  werden  sollen, 
in  §  9f>,  7  auf  die  modernen  mdaa.  die  Vertretung  eines  urspr. 
j  durch  IV  ist  nicht  nur  ostfr.,  sondern  greift  weit  ins  nürdl. 
rheinfr.  hinüber,  s.  zb.  Knaufs  Vergleichung  d.  voc.  lautstandes 
in  den  mdaa.  v.  Atzenhain  und  Grünberg  s.  52.  —  §  72  dass  g  für 
j  vor  i,  e  nur  orthogr.  sei,  ist  jedesfalls  nicht  richtig  :  lautge- 
setzlich ist  —  wenigstens  im  anl.  —  auf  dem  ganzen  hd.  ge- 
biete mit  ausnähme  des  rip.  anl.  ./  vor  i  in  g  übergegangen,  vor 
e  allerdings  nur  landschaftlich,  ich  komme  darauf  bei  einer 
anderen  gelegenheit  zu  sprechen,  die  Schreibung  g  vor  dunklen 
vocalen  beruht  viell.  auf  dial.  Sonderentwicklung:  heute  erscheint 
j  in  diesem  fall  als  g  im  östl.  ostfr.  und  im  nordbair..  ferner  in 
moselfr.  mdaa.,  vgl.  die  Zusammenstellung  von  Hufs  im  Archiv 
d.  Vereins  für  siebenbürg,  landeskunde  35bd.,  s.  149.  —  §  83 — 85 
Paternovilla  s.  102  als  lat.  form  ist  wie  auch  in  §  12  anm.  aus- 
zuscheiden, die  Verhältnisse  des  Leid.  Will,  hätten  erwähnung 
verdient;  dass  ^jh  hier  auch  asp.  /'  bedeutet,  ist  sicher.  — 
^  w  ist  bilabialer  sonor  ohne  reiberäusch. 


220  LESSIAK  ÜBER  FHANCK 

§  86  ZU  Sa^ihenherch  vgl.  die  merk-svürdig-e  Schreibung-  Saphven-, 
Saphfen-  bei  Heinzel  s.  'i33,  die  älinliclikeit  hat  mit  den  ge- 
legentlich vorkommenden  fph  für  ff'.  —  §  103  statt  (Ui  wäre 
doch  wenigstens  dzl  oder  zi  zu  schreiben  gewesen.  —  §  105  hier- 
her und  nicht  unter  h  gehört  ze  idione  Cant.  4,  8.  —  §  106,  2 
-ynanoh-  (für  manag)  könnte  allenfalls  die  alte  nebenform  mit 
-h,  die  in  obd.  mda.  noch  weiterlebt,  vertreten,  vgl.  gottscheeisch 
mudniydr  mancher,  inanah  Gl.  ii,  272,  3i).  —  §  113,  2  hätte  auf 
die  Verhältnisse  in  den  rip.  mdaa.  hingewiesen  werden  sollen, 
wo  in  der  gruppe  /;/  das  t  im  ausl.  abfällt,  im  inl.  dagegen  h 
schwindet,  s.  Münch  §  110,  5.  mir  scheint  es  fast,  als  sollten 
auch  die  ausl.  h  für  /  (§  96)  ihr  dasein  der  Übertragung  solchen 
wandeis  auf  -t  (germ.  d)  verdanken,  im  luxemb.  ist  heute  in 
weitem  umfange  hypernormales  yt  für  t  eingetreten:  Inoytdn  < 
baten  (s.  oben),  ärbiyt  arbeit,  voudrryt  Wahrheit,  zidJtsiyt  Alzette  (I), 
flussname  usw.  auch  in  bair.  mdaa.  wird  in  dial.,  wo  Jit  und  t 
zusammengefallen  sind,  gelegentlich  falsch  rekonstruiert,  daher 
die  Veicht  für  Veit  und  ähnl.  —  §  115,6  glhfun  und  snJzgar 
sind  nicht  mit  den  k  vor  cons.  auf  gleiche  stufe  zu  stellen. 
im  ersten  wort  ist  g  oder  unasp.  k  auch  im  obd.  in  weitem 
umfang  verbreitet'  und  -kar  in  Zusammensetzungen  hat  g  auch 
im  hochalem.,  vgl.  Schweiz,  yasgdr  <  chäsichar.  die  bei  Pietsch 
432  angeführten  Wörter  mit  anl.  g  für  k  sind  lehnwörter  und 
haben  im  obd.  unasp.  k  oder  g.  —  §  119,  2  die  p,  k,  z  in  raupe, 
haken,  schnauze  beruhen  doch  auf  westgerm.  consonantendehnung 
(bei  schnauze  ist  dies  nicht  gerade  sicher,  s.  oben),  haben  also 
junge  geminaten,  die  nicht  (oder  doch  erst  im  laufe  der  ahd. 
periode)  vereinfacht  wurden,  während  die  alten  doppellaute  in 
fällen  wie  wissa-,  mössö  schon  urgerm.  durch  einfache  ersetzt 
worden  waren,  sie  sind  auch  nicht  mit  Wörtern  wie  Sveizen', 
'büetzen'  zu  vergleichen,  denn  nachdem  sie  einmal  isoliert  waren, 
hatten  sie  keine  formen  mit  einfachem  cons.  neben  sich  wie 
böttiu  :  bötis  usw.  —  §  1 20  vgl.  das  nebeneinander  auf  mfr.  ge- 
biet :  rip.  lux.  u.  moselländ.  k(h)of'dr  <  kitpur,  westlothr.  kupdr  < 
kuppr-.  —  §  126,  4  viell.  ist  die  assim.  in  Zulpikorve  (diese  form 
Lac.  I  236)  erfolgt,  bevor  die  Verschiebung  des  k>  y  endgiltig 
durchgeführt  war.  —  §  127  ergänze:  und  zwischen  m  +  /'. 
§  128e:  nodnnftigo  der  Kölner  Genesisgl.  und  das  von  Fr.  nicht 
erwähnte  custigan  im  Leid.  Will.  47,  23  scheinen  die  einzigen 
alten  belege  für  den  heut  in  mfr.  mdaa.  (und  im  angrenzenden 
rheinfr.)  in  weitem  umfang  eingetretenen  Schwund  des  nasals 
vor  Spiranten  zu  sein.  Chostantin  kann  auf  rom.  entwicklung 
beruhen,  dagegen  werden  sudan  Par.  •'  ni  608,  5  und  suihene- 
wind    Leid.   Will.  39,  lü,  16    doch    nicht    aufser    acht    gelassen 

^  eine  Zusammenstellung  von  beispielen  mit  rj  für  anl.  k  bringt  mein 
mc  Anz.  f.  idg.  sprach-  und  altertumsk.  XXVII  erschienene  reo.  von 
Sehönhoffs  Emsländ.  grammatik. 


ALTFRÄNKISCHE    GKAMJIATIK  221 

werden  dürfen,  dass  der  bes.  aus  dem  alem.  bekannte  nasal- 
schvvund  im  mfr.  verhältnismäfsig-  alt  ist,  zeig-t  die  vocalent- 
wicklung,  vgl.  lux.  Ai.sor  Enscheringen  (wol  zu  Ansheri;  s.  dazu 
Schatz,  Abair.  gr,  s.  82  Anscheringam),  güs  gans;  freilich  haben 
auch  noch  phaislsn  ptingsten,  jofdr  Jungfer  an  der  entwicklung 
teilgenommen,  siegerl.  äcasd  <  dlnsen,  ßasihr  fenster,  fdrnöft 
Vernunft;  siebenbürg.  tSQcs  zins  u.  a.  —  die  bemerkung  s.  170 
'nicht  lautlicher  Charakter  der  erscheinung  —  nämlich  des  ab- 
falls  von  n  —  wird  Beitr.  22,  441  verteidigt'  ist  nur  zt. 
richtig ;  vHelten  nimmt  nur  für  die  subst.  Übertragung  an. 
—  §  134  hätte  das  iu  im  gen.  pl.  bei  Isidor  erwähnt  werden 
sollen;  vgl.  Hench  s.  93  und  Kögel,  Anz.  xix  240,  wo  auch  ah- 
gnindm  \,  5  so  aufgefasst  wird.  —  §  142  die  Skepsis  betreffend 
den  Schwund  der  ausl.  t  teil  ich  nicht.  die  mnd.,  mnl.  formen 
ohne  endvocal  können  doch  ebensogut  wie  .suii  (§  145)  aus  der 
flexion  ersclilossen  worden  sein.  — •  §  159  das  -iu  für  gemeinfr. 
-u  blieb  nicht  nur  im  südl.  moselfr.  bewahrt,  sondern  auch  im 
südl.  rheinfr.  und  einem  beträchtlichen  teil  des  ostfr.  —  §  162, 
z.  7  zu  'vor  unbetonter  silbe'  wäre  hinzuzufügen  'und  nach 
nebentoniger  silbe'.  —  4j  1 80  ergänze :  habana  (eleuatos) 
Würzbg,  hl  621,  56.  —  4j  193a  hier  wäre  auf  §  160  hinzu- 
weisen, dass  formen  mit  st  fehlen,  ist  begreiflich,  dafür  steht 
eben  tt.  die  hf  für  Ä'^  können  docli  nicht  gar  so  selten  gewesen 
sein,  jedesfalls  finden  sich  hiefür  in  modernen  dialekteu  massen- 
haft belege,  ich  verweise  etwa  auf  Zs.f.hd.mdaa.  ü,  273.  — 
§  199,  1  hätte  an  die  Verhältnisse  in  heutigen  dialekten  erinnert 
werden  sollen,  moselfr.  e/  drhokdn,  tsepn  ich  trinke,  ziehe  usw.; 
entsprechend  im  rip.  —  §  201  die  e-  und  ö-  verba  hatten  doch 
im  conj.  präs,  urspr.  kein  e  (<  ai).'.  —  §  20ti  fehlt  die 
erwähnung  der  i  für  Tu  in  der  3.  pl.  opt.  bei  Otfr.  s. 
QF.  37,  9. 

Im  allgemeinen  wäre  noch  zu  bemerken:  öfter  vermisst  mau 
eine  Zusammenfassung  wie  sie  §  10  versucht  ist.  dadurch  dass 
zb.  die  aulaut-  und  inlautbehandlung  der  consonanten  in  den 
einzelnen  quellen  gesondert  beschrieben  ist,  geht  die  Übersicht 
verloren,  was  eben  durch  solche  kurz  orientierende  capitel  hätte 
vermieden  werden  können.  —  bei  Ortsnamen,  die  für  die  Sprach- 
geschichte von  irgendwelcher  bedeutung  sind,  wäre  die  mdal. 
ausspräche  anzuführen  gewesen  :  mit  den  heutigen  kanzleiformen 
lässt  sich  freilich  nicht  viel  anfangen,  so  wäre  die  kenntnis 
der  dialektform  vor  allem  erwünscht  bei  Hönningen  §  7,  Alten- 
forst §  9  (s.  16  u.),  Freimersdorf  §  13  (s.  23),  Heimerzheim  §  116, 
6  aum.,  Agger  §  117,  5,  es  wird,  wie  mir  mitgeteilt  wurde,  jetzt 
agdr  mit  verschlufslaut  gesprochen  wie  in  Wörtern  mit  altem  gg 
(zur  Schreibung  vgl.  -wichen,  rochin^  Hacchenburg  Heinzel  276. 
s.    dag.    das  auffallende  gg  in   Vreggana  Frechen  236.     hatte  gg 


222  LESSIAK    ÜBER    FRANCK,    ALTFRÄXK.    GRAMMATIK 

im  mfr.  stellenweise  uoch  den  lautwert  einer  gemiu.  spirans  V), 
Hasenried  121,  6  sowie  den  meisten  in  §21,7  anm.  1  u.  2  an- 
geführten namen.  —  öfter  hat  Fr.  rip.  eigentümlichkeiten  verall- 
gemeinert, wie  ich  dies  schon  gelegentlich  angedeutet  habe  :  so 
gilt  das  in  §  44  anm.  1  gesagte  nur  fürs  rip.  und  auch  da 
nicht  überall 

Ich  habe  bisher  licht  und  schatten  ungleich  verteilend  fast 
nur  mängel  hervorgehoben;  es  sei  hier  deshalb  besonders  fest- 
gestellt, dass  ich  dem  Franckschen  buche  eine  reihe  wertvoller 
anregungen,  auch  in  methodischer  hinsieht  verdanke,  zu  loben 
ist  vor  allem  die  grofse  vorsieht,  mit  der  der  vf.  au  die  probleme 
herantritt,  wol  geht  er  nach  meinem  ermessen  manchmal  in  der 
Skepsis  zu  weit,  aber  es  ist  immerhin  gut,  hie  und  da  aus  der 
philiströsen  Sicherheit,  in  die  man  sich  eingewiegt  hat,  etwas 
aufgerüttelt  zu  werden  und  sich  die  dinge  wider  einmal  etwas 
genauer  anzusehen,  ein  paar  beobachtungen  und  ergebuisse,  die 
für  die  deutsche  grammatik  im  allgem.  von  bedeutung  sind,  mücht 
ich  zum  schluss  noch  hervorheben:  §  55,  1  die  entwicklung  von 
-dio  zu  -do,  die  genau  der  des  iu  >  u  beim  adj.  entspricht. 
§  60  die  beispiele  mit  sprossvocal  zwischen  rf,  rh  rg,  rm,  lg,  hv, 
die  jedesfalls  zahlreicher  sein  würden,  wenn  uns  mehr  alt-mfr. 
sprachproben  zur  Verfügung  stünden;  ist  doch  in  diesen  fällen 
svarabhakti  nirgends  so  ausgeprägt  als  im  mfr.  und  niederrhein., 
dessen  Charakteristikum  er  geradezu  bildet,  mit  der  in  §  82,  4 
gegebenen  erklärung  des  'jf''  in  dürfen,  auf  das  wol  alle  hd.  mdaa. 
hinweisen,  hat  Fr.  sicher  das  richtige  getroffen,  ebenso  mit  der 
bemerkung  in  §  113,  dass  für  mhd.  h  in  lit  auf  einem  weiten 
gebiete  nicht  ausgeprägt  spirantische  ausspräche  anzunehmen 
sei  (s.  auch  Idg.  Forsch.  32,  anz.  s.  110);  dagegen  möcht  ich  das 
in  §  76  über  die  ausspräche  von  nf,  mf  gesagte  nicht  unter- 
schreiben. 

An  druckfehlern  bemerkt  ich:  §  39  zweimal  paplUa  für 
pupilla.  s.  179  z  .  7  v.  u.  soll  es  8,  153  heilsen  st.  8,  155,  s.  198 
z  .  10  V.  u.  Dian  st.  mann. 

Freiburg  i.  d.  Schweiz.  Primus  Lessiak. 


Diemetrik  der   kleinereu   alth  ochdeutscheu    reimgedichte 
von  Paul  Habermanu.  Halle,  Niemeyer,  1909.  viii  u.  194  ss.  S".  — 
7   m. 
Nach  Habermanns    meinung    prägen   die    dichter,    auch   die 
althochdeutschen,  die  rhythmisch-melodische  Stimmung,  in  der  sie 
sich  bei  ihrer  tätigkeit  betinden,    ihren   werken    durch    entspre- 
chende Wortwahl  im   lautbestande    ein,    und   die  leser,    auch  die 
heutigen,    linden  den  'vortragsschlüssel'    eines   gedichtes,    wofern 
sie  nur  allen  eindrücken  willig  folgen. 


BAESECKE    ÜBER    HABERMAXX,    AHD.    KEIMGEDICHIT:  223 

Ich  constatiere  gleich  die  beiden  immer  widerkehrenden  still- 
schweigenden Voraussetzungen:  1.  gleichartigkeit  der  ausdrucks- 
und  aufnahmebedingungen  damals  und  jetzt,  2.  vollständige  ent- 
sprechung  von  gewolltem  und  erreichtem  in  der  dichtung.  beide 
sind  nicht  nur  nicht  als  richtig  zu  erweisen,  sondern  sicher  falsch. 

Wir  setzen  die  arbeit  unseres  lebens  daran,  die  andersartig- 
keit des  emptindens  und  verstehens  im  raittelalter  zu  begreifen, 
und  hier  wird  sie  einfach  ausgeschaltet!  was  wissen  wir  denn 
davon,  in  welchem  Verhältnis  damals  Inhalt  und  rhythmus  stan- 
den ?  aber  ist  es  nicht  höchst  wahrscheinlich,  dass  den  leuten, 
die  eben  vom  alliterationsverse  herkamen,  der  rh3'thmus  neben 
dem  Inhalt  viel  mehr  bedeutete  als  uns  heute,  wo  manche  den 
vers  durch  den  Inhalt  auflösen?  und  dann  würkt  der  reim  in 
derselben  richtung!  er  muss  ja,  übrigens  schon  als  neuer  schmuck, 
viel  gewaltsamer  ins  ohr  fallen  als  heute:  in  alle  :  shie,  gisiunl  : 
gäbi,  auch  neriän  :  skäriän  fordert  er  eine  neuartig-unnatürliche 
dehnung  der  letzten  silbe,  einen  starken  accent,  eine  hebung  der 
stimme,  die  auf  die  reiraentsprechung  hinweist,  sollte  sich  in 
solcher  hervorhebung  des  formalen  nicht  ein  uns  fremder  geschmack 
documentieren?  oder  verlangten  nicht  vielleicht  die  robusteren 
nerven  mehr  stürm  und  lärm  vom  Vortrag?  galt  nicht  vielleicht, 
vielleicht  ätherischen  seelen  leiern  für  schön  weihevoll?  ')  man 
braucht  ja  nur  die  möglichkeit  zuzugeben!  dabei  ist  noch  nicht 
einmal  in  betracht  gezogen,  dass  es  wenigstens  heute  unendliche 
abstufungen  im  verslesen  gibt :  damals  gab  es  nichts  dergleichen  ? 
ich  glaube,  man  braucht  doch  einige  historische  einsieht,  um  sich 
dem  'vortragsschlüsseF  eines  gedichtes  auch  nur  anzunähern. 

Was  dann  die  zweite  Voraussetzung  betrifft,  so  haben  wir 
allen  grund  anzunehmen,  daß  sie  gerade  in  der  periode  falsch 
ist,  die  mit  einem  neuen  verse  ringt.  Habermann  spricht  von 
einem  dem  orchestischen  urmetrum  nahestehenden  vierer,  der  all- 
mählich zur  freiheit  des  frühmittelhochdeutschen  reimverses  ge- 
führt werde,  ich  habe  schon  früher  (Zs.  f.  d.  ph.  41,  99f,  vgl.  PBB. 
36,  374 ff)  zu  zeigen  versucht,  wie  verkehrt  diese  auffassung  ist. 
Otfrieds  'urmetrum'  ist,  wie  er  selbst  hinlänglich  deutlich  kundgibt, 
nicht  prähistorisch  deutsch,  sondern  greifbar  lateinisch,  und  nach 
Otfrieds  muster  ist  der  vers  der  kleinen  ahd.  gedichte  geformt; 
ihre  herleitung  an  Otfried  vorbei  ist  ein  unding  ^.  und  wenn  das 
Petruslied  stärker  spondeisch  ist,  so  ligt  das  nicht  daran,  dass 
es  dem  'orchestischen  urmetrum',  das  für  den  ahd.  vierer  ein 
phantasiegebilde  ist,  näher  steht,  sondern  daran,  dass  es  dem  orche- 

'  in  diesem  sinne  ist  es  höchst  unhistorisch  zu  sagen:  'das  lied  ver- 
liert dadurch  [durch  eine  gewisse  änderung  der  sprechmelodie]  aber  be- 
deutend an  kraft  und  bekommt  einen  sozusagen  leiernden  tonfall'  (s.  16). 
es  ergetzt  sich  ja  noch  heute  mancher  mann  an  allerhand  musikmühlen, 
gegen  die  jegliches  leiern  wohllaut  ist. 

-  das  zeigt  jetzt  auch  ein  vergleich  der  technik  des  alter  Trierer 
Zauberspruches  Zs.  52,  178. 


224  BAESEClvE    ÜBER    HABEKMANX 

stischen  metrum  des  tages  näher  gestellt  ist,  weil  es  vertont 
wurde,  oder  aber  daran,  dass  das  otfriedische  streben  nach  regel- 
mälsigem  Wechsel  von  hebung  und  Senkung  über  ihn  hinaus  bei 
einem  dichter  einmal  zu  noch  grüfserer  regelmälsigkeit  geführt 
hat.  dass  später  die  senkungssilben  wider  zunehmen,  ist  die  natür- 
liche reaction  der  spräche  gegen  die  fremde  technik.  derselbe  Vor- 
gang widerholt  sich  ja  vom  13  jh.  ab  noch  einmal:  strenge 
Silbenregelung,  silbenzählung,  herstellung  des  knittelverses  und 
der  freiheit  mehrsilbiger  Senkung:  welches  ist  da  das  'orchesti- 
sche  urmetrum'  des  knittelverses? 

Aber  wir  geben  uns  einstweilen  zufrieden  und  sehen  H. 
dazu  schreiten,  die  einzelnen  denkmäler  nach  klang,  melodie  und 
rhythmus  darzustellen,  er  ist  der  ansieht,  dass  es  uns  alle 
interessieren  würde,  welche  melodie  sie  in  seinem  Ascherslebener 
dialekte  haben,  wir  finden  uns  darein  und  hören,  dass  das 
Ludwigslied  diese  melodie  hat  (jeder  punct  bezeichne  eine  hebung, 
seine  läge  deren  relative  tonhöhe) :    ,.  •  l    . 

Nun  ist  aber  doch  nach  Sievers  die  niederdeutsche  Intonation 
und  Stimmlage  der  hochdeutschen  entgegengesetzt,  die  melodie  also 
umgekehrt.  H.  intoniert  niederdeutsch —  aber  hochdeutsche  ge- 
dichte.  und  dann  gibt  es,  widern m  nach  Sievers,  vielleicht  aufser 
den  kreuzungen  bei  gebildeten  und  aufser  Verschiebungen  die  der 
affect  verursacht,  noch  andre  intonationssysteme.  die  dann  doch 
wol  nach  den  dialekten  verschieden  sind  und  sich  nicht  auch 
alle  untereinander  wie  -|-  1  zu  —  1  verhalten  können,  ob  da  das 
ascherslebensche  besonders  gute  resultate  für  das  ahd.  verspricht? 
GrUlparzer  behauptet  unfreundlicherweise  in  seinen  reisenotizen, 
die  Sachsen  blökten,  auch  in  Aschersleben  ist  man  von  einem 
gewissen  weltbekannten  sächsischen  tonfall  nicht  frei,  aber  ich 
will,  um  keinem  lebendigen  zu  nahe  zu  treten  —  ich  nehme  an. 
H.  i  s  t  frei  von  dialekt,  und  es  könnten  sich  nur  jene  intonations- 
kreuzungen,  wie  sie  bei  gebildeten  vorkommen  sollen,  auch  bei 
ihm  zeigen  —  ich  wollte  nur  auffordern,  sich  einen  hochge- 
bildeten Leipziger  litteraten  von  1760  das  Ludwigslied  decla- 
mierend  zu  denken :  er  hätte  es  doch  gewis  wundervoll  gesächselt ! 
und  stand  ihm  um  150  jähre  näher  als  wir!  und  wie  richtig 
mag  es  erst  der  alte  Schilter,  geboren  1632  zu  Pegau  in  Sachsen, 
moduliert  haben! 

Aber  wir  müssen  noch  mehr  in  den  kauf  nehmen:  wir 
wissen  beim  Ludwigsliede  nicht,  ob  der  Verfasser  Hochdeutscher 
oder  Niederdeutscher,  war  oder  doch,  in  welchem  Verhältnis 
in  dem  gedichte  das  nd.  zum  hd.  steht:  hier  würden  also  sprach- 
bestandteile  verschiedener  intonationsweisen  von  einem  dritten, 
dialektfremden  melodisiert.  und  entsprechendes  findet  sich  auch 
bei  andern   gedichten,    zb.   Christus   und   die    Samariterin. 


METRIK    D.    KLEINEREN    AHD.    REIMGEDICHTE  225 

Aber  nehmen  wir  an,  es  gäbe  würklich  keine  dialekti- 
schen und  andern  abweichungen  der  Sprachmelodie :  sollte  sie  sich 
nicht  doch  in  1000  jähren  einigermalsen  ändern?  sollte  nicht 
die  einfiihrung  des  germanischen  accents,  der  den  endsilben 
kraft  und  saft  nahm,  die  melodie  gradezu  grundstürzend  geän- 
dert haben  ?  und  die  letzten  Wirkungen  davon  lägen  ja  noch  in  dem 
Jahrtausend,  das  uns  von  den  kleinen  althochdeutschen  reim- 
gedichten  trennt,  ist  nicht  die  diphthongierung  der  langen  vocale 
mindestens  teilweise  mit  musicalischen  Veränderungen  der  spräche 
verknüpft?  dazu  der  wandel  der  bedeutungen,  das  stete  auf- 
und  absteigen  des  gewichts  der  werte,  das  zurücktreten  des  sinn- 
lichen, das  einströmen  des  fremden  mit  seinen  fremden  con- 
structionen,  bildungeu  und  melodieen  —  gut,  es  sei  alles  nichtsi 
rer'/M^i  drj  y.oadir!  die  gedichte  haben  nun  einmal  bei  Haber- 
mann die  und  die  melodie. 

So  nehmen  wir  also  an,  dass  sie  bei  H.  so  sind,  dass  er 
ihnen  keine  geltung  für  die  alten  Verfasser  beansprucht,  dass  er 
nur  meint,  die  alten  unbekannten  melodieen  spiegelten  sich  in 
seiner  spräche  so,  bei  andern  anders  und  wider  anders,  aber 
ihre  gesetzmälsigkeit,  irgend  ein  sichgleichbleiben  sei  ihnen  in 
allen  erdenklichen  widergaben  erhalten  und  bleibe   erkennbar. 

Dann  bleibt  uns  zur  kritik  aber  doch  wenigstens  die  be- 
trachtung  seiner  textbehandlung. 

Da  bietet  sich  zuerst  als  hübsche  probe  das  Petruslied  dar, 
denn  es  ist  neumiert,  und  wir  könnten  annehmen,  dass  die  musi- 
calische zu  der  Sprachmelodie  pafst,  wenigstens  in  der  silbenzahl. 
in  der  tat  werden  wir  aufgefordert,  nach  den  neumen  zweisilbig 
ze  imo,  dreisilbig  sAer«««  iindnerian  zu  lesen,  aber:  'obwol  der 
refrain  (Kyrie  eleyson)  vier  neumen  hat,  so  verbietet  doch  die 
Sprechmelodie  zu  elidieren  und  ey  als  diphthong  zu  lesen',  nun 
wollen  wir  uns  doch  empören,  aber  es  heilst:  'textdichter  und  com- 
ponist  gehen  also  verschiedene  wege",  und  wir  haben  uns  in  die 
constatierung  dieser  zweiheit  zu  fügen,  wenn  es  uns  auch  nicht 
recht  zu  sinne  will,  dass  der  text  beim  Petrusliede  je  für  sich 
bestanden  habe  oder  auch  nur  ohne  musikmelodie  gelesen  sei. 

Aber  i.  a.  ist  der  text  conservativ  behandelt  und  H.  erlaubt 
sich  nur  wenige  änderungen.  etwa  Psalm  13S,  v.  10,  11  und  23: 
der  sprossvocal  der  handschrift  (spiricko,  cJierist,  cherefti)  'stört 
in  jedem  falle  die  melodie'  und  wird  beseitigt;  Ludwigslied  57 
wird  das  conjicierte  tcigsalig,  trotzdem  es  schon  der  handschriften- 
befund  verbietet,  in  den  text  gesetzt  und  —  passt  zur  melodie. 
ja,  H.  ist  sogar  hochconservativ.  v.  43  des  Ludwigsliedes  lautet 
nach  der  handschrift: 

uuolder  uuar  errahchon  slna  imidarsahchon 
(sina    gegen    das    sinan    der    übrigen   herausgeber  beibehalten); 
dazu    die   bemerkung:    da   tmär    als    Substantiv    zu    hoch  liegen 
würde,  ist  es  pronomen:  'Ludwig  wollte  irgendwo  seine  wider- 
A.  F.  D.  A.     XXXIV.  15 


220  BAESECKE    ÜBER    HABEBMANN 

sacher  zur  rechenschaft  ziehen',  der  (neben-)einwand,  dass  man  dann 
sine  statt  sina  erwartete,  wird  damit  abgeschlagen,  dass  sine  zn 
dllnn  klingen,  sein  e  zu  hoch  liegen  würde,  (aber  v.  32  steht  mine 
an  derselben  versstelle:  ist  das  e  da  nicht  zu  hoch  und  zu  dünn?) 
in  den  versen  der  Rhetorik  I.  2  wird  die  lesart  von  A  bevor- 
zugt, weil  die  von  BC  eine  falsche  melodie  geben:  die  richtige 
ist  demnach  aus  dem  einzig  übrigen  verse  1  entnommen!  das 
dialektfremde  fir-  des  Petrusliedes  wird  belassen;  es  passt 
wahrscheinlich  zur  melodie.  'Christus  und  die  Samariterin' 
wird  für  ursprünglich  alemannisch  gehalten,  und  es  heifst  zu 
Tiecprunnen  v.  11  sehr  hübsch:  'der  bandschriftliche  lautstand 
des  wertes  muss  erhalten  bleiben,  an  dieser  stelle  ist  melodisch 
die  form  mit  alemannischem  k  am  besten,  liest  man  sines  quec- 
prunnen ,  so  wird  das  Intervall  zwischen  der  ersten  und  der 
zweiten  hebung  zu  klein,  da  quec-  höher  als  kec-,  und  etwa 
ebenso  hoch  wie  stnes  liegt,  andererseits  muss  in  14''  die  form 
quecprunnan  bestehn  bleiben,  würde  man  hier  kec-  lesen,  so 
würde  die  zweite  hebung  im  vergleich  zu  der  sonstigen  melodik 
zu  tief  sinken',  grammatische  fehler  und  dialektmischung  aiis 
dichterischer,  sprachmelodischer  absieht ! ! 

Das  ist  ja  sogar  mehr  als  hochconservativ,  es  ist  kritiklos,  es 
ist  sozusagen  unsinn.  aber  so  haben  wir  doch  einen  verlässlichen 
handschriftentext. 

Etwas  stärker  schon  werden  wir  beeinflusst  in  der  rhyth- 
mischen lesuug  dieses  textes. 

Im  Ludwigslied  ist  zb.  verlangt  v.  4  Höloda  in  an  trüh- 
tin,  59  Gihdlde  inan  trüliiin.  im  otfriedischen  verse  verliert 
aber  inan  den  anlautenden,  nicht  das  vorige  wort  den  auslau- 
tenden vocal  zur  Vermeidung  eines  hiats.  es  wäre  demnach  zu 
lesen  Höloda  nan  iniMin,  Gihdlde  ndn  trnhtin  mit  starker 
Veränderung  der  melodie.  v.  14  ist  verlangt  Ther  er  mtsse- 
lebetä,  v.  15  Ind  er  tJidnanä  ginäs:  man  könnte  als  dem 
sinne  angemessener  vorziehen  Ther  er  misselebetd,  Ind  er  thd- 
nand  ginds  (wie  auch  v.  18''  ohne  schaden  für  die  melodie  mög- 
lich scheint),  auch  in  'Christus  und  die  Samariterin'  ist  zwei- 
mal solche  'metrische  drückung'  verlangt:  26  du  hchitös  er  finfe 
31  ihöh  ir  sdgant  kicörand:  warum,  sieht  man  nicht  ein.  dergl. 
beispiele  individueller,  willkürlicher  betonung  linden  sich  überall, 
es  lohnt  nicht  darauf  einzugehn:  de  gustibus  non  disputanduni, 
namentlich  bei  der  abstufung  der  hebungen :  mir  scheint  sie  (im 
verse  der  vier  gleichberechtigten  icten!)  in  modern-anachroni- 
stischer weise  übertrieben,  sicher  ist  nur,  dass  im  deutschen 
acccntuierenden  verse  die  Verschiebung  des  ictus  zugleich  eine 
starke  Verschiebung  der  melodie  bedeutet,  und  es  finden  sich 
beispiele  (s.  o.,  aber  auch  andere),  in  denen  H.  falsch  list. 

Aber  die  melodie  verlangt  nicht  nur  gewisse  handschriftliche 
lesarten ,    gewisse    accentsetzungen :    sie   verlangt  noch  viel  inti- 


METKIK    D.    KLEINEREN    AUD.    REIMOEDICHTE  227 

meres,  sie  verlangt,  dass  man  im  Lndwig-sliede  v.  1  her  mit 
zungen-r  Hinduig  ohne  //  spreche,  v.  27  urhif  statt  urluh  {-uf), 
sie  verlangt  allerhand  uubezeichnete  umlaute  und  eine  reihe  von 
selbstverständlichen  besserungen  (Christus  und  die  Samariterin 
10  du  statt  do,   15  thanna  statt  //ta»  usw.). 

Aber  sie  verlangt  merkwürdigerweise  nichts,  was  wir 
nicht  schon  wissen  oder  sich  schon  anderswoher  ergibt,  sehen 
wir  zum  beispiel  'De  Heinrico'  an,  so  staunen  wir  noch  v.  5, 
dass  die  raelodie,  unfehlbaren  instinctes,  mit  Lachmanu,  .Schade. 
Scherer,  Seelmann,  Meyer  mavoda  statt  des  namoda  der  hand- 
schrift  fordert:  'bei  namoda  ligt  die  zweite  hebung  zu  tief,  und 
wir  träumen  bereits,  dass  die  melodie,  die  so  auf  den  i-punct 
genau  arbeitet,  nun  auch  das  folgende  entwirren  werde,  und  wärs 
auch  nur  ein  häufen  von  buclistaben.  ja,  dass  uns  aus  lücken 
eine  neue,  von  allen  Zufälligkeiten  äufserer  Überlieferung  verschont 
gebliebene  litteratur  erblühen  werde  —  aber  es  gibt  eine  schreck- 
liche enttäuschung:  nicht  nur,  dass  v.  13  (den  Steinmej'er  für 
unter  allen  umständen  verderbt  halte)  melodisch  und  rhj'thmisch 
ohne  anstols  ist,  auch  sonst  springen  nur  fragwürdige  oder  gleich- 
gültige lesevorschriften  heraus,  nichts  als  Spielereien  wie  zuvor: 
V.  12  primttus  quöque,  15  dato,  18  öramine,  aber  25  habon  u. 
dergl.  dagegen  hören  wir  über  die  ausspräche  etwa  von  sc,  w, 
s,  z  u.  dergl.  würklich  zweifelhaftes  nichts,  und  das  Georgslied 
ist  lieber  gleich  ganz  weggelassen. 

Ich  glaube,  dies  ist  der  punct,  wo  nun  schliefslich  auch  uns 
gut-  und  langmütigsten  die  äugen  aufgehn  müssen,  wo  auch  wir 
nicht  mehr  mitmachen,  wir  leiten  aus  den  letztbesprochenen 
Verhältnissen  die  beschuldigung  her,  dass  Habermanns  lesung 
nicht  hat,  was  er  so  sehr  empfiehlt:  Unbefangenheit,  sonst  müste 
die  melodie  an  irgend  einer  stelle  einmal  zu  irgend  einem  er- 
gebnisse  geführt  haben,  "die  scharfe  vergleichende  beobachtung 
aller  unwillkürlichen  reactionen,  die  beim  lauten  und  unbe- 
fangenen lesen  eintreten',  führt  eben  direct  aus  dem  natürlichen 
heraus;  das  'häufige,  unmittelbar  hintereinander  wiederholte  laute, 
stilgemäfse  lesen',  wie  es  s.  14  als  etwas  selbstverständliches 
angenommen  wird,  ist  im  sinne  des  dichters  ein  nonsens,  es 
erzeugt  nicht,  es  tötet  die  Stimmung  des  werkes:  der  sinn  der 
form  ist,  dass  sie  die  dichtung  während  des  genief sens  zum 
kunstwerk  erhebt,  und  wenn  behauptet  wird,  man  müsse  Inhalt 
und  Stimmung  einer  dichtung  erst  ermitteln,  ehe  und  bevor  man 
ihrer  form  habhaft  werden  könne,  so  ist  die  natürliche  abfoige 
zerstört:  das  hervorpräparieren  des  melodieschemas  ist  weit 
vampyrischer  als  alles,  was  die  jämmerliche  papiermetrik '  je  zu 

'  Die  neuen  metriker,  darunter  Paul  Habermann,  haben  ein  gewaltig^ 
hohes  ross  eingefangen,  auf  dem  sie  nun,  auch  die  ganz  kleinen,  dicht 
gedrängt,  doch  türstiglich  einherreiten  wie  die  Haimonskinder:  das  ist  die 
herkömmliche,    landläufige,    papierne,    schematische  betrachtungsweise,  die 

15-^ 


22S  BAESECKE    ÜBER    HABEBMAXN 

Avege  gebracht:  blut-  und  seelenlos  liegen  die  verse,  grausam 
jedes  eigenen  beraubt,  unter  dem  zwange  der  melodie.  der 
melodie:  das  eben  ist  das  phantom,  das  wir  nicht  erjagen,  wenn 
wir  uns  nicht  erst  durch  jenes  zehnfache  lesen  und  hören 
taumelig,  wirr  und  stumpf  gemacht  haben. 

Aber  nach  Sievers  hat  der  mittelalterliche  vers  doch  nun 
-einmal  seine  stabile  melodie! 

So  habe  ich,  um  unbeeinflulst  zu  sein,  Habermanns  buch 
zugeklappt  und  wo  anders  leseproben  gemacht,  da  fand  ich  zuerst 
in  den  meisten  eingangsversen  der  kleinen  ahd.  reimgedichte 
-diese  melodie:  •.   i  , 

d.  h.  ein  regelmäfsiges  sinken  der  stimmen  in  jedem  kurzverse, 
m.  a.  ww.  ich  scandiere  ahd,  verse  sehr  stark,  nur  in  wenigen 
fällen  fand  ich  gebrochene  linien: 

Christus  und  die  Samariterin: 

Lesen  mär  ihaz  fuori  tJier  heilant  fartmnodi     \'\\ 

Psalm    138: 

Uuellet  ir  gihoren  Daviden  den  guoton    \"\:'' 

Rethor.  i: 
Sose  snel  snellemo  pegagenet  andermo  '\'\:  ' 

Mem.  mori: 
Nu  denchent  wip  unde  man,    war  ir  sulint  werdan      '  '.\'.^ 

Als  ich  nach  der  Ursache  suchte,  warum  hier  die  melodie 
abwich,  ergab  sich  die  einfachste  und  nächstliegende:  im  ersten 
und  dritten  falle  rührte  die  brechung  der  linie  davon  her,  dass 
der  satz  als  unbeendigt,  im  zweiten  davon,  dass  er  als  frage, 
im  vierten  als  anruf  empfunden  war.  als  ich  so  den  einfluss  der 
emphase  und  interpunction  sah,  gab  ich  auch  bei  andern  ge- 
dichteiugängen  unwillkürlich  die  fallende  melodie  auf:  im  Lud- 
wigs-   und    Petrusliede.     und    nun    sofort    überall    Unsicherheit. 

den  vers  sieht  statt  hört,  und  die  sie  nicht  haben,  ich  bezweifle,  dass 
es  vor  ihrer  zeit  würklich  so  sclalimm  gewesen  ist,  und  meine  überdies, 
dass  die  Sievers-Saransche  behauptung,  nur  der  gesprochene  vers  sei 
gegenständ  der  metrik,  eine  ganz  Milikürliche  beschränkung  enthält:  tau- 
sende von  versen  werden  nur  mit  dem  äuge  oder  inneren  obre  genossen, 
ihnen  mangelt  nur  die  Sprachmelodie,  das  ist  zwar  natürlich  für  die  ge- 
samte theorie  von  Sievers  und  "Saran  ein  geradezu  grundstürzender  fehler, 
aber  der  schritt  von  dem  musikmetrischen,  musikmelodischen  urverse  zu 
dem  sprechmetrischen  und  sprechmelodischen  ist  doch  ein  weit  grüfserer, 
als  der  vom  gesprochenen  zum  stummen  verse;  stufe  2  und  3  sind  näher 
verwant  als  1  und  2,  und  überdies  verbietet  ja  spräche  und  Sprachgefühl 
diese  von  einer  theorie  gewünschte  trennung.  dabei  bleibt  der  Vorrang 
des  gesprochenen  verses  unbestritten. 


MKTKIK    D.    KLEINEKEN    AUll.    liEIMGEDICHTi:  229 

mir  Sicherheit  in  dem  einen:  wenn  sinngemäl'se  interpunction  diesen 
einfluss  hat,  kann  die  melodie  unmöglich  feststehen,  ich  pro- 
bierte beim  Petruslied  und  fand  eine  ganze  reihe  verschiedener 
lesungen,  augenscheinlich  kreuzungen  von  scansion  und  inter- 
punctionsmäfsigerer  betonung,  ohne  dass  die  angemessenste  sich 
durch  die  versprochene  angemessenste  würkung  verraten  hätte, 
aber  ich  hatte  das  gefühl :  je  interpunctionsmäfsiger  desto  stil- 
loser,    in  der  ersten  lesung  hatten  alle  hinterreihen  (den  refrain 

lass  ich  beiseite)  die  vorerwähnte  hauptmelodie  %  ,  auch  die 
erste  vorderreihe  der  ersten  und  dritten  strophe;  in  v.  2.  4. 
5.  7  aber  die  figur  -^  mit  erhebung  durch  interpunction  und 
melodischem  hinweis  auf  die  nächste  reimentsprechung.  dann,  indem 
ich  noch  mehr  nach  dem  sinne  las,  in  strophe  1 :  \|  •.  *  |  ''.'\\ 
aber  auch:  '''l..    i*   r\   dann  kam  ich  in  den  klang  eines  reporters^ 

eines  gütigen  erzählers.  einer  sentimentalen  romanvorleserin,  schlief  s- 
lich,  der  hiramel  weiss  durch  welche  association,  in  stil  und  klang  der 
'Wichtigen  begebenheit'  in  Schumanns  Kinderstücken  (op.  15). 
ich  fühlte  wol,  dass  dergl.  so  verkehrt  wie  heiter  wäre,  aber 
die  Unbefangenheit  Avar  eben  dahin,  offenbar  durch  das  empfohlene 
oftlesen,  die  grenze  war  nicht  widerzutinden.  ich  versuchte,  nach 
recept,  mich  mit  dem  Inhalt  und  seiner  Stimmung  zu  durch- 
dringen, obgleich  mir  beides  seit  jähr  und-  tag  durch  zahlreiche 
Interpretationen  in  fleisch  und  blnt  übergegangen  war.  also  ein 
bittlied!  ich  las:  fast  die  zuerstgefundene  melodie!  aber  viel- 
leicht rauss  man  die  eraphase  steigern,  vielleicht  soll  Petrus  vor 
allen  übrigen  heiligen  herausgestrichen  werden,  als  der  einzige, 
der  uns  richtig  in  den  himmel  bringen  kann,  vielleicht  ist  es 
ein  Streitlied  seiner  liebhaber  und  bekenner!  betonen  wir  also 
Fc'tre  recht  gewaltsam  (mit  'überhebung',  wie  der  hübsche  term. 

techn.    lautet)!       das    gibt:      '"•l.  ..||....l''..  oder    man    betont    das 

m'rian:       \\....l..''\\       und   dazu  viele  Varianten  in  den  andern 

Versen  (je  nach  auffassung  des  ouh,  mit  uuortun  usw.);  auch 
dipodieen  fanden  sich  in  der  dritten  strophe  ein. 

Ich  behaupte  nicht,  dass  das  lied  dies  ethos  gehabt  habe, 
aber  wenn,  so  brauchte  es  in  keinem  worte  anders  zu  lauten, 
als  wir  es  da  vor  uns  haben,  das  versenken  in  Inhalt  und 
Stimmung  hätte  bisher  nur  verkehrte  melodisierung  ausgetragen, 
aber  ist  das  nicht  ein  streit  um  des  kaisers  bartV  das  lied 
wurde  ja  gesungen !  also  emphase  und  interpunction  aufs  stärkste 
verwischt!  und  ich  dachte  mit  freuden,  dass  mein  unwillkürliches 
scandieren  nicht  so  ganz  unrichtig  und  stillos  sein  möchte,    aber 


230  BAESECKE    ÜBER    HABERMANN 

jedenfalls:  eine  melodie  war  nicht  gefunden,  ich  müste  denn 
jenes  ..  ,  das  ich  in  S  von  1  2  kurzversen  las,  als  melodie  er- 
klären und  auf  die  übrigen  vier  ausdehnen,  vielleicht  gelänge 
es  auch,  wenn  ich  durch  'widerholte  lesung'  erst  in  die  richtige 
visionäre  ekstase  verzückt  und  verrückt  wäre. 

Ich  schlage  Habermann  wider  auf:  meine  ausätze  stimmen 
nicht,  mit  ausnähme  höchstens  der  s.  229  zuletzt  für  den  ersten 
vers  verzeichneten,  sonst  ist  die  melodie  fast  überall  anders, 
auch  nicht  einfach  umlegung  der  meinen,  und  sie  scheint  mir  be- 
sonders schön,  aber  für  den  nicht  sächsisch  singenden  besonders 
unauffindbar  im  Memento  mori : 

Aber  —  glücklicherweise  sind  Habermanns  verschiedene 
melodieen  auchz  t.  falsch:  in  Sarans  Verslehre  heifst  es  s.  245: 
'die  versmelodie  all  der  verschiedenen  formen  des  (ahd.)  Vierers 
ist  ungebrochen,  schema:     ._ 

"!  und  zur  bestätigung  lesen  wir  bei  Eberhardt,  Metrik 
des  Aunoliedes,  PBBeitr.  34,  12:  'das  schema  der  vorderreihe 
(im  Annoliede)  entspricht  genau  der  curve,  die  Saran  für  die 
versmelodie  des  ahd.  reimverses  (9 — 12  jh.)  gefunden  hat' ! 

Diese  sätze  sprechen  einen  dicken  band. 

Wenn  sich  die  eine  melodie  des  ahd.  verses  von  1908 
(Eberhardt)  auf  1909  in  so  viele  gespalten  hat,  wie  sie  Haber- 
raann  aufzählt,  dann  ist  doch  vielleicht  auch  die  entwicklung 
zu  meinen  melodieverschiedenheiten  von  1910  möglich,  und 
wie  gross  mögen  erst  die  Verschiedenheiten  sein,  die  sich  in  dem 
Jahrtausend  zuvor  entwickelt  haben! 

Ich  glaube,  wir  können  die  eingangs  H.  zuliebe  aufgegebenen 
Positionen  wüder  einnehmen.  — 

Noch  ein  wort  zu  der  letzten  lächerlichen  Spiegelfechterei 
dieses  büchleins.  der  Verfasser  will  nicht  nur  die  melodie, 
sondern  auch  die  klangfarbe  unsrer  gedichte  feststellen,  nach 
0.  Eutz  ('Neue  entdeckungen  von  der  menschlichen  stimme', 
München  1908)  ist  nämlich  jede  der  allgemeinen  gemütseigen- 
schaften  mit  einer  bestimmten  ausdrucksbewegung  der  rurapf- 
muskeln  verbunden  und  erzeugt  dadurch  einen  besondern  stimm- 
klaug  als  ihren  ausdruck,  ihre  ausdruckstongebung.  der  text 
setzt  es  durch,  dass  er  den  ihm  zukommenden  stimmklang 
erhält,  aber  nur  im  gesang !  was  den  sprechvers  betrifft,  so 
bezweifelt  Rutz  (s.  61)  sehr  energisch  sowol  die  Stabilität  der 
melodie  als  auch  seine  kraft,  einen  gemütsstil  der  spräche  eindeutig 
zu  erzwingenl.  genug,  dass  Habermann  den  klang  wie  die  melodie 

'  'Dass  aber  die  bestimmtheit  so  weit  geht,  dass  überhaupt  nur  eine 
einzige  sprechnielodieform  die  wirksamste  wiedergäbe  ermöglicht,  scheint 
mir    nicht    nachgewiesen,     denn    bei   gleiclier   gemütsstilart    kann   dennoch 


METRIK    D.    KLEINEREN    AUD.    REIMGEDICHTE  231 

durch  versenken  in  iulialt  und  Stimmung  eines  gedichtes  zu  ermitteln 
sucht;  etwa  so:  'nicht  also  ein  historisches  lied  beabsichtigt  der 
dichter  mit  dem  Ludwigsliede  zu  geben,  sondern  er  will  erbaulich 
und  sittlich  wirken",  'zur  einkleiduug  dieser  absieht  bot  das  histori- 
sche ereignis  der  Xormanuenschlacht  einen  sehr  geeigneten  Stoff 
usw.  (!).  —  'dieser  stimmungsgehalt  kommt  in  der  schallform  des 
Ludwigsliedes  deutlich  zum  ausdruck.  die  anzeichen  der  eindring- 
lichen sprechart  stellen  sich  in  hohem  mafse  ein.  die  Stimmlage 
ist  für  meine  stimme  (bariton)  ziemlich  hoch,  die  spitze  der 
melodiecurve  in  der  ersten  vorderreihe  Jeder  strophe  ligt  der 
oberen  grenze  meines  Stimmumfanges  bereits  sehr  nahe  ...  die 
klangfarbe  ist  gemischt,  einerseits  ist  sie  etwas  schmetternd 
und  kalt,  metallisch  fest  und  von  einer  ziemlich  gleichmäfsigen 
gepressten  härte;  doch  fehlt  auch  eine  beimisclmng  von  wärme 
und  dunkle  färbung  nicht.  (!)  instrumental  kann  sie  als  mischung 
von  klariuetteu-  und  trompetenton  bezeichnet  werden'  usw.  bei 
den  zusammengestoppelten  versen  des  Sigihart  heilst  es:  'die 
klangfülle  und  lautheit  beider  stücke  ist  sehr  gering;  man  kann 

die  gebete  nur  leise  sprechen. in  stillem  gebet  sprechen  die 

dichter  (Habermann  nimmt  wegen  der  'schallform'  zwei  Verfasser 
au)  "zu  Gott',  wir  sparen  weitere  einwände,  nachdem  wir  die 
folgerungen  beleuchtet  haben,  die  aus  der  melodie  gezogen  sind: 
diese  feinen  Schlüsse  vom  klang  auf  den  Charakter  des  Inhalts 
sind  Schlüsse  aus  dem  Charakter  des  Inhalts  auf  den  klang,  ob 
wol  Sigiharts  ph rasen  in  dem  otf riedischen  zusammenhange,  aus 
dem  sie  stammen,  denselben  klang  hatten?  oder  haben  sie  da 
den  klang  den  man  anwendet,  wenn  man  belehrend,  erzählend, 
eindringlich  usw.  eine  Evangelienharmonie  schreibt? 

Für  sich  betrachtet  mutet  Habermanns  buch  vielleicht 
manchen  wie  eine  einzige  ungeheuerliche  Unverfrorenheit  an,  wie 
ein  höhn  auf  jede  historische  erziehung;  man  brauchte  und  dürfte 
nicht  so  viele  worte  darum  machen,  aber  es  wäre  ungerecht, 
wenn  man  ihn  so  verdammen  wollte,  sein  buch  ist  vielmehr 
das  letzte  bis  jetzt  erreichte  ziel  auf  dem  abwege,  zu  dem  die 
aussichtsvolle  heranziehung  der  Sprachmelodie  durch  Sievers 
unsere  metrik  verführt  hat,  und  da  möchte  ich  weiteres  ver- 
hindern, so  gut  ich  eben  kann.  Sievers  selbst  hat,  dass  muss 
anerkannt  und  hervorgehoben  werden,  sowol  damals,  1893  ('Zur 
rhythmik  und  melodik  des  nhd.  sprechverses'),  wie  noch  in  seiner 
rectoratsrede  von  1901  ('Über  sprachmelodisches  in  der  deutschen 
dichtung')  seine  theorieen  von  ermittlung  der  Sprachmelodie  eines 
Verses  mit  allen  erdenklichen  cautelen  umschanzt,    so  sehr,   dass 

eine  grofse  Verschiedenheit  der  nielodieformen  bestehen,  ob  eine  Wortfolge 
überhaupt  gemütsbewegungen  zum  ausdruck  bringt,  ist  wie  bei  der  tonfolge 
Sache  der  einzelfeststellung.  wenn  eine  Wortfolge  ohne  minderung  der 
Wirkung  so  gut  in  der  tongebung  des  ersten  wie  des  zweiten  typus  usw. 
widergegeben  werden  kann,  entbehrt  sie  eines  gemütsstils.' 


232  BAKSECKE    ÜBER    HABEEMANN,    AHD.    EEIMGEDICHTE 

er  seiner  entdeckung  eig'entlicli  selbst  den  wert  für  die  textkritik 
nahm;  im  nhd.  verse.  aber  er  machte  die  verhängnisvolle  Unter- 
scheidung: beim  mittelalterlichen  verse  gelten  nicht  die  mög- 
lichkeiten  subjectiver  auffassung,  verschiedener  Intonationen,  der 
Verschiebung  durch  starke  affecte,  des  absichtlichen  wechseis, 
nein,  der  mittelalterliche  vers  hat  stabile  melodie.  Sievers  hat 
dafür  kein  einziges  objectives  kriterium.  nicht  den  ansatz  eines 
beweises  beigebracht,  er  kann  auch  diese  Stabilität  nicht  er- 
klären, er  nennt  sie  nur  tatsache,  die  man  nicht  beiseite  schieben 
könne,  (wenn  man  sie  nur  sähe!)  er  nennt  aber  alle  seine  er- 
örterungen  nur  'ansatz  zu  einem  programm'  und  verspricht  gründ- 
liche behandlung  1893,   1901,    1908  (Prager  Studien  vm   I79ff). 

In  jene  lücke  sprang  Saran  mit  seinen  Schriften  ein,  und 
nun  scheint  er  mit  den  seinen  ganz  vergessen  zu  haben,  dass 
jene  Stabilität  mittelalterlicher  versmelodieen  (bei  Saran  inzwischen 
auch  der  nhd.)  eine  unbewiesene  behauptung  ist,  für  die  die  umweit 
den  versproclienen  beweis  noch  immer  erwartet. 

Und  nun  gar  die  verquickung  der  neuen,  Eutz  erst  ange- 
hefteten und  dann  von  ihm  entlehnten  lehren  mit  diesen  annoch 
unerwiesenen  melodischen  theorieen!  was  für  eine  Verwirrung 
von  möglich  und  unmöglich,  von  Wahrheit,  Wahrscheinlichkeit, 
unWahrscheinlichkeit  und  unsinn  muss  das  geben,  wenn  ein  novize 
damit  investiert  wird!  zumal  diese  lehren  mit  einem  bewunderns- 
werten raftinement  des  musikalischen,  phonetischen,  rhythmischen 
feingeftihls  vorgetragen  werden. 

In  dieser  feinheit  ligt  aber  auch  die  kraft  und  Überlegenheit 
dieser  theorieen.  ich  glaube  wol,  dass  sie  grofsen  kritischen 
ertrag  abwerfen  können,  nicht  nur  für  die  metrik,  nachdem  sie 
erst  einmal  auf  feste  fül'se  gestellt  sind;  ich  erhoffe  selbst 
manches  davon  für  einige  vorhabende  kritische  editionen^und 
möchte  keinesfalls  den  anschluss  verpassen,  aber  erst  den  pein- 
lich erwarteten  beweis!  oder  doch  wenigstens  eine  greifbare 
handhabe  für  uns  arme  papierne!    und  etwas  methode! 

Charlottenburg,   15.  juni    1910.  Georg- Baesecke. 


pjodtrü  og  Jijödsagnir.  safuadhefir  OddurBjörnsson. Jonas J6nasson 
bjö  undir  preutuu.  1.  biudi.  pjöctsögur.  Akureyri  bokaverzlun 
og  prentsmidja  Odds  Björussoiiar.     190S.     xv  u.  344  ss.     8°. 

Die  anregung  zur  Veranstaltung  der  vorliegenden  ausgäbe 
hat  Oddur  Björnsson,  buchdrucker  und  Verleger  in  Akureyri, 
1906  durch  den  erwerb  der  bedeutenden  Sammlung  volkstüm- 
licher geschichten  des  gagnf rredings  Sigfüs  Sigf nsson  in  Ey vindarä  er- 
halten, diese  umfasst  nur  sagen  aus  dem  ostviertel  der  insel, 
vermutlich  weil  sich  der  kaufmann  auf  abnehmer  in  seinem 
fjördung    besonders   angewiesen  sah.    suchte    er  durch  zwei  auf- 


VOGT    ÜBER    pJÖDTKU    OK    ßjÖDSAüNIR  233 

rufe  Stoffe  aus  seinem  eigenen  bezirk  zu  gewinnen,  diese  beiden 
'bodbref,  ausgesant  "a  ütnuinuduni  1906'  (i.  Vierteljahr  06)  und 
'ä  kyndilmessu  1907'  (2.  februar  07)  geben  nach  einer  berufung 
auf  frühere  samraler  und  samnihmgen  und  einem  hinweis  auf 
die  Wichtigkeit  der  arbeit  eine  aufzählung  der  Stoffgebiete  in 
30  (31),  oft  noch  vielgeteilteu  uummern.  damit  soll  dem  ge- 
dächtnis  der  landsleute  auf  die  spur  geholfen  werden,  ausdrück- 
lich wird  eingeschärft,  dass  ort,  zeit,  personalia  ganz  genau 
angegeben  werden  müssen,  auffallend  ist,  dass  die  aufzeichnung 
schon  gedruckter  geschichten  nicht  gewünscht  wird.  das 
scheint  mir  ein  fehler  zu  sein;  denn  mochte  auch  der  Verleger 
gewis  nicht  in  der  läge  sein,  diese  stücke  noch  einmal  zu 
drucken,  so  war  doch  die  neuaufzeichnung  für  die  erforschung 
der  Stoffgeographie,  der  Schnelligkeit  der  Verbreitung  litterarisch  be- 
kannt gegebener  stücke  und  der  art  ihrer  aufnähme  von  sehr  grofsem 
wert;  war  es  ja  doch  schon  anfang  1907  beabsichtigt,  die  nicht 
gedruckten  texte  in  die  handschriftensammlung  der  landes- 
bibliothek  zu  überführen.  OB.  hat  ein  reiches  material  auf 
seine  bodbref  hin  erhalten,  zumeist  aus  dem  norden  der  insel. 
so  reich  ist  die  ernte  gewesen,  dass  aus  Sigfüs  Sammlung  nur 
ein  stück  s.  26 7l  abgedruckt  ist. 

Der  verantwortliche  herausgeber  ist  Jonas  Jönasson,  prö- 
fastur  in  Hrafnagil  bei  Akureyri  und  kennari  an  der  gagn- 
frsedaskoli  (realschule)  in  A.  er  ist  einer  der  geachtetsten  geist- 
lichen des  nordlandes.  als  wissenschaftlicher  arbeiter  ist  er  mit 
der  herausgäbe  der  Ny  dönsk  ordabök  med  J)yc1ingum,  Eeykjavik, 
Isafoldarprentsmidja  1896  hervorgetreten,  das  buch  ist  gut. 
seine  kleine  isländische  grammatik  für  die  schule  hg.  sommer  1909 
kenne  ich  nicht,  seine  novellen  (eine  anzahl  sind  von  Küchler 
unter  dem  titel  'Lebenslügen'  übersetzt;  Reclam)  zeigen  scharfen 
blick,  während  eines  etwa  vierwochentlichen  aufenthaltes  in 
seinem  pfarrhaus  im  sommer  1905  habe  ich  JJ.  als  einen  sehr 
ruhigen,  überlegten  und  wohlwollenden,  aber  zurückhaltenden  mann 
kennen  gelernt,  er  gehört  zu  jener  gruppe  isländischer  menschen, 
die  sich  dem  fremden  laugsam  erschliessen  und  dessen  wachsendes 
zutrauen  nicht  durch  plötzliche  gleichgültigkeit  enttäuschen ;  vgl. 
Valtyr  Gudmundsson-Palleske,  Island  am  beginn  des  20  Jahrhun- 
derts, Kattowitz  1904.  s.  21 — 27  und  recensent  in  den  Mitteilungen 
der  Schles.  ges.  f.  Volkskunde  heft  xv  s.  IS  ff.  so  glaube  ich  ent- 
schieden, dass  JJ.  die  wissenschaftliche  Schulung  und  Sorgfalt, 
die  feine  kenntnis  und  das  Verständnis  für  sein  volk  hat,  um 
als  nachfolger  der  Jon  'Arnason  und  Magnus  Gn'msson,  Jon 
J)orkelsson  und  Ölafur  Davidsson  auf  den  plan  zu  treten. 

JJ.  legt  in  dem  forraäli  rechnung  über  seine  tätigkeit  und 
hat  mir  brieflich  weitere  mitteilungen  gemacht,     das  Verzeichnis 

'  leider  sind  die  stücke  im  texte  nicht  durchgezählt  wie  in  der 
efnisskrä. 


234  VOGT    ÜBKH    BJÖKNSSÜX    U.    JÖXASSON 

s.  XI — XV  gibt  die  namen  von  134  Gewährsmännern,  sie  sind 
vor  den  stücken  noch  einmal  genannt,  oder  es  ist  durch  den 
vermerk  heimüdin  i  sögwmi  darauf  hingewiesen,  dass  die  quelle 
in  der  geschichte  angegeben  wird;  der  vermerk  handrit  N.N. 
besagt,  dass  das  eingesante  Schriftstück  unverändert  aufgenommen 
worden  ist;  cf'tir  handriti  N.N.  =  der  hrg.  hat  änderungen  in 
spräche  und  stil  in  kleinem  umfange  vorgenommen;  handrit  JJ. 
=  JJ.  hat  den  text  aus  mehreren  handschriften  oder  nach 
mündlicher  erzählung  verfasst.  den  einzelnen  erzähiern  ist  also 
nach  möglichkeit  ihr  eigener  stil  gelassen  worden;  und  diese 
erhaltung  wird  der  sagenforschung  sehr  wichtige  mittel  der 
kritik  in  die  hand  geben.  —  nur  ein  teil  der  Sammlung  ist  ver- 
öffentlicht; venjur,  I)jödsidir  og  f)jödtrn  sowie  Ijjödkvcedi  sind 
für  spätere  bände  aufgespart;  schon  gedruckte  geschichten  sind 
nur  aufgenommen,  wenn  sie  sehr  stark  abweichen,  zb.  nr.  78; 
geschichten  über  Zeitgenossen  scheinen  reichlich  ausgeschieden 
worden  zu  sein,  denn  hrg.  versichert  brieflich,  auf  diesem  felde 
sehr  kritisch  verfahren  zu  sein,  um  fabeleien  auszuschliessen  und 
nur  würklichen  erlebnissen  platz  zu  gönnen;  aus  JJ.s  allernächstem 
lebenskreise  stammend  machen  die  urr  15,  21,  102  anspruch  auf 
unbedingte  glaub  Würdigkeit  als  erlebnisse.  —  zur  litteratur  die 
Pauls  Grdr  ^iii  s.  530  und  Adeline  Eittershaus,  die  neuisländischen 
Volksmärchen,  Halle  1902  angibt,  tritt  Sagnakver  eftir  porstein 
Erlingsson,  Eej^kjavik  1906  und  die  Sammlung  von  liedern  mit 
melodieen:  Bjarni  porsteinssons  Islenzk  pjödlög,  Kaupmannahöfn 
1906 — 09  XI  u.  957  ss.  15  kr.  weitere,  deutsche  litteratur  gibt 
Gudmundsson-Palleske  aao.  s.  2;-{2.  die  anordnung  ist  des  hrg.s 
eigentum. 

Auf  den  vorigen  seiten  hab  ich  das  isl.  w^ort  pjödsagnir 
mit  meinem  schlesischen  'geschichten'  übersetzt,  'geschichte'  ist 
alles  was  ein  kind  erlebt,  sei  es  als  ereignis,  als  erzählung  oder 
Schilderung,  denn  auch  die  beschreibung  einer  brücke  ist  für  den 
schlesischen  jungen  'eine  geschichte'.  denselben  umkreis  erfüllt 
etwa  die  vorliegende  Sammlung,  die  geschichten  sind  sehr  ver- 
schieden lang;  stücke  deren  eigentliche  mitteilung  nur  vier  zeilen 
umfasst  (s.  25),  stehn  neben  räubergeschichten  und  märchen  von 
1(1  Seiten.  fast  allen  ist  mit  den  bekannten  isländischen 
pjödsögur  die  bestimmtheit  des  Inhalts  nach  ort,  zeit,  person 
gemeinsam;  nur  einige  märchen  machen  hiervon  eine  ausnähme, 
in  dieser  —  vielleicht  ja  nur  scheinbaren  —  gebundenheit  an 
die  geschichtliche  würklichkeit  nähern  sie  sich  der  sage,  und 
wenn  das  ereignis  weiter  zurtickligt  und  sich  an  personen  von 
einiger  historischer  bedeutung  anlehnt,  verstärkt  sich  dieser  ein- 
druck,  zb.  s.  118.  aber  das  charakteristische  unserer  Sammlung 
und  ihren  eigentümlichen  wert  seh  ich  gerade  darin,  dass  ihre 
geschichten  grofsenteils  in  die  letzten  Jahrzehnte,  ja  jähre  ge- 
setzt werden,  s.  253  d.   19.  dezember  1906,  s.  31  ebenfalls  1906. 


pJÖDTßU    OK    pJÖDSAGNLK  235 

bürger  und  bauern,  tischer,  hütejungen,  postboten,  knechte  und 
raägde,  die  in  ihrer  sveit  wie  Hinz  und  Kunz  bekannt  sind, 
haben  sie  erlebt,  dementsprechend  sind  sie  zum  teil  ganz  ein- 
fach: s.  250  Björn   sieht  den  regenbogen  spät  am  dunklen  abend 

—  fertig,  s.  129  der  postbote  bemerkt  spuren  der  kinder  des 
huldufülks  im  schnee  —  fertig,  s.  250 — 252  Jakob  borgari 
Hälfdanarson  sieht  einen  feuerschein  sich  über  seinen  weg  hin- 
ziehen —  fertig,  freilich  braucht  er  mehr  als  2  seilen  zur  dar- 
stellung  seines  erlebnisses.  s.  253  am  19.  dezember  190G  wird 
ein  feuerrauch  über  Mödruvellir  gesehen  —  gebrannt  hats  nicht. 

—  an  diese  einfachsten,  pointelosen  stücke,  blolse  beobachtungen, 
schliessen  sich  zweiteilige  erlebnisse  an:  s.  121  der  hütejunge 
porstein  träumt,  dass  ihn  eine  elbenfrau  von  seinem  Schlafplatz 
auf  dem  hügel  wegstölst  und  findet  sich  erwacht  würklich  neben 
seinem  lagcr.  s.  25  Halldörs  mutter  gibt  der  Schwiegertochter 
die  Schlüssel,  sie  brauche  sie  nicht  mehr;  so  träumt  Halldür; 
am  nächsten  tage  stirbt  die  mutter.  so  wachsen  die  geschichten 
auf  beiden  Seiten,  auf  dem  geisterhaft-ungreifbaren  gebiet  und 
auf  dem  des  lebens;  dieses  gibt  die  beweise  für  jenes,  eine 
masse  von  träumen  und  wachen  ahnungen  findet  bestätigung,  zb. 
s.  29 ;  elben  lassen  Zeugnisse  ihres  geheimnisvollen  lebens  den 
menschen  zurück,  zb.  s.  123  f.  —  so  sind  die  stücke  zum  teil 
garnicht  volkläufiges  ei'zählungsgut  (allmenn  sog»),  sondern  ganz 
individuelles  erlebnis,  individuelle  erzählung.  sie  haben  mit  der 
allmenn  sögn  nur  die  art  der  auffassung  gemeinsam  (zum  teil 
auch  das  nicht)  und  können  vielleicht  einmal  volkläufig  werden, 
ihrer  individuellen  art  entsprechend  sind  sie  denn  auch  oft  in 
der  ersten  person  erzählt  und  bringen  persönliche  gefühle  und 
zweifei,  zb.  s.  71  f  u.  s.  230.  sie  zeigen  was  auf  dem  boden  volks- 
tümlicher anschauungsweise  in  Island  erlebt  und  als  volkstümlich 
erzählt  werden  kann,  freilich  auch  schon  eine  gewisse  Unsicher- 
heit des  gefühls  für  das  volkstümliche  —  das  beweist  s.  250 f 
Balköstur;  gehört  nicht  ins  buch;  diese  ist  aber  auch  wider 
charakteristisch  für  den  culturstand  des  gegenwärtigen  Island, 
in  demselben  grade  in  dem  sich  die  'geschichten'  zu  erzählungen 
auswachsen,  verlieren  sie  den  wert  der  unmittelbarkeit;  die  ein- 
würkungen  die  sie  erfahren  haben,  sind  mannigfachere  gewesen 
und,  da  sie  nicht  dem  munde  des  unbefangenen  erzählers  abge- 
lauscht, sondern  von  ihm  selbst  oder  anderen  aufgeschrieben 
worden  sind,  treten  sie  nach  Inhalt  und  form  in  den  kreis 
der  litterarischeu  producte  ein  und  wollen  als  solche  behandelt 
werden. 

JJ.  erklärt  im  formali  gebildeten  laien  die  mythischen  ge- 
stalten und  erzählungen  als  antworten  der  einbildungskraft  und 
der  dichtkunst  auf  die  fragen  des  Verstandes,  der  staunend  vor 
der  fülle  der  erscheinungen  steht,  diese  deutung  trifft  für  die 
ursprüngliche    mythenbildung    ohne    zweifei   nicht  zu;    die  dinge 


236  VOGT    ÜBER    BJÖRNSSON    U.     JÖ>rASSON 

werden  unmittelbar  in  m^'tliologisclien  formen  appercipiert.  ohne 
dass  die  frage  dazwischen  getreten  ist,  aber  für  die  vorgelegten 
|)jüdsögur  hat  seine  antwort  doch  bedentung.  mag  auch  jene 
unmittelbare  apperception  mythologischer  art  zuweilen  vorliegen, 
wie  zb.  s.  152  u.  21 6  ff,  so  ist  es  in  anderen  fällen  garnicht  zu 
mj'thologischer  anschauung  gekommen:  s.  249.  250 tY.  s.  252 
schwenkt  sogar  zur  naturwissenschaftlichen  fragestellung  über, 
und  s.  1 03  wird  eine  psychologische  erklärung  gesucht,  hier  ist 
also  die  frage  sicher  gestellt  worden,  und  sie  wird  einer  un- 
mythologischen antwort  zugeführt,  demnach  ist  anzunehmen, 
dass  in  vielen  anderen  fällen  die  mythologische  anschauung  als 
antwort  auf  eine  frage  gefasst  werden  muss,  zb.  s.  129  sJödir 
eftir  luüdufolk:  hier  geht  die  darstellung  vom  staunen  zum 
schluss  hin,  dieser  selbst  ist  aber  nur  in  der  Überschrift  aus- 
gesprochen. 

Manche  stücke  sind  additionen  einzelner  züge,  zb.  s.  100, 
173,  178,  233  u.  a.  sie  können  als  compositionen  natürlich 
nicht  als  pjödsagnir  rechnen,  sondern  sie  sind  überlegte  Zu- 
sammenstellungen, mögen  aber  auf  diesem  wege  nicht  doch 
neue  compositionen,  sögur,  entstanden  sein,  die  wir  schon  jetzt 
im  gedruckten  texte  nicht  mehr  gleich  als  neue  Vereinigungen 
erkennen?  s.  166  zeigt,  dass  JJ.  selbst  wissenschaftliche  ent- 
haltung  geübt  hat.  er  vermutet  da,  dass  zwei  localsagen  an  ein 
und  denselben  draugur  zu  heften  sind,  aber  er  hält  die  geschichten 
getrennt,  wer  weifs,  ob  seine  gewährsniänuer  ebenso  vorsichtig 
verfahren  sind. 

Mit  solchen  beobachtungen  über  art  und  grad  der  compo- 
sition  werden  Untersuchungen  über  den  stil  der  stücke  band 
in  band  gehn  müssen,  da  ist  es  wichtig,  dass  den  geschichten 
der  stil  ihres  Schreibers  möglichst  gelassen  worden  ist,  und  nicht, 
wie  in  den  Grimmschen  märchen,  ein  erzähler  alles  nach  seiner 
art  darstellt,  die  brüder  Grimm  kennen  wir,  jene  isländischen 
erzähler  aber  nicht,  und  so  ist  es  gut,  wenn  uns  der  eindruck 
ihres  stils  die  persönliche  bekanntschaft  ersetzen  kann.  —  im 
allgemeinen  ist  der  stil  einfach  und  natürlich,  der  Wortschatz 
nicht  gesucht,  die  schönsten,  klarsten  stücke  schenkt  meines 
emptindens  JJ.  selber,  aber  ganz  einheitlich  ist  sein  stil  doch 
nicht,  zuweilen  klingt  der  sagastil  stark  an,  zuweilen  beweisen 
grade  ausgespiochen  volkstümliche  Stoffbestandteile  wie  die  in 
zusammengesetzteren  geschichten  sehr  häutige  zahl  drei,  dass 
der  erzähler  die  rechte  fühlung  verloren  hat.  so  reifst  JJ. 
bei  den  vielen  dreien,  die  er  zu  bewältigen  hat,  s.  314  die 
geduld:  ....  Mtti  ßorsteinn  par  aCtra  kerlinguna,  og  er  ekki 
aä  orälengja  pa?f,  a5  päd  för  alveg  eins  og  kjä  hinni  kerlin- 
gunni.  wie  er  hier  vorwärts  springt,  so  springt  er  wol  auch 
zur  seite  und  verlässt  die  einsträngige  erzählungsart  s.  311. 
ARittershaus  sucht  vergebens  herzliche  töne  in  den  isländischen 


pJÖDTRU    OK  ,r>.TUDSAGXIE  237 

Volksmärchen;  eine  ganze  anzalil  beitrüge  JJ.s  zeigen:  der  Is- 
länder steht  unserer  eniptindungsweise  doch  nicht  so  fern, 
dass  wir  nicht  heimische  klänge  auch  aus  seinem  munde  ver- 
nehmen könnten. 

Ein  ganz  anderer  erzähler  ist  Jakob  Hälfdanarson  i  Hüsavik, 
der  zwölf  Schriftstücke  beigesteuert  hat.  JJ.  hat  sie  aufge- 
nommen, weil  er  JH.  als  kritischen  und  wolunterrichteten 
mann  schätzt  (brieflich).  aber  er  steht  dem  volksmälsigen 
emptinden  recht  fern,  er  ist  der  mann  der  nach  der  psycho- 
logischen und  naturwissenschaftlichen  erkläruug  ruft,  so  ist 
auch  sein  stil  nicht  volksmäfsig.  er  erzählt  flott,  aber  gesucht, 
will  er  mit  der  Zerlegung  s.  36  ^eg  veit,  aCf  hver  sem  petta  er, 
pd  ä  sä  eda  sü  Uti&  ölifad'  seinem  logischen  bedürfnis  genug 
tun  oder  will  er  pathetisch  sein?  rhetorik  liebt  er:  s.  297 
dreimal  ekki  in  anaphora;  s.  299  'ekki  vöru  petta  sjöskrfjmsl, 
menn  vöru  paö,  en  hvaöa  menn?'  er  wählt  die  worte:  s.  295 
in  15  Zeilen  vier  verschiedene  ausdrücke  für  das  gepäck  eines 
bettelweibes.  gewis  ist  er  sehr  stolz  auf  das  schöne  wort  s.  252 
kaldavermslisuppfjönfju-augioii  =  quelle,  u.  a.  m.  er  baut  auch 
die  schwierigsten  compositionen :  s.  49f  und  gar  s.  81ff  fjarsyni 
Puls  pro fass;  hier  erzählt  er  zwei  geschichten;  ehe  sie  zusammen- 
laufen, hat  der  leser  keine  ahnung,  wohin  er  soll,  sein  märchen 
s.  294  ff  ist  weinerlich. 

Solche  Stichproben  zeigen,  wie  verschiedenartige  Stoffe  in 
die  Sammlung  eingegangen  sind.  JJ.  hat  gewis  schon  viel 
wilde  triebe  des  Strauches  ausgeschnitten.  es  wird  aber 
noch  einer  behutsamen  und  umfassenden  stoff-  und  formunter- 
suchung  bedürfen',  ehe  wir  die  stücke  ihrer  singulären  ent- 
stehung  nach  psychologisch  richtig  verstanden  haben  und  ihren 
Stoff  mit  einiger  Sicherheit  in  geschichtliche  zusammenhänge 
bringen  können,  so  notieren  wir  uns  nur  eben  im  vorbeigehn, 
ohne  irgend  ein  urteil  fällen  zu  wollen,  s.  284  kerlingin  .  .  . 
cetlaäi  ad  hita  kann  {Jon)  ä  harkann  zu  Eigla  cap.  65,  s.  179  der 
böse  geist  in  der  kirche  zu  Grettla  cap,  39,  s.  177  das  mond- 
gespenst  zum  glamr  Grettla  cap.  35,  s.  283  hentu  peir  hverju 
heini,  er  peir  hößu  eti&  af  pvi,  tu  Jons,  en  kann  henti  peini 
jafnhardan  til  peirra  aftur  zu  Hrülfssaga  kräka  ed  Valdimar 
Asmundarson  cap.  34.  den  brahmanen  mit  dem  zerbrochenen 
topf  finden  Avir  s.  324 f  als  isländischen  kuhtreiber  wieder; 
schade,  dass  er  gar  um  seines  schönen  traumes  willen  das  leben 
lassen  muss.  die  geschichte  vom  famosen  Hüsavikur-.Jön  s.  I97f, 
einem  sehr  entfernten,  unliebenswürdigen  vetter  unseres  Hans 
Pfriem,  lässt  uns  einen  blick  ins  leben  der  Eeykjaviker  gymna- 
siasten  tun;  sie  zeigt  uns  auch,  wie  stark  ein  isländischer  primaner 
von  den  sögur  beeinflusst  ist. 

^  ARitterehaus  aao.  s.  23 — 42  kämmt  mit  gar  zu  groben  kämme. 


23S  VOGT    ÜBEK  pJlÖDTRU    OK     pJÖßSAGNIE 

Die  neue  sammliiDg-  stellt  uns  viele  fragen,  sie  wird  dem 
eindringlichen  forscher  aber  auch  manche  wertvolle  antwort 
geben,  im  Januar  1909  haben  J.T.  und  OB.  fünf  druckseiten 
fragen  nach  hauswesen.  lebens-  und  arbeitsführung  verschiedener 
bevölkerungsschichten,  festtagen,  'reinemachen'  u.  a.  ausgehen 
lassen,  hoffentlich  werden  sie  bald  im  stände  sein,  uns  die 
Sammlung  'Venjur  og  |)jödsidir'  vorzulegen,  wir  werden  daraus 
reiche  aufschlüsse  über  lebensverhältnisse  die  den  Islendingasögur 
zu  gründe  liegen  erhalten;  die  vorgelegte  geschichtensammlung 
ist  selbst  schon  voll  von  angaben  über  die  lebensführung 
des  Volkes. 

Moys  bei  Görlitz,  november  1909.         Walther  H.  Vogt. 


islenzk  Iijödlög  (Isländische  volksweiseu).  Bjarni  f'orsteiusson, 
prostur  i  Siglufirfli,  hefur  safnad  lögumnn  18SÜ — 1905  og  samid 
ritgjördiuar.  gefiu  üt  ä  kostnad  Carlsbergssjödins  i'  Kaup- 
mannahöfn.  Kaupmannahöfn,  b.  L.  Möller  1906—1909.  xi  uuil 
957  ss.  8°. 

Vor  20  Jahren  konnte  Ülafur  Davidsson,  der  verdienstliche 
Sammler  der  neuisländischen  tanzliedchen  und  spiele,  noch  er- 
klären: was  Volksweisen  betreffe,  dürfe  man  sich  auf  Island 
keine  reiche  ausbeute  versprechen,  und  als  der  Verfasser  des 
vorliegenden  werkes  als  blutjunger  mann  zu  sammeln  anfieng, 
konnte  er  von  einem  landsmann  die  meinung  hören:  isländische 
Volksweisen,  das  gebe  es  wol  nicht,  durch  25  jährige  Sammel- 
tätigkeit hat  Bjarni  porsteinsson  den  beweis  erbracht,  dass  Island 
auch  auf  diesem  volkskundlichen  felde  reichtümer  ererbt  hat,  und 
in  diesem  imponierenden  bände  legt  er  den  überraschenden  ertrag 
seiner  arbeit  vor.  das  aus  hss.  und  drucken  geschöpfte  (s.  76 
bis  520)  und  das  aus  der  mündlichen  Überlieferung  auf- 
gefangene (s.  521 — 919)  halten  sich  dem  umfang  nach  ungefähr 
die  wage. 

Mit  welchem  rechte  die  melodien  'isl.  Volksweisen'  (pjüdlög) 
heissen  dürfen,  darüber  verbreitet  sich  der  erste  abschnitt  der 
einleitung.  der  letzte  Ursprung  der  weisen  ist  meistens  unbe- 
kannt, sicher  ist  vieles  aus  dem  ausländ  herübergekommen, 
genug,  dass  alles  durch  menschenalter  oder  Jahrhunderte  in  der 
pflege  der  Isländer  lebte,  und  dass  diese  masse  sich  sehr  kennt- 
lich abhebt  von  der  Volksmusik  der  andern  europäischen  Völker 
aus  den  letzten  Jahrhunderten.  Es  ist  eine  merkwürdig  alter- 
tümliche musik:  'wer  sich  in  sie  vertieft,  dem  ist,  als  ob  er  ins 
mittelalter  zurückgekommen  sei'  (s.  7).  das  isl  Volksleben  ist 
auf  mehreren  gebieten  von  den  culturneuerungen  der  letzten 
Jahrhunderte  unberührt  geblieben,  auf  keinem  so  auffällig  wie 
auf  dem  musikalischen,  wir  linden  hier  die  altehrwürdigen 
'kirchentonarten'    leibhaftig    vor    uns;    die   grofse    mehrzahl  der 


HEUSLER    ÜBER    ISLEXZK    p-HJßl.ÖG  2311 

weisen  ist  lydiscli  (sodass  man  gesagt  hat,  die  Ij'discbe  tonait 
könnte  man  *die  isländische'  nennen!);  die  'tvisöngvar',  zwiege- 
sänge,  mit  ihren  erstaunlichen  quintengängen  sind  ein  überlebsel 
eigenster  art :  wer  sie  etwa  von  geübten  isl.  Studenten  vortragen 
hörte,  hat  sich  gewis  ihrer  starken  würkung  nicht  entziehen 
können  und  lindet  das  vielcitierte  wort  des  l(i  jh.s  von  der  holden 
anmut  dieser  harmonieen  nicht  mehr  so  unbegreiflich,  so  haben 
die  isländischen  tonweisen  für  den  musikhistoriker  einen  einzig- 
artigen wert,  der  Däne  Angul  Hamraerich  hat  (IDÜO)  ihre 
Stellung  in  einer  sachkundigen  Studie  beleuchtet,  die  classische, 
vielleicht  erschöpfende  Sammlung  des  Stoffes,  nebst  ausführlichen 
einleitungen  und  erläuterungen,  stellt  der  vorliegende  band  dar. 
der  ref.,  wievvol  zu  keinem  urteil  auf  diesem  boden  berufen, 
unterzieht  sich  gern  dem  wünsche,  die  sachverständigen  auf  das 
opus  magnum  hinzuweisen,  übrigens  tindet  auch  der  litterar- 
historiker  manches  ihn  berührende,  zb.  s.  23  ff.  808  ff.  Hammerich 
hatte  das  gutachten  abgegeben  (s.  s.  vi),  die  unvergleichlichen 
materialien  sollten  in  einer  der  weitsprachen  veröffentlicht 
werden,  in  der  tat  muss  man  es  beklagen,  dass  hier  die  um- 
fänglichen textabschnitte  in  einer  spräche  erscheinen,  die  nur 
von  100,000  erdbewohnern  verstanden  wird,  die  paar  dutzend 
musikforscher  und  die  paar  dutzend  Islandforscher  decken  sich 
vielleicht  in  zwei  oder  drei  Individuen!  auf  der  andern  seite 
hat  das  werk  die  mission,  den  altheimischen  volksgesang  der 
Isländer  am  leben  zu  halten  gegen  das  seit  60  jähren  sich  vei- 
stärkende  eindringen  moderner  fremdlinge,  und  dazu  muss  es  in 
der  landessprache  geschrieben  sein,  zum  volksbuche,  das  wie  die 
neuen  billigen  sagabändchen  auf  dem  schaffe  des  bauers  stehn 
könnte,  ist  der  gewichtige  band  zu  teuer.  aber  die  schul- 
büchereien und  mancher  geistliche  herr  werden  ihn  kaufen  und 
ausleihen,  und  auf  diesem  wege  kann  wol  von  dem  buche  eine 
lebendige  würkung  ausgehn,  die  der  heimatliebende  Verfasser  noch 
über  den  wissenschaftlichen  erfolg  stellen  dürfte. 

Berlin.  A.  Heusler. 


Römveriasaga   (AM.  595,   4)   hg.   von   Badolf  Meissner   [Palaestra 
Lxxxviii].    Berlin,  Mayer  u.  Müller  1910.     330  ss.  8".  —  14  m. 

Meissner  hatte  schon  mit  einem  Vortrag  auf  dem  Hamburger 
philologentage  1905  den  anteil  an  der  Römveriasaga  zu  wecken 
gewust.  als  frucht  langer  geduldiger  arbeit  legt  er  uns  jetzt 
die  ausgäbe  dieses  werkes  vor,  das  aus  einem  abdruck  in 
KGislasons  Prover  bekannt  war  und  dessen  allgemeine  Stellung 
im  anord.  Schrifttum  Finnur  Jönsson  Lit.  bist,  ii  865  f  kurz  und 
im  wesentlichen  zutreffend  bestimmt  hatte,  dem  text  von  128 
Seiten  folgt  eine  litterargeschichtliche  behandluug  von  fast  200 
Seiten:    es    hat  tatsächlich  kein  aisl.  prosawerk,    selbst  Heims- 


240  HEUSLER    ÜBER    MEISSNER 

kringla,  Niäla  und  Eigla  nicht,  eine  so  gleichniäfsig  eingehnde 
Untersuchung  erhalten,  beinah  übei'kommt  einen  manchmal  ein 
bedauern,  dass  soviel  Sorgfalt  und  betrachtungskunst  an  ein 
Übersetzungswerk  gewandt  wurden,  ein  werk  das  den  gerühmten 
Schöpfungen  der  anord.  prosa  in  bescheidenem  abstände  folgt, 
aber  M.s  feinfühlige  darlegung  überzeugt  uns  doch,  dass  auch 
hier  viel  zu  lernen  ist.  es  hat  in  der  tat  grofses  Interesse  zu 
verfolgen,  wie  in  dieser  Übertragung  Sallusts  und  Lucans  die 
nüchterne  Sachlichkeit  des  Isländers  und  zugleich  die  ärmere, 
kindlichere  geistesverfassung  des  mittelalterlichen  menschen  sich 
messen  mit  der  rednerischen  wortfreude  und  der  reichen  geistigen 
beweglichkeit  antiker  schriftsteiler.  M.  trifft  den  gesichtspuuct 
glücklich,  wenn  er  von  zwei  einander  entgegenwirkenden  ten- 
denzen  spricht:  die  eine  ist  'das  streben  zum  nordischen  saga- 
stil',  die  andere  ist  das  bemühen,  die  unnordische  eigenart  der 
vorläge  festzuhalten  (s.  162.  218);  'in  dem  gegenspiel  dieser 
beiden  kräfte  offenbaren  sich  die  eigentümlichkeiten,  die  Vorzüge 
und  schwächen  der  Übersetzung,  die  bildung  und  der  geschmack 
des  Verfassers',  namentlich  macht  sich  dies  in  dem  Sallustteile 
geltend,  da  den  künstlichen  versen  Lucans  der  Übersetzer  von 
vornherein  selbständiger  gegenübertreten  muste.  aus  der  nach- 
bildung  der  reden  und  der  betrachtenden  teile  sieht  man,  'dass 
dem  Übersetzer  der  sprachliche  ausdruck  bis  zur  wörtlichen 
Übersetzung  wol  zu  geböte  steht,  es  ist  absieht,  wenn  er  die 
erzählung  .  .  .  möglichst  schlicht  gestaltet'  (s.  244 f). 

M.s  ausführungen  erfreuen  durch  die  ausdrucksvolle,,  durch- 
gebildete spräche,  durch  die  fähigkeit,  die  feinen  Schattierungen 
zu  treffen:  eine  kunst  die  der  verf.  schon  in  dem  buche  über 
die  Strengleikar  bewährt  hatte. 

Noch  ein  paar  kritische  bemerkungenl  M.  befolgt  die 
unisländische  silbenbrechung  te-kiff,  ski-pum.  die  isl.  art:  tek-iff, 
skip-um,  ist  gewis  nur  als  graphischer  usus  ohne  lautlichen 
hintergrund  zu  betrachten  (trotz  der  berufung  auf  die  skaldischen 
binnenreime),  aber  sie  ist  nun  einmal  so  eingewurzelt,  dass  man 
sie  ungern  verlassen  sieht,  jedenfalls  sind  trennungen  wie 
pi-öfa  vom  übel!  in  der  interpunction  der  anord.  prosa  hat 
man  keinen  einheitlichen  brauch  erreicht,  die  sagaausgaben  von 
Möbius  sind  mit  komm  ata  so  sparsam,  dass  der  zweck  der  Satz- 
zeichen, die  Verdeutlichung  des  logischen  gefüges,  vereitelt  wird, 
auch  in  den  ausgaben  der  anord.  sagabibliothek  scheint  mir  die 
Setzung  der  zeichen  oft  planlos  und  wenig  sachgemäfs.  M.  seiner- 
seits unterdrückt  die  kommata  vor  relativ-  und  svä  aö^-sätzen, 
zuweilen  auch  vor  substantivischen  oder  causalen  er-  und  sogar 
vor  pvi  rt^-sätzen  (s.  Ois.  452o.  72i7,  sieh  auch  81 4.)  warum 
diese  nebensätze  anders  behandelt  werden  sollen  als  die  mit  ef, 
mit  pött  usw.,  ist  unklar;  der  sjaitaktischen  Übersichtlichkeit 
dient    man    damit    nicht,     auch    die   mit    ok   angeknüpften  voll- 


RÖMVEKIASAGA  241 

ständigen  sätze  würde  ich  lieber  durch  komma  abgegrenzt  sehen, 
irrig  ist  die  satztrennung  Ti;:  lis  ef  havn  peger  vi&,  pä  .  .  . 
die  hsl.  Stellung  von  diarfliga  9i  ist  kaum  zu  rechtfertigen; 
muss  es  nicht  vor  pangaS  tu  oder  weiter  nach  vorn  gerückt 
werden?  s.  274-  lis  Ärinhiarnarlv.  —  zwei  wünsche  die  ich 
schon  zu  M.s  Strengleikar  vorbrachte  (Anz.  xxix  203  i),  bleiben 
auch  diesmal  unerfüllt:  dass  bei  den  stabenden  gruppen  (s.  285  ffj 
nach  möglichkeit  unterschieden  würde  zwischen  den  formelhaften, 
die  zugleich  eine  syntaktische  und  metrische  prägung  zeigen, 
und  den  freieren  augenblicksschöpfungen ;  sodann  dass  die  von 
Nygaard  behandelten  merkmale  des  'gelehrten  Stiles'  in  dem  ab- 
schnitte zum  satzbau,  s.  27 7 ff,  zu  ehren  gekommen  wären:  wir 
erfahren  nirgends,  wieweit  unser  denkmal  jenen  so  überaus  kenn- 
zeichnenden latinismen  huldigt;  auch  negative  angaben,  bezw. 
an  Führung  von  grenzfällen,  hätte  man  willkommen  geheifsen. 
nur  über  das  part.  präs.  bringt  M.  ein  paar  zeilen,  merkwürdiger- 
weise in  einer  note  (s.  2S3)  und  ohne  den  versuch,  die  latini- 
sierenden fälle  von  den  sprachgerechten  zu  sondern.  —  bedenken 
hab  ich  gegen  den  syntaktischen  absatz  s.  278 f.  das  Stichwort 
'Veränderung  der  w'ortstellung  nach  ok  im  nebensatz'  trifft  nur 
bei  dem  letzten  der  sechs  belege  zu.  die  beiden  ersten  beispiele 
zeigen  vielmehr  das  streben,  einen  relativsatz  zu  bilden  unter 
bedingungen,  wo  die  echte  aisl.  prosa  ihn  überhaupt  nicht 
bilden  kann  und  der  übliche  'Ixvd  süV  zu  dem  sprachfremden 
relat.  hverr  zu  greifen  ptiegt:  'die  ihn  verteidigt  hatten  .  .  . 
und  in  deren  schütze  er  dies  getan  hatte':  unserm  Übersetzer 
widerstrebt  offenbar  das  unnordische  ok  i  hverra  trausti,  und 
so  setzt  er  ok  l  peira  trausti,  womit  er  aus  der  h3'^potaxe 
hinausfällt,  in  dem  zweiten  beispiel  vermeidet  er,  mit  gleichem 
ergebnis,  ein  'gelehrtes'  hvar  (=  ubi)  durch  ein  pat:  die 
dritte  stelle  ist  eines  der  häufigen  anakoluthe  im  nachsatz: 
var  pä  statt  pä  var.  im  vierten  falle  ist  einfach  das  pronomen 
pii^r  pleonastisch  im  zweiten  relativsatze  widerholt;  der  sagastil 
hätte,  unbeirrt  durch  den  Casuswechsel,  den  satz  ohne  pcer  weiter- 
geführt: .  .  l  pcer  borgir,  er  kann  kaßi  unnid  af  konunginvm 
ok  honum  pdf  tu  [poer]  vel  komnar  ...  im  nächsten  beispiele 
sind  die  relativsatze  gut  isl.  verknüpft:  sü  borg,  er  Vacca  hmtir 
ok  fyrst  gekk  undir  Bbmveria  ok  Metelhts  hafdi  seit  hgfdingia 
yfir  ...  ein  'umbrechen  des  satzes  nach  ok'  findet  hier 
nicht  statt. 

Berlin.  A.  Heusler. 


A.  F.  D.  A.     XXXIV.  16 


242  BLÖTE    ÜBEK    WESTON 

The  legend  of  Sir  Perceval.  studies  iipun  its  orig-in,  developnient 
aud  Position  in  the  Arthurian  cycle.  b\'  Jessie  L.  Westoii.  vol.  ii. 
The  prose  Perceval  according  to  the  Modeua  ms.  iGriium 
library  uo.  19).  London,  David  Nutt,  1909.  xvi  und  übb 
SS.  8".   —   15  s. 

Der  zweite  band'  dieser Percevalstudien  ist  besonders  wiclitio- 
durch  den  abdruck  des  prosa-Perceval  einer  hs.  der  Biblioteca 
Estense  in  Modena-^,  dessen  text  so  nahe  mit  dem  des  Didot- 
Perceval  verwandt  ist,  dass  zwar  nicht  der  eine  aus  dem  andern 
geflossen  sein  kann,  aber  doch  beide  aus  der  gleichen  prosaquelle 
hervorgegangen  sein  müssen,  der  text  der  Modenahs.  ist  aber 
bei  aller  gedrängtheit  weit  klarer  und  sorgfältiger  als  der  des 
Didotms.  mit  seinen  fehlem,  misverständnissen  und  undeutbaren 
stellen,  und  gibt  infolgedessen  über  manches  aufschluss,  was  aus 
letzterem  nicht  näher  zu  bestimmen  war.  an  mehreren  stellen 
ergänzen  sie  sich,  die  partie  die  vf.  aus  der  Modenahs.  zum 
abdruck  bringt,  fängt  wie  der  Didot-Perceval  an  bei  der  krönung 
Arturs  und  endet  mit  dessen  verschwinden  in  Avalon.  schluss- 
worte:  Ici  fine  li  romans  de  Merlin  et  del  Graal.  der  Charakter 
der  Schrift  und  der  farbigen  majuskeln  scheint  auf  den  letzten 
teil  des  13  jh.s  zu  weisen,  vf.  gibt  den  text  wie  sie  ihn  vor- 
fand, correctur  von  offenbaren  Schreibfehlern  in  gewöhnlichen 
Wörtern,  sowie  interpunction  rührt  von  ihr  her.  —  um  die  vor- 
züglichkeit des  Modenatextes  deutlich  hervortreten  zu  lassen, 
druckt  sie  aus  der  Didoths.  eine  seite  (93  v.)  ab.  aus  der 
prosahs.  des  Tristan,  Paris  BN  ffr.  103,  gibt  sie  die  partie,  die 
in  sehr  kurzer  weise  von  Perceval  im  anschluss  an  den  Modena- 
und  Didottext  berichtet,  wer  sich  eingehender  mit  der  Gralsage 
beschäftigt,  wird  die  s.  9  — 122  gebotenen  texte  zu  schätzen 
wissen.  — 

Die  übrigen  zwei  drittel  des  bandes  enthalten  eine  anzah 
lehrreicher  erörterungen  über  zum  teile  höchst  wichtige  puncte 
den  Gral  und  die  Graldichtung  betreffend,  sie  behandeln  die 
gedichte  Roberts  von  Borron,  die  gefährlichen  sitze,  das  schloss 
mit  der  schachbrettdame  und  dem  weifsen  hirsch,  das  aufkommen 
und  die  bedeutung  von  Percevals  schwester  in  der  sage,  die 
hässliche  Jungfrau,  die  gefährliche  fürt,  das  turnier  beim  weilsen 
schloss,  den  tod  Arturs,  Percevals  besuch  auf  der  Gralbui-g 
nach  der  prosa,  und  Ursprung  und  eigentliches  wesen  des  Grales, 
mit  ausnähme  der  speciellen  capitel  vom  Gral  klingt  durch  alle 
derselbe  grundgedanke:  der  prosa-Perceval  der  Didot-  und 
Modenahss.    bewahren    den    3    teil    von    Borrons   cyclus,    dieser 

*  s.  besprechung  des  ].  bds.  Auz.  xxxii  (1908)  s.  24  f. 

'■^  die  hs.  wird  von  Pio  Rajna  in  seiner  Carduinoausgabe  1S73  erwähul. 
beschreibung  bei  Camus,  Notices  et  e.xtraits  des  mss.  francais  de  Modena, 
1891,  p.  47.  Camus  hatte  für  GParis  eine  abschrift  gemacht,  die  sich  aber 
im  nachlass  des  letzteren  nicht  vorfand,  miss  Westou  hat  eine  neue  ab- 
schrift angefertigt  (cap.  i). 


THE     LEGEND    OF    SIR    PEUCEVAL    II  243 

3  teil  Borrons  war  eine  dicliterische  bearbeituiig-,  Borron  be- 
nutzte aber  eine  schon  bestehnde  diclitiing  von  Perceval  und 
dem  Gral,  die  er  fast  unverändert  in  eine  geschichte  von 
Artur  aufnahm ;  auch  andere  dichter  schöpften  aus  diesem  vor- 
Borronschen  werk. 

Aus  zahlreichen  beispielen,  den  verschiedensten  partien  des 
Modenatextes  und  wo  nötig  des  Didottextes  entnommen,  kann 
vf.  zeigen,  dass  mehrere  stellen  der  ursprünglichen  prosa  auf 
eine  gereimte  Version  zurückgehen'.  da  in  der  Modena-  wie 
in  der  Didoths.  dem  Perceval  ein  Joseph  und  ein  Merlin  in 
prosa  vorangehen,  die,  soweit  sie  sich  vergleichen  lassen,  dem 
poetischen  Borron  entsprechen,  und  der  Merlin  ohne  in  der 
Schrift  sichtbare  Unterbrechung  in  den  Perceval  übergeht,  so 
nimmt  vf.  die  alte  Streitfrage  wider  auf,  ob  diese  von  ihr  er- 
schlossenen gereimten  stellen  nicht  einer  einheitlichen  vorläge 
angehören,  und  wenn  so,  ob  dann  dieser  poetische  Perceval  nicht 
von  Borron  stamme,  so  dass  Borron  in  der  tat  eine  trilogie 
verfasst  hätte,  gegen  die  ansieht,  dass  von  Borron  auch  eine 
Gralsuche  herrühre,  sind  wie  bekannt  nicht  unerhebliche  bedenken 
geäufsert.  vf.  entscheidet  sich  für  Borron  als  urheber,  aller- 
dings mit  rein  äufsern  gründen:  die  Modena-  und  Didothss.  bieten 
den  Joseph,  den  Merlin  und  den  Perceval,  die  beiden  letzten 
ohne  Unterbrechung  in  der  schrift  (dass  andre  prosahss.  keine 
Gralsuche  haben,  berücksichtigt  vf.  nicht),  und  spätere  dichter  be- 
rufen sich  auch  für  die  Gralsuche  neben  Map  auf  Borron.  sie 
stölst  aber  auf  zwei  Schwierigkeiten,  von  denen  die  eine  von 
ihr  selber  herrührt:  1.  die  reime  und  verse,  die  sie  aus  dem 
prosatext  des  Perceval  durch  recoustruction  gewinnt,  sind  grofsen- 
teils  von  besserer  art  als  die  unbeholfenen  verse  Borrons;  2.  der 
3  teil  ist  in  mehreren  angaben  nicht  im  einklang  mit  dem 
Joseph  und  dem  Merlin  und  scheint  keine  ausführung  des  Pro- 
gramms zu  sein  das  Borron  selbst  aufstellte,  —  eine  erschein ung 
die  zu  dem  schluss  geführt  hat,  dass  der  prosa-Perceval  nicht 
auf  Borron  zurückzuführen  ist.  vf.  haut  den  knoten  kurzent- 
schlossen durch:  Borron  habe  schon  eine  Perceval- Graldichtung 
vorgefunden,  aus  der  er  seinen  3  teil  aufbaute,  ohne  dass  er 
das  einzelne  genügend  mit  den  zwei  vorangehnden  teilen  in 
einklang  gebracht  hätte,  die  besseren  reime  und  verse  sowie 
die  abweichuugen  vom  Joseph  und  vom  Merlin  erklären  sich  aus 
dieser  vor-Borronschen  dichtung.  diesen  oberflächlich  geänderten 
Perceval  habe  er  mit  Arturpartieu  aus  einer  französischen  reim- 
chronik  verbunden,  in  der  in  romanhafter  weise  von  Artur  ge- 
handelt wurde,  einer  chronik  die  zwar  nicht  die  von  Wace 
gewesen  sein  könne,  aber  wie  vf.  zeigt,  doch  einen  ähnlichen 
Charakter  hatte,     vf.  denkt  an  den  einmal  im  Merlin  genannten 

'  Heinzel  deutete  Franz.  Gralromane  s,  121  auf  Yt'rniutliche  benutzung 
dichterischer  beärbeitungen. 

IG* 


211  BLÖTB    ÜBER    WESTON 

Martin  von  Rocester,  von  dem  übrigens  niclits  weiter  bekannt  ist, 
als  dass  er  translata  de  latin  en  vornan  eine  cstoirc  de  Bretagne, 
qiie  ort  appelle  Brutus^  (vf.  s.  326). 

Dass  die  Artuspartien  der  prosa  auf  eine  mit  Wace  ver- 
wante  chronik  zurückgehn,  ist  nach  der  von  vf.  angeführten 
parallelstellen  nicht  zweifelhaft,  nicht  so  glücklich  ist  sie  mit 
ihrem  vor-Borronschen  Percevalgedicht. 

Ich  nehme  für  dieses  Percevalgedicht  als  ausgangspunct  das 
8  cap.  The  visit  to  the  Grail  castle.  vf.  nennt  beider 
behandlung  von  Percevals  besuch  auf  der  Gralburg  s.  21 5  ff 
einige  züge  der  prosa,  von  denen  sich,  allerdings  in  sehr  ab- 
weichender gestalt,  der  eine  in  dieser,  der  andere  in  jener  be- 
arbeitung  der  sage  widerfindet ''^,  einmal  sogar  in  ein  paar  zeilen 
mit  einer  gewissen  ähnlichkeit  im  ausdruck  übereinstimmend  mit 
Wauchier  de  Denain.  sie  zieht  daraus  den  schluss,  dass  die 
prosa  dem  von  ihr  angenommenen  vor-Borronschen  Perceval-Gral- 
gedicht  auch  im  Gralbesuch  am  nächsten  stehe,  weil  die  prosa 
auf  kurzem  räume  alle  diese  züge  biete;  die  anderen  Versionen 
hätten  demnach  bedeutende  äuderungen  vorgenommen  und  so  die 
sage  aus  ihrem  ursprünglichen  Charakter  verrückt.  —  gesetzt, 
wir  hätten  wörtliche  Übereinstimmung,  würde  dann  die  pi'osa 
Avürklich  einen  so  weitreichenden  schluss  gestatten,  dass  sie  einen 
alten  text  in  annäherad  reinster  gestalt  bewahrt?  ich  glaube, 
dass  es  gerade  einen  einschneidenden  zug  gibt,  der  vielmehr  auf 
eine  ziemlich  späte  bearbeitung  hinweist,  einen  zug  den  vf.  nicht 
nennt,  den  ich  aber  besonders  hervorheben  möchte,  die  prosa 
ist  nämlich  auffallend  unbehilflich  in  der  darstellung  des  ersten 
besuches,  den  P.  auf  der  Gralburg  macht,  sowol  in  bezug  auf 
das  was  diesen  besuch  einleitet,  als  auf  das  was  bei 
diesem  besuch  geschieht.  wie  die  prosa  erzählt,  verweilt 
P.,  nachdem  er  das  elterliche  haus  verlassen,  kurze  zeit 
am  hof  Arturs,  um  dort,  wie  sein  vater  es  wünschte,  das  ritter- 
handwerk  zu  erlernen,  er  setzt  sich  gegen  Arturs  wünsch  auf 
einen  verbotenen  sitz,  der  sich  gleich  darauf  spaltet,  eine  ge- 
heimnisvolle stimme  verkündet  dabei  folgendes:  der  stein  wird 
sich  nicht  eher  zusammenfügen,  als  bis  einer  von  der  tafeirunde 
so  grofse  taten  vollbringt,  dass  er  auf  die  Gralburg  kommt; 
wenn   er  dann  fragen  wird,    was  mau  mit  dem  Gral  mache  und 

^  auch  Fletcher  Arthurian  Material  s.  144  n.  11  kennt  von  Martin 
von  ßocester  blofs  den  namen  und  zwar  nur  aus  dem  Merlin. 

^  Wauchier  de  Denain  (in  der  prosa  weisen  zwei  kinder  in  einem 
bäum  Perceval  den  weg  zur  Gralburg;  dem  Gralkönig  sagt  P.,  dass  er  die 
nacht  vorher  im  walde  verbracht  hat);  Manessier  (2  taill^ors  d'  argent); 
Perlesvaus,  Chastel  merveilleus,  Ordne  (3  blutstropfen);  Bleheris,  Crunc, 
(der  held  hat  einen  unüberwindlichen  schlaf);  Chr^tien  (fischerkönig  zeigt 
ihm  den  weg;  P.  glaubt  sich  vom  künig  irregeführt,  weil  die  bürg 
nicht  schnell  erscheint;  am  nächsten  morgen  ist  die  Gralburg  ver- 
einsamt) usw. 


THE    IJSGEND    OF    SIK    PEEGEVAIj    II  245 

wem  man  damit  diene,  wird  die  schwäche  und  die  Ivvankheit  von 
dem  reichen  tischerkönig-  weggenommen,  der  stein  wider  zu- 
sammengefügt werden,,  und  die  bezauberungen,  die  seit  dem  tage 
wo  P.  sich  auf  den  gefährlichen  sitz  setzte,  in  'Bretagne'  ent- 
standen sind,  schwinden  (s.  22).  P.  schwört,  und  nach  ihm  alle 
anderen  ritter  der  tafeirunde,  dass  sie  nicht  zwei  nachte  liinter- 
einander  unter  demselben  dach  verweilen  wollen,  bis  sie  die 
Gralburg  gefunden,  was  also  bei  Chretien  und  Wolfram  Per- 
ceval,  beim  Pseudo-Wauchier  (vf.s  Bleheris-version)  Gawain  erst 
nach  ihrem  ersten  besuch  erfahi-en,  wird  hier  in  aller  deut- 
lichkeit  an  den  anfang  der  erzählung  gestellt,  die  verschiedenen 
ritter  kennen  also  das  programm:  es  rauss  auf  der  Gralburg 
gefragt  werden,  nur  dadurch  werden  alle  übel  aufhören  und  der 
tischerkönig  gesund  werden.  —  nun  folgen  die  inconsequenzen. 
P.  trennt  sich  bald  von  den  anderen  und  macht  auf  eigene  faust 
mehrere  abenteuer  durch  (zb.  mit  der  schachbrettdame),  bis  er 
zu  seiner  Schwester  kommt,  die  er  anfangs  nicht  widererkennt, 
ebenso  wenig  wie  sie  ihn,  obgleich  er  vor  dem  elterlichen  liause 
steht,  sie  führt  ihn  zum  oukel-eremiten,  der  in  der  nähe  wohnt, 
und  sowol  dieser  als  die  Schwester  wollen  wissen,  ob  P.  schon 
auf  der  Gralburg  gewesen  sei.  von  beiden  erfährt  er,  dass  dort 
sein  grofsvater,  der  vater  seines  vaters,  wohne,  eben  der  reiche 
tischerkönig  der  den  Gral  bewahre;  dass  er,  P.,  vom  Gralge- 
schlechte  und  bestimmt  sei  des  grofsvaters  nacbfolger  zu  werden; 
sobald  P.  auf  die  Gralburg  käme,  würde  die  schwäche  und  die 
krankheit  des  fischerkönigs  aufhören,  ihm  das  gefäss  übergeben 
werden  und  P.  herr  des  blutes  unseres  herrn  Jesus  Christus  sein 
(s.  41),  man  fühlt  das  widerspruchsvolle:  P.s  vater  hat  seinen 
söhn  widerholt  auf  Arturs  hof  gewiesen,  dass  er  sich  dort  zum 
ritter  ausbilde,  aber  er  soll  immer  davon  geschwiegen  haben, 
dass  P.  prädestiniert  gewesen  wäre,  seinen  grofsvater,  der  vom 
enkel  hülfe  erwartet,  auf  der  Gralburg  abzulösen,  in  einem 
anderen  cap.  hat  vf.  zu  beweisen  gesucht,  dass  die  Schwester  P.s 
erfunden  sei,  den  beiden  auf  seine  Gralherkunft  aufmerksam  zu 
machen.  —  von  einer  auf  der  Gralburg  zu  stellenden  frage  ist 
in  den  Worten  des  einsiedlers  oder  der  Schwester  nicht  die  rede, 
sehr  auffallend,  da  P.  den  grofsvater  nicht  so  sehr  durch  sein 
erscheinen  als  durch  die  frage  heilen  soll,  und  noch  ein  Wider- 
spruch: der  vater,  Alain  li  Gros,  hat  P.  zu  Artur  getrieben, 
damit  er  ritterschaft  lerne,  der  onkel-einsiedler  verbietet  ihm 
dagegen  je  einen  ritter  zu  töten,  und  lieber  viel  zu  dulden  (s.  41). 
so  gerüstet  zieht  P.  nun  Aveiter  auf  die  Gralsuche,  stufst  erst 
auf  den  ritter  mit  der  hässlichen  dame,  dann  auf  die  gefährliche 
fürt,  da  gelangt  er  eines  tages  zu  einem  vierarmigen  kreuzweg. 
ungefragt  weisen  ihm  zwei  auf  einem  bäum  sitzende  kinder  den 
weg  zur  Gralburg  (bei  Wauchier  haben  wir  etwas  ähnliches 
mit  einem  kinde,  das  aber  den  weg  zur  Gralburg  nicht  kennen 


246  BLÖTE    ÜBER    WESTON 

Avill.  P.  ist  hier  der  fragende,  der  früher  schon  auf  der  Gral- 
hwrg  war),  indem  er  noch  zweifelt,  ermahnt  ihn  ein  schatten 
mit  Merlins  stimme,  dass  er  den  worten  der  kinder  glauben  solle, 
in  einer  lieblichen  ebene  bezeichnet  ihm  der  alte  üscherkönig, 
der  sich  mit  noch  drei  anderen  rittern  in  einem  boot  befindet, 
den  weg  zu  seiner  bürg  (er  nennt  sie  abei-  nicht  Gralburg),  die 
P.  endlich  erreicht,  nun  sollte  man  nach  allem  was  die  prosa 
uns  erzählt  hat  meinen,  P.  wisse,  dass  er  sich  auf  der 
Gralburg  befindet,  dass  der  kranke  schw'ache  greis,  der  von  vier 
dienern  hereingetragen  wird,  um  ihn  zu  begrüfsen,  der  fischer- 
könig  und  sein  grofsvater  ist,  dass  die  schüssel,  die  er  mit  der 
drei  tropfen  (M.  3,  D.  1)  blutenden  lanze  —  von  der  lanze  war 
übrigens  bis  dahin  noch  nicht  die  rede  —  und  zwei  tellern 
herein  und  nachher  wider  hinaustragen  sieht,  der  Gral  ist,  dass 
er,  wie  die  stimme  am  hofe  Arturs  befahl,  zu  fragen  hat,  f/iioi 
on  en  fait  et  cid  on  en  sert,  de  cel  Graal,  und  dass  dann  der 
könig  geheilt  und  andere  wunderbare  dinge  geschehen  werden. 
P.  fragt  aber  nicht,  er  fragt  sogar  nicht,  als  der  könig  ihn 
en  maintes  manieres  de  jyaroles  dazu  anregt,  und  nicht  etwa  ein 
Zauber  hält  ihn  ab,  wie  zb.  im  Perlesvaus  Gawain,  der  unter 
dem  eindruck  der  sich  steigernden  wunder  sein  klares  denken 
verliert,  die  prosa  gibt  zwei  gründe  zugleich  an,  die  gleich 
bedenklich  sind  und  einer  ganz  anderen  Umgebung  entnommen 
sein  müssen:  seine  mutter  (in  der  Didoths.  ein  prodome,  bei 
dem  er  gebeichtet  hat)  habe  ihm  gesagt,  dass  er  nie  zu  viel 
sprechen  und  nie  zu  viel  fragen  solle;  und  sodann  sei  P.  so  müde 
gewesen,  dass  er  fast  auf  den  tisch  fiel,  trotzdem  beschäftigte 
ihn  molt  loncjement  die  schüssel  und  noch  mehr  die  lanze,  als  der 
könig  sich  entfernt  hatte,  und  noch  auffallender  ist  die  bemerkung 
in  der  erzählung,  es  sei  dem  fischerkönig  schon  öfters  begegnet, 
dass  ritter,  die  er  herbergte  und  vor  denen  er  den  Gral  und  die 
anderen  reliquien  vorübertragen  liefs,  nicht  fragten,  als  P.  dann 
am  folgenden  tag  ungefähr  unter  den  gleichen  umständen  wie 
bei  Chretien  die  bürg  verlässt,  erfährt  er  von  einer  schönen  frau 
im  walde  (sie  weinte  und  hatte  grol'se  trauer,  warum?  wird  uns 
nicht  gesagt),  dass  er  in  dem  hause  des  reichen  fischerkönigs 
gewesen  sei,  dass  er  den  Gral  dreimal  vor  sich  habe  tragen 
sehen  (in  würklichkeit  nur  zweimal),  und  dass,  wenn  er  nicht 
gefragt  habe,  es  ein  wunder  sei,  dass  er  nicht  den  tod  erlitten, 
sie  erklärt  sein  misgeschick  daraus,  dass  er  noch  nicht  reif  sei 
(s.  62 f).  und  widerum  auffallend:  nicht  ein  einziges  wort  spricht  P., 
w'odurch  er  zeigt,  dass  ihm  noch  erinnerlich  gewesen  wäre,  was 
er  bei  Artur  und  der  Schwester  und  dem  onkel  erfahren  hat. 
nachdem  die  schöne  frau  gesprochen  hat,  P.  s'  en  csmcrvella 
molt  et  en  ot  si  grant  duel  qu'  il  en  commenga  a  larmier  (ebd.). 
—  das  alles  macht  den  eindruck,  dass  ein  unbeholfner  autor 
mit  schon  vorhandenen,    ausgebildeten  motiven  arbeitete,    die  er 


THE  LEGEND  OF  SIR  PERCEVAL  n  247 

nicht  richtig-  zu  verwenden  wüste,  oder  in  einer  neuen,  nicht 
gerade  glücklichen  Verbindung  vorführen  wollte.  nach  der 
theorie  der  vf.  hätten  allerdings  die  späteren  dichter  hier  zu 
trennen  gewust,  was  sich  besser  zu  einem  ersten,  was  zu  einem 
zweiten  besuch  eigne.  —  und  nun  der  zweite  besuch,  wie 
traurig  leer  ist  da  unser  text.  P.  wandert  sieben  jähre  umher, 
natürlich  ohne  sich  um  Gott,  kirche  oder  kloster  zu  kümmern 
(wie  das  so  kam,  erfahren  wir  nicht);  an  einem  karfreitag  trifft 
er  auf  damen  und  herren,  die  ihn  ermahnen  nicht  bewaffnet 
umher  zu  reiten,  und  nun  gelangt  er  wider  zum  onkel-eremiten. 
obgleich  er  zwei  monate  bei  diesem  verweilt,  erfahren  wir  doch 
erst  am  ende,  dass  P.  das  haus  seines  grolsvaters  aufsuchen 
wolle,  dinge  höherer  Ordnung  werden  nicht  besprochen,  nur 
rasch  werden  ein  paar  familienangelegenheiten  behandelt:  erst 
gegen  ende  vernimmt  P.,  dass  seine  Schwester  gestorben  —  eine 
Unart  P.s  scheint  in  dieser  version  seine  vergesslichkeit  zu 
sein  — ,  und  dass  sie  ganz  in  der  nähe  der  klause  begraben 
liege;  dass  das  väterliche  erbe  ihm  dadurch  zugefallen,  zieht  ihn 
nicht  an.  nun  folgt  noch  das  breit  erzählte  turnier  auf  dem 
weifsen  schlösse,  und  dann  erscheint  ihm  Merlin.  Gott  zürne  P.,  weil 
dieser  seinem  gelübde  untreu  geworden,  denn  er  habe  bei  einer 
ritterlichen  familie  zwei  nachte  unter  demselben  dach  verbracht, 
in  unserem  falle  sehr  inconsequent  vom  lieben  Gott,  denn  Merlin 
hatte  sich  nicht  gezeigt,  als  P.  sieben  jähre  lang  ohne  Gott  oder 
kii'che  umherzog,  oder  als  er  zwei  monate  bei  seinem  onkel 
wohnte.  Merlin  führt  ihn  trotz  alledem  auf  die  Gralburg,  ohne 
dass  Merlin  ihn  daran  erinnert,  tut  P.  jetzt  die  frage,  der  grols- 
vater  wird  sofort  gesund,  stirbt  aber  dennoch  drei  tage  später. 
P.  ist  Gralkönig,  sogar  reicher  fischerkönig  (s.  84),  die  be- 
zauberungen Britanniens,  wovon  wir  nirgend  im  text  eine  Vor- 
stellung bekommen,  hören  auf,  und  der  gespaltene  sitz  bei  Artur 
wird  wider  ganz,  die  ritter  der  tafeirunde  wollen  jetzt  Artur 
verlassen,  denn,  da  die  bezauberungen  Britanniens  ein  ende  ge- 
nommen, gebe  es  für  sie  nichts  mehr  zu  tun.  grofse  freude 
macht    es  ihnen  jetzt,    als  Artus  ihnen  einen  krieg  im  auslande 

ankündigt 

Und  diese  Gralsuche  —  ich  habe  die  sache  etwas  ausführ- 
lich gegeben,  dabei  freilich  noch  auffallende  einzelheiten  aus- 
gelassen, wie  etwa,  dass  der  Gral  von  einem  valles  getragen 
wird  —  sollen  wir  nach  unserer  vf.  als  eine  übei'lieferung  gelten 
lassen,  die  ein  ursprünglicheres  vor-Borronsches  Perceval-Gral- 
gedicht  am  genauesten  widergebe,  lediglich  weil  verschiedene 
andere  texte  den  einen  oder  anderen  zug  der  Gralbesuche  bieten, 
der  auch  in  der  prosa  mit  anderen  zusammen  auf  kurzem  räum 
vorkommt?  ich  lasse  nicht  aufser  acht,  dass  vf.  auch  andere 
Partien  vergleicht,  aber  das  resultat  würde  auch  hier  das  gleiche 
sein,     was    bedeuten   diese  vereinzelten  züge  gegen  den  schwer- 


248  BLÖTE    ÜBEB    WESXON 

wiegenden  umstand,  dass  die  prosa  den  lielden  auf  der  Gralburg 
und  nachher  Situationen  durchmachen  lässt,  die  nur  begreitlich 
werden,  wenn  er  vorher  der  dinge,  die  seiner  harrten,  unkuntlig 
war,  und  dass  infolgedessen,  alles,  was  mit  den  Gralbesuchen 
zusammenhängt,  verrät,  dass  unser  text  motive,  die  anfangs 
anders  verteilt  waren,  vor  den  ersten  besuch  gedrängt  hat,  trotz- 
dem der  autor  an  zwei  besuchen  festhielt?  alle  theoretischen 
betrachtungen  bringen  uns  über  diesen  puuct  nicht  hinweg,  dem 
unbeholfenen  autor  fehlte  das  richtige  augenmafs  für  die  bedeutung 
seiner  motive.  ich  fürchte,  dass  wir  an  stelle  der  folgerung  der 
Vf.,  wir  hätten  hier  mit  einem  ursprünglichen  Charakter  der 
sage  zu  tun,  sogar  mit  einem  vor-Chretienschen,  eine  andere 
_  einsetzen  müssen:  der  widerspruchsvolle  Charakter  der  Gralpartieen 
in  der  prosa  weist  auf  ungeschickte  verquickung  verschiedener 
schon  vorhandener,  besser  ausgearbeiteter  und  besser  benutzter 
motive,  die  motive  müssen  also  anderen  dichtungen  entnommen 
sein,  und  wenn  s.  68  der  prosatext  behauptet,  dass  Grestiens 
de  Troies  ne  li  autre  troveor,  die  vom  Gral  dichteten,  einen  zweiten 
besuch  beim  onkel-eremiten  nennen,  so  sind  wol  unter  'li  autre 
troveor'  verschiedene  dichter  nach  Chr^tien  zu  verstehen,  dh. 
mag  nun  die  prosa  den  stoff  aus  den  dichtem  zusammengelesen 
haben,  mag  sie  eine  bearbeitung  einer  poetischen  Version  sein, 
die  composition  wie  sie  die  prosa  bewahrt  ist  wol  frühestens 
im  2  viertel  des  13  jh.s  entstanden,  die  prosa  gibt  demnach 
nicht  einen  dritten  teil  Borrons  wider,  und  zu  ähnlichem  resultat 
kam  1888  auf  anderem  wege  auch  ANutt  in  seinen  'Studies  on 
the  legend  of  the  holy  GraiF,  wo  er  s.  96  seine  ansieht  also 
formuliert:  'the  Didot-Perceval  is  probably  the  latest  in  date 
of  all  the  members  of  the  cycle".  — 

Die  cap.  10  und  11  (s.  249 — 316)  handeln  von  der  ursprüng- 
lichen natur  des  Grales  und  der  lanze,  sowie  von  deren  weiterer 
entwicklung.  sie  führen  aus,  was  vf.  schon  am  ende  des  i  bds. 
angedeutet  und  eingehender  in  einem  in  der  Folk-Lore  Society 
gehaltenen  vertrag  -  ausgesprochen  hatte,  die  combinationen  sind 
neu  und  interessant,  vf.  ist  am  schluss  der  meinung,  dass  sie 
den  einzig  richtigen  weg  aufgedeckt  und  dass  nur  noch  der  ge- 
lehrte fehlt,  der  'was  at  once  a  thorough  classicist,  a  trained 
folk-lorist,  a  theologian,  a  mystic,  and  who  had  a  first-hand 
knowledge  of  the  Grail  texts',  dem  ihre  Studien  in  die  bände 
fielen,  um  dann  ihre  andeutungen  mit  seinem  reichen  wissen  aus- 
zuarbeiten (s.  312).  cap.  10,  'The  development  of  the 
Grail  traditio n',  wurde  vor  der  vei'öffentlichung  von  JBddier, 
Ferd.  Lot  und  WANitze  durchgelesen,  und  unabhängig  von 
einander  sprachen  diese  gelehrten  sich  dahin  aus,  dass  der  Inhalt 
unverweilt  dem  drucke  übergeben  werden  sollte  (s.  xi). 

'  ähnlich  Heinzel  aao.  s.  120.  '  Jessie    L,  Wtstou,    The  Grail 

and  the  rites  of   Adonis,  Folk-Lore  18  (1907),  s.  283—305. 


THE    LEGEND    OF    SIK    PEKCEVAL    11  2  1  !J 

Vf.  glaubt  iii  der  erzählung  Wauchiers  (vf.  19  655 ff  ed. 
Potvin)'  die  älteste  erreichbare  gestalt  der  Gralsage  zu  erkennen, 
denn  diese  gestalt  gehe  auf  die  erzählung  des  von  Wauchier 
angegebenen  Bleheris,  des  wälschen  fabulators  zurück  und  dieser 
sei  nach  neuesten  Untersuchungen  urkundlich  von  1091  bis  1147 
verfolgbar.  die  ausführungen  der  vf.  wollen  folgendes  wahr- 
scheinlich machen:  die  bei  Bleheris  mitgeteilten  Vorgänge  und 
benennungen  sind  aus  einem  dem  antiken  Adoniscult  ähnlichen 
natur-  und  lebeuscult  hervorgegangen;  die  Gralsage  des  Bleheris 
enthält  occulte  lehren  vom  wesen  alles  lebens.  bei  Bleheris 
trägt  die  erzählung  noch  nicht-christliches  gepräge,  nur  die  lanze 
scheint  bei  ihm  erst  christianisiert  zu  sein,  an  den  Adoniscult 
erinnern  die  bahre  mit  dem  toten  ritter.  der  aufwand  au  ritualer 
handluug  bei  der  bahre,  die  weinenden  frauen,  die  gemeinschaft- 
liche feier  mit  einem  nn'steriösen  gefäss,  das  durch  den  tod  des 
ritters  auf  der  bahre  verödete  land.  der  Gral  erscheint  in  der 
erzählung  unter  drei  aspecten,  in  Übereinstimmung  mit  den 
lehren  des  occultismus:  als  blutgefäss  in  Verbindung  mit  der 
lanze,  als  speisespender,  als  Inbegriff  alles  geistigen  lebens. 
Gawain  kann  nur  die  zwei  ersten  gestalten  des  Grals 
schauen ;  die  dritte  nicht,  weil  er  die  entscheidende  probe,  die 
zusammenfügung  des  gebrochenen  Schwertes,  nicht  besteht,  was 
er  auf  dem  wege  zur  Gralburg  an  Schrecknissen  durchmacht, 
sind  proben,  wodurch  er  wenigstens  des  anblicks  der  zwei  ersten 
stufen  teilhaftig  wird,  seine  frage  nach  der  lanze  bringt  das  land 
teilweise  wider  zur  fruchtbarkeit.  Gawains  erlebnisse  auf  der 
Gralburg  erinnern  an  eine  verfehlte  einweihung.  wir  haben  an- 
zeichen  in  anderen  sagen,  dass  Gawain  später  auf  dieGralburg  zu- 
rückkehrt und  somit  als  der  eigentliche  und  ursprüngliche  Gralfin- 
der betrachtet  werden  muss,  oder  vielmehr  denkt  vf.  sich  die  sage 
so,  dass  Gawain,  wahrscheinlich  ein  Sonnengott,  von  anfang  an 
der  Gralgewiuner  war,  und  daher  alle  proben  die  er  vorher  be- 
steht, nur  bestätigungen  seiner  göttlichen  natur  sind,  durch 
besondere,  von  vf.  näher  angegebene  umstände  wurde  er  durch 
Perceval  ersetzt,  vf.  sieht  in  der  erzählung  des  Bleheris  nicht 
nur  die  ältest  erreichbare  form  der  Gralsage,  sondern,  wie  ge- 
sagt, die  in  handlung  und  benennungen  entsprechende  widergabe 

'  Diese  erzählung  setzt  ein  mit  dem  ritter,  der  bei  hereinbrechendem 
abend  an  Arturs  gemahlin  und  ihrem  hof  ohne  zu  griilsen  vorbeireitet,  weil 
er  einen  auftrag  auszuführen  hat  der  keinen  aufsehub  duldet,  als  der  ritter  au 
Gawains  seite  getötet  wird,  übernimmt  dieser  die  ausführung  des  auftrags, 
ohne  dessen  Charakter  zu  kennen.  Gawain  macht  nun  verschiedene  schauer- 
liche abenteuer  durch,  die  hohe  anforderungen  an  seinen  persönlichen  mut 
stellen,  bis  er  um  die  mitternacht  des  zweiten  tages  die  Gralburg  erreicht 
und  deren  wunder  schaut,  unter  diesen  einen  toten  ritter  auf  einer  bahre, 
während  der  Gralkönig  von  den  wundern  erzählt,  schläft  G.  vor  müdigkeit 
ein.  er  erwacht  am  nächsten  morgen  am  meeresstrand.  die  Gralburg  ist 
verschwunden. 


250  BLÖTE    ÜBER    WESTOX 

eines  der  antiken  Adonisfeier  ähnlichen  naturcults.  denn  die 
Adonisfeier  galt  dem  gotte,  mit  dessen  tod  alles  Wachstum  auf- 
hörte, sein  abbild  wurde  zum  meere  getragen,  weinende  frauen 
bildeten  den  charaktei'istischen  zug  der  feier;  man  war  der  an- 
sieht, dass.  kehre  der  gott  zum  leben  zurück,  auch  die  natur 
und  mit  ihr  die  menschheit  wider  auflebe,  aber  von  dem  Adonis- 
cult  kennen  wir  nur  die  äufsern  Vorgänge,  diese  waren  öffentlich, 
für  die  grofse  menge  der  gläubigen  bestimmt,  denen  sie  auch 
genügten,  es  muss  aber  auch  ein  höheres  wissen  und  ein  tieferes 
deuten  vorhanden  gewesen  sein,  in  welches  nur  die  reiferen  ein- 
geführt wurden,  wer  eingeweiht  werden  sollte,  muste  proben 
bestehn,  die  ihn  des  höheren  Verständnisses  würdig  zeigten, 
reflexe  davon  finden  sich  bei  Gawain  in  der  Bleherissage :  die 
Schrecknisse,  bevor  er  zur  Gralburg  kommt,  und  die  schwertprobe, 
ebenso  wie  ein  solcher  naturcult  den  drang  zur  erkenntnis  der 
geheimuisse  alles  lebens  ausdrückt,  so  bedeutet  die  Gralsage  in 
ihrem  tiefsten  wesen  nur  das  jedem  menschen  angeborene  ver- 
langen, die  quelle  alles  lebens  zu  erkennen  und  zu  erfassen.  — 
ein  solcher  naturcult  muss  in  Wales  bestanden  haben,  verborgen 
und  in  der  stille  geübt,  seit  dem  siegreichen  vorgehen  des 
Christentums,  daher  erklärt  sich,  dass  die  bürg  unauffindbar 
ist  für  solche  die  nicht  auserwählt  sind,  wie  etwa  Gawain.  — 
Bleheris  oder  ein  anderer  Walliser  hat  in  seiner  Gralerzählung 
die  geheime  naturverehrung  seiner  landsleute  niedergelegt.  — 

Durch  ihre  hypothese,  meint  die  gelehrte  vf.,  erkläre  sich 
manches,  was  bis  jetzt  jeder  erkläruug  spottete,  so  der  name; 
'fischerkönig'.  nach  den  lehren  des  mittelalterlichen  Symbolismus 
sowie  nach  den  ansichten  moderner  occultisteu  —  vf.  verdankt 
hier  manchen  aufschluss  einem  praktischen  anhänger  des  occul- 
tismus,  der  nie  vom  Grale  gehört  hatte,  dessen  mitteilungen 
demnach  besondere  erwägung  verdienen  dürften,  weil  sie  unge- 
sucht eine  erkläruug  bieten  —  gehe  alles  geistige  und  materielle 
leben  in  drei  weiten  vor  sich,  die  sich  aber  gegenseitig  beein- 
flussen: die  weit  des  reinen  geistes,  die  weit  wo  geist  und 
materie  verbunden  erscheinen,  die  weit  der  materie.  jede  dieser 
weiten  habe  ihren  eigenen  hüter  und  ihr  eignes  symbol.  aus 
dem  umstand  dass  die  oberste  weit,  die  des  lebensprincips  oder 
des  lebensursprungs,  wenn  die  fülle  der  zeit  kommt,  aus  ihrem 
sitz  —  der  stern  Alkyone,  eine  der  Plejaden  —  ihr  goldnes 
netz  durch  den  weltenraum  entsendet  und  sich  selbst  ein  kleid 
webt,  folgert  vf.  oder  ihr  occultistischer  berater',  dass  der  Wächter 

1  ich  schliefse  das  aus  s.  258.  klar  ist  die  sache  eben  nicht,  in  den  par- 
tieen,  die  sich  mit  den  occulten  ansichten  beschäftigen,  ist  widerholt  nicht 
ersichtlich,  ob  der  leser  zu  tun  hat  mit  allgemeinen  ansichten,  oder  mit 
ansichten  einer  bestimmten  schule,  oder  mit  der  ansieht  des  occultistischen 
beraters,  oder  mit  den  Schlüssen  der  vf.  selbst,  dass  das  wort  'fischerkönig' 
bei    occultisten  ein  gewöhnlicher  begriff  wäre  oder  gewesen  wäre,    ist  mir 


THE  LEGEND  OF  SER  PEECEVAL  H  251 

dieser  obersten,  rein  geistigen  weit  der  fischerkönig  sei,  sein 
Symbol  der  heilige  Gral  (der  alte  Titurel  im  Parzival  wäre 
sein  typus);  in  der  zweiten  weit  sei  alsdann  der  fischerkönig  in 
menschlicher  gestalt  der  hüter,  er  ist  ki-ank  und  behindert  in 
seinen  bewegungen,  denn  der  geist  fühle  sich  schwer  in  den 
banden  des  körpers;  dieser  könig  behüte  den  reichen  Gral,  den 
Speisespender  als  erhalter  der  weit,  in  der  wir  leben,  dei*  hüter 
der  dritten  stufe  ist  nicht  so  leicht  zu  finden,  vf.  entdeckt  ilin 
aber  in  dem  feindlichen  bruder  im  Perlesvaus.  in  welchem,  wie  es 
heilst,  so  viel  böses  war  als  in  den  anderen  gutes ;  er  sei  der 
Wächter  der  lanze  und  des  gefässes,  der  beiden  s3'mbole  der 
Zeugung,  denn  die  lanze  sei  das  männliche  prinzip,  das  gefäfs 
das  weibliche,  das  unablässig  fliefsende  blut  das  leben.  —  die 
natur  des  gebrocheneu  Schwertes,  das  Gawain  auf  der  Gralburg 
zusammenfügen  muss,  werde  durch  ihre  hypothese  begreiflich:  es 
sei  eigentlich  das  bekannte  schwert  'as  estranges  renges',  das 
wir  sonst  nur  in  anderer  Umgebung  kennen,  wenn  Gawein  im 
englischen  gedieht  von  'Syr  Gawayne  and  the  grene 
knyghte'  als  erkennungszeichen  ein  pentagramm  führt  —  dh. 
das  zeichen  das  gewalt  gibt  über  die  ungesehene  weit  — ,  so 
Aveise  das  darauf,  dass  er  doch  bei  einem  späteren  besuch  das 
schwert  zusammengefügt  habe,  denn  dessen  griff  sei  ein  penta- 
gramm (?)  gewesen,  oder  vielmehr:  Gawein  der  sonnenheros  — 
Gwalchmai  bedeute  ja  'habicht  des  mal'  —  habe  als  letzte  probe 
von  vielen,  die  seine  wahre  natur  bestätigten,  das  schwert  gleich 
bei  seinem  ersten  besuch  widerhergestellt.  —  die  lanze  liabe 
deshalb  eine  so  grofse  bedeutung,  weil  sie  organisch  zur  blut- 
schüssel  gehöre,  beide  verbildlichen  die  zeugungsorgane  (s.  o.)  — 
die  kirche  habe  wol  gew'ust,  was  der  Gral  eigentlich  sei  — 
eine  symbolische  darstellung  von  dem  suchen  nach  der  quelle 
alles  lebens,  etc.  — ,  und  habe  deshalb  durch  ihr  schweigen 
solche  anschauungen  nicht  ermutigt,  und  so  sei  die  freude  an  der 
dichtung  nach  einer  bltitezeit  allmählich  zurückgegangen.  —  und 
andere  erklärungen.   — 

Die  hypothese  als  ganzes  —  von  den  phantastischen  aus- 
wüchsen  sehe  ich  ab  —  kommt  mir,  wie  geistvoll  sie  an  sich 
sein  mag,  unhaltbar  vor.  wer  die  erzählung  ed.  Potvin  19055  ff 
aufmerksam  liest  und  jeden  hauptumstand  unbefangen  prüft, 
kommt  zu  allem  eher,  als  in  dieser  erzählung  eine  verbildlichung 
eines  uaturcults  zu  sehen,  der  gesamteindruck  ist  zunächst,  dass 
der  erzähler  eine  anzahl  schauerlicher  motive,  wobei  nacht,  Un- 
wetter, alleinsein  das  unheimliche  erhöhen,  zu  einer  zusammen- 
hängenden geschichte  aneinander  gereiht  hat,  und  so  nerven  und 
neugierde  seiner  hörer  spannt,  ohne  dass  er  für  das  ganze  oder 

sehr  fraglich,  nur  das  goldene  netz  scheint  den  berater  und  die  vf.  zu  dem 
namen  'fischerkönig'  geführt  zu  haben,  von  einer  schüssel  ist  erst  recht 
nicht  die  rede. 


252  BLÜTE    ÜPER    VVESTON 

das    einzelne    eine    symbolische  deutung-  beabsichtigte  oder  auch 
nur    hätte  geben  können,     alles  ist  auf  das  sclireckenerregende, 
unbegreifliche  zugestutzt,  so  dass  selbst  Gavvein,  der  unvergleich- 
liche held,  sich  mitunter  eines  Schauders  nicht  erwehren  kann.  — 
sodann  fragt  man  sich,    ob  vf.  wol  recht    hat,    den    toten    ritter 
auf    der    bahre    zum    centralpunct    ihrer     deutung    zu    machen, 
dieser    ritter  auf  der  bahre  ist  kein  fester  zug  in  der  sage,     er 
findet  sich  nicht  in  der  Perceval-Gralsage,    in    den  erzähluugen 
die  sich  mit  Gawain  und  dem  Gral  beschäftigen,  nur  in  unserer 
Version  und  in  der  sogenannten  ersten  Interpolation  Pseudo-Gautiers 
(Pseudo-Wauchier),  wo  eine  bahre  in  der  Gralprocession  vorkommt 
(vgl.  zb.  Heinzel  Franz.  Gralromane  s.  35).     in    unserer  Version 
will  der  Gralkönig  Gawain  aufschluss  geben  über  die  dinge,  die  er 
gesehen    hat,    und    obgleich  Gawain  ausser  über  die  lanze  auch 
über    den  toten  ritter  und  das  schwert  bescheid  verlangt,     geht 
der    könig    doch  gleich  von  der  lanze  auf  den  Gral  über,    ohne 
ein  wort  über  ritter  oder  schwert  zu  äufsern,  obgleich  er  vorher 
bei    der    bahre    die   neugierde  rege  gemacht  hat.     als  nach  der- 
selben Version  Gawain,    der  am  nächsten  morgen  aufserhalb  der 
bürg  erwacht  ist,  vom  landvolk  gesegnet  wird,  weil  durch  seine 
frage  nach  der  lanze  die  wasser  wider  fliefsen,  die  wälder  wider 
grünen  und  das  land  wider  teilweise  bevölkert  ist,  so  flucht  man 
ihm  zugleich,  weil  er  sich  niclit  nach  dem  Grale  erkundigte,  denn 
dann    wäre    die    alte   fruchtbarkeit  zurückgekehrt,    dh.  der  tote 
ritter    und    das    schwert   werden    w'iderum   nicht  erwähnt,     und 
endlich:    die    teilweise    fruchtbarkeit    kehrte   zurück    durch  die 
lanze,    der    tote   ritter   kommt   dabei   nicht  zum  leben,     und  so 
möchte  ich  fragen,  ob  nicht  der  tote  ritter  auf  der  bahre,  nebst 
dem    was    mit    ihm   zusammenhängt,    secundärer   natur   ist,    ob 
diese  Version  infolgedessen  als  ganzes  wol  eine  so  grofse  ursprüng- 
lichkeit besitzt,  ob  wir  also  w^ol  auf  dem  richtigen  weg  der  er- 
klärung   sind,    wenn  wir  von  dieser  version  ausgehen.    —    und 
legen  wir  den  nachdruck  darauf,  dass  die  gegend  nur  durch  die 
frage   nach  lanze  und  Gral  fruchtbar  wird,    dass  der  tote  ritter 
tot    bleibt    und    für  die  rückkehr  der  fruchtbarkeit  nach  dieser 
Version  durchaus  nicht  berücksichtigt  wird,  so  lässt  er  sicli  erst 
recht  nicht  mehr  identificieren  mit  einem  naturgott,  durch  dessen 
widerkehr,  und  nur  durch  diese,  die  natur  zum  neuen  Wachstum 
gedeiht,     da    auch  die  weinenden  frauen  in  dieser  version  nicht 
vorkommen  —  es  ist  nur  die  rede  von  weinenden  leuten,   wenn 
sie  sehen,  dass  Gawain  nicht  der  erwartete  ritter  ist;   auch  der 
könig  weint,  wenn  er  bei  der  bahre  steht  und  wenn  er  anfängt 
vom  Grale  zu  erzählen  —  und  weinende  frauen  in  den  anderen 
Versionen    nur    vereinzelt    erscheinen,    jedenfalls   keinen  hervor- 
stechenden   zug    der  sage   bilden,  so  fällt  me.  auch  wol  derletzt 
gedanke    an   einen   etwaigen    Zusammenhang  mit  dem  Adoniscult 
oder     ähnlichem    naturdienst    fort,     ich    glaube,    dass    wir    bei 


THE    LEGEND    OF    SIR    PEKCEVAI.    n  253 

dem     verwüsteten     land    mir     an    einen    gessartigen    tiiicli    zu 
denken  haben. 

Und  auch  anderes  zeigt  die  willkürlichkeit  der  Zusammen- 
stellungen der  vf.  ich  greife  einzelnes  heraus,  vf.  legt  nicht 
mit  unrecht  nachdruck  auf  den  nach  ihrer  meinung  dreifachen 
Charakter  des  Grals:  blutschüssel,  speisespendei-,  Inbegriff  der 
geistigen  kraft,  aber  was  sie  nun  infolge  dieser  auffassung  alles 
in  die  sogenannte  Blelierisversion,  die  den  ausgangspunct  ihrer 
hypothesen  bildet,  hineinlegt,  ist  merkwürdig.  Gawain  sieht  in 
der  Version  nur  zwei  behälter.  erst  den  automatisch  bedienenden 
Gral,  dann  in  einem  gestell  das  silbeine  gefäss,  das  eine  abfuhr- 
röhre nach  aufsen  hat,  und  in  welches  das  blut  von  der  lanze 
tropft,  vf.  nimmt  an,  dass  die  beiden  behälter  identisch  dh. 
dasselbe  ding  unter  verschiedenem  aspect  sind,  aber  auch  aul'ser- 
dem,  dass  G.  die  dritte  gestalt  nicht  sieht,  weil  er  die  schwert- 
probe nicht  besteht,  die  ihn  zum  schauen  des  Grals  in  seiner 
geistigen  gestalt  befähigt  hätte,  aber  woher  will  vf.  wissen, 
dass  in  dieser  Version  die  schwertprobe  diese  folge  haben 
würde?  es  muss  doch  ein  Zusammenhang  bestehn,  wir  müssen 
ihn  wenigstens  annehmen,  zwischen  dem  keinen  anfschub  duldenden 
auftrag  des  an  Gawains  seite  getöteten  ritters,  und  dem  was 
Gawein  unwissend  übernommen  hat.  auch  dem  Gawain  liefs  das 
pferd  keine  zeit,  weder  zur  ruhe  noch  zur  speise,  der  zweck 
der  zusammenfügung  des  Schwertes  in  dieser  erzählung,  die  nach 
vf.  der  ursprünglichen  gestalt  der  sage  am  nächsten  steht,  scheint 
kein  anderer  gewesen  zu  sein,  als  befähigung  zu  erhalten,  den 
ritter  auf  der  bahre  an  seinem  feinde  zu  rächen,  wer  dieser 
feind  war,  erfahren  wir  nicht,  es  sclieint  sich,  wie  soeben  schon 
angedeutet,  um  einen  gessartigen  zauber  zu  handeln,  den  nur 
ein  besonders  erw'ählter  aufheben  kann.  —  wenn  vf.  reclit  hätte 
in  der  bedeutung  der  zusammenfügung  des  Schwertes,  so  müsten 
auch  die  einzelnen  aspecte  des  Grals,  so  wie  Gawain  sie  zu  sehen 
bekommt,  einen  klimax  bilden:  erst  hätte  Gawain  den  Gral  in 
Verbindung  mit  der  lanze  als  zeugungsattribut  sehen  müssen, 
wie  vf.  selbst  angibt,  die  niedrigste  stufe,  dann  den  Gral  als  er- 
halter  des  menschengeschlechtes,  dh.  als  speisespender.  aber  in 
w'ürklichkeit  sieht  er  erst  den  Gral,  dann  nachher  die  schale,  in 
die  das  blut  aus  der  lanze  fiiefst.  ob  dieses  blutgefäfs  der  Gral 
ist,  erfahren  wdr  nicht,  jedenfalls  fehlt  hier  der  klimax,  der  für 
die  einweihung  nach  vf.  nötig  ist.  es  scheint  sogar,  dass  die 
lanze  als  blutreliquie  des  heilandes  dem  dichter  wichtiger  ist  als 
die  Schüssel,  die  als  dienender  geist  umherzieht:  die  lanze  habe 
der  menschheit  grofses  heil  gebracht,  indem  mit  ihr  Christi  seite 
durchstochen  wurde.  —  wir  bekommen  übrigens  nirgend  den  ein- 
druck,  dass  Gawain  eine  höhere  stufe  vom  Gral  erwarten  konnte, 
dass  er  den  drang  zur  höheren  erkenntnis  alles  lebens  in  sich 
hatte:  in  dem  gespräche  mit  dem  könig  soll  Gawain  nur  darüber 


254  BLÖTE    ÜBER    WESTON,    PEKCEVAL    H 

belehrt  werden,  was  die  zufällig  gesehenen  wunder  alles  bedeuten, 
—  vf.  sieht  allein  die  lanze  in  der  version  verchristlicht,  den 
Gral  noch  nicht,  aber  ist  die  christliche  geistlichkeit  mit  dem 
christliclien  kreuz  bei  der  bahre  etwa  nicht  christlich?  und 
wie  soll  man  in  aller  weit  beweisen,  dass  Gawain,  der  von  der 
lanze  erfährt,  sie  sei  die  des  Longinus,  von  dem  Gral  etwas 
anderes  erfahren  haben  würde,  als  dass  sie  mit  Christus  in  Ver- 
bindung stehe?  maw.  wir  können  aus  dieser  version  durchaus 
nicht  beweisen,  dass  erst  die  lanze  verchristlicht  gewesen  sei,  ja 
wir  sind  fast  sicher,  dass  Gawain  über  den  Gral  nur  christliches 
erfahren  hätte,  wie  übrigens  auch  in  einigen  hss.  vorkommt  i. 
die  weise,  wie  das  blut  ohne  unterlass  aus  der  lanze  fliefst 
und  sich  durch  eine  rühre  aus  der  schale  nach  aufsen  entfernt, 
mag  roh,  sogar  echt  heidnisch  aussehen,  aber  warum  sollen  wir 
hier  nicht  wider  eine  der  schauererregenden  Übertreibungen  haben, 
woran  diese  version  so  reich  ist? 

Ich  beschränke  mich  auf  dieses  wenige,  man  kann  nicht 
leugnen,  dass  vf.  in  den  capp.  10  und  11  eine  anzahl  neuer  ge- 
danken  einführt,  aber  kaum  einem  einzigen  kann  ich  beitreten, 
schon  ihre  basis  —  die  Bleherisversion  —  ist  nicht  kritisch 
sicher,  aufserdem  legt  sie  so  viel  von  dem  ihrigen  hinein,  dass 
sie  darüber  die  facta  und  die  natur  der  grundlage  ganz  aus  dem 
gesiebte  verliert,  auf  geistvollem  wege  gelangt  sie  zu  sterilen 
resnltaten.  — 

Der  Charakter  des  zweiten  bandes  des  Legend  ofSir 
Perceval  tritt  aus  dem  gesagten  genügend  hervor,  auch  dieser 
band  zeugt  wider  von  hingebender  liebe  zur  sache  und  von  reicher 
belesenheit  in  den  Originaltexten,  wir  müssen  der  vf.  dankbar 
sein  für  den  abdruck  der  Modenahs.  und  für  manche  Zusammen- 
stellung, aus  der  sie  ihre  Schlüsse  zieht,  sie  hat  experimentell 
erwiesen,  dass  mehrere  partien  des  prosatextes  aus  verszeilen 
hervorgingen  2.  dass  aber  die  prosa  den  3  teil  von  Borrons 
cyclus  bewahre,  oder  sogar  einer  vor-Borronschen  dichtung  von 
Percevals  Gralsuche  am  nächsten  stehe,  dies  zu  beweisen,  ist  ihr 
nicht  gelungen,  im  gegenteil:  ein  wichtiger,  das  ganze  be- 
herschender,  von  ihr  nicht  berücksichtigter  zug  des  textes  ver- 
trägt sich  schlecht  mit  einer  ursprünglichen  natur;  so  dass  die 
vorläge  des  prosatextes  einer  jüngeren  zeit  angehören  dürfte.  — 
in  zwei  capp.  versucht  vf.  auch  der  natur  der  Gralsage  von  einer 
ungewöhnlichen  seite  beizukommen,  der  versuch  ist  glänzend, 
anregend,  aber  der  feuereifer  der  vf.  wird  nicht  im  zäume  ge- 
halten durch  strenge  prüfung  des  tatsächlich  vorhandenen,  wie 
bei  der  besprechung  des  ersten  bandes  ihre  hj-pothese  von  den 
zwei  F^campschen  messern  und  deren  nachwirkung  in  der  sage, 

^    Birch-Hirschfeld  Sage  vom  Gral  s.  94. 

^  WHoffinann  Über  die  quellen  des  Didot-Perceval,  Halle  1905, 
hat  die  poetische  vorläge  geleugnet. 


STRAUCH    ÜBER    BANZ,    MÜTMENDE    SEELE  2oO 

muss  ich  auch  jetzt  ihre  hypothese  vom  Ursprung  des  Grals  aus 
einem  natar-  und  lebenscult  ablehnen,  trotzalledera  nenne  ich 
auch  diesen  zweiten  band  einen  reichhaltigen  versuch  uns  auf- 
zuklären über  Graldichtung  und  Gral. 

Tilburff  i.  Holland.  J.  F.  D.  «löte. 


Christus  und  die  minnende  seele.  zwei  spätmittelhochdeutsche 
mystische  gedichte.  im  auhaiig  ein  prosadisijut  verwandten  in- 
haltes.  nntersuchnugeu  und  texte  herausgegeben  von  dr.  P 
Romuald  Bauz  beuediktiuer  [Germauistische  abhandluugeu  heraus- 
gegeben von  FVogt  h.  29].  Breslau,  Marcus  1908.  xviii  und  3S8 
SS.  nebst  9  taf.  S^.  —  15  m. 

Weinhold  hat  in  seiner  ausgäbe  des  Lamprecht  von  Regens- 
burg s.  sooft'  kurz  die  entwicklungsgeschichte  der  allegorie  von 
der  minnenden  seele  skizziert,  in  der  des  Appulejus  niärchen 
von  Amor  und  Psyche  ins  christliche  umgedeutet  fortlebt,  die 
Vorstellung,  bei  Bernhard  und  Hugo  von  SVictor  voll  entfaltet 
und  ausgestattet  mit  der  poetischen  diction  des  Hohenliedes,  ge- 
winnt bereits  auf  die  deutsche  geistliche  dichtung  des  1 1  und 
12  jh.s  einfluss,  um  dann  im  13  und  14  jh.  zahlreichen  selb- 
ständigen gedichten  als  Vorwurf  zu  dienen  und  gleichzeitig  der 
mystischen  litteratur,  wie  sie  namentlich  in  den  frauenklöstern 
aufblüht,  fruchtbarste  anregung  zu  bieten,  auch  die  bildliche 
darstellung  bemächtigt  sich  ihrer  und  ruft  selbst  wider  dichterische 
behandlungen,  sog.  gemälpoesie  hervor,  gewis  war  schon  längere 
zeit  vor  Margareta  Ebner,  die  zweimal  von  der  minnenden  seele 
als  man  sie  malet  spricht  (Banz  s.  225),  solcher  bildschmuck 
bekannt;  im  15  und  16  jh.  erfuhr  er  als  holzschnitt  weite  Ver- 
breitung, im   17  jh.  als  kupferstich. 

Aus  dem  reichen  litterarischen  material  sind  an  den  ver- 
schiedensten orten  mitteilungen  gemacht  worden,  und  sicher 
bergen  die  hss.  unserer  und  auswärtiger  bibliotheken  noch 
manches  einschlägige.  Bartsch  hatte  s.  z.  in  seiner  ausgäbe  der 
Erlösung  allerlei  aus  Nürnberger  hss.  veröffentlicht,  aus  den 
hslichen  schätzen  seines  Stiftes  bringt  nun  RBanz,  benedictiner 
zu  Einsiedeln,  ein  schüler  Zwierzinas,  zwei  dem  umfang  nach 
sehr  ungleiche,  das  genannte  thema  behandelnde  gedichte,  sowie 
einen  kurzen  prosadialog  zum  abdruck.  die  drei  stücke  sind  in 
der  Einsiedler  hs.  710  —  B.  weist  ihren  Konstanzer  Ursprung 
nach  —  enthalten  und  haben  nach  ihr  auch  in  eine  ursprünglich 
gleichfalls  nach  Konstanz  weisende,  jetzt  Überlinger  hs.  aufnähme 
gefunden,  der  vf.  hat  den  texten,  von  denen  bisher  nur  auszüge 
veröffentlicht  waren,  eingehnde  betrachtungen  vorausgeschickt, 
die  mit  grofser  Sorgfalt  alle  irgendwie  den  gegenständ  berührende 
fragen  zu  beantworten  suchen. 


256  STRAUCH    ÜBER    BANZ 

Das  18  vierzeilige  stropLen  umfassende  gedieht  von  der 
kreuztrag' enden  minne  (KM.)  ist  auser  in  EU  noch  in  einer 
zweiten  Einsiedler  hs.  (nr  364)  und  teilweise  in  einer  Kloster- 
neuburger  und  Basler  (s.  s.  369)  hs.  überliefert,  auch  als  holz- 
schnittblatt  aus  dem  1 5  jh.  vorhanden,  es  interessiert  weniger 
um  seiner  selbst  willen,  als  weil  es  beziehungen  zeigt  zu  dem 
mehrfach  begegnenden,  urspr.  niederdeutschen  liede  Hebe  uff  äin 
rriifze  (vgl.  zu  der  s.  4  angeführten  littei'atur  noch  Borchling, 
Mittelnd.  hss.  i  27.  n  29.  iii  32.  158),  doch  kann  für  einen 
wenn  auch  nur  'mittelbaren'  nd.  Ursprung  unseres  gedichtes  nicht 
mit  Banz  s.  154  anm.  1  das  erste  reimpaar  komen  {qucmen)  : 
nemen  in  anspruch  genommen  werden;  der  reim  ist  bairisch, 
wohin  auch  sonst  die  spräche  des  gedichtes  weist.  —  .  die  weit 
umfangreichere  dichtung  Christus  und  die  minnende  seele 
(MS.)  findet  sich  hslich  ausser  in  EU  noch  in  Donaueschingen 
(D)  und  Karlsruhe  (K).  für  das  in  Mones  Anz.  8,  334  ff  unter 
dem  titel  'Christus  und  die  seele'  mitgeteilte  und  mehrfach  be- 
handelte stück  hat  jüngst  Schleulsner  im  Katholik  1909  2,  179f 
ermittelt,  dass  das  fragment  ein  teil  von  D  ist  und  auf  der 
bischöfl.  Seminarbibliothek  zu  Mainz  aufbewahrt  wird.  —  der 
kurze  prosadialog  (s.  364ff)  steht  in  EU  und  der  Einsiedler 
hs.  752   (s.  15.  371). 

Soviel  über  die  Überlieferung,  der  das  erste  capitel  ge- 
widmet ist,  das  auch  das  hssverhältnis  der  MS.  prüft  und  be- 
gründet, weshalb  E  für  die  textgestaltung  allein  in  frage  kommen 
konnte ;  D  K  wurden  für  sie  herangezogen,  wo  E  fehlerhaft  ist. 
es  wäre  vielleicht  zweckmäfsiger  gewesen,  hierauf  den  abschnitt, 
der  s.  184 — 222  in  erschöpfender  weise  über  die  spräche 
der  Schreiber  der  einzelnen  hss.  berichtet,  gleich  folgen 
zu  lassen. 

Cap.  2  handelt  vom  Verfasser  und  der  entstehungszeit  der 
werke  und  nimmt  zt.  die  resultate  der  späteren  Untersuchungen 
vorweg,  jedenfalls  kommen  für  KM.  und  MS.  verschiedene  Ver- 
fasser in  betracht,  KM.  ist  bairisch-österreichischen  Ursprungs, 
MS.  weist  in  see-alemannisches  gebiet.  B.  möchte  für  beide  ge- 
dichte  s.  33  f  weibliche  Verfasserschaft  annehmen,  wofür  einiges 
geltend  gemacht  werden  kann,  doch  muss  man  sich  gegenwärtig 
halten  —  und  diese  annähme  reicht  hier  wol  aus  — ,  dass  das 
thema,  die  gegenüberstellung  von  Christus  und  der  seele,  einer 
solchen  Vermutung  besonders  günstig  ist,  indem  man  geneigt 
sein  wird,  die  dem  weiblichen  teil  beigelegten  empfindungen  auch 
auf  den  Verfasser  zu  übertragen,  während  doch  anschauung  und 
diction  allein  durch  den  zu  behandelnden  stoff  bedingt  sein 
können,  ich  betone  dies,  weil  ich  selbst  früher  etwas  vorschnell 
einer  ansieht  Pregers,  auf  die  sich  B.  beruft,  zugestimmt  habe, 
wenn  B.  für  MS.  die  weibliche  Verfasserschaft  für  'kaum  anzu- 
zweifeln'  hält,    so   würde  dagegen  allein  schon  seine  weitere  an- 


CHKI6TUS    UND    DIE    MINXEXDE    SEELE  257 

nähme  sprechen,  die  MS.  der  gleichen  persönlichkeit  zuweisen 
möchte,  von  der  wir  auch  das  gedieht  Des  Teuf  eis  Netz  (TN.) 
besitzen;  die  ursprüngliche  gestalt  dieser  dichtung  soll  in  der 
kürzeren,  von  Barack  nur  in  den  Varianten  zu  seiner  ausgäbe 
berücksichtigten  fassung  C  vorliegen.  Des  Teufels  Netz  kann 
nun  aber  m.  e..  welcher  redaction  wir  auch  den  vorzug  geben, 
schon  um  des  Inhalts  willen  nur  von  einem  männlichen  veiiasser 
herrühren,  es  ist  undenkbar,  dass  dieses  stark  pessimistisch  ge- 
färbte, aber  weit-  und  menschenkundige  rügenbuch  aus  einer 
weiblichen  feder  geflossen  sein  sollte,  dass  ein  weibliches  wesen, 
eine  nonne  oder  begine  (B.  s.  35)  sich  so  derb  und  gelegentlich 
obscön,  insbes.  auch  über  ausschreitungen  seines  eigenen  ge- 
schlechtes hätte  auslassen  sollen,  wie  dies  in  TN.  geschieht, 
übrigens  scheint  der  verf.  unter  der  arbeit  selbst  an  der  richtig- 
keit  seiner  identilicierung  aus  sprachlichen  gründen  (s.  141)  anm. 
vgl.  s.  14  5.  1  (i  1 . 1 62. 174)  wider  stutzig  geworden  zu  sein ;  zu  anfang 
in  seinen  ausführungen  zuversiclitlicher,  gewinnt  man  im  weiteren 
verlauf  den  eindruck,  dass  er  stärker  mit  der  Skepsis  auf  selten 
des  lesers  rechnet,  den  anlass  zu  seiner  hypothese  von  der 
gleichen  Verfasserschaft  beider  gedichte  fand  B.  in  auCserordent- 
lich  zahlreichen  parallelen,  die  er  s.  124 — 134  zusammenstellt, 
sowie  in  der  grofsen  Übereinstimmung  in  spräche  und  metrik. 
man  wird  den  vorsichtig  abwägenden  und  begründenden  aus- 
führungen volle  beachtung  schenken,  dass  diese  parallelen  aber 
mehr  beweisen  müsten  als  eine  wenn  auch  auffallend  intime  Ver- 
trautheit der  MS.  mit  TN.,  kann  ich  nicht  finden,  die  sprachliche 
ähnlichkeit  erklärt  sich  aus  der  gleichen  heimat,  und  auch  die 
freie  metrische  form  steht  durchaus  nicht  vereinzelt  (B.  s.  1 7 1  ff). 
am  meisten  könnte  für  eine  identität  der  Verfasser  in  die  wag- 
schale fallen,  wenn  B.  mit  seiner  behauptung  (s.  141fl'j  im  recht 
wäre,  beide  gedichte  hätten  beziehungen  zu  der  unter  dem 
namen  Der  geistliche  Streit  (GStr.)  bekannten  allegorischen 
dichtung,  über  die  jüngst  FrHoeptinger  in  einer  Strafsburger 
diss.  (1907)  gehandelt  hat,  was  B.  entgangen  ist.  allein  was 
B.  s.  143  für  eine  benutzung  des  GStr.  durch  TN.  geltend  macht, 
ist  nicht  ausreichend,  um  ein  solches  abhängigkeitsverhältnis 
in  gleichem  mafse  glaublich  erscheinen  zu  lassen,  wie  zwischen 
GStr.  und  MS.  (B.  s.  Ulf),  die  parallelen  zwischen  GStr.  und 
TN.  sind  zt.  allgeraeingut,  zt.  finden  sie  ihre  erklärung  in  dem 
vielbehandelten  thema  von  den  hauptsünden,  bei  dem  gleichfalls 
formelhafte  Wendungen  und  reime  nahe  lagen. 

Wenn  mich  somit  Banz  in  diesen  puncten  nicht  zu  über- 
zeugen vermocht  hat,  so  bleiben  doch  seine  eindringenden  Unter- 
suchungen über  TN.  an  sich  wertvoll  und  regen  zu  weiterer 
forschung  an.  Barack  hatte  dem  umfangreichsten  text  A  die 
erste  stelle  eingeräumt,  die  um  vieles  kürzeren  fassungen  BC  in 
die  lesarten  verwiesen;    nach  Banz  dagegen  verdient  C,   das  der 

A.  F.  D.  A.     XXXIV.  IT 


258  STRAUCH    ÜBEK    BANZ 

Verfasser  von  MS.  allein  benutzt  hat,  den  Vorzug:  C  sei  der 
'beste',  wenn  auch  sprachlich  'schlecht  überlieferte'  Vertreter  des 
Originals,  in  A  erkennt  B.  einen  zweiten  ergänzenden  und  er- 
weiternden bearbeiter  mit  anderer  technik,  anderer  spräche  und 
nietrik.  ich  kann  über  das  hssverhältuis  von  TN.  jetzt  keine 
genauere  prüfung  anstellen,  sie  hätte  zunächst  die  von  B.  nicht 
erwähnte,  bisher  unausgentitzte  vierte,  in  Strafsburg  befindliche 
hs.  (Baechtold  Gesch.  d.  d.  litt,  in  der  Schweiz,  anm.  s.  46)  her- 
anzuziehen, vielleicht  verhilft  sie  uns  zu  einer  anschaulicheren 
Vorstellung  von  der  Überlieferung,  als  sie  jetzt  möglich  ist,  wo 
niclit  einmal  die  von  Barack  mitgeteilten  Varianten  in  jedem  fall 
ein  klares  bild  geben,  ich  gesteh,  dass  ich  nach  widerholter 
lectüre  über  ein  non  liquet  nicht  hinauskomme,  vielleicht  be- 
sitzen wir  die  ursprüngliche  fassung  von  TN.  überhaupt  nicht, 
und  es  liegen  in  C  und  A  zw^ei  selbständige  bearbeitungen  vor, 
von  denen  C  dem  original  näher  steht  als  A,  aber  ebensowenig 
nur  kürzt,  wie  A  nicht  nur  erweitert;  übrigens  schlägt  auch 
B,  das  meist  mit  C  geht,  gelegentlich  eigene  wege  ein. 

Was  B.  sonst  (s.  144  ff)  von  parallelen  zur  MS.  aus  Marien- 
klagen und  von  beziehungen  zur  Alexiuslegende  beibringt,  kann 
nur  beweisen  —  und  B.  selbst  ist  dieser  meinung  — ,  dass  der 
verf.  mit  dieser  litteratur  vertraut  war;  die  directe  quelle  lässt 
sich  nicht  aufdecken,  vollends  bedeutungslos  aber,  und  zwar 
deshalb  weil  es  sich  fast  immer  um  formelhaftes  gut  oder  um 
eine  unter  gleichen  Voraussetzungen  sich  von  selbst  einstellende 
ausdrucksweise  handelt,  müssen  jene  anklänge  an  andere  mhd. 
dichtungen  erscheinen,  die  B.  s.  147  ff  zusammengetragen  hat. 
da  B.  auch  dies  ohne  weiteres  zugibt,  hätte  ich  das  herausheben 
einzelner  nach  B.  wenigstens  möglicher  directer  beziehungen 
lieber  ganz  unterdrückt  gesehen,  abzulehnen  ist  aber  auch  die 
annähme  einer  parodistischen  Verwertung  dreier  im  Wortlaut 
ähnlicher  stellen  der  MS.  in  Wittenweilers  Ring  (s.  149  ff),  ab- 
gesehen davon,  dass  dem  behaupteten  abhängigkeitsverhältnis 
jede  überzeugende  beweiskraft  fehlt,  spricht  auch  die  Chronologie 
eher  dagegen  als  dafür,  denn  das  jähr  1453  bezeichnet  für 
Wittenweilers  Eing  zwar  den  terminus  ad  quem,  wir  werden 
jedoch  die  abfassung,  wenn  auch  vielleicht  nicht  bis  auf  c.  1400 
(ADB.  43,  611),  so  doch  bis  in  das  erste  Jahrhundertviertel 
hinaufrücken  dürfen,  das  von  MS.  so  stark  benutzte  TN.  ist  aber 
kaum  viel  vor  1414,8  anzusetzen  (B.  s.  139  anm.;  s.  151  heilst 
es  in  sonderbarer  ausdrucksweise  unter  berufung  auf  jene  anm. 
—  nicht  's.  107f  —  'die  nächsten  jähre  vor  1415");  die 
zahlreichen  reminiscenzen  daran  in  MS.  setzen  intimste  kenntnis 
des  umfangreichen  gedichtes  voraus,  die  nicht  von  heute  zu  morgen 
erworben  sein  kann. 

Den  im  vorigen  besprochenen  beziehungen  zu  litterarischen 
erscheinungen    nicht   mystischen  Charakters,    bei  denen  anhangs- 


CHRISTUS    UXD    DIE    MlNNKMiE    SEBLK  259 

^veise  auch  die  Stellung-  zur  Bibel  berücksichtigung  gefnudeu  hat 
(s.  151  ff),  geht  im  vierten  abschnitt  (s.  42 — 124j  —  der  dritte 
behandelt  kurz  form  und  Inhalt  von  MS.  —  eine  gründliche 
Avürdigung  des  Verhältnisses  zu  verwanten  mystischen  gfdichten 
voraus,  an  erster  stelle  steht  hier  das  von  Bartsch  Erlösung 
s.  210  0  abgedruckte  gleichnamige  gedieht  (BMS.),  zu  dem  sich 
ein  Münchner  eiublattdruck  (M)  und  eine  Erfurter  incunabel  (I) 
gesellen :  ein  ursprüngliches  stück  gemälpoesie,  wie  es  annähernd 
in  M  in  20  bildern  mit  quatrains  vorligt,  hat  verschiedene  er- 
weiterungen  erfahren,  die  sich  auf  zwei  redactionen  (M.  MS.  zt. 
besser  als  BMS.,  I)  zurückführen  lassen,  auf  grund  unvoll- 
ständigen materials  hatte  Bartsch  s.  z.  irrtümlich  angenommen, 
MS.  sei  aus  BMS.  hervorgegangen.  Variationen  desselben  tliemas, 
aber  unabhängig  von  der  eben  genannten  gruppe,  liegen  mehr- 
fach vor;  sie  sind  zt.  schon  in  Pregers  zweitem  mystikbande 
besprochen  worden,  aufser  KM.  kommen  in  betracht  Der  Minne 
Spiegel  (Bartsch  Erlösung  s.  242 ff  nr  16),  das  stück  bei  Adrian 
Mitteilungen  aus  hss.  s.  452  —  455,  von  dem  die  Altd.  bll.  ii  :570 
nr  3  und  darnach  auch  von  Goedeke  und  PhWackernagel  ab- 
gedruckten verse  —  sie  verdienen  jedenfalls  daraufhin  nähere 
Untersuchung  —  doch  wol  nur  ein  excerpt  sind,  —  ein  nd.  ge- 
dieht (Nd.  jb.  15  [nicht  7],  13f),  Gott  und  die  Seele  (Erlösung 
s.  214  ff  nr  lOj.  zeigen  diese  stücke  —  nur  bei  dem  letzteren 
könnte  es  zweifelhaft  sein,  da  es  wol  mit  PhWackernagel  in 
zwei  gedichte  zu  zerlegen  sein  wird  —  die  reine  dialogform, 
so  nehmen  die  beiden  bekannten  poetischen  behandlungen  der 
Tochter  Sion,  die  alemannische  wie  die  des  Lamprecht  von  Eegens- 
burg,  eine  mittelstellung  ein,  indem  sie  erzählung  mit  freilich 
reichlich  eingemischtem  dialog,  der  sich  aber  nicht  auf  Christus 
und  die  seele  beschränkt,  bieten,  auch  die  Sieben  grade  des  Mönchs 
von  Heilsbronn  konnten  hier  noch  genannt  werden,  eine  gröfsere 
reihe  anderer  einschlägiger  nummern  endlich  trägt  lyrisch-mono- 
logischen oder  didaktischen  Charakter,  das  gedieht  ^Su-er  gern 
h'iet  ein  gut  leben'  (Altd.  bll.  u  359)  steht  inhaltlich  der  MS. 
besonders  nahe,  jedoch  hat  dort  die  seele  ihr  ziel  bereits  erreicht, 
während  sie  in  MS.  noch  im  aufstieg  begriffen  ist.  von  dem 
gedieht  Ti7  werde  sele  half  dich  werf  (Altd.  bll.  ii  367  v.  53 ff) 
hat,  wie  auch  Bartsch  Germ.  24,  251  sah,  schon  Schmeller, 
SUlrichs  leben  s.  vniff  nach  dem  auch  von  Preger  ii  5  7  benutzten 
cgm.  94  einen  vollständigeren  text  zum  abdruck  gebracht,  ich 
möchte  bei  dieser  gelegenheit  dem  wünsche  nach  einer  sammlung 
der  mystischen  lyrik  des  13/14  jh.s  ausdruck  geben;  sie  verdient 
es  in  jeder  beziehung,  inhaltlich  wie  sprachlich.  —  die  s.  51  er- 
wähnte Identität  einer  bei  Mone  Schauspiele  des  nia.s  i  129  ab- 
gedruckten Passio  einer  minnenden  seele  mit  einem  capitel  in 
den  Offenbarungen  der  Mechthild  von  Magdeburg  (iii,  10 —  s.  71; 
würde    ich    gern   weiterer   prüfung  unterzogen  haben,    wäre  die 

17* 


200  STRAUCH    ÜBEK    BANZ 

Karlsruher  lis.  der  generals  vRadowitz,  aus  der  Mone  die  Passio 
Ttiitteilte,  auffindbar  gewesen. 

Die  mystische  prosa  bedient  sich  g-leichfalls  mit  besonderer 
Vorliebe  der  dialogischen  form,  für  die  die  lat.  mj'stiker  das 
Vorbild  waren;  gröfser  aber  noch  ist  die  innere  verwantschaft 
zwischen  prosa  und  poesie  hinsichtlich  der  gleichartigkeit  der 
motive,  und  auch  die  MS.  bekundet  fast  mit  jeder  zeile  durch 
den  reichtum  an  beziehungen  zur  mystischen  ideensphäre,  durch 
die  ähnlich  eingekleideten  gedanken  ihre  enge  zugehöi-igkeit  zur 
mystischen  litteratur,  wenn  es  sich  oft  auch  nur  um  anklänge, 
nicht  um  entlehnungen  —  man  kann  in  der  annähme  letzterer 
nicht  vorsichtig  genug  sein,  s.  s.  1 1 0  —  handelt.  B.  gibt 
s.  55  ff,  zunächst  in  gestalt  fortlaufender  anmerkungen,  zu  dem 
von  ihm  herausgegebenen  texte  eine  höchst  willkommne,  mit 
grofser  Sorgfalt  zusammengetragene  und  von  belesenheit  zeugende 
Sammlung  von  parallelstellen  und  der  mystischen  termini  (s.  114  ff) 
innerhalb  der  einschlägigen  deutschen  theologie  sowie  der  pa- 
tristisch-scholastischen  litteratur,  'auf  welche  die  einzelnen  motive 
und  ideen  der  MS.  in  weiterer  oder  letzter  liuie  zurückgehen 
mögen'.  B.  schätzt  das  gedieht  von  der  MS.  richtig  ein,  wenn 
er  in  ihm  'einen  letzten  niederschlag  der  verschiedenen  mystischen 
Strömungen'  sieht,  die  es  'zu  popularisieren  und  für  weitere 
kreise  nutzbar  zu  machen'  bestrebt  ist.  weder  Vertiefung'  der 
mystischen  anschauungen  noch  ein  erschliefsen  neuer  höhen  und 
weiten  dürfen  wir  in  ihm  erwarten,  das  verhindert  schon  die  stark 
ausgeprägte  neigung,  durch  drastisch-derbe  bilder  und  ausdrücke 
eine  Wirkung  zu  erzielen. 

Der  fünfte  abschnitt  gibt  rechenschaft  über  spräche  und 
kunst  der  behandelten  stücke:  die  dai'stellung  der  reirasprache, 
die  auf  schritt  und  tritt  den  einfluss  der  methode  Zwierzinas 
bekundet,  stellt  die  niederalemannische  bez.  südschwäbische 
heimat  für  MS.  fest;  die  reinitechnik  und  metrik  ist  vom  dichter 
äufserst  regellos  gehandhabt,  wenn  auch  ein  'lockerer  vierheber' 
als  norm  anzuerkennen  ist;  dass  TN.  auf  ziemlich  gleicher  (nicht 
derselben!)  stufe  steht,  erklärt  sich  aus  dem  allgemeinen  nieder- 
gang  des  formgefühls  und  berechtigt  nicht  zu  etwaigen  Schlüssen 
auf  die  Identität  der  Verfasser,  des  verf.s  auslassungen  über 
'composition  und  stiF  suchen  mit  lobenswerter  objectivität  den 
litterarischen  wert  der  MS.  zu  bestimmen,  indem  sie  den  mangel 
künstlerischer  gestaltung  und  nur  ein  gelegentliches  gelingen, 
tieferer  empfindung  entsprechenden  ausdruck  zu  geben,  hervor- 
lieben, an  den  weiblichen  Verfasser  —  'eine  nonue  von  unge- 
wöhnlicher belesenheit,  aber  ohne  tiefe,  ohne  contemplatives  talent, 
die  die  fruchte  ihres  sammelfleifses  in  reime  setzt'  — ,  die  für 
ihre  in  den  düstersten  färben  gehaltene  darstellung  des  ehelichen 
lebens  dieses  'nur  aus  fastnachtschwänken'  gekannt  haben  soll, 
vermag    ich  freilich  nicht  ohne  weiteres  zu  glauben.     MS.  geht 


CHRISTUS    UND    DIE    MIXXEXDE    SEELE  2ü  l 

im  letzten  grade  auf  gemälpoesie  zurück,  und  ich  sehe  nicht 
ein.  warum  nicht  auch  ein  männlicher  klosterinsasse  sich  in 
ähnlicher  weise  hätte  äufsern  künnen,  sobald  er  das  thema 
von  der  minnenden  seele  auf  grund  einer  bildlichen  voi-lage  be- 
handeln wollte. 

Dem  bilderschmuck  der  MS.-hss.  und  -drucke,  dessen  motive 
sich  noch  in  der  mj'stischen  gemälpoesie  des  1  7  jh.s  widertinden, 
ist  der  letzte  abschnitt  (s.  223ff)  gewidmet,  der  kunsthistoriker 
wird  ihn  um  so  weniger  unbeachtet  lassen  dürfen,  als  namentlich 
die  bilder  in  E  hinsichtlich  ilires  Ursprungs  —  er  führt  zunächst 
doch  wol  nur  nach  Konstanz,  während  technik  und  linienführung 
in  D  der  Ulmer,  genauer  Wiblinger  schule  anzugeliören  scheinen 

—  ein  interessantes  problem  stellen,  zu  dessen  lösung  B.  wert- 
volle beitrage  geliefert  hat,  beitrage  die  über  den  einzelfall 
hinausgehen,  fragen  von  allgemeinerer  bedeutung  aufwerfen  und 
zu  beantworten  suchen. 

Zum  text:  v.  443  lis  mit  K  miner?  —  wenn  die  seele  sich 
Christi  diener  (1041)  nennt,  Christus  sie  zu  ainem  diener  gut 
(488)  auserwählt,  so  ist  dies  zu  gunsten  eines  männlichen  Ver- 
fassers verwertbar,  vgl.  auch  1558.  1742.  —  883  ich  het  in 
{ainen  alten  (jraiven  rok)  nit  etwen  genomen  ze  ainem  sok:  das 
glossar  fasst  sok  als  'socke';  einen  bessern  sinn  gäbe,  sok  = 
sac  zu  nehmen;  freilich  lässt  sich  die  bindung  o  :  a  sonst  nicht 
in  MS.  belegen,  doch  könnte  der  häutige  reim  rök  :  sök  TN.  1710. 
2160.  2367.  5310  usw.  B.  zu  seiner  auffassung  bestimmt  haben. 

—  1012  lis  schu-erern.  —  2049  mit  der  anm.  (s.  104f):  vgl. 
noch  Jileier,  Schweiz,  arch.  f.  Volkskunde  11,  260.  —  im  glossar 
muss  es  s.  378*  heiCsen:  hrogen  ptc.  prät.;  es  handelt  sich  um 
ein  starkes  verb,  aber  um  welches?  vielleicht  zu  hriegen'?  Schwab, 
wb.  I  1417.  —  ins  glossar  hätten  noch  getral  1128  und  tone: 
ain  toges  ivort  1756  aufnähme  verdient. 

Halle  a.  S.  Philipp  Straucii. 


Die  heilige  regel  für  ein  vollkommenes  leben,  eine  cister- 
cienserarbeit  des  xiii  Jahrhunderts,  lierausgegeben  von  Kobert 
Priebscli  [Deutsche  texte  des  mittelalters  bd.  xvij  Berlin,  Weid- 
mann 1909.     XXII  u.  104  SS.     gr.  8".  —  3,50  m. 

Der  bekannte  beschreiber  der  'Deutschen  handschriften  ia 
England'  lenkt  mit  der  angezeigten  edition  unsere  aufmerksam- 
keit  auf  eine  handschrift  des  Britischen  museum  (Additioiial  0048), 
welche  einen  neuen  beitrag  zur  deutschen  tractatenlitteratur  des 
mittelalters  bietet,  ganz  sachgemäfs  hat  der  heiausgeber  dem 
tractat  den  titel  gegeben:  'Die  heilige  regel  für  ein  vollkommenes 
leben',  da  er  seinem  Inhalt  nach  für  klosterleute  zur  anleitung 
in  der  Vollkommenheit  berechnet  ist.  die  hs.  stammt  aus  Deutsch- 
land und  war,  soweit  festgestellt  werden   kann,   im  besitz  eines 


262  KIKllER     i'BER    PRIEBSCH 

benedictinerklosters.  sie  iimfasste  ursprünglich  vier  gTöfsere  ab- 
schnitte, von  denen  nur  noch  der  erste,  und  aucli  dieser  nicht 
mehr  vollständig  erhalten  ist.  das  s"*^nze  ist  in  beziehung  zur 
Mutter  Gottes  gebracht,  da  ihr  erhabenes  Vorbild  diejenigen 
welche  ihr  nachfolgen,  sicher  zum  himmel  geleitet. 

Der  erste  grofse  abschnitt  handelte  davon:  'wie  Gottes 
Mutter  und  alle  die  diese  Tegel  halten,  ein  leib  sind  in  Gott, 
und  wie  .Jesus  Christus  das  haupt  ist  dieses  leibes'.  schon  in 
der  formulierung  dieses  gedankens  klingen  die  biblischen  worte 
des  Römerbriefes  durch:  'Slcut  enim  in  uno  corpore  miilfa  menibra 
Jiabemus,  omnia  autem  memhra  non  eundem  actum  hahent,  ita 
multi  unum  corpus  sumus  in  Christo,  singuli  autem  alter  alterius 
membra'  (Rom.  12,  4f  und  die  parallelstelle  i  Cor.  12,  12.  27). 
dieser  gedanke  wird  nun  in  der  weise  ausgeführt,  dass  den  ein- 
zelnen sinnen  der  Gottes  Mutter  bestimmte  tugenden  zugeschrieben 
werden,  welche  diejenigen  welche  mit  ihr  ein  leib  sein  und 
Christus  zum  haupte  haben  wollen,  nachahmen  müssen,  die 
Gottesmutter  hatte :  zunächst  1 .  zwei  äugen  voll  heiliger  keusch- 
heit;  2.  zwei  obren  voll  heiligen  gehorsams;  3.  die  nase  war  voll 
heiliger  gerech tigkeit ;  4.  die  Gottesmutter  hatte  einen  mund 
voll  heiligen  gebetes ;  5.  zwei  füfse  und  zwei  bände  voll  heiliger 
arbeit  (das  vnd  ire  arbeite  20,  19  scheint  mir  zweifelhaft,  sollte 
das  vnd  Ire  a.  zu  z.  18  gehören?);  6.  einen  leib  und  geist  voll 
heiliger  demut  und  voll  heiliger  armut;  7.  ein  herz  voll  heiligen 
friedens;  S.  eine  seele  voll  heiliger  liebe,  das  ist  das  schema 
in  welches  der  inhalt  der  acht  capitel  hineingepresst  ist,  freilich 
oft  sehr  lose  und  mit  zahlreichen  Unterabteilungen,  welche  bis- 
weilen den  eigentlichen  hauptteil  an  umfang  überragen,  die 
ersten  fünf  capitel  zb.  sind  ziemlich  knapp  gehalten,  eingefügt 
ist  hier  ein  tractat  über  die  12  peinen  (s.  26,  15  ff),  im  6 
capitel  finden  wir  dann  eine  gröfsere  abhandlung  über  die  sieben 
hauptsünden  im  anschluss  an  die  sieben  worte  .Jesu  am  kreuze ;  im 
8  capitel  eine  abhandlung  über  die  neun  chöre  der  engel  und 
deren  namen,  mit  moralischer  anwendung:  wie  diejenigen  be- 
schaffen sein  müssen,  welche  in  den  betreffenden  engelchor 
kommen  wollen,  das  ganze  ist  keine  einheitliche  originelle 
arbeit,  sondern  ein  conglomerat  verschiedener  tractate  bzw.  pre- 
digten, deren  puncte  eingeschoben  werden,  wenn  sie  nur  irgendwie 
lose  mit  dem  thema  in  beziehung  gebracht  werden  konnten, 
daraus  erklären  sich  dann  widerholungen  derselben  puncte,  zb. 
63,  24  f  über  die  ordensgelübde,  die  schon  zu  anfang  behandelt 
sind,  ausdrücklich  ist  deswegen  auch  75,  17  und  77,  21  auf 
frühere  capitel  verwiesen,  dem  zusammensteller  des  tractates 
muss  aber  auch,  und  das  ist  das  interessante,  der  sog.  prediger 
von  SGeorgen  (Deutsche  texte  des  mittelalters  bd.  x)  bekannt 
gewesen  sein.  s.  9  z.  ~  ff  findet  sich  SGeorgener  prediger  (PSG.) 
s.  208,30  ff    (vgl.    190,26)    und    zwar    folgt    der    tractat    der 


HEILIGE    KEGEL  263 

fassuug  G  dieser  precligtsammlung.  —  zu  S.  17  ff  vgl.  PSG. 
s.  2S4,  24ff.  —  zu  14,  1  ff  wörtlich  PSG.  s.  210,  Oft'.  —  zu 
s.  17,  17  ff  vgl.  PSG.  s.  06,  28 ff.  —  zu  21.  2lf  vgl.  PSG.  s.  239, 
2ff.  —  s.  22,  22  bis  23,  22  wörtlich  PSG.  s.'  218,  1611  —  s.  50,  6 
bis  52,  20  und  53,  7  bis  10  wörtlich  PSG.  s.  21U,  17  bis  212,  29 
und  zwar  in  der  fassung  von  G. 

Daraus  sehen  wir,  dass  die  54  predigt  des  sog.  SGeorgener 
Predigers  von  dem  zusammensteller  des  vorliegenden  tractates  ganz 
zerstückelt  und  an  vier  verschiedene  stellen  verteilt  wurde,  ohne 
dass  sie  streng  dorthin  gehören,  während  die  54  predigt  einen 
straffen  aufbau  hat,  deren  gedanken  sich  teilweise  an  die  worte 
des  hl.  Beruhard  (Migne  Patrl.  lat.  184  sp.  314  und  183,663) 
anlehnen,  zu  beachten  ist  auch,  dass  der  tractat  der  fassung 
G  des  SGeorgener  predigers  näher  steht  als  der  von  A.  das 
ganze  wider  zeugt  für  das  hohe  alter  der  SGeorgener  predigten, 
so  dass  meine  in  der  einleitung  dazu  gegebenen  ausführungen 
dadurch  eine  neue  stütze  erhalten. 

Wie  mit  der  benützung  des  sog.  SGeorgener  predigers  wird 
es  sich  ai\ch  mit  den  anderen  eingestreuten  stücken  verhalten: 
sie  sind  keine  originalarbeit,  sondern  entlehnungen  —  das  darf 
man  sicher  behaupten  von  der  abhandlung  über  die  strafen  der 
hülle,  den  sieben  hauptsünden,  den  neun  engelchören,  wenn  es 
auch  mir  nicht  möglich  ist  die  directen  quellen  aufzuweisen, 
weder  nach  form  noch  nach  Inhalt  ist  also  der  tractat  gerade 
bedeutend,  David  von  Augsburg  hat  die  anleitung  zur  Voll- 
kommenheit für  novizen  in  seiner  'formula  de  interioris  und 
exterioris  hominis  reformatione'  viel  schöner  und  folgerichtiger 
durchgeführt,  die  bedeutung  des  veröffentlichten  tractates  liegt 
vielmehr  in  den  eingestreuten  exe mp ein  die  als  Illustration  zu 
den  gegebenen  ausführungen  dienen  sollten,  auch  von  ihnen  gilt, 
dass  sie  (aus  lateinischen  vorlagen)  zusammengelesen  sind  und  oft 
eingefügt  werden,  ohne  dass  sie  recht  zu  dem  behandelten  thema 
stimmen,  sieht  man  von  den  beiden  biblischen  beispielen  s.  16 
und  41  ab,  so  sind  es  im  ganzen  46  erzählungen,  von  denen 
Priebsch  bei  allen  bis  auf  drei  die  directe  oder  indirecte  quelle 
nachweisen  konnte,  sie  sind  teilweise  den  Vitae  patrum,  dem 
Dialogus  miraculorum  des  Caesarius  von  Heisterbach,  dem  Exordium 
magnum  Cisterciense  und  Herberti  de  miraculis  libri  tres  ent- 
nommen, oder  demSpeculum  ecclesiaedesHonoriusAugustodunensis. 
viele  (zb.  1.  4.  6.  19.  25.  26)  gehören  zu  den  Marienlegenden, 
andere  wider  erzählen  von  erlebnissen  aus  dem  kreise  der 
Cistercienser.  die  art  und  weise  wie  sie  in  den  text  eingefügt 
wurden,  zeigt  deutlich  nr.  23,  das  noch  vor  s.  53,  7 — 10  nfstende 
also  dem  zu  52,  20  gehörenden  schlusssatz  der  entliehenen  vor- 
läge des  sog.  SGeorgener  predigers  eingefügt  wurde,  die  Ver- 
öffentlichung dieser  exempel  im  verein  mit  dem  sie  begleitenden 
und  erläuternden  text  ist  deswegen  wertvoll,  weil  es  die  ältesten 


264  EIEDEE    ÜBER    PRIEBSCH,    HEILIGE    REGEL 

uns  bekannten  derartigen  legenden  in  deutscher  spräche  sind. 
Schönbach  hat  in  seinen  Studien  zu  Caesarius  von  Ileisterbach 
vor  kurzem  gezeigt,  wie  sich  solche  erzählungen  weiter  bildeten 
und  umformten  und  dazu  beispiele  französischer  herkunft  ange- 
führt (aus  den  Sammlungen  des  Jacques  de  Vitry  und  des 
Etienne  de  Bourbon).  wollte  man  noch  weiter  gehn,  so  dürften 
die  lateinischen  predigtwerke  des  1.'^  und  14  jh.s  nicht  über- 
sehen werden,  welche  mit  Vorliebe  zur  Illustration  solche 
erzählungen  aufnahmen  und  je  nach  ihrem  zwecke  umformten, 
es  ist  gar  nicht  unmöglich,  dass  auch  der  compilatnr  des  tractates 
der  heiligen  regel  solche  predigtvorlagen  für  einzelne  seiner  bei- 
spiele benutzt  hat. 

Wenn  wir  hier  klarer  sehen  wollen,  dann  wäre  eine  sj^ste- 
matische  Sammlung  der  mittelalterlichen  (lateinischen)  erzählungen 
und  beispiele  von  nöten,  vielleicht  sachlich  geordnet  wie  Franz 
(Drei  deutsche  Minoritenprediger  s.  126  ff)  einige  proben  anführt, 
diese  exempel  würden  auch  zum  Verständnis  der  sog.  viten  (mystischer 
richtung)  viel  beitragen,  ich  denke  hier  vor  allem  an  die  vita 
Susos  (ein  ganz  eigenartiges  exempel  aus  den  predigten  des 
Greculus  führt  Franz  [aao.  s.  1 3 1  nr.  2]  an :  exemplum  de  latrone 
qui  secutus  fuit  quendam  ahbatem  per  silvam  et  vohdt  confiteri: 
man  vgl.  damit  die  geschichte  von  dem  mörder  bei  Sense  [Bihl- 
meyer  s.  78]).  weiterhin  an  die  erzählungen  in  den  sog.  Gottes- 
freundtractaten,  die  im  Zusammenhang  mit  der  vorausgehnden 
erbaulichen  erzählungslitteratur  dann  nicht  mehr  isoliert  da- 
stehn  werden. 

Als  Verfasser  oder  besser  compilator  des  tractates  ist 
nach  P.  ein  unbekannter  Cistercienser  anzusehen,  was  sich  auch 
bestätigt,  die  heimat  jedoch  (P.  weist  auf  Westdeutschland)  wird 
schwerlich  festzustellen  sein,  auch  das  alter  des  tractates, 
zwischen  1235  und  1300,  ist  richtig  bestimmt,  doch  dürfte  mit 
rücksicht  auf  die  benützung  des  sog.  SGeorgener  predigers  'niclit 
weit  von  1250"  noch  etwas  zu  früh  angesetzt  sein  (die  nichter- 
wähnung  Alberts  des  Grofsen  ist  nicht  entscheidend). 

Bestimmt  war  der  tractat  für  frauenspersonen,  in  erster 
linie  für  Cistercienserinnen.  das  zeigt  schon  die  einleitung  1 ,  2 1  ff. 
deswegen  wurde  der  tractat  auch  in  deutscher  spräche  geschrieben, 
dem  entgegenstehnde  bemerkungen  (P.  erwähnt  69.  33 f)  erklären 
sich  aus  der  unbesehenen  herüberuahme  der  ausdrücke  der  vor- 
lagen, welche  meiner  ansieht  nach  hauptsächlich  predigten  waren. 

Die  in  der  einleitung  enthaltenen  ausführungen  über  die 
handschrift,  deren  beschaffenheit  und  Schreiber,  sowie  die  sorg- 
fältige behandlung  des  textes  und  der  anmerkuugen  zeigen  uns  den 
erfahreneu  kenner  und  prüfer  deutscher  handschriften,  dem  unsere 
anerkennung  für  die  herausgäbe  dieser  frühesten  uns  bekannten 
prosa  aus  dem  Cistercienserorden  nicht  vorenthalten  sein  soll. 

Scherzingen  b.  Freiburg  i.  Br.  dr.  K.  Rieder. 


rXIOWEK    ÜBER    JAHN,    GOETHES    DICHTUNO    U.    WAHltHEIT      265 

Goethes  Diclituuj?  uinl  Wali  rlieit.    Voiß-escliichte  — Eiitsteliiuig 
—  Kritik  —  Aualyse  von  Kurt  Jahn.     Halle  a.S.,  Max  Nieiucver 

1908.     382  SS,  S».  —  7  in. 

In  diesem  Anzeiger  (xxv  74)  äufseite  vor  1 1  Jahren  Albert 
Köster  in  einer  besprechung-  der  Altschen  schrift  über  Dichtmig 
und  Wahrheit',  dass  die  innere  geschichte  dieses  werkes  noch 
zu  schreiben  sei.  diese  lücke  ist  nun  durch  das  vortrelfliche 
buch  Jahns  gefüllt,  es  gibt  uns  eine  entstehungsgeschichte  und 
Charakteristik  der  autobiographie,  die  ihrer  wüidig  ist.  dieses 
gewis  nicht  geringe  lob  verdient  die  arbeit  trijtz  einzelnen 
mangeln  die  ihr  anhalten,  ich  beginne  mit  diesem  negativen 
moment,  um  für  das  viele  positive  freie  band  zu  behalten. 

Zunächst:  die  lectüre  des  buches  ist  nicht  leicht.  Jahn  ist 
eine  unjugendliche,  ein  v^enig  abstracte,  kühle  Schreibweise 
eigen,  die  für  ein  buch,  das  ein  poetisch-v.issenschaftliches  werk 
analysiert,  zuweilen  auch  atomisiert,  nicht  eben  günstig  ist. 
dazu  kommt,  dass  er  die  concreten  unterlagen  für  seine  aus- 
führungen,  die  beweisenden  stellen,  zum  grösten  teil  als  noteu 
in  den  anhang  verwiesen  hat.  hätte  er  sie  organisch  verwendet 
d.  h.  in  den  haupttext  verwebt,  dann  wäre  das  buch  zwar 
umfangreicher,  aber  um  vieles  lebendiger  und  eindringlicher 
geworden. 

Der  kühle  der  Schreibweise  entspricht  eine  öfters  zu  tage 
tretende,  für  mein  gefühl  nicht  gerechtfertigte  herbheit  des  Ur- 
teils, wer  wie  J.  so  bis  ins  kleinste  hinein  die  entstehung  einer 
umfangreichen  litterarischen  schüpfung  verfolgt,  dem  entgehii 
nicht  die  unvoUkommenheiten.  die  nun  einmal  auch  beim  grösten 
menschlichen  werk  nicht  ausbleiben,  in  diesem  fall  entsprangen 
sie  daraus,  dass  Goethe  sich  vielfach  ein  selbst  für  seine  kräfte 
zu  hohes  ziel  steckte.  J.  ist  oft  genötigt  darauf  hinzuweisen, 
wie  der  biograph  grofse  Intentionen  fallen  lies  und  an  ihre  stelle 
geringere  Surrogate  setzte,  bei  einer  solchen  darlegung  kommt 
alles  auf  die  art  an,  wie  das  zurückbleiben  hinter  dem  ursprüng- 
lich gewollten  ins  licht  gerückt  wird,  bei  J.  geschieht  es  so, 
was  zu  hören  er  möglicher  weise  erstaunt  sein  wiid,  dass  mau 
bei  der  lectüre  des  buches,  das  im  ganzen  mit  bewunderungs- 
würdigem eindringen  die  tiefen  jenes  herrlichen  denkmals 
deutschen  geistes  erschliefst,  öfters  von  dem  peinlichen  gefühl 
erfasst  wird,  als  unterschätze  er  es  bei  aller  liebe  der  betrachtung. 
wenigstens  w'urde  ich  beim  lesen  oft  an  das  Goethische  wort  in 
'Dichtung  und  Wahrheif  erinnert,  dass  'er  es  immer  vorzog,  von 
dem  menschen  zu  erfahren,  wie  er  dachte,  als  von  einem  andern 
zu  hören,  wie  er  hätte  denken  sollen',  auch  an  die  verwante 
äufserung  des  dichters  an  einer  andern  stelle  dieses  werkes 
(Weimarer  ausg.  28;  234,  9)  über  recensenten  wurde  ich  gemalmt: 
'sie  leben  in  dem  wahn,  man  werde,  indem  man  etwas  leistet, 
ihr  Schuldner  und  bleibe  jederzeit  noch  weit  zurück  hinter  dem. 


266  PNIOWER    ÜBER    JAHN. 

was  sie  eig-entlich  wollten  und  wünschten,  ob  sie  gleich  kurz 
vorher,  ehe  sie  unsere  arbeit  gesehn,  noch  g-ar  keinen  begriff 
hatten,  dass  so  etwas  vorhanden  oder  nur  möglich  sein  könnte', 
dieser  eindruck  entstand  nicht  zum  wenigsten  dadurch,  dass  J. 
nicht  scharf  genug  die  äufsere  und  innere  unfertigkeit  des 
vierten  nach  Goethes  tode  erschienenen  teiles  der  autobiographie 
betont,  er  hatte  nicht  das  letzte  entscheidende  Stadium  erreicht, 
die  letzte  Überarbeitung,  die  beim  alternden  und  gealterten 
Goethe  den  prosaschriften  jene  nicht  genug  zu  bewundernde 
coniposition  verlieh,  die  uns  Eoethe  gerade  an  'Dichtung  und 
Walirheit'  einmal  schön  aufgezeigt  hat. 

Endlich  beklag  ich  den  mangel  von  registern,  die  durch  die 
Inhaltsangabe  (s.  v — vn)  keineswegs  entbehrlich  geworden  sind, 
ein  buch  das  wie  das  vorliegende  sich  durch  einen  reichen  ge- 
halt  auszeichnet,  und  eine  fülle  von  beobachtungen  enthält,  die 
nicht  blofs  den  Verfasser  von  'Dichtung  und  Wahrheit",  sondern 
den  ganzen  Goethe  betreffen^  ein  solches  buch  wird  um  seine 
volle  Wirkung  gebracht,  wenn  es  des  registers  enträt.  Theodor 
Mommsen  sagte  einmal  von  einem  umfänglich  geratenen  buch, 
nachdem  er  es  durchblättert  hatte:  'es  ist  in  doppeltem  sinne 
cyclopisch.  es  ist  unförmig  und  hat  nur  ein  äuge,  es  fehlt 
das  register'. 

Damit  aber  sind  meine  einwände  gegen  die  gesamtanlage 
des  buches  erschöpft,  und  ich  kann  mich  dem  erfreulicheren  posi- 
tiven teil  meiner  aufgäbe  zuwenden. 

J.  hat  die  behandlung  des  themas  in  einen  weiten  rahmen 
gespannt,  indem  er  der  äufsern  entstehungsgeschichte  des  werkes 
die  innre  vorangehn  lässt  und  den  begriff  dieser  Innern  ent- 
stehung  recht  tief  fafst.  er  geht  zurück  bis  auf  die  allgemeinen 
Voraussetzungen,  wie  sie  in  Goethes  persönlichkeit  und  ihrer 
entwickelung  liegen,  dabei  analysiert  er  den  geistigen  complex 
des  dichters  mit  oft  erstaunlicher  kenntnis  seiner  äufserungen  bis 
ins  einzelne  und  beleuchtet  etwa  —  immer  genetisch  —  sein 
Verhältnis  zur  metaphysik,  zur  religion,  seine  lebensauffassung 
uä.  oder  er  legt  seine  gedanken  über  die  persönlichkeit,  die 
Vererbung,  die  umAvelt  udgl.  dar.  zuletzt  versäumt  er  auch 
nicht,  die  frage  zu  erörtern,  wie  er  sich  zu  seinen  Vorgängern 
verhalte,  um  ziim  schluss  zu  kommen,  dass  Goethe  unabhängig 
von  ihnen  blieb,  nicht  aus  diesen  quellen  schöpfte  er,  sondern 
'aus  der  eigenen  erkenntnis  des  lebens  und  der  leben  be- 
herrschenden mächte,  und  war  bemüht  ein  ideal  zu  ver- 
würklichen,  das  vor  ihm  weder  versucht  noch  auch  gedacht 
worden  war'. 

In  dem  zweiten  der  drei  teile,  in  die  das  buch  zerfällt,  be- 
handelt J.  die  aus  arbeitung  von  'Dichtung  und  Wahrheit', 
auch  hier  geht  er  zunächst  auf  die  ps3^chologischen  Voraus- 
setzungen ein  und  behandelt  als  hauptquelle  Goethes  gedächtnis. 


GOETHES    DK  IITUNG    UNI)    WAllhllKlT  2G7 

Über  das  er  sehr  interessante  aufschlüsse  gibt,  dann  berichtet 
er  über  die  vorarbeiten,  die  erste  niedersclirift  und  ihre  Um- 
arbeitung, worauf  die  einzelnen  bände  liinsichtlich  ilirer  ent- 
stehung  und  der  composition  besprochen  werden,  in  diesem 
abschnitt  wird  über  die  arbeitsweise  Goethes  in  lehrreiclier  weise 
berichtet,  wir  erfahren,  wie  der  Verfasser  der  autobiographie 
zunäclist  Schemata  entwirft,  die  widerholt  verändert  und  umge- 
schrieben werden,  auf  grund  dieser  sclieniata  dictierte  Goethe 
in  abschnitten  aufser  der  reihe  den  ersten  text,  dessen  teile 
ziemlich  unverbunden  sind,  erst  in  der  Überarbeitung  dieses 
ersten  dictats  kommen  die  wichtigsten  principien  seiner  dar- 
stellungsknnst  zur  geltung.  Verzahnungen  werden  angebracht, 
vorbereitende  motive  eingeschoben,  wichtige  treten  heraus,  die 
composition  wird  durch  abschattungen  verfeinert,  kurz,  die 
architektonik  wird  jetzt  erst  erreicht,  auch  innre  eigentümlich- 
keiten  wie  die  Steigerung  des  individuellen  ins  allgemein 
menschliche  zeigen  sich  erst  in  diesem  dritten  Stadium  der 
arbeit. 

Wir  erhalten  auf  diese  weise  einen  tiefen  einblick  in  die 
äufsere  und  innere  entstehung  der  autobiographie,  über  das  was 
sie  darbietet,  wie  über  das  was  sie  enthalten  sollte  und  schliefs- 
lich  nicht  enthält,  von  diesem  geplanten  und  zuletzt  fallen  ge- 
lassenen hebe  ich  als  besonders  bemerkenswert  den  nachweis 
hervor,  wie  Goethe  ursprünglich  alles  auf  eine  grofse  Charak- 
teristik der  Sturm-  und  drangperiode,  'seines  reformatorischen 
strebens  in  litteratur,  ethik^  gesellschaft,  kunst-  und  natnran- 
schaunng'  anlegte,  um  sich  am  ende  mit  einem  dürftigen  ab- 
schnitt über  diese  herrliche  epoche  seiner  Jugend  zu  begnügen. 
J.  weifs  die  Unterlassung  aus  der  natur  des  alternden  dichters  zu 
erklären,  indem  er  auf  den  gegensatz  hinweist,  in  den  er  damals 
zu  der  'fordernden  epoche'  mit  ihren  genialen  und  individua- 
listischen tendenzen  geraten  war.  in  der  zeit  da  er  das 
antiromantische  manifest  'Neudentsche  religiös-patriotische  Kunst' 
veranlasste,  konnte  sich  Goethe  nicht  für  eine  richtung  erwärmen, 
die  nur  zu  verwant  war  mit  derjenigen  die  er  bekämpfte,  und 
er  muste  sich  hüten  als  ihr  förderer  zu  erscheinen. 

Nach  der  behandlung  der  Innern  und  äulsern  entstehungs- 
geschichte  gibt  J.  im  dritten  teil  die  analyse  der  autobio- 
graphie, in  der  es  ihm  darauf  ankommt,  sie  als  ein  werk  sui 
generis  zu  erweisen,  zu  diesem  zweck  sucht  er  ihr  wesen  bis 
in  die  kleinsten  züge  hinein  zu  charakterisieren,  wir  erfahren 
etwa,  wie  Goethe  das  entwickelungsgeschichtliche  dement  zur 
geltung  bringt,  oder  wie  er  das  werden  seiner  bildung  schildert, 
nach  welchen  principien  er  sich  über  die  entstehung  seinei-  werke 
ausspricht,  einen  grüfsern  räum  nimmt  seiner  Wichtigkeit  geraäfs 
die  behandlung  des  dichterischen  elementes  ein,  das  sich  in  diese 
lebensbeschreibung  eigener  art  notwendig  einmischte,     hier  zeigt 


2(38  l'XIOWER    ÜBER    JAHN 

J.,  was  für  Goethe  bei  der  auswalil  der  ereignisse  bestimn)end 
war,  aber  auch  wo  die  poetische  erhühung  der  würklichkeit  ihre 
grenzen  fand,  bedächtig  lässt  er  dabei  widerholt  durcliblickeu, 
was  bei  der  beurteilung  von  Dichtung  und  Wahrheit  nur  zu  oft 
überselien  wurde,  dass  es  der  sechzigjährige  Goethe  war,  der 
über  sein  leben  berichtete,  nach  seiner  damaligen  anschauung 
verlegte  er,  um  mich  der  worte  J.s  (s.  320)  zu  bedienen,  'die 
grenzlinie  möglichst  weit  nach  dem  normalen,  allgemein-mensch- 
lichen, ausgeglichenen  hin  und  nahm  den  habitus  seiner  seele 
zur  zeit  der  abfassung  der  autobiographie  als  den  echten,  fürs 
ganze  leben  gültigen',  als  resultat  seiner  vielfachen  beobaclitungen 
und  nachweise  aber  darf  man  wol  die  worte  J.s  (s.  273)  an- 
sehen: 'die  fähigkeit  auf  die  es  schliefslich  ankommt  das  werden 
des  menschen  aus  dem  angeborenen  und  dem  erlebten  jeder  art 
vollständig  zu  entwickeln,  tritt  hier  zum  ersten  mal  in  sj^ste- 
matischer  anwendung  in  die  Selbstbiographie  wie  in  die  biographie 
überhaupt  ein  und  macht  Dichtung  und  Wahrheit  zum  bahn- 
brechenden werk  auf  historischem  gebiet'. 

Den  schluss  bildet  ein  etwas  dünn  geratenes  capitel  über 
Stil  und  composition  des  werkes. 

Indem  J.  das  entwickelungsgeschichtliche  moment  stets  im 
äuge  behält  und  den  ganzen  Goethe  überblickt,  gelingt  es  ihm 
manches  neue  über  ihn  mitzuteilen,  was  sich  nicht  blofs  auf 
Dichtung  und  Wahrheit  bezieht,  von  der  ausführung  über  das 
gedächtnis  des  dichters,  der  Zusammenstellung  seiner  ansichten 
über  die  Vererbung  sprach  ich  schon,  aber  er  gibt  zb.  auch 
(s.  57)  aus  briefen  und  tagebüchern  eine  wertvolle  Übersicht 
über  Goethes  lectüre  von  Plutarch  und  Sueton.  kurz  vorher 
(s.  55)  zählt  er  die  hauptwerke  der  historischen  litteratur  auf 
die  der  dichter  gelesen  hat,  und  notiert  die  zahlreichen  daten. 
wie  wichtig  für  Goethes  ganze  lebensauffassung  sind  die  belege 
die  J.  (s.  87)  zusammenträgt,  um  seine  auffassung  der  Selbst- 
erkenntnis darzutun !  hier  vermiss  ich  freilich  manches  wichtige, 
wie  den  hinweis  auf  die  zahlreichen  das  thema  behandelnden 
•Zahmen  Xenien'  (vgl.  das  sach-  und  Wortregister  zu  Goethes  ge- 
dichten  ed.  Loeper  2.  ausgäbe  s.  v.  'Erkenne  dich  selbst"),  auf 
den  aufsatz  'Bedeutende  Fördernifs  durch  ein  einziges  geistreiches 
Wort'  (WA.  II  bd.  11,  59),  endlich  darauf,  dass  die  erörterung 
der  frage  für  die  disputationsscene  im  Faust  geplant  war  (WA.  i 
bd.  14  s.  291  z.  15  Fvco^l  osavrov  im  schönen  Sinne).  —  s.  344 
handelt  J.  sehr  interessant  über  Goethes  natursinn  und  citiert 
die  bezeichnende  stelle  aus  einem  brief  an  Zelter  (31  dec.  1817): 
'Besieh  dir  ja  die  tveite  Welt  gelegentlich,  so  lange  sie  dir  Spafs 
macht.  Ich  habe  mir  die  aesthetische  Ansicht  derselben  durch 
die  toissenschaftliche  ganz  verdorben'. 

In  eiuzelheiteu  dieses  an  anregungen  und  interessanten  ur- 
teilen   reichen   buches    wird   man  hin  und  wider  andrer  ansieht 


GOETHES    DICHTUNG    UND    WAHKllKIT  269 

seil!  als  der  Verfasser,  zunächst  zu  s.  121  eine  factische  berichtigung. 
K.  Ph.  Moritz  war  nicht  director  des  Berliner  gj'innasiums  zum 
Grauen  kloster.  sondern,  und  zwar  nur  einig-e  jähre  (von  177S 
bis  1785),  lehrer;  vgl.  Heidemann  Geschiclite  d.  Grauen  klosters 
(Berlin   1874)  s.  246f. 

Seltsam  verhält  sich  J.  zu  der  oft  behandelten  frage,  wen 
Goethe  zum  Vorbild  für  die  g-estalt  des  Satyros  genommen  habe, 
er  meint  (s.  284),  dass  ein  naiver  leser  des  Goethisclien  werkes 
den  'tüchtigeren  und  derberen  zunftgenossen'  auf  keinen  andern 
als  Basedow  wird  beziehen  können,  'dass  diese  beziehung,  fährt 
er  fort,  in  Wahrheit  irrig  ist  und  tatsächlich  ein  derber  spals 
mit  Herder  vorligt,  ist  heute  natürlich  nicht  mehr  zu  bezweifeln', 
man  könnte  dieser  etwas  verzwickten  auffassung  beistimmen,  in- 
sofern Goethe  ein  solches  mystiticierendes  versteckspielen  sehr 
wol  zuzutrauen  ist.  allein  ich  kann  nicht  linden,  dass  der  naive 
leser  hier  im  dreizehnten  buch  an  Basedow  denken  soll,  dessen 
an  das  wesen  des  Satyros  erinnernde  Charakteristik  erst  im  fol- 
genden entworfen  wird,  schliefslich  könnte  Goethe  doch  mehr 
als  eine  solche  natur  gekannt  haben,  nein,  weder  zielte  er  mit 
dem  Satyros  auf  Basedow  noch  fällt  an  dieser  stelle  der  auto- 
biographie  mit  oder  ohne  sein  bewustseiu  ein  schein  auf  ihn. 
nur  der  auf  ein  modeil  fahndende  litterarhistoriker  konnte  auf 
Basedow  verfallen,  womit  übrigens  nicht  ausgesprochen  ist,  dass 
bei  der  gestaltung  des  Satyros  nicht  doch  an  Basedow  be- 
obachtete Züge  Verwendung  gefunden  liaben.  dass  aber  Herder, 
obgleich  er  mit  jenen  worten  unzweifelhaft  gemeint  ist,  nicht 
leicht  zu  erraten  war,  dafür  hat  Goethe  allerdings  und  zwar 
sehr  mit  absieht  gesorgt,  vor  allem  dadurch,  dass.  wie  J.  her- 
vorhebt, jener  Herder,  den  er  in  Dichtung  und  Wahrheit 
schildert,  wenig  mit  der  gestalt  des  Satyros  gemein  hat.  Goethe, 
sagt  J.,  lag  nichts  daran,  auf  solche  misverhältnisse  in  der 
litteratur  hinzuweisen,  gewis  nicht,  er  war  zu  milde,  zu  ab- 
geklärt und  zu  vornehm  dazu,  so  wenig  er  in  der  autobiographie 
die  schärfen  und  kanten  von  Herders  Charakter  verbirgt,  alle 
menschlichkeiten  seines  wesens  aufzudecken  verschmähte  er,  den 
schweren  kräukungen  zum  trotz  die  er  vom  gealterten  freunde 
hatte  erleiden  müssen.  von  hass  und  rachsucht  war  er  zeit 
seines  lebens  fern,  auch  war  in  seinem  innersten  eingegraben, 
was  er  Herdern  verdankte. 

S.  282  nennt  J.  Goethes  äufserung  im  12  buch  von  Diclitung 
und  Wahrheit,  dass  'mit  der  nachricht  von  Jerusalems  tod  der 
plan  zu  Werthern  gefunden  war',  bekanntlich  einen  der  schwersten 
Irrtümer  der  ganzen  Selbstbiographie",  diese  entschiedene  ab- 
lehnung  halt  ich  für  unbegründet,  es  sei  mir  erlaubt,  diesen 
punct  und  das  sich  daran  anschliefsende  problem  hier  eingehender 
zu  behandeln,  es  verlohnt  sich,  zumal  Goethes  darlegungen  über 
die  entstehung  des 'Werther'  vielfach  misverstanden  worden  sind 


270  PXIOWEK    ÜBER    JAHN 

und  ihre  berichtig-ung-  an  der  liand  der  uns  vorliegenden  Zeugnisse 
aus  der  zeit  der  conception  und  der  abfassung-  des  Werkes  m.  w. 
niemals  ernstlicli  vorg-enommen  worden  ist. 

Mit  Düntzer  braucht  man  sich  über  die  auffassung  und 
d6n  wert  dieser  partie  der  autobiographie  nicht  weiter  aus- 
einanderzusetzen, seine  schulmeisterei  gegenüber  dem  dichter 
macht  sich  in  den  'Erläuterungen  zu  Dichtung  und  Wahrheit' 
besonders  unangenehm  geltend,  in  seiner  ausgäbe  des  werkes  in 
Kürschners  Nationallitteratur  würkt  sie  geradezu  abstofsend. 
für  ihn  sind  Goethes  mitteilungen  bald  unmöglich  bald  unwahr 
bald  entschieden  unwahr;  bald  spricht  er  von  einer  starken 
Verschiebung  der  walirheit  udgl.  aber  auch  Loeper  ist  zu 
zweifelsüchtig,  wenn  er  Goethes  angäbe,  dass  seine  erfahrungen 
im  Brentanoschen  hause  im  Werther  ihren  niederschlag  gefunden 
haben,  (Hempel  22,  378)  einschränkt,  und  Eichard  M,  Meyers 
von  Düntzer  (Kürschner,  Goethes  werke  bd.  19  s.  131)  über- 
nommene anmerkung,  dass  Goethe  den  roman  im  jähre  1772  in 
W'etzlar  geschrieben  sein  lässt  (Jubiläumsausgabe  bd.  24  s.  286), 
ist  unrichtig,  wie  allgemein  aber  Goethes  äufserung.  dass  mit 
der  nachricht  von  Jerusalems  tode  der  plan  zu  Werthern  ge- 
funden war,  verworfen  wird,  lehrt  am  besten  der  umstand,  dass 
Graf  in  seinem  vortrefflichen  documentenwerk  "Goethe  über 
seine  dichtungen'  die  Zeugnisse  über  die  entstehung  des  romans 
erst  mit  dem  april  1773  beginnen  lässt,  und  die  in  den  Goethischen 
briefen  an  Kestner  nnd  Sophie  La  Roche  von  anfang  november 
177  2  bis  zum  19  Januar  1773  enthaltenen  anfragen  und  mit- 
teilungen über  Jerusalems  Selbstmord  erst  in  fufsnoten  zu  dem 
bericht  des  dichters  in  der  Selbstbiographie  aus  dem  jähre  1812 
und  nicht  einmal  vollständig  verwertet. 

Zweimal  spricht  Goethe  in  wolberechneter  absieht  und  mit 
kunstvoller  Steigerung  von  der  entstehung  des  werkes,  im  12 
und  im  13  buch,  dort,  wo  er  die  erlebuisse  in  W^etzlar  berührt 
(WA.  28,  150f),  deutet  er  die  elemente  an  aus  denen  es  sich 
bildete,  er  spricht  (nach  seinen  eigenen  werten)  von  den  darin 
aufgeführten  personen  und  den  dargestellten  gesinnungen.  dh. 
er  macht  uns  mit  den  realen  menschen  bekannt,  die  ihm  mehr 
oder  weniger  die  modeile  für  den  roman  lieferten,  indem  er 
Kestner,  Lotte  Buff,  sich  selbst  und  Jerusalem  schildert,  er 
berichtet  (übrigens  in  anlehnung  an  die  darstellung  im  'Werther') 
über  die  eigene  Stimmung  jener  monate;  über  die  art,  wie  er 
die  natur  betrachtete,  über  die  lectüre,  ihren  einfluss  auf  sein 
gemüt  und  sein  zusammenleben  mit  Lotte  Buff  und  Kestner. 
wolweislich  lässt  er  hier  Jerusalems  Selbstmord  unerwähnt,  mit 
dieser  Schilderung  umreifst  Goethe  den  hintergrund  des 
romans,  entwickelt  den  stoff  und  berichtet  über  die  art, 
wie  sich  in  seinem  Innern  das  erlebte  unbewust  zur  poesie 
umgestaltete,     einen   teil    der    individuellen   äufsern   und  Innern 


GOETHES    DICHTUNG    UNH    VVAHEUEIT  271 

Voraussetzungen      der      diclitung     sollen      wir      damit      kcnueu 
lernen. 

Im  folgenden  buche  (WA.  28,  206  f)  sucht  er  in  weitem  ab- 
stand von  dem  vorher  berichteten  zuerst  die  form  des  wei-kes 
zu  erklären,  vielleicht  in  dem  bestreben  seine  schriftstellerische 
entwickelung  möglichst  organisch  erscheinen  zu  lassen  und  den 
.Götz',  den  er  in  Verbindung  mit  dem  ' Werther'  bespricht,  eng 
mit  ihm  zu  verknüpfen,  ist  er  bemüht,  die  für  ihn  gewählte 
briefform  als  eine  verkappte  dramatische  hinzustellen,  weiter 
gilt  es  den  Inhalt  des  romans  zu  rechtfertigen,  dli.  seine  ent- 
stehung  aus  der  Stimmung  der  zeit  und  weitern  persönlichen 
erlebnissen  herzuleiten.  Goethe  beginnt  mit  allgemeinen  er- 
örterungen  über  den  lebensüberdruss,  den  er  als  einen  kranken 
jugendlichen  wahn  der  damaligen  epoche  hinstellt,  und  schliefst 
daran  betrachtungeu  über  den  Selbstmord,  er  erzählt,  wie  er 
sich  selbst  mit  gedanken  daran  getragen  hat  und  endlich  da- 
durch von  ihnen  befreit  wurde,  dass  er  die  vergeblichkeit  der 
versuche  ihn  auszuführen  einsah,  um  zur  völligen  lebensfreude 
zu  gelangen,  bedurfte  es  jedoch  der  lösung  einer  dichterischen 
aufgäbe,  in  der  alles  was  er  über  diesen  wichtigen  punct 
empfunden,  gedacht  und  gewähnt,  zur  spräche  kommen  sollte. 
^ich  versammeUe.  fährt  er  fort,  hierzu  die  Elemente,  die  sich 
schon  ein  paar  Jahre  in  mir  herumtriehen,  ich  vergegenwärtigte 
mir  die  Fälle,  die  mich  am  meisten  gedrängt  und  geängstigt; 
aber  es  wollte  sich  nichts  gestalten:  es  fehlte  mir  eine  Begeben- 
heit, eine  Fabel,  in  welcher  sie  sich  verkörpern  könnten,  auf 
einmal  erfahre  ich  die  Nachricht  von  Jerusalems  Tode  und  un- 
mittelbar nach  dem  allgemeinen  Gerüchte  die  genauste  und  um- 
ständlichste Beschreibung  des  Vorgangs,  und  in  diesem  Augen- 
blick icar  der  Plan  zu    Werthern  gefunden'. 

Die  richtigkeit  dieser  angäbe  nun  zu  bezweifeln  haben  wir 
keine  veranlassung.  sie  wird  durch  die  Zeugnisse  im  wesent- 
lichen   bestätigt 

Schon  die  art  wie  sich  Goethe  (am  10  october  177  2)  nach 
der  falschen  nachricht  von  Goues  Selbstmord  Kestnern  gegen- 
über vernehmen  lässt,  ist  bemerkenswert.  ^Schreiben  sie  mir 
doch  gleich  wie  sich  die  Nachrichten  von  Goue  konfirmiren. 
Ich  ehre  auch  solche  Taht,  und  bejammre  die  Menschheit  und 
lass  alle  scheiskerle  von  Philistern  Tobacksrauchs  Betrachtungen 
drüber  machen,  und  sagen:  da  habt  ihrs.  Ich  hoffe  nie 
meinen  Freunden  mit  einer  solchen  Nachricht  beschweerlich  zu 
oierden\  als  er  dann  die  mitteilung  von  Jerusalems  tod  erhielt, 
schrieb  er  (anfang  november)  an  Kestner  die  bekannten  worte: 
^Der  unglückliche  Jerusalem.  Die  Nachricht  war  mir  schröck- 
lich  und  unertvartet  .  .  Der  unglückliche.  Aber  die  Teufel, 
welches  sind  die  schändlichen  Menschen  die  nichts  geniefsen  denn 
Spreu    der  Eitelkeit,    und  Götzen  Lust  in  ihrem  Herzen  haben, 


272  PNIOWER    ÜBER    JAHN 

uuil  Götzendienst  predigen,  und-  hemmen  gute  Natur,  und  über- 
treiben und  verderben  die  Kräfte  sind  schuld  an  diesem  Unglück 
an  unserm  Unglück'  usw,  wenige  tag-e  darauf  am  6  november 
reiste  er  nach  dem  Schauplatz  der  tat,  nach  Wetzlar,  sehr 
wahrscheinlich  hatte  der  besuch  mit  oder  hauptsächlich  seinen 
grund  darin,  dass  er  genaueres  über  den  Vorfall  erkunden  wollte, 
denn  am  10  november  mahnt  er  Kestner:  ^Schicken  Sie  mir 
doch  die  Nachricht  von  Jerusalems  Todte'.  und  am  nächsten 
tag  teilt  er  Sophie  La  Roche  die  durch  Merck  einige  umstände 
des  Vorkommnisses  von  ihm  zu  wissen  wünschte,  das  urteil  eines 
freundes,  des  barons  Kielmansegg  über  den  fall  mit:  'Das  was 
mir  wenige  glauben  werden,  was  ich  Ihnen  tvohl  sagen  kann, 
das  ängstlichste  Bestreben  nach  Wahrheit  und  moralischer  Güte, 
hat  sein  Herz  so  untergraben,  dass  misslungene  Versuche  des 
Lebens  und  Leidenschaft,  ihn  zu  dem  traurigen  Entschlüsse  hin- 
drängten', dazu  fügt  er  selbst:  'Ein  edles  Herz  und  ein  durch- 
dringender Kopf,  wie  leicht  von  auserordentlichen  Empfindungen, 
gehen  sie  zu  solchen  EntSchliessungen  über  —  was  brauch,  was 
kann  ich  Ih  n  e  n  davon  sagen.  Mir  ists  Freude  genug,  dem  ab- 
geschiedenen Unglücklichen,  dessen  Taht  von  der  Welt  so  unfühl- 
baar  zerrissen  irird,  ein  Ehrenmaal  in  Ihrem  Herzen  errichtet 
zu  haben',  klingt  das  nicht  wie  das  thenia  des  Werther,  be- 
sonders wenn  man  es  zu  den  werten  hält,  mit  denen  Goethe  es  nach 
Vollendung  des  romans  in  dem  brief  an  Schönborn  (l  juni  bis 
4  juli  1774)  formuliert?  'Die  Leiden  des  iungen  Werthers, 
darinn  ich  einen  iungen  Menschen  darstelle,  der  mit  einer  tiefen 
reinen  Empfindung,  und  wahrer  Penetration  begabt,  sich  in 
scMvärmende  Träume  verliert,  sich  durch  Spekulation  untergräbt, 
biss  er  zuletzt  durch  dazutretende  unglückliche  Leidenschafften, 
besonders  eine  endlose  Liebe  zerrüttet,  sich  eine  Kugel  vor  den 
Kopf  schiesst'.  —  nicht  unwichtig  ist  auch  noch  die  zweite 
äufseruug  Goethes  über  das  ereignis  in  dem  brief  an  frau  v. 
La  Roche  vom  19  januar  1773,  indem  sie  die  widerholte  be- 
schäftigung  mit  dem  Kestnerschen  bericht,  den  er  ende  novembers 
erhalten  hatte,  bezeugt:  ^Von  Jerusalems  Todte  schrieb  ich  nur 
das  xwagmatische  Resultat  meiner  Befiektionen,  das  ivar  freylich 
nicht  viel.  Ich  hoffte  auf  eine  umständliche  autentische  Nach- 
richt, die  ich  nun  überschicken  kann.  Sie  hat  mich  so  offt  innig 
gerührt  als  ich  sie  las,  und  das  geioissenhaffte  Detail  der  Er- 
zählung tiimmt  ganz  hin'- 

Ich  darf  mir  vielleicht  gestatten,  hier  im  wesentlichen  zu 
widerholen,  was  ich  in  meiner  einleitung  zum  Werther  in  der 
Pantheonausgabe  über  das  Stadium  bemerke,  bis  zu  dem  in  dieser 
zeit  (ende  1772)  der  plan  der  dichtung  gediehen  war.  wer  dem 
stillen  werden  der  poetischen  Schöpfung  in  der  seele  ihres  Ur- 
hebers psychologisch  nachgeht,  mnss  vermuten,  dass  damals 
bewust  oder  unbevvust  der  roman  concipiert  wurde,  dh.  dass  sich 


GOETHES    DICHTUNG    UND    WAlUUlKll'  273 

damals  in  Goethes  inneni  die  combination  dieses  eminenten  falles 
eines  Selbstmords  mit  dem  was  er  selbst  in  der  gleichen  Stadt 
erlebt  hatte,  vollzog,  es  war  nicht  blols  der  mitfülilcnde  be- 
kannte der  interessierte  Zeitgenosse,  es  war  vor  allem  der  antor 
in  Goethe,  der  sich  so  intensiv  mit  dem  Vorfall  beschäftigte  und 
ein  so  lebhaftes  verlangen  nach  den  mitteilungen  der  näheren 
umstände  empfand,  unter  denen  der  unglückliche  Jerusalem  den 
tod  gesucht  hatte. 

Im  folgenden  jähr  spann  Goethe  an  dem  dichterischen  plane 
fort,  zwar  sagt  er  in  Dichtung  und  Wahilieit  fW^^.  28,  224,  14), 
dass  er  das  werk  in  vier  wochen  geschrieben  habe,  ohne  dass 
ein  Schema  des  ganzen  oder  die  behandlung  eines  teils 
irgend  vorher  wäre  zu  papier  gebracht  gewesen, 
und  wir  wissen  auch  anderswoher,  dass  der  roman  in  der  tat 
in  ununterbrochener  folge,  wenn  auch  nicht  in  vier  wochen.  so 
doch  in  zwei  monaten  verfasst  ist,  indem  die  fortlaufende  nieder- 
schrift  am  1  februar  17  74  begann  und  im  april  beendet  war. 
(vgl.  Graf  I-  s.  498  —  502.  Morris  D.  junge  Goethe  iv  s.  2u  und 
372).  gleichwol  war  Goethe,  wie  briefliche  äufserungen  bezeugen, 
mit  dem  Stoffe  schon  in  der  zeit  vom  april  bis  September  des 
abgelaufenen  jahres  beschäftigt,  vgl.  Graf  s.  497 f.  von  den 
hier  gesammelten  Zeugnissen  heb  ich  die  worte  in  dem  brief  an 
Kestner  vom  15  September  17  73  heraus:  ^und  ich  hah  euch  auch 
immer  bey  mir  rvenri  ich  ivas  schreibe.  Jezt  arbeit  ich  einen 
Roman,  es  geht  aber  langsam''  trotz  der  auffassung  in  der 
Weimarer  ausgäbe  (WA.  iv  bd.  7  s.  477)  kann  man  sie  schlechter- 
dings nur  auf  den  Werther  beziehen,  hierzu  kommt  noch  bestä- 
tigend eine  äufserung  aus  dem  jähre  1774,  auf  die  ich  weiter- 
hin zu  sprechen  komme. 

Freilich,  dass  Goethe  von  vornherein  die  absieht  hatte,  dem 
Stoff  dieselbe  gestalt  zu  geben  in  der  er  schliefslich  in  der 
octobermesse  1774  ans  licht  trat,  ist  nicht  anzunehmen,  zu- 
nächst muss  er  an  eine  dramatische  behandlung  gedacht  haben. 
'Und  das  sag  ich  euch,  schreibt  er  an  Kestner  (am  15  april  1773, 
also  einige  raonate  vor  der  eben  citierten  briefstelle),  icenn  ihr 
euch  einfallen  lasst  eifersüchtig  zu  wo'den  so  halt  ich  mirs  aus 
euch  mit  den  treffensten  Zügen  auf  die  Bühne  zu  bringen  und 
Juden  und  Cristen  sollen  über  euch  lachen',  dieses  zeugnis  allein 
wräre  natürlich  kein  beweis  für  die  ausgesprochene  vei-mutung. 
denn  unmöglich  kann  man  glauben,  dass  Goethe  das  Wetzlarer 
eilebnis  in  ein  lustspiel  oder  eine  posse  habe  verwandeln  wollen, 
doch  aber  lehrt,  was  er  schreibt,  zunächst  einmal,  dass  er  sich 
den  Stoff  durch  den  köpf  gehn  liefs.  eine  spätere  mitteilung 
lässt  aber  ferner  erkennen,  dass  sich  hinter  diesen  scherz- 
haften Worten  ein  durchaus  ernstes  vorhaben  verbirgt,  mitte 
jiili  desselben  jahres  schreibt  er  an  Kestner;  'Heut  vorm  Jahr 
wars    doch    anders,     ich    irollt   schcören   in  dieser  Stunde  rorm 

A.  F.  D.  A.    XXXIV,  ^S 


274  PXIOWER    ÜBER    JAHN 

Jahr  sass  ich  heij  Lofte)).  Ich  hearhe'äe  meine  Situation  zum 
Schauspiel  zum  Trutz  Gottes  und  der  Menschen.  Ich  weis  n-as 
Lotte  sagen  wird  wenn  Sies  zu  sehn  kriegt  und  ich  was  ich  ihr 
anttvorten  werde',  nimmt  man  hierzu  die  in  demselben  brief 
enthaltenen  worte  'Ich  hinn  recht  feissig  und  wenns  glück  gut 
ist  kriegt  ihr  bald  wieder  was,  auf  eine  andre  Manier  (dh. 
anders  als  der  Götz,  der  kurz  vorher  erschienen  war),  so  lässt 
sich  nicht  avoI  bezweifeln,  dass  Goethe  mindestens  den  gedanken 
hatte,  den  stoff  den  seine  Wetzlarer  erlebnisse  in  Verbindung- 
mit  Jerusalems  Selbstmord  boten,  dramatisch  zu  gestalten,  viel- 
leicht schimmert  noch  eine  dunkle  erinnerung  daran  an  jener 
oben  s.  271  erwähnten  stelle  in  Dichtung  und  Wahrheit  durch, 
in  der  der  Verfasser  (W.  28,  206  f)  Götz  und  AVerther  con- 
trastiert, zugleich  aber  die  verwantschaft  der  darstellungsarten 
hervorhebt,  indem  er  die  briefform  des  romans  als  dem  dramatischen 
nahe  stehend  bezeichnet. 

Allein  es  gibt  noch  eine  bisher  nicht  beachtete,  während 
der  arbeit  am  roman  niedergeschriebene  äulserung  Goethes,  die, 
wie  rätselhaft  sie  auch  ist,  uns  jedenfalls  von  einem  Vor-  oder 
Urwerther  künde  gibt,  in  einem  brief  von  ihm  an  Sophie  La 
Roche  von  mitte  februar  17  74  heilst  es  mit  bezug  auf  den 
roman:  'Das  liebe  Weibgen  hat  Ihnen  ivas  von  einer  Arbeit  ge- 
schrieben die  ich  angefangen  habe  seit  Sie  tceg  sind,  wvrcklich 
angefangen  denn  ich  hatte  nie  die  Idee  aus  dem  Suiet  ein  ein- 
zelnes Ganze  zu  machen',  diese  letzten  worte  sind  gewis  nicht 
leicht  zu  deuten,  zunächst  machen  sie  es,  worauf  ich  oben 
hinwies,  unzweifelhaft,  dass  der  stoff  (das  sujet)  schon  früher 
vom  dichter  ins  äuge  gefasst  war.  weiter  darf  man  schliessen, 
dass  er  daran  auch  bereits  tätig  gewesen  war.  wenigstens  ist 
nach  meiner  ansieht  vor  dem  denn'  ein  gedankensprung  anzu- 
nehmen, wie  er  im  briefstil  des  alltags  so  häuög  begegnet,  und 
so  zu  interpretieren:  'ich  kann  sagen:  würklich  angefangen, 
denn  was  niedergeschrieben  ist,  istunbrauchbar,  es  stammt  aus 
einer  zeit,  da  ich  noch  nicht  die  absieht  hatte,  den  stoff  zu 
einem  einzelnen  dh.  doch  wol  selbständigen  ganzen  zu  gestalten", 
was  aber  soll  das  heifsen?  sollte  der  Wertherstoff  als  ein  teil 
einer  dichtung  behandelt  werden?  etwa  als  eine  episode?  oder 
ist,  was  Goethe  schreibt,  als  eine  absichtliche  mystificierung  auf- 
zufassen? ich  weifs  darüber  nichts  zu  sagen,  nur  lassen  die 
worte  unter  allen  umständen  erkennen,  dass  bruchstttcke  einer 
dichterischen  behandlung  desselben  Stoffes  vorhanden  waren,  als 
Goethe  am  1  februar  1774  die  niederschrift  der  'Leiden  des 
jungen  Werthers'  begann,  und  prüft  man  die  chronologische 
reihenfolge  der  Zeugnisse,  so  kommt  man  ferner  zu  dem  schluss, 
dass  Goethe  zuerst  —  nach  den  brieflichen  Zeugnissen  bis  mitte 
juli  1773  —  an  eine  dramatische  gestaltung  des  sujets  dachte, 
mitte    Septembers    jedoch    (vgl.    die   mitteilung   an  Kestner  vom 


GOETHES    DICHTUNG    UND    WAllUHEIT  275 

15  dieses  monats,  oben  s.  273)  dahin  gelangt  war.  ihm  eine  epische 
form  zu  geben. 

Darnach  ist  Goethes  bemerkung  in  'Dichtung  und  Wahrheit', 
dass  mit  der  nachricht  von  Jerusalems  tod  der  plan  zu  Werthern 
gefunden  war,  allerdings  zu  moditicieren,  ohne  dass  wir  jedoch 
genötigt  sind,  sie  mit  J.  und  andern  gänzlich  zu  verwerfen, 
vielmehr  ist  sicher,  dass  diese  nachricht  in  ihm  die  absieht  ent- 
stehn  liefs,  das  ereignis  poetisch  zu  behandeln,  oder  mit  seinen 
Worten  ausgedrückt:  sie  weckte  in  ihm  den  entschluss,  der  ge- 
schichte  Jerusalems  seine  emptindungen  zu  leihen,  und  so  aus 
Wahrheit  und  lüge  -7-  wie  er  öfters  das  der  dichtung  eigen- 
tümliche mischen  von  realität  und  phantasie  nannte  (an  Kestnei- 
october  1774,  Italienische  Reise  WA.  30.  77,  25  und  briefe  WA. 
IV,  bd.  8  s.  366,  4  f)   —  ein  drittes  zu  bilden. 

Dass  dieser  entschluss  nicht  sogleich  nach  dem  Selbstmord 
Jerusalems  in  die  tat  umgesetzt  wurde,  hatte  übrigens  zunächst 
einen  äufsern  grund.  im  herbst  177  2  bis  in  den  anfang  des 
folgenden  Jahres  war  Goethe  mit  der  Umarbeitung  des  Götz  be- 
schäftigt, allein  es  muss  auch  noch  innerlich  der  rechte  zur 
gestaltung  drängende  trieb  gefehlt  haben,  da  gaben  neue  erleb- 
nisse  den  entscheidenden  Impuls,  es  waren  die  schlimmen  er- 
fahrungen,  die  dem  dichter  der  umgang  mit  den  Brentanos 
brachte,  sie  nennt  er  in  der  autobiographie  (W.  28  s.  22lf) 
neben  der  nachricht  von  Jerusalems  tod  als  ein  weiteres  für  die 
entstehung  des  romans  bestimmendes  moment. 

Die  richtigkeit  dieser  angäbe  wird  von  niemandem  bezweifelt, 
vielmehr  ist  allgemein  anerkannt,  dass  die  Werthersche  Lotte 
Züge  von  Maximiliane  Brentano  empfing  und  Albert  im  zweiten 
teil  der  dichtung  mehr  Peter  Anton  Brentano  als-  Johann  Christian 
Kestner  gleicht,  diese  mischung  der  modelle,  diese  contamination 
wird  auch  durch  ein  unmittelbares  gleichzeitiges  zeuguis  Goethes 
bestätigt,  jene  an  Kestner  nach  Vollendung  des  romans  anfang 
juni  1774  gerichteten  worte:  ^Icli  seh  sie  immer  noch  wie  ich 
sie  verlassen  habe,  \:  daher  ich  auch  weder  dich  als  Ehmann 
kenne,  noch  irgend  ein  ander  Verhältniss  als  das  alte,  —  und 
sodann  hey  einer  gewissen  Gelegenheit,  fremde  Leidenschafften 
aufgeflickt  und  ausgeführt  habe,  daran,  ich  euch  warne, 
euch  nicht  zu  stosen  :]'. 

Einige  Schwierigkeiten  bereitet  allerdings  die  Chronologie. 
so  wie  Goethe  in  der  autobiographie  von  den  Verhältnissen  dei- 
Brentanoschen  ehe  und  seinen  beziehungen  zu  dem  hause  spricht 
(WA.  28,  223),  muss  man  auf  einen  über  eine  längere  zeit 
ausgedehnten  verkehr  bis  zum  beginn  der  niederschrift 
des  romans  schliefsen,  während  er  in  Wahrheit  einen  halben 
monat  nach  der  ankunft  Maximilianens  in  Frankfurt,  die  am 
15  Januar  1774  erfolgte,  band  an  das  werk  legte,  früher  nahm 
man  allgemein  an,    dass  ein  bestimmter  verfall  schon  in  diesem 

18* 


276  PNIOWEE    ÜBEK    JAllX 

monat  Goethe  bewog,  das  haus  der  freunde  zu  meiden,  und  dass 
damit  der  letzte  impuls  zur  dichtung-  gegeben  war.  diese  an- 
nähme stützte  sich  auf  einen  undatierten  brief  von  ihm  an 
Sophie  La  Roche,  der  mit  den  werten  beginnt:  'Wenn  Sie  uiissten 
ivas  in  mir  vorgegangen  ist  eh  ich  das  Haus  mied,  Sie  würden 
mich  nicht  rückznlocken  denken,  liebe  Mama'.  —  Loeper  (Briefe 
Ooethes  an  Sophie  v.  La  Roche  s.  28)  setzte  das  Billett  auf  den 
22  Januar,  und  auch  Düntzer  gibt  die  erläuterung,  dass  Goethe 
am  20  Januar  kurz  nach  der  ankunft  des  paares  in  Frankfurt, 
von  dem  eifersüchtigen  gatten  beleidigt,  schwur  die  schwelle 
seines  hauses  nicht  mehr  zu  betreten  (Kürschnei-,  Goethes  Werke 
bd.  19  s.  197).  dagegen  nahm  Fielitz  (Schnorrs  Archiv  bd.  10 
s.  90.  95)  an,  dass  jener  brief  zwischen  den  lü  juni  und  16  juli 
dh.  in  die  zeit  falle,  da  frau  v.  La  Roche  ihre  tocliter  zum  zweiten 
mal  in  Frankfurt  besuchte  und  da  der  Werther  schon  vollendet 
war.  Morris  folgt  in  seiner  neuen  ausgäbe  des  Jungen  Goethe 
Fielitz  (bd.  iv  s.  24  nr.  232).  mafsgebeud  war  für  ihn,  dass 
Merck  am  29  januar  seiner  gattin  schreibt  (ibid.  s.  76):  'Goethe 
est  dejd  V  ami  de  la  niaison,  il  joiie  avee  les  enfans  et  acconi- 
■pagne  le  clavecin  de  Mme  avec  la  hafse.  Mr.  Brentano  quoique 
afsez  jaloux  pour  un  Italien,  V  ahne  et  veut  ahsolument 
qu'il  frequente  la  maison'.  weiter  bestimmte  ihn  zu  dieser 
datierung  der  umstand,  dass  sich  Goethe  in  einem  allerdings  un- 
datierten, von  Morris  jedoch  mit  recht  dem  anfang  februars  zu- 
gewiesenen brief  an  Bett}^  Jacobi  "durchaus  günstig  und  aner- 
kennend über  Anton  Brentano  äufsert.  bei  diesem  stände  der 
Überlieferung  ist  es  sehr  schwer  die  frage  zu  beantworten,  wann 
Goethe  sich  gezwungen  sah  das  haus  der  freunde  zu  meiden, 
jedenfalls  spricht  aber  Merck  schon  in  dem  eben  citierten  brief 
von  der  unerquicklichkeit  der  Brentanoschen  ehe  und  weils  von 
schrecklichen  scenen,  die  sich  abgespielt  hätten,  aus  einem 
undatierten,  aber  dem  raärz  zuzuweisenden  Billett  Goethes  an 
frau  V.  La  Roche  kann  man  möglicher  weise  herauslesen,  dass 
damals  seine  beziehungen  zu  dem  hause  ihres  Schwiegersohnes 
gestört  waren,  wenn  es  da  heisst:  'Ihre  Lieben  hab  ich  einige 
Zeit  nicht  gesehen.     Ich  hatte  mein  Herz  veric'öhnt\ 

Die  äufsern  Zeugnisse  lassen  uns  also  hinsichtlich  der  frage, 
ob  Goethe,  als  er  die  arbeit  am  Werther  begann,  den  näheren 
Umgang  mit  den  Brentanos  schon  aufgegeben  hatte  oder  nicht, 
im  stich,  vielleicht  genügte  aber  zu  dem  entschluss  den  Stoff 
anzupacken  die  von  Merck  schon  am  29  januar  bezeugte  tat- 
sache,  dass  Brentano  eifersüchtig  war.  im  april  1773  hatte  der 
dichter,  wie  wir  sahen  (s.  273),  an  Kestner  geschrieben:  'Das 
sag  ich  euch,  tvenn  ihr  euch  einfallen  lasst  eifersüchtig  zu 
-werden  so  halt  ich  niirs  aus  euch  mit  den  treffensten  Zügen  auf 
die  Bühne  zu  bringen',  dieses  motiv  der  eifersucht  des  gatten 
der    geliebten    scheint   mir  für  den  trieb  zur  künstlerischen  ge- 


GOETHES    DICHTUNG    UND    WAHKHEIT  27  7 

staltung-  des  paraten  Stoffes  allerdings  sehr  wesentlich.  Goethe 
fühlte  sich  von  neufm  —  ich  gestatte  mir  hier  widenim  meine 
einleitung  zu  eitleren  —  zu  einer  frau  hingezogen,  aber  zu 
einer,  deren  gemahl  auffällige  schwächen  des  Charakters  bot.  er 
sah  sie  an  einen  mann  gekettet,  der  ihrer  nicht  würdig  wai-. 
nun  erst  erschien  er  sich  in  der  unbewiisten  identiticierung  des 
autors  mit  dem  von  ihm  dargestellten,  die  jede  in  der  tiefe  ge- 
gründete dichterische  conception  voraussetzt,  .lerusalem- Werther 
ähnlich,  denn  nun  erst  war  für  die  tragik  des  romans  mit  dem 
er  sich  im  stillen  trug,  ein  ausschlaggebendes  motiv  gewonnen, 
die  Verzweiflung  des  beiden  war  damit  besiegelt,  sollte  der 
lebensüberdruss,  der  Selbstmord  zum  gegenständ  der  künst- 
lerischen behandlung  gemacht  Averden.  dann  muste  sich  zu  dem 
individuellen  Unbehagen  eine  zugleich  generelle  Unzufriedenheit 
gesellen,  ein  groll  gegen  das  harte,  ungerechte  Schicksal,  das  die 
verehrte  ihm,  der  sie  so  glücklich  machen  würde,  entzog,  und  an 
einen  mann  gefesselt  hielt,  der  sie  nicht  verdiente. 

Man  verzeihe  diese  etwas  lang  geratenen  ausführungen. 
sie  schienen  notwendig,  weil  mir  Goethes  darlegungen  über  die 
entstehung  des  Werther  immer  besonders  aufschlussreich,  ja  vor- 
bildlich erschienen  und  keineswegs  das  Schicksal  verdienten,  ver- 
worfen und  zu  den  schwersten  irrtümern  der  selbstbiogi-aphie 
gerechnet  zu  werden,  gewis  sind  sie  nicht  frei  von  Unrichtig- 
keiten, wie  wir  sahen,  diese  sind  aber  alles  in  allem  neben- 
sächlicher natur.  selbst  der  hauptfehler,  dass  Goethe  Jerusalems 
Selbstmord  mit  den  Vorgängen  im  Brentanoschen  hause  zeitlich 
zusammenrückt,  obgleich  sie  in  würklichkeit  durch  fünfviertel 
jähre  auseinanderliegen,  erscheint  nicht  beträchtlrch.  in  der 
hauptsache,  in  dem  interessanten  umstand,  dass  neben  der 
Stimmung  der  zeit  der  roman  aus  den  drei  individuellen 
momenten ;  den  erlebnissen  in  Wetzlar,  dem  Selbstmord  Jerusalems 
und  seinen  beziehungen  zu  dem  Brentanoschen  ehepaar  erwuclis, 
war  ihm  die  erinnerung  durchaus  treu  geblieben,  der  Irrtum 
in  den  er  verfiel  besteht  in  einer  Verschiebung  oder  Verwechslung 
der  beiden  letzten  momente,  die  für  das  wesen  seiner,  wie  ich 
meine,  mit  recht  als  classisch  bezeichneten  darstellung  von  unter- 
geordneter bedeutung  ist.  nach  dem,  was  uns  die  Zeugnisse 
lehren,  schüttelte  Goethe  nicht  die  nachricht  von  .Jerusalems  tod 
aus  dem  träum,  mit  dem  ihn  die  erfahrungen  im  Brentanoschen 
haus  umfangen  hatten,  sondern  diese  erlebnisse  kamen  zu  der 
erschüttejung  hinzu,  in  die  er  durch  den  tragischen  Untergang 
jenes  unglücklichen  versetzt  worden  war.  hatte  dieser  ihm  die 
gefahr  gezeigt,  aus  der  er  sich  in  Wetzlar  mit  männlicher 
stärke  losgerissen  hatte,  so  liels  das  was  das  Schicksal  ihm  jetzt 
bereitete,  das  verderben,  das  ihn  damals  bedroht  hatte,  noch 
einmal  in  heller  beleuchtnng  aufflammen,  damit  war  der  trieb, 
zu    dem   bewährten   liausmiltel  zu  greifen  und  sich  von  den  be- 


27 S  KETTXEK    ÜBER    WITKOWSKI 

dräiignissen  des  daseins  durch  die  poesie  zu  befreien,  unwidersteh- 
lich g-eworden.     der  Werther  muste  entstehu. 

Berlin.  Otto  Pniower. 


Aus  Schillers  Werkstatt,     seine    draiiiatisclien    plane   und    brucli- 
stücke  herausgegeben  von  Georg  »itkowski.    Leipzig,  Max  Hesse 

1910.     :m  SS.  8".  —  geb.  2  m. 

W.  hat  mit  seinem  buche  einen  versuch  wider  aufge- 
nommen, den  vor  mehr  als  40  jähren  RBoxberger  im  16  bde 
der  Hempelschen  ausgäbe  von  Schillers  werken  zum  erstenmal 
gemacht  hatte:  er  hat  in  die  dramatischen  entwürfe  und  frag- 
mente  Sch.s  auch  die  plane,  von  denen  nur  der  titel  bekannt 
ist,  eingereiht  und  erläutert  und  so  ein  zusammenhängendes  bild 
von  der  gesamten  dramatischen  tätigkeit,  die  neben  und  zwischen 
den  vollendeten  dramen  einhergeht,  gegeben,  er  fasst  die  ergeb- 
nisse  der  zahlreichen  Untersuchungen,  die  auf  diesem  gebiete 
inzwischen  angestellt  sind,  geschickt  für  ein  weiteres  publicum 
zusammen;  klar  und  anschaulich  weifs  er  den  ganzen  reichtum 
der  entwürfe  Schillers  vor  uns  auszubreiten,  mit  voller  ent- 
schiedenheit  vertritt  er  dabei  die  auffassung  des  dramatikers,  die 
in  ihm  wesentlich  den  genialen  theaterdichter  sieht,  sie  beginnt 
sich  jetzt  immer  mehr  durchzusetzen;  besonders  wer  von  der 
bühue  her  lebendig  die  würkung  seiner  kunst  erfahren  oder  gar 
selbst  die  aufführung  seiner  werke  geleitet  hat,  pflegt  zu  dieser 
auffassung  zu  neigen.  W.  ist  selbstverständlich  weit  davon  ent- 
fernt, in  dieser  eigenschaft  Sch.s  einen  mangel  zu  sehen,  weifs 
er  doch,  dass  er  darin  mit  allen  grofsen  dramatikern  wesens- 
verwant  ist.  aber  viel  zu  einseitig  hat  er  diese  seite  in  Sch.s 
schaffen  hervorgehoben  und  auf  sie  bei  der  betrachtung  der  in  den 
fragmenten  uns  erhaltenen  Zeugnisse  für  die  entstehungsart  seiner 
dramen  den  blick  gelenkt:  'überall  waltet,  von  anfang  bis  zu 
ende,  die  kühlste  berechnung  des  effects  auf  ein  publicum  "von 
ganz  bestimmter  psj^chischer  disposition  (?),  immer  wider  hat 
sich  der  dichter  während  des  Schaffens  gleichsam  ins  parterre 
gesetzt  und  von  dort  aus  jede  einzelheit  seiner  arbeit  auf  ihre 
würksamkeit  hin  kontrolliert',  der  denker,  der  nicht  müde  wird, 
das  dramatische  problem  immer  ernster  und  tiefer  zu  erfassen 
und  immer  schärfer  herauszuarbeiten,  kommt  hierbei  nicht  zu 
seinem  rechte. 

Aus  dem  streben,  Seh.  möglichst  dem  modernen  ideal  anzu- 
nähern, entspringt  auch  die  neigung  W.s,  seinen  realismus  stark 
zu  betonen,  nach  den  Jugenddramen  scheint  ja  dieser  realismus 
gerade  in  den  fragmenten  plötzlich  wider  überraschend  hervor- 
zubrechen und  fremdartig  in  die  Stilentwicklung,  die  wir  in  den 


AUS   SCHILLERS   wehkstatt  279 

vollendeten  dramen  sich  vollziehen  sehen,  sich  einzudrängen, 
seit  Sch.s  Studien  zu  einem  Pariser  sittendrama  'Die  Polizey" 
und  die  skizzen  zu  einem  seedrama  vollständig-  ans  licht  ge- 
treten sind,  pflegt  man  die  stärke  des  sich  hier  bekundenden 
dranges,  modernes  leben  in  weitem  umfang  und  in  charakte- 
ristischen einzelheiten  widerzugeben,  mit  bewunderung  oder  auch 
wol  Verwunderung  zu  betrachten,  ja  durch  den  gedanken  'Paris 
in  seiner  allheif  darzustellen  und  die  zu  diesem  werke  ange- 
legten excerpte  aus  Merciers  'Tableau  de  Paris'  fand  man  sich 
unwillkürlich  an  Zolas  "Ventre  de  Paris'  eiinnert.  W.  glaubt 
hier  den  verheil'sungsvollen  ansatz  zu  einer  neuen  entwicklungs- 
linie  in  Sch.s  dramatischem  schaffen,  "das  eine  falsche  anschauung 
in  seinem  letzten  Stadium  ausschliefslich  dem  getragenen  stil  der 
idealisierenden  tragödie  ergeben  sein  lässt'.  zu  erkennen,  'hier 
wird  man  eines  bessern  belehrt,  neben  den  Seh.  des  Wallenstein 
und  der  Braut  von  Messina  tritt  ein  anderer,  ein  groi'ser  realist, 
der  nur  solange  im  stillen  planen  und  schaffen  wollte,  bis  der 
grofsen  form  der  hohen  tragödie  durch  eine  reihe  vorbildlicher 
werke  auf  der  gereinigten  deutschen  bühne  für  alle  zeiten  die 
existenz  gesichert  war.  der  Demetrius  lässt  die  stilwaudlung 
erkennen,  die  sich  gerade  vorbereitete,  als  der  tod  dem  dichter 
die  feder  aus  der  band  nahm',  ich  gesteh,  ich  vermag  diese 
folgerung  nicht  zu  ziehen,  ist  es  von  vornherein  wol  glaubhaft, 
dass  Seh.  in  der  hier  angenommenen  weise  gleichsam  auf  jähre 
hinaus  ein  dramatisches  programm  sich  gestellt  und  erst  durch 
eine  reihe  von  werken  dem  idealisierenden  stil  auf  der  bühne 
eine  statte  bereiten  wollte,  um  dann  selbst  zum  realismus  abzu- 
schwenken? und  nun  sehe  man  sich  diese  ausätze  selbst  an. 
w'ie  viele  sind  es  denn,  und  wie  weit  sind  sie  gediehen?  das 
geplante  exotische  drama  kommt  über  ein  paar  unfruchtbare, 
ganz  verstandesmäl'sig  ausgeklügelte  combinationen  nicht  hinaus, 
und  der  grofse  plan  der  Tolizey'  schrumpft  sehr  bald  zu  einem 
bürgerlichen  Schauspiel  in  einer  französischen  provincialstadt  zu- 
sammen, dessen  grundriss  kaum  wesentlich  über  den  damals  in 
Deutschland  üblichen  mafsstab  hinausgeht  und  das  in  den  bereits 
genau  skizzierten  scenen  des  1  actes  keine  spur  von  localfarbe 
zeigt,  denn  die  paar  französischen  namen  tun  es  doch  nicht ! 
wenn  man  der  genesis  dieser  plane  nachgeht,  dann  begreift 
man  auch,  warum  diese  hinwenduug  zum  realismus  keine  tieferen 
Wirkungen  haben  konnte.  sie  entsprang  nicht  aus  einer 
lebendigen  berührung  mit  der  würklichkeit,  aus  eigenen  er- 
fahrungeu  und  betrachtungen,  sondern  sie  war  nur  vorübergehend 
durch  die  lectüre,  besonders  französischer  sittenromane  in  Seh. 
angeregt,  mühsam  sucht  er  das,  was  er  so  aus  zweiter  hand 
empfangen  hat,  zu  sammeln  und  zu  sichten,  und  schliel'slich  ver- 
Üattern  doch  alle  diese  eindrücke,  weil  sie  eben  nur  angelesen 
sind  und  nicht  durch  eine  eigene  lebendige  anschauung  zusammen- 


280  KETTNER    ÜBER    WITKOWSKI 

gehalten  werden,  so  bedeuten  jene  entwürfe  in  Seh.s  drama- 
tischer eutwicklung  doch  nur  einen  Seitenweg  und  einen  Irrweg 
und  nimnierniehr  den  ersten  schritt  zum  klar  erkannten  höchsten 
ziel,  aucli  dem  stilwandel,  der  im  Demetrius  sicli  ankündigen 
soll,  steh  ich  durchaus  skeptisch  gegenüber,  ich  finde  hier  die- 
selben Stilelemente  wie  im  Teil  wider,  ja  die  grofse  pathosscene  der 
Marfa,  in  der  die  zarin  wie  eine  lieroine  der  holien  tragüdie  spricht, 
geht  noch  weit  über  Melchthals  apostrophe  an  das  licht  des 
auges  hinaus,  auch  die  art  wie  Seh.  die  culturvoraussetzungen 
der  handlung,  den  Charakter  von  land  und  leuten  darstellt,  ist 
in  beiden  dranien  nicht  w-esentlich  verschieden,  wenn  uns  heute 
die  Schweizer  bauern  stärker  idealisiert  erscheinen  als  die 
russischen,  so  ligt  das  nicht  an  dem  verschiedenen  verfahren  des 
dichters,  sondern  nur  am  Stoffe  selbst,  wie  er  ihm  in  seinen 
quellen  entgegentrat:  es  war  ein  ganz  anderes  volk,  das  ihm  u.  a. 
Olearius  schilderte,  als  das  wovon  die  historiker  und  reise- 
schriftsteller  von  Tschudi  bis  auf  Joh.Müller  berichteten. 

Für  die  chronologische  anordnung  der  plane  hat  W.  nach 
Boxbergers  Vorgang  das  grofse  titelverzeichnis,  das  zuerst  in 
Sch.s  kalender  veröffentlicht  wurde  zu  gründe  gelegt,  so  bemerkt 
er  zb.  beim  'Hausvater'  (s.  151):  'aus  der  Stellung  in  der  liste 
ist  zu  schlielsen,  dass  der  gedanke  ihm  w'ährend  der  Vollendung 
des  Wallenstein  kam',  dass  dieser  schluss  unbegründet  ist,  habe 
ich  in  meinen  Schillerstudien  gezeigt:  der  'Warbeck'  dessen  plan 
nachweislich  während  der  arbeit  an  der  'Maria  Stuart'  auftauclite 
(an  Goethe  20.  8.  99),  steht  in  jener  liste  durch  9  titel  von  ihr 
getrennt  hinter  der  'Jungfrau  von  Orleans';  auf  ihn  folgt  dann 
die  'Polizey',  die  Goethe  schon  im  märz  1799  kennen  lernte, 
dass  in  jenem  Verzeichnis  'die  reihenfolge  der  titel  nichts  besagt 
und  eine  vorsichtige  Untersuchung  es  daher  für  datierungsfragen 
aufser  betracht  lassen  müsse',  hat  auch  EElster  im  Auz.  xxv  79 
ausgesprochen,  seltsamer  weise  nimmt  W,  selbst  s.  316  dieses 
urteil  bei  der  'ßosamund'  fast  wörtlich  auf,  stöfst  also  damit 
eigentlich  sein  princip  a.  e.  wider  um. 

Beim  'Hausvater'  will  W.  die  frage  offen  lassen,  'ob  es  sich 
um  eine  eigene  erfindung  oder  um  eine  deutsche  bearbeitung  von 
Diderots  'Pere  de  famille'  handelt',  neigt  aber  zur  zweiten  an- 
nähme, ich  glaube,  diese  frage  wird  dadurch  entschieden,  dass 
der  titel  auch  in  einer  W.  unbekannt  gebliebenen  dramenliste 
sich  findet,  die  EMüller  in  der  beilage  zur  Allg.  Ztg.  1900 
ur  1 06  (vgl.  108.132)  veröffentlicht  hat:  sie  enthält  nur  fremde  stücke 
die  Seh.  w^ol  für  die  aufführung  in  Weimar  sich  notiert  hatte,  da 
die  meisten  von  ihnen  bereits  dem  Spielplan  angehörten,  so  ligt 
es  näher,  an  Gemmiugens  als  an  Diderots  Schauspiel  zu  denken, 
als  aufgäbe  zur  Umarbeitung  ist  es  hier  noch  nicht  bezeichnet, 
dagegen  neben  dem  'Macbeth'  noch  'der  Hofmeister",  der  also 
künftig    auch    unter    die    dramatischen    plane    Sch.s   einzureihen 


AUS    SCHILLERS    WERKSTATT  281 

ist.  Sch.  nahm  damit  den  versuch  Schröders  vom  april  1778 
wider  auf  (Litzmann  ii  235 f).  am  25  apiil  179(1  hatte  er  sich 
Lenzens  drama  bei  Cotta  bestellt,  unmittelbar  nach  seiner  rück- 
kehr  von  einem  längeren  besuch  bei  Goethe,  dessen  Egmont  er 
gerade  damals  für  die  bühne  bearbeitet  hatte. 

Verwirrend  ist  bei  W.  die  darstellung  der  quellen  zu  den 
'Flibustiers'.  es  ist  nicht  richtig,  dass  Archenholz  nur  auf 
Raynal  zurückgehe,  und  dass  die  von  Schiller  am  anfang  des 
fragments  aufgezählten  seeräubernamen  'bis  auf  einen  Itei  Eaynal 
und  seinen  deutschen  naeht'olgern  nicht  zu  linden  seien':  sie 
stehen  vielmehr  alle  bei  Archenholz  s.  476,  114;  nur  Jones  fehlt, 
den  ich  dann  bei  Oexmelin,  der  hauptquelle  von  A.  entdeckte, 
ich  füge  hier  noch  hinzu,  dass  die  benutzung  dieser  quelle,  be- 
sonders der  'Histoire  des  pirates  anglois'  im  4  bde  bei  Sch.  sich 
auch  noch  auf  die  ganze  erste  hälfte  des  'seestücks'  die  wesent- 
lich nur  Stoffsammlung  ist,  erstreckt. 

Zum  schluss  noch  eine  bemerkung  pro  domo:  W.  hält  an 
der  üblichen  beziehung  der  'Verschwöiung  gegen  Venedig'  auf 
St.Reals  "Conjuration  des  Espagnols  contre  Venise'  und  Otways 
'Venice  preserved'  fest  und  meint,  'meine  ansieht,  Sch.  habe  dabei 
an  Marino  Falieri  gedacht,  entbehre  der  begründung'.  nun, 
da  nur  der  titel  des  dramas  überliefert  ist,  so  steht  hier  einfach 
hypothese  gegen  hypothese,  und  mein  hinweis  auf  den  17!iO  in 
der  Thalia  erschienenen  aufsatz  von  Kerling  über  die  'Ver- 
schwürung  des  doge  Marin  Falier  gegen  Venedig',  sowie 
die  vergleichung  der  dramatischen  qualitäten  beider  Stoffe 
(in  m.  Schillerstudien  25 — 28)  scheint  mir  immerhin  eine  'be- 
gründung' zu  enthalten. 

Schulpforta.  Gustav  Kettuer. 


HEBBEL-LITTERATUE . 

Friedrich  Hebbels  philosophische  jugeudlyrik  von  dr.  Paul 
Zlncke.  Prag,  Carl  Bellnianii,  190S  [Prager  Deutsche  .studieu, 
11  heft].     195  SS.  SS  —  5,25  kr. 

Zinckes  buch  polemisiert  unablässig;  vor  allem  gegen 
Neumann  (Aus  Fr.Ilebbels  werdezeit),  dann  gegen  Waetzoldt 
(Hebbel  und  die  philosophie  seiner  zeit),  Kutscher  (Fr.Hebbel  als 
kritiker  des  dramas)  und  andere,  die  Neumanns  ergebnisse  an- 
erkennen, dieser  fortwährende  kämpf  bringt  Z.  bei  der  be- 
trachtung  und  ableitung  der  Hebbelschen  gedichte  immer  wider 
zum  indirecten,  widerlegenden  verfahren,  die  schritt  wird  dadurch 
schwer  lesbar,  wenn  auf  diesem  bereits  vielbetretenen  gebiet 
auch  abwehr  durchaus  notwendig  war,  so  hat  Z.  doch  manchen 
allzuweiteu  umweg  gemacht.  der  name  Neumanns  ligt  dem 
leser  schliefslich  mehr  im  ohr  als  der  Friedrich  Hebbels. 


2S2  FREYK    ÜUER    ZINCKE 

Z.s  Schrift  erhält  ihr  hauptthema  dadui-ch.  dass  Neumaim 
in  Hebbels  'philosophischer'  jugendlyrik  überall  den  einfluss  der 
Schellingschen  naturphilosophie  sieht.  Z.  lehnt  eine  directe  oder 
indirecte  einwirkung  dieser  naturphilosophie  auf  H.  für  die  zeit 
bis  zum  September  1836  rundweg  ab.  auch  für  die  Heidelberger 
zeit,  wo  H.  mit  dem  anfangs  für  Scheliiug  begeisterten  Rousseau 
verkehrte,  will  er  nichts  davon  wissen,  früher  habe  sich  H. 
mit  Schelling  auf  keinen  fall  direct  berührt;  und  auf  die  von 
andern  erwogene  indirecte  beeinflussung  (durch  zeitströmung) 
lohne  es  sich  nicht  einzugehn. 

Im  letzten  punct  wird  Z.  mancher  nicht  zustimmen,  natür- 
lich muss  erwogen  werden,  was  ein  in  der  einsamkeit  heran- 
reifender geist  wie  Hebbel  aus  landläufigen  schriften,  aufsätzen, 
auch  blüteniesen  von  würklicheu  oder  verwässerten  grundgedanken 
grolser  männer  aufgenommen  und  weitergesponnen  haben  kann, 
und  natürlich  ist  auf  solchem  wege  mancher  gedanke  zu  ihm 
gedrungen,  welche  ideen  dies  waren,  kann  allerdings  nur 
feststellen,  wer  die  höhere  allgemeine  bildung  genau  kennt,  die 
H.  vorfand. 

Soviel  ist  Z.  ja  zuzugeben,  dass  die  naturphilosophie  der 
frühzeit  Schellings  schwerlich  populär  war,  als  H.  für  sie  auf- 
nahmefähig wurde,  und  wenn  ich  es  trotzdem  für  möglich  halte, 
dass  gedanken,  die  von  der  Schellingschen  naturphilosophie  ab- 
zweigten, aber  aus  dem  strengen  System  herausgerissen  waren, 
zu  dem  jungen  dichter  drangen,  so  muss  ich  doch  der  Z.schen 
hauptbeweisführung  recht  geben:  geht  man  würklich  auf 
Schellings  schriften  zurück,  so  ergibt  sich  trotz  scheinbaren 
ähnlichkeiten,  dass  H.s  Jugendgedichte  mit  dem  system  Schellings 
selbst  nicht  in  Verbindung  stehn,  dass  die  grundbegriffe  dieses 
Philosophen  andere  sind,  und  dass  H.s  dichternatur  einem  metho- 
dischen System  wie  dem  Schellingschen  schliefslich  widerspricht. 
Z.  stützt  dies  ergebnis  vor  allem  auf  das  Studium  der  verwant 
scheinenden  Schellingschen  schriften,  er  scheint  mir  so  zuver- 
lässiger als  seine  Vorgänger,  die  entweder  schriften  über 
Schelling  zu  hilfe  nahmen  oder  durch  den  begriff  'zeitströmung', 
den  sie  nicht  genügend  bestimmen  konnten,  ihre  ergebnisse  un- 
sicher machten,  ich  glaube  der  neuen  darlegung  mit  gutem  ge- 
wissen zustimmen  zu  können. 

Wenn  Z.  sagt,  er  wolle  beweisen,  dass  sich  die  philo- 
sophischen ansichten  H.s  wenigstens  bis  zum  September  1836 
durchaus  selbständig  und  unabhängig  von  jeder  zeitgenössischen 
Philosophie  entwickelt  hätten  (nur  den  einfluss  eines  dichters, 
Schillers,  berührt  er  für  die  frühe  zeit),  so  kann  und  will  er 
damit  nicht  sagen,  H.  sei  selbst  aus  eigenen  kräften  methodischer 
Philosoph  gewesen,  wie  Z.  ja  nicht  verborgen  ist,  entspringen 
H.s  sogenannte  philosophische  gedichte  einem  lauschen  auf  gefühle 
oder   doch    einem   nachsinnen    und  grübeln  über  gefühle.     svste- 


SCHKIFTEN    ÜBEK    HEBBEL  2S3 

malisches  philosophiei-eu.  hantieren  mit  ungefühlteu,  unerlebten 
Worten  war  ihm  als  dichter  im  gründe  unsympatisch.  hier  kann 
man  nun  auf-  einen  anderen  punct  kommen,  zeigt  sich  die  Un- 
selbständigkeit oder  Selbständigkeit  würklicher  gedichte  überhaupt 
darin,  dass  man  ihnen  verwautschaft  oder  nichtverwantschaft 
mit  gedanken  eines  philosophen  nachweisen  kann?  wäre  die 
eigenart  H.s,  der  sicher  aus  sich  selbst  durchaus  so  werden 
muste  wie  er  geworden  ist,  irgend  augezweifelt,  wenn  man  ihm 
nachwiese,  da  und  dort  von  einem  philosophen  beeinflusst  zu 
sein?  wol  nicht;  bei  einem  echten  dichter  bedeutet  das  immer 
nur  anerkennung  von  verwantem,  das  er  lebensvoll  umgestaltet, 
der  ganzen  Z. sehen  betrachtung  könnte  man  darum  vorwerfen, 
sie  hebe  zwar  die  gedankliche  Selbständigkeit  der  II. sehen  jugeud- 
gedichte  hervor,  behandle  sie  aber  nicht  als  dichtungen. 

Und  hier  muss  ich  nun  betonen,  dass  Z.,  wie  seine  Vor- 
gänger in  anderer  richtung,  sich  einseitig  verrannt  hat.  er  be- 
handelt zwar  hier  und  da  die  gedichte  ästhetisch,  aber  er  hat 
meines  erachtens  von  einer  ganzen  anzahl  einen  falschen  eiu- 
druck  erhalten,  immer  darauf  aus,  einen  Ideengehalt  zu  ent- 
decken, entdeckt  er  ihn  auch  in  rein  l3U'ischen  stücken,  und  ver- 
nichtet sie  so.  was  hat  Z.  darauf  gebracht,  aus  recht  unphilo- 
sophischen Stimmungsgedichten  wie  "Hörn  und  Flöte',  "Bei  einem 
Gewitter',  "Eosenleben'  nichts  als  gedanken  lesen  zu  wollen? 
auch  'Auf  ein  schlafendes  Kind'  und  'Offenbarung'  sind  ganz 
einfache,  klare  stücke,  nicht  'niederschlag  von  speculationen';  sie 
bedürfen  nicht  14  seiten  philosophischer  erörterungen,  die  frei- 
lich teilweise  durch  polemik  gegen  Neumanu  veranlasst  sind, 
vor  allem  aber:  wie  kann  jemand  aus  dem  natürlich  durch  ein 
würkliches  ereiguis  und  eine  würkliche  person  veranlassten 
Ij'rischen  gedieht  'Auf  eine  Unbekannte'  herauslesen,  dass  H.  hier 
'am  lautesten  sein  pantheistisches  evangelium  verkünde'?  die 
'Unbekannte'  soll  die  natur  sein!  Z,,  der  hier  nicht  gegen 
Neumann  polemisiert,  citiert  eifrig  Schelling  und  findet  auch 
hier  keine  anlehnung  Hebbels  I  eine  würkliche  freude  an 
der  arbeit  kann  man  bei  solchen  misverständuissen  nicht 
haben. 


Die  eutste  huugsgescliiclite  von  Friedrich  HebbeLs  'Maria 
Magdalena'  von  dr.  Paul  Ziuckc.  Prag,  Bellmann,  19 lu  [Prager 
Deutsche  Studien,  16  lieft].     IDii  .ss.    S".  —  3,  7  5  kr. 

Hebbel  selbst  sagt  an  zwei  stellen  seiner  briefe  (im  jähre 
1845),  er  habe  sich  mit  der  "Maria  Magdalena'  (fertig  geworden 
am  4  december  1S43)  sieben  jähre  getragen.  Zincke  verfolgt 
die  entstehungsgeschichte  des  werkes  durch  diese  sieben  jähre 
(herbst  1836  bis  herbst  1843)  hin,  drei  Schaffensperioden 
aufstellend. 


2S4  FKEYE    ÜBEE    ZINCKE    UND    WALZEL 

H.  nennt  in  einem  andern  briefe  (erst  1863)  einen  Vorfall 
maßgebend  für  die  entstehnng:  des  dramas,  den  er  erlebte,  als 
er  im  hause  des  Münchner  tischlei'meisters  Antou  Schwarz 
wohnte.  Z.  betont  folgendes,  dieser  Vorfall  (Verhaftung  des 
tischlersohnes)  betrifft  gar  nicht  den  mittelpunct  der  'Maria 
Magdalena',  sondern  nur  ein  bedeutsames  erregendes  raotiv;  auch 
Avohnte  H.  bei  Schwarz  erst  1838/39,  nicht  schon  183G.  Z. 
stellt  daher  an  die  spitze  seiner  abhandlung  das  aufkeimen  einer 
'ersten  dramatischen  Situation',  die  sicli  erst  in  der  zweiten 
Periode  mit  der  Verhaftung  des  bruders  der  heldin  verbindet 
und  so  zum  bestimmten  plan  eines  'bürgerlichen  trauei'spiels 
Klara"  wird,  bis  die  dritte  periode  das  werk  zur  'socialen  tra- 
gödie  Maria  Magdalena'  erhöht. 

Für  seine  erste  periode  holt  Z.  hauptsächlich  stoff  aus  dem 
gedieht 'Versöhnung'  (october  1836),  das  H.s  innere  beschäftigung 
mit  dem  thema  vom  gefallenen  mädchen  dartut,  und  aus  ge- 
ständnissen  der  Münchner  geliebten  Hebbels  Beppi  Schwarz  (der 
tochter  des  späteren  wirtes),  aus  geständnissen,  die  zu  ver- 
w^inden  dem  jungen  H.  schwer  wurde,  diese  erlebnisse  mit 
Beppi  können  freilich  meines  erachtens  nur  allgemeine  züge  zu 
der  tigur  der  Klara  beigesteuert  haben,  denn  Beppi  stand  für  H. 
zweifellos  wesentlich  tiefer  als  Klara. 

Die  zweite  periode  (1838/39)  bringt  dem  dichter  dann  nach 
eigenem  geständnis  das  für  sein  werk  bedeutsame  erlebnis  im 
hause  des  tischlevs.  Z.  zieht  noch  andere  ereignisse  in  den 
kreis  des  dramas:  den  tod  der  mutter  Hebbels  und  den  tod 
seines  freundes  Rousseau,  der  dichter  hat  selbst  ausgesprochen, 
er  wolle  das  andenken  der  mutter  mit  dem  'höchsten  schmucke 
der  poesie'  verklären,  nach  Eousseaus  tode  erneuert  er  dies 
versprechen  und  fügt  den  Vorsatz  einer  poetischen  Verklärung 
des  freundes  hinzu;  er  wolle  beide  auf  so  würdige  weise  feiern, 
als  sein  geringes  talent  ihm  verstatte,  solche  enthusiastischen 
Versprechungen  sind,  glaube  ich,  nicht  streng  bindend.  Z.  findet 
H.s  Vorsatz  ausgeführt  in  der  figur  der  tischlersfrau  und  ihrer 
Stellung  zum  söhne  Karl,  dann  in  der  idealistischen  jugendlichen 
mannesgestalt  der  'Maria  Magdalena',  dem  im  duell  die  todes- 
wunde erhaltenden  secretär.  wie  der  tischlermeister  von  H.s 
vater,  so  wird  auch  die  frau  von  H.s  mutter  züge  erhalten 
haben;  die  gestalt  scheint  mir  aber  im  drama  zu  sehr  zurück- 
zutreten, als  dass  ich  hier  jene  beabsichtigte  Verklärung  aus- 
geführt sehen  könnte,  unmöglich  scheint  es  mir  sogar,  den  tod 
der  mutter  H.s  mit  dem  plötzlichen  tod  der  tischlersfrau  in  Ver- 
bindung zu  bringen,  und  ebenso  kann  ich  Emil  Eousseau  in 
dem  secretär  nicht  w'idererkennen ;  mit  der  hauptbedeutung  dieser 
gestalt  im  drama  hat  der  Jugendfreund  nichts  zu  tun.  ähnlich- 
keiten,  die  Z,  anführt  (eben  abgelegtes  examen)  scheinen  mir 
zufällig.  —  ohne  zweifei  berechtigt  und  lobenswert  ist  es,    dass 


SCHKIWEN    ÜBER    HEBEKf,  2S5 

Z.  die  charactei'istischen  tagebuchbetrachtnngen  H.s  über  andere 
biirg-erliclie  dramen  ('Hofmeister,  'Soldaten',  'Leidendes  Weib', 
'Erailia  Galotti')  mit  heranzieht. 

Für  die  dritte  schaffeusperiode  (184  1 — 43)  schildert  Z.  die 
weitere  erhühung  des  thenias,  die  ausarbeitunp:  und  bereicherung 
der  gestalten,  endlich  die  zeit  der  niederschrift.  er  constatiert, 
dass  die  gestalt  der  Klara  ihre  letzte  Verklärung  Elise  Lensing 
verdanke.  H.  selbst  hat  Elise  gegenüber  ausgesprochen,  dass 
'auf  seinem  denkmal'  'viel  von  dem  wesen  zu  lesen  sein  solle, 
das  er  nicht  blos  am  innigsten  geliebt,  sondern  auch  am  meisten 
verehrt  habe',  die  Situation  Elisens  hat  freilich  mit  der  Klaras 
nur  wenig  ähnlichkeit.  einzelne  ergreifende,  vertiefende  züge, 
den  Charakter  höchsten  seelenvollen  leidens  überhaupt,  mag  H. 
aber  von  Elise  für  die  jetzige  Klara  übernommen  haben. 

Zinckes  arbeit  ist  einem  starken  Interesse  für  Hebbel  und 
sein  drama  entsprungen,  zu  tadeln  ist  die  s  e  h  r  oft  sich  wider- 
holende darstellungsweise,  zu  tadeln  auch,  dass  Z.  allzu  häutig- 
lange,  nicht  streng  hergehörige  abschnitte  aus  H.s  tagebüchern, 
briefen  und  den  besten  darstellungen  seines  lebens  und  Schaffens 
einflicht.  H.s  leben  ist  so  ergreifend,  dass  die  angeführten 
stellen  auch  in  dieser  widergabe  würken.  oft  aber  fragt  man 
sich  doch:  wozu  das  alles?     das  wüsten  wir  doch  schon. 

Hebbelprobleme.  Studien  vou  Oskar  F.  Walzel.  Leipzig,  H.  Hassel 
1909  [Untersuchuiiii-en  zur  neueren  sprach- imd  literaturgeschichte, 
neue  folge,  l  heft].     124  ss.     S".  —  3  ra. 

Von  den  hier  zu  besprechenden  Hebbelbüchern  ist  das 
"Walzelsche  sicher  das  klarste  und  wertvollste,  auch  nimmt  es 
in  dem  schon  alten  streit  um  die  art  und  den  wert  der  be- 
gabung  H.s  eine  Stellung  ein,  die  jedenfalls  mir  sympathisch  ist. 
W.  betont  allen  vorwürfen  gegenüber,  dass  H.  in  erster  linie 
leidende  und  ringende  menschen  darstellen  wolle;  er  verkörpere 
kämpfe,  die  er  selbst- vorher  in  sich  erlebt  habe,  und  nur  in 
dem  sinne  könne  man  von  'ideen  in  den  stoff  tragen'  reden,  als 
er  die  leiden  seiner  menschen  unter  eine  welthistorische,  universale 
perspective  stelle,  diese  art,  menschliches  leiden  im  grösten 
zusammenhange  zu  betrachten,  sei  ihm  aber  nicht  eine  con- 
struction,  sondern  stelle  sich  ihm  selbstverständlich,  zuweilen 
von  vornherein,  zuweilen  fast  nachträglich  ein,  der  dichterische 
schaffensprocess  ziehe  trotz  des  ideenhintergrundes  aus  dem  un- 
bewusten  seine  nahrung.  W.  stützt  sich  hier  teils  auf  den 
eindruck  der  H. sehen  dichtungen,  teils  auf  des  dichters  geständ- 
nisse.  die  verwantschaft  der  gruppierung  H. scher  tragischer 
gestalten  mit  den  dialektischen  gegensätzen  der  Hegeischen 
Philosophie  sei  nicht  zu  verkennen,  bedeute  aber  eine  originale 
und  für  den  dichter  innerlich  notwendige  Übertragung  der 
Hegeischen    geschichtsauffassnng   auf   die  tragödie;    die  stärkere 


286  FEEYE    ÜBER    WALZEL 

beherzigung  des  menschen  in  diesem  schema  liabe  in  der  be- 
rührung  mit  dem  ästhetiker  Solger  Unterstützung  gefunden,  mit 
Anna  Schapire  unterscheidet  W.  zwei  perioden  II. s:  eine  erste 
der  pliilosophischen  construction  Hegels  mehr  zugeneigte,  in  der 
H.  aber  gerade  unter  benutzung  Hegelscher  waffen  die  tragödie 
gegen  Hegel  verteidige  (vorwort  zur  'Maria  Magdalena'),  und 
eine  zweite  mehr  empirische;  II.  behalte  hier  die  art  der  tragik 
bei,  wie  sie  in  der  Hegeischen  formel  von  satz  und  gegensatz 
ligt,  gebe  aber  auf  die  hervorhebung  der  bewusten  Weiterent- 
wicklung der  'idee'  (=  weltgeist)  durch  die  dramatischen 
gegensätze,  begnüge  sich  mit  dem  tröstenden  ausblick,  dass  der 
um  seiner  Individualität  willen  leidende  nicht  vergebens  leide, 
sondern  um  der  zuknnft  willen.  H.  erklärt  jetzt  gelassen^  seine 
dramen  sollten  nur  den  jedesmaligen  weit-  und  menschen- 
zustand  veranschaulichen,  beschäftigten  sich  ausschlielslich  mit 
irdischem. 

W.  charakterisiert  dann  an  beispielen  H.s  auffassung  und 
ausgestaltung  des  tragischen  in  der  zweiten,  der  "reifen'  zeit: 
zunächst  an  'Herodes  und  Mariamne', "  'Agnes  Bernauer',  'Gyges 
und  sein  Eing',  dann  an  den  'Nibelungen',  er  zeigt,  wie  der 
dichter  zuweilen  etwas  unerwartet,  immer  aber  vom  höchsten 
standpunct  seine  Charaktere  sichtbar  einordnet,  wie  er  jedesmal 
die  kraft,  die  in  sich  die  zukunft  trägt,  in  conflict  bringt  mit 
der  gegenwärtigen,  auf  ihr  ererbtes  recht  pochenden  kraft,  zu 
viel  gewicht  legt  W.  m.  e.  auf  den  tröstenden  ausblick  in  die 
Zukunft,  den  H.,  trotz  dem  tragischen  ende  ohne  Versöhnung, 
gebe,  er  stellt  sich  etwas  zu  greifbares  darunter  vor.  ich  glaube 
nicht,  dass  uns  'Agnes  Bernauer'  mit  dem  beruhigenden  gefühl 
entlässt,  dass  ein  solcher  rechtmälsiger  mord  in  der  zukunft 
unmöglich  sein  werde,  ich  erlebe  in  dem  stück  nur  den  uner- 
bittlichen kämpf  zwischen  individuellem  gefühl  und  dem  gebot 
des  staatswols,  erlebe  nach  der  katastrophe  ein  gerechtes  urteil, 
eine  Stärkung  des  beiden  durch  sein  leid  und  somit  einen  aus- 
blick, empfange  aber  nimmermehr  die  sichere  aussieht,  dass 
derartige  contlicte  in  einer  schönen  zukunft  überflüssig  sein 
werden. 

Der  naheliegende  vergleich  zwischen  Hebbel  und  Otto 
Ludwig  gibt  W.  gelegenheit,  H.s  gestaltungsart  im  einzelnen 
noch  genauer  zu  bestimmen,  er  vergleicht  besonders  des  Dit- 
marsen  orientalische  tragödien  mit  Ludwigs  'Makkabäern'.  dabei 
stellt  sich  natürlich  heraus,  dass  Ludwig  viel  specieller  indivi- 
dualisiert, die  Sache  stets  'in  ihrer  eignen  sauce'  gibt;  wenn 
dagegen  H.  auch  ganz  historisch  bedingte  scenen  gibt  (wie  die 
sklavenscene  in  'Herodes  und  Mariamne'),  so  dienen  diese  lichter 
hauptsächlich  seinem  grol'sen  zweck,  die  hauptgegensätze  der 
geschilderten  zeit  zu  charakterisieren,  den  endergebnissen  W.s 
kann    ich   mich   hier   aber  nicht  anschlielsen ;    er  spricht  H.  die 


hebbki.1'Uui;ij;me  287 

fähigkeit  ab,  gestalten  plastisch  (wie  Ludwig)  zu  sehen,  ja  sogar, 
sie    in    der    bewegung    zu    zeichnen,     er  gebe   sie  in   der    ruhe 
('unbewegliche  gruppen'),  die  unbeweglichkeit  des  marniors  sei  für 
sie    charakteristisch,     wenn   W.   würklich  meinte,    was   er   hier 
sagt,    würde   er  H.  mangel  an  gestaltungskraft  vorwerfen,    ihn 
einfach   für  undramatisch  erklären;    denn  drania   ist    geschehen, 
bewegung.     der  vergleich  mit  Ludwig  hat  hier  zu  weit  geführt, 
in  den  gewaltig  angelegten  "Makkabäern'  gibt  Ludwig  ja  würk- 
lich   eine    individualisierung    der    einzelnen    und    eine  Zeichnung 
des  Judenvolkes,   wie  sie  H.  so  nicht  aufweisen  kann,     dagegen 
hat  Ludwig  keineswegs  die  einheit  fortschreitender  handlung,  wie 
H.    etwa    in  'Herodes   und  Marianine';    fortschreitende  handlung 
aber    ist   innerlich  bestimmteste   dramatische  bewegung  der  ge- 
stalten,    ich    behaupte,    dass   in   den   entscheidenden  scenen  von 
'Herodes  und  Marianine'  schon  während  des  lesens  jeder  Charakter 
in  allen  seinen  Wendungen  voll  ausgestaltet  vor  dem  geniefsenden 
steht,    freilich    nicht   verdeutlicht  durch  Ludwigs  äufsere  mittel, 
oft  genug  beweist  H.  die  höchste  schöpferische,  rein  gestaltende  kratt 
des    dramatikers,    deren    quelle    die   leidenschaft  ist.     W.  nennt 
den  Thüringer   einen   geborenen  bühneubeherscher;   aber  er  will 
doch  damit  nicht  sagen,  H.  sei  undramatisch?     Ludwig  gibt  das 
einzelne    der   gestalten  weit  sichtbarer;   dafür  ist  das  ganze  bei 
ihm    aber  dramatisch  weniger  notwendig,    mehr  episch.  Ludwigs 
bühnengeschick    und    lebenstreue    in   tausend  besonderheiten  be- 
deutet   eine    specielle,    auf    unser   neues   naturalistisches   drania 
hinführende    begabung;    die   vergleichung  mit  Hebbel  ergibt  für 
beide   dichter   aber    nur,    dass  ihre  anläge  verschieden  gerichtet 
v?ar.     besonders  kann  W.  die  figur  des  Erbförsters  nicht  gegen 
Hebbel  anführen;  Ludwig  mit  seiner  intim  naturalistischen  aus- 
malung    greift    hier    ja    sogar    zu  komisch   individualisierenden 
mittein,      deren    H.     sich    innerhalb    der    zwingend    tragischen 
har.dlung    der    'Maria    Magdalena'    natüi-lich    nienals    bedienen 
würde,    selbst    wenn    er    es  könnte,     am    deutlichsten   tritt   das 
entgegengesetzte    bei    beiden    dichtem    heraus,    wenn   man   H.s 
'Agnes  Bernauer'    mit   dem  bekanntesten  entwurf  eines  Ludwig- 
schen  'Engels  von  Augsburg'  vergleicht,     bei  Lu;:wig  ein  intimer 
conflict:  eine  kokette  bürgerstochter  hat  Albrecht  zur  gefährdung 
seiner    mannes-    und  fürstenwürde    gebracht,    er  erkennt  sie  zu 
spät  und  muss  nun  für  sie  eintreten,     bei  Hebbel  ist  keine  spur 
von   verdacht   gegen  Agnes,    sondern   ein  gröf serer  conflict  steht 
im    Vordergrunde:    unumstöfsliches  Staatsgebot  gegen  unumstöfs- 
liches  gefühlsgebot  ('  Worauf  sollte  Gott  die   Welt  gebaut  haben, 
wenn    nicht    auf   das   Gefühl,    was  mich   zu  dir  zieht  und  dich 
zu  mir?'  ruft  Albrecht),     ohne  zweifei  ist  der  reiz  des  einzelnen 
bei  Ludwig  gröfser  —  wer  jedoch  würde,    wegen  der  gröfseren 
allgemeinheit   des   conflictes,   Hebbels   jugendlich  geschaffene  ge- 
stalten   unbeweglich    nennen?     zum    Widerspruch   geneigt    fühlt 


2S8  FBEYE    ÜBER    WALZEI.    UXD    SC'HUDEK 

mau  sich  aber  hauptsächlich,  weil  AV.  nicht  deutlich  unterscheidet 
zvvisclien  der  rein  sinnlich  sichtbaren  bewegung-  der  äulseren 
gestalt  bei  Ludwig  und  der  zwingenden  dramatischen  bewegung 
der  inneren  gestalt  bei  Hebbel,  trotz  vieler  Vorzüge  im  ein- 
zelnen bei  dem  einen  ist  mir  der  andere  als  der  gröfsere  dra- 
niaiiker  auch  der  grölsere,  der  geborene  bühnengewaltige. 

Eine  einwendung  allgemeiner  natur  habe  ich  endlich  noch 
gegen  AV.s  art  der  beweisiührung  zu  erheben,  die  er  mir  zu- 
weilen unnötig  auf  äui'sere  gründe  zu  stützen  scheint,  ich 
würde  hier  nichts  aussetzen,  wenn  der  fehler  nicht  am  anfang 
und  am  ende  der  W. sehen  schritt  hervorträte,  wo  man  die 
grüsten  trumpfe  auszuspielen  pflegt,  es  handelt  sich  um  fol- 
gendes, ob  ein  dichter  vollwertige  menschen  schafft  oder  ge- 
dankliche constructionen  gibt,  darüber  können  m.  e.  zuletzt  nur 
seine  werke  entscheiden,  nicht  seine  äufserungen  über  sein 
schaffen  oder  seine  selbsteinschätzuugen.  diese  können  wider- 
holen was  die  werke  schon  sagen;  ebenso  gut  aber  kann  der 
dichter  über  die  eigene  person  irren,  ebenso  gut  können  seine 
äufserungen,  besonders  in  der  neueren,  theoretisch  ziemlich 
klaren  zeit,  trotz  aller  ehrlichkeit  eben  nur  Zeugnisse  theore- 
tischer klarheit  über  die  erfordernisse  wahrer  dichtung  sein, 
die  dichtungen  selbst  müssen  immer  den  ausschlag  geben !  es 
wäre  ja  schlimm,  wenn  (wie  W.  gleich  am  eingang  sagt)  die 
Veröffentlichung  von  Ibsens  briefeu  würklich  unsere  anschauung 
über  Ibsens  dramen  'stark  erschüttern'  könnte,  bei  Hebbel  (den 
ich  nicht  so  neben  Ibsen  stellen  würde)  führt  es  ja  meist  nicht 
ZU  fehlschlüssen,  wenn  man  brief-  und  tagebuchäufserungen  als 
beweis  dafür  anführt,  dass  er  ein  vollgültiger  dichter  war.  aber 
dieser  von  W.  an  entscheidenden  stellen  eingeschlagene  weg  ist 
nicht  der  absolut  sichere,  so  halt  ich  auch  die  am  anfang  und 
am  ende  des  buches  herangezogene  schauspielerische  leistung 
Kainzens  für  ein  beweismittel  auf  serer  art,  das  erst  in  zweiter 
linie,  als  bestätigung,  angeführt  werden  darf,  so  überzeugend 
sein  Kandaules  wirken  mochte. 

Die  hauptrichtung  der  Walzeischen  schrift,  ihr  warmes  und 
sonst  wolbegründetes  eintreten  für  den  tragischen  dichter  Hebbel 
ist  aber  sicher  zu  begrül'sen.  sie  führt  uns  mitten  in  die 
wichtigen  Hebbelprobleme  und  spricht  sie  meist  klar  und  sym- 
pathisch durch,  meine  hoffnung  ist,  trotz  meinen  einwendungen 
W.s  buch  gerechter  und  mit  mehr  Vertiefung  in  den  gegenständ 
besprochen  zu  haben,  als  er  das  meine  über  die  Flegeljahre  von 
Jean  Paul,  —  was  freilich  nicht  schwer  war. 

Friedlich    Hebbel,    denker,    dichter,    nieuscb.     von   Kurt  Schader. 
Leipzig,  Ottü  Weber  o.  j.     68  ss.     S".  —  1,20  m. 

Eine  sonderbare  schrift,  die  viel  zusammenträgt  und  be- 
spricht   und   doch   nur   vergegenwärtigt,    dass  Hebbel  eine  sehr 


SCHRIITEN    ÜBEK    HEBBEL  289 

interessante,  problemreiche  Persönlichkeit  ist.  wie  viel  eine 
klare  fragestellung'  wert  ist,  wird  jedem  leser  dieses  im  ganzen 
verworrenen  heftes  deutlich  werden. 

Der  Verfasser  erklärt  H.  auf  dem  gebiet  dramatischer  kunst 
für  die  grolse  mittelstation,  über  die  in  absehbarer  zeit  alle 
bahnen  führen  müssen  die  zum  endziel  wollen  (s.  54).  dabei 
ist  ihm  H.s  schaffen,  dem  er  höchste  ehrfurcht  zollt,  nicht  ganz 
einwandfrei.  *er  erlag  der  macht  des  gedankens'  (s.  10).  Seh. 
schliefst  sich  Scheunerts  bemerkung  an  (s.  2(3),  dass  bei  H.  'kein 
freies  menschentum,  sondern  ein  notwendiges  ideentum  verkündet 
wird';  er  erklärt  H.  für  einen  'philosophen'  (s.  9),  nennt  aber 
die  ausbildung  seines  Systems  einen  mangel  seiner  natur  (s.  11). 
dass  H.  dann  doch  trotz  diesem  sj^stem  starke,  heil'sblütige 
menschen  schafft,  darin  sieht  Seh.  die  alles  überragende  gröfse 
seiner  gestaltungskraft  (s.  14). 

Wenn  Seh.  nun  aber  mehrere  dramen  H.s  auf  ihr  Ver- 
hältnis zum  'System'  durchspricht,  so  ergibt  sich  mir,  dass  er 
die  absiebten  des  dichters  keineswegs  erkannt  hat.  in  'Herodes 
und  Mariamne'  wird  Herodes  als  vertretei"  der  'idee'  betrachtet, 
die  begehrt,  das  durch  seine  Sonderexistenz  schuldige  Individuum 
(Mariamne)  einzuschlucken;  H.  soll  es  als  ein  verdienst  des 
Herodes  ansehen,  dass  er  die  Mariamne  unters  schwert  stellt 
(s.  22)!  in  'Gj^ges  und  sein  Ring'  soll  Kandaules  der  culturell 
zurückgebliebene  (s.  23)  und  wider  Vertreter  der  das  Individuum 
(Rhodope)  vernichtenden  idee  sein,  indem  er  sein  weib  den 
blicken  eines  andern  enthüllt  (s.  24).  die  constructionen  Sch.s, 
dem  die  lektüre  von  Walzeis  schrift  anzuraten  wäre,  entstellen 
doch  einfach  das  bild  der  H.schen  werke,  sind  torheiten; 
und  was  können  da  alle  laut  vorgetragenen  Schuderschen  end- 
urteile uns  gelten? 

'Ich  sehe  die  gröfse  Hebbels  nicht  in  den  einzelnen  dicht- 
werken,  auch  nicht  einmal  in  den  mir  wertvolleren  tagebüchern 
und  den  briefen,  sondern  in  der  gesamttätigkeit  seines  geistes- 
lebens'.  so  sagt  Seh.  und  fügt  hinzu,  er  bewundere  in  diesem 
geistesleben  eine  der  höchsten  leistungen,  deren  der  menschen- 
geist  fähig  sei  (s.  12).  zum  schluss  wird  wider  verkündet:  die 
persönlichkeit  sei  hier  gröfser  als  der  gestalter  und  denker 
(s.  *)7).  einzelnes  hübsche  sagt  uns  diese  schrift  gelegentlich 
über  H.s  denken,  dichten  und  menschsein,  sie  scheint  mir  aber 
viel  zu  ziellos,  als  dass  man  gültige  hauptthesen  aus  ihr 
heraussuchen  könnte.  es  wird  jetzt  so  viel  über  Hebbel 
geschrieben,  so  viel  prätentiös  ausgerufen,  dass  man  gediegen- 
heit  und  sichere  richtuug  von  jeder  neuen  arbeit  als  erstes  ver- 
langen muss. 


A.  F.  D.  A.     XXXIV.  19 


290  FKEYE    ÜBER    WALLBERG,    HEBBELS    STLL 

Hebbels  stil  iu  seinen  ersten  tiairödien  'Judith'  und 'Geno- 
veva'     von    dr.    Edgar   Wallberg'.     Berlin,    B.    Behr     1909. 

157  SS.  S".   -4  m. 

Dieses  zuweilen  (besonders  im  abschnitt  'Sprachstil")  er- 
müdende buch  ist  doch  getragen  von  der  richtigen  auffassung 
des  kunstwerks  überhaupt  und  des  Hebbelschen  im  besonderen. 
die  theoretischen  grundlageu  haben  dem  Verfasser  nach  seiner 
angäbe  Elsters  Vorlesungen  über  Stilistik  und  metrik  gegeben; 
er  baut  seine  schritt  paragraphenmälsig  auf  und  holt  aus  den 
zwei  Hebbelschen  werken  für  jeden  gesichtspunct  beispiele  zu- 
sammen, man  fragt  sich  freilich  leicht:  wohin  soll  es  führen, 
wenn  etwa  über  alle  bedeutenderen  dichtungen  derartige 
schematisch  angelegte  Sonderuntersuchungen  neben  den  im 
übrigen  möglichen  und  auch  einseitigen  arbeiten  über  stoff Ver- 
wertung, Verhältnis  zum  leben  des  dichters  usw.  geliefert  werden 
sollten?  die  vorliegende  schrift  ist  mir  denn  auch  für  ihr  ergebnis 
zu  umfangreich  und  in  einzelheiten  nicht  immer  fruchtbar  genug, 
in  folgendem  seh  ich  die  wertvollsten  resultate. 

Wallberg  nimmt  Hebbel  'als  realisten,  der  sich  aber  in  der 
formgebung  mancher  ausdrucksmittel  des  idealistischen  Stiles 
bediene'  (s.  14).  neben  einem  realistischen  kern  (s.  14)  spricht 
er  dem  dichter  eine  ausgleichung  oder  wenigstens  abtönung  der 
äufseren  Charaktereigentümlichkeiten  zu  (s.  144);  bezeichnend  für 
seine  mittelstellung  sei  der  spätere  tagebuchausspruch  (s.  14): 
'BeaJismus  und  Idealismvs,  wie  vereinigen  sie  sich  im  Drama? 
Dadurch,  dass  man  jenen  steigert  und  diesen  schivächt.  Ein 
Charakter  z.  B.  handle  und  spreche  nie  über  seine  Welt  hinaus, 
aber  für  das,  was  in  seiner  Welt  möglich  ist,  finde  er  die  reinste 
Form  und  den  edelsten  Ausdruck,  selbst  der  Bauer'.  —  in  tech- 
nischen dingen  sei  H.  kein  pfadfinder  (s.  130),  benutze  noch 
häufig  bequeme  überlieferte  möglichkeiten,  wie  monolog  und  bei- 
seitesprechen (s.  139),  im  gegensatz  zu  dem  in  der  dialogtechnik 
modernen  Otto  Ludwig  fs.  145),  im  gegensatz  sogar  zu  dem  ver- 
ehrten Kleist,  dabei  aber,  sagt  W.,  besafs  H.  ein  strenges  ge- 
fühl  für  die  einheit  des  Stiles,  machte  das  dramatische  dement 
in  seinen  tragödien  stets  zum  herschenden  (s.  120).  schon  in 
den  beiden  ersten  dramen  bleiben  auch  die  berüchtigten  H.schen 
reflexionen  in  einer  beziehung  immer  im  Zusammenhang  mit  der 
handlung:  sie  gehn  nie  in  allgemeine  Sentenzen  über  (s.  138). 
es  gibt  für  H.  im  drama  nicht  nebensächliche  dinge  die  im 
schatten  bleiben,  die  teilstücke  sind  mit  gleichmäfsigkeit  durch- 
gearbeitet, eben  als  teile  eines  dramas  (s.  146). 

W.  bestimmt  den  zt.  entgegengesetzten  stilcharakter  beider 
dramen,  den  stilcharakter  grol'ser  scenen  und  den  persönlichen 
Stil  der  gestalten  bis  ins  einzelne;  die  Verteilung  der  bilder- 
sprache  und  der  ausmalenden  bestimmungen,  die  Verwendung 
volkstümlicher,   biblischer  und   anderer  Spracheigentümlichkeiten, 


MUXCKKK    ÜBER    POPPE,    HEBBEL  291 

die  ausnutzung  besonderer  syntaktischer  tiguren.  alles  das 
wird  nach  seinem  wert  für  gesamtwerk,  scene  und  handelnde 
person  durchgesprochen. 

Manche  ergänzung  zu  den  ausführungen  Walzels  tindet  sich 
in  dieser  schrift.  'unmodernen'  seiten  der  technik  gegenüber 
wird  der  durchgehnde  dramatische  zug  hervorgehoben;  W. 
betont,  dass  trotz  dem  allgemeinen  ideenhintergrunde  auch  milieu 
bei  H.  sei,  das  er  in  haudlung  auflüse  (s.  132f),  die  bedeutsame 
briefstelle  aus  H.s  späterer  zeit  wird  angeführt:  'Das  Drama 
schöpft  seine  eigentliche  Kraft  ans  den  Zuständen,  und  Charaktere, 
die  nicht  im   Volkshoden  wurzeln^  sind  Topfgewächse' . 

Nicht  alle  teile  der  arbeit  lassen  das  princip  des  buches 
gleichmälsig  stark  erkennen;  doch  wird  man  schliefslich  finden, 
dass  der  Verfasser  ein  recht  bestimmtes  bild  des  dichters  in 
sich  trägt. 

Berlin-Friedenau.  Karl  Freve. 


Hebbels  av  e  r  k  e  in  zehn  teilen,  herausgegeben,  mit  einem  lebens- 
büd,  einleitnugen  und  anmerkungen  versehen  von  Theodor  Poppe. 
Berlin— Leipzig — Wien — Stuttgart  o.  j.  Deutsches  verlagshaus 
Bong  (.t  Co.  [Goldene  klassiker-bibliotbek.  Herai)els  klassiker- 
ausgaben in  neuer  bearbeitung.]  XXXII,  334;  301;  345;  162; 
329;  131;   2b5;  4S3;  499;  46S  SS.    S". 

Poppes  ausgäbe  bietet  die  gröfseren  dramatischen  und 
epischen  werke  Hebbels  vollständig,  die  \\v\k  nach  der  eignen 
Sammlung  des  dichters  von  1857  nebst  einer  nachlese  der  spä- 
teren gedichte,  die  dramatischen  entwürfe  und  die  novellistischen 
versuche  sowie  die  prosaschriften  ästhetisch-kritischer  art  in  sorg- 
fältiger, keineswegs  dürftiger  auswahl,  dazu  sehr  reichlich  be- 
messen alles  wesentliche  und  für  den  Verfasser  charakteristische 
aus  den  tagebüchern.  der  text  beruht  auf  der  historisch-kriti- 
schen ausgäbe  RMWerners;  von  ihr  weicht  P.,  mehrfach  im  ein- 
klang  mit  Krumm,  nur  in  wenigen,  stets  besonders  begründeten 
fällen  ab.  Werner  wird  in  dem  neuen,  verbesserten  abdruck 
seiner  ausgäbe,  der  schon  für  1910  in  aussieht  gestellt  war  und, 
sobald  er  erscheint,  auch  in  diesen  blättern  nach  gebühr  eingehend 
gewürdigt  werden  soll,  gelegenheit  haben,  zu  jenen  abweichenden 
lesarten  Stellung  zu  nehmen. 

Das  hauptsächliche  verdienst  P.s  liegt  in  den  Anleitungen 
und  anmerkungen,  die  in  trefflicher  weise  den  populären  zwecken 
seiner  ausgäbe  dienen. 

Die  anmerkungen  vermeiden  alles  überflüssige,  was  der  ge- 
bildete, nachdenkende  leser  zum  Verständnis  nicht  braucht,  geben 
aber  die  nijtigen  auf  Schlüsse  über  geschichtliche  und  biographische 
zusammenhänge,  ergänzen  öfters  den  text  durch  aussprüche  des 
dichters  über  seine  werke,  durch  geplante  vorreden,  gedichte.  die 
bühnenfassung  einzelner  scenen,  citate  aus  seinen  briefen  u.  dgl., 

19* 


2Ü2  MUXCKER    ÜBER    POPPE,    HEBBEL 

führen  urteile  Mürikes  und  anderer  Zeitgenossen  oder  bewunderer 
Hebbels  bis  auf  Hugo  v  Hofmannsthal  an  und  weisen  so  ge- 
legentlich über  den  dichter  selbst  hinaus  auf  allgemein  ästhetische, 
auch  für  die  gegenwart  bedeutsame  fragen. 

Die  einleitungeu  zu  den  einzelnen  bänden  und  das  kurze 
lebensbild  Hebbels,  das  die  ausgäbe  eröffnet,  zeigen  überall  gründ- 
liche kenntnis  des  dichters  und  der  einschlägigen  literatur,  deren 
Streitfragen  mitunter  nur  mit  einem  kurzen  wort  in  verständiger 
weise  gestreift  werden,  vor  allem  woltuend  berührt  es,  dass  die 
hohe  bewunderung,  die  P.  für  Hebbel  empfindet,  und  das  liebe- 
volle Verständnis,  mit  dem  er  auch  manches  befremdliche  im 
vs^esen  und  leben  seines  autors  sich  zu  erklären  und  zu  recht- 
fertigen sucht,  ihn  doch  nicht,  wie  verschiedene  andere  Verehrer 
des  dichters,  völlig  blind  für  einzelne  mängel  macht,  möglichst 
klar  deckt  er  Hebbels  gescliichtsphilosophische  ideen,  die  psycho- 
logische begründung  seiner  dramatischen  beiden,  überhaupt  seine 
künstlerischen  absiebten  auf;  aber  er  deutet  auch  richtig  an,  wo 
die  ausführung  dem  grofsen  wollen  nicht  vollkommen  entsprach 
(so  zb.  II  32  und  38  f  über  den  'Diamant',  m  22  ff  über  das 
'Trauerspiel  in  Sicilieu"  und  'Julia',  iv  1 1  f  über  'AgnesBernauer' 
und  öfter). 

Vielleicht  sollten  derartige  bedenken  gegen  das  allzucon- 
struierte  einzelner  probleme  und  Charaktere  und  gegen  die  er- 
kältend nüchterne  Wirkung  gewisser  reden  und  sceuen  bisweilen 
noch  schärfer  ausgesprochen  sein,  auch  hätte  sich  P.  in  15  bei 
'Maria  Magdalene'  den  durchaus  verfehlten  versuch  sparen  sollen, 
Klaras  hingäbe  an  den  ungeliebten  bräutigam  als  'trotzige  Pflicht- 
erfüllung' zu  deuten,  zu  der  sie  sich  nach  den  anschauungen  ihres 
kreises  und  'als  die  tochter  ihres  vaters'  (!)  gezwungen  sah. 
warum  nicht  lieber  einfach  zugeben,  dass  das  in  allem  übrigen 
tadellose  meisterstück  auf  einer  ps3xhologisch  kaum  möglichen 
Voraussetzung  beruht?  unter  Hebbels  Vorgängern  im  Nibelungen- 
<lrama  war  neben  Fouque  und  Raupach  unbedingt  Eichard  Wag- 
ner zu  nennen  und  vornehmlich  an  seiner  leistnng  die  Hebbels 
zu  messen,  was  sind  den  lesern,  an  die  sich  P.s  ausgäbe  zu- 
nächst wendet,  Fouque  und  Raupach  im  vergleich  mit  Wagner? 
und  Wagners  'Ring  des  Nibelungen'  war  als  dichtung  eben  voll- 
endet worden,  als  Hebbel  1S53  jenen  leidenschaftlichen  ruf  nach 
dramatischer  erneuerung  der  alten  sage  ertönen  liefs  (v  5  ff) ! 

Man  kann  noch  einige  bedenken  und  wünsche  solcher  art 
au  einzelheiten  in  der  arbeit  Poppes  anknüpfen,  die  tüchtigkeit 
seiner  gesamtleistung  aber  verdient  volle  anerkennuug;  sie  wird 
allen  anforderungen  gerecht,  die  man  mit  fug  an  eine  gute 
populärwissenschaftliche  ausgäbe  stellen  darf. 

München.  Franz  Muuekor. 


LITTE  RAT  URNOTIZEN. 

Wilhelm  von  Humboldts  s  p  r  a  c  h  p  h  i  1  o  s  o  p  h  i  e  von 
Moritz  Sclieinert.  sa.  aus  dem  archiv  für  die  gesamte  Psycho- 
logie, xm  bd,  3  h.  Leipzig,  Eugelmann  1908.  55  ss.  8 ". 
—  Die  lectüre  der  sprachwissenschaftlichen  arbeiten  Humboldts 
in  der  neuen  grolsen  ausgäbe  hat  herrn  Scheinert  gezeigt,  dass 
Humboldts  Sprachphilosophie  'in  weiterem  umfange  auf  der  be- 
urteilung  von  tatsachen"  beruht,  'als  man  gemeinhin  anzunehmen 
pflegt",  leider  definiert  Seh.  dies  'man  gemeinhin'  nicht  genauer, 
immerhin  wäre  sein  versuch,  die  erkenntnis  die  er  sich  erworben 
hat  auch  andern  mitzuteilen,  zu  loben,  wenn  ihm  nicht  allzuviel 
dazu  fehlte,  s.  53  wird  'der  begriff  der  einverleibung'  'wunderlich' 
genannt  und  gesagt,  dass  'wir'  (auch  hier  wird  leider  ver- 
schwiegen, wer  'wir"  sind)  auf  Humboldts  'poesievolle  analogien"  — 
wie  'einverleibung'  wol  eine  ist  —  'nicht  viel  w^ert'  legen,  andere 
meinen  nun  aber,  dass  grade  das  wort  'einverleibung'  ein  sehr 
glücklicher  ausdruck  für  gewisse  erlebnisse  auf  sprachlichem  ge- 
biete sei.  um  zu  dieser  meinung  zu  gelangen,  muss  man  sich 
allerdings  bemühen,  diese  erlebnisse  nachzuerleben,  Avas  Seh. 
leider  unterlassen  hat,  wol  gar  für  überflüssig  für  das  Verständ- 
nis Humboldts  hält. 

Berlin-Lichtenrade,  22.  8.   1010.  Ernst  Lewy. 

Hölle  und  fegfeuer  in  Volksglaube,  dichtung  und 
kirchenlehre  von  Marcus Laiulan.  Heidelberg,  Winter  1909. 
XIX  u.  296  SS.  4  m.  geb.  5  m.  —  Aus  einer  Ungeheuern  literatur 
hat  L.  ein  äufserst  reichhaltiges  material  zusammengebracht,  das 
die  merkwürdigsten  Übereinstimmungen  aus  den  verschiedensten 
Zeiten  und  zonen  aufweist,  das  bedürfnis  nach  anschaulicher 
Ordnung  hat  überall  genaue  topographische  gliederung,  überall  sorg- 
fältige ethische  aufteiluug  zustande  gebracht,  die  nachahmung 
irdischer  Verhältnisse  hat  in  Babylon  wie  bei  den  Negern  (s.  107. 
112)  feierliche  letzte  gerichtstage  halten  lassen,  der  mensch- 
liche hass  und  hochmut  hat  eine  aus  ethischen  motiven  (s.  26  f> 
erwachsene  Vorstellung  überall  mit  den  greulichsten  strafschilde- 
rungen  (s.  145)  und  den  abstoCsendsten  widerholungen  socialer  ab- 
stände (s.  26)  überladen;  die  himmlische  Schadenfreude  der  seligen 
(s.  190)  ist  dem  christlichen  himmel  nicht  fern  geblieben,  und 
das  ausdauernde  rachebedilrfnis  hat  kinder  und  eitern  der  ver- 
dammten (s.  200)  nirgends  verschont,  das  schlechte  gewissen  der 
höUenmaler  macht  sich  dann  in  Zerrbildern  des  'totenschleppers* 
(s.  41)  luft.  die  unterschiede  liegen  fast  nur  im  costüm.  doch 
w-eist  der  verf.  immerhin  auf  einige  Singularitäten  hin.  wie  (s. 
159)  auf  die  strafe  für  geiz  gegen  buddhistische  priester. 

Wir  sind  noch  in  einer  solchen  epoche  naturalistischer  Stoff- 
sammlung, und  wenn  das  material  wenigstens  so  übersichtlich  ge- 
ordnet   und   (wie   es   scheint]   auch    nicht   ohne   kritik    gesichtet 


204  Liri'ERATUfiXOTIZEX 

ist  wie  hier,  müssen  wir  den  folkloristen  danken,  eine  wissen- 
schaftliche Vereinfachung  wird  ja  erst  möglich  sein,  wenn  zu 
der  inhaltlichen  vergleichung  in  breitem  umfang  ein  vergleichen- 
des Studium  der  formen  tritt,  in  welcher  weise  und  zu  welchem 
gründe  sind  die  zahllosen  einzelvorstellungen  systematisch  verar- 
beitet worden  ?  wie  weit  haben  dabei  beobachtungen  aus  der  würk- 
lichkeit  (zb.  der  gerichtlichen  folderungen;  der  krankheitsqualen; 
der  vulkanischen  ausbrüche  und  mephitischen  ausdünstungen)  mit- 
gewürktV  wie  weit  die  anlehnung  an  gegebene  Schilderungen? 
aber  von  diesem  ideal  einer  kunstgeschichte  der  religiösen 
Vorstellungen  sind  wir  noch  weit  entfernt  und  waten  einst- 
weilen noch  wie  die  verdammten  in  dem  trüb  und  zäh  fliefsenden 
Strom  der  menschlichen  bosheits-  und  rachertindungen,  die  zu 
selten  ein  mildres  licht  durchbricht. 

Berlin  24.  3.   10.  ß-  M.  Meyer. 

F.  Ohrt.  Kalevala.  som  folke  digtning  og  national- 
epos.  udgivet  med  understottelse  af  Carlsberg  fondet.  Kßbenhavn 
og  Kristiania,  Gyldendalske  boghandel  1909.  275  ss.  5  m.  25.  — 
Ich  hatte  die  freude,  an  dieser  stelle  s.  z.  Comparettis  'Kale- 
wala'  anzeigen  zu  können  —  ein  epochemachendes  werk,  mit 
dem  Ohrts  praktisches  buch  durchaus  nicht  verglichen  werden 
kann,  (ist  das  der  grund,  weshalb  es  in  der  geschichte  der 
Kalewala-forschung  s.  71f  gar  nicht  und  auch  sonst,  so  viel  ich 
sehe,  nur  s.  216  polemisch  erwähnt  wird?)  aber  dieser  zweite 
band  von  Ohrts  Kalevala  —  der  erste,  den  ich  nicht  kenne,  ent- 
hält den  text  —  ist  doch  eine  dankenswerte  arbeit,  etwa  wie 
Finslers  'Homer'  —  der  auch  hier  besprochen  wurde  —  führt 
O.s  buch  rasch  und  knapp  in  die  wichtigen  probleme  einer 
epischen  hauptfrage  ein. 

0.  erzählt  zunächst,  anspruchslos  und  einnehmend,  Lönnrots 
leben  und  die  entwickluug  des  epos  von  seiner  ersten  zu  der 
zweiten  fassung  (vergleich  beider  s.  46).  Lönnrot  steht  nicht 
allein,  die  erweckung  des  tinischen  Volkes  und  seiner  künde 
setzen  sich  gleichzeitig  männer  wie  Castren  (s.  47)  und  Snell- 
man  (s.  86)  zur  aufgäbe,  von  denen  besonders  der  berühmte 
mytholog  in  seiner  aufnähme  von  Lönnrots  arbeit  (s.  55.  72;  vgl. 
allgemein  s.  49.54.77)  einen  stark  abweichenden  standpunct  verrät. 

Ist  nun  die  Kalewala  ein  'volksepos'?  (s.  62  f).  klar  ist, 
dass  Lönnrot  ein  solches  schaffen  wollte,  dass  Homer  und  Hesiod 
(s.  45)  ihm  als  Vorbilder  vor  den  äugen  standen  und  Ilias  und 
Odyssee  seine  dichterische  tätigkeit  beeinflussteu  (s.  68.  7  0).  klar 
ist  auch,  dass  er  den  rhapsoden  nicht  verglichen  werden  kann, 
die  keine  Varianten  zusammenstellten  und  kaum  die  schrift 
kannten  (s.  66).  aber  0.  unterscheidet  mit  recht  (s.  73)  mehrere 
stufen  der  tradition:  derjenigen  die  mit  der  Überlieferung  eine  be- 
wuste  weiterführung  und  Verarbeitung  verbindet,  weist  er  (s.  71,75) 
Elias  Lönnrot  zu. 


LITTERATÜRXOTIZEX  295 

Sein  Verhältnis  zu  den  quellen  ist  durch  die  neuere  finnische 
Sagenforschung  (s.  72f).  besonders  durch  die  beiden  Krohn,  ^sunu- 
fatarungos',  klar  gestellt,  auch  die  Vorgeschichte  ist  ziemlich 
deutlich:  die  Wanderungen  der  lieder  (s.  76f),  das  alter  (s.  81) 
sind  durch  eine  beispiellos  ausgedehnte  und  sorgfältige  sammler- 
und  recensententätigkeit  (das  Kalewala-archiv  s.  64)  leidlich  sicher 
aufgeklärt,  zwar  gegen  die  späte  ansetzung,  durchaus  in  christ- 
liche zeit  (s.  81),  werden  wir  noch  zweifei  hegen  dürfen,  aber 
wie  'Volksballaden'  wandern,  lässt  sich  durch  die  guust  des  nia- 
terials  hier  wie  nirgends  sonst  studieren. 

Auch  die  besprechung  der  einzelnen  gesänge  fs.  113  f)  ist, 
wie  die  nachrichten  über  einzelne  sänger  (der  wichtigste  Arhippa 
s.  109)  von  allgemeiner  bedeutung,  der  typus  der  'widerholungs- 
lieder'  (s.  125),  in  denen  ein  verlust  erst  episch,  dann  dramatisch 
mit  denselben  worten  erzählt  und  trost  geboten  wird,  könnte  auch 
für  die  altgermanische  dichtung  (nicht  nur  für  die  Thrymskvida) 
von  bedeutung  sein  —  vielleicht  von  grüfserer,  als  die  doch 
immer  recht  zweifelhaften  mythologischen  beziehungen  (Niord 
und  Frey  s.  120;  Balders  tod  s.  139).  übrigens  hält  sich  0. 
von  dem  bestreben,  die  ganze  finnische  mythologie  in  der  Kale- 
wala  zu  finden  (s.  204  fj,  mit  anerkennenswerter  Vorurteilslosigkeit 
frei,  wichtig  ist  hier  besonders  jener  widersprach  gegen  Com- 
paretti  (s.  216):  die  magische  poesie  sei  bei  den  Finnen  weder 
uralt  noch  früh  verbreitet  und  erst  entlehnt. 

Von  mehr  speciellem  Interesse  sind  die  darstellungen  des 
metrums  (s.  218  f)  und  vollends  der  nachwürkung  in  späterer 
finnischer  kunst  (s.  225  f).  aber  sie  vervollständigen  das  buch  zu 
einer  sehr  brauchbaren  'einführung  in  das  Studium  der  Kalewala'. 

Berlin  31.  10.   1909.  R.  M.  Meyer. 

Aus  der  heidenzeit  des  brauusch  weigi  seh  en 
landes.  von  Th.  Voges.  mit  22  abbildungen.  herausgegeben 
vom  Pestalozziverein  des  herzogtums  Braunschweig.  Braun- 
schweig, Appelhans  &  CO.  1910.  60  ss.  8"J.  1  m.  —  Th.  Voges 
in  Wolfenbüttel,  der  sich  durch  eine  gut  orientierende  abhaudlung 
über  vorgeschichtliche  siedelungen  im  nordharzischen  hügellande 
(im  Jahrb.  d.  geschichtsvereins  f.  d.  herzogtum  Braunschweig 
bd.  6)  in  die  prähistorische  Wissenschaft  eingeführt  hat,  bestimmt 
dies  heft  in  erster  linie  für  seine  collegen,  die  lehrer  auf  dem 
lande,  in  der  tendenz  auf  eine  historische  Vertiefung  der  heimat- 
kunde.  es  sind  lose  angereihte  aufsätze  über  bodenfunde,  siede- 
lungsgeschichte  und  cultur  der  vorzeit  und  frühzeit.  rein  be- 
lehrende artikel  wechseln  mit  plaudereien  ab  die  eine  methodische 
anregung  bieten,  und  dazwischen  eingestreut  sind  kleine  novel- 
listische Skizzen  aus  der  urzeit,  in  denen  eine  mafsvolle  phantasie 
waltet,  ich  habe  das  büchlein,  das  uns  ohne  strenge  disposition 
von  der  eiszeit  bis  zum  capitulare  de  partibus  Saxoniae  hinab- 
führt, mit  vergnügen  gelesen;  es  ist  in  einem  vortrefflichen  deutsch 


296  LITTEKATUKNOTIZEN 

j2:esclirieben :  volkstümlich  nud  gebildet,  ohne  wissenschaftliche 
prätension  und  doch  kaum  je  gegen  die  Wissenschaft  verstofsend. 

E.  S. 
Alt-Frankfurt,  vierteljahrschrift  für  seine  geschichteund 
kunst.  Jahrgang  ii  heft  1.  Frankfurt  a.  M.,  H.Minjon  1910. 
32  SS.  kl.  fol.  der  Jahrgang  zu  4  heften  4  ni.  —  In  die  lange 
reihe  der  Zeitschriften  die.  1887  mit  dem  bescheidenen  'Hessen- 
land' beginnend,  das  Interesse  weiterer  kreise  für  geschichte, 
litteratur  und  kunst  eines  engen  oder  weiten  heimatsbezirks 
pflegen  und  wachhalten,  ist  mit  dem  abgelaufenen  jähre  'Alt-Frank- 
furt' getreten,  die  leitung  der  vornehm  ausgestatteten  quartal- 
schrift  liegt  in  den  bänden  des  archivdirectors  prof.  dr  RJung, 
und  so  ist  das  organ  vor  der  verflachung  und  verunkrautung  durch 
den  dilettantismus  gewis  gesichert,  das  uns  vorgelegte  heft  ent- 
hält zunächst  eine  eingehende  Studie  von  PHohenemser  über 
den  bürgercapitain  JohWilhFritsch  und  den  beginn  des  Verfassungs- 
kampfes 1705 — 1712,  dessen  treibende  kraft  der  wackere  Sachsen- 
häuser gastwirt  gewesen  ist:  interessant  für  die  geschichte  der 
rechtssymbolik  ist  darin  die  episode  mit  dem  'mantelgriff'  (s.  7  b), 

—  K  S  i  m  0  u  führt  aus  Frankfurter  museen  und  Privatbesitz 
eine  reihe,  z.  tl.  höchst  reizvoller  porträtbüsten  und  medaillons 
des  bildhauers  Landolin  Ohm  acht  vor,  der  den  alten  Stral'sburgern 
so  wolvertraut  ist.  ich  vermisse  darunter  das  medaillon  von  frau 
Susette  Gontard  geb.  Borkenstein,  das  CCThLitzmann  vor  seiner 
Hölderlin-biographie  abbildet  und  das  sich  1S90  noch  im  besitz 
des  architekten  Sömmering  in  Frankfurt  befand.  —  methodisch 
lehrreich  ist  sodann  der  auf satz  von  E  J  u  n  g  über  Napoleon  i  in 
Frankfurt  am  31.  x  und  1.  xi  1813  durch  die  kritische  Sich- 
tung einer  von  indirecter  Überlieferung  früh  entstellten  tradition. 

—  mitteilungen  über  museen  und  ausstelluugen  schliefsen  das 
heft.  '  E.  S. 

Ekkehards  Waltharius.  ein  kommentar  von  J.W.  Beck, 
Groningen,  P.  Noordhoff  1908.  xxvin  u.  172  ss.  —  'Ein  kurz- 
gefasster  commentar,  der,  auf  der  kritischen  ausgäbe  Streckers 
aufgebaut,  die  wesentlichen  puncte  der  Interpretation  berührend, 
besonders  auch  die  sprachliche  fsprachl.-histor.  und  sprachl.- 
psychol.)  Seite  beachtet,  war  noch  immer  nicht  erschienen",  hier 
erscheint  er,  mit  einer  hilflos  unselbständigen,  auch  unklaren 
einleitung  versehen,  der  text  ist  der  Streckersche,  der  com- 
mentar stark  abhängig  von  Althofs,  nur  das  nächste  Verständ- 
nis fördernd,  mit  einer  wunderlichen  Vorliebe  für  erklärung 
eines  schwierigen  satzes  durch  die  annähme,  dass  er  aus  conta- 
mination  zweier  ausdrucksweisen  erwachsen  sei.  und  mit  einem 
guten  (niederländischen)  gehör  für  die  abwandlung  der  altlatei- 
nischen ])rosodie  und  das  metrische,  den  beanspruchten  wissen- 
schaftlichen wert  scheint  mir  das  büchlein  nicht  zu  haben,  aber 
seine  ausstattung  ist  sauber  und  hübsch,   nur   dass    die  heftigen 


LITTERATÜBNOTIZEX  297 

anstrengungen    des    druckers,    deutsches  ä  ö  ü  widerzugebeii.   zu 
sichtbar  geblieben  sind. 

Ich  füge  zwei  vorschlage  zu  den  beiden  schlimmsten  kreuzen 
der  Interpreten  hinzu,     ich   möchte  sowol  in  v.   l*,)f  des  prologs 
als    in  V.  874  des  gedichts  die  Überlieferung  halten. 
Prol.    19    Ludend'um    magis   est   dominnm  quam   sit   rogitanduni, 
Perlecfus  longevi  stringif  i»  ampla  diei, 
Sis  felix  sanctus  per  tempora  pliira  sacerdos. 

'Hier  (bei  dieser  lectüre)  gilt  es  mehr,  sich  zu  unterhalten 
als  zu  Grott  zu  beten' ;  also  dominum  abhängig  von  rogitandum. 
diese  auffassung  bestätigt  mir  v.  2 1 :  'die  übrige  längere  (der 
comparativ,  nicht  der  Superlativ  steht  da!)  zeit  kannst  du  dann 
wider  ein  glücklicher,  heiliger  priester  sein",  oder  'um  so  länger 
mögest  du  dann  wider  jene  priesterliche  Stimmung  haben!'  denn 
dass  sich  auch  v.  20  auf  die  bischöfliche  langeweile  beziehe,  scheint 
mir  auch  durch  die  von  Althof  aus  dem  Wolfdietrich  beigebrachte 
parallele  hübsch  bewährt. 

V.  874  cui  [maritae]  nee  raptae  spei  piieri  ludicra  dedisti 
Interpretier  ich:  'der  du  nicht  einmal  den  tr9st  der  hoffnung 
(die  nämlich  jetzt  geraubt  ist)  auf  einen  knaben  gegeben  hast', 
so  erst  kommt  das  nee  richtig  heraus,  das  gewöhnlich  schlank- 
weg gleich  non  gesetzt  ist:  den  gewöhnlichen  ludicra  j^neri  sind 
die  ludicra  spei  (seil,  raptae)  pueri  mit  Steigerung  entgegen- 
gesetzt. 

In  v.  299  halt  ich  mit  Meyer  (Zs.  43, 131)  und  Strecker  aiirnm. 

Hinter  v.  1215  ist  punct  oder  kolon  zu  setzen,  hinter  1216 
ausrufungszeichen. 

Charlottenburg.  Georg  Baesecke. 

Zur  komposition  der  Egilssaga  capp.  i — lxi  von 
W.  H.  Vo!?t.  [progr.  des  gj^mn.  Augustum  der  Stadt  Görlitz].  Gör- 
litz 1  909.  65  SS.  8  0.  —  Die  composition  der  Isländergeschichten 
ist  eine  wenig  beachtete  frage,  der  historismus  hat  dafür  kein 
äuge,  wer  mit  feinerem  kritischen  sinn  an  diese  denkmäler 
herantritt,  kann  lange  suchen  eh  er  einen  Wegweiser  oder  auch 
nur  eine  ermutigung  findet,  unter  diesen  umständen  ist  eine 
arbeit  wie  die  von  Vogt  besonders  dankenswert,  dem  verf.  ist 
der  Charakter  der  Egilssaga  als  kunstwerk,  als  uuterhaltungsbuch 
—  wenn  man  so  will  —  aufgegangen,  er  will  sie  aus  dem 
geiste  und  der  arbeitsweise  ihres  autors  begreifen  und  steht  so- 
mit der  antiquarisehen  dogmatik  frei  gegenüber,  das  ermöglicht 
ihm  einsichten,  die  als  f ortschritte  in  der  sagabetrachtung  gelten 
müssen,  treffend  bekämpft  er  die  geistlose  Chronologie  der  jahres- 
tafeln  (s.  26),  hat  ein  äuge  für  die  'ausgeschriebene  band  des 
veri.s'  (s.  60),  weifs  die  lose  eingefügten  episoden  als  künstlerisch 
geforderte  ruhepuncte  zu  würdigen  (s.  32.  34.  64;  sehr  merk- 
bar ist  der  Wechsel  von  stürm  und  windstille  zb.  auch  in  Snorris 
Olafssaga  h.),  oder  empfindet  sie  mit  sicherem  tact  als  'vorklingende 


298  LITTERATUEXOTIZEN 

accorde'  (s.  32).  derartig-e  beobachtungen  bilden  ein  heilsames 
gegengewicht  gegen  die  allzu  strengen  anforderungen,  die  i.  ü. 
an  die  geschlossenlieit  der  composition  gestellt  werden,  etwas 
reichere  enipirie,  ja  schon  die  herbeiziehung  auch  der  schluss- 
capitel  hätte  hier  von  vornherein  hemmend  würken  können,  ich 
gebe  V.  gerne  zu.  dass  die  band  des  verf.s  sich  gegen  anfang 
ungleich  mehr  bemerkbar  macht  als  gegen  ende,  glaube  auch, 
was  er  über  die  'zweisträngigkeit'  sagt,  ist  hierfür  nicht  bedeu- 
tungslos, halte  jedoch  die  'einarbeitungen'  für  unbeweisbar,  wir 
wissen  bis  jetzt  eben  doch  zu  wenig  davon,  wie  die  Stoffe  aus- 
sahen die  der  verf.  verarbeitete,  s.  2S  f  deckt  V.  die  spuren 
einer  älteren  motivierung  einleuchtend  auf.  aber  wir  wissen 
nicht,  wieweit  die  'alte  volkstümliche  erzählung',  deren  sinn  hier 
richtig   erfasst   wird,,    als   solche  vor  der   Eigla   vorhanden  war. 

Breslau.  G.  Ncckel. 

Critical  contributions  to  e  arly  english  syntax  by 
1.  Trampe  Bodtker  [Yidenskabs-selskabets  skrifter.  ii.  histor.  filos. 
klasse  1908.  no.  6]  Christiania,  48  ss.  gr.  8^.  —  Die  absieht 
dieser  kritischen  beitrage  zur  altenglischen  syntax  besteht  nach 
des  verf.  einleitung  darin,  nachzuweisen  inwieferue  einige  er- 
scheinungen  derselben,  die  man  französischen  einflüssen  zuzu- 
schreiben geneigt  ist,  sich  auf  heimischem  boden  entwickeln  konn- 
ten, ob  nun  von  fremdem  gebrauch  gefördert  oder  nicht,  verf. 
sagt  auch  selbst  sofort,  dass  seine  einzelnen  capitel  nach  anläge 
und  ausführlichkeit  sehr  verschieden  sind,  und  tatsächlich  ent- 
fällt auf  o/-constructionen  der  löwenanteil  (von  48  selten  gr.  8*^^' 
ganze  31)  während  den  präpositionalausdrücken  mit  af,  hy,  to 
nicht  ganz  8,  einigen  eigenheiten  von  Zahlwörtern,  adverbieu  und 
bindewörtern  nicht  ganz  6  selten  gewidmet  sind. 

Bei  den  o/'-verbindungen  sucht  B.  auf  grund  der  belege  aus 
den  ältesten  quellen  nachzuweisen,  wie  sich  aus  der  präposi- 
tionalen  geltung  allmählich  die  abgeschwächte  nur  genitivische  ent- 
wickelt hat,  u.  zw.  der  reihe  nach  die  genitivische  im  allgemeinen, 
dann  die  Verwendung  zur  bezeichnung  der  tätigen  persou  beimpassi- 
vum,  die  causale,  die  objective  geltung,  die  Vertretung  des  on,  die 
function  als  genitivus  materiae  und  partitivus,  originis,  possessivus, 
determinativus  und  detinitivus,  qualitativus.  sodann  wird  zu- 
sammenfassend dargelegt,  dass  um  die  mitte  des  12  jh.s  die  of- 
ausdrücke  im  sinne  würklichen  genitivs  bereits  fest  hafteten, 
und  da  dies  nur  hundert  jähre  nach  der  normannischen  eroberung 
eintrat,  schliefst  verf.  daraus,  dass  eine  so  tief  eingreifende  syn- 
taktisclie  änderung  in  der  kurzen  zeit  nicht  durch  fremden  ein- 
fluss  habe  entstehn  können,  sondern  sich  auf  heimischem  boden 
(hauptsächlich  wegen  der  abschleifung  der  üexionsformen,  und 
durch  die  analogie  der  auch  sonst  im  germanischen  beliebten 
vo/i-ausdrücke)  entwickelt  haben  muss.  französischer  einfiuss 
könne  erst   später    und    in    einigen    neuerungsformen    eingesetzt 


LITTER  ATURNOTIZEX  299 

liabeu,  von  denen  verf.  jedoch  nur  zwei  (of  mc  =  'niy";  a  friend 
of  mine)  eingehender  erörtert. 

In  ähnlicher  weise  wird  im  ii  capitel  der  heimische  Ursprung- 
verteidigt  von  Superlativen  ausdrücken  mit  at  {at  the  first  &cet); 
von  distributivem  hi)  {by  t/ros  and  threes),  von  by  zur  bezeichnung 
der  tätigen  person  beim  passivum,  von  der  Verbindung  by  him- 
self,  vom  temporalen  by;  von  to  im  sinne  des  dativus  commodi 
und  des  possessivus  {son  to  .  .  .)  und  zur  bezeichnung  des  preises. 
im  III  capitel  wird  endlich  ebenso  die  von  der  höchsten  zahl  zur 
niedrigsten  herabsteigende  Wortfolge  der  grundzahlen  [hundteonti:; 
and  fiffi:^  threo),  dann  die  Verbindung  ofte  tymes  und  einige 
eigentümlichkeiten  im  gebrauche  gewisser  satzverbindungspar- 
tikeln  (so,  and,  to  pcem  pät,  hioenpät,  ^if  pät,  as)  als  vom  fran- 
zösischen einfluss  unabhängig  dargestellt. 

Die  ganze  erürternng  ist  äulserst  sorgfältig,  umsichtig,  alle 
umstände  erwägend  und  demzufolge  meist  glücklich  zu  nennen, 
und  wenn  auch  nicht  überall  völlig  überzeugend  so  doch  un- 
zweifelhaft interessant  und  belehrend. 

Prag  am  26  märz   1910.  V.  E.  Mourek. 

Beiträge  zur  kenntnis  des  Sprachgebrauchs  im 
volksliede  des  xiv.  und  xv.  Jahrhunderts  von  Karl  Hoeber. 
Berlin,  Mayer  &  Müller  190S.  [Acta  Germanica  bd.  vii  heft  1] 
129  SS.  8".  4  m.  —  Im  1.  cap.  behandelt  H.  die.  lautlichen 
Verhältnisse,  ein  missliches  beginnen;  denn  wenn  man  nur  eine 
ganz  eng  begrenzte  gattung  aus  dem  gesaraten  hochdeutschen 
litteraturgebiete  heraushebt,  kann  unmöglich  etwas  brauchbares 
herauskommen,  infolgedessen  sind  auch  die  beispiele  für  die  laut- 
verhältnisse  im  Lochheimer  liederbuche,  das  als  einheitliches  werk 
auch  eine  eigne  sprachliche  darstellung  verlangte,  im  ganzen 
capitel  verstreut,  unübersichtlich  und  nicht  weiter  verwertet.  — 
die  folgenden  abschnitte  behandeln  den  Sprachgebrauch  und  die 
poetischen  Stilmittel.  H.  macht  hier  eine  reihe  guter  beobach- 
tungen,  besonders  über  wortgebrauch  und  bedeutungswandel.  aber 
auch  hier  macht  sich  der  grundfehler  des  ganzen  buches  fühlbar, 
die  gar  zu  grofse  beschränkung.  aus  den  Volksliedern  sind  nur 
die  liebeslieder  herausgehoben  worden,  und  die  gleichzeitige  oder 
vorausliegende  dichtung  ist  zu  wenig  berücksichtigt,  vor  allem 
wären  Neithart  und  seine  nachahiner,  der  meistergesang  und  die 
älteren  fastnachtsspiele,  ferner  das  Mhd.  wb.  mehr  heranzuziehen 
gewesen.  —  was  zb.  s.  43  von  kiuinen  und  niügen  gesagt  wird, 
ist  an  sich  richtig,  man  denke  an  'macht'  und  'kunst'.  aber 
die  Verwischung  des  Unterschiedes,  die  mir  von  den  verneinten 
formen  ausgegangen  zu  sein  scheint,  findet  sich  niclit  erst  'in  der 
späteren  zeit  des  mittelalters',  sondern  schon  in  der  blütezeit;  vgl. 
zu  der  pleonastisclien  Verbindung  der  beiden  werte:  ich  soll  und 
miiss  (B  859').  über  die  besonders  im  Renner  beliebten  Zu- 
sammensetzungen   mit    äffen    (s.  21)  hätte   das    Mhd.  wb.  ebenso 


300  LITTEBATURNOTIZEN 

aufscliluss  geben  küniien,  wie  über  das  Verhältnis  von  liehe  zu 
minne.  hierzu  vg;!.  besonders  die  litteratur  bei  Michels  QF.  77 
s.  25.  —  bei  der  besprechung  der  bezielinngen  der  Volkslieder 
zum  minnesange  hält  sich  H.  in  der  hauptsache  an  die  blütezeit 
des  minnesanges.  der  streit  zwischen  sommer  und  winter  wird 
nur  kurz  erwähnt;  da  war  vor  allem  Jantzen,  Germ.  abh.  13 
heranzuziehen.  —  einer  Zusammenstellung  des  sprichwörtlichen 
in  den  Volksliedern  folgt  eine  Untersuchung  über  die  innere  ein- 
heit  des  Lochheimer  liederbuches.  die  offenbar  nicht  zu  den 
übrigen  zu  stellenden  lieder  (2.  18.  34.  45)  und  das  inhaltlich 
ganz  abweichende  ^Ich  spri^ig  an  disem  ringe'  (nr  42)  schaltet 
H.  aus.  aus  den  in  den  übrigen  liedern  immer  wiederkehrenden 
sprachlichen  Wendungen  und  motiven  weist  er,  Arnold  Maj'^er 
folgend,  auf  die  nahen  beziehungen  zum  mönch  von  Salzburg  hin 
und  schreibt  die  behandelten  lieder  einem  und  demselben  Verfasser 
zu.  in  nr.  1  scheidet  er  str.  .") — 7  als  selbständiges  gedieht  ab. 
mir  scheint  dieses  capitel  das  beste  im  ganzen  buche  zu  sein, 
hier  hätte  auch  eine  zusammenhängende  darstellung  des  sprach- 
lichen im  LL  hingehört  (s.  o).  - —  als  materialsammlung  und  als 
Vorarbeit  ist  H.s  buch  immerhin  brauchbar. 

Breslau.  Koiirad  Gusinde. 

Studien  zur  tierfabel  von  Hans  Sachs.  Inaugural- 
dissertation von  Erich  Rickliuger.  München,  Kästnern.  Callwey  1 909, 
61  SS.  8*^.  —  Eicklinger  untersucht  HSachsens  tierfabel,  die  spruch- 
gedichte  wie  die  meistergesänge.  er  rülimt  die  erreichte  treue  in 
tierkundlicher  hinsieht,  die  zuweilen  glückliche  Charakterisierung 
der  menschlichen  rolle  der  tiere,  die  glückliche  ausnützung  des 
komischen  dementes  der  tiergeschicliten ,  betont  den  wert  der 
didaxis  für  HSachs,  sein  streben  nach  anschaulichkeit,  nach  kürze, 
die  Seltenheit  von  änderungen  wegen  reimzwang,  und  untersucht 
die  moralien.  es  w^erden  damit  schon  bekannte  resultate  bei 
HSachs  von  neuem,  also  auch  für  den  mg.  zutreffend,  bestätigt. 
—  in  den  mgg.,  findet  R.,  habe  die  enge  der  weise  den  dichter 
zu  abweichungen  von  seinen  sonstigen  arbeitsprincipien  genötigt: 
er  muss  sich  oft  kürzer  fassen,  das  schliefst  aber  für  R.  in  sich 
eine  Verringerung  der  anschaulichkeit,  der  Charakterisierung,  eine 
Verkürzung  der  moral,  uä.  meine  beobachtungen,  über  die  ich 
mich  gelegentlich  eingehender  äufsern  werde,  stimmen  darin  nicht 
ganz  überein.  dass  HSachs  vielfach  ohne  schaden  kürzen  konnte 
ligt  auf  der  hand.  mitunter,  aber  nur  sehr  selten,  dünkt  mich, 
sei  eine  änderung  im  mg.  dem  spruchgedicht  gegenüber  zu  be- 
dauern, aber  meistens,  auch  in  den  von  R.  als  belege  ange- 
führten stellen,  handelt  es  sich  etwa  um  eine  anhäuf ung  von 
einem  halben  dutzend  von  adjectiven  (bd  n  nr  302),  wenig 
drastische  ausmalungen  (bd  ii  nr  224),  breit  schildernde  anfangs- 
situationen  statt  directem  frischem  beginn  (bd  ii  nr  229),  auf- 
zählungen  (bd  i  nr   15)  usw. ;    wo  die    moral    manchmal    etwas 


LITTERATURNUTIZEN  301 

kürzer  ausfällt  —  was  gewis  nichts  schadet  —  erhöht  der 
dichter  oft  auf  irgend  eine  weise  die  würkung,  z.  h.  in  bd  iir 
nr  222  dadurch,  dass  die  lüwin  wie  in  der  quelle,  entgegen  dem 
sprucligedicht  (bd  ii  nr  15),  nur  noch  kräuter  fressen  will;  die 
erzählung  ist  hier  nicht  gekürzt,  also  wol  vielfach  gröfsere  kürze 
im  mg-.,  aber,  gegen  R.,  selten  zum  schaden  der  dichtung.  und 
wenn  R.  ss.  26  und  27  meint,  HSachs  habe  sich  im  mg.,  dem 
spruchgedicht  gegenüber,  zu  sehr  eingeengt  gefühlt,  bei  zahl- 
reichen mgg.  seien  die  kürzungen  überniäfsig  breiten  quellen 
gegenüber  erzwungen,  so  unterschätzt  er  den  vers-  und  reim- 
virtuosen HSachs,  der  über  4000  mgg.  auf  dem  gewissen  hat, 
abgesehen  von  den  unzählichen  andern  producten  in  gebundener 
form,  wol  gibt  es  fälle  wo  HSachs  durch  den  zwang  gehindert 
war,  indem  dann  kürzungen  ungeschickt  ausfielen,  wie  bd  in 
nr  8,  nr  38,  nr  203  ua.,  oder  der  form  wegen,  um  das  mafs 
auszufüllen,  breiter  ausgemalt  Avurde,  als  es  der  dichter  sonst 
vielleicht  getan  hätte,  wie  in  den  nrr  9.  10.  15.  43.  140.  314 
uaa.  aber  auf  schritt  und  tritt  finden  wir  stellen,  wo  die  ge- 
schickte art  der  durch  die  mg.-form  bedingten  änderungen  auf- 
fällt. —  in  einer  ausführlichen  einleitung  gibt  der  verf.  einen 
überblick  über  die  tierfabel  bis  auf  HSachs  —  einen  ins  einzelne 
gehenden  vergleich  mit  HSachs  verspricht  er  in  einer  besondern 
arbeit  — ,  und  in  der  schlussbetrachtuug  kommt  er  mit  Karl 
Drescher  zum  resultate,  dass  von  späterm  eintiuss  des  meister- 
singers  HSachs  nicht  viel  zu  spüren  sei.  —  bisweilen  sind  re- 
sultate schärfer  formuliert  als  das  material  es  zuliefs.  eine  recht 
fleissige  arbeit;  der  verf.  hat  viel  liebe  zum  dichter  und  diesen, 
aufser  in  den  erwähnten  puncten,  gut  aufgefasst.  als  störende 
druckfehler  sind  mir  aufgefallen  s.  50  z.  10  nr  203  (soll  heifsen 
302),  s.  51   z.  6  nr  399  (statt  299). 

Burgdorf  (Schweiz).  Eugen  Geiger. 

Moritz  August  von  Thümmels  roman  'Reise  in 
die  mittäglichen  Provinzen  von  Frankreich'  von 
dr  Richard  Kyrieleis,  (Beiträge  zur  deutschen  literaturwissen- 
schaft,  herausgegeben  von  Ernst  Elster,  nr.  9].  Marburg,  Elwert 
1908.  75  ss.  SO.  2  m.  —  Die  geschichte  des  deutschen  romans 
gibt  gegenwärtig  das  feld  ab,  auf  dem  zahlreiche  dissertationen 
das  erwünschte  noch  nicht  angebaute  plätzchen  finden,  fast 
durchgängig  aber  kümmern  sich  die  neuen  ansiedier  nicht  um  ihre 
nachbarn.  es  ist,  als  wenn  eine  allgemeine  Verabredung  be- 
stünde, mit  jeder  arbeit  wider  von  vorn  anzufangen,  jetzt  nimmt 
RKyrieleis  Thümmels  grofsen  reiseroman  vor  und  nennt  in  seinem 
überblick  über  den  'stand  der  forschnng'  unglaublicherweise  nicht 
eine  von  den  Schriften,  mit  denen  er  sich  in  erster  linie  hätte 
auseinandersetzen  müssen,  später  wird  auch  nur  Rehmers  arbeit 
über  den  einfluss  Sternes  auf  Wieland  herangezogen.  K,  be- 
kümmert sich  fast  nur  um  die  biographische  litteratur  und  leitet 


302  UTTEKATUBNOTIZEN 

in  recht  interessanter  weise  die  Stimmungen  der  einzelnen  teile  des 
von  1791  bis  18U5  erschienenen  werkos  aus  den  erlebnissen  des 
dichters  ab,  schierst  freilich  weit  über  das  ziel  hinaus,  wenn  er 
(s.  9)  Thümmel  mit  Tasso  vergleicht,  der  einfluss  der  ausländer, 
Voltaires,  Eousseaus,  Fieidings  und  Smollets,  wird  ausführlich 
und  überzeugend  nachgewiesen,  dagegen  heifst  es  auf  s.  24 
recht  summarisch:  'seine  landsmännischen  Vorläufer  konnten  Thüm- 
mel nicht  viel  ani-egung  bieten',  dieses  urteil  basiert  einfach 
auf  ungenügender  kenntnis  der  'landsniänuischen  Vorläufer',  wie 
einige  beispiele  zeigen  mögen.  K.  bezeichnet  Wieland  als  den 
Schöpfer  des  psychologischen  romaus,  ohne  Blankenburg  zu 
nennen,  der  1774  in  seinem  'Versuch  über  den  Roman'  den 
'Agathon'  entzückt  analysierte,  aber  in  zukunft  berücksichtigung 
der  deutschen  sitten  forderte:  'Leasings  Minna  vnd  die  Wilhel- 
mine mögen  das  übrige  lehrenV  —  also  verlangt  Blankenburg 
eine  Vereinigung  von  Wielands  'Agathon'  und  Thümmels  'Wil- 
helmine', dh.  gerade  das  was  K.  an  der  'Reise'  bewundert, 
wenn  er  Thümmel  preist,  weil  er  an  die  stelle  der  leblosen 
griechischen  scheinweit  Wielands  das  meisterhaft  gezeichnete 
milieu  der  gegenwart  gesetzt  hat.  wie  konnte  ihm  diese  stelle 
entgehn!  Ferner  hebt  K.  hervor,  dass  Sterne  'die  besonderen 
zeitgeschichtlichen  Verhältnisse  unberücksichtigt  lässt',  während 
Thümmel  sie  heranzieht,  hier  ist  das  vorbild  der  pastor  Hermes, 
dessen  reisende  Sophie  von  den  kosaken  des  siebenjährigen  krieges 
entführt  wird,  sonderbar  würkt  auf  s.  25  die  kurze  bemerkung, 
dass  sich  die  durchbrechung  der  prosaerzählung  mit  versen  auch 
'bei  Geliert,  Uz,  Miller,  Hermes  uaa.'  findet,  damit  ist  K.  fertig 
und  untersucht  nicht  etwa  den  einfluss,  den  das  Singspiel  und 
die  verserzählung  bereits  auf  Hermes  übten,  sondern  bleibt  bei 
Thümmel  und  bespricht  in  aller  breite  (s.  60 — 64)  die  zahl  der 
versfüfse,  den  umgelegten  rhythmus,  die  reimgebilde,  als  ob 
dieses  seltsame  stilgemengsel  classischen  wert  besäfse.  Thümmels 
polemik  gegen  den  katholicismus  hat  ihre  Vorgänger  auf  dem  ge- 
biete des  dramas.  K.  nennt  nur  den  bruder  Martin  im  'Götz', 
zieht  aber  weder  Klingers  'Faust'  noch  seinen  1793  erschienenen 
kämpf rom an  gegen  die  spanische  Inquisition  heran,  wenn  Iv.  be- 
tont, dass  bei  Thümmel  das  milieu  auf  die  entwicklung  des 
Charakters  würkt,  so  wird  damit  nur  eine  forderung  erfüllt,  die 
Blankenburg,  JJEngel  und  andere  in  aller  ausführlichkeit  ent- 
wickelt und  begründet  hatten,  zum  Schlüsse  gibt  K.  eine  lehr- 
reiche Zusammenstellung  der  urteile  der  Zeitgenossen,  die  mit 
ausnähme  Schillers  Thümmel  bewunderten,  und  der  nachweit,  die 
sich  mit  wenigen  ausnahmen  Schiller  anschloss.  wenn  K.  ver- 
langt, dass  man  an  die  stelle  der  moralischen  beurteilung  die 
ästhetische  treten  lasse,  so  ist  das  gewis  berechtigt,  nur  darf 
darüber  der  historische  gesichtspunct  nicht  vernachlässigt  werden, 
den  ausländischen  einwürkungen   ist  K.  gerecht   geworden,  aber 


LITTE  RATURNOTIZEN  303 

er  hat  auf  das  conto  Thümmels  vieles  gesetzt  was  seinen  deut- 
schen Vorgängern  gehört. 

Leipzig.  Robeit  Riemaiin. 

Der  junge  Goethe  und  das  publicum  von  >VUHPingor. 
jUniversit}'  of  California  publications  in  modern  philology  vol.  l  ni-.  l  ] 
Berkeley, University  press  1909.67  ss.S'\  —  Gegenüberderherkömm- 
lichen anschauung,  Goethe  habe  das  publicum  verachtet,  sucht  der 
verf  nachzuweisen:  1.  dass  man  die  für  diese  meinung  grundlegende 
stelle  in  'Dichtung  und  Wahrheit'  sowie  die  in  ihr  ausge- 
drückte anschauung  zu  stark  betont  habe,  2.  dass  Goethes  gering- 
schätzung  des  publicums  auch  in  diesem  eingeschränkten  mai's 
nur  für  seine  jugeud  gelte,  3.  dass  sie  auch  in  dieser  weiteren 
reduction  nicht  seinem  wesen  entspreche,  sondern  durch  fremde 
einflüsse  ('s.  47  f),  besonders  den  Mercks  (s.  bes.  56.  61)  ihm 
nahegebracht  sei.  —  als  belegsammlung  für  Goethes  Verhältnis 
zum  volk  (s.  21  f)  und  besonders  zum  publicum  (s.  29f)  nicht  aus- 
reichend, vermag  die  arbeit  in  ihrer  beweisführung  vollends 
nicht  zu  befriedigen,  von  der  fundamentalen  tatsache,  dass  Goethe 
zwischen  sich  und  die  lesenden  'mitmenschen'  die  zwischen- 
iustanz  des  'kreises'  einschob,  wird  so  wenig  notiz  genommen, 
wie  von  den  aus  seinem  innersten  stammenden  bekenntnissen  im 
'Tasso'  und  der  'Zueignung'  zum  'Faust',  die  die  theorie  vom  freund- 
lichen Umschwung  (s.  17)  allein  widerlegen,  zwischen  der  rück- 
sicht  die  der  praktiker  und  insbesondere  der  theaterdirector 
(vgl.  s.  41)  nahm,  und  seiner  theoretischen  Überzeugung  von  der 
patriachalischen  Stellung  des  dichters  (vgl.  s.  38 j  wird  nicht 
streng  genug  geschieden,  auf  Alb.  Kösters  Vortrag  und  andere 
Studien  bei  den  letzten  Goethefeiern  ist  P.  nicht  eingegangen,  es 
ist  ihm  aber  einzuräumen,  dass  er  die  notwendigkeit  einer  er- 
neuten Prüfung  des  problems  dargetan  hat. 

Berlin,  27.    10.  10.  RMMeyer. 

Goethe  und  Schiller  von  Fr.  AVariiecke.  Weimar, 
Böhlau  1909.  15  ss.  8".  0,60  m.  —  Eine  eingehende  kritik 
der  berichte  beider  dichter  über  ihre  begegnung  1794  führt  den 
verf.  zu  dem  ergebnis,  der  Schillers  sei  vorzuziehen;  wobei  man 
zustimmen  kann,  ohne  alle  argumente  (zb.  die  analogieen  s.  11) 
sich  anzueignen,  auch  dass  Goethes  'GliickUehes  Ereignis'  ein 
gesamturteil  über  Schiller  mehr  als  ein  historischer  bericht  sei, 
wird  dem  scharfsinnigen  kritiker  zuzugeben  sein,  dass  über  die 
'Metamorphose  der  PHanzen*  gesprochen  wurde,  scheint  mir  kein 
genügender  grund  anzuzweifeln,  der  irreführende  titel  könnte 
etwas  bescheidener  gewählt  sein,  wenn  auch  der  verf.  hier  einen 
'symbolischen  fall'  anzunehmen  scheint.  R.  M.  Meyer. 

Bücherkunde  der  deutschen  geschichte.  kritischer 
Wegweiser  durch  die  neuere  deutsche  historische  litteratur.  von 
dr.  Victor  Löwe.  3  verm.  u.  verb.  aufläge.  Altenburg,  JohRäde 
1910.  144  ss.  S*^.  2,40  m.  —  Die  altbewährte  quellenkunde  von  Dahl- 


304  LITTEEATUBXOTIZEX 

maiin-Waitz  ist  in  der  neusten  aufläge  ein  so  umfangreiches 
und  kostspieliges  werk  geworden,  dass  das  verlangen  nach  einem 
knappern  leitfaden  durch  die  historische  litteratur  wol  begreiflich 
erscheint,  und  durch  den  erfolg  des  vorliegenden  bändchens, 
das  unter  einem  anderen  titel  pseudonym  zuerst  1900  erschienen 
ist  und  dann  weiterhin  drei  auflagen  erlebt  hat.  wird  dies  be- 
dürfuis  gewis  bestätigt,  der  verf.  ist  redlich  bemüht  gewesen, 
die  neuste  litteratur  nachzutragen,  hat  auch  den  Stoff  jetzt  etwas 
schärfer  gegliedert,  aber  mich  dünkt  doch,  der  räum  könnte  noch 
besser  ausgenützt  werden:  insbesondere  ist  ein  titelregister  von 
28  selten  auf  1116  selten  büchertitel  doch  ein  directer  nonsens. 
die  eiuordnung,  gruppieruug  und  trennung  ist  nicht  immer 
glücklich:  so  wenn  Eergners  Grundriss  der  kirchlichen  kunst- 
altertümer  (vermutlich  weil  er  bis  in  den  anfang  des  1 S  jh.s 
reicht)  s.  29  steht,  Ottes  Kunstarchäologie  aber  erst  s.  105,  oder 
wenn  unter  der  litteratur  zur  geschichte  der  reformation  (s.  40) 
bd.  3  der  Kirchengeschichte  von  WMöller  (-Kawerau)  scharf  her- 
vorgehoben wird,  ohne  dass  man  erfährt,  dass  KMüllers  werk 
(s.  2S)  in  bd.  ii  1  (1902)  die  gleiche  epoche  behandelt,  die 
Charakteristiken,  die  ungleichmäfsig  beigegeben  sind,  treffen  nicht 
immer  das  richtige:  es  ist  doch  mindestens  schief,  wenn  Zeufs 
Die  Deutschen  und  die  nachbarstämme,  eine  der  grösten  leistungen 
der  deutschen  Wissenschaft,  als  'eine  art  lexikon  der  Völkerkunde' 
bezeichnet  wird  (s.  32).  und  was  soll  der  Student,  der  nicht 
ahnt,  was  in  JGrimms  Rechtsaltertümern  steht,  mit  der  bezeichnung 
'classisches  werk'  anfangen?  in  den  hilfswissenschaften  und 
grenzgebieten  ist  die  auswahl  der  litteratur  oft  zufällig  oder 
willkürlich :  wenn  je  ein  hauptwerk  über  Lessing  und  Herder 
aufgeführt  wird  (s.  106),  so  fragt  man,  warum  Goethe  und 
Schiller  fehlen,  schlielslich  wird  bei  einer  neuen  aufläge  eine 
sorgfältige  bibliographische  revision  nicht  zu  umgehn  sein:  dass 
von  einem  werke  nur  erst  die  anfange  vorliegen  (Rachfahl  s.  45), 
dass  ein  'teil'  (Hettner  s.  106)  mehrere  bände  umfasst,  dass  die 
'2.  aufläge'  nur  eine  titelauflage  ist  (Arnold  s.  32),  muss  man  aus 
einer  'bücherkunde"  unbedingt  ersehen.  E,  S. 


Berichtigung  zu  s.  180:  die  dort  besprochene  abhand- 
lung  von  R.  Pestalozzi  ist  nur  ein  teil  des  xn  heftes  der 
Sammlung  'Teutonia' :  'Syntaktische  beitrage',  das  aufserdem  noch 
eine  gröfsere  arbeit  über  'Die  casus  in  Joh.  Kesslers  Sabbata' 
enthält  und  vn  -|-  80  ss.  8  o  stark  ist.     preis  3  m. 


KLEINE    MITTEILUNGEN. 

Zum  V  0  r  a  u  e  r  A 1  e  X  a  n  d  e  r .  ^'oln  cedernwalde  des  berges 
Libanon  heilst  es  im  Vorauer  Alexander  (Diem.  205,  14):  diz 
ist  noch  der  selbe  walt,  dev  der  chunUh  salemou  f/aJt  wider  einen 
chwiich,  der  hiez  sigiram.  in  der  Stral'sbnrg-er  bcarbeitung:  heifst 
der  letzte  vers  (1101  Kinzel):  irider  einen  kuninc,  der  hiz 
Hijram.  dass  das  das  richtige  ist,  kann  keinem  zweifei  unter- 
liegen, aber  keiner  der  lierausgeber,  weder  Diemer  noch  Weis- 
mann noch  Kinzel,  verliert  ein  wort  darüber,  was  den  dichter 
bewogen  haben  könnte,  dem  könig  Hiram  der  biblischen  biicher 
einen  echtgermanischen  namen  zu  geben;  ja  Kinzel  bucht  ganz 
unbefangen  den  namen  Sigiram  im  register  (s.  r)i9).  es  scheint 
mir  sicher,  dass  der  Vorauer  Schreiber  getreu  seine  vorläge  ab- 
geschrieben und  dass  diese  nichts  anderes  gemeint  hat  als  der 
hiez  sig  iram.  schon  an  zwei  andern  stellen  (Diem.  205.  2.'). 
217,  13)  bietet  der  Voraner  Alexander  die  ältesten  belege  für 
den  eigentümlichen  reflexiven  dativ  bei  heizen;  diese  dritte  kommt 
hinzu,  die  Schreibung  sig  ist  aus  der  mittelfränkischen  vorläge 
unversehrt  herübergerettet:  wir  kennen  sie  aus  dem  dem 
gleichen  dialekt  angehörenden  Annolied  (4  1.  711)  und  dem 
legendär  (vgl.  Busch  Zs.f.d.ph.  10,  31»3\  für  die  bestimmung 
von  Lamprechts  heimat,  wenn  sie  noch  zweifelhaft  sein  kann 
(schon  die  erwähnung  des  heiligen  Pantaleon  halte  ich  für  be- 
weisend und  stimme  im  übrigen  Pfeilfers  darlegiingen  Germ.  3, 
494  völlig  bei),  scheint  mir  dieser  Idiotismus  nicht  ohne  be- 
deutung.  dass  sich  der  dativ,  nicht  der  accusativ  ist,  nimmt 
Grimm  Gramm,  iv  327  nach  analogie  der  reichen  ähnlichen  Ver- 
bindungen im  as.  und  ags.  mit  recht  an,  wie  denn  überhaupt 
das  nichtVorhandensein  des  dativs  sich  im  mhd.  eine  be- 
hauptung  ist  die  den  tatsachen  nicht  entspricht  (vgl.  Alex.  :)84l, 
Eilh.  2341). 

Jena,  30.  okt.   1910.  Albert  Leitzmaiin. 

LYRISCHE  FEDERPEOBEN.  Ein  auflassregister  der 
pfarrei  Herhorn  für  die  jähre  1416 — 1424  unter  den  Deutsch- 
ordens-acten  des  Staatsarchivs  zu  Marburg  weist  auf  der  rück- 
seite  des  auflasses  vom  j.  1424  die  nachfolgenden  federproben 
auf,  von  denen  einige  für  die  Charakteristik  des  Volksliedes  jener 
zeit  nicht  ohne  Interesse  sein  mögen.  Hans  Xeuber. 

Des  meyen  zid  frawet  sich  der  gauch 
des  selben  glichen  tun  ich  werlich  auch. 

Von  unbilde  mufs  ich  lachen 

daz  ich  kau  gemachen 

daz  sie  meynt  ich  meynen  sie 

daz  mir  in  myn  herze  qwam  noch  nye. 

A.  F.  D.  A.     XXXIV.  20 


306  KT.f.INE    MITTETLUXCtEN    PERSONALNOTIZEN 

ye  lenger  ye  Über  vergifs  raj'n  nicht 
libes  oygelin. 

f  eider  f  erg  i 

3'e      rieber    ye  '   kerg  i  er 

I   edeler  1   ungetruw  j 

Taregamat  ramagerat  maga 

von  meisterlicher  mensur  .  . 

Ich  qwam  in  einen  garten  da  fand  ich 
gamerille  gamerille  und  ander  crud 
ein  krutschin  heifset  bissen  daz  kan  nymant 
genifsen  wolgemud  wolgemud  hüls  dirn 
die  lange  nacht  bis  an  den  tag  dirdundei. 


.  PERSONALNOTIZEN. 

In  Heidelberg  starb  am  9  december  49  jährig  professor 
dr  Bernhard  Kahle,  der  in  den  letzten  jähren  neben  seinem 
specialgebiet,  der  nordischen  philologie,  auch  die  deutsche  Volks- 
kunde pflegte.  —  am  22  december  verschied  zu  Leipzig  im  67  le- 
bensjahre  prof.  dr  Gustav  Wustmann. 

Der  privatdocent  dr  Walther  Brecht  in  Göltingen  wurde 
an  Borchlings  stelle  als  professor  der  deutschen  spräche  und 
litteratur  an  die  akademie  in  Posen  berufen.  —  der  senat  der 
freien  und  hansestadt  Hamburg  hat  die  neu  begründete  pro- 
fessur  für  englische  spräche  und  cultur  dem  professor  dr  Wilhelm 
DiBELius  in  Posen  übertragen. 

An  der  Universität  München  hat  sich  dr  Fritz  Strich  für 
neuere  deutsche  litteraturgeschichte  habilitiert,  an  der  Universität 
Leipzig  dr  Hans  Weyhe  für  englische  philologie. 


R  E  G  1  S 1^  E  R. 


Die  zahlen  vor  deueu  eiu  A  steht,  beziehen  sich  auf  die  seilen  des  Anzeigers, 
die  übrigen  auf  die  Zeitschrift. 


«  >  (t,  c  frank.  A  213 
accipies-bilder  in  incunabeln  A  70 Ü" 
additiouscomposita  A  155 
EvAdelnburg  l.'l 
adverb  als  subject    A  25  f.    28  f,    als 

prädicat  A  30  f 
Adoniscult,  grundlage  der  Gralssage? 

A  24^  ö" 
aetiologische  sagen  A  141 
DvAilt   151 
Albers  'Tundalus',  collation  u.  kritik 

1 90  ff 
anekdote  All" 
antern  'nachahmen'  A  125 
'Apokalypse',    bruchst.    d.   mnd.    ge- 

dichtes  26'j  ff 
Arnold  s.  'ßeiuairt' 
aspiration  von  jj  u.  A-  fränk.  A  204  f 
Atlakvida  A  136  f 
ÄTfila,  verschied,  namensformen  99. 

104 
HvAue,  Zusammensetzungen  m. -beere 

TS  ff,  m.  -rirh  76  ff 
auslautsgesetz  des  schlesischen  A  3G 
avanturierroman  A  175  ff 
Avitus,    m.    Hieronymus   befreundet 

3Slf 

0  afränk.  A  194  f,  gemiuiert  A  19Sf 
b  <i  p  in  lehnwörtern  A  206 
-beere    in    zussetzgen    bei  HvAue  u. 

GvStrafsbg  7b  ff 
Baiern    als    heimat    SHelbers  182  f; 
ausspräche  des  lateins  183  f;  e-laute 
185  ff 
MBeheim,  mcisterlieder,  rhythmik  u. 

melodik  A  67  ff 
Eenrather  linie  A  17 
'Bei  gmann',  mhd.  gedieht  aus  Böhmen 

256  ff 
betonica-recepte,  Trierer  hs.  175 
beicetien  A  123 

Bibeltext,   gotischer,   und  s.  vorläge 
365  —  386;    griechischer,    verschie- 
dene classen  369  ff.  386;    altlatei- 
nischer iltala)  366 
Biblia    picta    ipauperum)    u.    'Spec. 

hum.  salvatiouis'  A  60  f 
bilderbücher,  typologische  A  60  ff 
bilinguen-hss.  der  Bibel  379 
Bindeil,  luxembg.  ortsname  A  202 
binduDgen,  skaldische,  als  kiiterium 
des  alters  A  47  f 


Biterolf  A  191 

bit:  A  202 

Bleheris  A  249 

blutäuss,    Spruch    dagegen    171.   178 

Böhmen,  heimat  d.  coii.  pal.  germ. 
341:   245  11";  vgl.  deutsch-bohniisch 

Bodensee  als  Hheiu  bezeichnet  389  f 

üBouer.  anfang  u.  schluss  s.  'Edel- 
steins' 107  112;  zu  den  quellen 
einzelner  fabeln  231  —  244:  nr 
2  :  234,  nr  4  :  234,  nr  43  :  235,  nr 
48  :  236,  nr  49  :  232,  nr  52  :  236, 
nr  öS  :  237,  nr  74  :  237,  nr  82 :  238, 
nr  85:239,  nr  87  :  239,  nr  89  231, 
nr  92  :  240,  nr  94  :  241,  nr  95:  242, 
nr  96  :  243,  nr  97  :  243,  ur  100  :  243 

RdeBorron,  poet.  'Perceval'  A  243  ff 

brechuug  A  214  ff 

Maximiliane  Brentano  geb.  La  Roche 
A  275  ff 

Brixiauus,  codex  369.  379;  prolog 
dazu  385  f 

Brynhildpoesie  der  Edda  A  138 

GBüchner  A  188  f 

Burchard  v.  Worms,  s.  zeit  gespiegelt 
in  d.  Nibelungendichtg  206  ff 

carricatureu  ausd.  Irauzoseuzeit  A  95  f 
DCatonis  'Disticha'  bei  GvStrafsburg 

349 
ch  u    c  im  ahd.  Isidor  A  205 
christliche  segen  u.  heidnische  Zauber- 
sprüche  179  f.  390  ff 
christmette,    protestantische    A  143  ff 
'Christus     u.     die    iniuuende    Seele' 
A  255  ff;    verfasst    vom  dichter  d^ 
■Teufelsnetzes'?  A  257  f ;  verwantfe 
dichtungen  A  259 
Chrvsostomus,    sein    bibeltext   376  — 

378.  382 
circumflex  am  Niederrhein  A  18  f 
fcal.  Columbus,  Eu  swensk  ordesköt- 

sel  A  109 
conformationen    als    fehlerquelle    ia 
bibeltexten  372 

d  afränk.  A  194  ff,  geminiert  A  197 
deutschböhm.    gedichte    im    cod.  pal. 

germ.  341:  2 16  ff,  urthügraphie24Sff 
Dewin  in  Böhmen  (burggraf  Hermann) 

247 
dialektgeographie  A  7.   15  ff 
diene^tmun   (dienen)  in  d.  Standes- 

20  * 


308 


EEGISTER 


spräche  d.  ritterlichen  dichtg  13S. 
143  ff;  fehlt  im  Nib.liede   ltj6 

'Dietrichs  Ausfahrt'  (hs.  w|  unter  dem 
cintluss  von  Wolframs  'Willehalm' 
12Kfl~ 

diniinutiva,  mundartliche  Verbreitung 
u  gesohichte  A  9  ff:  Verhältnis  zu 
den  Personennamen   A  14ff 

diphthongicruugimsehlesischen  A34  f 

dissimilation  in  vogelnamen  A  1  f 

(lit  rheinfränk.  A  202 

(lohj  an.  u.  composita  Of) 

-dona  in  tirol.  u.  Vorarlberg.  Orts- 
namen A  148 

doppelnamen  A  156  f;  vgl.  heldensage 
.  donnelii   A  20 

(li-n--<ter  'heuschrecken'?  bei  BvRe- 
gensburg  284 

(/uh/ei-e  mlat.  '(durch  wurf)  preis- 
geben' 90  ff,  germ.  etymologie  93  ff 

(/(ih/is  shula,  dulfiahaitja  got.  96 

f  <  e  fränk.  A  215f 
c  in  fwefter,  fiefter,  jener  A  2 1 5  f 
Eckehard  I,  sein  'Waltharius'  in  bez. 
zur  Nib.-dichtg  193 — 231;  kannte 
bereits    eine    epische    darstellung 
194  ff,    würkte    auf    verschiedene 
Stadien    der    spätem     Nib.-dichtg 
200  ff.    230  f;    Selbständigkeit    E.s 
198.  202.  2 14  ff—  zumtext:  prol. 
19.  V.  874:  A  297 
Eckard  s.  Eckewart 
Eckewart    im    'Nibelungenlied'  201  f 
Edda,  Nibelungenlieder  A   135  ff 
edel  bei  Gv^trafsburg  73  ff 
Egilssaga,  ihre  compositiou    A  297  f 
ei  <i  fii  fränk.  A  213 
einen  in  d.  Standessprache  d.  ritter- 
lichen dichtg   138.   145  ff 
EvEms,  bruchst.  d.  'Barlaam'    354  f 
entrundung  in  Schlesien  A  34 
epigramme,  volkstümliche  A  118 
epos  entsteht  durch  anschwellen  von 

liedern  A  130  ff.  133 
ernbote  =-  arnebote  bei  BvRegens- 

burg  284 
Eschbach  als  dialcctgrenze  A  17 
WvEschcubach,    bruchst.   d.    '"Wille- 
lialm'    351  ff;     einfluss    d.    'Wille- 
iialm'  auf  'Virginal  A'    113—134; 

—  'Titurol',  kritik  u.  metrik  A 
111  f;  Mvinchener  fragmeut  A  111; 

—  'Parzival'  s.  Gral 
Etzelburg   =  Ofen,    nicht  Gran  226 

/  u.   r  afräuk.,  lautwert  A  210  f 
fahrende  (bürgerliche)  ind.  hs.  C  154 


faWe  A  5  f 

familiennamen,  rahd.  A  151  ff 

federproben,  lyrische  A  305  f 

fegfeuer  s.  höUe 

'Feldbaucr'  s.  'Bergmann' 

'Flooveni'  u.  verwaute  sagen  A  49  ff; 

bezieliungen    zum    Siegfriedslied? 

A  51  f 
Ven.  Fortunatus  s.  lenilan 
Frankfurt  a.  M.   A  296 
Franzosenzeit  in  Deutschland  A  93  ff 
französ.    trouvcres,  bildl.    ausdrücke 

aus  d.  Sphäre  d.  vasallität  143 
l'raueuverehrung  im  12  jh.  140  ff 
IIvFreiberg,  '.Schrätel  u.  wasserbär', 

Orthographie  d.  hs.  250  ff;  'Eitter- 

fgihrt    d.    JohvMichelsberg',   desgl. 

251  ff 
JvFreiberg    'Eädleiu',    Orthographie 

der  hs.  249  ff 
fremd  Wörter  d.  schles  muudart  A  3 1  f 
Fretela  s.  Sunnia 
Freudenleere  s.  'Wiener  mervart' 
JWFritsch,  bürgercapitän  A  296 
HvFritzlar.  datierung  nach  d.thüring. 

Wappen  360 
fürba;,     bctonuug    bei     WvEschen- 

bach  A  1 1 2 

g  afränk  A  197  ff,  geminiert  A  l9Sf 
(jän  QCit   bei  ThvZirkläre  A  63 
'Geistlicher  Streit',     beziehungeu   zu 

'Teufels  Netz'    u.  zu    'Christus    u. 

die  minnende  Seele'?  A  257 
r/erneiten  adv.  A  124 
Gero  im  'Nibelungenlied'  202 
gester  A  215 
'//-  ahd.  als  kennzeicheu  perfectiver 

actiousart  A  182  f 
glasmalereien     in    Mülhausen   i.    E. 

A60 
glossen,  ahd.  (u.  and.)  aus  Trier  172 ff. 

180  ff 
Goethe    u.    d.    publicum  A  303;  u. 

Schiller    A  303;    —  'Dichtung   u. 

Wahrheit'  A  265  ff;  Selbsterkenntnis 

A26S;  'Satyros'  A  269;  •  Werthers 

Leiden',    entstehungsgeschichte   A 

269  ff 
'Götter  Griechenlands'  A  188 
Goten,  orthodoxe   in   Konstantinopel 

383;  vgl.  Ulfila 
Gottsched,    s.    Shakespeare-kenntnis 

A75f 
Gral,  s.  iirsprüngl.   bedeuig  A  248  f; 

occultistische  züge  A  250  f 
f/ra-<ni((cke  A  4 
JGreff  A  171  ff;  s.  'Jacob'  A  173 


REGISTKß 


309 


iinel  A  7 

Gudrunsage,    alter    A    14;    name    8. 

Kudrun 
'Gudrüuarkvida  ii'  A  13" 
(luot  bei  GvStrafsburg  69  ff 

Iladlaub  u.  s.  familie,  urkk.  276ff 

handschriftenaus  Amorbach  1;  Berlin 
A  61  f;  Dülmen  356;  Dyck  2^5; 
Gießen  A  107;  Heidelberg  56.245  ff 
icod  pal.  gerra.  M\)\  Kalocsa  56; 
London  A  122;  Marburg  A  305; 
Millstatt-Klagenfurt  A 1 22 ;  Münster 
i.  W.  269:  Schafslädt  351:  Schlett- 
sladt  A5!t;  Trierl6<). 3!l();  Wien  190 

FrHebbel,  Charakteristik  2SS  f;  stil 
290  f;  Philosoph.  juy;eudlyrik  A 
2Sl  ff;  beziehuiigen  zu  Selielling 
A  282  f;  'Maria  Magdalene'  A 
2S3ff.  292;  vergleich  m  OLudwig 
2S6f 

SHelber,  s.  heimat  Baiern  182  ff. 
daher  die  behandluug  d.  c-laute 
zu  erklären   1S5  ff 

lieldensage.  namen  in  mehrfacher 
lautgestalt  1)7  ff  (anoninunir  alpha- 
betisch 99  —  103) 

liefifu  im  ahd    Isidor  .\  211 

Herder-Satyros  A  269 

HvHesler,  'Evang.  Nicodemi',  metrik 
u.  textkritik  A  167  ff;  H.s 
metrische  theorie  in  der  Apokal.  A 
16S  f;alternierender  rhythmus  A 169 

hessisches  wapjien  s.  thüringisches  \v. 

üettilo  u.  die  Gudrunsage  A  14 

Ilierouvmus,  brief  an  Suuuiau.Fretela 
3b0— ;i8S 

KHift  in  Speier,  holzsehnitte  A  71 

•Hochzeit'  30,  3.  .^7,    10:   A   123  f 

hölle  u.  fegfeuer  im  Volksglauben 
usw.  A  293  f 

lii/resih  bei  GvStraßburg  6))  ff 

Hohkönigsburg  A  183 

Rob.  Hood   A  131 

Uornnt,  abweichende  lautformen 
100  f 

ht  <  t  A  220 

AVvHumboldt,  sj)rachphilosophie  A 
294 

Hveusche  chronik  u.  Siegfriedslied 
A  53  ff 

i  u.  e  fränk.  A  216 
iambischer  Charakter  der  silbeu  zählen- 
den verse  A  68  ff 
ibis,  deutsche  namen  A  2 
hriy.  <  ?■/.  mfräuk.  A  199  £ 
•irj  t'irol.  =  -arh  A  149  f 


-f'/MD  diminutiven  A  11  f;  iupersonen- 

namen   A   13  f 
imperativnaineu  A  152 
-in.-fii   in   fiänk.   flexion   A  217 
Inschriften,   volkstümliche  Alls 
-//•  d.   plur.   lautet   nicht  um  A  212  f 
isländische     jijodsaguir      .\     234    ff; 

r.ju.llög  A  2;ts  f     " 
iu   umgelautet   friiuk.   A  213  f 
-in  adjecti\endung     A  119 

/  >  7  vor  i  A  219  f 
jagd  im  'Rudlieb'  u.im  'Nibelungen- 
lied' 203  f.  220 
jagdvögel  doppelt  benannt  A  6 
jener  A  215 
Avjohausdorf   lö'2 
Jonas  .Ji'inassou  A  233 
judeudeutsch   A  37 

/.   aspiriert  fränk.    A204f;  nach  l,r 

fränk.  >  /  A  210 
Kalewala  A  294 
GKeller  als  draniatikcr  A  97  ff;  'Der 

Freund',  'Schweizerschau.spiele'  A 

102,  'Eutychus'  A  103 
knittelversmetrik  A    115 
l.nünich  A  208  f 
königs-  u.  kaiserideal  d.  dtschen  nia.s 

A  113 
Kourad(vPassau),  verf.    einer  latein. 

'Nibelungias'  194  f;   steht  unter  d. 

einfluss  d.  'Waltharius'  198f;  führt 

Rüdiger    in     die  dichtg    ein     205. 

21'>:    beginn    s.    darstellung  218; 

auffassuug  Hagens  221 
Konstantinopel,  orthodoxe  Goten 383 
krankheitsnamen   in    e.    Trierer    hs. 

170  f 
kreuzfahrer,    freie    u.    Ministerialen 

135  f 
'Kreuztragende  Minne',  mhd.  gedieht 

A  256  f 
Knentliilt,    abweichende  lautformen 

100.   105 
'Kristuij)ätl'  A  45 
Kihlrnii,  namensform   105 
kurznameu  \  154 

Lamprecht,  'Alexander'  1101."  .\  305 

Langobarden  A  191 

lanze  beim  Gral  A  251 

lät  'lässt'  A  210 

lautverschiehuug,  mfrk.  A  199  ff;  der 

tenuis  im  auslaut  \  2u0  f;  der  teuuis 

zur  ati'ricata    u    sjjirans  A  200  ff; 

alter  der  lautverschiebuug  A  208  f 
Lechtal,    tirol.,    spräche    und   besied- 

lung  A  146 


310 


REGISTER 


legenden,     Ursprung;   aus  volkssagen 

und  novellen  A   14l) 
SLemnius,  geburtsjahr  A  125  tf 
Lessing,     'Emilia     Galotti'     und     G 

Kellers    'Freund'    A   102;    L.   u. 

Shakespeare  A  79  f 
Lefiira  'Lieser'  A  218 
leudei^  inlat.  84  f 
leu/fus  bei  Yen.  Fortuuatus  b4  ff 
Leuthold  n.  s.  Vorbilder  A  18!) 
-li,-lin,  obd.  diniinutivendg  A  1 1  f ;  in 

Personennamen  A   13  f 
-lieh,  pluralbildg  A  1 1 
lieder  u.  epos  A  133  ft 
lieder,  histor.  d.   17.  jh  s  AI 55 
Lochheimer  liederbuch  A  299  f 
ELönnrot  A  294  f 
Ludolfus   de  Saionia,    'Vita  Christi' 

A  öS  f ;  verf.  d.  'Spec.  hum.  salv.'? 

A  58  f 
OLudwig    verglichen     in     FHebbel 

A  286  f 
'Ludwigslied',  rhythmus  A  224  ff 

magistercumdiscipulis,  Quentellscher 
holzschnitt  A  71 

'Marien  himmelfahrt', dramat.  fragm. 
d.  14.  jh.s  aus  Amorbach  1  —  56; 
text  4 — 13;  herkunft  d.  hs.  14.  56 
(Rheinpfalz);  spräche  u.  Ortho- 
graphie 14 ff;  d.  kirchl.  tradition 
U.  die  dramat.  ge.staltuug  24 ff; 
Vorstufe  ein  liturg.  spiel  in  lateiu. 
spräche  43  ff;  die  latein.  gesänge 
d.  Innsbrucker  spiels  45  ff;  das 
MHf.-spiel  der  Fragmenta  Burana 
50  ff;  die  eutwickelung  zum  Amor- 
bacher spiel  53  ff 

Marke  der  tugenderiche  s,  Gv. 
Stralsburg 

'Mäze'  Überlieferg.  u.  datierg.  56  ff. 

medicin  d.  volkes  A   115  f 

mendaciuin  'falsche  lesart'  383 

Merseburg  s.  Zaubersprüche. 

WvMetze  155  n.  2 

CFMeyer  'Huttens  letzte  Tage'  A 128 

mi/_,  di/  nifränk.  A  199 

JvMichelsberg  s.  HvFreiberg 

JMielot  A  61 

milchwirlschaft,  geschichtliches  A 
1 03  f. 

Millstätter  hs.  A  122 

ministerialität  u.  litterdichtg  135  bis 
168  ;  ministerialen  in  d.  rittersehaft 
135  ff;  im  conventionellen  Sprach- 
gebrauch d.  rainnesangs  139  (s. 
dienef'tmuii,  evjenj 

minnesänger  s.  Standes  Verhältnisse 


'Minnende  Seele'  s.   Christus 

myrk  vadmdls  A  44 

Mösien,  doj)i)elsprachige  städte  370  f 

mundarten :  bairisch  184  ff  (e-luute 
bei  Helber  185  ff);  fränkische  A 
193  ff;  schlesische  .\  33  ;  westtiro- 
lische  A  155  ff;  von  Cronenberg  A 
15  ff;  Eger  A  22  ff;  Krefeld  A  7  ff. 

HvdMure   1 55  n.  3 

n  vor  Spirans  afränk    A  220  f 
namen  (persouen-  u.  famiiien-)  mhd. 

A   150  ff. 
nationalhymnen  d.  europ.    Völker  A 

38  ff 
natursagen  A   139  ff 
NiÄlssaga  A  40  ff,  entstehg.  u.verfasser 

A  45  ff 
Nibelungenlied,      beziehungen     zum 

'Waltharius'193— 231;zu'IUiodlieb' 

203  f;    Spiegelung  der  sächsischen- 
kaiserzeit   in    einer   altern  schiebt 

204  ff.  220  ff;  Wormser  einflüsse 
204  ff;  bischof  Burchard.  206  ff; 
die  Thidrekssaga  als  Vorstufe 
216  f;  Spiegelung  staufiseher  Ver- 
hältnisse 223  ff;  jüngste  einflüsse 
des  'Waltharius'  227  ff;  zusamnien- 
fassg  230  f;  vgl.  Eckehard,  Kon- 
rad; —  ritterlicher  dichter  1(15  f; 
man  für  vasallen  u.  dienstleute 
167;  —  entstehung  A  133 
Nibelungenlieder  d.  Edda  A  135  ff; 
Nibeluugeusage  u.  Floovent  A  54  f; 
vgl.  auch  Siegmundssage.  —  frag- 
mente  d.  Nl.  aus  Dülmen  350 

'nomina  herbarum,  nomina   olerum', 

glossen  aus  Trier   172  ff 
Norwegens    beziehungen    zur    franz. 

litt,  im   13  jh.  A  113  f 

of  in  d.  aengl.  syntax  A  298  f 

LOhmacht  A  296 

Ortsnamen    in  Tirol  u.  Vorarlberg  A 

145  ff 
Ottokar,  eroberg  v.  Accon  A   133 
ou  u.  uu  fränk.  A  218  f 

p,  aspiratiourheinfrk.  A  204  f;  grenze 
der  Verschiebung  A  205;  /■//,  Ip 
>  rj,h,  Ip/i  >  rf,  If  A   206  f 

päl,  pt'len  ndrhein.  'schale',  'schälen' 
A  20 

'Perceval'  in  prosa  A  242  ff:  analyse 
der  beiden  Gralbesuche  Percevals 
A  244  ff 

perfectivierung  dch  yi  -  A   182  f 

Personennamen,  mhd.   A   158  f 


REGISTEK 


:ui 


pf  I  p  verschiebuugsgrenze  A  205  f 

Pfälzer  am  Niederrhein  A  21  f 

Pil<,'rini  r  Passau  s  Konrad  (v. 
Passaul 

plantago-recepte,  Trierer  hs.   175 

Platcn.  Sonette  A   Ib«  f 

Pleier  A  1«!  ff;  s.  stand  162  n.  2. 
3;  'Tandareis',  u  Chrestiens 'Kar- 
ronritter' A  ICiö;  Chronologie  d. 
werke    A  166 

plei.^e  A   14S 

JPontanus  'De  sermone'  A  117 

predigtmärlein  A  203  f 

provenzal.  troubadours,  bJldl.  aus- 
drücke aus  d.  Sphäre  d.  vassallität 
141  ff-. 

Publilius  Synis  bei  GvStraßburg  348 

'Pvramus',  dramen  d.  16.  17.  jh.s 
A  1S4  f;  vgl.  Thisbe 

quenipas  A  144  f 

HQuentell,  accipies-bilder  A70f 

WRaabe,  'Hollunderblüte'  A  1S9  f 
rahm,  geschichtliches  A  104  f 
'Kiidlein'  s    JvFreiberg 
'Regel,  heilige  für  ein  vollkommenes 
Leben'  A  261  fl';  bcziehungen  zum 
tJGeorgener  prcdiger    A  'HVA  \    die 
einiiestreuten  exenipel  A  203  f  i 
BvRegensburg,    datierung  einz.  pre- 
digten :;I  SS,  3  :  279  f,  I  400,  38: 
280  fi";  beziehungen  z.jüng.  Titurel? 
282    f;      sprachl.       bemerkungen 
(iceseht,  ernhote,  drüster)    283  f 
vRegensburg,  burggraf  151 
reimgedichte,  ahd.,    ihr  rhvthmus  A 

222  f 
rciniprosa  im  'Spec.  hum.  salv.'  A  57 
'lleiuaert',  Wertung  der  Dycker  hs. 
(fi  für  die  textkritik  285  fl",  auf- 
fälliges zusmmengehn  von  Rein. 
II  (bi-|-latein. Übersetzung  (l)292ff", 
f  steht  dem  original  näher  als  a 
299 ;  ermittelung  der  richtigen 
lesarten  299—320;  die  neue  fassung 
des  prologs  bestätigt  die  hypothese 
von  LWillems  321  f;  unterschied 
in  d.  anthropomorphisierung  322  fi", 
verschied,  gebraucli  von  dit.'r'6'lhi\ 
Wilhelm  hat  als  nachfolger  Ar- 
nolds, dem  d.  II  teil  gehört,  den 
I  teil  (d.  frz.  'Plaid')  bearbeitet 
326  ff;  gleichheit  d.  stils  326  f, 
kleine  sprachliche  differenzeu  328  ff; 
derinhalt  einheitlich  332  ff;  schluss 
in  a  echt  und  eigentum  Arnolds 
336  ff;  die  froschfabel  338 


'Reinanlus  vulpes'  ».  'Reinaert',   Ist. 

Übersetzung 
FvRetz,       'Defensorium       inviolatao 

virginitatis  Mariae'  A  61 
-rlr.h  in  Zusammensetzungen  bei  Gr 

Strafsburg  7.Sf  u    HvAue  76  f 
JRies,  8.  syntakt.  methode  A  180  f 
vRietenberg,  burggraf  151 
URingwaldt,  'Christi.  Warnung  d  tr. 

Eckarts'  A  114  f 
ritterschlag    (Frankreich»    u.    rltter- 

weihe  (Deutschland)   137 
ritterstand,  entstehung  u   Zusammen- 
setzung    135  ff;     unterschiede     d. 

ritterlichen    cultur    in    Frankreich 

u.  Deutschland    137  ff 
robinsonade  A  115  ff 
roman.  Ortsnamen  in  Tirol  u.  Voral- 

berg  A   146  ff 
romantik  u.  Shakespeare  A  82 
Romveriasaga  A  239  f 
r.t   >   /•.-.■(•/)   schles.   A  35  f 
Rubin   155  n    5 
'Ruodlieb',    berührungen    ni.  d.    Ni- 

belungendichtg  203  f 
Hvilute    152 

.<!,  lautwert  fränk    A  211 

HSachs,  tierfabel  im  meistergesang 
A  300  f 

vSachsendorf  155  n.  6 

saga,  Island.,  bibliographie  A  179  f 

Salvina  382 

sat^  =  sax,  A  202 

vScharfenberg  155  n.  7 

Schiller,  dramat.  plane  A  278;  'Die 
Polizei'  A  279;  'Hausvater'  A  280; 
'Flibustier'  A  281;  'Verschwörung 
gegen  Venedig'  A  281  ;  'Wilhelm 
Teil',  beurteilung  des  volkes  A 
85  ff,  Tellcharakter  u.  apfelschuss 
A  91  ff ;  —  Seh.  u.  Goethe  A  303 

Sohimmel  A  149 

Srhindle  A  149 

schlesische  radart  A  23 

schmako.ttern  A  104 

arhmaiul  A  104 

'Schrätel  u.  Wasserbär'  s.  IlvFreiberg 

Schweizer  festspiele  AlOl 

schwerts^ge  s.  Siegmundssage 

'De  Servando  medico'  168 

Shakespeare  in  Deutschland  A  33  ff 

Shakespeare,  Julius  Caesar  II  1,  45: 
A  186 

f<i<-h  mhd.  dativ  A  305 

Siegfried  Hörn  A  33  f 

Siegfriedlied  u.  Floovent  A  50  ff. 
53  ff 


Druck  von  J.  B.  Hirschfeld  in  Leipzig. 


PF 
3003 
Z5 
Bd.  52 


Zeitschrift  für  deutsches 
Altertum  und  deutsche 
Literatur 


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