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Full text of "Zeitschrift für deutsche Philologie"

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ZEITSCHRIFT 


FÜR 


DEUTSCHE  PHILOLOGIE 


BEGRÜNDET  von  JULIUS  ZACHER 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


HUGO    GERING 


ZWEIUNDZWANZIGSTER   BAND 


HALLE  A.  S. 

VERLAG    DER    BUCHHANDLIJNO    DES    WAISENHAUSES. 

18  90. 


•S). 


Inhalt. 


Seite 
Die  bedeutuugen  und  der  syntaktische   gebrauch  der  vorba  hönnen  und  mögen 

im  altdeutschen.     Ein  beitrag  zur  deutschen  lexikograi>hio  von  W.  Kalil  .     .  1 

Über  Ziglers  Asiatische  Banise.     Von  G.  Müller- Frauen  stein     .     .     .     .  00.  1G8 

Eine  quelle  des  Siinplicissimus.     Von  R.  v.  Payer 9!^ 

Zum  Tellenschuss.     Von  H.  v.  Wlislocki 99 

Untersuchungen  zur  Snorra  Edda.     I.  Der  sogenante  zweite  grammatische  trak- 

tat.     Von  E.  Mogk 129 

Die  alaisiagen  Bede  und  Fimmilone.     Von  H.  Jaekel 257 

Zu  Notkers  Rhetorik.     Von  P.  Piper 277 

Über  den  bildungsgang  der  gral-  und  Parzivaldichtung  in  Frankreich  und  Deutsch- 
land.    Von  San  Marte 287.  427 

Ein  quodlibet.     Von  K.  Euling 312 

Eine  lügendichtung.     Von  demselben 317 

Zum  Passional. 

1.  Dresdner  bruchstücke  aus  Pass.  K.     Von  A.  Neumann 321 

2.  Clevisches  bi-uchstück.     Von  F.  Schroeder 324 

Ein  unbekantes  oberdeutsches  glossar  zu  Luthers  bibelübersetzung.  Von  P.  P  i  e  t  s  c  h  325 
Um  Städte  werben  und  verwantes  in  der  deutschen  dichtung  des  16.  und  17.  jhs, 

nebst  parallelen  aus  dem  18.  und  19.  I.     Von  L.  Fränkel 330 

Zwei  vereversetzungen  im  Beowulf.     Von  E.  Joseph 385 

Liederhandschriften  des   16.  und  17.  jhs.     Das  liederbuch  der  herzogin  Amalia 

von  Cleve.     Von  J.  Bolte 397 


Vermischtes. 

Gudbraudur  Vigfusson.     Nekrolog  von  K.  Maurer 213 

Zu  der  frage  nach  der  entstehungszeit  des  Lutherliedes.     Von  G.  Ellin ger     .  252 

Abweihen.     Von  H.  Morsch 253 

Des  mädchens  klage.     Von  G.  Ellin  ger 255 

Eine  lausavisa  des  Hromundj-  halti.     Von  H.  Gering 383 

Zu  ztschr.  XXn,  93.     Von  demselben 384 

Bericht  über  die  Verhandlungen  der  deutsch  -  romanischen  section  der  XXXX. 

versamlung  deutscher  philologen  und  Schulmänner  in  GörUtz.    Von  Th.  Siebs  455 

Berichtigung  zu  ztschr.  XXII,  243.  244.    Von  A.  Leitzmann 501 

Zu  ztschr.  XXII,  255.     Von  G.  Ellin  ger 502 

Nachrichten    .     .     • 128.  250.  384.  502. 

Neue  erscheinungen 503 

An  die  mitarbeiter  und  leser  der  Zeitschrift.     Von  H.  Gering 504 


rv  INHALT 

Seite 
Litteratur. 

Altdeutsche  predigten,  herausg.  von  A.  Schönbacli  11 ;  angez.  von  F.  Bech  .  .  115 
Karoliugische  diohtungeu.  untoi-sucht  von  L.  Traube;  angez.  von  H.  Althof  .  121 
Diedrich  von  dem  Werder  von  0.  AVitkowski;  angez.  von  F.  B obertag  .     .     125 

Die  Edda,  deutsch  von  "\V.  Jordan;  angez.  von  IT.  rrcring 128 

Toetik  von  AV.  Scherer ;  Die  einbildungskraft  des  dichters  von  W.  Dilthey ;  Hand- 
buch der  poetik  von  II.  Baunigaii:;  Poetik,  rhetorik  und  Stilistik  von  AV.AVacker- 
nagel;   Poesie  und  prosa,  ilire  aiien  und  formen  von  .1.  Methner;   angez.  von 

G.  Ellinger 129 

Joh.  El.  Schlegel  von  E.  AVolff;  angez.  von  AV.  Creizenach 230 

Gesdiichte  des  Physiologus  von  F.  Lauclieii;  angez.  von  E.  Voigt  ....  23G 
König  Tirol,  Winsbeke  und  Winsbekin,  herausg.  von  A.  Leitzmann;  angez.  von 

K.  Kinzel 242 

La  littemture  fran^-aise  au  moyen  age  par  G.  Paris;  angez.  von  H.  Suchier  .  244 
Die  sage  von  Tristan  und  Isolde  von  "W.  Golther;  angez.  von  P.  Kerckhoff  .  245 
Die  natur.  ihre  auffassung  und  poetische  Verwendung  in  der  altgerm.  und  mlid. 

epik  von  0.  Lüning;  angez.  von  K.  Weinhold        246 

"Wahrheit  und  dichtung  in  Ulrich  von  Lichtensteins  frauendienst  von  R.Becker; 

angez.  von  demselben 247 

Das  erste  Stadium  des  i-umlauts  im  germanischen  von  E.  v.  Borries;    angez. 

von  0.  Bremer 248 

Edda  Snorra  Sturlusonai'.     Tom.  III.     Sumptibus  legati  Arnamagn.;    angez.  von 

E.  Mogk 304 

Die  oster-   imd  passionsspiele    bis   zum   IC.  jahrh.   von  L.  Wirth;    angez.   von 

H.  Holstein 378 

Fr.  Nicolais  Kleyner  feiner  aluiauach   1777  und  1778,  herausg.  von   G.  Ellinger; 

angez.  von  J.  Bolte 381 

Grundriss  der  germanischen  philologie,  herausgegeben  von  II.  Paul;  angez.  von 

E.  Martin 4G2 

Orendel,  herausg.  von  A.  E.  Berger;  angez.  von  F.  Vogt 4G8 

Untersuchungen    über    den    satzbau    Luthers    von    H.  Wunderlich;    angez.   von 

0.  Erdmann 491 

Goethe  und  die  griechischen  bühnendichter  von  H.  Morsch;  angez.  von  G.  Kett- 

ner 493 

Indogermanische  präsensbildung  im  gemianischen  von  G.  Burghauser;  angez.  von 

0.  Bremer 494 

Fr.  Gottl.  Klopstocks  öden,  herausg.  von  F.  Mimcker  und  J.  Pawel;  angez.  von 

0.  Erdmann 497 

Die  bestrebungen   der  sprachgeselschaften    des  17.  jhs  füi'  reinigimg  der  deut- 
schen Sprache  von  H.  Schultz;  angez.  von  G.  Witkowski •     .    499 


Register  von  E.  Matthias 504 


DIE  BEDEUTUNGEN  UND  DER  SYNTAKTISCHE 
GEBRAUCH  DER  VERBA  „  KÖNNEN  ^^  UND  „  MÖGEN '^ 

IM  ALTDEUTSCHEN. 

EIN  BEITR^IG  ZUR  DEUTSCHEN  LEXICOGRAPHIE. 

Die  voi'liegeiu\e  arbeit  bezweckt  eine  eingehende,  auf  benutzung 
eines  ausreichenden  stellenmaterials  gestüzte  nntersuchnng  über  die 
bedeutungen  und  den  syntaktischen  gebrauch  von  können  und  mögen, 
wie  diese  sich  im  ablauf  der  spracligeschichtlichen  entwicklung  von  Ul- 
filas  bis  zum  ausgang  der  mlid.  periode  liin,  etwa  bis  1350,  darstellen. 

Mögen  und  können  werden  uns  anfangs  als  Zeitwörter  mit  scharf 
ausgeprägter,  sinlich  fassbarer  bedeutung  entgegentreten,  als  sogenante 
begrifsverba,  jedes  mit  gesonderter  beschränkung  auf  ein  bedeutungs- 
gebiet:  kihnien  bei  Ulfilas  =  hcioia}.icci  ^  mögen  =  loyko,  öivuLiai 
u.  dgl.  Alnüihlich  beginnen  die  grenzlinien  zwischen  können  nnd 
mögen  zu  yerschwimmen  und  in  einander  überzulaufen;  mögen  gibt 
iKjch  früher  als  können  seine  prägnante  bedeutung  auf;  bald  dienen 
beide  verba  dem  ausdruck  blosser  „möglichkeit."  Mit  dieser  A^erblas- 
sung  der  bedeutung  geht  die  Verwitterung  der  verbalen  kraft  von  kön- 
nen und  mögen  band  in  band.  Algemach  sinken  können  und  mögen 
zur  geltung  von  hülfsverben  herab,  die  nach  Jollys  Avorten  (Gesch.  des 
infinitivs  im  idg.  s.  175)  nur  noch  als  fulcrum  des  damit  verbundenen 
infinitivs  erscheinen;  „das  hülfsverbum  dient  dem  intinitiv  so  zu  sagen 
als  exponent,  indem  es  tempus  und  genus  bezeichnet,  der  infinitiv 
dagegen,  der  nur  als  Verbalsubstantiv  in  unbcstimter  casueller  bedeu- 
tung gefühlt  wird,  den  reinen  verbalbegriff  ausdrückt." 

Diesen  process  almählicher  entwicklung  des  begrifsverbums  zum 
hülfsverbum  zu  beobachten,  soll  unsere  aufgäbe  sein. 

Im  gegensatz  zu  den  vorarbeiten,  die  wir  weiter  unten  verzeicli- 
nen  werden,  denen  Avii-  reiche  belehrung  und  manchen  brauchbaren 
gesichtspunkt  verdanken,  haben  wir  unser  liauptaugenmerk  daraufgerich- 
tet, die  semasiologischen  und  syntaktischen  tatsachen  nicht  nur  einfach 
zu  verzeichnen,  sondern  auch  den  gründen  nachzugehen,  welchen  jene 

ZEITSCHEIFT   F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXII.  1 


KAHL 


tatsaclien  ihre  entsteliuiiir  \n\(\  ihre  innere  berechtigung  verdanken:  wir 
werden  dieselben  zum  teil  auf  dem  wege  spraehpsyeliologischer  betrach- 
tuuir  auffinden  können. 

Zudem  Avaren  wir  bestrebt,  nach  möglichkeit  Beneckes  forderuug 
zu  erfüllen:  „Die  aufzählung  aller  fälle  ist  es,  aus  der  sich  gesetze 
sowohl  als  ausnahmen  ergeben"  (vorrede  zum  Iweinwb.);  nicht  in  dem 
sinne  zwar,  dass  wir  das  ganze  überreiche  Stellenmaterial  auch  mitteil- 
ten: sondern  so,  dass  wir  unsere  resultate  allerdings  aus  einer  durch- 
foi-schuug  und  prüfung  niöglichst  aller  falle  hervorgehen  liessen,  in  den 
belegstelleu  uns  aber  mit  einer  auswahl  des  wichtigsten  und  bezeich- 
nendsten begnügten. 

So  haben  wir  die  got,  altsächs.  und  ahd.  denkmäler  vol ständig 
für  die  zwecke  unserer  arbeit,  verwertet;  von  den  mhd.  dcnkmälern 
sind  folgende  von  uns  durchgearbeitet  und  für  unsere  Untersuchungen 
berücksichtigt  worden.     Aus  dem  XL  Jahrhundert: 

Müllenhoff-Scherer   Denkmäler  usw.^   1867,    z.  t;    mit  Seh  er  er 

betrachte  ich   das   jähr  1050   als  grenze  zwischen   ahd.   und  mhd. 

(vgl.  Scherer  Q.-F.  XII,  1  —  10,   Lttgsch.  s.  780,  Wackernagel 

Littgsch.  12,  s.  38). 
Willirams    Paraphrase    des    hohen   liedes    ed.    Seemüller,    Q.-F. 

xxvm. 

Genesis  und  Exodus,    citiert  nach  selten  und  zeilen  der  ausgäbe 

von  Diemer  1862. 
Annolied  ed.  Bezzenberger  1848. 

Aus  dem  XII.  Jahrhundert: 
Willirams    Hohes    lied    erklärt    von    Rilindis    und    Herr  ad    ed. 

J.  Haupt  1864  (Hpts.  HL). 
König  Roth  er  ed.  v.  Bahder  1885. 
Heinrich  v.  Melk  (H.  v.  M.   Pr.  =  priesterleben;  Er.  =  erinnerung) 

ed.  Heinzel  1867. 
Des  Minnesangs  Frühling  (MF.)  edd.  Lachmann -Haupt  ^  1882. 
Heinr.  v.  Yeldeckes   Eneide  (En.)    ed.   0.  Behaghel  1882.     (Seine 

lieder  s.  MF.). 

Aus  dem  XIII.  Jahrhundert: 

Hartmann  v.  Aues  epen:  wegen  der  citate  (A.  H.  =  armer  Heinrich ; 
Greg.  =  Gregorius;  Er  =  Erec;  Iw.  =  Iwein)  verweise  ich  auf  die 
noch  zu  nennende  arbeit  von  v.  Monsterberg  Ztschr.  f.  d.  ph.  XVIII. 

Wolfram  v.  Eschenbach  ed.  K.  Laclnnann'^  1872  (1.  =  lieder; 
Parz.   =    Parzival;  Tit.   =  Titurel;  AVilh.   =   Willehalm). 


KÖNNEN   UND   MÖGEN   IM   ALTD.  3 

Gotfried  v.  Strassburg   Tristan  und  Isolde   (G.  Trist),    ed.  Mass- 

manu  1843.     Lobgesang  (=  Globg.)  cd.  Haupt  Z.  f.  d.  a.  IV,  513; 

zu  G.  Trist,  die  fortsetzung  von  TJlrieli  v.  Türheini   (ülr.  Trist.)   in 

Massnianns  ausg. 
Der  Nibeliinge  Not  (Nib)    und   Klage  (Kl)   ed.   Lachmann ^   1878 

(mit  besonderer  beriicksichtigung  der  hs.  Varianten). 
Gudrun  (Ciudr.)  ed.  Martin  1872. 
Walther  v.  d.  Yogelweide  (AYalth.)  ed.  Lachmann '^  1853,  mit  liin- 

zuziehung  der  ausgäbe  von  Wilma  uns  1882. 
Fridanks  Bescheidenheit  (Frid)  ed.  Bezzenberger  1872. 
Sachsenspiegel  (Sachssp.)  ed.  Homeyer  1861. 
Berthold  v.Kegensburg  (Berth.j:  als  probe  die  bei  Wackernagcl 

Altd.  Isb.  s.  878  abgedruckte  predigt  über  Mtth.  5,  1. 
Konrad  v.  Würzburg  Alexius  (AI.)   ed.  Haupt  Z.  f.  d.  a.  III,  534. 

—  —  Klage  der  kunst  (Kl.)  ed.  Joseph  QF.  LIV. 
Engelhard  (Eng.)  ed.  Haupt  1844. 

—  —  Goldene  schmiede  (Gold,  schm.)  ed.  W.  Grimm  1840. 

Der  AVeinschwelg  (WeinscliAv.)  ed.  Yernaleken.     Germ.  III,  210. 

Aus  dem  XIY.  Jahrhundert: 

Boners  Edelstein  (Bon.)  ed.  Pfeiffer  1844. 
Nico  laus  V.  Jeroschin  (Jer.)  ed.  Pfeiffer  1854. 

Ulfilas  eitlere  ich  nach  der  ausgäbe  von  Bernhardt  1875;  He- 
iland nach  C  bei  Sievers  1878;  die  übrigen  alts.  denkmäler  nach 
Heyne  Kl.  altnd.  denkmäler  1867;  die  Sanct-Galler  Benedictiner- 
regel  (B-K.)  nach  Hattemer  I,  28  fg.;  Isidors  Hispal.  de  nativ. 
dom.  (Is.)  ed.  Holtzmann  1836.  Murbacher  hymnen  (Murb.  h.)  ed. 
Sievers  1874. 

Tatian  ed.  Sievers  1872;  Otfrid  ed.  Kelle  1856;  Notker  ed.  Pi- 
per 1882/3  [Boeth.  =  Boethius;  Mcp.  =  Mart.  Capella;  cat.  = 
categorien;  de  interpr.  =  de  interpretatione ;  ps.  =  psalmen  (unter 
zuhiüfename  von  K.  Heinz  el  und  W.  Seh  er  er  Notkers  psalmen 
nach  der  Wiener  hs.  1876)]. 
Die  ahd.  glossen  (Ahd.  gl.)  ed.  Steinmeyer -Sievers  1879/82. 

Es  erübrigt  noch  die  benuzte  litteratur  zu  verzeichnen: 

Benecke  Wörterbuch  zu  Hartmanns  Iwein  1833. 

Grimm  Gesch.  d.  d.  spr.^  625.  627;  Gramm.IY,  92;  138;  171. 

Mittelhochdeutsches  Wörterbuch  I,  805b;  II,  9b. 

Deutsches  Wörterbuch  Y  (Hildebrand),  YI  (Heyne). 

K.  Lucae  Bedeutuns:  nnd  gebrauch  der  verba  auxiliaria  im  mhd.  1868. 

1* 


KAHL 


Horak    Über    die   verba    praeterito-praesentia    im    mhd.    1876    (eine 

höchst  uDgeiüig-ende  arbeit). 
V.  Moiisterberg-Müiickenau    Der   infinitiv    nach  wellen   und  den 

verba  praeterito-praesentia   in   den   epen  Hartnianns  v.  Aue:    Z.  f. 

d.  ph.  XVIII,  1  ^^.\    als  erg'änzung  zu  desselben  Verfassers:    „Der 

infinitiv  in  den  epen  Hartmanns  v.  Aue"  (in  Weinholds  German. 

abh.  V):    eine  arbeit,   die  volles  lob  verdient  und  von  mir  ausgie- 

bis:  benuzt  worden  ist. 
A.  Köhler  Der  synt  gebrauch  des  inf.  im  got. :  Germ.  XII. 
Steig  Über  den  gebrauch  des  inf.  im  altnd.  Z.  f.  d.  ph.  XYI. 
Pratje  Syntax   des  Heliand:    Jahrb.  d.  Vereins  f.  niederd.  sprachfor- 
sch mig  XI,  1885. 
M.  Denecke   Der  gebrauch    des  inf.   bei  den   ahd.   Übersetzern  des 

Till,  uud  IX.  jahrh.  1886. 
0.  Erdmann   Untersuchungen   über  die  syntax   der  spräche   Otfrids 

187-4/6. 
M.  Erbe    Über    die    conditioualsätze    bei  Wolfram:    Paul-Braune  Y, 

1  —  50. 
L.  Bock  Über  einige  fälle  des  conjunctivs  im  mhd.  QF.  XXYIL 
Rötteken   Der    zusammengesezte    satz   bei  Berthold   v.  Regensburg. 

QF.  LIIL 
Jelly  Geschichte  des  inf.  im  idg.  1873. 
0.  Erdmann  Grundzüge  der  deutschen  sjTitax  I,  1886. 

§  1.    Kihineu  im  gotiselieii. 

Zwei  wege  stehen  uns  offen,  wenn  wir  uns  der  bedeutung  des 
got.  hunnan  vergewissern  wollen.  Der  eine  benüzt  den  glücklichen 
umstand,  dass  die  gotischen  Sprachdenkmäler  der  Übersetzung  eines 
griechischen  Originals  angehören;  der  andere  sucht  hunnan  im  kreise 
der  urverwanten  sprachen  auf  und  stelt  mit  deren  hülfe  die  bedeutung 
des  got.  kann  fest. 

Durch  den  vergleich  des  griechischen  bibeltextes  mit  der  gotischen 
Übertragung  können  wir  sonder  mühe  ermitteln,  in  welchem  vorstel- 
lung.skreise  das  got.  kunnan  heimisch  gewesen  ist:  wir  finden,  dass 
Ulfilas  kunnan  durchweg  griech.  yu'toa/.eiv,  yvtoQiLeiv,  eld/'rca,  l7Ciaia- 
o^ui  entsprechen  lässt  (belege  vgl.  unten);  dies  führt  uns  unmittelbar 
in  die  Sphäre  intellectueller  tätigkeit,  und  wir  sind  berechtigt  für  kann 
die  bedeutung  „ich  erkenne,  ich  verstehe,  weiss  u.  dgl."  in  ansprucli 
zu  nehmen.  Yon  einem  hinüber.spielen  nach  mayan  kann  für  das 
got.  noch  dui'chaus   keine  rede  sein,    mayan  dient  dem  ausdrucke  des 


KÖNNEN   UND   MÖGEN   IM   ALTD. 


physischen  Vermögens  und  der  objectiven  niöglichkeit,  während  für 
kimnan  das  bedeutiingsgebiet  des  geistigen  befiihigtseins  vorbehalten 
bleibt. 

Nur  ein  einziges  mal  wird  i/töct  durch  mag  widergegeben:  T.  Ti- 
moth.  3,  5:  jahai  Jvas  scinanima  garda  fcufragaggan  ni  tu  (ig,  }vaiva 
üikldesjo)i  gifl>>>  gaharol)  =  ei  de  tlq  tov  lölov  oI/aov  TVQOOrfji'ccL  od/, 
olöer.  Doch  gerade  hier,  so  glaube  ich,  ist  )ii(ig  vonUlfilas  mit  beson- 
derem bedacht  gewählt  worden:  nach  altgermanischer  anschauung  rei- 
chen kentnis  und  wissen  nicht  aus,  einem  hauswesen  vorzustellen:  der 
pater  familias  muss  die  kraft,  muss  die  macht  haben,  selbst  mit  dem 
Schwerte  in  der  hand,  sein  haus  zu  schützen  und  zu  verteidigen.  Die- 
ser einzige  fall,  avo  mag  oiöa  entspricht,  darf  also  nicht  als  negative 
Instanz  gegen  das,  Avas  wir  oben  ermittelten,  geltend  gemacht  werden. 

Das  ziel,  dem  uns  diese  betrachtung  entgegengeführt  hat,  können 
wir  auch  noch  auf  einem  andern  wege  erreichen.  Die  Sprachverglei- 
chung lehrt  uns  das  got.  kunnan  als  glied  einer  familie  urverwanter 
Wörter  kennen,  denen  die  beziehung  auf  wissen,  verstehen  u.  dgl. 
gemeinsam  ist  (vgl.  die  belege  bei  Curtius  Grundzüge  der  griech. 
etym.^  178,  dortselbst  auch  die  verweise  auf  Benfey,  Pott  usw.).  Zu 
got.  kann  gehört  u.  a.:  skrt.  (piä,  gänäni  =  kennen,  griech.  y/rw, 
lat.  g)to-sco,  no-tus;  ahd.  knäan  =  cognosco  usw.  Die  Sprachver- 
gleichung bestätigt  also  durchaus  das  resultat,  das  wir  oben  durch  den 
direkten  schluss  von  der  gotischen  Übersetzung  auf  das  griechische  ori- 
ginal fanden. 

AVir  dürfen  somit  an  die  spitze  der  weiteren  Untersuchung  den 
satz  stellen,  dass  in  dem  ältesten  der  uns  bekanten  dialekte  der  ger- 
manischen spräche,  im  got.,  dem  verbum  können  die  bedeutung  des 
erkennens,  des  wissens,  des  geistigen  Vermögens  zusteht. 

Wenn  wir  die  reihe  der  syntaktischen  fügungen  überblicken,  in 
denen  got.  kann  auftritt,  so  muss  uns  das  fehlen  jeglichen  Infinitivs 
nach  kann,  der  uns  vom  mhd.  her  so  geläufig  ist,  auffallen.  Schon 
Grimm  (Gr.  lY,  92)  ist  auf  diese  eigentümliche  tatsache  aufmerksam 
gewesen;  er  hat  sie  mit  der  bemerkung  verzeichnet,  dass  einem  inf. 
nach  kamt  nichts  im  wege  stehe,  da  das  ahd.,  alts.,  ags.  und  nord. 
diese  construction  kennen;  Grimm  hätte  noch  hinzufügen  können,  dass 
der  inf.  nach  den  synonymen  icait,  lais,  man  belegt  ist  (Köhler 
Germ.  XII,  -129). 

Wir  sind  nun  in  der  läge  den  grund  anzugeben,  der  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  das  ausbleiben  der  infinitivconstruction  nach  kann 
verschuldet  hat.     Es  ist  eine   eigen tümlichkeit    der   neutestam entlichen 


6  KAHL 

graecitiit,  mu'li  dvn  verbeii  des  crkennons  und  wissens  den  inf.  oder 
acc.  c.  inf.  zu  vermeiden,  dagegen  die  ankniipfimg  eines  iiebensatzes 
mit  lin  und  I'K  zu  bevorzugen.  Nur  einmal  wird  im  Neuen  testament 
von  ynojiT/.eti'  ein  intinitiv  abliängig  gemacht:  Hebr.  10,  34:  leider  fehlt 
liier  das  got.;  nach  yriooiSeii'  und  (/cioiai^iai  steht  nie  ein  inf.  (vgl. 
AVahl  Clav.  nov.  test.  phil.  p.  87a,  195b;  Grimm  Lex.  graeco-lat.  in 
libros  nnvi  tost.-  s.  81b,  U)9a.)  —  eiöi-rca  e.  aee.  c.  inf.  findet  sich 
zweimal:  1.  Tetr.  5,  9,  avo  das  got.  fehlt;  Luc.  4,  41,  wo  das  got.  über- 
sezt:   insscdtai  i<flbaN  Xri.'<f/(  i)ta  ffi;<an  =  ydeioav  luv  Xq.  avibv  elvai. 

Der  inf.  nach  oi(ic(  tritt  uns  in  7  stellen  entgegen,  nur  3  gestat- 
ten  den   vergleich   mit   dem   got:    riiil.  4,  12    wird  oida    durch  lais  c. 

inf.  übei*sezt;  LTlies.  4,  4  ist  eidh'ca y.Täodat  =  cl  iciti (ja- 

staldan :  I.  Timotli.  3,  5  oida  =  mof/  wurde  bereits  oben  besprochen. 
Sonst  Avird  im  N.  t.  stets  nach  den  verbis  cognoscendi  der  inhalt  der 
erkentnis  und  des  Avissens  in  einem  nachsatz  gegeben,  der  durch  ihg 
oder  on  mit  dem  liauptsatze  verknüpft  ist.  Nach  dem  vorliegenden 
tiitbestande  haben  Avir  also  kein  recht  dazu,  das  fehlen  des  intinitivs 
nach  kinutati  auf  rechnung  einer  principiellen  abneigungder  got.  spräche 
gegen  diese  syntaktische  ausdrucksform  zu  setzen:  nicht  das  got.,  son- 
dern das  griech.  original  trägt  die  schuld  daran,  dass  innerhalb  der 
got.  Sprachreste  der  intinitiv  nach  kann  nicht  nachweisbar  ist. 

Wir  können  uns  nunmehr  der  aufzählung  der  verschiedenen  syn- 
taktischen constructionen  zuwenden,  in  denen  kann  auftritt. 

L     kann  absolut  gebraucht. 

L  Kor.  13,  9  sinnan  kunnuni  jah  siiman  praufetjcun.  Matth.  27, 
65  suasice  kunnup  (=-  vj^g  ol'Jcrrt) ;  IL  Timoth.  1,  18,  von  Schulze 
(Got.  Avb.  1847  s.  185)  hierher  gestelt,  gehört  unter  11I^ 

IL     kann  mit  einem  objektsaccusativ. 

Matth.  7,  23  patci  ni  Ivanliun  knnjja  (lyvor)  izicis;  Marc.  4,  11 
kunnan  riina  l)ludan(jar(Jjoi^  (ynorai  to  fiuGi/joiov)]  Marc.  4,  13  pos 
fjajfikons  kanneip  {läg  ycaofxßolag  yrojaeod-e)]  Job.  13,  38  unte  pii  inik 
afaikis  kunnan  Jyrim  sinjjani  {nug  ou  dicaQvrjarj  (,ie  TQtg^  vgl.  hierzu 
Loebe  zu  I.  Cor.  9,  25);  Skeir.  Ya  s.  637:  insok  kunnaiids  pirx  ana- 
irairjjane  airxein.     Ephes.  3,  19;  Marc.  1,  24  usw. 

Doppelter  accusativ  findet  sich:  Joh.  17,  3  ei  kiinneina  (yLvojozov- 
OLv)  puk  ainana  sunjana  yujj;  Marc.  6,  20  kunnands  ina  tvair  garaih- 
tana  jah  iveihana. 


KÖNNEN  UND  MÖGEN  IM  ALTD.  7 

III.     kamt  mit  einem  abliängigen  iiebeusatze. 

a)  Indirekter  fra<^esatz. 

Phil.  1,  22  jah  h:ii]utr  iniljuu ,  in  kdun  (ov  yvio()iU'))\  Lue.  10,  22 
Ja/f  II  i  Jrashini  La  im,  /ins  ist  siüiits;  Mai'e.  1,  24  hruin  [ndi,  has  Jin 
is  =  olöa  ae  i/g  ti.  Marc.  11,  68  iii  iruil  nl  kann,  Iva  Jnt  qijiis  {od/, 
oiöa  ord'  Lcioiai^iai    il  ob  Xtyeig). 

b)  Mit  cl  oder  palci  eingeleiteter  naehsatz. 

Klinghardt  hat  Zs.  f.  d.  ph.  VIII,  173.  176  die  regel  anfgestelt, 
dass  ,,der  gebraueh  von  ci  Avesentlich  an  optativische,  der  von  Jiafci 
an  indicativische  nebensätze  geknüpft  ist,  weil  pafri  gegen  ei  eine 
stärkere  bindung  enthält.''  IL  Cor.  13,  5  Jjau  niu  kunitup  Ixtris,  palcl 
I.  Xr.  in  ixivis  ist;  Joh.  15,  18  lunneip  (yivcooy.eie)^  ei  7nik  fniman 
ixivis  fijaida;  Marc.  13,  28  kiuinup,  patei  7ielva  ist  asans:  IL  Tim.  3,  1 
kiinneis,  ei  ...  alyagijand;  Joh.  17,  23  kunnei  so  inanascjjs,  patel  pu 
mik  insancUdcs  usf. 

Passive  formen  von  kunnan  finden  sich  im  got.  nicht;  wie  gewöhn- 
lich nimt  Ultilas  seine  Zuflucht  zur  Umschreibung:  so  Phil.  4,  5;  Eph. 
3,  5;  auch  im  griechischen  original  ist  das  passiv  von  yivvjoy.vj  sehr 
selten. 

Die  behauptung,  welche  wir  an  den  anfang  dieses  abschnits  stei- 
fen, und  welche,  wie  wir  hoä'en,  durch  die  beigebrachten  stellen  bestä- 
tigt worden  ist:  dass  nämlich  dem  got.  ka7in  die  logisch  kräftige  bedeu- 
tung:  ich  erkenne,  ich  weiss  u.  dgl.  zukomt,  erhält  noch  eine  stütze 
durch  den  umstand,  dass  die  got.  spräche  die  fähigkeit  besass,  von 
kunnan  composita  zu  bilden.  Denn  auch  darin  zeigt  es  sich,  dass 
das  got.  kann  noch  nicht  zum  hülfszeitwort  abgeschwächt  ist,  sondern 
dass  es  seine  volle  kraft  als  begrifsverbum  in  ursprünglicher  stärke 
bewahrt  hat. 

Ein  schwaches  verbum  kunnan  ist  bei  Ulfilas  nicht  mehr  beleg- 
bar; denn  L  Cor.  1,  21  haben  Gabelentz-Loebe  ohne  grund  das  hand- 
schriftliche ufkunnaida^  (=  tyvvj)  durch  kunnaida  ersezt.  Die  compo- 
sita von  kunnan  erscheinen  bald  in  der  starken,  bald  in  der  schwa- 
chen form. 

anakunnan  =  draytvcüozeiv,  z.  b.  IL  Cor.  1,  13;  frakimnan  = 
dO^ersir,  '/.caaffQorelr,  vgl.  Grimm  Gr.  lY,  689;  af kunnan  =  ycaotxeiv 
Col.  4,  1;  (jakunnan  stark  =  vTtoidööEöd^ca  I.  Cor.  15,  28;  schwach 
=   yirojozeiv]  ufkunnan  (praet.  iifkunjm)   =^   hciyivdja/.eLv. 

Auf  diese  composita,  Avelche  uns  die  bedeutung  des  einfachen 
kunnan  in  gewissen  nüancen  zeigen,   näher  einzugehen,   liegt  für  uns 


8  KAHL 

keine   veranlassuiig-  vor;    wegen   des  stellenniatcrials  sei  auf  Schulze, 
Got.  Avb.  s.  186  fü:.  verwiesen. 

Aus  den  betracbtungen,  die  Avir  bisher  gepflogen  haben ,  dürfte  sich 
ergeben  haben,  dass  das  got.  hcum  jene  durchsichtige,  bcgriflich  genau 
fassbare  bedeutung  noch  durcliaus  bewalirt  hat,  auf  av eiche  uns  der 
vergleicli  des  gotischen  mit  dem  griechischen  original  sowie  das  ver- 
liältnis  zu  den  verwanten  Wörtern  der  übi'igen  idg.  sprachen  hinwies: 
erst  lange  nach  der  zeit,  in  welcher  die  got.  Sprachdenkmäler  entstan- 
den, hat  können  einbusse  an  seiner  verbalen  kraft  erlitten,  bis  es,  je 
weiter  wir  uns  vom  got.  entfernen,  melir  und  mehr  zu  einem  liiilfs- 
zeitwort  herabgesunken  ist,  das  gleichsam  zu  seiner  Unterstützung  eines 
nachgesezten  Infinitivs  bedarf,  dem  es  eine  eigentümliche  modale  fär- 
bung  verleiht,  ohne  selbst  eine  merkliche  bedeutung  zu  besitzen;  vor 
dem  Xn.  Jahrhundert  jedoch  liat  dieser  verwitterungsprozess  nicht  be- 
gonnen. 

§  2.    Köinieii  im  altsäclisiselieii. 

Der  gebrauch  des  Infinitivs  im  altnd.  hat  durch  Steig  (Zs.  f.  d. 
pli.  XVI)  eine  sorgföltige  behandluug  erfahren,  welche  sich  auch  auf 
die  Syntax  von  can  im  Heliand  erstreckt;  die  übrigen  altnd.  denkmäler 
bieten  kein  beispiel  von  can.  Steig  bemerkt  ].  1.  s.  330:  „Xur  ungern 
fülire  ich  unter  den  auxiliarien  das  verbum  can  auf,  da  es,  wenigstens 
im  Heliand,  als  solches  nicht  betrachtet  werden  darf.  Es  erscheint 
nämlich  überwiegend  als  transitives  verb  (=  novi)  mit  objektsaccu- 
sativ  oder  mit  dem  Infinitiv.  In  allen  fällen  ist  die  bedeutung  von 
can  eine  viel  kräftigere,  als  man  sie  bei  einem  blossen  auxiliar  erwar- 
tet und  noch  weit  entfernt  von  der  flachheit  des  nhd.  können." 

Für  die  bedeutung  von  can  ist  besonders  charakteristisch  die 
stellOj^Hel.  724  nu  ik  is  aldar  Irui,  tiuct  is  imintro  gilaht,  wo  kau  in 
direkter  parallele  zu  uact  steht;  auf  dieselbe  bedeutung  führen  uns 
durchweg  die  anwendungen  von  ca)t  im  Heliand. 

L  Der  absolute  gebrauch  von  can  ist  aus  dem  Heliand  nicht 
zu  belegen. 

IL  can  mit  dem  objektsaccusativ  (vgl.  Pratje  Der  accusativ 
im  Heliand  s.  39)  findet  sich  an  folgenden  stellen:  208  thie  so  filo  Con- 
sta uutsaro  uuordo;  1032  Me  consta  is  muodselon;  2514  ilc  can  the- 
saro  Uudio  hufji;  ferner  3101  M.    3544.    4151. 

III.  Für  can  mit  einem  Infinitiv  bietet  der  Heliand  4  bei- 
spiele:  225  consta  filo  mahUan;  1669  ni  cunnun  eni(j  filat  iminnan; 
2650  spei  fjodes  seggian  cunsti;  2530  ni  can  te  (jithenkeanne  the- 
gan  an  is  muode. 


KÖNiNEN    UND    MÖGEN    IM    ALTD.  9 

Bei  225  und  2650  le^t  uns  der  Inhalt  des  von  can  abhiingig- 
gemachten  Infinitivs  (inalikaii  und  ^c(/ijian)  die  Übersetzung  „ich  weiss", 
„ich  verstehe"  unmittelbar  nahe,  die  auch  für  1669  passt:  „sie  verste- 
hen nicht  zu  gewinnen." 

2530  endlich  bietet  uns  das  erste  beispiel  einer  construktion,  die 
uns  im  weiteren  verlaufe  dieser  Untersuchungen  noch  öfters  begegnen 
wird:  ein  Substantiv,  hier  ein  substantivierter  infinitiv,  wird  durch  eine 
praeposition  [fc)  mit  can  verknüpft.  Die  erklärer  wollen  in  unserem 
falle  meist  eine  ellipse  annehmen  (vgl.  Grimm,  Gr.  IV,  11).  Ich  folge 
jedoch  Steig,  der  1.  1.  s.  490  dieses  can  sehr  glücklich  mit  (jimiald 
hcbbian  te  vergleicht;  er  sagt:  „Schon  oben  liabe  ich  ausgeführt,  welche 
Schwierigkeiten  das  verbum  can  demjenigen  bereitet,  welcher  es  unter 
die  auxiliarien  einrechnen  will;  auch  unser  beispiel  zeigt  eine  leben- 
dige, kräftige,  nicht  auxiliare  bedeutung  und  steht  einem  ausdrucke 
wie  gmiiald  hehbian  te  ziemlich  nahe"  (vgl.  Hei.  2162.  2327.  4518). 

Das  alts.  besizt  noch  eine  composition  von  cunnan  :  hiciuinan; 
es  steht  jedesmal  mit  dem  objectsaccusativ  und  entfernt  sich  in  der 
bedeutung  vom  einfachen  cunnan  nicht.  Es  tritt  uns  entgegen:  1901. 
4961.  5320.  5816;    3101  hat  C:  hicanst  nienniscan  sidon,  M  canst. 

Somit  rät  uns  alles  dazu,  für  das  alts.  so  gut  wie  für  das  got 
die  anfange  jener  bedeutungsabschwächung  abzulehnen,  welche  im  laufe 
der  zeit  können  zum  verbum  auxiliare,  zum  kraftlosen  hülfszeitwort 
hat  herabsinken  lassen. 

§  3.    Können  im  altlioeiideutsehen. 

Bevor  wir  zur  darstell ung  der  bedeutung  und  der  syntax  von  kan 
im  ahd.  übergehen,  müssen  wir  des  umstandes  gedenken,  dass  kan  in 
den  früh -ahd.  denkmälern  in  geradezu  auffallender  weise  zurücktritt. 
Otfrid  liat  nur  5  beispiele  für  kan;  bei  Tatian  und  Isidor,  in  den  fragm. 
theot,  der  B.-R.,  den  Murb.  hymnen  wird  man  vergebens  nach  einer 
form  von  können  suchen  {chunnemes:  Isid.  XVIIIb,  10  und  chunnct: 
fragm.  theot.  XVII,  12  gehören  zu  dem  schwachen  verbum  kunnea: 
vgl.  Ahd.  gl.  I,  128,  13;  Xotker,  Mcp.  795^';  Graff  IV,  411;  Mhd. 
wb.  I,  810'';  Bezzenb erger  zu  Frid.  109,  2).  Es  ist  uns  möglich, 
mehrere  stellen  in  Tatians  evangelienharmonie  mit  den  entsprechenden 
werten  der  got.  bibel  zu  vergleichen  und  hierbei  ergibt  sich,  dass  da, 
wo  das  got.  formen  von  kiinnan  hat,  Tatian  mdxrMu^  fnrstantan  und 
ähnliches  sezt:  z.  b.  Mtth.  7,  23  patei  ni  hanhiui  kunpa  ixuis  = 
Tat.  42,  3  bitliiu  inianta  ih  nio  in  altere  iuidh  iiuesta;  Mtth.  26,  72 
kaiin  =  Tat.  188,  3  uueiz;  Mtth.  27,  65  kimimp  =  Tat.  215,  4  iiwizut; 


1 0  KAHL 

Job.  6,  15  ktniHONds  =  Tat  80,8  ii(h'a)ita;  Joh.  15,  18  liontcij)  =  Tat. 
169,2  UHiwit;  Job.  17,  23  Jah  kunuci  =  Tat.  179,  2  iiifi  forstautc  usw. 

Ijeider  lässt  sieli  das  gleicbe  vortabroii  auf  Isidor  und  diu  ande- 
ren oben  i^enanton  deukniiiler  uiclit  anwenden.  Tu  Tatin ns  Avortscbatz 
sebeint  aber  /.«//  irefeblt  zu  baben.  ßei  Notker  iinden  wir  kan  biiuiiii- 
gebrauelit.  Auf  ibu  müssen  Avir  uns  bei  dem  versnobe,  aus  der  abd. 
übei-setzuniTslitteratur  die  bedeutuui;-  von  kau  zu  crmittebi,  besebränken; 
bierbei  dürfen  wir  aber  nicbt  vergessen,  dass  Notker  es  liebt,  in  freier 
weise  clie  abd.  spracbe  dem  lat.  original  gegenüber  zu  gestalten  und 
dass  er  desbalb  niebt  immer  jene  treue  Übersetzung  bietet,  welcbe  es 
uns  obne  weiteres  ermögliobt,  den  sinn  eines  abd.  wortes  durch  den 
vercfleicb  mit  dem  lat.  oriiiinal  festzustellen. 

Auob  die  glossen  gewähren  uns  nur  geringe  ausbeute;  Wörter  wie 
scio,  coQuosco  u.  dgl.  sind  in  den  meisten  fällen  so  verständlich,  .dass 
sie  einer  glossierung  nicht  bedürfen.  Es  stehen  uns  nur  3  glossen  zu 
geböte,  mit  deren  hülfe  wir  die  bedeutung  des  abd.  kau  ermitteln  kön- 
nen; die  freie  paraphrase  nua\  clnnmot  i??  =  quod  est  opus  vestrum 
(Monseer  gl.  bei  Pez  I,  320)  muss  vorläufig  ausser  acht  bleiben. 

Die  glossare  der  keronisch-brabanischen  sippe  —  wie  Steinmeyer 
sie  nent  —  haben  (Abd.  gl.  I,  217'^)  norat  =  kan,  khan;  eine  glosse 
bei  Pez  I,  371  lautet:  kan  buoh  =  assecidus  est  Uiteras;  eine  glosse 
zu  Greg,  bomil.  in  evang.  I,  6  (Migne  LXXYI  s.  1098  A)  =  Abd.  gl. 
II,  276  ^'  sezt  zu  dem  lat.  admonere  non  sufficio  :  niuimiach  l 
(vel)  nichan;  so  die  bandscbriften  b  und  c;  -nichan  l  Kiiernmch  ef; 
es  handelt  sicli  um  eine  geistige  tätigkeit  (admonere) ;  deshalb  konte 
zu  uinnach  sehr  avoI  die  Variante  cltan  hinzugefügt  werden  {nbarnia- 
(jan  nur  noch  Otfr.  IV,  31,  33).  Auf  die  bedeutung  kan  =  scio  las- 
sen uns  auch  folgende  glossen  schliessen:  I,  793  ^'^  scientes  =  kuii- 
stiyo;  I,  748  ^^^  jwtens  in  scripturis  =  chunstiyer;  11,  185'^^  rüdes  = 
unchunstüj;  193 "^^  ebenso;  286'^  scientia  =  chunst. 

Vax  den  angeführten  glossen  tritt  ein  vers  des  MSD  61  mitgeteil- 
ten Carmen  ad  Deum  (verfasst  870):  prece  iwsco  protä  nosco  =  p)e- 
tono  pittja  soso  ih  chan.  Die  gleiche  bedeutung  „wissen",  „verstehen" 
begegnet  uns  auch  noch  durchweg  bei  Notker.  Einige  der  wichtigsten 
stellen  seien  hier  herausgehoben:  Mcp.  791 1'*:  ehernst  =  scis;  dgl. 
791  -^  fjhan  =  ncnit;  717  ^o  mispuotiy  sin  nedionde  ==  impiger 
sciat  esse  usw.  Mcp.  798  ^^  entsprechen  sich  dannan  sie  ehunnin 
bechennen  sih  selben  und  qui  vahiere  noscere  semet.  Mit  demselben 
sinn  für  das  richtige,  mit  dem  Notker  Boetb.  345  ^^  vis  ratiocinandi 
durch    eine   wendmig    mit   ckunnen    widergab,    mit    eben    dem   feineu 


KÖNNEN    UND    MÖGEN    IM   ALTD.  11 

spraeligefülil  liat  er  an  uiisorcT  stelle  dem  lat.  valncrc  keine  form  von 
)iKuj(ui  g-eg-eniibergestelt,  sondern,  da  noscerc  =  bechctuiot  folgt,  durch- 
aus richtig  cltiinniK  dafür  gesezt. 

J^'ür  das  ahd.  l)l('il)t  also  avIo  für  das  g(»t.  und  alts.  bestehen,  dass 
huHiicui  der  spliäre  des  inteliektueUen  geschehens  angehört,  dass  es 
„"wissen'^  „verstehen"  u.  dgl.  bedeutet.  Eine  durchniusterung  der  syn- 
taktischen fügungen,  in  denen  uns  /iunna/i  begegnet,  wird  dieses  resul- 
tat  noch  weiter  bestätigen. 

T.     Der  absolute  gebrauch  von  hau 

ist  im  ahd.  nicht  mehr  zu  belegen;'  da,  wo  hu/  schehdjar  selbständig 
steht,  ist  ein  intinitiv  aus  den  umgebenden  Satzgliedern  zu  ergänzen: 
so  M8D  61,  8  pctöno  ptttjit  soso  ih  chaii  (seil.  pUten)^  M8D  4,  2,  5 
iliu  biijnolcn  Uiiodan  so  he  uuola  co)ida  (seil,  biijalan;  die  formet  sös 
er  uHola  ro/fda  findet  sich  auch  Otfr.  I,  27,  rjl;  vgl.  MSD  s.  276). 
Mitunter  weist  ein  iz  auf  den  zu  entlehnenden  intinitiv  hin:  OtCr.  1,  2, 
42:  iu  thin  tha.^.  iJi  i.i  kunni  (seil.  thiono}i). 

IL     l:an  mit  objectsaccusativ 

liegt  vor  bei  Otfr.  III,  16.  7:  iiido  er  thio  buah  koiistl  (=-  Joh.  7,  15 
yQaut^icua  oiöev,  s;ot  Jüaliva  sa  bokos  Imnn)^  vgl.  die  glossc  Pez. I,  371: 
hart  biioh  =  asseciitiis  est  Utteras.  Der  accusativ  nach  kau  findet  sich 
weiter  in  der  glosse  Pez  I^  320:  uua.'c  clnuinot  ir  =  qiiod  est  opus 
vestnun?  Notker  Catcg.  434':  er  man  sie  (artes)  chondl :  434'"'*^ 
tia  (fujiiras  geo}netricales)  ntomcui  nechan;  Mcp.  717 1^:  anlma  ne- 
chondi  nieht;  791 1:  uiianda  ouh  tu  philolofiia  musicam  rhaiist; 
Boeth.  111 1^:  edle  die  astronomiarn  chunnen.  Die  bedeutung  „wis- 
sen", „verstehen"  tritt  in  den  angeführten  beispielen  besonders  deut- 
lich hervor. 

III     kaii   mit  Infinitiv. 

Nichts  führt  in  den  —  relativ  —  zahlreichen  stellen,  die  wir- 
hierfür  beibringen  können,  über  die  ursprüngliche  bedeutung  von  kiin- 
nen  hinaus.  Es  zeigt  sich  dies  darin,  dass  die  Infinitive,  welche  zu 
kcui  gesezt  av erden,  demselben  vorstellungskreise  entstammen,  dem  kön- 
nen selbst  angehört:  sie  beziehen  sich  durchweg  auf  eine  handlung, 
w^elche  entweder  selbst  eine  denktätigkeit  bezeichnet  oder  eine  solche 
zur  notwendigen  Voraussetzung  hat;  so  ist  der  Infinitiv  durch  ein  ideel- 
les band,  durch  verwantschaft  des  Inhalts,  aufs  engste  mit  hau  verknüpft. 
Können  v\'ird  ahd.  stets  von  personen  ausgesagt,  auch  darin  zeigt  es 
sich,  dass  die  ursprüngliche  bedeutung  „wissen",  „verstehen"  noch 
nicht  aufgegeben  ist.     Die  personificationen ,  Avelche  sich  namentlich  bei 


12  KAHL 

Xotker  lindeii  (z.  b.  Mep.  791^)  können  hiergegen  nicht  geltend  ge- 
macht werden.  Niemals  findet  sich  ahd.  kan  mit  dem  unpersönlichen 
Subjekte  ex,  i\   verbunden. 

Es  tblw  die  aufziildun^-  einiirer  infinitivconstructionen.  Sehr  hiiufiir 
begegnet  uns  die  Verbindung  cJian  bccheuiien,  uuizxeii,  fernemen: 
z.  b.  Xotker  Mcp.  798 ^^  cJuoiiihi  bcchenucn  sih  selben;  809 -;  C98-i 
gcsinnen  chumie:  Categ.  715-^  cluui  ufu'vxcn;  Ps.  118,  127  necliun- 
dcn  ....  ireheune)i:  (cod.  St.  Gall.  liat  nechoncleii  —  irchiesen); 
Ps.  91,  0  Nechufüfen  beehouien;  vgl.  weiter  Boeth.  335 ^i;  347 -i; 
Otfr.  I,  1,  120;  MSD  83,  69  iticlnoimi  .  .  bidenclmn  usf.  Nicht  aus- 
schliesslich auf  intellektuelle  tätigkeit  bezogen  sind  folgende  infinitive: 
bimklan  Otfr.  IV,  5,  10;  da),  reih  uurclien  MSD  86  B  1,  24;  cjiriio- 
gen  MSD  91,  231;  Notker  Boeth.  15  ^"^  geantuurfen;  47 -^  gesagen; 
65^-  20;  13922.  .g  gotc  ..  feinden;  Ps.  34,  11;  49,  19;  Mcp.  791 1«; 
Categ.  434--'  usw.  In  allen  diesen  beispielen  darf  aber  die  Übersetzung: 
„ich  weiss",  ., ich  verstehe " ,  „zu  tuu'^  mit  vollem  fug  aufrecht  erhalten 
werden:  nichts  nötigt  uns,  die  verblassung  von  kiunian  schon  für  das 
ahd.  anzunehmen. 

Überblicken  wir  noch  einmal  die  in  diesem  abschnitt  geführte 
Untersuchung,  so  ergibt  sich,  dass  ahd.  kan  in  bedeutung  und  syntak- 
tischer anwendung  vom  got.  und  alts.  kiimiun  sich  höchstens  dadurch 
untei*scheidet,  dass  die  infinitivconstructionen  nach  kein  in  grösserem 
umfange  auftreten  als  im  alts.  oder  gar  im  got,  für  welches  diese  syn- 
taktische ausdrucksform  nicht  nachweisbar  war.  Da  wir  aber  zeigen 
konten.  dass  das  ausbleiben  des  Infinitivs  nach  got.  keinn  auf  einem 
Zufall  beruht,  dass  es  dem  griechischen  original  weit  eher  zur  last  zu 
legen  ist  als  der  gotischen  Übersetzung,  so  dürfen  Avir  in  dem  umstände, 
dass  das  ahd.  den  adverbialen  Infinitiv  bei  kein  in  relativ  grosser  aus- 
dehnung  kent,  noch  keine  abschwächung  von  können  zum  verbum 
auxiliare  erblicken,  zumal  jene  infinitive  so  gewählt  sind,  dass  sie  mit 
dem  Inhalte  von  können  sich  wo  nicht  ganz  decken  [bechennen,  uiiix- 
xen  usw.)  so  doch  aufs  engste  berühren  (gesagen,  geeintiairten  u.  dgl.). 
Auch  im  ahd.  ist  also  von  einer  abnähme  der  altererbten  intellektuellen 
kraft  des  begrifsverbums  können  nichts  zu  spüren:  die  ersten  vorboten 
jener  Verwitterung  tauchen  in  den  frühesten  denkmälern  des  mhd.  auf. 

§  4.     Können  im  niittellioclidcutsclien. 

Bevor  wir  zur  darstellung  der  syntaktischen  Verhältnisse  von  kön- 
nen im  sprachgebrauche  des  mhd.  übergehen,  empfiehlt  es  sich,  folgende 
betrachtung  algemeinerer  art  vorauszuschicken. 


KÖNNEN    UND    MÖGEN   IM   ALTD.  13 

Nach  der  jezt  vorhersehenden  ansieht  haben  wir  in  dem  infinitiv 
den  erstarten  casus  eines  Verbalsubstantivs  zu  erblicken  und  zwar  einen 
dativ,  der  das  ziel  oder  die  richtung-  einer  bewegung  ausdrückt  (etwa 
=  ad.  c.  ger.;  die  näheren  belege  s.  bei  v.  Monsterberg,  der  infinitiv 
in  den  epen  Hartmanns  von  Aue  s.  59). 

Der  infinitiv,  der  zu  können  hinzugefügt  wird,  hat  die  aufgäbe, 
dem  Avissen  oder  verstehen,  welches  durch  können  nur  algemein  bezeich- 
net ist,  die  richtung  auf  ein  bestimtes  ziel  anzuweisen,  chanst  da 
7/N'r  (jcsagen  (Notker  Boeth.  47'-^)  heisst  nicht:  kennst  du  das  sagen, 
yiyvcoGy.£Lg  zö  Ityeiv,  sondern  bist  du  wissend,  intellektuell  befähigt  in 
bezug  auf  das  sagen,  etwa  =  sciens  ad  dicendum.  Mit  dieser  anschau- 
ung  verflicht  sich  das  bewusstsein,  dass  der,  welcher  so  spricht,  eben 
durch  sein  wissen  und  seine  kentnisse  die  mittel  besizt,  deren  er  zur 
erreichung  jenes  Zieles  bedarf,  das  in  dem  Infinitive  gcsagcn  ausgedrückt 
ist.  Diese  mittel  sind  bei  dem  ursprünglichen  verbum  können  intel- 
lektueller natur. 

Es  hat,  so  lange  die  alte  bedeutung  von  können  noch  bestellt, 
nur  dann  einen  sinn  mit  können  einen  infinitiv  zu  verbinden,  wenn 
erstens  der,  von  dem  das  können  ausgesagt  wird,  eine  person  oder  eine 
als  person  gefühlte  sache  ist:  denn  es  Aväre  gegen  den  geist  der  spräche, 
die  sich  noch  des  ungeschmälerten  besitzes  des  begrifs verbums  können 
erfreut,  wenn  man  einer  sache  ein"  Avissen,  ein  verstehen  zuschreiben 
Avolte.  Der  infinitiv  kann  zu  jenem  kan,  welches  „ich  weiss",  „ich 
verstehe"  bedeutet,  zweitens  nur  dann  hinzutreten,  wenn  das  ziel,  auf 
welches  das  können  sich  richtet,  auch  wirklich  auf  intellektuellem  wege 
erreichbar  ist:  denn  nur  in  diesem  falle  befähigt  das  wissen  zur  errei- 
chung des  Zieles.  Für  das  alts.  und  ahd.  treffen  diese  beiden  Voraus- 
setzungen noch  stets  ein;  einerseits  wird  hau  nur  persönlich  gebraucht, 
anderseits  gehen  die  Infinitive,  welche  zu  licin  hinzutreten,  aus  dem 
bereiche  solcher  handlungen,  Avelche  durch  Veranstaltungen  geistiger  art 
verwirklicht  werden,  nicht  heraus. 

Im  mhd.  werden  diese  bedingungen  jedoch  nicht  immer  und  über- 
all erfült.  Wir  finden  können  mit  sachlichem  Subjekte  oder  auch  ganz 
unpersönlich  gebraucht;  der  infinitiv,  der  dem  können  den  weg  weisen 
soll,  erstreckt  sich  oft  auf  handlungen,  über  welche  das  wissen  und  ver- 
stehen kein  anrocht  mehr  hat,  deren  Zustandekommen  oft  geradezu  von 
körperlichen  mittein  abhängt.  Die  berufung  auf  die  ursprüngliche 
bedeutung  von  können  genügt  in  diesem  falle  nicht  mehr.  Das  intel- 
lektuelle moment,  das  dem  alten  kan  so  charakteristisch  zueignet,  wird 
bei  diesen  gebrauchsweisen  kaum  mehr  gefühlt.     Es  bleibt    nur  noch 


14  KAHL 

der  ausdruek  der  befiihiguiig  zu  einer  tätigkeit,  ohne  dass  die  geistige 
Voraussetzung  jenes  fjlliigseins  noeli  hervortritt;  mit  andoion  werten: 
die  spezielle  bedeutung  „durch  wissen  befähigt  sein"  wird  durcli  die 
algeraeinere  ^überhaupt  befähigt  sein"  verdrängt.  Yoni  Standpunkte 
der  nhd.  spräche  aus  nehmen  wir  keinen  anstoss  daran,  können  im 
sinne  des  algemeinen  mögliclunacliens  zu  gebrauchen.  AVir  sagen:  „ich 
kann  lesen,  „lateinisch  sprechen"  usw.;  al)er  aucli:  „icli  kann  noch  ge- 
sund werden",  d.  li.  es  besteht  für  mich  die  mögliclikeit  zu  gesunden, 
oder  gar:  „ich  kann  dies  oder  jenes  gewicht  haben",  wo  an  eine  ver- 
mitlung  geistiger  art  zwischen  dem  Subjekte  und  dem  objekte  gar  nicht 
mehr  gfedacht  werden  darf. 

Man  versrass  also  im  laufe  der  zeiten,  dass  können  auf  dem  besitze 
geistiger  kräfte  ruht,  die  das  könnende  Subjekt  zur  erreiclumg  irgend 
welchen  Zweckes  in  bewegung  sezt;  man  behielt  nur  die  algemeine 
Vorstellung  davon,  dass  der  könnende  überhaupt  die  fähigkeit  hat,  auf 
die  faktoren,  welche  eine  handlung  in  ihrer  entstehung  bedingen,  so 
einzuwirken,  dass  die  überleituns:  aus  der  blossen  möfflichkeit  in  die 
Wirklichkeit  gewährleistet  erscheint.  So  kam  es,  dass  man  können  in 
beziehung  zu  verben  sezte,  welche  der  Sphäre  geistigen  geschehens,  der 
können  ursprünglich  ausschliesslich  augehörte,  fremd  gegenüberstehen. 
Der  begriff  der  mögliclikeit,  nicht  mehr  das  band  intellektueller  fähig- 
keit, verknüpft  jezt  lan  mit  seinem  Infinitive.  Es  war  nur  eine  etappe 
auf  diesem  wege,  wenn  man  sich  schliesslich  nicht  mehr  scheute,  durch 
den  zu  hau  gesezten  Infinitiv  auch  solche  handlungen  andeuten  zu  las- 
sen, welche  von  der  ausübung  körperlicher  tätigkeiten  abhängen  oder 
durch  die  eonstellation  äusserer  umstände  bedingt  sind,  über  welche 
uns  die  macht  entzogen  ist. 

Aus  dieser  betrachtung  ergeben  sich  die  kriterien,  aus  denen  wir 
erkennen,  ob  wir  es  mit  einem  reinen,  ursprünglichen,  oder  mit  einem 
abgeblassten  können  zu  tun  haben.  Wir  sagten  eben,  dass  die  Ver- 
witterung der  verbalen  kraft  von  können  solche  Infinitive  in  die  nähe 
von  können  führte,  welche  mit  intellektueller  tätigkeit  nur  an  sehr 
wenigen  punkten  sich  berühren.  Wir  schliessen  nun  rückwärts:  wenn 
der  infinitiv  nach  hau  eine  handlung  bezeichnet,  die  zu  ihrer  Verwirk- 
lichung geistiger  beihülfe  nicht  bedarf,  wenn  das  band  der  inlialtsver- 
wantschaft  zwischen  han  und  seinem  infinitive  gelöst  ist,  so  ist  uns 
dies  ein  anzeichen  dafür,  dass  hau  nicht  heisst:  ich  verstehe  mich  auf 
etwas,  ich  bin  geistig  befäliigt  in  der  und  der  richtung  tätig  zu  sein, 
sondern  ganz  algemein:  für  midi  bestellt  die  mögliclikeit,  dass  diese 
oder  jene  faktoren  so  zusammenwirken,    dass  ihnen  die  geplante  band- 


KONNEX    UND    MÖGEN    IM    ALTD.  15 

lung  entspringen  kann.  Anf  der  anderen  seite  können  wir  folgende 
betrachtung  anstellen:  dem  alten  können  konit  natiirgenüiss  nnr  ein 
persönliches  Subjekt  zu;  es  widerstrebt  dem  Sprachgefühle  von  einem 
dinge  ein  können  im  siune  des  Wissens  auszusagen.  So  finden  wir 
auch  im  got.,  ahd.  und  alts.  können  nur  persönlich  gebraucht.  Seit 
dem  XII.  Jahrhundert  begint  sich  liier  ein  wandel  zu  volziehen.  Die 
spräche  trägt  kein  bedenken  mehr,  auch  nicht-menschliche  Subjekte  zu 
trägem  eines  könnens  zu  erheben.  Wir  werden  weiter  unten  einige 
Zwischenstufen  aufzeigen,  welche  von  dem  persönlichen  gebrauche  zu 
dem  sächlichen  hinüberführen.  Zulezt  hat  man  die  alte  kraft  von  kön- 
nen so  sehr  vergessen,  dass  man  sogar  ein  e%,  das  inhaltloseste  und 
schwächste  aller  grammatischen  Subjekte,  für  stark  genug  hielt,  einem 
können  als  stütze  zu  dienen. 

Das  sind  die  kriterien,  die  uns  bei  der  aufführung  der  belege  für 
jenes  abgeschwächte  können  zu  leiten  haben  werden:  einmal  der  ver- 
änderte Charakter  der  infiuitive,  die  zu  kan  in  abhängigkeit  treten; 
sodann  die  Verknüpfung  von  han  mit  sächlichen  und  unpersönlichen 
Subjekten. 

Bei  den  bisherigen  Untersuchungen  sind  wir  von  der  feststellung 
der  bedeutung  ausgegangen,  um  auf  diesem  wege  eine  sichere  grund- 
lage  für  das  Verständnis  der  syntaktischen  construktionen  zu  gewinnen. 
Für  das  mhd.  wird  diese  Voruntersuchung  kaum  nötig  sein,  da  ]:an  im 
ahd.  noch  die  rein  intellektuelle  bedeutung  „wissen",  „verstehen"  durch- 
weg bcAvahrt  hat.  AVir  dürfen  getrost  annehmen,  dass  diese  bedeutung 
zunächst  auch  in  das  mhd.  übergegangen  ist.  Der  volständigkeit  hal- 
ber soll  hier  nur  auf  einige  glossen  verwiesen  werden,  die  zur  bestä- 
tigung  dieser  annähme  dienen  können.  Die  ausbeute,  welche  uns  die 
mhd.  glossare  gewähren,  ist  freilich  sehr  gering.  Man  wird  die  mei- 
sten der  erhaltenen  mhd.  glossare  und  vocabulare  (Mone,  Quellen  I, 
273.  300;  Mone,  Anz.  f.  k.  d.  d.  vorz.  III,  47.  lY,  81.  93.  231.  489. 
Y,  84.  229.  YI,  210.  337.  435.  YII,  194.  297.  YIII,  93.  247.  489. 
H.  Hoffmann,  Sumerlaten.  Mhd.  glossen  1834,  W.  Wackernagel, 
Yocab.  optimus.  1847,  zusammen  mit  mehreren  nur  handschriftlich 
erhaltenen  vocabiüarien  und  ersten  drucken  benuzt  von  Diefenbach, 
Gloss.  lat.-germ.  med.  et  inf.  lat:  Suppl.  zu  Ducange)  vergebens  nach 
einer  form  von  können  durchsuchen.  Der  vocabular  des  Niger  Abbas 
(ed.  M.  Flohr,  Strassb.  stud.  III,  1)  bietet  n.  4372/73  s.  74:  sciencia 
JiUnst;  scientificus  hünstiger;  aus  Mainzer  Yoc.  bringt  Diefenbach  s.  518 
sciens  kunsticli,  scientificus  hinsticiser'^:  wir  dürfen  daraus  rück- 
schliessend  kunnen  =  scire  festsetzen;  auf  die  gleiche  bedeutung  führt 


16  KAHL 

uns  die  bezeichnende  stelle:  Gudr.  286,  1   nir  lionfof^  niht  heschei- 
den  noch  irissoix  nihi  xc  sagen. 

Im  mhd.  hat  also  die  alte  bedoiitung  hunnen  =  scire  noch  be- 
standen: dass  dieselbe  aber  niannigfoche  abselnvächiingen  erlitten  hat, 
wird  die  folgende  Untersuchung  zeigen. 

"Wir  wenden  uns  nunmehr  der  erörterun"*  des  syntaktischen  ce- 
brauchs  von  können  im  mhd.  zu. 

I.  Absoluter  gebrauch   des  mhd.   luui. 

Im  ^Ihd.  wb.  I,  805 b  ist  mit  recht  bemerkt,  dass  ein  absolutes 
han  aus  dem  mhd.  nicht  belegbar  ist,  dass  an  allen  den  stellen,  an 
denen  han  scheinbar  selbständig  steht,  ein  Substantiv  oder  ein  Infinitiv 
zu  ergänzen  ist.  Dortselbst  ist  eine  anzahl  solcher  scheinbar  absoluter 
han  besprochen,  die  durch  die  annähme  einer  ellipse  sich  olme  mühe 
erklären  lassen:  Iw.  7684:  Wig.  34;  Gotfr.  Trist.  90  2-?;  pf.  Konr. 
117-^  usw.  Es  wäre  ein  leichtes,  das  hier  gebotene  Stellenmaterial 
noch  beliebig  zu  vermehren,  da  fast  jeder  mhd.  Schriftsteller  von  der 
auslassung  des  inf  oder  subst.  nach  künuen  gebrauch  gemacht  hat. 
Doch  verzichte  ich  darauf,  noch  näher  auf  diese  leicht  verständliche  art 
der  ellipse  einzugehen  und  weitere  belege,  die  mir  reichlich  zu  geböte 
stellen,  herbeizuschaffen.  Xur  auf  eine  gattung  dieser  ellipse  möchte 
ich  hier  noch  kurz  aufmerksam  maclien.  Bei  mögen  tritt  die  auslas- 
sung des  infinitivs  öfters  dann  ein,  wenn  der  unterdrückte  Infinitiv  eine 
bewegung  bezeichnet:  es  genügt  hier  die  blosse  angäbe  der  richtung, 
welche  die  bewegung  nehmen  soll,  durch  ein  ortsadverb  oder  dgl.,  z.  b. 
Nib.  576,  2  icess  ich,  war  ich  mehte;  Gudr.  734,  4  duK  si  nindert 
inugot  xao  den  strdxen.  Bei  hunnen  dagegen  findet  sich  diese  ellipse 
weit  seltener;  sie  liegt  vor  z.  b.  in  Gudr.  1124,  2  .so  si  aller  beste 
dan  )nit  ir  schrffen  handen;  G.  Trist.  465  '•'•  ine  han  weder  dar 
noch  dan. 

II.  hart  mit  substantivischem   objecte. 

a)    im  accusativ. 

Der  aufzählung  der  beispielc,  welche  diesmal  in  grösserer  volstän- 
digkeit  als  sonst  frfolof.n  soll,    will  ich   die  Ix^merkung  vorausschicken, 

1)  AVas  mit  der  iid.  glosse  noscere  hfhynnen  (Mone  Quellen  ],  307)  auzu- 
fangeo  i.st,  weiss  ich  nicht;  Schiller-Lübben  AJnd.  wb.  I,  209  belegen  nur  helen- 
nen;  zudem  wäre  honnen,  nicht  htjnnen  nd. 


KÖNNEN   UND   MÖGEN   IM   ALTD.  l7 

dass  der  gebrauch  des  objektsaccusativs  nach  ]^ (innen  gegen  das  ende 
der  mhd.  zeit  in  deutlich  Avahrnehmbarer  abnähme  begriffen  ist:  es 
liängt  dies  damit  zusammen,  dass  kunnen  überhaupt  im  mhd.  eine  ste- 
tig zunehmende  abschwächung  erfiilu-t.  Bei  den  hütischen  dichtem  des 
XIIl.  Jahrhunderts  findet  sich  jener  gebrauch  noch  in  ziemhcher  aus- 
dehnung:  bei  Gotfried  habe  ich  z.  b.  40  hierher  gehörige  fälle  gezählt; 
im  volksepos  tritt  die  construction  zurück.  Gudrun  hat  sie  10  mal, 
Nib.  gar  nur  1  mal  (254,  1);  Konrad  v.  W.  bietet  in  mehreren  seiner 
werke  keinen  beleg,  so  im  Alex,  und  in  der  Gold,  schm.,  im  Engelh. 
nur  3;  Xicol.  v.  Jeroschin  und  Boner  verwenden  han  in  der  erwähn- 
ten weise  auch  nur  je  Imal.  Über  die  spärlichen  restc  des  accusativs 
nach  können  im  nhd.  handelt  Hildebrand  im  D.  wb.  Y,  1725.  An 
folgenden  stellen  ist  mir  objektsacc.  nach  mhd.  han  begegnet: 

MSD  30,  75  sie  Icunnen  alle  liste;  31,  6  ivant  st  diu  hiioch  chiin- 
clen;  37,  2,  5  sich  suer  dir  icht  ehreschin  kan;  96,  19  chcui  er  des 
heiligen  gloubeii  niht 

Will.  58,  16  sacramenta  scripturaruni;    118,  5  discretionem  odoris 

et  foetoris. 
Gen.  102  10  list. 
Roth.  1029  rede. 

Hpts.  Hl.  5,  7  vil  ist  des  wir  kunnin. 
Heinr.  v.  M.     Pr.  66   gemäinez   biwort;    453    ez   (sc.  gotes  u'ort)\ 

544  vil  der  buoche. 

M.  F.  22^0  der  (witxe  ivnde  sinn)  niht  enkan;  33'^^  der  besten  mäxe 
ntet;  10123  ^j^^^^.   13225  ^^-a;^ .  13334  gö  vil;   Ibi^^^aldax;   180  32. 

192-'-  dax;    194^5  rat;    207  ^  des  ich  niene  kan, 

Eneit.  1518  rät;  1803  ivech;  2281  iconders  vele;  4559  wech;  6394 
et;  6568  dat;  8790  et;  9408  list;  9746  rede;  10229.  10232  et; 
11241  liste;  11392  geiconne. 

Hartmann  Iw.  5318  riterschaft;  6201  dax;  7301  silexes;  Er.  5188 
xoubers  kraft;  7368  dinges  aide;  8748  list;  Greg.  954  rede;  1407 
buoche;  1409  mere. 

Wolfram.  Parz.  55,  19  franxogs;  85,  18  ivälltisch  spräche;  96,  30 
stich;  104,  26  dax;  115,  27  buochstap;  147,  28  vil;  193,  9  des 
—  niht;  439,21  icidersax;  490,30  ivax  wiinders ;  641,  28  xiiht; 
796,  16  künste.  Wilh.  90,  3  tröst;  94,  26  7iiht  bexxers  rätes; 
110,  4  spil;  192,  12  spräche;  233,  6  liste;  237,  6  franxeys; 
278,  18  dienest;  295,  27  ivenic;  408,  14  krte.  1.  7,  13  ninuex 
singen. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.    BD.    XXII.  2 


18  KAHL 

Gotfr.  Trist.  27 ^  xoubcrlist:  55 ^  hovcsjyfl:  57^1  schdchxahdspü; 
58^  //^7;  6811  guoics:  G9--  iralhthir:  79^^^  dcix;  90  i^  ihtcs  iht; 
90-1  ti^i.jjicr  hamlc:  93  i'  scitspil:  93  2^  es;  94^  seifspil;  941« 
rremcdcr  \umjc)i  iht:  94^*^  //.s-^c;  95  ^  «//e^ ;  95 12  .s^^//;  99^^ 
kfüisf:  108  1^  i7/0(/e;  120  ^'^  amhet;  121  ^o  ^oe/^e;  122  3«  ^::^,; 
1231^  r/«v,-  175 3'  list:  190 3"  iriDidcr;  191 '^  höfscheit  und  vuogc; 
194--'  //>^  ?//^^e  kirnst:  194^'^  vrcmdcr  spräche  vü;  197  1^  c?e.9  — 
/v7;  1992  scitspil:  201  n  ^/r?;,-  201 1'  t'?/or/c,-  201  ^^^  spmche;  202* 
r^/o^r;  2151^  spräche:  219--^  tantsprdchc:  249  i"  .s;^//;  272-^  ?m;?^ 
iru?iders;  273  ^^  lantsprdclic;  326^'  inuidcr;  404 ''^  Z/s^.  —  lobg. 
31,  1  /^es/e  —  ^flx. 

Ulr.  Trist.  511 1^  /r/r/f/^/c,-  553i*  Z/s^. 

"\Yigal.  235  scitspil;  334  spräche;  561  c.v;  1060  sträxe. 

Nib.  254,  1  crxenie. 

Gudr.  4,  2  a/Zes  des  gemioc;  51,  2  ^a.v;  342,  2  >uJ(^/;  358,  3  e;^; 
359,  3  sicanke;  374,  4  icise;  383,  4  stimme;  714,  1  ^fc; 
1056,  2  CA. 

AValth.  18^1  guotes;  43 1^  7näxe;  46-^  ^^fse;  48 ^^  «^^a.^/  51 1'^  /.ou- 
her;  56^  //s/;  58  ^'^^  wunder;  73^6  m/?/  mere;  73  ^^  flüeche; 
103  3^   guotes;     115^6   uunder    rede;     116  n    fuoge;     116^9    ^/i^ 

Frid.  8,  2  gelouhen;  44,  6  untriuive;  57,  13  sivax;  65,  19  Z/s^; 
66,  22  ^0/65  ^ror/e;  70,  20  f/c.s-  glouben  niht;  75,  5°  /^s/;  78,  16 
kiinst;   79,  11  Z/5^;  80,  7  ;-e<^/e,-   115,  7  kunst. 

Konr.  Engelli.  89  dix  alles;  756  schdchxabel  imde  seitenspil;  4073 
177  ivunders. 

"Weinschw.  67  dax. 

Berthold  v.  K.  38,  34  (Pf.  I)  schal  (vgl.  Rötteken  1.  1.  s.  118). 

Leyser  pred.  12,  29  dinch;  67,  24  scrift;  76,  40  huoch. 

Boner  20,  4  kluogheit. 

Xic.  Y.  Jer.  1,  304  dätschis. 

Rülmann  139,  13  sträxe. 

Das  :Mlid.  Avb.  I,  805b  und  Lexer,  Mhd.  hwb.  I,  1778  bieten 
noch  einige  weitere  beispiele  aus  Lanz;  MS;  Kenner;  Wgast  usw.,  die 
nochmals  auszuschreiben  es  sich  nicht  der  mühe  verlohnt,  da  in  ihnen 
dieselben  substantiva  widerkehren,  die  wir  schon  beobachtet  haben 
(z.  b.  sträxe,  icege,  puoche,  rät  u.  dgl.). 

Zum  schluss  sei  noch  darauf  hingewiesen,  dass  der  accusativ  bei 
kau  uns  können  noch  als  volkräftiges  begrifsverbum  zeigt. 


KÖNNEN   UND   MÖGEN  IM   ALTD.  19 

b)    Sabstantivisclio   Objekte  durch   eine  praepusitioii   mit  hin 

verknüpft. 

Bisher  luiben  sich,  so  viel  ich  sehen  kann,  nur  zwei  forscher  auf 
dem  gebiete  der  mlid.  syntax  über  den  gebraucli  der  praepositionen 
nach  mhd.  hDincn  ausgesprochen:  J.  Grimm  und  Lucae.  J.  Grimm 
erkliirt  Gr.  lY,  138  die  anwendung  der  pracp.  an,  xe^  mit  (andere  sind 
niclit  nachweisbar)  bei  lunuoi  in  folgender  weise:  „Man  darf  einen 
infinitiv  supplieren,  der  ungefalir  das,  was  unser  nhd.  „umgehen",  aus- 
sagt; da  es  aber  mhd.  hiess:  mit  triuicen  varn  (Parz.  167,  29;  322,  21; 
mit  Worten  varn  Iw.  7685;  mit  ir  varn  Iw.  3960;  mit  saclden  varn 
Wig.  8634),  so  kann  ganz  gut  die  übliche  ellipse  von  „Miren"  bei- 
behalten w^erden."  Diese  erklarung  scheint  algemeine  billigung  gefun- 
den zu  liaben  (vgl.  Martin  zu  Gudr.  285,  4);  sie  ist  auch  vom  mhd. 
wb.  adoptiert  worden.  Widerspruch  gegen  sie  erhob  Lucae  (Über 
bedeutung  und  gebrauch  der  mhd.  verba  auxiliaria  s.  15),  der  die 
annähme  einer  verbalellipse  ablehnt,  weil  die  bedeutung  von  kiinnen 
„bescheid  wissen,  bekant  sein  mit"  die  Verwendung  der  praep.  nach 
Ji'inincn  volkommen  genügend  erkläre;  ich  hart  mit  riter schaft  sei  zu 
übersetzen:  ich  weiss  bescheid  mit  ritterlichem  tun.  —  Einen  eigent- 
lichen beweis  hat  Lucae  für  seine  ansieht  nicht  erbracht;  icli  möchte 
ihn  im  folgenden  antreten.  Zunächst  verweise  ich  nochmals  auf  das 
oben  besprochene  beispiel  Heliand  2531  can  te  gitlioikeanne,  Avelches 
wir  mit  Steig  durch  die  Umschreibung:  „ich  habe  intellektuelle  kraft, 
gewalt  zu"  erklärten.  Sodann  sei  folgender  umstand  hervorgehoben: 
viele  der  substantiva,  welche  mit  an,  xe  oder  mit  an  kan  angeschlos- 
sen werden,  lassen  sich  auch  in  der  form  des  objektsaccusativs  bei  kan 
nachweisen;  das  nötigt  uns,  einen  Zusammenhang  zwischen  beiden  con- 
struktionen,  dem  objektsaccusativ  und  der  praepositionellen  anknüpfung, 
anzunehmen.  Ferner  finden  wir  mehrere  dieser  substantiva  mit  jeder 
der  nach  kunnen  üblichen  praepositionen  verbunden.  Wolfen  wir  also 
mit  Grimm  eine  verbalellipse  annehmen,  so  müste  das  zu  ergänzende 
verbum  so  gewählt  sein,  dass  es  zu  an,  ze,  mit  passt:  für  varn  trift 
das  nicht  zu;  welches  analogen  liesse  sich  beibringen  zu  varn  an  riter- 
schaft?  Auch  sonst  wdrd  sich  kaum  ein  verbum  finden,  welches  dem 
erwähnten  anspruche  voll  genügt. 

Es  wird  von  der  annähme  einer  verbalellipse  bei  kan  mit  praep. 
abzusehen  sein;  wir  haben  vielmehr  in  dem  gebraucli  der  praepositio- 
nen nach  kunnen  ein  anzeichen  für  eine  besonders  kräftige  bedeutung 
von  kunnen  zu  erblicken:  mhd.  kan  c.  praep.  berührt  sich  aufs  engste 
mit  alts.  can  te  githenkeanne.    Zu  vergleichen  ist  weiterhin  der  gebrauch 

2* 


^  KAHL 

der  praep.  nach  in'\.\cfi  (Mhd.  wb.  III,  786"),  z.  b.  AValth.  41  3*'  irlsic 
ich  niht  und)  uuijcmaclt:  Wolfr.  Parz.  532,  16  m)ih  solhen  Jcfinibcr  ich 
nihf  iccix:  vgl.  720,  5;  805,  11;  gv.  Rud.  C^  23  ivixxcn  lunmc  arbeit; 
auch  mii  findet  sich  so,  jedoch  nur  an  2  stellen:  Cr.  Trist.  21  ^^ 
jedoch  eniresier  nihf  hie  mite:  Flore  6211  Claris  leiste  niht  da  mite 
(vgl.  Sommer  z.  st);  ebenso  ro)i:  Parz.  3,  29  diu  ave/itiure  tat  iiich 
tcixxen  beide  von  liebe  iifid  con  leide;  Albr.  39,  90  die  niuait  von 
arbeit  leisten. 

Ich  teile  nunmehr  die  beispiele  von  Imn  mit  praep.  mit,  und  zwar 
in  solcher  anordnuug,  dass  sie  zugleich  unsere  obigen  ausführungen 
untei-stützen, 

rede    a)    im   objektsacc:    Roth.  1029;    Frid.  80,  7;    Eneit  9746; 
Greg.  954.      b)  verknüpft  durch  mit:    Flore  6634.      c)  verknüpft 
durch  xe:  Ej-one  11854. 
Vit  er  Schaft  a)  acc.  Iw.  5318;  Ulr.  v.  Licht.  13  2.     b)  wz7  Wolfr.  Parz. 
66,  10.     152,  12   (ritters  fuore) :  Wig.  8456.     c)  xe  Hartm.  Greg. 
1365;    Ottok.  152^  fastn.  424,  20.     d)  an  Eneit  9069. 
xuht   a)   acc.   Wolfr.  Parz.  641,   28;    Gudr.  342,  2;    G.  Trist.  1918 
(höfscheit) .    b) mity^oMv.  Parz.  493, 18.   c)  x e  Wgast  1274  (höfscheit). 
strit  a)  acc.  fehlt,     b)  mit:  Wolfr.  Parz.  210,,  22.    348,  24.    704,  6 
(tjost):    738,  23  (fjost) :    Wilh.  78,  5.     mit  gejegede  G.  Trist.  361 2. 
c)  xe  Loh.  1163  xe  tjoste;  Bit.  647;  Ottok.  93*"  xe  urliiige. 
guot  a)  acc.  G. Trist.  68^;  Walth.  18^1.   103^^;  Wgast  4796.    b)  onit 

fehlt,     c)  xe  Wgast  3555.  4508. 
triuive  a)  acc.  Frid.  44,  6   (untriuive) ;    b)  mit  M.  F.  128  ^8.     c)  ze 

Wgast  1588  xe  staete. 
mit  juncfroiuen  U.  Trist.  504 1-*;    xu  vrouicenliebe  Heinr.  Trist. 

3720. 
list  c.  acc.  Walth.  56^  u.  ö.;   mit  vaUchen  listen  g.  Gerh.  815. 
Die  übrigen  beispiele,  bei  denen  ähnliche  vergleiche  wie  bei  den 
bisher  angefühi-ten   nicht  möglich  sind,    sind,    nach  den  praepositionen 
geordnet: 

mit:  Wolfr.  Parz.  2,  13  mit  sclianxen;  62,  24  mit  armüete;  114,  13 
mit  sänge;  317, 25  mit  schalleii;  Tit.  90,  3  7nit  truopheit;  G.  Trist. 
72-  dandte;  78-^  hie  mite;  385 ^^  mit  ihte;  Benecke  Bei tr.  184  = 
Ulr.  V.  Winterstetten  ed.  Minor  Y,  178:  mit  den  Hüten;  Lamp. 
Alex.  4223  da  mite;   Konr.  Troj  6271  mit  geschüixe. 

xe:  Gudr.  285,  4  xe  arbeit  (vgl.  Martins  anm.)  997,1  darxuo;  Heinr. 

Trist.  2206  xuo  schimpfe;  Warn.  1568  xe  freuden. 
an:  Eneit  9069  an  riderskap. 


KÖNNEN    UND    MÖGEN    IM    ALTD.  21 

Die  an  Wendungen  des  mhd.  hinnen,  die  wir  bisher  besprochen 
haben,  zeigen  uns  können  noch  durchweg  als  begri  tsverb  um  transitiven 
Charakters,  zu  welchem  substantiva  in  ein  abliängigkeitsverhältnis  tre- 
ten. Die  abschwächung  xow  huiincn  zum  hülfsverbum  tritt  in  einer 
anderen  gebrauclissphäre  ein:  (hi,  wo  der  infinitiv  dem  können  ein 
bestimtes  ziel  in  einer  handlung  anweist,  zu  der  der  könnende  befä- 
higt erscheint.  Die  verminderte  rücksichtnahme  auf  den  ursprünglich 
rein  geistigen  cliarakter  dieser  befähigung  hat,  wie  wir  oben  darlegten, 
dazu  gefühlt,  dass  können  seinen  eigentümliclicn  Inhalt  iimner  mehr 
verlor  und  den  bescheidenen  rest  seiner  verbalen  kraft  luii-  nocli  als 
verbum  auxiliare  zur  geltung  brachte. 

IIL     kau  mit  dem  infinitiv. 

Wir  haben  bereits  oben  die  kriterien  besprochen,  die  uns  bei  der 
Unterscheidung  des  reinen  können  vom  abgeblassten  zu  leiten  haben: 
wir  müssen  auf  der  einen  seite  das  Verhältnis  berücksichtigen,  welches 
zwischen  können  und  dem  begriflichen  Inhalte  des  adverbial  zu  ihm 
gesezten  infinitives  besteht,  und  müssen  auf  der  anderen  seite  darauf 
achten,  ob  hunnen  von  einem  persönlichen  oder  unpersönlichen,  säch- 
lichen Subjekte  ausgesagt  wird. 

Überblicken  wir  nun  die  überreiche  fülle  der  beispiele  für  hm 
c.  inf. ,  so  lässt  sich  durch  mehrere  Zwischenstufen  hindurch  ein  almäli- 
licher  Übergang  von  der  bedeutung  „wissen,  verstehen",  zum  ausdruck 
der  objectiven  möglichkeit  verfolgen.  Am  reinsten  tritt  uns  können 
da  entgegen,  wo  der  infinitiv  bei  ]iCüi  derselben  begrifssphäre  entnom- 
men ist,  der  kunnen  ursprünglich  selbst  angehört.  Eine  gelinde 
abschwächung  der  bedeutung  begegnet  uns  da,  wo  der  infinitiv  nicht 
mehr  ausschliesslich  dem  gebiete  geistiger  tätigkeit  entstamt,  wo  die 
handlung,  welche  durch  den  infinitiv  bezeichnet  wird,  zu  ihrem  Zu- 
standekommen der  intellektuellen  beihülfe  des  könnenden  zwar  nicht  ent- 
raten  kann,  daneben  aber  doch  noch  auch  anderer  faktoren  bedarf,  welclie 
von  dem  geistigen  vermögen  des  könnenden  Subjektes  nur  indirekt 
abhängen.     Je  weiter  nun  diese  faktoren  sich  aus  dem  bereiche  dessen 

o 

entfernen,  dem  das  können  einer  handlung  zugesprochen  wird,  um  so 
mehr  nähern  wir  uns  jenem  abgeschwächten  können,  welches  dem  aus- 
drucke objektiver  möglichkeit  dient. 

Zur  erläuterung  des  gesagten  wollen  wir  hier  das  Schema  mittei- 
len, nach  dem  wir  weiter  unten  die  beispiele  für  hinnen  c.  inf.  anzu- 
ordnen gedenken;  hieraus  wird  sich  sogleich  ergeben,  was  unter  jenen 


22  KAHL 

faktoren  zu  Yei*stehen  ist,  welche  im  laufe  der  zeit  mehr  und  mehr  aus 
dem  begrifsverbum  können  das  intellektuelle  monient  verdrängt  haben. 
L   Können  bewahrt  wenigstens  zum  grösseren  teile  noch  die  ursprüng- 
liche  bedeutung:    „wissen",    „vei*stelien".     Der  Infinitiv,    der  von 
können  abhängig  gemacht  wird,  bezeichnet: 

1)  eine  denktätigkeit  selbst   (erkennen,  vcrstCui,  ivix:Kcn). 

2)  eine    handlung,    Avelche    eine    denktätigkeit    zur    uutAvendigen 
Voraussetzung  hat.     Diese  handlung  besteht: 

a)  in  der  veräusserlichung  und  versinlichung  innerer,  gei- 
stiger Vorgänge    (ycsaijcn,  riltcn,  sprechen). 

b)  sie  beruht  auf  dem  einfluss  der  intellektuellen  kräftc  auf 
die  übrigen  triebkräfte  des  Seelenlebens:  zum  zwecke 
einer  einwirkung  auf  gefühl  und  gemüt,  oder  zur  dauern- 
den gewöhnung  an  eine  bestirnte  art  des  moralischen 
Verhaltens   (frö  (jemachen,  trösten,  gehären,  staete  sin). 

c)  sie  entsteht  durch  das  zusammenwirken  der  geistigen 
und  körperlichen  fäliigkeiten  des  menschen,  so  zwar, 
dass  das  physische  vermögen  von  der  intellektuellen  ein- 
sieht geleitet  wii*d  (vehten,  gestrlten  usw.). 

d)  sie  sezt  eine  beziehung  des  Verstandes  auf  die  Objekte 
der  äusseren  natur  voraus,  welche  durch  das  wissen  in 
den  bereich  menschlicher  tätigkeit  hineingezogen  werden 
(gesmkle  shnt  usw.). 

IL  Können   verblasst    zu    der   algemeinen   bedeutung    des    „möglich- 
machens";  es  wird  hülfsverbum ;  dies  zeigt  sich  darin,  dass 

a)  der   Infinitiv  jezt  dem  können  ein  ziel  sezt,    welches    durch 
gei.stige  Veranstaltungen  nicht  erreicht  werden  kann. 

b)  dass  hunnen 

a)  von  säclüichen, 

ß)  von  unpersönlichen  (ez)  Subjekten  ausgesagt  wdrd. 
in.   Können  verliert  jede  eigene  bedeutung  und  tritt  zu  dem  Infinitiv 
hinzu,  ohne  denselben  merklich  zu  beeinfiussen. 
Wir  können  niuimehr  zur  mitteilung   der  zu  I.  gehörenden  bei- 
spiele  schreiten;  auf  vol ständigkeit  in  der  aufzählung  der  belege  glaub- 
ten wir  hier  verzichten  zu  dürfen,   um   den  umfang  der  arbeit  nicht 
zu  sehr  anzuschwellen;  aus  jedem  der  von  uns  durchgearbeiteten  schrift- 
steiler sind  einige  belege  ausgewählt;    es  wird  ein  leichtes  sein,    auch 
aus  andern  Schriftstellern  diese  beispielsamlung  beliebig  zu  vermehren. 
Wegen  der  beispiele  aus  Hartmann  verweise   ich  auf  v.  Monsterbergs 
vortrefliche  arbeit:  Zs.  f.  d.  ph.  XVIII,  144. 


KÖNNEN   UNT)   MÖGEN    IM   ALTD.  23 

Rother  259  versin nen. 

Heinr.  v.  M.  Er.  94S  gcdoichot ;  Pr.  1  P)S  crchennoi;  141  bedcnchcn. 
M.  R  441^  (jcdoikoi;  89'^^  rersuuten;   120^^  ro/  hcdotken. 
Eneit  1805  bedenken;  2571  erkennen;   13150  erdeiiken. 
Hartmaiin  a.  H.  Sil   verstdn;  Iw.  841  erdenken;  2859  erkennen. 
G.  Trist.  1-^  erkennen;  192^  ici\xen;  349^^  gemeinen. 
Ulr.  Trist.  499-^'  m>'/r/;^. 

Wo  1fr.  Parz.  369,  3  rersinnen;  Willi.  178,  2   versten;  25(3,   3  eraJffen. 
Nib.  152,3  irixxenknnde  CD  (/;^o///^  AB);  ()02,3  m-^/ry^D  {///r/c  ABC); 
1316,2   wixxen;   1678,3   cersfdn;   1904,3  understdn  mit  sinnen  Q¥. 
Klag.  77  gemerchen;  318  icizzen;  1682  versinnen. 
Gudr.  1142,  4  gemerken;  1677,  1  eraMen. 
AValtli.  42^  verstdn;  59-^  erdenken;  96 ^^  versten. 
Frid.  62,  13  merken;  102,  8  erkennen;  141,  21  verstdn. 
Konr.  Eng.  269  erkoinen.     Alex.  1142  hedejiken. 
Berth.  p.  881,  1  (W.)  ertrahten. 
Boner  43,  44  erkemie}i. 
Nie.  Jer.  43,  101   vcAciclitin;  52,  156  volahten. 

I2a. 

Will.  18,  6  ivistuom  iiure  hringon;  48,  27  gesagen;  51,  11  hesehir- 
men  niit  spiritucdibus  annis;  118,  3  discernere. 

Gen.  1,  3  reden. 

Ann.  84  predigin. 

Roth.  394  gesagen;   1023  gecinticorten;  4360  geraden. 

Hpt.  Hl.  91,  4  gesagen. 

Heinr.  v.  M.  Er.  476  vergexxen;  613  singen;  Pr.  184  geantwiirten. 

M.  F.  11 1'^  sehen;  25  ^^  gezeigen;  42  ^^  vertrtben  mit  geda)iken;  44^^ 
Uren;  115  ^^  versteigen;  125'-^  fliegen  mit  gedanke)i  usw. 

Eneit  36  genoemen;  442  gevrdgoi;  915  geseggen. 

Hart  mann  a.  H.  871  zeigen;  Iw.  2096  gesagen;  2264  gesprechen. 

Wolfr.  Parz.  127,  22  /cre^^;  337,  25  /-^V/ie  sprechen;  454,  10  beschei- 
den; 457,  28  wdrheit  sagen;  645,  20  y<?Ä;i;  792,  5  ?/??7  //ö/cm  rer- 
siiochen;  Tit.  49,  4  volschriben;  Will.  58,  22  ?'ft^  ^eZ/c/L 

G.  Trist.  59'-*^  w/^  sinnen  hin  bringen;  114 ''^  bescheiden;  174  3'  ??2zY 
//ö/e;i  schermen;  183^^  gescheiden.     lobg.  67,  5  ??22Y  re^e  volenden. 

Ulr.  Trist.  569-^2  ^-^^y^,^^.  5574  /^^.g,^. 

^^ib.  10,  4  genennen;  293,  3  gelouben  (Blh);  959,  3  verdagen;  1118,  2 
verjehen;  1152,1  gesagen  (C);  1386,2  betiuten;  1878,2  idzzen  län. 


24  KAHL 

Kl.  424  hcschcidcN :   1719  rdfcN. 

Giidr.  812,  3  fcitw  iralfof :  418,  4  vrdifoi;  542,  4  mit  listen  heilen; 
607,  1   brierc  ijeksen;  1570,  1   beseheiden. 

Walth.  8  1^  rat  f/egcbe?i ;   110-'  .\e  danke  sin[/en;   120-''  verheJen. 

Fr  id.  5,  21  ijeheten ;  81,  2   uisheit  ijepfleyen ;    115,  17  gedcuilx  vdlien. 

Konr.  Eng.  27  rdt  vindoi;   lOSij  bed inten;  Gold.schm.  3  (jetihte  snicLxcn. 

Sachsp.  1,  23,  1  bereden. 

Bertli.  s.  879,  17  cjesagen. 

Bon  er  12,  47  nort  geben. 

Nie.  Jer.  8,  8  voltihtin;  30,8  geloubin;  34,283  niiseliin  )nit  wunder- 
lich i)i  listen. 

I2b. 

Will.  141,  19  eoinpciti;   137,  13  parcere. 

Hpts  Hi.  117,  7  gexerten. 

M.  F.  12^  bcivarn:    64 '^^  trnric  sin:    83  i*  behagen;    100-^'  s/r/t'/c  sf?i; 

111-  vertriben  seneliche  suriere ;   IIb '^^  klagen;   117^  gebaren;   148^'' 

/<vY  verkeren;    170  ^^  s/c/?  schöne  tragen;     175 1'   unsaelde  erwenden; 

182^'^  staHe  sin;    183^  vrö  gemachen;    193'  tugentlich  leben;    197^ 

hühgemüete  geben. 

Eneit  11302  67c7^  /^ezr^r^^. 

Hartmaun  a.  H.  304  gebaren;  Iw.  2423  geliebelt;  3560  ?^rt€/^  r?^(?r- 
lichen  siten  gebaren;  6809  s/r/e/e  werden. 

Wolfr.  Parz.  59,  18  e;-<??i  ?/?^^e  trüäen;  93,  3  manheit  tragen;  140,  2 
7'iuiven;  154,  16  minnen;  170,  30  7;??"^  schäme  ringen;  547,  30  t^er- 
sereii;  606,  4  xornes  icalden;  649,  14  manltch  dienst  iuon;  Wilh. 
90,  3  /rÖ5-^  geben;  92,  28  xürnen;  168,  4  troesten;  345,  28  triuwe 
hdn:  415,  24  ;i//Ä/e  ivalten. 

G.  Trist.  193  3''^  gelieben;     290  ^'^   /rösten;     462^2   //Z/^^/^(/e   ?mt/   ifrÖ5/f 

Ulr.  Trist.  587--^  w?Y  ^/z^o/e  fe^<??i. 

Nib.  11,  4  ere?i  pflegen;  635,  4  herlichen  leben;   714,  3  7Aihte  pflegen; 

960,4  verklagen;  967,1   troesten;    1137,3  tagende  pflegen;    1174,2 

friuntliche  liebe  begän;  1753,  3  ^rc?i  pjhlegen;  2269,  4  verklagen. 
Klage  57  fröiide  pflegen;  71  re/i/er  triuiven  pMegen ;  385  s/c/^  gefreun; 

812  :ie  sorgen  bringen;  1228  w2<o/  gehen;  1323  ???zY  ivilnne  leben. 
Gudr.  218,  4  ??a67i  ere?^  gedienen;  284,  4  getroesten;  975,  9  dienen. 
Walth.  6"   ;72/?^-e   geben;     24^^   />'ö  gebären;     44^  26'(?5ey^   /y'ö;     91  ^^ 

gedienen;  124-'^  sorgen. 
Frid.  114,  9  schone  geleben;  118,  19  sanfte  geleben. 


KÖNNEN    UND   MÖGEN   IM   ALTD.  25 

Konr.  Eng.  375  crfrönicoi;  595  (jctritiirc  sin;  4965  sich  la^tcrs  schä- 
men. 
Weinscliw.  85  fröudc  (jcbcn. 

Boner  25,  21  (/cmaxcn. 

I  2  c. 
Will.  5],  4   achtiuf. 
M.  F.  83^'  rlicn  unde  jagen. 
Encit  521G  hehne  houiren;  5930.   7852   vechtrn. 
Hartmann  Iw.  6993    striten   xe   rosse  und  .\c  vuo\e;     7000  den  man 

reUen. 
G.  Trist.  69 -"^  pAc/-/  gehaben;    83^-  yecolyen;    165-  xe  haniphe  sincm 

Jthe  mite  gän;  331^^  roüen;  433  ^^  Jonfcn. 
Ulr.  Trist.  527"  nten. 
Wolfr.  Parz.  263,  15  iceren;  538,9  ringen  wd  mit  dem  sivanhe  tu-in- 

gen;    597,  18  tjosle  mexxen:  "Willi.  411,  16  mit  dem  sirerte  irern. 
Nib.   129,  3  gevolgen;     194,  2  geleiten;     1825,  3   riten;    2220,  4    /// 

dem  starn?e  bexxers  77iht  getuon;  2280,  4  gein  rinden  stän. 
Klage  695  rideJn;  928  Schildes  rant  xe  scherine  tragen. 
Gudr.  92,  3  rersniden;  363,4  schirmen;  514,  4  helme  Uieben;  517,  3 

r eilten;  1058,  2  gewaschen. 

"Walth.  351'^  rillten. 

Fr  id.   154,  9  beschirmen. 

I2d. 

(Die  beispiele  berühren  sich  hier  t»t't  mit  I  2  c.) 

Roth.  794  gesmide  sh'in. 

Heinr.  v.  M.  Er.  722  fiwer  —  erleschen. 

G.  Trist.  118 •^'^  golt  von  sirachen  sachcn  machen. 

U.  Trist.  573'*  slüxxele  machen. 

Wolfr.  Wilh.  370,  18  S2:)er  machen. 

Frid.  25,  20  glas  machen;   126,  6  von  baste  scharlachcn   machen. 

Die  Infinitive,  welche  wir  bislier  aufgezählt  und  je  nach  dem 
crrade  ihrer  enireren  oder  weiteren  beziehung  zu  dem  intellektuellen 
vermögen  systematisch  gruppiert  haben,  hatten  die  gemeinsame  eigen- 
schaft,  dass  die  handlang,  auf  welche  durch  sie  hingewiesen  wurde, 
geistiger  beihülfe  zu  ihrer  Vollendung  bedurfte:  der  könnende  lieh 
gleichsam  seine  geistigen  kräfte,  sein  wissen  und  verstehen,  einer  ande- 
ren fähigkeit  seines  geistes  oder  körpers.  In  den  angefüln-ten  beispie- 
len  komt  man  mit  der  Übersetzung:  „ich  weiss,  ich  verstehe  zu  tun" 
noch  durchwes:  aus.  Auf  der  anderen  seite  konten  wir  aber  beobach- 
ten,  dass  das  Verhältnis  zwischen  können  und  seinem  Infinitive  immer 


26  K.UIL 

mehr  sich  lockerte.  Namen tlicli  da,  wo  das  können  zu  den  bewegun- 
gen  des  menschlichen  körpers  oder  gar  zu  Objekten  der  äusseren  natur 
in  bezieluing  tritt,  schwindet  das  bewusstsein  für  die  geistigkeit  der 
mittel,  welche  das  ursprüngliche  können  an  die  band  gibt,  mehr  und 
mehr.  (Jehen  wir  auf  diesem  wege  weiter,  so  bleibt  zulezt  nur  noch 
der  begriff  des  möglichmachens,  der  fäliigkeit,  eine  Wirkung  herbeizu- 
führen, ohne  dass  man  sich  bewusst  bleibt,  dass  das  können  anfänglich 
stets  eine  geistige  belahigung,  ein  möglichmachen  auf  geistigem  wege, 
involviert. 

AVir  werden  unbedenklich  für  können  die  beziehung  auf  die  gei- 
stigkeit der  mittel  dann  fallen  lassen,  wenn  der  von  Icui  abhängige 
intinitiv  ein  passiver  ist.  Denn  sobald  der  Infinitiv  ein  erleiden  aus- 
drückt, wird  dadurch  angedeutet,  dass  nicht  melir  der  könnende  es  ist, 
dessen  wissen  die  Verwirklichung  einer  handlung  verdankt  wird,  son- 
dern dass  entweder  andere  menschen  oder  auch  andere  dinge,  auch 
gewisse  umstände,  ohne  unser  zutun  jene  tat  herbeiführen,  welche  für 
uns  ein  leiden,  ein  „überunsergehcnlasson"  ist.  Von  diesem  gesichts- 
punkte  aus  ist  das  häufig  vorkommende  kein  genesen  u.  dgi.  zu  erklären. 

Nicht  so  unbedingt  wird  man  in  manchen  anderen  fällen  für 
hinnen  nur  die  blosse  bedeutung  des  „möglichmachens"  als  zulässig 
erachten.  Es  hält  mitunter  recht  schwer,  bei  kan  c.  inf.  das  Vorhan- 
densein jeglichen  intellektuellen  moments  zu  leugnen.  Der  zusatz  von 
können  bezeichnet  gleichsam  ein  hineinleben,  ein  hineinversenken  in 
die  äusseren  Vorgänge  und  verrät  so  eine  weit  gemütvollere  anteilnahme 
an  der  geschilderten  handlung,  als  sie  das  blasse  mögen  jemals  auszu- 
drücken im  Stande  ist.  Wir  hoffen  aber,  dass  wir  die  unten  mitgeteilten 
beispiele  so  gewählt  haben,  dass  sie  uns  in  der  tat  kumien  in  jener 
abgeschwächten  bedeutung  zeigen,  die  sich  miigen  nähert.  Da,  wo  sich 
in  den  handschriftlichen  Varianten  kunnen  und  viugen  austauschen, 
wird  dies  stets  besonders  hervorgehoben  werden. 

IIa 

Gen.  15,  3  xesamene  siz  hedumgen  so  si  beste  chunden. 

Ann.  238  iz  (ebir)  haviti  iserne  ddivin  daz  necondi  nieman  gevdn. 

Eoth.  13-44  daz  sie  mit  sicerte  nieman  nekunde  gewinnen. 

M.  F.  18  ^  er  kan  mir  niemer  werden   leit;    78  ^^  gnade  ist  entsläfen 

deich   ir  leider  nilit  erivecken  enkan;     79  ^  daz   min  leider   niemer 

kan    werden    rät;     120  ^^  da    kan   von  jären  nieman   eralten    (vgl. 

Carm.  Bur.  102a   nieman   kan   nu  werden  alt);    164 ■'^•^  ichn   künde 

niemer  sin  genesen. 


KONNEX   UND   MÖGEN   IM  ALTD.  27 

Eneit  211  ivcuid  st  sich  vor  den  oudcn  Jicrilticn  niet  eulcondoi;  11023 
nclicifies  sldpes  er  oipJach  er  enmohte  }tocJi  enkonde. 

Hartmann  a.  H.  430  ich  knude  .\e  Salernc  keinen  meister  vindvn; 
1\\.   bS\h-i   ichn,  l{ftndr  des  nie   ilhrrkninr//. 

G.  Trist.  35'-*  sone  Lidtdv  er  nienier  sin  genesen;  02-^^  ir  (dhr  dvlni- 
iier  knnde  noedi  enmohte  dehei)ie  stnnde  uf  sinen  vile^en  (jestun; 
73-''.  138-^  usw.;  195^'  iccdcr  rat  noch  helfe  kan  ijviccsen,  nrind 
er  kan  nien/er  r/enesen. 

Uli".  Trist.  510--'   ein  vruni   nmn   an    trianr    nietner  werden  kan. 

Wo  1fr.  Parz.  149,  1  im  künde  nie  inen  vient  sin,  155,  21  er  kande 
in  ah  ije\iehcn  niltt;  155,  24  mit  sinen  blanken  hcutden  /irr  kamt 
crs  iiiht  nf  gestrieketi;  Willi.  273,  30  er  kan  wol  friunt  und  cient 
sin. 

Nib.  129,  3  des  enkunde  im  gevolgen  nieman:  so  mihel  icas  sin  kraft; 
416,  6  der  tinwel  iix  der  Inlle,  ni  kund  er  davor  genesen;  498,  2 
der  kan  si  uvl  gewer/jcn  mit  ellenltafter  kraft;  746,  3  dax  eigen- 
holde  niltt  r icher  knttde  ivcsen;  928,  1  ern  nioltte  (C  B  chujide)  niJtt 
gcsten;  982,  2  dax  ivir  niht  mohten  (xiC;  chunden  Dllif,  B  fehlt) 
dne  so  gröxes  schaden  sin;  1010,  2  sine  künde  {mohte  CDIh)  niht 
gegdn:  1079,  4  döne  huule  im  Kriemltilt  nimmer  vinder  geivesen; 
1291,  3  daX:  vrou  Ilelche  ttiht  schoener  künde  (mohte  ÜHig)  gesin; 
1458,3.  1862,3  ir  kunnet  niht  genesen;  1981,4  dö  eitkunde  Gisel- 
here  ttimmer  xorner  gestn;  2047,  4.  2098,  2.  2156,  1  sine  künde 
t/iht  gewegen;  2223,  4  wie  künde  er  (moltt  er  Ih)  grimmeger  sin 
gewesen. 

Klage  239  dax  den  Giselheres  tot  nieman  künde  [moltt  H)  erwendcn; 
259  der  eitkunde  eitler  niht  genesen;  608  tiurr  hclde  kuttttett  iresen 
ninder  i1f  der  erde;  637  dö  etikiindex  langer  niht  gestdtt;  1050  i/i 
kutide  der  hell  niht  der  für  von  tinkreften  hrittgen. 

Gudr.  719,  3  da  si  genesen  kuttden;  875,  4  wie  kiutdens  iceseti  küe- 
ner;  1163,  4  ntl  kan  ir  ende  nieman  erivettden;  1265,  1  67*  vnoren 
so  si  künden  bekliste  dem;  1330,  4  dax  fix  der  ketncndte  .  .  nic- 
tttan  hoereti  künde  (863,  3  ntohte). 

Waltli.  27'^  des  enkan  ich  niht  gesliexen  in  den  arkeit;  612''  ^^./^ 
kuttde  sich  dcheittiit  danne  min  erivern. 

Fricl.  135,  13  mit  tcolven  niettian  kan  genesen;  154,  8  xe  Botne  vert 
matte  ttisettt  matt,  die  der  habest  niht  schernie/t  katt. 

Konr.  Engelb.  1124  ich  arme  cttkait  niht  leider  des  dittges  über  wer- 
den; 1570  Sit  ich  dantte  dich  tiiht  überiviitden  kan. 


28  KAHL 

Weinsclnv.  105  ich  han  jagen  undc  rdhoi;    403  ich  kern   wol  icafen 

ftfich. 
Bon.  32,  6   xc  vliüäc  icani  bereit  ir  hein,  si  hoNelcn  cd  (jcvliehen  wol. 

II  b  «. 

(Mlul.   können   mit  sächlicheiu   snbjckte.) 

Zunächst  müssen  Avir  diejenigen  fülle  aussclieiden,  in  denen  wir 
es  mit  einer  förmlichen  Personifikation  zu  tun  haben;  so  wenn  z.  b. 
der  frau  Minne  eiu  können  zugeschrieben  wird:  Walth.  109  i'  Minne, 
tnnnlcr  hau  <Jin  (/Hefe  liebe  inachen;  M.  F.  1^-  (vgl.  Carm.  ßur.  126,  6) 
Touijoi  niiiuie  Lan  ijeben  höhen  muoi.  —  Dieselbe  und  ähnliche  Per- 
sonifikationen liegen  in  folgenden  beispielen  vor: 
U.  Trist.  587^  din  minne  hau  wol  leren  vröude. 
"Wo  1fr.  Parz.  757,  24   liöch  minne  hau   icol  zieren;    Tit.  71,  1  oive, 

hiind  diu  minne  ander  helfe  erzeigen. 
Waith.   109-^   nfinne  —  dd  hanst  verheren. 
Fr  id.  99,  6  tninne  lan  sich  sedjc  an  eide  icern. 
Konr.  Eng.  89  sit  Triuice  nü  cliz  cdlex  kein;    899  daz  si  (Mirme) 
geiraltes  Idinne  jitl^fj^^t^;  904  da  han  diu  Minne  enzünden  herze. 
Weinschw.  126  du  win  kanst  die  durstigen  laben. 

Die  liebevolle  Versenkung  in  die  naturschönheiten ,  welche  auch 
den  toten  Objekten  unserer  Umgebung  menschliches  fühlen  und  empfin- 
den leiht,  schuf  ausdrucks weisen  wie: 

31.  F.  83^*^  diu   beide  noch  der    vögele   seine   Imn   an   ir   tröst   mir 

niht  vröude  bringen. 
M.  F.  108 1'^'  der  ivinter  kan  niht  anders  sin  ivan  sivaere  nnd  eine 
rndze  leine. 

Auf  dem  übergange  vom  persönlichen  zum  unpersönlichen  ge- 
brauch von  kiinnen  begegnen  uns  weiterhin  mehrere  fälle,  bei  denen 
den  geistigen  und  auch  körperlichen  eigenschaften  einer  persönlichkeit 
das  können  einer  handlung  zugewiesen  wird,  ob  wol  strenggenommen 
das  persönliche  STibjekt  selbst  es  ist,  welches  mit  hülfe  jener  geistigen 
oder  körperlichen  ki-äfto  die  handlung  ausführt.  Wenn  es  z.  b.  bei 
Konr.  Gold.  schm.  806  heisst:  der  siechen  sele  ivunelen  verheilen  kan 
diu  süezer  li.st,  so  dürfen  wir  dafür  setzen:  „du  verstehst  mit  hülfe 
deiner  klugheit  (listj  zu  heilen" ;  vgl.  Gudr.  542,  3  die  mit  deheinen 
listen  heilen  ieman  ku?ule. 

Analog  sind  folgende  fälle  zu  beurteilen: 
M.  F.  54  ^''-   min  herze  künde  ir   niemer  konien  z^e   nci.     214  ^'''  der 
vil  gerne  tuot  daz  beste  daz  sin  lierze  kan. 


KÖNNEN   UND   MÖGEN   IM  ALTD.  29 

Gr.  Trist.  2971*^  ir  (jeJlmeten  sinne  dioi  künden  niender  hin  geice- 
gen.    411  -^  slt  dax^  sin  herxe  /lienier  kein  ge}nach  gcJnibn  lan. 

Wolfr.  1.  10,  19  ir  nunncdicliev  laclicn  kan  )nir  irol  gemaclicn 
höhen  jnuot.  Parz.  114,  1  siufxen  nndc  lachen  künde  ir  inunt 
vil  wol  genmclien;  vgl.  672,  19.  404,  S  diu  ougen  kunnen  spelin. 
638,  19  ir  hlic  wol  knnde  tagn.     Willi.  378,  28. 

Nib.  812,  2  jcuie  kan  (AC;  }nach  EIC)  m  nütt  gehelfen  diu  gröxe 
Sterke  sin. 

Walth.  69 1^  so  enkaits  ein  herxe  alleine  niht  enthallen. 

Er  id.  51,  4  den  kan  deheines  mannes  list  —  schuldic  machen. 

Konr.  Gold.  schm.  204  di)i  miuit  kan  diu  sele  spisen. 

Bon.  17,  37  boese  xunge  scheiden  kan. 

Ähnlich  ist  kern  bei  folgenden  substantivierten  Infinitiven  zu  er- 
klaren : 

M.  F.  157-1  g^f  mich  min  sprechen  nu  niht  kan  gehelfen. 
Gotfr.  Lobg.  77,  1  (u.  ö.)  von  dir  sagen  —  kan  in  die  herzen  minnc 
tragen. 

Seit  dem  XII.  Jahrhundert  finden  wir  auch  tieren  ein  können  zu- 
geschrieben : 

Eneit  8674  ros  kan  hat  flien  danne  jagen. 

Wolfr.  Parz.  36,  12  ors,  dax  heidiu  künde  hurtUchen  dringen  iinde 

springen. 
Nib.  890,  3  dax  tier   enkund   im   niht  entrinnen;    891,  1   kraxen 

noch  gebixen  kund  ex>  niht  den  man;  1211,  3  ex  enkunden  [inoh- 

ten  111)  hundert  miule  dannen  niht  getragen. 
Gudr.  97,  3  vögele  künden  vliegende  niht  entrinnen;    541,  3   kun- 

denx  so  olbende  niht  getragen. 
Konr.  Gold.  schm.  528  strüx.  kan  sine  eier  schöne  hriieten. 

In  den  folgenden  beispielen  haben  wir  volkräftige  belege  dafür 
zu  erblicken,  dass  können  die  beziehung  auf  wissen  und  verstehen 
abgestreift  hat  und  sich  nmgen  nähert,  mit  dem  es  sich  in  die  aufgäbe 
teilt,  auszudrücken,  dass  für  irgend  eine  tatsache  die  objective  mög- 
lichkeit  ihres  eintretens  besteht 

M.  P.  188^  not  —  nien  künde  groexer  sin. 

Wolfr.  Parz.  1,  18  dix  bispel  —  kan  vor  in  ivenken;  2,  1  triuive  — 
kan  versicinden;  311,  21  staete,  diu  den  xivivel  dan  kari  schaben; 
434,  17  sin  wäge  kan  seigen;  490,  30  wax.  wunders  dix  gelilppe 
kani;  572,28  dix  bette  Jean  so  umbe  varn;  Tit.  80,  4  ob  dirre  schilt 
lauule  niesen;   Wilh.  390,  30  dane  künde  niht  geharren  sin  vane. 


30  KAin. 

G.  Trist.  167^^  soue  hmide  ir  aller  viere  schhi  choüichlcr  nicmer 
geshi:  195'"  urdcr  ruf  Noch  helfe  hcui  gcwesoi;  203-^  nötelfn  diu 
niemcr  rronder  hfutdeN  sin. 

Ulr.  Trist.  531-  disiff  weit  lau  xe  gäheii  ende  gehen. 

Nib.  17,  3  nie  liehe  mit  leide  ^e  jungest  löne)i  kau;  231,  1  groe- 
.xisfen  not,  die  immer  künde  sin  geschehe?! :  237,  4  viaerc  kuu- 
dcn  ni))nner  lieher  gesin;  530,  4  hexxer  phertgcreite  huide  niuf- 
mer  qesin:  1115,  2  kioulen  disiu  maere  niht  verholen  sin;  1412,4 
sone  mag  [chaii  Clh)  in  uihf  gewerrcu  der  Kr.  muot;  1849,  1 
strit  niht  anders  künde  si7i  erhahn;  1763,  3  von  Ardhischen 
sidoi,  die  heste  )uohtcn  (AB  chwidcn  C)  sin. 

Klage  779  dax  enkunde  niht  erwenden  diu  helfe  aller  diuer  nuin; 
942  ua)i  diu  Büdegeres  haut  künde  wunschliehen  gehen. 

Giidr.  1500,  2  xwene  kiele  künden  niht  getragen. 

Walth.  46-^  wax  wünne  kau  (BC;  mac  A  E)  sich  dd  genöxen  zuo. 

Konr.  Engelh.  250  sin  muot  künde  nach  ivirde  ringen;  2071  dax 
(dinc)  mir  doch  nimmer  werden  kan;  Gold,  scliiii.  572  dln  gilete 
kan  iif  wallen;  1519  ex.  (hröt)  kan  sich  doch  heheften  mit  kreften. 

Ein  schritt  weiter  auf  dem  wege  der  bedeutungsverwitterung  ist 
es,  wenn  kern  mit  dem  imbestimten  Subjekte  ex  verbunden  wird:  ebenso 
unbestimt  und  inhaltsleer  als  ex  pflegt  in  solchen  fällen  auch  der 
abhängige  Infinitiv  zu  sein;  wir  sehen  mit  verliebe  geschehen,  iverden, 
ivesen,  sin  zu  dem  unpersönlichen  kan  gesezt. 

Bei  der  aufzählung  der  beispiele  beschränke  ich  mich  auf  die 
angäbe  des  infinitivs;  die  ersten  belege  für  ex  kan,  ex  künde  u.  dgl. 
finden  sich  in  M.  F. 

M.  F.  72'  geschehen;    105  2.  1641-1  206  2^  verwän;    120"'  gehelfen. 
Hartm.  I\v.  2063  gevilegen;  2638  geschaden;  6345  geschehen;  a.  H. 

1176  geu'irren. 
Wolfr.  Parz.  658,  8  gexemn;  AVilh.  406,  4  genuogen. 
G.  Trist.  126  22.    15736  iverden;    184  22  geivesen;    214  ^  geschehen; 

lobg.  71,  3  iverden. 
U.  Trist.  499 •^•♦.   576  21.   577  i\  578"^^  geschehen;  525-^*  iverden  ver- 

suigen. 
Nib.  13,4  sin  geschehen;  11.^4  missegän;  133^4:  iverden;  284,1  ivie 
kwule  dax  ergän  (ABC;  mcjhte  Ihj;  348,  6  äne  dine  helfe  kundex 


KÖXNEX   Vyi)   MÖGEN   IM   ALTD.  31 

(mokt  ex  111)  nilä  geshi;  279,  3  oh  laindc  (ABC;  molde  Ih)  daX' 
geschehen;  348,  10  sivax  dar  cui  kau  (niac  D)  ijesin;  444,  1  des 
7)ia1c  niht  ergd)i  (Alh;  etu)iavh  B;  mac  iiocli  D;  encha)i  noch  C); 
669,  1  oh  dax  mohte  (AB  chändc)  geschehe)/;  694,  4  dax  künde 
(moht  Ih)  nnielich  geschehji;  696,  2  ohe  dax  mehtc  sin  (chundeC] 
mac  Ih). 

Ähnliches  schwanken  der  handschriften  zwischen  han  und  nnic 
noch:  759, 1 /t-^^;^^/e  AB  (//^o/z/c  Clh;  sohlJ));  Hbd^4:  künde  A  {ntoh/e  BC; 
mohtlh)',  943,2/t7^/2f/cABCD  ()noJUl\\)\  l^ll,4.enkunde KBO  {ennnjht 
Ih);  1085,  1  mohte  AB  {chwide  C);  2039,  4  A-a?2  C  {mac  AB);  2063,  2 
chiüideBCJ)  (mölite  Ih);  2310,  1  künde  ABC  (??2o/^^  Ih).  Ih  liat,  wie 
man  sieht,  besondere  Vorliebe  für  die  formen  von  mugen.  —  gescliehcn 
bei  imperson.  hcui  findet  sich  noch  Mb.  884,  3.  1751,  2.  2034,  1; 
gesin  oder  sin:  905,  2.  1077,  4.  1895,  4.  2026,  4.  2039,4.  2215,4; 
?6-e5^;?;  889,  3.  2063,  2.  2180,  2;  ^/•/7<:m.-  759,  4.  1163,  3;  geiceni: 
1630,  1. 

Klage  10  des?i  kundex  niht  helihen;  66  geschehen;  120  Jes  enkunde 
(Ih  enmoht)  niht  gesin. 

Gudr.  214,  1.  770,  3.  940,  1  geschehen;  963,  2  57/^;  1255,  3  ge- 
lingen. 

Walth.  98^^  geschehen. 

Wie  nahe  sich  dies  impers.  kunnen  mit  mugen  berührt,  zeigen 
besonders  die  Varianten  der  handschriften,  die  wir  aus  diesem  gründe, 
wo  es  immer  angieng,  möglichst  volständig  mitgeteilt  haben. 

III. 

Es  erübrigt  uns  noch,  das  mhd.  kan  auf  eine  stufe  zu  begleiten, 
auf  der  es  seine  eigene  bedeutung  gänzlich  aufgegeben  zu  haben  scheint 
und  als  eigentliches  hülfsverbum  im  vereine  mit  dem  Infinitive  nur 
eine  Umschreibung  des  einfachen  verbum  finitum  bildet,  jedes  selbstän- 
digen Vorstellungsinhaltes  baar. 

Soviel  ich  sehen  kann,  war  Benecke  der  erste,  der  auf  das  bedeu- 
tungslose kan  hinwies,  welches  zu  einem  Infinitive  hinzutritt,  ohne  den- 
selben irgendwie  zu  beeinflussen;  Benecke  bemerkt  zu  Iwein  7457: 
„was  kan  betrift,  so  haben  wir  vielleicht  noch  zu  lernen,  dass  dieses 
wörtchen  wie  das  altenglische  gan,  ohne  selbst  eine  merkliche  bedeu- 
tung zu  haben,  eine  schmeidigende  paraphrase  bildet:  vgl.  Parz.  29,  19. 
514,  8.  536,  22.  548,  13.  MS  I,  16a."  Haupt  widersprach  dieser 
auffassung   (zu  Erec  23,  s.  329),    ohne  jedoch  gegengründe  geltend  zu 


32  KAÖL 

macheu:  es  mair  ihn  die  einsieht  ^-eUntet.  haben,  dass  oftmals  in  sol- 
chen  fällen,  in  denen  uns  ka?i  als  durchaus  überflüssig  erscheint,  der 
mhd.  schriftsteiler  eine  beziehung  —  mitunter  leise  Ironie!  —  aus- 
gedrückt wissen  weite,  die  wir  nicht  mehr  nachzufühlen  im  stände  sind. 
Es  liegt  eine  Schwierigkeit  eigener  art  darin,  aus  einem  infinitiv  nach  kern 
jede  intellektuelle  oder  gar  potentielle  beziehung  auszustossen  und  Lrm 
noch  unter  die  geltung  als  mattes,  inhaltarmes  hülfsverbum  hinabzu- 
drücken. Wir  müssen  uns  aber  daran  erinnern,  dass  von  einem  got. 
kann  paua  mannan  zu  einem  mhd.  ex.  kan  niht  geschehen  eine  stetig 
wirkende  Zersetzung  der  ursprünglichen  bedeutung  hinabführt:  die  vol- 
stiindige  abstreifung  der  individuellen  bedeutung,  die  sich  auf  der  lez- 
ten  entwicklungsstufe  volzieht,  darf  uns  darnach  nicht  mehr  befremdlich 
erscheinen. 

Die  Vertretung  des  conjunctivs  durch  kan  c.  inf.,  die  bei  mag  sich 
so  häufig  findet,  ist  bei  ka)i  ziemlich  selten:  sie  sezt  voraus,  dass  der 
ausgleich   zwischen  kunnen  und  miigen   sich  bereits  volzogen  hat. 

Einen  wunschmodus  ersezt  kan  c.  inf.  in  folgenden  fällen:  M.  F. 
120^  künde  ex  gehelfen I  G.  Trist.  157=^^  künde  ex  iemer  tcerden  so! 
(vgl.  auch  Holtheuer,  Zs.  f.  d.  ph.  erg.  1874  s.  153  fg.). 

Ich  teile  nunmehr  beispiele  für  denjenigen  gebrauch  von  ku7inen 
mit,  bei  denen  kan  c.  inf.  an  begriflicher  stärke  das  einfache  verbum 
finitum  nicht  übersteigt. 

M.  S.  I,  Iß""  du  kanst  ein  teil  xe  lange  sin. 

Wolfr.  Parz.  29,  16  ich  kan  xe  lange  sitxen;  117,  18  si  künde  ivol 
getriiäen  ir  sun;  167,  23  sus  kund  er  sich  ht  frowen  scheynn; 
332,  4  künde  got  mit  kreften  lehn;  380,  26  der  ouch  diu  sper 
niht  künde  sparn;  390,  4  die  knappen  künden  danken,  sie  bäten 
in  beliben  vil;  466,  20  diu  gotheit  kan  lüter  sin;  535,  10  der 
(riter)  schilt  noch  sper  niht  künde  sparn;  536,  22;  548,  13  diu 
sunne  kan  so  nider  sten;  572,  28  diz  bette  kern  so  umbe  varn; 
589,  27  deliein  sül  stuont  dar  unde  diu  sich  geliehen  künde  der 
gi'oxen  sül;  609,  9  kund  si  tohter  unde  sivester  sin;  650,  15. 
769,  22  da  er  den  lip  niht  künde  sparn.  Willi.  59,  14  sivaz  er 
siveixes  uf  dem  orse  vant,  den  kund  er  drabe  ivol  strichen. 

Hartm.  Iw.  7458  der  ich  niht  sere  engelien  kan. 

U.  Trist.  527  2'''  ^/^^^  lichten  schin,  der  also  l fiter  kan  gesin. 

Nib.  1082,  3  vergexxen  künde  niht  AB  {mit  klage  nie  ver- 
gax.  C).  1318,2  dax  in  niht  en.schadete  A  B I  h  (schaden  künde  C; 
moJit  gcscliadcn  D). 


KON-N'EN   UND   MÖGEN   IM   ALTl).  3^ 

Gudr.  461,  1   die  er  knnde  hrimjeu  tnit    im  dau    (vgl.  Martin  z.  st. 
und  zu  429,  1);  962,  2  Liidcicic  hunde  iinsanße  scJioeuer  frotcen 
pflegen  (vgl.  Martin  zu  1528,  3). 
Frid.  49,  25  der  loser  schadet  nuDiegciii  mau,  dem  er  itiht  icol  <jc- 

frnfjteu  laut. 
Konr.  Eng.  602;  Gold,  sclim.  1823  der  schulde  kau  xe  ringe  icegen. 
Silv.  3748  devi  nieiischeu  ist  geboren  an,    dax  er  dem  tode  icah- 
se)i  hau. 

Wir  schliessen  damit  unsere  darstellung  der  syntax  des  altdeut- 
schen können;  einige  einzellieiten  werden  noch  am  Schlüsse  dieser  arbeit 
besprochen  werden. 

Ein  rückblick  auf  das  von  uns  durchmessene  gebiet  gibt  uns  zu 
folgenden  bemerkungen  anlass. 

Können  ist  ursprünglich  in  der  Sphäre  geistiger  tätigkeit  aus- 
schliesslich heimisch;  darauf  weist  uns  das  Verhältnis  zu  den  urverwan- 
ten  sprachen  und  der  gebrauch  von  können  im  got,  alts.  und  alid. 
Erst  im  laufe  des  XL  und  XIL  Jahrhunderts  zweigt  sich  von  dem  alten, 
reinen  können,  das  während  der  ganzen  mhd.  zeit  sich  lebendig  erhal- 
ten hat,  ein  schwächeres  können  ab,  welches  sich  mit  luugeii  nahe 
berührt  und  vielfach  austauscht.  AYir  können  noch  die  faktoren  beob- 
achten, die  in  jenem  processe  der  Verwitterung  des  alten  können  gewirkt 
haben:  sie  haben  im  laufe  der  zeit  aus  dem  kräftigen  begrifsverbum, 
d^s  sich  aus  dem  urgermanischen  ungeschwächt  bis  ins  ahd.  fortgeerbt 
hat,  ein  mattes,  haltloses  hülisverb  gemacht,  das  nur  noch  in  der  Um- 
gebung eines  infinitivs  auftritt,  weil  ihm  die  kraft,  als  selbständiges 
verbum  zu  fungieren,  völlig  abhanden  gekommen  ist. 

Uns  ist  fast  nur  noch  jenes  können  geläufig,  welches  die  objek- 
tive möglichkeit  ausdrückt;  wir  haben  beinahe  ganz  vergessen,  dass 
können  ursprünglich  auf  intellektuelle  tätigkeit  beschränkt  war:  nur  in 
spärlichen  resten  schimmert  noch  jene  alte  bedeutung  durch,  die  einst 
die  allein  herschende  war. 

§  5.    Mögen  im  gotischen. 

Die  durchforschung  der  bedeutungen  und  des  syntaktischen  ge- 
brauches  des  altdeutschen  mögen  bietet  nicht  immer  das  Interesse,  das 
uns  die  geschichte  des  altdeutschen  können  abnötigte. 

Wir  müssen  annehmen,  dass  auch  mögen  im  urgermanischen  ein 
begrifsverbum  gewesen  ist:  das  gotische  weist  uns  in  deutlichen  spuren 
darauf  hin.  Aber  schon  im  got.  sind  die  bedingungen  für  die  bedeu- 
tungsabschwächung  gegeben,  welche  imigan  frühzeitig  zum  hülfszeitwort 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXII.  3 


34  KAIIL 

hat  herabsinken  lassen.  Bereits  im  ahd.  tritt  die  elementare  kraft  von 
magan  =  Jir/ieir,  vnlerc  nicht  alzubäulig  zu  tage;  in  der  überwiegen- 
den melirzahl  der  falle  veransehaulieht  maijnn  einen  begrift',  der  einen 
sehr  weiten  und  darum  individuell  sehr  wenig  bestirnten  Inhalt  bat: 
die  objektive  möglichkeit.  Wiihrend  die  intellektuelle  bedcutung  des 
alten  ku)ino)i  nur  eine  begrenzte  anzahl  von  verben  zu  kinnian 
in  adverbiale  bezieh ungen  treten  liess,  legte  magan  solche  schranken 
nicht  auf,  und  so  finden  wir  schon  im  alul,  teilweise  schon  im  got. 
und  alts.,  inlinitive  des  disparatesten  Inhalts  zu  magan  hinzugesezt;  die 
möglichkeit  kann  eben  auf  die  vei*schiedenste  weise  bedingt  sein:  durch 
das  Subjekt  mit  seinen  körperlichen  oder  geistigen  eigenschaften ,  durch 
äussere  umstände  und  Verhältnisse  usw. 

Wie  bei  können,  so  gehen  wir  auch  bei  mögen  in  der  darstel- 
lung  der  syntax  von  der  ermittelung  der  bedeutung  aus.  Zwei  wege 
führen  uns  zu  dem  resultate,  dass  das  urgerman.  mag  dem  ausdrucke 
körperlicher  kraft  und  tüchtigkeit  diente. 

Die  Sprachvergleichung  stelt  folgende  sippe  urverwanter  Wörter 
auf:  skt.  mahas  glänz,  macht;  mahan  grosse;  griech.  ufjyog,  j^iff/ßQ, 
fitj/ciiij,  ueyag\  lat.  mag -uns,  maior,  mag-is;  got.  mag,  malus,  mi- 
hils;  kirchensl.  mogq  possum  usw.;  altiran.  do-for-magar  =  augetur 
(vgl  Curtius,  Grundzüge 5  s.  329.  333;  dortselbst  die  übrige  litteratur). 

Auf  der  andern  seite  können  wir  beobachten,  dass  das  got.  mag 
dem  griech.  loyvvj  und  di-rauca  entspricht  (die  belege  vgl.  unten).  Hal- 
ten Avir  hier  einen  augenblick  inne!  Die  entsprechung  hj/vco  =  mag 
stimt  zu  den  eben  dargelegten  etymologischen  Verhältnissen.  Etwas 
anders  ist  es  mit  dvrauai:  zwar  lässt  auch  övrauai  die  übersetzans:: 
^ich  habe  macht"  zu,  aber  daneben  besteht  schon  für  die  klassische 
graecität  eine  andere,  blassere  und  algemeinere  bedeutung:  die  der 
fähigkeit  überhaupt,  der  möglichkeit;  stellen  wie  Soph.  Ant.  686  olV 
av  divaiui]v  Liijr  iTtLOzulur^v  Ityeiv;  Phil.  1393  el  ot  /  iv  loyoiq  7cu- 
oiLv  dvrr^GoueoO^a  usw.  scliliessen,  weil  Infinitive  geistiger  natur  hin- 
zugesezt sind,  die  beziehung  auf  kraft  und  macht  aus:  es  handelt  sich 
hier  um  ein  ganz  algemeines  „können",  ohne  rücksicht  auf  die  mit- 
tel, welche  dem  könnenden  zur  Verfügung  gestelt  werden  müssen. 

Während  also  die  griechischen  entsprechungen  des  got.  kan  durch- 
weg einer  und  derselben  begrifssphäre  entstammen  (yivioo/M,  olda,  ItcL- 
orauai  usw.),  gleichsam  nur  verschieden  gewendete  veräusserlichun- 
gen  desselben  vorstellungsinhaltes  sind,  so  birgt  das  got.  mag  in  sich 
schon  zwei  verschiedene  begriffe,  den  der  kraft  und  den  der  mög- 
lichkeit. 


KÖNNEN   UND   MÖGEN    IM   ALTD.  35 

Zwar  ist  es  ein  leichtes,  diese  beiden  begriffe  auf  einen  zurück- 
zuführen: das  physische  können  Hesse  sich  als  eine  besondere  art  der 
möglichkeit  auffassen,  derjenigen,  welcho  durdi  das  körperliche  vermögen 
des  Subjektes  bedingt  ist.  So  erschiene  die  fähigkeit  im  algemeinsten 
sinne  als  diejenige  Vorstellung,  welche  vn/f/an  ursprünglicli  zu  gründe 
liegt.  Die  etymologischen  Verhältnisse  widersprechen  aber  dieser  annähme 
auts  entschiedenste:  die  urverwanton  Wörter  zeigen  sämtlich  eine  deut- 
lich w'ahrnehmbare  beziehung  auf  w^achstum  und  stärke,  während  sie 
einem  so  abstrakten  begriffe,  wie  der  der  objektiven  m(»glichkeit  ist, 
ursprünglich  fremd  gegenüberstehen. 

Wir  müssen  daher  annehmen,  dass  man  sich  nicht  immer  des 
Charakters  der  mittel  bewusst  geblieben  ist,  welche  durch  macjan  an 
die  band  gegeben  werden,  dass  man  vergessen  hat,  dass  der  „mögende" 
eigentlich  nur  auf  physischem  wege  zu  seinem  ziele  komt.  Den  ana- 
logen process  haben  wir  oben  für  Inutnan  beobachtet;  nur  ist  hier 
noch  einmal  zu  betonen,  dass  können  seine  genuine  bedeutung  lange 
zeit  hindurch  bewahrt  hat,  während  für  mögen  die  ersten  anfange  der 
bedeutungsdifferenzierung  und  -verblassung  schon  bis  ins  gotische  hinab- 
reichen. 

Das  got.  mag  =  iGy/co,  valco  lässt  sich  in  dreifacher  construk- 
tion  nachweisen: 

I.  Absolut,  doch  ist  dieser  gebrauch  ziemlich  selten;  meist  ist 
da,  wo  mag  allein  steht,  eine  ellipse  zu  statuieren:  Eom.  8,  7  ivitoda 
gu]}s  nl  vfhaiiscij),  ip  ni  mag  (ovö^  yccQ  öiwazai)-^  Marc.  9,  18  jah  qap 
sipo)/jani  pcinaim  ei  iisdribei)ia  ina  jah  ni  mahiedun  {/ml  od/,  ur/i- 
üccv);  Marc.  9,  22;  Marc.  10,  39  ip  eis  qepun  du  iinma:  magu  {ßvva- 
j-ieda)]  Luc.  19,  3  jah  ni  7nahia  (sc.  gasailvait)  faiira  managein. 

IL  mag  ist  befähigt,  einen  objektsaccusativ  zu  sich  zu  neh- 
men, doch  bezeichnet  dieser  nie  ein  concretes  objekt,  sondern  enthält 
algemeine  bestimmungen  wie  all,  Iva  u.  dgl.:  IL  Cor.  13,  8  ni  aiih 
magum  ha  ivipra  sunja  ah  faur  siinja;  Phil.  4, 13  all  mag  (jcuvva  lir/vco). 

III.  Meist  wird  das  objekt,  auf  welches  die  hr/^g  oder  övrauig 
gerichtet  ist,  in  einem  Infinitive  angegeben:  Mtth.  8,  28  sleidjai  filu, 
sivasive  ni  mahta  marma  nsleipan  pairk  pa)ia  uig  jaiiiaua  {wate  jlitj 
iGyvew  TtaQeld-ELv);  Luc.  6,  48  jah  ni  mahta  gaicagjan  Ha  (ovv.  l'oxuoe 
Gcclevoca  aunji');  Luc.  8,43.  14,  29.  20,  26.  Luc.  16,  3  graban  ni  mag, 
hidjan  skama  mik.  Eph.  3,  18  ei  —  mageip)  gafahan  =  h'a  l^iGyv- 
arjve  VMTaXaßtGdai. 

Der  begriff  der  kraft  und  stärke,  der  in  den  bisher  mitgeteilten 
beispielen  festgehalten  wurde,  tritt  in  den  folgenden  belegen  nicht  her- 

3* 


36  KAHL 

vor:  es  handelt  sich  hier  in  dem  oben  besprochenen  sinne  um  den  aiis- 
druck  einer  objektiven  möglichkeit,  eines  övraoO^cxi,  posse:  Marc.  2,  4 
jah  )n'  ma(iandans  itcha  qh)fa)i  [iit]  dnciueroi  frQo^eyyiaai):  Luc.  8,  19 
Jah  f/i  malitcdioi  aN(JqiJ)an:  Marc.  G,  19.  Skeir.  39,  10  ni  n/ag  (ja- 
saikan:  Marc.  9,  23  inageis  (jalauhjcui :  Luc.  6,  42  }}i(i(jt  qijnin  {dvra- 
oca  h'yeir).  In  den  beiden  folgenden  beispielen  bewegt  sich  der 
abhängige  inlinitiv  durchaus  auf  dem  gebiete  geistiger  tätigkeit ;  ^um  so 
weniger  sind  wir  berechtigt,  hier  ufag  ^  layvco  zu  fassen  und  an  kör- 
perliche kraft  auf  Seiten  des  mögenden  zu  denken.  Joh.  14,  5  Jvalica 
niagmn  Jtcnia  icig  hu)nia)i  (övvdued^a  dSlrai);  Eph.  3, 4  dujijtc  ei  sigg- 
wafidans  )nagiip  fra])jaii  frodcin  inchiai  in  runai  Xristaus  =  7C(jd^ 
o  dnaa&£  dyayn'cjay,orreg  vofjoai  t))v  ovrioiv  /..  t.  X. —  Weitere  belege 
zu  I,  II  und  III  bietet  Schulz  es  Got.  Avb.  s.  216;  Köhler,  Synt.  ge- 
brauch des  inlinitiv  im  got:  Germ.  XII,  425. 

§  0.    3Iögeii  iiu  altsäelisiseheii. 

I.  Der  absolute  gebrauch  von  magcui  ist  im  alts.  nicht  mehr 
belegbar,  es  sei  denn,  dass  man  Hei.  2846  huat  mag  that  thoh  the- 
saro  motigi  nicht  wie  Steig  (Zs.  f.  d.  pli.  XYI,  327)  getan,  durch  die 
einfache  ellipse  von  uaesan  erklären  Avill.  Ellipsen  leichterer  art  Lie- 
gen vor:  Hei.  659  sia  frumida  tliie  malita  (sc.  frummien)^  2727  hah- 
dun  ina  for  laidrsagon  so  sia  uuela  mahtun  (sc.  liebbian). 

n.     Für  mag  c.  objektsaccusativ  bietet  das  alts.  kein  beispiel. 

111.     mag  c.  infin. 

a)  mag  c.  inf.  =  valeo  begegnet  uns  an  folgenden  stellen:  Hei. 
891  hie  mag  aUero  manno  gihiiena  mtngithaldo  sundeono  sicoron; 
1008  that  hie  alätan  mah  liudco  gihuuilikon  saca  endi  sumlea;  2107 
ic  gilohiu  that  thu  giuuald  hahis  that  thu  ina  hinana  mäht  helan 
giuuirkean;  5321  hie  ni  mahta  is  Utes  gifresoJi. 

b)  Zahlreicher  sind  die  beispiele  für  magan  =  öuraG^ai,  j^osse; 
ich  muss  mich  hier  auf  eine  auswahl  beschränken.  725  nu  ic  giiiuin- 
nan  mag;  773  nu  mahtu  an  fridu  ledean  that  kiml;  1360  al  so  ic 
lu  nu  giuuisean  mag;  4041  seggian  mag;  5087  mugun  is  antkennian 
uuiht  usw. 

Das  alts.  kent  auch  bereits  unpersönliches  mag:  Hei.  141  huiio 
mag  that  giuuerdan  so'^  158  hui  it  so  giuucrthan  mugi;  271.  An 
zwei  stellen  ist  man  geneigt  mag  zu  übersetzen  durch  „ich  habe 
ui-sache,  veranlassung":  1709  tha/tn  mahthu  aftcr  thiu  suäses  man- 
nes  giseon  sithor  gibuotean;  1711  so  mag  that  an  is  hugi  mera  an 
ihesaro  middilgard  manno  gihuuilicon  uuesaii. 


KÖNNEN   UND   MÖGEN    IM    ALTD.  37 

Einmal  eiullicli  —  in  der  altnd.  psalnienübersetzung  Ps.  54,  13  — 
seilen  wir  ein  plusquaniperf.  coni.  durch  ))iohtl  c.  inf.  widergegeben : 
abdcondiasc/n  nie  foraltmi  ah  co  =  ic  burije  ml,  so  Diolitl  (jibergan 
fan  imo.  Wir  werden  weiter  unten  gelegenheit  liabf^n,  ausführlicher 
auf  die  nahen  beziehungen  zwischen  niiajcn  und  dem  conjunctiv  zu 
achten. 

Das  alts.  zeigt  uns  somit  bereits  eine  grössere  mannigfaltigkeit 
syntaktischer  anwendungen  von  tnay  als  sie  nns  das  got.  bot;  wir  wer- 
den das  ahd.  auf  diesem  wege  immer  weiter  fortschreiten  sehen:  jemehr 
aber  die  gebrauchssphäre  von  mögen  an  ausdehnung  gewint,  um  so 
ärmer  wird  der  logische  iuhalt  von  intigcit. 

§  7.     3Iögeii  im  althoclideutsdieii. 

Die  ahd.  glossen  bezeugen,  dass  auch  im  ahd.  neben  jenem  mugen, 
welches  lat.  ralcre  glossiert,  ein  anderes  einhergeht,  lat.  possum  oder 
qiieo  entsprechend;  die  Übersetzungen  bieten  zahlreiche  belege  für  diese 
tatsache;  sie  verraten  ausserdem  noch  einige  andere  bedeutungsnüancen 
von  }fitf(jcff ,  =  licet,  convenit  usw.;  sie  lehren  uns  ferner,  dass  der 
conjunktiv  und  das  hülfsA^erbum  mugeii  in  begriüicher  verwantschaft 
stehen;  sie  nötigen  uns  endlich  eine  ganz  erhebliche  abschwächung  der 
ursprünglichen  bedeutung  da  anzunehmen,  wo  wir  inaij  c.  inf.  einem  ein- 
fachen verbum  Unit,  des  lateinischen  gegenüberstehen  sehen.  Von  den 
ahd.  glossen  kommen  hier  folgende  in  betracht:  1,  26^*^  iiivaUdia  — 
unmahtil-;  152  ^^  valerei  —  mahda;  235  ^^  qucatii  —  meld;  236  ^^ 
queverunt  —  mahton,  malitun;  2'^Q>^^  potuerunt  —  maldon;  365^ 
potest  confici  —  mac  uuerdan  liataii;  586^^  valelnt  —  nuujet;  754^^ 
possunt  —  niegin;  II,  21-^  nc  ptossit  —  thar^  ni  nuaji;  21^'^  quis 
queat —  uuer  nu  ninyk;  l-kQ-'^  neqidverit  —  neniegi;  ^2S)^^'  possiniiis 
—  meyiii;  666  ^^  potes  —  niaJitöst;  Emmer.  glosse  (Pez  I,  402)  passi- 
hileni  =  martra  dolen  rnagan. 

Aus  der  ahd.  übersetzungslitteratur  bringe  ich  nur  einige  beispiele, 
da  ich  unten  dem  deutschen  texte  jedesmal,  wo  es  angeht,  das  latei- 
nische original  hinzufügen  werde.  Eragm.  theot.  IV,  17  potestis  — 
magut;  XI,  3  licet  —  mac;  III,  1  perderent  —  farleomn  mahtin; 
Isid.  VI,  a.  6  sit  —  mac  uuesan;  Tat.  108,  2  valeo  —  mag;  231,  1 
nianducetur  —  exxan  niegi;  Notk.  Boeth.  40^  lihint  —  mngin;  41  ^^ 
fas  fuisset  —  maJiti;  89  -^  habere  licet  —  haben  mugen;  122  ^^ 
videas  —  ma.ht  sehen;  153^^  valet  —  mag;  173  ^^  licet  —  mag; 
200  "-'■'  habent  volcndi  iiolcndique  natiiram  —  mugen  iiuelleii  unde 
neuuellen;  Mcp.  696  ^  conveniret  accipere  —  nemen  inahti;  MSD  54,  12 


38  KAHL 

quomodo  sc  dicit  —  uueo  mag  sin;  10,  14  undc  hahes  —  itudr  mcdü 
thu  nemmi:  vgl.  auch  Denecke  Gebrauch  des  inf.  bei  den  ahd.  Über- 
setzern des  Till,  und  IX.  Jahrhunderts  s.  9. 

Der  nunmehr  folgenden  darstellung  der  syntax  des  ahd.  mögen 
legen  wir  folgendes  schema  zu  gründe.  Wir  behandeln  I.  den  absolu- 
ten gebrauch;  II.  die  transitiven  anwendungen,  die  sich  in  der  casuel- 
len  oder  präpositioneilen  anknüpfung  eines  objekts  an  niafi  kundgeben; 
IIL  die  iniinitivconstruktion  bei  mag.  Unter  IIL  stellen  wir  zunächst 
a)  die  fälle  zusammen,  in  denen  })iag  valcre  entspricht;  dann  b)  die- 
jenigen, in  denen  es  die  blosse  fahigkeit  und  möglichkeit  zum  aus- 
druck  bringt,  =  possc;  c)  im  anschluss  hieran  finden  die  beispiele 
erwähnung  und  erklärung,  die  uns  mag  als  Übersetzung  eines  lat.  licet, 
fas  est  u.  dgl.  zeigen;  d)  in  einem  folgenden  abschnitte  weisen  wir 
nach,  dass  mugoi  im  ahd.  nicht  auf  persönliche  Subjekte  beschränkt 
ist;  von  persönlich  gedachten  subjecten  gelangen  wir  bis  hinunter  zu 
ex,  als  dem  träger  eines  magan;  der  mangel  an  coucreter  bestimtheit, 
der  sich  in  einem  ex.  mac  ausspricht,  leitet  über  zu  den  fällen  e),  in 
denen  mac  c.  inf  nur  eine  Umschreibung  des  einfachen  verbum  fini- 
timi  ist;  gesondert  hiervon  ist  endlich  der  gebrauch  desjenigen  tnac 
c.  inf  zu  behandeln,  das  zum  ersatze  eines  conjunktivs  f)  und  des 
futurums  g)  dient. 

I.     Der  absolute  gebrauch  des  ahd.  "mag 

ist  sehr  selten:  mir  sind  nur  folgende  beispiele  bekant:  MSD  60,  15 
in  des  uniUioi  er  sih  gatrüeta  magan  {cuius  voluntate  credidit  se 
2)0sse);  Ben.-K.  39,2  ferist  megi  =  praevcdet.  —  gimitgen  steht  absolut: 
Xotk.  Ps.  140,  7  imanda  dei  gemähten.  In  den  meisten  fällen  handelt 
es  sich  bei  alleinstehendem  mag  um  eine  ellipse,  so  Xotker  Boeth. 
46^4:  so  sie  gedrungenost  maliton;  Ps.  118,  13  edle  nemahta  ih  (sc. 
Urnen):  Ps.  8,  3.    37,  7. 

Der  infinitiv  fehlt  besonders  dann,  wenn  es  sich  um  ein  verbum 
der  bewegung  handelt:  hier  genügt  die  angäbe  der  richtung:  MSD 
13,  20  ne  megih  in  nohhein  lant;  Otfr.  Y,  10,  6  nnanta  furdir 
ihn  ni  mäht;  Notk.  Ps.  119,  2  ferrer a  denne  du  7negist 

IL     mag  mit  einem  objekte   (iinaz,  daz,  all  u.  dgl.) 

1)  c.  acc.  MSD  60,  2  tä  mac  dix;  17  daz  mac;  20;  22  da.z  neo- 
man  mac  in  Paulo,  daz  mac  xa  nudre  in  trühtin  =  quocl  nemo 
j)otest  in  Pauh,  hoc  potent  in  domino:  vgl  got.  IL  Cor.  13,  18; 
Phil.  4,  13.  3ISD  82,  11.  19  negimahta  nieht;  91,106  so  siez  verröst 
gimugin;    109  übe  ih  ez  gimac.     Murb.  H.  20,6  iiuaz  diu  maJc  höhira; 


KÖNNEN    UND    MÖGEN   IM    ALTD.  39 

Tat.  92,  4  oba  ihn  laiax  mugis;  Otfr.  lY,  31.  33  cdJa-,  itharmag. 
Notker  kent  nur  das  compositum  (jimuijoi  c.  acc:  Boeth.  53  ^^  rhe- 
torica  ganag  micheliti  duig;  80^2  mvr;  107'  dax;  174^.  185^. 
1982.  2W  al;  233^;  Mcp.  781 1'^  fih  grwng:  Ps.  118,  93.  Nur 
einmal:  Ps.  14,  4  haben  die  AViener  und  AVessobrunner  hs.  nieht  ne- 
viühta;  der  cod.  St.  Gall.  nicht  negemahia. 

2)  c.  gen.  Xotk.  Boeth.  23Q ^'-^  sih  fernntgoi  s/ncs  la)igcs;  248 1'' 
fermahta  er  sih  rufgoiucs. 

3)  c.  dat.  Tat.  80,  3  gimugen  in  (siifficiH)tt  eis);  Notk.  Ps.  7,  3. 
60,  4  er  gemag  mir  (liat  gewalt  über  mich);  88,  23  nicht  ncmag  imo 
der  fient  (vgl.  Lachmann  zu  Nib.  785,  1). 

4)  c.  praep.  Tat.  24,  3  .\i  niouuihtci  nimag  ix  elihor;  90,  3 
)ii  gimugun  iiuidar  int  (non  prcievalebiDit  adversus  eani). 

III.     mag  c.  infin. 

a)  miigen  =  v alere. 

Ich  beschränke  mich  auf  eine  auswahl  von  stellen: 

MSD  3,  57  (Musp.)  dar  nimac  mäc  hclfan  vora  deme  muspille. 
3,  83  imo  ntaii  hipdgan  ni  mak;  9,  2  giuualt  duz  er  mac  ginc- 
rian;  86  C  1,  11  der  so  Iduucdtic  uuas  duz  er  stnan  pichordre 
firsenehi)i  mähte. 

Tat.  38,  3  mag  xtiogionhhön  (=  got.  Mtth.  6,  17  viag  anaaukan) ; 
108,  2  ih  ni  mag  grahan  (fodcre  non  valco) ;  189,  3  qnedentan 
mngan  xiuucrfan  got  es  tempal;  205,  3  sih  sclbon  ni  mac  er  heil 
tiion:  236,  4  ni  mohtun  xiohan   =   non  vcdetmnt  trahere. 

Otfr.  I,  23,  47  got  mag  thcse  kisila  irqidgken;  A^,  7,  35  ni  meg  ih 
tliax  irkohoron  vgl.  Y,  23,  1. 

Notk.  Boeth.  141  ^  ncmugcn  siu  aber  gcleistcn  =  valent  efficere; 
153  ^'^  7nag  chuningo  geivcdt  —  mahtigc  gctdon  =  valoit  efficere 
potentem;  162^'  nemugtn  dara  follcleiten  (perducere  valeant) ; 
Mcp.  753  -"  linde  den  adamas  nioman  ferbrechen  ncmag;  Ps.  35, 
13  an  demo  fuoxe  nemahton  si  gesten;  40,  4  so  er  föne  unchrefte 
ur  firsten  ncmag;  146,  9  er  niieix  die  starchen  dia  daz  keime 
magcn.  Ebenso  MSD  9,  5.  55,  3.  4.  65  II,  5.  67,  30.  Isid.  lY, 
b.  8.  Tat.  30,  4.  44,  19.  46,  2.  88,  10.  Otfr.  II,  22,  23. 
Notk.  Boeth.  7H    l^K 

b)  miigen  =  posse. 

Es  wäre  ein  zweckloses  unternehmen,  alle  die  stellen  anführen 
zu  wollen,  in  denen  mag  c.  inf.  posse  entspricht;  d.  h.  die  objective 
möglichkeit  bezeichnet.     AYir  dürfen,  ohne  uns   der  gefahr    der  über- 


40  KAHL 

treibuiig  auszusetzen,  behaupten,  dass  schon  im  ahd.  der  Infinitiv  eines 
jeden  verbums,  welches  auch  sein  eigentümlicher  begrifsinhalt  sein 
möge,  zu  diesem  moii  adverbial  hinzutreten  kann.  Icli  begnüge  micli, 
aus  MSD  eini2:e  der  hierlier  irehöri2:en  Infinitive  aufzuzählen  und  zu 
rubricieren.     Der  infinitiv  bezieht  sich 

1)  auf  eine  geistige  tätigkeit:  ^[SD  3,  94  arliiHian;  13,  5  in 
gcdancliun  f/ifmaHchnff;  54,  8  farstüKtot :  61,  28  qiiidcni;  72,  40  Iw- 
uemnjan;  82,  7,  3  uuiwoi;  82,  12,  2  iji^clmn;  83,  7  })U)nt(ui;  86  C,  7 
irchcnni)!. 

2)  auf  körperliche  Verrichtungen  u.  dgl.:  82,  3,  2  f/croh/rN; 
83,  18  (fc/f;  83,  53  gcrilitcti;  85,  17  iscadoi;  86  B  3,  34  hei  mir  clionicn. 

3)  passive  infinitive  liegen  A^or  in:  4,  3,  7  ;ia  scediii  uuerdcut; 
56,  101  heil  nucsa)i;  ^'o^  13  vundaii  iiucrthcm;  79,  220  kcJmIten 
uucrdcn;  82,  3.  9  (jeseidn  UKcrdiu;  86 B  1,  5  Irfidlit  nucrdcn;  86  A 
4,  10  firbrcfitfct  uucrdcn. 

Es  wird   ein  leichtes  sein,    diese   belege   aus    der   ahd.  litteratur 

beliebig  zu  vermehren.     Ich  möchte  noch  darauf  hinweisen,  dass  einige 

mal  lat.  adj.  auf  -hilis  durch  mugot  c.  inf.  umschrieben  werden.     Em- 

mer.  gl.  (Pez.  I,  402)  passibilcm  =  martra  dolen  marjcn;  MSD  80,  13 

huic  exorahilis  =   icr  ma(j  horsko  gehetön;    !N'otk,  Boeth.  397  ^^  su- 

sceptibilis  est  =  inphahen  mag;  397  ^.  —     Ps.  118,  54  cantahilis  == 

dax  ich  sie  singen  mahia.   —    Die  AYindsberger  psalmen   (s.  564  Gr.) 

bilden  an  dieser  stelle  sanclich;    vgl.  auch  Notk.  Boeth.  174  -^  perspi- 

cua  est  =  mag  sehen. 

c)   mag  =   licet  u.  dgl. 

Schon  oben  wiesen  wir  bei  gelegenheit  zweier  stellen  des  Hei. 
darauf  hin,  dass  im  ahd.  mag  neben  jenen  bedeutungen,  welche  wir 
oben  besprochen  haben,  noch  einige  andere  Liegen,  die  sich  durch  eine 
stärkere  bezugnahme  auf  das  Subjekt  auszeichnen,  als  sie  sonst  dem 
algemeinen  begriffe  der  möglichkeit  zueignet,  mag  kann  im  ahd.  auch 
heissen : 

1)  es  steht  mir  frei;  ich  kann,  Avenn  ich  will; 

2)  ich  habe  Ursache,  veranlassung. 

"Wie  haben  Avir  uns  diese  bedeutungsnüancen  zu  erklären?  Die  mög- 
Uchkeit  einer  handlung  kann  in  umständen  wurzeln,  die  den  persön- 
lichen eigenschaften  des  Subjekts  oder  den  Verhältnissen  der  äusseren 
Wirklichkeit  entstammen;  für  den  ausdruck  dieser  arten  der  möglich- 
keit ist  mugen  bestimt. 

"Wenn  nun  angegeben  werden  soll,  dass  zwar  die  äusseren  und 
inneren   faktoren   vorhanden  sind,   Avelche   durch   ihr  zusammemvirken 


KÖNNEN    LND    MÖtiEN    IM    ALTD.  41 

die  befall igung  des  Subjekts  und  damit  die  niögliehkeit  der  liandluug 
constituieren,  dass  aber  gleicliwui  das  subjekt  die  unumschränkte  frei- 
heit  seiner  entschliessung  sich  bewahrt,  dass  es  in  keiner  weise  einem 
niJtigenden  eintlusse  jener  umstände  unterliegt,  so  entwickelt  sich 
daraus  der  betriff:  ,, ich  bin  zwar  bctaJiig-t  zu  einrr  tätigkeit,  aber  es 
steht  in  meiner  band,  ob  ich  die  tätigkeit  aus  der  mit^licldvcit  in  die 
Avirkliclikeit  will  übergehen  lassen."  Wir  haben  es  hier  also  mit  einer 
besonderen  art  der  möglichkeit  zu  tun:  derjenigen,  welclic  dem  subjectc 
keinen  zwang  auflegt,  ihm  die  freiheit  der  selbstentscheidung  belässt 

Auf  der  anderen  seite  kann  nun  der  fall  eintreten,  dass  die  fak- 
toren  der  mr)gliehkeit  mehr  tun  als  die  nirtglichkeit  bedingen.  AV^'un 
wir  Otfr.  I,  18,  11  lesen:  tha\  mufjun  inn'r  io  ria\an,  so  ist  damit 
nicht  ausgedrückt,  dass  uns  die  fähigkeit  zu  klagen  innewohnt;  Otfried 
Avill  Yielmehr  sagen,  dass  der  verliist  des  paradieses,  unseres  heimat- 
landes,  von  dem  an  jener  stelle  die  rede  ist,  uns  gewissermassen  auf- 
fordert zu  klagen,  der  anlass  unserer  trauer  ist  Auch  liier  tritt  also 
nur  eine  seite  des  algemeinen  begriffes  der  mr)glichkeit,  jedoch  schär- 
fer und  bestirnter,  hervor.  Nicht  g'cnug,  dass  die  möglichkeit  überhaupt 
vorhanden  ist:  die  umstände,  denen  sie  ihre  existenz  verdankt,  sind 
zugleich  so  eigentümlicher  natur,  dass  sie  an  uns  das  ansuchen  stellen, 
die  möglichkeit  zur  Wirklichkeit  zu  gestalten. 

1)    Beispiele  für  mag  =  licet,   es  steht   mir  frei. 

MSD2,  55  (loh  i/iaht  da  nu  aodliclio  —  Iniisti  (jeiminnan;  Fragm.  tlieot. 
XI,  3  odo  ni  mac  daz  ich  uuillu  tiiocn  =  mit  non  licet  mihi  qiiod 
i'olo  facere? 

Otfr.  I,  23,  18  so  thu  thir  thar  lesan  mahl;  ebenso  II,  3,  11;  3,  29; 
III,  14,  51;  IV,  5,  60;  6,  2;  15,  59;  33,  21.  —  II,  9,  90  ms  mäht 
fhih  cd  hithoihDt;  L.  44  sclbo  inaht  ix.  Icsan  thar;  II,  24,  2;  V, 
13,  3;  H.  38. 

Notk.  Boeth.  40  "^  uuax  si  getüen  mmjin  (libiiit) ;  41  ^^  i\  nemahti 
nioman  anderro  gitnon  (fas  fidsset) ;  89-^  den  manige  liaben  nemu- 
gen  (licet);  173 ^^  samolih  mag  ih  sagen  (^  similiter  licet  rafio- 
ciuari) ;  195 ^'^  mag  ih  paldo  festenön  (licet  conclndere) ;  200 -"•  lin 
nafürlicho  mugen  iiueUen  unde  ne  imellai  ((jaae  hahent  aliqnam 
volciidi  liolendique  naturam) ;  Mop.  696"  uuelicJia  er  ncman  mahti 
(quam  conveniret  accipere). 

2)    mag  =  ich  habe  Ursache. 

MSD  3,  6  sorge) i  mac  diu  scla;  3,  23  so  mac  huckan  xa  diu,  sorgen 
drdto;  91,  239  dax  ich  innigliclio  hiiceinon  —  miige. 


42  KAHL 

Otfr.  I,  18.  4  ich  nicc]  i\  hho)i  harto  (vgl.  lüerzu  Erdmann  Unter- 
suchungen usw.  I.  18  gegen  Grimm  Gr.  lY,  80);  I,  18,  11  ihaz 
mugiDi  Huir  io  ria\an:  11,4,  77  ///  niaci  i\  uuoJa  nikJa)) ;  IV,  12, 58 
ih  m€(i  i\  haJdo  sprcchau:  Y,  9,  20  ihax  nnigtDi  uidr  iamcr  nueinon. 

Notk.  Boeth.  102^  iar  mcuj  mau  mm  Urnen  udc()ritat€m;  184  ^  tiu 
ff  er  uiiort  nuujoi  uuir  —  dinfcn;  Categ.  868  ^-  sie  mag  man  hede 
hci\in  honio  undc  aninial. 

d)   7nag  mit   unpersönlichem  Subjekte. 

Es  Avar  interessant  zu  beobachten,  wie  langsam  der  unpersönliche 
frebrauch  von  können  im  altdeutschen  sich  bahn  brach.  Yor  dem  XII. 
Jahrhundert  war  die  Übertragung  von  hnnucn  auf  ein  sächliches  Sub- 
jekt oder  gar  auf  c\  nicht  nachweisbar;  wir  konten  noch  mehrere  Zwi- 
schenglieder aufzeigen,  av eiche  die  vermitlung  zwischen  dem  persön- 
lichen und  unpersönlichen  können  gebildet  haben.  Anders  ist  dies  bei 
mag!  Die  objektive  möglichkeit  kann  für  eine  sache  ebenso  gut  ein- 
treten wie  für  eine  person:  von  einer  befähigung  darf  man  hierbei 
freilich  kaum  sprechen;  es  handelt  sich  darum  auszudrücken,  dass 
gewisse  umstände  der  Verwirklichung  einer  handlung  günstig  sind 
oder  nicht,  und  somit  für  dieselbe  ein  mngen  oder  nemngen  herbeifüh- 
ren. Die  ersten  beispiele  für  mugen  mit  sächlichem  subjekt  und  ez 
lassen  sich  im  ahd.  bei  Tatian  nachweisen. 

1)   nuigen   mit  sächlichem  Subjekt. 

Tat.  25,  1    ni  mag   bürg  uiierdan  giborgan;    184,  8  inti  ni  mac  daz 

giscrib  xilosit  iinerdan;   164,  3  Uküi  iliisiu  uiieralt  intfdhan  nimac; 

167,  3  da^   inii)doub    )ii   mac   beran  iinahsmon  fona   imo  sclbemo; 

240,  2. 
MSD  79A  119  irmcxxen  undc  bcgrifen  neniag  in  nehein  sin;  81,  26 

taz  ist  libhafte  (animal)  daz  sich  riierin  mag. 
Notk.  Boeth.  10  ^•'^.  30^*^  imprudentia  nemog  mih  bringen  ze  demo  scnl- 

digen;     49  ^^    stcrnen    nemngen    skinen;     65  ^-    sprächö    unde  ding 

ncmugen  dne  sfrif  nicht  u'crdcnt;    81^  so  mugen  anchorae  gestäten 

daz  skef;  Sl  ^\    92 1^    102 '■.    147  ^l    154 '^i  usw. 

2)  ez  7nac  c.  in  f. 

Tat  17,  3  fon  Xazareth  mag  sih  uuaz  guotes  iiuesan;  119,  5  vaio 
mrignn  thisn   (haec)   nnesan;  181,  1  ob  iz  unesan  Tnohti. 

Otfr.  I,  25,  5  mdo  mag  sin?  vgl.  I,  27,  58.  II,  3,  7.  II,  7,  46. 
lY,  11,  26.  Y,  7,  21  mag  mih  gelüsten  uueinonnes;  Y,  18,  13  iz 
mag  ans  tiuesan  dräti;    Y,  19.  36   queman  mag  uns  thaz  in  muat. 


KÖNNEN    UND   MÖGEN   IM    ALTD.  43 

Notk.  Boeth.  61'-''  (la\  imo  scunolih  hrshchoi  niahti ;  95-^  im  ncmaij 
aber  des  nieJit  sin;  DD-  (ln\  imo  lichcsta  Diugc  sin:  103 --  iniaz 
niai)  —  (hnnic  liehen;  121-^  )na(j  keskchen;  136 1-*  nuio  meiy  sin; 
vgl.  211^.    114^.    149 1^    160  2«.    180 1». 

e)   nniij  c.   in  f.   =   v  erb  um  finituni. 

Der  impersonelle  gebrauch  von  mnijeii  lässt  uns  darauf  schliessen, 
dass  schon  im  ahd.  die  logisclie  kraft  des  verbums  mmjen  bedeutend 
abgenommen  hat:  frühzeitig  ist  das  ahd.  nunj  zum  hülfsverbum  lierab- 
gesunken. 

Schon  aus  dem  anfang  des  IX.  jalirhunderts  können  Avir  fälle 
nachweisen,  in  denen  nunj  c.  inf.  nur  die  geltung  des  einfachen  ver- 
bnm  hnitum  hat,  wie  uns  die  lat.  übersetz ungs vorlagen  zeigen  kön- 
nen. Xun  kann  zwar  nicht  geleugnet  werden,  dass  in  manchen  der 
beispiele,  die  wir  unten  anführen  werden,  mcnj  wol  nicht  ohne  absieht 
vom  deutschen  Übersetzer  hinzugefügt  worden  ist  und  deshalb  bei  der 
erklärung  nicht  ohne  weiteres  auf  die  seite  geschoben  werden  darf. 
Allein  man  wird  doch  zugeben  müssen,  dass  dies  mcnj ,  wenn  man  ihm 
noch  eine  individuelle  bedeutung  zugestehen  will,  jedenfals  recht  schwach 
und  inhaltsarm  ist  und  von  dem  alten  mcujeni  =  layveiv  durch  eine 
tiefe  kluft  getrent  ist. 

MSD  10,14  laietr  niaht  thn  (jiiot  )nan  neman  qneepriDnmn  =  tinrlc 
ergo  hahes  aqnam  vivemi? ;  10,  27  des  Dmldlin  siehure  sin,  =  hoc 
vere  dixisfl;  10,  28  deix  thil  mäht  foraseigo  sin  =  qina  propheta 
es  tu;  54,  12  nueo  meig  er  christäni  sin  —  quornodo  se  ehristia- 
mnn  dicit;  80,  5  so  meui  einen  stupf  ketuo)i  mag. 

Tat.  45,  4  ihiu  hihcihen  mohtun  einerö  giuuelih  xuei  mex  odo  thriu 
(ccipientes  singulae  metretas  hineis  vel  ternas) ;  240,  2  nudniu  the- 
san  mittilgart  bifdhan  rnrigan  ^-  arhitror  mundu?n  capere  eos. 

Otfr.  lY,  14,  15  thiu  mugun  urhundon  sin. 

Notk.  Boeth.  124 '^'  ^luaz  mag  stcircheren  sin  eul  persueidendinn  dcinne 
daz  lob  ist;  135 -"^  tax  nenieihti  nicht  snieihe  sin  =  neque  cnim  vile 
qiiiddeim  est;  Ps.  24,  19  ih  iro  destc  uuirscren  trost  haben  mag. 

f)  mag  c.  inf.   ersezt   den  conjunctiv. 

Dem  conjunctiv,  mag  er  nun  im  besonderen  als  optativ,  jussiv 
(adhortativ),  potential  oder  wie  auch  sonst  immer  aufti'cten,  ist  es  eigen, 
einen  „mangel  an  objektiver  tatsächlichkeit"  zum  ausdruck  zu  bringen. 
Ebenso  schlicsst  aber  jede  möglichkeit  einen  mangel  an  Wirklichkeit  in 
sich ;  es  haben  daher  „die  kategorien  der  möglichkeit  und  fähigkeit  eine 


44  KAHL 

verwantsehaft  zu  der  diuch  den  eonjunctiv  bezeiehneten  der  verringer- 
ten realität  oder  negativität"  (Bock  QF.  XXYII,  15).  Von  diesem 
gesichtspnnkte  ans  haben  wir  es  zu  beurteilen,  wenn  im  alid.  nicht 
selten  ntac  c.  inf.  da  steht,  wo  wir  eine  conjunctivform  des  verb.  fin. 
erwarten  oder  gar,  wo  das  lat.  original  sie  bietet.  Mitunter  wechseln 
innerhalb  desselben  Satzgefüges  der  eonjunctiv  und  ein  indicativ  von 
iliugcu  mit  Infinitiv,  z.  b.  Otfr.  V,  23,  37  thoh  inio  ahuucrtax  st  ni- 
tffog  ouh  üiii  ihcn  ONf/o)i  \i  (faiinuncrtix  scoukoh:  vgl.  IV,  19,  25/6. 
Als  beispiele  für  den  ersatz  des  conj.  durch  mac  c.  inf  fülirt 
Erdmann  (Untersuchungen  usw.  s.  36)  an: 

^ISD  10,  1^8  hrrro  in  ihir  aunjic  sein,  da\  ihü  mäht  fomsago  sin; 
Otfr.  n,  14,  55  ffiifi  niuat  —  dtiai  viih  iris,  tliax  flut  forasago 
sis  (vgl.  MSD  s.  294).  Wir  haben  die  stelle  MSD  10,  28  schon  oben 
unter  den  fällen  aufgezählt,  in  denen  }nac  c.  inf  =  verb  fin.  steht. 
Otfr.  Y.  23.  1  steht  im  nachsatze  viag  einem  conj.  praet.  des  con- 
ditionalen  Vordersatzes  gegenüber:  imoU  ih  hiar  nu  redi)W)i,  ni 
mag  i\   thoh  irhohoron. 

Die  verti'etung  des  conj.   in   optativem   sinne   durch   Diag  kann 
ich  aus  dem  ahd.  nicht  belegen;  doch  möchte  ich  hierher  stellen: 
Notk.   Mcp.  760  -   tia  mahtist   til    gcnio    seilen    glixenta    ((piam    et 
eonspicere  nitentem  velles). 

Der  jussiv  liegt  vor  in:  Otfr.  I,  26,  6  Inar  ntag  er  lernen  = 
hiar  lerne  er  (Erdmann  s.  36);  lY,  26,  24  ia  mag  ix  got  erljarmcn. 
AYeit  häufiger  wird  der  potentialis  durch  mac  ersezt.  Das 
wesen  des  potentialis  hat  Erdraann  (1.  c.  s.  16)  zutreffend  folgender- 
massen  beschrieben:  „In  einer  beschränkten  anzahl  selbständiger  con- 
junctivsätze  ist  die  subjectiv- begehrende  erregung  des  sprechenden  ab- 
geschwächt, da  kein  Interesse  desselben  am  satziuhalte  hervorgehoben 
wird.  Was  dieser  eonjunctiv  mit  dem  wünschenden  und  auffordernden 
gemeinsam  hat,  ist  die  Vorstellung  des  redenden,  dass  das  eintreten 
nicht  jezt  wirklich  statfindet,  sondern  algemein,  d.  h.  nicht  zu  einer 
bestirnt  ins  äuge  gefassten  zeit,  sondern  überhaupt  zu  irgend  einer  zeit 
statfinden  könne,  d.  h.  möglich  sei."  Man  ersieht  daraus,  dass  das 
hülfsverb,  dem  die  function  zukomt,  die  möglichkeit  auszudrücken, 
nämlich  mugen,  in  ganz  besonderem  masse  geeignet  erscheint,  den 
conc.  potentialis  zu  vertreten.  Bisweilen  wird  bei  diesen  Vertretungen 
mugen  selbst  in  den  eonjunctiv  gesezt.  Hierüber  hat  sich  Holt  heu  er 
(Zs.  f.  d.  ph.  erg.  166)  so  ausgesprochen;  „Ohne  das  hülfsverb  würde 
der  coniunctiv  stehen,  mit  dem  hülfsverb  steht  der  satz  im  indicativ: 
es  umschreibt  also    den    modus.      Die    spräche   geht   aber   noch    einen 


KÖNNEN   UND   MÖGEN   IM   AiTD.  45 

schritt  weiter.  Sie  sezt  auch  das  hiiltsverb  in  den  modus,  den  es 
eigentlich  umschreiben  soll,  und  es  enthält  der  satz  so  die  modale 
beziehung  in  der  tat  doppelt  ausgedrückt."  —  Beispiele  für  inac  c.  int". 
=   conj.  potent,  sind: 

MSD13, 12  uuie  nidlitih  dir  iulruuiaii  (et  quo  a  farle  tuet  fu(jiam); 
54,  13  odo  um  mac  der  furi  audra  dcrd  calaupd  putyco  a//t  (cd 
quoinodo  j)ro  alio  fidci  spousor  vxistat). 

Otfr.  I,  4,  55  uulo  uu(j  ih  auiwan  tJuinnc;  Y,  25,  3Ü  uurs  inaj 
ih  fergo)(   uwra. 

Notk.  Boeth.  9G  ^''  iolö  sin<)C)i  vudfli.st  (ccuitarcs)-^  i'll  ^"'  h)  inalit 
ena  sehen  =  itaque  Ulatn  videas;  108^  uues  nuuj  ih  mi  diycu 
(quid  i)nprcccr) ;  224  ^^  uuer  maij  uuinneshcfte  scaffunga  (jetuan 
=  quis  legem  det  cuuaiäibus;  102  ^^  nua:.  uiag  ilt  rachöit  (quid 
disseraiu) ;  113^  aide  laiax  mag  —  Itaben  (aut  quid  habeat). 

Im  gefüge  des  zusammengesezten  satzes   begegnen   uns   folgende 
Vertretungen  des  conj.  durch  mugen: 

1)  Relativer   nebensatz. 

Eragm.  theot.  III,  1    liuueo  sie   inan   forleosan  mahtin    (quomodo 

perderent). 
Tat.  231,  1    iha\   man  exxan  uiegi    (quod  uianduceiur ;    Par.  fragm. 

Zs.  f.  d.  a.  XYII,  74  manducetis). 
Notk.  Boeth.  10  -'^  after  dien  man  stigen  maliti  (quibus  esset  ascen- 

sus) ;     46  1^   thar  muot    sulit   insliefen  mag    (per  quod  irrcpjserit 

morbus).      105^^    tie  dien    uuirsisten    mugen   haften    =    quae   sc 

patiantiir  j^f^ssimis  haerere. 

2)  Indirecter  fragesatz. 

Isid.  TL  a  6  uuala  nu,  auh  uues  mac  dhesiu  stimna  iiuesan  = 
age  nu7ic,  cuius  est  haec  vox. 

3)  Absichtssatz. 

Otfr.  I,  2,  55  thax  ih  iamer  —  mit  themo  dröste  megi  sl7i;  IV,  19, 
25  thax  si  mohiin  —  biredinön;  lY,  19,  64  tliax  si  nun  mohtin 
gianabrechon;  Y,  12,  17  tha^  uuir  megin  —  irkennen;  Y,  17,  38 
thax,  baz  sie  mohtin  scouon;  vgl.  II,  22,  3. 

4)  Concessivsatz. 

Otfr.  I,  18,  5  thoh  mir  megi  lidolih  sprehhan  (Kelle  übersezt  die 
ganze  etwas  schwer  verständliche  stelle:  „und  wenn  auch  jedes 
glied  des  leibs  der  spräche  gäbe  mir  besäss,  so  könte  doch  mit 
Worten  nie  mit  diesem  lob  ein  ende  sein);  I,  27,  57  thax  mih  ni 
thunkit,  megi  sin:  vgl.  11,  12,  37;  II,  14,  91;  Erdmann  s.  37. 


46  KAHL 

5)  In  bedinguiig:ssatzen  habe  ich  niNf/cn  -=  conj.  im  ahd.  nicht 
gefunden;  für  das  mhd.  vgl.  weiter  unten  und  Holtheucr  1.1.  s.  165 fg. 

g)   ?nac  c.  in  f.   =  futurum. 

Das  jfiiturum,  das  eine  handlung  aus  der  gegenwart  in  die  Zu- 
kunft, aus  der  Avirkliclikeit  in  die  möglichkeit,  liinausschiebt,  schliesst 
ebenso  wie  der  conj.  einen  mangel  an  realitUt  in  sich  und  tritt  dadurch 
zu  mugen  in  nahe  beziehungen.  In  folgenden  füllen  entspricht  miigen 
c.  inf.  einem  einfachen  futurum: 

Tat.  3,  6  nuo  macj  ihax  sin  =  quomodo  ftct  istiid. 

Otfr.  III,  6,  17  iiiiar  wngioi  uiiir  nu  higinuaji  mit  loufii  brot 
f/cifiiinnati  =  Joh.  6,  5  Ttod-ev  d'/oqaaoLiev ,  iindc  cmcmus;  III,  25,  7 
nuax  wiigu)i  iiuir  —  thcsses  ducni  =  Joh.  11,  47  quid  facie- 
mus:  Tgl.  Tat.  135.  1  miax  duomcs;  lY,  9,  5  uuara  jniigcn  uuir 
nnsili  iiuentcn. 

Xotk.  Boeth.  91^*^  tir  ncmag  tiu  fortuna  dax  nicht  hegeben  (nnm- 
quam  faciet)]  104 1"  mäht  teü  ieht  üxerdreuiien  =  niun  quic- 
qiiam  impcrabis. 

Zur  Umschreibung  des  den  germanischen  sprachen  fehlenden  futu- 
rums  durch  andere  hilfsverben,  wie  seal,  uuillu ,  muax,  vgl.  Grimm 
Gr.  IV,  179;  Erdmann  1.  c.  s.  5  fg.;  meist  hat  das  praesens  die  fank- 
tionen  des  futurums  übernommen  (vgl.  u.  a.  Tat.  135,  1  uuax.  duomes 
=  quid  faciemns). 

Wir  haben  damit  die  syntax  des  ahd.  mvgen,  zum  wenigsten  in 
ihren  haupterscheinungen  erschöpft,  und  können  nunmehr  zu  miigen 
im  mhd.  übergehen. 

§  8.    Mögen  im  inittellioeli(leutsclieii. 

Für  den,  dem  zum  zwecke  der  ermitlung  der  bedeutung  des  mhd. 
hinmen  der  einfache  hin  weis  auf  das  ahd.  niclit  genügt,  schreiben  "wir 
hier  aus  den  oben  (s.  15)  angeführten  vocabularien  folgende  glossen  aus: 

passe  =  mögen  ^  moegen,  mugen  (Diefenbach  s.  449);  valere  =  mu- 
gen  (ebd.  s.  605);  valex  =  miigen,  miigenheit ,  gesuntheit ;  vgl.  aucli 
Diefenbach  Nov.  gloss.  1867  s.  376  s.  v.  vcdcre.  Yoc.  d.  Nig.  Ab- 
bas  ed.  M.  Flohr  s.  68  n.  3911:  possibilis  =  mogelicher;  possihili- 
tas  =  mogelicheit;  3919/20  potens  =  mehtiger;  jjotentia  =  mäht, 
geualt. 

Auch  im  mhd.  treten  uns  also  für  miigen  die  beiden  grundbedeu- 
tungen  posse  und  valere  entgegen. 


KÖNNEN    UND    MÖGRN    IM   ALTD.  47 

Für  den  unterschied  zwischen  hiDuien  und  mugcn  verweisen  wir 
noch  besonders  auf  Weinschw.  1(3-4  idi  kan  icol  triHloi  loide  mac, 
ich  han  hin/ st  iindc  kraft. 

Nicht  selten  erscheinen  kt innen  und  iniKjoi  verbunden:  die  niüg- 
lichkeit  wird  alsdann  gleichsam  von  zwxi  selten  beleuchtet:  intellektuell - 
subjektiv  (kuniicn)  und  physisch -objektiv  (tniff/of).  Heinrich  v.  Yol- 
decke  liebt  diese  Verbindung  ganz  besonders:  vgl.  ^\.  F.  64^''';  Eneit 
572.  1600.  2298.  3394.  4986.  5335.  8673.  10374.  10559.  11414;  vgl. 
ausserdem:  Will.  141,  14;  Wolfr.  Willi.  263,  2;  G.  Trist.  62  •'^=^. 
Klage  123.  259  CD;  Leyser  pred.  29,  33.    65,  41.    83,  39.    90,  12. 

Bei  der  nun  folgenden  darstell ung  der  syntax  des  mhd.  mugcn 
behalten  wir  das  schcma  bei,  nach  dem  wir  oben  das  ahd.  vniym 
behandelt  haben  und  sprechen  daher  vom: 

I.     Absol.  gebrauch  des  mhd.   mugen. 

Der  absol.  gebrauch  von  mugen  ist  im  mhd.  nur  an  wenigen 
stellen  nachzuweisen:  MSD  46,  76  u-and  ivir  an  dich  nine  mugen; 
Gen.  55,  9  sl  sprachen  da^.  er  wol  mohte  (nach  Diemer  =  dass  es 
ihm  wohl  gehe);  130,  18  ivolde  uaren  ze  sincn  geslachte  eridnden  wie 
ex.  mohte;  M.  F.  197  ^^  oive  leider  ich  enmac;  Walth.  35^  er  mac,  er 
hat,  er  tuot;  weitere  belege  s.  Mhd.  w^b.  II,  4b  (myst.  131,  2  ist  dort 
falsch  citiert!)  und  Mhd.  hwb.  I,  2219. 

Meist  liegt  da,  wo  mugen  allein  steht,  eine  ellipse  vor:  so  z.  b. 
MSD  33  F.  20;  Hpts  Hl.  17,  17;  Heinr.  v.  M.  Pr.  301;  Roth.  121. 
1775.  4865;  M.  F.  16  24.  48^0.  172^7;  Eneit  4986.  5335.  10559. 
11414.  13045;  Wolfr.  Parz.  193,  28;  Wilh.  17,  7.  96,  11.  G.  Trist. 
1115.  25116.  xjlr.  Trist.  569^7;  Nib.  1766,  4.  2081,  1;  Klage  121 
da  lie  siz  (siz  gen  BCDIh)  als  ez  mohte.  Gudr.  846,  1.  1347,  3. 
1563,  1;  Walth.  58 1«.    91 1«;    Frid.  3,  25;    Nie.  Jer.  1,  172. 

Der  Infinitiv  eines  verbums  der  bewegung  ist  zu  ergänzen:  G. 
Trist  24  22.  54417.  ^ib.  576,  2;  Gudr.  734,  4.  1463,  2;  (vgl.  oben 
s.  16). 

n.     mag  mit  einem   objekte. 

Die  meisten  hierher  gehörigen  beispiele  beziehen  sich  auf  eine 
ausdrucksweise,  die  unserem:  „was  kann  ich  dazu,  dafür*'  u.  dgl.  ent- 
spricht (vgl.  Lachmann  zu  Nib.  785,  1;  Kl.  sehr.  I,  191;  Zarncke 
Mhd.  wb.  II,  4b  u.  fg.). 

M.  F.  72^3  desn  mac  ich  niet;  171 2s  waz  mac  si  des. 

Wolfr.  Parz.  271,  3  ivaz  mohte  si,  sivaz  ir  geschach. 


48  K-MIL 

G.  Trist.  250 1^  der.  f\^f  ir  art:  wer  niac  des  iht?  446-^  wer  mag 
im  dirre  hliatheU  iht?  Ulr.  Trist.  543  ^^  ica\  duuj  ich;  557  ^^ 
icax  inoJite  ich. 

AValtli.  62--.  89 ^"^  der,   icJi  es  niene  nute  (vgl.  Wilmanns  aiim.). 

Küiir.  Gold,  sclim.  1094  irer  mae  im  defuie,  oh  er  c/eleit  tvirt 

Bon.  37,  45  wer  //icu/  i})i  des? 

Anderer  art  ist  der  accusativ  in:  M.  F.  180 ^^  dem  ist  nie  also, 
da\  ich  hü\  niene  niac;  Hartni.  a.  H.  125G  icider  den  nioncrn  iiieht 
cnmac:  Er.  2679;  Greg.  3499.  Hugo  v.  Langenstein  Mart.  266*=,  61 
och  ist  fri(/er  muot  f/ec/eben,  der,  er  (j not  nnd  nhil  niac.  Gudr.  1190,  1 
wir  tnon  swa\  wir  geniüijoi  (diese  stelle  für  (jeniihjcn  [vgl.  got.  Gal. 
5,  6  uailtt  (janunj  =  hr/ko]  fehlt  Mhd.  "wb.  II,  8''  und  Lexer  I,  848. 
Bei  Hartm.  Greg.  2906  und  Er.  8319  scheinen  mir  formen  von  ma- 
chen, nicht  mngen  vorzuliegen). 

AVie  man  sieht,  ist  die  hinzufügiing  eines  objekts  zu  miajen  im 
mhd.  ziemlich  selten;  sie  ist  auf  bestimte  formelhafte  ausdrücke 
beschränkt. 

III.     niugoi  mit  abhängigem  infinitive. 

a)  miigen  =   v alere. 

Den  gebrauch  von  niiigen  =  valere,  d.  h,  kräftig,  körperlich  fähig 
sein  zu  etwas,  den  das  nhd.  kaum  mehr  kent,  können  Avir  aus  zahl- 
reichen beispielen  des  mhd.  noch  belegen;  wir  verwenden  in  diesem 
sinne  das  compositum  „vermögen",  das  seit  dem  ende  des  mittelalters 
die  funktionen  von  miigen  =  valere  übernommen  hat. 

Bei  der  aufzählung  einiger  beispiele  begnüge  ich  mich  mit  der 
angäbe  der  infinitive,  die  von  diesem  mugen  abhängig  gemacht  werden. 
Will.  58,  18  adversarias  potestates  nider  triben;  142,  9  besldrinen; 
Annol.  681  widirsten;  Hpts  Hl.  116,  31  sich  gerehken;  Heinr.  v.  M. 
Er.  111  erheben;  Roth.  2571  icidirstdn;  M.  R  72  ^'J  ir  kreftea  .  . 
gestemen;  30  ^i.  47-'^.  127  3^\  137 1^  170  ^l 

Eneit  708  gewinnen  met  gewalt;  1258  op  stän;  1852  enteren;  2388 
gestdn  noh  gegän;  2672  gevehten;    4022.  6454.  8846.  9164.  9805. 

Hartm.  Er.  817  mit  kreften  gelegen;  3118  gestriten;  Iw.  6678  ervehien. 

AYolfr.  Parz.  66,  16  getuon  rlterschaft;  124,  4  ab  gexicicken. 

G.  Trist.  48^^  mit  teer  gecristen;  G2^'-'  äf  sinen  vüexen  gestän. 

U.  Trist.  558^  gespringen. 

Xib.  58,  1  mit  geicalte  erwerben;  1010,  2  gegän  CDIh;  1977,  3  er  wand 
in  mugen  twingen  A;  (das  ist  das  einzige  beispiel  für  den  Infinitiv 
des  mhd.  mag:  vgl. Lachmann  zu  1977,3;  die  anderen  handschriften 


KÖNNEN    UND    MÖGEN    IM    ALTD.  49 

haben:    er  wände   in  sohle   iirin(/en  C;    er  mölite  in   iwimfen  B;    er 

rnolit  ertninijen  Ih).     433,  3  niil  Irefte  des  schales  niJtt  ijestdn. 
Gwdr.  94^  4:  solif  er  Ire  ff  e  gewalten;   r)l4,2  sfrrlr  nrdfen;  852,4.  1463,1. 
Frid.  2,  25.    19,  23.    53,  1.    <)?,  5.    175,  13.    09,  14  ericern;  132,  20 

iibencafen. 
Konr.  Alex.  9(30  (jrhrecJicn  üx  der  hende  sin;   974  mit  kraff  —  drnX' 

gewinnen. 
Nie.  Jer.  6,  149  gesidn  —  ///'  de)i  räexen. 

Vax  Berthold  v.  R.  vgl.  Kötteken  1.  1.  s.  117. 

b)  niugen  =  posse. 

Ich  leiste  von  vornherein  verzieht  darauf,  für  dieses  im  nihd. 
ungemein  verbreitete  miwjen  beispiele  beizubringen;  wie  wir  sehen  für 
das  alid.  bemerkten,  hat  jenes  mmjen  fast  jeden  Infinitiv,  er  mag  indi- 
viduell Avie  auch  immer  geartet  sein,  in  den  bereich  seiner  abhängig- 
keit  gezogen:  die  objektive  mögliehkeit  ist  unbeschränkt  auf  alle  gebiete 
geistigen  und  körperlichen  geschehens  ausgedehnt;  joder  mhd.  schrift- 
steiler bietet  hierfür  eine  fülle  von  belegen. 

Monsterberg  hat  in  seiner  verdienstvollen  arbeit  die  mühe  nicht 
gescheut,  die  beispiele  für  dieses  mmjen  bei  Hartmann  nach  der  beson- 
deren art  der  umstände,  welche  jeweilig  die  mögliehkeit  bedingen,  sorg- 
fältig zu  ordnen  und  zu  klassificieren ;  es  gebricht  mir  an  räum  und 
zeit,  dies  lehrreiche  verfahren  auch  auf  meine  beispielsamlung  anzu- 
wenden. 

Wir  gehen  sogleich  zu  einem  weiteren  gebrauche  von  miujen  über. 

c)  mag  =  es  steht  mir  frei,  ich  habe  Ursache  u.  dgl. 
AVir  haben  oben  auf  die  bedeutungsnüancen  hingewiesen,  welche 
sich  aus  dem  ahd.  mugen  entwickelt  haben;  wir  suchten  zu  zeigen,  dass 
die  scheinbar  geänderten  begriffe,  welche  diesen  neuen  arten  von  mugeji 
zu  gründe  Liegen,  nur  verschiedene  selten  des  einen  hauptbegriftes  der 
mögliehkeit  sind.  Das  gleiche  gilt  für  das  mhd.;  zu  den  beiden  bedeu- 
tungen,  die  wir  im  ahd.  beobachten  konten:  1)  ieli  habe  Ursache,  2)  es 
steht  mir  fi-ei,  tritt  hier  noch  eine  dritte  hinzu,  die  auch  dem  ahd. 
nicht  ganz  fi'emd  war:  „ich  habe  recht,  es  ist  mir  erlaubt."  Auch 
auf  diese  bedeutungsvariante  kann  die  erklärung  anwendung  finden,  die 
wir-  oben  für  die  analogen  erscheinungen  im  ahd.  gegeben  haben.  Da, 
wo  mag  heisst:  „ich  habe  ein  recht  darauf,  so  oder  so  zu  handeln", 
sind  die  umstände,  in  denen  die  mögliclikeit  der  handlung  wurzelt,  so 
beschaffen,    dass  sie  mir  nicht  nur  freistellen,    ob  ich   die  mögliehkeit 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.       BD.  XXH.  4 


50  KAHL 

in  ^vil•klichkeit  umsetzen   will    oder  nicht,    sondern   dass  sie    mir  auch 
die  b erecht ig-ung  meines  tuns  ausdrücklich  verbürgen. 

Bei  der  fülle  der  beispiele,  die  mir  für  c)  zu  geböte  steht,  muss 
ich  mich  mit  einer  auswahl  begnügen. 

1)   mac  =  ich  habe  Ursache. 

Dies  niugen  ist  leicht  daran  kentlich,  dass  mit  verliebe  adverbiale 
bestimnuingen  wie  gerne,  icol,  vil,  von  schulden,  Iflite  usw.  zu  inac 
c.  inf.  hinzutreten. 

MSD  32,  1,  IT  da\   mag  ))ian  iciinteran. 
Gen.  2,  6  dax  mugit  ir  gerne  hören;  13,  25. 
Annol.  575  den  man  müge  wir  nu  ci  hispili  havin. 
Hpts  Hl.  20,  13  e\   mugin  Seh  nvl  alle  sprelin.    24,  31. 
Heinr.  v.  M,  Er.  16  er  mac  icol  sprechen;    318.   410.    6G9.    776  du 
malit  ex  ger)i  tuon;  Pr.  527  des  mag  er  sich  immer  schämen. 

Roth.  125  die  du  wol  miigis  senden;  1775  daz  siez  immer  miujen 

Idagen.    1438.  2372.  4128.  4364. 
M.  F.  14  -^  so  mac  er  vil  icol  tr inten;    21  ^  er  mac   wol  froelichen 

leben;    127^^  so   mac   ich   von  schulden  sprechen  tvol;    16'.  60'. 

6120.   66  26,   70  9,   913.   9321,   9734   10932,   1139,   11313,   19(3  22, 

2099. 

Eneit  1588  ir  moget  hen  wale  met  eren  friiinÜike  ane  sien;  1546. 
2258.  2476.  2041  et  mach  mich  bakle  ruoicen;  3694  des  mahtu 
wale  frö  sin;  5036.  5944.  6199.  6771.  7469.  9984.  11774  wir 
7nogen  ons  hosUke  skameii. 

Wolfr.  1.  5,  16  ein  wip  wol  mac  erlouhen  mir;  7,  42  daz  ich  wol 
mac  mit  wärheit  jehen;  Parz.  318,  18  die  man  gerne  m'öhte  schou- 
we7i;  827,  3  daz  mac  wol  zürnen  Kyot;  Wilh.  58,  28  ez  möhte 
etliches  mag  beklagen;  Parz.  136,  14.  561,  11;  Wilh.  463,  16; 
Tit.  118,  4. 

Hartm.  Iw.  26  daz  man  gerne  lioeren  mac;  3993  ich  m,ac  ivol 
clagen;  Er.  6032.  7508  des  mac  ich  icol  erlachen;  weitere  belege 
bei  V.  Monsterberg  1.  L 

G.  Trist  235  ^^  wir  mugen  ez  dne  sorge  län;  349  ^-  ich  mac  icol 
weinen;  106  1.  119  i^.  173^1.  367  2.  466^1.  486^. 

U.  Trist.  502  ^s  wir  megen  von  herzen  alle  icesen  fro;  526  ^5. 
5641. 

Nib.  48,  3  er  mohte  icol  verdienen;  249,  1  ir  muget  in  gerne  dan- 
ken; 935,  1  ir  muget  iuch  lihte  rüemen;  1156,  3  ir  miiget  mich 


KÖNNEN   NUD   MÖGEN    IM   ALTD.  51 

gerne  grüexen;  1184,  4  du  imütt  dich  vreuiroi  balde;  1663,  1  si 
mac  vil  lange  iceinen;  2181,  3  ich  mag  icol  haldr  llagcN  u.  öfters. 

Klage  1021  erschrahtc,  als  er  von  schulden  niahte;  1213  dax  man 
inuner  mcre  da  vo)i  maere  sagen  mac. 

Gudr.  73,1  des  mac  man  verjchoi;  154,  4  dicli  niügen  lohen  balde; 
127,  2.  192,  2.  269,  4.  299,  2.  361,4  des  mohtc  er  sinen  schcrm- 
hnabcn  gcdcuihen;  382,  2.  516,  3.  671,  2.  715,  3  dax  man  ims 
danken  niohfe  von  schidden  ivol  nach  eren;  1473,  2  si  moJite 
balde  hlagcn  usw. 

AValtli.  16  1^  der  treise  kkigen  mac;  38  ^^  icir  mühten  balde  klagen 
von  schulden;  100-"^  der  mac  wol  sorgen;  121  ^^  möhtens  ivol  ge- 
dagen  usf. 

Frid.  8,  24  von  donre  mac  man  wunder  sagen;   49,  4.    56,  13. 

Konr.  Gold.  schm.  539  und  mac  dich  ivol  hediuten;  909. 

"Weinschw.  40  ich  mac  in  ivol  erliden. 

Berth.  881,  10  (Wackern.  leseb.)  die  inöhtet  ir  gerne  an  sehen. 

Bon.  2,  37  her  an  mac  gedenken  wol. 

Kic.  Jer.  15,  19  des  man  mochte  lachin. 

3)  mac  =  es  steht  frei,  licet. 

ynugen   in  dieser  bedeutung  berührt  sich   nicht    selten    mit    dem 
futurum. 

Heinr.  v.  M.  Er.  117  der  mac  tuon  swax  er  icil. 

Eoth.  364  nü  mugider  hören  mere;    5095   nü  mugit  ir  hören  w^ 

er  sprach. 
M.  F.  175 1*^  mugent  ir  michel  ivunder  an  mir  sehen. 
Eneit  3385  alse  du  gesien  onaht;  9390  da  moget  ir  hören  tvonder; 

12966  da  mochte  man  skouiven. 
Wo  1fr.   Parz.  58,  14  hie  miigt  ir   gröz  ivunder    lösen;     123,  1  du 

mäht  hie  vier  ritter  seh^i. 
G.  Trist.  146 1^  ivax  mac  ich  nü  mere  sagen;    175^^.    199 -^^  344  3^. 

260  ^^  ich  mac  wol  disen  geivalt  an  mtnem  vmcle  üebeii. 
U.  Trist.  511  *  swer   vrouwen  walte    schouicen,    der  mohte  da  vil 

schoene  sehen. 
Nib.  1,  4    mnget   ir   nu   wunder  hoeren  sagen:    oft  widerkehrende 

epische  formel:  1062,  1.    1644,  2.   1661,  2.   1873,  1  usw.     Gudr. 

1010,  1. 
Klage  527  du  mäht  noch  manegen  rinden. 
Gudr.  652,  4  so  muget  ir  mich  wol  vrägen;    721,  2  ma7i  mohte 

dax  wol  hoeren. 

4* 


52  KAHL 

Waltli.   18-'*^  (hf  nnfc/cnf  ir  aUc  sci/otiirof   fcol  ein  iniudcr  hi. 
Konr.  Gold.  s(.'lini.  415  da\   man  crhennoi  nmc  da  hi. 
Nie.  Jer.  6,  130  al^  nnin  da  mac  schouwin;  52,  14. 

3)   t)iac  =  ich  habe  reeht,    es  ist  mir  erlaubt. 

Wolfr.  Parz.  48,  3  sl  niohfex  icol  mit  cren  tuon. 

Nib.  63,  3  gcwanl  da\    aho  stohe  recken   mit  cren  miigen  tragen; 

102,  9  dav  )nu(jt  ir  tcol  Diit  rrn  iunn :    673,  4  .9/  ))}ar  mit  eren 

min  neu  des  S.  Up;  usw. 
Frid.  52,  17  der  mac  mit  eren  werden  alt. 
Berth.  902,  1  (Wackern.  leseb.)  sicer   da  spricliet,    ex  müge  dehein 

etnan  In  siner  hiUfroicen  geligen  dne  houbetsimde  usw.  (vgl.  Röt- 

teken  s.  117). 

d)  mac  mit  nicht-persönlichem   Subjekte. 

Über  den  nicht -persönlichen  gebrauch  von  mugen  ist  oben  zum 
ahd.  bereits  das  nötige  bemerkt  worden.  Ich  führe  aus  meiner  bei- 
spielsamlung  nur  belege  aus  früh-mhd.  denkmälern  an,  um  zu  zeigen, 
dass  man  schon  frühzeitig  im  mhd.  kein  bedenken  getragen  hat,  sub- 
stantiva  der  mannigfachsten  art,  concreta  und  abstracta,  endlich  auch 
ex  zu  Subjekten  von  mugen  zu  machen. 

Will.  27,  3  die  dorna;  43,  12  tüha;  55,  9  saeciilaris  actio;  107,  11. 

Annol.  605  predigi. 

Hpts  Hl.  27,  5  unsir  samet  tvesin;  116,  31  diu  sele. 

Heinr.  v.  M.  Er.  87  ?-dt;  830  olbende;  973  ouge;  Pr.  15  künde; 
155  tivel. 

Roth.  654  ros;  1859  mantele;  4908  voxe. 

M.  F.  72^  herxe;  42  25  staete;  43  2^  huote;  53 1  icän;  81  ^  staete; 
8331  icinter;  87 ^  tot;  113  ^  tier;  ll'd^-'  glas;  138 1^  saelde;  1661» 
wunder;  188-^^  hluomen  schin. 

Eneit  1963.  2110.  4296  rät;  7018  torn;  11222  brief;  12097  ros. 
Über  das  impersonelle  ex.  mac  c.  iaf.  ist  wenig  zu  bemerken: 
es  ist  seit  Williram  in  einer  grossen  anzahl  von  stellen  zu  belegen. 
Wie  im  ahd.  zeichnen  sich  auch  im  mhd.  die  Infinitive,  die  adverbial 
zu  ex  mac  hinzutreten,  durch  eine  gewisse  algemeinhcit  und  darum 
auch  unbestimtheit  ihres  Inhaltes  aus;  solche  Infinitive  sind  tverdenj 
sin,  gescheiten,  gän,  irgän  usw.  Von  einer  aufzählung  von  beispie- 
len  für  diese  ungemein  häufig  vorkommende  ausdrucksweise  glaube 
ich  fügUch  abstehen  zu  dürfen;  sie  bietet  nur  das  eine  Interesse,  dass 
sie  uns  mugen  auf  einer  sehr  niedrigen  stufe  seiner  verbalen  functions- 
fähigkeit  zeigt. 


KÖNNEN    UND    MÖGEN    IM    ALTD.  53 

e)   mac  c.   inf.   =   vcrbiim   finitum. 
Wie  im  ahcL,    so  lassen  sich  auch  im  mhd.  eine  reihe  von  fällen 
beobachten,    in  denen  miiyen^    eigener  bedeutiing  fast  ganz  baar,   pleo- 
nastisch   und   das  einfaciio    verbuni    umschreibend,    zum    infinitiv    hin- 
zugefügt wird:    dieser  gebrauch   lässt   miificn  vollends  als  hülfsverbum 
ei*scheinen.      Oft    dient    inuijeii    hier    dem    ausdrucke    der   gemilderten 
behauptung;    die  zuversichtlichkeit,  welche  in  den  indicativformen  sich 
ausspricht,    wird   dadurch  gemildert,    dass  man   die   handhmg    aus   der 
direkten  Wirklichkeit  in   die   mögiichkeit  hinausschiebt:    dies  geschieht 
dadurch,  dass  man  das  einfache  verbum  durch   mac  c.  inf.  umschreibt. 
Es  ist  klar,  dass  j/ntr/en  in  dieser  an  Wendung  jenem  nnigen  sehr  nahe 
komt,  welches  im  verein  mit  dem   abhängigen  infinitiv  den  potentialis 
ersezt;  es  hält  oft  schwer  zu  entscheiden,  ob  ein  solches  mac  c.  inf.  nur 
die  geltung  des  einfachen  verb.  fin.  hat  ober  ob  es  den  potential  vertritt. 
Heinr.  v.  M.  Er.  216  der  in  der  icerlt  niht  einen  esel  mohte  Imheii; 
480    uon  dem  gemäinen  lebene  mag  ex  einen  hesunderen  namen 
U'ol  hahoi. 
Koth.  2217  der  din   gcnox  mohte   sin;    2482  her  mach  ivole   imse 

vatir  sin;  2588.  2628  do  mohter  vunfxic  diisint  haven. 
M.  F.  8-^  des  ich  niht  mohte  hdn  noch  nie7ner  mac  gewinnen;  53  ^^ 

icax  mac  dax  sin,  dax  diu  iverlt  heixxet  minne. 
Wolfr.  Parz.  53,  30  de)i  xins  von  sinen  landen,  sicax  der  gelten 
moht  ein  jdr;  86,  15  von  dem  sol  er  Icdic  sin,  mac  min  her  Br. 
ledic  sin  von  diner  haut  (nach  Erbe  P.-Br.V,  36  =fut.);  123,  11 
ir  mugt  ivol  sin  voti  ritters  art;  123,  21.  326,  17  usw.;  Wilh. 
98,  8  si  mohtenx  iingerne  tuon. 
Gr.  Trist.  18^  schoeniic  vroinve,  der  ieglichiii  mohte  sin  vo7i  schoene 

ein  richiu  Minegin. 

TJ.  Trist.  573^*^  du  mäht  icol  hohe  vröude  haben. 

Xib.  109,  3  ich  icil  an  in  ertwingen,   sivax  ir  mnget  hdn;    118,  2 

er  mohte  Hag enen  sivestersun  vil  icol  sin;  393,2.  995,1.  1427,3. 

83,  2  sin  im  die  herren  künde  AB   (mag  er  sie  hekeyinen  CD); 

961,  2  so  vernemet  selbe  A.  (so  muget  ir  selbe  hoere7iB]  ir  müget 

irol  selbe  hoeren  C);  2212,  3  dax  moht  man  kiesen  (erchox  manxC). 

Gudr.  401,  2  7nac  er  haben   kröne  oder  hat  er  eigen  land   (vgl. 

Martins  anm.);  429,  1  die  sie  mohten  hdn. 
Frid.  127,  2  sivd   nuxxe   scheint   diu   kindelin,    da   mac   des    lones 
lihie  sin;  143,1;  95,  4  für  durst  mac  niht  bexxers  si?i  dan  nasser. 
Konr.  Eng.  294  sirenn  ich  des  goldes  niht  mac  hdn;    543  die  teile 
dax  ich  mac  geleben. 


54  KAHL 

Saclisp.  I,  17,  1  alle  de  sik  gelihe  nd  to  der  sibhe  gestuppen  mögen. 

Bon.  3,  44  die  rede  moht  ex  vil  küme  hdn. 

Nie.  Jer.  lö,  1-4  der  besiin  die  er  molite  hdn;  20,  123. 

f)   niae  c.  inf.   ersezt  den  conjunctiv. 
Auf  die  beziehuugen,  welche  zwischen  t)iuge}i  und  dem  conjunc- 
tiv obwalten,  habe  ich  schon  oben  bei  gelegenheit  des  ahd.  hingewiesen. 
Im  einlachen  satz  vertritt  mac  c.  inf.  meist  den  potentialis  oder 

den  Optativ. 

1)   mac  c.  inf.   =  potentialis. 

Tgl.  hierzu:  Holtheuer  Zs.  f.  d.  ph.  erg.  s.  153. 
Roth.  743  die  mach  icoJe   iresen  herre;    840  von  icannen  mac  dix 

Volk  sin? 
M.  F.  85  3^  mac  si  hoeren,  icax  ich  meine;  104 1.    119^-. 
Hartm.  Er.  3816  icax  mac  ich  sprechen  me;  7970  icax  mac  ich  iu 

mere  sagen.     (Weitere  beispiele  bei  v.  Monsterberg  1.  1.  s.  49). 
Wolfr.  Parz.  475,  20  wax,  rätes  möhi  ich  dir  nu  tuon?    Tit.  54,  1. 
G-.  Trist.  68'-^  dix  tniigen  icol  guote  Hute  sin. 
Nib.  82,  2  rieh  unde  kilene  moht  er  vil  tvol  sin;    1690,  4  er  mac 

liol  sin  ein  recke  guot. 
Gudr.  988,  4  er  mac  sich  ir  tcol  geliehen;   1207,  4.    1271,  3. 
Walth.  72'-^  der  mac  icol  heizen  friundes  gebe. 
Frid.  137,  17  dax  mac  icol  sin  ein  heilic  xit. 
Berth.  I,  44,  20  iver  mac  reht  haben?  (vgl.  Kötteken  s.  117). 

2)  mac  c.  inf.   =   optativus. 

Holtheuer  1.  1.  s.  148;    dortselbst  beispiele  aus  Hartm.  Iw.;    Röt- 

teken  s.  27. 
M.  F.  127^7  jnac  si  sich  doch  miner  rede  versinnen;  5^^.  19  ^  160^^ 
Wolfr.  1.  7,  37  mala  du  troesten  min  gemilete;    Tit.  2,  1  möht  ich 

getragen  icäperi. 
Gr.  Trist.  2652  ^nöht  ich  der  rede  geiuis  sin! 
U.  Trist.  512-^  möhtestü  mir  ze  tröste  komen. 
Gudr.  227,  1  mühte  dax  gesin;    1432,  4  möht  ich  mit  den  vinden 

ge^triten. 
Walth.  39^  mühte  ich  versläfen  des  winters  zit. 
Barth.  I,  137,  12  7iu  mac  dir  got  vil  tcol  vergelten. 

3)  mag  c.  inf.   =  adhortativ. 
"Walth.  51^2  muget  ir  schouwen;  52  ^^  u.  ö. 


KÖNNEN    UND   MÖGEN    IM    ALTD.  55 

4)   inac  c.  iiif.   in   cunditionalsätzen 

dient  dazu,  entweder  „den  Inhalt  d(s  fragesatzes  noch  mehr  in  das 
gebiet  des  Ungewissen,  bedingten  liineinzuziehen"  (vgl.  Iloltheiier 
s.  IGT)  oder  die  unwahrsclieinlichkeit  und  irrealität  des  bedingungs- 
satzes  noch  scharfer  auszudrücken,  als  das  durch  den  einfachen  con- 
junctiv  möglich  ist.     Beispiele  hierfür  sind: 

M.  F.  63''  möht  ich  eriverhen  mit  fröiden  ir  hulde. 
Wolfr.  Parz.  46,  10  mÖht  ex  mit  sinen  hulden  sin;  420,  13  ich  viöht 
mit  cren  empfdhcn  min  laut;  vgl.  Erbe  Über  die  conditionalsätze 
bei  Wolfram  v.  E.:  R-Br.  Y,  1  fg. 
Gr.  Trist.  200^-^  und  mohte  sie  daz  tvizxen;  333 ^^    35822. 
Nib.  112,  2   ez  enmüge  von   deinen   eilen  din  laut  den  fride   hdn, 

ich  teils  edles  wcdten;  467,  2. 
Klage  65  ob  si  möhte  sin  ein  man. 
Walth.  95  3^  möht  ez  mit  liebes  hidden  sin;  125-^  mÖht  ich  die  lie- 

be7i  reise  gevaroi  über  se. 
Fr  id.  17,  9  ob  alle  seien  möhten  sin  in  einer  hant,   sön  Idinde  ir 
schin  nieman  grifen  noch  gesehen;    73,  20  möht  ich  ivol  minen 
icillen  hdn,  ich  wolte  dem  keiser  'z  riche  län. 

5)  mugen  im  indirekten  fragesatze. 

M.  F.  123  3^  nü  rätent  liebe  froiven,  tvaz  ich  singen  milge. 

U.  Trist.  558 1^  wer  er  wesen  möhte. 

Nib.  393,  2  wer  die  unkunden  reken  milgen  sin. 

Es  wird  sich  empfehlen,  die  Vertretung  des  conj.  durch  mugen 
noch  einmal  mit  systematischer  volständigkeit  und  mit  benutzung  des 
gesamten  stellemnaterials  zu  behandeln;  bis  jezt  liegen  in  den  arbeiten 
von  Holtheuer  und  Erbe  nur  bescheidene  ansätze  hierzu  vor. 

g)  mac  c.  in  f.  =  futurum. 

Über  den  grund,  der  mac  c.  inf.  und  das  futurum  zusammen- 
führte, wurde  bereits  oben  gesprochen.     Es  folgen  einige  beispiele. 

G.  Trist.  21425  ^^.  fjiuget  noch  wol  geleben  den  tac. 

Nib.  113,  2  siceder  unser  einer  am  andern  mac  gesigen;  234,  3 
daz  ez  Lindgere  mag  immer  wesen  leit;  639,  3.  1407,  3  ir  mu- 
get  harte  2Col  gewiesen;  1865,  1. 

Gudr.  268,  1  iver  mac  uns  daz  gelouben. 

Walth.  49,  29  ivaz  mach  ich  nu  sagen  me:  so  lesen  Wacker- 
nag el  und  Bartsch;  Lachmann  liest  an  der  angegebenen  stehe 
mit    einigen    handschriften    sol;    hiermit    vergleicht    Wilmanns 


56  KAHL 

Ulr.  V.  Liecht.  201-   ira^  sol  ich  in  sagen  me.     Die  vertausch img 
von  sol  mit  dem  fiituraleu  mac  lasst  sich  auch  sonst  in  den  harid- 
schriften  beobachten:    vgl.  u.  a.      Hartm.  Iw.  135    do   moliicr    oh 
Ad  [da  soldcstn  auch  a;  do  ))iohtc  ouch  ir  BD). 
Frid.   120,  1   uil  er  in  allen  anijesiyen,  er  mac  ivol  ein  halp  inider- 

ligen. 
Berth.  877,  21  (Wackern.  leseb.)  diu  e  icart  oder  iemer  mer  cht  wer- 
den mac;  890,  38  da\  du  nie  würde  noch  niemer  uerden  7naht. 
Wir   beenden    hiermit   unsere    darstellung   der   syntax    des   mhd. 
mugen:    ^vir  konten   uns   in    derselben   durchweg  kürzer  fassen    als  in 
den  übrigen  teilen  unserer  arbeit,    da  wir  die   principiellen   fragen  für 
die  behandlung   des  mhd.  niugen  schon  bei  gelegenheit  des  ahd.  erör- 
tert hatten;    es  galt  nur  unter  die  dort  aufgestelten  kategorien,    welche 
wir   mit  geringen    änderungen   beibehalten    durften,    die    beispiele  aus 
dem  mhd.  einzuordnen.     Auf  volständigkeit  in   der  herbeischaffung  der 
belege  musten  wir,    um   dem  vorwürfe   alzu  grosser  ausführlichkeit  zu 
entgehen,  verzichten;  jedoch  werden  die  beispiele,    die  wir  beigebracht 
haben,  in  genügender  weise  zum  Verständnisse  der  von  uns  besproche- 
nen syntaktischen  erscheinungen  beigetragen  haben. 

Wir  schliessen  diesen  abschnitt  unserer  Untersuchungen  mit  einem 
kurzen  rückblicke  auf  die  geschichte  des  altdeutschen  mögen. 

Schon  an  dem  got.  magan  traten  uns  zwei  begriffe  entgegen: 
der  der  körperlichen  kraft  und  der  der  möglichkeit;  während  der 
ganzen  altdeutschen  zeit  gehen  diese  beiden  bedeutimgen  von  mögen 
neben  einander  her,  so  zwar,  dass  mugen  =  j^^sse  die  überhand  gewint, 
mugen  =  valere  in  den  hintergrund  tritt.  Die  nhd.  spräche  kent 
mögen  in  der  bedeutaing  „körperlich  kräftig  sein"  kaum  mehr;  können 
und  das  kompositum  „vermögen"  teilen  sich  in  die  functionen  des 
alten  mugen  =  valere.  Mugen  =  posse  begint  bereits  im  ahd.  auf 
der  einen  seite  seinen  logischen,  begriflichen  Inhalt  mehr  und  mehr 
aufzugeben  und  in  der  breiten  gebrauchssphäre  eines  verbum  auxüiare 
sich  zu  verlieren,  auf  der  anderen  seite  einige  bedeutungsnüancen  aus- 
zubilden, welche  uns  den  grundbegriff  der  möglichkeit  in  verschiedenem 
lichte  zeigen.  Daneben  endlich  erlangt  mugen  die  fähigkeit  modale 
beziehungen  auszudrücken,  den  conj.  und  das  fut.  zu  umschreiben. 

Der  verwitterungsprocess,  der  sich  im  ahd.  an  der  bedeutung  von 
mugen  vollzogen  und  der  mugen  zur  geltung  eines  hülfsverbimis  her- 
abgedrückt hat,  dauert  auch  im  mlid.  stetig  fort.  Zwar  bewahrt  sich 
mugen  noch  nach  einigen  richtungen  hin  seine  verbale  kraft,  die  sich 
vor  allem  auch  in  einer  begriflich  genau  fassbaren  bedeutung  kundgibt. 


KÖ.VNEN    UND    MÖGEN    IM    ALTD.  57 

Im  algemeinen  aber  ist  niuijen  seines  sinlichen  vorstellungsinhaltes 
beraubt  und  kann  nur  dann  im  Satzgefüge  wirksam  auftreten,  wenn  es 
von  einem  Infinitive  unterstüzt  wird. 

Das  nlid.  (vgl.  DAVb.  VI,  2449)  kann  uns  zeigen,  welcher  man- 
nigfaltigkeit  von  anwendungen  und  bedeutungen  mögen  gerecht  zu  wer- 
den im  stände  ist.  Die  vielgestaltigkeit  des  nhd.  mögen  ist  aber  zum 
überwiegenden  teile  durch  den  umstand  erkauft,  dass  dem  Zutritte  des 
intinitivs  zu  mögen  keine  grenzen  gesezt  sind:  Infinitive  der  verschie- 
densten art  werden  von  mögen  abhängig  gemaclit  imd  prägen  dem 
inhaltlosen  mögen  bald  diese  bald  jene  bedeutung  auf;  nur  an  Avenigen 
und  schon  stark  verwischten  spuren  wird  offenbar,  dass  auch  das  hülfs- 
verbum  mögen  einst  eine  selbständige,  sinlich  kräftige  bedeutung  gehabt 
hat,  wie  sie  uns  das  got.  macjan  =  loy/eiv  noch  zeigt. 

§  9.    Einzellieiten  aus  der  syntax  von  können  und  mögen  im 

altdeutschen.     Nachträge. 

In  diesem  sclüussparagraphen  sollen  noch  einige  punkte  bespro- 
chen w^ erden,  die  bisher  entweder  übersehen  w^orden  sind  oder  deshalb 
mit  absieht  übergangen  wurden,  weil  sie  können  und  mögen  betrafen 
und  darum  in  der  von  uns  gewählten  anordnung  nur  schlecht  platz 
finden  konten. 

1)    Können   und   mögen   in   nachsätzen   nach   positiven 
comparativen  und  Superlativen. 

Bock  hat  (Q.  F.  27,  15)  über  die  tatsache  berichtet,  dass  können 
und  mögen  im  mlid.  besonders  gern  in  nachsätzen  nach  positiven  com- 
parativen und  Superlativen  da  gesezt  werden,  wo  uns  das  einfache 
verbum  in  indicativ-  oder  konjunctivformen  zu  genügen  scheint:  z.  b. 
Nib.  128,  2  mere  danne  ich  iu  kau  gesagen;  Hpts  EQ.  30,  25  höheste 
viinne  die  man  gehabin  macli.  Bock  hat  richtig  gesehen,  dass  hier 
eine  Steigerung  des  gedankens  vorliegt:  die  Verneinung  der  Wirklichkeit, 
welche  in  jenen  nachsätzen  zum  ausdrucke  komt,  wird  durch  den  Zu- 
satz von  können  oder  mögen  gleichsam  für  alle  zeiten  ausgesprochen. 
„Was  niemals  gewesen  ist  und  was  niemals  sein  Avird,  wird  in  der  Vor- 
stellung leicht  zu  einem,  was  nicht  sein  kann  und  nicht  wird  sein 
können,  was  nirgends  ist,  zu  einem,  was  nicht  sein  kann,  d.  h.  zu 
einem  unmöglichen.''  —  Beispiele  findet  man  in  genügender  zahl  bei 
Bock  s.  16;  aus  den  mhd.  epen  sind  uns  formein  wie  Roth.  1836 
aller  beste  die  man  iergin  mochte  haven  durchaus  geläufig. 


58  KAllL 

2)  Der  inf.  praet.   nach  können  und  mögen. 

Die  deutsche  spräche  hat  nicht  die  fähigkeit  besessen,  einen  Infi- 
nitiv der  Vergangenheit  zu  bilden;  sie  muste  daher,  wenn  sie  nicht 
etwa  dem  praesentischen  infinitive  die  vortretung  des  praeteritalon  über- 
lassen wolte  —  wie  dies  im  alid.  noch  durchweg  geschieht,  vgl.  Grimm 
Gr.  IV,  170  —  zur  Umschreibung  ihre  Zuflucht  nehmen.  Diese  nun 
wird  so  volzogen,  dass  der  infinitiv  „haben"  zu  dem  part.  praes.  des 
verbums  hinzugefügt  wird,  dessen  inf.  praet.  gebildet  werden  soll;  z.  b. 
Nib.  792,  3  du  niöhtcst  gedaget  hdn. 

Solche  inf.  praet.  finden  sich  a)  nach  kiinnen:  M.  F.  IGO  i^. 
175  3^;  G.  Trist.  35 '^  AVolfr.  Parz.  404,  30;  Nib.  2098,  2;  2223,  4 
künde  ABC  {ffwht  Ih);    Gudr.  1439,  2;  1453,  2. 

b)  nach  wugeu:  Hpts  Hl.  22,  24;  Heinr.  v.  M.  Er.  687;  Koth. 
1583;  1632;  M.  F.  452'-^;  140^;  177^«;  Eneit  4667;  5560;  7626; 
11226:  Wolfr.  Parz.  286,  30;  464,  6;  484,  22;  565,  28;  Gotfr.  Trist. 
89  3^';  388  5;  428  ^  lobg.  62,  12;  Nib.  401,  4B;  792,  2;  1496,  1; 
Klage  557;  628;  Gudr.  127,  3;  AYalth.  17i»;  106';  Konr.  Eng. 
1480;  vgl.  auch  Grimm  Gr.  lY,  171. 

3)  Die  prothese   der  partikel  ge-   vor  den  Infinitiven  nach 

können  und  mögen. 

Die  forscher,  die  sich  in  neuerer  zeit  mit  dem  vielumstrittenen 
ge-  beschäftigt  haben  (vgl.  die  litteratur  bei  Reifferscheid  Zs.  f.  d.  ph. 
erg.  319  fg.,  v.  Monsterberg  Zs.  f.  d.  ph.  XVIII,  301),  sind  darin  einig, 
dass  der  verschlag  von  ge-  mit  besonderer  Vorliebe  bei  den  Infinitiven 
eintritt,  die  von  kunneu  und  niiigen  abhängig  sind.  In  betreff  der 
erklärung  dieses  ge-  gehen  die  ansichten  der  forscher  weit  auseinander; 
die  bisherigen  auffassungen  hat  Reifferscheid  1.  c.  eingehend  bespro- 
chen und  der  reihe  nach  mit  stichhaltigen  gründen,  wie  mir  scheint, 
als  irrig  abgewiesen.  Seinen  eigenen  erklärungsversuch  hat  Reiffer- 
scheid noch  nicht  veröffentlicht;  er  gedenkt  ihn,  wie  er  die  gute  hatte 
mir  brieflich  mitzuteilen ,  in  seiner  demnächst  erscheinenden  Tristan- 
ausgabe vorzulegen.  Die  neueste  Untersuchung  über  ge-  war  mir  bis 
jezt  noch  nicht  zugänglich:  Dörfeid  Über  die  function  des  praefixes 
ge-  in  der  composition  mit  verben.     I.  ge-  bei  Ulfilas  und  Tatian. 

V.  Monsterberg  erklärt  ^e-  in  folgenderweise  (1.1.  s.  314):  Überall 
scheint  mir  das  syntaktische  ge-  dem  zwecke  eines  durch  das  Interesse 
oder  die  persönliche  beteiligung  des  Subjektes  an  der  handlung  hervor- 
gerufenen nachdrucks  zu  stehen,  die  kraft  des  verbums  meist  mit  pla- 
stischer sinlichkeit  zusammenfassend."     Nach  einer  sorgfältigen  Statistik 


KÖNNEN    UND   MÖGEN   DI   ALTD.  59 

aller  einschlägigen  stellen  aus  Hartmann,  aus  der  sich  ergibt,  dass  ge- 
rn der  überwiegenden  niehrzahl  der  fälle  nach  kau  und  mac  sich  findet, 
sagt  V.  Monsterberg:  „Wie  man  also  auch  die  numerischen  tatsachen 
zu  einander  in  bcziehung  setzen  mag,  immer  treten  mac  und  hm  als 
diejenigen  hervor,  welche  für  das  (je-  am  intinitiv  am  günstigsten  sind. 
Der  grund  kann  nur  in  der  bedeutung*  beider  verba  liegen  und  deren 
verwantschaft  mit  dem  sonst  hervortretenden  Charakter  von  //c-." 

Ich  kann  nicht  entscheiden,  ob  diese  annähme,  Avelche  v.  Monster- 
berg für  seinen  schriftsteiler.  Hartmann,  walirscheinlich  zu  machen  ge- 
sucht hat,  auch  sonst  geltung  beanspruchen  darf  Herumstand,  dass  die 
handsehriften  mhd.  schrifteller  oft  an  denselben  stellen  den  Infinitiv  mit 
und  ohne  ge-  bieten:  z.  b.  Nib.  129,  3  kiinde  gevoUjen  AB  (chunde 
voIge7i  CD)]  259,  2  seJie?i  möhte  A.  {gesehen  W^]  759,  1  gesin  AB  (sin  C) 
usw.;  fälle  Avie  Bertli.  leseb.  893,  34  er  kein  an  der  Mute  sünde  gar 
höhe  linde  gröx.  luide  sivaere  machen  und  kein  sin  selbes  sünde  gar 
schoene  luid  liht  gemachen,  denen  ich  aus  meiner  beispielsamlung 
noch  manche  andere  zur  seite  stellen  könte,  deuten  meines  erachtens 
darauf  hin,  dass  man  in  das  ge-  bisher  zu  viel  „hineingeheimnist"  hat, 
dass  man  nach  den  gründen  innerer  berechtigung  da  geforscht  hat,  wo 
vielfach  nur  äussere  Verhältnisse  (z.  b.  verszwang)  gewirkt  haben.  Hoch 
wage  ich  es  noch  nicht,  diesem  urteile  über  ge-  eine  bestimte,  alge- 
meine formulierung  zu  geben. 

4)  Die  composita  von  kiinnen  und  mugen  im  altdeutschen. 

Über  die  composition  von  kimnan  im  got.  und  alts.  haben  wir 
bereits  oben  gesprochen. 

kunnan  hat  im  ahd.  2  composita: 

incunnan  =  acciisare     \ 

farhunnan  =  desperare]  ^«''^ge  bei  Graff  IV,  410.  411. 

Yen  dem  schwachen  verbum  kiinnen  werden  gebildet:  gakunnen 
desperare;  arkunnen  experiri. 

Has  mhd.  kent  zu  den  schAvachen  verben  erkunnen  und  ver- 
kunnen  nur  im  particip  die  starken  nebenformen  erkunnen  und  ver- 
kunnen:  vgl.  Mhd.  wb.  I,  807a;  Lachmann  zu  Nib.  2241,  4.  Im 
nhd.  ist  „verkönnen'^  =  „sehr  können"  nur  im  schwäbischen  nach- 
weisbar: Schmid  Schwab,  wb.  s.  323. 

Has  got.  kent  von  mcigan  nur  das  comp,  gamagan:  Gal.  5,  6; 
im  alts.  ist  kein  comp,  von  miigan  zu  belegen. 


60  MÜLLER -FRAUENSTEEN 

Das  ahd.  hat  ijcDnaijan,  iDiDicKfcoi ,  iibatDiagan,  fcuDiagcui  (nur 
mit  sih)  und  furimayan  (Graff  II,  609);  daneben  besteht  eine  schAvache 
bildung  })iagen  =  ralcre,  mit  dem  comp.  f/af??a(jen. 

AIhd.  (jcmiUioi  findet  sich  n.  a.  Gudr.  1190,  1;  iiharmac  und 
vermac  sind  im  mhd.  ziemlich  selten;  erst  im  nhd.  hat  der  gebrauch 
von  „vermögen''  grössere  ausdehnung  angenommen.  Die  schwachen 
verba  )}iciiincn  und  (/offfcginof  belegt  das  Mhd.  wb.  II,  8  a/b  nur  aus 
der  Genesis. 

Mit  dieser  nachlese  schliessen  wir  unsere  Untersuchungen  über 
die  bedeutungen  und  den  syntaktischen  gebrauch  von  können  und 
mögen  im  altdeutschen. 

Es  war  imser  bestreben,  auf  grund  eines  ausgiebigen  stellenmate- 
rials  die  semasiologischen  und  syntaktischen  eigentümlichkeiten  von 
h()iffe?i  und  mugen  einer  wissenschaftlichen  durchforschung  zu  unter- 
ziehen. Wir  glaubten,  bei  der  einfachen  constatierung  und  aufzählung 
der  tatsachen  nicht  stehen  bleiben  zu  dürfen.  Darum  gingen  wir  einer- 
seits den  momenten  nach,  die  uns  auf  eine  geschichtliche  entwicklung 
innerhalb  des  uns  vorliegenden  syntaktischen  tatbestandes  schliessen 
lassen  und  suchten  wir  anderseits  die  algemeingültigen  logischen  und 
psychologischen  gesetze  auf,  denen  wir  einen  einfluss  auf  die  gestal- 
tung  s\Titaktischer  ausdrucksformen  zuschrieben. 

Unter  diesen  gesichtspunkten ,  historisch  berichtend  und  logisch - 
psychologisch  begründend,  versuchten  wir  die  geschichte  der  bedeutungen 
und  der  syntax  von  köimen  und  mögen  im  altdeutschen  zu  schreiben; 
vielleicht  ist  es  uns  wenigstens  in  den  hauptpunkten  geglückt,  das  ziel 
zu  erreichen,  das  wir  uns  sezten. 

DIEDENHOFEX   I/LOTHR.  WILHELM   KAHL. 


ÜBEE  ZIGLEES  ASIATISCHE  BAOTSE. 

Um  falschen  erwartungen  vorzubeugen  und  von  vorn  herein  zwi- 
schen mir  und  meinen  lesem  envünschte  klarheit  zu  verbreiten,  erkläre 
ich  zunächst,  da.ss  meine  absieht  auf  den  folgenden  selten  keineswegs 
darauf  gerichtet  ist,  die  bibliographischen  notizen  über  Ziglers  einst 
vielgerühmten  und  später  so  vielgeschmähten  roman  um  einige  neuig- 
keiten  zu  vermehren.  Weder  bibliographische,  noch  auch  biographische 
anliegen  1  möchte  ich  vorbringen,  sondern  allein  ästhetische. 

1)  Die  ersteren ,  auch  über  Ziglers  andere  werke ,  befriedigen  bis  jezt  zumeist 
L.  Cholevius,  die  bedeutendsten  deutsehen  romane  des  17.  Jahrhunderts  (Leipzig  186Gj 


ZIGLERS    ASIATISCHE    BANISE  61 

Mir  hat  es  als  einsamem  leser  der  Asiatisclicn  baiiise  vor  mehr 
als  drei  lustren  nicht  reclit  gelingen  ^vollen,  meine  damaligen  studen- 
tischen freunde  von  dem  eigenartigen  gcnusse,  den  sie  mir  schon  da 
bot,  zu  überzeugen,  und  ich  legte  scliliesslicli  selbst  das  buch  mit  einer 
gewissen  zweideutigen  befriedigung  aus  der  hantl.  Jezt  liat  mir  eine 
nochmalige  gründlichere  und,  wie  ich  hoü'e,  mit  etwas  geklärtereni 
geschmack  vorgenommene  lektüre  und  eine  längere  beschäftigung  mit  der 
betreuenden  litteraturperiode  den  wünsch  geweckt,  lücht  nur  vielleicht 
einen  oder  den  andern  der  eben  erwähnten  Zweifler  von  1809,  sondern 
auch  andere  mistrauische  gemüter  davon  zu  überzeugen,  dass  selbst  diese 
blume  unseres  litterarischen  irgartens,  die  in  einer  besonders  wüsten 
ecke  steht,  ihren  duft  hat  und  trotz  ihres  grellen  farbentones  das  anse- 
hen verlohnt.  Ich  halte  es  aber  für  nötig,  nicht  etwa  zum  zwecke 
einer  entschuldigung,  sondern  um  der  Wahrheit  willen,  darauf  hinzu- 
weisen, dass  diese  zweite  lektüre  und  die  von  mir  daran  geknüpften 
und  hier  widergegebenen  bemerkungen  nicht  etwa  durch  Cholevius  und 
Bobertag  angeregt  oder  nur  beeinflusst  sind.  Beider  bücher  über  den 
roman  kante  ich  zwar  längst,  hatte  aber  in  betreff  der  Banise  mir  aus 
ihnen  nie  eine  zeile  notiert,  ja  selbst  gerade  diese  partie  vor  jähren  bei 
beiden  kaum  mehr  als  überflogen.  Die  nach  dem  abschluss  meiner 
arbeit,  und  mit  absieht  erst  da,  vorgenommene  vergleich ung  meiner 
und  ihrer  urteile  hat  mir  den  grösten  genuss  gewährt,  mich  aber  nicht 

s.  153,  und  F.  Bobertag,  Geschichte  des  romans  und  der  ihui  verwanten  dichtungs- 
gattungen  in  Deutscliland,  1.  abteilung,  2.  band,  1.  hälfte  (Breslau  1879)  s.  150 
und  233,  und  am  volständigsten  des  leztgenanten  einleituug  YI— YIII  zu  seiner  18S3 
erschienenen  ausgäbe  der  Banise,  in  Kürschners  Deutscher  national -litteratur  bd.  21. 
Andere  aufzählungen  finden  sich  z.  b.  l>ei  Gödeke,  Grundriss  zur  geschichte  der  deut- 
schen dichtung,  und  Jördens,  Lexikon  deutscher  dichter.  Biographisch  ist  für  alle 
die  genanten  und  für  die  später  zu  nennenden  Schriften,  die  sich  mit  Zigler  und 
seiner  Banise  beschäftigen,  eine  hauptquelle,  die  aber  nicht  reichhch  fliesst,  unver- 
kenbar.  Die  haupti)unkte  sind  folgende:  Heimich  Anshehn  von  Zigler  und  Klip- 
hausen ist  geboren  den  6.  Januar  1663  (Cholevius  und  Bobertag  fälschhch  1653) 
zu  Radmeritz  südlich  von  Görlitz  in  der  Oberlausitz,  besuchte  drei  Jahre  lang  das 
gymnasium  zu  Görlitz,  dann  1680  —  84  die  Universität  Frankfurt  an  der  Oder,  wo 
er  sich  neben  seinem  fachstudimn,  der  Jurisprudenz,  besonders  mit  der  dichtkunst 
beschäfügte.  Nach  dem  tode  des  vaters  1684  hat  er  sich  zumeist  in  der  nähe  von 
Leipzig  aufgehalten.  Er  widmete  sich  der  Verwaltung  des  ihm  zugefallenen  rittcr- 
gutes  Probsthaiu  und  lebte  als  reicher  unabhängiger  edelmann  ganz  seinen  neigungen, 
die,  weit  ernster  als  die  der  kavahere  seiner  zeit,  sich  auf  Wissenschaft  und  littera- 
tm-  richteten.  Ausser  Probsthain,  das  er  später  verkaufte,  hat  er  noch  die  guter 
Podelwitz,  Altkötig  und  Liebert wölk witz  besessen,  daneben  war  er  stiftsrat  von  Wür- 
zen.    Er  starb  früh,  schon  am  8.  September  1697. 


62  MÜLLER  -  fralt:n'steix 

zu  einer  änderunii'  des  von  mir  niodergcschriebeiieu  bewogen.  In  die- 
ser methode  der  arbeit  liegt  der  grund  —  und  deshalb  erwähne  ich 
den  umstand  — ,  dass  ich  die  auseinandersetzungen  in  die  anmerkun- 
gen  verweise  und  dass  ich,  ausgenommen  natürlich,  was  A.  Schlossar 
und  den  von  ilmi  veröifentlichten  scenenentwurf  der  hauptaktion  der 
Siegenden  Unschuld  in  der  Persohn  der  Asiatischen  Baiiise^  betrift, 
auf  die  ursprünglichkeit  des  im  text  gegebenen  gewicht  lege. 

Die  europäische  berlüimtheit  imseres  buches,  „Asiatische  Banise 
oder  blutiges  doch  muthiges  Pegu",  seine  beliebtheit  in  unserem  vater- 
lande, dessen  lesendes  publikum  sich  mehr  als  siebzig  jähre  lang  an 
ihm  weidete  und  von  1688  bis  1766  nicht  weniger  als  zelm  neudrucke 
veranlasste-,  müssen  schon  an  und  für  sich  des  litterar-  und  im  alge- 
meinen des  kulturhistorikers  aufmerksamkeit  erwecken.  AVirft  doch 
ein  solches  werk  licht  auf  den  geistigen  zustand  nicht  nur  des  Ver- 
fassers, sondern  auch  der  leseweit  der  zeit,  und  muss  doch  bei  einem 
so  seltenen  romanerfolge  die  frage  nicht  etw^a  so  gestelt  -werden:  Was 
wagte  der  Verfasser  seinem  publikum  zu  bieten,  sondern  was  verlangte 
es  selbst,  worin  liegen  im  einzelnen  die  gründe,  dass  gerade  diese 
dichtergabe  so  ausserordentlichen  jubel  erregte?  Das  ende  des  17.  und 
der  anfang  des  18.  Jahrhunderts  haben  ein  so  unzweifelhaft  klares  urteil 
abgegeben,  dass  ich  Zeugnisse  dafür  im  besonderen  nicht  anzuführen 
brauche;  Gottsched  konte  noch  1733  in  seinen  „Beyträgen  zur  Criti- 
schen  Historie  der  Deutschen  Sprache"  usw.  6.  stück  s.  274  sagen: 
Seit  dem  erscheinen  der  Banise  habe  sich  kein  einziger  mensch  daran 
gemacht  und  die  fehler  nachgewiesen  (vgl.  auch:  Nöth.  Yorrath  usw. 
284,  286,  291,  293). 

1)  österreichische  kultur-  und  litterat Urbilder  niit  besonderer  berücksichtigung 
der  Steiermark  (Wien  1879)  s.  65  fg. 

2)  Es  gibt  femer  eine  foi-tsetziing  von  dem  Schlesier  J.  G.  Hamann,  welche 
mindestens  schon  1721  existierte,  eine  opornbearbeitung  von  Joachim  Beccau  1710, 
ein  trauerspiel  von  Grimm  (Choleviiis  153  und  Bobeiiag,  Gesch.  d.  r.  233  und 
noch  in  der  einleitung  zur  ausgäbe  d.  B.  YI  nennen  Friedrich  Wilhelm  Grimm 
und  die  zahl  1733,  Schlossar  dagegen  s.  69  und  Seuffert  in  seinem  „Maler  Mül- 
ler" s.  233  den  erst  1807  verstorbenen  gothaischen  minister  Fr,  Melchior  v.  Grimm 
und  die  Jahreszahl  1743;  daneben  khngt  es  auffällig,  wenn  E.  Schmidt  Schnorrs 
Archiv  f.  1,  IX,  1880  sagt:  Grimms  Banise  kenne  jeder,  sie  sei  eine  Jugendsünde), 
mehrere  nachahmungen :  Deutsche  Banise  1752,  Engelliindische  Banise,  prinzessin  von 
Sussex  1754,  Ägj-ptische  Banise  1759,  und  eine  Umarbeitung  in  eine  altpersische 
noveUe:  Der  hohe  ausspruch  oder  Chares  und  Fatime  von  dem  maier  Müller, 
welche  zuerst  1825  in  den  „  Rheinblüthen "  erschien  und  die  ausführung  eines  von 
demselben  in  semer  Jugend  begonnenen  Operntextes  in  Alexandrinern  darstelt. 


ZIGLERS    ASIATISCHE   BANISE  63 

Die  asiatische  Baüise  repräsentiert  den  eharaktcristisclien  r<tman- 
stil  jener  tage  neben  Daniel  von  Lohen  st  eins  Arminius  und  Thus- 
nelda am  besten;  diesem  lezteren  werke  allein  wurde  es  nachgesezt, 
aber  es  gefiel  wol  algemeiner  —  wie  es  uns  noch  heute  mehr  gefält,  als 
dieser  riesenroman  —  wurde  tatsächlich  öfter  gelesen,  infolge  seiner  ver- 
hältnismässigen kürze  und  wegen  des  zurücktretens  der  aufdringlichen 
belehrenden  partien ,  die  sicherlich  schon  vor  190  jähren  die  lektüre 
des  Lohensteinischen  buches  erschwerten,  wenn  der  Verfasser  auch  die 
beste  absieht  dabei  verfolgte,  nämlich  „diejenigen  auch  wider  ihren 
Vorsatz  gelehrt,  klug  und  tugendhaft  zu  machen,  welche  in  dem  ge- 
dichte  nichts  als  verliebte  eitelkeiten  suchen  Avürden.'' 

Ein  rückschlag  erfolgte,  wie  überhaupt  gegen  die  zweite  schle- 
sische  schule,  so  auch  gegen  Ziglers  hauptroman  durch  Gottsched  und 
daneben  durch  die  Schweizer.  Sie  stellen  den  schwulst,  die  unnatur 
der  lyrik,  epik  und  dramatik  der  HofPmannswaldauischen  anhänger 
zuerst  an  den  pranger,  und  dabei  ist  es,  um  es  kurz  zu  sagen,  im 
ganzen  auch  bis  heute  gebheben.  Aber  es  hat  doch  lang  gewährt,  ehe 
sich  das  lesende  Deutschland  von  der  Banise  abwendete.  BekantHch 
lässt  noch  Goethe  in  dem  6.  kapitel  des  1.  buches  von  „Wilhelm 
Meisters  lehrjahren"  bei  der  so  reizend  geschriebenen  erzählung  Wil- 
helms von  seinen  ersten  theatralischen  versuchen  auch  Chaumigrem, 
eine  hauptfigur  in  unserem  roman,  mit  nennen:  „Da  muste  nun  könig 
Saul  in  seinem  schwarzen  samtkleide  den  Chaumigrem,  Cato  und  Da- 
rius  spielen."  Als  zum  text  verwendete  bücher  nent  er  „die  Deutsche 
Schaubühne  und  verschiedene  italienisch  -  deutsche  opern."  Man  Avird 
also  nicht  wol  schliessen  dürfen,  dass  der  junge  Goethe,  der  ja 
bekantlich  in  diesen  partien  des  Wilhelm  Meister  seine  eigenen  jugend- 
erinnerungen  erzählt,  den  operntext  von  J.  Beccau  oder  den  roman 
selbst,  sondern  dass  er  irgend  eine  dramatische  bearbeitung,  sei  es 
die  von  Grimm  oder  eine  mehr  volkstümliche  zu  seinem  Puppenspiele 
benuzt  hat.  Das  fiele  also  in  die  zeit  um  1755  und  stimmte  durch- 
aus mit  den  in  den  oben  citierten  nachahmungen  von  1752  — 1759 
liegenden  beweisen  für  das  Interesse,  welches  in  weitesten  kreisen, 
speziell  am  anfang  der  zweiten  hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  unse- 
rer Banise  entgegengebracht  wurde.  Wissen  wir  doch  auch,  dass 
1753  noch  zwei  und  17(3-1  —  66  noch  eine  neue  aufläge  des  buches 
nötig  waren,  und  ferner,  dass  ausser  der  von  A.  Schlossar  besproche- 
nen aufführung  der  hauptaktion,  welche  1722  durch  die  Bruniussche 
theatergeselschaft  in  Graz  in  Steiermark  vor  sich  gieng,  noch  zwischen 


64  MÜLLER  -  FRAUEXSTEIN 

1740  und  1750  die  bekai)te  Schuchsche  schauspielertruppe  „die  Banize" 
aufführte  ^ 

Doch  für  die  litteraturgeschichte  war  seit  Gottsched  das  urteil 
gesprochen-.  AVol  haben  einzehie  richtuugen  und  einzelne  Vorkämpfer 
im  vorigen  und  in  diesem  Jahrhundert  auf  die  starke  belebung  der 
Phantasie  und  zugleich  des  Patriotismus,  auf  die  einführung  neuer  Stoffe 
und  kräftigerer  plastischer  ausdrücke  in  unsere  litteratur,  also  auf  eine 
gewisse  förderuug  derselben  in  algemein  ästhetischer,  inhaltlicher  und 
formeller  liinsicht  hingewiesen,  welche  von  der  sogenanten  zweiten 
schlesischen  schule  ausgieng.  Die  tendenzen  der  Schweizer  wie  der 
romantiker  zeigen  deutliche  berührungspunkte ,  aber  wie  wenig  fält  dies 
im  grossen  und  ganzen  ins  gewicht!  An  eine  regelrechte  „rettung" 
hat  bis  jezt  niemand  gedaclit  und  wird  wol  auch  nicht  so  leicht  jemand 
denken,  scliiefer  anschauungen  sind  aber  ziemlich  viele  zu  bekämpfen. 

Für  meinen  zweck  reicht  es  aus,  bevor  ich  meine  eindrücke  und 
die  darauf  gegründeten  urteile  widergebe,  nur  einige  wenige  kritiken  in 
den  gangbarsten  litteraturgeschichten  über  die  Banise  einander  gegen- 
überzustellen; gar  manche,  fürchte  ich,  sind  geschrieben,  ohne  genaue 
kentnis  des  buches,  nur  nach  einem  kurzen  überfliegen  oder  selbst  auf 
die  autorität  anderer  litterarhistoriker  hin"^.  Da  spricht  z.  b.  Otto  Ro- 
quette  (I,  390)  von  der  gelehrten  spräche,  in  der  Zigler  Lohenstein 
nachahme.  Kurz  (U,  434)  nent  das  werk  den  unkünstlerischesten  und 
geschmacklosesten  roman  der  zeit."  Scherr  behauptet  wenigstens  (II, 
187),  es  repräsentiere  volständig  den  wunderlichen  romanstil  jener  zeit, 
Vilmar  (369)  findet,  Arminius  und  Thusnelda  habe  einen  weit  besseren 
Stil  als  die  Banise.  Sehr  hart  urteilt  von  den  früheren  Wachler  (II,  78). 
Im  Sinnenkitzel,  sagt  er,  Avisse  Zigler  seiner  meister  kostbarkeit  und  Schlüpf- 
rigkeit zu  erreichen,  durch  unnatürliche  Übertreibungen  und  erfinderische 
grausamkeit  sie  zu  übertreffen.  Obendrein  habe  er  noch  die  undeut- 
sche Verkehrtheit  des  vornehmen  geselschaftstones  mit  lüderlicher  sprach- 
raengerei  bekundet*.  Die  Banise  sei  das  erzeugnis  zügellos  wilder,  im 
erklügeln  schwülstiger  gefülile  oder  Vorstellungen  und  ausdrücke  dafür 
bis  ziu"  erschöpfung   angestrengter    einbildungskraft;    im    erstreben  des 

1)  Theatr.  Journal  f.  Deutschland  1777,  I,  64. 

2)  Eine  frühere,  aber  weniger  ^^•ichtige  kritik  über  die  ganze  romangattuug 
findet  sich  in  Bodmers  ,  Discoursen  der  Mahler "  teil  lU,  s.  100. 

3)  Menzels  litteraturgeschichte  stelt  Cholevius  in  seiner  von'ede  an  den  pranger. 

4)  Das  Lst  -svol  die  ungerechteste  aller  beschuldigungen.  Der  vergleich  Ziglers 
mit  seinen  quellen,  besondei-s  mit  Francisci,  beweist  augenfälhg,  wie  er  deren  fremd- 
worte  dui'ch  deutsche  ersezt. 


ZIGLERS   asiatische   BANlSE  65 

neuen,  ungeheuren,  was  staunen  und  grausen  erregen  soll,  verspotte 
sie  die  gesetze  der  natiir  und  sitsamkeit  und  sinke  oft  matt  zur  gemein- 
heit  herunter.  Ganz  andei's  klingen  Scherers,  des  neuesten  gewichtigen 
kritikers,  werte  (379);  er  stelt  die  Banise  über  Arniinius  in  betreff  der 
effektvollen  fortschreitenden  handlung,  erklilrt  den  stoif  für  geschickt 
verändert  und  abgerundet  und  i'ühnit,  hier  tinde  sich  keine  gelehrsani- 
keit,  keine  verborgene  Weisheit,  dafür  aber  die  richtigen  romanfigureu. 

Man  sieht  schon  aus  dieser  blumeniese,  die  beliebig  vergrössert 
werden  könte,  dass  es  nötig  ist,  unbeeinfhisst  von  früheren  äusserun- 
gen,  sich  eine  eigene  meinung  zu  bilden.  Die  neueste  handliche  aus- 
gäbe der  Banise  (siehe  oben)  ladet  dazu  ein,  nach  dieser  eitlere  ich 
als  nach  dem  besten  bisherigen  drucke,  obgleich  der  herausgeber  die- 
sen nicht  nach  einer  der  ersten  autlagen  (1688  und  1690),  sondern 
nach  einer  von  den  ZAvei  aus  dem  jähre  1707  stammenden  hat  herstel- 
len müssen. 

Ich  gebe  zunächst  eine  gedrängte  inhaltsangabe  des  werkes^.  Ba- 
lacin  ist  der  zweite  söhn  des  königs  Dacosem  von  Ava  in  Hinterindien, 
Banise  die  tochter  Xemindos,  des  kaisers  von  Pegu,  des  neffen  jenes 
Dacosem.  Die  beiden  hauptpersonen  stehen  also  im  Verhältnis  von 
onkel  und  nichte,  doch  wird  gerade  diese  verwantschaftliche  Stellung  gar 
nicht  berührt,  vielmehr  nur  die  tatsaclie,  dass  Dacosem  seinen  neffen  als 
kaiser  nicht  anerkent,  ihm  den  lehnseid  weigert  und  somit  die  beiden 
höfe  in  erbitterter  feindschaft  einander  gegenüberstehen,  zumal  Dacosem 
das  land  von  Banisens  vater  gerade  für  seinen  zweiten  söhn  Balacin 
erobern  will.  Ein  Überläufer  von  Pegu,  der  sich  in  Ava  aufhält,  ist 
Chaumigrem  aus  Brama,  der  an  dem  hofe  Dacosems  sehr  bald  einen 
ganz  ausserordentlichen  einfluss  erhält,  besonders  dadurch,  dass  Xemin- 
dos einfall  in  xlva,  bei  dem  Balacins  älterer  bruder  getötet  wird,  durch 
Chaumigrem s  bruder  Xenimbrun  zum  stilstand  gebracht  wird.  Auch 
dieser  fält  nämlich  von  Xemindo  ab  und  bedroht  Pegu,  so  dass  der 
bis  dahin  siegreiche  kaiser  sich  gegen  ihn  wenden  muss.  Lezterer 
besiegt  und  tötet  jenen  zwar,  doch  hat  dies  nur  die  folge,  dass  nun 
der  viel  gefährlichere  Chaumigrem  an  des  bruders  stelle  herr  von  Brama 
wird  und  sein  ehrgeiz  eine  weit  gewaltigere  kriegsflamme,  die  ganz 
Hinterindien  erfasst,  entzündet.  Er  erobert  zuerst  Martaban,  dessen 
könig  ein  Schwiegersohn  Xemindos  ist,  vertilgt  unter  den  grösten  grau- 

1)  Andere  inhaltsangaben  bei  Cholevius  s.  154  —  162,  Bobertag  s.  160  —  176 
und  am  küi'zesteii,  aber  recht  geschickt  bei  Schlossar  s.  84  —  87.  Ich  gebe  oben 
zunächst  niu-  die  haupthandlung  und  füge  auf  den  folgenden  Seiten  minder  wichtige 
und  doch  wissenswerte  partien  an. 

ZEIISCHELFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXII.  ö 


^G  MÜLLER  -  FRÄUENSTEIN 

samkeiteu  das  ganze  dortige  fürstenhaus  und  bedroht  endlich  Pegu 
selbst  Gegen  ihn  erfleht  jezt  Xemindo  seines  onkels  Dacosem  von  Ava 
hilfe  nnd  zwar  durch  dessen  söhn  Balacin,  welcher  vor  Chaumigrems 
eintluss  früher  hat  aus  Ava  weichen  müssen,  in  tiefstem  incognito  nach 
Pegu  gegangen  ist  und  durch  alle  möglichen  heldentaten  Xemindos  und 
vor  allem  seiner  tochter  Banise,  einer  gefeierten  Schönheit,  liebe  gewon- 
nen hat.  Balacin  wird  also  mit  günstigen  anerbietungen  von  Pegu  zu 
seinem  vater  geschickt,  riclitet  aber  nichts  aus,  sondern  muss  zwei 
monate  lang  bei  seinem  vater  unter  strenger  bewachung  aushalten, 
wälirend  welcher  zeit  Chaumigrem  Pegu  einnimt,  den  kaiser  Xemindo 
in  unwürdlirer  weise  tötet  und  auch  Banise  zu  ermorden  befiehlt. 
Darauf  eilt  Balacin,  der  jezt  freigelassen  wird,  nach  Pegu,  gelangt  nach 
den  mannigftiltigsten  abenteuern  in  Talemons,  des  kaiserlichen  Schatz- 
meisters, eines  früher  gewonnenen  freundes,  schloss  und  hört  hier,  als 
er  verwundet  an  das  krankenlager  gefesselt  ist,  sowol  dass  Banise  durch 
das  mitleid  des  oberhauptmanns  von  Chaumigrems  leibwache  Abaxar 
gerettet  ist  und  versteckt  gehalten  wird,  als  dass  sein  vater  plötzlich 
gestorben  und  ihm  damit  Ava  und  zugleich  durch  den  tod  des  dor- 
tigen königs  Aracan  zugefallen  ist.  Er  hat  also  nun  die  macht,  mit 
Chaumigrem  offen  in  die  schranken  zu  treten,  unternirat  aber,  durch 
die  Verschlimmerung  von  Banisens  läge  dazu  gedrängt,  einen  versuch 
sie  ans  Pegu  zu  entführen.  Der  tyrann  hat  nämlich,  nachdem  er  sich 
auch  des  landes  Prom  bemächtigt  und  die  dortige  königin  getötet,  von 
Abaxars  eigenmächtigem  handeln  kentnis  erhalten,  Banise  vor  sich 
führen  lassen  und,  von  ihrer  Schönheit  hingerissen,  ihr  eine  bedenkzeit 
von  sechs  tagen  gegeben,  nach  deren  ablauf  sie  entweder  sich  mit  ihm 
verbinden  oder  den  tod  erleiden  soll.  Durch  Talemons  söhn  Ponnedro, 
den  „oberhofmeister  des  kaiserlichen  frauenzimmers",  wird  Balacin, 
der  sich  als  portugiesischer  händler  verkleidet,  eine  Zusammenkunft 
mit  Banise  ermöglicht,  bei  der  er  sie  beredet,  Chaumigrem  einen  Schlaf- 
trunk einzugeben.  Dieser  tut  seine  Schuldigkeit,  die  liebenden  entflie- 
hen glücklich  aus  der  Stadt,  verirren  sich  aber,  und  Banise  wird  mit 
des  prinzen  diener  Scandor  eingeholt  und  zurückgebracht.  Zu  ihrem 
glücke  folgt  der  noch  immer  verliebte  Chaumigrem  dem  rate  des  ober- 
sten priesters,  desRolim,  Avelcher  bei  der  gefesselten  prinzessin  anblick 
ebenfals  von  leidenschaft  zu  ihr  erfasst  worden  ist  und  sie  für  sich 
gewinnen  will,  und  bewilligt  ihr  eine  sechsmonatliche  trauerzeit  in  des 
Eolim  gewahrsam;  Scandor,  den  er  frei  lässt,  gibt  dem  fast  verzweifel- 
ten Balacin  davon  künde.  Dieser  rüstet  in  Aracan  zum  kriege  und 
tritt  Ava  seiner  Schwester  Higvanama  ab,   während  Chaumigrem  Siam 


ZIGLERS    ASIATISCHK   BAXISE  67 

und    dessen    liaiiptstcult  Odia    erobert.     Bei  diesem   zuge  Avii'd  Abaxar, 
der  in  Chaumigrems  vertrauen  geblieben  ist,    von   den  Sianiesen  gefan- 
gen,   lernt  dabei   die  sianiesisclie  prinzessin  Fvlane  kennen  und  lieben, 
bestellt  für  sie  einen  Zweikampf  und  wird  nach  der  einnähme  der  Stadt 
ihr  imd  ihres  verwundeten,  heldenmütigen  bruders  Nherandi  retter  und 
gefangen  Wärter.      Auf   dem    rückmarsehe    von   Odia    trift  Chaumigrems 
beer  in  einer  furchtbaren  schlacht  am  passe  Abdiara  mit  Balacin  zusam- 
men  und  Avird   bis   auf  klägliche   trümmer,    die  sich  nacli  Pegu  retten, 
vernichtet.     Um  diese  stadt  zieht  sich  nun  der  krieg  zusanunen;  ausser 
Balacin  belagert  auch  prinz  Zarang  von  Tangu   dieselbe,    ein  unglück- 
licher liebhaber  Banisens,    der  gelegenheit  gehabt  hat,    leztere    in   des 
Rolim  gewahrsam  widerzusehen,  aber  ebenso  Avie  der  zudringliche  Rolim 
selbst    von    ihr    abgewiesen    worden    ist.     Auch    der   siamesische  prinz 
Nherandi,  der  seine  freiheit  wider  gewonnen  und  sein  heimatsland  von 
den  zurückgelassenen  truppen  Chaumigrems  befreit  hat,   komt  Balacin 
zu  hilfe,   endlich  noch   des  lezteren  Schwester  und  Nherandis  verlobte, 
Higvanama  von  Ava.     Diese  jedoch  fält  unterwegs  in  die  bände  eines 
Chaumigrem  zuziehenden  heeres,  wird  aber  glücklicherweise  kurz  darauf 
von   ihrem   bräutigam  wider  befreit.     Trotz   alledem  scheint  der  gefan- 
genen  Banise   Schicksal    besiegelt.     Chaumigrem   hat   mehr    und   mehr 
seine  leidenschaft  für  sie  überwunden,  und  als  Banise  den  Rolim,  wel- 
cher ihr  gewalt  antun  Avill,  niedersticht,  befiehlt  er,  sie  nach  21  tagen 
dem  kriegsgotte  Carcovita  zu  opfern.     Die  nachricht  davon  bringt  der 
wider  einmal  gefangene  und  ausgewechselte  Scandor  seinem  herrn,  und, 
während  die  stadt  aufs  heftigste  belagert  wird,   schmiedet  dieser  nun 
mit  dem  immer  noch  als  Chaumigrems  leibwächter  in  dessen  unmit- 
telbarer nähe  weilenden   Abaxar  und  einem  von  dem  tyrannen   belei- 
digten general  Martong  den  entscheidenden  plan.     Yorher  ist  auch  sein 
nebenbuhler  Zarang    durch    die  von  ihm  früher    verschmähte    priuzes- 
sin   von    Savaady,    die    in    der   Verkleidung  der   Banise    zu  ihm  komt 
und  plötzlich  sein  herz  gewint,    zum  abzuge  vermocht   und   das  feld 
zwischen  den  hauptpersonen  völlig   frei   geworden.     Balacin   und   sein 
getreuer  Scandor  machen  sich  unkentlich,   gelangen  in  die  stadt  Pegu 
und  erfahren  von  Abaxar  die  einzelheiten  des  rettungsplanes.     Lezterer 
bewii'kt  bei  dem  neuen  Rolim  die  aufnähme  Balacins  unter  die  opfer- 
priester,  und  diesem  gerade  als  dem  jüngsten  Avird  der  auftrag,  Banise 
zu  töten.     Die  unglückliche  prinzessin  ist  ohne  jede  ahnung  von  diesen 
massnahmen,    sie    komponiert    eine    trauerarie,    die    bei    der  ceremonie 
gesungen  Avird,  und  hält  in  dem  tempel  des  kriegsgottes  vor  dem  ver- 
sammelten hofe  Chaumigrems  und  der  iniesterschaft  eine  grosse  ti^auer- 


5* 


^  MÜLLER  -  FRAUENSTEIK 

und  abscliiedsrede.  AVährend  sie  aber  mit  geschlossenen  äugen  vor 
dem  cütare  kniet,  nuiclit  sich  der  vor  ilu-  stehende  opferpriester  phUz- 
lich  als  Balacin  keutlioh,  ersticht  den  auf  ihn  losstürmenden  Chaumi- 
grem,  und  ein  von  Abaxar  und  Martong  geleiteter  aufstand  wirft  des- 
sen anhänger  im  tempel  nieder;  Nherandi  erstürmt  inzwischen  die  stadt. 
Aliremeiue  fi-eude  herscht  ob  der  ciücklichen  wendunq-,  sie  wird  noch 
dadurch  erhöht,  dass  Abaxar  sich  als  prinz  Palekin  von  Proni  ausweist 
imd  Talemon  die  von  ihm  verborgenen  scliätze  von  Banisens  vater  dem 
neuen  hersclier  ausliefert.  Die  hochzeiten,  nämlich  die  von  Balacin, 
Nherandi  und  Palakin  mit  den  zu  ihnen  gehörigen  prinzessinnen ,  bie- 
ten zu  Schaustellungen  jeder  art  anlass,  von  denen  ein  poetischer  wet- 
streit  zwischen  Yenus  und  Mars  und  das  Schauspiel:  Die  handlung  der 
listigen  räche  oder  der  tapfere  Heraclius  die  glänzendsten  sind ,  und 
unter  den  zärtlichsten  freundschaftsbeteuerungen  nehmen  Balacin,  der 
kaiser  von  Pegu  und  Aracan,  Nherandi,  der  könig  von  Slam,  und 
Palekin,  der  könig  von  Prom  und  dem  ihm  geschenkten  Ava,  mit  ihren 
ehehälften  abschied  von  einander. 

Dies  der  inhalt.  Die  Verteilung  des  Stoffes  in  die  drei,  nicht 
weiter  in  kapitel  oder  sonstige  unterteile  zerlegten  bücher  geschieht  in 
folgender  weise:  Das  erste  buch  ist  fast  ganz  mit  erzählungen  am  kran- 
kenlager  des  verkleideten  prinzen  Balacin  auf  Talemons  schloss  erfült. 
Ziemlich  alles,  was  vor  desselben  zweitem  erscheinen  vor  Pegu,  also 
vor  seinem  aufenthalte  bei  Talemon,  und  vor  dem  unglücklichen  flucht- 
versuch,  geschehen  ist,  wird  hier  von  seinem  dien  er  Scandor  (s.  38  — 
86  und  95  — 171)  vor  den  obren  des  alten  Talemon,  seines  zu  besuch 
anwesenden  sohnes  Ponnedro  und  Abaxars,  der  lezteren  begleitet,  berich- 
tet. Der  prinz  muss  seine  und  seiner  Schwester  Higvanama  lebens- 
und  leidens-  und  seine  und  Banisens  liebesgeschichte  geduldig  mit 
anhören,  auch  Talemon,  selbst  Ponnedro  haben,  wenigstens  von  dem 
zweiten  teile,  längst  genaue  kentnis,  nur  Abaxar  scheint  lauter  neuig- 
keiten  zu  erfahren.  Der  bericht  ist  ausserdem  insofern  recht  unglaub- 
würdig, als  der  diener  nicht  nur  seines  herrn  werte  und  handlungen 
mit  gröster  epischer  breite  angibt,  sondern  auch  seine  und  anderer 
gedanken,  ganz  wie  es  der  dichter  direkt  tun  würde,  erzählt.  Am 
auffälligsten  aber  sind  die  darein  geflochtenen  bricfe  und  gedieh te,  die 
einerseits  zum  teil  dem  Scandor  kaum  bekant,  anderseits  seinem 
gedächtnis  in  dem  getreuen  Wortlaut  unmöglich  so  eingeprägt  sein 
können.  Ein  einziger  vers  nämlich  s.  45  stamt  aus  seinem  eigenen 
gehirn,  dann  folgt  s.  48  eine  liebesarie  der  prinzessin  Higvanama,  ein 
vers  Chaumigi"ems  (s.  52),  ein  brief  des  lezteren  an  jene  (55),  ein  brief 


ZIGLERS   ASIATISCHE   BAXISE  69 

und  gedieht  Nherandis  an  dieselbe  (63—  65),  ein  gefälschtes  schreiben, 
und  gedieht  desselben  an  die  gleiche  person  (72.  73),  drei  schreiben 
Chaumigrems  an  Balacin  und  dessen  vater  (81  — S3).  In  der  zweiten 
hälfte  von  Scandors  erzähhmg  findet  sich  der  wichtige  orakelvers  (100), 
welclier  Balacin  zuerst  nach  Pegu  weist  und  ihm  sein  ganzes  Schicksal 
voraussagt,  welchen  man  also  nicht  wol  anfechten  kann,  aber  auch  ein 
unsagbar  geschmackloses  lied  der  prinzessin  von  Savaady  (116.  117), 
die  lange  erzählung  des  fluch tlings  aus  Martaban,  der  dem  versannnel- 
ten  hofo  in  Pegu  Chaumigrems  greueltaten  daselbst,  und  zwar  auch  in 
erster  person  berichtet  (138 — 1-46),  ein  längeres  liebesgedicht  Balacins 
in  Alexandrinern  (162.  163)  und  eine  ebensolche  antwort  Banisens 
(164).  Die  vom  dichter  direkt  gegebene  handlung  im  ersten  buche 
besteht  nur  in  Balacins  ankunft  vor  Pegu,  seiner  Verwundung  durch 
Bramaner,  seiner  glücklichen  aufnähme  in  Talemons  schloss,  dem  allein 
er  sein  incognito  enthült,  und  seinem  achttägigen,  durch  den  lieilungs- 
process  veranlassten  aufenthalte  daselbst.  Er  wird  liier  durch  die  trotz 
seines  incognitos  in  ihn  verliebte  tochter  des  Talemon,  Lorangy,  und 
deren  Stiefmutter  Hassana  in  fatale  läge  gebracht,  aber  durch  die 
ankunft  seines  dieners  Scandor  erfreut,  welcher  ihm  zwei  briete,  die 
auch  Avürtlich  abgedruckt  sind,  überreicht  und  darin  die  künde  von 
seines  vaters  in  Ava  tod  und  von  seiner  wähl  zum  künig  von  Aracan 
bringt.  Sonst  ist  im  ersten  buclie  noch  der  umstand  wichtig,  dass 
Abaxar  mit  Balacin.  bekant  wird  und  abneigung  gegen  seinen  herrn, 
Chaumigrem,  verrät;  er  deutet  jedoch  noch  mit  keinem  werte  an,  dass 
er  die  für  tot  gehaltene  Banise  gerettet  hat. 

Ist  nun  die  composition  des  ganzen  ersten  buches  überhaupt  schon 
sehr  schwerfällig,  der  kunstgriff,  dass  die  Vorgeschichte  breit  erzählt 
wird,  besonders  deshalb  ungeschickt,  weil  es  vor  zumeist  längst  in  die- 
selbe eingeweihten  geschieht,  so  muss  man  sich  noch  mehr  über  die 
naivetät  wundern,  mit  der  der  dichter  in  person  Scandors  ab  ovo  anfängt, 
während  doch  der  unglückliche  prinz  nach  einem  erlösenden  worte  über 
Banisens  Schicksal  schmachtet.  Einige  stellen  könten  darauf  hinweisen, 
dass  Zigler  die  Unwahrheit,  die  in  den  langen  erzählungen  gerade  vor 
diesen  personen  liegt,  selbst  fühlt.  Der  prinz  verrät  öfters  seine  teil- 
nähme in  höherem  grade,  als  Abaxar  verstehen  kann;  so  heisst  es,  als 
sein  erster  abschied  von  seiner  verlobten  berichtet  Avird,  s.  169:  „Hier 
wendete  sich  der  Printz  um,  und  hätte  sich  in  sothaner  schmertzlicher 
erinnerung  fast  verrathen,  indem  er  seinen  äugen  nicht  mehr  zu  gebie- 
ten vermochte,  dannenhero  Scandor  seine  erzehlung  möglichst  verkürtzte 
und  sie  durch  folgende  worte  endigte."     llan  vergegenwärtige  sich  nur 


70  MÜLLER  -  FRAUENSTEIN 

die  Situation:  die  einzige  persöDlicbkeit  auf  gottes  weiter  erde,  die  den 
prinzen  beruhigen  könte,  sizt  an  seinem  lager,  nämlich  Abaxar,  aber 
dieser  wird  von  keiner  seite  gefragt,  ob  er  den  befehl  Chaumigrems, 
von  dem  alle  wissen,  Banise  zu  töten,  ausgefiilut  habe. 

Dies  geschieht  ei'st  am  anfange  des  zweiten  buches.  Darin  wird 
zunächst  die  dürftige,  selbständige  nebenhandlung  des  ersten  zu  ende 
geführt,  Loraugy  bekomt  einen  mann,  aber  nicht  den  prinzen,  der  in 
der  ffrösten  verlecrenheit  zu  einem  nächtlichen  besuche  von  Seiten  sei- 
uer  Verehrerin  seine  Zustimmung  gegeben  hat,  sondern  den  untergescho- 
beneu Scandor,  der  weder  von  Lorangy  noch  von  deren  mutter  im 
dunkel  der  nacht  erkant  und  sogar  schleunigst  mit  ersterer  feierlich 
verheiratet  wird,  ehe  das  tageslicht  den  irtum  aufholt.  Dies  ist  eine 
der  ergötzlichsten  partieen  des  buches,  sie  eiiult  einen  künstlerischen 
zweck,  nämlich  mitten  in  die  tragische  Spannung  ein  ablenkendes 
moment  einzufügen,  ähnlich,  um  kleines  mit  grossem  zu  vergleichen, 
wie  die  seenen  zwischen  Francisca,  Just  und  Werner  in  Minna  von 
Barnhelm  den  abschluss  der  haupthandlung  zwar  verzögern  und  doch 
woltuend  wirken.  Eingeschoben  ist  gerade  der  traurige  schluss  der 
Vorgeschichte,  die  Talemon  (s.  ISl — 205)  übernimt,  da  er  natürlich  am 
besten  von  dem  „Tod  und  Untergang  des  unglückseligen  Käysers  Xe- 
mindo  samt  dessen  Printzen  und  gantzem  Reich"  bericht  erstatten  kann. 
Er  erzählt  in  durchaus  motivierter  weise  die  einzelheiten,  die  Balacin 
und  Scandor  unbekant  sein  müssen,  im  ganzen  einfach  und  natürlich; 
nur  ein  einziges  mal  flicht  er  einen  brief  der  königin  von  Prom  an 
Chaiimigrem  (199,  200)  ein. 

Damit  ist  die  exposition  zu  ende  geführt;  wir  stehen  aber  auch 
so  ziemüch  in  der  mitte  des  ganzen  romans.  Gerade  als  Abaxar  Bala- 
cins  incognito  durchschaut,  als  er  andeutet,  dass  er  Banise  gerettet 
habe,  und  als  er  jenem  seinen  beistand  schw^ört,  wii'd  er  verhaftet,  um 
Chaumigrem  über  die  Schonung  der  prinzessin  rede  zu  stehen,  und 
nun  wird  der  natürliche  gang  der  erzählung  nicht  mehr  unterbrochen. 
Ton  der  composition  dieser  zwx'iten  hälfte  ist  nicht  viel  mehr  zu  sagen. 
Schon  das  zweite  buch,  das  die  läge  der  heldin  sonst  nur  schlimmer 
werden  lässt,  gibt  den  anfang  der  peripetie  in  der  sechsmonatlichen 
frist,  welche  Banise  gestelt  wird,  und  in  Balacins  rüstungen  zu  ihrer 
befreiung;  als  untergeordnetes  moment  kommen  die  grossen  Verluste 
hinzu,  welche  Chaumigrem  vor  Odia  erleidet. 

Das  dritte  buch  steigert  die  gefahr  aufs  höchste  und  gibt  ein 
schier  unglaublich  gutes  ende. 


ZIGLERS   ASIATISCHE   BAMSE  71 

Yon  anfang  an  balanciert  also  das  Schicksal  Banisens  auf  der 
schärfe  des  Schwertes;  sie  ist,  wie  alle  glauben,  auf  Chaumigrems  befehl 
getötet,  nur  der  urplrttzliche  eindruck  ihrer  scliönheit  auf  den  zum 
morder  bestirnten  Abaxar  hat  sie  gerettet.  Nachdem  dies  am  selben 
tage  sowol  ihrem  verlobten  als  Chaumigrem  b(*kant  geworden,  gerät 
sie  wenigstens  insofern  in  immer  grössere  gefahr,  als  nicht  nur  ihr 
leben,  sondern  auch  ihre  tugend  fortwährend  bedroht  wird.  Die  angriffe 
darauf  abzuwehren  gelingt  ihr  allein,  ihr  leben  wird  gerettet,  als  sie 
es  um  ihrer  keuscheit  und  treue  willen  in  die  sclwnze  geschlagen  hat, 
von  ihrem  verlobten,  w^obei  mau  sich  nur  wuiulern  muss,  dass  ihr 
widerstand  ihr  nicht  vorher  den  tod  oder  schände  zugezogen  hat. 

Ein  wort  muss  an  dieser  stelle  noch  den  Übergängen  und  Sprün- 
gen der  erzähl ung  in  der  zweiten  hälfte  des  romans  gewidmet  werden. 
Sie  sind  meist  nicht  gewaltsamer  als  in  vielen  neueren  büchern  der- 
selben poetisclien  gattung;  die  phrasen  jedoch,  die  dabei  verwendet  wer- 
den, sind  komisch  genug,  um  angedeutet  zu  werden.  Einfach  klingt 
noch  eine  der  ersten:  „Wir  wenden  unsere  äugen  von  —  zu"  (218). 
Dann  aber  (280)  „verlassen  wir  auf  kurtze  zeit  das  waffen-bemühete 
Aracan  und  schicken  die  feder  nach  Pegu."  Natürlicher  wider  klingt 
der  satz  (294):  „Hier  Avollen  wir  die  bedrängten  Siammer  in  blut  und 
dampff  verlassen  und  nach  Pegu  eilen,  um  die  einsame  princeßin  in 
ihrem  tempel  zu  besuchen."  Nach  den  von  ihr  abgeschlagenen  „heff- 
tigen  zwey  liebes -stürmen  wollen  wir  sie  wider  ruhen  lasseh  und  mit 
unserer  feder  einen  rück-ilug  nach  dem  lager  vor  Odia  nehmen"  (SOG). 
Yon  da  „lauff'en  wir  wider  zurücke  nach  Siam"  selbst  (311)  und  „las- 
sen dann  unsere  feder  abermahls  zum  überläufi'er  werden,  welcher  sich 
aus  der  Stadt  in  das  feindeslager  begiebt"  (324).  Ferner  heisst  es: 
„"Wir  wollen  diese  zwey  Löwen  (Balacin  und  Zarang)  den  Tyger  (Chau- 
migrem) bestreiten  lassen  und  uns  nach  dem  Printzen  Nherandi  um- 
sehen, wo  dieser  in  solcher  unruhe  geblieben  sey  (350)?"  „Wir  wollen 
Higvanama  auff  dem  Avege  verlassen  und  sie  bald  in  ketten  und  ban- 
den finden:  nachdem  wir  zuvor  die  Peguanischen  mauern  übersprungen 
und  den  verliebten  zustand  des  Chaimiigrems  und  Rolims  betrachtet 
haben''  (352)  und  über  dieselben  Mauern  „thun  wir  wider  einen  flug 
zurück"  (364).  Noch  lebhafter  sind  die  Übergänge:  „Doch,  grossmüthige 
Higvanama,  lasse  nur  die  gediüt  das  geistespflaster  werden,  und  wisse, 
dass  du  in  kurtzem  das  verhängniß  loben  und  rühmen  wirst"  (366) 
oder  „Und  will  ich  hier  der  feder  ein  stillschweigen  aufferlegen,  weil 
sie,  alle  Vergnügungen,  freimdschaffts- küsse  und  hertzüche  werte  vor- 
zustellen,   nur    ihre    imvermögenheit    verrathen    würde"    (373).      Oder 


7  2  MTLLEK  -  FRAUENSTEIN 

endlich:  „Wir  lassen  hier  den  vergnügten  Zarang  den  Savaadischen 
gürtel  lösen,  und  verfügen  uns  wider  in  das  Aracanische  lager  vor 
Pegu,  woselbst  wir  statt  lieblicher  küsse  donnernde  carthauen  spielen, 
und  statt  der  myrthen  die  mauern  von  Pegu  mit  blutigen  cypressen 
umgeben  schauen''  (382)..  Neben  derartigen  Übergangsphrasen  treten 
die  fälle,  wo  einfach  von  etwas  neuem  „kurtzer  bericht  abgestattet" 
oder  mit  einem  „inzwischen"  und  dergleichen  abgeleitet  wird,  völlig 
zurück. 

Wir  können  den  abschnitt,  der  die  composition  des  werkes  behan- 
delt, nicht  schliessen,  ohne  auf  noch  einige  andere  augenfällige  unwahr- 
scheinlichkeiten  der  handlung  ausser  den  schon  erwähnten  hingewiesen 
zu  haben.  Die  geschraubte  Situation,  die  auf  der  ununterbrochen  fort- 
dauernden lebensgefaln-  der  heldin  beruht,  ist  uns  am  empfindlichsten, 
sie  ist  aber  gerade  ein  hauptmittel  des  autors,  die  Spannung  zu  erhöhen 
und  könte  noch  heute  gerade  wie  damals  das  glück  des  Schriftstellers 
machen.  Er  ist  unerschöpflicli  im  aufspüren  neuer  gründe,  um  Ver- 
zögerungen für  den  eintritt  der  katasti'ophe  herbeizuführen,  ganz  wie 
Sue  oder  Dumas.  Oft  werden  tage  oder  wochen  oder  monate  im  vor- 
aus bestimt,  wo  irgend  etwas  eintreten  soll,  in  der  Zwischenzeit  sucht 
er  es  dann  so  zu  arrangieren,  dass  alles,  was  er  zur  abwendung  des 
Unheils  eintreten  lassen  will,  nicht  zu  unwahrscheinlich  erscheint. 
Trotzdem  glaube  ich  nicht,  dass  gerade  die  als  glanzpunkt  gedachte 
lösung  im  tempel  des  kriegsgottes  mit  der  rede  Banisens  und  dem  tode 
Chaumigi-ems  von  den  Zeitgenossen  so  gar  anders  gefunden  worden  ist 
als  von  heutigen  lesern.  Die  rede  mag  ihrem  geschmack  entsprochen 
haben!,  ^vährend  sie  uns  unbeschreiblich  geschmacklos  dünkt  in  ihrer 
schulmässigen  rhetorik,  mit  ihrer  kühlen  Überlegung  und  Phrasendre- 
scherei. Aber  dass  die  ihr  folgende  befreiung  nicht  so  geschickt  und 
spannend  wie  andere  partien,  zu  tumultuös  erfolgt,  wird  wol  auch 
einem  oder  dem  andern  der  ersten  Verehrer  des  buches  aufgefallen 
sein  -. 

Ein  einziges  mal  kann  es  scheinen,  als  ob  Zigier  etwaigen  ein- 
wendungen  gegen  die  fabel  entgegentreten  wolte.     S.  318  sagt  er:  „Zu 

1)  Chole\-ius  s.  169  zergliedert  sie  ganz  coiTekt,  findet  sie  ebenfals  „pedan- 
tisch und  unnatürlich,  ti-otzdem  sie  sicher  unzählige  heisse  thränen  heivorgelockt 
h  abe.  - 

3j  Bobertag  s.  220  sagt  ganz  richtig,  „es  mangele  die  fähigkeit,  die  bedeutsam- 
sten Situationen  klar  zu  erkennen  und  von  weniger  wichtigem  zu  unterscheiden,  auch 
die  kunst,  dann  eine  -wirkungsvollere  und  mehr  als  sonst  spannende  dai-stellung  anzu- 
wenden." 


ZIGLERS   ASIATISCHE   BANISE  73 

verwundern  ist  es,  wie  sich  ein  väterliches  hertze  durch  fremdes  fleisch 
sein  eigenes  geblüte  könne  hissen  verhasst  machen:  Allein  liier  muste 
die  Verwunderung  den  finger  auft"  den  miind  legen,  weil  öffters,  ob 
zwar  ein  ehrlicher,  doch  unordentHcher  begierdens  rauch  die  flamme 
natürlicher  liebe  ersticket."  Ich  muss  aber  betonen,  dass  es  z.  b.  den 
charakterzügen,  die  der  dicliter  den  personen  verleiht  und  die  später 
besprochen  werden  sollen,  nicht  recht  entspricht,  wenn  der  mordgie- 
rige, von  Banise  in  jeder  weise  zurückgestossene  oder  überlistete  Chau- 
migrem  dieser  so  oft  bedenkzeit  gibt,  auch,  nachdem  seine  leidenschaft 
schon  erkaltet  ist,  die  räche  verschiebt  (s.  besonders  s.  352,  354,  363), 
ferner  Avenn  der  jugendlich  leidenschaftliche  und  ritterliche  Bahicin  die 
zweite  herausforderiiiig  durch  den  priiizen  Zarang,  als  sie  zusammen 
Pegu  belagern,  nicht  annimt,  oder  wenn  der  leztere  so  schnell  der  ilni 
überlistenden  prinzessin  von  Savaady  die  tauschung  verzeiht  und  sie 
sogar  heiratet,  oder  wenn  Scandor,  eigentlich  nur  um  seinem  lierrn 
das  geschehene  melden  zu  können,  von  Chaumigrem  nach  dem  flucht- 
versuche  ohne  strafe  entlassen,  oder  endlich  wenn  Abaxar  von  diesem 
nach  dem  flagrantesten  ungehorsam  in  seiner  hohen  würde  gelassen 
Avird.  Das  sind  schwächen,  die  sicher  auch  nach  dem  ersten  erscheinen 
des  Werkes  empfunden  worden  sind. 

Anders  stellt  es  mit  einigen  andern  punkten.  Der  unglückliche 
vater  Banisens,  der  kaiser  Xemindo,  lässt  sich  auf  dem  richtplatze 
(s.  195)  mit  einem  Portugiesen  in  ein  gespräch  ein,  und  unter  andern 
werten  diese  fallen:  „Ich  muss  gestehen,  wenn  es  gott  gefiele,  möchte 
ich  itzo  noch  eine  stunde  leben,  um  zu  bekennen  die  vortrefligkeit  des 
glaubens,  welchem  ihr  andern  zugetan  seyd."  Diese  löbliche  gesinnung 
erscheint  uns  selbst  bei  dem  etwas  schwachmütigen  kaiser  von  Pegu 
so  völlig  unvermittelt,  dass  wir  an  ihrer  echtheit  zweifeln  müssen;  auf 
die  leser  vor  200  jähren,  die  mehr  als  wir  von  den  erfolgen  der 
jesuitischen  mission  gerade  in  Ostasien  hörten,  mag  sie  wol  besonders 
erbaulich  gewirkt  haben.  Auch  der  uns  wunderlich  vorkommende 
schluss  der  hochzeitsfeierlichkeiten ,  das  Zwiegespräch  zwischen  ]\[ars 
und  Yenus  und  das  von  Portugiesen  aufgeführte  tlieaterstück ,  wird  in 
jener  zeit  einen  entgegengesezten  eindruck  gemacht  haben.  Uns  will 
der  von  Zigler  „aus  dem  italiänischen  übersezte"  und  getrent  von  der 
Banise  schon  einmal,  em  jähr  vor  deren  erscheinen  gedruckte  „tapffere 
Heraclius'',  auch  wenn  Portugiesen  ihn  vor  dem  jungen  kaiserpaare  in 
Pegu  aufführen,  gar  nicht  nach  Hinterindien  gehören.  Die  gelehrten 
anspielungen  darin  auf  alte  mythologie  und  geschichte  fallen  uns  als 
vor  diesen  Zuschauern  in  so  hohem   masse  unmotiviert  auf,    dass  wir 


74  MÜLLER -FßAUENSTEIN 

bei  dieser  gelegeuheit  erst  recht  deutlich  empfinden,  wie  rein  der  eigent- 
liche roman  sonst  von  allem  solchen  krimskrams  ist. 

Man  würde  jedoch,  meine  ich,  sehr  unrecht  tun,  wenn  man  die- 
ses angehängte  theaterstück,  obgleich  es  dem  Inhalte  nach  eine  gewisse 
älmliclikeit  mit  dem  roman  nicht  verleugnet,  als  organisch  mit  dem 
ganzen  verbunden  beurteilen  wolte.  Das  titelblatt  sagt  es  ganz  offen: 
„Diesem  füget  sich  bey  eine  theatralische  handlung."  Der  dichter  hatte 
die  absieht,  das  stück,  auf  das  er  jedenfals  nicht  wenig  stolz  war  und 
das  nicht  besser  und  niclit  schlechter  ist  als  die  durchschnitswaare  der 
zweiten  schlesischen  schule,  noch  bekanter  zu  machen,  indem  er  es 
dem  gefolge  der  asiatischen  Banise  einverleibte;  der  kunstgriff  war  ein- 
fach genug  und  hat  jedesfals  seine  Wirkung  getan.  Eine  entschul- 
digung  kann  aber  auch  vom  künstlerischen  Standpunkte  insofern  gefun- 
den werden,  als,  wie  schon  angedeutet,  ein  parallelismus  zwischen  dem 
roman  und  dem  stücke  existiert.  Phocas  entspricht  in  manchem  Chau- 
migrem,  Heraclius  hat  die  züge  Balacins,  Theodosia  die  Banisens, 
Mauritius  gleicht  dem  unglücklichen  Xemindo,  das  zweite  liebespaar 
Honoria  und  Siron  könte  mit  Higvanama  und  Nherandi  zusammen- 
gestelt  werden.  Der  kern  der  fabel  ist  allerdings  insofern  ein  anderer, 
als  der  tyrann  sich  ausser  in  die  zwei  genanten  prinzessinnen  vor 
allem  in  den  als  weib  verkleideten  Heraclius  verliebt;  der  leztere  aber 
hat  doch  ebenso  Avie  Balacin  die  ihm  entrissene  braut  zu  befreien  und 
einen  gestürzten  k aiser  zu  rächen.  Die  mittel  sind  die  gleichen:  Ver- 
kleidung und  plötzlicher  Überfall  des  im  augenblick  wehrlosen  gewalt- 
liabere,  Unterstützung  des  kühnen  angreifers  durch  von  aussen  eindrin- 
gende freunde,  welche  die  leibwache  unschädlich  machen i.  Es  haben 
also  äussere  gründe  in  erster,  nicht  unbedeutende  innere  in  zweiter  linie 
den  dichter  zu  dieser  nochmaligen  benutzung  eines  früheren  werkes 
verführt;  der  hauptfehler  dabei  liegt  in  der  Verwendung  vor  einem 
publikum  (in  Pegu),  das  wohl  für  die  sache,  nicht  aber  für  die  namen 
Interesse  haben  konte.  Es  ist  dies  jedoch  ein  fehler,  den  Zigler  in 
weit  geringerem  umfange  begeht  als  alle  romanschriftsteller,  die  mit 
ihm  zugleich  arbeiteten. 

Vi'ii  kommen  nun  zu  der  hauptfrage  in  betreff  der  dichterkraft 
Ziglers:  "Wie  viel  von  dem  roman  ist  seiner  eigenen  phantasie  ent- 
spnmgen,  wie  viel  hat  er  benuzt  oder  abgeschrieben?  Der  einzige 
kritiker,  welcher  bisher  Ziglers  angaben  über  seine  quellen  (in  der  vor- 

1)  Ich  nehme  also  an,  dass  Zigler  in  betreff  der  composition  seines  romans  in 
etwas  von  diesem  seinem  dramatischen  werke,  das  er  als  aus  dem  italiänischen 
ühersezt  ein  jähr  frülier  veröffentlichte,  abhängig  war. 


ZIGLERS   ASIATISCHE   B ANISE  75 

rede)  geprüft  hat,  ist  Bobertag  s.  176  — 179.  Mich  befriedigten  dessen 
resultate  nicht  volständig,  ich  gebe  deshalb  hier  die  meinigen.  Sic 
beruhen  auf  der  genauen  lektüre  und  vei-g!eichung  der  beiden  von 
Zigler  genanten  Averke:  Gasparo  Balbi,  viaggio  delT  ludia  orientali, 
Venedig  1590,  und  Erasmus  Francisci,  Ost-  und  Westindischer,  wie 
auch  Sinesischer  Lust-  und  Stats- Garten,  Nürnberg,  1GG8,  zwei  wie 
in  der  grosse,  so  in  plan  und  ziel  völlig  verschiedene  bücher,  von 
denen  jedoch  das  zweite  das  erste  benuzt.  Balbi  war  venetianischer 
Juwelier  und  reiste  seines  geschäftes  wegen  1579  —  88  im  Orient  umlier, 
in  Syrien,  Mesopotamien,  Vorder-  und  Hinterindien.  Da  sein  buch 
in  der  hauptsache  vom  kaufmännischen  Standpunkte  geschrieben  ist  und 
alles,  w^as  für  den  handel  seiner  Vaterstadt  von  vorteil  und  Interesse 
sein  kann,  in  erster  linie  zusammenträgt,  so  bringt  es  nur  wenige  eth- 
nographische oder  geographische  specialitäten.  Über  geschichtliche  stofte  ' 
ist  es  ausführlicher  in  den  kapiteln  35  und  37;  hier  teilt  es  mit,  was 
gerade  damals  in  Hinterindien  politisch  wichtiges  geschah.  AVas  Balbi 
selbst  davon  sah  oder  von  Portugiesen  daselbst  hörte,  bringt  er  als 
neue  zeitung  aus  Pegu  nach  Venedig. 

Von  seinem  werke  gab  es  eine  lateinische  und  eine  deutsche  Über- 
setzung, die  erste  1606,  die  zweite  1605  in  Frankfurt  erschienen;  es 
ist  mir  aber  wahrscheinlicher,  dass  Zigler  das  original  selbst  benuzt 
hat,  da  er  meist  den  italienischen  text  wörtlich  überträgt.  Dies  geschieht 
an  folgenden  stellen: 

Balbi  blatt  100  =  Zigler  seite  347,  die  beschreibung  von  Pegu; 
B.  101  und  102^^  =  7..  347,  die  krokodile  und  die  bürg  ebenda;  B.  110'' 
=  Z.  281,  über  den  könig  des  weissen  elefanten;  B.  111  und  112  = 
Z.  281  und  282  über  die  bew^afnung  und  ausrüstung  des  heeres,  die 
fehlende  artillerie  usw.;  B.  118*  =  Z.  132  und  133  über  das  schöne 
schiff  des  königs  von  Pegu;  B.  118*'  und  HO""  =  Z.  133,  der  aufzug 
ebendesselben;  B.  122  =  Z.  135,  das  schifsfest  Sapan  Donou.  Aus 
dem  17.  kapitel  sind  ferner  w^ol  noch  die  festlichkeiten  bei  dem  tode 
eines  königs  von  Pegu  und  die  stelle  über  die  gebrauche  der  priester 
benuzt,  endlich  ist  ganz  wörtlich  das  36.  kapitel,  die  elefantenjagd,  = 
Zigler  282  fg. 

Das  alles  sind  züge,  die  unser  dichter  nur  zur  ausschmückung 
der  fabel  entlehnt;  diese  selbst  aber  hat  er  bis  auf  einen  nebenpunkt 
nicht  nach  Balbi  entworfen.  Derselbe  erlebte  nämlich  den  krieg  zwi- 
schen Ava  und  Pegu,  welcher  bei  Zigler  ganz  im  anfange  von  Scan- 
dor  erzählt  wird.  Hier  heissen  die  fürsten  Dacosem  und  Xemindo, 
Balbi  nent  keine  namen,  berichtet  überhaupt  den  hergang  ganz  trocken 


76  MÜLLER  -  rEALT:XSTFJN 

und  hängt  die  geschiclite  eines  zweiten,  aber  verunglückten  feldzuges 
gegen  Silon  (nach  Francisci  1509  =  Sion  =  Siam  =  Odia)  an,  wel- 
chen Zigler  nicht  benuzt.  Mit  wie  freier  phantasie  der  leztere  gerade 
diese  für  uns  wichtigste  stelle  verwendet,  ergibt  folgende  Zusammen- 
stellung. Bei  Balbi  wie  bei  Zigler  huldigt  der  könig  von  Ava  dem 
von  Pegu,  seinem  neffen,  nicht,  gibt  ihm  keine  geschenke  und  hindert 
den  handelsverkehr  zwischen  beiden  ländern;  den  umstand  benuzt  Zig- 
ler nicht,  dass  der  von  Pegu  deshalb  abgeschickte  gesante  von  jenem 
ermordet  Avird.  Vor  dem  feldzuge  richtet  der  könig  von  Pegu  aus 
furcht  vor  verrat  4000  personen  hin,  die  vornehmsten  seiner  unter- 
thanen  mit  ihren  familien  bis  herab  auf  die  Säuglinge;  Zigler  lässt 
dagegen  Xemindo  von  ehrgeizigen  unterthanen,  Xeminbrun  und  Cliau- 
migrem,  wirklich  verraten  werden.  Auch  die  erkrank img  des  königs 
an  den  blättern  benuzt  er  nicht.  In  der  entscheidungsschlacht  kämpfen 
ferner  bei  Balbi  beide  könige  selbst  mit  einander;  der  Peguaner  tötet 
den  von  Ava,  bei  Zigler  nur  dessen  ältesten  söhn,  so  dass  nun  dem 
jüngeren,  Balacin,  die  thronfolge  zufält.  Yon  einzellieiten  sind  bei 
dieser  scene  mehrere  bezeichnende  mit  herübergenommen,  z.  b.  das 
Schwert  des  Peguaners,  welches  ihm  von  dem  portugiesischen  vicekönig 
Luigi  di  Taida  verehrt  worden  ist,  ferner  die  Verletzung  und  wut  sei- 
nes elefanten.  Man  sieht,  das  sind  alles  einzelne,  wenige  züge  von 
bestimtem  Charakter,  gewisse  härten  werden  gemildert;  der  ausgang 
aber  ist  ein  völlig  verschiedener.  Während  bei  Balbi  die  feindliche 
armee  sich  ergibt,  Ava  geschleift  und  seine  einwohnerschaft  in  die  wild- 
nis  hinausgejagt  wü-d,  lässt  Zigler  hier  Xeminbruns  abfall  eintreten  und 
Pegu,  ohne  Ava  selbst  anzugreifen,  sich  gegen  diesen  wenden.  Xur 
den  umstand,  dass  der  grosse  schätz  von  Ava  nicht  aufgefunden  wird, 
beutet  er  später  in  Pegu,  gegen  Chaumigrem,  aus,  und  wörtlich  nimt 
er  die  rührende  stelle  herüber,  wo  der  elefant  des  gefallenen  königs 
(oder  kronprinzen)  von  Ava  bei  dem  siegeseinzuge  in  Pegu  weint  und 
14  tage  lang  keine  nahrung  zu  sich  nimt.  Aus  dem  nun  folgenden 
feldzuge  gegen  Siam  oder  Odia  könte  unseren  dichter  höchstens  die 
notiz  angeregt  liaben,  dass  der  vater  des  königs  von  Pegu  früher  mit 
800000  mann  die  stadt  eroberte;  er  lässt,  wenn  auch  nicht  durch 
Xemindo,  so  doch  durch  Chaumigrem  dasselbe  ziel  erreichen. 

Also  nur  für  eine  nebenhandlung,  den  krieg  Xemindos  gegen 
Dacosem,  hat  Zigler  hie  und  da  züge  aus  Balbi  benuzt,  etwas  mehr 
zur  künstlerischen  ausschmückung  der  Verhältnisse  von  stadt  und  hof 
in  Pegu.  Der  kern  der  fabel,  die  Schicksale  Banisens,  Balacins,  Chau- 
migrems,  ist  bei  Balbi  mit  keiner  silbe  gestreift. 


ZIGLERS    ASIATISCHE   BANISE  77 

Solte  Francisci  dafiir  die  quelle  gewesen  sein?  Jedesfuls,  das 
merken  wir  bald,  ist  dessen  dickleibi;j^es  buch  aus  ungemein  vielen 
älteren  kompiliert  und  eine  bequeme  fundgrube  für  kuriose  nachrich- 
ten  aus  Ost-  und  Westindien  nicht  nur,  sondern  aus  allen  ländern 
und  Zeiten.  Es  erzählt  nidit  nur  zwei,  sondern  eine  ganze  menge 
kriege  in  Hiuterindien,  es  führt  auch  mehrere  personen  deutlich  vor, 
aber  von  der  hauptfabel  Ziglers  ist  auch  hier  nur  wenig  zu  entdecken. 
Von  Seite  1530  an,  im  dritten  teile,  wird  es  für  uns  wichtig,  lu  dem 
Vorgespräch  zwischen  Eloris  Angelott  und  Sinnebald  erinnert  dagegen 
nur  der  gedankenaustausch  über  liebe  und  frauen  in  etwas  an  entspre- 
chende partien  bei  Zigler,  ist  aber  nicht  wörtlich  benuzt.  Aus  dem 
ersten  buche  ferner  ist  das  kraut  dutroa,  mit  dem  Banise  Chaumigrem 
einschläfert,  sonst  aber,  gerade  wie  aus  dem  zweiten,  nur  weniges  zur 
naturgeschichtlichen  Schilderung  des  landes  entlehnt.  Balbi  endlich, 
nicht  Francisci  1518  —  29,  liegt  den  entsprechenden  Ziglerschen  Seiten 
über  Pegu  zu  gründe,  wie  schon  angegeben.  Auch  die  geographische 
beschreibung  Slams  oder  Odias  (Fr.  1509,  Z.  290)  ist  nicht  wörtlich, 
der  anlass  zum  kriege  zwischen  Slam  und  Pegu  sachlich  wol  gleich, 
in  der  form  anders  erzählt,  die  zustände  in  Siam  erscheinen  in  einem 
anderen  lichte,  der  ganze  feldzug  ist  bei  Francisci  1510  sehr  kurz, 
nach  Cäsar  Fridericus,  behandelt.  Wir  ersehen  daraus  als  faktische 
ergänzuug  zu  Balbi,  dass  im  jähre  1567  ein  könig  von  Pegu  29  monate 
laug  Odia  mit  1400000  mann,  zu  denen  noch  500000  mann  zuzug 
gekommen  seien,  belagert  und  endlich  durch  verrat  genommen  haben 
soll;  der  überwundene  könig,  so  heisst  es  kurz,  habe  gift  genommen. 
Bei  Zigler  ist  aus  diesen  wenigen  sätzen  der  grossartige  kainpf  lun 
Odia  geworden,  den  Chaumigrem  schliesslich  trotz  Nherandis  verzwei- 
felter Verteidigung  siegreich  beendet,  während  der  könig  Higvero  mit 
seiner  gattin  sich  vergiftet  (s.  284  —  294,  306  —  330).  Balbi  dagegen 
verweilt,  Avie  oben  gesagt,  länger  bei  dem  zu  seiner  zeit,  also  etwa 
15  jähre  später,  erfolgten  verunglückten  angriff  des  sohnes  jenes  königs 
von  Peo:u  auf  Odia. 

Fast  wörtlich  gleich  lautet  zuerst  die  algemeine  Schilderung  des 
festes  des  kriegsgottes  (Z.  364,  Fr.  1523),  Avelche  nach  Yincent  le  Blanc 
entworfen  ist,  ebenso  die  ki'önung  in  Pegu  (Z.  404  fg.  =  Fr.  1525  fg.), 
nur  dass  Zigler  viel  kürzt  und  anderseits  die  schöne  rede  des  Rolim 
Korangerim  durchaus  selbständig  dazusezt.  Wie  cUe  nach  Balbi  gefer- 
tigte erzählung  des  peguanisch-avanischen  krieges  bei  Zigler  durch  den 
erzähler  Scandor  eine  völlig  andere  färbung  erhielt,  so  flicht  hier  unser 
dichter   geschickt    seine    eigenen    politischen    ansichten   ein,    überträgt 


78  MÜLLER  -  FRAUEXSTELV 

ausserdem  gewisse  handliingeu  auf  ganz  andere  personen.  In  den 
Vordergrund  für  den  gang  der  kriegsereignisse  in  unserem  romane 
tritt  Francisei  erst  s.  1530  fg.,  von  wo  an  er  den  Portugiesen  Fernand 
Mendez  Pinto  und  Boterus  benuzt,  um  die  kriege  eines  königs  von 
Brama  mit  den  andern  hinterindischen  fürsten  zu  Pintos  lebzeiten  zu 
erzählen.  Der  könig  ist  nicht  genant,  sein  oberfeldherr  nur  heisst 
Xemiubruu;  bei  Zigler  bilden  lezterer  und  Chaumigrem  ein  würdiges 
brüderpaar,  von  dem  der  erstgenante  bald  verschwindet,  und  alles,  Avas 
nach  Francisci  der  köuig  selbst  ausführte,  komt  hier  auf  Chaumigrems 
rechuung  selbst.  Bei  Fr.  zieht  der  könig  zuerst  gegen  Martaban,  des- 
sen könig  Cambainha  von  beiden  Schriftstellern  den  gleichen  namen. 
erhält,  bei  Fr.  aber  kapituliert,  bei  Z.  ritterlich  kämpft.  Eine  genauere 
vergleiehung  der  betreffenden  Seiten,  Fr.  1530  — 1535,  Z.  138  — 146, 
ergibt  die  völlige  Selbständigkeit  unseres  dichters.  Francisci  erzählt  aus- 
führlich von  Unterhandlungen,  Zigler  lässt  durch  einen  entronnenen  Mar- 
tabaner  lebendig  und  anschaulich  die  belagerung  und  erstürmung  berichten. 
Die  folgende  massenhinrichtung  dagegen  ist  zwar  nicht  ganz ,  aber  in  vie- 
len ausdi'ücken  wörtlich  und  der  sache  nach  bei  beiden  gleich  (Fr.  1533 
— 1538,  Z.  1-11  — 1-16).  Bei  Francisci  rückt  der  Brama  nun  sofort  vor 
Prom,  und  dessen  belagerung  und  erstüi'mung  hat  Zigler,  wenn  auch 
in  anderem  zusammenhange,  beinahe  gleichlautend  mit  jenem,  beson- 
ders bezieht  sich  dies  auf  den  brief  der  königin  (Z.  199  —  205,  Fr.  1538 
— 1541).  Allerdings  fehlen  bei  dem  älteren  autor  alle  beziehungen  auf 
Abaxar,  welche  persönlichkeit  durchaus  Ziglers  ei-finduug  ist;  gescliickte 
abkürzungen,  ersetzung  von  fremdworten  durch  deutsche  und  nicht 
recht  nach  Asien  passender  diu'ch  geschicktere  fallen  ferner  dabei  auf. 
Ganz  selbständig  ist  in  unserem  buche  die  ausmalung  eines  grossen 
ausfalles,  welche  mir,  noch  ehe  ich  mit  Francisci  vergleichen  konte, 
wegen  ihres  plastischen  ausdrucks  besonders  gelungen  erschien.  Der 
leztere  lässt  an  dieser  stelle  den  könig  von  Brama  verwundet  und  Xe- 
nimbrun  getötet,  Zigler  ähnlich  Chaumigrem  von  einer  lanze  verlezt 
und  dessen  obersten  feldherm  niedergehauen  w^erden. 

Alle  bei  Francisci  1541  —  62  folgenden  ereignisse  hat  Zigler  nicht 
benuzt,  der  name  des  milchbruders  des  bramanischen  fürsten,  nämlich 
Chaumigrem,  komt  aber  hier,  s.  1561,  zum  ersten  male  vor.  Sodaim 
ist  für  den  wirklich  historischen  liintergrund  daraus  die  anmerkung 
s.  1557  von  Wichtigkeit,  in  der  es  heisst:  Pinto  sei  bei  der  belagerung 
von  Prom  ohngefähr  im  jähre  1540  zugegen  gewesen,  schon  vorher 
aber  habe  derselbe  könig  von  Brama  Pegu  bezwungen.  Dann  wendet 
sich  Francisci  s.  1562  zu  dem  zweiten,   aber  unglücklichen  angriff  auf 


ZIGLERS    ASIATISCHE   BANISE  79 

Slam,  Avelcheii  die  eine  seiner  quellen,  Boterus,  ins  jähr  1570  sezt, 
während  er  in  die  zeit  von  Balbis  autenthalt  fiilt.  Ähnlich  ist  hier 
nur  bei  Zigier  s.  2$4  fg.  die  figur  der  künigin,  die  sich  durch  ver- 
brecherische taten  hervortut,  dagegen  fehlen  bei  Fr.  Xlierandi,  Fylane, 
natürlich  aucli  Abaxar  und  die  schreckensscenen  und  zwistigkeiten  in 
Odia,  gerade  wie  bei  der  ersten  belagerung.  Die  einzelheiten  führt 
unser  roman  ganz  selbständig  aus,  die  lebendigsten  kampfscenen  haben 
bei  Er.  kein  analogen.  Die  maunigfaltigkeit  derselben  ist  aber  in  der 
Banise  geradezu  bewundernswert:  eine  schhicht  vor  der  einschliessung, 
grossartige  arbeiten,  den  fluss  abzudämmen,  ausfälle  bei  tag  und  bei 
nacht,  stürme  in  sehr  verschiedener  art  uud  weise.  Den  abzug  vor 
Slam  veranlasst  nun  bei  Francisci  s.  1564  der  abfall  des  Xemindo  in 
Pegu  von  dem  könige  von  Brama,  welch  lezterem  diese  Stadt  Untertan 
ist.  Dieser  Xemindo  wird,  wie  bei  Zigier,  dargestelt:  gutherzig,  mild 
und  höÜich,  er  wird  bei  beiden  in  einer  schlacht  geschlagen,  Pegu 
ergibt  sich  (Fr.  1565).  Trozdem  fält  auch  Martaban  ab  und  ausserdem 
der  Xemin  von  Satan  (1566);  ja  lezterer  überrascht  den  Brama  und 
bringt  ihn  um.  Der  milchbruder  des  getöteten  jedoch,  Chaumigrem, 
rettet  sich  mit  dem  grossen  schätze  (1567)  nach  seiner  geburtsstadt 
Tangu,  wälu-end  Xemin  von  Satan  als  könig  in  Pegu  gekrönt  wii-d. 
Gleich  seinem  Vorgänger  verfährt  er  aber  tyrannisch  gegen  die  Unter- 
tanen, wird  von  dem  widerauftauchenden  Xemindo,  der  sich  aus  jener 
imglücklichen  schlacht  gerettet  hat,  belagert  und  fält  bei  einem  gefecht 
vor  seiner  residenz.  Xemindo  ist  nun  Sy,  jähre  lang  ein  friedlicher 
und  gerechter  herscher  in  dem  viel  umstrittenen  Pegu,  dann  wird  er 
in  einer  bei  Francisci  ausführlich  beschriebenen,  bei  Zigier  nur  erwähn- 
ten schlacht  von  Chaumigrem  überwunden.  Der  leztere  will  nach  Fran- 
cisci (1576)  die  stadt  schonen,  erscheint  hierbei  in  gutem  lichte,  da 
er  sogar  deswegen  einem  aufruhr  entgegentritt,  und  zieht  in  Pegu  ein 
(1577).  Erst  von  hier  an  benuzt  Zigier  die  vorläge  wider  mehr  (187 
— 198),  und  dies  ist  überhaupt  die  wichtigste  entlehnung,  die  sich  bei 
ihm  findet.  Sie  betrift  Chaumigrems  einmarsch  und  sein  Strafgericht 
über  den  gefangenen  Xemindo.  Durch  den  erzähler  Talemon  wird  aber 
in  der  Banise  die  prinzessin  selbst  mehr  in  den  Vordergrund  geschoben 
und  Chaumigrems  Charakter  verschlechtert.  Klagen  über  die  Vergäng- 
lichkeit des  glucks  treten  dazu,  eine  hässliche  scene,  in  der  Xemindo 
von  einem  Portugiesen  verhöhnt  wird,  fält  weg.  Dagegen  sind  die 
partien,  in  denen  er  von  Chaumigrem  verspottet,  dann  zum  richtplatz 
geschlept,  von  seiner  tochter  mit  wasser  erquickt,  von  dem  henker 
geschlagen   und    endlich   getötet   wii'd,   ganz    gleich.      Zigier   entlehnte 


80  MÜLLER -FRAUENSTEIN 

dieser  selioii  bei  Fraiicisei  hoclidrauiatisclien  sceno  z.  b.  auch  die  werte, 
in  denen  Xemindo  den  wünsch  ausspricht,  christ  zu  werden,  und  sezt 
da  nur  die  strafe  hinzu,  av eiche  der  henker  von  einem  unbekanten 
ertahrt.  "Wörtlicli  benuzt  sind  von  unserem  dicliter  mehrere  sätze  auf 
s.  187  und  188,  die  Seiten  189  und  190  und  endlich  193—198.  Auf 
s.  191  ist  nur  die  scene  zwischen  dem  könig-e  und  seiner  tochter  wört- 
lich gleichlautend  bis  auf  den  schluss.  Dieser  aber  ist  für  unsere  fabel 
gerade  durchaus  die  hauptsache,  Francisci  s.  1578  nent  keinen  namen 
für  die  tochter;  sie  ist  die  verlobte  des  prinzen  von  Nautir,  eines  prin- 
zen  von  Ava,  und  wird  (s.  1579)  „auf  dem  Rucken  ihres  Yatters,  den 
sie  umhälsete,  erwürgt."  Da  ist  also  nur  der  umstand,  dass  ein  söhn 
des  königs  von  Ava  als  bräutigam  der  tochter  des  Xeinindo  genant 
wird,  von  Zigler  beibehalten.  Alles  andere,  was  er  von  diesen  beiden 
pei*souen  zu  erzählen  weiss,  und  das  ist  doch  der  Inhalt  seines  buches, 
ist  produkt  seiner  frei  waltenden  dichterkraft.  Vergleichen  wir  weiter, 
so  ergibt  sich  folgendes:  Die  beiden  anderen  liebespaare  existieren  in 
den  quellen  gar  nicht,  Scandor  und  Talemon  ebensowenig.  Der  vater 
Banisens  wird  aus  einem  von  vielen  Usurpatoren  zu  einem  grossen 
kaiser  umgewandelt,  dem  der  grösste  teil  Hinteriudiens  von  rechts- 
wegen  gehört.  Chaumigrem  dagegen  wird  aus  dem  bruder  des  grossen 
königs  von  Brama,  der  diesem  nachfolgt,  zu  einem  emporkömling,  auf 
den  fast  alle  kriege  und  die  Verwirrung  in  Ava,  Martaban,  Prom,  Siani 
und  Pegu  zurückzuführen  sind.  Er  wächst  dadurch,  dass  ihm  seines 
bruders  taten  mit  übertragen  werden ,  zu  einem  Napoleon  Hinterindiens 
empor,  zu  einer  grossartigen,  wenn  auch  für  unseren  geschmack  zu 
grell  gezeichneten  persönlichkeit.  Eine  kunstvolle  Steigerung  seiner 
erfolge  ist  bewirkt,  indem  feldzüge  aus  dem  jähre  1540  bis  1585,  von 
Pin  tos  bis  Balbis  anwesenheit  in  Asien,  ihm  beigelegt  sind,  und  mit 
dem  gi-össten  siege,  der  eroberung  Slams,  der  höhepunkt  erreicht  wird. 
Wenn  wir  Francisci  und  Balbi  verbinden,  so  sehen  wir:  Es  tritt  erst 
unter  einem  seiner  nachfolger,  welcher  zwar  Ava  bestraft,  aber  vor 
dem  abgefallenen  Slam  abziehen  muss,  in  Wirklichkeit  eine  art  rück- 
schlag  ein,  bei  Zigler  erreicht  ihn  selbst  eine  furchtbare  nemesis.  So 
ist  in  wirklich  kühner  weise  aus  den  verschiedensten  bausteinen  ein 
gewaltiges,  einheitliches  gebäude  aufgeführt,  vor  dem  man  nicht  daran 
erinnert  wird,  aus  welchen  Steinbrüchen  das  material  herbeigeholt  ist. 
Und  was  die  hauptsache,  eine  einzige  wichtigere  scene  hat  Zigler 
nicht  selbst  entworfen,  diese  hat  er  aber  mit  recht  wörtlich  benuzt,  sonst 
betreffen  alle  entlehnungen  nur  nobenhandlungen  oder  sind  zur  rheto- 
rischen ausschmückung  und  der  lokalfärbung  wegen  herübergenommen. 


ZIGLERS   ASIATISCHE   BANISE  81 

Dieses  resiiltat  meiner  verg-loiclmni^  der  beiden  hauptquellen  mit 
dem  romane  selbst  enthebt  mich,  so  hoffe  ich,  derselben  arbeit  in 
betreff  der  noch  ausserdem  von  Zigler  selbst  genanten  bücher:  „Saa- 
rens  und  Schultzens  Eeisebeschreibungon,  Rogeri  Heydenthum,  Rossens 
Religionen."  Auf  sie  fiilire  ich  die  meisten  l)ilder  religiösen  inlialts, 
die  processionen  und  einzüge,  die  tempel-  und  stiidtebeschreil)ungen 
zurück;  für  die  fabel  selbst  kann  ich  nach  den  bei  Balbi  und  Francisci 
gefundenen  ergebnissen  nichts  dergleichen  annehmen.  In  betreff  der 
Personennamen  kann  ich  nur  zwei  untergeordnete  tatsachen  noch  anfüh- 
ren: An  Balacin  erinnert  der  bei  Balbi  O-i"  angeführte  ort  Bah\tin  in 
der  nähe  von  Pegu,  und  Nherandi  glaube  ich  als  historische  person 
annehmen  zu  müssen,  da  das  Handbuch  der  geograpliie  und  Statistik 
von  Stein -Hörschelmann  H,  3  s.  452  als  „befreier  Slams  von  Pegu  und 
mehrer  des  reichs"  einen  P'hra  Nera'  von  1564  — 1593  nent.  Das 
stinit  der  sache  nach  ganz  zu  der  von  Balbi  und  Francisci  erwähnten, 
imglücklichen,  zweiten  belagerung  Odias  durch  die  Bramaner  und  Pe- 
guaner. 

Man  erlaube  mir  nur  noch  einige  wenige  bemerkungen  über  den 
eindi'uck,  welchen  die  von  Zigler  benuzten,  nach  den  eben  gepflogenen 
Untersuchungen  allein  ins  gewicht  fallenden  entlehnungen  zur  lokal- 
färbung  usw.  auf  den  leser  machen.  Wer  unbefangen  vergleicht,  wird 
gestehen,  Zigler  versezt  tatsächlich  mehr  als  irgend  einer  seiner  zeit- 
genössischen zuiiftgenossen  in  die  zeit  und  an  den  ort,  w^ohin  er  die 
fabel  nun  einmal  verlegt  hat.  Schlossar  geht  mir  zwar  zu  weit,  wenn 
er  sagt  (s.  69):  Zigler  schildere  an  der  band  ethnographischer  und 
naturhistorischer  w^erke  das  leben  und  treiben,  die  üppige  Vegetation, 
die  orientalische  pracht  an  den  königshöfen  dieser  länder,  er  zeige  die 
kriegführung,  die  sitten  und  gebrauche  der  Asiaten.  Ich  werde  im 
folgenden  zeigen,  in  wie  weit  das  berechtigt  ist,  in  Avie  weit  nicht, 
doch  in  gewisser  hinsieht  bleibt  allerdings,  das  ist  auch  meine  ansieht, 
von  anfang  bis  zu  ende  das  Hinterindien  vor  unseren  äugen,  welches 
in  der  zweiten  hälfte  des  16.  Jahrhunderts  durch  gewaltige  erschütte- 
rungen  bewegt  wurdet     Die  Portugiesen  sind  geschickt  verwertet,    sie 

1)  Auch  Cholevius  s.  152  sagt,  die  Bauise  verdiene  allein  einigermassen  den 
namen  eines  ethnographischen  romans.  Zwar  seien  die  fürsten  und  Prinzessinnen  wie 
die  europäischen,  Hinterindien  sei  nicht  geographisch  oder  malerisch  beschrieben 
(vgl.  166),  doch  es  seien  darin  revolutionen  und  kriege  benuzt,  welche  wirkhch  am 
ende  des  16.  Jahrhunderts  dort  sich  ereignet  hätten.  Bobertag  s.  227  —  229  nent  die 
Banise  specieU  nicht,  nimt  sie  also  auch  nicht  aus,  was  er  einigermassen  hätte  tun 
müssen,  wenn  er  von  allen  diesen  historisch  -  galanten  (wie  Cholevius)  oder  lieroisch- 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXII.  0 


82  MÜLLET^  -  FRAÜENSTEIN 

handeln  in  den  yerschiedeusten  städten  mit  europäischen  waaren^  lavie- 
ren zwischen  den  parteien  hin  und  her,  lehren  die  bessere  benutzung 
der  geschütze  und  geben  durch  ihren  anschluss  an  das  gute  princip, 
durch  die  Unterstützung  Balacins,  zwar  nicht  den  ansschlag  in  der 
fabel,  spielen  aber  wenigstens  eine  auch  uns  Europäer  befriedigende 
angemessene  rolle. 

Ich  finde  in  den  geographischen  und  naturhistorischen  excursen, 
in  den  beschreibungen  von  tempeln  und  religiösen  ceremonien,  von 
einzügen  und  Schaustellungen,  so  wie  sie  die  Banise  bringt,  nichts 
unser  gefiihl  in  höherem  masse  störendes,  als  wenn  Ebers  in  seinen 
ägyptischen  romanen  die  antiquarischen  kentnisse  benuzt,  die  ihm  gerade 
über  das  Pharaonenland  zu  geböte  stehen.  Zigler  beutet  dabei  seine 
quelle  sorfältig  aus,  er  zieht  aber  die  gelegenheit  nicht  sozusagen  bei 
den  haaren  herbei.  Er  ist  wol  breit  und  verweilt  mit  verliebe  bei 
dem  grässlichen  und  seltsamen,  aber  dafür  kann  ihn  ebenso  der  ge- 
schmack  seines  publikums  entschuldigen,  wie  es  der  heutige  tut,  wenn 
in  den  berühmten  novellen  Heyses  und  anderer  ungewöhnliche,  krank- 
hafte, ja  selbst  den  unbeteiligten  Zuschauer  nervös  erregende  und  pei- 
nigende seelenzustände  im  Vordergründe  stehen.  Ich  kann  darum 
unmöglich  in  so  pharisäischer  weise  den  epischen  dichter  tadeln,  wie 
es  wol  sonst  geschehen  ist,  wenn  er  seine  haupterzählung  in  langsame- 
res tempo  fallen  lässt,  sobald  Balacin  zu  dem  tempel  von  Pandior 
komt  (s.  96  fg.),  oder  sobald  er  das  schiffest  Sapan  Donon  mit  begeht 
(131  fg.),  oder  an  der  tafel  des  kaisers  von  Pegu  teiinimt  (137).  Man 
glaube  sodann  nicht,  dass  Balacin  hierbei  nur  einen  müssigen  Zuschauer 
spiele;  es  ist  vielmehr  bewegung  und  handlung  genug  in  diesen  episo- 
den,  und  die  charakterzeichnung  gewint  dabei  neben  der  lokalfärbung. 

Nicht  viel  anders  steht  es  um  Chaumigrems  einzug  in  das  besiegte 
Pegu  (187  fg.),  die  hinrichtung  Xemindos  (193  fg.),  Higvanamas  krö- 
nuug  in  Ava  (275),  die  ihres  bruders  in  Pegu  (404  fg.)  u.  a.  Uns 
muss  es  natürlich  ermüden,  wenn  die  paradestücke  sich  mehren;  der 
„curiöse"  sinn  der  leser  vor  200  jähren  aber  schöpfte,  wie  ja  algemein 
anerkant  ist,  mit  vergnügen  die  belehrung,  wie  sie  ihm  weiter  in  dem 
bilde  von  der  beerdigung  der  prinzessin  Salagramma  (312  fg.)  und  ihres 

galanten  (wie  er  selbst  sie  nent)  romanen  sagt:  Die  darstellung  von  zuständen  ver- 
gangener zelten  bei  bestirnten  völkem,  deren  treue  und  anschaulichkoit  ein  haupt- 
erfordemis  des  historischen  roinans  sei,  fehle  ganz  und  gar,  sie  seien  eminent  unhi- 
storisch, zerbilder.  —  Auf  die  Verwendung  der  Portugiesen  weist  auch  Cholevius 
s.  161  hin.  —  Zigler  selbst  sagt  in  seiner  vorrede  (s.  8):  „Der  innlialt  gleichet  sich 
mehr  ein^r  Histoiischcn  Beschreibung,  als  Helden -Gedichte." 


ZIGLERS    ASIATISCHE    BANISE  83 

Vaters,  des  königs  Higvero  von  Siam  (313  fg.),  von  der  bestattiing  des 
alten  und  der  wähl  des  neuen  Rolim  (355  fg.)  geboten  Avurde.  Wenn 
bei  allen  genanten  geniälden  in  erster  linie  die  entfaltete  pracht  die 
phantasie  der  leser  erregen  soll,  so  ist  es  mehr  auf  die  thränendrüsen 
abgesehen  bei  der  Schilderung  der  feuorprobe  in  Siam  (318)  und  der 
menschenopfer  in  Pegu  (363  fg.),  Schilderungen,  bei  denen  von  Ziglers 
Seite  nicht  viel  erfunden  ist;  mich  haben  sie  neben  den  genanten  quel- 
len öfter  an  Olearius  moskowitische  reise  erinnert.  Diese  partieen, 
besonders  die  lezte,  gerade  wie  die  geographischen  und  naturliisto- 
rischen,  sind  es  allein,  welche  er  wörtlich  aus  den  quellen  entlehnt 
hat.  Die  beschrcibung  von  Odia  (=  Ajuthia  von  1350  — 1700  haupt- 
stadt  von  Siam)  s.  290  und  die  von  Pegu  (3-17)  könte  von  einem  Ho- 
niann  aus  Xürnberg  geschrieben  und  seinem  atlas  in  derselben  weise 
einverleibt  sein,  wie  dies  bei  Isfahan  und  Täbris  oder  Kars  und  Erze- 
rum geschieht;  so  sachlich  und  einfach  sind  sie.  Denselben  eindruck 
macht  die  elefantenjagd  (282  —  284)  und  der  krokodilfang  (373);  die 
wahren  quellen  habe  ich  ja  oben  genant. 

Man  sieht,  unendlich  viel  bei  werk  hält  Zigler  für  nötig,  um  geist 
und  gemüt  der  leser  zu  befriedigen;  das  zuviel  stumpft  unseren,  der 
heutigen  generation  genuss  ab.  Die  angewanten  mittel  an  und  für 
sich  sind  aber  nicht  falsch.  Wie  anders  muss  uns  dagegen  in  Lohen- 
steins Arminius  die  verhülte  erzählung  der  ganzen  habsburgischen 
geschichte,  die  bezugnahme  auf  Ludwig  XIV.,  auf  Gustav  Adolf  usw. 
ersclieinen!  Zigler  fält  es  doch  nicht  ein,  wie  seinem  gefeierten  vor- 
bilde, aus  allen  zelten  und  den  verschiedensten  örtlichkeiten,  besonders 
in  den  gesprächen,  die  beispiele,  vor  allem  anekdotenhafte,  zu  entleh- 
nen. Er  bleibt  im  ganzen  doch  im  16.  Jahrhundert,  und  da  ihm  die 
frühere  hinterindische  geschichte  natürlich  unbekant  ist,  so  kann  er 
auch  nicht  altertum  und  mittelalter  immer  in  die  neue  zeit  mengen, 
wie  es  Lohenstein  umgekehrt  tut.  Dazu  komt,  dass,  wenn  Zigler  in 
die  Banise  auch  vieles  hineinbringt,  was  nicht  unbedingt  zur  haupt- 
handlung  gehört,  dieses  sich  doch  weit  natürlicher  mit  derselben  ver- 
bindet als  im  Arminius^. 

1)  Bobertag  s.  218  fg.  sagt:  Ziglem  könne  eine  weit  leichtere  bürde  von  gelehr- 
samkeit  wol  ebenso  vor  Überladung  mit  gelehrtem  kram  bewahrt  haben  wie  richtiger 
takt,  obwol,  ganz  objektiv  genommen,  der  Banise  dieser  mangel  als  ein  nicht  ganz 
unbedeutender  vorteil  anzurechnen  sei.  Das  „obwol"  scheint  mir  nicht  gerecht.  Zig- 
ler whd  überall  als  ein  ausserordentlicher  Vielleser  genant,  auch  Bobertag  einleitungVl 
sagt,  er  habe  durch  viele  stubenarbeit  seiner  gesundheit  geschadet,  da  ist  doch  die 
„weit  leichtere  bürde  an  gelehrsamkeit "  mindestens  unerwartet.  Wenn  es  dann 
s.  219  anmerkung  weiter  heisst:  „Zu  beachten  dürfte  sein,  dass  Zigler  in  seinen  spä- 

6* 


S4  Mt'LLER-FRAÜEXSTEIN 

In  den  entsprechenden  Zeitverhältnissen  bleiben  wir  bei  Zigler 
im  ganzen  immer;  in  betreif  der  örtlichkeit  nimt  er  nun  freilich  gar 
manches  aus  seinem  vaterlande  mit  an  die  ufer  der  Irawaddi  und  des 
Menam.  Das  bezieht  sich  vor  allem  auf  die  formen,  unter  denen  die 
menschen  mit  einander  verkehrend  Das  ganze  gebiet  des  geselligen 
und  auch  des  politischen  Verkehrs  kann  Ziegler  nur  nach  den  deut- 
scheu oder  den  europäischen  regeln  seiner  zeit  darstellen;  er  will  die- 
selben, wie  es  scheint,  geradezu  seinen  lesern  in  reinster  form  vor 
äugen  führen.  In  dieser  bezielumg  schiesst  Schlossars  oben  angege- 
benes urteil  über  das  ziel  hinaus. 

Dass  die  liebenden  in  dem  tone  Lohen steins  mit  einander  reden, 
ist  etwas,  woran  man  sich  bei  der  menge  solcher  gespräche  noch  am 
ersten  zu  gewöhnen  im  stände  ist;  dass  die  Schönheiten  sich  alle  durch 
ungemein  weisse  haut  auszeichnen,  so  dass  man  die  einzelnen  äderchen 
blau  durchschimmern  sieht,  ist  schon  verdächtiger;  der  feierliche  curial- 
stil  aber,  der  hie  und  da  zu  tage  tritt,  macht  einen  fast  noch  komi- 
scheren eindruck.  Kein  tite]  wird  uns  geschenkt  bei  den  adressen  der 
briefe  und  bei  den  anreden;  an  anderen  stellen  möchte  man  sich  in 
deutsche  ständeversamlungen  oder  synoden  versezt  wähnen.  Ich  eitlere 
nur  die  am'ede  Korangerims  an  Balacin,  als  diesem  in  Aracan  gehul- 
digt worden  ist  (278):  „Grossmächtigster  König  von  Aracan,  Tipara, 
Chacomas,  Jangoma  und  Bengalen,  Herr  von  Pegu!  Wir  in  tieffster 
unteithänigkeit  treuergebenste  stände  und  unterthanen  dieses  Reiches, 
statten  gegen  Ew.  Königl.  Majest.  demüthigst- gehorsamen  danck  ab, 
nicht  sowol  vor  die  bereits  gnädigst -erwiesene  Reichs -Yäterliche  ver- 
sorge in  erhalt-  und  Verbesserung  unserer  grund-gesetze  und  daher- 
sprossenden  heiligen  gerechtigkeit:  sondern  auch  vor  itztermeldte  höchst- 
rühmliche Sorgfalt"  usw. 

Sind  aUe  diese  äusserlichkeiten  aufs  strengste  nach  occidentalem 

teren  -werken  die  kuriosität  seiner  Zeitgenossen  reichlich  entschädigt  hat",  so  kann 
ich  das  nicht  als  einen  makel  auffassen.  Gerade  dass  er  den  grossen,  ersten  roman 
frei  hält  von  dem  ballast.  ist  und  l^leibt  ein  beweis  für  seinen  künstlerischen  ver- 
stand; andere,  ausser  vielleich  Phih'pp  von  Zesen,  haben  ihn  nicht.  Wem  fält  es 
ein ,  aus  der  späteren  verballhornisierung  von  Tassos  hauptwerk ,  obgleich  er  sie  selbst 
vornahm,  einen  algemeineren  ungünstigen  schluss  zu  zieheu?  Und  die  Verschlech- 
terung eines  treflichen  Werkes  ist  doch  noch  viel  schlimmer. 

1)  Darauf  beziehen  sich  die  algemeinen  tadelsäusserungen  unserer  kritiker  am 
meisten.  Die  richtige  erklärung  gibt  Cholevius  s.  169:  „Man  war  gewohnt  aus  den 
romanen  die  feineren  umgangssitten ,  geselschafthche  rede  weise  und  sogar  den  aus- 
drack  der  empfindungen  zu  entnehmen,'* 


ZIGLEKS    ASIATISCHE    13AMSK  85 

miistor  ausgeführt,  so  mischt  Zigler  Europäisches  und  Asiatisches  mehr, 
sobald  er  kriegsereignisse  berichtete 

Über  die  militärisclien  gemälde,  die  er  gibt,  wäre  ein  besonderer 
excurs  nicht  uninteressant;  sie  nelimen  einen  sehr  grossen  teil  des 
romanes  ein,  und  ich  halte  einige  davon  für  die  am  besten  gelungenen 
abschnitte,  gerade  wie  die  gespräche  über  liebe  und  ehe,  die  sich  an 
verschiedenen  stellen  finden.  Hier  beschränke  ich  mich  auf  nur  wenige 
bemerkungen.  Lebendig  und  übersichtlich,  das  muss  jeder  zugeben, 
sind  die  Schlachtschilderungen  sämtlich.  Kürzer,  und  darin  selio  ich 
keinen  nachteil,  sprechen  Scandor  und  Talemon  über  die  kriege;  wo 
der  dichter  selbst  redet,  geht  er  in  alle  möglichen  details  ein. 

Die  zahlen  mögen  wol  zumeist  aus  Balbis  buche  genommen  sein, 
sie  klingen  am  meisten  orientalisch.  Ich  verweise  der  kürze  wegen 
auf  die  selten  139  fg.,  182  fg.,  193,  199  fg.,  281,  289,  291,  308,  336, 
345  fg.,  und  eitlere  nur  die  truppenzahl  von  Chaumigrems  armeen: 
vor  Martaban  führt  er  400000,  vor  Pegu  900000,  vor  Prom  700000 
und  vor  Slams  hauptstadt,  Odia,  1200000  mann  (Balbi  hat  da  IY2 
millionen). 

Diese  beispiele,  denke  ich,  beweisen  genug.  Der  dreissigj ährige 
krieg  mit  seinen  vergleichsweise  kleinen  beeren  schwebt  da  nicht  als 
muster  vor:  hatte  doch  Gustav  Adolf  bei  Lützen  nur  14000  und  Wallenstein 
vor  Pappenheims  eintreffen  12000  mann.  Xerxes,  Dschingiskhan  und 
Tamerlan  bringen  in  ihren  ungeheuren  reichen  nicht  mehr  boAvafnete 
zusammen  als  diese  hinterindischen  fürsten,  in  Europa  haben  das  16. 
und  17.  Jahrhundert  nur  in  den  türkisch -tatarischen  kriegen  annähernde 
zahlen.  Noch  mehr  glaube  ich  in  den  einzelheiten  der  kämpfe  anklänge 
an  die  Türken-,  weniger  an  die  französischen  eroberungskriege  unter 
Ludwig  XIY.  finden  zu  müssen,  die  elefanten  spielen  mehr  eine  halb 
komische  rolle.  Beides  sieht  man  vor  allem  in  der  grossen  schlacht 
am  passe  Abdiara  (337  —  343),  die  neben  den  kämpfen  um  Prom  (202 
—  205)  und  um  Odia  (287  —  330)  den  glanzpunkt  in  militärischer  hin- 
sieht bildet.  Balacin  hat  sich  durch  Verräter  in  seiner  Umgebung  abhal- 
ten lassen,  Pegu  in  seines  feindes  abwesenheit  anzugreifen  und  muss 
diesen  trotz  dessen  doppelter  Übermacht  aus  einer  günstigen  Stellung 
herausschlagen.     Vorher  führt  Scandor  ein  kühnes  reiterstückchen  aus, 

1)  Scklossar  s.  69  behauptet  auch  hier  etwas  zu  viel,  wenn  er  sagt:  Zigler 
zeige  die  kriegsführung  der  Asiaten.  Cholevius  s.  162  erinnert  mir  zu  einseitig  an 
die  „leser,  welchen  die  schrecken  des  dreissigjährigen  kiieges  in  erinnerung  gewesen 
seien."     Ich  wüi'de  lieber  sagen:  der  Türken-  und  daneben  der  raubkriege. 


86  MÜLLER -FRAUENSTEEN 

indem  er  250  mit  pulver  und  50  mit  gold  beladene  wagen  aufhebt, 
vielleicht  eine  erinneiung  an  eine  tat  aus  Ziglers  zeit.  Der  haupt- 
schlag trift  das  feindliche  heer  infolge  des  auffliegens  einer  ungeheuren 
mine,  die  an  die  riesigen  türkischen  arbeiten  ähnlicher  art  vor  Wien 
1683  erinnert.  600  sclnitt  lang,  150  breit,  3  eilen  tief  wird  sie  ange- 
legt und  mit  den  250  Wagenladungen  pulver  gefült.  Entfernungsmar- 
ken, eventuell  brustwehren  sind  ausserdem  für  die  von  Portugiesen 
bediente  artillerie  angebracht.  Die  feinde  rücken  in  form  eines  riesigen 
halbkreises  heran,  dessen  mitte  von  auserlesenen,  um  Chaumigrem 
gescliaarten  Bramanen  gebildet  ist,  während  die  vorgeschobenen  flügel, 
aus  der  reiterei  und  den  elefanten  (diesen  auf  der  rechten  seite)  beste- 
hend, das  aracanische  heer  zu  umzingeln  streben.  Balacin  muss  des- 
halb schleunigst  seine  flügel  ausdehnen,  die  mitte  bildet  einen  nach 
vom  zugespizten  kegel.  Während  aber  in  einer  ähnlichen  Stellung  die 
Römer  bei  Cannä  Hannibal  erlagen,  vernichtet  hier  die  artillerie  und 
die  grosse  mine  den  ganzen  feindlichen  hnken  flügel.  Schon  die  kano- 
nenkugeln  tun  den  elefanten  grossen  schaden,  denn,  „wenn  so  eine 
hauptpiUe  ein  solches  tier  schnellete,  so  Hess  es  sich  nicht  mehr  regie- 
ren, sondern  kehrte  mit  gröster  ungestüm  zurücke,  und  begab  sich  ins 
freye  feld,  da  es  niederfiel  und  starb."  Als  aber  „mit  einem  entsetz- 
lichen knallen  und  donnerschlag"  das  pulver  explodiert,  da  „sähe  man 
mit  erschrecklicher  Verwunderung  die  ungeheuren  elefanten  in  der  lufft 
fliegen,  welche  nebst  denen  steinen  und  anderer  rüstung  nicht  wider 
an  ihren  ort,  sondern  auff  ihr  eigen  volck  zurücke  fielen,  und  deren 
sehr  viel  erschlugen."  Dieses  ereignis  „schlug  dem  Chaumigrem  den 
bereits  in  bänden  habenden  sieg  aus  der  faust."  Die  art,  wie  Chau- 
migrem seine  leute  immer  und  immer  wider  gegen  die  mauern  von 
Prom  oder  Odia  wirft,  mahnt  an  Solimans  oder  Kara  Mustafas  verfah- 
ren in  den  festungskämpfen  an  der  Donau.  Unser  dichter  benuzte 
dabei  mit  nicht  unglücklichem  griffe  umstände,  welche  zu  dem  gesamt- 
bilde  passen,  mit  entschieden  glücklicherem,  als  wenn  Lohenstein  erin- 
nerungen  aus  dem  17.  Jahrhundert  in  die  zeit  von  Christi  geburt  trägt. 
In  den  einzelheiten  sind  verhältnismässig  nur  noch  wenige  ganz 
unpassende  europäische  reminiscenzen  zu  tadeln.  Dabei  denke 
ich  z.  b.  an  das  wunderliche  grundgesetz  in  Aracan  (s.  277),  dass  der 
könig  stets  seine  Schwester  ehelichen  muss:  „Ursache,  weil  Adams  söhn 
auch  seine  Schwester  zum  weibe  genommen  habe."  Das  ist  wol  von 
demselben  Standpunkte  zu  beurteilen  wie  die  oben  berührte  Sehnsucht 
desXemindo,  in  der  todesstunde  zum  christentume  überzutreten.  Noch 
mehr  verrät  sich  der  Europäer,  wenn  er  Scandor  erzählen  lässt  (s.  108), 


ZIÜLKKS    ASIATISCHE    BAXISE  87 

sie  hätten  sieh  „nach  morgenländiselier  art  aiiff  kostbare  teppichte"  zur 
tafel  niedergesezt,  oder  wenn  ebenderselbe  von  wunderbaren  bcäumen 
erzählt,  die  „ein  gelehrter  Europäer"  beschreibe  (52).  Zu  den  wonigen 
gelehrten  anspielungen  gehört  z.  b.,  wenn  Hassana  einmal  die  toclitor 
warnt:  „der  flüchtige  Mercur  ist  öfPters  denen  männern  ins  hertze 
geprägt"  (87),  wenn  die  sirenen,  Yenus,  Diana  genant  werden  (67, 
295)  und  Avenn  Banise,  als  die  Verfolger  sie  bald  eingeholt  haben, 
wünscht  „in  einen  lorbeerbaum,  gleich  der  Daphne",  verwandelt  zu  wer- 
den (263). 

Sonst  muss  der  unbefangene  beurteiler  zugeben,  dass  z.  h.  in 
betreff  der  pflanzen-  und  tiorwelt,  der  kleidung  nnd  der  materiellen 
Seite  des  lebens,  aber  auch  in  betreff  der  religion  der  dichter  sein  mög- 
lichstes tut,  um  eine  lokalfärbung  über  das  ganze  zu  verbreiten. 
Selbst  mexikanische  bäume  versezt  Zigler  in  die  königlichen  lustgärten 
von  Ava,  und  zwar  mit  genügender  motivierung,  sie  üben  dort  auf 
Chaumigrem,  der  sie  und  ihre  eigentümlichkeiten  nicht  kent,  eine  belu- 
stigende Wirkung  aus.  Bei  der  ceremonie  der  nächtlichen  Vermählung 
Scandors  und  Lorangvs  wird  holz  von  einem  bäume  rawasitton,  wie 
stets  beim  abschlusse  von  eben,  verwendet  (213),  auch  das  kraut 
dutroa,  aus  dem  Banise  den  Schlaftrunk  bereitet,  wird  (in  einer  gelehr- 
ten anmerkung)  genau  beschrieben  (259).  Die  eigentümlichkeiten  cha- 
rakteristischer tiere,  der  krokodile  und  elefanten,  sind  nicht  ohne 
geschick  benuzt  (138,  183,  282  fg.,  374).  Sowol  Balacin  als  Banise 
beobachten  wir,  wenn  sie  sich  ankleiden;  das  kostbare  kaiserschiff 
Xemindos,  erinnernd  an  die  prachtwerke  der  Ptolemäerzeit,  wird  von 
Scandor  ausführlich  behandelt  (132). 

Auf  die  rituellen  und  ceremoniellen  kunstausdrücke  mit  den  dazu 
gehörigen  erklärungen  kann  ich  hier  nur  hinweisen,  sie  sind  sehr  zahl- 
reich, werden  im  grossen  und  ganzen  aber  mit  mässigung  ausgebeutet. 
Yon  den  tempelbeschreibungen  sind  die  des  tempels  Apalitä  (97)  und 
Carcovitä  (387)  hervorzuheben.  Wenn  auch  Scandor  hie  und  da  ein- 
mal vom  teufel  spricht  (z.  b.  97),  kann  doch  von  einem  stärkeren  her- 
einragen europäischer  religiöser  Vorstellungen  nicht  die  rede  sein.  Die 
grosse  „trauer-  und  absclüedsrede  der  sterbenden  Banise"  ist  die  wich- 
tigste ausnähme;  in  ihr  ist  vom  schoss  der  gnaden,  vom  ewigen  leben 
neben  der  „Xiba"  die  rede,  und  manche  sätze  klingen,  als  hätten  sie 
ganz  in  die  christlichen  grabreden  vor  200  jähren  gepasst,  wie  etwa 
der  folgende:  „Du  himmlische  Gottheit  aber  lass  dir  meinen  geist  zu 
zu  geheiligter  band  befohlen  seyn,  und  lasse  ihn  statt  jetziger  gallo  die 
süsse  himmelskost  schmecken."     Diese  rede  ist  aber,    anders  darf  man 


88  MÜLLER  -  FRAÜENSTEI.V 

sie  nicilt  auffiissen,  ein  paradestück,  gerade  so  wie  die  dialoge  über 
ehe  und  liebe,  nur  dass  die  lezteren,  weil  algemein  menschliche  Ver- 
hältnisse behandelnd  und  viel  besser  motiviert  als  jene,  geist  und  gemüt 
weit  mehr  ansprechen. 

'  An  solchen  stellen  tritt  Zigler  wie  die  anderen  epischen  und 
dramatischen  dichter  seiner  zeit  ganz  aus  dem  von  ihm  entworfenen 
künstlerischen  rahmen  heraus  und  wendet  sich  nur  als  Zeitgenosse  durch 
den  mund  der  von  ihm  erfundenen  personen  an  seine  leser.  Was  diese 
lezteren  als  feinen  geschmack  und  beweis  grosser  belesenheit  anzu- 
sehen pflegen,  das  allein  ist  ihm  dann  die  richtschnur.  Tun  das  aber 
nicht  auch  viele  unserer  dichter?  Lassen  sie  nicht  auch  der  eine 
seine  lieblingshelden  sämtlich  rein  pessimistisch,  der  andere  rein  dar- 
winistisch,  der  dritte  fast  nur  mystisch  sprechen?  Geben  sie  vor  allem 
nicht  oft  genug  allen  ihren  figuren  eine  ganz  gleich  tiefe  bildung,  so 
dass  die  funkensprühenden  citate  und  geistreichen  Sentenzen  in  ihrem 
munde  sich  förmlich  jagen?  ^  Hört  man  nicht  z.  b.  in  dem  sonst  so 
interessanten  romane  W.  Jordans  „Die  Sebalds"  auch  recht  oft  mehr 
den  dichter  als  seine  geschöpfe  reden?  Tritt  da  die  absieht,  zu  beleh- 
ren, der  wünsch,  die  eigenen  ideen  vom  schönen  und  wahren  anderen 
einzuimpfen,  nicht  eben  so  deutlich  hervor?  Wir  lernen  nur  bei  Jor- 
dan wii'klich.  wir,  die  leser  des  zum  ende  sich  neigenden  19.  Jahrhun- 
derts, während  uns  Ziglers  einstmals  ganz  ebensolchen  einfluss  übende 
gedanken  in  dieser  weise  nicht  mehr  berüln^en  können.  Dass  diese  art 
von  romanen  noch  heute  das  beste  publikum  findet,  kann  niemand 
leugnen:  man  muss  es  wol  noch  unterscheiden  von  demjenigen,  das 
sich  an  den  zahllosen  famiüenzeitschriften  eine  gute  tut.  Aber  es  ist 
doch  ein  gewaltiger  fortschritt  gemacht  insofern,  als  auch  für  die  rei- 
neren ästhetischen  ansprüche  gesorgt  wird. 

Der  kreis  der  feinsclunecker  ist  stets  ein  kleiner:  Kotzebue  und 
Iffland  behei-schten  die  bühne,  als  Goethes  und  Schillers  meisterwerke 
das  licht  der  weit  schon  erblickt  hatten.  Auf  unser  thema  ange- 
wendet, heisst  das:  Auch  der  Banise  popularität  beruhte  ihrer  zeit 
auf  dem  entgegenkommen  gegen  die  wünsche  des  publikums,  doch 
zeigt  sie  noch  immer  ein  grösseres  geschick  in  betreff  der  composition 

1)  Cholevius  s.  168  spricht  von  einem  „wahren  feuerwerke  im  affekte"  bei 
Zigler  und  von  dem  streben  geistreich  zu  sein  (167).  Auch  Erich  Schmidt  a.  a.  o. 
nent  ihn,  allerdings  nur  in  bezug  auf  die  figuren  und  Verwickelungen,  einen  „vir- 
tuosen, freihch  einen  couhssenreisser."  Gottsched  drückt  sich,  wunderlich  genug, 
so  aus:  Zigler  sei  selbst  ganz  asiatisch  geworden,  nämUch  im  hochtrabenden  und 
gekünstelten  ausdruck. 


ZIGLERS    ASIATISCHE    BANISE  89 

uud  der  lokalfärb ung,  eine  selbständigere  pliantasic  wie  die  anderen 
romane  ihrer  zeit^  Noch  heute  können  wir  uns  an  ihr  über  gewisse 
finessen  in  dieser  beziehung  freuen,  die  nicht  zufällig,  nicht  aus  den 
quellen  entnommen,  sondern  vom  diclitcr  eifundcii  und  wol  überlegt 
sind-.  So  ersclieint  mir  z.  1).  das  meiste,  was  mit  Bahicins  incoguito 
zusammenhängt,  reiflich  erwogen.  Wie  der  alte  Talemon  zuerst  ilui 
durchschaut  und  gerade  dieser  umstand  beide  zu  freunden  macht,  den 
falschen  Pantoja  von  Tenasserim  und  den  reichsschatzmeister  von  Pegu, 
wie  dann  der  andere  in  fremder  maske  auftretende  prinz,  Pseudo- 
Abaxar,  mit  ihm  in  Verbindung  gebracht  wird,  Avie  der  erste  in  seiner 
leidenschaftlichkeit  mehrmals  in  gefahr  komt  sich  zu  verraten,  und  wie 
er  endlich  (s.  206)  auch  Abaxar  gegenüber  seinen  angenommenen 
namen  aufgibt:  das  ist  alles  gut  begründet  und  mit  wahrscheinlichen 
umständen  umkleidet.  Balacin  wird  uns  auf  der  ersten  seite  sofort  in 
seiner  wahren  natar  vorgestelt,  sein  gegenbild  ist  in  dieser  beziehung 
Abaxar,  dessen  wirklicher  Charakter  erst  ganz  zum  schluss  enthült  Avird. 
Und  es  ist  gar  nicht  uninteressant,  die  kunstgriffe  zu  verfolgen,  mit 
denen  der  dichter  auf  diesem  zweiten  wege  operiert,  auf  welchem  er 
nicht  nur  mit  Balacin  und  den  anderen  personen,  sondern  auch  mit 
dem  bis  in  die  lezten  selten  hinein  im  unklaren  gelassenen  leser  ver- 
stecken spielt.     Die  anspielungen,  die  auf  Abaxars  anderen  stand  deu- 

1)  Cholovius  YOi-trefliches  buch  benuzt  in  seiner  lesenswerten  einleituiig  über 
die  Amadisbüeher,  die  uachbildung  des  griechischen  romanes  und  über  den  neueren 
historischen  roman  die  Banise  weniger  als  alle  die  anderen  von  ihm  besprochenen 
werke  (von  Zesen,  Bucholtz,  A.  Ulrich  v.  Braunschweig  und  Lohenstein),  um  aus 
ihr  algemeine  bemerkungen  abzuleiten.  Damit  wil  ich  keinen  Vorwurf  aussprechen, 
ich  finde  vielmehr  eine  indirekte  bestätigung  darin,  dass  ihm  wirklieh  in  den  übrigen 
mehr  algemeine  charakteristische  kenzeichen  auffielen:  jedesfals  ist  absolut  keine 
absieht  darin  zu  vermuten.  Die  Banise  ist  im  Stoffe  selbst,  wie  ja  auch  Cholevius 
andeutet,  und  in  gewissen  selten  der  ausführung,  der  „mache",  ein  originelleres 
werk,  hat  tatsächhch  nicht  so  viel  gemeinsam  mit  den  anderen  als  diese  unter  ein- 
ander. In  der  einzelbesprechung  verwendet  Cholevius  auf  die  afrikanische  Sofonisbe 
24  (ohne  die  proben  aus  dem  roman),  auf  IbraJiim  und  Isabella  15,  die  adriatische 
Rosemund  5,  Assenat  17,  Simson  17,  Hercules  und  Valisca  15,  Herculiscus  und 
Herculadisla  8,  Aramena  39,  Octavia  66,  Arminius  und  Thusnelda  81  selten,  auf 
die  Banise  nur  16.  Dadurch  wird  die  leztere  unter  die  noch  am  meisten  zumcktre- 
tenden  romane  in  Cholevius  werk  eingereiht.  Ich  finde  in  dieser  eigentümlichkeit 
des  lezteren  eine  hinreichende  eutschuldigung,  um  mich  noch  einmal  ausführlich  mit 
der  Banise  zu  beschäftigen,  zmnal  auch  Cholevius  monographien  über  die  einzelnen 
romane  verlaugt. 

2)  Ich  lese  aus  Scherers  werten  (s.  379)  eine  ähnliche  Stimmung  heraus  und 
freue  mich  der  Übereinstimmimg  mit  dessen  von  mir  an  anderem  orie  gebührend 
gewürdigtem  werke. 


90  MÜLLER  -  FRAUENSTEIN 

ten  (z.  b.  s.  27,  28,  36,  37,  206),  kommen  natürlich  und  uiigesuclit 
heraus.  Entschieden  dramatisch  belebt  und  spannend  ist  die  scene 
(206),  Avo  Talemon  seine  erzählung  vom  Untergänge  Proms  beendet  hat 
und  Abaxar  von  ihm  angeredet  wird.  Wir  nnd  alle  anwesenden  wis- 
sen nicht,  in  welch  nahem  Verhältnisse  der  leztere  zu  diesem  Staate 
und  dessen  ermordeten  Oberhäuptern  steht.  Ein  unheimliches  Streiflicht 
tiilt  nur  auf  die  Situation  durch  seine  unerwarteten  worte:  „ich  erkenne 
die  sonder-  und  wunderbaren  gerichte  der  strengen  gottheit  satsam  im 
Untergang  des  königreichs  Prom.  Ich  beseuffze  der  königin  tod,  und 
beweine  des  printzen  fall:  die  götter  werden  es  künfftig  zu  schicken 
wissen,  dass  dieses  uhr-alte  stamm -reich  wider  durch  einen  recht- 
mässigen thron -besitzer  dermahleinst  beherrschet  werde."  Dass  er  selbst 
dieser  rächer  ist,  das  enthült  er  nicht,  komt  auch  nicht  dazu,  von 
seiner  für  die  fabel  wichtigsten  handlung,  der  rettung  Banisens,  genaue- 
res zu  berichten.  Balacin  aber  verrät  sich,  als  in  diesem  augenblicke 
Chaumigrems  Schergen  gemeldet  werden,  und  so  Aveiss  Abaxar  seiner 
.  familie  schrecklichen  tod  und  dazu  die  nähe  des  rächers,  seines  natür- 
lichen bundesgenossen,  ehe  er  in  ketten  vor  Chaumigrem  gebracht  wird. 
So  stehen  für  die  wissenden  in  wirklich  packender  gegenüb erstell ung 
zwei  an  Charakter  und  lebensgang  so  ähnliche  und  doch  wider  so  ver- 
schiedene personen  vor  uns,  die  von  nun  an  ein  und  dasselbe  ziel 
band  in  band  erstreben  werden.  Aber  auch  schon  die  art,  wie  Abaxar 
eingeführt  und  durch  Scandors  und  Talemons  erzählungen  mehr  und 
mehr  auf  Balacin s  seite  gezogen  wird,  ist  geschickt.  In  der  deutlich 
ausgesprochenen,  wenn  auch  am  Schlüsse  des  romans  erst  klar  moti- 
vierten absieht  des  verkleideten  prinzen  von  Prom  nämlich,  zu  dem 
prinzen  von  Ava  überzugehen,  wenn  er  „eine  oder  die  andere  ange- 
nehme nachricht"  von  dem  leben  desselben  vernehme,  liegt  die  künst- 
lerische begründung  der  langen  berichte  an  Balacins  krankenlager;  ein 
wichtiges  werkzeug  wird  durch  sie  für  die  gute  sache  endgiltig  gewon- 
nen. Dies  entschuldigt  den  schon  oben  verurteilten  unkünstlerischen 
bau  des  ersten  buches  doch  in  etwas. 

Ehe  wir  nun  definitiv  von  der  äusseren  architektur  des  romans 
zu  seiner  inneren  ausschmückung  übergehen,  ist  es  wol  am  platze,  den 
andeutungen  und  ausblicken  des  autors  auf  das,  was  später 
kommen  soll,  einige  worte  zu  widmen.  Sie  zeigen  die  mache  am 
deutlichsten,  die  kunst,  den  leser  zu  spannen,  manchmal  selbst  auf  die 
folter  zu  spannen.  So  wissen  wir  im  gründe  noch  gar  nichts,  nur 
dass  ein  verkleideter  prinz  Balacin  auf  seines  alten  freundes  Talemon 
schloss   eine  Zuflucht   gefunden   hat,   und  schon   wird  uns    (s.  20)    ein 


ZIGLERS   ASIATISCHE   B ANISE  Ol 

traiim  des  ersteren  aufgetischt,  ^\onn  er  seine  Banise  von  elefanten 
iimi^eben  sieht,  mit  ilir  ans  deren  mitte  in  die  hift  gehoben,  da  oben 
dnrch  eine  flamme  von  ihr  getrent  und  schliesslicli  durch  einen  von 
krokodilen  Avimmehiden  breiten  fhiss  vcillig  abgeschnitten  wird.  Aus 
Scandors  erziildung  gehört  sodann  hieher  das  traumbild,  welches  dem 
prinzen  vor  dem  tempel  Apalitii  zum  ersten  male  die  schöne  Banise 
vor  äugen  führt  (99)  und  der  vielsagende  orakelspruch  (100): 

Zeug  hin,  betrübter  Printz,  dir  winket  Pegu  zu. 
Errette  deinen  feind  aus  seines  feindes  hiinden: 
Es  wird  ein  fremdes  bild  so  aug  als  liebe  blenden: 
Doch  endlich  findet  man  die  eingebildte  ruh. 
Schau!  dein  Yergnügen  liegt  in  schrecken,  furcht  und  ketten: 
Drev  cronen  müssen  erst  die  vierdte  crone  retten. 
Das  opffer  crönet  dich  als  einen  Talipu. 
Die  höhepunkte   der  ganzen  fabel  sind  in  diesen  sieben  Alexandrinern 
angedeutet,   im  zweiten  Xemindos  rettung  aus  meuchlerhaud ,   im   drit- 
ten die  erste  Verlobung  mit  der  prinzessin  von  Savaady,  im  vierten  die 
zweite,  nämlich  mit  Banise,  im  fünften  deren  gefahr,  im  sechsten  die 
belagerung  von  Pegu    und   im   siebenten    die  opferscene.     Zweimal  ist 
späterhin    die    erinnerung    an    diese    rätselhaften  werte   von    ausschlag- 
gebender bedeutung;   das  erste  mal  aber  denkt  Scandor  (240)   mehr  an 
die  von  dem  priester  des  Orakels  mitgegebenen  schachteln  voll  verstel- 
lender salbe  und  rät   zu    dem    unglücklichen    entführungsversuch,    das 
zweite  mal  (384),    als    alle  zeilen   bis  auf  die  lezte  sich  bewahi-heitet 
haben,  ermutigt  diese  erwägung  den  prinzen  zu  dem  gewagten  schritte, 
sich  unter  die  opferpriester  in  Pegu  aufnehmen  zu  lassen.     So  schwebt 
über  dem  ganzen  verlauf  der  dinge    ein   höherer  wille,   vor  dem   die 
irrenden  menschen  sämtlich  sich  beugen  müssen,  der  die  von  Balacins 
vater  gewünschte   herschaft    des    sohnes  über  Pegu  auf  ganz   anderem 
wege  herbeiführt,    als  Dacosem  geplant  hat,    und  der  dem  guten  prin- 
cipe zum  siege  verhilft i.     Weniger  hervortretend,   doch  deutlich  genug 
sind  drei  andere  omina  (161  und  150).     Als  nämlich  Banise  und  Bala- 
cin  von  Xemindo   verlobt  werden  und   erstere   des  vaters  band  küsst, 

1)  Schon  Cholevius  und  Bobertag  betonen,  dass  die  ganze  gattung  der  heroiscli- 
galanten  romane  darin  die  Amadis-romane  übertreffe,  dass  sie  doch  wenigstens  ver- 
suchen, ein  sithches  Interesse  im  romane  zur  geltung  zu  bringen.  In  der  Banise, 
das  geht  wol  aus  meiner  darstellung  hervor,  siegen  Unterordnung  unter  die  geböte 
der  götter  und  strenge  sithchkeit.  Das  ist  allerdings  nicht  in  derselben  weise  eine 
teudeuz,  wie  sie  der  maier  Müller  in  seiner  novelle  verfolgt:  kämpf  für  die  men- 
schenrechte,  gegen  das  conveutionclle  (Seuffert  s.  238),  sondern  es  ist  mehr. 


92  MÜLLER -FKAUENSTEIN,    ZIGLERS    ASUTISCIIE   Bx^NISE 

„schiessen  ihr  unvereehens  drey  blutstropffcn  ans  der  nasen  anf  des 
Kävsers  rock".  Gewiss  ein  nnheiniliches  Vorzeichen,  das  nicht  nur 
damals  „sothane  augenehme  zusammenkunlYt  zu  des  Printzen  hohem 
niissvergnügen  desto  eher  geendigt",  sondern  auch  manchen  leser  mit 
den  schhmsten  almungen  erfült  liaben  mag,  zumal  wenn  man  sich  des 
„entsetzlichen  comet-sterns"  erinnert,  der  an  heiterem  himmel  plötz- 
lich über  Pegu  erscheint,  und  des  umstandes,  dass  des  kaisers  pferd 
auf  ebener  erde  beim  schritreiten  vor  Pegus  toren  stürzt. 

In  den  kontouren  des  ganzen  litterarischen  gebäudes  und  in  sei- 
ner äusserlichen  ausschmückung  ist,  wie  aus  vorstehendem  wol  erhalt, 
sorgtliltige  Überlegung,  ja  raffinement  nicht  zu  verkennen.  Die  ange- 
wendeten mittel  werden  zwar  übertrieben,  sind  zumeist  aber  nicht 
falsch  1.  Besondere  hervorhebuug  verdient  die  mühe,  die  der  lokalfär- 
bung  gewidmet  ist;  auch  die  Verzahnung  der  verschiedenen  ineinander 
greifenden  handluugen  kann  als  nicht  ungeschickt  bezeichnet  werden. 
Xur  über  die  anläge  des  ersten  buches,  über  einige  gewaltsame  Über- 
gänge in  den  späteren  teilen,  über  die  anfügung  des  „tapferen  Hera- 
klius"  und  über  die  töne,  welche  im  geselligen  verkehr  angeschlagen 
sind,  können  wir  uns  nicht  hinwegsetzen. 

1)  Bobei-tag,  Gesch.  d.  romans  I,  2,  1  gibt  s.  203  —  263  eine  besprcchung 
der  litteratui'gruppe ,  zu  der  die  Banise  gehört,  mit  einer  ganzen  reihe  treffender 
bemerkungen ,  zu  denen  ich  mich  hier  nicht  genötigt  sehe  weitere  zusätze  zu  machen. 
Ton  s.  215  an  bespricht  er  die  künstlerische  behandlung,  plan  oder  disposition  dieser 
werke,  nämlich  die  aufeinanderfolge  der  einzelnen  teile  der  erzählung,  die  art  der 
nicht  eigentlich  erzählenden  elemente  und  das  grössenverhältnis  der  einzelnen  teile. 
Die  Banise,  sagt  er  216  fg.,  vcifähii  nach  der  auch  von  Haupt  ausdrücklich  auf- 
gestelten  regel,  wonach  der  roman  denselben  gesetzen  wie  das  heldengedicht  zu 
gehorchen  hat.  So  hätten  Ziglers  und  Zesens  romane  nicht  nur  einen  massigen 
umfang,  sondern  auch  fester^  innere  gliederung  und  grössere  einheitliche  geschlos- 
senheit  als  die  anderen;  sie  verführen  nach  den  längst  aus  Homer  und  Virgil  gezo- 
g'enen  regeln :  der  anfang  müsse  mitten  in  die  bewegung  hinein ,  einzelne  teile  würden, 
weil  nachzuholen,  den  auftretenden  personen  in  den  mund  gelegt,  die  hauptpersonen 
träten  nicht  zu  spät  auf  und  nicht  zu  zeitig  ab.  Die  anderen  grösseren  romane  ver- 
führen mehr  nach  den  werken  der  historiker.  Unepischer  noch  sei  die  Verwendung 
der  nebensachen ;  die  beschi^eibung,  die  mittoilung  gelehrter  kcntnisse  kennen  kein 
mass,  keine  beschränkende  mcksicht.  In  betreff  des  grössenverhältnisses  der  teile 
sei  anzuerkennen,  dass  die  bedeutendsten  werke  anfang,  mitte  und  ende  gleichmässig 
ausführten-,  sie  enthielten  weniger  phantastisches  und  wunderbares  wie  die  früheren 
erzählenden  unterhaltungsschriften ,  aber  bewiesen  Verschwendung  mit  ereignissen. 
S.  230  wider  sagt  er  freilich  nmd  heraus:  Kein  künstlerischer  bau,  das  menschliche 
leben  und  die  Charaktere  seien  nicht  wahr. 

(Foiisetzung  folgt.) 


93 


EINE   QUELLE   DES   SIMPLICISSIMUS. 

Dass  der  „AbcnteuerlicliL'  Siniplicissimus"  von  Joh.  Jacob  Chri- 
stoffel  von  Grimmeishausen  im  al^emeinen  in  der  diircli  Diego  Hui'tado 
de  Mendoza  begründeten,  durch  Mateo  Aleman,  Yicente  Espinel  u.  a. 
weiter  ausgebildeten  litterarischen  traditiijii  des  „picarischen  romanes" 
steht,  ist  eine  bekante  tatsache.  Auf  ein  bestirntes  werk  dieser  ge- 
schmaksrichtung  jedoch  als  muster  hinzuweisen,  ist  noch  nicht  versuclit 
worden. 

Durch  prof.  Jakob  Minor  angeregt  unternahm  ich  es,  das  Verhält- 
nis des  „  Simplicissimus "  zu  einem  seinerzeit  algemein  gelesenen  und 
bewunderten  romane  von  Mateo  Aleman,  dem  „Guzman  von  Alfaraclie"  \ 
wie  wir  ihn  der  kürze  halber  bezeichnen  wollen,  zu  untersuchen. 
Dabei  ergab  sich  folgendes: 

Im  Jahre  1616  erschien  zu  München  von  dem  durch  seine  Über- 
setzungen der  Schriften  Guevaras,  des  hofpredigers  Karl  Y.,  bekanten 
Jesuiten  Aegidius  Albertinus^  eine  bearbeitung  des  „Guzman  von  Alfa- 
rache'', die  der  gepflogenheit  jener  zeit  gemäss  den  langatmigen  titel 
führt:  „Der  Landstörtzer  Gusman  von  Alfarache  oder  Picaro  genannt, 
dessen  wunderbarliches,  abenthewrlichs  und  possirlichs  Leben,  was  ge- 
stallt er  schier  alle  Ort  der  AVeit  durchloffen,  allerhand  Stand,  Dienst 
und  Aembter  versucht,  viel  Guts  und  Böses  begangen  und  außgestan- 
den,  jetzt  Eeich,  bald  Arm,  und  widerumb  Reich  und  gar  Elendig 
worden,  doch  letztlichen  sich  bekehrt  hat,  hierin  beschrieben  wird 
Durch  Aegidium  Albertinum,  Fürstl.  Durchl.  in  Bayrn  Secretarium,  theils 
aus  dem  Spanischen  verteutscht,  theils  gemehrt  und  gebessert.  Erst- 
lich Gedruckt  zu  München,  durch  Nicolaum  Henricum.  Anno  MDCXVI." 
8  jähre  später  gab  ein  sonst  unbekanter  autor,  der  sich  auf  dem  titel 
den  poetischen  namen  Martinus  Erewdenhold  beilegt,  zu  Frankfurt  am 
Mayn  eine  fortsetzung  zu  diesem  werke  heraus,  die  sich  als  eine 
ziemlich  unbeholfene  nachahmung  darstelt  und  als  „dritter  teil"  gel- 
ten will  3. 

1)  Ticla  y  heclios  dcl  Picaro  Guzmau  de  Alfaracbe.  Atalaya  de  la  vida  liii- 
mana  por  Mateo  Aleman. 

2)  Nicht  „Albertini",  wie  ihn  Titman  in  der  einl.  zu  seiner  ausg.  des  Simpl.  nent. 

3)  „Der  Landstöi-tzer  Gusman  von  Alfarache ,  oder  Picaro,  genant  Dritter  Theil, 
Darinnen  seine  Reyß  nach  Jerusalem  in  die  Türekey,  vnd  Morgenländer,  auch  wie 
Er  von  den  Tüi'cken  gefangen,  wideramb  erledigt,  die  Indianischen  Landtschafften 
besuchet,  \Tid  in  Teutschlandt  selbst  alle  Stätte  durchwandert,  auch  allerhand  vndcr- 
schiedliche  Dienste,  vnd  llandwerck  versuchet,  vnd  bald  zu  grossem  Reichthumb  auff- 


94  VON   PAYER 

Die  bearbeitung  des  Albertinus  sowol,  wie  die  fortsctzung  zeich- 
nen sich  —  nicht  gerade  zu  ihrem  vorteil  —  durch  eine  grosse  zahl 
von  excui*sen  oder,  "wie  der  Verfasser  mit  dem  Spanier  sagt,  „discur- 
sen''  aus,  die  zusammengenommen  nahezu  die  hälfte  des  ganzen  Wer- 
kes ausmachen  und  zur  eigentlichen  handluug  nur  in  einer  sehr  locke- 
ren, nicht  selten  aber  auch  in  gar  keiner  beziehung  stehen.  Und  diese 
gerade  sind  es,  die  den  ausgangspunkt  unserer  betrachtung  bilden  müs- 
sen. II,  356  komt  der  hold  des  romanes,  Guzmann,  in  den  dienst  eines 
Junkers  und  „discuriert"  auf  dem  wege  mit  diesem  drei  lange  kapitel 
hindui'ch  über  adel  und  edelleute  (s.  357):  „Was  den  Adel  und  Edelleut 
belanget,  Gepietender  Juncker,  welche  jederzeit  und  billich  bey  allen 
Yölckern  in  grossen  Ehren  gehalten  worden,  befinden  wir,  daß  der- 
selbige  auch  von  vielen  wird  mißbrauchet,  Indem  auch  viel  gemeine, 
und  geringes  Standspersohnen  gefunden  werden,  welche,  wann  sie  so 
viel  zusammen  geraspelt  und  geschachert,  daß  sie  drey  Hel- 
ler im  Beutel  und  ein  Seyden  Kleid,  beneben  einem  fcderbusch 
auff  dem  Hut  tragen  können,  mitgewählt  Rittermässige  Herren  wol- 
len seyn,  kauften  Adels  Brieff^  und  stutzen  so  Adelich  in  [358]  den 
Städten  umbher,  daß  man  genug  von  ihnen  hat  zu  sagen,  und  mit  fin- 
gern nachdeutet,  welchs  jhnen  doch  nicht  zu  Ehren,  sondern  zu  mehrer 
Schmach  und  Schande  gereichet,  dann  da  weiß  man  nichts  mehr  zu 
erzehlen,  als  daß  jhr  Großvatter,  auch  wohl  jhr  Yatter,  Tag- 
l»Shner  und  Lastträger,  ihre  Yätter  Beerstecher,  jhre  Brüder 
Bfittel,  jhre  Schwestern  Huren,  jhre  Mutter  Hurenwürthin 
gewesen,  In  summa,  jhr  gantzes  Geschlecht  dermassen  besu- 
delt und  befleckt,  und  sie  selbst  so  Schwartz,  als  wann  sie 
jetzo  auß  der  raucherischen  Werckstatt  des  lahmen  Yulcani  dem  Bronti 
und  Stetopi  als  jhren  rechten  Bnidern  eutlauffen  weren." 

gestiegen,  bald  widenimb  in  höchste  Armuth  gerahten,  außfühiiichen  beschrieben 
wird.  Bcneben  anmüthiger  vnd  eygentlicher  Beschreibung  der  Morgenländer,  deß  H. 
Lands  vnd  der  Indianischen  Insulen,  auch  vieler  artigen  herrlichen  Discursen,  vnd 
Erinnerungen.  Auß  dem  Spanischen  Original  erstmals  an  jetzo  veiieutscht  durch  Mar- 
tinum  Frewdenhold.  Getruckt  zu  Franckfurt  am  Mavn,  Im  Jahr  MDCXXVI.'^  8. 
In  der  folge  soll  die  bezeichnung  I  für  die  bearbeitung  der  Albertinus ,  II  für  die  fort- 
sctzung des  Frewdenhold  gelten. 

1)  Vgl.  Moscherosch,  "NVeltwesen:  -.  .  .  .  hat  kaum  so  viel  im  Säckel  ge- 
habt, daß  er  den  Adelbrieff  bezahlen  und  einen  Stall  mit  Gunst  zu  melden  kauffen 
können:  sich  doch  ungeachtet  aller  ehrbarkeit  nicht  mehr  Metzger,  nicht  mehr  Wag- 
ner etc.  ...  sondern  Herren  von  Metzegem,  Henen  von  Wagenera  etc.  ...  will  titu- 
lirct  etc.  . . .  haben,  damit  er  undor  die  Altgebonie  vom  Adel,  under  die  alte  Ritter- 
schaft nicht  nur  gerechnet  sondern  auch  denselbigeu  gar  möchte  vorgezogen  werden." 


ZUM  snirucissiMrs  95 

Diese  stelle  greift  Griiniiielsliausen  lieraus  und  stelt  sie  wirkungs- 
voll an  den  anfang  seines  Werkes,  dorthin,  wo  der  erziihler  von  seiner 
eigenen  abstammung  berichtet: 

„Es  eröffnet  sich  zu  diosoi-  unserer  Zeit  (von  welcher  num  glau- 
bet, daß  es  die  letzte  sey)  unter  geringen  Leuten  eine  Sucht,  in  deren 
die  Patienten,  wan  sie  daran  kranck  ligen,  und  soviel  zusammen 
geraspelt  und  erschacliert  haben,  daß  sie  neben  ein  paar  Hel- 
lern im  Beutel,  ein  närrisches  Kleid  aulf  die  neue  Mode,  mit 
tausenderley  seidenen  Bändern,  antragen  können,  oder  sonst  etwan 
durch  Glücksfall  mannhafft  und  bekant  worden,  gleich  Ritter  massige 
Herren,  und  Adeliche  Personen  von  ulu-altem  Geschlecht,  soyn  w^ ol- 
len; da  sich  doch  ofFt  befindet,  daß  ihre  Vor-Eltern  Taglöhner, 
Karchelzieher  und  Lastträger:  ihre  Vettern  Eseltreiber:  ihre  Brü- 
der Büttel  und  Schergen:  ihre  Schwestern  Huren:  ihre  Mütter 
Kupplerinnen,  oder  gar  Hexen:  und  in  Summa,  ihr  gantzes  Ge- 
schlecht von  allen  32.  Anichen  her,  also  besudelt  und  befleckt 
gewesen,  als  deß  Zuckerbasteis  Zuntft  zu  Prag^  immer  seyn  mögen; 
ja  sie,  diese  neue  Nobilisten,  seynd  offt  selbst  so  schwartz,  als 
wan  sie  in  Guinea  geboren  und  erzogen  wären  Avorden." 

Im  weiteren  verlaufe  fülirt  Simplicissimus  einen  ironisch  gehal- 
tenen, mit  einer  gewissen  behagiichkeit  in  alle  details  sich  ergehenden 
Vergleich  zwischen  dem  bauernhofe  seines  „Knän'*  und  einem  fürst- 
lichen palaste  durch  und  fährt  I,  7  fort:  „Anstat  der  Pagen,  La- 
qiieyen  und  Stallknechte  hatte  er  Schaf,  Böcke  und  Sau,  jedes 
fein  ordentlich  in  seine  natürliche  Liberey  gekleidet,  welche  mir  auch 
offt  aufi'  der  "Waid  aufgewartet,  biß  ich  sie  heimgetrieben;  die  Rüst- 
oder Harnisch -Kammer  war  mit  Pflügen^  Karsten,  Aexten,  Hauen, 
Schaufeln,  Mist-  und  Heugabeln  genugsam  versehen,  mit  welchen 
Waffen  er  sich  täglich  übete;  dan  hacken  und  reuthen  war  seine 
disciplina  militaris,  wie  bey  den  alten  Römern  zu  Friedens -Zeiten, 
Ochsen  anspannen,  war  sein  Hauptmannschafftliches  Commando, 
Mistaußführen,  sein  Fortification-wesen,  und  Ackern  sein  Feldzug, 
Stall-außmisten  aber,  seine  Adeliche  Kurtzweile,  und  Turnierspiel; 
Hiermit  bestritte  er  die  gantze  Weltkugel,  soweit  er  reichen  konnte, 
und  jagte  ihr  damit  alle  Emden  eine  reiche  Beute  ab  "2. 

1)  Diefigurdes  „Zuckerbastel",  des  Oberhauptes  der  Prager  gauDerzunft,  ist  nach 
Reiuh.  Köhler  (Gosches  archiv  I,  295  fg.)  der  Ulenhartschen  bearbeitung  einer  novello 
des  Cervantes  „Rinconete  und  Cortadillo"  entnommen  und  nichts  als  eine  Übertragung 
des  Seiior  Monipodio,  des  obersten  der  Sevillaer  gaunerzunft.  in  deutsches  kostüm. 

2)  Vgl.  auch  Moscherosch,  AVeltwesen  „.  .  .  und  doch  muß  der  beste  Adel 
leiden,  und  hören,  daß  sein  aller  erster Urahuherr  ein  Ertzbauer,  ein  rechter  Schaff- 


96 


VON   PAYER 


Daf]:egen  halte  man,  was  Giizman  II,  359  weiter  in  seinem  „dis- 
curse^  vorbringt:  ,, .  .  .  und  müssen  leyden,  das  man  jlnien  an  allen 
Enden  anch  wol  ins  Angesicht  darf!  sagen,  daß  eine  Bawren  Hütte 
sey  jhr  Pallast  gewesen,  darinn  sie  geboren  und  erzogen,  die  Stätte, 
da  sie  gewohnet,  oder  von  denen  sie  sich  schreiben,  also  beschaffen, 
daß  wann  man  über  die  Mawren  springet,  die  Zeune  krachen,  jhre 
Gfitter  otftermals  ein  gemein  Fehlt,  darauft'  sie  sich  kümmerlich  erhal- 
ten, jhre  behengte  Kammern  und  Gemach,  ein  stinckcndes  und  berauch- 
tes  Loch,  da  man  weder  Sonn  noch  Mond  recht  gesehen:  jhre  Die- 
ner und  Lackeyen,  Schafe,  Bocke  oder  Säwe,  deren  sie  gehüttet, 
der  Pflug  jhre  Ritterliche  Wehren,  darin  sie  sich  geübet,  daß 
Kühe  melcken,  ist  jhre  kurtzweil,  Gräben  außwerffen,  jhre  disciplina 
militaris,  Esel  treiben  oder  Mist  auff  Beren  tragen,  oder  am  Karch 
ziehen,  jhre  Hauptmansch  äfft  gewesen,  und  was  deß  dings  mehr 
ist,  dessen  sie  sich  zum  höchsten  müssen  schämen,  wann  es  jhnen  zu 
hindertreibung  jhres  Übermuths  vorgewoi-ffen  wird." 

Dieser  discurs  vom  adel  scheint  Grimmeishausen  so  sehr  gefallen 
zu  haben,  dass  er  ihn  auch  noch  an  einer  anderen  stelle,  im  17.  kap. 
des  I.  buches  zweimal  ausnüzt: 


Simpl.  I.  57. 
Joannes  de  Platea  will  außtrücklich, 
daß  man  in  Bestallung  der  Aemter  dem 
Adel  den  Vorzug  lassen,  und  die  Edel- 
leute  den  Plebejis  schlecht  soll  vorziehen ; 
ja  solches  ist  in  allen  Rechten  bräuch- 
lich, und  wird  in  heiliger  Schlifft  beste- 
tiget,  dan  Beata  ten-a,  cujus  Eex  nobilis 
est,  saget  Syrach  cap.  10  welches  ein 
herrlich  Zeugnüß  ist  des  Vorzugs,  so  dem 
Adel  gebühret. 


Simplicissimus  I.  57. 
Seneca  saget:  Habet  hoc  proprium  ge- 
nerosus  animus.  quod  concitatur  ad  ho- 
nesta, &  neminem  excelsi  Ingonii  Vii-um 
humilia  delectant  k  sordida.  "Welches 
auch  Faustus  Poeta  in  diesem  Dysticho 
exprimiret  hat: 

Si  te  rusticitas  ^^lem  genuisset  agrestis, 
Nobilitas  animi  non  foret  ista  tui. 


Guzman  IT,  368  fg. 
Und  wil  Johannes  de  Platea  außdrück- 
lich ,  daß  mann  in  bestellung  der  Empter,- 
dem  Adel  allezeit  den  Vorzug  lassen  und 
sie  den  plebeis  schlecht  sol  vorziehen,  wie 
solches  auch  in  allen  Rechten  bräuchlich: 
auch  in  heiliger  Schlifft  bestettiget  wiii 
.  . . .  (s.  359).  Also  lieset  man  auch  in  dem 
Büchlein  Syrach  cap.  10  Beata  terra,  cu- 
ius  Rex  nobilis  est:  wol  demLandt,  des- 
sen König  Edel  ist:  welches  auch  ein 
Zeugnuß  ist  des  Vorzugs,  so  dem  Adel 
in  dem  weltlichen  Regiment  gebühret. 

Guzman  II,  370. 

Daher  dann  dieser  Spruch  Senecae  wol  zu 
bedencken,  da  er  sagt :  Habet  hoc  proprium 
generosus  animus,  quod  concitatur  ad  ho- 
nesta,   &  neminem  excelsi  Ingenii  virum 

humilia  delectant  &  sordida.    Das  ist:  , 

welches  auch  Faustus  Poeta  in  nachfolgen 
dem  disticho  gar  wol  exprimirt  hat 

Si  te  rusticitas  vilem  genuisset  agrestis 
Nobilitas  animi  non  foret  ista  tui. 


und  Kühhirt,    und  der  sich  dazu  so  wohl  gehalten  hat,    daß   er  auB  Statt  und  Land 


ist  venviesen  worden,  nemlich  Adam." 


ZUM   SDJPLICISSIMUS  97 

I,  116  macht  Simplicius  dieselbe  Avahrnehnuing  wie  Giizman  I,  52: 

Simpl.  Guzman. 

Seithcro    hab    ich    der    Saclie    vielmals  Damals    sähe    und    erkentc    ich,    daß 

nachgedaclit,  und  V)in  der  Mej-nuug  wor-  die  A^nrcinigkeiten ,  welche  in  dergleichen 
den,  daß  solche  Excrementa,  die  einem  accidentiis  und  Zuständen  gefeilt  und  aus- 
aus  Angst  imd  Schrecken  entgehen,  viel  geworfen  werden,  viel  übler  schmeckten, 
Ubiern  Geruch  von  sich  geben  als  wan  weder  andere  ordinariae,  die  Philosophi 
einer  eine  starke  Purgation  eingenommen.       und  Sophisten  aber,    werden  die  eygeut- 

liche    Yrsachen    dessen    wol    wissen    zu 
inquiriren  und  zu  erforschen. 

II,  410  will  sich  Guzman  einer  geselschaft  von  gauklern  und 
tänzern  anschliessen.  Diese  gelegenheit,  die  nur  zu  diesem  zwecke 
herbeigeführt  zu  sein  scheint,  benuzt  der  Verfasser  sogleich,  seine 
gelehrsamkeit  auszukramen.  Er  gibt  uns  eine  mit  zahllosen  stellen  aus 
antiken  autoren  und  kirchenvätern  belegte  geschichte  des  tanzes  und 
ergeht  sich  schliesslich  in  eine  endlose  polemik  gegen  die  unsitlichkei- 
ten,  wie  sie  bei  den  tanzunterhaltungon  vorkamen,  ein  thema,  das 
deutsche  prediger  vom  15.  bis  tief  ins  18.  Jahrhundert  hinein  unzählige 
male  behandelt  haben.  Auch  an  einer  anderen  stelle  eifert  er:  „Ja  da 
verleurt  man  manchs  [3-14]  par,  welche  sich  in  einem  heimlichen 
Winckel  verkriechen,  allda  sie  gewißlich  kein  Pater  noster  betten,  es 
komme  sie  dann  eine  sonderliche  Andacht  an." 

Simplicissimus  ist  auch  kein  freund  des  tanzes,  wie  er  III,  342 
versichert:  „Anstat  des  Tantzens,  dem  ich  nie  bin  hold  worden,  wiese 
ich  die  Gerade  meines  Leibes,  wan  ich  mit  meinem  Kürschner  fechte", 
aber  an  stelle  der  langen  abstrakten  predigt  erzält  er  uns,  als  w^äre  er 
dabei  gewesen,  mit  derbem  realismus  die  ergötzliche  geschichte  „Wie 
sich  ein  Gänser  und  eine  Gänsin  gepaaret"  [buch  II  kap.  1]  und  knüpft 
nur  am  Schlüsse  gewissermassen  in  parenthese  119  die  bemerkung  daran: 
„Günstiger  Leser,  ich  erzehle  diese  Geschichte  nicht  darum,  damit  er 
viel  darüber  lachen  solle,  sondern  damit  meine  Histori  gantz  sey,  und 
der  Leser  zu  Gemüt  führe,  was  vor  ehrbahre  flüchte  von  dem  Tantzen 
zugewarten  seyn  [120].  Diß  halte  ich  einmal  vor  gewiß,  daß  bey  den 
Täntzen  mancher  Kauff  gemacht  wird,  dessen  sich  hernach 
eine  ganze  Freundschafft  zu  schämen  hat."  Dieser  lezte  satz, 
der  in  der  tat  auch  mit  dem  unmittelbar  vorhergehenden  in  keiner  sti- 
listischen Verbindung  steht,  ist  wider  wörtlich  aus  „Guzman"  II,  413 
entlehnt.  Es  heisst  dort:  „.  .  und  wann  gleich  imd  gleich  zusammen 
kommen,  wird  mancher  unehrlicher  Kauff  gemacht,  dessen 
sich  hernach  eine  gantze  Freundtschaft  schämen  muß." 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOEOÜIE.     BD.    XXII.  ♦ 


98  TON   PAYER 

In  cap.  XTV  dos  ei*sten,  von  Albertinus  herrührenden  teiles  wird 
Guzman,  fremd  in  den  Strassen  Genuas  umlierirrend,  von  einem  ehr- 
würdig aussehenden  manne,  der  seinen  vater  gekaut  zu  haben  behaup- 
tet, gastlich  aufgenommen.  Während  er  des  nachts  in  einem  weichen 
und  reinlichen  bette,  wie  er  es  seiner  tage  nicht  gehabt,  behaglich  die 
müden  glieder  streckt,  stürzen  vier  als  teufel  vermumte  männer  ins 
zimmer,  reissen  ilui  aus  den  federn,  legen  ihn,  der  vergebens  alle  hei- 
ligen anruft,  auf  einen  „kotzen"  und  prellen  ihn  derartig,  dass  er  die 
besinnung  zugleich  mit  der  „vis  retinendi''  verliert  ^  Zu  sich  gekom- 
men sucht  er  die  Verunreinigung,  die  er  angerichtet,  tunlichst  zu  ver- 
bergen und  schleicht  im  morgengrauen  aus  dem  hause,  in  dem  man 
ihm  so  übel  mitgespielt. 

Simplicius  wird  IT,  134  in  derselben  weise  mishandelt.  Aber 
während  im  „Guzman''  die  geschichte  ohne  Zusammenhang  mit  dem 
vorhergehenden  und  ohne  bezug  auf  das  folgende,  bloss  um  ihrer  selbst 
willen  dasteht,  hat  sie  hier  in  der  absieht  des  Schriftstellers  eine  ganz 
bestimte  aufgäbe  zu  erfüllen:  Simplicius  soll  dadurch  seines  Verstandes 
beraubt  und  in  seinem  bewusstsein  in  ein  kalb  verwandelt  werden,  ein 
streich,  von  dem  sich  der  Veranstalter  manchen  spass  verspricht.  Sim- 
plicius, schon  vorher  von  dem  pfarrer  gewarnt,  macht  gute  miene  zum 
bösen  spiel,  und  im  selben  äugen  blicke,  wie  er  als  „kalb"  in  die  runde 
tritt,  die  sich  um  den  tisch  des  obersten  versammelt  hat,  ist  auch  die 
absieht  des  Verfassers  klar:  der  narr  betrachtet  nun  die  geselschaft  mit 
den  äugen  eines  tieres,  als  solchem  können  ihm  daher  albernheiten  und 
unnatürlich keiten  auffallen,  in  denen  menschen  gar  nichts  besonderes 
erblicken  können,  weil  sie  dieselben  eben  dadurch,  dass  sie  menschen 
sind,  gewissermassen  mit  der  muttermilch  eingesogen  haben.  So  dient 
lüer  der  streich  nur  dazu,  der  satire  einen  besonderen  nachdruck  zu 
verleihen. 

Fernere  anlehnungen,  die,  an  sich  von  geringerer  bedeutung,  nur 
im  gefolge  der  früher  erwähnten  ins  gewicht  fallen,  sind  folgende: 

Simpl.  IV,  455  erzählt  Olivier,  wie  er  des  nachts  die  Strassen 
durchstreifte  um  vorübergehenden  die  mäntel  zu  entreissen,  und 
wie  er,  dabei  ertapt,  nur  mit  not  dem  galgen  entrint.  Wegen 
desselben    Verbrechens    wird    Guzman  I,   372    zimi    galgen    verurteilt 

1)  Dieser  spass  scheint  sich  in  Spanien  einer  besonderen  beliebtheit  zu  erfreuen: 
Don  Quixote.  I.  teil  cap.  17  -vs-ird  in  der  schenke  mit  Sancho  Pansa  derselbe  unfug 
getrieben.  Die  vier  teufelslai-ven ,  die  den  ahnungslosen  überfallen  und  erschrecken, 
erscheinen  auch  im  -Marcos  Obregon"  von  Vicente  Espinel,  übersezt  von  Ludwig 
Tieck  (Breslau  1827)  I.  bd.  s.  155. 


ZUM   SIMPLICISSIMüS  99 

und  in  anbetracht  seiner  Jugend  zur  galeere  begnadigt.  Diese  art 
des  raubes  ist  nur  bei  den  weiten  wallondi'U  gewändern  der  Süd- 
länder denkbar:  sclion  aus  dem  alten  Athen  haben  wir  kundo,  dass 
es  leute  gab,  die  im  dunkel  der  nacht  zwischen  den  langen  mauern 
dasselbe  gewerbe  übten.  Die  Griechen  nanten  es  Xioicoövidv,  und  es 
muss  eines  der  verachtetsten  verbrechen  gewesen  sein,  denn  es  wurde 
mit  seelenverkaufcrei  und  tenipelraub  auf  eine  stufe  gestelt  und  mit 
dem  tode  bestraft  ^ 

Der  priiceptor,  der  sich  mit  den  ihm  anvertrauten  Zöglingen  des 
nachts  in  den  Strassen  herumtreibt  bis  der  eine  bei  einer  balgerei 
erstochen  und  die  übrige  geselschaft  von  der  polizei  eingezogen  Avird, 
ist  gleichfals  aus  Guzman  I  cap.  XXIX  entlehnt. 

Nachdem  Guzman  seine  dreijährige  galeerenstrafe  überstanden  hat, 
begibt  er  sich  —  so  begint  die  fortsetzung  des  Frewdenhold  —  auf 
eine  pilgerfahrt  nach  dem  heiligen  lande.  Er  wird  dabei  nach  Alexan- 
drien  verschlagen  und  fährt  den  Nil  hinauf  nach  Cairo.  Dort  fält  ihm 
auf,  dass  man  hühnereier  in  Öfen  künstlich  ausbrütet.  Auf  einem  aus- 
flug  nach  der  totenstadt  gerät  er  in  die  gefangen schaft  der  Türken: 
lauter  züge,  die  sich  im  VI.  buche  des  „ Simplicissimus"  wider  finden. 

Alle  die  erwähnten  stellen  zusammengenommen  lassen  meines 
erachtens  kaum  einen  zweifei  aufkommen,  dass  jene  bearbeitung  des 
„Guzman"  von  Aegidius  Albertinus  mit  der  fortsetzung  des  Martinus 
Frewdenhold  Grimmeishausen  bei  der  abfassung  des  „Simplicissmius" 
vorgelegen  hat. 

WIEX,    IM    OKTOBER    1888.  RUDOLF    VON    PAYER. 


ZUM  TELLENSCHUSS. 

E.  L.  Kochholz  hat  in  seinem  treflichcn  w^rke:  „Teil  und  Gess- 
1er  in  sage  und  geschichte"  nachgewiesen,  dass  lange  vorher,  ehe  eine 
Schweiz  war,  die  sage,  welche  das  schiessen  eines  apfels  vom  haupte 
einer  geliebten  person  als  charakteristikon  grösster  schützenkunst  hin- 
stelt,  schon  unter  Völkern  verbreitet  gewesen  ist,  die  sich  heute  räum- 
lich ungemein    ferne   stehen.      Die   Übereinstimmung  mythischer   sagen 

1)  Xenophon,  Com.I,  2,  46.  Über  das  stehlen  des  mantels  bemerkt  Tieck  zu 
Marcos  Obregon,  I.  bd.,  cap.  3:  -Das  stehlen  des  mantels  war  damals  etwas  sehr 
gewöhnliches  in  Madrid.  Eine  gewisse  aii;  der  diebo  legte  sich  vorzüglich  auf  diese 
räuberei,  zu  welcher  Schnelligkeit  und  geschicklichkeit  erforderlich  war." 

7* 


100  VON  WLISLOCKl 

bei  den  yerscliiedensten  Völkern  mag  oft  überraschen,  aber  sie  erklärt 
sich  gar  einfach.  ,,Je  weiter  man  in  der  zeit  znrückgeht,  um  so  mehr 
nimt  die  Verschiedenheit  der  Völker  und  stamme  ab,  um  so  grösser 
muss  auch  die  Übereinstimmung  aller  in  dem  punkte  der  sagen  gewe- 
sen sein."  Als  kleinen  beitrag  hiefür  will  ich  aus  Siebenbürgen  einige 
unedierte  sagen  und  märchen  mitteilen,  die  die  weitverbreitete  mythe 
vom  apfelschuss  bis  auf  den  heutigen  tag  bewahrt  haben. 

Ein  unediertes  märchen  der  transsüvanischen  Rumänen  lautet  in 
genauer  Übersetzung  also: 

Seliarfauff.  Scliiiellauf,  Trefweit. 

Es  lebte  einmal  eine  arme  alte  frau,  die  hatte  drei  grosse  söhne, 
von  denen  ein  jeder  eine  trefliche  eigenschaft  besass.  Den  ältesten 
nante  man  Scharfaug,  weil  er  ein  so  scharfes  äuge  hatte,  dass  er 
(bei  meilen  weit  alles  deutlich  sehen  konte;  den  mitleren  nante  man 
Schnellauf,  weil  er  so  schnell  laufen  konte,  dass,  ehe  man  sagte: 
„bleib  gesund'',  er  schon  drei  meilen  zurückgelegt  hatte  und  wider 
andere  drei  meilen,  ehe  man  ein  „lebewol"  sprach^;  und  den  jüngsten, 
den  nante  man  Trefweit,  weil  sein  schuss  auf  drei  meilen  weit  sicher 
traf.  —  Als  ihre  mutter  starb,  machten  sich  die  drei  brüder  auf  den 
weg,  um  m  der  grossen  weit  ihr  glück  zu  versuchen.  Einmal  sassen 
sie  am  rande  eines  waldes,  als  Scharfaug  in  weiter  ferne  einen  hinken- 
den wolf  erblickte.  Er  rief:  „Seht,  dort  am  rande  jenes  waldes  komt 
ein  wolf  hinkend  einher!"  Doch  kaum  hatte  er  diese  werte  gesprochen, 
so  kam  schon  schneilauf  mit  dem  wolfe  zurück.  Die  brüder  verban- 
den den  wehen  fuss  des  wolfes,  der  ihnen  von  nun  an  wie  ein  hund 
überalhin  nachfolgte.  So  kamen  sie  denn  einmal  in  eine  stadt,  wo 
ein  mächtiger  könig  wohnte,  der  eine  wunderschöne  tochter  besass, 
die  aber  nur  den  heiraten  wolte,  der  sie  im  wetlauf  besiege.  Sie  war 
eine  ausserordentlich  schnelle  läuferin  und  hatte  schon  viele  bewerber 
im  wetlauf  besiegt  und  hinrichten  lassen.  Als  nun  die  drei  brüder 
hievon  künde  erhielten,  unternahm  es  sofort  Schnellauf  mit  der  königs- 
tochter  um  die  wette  zu  laufen.  Doch  ehe  sie  den  lauf  begannen, 
sprach  die  königstochter  also  zu  Schnellauf;  „Drei  meilen  weit  werden 
wir  laufen  und  wenn  du  vor  mir  das  ziel  erreichst,  so  will  ich  deine 
frau  werden!  Doch  ehe  wir  den  lauf  noch  beginnen,  schenke  ich  dir 
schon  den  trauring!"  Und  sie  gab  ihm  einen  ring  mit  einem  pracht- 
vollen stein,   den   Schnellauf  zu  seinem  unglück  sofort  an  den  finger 

1)  Zu  dieser  wendiing  vgl.  meinen  aufsatz:  „Zu  neugriechischon  Volksliedern" 
(in  der  Zeitschrift  f.  vergl.  litteraturgesch.  u.  renaissance-httcratur  N.  F.  bd.  I  s.  353). 


ZUM   TELLEXSCIIUSS  101 

zog;  denn  der  stein  im  ring  liatte  die  kraft  jeden,  der  ihn  am  fiiiger 
trug,  nach  kurzer  zeit  einzuschläfern.  Und  so  gescliah  es  auch  Schnel- 
lauf. Kaum  hatte  der  wetlauf  begonnen  und  Schnellauf  bereits  zwei 
meilen  zurückgelegt,  da  fiel  er,  in  tiefen  schlaf  gesunken,  wie  tot  zu 
boden.  Dies  bemerkte  aber  noch  rechtzeitig  Scharfaug  und  sagte  zu 
seinem  bruder  Trefweit:  „0  wehe!  unser  bruder  ist  bezaubert  worden 
und  liegt  nun  zwei  meilen  weit  von  hier  in  tiefem  schlaf,  auf  den 
boden  gestreckt.  Der  ring,  den  ihm  die  königstochter  geschenkt  hat, 
muss  ein  zauberring  sein!"  —  „Das  werden  wir  gleich  sehen!"  ver- 
sezte  Trefweit,  „zeig  mir  nur  die  richtung,  in  welcher  unser  bruder 
liegt."  Und  als  ihm  Scharfaug  die  richtung  anwies,  schoss  er  seine 
flinte  ab  und  von  der  kugel  geti'offen  fiel  der  zauberring  zersplittert 
vom  fiuger  Schnellaufs.  Dieser  erwachte  sofort  und  legte  wie  der  blitz 
die  lezte  meile  zurück.  Lange  nachher  kam  die  schnelfüssige  königs- 
tochter am  ziele  an.  Sie  forschte  sogleich  nach  dem  ringe  und  Schnel- 
lauf erzählte  ihr  nun,  dass  wahrscheinlich  sein  bruder  Scharfaug  ihn 
schlafend  bemerkt  habe,  worauf  dann  sein  jüngster  bruder  ihm  den 
ring  vom  finger  geschossen  habe.  Da  rief  erzürnt  die  königstochter: 
„Gut,  ich  will  dein  weib  werden,  aber  weil  ihr  mich  betrogen  habt, 
so  muss  dein  bruder  Trefweit  mir  noch  einmal  seine  kunst  zeigen; 
gelingt  ihm  die  aufgäbe  nicht,  so  lass  ich  ihn  und  deinen  bruder 
Scharfaug  hinrichten!"  Und  sie  befestigte  einen  ring  oben  auf  dem 
haupte  Scharfaugs,  stelle  ihn  dann  vor  Schnellauf,  auf  dessen  haupt  sie 
eine  kartoffel  legte  und  hiess  nun  Trefweit  von  hundert  schritt  weite 
durch  den  ring  die  kartoffel  vom  haupte  seines  bruders  zu  schiessen. 
Da  begann  der  wolf  zu  heulen  und  Avolte  auf  die  königstochter  los- 
springen, aber  Trefweit  besänftigte  ihn  und  sprach:  „Warte,  bis  dass 
mir  der  schuss  mislungen  ist!"  Und  er  nahm  die  flinte  zur  band  und 
schoss.  Durch  den  ring  hindurch  drang  die  kugel  in  die  kartoffel  und 
riss  sie  mit  sich  fort.  Xun  muste  die  königstochter  Schnellauf  heiraten 
und  die  drei  bruder  lebten  glücklich  bis  an  ihr  seliges  ende.  Sie 
machten  das  reich  des  königs  gross  und  mächtig,  denn  jedermann 
fürchtete  sich  vor  ihnen  und  als  sie  starben,  weinten  alle  leute  im 
lande  und  glaubten  lange  zeit  nicht  an  den  tod  der  bruder,  sondern 
dachten  bei  sich,  dass  sie  sich  vielleicht  gekränkt  aus  dem  lande  ent- 
fernt hätten  und  einmal  noch  zurückkehren  würden.     So  gerne  hatten 

die  leute  diese  drei  bruder 

Dies  das  märchen  der  Eumänen,  das  sich  im  grossen  und  gan- 
zen mit  der  italienischen  NoveUa  eleu  Fortunato,  Avelche  1869  zu  Li- 
vorno  von  Giov.  Papanti  nach  einem  drucke  aus  dem  fünfzehnten  jähr- 


102  VON    WLISLOCKl 

hundert  herausgoceben  Avorden  ist,  deckt   Audi  im  niärclien  bei  Grimm, 
K.-M.  nr.  71;  Ey,  Harzmärohenbuch  s.  116,    und  im  märcheu  ,,  Belle - 
Belle  Oll   Je  Clfevalier  Foriunc"   von   der  gräfin   d'Aulnoy,    „komt  ein 
wetlauf  mit    einer  königstochter  vor,  wobei  der  läufer  einschläft,    aber 
durch  einen  schuss  oder  wurf  noch  zeitig  genug  erweckt  wird,  um  vor 
der  prinzessiu  das  ziel  zu  erreichen"   (s.  Roch  holz  a.  a.  o.  s.  44   und 
vd.  R.  Köhlers  schätzbare  mitteiluniren  1872  in  Brockhaus  Kritischen 
anzeigen).     Was  den  von  obigen  märchen    abweichenden   zug  vom  ein- 
schläfernden   zauberring    betrift,    so    ist    das   rumänische    märchen    am 
nächsten  verwant  mit  Basiles  Pentamerone  III,  8.  avo  „der  läufer  Fur- 
golo  (blitz)   durch   einen   ring  mit  einem   zauberstein  festgemacht  wird, 
bis  der  armbrustschütze  Cecadiritto   (Trifgut)   ihm   den  magischen   stein 
vom  fingerring  schiesst."     Zum  schuss  durch  einen  ring  nach   der  kar- 
toffel  (also  einem  ,.erdapfel",  s.  Rochholz  a.  a.  o.  s.  41)   ist  zu  verglei- 
chen der  schuss  des  mythischen  Serbenhelden  Milosch,  der  um  die 
lateinerbraut    in    der  veste  Ledjan  werbend,    dieselbe    dadurch    gewint, 
dass  sein  pfeilschuss   durch   einen   ring  tiift    und    den   apfel   dahinter 
von  der  lanzenspitze  herabschiesst  (Gerhard,  Serbische  volksl.  I,  s.  148). 

In  den  meisten  der  hierhergehörigen  sagen  hält  der  schütze  noch 
einen  pfeil  bereit,  den  er  im  falle  eines  mislingens  demjenigen  zuzu- 
senden gedenkt,  der  ihn  zu  dem  verhängnisvollen  schusse  zwang.  Ob- 
wol  im  rumänischen  märchen  das  bereithalten  eines  zweiten  pfeiles 
(kugel)  nicht  erwähnt  wird,  so  ist  doch  nicht  undeutlich  darauf  ange- 
spielt, indem  Trefweit  zum  wolfe  spricht:  „AVarte.  bis  dass  mir  der 
schuss  raislungen  ist!"  ATas  nun  den  wolf  anbelangt,  der  in  diesem 
märchen  —  wenigstens  in  der  vorliegenden  gestalt  —  sozusagen  gar 
keine  rolle  spielt  —  so  erlaube  ich  mir  an  die  holsteinische  sage  von 
Henning  AVulf  zu  erinnern  (Rochholz,  a.  a.  o.  s.  38;  MüllenhofF,  Schles- 
wig-Holstein, sagen  nr.  66  und  Jahrbücher  von  Schleswig-Holstein  1860 
in,  3  s.  444).  Dass  nach  den  werten  des  märchens  die  drei  brüder 
im  glauben  der  leute  noch  fortleben,  ist  ebenfals  ein  alter  zug,  den 
wir  in  der  sage  von  den  drei  Teilen  am  Rütli,  den  drei  zauberschlä- 
fern im  Axenberge  u.  m.  a.  widerfinden  (s.  Rochholz  a.  a.  o.  s.  125  fgg.) 

AVichtiger  noch,  sowol  für  die  vergleichende  sagenkunde  als  auch 
für  die  fortbildung  und  Verbreitung  der  Tellengeschichte,  ist  eine  sagen- 
hafte erzählung  der  Bulgaren,  die  als  gärtner  und  feldbauern  im  Süd- 
westen Siebenbürgens  wohnen.  „Wenn  Eutych  Kopp,  Gesch. -blätter  2, 
362  die  auffallende  ähnlichkeit  erkant  hat,  welche  zwischen  Saxos  Toko- 
geschichte  und  der  Tellengeschichte  der  Schweizerchronisten  in  anläge 
und   darstellung    der    erzälten    begebenheit   besteht;    und  wenn  wir  da 


ZUM    TELLENSfllUSS  103 

auf  beiden  seilen   dieselbe  sasre  mit  denselben  haupt-  und  Wendepunk- 
ten haben",  so  gilt  dies  auch  —  niutatis  inutandis  —  mehr  oder  weni- 
ger von  der  bulgarischen  erzähhuig,    wenn  wir   dioselbe  mit  dc^r  däni- 
schen  Toko2:eschichte    und   der  Schweizer  Telleno-eschichte  vercfleichen. 
„Den  waghalsigen  apfelschuss  nach  des  kindes  haupte;  den  aufgestelten 
stecken;    die  Zuversicht  und  geschicklichkeit  des  vaters;    das   bereithal- 
ten mehrerer  geschosse  von  seite   des  schützen   und   dessen  freies  wort 
an   den   dränger;    das  fallen    des   drängers    durch   des  schützen   band", 
alle  diese  haupt-   und  Wendepunkte  der  erwähnten  beiden  geschichten 
lassen  sich  auch  in  der  bulgarischen  erzähl ung  genau  nachweisen.   Wenn 
ihr  auch  der  historisch -gefärbte  schluss    (empörung  der  Dänen,   herzog 
Parricida)   abgeht,    so   dreht  sie  sich   doch  auch  um  eine  geschichtlich 
nachweisbare  person.     Digenis,   der  bulgarische  trefschütze  ist  meiner 
ansieht  nach   derselbe,    der  auch    in    den    neugriechischen  Volksliedern 
vorkomt.     Schon  seit  langer  zeit  besass  man  neugiiechische  Volkslieder, 
in  denen  von  einem  wunderbaren  beiden,    namens  Digenis,    die  rede 
ist    (vgl.  z.  b.  Passow,  Popularia  carmina  Graeciae  recentioris  nr.  430. 
491.  516;  Sakellarios,  Cyprische  volksl.  nr.  4.  17;  Legrand,  Eecueil  de 
Chansons   populaires   grecques  III,  nr.  87  —  90),    ohne    dass   man   mit 
diesem  Digenis  viel  anzufangen  wüste,  bis  endlich  zu  anfang  des  vori- 
gen decenniums  in  Trapezunt  ein  daselbst  vor  eimiahme  der  Stadt  durch 
die  Türken  (1462),    vielleicht   schon   im   10.  Jahrhundert  verfasstes  hel- 
dengedicht  von  mehr  als  dreitausend  politischen  versen  entdeckt  wurde, 
das  von   einem  gewissen  Basilios  Digenis  Akritas  handelt,    dem  söhne 
eines  Emirs  von  Edessa,   namens  Ali,   und  einer  tochter  des  griechi 
sehen  stratarchen  Andronikos  Dukas.     Er   hiess  Digenis   (diyevy-g,   von 
zweifacher  abstammung)  Avegen  seiner  arabisch -griechischen  eitern  und 
Akritas  als  grenzwächter  gegen  die  muselmänner  am  Euphrat   (als 
eine  art  grenzwächter   tritt    er    auch  in   der  bulgarischen   erzählung 
auf);    er  hiess  auch   Porphyrios,    bei    den  Persern  Farfurius;    sein 
eigentlicher    name    scheint    aber    Panthirios    oder    Panthir,    und    er 
derselbe  feldherr  gewesen  zu  sein,  Avelcher  nach  dem  Zeugnisse  Nestors 
im  jähre   941   die    flotte    des   russischen   füi'sten  Igor   vernichtete.     Er 
war   mit    dem   griechischen   kaiser   Romanos    Lekapenos   verwant   und 
Oberbefehlshaber  der  asiatischen  provinzen.     Das  erwähnte  gedieht  nun 
ist  seitdem  von  Konstantin  Sathas  und  Legrand  herausgegeben  worden 
(Les  Exploits  de  Digenis  Akritas,  epopee  byzantine  du  X.  siecle  publice 
pour  la  premiere  fois  d'apres  le  manuscrit  unique  de  Trebizonde.     Pa- 
ris 1875).     Der  Sagenkreis   des  Digenis  ist    übrigens  auch  nach  Russ- 
land vorgedrungen,    woselbst  in   einer  handschrift   des   14.  — 15.  jahrh. 


104  VON   WLISLOCKI 

ein  heldengedicht  über  Dcugeiiius  Akritas  vorlianden  ist  (s.  A.  Wesse- 
lofsky  in  der  Ku^isischeu  revue,  Petersburg  1875.  IV.  jalirg.  s.  379fgg.): 
„Bruchstücke  des  byzantinischen  epos  in  russischer  fassung^'  und  Alfred 
Eambaud,  La  Eussie  epique,  Paris  18 76,  s.  421  fgg.  „L'Epop6e  neo- 
grecque  Digenis  Akritas";  vgl.  auch  Felix  Lieb  recht,  Zur  Volks- 
kunde s.  202). 

Die  genaue  deutsclie   Übersetzung  dieser  bulgarischen  sage  —  so 
-wie  ich  dieselbe  1887  im  Originaltext  aufgezeichnet  habe  —  lautet  also: 

Der  sclniss  des  edlen  Digenis. 

Einst  lebte  am  klaren  wasser  der  Donau  ein  gewaltiger  held,  der 
mit  seiner  frau,  einer  guten  Stia^  einen  söhn  zeugte,  dem  er  den 
nameu  Digenis  gab  und  zu  dessen  paten  er  sich  den  grossen  könig 
von  Buda  erbat.  —  Als  Digenis  sein  zwanzigstes  jähr  erreicht  hatte 
schickte  ihn  sein  vater  hinauf  in  die  bürg  von  Buda,  damit  er  seinem 
paten  zeige,  was  er  gelernt  habe.  Und  über  Digenis  künste  hatte  der 
könig  und  seine  leute  guten  grund  zu  staunen;  denn  Digenis  konte 
schwimmen  wie  ein  fisch,  er  konte  besser  laufen  als  das  beste  reit- 
pferd  des  königs,  springen  konte  er  wie  das  reh  der  gebirge  und  steine 
von  einem  berge  auf  den  andern  schleudern,  die  sechs  pferde  von  der 
stelle  zu  rühren  nicht  im  stände  waren.  Aber  erst  schiessen!  das  ver- 
stand er  wie  kein  mensch  auf  erden.  Auf  eine  halbe  meile  weit  schoss 
er  den  allerkleinsten  apfel,  auf  einen  stock  gesteckt,  auf  den  ersten 
schuss  herab.  Über  diese  seine  künste  wunderte  sich  gar  sehr  der 
könig  von  Buda  und  sprach  zum  edlen  Digenis  also:  „Du  bist  noch 
jung  an  jähren,  aber  du  kanst  doch  mehr,  als  zehntausend  hundert- 
jährige greise!  du  bist  noch  zu  jung,  um  heiraten  zu  können;  darum 
sende  ich  dich  hinaus  in  meine  bürg  im  gebirge;  dort  solst  du  als 
kapitän  (capitano)  den  Türken  schrecken  einjagen;  nach  fünf  jähren  aber 
will  ich  dir  meine  einzige  tochter  zur  frau  geben!''  Gar  traurig  zog 
der  edle  Digenis  hinauf  in  das  gebirge,  in  die  bürg,  um  dort  die  Tür- 
ken abzuwehren;  gar  traurig  war  er,  denn  er  hatte  eine  Jungfrau  lieb, 
die  er  demnächst  auch  heiraten  wolte;  nun  aber  solte  er  nach  fünf 
Jahren  des  königs  von  Buda  tochter  zur  frau  nehmen!  Was  tat  nun 
der  edle  Digenis?     Mitten  auf  dem  wege  kehrte  er   um   und   ritt   zu 

• 

1)  Stia,  auch  Juda  genant,  sind  waldnyrnphen  in  jugendlicher  frauengestalt. 
Es  gibt  böse  und  gute  Stia;  die  bösen  leben  an  Aussen  und  seen;  sie  haben  ein 
langes  haar,  das  sie  den  sich  zu  ihnen  verin-cnden  menschen  über  das  haupt  wer- 
fen, um  dann  die  darin  verstiickteu  im  wasser  zu  ersäufen;  die  guten  hingegen 
erzeugen  mit  irdischen  männem  kinder,  aus  denen  gewöhnlich  grosse  beiden  werden. 


ZUM   TELLENSCIIUSS  105 

seiner  geliebten,  die  er  heiratete.  Nun  zo^  er  mit  seiner  jungen  frau 
in  die  ferne  bürg  im  gebirge.  Durch  seine  künste  wurde  er  gar  bald 
der  schrecken  der  Türken.  Als  fünf  jähre  um  waren  schickte  der  künig 
von  Buda  dem  edlen  Digenis  einen  grossen  l)riof  mit  einem  grossen 
Siegel,  damit  er  nach  Buda  komme  und  seine  einzige  tochter  heirate- 
Der  edle  Digenis  bestieg  also  sein  ross,  sezte  sein  vierjähriges  sölmlein 
vor  sich  hinauf  und  ritt  zum  könig  von  Buda.  Als  er  dort  ankam, 
sprach  er  also:  „Herr  könig,  euere  tochter  kann  icli  nicht  heiraten, 
denn  ich  habe  mir  schon  vor  fünf  jähren  ein  weib  genommen!  Hier 
ist  mein  vierjähriges  söhnlein!"  Da  ergrimte  der  könig  von  Buda  und 
sprach:  „Du  hast  wie  ein  weib  gehandelt  und  verdienst  vun  den  i)fer- 
den  zertreten  zu  werden M  Doch  ich  wdll  dein  leben  schonen,  weil  ich 
ja  dein  pate  bin,  aber  du  musst  einen  goldenen  apfel  vom  haupte  dei- 
nes kindes  auf  den  ersten  schuss  herabschiessen !  Verfehlst  du  das  ziel, 
so  musst  du  sterben!"  Und  sie  führten  den  edlen  Digenis  samt  sei- 
nem söhne  hinaus  in  das  freie  feld  und  legten  dem  knäblein  einen  gol- 
denen apfel  aufs  haupt.  Dreihundei't  schritte  vom  söhne  entfernt  stand 
der  edle  Digenis  und  lud  beide  laufe  seiner  langröhrigen  flinte.  Er 
sezte  an  und  schoss.  Der  goldene  apfel  flog  weithin  auf  die  erde.  Das 
söhnlein  stand  unversehrt  da.  Grimmig  sprach  hierauf  der  könig  von 
Buda:  „Du  bist  ein  treflicher  schütze,  Digenis!  Sage  mir  aber  avozu 
hast  du  beide  laufe  deiner  flinte  geladen?  Du  durftest  ja  —  hätte  der 
erste  schuss  gefehlt  —  zum  zweiten  mal  nicht  schiessen?"  Da  hob 
Digenis  seinen  knaben  auf  den  arm  und  sprach:  „Hätte  die  kugel  des 
einen  laufes  nicht  den  goldenen  apfel,  sondern  mein  kind  geti'offen, 
dann  hätte  die  kugel  des  zweiten  laufes  dein  hundeherz  gewiss  nicht 
verfehlt!"  Und  wie  der  Sturmwind  flog  er  über  die  haide  hinauf  in 
das  gebirge,  wo  er  in  einer  höhle  rast  hielt.  Müde  schlief  er  ein  und 
als  ihn  sein  weinendes  söhnchen  aufweckte,  da  sah  er,  dass  draussen 
vor  der  höhle  der  könig  mit  hundert  seiner  leute  stand.  Der  edle 
Digenis  besann  sich  nicht  lange,  sondern  schoss  seine  beiden  laufe  ab. 
Der  könig  von  Buda  und  sein  ältester  söhn  fielen  tot  zu  boden.  Da 
begann  ein  kämpf,  wie  ihn  nicht  sobald  ein  mann  gesehen  hat.  Als 
die  sonne  den  himmelsrand  küsste,  da  lag  der  könig  von  Buda,  dessen 
söhn  und  die  hundert  männer  tot  auf  dem  boden;  der  edle  Digenis 
aber   zog   mit    seinem    söhnchen    heim    zu    seiner   frau  und   dann  ver- 

liessen  die  drei  für  immer  das  land  und  wurden  nimmer  gesehen  

Dies  die  bulgarische  sage,    deren  held  wol  geschichtlich  ist;    der 
apfelschuss    aber   ist  mythiseh  und   dem  vertrag    des   ereignisses    bloss 

1)  Vgl.  Liebrecht,  Zur  Volkskunde  (s.  296:  Eine  alte  todesstrafe). 


106  VON   WLISLOCKI 

angowacliscn  aus  älterer  Überlieferung-,  die  bislang  unbekant  ist  (vgl. 
Grimm,  ^ryth.  354).  Lezteres  (freilich  ohne  geschichtlichen  hiutergrund) 
gilt  auch  von  der  sagenhaften  erzähliing  der  Szekler,  die  ich  im  jähre 
1879  im  Haromsz6ker  komitate  (Südosten  Siebenbürgens)  im  ungarischen 
oriizin altexte  auf2:ezeichnet  habe  und  zwar  in  drei  Varianten,  von  denen 
ich  hier  die  volständigste  und  bedeutungsvolste  in  genauer  verdeut- 
schuniT  mitzuteilen  mir  erlaube. 


'Ö 


Tsehalo  Piselita.  ^ 

Es  war  einmal  dort,  wo  er  nicht  war,  dort,  wo  man  die  läase 
und  flöhe  mit  goldenen  hufeisen  versieht,  dort  war  also  einmal  ein 
mann,  dem  hinterliess  seine  fi'au,  als  sie  starb,  ein  zehnjähriges  söhn- 
chen. Der  mann  war  so  arm  wie  eine  kirchenmaus  und  konte  sich 
kaum  das  tägliche  brot  verschaffen.  Da  dachte  bei  sich  der  arme  mann : 
du  2:ehst  mit  deinem  söhnchen  in  die  weite  weit!  vielleicht  kaust  du 
anderswo  dein  brot  dir  leichter  verdienen!  —  ITnd  der  arme  mann 
buk  sich  aus  seinem  lezten  mehle  einen  aschenkuchen,  steckte  densel- 
ben in  seinen  mantelsack  und  zog  nun  mit  seinem  söhnchen,  das  man 
Tschalo  Pischta  nante,  in  die  weite  weit  hinaus.  Sie  erreichten  gar 
bald  einen  grossen  wald  und  legten  sich  ermüdet  unter  einem  grossen 
eichbaum  nieder.  Der  vater  schlief  gar  bald  ein,  während  Tschalo 
Pischta  dem  gesange  der  vögel  und  dem  gesumme  der  käfer  zuhörte. 
Da  lief  ein  manschen  heran  und  sprach  also  zu  Pischta:  „Lieber  knabe, 
ich  habe  zuhause  acht  kinder  zu  ernähren  und  habe  beute  noch  kein 
krümchen  esbares  gefunden.  Du  hast  in  deinem  mantelsack  einen  gan- 
zen aschenkuchen;  gib  mir  ein  wenig  davon,  damit  ich  es  zu  meinen 
kindern  trage  und  ich  will  es  dir  belohnen!"  Tschalo  Pischta  brach 
ein  Stückchen  vom  aschenkuchen  ab  und  warf  es  dem  mäuschen  zu, 
das  nun  also  zu  ihm  sprach:  „Keiss  mir  ein  barthärchen  aus  und  be- 
wahre es  gut;  wenn  du  in  not  bist,  so  speie  es  an  und  ich  werde  dir 
zu  hilfe  eilen,  dann  stich  mir  in  das  linke  pfötchen  und  sauge  einen 
tropfen  blut  daraus,  du  wirst  dadurch  so  stark  werden,  dass  du  zent- 
nerschwere steine  von  einem  berge  auf  den  andern  wirst  werfen  kön- 
nen!'' Als  Tschalo  Pischta  das  härchen  herausgezogen  und  einen  tropfen 
blut  ausgesogen  hatte,  lief  das  mäuschen  davon.  Als  sein  vater 
erwachte,  erzählte  ihm  Tschalo  Pischta  nichts,  sondern  behielt  das 
geheimnis  für  sich.     Xun  zogen  sie  wider  weiter  in  die  weit,  von  einem 

1)  Pischta  =  deminutiv  von  Istvän  (Stefan).  Im  Ungarischen  wird  der  tauf- 
name  dem  famüiennamen  nachgesezt. 


ZUM   TELLENSCUUSS  107 

ort  zum  andern,  bald  arbeitend,  bald  bettelnd,  —  so  wie  es  eben 
gieng.  Nun  kamen  sie  einmal  auf  einen  liuhen  berg  und  der  vater 
legte  sicli  nieder  und  schlief.  Tschalo  Pischta  konte  aber  nicht  schla- 
fen, sondern  stieg  den  hohen  berg  hinan  und  wolte  sich  in  der  umge- 
gend  ein  wenig  umsehen.  Da  kam  er  an  eine  höhle,  deren  eingang 
mit  einer  goldenen  türe  verschlossen  war.  Der  junge  versuchte  die 
tüi-e  zu  öfnen,  da  es  ihm  aber  niclit  gelang,  so  nahm  er  einen  zent- 
nerschweren stein  und  warf  ihn  solcher  wucht  an  die  türe,  dass  die- 
selbe klirrend  aufsprang.  Himmel  und  erde  erzitterten  und  aus  der 
höhle  sprang  eine  nachtschwarze  hexe  hervor  und  rief:  „Nun  sollst  du 
dein  leben  lassen,  junger  bursche,  wenn  du  nicht  so  weit  deine  steine 
schleuderst,  als  ich  schiessen  kann!^'  Und  sie  nahm  eine  flinte  hervor 
und  schoss  vom  nächsten  berge  einen  raben  herab;  Tschalo  Pischta 
aber  nahm  einen  zentnerschweren  stein  und  warf  ihn  auf  den  nächsten 
berg,  und  erschlug  damit  einen  wolf,  der  grade  über  den  berg  laufen 
wolte.  Da  nahm  er  einen  zweiten  stein  und  ehe  sich  die  hexe  versah, 
erschlug  er  sie.  Die  flinte  steckte  er  in  seinen  mantelsack  und  kehrte 
zu  seinem  vater  zurück,  dem  er  von  seinem  abenteuer  gar  nichts 
erzählte. 

Vater  und  söhn  zogen  nun  weiter  in  die  weit  und  kamen  end- 
lich in  eine  wüste,  die  kein  ende  nehmen  wolte.  Tagelang  wanderten 
sie  herum,  ohne  das  ende  der  wüste  erreichen  zu  können  und  waren 
nun  nahe  daran,  vor  hunger  zu  sterben.  Da  untersuchte  der  vater 
einmal  den  mantelsack  seines  sohnes  und  fand  darin  die  zauberflinte. 
„Woher  hast  du  diese  flinte?"  fragte  er  seinen  Pischta.  Dieser  ver- 
sezte  darauf:  „Von  einer  hexe!  Aber  was  nüzt  sie  uns  jezt,  wenn  wir 
nichts  zu  schiessen  haben!  Möchte  die  flinte  uns  doch  zu  einem  bra- 
ten verhelfen!"  Kaum  hatte  er  diese  Avorte  ausgesprochen,  da  flog  die 
flinte  durch  die  luft  weit  weg  und  kehrte  in  kurzer  zeit  mit  einem 
erschossenen  rehe  zurück.  Nun  hatten  sie  zu  essen  und  lebten  ohne 
sorge  und  kummer,  denn  sobald  sie  fleisch  brauchten,  schickten  sie  die 
flinte  auf  die  jagd,  die  dann  stets  mit  einem  erschossenen  wilde  zurück- 
kehrte. —  Nach  dreissig  tagen  erreichten  sie  endlich  das  ende  der 
weitste,  wo  ein  siebenköpfiger  drache  den  ausgang  bewachte  und  ihnen 
den  weg  versperte.  Da  schleuderte  Tschalo  Pischta  sieben  mächtige 
felsblöcke  auf  den  drachen  und  erschlug  ihn.  Sie  zogen  nun  ungehin- 
dert weiter  und  erreichten  gar  bald  eine  grosse  Stadt,  wo  ein  sehr 
grausamer  könig  wohnte.  Die  leute  empfiengen  die  beiden  wanderer 
mit  grossen  ehrenbezeugungen ,  gaben  ihnen  die  besten  speisen  und 
getränke  und  führten  sie  in  ein  schönes  haus,  wo  sie  von  nun  an  woh- 


lOS  VON   WLISLOCKI 

nen  solten.  Sie  fi'agton  erstaunt  die  leute,  was  alle  diese  ehrenbezeu- 
guDgen  zu  bedeuten  haben?  Da  erzählten  ihnen  die  leute,  dass  ihr 
grausamer  könig  den  drachen  am  ausgang  der  wüste  gehalten  und 
jeden  tag  ihm  einen  menschen  zu  fressen  gegeben  liabe.  I^un  seien 
sie  durcli  Tschalo  Pisclita  von  diesem  rtncfeheuer  befreit  worden  und 
wolten  von  nun  an  für  alle  bedürfnisse  des  vaters  und  des  sohnes  sor- 
gen. —  Doch  niclit  lang  dauerte  ihr  vergnügtes  leben,  denn  als  der 
könig  erfuhr,  dass  Tschalo  Pichta  seinen  siebenköpfigen  drachen  erschla- 
gen habe,  da  Hess  er  vater  und  söhn  zu  sich  führen  und  sprach  also 
zum  knaben:  „Du  bist  an  jähren  nocli  ein  kind.  an  stärke  und  kraft 
aber  ein  riese!  Xun,  wenn  du  mit  felsblöcken  spielen  kanst,  so  wirst 
auch  ein  guter  scliütze  sein!  '\^^eil  du  meinen  drachen  erschlagen  hast, 
so  will  ich  dich  und  deinen  vater  an  einen  ort  setzen,  wo  ilir  Aveder 
sonne  noch  mond  zu  sehen  bekomt,  wenn  du  vom  haupte  deines 
vaters  nicht  einen  goldenen  apfel  auf  tausend  schritte  weit,  herab- 
schiesst."  Und  er  legte  dem  vater  einen  goldenen  apfel  aufs  haupt  und 
hiess  nun  den  jungen  zu  schiessen.  Auf  tausend  schritte  entfernung 
schoss  Tschalo  Pischta  und  der  apfel  fiel  vom  haupte  des  vaters.  Da 
sprach  der  könig  also  zum  knaben:  ..Du  hast  den  apfel  getroffen  und 
ich  will  euere  strafe  auch  Imdern!  Ihr  solt  die  sonne  und  den  mond 
sehen  können,  aber  ich  will  euch  in  einem  netze  für  euer  ganzes  leben 
gefangen  halten  I-  Er  rief  seine  diener  herbei  und  Hess  die  beiden  in 
ein  starkes  stricknetz  werfen,  das  am  tore  des  königshauses  befestigt 
wurde.  Tiele  tage  und  nachte  sassen  schon  die  beiden  im  netze  gefan- 
gen, ohne  von  den  leuten  befreit  zu  werden,  die  sich  vor  dem  zorn 
und  der  grausamkeit  ihres  königs  fürchteten.  Da  erinnerte  sich  eines 
tages  Tschalo  Pischta  des  barthärchens,  das  er  einst  dem  manschen 
herausgerissen  hatte.  Schnell  nahm  er  es  hervor  und  spie  es  an.  Da 
liefen  im  nu  viele  tausend  mause  heran  und  frassen  das  ganze  netz 
auf,  worauf  sie  ins  haus  des  königs  drangen  und  denselben  samt  liaut 
und  haaren  verzehrten ,  worauf  sie  wider  verschwanden  i.  Die  leute 
machten   nun  den  Tschalo  Pischta  zu  ihrem   könig,    der  in  glück  und 

Zufriedenheit  bis  an  sein  seliges  ende  lebte 

Dies  ungarische  märchen  gehört  in  den  kreis  derjenigen  erzählun- 
gen,  in  welchen  von  trefschüssen  berichtet  wird,  die  nicht  allein  durch 
des  schützen  kunst,  sondern  mehr  durch  das  magische  vermögen  seiner 
Zauberflinte  gelingen  (s.  Rochholz  a.  a.  o.  s.  44  fgg.).     Der  zug  von  der 

1)  Durch  diesen  zug  gehört  obiges  märchen  auch  znr  niärchenreihe  vom 
-Mäuseturm.'^  S.  meinen  aufsatz:  ^Die  mäuseturmsage  in  Siebenbürgen"  (Germania 
N.  reihe  XX  s.  432  fgg.j  wo  ich  dies  märchen  nicht  angezogen  habe. 


ZUM   TELLENSCHUSS  109 

selbstjagenden  flinte  findet  sich  auch  in  der  Kalewala  (15,  371  nach  Schief- 
ners übei*setzung) ,  ^vo  des  finnischen  AVainiimr»inens  bogen  von  selbst 
zu  walde  aufs  weidwerk  geht;  nach  dem  altfranzösischen  i'oman  des 
Huon  von  Bordeaux  „bedient  sich  der  jagende  elbenkönig  Oberon  eines 
pfeiles,  an  dem  augenbhcklicli,  wann  es  der  eigner  will,  jegliches  wild 
steckt."  (Vgl.  auch  die  sage  von  <)rvaroddr;  Weinhold,  Altnord,  leben 
205;  Rochholz  a.  a.  o.  s.  45.)  Ein  älnil icher  zug  findet  sich  auch  in 
einem  unedierten  rumänischen  nülrchen  meiner  samlung  vor,  in  wel- 
chem drei  Waisenkinder  eine  flinte  besitzen,  die  ihnen  das  wild  aus 
dem  walde  holt.  Am  nächsten  verwant  ist  das  vorstehende  ungarische 
märchen  mit  den  betreffenden  finnisch -lappischen  erzählungen  (s.  Roch- 
holz a.  a.  0.  s.  88  fgg.),  in  denen  das  hauptmotiv  ebenfals  in  die  Wir- 
kung des  Zaubers  verlegt  wird;  ebenso  ein  gemeinschaftlicher  zug  der 
finnisch -lappischen  erzählungen  und  des  ungarischen  märchens  ist  die 
„Verwechslung  vom  objekt  ins  Subjekt",  indem  auch  hier  der  söhn 
den  apfel  vom  haupte  des  vaters  schiesst.  Zu  den  steinwürfen 
wäre  noch  zu  vergleichen  die  TöUussage  der  Inselschweden  (Rochholz 
a.  a.  0.  s.  83  fgg.)- 

Schliesslich  will  ich  mir  mit  bezug  auf  das  mitgeteilte  ungarische 
märchen  eine  bemerkung  erlauben.  Rochholz  sagt  (s.  92)  in  seinen 
schäzbaren  bemerkungen  mit  bezug  auf  die  betreffenden  finnisch -lap- 
pischen erzählungen:  „Einwirkungen  durch  die  schwedisch -dänische 
sage  haben  dabei  unleugbar  statgehabt."  Ich  erlaube  mir  dagegen  zu 
bemerken,  dass  grade  die  züge,  welche  den  finnisch -lappischen  erzäh- 
lungen und  dem  ungarischen  märchen  gemeinsam  sind,  sich  in  den 
schwedischen  und  dänischen  relationen  nicht  vorfinden  (schuss  des  Soh- 
nes, Zauberflinte). 

Der  nächste  und  lezte  schritt  führt  uns  zu  den  blinden  trefschützen. 
Es  lassen  sich  in  diesem  sagen-  und  erzählungskreise  überhaupt  drei 
abteilungen  aufstellen  und  zwar  1.  trefschützen  mit  gewöhnlicher  waffe, 
2.  trefschützen  mit  zauberwaffen,  und  3.  blinde  trefschützen.  Eine  Ver- 
einigung der  beiden  lezten  abteilungen  (zauberwafFe  im  besitze  eines 
blinden  schützen)  findet  sich  im  märchen  der  Bukovinaer  Annenier 
vor,  das  ich  aus  der  handschriftlichen  samlung  meines  freundes,  des 
Mechitaristenpriesters  dr.  AVerthanesz  Jakudjian  hier  in  deutscher  Über- 
setzung mitteilen  will. 

Der  blinde  königssoliii. 

Yor  vielen  tausend  jähren  lebte  im  osten  ein  mächtiger,  reicher 
könig,    der  sein  ganzes  leben  hindurch  von  glück   und  erfolg  in  allen 


110  VON    WLISLOCKI 

seinen  taten  begleitet  "war.  Da  kam  einmal  ein  weiser  mann  zu  ihm 
und  bettelte  um  speise  und  trank.  Da  sprach  der  könig  zu  ihm:  „Du 
bist  ein  weiser  mann,  dessen  ruf  sicli  in  sieben  reichen  verbreitet  liat, 
und  dennoch  kaust  du  von  dir  nicht  sagen,  dass  du  glücklich  bist! 
Ich  dagegen  habe  nicht  den  tausendsten  teil  deines  Verstandes  und  bin 
doch  der  glücklichste  mann  der  erde!"  Lächelnd  versezte  hierauf  der 
weise:  ,,Erinnere  dich,  o  könig,  deiner  worte,  wenn  du  einmal  im 
Unglück  bist!''  Und  ohne  eine  gäbe  anzunehmen,  entfernte  sich  der 
weise  mann.  —  Die  zeit  vergieng  und  es  drehte  sich  das  rad  des 
Schicksals  und  der  reiche,  mächtige  könig  ward  elend  und  unglücklicli. 
Ein  anderer  könig  brach  in  sein  land  ein,  besiegte  ihn  und  iiess  ihn 
in  den  kerker  werfen;  seinen  einzigen  söhn  aber  Hess  er  blenden  und 
jagte  ihn  aus  dem  lande.  Da  rief  der  unglückliche  vater  und  könig: 
„0  weiser  mann,  wie  schmerzvoll  erinnere  ich  mich  meiner  worte,  die 
ich  einst  zu  dir  gesprochen!"  Da  erschien  wie  aus  der  erde  hervor- 
gewachsen der  weise  mann  und  sprach  zum  könig:  „Hast  du  mut 
gehabt,  dich  einst  für  den  glücklichsten  mann  der  erde  zu  halten,  so 
habe  auch  mut  jezt  dein  unglück  zu  ertragen."  Hierauf  verschwand 
der  weise.  —  Der  blinde  königssohn  wanderte  in  begleitung  eines  hun- 
des,  der  ihn  führte,  von  dorf  zu  dorf,  von  Stadt  zu  stadt  und  bettelte 
um  müde  gaben.  Da  kam  er  einmal  in  eine  wüste,  wo  ihm  der  weise 
mann  erschien  und  also  zu  ihm  sprach:  „Du  erti'ägst  dein  unglück 
still  und  geduldig  und  hast  dein  gottvertrauen  nicht  verloren.  Wahr- 
lich, deines  bauens  und  Vertrauens  grund  ist  gott  allein  und  darum 
vrill  ich  dir  helfen.  Hier  gebe  ich  dir  einen  lebendigen  goldpfeil,  der 
dahin  fliegt,  wohin  du  ihn  eben  hinwünschst  imd  da  alles  tötet,  so  du 
es  haben  willst.  Morgen  wird  der  könig  ein  festschiessen  veranstalten, 
an  dem  auch  du  teil  nehmen  solst;  alles  andere  wird  sich  schon  zum 
besten  wenden.  Ich  bin  der  heilige  Joseph,  der  dich  und  deinen  vater 
beschützen  und  schirmen  will  vor  unglück  und  leid!  Darum  gebe  ich 
dir  hier  auch  eine  salbe,  mit  der  du  deine  äugen  übermorgen  einreiben 
solst,  damit  du  wider  sehend  werdest!  Morgen  solst  du  noch  blind 
am  festschiessen  teil  nehmen!"  Mit  diesen  worten  gab  der  heilige  Joseph 
dem  blinden  königssohn  den  goldpfeil  und  die  salbe  und  verschwand. 

Gottveiii-auen  und  frohe  Zuversicht  im  herzen  machte  sich  der 
königssohn  auf  den  weg  in  die  stadt  seines  feindes.  Unerkant  nahm 
er  zum  gelächter  der  leute  teil  an  dem  festschiessen.  Doch  als  sein 
goldpfeil  als  erster  durch  einen  goldenen  ring,  der  als  ziel  auf  einer 
Stange  aufgestelt  war,  flog  —  da  lachten  die  leute  nimmer.  Dreiund- 
dreissigmal  schoss  der  blinde  königssohn    und    dreiunddreissigmal  flog 


ZUM  TELLENSCHUSS  111 

sein  pfeil  durch  den  fi^oldenen  rini^  und  kehrte  stets  ungesehen  zu  ilnn 
zurück.  Da  rief  der  heidnische  künig  seinen  leuteu  zu:  „Bringt  mir 
den  gefangenen  könig  hervor!  Der  blinde  soll  ihm  vom  haupte  einige 
äpfel  herabschiessen !  Wenigstens  liat  er  dabei  eine  grosse  angst  aus- 
zustehen!" Und  sie  brachten  aus  dem  kerker  den  gefangenen  könig 
hervor,  stehen  auf  sein  haupt  einen  apfel  und  hiessen  den  blinden 
schiessen.  Der  königssohn  schoss  und  der  apfel  fiel  zur  erde.  Drei- 
unddreissig  äpfel  schoss  er  nach  einander  vom  liaupte  seines  vaters. 
Da  flog  aber  der  lebendige  goldpfeil  auf  den  heidnischen  könig  und 
dessen  leute  und  tötete  sie  alle.  Da  befreiten  die  leute  den  könig,  der 
nun  mit  seinem  wider  sehend  gewordenen  söhne  in  steter  gottergebung 
lebte  und  bis  an  sein  ende  weise  regierte  

Dies  die  armenische  erzählung,  die  gleich  den  meisten  armenischen 
Volksüberlieferungen  einen  legendenhaften  anfing  hat.  Trotzdem  lässt 
es  sich  nicht  verkennen,  dass  auch  sie  die  hauptzüge  der  Teilsage 
(schuss  nach  dem  haupte  eines  geliebten  wesens,  stange,  apfel)  aufzu- 
weisen hat.  Durch  den  schuss  des  söhn  es  (also  auch  hier  Verwechs- 
lung vom  Objekt  ins  Subjekt)  und  die  gefangenschaft  lehnt  sie  sich  auch 
an  die  mitgeteilte  ungarische  erzählung;  den  zug  vom  lebendigen  gold- 
pfeil finden  wir  auch  in  den  tatarischen  lieldensagen,  wo  Katai-Chan 
einen  goldpfeil  besizt,  der  lebend  ist,  über  sieben  länder  fliegt  und  da 
alles  tötet  und  schliesslich  zum  schützen  zurückkehrte  Abgesehen  vom 
eingang,  der  sich  an  die  sage  von  Crösus  anlehnt,  lässt  sieh  bei  die- 
ser erzählung  —  trotz  ihres  christlich-legendenhaften  anfluges  —  der 
orientalische  Ursprung  nicht  ableugnen.  Diese  armenische  gestaltung 
der  sage  vom  apfelschusse  scheint  auch  Th.  Benfeys  ansieht  (in  den 
Göttinger  anzeigen  1861,  s.  677)  zu  bestätigen,  derzufolge  schwerlich 
daran  zu  denken  sei,  dass  die  ursprüngliche  sage  der  Orient  vom  occi- 
dent  empfangen  habe,  sondern  wahrscheinlicher  das  umgekehrte  anzu- 
nehmen sei.  Hiefür  spricht  auch  mit  schlagenden  gründen  das  mär- 
chen  der  transsilvanischen  zeltzigeuner,  das  ich  im  jähre  1883  während 
einer  mehrmonatlichen  Wanderung  mit  einer  zigeunertruppe  aufgezeich- 
net habe. 

Der  Originaltext  dieses  unedierten  märchens  lautet  also: 

Trin  godylarere  ih:yM'AJ 

Teki'dr   dvnds  trin  p(^rälä,    ke  kdmena   dndre    Urne    tlie  jidl   te 
leskre    hd^t  the  drdkel.     Dures  yon  dndre  Urne  jidnend  te  nikai  yon 

1)  Castren,  Die  Altai -Völker  (1857)  s.  215. 

2)  "Was  die  Orthographie  anbelangt,    so  entsj^richt  c  dem  deutchen  tsch,    p  = 


112  VON   TTLISLOCKI 

(ü'dkefHi  hcict.  Ahor  jidncud  yekvär  pal  bare  pdni  te  aldnd  yek  vdsh 
leske  yek  ruh  heshdvelds  ie  yo/i  penend,  the  odoy  pdpdlc  dven  pdl  yek 
hersli.     Te  yon  jidneiid  upro  pro  leskro  droDi. 

0  legterneder  trin  pcrdJcnyre  huter  dvelds  dudro  hdro  thdgdr, 
käske  frin  leyshukdreder  raklyiyd,  dvnds,  kc  cdk  triu  pgrdhu  kdme- 
nd,  ke  may  bdre  the  kerdiids'^.  Atunci  gindekis  legterneder:  0  bersh 
cdces  mayd  luuilyds  te  me  sikdrdyom  the  gdrdvel;  m're  pgrdla 
tdldn  so  sikdrend.  Tdldii  dmende  drnd  trin  rdkhjiyd  thdgdreskro! 
Kdde  ghidinelds  o  legterneder  te  jidnelds  kiyd  pdhi  leskre  p^rdlen 
the  drdkel.  Te  yon  dvend  biso  te  penend,  so  dndre  Urne  the  sikdr- 
dye?ids-.  0  Icgpgureder  sikdrdyehds  the  ndsel  te  sdr  hdrvdl  ndse- 
Ms:  0  duyto  yek  genddlos  kerelcts,  kdy  sdkofeles  yon  dikhend  te  o 
trito  sikdrelds  the  gdrdvel  te  legdureder  gdrdvelds  sdr  yek  ciriklo  the 
urdl  jdnelds.  Akor  triu  prrdld  penend  hoy  yon  trin  rdkhjiyen  tlidgd- 
reskro  kdmend  te  jidnend  kiyd  thdgdreske  te  kiyd  leske  penend:  „Bdro 
rdyeyd!  Amen  kdmen  tire  rdklyiyen!  Pen  mende,  so  dinen  the 
keren?"  Te  o  thdgdr  peneläs:  „Ldces!  Ko  vrre  legpQureder  rdklyd 
romni  lel,  ddd  sikeder  the  ndsel  sdr  yoy!"  Akor  penelds  o  legpgure- 
der:  ,,Me  kdmdv  the  ndsel!"  Te  yov  ndselds  Ugpr^ureder  rdklydhd 
thdgdreskro  dndre  trin  stdcie  te  dvelds  hdmdrdb  andre  dopds.  Akor 
penelds  o  thdgdr:  „Ldces I  ni're  legpgureder  rdklyi  hin  tute;  uvd  cdk 
dtunci  hin  Id  tute,  kdnd  fre  pQrdM  m're  dvre  rdklyiyen  Tierdye^, 
dnddkode  m're  rdklyi  yd  kdmen  cdk  trin  pgrdlen!  Nosd,  m're  cluyte 
rdklyi  kdde  gdrddyol,  hoy  iiiko  Id  dikhel!  Ko  kdmel  Id  tlie  drdkel?" 
Akor  penelds  o  duyto  trin  pjr-rdlengre:  ,,Me  drdkdv  Id!"  Te  dvrijid- 
Ids  te  leskre  genddlos  dvrilelds.  Akor  dikhelds  rdklyd  thdgdreskro  d7i- 
dro  per  yekd  bdre  guruvndkri.  Yov  penelds  thdgdi'eske  te  ddd  pene- 
lds: „Ldces!  m're  duyte  rdklyi  hin  tute;  uvd  cdk  dtunci  hin  Id  tute, 
kdnd  fro  legterneder  pr;rdl  m're  legterneder  rdklyd  Tierdyds,  dndakode 
m'i'c  rdklyi  yd  kdmen  cdk  trin  pp'dlen!  Kosd,  upro  pro  shero  m're 
legterneder  rdklydkri  hin  yek  somndkuno  bdl;  tumdro  legterneder  pgrdl 
the  telegdrel  les;  te  tdldlel  dver  bdl,  akor  turnen  meren!"  Akor  o  leg- 
terneder leskre  piishkd  Idvelds  te  dndre  triji  stdcie  sommdkuno  bdl 
shereskro  legterneder  rdklydkri  telegdrelds.  Atunci  sdkonethdneste  voyd 
te  voyipen  dvnds  te  e  trin  godyidvere  pjf;rdld  dtunci  jidend  dndre  bdre 
hdr:t  leskre  shukdre  romniyensd 

ch,  j  =  dsch,  ii  =  JiJ,  sh  =  seh,  y  =^  j  (s.  meine  „Sprache  der  transsilvanischen 
ageTiner"  s.  3). 

1)  3.  pl.  impf.  conj.  2)  3.  pl.  plusq.  conj. 

3)  3.  pl.  perf.  ind. 


ZUM    TELLENSCHUSS  113 

In  genauer  venleutschung-   luiitet   dies   inärchen   der  Siebenbürger 

zeltzigeuner  also: 

Bio  drei  khmon  brüdor.  ^ 

Es  waren  einmal  drei  briider,  die  beschlossen  in  die  weit  zu 
gehen  und  ihr  glück  zu  suchen.  Lang«^  zeit  zogen  sie  in  der  weit 
herum  und  fanden  nirgends  ilu-  glück.  Da  kamen  sie  einmal  an  einen 
grossen  see  und  da  pflanzte  jeder  von  ihnen  füi-  sich  einen  bäum  und 
sie  versprachen  einander,  dass  sie  sich  nach  einem  jähre  hi<'r  wider 
treffen  wolten.     Und  nun  zog  jeder  seines  weges. 

Der  jüngste  der  drei  brüder  kam  nach  langer  zeit  zu  einem 
könige,  der  drei  wunderschöne  töchter  hatte,  die  aber  nur  drei  brüder 
heiraten  wolten,  die  etwas  aussergewöhnliches  leisten  künten.  Da  dachte 
bei  sich  der  jüngste:  das  jähr  ist  bald  um  und  ich  habe  schiessen 
gelernt,  meine  brüder  werden  ja  auch  etwas  gelernt  haben!  Vielleicht 
können  wir  uns  die  drei  königstöchter  erwerben!  So  dachte  der  jüngste 
und  gieng  an  den  see,  um  seine  brüder  zu  treffen.  Und  sie  kamen 
denn  auch  und  erzählten  einander,  was  sie  in  der  weit  gelernt  hätten. 
Der  älteste  hatte  laufen  gelernt  und  konte  laufen  wie  der  wind;  der 
zweite  hatte  einen  Spiegel  machen  gelernt,  in  dem  man  alles  sehen 
konte  und  der  dritte,  der  hatte  schiessen  gelernt  und  konte  so  weit 
schiessen,  als  ein  vogel  zu  fliegen  im  stände  war.  Da  beschlossen  die 
drei  brüder  um  die  drei  königstöchter  zu  werben  und  giengen  hin  zum 
könig  und  sprachen  also  zu  ihm:  „Grosser  herr!  wir  wollen  deine  töch- 
ter heiraten!  Sag  uns  was  wir  tun  sollen?"  Und  der  könig  sprach: 
„Gut!  Wer  von  euch  meine  älteste  tochter  zur  frau  haben  will,  der 
muss  schneller  als  sie  laufen  können!"  Da  versczte  der  älteste:  „Ich 
will  laufen!"  Und  er  lief  mit  der  ältesten  königstöchter  drei  moilen 
weit  und  kam  um  die  hälfte  der  zeit  früher  an.  Da  sprach  der  könig: 
„Gut!  du  hast  meine  älteste  tochter  gewonnen,  aber  nur  dann  bekomst 
du  sie  zur  frau,  wenn  auch  deine  brüder  meine  beiden  andern  töchter 
gewinnen,  denn  meine  töchter  wollen  nur  drei  brüder  zu  männern 
haben!  Nun  also,  meine  zweite  tochter  kann  sich  so  verbergen,  dass 
sie  niemand  sieht!  Wer  will  sie  suchen?"  Da  sagte  der  zweite  der 
drei  brüder:  „Ich  suche  sie!"  Und  er  gieng  hinaus  und  nahm  seinen 
Spiegel  hervor.  Da  sah  er  die  königstöchter  im  bauche  einer  grossen 
kuh.     Er  sagte  es  dem  könige  und  dieser  sprach:  „Gut!  du  hast  meine 

1)  Vgl.  auch  das  märchen  der  zigeuner:  .,Die  vier  bösen  brüder"  in  meinem 
aufsatz:  „Märchen  des  Siddhi-Kür  in  Siebenbürgen"  (in  der  Zeitschr.  d.  deutsch, 
morgeuländischen  geselschaft"  bd.  XLT  s.  448  fgg.).  Hier  fehlt  jedoch  der  treff- 
schuss. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       RD.    XXII.  ö 


114  VON*    WLI«5L0CKI,    7.rM    TF.LLF.XSCHÜSS 

zweite  tochter  gewonnen,  aber  nur  dann  bekomst  du  sie  zur  frau,  wenn 
auch  dein  jüngster  bnider  meine  jüngste  tochter  geweint,  denn  meine 
tüchter  wollen  nur  drei  brüder  zu  niännern  haben!  Nun  also,  meine 
tochter  hat  auf  dem  liaupte  ein  goldenes  haar;  euer  jüngster  bruder 
soll  es  herabschiessen :  trift  er  aber  ein  anderes  haar,  so  müsst  ihr  alle 
drei  sterben."  Da  nalnn  doi-  jüngste  seine  flinte  hervor  und  schoss  auf 
drei  meilen  weit  das  goldene  haar  vom  haupte  der  jüngsten  königs- 
tochter.  Nun  war  überall  freude  und  jubel  und  die  drei  klugen  brüder 
lebten  von  nun  an  mit  ihren  schönen  trauen  in  grossem  glück  — 

Dies  das  märchen  der  transsilvanischen  zeltzigeunei-,  das  in  bezug 
auf  die  künste  der  brüder  einige  ähnlichkeit  mit  der  fünften  erzähhuig 
des  sanscrit-romans  Yetala-pantscha-Yintschati  hat,  wo  ebenfals  drei 
Brahmanen  durch  ihre  künste  die  tochter  des  ministers  Haridasa  erwer- 
ben. Der  bedeutendste  zug  dieses  märchens  aber  ist:  das  verkrie- 
chen in  den  bauch  einer  kuh  und  das  goldene  haar  auf  dem 
haupte.  Dieser  zug  enthalt  zweifelsohne  eine  reminiscenz  an  den  alt- 
indischen sonnenraythus  und  ich  erlaube  mir  hiebei  nur  folgendes 
anzuführen:  „Die  begleiter  der  beiden  indischen  äthergottheiten  Indra 
und  Rudra  sind  die  Ribhus.  deren  name  im  indischen  selbst  als  son- 
nensti'ahlen  übersezt  ist  und  die  zugleich  trefliche  bogenschützen  sind. 
Aus  ihrer  schaar  ragen  drei  brüder  durch  ihre  taten  besonders  hervor: 
Ribhus.  Yibhva  und  Yayas  (Rochholz  a.  a.  o.  s.  140).  Sie  entsprechen 
aber,  wie  Adalb.  Kuhn  in  seiner  zeitschr.  (lY,  95  fg.  110  fg.)  nachge- 
Aviesen  hat,  genau  jenen  drei  von  der  germanischen  mythe  gefeierten 
brüdem:  Yolundr,  dem  kunstschmied;  Slagfifr,  dem  beflügelten  pfeil, 
und  Egill,  der  scharfdurchdringenden  pfeilspitze.  Dem  kunstschmied 
Yolundr  entspricht  im  zigeunerischen  märchen  der  bruder  mit  dem  Spie- 
gel, dem  Slagfijjr  der  schnellaufende  bruder  und  dem  Egill  der  jüngste, 
der  das  goldene  haar  herabschiesst.  lind  somit  liefert  auch  dies  mär- 
chen den  beweis,  dass  der  goldhort  einer  ursprünglichen  mythe  oft  in 
tausend  blätter  und  blätchen  verarbeitet  und  weit  und  breit  hin  ver- 
sti'eut  wird,  und  wir  können  daher  unsere  ansieht  entschieden  dahin 
neigen,  da.ss  die  sage  vom  Tellenschuss  zum  mindesten  in  ihren  anfäng- 
lichen keimen  als  gemeingut  des  arischen  Stammes  zu  betrachten  ist. 

iMTHLBACH    (siEBENTiLRGEN).  nEIXTJTCH    Y.   WIJSLOCKJ. 


11  rj 
LITTEKATÜTJ. 

Altdeutsche  predigton.  irorausgegobeii  von  Aiiloii  Scliönhacli.  Zweiter 
l»aiid:  texte.     Graz.     Verlagsbuchhandlung  StA'ria.    ISSK.     XI  und  328  s.     (I  ni. 

Der  zweite  band  der  in  dieser  zeitschr.  XIX,  480  fgg.  besj)roc]ienen  predigten 
bringt  zum  ersten  male  volständig  die  aus  <  >br'ralta<li  stammende  predigtsamlung, 
welche  bereits  K.  Roth  in  den  „Predigten  des  12.  und  13.  Jahrhunderts'*  zur  ver- 
gleichung  seiner  Regensburger  bruchstücke  stellenweise  herangezogen,  und  über  die 
in  neuester  zeit  A.  Linsenmayer  in  seiner  ,, Geschichte  der  predigt  in  Deutschland'' 
gehandelt  hat.  Die  leser  werden  es  dem  herausgeber  sicher  dank  wissen,  dass  er 
mit  diesem  bände  von  seinem  urspi-ünglichen  plane  abgewirhen  ist,  da.ss  er,  ehe  er 
an  die  Untersuchung  über  die  entstehung  und  den  Zusammenhang  der  iiltem  ])redigt- 
samlungen  geht,  sogar  erst  noch  einen  dritten  band  erscheinen  lassen  wird,  in  wel- 
chem er  die  ehenfals  noch  vor  Beii-hold  fallenden  predigten  des  priesters  Konrad 
mitzuteilen  gedenkt. 

Schünbach  hat  sich  aber  auch  in  anderer  hoziehung  von  seinem  ursprünglichen 
plane  abgewant.  Ei"  hat  es  nämlich  für  seine  obei"ste  ])tlicht  erachtet,  in  den  beige- 
gebenen erklärungen  genauer  und  ausführlicher  als  es  bisher  geschehen  die  unmittel- 
baren f[uellen  der  vei'schiedencn  predigten  zu  ei-mitteln  und  festzustellen.  Dadurcli 
scheint  allerdings  für  einen  grossen  teil  des  textes  die  einem  glossar  sonst  zufallende 
aufgäbe  der  erklänmg  dieses  und  jenes  Wortes  überäüssig  geworden  zu  sein,  voi"aus- 
gesezt  dass  der  leser  des  deutschen  textes  die  mühe  nicht  scheut,  die  lateinische 
fpielle  überall  zugleich  mit  zu  studieren.  Indessen  lässt  sich  nicht  in  abrede  stellen, 
dass  die  lektüre  durch  das  fortw.älirende  suchen  in  den  lateinischen  quellenangaben 
mindestens  sehr  aufgehalten  wird.  Auch  finden  sich  nicht  wenig  stellen,  in  denen 
der  suchende  durch  das.  was  ihm  die  lateinischen  auszüge  bieten,  nicht  befriedigt 
wird;  und  grade  da  ist  es  raeist  für  den  leser  von  interesse  zu  wissen,  welches  die 
auffassung  des  herausgebers  gewesen  sei.  Aus  diesen  gründen  wird  man  das  erklä- 
rende Wörterverzeichnis  in  dem  vorliegenden  bände  ungern  vermissen. 

Was  die  behandlung  des  textes  betiift,  der  trotz  der  von  alter  band  schon 
gebrachten  koiTcktui'en  noch  eine  menge  Schreibfehler  und  ändemngen  enthält  und 
seinen  sprachformen  nach  wol  kaum  noch  dem  13.  Jahrhundert  angehört,  so  ist  hier 
in  gleicher  weise  wie  in  dem  ersten  bände  bei  den  Leipziger  predigten  ^die  Überlie- 
ferung der  handschrift  möglichst  getreu  widergegeben  und  von  ihr  nur  abgewichen, 
so  fern  offenbare  fehler  vorlagen."  Dabei  sind  die  Überbleibsel  zweier  anderer  noch 
dem  12.  Jahrhundert  angehörender  handschriften  benuzt  imd,  um  dem  leser  ihrever- 
gleichung  zu  ermöglichen,  in  den  Varianten  wider  abgedruckt  worden:  njünlich  die 
alten  von  K.Roth  herausgegebenen  Regensburger  bnichstücke,  über  welche  K.  Lach- 
mann  seiner  zeit  ein  so  absprechendes  m-teil  fällen  zu  müssen  glaubte  (vgl.  seine 
anmerkung  zum  Iwein  4194)  und  das  von  Hoffmann  in  seine  fundgiiil>en  I,  68  —  70 
eingereihte  fragmcnt.  Beide  waren  für  die  hier  veröffentlichte  samlung  schon  darum 
von  hohem  werte,  weil  aus  ihnen  unwiderleglich  hervorgeht,  dass  dieselbe  noch  im 
12.  Jahrhundert  entstanden  ist. 

AVie  bei  der  besprechung  des  ersten  bandes,  so  werde  ich  nun  auch  hier  auf 
einige  stellen  des  textes  näher  eingehen,  in  denen  ich  von  der  auffassung  des  her- 
ausgebers abweichen  zu  müssen  glaube. 

5,  4  heisst  es  im  text  nach  der  hs. :  dii(  liilig  xnoi'ersicht  diu  den  menschpn 
Jn'ntx   himel  füert  mide  minnaeret  irdischen  dinch  —  —   hier   gibt  minmteret  = 

8* 


116  BECK 

minuert  keinen  sinn;  \vahr8cheinlich  i.st  nn))iacrvt  oder  hn  loutHirret  (=  ihm  gleich- 
gültig, verächtlich  ei-scheinen  lässt,  verleidet)  zu  Icseu,  vgl,  v.  d.  Hagens  Gerinauia  8, 
295,  148  du  hetcstin  (iis)  da\  rahchc  leben  f/elridrf  und  gesnaeret,  so  nacr  ex 
in  geunmaerct. 

8,  10  ist  Überliefelt  diu  bcx-cifJienf  i.uaicr  laeuf;  sicher  hat  der  Schreiber 
nach  :\irni'er  ein  Avort  übersehen;  Schönbach  ergänzt  hande;  eher  scheint  mir  lei[e] 
ausgefallen  zu  sein,  wegen  der  älinlichkeit  der  darauf  folgenden  silbe. 

19,  8  der  s7)ien  JiiUgen  sun  Jiin  äv  erd  hat  gesant;  xe  ist  zusatz  des  heraus- 
gebei-s;  statt  hin  xc  erd,  was  ich  in  mhd.  Schriften  des  12.  — 13.  Jahrhunderts  sonst 
niolit  gefunden  habe,  war  wol  besser  lier  in  erd  (h^  in  erd)  zu  setzen;  so  heisst  es 
54,  40  dax  er  ron  hiniel  her  in  erd  chom:  Fundgr.  I.  90,  9  an  disem  tage  sant  er 
shien  ei)ihorn  sun  her  in  erde;  St.  Trudberter  H.  lied  80,  11  got  9ras  vone  hiniile 
ehotnente  her  in  erde;  Deutsche  gedd.  ed.  Diemer  349,  25  der  des  tages  clioni  her 
nerde:  Anegenge  8.  72  von  den  drin  gesant  wart  hern  erde  ein  vart;  K.  v.  Hei- 
mesfuit  in  M.  Himmelfahii:  848  do  du  durch  un^  in  erde  haeme.  Ausser  diesen 
beispielen  finde  ich  nur  xuo  der  erde  im  Iwein  3942;  xer  erden  bei  AValther  8,  33; 
in  H.  V.  Yeldekes  Eneide  7722  ist  xu  erden  körnen  nach  den  Varianten  =  ans  land 
kommen.     Nur  bei  Williram  ed.  Seem.  19,  3:  hcra  xeerdon. 

19.  24  fgg.  heisst  es:   Unser  herre  sant  Stephan der  ist  von  reht  geeret 

da  xe  himel  ■ —  — ,  uan  der  ander  mcins  trehtins  ritter,  die  uider  des  tiufels 
schar  rächten  und  taegelich  rechtoit,  an  der  heiligen  schar  tvax  er  vaner,  tvan 
der  nach  tinsers  herxen  marter  der  erst  martraer  wa%;  hier  wird  vor  inins  trech- 
tins  ritter  das  woit  schar  vom  Schreiber  ausgelassen  sein;  in  der  vorläge  hiess  es 
wahrscheinlich:  uand  er  an  der  schar  mtns  trehtins  ritter;  auch  gegen  ende  ist 
wol  wand  er  für  uan  der  zu  schreiben. 

28.  10  wie  aber  dax>  chomen  möcht  dax^  si  des  chindes  missen  mochten  dax> 
si  ?nit  rlixe  xugen  — ;  der  herausgeber  fügt  noch  niht  e  vor  missen  hinzu,  was 
durch  den  Zusammenhang  durchaus  nicht  notwendig  gefordert  wird;  die  deutschen 
Worte  sind  ohne  diesen  zusatz  volkommen  entsprechend  der  lateinischen  quelle  (s.  203) 
forte  moret  aliquem,  quomodo  Jesus  tanta  diligentia  a  2>(^'>'c^ntibns  mdritus  Ulis 
nescientihus  in  Jerusalon  j)ossit  remanere. 

30, 18  dax  si  chunden  an  dein  stirn  gesehen  ist  überliefert,  Schönbach  schreibt 
dafür  gestirn  sehen;  die  Überlieferung  lässt  sich  möglicher  weise  halten,  wenn  man 
ins  äuge  fasst  Sumerl.  2,  39  astrum,  stirne;  Graffs  Sprachsch.  VI ,  723  sibunstirni; 
Suchenwirt  IT.  327  sibenstirn  (:schrirn);  vgl.  auch  Haupt  zu  Erec  19G9. 

42,  11  nu  selten  wir  ivie  getan  bexx,erimge  wir  Christen  da  von  nemen  ii'tul 
sehen,  dax  wir  christenlichen  namen  an  christenliclieu  werch  iht  haben;  in  der 
handschrift  steht  aber  wir  ettelichen  namen;  darnach  könte  man  wol  mit  näherem 
anschluss  an  die  Überlieferung  eitel ichen  namen  dafür  vermuten  =z  leeren,  blossen 
namen;  vgl.  s.  77,  4  und  20,  wo  itteler  neben  eiteler  überliefert  ist. 

37,  8  Paulus  der  was  ein  aechter  der  Christenheit  e  denne  er  von  der  juden- 
scheft  becJiert  tmirde;  so  lautet  der  text  nach  der  Überlieferung;  man  begreift  nicht, 
waram  der  Schreiber  sich  hier  geirt  haben  soll,  und  warum  der  herausgeber  heiden- 
scheft  für  judenscheft  setzen  zu  müssen  geglaubt  hat;  etwas  anderes  ist  es  doch 
wenn  es  41,  25  heisst:  diser  hayden  bexeichent  alle  die  die  von  der  haidenscheft 
bechert  sint. 

45,  37  do  diu  sat  u'oehsen  begting,  do  chos  man  dax,  unchraut  usw.;  so  lau- 
tet der  text  nach  der  handschrift;    dt-i-  herausgebci-  hat   bcgum/  in  bcgttnd/'  geändert. 


ÜBER    SCHÖNBACH,    ALTD.    rUKDIGTEN.    II  117 

es  also  für  ciiicu  Schreibfehler  angeselien.  Eiu  sol(;hcr  braucht  aber  hier  nicht  vor- 
zuliegen; man  kann  das  wort  mit  gutem  rechte  auch  für  eine  dialektische  form  des 
Schreibers  oder  seiner  vorläge  ansehen;  gerade  b&junfj  findet  sich  noch  an  einigen 
andern  stellen,  nicht  blos  bei  nul.  Schriftstellern,  sondern  auch  bei  oberdeutschen, 
und  zwar  in  ziemlich  früher  zeit,  so  zweimal  in  drn  Augsburger  bruchstücken  von 
Wernhers  Marienlcbea  in  der  Germania  7,  323,  320  diu  rorhtr  Imjumjc  si  ane  gen 
und  322  do  sie  beffitmjc  trartcn;  dazu  die  beispiele  aus  Otacker  bei  Weinhold  Bair. 
gramm.  §171;  vgl.  dessen  Alem.  gramm.  §  180. 

51,  10  sicer  der  ist  der  nach  richtnum  wirret y  des  liert\  Itat  inaniije  stund 
erdenchet  tag  und  naht  wie  er  iht  gewinne  mit  reht;  auffiillig  ist  hier  zuvörderst 
manige  stund  neben  tag  und  naht,  noch  auffälliger  aber  das  participium  erdcnehet 
statt  crddht^  ja  für  das  12.  und  13.  Jahrhundert  gradezu  undenkbar.  Vergleicht  man 
aber  die  in  den  lateinischen  aumerkungen  vom  herausgeber  angezogene  stelle  aus 
Haymo  (s.  219):  diuitiae  Spinae  sunt,  quia  sieut  spinne  suis  punctionibus  cor- 
pus laniant  et  cruentant  und  ferner  quanto  magis  acquisitae  fuerint,  tanto  nuigis 
in  acquisitionem  animuni  possessoris  accemlunt:  dann  ist  das  rechte  unschwer 
gefunden.  Es  muss  offenbar  heissen:  des  herxe  hat  manige  stnng[e],  erdenchet  tag 
und  naht  usw.  Fast  ebenso  drückt  sich  der  prediger  auf  s.  140,  8  und  11  aus:  die 
dorn  und  die  hagendorn  die  bexaicJtent  die  stunge  und  diu  angele;  dein  vleisch, 
dein  Icip,  der  gebirt  dir  stunge  und  angel  der  süntcn.  Über  die  Verwechslung  von 
stungen  mit  stunden  seitens  des  Schreibers  vgl.  Haupts  aninerkung  zu  Neidhart  (32,  22; 
ebenso  das  Gneistli  in  Lassbergs  LS.  III,  48,  855  ob  er  mit  stunt  des  willen  kunt, 
diu  sei  wirt  ilf  den  tot  verwunt,  wo  nach  meinem  dafürhalten  stu?ic  oder  stung 
gelesen  werden  muss.  Das  wort  findet  sich  auch  noch  mehrere  male  im  J.  Titurel, 
so  3777,  4  daX'  kund  vil  hohe  vreude  von  int  swenden  und  starke  jänier  stunge 
leider  xuo  dem  herzen  nähen  senden;  5091,  2  da  müexen  jdmers  stunge  (:  sprunge) 
triben  dar;  5202,  3  in  ungeheilter  uunden  smerxen  stunge  (:  ordenwige);  5360,  4 
bix  daz  in  jdmer  stungen  (=Jdniers  stunge  in  Pfeiffers  Üb.  117,  41)  begreif;  4274,1 
hie  wellent  niht  beliben  die  jdmer  gebenden  stungen  (:  den  jungen).  Die  zulezt 
angeführte  stelle  ist  zugleich  die  einzige,  welche  ein  schwaches  femininum  stunge 
gewährt,  wie  es  bei  Lexer  11,  1269  angesezt  ist;  das  beispiel  aus  J.  Tit.  1727  ist 
dort  aus  versehen  zum  belege  des  schwachen  pluralis  herangezogen,  es  enthält  viel- 
mehr den  substantivierten  Infinitiv :  so  tvil  ich dem  reinen  siiexen  jungen 

tiiht  harte  wixen,  dax  der  rnimie  stungen  im  kunimer  gap.  Die  sonst  auftretenden 
plurale  stunge  könten  wol  auf  einen  singular  stunc,  m.  zurückgehen. 

52,  14  dax^  er  uns  in  disem  leib  bis  staetig  xe  sineni  dienst;  gemeint  ist 
bistaetige  oder  best aet ige. 

54,  24  er  ruoft  iemer  und  mer,  lies  ie  mer  und  mer. 

51,  37  ich  han  eu  die  götlichen  tougen  geoffent,  ich  han  eii  den  sin  ufge- 
tan,  dax,  ir  die  hiligen  schrift  terstet,  dax,  der  menig  und  aiuler  nieman  verlax- 
xen  ist;  hiervon  kann  man  der  lezten  zeile  schwerlich  einen  passenden  sinn  abgewin- 
nen; was  gesagt  werden  solte,  errät  man  aber  aus  dem  zusammenhange;  vermutlich 
hiess  es  in  der  vorläge:  dax,  der  menig  noch  ander  ienmn  verldxen  ist.  Verluxen 
hier  =  anheimgeben,  gestatten  wie  im  Roland  260,  20;  269,  18;  Hartm.  v.  Aue  1. 
büchl.  47. 

55,  16  fg.  der  gelaub  der  mit  rechten  icerchen  gexirt  ist,  diu  erliichtent  den 
mensche?!,  diu  behaltent  in  xe  dem  eivigen  leib;  die  Verwirrung,  welche  hier  der 
Schreiber  geschaffen  hat,  rührt,  wie  man  aus  dem  darunter  abgedruckten  Hoffmann- 


118  BECK 

scheu  biU'.'listück  ersieht,  daher,  da.ss  er  das  in  seiner  voilage  stehende  <lin  (jrloHbc 
in  der  yelaub  änderte,  gleichwol  aher  in  seiner  gedankenlosigkeit  die  darauf  bezüg- 
lichen relativa  diu  —  diu  im  folgenden  stehen  Hess,  sie  vielmehr  auf  wcrchc  bezog 
und  demgemäss  crlüchtcnt  —  hchaltcnt  schrieb  statt  crlüldet  —  behaltet.  Auf  glei- 
cher gedankenlosigkeit  beruhen  die  Verwirrungen,  welche  an  andern  stellen  dem  leser 
das  vei"stiindnis  des  textes  erschweren.  So  s.  50,  2  —  4:  ir  ist  ril  die  den  hiligen 
f/clauben  enpfaugcn  Itabeiit,  die  sint  geladet;  die  si  arcr  bchaltcnt  mit  den  iver- 
c/icn,  der  ist  leider  ril  uenieh:  auch  hier  hatte  der  Schreiber  in  seiner  vorläge 
die  —  geJoube,  wie  das  aus  Unachtsamkeit  von  ihm  stehen  gelassene  si  (vor  aver) 
statt  //*  beweist.  Dei^selbe  fall  ist  152,  30  dax,  ist  diu  heidcnschaft  die  den  heili- 
gen gelaubeu  euphangen  habent  und  si  mit  guten  uerehen  erfullent;  auch  hier  hat 
dieselbe  haud  si  stehen  gelassen  ohne  zu  bedenken,  dass  sie  kurz  vorher  den  gelau- 
beu für  die  geloube  geschrieben  hatte.  Endlich  137,  20  lautet  nach  der  handsehrift: 
dennoch  was  ir  gclaube  nicht  so  durneiechtig  also  si  seit  wart,  an  welcher  stelle 
der  herausgeber  das  ihm  auffiillige  5/  in  er  geändert  hat,  in  der  Voraussetzung, 
dass  dem  Schreiber  das  veraltete  diu  geloube  nicht  mehr  geläufig  war.  Diese  beob- 
achtung  verhilft  schliesslich  noch  zur  A-erbesserung  emer  andern  stelle.  Ich  meine 
s.  63,  37  fg.  da  (in  der  erzählung  von  der  heilung  der  besessenen  Matth.  15,  21  fg.) 
\aigt  uns  unser  traechtin.  da\  ivir  unser  freunt  und  ander  guter  laeut  geniexxen, 
dax  wir  selb  des  niht  wirdich  sein,  das  er  uns  erhör,  dannc  dax  wir  der  rehten 
geniexxen.  Offenbar  stand  in  dem  vom  Schreiber  benuzten  exemplar  noch  geloube 
oder  gelouben  nach  der  rehten;  ohne  ein  solches  wort  hätte  der  text  keinen  rechten 
sinn.  Auch  leitet  darauf  das  gleich  folgende:  nu  schule  icir  die  genad  unser s  herren 
an  rifffen,  dax.  er  uns  rechten  gelauben  —  —  ruch  ze  geben.  Im  13.  jahrhundeii; 
war,  wie  die  beispiele  in  den  mhd.  Wörterbüchern  zeigen,  diu  geloube  bereits  veral- 
tet und  nicht  mehi*  in  gebrauch;  vgl.  noch  Diemer  Deutsch,  gedd.  12,  20  und  die 
anm.  dazu;  Trudberter  H.  lied  18,  11;  27.  26;  Diut.  I.  282»»;  HI,  494;  am  längsten 
hat  es  sich  wol  erhalten  in  der  foiinel  xe  gclaube,  vgl.  Jänicke  zu  Biterolf  1614. 

65,  24  swenn  sich  der  von  den  genaden  und  von  der  barmung  des  alni. 
gotes  enchert  und  dax^  bedencht,  dax  er  alles  gutes  entsetxet  ist;  zu  enchert  ist 
unten  in  den  vaiianten  vermerkt:  .^enchert  aus  enchent  gebessert.'^  Solte  der  cor- 
rektor  sich  nicht  vei-schen,  vielmehr  crchent  gemeint  haben?  Denn  darauf  führt  die 
ijuelle,  welche  hier  der  prediger  übersezte,  Pseudo-Beda,  den  der  herausgeber  s.  229 
citiert:  qui  cum  se  instinctu  et  misericordia  Bei  cognoscit  omni  bono  destitutwn. 
Überdies  ist  encheren  eine  rein  mitteldeutsche  form,  die  mau  dem  Schreiber  der 
handsehrift  nicht  zumuten  darf;  für  das  im  !Mhd.  wörterb.  I,  798^',  14  dem  Wigalois 
beigelegte  enkarte  (4386  ed.  Beneke)  hat  schon  Pfeiffer  in  seiner  amnerkung  zu  115,  2 
die  richtige  lesart  engarte  gesezt. 

73,  1  dar  xuo  erweiter  im  ein  gevelliges  wixe,  da  unser  veint,   dax,  vlaisch, 

und  die  fünf  sinne  dar  an  gechrutxet uurden;  hier  konte  das  sinstörende  da 

entsprechend  dem  Regensbui'ger  biTichstück  in  dax  geändert  werden,  wie  es  der 
Zusammenhang  verlangt. 

80,  2  iedoch  wolt  er  dax  wir  die  gehugede  der  selben  liercn  niarteraer  tae- 
gelich  emtxigen;  das  offenbar  von  dem  gedankenlosen  Schreiber  herrührende  mar- 
teraer  muste  hier  sowie  in  z.  4  in  nuirter  oder  in  martgr  (so  in  dem  Kcgensburger 
bruchstückj  gebessert  werden;  vgl.  151,  20. 

81,  12  do  aber  erfüll  wart  diu  xit  dax,  von  got  gearnet  wax  xe  der  urlo- 
sung  des  menschen.     Für  gearnet  hat  Schönbach  getermet  in  den  text  gesezt.     Aber 


ÜBER    SCHÖNBACH,    ALTD.    PKLDKiTKN.    II  119 

es  ist  doch  nuch  IVaglidi.  nb  iiirlit  (jcanirt  al>  dialektischü  form  l'üi'  t/aßruet,  yconit 
=  fjcordcnt  zu  iichmeu  ist,  wie  sie  iu  ganz  gleichem  sinne  auf  s.  173,  21  wider 
eJscheint:  der  sdigoi  sei  die  da  ycornt  sinf  xe  dem  civifjen  leben,  wo  der  heraus- 
gebcr  wie  mir  scheint  ohne  not  yeordent  hat  drucken  hissen.  Allerdings  licisst  es 
81,  18  die  xiio  dem  eiciyen  leibe  (jeordcnt  niid:  dorli  vgl.  die  beispich)  von  ijeornt 
bei  Lexer  II,  IGO.  Überdies  wird  es  zu  aufang  statt  diu  xit  heissen  müssen  da^i  xit. 
83,  13  merch  irir  den  nif  und  bccher  irir  uns,  au  ain  icir  saelich ;  ccnin- 
ruclten  wirx,  so  sein  wir  unsaelich.  Übcrliefei-t  ist  aber  rerunruc/iclen  statt  rer- 
unruclien:  und  das  brauchte  nach  meinem  dafürhalten  nicht  aus  dem  texte  entfernt 
zu  worden.  Auch  auf  s.  126,  37  hat  die  handschrift:  so  sc/tuln  wir  unser  sunt 
nicht  cerunrucheln,  wo  der  herausgeber  ebenfals  verunruchen  gesezt  hat.  Man  vgl. 
Crraff  Interlin.  5,  s.  463,  z.  5  von  unten:  dax  cit  wir  verruochelen  (ncyliyitnus)  riu- 
wines  (poenitemli);  aus  den  Glossae  Herrodianae  ('?)  citieiie  Graft"  Sprachsch.il,  381 
virruochelon  wir  die;  ferner  Margaretha  Ebner  ed.  Strauch  83,  2  ich  kom  aines 
tages  in  ijro.KX,es  lait  niines  täglichen  unruochels  =  unruochelennes ;  vgl.  Zarnckes 
Literar.  centralbl.  1882,  sp.  184. 

103,8  so  er  {=  unser  7miot)  wider  chcren  beginnet  eontüertlichcn  dingen,  enhab 
tcir  nicht  denn  da.\  wir  für  in  legen  der  geistlichen  füre;  mir  scheint  hier  denn 
=  danne  an  einen  falschen  platz  gerückt,  es  geholt  vielmehr  vor  niht;  andererseits 
fragt  sichs,  ob  der  herausgeber  das  richtige  getroffen  habe,  wenn  er  fuore  hier  ein- 
sezt  für  das  in  der  handschrift  überlieferte;  da  steht  brunnc,  und  über  b  ist  i^  gesezt. 
Frunne  aber  könte  die  dem  Schreiber  nmndrechtere ,  dialektische  form  für  fruonde. 
ahd.  fruonda,  mhd.  pfrüende  sein.  Zur  Übersetzung  des  in  der  lat.  (quelle  s.  258 
vorkommenden  coelestis  alimoiiia  wäre  das  wort  wol  ebenso  geeignet  als  fuore.  Aus 
md.  gegenden  stammen  die  bei  Diefenb.  s.  v.  prebenda  450^  verzeichneten  formen 
pron,  prune,  prin;  Lexer  II,  264  bringt  aus  einem  weistum  der  Wetterau  pfrun; 
in  dem  Urkimdenb.  von  Arnstadt  ed.  Bui'khardt  s.  415  trift  man  phrunc  und  pffrune 
dafür  (a.  1493);  sonst  ist  der  Übergang  von  nd  in  nn  auch,  auf  oberdeutschem  Sprach- 
gebiete zu  finden  bei  AVeinhold  Bair.  gr.  s.  177  und  Alem.  gr.  s.  147,  wo  aus  Seb. 
Brants  Narrensch.  30 ,  1.  22  citiert  wird  der  reim  pfrün  :  tibi. 

104 ,  20  also  da^^  brot  an  der  Wirtschaft  übertriff  et  alle  amler  spise,  also 
übertriffet  diu  hilig  niinne  alle  ander  tugent;  die  werte  alle  ander  sjJtse  sind  vom 
herausgeber  ergänzt,  um  sinn  in  den  satz  zu  bringen.  Man  kann  ihrer  aber  entbeh- 
ren, wenn  man  ander  wirtschaff  schreibt  für  an  der  w.;  hier  wie  öfter  bedeutet 
Wirtschaft  das  was  bei  der  be^öi'tung  dai'geboten  wird,  das  gericht,  vgl.  121,  20  ir 
deheiner  miner  Wirtschaft  enbixet  =  gustabit  coenatn  mcam;  Erec  8361;  8646; 
Parz.  1947;  v.  d.  Hagens  Germania  8,  301,  289. 

119,  23  dax  si  deheinen  wix,  möhten  dar  cho//te)i;  die  handschrift  hat  hier 
aber  getvix,  für  tvix;  ich  kann  das  nicht  für  einen  Schreibfehler  halten  in  anbetracht 
der  stellen,  die  M.  Haupt  zum  Erec  2169  über  gewis  gesammelt  hat;  füge  hinzu 
Wolfr.  AViUeh.  123,  28  K.;  Ges.  Abenteuer  HI,  369,  480;  AViener  Stadtrechtsb.  ed. 
Schuster  art.  93  munich  —  geiceis;  art.  113  mortes  geweis;  Schmeller- Frommann 
n,  1024. 

12,  30  die  hiligen  patriarchen  die  miner  lacut  pflagen;  für  mitier  laeut 
erwartet  man  nach  dem  zusammenhange  mines  herren  (oder  ?nines  trehtins)  laut 
wie  z.  39  und  s.  13,  3. 

119,  33  da  er  sach  welich  genad  er  verworcJit  het,  uelhiu  ivitx^  (d.  i.  ivlxe, 
supplicia)  er  gearweit  het;  gearweit  im  sinne  von  erarbeitet,  erworben,   verschuldet 


120  BEt'H.    ÜBEK    SCHÖNBACll.    ALTD.    rKEUlGTEN.    11 

ist  mir  im  mhd.  nicht  vorgolcommon:  Mahrschcinlich  liatte  die  vorläge  (jcarnct  oder 
(jcarnot. 

121,  4  da  Jiah  nir  an  trie  itfisrr  hrrrr  sinen  juugcrii  ein  gcliclniilsse  sagt 
usw.;  liier  wird  der  Schreiber  gelesen  uach  hah  nir  au  aiisgehissen  haben,  \vie  es 
schon  in  der  vorhergehenden  zeile  steht;  vgl,  124,  U. 

126,  13  die  naelnrefiten  die  er  pifef  sicJf  fraeuoi  ist  ohne  not  wie  mir  scheint 
in  pitet  da\  si  sieh  fraeneit  verändei't.  Bifen  mit  dem  infmitiv  nach  Grimm  Gr.  IV, 
09  und  118;  Diemei-s  Wörterb.  zu  Genesis  und  Exodus  s.  03. 

131.  16  do  die  ungelauhigen  juden  sie/t  selben  des  gofes  rieh  verteilten;  der 
herausgeber  hat  hier  riehes  drucken  lassen  für  rieh;  an  einer  andern  stelle,  s.  139, 
39.  hat  er  die  Überlieferung  unangetastet  gelassen:  die  sint  des  gotes  ricke  vil 
ge/ris:  vgl.  dagegen  über  den  aV>fall  des  genetivischen  -s  die  beispiele  bei  Weinhold 
JUhd.  gramm.-,  §448  und  454;  Eocthes  anmerkungen  zu  Reinmar  v.  Zw.  118,  8; 
187,  6;  225,  4;\^31.  2. 

135,  22  i\  nas  groxe  menig  mit  iinserm  hcrren  =  „magna  turba'';  der 
herausgeber  hat  noch  ein  vor  groxe  gesezt.  Ich  glaube,  dass  dieses  überflüssig  w'ar 
nach  dem  sonstigen  Sprachgebrauch  zu  urteilen,  vgl.  Diemer,  Genes,  u.  Exod.  160,  4; 
Nib.  1804,  1;  öfter  findet  sich  so  gröx  volc,  grox  iverlt  und  ähnliche  ausdrücke,  in 
denen  ein  gespart  ist.  Dagegen  meine  ich  war  ein  kaum  zu  entbehren  s.  122,  15: 
er  het  ein  trip  genomen^  wo  die  handschrift  ein  ausgelassen  hat. 

145.  7  unser  herre  in  dax.  teniplutn  gie  tuul  die  unreincheit  dar  xiltet;  ich 
vei'stehe  hier  xiiotuon  nicht;  es  muss  hier  wol  ilxtet  heissen. 

145,  9  die  tauben  niul  tiseh  mit  dem  schätz  die  die  valschar  imie  heten,  die 
stiexer  unth;  gemeint  ist  Matth.  21,  12  fg.  et  metisas  nm?udariortmt  et  cathedras 
vendentiwn  colun/bas  evertit,  worauf  in  den  anmerkungen  hätte  verwiesen  werden 
sollen.  Der  vorhergehende  satz  unseres  textes  schliesst  nun  aber  mit  den  Worten: 
und  slug  da  mit  aus  sinem  haus  alle  die  die  da  chauften  nnd  verchauften;  man 
hat  also  auch,  die  worte  die  tauben  zu  dem  vorhergehenden  satze  zu  ziehen,  den 
punkt  davor  zu  tilgen;  es  kann  nicht  heissen  die  tauben  stiex,  er  wnbe. 

147,  17  ern  fünd  sines  datz  im  nicht,  lies  des  sines  wie  z.  19,  26  u.  34. 

151,  16  dax  si  gelaubich  icurden  und  gotes  dieten  wurden;  für  gotes  dieten 
steht  in  der  handschrift  zu  lesen  got  dieten;  das  kann  auch  aus  got  dienende  oder 
diente  verderbt  sein. 

156,  3  ist  überliefert:  so  er  xe  dem  jungisten  tag  urteil  chumct;  im  text  ist 
tag  getilgt;  es  heisst  aber  z.  b.  in  den  Fundgruben  I,  80,  15  so  si  an  dem  junge- 
sten  tage  chomen  uns  xerteilen  und  111,  10  so  er  an  dem  jungisten  tage  chumet 
uns  xerteilen:  eben  darnach  liesse  sich  auch  hier  verbessern  oder  vielleicht  bloss 
urteilen  (infinitiv)  für  urteil  schreiben. 

162,  39  dax  er  seins  Hutes  in  sin  genad  geiciset  het;  der  genetiv  hier  nötigt 
geiciset  hat  mit  risitavit  zu  übersetzen;  dann  muss  es  aber  heissen  in  siner  gefidde. 

167,  15  nieman  ist  der  von  shier  chraft  und  von  sinen  geiverften  antlox, 
siner  sünde  ericerben  müg;  die  handschrift  bietet  jedoch  von  sinen  gevaerchten,  „ac 
ist  radiert";  der  Überlieferung  entsprechender  ist  daher  wohl  geicurchten;  über  die- 
ses dem  12.  Jahrhundert  durchaus  nicht  ungeläufige  wort  =  ojms ,  factum,  meritum 
vgl.  Graff  I,  975;  Lexer  III,  998  —  99. 

172,  15  und  minnten  den  almaehtigen  got  und  Hexen  die  unmaeriseken 
girischeit;  das  wort  unnmerisch  ist  so  viel  ich  weiss  dem  12.  bis  14.  Jahrhundert 
unbekant;    ich   vermute,    dass   hier    ein  Verderbnis  vorliegt,    und    lese  deshalb:    die 


ALTHOF,    ÜBKR    TRAUBE,    KAROL.    ÜILHTUxNGEN  121 

uiwiaercn  (oder  mireinen)  i<chatx<firisihcit  oder  Vjesser  schätz f/in'c/ict't  =  j)/iilar(/i/- 
ri'ae  malitni  wie  es  in  der  lateinischen  f|uello  s.  309  hcisst;  vgl.  schaxijir  und  schax- 
(jiric  bei  Lexer  IL  (370;  Sehönbach  Predd.  1,  121,  20;  Grait'IV,  229  scaxgirida  und 
scaxyiridi. 

ZEITZ.    NÜVEM15KR    1888.  FKDOR    BECH. 


Karolingischo  dichtungen  untersucht  von  Linhviir  Traube.  Berlin.  AV'eid- 
jnann.  1888.     gr.  8.     VIII  und  162  s.     5  m. 

Die  vorliegende  arbeit  bildet  das  1.  hcft  der  „Schriften  zur  germanischen  plii- 
lülogie",  herausgegeben  von  Max  Roediger,  welche  in  zwanglosen  heften  erscheinen 
sollen  und  Untersuchungen  aus  dem  gesamtgebiete  der  germanischen  philologie,  ein- 
schliesslich also  der  englischen  und  nordischen,  auch  solche  über  neuere  litteratur, 
ferner  texte  und  zusammenfassende  darstellungcn  enthalten  werden. 

Es  könte  auf  den  ersten  blick  erscheinen,  als  ob  kritische  Untersuchungen  über 
lateinische  dichtuugi^n  ausserhalb  des  kreises  der  vom  herausgeber  gejdanten  Veröf- 
fentlichungen lägen,  allein  die  poetische  litteratur  der  Karolingerzeit  ist  znm  grösten 
teile  erwachsen  auf  dem  boden  des  fränkischen  reiches,  gepflegt  und  genährt  von 
dem  grossen  Germanenfürsten,  der  als  .,Europas  erhabener  leuchtturm'-  von  den  Sän- 
gern seiner  zeit  gepriesen  wird,  nud  sie  zählt  unter  ihren  Vertretern  zahlreiche  dichter 
germanischer  abstammung;  daher  verdienen  die  karolingischen  dichtungen  trotz  ihres 
fremden  gewandes  in  der  geschichte  der  deutscheu  litteratur  berücksichtigt  zu  wer- 
den. Diese  poetischen  erzeugnisse,  welche  fi-üher  nur  in  mangelhaften  einzelausgaben 
abgedruckt  waren,  sind  durch  E.  Dümmlcrs  mustergiltige  ausgäbe,  fortgesezt  von 
L.  Traube,  der  Avissenschaft  erst  recht  zugänglich  geworden.  Doch  bieten  diese 
«albentes  campi''  der  weiteren  foi'schung  noch  ein  grosses  gebiet,  und  wir  begrüsscn 
daher  die  arbeit  Traubcs  mit  besonderer  freude,  zumal  der  Verfasser  sich  durch  eine 
gründliche  litteraturkentnis ,  grosse  Sorgfalt  der  forschung  und  scharfsinnige  beweis- 
fühining  auszeichnet. 

Es  sei  uns  im  folgenden  gestattet,  ohne  hier  auf  einzelheiten  einzugehen,  die 
wichtigsten  ergebnisse  der  Untersuchungen  in  kürze  darzulegen. 

Nachdem  der  Verfasser  in  einem  verwerte  das  Verhältnis  der  philologie  zur 
geschichtswissenschaft  beiilhrt  hat,  beschäftigt  er  sich  im  ersten  teile  seines  Werkes 
mit  dem  Angelsachsen  Aedelwulf,  einem  weniger  mit  darstellendem  talent  als  mit 
poetischem  gefühle  begabten  dichter,  von  dem  wir  ein  gedieht  über  die  äbte  eines 
gewissen  angelsächsischen  klosters  besitzen,  zulezt  herausgegeben  von  E.  Dümmler 
im  ersten  bände  der  Poetae  CaroHni  (P.  C.)  s.  582  fgg. 

Über  den  namen  und  die  genauere  läge  des  besungenen,  unter  könig  Osred 
(705  —  716)  von  dem  fürsten  Eanmund  gestifteten  klosters  ist  uns  nichts  bekant, 
doch  beweist  Ti'aube  an  der  band  des  gedichtes.  dass  es  in  der  nähe  des  bemhmteu 
Lindisfarne  auf  einer  insel  gelegen  haben  müsse.  Nachdem  Aedelwulf  in  seiner  dich- 
tung,  die  er  einem  bischof  Ecgberht  widmete,  die  geschichte  des  klosters  bis  zum 
tode  des  6.  abtes  Wulfsig  besungen  hat.  geht  er  zur  erzählung  seiner  eigenen  crleb- 
nisse  über,  ohne  des  zur  zeit  der  abfassung  seines  gedichtes  regierenden  abtes  in 
irgend  einer  weise  lobend  zu  gedenken,  aus  dem  einfachen  gninde,  weil  Aedelwulf, 
der  unter  Wulfsig  in  das  kloster  einti-at  und  nur  in  einer  einzigen  handschrift  des  13. 
Jahrhunderts  als  Lindisfarnensis  inonachus  bezeichnet  wird,  —  selbst  dieser  abt  war, 
aber  nicht  der  7.,  sondern  der  8.  in  der  reihe  der  äbte.  Sein  Vorgänger  muss  eben 
jener  bischof  Ecgberht  gewesen  sein,    für  den  eine   dichterische  verherlichung  seines 


122 


ALTHOF 


Stiftes,  an  «las  ihn  vorwantschaftliolie  und  livundscliaftliclio  bände  knupltcn,  eine  sehr 
^vilkommeDe  gäbe  sein  mustc.  Die  nahe  bezieliuug,  in  der  Ecgberht  zu  dem  kloster 
Aedelwiüfs  stand,  wird  auch  durch  die  richtig  gedeutete  übersclirift  imd  den  eingang 
von  kap.  I  bezeugt.  Dass  dieser  Ecgberht  mit  dem  Hschof  Ecgbcrlit  von  Lindisiarne 
identisch  ist.  der  von  803  —  821  regierte,  ist  wol  unzweifelhaft,  und  wahrscheinlich 
ist  unser  gedieht  bald  nach  dem  11.  juni  803,  dem  tage  der  weihe  Ecgberhts,  von 
dem  neuen  abte  Aedelwulf  als  ein  abschiedsgruss  an  den  scheidenden  freund  und 
voi-gänger  gedichtet.  Dies  würde  auch  zur  genüge  erklären,  warimi  der  dichter  uns 
weder  den  uameu  des  klosters  nent  noch  dessen  äussere  Verhältnisse  schildert,  die 
ja  dem  emidanger  der  schrift  bekant  waren. 

Die  annähme,  dass  Aedelwulf  ausser  dieser  dichtuug  früher  in  einem  gedichte 
seineu  lehrer,  den  presbyter  und  Icctor  llyglac  und  andere  fromme  Angelsachsen 
besungen  habe,  wie  man  bisher  annahm  (vgl.  P.  C.  I,  582),  weist  Traube  als  ein 
misvei-ständnis  nach,  denn,  wie  er  s.  13  —  18  zeigt,  bezieht  sich  die  angäbe  des 
dichtei-s  kap.  XVI ,  v.  3  fgg. : 

„de  quo  iani  dudum  perstrinxi  pauca  relatu, 
Anglorum  de  gente  pios  dum  carmine  quosdam 
jam  cecini  .... 
nur  auf  eine  vorhergehende  stelle  des  nämlichen  gedichtes  kap.  XV,  27  fgg. 

Wie  alle  seine  Zeitgenossen  benuzte  auch  Aedelwulf  tlcissig  die  werke  anderer 
dichter.  So  führt  Traube  besonders  stellen  an,  welche  aus  Aldhelm  henibcrgenom- 
men  sind  (s.  19  — 21);  ebenso  ist  ßedas  gedieht  auf  Cudberht  und  Cyprians  carmen 
de  heptateucho  benuzt.  Alcuins  umfangreichste  dichtung  „de  sanctis  Euboricensis 
ecclesiae-  aber,  welche  dem  gedichte  Aedel wulfs  zeitlich  und  inhaltlich  am  nächsten 
stand,  ist  lezterem  mehr  vorbild  bei  der  komposition  gewesen  als  im  einzelnen  von 
ihm  nachgeahmt  worden. 

Die  drei  handschriften  des  gedichtes,  die  Londoner  (L),  die  Oxforder  (0)  und 
die  jüngste  Cambridger  (C),  haben  einzelne  versehen  und  zahlreiche  falsche  lesarten 
mit  einander  gemein,  für  welche  Traube  s.  27  —  30  Verbesserungen  in  verschlag  bringt. 
Alle  drei  gehen  schliesslich  auf  eine  in  angelsächsischer  schrift  geschriebene,  lücken- 
hafte, nicht  sehr  getreue  abschiift  x  zurück,  und  zwar  muss  diese  L  unmittelbar 
vorgelegen  haben  und  getreu  copieii;  sein,  wähi'end  Sonderlesarten  in  0  und  C  deren 
abstammung  von  einer  abschritt  von  x  dartun.  Auf  grund  der  handschriftenverglei- 
chung  gibt  Traube  dann  s.  32  — 36  zahlreiche,  meist  annehmbare  berichtigungen  des 
textes  und  schliesslich  einige  verbesserte  Interpunktionen. 

Im  anhange  zu  Aedelwulf  s.  38  —  45  findet  man  die  nachrichten  über  den  ge- 
nanten bischof  Ecgberht  von  Lindisfarne  und  die  zeit  der  ersten  Zerstörung  des  klo- 
sters zusammengestelt,  sowie  den  nachweis,  dass  der  oben  erwähnte  lector  (vorsänger) 
llyglac  nicht  ein  schriftsteiler  war,  zu  dem  man  ihn  hat  stempeln  wollen.  In  einem 
dritten  kapitel  zeigt  Traube,  dass  Aldhelm  kap.  VlII  und  IX  niciit  etwa,  wie  Ebert 
in  seiner  litteraturgeschichte  behauptet,  ein  ganzes  bilden  und  sich  auf  die  einweihung 
einer  von  der  angelsächsischen  königstochter  Bugge  erbauten  kirche  und  die  in  der- 
selben befindlichen  altäre  beziehen,  sondern  aus  vier  verschiedenen  gedichtcn  beste- 
hen, IX  1.  MII,  IX  2  —  13  und  IX  14,  die  noch  dazu  nicht  einmal  für  dieselbe 
kii'che  bestimt  gewesen  sind. 

Der  zweite  teil  der  Untersuchungen  behandelt  die  Interpolation  und  recension 
in  Alchuines  (so  schrieb  er  sich  selbst)  imd  Angilberts  gedichten.  Da  die  beiden 
handschiilten  der  , versus  de  sanctis  Euboricensis  ecclesiae''  augenscheinlich  verloren 


ÜBER    TRAUBE,    KAROL.    DICHirNGEX  123 

sind,  haben  wir  uii>  iiKiglichst  an  die  cditio  prinn'ps  vom  jalivo  IGDl  zu  halten  und 
domgemäss  in  einigen  fällen  (s.  47)  statt  der  änderungen  Dümmlers  die  lesarten 
Th.  Galcs  widerheiz ustellen.  In  vorsehicdenen  anderen  gedichten  Alkuins  haben  die 
metrischen  und  grammatischen  Verstösse  des  Verfassers  häufig  anlass  zu  absichtlichen 
änderungen  gegeben,  die  wol  kaum  auf  eine  spätere  redaktion  des  dichters  zurück- 
zuführen sein  dürften.  Besonders  stark  interpoliert  ist  die  Alen«;oner  handschrift  der 
vita  AVillibrordi. 

Eine  eigentümliche  lalschung  aber  hat  sich  der  cod.  regln.  2078  s.  IX/X  zu 
schulden  kommen  lassen:  er  hat  Angilbert,  dem  karolingischen  Homer,  einen  beträcht- 
lichen teil  seines  geistigen  gutes  gestohlen,  welchen  Traubes  Untersuchung  seinem 
rechtmässigen  eigentümer  wider  zurückgegeben  hat.  Die  genante  samlung  karolin- 
gischer  dichtuugen  enthält  u.  a.  32  nummern,  welche  P.C.l,  413  Igg.  als  ßernowini 
episcopi  carmina  abgedruckt  sind.  Von  diesen  bilden  die  nummern  VI  —  XXVI 
samt  dem  von  Dümmler  unter  Angilbert  V,  i  abgedruckten ,  von  Traubi.'  als  Bernowin 
VI  a  bezeichneten  gedichto  eine  besondere  gruppe ,  bestehend  aus  titeln ,  orationen  und 
einem  epitaph,  welche  teils  als  akro-,  meso-  und  telosticha  den  namen  des  dichters 
Angilbert  bewahrt  haben,  teils  durch  fortlassung  der  eigennamen  oder  ersatz  dersel- 
ben durch  ein  „ilt."  zu  blossen  formein  geworden  sind  oder  endlich  an  stelle  des 
ui'sprünglichen  verfassernamens  den  eines  Bernowinus  haben.  Diesen  Bernowin,  der 
von  Angilbert  nirgends  erwähnt  wird,  hielt  Dümmler  für  einen  uns  nicht  näher 
bekanten  freund  des  dichters,  der  freilich  ein  seltener  freund  gewesen  wäre,  da  er 
nicht  müde  wui'de.  in  kunstvoll  geformten  poetischen  Spielereien  den  beistand  des 
himmels  für  seinen  lieben  Angilbert  zu  ei-fleheu  statt  für  sein  eigenes  heil  zu  beten. 
Jene  gedichto,  deren  wertvolstes  das  nach  dem  muster  Alkuins  (CXXIIl)  gedichtete 
epitaph  ist,  sind  aber,  wie  Traube  unzweifelhaft  klar  stelt,  dichtungen  Angilbe rts, 
dessen  eigener  name  sowol  wie  der  des  Schutzpatrons  seines  klosters  Centula,  des 
heiligen  Eicharius,  auch  überall  für  den  des  Bernowinus,  bezw.  für  „itt.-  eingefügt 
werden  kann,  während  es  Bernowin  nicht  immer  geling-t,  „seineu  ruhmestitel  ins 
metrum  zu  zw^ängen.'* 

Auch  von  den  i)  versen  der  ur.  XXVIII,  in  der  handschrift  als  „versus  Ber- 
nowini  episcopi  ad  crucem"  bezeichnet,  weist  Traube  7  dem  Angilbert  zu,  während 
er  die  zwei  übrig  bleibenden  dem  „dichter"  Bernowin  lässt.  Dieser  ist  höchstwahr- 
scheinlich der  erzbischof  Bcrnoin  oder  Barnoin  vonVienne  (y  16.  Januar  899),  erbauer 
eines  armenspitals  daselbst,  für  den  man  die  inschriftcu  von  St.  Riquier  und  Angil- 
berts  orationen,  so  wenig  sie  auch  passten,  umzuarbeiten  vorsuchte. 

Die  dichtungen  Alkuins  sind,  wie  gesagt,  ebenfals  ^-ielfach  wilkürlich  umge- 
staltet worden.  Einen  grossen  teil  derselben,  272  nummern,  veröffentlichte  Querce- 
tanus  im  jähre  1617  nach  einer  leider  nicht  mehr  vorhandenen  reichhaltigen,  doch 
mcht  fehlerfreien  handschrift  aus  St.  Bertin.  Ausserdem  haben  wir  zum  teil  noch 
fehlerhaftere  sonderüberlicferimgen.  Leztere  gehen  auf  die  einzelexemplare  des  dich- 
ters zurück,  während  die  koiTektere  samlung  bereits  in  den  gedichten  des  Hrabanus 
Maui-us  vielfach  benuzt  ist.  Traube  entwirft  uns  ein  bild  von  den  Verhältnissen  der 
Überlieferung  an  dem  beispiele  des  gcdichtes  „de  clade  Lindisfarnensis  monasterii'^, 
gibt  s.  62  —  67  eine  genaue  Charakteristik  des  nur  durch  Icsefehler  eines  ungebildeten 
Schreibers  eutstelten  codex  H  (arleianus)  ms.  3685  s.  XV,  welcher  die  einzelüberlie- 
ferung  der  dichtuug  darstelt,  um  sodann  s.  69  — 108  die  Überlieferung  von  H  dem 
texte  der  samlung  des  Quercetanus  und  den  Zeugnissen  Hrabans  in  tabellarischer 
Übersicht  einander  gegenüberzustellen.     Das  ergebnis  der  Untersuchung  ist,    dass  H 


124 


ALTHOF 


sowol  wie  die  baudschrift,  welche  dem  samler  und  rcceusor  der  Alkuinscheu  «^edichte 
vorlag,  auf  ein  imd  dieselbe  absehrift  der  ei-bteii  fassung  der  genanten  dithtuug 
zui-ückgehcn ;  dass  diese  aus  der  ei-sten  hälfte  des  9.  jahrliunderts  stammende  recen- 
sion,  deren  abschritt  die  verlorene  handschrift  aus  St.  Bertin  bot,  von  Hraban  beim 
eitieren  benuzt  sein  muss,  zugleich  aber  von  ihm  nach  einer  anderen  absehrift  der 
diehtung  der  text  der  recensiou  corrigiert  wurde,  während  andere  abweicliungen  in 
den  citaten  auf  Hraban  selbst  zurückzuführen  sind. 

Unter  den  frühesten  rhythmischen  gedichten  der  Karoliugerzeit  haben  die  „lau- 
des  Mediolanensis  civitatis"  (P.  C.  I,  24)  und  die  .,laudes  Yeronensis  civitatis''  (P.  C. 
I.  118)  nach  form  und  inhalt  viele  älmhchkeit  mit  einander.  Beide  gehören  zu  den 
trochäischen  fünfzehnsilbern  mit  silbenvoi-schlag  und  haben  in  darstell ungs weise  und 
einzelnen  Wendungen  manches  gemeinsam;  beide  enthalten  eine  topographische  be- 
sehreibung  der  genanten  Städte,  berichten  von  den  hervoiTagendsteu  bauten  dersel- 
ben, sowie  den  reliquien  der  heiligen  und  enthalten  einige  geschichtliche  nachrichten. 
Da  der  ei-ste  der  beiden  rhythmen  bald  nach  738  verfasst  ist,  der  zweite  jedoch  erst 
o.  810,  wie  Traube  s.  114—115  zeigt,  können  die  berühiien  ähnlichkeiten  nicht 
durch  die  gemeinsamkeit  des  Verfassers  erklärt  werden,  während  Dümmlcrs  u.  a. 
vennutung,  dass  der  Veroneser  rhythmus  eine  nachahmuug  des  Mailänder  sei,  mög- 
licherweise das  richtige  trift.  Doch  gibt  uns  Traube  s.  115  fgg.  noch  eine  andere 
erklänmg.  Er  hält  den  Veroneser  rhythmus  für  eine  begleitende  erläuterung  des 
alten  Stadtplanes,  der  sich,  unmittelbar  mit  dem  gedichte  verbunden,  in  der  jezt 
verlorenen  handschrift  des  klostei-s  Lobbes  befand  (vgl.  P.  C.  I,  118),  und  ebenso 
das  zweite  topogi-aphische  gedieht  für  die  beschreibung  eines  Mailänder  Stadtplanes. 
Das  gemeinsame  Vorbild  beider  j.läne  und  beider  rhythmen  sucht  er  in  einem  Karo- 
lingischen Stadtplane  Roms  und  einer  mit  demselben  verbunden  geweseneu  rhyth- 
mischen erklärung.  S.  119  — 129  folgt  dann  ein  sorgfältig  verbesserter  abdmck  beider 
gedichte  mit  anmerkuugen. 

Im  anhange  zu  diesen  topogi'aphischen  rhythmen  handelt  Traube  von  den  bei 
Jaffe,  Bibl.  III,  s.  38  fgg.  abgedruckten  angelsächsischen  rhythmen,  deren  erster  von 
einem  unbekanton  Verfasser  au  Aldhelm  gerichtet  ist,  auf  dessen  namen  das  woii; 
^casses"  in  v.  1  anspielt  (Aldhelm  =  „  cassis  priscus ").  Nr.  II  bei  Jaffe  ist  das  in 
dem  briefe  Aedel walds  an  Aldhelm  fep.  5,  s.  37)  als  anläge  erwähnte  und  für  Wyn- 
fried  bestirnte  gedieht  „de  transmarini  itineris  peregrinatione",  dessen  verlust  Jaffe  in 
seiner  anmerkung  s.  37  beklagt.  Da  uns  von  beziehungen  des  heil.  Bonifatius  zu  Ald- 
helm sonst  nichts  bekant  ist,  dürfte  gedachter  Wynfried  mit  ersterem  schwerlich  iden- 
tisch sein;  vielleicht  ist  aber  auch  Wj-nfried  verlesen  aus  AVihtfried ,  dem  namen  eines 
Schülers  von  Aldhelm.  Über  nr.  HL  lässt  sich  nichts  bestimtes  sagen;  IV  ist  ein 
gedieht  Aedelwalds  an  Aldhelm,  V  die  antwoit  darauf.  Dieser  Aedelwald  ist  nach 
TraulK?  sicher  ein  laie.  %äelleicht  der  von  716  —  757  regierende  könig,  jedenfals  aber 
verschieden  von  dem  geistlichen  Verfasser  der  nr.  I.  S.  133  —  135  stelt  Traube  einige 
vom  horausgeber  geänderte  Schreibungen  in  den  5  rhythmen  \s-ider  her  und  fügt 
daran  eine  Verbesserung  von  sti*.  24  und  25  der  „versus  de  Aquilegia  numquam 
restauranda ''  (P.  G.  II,  s.  150  fgg.). 

Der  vierte  und  lezte  teil  der  untei-suchungen  ist  den  rhythmischen  fünfsilbern 
mit  trochäischem  Schlüsse  gewidmet,  den  „versus  perextensi"  des  grammatikers  Ver- 
gilius,  deren  erklänmg  so  grosse  Schwierigkeit  bot.  Sehr  frühe  rhythmen  dieser  art 
liegen  in  dem  kürzlich  durch  E.  Bondurand  in  Paris  volständig  veröffentlichten,  im 
jähre  843   vollendeten   fürstenspiegel  der  Dhuoda  vor.     Die  drei  s.  141  —  149  abge- 


ÜBKR    TRAUBE,    KAROL,    DICHTUNGEN  125 

druckten  gedichte  sind  verschieden  gebaut  und  bestehen  aus  Strophen  zu  4  bezw.  7 
und  6  Zeilen  _  w  w  _  ^  oder  ^  _  v^  _  w;  silbenzusohlag  ist,  dem  Charakter  volks- 
niässiger  dichtung  entsprechend,  zugelassen,  au<li  der  schluss  bisweilen  unrein  gebil- 
det (siebensilber) ,  der  5.  vers  der  Strophen  in  nr.  III  ist  stets  viei-silbig.  Es  finden 
sich  in  allen  drei  gedichten  spuren  von  reim,  der  hiatus  ist  gestattet,  von  elisiou 
ist  in  ihnen  nirgends,  von  synizesis  dagegen  wie  in  vielen  rhythmon  oft  gebraur-li 
gemacht. 

Im  anschluss  au  diese  füni'silber  untersucht  der  Verfasser  das  zuerst  von 
Dümmler  (P.  C.  11,  s.  118)  veröffentlichte  ,,  Carmen  ad  Agobardum  archiepiscopum 
missum'-,  ein  nicht  unbedeutendes  gedieht  über  das  Jüngste  gericht,  dessen  Strophen 
der  sapphischen  nachgebildet  scheinen.  Doch  hält  Traube  diese  na(-hahmung  für  keine 
unmittelbare,  vielmehr  weist  die  zweite  hälfte  der  drei  ersten  verszeilen,  die  stets 
w  —  w  w  _  v-y  gebaut  ist  und  die  widerholung  der  ersten  fünfsilbigen  hälfte  mit  silben- 
vorschlag  darstelt,  auf  einen  Zusammenhang  mit  den  rhythmischen  fünfsilbern. 

Die  anfangsbuchstaben  der  strophen  1  — 11  des  gedichtes  bilden  die  wortc 
AGOBARDO  FAX,  die  der  ersten  14  strophen  nach  Traubes  Verbesserung  A.  P.  SIT. 
Nach  Dümmlers  ansieht  war  dieser  Agobard,  erzbischof  von  Lyon  von  816  —  840, 
der  empfänger  des  gedichtes,  während  uns  Angilbeiis  beispiel  zeigt,  dass  die  akro- 
sticha  den  namen  des  dichters  zu  überliefern  pflegen.  Str.  12  und  1.3  stelt  Traube 
die  lesaii  der  einzigen  Pariser  liandschiift  wider  her  und  gewint  so  ohne  zwang  licli- 
tige  verse  mit  einer  lückc  am  ende  von  str.  12,  2.  In  dieser  lückc  muss  der  name 
des  empfäugers  gestanden  haben,  den  mau  wie  in  den  besprochenen  gedichten  Angil- 
berts  föiiliess,  um  dem  gedichte  seine  persönlichen  beziehungen  zu  nehmen  und  das- 
selbe als  formel  benutzen  zu  können.  Derjenige  aber,  dem  Agobard  seine  dichtung 
übersante,  den  er  in  seinem  leiden  um  rat  fragte,  war  höchst  wahrscheinlich  erz- 
bischof Leidi'ad  von  Lyon,  des  dichters  Vorgänger  im  amte,  so  dass  der  s.  152  fgg. 
abgedruckte  rhythmus  vor  dem  28.  docember  816  verfasst  sein  muss. 

Dies  der  hauptinhalt  der  ergebnisreichen  und  anregenden  Untersuchungen 
Traubes,  die  aufs  neue  beweisen,  wie  sehr  der  Verfasser  geeignet  ist.  das  werk  des 
meisters,  die  herausgäbe  der  karolingischen  dichtungen,  zu  ende  zu  führen. 

Im  anhange  findet  mau  eine  Zusammenstellung  der  besprochenen  dichterstel- 
len, sowie  ein  bei  der  fülle  des  gebotenen  Stoffes  wilkommenes  Sachverzeichnis. 

Die  darstelluugsweise  Traubes  ist  etwas  manierieit  und  entbehrt  bisweilen  der 
wünschensweiien  durch  sichtigkeit,  ein  umstand,  zu  dem  auch  die  aufnähme  zalil- 
reicher.  nicht  immer  durch  besondere  schrift  oder  anführungszeichen  hervorgehobener 
citate  in  den  text,  sowie  die  spärliche  anwendung  der  interpunktionszeichen  beigetra- 
gen hat. 

Die  ausstattung  des  heftes  ist  eine  sehr  gute.  Die  mode,  die  grossen  bu(;h- 
staben  beim  beginn  der  einzelnen  Sätze  mit  kleinen  zu  vertauschen  und  so  den  punkt, 
das  wichtigste,  aber  unscheinbarste  schiiftzeichen  seines  merksteines  zu  berauben, 
können  vrii  nicht  zur  nachahmung  empfohlen, 

HANN.    MÜNDEN,    IM    OKTOBER    1888.  HERMANN    ALTHOF. 


Diedrich  von  dem  Werder.  Ein  beitrag  zur  deutschen  litteraturge- 
schichte  des  siebzehnten  Jahrhunderts.  Von  dr.  G.  Witkowski.  Leipzig, 
Veit  und  comp.   1887.     144  s.    8.    4  m. 

Der  deutsche  dichter,  welcher,  dreizehn  jähre  älter  als  Opitz,  ähnliche  bahnen 

wie  dieser  verfolgte,  der  es  nicht  oline  ertolg  unternahm,  Tasso  und  Ariost  zu  über- 


126  BOBERTAO 

setzen,  der  eine  hervorragende,  ja.  man  kann  sagen,  die  erste  rolle  in  der  Frueht- 
briugeuden  geselschalt  während  der  ersten  jahrzehute  ilires  bestehen«  spielte,  hätte 
schon  eher  die  beachtung  verdient,  welche  ihm  jezt  erst  durch  den  Verfasser  der 
vorliegenden  schrift  zuteil  geworden  ist. 

Nach  der  einleitnng  und  einer  daukenswei-ten  ahhandlung  über  Tobias  Hüeb- 
ner,  welcher  "SVerdei-s  Vorgänger  in  molirfacher  beziehung  genant  werden  muss,  folgt 
die  biographie ,  darauf  die  bibliographie,  ferner  „Werder  und  die  Fnichtbringende 
geselschaft".  „AVerder  und  Opitz**,  „Werders  Übersetzungen'*,  „Werders  eigene  werke", 
der  schluss  fasst  ui-teile  über  den  dichter  zusammen  und  gibt  dessen  wüi'digung  nach 
des  verfassei-s  eigener  ansieht. 

Nach  dem  eben  gesagten  muss  die  wähl  des  themas  gelobt  werden,  obgleich 
die  Schwierigkeit  der  aufgäbe  es  mit  sich  gebracht  zu  halben  scheint,  dass  sie  nicht 
in  allen  teilen  der  ai'beit  gleiehmässig  gelöst  worden  ist.  Im  ganzen  wii-d  ein  unpar- 
teiischer beurteiler  dem  buche  seine  anerkennung  auszusprechen  haben,  weil  es  unsere 
kentuis  der  litteratur  des  XVII.  Jahrhunderts  in  vielen  einzelheiten  durch  meist  vol- 
kommen  erwiesene  ergebnisse  bereichei-t  und  aufkläi-t  sowie  zum  ersten  male  ein 
ge.samtbild  einer  immerhin  bedeutenden  und  interessanten  schriftstellerischen  persön- 
lichkeit liefert.  Das  verdienst  der  biographischen  und  bibliogra])hischen  angaben  Wit- 
kowskis  springt  bei  einer  vergleichung  mit  dem,  was  bereits  vorliegt,,  zu  deutlich  in 
die  äugen,  als  dass  darüber  noch  etwas  zu  sagen  wäre.  Vielleicht  wird  hie  und  da 
gelegentlich  noch  etwas,  das  nachzutragen  ist,  zu  tage  kommen,  die  hauptsachen 
sind  sicher  erschöpft. 

Was  Witkowskis  gesamtauffassung  des  litterarischen  lebens  jener  zeit  anlangt, 
so  ist  zuzugeben,  dass  hiebei  die  subjektiA'ität  des  betrachters  eine  grosse  imd  keines- 
wegs ganz  unberechtigte  rolle  spielt.  Hiernach  werde  ich  nicht  misverstauden  wer- 
den, wenn  ich  gestehe,  in  der  vorliegenden  arbeit  öfter  die  schärfe  der  beleuchtung 
zu  vennissen.  welche  denn  doch  zum  Verständnis  des  litterarischen  fortschrittes  einer 
nation  ebenso  nötig  ist  wie  die  ol^jektive  und  billige  beurteilung  der  erscheinungen 
aus  ihrer  zeit  heraus.  Xamentlich  in  der  Würdigung  der  Fruchtliringenden  geselschaft 
geht  mir  Witkowski.  wie  mich  dünkt,  durch  Baithold  und  Krause  beeinflusst,  nicht 
schai'f  genug  vor  —  nota  bene  für  einen  litterarliistoiiker,  der  durchaus  den  Zusam- 
menhang der  epochen  im  äuge  behalten  und  den  fortschritt  des  geschmackes  in  den 
kleineren  und  grösseren  gi'uppen  poetischer  erzougnisse,  die  er  betrachtet,  stets  prii- 
fen  soll.  Das  auf  seite  46  gesagte  kann  uns  schwerlich  überzeugen,  dass  die  gesel- 
schaft tatsächlich  etwas  anderes  war  als  ein  litteraturverein.  Es  war  eben  die  kiu'z- 
sichtigkeit  und  konfusion  der  hochgeborenen  mitglieder  schuld,  wenn  sie  meinten. 
dass  sie  die  sache  anders  angreifen  könten,  denn  ihre  bestrebungen  konten  sie  ein- 
zig und  allein  in  der  litteratur.  d.  h.  in  schriftstellerischen  oder  poetischen  erzeug- 
nissen.  die  gedruckt  wui'den,  geltend  machen,  und  sie  haben  es  auch  wirklich  nur 
auf  diese  weise  getan.  Seite  51  liefert  Witkowski  selber  ein  beispiel,  wie  wenig  man 
sich  in  der  geschäftlichen  korrespondenz  der  Sprachreinheit  befliss.  In  der  höfischen 
konversation  wird  es  dochwol  nicht  besser  gewesen  sein,  fals  man  überhaupt  deutsch 
sprach;  die  gelehrten  korrespondierten  lateinisch,  von  befördemng  deutscher  sitte, 
vom  Studium  d'^'utscher  geschichte  ist  keine  rede,  geschweige  denn  von  einer  deutsch- 
nationalen politik.  Wenn  man  bei  der  aufnähme  in  dio  geselschaft  nicht  auf  littera- 
rische Verdienste  sah,  so  war  das  eben  lächerlich,  am  allerwenigsten  war  es  ein 
^princip'*.  das  als  milderungsgrund  für  die  Opitz  aus  gemeinem  neide  jahrelang  ver- 
weigerte anerkennung  geltend  gemacht  werden  könte. 


l'T^F.R    WITKOWRKT.    DT^DFR.    V.    T).    WFRDFR  127 

Man  wird  ja  zugeben,  dass  die  orgobnislosiejkpit  dieses  treibens  uielit  dem  mora- 
lischen Charakter  der  eiuzehien  zur  last  tiilt,  sondern  den  traurigen  Verhältnissen,  aber 
andererseits  gab  es  doch  männer  wie  Moselierosch  und  Grimmeishausen,  welche  die 
Sachen  so  klar  und  richtig  ansahen  und  ihre  meinung  so  deutlich  ausdrückten,  dass 
im  vergleicli  mit  ilmen  die  deutsche  gesinnung  und  die  nationalen  bcstrebungen  der 
männer  vom  palmenorden  uns  sehr  wenig  imponieren  köniK^i. 

Doch  genug  von  diesen  dingen,  ül)er  die  eben,  um  in  der  spräche  des  XVIT. 
Jahrhunderts  zu  reden,  „unterschiedene  opiniones  fallen''  können,  und  kommen  wir 
zu  objektiven  bemerkungen.  Da  kann  nun  zunächst  die  niclit  unterdi-iickt  werden, 
dass  der  sonst  wol  unterriditrte  Verfasser  für  den  sozusagen  i)hilologisch(»n  teil  seiner 
aufgäbe  kaum  genügend  vorbereitet  erscheint.  Sonst  würden  etliche  misverständnisse 
nicht  vorgekommen  sein,  welche  in  seiner  arbeit  auf  i'echt  störende  weise  auffa^en. 
„  Balten "  (vgl.  s.  75)  bedeutet  nie  und  also  aucli  nicht  in  Werders  Tasso  XI,  .30,  0 
„beissen",  sondern  „warten,  verharren."  Was  hatten  denn  die  leute  auch  auf  der 
mauer  zu  beissen?  Werder  sellist  oder  seinem  freunde  muss  das  schon  halb  veraltete 
wort  bedenklich  geworden  sein,  denn  er  ändert  die  stelle  in  B.  „Sie  entweich"  ist 
nichts  weniger  als  eine  entstellung  von  „entweicht"  aus  reimnot,  sondei-n  ehrliches, 
damals  noch  ziemlich  gebräuchliches  präterituin  für  „entwich",  was  übrigens  aucli 
der  Zusammenhang  fordert  (s.  77,  im  Tasso  VI,  59,  1).  Xoch  manches  möcliten  wir 
anders  -wünschen;  es  fehlen  gesichtspunkte ,  die  ein  philologe  sehr  vermisst,  wie  z.  b. 
die  frage  nacli  etwaigen  dialoktisclien  eigentümlichkeiten  in  wortwalil  und  formen. 
Schon  die  Schreibung  seines  vornamens  beweist,  dass  AVerder  an  dialcktforraen  festhielt, 
und  eine  darauf  gelichtete  Untersuchung  würde  niclit  ohne  ergcbnisse  geblieben  sein. 
^Uugewöhnliclie  worto"  (s.  75)  ist  keine  rechte  kategoiie,  es  müssen  doch  wenig- 
stens damals  und  jezt  ungewöhnliche  geschieden  werden.  „Schmuntzeln"  würde  zu 
keiner  von  beiden  klassen  gehören.  Dass  der  dichter  „kart"  für  „kehrte",  „drung" 
für  „drang",  «scheusst"  für  „schiesst"  u.  dgl.  mehr  (s.  77)  sagt,  „um  seiner  spräche 
grössere  fülle  zu  verleihen",  ist  eine  annähme,  welche  im  lichte  der  histoiischen  gram- 
matik  geradezu  komisch  erscheint.  Hat  denn  der  Verfasser  diese  formen  sonst  nie 
in  älteren  büchern  gelesen? 

Wir  hoffen,  dass  das  angeführte  genügen  wird,  um  Witkowski  zu  überzeugen, 
dass  man  auch  zur  beurteilung  der  spräche  des  XYII.  Jahrhunderts  die  germanische 
Philologie  herbeiziehen  muss,  um  nicht  auf  bedenkliche  abwege  zu  geraten.  Unmit- 
telbar nach  den  ausfühvuugen,  die  uns  nicht  gefallen  wollen,  gibt  er  noch  s.  78  eine 
anerkennenswerte  probe  seines  scharfsins,  und  ich  freue  mich,  die  richtigkeit  seiner 
Vermutung  bestätigen  zu  können.  Die  ausgäbe  des  Tasso  Lyon  1581  in  IG",  welche 
Witkowski  als  vorläge  Werders  vermutet,  aber  nicht  erreichen  konte,  liegt  mir  vor, 
und  hier  steht  XYI,  20,  4 

Ai  miuistri  d'Amor  ministro  eletto. 
Das  buch  gehört  der  hiesigen  stadtbibliothek ,  welche  überhaupt  an  dergleichen  Sel- 
tenheiten sehr  reich  ist,  und  hat  die  sig-natur  X  1919.  Ich  habe  die  übrigen  bei  die- 
ser gelegenheit  von  Witkowski  (s.  78  fgg.)  angemerkten  stellen  verglichen,  das  ergeb- 
nis  ist  folgendes:  die  ausgäbe  enthält  gegen  AVitkowskis  Vermutung  die  Strophen  XI, 
8  und  9.  XV,  15,  1  steht  Rafia  —  IX.  90,  3  Corcutte  —  I,  54,  5  Ruggier  di  Bal- 
nauilla  —  XYII,  74,  1  Enrico  e  Berengario  —  Y,  48,  1  Cilicia  —  YTTI,  09.  4  steht 
nichts  von  Tile,  das  citat  muss  unrichtig  sein  —  XYII,  5,  6  Siene  —  XYII.  09.  7 
Aquilea  —  70,  5  Altino  —  III,  61,  3  vermiglia  la  sopravesta  —  XII,  09,  2  viele  — 
lY.  75.  1  guance  —  IX.  92,8  gran  Madre  —  XII.  4. 1  me'  —  XI.  28,  5  (30,  5)  lautet: 


128  NACHRICHTEN 

Cosi  dioean;  ma  für  le  voei  iiitese. 
Xin.  4S,  7  muss  falsch  citioi-t  sein,  vielleicht  ist  v.  5  derselben  strophe  gemeint: 

Pur  vi  passai:  che  ne  Tincendio  m  arse. 
Durch  das  el>en  beigebrachte  wird  AVitkowskis  vtu-inutung  nach  meiner  ansieht  nichts 
weniger  als  entkräftet.  Die  auslassung  von  XI,  8  und  9  erkläii  sich  leicht.  AVit- 
kowski  meint,  Werder  würde  diese  Strophen  schon  wegen  ihres  religiösen  inhalts 
übei-sezt  haben,  er  hat  sie  aber  grade  deswegen  weggelassen,  denn  er  war  Protestant. 
Aus  demselben  gründe  halte  ich  es,  beiläufig  gesagt,  für  unmöglich,  dass  AVerder 
den  tag  Leo   des  Grossen   als   den   ,,tag  der  allergrössesten '^    bezeichnet   habe   (s.  62, 

aum.  3). 

Dass  Opitz  „noch  weit  weniger"  als  Lohenstein  imstande  gewesen  sei, 
dichterisch  gi'osses  zu  leisten,  bestreite  wenigstens  ich,  wenn  sonst  niemand,  wie 
AVitkowski  meint.  Lohenstein  ist  so  wenig  wie  Opitz  poetisch  begabt,  eher  noch 
weniger,  ausserdem  aber  hat  er  viel  weniger  geschmack  und  takt,  den  man  Opitz 
durchaus  nicht  absprechen  kann  (s.  59). 

Die  Schlussredaktion  des  buches  scheint  etwas  flüchtig  bewerkstelligt  zu  sein. 
S.  27  ist  der  satz  -Landgraf  Moritz  hatte  usw.'^  unklar.  Es  soll  wol  statt  „Evange- 
lischen- heissen  „Lutherischen",  wenigstens  ist  dies  das  geschichtlich  richtige.  S.  52 
heisst  es  „AVerder  —  entschied  in  vielen  fragen  mit  scharfsinniger  begründung'',  das 
folgende  beispiel  l)eweist  das  gegenteil.  Es  hätte  das  s.  54  angeführte  an  diese  stelle 
gehört. 

BRESLAU,    JULI    1888.  FELIX    BOBERTAG, 

Die  Edda.     Deutsch  von  AVilhelm  Jordan.     Frankfurt  a.  M.     AA'.  Jordans  Selbst- 
verlag.   1889.     8.     IV,  534  s.     5  m. 

Da  die  ^gelehrten"  anmerkungen,  die  der  Übersetzer  seinem  buche  beigegeben 
hat,  bei  dem  uneingeweihten  die  meinung  ei-wecken  könnten,  als  ergreife  hier  ein 
genauer  kenner  des  altnordischen  das  wort,  so  sei  kurz  bemerkt,  dass  wir  es  mit 
der  arbeit  eines  dilettanten  zu  tun  haben,  für  den  die  wissenschaftliche  forschung 
der  lezten  dreissig  jähre  jnicht  vorhanden  ist.  A'on  der  technik  der  alten  allitera- 
tionspoesie  hat  Jordan  keine  ahnung;  geradezu  belustigend  wirken  die  verse,  die  er 
(s.  407)  aus  der  einleitenden  prosa  zu  Gu{)r.  I  zurcchtgeschnitten  hat.  A\"as  treue 
und  gewissenhaftigkeit  anbetrift,  steht  diese  Eddaübersetzung  hinter  der  Simrockschen 
ganz  erlieblich  zurück,  die  Jordan  übrigens  nur  in  einer  älteren  aufläge  gekaut  hat, 
daher  es  ihm  begegnet,  dass  er  fehler  seines  Vorgängers  bekämpft,  die  dieser  selber 
schon  berichtigt  hatte.  Eine  höheren  anforderungen  genügende  Verdeutschung  der 
Edda  bleibt  also  immer  noch  ein  frommer  wünsch,  bis  ein  meister  sich  findet,  dei- 
mit  genauester  sprach-  und  sachkentnis  dichterischen  geist  und  ein  ausgebildetes 
formtalent  verbindet.  H.  G. 


NACHRICHTEN. 


Am  31.  Januar  1889  starb  zu  Oxford  nach  längerer  krankheit  der  bekante 
lexikograph  und  herausgeber  altnordischer  litteraturwerke,  dr.  Gudbrand  Vigfüs- 
son,  08  jähre  alt. 


Halle  a.  S.,  BucMrnckerei  des  Waisenhauses. 


UNTERSUCIIUXGEN   ZUE   SNOl^PiA-EDDA. 

I. 
Der  sogciiante  zweite  gramiiiatisehe  traktat  der  Siiorra-Etlda. 

"Während  wir  bei  keinem  anderen  germanischen  stamme  eine 
grammatische  behandlnng  der  heimischen  spräche  im  mitteh^lter  nach- 
weisen können  —  denn  die  „grammatica  patrii  sermonis",  die  auf  ver- 
anlassung Karls  des  Grossen  in  angritf  genommen  wurde  (Einhardi  vita 
Karoli  c.29),  ist  höchst  wahrscheinlich  gar  nicht  zustande  gekommen — , 
finden  wir  in  dem  fernen  Island,  dessen  bewolmer  auf  geistigem  gebiete 
in  mancher  beziehung  den  Zeitgenossen  vorausgeeilt  sind,  mehrere 
abhandlungcn  über  die  heimische  spräche.  Dieselben  waren  bis  in  die 
jüngste  zeit  meist  verkant  oder  wenig  benuzt ^;  erst  unser  grannna- 
tisches  geschlecht  hat  sie  hervorgezogen  und  ist  bemüht  gewesen,  sie 
in  das  rechte  licht  zu  setzen. 

Die  erste  gründliche  arbeit  über  die  grammatische  tätigkeit  der 
alten  Isländer  waren  Björn  Magnussen  Olsens  trefliche  Untersuchungen 
über  die  runen  in  der  altisländischen  litteratur-.  Die  wichtigsten  ergeb- 
nisse  nahm  dann  der  Verfasser  in  die  einleitung  zu  seiner  ausgäbe  der 
3.  und  4.  abhandlung  auf*^,  imd  die  herausgeber  der  beiden  ersten, 
Y.  Dahlerup  und  Finnur  Jönsson,  bauten  auf  semen  resultaten  im  gan- 
zen weiter^.  Während  aber  Y.  Dahlerup  die  älteste  grammatische  arbeit 
nochmals  scharf  ins  äuge  fasst  und  ihre  bedeutung  namentlich  für  die 
isländische  schrift  etwas  anders  und  zweifelsohne  richtiger  darlegt, 
geht  Finnur  Jönsson  gerade  über  die  hauptfragen  zu  schnell  lünweg 
und  prüft  weder  die  abhandlung  auf  ihren  bau  hin,  noch  untersucht 
er  den    Zusammenhang   ihrer    Überlieferung;    er   hält    sich    zu    sehr    an 

1)  Am  meisten  hat  sie  zweifelsohne  A.  Holtzmann  zu  würdigen  gewust,  der 
in  seiner  altdeutschen  gramniatik  die  erste  abhandlung  volständig  und  die  zweite 
wenigstens  teilweise  übersezt  (I.  s.  55  —  6Gj. 

2)  Eunerne  i  den  oldislandske  Literatur  ved  B.  M.  0.     Kbh.  1883. 

3)  Den  tredje  og  fjaerde  grammatiske  afhandling  i  SnoiTes  Edda.     Kbh.  1884. 
4}  Den  forste  og  anden  grammatiske  afhandling  i  SuoiTes  Edda.     Kbh.  18SG. 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOI.OGIE.    BD.    XXII.  «^ 


130  ^OGK 

Björn  Olsen,  der  den  kleinen  entwurf  nur  gelegentlich  berührte,  ihn 
aber  nicht  in  den  bereich  seiner  eigentlichen  forschungen  liineinzog. 
Daher  komt  es,  dass  trotz  der  neuen  ausgäbe  auch  heute  noch  die 
rechte  Avürdigung  dieses  sogenanten  „zweiten  traktates''  fehlt. ^  Man 
stelt  denselben  durclnveg  im  liinblick  auf  seine  jüngere  und  verderbte 
Überlieferung  neben  den  wahrhaft  bedeutenden  orthographischen  neuc- 
rungsversuch  aus  der  ei-sten  hiilfte  des  12.  jalu'hunderts  und  neben  die 
mehr  laut-  und  sprachgeschichtliche  abhandlung  des  (3laf  pordarson: 
im  vergleich  mit  diesen  muss  allerdiugs  seine  wagschale  bedeutend 
steigen.  Aber  ich  meine,  es  ist  ein  grosser  unterschied,  ob  man  eine 
orthographische  oder  sprachliche  abhandlung  vor  sich  hat,  die  auf  die 
Zeitgenossen  bestimmend  einwirken  soll,  oder  bemerkungen  über  die 
bestehenden  buchstaben  oder  laute,  die  nur  zu  einem  bestimten 
zwecke,  im  hinblick  auf  ein  bestimtes  werk  geschrieben  sind.  Jene 
kann  mau  mit  gutem  rechte  „grammatische  traktate"  nennen,  diese 
nimmermehr.  Es  lässt  sich  auch  auf  keinen  fall  an  diese  derselbe 
massstab  legen  wie  an  jene.  Man  hat  dies  aber  bisher  durchweg 
getan  und  dadurch  die  bemerkungen  zu  dem  islandischen  alphabcte 
aus  dem  anfange  des  13.  Jahrhunderts  volstiindig  verkant.  Sie  verdie- 
nen in  ihrer  ursprünglichen  fassung  überhaupt  nicht  den  namen  eines 
grammatischen  ti-aktates,  sondern  sie  sind  mit  dem  namen  zu  bezeich- 
nen, der  ihnen  von  haus  aus  nach  dem  willen  ihres  Verfassers  gehört, 
nämlich  als  die  sprachliche  einleituug  zum  Hattatal.  Dass  sie  in  die 
geselschaft  der  grammatischen  abhandlungen  gelangt  sind,  verdanken 
wir  demselben  unfähigen  bearbeiter  des  Snorrischen  werkes,  der  auch 
die  übrigen  teile  der  Edda  auseinander  riss  luid  nach  eignem  gutdün- 
ken  wider  zusammenleimte.  Um  daher  die  bemerkungen  zu  verstehen, 
müssen  wir  sie  vor  allem  aus  dem  zusammenhange  herausreissen ,  in 
welchem  man  sie  zu  betrachten  pflegt.  Es  ist  aus  diesem  gründe 
geboten,  nochmals  auf  die  Überlieferung  einzugehen  und  die  folgen,  die 
daraus  erwachsen,  ins  äuge  zu  fassen,  wenngleich  Finnur  Jonsson  in 
der  überlieferuDgsfrage  schon  im  ganzen  das  richtige  getroffen  hat.^ 

1)  Der  lösuDg  einer  der  wichtigsten  fragen  über  die  «ibhandlung,  nämlich  über 
ihre  bedeutiing,  ist  0.  Brenner  in  einem  kleinen  aiifsatzc  meines  erachtens  sehr  nahe 
gekomm.en  (Zs.  f.  d.  ph.  XXI,  272  fgg.). 

2)  Es  ist  merkwürdig,  mit  welcher  bcharhchkcit  selbst  F.  J.  noch  an  der 
alten  auffassung  des  handschiiftenverhältnisses  hängt.  Nachdem  er  schritt  für  schritt 
zu  erweisen  gesucht  hat,  dass  die  kürzere  fassung  die  ursprüngliche  ist  (einl.  s.  XVI 
fgg.),  lässt  er  nicht,  wie  man  doch  envarten  durfte,  den  ursprünglichen  text  zuerst 
drucken ,  sondern  fügt  ihn  nur  als  „Tillfeg"  bei  (s.  .56  fgg.).  Auf  die  folgen  der  neuen 
auffassung  der  handschiiften  geht  F.  J.  gar  nicht  ein  und  stelt  so  beliauptiuigcn  auf, 


UNTERSUCHUNGEN    ZUR    SN.    EDDA    I  131 

Alles,  Avas  die  Isländer  über  ilire  sclirift  und  spraelio  gesclirieben 
liaben,  ist  in  der  alten  Eddaliandsehrift  cod.  A^I.  242  foL,  dem  codex 
AVormiauus,  der  aus  der  mitte  des  14.  jalirliunderts  stamt,  aufbewahrt.^ 
Der  Schreiber  oder  viehnelir  bearbeitcr  dieser  handschrift  benutzte  bei 
seiner  arbeit  mehrere  werke,  deren  bedeutendstes  die  wol  von  (')hü'  |)nrd- 
arson  lierrührende  fassung  der  Edda  war,  und  vereinigte  diese  zu 
einem  ganzen,  das  er  dui'ch  eigene  arbeiten  erweiterte,  mit  vorrede  ver- 
sah und  in  seinen  einzelnen  teilen  nicht  selten  verwässerte.  Nacli 
Sveinbjörn  Egilssons  Vermutung-  soll  Berg  Sokkasou,  der  freund  des 
bischof  Laurentius  und  abt  des  Benediktinerklostcrs  zu  A[unkal)vera 
diesen  codex  zusammengestelt  haben,  eine  annähme,  die  anklang  gefun- 
den hat. ^  Ich  sehe  nicht  recht  ein,  dass  dieselbe  irgend  welclie  feste 
stützen  habe.  Die  saga  des  bischofs  Laurentius  gibt  uns  ein  ziemlich 
genaues  bild  von  dem  Charakter  und  der  tätigkeit  des  Berg;  wir  erfah- 
ren, dass  derselbe  mit  eiserner  festigkeit  auf  die  beobachtung  der  klo- 
sterregeln sah  (Bisk.  s.  I,  840.  850),  wir  hören,  dass  er  ein  vorzüg- 
licher Sänger  und  tüchtiger  redner  und  prediger  gewesen  sei,  wir  lesen 
auch,  dass  er  die  geschicliten  der  heiligen  männer  vortreflich  ins  islän- 
dische übcrsezt  habe  (Bisk.  s.  I,  832.  891)  ^,  aber  nirgends  erfahren  wir 
etwas  darüber,  dass  er  sich  auch  eingeliender  mit  heimischer  litteratur 
beschäftigt  liabe  oder  dass  er  ein   dichter  gewesen  sei,   wiihrend  doch 

die   wol    für    den    überarbeiteten   text,    nicht    aber   für    den    ursprünglichen    geltung 
haben. 

1)  Das  kleine  stück,  das  Björn  Olsen  als  anhang  in  seiner  ausgal)e  der  3.  und 
4.  abhandlung  (s.  156  fgg.)  nach  cod.  AM.  921.  4°  hat  abdrucken  lassen,  ist  eine  ein- 
fache interlinearversion  der  lateinischen  conjugation.  Zur  zeit  ungedruckto  reime  über 
die  isländischen  buchstaben  enthält  der  cod.  AM.  415.  4"  (vgl.  G.  Stonn,  Islandskc  Ann- 
alcr  indtil  1578  s.  YH). 

2)  Sn.E.  AM.  II  s.  190  aum.  1. 

3)  Vgl.  K.  Müllenlioff  DAK.  V,  208.  230.  Ich  selbst  habe  lange  zeit  die 
ansieht  geteilt,  bin  aber  nach  gründliclieni  durchlesen  der  Laurentiussaga,  unserer 
hauptquellc  über  Berg  Sokkason,  ganz  davon  abgekommen,  da  sich  aus  der  saga  ein 
bild  von  der  tätigkeit  aller  männer  aus  Laurentius  zeit  entwerfen  lüsst,  die  der  Ver- 
fasser in  seiner  erzählung  charakterisiert. 

4)  In  gleichem  sinne  d.  h,  im  hinbhck  auf  die  missionstätigkeit  ihres  beiden 
übei-sezte  Berg  auch  die  Olafssaga  Tiyggvasonar  des  mönchs  Odd  von  Lingcyrir.  Ob 
die  ausfülirhche  fassung  im  cod.  Holm.  1  fol.  (Arwidsson,  Föiieckning  öfver  kgl. 
bibliothekets  i  Stockholm  isl.  hss.  s.  3),  die  uns  Bergs  Übersetzung  der  Olafssaga 
bezeugt  (Olafssaga  Tryggvasonar,  er  Bergr  aboti  snaraäi)^  die  ursprüngliche  arbeit 
des  abtes  ist,  oder  ob  diese  vorliegende  nicht  vielmehr  auf  eine  kürzere  fassung  Bergs 
zui-ückgeht,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden,  zumal  wir  noch  keinen  abdruck  des  cod. 
Ilohn.  fol.  1  besitzen. 


132  MOGK 

die  Kaurentiussaga  vuu  mehreren  anderen  männern,  vor  allem  vom  Laii- 
rentius  selbst  ganz  ausdrücklich  hervorhebt,  dass  sie  vorzügliche  „ver- 
silicatores''  gewesen  seien  (Bisk.  s.  I,  794.  800  u.  ö.).  Beides  muss 
aber  bei  dem  Verfasser  der  vierten  abhandlung,  der  mit  dem  Schreiber 
der  ganzen  handschrift  zusammenfiilt,  vorausgesezt  ^Y erden.  Da  sicli 
nun  diese  Voraussetzungen  auf  Berg  nicht  anwenden  lassen,  halte  ich 
Egilssons  annähme  mindestens  für  wenig  wahrscheinlich.  Dagegen  finden 
sie  sich  bei  einem  andern  manne  derselben  zeit,  und  diesen  möchte 
ich  mit  ziemlicher  bestimtheit  als  den  urheber  des  cod.  AM.  2-42  anneh- 
men: es  ist  bruder  Ärni,  der  natürliche  söhn  des  bischofs  Lauren- 
tius.  Zunächst  ist  die  handschrift  in  bezug  auf  die  schrift  eine  der 
vorzüglichsten  aller  liandschriften ,  die  war  besitzen,  vielleicht  die  beste 
aus  dem  14.  Jahrhunderte  (vgl.  das  facs.  iir.  II  in  Sn.  E.  III).  Fer- 
ner weist  die  geschichte  des  codex  und  seiner  abschritt  AM.  756.  4^ 
darauf  hin,  dass  derselbe  im  nördlichen  Island  geschrieben  ist,  wie 
auch  G.  Vigfüsson  ihn  nach  dem  kloster  I)ingeyrir  verlegte  Weiter: 
alles,  was  wir  beim  Schreiber  des  codex  voraussetzen  müssen,  was  Avir 
aber  nicht  bei  Berg  fanden,  haben  wir  bei  Arni. 

Bruder  Arni,  wie  ihn  die  annalen  und  die  Laurentiussaga  stets 
nennen,  war  der  uneheliche  söhn  des  Laurentius  mit  der  purid  Ärna- 
duttir  (Bisk.  s.  I,  807).  Für  ihn  sorgte  der  vater  nach  kräften.  Auf 
Laurentius'  betreiben  hin  wurde  er  nach  dem  Lögmannsannäll,  dem  ich 
hierin  folge  (Storm,  Isl.  annal.  s.  266)  1317  vom  abte  Gudmund  als 
Benediktinermönch  des  klosters  pingeyrir  aufgenommen  (Bs.  I,  832). 
Als  Laurentius  1324  zum  bischof  von  Hölar  geweiht  war,  ruft  er  auch 
den  Ärni  nach  dem  bischofsitze,  wo  er  neben  Olaf  Hjaltason,  dem  lehrer 
in  der  grammatik,  und  Yalljjof,  dem  leiter  des  geistlichen  gesanges,  an 
der  vom  neuen  bischof  begründeten  schule  als  lehrer  tätig  war  (Bs.  I, 
846).  Von  hier  aus  begleitete  er  seinen  vater  widerholt  auf  visitationsreisen 
(Bs.  I,  851).  Damals  sante  ihn  auch  Laurentius  nach  Skälaholt  zum 
bischof  Jon,  der  ihn  zum  priester  weihte  (Bs.  I,  850).  Anfangs  gehörte 
er  zu  den  treflichsten  klerikern  (Bs.  I,  832.  850),  später  gab  er  sich 
jedoch  zuweilen  der  genusssucht  hin,  die  ihn  einst  nach  einem  zu 
fröhlich  verbrachten  julfeste  auf  das  krankenlager  warf.  Dadurch  berei- 
tete  er  seinem  vater  Laurentius  ärgemis,   der  ihn  nun  unter  ernsten 

1)  Corp.  poet.  bor.  I  s.  XLV,  doch  irt  Yigfiisson,  wenn  er  sagt,  dass  sich  im 
cod.  T\'.  verse  des  braders  Arai  citieii  fänden.  Nui-  das  der  handschrift  beigefügte 
gleichaltrige  fragment  Wb.  enthält  eine  visa  Ai'nis  (Sn.  E.  II,  500)  und  scheint  noch 
mehr  enthalten  zu  haben  (vgl.  Laufassedda  in  Sn.  E.  11,  G32j.  Dies  scheint  von 
einem  schüler  des  Ami  zu  sein,  sicher  nicht  von  ihm  selbst. 


UNTERSUCHUNGEN    ZUR    SN.    EDDA    I  133 

ermahn nn,i;*on  nacli  (lein  Iclostor  J)in2;oyrir  ziirüclvsanto,  damit  er  hier 
sparsam  sei,  imterriclitc  und  schreibe  (Bs.  I,  873.  91  o).  —  Von  Ärnis 
begabung  sclieint  sein  vater  nicht  viel  j^ehalten  zu  haben,  da  er  seine 
band  von  jeder  bef<>rderung  des  sohnes  fern  hält,  und  da  er  ihm  stets, 
mag  er  ihn  als  lehrer  oder  zu  einer  Sendung  verwenden,  tüchtige  män- 
nor  zur  seite  stelt.  Dieser  Ärni,  berichtet  nun  die  Laiirentiussaga,  sei 
ein  vorzüglicher  Schreiber  und  dichter  gewesen  ^  Dies  stimt  aber  vor- 
züglich zum  Schreiber  des  Worm.  Als  lehrer  bedurfte  ferner  Arni 
einer  grammatica  und  ars  poetica,  da  er  hierin  seine  schüler  zu  unter- 
richten hatte.  So  mag  unsere  handschrift  zu  bestimteni  pädagogischen 
zwecke  entstanden  sein:  sie  war  ein  Averk  für  heimische  spräche  und 
poesie.  Denn  die  muttersprache  {nmturtunf/a)  hielt  Laurentius  für  die 
alleinige  vermitlerin  zwischen  geistlichkeit  und  volk  (Bs.  I,  8G1  fg.); 
daher  wird  er  auch  den  Unterricht  in  dieser  gefördert  haben.  Uns 
wird  jezt  auch  die  belesenheit  des  Schreibers  in  den  lateinischen  gram- 
matikern  verständlich:  er  verdankte  hierin  seine  kentnisse  seinem  col- 
legen  Olaf  Hjaltason,  *den  Laurentius  eingesezt  hatte  „nt  kenria  gram- 
maticcun"  d.  i.  lateinische  grammatik  (Bs.  I,  846).  Zu  diesen  äusseren 
gründen,  die  für  Arnis  Verfasserschaft  sprechen,  treten  aber  auch  innere. 
Der  Schreiber  muss  natürlich  das  Hattatal  gekaut  haben.  Aber  er  scheint 
dasselbe  auch  gründlich  studiert  und  sich  zum  vorbild  genommen  zu 
haben:  in  der  vierten  abhandlung  sind  nicht  nur  Strophen  aus  Hattatal 
citiert,  sondern  auch  widerholt  die  künstlichsten  formen  nachgeahmt. 
Nun  sind  aber  unter  bruder  Ärnis  namen  eine  visa  und  zweimal  je 
zwei  halbverse  erhalten:  beide  zeigen  offenbar  kentnis  von  Snorris 
musterha?ttir  im  Hattatal.  Sn.E.  H,  500  finden  wir  in  allen  vier  unge- 
raden halbversen  den  ersten  studill  (auf  hochtonjger  silbe)  unmittelbar 
vor  dem  zweiten,  den  das  lezte  wort  und  die  erste  silbe  des  dritten 
fusses  des  halbverses  enthält,  gerade  so,  wie  es  Snorri  beim  refhvarfa- 
brodir  (Hattat.  v.  23;  Möbius  H,  s.  12)  offenbar  angestrebt  hat;  die  bei- 
den andern  halbverspaare  (Sn.E.  H,  632)  dagegen  sind  nach  dem  ganz 
seltenen  grossen  stuf  (Hattat.  v.  51)  gedichtet,  der  in  der  alten  poesie 
sonst  einzig  dasteht.  —  So  laufen  alle  fäden,  die  uns  der  cod.  A]\L  242 
betrefs  seines  Verfassers  gewährt,  in  Ärni  zusammen;  der  samler-  und 
schreiberfleiss  seines  vaters  Laurentius  und  dessen  oheim  pörarin  kaggi 
(Bs.  I,  790)  können  diese  annähme  nur  stützen,  da  sie  den  weg  zu 
zeigen  scheinen,  wie  Arni  in  den  besitz  seiner  vorlagen  kam.    AYelches 

1)  Bs.  I,  832:  varä  kann  hinn  framasti  JderJcr  ok  skrifari  haräla  scsmi- 
ligr  ok  versificator;  ebd.  I,  850:  Var  hruäir  Ami  hinn  bexti  klcrkr  ok  versificator 
ok  kenndi  mqrgutn  klerkum. 


134  MOGK 

diese  gewesen  sind,  das  dürfen  Avir  nach  den  neuesten  forschungen  als 
feststehend  ansehen. 

Die  eigentUohe  Edchi  konit  für  uns  hier  nicht  in  betracht;  uns 
berühren  nur  die  granimatisclien  arbeiten,  die  in  ihrer  gesamtheit  im 
zweiten  bände  der  arnaniagmvanischen  Snorra  Edda  (s.  1  —  249)  und 
kritischer  von  dem  Samfund  usav.  1884  —  86  herausgegeben  sind.  Von 
diesen  abliandhmgen  ist  das  älteste  stück  ein  auszug  aus  dem  runen- 
alphabete  des  J)örodd  Gamlason  und  Ari  (c.  1100),  den  (3laf  purdarson 
im  ei*sten  teile  seiner  abhandlung  aufgenommen  hat.  Auf  diese  folgt 
der  zeit  nach  der  traktat  eines  unbekanten  Verfassers,  der  um  1140 
entstanden  ist  (I):  sein  Verfasser  verändert  das  lateinische  aiphabet  sei- 
ner heimat,  indem  er  unnütze  buchstaben  ausmerzt  und  neue  einführt; 
er  befreit  die  isländische  schrift  vom  joche  der  imgenügenden  latei- 
nischen und  Schaft  so  eine  mehr  nationale  schrift.  Sein  Averk  ist  in 
jeder  Aveise  hervorragend  luid  beherscht  die  ganze  folgende  zeit,  die 
zeit,  aus  der  die  ältesten  isländischen  handschriften  stammen. —  Hierauf 
folgen  die  aus  ihrem  zusammenhange  losgerissenen  einleitenden  bemer- 
kungen  über  die  spräche  zum  Hättatal  in  einer  kaum  Avider  zu  erken- 
nenden gestalt  (II).  Zeitlich  schUessen  sich  dann  die  arbeiten  Olaf  pörct- 
arsons  über  die  buchstaben  und  die  rhetorischen  figuren  an  (III).  Die 
lezteren  erAv eitert  nun  der  Schreiber  der  handschrift  durch  eigene  for- 
schimg,  indem  er  zugleich  die  meisten  figuren  durch  eigene  dichtung 
belegt  (IT);  allen  diesen  arbeiten  fügt  er  schliesslich  ein  gemeinsames 
Vorwort  hinzu. 

"Während  man  sich  mit  dem,  Avas  die  forschung  unserer  tage 
betrefs  der  L,  III.  und  lY.  abhandlung  gefunden  hat,  bescheiden 
kann,  Avissen  Avir  über  die  sogen.  II.  abhandlung  nicht  viel  mehr, 
als  was  AA'ir  schon  früher  Avusten;  etAvas  tiefer  in  das  Avesen  und  den 
zAveck  derselben  einzudringen  beabsichtigen  die  vorliegenden  unter- 
suchun£(en  \ 

1.  Die  überarbeitete  gestalt  und  die  ursprünglichere  fassung. 

Die  sogenante  zweite  grammatische  abhandlung  der  Snorra -Edda, 
Avie  sie  noch  die  jüngste  ausgäbe  bezeichnet,  oder  die  einleitung  zum 
Hättatal,  Avie  ich  der  Untersuchung  vorgreifend  dieselbe  nennen  möchte, 
ist  uns  in  zAvei  gestalten  überliefert:  einer  ursprünglicheren  und  einer 
überarbeiteten,    die  jene  benuzt  hat.     Wie  man  im  norden  die  spätere 

1)  Dass  Finnur  Joussons  bemerkungcn  (ein!,  s.  XXVIII  fgg.)  auch  andere 
nicht  befriedigen  konten,  beweist  Brenners  schon  erwähnter  aufsatz. 


UXTERSUCIIUNGKN    ZUK    SX.    KUDA    I  135 

fassung  als  die  ursprüngliche  ansah,  zeigen  die  verschiedenen  ausgaben 
der  Snorra-Edda,  G.  YigMssons  verächtlic;he  anssprüclie  über  die  ältere, 
reinere  gestalte  zur  genüge,  und  dass  man  auch  in  Deutschland  dieser 
ansieht  folgte,  beweisen  Holtznianns  bemerk ungen  in  seiner  althd.  grani- 
matik  (I,  65  fg.)  oder  Mübius'  werte  zum  llattutal  (1,  18).  Das  war  die 
lierscliende  ansieht,  als  ich  Beitr.  VI,  536-  das  gegenteil  behauptete 
und  andeutete,  dass  die  jüngere  gestalt  überarbeitet  sei  und  dnss  sich 
die  quellen  des  Überarbeiters  nachweisen  lassen.  Zu  ähnlichem  resul- 
tate  kam  bald  darauf  Müllenhoff  (DAK.  s.  107  anni.)  und  später  F.  Jons- 
son  (ausg.  der  IL  abli.  s.  XVI  fgg.). 

Die   älteste    und   relativ   reinste   gestalt    unserer    abhandlung    ist 
erhalten  im 

cod.    Upsal.  coli.  IMciganl.  uo.  11. 

Es  ist  derselbe  codex,  welcher  die  ganze  Edda  und  was  mit  diesem 
hausbuche  Snorris  in  engstem  zusammenhange  steht,  in  seiner  rehitiv 
ursprünglichsten  gestalt  enthält.  Hier  findet  sich  die  abhandlung  auf 
den  ss.  88  —  91,  fült  also  gerade  2  bll.  Vor  ihr  befinden  sich  die  Skäld- 
skaparmal,  nach  ihr  ein  entwurf  des  Hattatals,  welcher  die  anfange  und 
die  namen  der  36  (ausschliesslich  der  35.)  ersten  visur  des  gedichtes 
enthält.  Dieser  fült  gerade  s.  92  und  93  der  handschrift,  und  an  ihn 
schliesst  sich  unmittelbar  das  commentierte  Hattatal.  Einen  buchsta- 
bengetreuen abdruck  dieser  fassung  der  abhandlung  haben  wir  im  zwei- 
ten bände  der  arnamagnäanischen  Edda  (AM.  II,  364—69)  und  in  der 
ausgäbe  von  Finnur  Jönsson  (F.  J.  s.  56  —  61).  Zwei  figuren  sind  der 
abhandlung  beigegeben;  diese  sollen  die  werte  der  abhandlung  veran- 
schaulichen. —  Ob  wir  in  dieser  fassung  die  ursprünglichste  gestalt 
haben,  wird  sich  weiter  unten  zeigen.  Auf  alle  fälle  ist  ihre  vorläge, 
von  der  unsere  handschrift  eine  flüchtige  abschrift  ist,  in  der  zweiten 
lassung  unmittelbar  oder  mittelbar  benuzt,  nämlich  im  cod.  Wormianus, 

dem  cod.  AM.  fol.  242. 

Hier  befindet  sich  die  abhandlung  bl.  40''  fgg.,  wo  sie  auf  der  6.  zeile 
begint.    Sie  steht  zwischen  dem  1.  und  3.  grammatischen  traktate.    Dass 

1)  Nachdem  G.  Yigfusson  schon  Sturl.  I,  LXXXI  die  alte  fassung  an  ahrichj- 
ment  of  the  second  Skalda  Trcatisc  genant  hat,  äussert  er  sich  im  Cpb.  I,  XLYll: 
a  feie  bits  of  the  Anonytnous  Granwiarian's  irork,  wüJi  iniperfect  broken  text, 
but  irifh  the  Tab l es  referrcd  to  in  „W'%  biit  not  copicd  there,  bcing  probably 
missim)  in  Itis  orüjinal.  Von  Yigfusson  freihch  war  nicht  zu  hoffen,  dass  er  in  den 
fragen  über  die  Überlieferung  der  Edda  jemals  den  klarsten  nachweisen  beistimmen 
würde;  ihm  war  der  Wormianus  das  a  und  cj,  dem  alles  zum  opfer  fallen  mustc. 

2)  Daselbst  ist  z.  5  AM.  II,  44  (st.  74)  zu  lesen. 


13G  MOGK 

sie  nach  dem  willen  des  aufzeichnei*s  nicht  unmittelbar  an  den 
1.  anschliessen  soll,  beweist  der  umstand,  dass  sicli  vor  ihr  ein  freier 
räum  von  sechs  zeilen  befindet  Dagegen  hat  sie  der  Schreiber  als 
irrammatische  arbeit  aufij^etasst  und  auch  iinsserlich  den  inneren  zusam- 
menhanir  zwischen  der  1.  abhandhuiir  und  ihr  aniredeutet:  während  er 
bei  zwei  abschnitten  der  handschrift,  die  iiüialtlicli  von  einander  ver- 
schieden sind,  den  zweiten  mit  einer  grossen,  3  zeilen  umfassenden 
initiale  beginnen  liisst,  ist  hier  beim  beginn  der  abhandlang  nur  räum 
für  eine  kleine,  ZAveizeilige  gelassen.  An  unsere  abhandlung  schliesst 
sich  dann  unmittelbar  der  traktat  des  Olaf  Jiordarson  an. 

Diese  fassung  der  abhandlnng  ist  nun  auf  der  einen  seite  angefült 
teils  mit  ganz  unangebrachter  theologischer  gelehrsamkeit,  teils  mit  stel- 
len aus  dem  ersten  grammatischen  traktate,  teils  mit  stellen,  welche 
scheinbar  ganz  in  der  luft  hängen, —  alles  dies  hat  die  fassung  im  cod. 
Ups.  nicht.  Auf  der  andern  seite  aber  entbehrt  der  cod.  Worm.  der 
figuren  der  Upsalaer  handschrift,  auf  welche  er  sich  selbst  zu  wider- 
liolten  malen  beruft. 

Das  alte  ist  zerrissen  und  neu  zusammengeflickt,  und  zwar,  wde 
schon  eine  einfache  lektüre  beider  fassungen  lehrt,  von  einem  geist- 
lichen, der  kein  besonders  grosses  talent  besessen  haben  kann,  wde  es 
sich  ja  beim  bruder  Ärni  zeigte.  AYolton  und  müsten  wir  von  dieser 
fassung  ausgehen,  wir  würden  nie  unsere  abhandlung  verstehen  kön- 
nen; sie  ist  verwirt  und  verwirrend.  Ganz  anders  steht  es  bei  der  älte- 
ren fassung.  Hier  ist  alles  vom  anfang  bis  zum  ende  rein  sachlich, 
logisch  durchdacht  und  scharf  gegliedert,  wenn  wir  von  dem  abschnitte 
absehen,  der  später  besonders  ins  äuge  zu  fassen  ist. 

In  der  auch  den  andern  teilen  der  Edda  eignen  katechetischen 
weise  begint  der  Verfasser  mit  den  drei  arten  des  tones,  nämlich: 

1)  des  tones   lebloser   gegenstände   und   zwar   a.   solcher,    die   von 
selbst  tönen  (luft,  wasser), 

und  b.  solcher,  die  durch  die  menschen  zum  tönen  gebracht 
werden  (stein,  waffen);  es  folgen: 

2)  die  laute  der  tiere  (a.  der  vögel,  b.  der  landtiere,  c.  der  ^vas- 
sertiere), 

3)  die  laute  des  menschen. 

Die  entwicklung  ist  volständig  klar  und  durchsichtig.  Der  dritte  punkt 
—  und  dies  führt  zugleich  von  der  einleitung  zum  eigentlichen  thema  — 
gibt  veranlassung,  die  organe,  mit  denen  die  menschliche  spräche  her- 
vorgebracht wird,  anzuführen  und  das  bild  zu  gebrauchen,  wie  mund 
und   zunge    einem    Spielplatz    gleichen,    auf   dem    die    einzelnen    buch- 


UNTERSUCHUNGEN    ZUR    SN.    EDDA    I  137 

stabon^  mit  einander  spielen.  An  diese  benierknng  reilit  der  verftisser 
unmittelbar  einen  zweiten  verG:leic]i:  die  spräche  ^deicht  der  auf  der  sim- 
pliunie  hervorgebrachten  musik;  wie  diese  durch  das  zusammenwirken 
von  taste  imd  saite  hervorgebracht  wird,  so  erzeugt  das  verbinden 
von  consonant  und  vocal  die  menschliclic  spräche.  Beide  vergleiche 
Averden  dann  durch  figuren  veranschaulicht,  welchen  eine  eingehendere 
erklärung  folgt.  Wie  nun  das  häkchen  der  taste  und  die  saite  zusam- 
mengreifen (Itoidd)  müssen,  um  den  ton  hervorzubringen,  so  müssen 
sich  auch  consonant  und  vokal  verbinden,  \\w\  den  einfachsten  klang 
der  spräche  und  poesie  zu  erzeugen,  und  diese  Verbindung  ist  die 
hending.  Mit  dieser  sind  Avir  unwilkürlich  zu  dem  grundpffMler  der 
skaldenmetrik  geführt  und  Avir  verstehen,  weshalb  unsere  abliandlung 
sich  unmittelbar  vor  dem  Hattatal,  diesem  sammelgedichte  altislän- 
discher versarten,  befindet:  sie  ist  die  naturgemässe  cinleitung  zu  dem- 
selben. 

Anders  liegt  die  sache  in  der  zweiten  fassung  der  abband lung. 
Hier  ist  dieselbe  aus  ihrem  zusammenhange  losgerissen  und  bildet  ein 
in  sich  abgeschlossenes  ganze,  das  sich  nur  durch  die  cähnlichkeit  des 
inhalts  mit  dem  vorhergehenden  und  folgenden  ganz  oberflächlicli 
berührt.  Indem  dies  aber  vom  Hattatal  losgetrent  Avurde,  bedurfte  es 
einer  volstcändigen  Umarbeitung.  Dies  sah  selbst  ein  so  wenig  begabter 
bearbeiter  wie  Ärni  ein.  Allein  wohin  wir  auch  blicken  mögen,  überall 
sezt  diese  neue  arbeit  die  alte  voraus,  jene  selbst  ist  ein  ziemlich  kläg- 
liches werk,  nur  zu  oft  ohne  einsieht  und  Überlegung  niedergeschrie- 
ben. Man  vergleiche  gleich  den  eigentlichen  eingang,  den  anfang  von 
cap.  2  (AM.  n,  46.  FJ.  50  ^^  fgg.):  ]su  liafa  pesser  lutcr^  hlioct,  sii- 
mcr  rqdd  ok  snmer  mal,  sem  sagt  var.  Die  lezten  werte  (scm  sarjt 
rar)  sind  volständig  unverständlich,  da  vorher  kein  wort  von  dem 
gesagt  ist,  Avas  hier  angedeutet  Avird.  Nun  hiess  es  aber  in  der 
ursprünglichen  fassung  (AM.  H,  364,  4  fgg.     FJ.  56  ^^  fgg.): 

En  J'Hpja  Miofts  grein  er  sii,    sem  menninir  hava;   pat  heiter 
hlioä  oh  rodd  ok  mal. 

1)  Ich  gebrauche  dies  wort  im  anschluss  an  das  staßr  des  textes. 

2)  Die  norwegischen  eigentümlichkcitcn,  die  wir  mehrfach  im  cod.  W  finden, 
erklären  sich  cbenfals  aus  der  annähme,  dass  Ami  der  Schreiber  sei.  Arni  stamte 
aus  dem  Avestlichen  Norwegen,  avo  Laurentius  seine  mutter  I*urid  kennen  gelernt 
hatte.  In  der  altertümlichen  kirche  A'on  Borgund,  die  noch  heute  den  wanderer  zum 
besudle  ladet  (Du  Chaillu,  Im  lande  der  mitternachtssonne  I,  417),  ist  er  getauft; 
in  den  anmutigen  gefilden  dieser  gegend  hat  er  seine  erste  Jugend  verlebt  (Bs.  I, 
807.  820). 


13S  MOGK 

A'orlier  sind  hier  die  geräiische  der  demente,  die  stimmen  der  tlere 
erwähnt.  Sacligemäss  geht  der  Verfasser  nun  zur  spräche  der  men- 
schen über.  Diese  ganze  entwicklung  hatte  der  Überarbeiter  vor  äugen, 
als  er  jene  werte  schrieb,  und  da  er  niclit  weiter  darüber  nach- 
ilaclite,  dass  bei  ihm  erst  folgen  solte,  was  er  in  seiner  vorläge  gelesen 
hatte,  so  fügte  er  jenes  an  und  für  sich  ganz  sinlose  sem  sagt  var 
iiinzu. 

Ferner    lieisst  es   (AM.  II,  4Si<^fgg.;    FJ.  51  i'^):    I  fyrsta   hrhig 

cru  ftorcr  stafcr Es  ist   also   von  den    spiclplatzringen   die  rede, 

von  denen  vorher  gesagt  ist:  ok  V  hrimjar  erit  um  l)a  stafi  slegncr  ccta 
sctfcr  f  ?}faals  luetti.  Die  ganze  stelle  ist  uns  widerum  volständig  dun- 
kel; wenn  wir  die  figur  im  cod.  U  nicht  hätten,  wüsten  wir  gar  nichts 
mit  ihr  anzufangen.  Sie  sezt  diese  voraus  und  weist  demnach  schla- 
gend auf  den  vorrang  von  U  hin.  Ja  am  Schlüsse  dieses  absclmittes 
können  wir  noch  deutlich  sehen,  dass  der  Überarbeiter  jenen  ring  vor 
sich  gehabt  hat,  sonst  könte  er  nicht  sagen  (xlM.  52,  6.  FJ.  52^8): 
Titlar  cm  her  sva  ritattar  scm  i  qärum  ritxluettl,  da  doch  weder  vor- 
her noch  nachher  der  iitJar  erwähnung  getan  wird.  Auch  das  ganze 
fünfte  kapitel  (AM.  II,  56  fgg.  FJ.  53  --  fgg.)  sezt  die  zweite  figur  des 
cod.  U  (AM.  s.  368.  JF.  57)  voraus  und  wird  erst  durch  sie  über- 
haupt verständlich. 

Zum  glück  hat  der  Überarbeiter  so  ungeschickt  gearbeitet,  dass 
es  uns  nicht  schwer  fallen  kann,  selbst  ohne  hülfe  der  kürzeren  fas- 
sung  den  echten  alten  kern  herauszuschälen. 

Ich  finde  in  der  arbeit  eine  dreifache  quelle  des  Schreibers  und 
zwar: 

1)  den  kern,  welcher,  von  einigen  misverständnissen  abgesehen, 
ziemlich  mit  der  kürzeren  fassung  übereinstimt. 

2)  interpolationen,  die  aus  dem  1.  traktate  abgeschrieben  sind. 

3)  bemerkungen  des  Überarbeiters  namentlich  am  eingangc  und 
Schlüsse,  welche  durchweg  mönchsweisheit  enthalten  und  zu  den 
sprachlichen  bemerkungen  passen  wie  die  faust  aufs  äuge. 

Am  klarsten  zeigt  punkt  2,  dass  in  der  ausführlichen  fassung 
unserer  abhandlung  eine  überarbeitende  band  tätig  gewesen  ist.  Dass 
der  1.  traktat  viel  früher  als  die  junge  gestalt  des  sogenanten  zweiten 
entstanden  ist,  steht  unumstösslich  fest.  Beide  stimmen  in  verschie- 
denen stücken  wörtlich  überein;  diese  Übereinstimmung  ist  so  gross, 
dass  sie  sich  nur  als  abschrift  des  einen  aus  dem  andern  erklären  lässt. 

3Ian  vergleiche: 


UNTERSUCHUNGEN    ZUR    SN.    EDDA    I  139 

(AM.  n,  52,  5.     FJ.  52-"'):  dazu  aus  dem  1.  trakt.  (AM.  II, 

lief  er    titiiU    elhi    ein  La)'    ciJll    iil  38  2.     VD.  13''): 

stafs,  hcJhJr  er  Inuin  tll  shijriit(jar      TitiiU  hvfcr  enn  ckki  eäU  iil  shifs^ 
ritx.  etui    licuin    er   J)o    Iil   slnjuditHjdr 

ritx   (natüiiich  ist  dies  die  einzig 

richtige  lesai-t). 

Yeranlassiiiig-,  jene  bemerkung  einzufügen,  gab  das  lilUir  ero  sra 
rilajjir  her  scm  i  oprum  rilrJuetti  (AM.  II,  3G7,  ,,.  FJ.  59 -'i).  Mit 
diesen  werten  schloss  regelrecht  die  erkliirung  der  figur;  ein  weiteres 
eingehen  auf  die  titlcir  war  nicht  bezweckt,  ja  wäre  überhaupt  unan- 
gebracht gewesen.  Allein  der  schreibselige  Überarbeiter  ist  nocli  nicht 
mit  jener  bemerkung  zufrieden^  dass  die  tilkir  eigentlich  gar  keine 
buchstaben  sind,  er  muss  uns  auch  nocli  die  etymologie  des  wertes 
iiUill  geben,  natürlich  auch  nur  aus  dem  1.  traktate. 

(AM.  II,  38  11.     YD.  13  i«.)  (AM.  II,  52,  4.     FJ.  52  ^o); 

Tilcin  heitir  sol,    eii  J)aä(i)i  af  er  Sol  heiter  Titan,    heiter  padfni  af 

niitihat  pat  uafn,   er   titidus   er  a  titiilns    i    latimi,    er    ver    hol  tum 

latinu;    titull  hveäum   ver  pat  er  titiil,  pat  er  sein  lilil  sol,   pviat 

seni  litil  sol  se,  pviat  sra  sem  sol  sva  sein  sol  lysir  heim  allein ,  sva 

hjsir  pars  aar  rar  niyrld ,  pa  hjsir  lysir  titull  ont  reit  ritin. 
sva  titull  bok,  ef  fyr  er  ritinn. 

K'ach  diesem  isidorischen  erklärungsversuche,  welcher  sich  in  der 
ersten  abhandlung  mitten  in  der  erklärung  der  einzelnen  buchstaben 
befindet,  fährt  der  Verfasser  von  I  mit  der  darstellung  der  einzelnen 
buchstaben  fort.  Das  veranlasste  auch  den  Überarbeiter  der  zweiten 
abhandlung  nochmals  zu  den  buchstaben  zurückzukehren.  Er  übersah 
dabei  ganz,  dass  er  etwas  zu  pergament  brachte,  was  er  schon  (AM. 
II,  48.  FJ.  51)  im  grossen  und  ganzen  gesagt  hatte.  Bei  dieser  gele- 
genheit  fügt  er  noch  eine  bemerkung  über  x  und  x-  (AM.  II,  54  ■'. 
FJ.  53  ^)  hinzu  und  zwar  Aviderum  aus  der  1.  abhandlung  (AM.  II,  34  o 
FJ.  12  rj),  ohne  auch  nur  daran  zu  denken,  dass  sich  diese  nicht  recht 
in  einklang  mit  seinen  früheren  werten  bringen  lässt. 

Es  folgt  ein  neuer  abschnitt,  der  abermals  wörtlicli  aus  der 
1.  abhandlung  genommen  ist. 

(AM.  n,  30  !•'.     YD.  10  12.)  (AM.  II,  54  k^.    FJ.  53  •'.) 

Enn  fyr  pjvi  nu,  cd  sinnir  sam-  Enn  fyrer  pvi  nii^  at  sumer  sam- 

hlioctendr  hafa  sin  likneski  ok  nafn  hliodendr  hafa  sitt  likneski  ok  nafn 

ok  iartein,  en  sumir  hafa  hofnä-  okiartein,  enn  sumer  hafa  hofud- 

stafs  likneski  ok  nafn  ok  iartein,  stafs    likneski    ok    skipat    stqfum, 


140  MOGK 

cn  sfonf'r  hnfa  liofuäsfnfx  Iili)cshi  nnf  s?n}frr  i  )mf)U  oh  aulit  at- 
olc  i^ki'pat  sfoffn)i  samra  i  nafni  hrffdi  bccdi  iiafus  ok  iartcijtar, 
oh  auhlt  athrrcdi  hrciH  nafns  oh  cnn  sumcr  Itnllda  lihjfr.^hl  sf}iu  oh 
tarfcifiar,  cfi  sm/fir  IntUda  lihficshi  er  Jto  nn}nihaf  aihrccdl  unfns 
sinn,  oh  er  J)o  nihuihaf  athvccdi  pcira  oh  iartcin  s?( ,  er  Jtcir  shida 
?iaffis  peira,  oh  iarfrifi  sn  ,  er  J)cir  bcra  i  malinu  pcirl  lih  er  i  nafn- 
shuh  liafa  i  nidlinii,  shal  peiri  iiui  rerctr;  pa  shal  nu  stjua  leita 
lih  er  i  nafnifiN  rerda,  Jm  shal  bccdi  lihjieshi  J)cira  oh  sva  iiqfji 
}U(  sf/na  leita  bccdi  Iih)ieshi  peira  fyrer  ofan  ritud,  at  yfrr  pri})i 
oh  sva  tiofn  fffr  ofan  ritin,  at  Diecji  nu  allt  sanian  Uta  er  aaär 
ijfir  ])at  meyi  nu  allt  satna//  Uta,  rar  su}ulr  lausliya  um  rcctt. 
er  adr  rar  sundr  JausJega  um  rcctt. 

Hierauf  folgt  in  beiden  abliandlungen  das  grosse  und  kleine 
alphabet,  in  II.  ^vie  der  herausgober  in  AM.  ganz  richtig  hervorhebt 
„non  sine  confusione." 

Der  vergleich  der  oben  angeführten  stellen  bedarf  avoI  keines 
kommentars,  um  die  herübemahme  des  Überarbeiters  aus  der  ersten 
abhandlung  als  tatsache  hinzustellen.  Schauen  wir  jezt  auf  die  beiden 
andern  teile  des  überarbeiteten  textes,  auf  den  eigentlichen  kern  und 
die  theologischen  bemerkungen  des  Verfassers.  Auf  den  ersten  blick 
tritt  uns  hier  ein  auffallender  gegensatz  vor  die  äugen.  Auf  den  kla- 
ren, logisch  strengen  gedankengang  der  ursprünglichen  fassung  in  U 
machte  ich  schon  aufmerksam;  diese  gedanken  hat  der  Überarbeiter  im 
ganzen  beibehalten.  Wo  sich  U  mit  W  deckt,  ist  alles  rein  sachlich, 
die  spräche  ist  edel,  aber  ohne  jeden  rhetorischen  schmuck.  Von  einem 
hinweis  auf  gott  finden  wir  keine  spur.  Ganz  anders  der  eingang  und 
der  schluss  der  Überarbeitung.  Bemerkungen  ohne  allen  Inhalt,  Unklar- 
heit, tautologien  und  rhetorische  Wendungen,  in  denen  der  dichter  sich 
nicht  verleugnet  (man  vgl.  die  bindungen  shrfjddr  oh  prfjddr,  neyti  oh 
vjoti,  limir  oh  lidir)^  eine  breite,  oft  widerliche  spräche,  die  öftere  Ver- 
bindung coordinierter  sätze  durch  eda  statt  oh,  dabei  stete  seufzer  zu 
gott  und  zum  Schlüsse  das  grosse  halleluja  auf  den  dreieinigen  gott^ 
das  ist  das  machwerk  unsers  Überarbeiters,  durch  welches  er  sich  uns 
zur  genüge  als  einen  wol  gläubigen  aber  ziemlich  beschränkten  kleriker 
vorstelt  Seine  eigenen  worte  mögen  zeigen,  wes  geistes  kind  er  war: 
(AM.  II,  44.     FJ.  50.) 

Xu  fijrer  Jni,  at  madrinn  se  shynsamlcgum.  anda  shryddr  oh 
pryddr,  pd  shilr  liann  oh  greiner  allra  luii  giqrr  oh  glqggra,  en  onnur 
hyhvendi.  pa  neyti  oh  nioti  pess  laus  med  giidi.  hiarta  mannz.  hen- 
ner  all^   oh  vid  hiartat  liggr  bccdi   barhi   oh   velendi   oh   andblasnar 


UNTERSUCIIUNGEN    ZUR   SX.    EDDA   I  141 

oiäar  renna  J>ar  upp  oh  rcctax  hceiti  Jicer  cc3.ar,  er  hcra  vind  eita 
hlastr,  hIo(t  ccla  Uo(t,  ok  a  cuuian  vcg  liorfa  pccr  sva,  at  jKcr  madax, 
viä  tinnju  ra-tr  }ticd  Jn-i  hrcrr  er  Jnwf;  rcfi/t  ok  rodd  iipp  l])rcr  licerlu 
oräi.  Juirf  ok  )ne(t  ordi  hverin  priar  pessar  g reiner:  niinni  ok  rlt  ok 
skilniny;  inlnnl  at  niaiia  orda  atkvcedl,  vit  at  luajsa  hcat  liann  vill 
mcekij  skilnuKj  til  pess,  livat  l  byr  ordiounn. 

Und  weiter  lieisst  es  am  Schlüsse: 
(AM.  II,  58.     FJ.  5-iio). 

Osamia,  seger  Jioii  (tiiii(ja)i) ,  pat  pydix  a  raura  tiuiyn  sra:  yrced 
Jm  oss.  P^fifi  J)at  er  a  ehreskit  mcelt,  ok  stakk  ha)ia  )iattarau  til  pess 
fyrer  pvi  at  hon  rar  fyrst  ok  yekk  pa  ifin  allein  heim,  Jjanyatiil  er 
ynd  skipti  pei))i.  —  Xn  seyir  par  til,  at  henni  pwtti  heuin  vera  styri- 
madrinn,  er  hann.  skapadi  hana  ok  af  kristx  nafni  er  kristnin  koll- 
ud.  Ver^  er  kr  istner  eruvi,  kolUini  hami  hofud  vädrt,  enn  ver  hans 
linier  ok  lidir,  ok  hans  sonr  er  sa,  er  hann  sendi  hinyat  i  heim,  ok 
sa  er  vädrr  fader,  en  ver  licins  born.  Var  ok  faderinn  vcenliyr  til  at 
stiorna  sinum  bornum  sva  sem  bext  yeyndi;  var  pi  ordit  or  messunni 
til  tekit,  at  liann  vissi  hverr  lofsonyr  honum  potti  mestr  framm  fl/ittr 
pessa  heims  vid  sik  sialfan,  er  par  ok  vaeir  hialp  oll  i  folgin,  er  um 
hans  pisl  er  rcett  ok  seiar,  er  liann  poldi  a  krossinum  helya  er  or  rann 
bcedi  blöd  ok  vat)i,  ok  i  pi  erum  ver  skirdir,  er  reit  truum  a  almattk- 
an  giid.  Ok  pat  hans  holld  ok  blöd,  er  i  messunni  er  framm  fhät, 
er  vart  farnest,  pa  er  ver  forum  af  pessum  heimi.  Nu  skal  fjat  vaan 
vaar  at  vcetta  fjess  at  sva  fremi  farix  oss  vel,  er  sva  verdr  sem  hann 
hefer  fyrer  sied,  at  bcedi  se  at  hann  er  i  fqr  med  oss  ok  ver  med 
honum,  pa  er  ver  forum  heim  til  fodurleifdar  vaarar;  ok  pa  er  hann 
hefer  skipt  sinn  lidi  sier  til  hcegri  handar  epter  clomsdag,  pa  skulum 
ver  hefja  npjp  eiUehda  fyrer  pvi  at  pat  er  eigi  iardneska  sqngr;  syngia 
P>etta  pa  aller  saman  tili  fylki  guds  engla  ok  manna,  pa  er  almattigr 
gud  ferr  medr  sina  ferd  heim  i  himinrikis  dyrd  ok  skulum  pa  una 
i  sifellu  sva  at  alldri  skal  epter  verda  med  gudi  almatkum  par  sem 
heinn  er  cß  ok  ce  med  fedr  ok  syni  ok  helgum  anda,  sa  er  Ufer  ok 
riker  einn  gud  of  ciliar  allder  verallda.   amen. 

Die  aDgefügteii  stellen  glaube  ich  genügen,  um  mein  urteil  über 
den  Überarbeiter  zu  rechtfertigen.  Hervorgehoben  sei  nur  noch,  dass 
die  bemerkungen  über  das  Ösanna  und  das  Alleliija  aus  Isidor  (Orig. 
YI,  k.  19)  geschöpft  sind,  alles  andere  ist  z^yeifelsohne  machwerk  des 
Überarbeiters  selbst.  Yon  all  dieser  theologischen  Aveisheit  hat  die  kür- 
zere fassung  in  U  kein  wort.  AYenn  wir  nun  auf  der  einen  seite  die 
als  tatsache    erwiesene    herübernahme    aus    der    ersten    abhandlung   im 


142  iiOQVi 

au^-Q  behalten,  dazu  die  volstiiiulii;o  verscliiedonlicit  aucli  der  anderen 
stücke,  auf  der  anderen  seite  aber  hervorheben  müssen,  dass  von  allen 
diesen  die  fassung  im  cod.  Ups.  nichts  hat,  so  glaube  ich,  liegt  es  auf 
der  band,  avo  der  ursprüngliche  text  unserer  abhandlung  zu  suchen 
ist.  Auf  diesen  werden  wir  aber  auch  geführt,  wenn  wir  endlich  noch 
ilen  kern  in  der  ausführlichen  fassung  mit  der  kürzeren  vergleichen. 

Bereits  die  oben  betonte  tatsache,  dass  die  fassung  in  W  die  in 
U  voraussezt,  niuss  uns  für  leztere  handschrift  einnehmen;  weitere  oft 
ganz  widei*sinnige  auffassungen  und  anderungen  nötigen  uns  für  immer 
mit  der  ausführlichen  fassung  zu  brechen.^ 

AM.  II,  48  '.     PJ.  51  1-  heisst  es  in  W: 

Mui1ri/nf  rr  IrikroJIr  onfamuf,  rn  tiDtcjau  stijrüt. 

U  hat  nur: 

Miijn'iun  ok  iH))fja)i  rr  h'ihvolJr  orjxtiuia. 

Lezteres  ist  das  allein  richtige.  Der  Überarbeiter  von  W  ist  ganz  aus 
dem  bilde  gefallen,  indem  er  auf  den  Spielplatz  auf  einmal  das  schifs- 
steuer  bringt,  denn  nur  dieses  bedeutet  sfpri.  Doch  selbst  angenom- 
men, sfi/ri  sei  an  unserer  stelle  das  holz,  mit  dem  man  den  spielball 
zu  schlagen  pflegte,  das  luatttre  oder  die  knaüyiklra,  wie  es  einmal 
in  der  Grettissaga  (s.  27  2^)  heisst,  so  zeigt  doch  der  ganze  Zusammen- 
hang, dass  dies  hier  unangebracht  wäre:  Auf  der  zunge  spielen  die 
feststehenden  „buchstaben"  gerade  so  wie  auf  den  lippen,  und  der 
gaumen  ist  nicht  weniger  tätig  als  diese  beiden  teile  unserer  sprach- 
werkzeuge. 

Xach  der  ersten  figur  (AM.  s.  367.  FJ.  57),  welche  sich  ja  nur 
in  U  befindet,  auf  die  sich  aber  der  text  beider  fassungen  beruft,  heisst 
CS  in  ^\  (AM.  48^^.     FJ.  51 1-^): 

I  fijrsta  liruig  eru  fiorer  stafer,  er  heita  hofnästafir,  pa  ma  tu 
cinslis  (uinars  nyta,  cnn  vera  iipphaf  oh  ftjrer  octriwi  stofuni  J).  v 
(so  heisst  es  natürlich  für  das  handschriftliche  y).  h.  q. 

In  U  dagegen  haben  wir  (AM.  366  1.     FJ.  58  i): 
/  fyrsta  bring  ero  IUI  stafir;  pa  ma  til  enslds  annars  mjta  en 
vcra  fyrer  ojn'um  stop  im  — 

Aus  versehen  liatte  nun  der  ursprüngliche  aufzeichner  oder  der 
Schreiber  der  vorla^-e  von  U  die  an  dieser   stelle   notwendigen  buch- 


en 


1)  Ich  kann  mich  hier  etwas  kürzer  fassen,  indem  ich  auf  die  gründliche 
ncbeneinanderstellung  von  F.  Jonsson  s.  XVI  fgg.  verweise.  Es  sind  hier  hauptsäch- 
lich die  .stellen  herausgogiiffen ,  die  F.  J.  nicht  berühil  oder  die  ich  anders  aufzufas- 
sen gezwungen  bin. 


UNTERSUCHUNGEN   ZUR   SN.    EDDA   I  143 

stabon  />.  r.  h.  q  wog'gelassen  und  sie  unter  dem  runenzeiclien  p'  an 
den  rand  geschrieben.  In  dem  uns  erhaltenen  cod.  U  sind  sie  aber 
falsch  eingetrag-en  und  eine  zeile  zu  tief  gekommen  (ein  recht  charak- 
teristisches beispiel  für  den  flüchtigen  und  gedankenlosen  Schreiber  von 
U!).  Dabei  hat  der  Schreiber  \\)\\  U  nicht  unterlassen,  in  seiner  fahr- 
lässigen weise  auch  das  ^  mit  in  den  text  aufzunohmon.  Auf  sfoftnn. 
muss  also  folgen:  /;.  v.  //.  7.  Dies  gibt  allein  sinn  und  recht  guten 
sinn.  Die  note  zu  AM.  II,  30(5:  „/),  It ,  q  ad  primum,  p'  ad  secun- 
dum,  //  ad  tertium  circulum  pertinet'^  ist  ohne  sinn.  Dass  die  rune  hier 
nicht  am  platze  und  einfach  durch  jenes  schreiberversehen  in  den  text 
gekommen  ist,  liegt  auf  der  band.  Wie  aber  dieses  zeichen  gebraucht 
wurde,  um  versäumtes  nachzuliolen,  zeigt  z.  b.  die  Konungsbuk  der 
Grägäs  (GriUjds  III,  Styll-cr,  soni  fnidcs  /AM.  351  fg.  usw.  s.  483).  Und 
dass  man  y  —  so  hat  die  handschrift  —  nicht  als  bilabiale  tönende 
Spirans  auffasste,  ist  nicht  recht  verständlich,  da  ja  diese  Schreibweise 
für  V  in  den  isländischen  handschriften  ziemlich  oft  vorkomt  (vgl.  z.  b. 
Gislason,  Um  frumparta  s.  61  fgg.)- ^  Prüfen  wir  nun  aber  die  stelle 
auf  ihren  inhalt  hin.  Nach  AV  sollen  sich  h,  v,  p,  q  nur  im  anlaut 
und  vor  andv'ren  buchstaben  finden.  Das  ist  unrichtig,  denn  in  allen 
handschriften  können  Avir  r  und  q  —  />  bleibe  zunächst  noch  bei  seite  — 
auch  im  inlaute  finden.  (Gislason  a.a.O.  s.  61fgg.  82fgg).  Es  kann  allein 
nach  U  heissen:  p,  h,  v,  q  finden  sich  nur  vor  anderen  buchstaben, 
d.  h.  sie  konnnen  nie  im  auslaut  vor.^  Dass  aber  der  Überarbeiter  von 
W  gerade  auf  das  vera  iippltaf  einzig  und  allein  den  ton  gelegt  hat, 
beweist  das  folgende,  denn  er  bringt  durch  diese  auffassung  einen  zwei- 
ten unsinn  in  seine  arbeit,  der  sich  auch  in  den  folgenden  teilen  sei- 
ner Überarbeitung  widerfindet.  Da  nämlich  unser  kleriker  von  der 
annähme  ausgieng,  dass  jene  laute  nur  im  anlaute  vorkommen,  bezeichnet 
er  sie  als  liqfiKhiafir  {er  heita  Itofnästafir  AM.  II,  48  ^^.  FJ.  51  1^). 
Und  als  er  nach  einer  stelle  aus  dem  1.  traktate  (AM.  II,  52 1.  FJ.  53^) 
von  sich  selbst  abschreibt,  widerholt  er  diese  auffassung,  die  er  höchst 
wahrscheinlich  aus  der  1.  abhandlung  erschloss,  ohne  dabei  zu  mer- 
ken, dass  hqfiiästafr  in  dieser  eine  ganz  andere  bedeutung  hat.  Hier 
hat  nämlich  das  wort  durchweg  die  bedeutung  „majuskel."  Der  Über- 
arbeiter wirft  also  den  buchstaben,  der  nicht  im  auslaut  stehen  darf, 
mit  dem  zusammen,    der  nur  im  anlaut  vorkomt,    er  vermischt  weiter 

1)  Ygi.  dazu  Fiiinur  Jonsson  (s.  91  fg.),  der  sich  ähnlich  aiisspriclit. 

2)  Brenner  betont  ebenfals  (a.  a.  0.  s.  275) ,  dass  unsere  stelle  auf  mcMs  ande- 
res hindeute,  als  auf  die  unfäliigkeit  dieser  vier  buchstaben  „im  woii-  (und  silbcn-) 
auslaute"  zu  stehen. 


144  MOGK 

konsonant  im  aiilaut   und  inajuskel   —  gonug  Zeugnis,    dass   er  selbst 
für  die  einfochsten  dinge  wenig  vei-stiindnis  hatte.  ^ 

AM.  II,  50  ^'\  FJ.  52^  lieisst  es:  a  i  o  //.  pcsscr  giora  cinar 
sawan  taot'il  ^''<^'  ^'^'^  shanii  mal  giqra  J)cir  siaJfir.  —  Die  vier  vokale 
a,  i,  0,  1/  fehlen  in  U,  mit  vollem  rechte,  denn: 

1)  alle  vokale   —  Jwsscr  geht   auf  die  laute    im   dritten  ringe   der 
figur  —  können  ein  wort  ausmachen,  nicht  nur  jene  vier; 

2)  AV  komt  mit  sich  selbst  in  Widerspruch,  da  es  später  wie  U  auch 
ij,  (c,  cy  (ci)  unter  den  beispielen  anführt. 

Das  widersinnige  af  luicigingum  (AM.  II,  52  ^.  FJ.  52  ^")  in  W 
ist  schon  von  Rask  nach  U  verbessert. 

Dass  AM.  II,  52^1  FJ.  52  ^^  überall  die  einfache  majuskol  für  die 
verdoplung  steht,  ist  auch  niclit  richtig,  wie  Avidcrum  die  figur  und 
jede  handschrift  aus  dem  13.  Jahrhundert  zur  genüge  zeigen.  U  hat  die 
verdoplungen  richtig. 

So  zeigt  sich  fast  an  allen  stellen,  wo  die  frage  an  uns  heran- 
tritt: welche  fassung  enthält  das  richtige?  dass  U  nicht  nur  die  ricli- 
tige,  sondern  überhaupt  die  einzig  mögliche  lesart  bietet.  So  lange 
man  aber  dies  nicht  erkant  hat,  wird  man  weder  dem  Verfasser  auf  die 
spur  kommen,  noch  die  bedeutung  der  abhandlung  begreifen.  Wir 
müssen  dieselbe  volständig  aus  der  gemeinschaft  der  grammatischen 
abhandlungen,  in  die  sie  nur  der  niönch  von  J)ingeyrir  gebracht  hat,  los- 
trennen imd  sie  mit  IJ  als  teil  des  werkes  betrachten,  dem  sie  allein 
angehört,  der  eigentlichen  Edda. 

1)  Finnur  Jonsson  nimt  die  lesart  vön  ^"  in  den  tcxt  auf  (s.  G3-^),  jcdosfals 
ini  hinljlick  auf  die  imcUrstafir  (65^),  d.  i.  die  konsonanten,  die  uicht  im  anlaute 
stehen  düifen.  H'^fuästafir  komt  in  der  nordischen  spräche  in  zwiefacher  bedeutuug 
vor:  im  ersten  grammatischen  traktate  als  majuskel  und  in  Suorris  llattatal  als 
hauptstab  des  halbverspaares,  der  in  der  skaldendichtung  den  zweiten  halbvers 
begint  und  den  Stabreim  der  beiden  vershälften  beherscht;  nach  ihm  richten  sich  die 
studlar  Olöbius,  Hattat.  11,  1  ^®  fgg.).  Im  einen  wie  andern  falle  haben  wir  sprach- 
lich richtige  Zusammensetzungen,  denn  hqfud-  als  ei-ster  teil  der  composita  bezeich- 
net sowol  die  räumliche  grosse  als  auch  die  hervorragende  Stellung,  die  der  zweite 
teil  der  Zusammensetzung  in  seiner  gattung  einuimt.  Anders  stände  es  mit  der  erklä- 
rung  des  hf^fudstafr  in  der  vorliegenden  abhandlung,  selbst  wenn  wir  das  wort 
übersetzen  könten  „buchstabe,  der  nur  im  anlaute  vorkomt.''  Dann  könte  einer  der 
vier  buchstaben  doch  nur  hqfudstafr  der  buchstaben  des  wertes  sein,  an  dessen 
spitze  er  steht.  Fast  jedes  andere  wort  hätte  einen  andern  hqfudstafr  und  wie  viel 
buchstaben  berechtigt  sind,  an  der  spitze  eines  wertes  zu  stehen,  so  viel  wären  auch 
berechtigt,  hrifuästafir  genant  zu  werden. 


UNTERSUCHUNGEN    ZUR    SN.   EDDA    I  145 

Der  Verfasser  der  abhandlunji'   und   ihre   bedeutung. 

Das  sicherste  zeugnis,  dass  das  ganze  curpus  eddicuni  von  Snorri 
8turluson  oder  wenigstens  unter  dessen  loitung  veifasst  ist,  ist  unzwei- 
felhaft die  älteste  Überlieferung  selbst;  es  sind  die  schon  oft  citierten 
Worte,  welche  an  der  spitze  der  Upsalaer  handschrift  stehen  und  vom 
Schreiber  jdes   codex   oder  wol  eher  von  dem  seiner  vorläge  heiTühren: 

Bök  pessi  lieitir  Juhla.  Ha/ui  hcfir  .s(unans(tta  Snorri  Sfurlusoit 
epiir  Jteiin  luftti,  sem  her  rr  skipaf:  er  fyrsf  frn  dsum  ol:  Ytni, 
Jxniupst  Sh(/(Islapaf )/fäI  oh  lieiti  manfru  Iduta,  slitdst  Ihiftdfal, 
er  Snorri  J/rfir  ort  inn  Iläkott  lonniu)  ok  Sküla  Itertaija. 

Dies  unzweideutige  zeugnis  konte  man  nur  über  die  achsel  ansehen, 
so  lange  man  annahm,  dass  die  interpolierte  gestalt  der  Edda  die 
ursprüngliche  sei.  In  Deutschland  dürfte  wol  jezt  die  Irrigkeit  dieser 
annähme  bei  allen  feststehen,  die  sich  eingehender  mit  Eddakritik 
beschäftigt  haben.  Für  Skäldskaparnu'd  hat  es  Müllenhoft'  (DAK.  Y, 
s.  177  fgg.)  zur  genüge  gezeigt,  nachdem  ich  bei  Gylfaginning  (Pß. 
Beitr.  VI,  499  fgg.)  und  Hättatal  zu  gleichem  resuitate  gelangt  war 
(Zs.  f.  d.  phil.  XIII,  238  fgg.).  Was  sich  für  diese  drei  hauptteile  der 
Edda  ergab,  zeigte  aber  auch  die  eben  durchgeführte  Untersuchung  für 
den  abschnitt,  den  man  als  granmiatischen  traktat  aufzufassen  pflegt. 
Nun  weiss  aber  der  cod.  IT  nur  von  jenen  drei  hauptteilen  der  Edda, 
dass  sie  Snorri  zum  Verfasser  haben;  von  den  sprachlichen  erörterun- 
gen  erwähnt  er  nichts.  Dass  diese  aber  nicht  besonders  hervorgehoben 
sind,  hat  bei  näherer  betrachtung  seinen  guten  grund. 

Abgesehen  davon,  dass  der  Schreiber  der  Überschrift,  wer  er  auch 
gewesen  sein  mag,  jene  wenigen  seiten  leicht  als  nebensächlich  über- 
gehen konte,  scheint  er  dieselben  gar  nicht  als  abgeschlossenes  ganze 
aufgefasst  zu  haben,  sondern  als  teil  desHättatals,  der  zu  diesem  ebenso 
gehöre,  wie  der  formäli  zur  Gylfaginning,  oder  die  erzähl ung  von  dem 
göttergelage  bei^Egir  zu  den  Skäldskaparmäl.  In  diesem  falle  brauchte 
er  aber  jener  sprachlichen  erörterungen  ebensowenig  erwälmung  zu 
tun,  wie  dieser  einleitenden  bemerkungen  oder  erzählungen.  Dass  aber 
der  kern  dieser  kapitel  denselben  mann  zum  Verfasser  hat  wie  die 
übrige  Edda,  legen  verschiedene  erwägungen  mindestens  sehr  nahe. 

Alle  teile  der  Edda,  welche  mit  ziemlicher  bestimtheit  Snorri  zu- 
gesclmeben  werden,  beginnen  in  katechetischer  form;  dass  dieselbe 
nicht  bis  zum  Schlüsse  durchgeführt  ist,  beweist  wie  so  vieles  andere, 
dass  Snon-i  sein  hauptwerk  in  unfertigem  zustande  hinterliess.  Dem 
entsprechend    beginnen    auch    unsere    kapitel    mit    dpr    frage:     hrat    er 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXII.  -LO 


146  MOGK 

hljöäsgrein?    die  antwoit   uiul   die  weitereu   tragen  und  antworten  ent- 
sprechen ganz  dem  oingang  dos  Hattntalsi. 

Ferner  zeigen  die  wenigen  Seiten,  soweit  wir  sie  mit  ziemlicher 
bestimthoit  dem  Snorri  zuscln-eiben  können,  dieselbe  klarheit  im  aus- 
driick  und  dieselbe  behersehung  der  muttersprach o.  Ellipsen,  die  uns  in 
den  übrigen  teilen  der  Edda  so  oft  entgegentreten,  wie  svd  ok,  seni  her 
u.  dirl..  finden  wir  auch  hier.  Ein  weiterer  umstand  komt  hinzu.  Man 
hat  es  auftiillig  gefunden,  dass  unsere  bemerkungen  so  weit  ausholen  und 
mit  dem  einfachen  naturlaute  beginnen.  Aber  gerade  das  ist,  was  ganz 
entschieden  für  Snorris  Verfasserschaft  spricht.  Alle  seine  werke  begin- 
nen ab  ovo:  die  Heimskringla,  wie  schon  der  nanie  sagt,  mit  dem 
erdkreise  und  führt  dann  mit  den  aus  Asien  eingewanderten  äsen  hin- 
über zur  geschichte  des  skandinavischen  nordens;  die  Gylfaginning  mit 
der  Schöpfung  von  himmel  und  erde;  auch  hier  führen  die  wanderungs- 
sagen  hinüber  zu  der  götterlehre  der  alten  nordländor;  die  Skaldskapar- 
mal  beginnen  mit  einem  gelage,  das  der  meerriese  ^Egir  gemeinsam 
mit  den  göttern  hält,  und  hierbei  ist  es  der  späte  dichtergott  Bragi 
selbst,  der  jenen  in  die  geheimnisse  dichterischer  Umschreibungen  und 
ausdrücke  einführt.  Auf  ähnliche  weise  beginnen  die  vorliegenden 
bemerkungen  mit  dem  einfachsten  tone  der  elemente,  gehen  dann  zum 
laute  der  tiere  über  und  von  diesem  auf  den  laut  der  menschen,  der 
der  einfachste  bestandteil  seiner  spräche  und  dadurch  auch  seiner  dicht- 
kmist  ist. 

Nicht  ohne  bedeutung  ist  auch  die  benutzung  der  abhandlung 
und  die  art  dei*selben  durch  Olaf  pördarson,  dem  lieblingsneö'en  des 
grossen  forschers,  der  in  Snorris  sinne  die  wissenschaftlichen  plane  des 
oheims  fortsezte.  Dieser  hat  ausser  anderem  auch  unsere  abhandlung 
benuzt.  Es  heisst  doch  den  Sachverhalt  geradezu  auf  den  köpf  stellen, 
wenn  man  ohne  triftigen  grund  die  zweite  abhandlung  gleichsam  ein 
echo  der  dritten  nent. 

1)  Müllenhoff  (a.  a.  o,  s.  167  anm.)  sagt:  ^diirch  die  frage  hva  erä  hlioäsgrein? 
mit  der  antwoit  prenn  hrer  scheint  allerdings  der  aufang  in  u  der  katechetisclien 
fonn  der  Edda  angepasst  zu  sein."  Diese  auffassung  ist  mir  nicht  recht  verständlich. 
Nach  Prenn  gehört  natürlich  ein  punkt  und  nach  hver  ein  fragezeiclien ,  sodass  wir 
hi'^^'r  denselben  eingang  wie  im  Hattatal  liaben:  Hvat  er  setniny  Juitta?  trenn.  Hver? 
tala  ok  grein.  Wenn  die  katechetische  fonn  nicht  foiigeführt  wird,  so  kann  dies 
doch  nicht  die  unursprünglichkeit  erweisen,  denn  auch  in  8km.  und  dem  commentar 
zum  Hattat.  ist  sie  nicht  bis  zum  ende  durchgeführt.  Ja  die  katechetische  form 
weiter  zu  führen,  wäre  nicht  einmal  angebiacht  gewesen,  da  die  ausfühi-ung  über 
die  drei  arten  des  lautes  eben  die  antwort  auf  die  zweite  frage  ist. 


UNTERSUrHUNGF.X    ZUR    SN.  EDDA    I  147 

Es  steht  zunächst  fest,  dass  TT  uiid  TTT"  (d.  i.  der  ^grammatische 
teil  von  TII)  auffallende  iibereinstimmuivi;(Mi  halben,  die  nur  aus  gegen- 
seitiger oder  gemeinsamer  entlehnung  sich  erklaren  lassen.  Ich  komme 
kurz  auf  diese  zu  spreclien,  da  sie  auch  fiir  Snorris  bemerkungen  (II) 
nicht  ohne  interesse  sind. 

Wie  II  mit  der  frage  begint:  Was  gibt  es  für  arten  des  lautes? 
so  gellt  auch  Olaf  vom  laute,  hljöä,  aus  [AlU  rr  Jf/J6(f,  pat  er  tun 
kn'Lrcndis  cfjnf  wd  sk/'IJa  Björn  Olsen  s.  3)^-),  und  die  überscliiift  in 
der  ursprünglichen  fassung,  in  der  handschrift  AM.  748.  4^,  lautet: 
at  (jrcina  hljöif.  Als  laut  fasst  Olaf  demnach  alles,  was  man  mit  den 
obren  wahrnehmen  kann.  Ganz  dasselbe  versteht  ja  auch  der  veifasser 
von  TT  imter  Jiljöft.  Dann  geht  Olaf  auf  den  verschiedenen  Ursprung 
des  tones  ein  und  zwar  zunächst  auf  den  ton  lebloser  gegenstände. 
Er  unterscheidet  dabei  bewegliche  und  unbewegliche  dinge,  die  töne 
erzeugen;  zu  ersteren  rechnet  er  wind  und  wasser,  zu  lezteren  steine, 
metalle  und  saiten,  die  durch  berührung  mit  anderen  gegenständen 
einen  ton  hervorbringen  (s.  34).  Dazu  vergleiche  man  die  werte  in  IT: 
pat  er  ein  (frcin  Jiljöäs,  er  pytr  vectr  rcta  vciUi  nta  srcr  rcta  l'jqnj  ctta 
jqrä  ecta  grjöt  hrynr.  Dann  wird  auch  hier  weiter  erzählt  von  (Umu 
tone,  er  malniarnir  gera  und  endlich:  pat  gera  hqrpfirnar.  AVir 
sehen  also  dort  wie  hier  ganz  dieselbe  gliederung. 

Die  zweite  art  des  tones  bringen  die  lebenden  wesen  hervor.  In 
beiden  abhandlungen  folgt  dies  auf  jenes. 

IL  (AM.  II,  36410.     FJ.  62  n).  ITT.  (AM.  IT,  64.    B.  0.  35^1). 

Onnur    hijöcts    grein    er   sü,    sem  Af  lifandi  lihitu)H  Jjeint,   er  sLgjt 

fuglarnir   gera    ecta    dyrin    ok   se  hafa,    verär    an)iai    hljoä,  Juit    er 

kijqvincli;  pat  heitir  rodd.  rqdd  heitir. 

Während  darauf  aber  II  in  der  darlegung  der  stimmen  der  tiere 
fortfährt,  knüpft  der  Verfasser  von  Iir'  nach  einigen  bemerkungen  über 
die  Sprachorgane,  die  ebenfals  II  entnommen  sind,  die  erklärung  der 
„vox"  nach  Priscianus  an  (35  ^^  fgg.).  Hierdurch  ist  auf  einmal  Olaf 
zu  der  spräche  und  durch  diese  zur  schrift  geführt;  er  gibt  erklärun- 
gen  beider  nach  seiner  lateinischen  quelle;  wie  er  so  plötzlicli  zu  die- 
sen gekonnnen  ist,  geht  aus  dem  inneren  zusammenhange  nicht  her- 
vor; sie  erklären  sich  nur  aus  dem  Avechsel  der  quellen.  Mit  Priscianus 
ist  er  auch  zu  dem  stafr  gekommen,  dem  buchstaben,  als  dem  klein- 
sten gliede  der  spräche   und   dem  grundpfeiler    aller  dichtungi.     Ganz 

1)  Dass  Olaf  wie  Snorri  den  gesproclieuen  laut  und  das  gpschiiebeue  zeichen 
zusammenwirft,  darf  U7is  nicht  wiuider  nehmen. 

10* 


148  MOGK 

anders  in  II.  Auf  den  laut  der  tiere,  der  hljoit  und  rockl  zugleich  ist, 
folgt  die  spräche  der  menschen,  die  in  sich  l/ijöd  oh'  rojkl  ok  mal  ver- 
einigt: die  uuzertrenlichen  begleiter  dieser  sind  gedächtnis  und  ver- 
stand. 

Wir  sehen  also,  dass  nicht  nur  II  und  III  gleichen  ausgangspunkt 
haben,  sondern  dass  sie  auch  ein  bedeutendes  stück  neben  einander 
mai-schieren,  und  zwar  so  lauge  dem  (')laf  seine  lateinischen  quellen 
keinen  stoff  gewähren.  Schon  hierin  liegt,  dass  II  auf  keinen  fall  III 
benuzt  haben  kann:  dort  geht  die  klare  entwicklung  ununterbrochen 
fort  bis  zum  ende:  der  einmal  entworfene  gedanke  wird  durchgeführt. 
Hier  dagegen  wird  er  abgerissen  und  ein  neuer  angeknüpft.  Aber 
die  beiden  arbeiten  II  und  111  haben  wol  auch  nicht  eine  gemeinsame 
quelle  gehabt.  Ware  dies  der  fall,  so  müste  sich  diese  mit  II  im  liin- 
blick  auf  dessen  logische  entwicklung  decken.  Ich  kann  aber  beim 
besten  willen  niciits  linden,  was  diese  annähme  stützen  könte.  Kein 
wort  spricht  dafür,  dass  in  II  ein  alter  lateinischer  grammatiker  benuzt 
sei.  Björn  Olsen  hat  dies  wol  behauptet  (Om  Runerne  s.  70),  aber  mit 
keinem  worte  zu  beweisen  gesucht.  Auch  für  eine  gemeinsame  islän- 
dische quelle  lässt  sich  nichts  vorbringen.  Dass  hljöäsgreiv  im  ein- 
gange von  UI\  also  in  den  teilen,  die  im  ganzen  mit  II  übereinstim- 
men, in  derselben  bedeutung  vorkomt  wie  in  11,  während  es  in  den 
späteren  abschnitten  das  Priscianische  towr  widergibt,  dass  Olaf  hljöit- 
stafr  ebenfals  im  eingange  einmal  als  heimischen  ausdruck  für  vokal 
gebraucht,  während  wir  sonst  bei  ihm  als  Übersetzung  des  lateinischen 
„vocalis"  raddarsiafr  und  der  „consonans"  samhijöäandl  finden,  bew^eist 
doch  wahrlich  nicht,  dass  die  Übereinstimmung  aus  gemeinsamer  vor- 
läge stammen  muss^.  Warum  soll  sie  der  Verfasser  von  III  nicht  auch 
aus  II  haben  nehmen  können?  In  II  sind  die  einmal  gewählten  gram- 
matischen ausdrücke  bis  zum  ende  gleich,  sodass  auch  von  dieser  seite 
die  abhandlung  ihren  einheitlichen  Charakter  bewahrt.  —  Dagegen 
spricht  alles  dafür,  dass  II  von  Olaf  in  IIP  benuzt  worden  ist:  im 
anfange  folgt  die  einleitung  von  IIP  II  treulichst,  sobald  aber  mit  der 
erklärung  der  spräche  die  lateinische  quelle  da  ist,  springt  der  Verfas- 
ser von  II  ab  und  folgt  dieser  fast  ausschliesslich,  abgesehen  von  den 

1)  Umhiyr,  das  Björn  Olsen  ebenfals  für  seine  ansieht  anführt,  beweist  eben- 
sowenig. In  ITT  findet  sich  stets  Uiiiinffr  oder  das  grieeh.  diphthongos  der  vorläge. 
Nur  einmal  (s.  47^^)  heisst  es:  Girlir  Lalla  Jtnnn  staf  dlplithomion,  pat  er  tfi- 
hljoär  ä  norrcpna  tunf/ii.  Diese  stalle  ist  aber  eine  einfaclie  Übersetzung  von  Pii- 
scians  (I  c.  .öO):  Diphthougi  autem  dicuntnr.  quod  binos  phthongos,  hoc  est  voces, 
comprehendunt. 


UNTKIJSUCHUNGEN    ZUK    SN.   KDDA    I  149 

abschnitten  über  die  runen,  avu  lt  andere  (quellen  aussehreibt.  Die 
zweite  abhandlung  ist  in  ihrer  ursprünglichen  gestalt  ein  einheitliches 
werk  vuni  anfang  bis  zum  ende,  Olafs  ein  zusammengetragenes;  jenes 
entspricht  seinem  charakter  nach  ganz  der  Edda  in  ihrer  ursprünglichen 
gestalt,  dieses  ganz  dem  überarbeiteten  texte,  jenes  hat  nationalen, 
dieses  humanistischen  anstrich.  Ich  trage  daher  kein  bedenken  in  II 
die  quelle  des  ersten  teiles  der  Olafschen  abhandlung  zu  finden  und 
hierauf  einige  weitere  Schlüsse  zu  bauen. 

Fragen  wir  uns,  wie  hat  Olaf  seine  aufgäbe  im  ersten  teile  seiner 
sprachlichen  abhandlung  gefasst  und  was  muss  infolge  dessen  seine 
ansieht  über  II  gewesen  sein?  Hierüber  kann  nach  seinen  eigenen 
Worten,  wie  sie  im  5.  kapitel  (BO.  s.  51)  vorliegen,  kein  zweifei  her- 
schen :  durch  die  Verbindung  gleicher  consonanten  mit  gleichen  oder  ver- 
schiedenen vokalen  in  je  zwei  Wörtern  entsteht  die  lianduuf^  d.  i.  der 
reim  (binnenreim);  ihm  ist  also  die  ganze  abhandlung  über  die  buch- 
staben  der  Wegweiser  zum  Verständnis  der  dichtkunst,  über  die  er  im 
zweiten  teile  seiner  abhandlung  (IH'')  Untersuchungen  anstelt.  Das 
metrische  berührt  er  dabei  nur  ganz  obertlächlich ,  Aveil  es  schon  im 
Hättatal  und  dem  commentar  dazu  genügend  erörtert  war^;  ihm  kam 
es  mehr  auf  die  dichterische  spräche,  die  poetischen  hguren  u.  dgl.  an, 
die  einzige  seite  der  dichtkunst,  die  Snorri  in  seiner  Edda  nicht  behan- 
delt hatte,  und  so  solle  seine  abhandlung  diese  gewissermassen  ver- 
volständigen.  Da  nun  Olaf  sprachliche  und  grammatische  darlegungen  als 
vorstirfe  der  metrischen  für  nötig  erachtete,  da  er  weiter  sich  fast  überall 
bei  seinen  arbeiten  Snorri  zum  vorbild  nahm,  da  ferner  von  ihm  II 
oft'enbar  benuzt  ist,  so  liegt  der  schluss  nahe,  dass  er  auch  hierin  sei- 
neui  vorbilde  folgte.  Er  fasste  die  dem  Hättatal  vorangehenden  kapitel 
als  einleitung  zu  diesem,  und  nach  alle  dem,  was  wir  über  das  Ver- 
hältnis von  Snorri  und  Olaf  wissen,  sind  wir  zur  annähme  berechtigt, 
dass  er  diese  auffassung  Snorris  eigner  person  verdankte. 

Zu  all  diesen  inneren  gründen,  die  dafür  sprechen,  dass  Snorri 
der  Verfasser  jener  einleitenden  kapitel  ist,  tritt  ein  äusserer,  der  uns 
zugleich  aufklärt,  wie  dieselben  entstanden  sein  mögen. 

Die  kapitel  haben  in  der  alten  Upsalaer  handschrift  die  Über- 
schrift: her  segir  af  setnlugo  hatta  hjcldlsins  (Sn.  E.  II,  364).  Finnur 
Jönsson  verwirft  dieselbe.    Overshifteu  kattu  Ikke  vcere  rigtiy  (s.  87)  — 

1)  Vgl.  Sn.  E.  II,  148.  B.  0.  s.  96:  petta  hoUiiin  vir  adalhendinfjar  i  skdld- 
skap  olc  taka  af  Pessi  figüru  upphaf  peir  hcettir,  er  med  hendimjwn  eru  samcm 
settir,  ok  breytix  pat  d  marga  ver/a,  sein  fintia\  man  i  pii  hdttatali ,  er  Snorri 
Jiefir  ort. 


150  MOGK 

und  dann  folgt,  eine  erkläriing-,  die  meines  erachtens  ganz  lialtlos  ist. 
Ton  seinem  Standpunkte  aus  kann  sie  allerdings  niclit  richtig  sein, 
aber  schon  der  umstand,  dass  doch  sonst  in  U  die  Überschriften  richtig 
sind,  hätten  die  frage  nahe  legen  sollen,  ob  der  folgende  Inhalt  mit  der 
Überschrift  sich  doch  nicht  zusammenbringen  liisst.  Gewiss  findet  sich 
in  den  kapiteln  kein  wort  über  die  lupüir,  aber  unmittelbar  nach 
ihnen,  ohne  irgend  eine  Überschrift  oder  ein  zeichen,  dass  hier  ein 
neuer  abschnitt  anhebt,  folgen  die  anfange  der  ersten  36  visur  des 
Hattatals  mit  den  namen  der  einzelnen  hccttir  (abgedruckt  Sn.  E.  II, 
369  fgg.)?  ein  umstand,  der  nicht  übersehen  werden  darf. 

Wir  wissen,  dass  das  gedieht  Hattatal  zunächst  als  ein  „von  sei- 
nem commentare  unabhängiges  und  durchaus  selbständiges  werk"  (Mö- 
bius,  Hättat.  I,  19)  um  das  jähr  1222  entstanden  ist.  Der  commentar 
ist  zweifelsohne  später  und  nur  zum  geringen  teile  von  Snorri  selbst 
verfasst  Wenn  wir  nun  hier  die  stophenanfänge  noch  ohne  commentar 
und  nur  mit  aufzeichnung  der  namen  der  einzelnen  hcettir  haben,  so 
muss  diese  niederschrift  vor  die  entstehungszeit  des  commentars  fallen, 
ja  ich  glaube,  dass  sie  der  erste  entwiirf  zu  diesem  ist.  AVir  wissen, 
dass  Snorri  abschnitte  der  Edda  nicht  selbst  aufgezeichnet,  sondern 
unter  seiner  leitung  hat  niederschreiben  lassen^.  Das  scheint  auch  hier 
der  fall  gewesen  zu  sein.  Snorri  hatte  einem  seiner  schüler  den  plan 
über  die  erklärung  des  Hattatals  entworfen  und  den  eingang,  einige 
bemerkungen  über  laute  und  die  spräche  als  den  grundpfeiler  aller  dich- 
tung,  selbst  ausgeführt.  Dies  solte  der  schüler  weiter  spinnen  und  dann 
zimi  commentar  des  gedichtes  übergehen.  Lezteren  wusste  aber  der 
bearbeiter  nicht  recht  anzufassen  und  so  begnügte  er  sich  anfangs  mit 
aufzeichnung  der  Strophenanfänge  und  der  namen  der  hcettir,  bis  ihm 
der  meister  den  weg  weiter  wies.  Und  wie  die  ganze  Upsalaer  hand- 
schrift  eigentlich  mehr  ein  Sammelwerk  bald  mehr  bald  weniger  aus- 
geführter entwürfe  ist  als  ein  zusammenhängendes  ganze,  so  fand  auch 
dieser  erste  entwurf  aufnähme,  der  jedenfals  eine  ganz  andere  gestalt 
erhalten  hätte,  wenn  Snorri  die  lezte  band  an  das  grosse  werk  seines 
lebens  gelegt  hätte. 

Haben  wir  so  in  grossen  umrissen  die  entsteh ungsgeschichte  der 
einleitenden  kapitel  des  commentars  zum  Hattatal  zu  entwerfen  ver- 
sucht, so  tritt  als  weitere  frage  an  uns  heran:  Lässt  sich  in  unserer 
fassung  eine  doppelte  arbeitsweise  erweisen?  Ich  glaube,  diese  frage 
bejahen  zu  müssen. 

1)  Vgl.  u.  a.  auch  die  Überschrift  in  AM.  748  (Sn.  E.  II,  428):  —  pvi  sein  fyrir 
fundid  var  i  kvceäum  lu^futskallda  ok  üiiorri  hccfir  sißaa  sauianfccra  latit. 


UNTERSUCHUNGEN    ZUR    SN.   EDDA    I  151 

Die  erklarung  der  viereckigen  figiir  (nr.  IT)  zerfält  offenbar  in  zwei 
teile,  deren  zweiter  von  den  werten  Her  stcutda  (AM.  II,  369  •' fgg., 
FJ.  65,  27  fgg.)  bis  zum  ende  geht.  Finnur  Jonsson  hat  den  ganzen 
abschnitt  eingckhunmort  und  ihn  als  späteren  zusatz  und  als  eine  wider- 
gabe  des  ersten  teiles  bezeichnet  (s.  9()).  Dagegen  hebt  auch  Brenner 
(a.  a.  0.  s.  280)  mit  vollem  rechte  hervor,  dass  man  das  vielmehr  vom 
ersten  teile  anzunehmen  berechtigt  sei,  da  der  zweite  ein  ungleich  kla- 
reres bild  als  der  erste  gebe.  Wenn  w'ir  beide  teile  ganz  vorurteilsfrei 
lesen,  so  werden  wir  sofort  erkennen,  dass  beide  dasselbe  sagen,  dass 
beide  eine  erklarung  der  figur  geben;  in  beiden  teilen  werden  die  con- 
sonanten  mit  tasten,  die  vokale  mit  densaiten  der  simphonie  verglichen, 
in  beiden  ist  von  einem  reissen  und  stossen  der  saite  durch  die  tasten 
die  rede.  Xur  ist  der  zweite  sofort  volständig  klar,  während  der  erste 
an  verschiedenen  stellen  rechtes  kopfzerbrechen  macht.  —  Das  erste  wort 
des  zweiten  teiles  ist  her.  Dies  weist  auf  einen  ganz  bestimteu  punkt 
hin,  und  dieser  kann  nur  die  buchstabentabelle  sein.  Dieser  muss 
sich  ferner  unmittelbar  vorher  befinden,  und  selbst  die  offenbar  gesuch- 
ten flickworte  am  Schlüsse  des  ersten  teiles  (sem  nü  er  ritat  aar  l 
stafa  seUdnginni)  ändern  an  diesem  logischen  zwange  nichts.  Dem- 
nach gehört  der  zweite  teil  von  haus  aus  unmittelbar  nach  der  figur: 
mit  seiner  hülfe  wird  uns  erst  der  erste  verständlich.  Dieselben  män- 
gel,  die  der  erste  teil  der  erklarung  der  viereckigen  figur  hat,  zeigt 
aber  auch  die  erklarung  der  ersten  figur.  Diese  beiden  abschnitte  sind 
es,  die  allein  in  der  ganzen  abhandlung  Schwierigkeiten  bereiten,  und 
die  prüfung  wird  zeigen,  dass  ihr  Verfasser  weder  ein  klares  bild  von 
seinem  spiele  gab  noch  von  der  simphonie  hatte.  Nun  schliesst  der 
teil,  der  von  den  lauten  und  der  spräche  im  algemeinen  handelt,  mit 
den  Worten:  Mnärhin  oh  huigan  er  leilivqUr  oräanna.  Aj)ei)n  velli  era 
reistir  stafir  peir,  er  mal  allt  gera,  ok  hendir  tndlit  ymsa  svd  til  at 
jafna  sem  hqrpiistrengir  ecta  erii  lestir  Igldar  i  simphonie.  Hier  ist 
wol  der  mund  mit  dem  spielplatze  der  werte  verglichen,  aber  ein  ver- 
gleich des  Spieles  der  buchstaben  untereinander,  sodass  daraus  die 
Avorte  oder  silben  entstehen,  ist  nicht  angedeutet,  sondern  ausschliess- 
lich der  vergleich  der  spräche  mit  der  musik  der  simphonie.  Knüpfen 
wir  nun  an  diesen  schluss  unmittelbar  die  quadratische  figur  und  daran 
die  zweite  erklarung  derselben,  so  haben  wir  einen  zwar  kurzen  aber 
klaren  abriss  über  den  laut,  die  stimme  und  die  spräche,  deren  kleinster 
teil  der  „buchstabe"  und  die  hending,  d.  i.  die  Vereinigung  von  min- 
destens einem  vokale  und  einem  consonanten  ist.  Geschrieben  aber  ist 
dei-selbe   im   hinblick    auf  die  hending,   wie    ihn    auch  Olaf  pordarson 


152  MOGK 

aufgcfasst  l\at.  uiul  ist  somit  berechtigt,  als  die  einleitiing  zum  cnni- 
mcntar  dos  Ilättatals  bezeichnet  zu  werden,  der  in  seinem  eingange 
diese  darlegung  voraussezt^  Und  diesen  entwurf  dem  Snorri  abzu- 
spreclien,  liegt  nicht  der  geringste  grund  vor. 

In  dieser  gestalt  mag  Snorri  seinem  schüler  den  eingang  zum 
commentar  des  Hattaüils  übergeben  haben,  vielleicht  mit  der  bestim- 
mung  denselben  zu  erweitern,  wo  er  es  nötig  erachte.  Schon  die  bemer- 
kung  über  die  fahigkeiten  der  vögel  mag  auf  dieses  rechnung  zu  schrei- 
ben sein.  XoY  allem  aber  fühlte  er  sich  durch  den  leikroUr  ontauna 
veranlasst,  zu  dem  schon  von  Snorri  niedergeschriebenen  vergleiche 
einen  zweiten  zu  entwerfen  und  mit  ziemlicher  Unklarheit  auf  kreis- 
rundem spielplatze  —  eine  form,  zu  der  wol  der  mund  veranlassung 
gab  —  die  ,,  buchstaben "  untereinander  ball  spielen  zu  lassen.  Etwas 
absei t;s  vom  wege  ist  es  um  des  Vergleichs  willen  geboten,  einen  blick 
auf  die  altnordischen  balspiele  zu  werfen,  die  heute  längst  vergessen 
sind,  aber  im  mittelalter  eine  bedeutende  rolle  gespielt  haben  ähnlich 
wie  die  ritterturniere  auf  deutschem  und  romanischem  boden. 

Fast  in  allen  bezirken  Islands,  vielleicht  auch  in  Norwegen,  be- 
fand sicli  ein  leikvqllr,  ein  Spielplatz,  auf  dem  die  balspiele  statzufinden 
pflegten-.  Diese  Messen  nach  dem  balle,  der  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  aus  holz  war,  knattleikar.  In  der  regcl  fanden  dieselben  zur  zeit 
des  herbstes  oder  winters  statt -^  Der  leikvqllr  Avar  meist  das  eis  des 
meerbusens  der  gegend  oder  eines  binnensees^.  Die  tage  des  Spieles 
waren  algemeine  festtage;  aus  der  ganzen  gegend  strömten  die  leute 
herbei ^  von  den  bügeln  am  strande  schaute  das  weibliche  geschlecht 
zu  und  verfolgte  mit  regem  Interesse  das  spiel  *^. 

Begannen  nach  den  nötigen  Vorbereitungen  die  spiele,  so  teilten 
sich   zunächst  die   spielenden   in   zwei  parteien;    gewöhnlich  war  dabei 

1)  fliittat.  (Möb.j  II,  1'^:  Stafasetnhuj  <jcrir  tndl  allt,  en  hljödsrjrcin  er  pat, 
at  hafa  satnstf^fiir  usw.  scheint  unmittelbar  an  die  schlusswortc  des  cinganges  anzu- 
schliessen.  Vgl.  auch  Möbius'  bemcrkuugen  zu  II,  41.  Ohne  hier  näher  darauf 
einzugehen,  sei  nur  augedeutet,  dass  ich  auch  den  ersten  entwurf  des  commentars 
für  Snoixis  arbeit  halte. 

2)  Fas.  II.  s.  407'". 

3j  Fs.  60'=^:  d  cinu  Imustljiiuji;  ebd.  86 -^  Eyrb.  s.  77»".  Eg.  s.  (Rkv.  1850) 
77'':    d     f^ndverdani  cetri. 

4)  Gull|).  s.  45'*^:  d  pomkjafjardar  isi;  Grett.  s.  27'":  d  Midfjardarvatni; 
Gisl.  s.  2ö'^:  «  tjoni  peirl,  er  Seftj'irn  heitir;  Vigl.  s.  67»^:  d  Esjutjorn. 

5)  Fs.  00'^.     Laxd.  s.  (1826)  196'^     Eg.  s.  77  "  u.  oft. 

6)  Fs.  86'-^:  sdtu  homir  titi  oh  Itorfdn  d  leihinn.  VaUjcrdr  sat  upj>  >  hrrhk- 
vna  frd.     Vigl.  s.  67-'*:  peir  fjciifju  [janyat  d  breldciuia,  aeiit  konurnar  adlu 


UNTEKSUCUU.NULN    ZUR    8.\.  EDDA    I  153 

die  heimat  der  bctreileiideii  ausschlug  ;^ebond,  indem  die  bewuhner  der 
einzelnen  ^e-ienden  zusammen  standen ^  Aisdami  wurde  einer  gewählt, 
der  die  spiele  zu  leiten  und  wo!  auch  den  einzelnen  parteien  und 
Spielern  ihren  platz  anzuweisen  hatte;  es  war  der  ftfrinnaär,  der 
obmann-.  Die  spieler  der  einzelnen  parteien  standen  abtoilungsweise 
oder  allein  hinter  einander''.  Beim  spiele  selbst  kam  es  hauptsächlich 
auf  stärke  (afl)  und  gewantheit  an*,  wie  auch  diese  eigenschaften  der 
fijrirniaitr  in  vollem  massc  besitzen  musste.  Spielzeug  wiiren  der  ball 
(k)iattr  oder  bqllr  Eg.  s.  78^)  und  das  balscheit^  das  beide  parteien 
gemeinsam  besassen". 

Weniger  klar  lässt  sich  der  hergang  des  spieles  selbst  aus  den 
quellen  erkennen.  Fest  steht  zunächst,  dass  unmittelbar  beim  spiele 
von  jeder  partei  nur  einer  tätig  war,  und  diese  beiden  hatten  den 
ihnen  vom  ftjr'ninadr  bestirnten  platz  ^  Die  beiden  partner  standen  in 
gewisser  entfernung  voneinander;  der  eine  schlug  mit  dem  baischeite 
den  ball'^,  der  andere  hatte  die  aufgäbe,  ihn  aufzufangen.  In  jener 
tätigkeit  zeigte  sich  die  stärke,  in  dieser  die  gewantheit.  AVar  der  ball 
vom  gegner  aufgefangen,  so  schlug  er  ihn  zurück,  nachdem  der  erste 
Spieler  ihm  wol  das  balscheit  gegeben  hatte.  Bei  dem  schlage  kam  es 
aber  auch  darauf  an,  den  ball  gerade  an  den  ort  zu  werfen,  avo  der 
gegner  stand  {er  ftjr'ir  vcrdr  Sturl.  1,  352^'^).  War  dagegen  der  ball 
über  den  Zielpunkt  hinweggeflogen,  so  bemühten  sich  beide  parteien 
in  ihrer  gesamthcit  den  ball  zu  erlangen;  es  entstand  ein  rennen  und 
streiten  um  seinen  besitz,    denn  derjenige,    der  den  ball  erlangt  hatte, 

1)  Grett.  s.  27^MW  Yigl.  s.  (iT^Mgg.  Hardars.  (Isl.  s.  llj  TU".  Fms.  111,  18G. 
(Ick  trage  kein  bedenkcu,  auch  die  mythi«chcn  sagas  mit  heranzuziehen,  da  die  hier 
eingetlochtenen  spiele  doch  uur  in  der  Wirklichkeit  ihre  wurzel  haben.) 

2)  GullJ).  s.  45^^:  ])pir  fyrir  sunnan  pors/cafjf^rä  genta  pari  at  fijrinniiiini 
fyrir  (^rleihs  sakir  ol:  allrar  aUjjqrii;  oi  vestanvie/in  cilda  pat  ckki  .  . .  Laxd. 
s.  196^^  Hallr  beittsk  fyrir. 

3j  Fms.  III,  18G'-^  pdr  (purstelnn  uk  FulUterkr)  snqruda  at  Frosta;  pciat 
kapparnir  stöäii  frenistir  rid  livorntceyyja  bckkinn. 

4)  Fs.  60*\     Laxd.  s.  196-^     Fas.  III,  529'^^  u.  oft. 

5)  Der  gewöhnliche  name  i^t  knafftrc  (Gisl.  s.  32,..  Eg.  s.  77-'^  Fas.  11,  407  ^ 
Fas.ni,  264^  ii.  oft).     Grett.  s.  27--'  findet  sich  dafür  knatfyädra. 

6)  Eg.  s.  78^:  Grintr  liafdi  kent  bqllinn  ok  rak  iindaii,  en  adrir  sveinarnir 
söttu  cptir.  Sturl.  I,  352^'.  Fas.  III,  262  fgg.,  wo  sich  das  paarweise  spielen,  das 
vom  besitz  des  balles  und  balscheitcs  abhängig  ist,  recht  klar  zeigt. 

7)  Eg.  s.  77*^^:  Egil  gegen  Grirar;  Grett.  s.  27^':  Grettir  gegen  Audun;  GisL 
s.  26":  Gisli  gegen  I^orgrim  u.  oft. 

8)  Der  ausdruck  dafür  ist  sld  knottinn  z.  b.  Vigl.  s.  68  *^  u.  ö. ;  ald  knqttinn 
üt  fyrir  ehm.  =  den  baU  über  jemand  hinausschlagen. 


154  MOGK 

kani  jezt  ans  spieP.  Hierbei  koiitc  aucli  derjenige,  der  den  ball  nicht 
aufgefangen  liatte,  seinen  fehler  wider  gut  machen;  erwarb  er  den  ball 
nicht,  so  galt  er  für  besiegt.  Xur  so  erklärt  sich  der  zorn,  den  der 
an  den  tag  legt,  über  den  der  ball  hinweg  geflogen  ist'-.  Hieraus 
erklären  sich  auch  die  raufereien,  die  beim  baispiel  vorkamen  und  die 
nicht  selten  mit  Verwundungen,  ja  mit  dem  tode  endeten 3,  AVaren  die 
gegner  sich  gewachsen,  so  spielten  sie  wol  so  lange,  bis  der  fyrir- 
ma(tr  ein  anderes  paar  bestirnte.  —  So  überliefern  uns  die  altnordischen 
quellen  das  balspieH.  Wenn  mit  diesem  die  spräche  verglichen  wird, 
so  sind  es  zwei  punkte,  die  als  vergleichungspunkte  augesehen  werden 
müssen : 

1)  die  gruppierung  in  zwei  parteien,  von  welchen  jedoch  stets  nur 
je  einer  spielte; 

2)  die  kraftprobe  beim   schlagen  und   die  gewantheit   beim   treffen 
des  Zieles  und  beim  auffangen  des  balles. 

Beides  glaubte  der  aufzeichner  des  Vergleiches  in  der  spräche 
widerzulinden.  So  entwarf  er  den  kreisrunden  hil-voUr,  auf  den  er  die 
buchstaben  gruppenweise  eintrug,  indem  er  sie  in  fünf  parteien  schied 
nämlich: 

1)  die  consonanten,  die  nur  vor  vokalen  stehen  dürfen; 

2)  die  consonanten,  die  sowol  vor  als  nach  vokalen  stehen; 

3)  die  vokale; 

4)  die  doppelconsonanten; 

1)  G(?ngu  Hrolfss.  (Tas.  IH)  s.  264'':  fcer  Hrolfr  nät  knettinioit :  kann  gripr 
knatttreit  af  Krali  ...  Ebd.:  Hrafnhljop  cptir  knettimnr) ;  Eg.  s.  78^:  Grimr  hafdi 
pd  hejif  hqllinn  ok  rak  undan,  en  adrir  sveinarnir  söffu  eptir.  Gisl.  s.  26  ^": 
hrfir  Poryrimr  ekki  rid:  feldi  Gisli  hann  ok  har  üt  knqttinn.  pd  rill  Gisli  iaka 
kuqttinn ,  €71  Porgrunr  heldr  honum  ok  l(xtr  kann  ckki  ßvi  nd. 

2)  Vigl.  s.  68^'":  pat  var  eitin  thna,  cd  Vvjlundr  slö  knqttinn  ilt  fijrir  Jqkli. 
Jqkidl  reiddix  ßd  ok  tok  knqttinn,  er  kann  nddi,  ok  seüi  framan  i  andlit  d  Vig- 
lundi  srd  at  ofan  hljop  hrünin.  —  f*orsteinss.  (Fas.  II)  407^:  ßat  har  til,  at  porir 
setfi  niär  knqttin?i  srd  hart,  at  hann  stqkk  yfir  Olaf  ok  kom  fjarri  nidr;  Olafr 
reiddix  ßd  ok  ßötti  porir  gera  leik  til  sin;  sotti  hann  ßd  knqttinn,  en  er  hann 
kom  aptr  ....  slo  ßd  med  knatttrenu  til  pdris  ....    Ebenso  Grett.  s.  27.     Eg.  s.  77. 

3)  Das  beste  beispiel  gibt  die  GQngu  -  Hrolfss.  (Fas.  HI)  262:  lirnndu  ßeir 
mQnniun  ok  feldu  hardliga,  en  slogu  suma;  at  kreldi  rdrii  ßrir  handbrotnir,  en 
margir  lamdir  eäa  meiddir. 

4)  Von  allen  spielen  auf  germaniscliem  gebiete  scheint  das  kugehverfen  in  den 
marschländern .  das  ebenfals  auf  dem  eise  der  graben  und  morä.ste  statfindct,  mit 
dem  nordischen  balspiele  die  grösste  äbnlichkoit  zu  haben.  (Vgl.  Fischer,  Beschrei- 
bung der  vorzüghchsten  Volksfeste  II,  s.  47  fgg.     AVien  1709.) 


UNTERSUCHUNGEN    ZUR   SN.  EDDA   1  155 

5)  die  consonanten,  die  nur  nacli  vokalen  stehen  dürfen,  denen 
sich  die  abkürziin^i,aMi  anschlössen,  Aveil  auch  die  sich  nie  im 
anfang  eines  wertes  finden. 

Jeder  ,,buchstabe"  solte  einen  zum  spiele  bereclitigten  darstellen: 
die  spielpaare  geben  die  kleinste  lautverbindung  in  der  spräche.  Wie 
Avir  nun  beim  baispiele  nie  mehr  als  zwei  parteien  nachweisen  können, 
so  fallen  im  gründe  genommen  auch  diese  fünf  parteien  in  zwei  zu- 
sammen, nämlich  in  vokale  und  konsonanten.  Von  lezteren  sind  aber 
nicht  alle  zum  spiel  volberechtigt;  vier  sind  nur  zum  wurf  (Ii,  q,  v,  p), 
vier  andere  nur  zum  fange  da  (ä,  x,  c,  x).  Lezteren  mögen  sich 
wol  auch  die  consonantenverdoplungen  angeschlossen  haben.  Dass  es 
solche  halbberechtigte  aucli  beim  spiele  gegeben  habe,  lässt  sich  aus 
keiner  einzigen  stelle  unserer  quellen  schliessen.  Der  Vorgang  beim 
spiele  der  spräche  selbst  ist  klar:  spielt  a  mit  h^  so  entsteht  in  der 
spräche,  wenn  a  wirft  und  b  fängt  die  lautverbindung  ah,  wirft  dage- 
gegen  h  und  fängt  «,  so  haben  wir  ha.  —  Aus  solchen  lautverbindun- 
gen  besteht  die  ganze  spräche. 

Im  grossen  und  ganzen  ist  also  der  vergleich  nicht  als  verfehlt 
anzusehen,  im  einzelnen  dagegen  ist  manches  nicht  zutreffend.  Lezte- 
res  ist  nun  zum  nicht  geringen  teil  dadurch  veranlasst,  dass  in  der 
figur  sowol  wie  in  der  beschreibung  derselben  der  buchstabe  mit  dem 
laute  zusammengeworfen  ist,  d.  h.  dass  der  Verfasser  des  Vergleiches  fast 
nur  über  scliriftzeichen  handelte  und  diese  vor  äugen  hatte,  während 
er  dem  zwecke  der  arbeit  entsprechend,  sich  über  laute  äussern  solte. 
Und  hierin  unterscheidet  sich  dieser  vergleich  vor  allem  von  dem  zwei- 
ten, wo  die  spräche  mit  der  musik  der  simphonie  verglichen  Avird,  und 
den  ich  für  den  älteren,  allein  von  Snorri  herrührenden  halte.  Hier 
ist  alles  nur  laut,  und  auf  den  laut  komt  es  nur  bei  der  hotding  an. 

Brenner  hat  auch  den  vergleich  der  spräche  mit  dem  spiele  als 
rein  lautlichen  (sprachlichen)  erklären  wollen  und  alles,  was  sich  auf 
die  Schrift  bezieht,  als  randbemerkung  u.  dgl.  bezeichnet  (a.  a.  o.  s.  275 
fgg.).  Das  ist  ihm  offenbar  nicht  gelungen,  denn  fast  aus  jeder  zeile 
spricht  es,  dass  der  Verfasser  des  Vergleiches  wirklich  auch  schreiber- 
regeln hat  geben  wollen.  Man  vergleiche:  bei  den  vokalen:  oh  slml 
svd  rita;  bei  den  limingar:  ok  slml  svä  rita;  bei  denselben:  her  eru 
tvclr  hljöässtafir  saumnllmälr;  bei  den  lausaklofar:  skal  svä  rita,  stafir 
svd  ritaäiv,  ebd.:  e)i  fijvir  ritshdttar  sakir  er  pessa  siafi  öhcrgt 
sa7nan  at  hinda;  bei  den  langen  vokalen:  en  ef  skyrt  skal  rita,  J)d 
skal  draga  gfir  pann  stafinn  u.  oft.  Im  hinblick  hierauf  liegt  auch 
kein  grund  vor,  die  werte:  Lofat  er  pat  i  ritshcetti  at  rita  aflimingiim 


156  MOüK 

oder  die  bemcrkiing  über  die  titlar  am  Schlüsse  des  Vergleichs  wie  in 
der  ligur  als  späteres  machwerk  zu  erklären.  Wir  haben  in  unserem 
vergleiche  Avirkhch  eine  unklare  Vermischung  von  lautlichen  bemer- 
kungen  und  graphischen  voi-schriften.  Eine  solche  ist  aber  von  einem 
manne  wie  Snorri  nicht  anzunehmen.  Ergab  sich  nun  aus  inneren  wie 
äusseren  gründen  der  ursprüngliche  vergleich  der  spräche  mit  der  sim- 
phonie  gegenüber  dem  vergleiche  mit  dem  spiele  als  der  frühere  und 
reine,  so  sind  wir  zu  dem  Schlüsse  berechtigt,  dass  er  in  dem  jüngeren 
vergleiche  benuzt  ist:  jener  diente  dem  interpolator  zum  vorbilde,  nur 
war  er  von  diesem  nicht  richtig  verstanden,  und  so  entstand  dies 
unklare  gemisch  von  bemerkungen  über  die  spräche  und  von  graphi- 
schen Vorschriften. 

Was  sich  uns  aber  hier  für  den  ersten  vergleich  ergibt,  zeigt 
sich  auch  beim  späteren,  in  der  handschrift  zuerst  aufgezeichneten  teile 
des  zweiten  Vergleiches.  Snorri  vergleicht  die  spräche  mit  den  tönen 
der  simphonie.  Zum  besseren  Verständnis  gehört  ein  klares  bild  über 
dies  instrument.  Leider  besitzen  wir  gerade  aus  der  zeit,  in  welcher 
der  vergleich  entstanden  ist,  keine  einzige  darstellung  desselben.  (Rühl- 
mann.  Die  geschichte  der  bogeninstrumente  s.  70.)  Die  simphonie 
oder  das  organistrum,  die  noch  in  der  radleier  des  Savoyardenknaben 
fortlebt,  war  im  mittelalter  ein  weitverbreitetes  und  beliebtes  instru- 
ment. Über  einen  kastenartigen  unterbau ,  der  von  haus  aus  wol  länglich 
viereckig!,  später  geschweift  Avar,  ist  die  saite  gespant,  die  durch  ein 
rad,  das  eine  kurbel  bewegt,  in  Schwingungen  versezt  wird.  Auf  dem 
oberen  teile  des  kastens  sind  ferner  tasten  (claves)  angebracht-,  und 
auf  diesen  grif hölzern  finden  sich  schon  in  alter  zeit  buchstaben  zur 
bezeichnung  der  einzelnen  töne-^  Diese  tasten  Avurden  an  die  saite 
angedrückt.  Indem  nun  zu  gleicher  zeit  das  rad  in  bewegung  gesezt 
wurde,  entstanden  die  verschiedenen  töne.  In  der  regel  spielten  zwei 
pei'sonen  das  instrument:  die  eine  drehte  das  rad,  die  andere  drückte 
die  tasten  (Schultz,  Höf.  leb.  I,  431  und  452).  Nun  kennen  wir  aber  eine 
simphonie,   wenn   auch  aus  etwas  späterer  zeit,    die  tasten  besass,    die 

1)  Vgl.  die  miLsikalische  abhandlung  bei  Odo  von  Clugny  nach  dem  cod.  Par. 
7211  (bei  Geibert,  Sciipt.  eccl.  de  miLS.  I,  252j:  Liynutn  quadratum  in  inudum 
capsae  et  intus  concavum  in  inodwn  citharae,  super  quod  posita  ciwrda  sonat. 

2)  Es  entsteht  ein  volständig  unerklärliches  bild,  wenn  man,  wie  algemein, 
hjidar  mit  Schlüssel  widergibt,  hjidar  ist  das  lat.  claces,  und  dies  können  bei  der 
simphonie  nur  tasten  sein. 

3)  Ygl.  Odo  von  Clugnys  bemerkungen  in  der  kleinen  abhandlung:  Quomodo 
orfjanistriun  construatur  nach  dem  cod.  Vind.  bei  Gerbeil  L  302.  S.  auch  die  abbil- 
dung  in  Rühlmanns  atlas  taf.  5  fig.  1. 


UNTERSUCHUNGEN'    ZUK    SN.   KDDA    I  157 

sich  nach  innen  scliiebon,  fnlolieh  aucli  nacli  ansson  ziiriick bewegen 
lassen.  In  „dem  inncin  zugespizten  teile"  der  taste  befand  sich  ein 
häkchen,  welches  an  die  saite  andrückte,  oder,  wenn  man  die  taste 
znrückzog,  sie  riss.  Bei  dieser  simphonie  spielen  bereits  ober-  und 
Untertasten  mit  halben  tr»nen  eine  j-olle.  (Rüldmaiin  a.  a.  o.  s.  83.)  Der 
Spieler  sass  vor  dem  instrumente;  um  die  gewünschten  tihie  zu  haben, 
musste  er  entweder  die  taste  nacli  innen  schieben  oder  sie  zurück- 
ziehen. 

Ein  solches  instrument  muss  Snorri  im  gedäclitnis  gehal)t  liaben, 
als  er  mit  seinen  tönen  die  spräche  verglich.  Wenn  sich  anf  Island 
auch  dasselbe  nicht  nachweisen  lässt,  so  kann  es  Snorri  docli  sehr 
wol  am  norwegischen  königshofe  kennen  gelernt  haben,  denn  hici- 
kante  man  es  offenbar  (vgl.  FMS.  YII,  97  i^.  Strengl.  1.^  u.  oft).  — 
Der  vergleich  ist  ebenso  klar  wie  einfach.  Die  eine  klangsaite,  die  das 
organistrum  von  haus  aus  besizt,  hatte  sich  Snorri  in  seiner  Idealfigur 
vervielfacht  gedacht,  und  nach  allen  solten  sich  die  tasten  hin-  und 
zurückbewegen  lassen.  Sizt  der  spieler  nun  vor  den  tasten,  so  ent- 
steht, wenn  er  die  i-taste  au  die  r^-saite  andrückt,  der  klang  ha,  zieht 
er  dagegen  die  />- taste  zurück,  so  entsteht  der  klang  ab,  weil  durch 
jene  tätigkeit  die  consonantentaste  nach  dem  vokale  hin,  durch  diese 
von  ihm  weg  bew^egt  wird.  Somit  ist  das  bild  im  hinblick  auf  die 
ersten  zwölf  consonanten  ziemlich  einfach.  Ob  wir  nun  auch  instru- 
mente gehabt  haben,  wo  das  tastenhäkchen  die  saite  nur  durch  scliie- 
ben  oder  durch  zurückziehen  traf,  vermag  ich  nicht  zu  sagen;  gefunden 
habe  ich  darüber  nirgends  etwas,  wenn  nicht  vielleicht  die  ober-  und 
untertöne  die  band  zu  dem  vergleiche  geboten  haben. 

Dieser  vergleich  ist  demjenigen,  der  sich  über  Snorris  manuscript 
gemacht  hat,  ofTenbar  nicht  ganz  klar,  jedenfals  weil  er  nie  ein  solches 
instrument  gesehen  hatte.  Denn  sonst  konte  er  nicht  die  ziemlicli  unkla- 
ren eingangsworte  bringen  (Stafasetning  sjä,  seni  her  er  ritut,  er  svä 
seif  iil  wdls,  sem  hjldar  tll  hljöits  i  miisihi)  und  behaupten,  dass  sich 
zu  beiden  seifen  der  vokalsaite  tasten  befanden.  Nur  soweit  sich  die- 
ser aufzeichner  streng  an  den  zweiten  teil  hält,  ist  er  klar;  sonst  weiss 
er  nicht  viel  vernünftiges  zu  sagen.  Der  erste  teil  des  zw^eiten  Ver- 
gleichs stelt  sich  also  in  jeder  weise  zu  dem  ersten  vergleiche  und 
kann  nur  aus  einer  feder  geflossen  sein. 

Nach  diesen  erörterungen  ergibt  sich: 
1)   Der  plan  des  feiles  der  SE.,    den  man  bisher  algemein  als  eine 
grammatische   abhandlung  aufgefasst   hat,   lührt  von  Snorii   her. 
Dieser  hatte  ihn  als  einleitung   für  seinen  commenfar  zum  Hat- 


158  MOGK 

total  bestirnt.  Er  solte  benicrkungen  über  den  ton  und  den  laut, 
namentlich  den  der  menschen,  enthalten.  Leztere  führten  zur 
menschlichen  spräche,  deren  kleinster  bestandteii  „der  gespro- 
chene st<afr"  ist.  Durch  die  Vereinigung  zweier  stafir,  und  zwar 
eines  vokales  und  eines  consonanten,  entsteht  aber  das  kleinste 
ganze  in  der  spräche,  und  dies  ist  die  stafasetning,  von  der  es 
im  Hattatal  heisst:  SfafasctNhir/  f/rrir  mal  allt.  (Ht.  1 1^.)  Die 
stafasetning  ist  aber  auch  die  grundlage  aller  dichtung^. 

2)  Von  SnoiTi  rührte  her: 

a)  Die  algemeinen  bemerkungen  (meine  ausg.  s.  159^ — 160")  mit 

ausnähme  einer  randbemerkung  (lüO^-^^^). 
ß)  Figur  11. 
;')  Der  zweite  teil  der  erkliirung  dieser  figar  (s.  164"^^^-). 

3)  Zu  dieser  einleitung  fügte  ein  späterer  bearbeiter,   vielleicht  ein 
Schüler  Snorris: 

a)  Figur  I. 

ß)  Die  erkliirung  dieser  figur  (s.  160^ — 162 1'^). 
y)  Den  ersten  teil  der  erkliirung  der  zweiten  figur  (s.  162 1*  — 
16-43). 

Bei  seinen  erklürungen  der  figuren  legte  er  die  erkliirung  Snor- 
ris von  II  zu  gründe,  brachte  aber  ausserdem  allerlei  schreiberregeln 
an,  die  gar  nicht  hiueingehören,  die  weder  die  spräche  oder  schrift 
umändern  w^ollen  noch  können,  da  sie  Aveiter  nichts  sind  als  eine  trü- 
bung  der  klaren  gedanken  Snorris.  Ich  vermag  deshalb  auch  das 
nicht  in  ihnen  zu  finden,  was  Brenner  aus  ihnen  herausliest  (a.  a.  o. 
s.  275);  ebensowenig  wie  zu  grammatischen  zwecken,  ebensowenig  sind 
sie  auch  zu  metrischen  zwecken  geschaffen.  Es  sind  unfähige  bemer- 
kungen desselben  mannes,  der  auch  einen  grossen  teil  des  commentars 
vom  Hattatal  auf  seinem  gewissen  hat  und  der  von  Mübius  (Hätt.  II, 
s.  35  fgg.)  so  richtig  gezeichnet  ist. 

1)  Die  einzige  ansieht,  die  bisher  über  den  Verfasser  gemacht  worden  ist,  stelt 
CS  Über  allen  zweifel,  dass  derselbe  ein  geistlicher  sei  (Bjöi'u  Olsen  a,  a.  o.  s.  XXXII 
und  im  anschluss  au  ihn  Finnur  Jousson  a.  a.  o.  s.  XXX).  Auch  nicht  ein  wort 
spiicht  in  der  ursprünglichen  gestalt  für  den  geistlichen.  Hier  Jiat  ^videl•  einmal  der 
Schreiber  des  AVonnianus  sein  wesen  getrieben,  und  das  einfache  durchlesen  des  tex- 
tes  wird  die  ansieht  zur  genüge  widerlegen. 


UNTKRSUCHU.Vr.KN    ZUR    SN.    EDDA    I  159 

Der  tcxt. 

Hvat  er  hljodsgrein?  [»renn. 

Hver?  pat  er  ein  grein  hljoits,  er  |»ytr  veitr  eda  vatn  etla 
s^r  eda  bjorg-  etla  jont  ecta  grjut  lirvnr;  petta  liljud  lieitir  gnyr  ok 
piymr  ok  dunur  ok  dynr.  Sva  [nit  hljud,  er  malniarnir  gera  eda 
nianna  Jjyssinn;  pat  heitir  ok  gnyr  ok  glymr  ok  lilj(')nir.  Sva  pat  5 
ok,  er  vidir  brotna  eda  vapnin  m(ßtaz,  petta  heita  bi-ak  eda  brestir 
eda  enn,  sem  adr  er  ritat.  Allt  erii  Jtetta  vitlaust  liljnd.  Vax  hOv 
um  framm  er  [)at  liljod,  er  stafina  eina  skortir  til  malsins;  {)at  gera 
liorpurnar  ok  enn  helldr  liin  nieiri  songfrerin,  en  [»at  lieitir  songr. 

Onnnr  liljodsgrein  er  sü,  sein  fuglarnir  gera  eda  dyrin  ok  S(J-  lü 
kyqvindin.  pat  heitir  rodd.  En  [j^r  raddir  heita  a  marga  lund: 
fuglarnir  syngja  ok  gjalla  ok  klaka,  ok  enn  med  ymsum  liiittum,  ok 
nothum.  [KHiumstum  eru  greind  ymsa  vcya  (Ujm  nqfnhi,  oh 
kunnit  meint  sJq/n,  hvat  li/qi-huJiN  pyHjaz  henda  med  mqrgiim 
SINK}}/  hUu}}i.]  S(Jkyqvindin  blasa  eda  gella.  Allar  pessar  raddir  15 
eru  miok  skvnlausar  at  viti  flesti'a  manna. 

En  I)ridja  hljodsgrein  er  sü,  sem  menninir  liafa:  pat  heitir 
hljöd  ok  ri^dd  ok  mal.  'M(\\\t  geriz  af  bltjstrinum  ok  tungubragdinu 
vid  tenn  ok  goma  ok  skipan  varranna.  En  hverju  ordinu  fylgir 
minnit  ok  vitit;  minnit  Jjarf  til  pess  at  muna  atkvedi  ordanna,  en  20 
vitit  ok  skilningina  til  pess,  at  liann  muui  at  m^la  pau  ordin,  er 
hann  vill.  Ef  madr  fer  snilld  malsins,  pa  Jjaif  par  til  vitit  ok  ord- 
froedi  ok  fyrir^tlan,  ok  Jjat  mjok,  at  hregt  so  tungubragdit.  YÄ  tennr- 
nar  eru  skorpottar,  ok  missir  tungan  par,  pat  lytir  malit.  Svä  ok 
ef  tungan  er  ofmikil,  pä  er  malit  blest;  nü  er  hon  oflitil,  pii  er  sä  25 
holgömr.     |)at  kann  ok  spilla  mälinu,  ef  varrarnar  eru  eigi  heilar. 

Die  ortliographie  schliesst  sich  im  ganzen  an  das  auf  der  buchstabontafel  ent- 
worfene alphabet  an.  Nm*  oe  habe  ich  noch  zu  den  schon  vorhandenen  buchstaben 
genommen,  da  ich  den  Übergang  er  >•  cp  aus  dem  anfang  des  13.  Jahrhunderts  nicht 
nachweisen  kann.  SuoitI  reimt  stets  o?  ;  o?  (Hattat.  13''.  31^.  64-.  81)  und  (p  :  cp 
(17 '^.  28^.  öO*');  nur  68'*  reimt  marS,  fjnlsncerda.  Seite  demnach  schon  schwanken 
begonnen  haben'?  —  2.  Pat.  Es  liegt  kein  gmnd  vor,  von  der  handschrift  abzu- 
weichen und  Su  zu  sclu'eiben,  da  die  attraktion  des  pronomens  an  das  prädikat. 
nomen  durchaus  nicht  nötig  ist.  Vgl.  Comment.  z.  Huttat.:  pat  er  kenninfj  3-", 
ßat  er  scrnnhouiimi  4^-  --,  pat  er  studnijKj  4-^,  petta  er  dröttkrfectr  hättr  3^,  Pat 
eru  tolf  stafir   1-^  u.  oft.  —         G.    brot)ia  eäa  gnesta  W.   —  13  fgg.   hat  wol 

urspi-ünglich  am  raude  gestanden.  Das  zeichen,  welches  andeutet,  wohin  es  gehöre, 
las  der  abschreiber  für  ?rr:oAv,  das  sich  in  der  \\Zin{\^Q\init\ov  kimmiskwi  befindet. — 
24.  tungan  par  die  einzig  mögliche  lesaii;  tamigaränr  W  und  nach  ilim  F.I.  lässt 
sich  weder  sprachlich  noch  inhaltlich  erklären. 


160 


MOGK 


Mudrinn  nk  tuno:an  er  leikvollr  ontanna.  Ä  I)eim  velli  eru 
reistir  statir  l>oir,  er  mal  allt  gera,  ok  hendir  iiialit  ymsa  sva  til  at 
jatna  sein  liorpustreDgir  eda  eru  Itjstir  lyklar  i  siDiplioiüe. 


Figur  I. 


/  fiirslfi   hrh}(f    eru   fjorir   siafir;  Jxt    md    til   enski^  mmars 
nyla,  m   rera  fyr  Oitnint  stof,nn:  p.  v.  h.  f/.     I  <ßrinn  hrivg  eru     5 
siaftr  XII,  Jteir  sem  he  Ha   jndJsfafir;    hverr  peira  7nd  vera  hf(t/ 
fyn'r  ol:  eptir  i  mnlinii,    en  engl  peira  cjerir  mdl  af  HJdlfnm  ser: 

G.  XII  so  W;  U  XI,  was  zufällig  auch  mit  der  figur  stimt.  da  liier  im  zwei- 
ten kreise  /.•  fehlt.  Ich  s^he  keinen  gnind  ein,  diesen  huehstaben  mit  F.  J.  auszu- 
merzen, da  er  nicht  allein  im  folgenden  in  beiden  handschiiften  überliefeii  ist,  son- 
dern da  auch  die  zweite  figur  ihn  in  dem  dem  zweiten  ringe  entsprechenden  oberen 
teile  der  tafel  hat. 


ÜNTERSUCHU>'GEN    ZUR   SN.  EDDA   I  161 

/;.  (1.  f.  (j.  /.'.  /.  }n.  }(.  [).  r.  s.  f.  Ell  )i(ifn  prira  cru  her  f<cit  rptir 
hijüiti  J)eira.  V  ]))'t(tja  hn/n/  mi  lulf  s/aflr,  er  hJjüiJstafir  lieiia. 
pe.ssi  grci)i  er  pcira  stafii:  fyrst  lielta  slaftr  o/r  shdl  srd  riUt:  a.  e. 
i.  0.  V.  y.  0/f/fffr  r/re/N  er  sü,  er  lieita  Innimjcir,  ol'  slal  srd  rita: 
CT',  ao.  Cd):  pessir  eni  prir:  her  eru.  treir  h/Jods/d/ir  saitKudundir,  5 
Jyri  at  pessi  stafri)ui  hef'ir  hrer//  hh(t  af  hJjndl  hlnita,  er  Ihudi  er 
af  (jerr.  lui  pridjn  (/rein  er  paf,  er  Jieita  1aiisfü,lof(ir,  ok  shf/l  srd 
rifa:  ey.  ei.  pessir  eru  tveir  sfafir  svd  ritadir,  dl  rilii  hdda  .s/r/// 
uhrcytta  oh  yerr  einn  af,  l)ri  at  Jtaiui  tehr  hijöd  liiiina  beyyja,  en. 
fyr  ritshdtfar  sahir  er  J)essa  stafi  ohoeyt  scunan  at  tnnda.  Nu  er  10 
enn  iölfti  stafr,  er  shptif/yr  lieitir;  pat  er  i.  pat  er  rettr  hljud- 
stafr,  ef  ntdhfafr  er  fyrir  honuin  ok  eptir  honum,  i  sanistofauni; 
en  ef  hljödstafr  er  nest  eptir  itonmn,  pd  shipti:\  hann  i  mdlstaf 
oh  yera\  pd  'af  honutn  niqry  fall  orä,  svd  sa/i  er  jd  cda  Jqrit  eita 
j6r:  ol:  enn  svd,  ef  mdlstafr  stendr  fyrir  honinn,  en  hljöästafr  nest  15 
eptir,  svd  sem  her  er:  hjqrn  ecta  hjör  eCla  IjJQry.  Onniir  shipting 
hans  er  Jmt,  at  hann  se  lansahlofi,  svd  sem  J^eir,  er  dar  ern  ritaäir. 
pe.'^sir  stafir  einir  saman  yera  mojy  fattorct,  en  shcunt  mdl  gerct 
peir  sjdlftr.  Ef  a  gerir  heilt  orä,  Jjd  i)ie,\-  svd,  sem  pü  nefnir:  yfir, 
eni  pat  sem:  fyrir  innan,  enoedav  pau  skipta  um  orännum,  svd  20 
sem  er:  satt  ecta  vsatt  Menn  kalla  einn  vict  y,  en  m  pat  er  vein- 
tin,  en  ey  heitir  fmi  lancl,  sein  sjör  ecta  vatn  fcllr  umhverfis,  pat 
er  hallat  ok  ey  eäa  m,  er  atdri  prytr.  Jlljödstafir  hafa  ok  tvenna 
grein,  at  J)eir  se  styttir  ecta  clregnir;  en  ef  skyrt  skal  rita,  pd  skal 
draga  yfir  pann  stafinn,  er  seint  skal  leiäa,  sem  her:  „d  pvi  dri,  25 
sem-  Ari  var  foedclr''  ok  „pat  er  i  mtnu  oninni."  Optliga  skipta  onta. 
leictingar  qtln  n?dti,  hvdi^t  enn  sami  liljöctstafr  er  leiddr  seint  eda 
skjött.    Lofcit  er  fmt  i  ritshetti^  at  rita  af  limijigum  helldr  a-tykkju, 

f).  Jinr:  U  liest  tvcir;  der  sckreiber  hat  wol  die  folgende  y  schon  im  äuge 
gehabt.  AV  hat  ebeufals:  po.sscr  prir  stafer.  —  8.  in  der  hs.  ist  nach  trcir  {]]) 
ein  locli;  dann  folgt:  svd  rita  at  rita;  im  liinhlick  hierauf  bin  ich  W  gefolgt  stafer 
eru  ritacter.  Vielleicht  ist  besser  mit  F.  J.  zu  schreiben:  ok  skal  svd  rita,  at  rita; 
ich  habe  die  lesart  im  hinblick  auf  das  parallele  ffcrr  nicht  aufgenommen,  zumal 
auch  das  unbestimte  man  sehr  selten  und  meist  nur  bei  diclitern  durcli  den  plural 
widergegeben  wird    (vgl.  Lund,  Oldn.  Ordföjul.  §  10  4"^  anm.  4.     §  203,  IG  anm.)  — 

15.  ok  enn  srd tjjnrg  gehört  zweifelsohne  nach  jor;    hierher  passt  es  allein, 

nach  ritaäir  (z.  17),  wo  es  in  der  hs.  steht,  gibt  es  keinen  sinn:  es  war  eine  rand- 
bcmerkuug  und  wui'do  vom  abschreiber  an  falscher  stelle  eingefügt.  —  enn  in  der 
hs.  zerfressen.  —  18.  pessir  stafir  stelt  alle  vokale  in  gegensatz  zu  den  consonan- 
tcn.  —  2.8.  ok  f.  ü;  so  nach  W.  F.J.:  ok  kallat.  —  20.  Nach  ok  fügt  W  noch 
ein  er  ertuä  Jfann.  —  28.  U:  en  af  Ifjckio  .  .  dem  Schreiber  hat  das  folgende  en 
fallt  vorgeschwebt.     Dieselbe  ündening  hat  auch  F.  J. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.       ED.  XXH.  11 


162  MOGK 

eu  fuUi  a,   oJ:  er  pa  svd  g,  Q-     I    fjonta   hrinfi  cm  161  f  sfafir  svd 

rifadir:     tl,  .,\>.  ff  6.  RilC).!'!  W  K  -5-X  •    ^''•'''''  '^"/^'  ^^''''  '^'^'' 

aiuiat.    cfi    n/cfui    rilja   J/afa  Jni  fyrir  ritslidttar  salir,    oh  er  settr 
hverr  peira  ein  ff   ff/rf'r   frd    iffdhfaf ,  Jwi    at    sitffi    orä   eäa    nqfn     5 
ctida\    i  svd   fast   athredi ,    at  etxji    fffdJstafr  fer  einn  bofit,    svd 
sein  er:  Jiqtl  eda  fjaJI  eda  kross  eda  hross,  frafffiif,  hrafffiff.    Nüparf 
afifiathvdrt  at  rita  tfjsvar  eiffii  mdhtaf,  eda  lata  ser  Jlha  panifig  at 
rita.    1  flfffta  hrififi  er  ff  riiadirpeir  pr'tr  staffr,  er  l'aJIadir  erii  widir- 
staffr:  d.   \.  x;  pcssfifff  stqfnnf  md  vld  eugan  staf  loma,  nema  pat  10 
sc  eptir  hljödstaf  i  Jfvcrri  sdmstofft.    Efiif  fjördi  stafr  er  c,  ok  liafa 
sfiffff'r  fffcffff  Jmffff  ritshdtt ,   at  setja  Ifaiffi  fifrir  /.-,•  efi  hitt  eina  er 
rett   haffs   liljod  at    rera    scffi  adrir    ffifdirstafir  i  enda  sanfstqfu. 
Titlar  enc  svd  ritadir  her,  scm  i  qdrum  ritshetti. 


Stafasetffffffi  sjd,  sein  her  er  ritut,  er  svd  seit  til  wdls,  sem  15 
hjldar  til  hijuds  i  iffusihd,  oh  rexffir  ffßgja  hljodstqfffm  svd,  sem  peir 
Jfjhlar  iffdUiqfffiff.  Mdlstaffr  eru  ritadir  med  hverri  regfi  J)(:di  ffjrir 
oh  eptir,  oh  gera  P)eir  mal  af  heifdiffgnm  peim ,  seju  peir  hafa  vid 
hJjödstafffia  fyrir  oh  eptir.  Kqlliim  ver  pat  lyhla,  sem  peir  eru 
i  fasiir,  oh  erfi  her  svd  settir  i  spaciönne,  sem  lyhlar  i  simphonte,  20 
oh  shal  peifif  hippa  eda  hrinda,  oh  dfrjxi  svd  regustirMgina,  oh 
tchr  pd  pat  hijöd,    scm  pm  rillt  haft  hafa.    pes.^ar  hcndingar  eru 

~).  nqffi:  Br.  saws/*?/"«  wol  das  riclitige,  —  0.  /  nach.  W  ergiinzt,  fehlt  in  U. — 
10.  stqfiim  verbessert  nach  F.  J.  U:  staf.  —  12.  nach  at  ein  loch  in  der  hs.  sctja 
habe  ich  geschrieben  nach  einer  Stockholmer  papierhandschrift,  deren  Schreiber  die 
hs.  noch  in  besserem  zustande  vor  sich  hatte;  liafa  F.  J.  —  fyrir  h  schreibe  ich; 
die  hs.  kg  d.  i.  hofumg ,  wie  auch  die  herausgobor  haben.  Allein  das  gibt  keinen 
sinn;  der  flüchtige  abschreiber  konte  sehr  leicht  hierauf  kommen.  Oder  hat  viel- 
leicht ursprünglich  h  ecta  g  (k.  p.  g)  dagestanden?  —  Die  folgende  figur  ist  wie  die 
ringfigur  in  der  handschrift  ziemlich  flüchtig;  beide  musstcn  in  Übereinstimmung 
mit  dem  text  gebracht  werden.  —  15  fgg.  gehört  nach  fig.  2.  —  IG.  /  fehlt 
in  ü;  es  muss  unbedingt  hier  stehen;  vgl  auch  F.  J.  s.  95.  —  rega  ist  dasselbe 
wie  riga  FMS  XI,  441  n.  6.  Das  wort  ist  sonst  nirgends  im  nordischen  belegt;  es 
ist  ahd.  riga.  nd.  rige,  rege  =  linie,  reihe  (Schade,  Altd.  wb.-713)  und  bezeichnet 
liier  wol  die  instrumentsaiten  (rcgustrengir),  denen  der  Verfasser  nach  den  von 
mir  stark  gezeichneten  linien  den  namen  gab.  —  Peir  lyklar  mdlstqfum.  U  und 
F.  J.  nur  jypJr  hjklum;  mir  ist  die  stelle  so  dunkel.  Der  Schreiber  sprang  nach  /  von 
lyklar  auf  die  endung  von  mdlstqfum  über.  —  18.  Peitn  so  verändert  mit  F.  J. 
hs.:  Jjpiri.  —  18.  hafa:  in  der  hs.  nur  -a  noch  zu  lesen.  —  20.  hs.  ok  eru  peir 
her  sra  settir  her  sem  i  spaeione  sem  ....  —  22.  Nach  hafa  will  Brenner  (a.  a.  o. 


UNTERSUCHUNGEN   ZUR   SN.  EDDA   I 


103 


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164  MOGK 

eiqi  mciri  oi  Jkpv,  srw  ff/rr  cnt  rifaitar,  ol:  hinar  mnr.fH  peira, 
sew  stafat  sv  fil,  J>r/  at  her  er  /  lioiding  chtn  hijodsfafr  ok  rinn 
tndhiaf)\  ok  gcrir  svd  maryar  lioitUiiijar,  scm  nü  er  rifctf  aar  i 
siafasein  imjin  n  /. 

Her  standa  um  pvert  blad  XI  lilJQdstafir,  en  um  eudilangt  5 
hlad  XX  millstafir;  eru  I)cir  sva  settir,  sem  lyklar  i  simpliönle,  en 
liljodstafir  sem  strengir.  Malstafir  eru  XII  l)eir  sem  btjdi  hafa  liljud, 
hvart  sem  kipt  er  eda  hrundit  lykliuum,  en  VIII  peir,  er  sldarr 
eru  ritadir,  hafa  halft  hljud  vid  hina:  sumir  taka  liljod,  er  J)u  kippir 
at  per,  sumir,  er  {n'i  hrindir  fra  per.  10 

pessir  hliodstafir  standa  um  pvert:  a.  e.  /.  o.  i).  ii.  c.  q.  ai\ 
ei.  cy.  pessir  eru  XII  malstafir:  h.  d.  /"  //.  /•.  /.  m.  n.  ii.  r.  s.  t. 
pessir  eru  malstixfir  ok  hafa  halft  hljud  vid  hina:  d.  J).  7..  v.  c.  h.  x.  q. 

s.  270)   den  satz   ok  gen'r  .  .  i  stafasetningiimi.  (1G4^);    ich  sehe  den  grund  nicht 
i-ccht  ein,  weshalb  er  von  der  Überlieferung  al)weichen  will. 

1.  eigi  mciri,  U  nur:  mciri,  F.  J.  minni.  Der  Schreiber  hat  nur  aus  ver- 
sehen das  abgekürzte  cigi  weggelassen.  Die  stelle  will  sagen:  obgleich  in  der  zwei- 
ten figiir  vielmehr  buchstaben  stehen  als  in  der  ersten,  so  sind  doch  die  hendingar 
nicht  zahlreicher.  —     .5.  Rtr  bis  zum  Schlüsse  spätere  interpolation.  F.  J. 

Übersetzung. 

Wie  viel  verschiedene  arten  des  tones  gibt  es?  Drei.  Welche? 
Das  ist  die  eine  art  des  tones,  wenn  der  wind  pfeift  oder  das  wasser 
oder  das  meer  rauscht,  oder  die  berge  oder  das  erdreich  oder  gestein 
drühnt;  solche  töne  heissen  getöse,  geräusch,  gedonner,  lärm.  Hierher 
gehören  auch  die  töne,  die  die  metalle  von  sich  geben  oder  die  entste- 
hen im  kämpfe  der  mann  er:  diese  heissen  ebenfals  getöse  und  klang  und 
lärm.  So  auch,  wenn  bäume  brechen,  oder  waffen  aneinander  sclila- 
gen;  das  heisst  gekrach  oder  gerassei,  oder  auch  wie  es  früher  bezeich- 
net ist.  Alle  diese  töne  entstehen,  olme  dass  dabei  irgend  welcher 
verstand  im  spiele  ist.  Hierher  gehört  nun  weiter  auch  der  ton,  wel- 
chem der  buchstabe  allein  zur  rede  mangelt;  diesen  erzeugen  die  har- 
fen  und  noch  mehr  die  grösseren  musikinstrumente:  dieses  heisst  musik. 

Eine  andere  art  des  tones  ist  der  der  vögel  und  der  tiere  auf 
dem  lande  und  im  wasser.  Dieser  heisst  stimme.  Diese  stimmen  wer- 
den aber  auf  verschiednerlei  weise  bezeichnet:  die  vögel  singen,  kräch- 
zen und  krei.schen  und  geben  noch  andere  töne  von  sich,  die  anders 
bezeichnet  werden.  [Xach  ilirem  vennögen  sind  die  namen  der  tiere 
so  mannichfach  entstanden,  denn  die  menschen  wissen  bescheid,  was 
die  lebenden   wesen  mit  ihren   vielen  gewohnheiten  anzudeuten   schei- 


U.NTEKSUCIIUNGKN    ZUR    S.V.   EDDA    I  165 

nen.]  Die  ticro  im  inetTc  blasen  uder  seliiiaube]i.  Alle  diese  stimmen 
entspringen  geringer  Vernunft  im  vergleiche  zum  verstände  der  meisten 
menschen. 

Die  dritte  art  des  tones  ist  der  der  menschen:  liier  vereinen  sich 
laut,  stimme  und  spräche.  Die  spräche  entsteht  tlurch  das  herausbla- 
sen  der  luft,  durch  die  bewegung  der  zunge  an  zahne  und  gaumen 
und  durch  das  öthen  und  schliessen  der  lippen.  Aber  jedes  Avort  steht 
mit  dem  gedächtnisse  und  verstände  in  engstem  zusammenhange;  das 
gedächtnis  ist  nötig,  damit  die  ausspräche  der  Avörter  immer  gegen- 
Avärtig  ist,  verstand  und  Urteilskraft,  damit  man  jederzeit  weiss  die 
werte  hervorzubringen,  welche  man  haben  will.  Ist  einer  beredt,  so 
bedarf  er  ausser  dem  verstände  auch  gewantheit  im  ausdrucke,  schlag- 
fertigkeit und  vor  allem  leichtigkeit  der  zunge.  Wenn  die  zahne  abge- 
brochen sind,  und  die  zunge  infolgedessen  ihr  ziel  verfehlt,  so  klingt 
die  spräche  hässlich.  So  auch,  Avenn  die  zunge  zu  gross  ist;  dann  lis- 
pelt der  sprechende;  ist  sie  dagegen  zu  klein,  so  murmelt  er.  Auch 
Avenn  die  lippen  in  nicht  ganz  normalem  zustande  sind,  kann  der 
spräche  abbruch  geschehen.' 

Der  mund  und  die  zunge  sind  der  Spielplatz  der  Avorte.  Auf 
diesem  plane  sind  die  buchstaben  aufgerichtet,  die  die  ganze  spräche 
ausmachen,  und  es  greift  die  spräche  bald  diesen  bald  jenen  buchstaben 
heraus  (um  sie  zusammenAvirken  zu  lassen),  gerade  so  als  Avären  es 
Saiten  oder  die  befestigten  tasten  in  der  simphonie. 

(Figur  I. 

Im  ersten  ringe  haben  AAdr  vier  buchstaben;  diese  darf  man  nur  vor 
andern  buchstaben  gebrauchen:  />.  r.  h.  q.  Im  zAveiten  ringe  befinden 
sich  zAvölf  buchstaben;  diese  heissen  consonanten.  Jeder  von  ihnen 
kann  soavoI  am  anftmg  als  am  ende  eines  wortes  stehen,  aber  keiner 
macht  ein  Avort  für  sich  aus:  b.  d.  f.  (j.  L:  L  lu.  ii.  p.  r.  s.  t.  Ihre 
namen  sind  hier  gesezt  nach  ihrem  lautlichen  zeichen.  Im  dritten  ringe 
sind  ZAvölf  buchstaben,  die  vokale  heissen.  Unter  diesen  ist  folgender 
unterschied:  Die  ersten  heissen  vokale  (?  stafir)  schlechthin  und  sie 
sind  so  zu  schreiben:  a.  e.  i.  o.  v.  ?/.  Die  zweite  art  heisst  verschmol- 
zene buchstaben  und  diese  soll  man  so  schreiben:  ce.  co.  aj.  Dies 
sind  drei;  hier  sind  je  zwei  vokale  verschmolzen,  sodass  diese  buch- 
staben einen  teil  von  den  lauten  haben,  aus  denen  sie  gebildet  sind. 
Die  dritte  art  sind  die  diphthonge  und  diese  soll  man  so  schreiben: 
ey.  ei.  Diese  beiden  buchstaben  sind  so  geschrieben,  dass  man  ihre 
beiden  teile  unverändert  niederschreibt   und    daraus  einen   macht,    der 


16(5  MOGK 

den  laut  beider  anniiiit;  die  gestalt  der  buchstabeii  ist  die  iirsaclie,  dass 
man  sie  sehwierig:  zusannnenknüpfeu  kann.  Als  der  zwölfte  komt  end- 
lich noch  das  /  hinzu,  das  eine  zwittererscheinung  genant  werden  kann^. 
Er  ist  ein  reiner  vokal,  wenn  ein  consonant  vor  und  nach  ihm  in  einer 
silbe  sich  befindet;  aber  wenn  ein  vokal  unmittelbar  nach  ihm  folgt, 
so  nimt  er  consonantische  natur  an;  aucli  wird  durch  ihn  manches  wort 
ei'st  zum  vollen  werte;  hierher  gehören  y«  oder  jqrä  oder  jör.  Dasselbe 
ist  auch  der  fall  (dass  /  consonant  ist),  wenn  ein  consonant  vorher,  ein 
vokal  aber  unmittelbar  darauf  folgt,  wie  in  hjqm  oder  hjör  oder  hjojn. 
Ein  weiteres  auftreten  ist  es,  wenn  er  als  teil  eines  diphthongen 
ei*scheint,  wie  diese  früher  beschrieben  worden  sind.  —  Diese  buch- 
staben  allein  machen  manches  Avort  voll  und  sind  selbst  kurze  Wörter. 
AYenn  ä  ein  wurt  volstiindig  macht,  so  hat  es  denselben  wert  wie  yfir, 
i  denselben  wie  fifrir  hnmn^  ö-  oder  il-  verändern  die  Avorte  ins  gcgen- 
teil,  wie  seift  und  üsätt.  y  nont  man  einen  bäum  (eibe),  ce  einen 
klagelaut,  cij  (insel)  heisst  das  land,  das  nieer  oder  wasser  rings  umgibt; 
was  nie  endigt  heisst  eij  oder  ce  (immer). 

Die  vokale  sind  noch  Aveiter  untereinander  verschieden,  sie  kön- 
nen nämlich  entweder  kurz  oder  lang  sein.  Wenn  man  nun  genau 
schreiben  muss,  so  muss  man  über  den  buchstaben,  der  langsam  dahin- 
gleiten soll,  einen  strich  machen,  Avie  z.  b.  d  Jwi  äri  sein  Ari  rar 
faddr  (in  dem  jähre,  in  dem  Ari  geboren  Avar)  und  pat  er  i  miiiu 
miiud  (das  ist  in  meiner  erinnerung).  Oft  verändert  es  den  ganzen 
sinn  der  Avorte,  Avenn  derselbe  vokal  kurz  oder  lang  gebraucht  Avird. 

Beim  schreiben  ist  es  erlaubt,  verschmolzene  buchstaben  anzu- 
Avenden,  mehr  aber  gebraucht  man  nur  den  a- bogen,  als  dass  man 
das  ganze  a  schreibt,  und  so  haben  Avir  e.  q. 

Im  vierten  ringe  sind  die  zAvölf  buchstaben  folgendermassen  ge- 
schrieben: bO.  dd.  ff.  G.  K.  IL  21.  H.  jip.  II.  S.  T.  Diese  buchstaben 
bedeuten  nichts  anderes,  als  dass  man  sich  ihrer  beim  schreiben  bedie- 
nen Avill.  Es  steht  jeder  für  zAvei  consonantcn,  Aveil  manche  Avörter 
oder  namon  (silben?)  am  ende  so  markiert  ausgesprochen  Averden,  dass 
ein  consonant  nicht  hinreicht,  Avie  bei  holl  oder  fjall  oder  kross,  hross, 
frciiiiiii,  liramm.  Infolgedessen  ist  es  nötig  entweder  einen  consonant 
ZAveimal  zu  schreiben  oder  sich  zu  bequemen,  ihn  so  zu  schreiben. 

In  den  fünften  ring  sind  die  buchstaben  eingetragen,  Avelche 
undirstafir  lieissen  (d.  h.  buchstaben,    die  nicht  im  anlaiit  stehen  dür- 

1)  So  glaube  ich  die  wortc  des  ui'textes  er  skiptliKjr  helflr  am  treusten  wider- 
zugeben.  Egilsson  übersezt  (Sn.  E.  ü.  51):  Duodccima  läcra  est  variabiU^. —  Brca- 
ner  übersezt:  „Avechsler." 


UNTERSUCHUNGEN   ZUR   SN.  EDDA    I  167 

fen):  ä.  z.  x.  Diese  buclistabeii  können  juir  mit  einem  andern  in  Ver- 
bindung gebraeht  werden,  wenn  in  einer  silbe  ihnen  ein  vulval  unmit- 
telbar vorangellt.  Der  vierte  buchstabe  ist  c,  den  manche  leute  als 
graphisches  zeichen  für  k  gebrauchen;  aber  das  allein  ist  sein  wahrer 
wert,  dass  er  wie  die  andern  maUratalir  (nur)  am  ende  der  silbe  ste- 
hen darf. 

Die  abkürzungen  sind  hier  geschrieben  wie  man  sie  auch  sonst 
zu  schreiben  pflegt.) 

Figur  IL 

(Die  buchstabentabelle,  die  hier  aufgezeichnet  ist,  ist  so  mit  der 
spräche  in  Verbindung  gebracht,  wie  die  tasten  mit  dem  musikalischen 
tone;  und  wie  die  linien  (d.  i.  saiten)  den  vokalen,  so  gleichen  die  tasten 
den  consonanten.  Consonanten  stehen  soavoI  vor  als  hinter  jeder  (vokal-) 
linie,  und  sie  erzeugen  die  spräche  durch  ihr  zusammentreffen  mit  die- 
sen, je  nachdem  sie  vor  oder  nach  dem  vokale  stehen.  Wir  nennen 
das  tasten,  worin  sie  stehen  (d.  i.  die  kleinen  viereckigen  kästchen  der 
tafel),  und  sie  sind  hier  auf  dem  fehle  gerade  so  gesezt,  wie  die  tasten 
in  der  siraphonie,  und  man  muss  sie  reissen  oder  stossen,  und  dadurch 
die  liniensaiten  schwingen  lassen,  imd  man  bekomt  so  den  ton,  welchen 
man  gehabt  Jiaben  will.  —  Dieser  Vereinigungen  (d.  i.  von  vokal  und 
consonant)  sind  hier  nicht  mehr  als  die,  von  denen  oben  geschrieben  ist, 
und  die  kleinsten  von  denen,  die  sich  zu  einer  silbe  verbinden  lassen, 
denn  hier  ist  in  der  Vereinigung  nur  ein  vokal  und  ein  consonant. 
Es  gibt  so  viel  Vereinigungen,  wie  viel  oben  auf  der  buchstabentabelle 
verzeichnet  sind.) 

Hier  stehen  auf  dem  blatte  oben  von  links  nach  rechts  elf  vokale, 
aber  von  oben  nach  unten  zwanzig  consonanten.  Leztere  sind  so  gesezt, 
wie  die  tasten  in  der  simphonie,  aber  die  vokale  wie  die  saiten.  Zwölf 
consonanten  geben  ton,  mag  man  die  tasten  (häkchen)  reissen  oder 
stossen,  während  die  andern  acht,  die  zulczt  geschrieben  sind,  nur 
einen  halben  ton  im  vergleich  zu  jenen  haben:  die  einen  nämlich  tönen, 
wenn  du  sie  zu  dir  ziehst,  die  andern,  wenn  du  sie  von  dir  stösst.  — 
Folgende  vokale  stehen  oben  von  links  nach  rechts:  a.  e.  i.  o.  u.  y.  c. 
q.  av.  ei.  ey.  Dies  sind  die  zwölf  consonanten:  /;.  d.  f.  <).  k.  l.  in.  n. 
p.  r.  s.  f.  Halben  ton  im  vergleiche  zu  diesen  liaben  folgende  conso- 
nanten: d.  p.  X.  V.  c.  h.  X.  q. 

LEIPZIG.  E.    MOGK. 


1  öS  MÜLLEK  -  yKAUENSTEIN 

ÜEEK  ZIGLEES  ASIATISCHE  BANISE. 

(Fortsetzung  imd  scliluss.) 

"Wenden  Avir  uns  nun  dem  inneren  ausbau  zu.  Einige  alge- 
meine  bemerkungen  mögen  da  vorausgehen.  In  betreff  der  kunstmittcl, 
■welche  dem  erzähler  als  solchem  zu  geböte  stehen,  ist  Zigler  durch- 
aus nicht  zaghaft.  Xicht  ernstlich  zu  bezweileln  ist,  dass  er  von  der 
lateinisch -griechischen  schulgelehrsamkeit  seiner  zeit  ganz  bedeutenden 
gebrauch  gemacht  hat;  dagegen  ist  mir  zweifelhaft,  ob  er  die  poetiken 
und  rhetoriken  der  französischen  Jesuiten  seines  Jahrhunderts  studiert 
hat^.  An  und  für  sich  ist  dies  zwar,  da  er  ja  so  viel  gelesen  hat, 
nicht  unwahrscheinlich;  meine  bemühungen,  mehr  positives,  als  Bober- 
tag  in  dieser  beziehung  gefunden  hat,  beizubringen,  sind  aber  erfolg- 
los gewesen.  Yon  zwei  gerade  in  dieser  zeit  erschienenen  rhetoriken 
kann  ich  allerdings  ganz  deutlich  beweisen,  dass  sie  ohne  einfluss  auf 
Zigler  gewesen  sind.  Bernard  Lamys  rhetorik  widerspricht  mit  ihren 
regeln  über  die  anwendung  der  tropen  und  tiguren  und  über  den  stil 
seiner  methode  schnurstracks;  es  weht  ein  vöUig  anderer  geist  in  bei- 
den büchern.  Auch  die  Sentiments  sur  les  lettres  et  sur  l'histoire  avec 
des  scrupules  sur  le  stile  (Paris  1683),  ein  geistreich  und  gewant 
geschriebenes  werkchen,  entspricht  in  seinen  anweisungen  unserem 
geschmacke  weit  mehr  als  dem  der  zweiten  schlesischen  schule.  Schärfe 
und  kürze  des  ausdrucks,  Vermeidung  von  Sprichwörtern,  charakte- 
ristische w^ahl  der  worte  je  nach  der  sprechenden  person,  mass  in  lob 
und  tadel  wird  da  gefordert.  Den  alten  schwerfälligen  romanen  stelt 
es  die  novellen  gegenüber  und  begründet  die  abneigung  gegen  erstere 
mit  ihrer  länge,  ihrer  mischung  von  vielen  verschiedenartigen  geschich- 
ten,  ihrer  masse  handelnder  personen,  der  altertümlichkeit  ihrer  Stoffe, 
der  Schwerfälligkeit  ihres  baues,  ihrer  un Wahrscheinlichkeit  und  ihrem 
über  mass.  3Ian  sieht,  das  sind  alles  aussetzungcn ,  die  auch  die  Banise 
treffen. 

Xoch  ein  anderer  umstand  hat  mich  von  dem  glauben  abgeführt, 
dass  Zigler  sich  auf  framiösische  regeln  direkt  stütze.  Nahe  lag  der 
verdacht,  den  freilich  vor  mir  niemand  ausgesprochen  hat,  dass  die 
zahlreichen,  zur  rhetorischen  ausschmückung  eingeflochtenen  briefe  nach 
französischen  mustern  entworfen  seien.  Ich  habe  mich  deshalb  die  mühe 
nicht  verdriessen  lassen,  alle  damaligen  französischen  briefsteiler,  die 
mir  erreichbar  waren,   genau  zu  vergleichen:    Pielat,   Le  secretaire  in- 

1)  Vgl.  E.  Schmidt  in  Schnorrs  Archiv  II,  1880, 


ZIGLEKS    ASIATISCHE    BANISE  1(59 

connu  (Lyon  1672  und  1683),  desselben  Secretciirc  nouveaii  (Amster- 
dam 1679),  ferner  Kiche-Source,  La  bousole  du  parfait  secretaire  (Paris 
1680),  auch  (Quinet),  Nonveau  recueil  de  lettres  et  billets  galandes 
(Paris  1680).  Aus  ihnen  allen  hat  Zigler  keinen  buchstaben  entnom- 
men. Es  wäre  hiichstens  nicht  unmöglich,  dass  er  einige  winke  der 
Bousole  befolgt  hätte.  Wir  suchen  deshalb  direkt  aus  der  Banise  selbst 
die  rhetorischen  grundsätze  Ziglers  herauszulesen. 

Sie  sind  gar  nicht  so  unbedeutend.  Er  geht  sofort  in  medias  res, 
sezt  an  einem  passenden  punkte  ein,  baut,  wenn  auch  in  groben  for- 
men, doch  nach  einem  einheitlichen  plane,  gibt  episoden  und  digres- 
sionen,  lässt  parallele  handlungen  und  in  gewissem  sinne  auch  parallele 
Charaktere  vor  uns  erscheinen,  stelt  rührendes  und  komisches  in  manch- 
mal nicht  ungeschickter,  zumeist  freilich  uns  wenig  anmutender  weise 
neben  einander,  versucht  direkt  und  indirekt  zu  charakterisieren,  wenn 
uns  die  dafür  aufgewanten  mittel  auch  nicht  selten  recht  Avunderlich 
vorkommen  mögen,  und  hält  die  Charaktere  im  grossen  und  ganzen 
entschieden  fest.  Er  erhöht  die  Spannung  durch  algemeine  andeutun- 
gen,  die  im  voraus  beruhigen  oder  erschrecken,  und  zwar  thut  er  dies 
sparsam,  nicht  im  Übermasse,  wie  es  seine  zunftgenossen  sonst  wol  zu 
tun  pflegen,  er  verwickelt  und  entwirt,  wenn  auch  hie  und  da  etwas 
gewaltsam,  doch  im  algemeinen  nicht  durch  geradezu  unglaubliche 
ei-findungen,  strebt  einen  bestimten  lokalton  wenigstens  an,  wenn  er 
auch  oft  genug  aus  dem  lande,  in  dem  die  handiung  spielt,  wider  her- 
ausfält,  und  versteht  den  f ortschritt  der  ereignisse  zu  steigern,  wenn 
auch  gerade  die  höhepunkte  uns  die  mängel  seiner  dichtung,  die  gren- 
zen seiner  kraft  am  deutlichsten  zeigen.  Yor  allem  aber  hat  er  doch 
tiguren  geschahen,  denen  das  interesse  gewahrt  bleibt,  dankbare  gestal- 
ten für  den  roman  seiner  und  überhaupt  jeder  zeit,  und  zwar  nicht  in 
so  grosser  anzahl  und  nicht  so  bunt  durch  einander  laufend,  dass  sie 
auf  einander  drücken  oder  sonst  einander  schädigen  i. 

1)  Scherers  lu-teil  kann  ich  darin  wol  allein  mit  zu  hilfe  rufen.  In  betreff  der 
Charaktere  kann  E.  Schmidt  „  beim  besten  willen  keine  individualisierung  in  Banise, 
Balacin,  Chaumigrem,  Eolim  finden'^,  die  figuren  und  Verwicklungen  seien  vielmelir 
im  wesentlichen  typisch.  Cholevius  s.  164  meint,  alle  figuren  glichen  einander,  die 
guten  hier,  die  schlechten  dort,  nur  in  den  Schicksalen  seien  einige  hervoitretend. 
Bobeiiag,  der  überhau^it  nicht  gar  viel  von  Charakteristik  wissen  will,  sagt  s.  223, 
Zigler  leiste  etwas  mehr  darin  als  Bucholtz  und  Lohenstein,  tadelt  aber  auch,  dass 
die  tugendhelden  wie  die  bösewichter  „abstrakt  folgerichtig'^,  „genau  nach  der  instrak- 
tion"  seien.  Ich  finde  das  doch  nicht  so  absolut:  Chaumigrem  macht  versuche,  bes- 
ser zu  erscheinen  (219,  230,  330,  361),  Balacin  lernt  erst  regieren  und  scheint  mit 
dem  amte  zu  wachsen,    Scandor  hebt  sich  doch  auch  etwas.     Eine  entwicklung  der 


170  MÜLLER  -  yRAÜEXSTEIN 

Die  engelsoböne  und  engelreine  Banise  und  ilir  tapferer  und 
getreuer  Balaein  sind  das  liebespaar  par  excellence,  neben  welches  zwei 
andere  von  ähnlicher  treue,  wenn  auch  in  abgeschwächten  lichttönen 
treten:  Balacins  Schwester  Higvanama  und  Nherandi  von  Siam,  des 
lezteren  Schwester  Fylane  und  Palakin  von  Proni.  Ihrer  aller  glück- 
liche Vereinigung  nach  Überwindung  der  gr(3ssten  hindernisse  ist  das 
ziel,  dem  der  dichter  zustrebt.  Zwei  andere  liebespaare  von  geringerer 
bedeutung  bilden  eine  art  zweiter  gruppe,  die  das  gemeinsame  hat, 
dass  die  weiblichen  glieder  derselben  die  männlichen  erobern,  so  wenig 
die  lezteren  zuei*st  dieses  Schicksal  für  begehrenswert  halten,  imd  dass 
dadurch  die  beiden  hauptpersonen,  denen  hier  Lorangy,  dort  Zarang 
nachstellen,  luft  erhalten.  Ein  tiefgreifender  unterschied  liegt  aber  darin, 
dass  Scandor,  Balacins  Paladin,  im  gründe  doch  die  seinem  herrn 
naclilaufende  Lorangy  übertrumpft  und  so  zu  einer  seinem  Charakter 
diu'chaus  entsprechenden  höchst  komischen  lösung  anlass  gibt.  Der 
prinz  Zarang  von  Tangu  dagegen,  welcher  um  Banisens  willen  die 
grössten  anstrengungen  macht  und  deshalb  sich  einmal  zu  feigen  und 
hinterhstigen  streichen  hergibt,  dann  Avider  in  frauenkleidung  in  den 
tempel  der  prinzessin  dringt,  endlich  neben  Balaein,  aber  nicht  als 
freund,  sondern  nebenbuhler,  Pegu  belagert,  um  Banise  zu  befreien, 
dieser  Zarang  dagegen,  sage  ich,  wird  von  der  ihm  ewig  getreuen 
Prinzessin  von  Savaady  ganz  regekecht  überrumpelt  und  nimt  einen 
völligen  neigungs-  und  damit  Charakterwechsel  vor,  um  sich  ihrer 
gelungenen  list  doch  endlich  zu  freuen. 

Auf  der  siegenden,  nach  unerhörten  gefahren  endlich  triumphie- 
renden Seite  stehen  sodann  noch  in  zweiter  linie  der  alte  Talemon  und 
Hassana,  Lorangys  eitern,  deren  bruder  Ponnedro,  der  „oberhoffmeister 
über  das  frauenzimmer  des  käysers  Chaumigrem",  ferner  die  feldherren 
Padukko,  Mangostan,  der  Überläufer  Martong  und  endlich  der  weise 
Korangerim,  Avelcher  als  neuer  Kolim  d.  i.  als  Oberhaupt  der  hierarchie 
schliesslich  die  krönung  des  liebespaares  ausführt. 

Gegenüber  diesen  personen  steht  nun  in  allererster  linie  der 
Wüterich  Chaumigrem,  der  zuerst  Higvanama,  sodann  Banise  verfolgt, 
dann  der  alte  Rolim  von  Pegu,    welcher  neben  seinem  herrn  Banisens 

chai'aktore  hat  Zigler  freüicK  kaimi  erstrebt.  Richtig  ist  zweifellos  Bobeiiags  satz 
224:  „Der  hauptfehler  sei,  dass  diese  heroisch  -  galanten  Schriftsteller  Charaktere  schil- 
derten, die  sie  im  leben  nicht  trafen",  wenigstens  in  dem  sinne,  als  sie  übertreiben. 
Ebenso  imtersclireibe  ich  sein  uiieil:  Grimmeishausen  stehe  in  betreff  der  menschen- 
darstellung  weit  höher.  Trotzdem  kann  ich  das  wegwerfende  wort  von  dem  „poe- 
tischen unwert-  dieser  lezten  auf  die  Banise  wenigstens  nicht  mit  beziehen, 


ZIGLEKS    ASIATISCHE    BANISE  171 

besitz  erstrebt;  von  iluien  erleidet  der  erste  durcli  Balacin,  der  zweite 
diireh  die  lieldin  selbst  den  tod.  Neben  iluien  wären  als  einzii^e,  nuch 
etwas  charakterisierte  nebenpersonen  des  ersteren  briider  Xeminbrun 
und  der  feldlierr  Soudras  zu  nennen. 

Eine  ganz  eigentümlich  grosse  zahl  schlechter  väter  und  mütter 
bewegt  sich  sodann  mehr  im  liiutergrunde  der  tabel,  für  die  Verwicke- 
lungen sind  sie  jedoch  gerade  von  höchster  bedeutung.  So  in  Ava 
Balacins  luul  Higvanamas  vater  Dacosem,  der  die  schlänge  Chaumigrem 
grosszieht  inul  seinetwegen  die  eigenen  kinder  von  sich  stösst,  ebenso 
in  Odia  der  vater  Nherandis  und  Fylanes,  Higvero,  welcher  seiner 
zweiten  trau,  jener  beiden  Stiefmutter,  seine  liebe  zu  den  kindern  erster 
ehe  opfert,  ferner  in  Prom  Palekins  vater  und  Stiefmutter,  die  genau 
ebenso  handeln,  so  dass  der  söhn  unter  dem  nanien  Abaxar  sein  glück 
in  der  fremde  sucht,  endlich  Scandors  vater,  der  den  söhn  einer  sieb- 
zehnjährigen Stiefmutter  wegen  davon  jagt.  Die  einzigen  guten  eitern 
sind  im  gründe  nur  diejenigen  Banisens,  deren  vater  Xemindo  in  dem 
besten  lichte  erscheint,  und  Lorangys,  deren  ptlegemutter  Hassana  doch 
immer,  wenn  auch  auf  einem  ungewöhnlichen  w^ege,  das  glück  dersel- 
ben erstrebt,  während  Talemon  als  vater  gleichgiltiger  erscheint.  Von 
den  älteren  franen  in  unserem  roman  ist  im  ganzen  also  nicht  viel 
gutes  zu  berichten,  die  Stiefmütter  erscheinen  besonders  von  ihrer 
abschreckendsten  seite,  wie  sie  nur  immer  die  Volksmärchen  darstellen 
können.  Ein  paar  werte  müssen  aber  im  besonderen  noch  der  oben 
erwähnten  Hassana  und  einer  anderen  duenna,  Banisens  hofdame  Es- 
Avara  gewidmet  werden.  Sie  repräsentieren  die  intriguensucht  der  frauen 
mitleren  alters,  sind  zu  liebesaffairen  trotz  ihrer  Verheiratung  auch 
selbst  noch  geneigt,  beide  aber  werden  vom  dichter  mit  überlegenem 
humor  behandelt.  Eswara,  des  oberelephantenwärters  von  Pegu  abstos- 
sende  gattin,  stelt  dem  edlen  Scandor  selbst  nach,  Hassana  aber  erhält 
ihn  sehr  wider  ihren  willen  zum  Schwiegersöhne,  da  er  sich  für  seinen 
herrn  opfert  und  unter  dessen  namen  sich  zu  einer  ehe  nötigen  lässt, 
die  ihm  bei  lichte  besehen  gar  nicht  so  uneben  dünkt. 

Die  beiden  hauptpersonen  nun  sind  für  unseren  geschmack 
zu  rosenrot  gekleidet.  Was  ich  an  mangeln,  die  der  dichter  beabsich- 
tigt haben  kann,  entdeckt  habe,  beläuft  sich  bei  Balacin  darauf,  dass 
dieser  einmal  sich  durch  bestochene  ratgeber  abhalten  lässt,  in  seines 
feindes  ab  Wesenheit  gleich  nach  Pegu  zu  ziehen  und  Banise  zu  befreien, 
sodann  dass  er  nach  der  ersten  befreiung  der  Banise  mit  ihr  sich  ver- 
irt,  obgleich  er  für  die  flucht  alles  vorher  genau  bestimt  hat  und  w^ahr- 
haftig  zeit  genug  und  vor  allem  grund  genug  zum  erkunden  des  weges 


172  MÜLLER  -  FKAUEXSTELV 

gehabt  liätte,  und  dass  er  dabei  schliesslich  vorausreitet  und  seine 
braut  in  feindeshaud  fallen  lässt,  ohne  einen  versuch  zu  ihrer  rettung 
zu  machen.  Es  sieht  aber  nicht  aus,  als  ob  das  in  des  dichters  äugen 
flecken  auf  des  prinzen  charakterbilde  sein  selten,  obgleich  doch  beide 
male  die  gefahren  und  seeleu quälen  seiner  verlobten  dadurch  verlängert 
und  gesteigert  werden.  Zigler  gibt  ihm  zwar  eine  art  jugendlicher 
Unbesonnenheit,  lässt  ihn  schnell  verzweifeln,  Selbstmordversuche  machen, 
aber  er  meint  zweifelsohne  das  ideal  eines  jungen  fürsten  in  Balacin 
gezeichnet  zu  haben.  Uns  könte  wol  noch  mancher  andere  punkt  an 
ihm  aiüiallen,  im  handeln  und  im  sprechen,  doch  sie  erklären  sich 
leicht  aus  dem  anderen  geschmack,  der  anderen  zeitrichtung ,  sind  auch 
unbedeutend.  Banise  ist  vom  dichter  entschieden  noch  vorteilhafter 
entworfen,  engelrein  an  geist  und  körper,  von  heroischer  Willensstärke; 
aber  an  dem  bilde  der  trau  fallen  uns  doch  gewisse  züge  noch  mehr 
auf,  die  selbst  vor  200  jähren  nicht  algemein  unangefochten  vor  der 
schönen  leserinnen  äugen  durchpassiert  sein  mögen.  So  wenn  Banise 
in  schimpfreden,  wie  sie  heute  nur  das  gröbste  hökerweib  brauchen 
würde,  allerdings  in  fürchterlichen  Situationen,  ausbricht,  so  wenn  sie  den 
Kolim,  den  hohenpriester,  um  ihre  ehre  zu  retten,  mit  dem  deiche  ersticht. 

Die  frauen,  das  ist  meine  empfindung,  hat  Zigler  überhaupt  mit 
mehr  energie  im  reden  und  handeln,  um  es  mild  auszudrücken,  aus- 
gestattet, als  uns  angenehm  sein  kann.  Ich  will  da  nicht  seine  eigen- 
schaft  als  Junggeselle  mit  zur  erklärung  benutzen,  wenn  schon  die  ver- 
liebe, mit  der  in  den  gesp rächen  über  liebe  und  ehe  abschreckende 
beobachtungen  angebracht  sind,  dazu  verfülu'cn  könte.  Ich  will  auch 
nicht  bei  den  älteren  frauen,  die  in  die  handlung  eingreifen  luid  die 
ich  schon  erwähnt  habe,  länger  verweilen;  von  deren  untreue,  eventuell 
ihren  zotenhaften  reden,  soll  später  gesprochen  werden;  Eswara  und 
Hassana  sind  dafür  typisch.  Jedesfals  kent  der  dichter  aber  seine  zeit. 
Die  fleckenlose  fügend  Banisens  und  ihrer  späteren  Schwägerin  Higva- 
nama  hält  er  jedoch  als  die  edelste  eigenschaft  derselben  fest,  durch 
ihr  und  der  dritten  prinzessin,  Fylane,  verhalten  werden  im  gründe 
die  pessimistischen  anscliauungen ,  welche  Scandor  speciell  zur  schau 
trägt,  lügen  gestraft.  Doch  sanfte,  liebliche  figuron  sind  diese  damen 
ganz  und  gar  nicht,  sie  gleichen  viel  mehr  amazonen,  sind  eine  art 
mannweiber  nach  dem  mustor  der  Dido  und  Semiramis.  Schwache 
nennen  suchen  wir  vergebens,  im  hass  und  in  der  liebe  beweisen  die 
frauen  sich  als  starke  naturen. 

Sind  wir  nun  berechtigt,  diese  eigentümlichkeit  nur  aus  der  rück- 
sicht   auf  den   geschmack    der    deutschen    leseweit  vor  200  jähren   zu 


ZIGLERS    ASIATISCHE   BAMSE  173 

erklären,  oder  küimen  wir  aucli  darin  eine  liühere  hiinstlerische  Über- 
legung suchen?  Uns  erscheinen  diese  trauen  sicher  weit  mehr  als 
Asiatinnen  denn  Europäerinnen;  aber  die  briete  der  pfälzischen  tugend- 
wächterin  am  hofe  Ludwigs  XIV.,  der  herzogin  Elisabeth  Charlotte 
von  Orleans,  welche  durchaus  in  die  zeit  der  Banise  fallen,  geben 
uns  allein  schon  den  massstab,  wie  die  damaligen  deutsehen  Prinzes- 
sinnen sich  auszudrücken  wüsten.  Zwischen  jenen  tagen  und  der 
gegenwart  liegt  das  jahrlumdert  der  Sentimentalität,  über  die  wogen 
der  Pamela-  und  Werther -Schwärmerei  müssen  wir  hinüberblicken  zu 
dem  öden  strande  deutscher  Verrohung,  den  der  dreissigjährige  krieg 
hinterlassen  hatte.     Das  berücksichtige  man  für  das  folgende. 

Als  Banise  zum  ersten  male  vor  Chaunngrem  geführt  wird  (231), 
tritt  sie  noch  ziemlich  zahm  auf,  sie  sucht  sich  durch  „hefftigste  zorn- 
blicke" ihm  verhasst  zu  machen  und  durch  „viele  scheltworte"  ihn  zur 
volziehung  des  todesurteils  zu  bewegen.  „Blutbegieriger  tyrann",  „Ver- 
räter meines  Vaterlandes",  „henker  meiner  freunde,  mörder  meiner  lan- 
des-leute,  bluthuud"  sind  die  titel,  welche  sie  ihm  zuruft.  Stärker 
schon  sind  die  ausdrücke,  die  sie  nach  dem  verunglückten  fluchtver- 
such  vor  ihrem  peiniger  gebraucht  (266).  Am  höchsten  steigt  aber 
wie  natürlich  ihr  zorn,  als  der  Rolim  ihr  gewalt  antun  will;  die  Wen- 
dungen, in  denen  sie  ihrem  gepressten  herzen  da  luft  macht,  sind  die 
krassesten,  welche  ihrem  schönen  munde  entströmen,  sie  würden  heute 
nur  in  den  dichtungen  Zolas  und  seiner  schule  denkbar  sein  (353). 
„Schäme  dich  ins  hertz,  du  alter  stinckender  geilheits-bock!  Sollen 
die  götter  durch  deine  unzüchtige  scheinheiligkeit  dermassen  beleidiget 
w^erden?  0  so  schlage  doch  der  blitz  deinen  grauen  schedel  entzwey!" 
Und  als  sie  von  den  reichsräten  an  des  Rolim  leiche  gefunden  wird, 
bewegt  sie  sich  in  ganz  ähnlichen  ausdrücken  (354). 

Dieselben  lippen  aber,  die  sich  durch  solche  zügellose  reden  ent- 
weihen, können  auch  wider,  wenn  ein  listiger  anschlag  durchgesezt 
werden  soll,  kokette  und  verführerische  werte  genug  finden.  So  bei 
den  Vorbereitungen  zu  dem  verunglückenden  fluchtversuch.  Banise  ist 
eben  erst  vom  Selbstmord  abgehalten  worden;  in  dem  augenblick,  wo 
sie  den  dolch  in  ihre  entblöste  brüst  stossen  will,  tritt  Ponnedro  ins 
zimmer  und  entreisst  ihr  die  waffe  (233).  Er  sagt  ihr:  „Wo  erd  und 
hölle  nicht  vermag,  kann  bloss  die  list  eines  frauenzimmers  auch  selbst 
die  unmögligkeit  überwinden."  Sie  solle  sich  gegen  Chaumigrem  der- 
massen anstellen,  dass  er  mehr  Ursache  zur  liebe  als  zur  grausamkeit 
haben  möge."     Und  als  nun  der  tyrann   zu  ihr  tritt,  während  Balacin 


1 74  Mt^LFP  -  FRArEN'STErN' 

hinter  einer  tapete  versteckt  ist,  riclitet  sie  an  jenen  die  verfänglichen 
Avorte:  „AVo  in  dieser  weit  (245)  noch  etwas  zu  finden  Aväre,  womit 
ein  gefesseltes  frauenz immer  einen  solchen  ]\Ionarclien,  Avelchem  die 
Vergnügung  selbst  zu  fusse  fallt,  vergnügen  könne,  so  wüste  ich  doch 
nicht,  worinnen  solche  erfüUung  heruhen  solte?"  Tm  weiteren  verlauf 
des  gespräches  weiss  sie  so  do})peldeutig  zu  sprechen,  dass  es  ihren 
bräutigam  hinter  der  tapete  bald  heiss  bald  kalt  überläuft;  sie  geht  so 
weit  zu  gestehen:  ,, Ein  verborgener  trieb  entzündet  mich,  und  ein 
innerlicher  zug  heisset  mich  lieben,  das  kan  ich  nicht  läugnen."  Sie 
weiss  ihn.  natürlich  nur  um  zeit  zu  gewinnen,  zu  einer  standesgemäs- 
sen  Verheiratung  zu  bereden,  dann  solte  „dem  kayser  die  ersten  rosen 
ihrer  liebe  zu  samein  mit  freuden  erlaubet  sevn."  Und  als  der  ver- 
liebte  tyrann  eilfertig  darauf  eingeht,  verlängert  sie  die  Unterredung 
„mit  verstelten  liebesgeberden",  nent  ihn  „mein  schätz,  mein  augen- 
trost"  und  beichtet  ihm,  dass  ilir  „entflammtes  hertze  ganz  entzückt 
den  Weyrauch  beliebter  gegen -liebe  auf  den  altar  seiner  seelen  streue 
und  sich  diese  glut  in  ihr  nicht  länger  verbergen  lasse."  „Sie  schla- 
get zu  mund  und  äugen  heraus,  weil  mein  geist  von  lust  und  liebe 
gleichsam  überschwemmet  wird."  „Eben  diese  flammen  quälen  mein 
hertze,  und  ich  bin  nicht  weniger  begierig  unsere  liebe  vollkommen 
zu  machen."  Drei  tage  frist  bis  zur  Vermählung  sind  das  resultat  die- 
ses gespräches,  und  als  der  abend  gekommen,  an  dem  „das  Tali"  vor 
sich  gehen  soll,  lässt  sie  sogar  Chaumigrem  wissen,  dass  ihm  noch 
vor  der  engeren  Verbindung  ihr  zimmer  offen  stehe.  Damit  ist  die 
gelegenheit  zur  flucht  ermöglicht;  kaum  ist  der  verliebte  bei  ihr  ein- 
getreten, so  weiss  sie  ihren  wundertrank  anzubringen  und  entflieht. 
Alle  diese  scenen  sind  aber,  das  muss  zu  Ziglers  ehre  gesagt  werden, 
nicht  weiter  sinlich  ausgemalt,  Chaumigrem  bringt  es  in  summa  bis 
zu  einem  einzigen  handkusse,  und  auch  seine  worte  halten  sich  hier 
in  gebührenden  schranken. 

Banisens  benehmen  gegen  den  Holim  und  gegen  Chaumigrem 
können  wir  nach  den  gegebenen  beispielen  kaum  anders  als  extrava- 
gant nennen;  darauf  beziehen  sich  meine  worte,  wenn  ich  sie  amazo- 
nenhaft  finde.  Die  schreckliche  läge,  in  die  sie  durch  jene  gebracht 
ist,  entschuldigte  sie  vielleicht  vor  200  jähren,  heute  urteilen  wir  stren- 
ger. Gegen  ihren  etwas  weichherzigen  vater  und  gegen  ihren  bräu- 
tigam, überhaupt  gegen  alle  anderen  personcn,  mit  denen  sie  zusam- 
mentrift,  selbst  gegen  den  zudringlichen  prinzen  von  Tangu,  ist  und 
bleibt  sie  die  edle   und  feingebildete  dame  der  vornehmen  weit,    auch 


ZIOLERS    ASlATISnH^    BANISR  175 

nacli  unseren  begriffen.  Ihre  briefe  und  gediclite'  zeiclmen  sich  vor- 
teilhaft durcli  kürze  und  niclit  gar  zu  übertriebenen  schwulst  aus.  Ich 
nenne  als  probe  das  antwortslied  auf  Balacins  erstes  liebesgedicht  nach 
der  Verlobung;  mir  Avill  es  von  allen  das  annehmbarste  scheinen  (164). 
Auch  in  den  scenen  vorher,  als  l^alacin  seine  liebe  erklärt,  spielt  sie 
^ne  natürliche  und  wirklich  liebenswürdige  rolle,  ihre  klarheit  sticht 
nach  unserem  geschmacke  woltuend  ab  gegen  die  schwülstigen,  unsiig- 
lich  breiten  sätze,  die  Zigler  dem  prinzen  in  den  mund  legt  und  mit 
denen  er  sicher  einen  glanzpunkt  seines  werkes  geschaffen  zu  haben 
glaubt. 

Ist  demnach  bei  dem  ersten  und  Avichtigsten  liebespaare  unseres 
buches  der  männliche  Vertreter  neben  seiner  partnerin  etwas  scliwächer 
gehalten,  so  ist  bei  dem  zweiten  das  Verhältnis  umgekehrt.  Der  prinz 
Nherandi  hat  dieselben  höfischen  fugenden  wie  Balacin,  seine  persön- 
liche tapferkeit  tritt  in  den  schlachten  aber  mehr  hervor  als  bei  jenem. 
Jähzornig  ist  er  auch,  so  wenn  er  dem  bramanischen  gesanten  den 
köpf  abschlägt  (287),  aber  im  ganzen  erscheint  er  schon  gereifter  als 
sein  Schwager.  Dessen  Schwester  dagegen,  seine  braut,  hat  insofern 
eine  gewisse  familienähnlichkeit  mit  dem  bruder,  als  sie  zu  unbeson- 
nenen streichen  neigt.  So  schon  gegen  Chauniigrem  und  vor  allem 
bei  ihrem  anmarsch  vor  Pegu.  Eine  tagereise  davon  überlegt  sie  „mit 
tausend  freuden,  wie  sie  durcli  eine  Verstellung  das  Aracanische  lager 
erschrecken  und  sich  hernach  mit  beliebter  anmut  zu  erkennen  geben 
wolte."  Sie  macht  also  halt,  um  am  andern  tag  den  bruder  zu  über- 
raschen, und  —  lässt  sich  von  Soudras  überfallen  und  gefangen  neh- 
men. Gegen  ihren  bruder  und  ihren  bräutigam  verrät  sie  jedoch  ganz 
dieselben  treflichen  gesinnungen  wie  Banise;  sie  gleicht  ihr  aber  auch 
im  verhalten  gegen  Chaumigrem,  der  ihr  von  dem  bösen  vater  Daco- 
sem  aufgezwungen  werden  soll.  Sie  durchschaut  seine  lügen,  weiss 
sich  vor  ihm  zu  verstellen  und  listig  seinen  anschlagen  zu  begegnen, 
standhaft  weist  sie  alle  Versuchungen  zurück.  Auch  ilire  reden  lassen 
schliesslich  an  deutlichkeit  dem  zudringlichen  heuchler  gegenüber  nichts 
zu  wünschen  übrig,  nur  dass  sie  weniger  robuste  ausdi-ücke  als  Banise 
Avählt.  „Hochmütige  einfalt",  sagt  sie  (s.  78),  „ich  als  eine  freygebohrne 
Königliche  Princeßin  soll  mich  zwingen  lassen,  einen  sclaven  der  laster 
zu  lieben?  Unverschämter  graff,  schämet  euch  in  euer  hertze"  usw. 
Am  meisten  lässt  sie  sich  einmal  gegen  Scandor  gehen  (53),  als  dieser, 
ohne  den  Zusammenhang  zu  ahnen,  sich  zum  Überbringer  eines  briefes 

1)  Selbst  Wachler  räumt  ein,  dass  unter  den  eingeschalteten  gedichten  meh- 
rere lyrischen  geist  und  tiefes  gefühl  ven-aten. 


176  MÜLLER  -  FRAÜENSTEIN' 

von  ChaumigTom  hergegebeu  hat.  Sie  speit  das  sclireibeu  an,  wirft 
es  zur  erde,  tiitt  es  mit  füssen  und  redet  den  unglücklichen  boten  mit 
den  freundlichen  Avorten  an:  „Und  du,  vertluchter  hund,  darffst  dich 
untei-tangen ,  mir  von  einer  ewigverbanten  person  solche  Sachen  einzu- 
händigen, welche  würdig  wären,  mit  dem  hencker  beantwortet  zu  wer- 
den. Hiervon  solte  gewiß  an  dir  der  anfang  gemacht  werden,  wenn 
ich  nicht  des  Printzen  (Balacin)  vei-schonte.  Inmittelst  lasse  dich  nicht 
gelüsten,  vor  meinem  angesicht  mc^hr  zu  erscheinen,  sonsten  soll  dein 
kopff  auff  dem  rumpffe  wackeln.'^  Auch  sie  hat  eimnal  Selbstmord- 
gedanken, doch  bewegt  sich  ihr  Schicksal  glücklicherweise  in  weniger 
extremen  bahnen  als  das  ihrer  Schwägerin,  Avenn  ihr  auch  bei  ihrer 
gefangennähme  gelegenheit  geboten  wird  (s.  368),  „sich  aller  w^eiblichen 
natur  zuwider  als  eine  ungemeine  heldin  zu  beweisen"  und  tapfer  in 
(lie  feinde  einzuhalten.  Das  gedieht,  das  ihr  in  den  muiid  gelegt  wird, 
ist  gezierter  als  das  Banisens  (s.  48),  doch  nicht  so  schlimm  wie  man- 
ches andere,  die  scene  des  widersehens  mit  Xherandi  (370)  recht  leben- 
dig und  anmutend  ausgeführt.  Diese  leztere  partie  und  der  bericht 
von  der  briefsendung  ihres  geliebten,  Avelche  ihr  bruder  mit  einem 
kostbaren  goldenen  Schmuckkästchen  (s.  62  —  66)  überbringt,  sind  die- 
jenigen stellen,  in  welchen  Higvanamas  Schönheit  und  amnut  am  mei- 
sten zur  geltung  kommen.     Sie  gibt  da  Banisen  kaum  etwas  nach. 

Das  dritte  liebespaar  endlich,  Abaxar  oder  Palekin  von  Prom 
und  Fylane,  Mierandis  Schwester,  unterscheidet  sich  schärfer  von  den 
beiden  ei*sten  als  diese  unter  einander.  Abaxar  ist  von  den  priuzen 
im  gi'unde  der  festeste  Charakter.  Durch  harte  schicksalsschläge  gestählt, 
voll  Zuversicht  auf  seine,  voll  mistrauen  gegen  fremde  kraft,  vermag 
er  zu  schweigen  wie  das  grab,  von  langer  band  her  anschlage  zu 
schmieden  und  mit  unverdrossener  geduld  sie  durchzuführen.  Wie  eine 
art  schwarzen  rachegeistes  steht  er  neben  Chaumigrem,  an  Teja  erin- 
nernd neben  dem  Achilleus- Totila  ähnlichen  Balacin.  Ein  mal  auf  dem 
rechten  arme,  das  wie  ein  schwert  gestaltet  ist,  hat  gleich  bei  seiner 
geburt  „gantz  Asien"  auf  ihn  aufmerksam  gemacht.  Eine  böse  Stief- 
mutter aber,  die  ihrem  eigenen  söhne  die  herschaft  zuwenden  will, 
hat  ihn  dem  herzen  des  vaters  entfremdet  und  durch  Vergiftungsver- 
suche zur  flucht  getrieben.  Fünf  jähre  weilt  er  dann  in  Martaban 
incognito  als  graf;  Chaumigrem,  gegen  den  er  zuerst  tapfer  gekämpft 
hat,  wird  auf  ihn  aufmerksam  und  hebt  ihn,  den  gefangenen,  nach 
und  nach  immer  höher,  so  dass  er  ausschlaggebend  in  Banisens  Schick- 
sal eingi-eifen  kann.  Er,  Talemon  und  daneben  Scandor  sind  die  über- 
legten ratgeber,    die  Balacin   bei   der  unmöglich  scheinenden   befreiung 


ZIGLERS   ASIATISCHE   BANISE  177 

der  Prinzessin  zur  liand  g-elien,  er  gibt  die  entscheidenden  naeliriehten, 
zügelt  das  leidenschaftliche  ungestüm  und  weiss  alles  zum  besten  zu 
wenden.  Mit  Fylane  hat  ihn  boi  dor  belagerung  von  Odia  eine  merk- 
würdige vei'kettung  von  umstünden  zusammengeführt.  Bei  einem  stürme 
ist  er  der  erste  auf  der  mauer,  ptlanzt  selbst  eine  Peguanische  fahnc 
auf,  wird  aber  al)geschnii;i"'i  und  gefangen  genommen.  Nun  stirbt  die 
jüngste  Prinzessin  von  Slam,  ilire  Stiefschwester  Fylane  wird  von  der 
bösen  Stiefmutter  beschuldigt,  sie  vergiftet  zu  haben,  ein  verschmähter 
liebhaber  schürt  das  feuer,  und  Fylane  muss  die  flammenprobe  erlei- 
den. Von  schmerz  und  seelencpral  überwältigt,  gesteht  sie,  was  man 
von  ihr  verlangt,  und  wird  zur  Verbrennung  verurteilt.  Der  Stiefmut- 
ter ruft  sie  die  entrüsteten  werte  zu:  „Ha,  blut-gierige  bestie!  du  l)ist 
zwar  eine  henckerin  meines  leibes,  aber  doch  noch  viel  zu  wenig, 
meinen  willen  zu  zwingen  oder  mein  gemüthe  zu  beherrschen.  Die 
erschreckliche  schlänge  des  höllischen  rauch-hauses  wird  deine  dräuung 
an  dir  erfüllen  und  dich  statt  meines  vaters  mit  schwartzen  gei- 
stern vermählen."  Dem  vater  gegenüber  bleibt  sie  eine  gute  toch- 
ter,  sie  sagt  zu  ihm:  „Ob  ich  zwar  von  aller  weit  verlassen  bin,  und 
mir  derjenige,  welcher  mir  das  leben  gegeben,  statt  dessen  den  tod 
gewähret:  so  will  ich  doch  auch  sterbende  die  väterliche  band  küssen, 
und  die  kindliche  liebe  nicht  im  geringsten  beleidigen.  Ihm,  werthe- 
ster  Herr  Yater,  wünsche  ich,  dass  die  götter  diese  that  vergessen, 
und  die  räche  von  dessen  haupt  abwenden  wollen.  Ich  sterbe  als  ein 
unschuldig  gehorsames  kind."  Von  dem  abwesenden  bruder  endlich 
nimt  sie  mit  den  w^orten  abschied:  „Dir,  allerliebster  bruder  Nherandi, 
der  du  noch  meinen  tod  erst  mit  innigstem  Jammer  erfahren  solst, 
sage  ich  die  letzte  gute  nacht,  und  schicke  dir  durch  die  lufft  den 
letzten  abschieds-kuß"  {320  fgg.). 

Wie  anders  —  und  wdr  fügen  hinzu,  wde  viel  schöner  —  stelt 
Zigler  hier  eine  ähnliche  scene  des  abschieds  von  der  weit  dar  als  spä- 
terhin bei  Banisens  Opferung!  Ich  muss  auch  hier  wider  auf  die  man- 
nigfaltigkeit  der  mittel  hinweisen,  die  ihm  bei  der  Zeichnung  älmliclier 
Situationen  wie  ähnlicher  Charaktere  zu  geböte  stehen;  ein  dichter  nie- 
derer gattung  findet  sicher  nicht  so  leicht  die  kraft  zu  solch  gefähr- 
lichen experimenten. 

Doch  kehren  wir  zu  dem  ti-auerspiele  in  Odia  zurück.  Dem 
vater  presst  der  rührende  anblick  schliesslich  tränen  aus,  sein  schmerz 
macht  sich  luft  in  den  w^orten:  „Ach!  weiten  die  Götter,  es  unterstände 
sich  jemand  deine  Unschuld  zu  behaupten,  so  w^olte  ich  leicht  zum 
beyfall  zu  bewegen  seyn."     Und  Abaxar,  der  in  ketten  und  banden  in 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.       BD.  XXII.  1-^ 


178  MÜLLER -FRAUENSTEIN 

der  nälie  steht,  hört  diesen  seiifzer,  er  ist  von  der  schihiheit  FyUuies 
betrotieii,  von  ilu-em  sclürksal  erschüttert,  und  erbietet  sich,  nur  mit 
Schild  und  stab  bewatuet,  gegen  jeden,  er  sei  bewafnet,  wie  er  wolle, 
für  sie  zu  kämpfen.  Trotz  aller  hinterlist  der  königin,  die  ihm  einen 
möglichst  dünnen  schild  hat  reichen  lassen,  besiegt  er  den  gegen  ihn 
anstürmenden  günstling  derselben  und  errettet  die  Schwester  Nherandis 
vom  tode.  Der  leztere  aber  erscheint  gerade  nocli  zur  rechten  zeit  auf 
dem  platze,  um  weiteres  unheil  abzuwehren,  Abaxar  und  Fylane  unter 
seinen  schütz  zu  nehmen  und  vater  und  Stiefmutter  mit  der  gebühren- 
den sti'afrede  zu  brandmarken.  Dass  die  zeit  des  gemeinsamen  gewahr- 
sams  von  Abaxar  wol  angewendet  wird,  um  Fylanens  herz  zu  gewin- 
nen, verstellt  sich  von  selbst,  der  dicliter  ist  aber  auch  so  klug,  was 
Lohenstein  kaum  getan  haben  würde,  sich  darüber  kurz  zu  fassen  und 
seine  kürze  vor  dem  geneigten  leser  durch  die  schalkhafte  bemerkung 
zu  begründen:  '„Er  werde  wol  selbst  wissen,  was  er  vor  worte  in  der- 
gleichen begebenheit  gebrauchen  wolte."  Die  weitere  ent Wickelung  der 
dinge  ist  in  der  inhaltsübersicht  erzählt. 

Ich  glaube  kaum  fehl  zu  gehen,  wenn  ich  am  Schlüsse  der  neben- 
einanderstellung der  drei  fürstlichen  liebespaare  es  offen  ausspreche, 
dass  die  geschwister  Nherandi  und  Fylane,  dazu  Abaxar  noch  heute 
recht  dankbare  romanfiguren  darstellen  würden ,  dass  aber  Balacin,  seine 
Schwester  Higvanama  und  seine  braut  Banise  weit  mehr  fremdartige, 
uns  nicht  voll  befriedigende  züge  tragen.  Fylane  ist  weiblicher,  Nhe- 
randi  und  Abaxar  sind  männlicher  nach  den  modernen  begriffen  als 
die  anderen  drei  personen.  Da  sie  nicht  in  allererster  Knie  stehen, 
hat  der  dichter  an  ihnen  nicht  so  viel  zu  potenzieren  für  nötig  gehal- 
ten als  bei  den  gliedera  des  Avanischen  und  Peguanischen  hofes,  die 
lezteren  leiden  unter  der  wucht  sowol  der  ihnen  beigelegten  heroisch - 
galanten  eigenschaften  als  der  ihnen  zudiktierten  erlebnisse.  Für  die 
figuren  ersten  ranges  haben  wir  heute  einen  andern  massstab.  Die 
klarheit  der  seelischen  Vorgänge  ist  bei  Zigler  zwar  nicht  verwischt, 
diese  selbst  sind  aber  unangenehm  übertrieben.  In  anderer  weise  die 
hauptpersonen  interessanter  zu  machen  war  der  dichter  unfähig.  Er 
kann  wol  die  ähnlichen  gestalten  ziemlich  lebhaft  von  einander  unter- 
scheiden, in  parallelen  handlungen  eine  unterscheidende  gruppierung 
und  ausdrucksweise  anwenden,  aber  anders  als  durch  Übertreibung  das 
zu  heben,  was  zu  allermeist  hervortreten  muss,  dazu  reicht  seine  kraft 
nicht  aus.  Er  kann  in  eine  persönlichkeit,  die  er  geschaffen,  nicht  tie- 
fer eindringen,  sondern  vennag  nur  die  färben  dicker  aufzutragen;  uns 
ist  die  grössere  psychologische  feinheit  in  der  Zeichnung  der  massstab 


ZIGLERS    ASIATISCIIK    DAXISR  179 

für  das  grössere  oder  geringere  Interesse,  das  die  personon  uns  abge- 
winnen. Dazu  kam  noch  ein  anderer,  wiclitiger  grund.  In  die  scliick- 
sale  Nherandis,  Fylanens,  auch  Abaxars  sind  wir  im  gründe  docii 
genauer,  wenn  auch  auf  viel  geringerem  räume,  eingeweiht  als  in  die 
der  drei  partner.  An  den  seelencjualcn  und  körperlichen  leiden  der 
lezteren  gehen  wir  mit  fast  geringerer  teihiahme  vorüber;  wir  fragen 
uns  eher:  AVarum  komt  der  dichter  dazu,  inuner  mehr  und  mehr  Jam- 
mer aufzuhäufen  auf  die  vortretlichsten  aller  menschen?  Der  begriff 
der  tragischen  schuld  fehlt  gänzlich.  Man  sieht  aber  auch  den  grund 
der  Vorliebe  des  alten  Dacosem  für  den  grundhässlichen  feigling  Chau- 
migrem,  unter  der  Balacin  und  Higvanama,  schliesslich  auch  Banise 
leiden,  viel  weniger  ein,  als  warum  der  alte  könig  von  8iam  oder  der 
von  Prom,  die  sonst  auch  wie  zwei  —  mit  respekt  zu  sagen  —  alte 
esel  erscheinen,  ihre  kinder  so  schlecht  behandeln.  Da  spielt  wenig- 
stens eine  sicher  recht  hübsche  zweite  frau  die  rolle,  welche  hier  einer 
wahren  misgeburt  zufiilt. 

Doch  wir  gehen  über  zu  den  nebenpersonen.  Da  ist  nun  zunächst 
die  figur  Scandors  mit  unleugbarem  geschick  entworfen  und  ausge- 
führte Er  behält  stets  seine  frische  leichtlebige  manier  bei,  ist  dabei 
mit  scharfem  blicke  begabt,  gibt  mehrmals  den  einzig  guten  rat  und 
führt  entscheidende  Wendungen  herbei;  er  opfert  sich  als  treuer  diener 
nicht  nur  ein-,  sondern  mehrmal,  in  den  schlimsten  momenten  steht 
ihm  seine  menschenkentnis  und  ein  gewisser,  halb  höfischer,  halb  bäu- 
rischer humor  bei.     So  windet  er  sich  aalglatt  durch  alle  verwicklun- 

1)  Scherer  neut  ihn  einen  „humoristischen  diener"  neben  dem  tapferen  heb- 
haber,  der  edlen,  duldenden  prinzessin  und  dorn  schrecklichen  tyrannen,  Scherr 
„eine  art  von  hanswurst  zur  vorsichtigen  ab  wehr  alzugrosscr  schmerzen."  Cholevius 
s.  164  sagt:  „es  verdiene  der  versuch,  in  Scandor  eine  besondere  Individualität  aufzu- 
stellen, bcachtung.  Sein  stand  erlaubte  ihm  ein  munteres,  witziges  wesen.  Der 
ideal  gestimte  herr  bewege  sich  meist  in  tragischen  Situationen,  neben  ihm  stehe  der 
anspruchslose,  lebenslustige,  leichtblütige,  treue  diener.  Bisweilen  seien  seine  schorz- 
rcden  etwas  ungelenk,  sein  witz  gehe  nicht  über  die  gewöhnlichsten  spässe  hin- 
aus (?!)."  Als  beispiele  führt  er  an  das  gespräch,  woiin  Balacin  Scandor  zuredet  eine 
frau  zu  nehmen,  dann  die  scene,  in  welcher  lezterer  als  verkleideter  portugiesischer 
händler  die  hofdamen  in  Pegu  an  der  nase  herumführt,  und  drittens  die  autwoiien, 
welche  er  nach  seiner  ersten  gefangennähme  Chaumigrem  gibt.  Von  diesen  scheint 
mir  das  erste  gar  nicht  zu  passen,  die  beidon  anderen  eher.  Bobertag  s.  254  macht 
gegen  Gottscheds  tadel,  Scandor  sei  zu  sehr  hanswurst,  geltend,  dass,  wo  alles  sehr 
grell  gemalt  wird,  auch  die  derbheit  des  humors  nicht  alzusehr  absticht.  Sonst  hält 
er  dessen  ausstelluno-en  geaen  die  Charaktere  fest:  diese  wichen  von  der  wahren 
beschaffenheit  der  zeit,  in  welcher  sie  sich  befinden,  ab.  Er  lobt  es  auch,  dass  Gott- 
sched seinen  tadel  nicht  ausdehne  auf  die  consequenz    der  Charaktere  an  sich  selber. 

12* 


IgO  MVLLER-FRArENSTEIN 

o-en  hiiuluroh,  an  den  sklavon  in  der  alten  koniödie,  an  die  kaninier- 
kätzcben  des  älteren  französischen  lustspieles  erinnernd,  erntet  dabei 
die  band  und  das  vernu)gen  eines  vornehmen  jungen  mädchens,  das 
von  einer  halb  ^vabn^vitzig•en  liebesraserei  zu  seinem  berrn  erfiült  ist, 
und  steht  am  scbluss  als  festeste  säule  des  neugegründeten  hinterindi- 
scben  reiches  neben  dem  throne  der  unvergleichlichen  Banise  und  ihres 
Balacin,  in  alles,  was  diese  beiden  bauptpersoncn  betriff,  wie  niemand 
sonst  eingeweiht  und  ihres  Vertrauens  in  jeder  hinsieht  wert.  Er  stamt 
übrigens  aus  einem  alten  adeligen  geschlechte  von  Ava.  Licht  und 
schatten,  idealitilt  und  realität  sind  bei  diesem  charakterbilde  in  glei- 
cher weise  zur  geltung  gekommen.  Ein  liebenswürdiger  Schwerenöter, 
über  dem  der  himmel  öfter  einzustürzen  droht,  dem  aber  schliesslich 
alles  gut  ausfallen  muss,  steht  da  vor  uns,  wie  Avir  ihn  uns  gern  in 
die  zeit  denken,  wo  höfische  gewantheit  und  selbstlose  Unterwürfigkeit 
unter  eines  fürsten  gebot  und  Interessen  das  höchste  äussere  glück  ver- 
anlassten. Der  alte  Talemon  ist  zu  dem  jugendlich -kecken  Scandor 
ein  in  etwas  matteren,  aber  ebenfals  anziehenden  färben  ausgeführtes 
gegenbild;  er  ist  von  derselben  treue  im  grauen  haar  wie  Scandor  im 
braunen,  aber  seine  frische  ist  nicht  nur  infolge  der  schicksalsschläge 
und  des  altei*s,  sondern  auch  der  erfahrungen,  die  er  in  der  ehe  ge- 
macht, unmöglich  geworden.  Er,  der  im  verlaufe  des  romans  zum 
Schwiegervater  Scandoi-s  wird,  hat  durch  seine  frau,  für  die  der  autor 
nur  sehr  grelle  und  unangenehme  färben  auf  der  palette  im  vorrat  hält, 
von  einer  und  zwar  der  schönsten  seite  des  lebens,  von  den  freuden 
der  familie,  ofi'enbar  nur  sehr  schwache  Vorstellungen  bekommen.  Scan- 
dor bringt  ganz  eben  solche  schon  vor  seiner  ehe  mit,  er  spricht 
witzige  und  weltkluge  ideen  über  die  frauen  und  die  liebe  aus,  und 
nach  der  art,  wie  er  mit  seiner  zukünftigen  Schwiegermutter  und  frau 
im  ei-sten  und  zweiten  buche  umspringt,  wird  man  hoffen  können,  er 
werde  das  alte  Sprichwort:  „Die  ersten  jähre  der  ehe  sind  die  lezten 
der  erziehung"  wie  an  sich  selbst  so  vor  allem  an  seiner  Lorangy 
wahrmachen,  an  der  Schwiegermutter  Hassana  scheint  allerdings  hopfen 
und  malz  verloren. 

Scandors  abenteuer  sind  zahllos,  seine  reden  geradezu  gespickt 
mit  den  fruchten  von  Ziglers  lesewut,  aber  ich  kann  nicht  sagen,  dass 
die  contouren  der  persönlichkeit  dadurch  verwischt  wären.  Alles  hat 
vielmehr  ein  bestimtes  gepräge,  was  mit  Scandor  zusammenhängt;  seine 
unvens^üstliche  spotlust,  die  aber  nur  selten  verletzend  Avirkt,  geht 
band  in  band  mit  einem  gesunden  menschenverstand.  Wie  für  seine 
lose  zunge   diese  beiden  grundzüge   massgebend  sind,    so  ist  für  seine 


ZIGLKIJS    ASIATISCHE    BANISf:  ISl 

Imiidhiiigsweise  der   v urteil   seines  herrii   allein   bestimmend.     Er  spielt 
den  Don  Juan  nur  in  dessen   Interesse,    um  seinetwillen  verheiratet  er 
sich  mit  Lorangy,  um  seinetwillen  hat  er  vorher  der  alten  Eswara  den 
hof  gemacht   und   ist   dabei,    da   er  von  deren  gatten  in  ihrem  zimmer 
überrascht  wird,    in   eine  ziemlich   fatale  Situation  geraten.     Diese  bei- 
den nuvellenartigen  episoden  sind  ganz  in  der  art  des  Decameron  oder 
der  Canterbury  Tales  gehalten,    nur  dass  sie  weit  reinlicher  verlauten 
und  weit    mehr    die   lach-   als   die   sinnenlust  erregen.     Seinen  humor 
verliert  Scandor  weder,  als  er  unter  der  „Oberdecke''  noch  als  er  unter 
dem  „teppich"  versteckt  liegt,  weder  als  die  intriguantin  Hassana  noch 
als  des  oberelephantenwärters  hündchen  ihn  anbelt.     Das  eine  mal  muss 
die    überkluge   mutter   erkennen,    dass   sie    den  diener  statt  des  herrn 
zum   Schwiegersohne  gepresst  hat,    das  andere  mal   bleibt  der  unnötig 
eifersüchtige  gatte    in    dem   teppich  zu  einem   ballen   eingeschnürt    auf 
dem  Schlachtfelde  liegen.     Amüsant  ist  Scandor  doch  auch  als   verklei- 
deter portugiesischer   hiindler   in   Pegu    bei    des  tyrannen   Chaumigrem 
„frauenzmimer"  (253  fgg.).     Er  preist  „point  d'Espagne  an  (wie  Bober- 
tag  meint,  wol  eine  art  spitze),  das  von  Pariß  aus  Sachsen  kömmt  und 
dermassen  wohl  genäht,    daß   man   flöhe   darin no  fangen  könte",    ferner 
„treffliche   saphire,    w^omit  man   sich  ein   gehiißiges  gemüthe  verbinden 
kan",    endlich  ein  „köstliches  schmincköhl'',    dessen  beschreib ung  er  in 
einem   buche    von    seiner    grossmutter- Schwester- sohnestochter   gelesen 
habe.     Zweimal  tritt  er  als  gefangener  vor  Chaumigrems  äugen.     Das 
erste  mal  mit  einem  wahren  galgenhumor;    da  berichtet   er  dem  Wüte- 
rich, sein  herr  sei  heute  „auff  der  post  vorbey gegangen"  und  habe  ihn 
mit    dem   felleisen    (der   wider   eingefangenen    Banise)    zurückgelassen. 
Auch  das  zweite  mal  sieht  Chaumigren  ihn  sehr  unkluger  weise  wegen 
seiner  lustigen  einfalle  nur   als  einen  narren  an.     Von   seiner  militä- 
rischen lauf  bahn  ist  schon  kurz  berichtet;    ganz   zu   dem  charakterbilde 
passt  nun  die  leichte  art,  mit  der  er  über  seine  tapferen  taten  hinweg- 
geht.    Er  rettet  z.  b.  in  der  ersten  schlacht  Balacin  das  leben   (39  fg.), 
wird    dabei    verwundet,    aber    dann    in    die    algemeine    flucht  mit  ver- 
wackelt  und   berichtet  das    mit  den  worten:    „Jeder  fragte  seine  füsse 
um   rat    und   eilte,    dass   er  nicht  wusste,    ob  feind   oder  freund  hinter 
ihm  war."     Er  erwartet  deshalb   „mit  einem  schimpfflichen  lufftarreste 
beleget",    d.  h.  gehenkt  zu  werden  und  beschliesst  „auch  im  tode  eine 
dermassen  hohe  mine  blicken  zu  lassen,  daß  ilm  jedweder  fremder  vor 
einen  Unter -Feld -Herrn  angesehen   und  respectiren  miiste."     Und  von 
seiner  Stimmung  vor    diesem    seinem    ersten   treffen   legten    die  naiven 
werte  ein  geständnis  ab:   „Hier  verließ  mich  die  Courage  auff  einmahl, 


182  MÜLLER  -  FKAUENSTEIN 

daß  ich  auf  der  stelle  umkehrte  uud  niich  zur  bagage  begeben  wolte." 
Zur  rede  gesezt,  stösst  er  diu  in  der  eile  ersonnene  entschuldigung  her- 
vor: „er  -svolle  nur  den  muster- Schreiber  sein  testament  aufsetzen  las- 
sen, weil  er  doch  wol  einsehe,  es  müsse  gestorben  sein."  Und  als  der 
befehl,  sich  auf  tausend  schritte  zurückzuziehen,  komt,  freut  er  sich 
herzlich,  „in  meynung,  es  würde  so  bis  in  Ava  hinein  Avähren,  da  ich 
denn  gewiß  nicht  der  letzte  zum  thure  wolte  gewesen  seyn."  Ganz 
charakteristisch  ist  da  wider  der  zusatz:  „und  freute  ich  mich  schon, 
wie  mich  meine  liebe  mutter  aus  dem  gefiihrlichen  kriege  so  sehnlich 
emptaugen  würde."  Diese  liebe  nnitter  ist  die  junge  dame  von  sieb- 
zehn jähren,  die  den  alten  vater  beherscht  und  den  Stiefsohn  verfolgt 
hat.  Ganz  bezeichnend  ist  dann  seine  weitere  erziihlung:  Bei  dem 
„entsetzlichen  Wort:  Setzt  euch,  schließt  die  glieder,  macht  daß  gewehr 
fertig!  fragte  ich  meinen  Printzen  gantz  ängstlich:  Gutädiger  Herr,  sol- 
len wir  auch  feuergeben?"  wälirend  seine  abteilung  doch  nichts  als  spiesse 
und  Säbel  hatte.  So  treibt  er  es  am  anfange  seiner  militärischen  lauf- 
bahn,  so  bleibt  er  bis  ans  ende,  der  spassmacher  par  excellence,  der 
dem  tode  unzählige  male  lachend  ins  äuge  schaut. 

Gerade  die  nach  Gottscheds  ausdruck  „übel  angebrachte"  person 
des  Scandor  fesselt,  zumal  sie  nie  aus  der  rolle  fält,  uns  dergestalt, 
dass  selbst  die  langatmigen  erzählungen  des  ersten  buches,  die  ihm  in 
den  mund  gelegt  werden,  durch  die  art  des  Vortrages  eiuigermassen 
erträglich  werden. 

Über  die  anderen  nebenpersonen  ist  es  kaum  nötig,  uns  des  wei- 
teren zu  verbreiten,  zumal  schon  von  allen  die  hauptzüge  angegeben 
sind.  Dagegen  verlangen  Chaumigrem  und  der  Rolim,  welche  das 
böse  princip  darstellen,  noch  eine  kurze  betrachtung.  Bei  ihnen  trift 
da.sselbe  zu  wie  bei  Banise  und  Balacin;  wie  diese  zu  rosenrot,  so 
schauen  jene  zu  kohlschwarz  aus.  Der  fluch  der  lächerlichkeit  haftet 
trotz  aller  grausamkeit  an  dem  „Ertztyrannen";  persönliche  feigheit, 
ungeschickte  manieren,  grobe  redewendungen  kommen  zu  einem  uner- 
sätlichen  blutdurst  und  unbezähmbaren  ehrgeize  hinzu,  um  den  mann 
möglichst  verächtlich  zu  machen.  Überall  holt  er  sich  deshalb  auch 
körbe.  In  Martaban  hat  er  von  nicht  weniger  als  drei  vornehmen  fräu- 
lein,  die  er  später  henken  lässt,  abschlägigen  bescheid  erhalten  (145),  in 
Ava  will  die  prinzessin  Higvanama,  in  Pegu  Banise  nichts  von  ihm 
wissen.  Die  gedichte  und  briefe,  die  er  verfasst,  sind  die  allerkomi- 
schesten  (z.  b.  55,  72,  13}^:  es  ist  kaum  anzunehmen,  dass  Zigler  dabei 

1)  In  dem  ersten,  an  Higvamana  gerichteten  briefe  spricht  er  vom  „ henker- 
holen'^   und  gestattet  sich   den   geschmackvollen  satz:    ^Es  reissct    mich    hefftig  im 


ZIGLERS    ASIATISCHE    BANISE  183 

ohne  absieht  verfahren  liätte,  und  ieh  sehe  deshalb  im  besonderen  die 
gedichte  mit  etwas  giinstiiceren  äugen  an  als  die  meisten  sonstigen  kriti- 
ker;  sie  sind  dem  dichter  ein  kunstmittel  zur  Charakterisierung  und  zwar 
ein  mittel  von  durcluxus  ungewrihnlicher  art.  Am  meisten  tritt  dies  her- 
vor, ausser  bei  dem  von  Chaumigrem  verfertigten  und  unter  Nherandis 
maske  abgeschickten  sterbelied,  bei  Scandors  „naclit-liedgen''  (209)  mit 
dem  anfang:  „Hier  kömt  Scandor,  der  (Jötter  aih'ns])iel'';  dasselbe  ent- 
spricht durchaus  der  inanier  seiner  ungebundenen  reden.  In  der  ersten 
sclilacht  spielt  der  spätere  kaiser  geradezu  den  Horribilicribrifax.  Er 
hat  den  Oberbefehl  geführt,  Dacosems,  des  ältesten  prinzen  von  Ava 
tod  verschuldet  und  als  erster  flüchtigen  fusses  die  schützenden  mauern 
aufgesucht.     Während  aber  Scandor  sich  zu  den  versen  aufschwingt: 

Ihr  Götter!  soll  ich  unverhofft 

Mein  leben  schliessen  in  der  lufft; 

So  soll  mich  dieser  tod  nicht  kräncken, 

Lasst  Chaumigrem  nur  bey  mir  hencken, 
gibt  der  leztere  eine  darstellung  seiner  heldentaten  (s.  77),  wie  sie  Gry- 
phius  seinen  beiden  Bramarbas  auch  hätte  in  den  mund  legen  können. 
Auch  die  folgenden  schlachten  finden  den  miles  gloriosus  stets  ebenso 
auf  dem  gesichertsten  posten,  nur  vor  Prom  wird  er  bei  einem  nächt- 
lichen Überfall  verwundet.  Von  dem  Rolim  endlich  ist  kaum  mehr  zu 
sagen,  als  dass  er  überall  der  lüsterne,  herschsüchtige  bleibt  bis 
zum  tode. 

Solchergestalt  sind  die  Charaktere,  welche  der  dichter  entworfen 
hat.     Mit  welchen  mittein  nun  führt  er  sie  uns  vor  äugen? 

Wenn  ich  von  meinen  eindrücken  auf  die  anderer  schliessen  darf, 
so  gelangen  wir  zu  dem  scheinbar  seltsamen  resultat,  dass  alle  die  per- 
sonen,  von  denen  er  ausser  lieh  und  innerlich  ein  beschreibendes 
bild  entwirft,  vor  unserem  geistigen  äuge  es  absolut  nicht  zu  einem 
ganz  klaren  konterfei  bringen  können.  So  Banise  selbst,  Balacin,  Hig- 
vanama,  am  ersten  noch  Chaumigrem  oder  etwa  Lorangy.  Dagegen 
nehmen  figuren  wie  Scandor,  Talemon,  die  er  nur  indirekt,  in  ihren 
reden  und  handlungen  charakterisiert,  ganz  bestirnte  gesichtszüge  auch 
vor  meiner  phantasie  an.  Ich  meine,  man  erkent  daraus,  wie  in  sol- 
chen romanhelden  gleich  den  leztgenanten  nicht  nur  das  algemeine, 
sondern  auch  das  besondere  von  dem  dichter  wirklich  gut  getroffen 
worden  ist,    mag  ich   mir  nun  Scandor  oder  Talemon   in    der  kleidung 

linckeu  schenckel,  wobev  sich  auch  ciu  durchfall  licfindet:  allfin  ihre  huld  kaun 
mich  heilen,  und  allen  schmei-tzen  veiireiben " ;  er  unterzeichnet:  „dero  hebenswür- 
diger Ch."^ 


184  MÜLLER -FRAUEXSTKIN 

und  mit  dem  bart-  und  luiarschuitt  des  17.  jahrluindcrts  oder  unserer 
zeit  voi-stellen.  Auch  iu  dieser  beziehuug  scheint  mir  Zigier  etwas 
höher  als  seine  zeitgenössischen  rivalen  zu  stehen.  AVährend  er  äussere 
zustände,  ich  meine  in  der  natur  und  gesclschaft,  gern  beschreibt,  ist 
er  damit  spai*samer  bei  personen;  das  tut  er  vielleicht  doch  mit  absieht- 
Denn  es  sind,  wie  die  nachfolgende  aufzählung  ergibt,  doch  nicht 
wenige,  die  nicht  direkt  geschildert  Averden,  deren  äusseres  und  inne- 
res bild  wir  viehnehr  selbst  construieren  aus  ihren  eigenen  reden  und 
handlungen  oder  aus  den  urteilen  anderer  über  sie.  Wie  sicli  Zigier 
eine  besonders  schöne  und  eine  besonders  hässliche  frau,  wie  er  sich 
den  „Feuerbrand  Hinterindiens"  äusserlich  vorstelt,  kann  er  allerdings 
sich  nicht  versagen  auszumalen;  auch  für  eine  mittel  massige  Schönheit, 
wie  es  doch  neben  Banise  und  Higvanama  die  prinzessin  von  Savaady 
oder  Lorangy  sein  sollen,  gibt  er  eine  beschreibung,  sonst  ist  nur  Ba- 
lacins  portrait  noch  schärfer  gezeichnet;  damit  sind  wir  in  betreö'  der 
direkten  Schilderungen  seiner  romanfiguren  am  ende. 

Vergleichen  wir  jezt  die  einzelheiten.  Des  haupthelden  bild  wird 
sehr  bald  entworfen  (22),  Lorangys  blinde  Verliebtheit  soll  dadurch  ver- 
ständlich werden.  Dazu  erhalten  Avir  bei  gelegenheit  des  schifsfestes 
Sapan  Donon  in  Pegu  eine  darstellung  seiner  paradekleiduug  (131). 
Für  seine  heroisch -galanten  inneren  eigenschaften  geben  zeugnis  seine 
tapferen  taten  und  seine  liebesreden  vor  Banisen.  Die  lezteren  sind  am 
meisten  charakteristisch  für  den  dichter  des  17.  Jahrhunderts;  als  probe 
benutze  ich  die  kostbare  liebeserklärung,  durch  welche  die  prinzessin 
gewonnen  und  Balacins  incognito  aufgegeben  wdrd  (159):  „So  breche 
demnach  die  kette  meiner  schwachen  zunge,  und  bekenne  aus  inner- 
stem gründe  seines  hertzens,  dass  Balacin,  Printz  von  Ava,  bereits  mit 
dem  einen  fusse  das  grab  berühre,  wo  ihn  nicht  die  überirdische  leut- 
seligkeit  der  himmlischen  Banisen  vom  tode  errettet.  Denn  wie  die 
Sonne  auch  abwesende  würcket,  und  man  den  unsichtbaren  Göttern  die 
meisten  opfier  gewähret;  also  schwere  ich,  daß  mich  dero  Schönheit 
auch  in  der  ferne  venvundet,  und  die  strahlen  ihrer  tugend  entzündet 
haben.  Die  begierden  haben  durch  dero  hohes  lob  auch  von  weiten 
als  ein  zunder  glut  gefangen,  welche  aber  nunmohro  durcli  den  blitz 
gegenwärtiger  krafft  vollkommene  flammen  zeigen.  Hemmet  sie  nun 
nicht,  unvergleichliche  Banise,  diese  brunst,  und  lasset  die  brennende 
Sonne  sich  nicht  in  ein  güldenes  licht  süsser  gegenhuld  verwandeln, 
so  muß  Balacin  zu  asche  wxrden.  Ich  erkühne  mich  nunmehro  unge- 
scheut  zu  sagen:  Ich  bin  verliebt.  Banise  ist  die  Sonne,  ich  ihre  wende: 
sie    ist    mein    nord-stem,    ich    ihr   magnet.     Schönste    Vollkommenheit! 


ZIGLKRS    ASIATISCHE    liAMSE  185 

mein  gliiendes  liertz  zündet  ilir  dun  weyraucli  leinester  liebe  an,  und 
ich  schwere  auch  mein  getreues  leben  aufzuoptlern.  Weil  nun  der 
Götter  tempcl  dem  uffen  stehet,  welcher  sie  zu  verehren  suchet:  so 
eröffne  sie  demnach  ihr  himmlisches  heiliirthum  der  seelen,  und  ver- 
schmähe nicht  das  flammende  opffer  ihres  ewig  gewiedmeten  Balacins." 
Neben  dieses  nonplusultra  vun  geschmacklusigkeit  in  unserem  sinne 
und  von  feiner  redeweise  nach  der  anschauung  unserer  voreitern  vur 
200  Jahren  muss  man  die  kernigen  worte  halten,  mit  denen  derselbe 
mann  seine  feldherren  vor  der  schlacht  von  Abdiara  anfeuert;  sie  klin- 
gen an  Livianische  reden  an  (s.  340). 

Banise  tritt  in  den  verschiedensten  seelenzuständen  auf,  einmal 
schamhaft  errötend  bei  der  Verlobung  ihres  paladins,  ein  andres  mal 
leichenblass  zu  dem  gefesselten  vater  hinschreitend,  um  ihm  vor  dem 
tode  ein  glas  wasser  zur  labe  zu  bringen,  dann  wider  mit  geschwun- 
genem deiche  an  des  Rolim  leiche  oder  mit  wankenden  knien  vor  dem 
opferaltare.  Ihre  äussere  erscheinung  Avird  von  Scandor  ausführlich 
beschrieben  (s.  126).  Schwarze  äugen,  hochblondes  lockenhaar,  ein  etwas 
aufgeworfener  niund  sind  nach  Ziglers  phantasie  die  wichtigsten  attri- 
bute  dieses  Ideals  weiblicher  Schönheit.  Können  wir  es  dem  edlen 
Balacin  verdenken,  wenn  sein  ganzes  wesen  sich  umwandelt,  sobald 
diese  Schönheit  sich  ihm  zugeneigt  hat?  Scandor  malt  gar  nicht  übel, 
wenn  auch  vielleicht  etwas  spöttisch,  seinen  zustand  aus  (s.  161  i'j^.). 
Bei  der  abschiedsscene  (s.  166)  sehen  wir  Banise  „  auff  einem  stule  in 
solcher  erbärmlichen  gestalt  vor  uns  sitzen,  daß  die  unbarmherzigkeit 
selbst  zu  einigem  mitleiden  hätte  müssen  beweget  werden.  Die  schö- 
nen haare  Avaren  zu  fehle  geschlagen,  ein  dunkel-gelber  atlaß  verhüllte 
den  schönen  leib,  und  gab  zugleich  die  innerste  traurigkeit  ihres  her- 
tzens  zu  erkennen.  Die  häufhgen  thränen  schienen  einen  theil  der 
vorigen  anmuth  weggeschwemmet  zu  haben,  und  das  englische  haupt 
war  von  der  üncken  band  als  einer  marmor-seule  unterstützet."  Die 
rührenden  trennungsklagen  schliessen  die  „beweglichen  worte"  Bani- 
sens:  „So  fahret  wohl,  mein  Printz,  mein  Engel,  mein  Leben,  fahret 
wohl!  und  bedenket,  dass  ihr  etwas  hinter  euch  gelassen,  welches  sich 
durch  langes  abseyn  selbst  verzehren  würde.  Fahre  wohl,  liebster 
Schatz,  den  mich  che  liebe  du  zu  nennen  zwinget!  Fahre  wohl,  weil 
es  doch  muß  geschieden  seyn.  Die  Götter  führen  und  begleiten  dich! 
Es  müsse  lauter  Sicherheit  auf  allen  wegen  wachsen,  wo  du  nur  dei- 
nen matten  fuß  hinsetzen  Avirst!  Wo  du  dein  Haupt  hinlegest,  da 
umschatte  dich  der  Götter  Schutz!  Ja  es  müssen  alle  deine  tritte  zu 
rosen  werden!     Fahre   wohl!"      Eine    sinhcher   gehaltene    beschreibung 


186  MÜLLER -FRAUENSTEIX 

von  Banisens  körpcrrcizcn,  die  aus  des  Rolim  munde  komt,  hebe  ich 
für  eine  spätere  gelegenheit  auf  und  erinnere  hier  nur  noch  an  die 
stelle,  die  uns  Banise  vor  dem  opferaltare  zeigt  (s.  388). 

Yon  dem  prinzen  Xherandi  erinnere  ich  mich  nicht,  ^vie  schon 
oben  angedeutet,  eine  direkte  Schilderung  durch  den  dichter  gelesen  zu 
haben.  Der  eindruck,  den  er  auf  die  holdselige  Higvanama  gemacht 
hat,  und  seine  tapferen  taten  sprechen  lebendig  für  ihn.  Dagegen  erhal- 
ten wir  von  seiner  braut  durcli  Scandor  ein  bild,  das  ein  anderes 
Schönheitsideal  als  das  der  Banise  darstelt  (s.  49).  „Sie  war  einer 
anständigen  länge,  sehr  wohl  gewachsen,  ihr  haupt  war  mit  kohl- 
schwartzen  natürlichen  locken  bedecket  usw."  Später  finden  wir  sie  im 
garten,  wo  sie  von  ihrem  bruder  mit  Nherandis  brief  aufgesucht  wird 
(s.  62).  Sie  bewilkumnet  ihn  „mit  einem  dermassen  anmutigen  küsse", 
dass  Scandor  noch  bei  dem  berichte  „durch  blosses  gedencken  der  mund 
voll  Wasser  läufft."  Bei  Fylane  und  Abaxar  verhelfen  uns  nur  der 
eindruck,  den  sie  auf  einander  und  auf  andere  machen,  und  ihr  ver- 
halten in  den  schicksalsschlägen ,  die  sie  treffen,  zu  einem  deutlichen 
bilde,  dii'ekte  beschreibungeu  von  ihnen  gibt  Zigler  nicht.  Das  gleiche 
gilt  von  Scandor  und  Talemon;  der  leztere  lässt  einmal  eine  bemerkung 
fallen,  die  sein  vorleben  beleuchtet.  Er  sagt  nämlich  (s.  88):  „Die  Göt- 
ter haben  die  sünden  meiner  Jugend  durch  meine  itzige  ehe  gerochen." 
Yon  seiner  frau  Hassana  hören  wir  ebenfals  nur  auf  indirektem  wege, 
alles  ist  aber  auch  darnach  angetan,  des  ehegatten  urteil  zu  bestätigen. 
Sie  liebt  den  tnmk,  ist  neugierig  und  herschsüchtig,  plump,  ja  roh  im 
reden  und  handeln.  „Einfältiger  mensch,  der  gewiß  sehr  jung  aus  der 
liebes -schule  entlauffen  ist",  so  redet  sie  dem  verkleideten  prinzen  ins 
gewissen,  als  dieser  ihre  deutlichen  anspielungen  nicht  verstehen  will 
(s.  29);  „fremde  lumpen-hunde"  ist  ein  anderer  ehrentitel  für  die  unge- 
betenen gaste  (s.  86);  sie  denkt  sogar  daran  (s.  87),  „nach  hofe  zu  lauf- 
fen  und  ihren  alten  zu  verrathen,  daß  er  verdächtige  fremdlinge  aus  Ava 
beherberget",  und  fügt  die  herzlosen  werte  hinzu:  „Hierdurch  räche 
ich  meine  schmach,  und  kan  mit  gelegenheit  auch  meines  alten  loß 
werden."  Das  stimt  nun  ganz  zu  dem,  Avas  wir  aus  ihrem  und  ihrer 
Pflegetochter  munde  von  ihrer  Vergangenheit  hören.  Erstere  erinnert 
sie:  „Sie  weiß  ja  selbst,  wie  starck  das  süsse  gift  der  liebe  sey,  und 
hat  deren  würckung  so  wohl  gegen  den  bewußten  Hof- Juncker  als 
auch  den  Portugisischen  cammer-diener  sattsam  empfunden."  Diese 
anspielung  bringt  die  mutter  zu  dem  geständnis,  dass  sie  sich  „durch 
das  süße  andencken  voriger  liebe  gantz  verjüngt  befinde",  aber  sie  fügt 
den    stossseufzer   hinzu:    „Ich    bin   zum    höchsten    leidwesen   mehr   als 


ZIGLERS    ASIATISCHE    BANISE  187 

sechsmahl  dergestalt  augelauiVcii,  daß  man  mit  mir  wie  mit  einem  ver- 
salzenen  brey  umgegangen,  welchen  jeder,  ^^•enn  er  ein  paar  löticl 
davon  genossen,  stehen  lassen"  (s.  8(S).  Die  pflegetochter  Lorangy  steht 
entschieden  trotz  der  komischen  rolle,  welche  sie  spielt,  etwas  höher. 
Als  die  mutter  ihr  ,,eine  notlnvendige  regul"  (nämlich  spröde  zu  tun) 
für  „uns  frauenzimmer,  welches  profeßion  von  der  liebe  zu  machen 
suchet",  geben  will,  antwortet  sie:  „Ich  begehre  keine  profeßion  von 
der  liebe  zu  machen,  w^elches  sonst  gar  eine  verdächtige  art  zu  reden 
ist",  aber  sie  fügt  hinzu:  „Dieser  junge  fremdling,  er  sey,  wer  er  sey, 
hat  mich  dermassen  verwundet,  daß  ich  fürchte,  wo  nieht  das  pflaster 
ehlicher  liebe  darauf!'  geleget  wird,  es  dörft'te  auf  eine  verbotene  cur 
naus  lauffen."  Und  auch  sie  bricht,  als  der  prinz  sich  immer  einfäl- 
tiger stelt,  in  die  werte  aus:  „Alberes  geschöpffe,  wie  hat  sich  doch 
Schönheit  mit  einfalt  so  unrecht  vermählen  können?  Ich  liebe  euch, 
und  begehre,  wiederum  von  euch  geliebet  zu  werden"  (s.  22).  Ihr 
äusseres  malt  der  dichter  folgendermassen :  „Sie  war  sonst  von  gemei- 
ner Schönheit,  mehr  lang  und  starck,  als  wohl  gewachsen,  blasser  färbe, 
verliebter  äugen,  etwa  24.  jähr  alt,  und  endlich  einer  Standes -gleichen 
liebe  noch  wohl  würdig:  Ausser,  daß  man  einigen  mangel,  des  sonst 
dem  frauenzimmer  anständigen  Verstandes,  an  ihr  verspührte:  indem 
sie  die  flammen  ihrer  begierde  durchaus  nicht  verbergen,  noch  sich  in 
all-zu  helftiger  liebes-bezeugung  mäßigen  kunte";  sie  selbst  zählt  ihre 
reize  ähnlich  auf  (s.  91  u.  92).  Man  merkt  die  doppelte  absieht  Ziglers, 
einmal  Balacin  als  unwiderstehlich  und  vor  allem  als  treu  darzustellen, 
sodann  gegen  die  tugendheldinnen  Banise,  Higvanama,  Fylane  einen 
kontrast  zu  schaffen. 

Ebenso  übertrieben,  wie  dies  leztere  hier  geschieht,  fält  aus  dem- 
selben gründe  die  beschreibung  Eswaras  durch  Scandor  aus  (s.  122. 
128).  Die  holde  dame  ist  später  ungeschickt  genug,  Banisens  Verhält- 
nis zu  Balacin,  das  sie  zuerst  unterstüzt  hat,  dadurch  entgegen  zu 
arbeiten,  dass  sie  den  prinzen  von  Tangu  verkleidet  in  den  tempel, 
w^orin  die  prinzessin  verborgen  gehalten  wird,  herein  lässt;  sie  wird 
durch  den  Rolim  entlarvt,  und,  indem  sie  durch  fremden  tritt  die  hei- 
ligkeit  des  tempels  entv/eihet,  jämmerlich  gesäbelt"  (s.  306).  Dieser 
prinz  Zarang  von  Tangu  nun  und  die  energische  prinzessin  von  Savaady 
werden  im  ganzen  ebenfals  mehr  indirekt  charakterisiert;  von  lezterer 
erhalten  wir  jedoch  aus  Balacins,  von  ersterem  aus  Banisens  munde 
ein  leidliches  äusseres  bild. 

Als  dem  prinzen  von  Ava  zuerst  die  prinzessin  von  Savaady  ver- 
lobt worden  ist,  klagt  er:  „Ist  dieses  die  vorgestellte  Schönheit,  die  ihr. 


1 88  MÜLLER  -  FKAüENSTEIN 

betrügüclio  Götter,  nur  im  trauni  zu  zeigen,  nicht  aber  im  leben  dar- 
zustellen vermöget?  Ist  dieses  die  schöne  tochter  des  Königs  Xemindo, 
von  dero  überirdischen  Schönheit  das  gerüchte  fast  gantz  Asien  begierig 
cremacht  hat,  sie  zu  sehen?  0  so  darff  sich  meine  Schwester  vor 
beglückt  achten,  daß  sie  dieser  gar  gerne  den  lorbeer  aus  der  band 
reisset."  Scandor  wirft  dazwischen:  er  müsse  doch  gestehen,  dass  die 
Prinzessin  ,, seiner  Einfalt  nach  noch  recht  liebenswürdig  sey."  Der 
prinz  aber  antwortet,  „Sie  ist  nur  ein  schatten  gegen  jenem  träume. 
Denn  wie  jener  alabasterne  stirne  durch  die  lichten  locken  um  ein 
grosses  erhaben  ward:  also  mißfallen  mir  an  dieser  nicht  wenig  die 
röthlich  sclieinenden  haare,  Avelche  niclit  selten  einen  bösen  sinn  ver- 
rathen.  Und  wie  jenes  angesichte  durch  eine  runde  gestalt  seine  anmu- 
thige  Vollkommenheit  darstellete:  also  überschreitet  dieses  durch  einige 
länge  die  gräntzen  der  Schönheit.  Ihre  äugen  sind  zwar  mehr  schwartz 
als  blau,  jedoch  sind  sie  nur  wie  ausgelöschte  kohlen,  bei  denen  sich 
kein  schwefel  der  liebe  entzünden  kan.  Ihre  lippen  sind  zwar  coral- 
len,  doch  ohne  magnet,  und  ihre  wangen  ein  mit  rosen  allzuhäufig 
überstreutes  feld.  In  summa,  es  mißfällt  mir  etwas  an  ihr,  welches 
ich  selber  nicht  verstehe,  noch  sagen  kan."  Trotz  der  geschmacklosen 
spräche,  in  der  Balacin  sich  ausdrückt,  müssen  wir  doch  die  deutlich- 
keit  anerkennen,  mit  der  der  unterschied  ZAvischen  den  beiden  weib- 
lichen Schönheiten  angegeben  ist.  Der  prinz  von  Tangu  dagegen,  dem 
die  Savaadysche  königstochter  unverbrüchlich  treu  bleibt,  wird  von 
Zigler  im  gründe  mit  viel  weniger  günstigen  färben  ausgemalt;  er  ist 
auch  ein  wesentlich  zum  bösen  geneigter  Charakter,  launisch,  ohne 
selbstbeherschung,  nur  seinen  neigungen  nachlebend,  ohne  die  wiidheit 
und  bösartigkeit  Chaumigrems,  aber  in  sinneslust,  tölpischer  geborde 
und  derben  reden  ihm  nachstrebend.  So  kann  man  es  der  tugend- 
reichen Banise  nicht  vordenken,  wenn  sie  dem  vater  erklärt:  „Ich  bitte 
mich  eher  zu  einem  opffer  als  zu  einer  braut  des  Zorangs  zu  bestel- 
len, ich  will  eher  seinen  sebel  als  seine  lippen  küssen,  weil  mich  der 
tod  mehr  als  sein  purpur  ergötzen  soll.  Erwegen  E.  M.  doch,  ob  die- 
ser zu  lieben  sey,  welcher  sich  gleich  denen  bestien  fast  stündlich  in 
ärgsten  Lastern  besudelt,  und  seine  brunst  täglich  durch  frischen  Wech- 
sel zu  kühlen  trachtet.  Seine  hochrauth  verwandelt  sich  öfters  in 
grobheit  und  kan  hierdurch  auch  der  gemeinsten  Seelen  einen  eckel 
erwecken."  Doch  hat  der  dichter  ein  einsehen  und  lässt  das  ziemlich 
unähnliche  paar  zum  Schlüsse  „lange  jähre  in  größter  Zufriedenheit  und 
Vergnügung  beysammen  leben  und  unterschiedene  tapffere  zeugen  ihrer 
liebe  erzielen.'' 


ZIGLERS    ASIATISCHE   BANISE  ISO 

AVic  Banisc  vom  diditcr  dazu  ausorselien  ist,  von  diesem  lieb- 
haber  im  gespriiehe  ein  bild  zu  entwerfen,  so  anch  von  dem  zudi-ini^- 
lichsten  aller  ihrer  verelirer,  dem  Kolim.  Sie  antwortet  ihm  einmal 
auf  seine  verliebten  reden:  „PJs  sey  nun,  alter  Vater,  eure  liebe  ernst 
oder  seiiertz,  verboten  oder  erlaubet,  so  werdet  ihr  euch  doch  wohl  zu 
bescheiden  wissen,  daß  derjenige,  weleher  sein  beschueytes  liau})t  noch 
mit  Venus- mvrthen  zu  bekriintzen  suchet,  mir  feucr  in  den  schnee 
und  im  winter  rosen  suchet.  Und  wie  sich  ein  bleyerner  liebespfeil 
der  alten  gar  nicht  nach  dem  güldenen  ziel  grünender  Jugend  i'ichten 
lässt;  also  Aveiß  ich  nicht  ob  ich  zu  viel  rede  wenn  ich  sage:  es  ver- 
diene meine  Jugend  ein  grösseres  mitleiden,  als  daß  man  sie  mit  einem 
nach  dem  grabe  schmeckenden  küsse  qviilen  wolte"  (s.  299).  Es  bleibt 
uns  nur  noch  übrig,  die  kunstgriffe  des  dichters  zu  verzeichnen, 
durch  die  er  Chaumigrems  persönlichkeit  lebendig  vor  unser  äuge  zu 
bringen  sucht.  Scandor  lässt  seiner  laune  in  der  Schilderung  (s.  50) 
freien  lauf,  er  schliesst  mit  den  worten:  „In  summa,  es  war  ein  recht 
crocodil  der  liebe  und  eine  mißgeburt  der  affection." 

Von  seinen  eigenschaften  als  oberfeldherr  erhalten  wir  den  besten 
begriff  beim  lezten  stürm  auf  Odia:  da  hält  er  eine  kräftige  kurze 
rede,  wie  sie  etwa  Attila  auf  den  katalaunischen  gefilden  gehalten  haben 
könte,  und  sezt  bei  dem  stürm  alles  daran,  den  sieg  zu  erringen  (8.32(3). 
In  seinen  lezten  äugen  blicken,  als  Balacin  ihn  mit  dem  für  Banise 
bestirnten  strick  zu  boden  gerissen  und  mit  dem  scharfen  opfersteine 
einen  tötlichen  stoss  in  die  linke  brüst  versezt  hat,  bietet  er  einen 
grässlichen  anblick;  brüllend  wälzt  er  sich  in  seinem  blute,  und  muss 
„mit  ach  und  weh  seinen  schAvartzen  geist  der  flammenden  Hölle  zu- 
schicken" (s.  396). 

Auch  diesen  abschnitt  können  wir  mit  dem  facit  schliessen,  dass 
es  die  Übertreibung  in  erster  linie  ist,  welche  uns  diese  bilder  so  fremd- 
artig erscheinen  lässt,  dass  die  art  aber,  wie  der  dichter  alles  arran- 
giert, Avie  er  den  von  ihm  ersonnenen  figuren  leben  einzuhauchen, 
fleisch  und  blut  beizulegen  sich  bemühet,  ganz  und  gar  nicht  ungeschickt 
ist,  vielmehr  bedeutendes  kunstverständnis  verrät.  Unser  lezter  teil 
wird  die  geschmacksänderung,  welche  seit  200  jähren  in  Deutschland 
vorgegangen  ist,  noch  deutlicher  nachweisen,  er  befasst  sich  mit  der 
spräche  und  der  gefühlswelt  im  algemeinen,  soweit  sie  sich  in 
unserem  roman  luft  macht.  Der  schwulst  der  sogenanten  zweiten 
schlesischen  schule  erhält  hier  also  in  höherem  masse  als  bisher  seine 
beleuchtung,  wenn  schon  die  ungeheuerlichen  zahlen,  die  unnatur  in 
den  gefühlen  der  verwanten,    die   Übertreibungen    in   den   äusserungen 


190  MÜLLER  -  FRAURNSTRIN 

des  hasses  wie  der  liebe,  die  häiifun^:  schlechter  und  ,c,uter  taten  durch 
die  träo:er  des  schlechten  und  guten  princips  dem  nicht  fern  stehen, 
was  uns  noch  zu  behandeln  bleibte 

Wie  die  Vertreterinnen  des  schwachen  geschlechts  sich  in  unserem 
romane  durch  starke  nerven  auszeichnen,  so  sezt  dies  der  dichter  auch 
bei  seinen  schönen  leserinnen  voraus.  Es  kann  sich  eine  Situation 
schon  recht  grässlich  anlassen,  er  muss  noch  neue  momente  dazu  tra- 
gen, welche  die  neigung  für  das  wunderbare,  das  phantastische,  das 
unerwartete  noch  mehr  befriedigen  —  wir  würden  heute  sagen,  welche 
diese  neigung  geradezu  ad  absurdum  führen.  Gleich  der  anfang  bie- 
tet dafür  ein  klassisches  beispiel.  Balacin  komt  infolge  eines  briefes 
von  Talemon  ganz  allein  in  die  umgegend  von  Pegu,  ohne  hilfe  für 
Banise  mitzubringen,  die  er  ausserdem  für  verloren  halten  muss. 
Da  wird  er  von  drei  Bramanern  überfallen  und  in  die  linke  Schulter 
verwundet,  doch  tötet  er  zwei  der  angreifer,  den  dritten  verjagt  er. 
Er  fält  in  Ohnmacht,  kommt  wider  zu  sich  und  kriecht  auf  allen  vie- 
ren das  ufer  des  flusses  hinunter,  wo  er  unter  baumwurzeln  eine  aus- 
gewaschene höhle  entdeckt.  Die  leichen  der  zwei  getöteten  werden 
über  um  liinAveg  auf  den  sand  geworfen,  die  nähe  der  feinde  und 
eigene  ermattung  nötigen  ihn  versteckt  zu  bleiben.  Er  schläft  bis  zum 
späten  abend,  der  mond  beleuchtet  „mit  vollem  glänze  das  silber  des 
rauschenden  flusses."  Der  schmerz  der  wunde  und  der  nagende  hun- 
ger  (er  hat  seit  zwei  tagen  nichts  gegessen)  wecken  den  prinzen,  er 
sieht  im  nächtlichen  Zwielicht  die  zwei  leichen,  ausserdem  aber  noch 
eine  ganze  anzahl  anderer  angeschwemter  körper,  welche  Chaumigrem 
zwei  Wochen  vorher  in  den  fluss  hat  werfen  lassen.  Wenn  er  um  sich 
gi-eift,  erfasst  er  bald  eine  eiskalte  band,  bald  einen  köpf  voll  haare 
und   andere  bereits   vermoderte  menschliche  glieder;    darum  kriecht  er 

1)  Bobertag  betont  mit  recht  s.  210  fg.,  dass  im  stile  grosse  fortschiitte  bis 
dahin  seit  Luther  gemacht  worden  seien,  grössere  als  je  in  Deutschland.  Von  Opitz 
bis  Lohensteiu  .sei  die  graramatik  immer  regelrechter  und  konsequenter,  die  spracli- 
niengerei  immer  geringer  geworden,  dem  stil  habe  man  durch  den  satzbau  und  figu- 
ren  eine  ruhige  würde  verheben.  Am  weitesten  sei  man  (212)  darin  gekommen, 
dem  gedanken  einen  klaren  und  präcisen  ausdruck  zu  geben.  Unklarheiten  seien  sehr 
wenige  vorhanden,  neuere  novellisten  könten  sich  daran  ein  muster  nehmen.  Der 
schwulst  sei  freihch  zuzugeben,  aber  es  gäbe  heute  doch  aucli  recht  viel.  Er  defi- 
niert ihn  (213)  als  ,, jedes  den  guten  geschmack  verletzende  zuviel  des  sprachlichen 
ausdmcks  im  Verhältnis  zu  dem,  was  ausgedrückt  werden  soU.'^  Die  bewunderung 
für  curiöse  gelehrsamkeit  und  der  mangel  einer  reinen  Umgangssprache  seien  vor 
allem  daran  schuld.  Ich  setze  hinzu,  unsere  heutige  salonsprache  hat  noch  liäss- 
hchere  mängel. 


ZIGLERS    ASIATISCHE    HAXISE  191 

lieber  aus  der  hohle  heraus,  wird  nun  aber  von  einem  herabspringeu- 
den  tiger  erschreckt,  der  die  leichen  gewittert  hat.  Diesem  schlägt  er 
die  rechte  tatze  ab,  und  nun  erst  sind  die  nächsten  gefahren  glücklich 
überwunden.  Talemons  stimme,  die  er  jedoch  nicht  erkent,  klingt 
plötzlich  an  sein  ohr,  und  in  dessen  schloss  findet  er  pflege  und  schütz. 
Aber  er  nent  zuerst  aus  vorsieht  seinen  nanien  nicht,  weiss  auch  nicht, 
wo  er  sich  befindet,  und  wird  in  ein  finsteres  gemach  geführt,  das 
„gantz  schwartz  zu  sein  schiene."  Er  (Uiiet  das  fenster  und  sieht  einen 
steilen  felsen  hinunter,  „dessen  thal  voller  bäume  und  sträucher  stund, 
darinnen  einige  wölft'e  entsetzlich  beuleten,  welche  unangenehme  music 
etliche  eulen  mit  ihrem  sterbegeschrey  vermehreten,  daß  unserem  Pi-in- 
tzen  die  haare  zu  berge  stunden,  und  nicht  anders  vermeynte,  er  wäre 
aus  einer  mördergrube  ins  grab  gerathen."  Wahrhaftig  ein  nacht- 
gemälde  ä  la  Höllen -Breughel,  so  dass  wir  erleichtert  aufatmen,  als 
man  sich  nach  zAvei  stunden  wider  um  ihn  kümmert,  ein  alter  mann 
mit  einer  laterne  in  das  zinimer  tritt  und  Balacin  und  Talemon  sich 
in  die  arme  sinken  (s.  10  — 18). 

Ein  anderes  meisterstück  Ziglerscher  nervenerprobung  ist  der 
bericht  von  Martabans  Zerstörung  (s.  141  — 146).  Nach  einem  furcht- 
baren „wüten,  würgen  und  niederhauen"  wird  die  Stadt  dem  erdboden 
gleich  gemacht  und  über  die  wenigen  gefangenen  gericht  gehalten  ^ 
3000  mann  mit  spiessen  und  musketen  führen  „140  kern-schöne  wei- 
bes-bilder",  jedesmal  vier  und  vier  zusammengebunden,  mitten  drin 
die  königin  zwischen  ihren  vier  kindern,  herbei.  „Ihre  gesiebter  waren 
alle  dermassen  schöne,  daß  sie  unter  den  abscheulichen  haufPen  ihrer 
führer  und  henckers- knechte  wie  die  sonnen -strahlen  unter  den  schwar- 
tzen  wolcken  hervorleuchteten.  Man  erblickte  an  ihnen  das  zarteste 
wesen,  und  spielten  die  vor  angst  erblasseten  rosen  ihrer  wangen  noch 
mit  solcher  anmuth,  daß  auch  die  steine  hierdurch  hätten  sollen  erwei- 
chet werden,  angesehen  alle  zwischen  funffzehen  und  fünft"  und  zwantzig 
Jahren  ihrer  Jugend  mit  einer  schmertzlichen  todes-art  verwechseln 
musten.  Dieser  vor  äugen  stehende  schmähliche  tod  und  erbärmliche 
unbilligkeit  pressete  einen  seufftzer  und  zetter -geschrey  nach  dem  andern 
heraus,  worbey  diese  schwache  doch  holdseelige  creaturen  fast  jedesmal 
in  eine  ohnmacht  fielen.  Ob  nun  zwar  viel  andere  weiber,  welche 
ihnen  das  geleite  gaben,  ihnen  allerhand  stärckungen  und  confect  rei- 
cheten,  so  kunten  und  weiten  sie  docli  nichts  kosten,  sintemahl  die 
bitterkeit    des    todes    alle    Süßigkeit    in    wermuth    verwandelte."      Dann 

1)  Abaxar,  der  sicli  doch  auch  darunter  befindet,  wii'd  dabei  nicht  erwähnt. 


192  *  MÜLLER- FR  AUENSTEIN 

folgen  sechzig  trauerlitaneien  singende  priester  und  vierhundert  kleine 
kinder,  „-welche  in  einer  langen  reyhe  daher  Heften:  Diese  waren  iinter- 
werts  des  leibes  gantz  bloß,  hatten  stricke  um  ihre  hälßgen  und  weisse 
brennende  wachskertzen  in  ihren  händen/'  Dann  komt  die  Bramanische 
wache,  ein  trupp  von  hundert  elephanten  und  noch  so  viel  anderes 
Volk,  dass  Zigler  zweitausend  reiter,  zehntausend  mann  fussvolk  und 
zweihundert  elephanten  zählt.  An  zwanzig  galgen  Averden  je  sieben 
von  den  trauen  und  zwar  an  den  füssen  aufgehängt,  „weswegen  sie 
denn  unter  schmertzlichem  seuiftzen  erst  in  einer  stunde  in  ihrem  blute 
erstickt  waren."  Ein  rührender  abschied  von  der  königin  ist  vorher- 
gegangen, ein  noch  traurigerer  der  lezteren  von  ihren  kindern  folgt, 
dann  bricht  ihr  das  herz,  sie  sinkt  tot  nieder,  wird  aber  schleunigst 
noch  an  dem  einundzwanzigsten  galgen  mit  ihren  vier  kindern  und 
vier  hofdamen  aufgeknüpft.  Dem  gefangenen  könige  aber  wird  in  der 
folgenden  nacht  ein  schwerer  stein  an  den  hals  gehängt  und  er  wird 
mit  sechzig  vornehmen  herren  ins  tiefe  meer  geworfen. 

Ähnlich  raffiniert  ist  die  beschreibung  von  Xemindos  hinrichtung 
(s.  189— 198),  von  Proms  und  Odias  Zerstörung  (s.  202  — 205,  325  — 
330)  u.  a.  Mit  einer  wahren  henkerslust  ist  z.  b.  die  ungerechte  bestra- 
fung  aller  der  Vergiftung  der  prinzessin  von  Odia  angeklagten  aus- 
gefülni;  (s.  315.  316). 

Wie  das  grässliche,  so  ist  auch  das  komische  in  mehreren  bil- 
dern  bis  zur  Verletzung  aller  heute  geltenden  künstlerischen  grenzen 
übertrieben,  am  wunderlichsten  ist  die  mischung  von  komischem  und 
gefühlvollem,  die  an  einigen  stellen  hervortritt.  Dies  gilt  z.  b.  für  die 
scene,  wo  der  kaiser  Xemindo  seine  tochter  in  einem  zimmer  allein 
lässt  und  ihr  befiehlt;  den  tapeten  desselben,  die  sie  zu  zeugen  ihrer 
liebe  angerufen  hat,  gütige  antwort  zu  erteilen.  Hinter  den  tapeten 
aber  steht  Balacin,  was  Banise  nicht  weiss  (s.  156  fg.).  Chaumigrem 
führt  in  seiner  Verliebtheit  die  wunderlichsten  streiche  aus  (s.  48  fg.). 
Er  hört  Higvanama  im  garten  eine  schmachtende  liebesarie  singen, 
springt  plötzlich  hervor  und  schreit  aus  vollem  halse:  Chaumigrem  stelt 
sich  ein,  „lachte  auch  hierauff  mit  vollem  Halse  dermassen,  als  ob  er 
die  artigste  saclie  vorgebracht  hätte."  Er  blizt  natürlich  gründlich  ab, 
ist  aber  so  fest  von  dem  eindruc^k  überzeugt,  den  er  gemacht  hat,  dass 
er  die  verschiedensten  bäume  nach  einander  umarmt,  im  glauben,  den 
gegenständ  seiner  liebe  in  den  armen  zu  halten;  der  eine  dieser  bäume 
sticht,  der  andere  stösst  ihn  auf  die  empfindlichste  weise.  Später  nähert 
er  sich  ihr  mit  solcher  ehrerbietung,  dass  es  scheint,  „als  ob  er  mit 
der  nase  an  die  erde  gewachsen  wäre,    weil  jedweder  schritt  mit  einer 


ZIGLERS   ASIATISCHE    HANISK  193 

tiefen  neigang  be^i^-loitot  wurde."  Die  übrigen  keniiselien  i)artien,  Seau- 
dor  bei  Eswara  (s.  181)  und  bei  lA)rangy  (s.  210  fg.),  die  enthüilung  des 
Hassana  und  Lorangy  gespielten  betrags  (s.  215),  das  widersolion  Nhe- 
randis  und  Higvanainas  (s.  370  fg.)  und  endlicli  das  Zarangs  und  der 
prinsessin  von  Savaady  sind  weniger  übertrieben  und  cntspreclieu  mehr 
unseren  begriffen  von  dem,  was  spassliaft  wirkt. 

Ich  füge  hier  nun  noch  mehrere  beispiele  dafür  an,  wie  die  vei- 
schiedenen  gefülüe  nach  des  dichters  darstellung  sich  äussern  und  in 
welchen  sich  geschmacklosigkeit  und  kraft  oft  in  wunderlichster  weise 
verbinden.  Die  oft  citiertcn  ersten  drei/.ehn  zeilen  des  erstr'n  l)uches, 
in  denen  Balacin  blitz,  donner  und  hagel  auf  Chaumigrems  residenz 
herab  wünscht,  kann  ich  als  bekant  voraussetzen.  Während  sich  in 
ihnen  nur  der  sehnüche  wünsch  nach  räche  ausspricht,  ist  die  äusse- 
rung  seines  Schmerzes  über  Banisens  wahrscheinlichen  tod  in  der  regel 
mit  einem  Selbstmordversuch  verbunden,  der  von  den  umstehenden  ver- 
hindert wird.  Das  entzücken  über  den  träum,  in  welchem  er  sie  zuerst 
gesehen,  macht  sich  in  den  werten  luft  (s.  99.  100):  „Ach  hinimel,  was 
vor  eine  überirdische  Schönheit  hat  sich  denen  gemüths- äugen  im 
schlafPe  vorgestellet :  Ihr  blosses  anschauen  hat  mich  entgeistert,  und 
das  andencken  setzet  meine  seele  in  empfindlichste  flammen.  Ich 
schwere,  dieses  bild  soll  mir  nimmermehr  aus  meinem  hertzen  geris- 
sen werden.  Ich  will  alle  ecken  der  weit  durchreisen,  und  die  Schön- 
heit suchen.  Bin  ich  hierinnen  unglücklich,  so  will  ich  sie  doch  im 
himmel  antreffen."  Als  sie  dann  durch  ihn  von  dem  verfolgenden 
panther  gerettet  Avorden  ist  und  zum  ersten  male  „ihre  rosenlippen" 
geöfnet  hat,  werfen  ihn  „ihre  zucker- werte  zu  der  erden,  dass  er  mit 
den  verliebtesten  geberden  den  säum  ihres  rockes  küste"  (s.  120).  Bei 
der  künde  von  Chaumigrems  greueltaten  in  Martaban  rät  er  „statt 
übriger  thränen  das  schwartze  blut  der  feinde  zu  vergiessen  und  nicht 
eher  zu  ruhen,  biß  des  mörders  köpf  in  einem  mörsel  zerstoßen  und 
die  verhassten  anstiffter  dieser  mordthat  denen  entseelten  ein  blutiges 
rach-opffer  seyn  mögen."  Und  als  der  schmerzerfülte  kaiser  Xemindo 
ihm  antwortet:  „Hierdurch  muß  auch  ein  ambos,  geschweige  ein 
menschliches  hertze,  gekrümmet  und  weich  gemacht  werden,  wo  der 
Unglücks -hammer  so  gar  harte  hinschlägt",  entgegnet  er:  „Die  glut  der 
räche  kan  alles  wieder  gerade  machen,  und  diese  wunden  können  nicht 
anders  denn  mit  dem  blute  des  tyrannen  geheilet  Averden.  Ich  schwere 
es  bey  der  evrigen  Gottheit,  daß,  wo  mir  nicht  durch  einen  fall  das 
leben  verkürtzet  wird,  ich  dermahleinst  noch  mit  eigner  band  die  grau- 
samste räche  von   diesem  ft-auen-mörder  nehmen  will"    (s.  147).     Seine 

ZEITSCHRin    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXII.  lo 


194  Müller  -  VRAUENSTEIN* 

freude  über  einen  brief  von  Banisens  band  zeigt  er,  indem  er  die  auf- 
scbrift  inbrünstig  küsst  und  sagt:  „  Acb  angenelnnste  Zeilen,  deren 
schrifft  nicht  irrdische  äugen,  sondern  sonnen  zu  lesen  würdig  sind. 
Woblau,  es  sey  gewagt,  icb  erbreche  den  brieft',  um  bey  diesem  zucker 
der  galle  nicht  zu  entwöhnen."  Und  als  er  nun  gelesen,  dass  sie  bin- 
nen vier  tagen  sterben  soll,  ruft  er  aus:  „Wehe  mir,  die  zeit  ist  zu 
kurtz,  und  ich  bin  verlohren.  Ach!  so  ist  denn  kein  beständiger  Son- 
nenschein mehr  zu  huti'en,  untl  muß  ein  jeder  stern  zum  cometen  wer- 
den? Zwar  derjenige  solte  sich  wohl  vor  keinem  ungewitter  mehr 
fürchten,  welchen  der  ungütige  himmel  schon  öffters  durch  harte  blitze 
verhehret  und  betrübet  hat.  Allein  wo  er  zugleich  mit  den  keulen 
seines  zorns  spielet,  da  muß  auch  der  festeste  grund  erzittern"  (s.  237). 
Sehen  wir  auf  der  anderen  seite,  wie  Banisens  gefühle  (ausser 
den  oben  besprochenen  extremen  fällen)  sich  äussern.  Als  sie  in  einem 
Selbstgespräche  zum  ersten  male  ihre  neigung  verraten  hat,  und  Bala- 
cin,  der  alles  gehört,  zu  ihr  tiitt,  tut  sie  einen  lauten  schrei  imd  läuft 
nach  dem  fenster.  „Als  nun  schrecken  und  schäm  die  schöne  purpur- 
farbe  ihrer  wangen  um  ein  grosses  vermehrte,  und  ein  anmuthiges 
zeugniß  ihrer  züchtigen  schamhafftigkeit  gegeben,  oder  vielmehr  ange- 
deutet hatten,  daß  der  Printz  noch  dermaleins  ihre  Vollkommenheit  und 
keusches  herlze  als  die  edelsten  schätze  der  triumphirenden  natur  für 
lieb-  und  leibeigen  besitzen  würde,  also  war  mein  Printz  (so  erzählt 
Scandor)  eine  gute  weile  mit  seinen  äugen  an  den  ihrigen  gehefFtet 
verblieben,  deren  magnet  als  zwey  hellfunkelnde  nord-stei'ue  ihn  gantz 
an  sich  gezogen  hatten"  (s.  157).  Die  freude  über  Balacins  ersten  ret- 
tungsplan entlockt  ihr  die  worte:  „Nun  schmeltzet  mein  hertze,  und 
die  seele  krieget  flügel,  ja  ich  vergöttere  mich  gantz,  daß  ich  meinen 
Printzen,  meinen  Schutz -Engel,  so  nahe  wissen  soll"  (s.  236).  „Ich 
folge,  wo  man  mich  hinführet.  Ich  will  mit  ihm  die  verbrannten  meh- 
ren besuchen,  ja  auch  die  kalten  nord-länder,  wo  sich  die  weissen 
baren  auffhalten,  nicht  ausschlagen,  denn  solte  mich  gleich  der  himmel 
zu  ihrer  kost  versehen  haben,  so  Avürde  ich  doch  viel  sanffter  in  sei- 
nem schoß  sterben,  als  hier  in  verhaßtem  purpur  leben"  (s.  257).  Ihren 
zom  gegen  den  prinzen  Zarang,  als  dieser  sie  im  tempel  mit  den  schnö- 
desten antragen  verfolgt,  drückt  sie  einmal  in  dem  energischen  satzc 
aus:  „Wenn  ich  Göttin  wäre,  so  wolte  ich  blitz  und  bley  auff  eure 
Verwegenheit  regnen  lassen,  und  das  unzüchtige  hertze  in  tausend  stücke 
zerreissen"  (s.  306).  Die  freude  über  ihre  rettung  endlich  lässt  sie  vor 
dem  opferaltar  zu  des  prinzen  füssen  niedersinken  und  mit  „schwacher 
und  beweglichster  stimme"  ihren  dank  sagen  (s.  379  fg.). 


2IGLKRS    ASIATISCHE   BANtSE  195 

Auch  in  Higvaiiamas  aiitlitz  sehen  wir  übrigens  einmal  wegen 
eines  briefes  von  Nheraiuli  eine  „solche  bestiirtzimg  und  freude"  sich 
verbreiten,  „daß  die  färbe  der  waiigen  sieh  naeli  der  stirn  zugen,  und 
also  dem  gantzen  gesiebte  eine  angenelnne  ritthe  verursachte"  (s.  63). 
Ihr  schöner  mund  drückt  unzählige  küsse  auf  (bis  „glückselige  blat." 
Der  erste  abschied  ihres  bruders  zieht  ihr  eine  oimmacht  zu,  und  sie 
bricht  dann  in  die  klage  aus:  „UnglückliclK.*  Iligvanama,  so  solst  (hi 
nun  die  andere  helffte  meines  hei'tzens  vollend  verlieren,  nachdem  du 
das  eine  theil  (Nherandi)  fast  zwey  jähre  entbehren  müssen.  Soll  ich 
den,  welcher  nicht  mein  bruder,  sondern  mehr  als  mein  vater  gewesen, 
von  mir  scheiden  lassen?  Worzu  nützet  mir  demi  mein  leben?  Grau- 
samer vater,  sind  deiui  alle  Avolcken  leer,  und  heget  ihre  finsterniß 
keinen  blitz  mehr  in  sich,  solche  greuelthat  zu  rächen?"  (s.  85).  Sie 
beschliesst  durch  einen  dolchstich  ihrer  bedrängten  seele  luft  zu  machen, 
„daß  sie  ungescheut  um  ihren  liebsten  Nherandi  und  w^erthesten  Bala- 
cin  sclnveben  möge",  was  der  leztere  natürlich  hindert.  In  der  gefan- 
genschaft  des  Soudras  sehen  wir  „die  armselige  Königin  gebunden, 
welche  vor  wenig  tagen  ein  grosses  reich  beheri-schte,  und  noch  vor 
etlichen  stunden  hunderttausend  köpfte  zu  ihrem  winck  stehen  hatte. 
Ja  die  sich  nicht  sattsam  an  der  süssen  hoff'nung  vergnügen  kunte, 
wenn  sie  ihren  liebsten  bruder  mit  einem  schwesterlichen  liertz -getreuen 
küsse  umfassen  würde,  die  muß  sich  jetzt  als  sclavin  in  die  arme  ihres 
feindes  werfFen,  und  die  prächtige  last,  w^ill  sagen,  silberne  fessel,  küs- 
sen" (s.  366). 

Nach  ihrer  befrei ung  durch  den  verlobten  endlich  heisst  es:  „Die 
Zeit  erlaubte  ihnen  sattsam,  eine  verliebte  ei'innerung  des  vergangenen 
leid-  und  fi-eudenwechsels  gegen  einander  anzustellen,  und  sich  nach 
verzogenem  ungewitter  an  der  liebes-sonne,  wie  keusch-entflammte 
pflegen,  wiederum  zu  w^ärmen  und  zu  ergötzen"  (s.  372). 

Als  gegenbild  hierzu  führen  wir  Lorangy  an.  Sie  begibt  sich 
z.  b.  einmal  mit  ihrer  mutter  so  „eylends"  aus  dem  zimmer  Balacins 
und  „schmeißt"  die  tür  mit  solchem  ungestüm  hinter  sich  zu,  dass 
Zigier  w^inscht,  „es  hätten  damahls  aller  bösen  weiber  köpfFe  darz wi- 
schen gestecket"  (s.  30).  Ihre  haupteigenschaft  bleibt  aber  die  Verliebt- 
heit, die  bezeichnendste  stelle  dafür  findet  sich  s.  91  —  94.  Da  bricht 
manchmal  eine  glut  der  spräche  hervor,  die  an  das  hohe  lied  Salomo- 
nis  oder  an  Yenus  und  Adonis,  den  Shakespeare  zugeschriebenen  sonet- 
tenkranz,  erinnern  könte. 

Des  prinzen  Zarang  liebesseufzer  klingen  bei  weitem  unschöner, 
seine  mildesten  ausdrücke  vor  Baniseu  sind  folgende:  „Unempfindlichste 

13* 


1  Oß  MÜLLER  -  FR AÜEXSTEIN* 

Princeßin!  so  können  denn  auch  die  zoiten  und  da>  nnglück,  welche 
sonsten  ertzt  und  niannor  bezwingen,  ihr  liertze  nicht  entsteinern?  Ist 
deim  meine  liebe  so  gar  verhaßt,  daß  sie  nur  jederzeit  mit  verstopff- 
teni  ohr  imd  stählernem  gemüthe  soll  angenommen  werden?"  (s.  804). 
Zu  seiner  siiilichen  natur  aber  passt  es  schliesslich,  dass  er  der  prin- 
zessin  von  Savaady  sich  zuneigt,  als  er  sie  „in  beweglicher  gestalt  vor 
sich  knien  sähe,  die  Alabaster-haut  der  eröffneten  brüst  betrachtete  und 
einer  sonderbahren  annuith  in  dem  gewiß  liebenswürdigen  wangenfelde 
gewahr  wurde"  (s.  381).  Das  stimt  zu  des  Rolim  reden,  der,  ehe  er 
Banise  gesehen,  Chaumigrem  Avarnt:  „Durch  das  anschauen  beherrschen 
die  schwachen  weibsbilder  die  stärcksten  männer,  ihr  flehen  und  bitten 
sind  geböte,  ihre  thräuen  wilde  wasser,  welche  den  dämm  des  besten 
voi*satzes  durchdringen,  und  ihre  seuffzer  sind  stürm Avinde,  denen  auch 
der  unbeweglichste  Colossus  nicht  widerstehen  kan"  (s.  228).  Aber 
bald  verspricht  der  alte  süuder  dem  kaiser,  Banise  „die  liebes-pillen 
erwünscht  einzubringen.  Angesehen  sie  nur  noch  ein  kind  ist,  das 
noch  in  schalen  stecket,  und  ein  bäum,  auf  welchem  der  kützel  noch 
nie  s:eblühet  hat.  Ich  will  ihr  aber  schon  durch  süsse  lehren  die  knos- 
pen  aufthun"  (s.  267).  Er  begint  dies  mit  den  worten:  ,,Ich  komme 
hier  als  eine  biene,  av eiche  klee  suchet,  und  vor  ihren  Käyser  sorget, 
dessen  mund  so  sehr  nach  ihr  lechset.  Der  blitz  ihrer  äugen  hat  ihn 
entzündet,  und  ich  sehe  selbst,  wie  anmuthig  der  Scharlach  iliren 
mund  und  der  purpur  ihre  wangen  decket.  Hier  brennet  lebendiger 
schnee,  imd  dort  quillt  zinober.  Und  diese  Schönheit  ist  Avürdig, 
einen  Käyser  zu  vergnügen"  (s.  268).  Er  meldet  das  resultat  seinem 
henii  mit  dem  trost:  „Holtz,  das  bald  feuer  fängt,  hält  nicht  lange 
kolilen.  Der  hundsstern,  welcher  fast  die  halbe  Avelt  durch  liitze  ver- 
zehret, hat  nicht  lange  frist  zu  brennen."  Aber  der  trostlose  seufzet: 
„Die  seiffe  der  Verachtung  ist  zu  Avenig,  ihr  bildniß  aus  meinem  her- 
zen zu  tilgen"  (s.  271).  Und  der  ungetreue  böte  seufzt  bald  selbst: 
„Princessm,  ich  liebe  sie,  und  avo  die  rose  ihres  Avohlstandes  blühen 
soll,  so  wisse  sie,  daß  solche  aufi'  den  grund  meiner  liebe  müsse 
gepflantzet  werden.  Ich  lodere,  ich  brenne,  ich  sterbe:  avo  niclit  die 
unvergleichliche  Schönheit  denjenigen  in  ihre  arme  nimmt,  Avelche  ihn 
magnetischer  Aveise  an  sich  zeucht"  (s.  296). 

Die  unmenge  rhetorischer  figuren  und  Avendungen,  Avelche  schon 
die  vorgeführten  beispiele  aufweisen,  Avird  avo  möglich  noch  gesteigert 
in  Chaumigrems  munde.  So  Avenn  er  dem  könig  Dacosem  klagt:  „Hig- 
vanama  ach!  Higvanama  ist  die  feindin  meiner  ruhe,  in  iliren  äugen 
ruhet    mein    tod    und    leben.      Großmächtigster    König    und    Herr,    ich 


ZIGLKU.S    ASIATISCHE    BANISK  397 

geniesse  umvürdii^st  dero  üborflüliige  gnade;  allein  ohne  der  Princeßili 
gunst  ist  mir  dieser  Zucker  nur  galle,  und  dero  versagte  luild  wird 
mich  bald  aus  I.  ^1.  äugen  rücken"  (s.  ()1).  Zu  Banisc  sagt  er  einmal: 
„Wie  so  betrübt,  meine  Schöne,  wenn  werden  uns  die  benetzten  Avan- 
gen  trockene  rosen  und  dio  ti'aurigcn  äugen  frühliclie  sonnen  gewäh- 
ren?" Und  weiter:  „Mit  einem  werte,  Chaumigrem  brennet  und  erkie- 
set Banisens  liebe  zur  kühlung  seiner  flammen."  ,Jn  meiner  seele 
herrschet  brunst  und  ilainme,  welcher  allen  haß  nunmehro  verzehret 
hat."  Als  aber  Banise  ausAveichend  ihre  eigenen  reize  herabgesezt  hat 
in  dem  satze:  „Einem  solchen  Herrn  müssen  gestirnte  kertzen  und 
nicht  schlechte  irr- lichter  zu  bette  leuchten",  schwingt  er  sich  zu  dem 
vergleiche  auf:  „Ich  erkenne  mehr  als  zu  wohl,  Avie  der  fruchtreiche 
herbst  ihre  brüst  und  der  anmuthige  frühling  ihre  lippen  beseelet.  Weil 
sich  auch  der  sommer  in  völliger  pracht  auf  der  rosen -Avangen  zeiget: 
AA'ie  kan  doch  der  verdrießliche  Avinter  im  hertzen  Avohnen"  (s.  244  —  46). 
Nach  dem  verunglückten  fluch tversuch  strömt  seine  leidenschaft  noch 
immer  in  den  sätzen  hervor:  „Ach,  grausame  Banise!  Avelche  ein  Ari- 
maspischer  Avolft'  mit  gift't  und  blute  muß  gesäuget  haben.  Ihr  kaltes 
hertze  muß  auch  das  eyß  aus  Zembla  (NoAvaja-Semlja)  übertreffen,  Aveil 
mein  heisses  bitten  weder  vormahls,  noch  mein  flammendes  begehren 
jetzund  zu  schmeltzen  vermochte"  (s.  267).  Besser  stehen  dem  Avüte- 
rich  alle  die  färben  zu  gesiebte,  mit  denen  sein  blutdurst  und  seine 
Avütenden  zornesäusserungen  ausgemalt  Averden.  So,  Avenn  er  sagt: 
„Wir  meyneu,  daß,  avu  unsere  Avolfarthslilien  am  besten  blühen  sollen, 
man  nothAvendig  che  fehler  mit  des  feiudes  blute  düngen,  und  avo  Avir 
unser  Reich  befestigen  Avollen,  man  die  stufFen  zum  throne  durch  feind- 
liche leichen  bauen  müsse"  (s.  219).  Ponnedro  Avider  drückt  seine 
ansieht  über  die  A^erbindung  von  Chaumigrems  liebesraserei  mit  seiner 
sonstigen  natur  in  dem  geschmackvollen  satze  aus:  „Die  durchdrin- 
gende Schönheit  der  Princeßiii  hat  auch  dieses  tygerhertz  bezwungen, 
dannenhero  ei*  von  dem  gifft  eingesogener  liebe  fast  zu  börsten  ver- 
meynet"  (s.  238).  Im  zorn  schreit  Chaumigrem:  „AVo  ist  die  bestie, 
wo  ist  der  ertz-verräther?"  und  lässt  „seinen  grimm  durch  folgende 
Avorte  und  grausamen  befehl  ausdünsten:  Daß  nicht  alsobald  tausend 
hencker  erscheinen  und  dir  verfluchten  hund  den  A'erdammten  lohn 
durch  pech  und  schAvefel  ertheilen.  Darffst  du  vermaledeyter  erdAvurm 
dich  dessen  unterstehen,  dem  strengen  befehl  unserer  geheiligten  Maje- 
stät boßhafftig  zu  Avidersti-eben ? "  (226.  227).  Oder  als  Banise  entAvichen 
ist:    „Blitz,    brand,    schwefel,    bley   und   hundert  hencker    sollen    diese 


1 98  MtJLLER  -  FKAUENSTEIN 

Schmach  riichcn,   und   ihr  alle  solt  es  mit  euren  hülsen  bezahlen,  daß 
ihr  dieses  hellen -kind  entreissen  lassen''  (s.  261). 

Doch  führen  Avir  schliesslich  noch  etwas  weniger  Scharfrichter- 
massige  Wendungen  an!  Scandor  und  Talcmon  sollen  uns  unter  die 
leidlich  civilisierten  menschen  zurückführen.  Der  alte  reichsschatzmei- 
ster  des  kaisers  von  Pegu  bricht  bei  dem  bericht  von  dessen  gang  zum 
liinrichtungsqlatz  in  die  klage  aus:  „0  Avunderliches  verhängniß!  o  ver- 
änderliches glück!  0  spiegelglattes  eiß  der  herrschaft!  da  sich  die 
crone  in  einen  cypressen-krantz  und  das  scepter  in  einen  blutigen 
mörder-stahl  verwandelt.  Hier  sehen  wir,  wie  vergebens  wir  arme 
menschen  bemühet  sind,  wenn  wir  uns  unterstehen,  den  Schluß  zu  mei- 
den, welchen  das  verhängniß  in  das  hinimels-buch  mit  solchen  zieffern, 
welche  niu'  die  Götter  verstehen,  eingeschrieben  hat''  (s.  195).  Scandor 
auf  der  anderen  seite  wird  nie  so  sentimental.  Selbst  als  er  mit  Bani- 
sen  von  den  verfolgenden  Bramanern  eingeholt  wird,  lässt  er  einfach 
sein  pferd  laufen,  sezt  sich  neben  die  prinzessin,  deren  ross  gestürzt 
ist,  auf  die  bauniAvurzeln  und  sagt  ihr:  ,Jch  kan  mir  nicht  weiter  helf- 
fen.  Hier  wollen  wir  sitzen  bleiben,  und  uns  vor  zwey  hasen  aus- 
geben: weü  es  nun  im  gehege  ist,  so  werden  sie  uns  wohl  ungebrühet 
lassen"  (s.  263).  Seine  Verwunderung,  als  er  in  Talemons  schlösse 
plützlich  seinen  verwundeten  herrn  findet,  macht  sich  in  dem  drasti- 
schen ausrufe  luft:  „0  ihr  Götter,  errettet  mich  von  diesem  zaubcr- 
orte.  Talemon,  ihr  alter  hexen -meister,  ihr  verblendet  meine  äugen." 
Er  will  „zur  thür  hinaus  reissen",  wird  aber  von  dem  schlossherrn 
zurückgehalten  und  komt  schliesslich  „mit  zitterndem  fusse"  an  das 
bett  des  prinzen  (s.  30).  Den  höchsten  grad  seiner  ergebenheit  gegen 
diesen  spricht  er  in  den  worten  aus:  „Wo  einige  treue  gegen  einen  so 
grossen  Herrn  durch  eine  geringe  heyrath  kan  bewiesen  werden,  so 
wolte  ich  mich  wol  unterfangen,  das  älteste,  heßlichste,  boßhafftigste 
und  ärmste  weib  in  gantz  Asien  aufFzusuchen ,  und  mich  dadurch  den 
Göttern  so  weit  angenehm  zu  machen,  daß  sie  nach  diesem  leben  mei- 
ner gewiß  verschonen  würden,  weil  ich  die  hölle  sattsam  auff  erden 
gehabt  hätte"  (s.  179).  Das  ist  doch  bald  so  hoch  geschworen,  wie  es 
Banise  mit  dem  gelübde  ihren  Balacin  zu  den  mohren  wie  zu  den 
eskiraos  zu  begleiten  tut. 

Ich  habe  auf  den  lezten  selten  eine  ganze  auswahl  von  Empfin- 
dungs-  und  wunschäusserungen  nach  Ziglers  manier  zusammengestelt, 
imd  zwar  mit  möglichster  Vermeidung  der  für  die  einzelnen  Individuen 
charakteristischen  stellen.  Sie  geben  den  typus  ab,  wie  sich  freude 
und  entzücken,   kummer  und  schmerz,    zorn   und  rachedurst,   ergeben- 


ZIGLEBS   ASIATISCHE   BANISE  199 

heit  und  liebe  nach  unseres  Schriftstellers  meinung  luft  machen  sollen. 
Wir  verlangen  heute  mehr  einfachheit  und  klarheit  des  ausdrucks,  eine 
grössere  mässigii ng  des  gei'iihls,  weim  wir  einen  einigermassen  wol- 
tuenden  eindruck  geniessen  wollen.  Nicht  luir  iiusserungcn  der  men- 
schen werden  aber  in  solchen  rhetorisch  aufgepuzten  sätzen  widergege- 
ben, es  ist  vielmehr  so  ziemlich  alles  in  diesem  tone  gehalten.  Die 
berüchtigte  „lieblichkeit''  des  ausdrucks  verbietet  es,  natürlich  und  ein- 
fach zu  sprechen;  blumige  Umschreibungen  begegnen  uns  auf  schritt 
und  tritt.  Bei  einem  Sonnenaufgang  z.  b.  benuzt  der  dichter  die  Wen- 
dung: „Das  angenehme  weit- äuge  machte  artige  Vorstellungen  in  dem 
springenden  wasser  eines  in  den  Garten  stehenden  kunst-brunnens" 
(s.  19),  oder  „Nunmehro  brach  das  beti'übte  licht  an''  (s.  165),  oder 
„das  grosse  weltauge  hatte  kaum  das  blutige  feld  bestrahlet"  (s.  372); 
bei  einem  untergange  heisst  es:  „Die  Sonne  begunte  bereits  einen  theil 
ihrer  strahlen  in  die  see  zu  verbergen,  als  die  Glut  der  Lorangy  erst 
rechte  flammen  fieng"  (s.  207).  Yon  den  unzähligen  tropen,  die  für 
kriegsereignisse  verwendet  werden,  eitlere  ich  nur  die  eine  stelle:  „Sie 
verleibten  ihren  rühm  mit  rothen  buchstaben  denen  mauern  ein.  Das 
geschütze  muste  tag  und  nacht  blitzen,  die  unbeweglichen  mauern  zu 
bewegen,  daß  sie  doch  einen  freyen  eintrij;t  erlauben  weiten"  (s.  382). 
In  der  friedensproklamation  am  Schlüsse  komt  der  satz  vor:  „Heute 
sollen  sich  alle  sebel  in  pflugschaaren ,  die  spiese  in  eggen  imd  die 
lantzen  in  weinpfähle  verkehren"  (s.  399).  Das  klingt  gar  nicht  übel, 
ich  hoffe  überhaupt,  dass  schon  in  dem  bis  jezt  gegebenen  manch  schö- 
nes bild,  manch  gut  gewählter  ausdruck  neben  den  übertriebenen  und 
verfehlten  aufgefallen  sein  wird.  Am  empfindlichsten  berühren  uns 
immer  die  rohen  freuden-  oder  zornesausbrüche.  So  wenn  z.  b.  von 
dem  „angenehmen  und  herrlichen  anblick"  geredet  wird,  den  Xemin- 
bruns  auf  eine  lanze  gestecktes  liaupt  bietet  (s.  183),  oder  Avenn  Xemindo 
auf  dem  schaffet  einige  freudentränen  vergiesst,  weil  der  ihn  misshan- 
delnde lienker  von  einem  der  umstehenden  mit  einem  wiirfspiess  „durch 
und  durch  gerannt  wird"  (s.  196). 

So  unangenehm  ferner  das  kapitel,  so  kann  ich  doch  der  vol- 
ständigkeit  wegen  nicht  ganz  an  den  zotenhaften  stellen  vorbei- 
gehen, wenn  sie  ims  auch  entschieden  seltener  als  bei  anderen  Schrift- 
stellern der  zeit  begegnen  und  von  dem  damaligen  publikmn  wol  kaum 
als  zoten  empfunden  w^orden  sind.  Ich  rechne  hierher  schon  einige 
in  anderem  Zusammenhang  gegebenen  reden  über  und  von  Hassana 
(s.  87.  88)  und  alle  anderen  stellen,  in  denen  frivole  werte  über  ehe- 
bruch  laut  w^erden.    Mit  wenigen  ausnahmen  finden  sie  sich  in  Scandors 


200  MÜLLKK  -  FKAUENSTEIX 

munde,  z.  b.  s.  45.  ITo.  Als  Eswara  den  losen  Paladin  in  ihrer  woh- 
nunjj  vei'steckt  hat,  stürmt  ihr  „iiuter  Mann"  mit  ähnlichen  werten  zur 
türe  herein  (s.  130).  Am  unzüchtigsten  redet  Zaraui;-  und  zwar  direkt 
Bauisen  ins  gesicht,  als  sie  ihm  erklärt,  sie  sei  bereits  so  gut  als  ver- 
mählt (s.  305).  Der  Rolim  braucht  wenige  minuten  vorher  etwas  weni- 
ger schlimme  bilder  bei  seinen  Zudringlichkeiten  (s.  299),  dagegen  muss 
uns  seine  aufzählung  von  Banisens  reizen,  durch  die  er  ihr  seine  völ- 
lige Unfähigkeit,  ihnen  zu  widerstehen,  erklären  will,  geradezu  anwidern 
(s.  295).  Den  schluss  dieser  wenig  anmutenden  auf'ziUiIung  bilde  die 
lose  redensart,  welche  Scandor  nach  seiner  rettung  durch  Talemon 
braucht:  „Ich  begunte  schon  wie  die  hechte  auf  dem  rücken  zu  schwim- 
men: welches  dann  meinen  glauben  bestärckte,  daß  ich  kein  frauen- 
zimmer  sey,  als  welches  von  der  schamhafftigen  natur  bey  dergleichen 
nassen  fällen  dazu  versehen,  daß  sie  jederzeit  dem  wasser  den  förder- 
theil  des  leibes  gönnen,  imd  auf  dem  gesiebte  schwimmen  müssen" 
(s.  31). 

Es  ist  dies  aber  tatsächlich,  so  weit  ich  es  habe  kontrollieren 
können,  alles,  was  in  betreff'  dieses  punktcs  in  der  Banise  vorkomt; 
die  „erstlinge  der  blumen",  „die  blumen  der  Schönheit"  werden  aller- 
dings noch  hie  und  da  als  wünschenswert  citiert,  aber  eben  nur  citiert. 
Am  Schlüsse  begleiten  wir  die  drei  jungen  ehepaare  in  ihre  ruhezelte: 
„Worinnen  die  mit  so  vielen  dornen  bißher  verwahrten  rosen  mit  grös- 
ter  Vergnügung  gebrochen,  und  alles  ungemach  mit  einem  süssen  ach- 
geschrey  der  leidenden  Princeßinnen  erwünscht  geendiget  wurde"  (s.  407. 
408).  Dieser  ausdruck  und  des  Rolims  beschreibung  von  Banise 
schmecken  w^ol  am  meisten  nach  lüsternheit;  uns  sind  derartige  stellen 
unerträglich,  sie  können  ein  buch  ungeniessbar  machen.  Bedenken  wir 
aber,  wie  zahm  alles  dies,  mit  anderen  soavoI  epischen  als  lyrischen 
Schilderungen  anderer  schriftsteiler  jener  zeit  verglichen,  erscheint,  erin- 
nern wir  uns,  dass  die  Wielandsche  rause  weit  sinlichere  ergüsse  her- 
vorgebracht, dass  selbst  das  publikum  unseres  Jahrhunderts  Clauren 
verschlungen  hat  und  heutzutage  Zolas  bücher  in  den  vornehmsten 
boudoirs  liegen,  dann  wird  unser  tadel  verstummen. 

Doch  verlassen  wir  dieses  gebiet  und  wenden  wir  uns  den  inte- 
ressantesten und  algemeinsten  redewendungen  zu,  den  sprichwört- 
lichen Sätzen,  deren  ich  eine  ganz  ausserordentliche  zahl  in  der  Banise 
annehmen  zu  müssen  glaube.  Es  ist  mir  unmöglich,  sie  hier  aufzu- 
zählen, einige  sind  schon  früher  mit  untergelaufen,  ihre  benutzung  vor 
allen  dingen  durch  Scandor  liefert  mir  aber  einen  w^eiteren  beweis  für 
die    nicht  unglückliche   Charakterzeichnung,    die  ihm  durch  den  dichter 


ZIULERS    ASUTISCHE    BANISü  201 

ZU  teil  gewordeil  ist.  Leute  seines  schlaues  werden  stets  und  iibendl 
eine  verliebe  für  die  kurzen,  scheinbar  jede  weitere  einwendung  aus- 
schliessenden  Sentenzen  verraten.  Von  den  anderen  personen,  welche 
dergleichen  ausdrücke  l)raiichen,  nenne  ich  nur  die  folgenden:  J)anisens 
ganze  lebensanschauung  kiinte  man  in  ihren  werten  sehen:  „Sturm, 
Unglück  und  liertzeleid  ist  die  beste  lust  thjr  tugend,  angst  ist  ihre 
mutter,  und  elend  ihre  ammo"  (s.  2(39).  Higvanama  steht  ihr  zur  seite 
mit  dem  satze:  „Wo  einmahl  reine  liebe  durcli  den  tod  betrübet  wird, 
da  ist  die  keuschlieit  der  beste  Schatz  in  der  AVeit,  und  alle  liebe  ist 
alsdann  nur  ein  Irrwisch,  dessen  glantz  von  unreinen  seelen  entsprin- 
get'' (s.  45).  Und  in  demselben  gespräche  braucht  sie  noch  die  weis- 
heitsregeln:  „AVohl  dem,  welcher  seine  klughcit  in  dem  sarge  suchet, 
und  das  Gold  seines  Verstandes  auft'  den  probierstein  der  Sterblichkeit 
streichet.''  „Wo  hertz  und  lufft  trübe  ist,  da  Avird  sonne  und  brunst 
dunckel."  Chaumigrem  dagegen  redet  ihr  zu:  „Lasse  sie  die  todten 
ihre  todten  begral)en."  üer  alte  Talemon  flicht  einmal  die  bemerk ung 
ein:  „Gcdult  ist  die  lincke  band  der  tapfferkeit";  und  später:  „Alle 
Verachtung  bringt  Sicherheit,  Sicherheit  getahr  und  diese  den  tod" 
(s.  203).  Sein  söhn  Ponnedro  hilft  sich  im  gespräch  mit  Chaumigrem 
und  später  Banise  ebenfals  öfter  mit  dergleichen  Wendungen:  „Wenn 
sich  grosse  herren  rauften,  müssen  die  unterthanen  ihre  haare  darzu 
hergeben,  und  wenn  gecrönte  häupter  nüsse  aufbeissen,  so  muß  es  mit 
den  Zähnen  der  unterthanen  geschehen"  (s.  222);  ferner:  „AVo  die  gefahr 
zu  pferde  sitzet,  da  muß  guter  ratli  freylich  nicht  auf  steltzen  gehen" 
(s.  235).  „Das  glücke  ist  rund",  und  „wir  würden  nur  pfeiler  in  die 
see  bauen,  und  bey  der  natter  gunst  suchen"  (s.  238,  239).  ,,Alle 
frever,  narren  und  trunckene  sind  reich"  meint  Balacin  mit  deutlicher 
anspielung  einmal  zu  Scandor  (s.  32).  Der  satz:  „Eine  Krone  ohne 
Banise  ist  mir  eine  gesaltzene  speise  ohne  tranck"  (s.  35)  belegt  seine 
unverbrüchliche  treue  gegen  die  braut  wie  der'  andere:  „Wo  das  garn 
der  liebe  nicht  aus  reiner  unschuldsseide  gesponnen  wird,  da  fressen 
sich  unfehlbar  die  motten  des  Unglücks  ein"  (s.  91).  Die  bei  weitem 
meisten  in  imserem  buche  angebrachten  Sprichwörter  beschäftigen  sich 
mit  der  liebe.  Scandor  und  zuerst  auch  der  Kolim  sind  in  dieser 
beziehung  unerschöpflich  in  Unglücks  Weissagungen.  AVie  ein  priamel 
klingt  des  lezteren  mahnung:  „Die  liebe  ist  eine  fantasie  und  ein  unge- 
wisser zweck.  Sie  ist  blind  und  dennoch  sieht  sie  schärffer  als  ein 
luchs.  Sie  bauet  ihren  thron  in  dem  hertzen,  und  ist  doch  ein  unbe- 
greiffliches  wesen.  Ein  vogel  siebet  den  leim  und  die  mücke  das  licht, 
dennoch  lässt  sich  jener  kirren  und   diese  verbrennet  sich  selber,    das 


202  MÜLLER  -  FKAUENSTEIN 

schnelle  rehe  scheuet  das  garn,  und  der  schifter  keimet  die  fahrt  der 
ancker-losen  see:  doch  kan  jenes  das  sehen  nicht  klug,  noch  diesen 
die  gefahr  verzagt  machen"  (s.  265).  Scandors  erstes  Sprichwort  hat 
algemeinen  inhaU:  „Wer  geld  liat,  kan  leicht  schätze  suchen,  und  wer 
viel  hunde  liat,  kann  leicht  hasen  fangen''  (s.  36).  Dann  aber  heisst 
es:  „Wo  die  liebe  raset,  da  strauchelt  der  verstand,  ja  der  klügste 
mann  wird  zum  narren"  (s.  75),  und  der  anfang  des  zweiten  buches 
mit  seinem  acht  selten  langen  gespräch  zwischen  dem  prinzen  und  sei- 
nem diener  liefert  hierliergeliürige  beispiele  in  hülle  und  füllet 

Aus  anderen  gesprächen  über  das  wiesen  der  liebe,  z.  b.  zwischen 
Balacin  und  seiner  Schwester  (s.  i}Q  fg.)  oder  zwischen  Banise  und  dem 
Rolim  (s.  295  fg.),  füge  ich  noch  an:  „das  frauenzimmer  und  die  liebe 
ist  ein  zartes  wesen",  ,,die  liebe  ist  eine  Schwachheit  des  gemüthes", 
„bei  den  rosen  sind  dornen",  „die  einfältige  Wahrheit  ist  die  beste." 
„Schön  und  fromm  sevn  stehet  selten  bev  einander." 

An  heutige  Wendungen  klingen  endlich  auch  die  beiden  redens- 
arten  (s.  11-4)  an:  „Unter  der  rose",  w^ofür  wir  gew^öhnlich  den  latei- 
nischen ausdruck  brauchen,  und  „er  hat  sich  unsterblich  verliebt",  an 
stelle  unseres  „sterblich  verliebt." 

Ich  schliesse  diesen  abschnitt  mit  den  unzweideutigen  Seiten- 
blicken und  anspielungen  auf  Europa  und  dessen  Verhältnisse  vor 
zweihundert  jähren;  aus  allen  spricht  ein  etwas  verbittertes  gemüt  oder 
wenigstens  die  melancholische  Stimmung  des  pessimistischen  einsiedlers. 
Schon  die  werte  Higvanamas  sind  w^ol  mehr  auf  Europa  als  Asien  zu 
beziehen:  (s.  67)  „Freylich  ist  es  zu  beklagen,  ja  mit  blutigen  thränen 
zu  beweinen,  daß  unser  Asiatisches  frauenzimmer  fast  mehr  cometen 
als  Sterne  blicken  lasset;  da  eine  bereits  durch  das  band  der  liebe 
gebundene  Yenus  den  Wechsel  dermassen  liebet,  dass  öftters  die 
sämtliclien  planeten  nicht  genugsam  sind,  sie  durch  ihren  einftuß 
zu  stillen.  Und  brennet  ja  noch  wo  ein  reines  licht,  welches  sich 
keine  lasterwolcke  will  schwärtzen  lassen,  so  heissen  dessen  stralen 
einfältig"  usw.  Auch  über  die  geschwisterliebe  der  zeit  hören  wir 
klagen,  und  zwar  aus  Scandors  munde:  „Als  welche  itziger  zeit  der- 
ma.ssen  erfroren,  daß  fremde  personen  ihre  liebe  viel  liitziger  als 
brüder  und  Schwestern  erzeigen,  ja  wo  heutiges  tages  drey  geschwister 
sind,   so  bemühet  sich  das  dritte,   wie  es   die  anderen   zwey  in  eman- 

1)  Bobertag  erinnert  mit  vollem  rechte  daran,  dass  hier  eine  sehr  ausführliche 
Variation  vorliege  eines  seit  dem  mittelalter  in  der  faceticn-  und  populär  -  moralischen 
litteratur  in  Deutschland  besonders  seit  der  Verdeutschung  der  schrift  Petrarcas  vom 
glücklichen  und  unglücklichen  leben  beliebten  gedankens. 


ZIÜLEKS    ASIATISCHE   BANISE  203 

der  hetzen  möge''  (s.  84).  Ein  liübsches  pendant  zu  dem  oben  gege- 
benen ausdruck  Banisens,  dass  die  liebe  sie  zwinge  Balaein  „Du''  zu 
heissen,  linden  wir  m  IScandors  werten:  „Eine  Jungfer,  oder  fräuleiii, 
wie  sie  heutiges  tages  wollen  g(4auff't  sein''  (s.  37()).  Eine  „grund- 
regul  der  heutigen  weit",  die  er  zwei  selten  später  gibt,  klingt  ganz, 
als  ob  sie  auf  unsere  heutigen  Junggesellen  gemünzt  wäre:  „Ein  pfund 
gold  muß  im  heyrathen  einen  centner  tngend  überwiegen."  Zahlreich 
sind  auch  die  sätze,  in  denen  ein  licht  auf  die  politischen  anschau- 
ungen  Ziglers  fält.  Er  lässt  Scandor  sagen,  dass  er  sich  vor  der 
„gemeinen  Hof-pest  nngemessener  einbildung"  gehütet  habe  (s.  46)  und 
Talemon  einmal  klagen,  über  „den  w\inckenden  pöbel,  wie  wenig  sich 
auf  dero  beständige  treue  zu  verlassen  sey"  (s.  188);  der  Rolim  sagt 
auf  der  anderen  seite  Chaumigrem  ins  gesiebt:  „Alle  herrschafften, 
darinnen  man  allzu  viel  schäifte  brauchet,  bestehen  nicht  lange.  Wo 
recht  ist,  da  muß  auch  gnade  seyn:  diese  beyden  zieren  einen  monar- 
chen,  wie  sonne  und  mond  den  blauen  himmel,  und  hierdurch  kann 
er  nur  den  (TÖttern  am  nechsten  kommen.  Ein  Regente  ist  auch  an 
die  gesetze  gebunden,  daß  er  nicht  allenthalben  frey  zu  verfahren  hat. 
Ratio  Status  aber  ist  hingegen  die  verdammte  rathgeberin,  daß  man 
weder  vater  noch  mutter,  weder  kinder  noch  geschwister,  weder  treu 
noch  glauben,  wieder  göttliches  noch  weltliches  gesetze  verschont,  son- 
dern durch  list,  falschheit,  und  tyranney  alle  rechte  unterdrucket,  die 
imterthanen  ins  elend  stürtzet,  sich  aber  selbst  erschreckliches  ende  auf 
den  halß  zeucht"  (s.  224  fg.).  Kurz  vorher  hat  er  dem  kaiser  klug 
geraten,  „weder  eine  durchgehende  dienstbarkeit,  viel  weniger  eine 
völlicre  frevheit  einzuführen."  Das  alles  ist  aber  so  w^enig  nach  dessem 
herzen,  dass  dieser  losbricht:  „Vermaledeyet  sey  das  gesetze,  welches 
die  macht  eines  freyen  Königs  einzuschrencken  sich  bemühet.  Ratio 
Status  ist  die  eintzige  richtsclmur  grosser  Herren,  und  hat  die  gerech- 
tigkeit  zur  stieff- Schwester."  In  erfreulichem  gegensatze  dazu  stehen 
die  grundsätze,  mit  denen  Balacin  die  regierung  antritt.  Seine  herolde 
proklamieren  sie  in  den  noch  von  blut  rauchenden  Strassen  Pegus,  fast 
als  ständen  sie  nach  dem  dreissigj ährigen  kriege  in  Deutschland  (s.  399). 
Dazu  hält  der  ehrwürdige  neue  Rolim  Korangerim,  der  sich  schon  frü- 
her durch  kluge  ratschlage  hervorgetan  hat,  bei  der  kaiserkrönung  eine 
ganz  vortrefliche  rede  an  den  dem  namen  nach  „gewählten"  fürsten 
(s.  404 — 6),  wert,  dass  sie  ganz  hier  abgedruckt  würde.  Er  warnt  ihn 
vor  begünstigungen,  vor  zorn  (denn  „der  Zorn  ist  eine  motte,  Avelche 
den  purpur  verderbet"),  vor  neid,  vor  unbesonnenen  reden  (denn  „der 
Fürsten  werte  sollen,   weil  sie  von  jedem   erwogen  werden,   zuförderst 


204  MÜLLER  -  FILVUENSTELV 

Avuhl  auf  der  ^vage- schale  der  bedaclitsamkeit  abi^ewogeii  seyn)."  Der 
beschränkte  raiini  verbietet  leider  eine  austührlichere  analvse  dieses 
oratorischen  meisterstücks. 

Diese  hier  ausgesprochenen  staatsniiinnischen  Aveisheitsregeln,  die 
sicli  zweifelsohne  über  die  praxis  der  politik  des  liindcrschachers  erhe- 
ben, wie  sie  das  Europa  T^udwig  XIV.  trieb  und  wie  sie  unser  buch 
im  verschenken  und  vertauschen  der  einzelnen  lünterindischen  gebiete 
auch  zeigt,  erhalten  nun  dadurch  einen  besonderen  beigeschniack,  dass 
Zigler  sein  werk  dem  kronprinzen  Johann  Georg  von  Sachsen  gewid- 
met hat,  dem  söhne  Johann  Georg  ill.,  des  bekanten  „sächsischen 
Mars'',  demselben,  der  später  als  der  vierte  seines  namens  zur  regie- 
rung  kam,  leider  aber  durch  einen  plötzlichen  tod  alle  auf  ihn  gesezten 
hofnungen  zu  nichte  machte  und  August  dem  starken,  dem  gegner 
Karls  XII.  von  Schweden,  den  thron  hinterliess.  Diesem  Johann  Georg 
ist  das  dedicationsgedicht  gewidmet,  welches  dem  Averke  vorangeht. 
Darauf  weiter  einzugehen  hiesse  die  geduld  des  lesers  ermüden.  Cha- 
rakteristisches findet  sich  absolut  nicht  darin.  Nur  möchte  ich  darauf 
hinweisen,  dass  in  ihm  wie  in  der  vorrede  an  den  ,,nach  Standes- Ge- 
bühr Geehrten  Leser''  Zigler  sich  nicht  Avie  in  der  Banise  selbst  vor 
fremdwörtern  und  gelehrten  anspielungen  hütet,  sondern  vielmehr  seine 
feine  bildung  darin  auch  von  dieser  seite  möglichst  zeigt  ^.  Er  citiert, 
wenn  ich  recht  gezählt  habe,  in  den  132  zeilen  des  gedichts  jedoch 
noch  nicht  20  namen,  ist  auch  darin  also  nicht  so  uumässig  wie  andere 
Zeitgenossen:  die  übertriebene  devotion  und  sklavenhafte  unterAvürfg- 
keit  ist  uns  unangenehmer.  Von  dem  anfange  der  vorrede:  „Endlich 
erkühnet  sich  meine  Asiatische  Banise,  als  eine  unzeitige  frucht  seich- 
ter lippen,  unter  der  presse  hervorzuAvagen,  und  sich  auf  den  Schau- 
platz der  seh rifft- eckein  Avelt  vorzustellen"  urteilt  schon  Gottsched  genau 
so  wie  Avir.  Von  algemeinerem  Interesse  ist  dagegen  die  polemik  Zig- 
lers  gegen  die  „vielen  nicht  günstigen,  Avelche  nicht  ermangeln  Averden, 
diese  blätter  durch  alle  Praedicamenta  durchzuziehen",  „gegen  die 
Catonianische  meynung,  ob  Avären  die  Komainen  schlechter  dings  unnütze 
schrift'ten"-.  ,.Denen  ungegründeten  hassorn  der  HeldenschrifFten,  und 
andern  übel -gesinnten"  rät  er  dienstfreundlich  „dieses  Geringfügige 
Averkgen,  Avelches  sich  nur  als  eine  unAvürdigo  aufwärterin  der  heutig- 
vortreft'lichen  Romainen  aufgeführet,  bey  seite  zu  legen,   und  ein  nütz- 

1)  Auch  CholeviiLS  s.  169  meint:  ^in  der  voriedo  drücke  er  sich  Avie  die  kava- 
liere  der  zeit  aus,  brauche  französisch  und  lateinisch.'' 

2)  Bohertag  s.  240  fg.  gibt  eine  ergötzliche  probe  solchen  energischen  tadeis 
gegen  die  gattung  der  heldenromane  aus  jener  zeit  in  extenso. 


ZlGLERf5    ARIATISrHE    RANTSR  205 

licher  buoli  nach  soinor  Caprioo  zu  orfTroIffon,  aus  wolrboni  er  beweisen 
könne:  Dicatur  in  eo,  quod  nun  dictum  sit  prius."  „Denen  übel  deu- 
tenden Momis  und  Zoilis"  sezt  er  scbliesslieh  „wolbedäcbtig''  den  wabl- 
spi-ucli  des  bosenbandordens  entgegen:  Honni  seit,  qui  mal  y  pense. 

Die  ait  also,  wie  er  mit  diesen  gegnern  umspringt,  beweist  deut- 
liob,  dass  er  sieb  seines  publikums  durcbaus  sieber  fiiblt;  er  lebt  der 
angenebmen  bofnung,  dass  sieb  „viele  bonette  Gemütber  finden  wei*- 
den,  die  dieses  sein  woblmeynendes  unterfangen  mebr  loben  als  scbel- 
ten" ;  er  »steigt  nirgends  A'on  einer  souveränen  vei-acbtung  der  gegnei- 
berunter.  Docb  liisst  er  seine  „Indianiscbe  Princeßin  ganz  gerne  beken- 
nen, daß  sie  keinen  locum  in  denen  Actis  Eruditorum  meritire,  ange- 
sehen sie  sieb  nur  in  einem  scblecbten  deutseben  kleide,  nicbt  aber  im 
barniscb,  Avodurcb  sie  einige  begierde  zu  fecbten  andeuten  möcbte, 
vorstellet."  Er  versichert  ferner,  er  babe  sieb  „mfiglicbst  beflissen, 
alle  unartige  und  ärgerliebe  redens- arten  äusserst  zu  meyden,  aucb 
niemanden  mit  fleiß  zu  toucbiren,  es  sey  denn,  daß  sich  jemand  getrof- 
fen fände,  da  er  versichere,  es  sey  von  ungefebr  geschehen."  Über 
seine  spräche  endlich  urteilt  er  —  in  dem  ersten  teile  sicher  mit  recht, 
in  dem  zweiten  zu  unserer  grossen  Verwunderung  — ,  er  hoffe  „des 
Styli  und  eingestreueten  Barbarismi  wegen  pardonniret"  zu  werden, 
wenn  er  sage,  er  habe  den  eigentlichen  endzweck  der  romane,  die 
deutsche  spräche  zu  heben,  nicht  so  genau  beobachtet;  der  Inhalt 
gleiche  mehr  einer  historischen  beschreibung  als  einem  heldengedicbte. 
Das,  meine  ich,  können  wir  im  gründe,  wenn  wir  andere  werke  der 
zeit  zur  vergleichung  herbeiziehen,  zugeben.  Dagegen  klingt  es  heute 
geradezu  komisch,  Avenn  er  vorgibt,  er  habe  nicht  „durch  vergebene 
bemühung  die  armutli  seiner  zunge  verrathen,  sondern  sich  durch- 
gehends  einer  leichten  und  gewöhnlichen  redensart  bedienen  wollen." 
Arminius  und  Thusnelda  von  Lohenstein  werde  in  betreff  der  volkom- 
menheit  der  spräche  den  leser  mebr  befriedigen. 

Als  eine  art  probe  von  manchen  im  vorstehenden,  besonders  im 
ersten  teile  gefälten  urteilen  kann  uns  ein  vergleich  dienen,  den  wir 
zwischen  unserem  roman  und  dem  von  Schlossar  mitgeteilten  scenen- 
entwurf  einer  dem  roman  nachgebildeten  dramatischen  bearbeitung  zum 
Schlüsse  ziehen  wollen.  Dieser  anliang  scheint  mir  berechtigt,  da  von 
mehreren  kritikern  betont  wird\  Zigler  babe  vom  drama  gelernt,  da 
ferner  die  verschiedenen  Umarbeitungen   zur  oper  und   zum   Schauspiel 

1)  Wörtlich  so  E.  Schmidt  a.  a.  o.  Cholevius  und  Bobertag  berühren  sich  in 
ihren  urteilen  darüber  insofern,  als  sie  die  affektvollen  stellen  für  besonders  gelungen 
und  die  Umarbeitung  des  Stoffes  für  lobens^veit  und  effektvoll  erklären. 


20G  MULLER  -  FRAUENSTETN* 

diesen  schluss  sehr  nahe  legen  nnd  schon  wenige  Jahrzehnte  nacli  dem 
ei*scheinen  der  roman  dramatisiert  worden  ist.  Das  älteste  zengnis 
dafür  hat  nun  Scldossar  mitgeteilt  (a.  a.  o.);  er  liat  ein  blatt  in  die 
hand  bekonnnen,  wie  es  die  ptalzisohe  hofkomiUliaiitengeselschaft  des 
Joseph  Heinrich  Briinius  in  IJraz  1722  an  die  angesehenen  besu- 
cher  ihrer  Toretellungen  verteilte  nnd  auf  dem  der  inhalt  des  Stückes 
scenisch  skizziert  ist.  Genauer  gesagt,  umfasst  das  ganze  vier  blätter, 
voran  geht  ein  dedikationsgediidit.  Die  „unterre(lend(Mi  Persohnen" 
sind:  Banise,  kaiserliche  prinzessin  von  Pegu,  Balacin,  prinz  von  Ava, 
Ximindo,  kaiser  von  Pegu,  Ximin,  dessen  prinz,  Savadi,  eine  vertrie- 
bene Prinzessin,  Zorang,  prinz  von  Tangu,  Talemon,  reiehsschatzmeister 
von  Pegu,  Chaumigrem,  tyrann,  hernach  kaiser  von  Pegu,  Abaxar, 
^lortang,  dessen  generale,  Rolim,  obei-priester,  Hans  Wnrst,  Balacins 
lustiger  diener,  ein  Courier  von  Marteban,  ein  hauptmann  des  prinzen 
Zorang. 

Das  stück  zei-fiilt  in  fünf  actus,  der  erste  und  zweite  zu  je  8, 
der  dritte  nnd  vierte  zu  je  11,  der  fünfte  zu  4  scenen.  Schlossar 
begnügt  sich  nun  s.  95  an  seine  interessante  mitteilung  nur  wenige 
algemeine  folgerungen  anzuknüpfen.  Die  art  der  anordiumg  und  der 
einreihung  in  den  dramatischen  rahmen  sei  sehr  geschickt  aus  dem 
roman  herausgenommen.  Nur  die  hauptpersonen  würden  hervorgeho- 
ben, jedoch  selbst  einige  nebenepisoden  berücksichtigt,  z.  b.  das  Ver- 
hältnis von  Zorang  und  der  prinzessin  von  Savaady.  Talemons  Ver- 
hältnis zu  Balacin  sei  zu  wenig  ausgeführt.  Die  scenenordnuug  findet 
er  sehr  sachgemilss,  zum  schluss  sehr  spannend,  den  abschluss  rasch 
und  gewant  herbeigeführt.  Alzu  grilssliche  scenen  gäbe  es  bis  zum 
Schlüsse  nicht,  die  vielen  blutigen  ereignisse,  von  denen  der  roman 
überfült  sei,  würden  in  der  darstellung  nicht  berührt. 

Der  wert  des  Schlossarschen  aufsatzes  beruht  in  dem  wörtlichen 
abdruck  des  scenenentwuifes,  den  ich  hier  als  zu  umfangreich  nicht 
nochmals  hersetzen  kann.  Von  der  spräche  des  eigentlichen  Stückes 
erhalten  wir  dabei  freilich  nur  einen  geringen  begriff,  man  wird  aber 
wol  nicht  fehl  gehen,  wenn  man  annimt,  dass  Balacin  und  Banise 
wenigstens  die  schöne  spräche  wie  im  romane  gesprochen  haben  mögen 
und  dass  auch  Scandor,  der  hier  zum  Hanswurst  degradiert  ist,  sich 
vielfach  angelehnt  haben  mag  an  seine  reden  in  dem  Ziglerschen  werk; 
wie  er  sich  schon  darin  manche  scherzrede  erlauben  darf,  ohne  Balacin 
zu  beleidigen,  so  wird  er  auch  hier  seine  possen  so  ungeniert  wie  mög- 
lich getrieben  haben.  Der  titel  lautet:  „Einer  Hochlöblichen  |  In  Ost. 
Regierung  |  und  Hoff-Cammer  |  Wird  j  Zur  Alloiuntoitliänigsten  Pflicht 


ZIGLERS    ASIATISCHE    BANISE  207 

und  Schuld  Bczcigung-  |  eine  Sehens -würdige  und  vortrefliche  Haupt- 
Action  I  Betitult:  |  Die  Siegende  |  Unschuld  |  Tu  der  Persohn  der 
Asiatischen  |  Banise  |  von  Johann  lleiin-ich  Brunius,  Churfürstlich-  | 
Pfaltzischen  Hof-Coinnioedianten-l'rincipalen  |  Mit  bey  sich  habender 
Hoch- Ten tscher  Conipagnie  |  Unterthiinigste-Geliorsaiubst  ufferirt.  und 
dedicirt.  |  Grätz,  gedruckt  bez  den  AVidmannstiitterischen  Ei'ben.  1722." 
Auf  diese  „vortreffliche  Haubt-Action  folget  ein  Ballett  und  Kxti-a- 
Liistio-e  Nach- Co niö die." 

Ein  vergleich  mit  dem  roman  ergibt  Jiun  lulgendes:  Als  devise, 
gewisseraiassen  als  richtschnur  auch  für  die  liörer,  wonach  sie  ihre 
erwartungen  zu  bestimmen  haben,  stehen  am  anfange  der  orakelspi-uch 
und  der  träum  Balacins,  die  in  nuce  die  ganze  folgende  handlung  ent- 
halten. Dann  folgen  seine  ersten  heldentaten  in  Pegu,  durch  die  er 
aller  äugen  auf  sich  lenkt.  Der  zweite  akt  bringt  die  belohnung  dafür, 
die  Verlobung  mit  Banise,  aber  auch  das  herannahen  der  Verwicklung 
in  Chaumigrems  sieg  über  Martaban.  Der  dritte  führt  diese  selbst  her- 
bei in  dem  Untergang  des  kaisertums  von  Pegu  und  in  der  gnaden- 
frist,  welche  Chaumigrem  der  wider  seinen  willen  geretteten,  ihn  sodann 
aber  zur  heftigsten  liebe  entflammenden  Banise  stelt.  Die  grosse  der 
gefahr  wird  auch  dadurch  bewiesen,  dass  beide  liebende,  Balacin  in 
der  8.,  Banise  in  der  11.  scene  Selbstmordversuche  machen.  Der  vierte 
steigert  die  Verwicklung  durch  den  unglücklichen  fluchtversuch  beider, 
Chaumigrems  bestimt  ausgesprochene  absieht,  die  prinzessin  hinrichten 
zu  lassen,  wenn  sie  ihn  nicht  erhöre,  und  ihre  Überlieferung  in  die 
band  des  Kolim.  Der  fünfte  akt  begint  mit  des  lezteren  ermordung 
durch  Banise,  führt  die  Spannung  in  der  tempelscene  zur  höchsten 
höhe,  indem  der  als  Rolim  verkleidete  Balacin  Banise  töten  soll,  und 
enthält  in  der  lezten  scene  die  schnelle  peripetie  in  Chaumigrems  tod 
durch  Balacins  band  und  in  dem  „hellen  freudengeschrei ,  welches  den 
Heldenmüthigen  Printzen  Balacin  mit  seiner  unvergleichlichen  Banise 
vor  wahre  Beherrscher  deß  Kayserthums  Pegu  erkläret,  wobey  die  Liebe 
diese  zwey  gequälte  Hertzen  mit  Ehelicher  Liebe  zu  deß  gantzen  Rei- 
ches Vergnügung  entzückt  verknüpfet."  Balacins  rivalität  mit  dem 
prinzen  Zorang  (im  roman  Zarang)  wird  mit  als  Spannung  erwecken- 
des momeut  benuzt,  sie  wird  in  der  5.  scene  des  ersten  aktes  begrün- 
det, führt  zu  des  lezteren  vergeblicher  Werbung  in  der  8.  und  zu  des- 
sen duell  mit  Balacin  in  der  5.  scene  des  zweiten  aktes.  Sie  erfährt 
aber,  wenigstens  in  dem  vorliegenden  scenenentwurf,  keinen  versöhnen- 
den abschluss  durch  die  endliche  Verbindung  Zorangs  mit  der  prinzessin 
Savadi  (so  hier  statt  Savaady).     Vielmehr  sind   diese  zwei  leztgenanten 


208  MtXLF.R  -  FRAUKNSTEIN 

personell  ZAYar  genau  so  wie  in  der  ersten  hälfte  des  romans  neben 
einander  gestelt,  der  prinz  liebt  Banise,  die  prinzessin  verzehrt  sich  in 
Sehnsucht  nach  ihm,  der  gegensatz  wird  aber  im  stücke  nocli  verschärft, 
da  hier  der  priuz  Zorang  durch  J^aUicin  in  einem  duell  regeh'ccht  über- 
wunden wird  (2.  akt  5.  und  G.  scene),  während  (bis  im  roman  nur 
einem  von  ihm  geschickten  stelvertreter  passiert,  und  dann  docli  avoI, 
wie  in  der  5.  scene  angedeutet,  zu  Chaumigrem  übergeht,  ohne  wider 
erwiüint  zu  werden.  Von  der  gemeinsamen  belagerung  Pegus  durch 
Bahicin  und  den  prinzen  Zorang,  von  dessen  täuscluing  durch  die  ihn 
liebende  prinzessin  und  schliesslicher  Versöhnung  und  Vermählung  mit 
ilir  ist  keine  rede.  So  wie  hier  beider  nebenfiguren  Schicksal  nicht 
zu  einem  wenn  auch  nur  notdürftig  motivierten  abschlusse  komt,  so 
wenig  ist  der  prinzessin  von  Savaady  Verhältnis  zu  Balacin  zu  verste- 
hen. Von  ihrer  durch  den  kaiser  von  Pegu  zu  allererst  proklamierten 
Verlobung  ist  keine  andeutung  gegeben,  doch  besizt  Balacin  ein  bildnis 
von  ihr  wie  im  roman  und  gerät  deshalb  mit  dem  verschmäheten  lieb- 
haber  derselben,  Banisens  bruder  Ximin,  in  einen  Zweikampf,  den  die 
prinzessin  von  Savaady  wie  bei  Zigier  durch  ihr  dazwischentreten  und 
die  wegnähme  des  „Contrefait"  endigt  (I,  7).  Später  wird  sie  nur  noch 
einmal  erwähnt,  da  Banise  ihr  in  der  3.  scene  des  4.  aktes  „ihre  sorge 
wiegen  der  treue  ihres  prinzen"  entdeckt. 

Die  verwin'ung  also,  welche  der  liebesgott  durch  die  ungleich 
verteilten  neigungen  im  roman  anrichtet  und  die  mich  an  Shakespeares 
sommernachtsti'aum  erinnert  i,  scheint,  wenigstens  nach  der  erhaltenen 
inhaltsangabe  des  dramas,  in  diesem  nicht  so  gut  benuzt;  zwei  pcr- 
sonen  fallen  sozusagen  ohne  rettung  ins  wasser. 

Dagegen  kann  ich  nicht  finden,  dass,  wie  Sclilossar  sagt,  Talc- 
mons  Stellung  zu  Balacin  im  drama  „weniger  ausgeführt  sei."  Es  sind 
vielmehr  alle  hauptmomente  ganz  deutlich  benuzt:  Talemon  will  von 
dem  Hanswurst  (=  Scandor)  Balacins  herkunft  eifahren,  erhält  auskunft 
von  lezterem  selbst  uud  schwört  ihm  dann  ewige  treue  (I,  6).  Er 
ladet  ihn  dann  zur  kaiserlichen  tafel  und  nimt  an  dieser  wol  selbst 
auch  teil  (11,  3  —  5).  Er  wird  von  Chaumigrem  gefangen  genommen 
(III.  1),  verrät  diesem  „etliche  schätze"  (wie  im  roman),  wird  dadurch 
frei,  kann  aber  Balacin  über  Banisens  Schicksal  nicht  beruhigen  (III, 
5.  6),  gerade  so  wie  bei  Zigier.  Dann  liält  er  den  prinzen  vom  Selbst- 
mord zurück  (III,  8)  und  ebenso  die  inzwischen  in  sein  gewahrsam 
gebrachte   Banise  (III,  11).     Hier  ist  in   ganz   geschickter  w^eise  Tale- 

1)  Bobeitag  vergleicht  sie  rait  der  liebesverwiiiung  iu  ^üiaua"  von  Harsdöiffer. 


^KjLkrs  asiatische  banise  209 

mons  söhn  Ponnedru  durch  den  vator  ersezt,  und  dieser  wächst  dadurcli 
nur  an  bedeutung.  Su  ist  es  auch  im  vierten  akte,  wo  Talemon  (nicht 
Ponnedro)  Banisens  briefe  dem  auch  im  drama  offenbar  in  Talemons 
schlösse  sich  versteckt  aufhaltenden  Balacin  überbringt,  lezteren  ermu- 
tigt, indem  er  die  werte  des  Orakelspruches  als  zumeist  in  erfüll ung 
gegangen  erklärt,  ßanisen  den  fluchtplan  mitteilt  und  Balacin  die  Zu- 
sammenkunft vor  der  tlucht  ermöglicht.  Wemi  er  dann  in  der  7.  scene 
erscheint,  „begierig,  ob  der  anschlag  gelungen'',  von  dem  erwachenden 
Chaumigrem  erfährt,  dass  Banise  ihn  überlistet  hat,  und  nun  bemerkt 
ist,  „ertheilet  Befelil,  selbe  geschwinde  zur  Strafte  aufzusuchen",  so  ist 
es  einmal  bei  der  grammatikalischen  Unsicherheit  des  scenenentwurfs 
noch  nicht  ausgemacht,  ob  wirklich  Talemon,  nicht  Chaumigrem  damit 
gemeint  ist,  jedenfals  aber  darf  kein  böswilliger  und  verräterischer 
anschlag  Talemons  darin  gesehen  werden.  Das  beweisen  die  gleich 
folgenden  ersten  scenen  des  fünften  aktes,  wo  Talemon  an  des  ermor- 
deten Rolim  stelle  gesezt  wird  (offenbar  nur,  um  nicht  noch  eine  neue 
nebenfigur  einführen  zu  müssen)  und  mit  Abaxar  den  ganzen  rettungs- 
plan entwirft.  Talemon  beredet  Chaumigrem  dem  „verstelten"  Balacin 
bei  der  Opferung  Banisens  die  würde  des  Rolim  zu  übertragen,  er  ist 
also  auch  im  drama  durchaus  der  hebel  in  der  peripetie. 

Mein  eindruck  ist  also:  Talemon  spielt  auf  der  bühne  eine  noch 
bessere  figur  als  im  roman,  seine  schwäche  gegen  frau  und  tochter  fält 
weg,  da  diese  selbst  nicht  benuzt  werden  und  er  wird  auch  durch  die 
Verschmelzung  mit  seinem  söhne  Ponnedro  bedeutender;  alle  handlun- 
gen  mcht  nur,  die  im  romane  ihm  beigelegt  werden,  sondern  noch 
einige  dazu  werden  im  drama  auf  sein  konto  geschrieben.  Eher  könte 
Abaxar  etwas  zurückgesezt  werden.  Fallen  doch  seine  ganze  liebes- 
geschichte,  seine  taten  in  Odia  und  seine  eigenschaft  als  verkleideter 
prinz  weg!  Er  ist  und  bleibt  nur  der  lebensretter  Banisens,  wird  von 
Chaumigrem  deshalb  vorgefordert,  spielt  aber  mit  Talemon  bei  der 
opferscene  wider  neben  Balacin  die  entscheidende  rolle.  Scandor  ist 
w^eit  in  den  hintergrund  gerückt,  was  die  hauptfäden  der  Verwickelung 
betritt;  gewonnen  hat  nicht  seine  Stellung  als  treuer,  aufopferungs- 
fähiger Vasall,  sondern  nur  seine  Wirkung  auf  die  lachmuskeln  der 
hörer.  Er  heisst  „Hannß -Wurst"  oder  Hans  Wui'st,  ist  Balacins  die- 
ner  und  narr  und  greift  in  den  gang  der  handlung  eigentlich  nur  ein, 
indem  er  Balacins  sieg  über  den  prinzen  Zorang  meldet  (11,  6),  seinem 
herrn  die  zwei  briefe  überbringt,  in  welchen  der  tod  von  dessen  vater 
und  die  wähl  zum  herscher  in  Aracan  gemeldet  wird  (lY,  2),  Banise 
auf  ihrer  unglücklichen  flucht,    die   er  geraten,    begleitet  und  mit  ihr 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.       BD.   XXII.  14: 


210  miLLER  -  FRAÜENSTKIN 

gefjuigen  genommen  wird  (IV,  9.  10)  und  endlich,  als  offizier  verklei- 
det, den  lezten  briet'  trägt,  welcher  den  rettungsplan  mitteilt.  Das  ist 
doch  recht  wenig,  wenn  wir  daneben  halten,  was  der  Ziglersche  Scan- 
dor  leistet;  die  mitgeteilten  handlungen  stimmen  aber  bisher  mit  dem 
roman  übei*eiu.  Sonst  parodiert  er  die  grossen  ereignisse,  die  sich 
abspielen,  ahmt  wie  ein  clown  speciell  seines  herrn  heldentaten  in 
komischer  weise  nach  und  bekämpft  mit  seinen  narrenspossen  die  ernste 
Stimmung,  welche  die  Zuschauer  beschleichen  könte.  Er  erzählt  z.  b. 
am  anfange  des  Stückes  nach  seinem  herrn  auch  seinen  träum,  „sal- 
vieret  sich"  bei  dem  kämpf  der  zweiten  scenc  auf  einen  bäum,  wäh- 
rend Scandor  im  roman  an  dieser  stelle  seinen  herrn  aus  dem  gedränge 
herausliaut,  und  hat  in  der  vierten  „seine  Lustbarkeit"  mit  dem  toten 
löwen  (im  roman  panther),  vor  dem  Banise  durch  Balacin  gerettet 
worden  ist.  Im  ersten  auftritt  des  zweiten  aufzuges  ist  offenbar  das 
von  uns  oben  besprochene  gespräch  über  die  liebe  benuzt,  da  es  heisst: 
„Balacin  und  Hannß -Wurst  haben  eine  curieuse  Unterredung  über  die 
Liebe,  worüber  beyde  entschlaffen",  im  dritten  akt  eilt  er  seinen  herrn 
zu  retten,  nachdem  Talemon  das  eben  schon  getan,  und  in  der  aller- 
lezten  scene  macht  sein  „arthiger  Hochzeit -Wunsch  der  Action  ein 
lustiges  Ende." 

Von  kleineren  Avirksamen  oder  doch  auffallenden  zügen  des  romans, 
die  im  drama  Verwendung  finden,  ist  zuerst  zu  erwähnen,  dass  Bani- 
sens  vater  Ximindo  vor  seiner  strangulierung  sich  plötzlich  zum  chri- 
stentume  bekent.  Sodann  wird  auch  der  rührende  umstand  verwendet, 
dass  Banise  den  gefesselten  vater  mit  einem  trunk  wasser  zu  laben 
komt.  Eine  spannende  scene  muss  wol  ferner  die  6.  des  vierten  aktes 
gewesen  sein,  wo  Banise  „unter  sclnneichelnden  Liebkosungen  dem 
verliebten  Tyrannen  den  vergifften  Schlaf- Trunck  überreichet  und  nach 
dem  er  entschlaffen,  ihre  Kleyder  mit  den  seinigen  wechselt",  und  in 
ähnlicher  weise  die  1.  des  fünften  aktes,  „wo  der  in  die  Banise  ent- 
brannte Rolim  bey  selber  mit  Gewalt  die  Kühlung  seiner  Flammen 
suchet,  die  er  aber  von  der  höchst -beleydigten  Printzessin  mit  einem 
tödlichen  Stich  erhaltet."  Yor  allem  aber  natürlich  die  lezte  scene, 
wo  .,die  Schlachtung  der  Banise"  volzogen  werden  soll  und  diese  „mit 
erbärmlichen  Worten  der  Welt  Adieu  saget",  und  wo  Chaumigrem 
selbst  band  an  sie  legen  will,  von  Balacin  jedoch  „mit  einem  Strick 
erwürget"  wird. 

Das  dramaturgische  geschick  des  bearbeiters  können  wir  ausser 
in  diesen  zügen  am  meisten  erkennen  in  den  weglassungen  und  sce- 
nischen  Veränderungen.     Das  stück  fühj't,    wenn  Avir  nach   dem  Inhalt 


ZIGLERS    ASIATISCHE    BANISE  211 

auf  den  ort  der  handlungen  scliliessen  wollen,  iiacli  art  der  englischen 
stücke  nach  einander  an  eine  ganze  anzahl  verschiedener  örtlichkeiten; 
es  ist  weit  entfernt  von  einer  einheit  des  orts,  ebenso  wie  der  zeit. 
Dagegen  ist  die  einheit  der  handhing,  wie  schon  die  orakel-  nnd  trauni- 
scene  des  anfanges  beweist ,  im  ganzen  wirklich  mit  geschick  bewahrt. 

Wir  stehen  zuerst  vor  dem  tempel  bei  Pandior  an  der  grenze 
von  Ava  nnd  Pegu,  werden  in  der  2.  scene  in  einen  wähl  bei  Pegii 
versezt,  die  3.  —  5.  sind  zu  denken  in  oniem  garten  des  hofes,  die 
6.-8.  können  wol  auch  darin  gespielt  werden.  Der  zweite  akt  begint 
vielleicht  an  derselben  örtlichkeit,  avo  der  schluss  des  vorhergehenden 
vor  sich  gieng,  die  4.  —  8.  scene  ist  jedoch  in  die  kaiserlichen  gemacher 
verlegt.  Im  dritten,  vierten  nnd  fünften  akte  sind  jedesmal  wenigstens 
drei  verschiedene  Schauplätze  anzunehmen.  Die  zeit  der  handlung  ist 
allermindestens  nach  vielen  monaten  zu  berechnen.  Ist  doch  von  einer 
Vorgeschichte  kaum  eine  rede,  sondern  das  stück  begint  einige  zeit, 
ehe  die  beiden  hauptpersonen  sich  das  erste  mal  gesehen  haben,  und 
verfolgt  durchaus  gemessen  seinen  gang,  indem  diese  sich  kennen  und 
lieben  lernen,  verlobt,  dann  getrent  und  endlich  nach  langer  not  wider 
vereint  werden.  Ein  dunkler  punkt  in  betreff  der  haupthandlung  bleibt 
z.  b.,  wo  Balacin  bei  Chaumigrems  sieg  über  Pegu  steckt;  kein  wort 
in  der  scenenübersicht  gibt  dafür  eine  erkUirung,  doch  bot  der  roman 
natürlich  dafür  flngerzeige  genug.  Völlig  unbenuzt  sind  die  Verhält- 
nisse des  hofes  von  Ava,  Higvanama  und  Nherandi  von  Odia,  ebenso 
auch  Balacins  kriegerische  heldentaten.  Die  einzige  schlachtscene  über- 
haupt, welche  das  stück  bieten  konte,  ist  am  beginn  des  dritten  aktes, 
wo  Chaumigrem  die  Peguaner  überwindet;  die  3.  des  fünften  aktes 
spielt  wenigstens  deutlich  in  dem  lager  Balacins  vor  Pegu,  hat  aber 
den  Hanswurst  allein  als  akteur.  Den  seelischen  kämpfen  wird,  gewiss 
nicht  zum  nachteil  des  Stückes,  ein  weit  grösseres  feld  eingeräumt. 

Der  bau  des  Stückes  ist  zweifellos  wirksam,  wenn  auch  die  expo- 
sition  ziemlich  dürftig  gewesen  sein  mag.  Der  erste  akt  gibt  das  Ver- 
ständnis der  personen,  und  zwar  nicht  in  langen  monologen  oder 
gewaltsam  orientierenden  gesprächen,  wozu  der  roman  recht  wol  hätte 
verführen  künnen,  sondern  in  flott  sich  ablösenden  handlungen.  Frei- 
lich komt  es  darauf  an,  wie  viel  von  den  nebenhandlungen  des  romans 
nicht  doch  noch  angedeutet  worden  ist,  ohne  dass  der  scenenentwurf 
darauf  rücksicht  nimt,  der  leztere  gibt  aber  keinen  anlass  dergleichen 
zu  vermuten.  Der  zweite  akt  wirft  auf  das  junge  glück  der  liebenden 
den  ersten  schatten,  lässt  aber  in  der  jedenfals  möglichst  grausigen 
botenerzählung,    die  „mit  jedermanns  Bestürtzung  berichtet,  wie  Chau- 

14* 


212  MÜLLER  -  FRAUEXSTEIN 

migreins  Tyranney  den  Königlichen  Stamm  von  Martabana  außgerottet'', 
die  grosse  der  gefahr  schon  ahnen.  Die  ersten  zwei  akte,  wir  können 
auch  sagen,  die  exposition  ist  also  klar  und  anregend,  die  Verwicklung 
und  lösung  aber  in  noch  besserer  Steigerung,  als  sie  der  romau  durch- 
führt mit  seinen  dazwischen  geschobenen  kriegs wechselfällen  und  neben- 
abenteuern. Niemand  wird  im  drama  den  Avegfall  der  liebespaare 
Higvanama-Xherandi  und  Fylane-Abaxar,  auch  Lorangy-Scandor  be- 
dauern, niemand  die  schlachten  von  Prom,  Odia,  am  passe  Abdiara  und 
schliesslich  von  Pegu,  die  prunkscenen  und  Schaustellungen  der  sieges- 
einzüge,  der  prinzlichen  und  königlichen  beerdigungen,  der  bestattung 
des  alten  und  der  wähl  des  neuen  Rolim  vermissen.  Zu  dergleichen 
fehlten  Avohl  auch  die  scenischen  mittel.  Die  einzigen  mit  grösserem 
pomp  ausgeschmückten  und  an  spektakel  reicheren  auftritte  in  dem 
stücke  können  ausser  den  siegen  Balacins  über  die  meuchelmörder  und 
den  löwen  in  der  2.  und  4.  scene  des  ersten  aktes  nur  sein  im  zweiten 
akte  die  königliche  tafel  (4.  scene),  im  dritten  Chaumigrems  sieg  und 
des  kaisers  Xemindo  hinrichtung  (1.  und  10.  scene)  und  im  fünften 
natürlich  die  krönung  des  gebäudes,  die  grosse  sclilussscene.  Auf  der 
bühne  selbst  sterben  ausser  jenen  meuchlern  und  dem  löwen  nur 
Xemindo,  der  Eolim  und  Chauniigrem,  ein  zwei-  und  ein  „säbel- 
kampf'  (I.  7  und  11,  5)  und  zwei  Selbstmordversuche  kommen  sonst 
noch  vor;  das  ist  in  anbetracht  der  Verhältnisse,  im  vergleich  mit  den 
dramen  der  schlesischen  schule,  so  schhmm  es  schon  aussehen  mag, 
für  eine  hauptaktioii  doch  nicht  zu  arg.  Man  vergleiche  nur  die 
zahl  der  nervenerschütternden  auftritte  im  romane  damit  und  berück- 
sichtige den  umstand,  dass  schon  der  albekante  name  Chaumigrem 
den  Zuschauer  auf  grässliche  scenen,  grausamkeit  und  mord  vorbereiten 
muste. 

Weniger  berauschende  kunstmittel,  die  dem  durch  Lohenstein  und 
genossen  verwöhnten  fi-eieren  publikum  der  zeit  kaum  so  sehr  impo- 
niert haben  werden,  möchten  etwa  sein:  der  träum  Balacins  in  der  1., 
der  der  Banise  in  der  3.  scene  (sie  träumt  „ihres  vaters  unglück")  und 
die  zweimalige  Verkleidung  Balacins,  einmal  beim  Stelldichein  vor  der 
flucht  als  portugiesischer  kaufmann  (lY,  5)  und  dann  als  Rohm  (Y,  4). 
Auch  fehlt  es  nicht  an  zarteren  partien,  so  wenn  der  prinz  Zorang 
„bey  Banise  um  Liebe  anhält'',  Balacin  und  Hanswurst  sich  einen  gan- 
zen auftritt  über  die  liebe  unterhalten,  Banise  dem  schlafenden  Balacin 
das  bild  seiner  Schwester  von  der  brüst  nimt,  ebendieselbe  von  ihrer 
Verlobung  mit  Balacin  „verblümbter  Weise  verständiget,  und  artig, 
doch  (!)  vergnügt'*  mit  ihm  verbunden  wird,  oder  wenn  sie  sich  wegen 


ZIGLERS    ASIATISCHE    BANISE  213 

der  treue  des  beiden  bei  der  prinzessiii  von  Savaady  rats  erbolt  und 
endlicb  zu  ibrem  „bücbstcn  Vergnügen"  von  ibm  besucbt  wird. 

leb  meine,  die  sonst  in  der  Utteratur  völlig  unbekante  figur  des 
Verfassers  dieser  bauptaktion,  vielleicbt  J.  H.  Brunius  selbst,  spielt 
gar  keine  so  ungünstige  rolle  und  die  bocbdeutscbe  bofscbauspieler- 
geselscbaft  wird  mit  dem  stücke  in  Graz  im  jabre  1722  volle  bäuser 
erzielt  baben.  Der  scbluss  aber,  der  nun  wol  aucb  zu  zieben  erlaubt 
ist,  kann  nicbt  andere  lauten,  als  dass  die  „Asiatiscbe  Banise"  durcb 
diese  dramatiscbe  bearbeitung  indirekt  in  unserer  wertscbätzung  nur 
geboben  wird.  Mit  ausnabme  einiger  streicbe  des  Hanswurstes  und 
der  verscbmelzung  Ponnedros  und  seines  vaters  in  eine  person  bat  der 
dramatiker  nicbts  zu  verändern  oder  binzuzufügen  gebraucbt. 

Und  so  nebme  icb  abscbied  von  dem  beliebtesten  romane  jener 
zeit,  mit  dem  w^unscbe,  dass  Ziglers  bofnung  sieb  aucb  an  diesem  ibm 
gewidmeten  aufsatze  erfüllen  möge,  dass  sieb  nämlicb  „bonette  gemüter 
finden  werden,  die  dieses  mein  woblmeynendes  unterfangen  mehr  loben 
als  scbelten,  und  aus  dem  Avillen  erkennen  werden:  was  icb  mir 
wünscbte,  in  der  Tbat  würcklicb  zu  leisten." 

HANNOVER.  G.    MÜLLER- FRAUENSTEIN. 


OUDBRAXDUß  YIGFUSSOX. 


Am  31.  Januar  I.  j.  starb  in  Oxford  nach  langem  krankenlager  dr.  Giid- 
brandiir  Vigfüss  on,  einer  der  tätigsten  arbeiter  auf  dem  gebiete  der  altnordischen 
Philologie.  Als  der  älteste  seiner  deutschen  freunde  wage  ich  es,  in  dieser  Zeitschrift 
ihm  einen  nachruf  zu  widmen,  da  ein  wissenschaftlich  berufenerer,  Theodor  Möbius, 
leider  durch  krankheit  verhindeii  ist  dieses  seinerseits  zu  tun. 

Guclbrandur  war  am  13.  märz  1827  geboren;  es  ist  demnach  ein  irtum,  wenn 
ein  englisches  biographisches  Wörterbuch  (Men  of  the  time;  1887)  das  jalir  1830, 
oder  wenn  ein  dänisches  blatt  umgekehrt  das  jähr  1821  als  sein  geburtsjahr  angibt. 
Als  sein  geburtsort  wird  von  glaubhafter  seite  her  der  Hof  Frakkanes  auf  der  Skards- 
strönd  genant;  eine  zeit  lang  wohnte  sein  vater  aber  auch  im  Galtardale  auf  der 
Fell.sströnd,  dann  im  Fagridale  und  anderwärts  in  der  landschaft  Saurba)r,  und  gerade 
darum  ist  die  angäbe  des  geburtsortes  nicht  völlig  sicher,  wenn  auch  feststeht,  dass 
derselbe  der  Dalasysla  in  Westisland  angehörte.  Das  geschlecht  Gudbrands  war  ein 
sehr  angesehenes.  Er  stamte  im  geraden  manusstamme  von  f'orkell  Hallgrimsson 
ab,  einem  bruder  des  priesters  l^orlaki-,  des  vaters  des  vielgefeierten  bischofs  Gud- 
brandur  von  Holar  (yl627)  und  führte  andererseits  auch  dui'ch  seine  ururgrossmutter 
Helga  seinen  stambaum  auf  denselben  bischof  zuiiick,  indem  deren  vater,  Magnus 
Björnsson,  des  bischofs  ui'enkel  war.  Ich  erwähne  dieses  umstandes  teüs  darum, 
weil  durch  B.  Gudbrand  Porlaksson  der  name  in  das  geschlccht  gekommen  war, 
welchen  der  verstorbene  nach   dem  bruder  seines  gi'ossvaters ,  dem  apotheker  Gud- 


214  MAURER 

brandur  Vigfiisson  zu  Nes  bei  Reykjavik  (f  1822)  trug,  teils  aber,  und  hauittsäcli- 
lich,  weil  der  verstorbene  nach  isländischem  brauche  auf  seine  abstammung  grossen 
wert  legte.  Auch  auf  seine  abkuuft  aus  dorn  Westlande  tat  sich  dieser  viel  zu  gute, 
und  fülirte  mit  verliebe  den  alten  spruch  au ,  nach  welchem  die  Nordländer  edelleute 
(hofmeun),  die  Ostläuder  baueru  (biimenn),  die  Südländer  krämer  (mangarar),  die 
Westländer  gelehrte  (visindamenn)  sein  sollen. 

Nicht  bei  seinen^  vater,  Vigfüs  (rislason,  welcher  neben  seiner  land Wirtschaft 
auch  noch  die  kunst  eines  silbcrschmiedes  ausübte,  in  welcher  sich  später  ein  ande- 
rer söhn  desselben,  der  archaeologe  iSigurdur  in  Kcykjavik,  auszeichnete,  sondern  bei 
einer  Schwester  seines  grossvaters,  Katrin  Vigfüssdottir,  genoss  Gudbrandur  seine 
erste  erziehung.  Zu  Kleifar  im  Gilsfjördur  aufgewachsen,  erhielt  derselbe  seinen 
oi^sten  untemcht  durch  sera  Halldürr  Jonsson,  den  S])ätcren  pfarrer  in  Tröllatünga 
(t  1888).  und  später  durch  sera  I^rkell  Eyjülfsson,  den  jetzigen  pfarrer  zu  Stada- 
stadur,  dessen  vater  ein  bruder  der  mutter  Gudbrands,  Halldora  Gisladottir,  war. 
Damals  war  sera  I'orkell  hauslehrer  bei  dem  landcsphysikus  Jon  Thorsteiusson  in 
Reykjavik,  und  zwei  jähre  lang  unterrichtete  er  Gudbrand,  der  ihm  sowol  als  sera 
Halldorr  zeitlebens  dankbar  und  anliänglich  blieb;  dem  söhne  des  ersteren,  dr.  Jon 
I'orkelsson  in  Kopenhagen,  dem  Verfasser  der  troflichon  schrift  „Gm  digtningen  pä 
Island  i  det  l.o.  og  16.  arhundrede"  (1888),  verdanke  ich  einen  guten  teil  der  für 
diesen  nacliruf  benüzten  angaben.  —  Am  15.  juli  1844  wurde  Gudbrandur  in  die 
gelehrte  schule  zu  Bessastadii-  aufgenommen,  mit  welcher  er  im  jähre  1846  nach 
Reykjavik  umzog,  und  welche  er  im  juli  1849  mit  der  ersten  note  absolvierte.  Rec- 
tor  Sveinbjöru  Egilsson  und  dr.  Hallgrimur  Sche\iug  waren  hier  seine  lehrer  gewesen, 
und  auch  ihnen  bewahrte  er  stets  ein  dankbares  andenken.  Noch  in  demselben  jähre 
bezog  er  die  Universität  in  Kopenhagen,  wo  er  sich,  nachdem  er  die  gewöhnlichen 
pnifungen  (das  examen  artium,  philologicum  et  philosophicum)  mit  bestem  erfolge 
bestanden  hatte,  sofort  ausschliesslich  auf  das  Studium  der  altnordischen  spräche  und 
litteratur  verlegte,  und  wo  er  im  august  des  jahres  1856  zum  zweiten  Stipendiaten 
der  arnamagnseischen  Stiftung  ernaut  wurde,  von  welcher  funktion  er  erst  am 
1.  Januar  1866  enthoben  wurde,  nachdem  er  bereits  seit  dem  december  1864  nach 
England  gegangen  war,  während  den  Stipendiaten  stiftungsmässig  die  veii^flichtung 
zum  ständigen  aufeuthalt  in  Kopenhagen  obliegt. 

In  die  erste  zeit  seines  stipendiatentums  fält  der  beginn  meiner  bekautschaft 
mit  Gudbrand.  !Mit  Studien  über  isländische  rechtsgeschichte  beschäftigt,  hatte  ich 
mich  entschlossen  die  insel  selbst  zu  besuchen,  um  mich  mit  deren  topographic  und 
wirtschaftlichen  zu.ständen  näher  bekant  zu  machen;  ein  längerer  besuch  in  Kopen- 
hagen solte  mir  aber  als  Vorbereitung  für  die  reise  dienen,  und  mir  zumal  eine  vor- 
läufige orientiorung  über  die  Verhältnisse  Islands  und  die  nötige  fertigkeit  in  der  islän- 
dischen Sprache  verschaffen.  So  kam  ich  im  herbste  des  jahres  1857  nach  Kopenhagen. 
Durch  Jon  Sigurdsson,  mit  welchem  ich  schon  früher  in  brieflichem  verkehre 
gestanden  hatte,  wurde  mir  Gudbrandur  als  lehrer  empfohlen,  und  teils  in  folge  die- 
ses umstandes,  teils  aber  auch  dadurch,  dass  ich  vermöge  meiner  wissenschaftlichen 
zwecke  mich  überhaupt  vorwiegend  auf  den  verkehr  mit  Isländern  angewiesen  sah, 
traten  wir  uns  bald  näher.  Als  ich  sodann  im  frühjahre  1858  über  Kopenhagen  nach 
Island  reiste,  traf  ich  nicht  nur  dort  vor  meiner  einschiffung  wider  mit  ihm  zusam- 
men, sondern  wir  konten  auch,  da  er  gleichfals  seine  heimat  zu  besuchen  gedachte, 
ein  steldichein  in  dieser  verabreden.  Wirklich  trafen  wir  uns  am  14.  august  zu  Holt 
in  der  landschaft  Saurb^f^r,   und  durchstreiften  nun  14  tage  lang  teils  zu  pford,   teils 


GUDBRANDUR   VIGFUSSON  215 

mit  boten  die  östlicheu  gestade  und  iiiscln  des  wuiiderschüuoii  Breidifjördiir,  Am 
28.  august  trenten  wir  mis  in  Hjardarholt  im  Laxardalc;  aber  schon  am  1.  Oktober 
trafen  wir  mis  wider  in  Reykjavik,  von  wo  aus  wir  reichlich  zwei  wochcn  später 
über  Bessastadir  und  Gardar  nacli  dem  Hafuafjördur  ritten,  um  von  hier  aus  am 
17.  d.  m.  unsere  rückreise  über  die  Fiuröer  und  Schottland  nach  Koitcnhagen  anzu- 
treten. Das  längere  enge  zusanmionleben  auf  der  reise  und  der  vielfache  gedanken- 
austausch,  zu  welchem  dasselbe  gelegenheit  bot,  befestigte  selbstvi;i*ständlich  unsere 
beziehungen  zu  einander  sehr  erhebhch;  ein  reger  briellicher  verkehr  wurde  in  den 
nächstfolgenden  jähren  unter  uns  aufrecht  erhalten,  durch  gemeinsame  wissenschaft- 
liche bestrebuugen  vielfach  befördert,  und  zweimal  erhielt  ich  während  dieser  zeit 
längere  besuche  Gudbrands  hier  in  München  (1859  imd  1863). 

Während  der  zeit  seines  Kopenhagener  aufenthaltes  entfaltete  Gudbrandur  eine 
sohl'  lebhafte  litterarische  tätigkeit.  Dieselbe  begann,  soviel  mir  bekant  ist,  mit  zwei 
ziemlich  gleichzeitig  erschienenen  arbeiten,  nämlich  dem  bericlite  über  eine  reise 
nach  Norwegen,  welche  er  im  jähre  1854  auf  veranlassung  professor  C.  R.  Ungers 
unternommen  hatte  (Ny  felagsrit,  bd.  XV,  s.  1  —  83;  1855),  und  einer  eingehenden 
abhandlimg  über  die  Chronologie  der  isländischen  sagenzeit  (im  zweiten  hefte  des 
Safn  til  sögu  Islands  og  islenzkra  bokmenta,  bd.  I,  s.  185  —  502;  1855);  lezteres  eine 
arbeit  von  grundlegender  bedeutung,  in  welcher  deren  Verfasser  volauf  gelegenheit 
fand,  sowol  seine  volkommene  herschaft  über  die  gesamte  isländische  sagenlitteratur, 
als  auch  seinen  ungewöhnlichen  Scharfsinn  in  der  deutung  und  combinierung  ihrer 
angaben  zu  zeigen.  Bald  folgte  eine  reihe  anderer  aufsätze  in  den  Ny  felagsrit,  als 
deren  mitredakteur  Gudbrandur  auch  in  den  jähren  1858  —  64  wirkte ;  so  eine  abhand- 
lung  über  die  isländische  laut-  und  flexionslehre  (bd.  XVII,  s.  117  —  66;  1857),  eine 
reihe  von  sehr  beachtenswerten  bemerkungen  über  einzelne  Islendingasögur  und  deren 
neuere  ausgaben  (bd.  XVm,  s.  154—68, 1858;  XIX,  s.  128—36, 1850;  XXI,  s.  118—27 
und  128  —  36,  1861);  sowie  über  Ungers  ausgäbe  der  Stjorn  (bd.  XXIII,  s.  132  —  51, 
1863) ,  ferner  eine  beschreibung  der  ersten  reise  Gudbrands  nach  Deutschland  (bd.  XX, 
s.  23  — 143 ,  1860) ,  und  ein  aufsatz  über  die  wirtschaftlichen  zustände  Islands  in  der 
Vorzeit,  welcher  durch  eine  schrift  des  norwegischen  botanikers  Schübeier  veranlasst 
war  (bd.  XXIII,  s.  109  —  26;  1863).  An  diese  kleineren  arbeiten  reihte  sich  sodann 
zunächst  eine  anzahl  sehi'  verdienstlicher  ausgaben  von  quellen  werken  an.  Daliin 
zählt  der  erste  band  der  Biskupasögui-  (1856  —  58),  sowie  das  erste  heft  ihres  zwei- 
ten bandes  (1862),  welche  Gudbrandur,  zum  teil  gemeinsam  mit  Jon  Sigurdsson, 
besorgte;  die  ausgäbe  der  Bärdar  saga  Sna^fellsäss ,  Viglimdar  saga,  IVirdar  saga  hredu, 
der  Draumavitranir  und  des  Yölsa  J)ättr,  welche  die  Nordiske  Oldskrifter,  heft  XXM^I 
brachten,  und  die  Fornsögur,  Yatnsda4a,  HalLfredar  saga,  Floamanna  saga,  welche 
Gudbrandur  mit  Th.  Möbius  zusammen  herausgab  (beide  1860),  sowie  die  Eyrbyggja 
saga  (1864);  endhch  wurde  jezt  von  ihm,  im  vereine  mit  professor  Unger,  die  gewal- 
tige ausgäbe  der  Flatej'jarbok  begonnen,  welche  freilich  erst  in  etwas  späterer  zeit 
zum  abschluss  gelangte  (1860  —  68).  Gleichzeitig  beteiligte  sich  Gudbrandm-  aber 
auch  hülfreich  an  fremden  arbeiten.  Als  es  galt,  Sveinbjörn  Egilssons  Lexicon  poe- 
ticum  antiquae  linguae  septentrionalis  herauszugeben,  besorgte  er  mit  dem  rector 
Jon  I^orkelsson  in  Reykjavik  die  revision  des  manuscriptes.  An  der  herausgäbe  von 
JonAi-nasons  Islenzkar  fjjodsögui-  og  sefintyri  (1862  —  64)  war  er  neben  mir  beteiligt, 
und  üeferie  füi*  dieses  werk  neben  manchen  anderen  wertvollen  beitragen  zumal  auch 
die  überaus  lehrreiche  vorrede.  Bei  der  herausgäbe  seiner  Übersetzung  der  Njäla 
(1861)   erfreute  sich  G.  W.  Dasent    seiner    Unterstützung;    mir  aber  lieferte   er  zui' 


216  MAURER 

bcarl>eitung  des  nrtikels  Grägäs  in  der  Algemeinen  encyklopaedie  der  Wissenschaften 
lind  künste  (1S64)  die  wertvolsten  mitteilungen.  Eine  Zeitlang  (1861  —  62)  redigierte 
er  überdies  die  Zeitschrift  Skirnir,  und  korrespondierte  zugleich  für  isländische  blät- 
ter.  zumal  den  I^jödolfiu*.  Eine  wenduug  aber  ergab  sich  in  bezug  auf  seine  littera- 
rische tätigkeit  durch  seine  Übersiedelung  nach  England,  deren  oben  bereits  gelegent- 
lich gedacht  wurde. 

Es  war  ein  eigentümlicher  anlass,  welcher  Gudbraud  nach  England  führte. 
Ein  sehr  vennöglicher  junger  Engländer,  Richard  Cleasby,  welcher  geschmack  an 
philologischen  Studien  gefunden  und  hier  in  München  unter  Andreas  Schindlers  lei- 
tung  sich  tüchtig  in  die  germanische  Sprachforschung  eingearbeitet  hatte,  war  später 
nach  Kopenhagen  gegangen  und  hatte  dort  die  ausarbeitung  eines  altnordischen  w^ör- 
terbuches  in  die  band  genommen.  Schon  im  winter  1839  —  40  war  der  plan  hierzu 
entworfen  und  im  folgenden  frühling  mit  der  ausführung  begonnen  worden.  Da  für 
die  dichtersprache  SveinbjÖru  Egilsson  bereits  ein  Wörterbuch  nahezu  fertig  gestelt 
hatte,  für  dessen  herausgäbe  es  nur  an  raitteln  zu  fehlen  schien,  beschloss  Cleasby 
hiezu  einen  beitrag  zu  leisten,  seine  eigene  arbeit  dagegen  auf  die  prosasprache  zu 
beschränken.  Mehrere  junge  Isländer,  darunter  zumal  Konrad  Gislason  und  Biyn- 
jolfr  Petui-sson,  wurden  zu  dieser  herangezogen;  aber  am  6.  Oktober  1847  starb 
Cleasby  in  Kopenhagen,  ohne  dass  sein  Wörterbuch,  von  welchem  bereits  einige 
bogen  probeweise  gesezt  worden  w^aren,  vollendet  worden  wäre.  Mit  anerkennens- 
werter pietät  und  opferwilhgkeit  suchten  seine  angehöligen  das  werk  in  Kopenhagen 
nach  dem  ursprünghehen  plane  vollenden  zu  lassen;  als  die  arbeit  aber  immer  nicht 
vorangehen  wolte  und  noch  im  jähre  1854  statt  eines  fertigen  manuscriptes  nur 
neue  geldforderungen  einhefen,  verloren  sie  endlich  die  geduld:  das  material  wurde 
von  ihnen,  so  wie  es  lag,  nach  England  abgefordert  und  nunmehr  einem  englischen 
fachmann,  G.  AV.  Dasent,  zur  weiteren  behandlung  übergeben.  In  der  meinung,  es 
mit  einem  nahezu  druckfertigen  manuscript  zu  tun  zu  haben,  sezte  sich  dieser  behufs 
der  veröffenthchung  sofort  mit  den  delegierten  der  Clarendon  Press  in  Oxford  in  Ver- 
bindung. Widenim  wui'de  eine  probe  gesezt,  aber  bald  wurde  man  sich  über  den 
vöUig  ungenügenden  zustand  der  vorarbeiten  klar,  und  es  blieb  die  sache  ein  volles 
Jahrzehnt  liegen,  bis  Dasent  endlich  im  jähre  1864  neuerdings  mit  den  delegierten 
in  Unterhandlungen  trat,  in  folge  deren  diese  sich  zu  einer  verwilligung  verstanden, 
um  die  hülfe  eines  isländischen  philologen  zur  fertigstellung  des  Wörterbuches  zu 
gewinnen.  Gudbrandur  wurde  sofort  als  helfer  gewälilt,  und  siedelte  noch  im  laufe 
desselben  Jahres  nach  England  über.  Da  Dasent  durch  anderweitige  aufgaben  völlig 
in  amspruch  genommen  war,  fiel  ihm  die  arbeit  so  zu  sagen  allein  zu,  und  als  das 
Wörterbuch  in  den  jähren  1860  —  74  erschien  (An  Icelandic-English  Dictionary,  based 
on  the  Ms.  CoUections  of  the  late  Richard  Cleasby,  enlarged  and  completed  by  Gud- 
brand  Yigfusson  M.  A.),  konte  Dasent  am  Schlüsse  eines  ihm  vorgesezten  lebensabris- 
ses  Cleasbys  mit  fug  und  recht  aussprechen:  „The  Dictionary  as  it  now  Stands  is  far 
more  the  work  of  Vigfusson  than  of  Cleasby."  Es  ist  diese  arbeit,  welche  Gud- 
brands  namen  vielleicht  am  bekantesten  gemacht  hat.  Das  früher  nahezu  einzige 
hülfsmittel,  das  von  Rask  herausgegebene  isländische  Wörterbuch  Björn  Halldorssons 
(1814),  war  durch  sie  mit  einem  male  antiquiert,  und  auch  über  die  ziemlich  gleich- 
zeitig erschienenen  Wörterbücher  und  glossarien  von  Eirikur  Jonsson  (1863),  Th.  Mö- 
bius  (1866)  und  J.  Fritzner  0862  —  67)  war  weit  hinausgegangen,  wenn  sich  auch 
nicht  verkennen  lässt,  dass  gegen  den  schluss  des  Werkes  hin  einige  ermüdung  des 
Verfassers  sich   bemerkbar  macht;    er.st  die  im   erscheinen   begriffene  zweite  ausgäbe 


GUDBRANDUR   VIGFUSSON  217 

des  Fritznerschon  Wörterbuches  wird  der  arbeit  Gut11)rands  mit  erfolg  den  rang  strei- 
tig machen  können. 

In  England  blieb  Gudbiandur  foi-tan  wolinhaft.  Von  London,  wo  er  anfangs 
seinen  aufenthalt  genommen  hatte,  siedelte  er  im  jähre  1866  nach  Oxford  über.  Tin 
jähre  1871  ernante  ihn  die  dortige  Universität  lionoris  causa  zum  master  of  arts,  und 
übertrug  ihm  später  auch  eiue  professur,  welche  er  bis  an  sein  ende  bekleidete. 
Gelegentlich  des  Jubiläums  der  Universität  Upsala  wurde  er  honoris  causa  zum  doc- 
tor  der  philosophie  promoviert  (1877),  aus  vvelchem  anlasse  aucli  in  der  festschrift 
der  Universität  eine  kurze  lebensbeschreibung  desselben  eingerückt  wurde  (Ujisahi 
universitets  fyrahundraars  Jubelfest,  s.  868  —  69;  Stockholm,  1879).  Seit  dem  jähre 
1873  gehörte  er  unserer  akademie  der  Wissenschaften  als  correspondierendes  mitglied 
an,  und  im  jähre  1885  wurde  ihm  der  Danebrogsordon  von  der  dänischen  regierung 
verliehen,  üucrmüdlicli  arbeitete  er  inzwischen  in  seinem  berufe  weiter.  Noch  wäh- 
rend seiner  beschäftiguug  mit  dem  wörterbuche  entstanden  einige  kleinere  abhand- 
lungen:  „On  the  word  runhenda  or  rimheuda'',  dann  „Some  rcmarks  upon  the  use 
of  the  reflexive  pronoun  in  Icelandic",  welche  die  Transactions  of  the  philol.  society, 
1865.  n,  s.  200  — 207,  und  1866.  I,  s.  80— 123  brachten.  Nach  der  erledigung  jener 
umfangreichen  arbeit  erschien  sodann  eine  sehr  verdienstliche  ausgäbe  der  Sturlünga 
(1878),  welcher  noch  eine  reihe  weiterer  quellenschriften ,  sowie  eine  ausführliche 
und  vielfach  belehrende  litterargeschiclitliche  einleitung  beigegeben  sind.  Mit  Fr.  York 
Powell  zusammen  gab  forner  Gudbrandur  einen  „Icelandic  prose  reader"  heraus 
(1879),  welcher  nicht  nur  wegen  der  zugäbe  einer  kurzen  gTammatik  und  eines  glos- 
sars  beachtenswert  ist,  sondern  auch  darum,  weil  einzelne  der  mitgeteilten  quellen- 
stücke auf  grund  wertvoller  handschiiften  selbstständig  bearbeitet  erscheinen.  Eben- 
fals  im  verein  mit  Fr.  York  Powell  veröffentlichte  Gudbrandur  sodann  das  Corpus 
poeticum  boreale  (1883),  welches  in  zwei  bänden  nicht  nur  die  alten  dichtungen  des 
nordens  in  text  und  Übersetzung,  dann  mit  erläuternden  bemerkungen  versehen  bringt, 
sondern  auch  in  einer  litterargeschichtlichen  einleitung  und  einer  reihe  von  excursen 
nicht  wenige  materien  einer  selbständigen  l:)ehandlung  unterzieht.  Mit  demselben 
freunde  gab  er  auch  gelegentlich  der  centenarfeier  für  J.  Grimm  eine  festschrift  her- 
aus unter  dem  titel:  „Grimm  ceuteuary.  Sigfred- Arminius  and  other  Papers "  (1886). 
Als  ein  bestandteil  der  officiellen  samluug  der  „Kerum  Britannicarum  medü  aevi 
scriptores  ^  erschienen  endlich  seine  „  Icelandic  sagas  and  other  historical  documents 
relating  to  the  Settlements  and  descents  of  the  Northmen  on  the  British  Isles"  (1887), 
deren  zwei  bände  neben  einer  reihe  von  auszügen  aus  verschiedenen  quellenschriften 
volständige  ausgaben  der  Orkneyinga  saga  und  der  Magnüss  saga  Eyjajarls,  der  Häk- 
onar  saga  gamla  und,  soweit  sie  reicht,  der  Magnüss  saga  lagaboetis,  sowie  die  bis- 
her noch  unedierte  Dunstanus  saga  bringen.  Neben  diesen  eigenen  arbeiten  förderte 
Gudbrandur  nach  wie  vor  fremde  imternehmungen.  Dasent  z.  b.  unterstüzte  er  bei 
seiner  Übersetzung  der  GIsla  saga  Sürssonar  (1866),  und  Sir  Edmund  Head  bei  seiner 
Übertragung  der  Yigaglüma  (1866);  zur  zweiten  ausgäbe  der  Analecta  Norroena  von 
Th.  Möbius  lieferte  er,  nachdem  er  schon  für  die  erste  (1859)  die  I^orsteins  saga  Sidu- 
hallssonar  und  den  Draumr  J'orsteins  Siduhallssonar ,  sowie  stücke  der  Hallfredar  saga 
vandrsedaskalds  beigesteuert  hatte,  zwei  stücke  aus  der  Hauksbok  und  ein  kleines 
stück  „UmBeda  prest"  (1877);  mir  selber  endlich  teilte  er  nicht  nur  mehrfache  sehr 
erhebliche  notizen  zur  Verwertung  in  meiner  abhandlung  „Über  die  ausdrücke  alt- 
nordische, altnorwegische  und  isländische  spräche"  mit  (1867),  sondern  ihm  ver- 
danke ich  auch  die  abschrift  der  Skida-rima,    nach  welcher  ich  dieses  eigentümhche 


218  MAURER 

gedieht  im  jalire  1869  herausgab.  Auch  au  verschiedeueü  zeitschrifteu  arbeitete  Gud- 
braudur  noch  mit,  wie  er  deuu  z.  b.  uoch  mehrere  jahi'e  lang  regelmässiger  corre- 
spondent  des  ^J^jodolfr"  blieb,  und  auch  gelegeutlich  iu  die  „ Times '^  schrieb,  — 
correspondenzen,  die  ihn  gelegeutlich  in  recht  widerwärtige  Streitigkeiten  verwickelten, 
wie  z.  b.  die  controvei-se  über  die  neue  isländische  bibelübersetzung,  dann  über  die 
hülfsbedürftigkeit  Islands  während  des  notjahres  1882 — 83.  Ton  wissenschaftlicher 
bedeutung  sind  zumal  seine  beitrage  für  die  „Academy'^  und  für  die  „English  histo- 
rieal  reNiew*^;  in  der  ersteren  erschien  auch  die  lezte  arbeit,  welche  er,  soviel  mir 
bekant,  veröffentlichte,  nämlich  ein  nekrolog  für  Jon  Arnasou.  Ein  grösseres  Averk, 
an  welchem  er,  widerum  mit  Fr.  York  Powell  zusammen,  arbeitete,  und  welches 
die  älteren  isländischen  sagen  samt  der  Islendingabok ,  Landnama,  Kristni  saga,  den 
älteren  Biskupa  sögur  und  den  auf  Amerika  bezüglichen  quellen  umfassen  soll,  ist 
im  dmcke  bereits  weit  vorgeschiitten  und  dessen  baldige  Vollendung  gesichert. 

T\'ährend  der  ei"sten  zeit  seines  aufeuthaltes  in  England  seztc  Gudbrandur  den 
brieflichen  verkehr  mit  mii*  noch  sehr  eifrig  fort,  und  zumal  gab  die  arbeit  an  sei- 
nem wöiterbuche  zu  einem  regen  gedankenaustausche  anlass,  da  er  zumal  über 
juristische  terminologie  gern  mit  mir  rücksprache  zu  nehmen  pflegte.  Im  jähre  1874 
war  er  auch  noch  einmal  läagore  zeit  bei  mir  zu  besuch;  almählich  aber  wurde  die 
correspondenz  eine  lässigere,  teils  wol  weil  der  gang  unserer  Studien  immer  weiter 
auseinander  führte,  und  weil  für  mich  mit  Gudbrands  entfernung  von  Kopenhagen 
die  möglichkeit  wegfiel,  seine  hülfe  bezüglich  der  dort  aufbewahrten  handschiiften  in 
anspnich  zu  nehmen,  teils  aber  auch  weil  das  zunehmende  alter  uns  beide  träger  im 
schreiben  machte.  Doch  wechselten  wir  uoch  aljährlich  einige  briefe,  am  18.  Januar 
1.  j.  aber  Hess  er  mir  dui'ch  heim  Fr.  York  Powell  mitteilen,  dass  er  schwer  krank 
liege,  imd  ein  brief,  welchen  ich  daraufhin  abgehen  liess,  gehörte  zu  dem  leztcn, 
was  er  lesen  konte.  Ein  langwieriges,  aber  zum  glück  wenig  schmerzhaftes  krebs- 
leiden, welches,  vom  magen  ausgehend,  auch  die  leber  ergiiff,  machte  seinem  leben 
ein  ende.  Englische  freunde,  vorab  der  trefUche  Fr.  York  Powell,  haben  ihn  treu- 
lich gepflegt  bis  an  sein  ende,  imd  ihn  auch  in  würdigster  weise  zum  grabe  geleitet, 
in  welchem  er  nun  von  einem  leben  voller  mühe  und  arbeit  in  fremdem  lande  ausruht. 

SoU  zum  Schlüsse  noch  etwas  über  Gudbrands  wissenschaftliche  bedeutung 
gesagt  werden,  so  hält  es  schwer.  Hellt  und  schatten  richtig  zu  verteilen.  Gud- 
brandur war  ein  ganz  ungewöhnlich  begabter  mann,  von  raschester  fassungsgabe  und 
unermüdlichem  fleisse.  Seine  fertigkeit  im  lesen  und  in  der  beuiteilung  von  hand- 
schriften  war  eine  ganz  ausserordentliche-,  die  veiioschenste  schiift  vermochte  er  noch 
zu  entziffern,  und  wochenlang  konte  er  von  morgens  bis  abends  abschreiben  ohne 
dass  seine  äugen  ermüdeten.  Rasch  wusste  er  sich  auch  in  den  fiüationsverhältnis- 
sen  der  handschriften  zurechtzufinden,  und  von  hier  aus  für  seine  queUenausgaben 
stets  den  richtigen  text  zu  wählen  und  die  nötigen  Varianten  auszulesen.  Seine  aus- 
gebreitete bekantschaft  mit  der  gesamten,  gedruckten  und  ungedruckten  litteratui" 
seiner  heimat  Hess  ihn  überdies  im  vereine  mit  seinem  bewunderungswürdigen  gedächt- 
nisse  stets  alle  beziehungen  gegenwärtig  haben,  die  ihm  für  die  erledigung  irgend 
einer  aufgäbe  von  nutzen  sein  konten,  und  eine  seltene  kombinationsgabe  gestattete 
ihm  aus  dem  reichen  materiale  die  überraschendsten  Schlüsse  zu  ziehen.  Aber  aller- 
dings standen  diesen  glänzenden  eigenschaften  auch  wider  schwache  Seiten  gegenüber, 
welche  die  ungetrübte  entfaltung  jener  ereteren  mehrfach  behinderten.  Die  flüchtige 
band,  mit  welcher  Gudbrandur  seine  handschriften  copierte,  war  manchmal  eine  zu 
flüchtige,  sodass  nicht  immer  die  lesart  der  handschrift  in  seinen  ausgaben  ganz  ver- 


GUDBRANDUR   VIGFÜSSON  219 

lässig  wiclcrgegeljen  ist.  Sein  voiircfliches  gedächtnis  verleitete  ihn  zuweilen  zu 
alzugrossem  vertrauen  auf  dasselbe;  er  citiei-te  vielfach  aus  dem  köpfe,  uud  konte 
dann  hin  und  widor  auch  wol  ein  ungenaues,  oder  selbst  ein  geradezu  falsches 
citat  mit  unterlaufen.  Seine  rasche  combinationsgabe  verführte  ihn  manchmal  auch 
wol  zu  recht  seltsamen  ergcbnisseu,  die  zufolge  seiner  ungewöhnlich  schnellen  art 
zu  arbeiten  keiner  hinreichend  bedächtigen  nachprüfung  unterzogen  zu  werden  pfleg- 
ten. Ein  an  sich  sehr  anerkennenswertes  streben  nach  Originalität  liess  ihn  über- 
dies fremde  arbeiten  oft  nicht  beachten,  oder  selbst  ganz  ungerechtfei'tigtfn'  weise 
misachten,  zumal  wenn  sie  irgendwie  störend  in  seine  eigenen  hoblingsansirhten  ein- 
griffen. Alle  diese  Schattenseiten  seiner  art  zu  arbeiten  machen  sich  aber  in  Gud- 
brands  späteren  Schriften  weit  melir  fühl1)ar  als  in  seinen  früheren.  Seine  Übersie- 
delung nach  England  riss  ihn  los  von  dem  natürlichen  boden  seiner  tätigkeit.  Fortan 
fehlte  ihm  der  tagtägliche  zutritt  zu  den  handschriften  der  Arnamagna?ana  und  der 
grossen  königlichen  bibliothek,  uud  damit  die  möglichkeit  der  benützung  dieser  hand- 
schriften beim  lesen  von  korrekturen,  durch  welche  alle  flüchtigkeiten  von  abschrif- 
ten  verbessert  werden  konten;  es  fehlte  ferner  der  leichte  Zugang  zu  den  reichen 
bücherschätzen,  welcher  vordem  die  richtigstellung  von  citaten  jeden  augenblick 
emiöglicht  hatte.  Nicht  minder  bedenklich  wirkte  aber  auch  die  trennung  von  einem 
kreise  gleichstrebender  landsleute,  und  zumal  das  wegfallen  des  zügelnden  einflusses 
des  treflichen  Jon  Sigurdsson,  dessen  eminente  Verständigkeit  verbunden  mit  dem 
unbegrenzten  ansehen,  dessen  er  sich  bei  allen  seinen  landsleuten  erfreute,  gar  man- 
cherlei extravaganzen  zurückzudrängen  wüste,  zu  denen  gerade  die  begabtesten  sei- 
ner jüngeren  Schutzbefohlenen  sich  hinreissen  zu  lassen  geneigt  sein  mochten.  Es 
konte  nicht  ausbleiben,  dass  Gudbrands  absprechendes  auftreten  und  die  zuweilen 
recht  wilkürliche  behaudlung  der  quellen  in  seinen  späteren  Schriften  manche  scharfe 
Zurückweisung  zu  erfahren  hatte,  mochte  solche  nun  in  feinerer  form  wie  von  Ed. 
Sievers  (Paul  uud  Braime  X,  s.  209  u.  fg.)  uud  Magnus-  Stepheuson  (Timarit  hins 
islenzka  bokmentafelags,  Y,  s.  145  —  80),  oder  in  derberer,  wie  von  Theod.  Wisen 
(Arkiv  f.  nord.  fil.  III,  s.202,  anm.  2)  und  Jul.  Hoffory  (Göttinger  gelehrte  anzeigen,  1888, 
s.  153  u.  fg. ;  jezt  auch  in  dessen  Eddastudieu  I,  s.  87 — 142)  erfolgen;  aber  gegenüber 
solchen  auswüchsen  seiner  unendlich  originellen,  wenn  auch  alzu  wenig  methodisch 
geschulten  natur  wird  man  nie  vergessen  dürfen,  wie  unsäglich  viel  wir  dem  unermüd- 
lichen fleisse  und  dem  seltenen  Scharfsinn  des  mannes  verdanken,  der  überdies  in 
seinem  persönlichen  auftreten  von  der  liebenswürdigsten  anspruchslosigkeit  und  einer 
nahezu  kindlichen  naivität  war.  Ich  persönlich  und  mancher  andere  mit  mir  werden 
nie  des  dankes  vergessen,  den  ich  ihm  für  gar  manche  wissenschaftliche  fördenmg 
und  für  nicht  wenige  vergnügte  stunden  des  zusammensems  schulde;  möchte  dieser 
rasch  hingeworfene  nachruf  ein  sprechender  ausdruck  der  Wertschätzung  sein,  welche 
ich  dem  teueren  geschiedenen  zolle! 

MröCHEN,    13.    MÄRZ    1889.  K.    MAURER. 


MISCELLEN  UND  LITTEKATUE. 

Poetik.     Von    Wilhelm    Seherer.      Berlin,    AYeidmannsche    Buchhandlung.      1888. 

Xn  und  303  s.     8. 
Die    einbildungskraft    des    dichters.      Bausteine    für    eine    poetik.      Von 

Wilhelm  Dilthey.    (Philosophische  aufsätze,  Eduard  Zeller  zum  fünfzigjährigen 

doctor-jubüäum  gewidmet,  Leipzig  1887,  s.  302  —  482.) 


220  ELLINGER 

Handbuch  der  poetik.  Eine  kritisch-historisch»  darstellung  der  theo- 
rie  der  dichtkunst  von  Ilermaini  "Bauniufart.  Stuttgart,  Cottasche  buch- 
handhuig.  1887.  XII  und  734  s.  8. 
Poetik,  rhetorik  uud  Stilistik.  Akademische  Vorlesungen  von  AVilhelm 
"Wackernagel.  Herausgegeben  von  Ludwig  Sieber.  2.  aiifl.  Halle  a.  S., 
Verlag  der  buchhandlung  ncs  Waisenhauses.  1888.  XII  und  597  s.  8. 
Poesie  und  prosa,  ihre  arten  und  formen,  von  J.  Methiier.  Halle  a.  S., 
Verlag  der  buchhandlung  des  Waisenhauses.  1889.     XII  imd  330  s.     8. 

Man  darf  es  als  eine  ungemein  erfreuliche  tatsaehe  betrachten,  dass  jczt  von 
so  vei'schiedenen  selten  versuche  gemacht  werden,  umfassende  lehrsysteme  der 
poetik  aufzustellen.  Niemand  hat  dringendere  veranlassung,  die  förderung  dieser 
Studien  zu  wünschen,  als  der  littorarhistoriker.  Denn  bei  jeder  littorarhistorischen 
arbeit,  sofern  sie  sich  nicht  auf  diejenigen  gebiete  bezog,  auf  denen  die  philologio  — 
den  begriff  philologio  im  engeren  sinne  des  wertes  genommen  —  feste  normen  geschaf- 
fen hatte,  empfand  man,  ^\'ie  wenig  aus  der  bisherigen  spekulativen  ästhetik  sowol 
für  den  dichter  als  für  den  forscher  zu  gewinnen  ist.  Immer  mehr  und  mehr  muste 
sich  emem  jeden,  der  sehen  wolte,  die  Überzeugung  aufdrängen,  dass  es  verfehlt  ist, 
auf  metaphysischer  grundlago  ein  systeni  der  poetik  aufbauen  zu  wollen,  dass  es 
vielmehr  versucht  werden  muss,  ein  System  der  poetik  aufzustellen,  in  welchem  die 
gesamte  litterarische  produktion  untersucht  und  klassificiert  würde  und  in  welchem 
man  auf  giTUid  dieser  umfassenden  durch forschung  und  klassifikation  innerhalb  gewis- 
ser gi'enzen  zu  bestirnten  normen  und  gesetzen  gelangen  könte. 

Eine  solche  aufgäbe  zu  lösen,  war  sicher  niemand  geeigneter  als  Scherer.  Und 
mit  tiefer  trauer  muss  es  uns  erfüllen,  dass  es  ihm  nicht  vergönt  war,  diese  auf- 
gäbe volständig  durchzufühi'en.  Scherer  fühlte  schon  lange  das  unmittelbare  bedüi'f- 
nis  nach  einer  vergleichenden,  empinschen  poetik,  und  nach  dem  abschluss  seiner 
litteraturgeschichte  fing  er  an  einen  entwurf  aufzustellen,  den  er  einer  Vorlesung 
zu  gründe  legte.  Wäre  es  ihm  möglich  gewesen,  die  Vorlesung  mehrere  male  zu 
halten,  so  hätte  er  beim  mehrmaligen  durcharbeiten  des  gleichen  Stoffes  gewiss  noch 
einschneidende  Veränderungen  vorgenommen;  das  gleiche  wäre  sicher  von  der  aus- 
arbeitung  der  für  die  Veröffentlichung  bestimten  form  der  fall  gewesen.  Was  uns 
jezt  vorliegt,  ist  ein  erster  entwurf  und  ist  als  solcher  zu  beurteilen.  Mit  tiefer 
wehmut  habe  ich  diese  blätter  durchgelesen,  denn  bei  jeder  seite  stieg  die  herliche 
persönlichkeit  des  unvergesslichen ,  teuren  mannes  vor  meinem  äuge  empor  und  jede 
zeile  rief  mir  aufs  neue  mit  schmerzlicher  gewalt  ins  gedächtnis,  was  wir  besessen 
haben  und  was  uns  nun  unwiderbringlich  verloren  ist.  Ich  muste  mich  erst  nach 
mehrmaligem  lesen  gewaltsam  von  diesem  persönlichen  eindrucke,  den  das  buch  auf 
mich  machte,  befreien  und  glaube  jezt  wol  im  stände  zu  sein,  unparteiisch  über  die 
mängel  und  Vorzüge  des  entwurfes  rechenschaft  ablegen  zu  können. 

AVelche  Schwierigkeiten  sich  der  lösung  der  aufgaben,  die  hier  zu  erledigen 
sind,  entgegenstellen,  ergibt  sich  gleich  bei  dem  versuche  Scherers,  den  umfang  des 
gebietes,  welches  zu  durchforschen  ist,  festzustellen.  Scherer  stelt  folgende  beiden 
Sätze  auf:  1.  nicht  alle  poesie  ist  kunstmässige  anwendung  der  spräche.  2.  nicht 
alle  kunstmässige  anwendung  der  spräche  ist  poesie.  Dem  zweiten  dieser  sätze  ist 
zweifellos  auch  dann  zuzustimmen,  wenn  man,  wie  Scherer,  alle  prosaischen  reime- 
reien  des  .sechzehnten  und  siebzehnten  Jahrhunderts  zur  poesie  rechnet;  denn  manche 
anwendungen  der  kunstmässigen  rede,  wie  z.  b.  die  predigt,  die  rede  u.  ä.  wird  man 
gewiss  nicht  für  die  poesie  in  anspruch  nehmen,    obschon  es  selbstverständlich  nicht 


ÜBER   SCHRIFTEN'    ZUR   BEüTSCHEX   POETIK  221 

ausgeschlossen  ist,  dass  beispielsweise  die  predigt  pootisclieu  Charakter  aimiint,  ja  gera- 
dezu sich  der  poetischen  form  l)edient,  wie  in  der  Bamberger  jiredigt.  Eine  andre  frage 
ist  dagegen,  ob  der  zweite  satz,  so  wie  ihn  Scherer  formuhert,  als  richtig  anzuerkeu- 
ist.  Scherer  sucht  ihn  damit  zu  beweisen,  dass  er  das  ausdeuken  eines  baliets,  also 
einer  zusammenliängendeu  dramatischen  handlang,  bei  wrlcher  nicht  gesprochen  wird, 
füi-  einen  akt  poetischer  ei-findiing  erklärt.  „  Das  kunstwerk  entsteht  erst,  wenn 
agiert  wird,  und  das  geschieht  ohne  s])rache.  AW'nn  vollends  einer  eine  selbstcrfim- 
dene  pautomime  aufführt,  nach  seinen  eigenen  gedanken,  nach  seiner  eigenen  erfin- 
dung,  —  so  braucht  er  die  spräche  überhaupt  nicht;  und  dennoch  kann  dies  ein 
dichterisches  kuustwerk  sein.  Es  gibt  also  aktiou,  tanz,  gcbilrdenspiel  ohne  spräche, 
wobei  gleichwol  ein  poetisches  kunstwerk  entsteht."'  Ich  glaube  nicht,  dass  diese 
folgerungeu,  so  wie  sie  hier  gezogen  werden,  überall  richtig  sind.  Das  ausdenken 
eines  baliets  kann  man  doch  kaum  einen  akt  poetischer  ertindung  nennen.  Es  ist 
nur  ein  akt  kuustmiissigcr  eründung,  nichts  anderes,  als  wenn  der  maier  ein  grösse- 
res bild  entwirft  und  die  einzelnen  gestalten  im  geist  gruppieit.  Zu  einem  poeti- 
schen kuustwerk  wird  ein  solches  ballet  erst,  wenn  das  wort  zu  hilfe  genommen 
wird,  um  den  einzelnen  personeu  ihre  stellimgen  oder  ihre  funktionen  anzuweisen; 
so  wii'd  man  gewiss  nicht  anstehen,  Heines  tanzpoem  vom  doktor  Faust  als  eine  art 
von  poetischem  kunstwerk  anzuerkeuneu.  Aber  diesen  fall  schUesst  Scherer  aus- 
drücklich aus.  —  Auch  Schcrers  beziehung  auf  die  oper  ist  nicht  völlig  zutreffend, 
sondern  es  wird  durch  dieselbe  weiter  nichts  bewiesen,  als  dieses,  dass  wir  es  hier 
nicht  mit  einem  rein  poetischen,  sondern  mit  einem  gemischten,  poetisch  -  musika- 
lischen kunstwerk  zu  tun  haben;  und  dass  die  oper  erst  dann  vollendetes  kunstwerk 
wird,  wenn  die  musik  zum  werte  hinzutritt,  trägt  zum  beweise  jenes  satzes  nichts 
bei.  —  Der  satz  kann  daher,  so  wie  er  hier  formuliert  wird,  nicht  anerkant  werden 
und  nur  wemi  man  die  Verhältnisse,  die  hier  augedeutet  sind,  rein  historisch  erfasst, 
kann  man  zu  einer  richtigen  präcisierung  desselben  gelangen,  die  etwa  folgender- 
masseu  lauten  w^ürde:  In  den  ältesten  zeiten  erscheint  die  poesie  niemals  allein  als 
kunstmässige  anw'endung  der  spräche,  sondern  sie  ist  immer  verbunden  mit  tanz  und 
musik,  ja  es  kann  zuweilen  vorkommen,  dass,  wie  beim  taubstummen  die  Zeichen- 
sprache die  wirkliche  spräche  ersezt,  die  pantomime  geradezu  als  mittel  des  poetisch - 
dramatischen  ausdrucks  dienen  muss,  weil  die  spräche  selbst  dazu  noch  nicht  im 
Stande  ist.  Erst  almählich  lösen  sich  die  einzelnen  künste,  poesie,  musik  und  tanz 
aus  ihrer  Verbindung  los. 

Einen  ähnlichen  satz  stelt  Scherer  später  auch  auf  (s.  16),  indem  er  die  ein- 
zelnen ablösungsakte  genauer  präcisiert.  Er  führt  die  ältesten  foraien  der  poesie  auf, 
wie  wir  sie  heute  noch  bei  den  naturvölkern  finden:  chorlied:  Sprichwort,  mährchen. 
Das  chorlied  erscheint  in  den  ältesten  zeiten  und  auch  heute  noch  bei  den  naturvöl- 
kern, zum  teil  auch  noch  bei  uns,  wie  wir  es  bei  den  bauern  und  den  kindern 
beobachten  können,  mit  dem  tanz  verbunden.  Zunächst  hat  dann  die  ablösung  vom 
tanz  statgefunden ;  indem  dann  das  chorhed  zum  einzelHed  wird,  erfolgt  langsam 
auch  die  ablösung  von  der  musik.  Rechnet  Scherer  nun  alle  gebundene  rede  zum 
forschungsgebiete  der  poetik,  so  erhebt  sich  die  frage,  was  von  der  ungebundenen 
rede  hinzuzui'echnen  ist.  Von  den  für-  die  älteste  zeit  anzunehmenden  formen  der 
poesie  erscheint  seit  sehr  fniher  zeit  das  mäkrchen  in  ungebundener  rede,  für  die 
anderen  gattungen  aber  überwiegt  die  poetische  form,  so  dass  dieselbe  in  der  älteren 
litteratur  aller  vÖlker  auch  für  den  wissenschaftlichen  vertrag,  die  Inschrift,  wol  auch 
für   die    politische  rede  verwendet  wird.     Almählich    aber  —    vortreüiche    beispiele 


222  ELLIXC.F.R 

bietet  für  diesen  vorgaug  die  deutsche  litteratur  des  fuufzolmteu  und  sechzehnten 
Jahrhunderts  —  wird  für  einzelne  gattungen  die  gebundene  rede  von  der  ungebun- 
denen abgelöst. 

Für  alle  formen  ungebundener  kunstniässiger  rede,  soweit  sie  nicht  von  vorn- 
herein ihre  beziehung  auf  die  poesie  ausschliessen,  wäre  auch  die  gebundene  form 
müglieh,  z.  b.  für  roraan,  novelle,  mährchen,  fabel;  ja  sie  ist  häufig  auch  dafür  ver- 
wendet worden.  So  stehen  diese  formen  in  der  unmittelbarsten  verwantschaft  zu  den 
formen  der  gebundenen  rede,  z.  b.  der  roman  zum  epos,  die  novelle  zur  poetischen 
erzählung.  Demnach  kann  mau  der  abgrenzung  des  gebiets  der  poetik,  wie  Scherer 
sie  s.  32  gibt,  wol  zustimmen:  die  poetik  ist  vorzugsweise  die  lehre  von  der  gebun- 
denen rede;  ausserdem  aber  von  einigen  an  Wendungen  der  ungebundenen,  welche  mit 
den  anweodungen  der  gebundenen  in  naher  verwantschaft  stehen. 

Mit  vollem  recht  stelt  Scherer  an  den  anfang  seiner  untersucliungeu  die  frage 
nach  der  entstehimg  der  poesie.  Um  den  dichterischen  prozess  volständig  beschrei- 
ben, um  die  allen  dichtem  gemeinsamen  züge  sammeln  zu  können  und  dergestalt  zu 
einem  richtigen  gesamtbilde  vorzudringen,  dürfen  wir  nicht  bei  den  dichterischen 
erzeugnissen  hochentwickelter  kulturepochen  stehen  bleiben  \  wie  etwa  bei  der  litte- 
ratur der  Griechen  seit  den  homerischen  gesängen,  sondern  wii-  müssen  versuchen, 
uns  auf  grund  der  poetischen  gebilde  der  naturvölker,  die  zu  einem  solchen  zwecke 
freilich  erst  einer  umfassenden  klassifikation  unterworfen  werden  müste,  die  ei-sten 
Stadien  der  entwicklung  der  poesie  überhaupt  zu  vergegenwärtigen.  Erst  wenn  wir 
so  zu  den  „urzellen,  den  primären,  einfachen  lebensformen  der  poesie"  aufgestiegen 
sind,  ist  es  möglich,  eine  volkommen  ausreichende  beschreibung  der  dichterischen 
Organisation  zu  geben.  Die  herlichen  hinweise,  die  Herder  in  dieser  beziehung  gege- 
ben hat,  sind  ein  Jahrhundert  lang  fast  unbeachtet  geblieben  oder  wenigstens  doch 
nicht  in  ihrer  ganzen  fmchtbarkeit  erkant  worden.  Also  die  frage  nach  der  entste- 
hung  der  poesie  ist  eine  kardinalfrage  der  poetik  und  mit  recht  verlangt  Scherer, 
dass  sie  zunächst  gestelt  und  beantwortet  werde.  Ob  diese  frage  in  dem  vorliegen- 
den entwurf  nun  auch  schon  gelöst  ist?  Ich  glaube  nicht.  Es  ist  notwendig,  hier 
die  bemerkungen  folgen  zu  lassen,  in  denen  Scherer  die  resultate  seiner  Untersuchun- 
gen über  die  entstehung  der  poesie  zusammenfasst.  „Die  poesie",  sagt  er,  «entspringt 
aus  dem  ausdrucke  des  Vergnügens  dui-ch  springen,  jubeln,  lachen.  Der  ui'spi-üng- 
liche  gegenständ  ist  vermutlich  erotischer  natur,  doch  sind  ^delerlei  gegenstände 
möglich.  Der  poetische  erfinder  schlägt  ein  fest  vor,  wobei  eine  angenehme,  ver- 
gnügliche Vorstellung  geweckt  wird  durch  symbolische  haudlungen.  mit  denen  sie 
durch  Worte  ausdrücklich  assocüert  wird,  und  wo  eine  weitere  Verbindung  mit  den 
alten  ausdi-ücken  des  Vergnügens,  mit  springen  und  singen  statfindet.  Springen  und 
singen  sind  von  alters  her  mit  vergnügen  assocüert  und  dadurch  geeignet,  Vorstel- 
lungen des  Vergnügens  hervorzurufen."  Durch  die  analyse  der  momente,  die  wir 
bei  einem  von  Scherer  herbeigezogenen,   mit  tanz  verbundenen  australischen  chorlied 

li  Sehr  richti?  äussert  Dilthey  über  diesen  punkt,  a.  a.  o.  s.  a39:  ,,das  wesen  und  die  funktion 
der  kunät  können  nicht  mit  der  idealistischen  ästhetik  an  dem  höchsten  ideal  derselben,  das  wir  heute 
za  fassen  im  stände  sind,  erkant  -werden.  Die  meisten  theorieen  der  geistigen  weit  aus  der  zeit  der 
deutschen  Spekulation  zeigen  diesen  fehler,  Wa-s  sich  unter  den  günstigsten  bedingungen  entwickelt  hat, 
darf  nicht  als  antrieb  in  die  ganze  reihe  von  erscheinungen  verlegt  -werden ,  in  denen  dieser  lebenskreis 
sich  entfaltete.  Die  kunst  ist  überall,  -wo  etwas,  sei  es  in  tönen  ofler  einem  festeren  material,  hin- 
gestelt  wird,  das  -weder  der  erkentnis  des  wirklichen  dienen  noch  selbst  in  Wirklichkeit  übergeführt  wer- 
den soll,  sondern  für  sich  das  Interesse  des  anschauenden  befiiedigt." 


ÜBER    SCHEIFTKN    ZUR   DEUTSCHEX  .POETIK  223 

beobachten  können,  versucht  Scherer  zu  beweisen,  dass  es  sich  „immer  um  ein 
vergnügen  handelt,  um  die  weckuug  angenehmer  tätigkeiten  und  Vorstellungen  auf 
eine  angenehme  weise.  Für  die  angenehme  weise  tritt  schon  als  charakteristisch 
hervor:  das  vergnügen  der  vergleiehung  zwischen  einem  dargestelten  gegenständ  und 
dessen  darstellung.  Die  darstellung  ist  auswählend,  andeutend,  symbolisch;  keine 
volst.ändige  naehbildung."" 

Ich  habe  an  diesen  darlegungon  zweierlei  auszusetzen.  Einmal  sind  die  alge- 
nieinen  rellexionen,  auf  denen  Scherer  zu  diesen  resultaten  gelangt,  nicht  völlig  ein- 
leuchtend und  zwingend  und  zum  andern  gründet  sich  dies  ergebnis  auf  ein  zu 
geringes  historisches  material.  Dem  einen  australischen  liedchen,  an  dem  Scherer 
seine  theorie  dartut,  Hessen  sich  viele  erzeugnisse  der  natui'poesie  entgegenstellen, 
zu  denen  die  tlieorie  eben  nicht  passt.  Gewiss  ist  das  vergnügen  für  die  entstehung 
der  poesie  ein  wichtiges  moment,  aber  es  ist  keineswegs  das  einzige:  der  schauer 
vor  der  gottheit,  die  furcht,  die  trauer  sind  ganz  in  dem  gleichen  masse  herbeizu- 
ziehen. Fals  ich  auf  grund  meiner  geringen  kentnis  der  uaturpoesie  eine  Vermutung 
über  die  entstehung  der  poesie  geben  solte,  so  müste  sie  folgendermassen  lauten: 
die  poesie  entsteht  überall  da,  wo  ein  erlebnis  aus  dem  kreise  gewisser  seelenstim- 
niungen  —  sie  sind  soeben  angegeben:  schauer  vor  der  gottheit  (kultushandlung), 
furcht  (vor  bösen  göttern;  Waitz  führt  ähnliche  lieder  auf),  trauer  (um  den  toten  bei- 
den) \  weiter  wiire  auch  hass  und  zorn  hinzuzurechnen  (kämpf  gegen  die  feinde)  — 
eine  dafür  besonders  empfängliche  seele  in  lebhafte  erregung  versezt.  Die  erregung 
ist  die  quelle  aller  poesie,  wie  wir  das  heute  noch  an  kindern  und  eingebildeten 
leuten  sehen  kömicn,  die  in  furcht  und  aufregung  dinge  hören  und  sehen,  die 
nicht  vorhanden  sind  oder  die  in  dieser  Stimmung  das,  was  sie  wirklich  gesehen 
haben,  bis  ins  ungeheure  vergrössern.  Es  ist  dieselbe  kraft,  die  im  dichter  wirk- 
sam ist,  wenn  ein  erlebnis,  an  dem  ein  anderer  mensch  gar  nichts  aussergewöhn- 
liches  finden  würde,  so  in  seine  seele  fält,  dass  er  fühlt:  hier  sind  die  grundlinien 
zu  einem  kunstwerk  gegeben.  Der  dichterische  prozess  wird  also  in  den  frühsten 
Zeiten  kaum  anders  gewesen  sein,  als  in  unserer  zeit.  Nur  sind  zweifellos  die  kreise 
viel  enger  gewesen,  aus  denen  ein  erlebnis  die  dichterische  Stimmung  zu  wecken  im 
stände  war.  Und  ich  halte  es  für  möglich,  diese  kreise  bis  zu  einer  gewissen  genauig- 
keit  auf  grund  der  natiu'poesie  zu  bestimmen;  denn  dass  sie  mit  den  oben  gegebenen 
andeutungen  nicht  erschöpft  sind,  liegt  auf  der  hand. 

Daiin,  dass  Scherer  den  Ursprung  der  poesie  allein  im  vergnügen  sieht,  liegt 
der  grund  für  die  tatsache,    dass  ihm  die   ableitung    des  Vergnügens   an  tragischen 

1)  Auf  diesen  punkt  weist  Scherer  allerdings  hin ,  aber  er  betont  niu*  einen  teil  der  fragen ,  die 
dabei  in  betracht  kommen.  S.  97:  „Eine  gewiss  alte  gattung  der  poesie  sind  die  klagelieder  um  einen 
gefallenen  häuptling,  beiden,  geliebten,  anii-ehörigen.  Solche  lieder  fallen  zum  teil  unter  abschnitt  1, 
[wo  davon  die  rede  ist,  dass  aussprechen,  mitteilen  der  trauer  von  der  empfindung  des  sclimerzes  abzieht 
und  dass  in  dem  aussprechen  des  traurigen  und  schmerzlichen  erfahningsmässig  ein  trost  liegt,  vgl.  auch 
unten  s.  224,  wo  auch  auf  das  tröstende  hingewiesen  wird ,  das  in  der  teilnähme  anderer  an  dem  eigenen 
schmerze  liegt].  Aber  ausserdem  ist  der  fest-  und  trauei-pomp,  ja  der  trauerschmaus  ein  vergnügungs- 
moment.  Ferner  fand  schon  Aristoteles  in  den  klagegesängen  als  ein  eleinent  des  Vergnügens :  die  erin- 
nerung  an  den  toten  und  die  vergegenwärtigung  dessen ,  was  er  getin  und  wie  ers  getan ;  also  alles  prei- 
sen des  toten  erweckt  eine  angenehme  vorsteUung.  Analogos  können  wir  noch  heut  erfahren.  MüUenhoff 
schrieb  mir:  ,,der  tod  ist  der  treueste  freund  des  menschen,  weil  er  erst  das  volkommene  bild  der  per- 
sönlichkeit gibt.'"  Endlich  sind  die  trauergesänge  vielfach  verbunden  mit  dem  kultus  der  abgeschiedenen 
Seelen,  mit  manen  -  kultus ;  dieses  beniht  darauf,  dass  die  seele  fortlebt,  und  das  lied  soll  den  toten 
geneigt  machen ,  seine  kraft  oder  seinen  willen  zu  schaden  einzuschränken ;  es  dient  also  zur  besänftigung 
des  gespenstes." 


224  .  tlLLIKGIiR 


o-eo^enständen  so  grosse  scliNvierigkeiteu  bereitet.  Wenu  die  poesie  zunächst  bloss  ein 
ausdruok  des  Vergnügens  ist.  dann  ist  es  allerdings  unbegreitlich ,  wie  der  mensch 
dazu  gekommen  sein  soll,  am  unaDgeuehmcn  oder  an  der  daistellung  desselben  freude 
zu  linden.  Sehen  wir  aber  von  der  Voraussetzung  Scherers  ab,  so  bietet  das  interesse 
des  menschen  (auf  niedriger  kulturstufe)  au  unangenehmen  gegenständen  kein  alzu- 
schwieritres  problem.  Dilthey  hat  mit  recht  auf  das  bedürfnis  der  menschlichen 
natur  nach  mächtigen,  wenn  auch  mit  starker  imlust  verbundenen  erregungen,  wel- 
ches nicht  auf  die  erzeugung  eines  maximums  von  lust  zurückgeführt  werden  kann, 
hiuo-ewiesen.  Die  frage,  wodurch  dasselbe  entsteht  und  wie  diese  eigenschaft  des 
Organismus  zu  erklären  ist,  hat  meines  erachtcns  der  physiolog  und  psycho  physiker 
zu  lösen,  die  rein  empirischen  gründe,  die  Scherer  anführt,  reichen  entschieden  nicht 
aus,  obgleich  einzelne  dei-selben  für  die  weitere  ausbildung  des  Vergnügens  an  tra- 
gischen gegenständen  sicherlich  in  betracht  gezogen  werden  müssen,  so  z.  b.  die 
erleicht^i'rung.  die  der  mensch  diu'ch  das  aussprechen  des  Schmerzes,  der  ihn  drückt, 

empfindet. 

Ich  habe  damit  die  punkte  bezeichnet,  bei  denen  ich  glaube,  dass  sich  die 
grundanschauungen,  von  denen  Scherer  ausgegangen  ist,  nicht  halten  lassen.  Trotz- 
dem sind  aber  auch  in  diesen  abschnitten  des  buches  auf  schritt  und  tiitt  die  fein- 
sten beobachtungen  zu  finden,  an  welche  diejenigen,  die  die  Wissenschaft  der  poe- 
tik  weiter  ausbauen  wollen,  beständig  anzuknüpfen  haben  werden  (man  vergleiche 
namentlich  die  ausführungen  in  dem  abschnitte  über  die  entstehung  der  poesie  über 
die  vorbereitungsstufen  füi-  tanz  und  chorlied  sowie  über  die  associationsvorgänge  und 
das  sj-mbohsche  in  der  älteren  dichtung).  —  Muste  ich  aber  m  den  angeführten 
abschnitten  gegen  die  grundanschauungen  und  die  hauptresultate  Scherers  polemisie- 
ren, so  kann  ich  um  so  freudiger  anerkennen,  dass  in  allen  übrigen  partieen  des 
buches  Scherer  bei  den  fragen,  die  er  behandelt,  zu  einer  befriedigenden  lösung 
gelangt  oder  einer  solchen  mindestens  doch  sehr-  nahe  gekommen  ist.  Alle  diese 
abschnitte  bieten  die  reichste  belehi'ung  und  eine  fülle  der  anregung,  namentlich  für 
den  litterarhistoriker.  Es  ist  damit  selbstverständlich  nicht  ausgeschlossen,  dass  auch 
die  in  den  späteren  partieen  niedergelegten  anschauungen  nicht  noch  mancher  bench- 
tigung  und  ergänzung  bedürfen;  das  ist  bei  einem  ersten  entwurf,  wie  war  ihn  vor 
uns  haben,  unvermeidlich.  Aber  der  belebenden  kraft  dieser  gedanken  wii'd  sich  so 
leicht  kein  einsichtiger  entziehen  können.  Über  den  wert  der  poesie  stelt  Scherer 
vortrefliche  beobachtungen  zusammen.  Er  behandelt  zunächst  den  tauschwert  der 
poesie,  wobei  er  diejenigen  mächte,  welche  für  die  jeweilige  fixierung  dieses  wertes 
in  frage  kommen,  sowie  die  bedingungen,  unter  denen  diese  faktoren  segensreich 
oder  unheilvoll  wirken,  volkommen  richtig  und  scharf  bezeichnet;  er  führt  den 
unterschied  zwischen  kunst-  und  Volksdichtung  im  wesentUchen  auf  den  unterschied 
zwischen  geschriebener  und  imgeschriebener  poesie  zurück  und  er  betrachtet  dann 
durchaus  als  unparteiischer  beobachter  und  mit  gerechter  abwägung  den  idealen 
wert  der  poesie  und  die  fi-age  nach  der  sitlichen  Wirkung  derselben.  Hieran  schliesst 
sich  eine  in  ihrer  knapheit  glänzende  darstellung  und  Vertiefung  von  Lachmanns 
theorieen.  doch  wird  nicht  bloss  die  beteiligung  mehrerer  dichter  au  einem  werk 
in  betracht  gezogen,  sondern  auch  auf  stil unterschiede  hingewiesen,  die  sich  bei 
werken  geltend  machen,  welche  von  einem  dichter  heri-ühren  und  zwar  in  dem 
fall,  dass  die  arbeit,  mehrfach  unterbrochen,  sich  auf  verschiedene  epochen  seines 
lebens  verteilt.  Bei  dem  ersten  punkte  ist  sehr  richtig  auf  das  Volkslied  des  sech- 
zehnten Jahrhunderts  hingewiesen;    eine  eindringendere   Untersuchung  der  Volkslieder 


ÜBER    SCHRIFTEN'    ZUR   DEUTSCHEN   POETIK  225 

nach  ihror  zusammonzotzuna".  nach  der  frage  dos  hinointragons  von  stcllon  dos  einen 
Volksliedes  in  ein  anderes,  das  etwa  im  stoff  oder  in  der  Situation  analoge  Vorgänge 
bietet,  würde  noch  wichtig« •  beitrüge  zu  diesem  kapitel  liefern.  "NVcitor  wird  eine 
uutei-suehung  über  die  schaffenden  seelenkräfto  l)egonnen ;  dio  iihantasie  fühii  Scherer 
im  wcsentlicben  auf  reproduktion  zurück;  die  aufgäbe,  welche  bei  dor  künstleiischen 
arbeit  dem  verstände,  der  dio  phantasie  zu  beherschen  hat.  ohne  dass  er  sieh  an 
ibre  stelle  drängen  darf,  wird  gekenzeichnot  —  schön  sagt  Schercr  s.  160:  „Ein  samen 
fält :  und  es  entspriosst  sofort  ein  ganzes  blumcnbeot,  aus  dem  der  dichter  die  wähl 
hat,  zu  pflücken  was  ibm  belit^bt.  Das  blumcnbeet  liefei-t  die  phantasie;  bei  der 
auswahl  des  pflückens  muss  der  verstand  helfen'^  —  und  die  verschiedenen  methoden, 
deren  sich  die  phantasie  bei  der  Umwandlung  der  in  der  erinuerung  aufbowahi-ton 
tatsachen  bedient,  kurz  charakterisiei-t.  Die  verwantschaft  der  künstlerischen  anlagen 
mit  den  dispositionon  zu  abnormen  geistigen  zuständen  behandelt  ein  besonderer 
abschnitt.  In  den  ausführungen  über  die  einteilungen  der  dichter  werden  die  bis- 
herigen klassifikationsversuche  kritisiert,  insbesondere  Schillers  einteilung  in  naive 
und  sentimentalische  dichter,  welche  im  wesentlichen  zurückgewiesen  wird.  «Es 
sind,  sagt  Scherer  s.  183  fgg.,  sehr  mannigfaltige  einteilungen  der  dichter  möglich  — 
die  abstufungen  sind  einerseits  so  mannigfaltig  wie  die  Charaktere  der  Individuen 
überhaui)t,  andererseits  gibt  die  ganze  poetik  in  allen  ihren  teilen  motive  imd  gesichts- 
punkte  an  die  band  für  Verschiedenheiten ,  weil  da  ganz  verschiedene  methoden  mög- 
lich sind.  Die  Charakteristik  eines  dichters  zu  entwerfen,  ist  daher  ausserordentlich 
schwer.  Aus  all  solchen  eigentümlichkeiten ,  sofern  sie  in  den  werken  der  dich- 
ter sich  ausiu'ägen,  sezt  sich  der  persönliche  stil  zusammen.  —  Eins  aber  gehört 
hierher,  in  den  Zusammenhang  dieses  kapitels,  ein  unterschied  in  der  Produk- 
tionsweise der  dichter,  ob  ohne  nicksicht  auf  publikum  oder  mit  rücksicht  auf 
publikiun." 

Damit  hat  Scherer  einem  gedanken  ausdruck  gegeben,  der  meines  wissens  in 
der  bisherigen  poetik  und  ästhetik  noch  niemals  aufgetaucht  und  der  doch  von  ganz 
ausserordentlicher  fnichtbarkeit  ist.  Dass  er  uns  so  selbstverständlich  erscheint, 
beweist  nur,  dass  er  durchaus  zutreffend  ist,  aber  nicht  etwa,  dass  seine  aufstellung 
unnötig  wäre.  In  welcher  weise  der  hörer-  oder  leserkreis,  mit  einem  worto  das 
publikum,  auf  den  dichter  wirkt,  ihn  beeiuflusst,  ihn  zu  Zugeständnissen  nötigt,  ist 
eine  frage,  die  erwogen  worden  muss  und  die  bei  der  betrachtung  fast  jedes  littera- 
turwerkes  von  höchster  Wichtigkeit  ist.  Die  vortreflichsten  belege  bietet  dafür  wider 
die  geschichtc  unsrer  eignen  dichtung,  bei  deren  betrachtung  der  historiker  auf 
schritt  und  tritt  auf  die  wechselnde  Zusammensetzung  des  publikums  rücksicht  zu 
nehmen  hat;  man  sehe  sich  nur  das  zwölfte  und  dreizehnte,  das  fünfzehnte  und  sech- 
zehnte, das  siebzehnte  und  achtzehnte  Jahrhundert  nach  dieser  richtung  hin  an.  Wir 
erfassen  die  litterarischen  gegensätze  der  Zeitalter  viel  besser,  wenn  wii'  etwa  das 
ritterliche  publikum  um  die  wende  des  zwölften  und  dreizehnten  jahrhundci-ts,  das 
den  liedern  Reinmars  und  Walthers  lauschte  und  für  das  Heiniich  von  Veldeke  und 
Wolfram  dichteten,  vergleichen  mit  dem  bürgerlichen  publikum  des  sechzehnten  Jahr- 
hunderts, das  sich  an  den  wüsten  zoten  Michael  Lindeners  und  Jakob  Freys  ergözte, 
aber  doch  noch  innerliche  kraft  genug  besass,  die  Schriften  Luthers  und  seiner  mit- 
streiter  voll  und  ganz  auf  sich  wirken  zu  lassen.  —  Ähnlich  wie  die  gesetze,  die 
sich  für  die  funktioneu  der  schaffenden  Seelenkräfte  aufstellen  lassen,  sucht  Schercr 
nun  auch  die  gesetze  für  die  geniessenden  seelenkräfte  zu  ermitteln,  d.  h.  die  bedin- 
gungen,  unter  denen  ein  dichterisches  werk  auf  den  leser  oder  hörer  einen  bestimten 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.       BD.    XXII.  1^ 


226  ELLIXÖER 

beabsichtigton   oindruok   auszuüben   im   stände   ist.     Zum  teil  schliosst  er  sich  dabei 
den  aufstelhnigen  von  Fechnor  an. 

Aus  den  beiden  lezten  abschnitten,  welche  die  stofTc,  die  innere  und  die 
äussere  form  behandeln,  kann  liier  nur  das  wichtigste  herausgegriffen  werden.  Sche- 
rer ver.sucht  die  motive^  zu  klassifizieren,  welche  dem  dichter  zu  geböte  stehen;  was 
er  bietet,  sind  selbstverständlich  nur  die  grundziige  einer  algenieincn  motivenlehre, 
welche  noch  im  einzelnen  ausgebaut  werden  müste.  Wie  in  der  bctrachtung  über 
den  wert  der  poesie,  verhält  sich  Scherer  auch  in  der  darstellung  der  Wirkungen, 
welche  die  stofTe  hervorbringen,  grundsätzlich  als  unparteiischer  bcobachtcr.  Er 
begnügt  sich  damit  zu  beschreiben,  will  al)cr  keine  gesetzo  aufstellen.  Dennoch 
gelangt  er  zu  einer  bestimten  weii-unterscheidung  der  klassen  der  Wirkungen,  welche 
im  wesenthchen  darauf  liinausläuft,  dass  derjenigen  poesie,  welche  edle  gefülilo 
anregt,  ein  höherer  wert  zuzuschreiben  ist,  als  eine  poesie,  welche  sich  damit 
begnügt,  auf  die  niederen  triebe  zu  wirken.  ,,Ich  sage  nicht,  liemerkt  Scherer  s.  220, 
die  poesie  soll  liobe  gefühle  anregen,  sondern  ich  sage  dem  dicliter:  wilst  du  die 
auerkennung  der  edlen,  so  zeige  dich  edel.  Genügt  es  dir  z.  1).  die  niedere  tierische 
siulielikeit  der  menschen  anzuregen,  so  tue  es.  Aber  sei  darauf  gofasst,  dass  die 
menschen  dich  betrachten  als  ein  Werkzeug  niedriger  lüste  und  dich  nicht  hoher 
achten  als  eine  käufliche  schöne.  Dies  gesetz  bei'uht  auf  unserem  anteil:  wir  dehnen 
die  Wirkung  des  Stoffes  auf  den  autor  aus.  "Wir  denken  uns  in  die  Situation  selbst 
hinein;  führt  uns  der  dichter  durch  kloakcn,  so  stinkts  eben  und  wir  fühlen  uns 
beschmuzt,  wenn  wir  auch  für  die  tcchnik  bewundcrung  haben.  Er  sagt:  „Ich  will 
nur  wahr  sein.*^  Nun  denn,  das  ist  ein  ehernes  gesetz:  wenn  etwas  angeregt  wird, 
was  wir  selbst  verachten,  dann  dehnt  sich  dies  gefüLl  aus  auf  den,  von  dem  jene 
anregung  ausgeht.  Da  hilft  all  sein  reden  nicht,  wenn  er  uns  hässliches  vorfühif. 
Der  dichter  hat  danach  die  wähl.  Der  weise  dichter  wird  mindestens  die  gegen- 
stände in  kontrast  bringen  und  so  unsern  blick  auf  die  totalität  lenken."  —  Der 
abschnitt:  Innere  form  untei"scheidet  bei  der  behandlung  der  stoffe  zwischen  objek- 
tiver behandlung  (die  Unterabteilungen  sind  aus  Scherers  litteratui'geschiciite  bekant: 
naturalismus,  idcalismus,  typischer  realismus)  und  subjektiver  darstellung  (die  gat- 
tuugen  derselben  sind:  liumoristisch;  satirisch;  elegisch;  idyllisch).  —  In  dem 
abschnitt:  Äussere  form  liegt  der  haui)tuac]idruck  auf  den  betrachtungen  über  die 
grundformcn  der  darstellung,  wälirend  die  bemerkungcn  über  komposition,  spräche 
und  metrik  etwas  obenliin  behandelt  werden  mustcn.  Von  den  Unterabteilungen  des 
abschnittes  über  die  grundformen  der  darstellung  sei  namentlicli  das  stück:  die  arten 
der  rede  hervorgehoben;    die    dort    gegebenen  einteilungen   werden   sich   namentlich, 

1)  Sehr  richti?  sai^  Scherer  s.  212:  ,,Das  liaaptmotiv  wird  zuweilen  idee  j^enant.  Mit  diesem 
wort  ist  ein  farchtharer  nnfug  getrieben  worden.  Ich  möchte  vorschlagen ,  den  ausdruck  fallen  zu  lassen ; 
wir  sagen  dafür  stoff,  thema,  Vorwurf,  haujitmotiv.  "Wir  Lehalten  den  ausdruck  höchstens  bei  für  eine 
l>estimte  cruppe  von  werken:  für  die  Uusserlirhe  einheit  eines  godichts,  die  durch  ein  Fabula  dncet  ent- 
steht, wie  Goethe  von  der  idee  des  Faust  spriclit.  Da  indessen  deutsche  dichter  dos  19.  Jahrhunderts 
unter  dem  einflass  einer  ästhetik  standen ,  welche  überall  von  ideen  sprach  und  darunter  gern  algemeine 
Sätze  verstand,  die  sich  in  den  dargcstelten  fallen  verwirklichen,  so  muss  man  für  die  beurteilnng  sol- 
cher werke  auch  mit  der  ästhetik  ihrer  autoren,  d.  h.  mit  den  ästhetischen  ansichten  dieser  schriftsteiler 
und  ihrcT  ästhetischen  terminologio  rechnen.  "Wenn  ich  freilirh  einen  volständisren  roman  um  soirh  einer 
,,idee"  willen  lesen  soll,  dann  sage  ich  mir:  üint  de  bniit  pour  une  omeletle !  Die  Schilderung  des 
lebens  wird  da  zu  einer  fabel  degradiert.  "Wo  man  an  die  grossen  weltdichter  herantritt:  Homer,  Shake- 
speare ,  Goethe ,  da  handelt  es  sich  um  mehr  als  eine  solche  idee.  Stoffe ,  motive  bietet  das  Verhältnis 
des  Achiileus  zu  Agamemnon,  aber  nicht  einen  einzelnen  moralsatz." 


ÜBER    SCHRIFTEN    ZUR   DRUTSCHF.N   POETIK  227 

wie  Schcrcr  bereits  mehrfaoli  liervoi'f^iehobon  liat,  fiir  eine  l)Cssorc  klassifikation  der 
lyrik  vortro flieh  verwerten  lassen. 

Soll  ich  nun  den  gesaniteindruck  formulieren,  den  das  buch  bei  kühler  abwä- 
gung  auf  mich  hervorbringt,  so  meine  ich:  es  ist  unbestreitbar,  dass  Bcherer  das 
unvergleichliche  verdienst  gebührt,  zum  ersten  male  die  grundsätze  einer  verglei- 
chenden empirischen  poetik  fest  formuliert  zu  haben.  Keine  legislative,  sondern 
eine  desci'iptive  poetik!  Beschreibung  der  vorhandenen  und  inöglicbcn  formen  der 
Produktion.  Keine  subjektiven  ui-tcile  über  wertunterschied(%  —  uiteilc,  die  bloss 
die  persönlichen  anschauungen  des  ästhetikers  widerspiegeln  —  sondern  nur  bestim- 
iiumgen,  wie  sie  sich  mit  der  beschroibung  des  vorhandenen  als  unmittelbare  resul- 
tate  ergeben.  Eine  poesie,  die  auf  die  edelsten  menschen  aller  zeiten  gewirkt  hat, 
wird  gewiss  einen  höheren  wert  für  sich  in  anspruch  nehmen  dürfen  als  irgend  eine 
andere:  das  ist  ein  wertuiieil,  wie  es  unmittelbar  aus  der  betrachtung  der  vorhan- 
denen arten  und  formen  der  Produktion  und  ihrer  Wirkungen  hervorgeht;  vor  weiter- 
gehenden bestimmuugen  hat  sich  die  poetik  zu  hüten. 

Das  auf  dieser  grundlage  aufgebaute  gebäude  ist  gewiss  nicht  flecken-  und 
fehlei'los.  Das  liegt  nicht  allein  an  der  ungleichen  Verteilung  des  stofTes,  welche 
durch  die  Zufälligkeit  der  entstehung  bedingt  ist,  sondern  es  ist  vor  allem  darin 
begründet,  dass  die  schwierigen  probleme,  die  hier  aufgestelt  worden  sind,  sich 
nicht  auf  den  ersten  w'urf  lösen  lassen.  f]s  ist  Scherer  meines  erachtens  nicht  gelun- 
gen, die  quelle  der  schöpferischen  kraft  zu  bestimmen,  weil  er  eine  der  mächte, 
welche  diese  quelle  zum  fliessen  bringen,  verwechselte  mit  der  quelle  selbst.  Auf 
dieser  unrichtigen  Voraussetzung  ist  noch  eine  reihe  von  Schlüssen  aufgebaut,  die 
mit  der  Voraussetzung  hmfällig  werden.  Ferner  ist  es  nicht  zu  bestreiten,  dass  aus 
einem  zu  geringen  oder  zu  beschränkten  materiale  oft  zu  weit  gehende  Schlüsse 
gezogen  und  veralgemeinei-ungen  von  einzelfällen  vorgenommen  werden,  die  nicht  zu 
billigen  sind.  Alle  diese  mängel  aber  verschwinden  vor  den  grossen  Vorzügen  des 
entwuifs,  vor  der  anregenden  und  belebenden  kraft,  die  von  ihm  ausgeht.  Für 
die  geschichte  dieser  Wissenschaft  wird  Scherers  poetik  ein  markstein  sein;  für 
Scherers  freunde  ist  das  buch  ein  neues  abbild  der  herlichen  persönlichkeit,  die  es 
geschaffen. 

Eine  vortreflichc  ergänzung  hat  Scherers  poetik  in  der  abhandlung  Diltheys 
gefunden,  die  als  ein  überaus  wertvoller  beitrag  zu  einer  vergleichenden  i)Ootik  zu 
bezeichnen  ist.  Mit  Scherer  ist  Dilthey  davon  überzeugt,  dass  die  bisherige  speku- 
lative üsthetik  die  fühlung  sowol  mit  der  dichterischen  produktiou  als  mit  der  litte- 
i'aturgcschichte  verloren  hat,  mit  Scherer  teilt  er  den  Widerwillen  gegen  eine  ledig- 
lich legislative  poetik.  Von  der  dichterischen  individualitiit  geht  Dilthey  aus  und 
durch  die  beschroibung  der  Organisation  des  dichters  sucht  er  algemeine  normen  für 
das  dichterische  schaffen  zu  gewinnen.  Er  will  nicht,  wie  die  idealistische  üsthetik, 
dem  dichter  wilkürliche  schranken  setzen  und  nicht  den  törichten  versuch  machen, 
die  poetische  Schöpferkraft  einzudämmen,  sondern  er  sucht  durch  eine  betrachtung 
der  vorhandenen  erscheinungsformen  der  poesie  und  durch  eine  beschroibung  der  natur 
des  dichters  zu  gesetzen  zu  gelangen,  die  im  stände  sind,  dem  dichter  eine  leitung, 
dem  htterarhistoriker  feste  ausgangspunkte  für  die  l)eurteilung  zu  gewähren.  «Das 
leben,  sagt  er  s.  415,  verlangt  gebieterisch  eine  leitung  durch  den  gedankeu;  kann 
eine  solche  auf  metaphysiscbem  wege  nicht  hergestelt  werden,  so  sucht  es  einen 
andern  festen  punkt.  Dürfen  wir  diesen  nicht  mit  der  veralteten  poetischen  technik 
in  den  meisterbildern  einer  klassischen  epoche  suchen,  dann  bleibt  nur  übrig,  in  der 

15* 


228  ELLINQER 

tiefe  der  monsehlichon  nntur  solbor  uiul  in  dem  zusaininenhanc,  des  geschichtlichen 
Kobens  solche  geschiehtliclien  nachforschungen  {inznstelleu." 

Von  diesem  Standpunkt  aus  liat  Dilthey  zunächst  die  elementare  fanktion  des 
dielitei-s  darzustellen  und  deren  grundlage  zu  ermitteln  gesucht.  Er  findet,  dass 
diese  funktion  bedingt  ist  durch  die  gri»ssere  cnergie  gewisser  seelischer  Vorgänge: 
dor  dichter  unterscheidet  sich  von  anderen  menschcMi  zunächst  durch  die  intcjisität 
und  genauigkeit  der  wahrnehmungsbilder,  die  mannich faltigkeit  derselben  und 
das  interesse,  das  sie  begleitet.  Er  unterscheidet  sich  alsdann  durch  die  klarlieit 
der  Zeichnung,  die  stärke  der  emi)findung  und  die  energie  der  projektion,  welche 
seinen  erinnerungsbildern  und  den  gebilden  aus  ihnen  eigen  sind.  Mehr  noch 
unterscheidet  er  sich  durch  die  kraft,  mit  welcher  seelische  zustände,  selbst- 
erfundeue,  an  anderen  aufgefasste,  folgerecht  ganze  begebonheiten  und  cliaraktere, 
wie  sie  in  der  Verknüpfung  solcher  zustände  bestehen,  von  ilim  nachgebildet  w^erden, 
der  dichter  untei-scheidet  sich  auch  durch  die  energische  beseelung  der  bilder 
und  die  so  entstehende  befriedigung  in  einer  von  gefühlen  gesättigten  anschauung. 
Aus  alle  dem  ergibt  sich,  dass  die  grossen  dichter  von  einem  unwiderstelilichen 
dränge  vorangetrieben  werden,  erlcbnis  irgend  einer  mächtigen  art,  das  ihrer  natur 
gemäss  ist,  zu  erfahren,  zu  widerholen  und  in  sich  zu  sammeln.  Der  dichter  unter- 
scheidet sich  endlich  dadurch,  dass  sich  in  ilim  die  bilder  und  deren  Verbindungen 
frei  über  die  grenzen  des  wirklichen  hinaus  entfalten.  Er  schaft  Situationen, 
gestalten  und  scliicksale.  welche  diese  Wirklichkeit  ülierschreiten.   (S.  341  —  349.) 

Um  zu  bestirnten  normen  für  das  dichterische  schaffen  zu  gelangen,  versucht 
nun  Dilthey  eine  psychologische  erkläi-ung  des  dichterischen  Schaffens  zu  geben.  Soll 
ich  über  diesen  umfangreichen  teil  der  arbeit  meine  meinung  sagen  —  so  weit  ich 
als  laie  bei  der  beui-teilung  rein  psychologischer  fragen  dazu  im  stände  bin  —  so 
muss  ich  auch  hier  anerkennen,  dass  die  Untersuchung  im  ganzen  mir  ungemein 
fördernd  für  eine  erkentnis  des  wesens  der  poesie  erscheint  ^  Dilthey  sucht  zu  zei- 
gen, aufweiche  weise  die  bilder  in  der  seele  des  dichters  entstehen  und  festgehalten 
werden,  wie  das  kunstwerk  sich  aus  Wahrnehmungen  zusammensezt  und  diese  ein- 
drücke durch  ausschaltung  von  bestandteilen,  durch  steigemug  und  minderung  sowie 
durch  ergänzung  verändert  und  umgebildet  werden.  So  sehr  ich  im  prinzip  mit  dem 
Verfasser  einverstanden  bin,  so  kann  ich  in  mehreren  einzelnen  fragen  dieser  Unter- 
suchung jedoch  nicht  mit  ihm  übereinstimmen  —  der  mir  für  diese  besprechung  zu 
geböte  stehende  räum  verbietet  es  mir  leider,  mich  im  einzelnen  mit  dem  Verfasser 
auseinanderzusetzen.  Auch  vermag  ich  bei  mehreren  punkten  den  faden  nicht  auf- 
zufinden, der  von  hier  aus  zu  dem  Iczten  teile  der  abhandlung  hinüberführt. 

Dieser  teil,  in  welchem  der  Verfasser  eine  theorie  der  poetischen  technik,  wie 
sie  auf  der  entwickelten  psychologischen  grundlegung  aufgebaut  werden  kann,  zu 
skizzieren  versucht,  verdient  ganz  besonderes  lob  und  sei  allen  litterarliistorikern  zu 
eindiinglichem  Studium  empfohlen.  Es  ist  an  dieser  stelle  uimiöglich  auf  alle  die 
einzelnen  feinen  bemerkungen  und  fruchtbaren  godanken  einzugehen.  Wie  Scherer 
da.s  publikum  und  dessen  bedeutung  für  die  entwickluug  der  poesie  als  eine  wichtige 
lehre  df^r  poetik  bezeichnet  und  dnr  lehre  vom  ])ublikum  demzufolge  eine  ausführliclie 
dai-stellung  gewidmet  hat,  so  analysifrt  Dilthey  den  eindnick,  den  das  dichteiische 
kunstwerk   auf  die  seele   des  lesers  odei'  hörers  hervorruft  und  bezeichnet  mit  recht 

1)  Namentlich  sei  dabei  auf  die  schöne  untersuchuni?  über  die  gefühlskreise  und  die  aus  ihnen 
sich  ergeh»enden  ästhetischen  elementargesetze  verwiesen ;  vgl.  besonders  s.  366  fg.  und  s.  371  ig. 


ÜBEK    SCHRIFTEN    ZUR   DEUTSCHEN    POETIK  229 

diesen  Vorgang  als  einen  mit  deni  dichtorisclien  sclui(T<'n  vurwaiiten  [irozess.  Ricli- 
tiger  als  Scherer  sieht  er  meines  erachteus  in  der  frage  nach  der  entstehung  der 
poesie  *.  Dagegen  stimt  er  mit  Scherer  übereiii  in  der  abweisung  des  unl'ugs,  den 
man  mit  dem  wort:  idee  getrieben  und  in  dei-  bezeichnuiig  der  bctraclitungsweiso, 
die  an  die  stelle  der  soeben  genanten  zu  treten  hat.  „Jedes  lebendige  werk  grösse- 
ren umfaiigs  hat  seinen  stofl'  in  einem  eiiobten,  tatsachlichen  und  drückt  in  leztcr 
instanz  nur  erlebtes,  gofühlsniässig  umgestaltet  und  vcralgemcinert,  aus.  Daher  tlarf 
in  der  dichtung  keine  idee  gesucht  werden. "*  S.  ±37.  „An  dem  stoll'  drr  wii'klichkeit 
wird  durch  den  (.lichterischen  Vorgang  ein  lebensverhältuis  in  seiner  bedeutsamkeit 
aufgefasst;  was  so  entsteht,  ist  eine  triebkraft,  durch  welche  transformation  in  das 
[»oetisch  bewegende  erwirkt  wird.  Das  lebensverhältuis,  so  orfasst,  gefühlt,  vuralge- 
meinert  und  dadurch  Wirkungskraft  dieser  art  geworden,  wird  motiv  genant.  In  einer 
grösseren  dichtung  wirkt  eine  anzahl  von  motivcn  zusammen.  Unter  ihnen  muss  ein 
herschendes  die  triebkraft  haben,  die  einheit  der  ganzen  diclitung  hei'zustollen.  Die 
zahl  möglicher  motive  ist  begrenzt,  und  es  ist  eine  aufgäbe  der  vergleichenden  lit- 
teraturgeschichte ,  die  entwicklung  der  einzelnen  motive  darzustellen.'^ 


Ich  muste  bei  den  beiden  arbeiten  länger  verweilen,  weil  sie  von  ganz  neuen 
gesichtspunkteu  aus  eine  betrachtungsweise  in  der  poetik  austrel)en,  deren  ungemeine 
fruchtbarkeit  sich  schon  jezt  erkennen  lässt,  von  tag  zu  tag  aber  immer  mehr  her- 
vortreten wird,  zumal  wenn  noch  mehr  arbeiter  ihie  kräfte  dem  ausl)au  der  Wissen- 
schaft widmen  werden.  Die  ausgangspunkte  der  lieiden  forscher  sind  nicht  miteinan- 
der identisch,  ebensowenig  ist  es  ihre  methode;  dennoch  kann  man  beide  betrach- 
tungsweisen  leicht  mit  einander  vereinigen,  wie  sich  schon  daraus  ergibt,  dass  Sche- 
rer und  Dilthey  vielfach  zu  den  gleichen  resultaten  gekommen  sind. 

Begründeten  diese  heiden  Schriften  eine  ganz  neue  auffassung  der  i)oetik,  so 
wandeln  die  drei  anderen  bücher,  die  uns  hier  beschäftigen,  im  wesentlichen  in  den 
balmen  der  traditionellen  ästhetik.  Die  Vorzüge  wie  die  mängel  des  lehrbuches  von 
Wackernagel,  das  jezt  in  zweiter  aufläge  vorliegi,  sind  algemein  bekant.  Die  lezte- 
ren  ergeben  sich  aus  der  wilkürlichen  konstruktion  und  der  damit  zusammenhängen- 
den, sehr  häufig  sich  geltend  machenden,  einseitigkcit  der  ästhetischen  betrachtung. 
Die  Vorzüge  dagegen  beruhen  auf  der  glänzenden  beherschung  des  litterarhistorischen 
materials  sowie  darauf,  dass  das  werk  namentlich  in  den  abschnitten  über  rhetorik 
und  Stilistik  unstreitig  ungleich  geistreicher  und  anregender  ist  als  ii'gend  ein  anderes 
Den  vielen  freunden,  die  das  l)uch  sich  bereits  gewonnen,  wird  daher  auch  die  vor- 
liegende, sorgfältig  revidierte  ausgäbe  eine  wilkommene  gal)0  sein. 

Weit  schwieriger  ist  es,  dem  anderen  werke  gerecht  zu  werden,  der  umfang- 
reichen poetik  von  Baum  gart.  Mit  anzuerkennendem  grossen  tieisse  hat  der  Verfas- 
ser den  versuch  gemacht,  eüi  umfangreiches  lehrsystem  der  poetik  aufzustellen,  und 

1)  S.  434:  Das  erlobnis  ist  grundlage  der  poesie,  und  so  zeigt  die  nioilrigsto  civilisation  überall 
die  dichtung  mit  primären  mächtigen  formen  dos  erlcbnii^sos  verbimdon;  solche  sind  kidtushandlung, 
festesfreude ,  t<anz ,  übergehend  in  pantomime ,  gedächtnis  der  stammesahneu ;  hier  sind  schon  lied ,  ©pos 
und  draina  in  der  wurzel  getrent.  —  Da  mächtige  crregujigen  der  scele ,  sofern  sie  nicht  zu  willenshaiul- 
huigen  führen ,  sicli  in  laut  luid  geberde ,  in  der  Verbindung  von  sang  und  dichtung  äussern ,  so  linden 
wir  bei  den  naturvülkern  die  dichtung  an  kultushandlungen  luid  festfreude,  an  tanz  und  spiel  gebunden. 
Der  Zusammenhang  der  poesie  mit  dem  mythos  und  religiösen  kultus,  mit  dem  glänz  der  feste  und  des 
Spiels,  mit  schöner,  heiterer  geselligkeit  ist  daher  psychologisch  begründet,  in  den  ersten  anfangen  der 
civilisation  sichtbar  und  er  ireht  dann  durch  die  ganze  litteraturgeschichte. 


230  ELLIN-GER,    TBER    SCHRIFTEN    ZUR    DEUTSCHEN   POETIK 

in  ausführlichen  abschnitten  hat  er  die  einzelnen  dichtungsgattungen  beliandelt.  Ist 
es  im  wesentlichen  die  metaphysische  grundlage,  auf  welcher  Baumgaii  sein  buch 
aufbaut,  so  kann  man  ihm  doch  andrei'seits  das  zcugnis  nicht  versagen,  dass  er  sich 
eine  gründliche  kcntnis  der  litteratur  angeeignet  hat,  obgleich  er  bei  der  Verwertung 
des  litterarhistorischen  materials  im  ui-teil  zuweilen  mit  grosser  wilkürlichkoit  vor- 
geht (man  vgl.  z.  b.  s.  55  fg.  die  ganz  ungerechte  beurteilung  von  Bürgers  Lenoro). 
Auch  finden  sich  im  einzelnen  rocht  interessante  Untersuchungen,  die  manches  anre- 
gende bieten.  Aber  trotz  aller  dieser  anzuerkennenden  Vorzüge  des  Iniches  muss  ich 
betonen,  dass  meiner  mcinung  nach  die  grundlegung  des  Verfassers  sich  nicht  lialten 
liisst.  Den  vei'such ,  tlie  aristotelische  kathai'sis ,  deren  auslegung  durch  Jakob  Bernays 
überaus  ausführlich,  aber  doch  nicht  überzeugend,  bekämpft  wird,  auch  auf  andere 
gattungen  der  poesie  zu  übertragen,  kann  ich  nicht  für  glücklich  halten,  wie  es 
denn  überhaupt  etwas  sehr  mislichcs  ist,  heutzutage  noch  den  aufbau  einer  poetik  auf 
wesentlich  aristotelischer  grundlage  zu  versuchen.  Dazu  komt  des  Verfassers  neigung 
zum  schematisieren,  die  ihn  auch  da  nicht  verlilsst.  wo  nur  eine  rein  liistorische 
betrachtung  am  platze  wäre ;  so  werden  z.  b.  für  den  unterschied  zwischen  romanze  und 
balladc  ästhetische  gründe  ins  feld  gefülirt.  Alles  in  allem:  Baumgarts  poetik  wird 
niemand  das  zcugnis  versagen,  dass  sie  ein  mit  liebe  zur  sache  gearbeitetes  fleissiges 
buch  ist,  aber  im  Verhältnis  zu  dem  umfang  des  buches  sind  die  neuen  aufschlüsse, 
die  man  erhält,  nicht  eben  zahlreich. 

Da.s  buch  von  Methner  zeichnet  sich  durch  seine  klare  und  anschauliche  dar- 
stellung  aus.  Es  beiiiht  seiner  gesamtauffassuug  nach  auf  den  anschauungen  der  tra- 
ditionellen ästhetik,  wie  denn  der  vei'such,  einen  unterschied  zwischen  ballade  und 
romanze  durch  aufzeigung  ihres  inhaltlich  verschiedenen  wesens  darzutun,  auch  hier 
widerkehii.  (S.  74.)  Aber  der  Verfasser  hat  der  gcsclüchtc  unsrer  diclitung  eingehende 
Studien  zugcwant  und  wenn  auch  einzelne  ausicliten,  die  er  vorträgt,  irrig  oder  ver- 
altet sind  (man  vgl.  z.  b.  s.  202,  wo  volksschauspiel  und  haupt-  und  Staatsaktionen 
für  zwei  verschiedene  dinge  gehalten  werden),  andre  von  einseitigen  gesichtspunkteu 
ausgehen  (man  vgl.  z.  b.  s.  112,  wo  Rabencr  den  Satirikern  des  Hj.  Jahrhunderts 
gegenüber  sehr  ungerecht  beurteilt  wird),  so  entwirft  er  doch  meist  richtige  und 
ansprechende  bildcr  von  der  entwicklung  unsrer  poesie.  Die  tlicoric  der  gattungen 
der  rede,  die  der  Verfasser  auf  dieser  grundlage  aufbaut,  legt  zuweilen  allerdings 
recht  wilkürlichc  massstäbe  an  die  dinge,  aber  vor  dem  verlieren  in  alzu  entlegene 
gebiete  der  Spekulation  schüzt  ihn  die  klare,  übersichtliche  einteilung,  deren  wert 
überhaupt  nicht  zu  gering  anzuschlagen  ist.  Man  mag  an  den  einteilungen  s.  117  fg. 
(vgl.  auch  s.  88  fg.)  im  einzelnen  manches  auszusetzen  haben,  im  ganzen  werden 
solche  aufstellungen  immer  fördernd  und  klärend  wirken.  Auch  sonst  findet  sicli 
manches  anregende  und  da  der  verfa,sser  auch  die  metrik  mitbehandelt,  so  wird  das 
empfehlen swerthe  buch  namentlich  Schulmännern  von  besonderem  nutzen  sein. 

BERLIN,    IM    DEZEMBER    1888.  GEORG    ELLINGER. 


Johann  Elias  Schlegel  von  Eug'en  ^VollT.  Berlin,  vorlag  von  Robert  0])pen- 
heim.  1889.     8.   4  m. 

Ehe  wir  uns  zur  besprechung  des  iuhalts  wenden,  mü.ssen  wir  in  bezug  auf 
form  und  anläge  der  schrift  einige  bedenken  äus.sern. 

Es  scheint,  als  ob  der  Verfasser  sich  auch  an  weitere  kreise  wenden  wolte. 
Die  darstcllung    bewegt  sich,    wie    bei    einem  vorirag,    durch    die    188  Seiten    ohne 


CREIZENACH,    ÜBER    WOLFF,    JOH.    EL.    SCHLEGEL  231 

ruliepuiikt  uutl  ohne  deutliche  glioderun^-,  der  text  ist  durch  zalilcu  uuterbrocheu, 
die  auf  die  aninoi-kungou  am  schluss  des  buchos  hinweisen.  Wer  die  Schrift  studie- 
ren und  nachprüfen  will,  dem  ist  dadurch  seine  aufgäbe  sehr  erschwert.  Auf  der 
andern  seite  ist  das  thema  doch  auch  nicht  von  der  art,  dass  eine  so  ausführliche 
darstellung  auf  das  Interesse  eines  grösseren  publikums  rechnen  könte. 

In  einer  mehr  poiniliiren  darstellung  hätte  z.  b.  auf  die  anschauliche  scliilderung 
von  Schulpforto,  Leipzig  und  Kopenhagen  mehr  Sorgfalt  vorwendet  werden  müssen. 
Und  vor  allen  dingen  wäre  die  vergleichung  mit  Schlegels  Vorgängern  zur  richtigen 
Würdigung  seiner  Verdienste  unbedingt  nötig  gewesen.  "Wer  mit  dem  gegenständ 
bereits  vertraut  ist,  wird  andrerseits  finden,  dass  bei  besprechung  der  Wirksamkeit 
J.  E.  Schlegels  auf  dem  theoretischen  gebiet  bekantc  dinge  zu  ausführlich  widerholt 
werden. 

Indess  hat  der  Verfasser  doch  auch  manches  neue  und  beachtenswerte  vorge- 
braclit,  namentlich  da,  wo  er  die  poetischen  werke  J.  E.  Schlegels  bespricht.  Bei 
Orest  und  Pyladcs  weist  er  mit  recht  darauf  hin,  dass  einzelne  änderungen,  die 
Schlegel  in  modern -humanem  sinne  mit  dem  überlieferton  stoffe  vornahm ,  eine  gewisse 
verwantschaft  mit  Goetlies  Umgestaltung  der  Iphigeniensage  zeigen.  Dass  jedoch 
Schlegels  ti-agödie  direkt  die  aufmerksamkeit  Goethes  auf  diesen  stoif  hingelenkt  haben 
soll  —  „ähnlich  wie  Schlegels  Hermann  den  ausgangspunkt  bildet,  von  welchem 
Goethe  zum  Goetz  geführt  wiQ'de" ,  ist  gewiss  nicht  anzunehmen. 

Für  die  beurteilung  der  Dido  hat  Wolff  nicht  den  richtigen  gosichtspunkt 
gefunden.  Er  leitet  das  drama  direkt  von  dem  Yorgilschen  epos  her,  während  Schle- 
gel offenliar  auch  die  tragödie  Didon  von  Lcfranc  de  Pompignan  (1784)  benuzt  hat. 
Freilich  liat,  so  viel  ich  weiss,  Aveder  Schlegel  selbst  noch  irgend  einer  der  späteren 
biographen  auf  diesen  Zusammenhang  aufmerksam  gemacht.  Aus  der  französischen 
tragödie  hat  Schlegel  einen  zug  entlehnt,  den  WollT  als  eine  glückliche  neuerung 
riihmt,  dass  nämlich  der  dichter  den  Aeneas  auf  der  flucht  noch  den  angriff  des  lliarbas 
zurückschlagen  Hess  und  so  die  kriegerische  ehre  des  holden  zugleich  mit  seiner 
eigenen  dichterischen  ehre  gerettet  habe.  Auch  ist  es  auf  die  französische  tragödie 
zurückzuführen,  wenn  könig  Hiarbas  als  gesantcr  vor  Dido  erscheint,  und  sich 
dann  erst  im  lauf  des  gesprächs  zu  erkennen  gibt.  Ebenso  bietet,  wie  ich  meine, 
der  vergleich  init  Lefranc  de  Pompignan  die  beste  erklärung  für  eine  stelle,  die 
"SVolff  als  eine  entlehnung  aus  Shakespeare  auffassen  möchte.  Dido  glaubt  den  schat- 
ten ihres  gemahls  Sichaeus  zu  erblicken  (aktIV  sc.  5);  sie  ruft  ihi-er  Schwester  zu: 

—  —  Ach  Schwester!  ich  erschrecke 

0  anblick!  siehst  du  nichts  dort  in  des  zimmers  ecke! 

Anna. 
AVas  siehst  du?  fasse  dich.     Trau  nicht  auf  dein  gesiebt, 
Denn  deine  furcht  allein  ])ctriegt  der  äugen  licht. 

Dido. 
Nein,  nein!     Ich  sehe  selbst  den  mir  bekanten  scTiatten! 
Ich  sehe  die  gestalt  des  sonst  geliebten  gatten! 
Ich  sehe  seinen  mund,  und  sein  so  schönes  haar! 
Ich  sehe  seine  stirn,  und  dieses  augenpaar!  usw. 

Diese  stelle  vergleicht  "Wolff  mit  Hamlet  aktlll  sc.  4,  wo  im  schlafgcmach  der 
köuigin  der  geist  des  alten  Hamlet  bloss  dem  söhne,  nicht  aber  der  gomahlin  sicht- 
bar erscheint.     Aber  bei  Schlegel  handelt  es  sich  gar  nicht,  wie  bei  Shakespeare  um 


232  CREIZENACH 

eine  wirkliche  geistererscheiuuug;  das  trugliild,  das  der  kraukhal't  gesteigerten  pliau- 
tasie  Didos  vorsclnvebt,  ist  nichts  als  ein  rlieturisches  etlektniittol  im  sinne  der  tra- 
gödie  des  klassischen  stils  und  es  wiire  nicht  schwer,  anderwärts  ähnliche  stellen 
nachzuweisen.  Die  Schlegelschen  werte  enthalten  eine  schwache  nachahniung  des 
anfangs  des  fünften  aktes  bei  Lefranc  de  Ponipignan.  Die  scene  spielt  hier  zur 
nachtzeit;  Dido  stürzt  auf  die  bühne;  sie  glaubt  sich  vom  geiste  des  Sichaeus  ver- 
folgt und  ruft  uju  hülfe:  ihre  Schwester  erscheint  und  beruhigt  die  königin,  die  noch 
immer  im  lieberwahn  das  gesi)enst  zu  sehen  glaubt. 

iSclilegel  hat,  wie  sein  bruder  Johann  Heinrich  berichtet,  die  Dido  noch  in 
Scliulpfoi"te  im  jähre  1739  geschrieben.  AVir  müsten  demnach  annehmen,  dass  die 
novität  des  französischen  theaters  ziemlich  rasch  bis  in  die  sächsische  klosterschule 
vorgedrungeu  sei.  Die  Dido  erschien  indess  erst  1744  im  fünften  teil  der  Deutschen 
schaubüline.  Damals  wurde  das  trauerspiel  „  gröstenteils  in  seiner  urs[»rünglicheu 
gestalt  dem  dnicke  übergeben,  der  lezto  aufzug  ausgenommen."  Von  diesem  lezten 
aufzug  teilt  Johann  Heinrich  in  der  ausgäbe  der  werke  seines  ))ruders  bd.  1  s.  71  fgg. 
den  ursprünglichen  plan  mit  und  rühmt  die  teilnähme  des  Aeneas  am  kämpf  gegen 
Hiarbas  als  eine  besonders  glückliche  neuerung.  Nun  könte  man  auf  den  gedanken 
kommen,  dass  Schlegel  ei"st  nach  seinen  Schuljahren  die  französische  tragödie  kennen 
lernte  und  daraus  manches  bei  der  mnarbeitung  seines  entwurfs  verwertete.  Indess 
stimmen  auch  wichtige  scenen  in  den  frühern  akten,  so  namentlich  die  scene  zwi- 
schen Dido  und  JarVias  und  die  geisterscenc  mit  Lefranc  de  Tompignan  überein  und 
wenn  diese  scenen  gleichfals  erst  in  der  Umarbeitung  liinzugekommen  wären,  dann 
hätte  Johann  Heiiuich  gewiss  nicht  die  oben  angeführten  werte  gebraucht. 

Noch  ein  umstand  darf  nicht  unerwähnt  bleiben.  Die  französischen  littcrar- 
historiker  haben  bereits  bemei'kt,  dass  die  erscheinung  des  Jarbas  unter  der  maske 
eines  gesanten  von  Lefranc  de  Pompignan  der  Didone  abbanden  ata  dss  Metastasio 
(1724j  entlehnt  wm'de.  Indess  findet  sich  bei  Metastasio  ausserdem  auch  der  kämpf 
zwischen  Aeneas  und  Jarbas.  Die  scene,  in  welcher  Dido  ihren  ersten  gemalil  zu 
erblicken  glaubt,  konte  der  französische  tragiker  noch  nicht  in  der  italienischen  oper 
finden.  YöUige  Sicherheit  über  das  Verhältnis  der  drei  Didodramcn  zu  einander  würde 
freilich  nui'  dui^ch  eine  bis  ins  einzelne  gehende  Untersuchung  zu  erreichen  sein. 

Schlegels  Trojanerinnen  sind  merkwürdig  als  charakteristisches  beispiel  für  eine 
im  vorigen  jahihmidert  sich  volziehende  bewegung  des  deutschen  geistes.  AVir  sehen 
den  dichter  hier  über  die  französische  renaissaucepoesie  hinweg  auf  die  niuster  des 
griechischen  altertums  zuiückgreifen.  Es  wäre  noch  zu  untersuchen,  ob  er  dazu 
nicht  vielleicht  durch  Bi*umoys  einflussreiches  werk  über  das  griechische  theater 
(Theatre  des  Grecs,  1730)  veranlasst  war. 

Für  die  beui'teilung  des  Arminius  ist  in  den  oft  citieiien  woiien  Goethes  der 
massgebende  gesichtspunkt  enthalten.  In  seinem  bericht  über  die  bühnenschicksale 
des  Arminius  komt  AVolif  auch  auf  die  französische  bearbeitung  zu  spi'cchen.  „I3au- 
■sin  ül>crsezte  das  stück  1709  frei  ins  französische  unter  dem  titel  „Arminius",  1773 
französierte  er  es  noch  mehr,  und  so  wurde  die  tragödie  als  „Les  Cherusques"  in 
Paris  nicht  nur  gedruckt,  sondern  auch  aufgeführt."  Als  seine  quelle  für  diese  nach- 
richten  citiert  er  Schmid,  Chronologie  des  deutschen  theaters.  Er  hätte  sich  nach 
einem  bessern  gewährsmanne  umsehen  sollen.  Freilich  weiss  auch  Süi)flc  über  die 
Schicksale  des  Arminius  auf  dem  französischen  theater  nicht  viel  zu  sagen,  obwol 
er  in  seiner  geschichte  des  deutschen  kultui-einflussos  auf  Fi-ankreich  1x1.  I  s.  170 
Bauvins    Verhältnis   zu  Schlegel   und   die  verschiedenen  ausgaben  seiner  Übersetzung 


TBER    WOLFF,    JOH.    EL.    SCHLEGEL  233 

bespricht.  Hinsichtlich  der  bühnoiularstelhing  beschränkt  er  sich  auf  die  worte  ^nach 
angäbe  von  Jördens  soll  Anninius  im  jahro  1773  in  Paris  zur  auffülirung  gekommen 
sein.''  Und  doch  besitzen  wir  über  diese  Pariser  aulführung  einen  höchst  jnerkAÜr- 
digen,  eingehenden  boricht  von  dem  alten  Oottschedianer  (iriinm,  der  wol  eine  wider- 
gabe  an  dieser  stelle  verdient.  Grimm  schreibt  aus  Paris  unter  dem  1.  okt.  1772  (Cor- 
respondance  littcraire  od.  Tourneux  bd.  X  s.  07  fg.):  ^  Le  theiitrc  anglais  n'est  pas  le 
seul  üii  nos  poetes  cherchent  aujourdhui  lours  sujets;  ils  viennent  de  faire  lo  meme 
honneur  au  theatre  allemand,  et  Ton  a  donnt-,  lo  20  du  mois  dcrnier  sur  le  theatre 
de  la  Comedie  Francaise,  la  premierc  rejircsentation  des  Cherusques,  tragedie  nou- 
velle,  imitee  du  tliciitre  allemand.  Cest  le  sujot  d'Arminius,  traitö  cn  Allemagne 
par  feu  M.  Schlegel;  c'est  la  drfuite  deVarus:  c'est  par  consc<j[uent  un  sujet  national 
en  Allenuigne.  La  i>ieco  de  M.  Schlegel  est  imi>rimee  depuis  environ  trentc  ans. 
Je  crois  l'avoir  lue  dans  ma  jeuuesse,  mais  je  ne  mc  la  rappello  plus  en  aucuno 
maniero;  je  n'eu  pourrai  donc  parier  quo  d'aprös  l'esquisse  franraise.  Un  vieux 
bonhomme  de  soixante  ans,  appcle  Bauvin,  pauvre  comme  un  rat  d'egliso  ou 
comme  un  poete,  ce  <|ui  est  synonyme,  s'est  avise  un  peu  tard  de  prendre 
le  metier  de  faiseur  de  tragedies.  II  a  choisi  celle  de  M.  Schlegel,  et  l'a 
ajustee  tant  bieu  (|ue  mal  au  Theatre  -  Franrais.  II  en  a  fait  la  lecture  aux 
Coniediens,  <iui  l'ont  rerue;  mais  tardant  longtcmps  ii  la  jouer,  le  pauvre  auteur, 
presse  par  la  faim.  l'a  fait  imprimer.  Elle  parut  en  17ÖÜ,  et  ne  fit  aucune  Sen- 
sation. Alors  les  Comcdiens  resolurent,  je  crois,  de  ne  la  point  jouer  du  tout, 
et  Ton  prctend  qu'ils  ne  se  sont  departis  de  cette  resolution  que  itarce  que  l'au- 
teur  a  eu  le  bonheur  d'interesser  M'ne  la  dauphine  en  sa  faveui".  Cette  charmante 
et  auguste  laincesse  a  exige  que  la  picce  fut  jouee,  et  Ton  a  obei.  Mais  les  acteurs 
etaieut  si  persuadcs  qu'elle  n'irait  pas  jusqu'ä  la  ün  (juils  uo  s'ctaient  pas  donne  la 
peine  de  Taitprendre.  Je  n'ai  jamais  vu  piece  aussi  mal  jouee.  M'i«  Dumesnil,  qui 
est  presque  toujours  mauvaise,  quand  eile  n'est  pas  sublime,  et  qui  commence  ä  etre 
rai'ement  sublime,  fut  detestable  cc  jour-lä.  Elle  jouait  le  role  d'Adeüude,  princesse 
cherusque,  mere  de  Thusnelde  et  de  Sigismond.  Thusnelde  etait  representee  par 
]\Xme  Vestris.  Brizard  etait  charge  du  role  de  Segismar,  prince  cherusque,  pere 
d'Arminius,  joue  par  Mole.  Les  autres  röles  etaient  rem}ihs  par  des  acteurs  si  mau- 
vais,  (ßie  jamais  la  patience  du  public  ne  fut  mise  a  plus  forte  ejjreuve.  La  piece 
pensa  en  etre  la  victime;  mais  enfin,  apres  avoir  couru  les  plus  grands  risques,  eile 
eut  le  bonlieur  de  resister  a  tous  les  dangers  et  de  reussir.  L'auteur  fut  ai>pele  ä 
grands  cris.  11  ne  put  ou  ne  voulut  pas  paraitre  le  premier  jour:  le  pauvre  homme 
n'avait  pas  i)eut-etro  d'habit  pour  se  montrer;  mais  a  la  seconde  reprcsentation ,  il 
fut  appele  de  nouveau,  et  vint  faire  sa  revcrence  au  public.  On  conte  que  les  etats 
d'Artois  (l'auteur  est  de  ce  pays-lä)  lui  ont  promis  de  lui  faire  une  pension,  sup- 
posc  que  sa  piece  ait  trois  roprcsentations.  Si  cela  est,  la  pension  est  deja  gagnee. 
Mais  quel  bizarre  et  ridicule  caprice  de  la  part  d'un  corps  aussi  respectable  que  les 
etats  d'uue  province  d'attacher  im  bienfait,  apparemment  jugc  nccessairc  et  bien 
place,  au  succes  d'une  piece  de  theatre!  Qu'a  de  commun  le  besoin  d'un  vieillard 
de  soixante  ans  avec  une  bonne  ou  mauvaise  tragedie  V  Quoiqu'il  en  seit  de  la  verite 
ou  de  la  faussete  de  ce  conte,  11  etait  si  bien  ctabli  dans  le  public  qu'il  faut  conve- 
nir  qu'il  influa  sensiblement  sur  le  succes  de  la  tragedie.  Mais  apres  l'avoir  ai)plau- 
die  au  theatre,  on  en  a  dit  beaucou})  de  mal  dans  le  monde.  Ou  l'a  trouvee  froide 
et  ennuyeuse;  mais  on  n'a  pas  assez  considcre  combien  le  mauvais  jeu  des  acteurs 
hü  a  fait  tort.     On  commence  a  en  parier  aujoui-d'hm  avec  im  peu  plus  d'estime  ou 


234  CREIZEXACH 

moins  de  denigroment;    co   qui   ine   fait  pivsumcr  ([WO  les  comedieus,    qui  iie  s'atten- 
daient  pas  a  ec  succes.  la  joueiit  avec  im  peii  plus  de  sein. 

Comme  la  pieeo  de  M.  Bauviu  est  imprimee  depuis  trois  ans,  je  nie  suis  dis- 
ponse  d'eu  faire  iei  uuo  analyso  en  forme.  Les  ehangemcuts  qu  il  y  a  faits  i)om'  la 
renicttre  au  tlieatre  nc  sont  pas  bien  considerables,  et  se  trouverout  en  tout  cas 
bientöt  dans  mio  nouvello  editiou  qu'il  ne  manquera  pas  d'eu  faire  apres  l'espece  de 
sueces,  quelle  vieut  d'avoir  au  theatre/ 

AVir  erfaliren  also  auch  aus  diesem  boriclit,  dass  Marie  Antoinette  es  war,  die 
die  auffülining  der  deutsclieu  tragödie  in  Paris  durehsezte. 

Mit  der  tragÖdie  Canut  hat  Schlegel  nach  seiner  Übersiedelung  nacli  Dänemark 
einen  glücklichen  giiff  in  die  gescliichte  seines  adoptivvaterlandes  getan.  Mit  recht 
hat  AVollT  diesem  drama  eine  besonders  ausfülirliche  beliandlung  zu  teil  werden  las- 
sen. Er  weist  auf  eine  bearbeitung  hin,  die  1780,  vierunddrcissig  jähre  nach  dem 
erscheinen  des  Schlegelschen  dramas  gedruckt  wurde,  also  zu  einer  zeit,  da  schon 
der  Alexandriner  auf  der  bühue  duix'li  die  prosa  verdrängt  war.  AVolfE  will  dartun, 
wie  in  dieser  prosaauflüsung  eine  fülle  von  dramatischem  leiten  entfesselt  wurde, 
das  in  der  engbegrcnzteu  form  des  Alexandriners  vcrljorgeu  geblieben  war.  Es 
wäre  sehr  wünschenswert  gewesen,  wenn  er  diese  interessante  beobaclitung  durch 
reichlichere  beispiele  belegt  hätte.  Unter  den  urteilen  der  Zeitgenossen  registiiert 
AVolff  auch  eine  stelle  aus  Lessings  dramaturgischer  correspondenz  mit  Nicolai. 
Indess  hat  Lessing  sein  eindringendes  Studium  des  Schlegelschen  meiste nverkes  auch 
anderwärts  bewiesen.  In  dem  entwurf:  .,Der  Schauspieler.  Ein  werk  worinnen  die 
gi-undsätze  der  ganzen  körperUchen  beredsamkeit  entwickelt  werden."  Hempel  bd.  XI- 
s.  856  fgg.  hat  er  einige  stellen  in  den  rollen  des  Canut  und  des  Ulfo  im  hinblick  auf 
die  l)egleitenden  gesten  ausführlich  betrachtet.  Und  ausserdem  hegte  er  ursprüng- 
lich die  absieht,  in  der  dramaturgie  den  Canut  eingehend  zu  behandeln.  Im  Schema 
zur  fortsetzung  (Hempel  bd.  XX  s.  649)  notiert  er  ,91.  Canut,  Schlegels  Hang,  dome- 
stica  facta  zu  wählen.  Hurd  p.  211  N.  286.  Mittwochs  den  23.  September."  Wol 
keine  andere  notiz  des  wenig  beachteten  Schemas  —  abgesehen  vielleicht  von  nr.  63, 
wo  Lessing  eine  Untersuchung  über  den  chor  in  der  tragödie  in  aussieht  stelt  — 
lässt  uns  das  jähe  abbrechen  der  dramaturgie  mehr  ])edauern.  Gewiss  würde  Les- 
sing hier  gedanken  entwickelt  haben,  die  ein  neues  licht  auf  Minna  von  Barnhelm 
fallen  Hessen  und  die  sich  wol  auch  mit  den  gedankenreihen  berührt  hätten,  durch 
welche  Goethe  von  Hermann  dem  Cherusker  auf  Götz  von  Berlichingen  hinübergelei- 
tet wurde. 

Canut  war,  ebenso  wie  Hermann  bereits  1748  auf  dem  repertoire  der  Schö- 
nemannschen  truppe  in  Fiankfurt  am  Main. 

Einen  fruchtbaren  gesichtspunkt  hat  sich  AVolff  entgehen  lassen.  Er  hätte  zei- 
gen sollen,  wie  Schlegels  tragische  diktion,  die  bekantlirh  von  frau  rat  Goethe  als 
mu.ster  des  steifen,  veralteten  stils  angefülirt  wird,  sich  ausnimt,  wenn  man  sie  mit 
den  mach  werken  Gottscheds  und  seiner  anliänger,  der  Pitschel,  Grimm,  Quistorp 
usw.  vergleicht.  Durch  eine  solche  gegenüberstellung  wird  die  bedeutung  Schlegels 
als  des  hervoiTagendsten  deutschen  tragikers  der  classicistischen  richtung  wol  am 
besten  dargetan. 

Bei  besprechung  der  lustspiele  betritt  der  Verfasser  ein  gebiet,  dem  er  bereits 
früher  ein  eindringendes  Studium  gewidmet  hat.  Manches  von  dem,  was  er  hier  zur 
Verteidigung  Schlegels  gegen  alzu  strenge  kritiker  sowie  zum  lobe  des  Schlegelschen 
conversationstons    vorbringt,    ist    gewiss    berechtigt.      Den    von    Lessing    so    schroff 


ÜBER    WOLFF,    JOH.    EL.    SCHLEGEL  235 

getadelten  „geschäftigen  müssiggängor "  rühmt  Wfdff  als  das  erste  deutsche  sitten- 
lustspiel,  doch  könte  man  diese  meiniing  erst  dann  zur  diskussion  stellen,  wenn  auch 
die  sonstigen  ansätze  zum  sittonlustspiol  in  joner  zeit  gonauer  ins  augo  gofasst 
würden.  Zu  anm.  128  ist  zu  bemerken,  dass  älmliche  stehende  rodensarten  derljoip- 
zigerimien  auch  in  M»>nantes  satirischem  roman  (Deutsche  nationallitteratur  bd.  37 
s.  480)  angeführt  werden.  Eben.so  wie  den  geschäftigen  müssiggänger,  iiimt  AVolff 
auch  das  totengespräch  Demokrit  gegen  Lessing  in  schütz.  Lessing  hat  bckant- 
licli  (Dramaturgie  st.  XYII)  nicht  undeutlieh  durchl)licken  lassen,  dass  er  es  für 
pedantiM'ci  hält,  wenn  Schlingel  von  Kegnards  Verstössen  gegen  die  historische  Wahr- 
scheinlichkeit so  viel  aufhebens  macht.  Im  wesentlichen  wird  doch  vvol  Lessing 
rocht  behalten.  Allerdings  ist  es  dankenswert,  dass  WoKT  auf  den  Zusammenhang 
hinweist,  der  zwischen  dem  totengespräch  und  dem  Schlegelschen  lustspielfragment 
„die  drei  ijhilosophen"  besteht.  liier  hat  der  dichter  sich  bemüht,  Plato,  Diogenes 
und  Aristii)[)  mit  treuerer  festhaltung  des  historischen  kolorits  in  eine  lustsi)ielintri- 
gue  zu  verweben.  Eine  massgel)endc  bedeutung  in  der  geschichtc  des  historischen 
lustspiels  darf  Schlegel  deshalb  aber  doch  nicht  beanspruchen;  unter  seinen  Vorgän- 
gern auf  diesem  gebiet  muste  vor  allen  dingen  auch  noch  Boursault  berücksich- 
tigt werden.  AVenn  s.  IGO  Lessings  Jugendfreund  Mylius  (t  1754)  mit  dem  heraus- 
geber  des  komischeu  theatcrs  der  Deutschen  (1783)  verwechselt  wird,  so  ist  das  frei- 
lich ein  starkes  stück. 

Zu  der  ansprechenden  Charakteristik  der  anakreontischen  lieder  und  erzählun- 
gen  Schlegels  wäre  zu  liemerken,  dass  kaffoe  als  ein  getränk,  das  zur  poesie  begei- 
stern kann,  schon  von  Neukirch  in  den  Anfangsgründen  der  reinen  teutschen  poesio 
erwähnt  wird  (vgl.  Hildebrand  im  deutschen  Wörterbuch  IV,  21).  Nachdem  die 
tabakspoesie  in  Hoffmann  von  Fallorsleben  einen  geschichtschreiber  gefunden  hat, 
wird  vielleicht  auch  einmal  der  kaflce  in  der  deutschen  dichtung  im  Zusammenhang 
betrachtet  werden. 

Das  hauptgewicht  legt  AYolfT  mit  recht  auf  Schlegels  Wirksamkeit  als  theore- 
tiker  und  kritiker.  Sein  respektvoll  diplomatisches  Verhältnis  zu  Gottsched  ist  durch- 
aus treffend  charakterisiert.  Dass  Schlegel  kein  gewöhnlicher  Gottschedianer  sei, 
erkanten  die  gegner  sehr  bald:  Pyra  im  Erweis  dass  die  Gottschedianische  secte  den 
geschmack  verderbe  s.  104,  behandelt  ihn  sehr  höflich,  auch  die  Neuberin  suchte 
ihn  zu  sich  herüberzuziehen.  Danzels  ansieht  von  Gottsched  als  dem  Schöpfer  der 
idee  einer  deutschen  nationallitteratur  hat  Wolff  zu  sehr  auf  treu  untl  glauben 
angenommen.  Für  Schlegels  anfange  war  auch  noch  der  aufsatz  von  Peter  über  die 
pflege  der  poesie  an  den  fürstenschulen  (Mitteilungen  des  Vereins  f.  d.  gesch.  d.  stadt 
Meissen  bd.  I  heft  3)  zu  berücksichtigen. 

Den  ergebnissen  Antoniewiczs  über  die  französischen  quellen  Schlegels  stimt 
Wolff  im  wesentlichen  bei.  Gewis  mit  recht,  denn  was  inzwischen  ßraitmeier  in 
seiner  Geschichte  der  poetischen  theorie  usw.  (t.  I.  Frauenfeld  1888)  gegen  diese 
französische  einwirkung  vorbringt,  ist  wenig  überzeugend.  Dass  Schlegel  sich  schon 
frühzeitig  in  der  französischen  litteratur  umsah,  beweist  seine  ])ekantschaft  mit  Lefranc 
de  Pompignan.  Schlegels  ansichten  über  das  material  der  nachahmung  in  der  poesie 
sind  mit  Vatrys  theorie  so  nahe  verwant,  dass  man  wol  den  gedanken  einer  entleh- 
nung  von  Seiten  Schlegels  festhalten  darf.  Anders  steht  es  freilich  mit  Schlegels 
behauptung,  derjenige,  welcher  nachahmt,  müsse  „sich  nach  den  Vorstellungen  derer 
richten,  die  das  bild  vergnügen  soll.„  „Wir  haben  in  unseren  zeiten  einen  neuen 
Achill,    einen  neuen  Hippolyt,    kurz   ganz   neue  beiden   gemacht,    welche  vieles  von 


236  VOIGT 

dem  weseu  der  grossen  luiseror  zeit  hahea  und  nur  in  alte  nameu  gekleidet  sind." 
In  diesem  falle  ist  es  entschieden  zu  ^Yeit  hergeholt,  wenn  Antoniewicz  einen  Zusam- 
menhang mit  Fraguiei's  Eetlexions  sur  les  dicux  d'Homere  annimt.  Braitmeier  hat 
gewiss  das  richtige  getroflfen,  wenn  er  auf  die  verwantschaft  mit  der  Brcitingerschen 
theorie  hinweist.  Auch  sonst  sind  in  Braitmeiers  darstcUung  einige  wichtige  punkte 
besser  hervorgehoben,  so  namentlich  die  Übereinstimmung  Schlegels  mit  Lessing  in 
der  beurtcilung  des  Philoctet  (vgl.  Braitmeier  s.  252).  Zu  dem  „schreiben  von  erricli- 
tung  eines  theaters  in  Kopenhagen"  wäre  noch  zu  bemerken,  dass  bereits  Gottsched 
in  der  deutschen  schaul>ühne  t.  11  s.  22  auf  die  notwendigkeit  einer  tantieme  für  die 
dramatischen  Schriftsteller  hingewiesen  hatte. 

Der  Verfasser  war  in  der  läge,  ungedrucktes  brietliches  material  für  seine 
arbeit  zu  benützen.  Ausserdem  hat  er  zum  ersten  male  eine  handschriftliche  sam- 
lung  von  gedichten  des  vaters  Schlegel  herangezogen  und  dadurch  mancherlei  hübsche 
züge  für  die  Schilderung  des  elterlichen  hauses  und  der  ersten  jugendeindrücke 
gewonnen. 

XKAKAÜ,    m   FEBR.    18S9.  WILHELM    GREIZENAGH. 

Friedrich  Lauchert,   Geschichte   des  physiologus.     Mit  zw^ei  textbeilagen. 
Strassburg,  Karl  J.  Trübner.  1889.     8.     XllI  und  313  Seiten.    7  m. 

Nachdem  uns  J.  V.  Carus  in  seiner  Geschichte  der  Zoologie  1872  aus  der  feder  des 
dr.  Hügel  eine  geschichte  des  physiologus  in  aussieht  gestelt  hatte,  empfangen  wir  nun 
durch  Friedrich  Lauchert  das  erwartete  buch,  welches  bei  der  Wichtigkeit  des  phy- 
siologus füi-  die  geschichte  der  Zoologie,  der  fabel  und  des  tierschwanks,  des  Sprich- 
worts und  des  epimythions,  der  tierbildlichen  typen  in  litteratui-  und  kunst,  wie  des 
Stifts-  und  klosterschulwesens  von  vorn  herein  auf  algemeines  interesse  anspruch 
erheben  darf.  AVir  werden  zu  prüfen  haben,  Avie  weit  die  gespanten  erwartungen, 
mit  denen  wir  das  werk  in  die  band  nehmen,  in  ihm  erfült  werden. 

1.  Der  erste  teil  (s.  1  — 100)  bietet  1.  eine  Vorgeschichte,  2.  Inhaltsübersicht 
und  qufllennachweis  der  ursprünglichen  49   stücke   sowie  einiger  späterer  anhängsei, 

3.  entstehung,  4.  Überlieferung  des  griechischen  textes,  5.  patiistische  Zeugnisse  der 
älteren  zeit,  6.  besprechung  der  alten  Übersetzungen,  nämlich  des  acthiopischen ,  des 
araienischen,  der  syrischen,  des  arabischen  textes,  7.  und  8.  der  lateinischen  Ver- 
sionen, 9.  und  10.  des  physiologus  in  mittelgriechischen  tierbüchern  und  in  der  natur- 
geschichto  des  mittelalte rs ,  11.  eine  vergleichende  Übersicht  der  verschiedenen  anord- 
Duugen. 

IL  Der  zweite  teil  (s.  110  —  228)  erörtert  1.  die  Übersetzungen  und  bearbei- 
tungen  des  physiologus  in  der  germanischen  und  ronianischen  litteratur,  2.  und  3. 
die  Verbreitung  der  physiologus -typen  in  dichtung  und  kunst  des  niittelaltcrs,   sowie 

4.  die  lezten  nach  Wirkungen  des  physiologus  bis  in  die  neue  und  neueste  zeit. 

IIL  Im  anhang  wird  der  text  des  griechischen  wie  des  Jüngern  deutschen 
physiologus  (s.  220  —  299)  nebst  nachtragen  und  register  geboten. 

Man  sieht,  das  buch  bringt  vielerlei.  Je  mehr  man  sich  aber  hineinliest, 
desto  deutlicher  erkent  man,  dass  man  es  hier  nicht  mit  einer  eigentlichen  forschung 
zu  tun  hat,  die,  unbefriedigt  von  dem  vorgefundenen  stände  der  erkontnis,  selbstän- 
dig und  kühn  nach  allen  richtungen  hin  den  gegenständ  zu  ergründen  und  aus 
umfa.ssender  samlung  unbenuzten  quellenmatcrials  und  eindringender  durchdenkung 
desselben  neue  aufschlüsse  zu  gewinnen  strebt,  sondern  mit  einer  kritischen  Zusam- 
menstellung der  an  den  verschiedensten,    oft  schwer   zugänglichen  orten  zerstreuten 


ÜBER    LAL'CHERT,    PHYSIOLOGUS  237 

bisherigen  crgobnisso  <lor  physiologus-forschung,  dio,  woil  im  ganzen  mit  saehkcnt- 
nis  und  bosonnonom  urteil  duivligofiiln-t,  für  den  lernerstellenden  ebenso  lohireich 
und  wilkommen  ist  wie  sie  die  erwartungen  des  keiniers  in  der  hauptsacho  unbefrie- 
digt lassen  wird.  Der  wert  der  einzelnen  abschnitte  ist  somit,  je  nach  dem  grade 
wie  vorarbeiten  vorliegen  und  dem  Verfasser  bekant  bez.  zugänglich  waren,  ein  sehr 
vei-schiedener:  recht  interessant  ist  I,  2  —  f)  und  IT,  2.  wenig  gehaltvoll  ist  IT,  8, 
die  ül)rigen  stücke  halten  eine  gewisse  mitte  inne. 

Gehen  wir  nnn  die  (»inzelnen  kapitel  durch,  um  auf  lücken  und  mängel  auf- 
merksam zu  machen. 

S.  77  fgg.  vermisst  man  die  wichtige  stelle  Augustins  über  die  fulica  (in  Psalm. 
CHI,  17):  IntelUijhnus  petrain  esse  idoneotn  fidicac  dmmivi,  nusquam  fort  ins  rf 
ftrwfiis  habitat  qnatu  in  potra.  In  quali  petra?  Tn  muri  eonstituta.  Etsi  tnn- 
ditur  flnrfibns,  framfit  tarnen  finetus,  non  framjitnr:  Itoc  habet  magnnm  potra  in 
mari  eonstitnfa  ....  Er(/o  fnlicae  domiis  et  fortis  est  et  Jinmilis.  Nnn  habet 
domum  fnlica  in  excclsis;  niliil  iUa  domo  firmius  et  iiihil  huniilius.  In  eedris  qni- 
deni  nidiftcant  passeres,  ^;ro/>^r;-  praesenteni  neccssitateni :  sed  jietram  iUam  habent 
duceni ,  qnae  flnefibits  tnnditur  et  non  frangitnr.  —  Zu  s.  68  —  79  konte  die  fleis- 
sige  monographie  von  Feiner  „Vom  Phoenix  in  den  schiifton  der  väter"  (München, 
Progr.  des  Ludwigs  -  gymn.  1840/50)  beuuzt  werden.  —  S.  8G.  Das  programm  von 
K.  Ahrens  (Ploeu  1885)  konte  der  Verfasser  nicht  zu  gesiebt  bekommen,  obwol  ein 
schreiben  an  die  gymnasial -direktion  vermutlich  hingereicht  hätte,  ein  exemplar  des- 
selben zu  seinem  eigentum  zu  machen.  Es  ist  eine  sehr  lesenswerte  studio,  die 
nicht  bloss  überzeugend  nachweist,  dass  das  syrische  tierbuch  des  Brit.  museums  aus 
der  herrn  Tiauchert  unbekaut  gebliebenen  haudschrift  Ind.  office  Ms.  Syr.  n.  9  abstamt, 
sondern  auch  überhaupt  eine  eingehendere  Untersuchung  über  die  quellen  des  ]>hy- 
siologus  enthidt. 

S.  88  —  94  werden  nach  dem  einleuchtenden  beweise ,  dass  die  erste  lateinische 
Übersetzung  des  physiologus  bereits  vor  431  verfasst  sein  muss,  die  beiden  bekanten 
hauptübertragungon  augegeben,  nämlich  die  durch  die  hs.  10074  von  Brüssel  und 
233  von  Bern  repräsentierte  klasse  AB  und  die  durch  die  Berner  hs.  318  vertretene 
klasse  C,  somit  die  geschichte  des  lateinischen  prosatextes  mit  dem  10.  Jahrhundert 
abgeschlossen.  Da  es  nun  die  lateinischen  fassungen  waren,  welche  diese  tierbilder 
dem  abeudlande  übermittelten,  da  der  hauptcinfluss  des  physiologus  auf  die  abend- 
ländische litteratur  und  kunst  in  die  zeit  vom  10.  — 14.  Jahrhundert  fält,  da  endlich 
gerade  derartige  littcrarische  produkte  den  mannigfachsten  erwciterungen  (auch  Vin- 
cenz  von  Beauvais  Spec.  natur.  XX,  172  de  testudine  benuzt  einen  erweiterten  phy- 
siologus) und  Verkürzungen,  sowie  sonstigen  änderungen  in  reihcnfolge,  verlauf  der 
handlung  und  ausdoutung  ausgesezt  sind,  so  wäre  es  die  pllicht  des  Verfassers  gewe- 
sen, etwa  in  der  weise,  wie  es  Oesterley  für  die  Gesta  Romanorum  getan,  die 
geschichte  des  textes  durch  das  ganze  mittelalter  zu  verfolgen,  also  womöglich  die 
sämtlichen  erhaltenen  handschriften  aufzuspüren,  sie  auf  ihre  spezifischen  eigentüm- 
lichkeiten  hin  zu  untersuchen  oder  durch  die  allezeit  bewährte  liebenswürdigkeit  der 
bibliothekare  untersuchen  zu  lassen  und  so  die  handschriftliche  Überlieferung  des 
lateinischen  physiologus  während  des  mittelalters  auf  bestirnte  grundtypen  zurückzu- 
führen. Niu-  so  hätten  wir  über  die  Schicksale  der  ph.- texte  von  Jahrhundert  zu 
Jahrhundert  volles  licht  erhalten,  nur  so  hätte  sich  auch  jedesmal  die  lateinische 
quelle  der  volkssprachlichen  bearbeitungen  nachweisen  lassen,  für  deren  ab  weich  un- 
gen  von  AB  und  C   der  Verfasser  wol    eine    in   diesen   punkten  bereits  modificierte 


238  VOIGT 

lateinische  vorläge  vormutet  (s.  12G  anm.  1.  131  aiiin.  1,  133  aum.  1 ,  138  z.  9  — 12, 
140  z.  17  fg.),  aber  oben  leider  nicht  anzugeben  vermag.  Er  weist  wol  auf  die  von 
M.  F.  Mann  (Anglia  VIT,  445  fg.)  genanten  handschriften  hin,  hat  aber  noch  nicht 
einmal  die  ihm  so  bequem  erreichbaren  Münchener  verglichen,  geschweige  denn  dass 
er  die  gerade  in  dieser  hinsieht  so  zuverlässigen  handschriftenkatalogc  darauChin 
durchgesehen  hätte.  Ich  habe  mir  von  physiologus  -  handschriften  seiner  zeit  notiert: 
Angei-s  294  —  Avranches  28  —  Brüssel  8340  —  Douai  073  —  Ei)inal  48  und  58  — 
Gent  IG  —  Kopenhagen  1G34  (Kl.  lat.  denkm.  s.  G)  —  Middlehill  4725  (Jaliii  und  See- 
bode  Neue  jahrb.  suppl.  YKI,  1842  s.  448)  —  Oxford  cod.  Bodl.  misc.  lat.  247  (wozu 
der  katalog  auf  den  druck  bei  Hugo  de  S.  Victore  Venedig  1588  II,  189  hinweist)  — 
Paris  Bibl.  Nat.  3G3Sa,  4931c,  85G4  (?),  10448,  11207  —  Pommersfclden  2913  und 
2917.  und  aus  der  ältesten  zeit  Bern  611  (fol.  1  IG ''  —  138'')  s.  VIII/IX,  Oxford  cod. 
Bodl.  misc.  lat.  129  s.  IX  und  AVolA^nbüttel  cod.  Gud.  148  s.  X,  welch  lezterer,  wie 
aus  einer  mir  von  "\V.  Scherer  gütigst  überlassenen  alischiilt  zweifellos  hervorgeht, 
zur  klasse  C  gehöi-t,  ebenso  wie  das  Toletaner  fragmcnt  bei  Isidor  od.  Arevali  IV, 
521.  Auf  diesem  wegc  hätten  wir  auch,  was  wir  in  dem  vorliegenden  buche  recht 
vermissen,  einen  stambaum  der  gesamten  physiologus-receusionen  erhalten. 

S.  95.  Bei  der  liohcn  Wichtigkeit  Gregors  des  Grossen  für  die  litteratur  des 
mittelalters  ül>erhaupt  wie  für  die  Verbreitung  der  physiologischen  allegorik  insbeson- 
dei*e  war  es  wünschenswert,  die  bei  ihm  vorüudlichen  physiologus  -  spuren  sorgfältig 
und  erschöpfend  zusammenzustellen.  Hier  mag  nur  zu  dem  dritten  zuge  der  schlänge 
(Ph.  11'*)  auf  Hom.  in  Euang.  II,  32,  2  hingewiesen  werden:  Xihü  maligni  spiritus 
in  hoc  mundo  proprium  possident.  Nudi  ergo  cum  nudis  luctari  dchemiis.  Nam 
si  n^stitus  quisqua7n  cum  nudo  luctatur,  citius  ad  terram  deicitur,  quia  habet 
inule  teneatur.  Quid  enim  sunt  terroia  omnia  nisi  quaedam  corporis  indumenta? 
Qui  ergo  contra  diaholum  ad,  certamen  p)roperat,  uestimenta  ahiciat,  ne  succum- 
lat.  —  S.  97  anm.  3.  Zu  dem  verse  Ph.  Theob.  14G  Dicitur  a  Physio-,  cum  docet 
inde,  -Ingo  bemerkt  der  Verfasser:  „Solche  abgeschmackte  Worttrennungen  kommen 
bekantlich  in  der  lateinischen  poe.sie  des  mittelalters  niclit  selten  vor;  ich  erinnere 
au  den  schönen  vers  beiRabelaisPautag.il,  41:  Deficiente  2)ecu-  deficit  omne  -nia.'^ 
Verfasser  besizt  eine  viel  zu  düi-ftige  kentnis  der  mlat.  dichtung,  als  dass  ihm  ein 
recht  zu  einem  solchen  urteil  zustünde.  Von  vei-einzelten  Spielereien  abgesehen,  wie 
sie  allen  epigonenlitteraturen  eigen  sind,  finden  sich  derartige  Worttrennungen  in 
ihr  nur  in  ganz  seltenen  fällen  zwingender  prosodischer  uotlage.  Je  mehr  sicli  lierr 
Lauohert  mit  diesem  zweige  der  litteratiu*  beschäftigt,  desto  mehr  wird  er  sein 
„bekantlich'^  und  sein  „nicht  selten"  einzuschränken  lernen.  —  S.  98.  Der  zug,  dass 
die  hii*sche  haim  durchschwimmen  eines  flusses  eine  linie  bilden  und  zwar  so,  dass 
immer  der  hintermann  seinen  koi>f  auf  den  nicken  des  Vordermanns  legt,  geht  nicht 
auf  Gregor  zurück,  sondem  findet  sich  schon  bei  I'linius  VIII,  50  und  dann  wider- 
holt >»ei  Augustin,  vgl.  inP.salm.  XU,  4,  CXXIX,  4,  De  diuersis  quae.st.  LXXI,  1 . — 
S.  98.  Der  abschnitt  von  der  spinne  in  Theobalds  physiologus  beruht  auf  den  (aus. 
stellen  wie  JobVIII,  14,  IsaiasLIX,  5  fg.  von  ihm  und  seinen  vorgängcra  entwickel- 
ten) ausfühi-ungen  Gregors  Mor.  VIII,  44:  Boie  htjpocritarum  flducia  aranearum 
telis  similis  dicitur,  quia  omne,  quod  ad  ohtinendam  gloriam  exsiulant,  iientus 
uitae  mortalis  dissipat  .  . .  Aranearum  tela  studiose  fexitur,  sed  sid)ito  flatu  dissi- 
patur.  —  S.  99.  Das  hier  citierte  tierbuch  der  Leipziger  Universitätsbibliothek  ist 
identisch  mit  der  bereits  aus  dem  XII.  Jahrhundert  stammenden  versification  von 
Isidor,    die  den  titel  führt:    Xature  animalium   extracte  de    Ysidoro    (ine.  Xaturis 


ÜBER  LAÜCHERT,  PHYSIOLOGUS  239 

uariis  anhiialia  sunt  rcdi^nita,  Tiiqur  iuos  mores  Itiis  rcdimlrc  studc)  und  auch 
im  cod.  Bcni.  4G2  s.  XII/XIII  f.  1  —  38''  sowie  in  der  stiftsbiMiothok  St.  Florian  zu 
Linz  im  cod.  IGß  f.  272*  —  307''  erhalten  ist.  Weshalb  der  Verfasser  betrefs  des 
anderen  Thierfelderschon  hiu^\•ei^;es  auf  den  Breslauer  physiologiis  nicht  eine  anfrage 
an  die  doitigc  Universitätsbibliothek  oder  an  Rudolf  r('i[)er,  die  sicher  auf  das  lie- 
benswüi'dig.ste  beantwortet  worden  wäre,  zu  richten  für  gut  l)ofandcn  hat,  ist  uns  bei 
dem  autor  einer  „Geschichte  des  physiologus"  ebenso  wenig  erklürlidi  wii^  so  luanohe 
andere  Unterlassungssünde  des  buches. 

S.  124.  Die  lehre  von  den  sieben  eigenschaften  der  taube  braucht  nicht  aus 
Alex.  Neckam  De  nat.  rer.  s.  lOG  entnommen  zu  sein,  findet  sich  vielmehr  in  der 
patristik  sehr  häufig  (Beda  bei  Migno  XCIV,  02,  Ilrab.  Maur.  zu  Matth.  Ill,  16, 
Haymo  ITom.  de  temp.  IG,  Guariicus  Abbas  Sermo  YI  de  purificatione  und  sonst) 
und  war  um  die  mitte  des  XIII.  jahrhundei*ts  gewiss  längst  ein  gemeingut  der 
gebildeten  geworden.  —  S.  134.  Bei  der  symbolischen  ausdeutung  des  hahiis  fält 
es  auf,  dass  der  Verfasser  nicht  das  im  mittelalter  so  sehr  beliebte  gedieht  Miilti 
sunt  presbifcri,  qui  irjnorant  qncirc  (gedruckt  z.  b.  Serap.  I,  107  fgg.)  zur  verglei- 
chung  heranzieht.  Auch  Marbods  Lapidarius  kent  er  s.  13G  nicht.  —  S.  139  unten. 
Der  hier  hervorgehobene  neue  zug  in  der  fabel  von  der  erweckung  des  jungen  löwen 
geht  gewiss  auf  Euang.  Job.  XI,  43  zurück.  —  S.  140.  Die  auslegung  der  viper- 
eigenschaft  auf  den  neid  ist  ganz  im  sinne  des  im  mittelalter  vielbezeugten  Sprich- 
worts, dass  neid  zuerst  den  eignen  hcrrn  fresse,  durchgeführt,  vgl.  meine  nachweise 
zu  Fecunda  Ratis  I,  795.  —  S.  142.  Yon  den  beiden  neuen  zügen  des  raben  beruht 
der  zweite  auf  dem  sprichwoii  Cornix  cornici  ocidos  non  effodit  (vgl.  auch  Georges 
s.  u.  cornix)\  der  erste  ist  von  Isidor  (auch  Sent.  III,  43,  5)  aus  Gregor  übernom- 
men: Mor.  XXX,  9,  33  Est  adhuc  aliud,  quod  de  coruo  moraliter  possü  intclliyf. 
Editis  namque  indtis,  tit  fcrtur,  escam  ^j^erze  praebeix  dissimidat,  2))-insquan/ 
plumescendn  nigrescant ,  eosque  inedia  affici  patitur,  quoadusqiic  in  Ulis  j)er  j)^^- 
narnni  nigredinem  sua  similitudo  uideatur.  Qui  huc  illueque  uagantur  in  nido 
et  ciborum  expetunt  nperto  ore  suhsidiiim.  At  cum  nigrescerc  coeperint,  tanto  eis 
praehcnda  alimcnta  ardentius  requirit,  quanto  illos  alere  diutius  distulit.  — 
S.  143  anm.  G.  Der  hier  aus  Isidor  bezeugte  aberglaube  wird  sclion  von  Tlinius  VIII, 
22,  34  und  Servius  zu  Yerg.  Eolog.  IX,  54  sowie  iu  w^ortgenauor  Übereinstimmung 
von  Ambrosius  Hexaem.  YI,  4  überliefert:  Liqnis  si  prior  homineni  uiderit,  iiocem 
eripit,  et  despieit  eum  tanquam  uictor  uocis  ahlatae.  Ideni  si  se  praeuisiini  sen- 
scrit,  deponet  ferociam ,  non  jwtest  currere.  —  S.  148  z.  2  fg.  Dieses  gleichnis 
erinnert  an  einen  lieblingsgodanken  des  Petrus  Chrysologus:  Sol  tangit  stercora,  non 
tainen  stercoribus  inquinatur  (Sermo  35  und  94), 

S.  158.  Bei  der  hier  angezogenen  stelle  des  ags.  Crist  darf  man  schwerlich 
an  den  Phoenix  denken,  sondern  an  den  vogel  überhaupt  (nach  Sap.  Y,  10)  und  wenn 
an  einen  bestirnten,  dann  an  den  adler  (nach  Prouerb.  XXX,  18,  woher  auch  die 
fünfte  eigeuschaft  der  schlänge  bei  Hugo  von  Langenstein ,  die  s.  174  angegeben  wird, 
zu  stammen  scheint).  Die  sprichwörtlichkeit  deivartiger  stellen  erhellt  aus  Fecunda 
Eatis  I,  320,  524.  —  Auch  die  stelle  aus  der  predigt  Aelfrics  ist  schwerlich  direkt 
aus  dem  phys.  entnommen:  dieser  gegensatz  der  geselligfrohen  tauben  und  der  ein- 
samen, beschaulichen  turteltaube  wird  überaus  häufig,  zumal  zu  Lucas  11,  24,  von 
den  kirchenvätern  hervorgehoben,  vgl.  meine  nachweise  zu  Fecunda  Ratis  I,  951, 
wie  über  den  s.  IGO,  z.  7  —  9  angeführten  zug  zu  I,  230.  —  Ebenso  zweifelhaft  ist 
es  mir,  ob  die  auf  Greg.  Mor.  XX,  22,  48  zuiückgehende  Symbolik  der  rechten  und 


240  voi&T 

linken  altarsoito  (>:.  IGO  obon)  mit  der  Charadrius  -  faliol  ziiRammonhÜngt.  —  S.  1G7. 
Durch  eine  anniorkung  der  spaniselion  Übersetzung  von  Tickuors  litteraturgescliichte 
wird  der  Verfasser  auf  die  Madrider  liandsehrift  des  Libro  de  los  Enxemplos,  in  der 
stücke  vom  Antholops,  ITydrus  und  Einhorn  vorkämen,  aufmerksam  gemacht;  im 
iiachtrag  s.  300  fgg.  wird  aus  dem  in  jener  handschrift  entlialteneu  katzenbuche  „das 
bisher  noch  gar  nicht  als  solches  erkante  bruchstück  einer  sjianischon  physiologus- 
bearbeitung'^.  liesteheud  aus  Antholops,  ITydi'us  und  Yulpes  (die  einhornfabel  des 
katzenbuchs  ist  nämlich  nicht  physiologisch,  sondern  aus  dem  Barlaam  des  Joannes 
Damascemis  entnommen,  vgl.  Zs.  f.  d.  a.  XXIII,  298)  mitgeteilt.  Jeder  sachkundige 
leser  schüttelt  den  köpf,  denn  es  handelt  sich  um  nichts  weniger  als  um  etwas  neues, 
nur  um  die  spanische  Übersetzung  des  Odo  de  Ciiingtonia,  die  bereits  1865  von 
H.  Knust  in  Lemckes  Jahrbuch  für  roman.  und  engl.  litt.  VI,  1 — 42,  119  — 141 
publiciert  ist,  deren  lateinisches  original,  von  teilabdrücken  abgesehen,  18G8  von 
H.  Oesterley  bei  Lemcke  IX,  121  — 154  sowie  1884  von  Her^^eux,  Les  Fabulistes 
latins  II,  587  —  71.3  herausgegeben  ist,  dessen  quellen,  auch  den  physiologischen 
anteil,  ich  in  der  Zs.  f.  d.  a.  XXIII,  283  —  307  aufzuzeigen  versucht  habe;  vgl. 
ferner  meine  nachweise  in  den  Kl.  lat.  denkm.  s.  36  —  51,  Zs.  f.  d.  a.  XXII,  387  fg., 
Oesterley  bei  I^emcke  XII,  129  —  154  und  Gesta  Rom.  s.  239  und  252,  Hervieux  I, 
644  —  689.  "Wenn  man  verwundert  nach  dem  gründe  fragt,  wie  es  kam,  dass  ein 
in  den  jüngst  vei'flossenen  Jahrzehnten  so  vielfach  behandelter  thiersymboliker  dem 
Verfasser  unbekant  bleiben  konte,  so  ist  die  antwoii:  alles  was  nicht  ausdrücklich 
die  finna  . Physiologiis "  trägt,  lässt  er  bei  seite;  dass  der  physiologus  nur  ein  glied 
in  der  ausgedehnten  reihe  der  mittelalterlichen  tierdichtungen  ist  und  dass  eine 
geschichte  dieses  gliedes  nur  in  dem  masse  gelingen  kann,  als  man  die  übrigen 
glieder  keut  und  vergleichend  im  äuge  behält,  das  hat  er  sich,  wie  wir  unten  noch 
deutlicher  sehen  werden,  nicht  genügend  klar  gemacht.  —  S.  174.  Des  igels  bosheit  ist 
nicht  sowol  aus  dem  physiologus,  als  vielmehr  aus  der  sprichwörtlicli  gewordenen  (vgl. 
zu  Fee.  Ratisl.  1502  und  Gloss.  Jun.  400)  stelle  Gregors  Mor.  XXXIII,  29  zu  erklären. 

Zu  n,  3,  der  Symbolik  des  physiologus  in  der  christlichen  kunst,  wird  jeder 
leser  sich  leicht  ergänzungen  machen  können,  z.  b  A.  de  Rochambeau.  Prieurc  de 
Courtoze  et  ses  peintures  murales  du  XU''  siccle,  Paris  1874,  Hammann,  Bi'iques 
Suisses  ornees  de  bas-reliefs  du  XIIP  siecle,  Genf  1869,  Aus'm  AVeei-th,  Kunst- 
denkmäler des  christlichen  mittolalters  aus  den  Rheinlanden,  meine  nachweise  zu 
Ecbasis  s.  57  nro  4.  Die  dürftigkeit  seiner  mitteilungen  in  diesem  abschnitt  entschul- 
digt der  Verfasser  s.  YI  damit,  dass  kunstgeschichtc  nicht  seine  sache  sei.  Das  sieht 
man  allerdings,  iind  niemand  wird  von  ihm  eine  geschichte  der  tierbildnerei  im  mit- 
telalter  verlangen.  AVas  man  aber  von  ihm  verlangen  muss,  ist  die  fordorung,  dass, 
wenn  er  einmal  eine  geschichte  des  physiologus  schreiben  will,  sich  ebenso  wie  er 
in  theologischen  fragen  die  überaus  wertvollen  informationen  des  herrn  professor  Frie- 
drich eingeholt  hat,  sich  auch  auf  dem  archäologischen  gebiete  einen  sachkundigen 
ratgeber  sacht  und  nach  dessen  Weisungen  die  kunstgeschichtliche  litteratur  für  sei- 
nen besonderen  zweck  gründlich  ausbeutet.  In  dem  augenblick  wo  wir  uns  eine  wis- 
senschaftliche aufgäbe  wählen,  sind  wir  frei;  haben  wir  sie  aber  gewählt,  so  sind 
wir  ihr  sklave  geworden. 

So  ■siel  zu  den  kapitclu,  die  das  buch  enthält.  Aber  wir  vermissen  doch  auch 
andererseits  manches  kapitel.  So  z.  b.  eine  klarlegung  der  wege,  auf  denen  die  tier- 
geschichtlichen züge  des  physiologus  aus  den  engeren  kreisen  der  geistlichen  und 
gelehrten   in   die  weiteren   schichten   der  gebildeten  und  in   das  volk  überhaupt  ein- 


ÜBER   LAUCHERT,    PHYSIOLOGUS  241 

gednmgen  sind.  Hier  war  auf  si^iolleuto  und  dichter,  steinmotzo  und  liolzschnitzer, 
auf  die  predigt  und  nann'utlicli  auf  den  schuluiiteiTicht  hinzuweisen.  Specht,  geschichte 
des  unterrichtswesens  in  Deutschland  s.  148  fg.,  sezt  auseinander,  dass  in  der  geo- 
metrie  -  Station  des  (piadriviums  vorzugsweise  geographie  vorgetragen  sei,  und  manche 
anzeiclieu  wiesen  darauf  liin,  dass  sich  damit  ein  naturgeschichtlicher  uuteiTiclit  auf 
gmnd  von  Isidor,  Ilraban  und  dem  physiologus  verbunden  habe.  Man  darf  hinzu- 
fügen, dass  zumal  seit  der  abfassung  von  ThcoVtalds  physiologus  und  je  melir  dieses 
büchlein  sich  verbreitete,  der  physiologische  Unterricht  in  die  trivialstufc  hinal)stieg 
und  dass  man  dasselbe  schon  in  den  untersten  klassen  neben  Cato,  Aviaji  u.  a.  um 
so  lieber  las,  als  man  daran  bequem  die  einführung  in  die  motiik  anschliesseu 
kontc.  Sowol  Eberhard  von  Bethunc  (Laborintus  HI,  87  fg.)  wie  Hugo  von  Trimberg 
(Registrum  088,  74G  —  749)  bezeugen  den  physiologus  als  Schulbuch,  und  lezterer 
nent  ausdrücklich  Theobalds  dichtung  unter  jenen  elementarbüchern ,  qui  in  studio 
currunt  piterorutu  (690);  in  dem  Wossobrunncr  katalog  vom  jähre  1227  (Sorap.  II, 
258)  wird  der  physiologus  unter  den  lihrl  scolasticl  aufgeführt,  und  in  dem  von  abt 
Frowin  (1131  —  78)  abgefassten  Verzeichnis  der  Engelberger  büchersamlung  ersclieint 
als  selbständige  grujjpe  eine  mit  dem  pliysiologus  beginnende  schriftenreilie  (Liher 
de  natura  hcstiarum  —  Auianus  (bis)  —  Auianus  nouus  —  Fahulc  jmetarum  — 
Nouus  Cato  —  Expositio  fahularuni  —  Cato),  die,  wie  E.G.Vogel  (Serap.  X,  121) 
richtig  mutmasst,  eine  besondere,  von  den  übrigen  handschriften  des  stiftes  abge- 
zweigte Schulbibliothek  bildeten.  Wer  überhaupt  einige  bekantschaft  mit  den  hand- 
schriftenkatalogen  besizt,  der  weiss,  wie  ungemein  oft  sich  miscellanoenbände  finden, 
in  denen  Cato,  Theodul  und  der  physiologus  vereinigt  sind,  dermassen,  dass  man, 
wenn  das  Verzeichnis  der  einzelnen  schiiften  des  sammelbandes  mit  Cato  begint,  mit 
einiger  Sicherheit  annehmen  darf,  nun  werde  auch  der  physiologus  folgen.  Diese 
pädagogische  seite  des  physiologus  verdiente  es  wol  in  einem  besonderen  abschnitte 
beleuchtet  zu  werden. 

Ebenso  muste  auch  die  einwirkung  des  physiologus  auf  die  fabelbücher  des 
mittelalters,  namentlich  auf  die  Phaedrus-Romulusfamilie,  zu  der  auch  Johannes  de 
Schepeya  gehört,  sow'ie  auf  Cyrillus  von  riuidone  und  ganz  besonders  auf  die  sich 
um  Reinhart  und  Isengrim  gruppierenden  tierschwänke  dargetan  werden,  die  der  vei-- 
fasser  s.  201,  205  mit  einer  gelegentliehen  notiz  abfertigt.  Denn  gerade  hier  zeigt 
sich  die  schöpferische  Verwertung  der  vom  physiologus  empfangenen  anregungen 
durch  die  mittelalterliche  poesie.  "Wie  merkwüi'dige  fortbildungen  der  physiologus - 
geschichten  bietet  Cyrillus!  Wie  meisterhaft  gestaltet  Nivard  von  Gent  das  motiv 
vom  Scheintod  des  fuchses  in  seinem  ersten  schwanke!  Wie  deutlich  spiegelt  die 
Ecbasis  in  ihrer  darstellung  von  igel  und  fulica  und  vollends  von  parder  (panther) 
und  einhorn  den  einfluss  des  physiologus  auf  die  fabulatiou  des  frülien  mittelalters 
wider!  Aber  freilich,  von  allen  diesen  dichtungen  hat  der  Verfasser  keine  kentnis, 
trotzdem  er  (s.  VI)  germanist  ist  und  trotzdem  gerade  die  germanistische  litteratur 
der  lezten  Jahrzehnte  aus  diesem  kreise  so  manche  publikatiou,  so  manche  Unter- 
suchung zu  tage  gefördert  hat,  aus  der  er  sowol  übcrliaupt  wie  für  diesen  beson- 
deren zweck  etwas  hätte  lernen  können.  Wenn  die  fortgesezte  bildung  neuer  special- 
fächer  dem  Verfasser  einer  geschichte  des  physiologus  das  recht  gibt,  die  ganze 
fabel-  und  tierschwank  - bewegung  der  lezten  zwanzig  jähre  zu  ignorieren,  dann  frei- 
lich hört  aller  Zusammenhang  der  Wissenschaft  auf. 

Wir  brechen   hier   unsere  besprechung  des  buches  ab  und  verzichten  auf  eine 
nachprüfung  der  textbeilageu.     In  summa:  Wir  wollen  genügsamen  seelen  den  genuss 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.       BD.  XXII.  16 


242  KINZEL 

des  Werkes  uieht  verkümmern.  Es  reicht  im  algemeinen  zur  Orientierung  für  den 
■\veitei"en  kreis  der  litteraturfreunde  hin,  denn  es  gil)t  noch  gar  viele,  die  vom  phy- 
siologus  kaum  mehr  als  eine  leere  gedächtnisnotiz  im  köpfe  hahen;  für  diese  ist  das 
werk  vnlstiindig  ausreichend,  und  wir  wären  die  lezten,  die  darüber  murren  würden, 
wenn  durch  dasselbe  ein  wichtiges  glied  des  mittelalterlichen  geisteslebens  algemeiner 
bekant  und  gewürdigt  würde.  In  diesem  sinne  wünschen  wir  ihm  alles  glück.  Aber 
neben  dieser  ausseugemeinde  gibt  es  noch  eine  kleine,  anspruchsvollere  innengemeinde, 
und  in  deren  geiste  glauben  wir  das  urteil  fällen  zu  müssen:  das  buch  hat  einige 
interessante  und  lehrreiche  kapitel;  im  algemeinen  indessen  fehlt  es  dem  Verfasser 
zu  einer  befriedigenden  lüsung  seiner  aufgalie  an  dem  ernste  eindringender  forschung 
wie  an  umfassender  gelehrsamkeit.  Eine  wirkliche  geschichte  ilcs  physiologus  soll 
noch  geschrieben  werden. 

Die  ausstattung  ist  gut;  druekfchler  begegnen  nur  ganz  vereinzelt:  lies  s.  25, 
z.  27  rhetorisch,  s.  83,  z.  28  inarinus;  die  citate  hätten  sich  durch  kursivdruck  vom 
texte  abheben  sollen. 

BERLIN.    DEN"    10.    ]SIAKZ    18S9.  ERNST    VOIGT. 


König  Tirol,  W'iusbeke  und  AVinsbekin  herausgegeben  von  Albert  Leitz- 
maiin.  [A.  u.  d.  t.  Altd.  textbibliothek  horausg.  von  H.  Paul  nr.  9.]  Halle, 
Xiemever  1888.     60  s.     8.     0,80  m. 

Der  hauptwert  des  büchleins  besteht  in  der  neuen  textrevision  des  Winsbeken 
und  der  "NVinsbekin.  welchen  gediehteu  Leitzmann  eingehende  Untersuchungen  in 
Paul -Braune  Beitr.  13,  248  —  277  gewidmet  hat.  Er  gibt  doii  zuerst  eine  collation 
und  untei-suehung  der  Kolmarer  handschrift  (k),  welche  Haupt  nicht  benuzt  hat, 
behandelt  die  frage  nach  dem  dichter,  dem  Verhältnis  der  handschriftcn,  über  das 
sich  Haupt  nur  ganz  kurz  ausgesprochen  hatte,  der  echtheit  der  Strophen  in  beiden 
gedichten  und  endlich  die  beziehung  zum  AVigalois,  welche  er  in  abrede  stelt.  Die 
resultate  sind  in  der  einleitung  zur  ausgäbe  mitgeteilt.  Das  verfahren,  welches  der 
Verfasser  hier  wie  doit  in  der  äusseren  einrichtung  eingeschlagen,  können  wir  nicht 
billigen.  Der  text  erscheint  ohne  kritische  anmerkungen;  es  mag  das  in  der  einrich- 
tung der  samlung  liegen,  ist  aber  immer  aufs  neue  zu  bedauern.  Denn  das  Varian- 
ten-Verzeichnis in  der  einleitung  s.  13  — 16  bietet  dafür  keinen  ersatz.  Ich  wüste  es 
nicht  anders  zu  benutzen,  als  dass  ich  es  mir  in  den  text  übertrüge,  halte  aber 
schon  seine  anläge  für  falsch.  Ebenso  nämlich  Avie  Leitzmann  in  seiner  abhaudlung 
die  Varianten  der  Kolmarer  handschrift  zu  Haupts  texte  gab,  statt  zui-  handschrift  J 
HBerliner  Nibelungenhandschiift,  gedruckt  in  v.  d.  Hagens  Germania.  Abdruck  von 
Leitzmann  als  genau  befunden),  so  teilte  er  auch  in  der  einleitung  die  ab  weichungen 
von  Haupts  texte  mit  und  Haupts  lesarten  hinter  dem  gleichheitszeichen.  Er  belehii 
uns  nicht  einmal  über  die  Zuverlässigkeit  dieser  lesarien  oder  darüber,  ob  Haupts 
angaben  ausreichend  sind,  kuiz  er  fördert  uns  nach  dieser  richtung  in  keiner  weise. 
Wii-  müssen  fortan  Haupts  ausgäbe  neben  seiner  benutzen  und  uns  die  Varianten  der 
handschrift  k  bei  Haupt  eintragen.  Wem  ist  damit  gedient?  Gelehrten  und  studie- 
renden wenig,  bleiben  die  „weiteren  kreise'^,  denen  nach  dem  vorwort  der  verfas.ser 
„durch  diese  neuausgabe  eins  der  vorzüglicheren  gedichte  des  mittelalters  zugängHch 
zu  machen'^  hoft. 


ÜBER    TIROL    UND    WINSBEKE    ED.    LEITZMAXN  243 

Die  resultate  der  eiiileitung  sind  kurz  folgende.  AVubrond  Haupt  B  (Weiu- 
gartner  liederhandsclirit't)  zu  gründe  legti',  weil  die  andern  ^iin  ganzen  die  Über- 
lieferung, der  jene  folgt,  wilkürlicli  verändern  (Haupt  s.  VII),  gründet  Leitzmanu 
seinen  text  auf  .1 ,  wcleho  liandsclirift  mit  B  und  C  (Pariser  hs.)  derselben  älteren 
grupiK'  angebörtMid  den  verliältnisniässig  reinsten  und  besten  text  bietet.  Die  stro]iben- 
zäliluug  ist  glücklicher  weise  dieselbe  geblieben  wie  bei  Jlaupt,  da  er  hierbei  echtheit 
und  unechtheit  der  Strophen  nicht  berücksichtigt.  Im  AVinsU.'ken  werden  drei  Ver- 
fasser angenommen:  str.  1  —  öü  (wie  Haupt),  57  —  04,  05  —  80.  Der  erste  teil  wird 
dem  ritter  von  AVinsbaeh  zugeschrieben,  der  urkundliche  uachweis  seines  geschlechts 
um  einige  angaben  vermehrt,  dagegen  der  von  Haupt  vermutete  Hermannus  de  Wiu- 
desbach  (cauonieus  und  später  archidiaconus  1228  — 1203)  als  Verfasser  abgewiesen. 
Die  gründe  hierfür  sind  zwar  bestechend,  aber  doch  nicht  zureichend.  Denn  für  dio 
„gewöhnliche  datierung  des  gedichts,  nach  der  es,  gewiss  mit  recht,  ungefähr  in  die 
erste  hälfte  des  zweiten  decenuiums  des  13.  Jahrhunderts  gesczt  wird",  biüngt  der 
Verfasser  nichts  bei. 

Noch  unangenehmer  macht  sich  das  verfahren  Leitzmanns  in  der  auf  wünsch 
Pauls  dem  büchlein  beigefügten  ausgäbe  der  didaktischen  teile  des  König  Tirol  fülil- 
bar.  Er  gibt  an ,  dass  er  bei  herstellung  des  textes  aus  der  einzigen  (Pariser  heder-) 
haudschrift  möglichst  konservativ  verfahren  sei  und  es  vorgezogen  habe,  an  manchen 
stellen  kleinere  austösse  stehen  zu  lassen  statt  wenig  plausible  konjekturen  aufzuneh- 
men. "Wenn  er  doch  diese  stellen  wenigstens  bezeichnet  oder  die  lesarten  in  der 
einleitung  volständig  gegeben  hätte!  Aber  es  ist  kein  grundsatz  zu  erkennen,  nach 
welchem  er  verfahren.  Wir  sind  der  ansieht,  dass  in  einem  so  kleinen  werke,  das 
man  auf  vier  blätter  drucken  kann,  entweder  alle  oder  keine  Varianten  zu  geben 
sind.  Und  wozu  das  gedieht  in  hochdeutsche  formen  umschreiben,  wenn  die  mittel- 
deutsche herkunft  durch  die  Überlieferung  genügend  bezeugt  istV  Sieht  denn  cni- 
phacht  :  hackt  etwa  besser  aus  als  enpfecht  :  Hecht?  Ich  meine,  darüber  solten  wir 
doch  nachgrade  hinaus  sein.  Also  einige  beispiele  für  die  Unsicherheit  des  Verfah- 
rens: alse  tvirdecUcJie  für  als  wirdeklick  5,  6  ist  verzeichnet;  houhet  für  hmiht  5,  7, 
leien  für  leigen  0,  4  fehlt.  Ebenso  fehlt  ün  Verzeichnis  u.  a.  13,  4  rojmsch  ro(jt. 
13,  5  swas.  13,  6  die.  13,  7  dis.  13,  3  ist  das  in  der  haudschrift  fehlende  alhie 
nicht  als  solches  bezeichnet,  usw.  usw.  Kurz,  wer  wissen  will,  wie  das  gedieht 
überliefert  ist,  der  muss  doch  wider  Müllenhoffs  sprachproben  aufschlagen.  Warum 
steht  denn  im  text  20,  2  xicü  und  sibenxie  sprach  die  uerlt  hat,  in  der  haud- 
schrift diu;  35,  3  die  hahent  sich  (jegcn  dir  gestcrld  für  gen;  30,  0  oh  duz  niht 
underrihtcst  für  dus? 

Über  die  strophe  verweist  uns  der  Verfasser  alzu  kurz  auf  Scherer  D.  stud. 
I,  00  anm.,  wo  niclit  viel  besondres  zu  holen  ist.  Ist  wirklich  die  waise  in  dem 
rätselgedicht  einige  male  weililich,  wälirend  die  meisten  stum[if  ausgehen,  auch  die 
waise  5,  0,  wo  Leitzmanu  uirdccliche  für  das  handschriftlicJie  wirdeclich  und  20,  0 
wo  er  herre  für  her  schrieb?  Von  24  Strophen  haben  20  männliche  waise,  jede  mit 
4  hebungen,  bleiben  nur 

1,  0  dar^  man  si  in  den  landen 
18  von  sicerten  über  die  schilte 
21  daxs  ungelouhen  drahten 
24  mit  kröne  gein  in  neiget. 

Im  lehrgedicht  ist  die  sache  ganz  anders.  Auch  alle  übrigen  verse  haben 
stumpfen  reim,    und  doch  hat  der  Verfasser  in  str.  18,  5.  7  suungen  :  drungen  für 

16* 


244  SUCHIKR 

Jdungen  :  sinon/cu   der  liandsclinft   in   den  reim   gosezt.     Über  all   diese   fragen   ist 
kein  woii  verloren.     Sie  sind  dem  leser  zu  beantworten  überlassen. 
Zum  König  Tirol  bemerken  wir  ausserdem  noch  folgendes: 

29,  6  fehlt  xe.  furnieren  dar.  ist  rittetUch: 

so  hcprt  xuo  xe  st  rite  dringen. 

ich  vei-stehe:  waffenübung  ist  einem  ritter  nötig,  aber  er  muss  sie  auch  im  ernstfall 
bewähren. 

36,  7  lies:  da\  dich  beider  schade  gexeme,  für:  da\  sich  beider  schade  ge- 
\eme.  Leitzmann  fügt  nach  sieh  ein  ir.  Der  sinn  ist:  tragen  deine  leute  einander 
hass  und  sind  sie  nicht  zu  versöhnen,  so  stelle  dem  bei,  der  im  recht  ist,  sonst, 
wenn  du  die  sache  nicht  einrichtest,  wider  in  Ordnung  bringst,  glauben  sie,  dass  dir 
l>eider  schade  recht  sei. 

38,  5  hat  die  handschrift: 

sicanne  dir  der  gernde  hinüber  klaget, 
icirt  im  diu  helfe  danne  versaget, 
5  ein  trahtii  von  sinem  herxen  gdf, 
du  klebt  an  der  stirne  din, 
suenne  got  an  sime  gerillte  stdt. 

Leitzmann  liest  trahen  und  stelt  ohne  not  vers  6  um:  der  klebet  ati  diner  stirne. 
Gemeint  ist  vermutlich  ein  traht,  seufzer,  der  vom  herzen  geht;  denn  tränen  gehen 
von  den  äugen.  In  vers  6  ist  nach  diu  vermutlich  schult  ausgefallen;  vgl.  40,  6 
sin  schulde  an  difier  stirne  klebet. 

41 .  2.  3  handschiift  luge,  lies  lüge.     Leitzmann  liegen. 
9,  5  jappestift,  das  aus  43,  4  entlehnt  ist: 

diu  strafe  ist  vipernätern  gift 
2tnd  smdet  als  dax  jappestift. 

setzen  das  Mhd.  wb.  und  Lexer  als  „fussangel"  (?)  an.  Den  grund  hierfür  sehe  ich 
nicht.  Stift  heisst  dorn,  wozu  9,  5  er  tritet  in  jappestift  gut  passt.  jappe  weiss 
ich  allerdings  nicht  zu  erklären.     Steckt  ein  pflanzenname  darin? 

FEIEDENAU,    DECBR.    1888.  KARL    KINZEL. 


Gaston  Paris,  La  litterature  fran9aise  au  moyen  age.   Paris,  librairie  Hachette 
et  c-,  1888.     YIL  292  s.     kl.  8.     2,50  fr. 

Von  allen,  die  sich  mit  dem  mittelalter  beschäftigen,  ist  das  fehlen  einer  über- 
sichtlichen darstelluDg  der  altfranzösischen  litteratur  seit  lauge  schmerzlich  empfun- 
den worden,  und  so  wird  das  vorliegende  werk  alseitig  mit  freuden  begrüsst  werden, 
des.sen  Verfasser  durch  abhandlungen  von  tief  einschneidender  bedeutung  seine  com- 
petenz  auf  diesem  gebiete  widerholt  dargelegt  hat  und  mit  recht  für  einen  der  ersten 
kenncr  desselben  gilt. 

Zwar  ist  dieses  werk  nicht  eigentlich  eine  litteraturgeschichte,  die  auf  chrono- 
logischer gruridlage  das  almähliche  heranwachsen  und  grosswerden  der  litteratur  in 
den  vei*schiedenen  landschaften  zeigt.  Eine  solche  wii'd  erst  möglich  sein,  wenn 
die  wichtigsten  texte  in  kiitischen  ausgaben  vorliegen,  wovon  wir  zur  zeit  noch  weit 
entfernt  sind,  und  wenn  der  boden  weiterhin  durch  Spezialuntersuchungen  für  den 
weg  des  litterarhistorikers  urbai-  gemacht  worden  ist.     Einstweilen  Hess  sich  nur  eine 


tJBKR    Cr.    I'AinS,    LITT.    l'RANr.    AU    MOYKN    AGE  245 

Skizze  geben,  die  alles  wichtige  kurz  verzeichnet  und  ihm  seinen  phitz  anweist,  aber 
nur  solche  werke  eingehender  bcliandcU,  din  für  die  weitere  entwicklung  der  abend- 
ländischen littoraturcn  bcstinnnond  gewesen  sind. 

Nur  wer  die  niittclalterlic^hen  littcraturen  so  buliersclit  wie  Gaston  Paris,  war 
im  stände  auf  so  kleinem  räum  in  gedrängtester  darstellung  so  reiche  belehruug  zu 
geben.  Ist  das  buch  auch  mehr  für  das  grosse  i)ublikum  der  lernenden  als  für  den 
kleinen  kreis  der  fachgelchrten  bestirnt,  so  werden  doch  auch  die  lezteren  au  keinem 
abschnitt  vorübergehen,  ohne  über  neue  tatsachen  aufklärung  zu  erhalten  oder  neue 
ausitlicke  zu  gewinnen,  wobei  auch  die,  welche  der  litteratur  im  engern  sinne  ferner 
stehen,  wie  der  historiker ,  der  Jurist,  der  thcologe,  nicht  leer  ausgehen.  Insbeson- 
dere wird  der  germanist,  der  so  viele  spuren  des  deutschen '  altcrtums  in  das  fran- 
zösische hinein  verfolgen  muss,  das  buch  als  ein  wichtiges  handbuch  bei  seinen  Stu- 
dien stets  gegenwärtig  haben  müssen. 

Von  grossem  nutzen  sind  die  am  schluss  gegebeneu  litteraturnach weise,  die 
nach  einem  eigentümlichen  prinzipe  ausgewählt  sind.  In  der  regel  wird  nur  das  werk 
citiert,  in  welchem  über  die  betreffende  frage  zulezt  gehandelt  wurde,  und  welches 
entweder  die  einschlägige  litteratur  verzeichnet,  oder  doch  weitere  nachweise  gibt, 
welche  zur  Orientierung  ülier  diese  füliren. 

Abweichende  ansichten  über  einzelne  punkte  auseinander  zu  setzen  ist  hier 
nicht  der  ort.  Nur  eine  frage  von  algemeiner  bedeutung  möchte  ich  hier  aufwerfen, 
nicht  um  dem  Verfasser  einen  Vorwurf  zu  machen,  sondern  um  sie  für  die  zukunft 
seiner  erwägung  zu  emi)fehlen.  Die  fi'anzösischen  gelehrten  haben  sich  daran  gewöhnt 
das  provenzalische  als  ein  von  dem  französischen  ganz  unabhängiges,  selbständiges 
gebiet  zu  betrachten.  Gehört  nicht  das  provenzalische  ebenso  zu  dem  nordfranzö- 
sischen wie  das  niederdeutsche  zum  hochdeutschen,  wie  das  galloitalische  zum  ita- 
liänischeuV  AVir  alle  wissen  Gaspary  dafür  dank,  dass  er  in  seinem  klassischen 
werke  die  galloitalische  litteratur  des  13.  Jahrhunderts  mitbeiiandelt  hat,  und  so  solte 
auch  die  provenzalische  litteratur  nur  als  ein  dialektisch  abweichender  zweig  der  alt- 
französischen aufgefasst  w^erden. 

Doch  es  wäre  undankbar,  von  dem  Verfasser  etwas  anderes  zu  verlangen  als 
er  hat  geben  wollen,  und  so  sei  das  schöne  werk,  dessen  reicher  gehalt  zu  dem 
geringen  mnfang  in  keinem  Verhältnis  steht,  allen  forschern  auf  dem  gebiete  des 
mittelalters  aufs  wärmste  empfohlen. 

HALLE.  HERMANN    SUCHIEK. 


AVolftraiig'  Ooltlier,  Die  sage  von  Tristan  und  Isolde.  Studie  über  ihre 
entstehung  und  entwicklung  im  mittelalter.  München;  Kaiser.  1887. 
YIII,  124  s.    8.     3,20  m. 

Man  unterscheidet  seit  langem  zwei  hauptversionen  der  Tristansage,  die  des 
Berol  und  die  des  Thomas.  Die  frage  nach  der  Thomasversion  ist  durch,  die  arbei- 
ten Kölbings,  A'etters  imd  Röttigers  in  allen  hauptpunkten  als  erledigt  zu  betrachten. 
Die  Berolversion  bat  der  Verfasser  in  diesem  büchlein  einer  eingehenden  Würdigung 
unterzogen  und  zu  diesem  behufe  das  bisher  ungeordnet  daliegende  material  zu  sich- 
ten unternommen.  Daliei  muste  natürlich  die  frage  nach  der  entstehung  der  sage 
erörterung  finden.  Verfasser  handelt  in  drei  abschnitten  über  den  stoff  und  den 
inhalt  der  Tristansage,    über  die   spielmannsversion    und   über   die  höfische  version, 


246  KEKCKIIOFF,    ÜBER    GOLTIIEK,    TRISTAN    U.    ISOLDE 

das  ThomnsgodicLt.  An  vcrscbicdcuen  orten  waren  scliou  über  den  stoff  der  sage 
viele  treffende  bemerkungen  gemacht  und  viele  ci)isoden  als  dem  mittelalterlichen 
novellen-  und  märeheusehatz  entnommen  nachgewiesen  worden.  All  das  stelt  nun 
der  Verfasser  im  ersten  teil  geordnet  zusammen.  Aus  sciueu  ausfühiHingen  ergilit 
sirh,  dass  sich  weder  aus  den  keltischen  uamcn  der  sage,  noch  aus  den  wenigen 
halbgeschichtlichen  angaben,  noch  aus  der  kj-mrischeu  oder  brctonischen  sagenübcr- 
lieferung  eine  keltische  Tristansage  als  urform  crschliesscu  lässt.  Vielmehr  lassen 
sich  fast  alle  episoden  —  und  die  Tristansago  sezt  sich  aus  lauter  lose  verbundenen 
cpisoden  zusammen  —  als  solche  nachweisen,  die  dem  mittelalterlichen,  seinem 
ui"S|)niDge  nach  in  den  Orient  zurückreichenden  novellen-  und  märclicnschatz  ent- 
nommen sind. 

Der  zweite  teil  der  arbeit,  der  kern  derselben,  beschäftigt  sich  mit  der  Berol- 
vei^sion.  Verfasser  weist  nach,  dass  die  sogenanten  Berolfragmente  Überreste  von 
Spielmannsdichtungen,  nicht  aber  teile  eines  grösseren  gedichtcs  seien,  dass  man  also 
nicht  von  einer  vemon  des  dichters  Bcrol,  sondern  nur  von  einer  spielmannsversiou 
i"edeu  dürfe. 

Der  lezte  abschnitt  führt  im  anschluss  au  Kölbing  aus,  dass  in  den  franzö- 
sischen fragmenten  des  Thomasgedichtes,  in  der  englischen  und  nordischen  fassuug 
und  l:>ei  Gottfried  von  Strassbiu'g  verschiedene  redaktionen  einer  und  derselben  höfi- 
schen Version  vorliegen.  Anhangsweise  folgt  noch  ein  überblick  über  die  nordischeu 
bearbeituugen  der  Tristausage  in  Norwegen,  Island,  Dänemark  und  auf  den  Facröern. 

Man  wird  dem  Verfasser  für  seine  interessanten  Zusammenstellungen  nui'  dank- 
bar sein  können.  Störend  wirkt  in  dem  vortrage  die  vielfache  widerholung  desselben 
gedankens,  eine  gewisse  breite  des  ausdrucks  (Ursprung  und  entsteh uug  der  sage 
s.  IV.  älteste  urform  s.  12),  die  häufige  anwenduug  völlig  entbehrlicher  frejndwörter 
(wie  taugieren,  transferieren),  die  ungleichmässige  handhabung  der  Orthographie  (cym- 
risch  s.  7,  kymrisch  s.  VI;  cyclen  s.  33,  cyklisch  s.  36  u.  a.)  und  endlich  die  sitte, 
genaue  büchercitate  in  den  Zusammenhang  einzufügen,  statt  sie  in  die  anmerkung  zu 
vei'A^eisen. 

BERLIN.    OKTOBER    1888.  P.    KERCKIIOFF. 


Otto  Liiiiiu;?,  Die  natur,  ihre  auffassung  und  poetische  Verwendung  in 
der  altgermanischen  und  mittelhochdeutschen  epik  l)is  zum  ab- 
schluss  der  blütezeit.  Zürich,  Friedrich  Schulthess.  1889.  III  u.  313  s.  8. 
4  m. 

AVer  die  reste  der  altgermanischeu  poesie  aufmerksam  lie^t,  mit  sinn  für  das 
leben  und  mit  gefühl  für  die  Schönheit,  wird  sich  durch  den  frischen  hauch  ange- 
mutet fühlen,  der  gleich  dem  geruch  neu  gebrochenen  bodens  aus  den  werten  und 
versen  zuströmt.  Ganz  besonders  zeichnen  sich  die  angelsächsischen  dichtungen 
dadurch  aus.  Dankbar  gedenke  ich  noch  immer  des  ersten  lesens  von  J.  Grimms 
einleitung  zu  Andreas  und  Elene,  und  der  freude,  die  ich  an  den  dichtungen  des 
Exeterbuches  hatte,  als  ich  sie  zuerst  studierte.  Spricht  sich  auch  daiin  eine  reiche 
begabung  der  einzelnen  dichter  aus,  so  zeigt  doch  schon  die  formelhaftigkeit  der 
büder  und  wendimgen,  und  der  schmückenden  beiwörter,  dieser  niederschlage  poeti- 
schen Schaffens,  dass  eine  poetische  reiche  ausstattung  des  ganzen  volkes  dadurch 
bezeugt  wird.  Die  beschäftigung  mit  der  poetischen  spräche  unsers  altertums,  die 
ja,  wie  die  heldensage,  in  den  epischen  dichtungen  des  dreizehnten  Jahrhunderts  nach- 


K.    WEINIIOLD,    ÜBKR    LÜNING ,    DIE    NATUR    USW.  247 

l<lingt,  gewährt  den  grüstou  loliii  sclioii  tladuicli,  dass  man  die  einsieht  in  die  weise 
gewint,  wie  die  walirnehinungi'n  und  eifaiirungcn  diireh  die  reihen  der  jahihundcrte 
von  der  germanischen  Volksseele  verarbeitet  worden  sind. 

Im  vorliegenden  hueho  hat  sich  herr  0.  Lüning  die  aulgahe  gestelt,  auf  diMn 
angedeuteten  woge  „die  auffassuug  und  Verwendung'^  der  natur  in  der  epik  bis  12'MJ 
etwa  darzulegen.  Der  „index''  (!)  zerlegt  den  stofT  in  drei  sehr  ungleiche  teile: 
I.  Übersichtsbild  der  gesamten  natur  in  germanischer  poesie.  A.  Die  unorganische 
natur:  1.  liclit.  U.  die  demente.  D.  Die  organische  natur:  1.  itlhmzenreich.  13.  tier- 
reich.  C.  Verbindung  der  organischen  und  unorganischen  natur:  die;  landschalt,  das 
lokal  (!).  —  11.  Ästhetische  betrachtung.  A.  Das  verhalten  des  menschen  zur  natur, 
ihre  einwirkung  auf  sein  gemüt.  B.  Die  einwirkung  des  mens(.-hen  auf  die;  natur.  — 
ni.  Besondere  eigenschaften  der  germanischen  naturanschauung. 

Diese  einteilung  ist  gemacht,  nachdem  das  buch  fertig  war.  Sie  ist  sc-Jiweifiil- 
lig  gleich  dem  ganzen  titel  des  buchcs  und  in  manchen  [tunkten  unverständlich  (so 
bei  11.  B.  und  bei  111.  im  ganzen).  Aber  juaii  muss  niciit  nach  ihr  das  buch  selbst 
beui'teileu.  Abgesehen  von  den  erforderlichen  sprachkentnissen  hat  der  Verfasser 
poetischen  sinn  und  gefüge  empfindbarkeit  genug,  um  den  alten  diehtungen  nachzu- 
fühlen und  sicli  in  iliren  lebenskreis  zu  versetzen.  Er  versteht  die  Stimmungen,  er 
begreift  die  daraus  entspi'iugeuden  gedanken,  und  legt  an  der  grossen  samlung  dich- 
terischer stellen  der  Skandiiuivier,  Angelsachsen,  Nieder-  und  Hochdeutschen  dar, 
was  die  Germanen  in  der  natur  salien  und  was  aus  der  natur  in  sie  hineinwirkte. 
Bei  manchen  A^erschiedenheiten  im  einzelnen  erhelt  doch  der  einheitliche  grundzug 
der  germanischeu  völker  auch  in  dieser  hinsieht.  Sie  schauten  aus  dem  innein  her- 
aus auf  das  äussere  und  beseelten  sell>st  das  unljelebte  ding,  so  wie  die  natur  im 
grossen,  nach  dem  bilde  und  wesen  des  einzelnen  menschen. 

Indem  der  herr  Verfasser  den  angelsächsischen  und  nordischen  stellen  üJ)er- 
setzuugcn  beigegeben  hat,  wird  auch  ein  weiterer  leserkreis  aus  dem  buche  genuss 
und  belehruug  schöpfen  können. 

BRESLAU.  K.    WEIKHOLD. 


Keiiiliold  Becker,    T\''ahrheit   und    dichtung   in   Ulrich    von  Lichtensteins 
Frauendienst.     Halle,  Max  Niemeyer.  1888.     116  s.     8.     2  m. 

Herr  R.  Becker,  der  Verfasser  des  buches  „Der  altheimische  minnesang", 
legt  unter  obigem  titel  eine  arbeit  über  Ulrichs  von  Lichtenstein  frauendienst  vor. 
Er  geht  von  dem  satze  aus,  die  kultur  unsers  mittelalters  sei  keine  internationale 
oder  genauer  keine  romanisierende  gewesen.  Man  könne  wol  von  einer  romanisieren- 
den  übermalung  des  ritterliehen  lebens  durch  die  dichter  sprechen,  in  Wahrheit  aber 
sei  es  eigentümlich  deutsch  gewesen.  Die  turniere  waren  durchaus  nicht  nachbildun- 
gen  der  französischen.  Das  minuelied  war  kein  absenker  des  provenzalischen.  Der 
frauendienst  sei  durchaus  nicht  nach  den  höfischen  epen  und  den  lebensbeschreibun- 
gen  der  troubadours  zu  denken,  sondern  war  eine  mit  sinlichkeit  gepaarte  tiefgefühlte 
bewunderung  des  geistigen  adels  der  gebildeten  frau  (s.  7  zu  lesen).  Auf  verheiratete 
frauen,  wie  behauptet  werde,  sei  der  dienst  dia'chaus  nicht  beschriinkt  gewesen,  am 
wenigsten  wui'den  frauen  den  mädchen  vorgezogen.  —  Nach  dieser  einleitung  geht 
der  herr  Verfasser  an  die  prüfung  des  gedichts  Ulrichs,  weil  dasselbe  der  einzige 
authentische  bericht  vom  deutschen  minneleben  jener  zeit  ist,  und  meint  dui-ch  die 
zusaiimienhangende    kritik    desselben   jene    ansichten    stützen    zu   können.     In    sechs 


248  "^ErCHOLD,    ÜBEK    BECKER,    rLRICII   V.    LICHTEN'STEIN 

abschnitten  untersucht  lierr  Becker  nun  den  Inhalt  des  gedichts  auf  Wahrheit  und 
dichtung  und  schhesst  mit  einem  kapitel  „Rückblick  und  folgeruugen.'^  Er  nent  die 
erzählung  Ulrichs  im  grossen  und  ganzen  ein  milrchen,  „das  nur  wegen  der  ermü- 
denden breite  imd  oft  sjtürbareu  nachlässigkeit  der  darstellung "  noch  von  keinem 
vor  ihm  nachgeprüft  und  deshalb  so  lange  für  glaubwürdig  gehalten  worden  sei", 
ein  aussprach,  für  den  sich  einige  herren  bedanken  mögen.  Er  selbst  lässt  sich 
recht  breit  und  ermüdend  und  mit  wunderlichen  bemerkungen,  welche  die  von  kei- 
nem menschen  geläugnete  Verschiedenheit  der  menschen  im  mittelalter  betreffen 
(s.  104  fgg.)  dariiber  aus,  dass  herr  von  Lichten  stein ,  ein  grand  seigneur,  die  gegen- 
wart  hochgemut  geniessen  und  sich  und  andre  belustigen  und  zerstreuen  wolto ,  indem 
er  von  dem  ritterlichen  leben,  wie  er  es  kante  (also  doch  kein  märchcn?)  ein  roman- 
tisch und  humoristisch  gesteigei-tes  bild  entwarf.  Ich  kann  nicht  sagen,  dass  herr 
Becker  mich  durch  die  foiiii  seines  voi-trags  hochgemut  gostimt  und  durch  den  iuhalt 
irgend  belehrt  hätte.  Das  wahre  in  seinen  ansichten  bezweifelt  kein  verständiger 
mensch,  und  ich  fürchte,  dass  auch  seine  verheisscne  schrift  über  den  frauendicnst, 
mit  dem  er  sich  von  den  deutschen  Studien  verabschieden  will,  etwas  bringen  werde, 
das  neu  und  richtig  zugleich  sei.  Über  Ulrichs  von  lichtenstein  fraueudieust  hat 
heiT  Schöubach  längst  gesagt,  was  nach  den  hauptpunkten  sich  sagen  lässt,  und 
wol weislich  darauf  verzichtet,  in  einer  dichterischen  lebensschilderung  des  13.  Jahr- 
hunderts wahi'hcit  und  dichtung  im  emzelnen  scheiden  zu  wollen. 

BRESLAU.  K.    WEINHOLD. 


Borries,  Emil  von,    Das  erste  Stadium  des   /-unilauts   im  germanischen. 
Strassburger  dissertation.     Strassburg,  Heitz  18S7.     82  s.     8.     1,50  m. 

Nach  einer  langatmigen  einleitung  (s.  3  — 14)  über  „die  neuen  theorieen  über 
den  idg.  vocahsmus,  speziell  soweit  sie  gennaiiisches  e  betreffen",  behandelt  der  Ver- 
fasser I.  „AVeitcrentwickelung  von  germanischem  e  zu  i  nach  Leffler;  prüfung  der 
von  ihm  gewonnenen  ergebrüsse*^  (s.  15  —  72),  11.  „Erklärung  des  Vorgangs"  (s.  73  — 
77),  IJI.  „Zeitbestimmung"  (s.  78  —  81).  Der  Schwerpunkt  der  arbeit  liegt  in  dem 
ersten  abschnitt.  Es  wäie  in  der  tat  ganz  nützlich  einmal  in  zusammenfassender 
weise  den  tatbestand  darzulegen,  der  für  die  entscheidung  der  frage  in  betracht 
komt,  unter  welchen  bedingungen  im  ui'germ.  ein  e,  unter  welchen  ein  i  gesprochen 
wui'de,  und  vor  allem  wäre  es  nützlich  die  Chronologie  des  lautwandels  c  !>  i  für 
die  einzelnen  hierbei  in  frage  stehenden  punkte  zu  bestimmen.  Natürlich  müste  auch 
die  geschichte  des  idg.  i  mit  behandelt  und  eine  erklärung  des  noch  unerklärten 
wechseis  von  e  und  t,  besonders  im  ahd.,  versucht  werden.  Auch  die  bcantwortung 
der  frage,  imter  welchen  bedingungen  im  urgerm.  ein  ?«,  unter  welchen  ein  o  gespro- 
chen wurde,  wäre  bei  einer  derartigen  untersuch img  nicht  zu  umgehen.  Man  müste 
auf  zwei  vei-schiedenen  wegen  vorgehen:  einmal  wären  die  einzehien  genn.  sprachen 
auf  das  material  hin  zu  untersuchen,  welches  sie  bieten,  zum  andern  die  ältesten 
eigennamen.  Die  arbeit  von  v.  Bornes  erfült  in  keiner  weise  die  anfordorungen, 
welche  man  berechtigterweise  an  dieselbe  stellen  muss.  v.  Boriies  hat  sich  darauf 
beschränkt  zu  untersuchen,  „ob  und  wie  weit  der  vokalismus  des  althochdeutschen 
die  theorie,  die  Ix'ffler  hauptsächlich  für  das  gebiet  des  altnoidischen  erwiesen  hat,  stüzt 
oder  nicht",  und  wie  er  statt  aller  geim.  sprachen  nur  das  ahd.  heibeigezogen  hat, 
so  hat  er  statt  aller  für  den  lautwandel  e  r>  i  in  betracht  kommenden  fälle  nui'  den 
fall  untei-sucht,   dass  in  der  folgenden  sübe  ein  als  vokal  oder  als  konsonant  fungie- 


BRJ-^MER,    ÜBEU    VON    BORRIES^  /-UMLAUT  249 

rendes  i  stand.     Die   aLliaiidlung  von  v.  Borrios   ist  also   ilironi   Inhalt   nach  nur  ein 
kleiner  teil  dessen,  was  ilir  titcl  verspiiclit. 

Aber  auch  dieser  kleine  teil  ist  ungenügend.  v.  liorries  teilt  seinen  stoff 
ein  nach  solchen  fiüh'ii,  in  (Irncii  e  vor  /  oder  j  der  folgenden  silhe  zu  i  gewan- 
delt ist,  und  nach  solehen,  in  denen  c  goblielieii  ist.  Ohne  auf  einzelhciten  wei- 
ter einzugehen,  verzeichne  ich  das  ergehnis,  an  dem  wol  niemand  bis  her  gezwei- 
felt hat,  dass  *  eingetreten  ist  „vor  den  endungen  -is,  -ist  und  -i(  der  2.  3.  sg. 
präs.  ind.  ablautender  verba  1.  und  2.  klasse",  in  den  „  nominalliihlungcn  der  sub- 
stantiva  der  /-dekhnation",  in  den  iiauptwörtcrn  ^mit  den  suffixen  -ja,  -il,  -ing, 
-ida^^  in  den  eigenschaftswörtern  mit  den  suffixen  -ja,  -iy ,  -in,  -/sc,  -il,  in  den 
Zeitwörtern  auf  -Jan  und,  fügen  wir  den  von  v.  Borries  mir  als  walirscheinlich  hin- 
gestelten  fall  hinzu,  in  den  steigerungsfonnen  der  cigenschaftswörter  auf  -ir  und  -is/. 
Der  ileiss,  welcher  auf  die  ausführliche  samlung  von  beispielen  (s.  17  —  5Üj  verwant 
worden  ist,  ist  anerkennensweit.  -•  Das  i  von  ahd.  ist  und  tnit  (s.  50)  erklüit  sich 
wie  das  von  ih  und  iitih  aus  der  unbetontheit  im  satze;  das  in  betonter  silbc  laut- 
gesetzliche e  zeigt  an.  ags.  7?icc^. 

Sehr  schwach  ist  die  Untersuchung  der  fälle,  in  welchen  c  vor  l  oder  y  der 
folgenden  silbe  geblieben  sein  soll.  Es  gibt  nur  einen  derartigen  fall,  für  welclien 
urgerm.  erhaltung  des  e  trotz  eines  scheinbar  folgenden  i  zuzugeben  ist,  nämlich 
wenn  die  nächste  silbe  im  idg.  auf  wortschliessendes -e  auslautete,  liier  nehme  ich  mit 
Sievers,  Paul  u.  Braunes  Beitr.  Y,  120  fgg.  und  155  und  Ags.  gramm. -,  §  131  an,  dass 
-c  in  urgerm.  zeit  abgefallen  ist,  ohne  seinen  einfluss  auf  die  voraufgehende  silbc  zu 
äussern,  d.  h.  bevor  der  lautwandel  e  >>  i  eingetreten  war.  Beispiele:  an.  ags.  /ncc 
<;  idg.  *me-f/e,  as.  ahd.  nah  (andernfals  wäre  *nuhi  zu  erwarten)  <:  idg.  nu-qe, 
ags.  peak  (andernfals  wäre  *pich  zu  erwarten,  vgl.  ymb  <;  idg.  mbhi  {('(fj.ifi))  <;  idg. 
*tm-qe  oder  '^töic-qe,  der  vokativ  sing,  der  maskulinen  a- stamme,  die  3.  sg.  perf., 
die  2.  sing,  imperativ!  der  starken  Zeitwörter  (urgerm.  *bcr,  *fcox  usw.).  Ich  hoffe 
ü))er  dies  gesetz  an  anderer  stelle  ausfülirlicher  zu  handeln.  Diese  fälle  sind  von 
V.  Borries  nicht  in  betracht  gezogen  worden.  AVol  aber  behandelt  derselbe  einen  ähnlichen 
fall,  nämheli  die  erhaltung  des  e,  wenn  in  der  folgenden  silbe  ein  c  steht,  für  das 
erst  später  i  erscheint;  z.  b.  in  den  oblirjuen  kasus  der  schwachen  deklination  iFii 
ahd.  Man  kann  v.  Borries  von  seinem  Standpunkt  aus  keinen  Vorwurf  daraus  machen, 
wenn  er  auf  die  erklänmg  dieses  merkwürdigen  c  sich  nicht  eiidässt,  sich  vielmehr 
einfach  damit  begnügt  zu  sagen,  dieser  fall  komme  gar  nicht  in  betracht,  da  hier  kein 
altes  *  vorliege;  /,  nicht  c,  bewirke  den  germ.  /-umlaut  von  idg.  c  zu  i.  Aber 
Braime  sagt  mit  recht  in  seinen  und  Pauls  Beitr.  IV,  55Ü,  unursprünglichkeit  des 
-in  gebe  noch  keine  ausreichende  erklärung  für  den  mangel  des  umlauts.  Dazu 
komt,  dass  wir  ja  umgelautete  formen  wie  ahd.  henin  haben.  Durch  ein  Wirkung  von 
2:)ero ,  iJevKn  wird  man  das  e  von  peren,  per  in  nicht  erklären  wollen.     Es  bleibt  also 

1)  ludess  ist  es  glaulilich ,  dass  das  c  von  irerin.  *ck  dem  von  *mclc  ciiieu  urspriuij,'  verdankt, 
dass  iiigcrm.  *ck,  *  ik  nach  *inck,  *  mik  neu  trebiMet  ist.  Es  ist  dies  der  einzige  ausweg,  uui  auf  den 
ältesten  runeninscliriften  die  fonn  ck,  ik  neben  den  maskulinen  akkusativen  und  den  neutris  auf  -a  zu 
erklären.  Mit  dem  ausdruck  proklise  (Burg,  Die  älteren  nordischen  runeninschriften ,  s.  20)  ist  tatsäch- 
lich nichts  irewonncn.  Auch  wäre  nach  Jihd.  aba  u.  dyl.  westirerm.  *cka  zu  erwarten  gewesen,  mit  erhal- 
tenem a  nach  kmzer  sübe,  analog  der  behandlung  von  -i  und  -u;  denn  für  dies  wort  bestand,  von  *m€k 
<C  idg.  *  Die -(je  abgesehen  —  auslautendes  idg.  e  schwand  urgerm.  unter  allen  umständen  — ,  gewiss 
keine  Verführung  nach  anderem  vorbüdo  sein  a  aufzugeben.  [Das  postulierte  *eka  hat  noch  nach  der 
treruuuig  der  german.  sprachen  bestanden,  wie  ahd.  iMm,  nori.  jak  und  das  enklitische  'ka  der  runen- 
insclu-iften  beweisen.     S.  Norecn,  Ai-k.  f.  uonl.  fil.  I,  175  fgg.  Ked.] 


250  BREMER 

dabei:  es  lagen  im  ahd.  neben  einander  zwei  gleiehlierechtigte  endungen,  oberd.  -in 
und  fränk.  -en,  von  denen  nur  die  erstero  uinlautwirkende  kraft  hatte.  Ich  bin 
geneigt  auzuuehmen,  dass  hier  vielleicht  der  alte  idg.  acceut  noch  eine  spur  seiner 
Wirksamkeit  hinterlassen  hat,  dass  nämlicli  idg.  e  nur  in  idg.  unbetonter  silbe  zu 
germ.  /  geworden  ist,  dagegen  in  idg.  betonter  silbe  germ.  als  c  erhalten  Idieb, 
gleiehviel  ob  die  silbe  nach  germanischer  betouungsweisc  betont  oder  unbetont 
war.  Danach  würde  ein  idg.  genitiv  anf  -cnos^  einen  ahd.  gen.  auf -/yj  ergeben,  ein 
idg.  genitiv  auf  -äws  einen  ahd.  auf  -cn.  Von  diesen  l»eiden  ursprünglich  neben 
einander  liegenden  formen,  hätte  dann  je  eiue  im  (»[»erdeutsclien  und  im  fränkischen 
die  hei-schaft  erworben.  —  Ujiter  derselben  üV)ersciirift  „Das  i  der  enduug  ist  jung" 
behandelt  v.  Borries  mit  unrecht  beisi)iele  wie  nuehsil  neben  miehsal,  Icfjir  neVicu 
Ipiior.  Hier  ist  das  /  natürlich  eben  so  alt  wie  das  a,  weil  der  alte  idg.  ablaut 
-cl-ol-l-,  -cr-or-r-  vorUegt.  Die  suflixe  -il,  -ir  wirkten  an  und  für  sich  umlaut,  wie 
unser  iccdcl  <C  ahd.  uucdU  (neben  uuadal)  zeigt.  Dass  zufällig  unter  den  wenigen 
ahd.  belegen  für  altes  c  in  der  stamsilbe  sich  keiner  findet,  der  stamhaftes  i  auf- 
wiese, verschlägt  nichts;  hier  liegt  analogiebildung  nach  den  formen  auf  -al,  -ar  vor, 
also  legir  für  lautgesetzliches  "'h'nir  nach  dem  vorbild  von  lajar. 

Der  wichtigste  abschnitt  des  buches,  weil  dieser  allein  etwas  neues  bringt,  ist 
das  kapitel  über  „konsonantische  hindernisse  des  wandeis  von  e  zu  *"  (s.  66  — 12). 
Hier  sucht  v.  Bornes  nachzuweisen,  dass  bestirnte  gi-uppen  von  konsonantcn,  und 
zwar  ,r- Verbindungen'^  und  hh  —  nicht  mit  Leffler  auch  /  -\-  kons.  — ,  den  z- um- 
laut von  c  zu  /  gehindert  hätten-.  Er  operiert  widerum  ausschliesslich  mit  ahd. 
material.  Da  ich.  den  ausführungen  von  v.  Borries  nicht  beizutreten  vermag,  bin  ich. 
es  der  arbeit  schuldig,  auf  die  einzelnen  beispiele  einzugehen:  Urherzi,  uuidarperki 
und  die  meisten  beispiele  Lefflers  beweisen  nach  v.  Borries  selbst  nichts.  Skermeo 
(Gl.  I,  57,  34)  kann  neben  dem  skirmeo  der  andern  handschriften  nichts  beweisen. 
Miltherxi  und  armherxicli  haben  wie  urherxi  ihr  e  von  herxa  bekommen;  das  laut- 
gesetzliche  /  zeigt  iirliirxi.  Erdin,  untcrerdisc  können  mit  ihrem  c  gegenüber  irdin, 
irdisk  nur  durch  anlehnung  an  erda  erklärt  werden.  Ferrisk  hat  sich  an  fer  ange- 
lehnt, äuuerßg  an  äuuerf,  mittiferhjan  an  mittiferhen  mütiferhon,  blechin  an 
lieh.  Damit  sind  in  der  tat  alle  beispiele  erschöpft,  auf  welche  v.  Borries  sein  laut- 
gesetz  gründet,  dass  „die  r-  und  wahrscheinhch  die  A- Verbindungen"  den  waudel 
von  e  zu  i  im  ahd.  gehindert  hätten.  Und  dai'auf  hin  führt  v.  Borries  dies  angebliche 
lautgesetz  im  verein  mit  der  got.  brecliung  ohiio  weiteres  auf  ein  urgerm.  gesetz  von 
umlauthindemder  kraft  des  r  und  h  zurück! 

Völlig  ungenügend  ist  zum  schluss  die  Zeitbestimmung  des  lautwaudcls  e  >>  ^ 
behandelt,  v.  Bornes  kent  kein  anderes  beweismittel  als  einerseits  die  namen  Segesfes, 
Segimtmdus ,  Segimerus,  andrerseits  die  tatsache,  dass  der  lautwandel  vor  das  voka- 
lische auslautsgesetz  zu  stellen  ist;  als  terminus  ad  quem  gewint  v.  Borries  so  Sche- 
rers gotische  Periode  (150  —  450)  und  er  verlegt  den  lautwandel  e  >  im  das  2.  oder 
3,  Jahrhundert.     Wir  haben   tatsächlich  ein  grösseres  material.     Das  erste  i  in  dem 

1;  -ciujs  neben  -cnos  könte  als  spätidjj.  O  urgenn.)  angleichung  aus  uiidg.  -onos ,  -cnos  {(Jai- 
fiorog,  Tioiuh'o;,)  angesehen  werden. 

2)  Übrigens  wäre ,  die  berechtigung  des  e  zugegeben ,  es  noch  die  frage ,  ob  dieses  e  nicht  erst 
sekundär  wideruin  aus  i  entstanden  wäre.  Die  sache  läge  dann  ebenso  wie  beim  got.  ai  vor  h  und  r, 
von  welchem  man  auch  nicht  mit  v.  Borries,  s.  70  ohne  weiteres  sagen  darf,  es  sei  in  ilim  das  alte  idg.  e 
erhalten;  die  algemeine  wahrschcinliclikeit  spricht  vielmehr  dafür,  dass  ai  erst  auf  gotischem  boden  lür 
germ.  i  (<  idg.  e)  eingetreten  i<\. 


VBKR    VON    BOKRIKS,    /-UMLAUT  251 

stamme  si<jix>  beweist,  dass  c  zu  /  früher  in  imlictoiiter  silbc  gewandelt  als  iu  beton- 
ter umgelautet  worden  ist.  l)azu  stimmen  namen  wie  i<('<)iinitndi(s.  Die  ältesten  eigen- 
namen  erhellen  aber  noch  deutlicher  die  gesehiehto  des  c  >■  /:  1)  Duieh  die  bank  wird 
*  geschrieben  vor  gutturalem  nasal  (von  Caesars  Tul'uKji  ahgesehn)  Äcniinjia  Plin.IV,  9G 
LujacroHcs  oder  Intjracunca  l'lin.  IV,  l.i().  00,  Tae.  (leim. '_',  IinjuionicrKS  Tae.  Arm. 
I,  GO,  7>V//^//V/;// Tae.  Genn.  40,  J/rr/w/y«/ Tae.  CJerm.  i:},  2:«,h().i'yyoi.  Ptol.  11,  11,  11, 
2.1  b'yytu  Vtol  n,  11.  18.  10,  Alanorn-yoiVtulU,  11,  2J.  21,  Lacrhiijct;  Jiiil  Ch\k '22, 
^hcxQcyyoi  Dio  Cass.  LXXI,  12,  LXXVllJ,  27,  Hojiyyin  L)io  Cass.  LXXl,  12.  Der 
name  Tcncteri  ist  keltisch.  Die  älteste  stufe  des  lautwandels  c  >  *  ist  also  die  von 
en(j  ^  //('//.  Da/.u  stimt  der  gemeiiigerm.  übeitritt  von  Zeitwörtern  w'm  pci/trn/ ,  firri- 
han  aus  der  e-  in  die  /-reihe,  der  den  Schwund  des  )uj  vor  h  und  den  diesem  vnraus- 
gegangcneu  lautwandel  tv/y  >>  huj  zur  Voraussetzung  hat;  inj  vor  U  ist  sclion  im  1.  Jahr- 
hundert u.  Chr.  geschwunden,  wie  xictunicrus  (vgl.  ags.  Ohihcrc)  zeigt'.  —  2j  Dio 
zweite  stufe  war  der  lautwcchsel  e  >  i  in  unbetonter  silbe,  der  im  1.  jahrh.  n.  Chr.  ein- 
trat. Beispiele  für  r:  7>;7/e^cr/ sehr  oft,  Baste  niac  oii,  GuhcrniVYm.  i\\\i)ij,  Owjcrni 
Tae.  Hist.  IV,  2Ü.  Ann.  A\  IG.  18,  Ansicraria  Plin.  IV,  97,  Canncnrf alles  IMin.  IV,  101 
neiien  Caninefatcs  Voll.  Fat.  11,  105,  Canninefates  Tae.  Ann.  IV,  7."}.  XI,  18. 
Hist.  IV,  15.  IG.  10,  Gandcstrius  Tae.  Ann.  11,  88,  Segestes  Voll.  Fat.  11,  118, 
Tae.  Ann.  1,  55.  57.  50.  71,  ^.'eytanß-  Strabon  Vll,  201.  202,  Vcncdl  oder  Vcncdae 
Flin.  IV,  07,  Vencti  Tae.  Germ.  4G.  Ovtvt^iu  Ftol.  IH,  5,  10.  20.  21.  Die  beispiele 
für  i  sind  zahlreicher:  iSegin/ents  Tae.  Ann.  I,  71,  Sigiinerus  Voll.  l*at.  II,  118, 
2:tyi\injoo^'  Strabon  Vll,  202,   2:iiyi\u6i)os  Dio  Cass.  LVI,  10,  Segimuiidus  Tae.  Ann. 

I,  57,  Ztyit.iovvio;  Strabon  VII,  202;  Vandill  Plin.IV,  00,  VandUii  Tae.  Germ.  2, 
Vibilius  Tae.  Ann.  11,  G3,  Visfila  Plin.  IV,  81.  07.  100;  Manimi  Tae.  Germ.  41:5; 
Henninones  Pomp.  Mola  III,  32,  Plin.IV,  00,  Tae.  Germ.  2,  Xiu^Hvoi  Ptol.  II,  11, 
35,  Charini  Fun.  IV,  00,  Eelimum  Plin.  IV,  101,  Canninefates  Tae.  Ann.  IV,  73. 
XI,  18,    2:,\Uvoi  Strabon  VU,   200,    :^h$ivoi   Ptol.  U,   11,   14,    2iovdivoi  Ptol.  IL 

II,  25,  Varinl  Tae.  Germ.  40;  Aliso  Voll.  Fat.  II,  120,  'Eh'oooi'  Dio  Cass.  UV,  33, 
Amisis  Pomp.  Mela  III,  30,  Plin.  IV,  100,  Amisia  Tae.  Ann.  I,  GO.  G3  II,  8.  23, 
l4i.iioiog,  \ii.uG(a  Ptol.  II,  11,  5.  11.  VllI,  G,  3,  Hdisil  Tae.  Germ.  43,  Idisiaviso 
Tae.  Ann.  II,  16;  Xaristi  Tae.  Germ.  42,  Ovaoioroi  Ptol.  II,  11,  23,  NaotöTai  Dio 
Cass.  LXXl,  21,  Varistae  Jul.  Cap.  22;  Gambrivil  Tae.  Germ.  2,  rauaßn{ovi.oc 
Strabon  VII,  291.  —  3)  Erst  naehdem  e  in  unbetonter  silbe  zu  /  geworden  war, 
konte  dieses  i  ein  e  der  voraufgehenden  silbe  zu  i  umlauten.  Die  einzigen  sichern 
beispiele  für  i  sind  Hillcviones  Phu.  IV,  06  und  Sifjhnerus  Voll.  Fat.  II,  118  und 
wahrscheinlich  Zi\hi'Oi  Strabon  VII,  290";  Vibilius  Tae.  Ann.  II,  63  und  zaiyytu 
Ptol.  II,  11,  18.  10  mit  idg.  e  oder  ^?  Vgl.  auch  in  unbetonter  silbe  Canninefates, 
Vandilii,  Vibilius,  Helinium,  Amisia,  Helisii,  (Jambrivii.  Sonst  steht  immer  e 
vor  i{€)  der  folgenden  silbe:  Helinium  Plin.  IV,  101,  Helisii  Tae.  Germ.  43,  Her- 
rn inones  Pomp.  Mela  III,  32,  Plin.IV,  00,  Tae.  Germ.  2,  Segestes  Vell.  Fat.  II,  118, 
Tae.  Ann.  1,55.  57.  50.  71,  Jt6;'60T;/s^  Strabon  VII,  201.  202,  >%m^m^',•  Tae.  Ann.  I,  71, 

1)  AVäre  il;unals  noch  nasalvokal  gesprochen  worilon  ,  so  würden  die  Römer,  die  in  ihrem  me,sa 
den  nasalvokal  durch  en  widergaben ,  *Änctumcrus  geschrieben  haben. 

2)  Ich  vermute,  dass -S'//?n'ot  vmA  ^Hiroyreg.  bei  Strabon  dasselbe  volk  bezeichnen,  indem  beide 
namensformen  sich  vereinigen  unter  einem  stamabstufcndcn  gcrm.  *-S'e>«i7t-,  *  Scnm- ,  daraus  später 
*Simin-,  Sinm-  >  *Sibn-;  vgl.  DuUjubini  Tae.  Germ.  34  neben  JovXyovf.irioi  Ptol.  II,  11,  17.  2ißi- 
voL  ist  wie  Dulgiibini  eine  (germ.  oder  römische?)  kontaminationsbildung  aus  lautgesetzlichen  -min-  und 
-bn-.    Die  dritte  ablautsstufe  -an  zeigt  /;  ^ijuaia  i?.)j  Ptol.  U,  11,  7. 


252  BREMER,  ÜBER  VON  BORRIES,  Z"- TMLAUT 

—*/'''." '/(?os  Shabon  VII,  292,  Ztiynifoog  Dio  Cass.  LVI,  19,  Scg wnoirlifs  Trg. 
Anu.  I,  57,  :Lfyiuovi'Tog  Straboii  VII,  201,  ^'enfOayy.og  Strabou  VII,  292,  Vetiedi 
oder  Vcucdac  Firn AV,  07,  T'iw^/ Tac.  Germ.  40,  Orfr6'(ffa  Ptol.  III,  5,  19.  20.  21.— 
4:)  Gcgeu  ausgaug  des  1.  jahrluindcrts  n.  Chr.  ist  endlich  der  lautwocliscl  von  e  zu.  i 
vor  ;/  -j-  kons,  auziisetzeu.  Zur  zeit  der  feldzügo  des  Driisus  und  (»crnianicus  haben 
die  Körner  jedeufals  kennen  gelernt  die  nanien:  Fciuii  Tac.  Germ.  46  (bestätigt  dunli 
Jordanis  Fc/mac)^  Scninoncs  mon.  Anc.  2G,  Vell.  Pat.  II,  106,  Tac.  Germ.  39,  Ann. 
II,  45,  -iYwiwrfi- Strabon  VII.  200,  -TH/j^orcs-rtol.  II,  11,  15.  18,  Dio  Cass.  LXVI,  5. 
LXXI.  20.  M(fllorcndi(s  Tac.  Ann.  II ,  25.  Baduhc/uia  Tac.  Ann.  IV,  73  Avird  kel- 
tisch sein  (vgl.  Ardmnua ,  Xchnlc/nu'a  usw.).  Das  neue  /  finde  ich  in  drei  nameu 
späteren  Ursprungs:  Bn'ntio  Tac.  Ilist.  IV,  15,  'Jiroi't'Qyoi  Ptol.  IT.  11,  9  und  in 
«/>;'rio/  Ptol.  III,  5.  20.  I)er  Jiame  Cimbri  ist  keltisch.  —  NatürUcli  ist  der  in  frage 
stehende  lautwandel  nicht  zu  gleicher  zeit  auf  dem  ganzen  gei'in.  Sprachgebiet  durch- 
gedrungen, sondern  hat,  von  einem  punkte  ausgehend,  erst  almählich  fuss  gefasst. 
"Wir  dürfen  vermuten,  dass  dieser  ausgangspunkt  dio  deutsche  uordseeküste  gewesen 
ist,  weil  im  anglo  -  friesischen  der  lautwaudel  c  >  i  am  weitesten  gegangen  ist,  hier 
auch  vor  einfachem  nasal  erscheinend. 

Eine  physiologische  erklärung  des  Vorganges  (v.  Borries,  s.  73  —  77)  wird  man 
mit  Sicherheit  ei^st  dann  wagen  können,  wenn  man  festgestelt  hat,  ob  das  Verhältnis 
des  germ.  o  zum  u  ein  dem  von  c  zu  i  homogenes  ist  oder  nicht.  Im  bejahungs- 
falle  war  das  treibende  moment  eine  Vorwärtsbewegung  der  hinterzungc,  im  vernei- 
nuugsfiiUe  eine  Verbreiterung  derselben,  offenbar  der  indiffercnzlage  entsprechend, 
weil  auch  die  unbetonten  silben  davon  betroffen  wurden.  Da  der  zeit  nach  die  ein- 
zelnen,, zu  untei"scheidenden  stufen  nicht  weit  von  einander  liegen,  wird  man  kaum 
vei'schiedene  physiologische  triel)kräfte  annehmen  dürfen  für  den  lautwandel  in  unbe- 
tonter silbe,  vor  nasal  und  vor  i  der  folgenden  silbe. 

STRALSUND,    23.  MÄRZ    1889.  OTTO    BREMER. 


ZU  DER  FRAGE  XACH  DER  ENTSTEHÜNGSZEIT  DES 

LUTHERLIEDES. 

In  der  Zeitschiift  für  kirchliche  Wissenschaft  und  kirchliches  leben,  bd.  I 
s.  39  fgg.  hat  Knaacke  die  von  Schneider  frülier  aufgestelte  ansieht,  dass  M.  Luther 
sein  lied:  Ein  feste  bürg  ist  unser  gott  im  jähr  1527  beim  herannahen  der  pest  gedich- 
tet habe,  zu  erweisen  gesucht.  Der  nachweis  durch  das  von  ihm  aufgefundene 
gesangbuch  scheint  mir  keineswegs  geglückt.  Knaacke  hat  denselben  noch  dadurch 
zu  stützen  gesucht,  dass  er  die  stellen  in  Luthers  gleichzeitigen  briefen  anführte, 
auf  die  schon  Schneider  aufmerksam  gemacht  hat  und  aus  denen  eine  merkwürdige 
Übereinstimmung  mit  dem  gedankeninhalt  und  dem  Wortlaut  des  liedes  hervoi'gehen 
soll.  „Nachdem  Luther'*,  sagt  Schneider \  „in  diesem  briefe  (an  Amsdorff  1.  nov. 
1527)  dem  freunde  seine  läge  geschildert,  geschiieben  hat,  wie  er  fürchten  muss  für 
sein  weib,  das  in  dieser  bösen  zeit  ihrer  entbindung  entgegensehe,  für  sein  kind,  das 
seit  3  tagen  krank  darniederliege,  scbliesst  er  mit  den  werten:  so  gibt  es  draussen 
kämpf  und  drinnen  schrecken,    aber  Chiistus  suchet  uns  heim.     Unser  einiger  trost, 

1)  Martin  Luthers  geLstlichc  lieder,  s.  XXXVIU. 


KLLIN'GKR,    ENTSTEHUNG SZF.IT    DES    LUTHERLIEDES  253 

den  wir  der  wut  des  teufols  entgt'genstcllcii,  ist  der,  dass  wir  das  wort  gottes 
haben,  weklies  die  seelen  errettet,  wenn  er  auch  «Ifii  leil)  verschlingt.  Betet  für 
uns,  dass  wii-  ilio  liand  gottes  wacker  (Miragen,  und  die  macht  und  list  des  teu- 
feis überwinden,  sei  es  durch  tod  oder  leben.  Amen,  Zu  \Vittenb(!rg,  am  tage 
aller  heiligen,  am  zehnten  jabi'estagc  des  sieges  über  den  ablasskram,  dessen  aiige- 
denken  wir  zu  dieser  stunde  wol  getröstet  durch  einen  trunk  feiern."  Vgl.  dazu 
noch  Küstlin,  2.  aull.  bd.  II  s.  000. 

Ich  will  dazu  nur  bemerken,  dass  alb^  diese  scheinbaren  Übereinstimmungen 
für  die  abfassungszeit  des  liedes  gar  nichts  beweisen.  Denn  seit  Luther  /.n  der 
Überzeugung  gekommen  war,  dass  er  den  kämpf  gegen  das  iiapsttum  aufnehmen 
müsse,  bewegten  ihn  die  gedankcm,  die  deni  liede  zu  gründe  liegen  und  er  gab  den- 
selben in  brieten  und  Schriften  ausdruck,  mehr  oder  weniger  dem  Wortlaut  des  liedes 
sich  nähernd.  Und  grade  der  stärkste  anklang  an  den  Wortlaut  des  liedes  findet  sich 
in  einer  sehr  frülicn  selirift;  da  die  Übereinstimmung,  soviel  ich  weiss,  noch  nicht 
bemerkt  wordi^i  ist,  so  sei  hier  kurz  darauf  hingewiesen.  Es  handelt  sich  um  die 
derbe  abführung,  die  Luther  dem  bischof  von  Stolpe  wegen  seines  mehr  „tolpischeu 
als  stoli»ischen "  zetteis  angedeihen  liess.  (Doctor  Martinus  Luthers  antwort  auff  die 
tzedel  so  unter  des  Officials  tzu  Stolpeu  sigel  ist  aussgaugen.  Lezte  seite):  Nimpstu 
mir  den  leip  und  die  eher,  du  wirst  mir  Christum  bleiben  lassen.  Li 
diesen  werten  tritt  die  Übereinstimmung  mit  der  lezten  str(ii)he  des  Lutherliedes  so 
auffällig  hervor  wie  in  keiner  anderen  stelle.  Dennoch  aber  wäre  es  sehr  töric-ht, 
wenn  man  daraus  folgern  wolte,  das  lied  sei  iui  jähre  1519  gedichtet  worden. 

BERLIN.  Gr.    ELLINGER. 


AB  WEIHEN. 

Es  ist  die  frage,  ob  man  in  Goethes  „Götter,  holden  und  Wieland"  lesen  soll: 

„hast  mit  deinem  verzehrenden  schwert  abgeweidet  ihre  haare?  "  oder:  „ abge- 

wei(/et  ihre  haare?" 

Die  ausgaben  und  ausleger  schwanken  in  der  bedenklichsten  weise.  AVährend 
von  Bernays  djGII,  398  und  von  Strehlkc  in  den  8.  band  der  Hempolschen  ausgäbe 
„abgeweidet''  aufgenommen  ist,  auch  K.  J.  Schröer  (Deutsche  nationallitt.  87.  Goethe 
VI,  393)  so  schreibt  und  „abgeweihet''  für  unverständlich  erklärt,  hat  Gödeke  „abge- 
weihet"  in  den  text  gesezt,  was  auch  v.  Löper  in  einer  anmerkung  zu  „Dichtung 
und  ^^'ahrheit",  z.  4.  teil  buch  16  verteidigt.  Grimm  hat  dem  in  der  ganzen  littera- 
tur  vereinzelt  dastehenden  werte  keinen  platz  in  seinem  Wörterbuch  gegönt,  während 
Sanders  in  dem  seinigen  sich  für  „abgeweihet"  entschieden  hat.  Nicht  anders  steht 
es  mit  den  ältesten  dracken  und  ausgaben  der  farce,  die  noch  zu  Goethes  lebzeiten 
gemacht  sind. 

Die  ältesten  drucke  und  nachdrucke ,  darunter  auch  ein  solcher  auf  der  königl. 
bibliothek  zu  Berlin  von  1774,  haben  „abgewei^/et",  die  ausgäbe  lezter  band  jedoch 
zeigt,  sowol  die  in  sedez  33,  283  als  auch  die  in  oktav,  „abgeweidet." 

AVas  tun?  Zimächst  muss  man  bedenken,  dass  weder  jene  ältesten  drucke 
noch  die  lezte  zu  des  dichters  lebzeiten  gemachte  ausgäbe  in  kritischer  hinsieht  hier 
irgend  welches  gewicht  haben  können.  Es  ist  ja  bekant,  wie  ohne  Goethes  eigent- 
lichen willen  die  farce  von  Lenz  in  Strassburg,  jedenfals  ohne  jede  korrektur  von 
Seiten  des  dichters,  zum  drucke  plötzlich  gegeben  wmrde.  Aber  ebenso  liess  ja  Goe- 
the fast  widerstrebend  die  aufnähme   des  Stückes  in  seine   werke   durch  Eckermann 


254  MORSCH,    ABWEIHEN 

geschehcü,  das  ^  abgeweihet '^  ist  also  hier  entschiedeu  uic-ht  auf  des  dichters  eigen- 
sten ^villon  zurückzuführen.  Beweisen  diese  beiden  losailen  also  gar  iiiclits,  so 
beweist  ein  anderer  umst<\nd  desto  mehr.  Wir  liaben  die  lezten  spuren  einer  liand- 
sehiift  der  farce  bekantlich  bei  AVagner,  Briefe  an  und  von  Merck  (Darmstadt  1838) 
aufweiche  die  herausgeber  natürlich  schon  aufmerksam  geworden  sind;  die  bedeutung 
dieses  hier  verborgenen  indirekten  Zeugnisses  scheinen  sie  jedoch  noch  nicht  genug 
gewürdigt  zu  haben.  S.  42  daselbst  lesen  wii-:  2)  Götter,  holden  und  Wieland,  sehr 
rein  von  Goethe  selbst  geschrieben.  Nun  folgt  eine  anzahl  von  Varianten  dieser 
dem  herausgeber  der  biiefe  vorliegenden,  offenbar  aus  Mercks  nachlass  stammenden 
liandschrift  Goethes,  welche  gewonnen  sind  durch  eine  vergleichung  der  handschrift 
mit  der  ausgäbe  lezter  band  16".  bd.  33.  Wülirend  min  eine  anzabl  von  abweichungen 
beider  angemerkt  sind,  liat  der  herausgeber,  der,  wie  die  beigefügten  seitenzalileu 
der  ausgäbe  lezter  band  beweisen,  sorgfältig  und  richtig  verglichen,  l)ei  der  fraglichen 
stelle  nichts  angemerkt,  obgleich  die  ausgäbe  lezter  band  „abgeweihef^  bietet.  Folg- 
lich las  er  in  der  handschrift  Goethes  ebenfals  „abge weihet." 

Ist  durch  diesen  allerdings  indirekten  schluss  „abwei/^en"  handschriftlich  ziem- 
lich sicher  gestelt,  so  sprechen  sprachliche  und  sachliche  gründe  nocli  mehr  dafür. 
Die  Goetlüsche  spräche  der  damaligen  zeit  ist  sehr  kühn,  durch  homerische  Wendun- 
gen und  pindarischen  schwung  beeinflusst.  Jene  ganze  stelle  in  „G.  II.  u.  W.",  in 
welcher  der  inhalt  mancher  scenen  aus  des  Euripides  Alkestis  widergegeben  wird, 
ist  im  tone  der  Goetliischen  öden,  „Schwager  Kronos"  u.  a.  gehalten.  Kurz  vor 
unserer  stelle  findet  sich  „ein gleichen",  ein  wort,  das  zwar  nicht  so  kühn,  aber 
ebenfals  ohne  beispiel  in  der  litteratur  ist.^  Aber  auch  in  den  Briefen  an  frau  v.  Stein 
I-,  176  vom  juli  1779  lesen  wir  ja:  „geweiht  und  abgeschnittne  haare"  (vgl.  Werke 
Walirh.  u.  Dicht.  IV,  16  s.  535  (Goedeke),  wo  Sanders  Ergänzungswörterbuch  d.  d. 
spräche  1885  s.  621  „abgeweht"  für  einen  druckfehler  statt  „abgeweiht"  mit  recht 
ansieht),  und  in  der  Iphigenie  C.  und  D.  s.  35,  v.  606  bei  Bächtold:  „wenn  die  prie- 
sterin schon  unsre  locken  weihend  abzuschneiden  die  band  erhebt. "  —  Gleich 
„abweihen"  steht  ebenso  vereinzelt  „wegweihen",  Werther  I,  6.  juli.  —  Wenn  sich 
nun  gerade  „abweihen"  nicht  mehr  belegen  lässt,  so  geht  doch  aus  den  angeführten 
stellen  liervor,  dass  dem  dichter  jener  Vorgang,  um  den  es  sich  hier  handelt,  bekant 
war.  Ehe  die  opfertiere  geschlachtet  wurden,  wurde  ihnen  ein  büschel  haare  von  der 
stira  abgeschnitten  und  diese  haare  ins  feuer  gewoi'fen,  womit  sie  dem  tode  ver- 
fallen waren.  Vgl.  Schömann  gr.  staatsalt.  II,  s.  240.  In  der  vorbildlichen  stelle  bei 
Euripides  Alk.  v.  74:  ciroi'  töö"  tyyog  y.nuTÖg  äyvCötj  rni'ya  wii'd  der  todesgott  mit 
einem  ojtferer  verglichen,  der  mit  seinem  Schwerte  erst  demjenigen  einige  haare  vom 
haupte  schneidet,  der  ihm  verfallen  ist;  die  eigentliche  opferungsceremonie  wird  in 
der  Iphigenie  mit  den  citieiien  woi-ten  bezeichnet,  wähi-end  in  dem  briefe  an  frau 
V.  Stein  das  wort  gleich  deni  folgenden  „absclineidon"  mit  der  Wirkung  des  wertlos - 
und  nichtigmachens  gebraucht  ist;  im  gewöhnlichen  sinne  von  geweihten,  d.  li.  lioi- 
ligen  haaren  i)asst  es  gar  nicht  in  den  zusammenliang.  Diesen  Vorgang  konte  der 
dichter  aus  der  Ilias  oder  Odyssee  oder  sonst  woher  gelernt  haben. 

Die  lesaii  „abgeweihet "  scheint  demnach  nun  handschriftlich ,  sprachlich  und 
sachlich  genügend  befestigt  und  erklärt  zu  sein;  „abweihen"  bekomt  hoffentlich  ein- 
mal seinen  dauernden  platz  in  dem  Sprachschätze  der  deutschen  Wörterbücher. 

BERLIN.  H.    MORSCH. 

1>  Vgl.  darüber  Sanders  Erg. -wtb.  1885  s.  230. 


KLLINGER,    DES    MÄDCHENS    KLAGE  255 

DES  MÄDCHENS  KLAGE. 

Soviel  ich  weiss,  bat  juau  iioeh  nicht  beobachtet,  dass  Scliillers  licd  Des  iiiäJ- 
cheus  klage  ersiclitlich  unter  dem  eiullusse  eines  Stückes  aus  Herders  Volksliedern 
steht  und  aller  wahrscheinliclikcit  nacli  von  deniselbeu  angeregt  woiden  ist.  Volks- 
lieder, bd.  U  s.  18  (»Suphan- Redlich,  bd.  XXV  s.  343):  Das  niiidchen  am  uler. 
Englisch. 

Jin  säuselnden  winde,  am  murmelnden  baeh 
Sass  Lila  auf  bhimen  und  weinet'  und  si»raeh : 
„AVas  blüht  ilir,  ihr  blumen?  was  säuselst  du  westV 
Was  nuirmelst  du  ström,  der  mich  murmelnd  verlässt? 

Mein  lieber,  er  blühte  am  herzcu  mir  hier, 
War  frisch  wie  die  w^elle,  war  lieblicher  mir 
Als  zephyr;  o  zephyr,  wo  flohest  du  hin? 
0  blume  der  liebe ,  du  mustest  verblühn ! " 

Vom  buseu,  vom  herzen  riss  ab  sie  den  strauss, 
Und  seufzet  und  weinet  die  seele  sich  aus. 
Was  weinst  in  die  welle?     Was  seufzest  in  wind? 
0  niädchen,  w-ind,  welle  und  leben  zerriut. 

Der  ström  komt  nicht  wider,  der  westwind  verweht, 
Die  blume  verwelket,  die  Jugend  vergeht. 
Gib  mädchen,  die  blume  dem  ströme,  dem  west; 
Es  ist  ja  nicht  liebe,  wenn  liebe  verlässt. 

Noch  ein  anderes  lied  aus  Herders  Volksliedern  (Suphan-Iiedlic-li,  bd.  XXV, 
s.  1G9)  darf  herbeigezogen  werden: 

Die  see  war  wild  im  heulen 

Der  Sturm,  er  stöhnt  mit  müh, 
Da  sass  das  mädchen  weinend, 

Am  harten  fels  sass  sie, 
AVeit  über  meeres  brüllen 

AVarf  Seufzer  sie  und  blick; 
Nicht  konts  ihr  seufzer  stillen, 

Der  matt  ihr  kam  zurück. 

Hier  beweint  das  mädchen  ihren  geliebten,  der  zur  see  gegangen  und  den 
sie  tag  um  tag  vergeblich  erwartet;  da  spülen  die  wellen  seinen  leichnam  heran  und 
entseelt  sinkt  das  mädchen  über  ihn  hin. 

Bei  beiden  gedichten,  namentlich  aber  bei  dem  ersten,  erkennen  wir  genau, 
wie  Schiller  sich  an  dieselben  anlehnte.  Nicht  allein  in  der  ganzen  anläge  des  gedich- 
tes  zeigt  sich  eine  auffallende  ähnlichkeit,  auch  im  einzelnen  können  wir  die  abhäugig- 
keit  Schillers  von  den  englischen  liedern  beobachten. 

BERLIN.  G.    ELLINGER. 


256  NACHRICHTEN 

NACHRICHTEN. 

Dr.  Otto  Bremer  in  Halle  beabsichtigt  eiue  „samluug  von  gramma- 
tiken  deutscher  m  und  arten"  herauszugeben,  deren  verlag  die  firma  Breitkopf 
und  Hiirtel  in  Ix^pzig  übernommen  liat.  Das  unternehmen  wird  eiue  von  dem  lier- 
ausgeber  verfasste,  für  die  bedürfuisse  der  dialektforschung  berechnete,  kurze  „deut- 
sche phonetik"  eröfnen;  als  erster  band  der  samluug  ist  eine  darstellung  der  muud- 
aii  von  Mühlheim  an  der  Ruhr  von  dr.  ^1  au r mann  angekündigt. 


Ein  wichtiges  hilfsmittel  für  das  Studium  der  fa?röischen  spräche  und 
litteratur  ist  kürzlich  in  der  haudschrift  vollendet  und  soll  demnächst  der  grossen 
königl.  bibliothek  in  Kopenhagen  übergeben  werden,  nämlich  die  von  Svend  Grundt- 
vig  begonnene  (vgl.  Aarböger  1882,  s.  357  fgg.)  und  von  dem  archivsecretär  Jörgen 
Bloch  fortgeführte  samluug  f;cröischer  lieder  nebst  dazu  gehörigem  (auf  grund  der 
samlungen  von  Svabo  und  Mohr  ausgearbeiteten)  wöi-terbuch.  Die  erstere  umfasst 
16  quai-tbände,  das  leztere  3  folianten.  Die  arbeit  ist  auf  kosten  der  gräflich  Hjelm- 
stjerne-Rosenkronschen  Stiftung  ausgeführt  worden;  sie  wird  wegen  des  grossen  umfau- 
ges  und  des  beschränkten  iuteressentenkreises  durch  den  drack  leider  nicht  veröf- 
fentlicht werden. 

• 

Die  enthüllung  des  Walther-denkmals  in  Bozen  wird  am  15.  septbr.  d.  j. 
statfinden.  Der  obmann  des  comites,  herr  gutsbesitzer  Andr.  Kirch  ebner,  ladet 
alle  Verehrer  des  dichters  zur  teilnähme  an  der  feierlichkeit  ein. 


Die  DLZ  (1889,  ur.  15)  meldet,  dass  von  dr.  Kourad  Zwierzina  in  einer 
dem  15.  jahrhimdert  angehörigen  haudschrift  des  Konstanzer  Stadtarchivs  Wetz  eis 
Margaretha  und  der  volständige  Gregorius  Hartmanns  in  einer  bisher  unbekanteu 
recension  aufgefunden  sind.  Das  erstgenante  gedieht,  in  welchem  der  Verfasser  sich 
nent,  ist  mit  dem  fragmentarisch  überliefei-ten  werke,  das  Bartsch  (Germanist.  Stu- 
dien I,  1  fg.j  als  ^ Wetzeis  heilige  Margarethe"  veröffentlichte,  nicht  identisch.  Eine 
ausgäbe  beider  dichtungen  steht  bevor. 


Der  ordentliche  professor,  geh.  rat  dr.  Karl  Weinhold  in  Breslau  wui'de  an  die 
univei-sität  Berlin  berufen,  der  ausserordentliche  professor  dr.  Edw.  Schröder  in 
Berlin  zum  ordentlichen  piofessor  an  der  Universität  Marburg  ernant. 

An  der  Universität  Ix-ipzig  habilitierte  sich  dr.  Eugen  Mogk  für  nordische 
Philologie,  an  der  Universität  Heidelberg  dr,  Herm.  Wunderlich  für  deutsche 
Sprache  und  litteratui-.  An  dieselbe  hochschule  ist  di'.  Max  freiherr  von  Wald- 
berg (bisher  ausserord.  prof.  in  Czernowitz)  als  docent  übergesiedelt. 


Halle  a.  S. ,   Buchiirnckerei  des  Waisenhauses. 


DIE  ALAISIAGEN  BEDE  UND  FIMMILENE. 

Seit  E.  Hübuer  iu  der  Westdeutschen  Zeitschrift  für  geschichte 
und  kirnst  3,  120  fgg.  über  zwei  zu  Housesteads  (Borcovicium)  am 
Hadrianswall  im  november  1883  gefundene  sandsteinaltäre  berichtet 
hatte,  welche  unter  kaiser  Severus  Alexander  in  römischen  diensten 
stehende  Germanen  aus  der  landschaft  Twente  „Marti  Thingso  et 
duabus  alaesiagis  Bede  et  Fimmilene"  gesezt  haben,  durfte  man 
auf  eine  äusserung  der  germanisten  über  diese  bisher  unbekanten 
deutschen  gerichtsgottheiten  gespant  sein.  Das  erste  wort  sprach 
W.  Scherer.  Schon  am  24.  mai  1884  las  er  vor  der  Berliner  aka- 
demie  über  „Mars  Tlnngsus"  und,  als  ihn  inzwischen  R  Heinzel  auf 
das  friesische  Bod-  und  Fimelthing  aufmerksam  gemacht  hatte,  am 
29.  mai  desselben  Jahres  über  die  alaisiagennamen  Bede  und  Fimmi- 
lene i.  Seine  erklärung  des  wertes  „alaisiagis"  bezeichnete  er  freilich 
nur  als  notbehelf.  Jezt  hat  auch  Karl  Weinhold  in  dieser  Zeit- 
schrift 21,  1  fgg.  über  „Tius  Things'^  gehandelt  und  dabei  auch  die 
alaisiagen  besprochen.  Thingsus  und  Bede  deutet  er  wie  Scherer, 
Fimmilene  und  die  alaisiagen  abweichend.  Aber  auch  er  gibt  seine 
erklärung  des  wertes  „alaisiagis"  ausdrücklich  nur  für  einen  fraglichen 
versuch  aus. 

Mr  scheinen  durch  die  bis  jezt  vorliegenden  erklärungsversuche 
nicht  nur  die  alaisiagen,  sondern  auch  die  namen  Bede  und  Fim- 
milene noch  niclit  sicher  gedeutet  und  daher  auch  das  wesen  dieser 
gottheiten  noch  nicht  genügend  erkant  zu  seüi;  und  da  ich  durch  eine 
Untersuchung,  die  einen  anderen  ausgang  als  die  bisherigen  nahm,  zu 
ergebnissen  gelangte,  die  mir  sicher  zu  sein  schienen,  so  wage  ich, 
nach  zwei  so  gewichtigen  stimmen  auch  mich  über  jene  gerichtsg<jtt- 
heiten  vernehmen  zu  lassen.  Ich  glaubte  mich  nämlich,  weil  spräche, 
recht  imd  religion  der  Deutschen  zu  kaiser  Alexanders  zeit  bei  allen 

1)  Der  erste  voiirag  erschien  in  den  Sitzungsberichten  der  Berl.  akad.,  jahrg. 
1884,  s.  571  fgg.  Über  den  zweiten  Vortrag  vgl.  Scherers  brief  an  Hübuer  in  der 
Westdeutsch,  ztschr.  f.  gesch.  ii.  kunst  3,  292. 

.ZEITSCFRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.      BD.  XXU.  17 


258  JAEKEL 

gemeinsamkeiten  ihr  wirklielies  leben  doeli  mir  im  recht,  der  spräche 
imd  religioii  der  ciiizehieu  stamme  hatten,  bei  einem  versuche,  die 
namen  „alaesiagis",  „Bede^*,  „Fimmilene"  zu  deuten,  zunächst  an  die 
spräche  und  den  vorstellungskreis  nur  eines  Stammes  wenden  zu  dür- 
fen. Es  konte  dann  aber,  da  jene  altäre  laut  ihrer  inschriften  xon 
anfrehöriüen  des  friesisclien  cuneus  errichtet  worden  sind  und  da  die 
beiden  alaesiagennamen  unverkenbar  auf  die  friesische  unterschei- 
dimg  zwischen  B<h1-  und  Fimelthing  hinweisen,  nui'  der  friesische 
stamm  in  frage  kommen.  Dali  er  unternehme  ich  es  hier,  die  namen 
Jener  gottlieiten  aus  der  denkweise  und  spräche  der  Friesen  zu 
erklären. 

Ein  starkes  bewustsein  von  der  heiligkeit  des  rechtes  hat  von 
jeher  in  dem  charakter  des  friesisch -chaukischeu  Stammes  den  grimdzug 
gebildet.  Von  seinem  lebhaften  interesse  für  recht  und  gericht  zeugt 
es,  dass  die  gesamte  friesische  litteratur  des  mittelalters  lediglich  aus 
rechtsaufz  eich  nun  gen  besteht,  und  dass  die  sage  bei  diesen  stam- 
men nur  da  erscheint,  wo  es  den  Ursprung  rechtlicher  einrichtungen 
zu  erklären  gilt,  oder  wo  sie  gestalten,  die  iu  das  rechtsleben  des 
Volkes  eins:eo:riffen  haben,  umranken  kann.  Nach  aussen  bekundet  sich 
derselbe  sinn  in  einer  fi'üh  beobachteten  abneigung  gegen  angrifskriege 
und  in  einer  rücksichtslosen  entschlossenheit  und  zähen  ausdauer,  so- 
bald es  sich  um  abwehr  von  rechtsverletzungen  handelt. 

Schon  Tacitus  hat  von  diesem  friedfertigen,  gesetzlichen  sinne  der 
friesisch -chaukischen  Völker  künde  gehabt.  Er  schildert  Germ.  85  die 
Chauken  als  einen  „populus  inter  Germanos  nobilissimus  quique  magni- 
tudinem  suam  malit  iustitia  tueri.  sine  cupiditate,  sine  impotentia, 
quieti  secretique  nulla  provocant  bella,  nullis  raptibus  aut  lati'oci- 
niis  populantur.  id  praecipuum  virtutis  ac  virium  argumentum  est, 
quod  ut  superiores  agant  non  per  iniurias  assequuntur.  prompta 
tamen  omnibus  arma  ac,  si  res  poscat,  exercitus."  Die  geschichte 
hat  gezeigt,  dass  diese  Charakteristik  richtig  ist.  Die  erhebung  der 
Friesen  gegen  die  Römerherschaft  im  jähre  28  nach  Chr.,  welche  zuerst 
(Tacit.  ann.  4,  74)  den  friesischen  namen  unter  den  Germanen  berühmt 
gemacht  hat,  war  lediglich  ein  kämpf  für  das  verlezte  positive  recht. 
Sie  hatten  sich  12  vor  Chr.  —  mit  einer  für  einen  deutschen  stamm 
auffallenden  bereitwilligkeit  —  zum  anschluss  an  Drusus  und  zu  einer 
geringfügigen  abgäbe  an  die  Römer  verstanden.  Als  aber  der  römische 
präfekt  die  abgäbe  wilkürlich  erhöhte,  erhob  sich  das  volk  für  das 
gekränkte  recht  und  warf  die  fremdhei'schaft  siegreich  ab.  Demselben 
eintreten  für  das  gekränkte  recht  entsprang  im  mittelalter  der  500jährige 


BEDE    UND    FIMMILENE  259 

kämpf  um  die  friesische  freiheit^  Derselbe  geist  weht  im  niederläii- 
dischen  freiheitskampfe  wie  in  den  ostfriesischen  Ständekämpfen,  und 
er  lebt  noch  heute  im  anwohner  der  nordsee,  der  mit  Zähigkeit  am 
hergebracliten  rechte  hängt. 

Woher  der  friesisch -chaukisclie  stamm  diesen  sinn  hat,  ist  klai-: 
die  natur  seiner  Wohnsitze  hat  ihn  geweckt  und  dauei-nd  fiisch 
erhalten.  Auf  dem  tiefliegenden,  flachen  und  schmalen  küstenstreif, 
dessen  dünenwall  lange  vor  dem  beginn  unserer  Zeitrechnung  zerbröckelt 
war,  konte  der  Ingävone  nur  auf  warften,  wie  noch  heute  der  bewoh- 
ner  der  deichlosen  nord friesischen  hallig,  und  später  unter  dem  schütze 
der  deiche  seine  hütte  bauen.  AYarften-  und  deichbau  sezt  aber  com- 
munale  Vereinigungen  voraus  und  ruft  eine  fülle  rechtlicher  Verhält- 
nisse ins  leben,  ohne  deren  sorgsame  conservierung  solche  Wasserbauten 
nicht  dauern  können.  Nur  wer  sich  vergegenwärtigt,  dass  dem  Friesen 
und  Chauken  die  miiglichkeit  der  existenz  überhaupt  von  jeher  an 
seinen  deichen  und  waiften  hieng,  wird  den  ingävonischen  geist  fried- 
fertiger rechtliehkeit  ganz  begreifen.  Um  den  grund  seiner  wogenum- 
spülten armseligen  hütte  (Plinius  N.  H.  XVI,  1)  vor  beschädigung  zu 
hüten  und  fest  zu  erhalten,  muste  er  mit  den  nachbarvölkern  und 
innerhalb  der  gemeinde  auf  dem  friedlichen  wege  des  rechtes  und 
der  billigkeit  auszukommen  suchen.  So  hat  dem  Ingävonen  die  natur 
selbst,  von  der  er  sich  ganz  besonders  abhängig  fühlte,  die  tiefe  ehr- 
furcht  vor  recht  und  gesetz  anerzogen. 

Im  zusammenhange  mit  diesen  erwägungen  ist  es  mir  von  jeher 
bedeutsam  erechienen,  dass  die  Chauken  als  ihren  hauptgott,  dessen 
angesehenstes  heiligtum  sich  auf  Helgoland  befand,  den  dem  gericht 
Vorsitzenden,  streit  schlichtenden  Forsite  verehrten,  den  die 
spätere  nordische  mythologie  zum  söhne  des  licht-  und  gerichtsgottes 
Balder  machte-.  Es  lag  die  annähme  nahe,  dass  auch  der  hauptgott 
der  Friesen  ein  gerichtsgott  gewesen  sein  müsse.  Da  ich  nun  aus 
Ortsnamen  imd  gebrauchen ,  sowie  daraus ,  dass  gerade  die  ältesten  kirchen 
der  Friesen  dem  Schwertträger  Michael  geweiht  sind,  schliessen  muste, 

1)  Diese  meine  ansieht  von  den  freihcitskämpfen  der  Friesen  weicht  von  dem 
resultate  der  forsclmngen  Karls  von  Eichthofen  ab ,  wie  er  es  in  den  ersten  drei  bän- 
den seiner  Untersuchungen  über  friesische  rechtsgcschicbte  (Berlin,  1880  —  82),  bei 
deren  drack  ich  ihm  zur  seite  stehen  dui-fte,  dargelegt  hat.  Die  ausführliche  begrün- 
dung  meiner  meinung  wird  meine  demnächst  erscheinende  Geschichte  der  friesischen 
freiheit  bringen. 

2)  "Weinhold  a.  a.  o.  s.  14  fg.,  Scherer  a.  a.  o.  s.  576,  v.  Eichthofen  Unters.  U, 
399  f  gg.  434  fgg. ,  Grimm  Myth.  190  fgg. 

17* 


260  JAEKEL 

dass  der  liaupti^ott  dieses  Stammes  Tius  gewesen,  so  blieb  nur  die 
Vermutung  übrig,  dass  diese  alte  arisch -germanische  himmelsgottheit 
auf  friesischem  boden  die  züge  des  gericlitsgottes  angenommen  habe. 

Diese  vermutumr  wurde  mir  durch  die  inschriften  der  beiden 
votivaltiire  von  Borcovicium  zui-  gewissheit.  Die  eine  lautot:  Deo 
Marti  Thingso  et  duabus  alaesiagis  Bede  et  Fimmilene  et 
n(umini)  Aug(usti)  Germ(ani)  cives  Tuihanti  v(otum)  s(olve- 
runt)  l(ibentes)  m(erito);  die  andere:  Deo  Marti  et  duabus  alai- 
siagis  et  n(umini)  Aug(usti)  Ger(mani)  cives  Tuihanti  cunei 
Frisiorum  Yer...  Ser...  Alexandriani  votum  solverunt  liben- 
t[es]  m(erito).  Schliesslich  begegnet  der  name  „Tingsus"  noch  auf 
einem  dritten  steine,  der  in  Cumberland  gefunden  wurde  und  die 
Inschrift  trügt:  Deo  Belatucadro  a  muro  sivi  Tus  Tingso  ex 
cuneum  [Fr]is[iorum  Ger]manorum^ 

Die  landschaft  Twente,  aus  der  diejenigen  angehörigen  des  cu- 
neus  Frisiorum,  welche  die  beiden  altäre  errichtet  haben,  stamten, 
muss  ebenso  wie  die  Drente,  nach  ausweis  der  ältesten  Ortsnamen  und 
nach  andeutungen  der  friesischen  sage,  einst  von  Friesen  besezt  gewesen 
sein,  die  dann  von  osten  her  vielfach  von  den  Sachsen  eingeschränkt 
und  endlich  von  süden  her  durch  chamavische  Franken  verdrängt  und 
überflutet  wurden.  Die  Lex  Francorum  Chamavorum  zeigt,  wie  eng  sich 
dort  das  leben  der  drei  stamme  berührte.  Zu  kaiser  Alexanders  zeit 
war  der  fi'iesische  stamm  offenbar  noch  im  alleinbesitz  jener  striche, 
und  so  erklärt  es  sich,  dass  die  von  den  Römern  ausgehobenen  „cives 
Tuihanti^  in  den  cuneus  Frisiorum  eingestelt  wurden.  Die  damalige 
spräche  der  Twenter  war  also  friesisch. 

Die  deutsche  fomi  des  namens  Thingsus,  welche  friesisch 
..Things"  lauten  würde,  wird  von  Scherer  und  Weinliold  von  dem 
adjectivstamm  ihingsa-  hergeleitet,  der  mittelst  des  secundärsufiixes 
-a-,  welches  adjectiva  und  appellativa  bildet,  die  in  irgend  einer  bezie- 
hung  zum  gnmdworte  stehen  (Zimmer,  QF.  13,  214  fg.),  aus  dem  neu- 
tralstamme thinfjsa-  abgeleitet  ist.  Dieser  neutralstamm  liegt  im  lango- 
bardischen  thinx  (Edictus  Rothari  171  fgg.)  vor,  welches  rechtsgeschäft, 
gerichtliche  handlung  bedeutet.  Ist  diese  ableitung  richtig,  so  kann 
Things  nicht  mit  Scherer  (s.  574)  als  volksversamlungsgott,  son- 
dern nur  als  gott  der  rechtshandlimgen ,  also  nur  mit  Weinhold  (s.  4) 
als  gerichtsgott  gedeutet  werden. 

1)  Ich  gebe  die  Hübnersche  lesung  aus  der  Westd.  ztschr.  3,  120.  Die  3. 
inschrift  ist  Ephemeris  epigr.  III,  nr.  85  aus  Bi-uco  Laj^idarium  scptentrionale  nr.  807 
mitgeteilt.     Eine  genaue  beschreibung  der  altäre  gibt  auch  Weinhold  a.  a.  o.  s.  2  fgg. 


BEDE    UND    FIMMILENE  261 

Diese  giammatisehe  erkliiniii^'  do^  namens  „Things''  wäre  olnie 
weiteres  anziineliineu,  wenn  Jene  altäie  von  einem  ostg-ermanischen 
stamme  erriehtet  Avordcn  wären.  Da  sie  al)»'r  von  iuiesen  gesezt  wnr- 
den,  so  ist  dorli  zu  bedenken,  dass  dt'r  imese,  dessen  gerielitssprache 
wir  sein-  genau  kennen,  nielits  von  einem  neutralstannne  thinij:sa-  weiss, 
und  dass  er  das,  was  der  Langobaide  dureli  Uiinj:  bezeiehnete,  flumjdth 
(v.  Eielith. ,  Fries,  wb.  1073)  naiitc  AVolte  man  nun  aber  den  namen 
des  iriesisehen  Things  von  dem  adjeetivstamm  tlihifja-  herleiten,  der 
sich  mittelst  des  secimdärsuttixcs  -a-  aus  doni  genieingerm.  neutral- 
stamm fhitiga-  „volksversamlung''  gebildet  habe,  so  würdo  man  ein- 
wenden können,  dass  im  Friesischen  wie  in  allen  westgerm.  spiachen 
das  consonantische  auslautgesetz  das  auslautsende  -.s  sehr  früh  entfernt 
habe.  Es  fragt  sich  aber  noch,  ob  diese  entfernung  des  auslautenden 
-!s  im  Friesischen  bereits  im  anfange  des  3.  jalu'lumderts  durchgeführt 
war.  Zur  zeit  des  Tacitus  war  dies,  wie  der  von  ihm  (Ann.  13,  54) 
überlieferte  friesische  königsname  „Malorix''  zeigt,  noch  nicht  der 
fall;  nnd  wenn  in  der  angeführten  3.  Inschrift  „Tus  Tingso"  als 
dativ  von  „Tus  Tingsus"  betrachtet  werden  solP,  so  ist  ja  durch  den 
nominativ  Tus  (für  „Tius'')  das  auslautende  -6-  für  die  zeit  unserer 
inschriften  nachgewiesen.  So  lange  also  nicht  für  das  3.  Jahrhundert 
der  Wegfall  des  auslautenden  -.s  nachgewiesen  ist,  könte  man  immer- 
hin „Things''  vom  stamme  tliuiga-  leiten.  Aus  dem  friesischen  nomi- 
nativ „Things"  hätte  sich  dann  der  römische  Steinmetz  sein  „Thingsus" 
zurechtgemacht  nnd  weiter  deklinierend  den  dativ  „Thingso''  gebildet. 
Das  richtige  ist,  dass  tliuig  ursprünglich  thiiigis  thiiigs  lautete,  von 
dem  „Things"  durch  das  a-suffix  gebildet  wurde.  Der  friesische  name 
„Things''  bedeutet  also  volksversamlungsgott. 

Mit  recht  haben  Scherer  und  AYeinhold  das  wort  „Thingso"  auf 
unseren  inschriften  als  adjectivisches  attribut  zu  Mars,  nicht  als  Sub- 
stantiv gefasst;  und  da  Mars  die  interpretatio  romana  des  Tius  ist,  so 
müssen  die  Friesen  den  gott  jener  altäre  als  Tius  Things  bezeichnet 
haben,  wobei  aber  mnner  vorausgesezt  ist,  dass  das  auslautende  -5  im 
3.  Jahrhundert  noch  vorhanden  war. 

Über  das  wesen  dieses  gottes  haben  Scherer  und  Weinhold  ein- 
gehend gehandelt.  Wir  werden  nach  der  besprechung  der  alaisiagen 
noch  einiges  über  die  beinamen  beibringen,  die  Tius  bei  Friesen  und 
Chauken  führte. 

Das  inschriftliche  „alaisiagis"  oder  „alaesiagis"  zerlegte  Sche- 
rer (s.  579)  in  „al-aisia-gis"  und  meinte,  es  könte  zur  not  erklärt  Aver- 

1)  Vgl.  dazu  Sclierer  a.  a.  o.  s.  575. 


262  JAEKEL 

den  als  die  „algeehrten'\  wenn  man  aus  dem  einen  ahd.  ereöm  in  den 
Gl.  Ker.  109,  36  auf  ein  germ.  aiy'd-  „die  ehre^'  schliessen  dürfe. 
Diese  deutung  befriedigt  nieht.  In  sprachlicher  hinsieht  ist  es  doch 
bedenklicli,  aus  dem  nur  einmal  vorkommenden  ereöm  erst  das  wort 
zu  erschliessen,  von  dem  „  alaisiagis "  abgeleitet  sein  soll.  Nach  der 
sachlichen  seite  aber  ist  mit  der  bedeutung  „den  algeehrten''  nichts 
gewonnen,  denn  dieser  farblosen  bezeichnung  fehlt  jede  beziehung  zu 
reclit  und  gericht;  und  doch  ist  es  ganz  unwaln-scheinlich,  dass,  wäh- 
rend die  beziehung  des  hauptgottes  zum  gericht  in  einem  besonderen 
beinamen  klar  zum  ausdruck  gebracht  ist,  die  bezeichnung  der  beiden 
ihn  als  gerichtsgott  begleitenden,  tiefer  stehenden  weson  mit  keiner 
silbe  auf  eine  gerichtliche  function  hindeuten  solte. 

So  ereezte  Weinhold  die  Scherei*sche  deutung  dui'ch  eine  ungleich 
ansprechendere.  Er  nahm  die  zweite  silbe  für  ai  (ae)  „gesetz"  und 
gewann  damit  die  beziehung  zum  recht.  Dann  schlug  er  vor,  „siagis" 
in  „sagiis"  zu  ändern,  und  übersezte  das  so  erhaltene  „alaisagiis"  oder 
„alaesagiis"  durch  ,,den  grossen  gesetzsprecherinnen."  Bekantlich  wird 
der  friesische  gesetzsprecher  (dscga)  nach  der  friesischen  sage  (v.  Richt- 
hofen,  Unters.  II,  459  fgg.)  durch  unmittelbare  belehrung  eines  gottes  (es), 
in  dem  AVeiiihold  richtig  den  Tius  Things  erkante,  in  die  kentnis  des 
rechts  eingeweiht,  sodass  er  als  diener  und  priester  des  Tius  aufgefasst 
werden  kann,  zumal  der  Zusammenhang  zwischen  dem  gesetzsprecher- 
amt  und  dem  priestertum  in  mehreren  älteren  deutschen  benennungen 
für  richterliche  beamte  klar  angedeutet  ist.  So  erklärt  denn  Weinhold 
(s.  12)  die  „alaisiagae"  oder,  wie  er  ändert,  „alaisagiae"  für  solche 
gesetzsprecherinnen ,  '^cdsagjcms,  „die  des  grossen  gerichtsgottes  Tius 
Tiggs  gehilfinnen  sind,  gleich  wie  der  '^aismjja  neben  dem  richtor  stand, 
um  den  urteilenden  männern  der  gerichtsgemeinde  das  göttliche  recht 
zu  lehren";  kurz,  die  beiden  alaisiagen  sind  ihm  die  göttlichen 
Vorbilder  der  asegen. 

Gegen  diese  ungemein  ansprechende  auffassiuig  der  alaisiagen  als 
Vorbilder  der  asegen  lässt  sich  sachlich  nichts  einwenden.  Was  die 
sprachliche  seite  betrift,  so  Avird  zugegeben  werden  müssen,  dass  in 
der  zweiten  silbe  das  wort  ai  (ae)  „gesetz"  vorliegt,  aber  „siagis"  in 
„sagiis"  zu  ändern  scheint  mir  nicht  möglich,  da  beide  inschriften, 
die,  wie  die  form  „akesiagis"  neben  „alamagis"  zeigt,  in  ihrer  ortho- 
igsraphie  nicht  von  einander  abhängen,  „siagis"  haben.  Ich  lege  daher 
füi'  meine  deutung  das  inschriftliche  „alaisiagis"  zu  gründe,  das  ich 
versuchen  wil^  aus  dem  vorstell ungskreise  und  der  spräche  der  Friesen 
zu  erklären. 


BEDE    UND    FIMMILENE  263 

Auch  der  Friese  brachte  seinen  gesetzspreclier,  den  asega,  in  die 
engste  beziehung  zum  priester.     Die   3.  unter  den  siebzehn  algemeinen 
küren    vedangt    vom    asega,    der    alles    recht    zu    wissen    hat    (tenetur 
scire   umnia  iura),    dass   er  gerecht   und    unparteiisch  urteile,    „quia 
asega  significat  sacerdotem,  et  ipsi  sunt  oculi  ecclesiae  et  debent 
iuvare  et  viam  ostendere,  qui  se  ipsos  nun  possunt  iuvare"  (v.  Riclit- 
hofen,  Unters.  I,  34,  Fries,  rechtsqu.  4  fgg.)-     In  diesen  werten  ist  die 
Vorstellung,    die   sich  der  Friese  von  seinem  asega  machte,  klar  ausge- 
sprochen:   asega   und  priester,   ursprünglich   identisch,  sind   die  äugen 
der  Christenheit;    alle   übrigen  sind  blind  und  können  daher  den  rech- 
ten weg  nicht  finden.     Darum  müssen  sie   von  den  sehenden,    dem 
asega  und  dem  priester,    unterstüzt  und  zurechtgewiesen  wTrden.     Den 
schärfsten    ausdruck    hat    dieser    friesischen    auffassung    der    sehr    alte 
Küstringer    text    der  küre  gegeben.     Wenn   der  asega,    heisst  es  hier, 
sich  bestechen  lässt  und  dessen  überführt  wird,    „sa  ne  hach  hi  nenne 
doni  mar  to   delande,    thruch  tliet  tlii   asega    thi  biteknath    thene 
prestere;   h wände  hia  send  siande,   and  liia  skilun  wesa  agon  there 
heliga  kerstenede;   hia  skilun  helpa  alle  thani  ther  hiam  selvon  nauwet 
helpa  ne  mugun"  (v.  Kichthofen ,  Fries,  rechtsqu.  7,  19).    Der  Friese  legt, 
wie  man  sieht,  alles  gewicht  auf  das  sehen  des  rechtes;  und  das  konte 
nicht  andei"s  sein,    da  der  friesische  asega  nur  gefragt  und  besonders 
aufgefordert  das  recht  w4es,    nicht,    wie  der  isländische  iQgsogumadr, 
regelmässig  vortrage  über  das  gesetz,  die  iQgsaga,  hielt.     Der  gesetzes- 
vortrag,   die  *aisaga,   trat  dem  Friesen  in   der  vorstellimg  vom  asega 
volständig  hinter  das  schauen,   d.  i.  wissen  des  rechtes,    die  *ama^, 
zurück.     Wenn   also  in   den  beiden  alaesiagen   die  göttlichen  Vorbilder 
der  asegen  zu   erblicken  sind,    so   müssen   unter  ihnen  nach  friesischer 
auffassimg  göttimien  gedacht  werden,    denen   die    "^cd-sla   in  volkoni- 
menem   grade    und   dauernd   eignet,    also    lüclit   „gesetzsprecherinnen", 
sondern   „gesetzseherinnen."     Daher   kann    das  wort   meines    erachtens 
nur    aus  cd,    dem   zur  Verstärkung   des  wortbegriffs  vorgesezten  adjec- 
tivum,  und   "^aisiag-   zusamiuengesezt  und  lezteres  von  '^aisia   „gesetz- 
sehen",   „  gesetzeskiQide "    durch    das   adjectivsuffix   -ga    (ICuge,   Stam- 
bildungslehre  §§  202  u.  207)   gebildet  sein,    sodass  also  '^cdsiag-   „mit 
dem  recht-sehen,    der   gesetzeskunde    behaftet''    und  alcdsiagis 
„den  erhabenen   rechts  eh  er  in  neu''   bedeutet.     Die   alaisiagen   sind 
also  die  gehilfinnen  des  friesischen  hauptgottes  Tius  Thmgs,  welche  das 

1)  Vgl.  Y.  Eichthofeu,  Altfrics.  wörtcrb.  s.  1010  unter  sia  und   die   dem  Sub- 
stantiv *5i«  analoge  bildung  hera  (gehör,  hören)  s.  SlO. 


264  JAEKEL 

gesetz    schauen    und    daher    stets    und    volkommen    wissen,    die    erha- 
benen ffesetzseherinnen,  und  damit  das  echte  vorbild  der  friesischen 


b 


asegen. 


Was  bedeuten  nun  die  namen  der  beiden  gesetzseherinnen? 

Die  Bede  fasste  Scherer  als  „die  personiticierte  bitte,  d.  h.  auch 
gebot,  befehl'';  ,,zum  bodthing  habe  bei  den  Friesen  eine  ladung  (beda 
„bitte'',  später  bod  „gebot'')  statgefunden "  (Mars  Thingsus  s.  579, 
"Westd.  ztschr.  3,  292).  AVeinhold  sezt  Bede  =  Beda  und  identificiert 
diese  Beda  mit  ahd.  ßiota  (fränk.  Bio  da,  Förstemann,  Altd.  namenb. 
I,  265).  So  erhält  er  die  bedeutung  „die  gebietende,  zum  ding  for- 
dernde." Dieser  deutung,  die  auf  der  annähme,  dass  Beda  =  Beda 
sei,  ruht,  steht  ein  schweres  sachliches  bedenken  entgegen.  Yom  laden 
zum  Thing  spricht  nämlich  keine  friesische  rechtsquclle,  wenn  sie  die 
teile  des  friesischen  ihlmja  (placitare)  aufzählt.  Deren  gibt  es  lediglich 
zwei:  die  Verhandlung  (duorum  allegationes,  twira  tale)  und  das 
urteil  des  äsega  (asega-iudicium,  asega-dom,  Kichtli.,  Unterss. I,  39, 
Fries,  rechtsqu.  26  fg.).  Solte  also  eine  göttin  des  gerichts  von  etwas 
den  namen  haben,  was  gar  nicht  zum  gerichte  gehörte  und,  fals  es 
vorkam,  für  den  begriff  des  gerichtes  unwesentlich  war?  Zum  laden 
hätte  es  überdies  keiner  besonderen  gesetzeskunde  bedurft,  sodass  es 
mir  nicht  denkbar  scheint,  dass  die  erhabene  rechtseherin  davon  ihren 
namen  erhalten  haben  solte. 

Was  Scherer  und  Weinhold  zu  ihren  erklärungen  veranlasst  hat, 
war  die  unzweifelhaft  richtige  bemerkung  Heinzeis,  dass  die  namen 
Bede  und  Fimmilene  auf  die  friesische  Unterscheidung  zwischen  bod- 
und  fimelthing  hinweisen.  Nun  bezeichnet  aber  „bodthing",  welches 
„  gebotenes  Thing "  bedeuten  soll ,  öfters  gerade  das  „  ungebotene "  ge- 
richt  (Grimm,  RA.  827).  Man  Avird  also  zugeben  müssen,  dass  das  wort 
„bodthing"  entweder  überhaupt  nicht  oder  wenigsens  nicht  ursprüng- 
lich „gebotenes  Thing"  bedeutet  haben  kann.  Yon  diesem  werte 
kann  man  nicht  bei  der  deutung  des  alaisiagennamens  Bede  ausgehen; 
aber  sachlich  stehen  „Bede"  und  „bodthing"  im  engsten  zusammen- 
hange, und  aus  der  sache  werden  sich  weiter  unten  beide  werte 
erklären. 

Mehr  Schwierigkeiten  als  Bede  machte  den  beiden  gelehrten  der 
name  Fimmilene.  Scherer  (s.  579)  erklärte  mm  für  eine  unorganische 
Verdoppelung,  sezte  dann  got.  "^Fimilö  an  und  wolte  das  wort  an  das  altn. 
fiinr  „gewant",  „geschickt"  anknüpfen.  „Dem  befehl",  sagt  er,  „stünde 
dergestalt  die  geschickte  ausführung  gegenüber,  und  die  beiden  algeehr- 
ten oder  ehre  besitzenden   und    daher  ehre  verleihenden  wären   zwar 


BEDE    UND    FIMMILENE  265 

üicht  walküi-en,  aber  göttinnen  oder  genien  der  discipliu.  welche  den 
Tius  Things  sehr  passend  begleiten  würden:  ehre  wird  durch  den 
zweckmässigen  befehl  und  dessen  geschickte  ausführung  erworben** 
(s.  580).  In  dem  vortiage  vom  29.  mai  wies  er  dann  noch  besonders 
auf  das  fimelthing  als  das  bewegliche  gericht  der  Friesen  hin  (Westd. 
ztschr.  3.  293).  Dafür,  dass  mm  eine  unorganische  Verdoppelung  ist, 
spräche  allerdings,  dass  das  wort  fimelthing  im  friesischen  schulzen- 
recht mit  einfachem  m  geschrieben  ist:  doch  ist  der  text  desselben  so 
mangelhaft  überliefert,  dass  darauf  nicht  viel  zu  geben  ist.  AVichtiger 
scheint  mir.  dass  die  mit  jenem  alaisiagennamen  zusammengesezten 
Ortsnamen,  über  die  unten  zu  handeln  ist,  auch  nur  ein  m  haben, 
und  deshalb  halte  ich  ebenfals  juin  für  eine  unorganische  Verdoppelung. 
Aber  die  deutuug  Scherers  halte  ich  trotzdem  für  luu-ichtig.  Denn  der 
blassen  bedeutung  „die  geschickte"  fehlt  ja  die  beziehung  zum  gericht, 
und  wie  gewunden  ist  der  weg.  auf  dem  Scherer  dieselbe  mit  dem 
algemeinen  begriff  ..die  algeehrten"   iu  verbinduni:'  bringt! 

Weinhold,  der  diese  erklärung  mit  recht  verwirft,  leitet  aus  Fim- 
milene  einen  nominativ  Fimmila  ab.  Er  fasst  das  inschriftliche  ,.Fim- 
milene "  ebenso  wie  ..Bede*'  als  lat.  dativ.  Es  ist  aber  schwer  glaub- 
lich, dass  eine  römische  Inschrift  aus  dem  anfange  des  3.  Jahrhunderts, 
die  sonst  die  korrekten  endungen  hat,  gerade  bei  diesen  zwei  Wörtern 
statt  der  endung  ae  ein  e  gesezt  haben  solte.  Es  scheint  vielmehr 
bei  diesen  beiden  namen  die  lateinische  tlexinn  unterblieben  zu  sein, 
sodass  dieselben  im  nominativ  ..Bede"  und  ..Fimmilene"  gelautet  haben 
werden.  Dem  würde  nun  freilich  die  von  AVeinhold  nach  Wackernagel 
augeführte  regel  wider.sprechen.  dass  ..im  ersten  halbjahrtauseud  des 
mittelaltei*s"  bei  der  deklination  deutscher  namen,  welche  schwache 
feminina  (nom.  -d)  sind,  die  casus  obliqui  nicht  selten  durch  verbin- 
dimg  eines  ableitenden  an  mit  den  endungen  der  lateinischen  deklina- 
tion hergestelt  werden  \  sodass  also  der  nominativ  von  „  Fimmilene  "^ , 
welches  für  ..Fimmilane**  stehe,  ..Fimmila"  sei.  Xun  hat  aber  ATacker- 
nagel  jene  regel  aus  beispielen  des  5.  bis  8.  Jahrhunderts  abgezogen, 
sie  kann  cüso  streng  genommen  erst  seit  dem  5.  Jahrhundert  zu  gelten 
begonnen  haben.  Dass  sie  zu  kaiser  Alexandei*s  zeit  nicht  galt,  lehrt 
überdies  die  neben  ..Fimmilene"    stehende  form  ..Bede.**     Warum  hieb 


1)  ^\'aekernagel ,  Sprache  imd  spraelidenkmäler  der  Bui-giinden  s.  43;  bestäti- 
gimg  fand  er  bei  d'Ai'bois  de  Jubaiavüle  Etüde  öur  la  dechnaisou  des  noms  propres 
dans  la  langue  fi'anque  a  l'epoque  merovingieime  s.  44  fgg.  und  Fr.  Blulinie  Gens  Lan- 
gobai-doiimi  heft  2.  s.  29. 


266  JAEKEL 

denn  der  Steinmetz  nicht  auch  „Bedene"  ?  Aus  keinem  anderen  gründe, 
als  Aveil  seine  friesischen  auftraggeber  die  eine  alaisiage  eben  Bede, 
die  andere  Fimmilene  nanten. 

AVeiDhold  hält  nun  (s.  13  fg.)  „Fimmila"  für  eine  doppelt  hypo- 
koristische  namenform,  die  von  Frithumod  „die  friedebegehrende'' 
oder  von  Frithumund  „die  friedeschützerin"  ebenso  gebildet  sei,  wie 
die  friesischen  namen  Temmel,  Gammel,  wie  die  kosenamen  Kemmulo, 
Cuffolo,  Oppila,  Hibbelo  und  andere.  „Der  name  Frithumund  sei  für 
eine  rechtsgöttin ,  welche  durch  ihre  belehrung  Streitsachen  zum  end- 
lichen austrag  bringt,  wol  geeignet.''  Bedenklich  ist  hierbei,  dass 
weder  Frithumod  noch  Frithumund  den  Friesen  geläufige  frauennaraen 
waren,  dass  das  femin.  „Fimme",  von  dem  ,,Fimmila''  abgeleitet  sein 
soll,  sich  nicht  belegen  lässt  und  dass  die  drei  durchgangsformen 
Feddma,  Ferdma,  Fred  Dia  auch  nur  erschlossen  sind,  dass  sich  also 
nirgends  ein  fester  anhält  bietet.  Von  den  angeführten  analoga  sind 
die  Salzburger  namen  des  9.  Jahrhunderts  Kemmulo  und  Cuffolo 
nach  Stark  (Kosenamen  der  Germanen  14:3)  vielleicht  keltisch,  Hibbele 
begegnet  erst  im  14.,  Temmel  und  Gummel  erst  im  17.  Jahrhundert. 
Auch  das  masc.  „Fimme",  „Femme''  ist  erst  seit  dem  17.  Jahrhundert 
nachweisbar.  Solte  sich  also  ein  name  „Frithumund"  auf  friesischem 
boden  zum  kosenamen  umgebildet  haben,  so  hätte  er  im  17.  Jahr- 
hundert erst  bis  zu  „Femma"  gelangt  sein  können,  aus  dem  sich 
dann  erst  „Fimma"  und  „Fimmila"  hätte  bilden  müssen.  Der  alai- 
siagenname  „Fimmila"  ist  aber  schon  im  anfang  des  3.  Jahrhunderts 
fertig.  Dazu  scheint  mir  die  bedeutung  „  friedeschützerin "  noch  zu 
algemein  zu  sein,  da  sie  keinen  hin  weis  auf  eine  specielle  gericht- 
liche tätigkeit  enthält,  wodurch  doch  erst  das  Verhältnis  der  Bede  zur 
Fimmilene  klar  Avürde.  „Friedeschützend"  konte  jede  gerichtsgottheit 
genant  werden,  Things  und  Bede  ebenso  gut  wie  Fimmilene.  Schliess- 
lich ist  es  doch  sehr  unwahrscheinlich,  dass  die  Friesen  eine  göttin, 
zumal  eine  gerichtsgöttin ,  mit  einem  doppelt  hypokoristischen  namen 
angeredet  haben  selten. 

Es  bleibt  somit  von  den  bisherigen  versuchen,  die  beiden  alai- 
siagennamen  zu  deuten,  als  ganz  sicher  nur  Heinz  eis  bemerkung 
bestehen,  dass  sie  auf  das  friesische  bod-  und  fimelthing  hinweisen. 
Das  gegenseitige  Verhältnis  dieser  beiden  thingarten  muss  also  zu- 
nächst ins  äuge  gefasst  werden.  Vom  bod-  und  fimelthing  spricht 
unter  den  zahlreichen  friesischen  rechtsaufzeichnungen  nur  eine,  das 
sogenante  westerlauwersche  schulzenrecht,  welches  in  Mittelfriesland, 
dem  ältesten   sitze   des  Stammes,  im   11.  Jahrhundert  abgefasst  worden 


'  BEDE    UND    FIMMILENR  267 

ist^.  Hier  heisst  es  in  §  25,  dass  die  Sachen,  welche  im  bodthing 
niclit  zu  ende  gebraclit  werden  konten,  im  fimelthing  zu  ende  zu 
bringen  seien,  und  in  §  29,  dass  diejenigen,  welche  bod-  und  fi- 
melthing gehalten  haben,  nachher  in  demselben  jähre  nicht  noch  des 
königs  bann  zahlen  düifen  (v.  Richthofen,  Fries,  rechtsqu.  391).  Es  han- 
delt sich  hier  um  das  vom  königlichen  grafen  alle  vier  jähre  unter 
königsbann  gehaltene  bod-  und  fimelthing.  Das  aber  düit'cn  wir 
wol  auch  t'iii-  die  vorfränkische  heidnische  zeit,  in  der  einheimische 
könige  über  den  Friesenstamm  herschten,  aus  dem  schulzenrecht  ent- 
nehmen, dass  das  fimelthing  nach  dem  bodthing  statfand,  und  dass 
die  im  bodthing  nicht  zu  ende  geführten  Sachen  im  fimelthing  zum 
austrag  gebracht  wurden.  I^'ach  §  25  liegt  nur  die  gewöhnliche  nacht- 
frist  zwischen  beiden  thingarten,  sodass  sich  wol  in  Wirklichkeit  manch- 
mal bod-  und  fimelthing  zu  einer  einzigen  gerichts verhandlang  gestal- 
teten, von  welcher  die  ersten  etmele  —  etmel  (v.  Richthofen,  Altfries,  wb. 
722,  918)  hiess  den  Friesen  der  für  das  gerichthalten  bestimte  natür- 
liche tag,  die  frist  von  sonnenauf-  bis  Sonnenuntergang  —  das  bod- 
thing, das  lezte  oder  die  lezten  etmele  das  fimelthing  bildeten. 
Yon  den  zwei  stücken,  die  der  Friese  bei  jedem  gerichtlichen  verfah- 
ren untei'schied ,  der  verhandhing  der  beiden  streitenden  parteien  (duo- 
rum  allegationes,  twira  tale)  und  dem  die  bussen  festsetzenden  urteile 
des  asega  (asega-iudicium,  äsega-dom)  fiel  also  dem  bodthing  das 
erste,  der  „rechtsstreit",  dem  fimelthing  die  fortsetzung  desselben 
und  das  urteil  oder  nur  das  urteil  zu.  Yerhandelt  konte  sonach  in 
beiden  thingarten  werden,  aber  das  ursprüngliche  und  daher  für  die 
vorchristliche  zeit  die  regel  wird  wol  gewesen  sein,  dass  im  fimel- 
thing das  urteil  gefält,  im  bodthing  der  streit  geführt  warde. 
Daher  muss  man  von  vorn  herein  erwarten,  dass  in  dem  namen  der 
alaisiage  „Bede"  als  der  patronin  des  bodthings,  eine  hindeutung  auf 
den  gerichtsstreit,  in  dem  namen  der  alaesiage  Fimmilene,  als  der 
patronin  des  fimelthings,  eine  hindeutimg  auf  das  die  bussen  aus- 
sprechende urteil  sich  findet. 

„Bede"  bedeutet  nun  aber  nicht  kämpf,  es  fragt  sich  daher,  ob 
der  name  vielleicht  früher  anders  gelautet  hat.  Dies  ist  in  der  tat  der 
fall.  Eine  stelle  in  dem  berichte  des  Tacitus  (Ann.  4,  73)  von  der 
friesischen  erhebung  des  Jahres  28  schliesst  über  die  ältere  form  des 
namens   der  alaesiage  Bede  jeden  zweifei   aus.     Er  erzählt  hier,    dass 

1)  Es  kent  noch  nicht  die  im  11.  Jahrhundert  in  Friesland  sich  verbreitende 
markrechniing !  Vgl.  meine  abhandhiug  über  das  fries.  pfund  und  die  fries.  mark  in 
der  Berliner  ztschr.  für  numism.  XII,  144  fgg. 


268  JAEKEL  ^ 

der  römische  feldherr,  als  er  nach  einer  verlustvollen  schhicht  das  frie- 
sische land  zu  räumen  beiiauu,  von  ühi'rliiutern  erfuhr,   dass  die  Frie- 
sen 900  Komer  „apud  lucum  quem  Baduhennae  vocant/'  vernichtet 
hätten.     Der  uame   dieser    friesischen   ,i;üttin  gehört,    Avie    sein  zweiter 
bestandteil    -henna    zeiirt,     der    form    nach    zu    den    namen    der    auf 
römisch -ü-ermanischen  inschriften  aus  dem  Eheinhmde  so  liäufii^:  gonan- 
ten   matronen,    wie    Albia-henae    (Brambach    C.  I.  Rhen.  551  —  554), 
Alhia-henae  (a.  a.  o.  1722  add.),  Nersi-henae   (621)),   Vesunia-he- 
nae   (542,  580  —  584),    Gesa-heua    (330,   Ü17),    Ettera-henae   (577, 
617)    oder  Etra-ienae    (616),    Cesa-ienae    (613,    616),    Aumena- 
ienae  (343),   und   zu   namen    wie  Nelial-ennia   (24,   27  —  30,   32  — 
44),    und    zu    dem    auf    unserem    votivaltar    genanten    Fimmil-ene. 
Diese    inschriftlich    erhaltenen    namenfurmen    beweisen,    1)   dass    das  h 
und   die  Verdoppelung  des   it   im   namen  Baduhenna  unorganisch,   nur 
vom  römischen  munde  eingeschoben  ist,    und  2)  dass,  wie   schon  Mül- 
lenhoff    (Ztschr.  f.  d.  a.  9.    241)    gezeigt   liat,    der    name    nicht    com- 
poniert  ist,    das    -henna   also    gar    nichts    bedeutet.      Er  muss  zu    des 
Tacitus  zeit  „Badu-ene''  oder  fliesisch  geschrieben  „BadAvene"  gelau- 
tet   haben.      Da    nach    einem    friesischen  lautwandlungsgesetze    a  zu  e 
wurde,    und    da    das    wie    das    englische    iv    gesprochene    tu    hinter   d 
leicht  ausfallen  konte,  wandelte  sich  „Badwene"  zu  „Bedene",  das  sich 
dann  zu  Bede  verküi'zte,    wie  „Fimilene"    zu    „Fimile."     Da  nun  -ene 
nur  das  germ.  femin.   suffix   int  (aus  -injo-)   sein  kann   (Kluge,   Stam- 
bildungslehre  §  41),   so  hiess  die   alaisiage  vor  Tacitus  zeit  „Baduine" 
oder  ..Badwine"  und  die   andere   alaisiage    „Fimiline.^'      „Badwine'' 
ist  nun  das  femin.  zu  altfr.  */ja(hca  =  ags.  badva  (pugilj  =  ahd.  ^la/o; 
und  dieses  ist  von  badii  gebildet,    welches  auch    im  friesischen  eigen- 
namen    Badu-nat    vorliegt    (Crecelius,    Collectae    ad    äugend,    nominum 
propr.  Saxonicorum  et  Frisiorum  scientiam  I,  19,  21,  22,  24,  25);  und 
das  altfr.  badu  =  got.  *badu  =  ahd.  j^a^?.^  (neben  ^x^/«)   -=  ags.  bcado 
=  altn.  boß  bedeutet  streit  (pugna)i.    Die  alaisiage  Badwine  oder 
Bede  ist  also   die   kämpferin   (pugnatrix).     Als  dienerin   des  ge- 
richtsgottes  ist  sie  daher  die  über  dem  gerichtsstreite  w^altende  imd 
darum  die  patronin  desjenigen  things,  dessen  gegenständ  der  gerichts- 
streit  ist.      Und    da    der    äsega  vermöge   seiner  kentnis    des   gericht- 
lichen Streitverfahrens    und    der  belehrung,    die    er    darüber   gibt,    der 
geistige  lenker  des  Streites  im  bodthing  ist,    so  ist  sein  göttliches  Vor- 
bild, die  alaisiage  Bede,  die  göttliche  Personifikation  der  rechtskunde, 

1)  Vgl.  J.  Grimm,  D.  G.  U%  423,  460,  537. 


BKDE    UND    ILMMILRNE  269 

die  das  beweisvovfalircii  im  sti-citdin^i;-,  also  den  streit  übeiiiaupt,  leitet. 
Diese  wortbedeutiiu^-  stimt  somit  fj^enau  zu  der  tätigkeit,  die  wir  von 
vorn  lierein  d(^]'  Bede  als  dtM"  idcnlcn  Ifitcrin  <]o'>  bodtlnn^^'S  beilegen 
mnsten. 

Jezt  düifte  sieb  das  rätsei,  welcbes  der  name  ,, bodtbin^;"  auf- 
gibt, hisen.  J.  Grimm  (R. A.  827)  eikliiite  die  aulTallende  ersebeinung, 
dass  an  einigen  orten  gerade  das  ungebotne  geriebt  bodtbing  genant 
wird,  dureb  die  annabme,  dass  entweder  biei'  hof  (b\s  ein  fiii-  allemal 
angesagte  geriebt  bedeute,  oder  dass  aueb  (Um  algemeinen  volksgerieb- 
ten  bin  und  wider  eine  Verkündigung  vorausgieng,  ebne  welebe  sie 
ausgesezt  und  unbesucbt  geblieben  wären,  Avie  namentlieb  in  Fri(^sland. 
Diese  erldärung  können  wir  im  anscbluss  an  das  oben  ausgefübrte 
durcb  eine  einfacbere  ersetzen.  Wie  dem  alaisiagennamen  Fimiline 
das  fimeltbing  antwortet,  so  muss  dem  alaisiagennamen  Badwine 
oder  Bede  ein  badutbing  oder  bedtbing  entsprocben  baben.  Das 
wort  heiJthhi(j  muss  nun  der  Friese,  als  das  wort  hadu  (kämpf)  seiner 
spraebe  verloren  gegangen  und  die  alaisiagen  mit  «leni  beidentum  ver- 
scliAvunden  waren,  niebt  mebr  im  stände  gewesen  sein  richtig  zu  deu- 
ten; er  konto  es  nur  als  „gebotenes  tbing"  fassen,  was  bcdthing 
ja  auch  bedeuten  konte.  In  Mittelfriesland  wurde  übrigens  in  späterer 
zeit  aus  dem  Avorte  hedtlwig  oder  hedding  nach  einem  rein  laut- 
mechanischen  gesetze  hodding  oder  hodthing.  Aber  dieses  im  AVe- 
sterlauwerschen  scbulzenrechte  neben  dem  fimeltbing  genante  bodtbing 
hat  mit  dem  „gebotenen"  gerichte  ursprünglich  nichts  zu  tun,  sondern 
es  war  eigentlich  ein  hedtliing,  d.  i.  ein  hadu-thing  „streitgericht." 
Wahrscheinlich  sind  auch  gar  manche  bodthinge  anderer  deutscher 
gegenden  alte  baduthinge. 

Den  namenformen  Bede,  Bedene,  BadAvine  entsprechen  die 
formen  Fimile,  Fimilene,  Fimiline.  Es  muss  nun  Fimiline  das 
mit  dem  suffix  ini  gebildete  femin.  zu  dem  mascul.  *fimil  sein.  In 
diesem  "^fimil  aber  muss,  wie  wir  sahen,  eine  hindeutung  auf  das  die 
bussen  festsetzende  urteil  liegen.  Daher  kann  das  Avort  fhnil 
oder,  Avie  es  später  heisst,  fmiel  nur  von  der  Avurzel,  die  in  altfr. 
*fime,  später  ferne  (v.  Richthofen,  Altfr.  Avörterb.  732)  =  got.  "^finm  =  mhd. 
veme  (Verurteilung,  busse,  7toLvt),  poena)  vorliegt i,  diu'cb  das  suffix 
-ila  gebildet  sein,  welches  intensive  nom.-agent.  bildet  und  nament- 
lich in  den  bezeichnungen  gerichtlicher  beamten  erscheint  (Kluge, 

1)  An  einen  Zusammenhang  zwischen  fimolthing  und  feme  dachte  schon 
J.Grimm,  E.  A.  838.  Wegen  feme  A'gl.  Grimm,  J).  AV.  III,  151ß  und  Schmeller, 
B.  W.  I,  718. 


270  JAEKEL 

Stambiltlungslelire  §  18),  wie  in  ags.  pe/n/el  =  an.  ])ef/(/eU,  ags.  fen- 
gel,  strengeL  ags.  hydcJ ,  ahd.  l)Htil ,  alid.  ircihil,  (l?refi(/il  usw.  Das 
masc.  ^fimil  bedeutet  also  „der  strafende''  (ultor)  und  Fimiline 
„die  strafende",  „die  rächeriu"  (ultrix).  Sie  ist  das  göttliche 
Vorbild  des  asega  in  demjenigen  gericlite,  in  Avelchom  er  die  bussen 
tindet,  also  als  „fimil"  fnngiert,  die  göttliche  personitikatictn  der 
gesetzeskunde,  vermöge  deren  der  asega  ein  gerechtes  bussurteil  zu 
weisen  vermag. 

"Wie  mit  dem  walton  der  Bad w ine  das  gericht  der  Friesen  anhob, 
so  erreichte  es  mit  dem  walten  der  Fimiline  sein  ende.  Denn  mit 
dem  „rechtsstreit"  begann,  mit  der  „bussauflegung''  schloss  das  gericht- 
liche verfahren  der  Friesen.  Beide  teile  desselben  stehen  nach  dem 
glauben  des  volkes  unter  dem  walten  besonderer  gottheiten,  der  erha- 
benen gesetzseherinnen. 

Der  ausreführten  stelle  des  Tacitus  verdanken  wir  die  künde,  dass 
der  alaisiage  Badwine  im  Friesenlande  ein  hain  (lucus,  altfr.  16) 
geheiligt  war.  Dies  allein  würde  uns  schon  bereclitigen,  von  der  ande- 
ren alaisiage  dasselbe  anzunehmen;  und  erinnert  man  sich  an  Tac. 
Germ.  9  ,,lucos  ac  nemora  consecrant  deorumque  nominibus  appellant 
secretum  illud  quod  sola  reverentia  vident",  so  wird  man  es  für  wahr- 
scheinlich halten,  dass  auch  die  fiiesischen  Tius-heiligtümer  ursprüng- 
lich in  hainen  bestanden  haben,  Avas  durch  mehrere  friesische  Ortsnamen 
bestätigt  wird. 

"Wo  das  hauptheiligtum  des  friesischen  Thius  Things  lag, 
ist  zwar  nicht  überliefert;  doch  kann  meines  erachtens  kein  zweifei 
darüber  obwalten,  dass  es  sich  am  Flistrome  in  Alm  um  oder  Alme- 
num  befunden  hat,  einem  dorfe,  das  1580  in  den  stadtwall  der  an  der 
Zuidersee  gelegenen  Stadt  Harlingen  eingeschlossen  wurde.  Seine  dem 
Schwertträger  Michael  geweihte  kirche  war  eine  der  ältesten,  vielleicht 
die  älteste  im  friesischen  stamlande  (v.  Richthofen,  Unterss.  II,  236  fg.). 
Sie  stand  in  naher  beziehung  zu  der  ebenfals  dem  Schwertträger 
Michael  geweihten,  schon  im  8.  Jahrhundert  vorhandenen  Friesen- 
kirche zu  Rom,  wie  aus  der  friesischen  Magnussage  hervorgeht. 
Nach  dieser  wurden  die  Friesen  zu  Rom  von  Karl  dem  Grossen  und 
Leo  III.  mit  Vorrechten  und  freiheiten  begabt  und  die  ihnen  darüber 
ausgestelte  Urkunde,  welche  das  gesamte  friesische  recht  enthielt, 
von  dem  fahnenträger  der  Friesen  Magnus  nach  Almenum 
gebracht  und  in  der  dortigen  Michaeliskirche  niedergelegt i.    Die  rechte 

1)  Au.sführlicheres  über  die  sage  gibt  v.  Riclithofen  Unters.  II,  235  fgg. ,  der 
aber  ihren  sinn  nicht  erkaut  hat. 


BEDE    UND    FIMMILENE  271 

und  gesetze  des  Stammes  Avurdeu  also  unter  <lie  o])liut  des  Schwert- 
trägers Michael  zu  Almen  um  gestelt,  woraus  mit  Sicherheit  zu 
schliessen  ist,  dass  in  hoidnisclior  zeit  d(M*  das  reclit  und  die  gesetze 
des  friesischen  Stammes  hütende  Schwertträger  Tius  Tliings  seinen 
hauptsitz  zu  Almen  um  hatte. 

Dass  diese  deutung  der  Magnussage  i-ichtig  ist,  beweist  auch  der 
name  Almen  um.  „Almenum^',  seit  dem  13.  Jahrhundert  zu  „Almum" 
zusammengezogen  (v.  Richthofenil,  235  anm.  2),  ist  aus  „Almeginum"  und 
dieses  aus  ,, Al-magin-liem''  entstanden.  Der  Ortsname  bedeutet  also 
,,Heim  des  AI  mächtigen."  Dadurch  ist  erwiesen,  dass  Tius  der 
Al-magin  Es,  d.  i.  der  hauptgott,  der  Friesen  gewesen  ist.  Dadurch 
ist  ferner  erwiesen,  dass  niemand  anders  als  der  in  Almen  um  thronende 
„Al-magin"  selbst  der  friesische  fahnenträger  „Magnus"  ist,  der 
nach  der  friesischen  sage  die  gesetze  der  Friesen  nach  Almenum  bringt. 
Dann  aber  ist  klar,  dass,  wie  der  Magnus  der  sage  fahnenträger  und 
gesetzeshüter  in  einer  person  ist,  so  auch  der  friesische  liau])tgott  Tius 
als  heerführer  und  gesetzeshort  zu  fassen  ist,  mit  anderen  Wor- 
ten, dass  den  Friesen  ihr  hauptgott  gott  des  krieg  es  und  gott  des 
rechtes  zugleich  war.  Yermöge  dieser  doppelnatur  ist  er  Schützer 
und  leiter  sowol  des  heeres  als  der  volksversamlung. 

AVo  der  von  Tacitus  erwähnte  lucus  Baduhennae  lag,  ist  eben- 
falls nicht  überliefert,  doch  muss  er  östlich  vom  Flistrom  gesucht 
werden.  Denn  der  aufstand  von  28  n.  Chr.  brach  in  der  nähe  des 
römischen  kastels  Flevuni  aus  (Ann.  IV,  72),  welches  am  Flistrom 
lag,  und  der  römische  feldherr  erfuhr,  als  er  von  hier  nach  einer 
unglücklichen  schlacht  den  abzug  begann,  dass  900  Kijmer  bei  jenem 
hain  erschlagen  worden  seien.  Die  art,  wie  Tacitus  seiiie  angäbe  über 
den  ort  des  gemetzeis  macht,  deutet  darauf  hin,  dass  dieser  Badwine- 
hain  ganz  besonders  bekant  war.  Da  er  ferner  schon  zu  Tacitus  zeit 
eine  ortsbezeiclmung  abgab,  liegt  der  gedanke  nahe,  dass  er  in  einem 
orte  zu  suchen  ist,  dessen  heutiger  name  aus  „Badwine"  und  „10" 
gebildet  sein  könte.  Daher  möchte  ich  glauben,  dass  er  an  der  uralten, 
heiligen  gerichtsstätte  Bafflo,  dem  mittelpunkt  des  friesischen  landes 
zwischen  Laubach  und  Ems  gelegen  war.  Sie  hiess  noch  im  11.  und 
12.  Jahrhundert  Bathlon  undBaflon  (Crecelius  12,  15,  16,  19,  31),  zwei 
formen,  die  sich  nur  aus  "Badwlon"  oder  „BadulOn"  erklären  lassen. 

Es  gibt  im  westerlauwerschen  Friesland  keinen  Ortsnamen,  der 
von  dem  alaisiagennamen  Fimiline  gebildet  wäre,  wol  aber  vermag 
ich  zwei  derartige  Ortsnamen  aus  dem  ostlauwerschen  Friesland  aufzu- 
weisen. 


272  J AEKEL 

Im  Moormerlande,  also  auf  altchaukischom  bodcn,  etwas  östlich 
von  Leer,  verzeiclinen  ältere  karten  ein  r»rteheu  Fimel,  das  bereits  in 
dem  ältesten,  im  10.  und  11.  jahrliundert  zusammengeschriebenen  güter- 
vei-zeichnis  der  abtei  Werden  begegnet,  die  in  Ostfriesland  „in  Fimi- 
lon''  ein  kleines  ackei-stück  besass  (Crecelius  23).  Der  name  lässt  sich 
nur  aus  „Fimile"  und  „hV  deuten. 

Ein  anderes  Fimel  liegt  bei  Termunten  im  Fivclgauer  Oldampt 
hart  am  Dctllart.  Es  Avird  in  einem  zeugenverhör  von  1565  genant, 
wo  ausgesagt  ist,  „dat  anno  1525  de  nye  summerdyck  van  Fimel  na 
der  Swaghe  (Schwage,  jezt  vom  Dollart  überflutet,  v.  Richthofen  II,  875) 
gemaeckt  is"  (Dri essen,  Mon.  Groning.  s.  446). 

Es  ist  eine  bisher  unl)ekante  tatsache,  dass  die  heidnischen  Frie- 
sen nicht  nur  nach  den  beiden  alaisiagen  Badwine  und  Fimilino,  son- 
dern auch  nach  ihrem  hauptgotte  selbst  eine  thingart  benant  haben, 
und  zwar  die  höchste  gerichtsversamlung,  das  gericht,  welches  die 
volksversamlung  bildete,  also  das  liud-thing.  Die  namen  einiger 
friesischer  gerichtsstätten  bew^eisen  dies  und  lehren  uns  noch  einige 
beinamen  des  Tius  kennen. 

Im  osttriesischen  Overledingerlando  nent  das  älteste  Wordener 
register  widerholt  einen  ort  „Badunathashem",  der  in  dem  nächst- 
ältesten register  „Badanasthorp"  heisst  (Crecelius  19,  21,  22,  24,  25).  :N'ur 
in  diesem  Ortsnamen  ist  der  sonst  nirgends  begegnende  name  Badunat 
„ kampfgenoss ^'  erhalten,  neben  dem  namen  „Baduhenna"  der  einzige 
beweis,  dass  die  friesische  spräche  einst  das  wort  badu  für  streit,  kämpf 
kante.  Der  ortsname  ist  in  keinem  der  heutigen  zu  erkennen;  doch 
ist  die  läge  des  ortes  gesichert,  da  er  in  dem  register  zwischen  Drie- 
ver  und  Geidun.  d.  i.  Ihrhove,  ein  anderes  mal  mit  Frithunathasthorp 
bei  Ilirhove  genant  wird.  Er  lag  also,  wie  das  ebenfals  verschwundene 
Frithunathasthoi-]),  bei  Ihrhove,  und  zwar  an  der  stelle  des  heutigen 
Tjüchen.  In  diesem  Badunathashem  hiess  noch  im  10.  und  11.  Jahr- 
hundert eine  lokalität  Tiuding  und  hiernach  ein  stück  der  feldmark 
Tiuding  tiochi  (Crecelius  25).  Da  „Tiuding" -kein  fi-iesisches  patrony- 
mikon  sein  kann  —  denn  „Tiud"  ist  weder  ein  friesischer  name  noch 
der  teil  eines  solchen  — ,  kann  das  wort  nur  als  Tiu-ding  „Tiu-ge- 
richt'^  erklärt  werden.  Dieser  friesische  flurname  besagt  also  dasselbe 
wie  der  dänische  ortsname  Tyrsting  und  der  jütische  gauname  Tys- 
thing  oder  Tyrsting.  Schon  Finn  Magnussen  hat  (Lex.  mythol.  759) 
dieses  Tyrsting  richtig  als  „Tyris  forunr'  erklärt. 

Wurde  aber  in  Badunathashem  ein  Tiu-thing  gehalten,  befand 
sich  al.so  daselbst  auch  ein  heiligtum  des  Tius,  so  war  Badunathas-hem 


BEDE    UND    FIMMILENE  273 

das  heim  des  Tius  selbst,  d.  i.  Badunat  „der  kampfi>enoss "  ist  Tius 
selbst.  In  ,,Badunat''  wird  man  tlemnaeli  den  namen  zu  sehen  haben, 
den  Tius  als  kriegsgott  der  Cliauken  und  Friesen  führte.  Kr  erin- 
nert an  den  Saxnot  „ schwertgenoss '^  der  Sachsen,  den  Saxneat  der 
Angelsachsen.  Da  „Badunat''  name  eines  heidnischen  gottes  war,  wird 
es  erklärlich,  dass  der  so  oft  genante,  sehr  ansehnliche  oi-t  Baduuathas- 
Ihmu  nicht  mehr  zu  finden  ist.  Die  christlichen  priester  werden  ihn 
umgetauft  haben.  „Badunäf  bezeichnete  die  kriegerische  seite  des 
Tius,  wie  „Things"  die  gerichtliche.  Offenbar  erschöpfen  die  gericht- 
lichen funktionen  nicht  die  friedliche  tätigkeit  Tius;  es  kann  also 
„Things"  nicht  als  der  volle  gegensatz  von  Badunat  angesehen  weiden. 
Dem  „Badunat"  entspricht  genau  genommen  nur  ein  „Frithunat." 
Nun  lag  neben  Badunathashem  ein  ort  Frithunathasthorp;  es  wohn- 
ten hier  also  wirklich  Badunat  und  Frithunat  neben  einander.  Drängt 
sich  da  nicht  die  Vermutung  auf,  dass  Tius  hier  zwei  heiligtümer 
neben  einander  hatte  und  er  in  dem  einen  als  kriegsgott  „Badnnat", 
in  dem  andern  als  friedensgott  „Frithunat"  verehrt  wurde?  Frithu- 
nathasthorp lässt  sich  heute  ebensowenig  finden  wie  Badunathashem; 
es  mag  in  christlicher  zeit  ebenfals  umgetauft  worden  sein,  weil  Fri- 
thunat der  name  eines  heidnischen  gottes  war. 

Das  Tiu-thing  in  Badunathashem  steht  nicht  vereinzelt.  Nach 
dem  nächstältesten  Werdener  register  besass  das  kloster  einkünfte  in 
einem  friesischen  orte  Tiudingi  „am  Tiu-gericht"  (Crecelius  12  und  16). 
Diese  ansiedelung  am  Tiugericht  liegt  im  Hunsegau,  und  zwar  im  heu- 
tigen orte  Leens  in  der  Marne;  sie  besteht  aus  zwei  wierden,  die  noch 
in  diesem  Jahrhundert  „Tiunster  wierden"  und  „Tiiinster-warve" 
genant  wurden,  jezt  aber  als  „ Leensterwierde "  zusammengefasst  wer- 
dend Sie  gehören  zu  Leens,  dem  alten  „forum  Lidense",  der  alten 
haupt-  und  gerichtsstätte  der  Marne  (v.  Richthofen  II ,  844),  wo  das  Uud- 
thing  dieser  landschaft  gehalten  wurde.  Jenes  register  nent  wol  Tiu- 
dingi, nicht  aber  Lidenge,  weil  eben  Tiudingi  und  Lidenge  einen  und 
denselben  ort  bezeichnen.  Hier  liegt  also  die  Identität  von  liud- 
thing  und  Tiu-thing  zu  tage. 

Da  Tius  den  Friesen  hauptgott,  der  almagin  es  oder  es  zar' 
t^oyrjv  war,  bezeichneten  sie  das  Tiu-thing  auch  als  Es-thing.  Die- 
sen namen  trug  z.  b.  die  gerichtsstätte  des  Middogsterlandes ,  welche 
noch  im   14.  Jahrhundert  „Esdingum"    und  „Esding",    heute  Ee singe 

1)  Ygl.  vau  der  Aa,  Aardrijkskvmdig  Woordenboek  der  Nederlande  unter 
„  Leensterwierde." 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXII.  18 


274  JAEKEL 

(v.  Riehthofen  II,  796)  heisst,  sodass  als  ursprüngliche  friesische  iiamenform 
Es-thingi  „am  Esthing"  anzusetzen  ist.  Ein  Estliing  wurde  aucli  beim 
dorfe  Eisinghusen  im  Emsigerlande  gehalten.  Der  ort  heisst  noch 
im  15.  Jahrhundert  ,,Esing-husum''  (v.  Riehthofen  II,  1164).  Dass  dies 
aus  ,,Esthing-husum"  „bei  den  luiusern  des  Esthing''  entstanden  ist 
folgt  auch  daraus,  dass  der  ort  im  ältesten  Werdener  i-egister  noch 
den  namen  Tius-hem  (Crecelius  12)  fiilirt,  doi't  also  ein  Tiusheiligtum 
stand,  an  dem  ein  Tiu-  oder  Esthing  gehalten  wurde.  In  christlicher 
zeit  wurde  der  name  „Tiushem"  diu'ch  den  weniger  heidnisch  klingen- 
den ^Estlung-husum'*   verdrängt. 

Bei  der  alten  heiligen  gerichtsstätte  BafFlo  liegt  ein  Örtchen  Saxum, 
ein  zweites  Saxum  liegt  bei  dem  Es-thing  des  Middogsterlandes  und 
ein  drittes  Saxum  betand  sich  neben  der  jezt  vom  Dollart  überfluteten 
reiderländischen  gerichtsstätte  Bedding-hem  (v.  Riehthofen  II,  1191). 
Im  westerlauwei-schen  und  ostemsischen  Friesland  gibt  es  keinen  der- 
artigen Ortsnamen.  Jener  name  „Saxum"  heisst  in  der  ältesten  form 
Saxinghem  (Crecelius  12,  14,  18;  Dronke,  Tradd.  Fuld.  s.  48).  Dadurch 
ist  es  ausgeselilossen,  bei  dem  Ortsnamen  an  den  volksnamen  der  Sach- 
sen zu  denken.  Mir  scheint  nun  auch  dieser  Saxing,  der  sein  heim 
an  friesischen  gerichtsstätten  hat,  Tius  zu  sein,  und  ich  halte  den 
friesischen  Saxing  somit  für  einen  und  denselben  gott  wie  den  säch- 
sischen Saxnöt,  den  angelsächsischen  Saxneat.  Tius  als  steiiischwert- 
oder  Steinbeil  träger  war  ja  dem  heidnischen  Friesen  eine  geläufige  Vorstel- 
lung, wie  die  schöne  sage  vom  ursprimge  des  friesischen  rechtes  be- 
weist. Ihre  älteste  fassung,  die  westerlauwersche ,  lässt  den  Tius  als 
Es  mit  goldenem  beil  (fries.  axe  =  got.  aquizi)  auf  der  scbulter 
auftreten  (v.  Riehthofen  II,  462).  Er  hiess  daher  den  Mittelfriesen  Axing 
und  seine  wolmstätte  Axenc-hove,  Axing-hove  oder  Axingi,  heute 
Aaxens  im  Westergau  südlich  von  Bolsward  (v.  Riehthofen  II,  430). 

Auffallender  weise  finden  sich  im  östlichsten  Friesland  keine 
gerichtsstätten,  deren  namen  mit  ,,Fimile",  „Bede"  oder  „Tius"  zusam- 
mengesezt  wären.  Hier  trugen  die  gerichtsstätten  ganz  andere  bezeich- 
nungen.  LeluTcich  sind  hierfür  die  namen  dreier  neben  einander  lie- 
genden gerichtsstätten  des  Brokmerlandes:  Barsted e,  Bangstede  und 
Öchtelbuhr,  oder,  wie  sie  im  15.  Jahrhundert  heissen  (v.  Riehthofen  II, 
1170,  1207,  1208),  Berstcde,  Bangkstede  und  Öchtleburen.  Ber- 
stede  ist  aus  here  „klage,  Vorgericht",  Bankstede  aus  bank,  henk  „bank" 
und  siede  „statte"  componiert.  Dass  diese  „bankstätte"  und  „klage- 
stätte"  gerichtsstätten  waren,  folgt  aus  §  178  des  Brokmer  briefes: 
thisse    benethe    (moidklage)    sJiel   ma   dua  ujyer  bere  and  uper  benke 


BEDE  UND  fim:milene  275 

(v.  Eiclithofen,  Fries,  rechtsqu.  176,  27).  Baiigstede  hat  hicmacli  seinen 
namen  otfenbar  von  der  gericlitsbank.  Das  wort  here,  bare  „klage", 
von  dem  Berstede  seinen  namen  führt,  hängt  nicht,  wie  von  Rioht- 
hofen  (Altfries,  würterb.  618)  ghmbte,  mit  ahd.  bar,  2mr()n  zusammen, 
sondern  gehört  zum  altn.  bcrja,  ags.  berjan  ,,sehh^geii,  kämpfen"  (Fick, 
Yergleicli.  wb.  der  indogerm.  sprachen  I-"^,  695),  und  dadui'ch  ist  erwie- 
sen, dass  das  fiiesisclie  bere,  bare  ursprünglich  den  rechtsstreit,  „Bere" 
oder  „Berstede"  die  Streitgerichts-  oder  bedthings- statte  bezeichnete, 
wäln-end  wir  dann  in  Bangstede  die  entsprechende  fimelthingstätte  zu 
sehen  haben. 

Der  ort  Öclitle-buren  lag,  wie  sein  namc  besagt,  an  einem 
Ocht-liain.  Da  ein  ostfriesisches  Öcht  des  15.  Jahrhunderts  auf  ein 
älteres  Acht  zurückweist,  und  da  die  gerichtsversamluug  des  ganzen 
Brokmerlandes,  also  das  Brokmer  liud-thing  onene  acht  heisst,  ist 
dieser  Ächt-hain  neben  der  bed-  und  fimelth  in  "-statte  der  Brokmer 
zu  beachten.  Dass  wir  es  hier  nicht  uimiittelbar  mit  acht  „gerichts- 
versamlung",  sondern  mit  einem  eigennamen  Acht,  Öcht  zu  tun 
haben,  lehrt  der  name  des  dorfes  Öchtersum^  (bei  Esens  im  Harlinger- 
lande).  Der  ort  heisst  noch  1426  Öchtsem  (v.  Kichthofen  II,  1214), 
d.  i.  üchtes-hem  „Heim  des  Acht"  (Öcht).  Derselbe  Acht  begegnet 
in  Mittelfriesland:  in  der  nähe  von  Almenum  liegt  Ächlum,  in  älterer 
namensform  Achtel  um  (v.  Richthofen  II,  590),  aus  welchem  das  bekante 
weistum  von  1559  stamt  (v.  Richthofen ,  Fries,  rechtsqu.  506).  Ein  zwei- 
tes Ächtelum,  heute  Echtelen  oder  Echten  (v.  Richthofen  II,  725),  liegt 
im  mittelfriesischen  Lemsterland. 

Wer  ist  nun  dieser  Acht  oder  Ächte,  dem  die  Friesen  bei  den 
gerichtsstätten  haine  heiligten?  Der  name  ist  von  aht  „Verfolgung" 
gebildet  und  gehört  mit  dem  ags.  Öht-here  und  dem  bekanten  Ac- 
tum er  us  (Tac.  ann.  11,  16)  =  ahd.  Ahtumer  „durch  die  Verfolgung 
des  feindes  berühmt"  zusammen  (vgl.  Kluge,  Etym.  wörterb.  unter 
acht  und  Paul  und  Braune,  Beiträge  11  s.  2).  Achte  bedeutet  also 
„der  Verfolger."  Ich  glaube  nun,  dass  Ächte  ein  beiuame  des  Tius 
war,  der  ihn  als  Verfolger  im  kriege  und  im  gericht  bezeichnen 
solte,  und  dass  sich  diese  Identität  von  Ächte  und  Tius  genau  bewei- 
sen lässt.  Wenn  nämlich  Ächte  ein  beiname  des  Tius  war,  wie 
Saxing,  Axing,  Badunät,  Frithunät,  Things,  Forsite,  so  hätten  die 
Chauken    ihre    vornehmste    insel    Forsetisland,    wie   Helgoland    im    7. 

1)  „  Ochtersnin "  entstand  aus  „  Ocktesum "  diircli  die  ostfriesiscke  epenthese 
des  r,  durch,  welche  in  derselben  gegend  „Ditsum"  zu  „Dirtsum",  „Oldesum"  zu 
„Oldersum",  „Grimesum"  zu  „Grimersum",  „Loppesum"  zu  „Loppe^-sum"  wurde. 

18* 


276  JAEKEL,    BEDE    UND    EHLMILENE 

und  8.  jalirliundert  noch  heisst,  auch  nach  dem  Ächte,  also  „ Ächt- 
land'^,  „Ächtinsel"  nennen  können.  Da  insel  alttr.  avia  heisst,  hätte 
eine  „Ächtinsel"  friesisch  als  „Ächtavia"  bezeichnet  Averden  müssen; 
und  so  hat  die  insel  Avirklich  zu  Plinius  zeit  noch  geheissen.  Denn 
er  nennt  (IV,  27)  als  „insulae  nobilissimae "  ah  der  chaukischen  küste 
von  west  nach  ost  „Burcana"  (Borkum),  „Austeravia"  (Astereinde, 
V.  Richthofen  II,  1230)  und  „Actavia."  ,,Actavia"  ist  aber,  wie  schon 
MüUenhoff  (Ztschr.  f.  d.  a.  9,  224)  gezeigt  hat,  die  römische  Schrei- 
bung für  germanisches  „Achtavia."  Somit  ist  das  Actavia  des  Plinius 
das  spätere  Forsetisland,  das  heutige  Helgoland. 

Dadurch  ist  nun  erwiesen,  dass  in  „ Forsite "  ein  jüngerer  bei- 
name  des  Tius  vorliegt  als  in  „Ächte."  Dazu  stimt,  dass  sich  „Ächte" 
als  epitheton  ebenso  gut  für  den  kriegsgott  wie  für  den  gerichtsgott 
eignet,  während  „Foi'site"  und  ,, Things"  nur  für  den  gerichtsgott  passt. 
Man  wird  sich  also  wol  die  beinamen,  welche  Tius  bei  Friesen  und 
Chauken  fühi*te,  in  folgender  reihenfolge  entstanden  zu  denken  haben: 
Als  gott  des  krieges  und  des  öffentlichen  lebens,  wie  es  sich  in  den 
Volks-  und  gerichtsversamlungen  abspielte,  erhielt  Tius  den  beinamen 
Ächte  (persecutor).  Sein  sinbild  war  das  steinschwert  (sax)  oder  das 
bell  (axe),  und  darum  heisst  er  von  alters  her  der  Schwertträger 
(Saxing)  oder  beilträg-er  (Axing).  Indem  er  sich  dann  zum  kriegs- 
imd  friedensgott  differenzierte,  entstanden  die  beinamen  Badunät 
„kampfgenoss"  und  Frithunät  „friedensgenoss."  Aus  den  functionen 
des  Frithunät  hob  dami  erst  das  friesische  Things,  das  chaukische  For- 
site die  wichtigste,  schütz  und  leitung  der  gerichtsversamlung,  beson- 
ders hervor.  Dass  aber  Ächtavia  in  „Forsetisland"  umgetauft  wurde, 
beweist  ebenso  wie  das  „Things"  jener  votivaltäre  von  Borcovicium, 
dass  den  Ingävonen  ihr  hauptgott  Tius  schon  in  sehr  früher  zeit  in 
erster  linie  gerichtsgott  war. 

Für  die  rechtsaltertümer  ist  durch  unsere  Untersuchung  festgestelt, 
dass  es  zur  heidnischen  zeit  bei  Friesen  und  Chauken  drei  thing- 
arten gegeben  hat,  von  denen  jede  unter  dem  walten  einer  besonderen 
gottheit  („velut  deo  imperante"  Tac.  Germ.  7)  und,  wie  ich  an  anderer 
stelle  zeigen  werde,  an  ihrer  besonderen  statte  abgehalten  wurde,  und 
zwar: 

1)  das  liud-thing  oder  die  mene  acht  unter  dem  schütz  und 
der  leitung  des  Tius  selbst,  daher  auch  Tiu-thing  oder  Es-thing 
genant;  es  war  identisch  mit  dem  liudwarf  (conventus  populi),  der 
volksversamlung.  An  der  liudthingstätte  befand  sich  das  dem  Tius 
geweihte  hauptheiligtum  des  liud. 


PIPER,    ZU    NOTKERS    RHETORIK  277 

2)  das  badiitliing  (bodthing)  „streitgcricht",  gehalten  auf  der 
bei'stede  „ streitstätte ''  am  heiligtiini  der  alaisiage  Bad w ine  oder 
Bede  „der  kämpferin  (pugnatrix)",  die  über  dieser  thingart  waltet. 

3)  das  f  im  elthing,  beschüzt  und  geleitet  von  der  alaisiage 
Fimiline  „der  riicherin  (iiltrix)",  deren  heiligtum  sich  auf  der  gerichts- 
stätte  befindet. 

Der  dreizahl  der  gerichtsgottheiten  entspricht  die  dreizahl  der 
gerichte  und  die  dreizahl  der  gerichtsstiitten. 

BRESLAU,    DEN    20.  FEBR.    1889.  HUGO    JAEKEL. 


ZU  NOTKEES  EHETOEIK. 


Auf  die  iiachricht  Trauhes  von  dem  vorhandeiisein  einer  fort- 
setxung  der  rhctorik  (Ztschr.  f.  d.  altert.  XXXII,  s.  388)  tvante  ich 
mich  an  die  königliclie  bihliothek  %u  Brüssel  und  erhielt  ausser  der 
unten  folgenden,  diplomatisch  genauen  abschrift  des  in  hetracht  kom- 
menden Stückes  (nur  die  compoulien  sind  aufgelöst,  die  mangelliafte 
interpunktion  aber  beibehalten)  folgende  naelirichten  über  die  hand- 
schrift,  tuelche  die  angaben  Traubes  a.  a.  o.  ergänzen.  Ich  veriveise 
dazu  auf  die  beschreibung  der  handschrift  im  ersten  bände  meiner 
Xotkerausgabe  s.  XII  fgg. 

Der  binio,  blatt  74 — 76,  dessen  leztes  blatt  tc eggeschnitten  ist, 
entJiült  auf  blatt  75  ein  bruchstück  eines  briefes  des  grainmatikers 
Paidinus  von  Aquileja  und  einen  (volstätuligen?)  brief  ebendesselben. 
Blatt  76  ist  Uniiert  und  zum  schreiben  hergerichtet ,  aber  völlig  unbe- 
schrieben. Auf  blatt  77  und  den  folgenden  stehen  dann  brief e  des 
Sidonius  Apollinavis.  Xur  auf  blatt  74  befindet  sieh  der  schluss  von 
Xotkers  rhetorik,  und  zicar  knüpft  derselbe  an  das  von  s.  65^  b 
auf  s.  LXXXIX  meiner  ausgäbe  abgedruckte  an.  Der  lezte  satz  lau- 
tet daselbst  (unter  aufnähme  von  Traubes  beiichtigungen)  wie  folgt: 

Patronomicum  est  quod  a  propriis  nominibus  patrum  tantum- 
modo  deriuatur  (sed  unterstrichen)  Secundum  grecam  formam  id  est 
grecani  termiuationem  ut  eacides  quod  significat  Qaci  filius  vel  nepos 
Apparet  ex  hac  diffinitione  omnia  patronomica  ad  aliquid  —  — 

Hier  sext  das  unten  folgerule  stück  ein.  Die  schrift  des  blattes  74 
ist  sehr  klein.  Besonders  ist  der  untere  teil  der  koliimne  74"^,  a  durch 
betasten  sehr  verdorben.  Die  schrift  ist  auch  sonst  oft  schwer  les- 
bar, daher  ko?ite  trotz  aller  mühe  an  einigen  stellen  der  zusamynen- 
hang  nicht  mit  Sicherheit  festgestelt  tverden. 


278  PIPER 

[Ci  ri'",  o]  dici.  Namqiic  sicut  fiJius  patris  est  filiiis.  et  nepos  est  aui 
nepos.  ita  eatides  (sie)  quod  utrumque  siG:iiificat  necessario  ad  utrumqno 
refeitur  Oportet  autem  opposituni  ei  iiomeii  quod  coniinimiter  patrem 
et  aiium  signiticat  genus  esse  sicut  et  omne  patronomicuin  [cod.: 
pat'nomicum)  communem  intellectum  habens  Ulli  et  nepotis  genus  est. 

POSSESS 
Possessiua.  diuersas  babent  terminationesque  uumerand^  sunt  Sunt 
enini  plus  quam  XX^  in  acus  ut  cipriacus  [cod.  cidd.  I)  ager  .  i .  ciprioruni 
ager  In  icus  ut  ecclesiasticus  seruus  .  i .  ^cclesi^  seruus  In  icus  ut 
libycus  [cod.  ly.bvcus)  ager  .  i .  ager  eorum  qui  in  libia  sunt  Has  ter- 
minationes  a  g:recis  suscepimus  in  us  puram  desinunt  possessiua  tarn 
greca  quam  latina  In  eus  breui  .e.  ut  eesarcus  miles.  miles  cesaris  In 
eus  producta  .e.  [cod.  e)  ut  achilleus  armiger,  armiger,  achillis  in  ins  .i. 
[cod.  ide)  correpta  ut  marcius  ensis  ensis  martis  In  ins  .  i .  producta  ut 
chius  ager.  uel  chium  uinum  .  i .  ager  uel  lünum  eorum  qui  in  chio  sunt 
insiila  In  ous  o  producta  ut  eous  nuncius.  iiuntius  eois  [cod.  eo^,  v(jl. 
uinimi  eorum  auf  voriger  xeile)  et  fit  simile  diriuatiuum  primitiuo 
In  eus  ut  biläus  comes  comes  hile^  In  oeus  ut  eubeus  babitus  babitus 
eorum  qui  incolunt  euboeam  insulam  In  iuus  ut  furtiuus  equus  furis 
equus  In  rius  ut  pretorius  exercitus  exercitus  pretoris  Proprio  latino- 
riim  sunt  In  anus  ut  bumanus  ritus  ritus  bominum  In  enus  ut  alie- 
nus  mos  aliorum  mos  In  inus  [cod.  ins)  .i.  longa  in  femininus  [cod.  I 
femino)  cultus  cultus  feminarum  In  ins  i.  breui  ut  piistinus  qui  est 
priorum  uel  priscorum  uel  qui  est  prioris  temporis  Li  unus  ut  tribu- 
nus  qui  magister  tribus  est  In  Inus  ut  popuhius  non  de  arbore  sed. 
qui  populi  est  In  rnus  ut  paternus  qui  patris  In  is  ut  bostilis  qui 
hostium  [cod.  hostilium)  est  In  er  ut  equester  qui  equitum  est  Ergo 
possessiue  significationis  [cod.  significatiois)  nomin a  ad  aliquid  dici 
prius  [cod.  pritis)  dictum  est.  [cod.  ?)  quae  autem  sola  forma  possessiua 
dicuntur  in  diuersis  simt  significatioiübus  Sunt  enim  quedam  gentilia 
ut  romanus  ciuis  [cod.  eui9)  de  quibus  dictum  est  supi'a  alia  sunt  [hier 
ist  getilgt:  propria  ut  iulianus  quintilianus  de  bis  quoque  dictum)  pa- 
tronomicorum  loco  posita.  ut  emilianus  scipio  uel  ocdauianus  cesar  ut 
dictum  est  supra  alia  sunt  propria  ut  iulianus  quintilianus  de  bis  quo- 
que dictum  est  Alia  sunt  agnomina  ut  affricanus.  persicus  getulicus 
creticus  et  hec  propria  sunt  Alia  sunt  materiam  significantia  ut  ferreus 
a  ferro  factus.  similiter  aureus  [das  ei'ste  u  ühej-geschr.)  argenteus  factus 
mamioreus.  ligneus.  querneus.  oleaginus.  faginus  Ei'go  quia  feiTCus  et 
mamioreus.  inde  fit  non  quis.  uel  qualis  sit  demonstrant  ideo  substan- 
tie   qualitati   et  quantitati  buius  modi  sunt  dissimilia    Uidentur  autem 


zu  NOTKEKS    RHETORIK  279 

aliqiiicl  esse  et  relatiuej  dici  ad  ablatiuus  primitiiiorum  sicut  et  posses- 
siua  ad  f^enitiuos  primitiiiorum.  Inuicem  enim  se  construunt  [oder 
constitiumt?)  atque  toUiint  Si  est  de  ferro,  est  feiTeus  et  si  est  ferreus. 
est  de  ferro  Et  forte  melius  est  ad  septimum  casum  ea  referri  ut  sicut 
sensu  seusatum  est  ita  ferro  iiel  mai-mure  tit  ferreum  (r/rt,s'  zweite  e  7mt; 
hüh-lfcn  übcrijcscln'.)  uel  marmoreum  Et  differunt  quia  ferro  iiel  de  ferro 
materiam  ferreus  autem  uel  ferrea  ferreum  materialem  rem  si^mificat 
Si  qiiis  autem  hiiius  modi  relatioiiem  quasi  ab  aristotile  non  iiiuentam 
recusat  suseipere  meminerit  ipsum  diftiniendo  dicere  relatiua  esse,  quo 
modo  übet  predicantur  ad  aliud  Uel  si  neu  aquieuerit  meliorem  ratio- 
nem  reddat  ut  sequamur  eum  A  disciplinis  uero  dicta  ut  socraticus 
platonius.  c.  socratis  sectator  uel  platouis.  uel  a  professionibus  ut  mecha- 
nicus.  medicus  gTammaticus  .i.  liarum  arciiim  studiusi  qualitatciu 
plane  et  scientiam  si^niticant  Similiter  ab  officiis  dicta  ut  mercenarius 
tabellarius  .i.  qui  tabulas  patrum  imagiiiibus  depictas.  nobilibus  rom^ 
antetulit  Item  cerarius.  hostiarius.  argentarius  erarius  uel  a  di^nitati- 
bus  ut  questorius.  prefectorius.  i.  di^j^nus  questura.  prefectura.  pretura. 
qualitatis  sunt.  Alia  dicta  ab  bis  in  (in  fehlt)  quibus  sunt  ut  planta- 
rium  quod  est  in  planta.  mensorium  quod  est  in  mensa.  motorium 
quod  est  in  motu,  palmarium  quod  est  in  palma  diuersorum  gen- 
ervm  species  sunt  Nam  plantarium  calciamentum  est  uelud  simpli- 
citer  dicam  aliquod  genus  indumenti  dialectico  autem  dicere  aliqua 
species  indumenti  mensorium  species  est  uelamenti  (von  mensorium 
ab  i/u't  '.'  am  rande  nacJijjei ragen,  j)b  von  anderer  hand?)  Menso- 
rium species  est  instrumenti  ut  est  illud  quo  teiTentiu*  aues  in  uineis 
Palmarium  quod  est  in  palma  hoc  est  in  laude  Ut  uictoria  (cod. 
metoria)  Corporale  namque  palmarium  quod  in  palma  est  ut  bacu- 
lus  et  sceptrum  species  gestaminum  est  Incorporale  autem  palmarium 
(cod.  palmarum)  quod  in  laude  est  qualitatem  significat  quia  palmarium 
(cod.  palmarum)  quasi  laudabile  esse  intelligitur  et  eiusdem  cathegori^ 
est  Nam  ut  liuius  scribit  in  X°  libro  ab  urbe  condita  (Liv.  X,  47) 
quando  tiiumpliatum  est  a  sabinis  Lustrum  rom^  conditum  est  a 
lucio  cornelio  aruina  consule  et  eodem  anno  ob  res  bene  gestas  uic- 
tores  coronati  spectabant  ludos  sibi  editos.  et  tum  (cod.  tu)  primum 
ti'anslato  egregio  more  palm^  dat^  sunt  in  manibus  eorum  Inde  ortum 
est  ut  a  gestamine  palm^  ipsa  manus  gerens  siue  uictoria  (darnach 
tu  .e.  durch  punkte  getilgt)  palma  dicatur  et  quod  triumphale  est.  uel 
quod  in  laude  est  palmarium  (cod.  palmarum)  dicatur  Alia  significant 
de  quibus  sunt  ut  framentaria  lex  de  frumento.  agraria  de  agris  num- 
maria  de  nummis   Lex  ergo  secundum  ciceronem   species   iustiti^    est 


280  PIPER 

eins  itcriim  species  sunt  plautina  Cornelia  et  ccter^  de  auctoribus 
eorum  nocitat(j  (cod.  iuoitat(^)  quarnni  partes  sunt  frumentaria  agraria 
uummaria  et  qualitates  sunt  Alia  dicta  ex  bis  qu^  continent  ut  uinaria 
cella  que  liabet  uiuum.  armariuni  in  quo  sunt  arma  posita  Sic  mola- 
rium.  [cod.  mälariü)  auiarium  uiridarium  (cod.  uiridiarum)  rosarium 
Ergo  cella  uel  officina  substanti^  sunt  et  species  edilicii  Cella  item 
liabet  species  armariuni  et  uinarium  (cod.  uinariä)  Officina  uero  species 
babet  molendinum.  pistrinum  (cod.  pristinum)  refectorium  et  talia  Sep- 
tum  namque  ea  pars  terr^  dicta  est  que  sepe  circumdata  est  unde  et 
dicitur.  ut  sunt  borti  (b  mit  hühchen  vor  orti  vorgeschriebe) i)  et  uinee 
propterea  partes  sunt  terr^  borti  quibus  nomen  est  molarium  auiarium 
uiridiarium  rosarium  ubi  berbq.  et  flores  et  aues  nutriuntur  et  substan- 
tiam  signiticant  Alia  sunt  a  temporibus  ut  diurnus  nocturnus.  besternus. 
bibernus  Alia  sunt  a  locis  ut  externus  internus  Igitur  de  temporalibus 
et  localibus  diligeuter  uidendum  [G  74''',  h]  est  cui  predicamento  (ver- 
nischf)  asscribenda  sint  Et  sciendum  quod  sicut  (sicut?  ilhergeschr.)  unius 
cathegorie  sunt  magnus  et  magnitudo  sapiens  et  sapientia  .i.  quanta 
et  quantitas.  qualia  et  qualitates  ita  unius  catbegori^  a  presciano  nomi- 
nantur  esse  ipse  locus  et  ipsuni  tempus  atque  ea  qu^  ab  bis  dicuntur 
localia  et  temporalia  ut  a  loco  internus  externus  a  tempore  (cod.  tempe) 
bodiernus  besternus  matutinus  uespertinus  Hoc  apparet  in  prioribus 
ubi  ille  de  loco  exemplum  dare  non  potuit  et  localia  posuit  ut  longin- 
quus  propinquus  sicut  et  bini  et  terni  numerum  simpliciter  non  signi- 
ficant  sed  numeralia  sunt.  i.  substantie  numerat^  ut  bini  bomines 
gemini  (cod.  gemni)  fratres  terni  lapides  Discretio  tamen  est  in  bis  qu^ 
localia  ille  confuse  vocat.  Nam  aduerbia  sursvm  deorsum  supra  iiifra. 
intra  extra  (extra  am  rande  mit  • :  nachgetragen;  von  anderer  Jmnd?) 
ubi  significant  sed  et  locum  ipsvm  uidentur  significare  unde  supernus 
et  infernus  internus  et  externus  qu^  inde  tracta  (das  erste  t  undeut- 
lich) sunt  forsitan  duarum  sunt  catbegoriarum  quantitatis  et  ubi.  Yrba- 
niis  autem  et  oppidanus  et  rusticanus  et  palatinus  et  capitolinus  et 
querlinus  (cod.  q^lin9;  =  esquilinus?)  que  similiter  a  locis  dicta  ipse 
docuit  non  quantitatis  sunt  sed  ubi  significant  (cod.  significam9)  Nam  in 
opido  (sie)  ubi  tantvm  significat  Oppidanus  autem.  id  est  qui  in  oppido 
babitat  ubi  et  personam  (cod.  persona)  scilicet  in  loco  et  locatum  in  loco 
significat  Et  si  boc  ratione  constabit  (cod.  gtabit)  quia  nibil  fernere  fir- 
mandum  est  nomina  ad  sex  catbegorias  extenduntur  Et  si  besternus. 
bodiernus  et  similia  temporum.  nomina  aliquis  forte  plus  poterit  ad 
quando  trabere  quam  ad  quantitatem.  Yir*=™  sunt  catbegori^  in  qui- 
bus nomina  inueniuntur  Sed  de  bis  dubitare  non  est  utile  ut  aristoti- 


zu   NOTKERS    RHETORIK  281 

les  ait  Alia  a  dignitatibus  sine  officiis  ut  tribunus  antesig-naniis  Antea 
quoque  de  hac  significationc  dictum  est.  a  prisriano  sed  nou  in  liac 
terminatione  Roinulus  exercitviu  suuin  in  tres  partes  diuisit  et  quos 
eis  prefecit  a  tribus  partibus  tribunos  uocitauit  Postea  quoque  tribimi 
in  ciuitate  usqiie  ad  noucnariuin  numerum  crcuerunt  et  crcati  sunt 
non  solum  militum  sed  et  plebis  tribuni  et  grece  chiliarchi  (das  zweite 
h  ühenjcschr.)  dicuntur  co  quod  mille  presunt  (cod.  psit)  Ergo  dignitatis 
que  sunt  (cod.  fra()exeichcn)  ad  aliquid  plcraque  sunt  dicta  ut  rex  rcgni 
sui  rex  est.  et  regnum  regis  est  regnum  üux  quoque  comitum  dux  est 
et  coniitcs  ducis  sunt  comites  et  qu^stor  qucstu  qu^stor  est  quqstus 
uero  questoris  qu^stus  est  (cod.  "-^  et  prepositus  subpositis  prepositus 
est.  et  subpositi  prepositis  subpositi  sunt,  et  prefectus  suffectis  prefectus 
est.  suffecti  autem  prefecto  suffecti  sunt  quamuis  in  usu  habenius  suf- 
fectos  successores  dicere  Si  autem  uolumus  prefecto  oppositum  dare 
prefecturam  suam.  ut  prefectura  prefecti  sit  prefectura  et  prefectus  pre- 
fecture  su^  prefectus  sit  oportet  intelligere  quia  suffecti  prefecto  ipsi 
sunt  eins  prefectura  Eodeni  modo  consul  dictator  pretor  presidens  (cod. 
psens)  presul  tribunus.  ad  consulatum  dictaturam  preturam  presidatum 
presulatvm  tribunatum  rclatiuQ  atque  reciprocQ  dicuntur  Antesignanus 
est  qui  uexillum  portat  ante  exercitum  et  qui  sequmitur  (cod.  sequn- 
tur)  eum  signisequi  sunt  et  inuicem  conuertuntur  Alia  a  generibus  ut 
masculinus  fcmininus  Si  quid  simile  (cod.  sime)  masciüe  et  femin^  mas- 
culinum  et  femininum  dicimus  possessiue  dicimus  siue  de"  extcrioribus 
ut  masculinus  et  femininus  amictus  siue  de  interioribus  ut  masculinus 
et  femininus  color  uel  masculinum  genus  (genus  übergesehr.,  von  ande- 
rer hand?)  et  femininum  Si  cui  uidetur  de  solis  exterioribus  possessio- 
nem  dici  sciat  ad  similitudinem  exteriorum  interiora  predicari  et  sicut 
femininum  dicitur  opus  opus  femin^  ita  quoque  femininum  genus  genus 
femin^  uel  feminarum  dicitur  et  ut  supra  dictum  est.  ad  aliquid  dicitur 
Si  quis  autem  interrogat  qualem  animum  habet  ille  et  respondetur 
femininum  femin^  similem  intelligimus  et  qualitatis  est.  Sic  semper 
ex  significatione  predicamentum  intellegitur  Alia  sunt  ex  mutis  anima- 
libus  ut  passerinus  anserinus  coruinus  ceruinus  An  ista  possessive  non 
dicuntur  quia  nesciunt  possidere  muta  animalia?  Non  utique  minus 
de  Ulis  quam  de  rationabilibus  possessiua  fit  predicatio  quid  est  enim 
coruina  uox  uox.  corui  Si  uero  dicitur  ceruina  pellis  manente  (lies 
manet  in?)  ceruo  (dazu  mit  veriveisungszeiehen  am  unteren  rande  der 
Seite,  von  anderer  hand?  steht:  congruQ  uidetur  intellegi  (cod.  intelgi) 
pellis  cerui  quod  non  manet  in  (cod.  non  manenit  mante,  das  lezte  wort 
durch  strich  darunter  getilgt)   ceruo)   de  exuuiis  hoc  dicitur  secundum 


282  PIPER 

prioris  teiiipoi-is  consaetudincm  hoc  dicitar  Alia  sunt  a  persona  (?  die 
ahsclirift  liest  femina)  ut  libertinus  cg-enus  posscssiiic  dicitiu*  libertinus.  i. 
lilhis  libcrti  egeuiis  qualitatem  signilicat  ut  qualis  est?  egeuus  est.  Alia  a 
materia  ex  qua  constant  iit  liumauus  terrenus  de  luinio  et  de  terra  factus 
H^c  ad  substantitmi  et  quantitatem  et  ad  alias  cathegorias  nullam  habent 
similitudinem  nisi  ad  qualitatem  et  ad  aliquid  Si  enim  interrogauero 
(cod.  interragauero)  qualis  est  forte  non  est  incongruuni  dicere  humanus 
est  quod  aliquando  intellegitur  misericors  est  Si  materiam  requiro  nun- 
quam  dico  qualis  est  scd  potius  unde  factus  est  aduerbialiter  interrogo 
et  respoudetur  de  luuno  de  terra  (piia  nou  est  inuentum  nomen  inter- 
rogatiuum  materi^  cui  reddatur  marmoreus  lapidevs  propterea  nee  qua- 
litatis  sunt  ista  quantum  conici  datur  Sunt  ergo  rclatiue  et  ad  aliquid 
dicta  ut  ostendinius  supra  Comparatiua  supcrlatiua  diniinutiua  planis- 
sime  ad  aliquid  prcdicantur  et  sunt  species  eins  Nam  potentibus  poten- 
tior  est  •  et  potentium  potentissimus  est  ita  ad  positiuum  uterque 
respondet  gradus  comparatiuus  et  snperlatiuus  quia  quamuis  potentibus 
minus  tamen  potentibus  potentior  dicitiu'.  eodem  modo  regulus  ad  regem 
paruus  rex  ad  magnuni  regem  comparatiue  dicitur  Denominatiua  uero 
et  uerbiüia  et  omnia  similiter  nomina   omnesquc  dictiones  quantum  ad 

generalissima  genera  decem  tantum  significationes  habere (dictum 

est?)  Quantum  autem  ad  genera  eorum  subalterna  et  species  et  indiuidua 
et  partes  generum  et  partes  specierum  et  indiuiduorum  innumerabiles 
et  incomparabiles   esse   quis  dubitet?     Intellegitur  enim  quando  dicitur 

Caput  esse  geneiis    [O  74  ^,  a]    quia  animal  genus  et  totum 

qiüddam  est  et  quando  dicitur  caput  hominis  intellegitur  pars  totius 
indiuidui  quod  non  solum  intellegitur  sicut  genus  et  species  sed  occu- 
lis  cernitur  Ergo  denominatiuorum  et  uerbalium  narias  significationes 
prescianus  in  diuersis  terminationibus  ostendere  conatus  est  primo  per 
uocales  deinde  per  consonantes  In  ia  quedam  desinunt  ut  duritia  iusti- 
tia  sapientia  que  quia  qualitates  sunt  quäl  es  faciunt  durum  iustvm 
sapientem  Sed  durus  naturalem  potentiam  iustus.  et  sapiens  habitum 
designant  In  a  consonante  antecedente.  ut  a  cantu  cantilena  Dicimus 
tamen  cantum  ipsum  inuentum  Carmen  quod  scientia  tenetur  et  a 
docente  discitur  cantacio  et  cantilena  ipsius  est  cantus  depromptio  et 
cantatio  cantorem  facit.  cantilena  tali  deficit  nomine  Sic  et  lux  et  lumen 
dum  idem  significent  a  luce  fit  lucidus  a  lumine  non  est  inuentum 
quäle  nomen  Nam  et  uirtus  manifeste  est  qualitas  et  ex  ea  quäle 
nomen  est  dissimili  uoce  studiosus  Contra  autem  inuenti  sunt  quales 
sine  qualitatis  nomine  ut  palesti^icator  qui  dicitur  non  exercicio  (cod. 
exercicicio)  sed  corporis  habitu.     Xec  in  cathegoriis  ipse  docct  aristo- 


zu   NOTKERS   EIIETORIK  283 

tiles  In  e  ut  cubo  cubile  sedeo  sedile  Cubilc  cdificii  (cod.  edificics,  es 
unterpiinldlcrf,  i  übcrgcschr)  species  est  aliqiiando  autem  pars  domiis 
est  Sedile  autem  domesticQ  {cod.  doniestlicc^)  supellectüis  species  et  ideo 
siibstantiam  signüicaut  Cubile  editicium  et  sedile  domesticam  suppel- 
lectilem  quam  substantialia  habent  In  i  ut  fi'u<;i  niliili  id  est  abstiuens 
et  uilis  quQ  adiectiua  sunt  Si  autem  a  fnix  numinatiuo  {cod.  uomina 
natiuo)  datiuus  est  fru«;i  quis  dubitat  substantiam  esse,  fruges  et  spe- 
ciem  gcrminis?  Et  uicbili  a  nominatiuo  {cod.  noiao)  nicbilum  qui  com- 
positus  est  a  non  et  liilum  negatiuum  esse  illius  simplicis  nominis. 
hilum.  quod  olim  in  usu  erat  aliquantulum  signiticans  substantic^  Om- 
nia  autem  negatiua  quantitatis  sunt  et  partes  oratiouis  ut  nemo  niillus 
nusquam  num([uam  necjuaquam  et  similia  In  u  ut  tono  {cod.  ono) 
tonitru  Quid  est  tonitru?  nisi  terribilis  sonitus  discurrentis  uenti  in 
nubibus  et  conantis  erumpere  Ergo  (r  übery.)  tonitru  nomen  est  de  sono 
uocis  factum  sicut  et  eins  primitiuum  {cod.  primitiü)  uerbum  tono  Et 
sie  uox  est  aer  ictus  tuuitrii  similiter  est  aer  ictus.  aer  namque  sub- 
stantia  est  vox  quoque  et  tonitru  quid  sunt  aliud?  partes  enim  sunt 
ipsius  elementi.  In  al  ut  a  ceruice  ceruical  a  tribuno  tribunal  Cer- 
uical  torus  capitale  culcita  fulcimenta  sunt,  fulcimentum  autem  sicut 
uestimentum  et  indumentum  et  operimentum  substantiam  significant 
quamuis  et  ad  aliquid  dicuntur  {am  rande  von  derselben  Imnd:  pro- 
batio)  Cuius  est  enim  opperimentum  uestimentum  indumcntujn  nisi 
opert^  uestit^  indutQ  rei?  Item  quo  indutus  opertus  uestitus  nisi  indu- 
mento  operimento  uestimento  dicitur?  tribunal  uero  et  solium  et  cathe- 
drani  et  subsellium  et  tripodas  communi  nomine  sedem  dicimus  Sedes 
autem  et  mens^  et  lecti  et  candelabra  {cod.  candelebra)  et  eiusmodi 
quibus  utimur  in  domo  utensilia  communiter  dicuntur  De  Ins  quoque 
suppellectilem  dicimus  quia  nemo  dubitat  substantias  esse  In  il  ut  uigilo 
uigil.  pugilus  pugil  Yigil  est  cui  inest  naturalis  {cod.  nat'alis)  seu  exer- 
citata  uigilantia.'  aliter  vnde  ad  duas  quaütatis  species  pertinere  uide- 
tur  habitum  et  naturalem  potentiam  similiter  et  pugil.'  unde  et  hec  natu- 
ralis potenti^  qualitas  dicitur  Pugil  ucro  aliquando  exercitio  aliquando 
quoque  naturali  {cod.  nat'rali)  potentia  dicitur  et  ideo  ad  duas  species 
qualitatis  suscipitur  In  ul  ut  exulo  exul  presulo  presul  Exul  extra  solum 
est  et  ubi  significat  Presul  dignitatis  nomen  est.  significat  enim  magi- 
ster  uel  episcopus  que  quia  ad  aliquid  sunt  dicta  presul  (ad  fehlt)  ali- 
quid dicitur  ut  superius  commemoratimi  est  In  am  ut  nequis  nequani 
Hoc  adiectiuum  est  In  um  ut  oliua  oliuetum  rosa  rosetum.  tendo  ten- 
torium  sto  stabulum.  presideo  presidium  Orti  simt  rosetum  et  oliuetum. 
i.  partes  (te  übergescli)'.)  terre  in  quibus  multitudo  rosarum  et  oliuarum 


284  PIPER 

inueninntur.  Tcntoriiini  nero  tcgimontum  est  sicut  et  tii£::nrinm!  Vesti- 
menta  {darüber  sfcJ/f  d  als  xcichcn  für  eine  randbenierlnug,  diese  steht 
unien  fnif  demselben  reichen:  (Domus  quoque  et  cetera  habitaciila 
nonne  sunt  tegiimenta?  von  anderer  hand?)  quoque  et  (in  durch  strich 
darunter  (jetiJgt)  operimenta  et  indumenta  quid  sunt  nisi  tegumenta? 
Tegumenta  uero  defensacula  sunt  Defensacula  uero  siue  sint  opificialia 
ut  murus  et  propugnaculum  siue  naturalia  ut  montes  et  silu^  corpora- 
lia  sint  Non  minus  tarnen  et  ad  aliquid  sunt  dicta  tegumenta.  et 
defensacula  sicut  operimenta  et  indumenta.  Stabulum  editicium  est 
dictum  est  prius  presidium  munitus  locus,  uel  exercitus  derelictus  in 
prouincia  ut  presidendo  et  armis  eam  muniendo  tutam  eam  ab  hosti- 
bus  faciat  ut  romana  prcsidia  per  totum  pene  orbom  disposita  quon- 
dam  fuerant  ad  comprimendos  statim  primos  motus  prouinciarum.  ne 
crescendo  maiora  damna  rci  p.  [d.  i.  publicae)  inferrent  Si  tamen  est 
presidium  est  et  subsidium  (ad  auferenda  durch  strich  darunter 
getilgt)  et  ad  aliquid  sunt  Differunt  autem  quia  presidium  est  ad  ca- 
uenda  mala  subsidium  ad  auferenda  uel  leuanda  mala  Item  presidium 
contra  futura  mala  auxilium  et  subsidium  contra  presentia  mala  ita  ut 
auxilium  sit  ab  alienis  uel  extraneis  subsidium  uero  quod  postea 
superuenit  In  ar  ut  lacus  lacunar.  calx  calcar  cedo  cesar  Si  lacunar 
locus  (lacus?)  et  receptaculum  aquarum  dicitur  de  terra  utique  hoc 
dicitur.  ipsa  enim  locus  est  et  receptaculum  aquarum  Ergo  lacunar  est 
pars  terre  pars  totius  indiuidui  elementi  Quando  autem  lucernam  aut 
laquear  significat  similiter  corpus  est  Calcar  uero  instrumentum  est 
equestre  ut  et  lupar  et  strigiles  Illigatur  namque  calcaneo  ad  stimu- 
landos  equos  Instrumenta  autem  siue  domestica  siue  rustica  siue  naua- 
lia  siue  equestria  siue  bellica  corporalia  sunt  Cesar  aliquando  proprium 
aliquando  appellatiuum  semper  substantiam  significat  In  er  ut  eques 
equester  macies  macer  Equester  est  possessiuum  macer  adiectiuum  In 
or  ut  senatus  Senator  amo  amator  Senator  nomen  est  dignitatis  et 
quäle  significat  Qu^  uero  dignitatem  simul  et  officium  significant  (cant 
undeutlich)  ut  dictator  magis  ad  aliquid  sunt  Amator  plane  affectionem 
que  est  prima  species  qualitatis  et  passionem  que  est  tertia  species 
significat  In  ur  ut  sano  uel  saturo  satur  murmuro  murmur  Satur  qua- 
lis  est  murmur  qualitas  est  secundum  quam  quales  dicimur.  id  est 
murmuratores  (tores  über  uiit erpunktiertem  tiones  iibergeschr.)  In  us 
(lies  as)  ut  primus  primas  optimus  optimas.  ciuis  ciuitas  probus  probitas 
arpinum  ai-pinas  primas  et  optimas  [G  74'",  b]  nomina  dignitatimi  sunt 
idem  honorabilis  et  electus  de  quibus  quales  dicimur,  ciuitas  substan- 
tia  est  ut  oppida  et  urbes.    et  municipia.    et  omnes  structur^  probitas 


zu   NOTKERS   RHETORIK  285 

qiialitatis  est  arpinas  patriuin  {cod.  patriii)  est.  es  correptä  pes  pedes 
eqiius  eqiies  teges.  pedites  et  eqiiites  et  sagittaiü  et  uelites  (cod.  ueli- 
tres)  noinina  sunt  militum  noii  propria  sed  specialia  et  ab  acta  quales 
dicuntiir  Es  producta  pauper  paiipeiies  acer  acies  sepio  sepes  struo 
striies  sterno  strages  pauperios  qiialitas  est  ([iialein  facit  pauperem  Acies 
aciit(j  rei  acies  dicitur  non  minus  tarnen  et  qualeni  facit  acutum  Sepes 
septQ  rei  sepes  est  relatiu^  enim  picdicatur  Eodem  m()(l(3  strucs  et 
strages.  structe  et  strate  rei  dicuntui-  et  eiusdem  sunt  prcdicamenti  In 
is  qdes  edilis  rex  regalis.  amo  amabilis  penetro  penetrabilis  athene 
atheniensis  sicilia  siciliensis  Edilis  nomcn  officii  et  dignitatis  est  Rome 
nauKjue  edium  curam  (pii  gerebat  edilis  dictus  est  Edilitate  uero  edilis 
est  edilitas  autem  edilis  est  Et  quia  edilitas  qualem  quoque  facit  edi- 
lem  duplex  fit  edilis.  predicatio  qualitatiua  atque  reciproca  Regalis  pos- 
sessiuum  est  amabilis  naturalem  potentiam  ostendit  quia  amabilis  ille 
est  qui  alios  potenter  traliit  ad  amorem  sui  penetrabilis  naturalem  im- 
potentiam  ostendit  quia  facile  penetratur.  Atheniensis  patrium  est  sicilien- 
sis gentile  De  his  dictum  est  Os  ut  (cod.  et)  lepidus  [cod.  lepus)  lepos 
custodio  custos  lepos  est  eloquentia  et  qualitas  facit  enim  lepidum  Gustos 
qualis  est  et  ad  aliquid  facit  enim  custodia  custodem  utraque  tamen 
custos  et  custodia  custodit^  rei  reciproce  dicuntur  Ys  diuersis  conso- 
nantibus  ante  positis  saxvm  saxosus  spuma  spumosus  uito  uitabundus 
Et  a  participiis  uersus  saltus  quando  quarte  sunt  declinationis  Et  ab 
aduerbiis  supra  uel  super  superus  ab  infra  inferus  extra  externus  liodie 
hodiernus  Saxosus  et  spumosus  id  est  plenus  saxis  et  plenus  spuma 
qualia  sunt  sicut  et  formosus  vitabundus  quod  intellegitur  similis 
uitanti  comparatiue  dicitur  et  ut  similis  simili  similis  est  ita  et  uita- 
bundus uitabundo  est  Supervs  et  inferus  externus  hodiernus  localia  et 
tempuralia  ante  sunt  dicta  In  x  für  furax  capio  capax  audeo  audax 
uerto  uertex  furax  capax  audax  qualia  sunt  Uertex  uero  partem  cor- 
poris significat  In  duas  consonantes  picenum  picens  quod  gentile  est 
tiburtum  tiburs.  quod  patrium  est  prius  dictum  est  His  addidi  que  in 
questionem  uenerunt  Montes  quid  sunt  nisi  eminentes  terre?  Et  ual- 
les  nisi  humiles  terr^?  et  campi  nisi  plane  terr^?  et  specus  et  putei  et 
fosse  et  similia.  nisi  cauate  terr^?  Et  ill^  terr^  partes  terr^  sunt  Fora- 
men autem  quia  ad  plura  uadit  forate  (vor  forate  ist  i  durch  jpunkt 
darunter  getilgt)  rei  est.  Longitudo  latitudo  et  altitudo  et  magnitudo 
et  amplitudo  et  sublimitas  et  profundum  et  similia  quantitates  sunt, 
faciunt  enim  longum  latum  altum  magnum  amplum  sublimem  profun- 
dum Et  he  quantitates  infinite  sunt  et  comparatiue  dicuntur  Et  sicut 
longus  ad  breuem  dicitur.    ita  et  longitudo   ad  breuitatem  comparatiue 


286  rrPER,  zu  notkers  eiietorik 

dieitiir  et  in  cetoris  eodem  modo  {cod.  mo)  Spaeium  quoque  et  inter- 
stioium  et  interuallum.  et  intoivapedo  et  rima  et  hiatus  et  similia  ad 
aliqiüd  sunt  et  pene  uniun  sunt  Quid  est  spaeium  uel  nnde  dictum 
est?  A  patendo  (t  über  luäcrpiuiliicrtcm  n)  enim  dictum  est  et  omnis 
res  panda  uel  patula  spacio  patet/  nihil  est  spaeium  nisi  quod  est  in 
medio  pande  et  patule  rei  Ynde  etiam  quod  in  medio  temporum  est  per 
similitudinem  spaeium  dicitur  Ergo  spaeium  protractio  loci  uel  temporis 
id  est  medietas  locorum  uel  tempoi'um  iufinita  Sic  et  interuallum  quod 
est  inter  uallos  Quomodo  enim  antiquitus  castra  (cod.  Castro)  ficbant 
fossa  circum  ducta  est  cuius  egesta  humus  interius  missa  aggerem 
(vorher  aggrege  unierstriclien)  fecit  super  quem  agerem  (sie)  ualli  id 
est  sudes  fingebantur  per  circuitum  ut  essent  quasi  murus  intrinsecus 
positus  et  non  timerent  hostium  incursionem  et  que  intra  illos  uallos 
distantia  uidebatur  interuallum  dictimi  est  Talis  est  rima  et  hiatus 
Rima  uero  quasi  a  ramo  dicta  est  unde  et  uerbum  dicitur.  dirimo 
quasi  duos  ramos  facio  Quando  enim  que  coniuncta  erant.  aut  conti- 
nua  dirimunt  se  rima  est  et  hiatus  Ergo  rima  et  hiatus  medietas  diri- 
mentium  se.  Intersticium  spaeium  interstans  intercapedo  (das  zweite  e 
über  iDiterpunldiertem  i)  locus  capiens  medietatem  duorum  corporum 
Nam  in  bis  omnibus  nihil  nisi  medietatem  inuenio  aut  locorum  aut 
temporum  et  ideo  ad  aliquid  sunt  Spaeium  ut  dictum  est  pande  rei 
uel  patule  rei  spaeium  est  et  ipsa  res  panda  uel  patula  id  est  qua 
patet  spacio  patet  Rima  diremtorum  est  et  dirempta  rima.  dirempta 
sunt  Hiatus  hiantium  est  et  hiantia  hiatu  hiant  Intersticium  circum- 
stantium  et  circumstantia  intersticium  circumstant  Intercapedo  inter- 
ceptorum  est  et  intereepta  intercapedine  intercepta  sunt  Quid  autem 
est  distantia?  separatio  alterius  ab  altero  et  ad  aliquid  est  Sicut  enim 
separatio  est  separate  rei  sie  et  distantia  distantis  rei  et  distans  res 
distantia  distat  Item  quid  est  uia?  forte  uia  est  quantitas.  quia  uidetur 
esse  linea  que  ducit  de  loco  ad  locum  Nam  et  latitudo  que  uidetur 
in  uia  circa  illam  lineam  est  et  ipsa  non  habet  latitudinem  sed  longi- 
tudinem  sine  latitudine  Inuisibilis  etiam  est  uia  enim  que  uidetur  non 
est  ipsa  linea  sed  contricio  et  supeiüciei  demolicio  ex  uestigiorum  im- 
pressione  facta  Item  quid  est  facies?  Species  et  forma  in  corpore  et 
ideo  qualitas  Quid  est  uultus?  instabilitas  et  commutatio  que  cernitur 
in  (cod.  ut)  facie  Ergo  facies  ad  formam  uultus  ad  effectionem  pertinet 
que  species  sunt  qualitatis.;  Hec  cum  scripta  uides  scriptorem  qui  pote 
rides.  Sic  quod  non  potui  rusticus  ut  nolui.  Ac  tu  comple  re.  sed 
me  decet  utique  flere. 

ALTOXA.  p.    PH'ER. 


287 


ÜBER   DEN   BlLDUNGSGANa   DEK   (JEAL-    UND   PAEZI- 
YAL- DICHTUNG   IN  FE  ANKEEICH  UND  DEUTSCHLAND. 

So  lange  die  schätze  der  iVanzösischen  bibliothekeii  in  betreff  der 
hier  einschhigenden  litteratiir  in  Deutschland  noch  unbekant  oder  nur 
dem  nanien  nach  und  nach  nnzulänirliclien  notizen  bekant  waren,  mocli- 
ten  die  versuche  zulässig  und  berechtigt  erscheinen,  auf  grund  der 
mysteriösen  angaben  Wolframs  von  Eschenbach  über  die  quellen  seines 
gedichts:  über  Flegetanis,  der  in  den  sternen  vom  gral  las,  über  das 
arabische  manuscript  von  Toledo  und  die  chronik  von  Anjou,  welcher 
sein  vordichter,  Guiot  von  Provenze  gefolgt  sei,  nacli  dem  urquell  der 
tiefsinnigen  sage  vom  gral  in  Spanien  zu  suchen  und  nach  Gürres  bei- 
spiel  in  Hindostan  und  Indien,  oder  in  der  Kaaba  zu  Mekka  die  erste 
Wurzel  dieser  sage  zu  entdecken.  Seitdem  aber  der  Inhalt  der  hierher- 
gehörigen litteraturwerke  nns  deutlicher  teils  in  mehr  oder  minder 
ausfüln'lichen  auszügen,  teils  in  volständigem  abdruck  vorliegt,  ist 
die  aufgäbe:  sich  nicht  mehr  in  kühne  probleme,  phantastische  hypo- 
thesen  und  gewagte,  wenn  auch  geistreiche  kombinationen  zu  verlie- 
ren, sondern  lediglich  die  betreffenden  Schriftwerke  nach  ihrem  inhalt 
als  zeugen  zu  vernehmen  und  so  den  gang  und  fortschritt  der  sage 
stufenweise  zu  verfolgen.  Auf  diesem  wege  sind  daher  Zarncke  (Paul 
u.  Braune,  Beiträge  usw.  III,  Halle  1876,  s.  304)  und  Bircli- Hirsch- 
feld (Die  sage  vom  gral,  Leipzig,  Vogel,  1877)  zu  dem  resultat  gelangt, 
dass  eigentlich  von  einer  sage,  d.  h.  einer  im  volksmund  und  Volks- 
glauben fortlebenden  und  je  nach  den  zeiten  etwa  gewandelten  tradi- 
tion  niclit  die  rede  sein  könne,  sondern  nur  von  einer  dichtung, 
welche  aber  zugleich  das  algemeinste  Interesse  erregte,  imd  die  ver- 
schiedensten dichter  anspornte,  deren  inhalt  weiter  zu  führen  und  ihn 
im  geschmacke  der  zeit  auszubauen.  Und  als  diesen  ersten  dichter 
müssen  wir  Robert  de  Boron  erkennen,  der  selbst  versichert,  dass 
noch  kein  sterblicher  vor  ihm  über  den  gral  geschrieben  habe,  was 
auch  durch  die  bisher  aufgedeckte  litteratur  des  abendlandes  bestätigt 
wird.  Und  da  auch  in  der  Überdichtung  der  Historia  regum  Britan- 
niae  des  Gotfried  von  Monmouth  durch  Wace,  der  unmöglich  nach 
seiner  art  der  behandlung  dieses  werks  den  gral  hätte  übergehen  kön- 
nen, wenn  er  spuren  davon  darin  oder  anderswoher  entdeckt  hätte, 
nichts  vom  gral  zu  finden  ist,  so  ist  als  feststehend  anzunehmen,  dass 
etwa  bis  zum  jähre  1150  oder  1160,  da  er  schrieb,  Borons  werk:  „le 
petit  Graal''  der  dichterische  stamm  und  anfangspunkt  der  gralgeschich- 


288  SAN    MARTE 

ten  ist,  aus  dorn  vorzugsweise  Crestiens  ,,  Coute  du  Graal",  und  in 
überrasolieuder  maunigfaltigkeit  und  in  kurzen  fristen  dessen  fortsetzun- 
gen  und  die  weiteren  gralromane  emporschössen. 

"Wesentliche  beitrüge  zur  deutlicheren  überschau  der  tätigkeit  der 
französischen  dichter  liefert  das  unten  bezeichnete  verdienstvolle  werk 
Schorbachs^.  Die  umfangreiche  fortsetzung,  welche  im  14.  Jahrhun- 
dert die  elsässischen  dichter  Claus  Wisse  und  Philipp  Colin  dem  mei- 
sterwerk  Wolframs  von  Eschenbach  einfügten ,  wird  hier  zum  ersten  male 
veröffentlicht.  „Gehört  auch  das  ergänzungswerk  (bemerkt  der  heraus- 
geber)  in  die  verfalzeit  der  ritterlichen  poesie,  so  beansprucht  es  doch 
als  ein  nicht  unwesentliches  glied  in  der  kette  der  dichtungen  von 
Artus  tafeirunde  und  dem  grale  und  als  wertvolle  quelle  für  die 
geschichte  des  elsässischen  dialekts  im  mittelalter  ein  besonderes  inter- 
esse.^  —  Über  diesen  lezteren  punkt  hat  sich  der  herausgeber  s.  XLII 
einen  besonderen  ausführlichen  aufsatz,  der  sich  auch  auf  die  dichte- 
rische tiitigkeit  und  befiihiguug  von  Wisse  und  Colin  erstrecken  wird, 
zur  mitteilung  in  den  ., Strassburger  Studien"  vorbehalten,  der  daher 
abzuwarten  ist,  und  die  philologische  betrachtung  des  werkes  in  dieser 
anzeige  ausschliesst.  Dagegen  trägt  die  wörtliche  Übersetzung  der  fran- 
zösischen dichtung  so  manches  "licht  in  jenes  noch  immer  nicht  vol- 
ständig  aufgeklärte  litteraturgebiet,  dass  es  sich  lohnt,  dieser  „heite- 
rung", wie  Colin  sagen  würde,  sofort  gründlicher  nachzugehen,  und 
vielleicht  zu  weiteren  speziellen  forschungen  neue  wege  zu  bahnen, 
oder  wenigstens  anregung  dazu  zu  geben.  Als  ein  besonderer  glücks- 
fall  ist  es  anzusehen,  dass  wir  in  dem  prächtigen  Donaueschinger  co- 
dex, den  der  herausgeber  ausführlich  beschreibt,  und  dem  schon  Yictor 
V.  Scheffel,  als  er  der  Donaueschinger  bibliothek  vorstand,  eine  beach- 
tungswerte Schilderung  (Hdschr.  altdeutscher  dichtungen  der  fürstlichen 
Fürstenbergschen  hof bibliothek  zu  Donaueschingen.  Stuttgart,  1859.  8. 
S.  15  — 18)  widmete,  die  von  Barak  in  seinem  Verzeichnis  der  hand- 
schriften  dieser  bibliothek  (Tübingen,  1865,  8.  S.  88  —  93)  weiter  ver- 
wertet ward,  die  Originalhandschrift  der  dichterischen  Übersetzer 
der  französischen  fortsetzungen  von  Crestiens  Conte  du  Graal  besitzen, 
wie  sie  aus  dem  scriptorio  derselben  hervorgieng.  Die  darin  hinzuge- 
fügten persönlichen  bemerkungen  geben  ein  deutliches  bild  von  der  ent- 

1)  Parcifal  von  Claus  Wisse  und  Philipp  Colin  (1331  —  1336).  Ergän- 
zung der  dichtung  "Wolframs  v.  Eschenbach.  Zum  ersten  male  herausgegeben  von 
Karl  Schorbach,  Strassburg,  Trübner;  London,  Triibner  &  Cp.  1888.  (Zugleich 
fünfter  band  der  Elsässischen  litteraturdenkmäler  usw.  von  E.  Maitiu  und  E.  Schmidt.) 


BILDUNGSGANG   DER   GRALDICHTUxNG  289 

stehung  derartiger  werke,    das   als  spezielles  beispiel   auch   für  andere 
ähnliche  fälle  wird  gelten  dürfen. 

Ulrich  von  Eappoltstein,  aus  dem  mächtigen  und  zahlreichen 
oberelsassischen  adelsgeschlecht  der  Kappoltsteiner,  beauftragte  einen  in 
seinem  gewerbe  zurückgekommenen  goldschmied  Pliilipp  Colin,  und 
einen  gleichfals  einer  goldschmiedsfamilie  angehörigen  Claus  Wisse, 
mit  der  poetischen  Übersetzung  der  fortsetzungen  des  romans  Conte  du 
Graal  des  Crestien  de  Troies  aus  dem  französischen  ins  deutsche,  und 
stelte  ihnen  dazu  zwei  Schreiber,  namens  Henselin  und  von  Onheim 
zur  disposition,  welche  ihre  arbeit  auch  beide  in  ihrer  erkenbar  ver- 
schiedenen handschrift  zu  stände  brachten.  Da  damals  im  Elsass  die 
deutsche  spräche  noch  die  herschende  war,  und  sie  französisch  nicht 
verstanden,  wurde  ihnen  als  dolmetscher  ein  Jude,  Samson  Pine  zur 
hülfe  gegeben, 

Sp.  854,  28:  fZer  het  sine  zit  ouch  ivol  beivant, 
cm  dirre  oventure. 
er  tet  unz  die  stüre: 
wax>  wir  xito  rimen  haut  bereit, 
do  het  er  imz  daz  tücJisch  geseit 
von  de?i  oventuren  edlen  gar. 
ich  wünsche j  daz,  er  wol  gevar 
ah  ein  Jude  noch  sinre  e. 
er  enhegerte  anders  nilt  nie. 

Er  scheint  also  hausoffiziant  des  herrn  Ulrich  (etwa  sein  finanzier) 
gewesen  zu  sein,  und  deshalb  ohne  besonderen  lohn  geholfen  zu  haben. 
Dies  bestärkt  die  auch  vom  herausgeber  geteilte  Vermutung,  dass  die 
dichtung  auch  an  dessen  wohnsitz,  auf  dem  Gross -Kappoltsteiner  schloss 
gefertigt  w^orden,  jezt  S.  Ulrichsburg,  „dessen  mächtige  ruinen  noch 
heute  auf  das  freundliche  Städtchen  Kappoltsweiler  herabblicken,  und 
ein  Wahrzeichen  sind  für  das  an  naturschönheiten  so  reiche  elsässische 
land."  —  Fünf  jähre,  von  1331  bis  1336,  ist  daran  gearbeitet,  wie 
aus  beischriften  der  Schreiber  ersichtlich,  und  Colin  berechnet  die  kosten 
in  seinem  Schlussbriefe  an  den  herrn  Ulrich  auf  200  pfund,  die  er 
jedoch  nicht  zu  hoch  achtet,  da  ein  ritterlicher  minner  eine  solche 
summe  wol  in  kurzer  stunde  an  eime  orse  verstichet. 

Sp.  854,  44:  nu  hin  ich  sicher  iinde  wer 

unser  kost  si  angeleit  haz. 
an  alle  frowen  ziehe  ich  daz 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.       BD.  XXII.  19 


290  SAN   MARTE 

und  an  reifte  minnere, 

die  ro)i  disen  hiJdere 

icerdent  rehter  /ninnc  ermant; 
und  wenn  auch  das  iu  der  dichtiin"-  gepriesene  minnelebeii  unserer 
zeit  nicht  melir  entspricht  und  zur  nachahmung  verlockt,  so  wirkt  jener 
kostenaufwand  doch,  dass  wir  itach  mehr  denn  fünf  jalu'hunderten 
uusern  chuik  und  preis  für  das  geschaffene  werk  dem  edlen  musenhol- 
den Rappoltsteiner  naclu'ufen  können,  dessen  gemahlin,  die  tochter  des 
grafen  Götze  v.  Fürstenberg,  im  hinblick  auf  Wolframs  gedieht  den 
namen  Herzelaude  (französiert  Loveline)  führte,  und  deren  1359  ge- 
bornes  töchterchen  ebenfals  Herzelaude  getauft  ward.  „Eine  merkwür- 
dige urkundlich  nicht  verfolgbare  fügung  ist  es,  dass  diese  kostbare 
Parcifalhandschrift  wider  in  den  besitz  des  erlauchten  hauses  Fürsten- 
berg, dem  Herzelaude  angeliörte,  kam  und  uns  erhalten  blieb,  und  den 
beweis  liefert,  wie  in  beiden  häusern  Fürstenberg  und  Rappoltstein  die 
liebe  zur  deutschen  litteratur,  und  besonders  zu  "Wolframs  tiefsinnigem 
epos  heimisch  war." 

Die  sonstigen  notizen  über  die  bei  dem  werke  beteiligten  perso- 
nen  und  familien  sind  mühsam  und  mit  grösstem  fleiss  gesammelt, 
und  dürften  vorläufig  als  erschöpft  gelten.  Nach  den  von  beiden  dich- 
tem abgelegten  proben  eigener  selbständiger  dichtung  erscheint  Colin 
der  gewantere  in  seinem  Schlussbriefe,  dem  Wisse  in  dem  sogenanten 
anevang  oder  prologus  nachsteht.  Im  algemeinen  fliessen  die  deutschen 
verse  einfach  und  ungezwungen  dahin  (mitunter  allerdings  in  koUision 
mit  dem  versmass  und  gestört  durch  zu  häufige  flickreime:  tvüssent 
das  —  ieso  —  die  riht  —  %e]iandenan)\  sie  scheinen  sehr  treu 
dem  französischen  text  zu  folgen.  Eine  begleitung  derselben  durch 
eigne  bemerkungen  und  innere  teilnähme  der  Übersetzer  an  den  erzähl- 
ten begebenheiten,  was  Wolframs  erzählungsweise  so  reizend  macht 
und  sie  mit  frischem  leben  durchdringt,  ist  nicht  zu  spüren  und  tritt 
ihre  persönlichkeit  nirgend  hervor;  daher  ist  auch  nicht  anzunehmen, 
dass  sie  selbst  noch  dichterische  zusätze  gemacht  haben.  Wo  der  ton 
sich  höher  hebt,  ist  das  gewiss  auch  im  französischen  text  der  fall. 
In  der  Schreibung  der  orts-  und  personennamen  sind  die  Schreiber 
nachlässig  und  ungenau.  Bis  jezt  ist  nur  ermittelt,  dass  von  den 
bekanten  französischen  Parzival-  und  gralgedichten  keins  dem  Colin 
als  vorläge  gedient  hat,  dass  daher  dessen  original  noch  zu  entdecken 
bleibt.  An  stelle  von  Crestiens  gedieht,  an  welches  dessen  fortsetzer 
sich  anschlössen,  nahmen  die  Übersetzer,  offenbar  auf  befehl  des  grafen 
Ulrich,    Wolframs    dichtung,     rausten    sie    jedoch    durch    mannigfache 


BILDUNGSGANG    DER   GRALDICHTUNG  291 

abstriche,  Zusätze  und  änderungen  gewissermassen  neu  redigieren,  um 
die  ab  weichungen  und  Widersprüche  nach  möglichkeit  zu  beseitigen, 
die  sich  aus  den  fortsetzungen  ergaben,  was  ilinen  jedoch  niclit  vol- 
ständig  gelang.  Dass  diese  redaktion  gleich wol  mit  grosser  aufmerk- 
samkeit  auch  bis  ins  kleine  des  textes  gieng,  zeigt  die  Verbesserung 
des  fehlreimes  Wolframs  V.  4G,  1,  2.  lla\aUg  —  wip  durch  einschie- 
bung  zweier  zeilen: 

(ja)ä  har,  nihi  herre  Raxalig, 
trettent  an  der  seiden  st  ig. 
ir  sUllent  küssen  min  ivip 
die  mir  liep  ist  als  der  lip. 

Sämtliche  zusätze  und  änderungen  an  AYolframs  texte  hat  der  heraus- 
geber  sorgfältig  s.  XLVI  bis  LVI  verzeichnet.  Aus  der  vergleich ung 
mit  Lachmanns  kritischer  ausgäbe  des  Parzival  ist  ersichtlich,  dass 
ihnen  eine  gute  handschrift  zu  geböte  stand,  die  sie  sehr  sauber  kopier- 
ten. Der  französische  codex  scheint  auch  die  im  13.  Jahrhundert  dem 
werke  Crestiens  vorgesezte,  auch  im  Pariser  druck  von  1530  widerholte 
und  nur  im  Monsser  manuscript  handschriftlich  erhaltene  „Elucidation 
usw.''  enthalten  zu  haben,  deren  erste  474  zeilen  (Potvin,  II,  s.  1 — 17) 
dem  Wisse  das  material  zu  seinem  504  verse  langen  Frodromus  oder 
Anefang  gaben  mit  der  Überschrift: 

„So  hebet  hie  an  der  prologus  von  Parcifal,   der  us  ivelschem  %uo 
tilseheni  ist  gemäht,  unde  vohet  hie  sine  ld7itheit  an", 

der  hinter  imserm  P.  112,  11,  12  eingeschoben  ward,  nachdem  nach 
P.  112,  10  die  rote  Überschrift  gemacht  wurde: 

„Hie  ist  künig  Gamicretes  huoeh  us,  der  Parcifales  vatter  ivas" 

Da  Colin  bemerkt,  dass  Wisse  schon  ein  jähr  vor  ihm  an  der  hand- 
schrift gearbeitet,  und  dieser  am  schluss  des  vierten  buches  unsers 
Parzival  (L.  223,  30)  in  18  versen  eine  bitte  um  lohn  seiner  arbeit  an 
diesem  buche  einschiebt,  so  scheint  AYisse  zu  dieser  zeit  ausgeschie- 
den zu  sein  und  Collin  das  werk  allein  fortgeführt  zu  haben.  Da  Col- 
lin  am  schluss  seines  briefes  an  Ulrich  auch  die  bitte  um  lohn  aus- 
spricht, so  ist  nicht  anzunehmen,  dass  auch  die  erstere  von  ihm  sei. 

Ein  zweites  exemplar  der  Übersetzung  von  Wisse  und  Colin  bil- 
det die  von  H.  v.  d.  Hagen  (Briefe  in  die  heimat,  II,  304)  in  der 
Casauatischen  bibliothek  zu  Kom  i.  j.  1816  entdeckte  handschrift,  aus 
welcher  A.  v.  Keller  in  seiner  Komvart  (Mannheim,  1844)  anfang  und 
ende    und    die   kapitelüberschriften  mitteilte,    und   die  auch  Schorbach 

19* 


292  SAN    MARTE 

teilweise  verglichen,  und  als  eine  absclirift  der  Donau eschinger  hand- 
schrift  erkant  hat,  worin  aber  durch  die  abschrciber  der  oberelsasser 
dialekt  sehr  verwischt  ist.  You  besonderem  wert  war  es  jedoch,  dass 
aus  ihr  die  durch  das  fehlen  zweier  bliitter  in  lezterer  handschrift  ent- 
standene lücke  ergänzt  werden  konte.  Am  schluss  des  vierzehnten 
buches  unsers  Parzival  folgt  in  der  Originalhandschrift  eine  von  Hen- 
selins  genossen  rot  geschriebene  prosanotiz,  welche  den  Übergang  des 
Wolframschen  textes  zur  fortsetzung  durch  unsere  übei'setzer  vermit- 
teln soll  (s.  XIII),  deren  lezter  teil  lautet:  „Xu  geswigen  ivir  kibiig 
Ärtuses  hie  und  sagcnt  von  hern  Gawane,  ivie  der  %uom  ersten  mole 
xiwtne  grole  htm,  und  ist  oiich  dax  von  welsche  xuo  tüxsche  Ijraht, 
des  sin  nie  ist  danne  der  tüxsche  ParxefaJ,  der  nu  lange  gctihtct  ist, 
und  alles  da\  liie  nach  gcschrihcn  stat ,  das  ist  ouch  Parxcfal  toid  ist 
vo?i  welsche  xuo  tüxsche  hraht  und  voUetihtet  und  xuo  ende  braht. 
Dis  geschach  do  me)i  xalte  von  gocx  gehürte  drixehiindert  jor  und 
drisxig  jor  in  deme  sehsten  jore^';  wodurch  das  alter  der  hand- 
schrift unzweifelhaft  festgestelt  wird.  Nach  von  Kellers  bemerkung  ist 
diese  beischrift  als  Überschrift  und  titel  des  casanatischen  co- 
dex rot  geschrieben,  wörtlich  widerholt,  und  da  der  text  begint:  „hie 
im  xorn  von  dannen  schiet  Gawan^',  so  ist  zu  entnehmen,  dass  in 
diesem  codex  Wisses  Prodromus  nicht  mitenthalten  war.  —  Das  vom 
herausgeber  angefügte  namenregister  ist  ein  höchst  wilkommener  und 
dankbar  anzuerkennender  leitfaden  durch  die  irgänge  dieser  aventüren- 
wildnis.  Der  text  ist  in  zwei  spalten  von  einigen  vierzig  versen  auf 
jeder  oktavseite  gedruckt,  daher  nach  spaltenzahl  zu  eitleren  ist. 

So  viel  über  das  deutsche  manuscript.  Bevor  ich  aber  auf  dem 
oben  bezeichneten  Avege  weiter  gehe  zur  betrachtung  des  zum  gründe 
liegenden  französischen  codex,  befinde  ich  mich  in  derselben  notlage, 
wie  Scholl  bei  seiner  ausgäbe  von  Heinrichs  von  dem  Türlin  Krone 
(Stuttgart,  Htt.  verein,  1852,  s.  XV),  wie  Rochat  bei  seiner  littera- 
rischen abhandlung  über  das  Berner  ms.  des  Parzival  (Zürich,  Kies- 
ling,  1855,  s.  XI)  und  wie  Birch-Hirschfeld  in  seiner  gralsage: 
zuvor  eine  Übersicht  des  Inhalts  des  französischen  gedichts  geben  zu 
müssen,  da  ohne  dessen  nähere  kentnis  seine  litterarhistorische  bedeu- 
tung  nicht  gewürdigt,  und  die  daraus  zu  ziehenden  folgerungen  nicht 
verständlich  werden  können.  Zugleich  wird  es  gewiss  auch  vielen  wil- 
kommen  sein,  wenn  ihnen  dadurch  die  volständige  eigene  lesung  der 
36984  verse  der  umdichtung  wenigstens  teilweise  erspart  w^erden  kann, 
zumal  daran  der  poetische  genuss  nicht  durchgängig  befriedigung  finden 
möchte. 


BILDUNGSGANG    DER    GRALDICHTUNG  293 

Gedrängte  iiilialtsaimabe. 

L.  730,  23:   Gaurhi  unt  die  (/escilen  shi 
ndnicn  iirloiq). 

Spalte  1.  Gawan  scheidet  im  zorne  von  Juflanze,  um  den  blu- 
tenden Speer  zu  suchen,  doch  wüst  er  nilt,  an  wclcJfcr  stctte  (1,  16). 
Er  gelangt  zu  einer  schönen  bürg  auf  hohem  felsen,  wo  er  ehrenvoll 
und  gastlich  von  dem  kranken  auf  prächtigem  bette  gelagerten  wirte 
empfangen  wird.  Er  sezt  sich  zu  ihm,  die  tafeln  werden  aufgeschlagen 
für  eine  zahlreiche  ritterschaft,  und  eine  bahre  wird  vorgetragen,  auf 
der  unter  reichen  decken  ein  leichnam  liegt,  und  obenauf  ein  zerbroche- 
nes Schwert,  das  dem  wirte  von  siner  megin  einer  durch  liebe  und 
frünüich  art  gesant  war  (6,  42).  Dann  Avurde  eine  goldne  patenc,  der 
blutende  speer  und  von  einer  heftig  weinenden  Jungfrau  der  gral  im 
saale  herumgetragen,  und  nach  deren  abgang  Gawan  das  schwort  mit 
dem  ersuchen  vorgelegt,  die  stücke  zusammen  zu  setzen.  Es  gelingt 
ihm  jedoch  nicht,  und  auf  seine  eifrige  nachfrage,  was  dies  alles 
bedeute,  erklärt  ihm  der  Avirt,  er  sei  noch  nicht  reif,  die  geheimnisse 
dieser  dinge  zu  erfahren. 

her  Gaivan  nam  der  rede  war 

und  horchete  so  vil  an  sine  wort, 

daz  er  uf  der  tovelen  ort 

entslief,  daz  sage  ich  snnder  lug  (7,  44  fg.). 

So  durchschlief  er  die  ganze  nacht,  und  fand  sich  am  morgen  unter 
einer  eiche  liegend,  ross  und  wafPen  neben  sich,  aber  die  bürg  ent- 
sclnvunden.  Mit  leide  grimmig  icas  sin  xorn  (8,  20).  Er  wafnet  sich 
und  reitet  weiter. 

Sp.  8.     Hie  stritet  her  Gaican  mit  Bgnasdanres. 

Gawan  begegnet  einer  dame  mit  einem  ritter,  der,  als  Gawan 
sich  nent,  ihn  des  mordes  seines  vaters  bezüchtigt.  Nacli  hartem  unent- 
schiedenem kämpfe  verabreden  sie  dessen  fortsetzung  am  hofe  des 
königs  von  Kavalun.  Dort  angekommen,  fordert  ihn  der  mächtige 
kämpe  Gynganbertil  auf,  den  ihm  früher  zugesagten  streit  sofort  mit 
ihm  auszufechten. 

Sp.  13.     Hie  sprechent  zivene  Gaivan  kampfex  an  xiio  Kavalun. 

Der  könig  von  Kavalun  beruft  einen  rat  der  barone,  welcher  ent- 
scheidet, dass  Gawan  mit  beiden  kämpfern  zugleich  fechten  soll.  Ein 
Junker  benachrichtigt  Artus  von  dem  ungerechten  spruch,  dieser  eilt 
herbei  und  stiftet  Versöhnung,  indem  er  dem  einen  seine  nichte  Tanate 
und   dem  andern  deren  muhme  Ciarate  zur  ehe  gibt.     Der  könig  von 


294  SAN    MAKTE 

Kavalun  und  andre  füi-sten  geben  ihm  ilir  land  zu  lehn;  nur  ein  ritter 
Brun  von  Mieland  Aveigert  sieh  und  scheidet  vom  hofe. 

Sp.  21.     Hie  iril  himig  Artus  Brun  von  Mcilan  hclkjen. 

Artus  zieht  deshalb  mit  vielen  namentlich  genanten  fürsten  und 
rittern  und  grosser  heeresmacht  gegen  die  feste  bürg  und  stadt  Mie- 
lant,  die  hart  belagert,  doch  tapfer  verteidigt  wird.  Bei  einem  glück- 
lichen ausfall  zur  verproviantierung  Avird  Gawan  so  schwer  verwundet, 
dass  er  erst  nach  14  wochen  wider  sein  liebes  ross  Gringalet  besteigen 
kann.     Er  trent  sich  vom  beere,  um  andern  abenteuern  nachzugehn. 

Sp.  33.  Hie  kumet  her  Gawan  xuo  Brandalins  sivester  und 
u'ürf  mit  Brandalin  vchtrnde. 

In  schöner  Waldgegend,  unter  lieblichem  vogelgesang  hinreitend 
findet  Gawan  am  dritten  tage  unter  einer  eiche  ein  prächtiges  zeit  auf- 
geschlagen, in  welchem  auf  einem  ruhebett  ein  schönes  mädchen  schläft. 
Auf  seinen  gruss,  und  da  er  sich  als  Gawan  zu  erkennen  gibt,  bietet 
sie  ihm  ihre  minne  an,  und  unter  freude  und  lachen  ertvarp  er  gexö- 
gcnliche  der  minnen  spit  (37,  26). 

Sp.  37,  29:    ir  megede  nam  verlor  sü  sam; 

juncfrowe  und  liep  heisset  nu  ir  nam. 

Nachdem  er  versprochen,  sie  einzuholen,  reitet  er  weiter.  Bald 
kam  ihr  vater  zu  ihr  in  das  zeit,  dem  sie  das  ereignis  bekent,  und  der 
nun  wütend  Gawan  nacheilt,  aber  im  kämpfe  von  Gawan  tötlich  ver- 
wundet wird.  Ebenso  komt  der  bruder  der  entehrten,  Bran  von  Lis, 
nachgerant,  findet  den  vater  tot  und  ficht  mit  Gawan,  bis  beide  sich 
ohnmächtig  fühlen  und  die  fortsetzung  des  kampfes  vertagen.  Ganz 
erschöpft  kehrt  Gawan  zu  Artus  nach  Miclant  zurück,  und  heilt  zwei 
monate  an  seinen  wunden.  Brandalins  Schwester  Aclervis  (sa  seror  ait 
der  vis,  ihr  wirklicher  name  ist  nach  sp.  255,  12  Gylorette)  aber 
genas  eines  söhnchens.  Die  stadt  Mielant  ergab  sich  endlich:  Artus 
nahm  sie  in  besitz  und  verteilte  das  land  an  seine  vasallen.  Auch 
Brun  erhielt  sein  teil. 

Sp.  45.     Hie  vohet  Karados  biioch  an. 

Als  Artus  im  ersten  jähre  vor  Miclant  lag,  gab  er  seine  niftel 
Iseve  von  Karoes  dem  könig  Karode  von  Nantes  zur  ehe.  Ein  zauber- 
kundiger ritter  Elyafres  schiebt  jedoch  dem  Karode  eine  falsche  Iseve 
unter  und  schläft  selber  bei  der  echten,  die  von  ihm  ein  kind  empfieng, 
das  Karadot  genant  und  als  Karades  söhn  an  Artus  hofe  erzogen  ward. 
Bei  seiner  festlichen  schwertleite  kam  ein  ritter  und  fordert,  man  solle 
ihm  den  köpf  abschlagen:  er  werde  übers  jähr  wider  kommen  und 
den  gleichen  schlag  an  dem  schlagenden  erwidern. 


BILDUNGSGANG    DER   GRALDICHTUNG  295 

Sp.  51.     Ilic  ö(jrt  Elijnfrcs  stne  xouveric. 

Als  alle  aiidein  zögern  liaut  Canidot  dem  Elyafres  den  köpf  ab, 
den  dieser  sich  doch  sogleich  wider  aiüsezt  und  mit  dem  versprechen 
abgeht,  übers  jähr  an  Caradot  das  gleiche  zu  tun. 

Sp.  54.  Hie  bcvindct  Karados,  da\  Klt/afrcs  sin  vattcr  iras,  imd 
wo)id  er  doch  kunig  Karade  siui  sifi. 

Nach  einem  jähre,  zu  pfingsten  kam  Elyafres  wider  zum  entsetzen 
des  hofes  zu  Artus,  schlug  aber  nicht  dem  Karados  den  köpf  ab,  son- 
dern vertraute  ihm  allein  das  geheimnis  seiner  geburt,  worüber  Kara- 
dos empört  die  ehre  seiner  mutter  rächen  will.  Jener  entflieht  eilig, 
und  Karados  eilt  zu  seinen  eitern  nach  Nantes  und  erzählt,  was  ge- 
schehen. Der  könig  Karodo  spert  erzürnt  seine  gemahlin  in  einen 
festen  türm,  wo  sie  jedoch  der  Zauberer  heimlich  oft  zu  besuchen 
weiss,  und  sie  herlich  und  in  freuden  leben.  Karadot  geht  nun  nach 
Karlowe  zum  pfingstfest  an  Artus  hof  auf  ritterschaft.  Dazu  erscheint 
auch  Kadors  von  Kornw^ale  mit  seiner  schönen  Schwester  Gyngcniers. 
Unterwegs  begegnet  ihnen  jedoch  Alardins  vom  see,  der  um  die  schw^e- 
ster  schon  lange  vergeblich  w-arb,  und  sie  jezt  fordert.  Im  kämpf  des- 
halb unterliegt  Kadors,  doch  während  Alardins  die  Schwester  mit  gewalt 
fortführen  will,  komt  Karados  ihr  zu  hülfe,  Alardin  muss  sich  erge- 
ben, und  sie  führen  den  verwundeten  Kadors  mit  sich  fort. 

Sp.  67.  Hie  Ixuwt  Karados  %uo  Alardins  ge.\clt,  das  zauberisch 
geschmückt  auf  einer  schönen  Aviese  prangt,  und  worin  Junker  und 
niägde  fröhlich  tanzen  und  musizieren.  Sie  werden  von  Alardins 
schw^ester,  die  von  dem  pavelune  ward  genant,  aufs  beste  empfangen. 
Die  drei  ritter,  Kadors,  Alardin  und  Karados  schwören  sich  freund- 
schaft  und  wollen  zu  einem  feste  an  Artus  hof  nach  Karliun  sich  auf- 
machen. 

Sp.  73.  Hie  kumment  Karados  und  Alardin  and  Kadors  \uo 
einem  turnet  %u  Idlnig  Artus  hof,  mit  im  sivestern  beiden. 

Sie  rüsten  sich  prächtig  zum  tumier,  in  welchem  die  könige  Eis 
von  Gales  und  Kadvalan  von  Irland  um  die  schöne  Gyngenor  kämpfen 
wollen,  die  aber  beide  verschmäht.  Alardin  erbietet  sich  zu  ihrem 
kämpen,  und  sie  gibt  ihm  einen  ärmel  ihres  kleides,  den  er  als  klei- 
nod  an  seine  lanze  befestigt.  Sie  ist  Artus  niftel,  Schwester  Gawans, 
tochter  des  Gramoflan  und  der  Ytonia.  Ein  harter  langer  kämpf 
begint,  in  dem  auch  Kador  die  aufmerksamkeit  der  schönen  Yden, 
Gaw'ans  niftel,  erregt.  Alardin  schickt  ihn  mit  einem  ersiegten  rosse 
zu  Gyngenor,  die  Ydens  neigung  zu  Kador  unterstüzt.  Sie  gab  an 
Kador  eine  lanze,  und  dieser  sante  ihr  auch  ein  erbeutetes  ross.     Der 


296  SAN   MARTE 

kämpf  wird  immer  algem einer:  Twein,  Sagremors,  Parzival,  Keye, 
Ywon  beteiligen  sich.  Endlich  sind  Eis  und  Kadvalan  über^vunden, 
Parzival  gibt  seine  besiegten  an  die  Jungfrau  von  Pavelune.  Endlich 
tritt  ruhe  ein  und  Karados  macht  sich  dem  Gawan,  zu  dessen  freude, 
als  den  söhn  Yseweus  bekant  Artus  gibt  seine  niftel  Gyngenor  dem 
Alardin,  die  schöne  Yden  dem  Kador,  und  die  von  Pavelune  einem 
hochgebornen  ritter  zur  ehe,  des  uawc  sol  vcrborcjoi  sin.  Alle  ziehen 
heim,  ich  muo\   nu  ander  uiere  sac/en. 

Sp.  109.  Hie  het  der  tnrnei  ein  ende,  und  teil  von  Karados 
muoter  sagen. 

Die  gefangene  Ysewe  sezte  die  buhlschaft  mit  Elyavres  fort,  der 
sie  mit  Zauberkünsten,  musik  und  tanz  unterhielt.  Dem  dichter  tut  es 
leid,  dergleichen  über  ein  weib  berichten  zu  müssen.  Endlich  gelingt 
es  Karados,  den  Zauberer  in  dem  türme,  der  BüfFoy  (dax  heiztet  hoch- 
farf)  noch  im  lande  genant  wird,  einzufangen,  den  könig  Karode  wü- 
tend will  schinden  lassen,  und  zum  schimpfe  mit  einer  jagdhündin, 
einer  lenne  (scortaw)  und  einer  futschen  (ungezäbmtes  fohlen?)  zusam- 
menspert.  Auf  Karados  bitten,  und  nachdem  jener  geschworen,  nie 
widerzukehren,  wird  er  jedoch  entlassen;  als  er  aber  der  königin  gesagt, 
wie  er  gemishandelt  worden,  fordert  sie,  räche  an  Karados  zu  nehmen; 
Elyavres  weigert  sich  jedoch,  da  der  ja  sein  söhn  sei.  Sie  beschliessen, 
ihm  zwar  nicht  den  tod  zu  geben,  aber  ein  anderes  leid  zu  bereiten. 

Sp.  115.  Hie  machet  Elyavres  und  Karados  muoter,  duz  Kara- 
dos mit  eime  sJangen  ward  behümbert. 

Elyavres  sezt  eine  schlänge  in  ein  kästchen,  das  Karados  öfnen 
soll,  wenn  er  zu  seiner  mutter  komt.  Bei  seiner  öfnung  aber  windet 
die  schlänge  sich  so  fest  um  seinen  arm,  dass  keine  menschliche  kunst 
sie  zu  entfernen  vermag.  Nach  langer  vergeblicher  kur  sucht  er  heim- 
lich entfliehend  bei  einem  einsiedler  in  dessen  kapeile  Zuflucht.  Artus, 
so  wie  Kador  von  Koniaval  mit  Gyngenier  eilen  nach  Nantes  auf  die 
nachricht  seines  verschwindens,  während  Karados,  geistig  ganz  nieder- 
gebeugt, ein  einsiedlergewand  angelegt  hat,  um  unerkant  zu  bleiben. 
Kador  lässt  ganz  Europa  nach  ihm  durchsuchen,  doch  lange  vergebens. 
Karados  besuchte  öfters  noch  eine  andere  kapelle  zum  gottesdienst  bei 
deren  mönchen,  und  hier  entdeckt  den  verlornen  endlich  Kador  zu 
seiner  grossen  freude. 

Sp.  142.     Hie  het  Kador  Karadosseii  funden. 

Sp.  150.  Hie  erlöset  Gtjn genier  ir  liep  Karados  von  dem  slan- 
gen,  der  sich  U7nbe  sineii  arm  geivunden  het. 


BILDUNGSGANG    DER   GRALDiniTUNO  297 

Unter  beschwörimg  und  sogen  der  klosterleute  wird  die  sclilange 
getötet,  beisst  aber  vorher  der  über  sie  gebeugten  Gyngenier  eine  brust- 
warze  ab.  Die  schlänge  hat  einen  teil  des  armes  verzehrt,  deswegen 
hiess  Karadot  hinfort  Briebras  (Idcinarm).  Arm  und  brüst  werden 
bald  geheilt,  und  alle  lande  freuen  sich  der  widerkehr  Karadots  und 
seiner  geliebten.  Der  ungetreuen  königin  wird  verziehen  und  Artus 
bereitet  die  Vermählung  Karadots  mit  Gyngenier.  Bald  stirbt  der  könig 
Kador  und  Artus  verleiht  dem  Karadot  dessen  reich.     Er  ward 

ein  hin  ig  her, 
biderbe,  milte,  kurteis; 
(jotte  'xe  dienende  er  sieh  fleis. 

Sp.  160.     Hie  hmiet  hilniij  Karados  xu  Alan! in  in  sine  bunj. 

Auf  einem  jagdzugo,  der  durch  ungCAvitter  gestört  wird,  komt 
das  junge  ehepaar  zu  einer  herlich  gelegenen  bürg  und  wird  von  Alar- 
din  höchst  gastlich  empfangen.  Am  andern  morgen  schenkt  dieser  ein 
von  seinem  schild  gebrochenes  goldnes  plätchen  dem  Karadot,  das  an 
die  stelle  der  von  der  schlänge  abgebissnen  brustAvarze  gelegt,  diese 
ersezt.  Freudig  ziehen  sie  heim;  die  goldne  w^irze  verwächst  mit  dem 
Heische,  doch  verbietet  Karadot  der  Gyngenier,  sie  irgend  wem  sehen 
zu  lassen,  sondern  stets  mit  einem  tuch  zu  verhüllen.  —  Da  entbietet 
Artus  die  beglückten  zu  einem  feste  nach  Karliun. 

Sp.  165.  Bix  ist  die  aventiire  vomme  hörne,  so  man  nasser 
drin  schütte,  der  wart  xuo  guten  ivine. 

Bei  dem  feste  schenkt  ein  stolzer  ritter  dem  könig  Artus  ein 
prächtiges  trinkhorn  mit  gold  und  elfenbein,  doch  mit  dem  bemerken: 

iver  dar  ux  trinket  siinder  ivon, 
het  im  sin  liep  untrüive  geton 
oder  sin  elich  wip, 
der  win  begüsset  sinen  lip. 
Die  königin  warnt  lebhaft  Artus  ihren  gemahl,  den  versuch  zu  machen; 
doch    er  wagt   es   und  vergiesst   richtig  das  getränk.     Gawan,   Ywein, 
Keie,  allen  rittern  des  hofes  geschieht  das  gleiche.     Algemeines  geläch- 
ter!     Nur  Karadot  gelingt  es,  und  deshalb  fasst  die  königin  grossen  hass 
gegen  Gyngenier:   das  hom  wird  bonet  genant.     Nach  drei  tagen  endet 
das  fest.     Karadot  bleibt  am  hofe;  seine  gemahlin  sendet  er  nach  hause. 

Sp.  169.  Hie  hat  Karados  buoch  ein  ende,  und  wil  sagen  von 
kilnig  Artus,  wie  er  hern  Gyflet  erlöse)i  teil,  der  gevangen  lange  nf 
kastei  Orgelus  lag. 

Auf  einem  pfingstfest  zu  Karnant  bemerkt  Artus  mit  zorn  und 
Unmut,  dass  Gyflet,  ein  tapferer  tafelrunder,  fehle,    der  beim  feldzuge, 


298  SAN    MARTE 

den  die  ritter  auf  eig:no  liand  ohne  seine  fülining  getan,  gefangen  und 
von  ihnen  im  stich  gehissen  sei.  ^ht  fünfzehn  auserwälilten  bricht  er 
auf,  denselben  zu  befreien.  Auf  einer  Aviese  rastend,  wird  Keie  auf 
nahrung  ausgeschickt,  der  zu  einer  bürg  gewiesen  wird,  wo  er  in  der 
küche  einen  zwerg,  einen  pfau  bratend,  findet,  den  er  verlangt,  jener 
docli  verweigert  und  deshalb  geschlagen  wird.  Da  tritt  ein  statlicher 
ritter  hinzu. 

Sp.  182.     Hie  uart  Kein  geslagoi  ntit  cime  gchrotoicn  j^foivcn. 

Erzürnt  schlägt  der  ritter  mit  dem  bratspiess  samt  pfau  auf  Kein 
los,  und  andre  knechte  jagen  ihn  zur  bürg  hinaus.  Auf  diesen  bericht 
au  Artus  begibt  sich  Gawan  in  die  bürg,  und  der  herr  derselben  nimt 
alle  gastlich  in  herberge.  Es  ist  Ydiers  der  schöne.  Artus  lehnt  des- 
sen angebotene  begleitung  ab.  Weiter  gelangen  sie  zu  einem  hause  und 
kirchhofe,  wo  an  100  klausner  sassen  und  speisten;  dabei  ist  ein  wun- 
derschöner garten,  dessen  geheimnis  der  dichter  hier  noch  verschweigen 
will.  Nach  zwei  tagen  reiten  sie  weiter  und  kommen  zu  einer  stadt 
und  bürg,  die  herlich  geschmückt  war.  Im  saale  des  Schlosses  finden 
sie  voll  gedeckte  tafeln,  aber  niemand  empfängt  sie.  Gleichwol  neh- 
men sie  platz  daran. 

Sp.  191.  Hie  kam  lauiig  Artus  %uo  Lis  von  imgeschiht ,  kern 
BrandeUjis  bürg. 

Plötzlich  springt  Gawan  auf,  wapnet  sich  und  sezt  sich  wider, 
indem  er  durch  eine  tür  in  einer  kammer  den  schild  des  Bran  de  Lis 
bemerkt  und  erkent,  wo  er  sich  befindet.  Er  erzählt  das  abenteuer 
sp.  33,  und  als  endlich  Bran  de  Lis  selbst  erscheint,  bereiten  sie  sich, 
den  damals  verabredeten  kämpf  auszufechten. 

Sp.  211.   Hie  veht  mit  einander  her  Gatvan  imde  her  Bran  von  Lis. 

Beide  kämpfen  mit  äusserster  wut.  Da  wirft  sich  Brans  Schwe- 
ster mit  ihrem  und  Gawans  fünfjährigen  söhnchen  zwischen  die  auf 
den  tod  erschöpften,  und  Artus  bringt  die  Verzeihung  und  Versöhnung 
zu  stände. 

Sp.  222.     Hie  Immet  Idlnig  Artus  für  kastei  Orgalus. 

Bran  zieht  mit  Artus  gen  Orgalus  und  lagert  sich  vor  der  bürg. 
Es  wird  in  einzelkämpfen  gestritten.  Der  burgherr  (er  heisst  der  reiche 
soldenier)  wird  endlich  von  Gawan  besiegt  und  gibt  den  gefangenen 
G}ilet  (sp.  169)  frei. 

Sp.  250.  Hie  vert  künig  Artus  wider  hein  von  kastei  Orgaluz, 
und  het  sinen  uillen  volleiulet  gar. 

Heimgekehrt  finden  sie  in  der  bürg  Lis  grossen  jammer,  da  der 
kleine  söhn  Gawans,   als  er  vor  der  stadt  spielte,   war  gestohlen  wor- 


BILDUNGSGANG    DER    GRALDICIITUNG  299 

den.  Bei  dem  Idostcr  Oiniias  selilap^en  sie  ein  lager  auf,  und  gehen 
in  verschiedenen  hänfen  nach  dem  knaben  auf  die  suclie.  Gawans  lieb 
Gyrolette,  die  miitter  des  kinih's,  und  sein  gefolge  Avill  vier  woclien 
dort  ilirer  riickkeln-  haiTen.  Da  reitet  ohne  gruss  ein  ritter  vorbei,  den 
sie  will  kennen  lernen.  Gawan  gelingt  es,  den  sich  weigernden  in 
gute  zu  ihr  zu  führen,  nachdem  ihn  Keye  hatte  dazu  zwingen  wollen, 
doch  abgestochen  wurde. 

Sp.  259.     Ilie  tvürt  ein  ritter  erschossen  i)i  Gaicans  (jclcitc. 

Bevor  sie  zum  lager  gelangen,  tötet  ein  gabelot  den  ritter,  der 
sterbend  Gawanen  bittet,  seine  rüstung  anzulegen,  und  auf  seinem 
rosse  fortzureiten:  das  wisse  den  weg  dahin,  wohin  er  die  künde  des 
geschehenen  bringen  soll.  Demnach  reitet  Gawan  so  gerüstet  in  der 
nacht  bei  grausigem  unwetter  durch  den  wald,  und  als  er  in  einer 
kapelle  ruhe  und  schütz  sucht,  fahrt  durch  ein  fenster  hinter  dem  altare 
eine  schreckliche  schwarze  band,  löscht  die  brennenden  kerzen  aus  und 
eine  grauenvoll  klagende  stimme  lässt  sich  hören. 

es  iua.\.  dex^  groles  heimlicJikeit. 
im  geschiht  ive  unde  leit 
dem,  der  do  von  sagen  ivil, 
un%  es  sin  sol  iif  daz  xil. 

Gawan  eilt  erschreckt  weiter  und  überlässt  die  zügel  dem  rosse. 

Sp.  264.  Hie  Jmmet  her  Gmvan  %uo  dem  grol  xno  dem  ande- 
ren mole. 

Das  ross  ti'ägt  Gawanen  in  einen  herlichen  baumgarten  und  zu 
gebäuden,  deren  bewohner  ihn  als  ihren  gebieter,  den  erschossnen  rit- 
ter, begrüssen,  da  er  dessen  ross  und  rüstung  führt.  Als  bei  seiner 
umkleidung  sie  ihren  irtum  erkennen,  ziehen  sich  alle  zurück.  Stutzig 
darüber  geht  Gawan  in  den  grossen  saal.  Da  steht  eine  bahre  mit  der 
prächtig  geschmückten  leiche  eines  ritters,  von  brennenden  kerzen 
umgeben.  Auf  der  leiche  lag  ein  zerbrochenes  schwort.  Ein  pfafte 
komt  mit  einem  silbernen  kreuze,  und  eine  grosse  schaar  domherren, 
die  sich  um  die  bahre  aufstellen  und  vigilie  singen.  Nach  ihrem 
abgange  blieb  noch  viel  volks  zurück  im  saale.  Darauf  ward  eine  tafel 
gedeckt  und  ein  statlicher  mann  mit  scepter  und  kröne  ti'at  ein,  und 
nahm  mit  Gawan  an  derselben  platz.  Das  gleiche  tat  die  ritterschaft. 
Der  gral  ßiQf^  snelleclich  har  und  dar 

für  die  tische  alle  gar 

und  versah  alle  reichlich  mit  speise  und  trank.     Als  die  tafel  aufgeho- 
ben war  und   sich  alle   entfernt  hatten,    bemerkt  Gawan   am   ende  der 


300  SAN   ALVRTE 

tafel  einen  in  silbernem  gefass  aufgestelten  speer,  von  dessen  spitze 
blut  in  das  gefass  floss,  aus  dem  es  einen  weiteren  abfluss  in  ein  gold- 
nes  gefass  hatte.  Da  kam  der  herr  wider  mit  dem  zerbrochnen  Schwerte 
und  forderte  ihn  auf,  es  zusammen  zu  setzen,  was  ilmi  jedoch  niclit 
gelang.  Es  gehörte  dem  vorher  erschossnen  ritter.  Da  sagt  der  herr: 
er  sei  der  rechte  nicht,  der  dazu  berufen,  und  solle  wider  kommen, 
wenn  er  beweisen  könne,  dass  er  der  tapferste  ritter  der  weit  sei.  Auf 
Gawans  frage  nach  dem  allen,  was  er  gesehen  und  was  geschehen, 
erklärt  ihm  der  herr:  mit  dem  Speere  habe  Longinus  Christi  seite 
durchstochen,  doch  als  er  die  geschichte  des  Schwertes  begint,  schläft 
Gawan  fest  ein.  Wie  beim  ersten  besuch  findet  er  sich  am  morgen 
auf  dem  anger  unter  einer  eiche,  die  bürg  verschwunden,  ross  und  Waf- 
fen neben  sich,  und  mit  dem  vorsatz,  ferner  durch  rittertaten  sich  des 
grals  würdig  zu  machen,  reitet  er  weiter.  Der  dichter  sagt:  er  müsse 
die  materie  kurz  fassen,  und  daher  dürfe  er  nicht  erzählen,  wer  den 
söhn  Gawans  stahl,  ihn  erzog  und  zum  ritter  machte;  es  geschah 

von  der  meyede  icunncsam 
die  in  xiio  gesinde  nam. 
Sp.  276.    Ilic  seit  er  von  hcrn  Gawans  sun  und  ivie  in  sin  vat- 
ter  vani y  her  Gaican. 

Diese  Jungfrau  reitet  eines  tages  fem  zu  einem  an  einer  fürt 
belegenen  schön  eingerichteten  zeit,  auf  dem  Avege  dahin  sticht  der 
junge,  starke,  doch  in  der  wafFenführung  noch  unerfahrne  kämpe  nach 
einander  zwei  ritter  nieder.  Da  er  noch  keinen  toten  gesehen,  und 
die  toten  ihm  nicht  rede  stehn,  sagt  er:  so  schlaft  denn!  und  lässt  sie 
liegen.  Als  Gawan  darauf  die  fürt  durchreitet,  ficht  er  auch  diesen 
an,  der  indess  seine  kraft  wie  sein  Ungeschick  erkent  und  nach  dem 
namen  fragt.  Freudig  erkennen  sie  sich,  und  Gawan  stelt  sich  der 
Jungfrau  zur  Verfügung.  Der  französische  Verfasser  scheint  diese  weiter 
erzählte  episode  von  anders  woher  hier  eingefügt  zu  haben,  denn  die 
Übersetzer  sagen  sp.  284,  15: 

nu  hau  ich  ilch  geton  bekant 

icie  her  Gaican  sinen  snn  vant 

und  ouch  die  juncfroive  sin, 
und  weiter  wird  sp.  287,  3  widerholt: 

hie  het  dax  mer  ein  ende  gar 

von  kern  Gaivans  sun  bitz  har 
nachdem  noch  erzählt  worden,  wie  Gawan  jene  beide  nach  Brittannien 
führi,    wo   Artus   zwei  monate   zu  Karlaun   still  gelegen,    und  sie  mit 
freuden   empfangen   werden.     Im  freudengewimmel  stiehlt  ein  fremder 


BILDUNGSGANG   DER   GRALDICIITÜNG  301 

ritter  Gawans  ross  und  wuffeu.     Dem  Ywon  wird  Gawans  söhn  in  fer- 
nere zueilt  gegeben. 

Sp.  287.  Ilie  vahct  die  oventilr  an  vommc  Siran,  der  den  toten 
ritter  fjrohte  äffen  dem  nier  in  eime  schiffe  xno   Gtoinorgan. 

In  schwüler  gewitternacht  nach  regen,  blitz  und  donner  geht  Ar- 
tus in  eine  laube  am  meere;  da  zieht  an  silberner  kette  ein  schwan 
ein  hell  erleuchtetes  schift'  heran,  Avorin  ein  schöner  prächtig  geschmück- 
ter ritter  liegt,  dessen  bi-ust  jedoch  von  einer  lanze  durchbohrt  ist.  P]r 
lässt  den  leichnam  in  die  laube  bringen  und  tindet  in  der  tasclie  des 
ritters  einen  brief,  worin  er  las:  „dieser  tote  war  auch  ein  künig,  der 
vor  seinem  ende  könig  Artus  bat,  dass  er  seinen  leichnam  in  seinem 
palaste  ausstelle,  bis  ein  ritter  ihm  den  speerschaft  aus  der  brüst  ziehe, 
der  aber  mit  demselben  eisen  seinen  mörder  erstechen  müsse.  Geschieht 
dies  nicht  innerhalb  Jahresfrist,  so  möge  man  ihn  begraben.  Bis  dahin 
werde  er  nicht  verwesen.  Geschiehts,  so  w^erde  man  am  hofe  erfah- 
ren, wer  er  war,  und  wie  er  ungerecht  getötet  worden."  Unter  gros- 
sem geschrei  und  flügelschlag  schwamm  der  schwan  mit  dem  schiflein 
davon.  Wegen  der  unbestimtheit  des  briefes  kann  sich  kein  ritter  ent- 
schliessen,  den  stahl  aus  der  brüst  zu  ziehen,  und  so  blieb  der  tote 
im  saal  aufgestelt  stehen, 

Sp.  294.  Hie  seit  er,  ivie  Galieries  geschendet  wart  in  dem 
garten. 

Gaheries  war  ausgeritten,  seinen  bruder  Gawan  zu  suchen,  und 
gelangt  zu  einer  prächtigen  bürg.  Da  sich  niemand  blicken  lässt,  rei- 
tet er  in  den  saal  und  weiter  in  eine  kammer  mit  drei  herlichen  bet- 
ten. Hier  bindet  er  sein  pferd  an,  legt  die  waö'en  ab  und  geht  weiter 
in  eine  zweite  kammer  mit  zwei  betten  und  in  eine  dritte  mit  einem 
bette,  alle  in  pracht  hergerichtet.  Zulezt  blickt  er  in  einen  park,  in 
welchem  zwei  zelte  stehen.  Da  keine  tür  dahin  führt,  springt  er  durch 
ein  grosses  fenster  hinein  und  findet  in  dem  einen  zeit  eine  Jungfrau, 
die  einen  wunden  ritter  pflegt,  der  in  dem  bette  in  den  armen  eines 
Junkers  ruht.  Zornig  befiehlt  der  wunde  ritter,  den  dreisten  eindring- 
ling  wegzuschaffen.  Ein  bewafneter  zwergritter  greift  ihn  an;  Gaheries 
legt  die  ihm  nachgetragenen  waffen  an,  doch  wird  er  arg  niedergeschla- 
gen und  muss  unter  harten  beschimpfungen  und  bittersten  spotreden 
die  bürg  verlassen.  An  Artus  hof  gekommen  klagt  er  sein  leid,  zieht 
den  sperschaft  aus  der  brüst  des  toten  ritters,  befestigt  das  eisen  an 
seiner  starken  lanze,  und  wolbewafnet  kehrt  er  zu  der  bürg  zurück, 
um  die  ihm  angetane  schmach  zu  rächen;  ihn  empfängt  ein  bewafneter 


302  SAN    MARTE 

zwerg,  iu  der  grosse,  als  ob  ein  äffe  auf  einem  Jagdhund  ritte,  den  er 

aber  tötet. 

Sp.  308.     Hie  n'chet  Gahen'cs  sifi  lasier. 

Im  zorn  über  den  getöteten  zwerg  wafuet  sich  der  wunde  ritter, 
wird  aber  im  kämpfe  niedergestoclien.  Da  komt  die  Jungfrau  erfreut, 
di^s  der  durch  den  scliwau  zu  Artus  gebrachte  tote  ritter  durch  das- 
selbe eisen  geräclit  sei,  das  ihrem  geliebten  den  tod  gab.  Beide  hissen 
die  toten  liegen  und  reiten  hinweg,  bis  sie  am  abend  in  einer  schön 
im  meere  auf  einer  insel  gelegenen  bürg  gastliche  aufnähme  finden. 
Gaheries  wird  schlafend  in  das  schiff  des  schwans  gebracht  und  die 
Jungfrau  tahrt  damit  nach  Glamorgan,  wo  Gaheries  mit  grosser  freude 
begrüsst  wird.  Die  Jungfrau  erbittet  nun  von  Artus  die  leiche  des  jezt 
gerächten  königs  Brangemor,  um  ihn  seiner  mutter  Brangebart  wider 
zuzuführen.  Sein  vater  Gingamors  jagte  ein  schwein,  das  aber  eine 
fee  war,  die  nach  ihrer  Verwandlung  er  zur  ehe  nahm,  und  die  ihm 
den  söhn  Brangemor  gebar.     Artus  lasst  sie  mit  seinem  sogen  ziehn. 

Sp.  314.  Hie  nimet  die  oventilr  ein  ende  vomnie  sivmi,  der 
den  toten  ritter  hrohte  uffe  dem  mer  in  eime  schiffe  xuo  Glo)nor(jan, 
und  icil  nu  sagen  von  Parxifcde  und  Icumet  %uo  der  bürge  xuo  dem 
hörne,  und  ist  die  erste  oventilr,  die  er  hegie  in  dem  welschen  buoche, 
dax  xe  tusche  broht  ist.  [Bern er  ms.  ed.  Rochat,  Perceval  li  Galois. 
Zürich,  Kiessling.  1855.     §  1  u.  2.] 

7iu  seit  uns  dis  niere  kürxlich^ 

dax  des  selben  tages  fuegete  sich, 

uf  eine  mitteicuche  ex  geriet, 

dax  Parxifal  sich  da  schiet 

von  hiinig  Artuse  xuo  Joflanx, 

do  er  gestreit  mit  Gaivan  und  Oramolanx. 

ouch  sag  ich  iich,  dax  er  xehant 

reit  durch  manig  fr'ömede  laut. 

dar  xuo  vant  er  ouch  xivor, 

dax  sollent  ir  tvüssen  fünvor, 

manig  oventilr  siver, 

die  nüt  sint  geschriben  her. 
Viele  tage  ritt  er  durch  fremdes  land,  bis  er  zu  einer  festen  bürg 
gelangte,  an  deren  tore  ein  elfenbeinernes  hörn  hing.  Da  sich  nie- 
mand sehen  lässt,  so  bläst  er  das  hörn  dreimal  so  gewaltig,  dass  die 
bürg  erdröhnt.  Endlich  komt  der  burgherr,  könig  von  Nurasch  und 
Irland,  reich  gewapnet  mit  gefolge  und  volk  heraus,  rent  Parzival 
scharf  an,  wird  aber  geworfen  und  ergibt  sich,  als  er  Parzivals  namen 


BILDUNGSGANG    DER   GRALDICIITUNG  303 

hört,  der  für  den  besten  ritter  der  weit  ^ilt.  Und  dieser  schickt  ihn 
zu  Artus.  —  Parzival  hört  von  einer  Avunderbaien  säule  auf  „dem  lei- 
digen berge  (mo7{s  chhrosiis)^  an  welcher  nur  der  beste  ritter  sein 
pferd  anbinden  kann,  und  wendet  sich  dahin.  Als  Artus  vernimt,  dass 
Parzival  nicht  eher  zuriickkehren  werde,  als  bis  er  die  blutende  lanze 
gefunden  habe,  bricht  er  mit  dem  hof(3  auf,  ihn  zu  suchen. 

Sp.  322.    Ilie  kionct  Pardfal  xuo  der  jiDKifrowoi,  die  da\  scJfof- 
xovelgesteui  hcttCj  dax  von  im  selber  spüle.     [Bern.  ms.  §  3.] 

Parzival  gelangt  zu  der  stelle,  wo  er  einst  den  reichen  fischer 
am  see  fischend  fand,  und  gedenkt,  wie  er  von  dort  zur  gralburg 
gekommen.  Weiter  sieht  er  eine  herliche  bürg  jenseit  eines  breiten 
Wassers,  und  eine  schöne  magd  ist  bereit,  in  einem  kleinen  schiffe  ihn 
überzusetzen.  Doch  arbeitendes  volk  jenseit  warnt  ihn,  da  sie  ihn 
ertränken  wolle,  und  bringt  ihn  selbst  sicher  an  das  andre  ufer.  Er 
geht  in  die  bürg,  bindet  sein  pferd  im  hofe  an,  legt  schild  und  lanze 
ab,  und  betritt  einen  prächtigen  saal,  worin  ein  reich  geschmücktes 
bette  aufgeschlagen  steht  Da  öfnet  sich  die  tür  einer  schönen  gewölb- 
ten kemenate;  darin  auf  einem  tisch  ein  wundervolles  Schachbrett: 

[Bern.  ms.  §  4.  R.  Boron,  nach  Birch-Hirschfelds  auszuge: 
„die  sage  vom  gral",  Leipzig,  Yogel  1877  s.  173.] 
er  tut  einen  zug,  es  wird  unsichtbar  dagegengespielt,  Parzival  verliert 
stets  die  partien,  und  zornig  darüber  will  er  das  Schachbrett  in  den 
teich  unter  dem  fenster  werfen:  da  warnt  ihn  aussen  ein  schönes  mäd- 
chen,  zu  dem,  als  sie  in  den  saal  konit,  Parzival  in  niinne  entbrent; 
doch  wehrt  sie  ihn  ab  mit  dem  versprechen,  ihm  minnelohn  zu  gewäh- 
ren, Avenn  er  den  weissen  hirsch  jage  und  ihr  dessen  köpf  bringe; 
ihren  kleinen  bracken  wolle  sie  ihm  dazu  mitgeben.  —  Nachdem  er 
den  hirsch  erlegt  und  ihm  den  köpf  abgeschnitten,  komt  eine  Jungfrau 
geritten,  die  den  kleinen  bracken  einfängt  und  ihn  nicht  eher  heraus- 
geben will,  als  bis  er  mit  dem  ritter  im  grabgewölbe  werde  gefochten 
haben. 

Sp.  330.  [Bern.  ms.  §  5.  —  R.  Boron  s.  173.]  Hie  vihtet  Par- 
zifal  mit  dem  rittere,  der  imme  geivelhe  heslossen  ivas. 

Das  gewölbe  war  eine  massive  klause,  und  seit  fünf  jähren  hat 
der  ritter  seiner  geliebten  gelobt,  dasselbe  nicht  eher  zu  verlassen,  als 
bis  der  kämpe  gekommen,  der  ihn  besiege.  Seine  geliebte  ernährt  und 
besucht  ihn  darin.  Auf  Parzivals  aufforderung  komt  er  auf  einem  rosse 
schwarz  gerüstet  heraus,  doch  während  des  kampfes  beider  komt  ein 
fremder  ritter  vorbei,  der  bracken  und  hii'schkopf  stiehlt  und  damit 
davon  reitet.     Der  schwarze  ritter    fühlt   sich    besiegt    und  flüchtet   in 


304  SAN    MARTE 

das  gewölbe,  wohin  ihm  Parzival  nicht  folgen  kann,  und  dieser  eilt 
nun  dem  riiuber  nach,  indem  er  sich  von  der  Jungfrau  trent,  die  ihm 
den  namen  sowol  des  schwarzen  ritters  als  des  brackendiebes  zu  nen- 
nen verweigert. 

Sp.  338.  llic  hiimet  Pnr\ifnl  i)i  eine  hurg ,  do  er  einen  löiven 
sluog,  und  ralft  mit  dem  herren.     [Bern.  ms.  §  6.] 

Parzival  komt  zu  dem  schloss  Brunemuns,  ohne  jedoch  seine 
bewohner  zu  erblicken.  Er  gelit  durch  den  saal  in  den  garten,  wo 
am  brunnen  unter  schönen  bäumen  ein  zeit  steht,  worin  eine  Jungfrau 
am  bette  des  rittei*s  Abrioris  von  Brunemuns  sizt.  Vor  dem  zeit  fält 
ihn  ein  löwe  an,  den  er  tötet.  Zornig  springt  der  ritter  auf,  wapnet 
sich,  muss  sich  nach  scharfem  kämpf  ergeben  und  sich  mit  der  Jung- 
frau zu  Artus  begeben,  der  ihn  erfreut  zum  tafelrundritter  ernent. 

Sp.  350.  Hie  rindet  Parxifal  einen  toten  ritter,  der  icar^  ersla- 
gen.     [Bern.  ms.  §  7.     K  Boron  s.  172.] 

Der  ritter  heisst  Odinas  [im  Berner  ms.  Odinians].  Parzival  trö- 
stet seine  klagende  geliebte  und  reitet  weiter. 

Sp.  351.  Hie  himet  Parxifal  zuo  eime  risen,  und  würt  mit  im 
vehtcndc.     [Bern.  ms.  §  8.] 

In  einem  schönen  festen  schlösse  betritt  Parzival  den  saal,  doch 
keine  seele  lässt  sich  sehn.  Eine  wolbesezte  tafel  steht  da,  und  wäh- 
rend er  sich  daran  stärkt,  tritt  eine  bleiche,  abgehärmte  Jungfrau  in 
ärmlicher  kleidung  herein,  die  der  riese  schon  zwei  und  ein  halbes 
jähr  gefangen  hält,  da  sie  seinem  willen  sich  nicht  ergeben  will.  Sie 
fleht  ihn  zu  fliehen,  denn,  komme  der  riese,  so  sei  er  des  todes.  In 
der  tat  erscheint  er,  schlägt  mit  der  keule  Parzivals  ross  tot,  wird  aber 
von  Parzival  getötet.  Nach  guter  nacht  rüstet  sich  dieser  neu,  nimt 
ein  schönes  schwarzes  streitross,  das  der  riese  vor  zwei  monaten  einem 
ritter  abgenommen  und  im  keller  geborgen  hatte,  und  reitet  seines 
weges,  indem  er  die  Jungfrau  als  herrin  der  bürg  zurücklässt. 

Sp.  359.  Hie  tvirt  Parcifal  vehtende  mit  eime  ritter ,  der  huote 
eines  icassers,  dax  nieman  drinne  trahte.  [Bern.  ms.  §  9.  —  Vgl. 
auch  R.  Boron,  B.-Hirschf.  s.  174  mit  einigen  abweichungen.] 

Parzival  komt  an  eine  fürt  und  sieht  jenseit  des  wassers  ein 
schönes  zeit  aufgeschlagen,  bei  welchem  ein  silberner  schild,  eine  weisse 
lanze  und  ein  weisses  pferd  steht.  Als  er  sein  ross  in  der  fürt  getränkt, 
rüstet  sich  beim  zeit  der  „weisse  ritter"  zum  kämpf,  wird  aber  besiegt 
und  muss  sich  Artus  gefangen  geben.  Während  gastlicher  Übernach- 
tung erzählt  ihm  der  weisse  ritter,  er  sei  der  hüter  der  minnefurt 
(gue  amoureux).      Zehn    mädchen    von    zwanzig  jähren    wohnten    hier 


bildungsga>:g  der  giuldichtung  3Ö5 

unter  den  bäumen;  da  kam  mancher  held  und  wohnte  wol  6  monat 
bei  den  mädchen,  und  wenn  andre  ritter  kamen,  die  in  der  fürt  ihre 
rosse  getränkt  liatten,  Avurden  sie  erschlagen,  die  siegenden  aber  wur- 
den brüderlich  aufgenommen.  Als  die  mägde  scheiden  solten,  schrie- 
ben sie  mit  goldnen  buchstaben  in  den  marmoi-stein  beim  zeit:  wenn 
ein  ritter  sieben  jähre  die  fürt  hüte,  so  werde  er  den  höchsten  preis 
bejagen.  —  Dies  habe  er  unternonmien ,  doch  folge  er  nun  seinem 
befehle.  Auch  er  wird  von  Artus  freudig  in  die  tafeirunde  aufge- 
nommen. 

Sp.  364.  Hie  irürt  Parxifal  vehtende  mit  kern  Gawans  snii, 
den  er  hette  von  kern  Bra7idelins  sivester,  der  hies  der  schöne  uner- 
kante.     [Bern.  ms.  §  10.] 

Zwei  Wochen  reitet  Parzival  durch  dichten,  von  wild  aller  art 
reich  belebten  wald,  vergebens  herberge  suchend.  Endlich  trift  er  eine 
einsam  auf  einem  marmorblock  sitzende  jungfi*au  im  walde,  die  so 
schön  wie  eine  göttin  ihn  fast  gereizt  hätte,  sie  um  ihre  minne  zu  bit- 
ten. Da  komt  ein  ritter,  der  ihm  verbietet,  bei  der  Jungfrau  zu  ver- 
w^eilen. 

[Bern.  ms.  §  11.]  Nach  scharfem  anrennen  nent  Parzival  seinen 
namen;  da  gibt  der  ritter  sich  als  „den  schönen  unbekanten",  Gawans 
söhn,  zu  erkennen,  und  höchst  erfreut  reiten  alle  drei  zu  einem  wol- 
angesessenen  fischer,  der  sie  aufnimt  und  festlich  bewirtet.  Er  hiess 
Elvadus,  sein  vater  Elvdus:  der  war  herr  des  Landes.  Seine  frau  ward 
vor  zwei  jähren  begraben.  Am  andern  morgen  reiten  sie  weiter,  das 
paar  zu  Artus  nach  Lunders  und  Kantorb ille,  Parzival  auf  eignem 
wege. 

Sp.  371.  Hie  hunt  Parxifal  zuo  dem  andern  tnole  zuo  sinern 
ivihe  Knndeiviramurs  7X  Belrepere.  [Bern.  ms.  §  12.  Das  ms.  hat 
die  fi-anzösischen  namen  Augingeren,  Clamadieu  und  Blancheflors.] 

Parzival  komt  in  eine  schöngebaute,  stark  bevölkerte  und  befestigte 
Stadt  mit  zwanzig  klöstern  und  vielen  kirchen  und  türmen;  er  reitet 
in  das  schloss  und  wird  von  einer  Jungfrau  mit  prächtigem  gefolge 
empfangen.  Sie  findet,  dass  der  gast  die  gröste  ähnlichkeit  mit  dem 
besieger  des  Kingrun  und  Klamide  habe.  Er  gibt  sich  zu  erkennen. 
Grosse  freude  überall.  Das  volk  drängt  auf  die  Vermählung  beider. 
Sie  besucht  Parzival  heimlich  in  der  nacht  (nachahmung  vom  besuch 
bei  Chrestiens),  sie  wechseln  tausend  küsse,  doch  das  beilager  wird 
nicht  volzogen.  Vergebens  ist  alles  bitten,  dass  Parzival  länger  als  zwei 
tage  verweile.  Tüchtig  und  schön  ausgerüstet,  auf  rotem  Schilde  einen 
silbernen    löwen    führend,    reitet    er   unter    dem    versprechen    baldiger 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.  XXH.  ^0 


306  SAN   MARTE 

widerkehr  und  mit  dem  schwur,  nirgend  in  einer  herberge  länger  als 
eine  nacht  zu  weilen,  wider  ins  weite,  bis  er  den  hirschkopf  uud 
bracken  widergefunden  und  die  geheimnisso  des  grals  erforscht  habe. 

Sp.  386.  Hie  irürf  vektende  Parxifal  mit  ei7)ie  rittere,  der  hies 
der  schöne  Böse.  [Bern.  ms.  §  13.  R.  Boron  s.  174.  Er  hiess  li 
Beaus  Mavais.] 

In  dichtem  walde  begegnet  ihm  auf  schönem  zeiter  in  seidnen 
kleidern  nach  kornwälscher  tracht  ein  wunderhässliches  weib  (ähnlich 
der  Kimdrie  beschrieben),  welchem  ein  statlicher  ritter  folgt.  Parzival 
muss  über  den  anblick  lachen,  worauf  der  ritter  ihn  anrent,  aber 
besiegt,  sich  ergeben  und  an  Artus  hof  gehen  muss.  Er  wii'd  der 
schöne  Böse  genant,  söhn  des  grafen  von  Galphage  (fix  al  conte  de 
Glavoie)\  sie  heisst  Rosete. 

Sp.  386,  33:    Sil  was  glich  einre  tüvelin. 

Zu  Kavelun   werden  beide  mit  ehren  empfangen,    nachdem  Kaye 

für  seinen  spott  hinter   den  sattel  geworfen   ward.     Später  wurde  die 

frau  immer  mehr  schön  und  Aveidlich,  dass  sie  algemeine  bewunderung 

erregte ; 

Sp.  394,  7:  inenweis  oh  sü  von  feinen  kam. 

Sp.  394.  Hie  kumet  Pm^zifal  %uo  siner  muoter  tüonu7tge  und 
hevindet,  daz  er  eine  sivester  het.  [Bern.  ms.  §  14.  —  R.  Boron 
s.  173.] 

Parzival  muss  im  walde  ohne  herberge  übernachten;  dann  sieht 
er  den  bäum,  unter  welchem  ihm  einst  ein  ritter  beschied,  dass  Artus 
ihn  zum  ritter  machen  könne.  Er  erkent  seine  heimat,  das  mütterliche 
haus  imd  wird  auch  von  einem  alten  knechte  wider  erkant.  Eine 
jung&'au,  seine  Schwester,  teilt  ilun  mit,  wie  seine  mutter  im  schmerz 
über  seine  ausfahrt  gestorben.  Rührend  ist  die  widererkennung  der 
geschwister  geschildert.  Parzival  will  den  hier  in  der  nähe  wohnenden 
einsiedler  sehn,  um  ihm  zu  beichten. 

Sp.  399.  Hie  uiirt  Parzefal  vehtende  mit  eime  ritter,  der  im 
sine  stveste?'  wolte  nemen.     [Bern.  ms.  §15. —  R.  Boron  s.  173.  174.] 

Parzival,  treflich  gerüstet,  reitet  mit  der  Schwester  ab.  Bald 
begegnet  ihnen  ein  ritter,  der  seine  Schwester  rauben  will,  doch  wird 
er  im  kämpf  niedergestochen  und  Parzival  führt  dessen  ross  mit  sich. 

Sp.  400,  29:    iewederre  hette  eins  lötven  m.uot 

und  worent  kec  sam  zwei  toilde  swin. 

Der  eremit,  der  Parzival  nicht  wider  erkent,  führt  die  geschwister 
in   die  kapeile  zum  grabe   ihrer  mutter.      Parzival   erzählt  tief  bewegt 


BILDUNGSGANG    DER    GRALDICHTUNG  307 

seine  abonteuer.  Der  eiiisicdler  tadelt,  dass  er  den  ritter  getötet,  des- 
sen ross  er  mit  sicli  führt.  Sie  werden  in  der  klause  gnt  geherbergt 
lind  verpflegt.  Ein  engel  bringt  ihnen  die  speisen.  Parzival  bittet 
dringend  nm  aufklürung  über  den  gral  und  bhitenden  speer.  Nach 
langer  erbaulicher  predigt  reiten  die  geschwister  nach  liause.  Am 
andern  morgen  bricht  Parzival  unter  wehklagen  der  Schwester  wider 
auf,  den  gral  zu  suchen. 

Sp.  409.      Hie  IkhI  Par\ifal  xuo  der  megede   biirq.     [Bern.  ms. 

§  16.] 

Drei  tage  durch  wüsten  wald,  ohne  herberge  zu  finden,  irrend, 
komt  er  endlich  zu  einer  herlichen  bürg,  deren  tor,  als  er  eingeritten, 
sich  schliesst.  Kein  mensch  lässt  sich  sehen.  Yor  dem  saale  steht  auf 
vier  vergoldeten  säulen  eine  tafel  mit  angekettetem  hammer.  Dreimal 
schlägt  er  darauf,  dass  die  bürg  erdröhnt.  Da  zeigt  sich  ein  mädchen, 
das  ihm  jedoch  auf  seine  bitte  um  herberge  nicht  rede  steht.  Widerum 
schlägt  er  an  die  tafel,  dass  man  es  zwei  meilen  weit  hören  kann,  und 
angstvoll  komt  nun  ein  andres  mädchen,  das  ihn  der  herrin  zu  mel- 
den verspricht:  denn  würde  er  zum  dritten  male  auf  die  tafel  schlagen, 
so  müste  die  bürg  in  trümmer  stürzen.  Im  glänzenden  saale,  von 
hundert  schönen  Jungfrauen  umgeben,  empfängt  ihn  die  herrin;  da 
schwand  ihm  sein  zorn  und  sein  hunger,  mid  er  fühlte  sich  wie  im 
paradiese.  Burg  und  schloss  werden  nur  von  Jungfrauen  edler  geschlech- 
ter  bewohnt,  und  sind  von  ihnen  ohne  die  hülfe  von  maurern  und 
Steinmetzen  erbaut.  Fahrende  ritter  werden  zur  herberge  aufgenom- 
men; wer  das  haus  menschenleer  findet,  sich  ängstigt,  dass  sich  das 
tor  hinter  ihm  geschlossen  und  nicht  auf  die  tafel  schlägt,  der  findet 
morgens  das  tor  offen  und  kann  fortreiten.  Wer  aber  mutig  dreimal 
auf  die  tafel  gesclilagen,  der  wird  köstlich  bewirtet  und  erhält  eine 
prächtige  schlafstätte.  So  gieng  Parzival,  nachdem  er  seine  aben teuer 
den  damen  erzählt  hat,  zur  ruhe.  Doch  am  andern  morgen  bei  schon 
hochstehender  sonne  erwachend,  findet  er  sich  unter  einer  eiche,  wap- 
nung  und  ross  neben  sich,  die  bürg  verschwunden,  nirgend  menschen- 
spur;  verwundert  spricht  er: 

Sp.  422,  24  Ich  tvene  uf  mine  jungeste  vart 
Dax.  sü  gefenet  sint  alle  gar. 

Sp.  422.  Hie  kunt  Parxifal,  da  er  sin  Jdrxhouhet  wider  vindet 
und  daz  breckelin,  dax  er  lange  gesiwchet  hette,  und  würt  mit  eime 
ritter  drumbe  velitende,  der  kies  Gai'salas.  [Bern.  ms.  §  17.  — 
R.  Boron  s.  176.J 

20* 


308  SAN   MAETE 

Xach  langem  waldritt  kernt  Parzival  zu  einem  schönen  grossen 
plan,  auf  dem  ein  mächtiger  bäum  steht,  unter  dessen  schatten  wol 
tausend  ritter  platz  hätten,  und  daneben  ein  grosses  prächtiges  zeit, 
nebst  zwei  kleinen.  In  einem  derselben  steht  ein  herlich  geschmück- 
tes bette  und  eine  Jungfrau  begrüsst  ihn  mit  der  Verkündigung  seines 
nahen  Verderbens.  Am  bäume  hängt  der  köpf  des  erlegten  zwölfenders, 
doch  fehlt  das  bräcklein.  Da  wird  unter  hörnerschall  ein  todmüder 
hii'sch  von  dem  hündchen  heraugetiieben,  und  ein  folgender  ritter  tötet 
den  hirsch.  Parzival  fordert  von  ihm  hii-schkopf  und  bracken,  und  da 
er  beides  weigert,  kämpfen  sie;  jener  wird  besiegt  und  verpflichtet, 
sich  mit  seiner  dame  an  Artus  hofe  zu  gestellen.  Der  ritter  heisst 
Gai-salas,  söhn  des  herzogs  von  Genelogen  land,  sein  lieb  Trischans  die 
ehre.  Parzival  will  von  ihm  das  nähere  über  die  bürg  und  die  Jung- 
frau, die  ihm  den  bracken  gegeben,  erfahren;  jener  weiss  das  nicht; 
dann  fragt  er  nach  dem  schwarzen  ritter  im  grabgewölbe.  Der  ritter 
erzählt  ihm  dessen  geschieh te  (so  gleichfals  in  Bern.  ms.  §  17  mit 
dem  Zusatz:  „hier  endet  seine  geschichte,  die  ich  euch  wort  für  wort 
ti'eu  erzählt  habe.'')  Parzival  übernachtet  gut  bewirtet  und  reitet  ver- 
gnügt mit  hii-schkopf  und  bracken  beladen  morgens  ab.  Garsalas  und 
seine  geliebte  werden  von  Ailus  zu  Karleun  mit  ehren  empfangen. 

Sp.  439.  Hie  kunt  Parcifal  %uo  der  juncfroiven,  die  im  im 
imd  Jech,  der  in  fuorte  über  die  glesiiie  hriigge,  und  solte  in  wisen 
xiu)  dem  grole,  und  der  selben  naht  sacli  er  in  in  dem  ivalde  von 
ungeschihte  und  dax  ers  nüt  enivilste.     [Bern.  ms.  §  18.] 

Parzival  betet  inbrünstig  zu  gott,  dass  er  das  schloss  mit  dem 
Schachbrett  und  die  dame,  die  ihm  das  bräckelin  übergeben,  wider 
finde.  Xach  einiger  zeit  komt  ihm  em  schön  mit  reitzeug  geschmück- 
tes, blendend  weisses  maultier  entgegen  gelaufen,  dem  eine  schöne 
festlich  geputzte  dame  folgt.  Diese  besteigt  es,  und  obwol  sie  es 
abwehren  wiU,  reiten  beide  bis  in  die  nacht  hinein  mitsammen  weiter. 
Da  eilt  sie  voraus  und  Parzival  ruft  sie  vergebens  zurück.  Plötzlich 
erhelt  sich  die  nacht  durch  kerzen  mit  hellem  schein,  bald  aber  folgt 
ein  ungewitter  mit  strömendem  regen.  Der  held  muss  im  walde  über- 
nachten, doch  andern  tages  um  mittag  findet  er  die  dame,  die  ihn  ver- 
lassen, unter  einem  bäume  rastend  und  sie  erklärt  ihm,  dass  sie  ihrem 
geUebten  Bruns  (im  Bern.  ms.  heisst  er  Bruns  sans  piiie)  gelobt,  bis 
zu  seiner  widerkehr  in  keiner  geselschaft  eines  mannes  zu  sein.  Die 
nächtliche  erhellung  des  waldes  habe  der  gral  hervorgebracht,  während 
der  hier  nahe  Avohnende  fischerkönig  sich  der  nacht  im  ft-eien  erfreute. 
Er  will  mehr  vom  gral  und  dem  blutenden  speer  wissen,  doch  erwidert 


BILDUNGSGANG   DER   GRALDICHTUNG  309 

sie,  dass  darüber  nur  ein  bewährter  priester  sprechen  könne.  Weiter 
reitend  kommen  beide  in  ein  tal,  wo  eine  Jungfrau  sie  im  zeit  unter 
bäumen  gastfreundlich  bewirtet;  er  erzählt  ihr  seine  fahrt  um  den 
hirschkopf  und  bracken,  und  auf  sein  begehr,  zum  gralkönig  zu  gehm- 
gen,  gibt  sie  ilim  ihr  weisses  maultier  nebst  einem  ring,  durch  den 
er  es  werde  richtig  lenken  kCtnnen,  und  das  ihn  auf  der  gläsernen 
brücke  sicher  über  ein  grosses  wasser  führen  werde;  d(^ch  soll  er  ihr 
maultier  und  ring  widerbringen.  So  reitet  er  auf  dem  maultier  mit 
seinem  ross,  hirschkopf  und  bracken  ab,  übernachtet  im  walde  und 
gelangt  glücklich  über  die  gläserne  brücke. 

Sp.  456.  Hie  kunt  Parxifal  xuo  eirne  rittere,  der  Ines  Drios,  der 
in  u'isete  über  die  hohe  brücke,  do  nieman'  möhte  über  Jcomen,  und 
gieiig  nuwcmt  halber  i)is  weisser,  miete  seite  im  ouch  von  dem  (ji'ossen 
turneig,  der  sich  sammente  vor  der  bürge  Orgelus.     [Bern.  ms.  §  19.] 

Er  begegnet  dem  edlen  ritter  Brios  von  dem  gebogenen  walde, 
auch  „von  den  inseln''  genant,  im  schönen  jagdkleide  mit  einem  hörn 
von  elfenbein  und  habicht.  Auf  wechselseitigen  frommen  morgengruss 
ersucht  ihn  Brios,  zunächst  bei  ihm  sich  zu  erfrischen,  führt  ihn  ins 
schloss  zu  frau  und  tochter,  welche  leztere  einen  grossen  eindruck  auf 
Parzival  macht,  doch  von  minne  noch  nichts  wissen  will.  Nach  erzäh- 
lung  seines  hirsclikopf-abenteuers  nimt  er  den  Vorschlag  an,  an  dem 
furnier  teilzunehmen,  das  Artus  jenseits  des  flusses  beim  schlösse  Orge- 
lus ausgeschrieben  hat.  Doch  muss  er  dabei  eine  zauberbiiicke  passie- 
ren, die  nur  bis  in  die  hälfte  des  wassers  reicht,  und  über  die  ihm 
eine  lange  geschichte  erzählt  ^vird.  Andern  tags  machen  beide  ritter 
sich  auf,  Parzival  unter  zurücklassung  des  hirschkopfs  und  brackens, 
und  in  vortreflicher  rüstung.  Brios  bleibt  zurück,  als  Parzival  die  brücke 
betritt,  doch  sobald  er  an  deren  ende  in  der  mitte  des  breiten  brau- 
senden Stromes  angelangt  ist,  löst  sie  sich  behend  vom  lande  los  und 
schwingt  sich  über  die  andre  hälfte  des  wassers  zum  jenseitigen  ufer, 
das  Parzival  sicher  betritt.  Damit  ist  erwiesen,  dass  Parzival  der  beste 
ritter  der  weit  ist.  —  Artus  mit  allen  tafelrundern  ist  bereits  bei  der 
bürg  Orgelus  versammelt  und  ordnet  die  parteien.  Als  gegenpart  steht 
könig  Auguses  mit  den  Irländern,  und  diesen  schloss  sich  Parzival  an, 
da  er  gegen  die  tafekunder  unerkant  kämpfen  wolte.  Der  vorschnell 
eifrige  Keie  wiixl  zuerst  abgestochen  und  muss  den  höhn  des  hofes 
erfahren.  K^ach  vielen  siegreichen  kämpfen  kehrt  Parzival  über  die 
brücke  in  gleicher  weise,  wie  er  gekommen,  zu  Brios  zurück,  der  ihn 
erwartet  und  beide  übernachten  in  der  behausung  des  neffen  Brios, 
eines  einsiedlers.     Am   andern  tage  widerholt  sich  der  gleiche  waffen- 


310  SAN   MAETE 

tanz,  und  Artus  misvergnügt  scbickt  Gawan  aus,  zu  erkunden,  wer 
der  stets  sieghafte  ritter  sei.  Umsonst.  Abends  zieht  sich  der  held 
wider  zurück,  übernachtet  bei  Brios  und  zieht  mit  hirschkopf,  bracken 
und  weissem  maultier  seines  weges  weiter. 

Sp.  485.  Hie  lannmet  Farxifal  zuo  eime  sarke,  do  ein  ritter 
inne  lag,  und  der  ritter  hetroug  in  darin  mit  sinre  bosheit.  [Bern, 
ms.  §  20.] 

Bald  fand  er  im  walde  unter  einem  bäume  ein  kreuz,  darunter 
einen  marmorsarg.  Eine  stimme  rief  unter  dem  stein  um  hülfe.  Als 
Parzival  den  stein  aufhob,  sprang  ein  statlicher  ritter  heraus,  der  den 
beiden  in  den  sarg  und  über  diesen  den  stein  warf. 

Sp.  486.  Hie  iviirt  Parxefal  erlöset  uz  dem  sarke.  [Bern.  ms. 
§  20.] 

Der  tückische  ritter  versucht,  auf  dem  ross  und  auf  dem  maul- 
tier davon  zu  reiten,  doch  beide  sind  nicht  von  der  stelle  zu  bringen. 
Er  vermutet  Zauberei,  lässt  Parzival  aus  dem  sarge  und  springt  selbst 
wider  hinein  imd  ruft  nur  noch:  am  ende  des  Jahres  werde  Parzival 
erfahren,  wer  er  sei.  Dieser  reitet  ab  und  findet  bald  im  walde  eine 
schön  gezierte  jungtrau,  die  den  ring  und  das  maultier  als  das  ihrige 
ihm  abfordert,  und  fragt,  ob  er  beim  gral  gewesen  und  seine  wunder 
gesehn  habe?  was  er  verneint,  dagegen  seine  abenteuer  erzählt.  Er  gibt 
ihr  ring  und  maultier,  womit  sie  wegreitet,  er  übernachtet  im  walde 
und  betet  recht  inbrünstig  zu  gott,  dass  er  ihn  doch  endlich  zum 
fischerkönig  oder  zur  mägdeburg  führe.  Da  antwortet  ihm  hoch  aus 
dem  bäume  eine  stimme:  das  bräcklein  werde  ihn  führen!  Bellend 
läuft  es  voran,  er  eilt  freudig  ilim  nach. 

Sp.  492.  Hie  kunt  Farxifal  wider  7mo  der  jungfroiven,  do  er 
das  riche  schofxovel-  gesteine  U7id  hret  vant  und  die  im  lech  im 
bracken.     [Bern.  ms.  §  21.] 

Das  bräckelein  führt  den  beiden  in  eine  ansehnliche  bürg;  im  saale 
steht  ein  prächtiges  bett,  auf  dem  das  Schachbrett  liegt.  Eine  schönge- 
schmückte Jungfrau,  der  das  hündchen  freudig  entgegenspringt,  begrüsst 
ihn  fi'eundlich:  er  übeiTeicht  ihr  den  hirschkopf,  erzählt  seine  abenteuer, 
bittet  nun  aber  um  erfüllung  ihres  gelübdes,  das  sie  ihm  bei  der  aus- 
fahrt gegeben:  gewährung  der  minne.  Mit  vielen  küssen  fält  sie  ihm 
um  den  hals  und  erklärt  ihm  ihre  hingebung.  Sie  setzen  sich  auf  das 
bette  neben  das  Schachbrett,  über  welches  sie  auf  seine  bitte  ihm  aus- 
kimft  gibt:  einst  war  hier  eine  wunderschöne  zauberkundige  magd; 
diese  fand  die  fee  Morgane  auf  einer  wiese  mit  einem  ritter  schach 
spielend;    als   sie   näher  trat,    bot  ihr  Morgane   ihr  schachbret  an  zum 


BILDUNGSGANG  DER   GRALDICIITUNG  311 

geschenk;  es  war  zu  Lunders  uf  der  Tarmise  gemacht.  Als  gegen- 
gescheok  gab  sie  Morgane  dieses  Schachbrett,  das  von  selbst  spielte, 
wenn  ein  ehrbarer  mann  oder  solches  weib  oder  jungtrau  das  gegen- 
spiel  übernahm.  Als  sie  an  köuig  Brandigans  hüte  war,  kam  auch 
Morgane  dahin,  nahm  sie  auf  zwölf  jähre  mit  sich,  und  schenkte  ihr 
das  schaclibrett  zurück,  wonächst  sie  vor  acht  jähren  sich  diese  schöne 
bürg  erbaut  habe.  —  Kitter  und  damen  versammeln  sich  zu  festlicher 
abendtafel,  dann  wird  Parzival  schön  im  saal  gebettet  und  nachts  kam 
die  burgherrin  zu  ihm  und  löste  ihr  gelöbnis.  Andern  tags  reitet  Par- 
zival wider  auf  die  gralsuche  mit  dem  versprechen,  wider  zu  kommen. 
Sie  begleitet  ihn  bis  an  ein  wasser,  wo  ein  schiff  an  einer  eiche  unter 
schloss  lag.  Sie  schliesst  es  auf,  und  das  schiflein  bringt  ross  und 
reiter  hinüber  und  kehrt  dann  von  selbst  zurück.  Er  verfolgt  die  ihm 
gewiesene  Strasse  zum  fischerkönig. 

Sp.  506.  Hie  vindet  Fm^7dfal  einen  ritter,  der  an  den  faexzen 
Meng  an  einem  boume,  den  er  erloste,  der  Bayumades  hies.  [Bern, 
ms.  §  22.] 

'Keie  hatte  ihu  so  grausam  behandelt  und  mit  drei  rittern  angefal- 
len, als  sie  vom  leidigen  berge  kamen,  wo  sie  vergeblich  versucht  hat- 
ten, ihre  rosse  an  die  marmorsäule  zu  binden,  was  nur  dem  besten 
ritter  der  weit  gelingen  kann.  Bagumades,  nun  befreit,  reitet  zu  Artus, 
um  Keie  ziu-  rechenschaft  zu  fordern,  Parzival  zur  säule  auf  dem  mo7is 
doloiireux,  um  zu  versuchen,  ob  er  der  beste  ritter  sei. 

Sp.  513.  Hie  klimmet  Bagimiades  xuo  künig  Artus  und  würt 
vehtende  mit  Keygin. 

Artus  und  die  königin  schlichten  den  kämpf,  in  dem  Keye  zu 
unterliegen  droht,  in  gute,  und  da  Bagumades  den  gruss  von  Parzival 
gebracht,  machen  alle  tafelrunder  sich  auf,  ihn  zu  suchen,  Gawan, 
Twon,  Lanselot  usw.  Der  dichter  will  jedoch  nur  von  Gawan  erzcäh- 
len.  —  Hier  bricht  das  Berner  ms.  ab  und  schliesst  sich  erst  sp.  582 
wider  an.  —  Gawan  übernachtet  bei  einem  einsiedler  im  walde,  dann 
komt  er  bald  zu  einer  bürg,  vor  der  an  einem  bäume  bei  einem  brun- 
nen  ein  silberner  schild  hing,  dessen  wappen  ein  schwarzer  klimmen- 
der löwe  ist. 

(ScMuss  folgt.) 


312 

EEST  QUODLIBET. 

Die  hamhchrift  c(J)h  270  der  lajl.  liof-  luid  staaUhiljUoihek  in 
München  ans  dem  15.  jli.  (cafaloi/ns  V  1,  s.  31),  in  welcher  auch  die 
17  (jedichfe  Heinrich  Kaufrintjers  aufbewahrt  si)id,  enthält  bl.  73''  bis 
76"  nachfolgendes  qnodlibef  („ditz  liaist  ain  geplerr'',  v.  161),  das  sich 
durch  eine  fülle  eingestreuter  Sprichwörter  u?id  sprichwörtlicher  redens- 
arten  auszeichnet.  Die  anmerkungoi  geben  die  lesarten  aus  cgni  379; 
in  dieser  hs.  steht  das  gedieht  bl.  36''  bis  5Ö^ 

bl.  73*  Ain  ander  guot  spriich. 

Wer  on  guot  wil  witzig  sein 

Vnd  on  schiff  fert  über  rein 

Der  möcht  ertrincken  wol 

Durch  des  reiches  stet  on  zol 
5  Niemant  thar  gefarrn 

Was  die  Chargen  mügend  ersparen 

Das  wirt  den  muten  zuo  tau 
bl.  TS*"  Auß  past  macht  man  sail 

Oder  guote  raffen  reff 
10  Gipt  ainer  seinem  chneht  ain  treff 

Vmb  schneid  er  sol  nit  zürnen 

Für  die  feind  sol  man  turnen 

Die  zun  die  da  geachtert  sind 

Mit  ruoten  sol  man  slahen  chind 
15  Die  vmb  wöllent  zäunen 

In  müllen  fint  man  wannen 

In  dem  wein  hauß  die  maüß 

Ze  chirchen  vnd  zuo  straß 

Sicht  man  schöne  frawen 
20  In  weiden  muoß  man  hawen 

Holtz  das  man  da  prennen  wil 

Wer  wolfail  hin  gipt  vnd  lange  zil 

Der  verkauft  wol  was  er  haut 

Er  mag  sein  aber  verderben  drat 
25  Von  spils  uegen  der  gemn  ist  ciain 

Überschrt'ft  fehlt  iii  cgm  370.      1  an  .so  stets.       5  niema.  gefaren.  6  karge. 

7  ze  50  stets.         9  gütu  haffenref.         10  sin.         12  viend.         ]4  rautten.  slaschen. 

15  vmb  red  weUen.         17  maß.         18  kirche  vgl.  xu  6.         19  Sich  sich.  22  hin 
ge  tzil.        23  hat. 


EULINÜ,    QUODLIBET  313 

Zwen  glich  hert  stain 

Malend  scltton  slechtes  inol 

Wer  haut  ain  guot  bocktel 

Der  ist  zwair  stiffel  gewiß 
30  Wer  rieh  ist  man  spricht  er  ist  gewis 

Nieniant  waiß  ob  das  ist 

Auff  die  acker  fürt  man  mist 

Der  si  gern  getunget  haut 

Der  pader  ainen  siechen  laut 
35  Zum  linggen  arm  zuo  dem  miltz 

Wer  haut  zwen  schuoch  mit  filtz 

Die  sint  den  winter  warm 

Die  frawen  spinent  garn 
bl.  74''  Aine  pessers  dann  die  ander 
40  Tücli  fürt  man  auß  ilandern 

Wer  das  chaüfPet  der  muoß  phenning  han 

Wer  übel  vnd  guot  chan  uerstan 

Tuet  er  vnrecht  man  sol  jn  strauß'en 

Wer  schreit  on  not  waüffen 
45  Der  pringt  die  leüt  zuo  samen 

Wenne  man  sieht  schöne  samen 

So  chumpt  gern  ain  guot  jar 

Ich  waiß  wol  wer  nit  hat  har 

Der  ist  sicher  chal 
50  Wer  chorn  hab  der  mal 

Die  weil  die  päch  sind  groß 

Weren  meiniu  pfant  loß 

So  wölt  ich  frölich  sein 

Ich  waiß  wol  das  der  wein 
55  Macht  vngeraten  leüt 

Zuo  fasnacht  sieht  man  prüt 

Mer  dann  durch  das  jar  lanck 

Von  üeb  schaiden  ist  ain  swerer  ganck 

Also  gat  das  jar  da  hin 
60  Wer  vast  zert  on  gewin 

Dem  wii't  die  täsche  1er 

Ich  waiß  wol  es  ist  swerr 

26  gleych.  30  spiich.  34  bader.  35  langen,  auff  dem  m.  40  füret, 
gen  flander.  41  koft.  43  solt.  48  hat  hat.  53  wolt.  frolich.  55  Kit. 
59  get. 


314  EULING 

Das  niemaut  erheben  mag  noch  chan 

Wer  des  winters  one  ban 
65  Vber  weld  muoß  reitten 

Der  sol  des  tags  erbaitten 

Leüg  ich  so  wil  ich  swigen 
bl.  74*'   AVer  beginnet  seigen 

Dem  ist  ettwas  prosten 
70  Wer  badet  one  ehesten 

Der  schempt  sich  uil 

Wer  vor  dem  pern  uischen  wil 

Der  mag  sein  arbait  verliessen 

Wer  pöß  gelt  nit  chan  chiessen 
75  Der  verdrnißet  seiner  zeit 

Wer  ^y  ainer  trawen  leit 

Vnd  jr  nicht  gelieben  mag 

Der  wölt  gern  es  war  tag 

Liegens  sol  sich  niemant  gewenen 
80  Siechtag  tuet  wee  den  zen 

Auch  ich  die  leut  hör  sagen 

Wer  vnrechts  vil  muß  haben 

Ich  wen  es  tue  jm  wee 

Czuo  sumer  pluomen  vnd  kle 
85  Sicht  man  auff  den  haiden 

Wem  sein  lieb  wirt  laiden 

Des  liebung  ist  gar  enzwai 

Laichnuß  ist  manger  lay 

Dar  \Tnb  ist  mir  geschechen  laid 
90  Wer  zuo  dem  augsten  w^euig  schneit 

Der  tarff  dest  minder  traschen 

Frawen  mussent  waschen 

Das  lauß  wir  aber  sleiffen 

Chül  morgen  pringent  reiffen 
95  Sehne  choment  nach  ehalten  winden 

Der  baupst  mag  enpinden 

63  noch  chan  fehlt.  66  erhiten.  67  Lieg.  68  sigcn.  70  fehlt  ganx. 
75  verdrwßet.  76  bey.  77  geminnen;  in  cgm270  steht  geliehen  von  jüngerer  hand 
in  rasur,  vgl.  über  dieses  in  cgm  270  geübte  verfahren  Heinrich  Kaufringer  hg. 
von  Euling.  s.  IL  79  Liegents.     wennen.  81  Als  ich.     her.  82  muß  ver- 

tragen. 83  tu.  86  Der  sem.         88  menger.         89  mir  fehlt.         90  ögsten. 

93  slyffen.        95  komjjt. 


QUODLIBET  315 


Den  siindcrn  wil  er  liabeii  r\v 
bl.  75"  Wann  der  mon  ist  new 

So  mag  sich  das  weiter  iierstossen 
100  Chuglen  vnd  possen 

Macht  vngeraiiten  leüt 

Wer  hacket  oder  reut 

Dem  wirt  sein  prot  saür 

Ain  wolff  vnd  ain  pawr 
105  Werdent  ain  ander  selten  hold 

Das  da  gleist  ist  nit  alles  gold 

Wenn  es  ist  auch  mess 

Ain  schmid  in  seiner  ess 

Sol  haben  guten  chol 
110  New  pesm  cheren  wol 

Paß  dann  si  Averdent  alt 

Altu  wip  sind  ehalt 

Dar  zu  pringet  si  jr  alter 

Ich  wen  wenn  ain  malter 
115  Mer  dann  ain  pfünt  gelten  sol 

Es  sev  armen  leüten  nit  wol 

Pöß  offen  werdent  riechen 

Gern  lapt  man  die  siechen 

Wie  gern  sung  ain  man 
120  Ir  wissend  wol  wer  Kitzel  chan 

Der  haut  gesungen  schier 

Ich  waiß  wol  dry  vnd  vier 

Ist  siben  hewr  als  fert 

Wer  Pfenning  hat  der  ist  wert 
125  Disser  weit  lauff  nieman 

Ains  mals  gesagen  chan 
bl.  75*'  Vnd  wie  ieder  sei  gemuot 

Der  pfaff  aischt  nicht  das  guot 

Die  weil  das  öppffer  mag  wern 
130  Ich  waiß  wol  er  wölt  gern 

Das  es  lange  wert 

Er  mag  fallen  hiur  als  fert 

Wer  hoch  wil  steigen 

98  man.  nuw.  100  Kichlen.  101  Mach.  105  an  ainander.  106  als. 
107  och.  109  guten  fehlt.  110  pesen.  112  weip.  116  nit  fehlt.  119  AVy 
gernen  so  mag  ain  man.         122  oder  vier.         123  vart.         130  weit.         131  wart. 


316  EULING 


Hern  sol  man  naigen 


135  So  si  piettend  jrn  gnioß 

Thören  essent  gern  muoß 

Ymb  alle  sach  ist  mir  nit  chiind 

Doch  waiß  ich  wol  den  alten  hund 

Ist  pöß  leren  die  pand 
140  On  pfening  vnd  on  pfand 

Niemant  zuo  dem  wein  sol  gan 

Der  sich  chiimers  wöl  erlaiin 

Am  süntag  söl  wir  feirren 

Pfaffen  vnd  geyrren 
145  Sind  der  leüt  schaden  fro 

Gern  print  das  stro 

So  es  nahent  leit  pv  dem  fewr 

Jr  wissent  wol  das  hewr 

Die  mäntel  gand  für  die  rock 
150  Gaiß  vnd  auch  pöck 

Tragent  lützel  guotter  wollen 

Wem  der  sack  nit  wil  foUen 

Der  sol  jn  halb  vei-pinden 

Garn  sol  man  winden 
155  Oder  es  wird  sicher  verworren 

So  die  schwin  begimien  kerren 
bl.  76*  Dar  zuo  tribt  si  des  hungers  not 

Wer  hewr  stirbt  der  ist  tod 

Ynd  ist  sin  piß  jar  vbrig  worden 
160  Es  ist  ain  herter  orden 

Ditz  haist  ain  geplerr 

Ynd  chompt  der  uogel  jn  das  flerr 

Er  wirt  uilleicht  geuangen 

Wer  zuo  jungst  chompt  gegangen 
165  Der  haut  versaümpt  den  ersten  trunk 

Alt  leüt  sint  nicht  Jungk 

Doch  haut  ain  gans  ainen  langen  kragen 

Ich  möcht  zu  vil  sagen 

Da  uon  sprich  ich  ain  wort 
170  Churtz  red  war  ist  ain  hört 


134  geneigen.  142  erlan.  143   vyren  —  gjTen.  147   bey   dem 

fürr.  149  gend.  155  sicher  fehlt.  156  swein.  162  lerr.  1G7  ain. 


LÜGENDICHTUNG  317 


Wer  paUl  lauft'  dem  ist  gaüeh 

Her  aiift'  da  ti-iiiik  ain  prediger  uaeh. 


171  löff.  172  Hör. 


EINE   LÜGENDTCIITUNG. 

Dem  Verzeichnis  mhd.  läge/ist ücle  bei  MüUrr-Fraurciith,  die  deut- 
schen Uiyendichtiuigen  s.  12.  13  füge  ich  Idnxu  „Spruch  das  alles  in 
der  Pelt  gut  gehet"  vom  Sch7iepperer  aus  der  Its.  des  germaiiischen 
museums  %u  Nimiberg  )ir.  5339^,  vgl.  Afixeiger  f.  kimde  d.  d.  vorz. 
1859,  9  —  12.  Bei  Goedeke  I,  329  fehlt  das  stück,  trotxdem  es  vo7i 
Wendeler  in  seinen  Studien  über  Hans  Rosenplüt  erwähnt  war.  Die 
angeführte  Überschrift  rührt  von  jüngerer  liand,  her. 

bl.  410^  Ich  sollt  von  hübscher  abenteür 

Sagen  darzu  dorft  ich  wol  steür 

Ob  ich  zusamen  ein  gedieht 

Kiint  bringen  aus  gar  hofelicher  geschieht 
5  Ein  schweiczer  spiß  ein  helnparten 

Die  tanczten  jn  einem  hopö'engarten 

Eins  Storchs  pein  vnd  eins  hasenfuß 

Die  pfiö'en  auf  zum  tancz  gar  suß 

Die  würffei  fürten  den  reven  eins: 
10  Dapei  was  heinczlein  meyers  pflüg 

Der  sas  in  einer  alten  taschen 

Ynd  schmidet  ser  an  einer  flaschen 

"Was  grosser  kunst  er  daraus  dreit 

Die  flasch  was  drei  messig  weit 
15  Er  schopfft  gancz  vnd  gar  darein 

Das  mer  die  tunaw  vnd  den  rein 

In  aller  weit  wassers  zuran 

Ein  muck  verschlant  ein  starcken  man 

Ein  feüi-  in  wasser  nie  erlasch 
20  Der  pfarrer  seinen  meßner  trasch 

Der  paursman  sictzt  wol  vnd  eben 
bl.  41 1'*  Der  darft  kein  güllt  noch  zehent  geben 

Ich  sach  den  dittrich  von  Bern  den  recken 

Rennen  scharpf  auf  einen  heüschrecken 
25  Ich  wil  euch  neue  mer  hie  sagen 


318  eulinCt 

Die  schweiczer  liatt  er  all  erschlao:en 
Der  edel  füi-st  von  Österreich 
Siezt  in  dem  schweiczer  land  gleich 
Ynd  hat  gewunnen  mit  dem  schwert 
30  Als  er  vor  lang  hat  begert 

Ich  sas:  euch  das  fursten  ynd  lierren 
Der  Juden  schecz  nit  mer  begern 
Sie  haben  gemacht  gut  frid  vnd  gleit 
A^nd  haben  vertriben  weit  vnd  preit 
35  Die  rauber  gancz  aus  jrem  land 
Das  vnrecht  thut  den  fürsten  and 
Es  sein  alle  sti'aß  gar  fridlich  worden 
Ynd  yderman  hellt  recht  sein  orden 
Eeprecher  vnd  meinayd  schweren 
40  Das  vindt  man  auch  nu  nymermer 
Die  wellt  ist  worden  schlecht 
Richter  vnd  schopffen  die  sprechen  recht 
bl.  411''  Tnd  vrteilt  yderman  nach  seinem  synn 
So  ist  gerechtikeit  erschinn 
45  In  allen  landen  weit  vnd  preit 
Hat  man  die  vnrecht  aufgegeit 
Die  prister  halten  sich  wirdigkleich 
Sie  schlagen  gancz  aus  alle  reich 
Es  wil  einer  nit  mer  haben  dann  ein  pfründt 
50  Sie  haben  sich  alle  mit  got  versunt 
Hoffart  vnkeüsch  geitikeit  ser 
Das  sieht  man  nvmant  treiben  mer 
Man  most  sich  aller  svmonei 
Alle  Wasser  vnd  weld  sein  worden  frei 
55  Wann  tosten  vnd  heiTen  thun  als  wol 
Ynd  nemen  nit  steür  noch  zol 
Der  pfenning  ist  worden  vnwert 
Das  nymant  mer  vnrechts  begert 
Die  weit  die  fleißt  sich  aller  tugent 
60  Ynd  guter  ding  jn  aller  Jugent 
Die  Jungen  die  haben  die  alten  lip 
Darumb  ich  in  gros  lob  hie  gib 

26fgg.  über  die  satire  in  der  lilgendichtuncj  vgl.  Müller  -  Fraureuth  s.22fgg. 
39.  40  schwerer  Die?  49  vgl.  Gerynania  33  (1888)  s.  164. 


LÜGENDICHTUNG  319 

Die  kiiidt  vollen  vater  vnd  miitor  schon 
1)1.  412"  Nymandt  dem  andern  arges  gon 
65  Nymant  tregt  mer  neid  vnd  lias 

Geen  dem  andern  icli  sag  euch  das 

Die  Juden  wollen  sich  gancz  bekern 

Ynd  iiynunt  keiner  kein  wacher  mer 

Sie  sein  all  getauft  zu  der  cristenheit 
70  Jr  sund  ist  in  worden  leit 

Des  habens  alle  ein  guten  willen 

Ein  muck  ving  mit  einem  grillen 

Starcker  wolff  drei  on  wer 

Ein  schwarczer  storch  pädt  sich  ser 
75  In  einem  sperckennest  gros 

Ein  plinter  zu  dem  zil  schos 

Ein  zwifalter  aus  clugen  wiczen 

Sang  mit  einem  stigliczen 

Vmb  hundert  elen  egerigs  tuchß 
80  Ein  henn  die  laß  mit  einem  fucliß 

Hie  vor  das  sag  ich  euch  für  war 

Ich  was  gar  nahent  hundert  Jar 

Ein  gewaltiger  pabst  in  schottenlant 

Ich  gabs  mit  willen  auf  zuhaift 
bl.412''  85  Do  hett  ich  alles  das  ich  wollt 

An  dem  weg  do  lag  das  silber  vnd  das  golt 

Gleich  sam  die  grossen  quaderstein 

Das  was  mir  alles  gar  gemein 

Do  stund  ein  prunn  der  was  guldin 
90  Daraus  flos  der  aller  peßt  wein 

Ein  reiche  kuch  stund  auch  dapei 

Ynd  die  was  yderman  frei 

Da  gieng  ich  auch  ein  als  ich  solt 

Ynd  asß  vnd  tranck  do  was  ich  wolt 
95  Ich  schlug  es  aus  vnd  wolts  nit  han 

Da  sprach  zu  mir  frau  vnd  man 

Ich  wer  nicht  weis  das  ichs  ausschlug 

Solch  herren  leben  gar  gefug 

Ich  sag  ein  grossen  mülstein 
100  Da  fligen  in  lüften  gemein 

85  fgg.  vgl.  Müller  -  Fraureuth  s.  14  fgg. 


320  EtJLING,    LÜCtEXDICHTTJNG 

Ich  sag  einen  paunien  der  ti*iig 

Die  allerpesten  seniel  gut  vnd  elug 

Der  do  in  einem  weyer  hing 

Der  lauter  da  mit  milich  ging 
105  Darein  viln  die  semel  herab 
bl.  413*  Ein  loffel  man  vderman  2:ab 

Zu  essen  genug  semel  vnd  milch 

Ein  weber  macht  guten  zwilich 

Aus  einer  alten  decken  schon 
110  Ich  sas:  den  turn  zu  babilon 

In  eines  kramei*s  korb  verspert 

Ein  äff  mach  hübsch  gefert 

Auf  einer  lauten  hofenleich 

Vor  Römischen  keisern  reich 
115  Da  kund  er  aUe  seitenspill 

Ein  toter  Jud  der  gerbet  vil 

Schweiner  feil  zu  einem  pelcz 

Ich  sag  aus  einer  mucken  schmelcz 

Das  peßt  schmalcz  wol  drey  zentner 
120  Des  molers  pensei  ti^ug  gar  schwer 

An  einem  schneckenkorb  gros 

Ein  frosch  zu  einem  storchnest  schos 

Es  vellt  neür  \^nb  zwu  ackerleng 

Er  hetts  sust  troffen  sein  weit  sein  eng 
125  Mit  eiuem  alten  videlbogen 

Ob  ymant  Sprech  ich  hett  gelogen 
bl.  413^  Ich  hab  nit  brif  noch  sigel  dapei 

Wie  es  das  ewangelio  sei 

Damit  ich  die  kunst  bewer 
130  Das  ist  nit  Avar  vnd  ist  kein  mer 

Sagt  vns  der  schnepperer. 

126  fgg.  rgl  Fsp.  US8. 
raLDESHEIM.  K.    Etn.ING. 


321 


ZUM   PASSIONAL. 

1.     Dresdner  briuhstücke  aus  dein  passiiMial  K. 

Ausser  den  beiden  von  0.  Meltzer  (Germ.  18,  355  f^^)  und  E.  Wör- 
ner  (Ztschr.  f.  d.  ph.  8,  68  f^.)  veröffentlichten  bruchstücken  des  Pas- 
sionals  besizt  die  kgl.  bibliothek  zu  Dresden  noch  zwei  andere,  die  wie 
das  Wörn ersehe  bruchstück  dem  dritten  von  Köpke  (Quedlinburg  und 
Leipzig  1852)  herausgegebenen  buclie  des  Passionais  (Passional  K.)  ange- 
hören. Über  diese  beiden  noch  nicht  veröffentlicliten  bruchstücke,  auf 
welche  mich  mein  freund  kustos  dr.  H.  A.  Lier  aufmerksam  machte, 
soll  im  folgenden  berichtet  werden. 

1)  Zwei  pergamentstreifen,  Avelche  zusammen  ein  wagerecht  durch- 
schnittenes doppclblatt  darstellen,  das  ehemals  den  inneren  teil  eines 
quaternio  gebildet  hat  und  dessen  selten  207  mill.  hoch  und  178  mill. 
breit  sind.  Dr.  H.  A.  Lier  fand  diese  pergamentstreifen  im  inneren 
rücken  eines  aus  der  Ölser  privatbibliothek  des  verstorbenen  herzogs 
von  Braunschweig  stammenden  und  von  da  in  den  besitz  der  Dresdner 
kgl.  bibliothek  übergegangenen  buches  (Helius  Eobanus  Hessus,  He- 
roidum  Christian arum  epistolae.  Lipizk  per  Melchiorem  Lotter.  1514.  4^^). 
Die  232  verszeilen,  welche  das  bruchstück  enthält  und  welche  bei 
Köpke  den  versen  139,  29  —  141,  68  entsprechen,  sind  so  verteilt,  dass 
sich  auf  jeder  der  4  selten  2  spalten  zu  je  29  versen  befinden.  Das 
erste  blatt  ist  am  seitenrande  verschnitten,  sodass  von  bl.  V  sp.  2  die 
versausgänge  und  von  bl.  l''  sp.  1  die  versanfänge  fehlen.  Es  fehlen 
sonach  die  ausgänge  der  verse  Köpke  139,  58  —  86  und  die  anfange 
der  verse  Köpke  139,  87  — 140,  19.  Die  schriftzüge  sind  zAvar  nicht 
gerade  schön  und  regelmässig,  zeichnen  sich  aber  durch  deutlichkeit 
aus.  Andere  als  die  bekanten  abkürzungen  sind  nicht  verwendet.  Die 
abschnitte  sind  durch  grosse  bunte  initialen  bezeichnet;  so  begint  139,47 
mit  einem  blauen  N,  140,  33  mit  einem  roten  P  und  140,  89  mit 
einem  blauen  D.  An  einzelnen  stellen  hat  die  schrift  durch  kleine 
löcher,  noch  mehr  durch  falzung  des  pergaments  und  aufgestrichenen 
leim  gelitten. 

Li  dem  folgenden  Variantenverzeichnis,  bei  welchem  ich  auf  die 
rein  orthographischen  unterschiede  keine  rücksicht  genommen  habe, 
bezeichnen  die  werte  vor  dem  strich  die  lesarten  des  Köpkeschen  tex- 
tes,  die  hinter  dem  strich  die  unseres  bruchstücks. 

139,  29.  an  im  ungemutec  ge7iue  \  er  was  vninvtic  gnvh  31.  im  \ 
ein     33.  korhe  \  hiehte     34.  ein  hrot  \  daz  hrot     36.  geweft  ein  ftein 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXII.  21 


322  NETJMANN 

fo  fcharf  \  garcfen  ein  ficin  scJfarf  37.  gcfcn  \  gcfchcn  38  gcfchcn\ 
gefchclni  41.  hie  \  da  öl.  fidn  \  fvllcti  55.  fit  \  fint  Ol.  alda  \  da 
62.  im  I  do     69.  xu  \  vor     72.  dir  foJdc  alle  \  da  folte  er  alle     78.  die 

an  I  die  fie  an      79.  hufen  \  iv 80.  ufen  \  hvfe     96.  hetcN  gerne  \ 

. . .  r}ie  heten 

140,  2.  kleine?t  \  arnteii  9.  in  die  feinde  \  die  fehal  10.  %7i 
talc  I  xe  fal  11.  felhe  fehale  \  . .  .e  läge  12.  felhen  male  \  . .  .e  wage 
18.  giiilieh  \  —  liehen  26.  oueh  verfmneftu  daz  \  ovh  oh  dv  v'formeft 
dax  27.  icirdeft  \  wurde  ff  51.  firax  er  molite  haben  \  fwaz  er  het 
a?i  de  firnde  52.  fi}if  ich  han  entfahen  \  fit  ich  han  eni}hvnde 
64.  hegin  \  geirin  71.  feliifhraehe  \  fehifhrvehik  74.  uf  dem  \  vffem 
83.  armen  \  arme  84.  erharmen  \  erharme  86.  hefte  \  heftex  .  truc  \ 
an  trvl-  87.  hereit  \  gereit  88.  in  harmeherxikeit  \  in  die  barmh^zi- 
keit     95.  da  \  hi7i  da 

141.  5.  man  \  menfche  10.  dax  in  fime  gehete  \  daz  kleit  in  fine 
gebete  18.  leides  \  leidic  10.  fit  veriach  \  fint  iach  23.  tube  \  krvce 
28.  XU  im  alfns  \  alfiis  zv  im.  29.  Petre  \  peter  30.  du  haft  gewei- 
net j  rn  haft  geiceint  31.  um  \  vmbe  37.  was  mir  |  mir  was  38. 
kalde  ir  leit  \  kelte  ir  not  40.  gut  \  girier  43.  pruveter  |  pri^fte  er 
48.  fine  \  fin  49.  an  fulche  \  vf  folche  51.  vor  den  handen  \  vö  den 
hende  53.  rieher  der  mac  \  richer  mac  55.  treit  \  i'>Hreit.  32.  diz  \ 
daz     67.  gefterhen  \  erfterhen. 

2)  Ein  pergamentdoppelblatt,  jezt  mit  einem  papiereinbande  ver- 
sehen. Es  trägt  die  bezeichnnng  Msc.  Dresd.  M  177  und  die  acquis.- 
nr.  1789*  1243.  Dem  handschriftenkatalog  zufolge  ist  es  ein  geschenk 
von  fräulein  Louise  von  Olivier  in  Dresden.  Die  blätter  sind  238  mill. 
hoch  und  179  mill.  breit.  Die  Seiten  bieten  den  text  in  je  2  spalten 
mit  je  42  verszeilen.  Eine  ausnähme  macht  die  zweite  spalte  von 
bl.  1'',  welche  nur  41  verszeilen  hat,  da  ihre  lezte  zeile  unbeschrieben 
ist  Das  ganze  fragment  enthält  somit  235  verszeilen,  und  diese  ent- 
sprechen bei  Köpke  den  versen  581,  58  —  583,  36  und  586,  81  —  588,  52. 
Es  fehlen  dazwischen  336  verszeilen,  d.  h.  ein  doppelblatt  mit  8  spal- 
ten zu  je  42  Zeilen.  Das  hier  fehlende  doppelblatt  war  demnach  das 
oberste  einer  läge,  deren  zweites  unser  bruchstück  darstelt.  Die  schrift 
hat  mit  der  des  bruchstücks  1  nicht  wenig  ähnlichkeit,  doch  ist  die- 
selbe ein  wenig  kleiner,  gedrängter  und  zum  teil  eher  noch  etwas 
ungleichmässiger  als  dort.  Bunte  tinte  ist  reichlich  verwendet.  Kote 
initialen  finden  sich  bei  v.  1  des  bei  Köpke  (s.  582)  mit  69  Hie  .spri- 
chet  daz  buch  von  allen  seien  überschriebonen  kapitels  (G)  und  bei 
587,  45  (Z),  blaue  initialen  bei  582,  69,  47  (D)  und  588,  9  (U).    Die  ini- 


ZUM   PASSIONAL  323 

tialen  stehen  also  (wie  dies  auch  bei  bruchst.  1  der  fall  ist)  an  densel- 
ben stellen,  wo  die  dem  Kr)pkeschen  text  zu  p-unde  liegende  hand- 
schrift  solche  hat.  Ausserdem  sind  vor  einzelne  verse,  aber  ohne  regel- 
mässige Zwischenräume,  abwechselnd  rote  und  bhiue  zierzeichen  (  ) 
gemalt  und  am  ende  kürzerer  verse  hin  und  wider  horizontale  rote 
haarstriche.  Die  haiidschrift,  welcher  unser  bruchstück  entstamt,  hatte 
ferner  unter  dem  oberen  rande  der  selten  die  kapitelüberschriften  in 
roter  färbe.  Davon  sind  in  unserem  bruchstück  folgende  worte  erhal- 
ten: auf  bl.  1*  — licyligcri —  — tac — ;  bl.  V  — von —  — aller  — ; 
bl.  2"  —  Selen  —  -  tac—\  bl.  2*^  —von—  —aller—.  Auf  bl.  l'' 
unten  stehen  von  einer  band  des  17.  Jahrhunderts  quer,  zum  teil  über 
den  text  worte  geschrieben,  von  denen  mir  nur  folgendes  leserlich 
war:  Anno  48  Walpurgis  1648  Walpnrgis  48. 

Lesarten : 

581,  59.  obe  tifchen  die  ivol  axen  \  ob  den  tifchen  vnd  axen 
61.  da  I  do  62.  genuc  \  vil  gejivc  65.  xun  \  ze  67.  enheten  \  heten 
60.  mochte  \  niohten  82.  vrunde  \  VTevde  84.  von  in  geivant  \  an  in 
erivant  85.  wand  fi  getruive  vrunt  liaheyi  \  wan  fie  gnvc  vr.  h. 
88.  hie  \  da      93.  wollent  \  wellen 

582,  4.  feie  \  feien  9.  zu  geyiaden  \  xegenade  10.  ire  \  ir  16. 
man  do  \  man  vns  19.  und  doch  niht  uf  \  vndc  idoch  vf  24.  alt- 
vetere  \  alten  vceter      25.  zwelfbotoi ,  merterere  \  xivelf polen  martercere 

582 ,  69,  6.  ful  luir  \  fvlt  ir  12.  Odilio  \  odilo  13.  ivit  \  wite 
15.  feltzene  \  feltfenex  16.  lit  \  ligt  fchone  \  fchoner  22.  Odilio  \ 
odilo  26.  fchrient  \  fchriren  32.  ift  ir  \  ir  ift  35.  behalden  \  hal- 
den  50.  kalt  \  kelde  52.  ieglich  \  iglich  55.  fchone  \  fchonez  58. 
herzen  \  ende 

583 ,  1.  nicht  hie  \  hie  niht  3.  anic  \  cenic  4.  undertanic  \  vn- 
dertcenic  17.  iyn  \  in  19.  geborget  \  verborget  25.  fchiere  \  fchire 
27.  vor  I  V071  30.  tvirt  fchiere  \  fchire  wirt  31  lange  \  alle  36.  im, 
ivol,  fwem  I  iiyi  fiveni 

586,  89.  biirnende  \  Irrennende  92.  bifux  \  bift  dv  93.  binz  \ 
bi?i  ez     94.  gelobete  kumen  \  gelobte  zekvmen     97.  98.  \  98.  97. 

587,  12.  bunte  tverc  \  bvnticerc  14.  teil  ouch  alzu  fere  \  teil  al 
zefere  15.  an  valfcke  \  anvalfch.  20.  als  des  der  \  als  der  31.  geivi- 
chen  I  geici feilen  33.  fnellekeite  \  fnellicheit  36.  an  allen  \  allen 
45.  Zum  dritten  machet  \  Zein  drittem  male  machet  49.  unferme  \ 
vnfern  58.  rufet  \  rufen  64.  behielt  \  bef ehielt  67.  traf  unz  vur 
den  tot  I  trat  vntx  vffen   tot       75.   gruben  in  die  \  gruben  in  in  die 

21* 


324  F.    SCHROEDER,    ZUM    PASSIONAL 

80.  dock  I  do  86.  fprechet  \  fprichet  87.  fcUmeffe  \  felenmeffe  97. 
mines  j  mins 

588,  5.  6.  \  6.  5  9.  fo  \  fus  10.  vü  \  icol  vü  15.  in  \  fie 
18.  in  brachte  \  hrahte  in  20.  \u  ftaten  \  wol  xeftaten  30.  felben  \ 
felbc  32.  icglich  \  iglich  33.  wand  \  vrid  36.  wand,  \  vnd  48.  feie  \ 
feien. 

Noch  will  ich  bemerken,  dass  keines  der  beiden  briiclistücke, 
welche  den  schriftzügen  nach  in  das  ende  des  13.  oder  den  anfang  des 
14.  jahrhnnderts  zu  setzen  sind,  so  viel  ich  aus  den  beschreib ungen 
der  herausgeber  habe  ersehen  können,  einer  der  bis  jezt  durcli  bruch- 
stücke  bekaut  gewordenen  handschriften  angehört. 

DRESDEN.  ALFRED    NEUMANN. 


3.     Cleviselies  bruclistück. 

Zu  der  aufzählung  der  handschriften  des  Alten  passionales 
bei  K.  Gödeke:  Deutsche  dichtung  im  mittelalter  s.  209  ^  ist  hinzuzu- 
fügen, dass  sich  ein,  waln^scheinlich  dem  15.  Jahrhundert  angehöriges, 
bruchstück  aus  dem  zweiten  teile  des  Passionales  in  dem  archiv  der 
pfarkirche  zu  Cleve  befindet.  R.  Schölten:  „Die  stadt  Cleve"  s.  449 
erwähnt  dasselbe  kurz  als  „Fragment  eines  liedes  von  sente  Jacob. ^'  Es 
ist  ein  halber  pergamentbogen  in  4^  gefalten,  mit  doppelcolumnen  jede 
zu  35  Zeilen,  im  ganzen  280  verse,  welche  einen  teil  der  legende  des 
apostels  Jacobus  des  älteren  behandeln  (=  K.  A.  Hahn,  Altes  passional 
s.  220  V.  73  —  223  v.  66).  Am  köpfe  der  einzelnen  selten  steht  mit 
roten  buchstaben  „Von  Sente  Jacob  aplo",  ebenfals  rot  oder  blau  gemalt 
sind  die  einfachen  initialen.  —  Im  jähre  1574  hat  der  bogen,  der  länge 
nach  gefalten,  als  Umschlag  zu  einer  rechnung  über  verausgabte  ahno- 
sen  gedient,  da  sich  am  rande  der  vermerk  findet:  „ratio  expensae 
eleemosinae  de  anno  LXXIIII"  und  darunter  von  zweiter  band  „usque 
1575.  H."  Ausserdem  bezeichnen  löcher  die  stelle,  wo  die  rechnung 
eingeheftet  war.  —  Im  text  stimt  das  bruchstück  mit  dem  texte  Hahns, 
die  geringen  abweichungen  betreffen  nur  die  Schreibung,  in  welcher  ja 
Hahn  nach  seinen  eigenen  worten  (vgl.  seine  vorrede)  nicht  immer  con- 
sequent  gewesen  ist.  Wände  und  vnde  ist  regelmässig  wät  und  vn; 
s.  220  V.  73  Liest  man  truch;  s.  221  v.  1  und  10  kumcgine;  14  alle 
betalle;  45  ejigil;  46  hengil;  48  geivaldes;  56  und  222,  14  vnmazen; 

Ij  Dass  für  grosse  partien  des  ])assionales  die  legenda  aurea  des  Jacobus  de 
Voragine  die  quelle  i.st,  erwähnt  Gödeke  nicht.  Und  doch  ist  die  Übereinstimmung 
stellenweise,  z.  b.  in  der  legende  von  St.  Jacob,  eine  fast  wörtliche. 


PIETSCH,    OBERD.    GLOSSAR   ZU   LUTHERS   BIBEL  325 

222,  19  starc;  33  glel;  41  heis;  45  ungeuiichcr;  50  viatik'hvehUche; 
60  berch;  85  (jetet  vf  in  nach  („vf"  ist  durchgestrichen);  223,  34 
ploech;  35  yelach;  49  erkor n;  51  5^/7^  //i  em  r/es  do  wart  („do"  steht 
über  der  zeile);  61  sicJf  do  an  in  versach:  62  truchen;  63  vuciien; 
64  starke  tränke. 

Es  wäre  interessant  zu  erfahren,    oh  unser  fragment  ursprünglich 
vielleicht  zu  einer  noch  existierenden  handschrift  gehört  habe. 

CLEVE,    14.   JUNI    1888.  F.    SCHROEDER. 


EIN  UNBEKxVNTES  OBEEDEUTSCHES  GLOSSAE  ZU 
LUTHEES  BIBELÜBEESETZUNG. 

Während  das  kleine  glossar,  welches  zuerst  Adam  Petri  seinen 
beiden  im  märz  1523  erschienenen  nachdrucken  von  Luthers  Neuem 
testament  (der  eine  in  2^,  der  andere  in  8^)  beigab,  längst  die  aufmerk- 
samkeit  auf  sich  gezogen  hat,  indem  es  bereits  1859  von  R.  v.  Räumer 
in  Frommanns  Deutschen  mundarten  (VI,  39  fg.)  algemein  zugänglich 
gemacht  und  in  neuerer  zeit  mehrfach  ausführlich  besprochen  worden 
ist  (H.  Rückert,  Gesch.  d.  nhd.  Schriftsprache  II,  92  — 108;  Kluge, 
von  Luther  bis  Lessing,  83  —  91;  Socin,  Schriftsprache  und  dialekte  im 
deutschen,  236 — 45),  ist  ein  anderes  ähnliches,  aber  viel  weniger 
umfiingliches  glossar  bisher  fast  völlig  unbeachtet  geblieben.  Allerdings 
erw^ähnt  Panzer,  Entwurf  einer  gesch.  der  bibelübersetzung  M.  Luthers 
(1783),  s.  177,  dass  der  nachdruck,  welchen  Thoman  AVolf  in  Basel 
1523  von  dem  1.  teile  des  Alten  testaments  veranstaltete  „die  erklärung 
einiger  (für  die  Schweizer)  schweren  Wörter"  enthalte  und  Mezger, 
Gesch.  d.  deutschen  bibelübersetzungen  in  der  schweizerisch -reformir- 
ten  kirche  (1876),  s.  48  sagt  bei  besprechung  desselben  nachdruckes, 
dem  texte  folge  die  erklärung  von  Wörtern,  die  dem  Schweizerleser 
unvei-ständhch  waren.  Socin  ist  diese  leztere  bemerkung  nicht  entgan- 
gen, er  findet  sich  aber  mit  ihr  durch  die  frage  ab  (s.  245,  anm.), 
ob  damit  vielleicht  die  randglossen  zur  erläuterung  wichtiger  stellen 
gemeint  seien,  über  welche  er  s.  246,  anm.  aus  einem  Petrischen 
drucke  mitteilungen  macht.  Es  düifte  daher  nicht  unwilkommen  sein, 
wenn  ich  aus  dem  einzigen  exemplar  des  betreffenden  druckes,  das 
mir  bei  meinen  bibliographischen  vorarbeiten  für  die  herausgäbe  von 
Luthers  bibelübersetzung  zu  gesicht  gekommen  ist  (in  Stuttgart),  das 
glossar   hier  wörtlich   zum    abdruck   bringe.     Dasselbe  ist  mit  einigen 


326  PEETSCH 

aus  Peti'is  glossar  (bez.  aus  der  widerholung  desselben  in  dem  Strass- 
burger  naohdi-uck  von  152J:)  stammenden  Zusätzen  ferner  enthalten  in 
dem  am  antang  und  ende  unvolständigen  exemplar  eines  nachdruekes 
des  ei-sten  teiles  des  Alten  testaments,  das  sich  in  AVolfenbüttcl  befindet 
(höchst  wahi-scheinlich  die  von  Panzer  a.  a.  o.  s.  180  beschriebene  aus- 
gäbe. Colmar,  Amandus  Farkal  1524).  Die  zusätze  bez.  abweichungen 
der  lezteren  ausgäbe  sind  unten  durch  kursivschrift  kentlich  gemacht. 
Die  Wörter,  welche  sich  auch  bei  Petri  finden  —  in  Wolfs  glossar  sind 
es  nur  5  —  habe  ich  mit  "  bezeichnet  und  etwaige  kleine  abweichungen 
von  Petri  angemerkt.  Auch  auf  die  von  Kluge,  Yon  Luther  bis  Les- 
sing, s.  78  fg.  gegebene  konkordanz  der  bibelübersetzungen  des  16.  Jahr- 
hunderts habe  ich  verwiesen,  wo  sie  sich  mit  unserem  glossar  berührt 
imd  einige  weitere  beraerkungen  hinzugefügt,  wo  mir  solche  wünschens- 
wert schienen  oder  mir  möglich  waren.  Unsere  kentnis  der  in  Ale- 
mannien  nicht  verständlichen  worte  Luthers  erhält  durch  Wolfs  glossar 
einige  nicht  unwesentliche  bereicherungen ,  ebenso  natürlich  auch  die 
liste  der  diu'ch  Luther  gemeindeutsch  gewordenen  Wörter,  die  zulezt 
Francke,  Grundzüge  der  Schriftsprache  Luthers  (1888),  s.  112  aufge- 
stelt  hat. 

Das  glossar  steht  sowol  in   der  Wolfschen   ausgäbe  wie  auch  in 
der  wahi*scheinlich  Farkalschen  unmittelbar  hinter  dem  bibeltexte. 

Dem  Läser. 

Nach  dem  mal  nit  im  teutschen  als  im  Latin  alle  dinge  mit  eyn- 

nerley   wortten   genennet    werden/    haben   wyr    etliche    nach   vylerley 

sprach  hie  angezeyget/   auff  das  nitt  yemandt  im  läsen  vast  behindert 

werde   der   solche  wortt    in    seiner   sprach    nit  erkündet  hette/   geheb 

dich  wol. 

A. 

Alle  /  oder  all  /  lär  /  öd  /  verzeret  /  schwach. 

Arm  forderst  vierteyl. 

AufFraffen  von  der  erden  auffsamlen. 

*  Ä7ifu7't  der  schiff  anlendung. 

B. 

5  Bevthüns  wartens  zur  zeit  irer  krankhevt. 

Bersten  zerspringen. 

Brü.sten  brüst  vnd  stercke  gewynnen. 

Byenen  immen  /  byen  fbyenen]. 

Blachen  sunder  hügel  /  eben  velt. 

10  *  Bange  engstig  /  angst. 


OBERD.    GLOSSAR    ZU    LUTHERS    BIBEL 


327 


Caninchen 


Denckblaseu 


Eckein 


Ciinykel. 


C. 


D. 


blasen  zur  gedechtnuß. 
E. 


wider  willen  haben  /  verschmehen.  [verschme- 
hen  fehlt.] 


Eckel 

walgung  /  wider  will. 

1 5  *  Eyff'er 

1 

ernst.                                                                                  \ 

F.                                                                      ' 

Feyg 

verzagt  /  erschrocken. 

Früelinge 

der  ersten  zeyt.                                                                i 

Frey bock 

denn  man  frev  ließ  lauften.                                            \ 

*Fäl 

niangel  /  bresten. 

20  Fittichen 

örtter  an  kleydern  /  flügel. 

*  Getreyde 

VJ. 

Korn  1  fritcht. 

*  Gefeß 

geschirr.                                                                              , 

Gered 

allerley  geschirre  vnd  haußradt.                                     1 

Geschosset 

ehern  gewunnen. 

25  Gemang 

gemist  /  zweyerley.                                                          i 

Grütz 

grieß  muß. 

Gedeyen  golt 

geleüttert  /  klar  /  fyn  [fein]  golt. 

Genieyn 

nützbar  /  lesen  vnd  zubereyten.                                    i 

*  Grentze 

ende  /  dar  ein  lant  keret.  [statt  dessen :  gegne  / 

vinbkreiß]. 

H. 

30  ""  Hügel 

gipffei  1  hühel. 

Havn 

V 

ein  vynster  walt. 

Halliar 

Jubel  iar. 

Hockericht 

der  ein  hoger  hat. 

Hundgelt 

das  man  gebenn  sollt  /  die  erste  gebürt.                     \ 

eins  hunß  ziüosen. 

K. 

35  Kebsweyb 

keyn  eeweib.                                                                     ' 

Kolcke 

cystern. 

Knotten 

bellen. 

Kelter 

trott  /  weinpreß.                                                                ' 

T\iesichtig 

steynig  /  ruch  von  steynen. 

40  Kryget 

'  ergreyfft  /  vahet. 

328 


PIETSCH 


*  Lippen 

*  Lencken 

Mevlich 


*Zige 
Zehenden 

Züchter 


lefftzen. 
vmbkeren. 

gemach. 


M. 


P. 


Paiickeu 

trummen. 

45  Pf  eben 

Pobel  [Piibcl] 

erdäpffel. 

klein  geaeht  volck. 

Quyd 

Q. 

on  /  abkomen. 

R. 

Keget 

braucht  euch  /  webt  /  vnd  werbt,  [werbe) d] 

Rand 

end  /  ortter  vmbher. 

50  Scluilter 

S. 
achsel. 

Stuffen 
Schilß' 

Staffel  /  steyg. 
Wasser  rhür. 

Schicht 
Schneützen 
55  *  Schwelger 

seyte. 

abbrech  /bützer. 

Schlemmer  /  füller. 

Toben 
Turstiglich 
=*=  Topffen 
Tappen 

T. 

grymmig  /  zornig  sein, 
mit  frevem  müt  /  vnuerzagt. 
hauen  jhaffen.] 
füeß  wie  hende. 

V. 

60    Vßgerottet 
Yerleumbder 

ühgcsündert. 
Verdachter. 

Yngeheure 

vngeschickt. 

W. 

W'ancketen 

waren  wanckelmütig. 

\V  ase 

base. 

65   Wansynnig 

engstig  /  nit  wissen  wo  auß. 

z. 

geyß. 

ein  mäßlin  als   ob   mir  [icir]  sprechen  j  vyr- 

tzel  [viertxel]. 
der  auß  gelübd  ein  strengs  leben  füret. 


OBERD.    GLOSSAR    ZU    LUTHERS   BIBEL  329 

Darauf  folgt: 
Anzeygung   avo    clise    nach   folgende    Ebrcischc    vn    auch    ettliche 
andere  wörtter  verteutscht  vud  aiißgelegt  werden  /  nach  Ordnung   des 
Alphab  eths. 

d.  h.  ein  register  über  die  in  den  glossen  hesproelicnen  tvorte,  meist 
mir  das  xu  erldärende  frort  und  die  Seitenzahl  dabei ;  lextere  fehlt 
jedoch  xuweiten,  %.  b.  bei  Bethlehem  und  es  ist  dafilr  die  erldärnrnj 
selbst  gegeben:  eynn  hauß  des  brots  /  alls  ob  man  spreche  brot- 
hausen. 

Anmerkungen. 

1.  Gemeint  ist  die  bekante,  wie  es  scheint,  vor  Luther  in  der  litteratur  nicht 
nachweisbare  prädikative  Verwendung  von  alle  in  der  bedcutung  y^%tc  ende  gebracht.^ 
Hier  ist  offenbar  besonders  an  4.  Mose  14,  33  gedacht:  bis  das  eivre  leibe  alle  iver- 
den  in  der  icüsten,  denn  an  einer  andern  stelle  des  pentateuchs,  wo  die  späteren 
ausgaben  von  Luthers  Übersetzung  auch  diesen  ausdruck  aufweisen  (L  Mose  15,  16), 
haben  die  älteren  drucke:  die  missetat  der  Ammoniter  ist  noch  nicht  gar  hie. 

2.  Es  ist  natürhch  nur  die  besondere  bedeutung  gemeint,  in  welcher  Luther 
das  wert  arm  5.  Mose  18,  3  gebraucht:  den  arm  vnd  beide  backen  vnd  den  ivanst 
[der  ochsen  und  schafe], 

3.  4.  Mose  19,  9.  Soweit  raffen  vor  Luther  überhaupt  im  oberd.  vorkomt, 
scheint  die  bedeutung  rupfen  imd  die  umgelautete  form  reffen  vorzuherschen.  A^er- 
breiteter  ist  oberd.  das  von  derselben  wurzel  stammende,  mit  raffen  gleichbedeutende 
raspon  -en  /"aus  *rafsj)dn). 

4.  1.  Mose  49,  13;  5.  Mose  1,7==  landungsstelle,  hafen.  Auch  im  Neuen 
testament  mehrfach.  Vor  Luther  nicht  nachgewiesen.  Die  belege,  die  Gr.  wtb.  1,  335 
fg.  für  das  spätere  vorkommen  des  wertes  gegeben  werden,  zeigen  dasselbe  nur  bei 
Schriftstellern  md.  und  nd.  herkimft,  mit  einziger  ausnähme  einer  stelle  in  Seb. 
Fi'ancks  weltbuch.  L^nmittelbar  von  Luther  hat  wol  Erasmus  Alberus  das  wort;  er 
führt  es  (Nov.  dictionaiii  genus  zii*")  neben  schifflend  als  deutsche  entsprechung  von 
portus,  navale,  statio  auf.     Lezterer  beleg  fehlt  in  Gr.  wtb. 

5.  3.  Mose  15,  25.  26:  %ur  zeit  yhrs  beythuns,  wofür  später:  x.  %.  jrer 
absonderung.  Die  im  glossar  gegebene  erklärung  bezieht  sich  auf  den  Zusammen- 
hang der  stelle,  an  der  vom  blutfluss  der  frauen  die  rede  ist.  Das  verbum  beitun 
belegt  Gr.  wtb.  noch  zweimal  aus  Luthers  Schriften,  es  bedeutet:  bei  seite  tun, 
abschaffen,  e7itfei'nen.  Vgl.  beilegen,  das  in  der  bedeutung  y,bei  seite  legen,  besei- 
tigen"' ebenfals  zuerst  bei  Luther  begegnet.  Lexer  belegt  bUiwti  bilegen  nur  =:  hin- 
zutun, -legen.  Vgl.  noch  3.  Mose  15,  19:  die  sol  sieben  tag  bei  seit  gethan  icerden 
(seyn) ,  und  auch  15,  20  haben  die  älteren  ausgaben:  so  lange  sie  beyseit  gethan 
ist,  wofür  zulezt:  so  lange  sie  yhre  zeit  hat. 

6.  VgL  Kluge,  s.  78:  Luthers  bersten :  brechen  Eck  u.  Zürich,  bibel.  Man 
sieht,  dass  bresten,  die  oberd.  form  des  Lutherschen  iers^en,  in  der  bedeutung /?*an^/ 
auch  oberd.  nicht  mebr  üblich  war.  Es  würde  wol  sonst  hier,  wie  nachher  64 ,  auch 
nm'  die  md.  lautform  dui'ch  die  oberd.  ersezt  worden  sein.  Stalder  belegt  bresten 
nur  in  der  bedeutung  .„gebrechen'^  und  „in  kummer  leben."" 

7.  4.  Mose  23,  24  haben  die  älteren  drucke:  Sihe  das  volck  icird  aufstehen 
icie  ein  junger  leive  vnd  wird  sich  brüsten  wie  ein  lewe  .  .  .,  wofüi"  später  . .  .  uird 


330  PIETSCH 

sich  erheben  ic.  c.  h  gesezt  ist.  Die  belege,  welche  Lexer  und  Gr.  wtb.  für  brüsten 
geben,  scheinen  zu  zeigen,  das  dass  das  wort  auch  in  der  Schweiz  nicht  unbekant 
war.     Stalder  belegt  es  in  der  bedeutung  „sich  niit  aller  leibeskraft  stemmen." 

S.  Es  war  bei  dem  pliu-.  bijenen  (5.  Mose  1,  44)  wol  nui'  die  form,  welche 
anstössig  erschien,  dem  Verfasser  des  glossars  war  neben  imme  nur  bie,  plui".  bien 
oder  alleufals  bin(e),  pl.  binefn)  geläufig.  Die  von  Luther  gebrauchte  und  in  die 
Schriftsprache  übergegangene  form  biene  ist  im  hinblick  auf  die,  so\iel  ich  sehe  bei 
Luther  diu'chstehende  Schreibung  mit  ie  wol  nicht  wie  Weigand  und  Kluge  anneh- 
men, =  mhd.  bine  zu  setzen,  sondern  verhält  sich  zu  bie  wie  nom.  "^birue  :  bire^. 
Der  hergang  war  wol  der,  dass  bie  pl.  bien,  bire  pl.  bir(e)n  in  die  analogie  von 
krdn€  \A.h'6n  t  krönen;  stirne  pl.  st  im  f.  stirnen;  dirne  pl.  dicrn  f.  diernen  usw. 
eintraten  und  so  die  sing,  biene  birne  erhielten,  zu  denen  die  plur.  bien  bim  oder 
(mit  der  bevorzugimg,  welche  seit  dem  15/16.  jahrhundei-t  den  durch  lautliche  Wand- 
lung nicht  getrübten  flexionsformen  in  der  schiift  zu  teil  wird)  bienen  birnen 
lauteten. 

9.  Tgl.  Kluge,  s.  78:  Lutliei-s  Blachfeld:  Flachfeld,  flaches,  ebenes  fehl  in 
den  anderen  Übersetzungen.  Blachen  in  bezug  auf  5.  Mose  4,  49;  11,  30,  wo  die 
älteren  ausgaben  ynn  {auf)  dein  blachen  fehl  haben  (später:  dem  blachfeld).  Aus- 
schliesslich md.  (nd.)  ist  übrigens  die  form  blach  nicht.  ^ 

10.  Vgl.  Petri:  ba?ig  :  engstig,  xivang ,  gedreng ;  Strassb.  nachdi-.  (1524): 
angst  xicang  gedreng.  Kluge,  s.  78:  Luthers  bang  :  t rang  angst  betrübt  bekiiinmert 
in  den  anderen  übei"setzimgen. 

11.  Luthers  md.  (ud.)  form  mit  a  ist  die  oberd.  allein  geltende  mit  {ü)  u 
gegenübergestelt.     Vgl.  Hildebrand  in  Gr.  wtb.  5,  161.  1705. 

12  bezieht  sich  auf  S.Mose  23.  24,  wo  die  ersten  dracke  haben:  solt  yhr  die 
heyligen  feyr  des  denckblasens  haben.  Später  hat  Luther  dafür- :  des  blasens  xum 
gedechfnis  gesezt,  also  ganz  entsprechend  der  in  unserm  glossar  gegebenen  erklärung 
sich  ausgedrückt. 

13.  14.  Vgl.  Kluge,  s.  78:  Luthers  Ecket:  greuel,  grane7i,  absehen,  niilust, 
nmvillen,  verdruss  in  den  anderen  Übersetzungen.  Diese  füUe  von  ersatzwörtern, 
die  durch  unser  glossar  noch  um  einige  vermehrt  wird,  zeigt  die  völHge  fremdheit 
des  Lutherschen  wertes  im  oberdeutschen  jener  zeit.  Walgung  ist  das  wort,  das 
Lexer  als  walgnnge  (ualgerunge  u-ulgerunge)  =  nausea  aus  Diefb.  gl.  u.  nov.  gl.  belegt. 

1)  Im  grossen  und  ganzen  scheint  Luther  in  seiner  Orthographie  das  geschichtliche  Verhältnis 
von  ie.  und  i  trotz  mancher  Verschiebungen  im  einzelnen  bewahrt  zu  haben ,  wenngleich  ihm  te  sicher  nur 
den  laut  des  i  darstelte.  "Wenigstens  ist  wol  nii-gends  bei  Luther  ie  fest  in  einem  worte,  welchem 
geschichtlich  i  gebührt.  So^•iel  darf  man  doch  wol  aus  den  Zusammenstellungen  schliessen,  welche 
G.  Michaelis  in  seinen  Beiträgen  z.  gesch.  d.  deutschen  rechtschreibung  (1880) ,  s.  112  — 118  gegeben  hat, 
während  aus  den  dürftigen  angaben ,  welche  Karl  Francke  in  seinen  Grundzügen  der  Schriftsprache  Luthers 
(1888) ,  §  16 ,  1  und  §  31  macht ,  ein  auch  nur  ungefähres  bild  sich  nicht  gewinnen  lässt.  Dass  Luthers 
öiene  (der  nom.  sg.  ist  belegt  Sir.  11,  .3,  sonst  nur  plur.  biemn)  nicht  —-  binc,  bestätigt  wol  auch  die 
Zusammensetzung  bknschwarm  (z.  b.  Rieht.  14,  8),  wo  bien  doch  gewiss  als  gen.  plur.  von  hü  zu  fassen 
ist,  der  sich  in  dieser  Verbindung  erhalten  hat,  während  das  selbständige  subst.  sich  zu  feiene  ;  bkmn 
entwickelte.  Lexer  gibt  I,  278  an,  die  form  biene  finde  sich  in  den  predigtmärlein  Germ.  3,  414,  16. 
Eine  singularform  ist  dort  aber  nicht  belect ,  vielmehr  nur  pluralformen  und  zwar:  binen  3;  bienen  7. 
12.  16.  17.  27 ,  daneben  binenkorbe  3 ,  bienekorb  8.  11.  16.  Hier  scheint  eine  mischung  der  pluralformen 
bien  und  binen  zu  bienen  statgefunden  zu  haben,  es  würden  also  diese  elsässischen  formen  von  dem 
Lutherschen  biene  :  bienen  zu  trennen  sein.  Auch  Urne  :  Urnen  scheint  md.  Ursprungs ,  Lexer  belegt  die 
form  i:  stirne)  aus  dem  Wilhelm  v.  Österreich  des  Johann  v.  "Würzburg ,  also  eines  dichters  md.  herkunft. 
Aus  Luthers  Schriften  belegt  Dietz  nur  den  plur.  Ujrn  und  das  kompos.  hirnbaum. 

[2j  Über  blach  und  flach  vgl.  jezt  S.  Bugge ,  Paul -Braune  12,  411  fg.  Red.] 


OBERD.    GLOSSAK   ZU    LUTUERS   BIBEL  331 

15  ebenso  in  Petris  glossar. 

16.  Das  wort  feig  war  oberd.  wenigstens  in  der  bedeutung  y^furchfsavi"-  nnbe- 
kant,  in  welcher  Lutlier  es  gebrauchte.  Höchstens  kaute  man  es  so  in  Baiern  (vgl. 
Lexer  uuter  veigc  und  übcrveigen;  Schmeller  l-,  695/6).  Im  alem.  hat  sich,  soweit 
das  wort  überhaupt  erhalten  bUeb  (es  fehlt  bei  Frisius  u.  Maaler),  aus  der  ursprüng- 
lichen bedeutung  ^don  tode  verfallen''  vielmelir  die  entgegengeseztc  bedeutung  J:eck, 
tmverscliä??it^  entwickelt.  Diese  ist  bei  Dasypodius  verzeichnet,  und  auch  die  übrigen 
belege  für  dieselbe,  welche  Grimms  wtb.  bietet,  sind  wesentlich  alcm.,  besonders 
elsässisch.  Das  Schweiz,  idiotikon  I,  685  gibt  sie  auch;  das  flgheit  mit  der  nhd. 
bedeutung,  das  ebenda  angemerkt  wird,  ist  doch  klürlich  aus  der  Schriftsprache  ent- 
nommen und  in  der  lautform  falsch  alemannisiert.  Dass  aus  der  bedeutung  ^deni 
tode  verfallen"-  sich  einerseits  die  bedeutung  ^furchtsam"- ^  andrerseits  ^keck,  unver- 
schämt'^ entwickeln  koute,  wird  klar,  wenn  man  die  verschiedene  Wirkung  erwägt, 
welche  das  bewustsein  der  bestimmung  zum  tode  auf  den  einzelnen  menschen  her- 
vorbringen kann:  es  kann  ihn  entweder  niederdrücken  oder  ihn  jede  rücksicht  abwer- 
fen lassen. 

17  bezieht  sich  auf  1.  Mose  30,  41.  42:  ivenn  aber  der  laufft  der  früelinge 
herde  tcar  legte  er  diese  stehe  in  die  rinnen  für  die  äugen  der  her  de,  das  sie  vbcr 
den  sieben  empßengen.  Aber  in  der  spetlinger  laufft  leget  er  sie  nicht  hinein. 
Also  wurden  die  spetlinge  des  Labans,  aber  die  früelinge  des  Jacobs.  Es  sind  die 
früh  im  jähre  gebornen  lämmer  im  gegensatz  zu  den  später  gebornen  gememt,  die 
in  unserem  glossar  gegebene  erklärung  also  ziemlich  ungenügend.  Das  woit  ist  wol 
von  Luther  gebildet,  er  hat  es  sonst  noch  einmal  als  synonym  von  „erstling",  (s. 
Dietz  u.  d.  w.) ;  in  der  bedeutung  „  frühzeit  des  Jahres "  findet  es  sich  nur  in  der 
HauspostiUe,  für  deren  spräche  Luther  ja  nur  sehr  bedingungsweise  verantwortlich 
ist  (Köstlin  11 -,  301).     Sonst  sagt  Luther  lenx. 

18.  3.  Mose  16,  8.  10.  26  in  den  älteren  ausgaben,  später:  der  ledige  bock, 
d.  i.  der  bock,  den  am  versöhnungstage  die  Juden  frei  in  die  wüste  laufen  Hessen. 

19.  Petri  gibt  feil:  nachlesigkeit,  versümnifs;  fale:  missetaf,  sünde;  fal: 
mangels  gebresten.  Hier  liegt  wol  ein  versehen  vor.  Luther  scheint  im  gebrauch  der 
form  feil  durchaus  fest  gewesen  zu  sein,  wie  komt  Petri  dazu  fäle  (das  nicht  wie 
Sociu  s.  239  meint,  form  des  plur.  zu  sein  braucht,  s.  Lexer  u.  d.  wt.)  als  Luthersclie 
form  daneben  aufzuführen?  Es  ist  mir  nicht  unwahrscheinlich,  dass  fale  mit  als 
erklärung  füi'  feil  stehen  solte,  dass  es  aber  in  folge  seines  anlautenden  f  unter  die 
zu  erklärenden  Wörter  geriet.  Demnach  würden  die  folgenden  missetat,  sünde  ebcn- 
fals  als  Synonyma  von  feil  zu  nehmen  sein.  Diese  passen  jedoch  nicht  wol  als 
solche  zu  feil,  sehr  gut  aber  zu  dem  folgenden  fal,  wenn  die  erkläning  im  hinblick 
auf  Rom.  11,  11.  12  gegeben  wurde,  wo  fal  =  naoimroiua  (Vulg. :  delictmn)  steht. 
Für  die  annähme,  dass  fale  als  interpretamentum  nicht  als  lemma  aufzufassen  ist, 
spricht  auch  der  umstand,  dass  vaele  vael,  wie  die  belege  bei  Lexer  u.  Gr.  wtb. 
3,  1419  zeigen,  in  Oberdeutschland  wol  bekant  war,  auch  Maaler  kent  es.  Dem- 
nach wäre  so  herzustellen: 

feil:  nachlesigkeit  versümniss  fale  mangel  gebresten 

fal:  missetat  sünde. 
Der  verfertiger  unseres  glossars  wolte  nun  offenbar  das  im  pentateuch  mehrfach  begeg- 
nende feil  erklären,    er  fand  in   dem  ihm  sicher  vorliegenden  Petrischen  Verzeichnis 
bei  feil  eine  für  die  beti-e Senden   stellen    (einen  feil  haben;    an  dem  (k)ein  feil  ist) 
gar  nicht  passende  bedeutung,    dagegen  eine  solche  bei  fal,    diese   nahm   er  auf  und 


332  PIKTSCH 

sezte  vielleicht    aus    blossem   versehen    statt  feil   das    ihm    geläufige  fal  als  lemma 
dazu. 

20.  Die  erste  der  beiden  erklärungen  geht  auf  4.  Mose  15,  38;  5.  Mose  22, 12; 
die  zweite,  die  gewöhnliche  bedeutung  enthaltend,  geht  auf  stellen  wie  I.Mose?,  14. 
Für  das  oberd.  war  die  lautform  durch  das  md.  i  der  stamsilbe  fi-emdai-tig. 

21.  22  ebenso  in  Petris  gloss.  Zu  22  vgl.  noch  Kluge,  s.  79,  der  die  ersetzung 
von  gefäss  dui'ch  geschirr  aus  allen  verglichenen  Übersetzungen  nachweist. 

23.  In  der  bedeutung.  die  hier  im  hinblick  auf  2.  Mose  27,  3;  35,  13  usw. 
gegeben  ^vi^d,  ist  das  überhaupt  md.  beliebte  wort  nur  aus  md.  denkm.  zu  belegen. 
Die  md.  lautform  Hess  es  in  Basel  noch  fremdartiger  erscheinen. 

24  meint  2.  Mose  9,  31:  denn  die  gersten  hatte  geschosset.  Das  verbum 
schoxxcn  =  schösse  treiben,  keimen  usw.  scheint  md.  (und  bair.  SchmeUerU^,  479). 

25.  Gemeint  ist  zweifeUos  3.  Mose  19,  19,  wo  die  älteren  drucke  mit  gemang 
körn  bieten  für  das  spätere  „w?Y  mancherley  samen.'^  Gemangkorn  ist  eine  Zusam- 
mensetzung, die  Hildebrand  in  Gr.  wtb.  IV.  1,  2,  3164  als  thüringisch  (besonders 
aus  Erfurt)  nachweist.  So  kann  das  vorkommen  dieses  ausdruckes  bei  Luther,  wel- 
ches Hildebrand  entgangen,  nicht  befremden.  Der  verfertiger  unseres  glossars  nahm 
gemang  füi*  ein  adj.,  während  es  das  a.  a.  o.  von  Hildebrand  ebenfals  mit  reichlichen 
belegen  nachgewiesene  md.  subst.  gemang  =  gemenge ,  mischung  ist.  Vgl.  die  gloich- 
fals  thüiing.  Zusammensetzungen  gemang futter ,  gemangfische. 

26.  3.  Mose  23,  14,  wo  die  älteren  ausgaben:  kein  brot  noch  kuchen  noch 
grütx  haben  statt  des  späteren:  kein  neiv  brot  noch  sangen  noch  körn. 

27.  4.  Mose  8,  4,  wo  die  erste  ausgäbe  gedeyen  gold  hat,  von  der  zweiten 
an:  tichte  g.  Ebenso  ist  auch  4.  Mose  10,  1  das  anfängliche  vo7i  gedeyem  silber 
in  der  zweiten  ausgäbe  durch  von  fichtem  s.  ersezt.  Das  adj.  gedeihe,  welches  hier 
vorliegt  (Gr.  wtb.  4.  1.  1.  1984.  2021)  war  öi-tlich  und  Social  (bergmannswort  und 
wol  daher  Luther  geläufig)  so  beschränkt,  dass  die  unverständlichkeit  desselben  in 
Basel  nur  natürlich  ist.  Auch  die  anwendung  des  seit  dem  ahd.  in  adjektivischem 
gebrauch  befindlichen  prtc.  gedigen  auf  die  erze  dürfte  damals  oberd.  nicht  vorhan- 
den gewesen  sein. 

28.  Die  an  sich  nicht  wol  verständliche  erklärung  ist  offenbar  mit  beziehung 
auf  5.  Mose  20,  6  gegeben:  Welcher  einen  weinberg  gepflantzet  hat  vnd  hat  jn 
noch  nicht  gemein  gemacht,  der  gehe  hin  vnd  bleibe  da  lieiine,  das  er  nicht  im 
kriege  sterbe  vnd  ein  ander  mache  jn  gemeine. 

29.  Die  erklänmg.  die  das  Wolfsche  glossar  von  gre^itxe  gibt,  ist  selbstän- 
dig, dagegen  hat  der  Colmarer  (?)  dnick  die  in  Petris  glossar  und  den  widerholungen 
desselben  befindlichen  erklärungsworte.  Kluge,  s.  79  weist  als  ersatzworte  für^rew^e 
aus  den  andern  Übersetzungen  .^gegend'^  und  .^landmark^  nach. 

30.  Dieselbe  erklärung  gibt  Petri  und  seine  nachfolger.  Kluge,  s.  79:  bühel 
und  hübet. 

31.  hagen  war  wol  nicht  bloss  in  der  md.  fonn  hain  in  Oberdeutschland 
unbekant,  sondern  hier  überhaupt  aus  der  lebendigen  spräche  geschwunden.  Es  galt 
dafür  hag. 

32.  Die  bekante  jedenfals  von  Luther  herrührende  bezeichnung  des  israeliti- 
schen Jubeljahrs,  das  durch  den  hall  der  posaunen  verkündet  wurde.  Hauptstelle 
3.  Mose  25.  10.  11. 

33.  3.  Mose  21 ,  20. 

34.  5.  Mose  23,  18. 


OBERD.    GLOSSAR    ZU    LUTHERS    BIBEL  333 

35.  Kebse  ist  dem  alom.  wol  nicht  eigentlich  fremd,  wenigstens  lässt  es  sich 
amhd.  aus  alem.  dkm.  (z.  b.  aus  Notker)  belegen.  Die  verdoutlichende  zusamnieu- 
setzung  kebsweib  ist  schon  vor  Lutlior  vorhanden,  scheint  aber  nach  den  bolcgiMi 
bei  Lexor  mehr  md.  Diese  war  es  also  vielleicbt,  die  anstoss  gab;  möglich  auch, 
dass  hebse  sich  überhaupt  aus  dem  gebraucli  oder  wenigstens  aus  dem  gebrauch  der 
gebildeteren  verloren  hatte. 

36.  3.  Mose  11,  26.     Ein  echt  nd.  (md.)  woi-t  s.  Gr.  wtb.  5,  1613. 

37.  2.  Mose  9,  31.  Auch  hier  gab  wol  einerseits  die  lautform  (oberd.  ist 
hiodc,  vgl.  knödcl)  anstoss,  andrerseits  und  besonders  aber  die  Verwendung  des  Wor- 
tes zur  bezcichnung  der  Samenkapseln  des  ilachses. 

38.  Vgl.  Kluge,  s.  79:  Luthers  Ä-cZ/er .•  trott,  torckel  in  den  andern  Übersetzun- 
gen ausser  bei  Eck,  der  kelter  beibehält.     Vgl.  auch  Kluge,  wtb.  u.  d.  w. 

39.  Ygl.  5.  Mose  21,  4:  in  einen  kies i cht en  grund.  Dem  zusammcnstoller 
des  glossars  ist  hier  sonderbarer  weise  die  alem.  form  dos  adj.  in  die  feder  gekom- 
men, vgl.  Gr.  wtb.  5,  698,  c).     Nahm  er  es  nur  auf  wegen  des  ie  f.  *V 

40.  Oberd.  war  nur  kriegen  schw.  bekant  und  nur  die  bedeutungcn  ^sich 
anstrengen,  streiten'^,  nicht  aber  „erlangen,  ergreifen.'^  Das  eigentliche  alem.  kent 
leztere  bedeutung  auch  heute  noch  nicht.  Gr.  wtb.  5,  2235.  Seiler,  Basler  mda.  sagi, 
dass  kriege  ==  erhalten  in  Baselstadt  neben  beko  gebraucht  werde,  in  Baselland  dage- 
gen fast  gar  nicht.  Es  ist  also  deutlich  ein  nur  durch  die  schriftspraclie  teilweise 
eingebüi'gertes  wert. 

41.  Ebenso  in  Petris  glossar;  vgl.  noch  Kluge,  s.  80:  Luthers  lippe  :  lefxe  in 
den  andern  Übersetzungen. 

42.  Petris  glossar  gibt  als  zweites  ersatzwort  vmbicenden. 

43.  1.  Mose  33,  14:  ich  ivil  meilich  hinnach  treiben.  Luther  scheint  das 
wort  ausser  an  dieser  stelle,  wo  es  in  allen  ausgaben  sich  findet,  nur  noch  2.  Mose 
23,  30  gebraucht  zu  haben,  wo  es  in  den  späteren  ausgaben  durch  y^ einzeln  mich 
einander"-  ersezt  ist.  Heyne  fühii  Gr.  wtb.  6,  1456  noch  zwei  belege  aus  Luther 
an,  wo  aber  ')nehlich  steht.  Das  wort  w^ar  also  Luther  wol  nicht  eigentlich  geläufig, 
ahnehlig  scheint  bei  Luther  gar  nicht  vorzukommen.  Luther  gebraucht  andere 
ausdrücke  füi"  diesen  begriff,  z.  b.  mit  der  weile  "Weish.  12,  8.  Sicher  aber  war 
meylich  melich  md.  sprachgut. 

44.  Die  belege  für  j-Jlr/te  pcmke  aus  älterer  zeit  weisen  allerdings  wol  mehr 
auf  Mitteldeutschland  und  Baiern  als  auf  das  Verbreitungsgebiet  dieses  in  seinem 
Ursprung  dunklen  wertes  hin. 

45.  4.  Mose  11,  5.  j^febefnj  ist  weniger  md.  als  vielmehr  wesentHch  bair., 
jedenfals  von  beschränktem  Verbreitungsgebiet. 

46.  Das  lehnwort  war  in  seiner  alten  form  gewiss  auch  in  Alemannien  üblich, 
wie  die  mhd.  belege  zeigen,  anstoss  gab  also  wol  die  form  mit  6,  vielleicht  auch  die 
herabgedrückte  bedeutung.  Auch  Petris  glossar  hat  Pubelvolck:  heylos  vnniitx,  rolck 
und  Kluge,  s.  80  weist  nach,  dass  Eck  dafür  Pöfel  oder  gemeines  volck,  die  anderen 
den  lezteren  ausdruck  gebrauchen. 

47.  1.  Mose  24,  8.  41  :  des  eydes  quit. 

48.  regen  scheint  zwar  md.  häufiger  als  oberd.,  doch  ist  es  dem  lezteren 
keineswegs  fremd.  Also  handelt  es  sich  hier  wol  widerum  nur  um  die  besondere 
Verwendung  dieses  verbums  in  Luthers  Übersetzung.  I.Mose  8,  17;  9,  7  steht:  reget 
euch  auff  erden,    dies   erschien   dem   Alemannen    zu   blass,    zu  wenig    ausdrückend. 


834  PIETSCH 

Das  ^brauehf  euch^    ist  natürlicli  =  mhd.  hrouchct  iiich  d.  i.  biegt  eiicli,    niclit  = 
mhd.  hrüchet  iuch. 

49.  ra?id  findet  sich  in  den  älteren  drucken  der  5  büclier  Mose,  so  viel  ich 
sehe,  an  folgenden  stellen:  am  rande  des  wassers  2.  Mose  2,  5;  an  eines  jglichen 
teppichs  rand  2.  Mose  26,  11;  an  jgUehcu  teppich  am  rand  2.  Mose  36,  17;  vnd 
hefftcu  sie  au  die  xiro  ander  ecken  des  sclii/flins  an  seinen  rand  2.  Mose  39,  19. 
An  allen  diesen  stellen,  ausser  an  der  ersten  hat  Luther  später  ort  für  7'and  gesezt. 
In  der  erklärung  unseres  glossars  ist  örfcr  natürlich  in  der  bedeutung  „endpuukte" 
zu  nehmen ,  nicht  als  loci.  —  Dass  rand  in  seiner  uhd.  bedeutung  damals  in  Basel 
nnverständhch  war,  ist  begreiflich,  dieselbe  ist  jedenfals  md.  Ursprungs. 

50.  Unbekantschaft  mit  dem  worte  schidter  ist  kaum  anzunehmen.  "Wüste 
man  genau,  welche  besondere  stelle  des  pentateuchs  der  Verfasser  des  glossai-s  im 
äuge  hatte,  so  Hesse  sich  vielleicht  bestimmen,  woran  derselbe  anstoss  nahm.  Das 
wort  ist  sehr  oft  gebraucht  zur  bezeichnung  des  vorderbugs  der  opfci-tiere  (2.  Mose 
9,  22;  3.  Mose  7,  32  u.  ö. ;  auch  in  der  Zusammensetzung  hebeschidder  2.  Mose  9,  27; 
3.  Mose  10,  14  u.  ö.),  ausserdem,  so  viel  ich  sehe,  von  der  menschlichen  schulter 
nur  2.  Mose  28,  12:  auf  seinen  beiden  schuldern  tragen;  5.  Mose  33,  12:  vnd  wird 
xwischen  seinen  schuldern  uohnen.  AVie  weit  Luther  selbst  schulder  und  achsel 
unterscheidet  oder  synonym  gebraucht,  vermag  ich  nicht  festzustellen.  Dietz  (u.  ach- 
sel) behauptet,  dass  Luther  beide  im  algemeinen  als  gleichbedeutend  verwende.  Das 
scheint  z.  b.  2.  Mose  28,  7.  12.  23  zu  bestätigen,  wo  in  den  späteren  ausgaben  achtel 
und  Schulter  gleichbedeutend  gebraucht  scheinen.  Dass  aber  Luther  doch  einen 
unterschied  kante,  wenn  er  ihm  auch,  wie  uns  heutigen,  nicht  immer  zweifellos  klar 
vorschwebte,  zeigt  die  auch  von  Dietz  beigebrachte  stelle  Hieb  31,  22:  so  falle 
meine  schulder  voti  der  achseln. 

51.  2.  Mose  20,  26:  auff  stuffen.  Vgl.  E^uge,  s.  87,  der  füi-  Luthers  stufe: 
Staffel  (stapfei)  in  den  anderen  Übersetzungen  nachweist.  Das  fem.  stufe  dürfte  wol 
md.  sein.  Ein  fem.  stuofa  wii'd  für  das  ahd.  angesezt  (Weigand,  Schade,  Kluge); 
auf  gi'und  von  slegon  stuofa :  gradus  scalarum  in  Notkers  Boethius  (Piper  I,  10,  31), 
wo  aber  stuofa  ebensowol  aLs  n.  plui".  von  stuof  m.  genommen  werden  kann  (plur. 
erfordert  der  Zusammenhang).  Ferner  führt  Graff  6,  658  an  steora  uel  osterstuopha 
als  bezeichnung  einer  ostfränkischen  abgäbe.  Auch  hier  ist  plur.  von  stuof  wol  denk- 
bar, andemfals  hat  man  hier  einen  md.  beleg  für  das  fem.  Für  mhd.  stuoje  gibt 
Lexer  3  belege,  davon  ist  einer  md.  (Frauenlob).  die  beiden  andern  in  der  Kolmarer 
liederhandschrift  sind  nicht  beweisend:  die  mich  ane  ruofen  \  in  riuwe  stuof en  \  die 
teil  ich  Bartsch  6,  327;  iix  der  siinden  stuof  (:  geschuof)  7,  15. 

52  mehrfach  in  den  5  büchern  Mose.  Vgl.  auch  schilfmer.  Das  wort  scheint 
allerdings  oberd.  nicht  grade  häufig  zu  sein,  wenn  auch  nicht  ganz  zu  fehlen. 

53.  Schicht  komt,  so  viel  ich  sehe,  nur  3.  Mose  24,  6  vor:  vnd  solt  sie 
legen  je  sechs  auff  eine  schicht  auff  den  feinen  tisch  für  dem  Herrn,  vgl.  ausser- 
dem 1.  Mose  6.  16:  T)as  vnterteyl  soltu  xweischichtig  vnd  dreyschichtig  machen  in 
den  älteren  drucken,  wofür  später:  Viid  sol  drey  boden  haben,  einen  unten,  den 
andern  in  der  mitte,  den  dritten  in  der  hohe.  —  Vgl.  Kluge,  s.  80:  in  schichten: 
in  rotten  Eck  (geht  auf  Mc.  6,  40;  Lc.  9,  14).  —  Das  merkwürdige  wort,  das  Luther 
wol  aus  der  bergmannssprache  geläufig  war,  ist  vor  ihm,  wie  die  belege  bei  Lexer 
lehren,  wesentlich  nur  im  md.  verbreitet. 

.54.  4.  Mose  4,  9:  den  leuehter  des  liechts  viul  seine  lampen  mit  seinen 
schneutxen  rnd  nepffen.     Abbrech(e)  =  lichtschere  ist  auch    sonst   in    glossarcn 


OBERD.    GLOSSAR    ZU    LUTHERS    BIREL  335 

nachweisbar  (s.  Lexer)  und  noch  heute  in  der  Schweiz  gehraucht;   bütxer  =  putzer. 
putzen  scheint  wesentlich  obcrd. 

55.  Vgl.  bei  Petii:  seh  weigere  i :  überfluss  in  essen  rnd  tn'ncken.  Diese 
sonst  auch  oberd.  vorkommenden  bihlungen  waren  also  in  Basel  unbekaut. 

56.  Da  toben  in  Alemannien  gewiss  nicht  unbekant  war,  kann  sich  diese 
bemerkung  nur  auf  eine  besondere  Verwendung  des  wertes  beziehen.  Es  wird  wol 
2.  Mose  15,  14  gemeint  sein.  Da  das  die  rolker  horeten,  tobeten  sie,  angst  kam 
die  Philister  an  lautet  dieser  vers  in  den  ältesten  ausgalion,  später  hat  Luther  für 
tobeten:  erbebeten  gesezt.  Die  erklärung  grijuiniig ^  xornig  sein  ist  wol  nach  der 
vulgata  gemacht,  wo  der  vers  lautet:  Ascendernnt  populi  et  irati  sunt;  dolores 
obtinuerunt  habitatores  Philisthiim. 

57.  1.  Mose  34,  25.  luvst  nebst  seinen  ableitungen  scheint  hauptsächlicli 
bair.  und  md.  verbreitet  gewesen  zu  sein,  wogegen  gcturst  usw.  auch  alem.  vorkom- 
men, geturstecltche  z.  b.  bei  Nie.  v.  Basel  und  Closener. 

58.  Petri  hat  tapferen :  erden  geschir;  Kluge,  s.  81  erwähnt  die  Vertretung 
des  Lutherschen   topf,   töpfer  durch  hafen,   hafner  in   den  anderen  Übersetzungen. 

59.  3.  Mose  11,  27:  alles  tcas  auf  tappen  gehet  {quae  incedunt  quadrupedia 
Yiüg.).     Das  seltene  woii;  von  Lexer  nur  als  täpe  belegt. 

60.  Peti'i  hat  ausgerottet :  von  der  rott  abgesündert,  außgerüt,  die  Strassbur- 
ger  und  Nürnberger  ausgaben  lassen  das  leztere  wert  fehlen,  der  Kolmarer  glossen- 
verfeitiger  Hess  auch  von  der  rott  weg  und  so  kam  die  etwas  wunderliche  widergabe 
des  ^ausgerottet""  dui'ch  abgesündert  zu  stände.  Die  Petrische  etymologie  zeigt,  dass 
das  md.  rotten  als  nebenform  von  rüten  nicht  empfunden  wurde. 

61.  verleumden  -er  ist  in  der  tat  md.  Das  subst.  verdachter  scheint  sonst 
nicht  belegt. 

62.  3.  Mose  21,  18:  er  scy  blind,  lahm,  mit  einer  scheußlichen  nasen,  jnit 
vngelieicrem  gelid  (später:  ni.  e.  seltxanien  nasen,  m.  nngewonlichem  g.)\  3.  Mose 
22,  23:  ein  ochsen  oder  schaf,  das  vngehetvre  gelid  oder  kei^i  schwantx,  hat  (spä- 
ter: d.  ungeu'onlich  g.  oder  icandelbar  gelid  hat).  Fremd  ei"schien  dem  Verfasser 
des  glossars  vielleicht  nicht  sowol  das  woii  selbst  als  die  Verwendung  in  der  blassen 
bedeutung  deformis. 

63.  2.  Mose  20,  18  heisst  es  in  den  älteren  drucken:  mid  alles  volck  sähe 
den  donner  und  blix  . . .  viul  furcht  sich  vnd  ivancketen,  wofür  später:  vnd  alles 
volck  . . .  Da  sie  aber  solches  sahen  flohen  sie.  Der  Verfasser  des  glossars  hielt 
das  ihm  gewiss  bekante  wort  wanken  wol  nur  nicht  für  passend  an  dieser  stelle, 
(der  einzigen,  an  der  es  sich  findet),  \-ielleicht  im  hinblick  auf  das  pavore  concussi 
der  Yulgata. 

64.  3.  Mose  18,  14.  Luther  hat  die  md.  form  ivase  in  allen  ausgaben  fest- 
gehalten. 

65.  Während  das  subst.  ivansin  5.  Mose  28,  28  in  allen  ausgaben  steht,  ist 
uansinnig  5.  Mose  28,  34  später  von  Luther  durch  vnsinnig  ersezt  worden.  Vor 
Luther  ist  wansinn  -ig  nicht  nachweisbar',  Weigand  gibt  als  ältesten  ort  des  Vor- 
kommens sogar  das  Nov.  dict.  genus  des  Erasm.  Alberus  an. 

66.  Vgl.  bei  Petii  %iegenfell:  geyßfell,  kitxeiifel;  Kluge,  s.  82  Luthers  Zie- 
genbock: geißbock  bei  Eck  und  in  der  Züricherbibel. 

67.  Es  scheint  in  den  5  büchern  Mose  allerdings  nur  diese  form  xehenden 
(a.  sg. ;   n.  a.  pl.)   vorzukommen,    daher  hier  angesezt.     Die  erklärung  soU  nicht  den 


336  FRÜXKEL 

begriff  vou  \ehcnte  geben,    sondern   denselben   durch  eine  ähnliclie  bildung  der  hei- 
mischen spräche  ntohe  bringen.     Pass  dies  nötig  erschien,  ist  allerdings  auffällig. 

68.  Mit  xuchtcr  hat  Luther  in  den  älteren  ausgaben  den  naxir  widergegeben 
4.  Mose  6,  13.  18.  10.  20.  21.  später  hat  er  dafür  rerlobtcr  eingesezt.  An  diesen 
stellen  haben  die  älteren  ausgaben  auch  xucht  statt  des  späteren  gelübd. 

Zu  hrothauscu  vgl.  die  von  Dietz  I,  349*  angeführte  Übersetzung  Luthers: 
hrothairs;  hier  ist  dies  sehr  hübsch  in  einen  deutschen  Ortsnamen  umgewandelt. 

Bemerkenswert  ist,  dass  in  den  erklärungen  dieses  glossars  (ebenso  wie  auch 
in  dem  des  Petrischen)  der  vokalismus  der  gemeinsprache  herscht,  ausgenommen 
fyu  27. 

GREIFSWALD.  P.    PIETSCH. 


UM   STÄDTE   AVEKBEN   ITN'D   YEE^^A^TES   IN   DEE 

DEUTSCHEN    DICHTl^^TG    DES    IG.    UND    17.   JAHEiroN- 

DEETS,   NEBST  PAE^VLLELEN  AUS  DEM   18.  UND   19. 

I. . 

Reinhold  Köliler,  der  um  die  samlimg  und  vergleichung  von  ver- 
wanten  zügen  in  sage  und  dichtung  hochverdiente  gelehrte,  hat  wol  zuerst 
eine  grössere  anzahl  von  stellen,  welche  die  eigentümliche  betrachtung 
einer  Stadt  als  braut  des  sie  begehrenden  zum  ausdruck  bringen,  zu- 
sammengetragen und  nach  gewissen  unterscheidenden  gesichtspunkten 
rubrizierte  Er  hat  auch  diese  eigentümliche  gattung  halbdramatischer 
gelegenheitspoesie  in  ihrer  verschiedenartigen  bedcutung  soweit  geken- 
zeichnet,  dass  für  einige  nachti^äge  auf  seine  ausführungen  verwiesen 
sein  mag. 

Zunächst  berichtige  und  ergänze  ich  seine  mitteilung  über  ein 
gedieht,  das  ihm  nicht  selbst  zugänglich  Avar.  Es  führt  folgenden  genau 
kopierten  titel-:  „Bulschafft  der  sich  representierenden  Eidtgenössischen 
Dam,  welche  ein.  Hochloblichen  Eidtgenoschaft  ihre  Herzensgedanken 
in  treuen  eröffnet,  mit  Vormelden,  dass  sie  Ihr  verlobte  tragende  Jung- 
.  frauschaft  gegen   allen  ihren  aussländischen  Buhlen  rein  behalten,    sich 

1)  Archivar  htteraturgeschichte  I  (1870),  s.  228  —  251.  Vor  ihm  gaben  hinweise 
Soltau,  ICK)  deutsche  histor.  volksUeder  (1836)  s.  .509  und  Hildebrand  in  seiner  daran 
angeschlossenen  2.  samlung  von  100  liedem  (1856)  s.  93  und  372;  einen  weiteren 
beleg  veröffentlichte  J.  M.  Wagner,  Ai'chiv  f.  d.  geschichte  deutscher  spräche  und 
dichtung  I  (1873)  s.  160.  im  anschlusse  an  Köhler. 

2)  Derselbe  beruht  ebenso  wie  die  sonstigen  angaben  auf  dem  (1886)  im  antiqua- 
rischen katalog  nr.  LX  von  H.  Georg  in  Basel  unter  nr.  336  verzeichneten  exemplai-, 
von  welchem  ich  seinerzeit  einsieht  nehmen  liess;  über  den  gegenwärtigen  verbleib 
desselben  ist  mir  nichts  bekant.  Köhler  a.  a.  o.  s.  240  stüzt  sich  auf  "VVeller,  Anua- 
len  I,  189  nr.  1020. 


UM    STA  DTK    WKRBKK  337 

iu  Ehesümd  nit  einlassen,  sondern  l)y  ilirem  bis  daliin  tragenden  Kranz 
ihr  Leib,  Ehr,  Gut  und  Blut  aufsetzen,  darbey  leben  und  sterben 
wolle.  Kan  nebet  diesen  aussgesetzteu  Melodeyen,  nach  gesungen  wer- 
den in  folgenden.  Es  ist  das  Heil  uns  kommen  her. . . .  Auch  in  der 
Melodey  d.  Buhlschaft  zu  Brysach,  zu  4  Stimmen  aussgesetzt.  Wie 
gut  es  gemeint  mit  dem  Vatterland. ...  Alles  nach  dieser  Landen  Redens- 
art. In  Verlegung  Caspar  Wurmanns,  von  Wisendangen,  Ln  Jar  1676." 
In  duodezformat  enthält  das  gedieht  7  blätter  mit  der  zueignungsschrift, 
1  leeres  blatt  und  56  selten  text.  Li  lezteren  sind  noten  in  vierstim- 
migem satz  eingedruckt.     Ich  gebe  hier  den  anfang  der  anrede: 

Ich  bin  die  Dam  der  Eidtgnoschaft, 

Ich  muss  mich  präsentiren, 

Ich  trag  noch  rein  mein  Jungfrauschaft, 

Das  thut  mein  Kranz  schön  zieren. 

Eidtgnoss  halt  steiff  zu  meinen  Kranz, 

Der  blühet  schön  und  ist  noch  ganz, 

Kein  blum  lass  ich  drauss  zehren. 
Zu  bemerken  ist  noch,  dass  die  in  dem  titel  angezogene  „Brey sacher 
buhlschaft"  das  landläufigste  dieser  imi  die  mitte  des  17.  Jahrhunderts 
zahlreichen  lieder  gewesen  zu  sein  scheint,  wie  aus  der  längeren  reihe 
von  fassungen,  die  Köhler  s.  237  fgg.  bespricht,  und  obigem  hinweis 
entnommen  werden  darf. 

Zwei  Personifikationen  der  Schweiz,  welche  auf  einem  älmlichen 
allegorischen  gedanken  beruhen,  bieten  die  dichtungen  zweier  nach 
lebenszeit,  anschauungsweise  und  künstlerischem  vermögen  grundver- 
schiedenen schriftsteiler.  Während  nun  aber  Pamphilus  Gengenbach 
in  seinem  nach  Goedeke^  schon  um  1514  geschriebenen  dramolet  „Der 
alt  Eydgnoss"  das  sinbildlich  durch  einen  alten  Schweizer  vorgestelte 
land  von  selten  verschiedener  auswärtiger  mächte  umwerben  lässt,  hat 
Johann  Caspar  Weissenbach  in  seinem  1673  zu  Zug  gedruckten  volks- 
schauspiel  in  versen  „  Eydgenossisches  Contrafeth  Auff-  vnnd  Abneni- 
mender  Jungfrawen  Helvetiae,  von  gesammter  BurgerschafFt  löbl.  Stadt 
Zug  durch  öffentliche  Exhibition  den  14.  vnd  15.  Sept.  Anno  1672 
vorgestellt.  —  Der  Ander  Tlieil,  Das  ist  Abnemmende  Helvetia"-  wirk- 

1)  Pamphilus  Gengenbach,  herausgegeben  von  Karl  Goedeke  (Tlannover  1856) 
s.  543  fgg.  Abdruck  des  gedichts  ebenda  s.  12  fgg.  Vielleicht  hat  sich  gerade  auf 
Schweizer  boden  die  eigentliche  idee  der  eigenartigen  anschauung  in  dem  von  Roch- 
holtz ,  Alemannisches  kinderhed  und  kinderspiel  aus  der  Schweiz  (Leipz.  1857)  s.  410  fg. 
besprochenen  fangspiel  ^Das  thürmleiu"  erhalten,  wie  ich  lezteres  ausdeuten  möchte. 

2)  „Zu  Zug  gedrackt  Bey  Jacob  Amnion  Im  Jahr  1673.*^ 

ZEITSCHEIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXH.  -^ 


338  FRÄNKEL 

lieh  sein  vate/land  als  von  feinden  bedrängte  Jungfrau  auf  die  bühne 
gebraeht.  Der  gang  der  liandhmg  hält  zwar  diese  synibolisierung  auf- 
recht, bietet  aber  für  unser  thenia  nichts  bemerkenswertes,  so  dass  ich 
auf  die  analyso  des  litterarliistorikers,  der  wul  zuerst  näher  auf  dieses 
stück  eingieng,  AV.  Menzels^  verweisen  kann. 

Ein  deutliclieres  beispiel  aus  dem  reformationszeitalter  liefert  erst 
ein  glücklicher  fund,  welchen  Rudolf  Genoe  vor  einigen  jähren  machte. 
Dieser  berichtete  über  denselben,  einen  meistergesang  von  Hans  Sachs, 
im  Correspondenten  von  und  für  Berlin  (decbr.  1885)  wie  folgt: 

„Das  gedieht,  welches  ganz  zweifellos  von  Hans  Sachsens  eigener 
band  geschrieben  ist,  steht  auf  sechs  ungewöhnlich  hohen,  aber  schma- 
len folioseiten  und  enthält  dreihundert  verse.     Die  Überschrift  lautet: 

„Ivlagspruch    der  Stat  Nürnberg    ob   der  Unpillichen   Schweren 
pelegerung  Markgraff  Albrechts  Anno  1552." 

Datiert  ist  die  handschrift  vom  16.  juni  1552,  also  wenige  tage  vor 
dem  friedensschluss,  welcher  jener  grausamen  belagerung  endlich  ein 
ende  machte.  Das  gedieht  ist  ein  gespräch,  welches  zwischen  Nürn- 
berg (als  „fi'äulein"  bezeichnet)  und  dem  dichter  gehalten  wird,  und 
das  „fräulein"  schliesst  es  mit  der  hofniing,  dass  gott  endlich  die  stadt 
erlösen  möge  — 

„Dass  ich  wider  zunehm  und  wachs, 

Das  wünscht  von  Nürenberg  Hans  Sachs." 

Ich  füge  noch  hinzu,  dass  in  des  dichters  eigenhändig  geschrie- 
benem generalregister,  welches  sich  in  Zwickau  befindet,  ein  gedieht 
unter  dem  titel  „Klagspruch  der  stadt  Nürnberg"  verzeichnet  steht, 
und  zwar  mit  hinweis  auf  das  siebente  spruchbuch.  Dieses  siebente 
von  den  18  handschriftlichen  spruchbüchern  des  dichters  ist  aber,  wie 
noch  andere,  bis  jezt  nicht  ans  licht  gekommen,  und  auch  dieses 
gedieht  sowie  alle  auf  den  markgrafen  bezüglichen  wurden  nicht  in  den 
druck  gegeben.  Die  nun  aufgefundene  aparte  handschrift  des  gedichts 
ist  von  Hans  Sachs  einem  freunde  am  3.  fobruar  1553  verehrt  worden, 
wie  einige  zeilen  auf  der  lezten  seite,  leider  ohne  Unterschrift,  uns 
benachrichtigen. " 

In  den  weiteren  sätzen  dieser  vom  18.  dezember  1885  datierten 
mitteilung  spricht  Genoe  nur  noch  von  dem  Schicksale  des  manuscripts 
soweit  dasselbe  nachweisbar-,  berührt  aber  die  Zugehörigkeit  des  gedicli- 

1)  Geschichte  der  deutschen  dichtung  (Stuttg.  18.59)  11,  s.  416. 

2)  1836  gelaugte  es  mit  vielen  anderen  aus  dem  besitze  des  preussischen 
generalpostmeisters  von  Nagler  in  die  BerUner  kgl.  bibliothek. 


tJM    STÄDTE    WERBEM 


339 


tes  zu  einer  ganzen  klasse  von  iiilialtsverwanten  mit  keinem  worte,  so 
dass  ihm  dieselbe  unbekant  zu  sein  sclieint.  Und  doch  hat  gerade 
dieses  eine  hervorragende  bedeutung  als  deutliches  zeugnis  dafür,  dass 
schon  um  die  mitte  des  16.  jahrluindorts  dieser  von  Schack^  in  spa- 
nischen romanzen  vor  1550  nachgewiesene  und  auf  orientalische  Vor- 
bilder- zurückgeführte  Stoff  auch  in  Deutschland  gäng  und  gäbe  war. 
Denn  nach  verschiedenen  ausdrücken,  welclie  in  dieser  zeit  bei  der 
Schilderung  entsprechender  Situationen  gebraucht  werden,  ist  der  rück- 
schluss  gestattet.  Man  betrachte  dazu  folgende  beliebig  gewählte  bei- 
spiele: 

In  einem  1542  anonym  gedruckten  "^  „Lustig  Gespräch  der  Teufel 
und  etlicher  Kriegsleute  von  der  Flucht  des  grossen  Scharrhansen  Her- 
zogen Heinrichs  von  Braunschweig''  lieisst  es  vers  72  fgg.: 

Die  zwo  erlich  stet  Braimschweig  und  Goslar 

Selten  für  im  stehen  grosse  gefar. 

Die  wolt  er  der  massen  ti-eiben  und  zwingen, 

Dass  sie  im  müsten  seins  gefallens  ein  liedlin  singen. 

Es  würde  im  niemant  dürfen  weren, 

Er  wolt  sich  auch  an  ir  mit  verwanten  nicht  keren. 

Ganz  genau  entspricht  diesen  worten  eine  stelle  in  einem  inhaltlich  eng 
damit  zusammengehörigen  „Bekentniss  und  Clag  Herzog  Heinrichs  von 
Braunschweig  des  Jüngern"^  v.  155  fgg.: 

^n  den  beiden  steten  im  reich 

Goslar  und  Braunschweig  zugleich, 

Die  selben  auf  das  hertst  bedrengt. 

Aber  das  mich  am  sersten  krenkt: 

Ich  hab  sie  nicht  können  zwingen  wie  ich  gewolt. 

Wie  säur  ich  mich  dagegen  gestalt. 


1)  Poesie  und.  kirnst  der  Araber  in  Spanien  und  Sicilien  (18G5)  II,  s.  117. 

2)  Eines  derselben,  bei  j\lirchondi  Historia  Seldschuckidanun  ed.  Vullei-s  IG, 
wo  es  von  einem  fiü'sten,  der  seine  residenz  verlässt,  heisst:  „er  heftete  der  gattin 
des  reiches  eine  dreifache  ehescheidung  an  den  säum  ihres  Schleiers ",  besizt  bei 
Homer  (Od.  13,  388;  II.  16,  100)  eine  merkwürdige  parallele  in  dem  ^TQoujg  h()ä 
y.QriStuvu  („Stirnband")  Icetv."-  Vgl.  L.  Döderlein,  Homerisches  glossarium  nr.  739, 
Anieis  und  Düntzer  zu  v.  388,  auch  hymn.  Cerer.  151  y.nriSeuva  Tiölrjog  (ebenso 
Hesiod  uanlg 'Ho.  105).  Fr.  Kummer,  Tarquin  (Lpz.  1888)  lY,  2  (s.  101):  „Ich 
brach  der  zinnen  jungfräulichen  kränz." 

3)  Schade,  Satiren  imd  pasquille  aus  der  reformationszcit  I,  s.  54  u.  217. 

4)  Schade  a.  a.  o.  s.  68  und  220. 

5)  Schade  a.  a.  o.  s.  77  und  222. 

22* 


340  FRÄNKEL 

Eine  dritte  ^^telle  aus  dei-selben  Situation,  in  „Bruder  Veits  Landsknechts 
im  Laii'er  vor  AVolfenbüttel  treuliche  AVarnuno'' ^  v.  25  fe.: 

Dadurch  er  der  armen  stete  Goslar  und  Braunschweig 
Vermeint  mechtig  luid  ir  herr  zu  sein  zu  gleich 

beriihi*t  sich  eng  mit  v.  45  in  „Ein  new  Lied  vom  Türeken  usw.,  Nürn- 
berg durch  Christoff  Gutknecht"  (1529?)^,  wo  dem  Wien  belagernden 
„Türk"  zugerufen  wird:  „deV  stat  soltu  nicht  gweltig  sein."  Man  über- 
sehe nicht  den  doppelsinn  des  „mechtig  (gweltig)  sein",  was  hier  wol 
ähnliches  bedeutet  als  unser  „vergewaltigen"  und  des  „herr  sein"  = 
„vermählt,  gatte  sein."'-  Schliesslich  erwähne  ich  noch  einige  stellen 
aus   dem  berühmten  landsknechtliede  von   der  „Pavier  schlacht."^     Es 


11 


heisst   da  v.  4  „von  dem  könig  aus  Frankreich " : 

Mailant  das  wolt  er  zwingen 

und  V.  9  fg.:        Er  zug  für  ein  stat,  die  heisst  Mailant, 

die  selbig  tet  er  zwingen, 

wozu  man  die  oben  angeführte  kongruente  wendung  bezüglich  Goslars 
vergleiclie.  Ganz  deutlich  ist  die  anthropomorphische  auffassung  in 
V.  70  desselben  liedes,  wo  erzälilt  ist,  dass  das  belagerungsheer  ver- 
stärkt worden: 

Pauia  tet  sich  des  freuen. 

Dem  lezteren  ausdrucke  begegnen  wir  in  einem  anderen  zeitge- 
nössischen liede  wieder,  dem  1552  von  Frankfurt  aus  verbreiteten  flie- 
genden blatte  „Von  der  belagerung  der  stadt  Frankfurt",  welches  Arnim 
und  Brentano  —  wahrscheinlich  aus  „Der  AVeit -berühmten  usw.  Han- 
dels-Stadt Frankfurt  am  Main  Chronica.  Durch  A.  A.  v.  Lersner.  1706" 
s.  388  —  in  „Des  knaben  wunderhorn  II,  336''  aufgenommen  haben. 
Ich  setze  die  dritte  Strophe  daraus  ganz  hierher,  da  die  bezügliche 
anscliauung  durch  dieselbe  durchgeht: 

Stadt  Frankfurt  an  dem  Maine! 
Dein  lob  ist  weit  und  breit. 
Treu,  ehr  und  glauben  reine. 
Mannliche  redlichkeit 
Hast  du  mit  deinem  blute 

1)  Abgedruckt  bei  Kömer,  Historische  Volkslieder  aus  dem  IG.  und  17.  Jahr- 
hundert (Stuttg.  1840)  s.  150. 

2)  Über  mhd.  geualt  für  „die  rechte  eines  chegemalils  oder  begünstigten  lieb- 
habers"-  vgl.  Uhl,  Unechtes  bei  Neifen  (Paderb.  1888)  s.  31. 

3)  Abgedruckt  bei  Soltau.  Einhundert  historische  Volkslieder^  (Leipz.  1845) 
s.  287  fg. 


UM    STÄDTE    WElüiEN  341 

Erhalten  ritterlich. 
Vertrau  dem  lierrii  du  ^nite, 
Er  liilft  unschuldgem  blute, 
Dess  suUst  du  treuen  dich. 
Man  erkent,    dass   hier  das   Verhältnis  der   belagerten  testung   zu   ihren 
bedrängerii   ganz   ähnlich  ^vie   in   den   bisher  beigebrachten  belegen  ge- 
dacht ist.     Verwante  betrachtungsweise  kehrt  in  niaiuiigtacher  niodelung 
im  reformationszeitalter  wider.     Man  vergleiche  z.  b.  das  von  II.  Fischer, 
Gernian.  23,  57  fg.  mitgeteilte  „historische  lied  des  XVI.  jaiirhuuderts'^ 
wo  u.  a.  folgende  verse  vorkommen: 

Venedig,  sych  dich  eben  für 
Dein  hochmüt  würt  gestilt,  glaub  mir 
Dein  geyt,  vn  üppig  evtel  eer 
Mag  uit  vertragen  bliben  mer. 

Weiterhin   heisst  es  von   der  trotzigen   stadt,    die  gewissermassen  unter 
dem  bilde  einer  spröden  kokette  erscheint: 

Bapst,  keyser  darzu  achtest  klein, 

In  eygnem  gwalt  vertröst  allein. 

Venedig,  sych  dich  eben  für. 

Dail  dir  die  straff  ligt  vor  der  thür, 

Durch  keyser  Maximilian. 

Man  möchte  gewiss  auch  anderwärts  in  der  iitteratur  des  16.  jalu- 
himderts  noch  beispiele  auftreiben  können.  Aber  mir  komt  es  nur 
darauf  an,  aus  der  volksmässigen  anwendung  dieser  metonymie  ihre 
gebräuchlichkeit  in  der  in  frage  stehenden  periode  zu  erweisen,  zum 
wenigsten,  dass  sie  gleichsam  in  der  luft  lag,  wenn  auch  nicht  viele 
belege  von  der  handgreiflichkeit  des  Sachsischen  vorliegen. 

Jedoch  stehen  neben  diesen  Zeugnissen  für  die  gemeinverständ- 
liche anschauung  des  „um  städte  werben''  eine  reihe  von  verschieden- 
artigen Wendungen,  welche  denselben  grundgedanken  in  weniger  aus- 
geprägter form  widerzugeben  versuchen.  Auch  hier  gebührt  einer  stelle 
des  Hans  Sachs  zeitlich  die  führung.  Ich  meine  die  allegorische  deu- 
tung  der  ,,4  fräulein'',  welche  Nürnbergs  kraft  und  stärke  sinbildlich 
verkörpern  sollen,  in  dem  als  eiii  kabinetsstück  sinniger  und  poesie- 
umflossener  didaktik  bekanten  lobspruch  der  stadt  Nürnberg  i.  Vom 
hauche  edelster  Vaterlandsliebe  verklärt,  ersteht  hier  ein  farbenbuntes 
gemäide  der  phantasie,  welches  in  dem  alten  gedanken  fusst,  dass  der 
glänz  einer  in  ihrer  macht-  und  glanzfülle  allen  anfechtungen  siegreich 

1)  Gedichte,  buchl,  t.  4,  bl.  404.  Vgl.  v.2ü5fgg.,  285  fgg.,  280,  300  fgg.  usw. 


342  FRiXKEL 

geAvachseneu  stadt  der  frischen  und  reinen  blute  unberührter  jungfräu- 
liclikeit  vergleichbar  sei.  Weisheit,  gerechtigkeit,  Avahrlieit  und  stärke 
sind  die  „4  fräulein ",  deren  gleichsam  unverlezte  keuschheit  Xürn- 
bergs  schütz  und  schirm  bedeutet. 

Man  fülilt  sich  unwilkürlich  an  die  vuUere  ausgestaltung  dieses 
gedankens  erinnert,  wie  wir  ihn  in  andern  nummern  dieses  stofkreises 
finden,  so  in  dem  „Halt  dich  Magdeburg"  betitelten  „Flugblatt  aus  der 
reformationszeit'',  welches  Arnim  und  Brentano  in  „Des  knaben  wun- 
derhorn"  (1.  ausg.  11,  102)  zum  abdruck  brachten.  Ich  führe  als  cha- 
rakteristisch nur  sti'ophe  5  —  7  an: 

So  will  ich  nicht  verzagen, 
Ich  armes  mägdelein, 
Christum  will  ich  es  klagen, 
Der  wird  mein  schutzherr  sein. 

Magdeburg  bin  ich  genennet. 
Ganz  frei  und  wohl  bekannt. 
Ich  trau  auf  Christ  vom  himmel. 
Mir  liilft  seine  gew^altige  band. 

Die  mittel  will  ich  brauchen. 
Die  mich  mein  bräutgam  lehrt, 
Vor  diesem  beschomeu  häufen 
Bin  ich  noch  unversehrt.  ^ 

Die  sprechende  stadt  weist  also  die  umwerbungen  ihrer  feinde  schroff 
zurück,  indem  sie  sich  gewissermassen  auf  ein  Verlöbnis  mit  Christas 
beruft.  Hierdurch  ist  aber  nicht  bloss  die  reichhaltige  anzahl  der  von 
Köhler  zusammengestelten  lieder  dieser  art,  welche  sich  auf  Magde- 
burg beziehen,  um  eins  vermehrt-,  sondern  zugleich  erwiesen,  dass  die 
belagerung  der  stadt  durch  Tilly  vom  jähre  1629  keineswegs  die 
erste  ist,  welche  zu  einem  solchen  gedichte  angeregt  hat.  Es  verdient 
hierbei  noch  angemerkt  zu  werden,  dass  das  in  „Des  knaben  wunder- 
hom"  unmittelbar  folgende  gedieht  „Die  Magdeburger  fehde"^,  welches 

1)  Allerdings  ist  in  dieser  hochdeutschen  fassung  manches  etwas  entstelt; 
man  vergleiche  die  niederdeutsche  bei  Uhland  I,  554  und  v.  Liliencron  IV,  515. 

2)  -Tilly  nach  der  Schlacht  bei  Breitenfeld ",  ein  auf  urkundliches  material 
gestüzter  aufsatz  (Schnorrs  v.  CarolsfeldV)  im  Arch.  f.  lit.-gesch.  VI,  53  —  85  bietet 
viele  fälle  für  Magdeburg,  aber  ohne  das  typische  des  werbens  zu  streifen. 

S)  QueUe  ist  -CjTiacus  Spangenbergs  Chronik  von  Aschersleben.  Eisleben  1572, 
Petri."     Las  gedieht  steht  Des  knaben  wunderhora  IP,  106. 


UM   STÄDTE   WERBEN  343 

noch  ins  dritte  viertel  des  16.  Jahrhunderts  gehört,  zwar  diese  anschauung 
nicht  gerade  heraus  ausspricht,  aber  doch  in  mannigfachen  anklängen 
die  anlehnung  an  das  vurliergenante  gedieht  aufweist^;  in  stroplie  11 
und  12  bricht  die  personitizierung  der  stadt,  allerdings  unter  einem 
etwas  andersartigen  bilde,  ganz  deutlich  (.lurch.  Auch  bleibe  nicht 
unerwähnt,  dass  die  von  Köhler  a.  a.  o.  s.  231  mehrfach  belegte  auf- 
fassung  der  Werbung  als  einer  aufforderung  zum  tanz  sich  in  der  gan- 
zen gattung  öfters  widerholt;  ich  erinnere  an  die  gesrhickte  einflcrlitung 
dieses  motivs  in  einem  neueren  aber  nicht  minder  volksniässigen  bei- 
spiel,  „Die  befreiuug  Wiens"-  Strophe  17: 

Es  tönt  so  früh  und  tönt  so  hell, 

Als  ging's  zu  tanz  und  wein. 
Köhler  a.  a.  o.  s.  231  (und  anm.)  wies  schon  auf  diesen  zug  hin. 

Wie  verbreitet  jene  Übertragung  aus  dem  sozialen  leben  auf  die 
Städtebelagerung  schon  im  16.  Jahrhundert  gewesen  sein  muss,  erhelt 
aus  der  anzahl  verscliiedener  fassungen  des  „Halt  dich  Magdeburg", 
die  heute  noch  nachweisbar  sind.  Die  geläufigste  ist  freilich  wol  erst  um 
die  mitte  des  17.  Jahrhunderts,  anscheinend  infolge  der  belagerung  von 
1629  —  31,  endgiltig  fixiert  worden.  So  liegt  sie  uns  im  Yenus-gärt- 
lein  (Hamburg  1659)  s.  55  —  57  vor,  und  bei  Ühland,  Alte  hoch-  und 
niederdeutsche  Volkslieder  1,  1,  553  ist  aus  einem  mundartlichen  lie- 
derbuche  eine  wortgetreue  plattdeutsche  Übersetzung  derselben  mitgeteilt. 
Aber  wir  kennen  auch  eine  in  einzelheiten  stark  abweichende  nieder- 
schrift  als  fliegendes  blatt,  welche,  enthalten  in  ,,  Zwey  schöne  lieder, 
das  erste  der  christlichen  stadt  Magdeburgk  zu  ehren  gestellt,  durch 
P.  L.  Im  thon  Es  wolt  ein  jeger  jagen  1551",  reichlich  hundert  jähre 
früher  abgeschlossen  war.  Ähnlich  wie  oben  bei  Haus  Sachs,  ist  hier 
von  „drei  jungfräulein "  die  rede,  welche  auf  df^ni  Magdeburger  Stadt- 
tore für  drei  fremde  fürsten  „rautenkränzelein-'  winden.  Auf  derselben 
linie  bewegen  sich  die  verschiedenen  svnonvmen  ausdrücke  in  der 
,,Magdeburger  fehde."     Neben  andern  gedenke  ich  nur  der  Avorte  in  der 

11.  Strophe: 

Magdeburg,  du  bist  ein  wilder  arn, 

Dein  flügel  sind  unverhauen 

als  einer  geharnischten  abwclir  an  die  belagernden  fürsten,  welche  auf 
einem  sehr  nahestehenden  vergleiche  ruht 

1)  Z.  1).  das  bezeichnende  „es  kommen  (viel)  fremde  gaste"  in  den  ersten 
Strophen. 

2)  Aus  dem  sog.  Festkalender  z.  1).  bei  Echtermeyer,  Auswahl  deutscher 
gedickte,  29.  auü.,  s.  87  fg. 


344  rßiNKEL 

In  aiizieliender  weise  ist  zugleich  in  „Halt  dich  Magdeburg '^  das 
alte  gleichuis,  dass  Christus  der  kirclie  verlebter,  der  gläubigen  und 
frommen  geliebter  sei,  für  die  beziehung  der  gottheit  zu  der  glaubens- 
mutif!-en  Stadt  verwertet.  Die  hvmnenlitteratur  und  kirchliche  lieder- 
dichtung  der  nachreformatorischen  jalirhunderte  weist  eine  ganze  reihe 
von  stellen  auf,  welche  Christus  als  bräutigam  der  stadt  Jerusalem^ 
bezeichnen  und  zwar,  was  für  uns  das  massgebende  ist,  als  friedlichen 
eroberer  im  sinne  der  religiösen  legende  oder  als  schlachtgewaltigen 
kriegsfüi"sten  im  altgermanischen  stile  des  Heliand.  Bloss  einige  pro- 
ben mögen  die  vielseitige  ausbeutung  dieses  halbmystischen  phantasie- 
bildes,  welches  die  ältere  christliche  dogmatik  in  ihrem  dränge  nach 
sinlicher  greifbarkeit  des  göttlichen  geschaffen  hatte,  mehr  andeuten  als 
sicher  beweisen. 

Zunächst  ein  beispiel  noch  aus  dem  16.  Jahrhundert.  Rambachs 
Anthologie  christlicher  gesänge  II,  218,  auch  Schuppii  Schriften  s.  277 
verzeichnen  das  im  modernen  protestantischen  kirchengesang  wider  in 
aufnähme  gekommene  lied  „Von  den  klugen  Jungfrauen"  aus  „Frewden 
Spiegel  dess  ewigen  lebens.  Durch  Philippum  Nicolai.  Frankfurt  1599." 
In  betracht  komt  Strophe  1 : 

Wachet  auf,  ruft  uns  die  stimme- 

Der  Wächter  sehr  hoch  auf  der  ziime, 

AVach  auf,  du  stadt  Jerusalem, 

3Iitternacht  heisst  diese  stunde, 

Sie  rufen  uns  mit  hellem  munde: 

„Wolan,  der  bräutigam  komt. 

Steht  auf,  die  lampen  nehmt! 

Halleluja! 

Macht  euch  bereit 

Zu  der  hochzeit, 

Ihr  müsset  ihm  entgegen  gehn!" 

Xur  um  für  die  spätere  zeit  die  fortdauer  dieser  belebenden  dar- 
stellungsweise zu  belegen,  ziehe  ich  die  betreffenden  zeilen  aus  einem 
seltsamen  hymnus  aus,   der  als  „Anmutiger  blumenkrieg  aus  dem  gar- 

1)  Wackeraagel.  Poetik,  rhetorik  und  Stilistik  s.  398  bespricht  als  ty[)isches 
^beispiel  allegori.scher  Personifikation"  Hesekiel  16,  „wo  Jerusalem  als  weib  erscheint 
und  die  ganze  geschichte  der  stadt  und  des  volkes  in  der  lobensgeschichte  dieses 
einen  weibes  anschaulich  concentriert  wird." 

2)  Klopstock  hefert  eine  nach  seiner  gewohnten  erneuerungsart  (siehe  Muncker, 
F.  G.  Klopstock,  Stuttg.  1888,  s.  307  und  311  fg.)  vorgenommene  umar))eitung  „Die 
geisthche  auferstehung" :  Samtl.  werke  1823,  111  s.  80. 


UM    STÄDTE    WKIiliKN  345 

ten  der  gemeinde    gottes,    aus   licht  gegeben   im  jähre  1712''    in    Des 
knaben  winulerhurn   411,  20G  fgg.  neu  gedruckt  ist. 

In  in:  3,  die  den  Untertitel  ,,Triunipli  des  ei-wählten  Volkes"  führt, 
lautet  sti".  1 : 

Auf  tiiuuiph,  es  komt  die  stunde. 

Da  sich  Zion,  die  geliebte,  die  betrübte  hocherfreut, 

Babel  aber  geht  zu  gründe, 

Dass  sie  kläglich  über  jamnier  ül)er  angst  und  kuniiner  'schreit. 
Str.  2: 

Diese  dirne  hat  beflecket 

Ihr  geschenktes,  schön  geschmücktes  jungfräuliches  ehrenkleid 

Und  mit  schmach  und  höhn  bedecket, 

Die  dem  lamme  auf  die  hochzeit  ist  zum  weibc  zubereit. 
Str.  3: 

Stolze  dirne,  nicht  verweile. 

Die  da  auf  den  vielen,  vielen,  vielen  grossen  wassern  sizt 

Und  mit  angeln  und  am  seile 

Ganze  Völker  zu  sich  ziehet  und  in  schnöder  brunst  erhizt.^ 

Str.  5: 
Auf  dem  lande,  in  den  städten 

Hat  die  dirne  mit  dem  becher  alle  beiden  toll  gemacht, 
Sie  stolzieren  in  den  ketten, 
Haben  sie  als  schicksalsgöttin,  sich  als  götzen  hoch  gemacht. 

Str.  11: 
0  Avie  gross  ist  deine  wonne. 

Schönstes  Zion,  es  ist  kommen  dein  erwünschtes  hochzeitsfest, 
Da  sich  Jesus,  deine  sonne 
Der  dich  krönet,  deinen  bräutigam,  deinen  könig  nennen  lässt. 

Endlich  str.  12,  einen  volkommenen  abschluss  bietend: 
Nach  der  hochzeit  wird  die  nymphe^ 
Aus  dem  hause  ihrer  mutter  in  des  vaters  haus  geführt. 
Die  mit  ewigem  triumphe 
In  der  ki-one  ihrer  hochzeit,  ewig,  ewig  triumphiert. 

Das  merkwürdige  stück  lässt  trotz  der  vielfachen  dunkelheiten  im 
einzelausdruck,  die  durch  die  verzwickte  Interpunktion,  in  der  es  hier 
gemäss    dem    original    belassen   ist,    noch   gesteigert   werden,    dieselbe 

1)  Nach  der  Offenbarung  Johann.  17,  1:  die  grosse  hure  Babylon. 

2)  Mit  hinbüok  auf  vv^(fi]  ,,die  neuvermählte"  (Homer  II.  3,  130  u.  ö.)?  Ähu- 
hch  „braut"  für  Junge  frau"  (vgl.  Hildebrandslied  v.  21). 


346  FRÄNKKL 

gegeiiüberstellung  wie  in  den  vorüetulirten  „weltlichen''  füllen  durch- 
scheinen, ja  man  möchte  last  sa^en,  es  sezt  die  bekan tschaft  mit  die- 
sen und  ihre  üblichkeit  voraus.  Das  geht  auch  aus  einigen  parallelen 
in  nr.  20  desselben  cvklus,  dessen  nr.  3  wir  soeben  in  bruchstücken 
kennen  lernten,  hervor.  Dieselbe,  „Hochzeit"  betitelt^,  nähert  sich  mit 
einigen  anklängen  namentlich  dem  liede  „von  den  klugen  Jungfrauen." 
Ich  hebe  heraus  aus  str.  1 : 

Es  hat  sich  aufgemachet 
Der  bräutigam  mit  praclit. 

und  stelle  daneben  aus  str.  2: 

Die  Wächter  Zions  schreien, 
Der  bräutigam  ist  nah. 

Str.  3  bringt  sodann  die  völlig  dazu  stimmenden  verse: 

Die  tür  ist  aufgeschlossen - 
Die  hochzeit  ist  bereit, 
Auf.  auf  ihr  reichsgenossen, 
Der  bräutgam  ist  nicht  weit. 

Auch  die  6.  strophe  gehört  hierher: 

Begegnet  ihm  auf  erden, 
Ihr,  die  ihr  Zion  liebt, 
Mit  freudigen  geberden 
Und  seid  nicht  mehr  betrübt! 
Es  sind  die  freudenstmiden 
Gekommen  und  der  braut 
Wird,  weil  sie  überwunden. 
Die  kröne  nun  vertraut. 

Wie  scharf  das  gegenüber  des  siegreichen  eroberen  und  dei* 
bezwungenen  bräutlichen  Stadt  zu  fassen  ist,  zeigen  die  beiden  ersten 
Zeilen  der  nächsten  strophe  ganz  deutlich: 

Hier  sind  die  siegespalmen, 
Hier  ist  das  weisse  kleid 

und  nachdem  dieser  gegensatz  noch  mit  reichen  färben  ausgemalt  ist, 
bringt  die  8.  strophe  den  Avürdig  ausklingenden  schluss: 

Hier  ist  die  Stadt  der  freuden, 
Jerusalem  der  ort, 

1)  Des  knaben  wmiderhorn  'III,  229  u.  ö. 

2)  Ganz  realistisch  zu  denken,  wie  Christus  nach  den  evangelien  in  Jerusalem 
einzieht. 


UM   STÄDIÜ    WEUBEN  347 

Wo  die  erlösten  weiden. 


'1 


Hier  ist  die  sichre  pfort, 
Hier  sind  die  goldnen  gassen, 
Hier  ist  das  hochzeitniald, 
Hier  soll  sich  niedeilasscn 
Die  braut  im  roseutal. 

Endlich  waltet  auch  in  dem  die  eigentiimliche  dichtung  al)schliessen- 
den  „triumph  der  erwählten  seele^  derselbe  gedanke  vor,  indem  „der 
Siegesfürst  aus  der  schlacht  komt",  des  „höllischen  tyrannen  raubschloss 
ganz  zerstört",  so  dass  —  wenn  man  die  mystisch  verklausulierten 
Worte  so  auslegen  darf  —  „seine  teur  erlöste  braut''  nun  unbehelligt  ist. 

Um  einige  verwante  züge  aus  neueren  kirchenliedern  gleich  hier 
anzufügen,  sei  Gellerts  abgeblasstes 

Dein  könig,  Zion,  komt  zu  dir 

(str.  5  des  liedes  „Dies  ist  der  tag,  den  gott  gemacht''),  Friedrich  Dach- 
ses, des  Altenburger  hofpredigers 

Dein  könig  komt  zu  dir. 


Du  Stadt  des  felsengrundes, 
Noch  bist  du  seine  Stadt. 
Mach  ihm  die  tore  weit! 


(Str.  1  und  2  des  liedes  „Thu  auf  die  heil'gen  pforten'')  und  etwa  noch 
Fr.  Rückerts  friedvolles  adventslied: 

Dein  könig  komt  in  stiller  grosse 
Sanftmütig,  ohne  kriegsgetöse, 
Empfang  ihn  froh,  Jerusalem 

genant,  um  die  Versicherung,  dass  die  ausgedehnte  pflege  dieser  an- 
schauung  durch  die  kirchliche  liederdichtung  schon  allein  aus  den  Lutlie- 
rischen  gesangbüchern  viele  beispiele  herausgreifen  Hess,  durchaus 
glaubhaft  zu  machen. 

Kehren  wir  zu  der  chronologischen  reihenfolge  der  besprochenen 
beispiele  zurück,  so  finden  wir  als  erstes  im  17.  Jahrhundert  unter  den 
bislang  nicht  berücksichtigten  das  lied  auf  die  schlacht  bei  Leipzig, 
welches  auf  flugblättern  in  melirfach  stark  variierter  fassung  überliefert 
ist.  Eine  längere,  noch  von  1631  datiert,  steht  in  Des  knaben  wam- 
derhorn  ^11,  93,  bei  Talvj,  Yersuch  einer  geschichtlichen  Charakteristik 
der  Volkslieder  germanischer  nationen  (1840)  s.  442  und  sonst  öfters 
abgedruckt,    eine    andere    unter   gleicher   Überschrift   findet   sich   knapp 


348  FßÄNKEL 

zusammengeselinitteu  in  Des  kuaben  wunderliorn  an  jenes  angeschlos- 
sen oder  in  erweiterter  gestalt  als  „Der  päpstischen  armee  unter  dess 
alten  corporals  general  graffen  von  Tylli  comniando  zugk  vnd  flucht 
1631"  auf  einem  flugblatt,  welches  z.  b.  in  der  Meusebachschen  sam- 
lung^  enthalten  'war,  auch  verschiedentlich  veröffentlicht  worden  ist^ 

Wenn  man  annimt  (wogegen  kaum  ein  erheblicher  einwand  mög- 
lich ist),  dass  der  eingang,  wenn  nicht  ein  grösserer  abschnitt  dieses 
gedichts  in  der  erstgeuanten  bearbeitung  der  stadt  Leipzig  in  den  mund 
gelegt  ist,  so  darf  z.  b.  die  1.  Strophe  ohne  weiteres  als  beleg  für  die 
Aktion  eines  liebesverhältnisses  zwischen  Leipzig  imd  Gustav  Adolf  gel- 
ten.    Sie  lautet  nämlich: 

Ich  hab  den  Schweden  mit  äugen  gesehn 
Er  tut  mir  wol  gefallen; 

Geliebt  mir  in  dem  herzen  mein 

Vor  andern  königen  allen. 

Gegen  den  schluss  bekommen  die  kaiserlichen  feldherrn  den  beliebten 
moralischen  rippenstoss.  Während  sonst  meist  Tillys  Charakter  und 
geschick  die  Zielscheibe  der  protestantischen  pamphletisten  bildet,  ist 
es  hier  neben  diesem  auf  den  wilden  reitergeneral  Holk  abgesehen. 
Charakteristisch  ist  namentlich  die  apostrophe  der  flüchtigen  „Kraba- 
ten**  und  ,,welschen  brüder"  str.  11: 

„Ade,  Leipzig,  behalt  dein  mahlzeit. 
Zu  dir  komm  ich  nicht  wider", 

und  zwar  ist  dieser  gefühlsausbruch  aus  der  vorangehenden  strophe  zu 
erklären,  avo  Holks  krankheit  durch  vergiftetes  confekt,  das  er  von  der 
Stadt  Leipzig  erhalten,  erzeugt  sei.  Diese  merkwürdige  motivierung 
ist  aber  in  den  gedichten  jener  zeit  eine  sehr  gebräuchliche,  wenn 
schimpflicher  abzug  eines  belagerers  geschildert  werden  soll.''^  Beispiels- 
weise sei  hingewiesen  auf  R.  Köhler,  Archiv  für  litteraturgeschichte  I, 
245  (auch  241  und  243),  besonders  auf  Freih.  v.  Ditfurth,  52  unge- 
druckte balladen  des  16.,  17.,  18.  Jahrhunderts  (Stuttg.  1874)  s.  174 
(aus  dem  jähre  1704)  sowie  Froih.  v.  Ditfurth,  110  volks-  und  gesel- 
schaftslieder  des  16.,  17.,  18.  Jahrhunderts  (Stuttg.  1875)  s.  37  (schlacht 
bei  Patras  1687)  und  s.  97  (belagerung  der  vestung  Rottenberg  1744. 

1)  Z.  V».  in  der  von  L.  Erk  besorgten  neiiausgabe  von  Des  knabon  wimdcr- 
horn:  L.  A.s  von  Arnim  sämtl.  werke  N.  A.  1857,  XU,  93  fgg. 

2)  Die  erklärung  bieten  die  verse  „Ihr  red  war  usw."  bei  Opel  und  Cohn, 
Der  dreissigjäbiigc  krieg  (1862)  s.  258. 


UM   STÄDTE   AVERHEN  349 

Gleiclifals  in  jono  zeit  t'iilt  die  entsteh iin,<^-  des  g-elegenlieitsgedich- 
tes  „Wallenstein  vor  Nürnberg"  ^,  in  dem  am  ende 

„Die  bur^er  schrien  und  sun^^-en  überhiiit: 
„Gelt,  AVallenstein,  du  hast  di(^  braut? 
Geh,  putz  dein  gesehen  drauss!"" 

Nach  dem  inhaite  zu  folgern,  muss  wenigstens  ein  und  demsel- 
ben jähre  der  spotdialog  ,,Tilly  und  der  lange  Fritz"  2  angehören,  wo 
dem  Tilly  als  grund  seiner  erbärmlichen  läge  entgegengeschleudert  wird: 

„Weil  hast  die  magd  geschändet, 
Ins  elend  auch  gesendet", 

also  Magdeburgs  grausame  Zerstörung. 

Über  das  interessanteste  gedieht  des  17.  jahi-hunderts,  welches 
unser  thema  behandelt,  ist  man  bis  jezt  noch  nicht  ins  klare  gekom- 
men. Es  ist  widerum  auf  die  belagerung  Magdeburgs  bezüglich  und 
zwar  die  von  Tilly  1631  mit  erfolg  durchgeführte.  Unter  den  vielen 
nummern,  die  sich  diesen  dankbaren  stofP  zum  Vorwurf  gewählt  haben, 
stelt  es  Köhler  s.  249  an  lezte  stelle.  Aus  seiner  angäbe  (s.  250),  dass 
dasselbe  gedieht  in  deutscher  Übertragung  —  das  original  ist  lateinisch 
abgefasst  —  nach  einem  druck  von  1632  bei  Opel  und  Cohn,  Der 
dreissigj ährige  krieg  (Halle  1862)  s.  220  fgg.  mitgeteilt  ist,  ergibt 
sich  seine  identität  mit  einem  neuerdings  von  Witkowski^  eingehend 
besprochenen  gedichte  Werders.  Ich  teile  dessen  ausführungen  nebst 
den  bei  ihm  herausgehobenen  proben  mit,  indem  ich  noch  seine  notiz 
in  der  bibüographie  der  Werd ersehen  Schriften  vorausschicke,  dass  das- 
selbe stück ^  „mit  moderner  Orthographie"  an  der  angegebenen  stelle 
Opel-Cohns  zu  finden  sei: 

„Weit  weniger  als  die  nachbildung  der  bussspalmen  ist  Werder 
ein  „Trawerlied  vber  die  klägliche  Zerstörung  der  löblichen  vnd  vhr- 
alten  stadt  Magdeburg"  gelungen,  welches  denselben  angehängt  ist. 
Das  lied  schildert  die  Überwältigung  einer  Jungfrau  (das  wappen  Mag- 
deburgs) durch  einen  alten  Wüstling.  Unter  anderni  finden  sich  darin 
folgende,  fast  komische  verse: 

1)  Ditfiiiih,  52  balladou  usw.  s.  172. 

2)  Ebd.   s.  168;    dieses    wie    das    vorige    nach    handschriftlicher    übeiiieferung 

(s.  xn). 

3)  Diederich  von  dem  Werder.  Ein  beitrag  zur  deutschen  htteratui-geschichte 
des  17.  Jahrhunderts  (Leipzig  1887)  s.  124  fg. 

4)  Exemplare  desselben,  1632  in  Leipzig  bei  Ehas  Rchefeld  gedruckt,  finden 
sich  nach  Witkowski  in  Dresden  und  Göttingen. 


350  FRÄNKEL 

Der  liiinmel  selbst  erschrickt.     Gottloser  buleii  knecht, 
Es  weren  ja  füi*  dicli  die  drey  liöll  huren  ^  recht, 
Ihr  bräutigam  zu  seyn.     Mit  solchem  braud  vnd  morden 
Ist  auch  des  Plutons  weib  selbst  nicht  geraubet  worden. 
Du  ALTER  KAHLKOPE,  du  verdientest,  dass  das  schiff 
Charontis  mit  dir  stracks  in  seinen  abgrund  lieff. 
Die  allegorie  von  der  Jungfrau  und  dem  alten  liobhaber  ist  noch 
weiter  gefülut:  dann  redet  der  dichter  die  gefallenen  an: 
Ihr  bürger  aber  all",  ihr  miinner,  vnd  ihr  frawen, 
Ihr  kinder,  knäbelein,  ihr  Jüngling  und  jungfi-awen, 
Du  kecke  kriegesschaar:  Ynd  du  o  edler  Heldt, 
Der  du  ilu-  wärest  gleich  als  hertzog  fürgestcllt, 
Glantz  aller  Tapferkeit-,  vnd  sonne  des  Verstandes 
Ruht  ruhet  in  der  asch'  hier  ewres  Vaterlandes 
Ja  ruhet  süss  vnd  sanfft,  kein  todt  ist  ewer  todt^: 
Ein  leben  ist  er  euch,  ein  leben  auch  in  gott, 
Ein  leben  voller  ehr,  ein  leben  voller  leben: 
Ihr  vberwunden  habt:  ihr  werdet  euch  erheben. 
Hoch  vber  das  gestirn,  es  wii'd  nach  unsrer  zeit 
Auch  werden  ewer  lob  vnsterblich  aussgebreit. 
Zum  schluss  ermahnt  der  dichter  die  überlebenden,    auszuharren 
und  den  mut  nicht  sinken-  zu  lassen.     Das  ganze  „trauerlied"  ist  des 
besungenen    gegenständes    nicht   würdig;    denn    von    dem    furchtbaren 
schmerz,  der  die  ganze  protestantische  weit  nach  dem  falle  Magdeburgs 
bewegte,   ist  sehr  wenig  darin  zu  spüren.     Dasselbe  bild  von  der  ge- 
schändeten Jungfrau  benuzte  Opitz  zu  einem  epigraram,  welches  zuerst 
bei  Xeumeister*  abgedruckt  ist  und  ebenso  wie  Werders  gedieht  beweist, 

1)  Ich  glaube,  dass  hierbei  der  stüle  gegensatz  vorschwebt,  welchen  das  oben 
besprochene  flugblatt  „Halt  dich,  Magdebui'g"  so  ausprägt  (str.  16): 

Zu  Magdeburg  auf  dem  thore, 

Da  sitzen  drei  jungfräulein, 

Die  machen  alle  morgen 

Drei  rautenkränzelein. 
Bestirnt  sind  dieselben  nach  den  folgenden  yersen  für  „herzog  Hansen",  gi'af  Albrecht 
von  Mansfeld  und  einen  noch   unbekanten    retter.      Die   „höllhuren'*    sind   Babylon, 
Jerusalem,  Ephraim. 

2)  Gemeint  ist,  was  W.  nicht  angemerkt  hat,    der  von  Gustav  Adolf  entsante 
kommandant  der  Stadt,  obei-st  Dietrich  Falkenberg. 

3)  Diese  und   die  folgende  wendung  erinnern  an  ähnliche  antike  im   stile  der 
bekanten  Tyiiäos  nachgebildeten  verse  des  Horaz. 

4)  Specimen   di.ssertationis  Ihstorico  -  Criticae  de  Poetis  Gemianicis  hujus  sae- 
cuh  praecipuis  (2.  aufl.j  1708  s.  76  fg.     Vgl.  Strehlke,  M.  Opitz  s.  105  und  182. 


UM    STÄDTE   U'ERBEN  351 

wie  wenig  die  puesie  damals  den  gefühlen   über  wirklich  ei*scliütternde 
ereigTiisse  ausdruck  zu  geben  vermochte." 

Soweit  Witkowski,  dessen  dai-stelluiig  ich  in  extenso  gegeben 
habe,  weil  es  mir  notwendig  schien,  bei  dei*  berichtigung  des  tatbestan- 
des  den  sachkundigsten  sprechen  zu  lassen.  Man  gelangt  aber  erst  zur 
sichern  feststellung,  wenn  man  seine  notizen  mit  denen  Köhlers  ver- 
schmilzt. Dieses  ergebnis,  dass  jenes  lateinische  gediciit  bei  Kühler 
s.  249  fg.  und  das  Werdei'sche  zusammenzufassen  sind,  blieb  bei  Wit- 
kowski jedenfals  nur  deshalb  aus,  weil  ihm  leider  die  bemerkungen 
seines  Vorgängers  entgangen  zu  sein  scheinen.  Dies  geht  auch  überdies 
aus  seiner  nichtberücksichtigung  von  Köhlei*s  auslassung  über  das 
Opitzische  gedieht  (s.  247)  hervor. 

Da  es  sich,  imi  die  genetische  entwicklung  zu  veranschaulichen, 
entschieden  empfiehlt,  einfach  die  chronologische  reihenfolge  inne  zu 
halten,  so  schliesse  ich  jezt  einen  hinweis  auf  die  wol  nicht  unbeti'ächt- 
liche  litteratur  an,  welche  den  fall  Strassburgs  betrift  und  meist  noch 
ins  jähr  1681  oder  die  unmittelbar  folgenden  fält.  Ich  halte  mich 
dabei  an  die  knappen  worte  Scherers  \  die  allerdings  nicht  in  hinblick 
auf  eine  litterarhistorische  Verwendung  niedergeschrieben,  die  sache 
algemein  beti-achten.  „Die  populäre  litteratur  hatte  sich  des  gegenstän- 
des, wie  selten  in  jenen  zeiten  geschah,  mit  eifer  bemächtigt.  Das 
Volkslied  erhebt  sich  in  allen  möglichen  klageweisen,  schon  vor  der 
katastrophe  in  Warnungen,  nachher  in  bitterem  unmut.  Aber  auch  an 
Satiren  gegen  Strassburg  felüt  es  nicht,  aus  denen  man  ersielit,  tlass 
die  meinung  sehr  rasch  verbreitet  wurde,  es  sei  verrat  im  spiel  gewe- 
sen, und  die  Strassburger  müsten  nun  ihre  untreue  am  reiche  büssen. 
Ein  „lezter  reichs- abschied  von  der  mutter,  dem  römischen  reich,  an 
die  enterbte  tochter,  nun  französischen  Stadt  Strassburg"  geisselt  die 
treulosigkeit  der  grenzstadt,  welche  ihi-  unglück  selbst  verschuldet  hätte. 
Sehr  beachtenswert  ist,  dass  selbst  Leibnitz  in  den  zalüreichen  latei- 
nischen und  deutschen  gedichten,  zu  denen  ihn  das  ereignis  gestimt 
hatte,  einer  gleichen  auffassung  vorzugsweise  räum  gibt: 
„Pfuy  Strassburg,  schäme  dich  — 
. .  musst  mit  vielen  scherzen 
Verspotten  lassen  dich  zu  deiner  pein  und  last." 

Alle  genanten  Stimmungselemente  fliessen  in  der  herben  abfer- 
tigung  an  die  alte  reichsstadt  zusammen,   welche  noch  ins  jähr  1681 

1)  Lorenz  und  Scherer,  Geschichte  des  Elsasses  II,  130  fg.  S.  258  heisst  es 
zum  jähre  1870:  „AUe  Stadien  einer  regelrechten  belagerung  solte  die  unglückliche 
„Stadt,  die  siebenhimdei-tjährige  jungfräuliche  festung  erdiüden." 


352  FRÄNKEL 

fält  und  von  Ditfurth^  aus  ,,Cod.  germ.  s.  136  — 137"  der  Staatsbiblio- 
thek zu  München   herausgegeben   ist.     Strophe  8   darin  gibt  den  kern 

des  gedankens: 

Ein  jungtrau  wärest  du. 

Hast  g'habt  den  edlen  namen; 

Pfui,  pfui!  jezt  musst  dich  schämen! 

Scham  dich,  truck  d'  äugen  zu, 

Und  ruf:  o  weh,  o  weh! 

Hab  d'  jungfrauschaft  verloren. 

Bin  Absalon  geboren  — 

Die  unti'eu  nun  versteh! 

Für  diese  scharfe  Strafpredigt  an  die  —  wie  (oben  s.  344  fg.)  Babylon  — 
zur  dirne  erniedrigte  stadt  empfangen  wir  in  der  übernächsten  strophe 
folgende  erklärung,  welche  das  gleichnis  in  das  richtige  licht  rückt: 

Dir  war  das  prädikat, 

Dass  vor  viel  hundert  jähren, 

In  schweren  kriegsgefahren, 

Kein  feind  dich  zwimgen  hat. 
In  den  übrigen  teilen  des  20  Strophen  langen  gedichtes  treten  fast  alle 
die  Wendungen  auf,  die  wir  in  den  bisher  mitgeteilten  Schilderungen 
derselben  Situation  beobachten.  Str.  6  flicht  den  anscheinend  stereotyp 
gebrauchten  ausruf:  „Pfui,  Strassbui'g,  schäme  dich"  ein  und  die 
Schlusszeilen  der  3.  und  4.  sti'ophe: 

Das  Teutschland  lacht  von  herzen 

Zu  deinen  grossen  schmerzen. 

Hast  selbst  g'macht  dir  pein 
beziehentlich: 

Das  reich  dich  gar  nicht  kennet, 

Lacht  nur  zu  deinem  spott 

erinnern  so  auifäUig  an  Leibnitzs  obige  verse,  dass  ein  abhängigkeits- 
verhältnis  auf  einer  seite  wol  in  frage  gezogen  werden  könte,  sei  es 
nun  nur  dunkele  oder  unbewuste  reminiscenz  beim  kunstdichter  oder 
zustutzung  für  den  geschmack  des  gemeinen  mannes  durch  den  volks- 
mund.  Zugegeben  sei,  dass  die  gebrauchten  ausdrücke  bei  der  gang 
und  gäbe  gewordenen  vergleichsart  beiden  nicht  zu  fern  lagen  2. 

1)  110  Volks-  und  geselschaftslieder  usw.  (Stuttg.  187.5)  s.  29  —  .35. 

2)  Yon  bemerkenswerten  anklängen  seien  noch  erwähnt :  aus  str.  1 :  „  Aber  du 
find'st  kein  mann.  Der  jezt,  da  du  musst  leiden.  Mit  dir  sich  schwarz  will  kleiden" 
vgl.  mit  den  oben  s.  346  besprochenen  versen  ^Hier  ist  das  weisse  kleid"  (dort  hat 
die  Werbung  einen  glücklichen  ausgang  genommen);    die  worte   der   zweiten  strophe 


mi    STÄDTF    WERBEN'  353 

Ich  hatte  Strassburg-  liier  in  dvn  Vordergrund  gestelt,  obwol  einige 
andere  geschichtliche  lieder  diesor  zeit  auf  fi-oignisse  sich  beziehen, 
welche  mehrere  jähre  älter  sind.  Aber  s<Mn  fall  ist  der  bekanteste, 
deshalb  volkstümlichste  und  daher  auch  vielbesungenste  stoft"  aus  den 
gleichzeitigen  gedichten  unserer  gattung. 

Bloss  im  vorbeigehen  erwähne  ich  das  bei  Ditfurth  a.  a.  o.  s.  18 
mitgeteilte  „Gespräch  zwischen  England  und  Ruyter  (1667)."  Dasselbe 
ist  als  ganzes  mit  den  oben  s.  337  behandelten  Personifikationen  der 
Schweiz  und  den  weiterhin  zu  erwähnenden  Deutschlands  in  parallele 
zu  setzen;  im  einzelnen  gehören  etwa  v.  29  fg. 

„Holland  hat  mich  stark  turbieret, 
Ist  mein  meister  worden  sehr" 

und  gleichfals  ein  ausruf  Englands  —  v.  16  — 

Dürft  mich  legen  bald  ins  grab 
hierher. 

An   den  lezteren   eigentümlichen  gedanken   erinnert   der  eingang 

des  von  Ditfurth  s.  24  „Belagerung  Rheinfelds"  (1678)  über-schri ebenen 

liedes: 

Liebste  gräfin  an  dem  Rhin, 

Allarm,  all  arm!  es  steht  dahin, 

Dass  ihr  vielleicht  sevd  bald  ein  1  eicht, ^ 

Noch  darzu  schandlich  begraben. 

In  str.  2  wird  dem  general  Stahremberg  das  lob  zuerteilt,  dass 
er  bei  zeiten  „diese  gräfin  treulich  z'  schützen"  bereit  gewesen: 

„Die  nicht  redlich,  durch  die  büxen 
Liess  wie  d'  finken  bürsen^  fort  — 
Schöne  lehr,  jezt  liegt  er  dort!" 

Wenn  in  str.  10  die  bedrängte  festung  aber  ausruft: 

Meine  burger,  treue  kinder, 
Meiner  feinde  überwinder, 
Halt's  ferner  treu,  steht  mir  fest  bei! 
Nicht  wie  Freiburg  tut  mich  lassen, 
Drum  ganz  Teutschland  tut  sie  hassen  

„Der  dir  den  gValt  genommen"  erläutern  nebst  den  voraufgehenden  „Hast  lang 
genug  getrazt"  die  oben  s.  341  abgedruckten  verse  auf  Venedig  in  ebenso  wilkom- 
mener  weise  wie  die  folgenden  „(Der  dir)  die  federn  wol  gestuzt  usw."  die  auf  Mag- 
debui'g:  „Dein  flügel  sind  un verhauen." 

1)  S.  Giinmi,  Deutsches  Wörterbuch  YI,  612. 

2)  Die  bei  Giimm,  Deutsches  Wörterbuch  11,  549  fg.  und  555  fg.  gegebenen 
begrifsentwicklungen  passend  ? 

ZEITSCITRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOI.OGIE.      BD.   XXII.  23 


354  FRÄNKEL 

SO    weist    sie    damit    auf   die    V(>rü:äni2:o    hin,    welche    die    oben    s.  837 
erwälnite  Freiburi;er  bulscliaft  behandelt. 

Inhaltlich  i:::ehört  in  diesen  Zusammenhang  die  „Schlacht  bei  Mal- 
plaquet"  (Ditturth  a.  a.  o.  s.  61),  wennschon  ins  18.  Jahrhundert  (1709) 
fallend,  wo  die  5.  strophe  anhebt: 

„Eugenius  gelit  izt  nach  Mons, 
So  ihn  erwählest  zum  gespons.'^ 

Aus  dem  18.  Jahrhundert  hatte  Köhler  das  lied  auf  die  belage- 
ruug  von  Lille  (1708)  aus  „Des  knaben  wunderhorn''  II,  100,  die 
berühmte  umdichtung  desselben  auf  die  von  Belgrad  und  eine  „Unter- 
redung zwischen  dem  könige  und  der  stadt  Breslau  und  den  Oestrei- 
chern,  so  bev  der  lezten  Übergabe  den  19.  dec.  1758  geschehen"  in 
den  bereicli  seiner  betrachtung  gezogen.  Was  ich  als  ergänzung  dazu 
bieten  kami,  ist  folgendes.  Zunächst  eine  anscheinend  veralgemeinerte 
Personifizierung,  der  ich  zu  meinem  bedauern  nicht  weiter  nachspüren 
konte,  weil  mir  meine  quelle,  eine  recht  ungenaue  notiz  H.  Pröhles, 
bloss  geringen  anhält  bot  und  mir  auch  erkundigungen  nicht  die 
gewünschte  kentnis  zutrugen.  Es  heisst  bei  Pröhle^:  „Die  bürgerliche 
politische  Volksdichtung  aus  der  zeit  des  siebenjährigen  krieges  tritt 
nicht  selten  in  der  form  der  poetischen  prosa  auf.  Mit  ausge- 
zeichnetem humor  finden  wir  die  kämpfe  zwischen  Friedrich  und  Maria 
Theresia  als  dorfgeschichte  aus  dem  dorfe  Grossenhagen  dargestelt. 
Deutschland  wird  als  krankes  frauenzimmer  abgemalt  (!),  dem  eine 
reihe  von  uneinigen  ärzten  an  verschiedenen  stellen  zur  ader  lässt." 

Ganz  bestimte  nachrichten  gab  Köhler  schon  über  das  Breslauer 
werbegedicht.  Zur  ergänzung  bringe  ich  über  dasselbe  noch  die  äusse- 
rungen  K.  Janickes^,  der  auch  ein  andres  stück,  gleiclifals  dem  sieben- 
jährigen kiiege  angehörig,  bespricht,  welches  einer  an  die  von  Köhler 
berührten  gedichte  des  17.  Jahrhunderts  anklingenden  Stimmung  aus- 
druck  verleiht.  „Das  beruht  auf  altei'  Überlieferung,  die  eroberung 
einer  Stadt  mit  dem  werben  um  eine  Jungfrau  darzustellen.  So  klagt 
die  Stadt  Breslau  dem  könig: 

0  preussischer  kriegheld,  was  thust  du  denn  gedenken, 
Dass  du  mich  in  die  Lieb  wilst  ganz  und  gar  versenken, 
Für  eine  Jungfrau  rein  galt  ich  so  lange  zeit, 
Es  hat  mich  niemals  noch  ein  heldenmut  erbeut. 

1)  Friedrich  der  Grosse  und  die  deutsche  litteratur  (Berlin  1872)  s.  49  fg. 

2)  Das  deutsche  kriegslied.     Eine  littcrarhistorische  studio  (Berlin  1871)  s.  37. 


UM   STÄDTE    WERBEN  355 

Nicht  immer  brin^j;!  freien  glück:    schlimm  ists,    wenn    ein  mäch- 
tiger nebenbuhler  den  schon  sicher  geghiubten  besitz  der  geUebten  uns  i 
wider  entwindet.     Darum  seufzt  der  marschall  von  Contades:  j 

Ha  lia  ha!    Ich  ai'mcr  mann, 

Ach,  was  soll   icli  fangen  an? 

Hab  eine  Jungfrau  mii*  genommen, 

Bin   mit  ihr  ins  ungliick  k(»mmen  — 

Ha  lia  lia!    Ich  armer  mann,  I 

Ach,  was  soll  ich  fangen  an?  ^ 

! 

Minden,  diese  stolze  magd,  • 

Nacli  der  ich  so  lang  getracht', 

Die  hat  dieser  Ferdinande  I 

Abgejagt  mir  ganz  mechante  —  | 

Ha  ha  ha!    Ich  ainier  mann,  \ 

Ach,  was  soll  ich  fangen  an?"  ' 

Aus  dem  ende  des  Jahrhunderts  gibt  es  ein  verwantes,  mir  aber 
nicht  ganz  zugänglich  gewesenes  „Lied  auf  die  belagerung  von  Lan- 
dau  (sept.  1793),    das  mehrfacli   reminiscenzen  aus  älteren  liedern  ver-  ! 

räf'i.     Die  mir  bekanten  zwei  Strophen  enthalten  freilich  nichts  dem-  i 

^  I 

entsprechendes. 

Der  zeitlichen  reihenfolge  gemäss  habe  ich  jezt  auf  die  dramatische  I 

Verwertung  der  umkehrung  unseres  gedankens  aufmerksam  zu  machen, 
welche  Schiller  in  Maria  Stuart  2.  aufzug  1.  auftritt  untei-nommen  hat. 
„Die  fi-anzösische  brautwerbung"  bei  der  königin  Elisabet  wird  daselbst 
in   einem    sinbildlichen    kriegsspiel    geschildert,    bei  welchem    12   ritter  ' 

derselben  „die  keusche  festung  der  Schönheit"  gegen  den  ansturm  des 
Verlangens,  repräsentiert  durch  die  cavaliere  des  herzogs  von  Anjou, 
siegreich   verteidigen.     Düntzers  kommentar^  entnehme   ich,    dass  ver-  ; 

schiedene   englische   historiker  hier  Schiller  eine  volkommen   ausgebil-  | 

dete  vorläge   bieten    konten,    von   Zeitgenossen   jener  aufführung  z.  b.  \ 

William   Cambden    im   1.  teile    seiner   „Annales  rerum  Anglicarum   et  ■ 

Hibernicarum  regnante  Elizabetha"  (1615)  sowie  der  von  diesem  direkt 
inspirierte  de  Thou  (Tlmanus),  „historianim  sui  temporis  CXXY."  Auch 
Floegel  berichtet  in  seiner  stofi-eichen  „Geschichte  des  grotesk-komi- 
schen "  ^  nach  augenzeugen  ähnliche  einzelheiten  über  die  festlichkeiten 

1)  Janicke  a.  a.  o.  s.  43. 

2)  Schillers  Maria  Stuart.  Erläutert.  (2.  aufl.  1878)  s.  136  fg.  Düntzers  hin- 
weis  s.  137  note  2,  dass  hier  die  umkehrung  des  Verhältnisses  vorhege,  war  nur  bei 
den  oben  gegebenen  ausführungen  unbekaut. 

3)  In  der  neuen  bearbeitung  von  Ebehng  (4.  aufl.  Leipz.  1887)  s.  272  und  266. 

23* 


35b  FRÄNKEL 

am  damalii;-on  britischen  lioto,  die  „oiiuMi  soltsaiiioii  mytholog'ischon 
anstrich"  truiion.  Während  Avir  nun  zwar  in  Deutschland  für  dieselbe 
zeit  die  darstelliing  einer  bela^eruni;'  unter  dvv  ailegorie  einer  braut- 
werbunü'  naclizuweisen  imstande  sind,  scheint  es  als  ob  wir  auf  ent*- 
lischen\^  und  dem  dieses  geistig  so  vielfach  befruchtenden  französischen 
gebiete  poetischer  fornn^lhihhing  jene  anschauung  wenigstens  bis  zur 
mitte  des  lö.  jahrhnnderts  zurückverfolgen  können.  Indem  ich  die 
zahlreichen  ähnlichen  aufführungen  bei  gelegenheit  von  hochzeiten  und 
anderen  durch  ausgedehnt(^  beiziehung  der  repräsentativen  künste  ver- 
edelten festen-  übergehe,  führc^  icli  nui"  den  mir  bekanten  ältesten  fiill 
unserer  symbolisierung  an.  Er  findet  sich  bei  Engucrrand  de  Mon- 
strelet.  Chroniques"^  III,  101,  wo  die  erzählung  folgendes  mitteilt.  Als 
Ludwig  XL  von  Frankreich  14G3  in  Tournay  einzog,  kam  über  dem  tor 
auf  einer  maschiiu^  die  schönste  Jungfrau  der  stadt  herunter  und  wäh- 
rend sie  sich  vor  dem  könige  verneigte,  lüftete  sie  ihr  gewand  am 
busen,  sodass  ein  daselbst  liegendes  künstliches  herz  sichtbar  wurde. 
Dasselbe  spaltete  sich  und  Hess  eine  grosse  lilie  aus  gold  emporsteigen, 
welche  das  mädchen  mit  den  werten  überreichte:  ,, Sire,  so  wie  ich 
eine  jungfi-au  bin,  so  auch  diese  stadt;  denn  noch  nie  ist  sie  erobert 
worden,  und  nie  hat  sie  sich  gegen  die  könige  von  Frankreich  empört: 
es  trägt  nämlich  jeder  ein  wohner  unserer  stadt  eine  lilie  im  herzen." 
Dass  hier  derselbe  grundgedanke  vorschwebt,  liegt  auf  der  band;  dass 
er  sich  schon  in  den  alten  darstellungen  des  mitgeteilten  Vorganges 
findet,  beweist  die  behandlung  in  der  weitläufigen  „Histoire  de  Lovys  XL 
roy  de  France:  et  des  choses  memorables  advenves  de  son  regne, 
depuis  Tan  1460  jusques  ä  1483.  Escritte  par  vn  greffier  de  l'hostel 
de  ville  de  Paris.  1620."  Meines  erachtens  liegt  dieselbe  anschauung 
auch  der  repräsentation  nackter  Jungfrauen   beim   einzuge  Ludwigs  XL 

1)  Ycrwanten  grundzug  zeigt  z.  b.  Das  sohloss  der  beharlielikcit,  eine  mora- 
lität  aus  dem  ausgehenden  15.  jahrliundert  (vgl.  Collier,  History  of  engl.  dram.  poe- 
tr\-  II,  278). 

2)  Einige  besonders  fra])])antc  beispiele  seien  genant.  „Bei  der  vorniähluiig 
der  Isabella  von  Baiem  mit  könig  Karl  VI.  sali  man  ein  Zwischenspiel,  das  die 
erobenmg  von  Troja  darstelte"  (Floegel  -  Ebeling  a.  a.  o.  s.  268),  bei  der  Heinrichs  IV. 
mit  Margarctha  von  Valois  liatte  man  vor  den  Tuilerien  2  Schlösser  (paradies  und 
hölle)  gebaut,  welche  eine  partei  von  littern  unter  dem  könige  von  Navarra  und  eine 
unter  dem  herzog  von  Anjou  gegen  einander  schützen  musten.  Nachdem  der  erste 
den  lezteren  besiegt,  erfolgte  das  signal  zur  Pariser  bluthochzeit  (Kecreations  histo- 
riques  I,  261  —  274).  Vgl.  auch  Chri.stine  de  Pizan  Vie  de  Charles  V.,  HI  eh.  41 
(s.  Koch,  Leben  und  werke  der  Chr.  d.  P. ,  Goslar  1885,  s.  61  fg.). 

.3)  Avec  notes  biogi*aphiques  par  Buchon.     Paris  1836. 


UM   STÄDTK    WEKUEN  357 

in  Paris  1461  zu  gründe,  von  welcher  F.  Liebreclit  Germania  33,  2-19 
spricht. 

Aber  auch  auf  deutscheni  budon  ist  diese  unikehrung  fürs  16.  Jahr- 
hundert gesicliei-t,  wennschon  leider  die  beiden  lieder,  welche  ich  (hifür 
anfühlen  will,  nicht  bestirnt  datierbar  sind.  Doch  scheinen  sie  mir 
beide  im  16.  Jahrhundert  entstanden,  im  17.  moditiziei-t  und  umgedicli- 
tet  zu  sein.  In  der  V(»rli(,';i^enden  gestalt  ist  jedenfals  die  „bela- 
gerung'^  älter,  welche  v.  Ditfurth,  52  ungedruckte  balhiden  des  Ki.,  17. 
und  18.  Jahrhunderts  (Stuttg.  1874)  s.  14  fgg.  mit  der  quellennotiz 
(s.  IX)  „Altes  geschr.  liederbuch  aus  der  gegend  von  Würzburg'' 
gedruckt  hat.  Der  sehr  geschickt  gebaute  —  wie  alle  stücike  dieses 
stofkreises  strophisch  gegliederte  —  dialog  lässt  sich  erst  wie  ein  ein- 
facher liebeszank  an,  als  plötzlich,  doch  innerlich  keineswegs  unver- 
mittelt (genau  beim  mittelsten  veree!)   das  mädchen  ihre  scharfe  replik 

mit  den  werten: 

Dass  ein  erbarmen  möcht! 

G'schwind  kommen,  eingenommen 

Die  veste  ohn'  reste: 

Das  wäre  mir  fein  doli! 

kurz  abschneidet.     Der    so    in    seiner    hofnung   auf  fiir'dliche   Übergabe 
getäuschte  liebhaber  geht  jedoch  ohne  bangen  darauf  ein   und  erwidei't: 

So  muss  es  denn  belagert  seyn, 

Wie  klärlich  ihr  es  also  wMjlt: 

Konstabier,  stucken  gross  und  klein 

Ruckt  her  nun  mit  gewalt  — 
Ruckt  her  nun,  ruckt  her  nun, 

Ruckt  her  nun  mit  gewalt! 

Lasst  summen  die  Bommen^, 

Stuck  knallen  und  schallen, 

Bresch  muss  geschossen  seyn! 

Den  ausgang  der  belagerung  erzählen  die  beiden  übrigen  Strophen  mit 
den  reden  des  paares  recht  nett: 

„  „Ach  weh !  ich  steh  in  grosser  not. 
Es  stürmet  auf  mich  alzusehr, 
All  meine  schanzen  seyn  zum  spott, 
Der  feind  bedrangt  mich  schwer  — 

Bedrangt  mich,  bedrangt  mich. 
Der  feind  bedrangt  mich  schwer. 

Ij  Bonimc.  f.  tympanum,  nd.  biinge:  Grimm,  D.  wb.  LT,  236. 


358  FRÄNKEL 

Werd  müssen  schwer  büssen, 
Oder  schlagen  schamaden, 
Die  vestimg  geben  her/' " 

„Was  seh  ich  drüben  auf  dem  türm? 
Ein  weisses  fähndlein  weht  aldort. 
Yictori  schreit!  Braucht's  mehr  kein  stürm, 
Man  öfnet  schon  die  ptbrt  — 

Man  öfnet,  man  öfnet. 
Man  öfnet  schon  die  pfort. 
0  schönste,  angenehmste, 
Hie  lieget  besieget 
Eur  knecht  von  einem  wort! 

Die  zweite  nummer,  welche  in  betracht  komt,  ist  ein  „galantes 
dreissig;i ähriges  kriegslied"  in  Dos  knaben  wunderhorn  ^II,  344,  leider 
auch  in  der  von  L.  Erk  besorgten  neuausgabe  desselben  ^  ohne  (Quel- 
lenangabe gelassen  und  nicht  eimnal  ungefähr  datiert. 

Die  ersten  beiden  Strophen  lauten  wie  folgt: 

Amor,  erheb  dich  edler  held! 

Begebe  dich  mit  mir  ins  feld, 

Frisch  auf! 

Mein  liebchen  ist  gerüst! 

Als  ob  sie  mit  mir  streiten  müsst, 

Sie  hat  nichts  guts  im  sinn. 

Jezt  zieh  ich  wider  die  ins  feld 

Die  mir  die  liebst  ist  in  der  Welt, 

Frisch  auf! 

Gott  weiss,  ich  bin  bereit 

^lit  ihr  zu  leben  ohne  streit, 

Wenn  sie  nur  selber  wolt. 

Deutlichsten  ausdruck  gewint  das  bild  aber  erst  in  der  4.  Strophe 
in  den  worten: 

Ihr  leib  von  gott  war  schön  bereit 
Die  festung  ist,  darum  ich  streit. 
Frisch  auf! 
Ihr  zarte  brüstelein 

1)  L.  Achims  von  Arnim  sämtliche  werke.     Neue  ausg.  1857,  12,  359. 


UM    STÄDTE   WERBEN  359 

Zwei  mächtige  basteien  sein^, 
Worauf  sie  sicli  verlässt. 

Die  folgenden  strophen  führen  die  bewafnung  der  geliebten  im 
einzelnen  aus,  doch  in  einem  stile,  welclier  die  niederschrift  des  gedichts 
geraume  zeit  vor  dem  aufkommen  der  widerlichen  manier  der  jüngeren 
Schlesier  zur  gewissheit  maclit.  Dabei  ist  diese  kleinmalerei  nicht 
übertrieben  realistisch,  hält  sich  namentlich  —  in  jener  periode  beson- 
ders anerkennenswert  —  von  offenen  oder  verhülten  obscönitäten  fern 
und  entbehrt  docli  nicht  eines  gewissen  schalkhaften  humors. 

Str.  5:   Ihr  fähnlein  ist  der  Übermut, 
Damit  sie  mich  verachten  tut. 
Frisch  auf! 

Ihr  zarter  roter  mund 
Ist  spiess  und  schwert,  so  mich  verwundt. 
Ja  öfters  bis  in  tod. 

Str.  6:   Trabanten,  fussknecht,  reiterei 

Sind  ungnad,  falschheit,  tyrannei. 

Frisch  auf! 

Ihr  klare  äugelein. 

Die  sind  zwei  feuerkügelein, 

Damit  sie  mich  verblendt. 

Str.  7:   So  gott  mir  gönnet  glück  und  preis, 
Dass  ich  das  fähnlein  niederreiss, 
Frisch  auf! 

Ich  hoff'  damit  zu  sieg'n 
Herzlieb,  du  musst  doch  unterlieg'n 
Und  geben  mir  den  preis. 

Str.  9:   Denn  nimmer  hast  du  die  gewalt, 
Dass  sich  dein  list  gen  mir  erhalt, 
Frisch  auf! 

Geliebt  dir  frömmigkeit, 
Kunst,  tugond,  ehr,  so  wird  der  streit 
Diu'ch  mich  gewomien  sein. 

Zum  lezten   male  tritt   das  bild  in  der  vorlezten ,    11.  strophe,    hervor, 
wo  der  liebhaber  warnend  ruft: 

1)  Dieser  vergleich,  vielleicht  durch  eine  falsche  deutung  von  „brustvvehr'' 
entstanden,  findet  sich  auch  sonst;  vgl.  Köhler  a.  a.  o.  s.  236  str.  8  bastionen.  Vgl. 
Tiaoiui  als  schifswand. 


360  FRÄNKEL 

Ein  wenig  denke  nach,  mein  schätz, 

Eh  du  kernst  auf  den  musterplatz, 

0  weh! 
Kehren  wir  nach   dieser   längeren  abscliweifung,    zu  welcher  uns 
die  herangezogene  Schillersche  scene  veranlassung  bot,  zu  der  zeitlichen 
Ordnung  der  Zeugnisse  zurück. 

Von  den  vier  grossen  liedmeistern  unter  der  dichterschaar  der 
frei  hei  tskriege  liel  Th.  Körner  viel  zu  früh  unter  feindlichen  kugeln, 
um  schon  die  belagerung  zu  erobernder  städte  ins  äuge  fassen  zu  kön- 
nen, wahrend  E.  M.  Arndt  sich  bald  seiner  knorrigen  leidenschaft,  bald 
seinem  angeborenen  hausbackenen  und  volksmassig  trivialen  tone  mit 
der  neigung  zu  einer  gewissen  algemeinheit  und  sprichwortähnlichen 
redeweise  überliess.  Daher  finden  sich  nur  bei  Schenkendorf  und  bei 
Rückert  belege  für  das  ,,um  städte  werben/'  Yon  den  erzeugnissen 
des  ei*steren  komt  für  die  algemeinere  fassung  des  gedankens  besonders 
das  weihelied  „Seiner  herrin"  (1814)  in  betracht,  wo  er  sein  herz  „in 
liebesglut  und  andacht"  für  sein  „heiliges",  sein  „deutsches  reich" 
entbrennen  lässt^  Bei  gegebener  gelegenheit  arbeitet  seine  phantasie 
auf  dem  boden  der  oben  für  das  Strassburg  des  17.  Jahrhunderts  vor- 
geführten anschauung,  z.  b.  wenn  er  in  seinem  von  echt  patriotischer 
begeisterung  getragenen  gedichte  „Die  deutschen  städte"  strophe  32 
das  verlorene  Strassburg  mit  folgenden  werten  apostrophiert: 

Dann  wollen  wir  erlösen 
Die  Schwester  fromm  und  fein 
Aus  der  gewalt  der  bösen, 
Die  starke  bürg  am  Rhein. 

Meist  aber  nimt  das  grosse  gesamtvaterland  —  wie  ja  auch  im 
16.  Jahrhundert  öfters  —  die  stelle  ein,  welche  sonst  der  einzelnen 
Stadt  angewiesen  ist-.  Xachdem  der  dichter  gefragt  hat,  wie  lange 
„Der  stuhl  Karls  des  Grossen"  noch  leer  stehen  solle,  ruft  er  aus: 

Ach,  die  Sehnsucht  wird  so  laut! 
Welt  ihr  keinen  kaiser  küren? 

1)  Vgl.  F.  J.  Scherer,  Die  kaiseridee  des  deutschen  volkes  in  liedern  seiner 
dichter  seit  dem  jähre  1806:  Jahresbericht  des  Laurentianum  Arnsberg  1870  s.  XVII. 

2)  Eine  verwante  stimmuDg  atmen  die  verse: 

Wer  dich  nur  schauet,  muss  entbrennen 
In  liebesglut  imd  andacht  gleich; 
So  lass  mich  deinen  namen  nennen, 
Mein  heiliges,  mein  deutsches  reich! 
Eine  Übertragung  aufs  religiöse  gebiet  bietet  sein  wcihnachtslied  „Brich  an  du"  str.  2. 


UM    blÄDTK    WJ-JiBEN  8G1 

Kumt  kein  ritter  heimzufilhren 
Deutscliland  die  verlassene  braut?  ^ 

• 

Schenkendorfs  genösse  und  mitstreiter,  Friedrich  Rüekert,  hat  diese 
vei'se  richtig  als  besonders  charakteristich  für  die  tendenz  seiner  lyrik 
in  die  knappen  Zeilen  seines  nachrufs  verwoben,  wo  es  heisst: 

Das  ist  der  Schenkendorf,  der  Max, 

Der  sang  von  reich  und  kaiser, 

Dei-  Hess  die  Sehnsucht  rufen  laut, 

Dass  Deutscldand  ihn,  die  verlassene  braut,  ^ 

Nent  ihren  kaiserherold. 

Auf  Rückerts   eigenes    gediclit    ,, Brauttanz   der  stadt  Paris''    hat  schon 

Köhler  s.  250    als    auf   das    einzige    ihm    bekante    dieser    art    aus   dem 

19.  Jahrhundert  hingewiesen.     Zur   ergänzung  seiner  angaben  setze  irh 

die    bezeichnendste    stelle    nebst    dem    bei  Köhler   übei-gangenen    fund- 

ort  her: 

"Wir  mit  hunderttausend  lanzen 

Wollen  dir  den  brauttanz  tanzen. 

Kückert,  Gedichte,  auswahl  von  1841  s.  153. 

Unsere  weiteren  nachtrage  betreffen  poetische  ausser ungen  einer 
zeit,  welche  erst  nach  Köhlers  veröftentlichung  liegt,  nämlich  des 
deutsch -französischen  krieges-.  Für  unsere  samlung  quilt  in  der  rei- 
chen liederpoesie  dieses  grossen  Jahres  ein  so  unerschöpflicher  born, 
dass  ich  mich  auf  eine  auswahl  des  bemerkensw^ertesten  beschrän- 
ken muss. 

Ein  stilvolles  poem  W.  Jensens  eröfne  den  reigen  um  deswillen, 
weil  es  dieselbe  allegorie  zu  gründe  legt,  die  wir  oben  bei  Kückert 
kennen  lernten.  In  diesem,  welches  in  der  von  Franz  Lipperheide 
herausgegebenen  und  verlegten  samlung  „Lieder  zu  schütz  und  trutz'' 
lieferung  11  s.  65  abgedruckt  ist,  stehen  die  scharfen  werte: 

Wenn  nun  der  eisenring  sich  schliesst  rund  um  die  zweimillionenstadt, 
Lutetia,  du  lautes  kind  Lätitias,  wen  klagst  du  an? 

Die  lüge,  die  am  busen  du  genährt,  der  du  halleluja 
An  tausend  von  altären  sangst  —  sie  klage  an  Lutetia! 

1)  Gedichte,  Stuttg.  und  Tüb.  1815,  s.  184. 

2)  Vgl.  Obermann,  Die  kricgsdichtuug  der  jähre  1870  und  1871.  Progr.  Zeitz 
1884,  s.  5  fg.,  Ivfg. ,  21  fg.;  zu  den  ähnhchen  regungen  vor  1870  s.  Koch,  Die  sage 
vom  kaiser  Friedrich,  Progr.  Grimma  1880,  s.  18  —  31. 


362  FEÄNKEL 

Und  klage  an  den  bohlen  prunk,  den  deiner  eitelkeit  du  dankst, 
Und  klage  an  der  ^vollust  tiiink,  den  du  zur  tiefsten  liefe  trankst, 
Die  feilheit,  die  dein  mark  entnervt,  die  sieh  /.um  götzenbild  ersah 
Die  trinität:  gold,  maeht  und  rang  —  sie  klage  an,  Lutetia! 

Widerum  haftete  das  nationale  interesse  an  Strassburg\  widerum 
mischte  sich   ein   schmerzliches  gefühl  in  den  anruf,    aber  diesmal  lei- 
tete die  klage  doch  ein  anderer  ton.     A.  a.  o.  10,  s.  15  heisst  es: 
Yergiss  der  tage,  da  um  bürg   und  wall 
Des  Siegers  schaaren,  dich  bedrängend,  lagen; 
Yergiss  —  und  war's  auch  schwer  —  der  wunden  all', 
Die,  ach,  der  sieger  schmerzlich  dir  geschlagen, 
Da  er,  den  Wälschen  das  geraubte  gut 
Entreissend.  um  dich  warb  mit  seinem  blut. 

Im  wesentlichen  fesselt  aber  die  widerherstellung  des  reiches  der 
alten  kaiserherlichkeit  die  Scänger  und  so  bewegt  sich  die  bewusste 
pei^onihkatiou  meist  in  demselben  kreise  wde  bei  Schenkendoif.  Wil- 
helm Jensens  gedankenreichtnm  fand  in  der  alten  prophezeiung 

„Es  wird  ein  kaiser 
Auf's  neu'  um  Germania  fi-ei'n, 
Wenn  zum  leztenmale  die  Türken 
Ihre  rosse  tränken  im  Rhein!" 
das  dankbare  motiv  zu  folgender  in  seiner  weise  derb  pointierten  aus- 

f ührung - : 

Gen  Osten  mit  schw^irrender  geissei 

Treibt  die  Völker  ein  Tamerlan, 

Und  siehe,  an  seine  fersen. 

Da  heften  die  Turkos  sich  an. 

So  winket  erfüll ung  dem  werte  — 

Schon  blitzen  die  Schwerter  zum  streich, 

Zimi  werben  schon  reitet  der  kaiser! 

Steig  auf,  du  heiliges  reich! 
und  ebenso  wird  in  die  neubelebte  volkssage  vom   alten  kaiser  Barba- 
rossa im  Kyffhäuser  zurückgegriffen,  wenn  ein  dichter ^  denselben  seine 
dienerschaft  anrufen  lässt: 

1)  Ein  sachkundiger,  .Janicke  (Das  deutsche  kriegshed  usw.)  s.  96,  sagt:  ,,Ihr, 
der  alten  reichsstadt  mit  ihrem  ehnvürdigen  münster  und  grossen  historischen  erin- 
nerungen,  wante  sich  die  dichtung  mit  ausgesuchter  Vorliebe  zu." 

2)  Lieder  aus  dem  jähre  1870  (Berlin,  Lipperheide  1871)  s.  12.  Über  den  zu 
gründe  liegenden  Volksglauben  s.  Koch  a.  a.  0.  s.  17  anm.  39. 

3)  Die  angezogene  steUe  ist  mir  nur  aus  Janicke  s.  104  bekant. 


UM   STÄDTE    WKliliüN  363 

Auf,  Zwerge,  legt  mii-  den  purpur  um, 
Und  helft  meinen  bart  mir  stutzen, 
Zu  Deutschlands  hochzeitsfeier  niuss 
Der  greise  kaiser  sich  putzen.  — 

Damit  ist  denn  endgiltig  die  frage  beantwortet  worden,  welche  Ema- 
nuel  Geibel^  ausgerufen  hatte: 

Deutschland,  die  schön  geschmückte  braut. 
Schon  schläft  sie  leis'  und  leiser. 
Wann  weckst  du  sie  mit  trompetenlaut, 
Wann  führst  du  sie  heim,  mein  kaiser? 

Wie  tief  aber  dieser  sinnige  vergleich  in  das  bewustsein  des 
deutschen  dichtergemütes  eingedrungen  war,  mögen  zwei  proben  bewei- 
sen, welche  ich  Uhland  und  SchefPel,  diesen  beiden  berufensten  Ver- 
tretern der  neueren  volkstümlichen  kunstdichtung,  entnehme.  In  dem 
von  A.  von  Keller,  Uhland  als  dramatiker  (1877)  herausgegebenen  frag- 
ment  Konradin  ruft  (s.  325)  der  titelheld,  welcher  ausgezogen  ist,  um 
sein  väterliches  erbe  widerzuerobern,  und  eben  an  der  seeküste  vor 
Neapel  gelandet: 

Apulscher  boden,  freudig  sei  gegrüsst! 
0  erde,  die  du  dem  gelandeten 
Noch  unterm  fiisse  wankst,  ich  fasse  dich 
Inbrünstig  wie  der  bräutigam  die  braut. 

Auch  Scheffel  fand  keinen  passenderen  ausdruck  für  das  innige  Ver- 
hältnis, welches  ihn  zeit  seines  lebens  mit  der  alten  musenstadt  am 
Neckar  verband  als  den  sinbildlichen  vergleich  mit  der  heiligsten  Ver- 
bindung zweier  menschen,  wenn  er  in  dem  bekanten  studentenliede 
Alt  Heidelberg  du  feine  ^  str.  3  und  4  natur  und  herz  in  diesem  hoch- 
gefühle  zusammenstimmen  lasst: 

Und  komt  aus  lindem  süden 
Der  frühling  übers  land. 
So  webt  er  dir  aus  bluten 
Ein  schimmernd  brautgewand. 

1)  Heroldsrafe  -  (1871)  s.  44  und  hieraus  Gesammelte  werke  (1883)  11,  12  (als 
„Lied  des  Alten  im  Bart"),  mit  verschiedenen  abweichungen  bei  Enshn,  Die  lieder- 
poesie  des  deutsch -französischen  kriegs  (Berl.  1871)  s.  146.  Über  Geibels  verhältois 
zu  diesem  gedanken  s.  Strodtmann,  Dichtei-profile  I,  85  fgg.  Vgl.  Koch  a.a.O.  s.  28 
anm.  73. 

2)  Der  trompeter  von  Säkkingen  (4.  und  folgende  auflagen)  s.  39. 


304  FEÄNKEL,    TM    STÄDTE   WERBEN 

Auch  mir  stehst  du  gescluiebeu 
Ins  herz  gleich  einer  braut. 
Es  klingt  Avie  junges  lieben 
Dein  nanie  mir  so  traut. 

Dass  aber  das  alte  gleichnis  bis  mitten  in  unsere  tage  hinein 
fortlebt,  beweisen  die  —  freilich  weder  inhaltlich  noch  formell  achtung- 
gebietenden —  vei-se,  mit  denen  das  ,,  Neue  Münchener  tagblatt''  vom 
30.  September  1888  sein  „Wilkommen  kaiser  Wilhelm  11/'  darbrachte. 
Ich  hebe  hier  nur  die  'verse  hervor,  mit  denen  „Monachia"  aufgerufen 
wurde,  sich  zum  einzuge  des  friedlichen  eroberers  würdig  vorzu- 
bereiten : 

Wie  die  braut  sollst  du  dich  schmücken, 

Den  ei*sehnten  7a\  empfangen, 
Und  dein  schöner  leib  soll  herlich 
Wie  im  diamantkleid  prangen. 

Mit  dieser  versöhnlichen  Verwendung  des  vielgebrauchten  gedan- 
kens  schliesse  icli  meine  unter  den  bänden  unerwartet  angeschwollene 
nachlese  zu  K.  Kühlers  reichhaltigen  mitteilungen.  Wenn  ich  es  unter- 
liess,  eine  volkommen  sachgemässe  anordnung  zu  versuchen,  so  hat 
dies  seine  Ursache  einmal  in  der  nicht  überall  möglichen  durchführ- 
barkeit  einer  solchen:  andrerseits  brachte  mich  von  einer  kurz  umris- 
senen  entwickelungsgeschichte  des  Stoffes  die  liofnung  ab,  dass  durch 
die  hier  gegebene  anregung  andere  über  ausgiebigere  hilfsmittel  ver- 
fügende zum  sammeln  von  belegen  dieser  für  die  litteratiu'-  und  kul- 
turgeschichte  wie  für  die  poetik  interessanten  ausdrucksweise,  welche 
fast  auf  allen  stufen  volkstümlichen  und  künstlerischen  dichtungsstils 
nachweisbar  ist,  veranlasst  werden  mögen.  Der  der  deutschen  lyrik 
eigentümliche  zug  sinlicher  verniensclilichung  lebloser  gegenstände  prägt 
sich  hier  besonders  deutlich  aus. 

LEirZKi,  LUDWIG    FRÄJsKEL. 


LITTEEATUE. 


Edda  Snorra  Sturlusonar.  Turnus  tertius.  Sumptibus  legati  arnamag- 
nfeani.  Havniae  1880  —  87  CXIX,  870  ss.  8.  Acccdunt  tabulae  lithograpliicae 
quinque.     10  kr.  =  11,28  m. 

Die  grosse  arnamagnäische  ausgäbe  der  Snorra-Edda  liegt  jezt  vollendet 
vor.  Vom  dritten  bände,  der  die  arbeit  abschliessen  solte,  erschien  die  ei'ste  hälfle 
im  jähre  1880  kurz  nach  Jon  Sigurdssons  tode,  der  in  den  lezten  jähren  seines  lebens 


MOGK,    ÜBER   SN.    EDDA    HI  365 

dem  werke  sich  nicht  in  dem  masse  widmen  kouto,  dass  er  es  noch  hätte  zu  einem 
ihn  befriedigenden  ahschluss  bringen  kitnnen.  Finnur  Jonsson  hat  das  werk  im  geiste 
seiner  Vorgänger  und  mit  Sigurdssons  vorarljciten  in  lobenswert  conservativer  weise 
vollendet.  Wol  haben  sich  seit  dem  ei'scheiuen  des  ersten  liandcs  die  ansichten 
über  die  Edda,  namentlich  über  die  handschriften  und  deren  wert,  volstilndig  ver- 
schoben, allein  die  älteren  bände  waren  auf  den  alt(>n  anschauungen  aufgebaut,  beim 
texte  war  der  cod.  reg.  zu  gründe  gelegt  und  in  diesem  sinne  mustc  auch  der 
schluss  abgefasst  sein;  es  galt  einen  alten  bau  zu  vollenden,  nicht  aber  diesen  zu 
modernisieren.  Deshalb  mustc  F.  J(jnsson  von  seinem  Standpunkte  aus  von  den 
neueren  Untersuchungen  abstand  nehmen. 

Als  in  der  mitte  der  vierziger  jähre  die  arnamaguäische  commission  den 
beschluss  fasste,  die  Snorra-Edda  herauszugeben,  übertrug  sie  die  arbeit  Jon  Sigurds- 
son  und  Sveinbjörn  Egilsson;  jenem  fiel  die  aufgäbe  zu,  das  handschriftliche  material 
zu  sammeln  und  zu  ordnen,  diesem,  eine  lateinische  Übersetzung  anzufertigen  und 
einen  kommentar  zu  den  skaldenstrophen  herzustellen.  Es  waren  noch  nicht  einmal 
alle  membrauen  fragmento  bekant,  als  Sigurdsson  an  seine  aufgäbe  gieng,  denn  in 
derselben  versamlung.  in  der  über  den  fertigen  ersten  band  des  werkes  berichtet 
wird,  wird  zmn  ersten  male  das  neugefuudene  fragment  1  C/i  fol.  erwähnt,  das  doch 
für  die  Eddakritik  so  wichtig  ist  (Ant.  Tidsk.  1846/48  s.  131.  105).  Eine  Unter- 
suchung über  das  haudschriftenverhältnis,  wie  wir  sie  heutzutage  verlangen,  war  der 
ausgäbe  nicht  vorangegangen:  man  legte  den  ältesten  und  relativ  volständigsten  codex 
dei-selben  zu  gründe.  Auf  dieser  basis  solte  das  ganze  werk  in  zwei  starken  oktav- 
bänden erscheinen:  der  erste  solte  die  eigentliche  Edda  nach  dem  cod.  reg.  mit  latei- 
nischer Übersetzung  und  kritischem  apparate,  der  zweite  die  grammatischen  abhand- 
lungen,  abdruck  der  Ups.  handschrift,  das  fragment  AM.  748.  4**,  den  commentar  der 
visur  und  was  sonst  noch  im  engsten  Zusammenhang  mit  der  Edda  steht,  enthalten. 
Schon  1848  konte  der  erste  band  ei^scheinen.  Einige  jähre  später,  im  fcbruar  1851,  war 
auch  der  zweite  ziemKch  vollendet,  der  im  folgenden  jähre  erschien.  Untei"dcssen 
hatte  sich  herausgestelt,  dass  das  angehäufte  material  noch  einen  dritten  erheische 
(Ant.  Tidskr.  1849/51  s.  101):  er  solte  den  Egüssonschen  kommentar,  register  und 
einleitung  bringen  und  in  2  —  3  jähren  vollendet  sein  (a.  a.  o.  s.  217).  Die  aufnähme 
des  Skaldatal  verlangte  jedoch  eingehende  Untersuchungen  über  die  einzelnen  dich- 
ter, andere  interesseu  der  arnamagnäanischen  commission  traten  in  den  Vordergrund. 
J.  Sigui'dssou,  auf  dessen  schultern  jezt  die  arbeit  allein  lag,  war  auf  anderen  gebie- 
ten in  ansprach  genommen,  und  so  verschob  sich  denn  die  Vollendung  von  jähr 
ZU  jähr,  und  als  Sigurdsson  im  dezember  1879  starb,  war  das  Skaldatal  erst  zum 
kleinsten  teil  (bis  Hallfred)  in  der  ausfiihrung  vollendet  und  gedruckt.  Dieser  teil 
wui-de  als  halbband  mit  fünf  vorzüglichen  facsimilia  1880  von  der  araamagn.  com- 
mission herausgegeben.  In  den  folgenden  jähren  hat  die  Eddaforschung  gewal- 
tige fortschiitte  gemacht:  der  vernachlässigle  Upsalaer  codex  ist  als  hausbuch  der 
Snori-ischen  familie  anerkant  und  dadiu'ch  das  ganze  handschriftenverhältnis  umge- 
kehrt worden,  Hiittatal  ist  in  neuerer  besserer  gestalt  erschienen,  Gudmundr  I^or- 
laksson  hat  in  sorgfältig  gewissenhafter,  Gudbrandr  Vigfusson  in  leichtfertig  genialer 
weise  der  skaldendichtung  eine  geschichte  geschaffen.  Soweit  es  angieng  hat  nun 
Finnur  Jonsson  mit  benutzimg  der  neueren  arbeiten  diesen  faden  zu  ende  gesi)on- 
nen:  er  hat  das  Skaldatal  vollendet,  eine  genaue  beschreibung  und  Zusammenstellung 
der  handschiiften  als  präfatio  gegeben  und  durch  den  index  generalis  die  benutzung 
der  Snorra  Edda  ungleich   gegen   früher  erleichtert.     Es  ist  schwer,    einen  alten,   ja 


360  MOGK 

vei'alteten  bau  nach  der  vorschlaft  anerkauter  meister  zu  vollenden;  stets  wird  ein- 
sichtslose kritik.  die  nicht  auf  dem  gegebenen  weiter  zu  denken  vermag,  an  dem 
schlusssteiu  zu  mäkeln  haben. 

Der  Inhalt  des  jüngst  vollendeten  3.  bandes  ist  mannigfaltig:  in  der  einleiten- 
den aufziüilung  der  handschriften  der  Sn.  Edda  enthält  er  einen  beitrag  zur  tätigkeit 
isländischer  gelehi-samkeit  namentlich  im  17.  jalirliuudert,  durch  die  bclebung  des 
toten  Ski'Jdatal  einen  wichtigen  und  bedeutenden  beitrag  zur  norwegisch -isländischen 
littoratiu'geschichte ,  in  dem  Index  generalis  ein  nicht  zu  unterschätzendos  hilfsmittel 
bei  mythologischen  und  kulturhistorischen  arbeiten,  in  der  auflösung  der  skalden- 
strophen  hilfsmittel  zum  Verständnis  einer  reihe  schwieriger  skaldenstellen.  Schon 
oft  war  ich  genötigt,  das  buch  zur  band  zu  nehmen  und  um  rat  zu  fi'agen,  und  ich 
gestehe  unumwunden  zu.  dass  ich  es  fast  nui*  mit  dem  gefühle  des  dankes  gegen 
die  Verfasser  aus  den  bänden  gelegt  habe.  Dass  ich  in  vielen  punkten  anderer 
ansieht  bin,  kann  diesen  dank  nicht  schmälern:  das  ganze  werk  ist  der  boden,  auf 
dem  allein  alle  neueren  ai'beiten  über  die  Sn.  Edda  entstehen  konten. 

Um  die  bedeutung  und  den  wert  der  Snorra  Edda  zu  verstehen,  ist  es  nötig, 
sich  in  die  zeit  zu  versetzen,  in  welcher  das  werk  entstanden  ist.  Es  darf  wol  kei- 
nem zweifei  mehr  unterliegen,  dass  dasselbe  zu  Snorris  zeit  und  zum  grössteu  teil 
von  diesem  selbst  aufgezeichnet,  dass  also  seine  entstehungszeit  die  erste  hälfte  des 
13.  jalirhunderts  ist.  Der  ganze  norden  war  christKch;  die  alte  skaldendichtung  war 
im  12.  jahrhimdert  in  verfall  geraten  und  in  den  gedächten  der  bedeutendsten  dich- 
ter wie  des  Bjarni  Kolbeinsson  weht  schon  ein  anderer  zug.  Schon  hatte  man  begon- 
nen in  den  nafna{)ului'  dem  gedäciitnisse  unter  die  arme  zu  greifen,  um  das  Ver- 
ständnis für  die  alten  weisen  aufzufrischen,  denn  dieses  fieng  immer  mehr  an  zu 
sinken  und  die  lebendigen  kenningar  der  alten  skalden  waren  zum  nicht  geringen 
teil  unverständliche  phrase  geworden,  wie  sich  überhaupt  ein  almähhches  schwinden 
der  alten  kenningar  aus  dem  kreise  heidnischer  mythen  und  nordischer  germanischer 
heldensage  wahrnehmen  lässt.  In  solcher  zeit  trat  Snorri  auf,  herangebildet  auf  dem 
gehöfte  zu  Oddi  in  der  historischen  schule  des  alten  Sigmund,  von  haus  aus  eine 
konservative  natur,  ein  kritisch  genialer  geist,  der  den  verfall  der  alten  dichtung 
und  seine  Ursachen  wol  erkante.  Schon  in  früher  Jugend  befasste  er  sich  mit  dich- 
terischen versuchen,  mehr  nachahmend,  als  frei  schaffend,  doch  über  alles  nach- 
denkend, alles  erwägend.  Da  mag  ihm  dann  manches  aus  alter  göttervorstellung 
und  sage  dunkel  gewesen  sein,  und  so  kam  er  dazu  alles  zu  sammeln,  was  er  zum 
vei"ständnis  der  alten  dichtung  auftreiben  konte,  um  dadurch  den  Zeitgenossen  wider 
Verständnis  für  die  oft  gebrauchten  leeren  worte  und  weisen  zu  verschaffen;  er 
fühlte,  dass  nur  auf  diese  weise  eine  neubelebung  der  dichtkunst  möglich  sei,  und 
so  entstand  der  entwurf  seines  handbuches  für  skalden,  seine  Edda,  d.  h.  poetik, 
wie  schon  P.  E.  Müller  (Über  die  ächtheit  der  Asenlehre  s.  70)  u.  a.  und  in  jüngster 
zeit  vor  allen  K.  Gislason  (Aarb.  1884  s'.  143  fgg.)  das  wort  richtig  gedeutet  haben. 
Snorri  mag  dasselbe  zunächst  für  seine  Umgebung  bestirnt  haben,  der  er  ja  jedei'zeit 
geistiger  ratgeber  und  beistand  war.  Und  dass  seine  saat  nicht  auf  unfruchtbaren 
boden  fiel,  zeigt  vor  allem  sein  viel  schaffender  neffe  Sturla  f*6rdarson,  dessen  dich- 
terische %'ieLseitigkeit  sich  ebensowenig  ohne  Snorris  theoretische  werke  begreifen 
lässt  wie  Goethes  frühzeit  ohne  kentnis  der  stürm-  imd  drangperiode.  Sturlas 
gedichte  sind  der  praktische  erfolg  von  Snorris  Edda.  Diese  tatsache  erkanten  die 
Zeitgenossen  ungleich  klarer  als  heute  unsere  gelehrten  die  bedeutung  der  Edda 
verstehen.     Deslialb  arbeitete  man  sie  zu  einem   systematischen   handbuchc  um,    das 


ÜBER   SN.    EDDA   IH  367 

nach  dem  suhjektiveu  ermessen  der  einzclnon  bearbeiter  von  der  vorläge  wegliess 
oder  neues,  ergänzendes  hinzufügte.  So  liabon  wir  eigentlich  fast  so  viel  Edden, 
wie  wir  haudschriften  haben.  Nur  legte  man  nicht  Suorris  entwurf  zu  gründe, 
sondern  das  von  einem  seiner  schüler  ausgearljeitete  werk.  Dieses  blieb  lange  zeit 
auf  Island  der  kanon  der  dichter,  wie  die  kenningai-  Eddu  regia,  Eddu  listar 
u.dgl.  (Cpb.  I,  XXVI  fg.)  zeigen.  Zwischen  dem  Snorrischen  original  und  dem  über- 
arbeiteten texte  ist  aber  ein  bedeutender  unterschied.  Auch  nicht  {innäliernd  besass 
der  Verfasser  des  lezteren  den  kritischen  scharfen  geist  Snorris.  Das  werk  erhielt 
zwar  äusserlich  rundung,  aber  innerlich  wurde  es  verwässert,  auseinandergerissen, 
an  vielen  stellen  mis verstanden.  Durch  aufdeckung  dieser  tatsache  allein  ist  es  mög- 
lich, die  geschichte  der  Edda  und  ihre  Überlieferung  zu  verstehen.  Zum  glück 
genügen  die  erhaltenen  handschrifteu ,  dass  w^r  die  ganze  entwicklung  klar  verfolgen 
können.  Snorris  entwurf  ist  uns  ja  wenn  auch  in  einer  flüchtigen,  oft  sinlosen 
abschrift  erhalten;  es  ist  dies  die  Ups.  handschrift  der  Delag.  samlung  nr.  11,  die 
mit  ausnähme  des  erweiterten  skaldatals  sich  blatt  für  blatt  auf  Siiorri  zurückführen 
lässt.  Die  Überarbeitungen,  wie  sie  namentlich  im  cod.  AVonn.  (All.  242  fg.)  und 
cod.  reg.  (2367.  4°)  erhalten  sind,  haben  nur  secundären  wert,  die  nicht  selten  Snor- 
ris klarer  denkungsweise  mythologischen  und  sachlichen  unsinn  unterschieben,  den 
Avir  freilich  selbst  in  gelehrten  arbeiten  noch  heutzutage  nicht  selten  als  lauteres 
gold  altgermanischen  götterglaubens  aufgetischt  finden.  Diese  tatsachen  in  der 
geschichte  der  Eddaüberlieferung  sind  nmi,  wie  schon  in  Rasks  ausgäbe,  auch  in 
der  arnamagn.  geradezu  auf  den  köpf  gestelt:  man  gab  die  jüngere  Überarbeitung 
als  ursprüngliche  Edda  heraus  und  druckte  nur,  mehr  des  materials  als  des  wertes 
wegen,  das  eigentliche  werk  als  ein  verdorbenes  und  verschnittenes  litteral  ab.  An 
diesem  von  Egilsson  und  Sigurdsson  vorgeschriebenen  wenn  auch  falschen  wege 
Hess  sich  nichts  ändern.  Dagegen  w\nr  zu  erwarten,  dass  F.  Jonsson  vielleicht  anr 
schluss  seiner  einleitung  betrefs  der  handschrifteu  entweder  über  das  neuerwiesene 
redaktions Verhältnis  der  Edden  kurz  berichtete  oder  dies  widerlegte  und  die  alte  auf- 
fassung  als  die  richtige  erhärtete.  Von  keiner  seite  hat  sich  bis  heute  gegen  die 
von  MüUenhoff  und  mir  verteidigte  ansieht  Widerspruch  erhoben;  ja  sie  darf  wol 
jezt  von  allen  als  tatsache  angesehen  werden,  die  in  eddischen  dingen  urteil  und 
kentnisse  besitzen.  Statt  dessen  lässt  sich  F.  Jonsson  auf  das  Verhältnis  der  hand- 
schrifteu und  redaktionen  unter  einander  überhaupt  mcht  ein;  er  berichtet  über  die 
geschichte  der  einzelnen  handschrifteu,  gibt  nach  bekanten  mustern  ein  Verzeichnis, 
wie  die  einzelnen  laute  in  jedem  codex,  namentlich  im  reg.,  widergegeben  wer- 
den imd  fügt  dazu  ein  algemeines  urteil  über  die  handschrift,  aus  dem  wir  gerade 
soviel  erfahren,  wie  wir  schon  nach  erscheinen  des  zweiten  bandes  wüsten.  So 
heisst  es  über  den  cod.  reg.,  über  dessen  geschichte  wir  manchen  neuen  und  schö- 
nen aufschluss  erhalten  (s.  XLV):  „Quamquam  codex  variis  ex  causis  reprehendi 
potest,  tarnen  pretiosissimus  et  summa  reverentia  dignus";  es  folgt  darauf,  wie  er 
allein  den  GrottasQugr,  die  Jomsvikingadrapa  des  Bjami  Kolbeinsson,  das  Malshutta- 
kvaedi  und  noch  vieles  andere  enthalte.  Die  Jomsvikingadrapa  und  das  Malshätta- 
kvsedi  sind  anhängsei,  die  mit  der  Edda  überhaupt  nichts  zu  tun  haben;  vom  Grot- 
tasQngr  hat  die  dem  reg.  verwante  aber  entschieden  bessere  handschrift  AM.  748.  4"  ^ 
nur  die   erste  vlsa;    das   ganze   gedieht  ist  also  nur-  vom  schi'eiber  des  reg.  aufge- 

1)  In  der  ausgäbe  als  A3I.  I.  aß.  fol.  bezeichnet,    das  nach  der  neixordnung  der  arnamagn.  mss. 
auf  ilon  richtigen  platz  gekommen  ist  (Kalund.  Kattdog  over  den  arnam.  handski-s.  I.  h.  s.  ü). 


368  MOüK 

nommen  worden;  die  zusätze,  die  aber  soust  der  reg.  hat.  wie  der  ganze  abschnitt 
aus  der  Xibelungensage  u.  dgl. .  erweisen  sich  bei  nur  obei-fUichlicher  prüfung  bald 
als  späterer  Zuwachs.  So  spricht  vom  eddischen  stand[»unkte  aus  die  fülle  seines 
iuhalts  nicht  für,  sondern  gegen  die  gute  der  handschrift.  —  Reiner  und  ursprüng- 
licher, wenn  auch  jünger,  steht  in  dieser  beziehung  der  cod.  AVorm.  da.  Über  diese 
handschrift  fält  F.  Jousson  überhaupt  kein  urteil,  obgleich  dieselbe  von  einer  reihe 
nordischer  gelehrten  als  die  beste  bezeichnet  wird  (vgl.  u.  a.  Vigfüsson  Sturl.  I,  LXXXI. 
Opb.  T.  XLIV).  Es  wäre  demnach  nicht  nur  dieses,  sondern  auch  ein  Verzeichnis 
der  stellen  erwünscht  gewesen,  die  in  der  handschrift  vom  cod.  reg.  abweichen, 
sich  aber  nicht  in  der  ed.  AM.  finden.  Es  mag  ein  solches  hier  folgen;  wenn 
ich  dabei  auch  rein  graphische  abweichungen  mit  verzeichne,  so  sollen  diese  zur 
Charakterisierung  der  Schreibweise  des  cod.  dienen.  Ich  lege  dabei  die  ed.  AM.  zu 
gnmde. 

AM.  43:  frrärkgha:  —  IO9  randlegha.  —  14,  hoß.  —  16^  Imgh.  —  16- 
dagh.  —  20"  ?)>atm(hm  Icghrm.  —  24^  draläix.  —  26,  fehlt  „godr  ok."  —  28* 
sem  ur  h.  —  30*  /  not'eg  ol:  sn'ßiod  i  danmorl'  ok  saxlsind.  —  34^  i  mot ;  — 
34*  f.  srd;  —  36'-  huat ;  —  42''  fylldi\;  —  46'  j5a  vox  rndiv  rinsfri  hendi;  — 
46"  sfcifiayta;  —  48,  steht  rpp  im  cod.;  —  öO""'  gafu  stad;  —  SO^.  krm\lott;  — 
.52.  mennermT\  —  54'  er  kollod  er;  —  54*  «  ioräv;  —  pi,  hada,  Pada  fast  stets 
im  cod.;  dsgl.  hat  mikill  in  den  synkopierten  formen  ck,  im  dat.  sg.  und  pl.  myekhi, 
myekhnn:  —  78»-  er  himmhiorg  heita;  —  82'°  vordin\i;  —  82"  f.  ek;  —  82'« 
rindliö  (d.  i.  VindHoui  oder  Mndlion);  —  84^  heriarm;  —  86^  alfodr;  —  86, 
af  Pe'wf  aibrrd  (so  hat  die  handschiift  wie  auch  das  von  ihr  abgeschriebene  fragm. 
AM.  756  zeigt);  —  88-  hat  im  cod.  fil  sinar  gestanden,  wie  auch  AM.  756  hat;  — 
92*  of  giorfa  sali; —  98"  i  tnvnn  haiis;  —  106^  preskolldr;  —  110-  pa  segir;  — 
112'  hat  "W  ui'spninglich  skvlo  rer  mega:  mega  ist  zwar  durchstrichen,  aber 
erst  von  späterer  band.  Daher  steht  es  in  AM.  756;  —  112 ^~*  Pa  leggi  (Binn 
ydar;  —  112^  i  fintmimn;  —  116^  oUfqdr  (nicht  allfödr,  was  in  W  gar  rücht  vor- 
komt); —  116'-  und  130'*  dyra; —  118'"  taldar  (hätte  der  Schreiber  taldar  schrei- 
ben wollen,  so  hätte  er  talldar  geschrieben;  auch  120 '^  hat  die  handschrift  taldar 
wie  ü  und  r);  —  122*  Pa  segir  freyr; —  124,  inamißqldin\i.;  130 5  mannfioläi ;  — 
124^,  at  tri  ma;—  124,  at  aptni;  —  128«  alfodr;—  LSO"  pa  segir  har;—  130'^ 
fn'orrm  frgrm;  —  136 9  sjnidat  sem  rant  var;  —  136,  gallt  /^ann  pa;  —  138^ 
loff,  wie  überhaupt  fa.st  stets  für  pt :  ft  steht;  so  gafti,  eftra  142 ^  u.  dgl.; —  140'^ 
saJ{\Y\  —  140'"  ramfmr;  —  142-  e/"  ^er  kimnvt;  —  142,,  so7i  hon  da;  —  142  9 
draläix;  —  142.  taldi:  —  146"  raknar  sa  ma^r  stoä  vpp  skiott;  —  146'"  * 
braut;  —  146,,  lagda  a  hak  ser,  gekk  fyr  rm  daginn  ok  steeg  helld  storv;  — 
148*  larsar;  —  148'°  drnar;  —  148'"  tidt;  —  148^  vm  vangaim;  —  148,  fvgl- 
ar;  —  1.50,  framan  rtl  mids  dags;  —  I5O2  milliom.  spalanna;  —  152^  Pvi  ruest 
komv;  —  152'"  moti  L;  ebenso  154^;  —  1542  Prreyta  vni  drykkjr;  —  156'  ok 
sva;  —  156*  pikki;  —  156'*  cei;  —  156,  erendit;  —  156.  stikill;  —  156^  en 
hinr  fyrra  sinnt;  —  158^  f.  vm  hanti;  —  158^  fangii^  —  160 ,„  ok  baä;  —  I6O5 
Pegar  er  dagadi;  —  162'  brott;  —  162-  hrerfireg;  —  162"  vsmmd;  —  162^^  pv 
hefdw:  —  162,  f.  ok;  —  162,  pialra  (wie  meist);  —  164,o  uoi-dit;  —  166,  hä- 
semd;  —  \i^^  porr  brott;  —  168 '^  ^il  .s^o/ar;  —  172 ^  Pa  segir  haar;  —  172^ 
drrpymdi ;  —  174^  at  ril  risan;  —  180'-  erendi  sin;  —  180'*./?oti  segir  .sva;  — 
182*  i  lagsliki:  —  182'°  Enn  kastadi;  —  182'*  skildi ;  —  182,  nidr  millvm 
steimi;  —    184,  f.  /«;  —    1842  landskiapta ;  —    186"  swAir;  —    186'"  Imldvm^  — 


ÜBER    SN.    KDDA    ITl  860 

188^^  ok  er  liinu  nräri  hiopfr  a  iontr  en  hinn  efri  vid  Jiimin;  —  190*^  fenrisrlf 
(so  auch  AM.  750);  —  192„  ed  alldna  tre;  —  194='  bogiut  in  W  mit  Hnjntr  wie 
bei  kapiteLanfängeu  eine  neue  zeile,  gerade  so  wie  iu  750  und  auch  in  r.  Des- 
gleiclien  lässt  der  cod.  für  die  initiale  freien  räum.  Auch  die  folgenden  visuranfiinge 
sind  in  W  und  750  durcli  majuskcl  hervorgehoben,  was  sonst  in  der  liandsdirift 
nicht  der  fall  ist;  —  198,.  ßa  si-arav  pridi;  —  208"  Ißruw  (nui-  liier  und  258.,  p 
im  inlaut  in  der  hs.);  —  208,;  ok  ammt  sinn;  —  210'  ho()rna;  —  210^  grioi;  — 
212*  a  p'mg;  —  212'  pinslom;  —  212^  hnrddr;  —  212'=',  212^  msir;  —  212,,  /in 
h()Y(jina,  —  2I83  Btrn/i  .segir;  —  220^  bqlverkr;  —  22O3  at  P(Ar  sk\lv  frcista;  — 
222*  f.  '/;  —  222»  kann  ich  auch  in  W  nur  lia  lesen;  —  222,,  f.  pd;  —  224'^  ord- 
fiolda;  —  224'"  hofrtskaaldin;  —  220 •'  of  ragnarqkk;  —  226''  hofdi  en  drcfna;  — 
22O4  Akilles; —  220  j  at  Po  arkrpori'; —  228'  v'\^  ragnarqkk;  —  22S ^^  gvdauna;  — 
von  228^  ektore  Pa  .  .  .  bis  228  ^  ...  hann  drap  konimginn  ist  von  einem  anderen 
Schreiber  geschrieben,  der  durchweg  die  langen  vokale  durch  accent  bezeichnet;  — 
228'"  dla;  —  228g  vdrgr;  —  2283  pijrmdi;  —  228 ^  brott;  —  232'"  haiKja- 
gväs;  —  234^0  vm  k.;  —  234 ^  f.  enn;  —  2883  mms,  was  750  als  mins  gelesen 
hat;  —  240'^  frceyiu  d.  i.  freyju;  —  240 ^  gvd;  —  244'  pcafdan  ist  nach  der 
Schreibweise  des  cod.  pefdan  (vgl,  AM.  757),  nicht  pafdan;  —  240  3  V77i  kva-d;  — 
2489  Eisar  vagr  (nicht  vaagr/);  —  248 5  f.  sem  hann  kvad;  —  250 ^^  os;  — 
25O3  ged  fiardar;  —  252-  f.  svd  und  kvad;  —  252'"  f.  nti;  —  252"  f.  segir;  — 
254"  rmgaid;  —  254 '^^  hvasslegvm ;  —  258^'  niox;  —  258'="  nur  .•  ok  enn;  — 
258.,  skeyptiY  starkepi; —  262"  gvdrvn; —  262^  her  gete  pess  er  skadi; —  202, j  of 
gieddun  hefr; —  262g  //ann  er  k.;  —  262.,  grUinbvsta;  —  264g  eda  vord  gada;  — 
266 1^  ok  bana  ok  dolg;  —  200^-  gvdanna;  —  200^^  tofta;  —  2^H^ iqrmvngand%;  — 
208**  geirradar; —  268  ^^  gvdanna; —  208 g  faarbavta  mqg  vdari ; —  270 2  frfßiv;  — 
272'  pa  segii'  hrugnii-;  —  272g  hlceypdi;  —  272^  von  af  por  er  rvngmv  leti;  — 
272.2  ^*  griotvna  go'rda;  —  274»  V7n  qxl;  —  270^  sva  at  fretr  h&ns  lagv  a  halsi 
Äans;  —  270^0  W  hat:  enn  cc\g\  syni  sinvm;  —  270 ^  brott;  —  278^  ok  giordi 
stiörnv  af;  —  284»  vert  pat;  —  284^-^  flavg  (BÜt  sinn;  —  284^*  s«A-ir;  —  284'" 
vm  glvgg;  —  284^«  leit  moti;  —  284^  hefdi  farid;  —  284^  fmtmv;  —  280"  f. 
er;  —  280^*  pa  ox  hon  sva  at  vppi  bravt  a  oxl  honY7?i.  pa  qxad  Äann  petta;  — 
288'  ok  sat  porv  par;  —  288 ^  pa  Icetr;  —  288  ^  endilangri  hqll;  —  2883  geirr- 
^.^r;  —  298'"  iuq;  —  298,  fvamgengv;  —  300  ^  brasoär;  —  302  =*  vmlir;  — 
304^  hversv;  —  304 ^  f.  hinn;  —  300  ^  galla  ist  im  cod.  ganz  unsicher.  Nach  g 
befindet  sich  im  pergamente  ein  loch;  die  endung  aber  ist  mehr  ia  als  la;  —  308' 
fiallgyldar;  —  308 »^  fetmeila;  —  310'  drqpi;  —  310^,  loddi;  —  3106  frödgum  ist 
ganz  unsicher;  die  abkürzung  nach  f  kann  ro  sein,  doch  scheint  nach  dieser  ein  g 
gestanden  zu  haben;  für  d  ist  kein  räum  da.  Zwischen  g  (?)  und  v  ist  über  den 
buchstaben  ein  loch;  —  310,  of  ro7ii;  —  312'  fcera;  —  312g  varv  (wie  750);  — 
312i  — 314g  fehlt  m-sprünglich  in  W  und  750;  es  befindet  sich  in  beiden  codd.  ein 
freier  räum,  den  in  W  der  Schreiber  der  2.  papiereinlage  (Sven  Jonas?)  nach  cod.  r. 
beschrieben  hat.  Diese  Strophen  auch  im  Variantenapparate  mit  AY  zu  bezeichnen 
ist  unstathaft;  —  3143  Hversv  (wie  750);  —  318^  sva  sem  bragi  ^vad;  —  320^ 
misgort;  —  320 ^g  ok  golf;  —  320ii  sior  dyranna;  —  320^,  322,^  hallfrodr;  — 
3241  hversv;  —  324 ^  sva  sem  Refr  ^vad;  —  320 **  kiapta;  —  3206  snegrvnd;  — 
3283  fjr  lo?igv;  —  330 »  kann  ich  auch  in  W  nui'  hrind  lesen;  das  d  hat  zwar 
oben  einen  Schnörkel,  aber  dieser  ist  schwerlich  die  abkürzung  von  ir;  leztere  geht 
stets  von  der  rechten  seite  nach  links;  jener  c?- schwänz,  den  die  handschrift  oft  hat, 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.       BD.  XXH.  ^^ 


370  MOGK 

gellt  nacli  ivchts;  —  330 ^  332'-"*,  334-  u.  oft.  hrovsv;  —  330«  kami  ich  nur  lesen 

rm  Jnws  rin,    so  hat  auch   ganz   deutlich  756;  —    334"  haä^  (d.  i.  er),    wie  auch 

750:  hacl  er:  —    340^  fi/tir  dyi'um;  —    340^  linnl:  —    340'^   lavfcBygiar  (so  auch 

756):  —  342'  ßnr  ü\  e?m  sfifiäriun:  —  342^,  344"  alldregi\  —  344^  fyr'w  hrim- 

Pftssrm  ok  dfpmär  at  (so   auch    756);   —    344ß    Tak  ßv;   —    346"  vll  skiols;  — 

346'-'  seni  fi/rr  rar  sagt:  —  346'''  f.  nicht  margr,  sondern  of:  —  348^  Vi  hat  N>/tt, 

nicht  Xt/it:  *}  ist  aber  in  der  handschiift  y,  )iirhf  y:^ —  3929  lupyrda  ek; —  396 "f. 

sforir  wie  in  ü;  —  396-    Tokr  ßa  ok  elldinn;  —  3906  f.  ßeim; —  398^  at  hringn- 

rm:   —    398''  ok  ßa   rcik;   —    398"  skilärx;   —    400^  sa  er  hqlgi  er  nefndr;  — 

400 »^  //anu  rar  fadir:  —     400*"^  /yr  srold;  —    402'='  ßmgskaalvm;  —    404'°  iofvr 

(so  auch  756);  —  410'  nd  aihkyns:  —  410^  vm  )/tiadar  rist; —  412^  framtn;  — 

412"  f.   er:   —    414 ^  sceng:   —    416^  eifi  radinn;   —    418"   hyrtrnnrm  (so  auch 

75(5):  _  4208  J.  A^'"«^'^''  skilldi;  —  420^  drifr  ok  rotv;—  424*^  hnggvx;—  424'  W 

hreggnirdir,  das  zweite  r  ist  über  der  zeile,    aber  es  befindet  sich  unten  ein  strich, 

welcher  andeutet,    dass   das  r  nur  eingeschiieben ,    nicht  aber  kürzuug  füi'  ar  sein 

soll.     Als    leztere    hat    es    freilich    schon  der  Schreiber  von   AM.  756   aufgefasst;  — 

424g  ok  adr  rar  ritad;  —    4242  ^^  ^''  ff<^i^'  (so  auch  756);  —    426^  vm  rnga;  — 

430"  Spiot  er  orm  kalladr;  —  432^  viä  stretigia; —  432^'  el  eda  vapn  hiadnmga 

elldr  eda  reuder:  —  432^,  ok  dottir  Iitms  brott  tekinn;  —  4323  P^^'  ^'^^  fY^  h£dinn 

?;/ed  sitt  lid;   —    434-  Hogni  sraradi  strt  (so  auch  756);    d.  i.  stiitt;   —    434'^  f. 

ßeir;  —  434g  Sra  ok:  —  436'"^  boiti  ßrvdr;  —   436g  hat  W  urspmnglich  at\  dies 

ist  aber  unterpunktieit  und  of  darüber  geschrieben;    —    438^    nach  i-eidm'  hat  W 

noch  }ii.\   —    438 .^  Her   er  ok  bcedi;   —    440^  Hversv  skal  skip  kenna;   —    440" 

ofridr: —  442'"  slod  stör:  —  442^^  veär  lidi  (die  note  in  AM.  ist  unklar); —  446" 

Hrein  reg  skal  kenna  krist;  —    4465  rammr;  —    448^  crvci;  —    450^  girkia;  — 

\öO-mannanna;  —  452^  rar  ritat; —  452^  landsceki;  —  452^  vord  landx  folks;  — 

454^  folkstiora:  —  456'-  havlldar;  —   456^*'  kafa  ?>^ed  ser  ^il  fylgdar;  —   456,,  i 

danmork;  —   456-  Ä-onuug/;  —  458^  opt;  —   460''  se;  —    4625  ok  e?in  q\aä  Äann 

rvi  ßorfiuu  iarl:  —  —  606^  ßat  er;  —   606 ^  orda  fiolda;  —   608'  fylla  ok  fegra 

7muU:   —    608^  ßat  err:   —    608^  dragax  framm :    —    608^  i  qdrv  ordi  ok  hinv 

fiorda  sevL\  her  er;   —    608"  hra'ss;   —    608 jq  her  erv  allar;   —    610^  mvnat;  — 

610^  ok  hinv  fiorda ;  —    610"  ordit;  —    610'*  detthent  ok  dvnhent  ok  med  nqkk- 

vrrm;  —  6IO11  fyrsta  ok;  —  6IO9  ör  anarvi;  —   610,  f.  leyß  er  ßat,  —  610^  ok 

ü 
lidhendingav.    Siavnda  at  hafva;  —  612"'  viij.  at  myta; —  612'  Tivnda  ef  visv  ; — 

612^  f.  std;    —    612'^  eda  sia  eda  sd;    —    612'-  at  er  e.   (d.  i.  eda)  enn  at  ma 

hafva;  —  612^  vingiorä; —  612,  i  eyrendi; —  614^  hendinga;  —  614^  ymsvm;  — 

6I42  XTTwae//;—  614«  /"«x;—  6U'''  tvamaal;—  616«  6r;—  6165  vindrcefrs;  — 

618^    f.   en;    —     618'^    ok    hid  ßridia;    —     6I85    liefr;    —      618 ^    remiityr;    — 

620^   i  hinr  sidaxta;    —    620^  f.   Jmttrenn,    ebenso    vor    den    folgenden  visur;   — 

622"  I  Jmm  hatti,   —     622'  ßav  ord  er  olikvxt;    —     622^"  ok   erv   her   af  ßvi 

stini  ord;  —    6222  verr  s/xkiv  olikt  er  at  scekia  ok  veria;  —    624-  f.  ok  svä;  — 

624-  iord  er  land:  —     624''  ef  saa  ferr;  —     624"  saa  flytr  du  bravt;  —     624" 

^at  err   lios   ord;   —    624*°  sdd  dreifir  srndr  er  skilr  en  sdd  fylkir  er  safnai"^  — 

624*-  f.  ßat;  —    624*^  f.   ok  enn  (vgl.  ü);  —    624*^  f.   i;  —    624*^  f.  ßat;  — 

624g  rcesii  hm  helldr;  —    624^   hid  Till  visvord;   —    624.  f.   mcelt;  —    6243  f. 

ßd;  —    6242   iiiks   glod   er   gull;   sctJäT   gvllx   er   rrmär;    —    624^    haf;    —    626^ 

1)  Die  Varianten  der  eingefügten  papierblätter  sind  nicht  angegeben. 


ÜBER    SN.    EDDA    HI  371 

pat  er  wadr  (wie  U);  —  626^  vaakat;  —  62G**  (f.  ok)  pai^  err  tvenn  i  hveriv 
visvordi;  —  626,  (f.  ok)  slitnar  dvi  viUii ;  —  620^  take;  —  626,  /  setta  oräi  er 
sva  (wie  U);  —  628^  at  kalla  at  blöd;  —  628^  f.  eda;  —  626«  f.  Ok;  —  626'  f. 
at;  —  628"^  frawdr;  —  628^  da'la;  —  628,  f.  sm;  —  630'  f.  er  svä;  —  630'-' 
fraiwni ;  —  630"  i  hrcrir  ordi;  —  632.,  ok  hhir  fiorda;  —  632,  ok  er  ein  sant- 
staß  i  milli  ok  Irkax;  —  634"*  /  hinv  fyrsta;  —  634"  ok  orda  Imgd:  —  634" 
sdd  er  Iielldr  f\v;  —  634 ,  ftrdvDi ;  —  636"  Fvss;  —  636, „  sidin  hleika;  —  636 « 
e)?i;  —  636g  S(emd;  —  636.5  (f.  vpp)  atiat  visvord;  —  638"'  f.  mi;  —  638'"  lAd 
lagit;  —  638  **  vcgrakkr;  —  638"  styria; —  638  ^  i  inillrm  ßeira; —  640"  gefr;  — 
640.,  i  qdrv  ok  fiorda  r.; —  642^  vtn  skvla; —  642,  vnninn; —  644''  ok  standa;  — 
644*  baadar;  —  646*  rasta  (wie  U);  —  646 '^  i  qdrv  ok  Uli.  r.  o.  ok  arkit;  — 
646"  soti  franfcirxt;  —  646"  ex  en  bar;  —  646-  skialfhenda  med  adalhendingvm. 
hid  pridia  v.  o.  i  I/rarrm  hehningi;  —  648^  framdix;- —  648*"  Äer  erv  prennar 
adalhcmUngav ;  —  648'"  fenii;  —  648"  samstafa  (vgl.  U);  —  6483  Jiqy  er;  — 
65O4  her  skiptir  hcetti;  —  650.,  hlwdfgllingvm  (wie  U);  —  652'"  drottkredins ;  — 
654g  sqkkrm.  (wie  U);  —  654 ^  grottv;  —  654 ^  kann  fröda;  —  656-  i  fvUaallhen- 
dt?ig; —  656^  pat  er  ceigi  rett; —  656, „  uel  er  ort; —  656 9  kvoidi  se  ort  epitiv  {t  ok) 
er  Pa;  —  656-  klcengr;  —  6563  fqr;  —  658*  pl  d.  i.  pott;  —  658"  til  hending 
ar;  —  658g  reUbroti  (wie  U);  —  660 ,0  f.  sem;  —  6ö0e_5  aiidi  auds  i  gvlli;  — 
662*^  hev  er  i  hinv  .inj.  visv  ordi;  —  664"  Äer  erv  qll  visv  ord  styfd.  pessiv 
hcett'w  greindir  i  pria  stadi;  —  664*^  annarY;  —  664'^  ok  er  pat  haatafqll;  — 
664g  geisa;  —  666g  forn  skaaldin  hafva;  —  6665  svtnt  at  haattafqllvni;  —  666 ^ 
Svä  bis  hatti  f.  im  cod.;  —  668'-  zwischen  hvitan  und  prym  ist  ein  freier  räum 
von  c.  20  cm;  —  668^  i  sceßs  (wie  U);  —  668"  allda  vinr  (wie  U);  —  668"  iarls 
rnegin  (wie  U);  —  668^  haatleysa;  —  668"  u.  oft.  droit kvcedf ;  —  670'''  gaf  ntai'- 
gan  dag  vaxgi;  —  670'"  haattleysa;  —  670"  ok  ridhendvr;  —  672*  skiallda;  — 
672^  Nv  erv  peir  hcettir;  —  672^  kimlabqnd;  —  674'*  glyggi;  —  674, ^  fqr;  — 
674.  reg  vm;  —  674,  hreggi  leggi:  —  676^  vndgagls;  —  676*  yngva;  —  676" 
driftvm;  —  676, „  Enn  or  qdrv  ok  hinv  fiorda  mdä  taka;  —  6762  stqkkvi;  — 
678  ^  her  erv  vitj  samstqfwv  i  v.  0.  enu  Jiemlingar  ok  stafa  skipti  sem  i  hrynhendv 
(alles  andere  fehlt);  —  678,3  rqdnvm;  —  678,  lid;  —  680*  eyddi  svei'dv7n  (so  ver- 
mag ich  nur  im  cod.  zu  lesen;  erst  eine  jüngere  hand  scheint  etwas  verbessert  zu 
haben);  —  680=^  f.  hverjii;  —  680*  f.  hinv;  —  680^  f.  pat;  —  680.,  orfa  ok;  — 
680,  alfvamax  vissag ;  —  682"  oss  er  pat  fvanii;  —  682*  Nv  erv  her;  —  682*^  f. 
til;  —  682 9  f.  er;  —  684^  ok  iiij ;  —  684*  f.  svä;  —  684^  sem  i  dvottkvcedvm 
hcetti;  —  684^  erv  tttj.  samstqfvv  rettar;  —  684*  f.  e^?^;  —  684'*  fiohnn  (was  nur 
fjqlmenn  sein  kann);  —  684-  anat  ok  hid  iiij.  v.  0.  ;  —  6845  hofvtstafinn;  — 
6842  vm  mceti; —  686^  Äer  er  skothending  i  fyrsta;  —  686*  f.  hmtti;  —  686^  tqg- 
lagi  (vgl.  tqgmcelt);  —  686'"-  f.  env;  —  688"  her  er  i  fyrsta;  —  688"  f.  svä;  — 
688"  ok  hid  fiorda;  —  688'  endax;  —  690"  ok  tvcer;  —  690 ^  ba>d  hardr;  — 
690 5  f.  hcetti;  —  692*  i  hinv  fyrsta  ok  Pridia  v.  o.  Po  at  v.  se;  —  692^  f.  env;  — 
692*"  ok  styfd  en  fyrri;  —  694^  lyptax  kna  oflidi;  —  694*^  vi  satnstqfm'  ok  cPÄgi 
rangt  poat;  —  694,  blaregg :  —  696"  i  vv^y  ordi  hveviv  ok  ii  adalhending ;  — 
696"  hnefstar; —  696*  ütstrandiv  (d.  i.  üüt..  wie  bei  da-) —  696'"  hranngardi;  — 
696  g  rvnhendiv  erv  kalladiv;  —  698  g  enn  qn?ivr  hinn  sidarva  helmmg ;  — 

Wii*  sehen  aus  diesem  Verzeichnis,  dass  namentlich  Hättatal  bei  angäbe  der 
lesarten  von  W  in  der  AM.  ausgäbe  schlecht  weggekommen  ist.  Viele  dieser  les- 
arten  hat  natürlich  schon  Möbius  in   seiner   ausgäbe  dieses  teiles  der  Edda  zur  gel- 

24* 


372  MÖGE 

tung  gebracht.  Im  auschliiss  an  dieses  verzeichuis  sei  eine  andere  unrichtige  angäbe 
wie  der  heraiisgeber  der  ed.  AM.  su  auch  Finuur  Junssous  berichtigt.  Ich  hatte 
schon  mehrfach  gelegenheit,  auf  das  engste  Verhältnis  zwischen  W  imd  den  frag- 
menten  AM.  756.  4**  hinzuweisen.  Das  räumt  auch  F.  Jonsson  ein;  gleichwol  reisst 
es  ihn  zu  der  bemerkuug  hin  (s.  LXXX) :  ^  sed  persaepe  lectiones  secundum  id  aut 
corrigi  aut  corroborari  possimt.'"  Das  ist  nicht  richtig,  denn  AM.  756  ist  weiter 
nichts  als  eine  ganz  flüchtige  absclirift  von  AV.  AVer  diese  zwei  handschiiften  neben 
einander  verglichen  hat.  kann  keinen  augenblick  daran  zweifeln.  Ich  überzeugte 
s.  z.  prof.  Gislason  dui'ch  einige  schlagende  beispiele  imd  glaubte,  dass  infolge  sei- 
ner bemerkung  (Xjäla  II,  s.  287<2ö5))  die  sache  als  abgetan  anzusehen  sei;  da  dies 
nicht  der  fall  ist,  sehe  ich  mich  genötigt  liier  den  beweis  anzutreten. 

Zunächst  stimmen  in  der  ganzen  einteilung  die  fragmente  mit  dem  cod.  W  über- 
ein: wo  diese  hs.  einen  neuen  abschnitt  bcgint,  begint  ihn  auch  756;  nicht  in  einem 
punkte  weicht  lezteres  ab.     Dazu  einiges  andere.     AM.  I,  CA^^  scheint  der  Schreiber 
von  W  erst  aus  versehen  skegm  geschrieben  zu  haben,    hat  aber  dann   selbst  das  g 
in  p  verbessert;  756  las  g  imd  gab  es  infolgedessen  als  skeggi'a  wider.  —   68®  trent 
756  YG  drasils:  in  W  endigt  nach  YG  die  zeile,  daher  der  irtum.  —    72^  steht  in 
TS'  ziemlich  hoch  hinter  bifracst  ein  fi-agezeichen ;    dies  sah  756  als   abkürzung  an 
und  gab  es  deshalb  mit  bifranstum.  wider.   —    Sog  schreibt  W  hcratyr,    was    der 
Schreiber  von  756  als  berat yr  las.  —  88^'  geben  beide  handschriften  die  vierzig  auf 
ganz    gleiche   weise  wider  x^.   —     90^  macht  756    nach  VT  denselben    Schreibfehler 
bergrisa   f.  hergrisar.   —     98    findet    sich    ganz    aussergewöhnlich    vor    cap.  26    ein 
freier  räum  von  c.  15  mm;  dei"selbe  findet  sich  auch  in  756. —  102-  schreiben  beide 
handschriften  mog  nir  em  etn  (doppelt).  —    110 9  ist  in  TV  in  digrleiks  das   ei"ste  i 
einem  a   sehr  ähnlich,    daher  die  Verlesung  daleiks.  —    112^  hat  T\'  von  haus  aus 
sk\\o  rer  mega,    erst  der  schi-eiber  der  randnote  hat  inega  rot  durchstrichen,    daher 
findet  es  sich  756.   —    192g  haben  beide  handschriften  eä  alldtm  tre.   —    198^  die 
verschreibung  ufiar  (f.  i  mar)  in  756  kann  nur  auf  W  zui'ückgehen ,    da  hier  das  i 
ganz  mit  in  in /wor  verbunden  ist^;  der  strich  über  ^,  der  mehr  horizontal  als  schi-äg 
geht,    wurde  vom  Schreiber  von   756   für  abkürz ungsstrich    über    den  ersten   beiden 
grundstrichen  angesehen.   —    202g  findet  sich  in  T\'   zweimal   vingnis,    erst  spätere 
band  hat  das  eiuemal  durchstrichen.     Daher  ist  das  woit  in   756  doppelt.     Dasselbe 
gut  204^  von  den  woiten  .s?'er  Äann  pa  at  /^ann  ste)iduT  uti  a  sleftum.  velli,    deren 
widerholung  in   W   auch  ei*st   später  durchstrichen  ist.     Auch  320 ^  Raä  —   siäan 
zeigt  denselben  faU.  —  238  ^  .schreiben  beide  handschriften  füi*  bqlva:  bolfa.  —    Der 
schluss  der  Haustlong  (312,  —  314g)  fehlt  in  AV;  er  ist  ei-st  vom  Schreiber  der  zwei- 
ten papiereinlage  später  nachgetragen.     Urspiüngüch  hat  die  handschrift  fünf  zeilen 
freien  räum.      Auch   756   geht  nicht  weiter  als   W   und  lässt  ebenfals    einen  freien 
räum  von  c.  4  zeilen,  der  im  hinbhck  auf  die  .Schreibweise  der  handschrift  dem  von 
W  entspricht.  —    324  findet  sich  in  "W  nach  barccyiar  skalld  ein  freier  räum  von 
50  —  60  mm;  in  756  findet  sich  eine  zeüe  unbeschrieben.     Diese  beispiele  mögen  zei- 
gen,  dass  der  Schreiber  von  756  den  cod.  "W  auf  ganz  liederliche  weise,    ohne  ihn 
zu  verstehen,    abgeschrieben    hat;    für   die    Eddakritik    ist    das    tragment    volständig 

\}  Es  bedürfte  einmal  der  Untersuchung^,  wie  weit  die  präpos.  durch  anschluss  an  das  folgende 
subst.  oder  pronom.  ihren  Charakter  als  selbständiges  wort  verloren  hat.  Sicher  zeigen  die  alten  hand- 
schriften im  nordischen  unzählige  beispiele,  wo  praep.  und  nomen  zusammengeschrieben  sind.  Dabei 
scheinen  ursprünglich  lange  praepos.  infolge  des  wort-  oder  satzaccentes  auch  ihre  länge  verloren  zu 
haben. 


tJBER   SN.    EDDA   UI  373 

wertlos.  Dagegen  stimme  ich  mit  Finniu'  Jonsson  bctrefs  des  abfassungsoiies  übor- 
ein:  alles  weist  darauf  hin,  dass  der  cod.  756  im  norden  entstanden  ist,  vielleicht 
auf  Veranlassung  des  gesetzsprechers  Jon  Sigmundarson,  iu  dessen  händen  sich  im 
ausgang  des  15.  Jahrhunderts  der  cod.  W  befand. 

Über  den  umfang,  den  einst  der  cod.  W  gehabt  hat,  herscht  noch  Unklarheit, 
ßekantlich  fehlt  demselben  ursprünglich  die  ganze  episode  aus  der  Nibelungeusago 
und  die  erzählimg  von  könig  Frodi,  ferner  der  ganze  schluss  der  Skaldskaparmäl 
von  denUkend  heiti  an  (I,  464),  der  anfang  des  Hattatal  und  der  schluss  desselben. 
Diese  abschnitte  sind  durch  papicrbliitter,  deren  Inhalt  teils  dem  cod.  reg,  teils  dem 
cod.  Svarf.  entnommen  ist,  ergänzt.  Dass  die  episoden  aus  der  heldensage  ui-sprüng- 
lich  nicht  im  cod.  gestanden  haben,  darf  wol  als  sicher  gelten.  Aber  auch  der  zweite 
teil  der  Skaldskaparmäl  hat  zweifelsohne  nicht  in  der  handschrift  gestanden:  Bl.  35 
schliesst  mit  den  beispielen  der  kenoingar;  es  beginnen  mit  bl.  36  die  grammatischen 
abhaudlungen,  die  19  bl.  füllen.  Alsdann  folgt  die  papiereinlage  des  Svein  Jonsson; 
nach  dieser  der  erhaltene  teil  des  Hattatal.  Dieser  fült  6  pergamentblätter ;  der  feh- 
lende schluss  ist  ungefähr  gleichen  anfangs  wie  der  fehlende  anfang.  Demnach  scheint 
Hattatal  ursprünglich  auf  einer  läge  von  8  bl.  gestanden  zu  haben,  von  der  das  erste 
und  lezte  blatt  verloren  gegangen  ist. 

Blicken  wir  nun  aber  auf  cod.  U,  wo  der  zweite  gramm.  traktat  unmittelbar 
vor  Hattatal  steht,  so  wird  es  wahrscheinlich,  dass  die  traktate  auch  in  W  ursprüng- 
lich vor  Hattatal  gestanden  haben,  und  dass  nur  durch  Svein  Jonsson  durch  den 
einschub  der  papierblätter  diese  trennung  erfolgt  ist.  Eine  andere  frage  ist,  ob  die 
lU-end  heiti  vielleicht  von  haus  aus  vor  den  traktaten  gestanden  haben;  diese  aber 
wird  sich  nicht  entscheiden  lassen.  Solche  und  ähnliche  dinge,  welche  fili-  die  text- 
kritik  nicht  unwichtig  sind,  lassen  sich  aus  den  bemerkungen  über  ^V  (namentlich 
den  s.  XLVn  fgg.)  nicht  recht  erkennen.  Es  sei  daher  hier  noch  kui'z  über  die  ein- 
eil ung  von  W  gesprochen  und  einiges,  was  ich  bei  F.  Jonsson  vermisse. 

Der  schön  und  deutlich  geschriebene  codex  enthält  32  zeilen  auf  der  seite. 
Grosse  initialen  führen  die  hauptabschnitte  ein.  Bei  kleinen  abschnitten  findet  sich 
für  die  initiale  ein  kleinerer  rechteckiger  freier  räum.  Die  eingestreuten  Strophen 
heben  sich  nicht  von  der  prosa  hervor.  Schliesst  ein  teil  eines  wertes  die  zeile,  so 
deutet  ein  querstrich  (— )  an,  dass  das  wort  noch  nicht  zu  ende  ist.  —  Der  codex 
besteht  aus  lagen  zu  je  8  bl.  Die  erste  seite  ist  unbeschi'ieben ;  unten  stehen  die 
werte :  Olai  Wormii 

Dono  Arngrimi  jonae 
Islandi. 

Der  obere  teil  der  bl.  19  —  22,  27—30,  34  —  36  ist  sehr  zerfressen.    Es  folgen: 

Praefatio  —  bl.  4t'jg. 

Gylfaginning  4%o-20%,. 
Bragaroedur    20  \  —  22  \ . 
Eptirmal     22\— 22%«. 
Skaldskm.  22'%,— 35''3,. 

Von  bl.  27 '^  sind  nur  4  zeilen  beschrieben;  sie  enthalten  den  schluss  der  f*orsdrapa 
des  Eilifr  Gudrünarson.  Der  übrige  teil  der  seite  ist  unbeschrieben.  Zwischen  bl.  30 
und  31  finden  sich  6  papierblätter,  die  die  episode  aus  der  heldensage  nach  dem 
cod.  Sparf.  enthalten.  Tom  lezten  blatte  sind  niu'  37,  zeilen  beschrieben.  Ein  f, 
das  sich   auf  der  ersten   zei?e    derselben    und   pergamentbl.  31  ""oo  ßJidet,    deutet   an, 


374  MOGK 

dass  die  blätter  hierher  gehören.     Die  ganze  episode    fehlt  also  von  haas  aus  der 
handschiift. 

Die  gramm.  abhandlungen  I  und  U  36", — 41^..  Diese  schliessen  sich 
unmittelbar  an  das  vorhergehende  an.  Erst  die  dritte  abhandlung  leitet  eine  grosse, 
schön  verzierte  initiale  ein.  Daduich  gibt  der  schieiber  zu  erkennen,  dass  hier  ein 
neuer  hauptabschnitt  begint.  der  ursprünglich  nicht  zum  werke  gehört.  Ausserdem 
ist  vor  dem  zweiten  traktate  ein  unbeschriebener  räum  von  6  Zeilen. 

Grammat.  abhandlungen  in  und  IV  41^8  —  54*3.,.  Bl.  54'*  ist  ursprünglich 
unbeschrieben;  eine  junge  band  hat  Marienlieder  und  andere  gedichte  frommen  Inhaltes 
darauf  aufgezeichnet.  Es  folgen  9  papierblätter  mit  der  Überschrift:  de  synonymis 
simplicibus. 

Sie  enthalten  die  ükend  heiti,  die  fornn^fn  und  den  anfang  vom  Hättatal  und 
sind  eine  abschrift  aus  dem  cod.  reg.  Alsdann  folgt  im  cod.  eine  läge  von  6  bl., 
die  höchst  wahrscheinlich  aber  einst  8  bl.  enthielt.  Das  ei*ste  und  lezte,  anfang  und 
schluss.  sind  verloren  gegangen.  Diese  läge  hat  wol  einzig  und  aUein  Hättatal  ent- 
halten. Zwei  papierblätter  schliessen  sich  hier  an,  von  denen  das  erste  den  schluss 
des  Hättatal  nach  cod.  Svarf.  enthält,  während  das  zweite  unbeschrieben  ist.  Das 
folgende  pergamentblatt  enthält  die  Rigsmäl;  das  gedieht  begint  mit  gi'osser  schöner 
initiale,  der  schluss  fehlt  bekautlich.  Fünf  weitere  leere  papierblätter  deuten  den 
umfang  des  fehlenden  an;  sie  sind  vom  schi-eiber  der  episode  aus  der  Xülungensage 
eingefügt,  wie  der  Wasserdruck  zeigt.  Zum  Schlüsse  folgen  noch  zwei  pergament- 
blätter  (abgedruckt  Sn.  E.  H.  495  fgg.):  die  wol  das  3.  und  6.  blatt  einer  läge  aus- 
gemacht haben.  Die  lezte  seite,  urspriinglich  unbeschrieben,  enthält  von  junger 
band  lobgedichte  auf  die  jungfi-au  Maiia. 

Doch  ich  verlasse  die  einleitenden  bemerkungen  über  die  handschriften ,  um 
noch  kurz  bei  dem  hauptinhalte  des  3.  bandes  zu  verweilen,  bei  dem  commentar 
zum  Skäldatal.  Es  ist  noch  kein  Jahrzehnt  vergangen,  wo  man  sich  die  berichte 
über  leben  und  gedichte  der  einzelnen  skalden  in  den  quellen  mühselig  zusammen- 
suchen muste.  Selbst  Keysers  litteratiu-geschichte  gab  wenig,  X.  il.  Petersens  so 
gut  wie  gar  nichts.  Heute  besitzen  wir  nicht  weniger  als  drei  werke,  aus  denen 
wir  zur  genüge  belehrung  über  die  skalden  und  ihi-e  werke  schöpfen  können. 
Gudbr.  Tigfusson  gibt  im  Cpb.  vor  den  gedichten  eines  jeden  skalden  einen  lebens- 
abriss  des  dichters,  geisü-eich.  mit  vielen  kühnen,  wenn  auch  oft  unhaltbaren 
einfallen,  die  um  so  schwerer  controlierbar  sind,  als  nirgend  die  quellen  angegeben 
sind,  aus  denen  er  die  positiven  tatsachen  geschöpft  hat.  Infolgedessen  ist  das 
werk  zu  wissenschaftlichen  zwecken  unbrauchbar.  —  Für  das  Samfund  t.  udg.  af 
g.  n.  lit,  gab  femer  Gudmundr  J'orläksson  sein  buch:  ,Udsigt  over  de  noi^k- 
islandske  skjalde  fra  9.  til  14.  arhundrede"  heraus:  es  gibt  in  kurzen  ansprechen- 
den biographien.  denen  nirgends  die  queUen  fehlen,  einen  überblick  über  die 
gesarate  skaldendichttmg  und  ist  für  \iele  skalden  unser  einziger  gewissenhafter 
Wegweiser.  Während  aber  diese  schrift  eine  grössere  zahl  von  skalden  behandelt, 
vertieft  sich  der  commentar  zum  Skäldatal  ungleich  mehr  in  das  leben  und  wii-- 
ken  der  einzelnen  dichter.  Das  alte  Skäldatal,  das  in  handschiiften  der  beiden 
hauptwerke  SnoiTis.  der  Heimskringla  und  Edda,  erhalten  war.  hatte  die  dichter 
vorgeschrieben,  deren  lebenslauf  aufzimehmen  war:  das  grosse  gebiet  war  zeitHoh 
und  örtlich  beschränkt,  örtlich,  indem  nur  dichter  aufnähme  fanden,  die  au  nor- 
dischen königshöfen  geweüt  hatten,  zeitlich,  indem  es  in  der  erweiterten  gestalt  der 
Upsalaer  handschrift  mit  der  zweiten  hälfte    des    13.  Jahrhunderts   abschliesst     Ich 


ÜBER   SN.    EDDA   Ul  375 

ti-age  kein  bedenken,  das  alto  Skaldatal  olmo  seine  späteren  Zusätze  Suorri  in  seinem 
ganzen  umfange  zuzuschreiben.  Möglich,  dass  es  ihm  eine  kritische  Vorarbeit  zu 
seinem  grossen  geschichts werke  war.  Lassen  sich  doch  fast  alle  skalden,  die  hier 
aufgezählt  sind,  in  Snorris  hauptworkon,  der  Edda  and  lEeimskringla,  widerfinden,  ja 
selbst  in  kleineren  zügen  zeigt  das  Skaldatal  mit  diesen  Übereinstimmung:  Snorri 
kante  die  sagengestalt  Starkads  (lieimskr.  20.  22),  er  keut  Ragnar  lodbruk  als  dich- 
ter (Sn.  E.  I,  06G),  er  weiss,  wie  köuig  Eystein  seinen  liund  Säur  über  die  ein  woh- 
ner von  frandheim  sezte  (Heimskr.  90.  391);  was  das  Skaldatal  von  Pjödolf  (nr.  40) 
sagt,  deckt  sich  fast  wörtlich  mit  dem  cingange  der  Ileimskringla  (s.  1),  ebenso  das, 
was  es  von  Eyvinds  Haleygjatal  bericlitet  (nr.  158.  llskr.  1 '").  Wie  aber  Snorris 
Skaldatal  spätere  zusätze  erhielt,  so  scheint  dieser  selbst  ein  1)ereits  aufgezeichnetes 
Skaldatal  benuzt  zu  haben,  das  sich  wol  in  Stiemunds  besitz  befunden  haben  mag.  Ich 
schliesse  dies  aus  der  reihe  der  skalden,  von  denen  wir  weiter  nichts  erfahren,  als  dass 
sie  diesen  oder  jenen  fürsten  besungen  haben.  Hätte  Snorri  aus  der  lebendigen  tra- 
dition  geschöpft,  so  würde  er  gewiss  auch  von  ihnen  Strophen  erfahren  haben,  die 
ihm  dann  quelle  seiner  historischen  werke  geworden  wären.  Auf  alle  fälle  besteht 
zwischen  dem  Skaldatal  und  Snorris  werken  ein  innerer  Zusammenhang,  und  zur 
kritik  dieser  jenes  zu  benutzen  imd  umgekehrt  wäre  eine  dankbare  und  gewiss  loh- 
nende aufgäbe. 

Ich  weiss  nicht,  wem  die  fruchtbare  idee  gehört,  den  toten  namen  des  alten 
Skaldatals  lebensvolle  biogrophicn  der  einzelnen  dichter  zuzufügen,  ob  Sigurdsson  oder 
Egilsson.  Jedenfalls  verdient  sie  volle  anerkennung  und  die  vollendete  tatsache  ist 
der  schönste  grundstein  zu  einem  corpus  scaldicum.  Die  Zusammenstellungen  über 
die  dichter  sind  rein  philologischer  natur.  Ihre  Verfasser  geben  das  tatsächliche  aus 
den  quellen  und  bauen  mit  diesem  einen  soliden  lebensabriss  der  einzelnen  dichter  auf 
Widersprechende  nachrichten  werden  kritisch  beleuclitet  und  das  für  und  Avider  ein- 
fach aber  klar  dargelegt.  Dabei  war  freilich  die  arbeit  des  bearbeiters  des  lezten 
teiles  eine  umfassendere  und  weitgehendere  als  bei  der  bearbeitung  des  ersten  halb- 
bandes.  Als  dieser  bearbeitet  wurde,  fand  man  noch  nichts  ähnliches  vor,  man  hatte 
also  keine  falschen  ansichten  zu  bekämpfen,  sondern  einfach  aufzubauen.  Der  bcar- 
bciter  des  zweiten  halbbandes  hatte  dagegen  bereits  Gudm.  I^orlukssons  Udsigt  und 
das  Cpb.  in  bänden,  mit  deren  Verfassern  er  sich  öfters  auseinandersetzen  muste. 
Und  zweifelsohne  hat  er  dies  mit  ebensoviel  geschick  als  Scharfsinn  getan  und 
dadurch  manchen  eingenisteten  fehler  beseitigt.  Dagegen  hätte  für  die  geschichte  der 
skaldendichtung,  für  eine  Schilderung  ihres  almählichen  aufsteigens  und  ihres  verfals 
noch  mehr  getan  w^erden  können.  Die  philologische  gründlichkeit  hätte  mit  dem  fei- 
nen beobachtungssinn  eines  Y.  Rydberg  gepaart  werden  müssen,  und  wir  sind  über- 
zeugt, dass  dadurch  die  skaldendichtung  erst  auf  die  stufe  gehoben  worden  wäre, 
auf  die  sie  gehöii.  Von  den  drei  höhenpunkten  eines  Egil,  Sighvat,  Sturla  I^ord- 
arson  lässt  sich  das  weite  feld  schön  und  klar  überblicken.  So  sehr  es  auch 
anzieht,  an  einzelnen  gestalten  die  arbeits weise  der  Verfasser  zu  zeigen,  so  muss  ich 
mich  doch  mit  besprechung  nur  einiger  stellen  begnügen. 

Über  die  sagengestalten  Starkads  und  könig  Ragnars  herschen  heutzutage 
andere  und  zweifelsohne  richtigere  ansichten.  Nachdem  bereits  S.  Grundtvig  Starkad 
als  eine  poetische  erscheinung,  als  das  heldenideal  der  nordischen  wikingerzeit  auf- 
gedeckt hatte  (Udsigt  s.  67  fgg.),  ist  von  Müllenhoff  bis  ins  kleinste  ein  bild  dieser 
alten  heldendichtung  entworfen  worden  (DAlv.  Y,  301  fgg.).  Auch  Ragnars  dichtung 
und  vor  allem  die  lü'akumäl  wird  man  nach  G.  Storms  überzeugendem  nachweis  als 


376  MÖGE 

ein  spätes  erzeugnis  aus  dem  ende  des  13.  jahi-huudeii:s  ansehen  (Eagnar  lodbrök 
usw.  s.  117).  Anders  steht  es  mit  Bragi  Boddason,  den  die  einen  für  eiue  histo- 
rische gestalt  ansehen,  andere  dagegen  in  das  bereich  der  sage  bringen.  Für  lezte- 
res  lässt  sich  aber  nicht  die  geringste  stütze  biingen,  denn  was  E.  Jessen  (Über  die 
Eddalieder  s.  21)  dafür  vorbringt,  ist  volständig  haltlos  und  zur  genüge  von  G.  Storm 
(Hist.  Tidrkr.  III,  s.  72  fgg.)  widerlegt  worden.  Bragis  name^  sowol  als  auch  die 
genealogie,  die  wir  aus  der  Laudu.  und  Egilssaga  entnehmen  können,  haben  durchaus 
nichts  unglaubwürdiges,  und  während  die  sagengestalten  eines  Eagnar.  Starkad  u.  a. 
über  den  ganzen  norden  verbreitet  sind,  beschränken  sich  unsere  quellen  über  Bragi 
auf  die  wenigen  norwegisch  -  isländischen  werke. 

Etwas  anderes  ist  es,  wie  Buggo  annimt  (Ztschr.  f.  d.  ph.  YII,  389),  dass  die 
person  wol  historisch,  die  unter  seinem  namen  überlieferten  gedichte  dagegen  spate- 
ren Ursprungs  sind.  Die  frage  haii  bis  heute  noch  der  lösung.  Jedenfals  spricht  das 
geschichthche  über  Bragi,  das  uns  die  quellen  an  die  hand  geben,  nicht  dagegen. 
Es  darf  jezt  als  ausgemacht  gelten,  dass  die  sagengestalt  des  Eagnar  lodbrok  in  dem 
könige  Eeginfridus  der  Lorscher  annalen.  der  814  nach  kui'zer  herschaft  fiel,  ihren 
historischen  hintergrund  hat.  Ton  Bragi  stamte  in  dritter  Knie  der  herse  ArinbJQrn, 
der  nach  der  Egilssaga  (c.  41)  etwas  älter  als  Egil  war,  also  ungefähr  900  geboren 
sein  muss.  Eechnet  man  das  durchschnitsalter  der  mutter  und  grossmutter  35  jähre, 
so  kommen  wir  auf  das  jähr  830.  ni  dem  Astrid,  Bragis  tochter,  geboren  sein 
müste.  Das  weihgeschenk ,  das  ihm  Eagnar  spendet,  zeigt  Bragi  als  rüstigen,  taten- 
durstigen mann.  Es  spricht  also  nichts  dagegen,  wenn  wir  sein  leben  zwischen  die 
jähre  780  —  850  legen.  Yigfussons  Verschiebung  (835  —  900  Cpb.  11,  2)  ist  ganz  unbe- 
gründet. 

Das  todesjahr  von  Gunnlaugr  ormstunga  (s.  323)  habe  ich  in  meiner  ausgäbe  um 
ein  jähr  verschoben  (auf  1009.  s.  XX).  Hierzu  sei  noch  bemerkt,  dass  der  algemein 
herschenden  ansieht,  d  sumar  bedeute  nur  «in  diesem  sommer*^,  Laxd.  s.  104,  17 
widerspricht,  was  auch  die  herausgeber  ganz  richtig  mit  in  proxima  aestate  wider- 
geben. —  Unter  nr.  23  werden  Gizur  svarti  und  Gizui*  gullbrä  als  eine  person  auf- 
gefasst.  Schon  der  alte  Einarson  trente  sie  und  Möbius  und  f'orläksson  sind  ihm 
gefolgt.  Auch  Finnur  Jönsson  sucht  die  wenig  erwiesene  Identifizierung  wider  auf- 
zuheben (s.  541).  Zeitlich  liesse  sich  ja  gegen  dieselbe  nichts  einwenden:  Hjalti 
Skeggja.son  komt  1017  mit  Gizur  svaiti  am  hofe  des  Schwedenkönigs  Olaf  zusammen 
(Hskr.  s.  273j.  Gizur  gullbra  aber  fält  in  der  schlacht  bei  Stiklastadii-  (1030.  Hskr. 
491).  Dagegen  werden  die  beiden  personen  übei'aU  in  den  quellen  auseinandergehal- 
ten: jenen  finden  wir  nur  im  gefolge  des  Schwedenkönigs,  diesen  bei  Olaf  dem  hei- 
ligen. Und  wenn  es  selbst  Ottar  dem  schwarzen  nur  durch  vennitlung  seines  oheims 
Sighvat  gelang,  gnade  bei  Olaf  zu  erlangen,  so  ist  es  wenig  Avahrscheinlich ,  dass 
Gizur  svarti,  der  doch  am  Schwedeuhofe  in  gleichem  Verhältnisse  zu  Olaf  dem  hei- 
ligen gestanden  hatte,  wie  Ottar,  eine  solche  rolle  gespielt  haben  würde,  wie  Gizur 
gulbrä  in   der  tat  gespielt  hat  (Hskr.  s.  475/     Dazu  widerspricht  meines  erachtens 

1)  Einen  anderen  skalden  Bragi  HalJsson  lernen  wir  als  dichter  unter  könig  Sverrir  und  seinem 
söhn  Hakon  kennen  (Skt.  nr.  132.  138);  ein  weiterer  Bragi  Hallsson  erlag  der  grossen  epidemie  in  Nor- 
wegen 1.392  iTtb.  annal.  s.  a.).  Der  name  scbeint  überhaupt  norwegisch,  nicht  isländisch  gewesen  zu 
sein  und  deshalb  mrjchte  ich  den  jüngeren  skalden  Bragi  (s.  652)  auch  für  einen  Xorweger  halten.  Als 
vater  des  alten  Bragi  nent  das  Skt.  Boddi.  Dies  für  Bondi  zu  erklären  (s.  307  aiun.  7)  Ist  aber  unstat- 
haft,  da  die  assimulation  nd  >  dd  im  norwegischen  nicht  vorkomt. 


ÜBJEK   SN.   EDDA   lU  377 

auch  der  name.  Giziu-  des  schwarzen  beiname  kaua  doch  wol  nui'  auf  die  schwarze 
färbe  seiner  haare  gehen.  Er  mag  denselben  in  der  Umgebung  von  Hjalti,  vielleicht 
von  diesem  selbst,  erhalten  haben  zum  unterschiede  von  Hjaltis  Schwiegervater  Gizur 
dem  weissen.  Für  den  beinamen  des  jüngeren  Gizm*  stelt  man  die  eigentliche  form 
des  Giülbrurskald  auf  und  nimt  an,  dass  er  ihn  nach  einem  gedichte  erhalten  hätte, 
das  er  auf  ein  mädchen  mit  goldblonden  augenbrauen  gedichtet  habe  (s.  334).  Allein 
dem  widerspricht  die  Überlieferung.  Die  Hskr.  schreibt  nur  yullbrd  (475^^.  491'-*'). 
Ebenso  das  Skaldatal,  wo  ohne  grund  unter  62  Guldbnirskald  hergestelt  ist:  A  hat 
gidlbrä,  B  ist  an  der  entscheidenden  stelle  zerfressen.  Die  grosse  Olafssaga  (1853) 
schreibt  ebcnfals  nur  guUbrd  (206 13.  217 3).  In  der  Flb.  findet  sich  immer  gull- 
brärfostri  (Flb.  E,  226.  340.  353.  355),  nur  einmal  fjuUbrärskäld  (II,  315).  In 
der  On.  s.  der  TMS.  findet  sich  fjiiUbrä  (Thomsk.  V,  s.  56.  AM.  325,  s.  80.  cod. 
Holm.  2,  s.  80);  FMS.  V,  203  haben  wir  guUbnirfostri,  s.  80  haben  es  fast  ebenfals 
alle  haudschriften,  nur-  AM.  325  hat  gidlbrdrsMld.  Entscheidend  ist  die  stelle 
FMS.  V,  56,  wo  sicher  zu  lesen  ist:  gidlbrd,  föstri  Hofgarda-Iicfs,  wie  die  Tho- 
massk.  hat.  Hier  liegt  der  Schlüssel:  Gizur  war  der  pflegevater  Hofgarda - Refs. 
Die  Überlieferung  erhärtet  gidlbrd  als  einzig  echten  beinamen.  Hierzu  trat  nocli 
föstri  Hofgaräa-Refs;  aus  misverständnis  aber  zog  man  föstri  zu  gidlbrd,  Hess 
Hofgaräa  -  Refs  bei  Seite  und  so  entstand  gidlbrdr föstri,  das  erst  in  den  jüngsten 
quellen  in  gidlbrd rsMld  umgeändeii;  wurde.  Demnach  hiess  Gizur  selbst  „ goldbraue ^, 
ein  name,  den  er  nur  von  der  helblonden  färbe  seiner  augenbrauen  gehabt  haben 
kann:  diese  aber  schliessen  schwarzes  haupthaar  aus.  —  Dagegen  muss  man  Jon 
Sigiu'dsson  recht  geben,  wenn  er  den  HallbJQrn  hali  (s.  373),  den  das  Skt.  auf 
Knut  Eiriksson  (j  1195)  und  Sveriii-  (tl202)  lobgedichte  verfassen  lässt,  von 
HallbJQiTi  hali,  der  auf  J'orleif  jarlaskald  (t994)  dichtete,  ti-ent.  I'orlaksson  will 
beide  identifizieren  (s.  145).  Wol  erfahren  wir,  dass  der  leztere  lobgedichte  auf  für- 
sten  gedichtet  habe  (Ftb.  I,  215),  allein  dies  muss  in  der  zeit  kurz  nach  l'orleifs 
tode  gewesen  sein.  Nachdem  die  Flb.  von  lezterem  berichtet  hat,  fährt  sie  fort: 
Sa  madr  bio  pa  a  pingvelli  er  porkell  het  usw.  Dies  pd  kann  nur  auf  die  zeit 
gehen,  wo  f'orleif  starb.  Und  nach  der  episode  von  HallbJQrn  fähii  unmittelbar 
anschliessend  dieselbe  quelle  fort:  En  frei  bra-drimi  porleifs  er  pat  at  segia  .  . 
(Ftb.  I,  214/15).  Der  erzählung  wüi'de  das  ganze  Verständnis  geraubt  werden,  wei- 
ten wir  sie  zeitlich  um  eineinhalb  Jahrhundert  verschieben.  —  So  Hessen  sich  auch 
zum  ersten  teile  des  vorliegenden  bandes  noch  eine  reilio  bemerkungen  machen,  die 
der  einzelforschung  noch  bedürfen.  Dasselbe  gilt  auch  von  der  arbeit  Finnur  Jons- 
sons.  Ein  Vorzug  lezterer  ist,  dass  er  namentlich  auf  die  composition  der  grösseren 
gedichte  eingeht  und  von  manchem  eine  kurze,  klare  inhaltsangabe  gibt.  Eine  ganze 
reihe  nicht  genügend  oder  gar  nicht  erwiesener  behauptungen ,  namentlich  Vigfüssons 
und  f'orläkssons ,  weist  er  mit  gutem  recht  zurück.  Gegen  lezteren  schemt  er 
in  einigen  pimkten  freilich  zu  weit  zu  gehen.  Man  wird  sich  zweifelsohne  auf 
F.  Jonssons  seite  stellen,  wenn  er  z.  b.  jene  für  unsere  heldensage  so  wichtige  visa 

Geisli  stendr  til  grundar 

(FMS.V,  234.  Ftb.  HI,  244)  dem  I'orfinn  munr  zuschreibt,  während  f*orm6d  Kol- 
bn'marskald  kein  am-echt  auf  sie  hat.  Dagegen  kann  ich  nicht  billigen,  wenn 
F.  Jousson  (s.  545)  mit  Jon  Sigurdsson  (s.  209)  die  beiden  halbstrophen  der  Sn.  E. 

Oyt  kemr  {bo\)  jaräar  leiptra  (Sn.  E.  I,  232) 
und  pcer  eigu  ver  veigar  (Sn.  E.  I,  240) 


37S  HOLSTEIN 

als  zwei  eine  vIsa  bildende  halbstrophcn  ausieht.  Gewiss  wird  niemand  leugnen ,  dass 
in  einem  gedichte  alhent  gestattet  ist.  Dass  aber  in  einer  visa  die  erste  hälfte  ganz 
regelmässiges  dröffkrcpft,  die  zweite  aber  durchweg  alhent  haben  kann,  ist  zum  min- 
desten wenis  wahrscheinhch. 

Neben  dem  litterarliistorischen  weiie  des  vorliegenden  teiles  möchte  ich  aber 
auch  noch  den  philologischen  hervorheben.  Nicht  wenige  skaldensteilen  haben 
F.  Jönsson  zu  textkritischeu  bemerkungen  veranlasst  und  so  erscheinen  ziemlich 
viele  in  neuem  lichte.  Es  lockt,  auch  von  dieser  seite  auf  das  werk  noch  einzu- 
gehen, doch  ich  werde  bald  anderen  orts  dazu  gelegenheit  finden. 

Ich  scheide  von  dem  vorliegenden  bände  der  Edda  mit  der  Überzeugung,  dass 
er,  wie  schon  der  erste  teil  auch  in  seiner  ganzen  gestalt  die  gruudlage  zu  einer 
neuen  aera  der  skaldendichtung  wird:  was  wir  im  Cpb.  für  alle  dichter  erwartet 
hatten,  das  besitzen  wir  im  vorliegenden  werke  von  einem  grossen  teile  derselben. 
Veiüefung  in  die  einzelneu  teile  des  ganzen,  das  sei  der  dank,  den  wir  in  erster 
linie  dem  verstorbenen  Jon  Sigurdsson,  aber  zum  nicht  geringen  teile  auch  Finnur 
Jönsson  schuldig  sind. 

LEIPZIG,    DI   SEPT.    1888.  E.    MOGK. 


Liidwia:  TVirth.  Die  oster-  und  passionsspiele  bis  zum  XVI.  Jahrhundert. 
Beiträge  zur  geschichte  des  deutschen  dramas.  Halle  a.  S.,  Max  Nie- 
mever.  1889.     Till  u.  351  s.     8.     10  m. 

Die  Wahrnehmung,  dass  seit  einer  reihe  von  jähren  sich  für  die  ältere  geschichte 
des  deutschen  dramas  eine  erhebliche  teilnähme  gezeigt  hat,  muss  jeden  litteratur- 
freund  mit  freude  eifüUeu.  AVar  doch  seit  Hoffmann  von  Fallersleben  und  Mono 
lange  zeit  die  kentnis  dieses  wichtigen  litteraturzweiges  auf  einige  bedeutendere  geist- 
liche spiele  des  mittelalters  beschränkt  und  fast  jeder  versuch  einer  geschichtlichen 
entwicklung  des  geistlichen  dramas  ruhte  auf  den  forschungen  jener  beiden  führer. 
Inzwischen  waren  wider  einige  spiele  durch  den  druck  teils  volständig,  teils  bruch- 
stückweise bekant  geworden,  aber  zu  einer  streng  philologischen  behandlung  der 
dramen  kam  es  noch  nicht.  Erst  nachdem  Schönbach  und  Milchsack  eine  kritisch 
gesichtete,  auf  der  vergleichung  der  einzelnen  stücke  unter  einander  beruhende 
Untersuchung  über  die  Marienklagen  einerseits  und  über  die  lateinischen  osterfeiern 
andereeits  mit  überzeugender  Sicherheit  angestelt  hatten,  nachdem  ferner  Müchsack 
in  seiner  ausgäbe  des  Egerer  und  Heidelberger  passionsspieles  das  verwantschaftliche 
Verhältnis  derselben  zu  älteren  spielen  mit  lobenswerter  Sorgfalt  erschlossen  hatte, 
konte  der  aufbau  einer  geschichte  des  mittelalterlichen  dramas  geplant  werden.  Die 
herausgäbe  der  Erlauer  spiele  durch  Kuminer,  sowie  Wackemells  Untersuchung  über 
die  ältesten  Tiroler  passionsspiele  haben  sodann  ein  neues  lehrreiches  material  an  das 
licht  gezogen  und  neuerdings  hat  Lange  die  Untersuchung  über  die  lateinischen 
osterfeiern  in  einer  geradezu  überraschenden  weise  gefördert.  Denn  während  Milch- 
sack nur  28  osterfeiern  kante,  fand  Lange  nicht  weniger  als  224,  wovon  auf  Deutsch- 
land 159  kommen. 

Auf  ein  so  wolgeordnetes  und  vorbereitetes  material  gestüzt  hat  es  L.  "Wirth 
unternommen,  die  entstehung  und  entwicklung  der  oster-  und  passionsspiele  bis  zum 
auftreten  des  gelehrtendraraas  darzulegen.  Es  ist  dies  in  einer  weise  geschehen, 
welche  unsere  gerechte  be wunderung  herausfordert,    da  der  Verfasser  zeigt,    dass  er 


ÜBEll   WIKTH,    Oiil'Jil4-    L'iNL»   l'ASSIONSSriELE  379 

den  kaum  übersehbaren  stoff  nicht  nur  völlig  beherscht,  sondern  auch  streng  wissen- 
schaftlich zu  gliedern  und  zu  verarbeiten  versteht.  Unter  diesen  umständen  und  bei 
seiner  vortreflichen  kentnis  der  andern  mittelalterlichen  dichtungen  ist  es  ihm  gelun- 
gen, ein  grundlegendes  werk  zu  schaffen,  das  uns  den  reichtum  der  dramatischen 
poesie  des  mittelaltors  erschliesst  und  die  Stellung  erkennen  lässt,  welche  das  geist- 
liche spiel  in  der  deutschen  litteratur  einzunehmen  berufen  war. 

Nachdem  der  Verfasser  in  der  eiuleitimg  die  osterfeiem  kurz  besprochen  hat, 
führt  er  die  einzelnen  auftiitte  auf,  welche  die  beiden  gruppen,  in  die  die  ostersiüele 
nach  anläge  und  iuhalt  zerfallen,  darbieten.  Für  die  erste  grupi)e  werden  7,  für  die 
zweite  ebenfals  7  auftritte  festgestelt,  deren  entstehung  und  schritweiso  Weiterent- 
wicklung sorgfältig  nachgewiesen  werden.  Es  folgt  dann  eine  eingehende  betrachtung 
der  anläge  der  passionsspiele  und  ähnlicher  spiele,  wobei  eine  auf  Tischendorfs 
Synopsis  evangelica  (5.  aufl.  Leipzig  1884)  ruhende  chronologische  reihenfolge  der 
scenen  —  es  sind  deren  49  —  aufgestelt  wird,  welche  eine  genaue  Übersicht  über 
ihre  Verwertung  in  den  verschiedenen  spielen  gewährt.  Es  lässt  sich  erkennen,  dass 
die  umfangreichsten  spiele,  nämlich  das  Heidelberger  spiel,  die  Frankfurter  dirigier- 
roUe  und  das  Alsfelder  spiel,  fast  den  ganzen  biblischen  stoff  bearbeiten.  Nimt  mau 
dazu  die  präfigui-ationen  des  Heidelberger  passionsspieles ,  welche  der  Verfasser  zu 
erwähnen  keinen  anlass  hatte,  so  wird  man  zugeben  müssen,  dass  dieses  spiel  inhalt- 
lich den  ersten  platz  in  der  litteratur  des  geistlichen  dramas  verdient. 

An  die  betrachtung  der  anläge  der  passionsspiele  schliesst  der  Verfasser  bemer- 
kungen  über  die  entstehung  derselben.  Sodann  folgt  eine  sehr  lehrreiche  Untersuchung 
über  die  grundlage  und  die  quellen  der  osterspiele.  Der  Verfasser  verfährt  hinsichtlich 
der  ersten  gruppe  so,  dass  er  die  am  häufigsten  vorkommenden  versikel  zusammen- 
stelt,  um  erkennen  zu  lassen,  dass  die  Übereinstimmung  der  geistlichen  spiele  auf  der 
benutzung  derselben  schriftlichen  vorlagen  und  quellen,  nicht  auf  mündlicher  tradi- 
tion  beruht  und  dass  die  dichterische  tätigkeit  der  Verfasser  eine  sehr  verschieden- 
artige gewesen  ist,  indem  sie  ihre  quellen  entweder  wörthch  benutzen  oder  umarbei- 
ten und  überarbeiten.  Als  ergebnis  wird  festgestelt,  dass  die  zahlreichen  hymnen 
und  klagegesänge  aus  den  Marien-  und  Magdalenenklagen  herübergenommen  sind, 
dass  dagegen  für  den  übrigen  text  zahlreiche  ostergesänge ,  ferner  Walter  von  Rhei- 
naus Marienleben,  für  einzelne  stellen  auch  Martina,  passional  und  erlösung  gedient 
haben.  Als  grundlage  für  die  erste  gruppe  kann  der  Trierer  ludus  gelten,  daneben 
haben  aber  auch  viele  fassungen  des  Innsbrucker  und  Wiener  osterspieles  weite  Ver- 
breitung gefunden  (s.  69).  Auch  auf  die  zweite  gruppe  der  nach  inhalt,  spräche  und 
Charakter  von  der  ersten  bedeutend  abweichenden  osterspiele  dehnt  der  Verfasser 
seine  Untersuchungen  aus  und  gelangt  zu  dem  ergebnis,  dass  das  Innsbrucker  und 
das  Wiener  osterspiel  als  typus  und  grundlage  derselben  zu  betrachten  sind.  Die 
queUe  füi'  den  3.  und  6.  auftritt  sind  geistliche  dichtungen  wie  Urstende»  Martina, 
passional  u.  a.,  für  den  lezteren  auch  die  erlösung.  Die  übrigen  scenen  sind  teils 
geistlichen,  teils  weltlichen  dichtungen  entnommen.  Interessant  sind  besonders  die 
anchweise  von  der  Übereinstimmung  mit  manchen  fastnachtspielen,  zumal  mit  dem 
Neithartspiele ,  so  dass  man  eine  wechselseitige  beeintlussung  der  fastnachtspiele  und 
der  geistlichen  spiele  anzunehmen  berechtigt  ist. 

Der  Verfasser  zeigt  in  diesem  abschnitte  eine  grosse  Vertrautheit  mit  den 
schätzen  der  poetischen  Htteratui-  des  mittelaiters ,  wie  man  auch  das  sorgfältige  Stu- 
dium der  18  spiele  mhmen  muss,  das  er  in  dem  folgenden  abschnitt  zu  erkennen 
gibt.     Hier   bespricht  er   das   Verhältnis   der  von  ihm  berücksichtigten   18   spiele   zu 


380  HOLSTEIN 

einander  und  gibt  ihre  besonderen  quollen  an,  wobei  eine  sorgfältige  Charakteristik 
jedes  einzelnen  Spieles  gegeben  wird.  Für  die  ältesten  spiele  wird  mit  recht  ein  ver- 
loren gegangenes  spiel  als  gemeinsame  quelle  angenommen.  Dem  Verfasser  erscheint 
das  Redentiner  ostei^spiel  ,  wegen  der  frischen,  volkstümlichen,  humoristisch  -  sati- 
rischen darstellung,  der  niederdeutschen  lokalfärbung ,  der  gelungenen  chai'akteristik 
der  hauptpersonen,  der  ebenso  eigentümlichen  wie  glücklichen  erweiterung  mancher 
scenen-  als  das  beste  aller  osterspiele.  Von  der  einwirkung  der  Magdalenenscenen 
des  Benediktbeurer  passionsspieles  auf  die  anläge  anderer  spiele  sind  auch  wir  über- 
zeugt, aber  wir  hätten  gewünscht,  dass  der  Verfasser  statt  des  Hoffmannschen  textes 
den  der  Carmina  burana  in  der  Oesterleyschen  ausgäbe  zu  gi'unde  gelegt  hätte. 
Ebenso  wichtig  für  die  entwicklung  der  geistlichen  spiele  erscheint  uns  das  Wiener 
passionsspiel.  Was  die  Frankfurter  dirigierrolle  betritt,  so  darf  ihre  entstehung  ohne 
bedenken  um  das  jähr  1350  angesezt  werden,  da  der  kanonikus  Baldemar  von  Peter- 
weil, der  1382  als  verstorben  erwähnt  wird  und  von  dessen  charakteristischer  hand- 
schrift  zahlreiche  manuscripte  im  archiv  zu  Frankfurt  vorhanden  sind,  an  ihr  ver- 
besseningen  vorgenommen  und  an  den  rand  bemerkungen  geschrieben  hat,  und  zwar 
nach  dem  duktus  dieser  bemerkungen  zu  schliessen,  in  seiner  früheren  lebenszeit. 
Mancherlei  für  die  geschichte  des  mittelalterlichen  dramas  wichtigen  ergebnisse  wird 
die  in  aussieht  stehende  Veröffentlichung  des  Frankfurter  passionsspieles  von  1492, 
das  sich  handschriftlich  im  Stadtarchiv  zu  Frankfurt  befindet,  zu  tage  fördern.  Es 
ist.  wie  mir  herr  dr.  Froning  schreibt,  eine  kopie  von  der  hand  des  gerichtschreibers 
Johannes  Cremer.  „Aus  der  Übereinstimmung  der  versanfänge  lässt  sich  in  vielen 
fällen  schliessen,  dass  das  jüngere  spiel  auf  dem  älteren  beruht;  nur  ist  das  jüngere 
unendlich  viel  dramatischer  und  hat  "^iele  wenig  dramatische  episoden  des  älteren 
gestlichen;  auch  fehlen  die  im  älteren  spiele  so  häufigen,  aber  doch  sehr  undrama- 
tischen chöre  in  dem  jüngeren  fast  ganz." 

Dem  fünften  abschnitte  fügt  der  Verfasser  eine  graphische  darstellung  des 
abhängigkeits Verhältnisses  der  sämtlichen  spiele  bei.  aus  welcher  hervorgeht,  dass 
die  osterspiele  sich  vom  Rhein  (Trierer  ludus)  durch  Mitteldeutschland  verbreitea. 
Ton  hier  geht  ein  zweig  nach  Österreich  (Innsbruck,  Wien,  Sterzing),  ein  anderer 
durch  Böhmen  ebenfals  dahin,  sogar  bis  nach  Ungarn  (Erlau),  ein  anderer  nach 
dem  norden  (Wolfenbüttel,  Redentin).  Die  passionsspiele  gehen  von  Süddeutsch- 
land ( Benediktbeuren )  und  der  Schweiz  (St.  Gallen)  aus,  verbreiten  sich  dann  nach 
Österreich  (Wien,  Sterzing,  Erlau)  und  Mitteldeutschland  (Donaueschingen,  Frank- 
furter dirigieiTolle ,  Friedberg,  Alsfeld),  wo  sie  mit  den  osterspielen  zusammen- 
treffen. 

Der  sechste  abschnitt  beschäftigt  sich  mit  dem  stil  der  geistlichen  spiele.  Es 
wird  zunächst  wahrscheinlich  gemacht,  dass  die  weltlichen  demente,  welche  die 
geistlichen  spiele  enthalten,  durch  die  spieUeute,  die  clerici  vagantes  und  ähnliche 
leute  in  dieselbe  gelangt  sind.  Leztere  waren  teilweise  Schauspieler  von  beruf,  sie 
wurden  zuerst  von  den  geistlichen  als  mitspieler  zugelassen ;  als  jedoch  die  weltlichen 
Elemente  hinzuti'aten ,  wurden  die  spiele  aus  der  kirche  verbaut,  die  geistlichen 
musten  auf  die  mitwirkung  verzichten  und  das  aus  der  kii'che  vertriebene  drama 
geriet  nun  ausschliesslich  in  die  bände  der  spielleute.  Im  einzelnen  weist  nun  der 
Verfasser  an  den  sprachlichen,  stilistischen  und  sonstigen  eigentümlichkeiten  der  ver- 
schiedenen spiele  den  einfiuss  der  Spielmannsdichtung  nach,  so  zunächst  in  allen 
scenen.  in  denen  Pilatus  und  seine  ritter  auftreten,  in  den  krämerscenen,  in  den 
teufelsspielen    und    in    den    Maiia- Magdalenenscenen.     Der    nach  weis    wird    in    einer 


ÜBER  WIRTH,  OSTER-  UND  PASSIONSSPIELE  381 

Überaus  sorgfältigen  Untersuchung  über  die  (|uelleii,  aus  denen  die  dichter  der  oster- 
spiele und  der  fastnaehtsiäele  geschöpft  haben,  und  über  die  art  der  benutzung  der 
vorlagen  durch  die  Verfasser  der  verschiedenen  spiele  geführt.  Diese  Untersuchung 
erstreckt  sich  auch  auf  die  passionsspielo,  welche  grossenteils  auf  grundlageu  der 
epischen  dichtung  beruhen.  Mit  einer  bewundernswerten  Sicherheit,  einer  folge 
überaus  gründlicher  komparativer  Studien,  kann  der  Verfasser  die  tatsache  feststellen, 
dass  sich  das  Bencdiktbourer  und  das  Wiener  passionsspiel  als  })rodukte  der  spiel- 
mannspoesie  erweisen  und  dass  die  Verfasser  der  grossen  i)assionsspiele  ihre  vorläge 
in  sehr  vielen  fällen  wörtlich  abgeschrieben  haben.  Derartiger  hochwichtiger  ergeb- 
nisse  hatten  die  bisherigen  forschungen  über  die  entwicklungsgeschichte  der  drama- 
tischen poesio  des  mittelalters  sich  noch  nicht  zu  erfreuen,  und  wir  können  dem 
Verfasser  nicht  daukbai-  genug  sein,  dass  er  sich  der  grossen  mühe  unterzogen  hat, 
ein  werk  zu  schaffen,  dessen  Zustandekommen  nur  durch  die  anwendung  des  ern- 
stesten und  gewissenhaftesten  ileissos  möglich  war. 

Als  „anhangt  (s.  235  —  343)  bringt  der  Verfasser  die  belege  zu  den  geistlichen 
spielen,  durch  welche  das  Verhältnis  der  einzelnen  spiele  zu  einander  klar  gelegt 
wird.  Der  Verfasser  begiut  hier  mit  der  markierten  Scheidung  zwischen  oster-  und 
passionsspielen  (A.  osterspiele),  ohne  dieselbe  bei  den  mit  dem  Benediktbeurer  spiel 
(s.  278)  beginnenden  passionsspielen  durch  den  vermerk:  B.  passionsspiele  kentlich 
zu  machen.  Auch  dieser  abschnitt,  der  das  scenarium  jedes  der  18  spiele  nebst  den 
nachweisen  der  Übereinstimmungen  mit  dem  scenarium  anderer  spiele  enthält,  lässt 
uns  auf  jeder  seite  den  hohen  wert  des  Wirthschen  buches  erkennen. 

In  dem  am  Schlüsse  befindlichen  litteraturnachweis  vermissen  wir  Fronings 
wertvolle  kleine  schrift  Zur  geschichte  und  beurteilung  der  geistlichen  spiele  (Frank- 
fuii  a.  M.  1884),  Milchsacks  recension  der  Kummerschen  ausgäbe  der  Erlaucr  spiele 
(Litteraturblatt  f.  germ.  u.  rom.  i)hilologie  4,  171  — 174),  Scherers  besprechung  der 
Milchsackschen  Oster-  und  passionsspiele  (Deutsche  litteraturzeitung  1881,  50),  fer- 
ner die  erwähnung  des  Lambacher  passionsspieles  (Frogr.  Kremsmünster  1883).  Die 
berichtigungen ,  die  der  Verfasser  auf  s.  350  und  351  verzeichnet,  lassen  sich  noch 
um  das  doppelte  vermehren;  es  sind  meist  druckfehler,  die  sich  jeder  leser  .selbst 
verbessern  kann.  Doch  möchte  ich  folgende  wichtigere  hier  anführen.  Es  ist  zu 
lesen:  s.  123  z.  8  v.  u.  von  vorn,  s.  139  z.  10  Mone  U,  s.  146  z.  17  brauchbarer, 
s.  147  ostensiones  und  Intendant,  s.  161  Herodias,  s.  191  und  193  Einbecker  sünden- 
faU  (unter  wegfall  des  kommas),  s.  204  und  205  Wackernagel  st.  Grimm,  s.  212  z.  11 
jenes  gedichtes  konte  ich  nicht  habhaft  werden,  s.  235  Hoffmann  st.  Mone,  s.  238 
Pasche,  s.  305  mane  nobiscum,  s.  345  Pfeiffer,  s.  346  unter  Krolewiz:  Lisch  st.  Sich, 
s.  350:  zu  s.  53  z.  3  oben  st.  unten. 

WILHELMSHAVEN.  HUGO   HOLSTEIN. 


Friedrieh  Nicolais  kleyner  feyner  almanach  1777  und  17  78.  Erster  und 
zweiter  Jahrgang.  Herausgegeben  von  Oeorg  Elling-er.  Berlin,  gebm- 
der  Paetel.  1888.  XXXYI,  64  und  XH,  86  s.  8.  6  m.  —  Auch  u.  d.  t:  Ber- 
liner neud rucke.  Herausgegeben  von  prof.  dr.  Ludwig  Geiger,  prof.  di\ 
B.  A.  Wagner  und  dr.  Georg  Ellinger,  1.  und  2.  band. 

Das    neue    unternehmen,    das    hier    glücklich    und    passend    durch   Ellingers 
emeuerung  der  Nicolaischen  volksliedersamlung  eröfnet  wird,    soU  vergriffene  ältere 


382  BOLTE 

■werte  aus  dem  litteratiu-leben  der  mark  Brandenburg,  wie  N.  Peuckers  gedieh te, 
Schmidt  von  "Werueuchen  u.  a.  algemein  zugänglich  machen. 

Pie  beiden  zierlichen  bändchen  des  ,,kleynen  fernen  almanachs  vol  schönorr 
echterr  liblicherr  volckslieder'^,  welche  von  den  zahlreichen  seither  aufgetretenen 
samleru  auf  diesem  gebiete  fleissig  ausgenuzt  wurden,  sind  bereits  so  selten,  dass 
man  nur  mit  grosser  mühe  eines  exemplars  habhaft  werden  kann,  und  so  wird  der 
vorliegende  abdruck  fielen  freunden  der  volkspoesie  eine  wilkoinmcne  gäbe  sein, 
zumal  da  der  herausgeber  den  text  sorgfältig  revidiert  und  mit  einer  gut  orientieren- 
den einleituntj  vei'sehen  hat. 

Seitdem  Herder  in  den  Fragmenten  über  die  neuere  deutsche  litteratur  uud  in 
den  Blättern  von  deutscher  art  imd  kunst  die  junge  dichtergeneration  auf  die  wider- 
belebung  des  deutschen  Volksliedes  hingewiesen  und  den  wünsch  ausgesprochen  hatte, 
es  möge  ein  deutscher  Percy  aufstehen,  welcher  die  verstreuten  reste  desselben  im 
Elsass,  in  der  Schweiz,  in  Franken,  Tirol  und  Schwaben  samle,  waren  manche  die- 
ser mahnung  gefolgt.  Besonders  aber  widerholte  Bürger  im  Peutschen  museum  177G 
mit  diiuglichkeit  Herders  klagen  über  die  gelehrte  verbildung  seiner  zeit  und  ver- 
langte, dass  die  dichter  sich  in  ihren  bailaden  das  Volkslied  zum  muster  nehmen 
und  ihre  Wirkung  nicht  auf  wenige  gebildete,  sondern  auf  das  ganze  volk  berechnen 
solten.  Piese  forderungen  und  der  etwas  überschwängliche  ton  in  Bürgers  aufsatze 
gaben  dem  Berliner  kunstrichter  Nicolai  den  plan  ein,  in  der  maske  eines  deutschen 
Percy  aufzutreten  imd  die  widerbelebung  der  volkspoesie  mit  denselben  parodistischen 
mittein  lächerlich  zu  machen,  die  er  kurz  zuvor  (1775)  in  den  Freuden  des  jungen 
"Werthers  gegen  Goethe  verwant  hatte.  Auf  Herder  brauchte  er  keine  rücksicht 
mehr  zu  nehmen,  da  seine  Verbindung  mit  ihm  gelöst  war.  Längst  wol  hatte  er 
mit  dem  nüchternen  beobachtungstalente  und  dem  sammelfleisse ,  welcher  seine 
Beschreibung  einer  reise  durch  Peutschland  oder  seine  Beschreibung  von  Berlin  und 
Potsdam  kenzeichnet,  auf  fliegende  blätter  und  alte  liederbüchlein  geachtet,  aber 
darin  nur  curiosa  erblickt,  denen  kein  moralischer  nutzen  und  keine  förderung  der 
dichtkunst  innewohne.  „Wenn  man  solche  volksheder  im  original  ansieht '^,  schrieb 
er  an  Gebier,  „so  erkent  man  deutlich  die  torheit  derjenigen,  welche  der  weit  weiss- 
machen  woUen,  als  ob  aus  den  schrecklichsten  hechelträgerUedem  der  wahre  zauber 
der  dichtkunst  oder  gar  der  geist  der  nationen  ausfindig  gemacht  werden  könne." 
Von  seinen  bekanten,  wie  Lessing  und  Justus  Moser,  erbat  er  sich  beitrage  und 
äusserte  sich  dem  ersteren  gegenüber  auch  offenherzig  genug  über  die  von  ihm 
befolgte  methode:  mit  heimlichem  vergnügen  habe  er  einige  schöne  stücke  zuerst 
ans  licht  gebracht,  aber  wLssentlich  einige  recht  plumpe  darunter  gesezt,  damit  man 
anschauend  sehe,  dass  wahrhaftig  nicht  alle  Volkslieder  des  abschreibens  wert  sind. 
Ein  zweites  mittel  der  parodie  ist  die  absichthch  verzeiie  und  überladene  Schreib- 
weise, mit  welcher  er  die  lästigen  konsonantenhäufungen  des  16.  Jahrhunderts  über- 
bietet. Auch  gieng  er  mit  seinen  vorlagen  oft  recht  eigenmächtig  um.  PeutUcher 
noch  zieht  er  in  der  vonede,  welche  er  einem  handwerksgenossen  des  verachteten 
meistersängers  Hans  Sachs,  dem  schuster  Paniel  Seuberlich  tzu  Ritzmück  an  der 
Elbe,  in  den  mund  legt,  gegen  die  Originalgenies  zu  felde;  aber  seine  parodie  des 
Bürgerschen  aufsatzes  geht  plötzlich  in  einen  ungeschickten  direkten  angriff  vom 
moralisierenden  Standpunkte  aus  über.  Per  erfolg  des  Unternehmens  war  kaum  der 
von  Nicolai  erhofte.  Seine  freunde  begnügten  sich  mit  einigen  ausweichenden  kom- 
pUmenteu  oder  sprachen  ihre  misbilligung  über  die  satire,  in  welcher  ti-efliches  und 
geringes  in  gleicher  weise  verurteilt  wurde,  aus:    so  Merck,  Boie,  Lessing.     Bürger 


ÜBER   NICOLAI,    ALMANACH   ED.    ELLINGER  383 


beschränkte  sich  darauf,  in  einigen  Strophen  des  gedichts  Europa  ]  777  mehrere  üusse- 
rungen  der  vorrede  zurückzuweisen  (vgl.  Strodtniann,  Briefe  von  und  an  Bürger  1, 
381  fg.).  Zwei  anonym  gebliebene  autorcn  veranstalteten,  wie  Ellinger  zuerst  nach- 
weist, einen  ironisch  gemeinten  nachdruck  des  Almanachs  und  eine  nachahmung: 
„Ausbund  schöner  weltlicher  lieder  für  bauers-  und  handwerkslcute ",  Reutlingen, 
0.  j.  Herder  endlich  uante  den  Almanach  Nicolais  eine  Schüssel  voll  schlämm,  auf- 
getragen, damit  die  uation  ja  nicht  zu  etwas  besserem  lust  bekomme,  und  unter- 
nahm es  1778,  in  seinen  „Volksliedern"  das  gold  aus  dem  schätze  der  deutschen 
volkspoesie  zu  heben  und  dem  ])ublikum  aufzuzeigen. 

Schon  Lessing  vermisste  ein  Verzeichnis  der  von  Nicolai  benuzten  drucke  und 
handschrifteu ;  Ellinger  hat  in  einem  anhange  (2,  61 — 80)  einen  solchen  quellcnnach- 
weis  für  die  meisten  der  64  lieder  geliefert.  Danach  sind  20  nummern  aus  den  drei 
teilen  der  Bergkreycn  (Goedeke,  Grundriss-  2,  28.  40  fg.)  entlehnt,  andre  entnalim 
der  samler  fliegenden  bliitteru  des  18.  Jahrhunderts  und  den  ihm  von  Moser  und 
Steinbart  zugesanten  aufzeichnungen  aus  dem  volksmunde;  zwei  stücke  des  zweiten 
bandes  sind  dichtungen  Simon  Dachs,  welche  in  Heinrich  Alberts  Alien  stehen.  Zu 
dem  2,  82  mitgeteilten  „Vierlander  baurliedlein " :  „0  moder,  o  moder,  min  kucken 
is  dod"  sind  die  nachweise  bei  H.  Frischbier,  Preussische  volksreime  und  volksspiele 
(1867)  s.  18  fg.  zu  vergleichen.  In  dem  1669  angelegten  liederbuche  des  Leipziger 
Studenten  Christian  Clodius  (Berliner  mscr.  genu.  oct.  231  s.  4)  steht  eine  andere 
fassung  nebst  melodie: 

Hey  mutter,  der  finck  ist  todt. 

Hätt  ihr  den  fincken  zu  trincken  gegeben. 

So  were  der  fincke  geblieben  am  leben. 

Der  Sorgfalt  des  herausgebers  entspricht  die  hübsche  ausstattung,  welche  die 
Verlagshandlung  dem  werkchen  hat  angedeihen  lassen.  Der  hohe  preis  wii'd  freilich 
der  Verbreitung  im  wege  stehen.  Dass  die  Seitenzahlen  des  originaldrucks  nicht 
angegeben  sind  und  das  von  Chodowiecki  gestochene  titelbildchen  nicht  widerholt  ist, 
wird  man  leicht  verschmerzen;  bedauerlich  aber  ist  das  fehlen  der  teilweise  von 
Reichardt  komponierten  melodien,  um  so  mehr,  als  weder  auf  Erks  (Die  deutschen 
Volkslieder  2,  heft  3  s.  14)  bemcrkungen  über  dieselben  noch  auf  spätere  abdrücke  in 
Kretzschmers  und  Zuccalmaghos  samlung,  in  Erks  Deutschem  liederschatz  u.  a.  liin- 
gewieseu  wird. 

BERLIN.  '  JOHANNES    BOLTE. 


Eiue  lausa^isa  des  Hrömundr  halti, 

die  in  der  Landnäma  (Isl.  sögur  I-,  162)  und  in  der  Flateyjarbok  (I,  413)  verderbt 
überhefeii  ist,  lässt  sich  folgendermassen  herstellen: 

Ne  ^vi  dogri  da^^^i  'Roßki  'k  litt,  {)6t  leiki 

ÜYaug  flatvallar  hauga.  UYvgndr  He{)ins  Ut]QX 

—  buumsk  vi{)  Ihndx  jaZmi!  —  (ä|)r  vas  xitd^^v  pwm. 

kpY  ne  gser  vas  ra^inn.  aldr)  vi{)  rauj)a  skj^ldu. 

1  Varat  mer  i  dag  daudi  codd.  edd.  2  di-augr  codd.  edd.  {eine  hs.  der  Landnäma 
drougar).  3  älmar  jalmi  eine  hs.  der  Ldn.  4  vas]  of  codd.  edd.  6  litvordr  einige 
hss.  der  Ldn.  uitiar  Flb.  7  oss  var  adi-  (ädr  var  oss  Flb.)  of  markadr  codd.  edd.; 
vtum  var  ädr  of  vitadi*  Jon  po?'kelsson. 


384  NACHHICHTEN 

Zur  ei-sten  zeile,  die  iu  deu  bss.  hendingalaus  ist,  vgl.  ^Skirnisrnf^l  13^:  einu 
do:gri  rqnonk  aJdr  of  skapaßr.  Z.  7  hat  iu  deu  hss.  ebeufals  keiueu  silbeureiui. 
Die  von  Jou  I'oikelsson  vorgeschlageue  coujectur  enthält  zwei  metrische  fehler,  die 
durch  die  von  mir  vorgenomuieue  uiustelluug  entfernt  sind.  Ob  die  conjectur  das 
richtige  trift,  ist  natüi'lich  ganz  uusichei-:  die  Verderbnis  liesse  sicli  alleufals  auf  dem 
wege  der  mündhcheu  traditiou,  schwerlich  auf  dem  der  schriftlichen  erklären.     H.  G. 


Zu  zeitschi'.  XXII,  93. 

Zu  dem  aufsatze:  Eine  quelle  des  Simplicissimus  (oben  s.  93  fgg.)  macht  mich 
heiT  dr.  F.  Bober  tag  darauf  aufmerksam,  dass  er  bereits  in  seiner  Geschichte  des 
romans  (Ha,  27.  64  fgg.  93)  über  die  benutzung  des  Gusman  vou  Alferache  durch 
Grimmeishausen  gehandelt  hat.  H.  G.    . 


NACHRICHTEN. 


Der  verein  für  Hambui'gische  geschichte  bestirnt  einen  preis  von  1000  mai'k 
für  den  besten  bis  zum  1.  mai  1892  im  manuscript  eingereichten  beiti-ag  ziu-  kentnis 
des  anteils  Hamburgs  an  der  entwickelung  der  deutschen  litteratur 
während  der  ersten  halte  des  18.  jahrbunderts.  Nähere  auskunft  erteilt  der 
ei-ste  Vorsteher  des  Vereins,  di'.  Th.  Seh  rader,  Hambui'g,  Eilbeck,  Hmter  der  Land- 
wehr 6/7.  

Die  XL.  versamlung  deutscher  philologen  und  Schulmänner  wird 
vom  2.  bis  zimi  5.  Oktober  1889  in  Görlitz  abgehalten  werden.  Die  vorbereitenden 
geschäfte  für  die  germanisch  -  romanische  section  haben  professor  dr.  0.  Erdmann 
und  professor  di'.  Gaspary  in  Breslau  übernommen. 


Professor  dr.  Fr.  Vogt  in  Kiel  wui'de  als  uachfolger  E.  AYeinholds  an  die 
Universität  Breslau  berufen. 

An  der  univereität  Leipzig  habilitieile  sich  di'.  ^".  Streitberg  füi-  germanische 

Philologie.  

Am  28.  april  d.  j.  verstarb  zu  Gotha  hofrat  prof.  dr.  Karl  ßegel  (geb.  21.  mai 
1817).  Die  Zeitschrift  betrauert  in  dem  dahmgeschiedenen ,  der  das  di-uckfertige 
manuscript  einer  ausgäbe  des  Wühelm  von  Östen-eich  von  Johann  von  Wüi'zburg 
hinterlässt,  einen  ihi-er  ältesten  mitarbeiter. 

Am  5.  juli  starb  zu  Berlin  der  litterai'historiker  Wendelin  freiherr  von 
Maltzahn  (geb.  10.  mai  1815 j. 


S.  128,  z.  1  V.  u.  lies  statt  68:  nahezu  62. 


Halle  a.  S. ,   Buchdrnckerei  des  Waisenhauses. 


ZWEI  VEESVERSETZinSTGEN  IM   BEOWULF. 

901  —  915.  Zu  anfang  dieses  abschnittes  wird  ebenso  unvermutet 
von  Sigmund  zu  Heremod  übergegangen,  wie  mit  seinem  Schlüsse 
ganz  unerwartet  wider  auf  Beowulf,  von  dem  vor  Sigmund  die  rede 
war,  zurückgesprungen  wird.  Ferner  bleibt  das  syntaktische  vorhältnis 
zwischen  901  und  den  vorhergehenden  versen  durchaus  unkhu'.  iJiese, 
die  sich  auf  Sigmund  beziehen,  lauten  nämlich: 
898  Se  luces  ivreccena  ivide  mcerost 

ofer  iverpeöde  ivt-^endra  hleö 

ellend(Tdum:  he  J)ces  dron  ddh. 
Dann  folgt  unser  abschnitt: 

901  Siädan  Ilerernödes  hild  sivedrode, 

carfoct  ond  dien  usw. 
Man  hat  diese  Schwierigkeiten  zu  heben  gesucht,  indem  man 
heremod  appellativ  nahm.  Dies  ist  zuerst  von  Rieger  in  seinem  lese- 
buche (s.  64  und  s.  281)  geschehen  und  im  anschluss  an  ihn  von  Holtz- 
mann  (Germania  YIII,  491  fg.)  weiter  begründet  worden.  Unabhängig 
von  beiden  hat  diesen  gedanken  neuerdings  Heinzel  in  Steinmeyers 
Anzeiger  X,  228  (vgl.  jezt  auch  ebenda  XV,  160  fg.)  eifasst^  Und 
er  erscheint  im  ersten  nioment  wirklich  verlockend.  Denn  nun  würde 
sich  auch  unser  abschnitt  auf  Sigmund  beziehen  und  sidäan  schlösse 
sich  aufs  schönste  an  das  vorhergehende,  da  es  den  bericht  über  ein 
späteres  unglückliches  abenteuer  Sigmunds  einleiten  würde,  nachdem 
vorher  von  einem  früheren  glücklichen  dieses  beiden  erzählt  war.  Ja 
es  scheint,  als  ob  auch  der  alte  Schreiber,  der  das  von  Cosijn  (Beitr. 
YIII,  568)  richtig  widerhergestelte  äron-  ddh  in  rer  onddh  wandelte, 
auf  die  seite  dieser  auftassung  träte.  Wenigstens  erhelte  von  hier  aus 
der  zweck  dieser  änderung,  die  gewiss  nicht  unabsichtlich  geschah, 
wie  der  so  entstandene  gegensatz  aT  —  siddan  zu  beweisen  scheint. 
Gleichwol  kommen  wir  auf  diesem  wege  nicht  weit.  Denn  schon  mit 
den  folgenden  weiter  unten  (s.  387)  citierten  versen  geraten  wir  in  die 
brüche.     Sie  lassen  sich  auf  keinen  andern  als  auf  Heremod  beziehen. 

1)   Auch   Körner,    Kölbiugs   Engl.  Studien  I,   494   ei-wiigt  emen  ähnlichen   ge- 
danken. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.  XXH.  2o 


386  JOSEPH 

Heinzel  ft-eilich  weiss  sie  für  seine  aniiaivme  zu  retten,  indem  er  sie 
als  algemeine  betraehtung  ansieht.  Aber  ^Yi(lers])rieht  dem  nicht  allein 
üäel  SriihJiii^a  913?  Dass  hcycmufl  sonst  nii'gends  als  adjektiv  vor- 
komt,  sondern  immer  nur  als  name  auftritt,  davon  darf  man  füglich 
absehen.  Aber  sehr  entschieden  muss  darauf  hingewiesen  werden, 
dass  das  Avort  auch  im  Beownlf  als  name  erscheint  und  zwar  an  einer 
stelle,  die  unverkenbare  anklänge  an  unsere  hat.  Hiermit  bleibt  denn 
auch  an  dieser  der  name  zweifellos  gesichert,  und  jeder  erklärungsver- 
such,  der  die  appellative  bedeutung  des  wortes  zu  gründe  legt,  ist  ein 
für  allemal  zurückzuweisen. 

Es  erhebt  sich  also  nunmehr  die  frage,  wie  die  nnebenheiten, 
die  in  syntaktischer  beziehung  wie  im  gedankengang  durch  das  auf- 
treten Heremods  entstehen,  zu  erklären  sind.  Bevor  wir  aber  hierüber 
zu  einer  entscheiduno-  kommen  können,  müssen  wir  unsern  abschnitt, 
gesondert  von  seiner  Umgebung,  in  seinem  Zusammenhang  in  sich, 
beti'achten.  Dieser  versuch  ist  schon  oft  unternommen  worden,  ein- 
gehender von:  Holtzmann,  Germania  YIII,  491  fg.;  Müllenhoff,  Zeit- 
schrift für  deutsch,  altert.  XIY,  202,  Beovulf,  s.  50  fg.  (119  fg.);  Köh- 
ler, Zeitschr.  f.  d.  phil.  II,  315  fgg.;  Hornburg,  Die  composition  des 
Beowulf,  s.  22  fg.;  Dederich,  Historische  und  geographische  Studien 
zum  ags.  Beowulf liede,  s.  207  fgg.;  Körner,  Kölbings  Englische  Studien 
I,  492  fgg.:  Möller,  Das  altenglische  volksepos  in  der  ursprünglichen 
sti'ophischen  form,  100  fgg.;  Heinzel,  Anzeiger  f.  d.  alt.  u.  litt.  X,  228. 
XY,  IGO  fg.;  Bugge,  Beiträge  XII,  39  fgg.  Ich  vermag  keinem  der 
bisherigen  foi*scher  in  jedem  punkte  beizutreten.     Die  verse  902''  ig^.: 

he  mid  Eotenum  ivearä 
0)1  feonda  ^eiceald  forä  forläcen, 
snüde  forsended 

fasse  ich  übereinstimmend  mit  Bugge,  indem  ich  ebenfals  von  mid 
Eotenum  zunächst  absehe:  „Heremod  wurde  durch  verrat  in  die  gewalt 
der  teufel  gegeben,  schnell  zur  hölle  entsendet."  Ähnlich  hatte  schon 
Heinzel,  Anzeiger  X,  228  diese  werte  erklärt.  Dann  folgt  (mit  Bug- 
ges  interpunktion) : 

904  Jiine  sorhivylmas 

lemede  to  lan^e,     he  his  leödum  wearä, 
eallum  oipelin^uin     to  aldorceare. 

Bugge  behauptet,  dass  der  erete  dieser  beiden  sätze  sich  auf  das  tun 
und  ti-eiben  Heremods  in  diesem  leben  bezogen  und  einen  synonymen 
gedanken  zum  zweiten  satz  enthalteii  haben  müsse.     Zu  diesem  zweck 


VERRVERSRTZTTNGEN   IM   BEOWULF  387 

schlagt  er  vor  hine  sorh/njlnfffs  in  sorhfrfjbna  hriiic  zu  andern  und 
übereezt  dann:  „durcli  den  griff  der  verzeln-enden  sorge  lähmte  Heremod 
(das  vnlk)  zu  lange  (als  dass  es  länger  geduldet  werden  konte)."  Die 
ausdrucksweise  für  diesen  gedankcn  wird  niemand  glücklich  finden; 
auch  vom  syntaktischen  Standpunkte  ei-schiene  sie  auffällig.  Ich  sehe 
nicht  ein,  warum  man  den.  satz,  den  Bugge  mit  so  kühner  conjektur 
bedenkt,  nicht  auf  das  leben  im  jenseits  beziehen  soll.  Nachdem  eizählt 
ist,  dass  Heremod  in  die  höUe  verdamt  ist,  wird  nun  von  den  quälen 
gesprochen,  die  er  dort  erleidet.  Dasselbe  geschieht  ja  auch  in  der 
andern  Heremodstelle  und  hinc  sorhinjlmas  Jemede  (oder  mit  Müllen- 
lioff  1cmedo)i)  tu  lan^e  m  diesem  sinne  würde  hier  dem  entspreclK'U, 
was  dort  mit  dredmlcds  -^chad  .  .  leodbeaio  low^siim  (1720)  ausgedrückt 
ist.  sorhirylm  zur  bezeichnung  von  höllenpein  findet  sich  auch  Güd- 
lac  1046.- 

In  diesem  Zusammenhang  erhalten  denn  die  nun  folgenden  verse 
907  —  918,  die  schon  sehr  verschiedenen  vernuitungen  räum  gegeben 
haben,  ein  neues  licht: 

Sivylee  oft  bemearn  cerran  mceliiMj 

sundfcrlipes  siä  snotor  ceorl  moni^, 

sepe  htm  heahva  tu  Lote  ■^clyfde, 
910  l>ret  pect  dcödnes  hcani  ^epeön  scolde, 

fcpderapelum  onfon,  folc  •^ehccddan, 

hord  ond  hleöburh,  hcelepa  7'7ce, 

edel  Scyldinga. 
Bugge,  der  am  ausführlichsten  über  diese  stelle  handelt,  übersezt:  „so 
betrauerte  oft  in  früheren  zeiten  des  kühnen  gang  {sld)  manch  weiser 
mann,  der  bei  ihm  abhilfe  des  Übels  hofte,  (der  es  hofte,)  dass  des 
königs  söhn  gedeihen  solte,  empfangen  des  vaters  adel  und  das  volk 
verteidigen,  den  hört  und  die  schirmburg,  der  beiden  reich,  den  erb- 
sitz der  Schildinge.''  Bugge  will  aus  diesen  versen  einen  gegensatz 
zum  vorhergehenden  teile  herauslesen,  insofern  als  mit  cerran  mceluni 
von  fi-üheren  zeiten  aus  dem  leben  Heremods  gesprochen  werde,  wäh- 
rend vorher  von  späteren  die  rede  gewesen  sei.  Die  verse  sollen 
besagen,  dass  Heremod  nicht  blos  in  späterer  zeit,  sondern  bereits  in 
seiner  Jugend  seinem  volk  anlass  zur  klage  wurde.  Und  zwar  dadurch, 
dass  er  eine  kriegsfahrt  in  die  fi-emde  unternahm,  anstatt  zu  hause 
seine  herscherpflicht  zu  üben  und  seinem  bedrängten  volk  erhofte  ret- 
timg  zu  gewähren.  Hiergegen  nun  ist  einzuwenden,  dass  cüeser  gegen- 
satz doch  äusserst  matt  und  nicht  geeignet  ist,  das  an  dieser  stelle  so 
unerwartete  zurückgreifen  auf  ein  Jugendabenteuer  Heremods  zu  recht- 

25* 


'388  JOSEPH 

fertisren.  Ferner  aber  würde  auf  das  aben teuer  mit  eanz  Unverstand- 
lieber  kürze  bezug  genommen  sein.  Eine  solcbe  aber  wäre  liier  um 
so  weniger  angebracht,  als  man  aus  der  andern  Heremodstelle  entneh- 
men zu  müssen  glaubt,  dass  Heremod  in  seinen  jungen  jähren  eher 
die  hofnungen  seines  volkes  geweckt  als  getäuscht  habe;  vgl.  besonders 
17 IG  fgg.,  wo  gesagt  wird,  dass  er  schliesslich  traurig  enden  muste: 

(teähpc  liine  niilffi^  ^od  mcei^enes  ivTjnnum, 

eafepiüH  stcptc,  ofcr  callc  men 

fönt  ^efremede. 
Ich  halte  für  Bugges  gruiidfehler  seine  aiüfassung  von  skt  Und  dieses 
Avort  scheint  mir  auch  von  allen  übrieen  forschern  misverstanden  oder 
ungenügend  erklärt  zu  sein;  Simrock,  Grein,  Kühler  geben  es  mit  „loos, 
geschick"  wider,  was  niu'  als  notbehelf  erscheinen  kann,  sut  heisst  hier 
„gang."  Ä-ber  es  ist  an  dieser  stelle  nicht  mehr  plötzlich  von  einem 
neuen  gang  aus  Heremods  leben  die  rede,  sondern  es  wird  offenbar 
sein  im  ganzen  vorhergehenden  teil  behandelter  gang  ins  jenseits,  sein 
heimgang,  sein  tod  mit  jenem  worte  bezeichnet.  Aber  wie  konte  der 
tod  eines  so  verhassten  herschers  „manchem  weisen  mann"  gegen- 
ständ des  Jammers  sein?  Das  beantworten  909  fgg.  Mit  recht  behaup- 
tet Körner,  Engl.  stud.  I,  493,  dass  die  verse  910  igg.  sich  auf  jeman- 
den beziehen  müsten,  der  die  herschaft  noch  nicht  angetreten  habe; 
also  nicht  auf  Heremod  selber  gehen  könten,  von  dem  1719  fg.  mit 
den  werten  nallas  beä^as  ^eaf  Deniini  cefter  dorne  die  ausübung  des 
königtums  klar  berichtet  wird.  Demnach  bleibt  nichts  übrig,  als  unter 
iteödnes  hearn  910  den  zur  nachfolge  bestirnten  söhn  Heremods,  den 
er  in  der  heimat  zurücklässt,  zu  verstehen,  und  aus  unsern  vei"sen 
dürfen  wir  also  entnehmen,  dass  in  folge  von  Heremods  plötzlichem 
tode  feinde  in  sein  land  fielen,  seinen  unmündigen  söhn  des  thrones 
beraubten  und  so  der  alten  dvnastie  ein  ende  machten.  Hierzu  nun 
stimt  ti'efUch,  dass  Heremod  in  den  angelsächsischen  königslisten  als 
leztes  glied  genant  wird;  vgl.  Müllenhoff,  Beovulf,  s.  5  und  50  fg. 
Die  feinde  aber,  die  nach  Heremods  tod  in  sein  land  einfielen,  werden 
dieselben  gewesen  sein,  die  er  eben  bekriegt  hatte  und  bei  denen  er 
um  seine  kampfest üchtigkeit  gekommen  war,  d.  h.  besiegt  wurde  und 
fiel.  Hierfür  nun  passt  kein  anderes  volk  besser  als  ein  benachbartes. 
Und  daher  ist  mir  nicht  mehr  zweifelhaft,  dass  unter  den  eotenas  902 
nicht  mit  Bugge  „riesen",  sondern  vielmehr  das  volk  der  Juten  zu 
verstehen  ist.  Nach  alledem  übersetzen  wir  die  vei-se  907  —  913  nun 
folgendennassen:  ..Ebenso  beklagte  oft  in  vergangenen  zelten  den  hin- 
gang  des  kraftmutigen  manch  weiser  mann,  der  sicli  durch  ihn  geschüzt 


VERSVERSETZUNGEX   IM   BEOWÜLF  389 

geglaubt  hatte  vor  den  Übeln  (die  nach  seinem  todo  eintraten),  erwar- 
tet hatte,  dass  dieses  königs  söhn  gedeihen  solte,  empfangen  die  väter- 
liche würde,  herschen  über  das  volk,  den  hört  und  die  schirmburg, 
der  beiden  reich,  den  erbsitz  der  Schildinge.'' 

Es  blieb  bisher  der  satz  unberücksichtigt,  an  den  sich  die  eben 
übersezten  verse  anschliessen : 

905  he  his  leödwn  ueant 

ealliDu  cej)elin^ii7u  tu  aldorceare. 
Wir  sind  erst  jezt  in  der  läge,  diesen  worten  ihre  richtige  beziehung 
zu  geben.  Ich  mache  vor  he  905  eine  starke  interpunktion  und  ü])er- 
setze  dann:  „Er  ward  seinem  volke,  allen  edelingen  zum  herzenskum- 
mer,  nämlich  durch  sein  leben:  Ebenso  beklagte  andrerseits  seinen 
tod  manch  weiser  mann"  usw.  Die  verse  913'' — 915  endlich  bedür- 
fen in  bezug  auf  ihren  Zusammenhang  keiner  weiteren  besprechung. 

Ist  somit  der  abschnitt  in  sich  zur  befriedigung  erörtert,  so  dür- 
fen wir  nunmehr  sein  Verhältnis  zu  den  umgebenden  versen  betrach- 
ten. Hier  nun  ist  durch  den  glücklichen  gedanken  ten  Brinks^,  dass 
901  direkt  mit  861  zu  verbinden  sei,  ein  neuer  ausgangspunkt  gege- 
ben. Mir  ist  nicht  im  mindesten  zweifelhaft,  dass  ten  Brink  mit  die- 
ser Verbindung  den  ursprünglichen  Zusammenhang  richtig  widerher- 
gestelt  hat.  Denn  nun  finden  sich,  wie  es  der  schluss  unsres  abschnitts 
verlangt,  BeoAvulf  und  Heremod  unmittelbar  nebenein andergestelt.  Und 
beide  zugleich  im  vortrefUchsten  gegensatz:  Beowulf,  der  herbeieilt, 
um  den  Dänen  in  ihrer  bedrängnis  beizustehen;  Heremod,  der  wegzieht 
und  sie  so  in  bedrängnis  zurücklässt.  Endlich  schliessen  sich  auch 
syntaktisch  unsre  verse  in  ihrer  neuen  Stellung  aufs  beste  an:  „Beowulf 
war  der  beste  kriegsmann  auf  erden,  seit  Heremod  seinen  kampfesruhm 
eingebüsst  hatte.''  Jezt  aber  erhebt  sich  die  frage,  auf  welche  weise 
ist  imser  abschnitt  von  seinem  alten  platz  getrent?  Wie  haben  Avir  es 
zu  erklären,  dass  zwischen  die  verse  861  und  901  der  passus  862  — 
900  getreten  ist?  Ten  Brink  benuzt  hier  seine  Varianten theorie.  Er 
nimt  an,  dass  in  diesem  zweiten  Müllenhoff'schen  liedc,  in  dem  wir 
uns  befinden,  von  einem  ordner  zwei  Versionen  contaminiert  seien, 
eine  volständige  C,  die  den  grundstock  abgegeben  habe,  und  eine 
unvolständige  D,  die  daneben  benuzt  sei.  Dieser  leztern  version  ent- 
stamme der  passus  862  —  900.  901  sei  von  861  getrent,  indem  der 
Ordner  das  D- stück  dazwischen  geschoben  habe.  Ten  Brink  weist  in 
seinen  Vorbemerkungen  (s.  4  fg.)   auf  diese  steUe  besonders  hin,    weil 

1)  Beowulf,  Quellen  und  forschungen  62  (Strassbuig  1888),  s.  60. 


390  JOSEPH 

hier  die  Verhältnisse  so  augenfällig  lägen,  dass  sich  die  richtigkeit  sei- 
nes Verfahrens  für  jedermann  ergeben  müsse.  Ich  will  an  diesem 
platze  nicht  algemeine  Stellung  zu  ten  Brinks  variantentheoric  nehmen. 
Aber  ich  glaube,  dass  er  keine  günstige  stelle  ausgewählt  hat,  um 
zweifelnde  zu  bekehren.  Denn  was  müssen  wir  nun  annehmen?  Der 
Ordner  reisst  ein  Satzgefüge  mittenauseinander,  trent  ohne  weiteres 
einen  nebensatz  von  seinem  hauptsatz,  um  einen  zusammenhängenden 
complex  von  39  versen  dazwischenzuschieben:  unbekümmert,  in  wel- 
ches syntaktische  Verhältnis  nun  der  losgelöste  nebensatz  gerät;  unbe- 
kümmert, Avie  es  nun  um  die  beziehung  der  pronomina  im  abgetrenten 
teil  steht;  unbekümmert  endlich  um  alle  gedankensprünge,  die  entste- 
hen! Ist  da^  wirklich  so  selbstverständlich?  Ist  es  vor  allem  selbst- 
verständlich von  einem  mann,  der  doch  gelegentlich  durch  kleine 
änderungen  seine  arbeit  zu  verdecken  bemüht  ist,  der  im  ganzen  wol- 
bedacht  und  recht  geschickt  verfährt,  nicht  selten  so  rafüniert,  dass  es 
in  der  reihe  gelehrter,  scharfsinniger,  gewissenhafter  forscher  erst  ten 
Brinks  bedurfte,  um  die  fremde  band  herauszuerkennen?  Demgegen- 
über möchte  ich  nun  ein  mittel  vorschlagen,  dem  man  Avenigstens  die 
einfachheit  nicht  absprechen  wird.  Ich  nehme  nur  eine  kleine  Umstel- 
lung vor,  indem  ich  die  verse  900  —  915  heraushebe  und  nach  861 
einsetze,  also  folgenden  text  aufstelle: 

i)cer  ivces  Beöwalfes 

mceräo  mcmed:  moni-^  oft  ^ecivceä, 

pcette  säet  ne  norä  he  scem  ticcönum 

ofer  eornienyand  öper  nceni-^ 

u ltder  sice-^les  (je^ou^  selra  ncere, 
861  rondhcehhendra  rlces  icyrära, 
901  sktäau  Ileremödet;  hild  siceärode, 

earfoä  ond  eilen.     He  ?nid  Eotenuvi  ireard 

on  feöudu  ^eiceald  ford  forldcen, 

snüde  foi^sended:  hine  sorhivylinas 
905  lemedon  to  km^e.     He  Ms  leöduni  weard 

ealltun  cej)eli?i^um  tö  aldorceare: 

sivylce  oft  hemearn  cerran  mceliim 

sicidferhpes  sid  snoior  ceorl  moni-^, 

sejje  hiin  bealwa  to  hole  -^eli/fde, 
910  pcet  l>cct  äeödnes  bearn  -^ejjeöit  scolde, 

fcedercepeluhb  onfon,  foh  ^eheaklart, 

hord  ond  hleöhurh,  hcelepa  rlce, 

edel  Sc/jldin^a.     He  Jjcer  eallwu  iveard, 


VEKSVEKSETZUNGEN   IM   BEOWULF  391 

Did'-^  Ili-^eldccs  tnanna  cfjnne, 
915  frcönduin  ^effo^m:  lilnc  fifvcn  onicöd. 
862   Sc  lue  hänt  wlucdriJäoi  uilit  nc  lu^ou, 

^Icedne  Hrdä^dr,  ac  pcet  ivcea  ^od  ctjitin'^. 

Hicthuu  hvaporöfc  hledpan  Utoii, 
865  on  ^cflft  farart  fealive  mearas 

äcer  M/N  fohlire^as  fce^cre  J)H]ttoii, 

cyatutii  ende;  liivilutn  eyitin'^es  pe^f/, 

^tima  -^ilphkeden,  jldda  ^efn?j7idi^, 

seäe  ecdfela  ecdd-^ese^ena 
870  2Cor7i  ^einimde,  icord  öper  fand 

söäe  •^ehnndcn:  sec^  ef't  ow^an 

siä  Beöwidfes  sni/ttrnm  styrimi 

ond  on  sped  tvrecan  spei  "gerade, 

icordnni  wrlxlmi,  tvelkinjlc  ^ecicceä, 
875  pcet  he  fram  Si^eninnde  sec^an  liyrde 

ellendcediun,  uncüpes  fela, 

Wcelsin^es  ^eivin,  ivlde  sutas, 

pärape  -^limena  hearn  ^earive  7ieiviston, 

fcchäe  ond  fyrcna,  hiiton  Fitela  7nid  hine, 
880  ponne  he  swulces  hivcet  sec^an  icolde 

eäin  his  nefan,  swa  hie  ä  ivceron 

cet  nlda  -^ehwäm  Jiyd-^esteallan. 

Hcefdon  ealfela  eotena  cymies 

sweordwn  ^esce^ed.     Si-^emunde  ^esjxron^ 
885  cefter  dedä-dce^e  dorn  unlytel, 

sypdan  iv'i-x^es  heard  icyrm  dcicealde, 

horded  hyrde:  he  under  hdrne  ntdn^ 

cepelinyes  hearn  dna  ^enedde 

frecne  dcede:  ne  was  him  Fitela  nnd; 
890  hwcepre  him  ^escelde,  dcet  pcet  siviird  pnrhwod 

tvtretlicne  wyrm,  Jjcet  hit  on  n'ealle  cetstöd, 

dryhtlic  iren:  draca  moräre  ^wealt. 

Hcefde  ä^lceca  eine  ^e^onyen, 

pcet  he  heähhordes  hriicaii  moste 
895  selfes  dorne;  scebdt  ^ehlod, 

beer  on  hearm  scipes  beorhte  frcetiva 

Wcelses  eafera:  wyrm  häte  mealt. 

Se  wces  ivreccena  wide  mcerost 

ofer  werpeode,  ivi'^endra  kleö 


392  JOSEPH 

900  cJlendädiim:  he  pces  arou  ädh. 
916  Hu'ilum  flftendc  fealwe  strcete 
mearum  tnatoii. 

In  der  obie-en  ordiuuii;'  ti'eten  also  an  drei  stellen  neue  verhin- 
düngen  ein:  zwischen  861  und  901,  zwischen  915  und  862  und  zwi- 
schen 900  und  916.  Dass  901  an  861  den  besten  und  einzigen 
anschluss  findet,  ist  schon  besprochen.  862  fg.  aber  gewinnen  in  ihrer 
jetzigen  stelhing  eine  ganz  eigene  bedeutung.  Denn  nachdem  Beowulf 
eben  auf  kosten  eines  vergangenen  Dänenkönigs  gelobt  ist,  erscheint 
das  komplinient  für  den  gegenwärtigen  hersclier  als  nicht  übel  berech- 
net. 916  endlich  folgt  auf  900  ebenso  gut  wie  auf  915.  Sehen  wir 
uns  nun  den  grossen  Zusammenhang  an!  Auch  liier  fügt  sich  alles 
nach  schönstem  wunscli.  Auf  Beowulfs  trefliclikeit  fält  von  zwei  ver- 
schiedenen punkten  aus  licht:  einmal,  indem  er  sich  im  gegensatz  zu 
einem  besonders  berüchtigten  beiden  —  Heremod  —  befindet;  und 
darauf,  indem  er  in  gleiche  Stellung  mit  einem  besonders  berühmten 
beiden  —  Sigmund  —  tritt! 

Die  richtigkeit  unsrer  Ordnung  erhält  nun  aber  noch  aus  einer 
stelle,  an  deren  erklärung  man  sich  bisher  vergeblich  versucht  hat, 
wilkommene  bestätigung.  Es  handelt  sich  um  die  verse,  mit  denen 
zmn  zweiten  lobe  Beowulfs  übergeleitet  wird,  870  fgg. 

tcord  Oper  fand 
söde  •gebunden:  sec^  eft  oif^an 
skt  Beöwidfes  siiyttriirn  styi^ian. 
Was  sollen  wir  in  der  überlieferten  Ordnung  mit  dem  wort  öper  870 
anfangen,  das  hier  ebenso  unverständlich  erscheint,  wie  das  dann  fol- 
gende eft?  Heyne  bemerkt  im  glossar  unter  fiiidan:  „er  fand  andre  werte, 
d.  h.  er  ging  zu  einer  andern  erzählung  über."  In  seinem  texte  war 
vorher  gesagt,  dass  Beowulf  gepriesen  wurde  und  hier  wird  wider  gesagt, 
dass  Beowulf  gepriesen  wurde.  Wie  kann  man  d^  von  einer  „andern" 
erzählung  reden?  Man  hat  sich  denn  auch  fast  algemein  durch  ände- 
rung  des  textes  hier  zu  helfen  gesucht.  So  Rieger,  Ztschr.  f.  d.  phil. 
m,  390.  Er  übersezt  uord  öper  fand  söde  "^ebuiulen  „ein  wort  fand 
das  andre,  richtig  gebunden'',  und  ändert,  cUesen  satz  in  parenthese 
stellend,  das  folgende  sec^  in  sec^an.  Bugge,  Ztschr.  f.  d.  phil.  IV,  203 
schliesst  sich  ihm  an.  Grein  ändert  word  öper  in  irordhleöper  und 
ihm  folgt  u.  a.  Holder  in  seiner  ausgäbe.  Bei  ten  Brink  fält  der 
anstoss  weg,  indem  er  870^^  —  874*  als  eine  Interpolation  innerhalb 
der  Version  D  ansieht.  In  unserm  Zusammenhang  nun  bedürfen  wir 
keiner  änderung  noch  irgend   einer  deutelei.     Die  verse   sind   auf  den 


VERSVERSETZUNGEN    IM   BEO^V^JLF  393 

ersten  blick  verständlich:  die  ,, andre"  rede,  mit  der  hier  der  Sän- 
ger das  lob  Beowults  Avideraufiiinit,  ist  die  Zusammenstellung  mit 
Sigmund,  welche  er  der  eben  vorangegangenen  mit  Heremod  fol- 
gen lässt. 

Bei  so  alseitiger  zusammenstimmuiig  muss  die  frage,  wie  die 
Umstellung  der  besprochenen  beiden  versgruppen  zu  erklären  ist,  als 
eine  nebensächliche  erscheinen.  Dass  Verderbnisse  dieser  art  in  alten 
band  schritten  vorkommen,  ist  eine  widerholentlich  belegte  tatsache.  Ich 
gestatte  mir  auf  einen  fall  hinzuweisen,  den  ich  selbst  in  Konrads  von 
Würzburgs  Klage  der  kunst^  aufdecken  konte.  Hier  Hess  sich  auch 
mit  ziemlicher  Wahrscheinlichkeit  die  entstchung  der  Verderbnis  zeigen, 
^lan  darf  wol  auch  in  unserm  fall  annehmen,  dass  ein  schreiber  die 
stelle  an  ihrem  richtigen  platz  vergass,  an  einem  späteren  nachholte 
und  dadurch  verursachte,  dass  ein  neuer  schreiber  sie  falsch  einsezte. 

Ich  glaube,  dass  erst  mit  der  obigen  herstellung  unsers  textes 
die  richtige  grundlage  für  die  höhere  kritik,  d.  h.  für  die  bctrachtung 
der  Innern  geschichte  dieses  teils  gegeben  ist.  Dass  aber  eine  solche 
betrachtung  hier  wie  im  Beowulf  überhaupt  am  platz  ist,  dass  wir  in 
diesem  gedieht  kein  einheitliches  werk  vor  uns  haben,  das  meine  ich 
nach  den  arbeiten  Müllenhoö's,  Möllers  und  ten  Brinks  unbedenklich 
annehmen  zu  dürfen.  Heinzel,  der  in  seiner  recension  von  ten  Brinks 
buch-  einen  entgegengesezten  Standpunkt  vertritt,  hat  mich  in  keiner 
weise  überzeugt.  Gewiss  wird  jeder  philologe  der  von  ihm  s.  181 
erhobenen  forderung  zustimmen,  dass  man  jedes  dichterische  werk  nach 
seinem  eigenen  massstab  beurteilen  müsse.  Aber  ich  behaupte,  dass 
er  sich  leider  selber  gegen  diesen  grundsatz  versündigt  hat,  indem 
er  zur  erklärung  des  Beowulf  ein  material  heranzieht,  das  durchaus 
ungleichartig  in  sich  ist. 


1404  — 1407.  Diese  verse  stehen  ebenfals  in  MüllenhofTs  zwei- 
tem liede.  Grendels  niutter  hat  in  der  nacht  einen  genossen  des  königs 
Hrodgar,  Äschere,  hin  weggeschleppt.  Beowulf  tröstet  den  klagenden 
könig  mit  dem  versprechen,  die  feindin  in  ihrem  verborgenen  schlupf- 
Avinkel  aufzusuchen.     Und  so  macht  man  sich  sofort  auf  den  weg: 

pd  ivces  Hroä^dre  hors  ^cbceted, 
1400  wic^  wundenfeax:  uisa  fengel 
^eatolic  ^en^de,  -^umfepa  stop 

\)  Quellen  und  forscliiingen  54,  s.  4  und  s.  86. 

2)  Anzeiger  für  deutsch,  alt.  u.  deutsche  litt.  XV,  1.53  fgg. 


394  JOSEPH 

liiidluebboidm.     Ldstas  wceron 

ceftvr  fralih'frapff/fi  widc  T^csyiie. 

3a/t(j  ofcr  -^r (Hl das,  ^e^mini  för 
1-105  ofcr  nnjrcan  mör,  nia^opc^na  beer 

pone  selestau  säwollcdsne, 

J)drape  mid  Hröä^drc  hdiii  cahtode. 

Ofercöde  pd  cepdirf^a  bccuii 

stedp  stdjtliUdo,  sti^e  ficarwe, 
1410  en;^e  oNpadas,  uncuä  ^eläd, 

ncoicle  ncessas,  nicorhilsa  fda. 

Die  gespert  gedruckten  verse  fallen  völlig  aus  dorn  Zusammen- 
hang, da  sie  einen  im  gange  der  begebenheiten  bereits  erledigten  mo- 
ment  noch  einmal  in  seinem  geschehen  hinstellen.  Bugge  (Beiträge 
12,  94)  sezt  daher,  indem  er  einen  gedanken  von  Sievers  (Beiträge  9, 
1-10)  aiünimt,  hinter  1403  ein  komma,  fasst  ja/^j  1404  als  Substantiv 
und  ergänzt  vor  dem  zweiten  halbvers  1404  hiccer  heö.  Ihm  stimt 
ten  Brink  (s.  77)  zu.  1402  — 1408  würden  also  nun  besagen:  „Die 
spuren  waren  längs  den  waldstegen  weithin  zu  sehen,  der  gang  über 
die  getilde',  wo  sie  hinweg  gefahren  war  über  das  moor  und  den  besten 
der  ritter  seelenlos  getragen  hatte,  derer  die  mit  Hrodgar  die  heimat 
berieten,"  Abgesehen  von  dem  schleppenden  und  nachhinkenden  rela- 
tivgefüge,  das  wir  so  erhalten,  so  ordnen  sich  die  verse  für  den  auf- 
merksamen leser  auch  jezt  noch  keineswegs  ein.  Denn  betrachten  wir 
die  unmittelbar  folgenden  verse  1408  — 1411,  so  erscheint  für  die  land- 
schaft,  die  hier  geschildert  wird,  doch  gerade  die  Unübersichtlichkeit 
charakteristisch.  Wir  sollen  sehen,  wie  mühsam  sich  Beowiüf  den 
weg  durch  verborgene  pfade,  in  fortwährendem  auf  und  ab  suchen 
muss,  ehe  er  an  sein  ziel  gelangt.  Wie  passt  nun  dazu  die  eingangs- 
bemerkung,  dass  die  spuren  des  Ungeheuers  weithin  bis  zimi  endpunkt 
—  denn  dieser  liegt  doch  beim  moor  —  zu  überblicken  waren?  Von 
ähnlichen  erwägungen  ist  vermutlich  auch  ten  Brink  ausgegangen, 
wenn  er  s.  77  von  unsei"n  versen  sagt:  „die  stelle  gehört  auf  keinen 
fall  zum  kern  von  C.^'  In  der  tat,  wir  wüi'den  nicht  das  geringste 
vermissen,  wenn  wir  sie  ganz  wegliessen.  Vielmehr  würde  dcuin  in 
durchaus  folgerichtiger  weise  zuerst  vom  wald,  darauf  vom  wilden 
gebirge  und  mit  1412  fgg.  von  dem  getilde  gesprochen,  das  zum  meer, 
dem  behausungsort  des  Ungeheuers,  führt. 

Lassen  wir  aber  nun  einmal  unsern  blick  auf  denjenigen  teil  des 
gedichts    hinübergleiten,   an   dem    die   eben   von    uns   ausgeschiedenen 


VERSVEESETZUNGEN   IM   BEOWULF  395 

verse  zeitlich  am  jilatze  waren,  auf  die  verse,  die  uns  Grendels  mutter 
in  der  ausführiuig  ihrer  untat  zeigen  ^i 

1280  ^ä  cicer  sdra  nearä 

ecUffct/rff,  corhitn,  sijxfan  huic  f'ealh 

1282  3reif(Ues  mödor.     Xces  sc  ^rfjre  Iccssa: 

1291  llrüitc  /tcö  frjH'lfN^a  diinc  kcrfde 

fcesle  bcfatf^en,,  pd  hcö  tu  f'ennc  ^(m^. 

Se  ivccs  Hrop-^dre  hcelepa  leöfost 

on  ^eb'fctes  lidd  he  sehn  ticeömint, 

rice  rcuidici^a,  ponedc  heö  on  rceste  dbredf, 

blcedfa'stne  beorn:  nccs  Beöiculf  äccr. 

Nachdem  mit  den  werten  pd  heö  tö  fennc  ^a/i^  1295  bereits  der 
abzug  des  Ungeheuers  beschrieben  ist,  erscheint  es  nicht  passend,  dass 
der  dichter  hinterher  ganz  nebenbei  in  einem  relativsatz  noch  ein  neues 
moment  des  raubes  bringt,  nämlich  mit  den  Avorten  poneäe  heö  on 
ra'ste  dbredf  1298.  Ten  Brink  ändert  daher  tö  fenne  in  on  flette. 
Hierdurch  wird  die  chronologische  folge  der  begebenheiten  in  sehr 
hübscher  weise  gew^ahrt.  Indessen  es  ergibt  sich  eine  andre  Schwie- 
rigkeit, die  ten  Brink  sofort  zu  einer  weiteren  hypothese  nötigt:  „Zwi- 
schen 1298  und  1299  dürften  dann  eine  oder  mehrere  Zeilen  ausgefal- 
len sein,  wenn  nicht  der  alte  dichter  über  der  Charakteristik  Äscheres 
und  dem  Übergang  zu  Beowulf  Grendels  mutter  vergessen,  d.  h.  ihren 
abgang  zu  erwähnen  unterlassen  hat/'     (S.  75  fg.) 

Ich  meine,  die  verse  1296  — 1298  tragen  zu  deutlich  den  Cha- 
rakter eines  nachträglichen  eiuschubs,  als  dass  hier  besserungsversuchc 
zum  ziel  führen  könten.  Scheidet  man  sie  nun  aber  wirklich  aus,  so 
ergibt  sich  ein  merkwürdiger  fall,  der  einzig  innerhalb  des  Beowulf 
dasteht.  Denn  w^enn  sich  sonst  nach  herauslösung  fremder  elemente 
die  zusammenrückenden  teile  ohne  weiteres  oder  doch  nach  leiser 
änderung  aneinander  schliessen,  so  bleibt  hier  syntaktisch  sowol  Avie 
inhaltlich  eine  klaöende  lücke.  Aber,  ich  glaube,  es  gibt  eine  sehr 
einfache  erklärung  dafür:  die  klaffende  lücke  fand  eben  ein  Schreiber 
vor,  und  er  suchte  sie  durch  die  verse,  die  wir  jezt  an  ihrer  stelle 
sehen,  in  seiner  weise  auszufüllen. 

Hatte  dieser  mann  es  aber  wirklich  nötig,  seine  eigenen  kräfte 
zu  versuchen?  Vergessen  Avir  seine  verse!  Erinnern  wir  uns  jener 
früheren,    die  uns  an  ihrer  stelle   so  widerspruchsvoll  und  entbehrlich 

1)  1280—1204  nach  teu  Briuks.  wie  ich  glaube,  glücklicher  herstellimg  des 
textes  (s.  75). 


396  JOSEPH 


erschienen!     Nehmen   wir    sie   von    ihrem    alten    platz    und    setzen   sie 
mit  zwei 
wir  also: 


mit  zwei  kleinen   änderungen   hier  in  unsre  ofne  stelle  ein,    schreiben 


Hraäe  Jfeö  ccpclin/^a  cbme  hcefde 
1295  fresfc  hcf'nu'^en:  pd  heö  tö  fenne  eft 
1404  jaMj  [z^f'^^Z]  oß^'  Z^'iifidas,  ^e^/iwn  f'dr 

ofer  myrcan  Dior,  nia^opegiia  beer 

poiie  selesfa/i  sdicolledsiie 
1407  pdraj)c  ))ihl  Hröd^dre  hdvi  cahtodc, 
1299  blcedfu'sUie  beorn:  nces  Beöivulf  äcer, 

so  haben  wir  auch  hier  eine  tadellos  fortschreitende  und  geschlossene 
erzählung,  in  der  in  knapper  und  der  Situation  angemessener  weise  der 
abgang  von  G^rendels  mutter  geschildert  wird. 

Ich  zweifle  demnach  nicht,  dass  die  verse  1404  — 1407  ihre 
ursprüngliche  Stellung  zwischen  1295  und  1299  hatten. 

Hier  nun  sehen  wir  eine  kleine  gruppe  von  vier  versen  um  mehr 
als  hundeif  vei-se  von  ihrer  ursprünglichen  bestimmung  getrent.  Da 
erscheint  die  frage  wolberechtigt,  wie  eine  solche  Verderbnis  entstanden 
sei.  Ich  gedenke  bei  andrer  gelegenheit  nachzuweisen ,  dass  zwischen  dem 
jetzigen  und  früheren  platze  unsrer  verse  eine  bedeutende  interpola- 
torische  tätigkeit  statgefunden  hat,  und  dass  nur  folgende  teile  als 
ursprünglich  anzuerkennen  sind: 

1311  —  1813.  1816  —  1334.  1341  —  1344.  1383  —  1385.  1390  — 
1394.  1399—1403. 
Im  ganzen  39  verse i.  Und  mehr  waren  auch  nicht  vorhanden  zur 
zeit,  als  die  Umstellung  der  verse  geschah.  So  konte  denn  diese 
durchaus  innerhalb  einer  imd  derselben  seite  vor  sich  gehen  und  ver- 
liert damit  ihren  auffälligen  Charakter.  Wir  dürfen  vielmehr  nun  ähn- 
liches wde  vorher  annehmen.  Ja  diesmal  sind  wir  in  der  läge,  uns 
bestimtere  vorstellmigen  zu  bilden. 

Zunächst  können  wir  schliessen,  dass  der  Schreiber,  der  die  aus- 
lassungssünde  begieng,  seine  verse  nicht  absezte,  sondern  fortlaufend 
schrieb.  So  wenigstens  erklärte  sich,  dass  die  lücke  nicht  nach  schluss, 
sondern  nach  dem  ersten  werte  eines  verses  eingetreten  ist.  Dieses 
erste  wort  aber,  nämlich  ^an^,  ist  nach  unsrer  einordnung  doppelt 
vorhanden,  indem  es  auch  am  eingang  der  umgestelten  verse  steht,  so 
dass  wir  es  hier  streichen  musten.     Liegt  es  da  nicht  nahe,  in  diesem 

l)  Ich  bemerke,  dass  ich  statt  huaiper  133]  mit  Bugge  (Beiträge  12,  03) 
hicider  lese. 


VERSVERSETZUNGEN   IM   BEOWULF  397 

zweiten  ;^an^  nur  ein  merkwort  zu  sehen?  Einen  hinweis,  mit  dem 
der  Schreiber  andeuten  wolte,  hintei'  welches  wort  im  texte  die  fol- 
gende stelle  einzuschalten  sei?  So  würde  uns  also  in  dem  zweiten 
^mi^  noch  ein  sehr  bestimtes  anzeichen  dafür  vorliegen,  dass  die  verse 
in  einer  fi-üheren  handschrift  an  einer  von  ihrem  eigentlichen  platz 
entfernten  stelle  nachgetragen  waren.  Aber  noch  mehr!  Es  würde 
sich  zugleich  aufklaren,  warum  die  iiachgetragenen  verse  später  falsch 
eingesezt  wurden.  "Wie  leicht  nämlich  konte  ein  neuer  Schreiber  über- 
sehen, dass  ^a?!-^  nur  merkwort  sei,  und  es  so  zum  texte  selber  rech- 
nen! Und  nun  freilich  lag  für  die  einsetzung  der  verse  jeder  platz 
näher,  als  gerade  der  richtige!  Nehmen  wir  an,  dass  die  verse  am 
schluss  der  seite  nachgetragen  waren,  so  beliess  der  schreibor  sie  viel- 
leicht da,  bezog  sie  an  der  stelle,  wo  er  sie  zufällig  fand,  in  den  text 
ein.  Aber  wahrscheinlicher  ist  mir,  dass  er  mit  guter  Überlegung 
verfuhr,  als  er  die  verse  an  ihren  jetzigen  platz  rückte.  Denn  nach- 
dem der  richtige  ausgeschlossen  war,  wo  konten  sie  wol  passender  unter- 
gebracht werden?  Hier  fügten  sie  sich  am  leichtesten  ein  und  erfül- 
len zugleich  in  befriedigender  weise  eine  erwartung,  die,  wenn  man 
den  grossen  Zusammenhang  nicht  beachtete,  durch  1890  fg. ^  angeregt 
werden  konte.  Wie  geschickt  aber  der  Schreiber  diesen  platz  gewählt 
liat,  erhelt  wol  am  besten  daraus,  dass  kein  forscher  bis  auf  ten  Briiik 
unsere  verse  an  ihrer  stelle  beanstandet  hat. 

Um   unsre    neuordnung    zu    ermöglichen,    bedurfte    es    mit  dem 

werte   cft    1295    noch    einer    kleinen    nachbesserung.      Ich    hoffe,  dass 

dieser  umstand  der  vorgetragenen  Vermutung  nichts  an  gewähr  neh- 
men wird. 

STRASSBURG,    JUNI    1889.  EUGEN   JOSEPH. 


LTEDEKHANDSCHEIFTEN   DES    IG.   UND    17.  JAHR- 

HÜNDEETS. 

DAS  LIEDERBUCH  DER  HERZOGIN  AMALIA  VON  CLEYE. 

Uhland   verzeichnet  unter  den  quellen  seiner  volksliedersamluncj 
(1844  s.  974)  ein  im  16.  jahrlnindert  entstamlenes  liederbiich  der  her- 

1)  Diese  verse  lauten  nämlich: 

Ar^s  rices  iceard!  läan  ra^e  feran 
fremdes  mu^an  ^anö  scedivi^an! 


398  ROLTT? 

zogin  Ammch'a  \n  Cleve,  ans  dem  er  sieben  mimmern  (55.  05.  79h. 
80.  81.  194.  H12)  cut)wn)me)i  hat.  SeifJfer  hat,  soweit  ich  sehe,  nie- 
mand sich  nnf  ilasseJbe  Ijclihnniert;  nar  Bö/nne  ividerltolt  in  seinem 
Attdcatsclien  liederlnich  (IST?  s.  774)  die  lairxe  noti\  Uhlands.  Eine 
eingehendere  nachricht  irird  daher  an  dieser  stelle,  hoff'c  ich,  nicht 
anirilhommen  sei)?. 

Die  orif/inalhandschriff  girng  nm  1824  ans  dem  hesitxe  der 
antiquare  Goldsclfmidt  a)id  Winfpfen  in  Fra}ilfiirt  a.  M.  hi  den  des 
dortigen  ar\tcs  dr.  Georg  Kloss  über  ainl  u-urde  später  von  ihm 
nach  Fngknnl  rerhanft.  Wahrscheinlich  befindet  sie  .sich  dort  noch 
i)n  priratbesitx ;  im  Britischen  miisenm  ist  es  mir  wenigstens  nicht 
gehingen  sie  xn  entdeclen.  Unsere  kentnis  bernht  somit  allein  auf 
einer  abschrift ,  welche  Kloss  1825  von  einem  .schneidergesellen  Jacob 
Lepper  anfertigen  Hess  und  welche  auch  Uhland  benuzte.  Sie  gehört 
jezt  der  .stadtbibliothek  zn  Frankfurt  a.  M.^.  Der  kopist  hat  seine 
rorlage  offenbar  ohne  verstä}ulnis ,  aber  sauber  fmd  sorgfältig  nach- 
gemalt. Leicht  crkldrliche  lesefehler  sind  f  für  f.  dan  für  dair,  heuen 
für  lieuen,  I  für  A  n.  a.  „Einige  gedicltte",  bemerkt  Kloss  am 
15.  sepjt.  1841,  „waren  so  sorgfältig  mit  dinte  ausgelöscht,  dass  sie 
niclit  mehr  zu  entziffern  ivaren."  hn  ganzen  enthalt  die  abschrift 
33  lieder  geistlichen  iiml  weltlichen  inhalts;  die  nummerierung  rührt 
vielleicht  erst  von  Kloss  her,  da  nr.  20  und  21  zusammen  ein  Med 
bilden  und  ziveimal  fälschlich  Z2vei  oder  drei  verschiedejie  lieder  unter 
derselben  nummer  (22  und  28)   ziisammengefasst  worden  sind. 

Auf  die  ursprüngliche  besitzerin  und  samlerin  weist  die  hinter 
nr.  27  stehende  Unterschrift:  „Ammellga  geboren  hertz.zicheyn  %o  cleve 
jullych  und  berg."  Die  folgenden  lieder  28 — 31  icurden  sicherlich 
er.st  später  von  einem  andern  Schreiber  aufgezeichnet ,  ivelcher  durch 
.seine  wunderliche  häufung  der  konsonanten,  wie  ss,  fF^  tz  i7n  anlaut, 
td  statt  (\,  und  andere  orthographische  eigentümlichkeiten  auffäll; 
vielleicht  ist  sein  name  in  def)i  unter  nr.  30  stehenden  lettern  „M.  H. 
E."  verborgen.  Die  pi'inzessin  Amalie-  war  als  die  jüngste  tochter 
des  herzogs  Johann  IIL  von  Jülich-  Cleve-  Berg  am  14.  nov.  1517 
geboren  und  lebte  7iuch  dem  1539  erfolgten  tode  ihres  vaters  am  Jwfe 
ihres  hruders,  des  herxogs   Wilhelm   (1516  — 1592),  zu  Cleve,  Dilssel- 

Ij  ..Liederbuch  der  Ammellya  gebornen  herxogin  zu  Cleve,  Jülich  und  Berg, 
Abschrift  des  Originals  gemacht  im  Jahr  1825."'     24  bl.  fol. 

2)   Herr  professor  dr.   TT.   Creccliiis   in  Eiber feld  hat   die  gute  gehabt,    mir 
einige  nachiceise  über  diese  filrstin  xu  geben. 


LTEDET^BUCII    DER   nET?Z0OrN   A^fALIA    VON   CLEVR  899 

(lorf,  Brnshcrg ,  Burg  //vd  cnidrnn'/rfs.  Sie  hlieh  unvermüliU  find 
hielt  bis  ^n.  ihrem  ende  (1.  märx  1580)  au  dou  profestan fischen 
hekentnis  fest,  irie  sie  ancJ/  die  iochtrr  ihres  hrnders,  der  sieh  den 
römisehgesinfc)}  in  dir  armr  (jororfoi  halte,  beicog ,  der  reforn/ierten 
lehre  treu  zu  bleiben.  Einiiicrnuissen  aaffiillig  ist  es  daher,  dass 
unter  den  fünf  c/eistliehen  licdcrn  vnsrer  Inindsdirift  (nr.  1.  ,}.  G.  19 
— 21)  sich  anch  ein  gebet  an  Maria  befindet.  Die  27  ntn'igen  )(n)n- 
inern  sind  sämtlich  liebeslieder;  ihr  thona  ist  n/eist  das  scheiden  and 
meiden,  seltener  die  härte  der  spriklot  angebeteten;  viermal  (nr.  S.  0. 
11.  12)  begegnet  die  seit  dem  erwaelten  der  ritterlichen  mi^inepoesie 
beliebte  form  des  tageliedes.  Der  text  xeigt  xahtreiclie  rerderbnisse, 
von  welchen  nur  ein  teil  dem  modernen  absch reiber  xur  last  jalloi 
kann.  Nicht  bloss  ist  metrnm  und  reim  öfter  stark  vernachlässigt, 
es  i.st  auch  die  spräche  ein  venrildertes  gernisch  von  niederrheinischon 
und  hochdeutschem  diaUkt.  Wenn  nun  Uhland,  in  den  von  ihn  aus- 
geuiihlten  nummern  einen  glatten,  lesbaren  text  herxustelkn  suchte.^ 
.w  hielt  es  der  heransgeber  der  nach  folge  }iden  stücke  für  seine  aufgäbe, 
'xunächst  die  ilherlieferung  selber  vorzulegen  und.  nur  i)i  den  notwen- 
digsten fällen  von  ihr  abzuweichen.  Mehrfach  bleibt  der  simi  freilich 
noch  dunkel  und,  muss  durch  weitere  textbesser ungen  widerhergestelt 
werden.  Zwischen  den  liedern  sind ,  wie  hau  fug  in  liederljüchern  Jener 
zeit,  kur^e  reimspriiclie  eingetragen,  so  bl.  hc 

Heit  jch  mich  vor  vcrsuiion, 
des  ich  mich  na  versau, 
jch  en  heid  ne  begonen, 
des  jch  begimen  lian. 

Ich  qiiaem  gegan[g]en  in  eyn  lant, 
jcli  vaint  gescriven  aen  dei  want: 
Wait  dich  neit  annegeit, 
dat  la  stan,  da  et  steit. 

Yeil  gejaget  und  wenich  gevangen, 
veil  gehoyrt  und  wennich  verstanden, 
veil  geseyn  und  wennicli  meircket, 
dat  seiut  ael  verlaren  wercken. 

Bl.  18a  Stede  und  stylle 

dat  ist  myn  wylle. 

Es  mag  nun  ein  inhaltsverzeichnis  der  liedersamlung  folgen  U7id 
diesem  sich  eine  auswahl  von  14  noch  uidtekanten  nummern  anschliessen. 


3  sfr.    \ 

f( 

lifhsfoi. 

3. 

12  Str. 

\N 

clienJicd 

3, 

400  BOLTE 

1.  Bl  2a  Want  alle  dyngcn  an  gade  staent, 

des  sülleu  wvr  vnß  besynucu. 
13  str.  ^u  12  'xeiJoi.  —    Untoi  nr.  I:   WeilmachtsUed. 

2.  BJ.  3h  Idt  loufet  alltzomaüe 

die  leufergyn  yn  dat  gras. 
S  r.    —      UJfIa?f(I,    Voihslicdcr    nr.  65.      Äbschml   von   der 

Bl.  4h  Mit  diesen  nnwen  jare 
so  wirt  vns  offenbaire. 
4  r.  Xeffjahrsh'cd.  —  Vr/I.  Wache rncui el ,  Das  deutsclie  kir- 
,  917  ur.  1090.  Bäumler,  Das  hathoUsclte  deutsclie  kirchen- 
Ued  1,  356  und  ViertcIJahrsschn'ft  für  })nisihu'isscnschaft  4,  245. 
Iloffwatui  rofi  Fallerslehe7i,  Niederländische  geistliche  lieder  1854 
91  r.  1 — 2.  Ilölscher,  Kd.  geistliche  lieder  und  spräche  aus  dem  Mün- 
sferlaude  1854  s.  27. 

4.  Bl.  5a  Ortliches  ort,  myn  einiges  wordt, 

eyne  crone  bouen  allen  wyfen. 
4  str.  \u    8  .^.    —     Unten  nr.  V:   LiehesgUich     Eine  gleich fals  vier- 
strophige  fassung  „Artliclier  hört,  du  min  einigs  ein,  ein  krön  ob  allen 
wiben'*   mit  dreistimmiger  mclodie  liegt  hsl.  in  Basel  (F  VI  26  nr.  8). 

5.  Bl.  5  h  In  liefden  ist  myr  my[n]  hertz  verbrant 

nae  eynem  vreuwelyngh  stoiütz. 
10  str.  XU  8  X:  —    Unten  nr.  XIII:  Die  tmgetreue. 

6.  Bl.  6  h  Myt  gantzem  ellendigem  hertzen 

klage  ich,  klage  ich  myn  sunden  groys. 
8  str.  zu  9  z.    —     Unten  nr.  II:    Gehet  an  Maria.     Zu  gründe  liegt 
eine  in  fliegenden  hlättern  verbreitete  weltliche  tageweise: 

Mit  gantzem  elenden  hertzen 
Klag  ich  mein  schweres  layd. 
Ich  ste  in  sorgen  vnd  schmertzen: 
Ach  wechter,  gib  mir  beschaydt! 
Hilff  mir  die  sach  besynnen, 
Das  ichs  fach  weyslich  an, 
Das  ich  mit  lieb  sey  drinnen, 
Das  mein  niemants  Averdt  innen; 
Trewlich  wil  ich  dir  Ionen.     (8  str.) 

Die  Berliner  bihliotheh  hesixt  vier  druckß  des  16.  Jahrhunderts  in  oktav 
(Yd  8917.  8986.  8991.  8992)  und  einen  in  folio  (Yd  7801,  49). 
Auch   eine   ebenda    befindliche    liederJiandschrift    aus  der    ersten   hälfte 


LIEDERBUCH   DER   HERZOGIN   AMALIA    VON   CLEVE  401 

des  16.  Jahrhunderts  (Mscr.  germ.  (piart  TIS,  hl.  10b)  entMlt  das  lied, 
ebenso  Cod.  palat.  germ.  343  (je>J  171)   bl.  49a. 

7.  Bl.  7a  Ade,  myt  leyde 

ich  van  dyr  scheide. 
3  str.  zu  9  %.  Liebeslied.  —  Vgl.  Ocglins  Ucderbnch  1512  nr.  18. 
Ott,  Lieder  1534  nr.  3.  SckmcUxl,  QiiodUbets  1544  nr.  7.  Frank- 
furter Uederbnch  1582  (nendruck  von  Bergmaiui.  Stuttgart  1845) 
nr.  177.  Cod.  palat.  germ.  343  (jext  171)  bl.  58b.  Berliner  lieder- 
handschrift  von  1568  (Mscr.  germ.  fol.  752)  nr.  102.  Mscr.  germ. 
oct.  237.,  bl.  4a.  Tschiidis  liederbiich  (St.  G aliener  cod.  463).  Hoff- 
mann,  GeselschaftsUeder-  nr.  154  (nur  eine  str.).  Eine  melodie  in 
Amerbachs  liederbuch  (Basel  F  IX  22)   bl.  42a. 

8.  Bl.  7b  Der  morgens  sterne  der  hait  sicli  uf  gedrongen; 
wie  lüde,  wie  lüde  dat  vns  die  fogel  sungen. 

9  str.  zu  4  z.  Tagelied.  —  Uhland  nr.  79b.  Vgl.  Niederdeutsche 
Volkslieder  (Hamburg  1883)  7ir.  57.  Böhme,  Altdeutsches  liederbuch 
nr.  108.  R.  Eitner,  Das  deutsche  lied  des  15.  und  16.  jhs  2,  173 
(1880).  Bartsch,  Gesammelte  vortrüge  und  aufsätze  1883  s.  294  fg. 
Geistliche  umdichtung  bei  Wackernagel,  Das  deutsche  kirchenlied  3, 
689  nr.  797. 

9.  Bl.  8a  Es  daget  wonencklichen, 

waile  schynet  der  heller  dach. 
3  str.  zu  9  z.      Unten  nr.  VI:    Tagelied.    —     Die   anfangszeile   Icehrt 
häufig   in   gleichartigen    liedern   und   deren    geistlichen   umdichtungeji 
wider,  z.  b.  bei  Wackernagel,  Das  deutsche  kirchenlied  2,  535  nr.  709: 
„Es  taget  mimiecliche  die  sunn  der  gnaden  vol." 

10.  Bl.  8a  Ayn  biieler  moyß  [s]ich  lyden  vyll, 

des  byn  ich  ynnen  worden. 
7  str.  zu  8  z.  —    Unten  nr.  XIV:    Loos  des  buhlers.     Auch  in  der 
Berliner  liederhandschrift  von  1568    (Mscr.  germ.  fol.  752)    nr.  123 
(str.  1  —  4.  6.   7.  5). 

11.  Bl.  9  a  Uis  gantzen  we  klaget  sich  eyn  hylt 

yn  stre[n]ger  hode  verborgen. 

10  str.  zu  9  z.  Wächterlied.  —  Böhme  nr.  111  7iach  G.  Forster  1549,  3 
?ir.  13.  Koch  eine  Darmstädter  hs.  (Monatshefte  für  niusikgeschichte 
20,  71)  ist  benuzt  bei  Arnim  und  Brentano,  Des  knaben  lüunderhorn 
1,  284.  554.  In  Berlin  (Yd  8925.  8929.  8930)  drei  einzeUrucke : 
Nürnberg  bei  K.  Hergotin  und  F.  Gutknecht  und  Magdeburg  bei 
P.  Kempff.     Berliner   mscr.  germ.   qu.   718  nr.  8.     Eitner,    Das  deut- 

ZEITSCHEIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXII.  26 


402  BOLTE 

sehe  Ued  1,  39  nr.  143.  Eine  geistliehe  parodie  hei  Waekernagel  2, 
929  nr.  1156.     Bäumker  1,  254  nr.  10.     2,  362  nr.  413. 

12.  Bl  10  a  Der  wechter  der  bließ  an  den  dach 

np  hoger  zynnen,  dair  er  lach. 
7  str.  XU  6  X.  Wächterlied.  —  Franlfurter  liederhHch  1582  nr.  155. 
P.  V.  d.  Acht,  Blum  vnd  Aiißbundt  1602  nr.  109.  Görres,  Altteut- 
sche  Volks-  und  meistcrlieder  s.  115.  Niederrheinisclies  liederbuch  von 
15  74  (Berliner  niscr.  germ.  qu.  716)  nr.  39.  —  Vgl.  Uhland  nr.  80. 
Böhme  nr.  102  a.  h.  Yxems  liederbuch  (Berliner  rnscr.  germ.  fol.  753. 
1575  im  Oldenburg ischen  oder  Osnabrückischen  angelegt;  vgl.  Balte, 
Altpreussische  monatsschrift  25,  333)  nr.  54.  Nd.  Volkslieder  1883 
nr.  115. 

13.  Bl.lOb  AVuelde  got,  dat  idt  geschede 

zu  diesem  nnwen  jair. 
3  str.  XU  8  X.      Unten  nr.  III:  Liebeswerbung. 

14.  Bl.  IIa  Wat  wyrt  es  doch     des  wonders  noch. 

7  str.  XU  8  X.  Liebesklage.  —  Frankfurter  liederbuch  1582  nr.  21. 
P.  V.  d.  Aelst  1602  nr.  176.  Mit  L.  Senfls  melodie  in  Otts  liedern 
1534  nr.  45  —  46  und  bei  G.  Forster,  Liedlein  1  (1539)  nr.  24  und 
5  (1556)  nr.  51.  J.  Beiner,  Lieder  1581  nr.  26.  Fl.  blatt  Nürn- 
berg F.  Gutknecht  (Berlin  Yd  9637)  und  o.  o.  (Ye  209).  Cod.  pakit. 
germ.  343  (jext  171)  bl.  135a.  Tsehudis  liederbuch  (St.  Gallen  463) 
78.  Melodie  in  der  Baseler  liederhs.  von  1560  (F  X  17—20)  nr.  26. 
Xd.  auf  einem  fl.  bl.  der  Berliner  bibliothek  (Ye  437).  —  Geistliche 
umdichtungen  bei  Wackernagel  2,  1077  nr.  1309.  3,  780  nr.  920. 
4,  77  nr.  131.  Eine  parodie  in  Botenbuchers  Bergkreyen  1551  nr.l9: 
„"Was  wird  es  doch  des  trinckens  noch." 

15.  Bl.  IIb  Die  eirste  freud,  die  ich  ye  gewan, 

ys  mir  zo  truren  kamen. 
5  str.  xu  7  X.  Liebeslied.  —  Uhland  nr.  194  gibt  auffcdlenderweise 
nur  die  beiden  texten  Strophen:  „Och  meetgen,  wat  hait  dyr  der  rocken 
gedayn";  vgl.  Eitner  1,  57  nr.  269.  Das  volständige  Ued  hocMeutsch 
nach  einem  fl.  bl.  (Yd  9293)  bei  Böhine  nr.  209.  P.  v.  cl  Aelst  1602 
nr.  170.  Cod.  pjalat.  germ.  109  (jext  66)  bl.  105b.  Xld.  in  einer 
Weimarer  hs.  von  1537:  Weimarisches  Jahrbuch  1,  103  nr.  8. —  Eine 
geistliche  parodie  bei   Wackernagel  2,  1049  nr.  1285. 

16.  Bl.  12b  Aen  dich  kan  ich     niet  freiiwen  mich. 

3  str.  XU  8  X.  Liebeslied.  —  Frankfurter  liederbuch  1582  nr.  34. 
Fl.  bl.  Xilrnberg,  V.  Xeuber  (Berlin  Yd  9911).  Züricher  liede7^hind- 
schrift  G  438  bl.  411b. 


LIEDERBUCH    DER   HERZOGIN    AMALI A   VON    CLEVE  403 

TT.  Bl.  13a  Ocli  schevden  brennt  mvr  swer 

vnd  niaclit  mich  gantz  traurigklich. 

3  str.  XU  8  x.  —  Unten  nr.  VIT:  Auf  tridcrschen.  Äurh  nd.  in  einem 
fl.  bl.  Yiir  hübsche  Icde,  WiilffcnbütU'l  by  Conrad  Hörn  (Yd  8719)  : 
Nu  scheiden  brins-et  my  swer." 


T) 


18.  BL  13b  Myn  gemuedt  vnd  pluedt 

ist  gantz  entzynt. 
o  str.  XU  9  X.  —  Franlfurter  liedcrbiich  1582  nr.  63.  Gedrucltes 
folioblait  des  IG.  jahrh.  (Berlin  Yd  7801,  44)  und  oltavdrnck:  Nürn- 
berg, 0.  Wächter  (Yd  9483).  IIar)iisch,  Liedlein  1588  nr.  15.  Wei- 
marer handschrift  von  1537  (Weimarisches  Jahrbuch  1,  105).  Yxems 
liederhandschrift  von  1575  (Berliner  mscr.  germ.  fol.  753)  nr.  25, 
vgl.  146.  Xd.  auf  einem  jl.  bl.  der  Berliner  bibliothelc  (Ye  437).  — 
Eine  geistliche  umdichtuug  von  II.  Knaust  bei  Waclernagel  4,  776 
nr.  1150. 

19.  Bl.  14a  Chi'iste,  du  bvst  dach  vnd  dat  Ivcht. 

7  str.  zu  4  z.  Abendlied,  nach  dem  tat.  hgmnus  des  Ambrosius: 
„Christe,  qui  hix  es  et  dies."  —  Waclernagel  2,  nr.  563.  1096. 
Bäumker  2,  246  nr.  246.  Hoffmann,  Xld.  geistliche  lieder  nr.  113. 
Bolle,  Ztschr.  f.  d.  phil.  21,  138  nr.  65. 

20 — 21.  Bl.  14b  Idt  hiich  eyn  armer  sünder  vnd  slieff. 
Beide  nummern  sind  fälschlich  von  einander  getrent;  sie  bilden  xu- 
sammen  eine  besondre  Überlieferung  der  grossen  tageweise  Peters  von 
Arberg:  „0  starker  gott,  al  imser  not",  ivelche  Bartsch  in  der  Ger- 
mania 25,  210 — 229  besprochen  hat.  Vgl.  noch  Bäumker  1,  451 
nr.  200,  Die  fünf  Strophen  von  nr.  20  hat  Uliland  als  nr.  312  .sei- 
ner Volkslieder  abgedruckt  nnd  danach  Wackernagel  2,  333  nr.  501 
tviderhoU.  Nr.  21  enthält  nicht  nur  die  verse  17 — 50.  63  —  68.  55  fg. 
61  fg.  von  Bartschs  rekonstruktion  (Germ.  25,  221) ,  sondern  noch 
weitere  17  verse,  ivelche  in  den  andern  fassungen  fehlen. 

22.  Bl.  16a  In  freuden  byn  ich  gantz  geletz, 

die  woyle  ich  vmmer  scheyden  moyß. 
3  str.  XU  8  X.  —    Unten  nr.  VIII:  Abschied. 

22a.  Bl.  16  b  Ich  hadt  mich  ynderwonden, 

\Yolde  dienen  eyme  vreuwelyn  fyn. 
5  str.  XU  8  X:  —    Untoi  nr.  NU:    Der  ungeschickte  liebhaber.    Auch 
auf  verschiedenen  fliegerulen   blättern  des  16.  jahrh.  in  oktav    (Berlin 
Yd  7821,  34.    9552)    und  folio    (Yd  7801,  32)    erhalten.     Die  erste 
Strophe  stimt  überein  mit  dem  Antiverpener  liederbuche  1544  (neudrtick 

26* 


404  BOLTR 

V071  Hoff  mann  von  FaUerskhen  1855)  nr.  103.  Eine  melodie  „Ich 
hett  mich  vnterwunden"  steht  in  der  Kopenliaijener  liederJia?i(Ischrift  des 
Petrus  Fabricins  (Xd.  Jahrbuch  13,  55)  nr.  1S2.  —  Verschieden  davon 
ist  das  lied  „Ich  het  mir  fürgenommen  zu  dienen  stetiglich"  bei  Böhme 
nr.  215. 

23.  Bl  17a  Xu  hayn  ich  alle  myn  tage  gehoyrt. 

3  sir.  \u  8  x.  —  Böhwe  nr.  265  )fach  einem  gedruclden  folioblatte 
(Berlin  Yd  7801,  60):  „So  hab  icli  all  mein  tag  gehört."  Gassen- 
hawerlin  1535  nr.  27.  Frankfurter  liederbuch  1582  nr.  45.  EbeJi- 
reuiters  handschrift  von  1530  (Bertiner  m.scr.  germ.  fol.  488)  nr.  145. 
Berliner  liederhandschnft  von  1568  (mscr.  germ.  fol.  752)  nr.  15.  Mscr. 
germ.  qu.  718  bl.  18b.  Ein  Baseler  liederbuch  von  1560  (F.  X.  17 — 
20)   nr.  66  bietet  auch  eine  vierstimmige  melodie. 

24.  Bl.  17  b  Ach  got,  wat  sali  ich  svngen, 

kurtzwyle  ist  myr  woyrden  duyre. 
11  str.  XU  8  X.  —  Unten  nr.  IX:  Trenniingsschmerx.  Fast  alle  Stro- 
phen hehren  auch  in  andern  Volksliedern  derselben  xeit  ivider.  Str.  1, 
2.  4  und  6  sind  enthalten  in  der  Berliner  liederhandschrift  von  1568 
(Mscr.  germ.  fol.  752)  nr.  56.  Str.  1  begegnet  bei  Görres,  Altteutsche 
Volks-  und  meisterlieder  s.  71.  Zu  str.  3  vgl.  Uhland  nr.  81,  4  und 
88,  6.  Zu  str.  6,  5  und  11  Uhland  nr.  86,  4.  Zu  str.  9  Uhland 
nr.  76,  11-12  und  80,  4.  Einen  in  Zivickau  (XXX,  F,  20)  be- 
findlichen einxeldrnck  (12  str.)  habe  ich  Glicht  vergleichen  können. 

25.  Bl.  18b  Ich  bvn  durch  frauwen  wvllen 

gereden  so  menche  dach. 
5  sir.  XU  9  X.  —  Tagelied.  Uhland  nr.  81.  Böhme  7ir.  121.  Görres 
s.  126.  Bergkreyen  1536  nr.  45.  Frankfurter  liederbucJi  1582  nr.  184. 
In  Berlin  vier  fliegende  blätter  aus  Nürnberger  (Yd  9565.  9566.  9568) 
und  Strassburger  pressen  (Yd  7850,  16).  Yxems  liederhandschrift 
van  1575  (Berliner  msr:r.  germ.  fol.  753)  nr.  129.  Niederdeutsche 
Volkslieder  1883  nr.  36.     Antweiyener  liederbuch  1544  nr.  102. 

26.  Bl.  19a  Wach  vff,  myn  ort,  vernym  myn  wort. 

7  str.  XU  7  z.  —  Böhme  nr.  105.  Bergkreyen  1536  nr.  38.  Frank- 
furter liederbuch  1582  nr.  23  und  202.  P.  v.  d.  Aelst  1602  nr.  150. 
Fliegende  blätter:  Nürnberg,  V.  Newber  (Berlin  Yd  9004.  9011)  und 
0.  0.  i)i  folio  (Yd  7801,  67)  und  im  Mscr.  germ.  quart  718,  bl.  19a. 
Yxems  liederhandschrift  (mscr.  germ.  fol.  753)  nr.  97.  Ähnlich  For- 
ster, Liedlein  3  (1552)  nr.  6.  Niederdeutsche  Volkslieder  1883  nr.  62. 
—  Geistliche  parodien  bei  Wackernagel  2 ,  1011  nr.  1249  und  4,  740 
nr.  1093. 


LIEDERBUCH    DER    HERZOGIN    AMALIA    VON    CLEVE  405 

27.  BL  20a  Betrübt  ist  mir  hertz,  movdt  vnd  svn 

wol  heuer  zu  diessem  neuem  jaren. 
3  str.  XU  6  %.  —    Unten  nr.  XI:  An  die  enffernte  geliebte. 

28.  BL  2 IIb  Wca  sali  ycli  liyn,  wa  ssal  jch  her, 

wa  sali  vch  mvch  hvn  kheren. 

*^  ^'  %/ 

10  str.  7M  8  X.  —  Franlxfnrter  liederlmcli  1582  nr.  82.  Einxeldrueh 
Nürnbenj  bei  V.  Xeiiber  (4  str.  Berlin  Ye  36).  Yxems  lirdrrhand- 
schrift  von  1575  (Mser.  germ.  fol.  753)  nr.  68.  Berliner  liedrrlicuid- 
schrift  von  1568  (Mscr.  germ.  fol.  752)  nr.  94.  Cod.  palat.  germ.  343 
(jext  171)  bl.  14b. —  Ein  andres  lied  mit  gleichem  anfange  bei  Hoff- 
mann,   Geselscliaftslieder  ^  nr.  384. 

28a.  Bl.  20b  Eyn  bloymellyn  dat  heyst  meytden, 
dat  krencket  mych  so  hart. 
3  str.  XU  7  X.  —    Eine  bessere  ilberlieferung  bei   Görres  s.  88  nach 
Cod.  palat.  germ.  343,  bl.  102a. 

28b.  BL  21a  Ffyl  vngeluyckß  yst  vfp  ertden, 
da  ffür  mych  got  behoedt. 
3  str.  XU  8  X.  —  Beständige  liebe.  Bei  Görres  s.  95  nach  Cod.  palat. 
germ.  343^  bl.  79  b.  Georg  xon  Helmstorffs  liederbuch  von  1568  (Ber- 
liner ms.  germ.  qu.  402)  teil  3,  bl.  40b.  Auch  in  einem  einxeklrucke 
„Nürnberg  durch  Vcdentin  Fuhrmann'^  (Berlin  Yd  7850,  27)  mit 
xicei  weiteren  Strophen. 

29.  Bl.  21b  Ich  hoff,  mir  solsz  gelingen, 

ich  weiß  mir  ein  edels  blodt. 

6  str.  XU  7  X.  —  Unten  nr.  IV:  Preis  der  liebsten.  Vgl.  xu  str.  3 
— 4  Böhme  nr.  131,  3.     Zu  str.  5,  1 — 2  Böhme  nr.  260a,  4. 

30.  BL  22a  Ich  hadt  mvr  vsserwellet 

tzo  dem  mev  evn  bluemelleyn. 
3  str.  XU  8  X.    —    Uhland  nr.  55.  —    Eine  geistliche  unulichtung  bei 
Wackernagel  2,  921  nr.  1147. 

31.  BL  22  b  Ffryssch  ffrovllich  wvllen  wvr  ssvnffen 

yntgen  dyssen  koyllen  mey. 

7  str.  XU  8  X.  —  Unten  7ir.  X:  Rosenkranz  xum  abschiede.  Über 
die  bedeutungsvollen  blumen  des  krafixes  (str.  3  —  4)  vgl.  Uhktnd,  VolJcs- 
lieder  nr.  54  —  55  und  Schriften  xur  geschichte  der  dicht ung  und  sage 
3,  437.  582.  Xiederdeutsche  Volkslieder  nr.  130.  Für  die  Strophen 
3 — 5  vermag  ich  eine  bessere  Überlieferung  aus  einer  niederrheinischen 
liederhandschrift  (Berliner  mscr.  germ.  quart.  612  bl.  30a)  anxuführen. 


406  BOLTE 

I.    IVeiliiiaclitslied. 

Nr.  1. 
[Bl.  2  a]         1.  "Wallt  alle  dvngeii  an  gade  staent, 
des  stillen  wyr  vnß  besynnen. 
als  die  proplieten  gesprochen  haynt, 
eyne  jonffrauwe  sali  gewynnen 
yn  rechter  kuyssheyt  eyn  kyndelyn, 
deme  hemell  vnd  erde  beuolhen  salii  syn, 
deine  süllen  wir  alletzyt  vnderdienich  syn, 
ffot  sali  vnß  niYstroest  wenden. 

Yns  ist  geboern  eyn  kyndelyn 
van  eyner  maget,  die  is  so  fynn, 
Maria  hvschet  die  lieue  moder  svnn: 
yere  lofP  en  halt  geyn  ende. 

2.  Dat  got  die  minsheit  an  sich  nam, 
dat  diede  hy  vnß  zu  troeste. 

eyn  engel  viß  deme  hemel  qvam, 

hy  grueßet  die  maget  siere  schoyne, 

hy  spraich:  Got  gruetze  dich  der  gnaden  voll, 

der  here  van  dyr  geboiren  wyll  syn, 

Avant  aller  genaden  bys  dw  voll. 

Got  sali  vns  mvstroest  wenden. 

3.  Maria  schreckde  sich  dair  van: 
Wie  wulde  dat  got  gewyllen, 

dat  ich  eyn  kynt  all  sonder  man 

all  gegen  nature  solde  gewynnen? 

Der  engel  spraich:  Dat  kyndt  dw  draigts 

van  deme  hylgen  geyst,  und  dw  blyffs  maigt, 

dat  vs  dat  beste,  dat  men  mach  vvnden. 

Got  sali  vnß  mystroyst  wenden. 

4.  Keyser  Augustus  was  hy  genant, 
hy  geboide  geweldincklichen 

dat  evn  veder  minsche  durcli  alle  syn  laut 
den  offer  soiüde  brengen  zu  deme  riebe. 
Der  aide  Joseph  gewann  yn  die  schair, 
hv  brachte  Mariam  mvt  eme  dair 

1.  1  gede  hs.  —  1,6  benöthen  san  —  1,  9  — 12  steht  in  der  hs.  erst  nach 
str.  3,  ist  aber  als  refrain  nach  jeder  strophe  xu  uiderJtolen.  —  1;  12  seyn  — 
2,  3  gebam  —  2,  7  des  voll  —  4,4  rieht 


LIEDERBUCH    DER    HERZOGIN    AMALIA    VON    CLEVE  407 

ZU  Bethlehem,  dair  st  yeres  kyndtz  [gebar?]. 
Got  sali  vnß  mysti'oest  wenden. 

[2  b]         5.    Wylt  ir  nu  wissen,  wer  er  sy, 
der  yn  der  krybben  lyget  gebenden? 
Jesus  Cristus  der  namen  dry, 
syn  troest  halt  uns  ontbunden. 
Die  engelen  songen  und  waren  fro: 
Gloria  in  excelsis  deo. 
Die  heyrden  rieffen  ynt  offenbair: 
Unsers  leydtz  synt  wyr  entbonden. 

6.  Des  achten  dages  q warnen  [se]  dair 
all  nae  der  juedischer  seeden; 

dat  kynt  wart  yn  den  tempell  braicht, 
dair  wart  sich  Jesus  besneden. 
die  engelen  songen  mit  suessem  sanck: 
Jesus  Cristus  wirt  dat  kynt  genant, 
dair  van  so  wirdt  der  duffel  geschaut, 
als  sy  dat  kyndt  suert  [?]  nennen. 

7.  Des  woirden  die  hyllige  diy  konynck  gewair, 
sy  hoyrten  van  dem  lieuen  kyndtgen  sagen, 
golt,  mirre  und  [wirouch]  brachten  sy  dair, 
eynem  offer  deme  kyndtgen  zo  dragen. 

die  hern  warn  sierre  balde  bereydt, 
ein  Sterne  viß  Orienten  sy  dair  geleyt, 
sy  kneden  vur  der  maget  gemeydt, 
Jesus  boede  den  konyngen  syne  hende. 

8.  Wer  nw  wyll  treden  yn  den  kränz 
und  speien  niyt  deme  lieuen  kynde, 

der  moyß  yn  synem  hertzen  dragen 

gedoult  und  suesse  mynne 

und  oeuerdenken  alle  syne  mysdait, 

die  hy  syn  leuen  begangen  hait, 

und  bydden  dat  kvndt  und  auch  die  Heue  maget, 

dat  sy  eme  syne  sunden  vertzye. 

9.  Wer  nw  dat  kyndgen  wylt  baden 
und  baden  yn  der  wonen, 

5,  1  mi  —    5,  4  han  —    5,  6  geloria  —    5,  8  heydtz  —    7,  8  deme  kyndt- 
gen  —    8,  1  kraeme  —  8,  6  sy 


I 


408  BOLTE 

der  en  mach  so  druefich  nvet  e:esYn, 
syn  hertz  en  movsz  eme  groeneii. 
Moicht  ich  des  kyudes  syn  dicner  syn, 
vnd  weschschen  evne  syne  doichclchyn 
vnd  drugen  sy  yn  deme  sonne  schyn, 
so  hette  myn  truren  eyn  ende. 

[3  a]        10.    Köniuck  Herodes  wart  kont  gedayn, 
so  wie  eyn  köny[n]ck  woere  geboeren, 
hv  dede  die  kynder  alle  erslayn, 
wat  onder  dryn  jarn  was  geborn. 
eyn  engel  yan  boncn  braicht  die  mere 
zu  Marien  und  Joseph  dem  besnedere: 
Far  up  dar  hyn  yn  Egypten  lant 
all  uyß  der  falscher  bueser  hant! 

11.  Dat  kyndt  wart  yn  den  tempell  braicht 
all  nae  der  juedischer  sieden, 

dat  kynt  nam  Simeon  up  synen  arm, 
der  ynrmails  bhnt  war  ^ewoyrden. 
syn  alder  was  waill  yonff hundert  jair, 
syne  ougen  woirden  eme  weder  klair, 
do  hy  dat  kynt  sagh  offenbair: 
Wat  hayn  ich  yn  mynen  henden? 

12.  Got  yater,  gott  sonn,  got  hylyger  geyst, 
dat  sint  drye  hylyge  namen, 

houen  sich  up  zu  der  rechter  handt 

der  hellen  portzen  zu  samen. 

sy  gaeuen  der  hellen  portzen  eynen  stoysz, 

dat  sy  an  allen  enden  entfloyssz 

ynd  last  den  zu  der  rechter  handt, 

yerloeste  so  mennich  duyrbar  pandt. 

13.  Nun  alle  dyngen  sint  yolnbraich[t], 
als  yns  die  wysen  sagen, 

wie  die  propheten  gesprochen  haynt 

yn  den  propheten  dagen; 

dat  hait  ynsz  Maria  all  verfoult, 

halt  yns  eyn  kynt  braicht  aene  schoult, 

9,  7  sonne  klaire  scIijti  —    10,  3  sy  deck  die 


I 


LIEDERBUCH    DER    HERZOGIN    AMALIA    VON    CLEVE  409 

cleme  sullen  wvr  alle  wesen  lioult. 
Got  sali  vnz  mistrocst  wenden. 
Yns  ist  geborn 

nae  yedern  vei*ss. 

II.     Grebet  an  Ilaria. 

Nr.  6. 
[6  b]         1.    Myt  gantzom  ellendigem  liertzen 
klage  ich,  klage  ich  myn  sunden  groys, 
ich  stain  yn  sorgen  und  vriesen  [/.  smertzen?] 
all  viir  den  gryselichen  doyt. 
hvlff  mir,  Maria  du  revne, 
und  stae  mir  by  yn  myner  noyt, 
dat  ich  myne  sunde  mach  beweynen 
die  groysse  myt  den  kleyne[n], 
ye  myr  an  kompt  der  gryselycher  doyt. 

2.  Maria  du  kayserin  [reyne], 
du  byst  alleyne  mvn  zuuerlais; 
bydde  vur  mich  dyn  kyndelin  kleyne, 
dat  hy  myne  sele  wylle  ontfangen, 

du  bvst  evne  maoret  schone 
all  yn  des  hemm  eis  trone, 
bydde  vur  mich  dynen  sone, 
dat  ich  by  inn  kome 
all  zu  des  hemels  trone, 
dair  syngen  die  engelen  schone. 

3.  Maria,  du  byst  eyne  kuysche  reyne, 
du  byst  all  yn  dem  hertze  myn, 

mach  ich  geyn  troyst  an  dyr  gewynnen, 

so  bricht  dat  eynige  hertze  myn. 

du  byst  so  goder-turn   [/.  maueren?] 

men  yant  nye  dyns  gelichs 

du  bys  eyne  moder  des  heren, 

wyls  yns  yn  duegeden  Heren, 

so  sint  "\vyr  hernaemaels  verblydet. 

V  ^ 

4.  Maria,  ich  bydden  ymb  genaiden, 
als  eyn  armer  sunder  groyss; 

wyls  mynre  seien  stain  zu  staden, 

1,  6  stoe  —  2,  1  keyserjnna 


410  BOLTE 

als  mvr  ankumpt  der  bytter  doyt 

Kom  mir  doch  dau  zu  Imlve 

yn  myner  meister  noyt, 

wvls  mich  doch  bewarii 

all  vür  die  helssche  scharen 

vnd  fueren  sv  all  ^ti  des  hemels  trone. 

5.  „Ach  mynsche,  ich  Imeren  [dyn?]  klagen, 
Ich  will,  ich  wyll  gelouen  dir, 
evn  dinck  avvII  ich  dvr  sairen, 
und  dat  behalt  und  do  nae  mvr: 
ganck  heymelich  zu  Caluarien 
all  vmb  den  berch  hoge, 
wvls  dvne  Sünden  dar  bekennen: 

%.■  %^  / 

got  sali  dyner  seien  ontfarmen 

und  fueren  sy  jn  des  hemels  trone." 

6.  Maria,  ich  stain  in  sorgen; 
mvne  Sünden  sint  so  menichfalt, 
der  doit  wylt  nyet  borgen, 
hy  en  spart  noch  jonck  noch  alt; 
mvne  sele  die  ist  beladen 
mit  Sünden  also  groiß; 
stae  du  m^T  zu  staden, 
mich  dünckt,  ich  sv  verraiden 
all  myt  der  ewyger  pynen  so  groiss. 

7.  „Ach  mynsche,  wyls  nyet  mystroestich  syn, 
die  bar[m]hertzicheit  ist  so  groyß; 
wvlt  dvne  sele  van  sünden  ffenvesen, 
so  steis  du  fry  vyß  aller  noit. 
got  ist  so  goder  lieren 
myt  grosser  barmhertzigkeit, 
hy  wyll  dyne  [7  a]  sele  visiteren 
mit  mencher  schöner  maueren 
all  jn  der  ewicheit."  J 

8.  0  here,  wyls  mir  vergeuen 
all  mvn  vndanckberheit, 
dat  ich  havn  bedrieuen! 
och  alle  myne  sunden  synt  mir  leyt, 
jch  bydt  all  vmb  genaide 

6,  3  dort  —  7,  3  sole  —  8,  3  och  dat 


LIEDERBUCH   DER   HERZOGIN    AMALIA    VON'    CLEVE  4:11 

als  eyn  armer  sunder  groyß, 

laß  mich  doch  nyet  [syn]  verlorn; 

du  hais  mich  vißerkorn, 

verloist  myt  dynem  byttercn  doyt. 

IIL     Liebes  werliuiii;. 

Nr.  13. 
[10b]        1.    Wuelde  got,  dat  idt  geschede 
zu  diesem  niiwen  jair, 
das  mich  myn  schönes  lieff  anesiege 
myt  yeren  äugen  klare: 
ere  angesicht  erfreuwet  mich, 
dar  zu  ere  freuntlich  laichen; 
es  gesche,  wes  geschieh en  sali, 
sy  kan  walle  fruntlich  machen. 

2.  i^w  halt  dich  vast  und  stede, 
das  Avyll  ich  van  dyr  haben; 

off  e}Tier  queme,  dich  dar  vmb  bede, 
kere  dich  nyet  an  syn  sagen. 
Ich  wyll  mich  leytz  ergetzen, 
aber  hv  sali  waile  weder  komen: 
es  geschie,  wes  geschiene  sali, 
das  havn  ich  wail  vernomen. 

3.  Ade,  ade  zu  guder  nacht, 
wyr  tzwev  wvr  moissen  scheyden; 
wanne  fuyr  und  strue  by  eynandern  lieget, 
balde  das  vs  verbrennet. 

„Fair  hvn,  fair  hvn,  die  straeß  ist  weydt, 
fair  [hyn]  yn  frembden  landen, 
suelcher  boilschafft  darff  ich  neyt, 
die  mich  brenget  zo  schänden." 

IT.    Preis  der  lielbsteii. 

Nr.  29. 
1.    Ich  hoff,  mir  solsz  gelingen, 
ich  weisz  mir  ein  edels  blodt, 
sy  geleibt  mir  vor  allen  dingen, 

1,  4  äugen  yere  —   2,  1  galt  clich  stede  imd  vast  —   2,  3  jarvimb  —    2,  8 
enomen  —  3,  7  boitscKafft 


412  BOLTE 


ein  henbsz  braunsz  medlein  goedt 


Ich  dein  ir  altzeidt  geren, 

ich  hoff,  sy  soll  mir  werden:  J 

SV  erfrewt  mir  mein  hertz  in  leib. 

2.  Ich  bin  ir  holdt  gewesen 
vorwar  ein  langer  tzeidt, 
von  aller  weldt  erlesen 
hadt  sy  mir  mein  hertz  erfrewt, 
es  lebt  kein  mensch  vff  erden, 
die  mir  so  leib  mach  werden: 
die  warheidt  mosz  ich  sagen.  | 

3.  Sv  hadt  ein  braun  krausz  hare, 
darzu  zwey  Idare  eugelein, 
sy  heissen  [?]  hin  vnd  herre 
woU  diu'ch  das  jonge  hertze  mein; 
darzu  zwey  heubsche  wangen, 
nach  ir  drach  ich  verlangen 
in  meines  hertzen  grund. 

4.  Sy  hadt  ein  leib  gleich  einem  hermelin, 
darzu  szwev  ermelein  szmall 
mocht  ich  sey  in  drugtten  umfanggen, 
die  hertz  allerliebste  mein! 
sey  ist  mildt  vnd  dugentlichg, 
dazu  heubsz  vnd  seufferlichg, 
ir  langer  ßerdt  ir  wolL 

5.  Sey  lägh  [wol]  vff  der  szynnen 
vnd  sagh  szu  dem  finster  herausz; 
sy  swengck  sich  gegen  mir  hervmmer, 
sey  vmfeinge  mich  mit  irren  ermelein  weysz: 
Wan  widtu  witterum  kommen, 
du  heubsche  vnd  vill  frome? 
Hertzleib,  in  kortzer  frist. 

6.  Hertzleib,  du  dorst  mich  baldt  fragen,  ■ 
wan  ich  wittrum  kommen  soU  [/.  bei  dir  sol  sein].                  * 
Ich  mach  mich  baldt  herummer 
woU  zu  dem  jongen  hertzen  dein, 
vff  das  der  kleffer  nit  erfare; 

1,  5  grene  —  1,  7  erswere —   2,4  erswert —  3,  2  engelein  klare —  3,6  noch 


LIEDERBUCH    DER    HERZOGIN    AMALIA    VON    CLEVE  413 

es  koest  mir  leib  vnd  leben, 
darzu  mein  getraues  hertz. 

y.    Liebesglück. 

Nr.  4. 

[5a]         1.    Artlicher  hört,     myn  eyniges  wordt, 
eyne  crone  bouen  allen  wyfen, 
du  hais  erloist     dat  hertze  myn, 
ich  wyll  dyr  stedich  blyiien. 
In  jamers  dall     hayn  ich  geyn  sali, 
dat  SV  mir  doet  Ionen; 
sy  ist  die  rechte,     ich  byn  yere  knechte, 
bis  dat  sy  myr  doet  lonenn. 

2.  Ein  edell  kruydt     hait  sy  gebuwt, 
dat  steyt  yn  yerem  garden, 

eyn  edell  gedieht     hait  sy  an  mir  erdicht, 

sy  schantz  vf  allen  karten. 

Die  schantz  was  groyss,    dae  myt  sy  mich  vmsloys 

myt  synnen  und  ouch  mit  wytzen; 

sy  drückt  mich  myt  lust   an  yeres  hertzen  brost: 

Halt  frunt,  du  machs  mich  suure. 

3.  Eyn  vreuwelyn  fyn   ist  by  myr  gesyn 
gar  hoymlich  uff  ein  oirde; 

dat  wer  myr  leit,     dat  is  emantz  wyst, 

off  dat  idt  queme  zu  woerde. 

Des  briecht  [?]  nur  pyn     deme  jongen  hertzen  myn, 

das  machs  du,  frauwe,  geleufen. 

Sy  dreget  tzwy  brostgen,     die  synt  wyss, 

dair  zu  twey  bruner  ougen. 

4.  Ach  paradijs,    myn  hoichster  ort, 
waer  yyndt  men  dynes  geliehen! 

ich  lofen  dich  als  eyne  klaii'e  sonne, 

eyn  keyseryn  so  riebe. 

Die  werde  guede,     dat  sy  mir  got  behuede 

Yur  allen  falschen  zongen! 

Dyt  lietgen  ist  gemacht     zu  duysent  goider  nacht, 

jn  yerem  dienst  gesongen. 

1,  1  Örtliches  ort  —  1,  2  wysen  —  2,  1  sy  an  mir  erdicht  —  2,  5  vnsloys — 
2,  6  synre  —  3,  5  pyne  —  4,  2  eynes 


Cl1 


414  BOLTE 

\J.    TasrelicMl. 

Nr.  9. 
[8a]         1.    Es  diiget  wonencklichen, 
waile  schynet  der  heller  dach, 
van  vere  so  movs  ich  wichen, 
das  ist  nivnes  hertzen  evne  klais^e. 
Sali  ich  nu  van  dvr  schevden 
all  van  der  liefsten  zart, 
so  geschaich  myr  nye  so  leyde, 
Sprech  ich  by  mynem  eyde, 
vurwair  sv  liefft  mvr  hart. 

2.  Ich  hayn  es  myr  gantz  vermessen, 
ich  will  de  geyne  lieiier  nyet  hayn; 
noch  hait  mich  die  lieffde  besessen, 

dn  goider  ['?]  geselle  schone, 
ich  hayn  mich  dyr  ergeuen 
jn  rechter  stedichheit, 
nae  dvnem  wvllen  zu  leuen, 
nochtant  so  moys  [ich]  steruen; 
ist  dat  nyt  jamer  groyss? 

3.  „Geselle,  du  darffs  nyet  sorgen, 
du  hais  dat  hertze  myn, 

waile  schynet  der  lichter  helle  morgen, 

zu  evner  vvnsteru  in, 

der  vns  tzwey  [hat]  verdryuen 

van  vnsenu  vreuwden  spyll: 

0  we  mich  armes  wyuen, 

dat  hertz  yn  mynem  lyuen 

dat  Ivdet  kommers  vvll." 

VIT.     Auf  wulerseheii. 

Nr.  17. 

[13  a]         1.    Och  scheyden  brengt  myr  swer 
und  macht  mich  traurigklich, 
dat  ich  nw  sali  van  der, 
die  ofit  erfreu wet  mich: 
myt  lieff  und  ouch  myt  schertzen 

Vn.     3//V  B  hexeichne    ich    die    ahiceichumjen    eines    %u  ,,Wulffenhüttel    hy 
Conrad  Hörn"  gedruckten  fl.  blattes  (Berlin  YdSTlOj.     1,  2  Ä:  mich  ganz  traurigklich 


LIEDERBUCH    DER   HERZOGIN    AMALIA    VON    CLEVE  415  I 

1 

halt  sy  myn  gemuet  bewarrt;  ' 

yrst  werd  ich  kranck  vau  hertzen,  | 

so  ich  gedonck  der  hynnetart. 

2.  Vnfall  durch  synen  nyt  * 
hait  senlich  clag  erdacht, 

vnd  ouch  durcli  clefflich  tzvt  ' 

dat  schoyden  wirf  vollenbraiclit,  j 

dar  durch  ich  liaeff  groyß  sniertzeu  ! 

und  ist  laek  durch  [/.  raet  duir]  by  mir,                                     ] 

dat  jch  die  zart  moyß  myden:  \ 

hylff  Glück,  dat  clag  ich  dyr.  ! 

3.  Kom  myr  myt  troyst  zu  steur, 

bedeiick  des  scheydens  end,  1 

vyll  körtzweyll  wyrt  mir  deur,  1 

so  ich  [mich]  van  hynnen  wend. 

Myt  wissen  moys  [ich]  scheyden, 

doch  blyfft  dz  hertze  by  dyr: 

Glück,  schaff  die  tzyt  myt  freuden, 

hvlff  vns  zosamen  schier!  ' 


D  5 


1,6  5:  myii  junge  heit  —  1,  8  -B:  der  varth  —  2,  2  yl:  semlich  clag 
B:  solche  klage  —  2,  3  5:  Vnd  schicket  de  klegehke  tidt  —  2,  ü  J5:  vnd  ys 
lanckwilich  my  —  2,  7  5:  de  schönsten  —  2,  8  5:  o  gelücke  —  3,  1  i?:  Gelücke 
kum  —  3,5  5:  mit  wesenden  moth  ick  —  3,  6  B:  dat  junge  herte  by  er. 

Till.    Abseliied. 

Nr.  22. 
[16  a]         1.    In  freuden  byn  ich  gantz  geletz, 
die  weyl  ich  vmmer  scheyden  moyß, 
ich  en  weyß  doch  nyet,  dat  mich  ergetz, 
dan  dat  ich  byn  yn  lyden  groyß; 
dat  ich  zo  freuden  hayn  erweit, 
dat  moiß  ich  myden  und  fayr  dair  hyn: 
zo  eilend  werde  ich  gantz  seit, 
so  lange  bys  ich  dich  weder  sieben. 

2.    0  Werder  viiint,  nw  halt  [dich]  yn  hoide, 
dat  ich  [/.  idt?]  dem  kleffer  nyet  en  werde  [schyn]! 
ich  frücht,  hy  wende  myrs  nyet  zo  goide, 
dat  haue  haue  [?]  weder  moit  noch  syn. 
Got  weiß,  dat  ich  geynen  wandell  beger, 
1,  2  woyle  —  2,  3  hy  werde 


416  BOLTE  '' 

i 
mach  ich  dem  kleffer  verholen  syn,  v  "jl 

in  rechter  deucht  uae  dyner  beghert;  i 

so  bys  du  doch  geweldicli  myn. 

3.    Wyls  doch  myt  truwen  herden  [?]  wort,  •; 

lais  felden  sien,  nyet  schrecke  dich, 
du  bvst  mvn  aller  hoichster  ort: 
wan  dw  mvt  truwen  mevnes  mich, 
so  iß  dvr  als  mvr  vn  aller  swere 
durch  wont  mvn  hertz  mvt  schevdens  pvn. 
Gedenck,  wie  gerne  ich  by  dyr  were: 
so  en  mach  idt  leyder  nyet  gesyn. 

2,  8  mviier  —  3,  8  on  mach  ich 

IX.    Treiinuiigssehmerz. 

Nr.  24. 
[17  b]        1.    Ach  got,  wat  sali  ich  syngen, 
kurtzwvle  ist  mvr  wovrden  duvre, 
vür  zyden  gynck  ich  spryngen, 
dat  bues  ich  allet  hude  [/.  huyr]; 
myt  groyssem  suchten  swere 
vertzer  ich  menchen  dach, 
vnfall  ist  myn  gefere, 
wie  waile  ichs  nyemantz  dag. 

2.  Lieff  hauen  und  zu  mvden 
ist  mvr  evn  swere  boeß, 
dat  schaff  der  kleffer  nyden, 
dat  ich  dich  mvden  moeß, 
dat  ich  dich  havn  verlorn 
so  gantz  vnd  ouer  all, 
so  byn  ich,  lieff,  dyn  eygen 
vnd  nym  du  yß  myner  gewar. 

3.  Hy  nam  sy  by  den  henden 
bv  verer  sehne  wvsser  haut, 
hy  foyert  sy  also  veme 
wallen  durch  den  groenen  walt, 
dair  laigen  die  tzwey  by  eynandern, 
kui-tzwyle  wart  yn  neyt  lanck: 

1,  7  iny  —    1.8  clage  —    2,  2  ey  swe  —    2,  3  kleffer  zongen  —   2,  5  im 
Berliner  Mgf  752:  verla.ssen  —  2.  8  ebenda:  gleub  mir  zu  dießem  malh 


LIEDERBUCH    DER    HERZOGIN    AM  ALI  A    VON    CLEVE  417 

Hertzlieff,  ich  movß  mich  schevden, 
SO  gayr  aene  mynen  danck. 

4.    So  haistii  mych  gefangen, 
dat  jonge  hertze  myn, 
nae  dyr  dragen  ich  groyß  verhmgeu, 
du  tzartes  jonfFreuwelingli, 
dvn  niondlvn  roit  zo  mvden 
is  myr  eyne  swaere  boeß, 
des  trure  ich  wynter  und  somer, 
dat  ich  dych  myden  moess. 

5.  Der  meye  der  is  vergangen, 
die  lufft  die  weht  vns  kalt, 

m}T  ligt  in  myne  sinne 

eyn  jonffreuweling,  ys  waill  gestalt. 

Here  got,  muecht  ich  yr  stediger 

und  truwe  dien  er  syn, 

vnd  off  ich  yere  gefeie, 

ere  evgen  wulde  ich  svn. 

6.  Ich  sali  und  moyß  mich  scheyden, 
ys  kan  nyet  anders  syn, 

dat  brenget  myr  groyß  lyden, 
ist  myr  eyne  swere  pyn. 
Och  scheyden,  vmer  scheyden, 
[18a]    und  wer  hait  dich  erdacht? 
du  hais  myn  jonges  hertzen 
[in]  groyß  truren  gebraicht. 

7.  Vur  zyden  scheyn  myr  die  sonne, 
es  wvll  aber  nimmer  svn, 

so  bvn  ich  nw  verdrone:en 
van  der  aller  lieffsten  myn, 
der  regen  doet  vns  netzen 
kalt  weyet  vns  der  wynt, 
du  hais  mich  offt  erfreuwet, 
du  wsserweldes  kvnt 

8.  Nu  gesegen  dich  got,  myn  freuwelen, 
du  hertzes  jonfferlyngh, 

4,  1  im  Berliner  Mg f  752 :  Du  hast  mir  vmbfaiigen  —  4,  5  ich  {statt  roit)  — 
6,  4  pyne  —  6,7  my  —  6,  8  *w  Berliner  Mgf  752:  auß  freudenn  in  traurenn 
bracht  —  7,  3  verdrogen 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.       BD.  XXH.  27 


418  ßOLTE 

du  machs  mich  armer  renwen 

bys  vp  dat  ende  myn. 

Wie  Tvaile  du  daist  mich  verachten, 

dvD  [/.  du]  \yeyblichs  byldt  so  werdt, 

ich  wünsch  dvr  evn  fruntlich  kichen 

und  wat  dyn  hertz  beghert. 

9.  Wat  zouch  sv  vis  den  henden? 
van  e^oulde  evn  rvno:elchvn. : 

Xym  du  es,  du  hupscher  bresser, 
draich  du  es  durch  den  wyllen  myn. 
Wat  sali  mvr,  lieff,  dvn  svluer, 
dar  zo  dvn  rovdes  2:oult? 
Moeß  ich  es  doch  nyet  dragen 
vur  hübschen  freuwelvn  stoltz! 

10.  Xoch  wyll  ich  nyet  vertzagen 
vnd  wvll  nvet  auelaen. 

Der  hencker  mueß  jnn  plaegen, 
der  mich  beloegen  hayt 
myt  syner  falscher  zongen, 
und  dat  ich  weinich  acht. 
Dat  sy  dyr,  fynes  lieff,  gesongen 
ade  zo  goder  nacht. 

11.  Och  scheyden,  hertzlich  scheyden, 
vnd  wer  hait  dich  erdaicht? 

du  hais  myn  jonges  hertze 
in  groysses  tmren  gebraicht. 
Dat  ich  [mynj  lieff  sali  myden, 
dat  krenket  das  hertze  m}Ti: 
du  movss  mvr  vys  mvnem  hertzen 
und  nimmermehr  dair  inn. 
9,  5  syn  —  10,  ö  falcher  —  11,  2  erdicht. 

X.    Rosenkranz  zum  abseliiecle. 

Nr.  31. 
[22  b]        1.    Ffryssch  ffroyllych  wyllen  wyr  ssyngen 
vntfi^en  dvssen  kovllen  mev; 
wan  ych  de  bloemger  ssyen  sspryngen, 
SSO  hat  myn  troyren  eyn  endt. 
Den  vnmoyt,  den  ych  draggeu, 
den  draggen  ych  gar  heymlych 


LIEDERBUCH   DER   HERZOGIN   AMALIA    VON    CLEVE  419 

i 

van  mvneni  stevtdve^en  boyllen, 
dar  na  vf^rlanget  mych. 

2.  [Du|  hast  mvr  myn   licrtz  durclitzochgen 
SSO  gar  wens  vff  den  gront, 

dat  vch  dvcli,  hertzlevff,  movsz  mytden: 

boeyt  mvr  dvn  rovtden  mondt! 

Dyn  boyigen  wyr  ych  gern;  ^ 

mach  esz  alsso  neyt  ssyn?  i 

dvn  clairer  schvn  eifFroewedt 

dat  [jonge]  hertze  myn. 

3.  Wolt  du  mych,  hertzleyff,  ergetzen,  I 
SSO  mach  myr  eyn[en]  krantz;  i 
dar  an  ssal  du  myr  ssetzen  ^ 
vii  roessger  algar  gantz, 

de  ych  dyr,  hertzleyfP,  wyl  nenen 
SSO  gantz  myt  ynderscheyt, 

2,  1  hat  —  2,  4  coytder  —  2,  7  schynen  —  Str.  3  —  5  begegnen  in  bes- 
serer gestalt  in  einem  1574  am  Nieder rliein  angelegteii  Uedcrbuche  (Berli'fier  mscr. 
germ.  quart  612  nr.  15),    und  'Xicar  hier  xu  dem  Hede   „Ich  weiss  mir  einen  gart- 

tenn"  gehörig: 

2.  Hertzlieb,  wiltu  mich  nicht  verlaessenn, 

mach  mir  ein  krentzlein  damonn;  ' 

darzu  [so]  soltu  faessenn 

sieben  roeslein,  seindt  wollgethoenn,  j 

die  ich  dir,  hertzheb,  wil  neunenn  ! 

so  gar  mit  vnterscheydt: 

wolt  ir  sey  recht  erkennenn, 

mein  hertz  ist  euch  bereidt. 

3.  Er,  lieb,  traw  vnde  stedicheit, 
das  seindt  der  roeselein  vier, 

je  lennger  ie  lieber  vnnd  vergiß  meiner  nicht, 

die  staendt  euch  [/.  auch?]  woll  darbey, 

ein  kraut  heist  wolgemuedth, 

wolgemuedt  das  erfrewet  das  heiize  meinn; 

das  seindt  die  roeselein  siebenn: 

hertzheb,  gedenck  an  das  krentzleinn! 

4.  Ein  kraut  das  heist  vntraw,  , 
das  setzet  mir  nicht  darbey  ' 
vm  aller  trawenn  willen,  ' 
die  ir  versprechet  mir.  , 
got  geff  dem  kleffer  leiden, 

darzu  gToes  vnngefall, 

der  mich  vnnd  dich  vnns  beidenn  , 

nicht  scheiden  soll.  ' 

27*  ! 


420  BOLTE 


dat  du  mvch,  hertzlevff,  erkenest:  I 

mvii  hertz  vst  dvr  berevt.  < 

4.  Trow,  levfft  [vnd]  steytdygeyt 
dat  ssynt  der  roessger  dry; 

we  lange[r  vnd]  we  leyffer, 

dat  steyt  gans  wayl  dar  by,  ] 

dat  du  es  vff  dysser  ertden  ; 

o^evn  Ivffer  haffsz  dan  mvch, 

dat  ssynt  de  roessger  all  vii:  i 

mocht  ych  dat  krenssgen  drageu.  | 

5.  Eyn  kroeytgen,  dat  heysscht  vnwyllen, 
dat  ssetz  mvr  nevt  dar  an, 

dat  deyt  myr  myn  hertz  sseyr  qwellen,  j 

vt  en  kau  vsz  nevt  srelan.  1 

mych  duynckt,  du  haffsz  onsz  geredt  ; 

wavl  ouf  dem  hertzen  mvn 

der  vst  ein  kleffer 

yn  der  wylt  verdryssen  mych. 

6.  Ssolt  myr  eyn  kroytgen  bekleyfPen, 

mach  esz  nevt  blevffen  stavn;  ! 

ssol  mych  eyn  kleffer  verdryffen,  • 

de  yar  reyt  ga  yn  [?]  l 

Gott  geff  dem  kleffer  dat  lytden,  | 

vnd  vm  movsz  wertden  we, 

all  beyt  ssyn  ougen  blyntden,  I 

SSO  [en]  sseyt  er  esz  nimer  nie.  jl 

7.  Dar  an  ssolt  yr  gedencken,  | 
vr  hübsstz  vonffffrawelevn  fevn:  ) 
dem  de  leyffen  doet  kerencken,  i 
ssyn  droyren  hat  geyn  endt.  ^ 
Myn  leyff  hat  myr  vntrow  gedayn,  * 
dar  vmb  tro}T  ych  dach  vnd  nacht;  : 
eyn  ändert  [le}if]  moysz  ych  keyssen,  .  ^ 
dartzo  hat  er  mych  bracht. 


XI.     All  die  entfernte  geliebte. 

Nr.  27. 
[20a]         1.    Betrübt  ist  mir  hertz,  moydt  vnd  syn 
wol  heuer  zu  diessem  neuem  jaren: 

1 .  2  wol  he  heuer 


LIEDEHBUCH    DER    HERZOGIN"    AMALIA    VOX    CLEVE  421 

noch  drecht  mich  stet  mein  hoffonge  hem  [?] 
vnd  daiffs  nvet  offenbavrcn, 
das  ich  so  hart  betrübet  werd 
in  liuiinmelvcher  leib  verbürgen. 

2.  Das  ich  dich,  veins  [lieff|,  raydenn  mus, 
brengt  myr  heimmeliche  smertzenn, 

ist  mvnem  hertzeu  evn  sweire  bus 
vnd  krenckt  mvch  fast  von  hertzen; 
so  leb  ych  doch  der  hoöiinge  noch, 
mein  trouren  wevrt  sich  wenden. 

t. 

3.  Ich  wayrt  der  tzit,  do  er  wieder  geit 
mein  gemoit  mit  allen  freiten 

vnd  mir  macht  gesunt  myn  hertz  verwimt, 
heylff  vnß  zo  samen  beyde. 
tzo  dyr,  myn  gedacht,  ade  tzo  goder  nacht, 
van  dvr  movss  vch  mvch  vtzund  scheiden. 

2,  1  minlenn  —  3,  1  tzu  —  3,  3  verweynt  —  3,  5  geacht  —  3,  6  ytzons 

XII.     Der  ungeschickte  liel)liaber. 

Nr.  22  a. 
[16  b]         1.    Ich  hadt  mich  vnderwonden, 
wolde  dienen  evme  vreuwelvn  fyn: 
sy  snyt  myr  dieffe  'wenden 
dem  jongen  hertzen  myn. 
Wulde  glück,  müecht  jch  yere  dienen, 
jr  stedyger  diener  syn, 
vnd  were  es  ere  gefeilig, 
yere  eysren  woulde  ich  syn. 

2.  Ich  was  eirst  zo  vr  komen, 
verswonden  was  myr  myne  rede, 
ich  wart  zo  evnem  stomen, 

als  ichs  yernomen  hett: 
ich  durfft  nyet  vmb  sy  werfen, 
idt  was  alleyne  my[n]  schoult. 
vyll  lieuer  wulde  ich  steruen, 
je  ich  verluyr  yr  hulde. 

3.  Wie  sali  ich  mich  dair  inne  schicken, 
wie  sali  ichs  gryfen  an? 

ich  hay[n]  ja  gar  geyn  glück [e], 
ich  bvn  evn  trurich  man. 


422  BOLTE 

Fviies  lieff,  laiß  dich  erbarmen 
iny[n]  kommer  vnd  groys  noyt: 
mueß  jch  dich  farn  hiissen, 
lieiier  ^yere  mvr  der  dovt. 

4.  Dae  sraÖ'  vm  nw  die  revne 
gar  vyle  fruutlich  küß; 

dat  vi'eulyn  fienge  an  zo  weynen 
vnd  sm tickt  vn  an  vr  brüst: 
Fynes  lieff,  laiß  dich  erbarmen 
my[n]  komer  und  groys  noyt! 
ich  wyll  dich  nyet  begeuen, 
schaf[t]  lieff  dyn  mun[d]lyn  royt. 

5.  Dyt  liedt  das  ist  gesungen 
vys  trur[ic]lichen  mut; 

vnfall  hait  mich  verdrongen, 
ich  hoff,  es  werde  noch  goyt. 
Ich  wyII  der  zvt  erwarten 
bys  vff  die  seine  stondt, 
moyß  ich  dich  farn  laissen, 
so  spar  dich  got  gesondt! 

Str.  4  lalltet  im  Berliner  mscr.  germ.  quart  708: 

So  gab  sy  ym  aia  segen 
Mit  ainem  fraintlichen  kuß. 
Sy  sprach:  Got  sol  sein  pflegen, 
Vnd  schmückt  in  an  ir  brast. 
Die  weil  ich  hab  das  leben, 
Eed  ich  zu  disser  stund, 
Wil  ich  dich  nit  auffgeben. 
Schafft,  heb,  dein  roter  mund. 

4.  1  m\Tie  —  4,  2  gar  ky  fmtlich  —  5,  2  munde 

XIll.    Die  ungetreue. 

Nr.  5. 

[5  b]         1.    In  liefden  ist  myr  myn  hertz  verbrant 

nae  eynem  vreuwelyngh  stoultz, 

sy  leuet  myr  zu  aUer  zyt 

recht  wie  dat  fuvre  dem  houltze. 

Ich  hain  yere  gedient  vff  golden  woene, 

recht  als  ich  byllich  konde. 
1,  1  my 


LIEDERBUCH    DER    HERZOGIN    AMALIA    VON    CLEVE  423 

Wat  hvlfft  vere,  dat  sy  mich  verkuyst 
och  sonder  alle  schoult! 

2.  „Geselle,  des  seluen  geliehen 
klagen  ich  offenbair 

dem  armen  als  dem  riehen, 

du  wils  darum  nyt  layn: 

myt  der  eleu  du  myr  vismyst, 

mess  ich  dir  widder  vm. 

in  der  alder  truwen  du  dyck  vergyss, 

du  mvrcks  waile,  wie  ich  des  meyne." 

3.  Zart  frauwe,  wyls  du  nyet  zürnen  dich, 
dat  ich  dyr  sagen  moes: 

mych  leues  bürde  [?] 
dair  vff  mvn  truwe  ... 
du  hays  dyn  hertze  gedeylet 
eyme  hie,  deme  andern  dae: 
ffair  hyn  myt  kleynen  heyle, 
schaff  äff  haue  du  zu  lone. 

4.  „[Fai-e]  ich  nyet,  so  moysz  ich  gain, 
dat  myrcke,  du  knaue  stoultz; 

und  sytze  ich  nyet,  so  moysz  ich  stayn: 

schaff  äff  zu  dieser  stondt 

dat  gyffs  du  myr  zu  lone 

ind  drages  uff  mir  dinen  hass, 

du  sages  myr  wairlich  schone: 

got  geue  dyr,  ich  weys  Availe  was." 

5.  Sage  fraue,  du  kans  vyll  spytyger  werdt 
vnd  dragen  oeuermoyt, 

dat  federen  splyssen  hais  gelert 

und  speien  vnder  dem  hoide, 

du  kans  wail  ryncken  giessen 

und  sagen  seiden  waere: 

der  dyr  .  .  weirlich  zu  ließe, 

du  drieues  ys  noch  eyn  hawe  [/.  jaere?]. 

6.  „Geselle,  an  dynen  äugen 
suyt  men,  wat  an  dir  ist: 

1,  7  yerknyst  —    2,  8  wade  —    4,  3  stayne  —    4,  4  off  —  5,  3  gehert  - 
6,  2  suyt  wie 


424  BOLTE 

du  hais  er  vill  bedrogen 
m'si:  dvner  valscher  Ivst, 

du  hais  myr  vvll  gesougen 

wys  gebodeu  und  s 

des  havn  ich  dich  befonden 
^-f  evne  falen  perde." 

7.    Zart  vrauwe,  ir  kunt  den  mantell  schicken 
gegen  regen  und  gegen  wynt. 
Van  svden  machts  du  mvr  snure, 
dair  girne  ich  henfFen  vyndt. 
Du  hais  es  dich  vermessen, 
du  kans  waile  spalden  wynt, 
du  machs  mir  des  gar  behende 
myt  sneden  [/.  seenden]  äugen  blynt. 

[6a]         8.    „Geselle,  aen  allen  hoffen 
[du]  dienst  uff  losen  waen: 
fair  hvn,  die  dure  stevt  offen, 
ich  wyll  dich  neyt  langer  haen. 
Du  hais  der  kamern  also  vyll 
in  dynem  jongen  hertzen, 
dat  ich  dyr  neyt  geleufen  kan 
aene  schympe  und  euch  aene  schertzen." 

9.  Eyn  ander  hayt  mich  verdrongen, 
des  byn  ich  weirlich  fro; 

m\T  ist  gar  wail  erlongen, 
sy  hait  eynen  andern  doren. 
N.  spraich,  sy  künde  schaffen, 
wie  sy  sich  hauen  wyll, 
der  naiTcn  vnd  der  äffen 
hait  sy  gemachet  vyll. 

10.  ,,Nu  siet,  ir  schone  jonjffrauwen, 
sydt  ir  yn  stediger  hode; 

hv  kan  sich  vruntlich  machen 

und  drvuen  wanckelen  movt. 

Hy  hait  ir  fyll  gefangen, 

an  svnem  narren  sevle, 

ich  byn  eme  kome  entgangen 

got  geue  myr  gelück  und  heyle.'^ 

6,  7  besonder!  —  7,  4  vynde  —  10,  3  vrmitlich 


LIEDERBUCH    DER    HERZOGIN    AMALIA    VON    CLEVE  425 

Xiy.     Loos  des  T)uhlors. 

Nr.  10. 
[8  a]  1.  Ayn  biieler  moyß  sich  lyden  vyll, 

des  byn  icli  ynnen  worden: 
des  dages  dryfft  hy  äffen  spyll 
und  fuvrt  cartliusers  orden, 

•  7 

die  gantze  nacht  liy  oeuer  braicht 
myt  krysschen  und  [myt]  syngen, 
in  liagell  und  snehe  deyt  hy  im  wehe, 
hy  hoff't,  im  sülle  erlyngen. 

2.    Wan  hy  des  morgens  vrue  vp  steyt, 
duet  hy  sich  snell  anlegen, 
hy  wardt,  Avann  sy  zo  kyrchen  geyt, 
dat  hy  yere  kome  ontgegen. 
Wan  sy  yn  anblyckt,  syn  hertz  erschreckt, 
eyn  woirt  kan  hy  neyt  gehen, 
so  gruytz  sy  yn  und  geyt  vorhyn, 
nae  vere  duet  hy  vmbsiene. 

[8  b]         3.    So' geyt  hy  vp  und  wyder  äff", 
dat  duet  sy  balde  vernemen, 
svn  hertz  ist  im  der  vreuden  voll, 
wanne  hy  heymlich  sali  komen: 
vp  eyne  stont,  die  sy  im  gont, 
gar  schöyn  deyt  hy  sich  mutzen, 
hv  leufft  stevtz  vmb,  sueckt  renck  und  krum 
myt  gaö'en  vnd  myt  gucken. 

4.    Wanne  hy  dan  zu  der  Hefster  kumpt, 
syn  truren  ist  im  vergangen. 
Sy  spricht:  Ir  syt  hupsch  und  gelat; 
myt  em  kan  sy  woll  prangen, 
vnd  lagt  yn  an,  als  sy  waill  kan 

Mit  B  bezeichne  ich  einige  aus  dein  Berliner  niscr.  germ.  fol.  752  entlehn-  i 

ten  Varianten.    —     1.  1   ich    —    1,  2  yn  den    —    1,  4   cathusers    —    1,5  —  1  B\  \ 

wachtt  I  mitt  pfeiffen,  dantzen  vnnd  singen,  |  im  tlmtt  nitt  wee  reiff,  regen  oder 
schuehe  —  1,7  sucht  deyt  —  2,  7  sy  gmytz  —  2,  8  5:  ehr  darff  nitt  wieder 
vmbsehen  —  3,  1  B:  Ehr  geitt  ihr  nach  vnnd  nymbtt  jrer  whar  —  3,  3  im  vyll  der 
vreuden  —  5:  ist  foll  der  freuden  gar  —  3,  4  5:  ehr  hei  sei  sali  —  3,  5  5:  sei 
seytt  im  ein  stundtt  —  3,6  5:  sich  zerenn  —  3,7  fg.  B:  Ehr  gedencktt  ahn  jr, 
die  zeittwirt  jm  schwer,  [  für  die  thur  komptt  ehr  hoffierenn  —  4,  4  B:  kallenn  — 
4,  5  J5:  sei  sichtt  in  an 


426  BOLTE,    LIl-IDERBUCH    DER    HERZOGIN    AMALIA    VON    CLEVE 

eyn  gecken  narren  oeiien. 

Hy  spricht  zu  yr:  Hertze  beger, 

evn  schätz  boiien  allen  wvuen! 

5.  Ich  byn  uch,  jonffi-auwe,  van  hertzen  hoult, 
nyet  me  kan  ich  gesagen; 

wanne  mir  vre  lieffden  nvet  werden  ensoldt, 

van  leyde  muest  ich  vertzagen. 

dan  uympt  sy  vur  eyn  euentuir, 

dair  niyt  dat  hy  geit  drafen, 

macht  im  eyn  krantz:  die  lieft'de  sy  [?]  gantz, 

vnd  wardet  evnes  andern  knauen. 

4/ 

6.  Och  bueler,  du  vyll  armes  dier, 
wane  wult  du  wysheit  plegen? 

Sy  spricht,  sy  hait  geyne  gonst  zu  dyr, 

dar  vmb  lais  vnderwegen. 

Geleuve  mvr,  du  bvst  zu  aller  frvst 

evn  mertyrer  hie  uff  erden, 

du  niaches  dyr  pyn  durch  lieffden  schyn, 

dair  dyr  geyne  lieffde  mach  werden. 

7.  Lais  äff,  lays  äff,  du  armer  gouch, 
sulchs  boelschaft  darffs  du  nvet  suechen: 
dat  fuyr  dat  lesch,  byst  dich  der  rauch, 
du  schaffs  nvet  vn  der  kuchen. 

Sueche  anders  wae,  gayne  lieffden  ist  dae, 
die  dir  mach  wederfaren, 
dyn  lieffde  und  gonst  ist  gar  vmb  sunst, 
dyne  arbeit  machs  du  wail  sparen. 

4,  6  5:  jn  gecken  vnd  narren  weise  —     5,  3  solde    —    5,  5  euen  mir  — 

5,  6  daet  myt  —  ö.b  fg.  B:  so  nympt  sei  vorhin  einen  andern  bolen,  |  mitt  dem 
geitt  sei  heim  brassen  —  5.  7  und  macht  im  eyne  —  5:  ist  gantz  —  5,  8  J5:  sei 
"wartt  aiiff  ander  —  6,  2  wyscheit  —  6,  3  5:  furwar  sie  enhatt  kein  hebde  — 
6.dB:  glaub  mir  deiß,  du  bist  jn  aller  weiß   —    6,6  mertyter  he-,    B:  meiller  — 

6,  7  schyng  —  B:  dir  schwer  vmb  liebde  scheir  —  7,  2  boetscbaft  —  7,  5  5:  freie 
anders  —  7.  S  B:  drumb  magstu  es. 

BERLIN.  JOHANNES    BOLTE. 


427 


ÜBEE   DEN   BILDUNGSGANG   DER   GRAL-    UND   PARZI- 
YAL- DICHTUNG   IN  FRANKREICH   I  ND   DEUTSCHLAND. 

(Schluss.) 

Sp.  531.  Hie  kummet  her  Gaivan  xuo  dem  Ideinen  ritter,  der 
deii  ivünderlichen  schilt  hette. 

Am  bruimcii  dabei  sass  eine  schöne,  prächtig  gekleidete  Jungfrau, 
die  mit  elfenbeinernem  kämm  ihr  goldig  glänzendes  haar  strich,  und 
ihn  freundlich  begrüsst,  als  er  seinen  namen  nent.  Alsbald  komt  auf 
falbem  ross  ein  kleiner  wunderschöner  ritter,  prächtig  gekleidet  uufl 
ungewafnet,  in  der  grosse  eines  fünfjährigen  knaben  hergeritten,  und 
ladet  Gawan  zu  seinem  schloss  ein.  Die  dame  ist  seine  Schwester, 
und  beide  sind  sonst  verwantenlos.  Den  schild  kann  nur  der  treuste, 
fromste,  tapferste  held,  der  zugleich  die  treuste  geliebte  hat,  erstreiten. 
An  fünfhundert  hat  der  kleine  ritter  bereits  besiegt,  die  den  versuch 
wagten.  Während  sie  im  schlösse  gastlich  tafeln,  bringt  ein  knappe  auf 
schAvarzem  ross  einen  gruss  von  Ydiern,  söhn  des  königs  Nuwes,  der 
ein  grosses  turnier  angesezt  hat,  zu  dem  auch  Artus  und  die  tafelrun- 
der kommen  werden,  und  wohin  auch  der  schild  des  kleinen  ritters 
gebracht  werden  möge,  um  darum  zu  kämpfen;  dazu  möge  er  sich 
beim  roten  kreuz  einfinden.  Nach  der  tafel  begeben  sie  sich  in  eine 
laube  mit  schöner  aussieht  und  worin  ein  prächtiges  bette  steht.  Der 
kleine  ritter  reitet  gerüstet  hinab,  um  den  schild  zu  hüten.  Darauf 
erklärt  seine  Schwester  Tanreie  dem  Gawan  ihre  liebe,  und  dieser  hoch 
entzückt  geivan  die  hluome  von  irrne  reinen  magettiiome.  Der  kleine 
ritter  kehrt  abends  ohne  abenteuer  zurück  und  Tanreie  ist  sehr  erzürnt, 
dass  der  kleine  ritter  neben  GaAvans  bette  schlafen  will.  Beide  reiten 
früh  morgens  mit  dem  Schilde  ab,  und  lassen  die  dame  schlafen. 

Nach  Übernachtung  bei  einem  ritter  nehmen  sie  rast,  wo  Artus 
mit  3000  rittern  lagert,  und  senden  den  schild  an  Idiers,  dass  er  ihn 
an  Artus  als  kampfpreis  überreiche.  Kaye  ninit  ihn  zur  Verteidigung 
auf,  wird  aber  vom  kleinen  ritter  klafterweit  hinter  das  ross  abgesto- 
chen. Darauf  gleichfals  Gawans  bruder  Mordret  von  Idiers.  Zulezt 
will  keiner  mehr  den  schild  zur  Verteidigung  aufnehmen.  Idiers  zieht 
sich  mit  Gawan  und  dem  kleinen  ritter  in  deren  zelte  zurück,  denn 
Gawan  wolte  unerkant  bleiben;  sie  nahmen  den  silberschiid  mit  sich 
und  Hessen  sichs  wol  sein  bei  tafel  mit  speise  und  trank.  Artus  tafelt 
in  seinem  lager  und  zürnt,  dass  niemand  den  kleinen  zwerg  erkant 
imd   besiegt   habe.      Gawan   ritt   mit   dem   kleinen   ritter   heim,   beide 


428  SAN    MAT?TE 

schlafen  wider  beisammen  zum  leidwesen  der  Tanreie.  Am  andern 
morgen  verabschiedet  sich  Gawan,  während  die  jungfi'au  sich  in  lange, 
bittere  klagen  über  seine  treuL^sigkeit  ergiesst.  Er  übernachtet  dem- 
nächst bei  einem  ehrbaren  ritter. 

Sp.  501.  Hie  rindet  Gaican  den  vcrdohten^  ritter,  dem  er  sins 
liebes  wider  half. 

Beim  weiterritt  trift  Gawan  auf  einen  ritter,  der  träumerisch  und 
tiefsinnig  dalün  trabt.  Ein  anderer  ritter  hat  ilun  seine  geliebte  abge- 
fochten.  Bald  finden  sie  dieselbe  in  einem  zelte,  aber  zugleich  auch 
den  feindlichen  ritter,  der,  von  Gawan  besiegt,  die  Jungfrau  an  den 
verdohten  zurückgibt,  und  Gawan  zur  nacht  einladet.  Er  heisst  Brun 
und  muss  sich  bei  Artus  zu  Kavalun  gestellen.  An  einem  kreuzweg 
lenkt  das  beglückte  liebespaar  ab  nach  der  schwarzen  kapelle,  und 
Gawan  sezt  seinen  weg  allein  fort. 

Sp.  572.  Hie  rindet  Gaican  sinen  siin  Gingelcns,  doi  er  hette 
ron  hcrn  Brandelins  sicester. 

Nachdem  sich  beide  freudig  erkant,  macht  der  söhn  Gawan  bekant, 
dass  Artus  ihn  um  beistand  gegen  den  könig  Catras  ersuche,  der  sein 
land  mit  feuer  und  schwert  verwüste.  Gawan  teilt  dem  söhn  seine 
sp.  259  und  264  oben  erzählten  abenteuer  mit. 

Sp.  579.  Hie  rert  künig  Artus  mit  sime  her  uf  künig  Katras 
ron  Besesse. 

Artus  zieht  mit  grosser  heeresmacht  zu  felde.  Nach  viertehalb 
monate  langer  belagerung  ergibt  sich  Katras,  und  nimt  sein  land  von 
Artus  zu  lehn.     Gawan  blieb  bei  Artus. 

Sp.  582,  11:    uns  enseit  dis  mere  ron  imme  niit  me 
nu,  wie  ez  joch  harnoch  e?'ge. 

Sp.  582.  Xu  teil  er  ron  Farxefale  sagen,  luie  er  ein  bilde  in 
eins  kindes  ivise  rant  und  mit  im  rette  uf  einem  boume  und  ivisete 
in  %uo  dem  leidigen  berge.     [Bern.  ms.  §  23,  zum  teil  lückenhaft] 

Sp.  582,  17:  ich  wil  üeh  ron  Parxifalen  sagen, 

hörent  irs  gerne  rnd  lontx  üeh  wol  behagen. 
Walther  ron  Dunsin  dise  rede  ret, 
der  dise  ystorie  rollebroht  het. 
er  sprichet,  daz  Parze fal  ivolgemuot 

1)  rerrfoÄ^  vgl.  sp.  608,  23.     738,45.     739,29.     741,26. 
803 ,11:  tcart  sere  verdoht  gar : 

er  vergax  sin  selbes  sunder  sin  da?ik. 
610,  8:     Parxefal  icart  so  sere  verdoht, 

dax  er  enicüste  nüt  tuan  icas. 


BILDUNGSGANG   DER    GRALDICHTÜNG  429 

vierzehn  tage  lang,  seitdem  er  Bagumedes  von  dem  banme  befreit 
hatte,  au  dem  er  mit  den  beinen  aiifgeliängt  war  [s.  sp.  506],  umlier- 
ritt,  als  er  im  walde  ein  sehön  gekleidetes,  etwa  5  Jahre  altes  kind, 
einen  apfel  in  der  band,  hoch  im  bäume  ersah.  P]r  fragt  nach  dem 
gral,  doch  will  das  kiud  darauf  nicht  eingehn,  und  sagt  nur,  er  werde 
morgen  zur  säule  auf  dem  leidigen  berge  kommen  und  dort  weiteres 
hören.  Darauf  stieg  es  im  bäume  immer  hrdicr  und  höher,  bis  es 
verschwand.  Parzival  übernachtet  im  hause  eines  einsiedlers  und 
erreicht  am  andern  tage  den  leidigen  berg,  von  dem  eine  Jungfrau 
herabkomt,  die  ihn  wai'nt.  Ihr  ritter  sei  hier  wahnsinnig  geworden 
und  irre  hier  im  walde  iierum;  sie  suche  ihn,  doch  lehnt  er  ab,  ihr 
darin  zu  helfen. 

Sp.  586.  Hie  vert  Pcuwcfal  zuo  der  sul  uf  den  leidigen  herg 
und  gesdiach  im  gros  oventiire.     [Bern.  ms.  §  23.] 

Auf  dem  leidigen  berge  fand  er  eine,  wol  einen  bogenschuss 
hohe,  reich  vergoldete  kupferne  säule,  um  welche  fünfzehn  kreuze 
standen,  die  je  fünf  rot,  weiss  und  blau  gefärbt,  und  jedes  wol  fünf- 
zehn klafter  hoch  waren.  Mit  goldner  Inschrift  stand  auf  einer  mar- 
mortafel  lateinisch  unter  einem  ringe  geschrieben:  dass  nur  der  beste 
ritter  hier  sein  ross  anbinden  könne.  Parzival  konte  sie  zwar  nicht 
lesen,  doch  hatte  der  ritter,  der  ihn  in  das  grab  stiess  [sp.  485  und 
486],  den  Inhalt  gesagt.  Er  steigt  ab,  lehnt  schild  und  lanze  an  die 
säule  und  bindet  sein  ross  fest  an  den  ring.  Da  komt  auf  einem 
weissen  maultier  die  wunderschöne  Jungfrau  vom  leidigen  berge,  die 
ihr  schloss  hinter  dem  berge  hat,  begrüsst  ihn  freundlich,  streichelt 
sein  ross  und  ladet  ihn  in  ilu-  zeit  ein,  das  sie  seit  vierzehn  tagen 
hier  aufgeschlagen  hat,  um  abzuwarten,  wie  das  abenteuer  ablaufen 
wird,  das  die  tafelrunder  Gawan,  Gyflet,  Dos  söhn,  Yw^on,  Lanselet 
und  Sagremor  bestehen  wollen  und  die  sie  bewirten  werde.  Viele 
mägde  und  knechte  befinden  sich  bereits  bei  dem  zelte. 

Sp.  591.  Hie  hörent  von  kilnig  Artus  gcbilrte  sagen.  [Bern, 
ms.  §  23.] 

Sie  erzählt  dem  beiden  von  Artus  geburt,  über  den  von  einer 
weisen  frau  und  Merlin,  dem  weissager  des  königs  Uterpandragon, 
grosses  prophezeihet  worden.  Da  Uter  wissen  wolte,  wie  er  den  besten 
ritter  erkennen  könne,  zauberte  Merlin  jene  säule  mit  den  15  kreuzen 
und  dem  ringe  zum  anbinden  der  i'osse  zur  pilifung.  Merlin  gieng 
vom  hofe  zu  ihrer  (der  erzählerin)  mutter,  und  da  ward  Merlin  ihr 
vater.  Auf  ihre  frage,  wer  ihn  hergewiesen,  erzählt  Parzival  ihr  das 
abenteuer  sp.  486  mit  dem  ritter  aus  dem  grabe.     Die  Jungfrau  erklärt 


430  SAN    MARTE 

den  lezteren  tur  einen  schändlichen  räuber,  den  er  hätte  töten  sollen. 
Sie  führt  Parzival  auf  den  weg  zur  gralsburg,  doch  die  schwersten 
gewitter  begleiten  ilin  am  tage,  während  die  Schönheit  der  folgenden 
nacht  ihn  entzückt. 

Sp.  598.  Hie  vindet  Parxefal  einen  hoitm,  der  vol  hiirnender 
herxen  ivax.     [Bern.  ms.  §  24.] 

Da  sah  er  einen  bäum  mit  tausenden  brennender  kerzen,  doch 
je  näher  er  kam,  desto  mehr  verschwand  die  erleuchtung,  und  er  kam 
an  eine  nur  mit  einem  licht  erleuchtete  schöne  kapeile,  in  der  auf  dem 
altare  ein  erschlagener  ritter  unter  prächtigen  decken  lag.  Da  ergieng 
ein  blitz  mit  fürchterlichem  donnerschlag,  und  eine  bis  zum  eilenbogen 
schwarze  band  löschte  das  licht  aus  und  Parzival  verliess  unter  from- 
men gebeten  die  kapeile.  Darauf  begegnen  ihm  Jäger  des  fischerkönigs 
und  eine  Jungfrau  zu  pferde,  die  ihm  bestätigen,  dass  er  auf  dem 
rechten  wege  zum  gral  sei,  doch  verweigert  die  dame,  ihm  auskunft 
über  das  kiud  auf  dem  bäume  und  das  abenteuer  in  der  kapeile  zu 
geben. 

Sp.  602.  Hie  kummet  Parxefal  xiio  dem  anderen  mole  %uo  dem 
grole.  [Bern.  ms.  §  24  mit  dem  schluss:  drei  tage  nach  der  krönung 
Parzivals  zum  gralkönig  starb  der  fischerkönig  und  wurde  zu  grabe 
getragen.  —  K  Boron  s.  176  — 178.] 

Endlich  komt  der  held  zur  gralburg  und  wird  in  dem  prächtig 
geschmückten  saale  vom  könig,  der  auf  einem  nihebett  sass,  gastlich 
empfangen  und  genötigt,  neben  ihm  platz  zu  nehmen.  Parzival  fragt 
eifi'ig  nach  der  bedeutung  seiner  erlebten  abenteuer,  dem  kinde  auf 
dem  bäume,  dem  bäume  mit  den  kerzen,  der  kapelle  mit  dem  toten 
ritter.  Doch  der  könig  vertröstet  ihn  bis  nach  der  tafel.  Bei  dersel- 
ben ward  der  gral,  die  blutende  lanze  von  schönen  Jungfrauen,  das 
zerbrochne  schwert  von  einem  Junker,  der  es  auf  den  tisch  vor  dem 
könig  niederlegt,  herumgetragen.  Parzival  weiss  nicht,  was  er  zuerst 
fragen  soll,  so  sehr  ward  er  verdoht  [sp.  610,  8].  Der  könig  erklärt 
ihm:  das  kind  habe  sich  mit  ihm  nicht  befassen  können,  da  er  an 
einer  grossen  sünde  noch  zu  tragen  habe.  Gott  habe  den  mensjchen 
aufi'echt  erschaffen,  damit  er  hoch  und  frei  um  sich  sehe,  und  die 
seele  nach  dem  himmel  richte,  was  er  bisher  nie  getan.  Das  kind  sei 
in  den  himmel  gestiegen,  und  sei  ihm  die  Weisung  damit  gegeben, 
gleichfals  dahin  zu  streben.  Über  den  bäum  mit  den  kerzen  und  die 
kapelle  mit  dem  toten  ritter  wolle  er  nach  tische  weiter  reden.  Par- 
zival bittet,  ihm  das  rätsei  des  gebrochenen  Schwertes  zu  lösen,  und 
Amfortas  entgegnet:    wer    die    stücke    zusammenfügen   könne,   sei    der 


BILDUNGSGANG    DER    GRALDICHTUNO  431 

beste  ritter  der  weit,  doch  müsse  er  zugleich  voll  gottesfurcht  sein  und 
die  kirche  ehren.  Er  mügi^  versuchen,  die  stücke  zusammen  zu  fügen. 
Hernach  werde  er  ihm  vom  gral  und  dem  blutenden  speer  erzählen. 
Parzival  sezt  das  schwert  zusammen,  dass  es  wurde 

Sp.  609,  31:  so  schöne  nnde  so  gantx, 
frisch,  reine  und  gcsJaht, 
alse  dez  tagex ,  da  ez  wart  gemäht 

610,  13:  der  känig  sach  in  a?/  midr  wart  fro. 
mit  armoi   umbevieng  er  in  do, 
alse  ein  tugcnthaft  man  tiiot. 
er  sprach:  lieber  herre  guot, 
über  dis  htis  sint  gewaltig  hie 
und  über  alles,  daz  ich  gewa7i  ie, 
one  alle  tviderrede  dekei?ie 
und  teil  ilch  lieber  haben  eine, 
denne  keinen  man  der  nu  lebendig  ist. 

Darauf  wickelt  der  knappe  das  schwert  in  einen  zindel  und  trägt  es 
fort;  der  könig  aber  sprach 

Sp.  610,  32:  essent,  schönre  herre,  ivolgemuot, 
daz  üch  got  durch  alles  sin  guot 
grosse  ere  geben  ivelle 
unde  behuote  ilch  vor  der  helle. 

(Hier  begint  Manessiers  fortsetzung,  s.  B.-Hirschf.  1.  c.  s.  99.) 

Als  sie  weiter  tafeln,  wird  der  gral,  der  blutende  speer  und  die 
patena  nochmals  herumgetragen,  und  als  sie  sich  wider  entfernt  hatten, 
begann  der  könig  seine  erläuterung:  Mit  dem  speer  habe  Longinus  die 
Seite  Christi  durchbohrt,  der  gral  sei  „der  kelch",  in  dem  das  heilige 
blut  aufgefangen.  Joseph  brachte  ihn  her,  als  ihm  Vespasianus  aus  dem 
kerker  half,  da  er  nach  Judäa  gefahren,  um  die  untat  der  Juden  zu 
rächen,  und  wo  Joseph  das  evangelium  predigte.  Mit  seiner  gemeinde 
zog  er  in  die  stadt  Saresse,  und  gieng  mit  ihr  in  den  sonnentempel. 
Der  könig  des  landes  wurde  hart  von  den  Ägyptern  bedrängt,  und  war 
alt  und  schwach  geworden.  Joseph  heftet  ihm  ein  rotes  kreuz  auf  den 
scliild.  mit  dem  er  und  sein  volk  gegen  die  feinde  ziehn  und  siegreich 
zurückkehren.  Da  Hess  sich  Avaluk,  der  könig,  mit  seinem  volke  tau- 
fen, und  uante  sich  Modrens,  desgleichen  sein  seh  wager  Salafes,  der 
fortan  Natigon  hiess.  Joseph  zog  mit  dem  gral  und  seiner  gemeinde, 
überall  das  Christentum  verbreitend  Aveiter  und  her  in  dieses  land,  und 


432  SAN    MARTE 

der  gral  blieb  hier,  als  er  starb.  Er,  Amfortas^,  glaube,  er  sei  Josephs 
nachkomme:  die  jangfi-au,  die  den  gral  trug,  sei  seine  tochter,  die 
andre  mit  der  patene  die  des  königs  Gouns,  seines  brudei*s.  Mit  dem 
Schwerte  sei  der  tütlichste  schlag  geschehen;  denn  als  sein  bruder  auf 
der  bürg  Kinkagüt  von  Epinogres  belagert  ward,  nahm  sich  der  neffe 
des  Epinogres  die  waffen  eines  toten  ritters  von  Gouns,  schlich  sich 
damit  an  ihn,  und  spaltete  ihm  mit  dem  schwort  das  haupt.  Bei  die- 
sem leidigen  schlage  zerbrach  das  schwort.  Jener  warf  den  andern 
teil  weg  und  enttluh.  Der  leichnam  und  die  schwertstücke  wurden  auf 
die  bürg  gebracht,  und  meine  nichte  sagte:  wer  das  schwort  wider 
hei*stelle,  der  solle  damit  räche  an  dem  mörder  nehmen.  —  Parzival 
hört  andächtiir  und  teilnehmend  zu  inid  bittet  um  das  schwert  zum 
rachezug  gegen  den  neffen  des  Aspanogres,  den  herrn  vom  roten  türme, 
den  „unsinnigen''  Partinias,  dessen  kraft  er  nicht  fürchte.  Parzival 
lässt  nicht  nach  mit  fragen  über  den  bäum  mit  den  lichtem.  Es  ist 
der  goukelbaum ,  da  sich  die  feen  versammeln,  welche  die  leute  betrü- 
gen, die  nicht  den  glauben  haben.  Da  sie  verschwanden,  als  ihr  nah- 
tet, soll  das  bedeuten,  dass  ihr  den  zaubern  dieses  landes  ein  ende 
bereiten  werdet.  Den  bäum  wird  niemand  wdder  finden.  Die  kapeile 
aber  stiftete  Blanschemore  von  Kornuwale,  die  mutter  des  Asspynogres, 
welche  nonne  in  der  kapeile  wurde.  Als  sie  starb,  schlug  er  ihr  das 
haupt  ab  und  begrub  sie  unter  dem  altar  der  kapelle.  Seitdem  ward 
fast  täglich  ein  ritter  von  der  schwarzen  band  unter  donnerschlägen 
getötet;  wol  schon  an  5000  fanden  so  ihr  ende.  Wer  aber  mit  der 
schwarzen  band  kämpfen  wolle,  der  nehme  die  weisse  fahne,  die  in 
der  kapelle  steht,  und  vom  teufel  behütet  Avird,  und  setze  sie  in  das 
Weihwasserbecken,  besprenge  damit  die  ganze  kapelle,  altar  und  leiche, 
und  gott  im  himmel  werde  ferneres  unheil  verhüten.  Der  kämpfer 
müsse  aber  sehr  tapfer  sein.  —  Endlich  gehn  sie  im  prächtigsten  zim- 
mer  schlafen;  das  bette  Parzivals  wird  weitläuftig  beschrieben.  Doch 
Parzival  steht  schon  in  der  frühe  auf,  und  rüstet  sich  bestens  zur  aus- 
fahrt. Vergebens  bittet  ihn  Amfort^s,  wenigstens  noch  einen  tag  zu 
bleiben. 

Sp.  625.  Hie  vindet  Farxefal  Sagremoi^s  und  tverdent  sü  xicene 
tnit  xelienen  vehtende. 

Sieben  meilen  von  der  herberge  trift  Parzival  auf  Sagremors,  der 
einen  elenden  klepper  reitet,  da  ihm,  als  er  nachts  im  w^alde  schlief, 
sein  ross  diebisch  mit  diesem  klepper  vertauscht  ward.     Grosse  freude, 

1)  Im  französischen  text  wird  der  name  Bron  stehn. 


BILDUNGSGANG    DER   GRALDICIITÜNG  433 

dass  sie  sich  gefunden!  Da  kommen  zehn  ritter  feindlich  hervor- 
gesprengt; der  erste  reitet  den  schönen  Morel  des  Sagremors,  und  hat 
eine  Jungfrau  vor  sich  auf  dem  rosse,  die  nach  liilfc  und  befreiung 
schreit.  Im  ungotümsten  kämpfe  erschlügt  Parzival  fünf  ritter;  Sagre- 
mors verfolgt  die  übrigen  auf  seinem  rosse.  Auch  die  lezten  zwei 
werden  niedergemacht,  doch  Parzival  ist  schwer  am  knie  verwundet. 
Dennoch  führt  er  auf  seinem  rosse  die  dame  auf  ihre  bürg,  vor  der 
eine  bewafnete  schaar  ihnen  entgegen  komt,  ilire  herrin  zu  suchen. 
Freudig  empfongen,  glänzend  untergebracht  und  von  einem  arzt  ver- 
bunden, muss  der  lield  einen  monat  dort  in  ihrer  pflege  verbleiben. 

Sp.  639.  Hie  jaget  Sagremors  cime  ritter  noch,  der  im  sin  ros 
kette  geuomen ,  unde  icürt  mit  im  vehtende  in  sinre  eigineyi  bürge. 

Der  verfolgte  floh  in  sein  festes  haus.  Sagremors  ihm  nach!  Der 
bauer  am  tor  Hess  das  falgatter  nieder,  und  er  muss  mit  den  vorhan- 
denen bewohnern  kämpfen,  bis  er  sie  sämtlich  getötet  hat.  Nun  bewir- 
tet der  um  gnade  bittende  torwart  ihn  mit  reichlichem  nachtmahl  und 
wolgerüstet  reitet  er  wider  auf  seinem  mutigen  Morel  in  den  wald  zu 
der  gestrigen  walstatt,  avo  die  leichen  der  zehn  ritter  lagen.  Bald  fand 
er  auch  eine  bürg,  die  sich  im  kriege  zu  befinden  scliien. 

Sp.  648.  Hie  kummet  Sagremors  zuo  der  inegde  bürg  und  wilrt 
mit  eime  ritter  vehtende,  der  kies  Talides. 

Den  willig  eingelassnen  belehrt  eine  alte  dame,  dies  sei  die 
mägdeburg;  darin  seien  siebenhundert  Jungfrauen,  alle  von  edlem  ge- 
schlecht, und  dazu  ein  schüler  und  ein  kaplan.  Ein  mächtiger  ritter, 
Talides,  fordre  eine  zur  geliebten,  die  sich  aber  weigere,  ihm  zu  fol- 
gen, w^eshalb  er  jezt  die  bürg  bekriege-  Artus  sei  um  beistand  gebe- 
ten. Ein  Junker,  bruder  der  geliebten,  der  die  Schwester  lieber  tot 
sähe,  ehe  Talides  sie  erhalte,  hat  erkundet,  dass  Talides  mit  dem  beere 
morgen  anrücken  werde.  Sagremors  sendet  diesem  eine  Jungfrau  mit 
der  forderung  zum  kämpf  entgegen;  siege  er  nicht,  so  müsse  er  den 
mägden  urfehde  schwören.  Talides  wird  im  kämpfe  besiegt  und  muss 
sich  der  alten  dame  als  gefangener  stellen,  die  doch  gerührt  ihm  die 
geliebte  übergibt.  Algemeine  freude  und  andern  tages  brautlauf  und 
heimzug,  während  Sagremors  auf  seinem  schwarzen  ross  Morel  andern 
abenteuern  nachreitet. 

Sp.  662.  Hie  vindet  Sagremors  xivene  rittere,  die  eine  jung- 
froice  icoltent  gesche?idet  han  mit  den  er  vehtende  icart. 

Er  erschlägt  beide  Übeltäter,  und  die  Jungfrau  führt  ihn  in  ihr 
väterliches  schloss,  und  unter  beistand  ihres  bruders  und  vaters  ver- 
weilt er  sechs  wochen  dort  zur  heilung  seiner  wunden. 

ZEITSCHEITT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXII.  28 


434  SAN   MARTE 

Sp.  672,  1.     dex  gesicigoi  icir  mi,  wie  ex  iimhe  in  lit, 
bitx  dax  ex  7iu  irihi  xit. 
eins  anders  sollen   wir  an  fon 
von  kilnig  Artus  ölwin,  kern   Gawon, 
also  ich  ex  in  der  ijstorioi  vant; 
anders  tuon  ich  ex  ilcli  nüt  behcmt. 

Sp.  672.  Hie  kuDunet  die  jnncfroice  xuo  kern  Gawan,  die  des 
rifters  swesfer  wax ,  der  In  dem  gexelt  erschossen  wart  in  hern  Gaivans 
geleite.     (S.  Sp.  259  oben.) 

Als  Ga\Yan  eines  tages  sich  im  saale  mit  Artus  und  der  königin 
befand,  komt  schön  geschmückt  auf  einem  maultier  eine  Jungfrau  gerit- 
ten, und  teilt  unter  ^vehklaa'en  mit,  dass  sie  die  Schwester  des  hier 
meuchlings  getöteten  ritters  sei,  und  klagt  Gawan  an,  dass  er  nicht 
zum  gralkönig  gekommen,  der  ihm  alle  geheimnisse  würde  entdeckt 
haben,  und  dass  er  ihrem  bruder  das  geleit  gebrochen  habe.  Er  solle 
die  Waffen  des  toten  nehmen  und  ihr  folgen,  denn  sie  sei  in  grosser 
gefahr.  Seine  sünden  hätten  ihn  einschlafen  lassen,  als  der  könig  ihm 
vom  gral  und  blutender  lanze  erzählte.  —  Beide  reiten  sofort  ab, 
übemachten  in  einer  befreundeten  bürg,  die  zweite  nacht  ohne  Spei- 
sung im  freien  walde,  den  dritten  tag  herbergen  sie  unter  gastlichem 
empfang  in  einem  zeit  bei  zwei  rittern  und  zwei  Jungfrauen,  und  dann 
wider  auf  der  bürg  eines  würdigen  ritters. 

Sp.  680.  Hie  klimmet  her  Gawan  xuo  einem  füre,  da  icolte  man 
eine  jungfrowe  inne  verderbet  han  mit  unrehte. 

Weiter  reitend  sehn  sie  am  rande  eines  waldes,  wie  zwei  knechte 
eine  bis  aufs  hemde  entkleidete  Jungfrau  in  ein  feuer  werfen  wollen. 
Aber  an  20  ritter  und  eine  menge  volks,  an  2000,  waren  auch  da;  ein 
ritter  erklärt,  sie  habe  ihren  bruder  ermordet,  um  seine  herschaft  allein 
zu  besitzen,  das  volk  aber  erklärt  das  für  lüge,  und  fordert  ihre  frei- 
lassung,  denn  der  wilde  Dodinas  habe  ihn  erschlagen,  den  sie  jezt 
gefangen  halte.  Gawan  kämpft  mit  dem  vorgetretenen  ritter,  stürzt  ihn 
vom  ross  ins  feuer,  aus  dem  er  tot  hervorgezogen  wird,  und  mit  jubel 
des  Volks  wird  die  gerettete  frei,  die  Gawan  zum  dank  leib  und  land 
bietet.  Statt  das  anzunehmen  lässt  dieser  den  Dodinas,  der  ihren  bru- 
der wirklich  getötet  hat,  vorfüliren,  und  erkent  in  ihm  seinen  freund, 
landsmann  und  tafelrundritter,  bittet  ihn  frei,  und  zieht  weiter  mit 
seiner  dame. 

Sp.  685.  Hie  kummet  her  Gawan  an  einen  icalt  unde  vindet 
drie  rittere,  die  gebruoder  ivorent,  unde  wilrt  mit  den  vehtende. 


BILDUNGSGANG    DER   GRALDICHTUNO  435 

Sie  sind  neffen  des  ins  feuer  gestürzten  rittors  nnd  wollen  ihn 
rächen.  Gawan  tötet  zwei  (hivon,  den  dritten  scliiekt  er  besiegt  zu  der 
geretteten  Jungfrau,  die  ilui  dankbai'  aut'ninit. 

Sp.  689.  IIlc  liunt  her  Uairan  mit  rinre  jiiurfroicen  in  ir 
bürg,  die  in  fnorie  vo)i  ]d\ni(f  Artns  Jiof,  undc  trihi  mit  rimr  li'oritje 
veJitende,  der  hris  Margnns. 

Als  Gawan  mit  seiner  begleiteten  dame  in  deren  stadt  und  bürg 
anlangt,  werden  sie  mit  klagen  empfangen.  König  Marguns  hat  sie 
hart  belagert,  weil  die  frau  seinen  söhn  Kargrilo  als  gemahl  verschmäht, 
indem  sie  ein  ander  lieb  hatte.  Ihr  lieb  ward  aber  gefangen,  und 
Marguns  liess  ihn  vor  ihren  äugen  hängen;  aber  von  den  ihrigen  wird 
auch  Kargrilo  gefangen,  den  sie  von  einem  türm  herunterstürzen  liess, 
dass  er  starb.  Nun  rief  sie  ihren  bruder  zu  hilfe,  der  aber  in  Gawans 
geleite  durch  ein  javelot  an  Ai'tus  hof  erschossen  ward  (s.  sp.  259), 
und  zwar  von  Keye,  was  Gawan  jedoch  bestreitet.  Am  morgen  reitet 
Gawan  wolgerüstet  dem  Marguns  entgegen.  Dieser  unterliegt  im  kämpf, 
muss  steten  frieden  geloben  und  sich  dem  könig  Artus  als  gefangner 
gestellen.  Die  Jungfrau  bedauert,  dass  er  ihn  nicht  getötet,  und  bittet, 
dass  er  an  Keye  räche  nehmen  möge;  sie  gab  ihm  dazu  ein  rotes 
fiihnchen  mit  dem  bild  eines  Aveissen  löwen,  an  die  lanze  zu  heften, 
das  er  mit  Keves  blut  färben  solle.  So  reitet  Gawan  nach  Karleun  ab, 
während  Marguns  gleichfals  mit  100  rittern  und  vielen  zeltgeräten  sich 
zu  Artus  auf  den  weg  macht. 

Sp.  700.  Hie  tvürt  errettende  Idinig  Marguns  sine  sivester,  und 
ivürt  dnimhe  vehtende  mit  eime  der  hies   Gogaris. 

Als  unterwegs  Marguns  seine  zelte  aufgeschlagen,  komt  auf  einem 
maultier  ein  hovereht  getwerc  geritten  und  berichtet,  dass  mit  150  rit- 
tern Gogaris  Marguns  Schwester  Malolehat  gewaltsam  entführt  habe; 
Marguns  verfolgt  ihn  sofort.  Fünfzig  seiner  ritter  werden  erschlagen, 
fünfzig  gefangen,  und  fünfzig  entfliehen,  und  die  befreite  spert  den 
Gogaris  in  einen  käfig,  in  dem  er  sieben  jähre  schmachten  muste. 
Marguns  mit  dem  zunamen:  der  könig  mit  den  100  ritteni,  wird  dem- 
nächst von  Ai'tus  mit  ehren  empfi^ngen  und  in  die  tafeirunde  aufge- 
nommen. 

Nu  gesivige  ich  von  im  hie. 

Sp.  703.  Hie  klimmet  her  Gawan  zuo  einer  hiirg ,  und  tcürt  mit 
eime  ritter  vehtende  von  der  bürge,  der  duff'e  hovemeister  ivas. 

Nu  hörefit  von  herren  Gawan. 

Einer  bürg  nahend,  erkent  ihn  die  am  fenster  sitzende  herrin 
derselben,   und   befiehlt   ilirem  hofemeister,   ihn  gefangen  zu  nehmen, 

28* 


436  SAN  HARTE 

da  er  zu  Artus  gesinde  gehöre,  um  an  ihm  Solimag,  der  ihres  vaters 
bruder  Avar  und  an  Artus  hofe  heimtückisch  erschossen  Avard,  zu  rächen. 
Xach  kurzem  kämpfe  wird  der  hofemeister  niedergeworfen  und  bittet 
ebenso,  wie  seine  auf  einem  maultier  herbeieilende  nichte,  um  gnade. 
Gawan  erkent  diese  dame  als  diejenige  Jungfrau,  für  die  er  gegen  Mar- 
guus  gefochten  hat.  Die  herrin  der  bürg  mahnt  zwar  daran,  dass  ja 
Solimag  unter  Gawans  geleit  erschossen  sei,  versöhnt  sich  jedoch  und 
nimt  GaAA'an  gastlich  auf.  Die  hinzugekommene  ist  Solimags  Schwester 
und  heisst  „die  rote  Jungfrau";  Solimag  hiess  „der  herr  der  bürg  zu 
den  felsen."  GaAvan  verspricht  die  anklage  gegen  Keye  als  mörder  bei 
Artus  ia  austrag  zu  bringen.  Gawan  legt  die  waffen  des  erschossnen 
ritters  an  und  reitet  mit  der  roten  Jungfrau  zu  Artus. 

Sp.  710:  Hie  humet  her  Gawan  7alo  künig  Artus  hofe  mit  einre 
junyfroicen  unde  ivürt  mit  Keygin  vehtende  von  iren  ivegen. 

Gawan,  der  unbekant  bleibt,  besiegt  Keye,  doch  wird  ihm  auf 
Artus  bitten  das  leben  geschenkt.  Gawan  bringt  die  rote  Jungfrau  zu 
der  bürg  zurück,  wo  er  die  wafFen  entlehnt,  und  weilt  noch  8  tage 
dort,  während  Keye  noch  zwei  monate  an  seinen  wunden  zu  hei- 
len hat. 

Sp.  717.  Hie  findet  her  Gaivan  sinen  hruoder  Agrafens,  unde 
werdent  vehtende  mit  fünf  rittern,  do  hies  einre  Patris. 

Nach  einiger  zeit  begegnet  ihm  sein  bruder,  der  ihm  zu  seiner 
beruhigung  mitteilt,  dass  Keye  wider  genesen,  der  hof  jedoch  nicht 
wisse,  wer  ihn  besiegt  habe.  Da  kommen  fünf  ritter,  todfeinde  des 
Agrefens,  feindlich  angestürmt,  doch  zwei,  Patris  von  dem  berge  und 
Galien  von  Kurnewal  werden  abgestochen  und  zu  Artus  geschickt,  die 
übrigen  entfliehen.  Artus  empfängt  sie  mit  ehren  Avegen  ihres  besie- 
gers.    Bald  nachher  gehn  auch  die  beiden  bruder  an  den  hof  zu  Artus. 

Sp.  722,  9.     nu  wil  ich  Gawans  hie  gedagen 
und  tvil  üch  voji  Parzefale  sagen 
der  uf  der  hurg  siech  lag  dort  (sp.  625). 

Nach  mehreren  Avochen  genesen,  bricht  Parzival  auf,  von  der 
herrin  der  bürg  vortreflich  ausgerüstet.  Das  gebrochne  schwert  nimt 
er  mit  sich. 

Sp.  723.  Hie  kummet  Parze fal  zuo  einre  capellen  unde  wurt  do 
init  demme  täfele  vehtende  und  überwindet  in. 

Parzival  sucht  einen  schmied,  der  ihm  das  zerbrochne  scliAvert 
herstelle.  Ein  schAveres  ungewitter  überfält  ihn,  und  er  flüchtet  in 
eine  kapeUe  im  walde,  dieselbe,  in  der  er  vor  etAva  Jahresfrist  geAvesen 


BILDUNGSGANG   DER   GRALDICHTUNG  437 

(sp.  598).  Auf  dem  altar  liegt  der  tote  ritter  bei  brennender  kerze. 
Wie  damals  verlöschte  eine  schwarze  band  die  kerze;  er  warf  seinen 
wHirfspiess  gegen  sie,  den  sie  aber  auffieng  und  zerbrach.  Da  erschien 
im  fenster  bis  zum  halben  gürtel  ein  feuriges  wesen,  das  ihm  einen 
zwei  klafter  kugen  brand  entgegenstreckte,  der  ihm  augenbrauen, 
bart  und  gesiebt  verbrante.  Mit  furchtbarem  blitz  und  donnerschlag 
wird  die  kapelle  in  brand  gesteckt,  der  teufel  erscheint  in  person  und 
kämpft  mit  ihm,  seine  kreuzigungeii,  segensprüche  und  gebete  sind 
jedoch  wirksamer,  als  sein  schwort.  Der  böse  weicht  zurück,  und  Par- 
zival  nimt  aus  der  kapsei  das  weisse  fähnlein,  taucht  es  in  Weihwasser 
und  besprengt  überall  damit  die  kapelle.  Die  leiche  auf  dem  altar  ist 
ganz  schwarz  gebraut.  Das  feuer  erlischt.  Er  legt  das  fähnchen  wider 
an  seinen  ort.  Nach  vielen  gebeten  schläft  er  bis  zum  frühen  morgen, 
der  lachend  hereinbricht.  Die  kerze  brent  wider,  und  er  läutet  eine 
glocke,  damit  ein  priester  komme,  die  leiche  des  ritters  zu  begraben. 
Mehrere  mönche  erscheinen,  legen  den  ritter  in  einen  marmornen  sarg, 
bestatten  ihn  unter  den  hohen  bäumen  des  friedhofes,  und  hängen 
seine  waffen  an  einen  bäum,  wie  auch  mit  den  dreihundert  rittern 
geschehen,  die  von  der  schwarzen  band  erschlagen  wurden.  Doch 
unter  den  angeschriebenen  namen  derselben  befand  sich  kein  tafelrun- 
der. Die  königin  ßlanschamor  hatte  diese  kapelle,  deren  zauber  Par- 
zival  gebrochen,  gestiftet.  Bei  spärlichem  mahle  herbergen  ihn  die 
mönche  einen  tag  und  eine  nacht,  und  als  er  auf  weitere  abenteuer, 
um  preis  und  ehre  zu  gewinnen,  abreiten  will,  ermahnt  ihn  einer  der 
„guten  männer":  wie  er  damit  seine  seele  verderbe,  dass  er  die  men- 
schen töte.  Parzival  erschrickt,  geht  in  sich,  bereut  seine  sünden,  tut 
busse  und  verspricht  besserung. 

Sp.  738.  Hie  sticket  der  tu  fei  Parxefalen  von  sime  rosse,  und 
machet  sich  der  tilfel  %uo  eime  rosse,  und  icurt  da%  ritende  und 
ivolte  in  ertrencket  han. 

Der  teufel,  in  rittergestalt,  sticht  ihn  ab,  und  reitet  mit  seinem 
rosse  fort.  Dann  komt  ein  lediges  gesatteltes  schwarzes  ross,  das  er 
einfängt,  sich  aber  mit  ihm  in  tiefes  wasser  stürzt,  aus  dem  er  sich 
jedoch  mit  mühe  errettet. 

Sp.  742.  Hie  kummet  der  tilfel  in  eime  schiffelin,  und  het  sieh 
gemachet  in  Parxefals  icibes  geschöpfede. 

Während  der  held  sich  betend  bekreuzt  und  seiner  sünden  gedenkt, 
komt  eine  feurige  dreiköpfige  gestalt  mit  leopardenantlitz,  feuer  schnau- 
bend unter  donner,  blitz  und  hagel  auf  ihn  zu.  Zugleich  komt  auf 
dem  wasser  ein  schifchen  mit  einer  Jungfrau,    worauf  jene  gestalt  ver- 


438  SAN    MARIE 

schwand,  und  diese  ihn  lierzlich  als  sein  weib  Kondwiramur  anspricht; 
sie  habe  ihn  lange  gesucht.  Bei  der  tafel  im  zelte,  die  ihre  leute 
bereiten,  wird  von  keinem  priester  ein  segen  gesprochen.  Sie  erzählt, 
wie  ein  grimmiger  ritter,  Talides  von  Cafalun,  ihr  land  verheere;  sie 
bereitet  das  bette,  und  als  Parzival  scherzend  bei  ihr  lag,  blickt  er 
nach  seinem  an  der  wand  hängenden  schwert,  das  mit  dem  griff  oben 
ein  kreuz  bildet.  Da  bekreuzt  er  sich  und  betet,  und  siehe,  plötzlich 
schaffen  die  knechte  bett.  alles  gerät  und  das  zeit  in  das  schiff,  das 
unter  donner  und  blitz  schnell  davon  schAvamm.  Nun  erkante  er  des 
teufeis  list,  dankte  gott,  dass  er  ihr  entrann  und  betete  inbrünstiglich. 

Sp.  747.    Hie  Ixunund  ein  hotte  von  (joitc  in  eins  biderben  man- 
nes  glicJfnisse  in  ei  nie  sckiffelin  und  fueret  Parxefalen  von  dannan. 
Der  biedre  mann  im  schiff  gibt  sich  dem  beiden  zu  erkennen: 

Sp.  748,  13:  der  oberste  vatter  von  himelrich, 
der  do  bekert  die  sünderj 
het  mich  ?ioch  iieh  gesant  her 
daz  ir  von  sorgen  werdent  erlost. 

Folgt  mir,  ich  werde  euch  zum  ziele  führen.  Zuvor  lässt  sich  Parzi- 
val den  ei'fahrnen  teufelsspuk  erklären.  Dann  setzen  sie  über,  und  aus 
der  bürg  führt  ihm  ein  Junker  ein  schönes  weisses  streitross  und  einen 
zeiter  entgegen.  Der  jetzige  herr  dieser  bürg  heisst  Sakur  de  Laloe, 
sein  Vorbesitzer  Bores.  Der  gute  mann  versichert,  nachdem  er  das 
streitross  bestiegen:  es  werde  ihn  gewiss  zu  seinem  ziele  führen. 

Sp.  752.  Hie  fihtet  Parxefal  mit  eineme  rittere,  der  hiesch 
imnie  xol. 

Parcival  verweigert  den  zoll,  sticht  ihn  vom  ross  und  schickt  ihn 
zu  Artus  mit  der  Weisung  — 

Sp.  754.  Hie  kummet  Parxefal  xuo  JJodineas  liep  und  wurt  blos 
fehlende  mit  eineme  rittere,  der  sü  emveg  fuorte  siner  angesihte,  der 
hies  Gafgens. 

dass  er  zu  pfingsten  an  den  hof  kommen  werde.  Auf  einem  wiesen- 
plan findet  er  in  einem  zelte  die  geliebte  des  Avilden  Dodineas,  die  ihn 
entwapnet  und  freundlich  bewirtet.  Plötzlich  sprengt  auf  weissem  ross 
ein  ritter  daher,  reisst  die  dame  auf  sein  pferd  und  jagt  mit  der  weh- 
klagenden davon.  Parzival,  ohne  eisenwehr  (blos),  nur  mit  schild, 
schwert  und  lanze  bewafnet,  ihm  nach,  rent  ihn  nieder,  schickt  den 
besiegten  zu  Artus,  und  führt  die  gerettete  auf  seinem  ross  zum  zelte 
zurück.  Avo  inzwischen  der  wilde  Dodineas  heimgekehrt,  der  ihn  bis- 
her gesucht  hat  und  nun  ihn  freudig  aufnimt. 


BILDUNGSGANG   DER   GRALDICHTUNG  439 

Sp.  763.  Hie  se?idet  Parxefals  lieb  Kumleiviramors  7iach  imme, 
daz  er  ir  ze  helfe  lamime. 

Arides  von  Kaffaliin  verwüstet  ihr  laiul;  nachdem  beim  sclimid 
Tribiiet  das  zerbrochne  schwert  p^anz  ^-emaeht  und  (his  hut'hdime  pterd 
hergestelt  ist,  eilt  er  mit  der  butiii  nach  hause. 

Sp.  766.  llie  kinnmct  Par\cfal  xuome  cliriten  mole  xiio  sime  liebe 
Kioideu'iratNors  xuo  Bclrepere. 

Freudig  empfangen,  besiegt  Parzival  am  andern  morgen  den  Ari- 
des, und  schickt  ihn  zu  Artus,  muss  aber  tages  darauf  weiter  zum 
leidwesen  der  gattin,  um  zu  ptingsteu  bei  Artus  am  hufe  zu  sein. 
Inzwischen  melden  sich  beim  könige  der  ritter  Menader,  der  Parzival 
den  zoll  abforderte,  dann  Gafyens,  der  die  Jungfrau  rauben  wolte,  und 
endlich  Arides  als  von  Parzival  geschickte  gefangene,  und  werden  mit 
freuden  in  die  tafeirunde  aufgenommen. 

Sp.  779.  Hie  viiulet  Farxefal  den  xageliaftcn  ritte r  und  wart 
sin  geselle  fünf  jar. 

Parzival  begegnet  einem  ritter,  dessen  wafPen  im  sattel  neben  ihm 
samt  der  lanze  hängen,  der  tiefsinnig  (verdoht)  schien,  und  ungewapnet 
ritt,  weil  er  nie  fechten  wolte.  Parzival  schilt  ihn  wegen  seiner  feig- 
heit  und  nötigt  ihn,  sich  kampffertig  zu  rüsten. 

Sp.  781.  Hie  Immmet  Farxefal  und  der  xagehafte  ritter  xuo 
zehcn  rittern,  und  ivoltent  zwo  juncfroiven  han  verhrant  und  werdent 
mit  in  vehtende. 

In  einem  walde  finden  sie  fünf  ritter  und  zwei  knechte,  die  zwei 
mädchen  im  hemde  in  ein  feuer  werfen  wollen.  Parzival  eilt  ilmen 
zu  hilfe,  der  zaghafte  tötet  in  notwehr  zwei  ritter,  Parzival  die  übri- 
gen; die  knechte  entfliehen,  doch  verwundet  der  eine  von  ihnen  Par- 
zival mit  einem  vergifteten  pfeile.  Die  sieger  werden  von  den  geret- 
teten zu  ihrer  nahen  bürg  geführt,  wo  Parzival  von  seiner  wunde 
geheilt  werden  soll.  An  drei  monate  Aveilt  er  dort  in  der  pflege  der 
Jungfrauen  und  des  zaghaften,  der  hier  auch  „der  schöne  ritter"  ge- 
nant wird. 

Sp.  789,  14:  nu  hörent  von  Sagramors  filrhas. 
do  er  dort  tif  der  bürg  icas, 
da  men  im  hat  so  gros  ere 
alse  ivere  er  gesin  ein  künig  here  (s.  sp.  662). 

Als  er  geheilt,  findet  er  an  Artus  hofe  fast  alle  tafelrunder  ver- 
sammelt, die  vergebens  Parzival  gesucht  hatten,  imd  Artus  ist  höchst 
misvergnügt,  dass  dieser  nicht  erscheint.  An  zwanzig  der  vorzüglich- 
sten gehn  von  neuem  auf  die  suche,  jeder  auf  besondrer  Strasse. 


440  SAN   MAETE 

Sp.  794.  Hie  vindei  Boors  sinen  hnioder  Lionel,  den  sehs  bit- 
tere fuorteni  nacket  und  gebunden  und  ivoUent  in  verderben. 

Booi'S  hatte  seinen  brudcr  seit  zwei  jähren  nicht  gesehn.  Da  traf 
er  ihn  im  walde,  wie  er  grausam  gemishandelt  und  blutig  geschlagen 
von  sechs  rittern  dahingeführt  wird.  Während  er  im  begriff  ist,  diese 
scharf  anzurennen,  hört  er  das  Jammergeschrei  einer  Jungfrau,  die  ein 
ritter,  den  noch  zehn  andere  umgaben,  entehren  wolte.  Boors  befiehlt 
seinen  bruder  gottes  barmherzigkeit  und  errettet  die  verfolgte,  indem 
er  den  Übeltäter  und  alle  zehn  ritter  niederstreitet  und  tötet.  Dann 
eilt  er  seinem  bruder  nach.  In  der  nacht  den  wald  durchreitend,  trift 
er  auf  eine  am  wege  sitzende  Jungfrau,  die  einen  ritter  ohne  köpf  im 
schoos  hielt.  Sie  weinte,  denn  sechs  ritter,  die  einen  halbnackten 
mann  unter  rohen  mishandlungen  mit  sich  fortschlepten ,  erschlugen 
ihren  liebsten,  der  den  armen  befreien  wolte,  und  schnitten  ihm  den 
köpf  ab.     Boors  eilt  vierzehn  tage  und  nachte  ihnen  nach. 

Sp.  799.  Hie  vindet  her  Gawan  Lyonel,  den  sehs  ritter  sluo- 
gent  und  übel  handeltent ,  und  u'urt  her  Gaivcin  mit  in  vehtende. 

von  Boorse  ich  hie  lasxen  sol, 
und  sagen  von  hern   Gawane  cluog. 

Gawan  auf  seiner  suche  nach  Parzival,  begegnet  den  sechs  rit- 
tern und  tötet  drei  davon,  die  andern  entfliehen.  Den  geretteten  Lyo- 
nel bringt  er  in  ein  haus,  wo  ihn  ärztliche  pflege  in  vierzehn  tagen 
heilt.  Dann  reiten  sie  neu  gerüstet  zusammen  weiter,  trennen  sich 
doch  bald,  und  Boors  klagt  zu  gott,  dass  sein  bruder  ihm  nicht  zu 
hilfe  gekommen.  Xach  vierzehn  tagen  weist  ein  mann  im  grauen 
kleide  ihn  zu  einem  bäum,  wo  ein  toter  ritter,  namens  Lyonel,  liege. 
Boors  findet  ihn,  und  trostlos  fleht  er  zu  gott  um  beistand,  macht  das 
zeichen  des  segens  über  die  leiche,  und  siehe,  da  fuhr  der  böse  teufel 
mit  freischlichem  gebrumel,  dass  die  äste  an  den  bäumen  zerbrachen, 
aus  der  leiche.     Mit  gebet  und  dank  zu  gott  reitet  er  weiter. 

Sp.  804.  Hie  hegegent  Boors  sime  bruodere  Lyonel  und  wiirt 
mit  imme  vehtende. 

Wütend,  dass  er  ihn  nicht  gerettet,  rent  Lyonel  den  bruder  nie- 
der. Der  hinzukommende  Kolagrenans  will  sühne  stiften,  wird  aber 
von  dem  rasenden  Lyonel  erschlagen.  Boors  erholt  sich,  bittet  verge- 
bens um  frieden,  und  fleht  inbrünstig  zu  gott  um  Vergebung.  Da  kam 
eine  wölke,  so  dass  beide  sich  nicht  sehn  konten,  und  eine  stimme 
vom  himmel  rief:  dass  Boors  seinen  bruder  nicht  anrühren  dürfe;  die 
wölke  verschwand,  und  Lyonel  lag  wie  tot  am  boden.     Als  er  erwacht, 


BILDUNGSGANG    DER    GRALDICHTUNG  441 

versöhnen  sich  die  brüder,  ein  raönch  hilft  den  Kolagrenans  begraben 
und  meint:  der  teufel  sei  in  Lionel  gefahren,  daher  sein  wütiger  hass 
gegen  den  bruder.     Beide  trennen  sich  bald  an  einem  kreuzwege. 

Sp.  812.  Hie  kiinunet  l\ir\('f((l  nndc  der  schöne  riiter  sin  geselle 
%uo  eime  turncy  wider  kiiniy  Artus  nta^scnie. 

Der  gehrnoderc  wellen  ivir  swigen  hie, 
und  sagen  wie  es  Parxefalc  ergie. 

Nachdem  Parzival  genesen  (sp.  781),  gelangt  er  mit  dem  „schö- 
nen bösen",  dem  zaghaften  ritter  zu  einer  bürg,  wo  Artus  und  kr)nig 
Bademagun  (sp.  506  und  513  hiess  er  Bagumades)  ein  grosses  turnier 
abhalten.  Sie  halten  es  für  geraten,  sich  in  einem  benachbarten  klo- 
ster  einzuquartieren  und  ungekant  sich  in  die  rennen  einzumischen. 
Ohne  das  ende  abzuwarten,  trennen  sie  sich  am  nächsten  tage  und 
nennen  sich  ihre  namen.  Parzival  meint,  jener  müsse  „der  schöne 
kühne"  heissen  (der  dichter  vergisst,  dass  beide  schon  sp.  506  l)ekant- 
schaft  gemacht  haben).  Dieser  reitet  zu  Artus,  Parzival  betet  und 
beichtet  sehr  andächtig  in  einer  kapeile,  und  der  einsiedler  verpflichtet 
ihn,  nicht  mehr,  wie  ehemals,  an  heiligen  tagen  wafFen  zu  tragen. 

Sp.  822.  Hie  vindet  Parxefal  Estoren  Lanszeletens  bruoder, 
und  tverdent  mitteinandcr  vehtende. 

Auf  einem  plane  zwischen  Schotten  und  Irland  findet  Parzival 
Estorn,  der  zwei  jähre  lang  irfahrten  gemacht.  Trotzdem  er  in  zer- 
hauenen Waffen  erscheint,  fordert  er  Parzival  zum  kämpf,  der  beide 
so  ermattet,  dass  sie  erschöpft  die  nacht  friedlich  im  walde  zubringen. 
Beide  fühlen  sich  todmatt  und  wünschen,  dass  ein  priester  zu  ihrem 
sterben  komme.  Da  erhelt  sich  der  wald  mit  heiterem  licht,  ein  engel 
trägt  den  gral  herbei,  umschwebt  sie  viermal,  verschwindet  in  dem 
himmel  und  beide  fühlen  sich  völlig  gesund  und  stark.  Sie  trennen 
sich  versöhnt,  Estor  sucht  den  bruder  Lanzelot,  Parzival  den  Par- 
tinias. 

Sp.  828.  Hie  kummet  Parxefal  xno  Partinias  bürg  luid  icurt  mit 
imme  vehtende. 

Parzival  gelangt  zu  einer  sehr  festen  bürg,  mit  vier  kleinen  und 
einem  grossen,  dem  roten  türm,  wo  Partinias  wohnt,  ,,der  detne  heil- 
gen  kiinige  Anfortas'^  so  grossen  schaden  getan.  An.  einer  grossen 
prachtvollen  tanne  vor  dem  roten  türme  hängt  ein  mit  zwei  Jungfrauen 
bemalter  schild,  und  ein  knecht  belehrt  ihn:  wer  den  herab  werfe, 
der  sei  des  todes  und  werde  hier,  wie  er  sehe,  aufgehängt.  Parzival 
zerbricht   den   schild,    und   der  knecht  ruft  den  Partinias,    der   nicht 


442  SAN   MARIE 

an   gott    glaubt.      Sie  kämpfen,    und  Parzival   schlägt   dem   Partinias 
den  köpf  ab. 

Sp.  834.  Hie  kNnnncf  Parxcfal  xiio  liUnig  Anfortasse  xko  dem 
driiioi  inoJc  mit  Partifuds  hoiibct,  und  iviirt  der  künig  ro)nme  yrole 
gesiDit. 

Parzival  komt  endlich  mit  dem  zerbrochnen  Schilde  und  abge- 
schnitnen  haupte  des  Partinias  zur  gralsburg,  und  als  dieses  dem  Am- 
fortas  gemeldet  wird, 

Sp.  835,  17:    der  liiuig  mit  ril  frouden  gros 

sprang  iif  sine  fnesse  do  xe  stunt 
und  ivas  (d\emote  gesunt. 
frölich  und  gar  wol  gemuot 
gieng  er  abe  die  stege  guot, 
und  begrüsste  den  beiden  mit  grosser  freude  und   dank,    dass  er  ihn 
von  seinem  langen  leide  befreit  habe.     Der  köpf  des  Partinias  wird  auf 
einen  pfähl  gesteckt  und  auf  dem  höchsten  türme  ausgestelt.    Die  tafeln 
werden  aufgeschlagen  und  dreimal  wird   der  gral,    der  blutende  speer 
und   die  patene  feierlich   herumgetragen,    der  gral  spendet  speise    und 
trank.     Xach  der  tafel    nimt  Amfortas    den  Parzival   in    eine   fenster- 
nische  imd  fiagt  nach  seinem  namen  und  herkunft,   und  sie  erkennen 
sich  als  verwante,  denn  Parzivals  mutter  war  die  Schwester  des  Amfor- 
tas,  und  könig  Goun,    den  Partinias  getötet,   sein  bruder,    der  später 
das  „wüste  land",  Parzivals  heimat,  verwaltete.     Er  versichert  ihn: 
Sp.  839,  3:  attes  mi?i  lant,  des  ich  geiceltig  bin, 
sol  iich  eigenliche  undertenig  sin, 
und  muessent  xuo  kimige  gecrönet  sin 
zuo  pfingesten,  die  %e  nehest  gont  in. 
dax  rnuos  sicherlichen  geschehen. 
Parzival  will  aber  die  kröne  nicht  annehmen,    so  lange  Amfortas 
lebt;    er  müsse  zunächst  zu  Artus,   werde  aber  sogleich  widerkehren. 
Amfortas  gibt  ihm  neue  herliche  wafnung,  und  so  reitet  der  held  ab. 

Sp.  840.  Hie  kummet  Parzefal  zuo  einem  burnen  und  rindet 
sehs  rittere,  mit  den  icurt  er  vehtende. 

Auf  einem  wiesenplano  findet  Parzival  an  zwei  tannen,  zwei  lor- 
beer-  und  zwei  olivenbäumen  je  einen  schild  und  speer,  jeder  von  ver- 
schiedener färbe,  grün,  weiss,  gelb,  violet,  zinnoberrot,  das  sechste 
uar  gemusieret  mit  allen  diesen  färben,  aufgestelt  und  um  einen  brun- 
nen  herum  sassen  sechs  ritter  fröhlich  spielend,  und  von  vier  schönen 
Jungfrauen  bedient.  Es  ist  der  könig  Saladres  von  den  inseln  mit  sei- 
nen fünf  söhnen:  Dinisodres,  Menassides,  Nactor,  Aristes  und  Gorgone. 


BILDUNGSGANG    DER   GRALDICHTUNG  448 

Parzival  sticht  alle  sechs  einen  nach   dem   andern  nieder  und  schickt 
sie  zu  Artus,  der  sie  freudi.^:  aufnimt. 

Sp.  84(3.     ///('    hunn/tcf   Par\efal    \ko    siwe    hrnodcr  tnid   vindet 
den  von  geschiltt  Feriis  Anschefin   und  ictirt  mit  inime  vehtende. 


Hier  schliesst  sich  Wolframs  gedieht  B.  XV,  734,  1  an  und  wird 
L.  769,  28  das  abenteuer  von  Boors  und  Lvonel  (s.  oben  sp.  794  und 
804)  kurz  Avidererziihlt.  —  Es  folgt  AVolframs  text  L.  770,  1  l)is 
L.  772,  30,  Avo  Parzival  in  einem  längeren  einschub  kurz  alle  seine 
abenteuer,  die  oben  sp.  582,  598,  (302,  723,  738,  742,  747,  779,  781, 
822,  828  und  840  erzählt  sind,  dem  könig  Artus  mitteilt  und  bemerkt 
der  Übersetzer  dazu  (Schorbach  s.  LIII): 

Daz  Seite  er  de7n  ki'uiige  gar. 
der  kies  es  alles  schriben  dar 
an  ein  baoch  von  ivorte  xe  icort. 
die  aventüre  icolt  er  han  für  ein  ort 
und  ivax  ieder  ritter  aventüre  seite 
hies  er  ouch  schriben  algereite, 
der  guote  Idlnig  eren  vol, 
und  hies  es  gehalten  wol. 
Im  buch  XYI   ist  hinter  L.  793,  28    rot  die   beischrift  eingefügt 
(a.  a.  0.  LIV): 

Hie  klimmet  Parxefal  und  sin  bruoder  Fervis  Anscheivin  und  kilnig 
Artus  und  die  tafelrunder  alle  zuo  Muntsalfasche  zuo  dem  grole. 
Hinter  L.  820,  16  folgt  ein  grosser  zusatz  von  54  versen,  der 
die  krönung  Parzivals  erzählt,  wobei  ihm  14  grosse  könige  dienen, 
und  die  gralfeier  mit  dem  festlichen  gelage  sich  täglich  einen  monat 
lang  widerholte.  Dem  könig  Artus  werden  auch  die  geheimnisse  des 
grals  mitgeteilt,  worauf  er  mit  seinem  hofe  heimzieht. 

Hinter  L.  823,  10  werden  noch  einige  familienangelegenheiten 
während  Parzivals  regieruug  angeführt,  die  Verheiratung  zw^eier  muh- 
men  und  der  tochter  des  Amfortas,  und  die  überlassimg  seines  heimat- 
landes  an  könig  Malun.  Dann  folgt  die  bemerkung  zum  schluss  (sp.  845): 
Hie  hei  der  alte  Parxifal  und  der  nuive  ein  ende  und  ivax  rede 
hie  noch  geschriben  stat,  dax  het  Pfdippes  Kot  in  gemäht, 
und  folgt  der  widmungsbrief  an  den  grafen  Ulrich  von  Rappoldstein. 

Die  casanatische  handschrift  fasst  sich  hier  kürzer  und  weist 
die  geschichten  von  Loherin  und  priester  Johannes  als  hier  ungehörig 
ab.  Xach  v.  Kellers  auszug  in  seiner  Romvart,  s.  675  lautet  sie  abwei- 
chend von  dem  s.  LVI  verzeichneten  zusatz: 


444  SAN   MARTE 

Pa?'xifal  bleip  aldo  für  war 
gcicaJticJich  alle  sine  jar 
mit  gemache  vnd  lebte  herlich 
vml  hiiicet  manige  vesten  sterldich 
sine  nachgehur  vorchtoi  in  gar  sere 
vnd  erboten  ime  gros  ere 
sine  ziva  mumcn  beriet  er 
herlich  nacl)  aller  siner  ger 
dar  )mch  horte  er  sagen  mere 
da\   Änglofals  sin  bruder  tot  icere 
dex  irurt  er  betrübet  gar 
wall  er  in  lieb  hette  fürwar 
er  sante  nach  dem  kilnige  von  Malun  %o  haut 
vnd  beiicdch  ime  cd  sin  la.nt 
dex  landes  viiderivant  er  sich 
künig  Malun  gar  frümldich 
ouch  sage  ich  iich  von  Lohelagrin 
der  tet  grosxe  iviinder  schin 
do  er  sich  ritterschaft  versan 
in  dex  groles  dienste  er  pris  geivan 
er  beginc  ivunders  so  vil 
Daz  ich  nit  alles  sagen  wil 
ivie  er  zu  der  herxoginnen  gei^i  Brabaiit  quam 
vnd  die  zu  einer  amyen  nam 
vnd  dar  7iach  ivider  zu  de?n  grol  für  also 
do  von  tvil  ich  nit  sagen  no 
wan  dax  wer  zu  vil 
do  von  ich  no  steigen  ivil. 
Hie  solle  Erig  no  sprechen  usw.   folgt  AYolframs  text  L.  826,  28 
bis  zum  schluss  827,  30.         

Das  französische  manuscript,  wahrscheinlich  doch  auch  auf  kosten 
eines  reichen  geistlichen  oder  weltlichen  hern  hergestelt,  oder  aus  einem 
kloster  hervorgegangen,  stelt  sich  als  eine  kompilation  verschiedner 
Schriftstücke  dar.  die  der  kompilator  notdürftig  in  Zusammenhang  ge- 
bracht, und  dabei  avoI  manches  an  den  originalstücken  geändert,  aus- 
gelassen oder  hinzugefügt  hat.  Crestien  hatte  die  aventüren  Parzivals 
und  Gawans  bis  zu  den  festlichkeiten  auf  Joflanze  geführt.  Hier  füg- 
ten sich  zimächst  die  fahrten  Gawans,  dessen  erster  besuch  beim  gral 
und  andere  abenteuer  ein,  die  nur  mit  Artus,  nicht  mit  dem  gral  in 
beziehung  stehn,    und  von  unbekanter  band  eingesclioben  sind.     (Sp.  1 


BILDUNGSGANG  DER  ORALDICHTUNG  445 

bis  45.)  Dann  begint  das  buch  von  Carados  (sp.  45  — 165),  dem  noch 
die  keuschheitsprobe  mit  dem  übergiessenden  becher  an  Artus  hofe 
angefügt  ist,  wie  ja  einer  oder  der  andre  dieser  höfischen  schwanke 
fast  in  allen  romanen  dieses  kreises  zur  bclustigung  der  leser  aufgeführt 
wird,  lind  auch  in  unserm  Jüngern  Titurel  (str.  2343)  in  der  wunder- 
brücke über  die  Sibra  nicht  fehlt.  Mit  sp.  169  endet  diese  erzählung 
in  sich  geschlossen  und  ohne  Zusammenhang  mit  Parzival  und  gral, 
und  stelt  sich  als  eine  ganz  selbständige  erzähl ung  dar.  Die  folgen- 
den abschnitte  bilden  den  feldzug  Arthurs  gegen  das  schloss  Orgalus; 
sp.  259  reiht  der  kompilator  Gawans  zweiten  vergeblichen  besuch  beim 
gral  ein,  führt  ihn  auch  in  den  kämpf  mit  der  schwarzen  band,  den 
Parzival  später  siegreich  bestellt,  deren  geheimnis  der  dichter  aber  hier 
noch  nicht  verraten  darf.  Die  abenteuer  Gawans  und  seines  sohnes 
werden  als  eine  besondre  geschichte  bezeichnet  (sp.  287,  3),  und  dieser 
folgt  die  erzählung  von  dem  schwan  mit  dem  schiff  und  toten  ritter, 
welche  sp.  314  endet  und  lediglich  wälschen  Ursprung  verrät.  Die 
Überschrift  hier  lässt  nicht  wol  einen  zweifei,  dass  der  kompilator  nun 
ein  neues  besonderes  Schriftstück  einfügt,  dessen  Inhalt  bis  sp.  602, 
mit  ausschluss  der  aventuren  sp.  513  —  579,  Gawans  fahrten  betreffend, 
Parzivals  gralsuche  erzählt,  als  dessen  Verfasser  gegen  den  schluss  hin 
sp.  582,  19  Walther  von  Dunsin  genant  wird,  der  aber  kein  andrer 
ist,  als  der  anderswo  Gautier  de  Denet,  Gauchier  de  Doudain  oder 
Dourdain  genante  erster  fortsetzer  Crestiens,  und  gleichfals  wie  der 
kompilator  mit  Gawans,  dieser  mit  Parzivals  scheiden  von  Joflanze 
begint.  Eine  vergleichung  unsers  textes  mit  Rochats  auszug  des  Ber- 
ner ms.  zeigt,  dass  dem  kompilator  Gautiers  gedieht  im  original  vor- 
gelegen hat,  denn  kapitel  für  kapitel  mit  wenigen  ausnahmen  stimmen 
die  Überschriften  im  Inhalt  mit  den  paragraphen  Rochats,  und  vermute 
ich,  dass  auch  diese  Überschriften  im  Berner  ms.  enthalten  sind,  wo- 
rüber Rochat  sich  äussern  mag.  Da  aber  zugleich  sich  eine  grosse 
Übereinstimmung  mit  dem  dritten  teil  des  Boronschen  Petit  Graal  (Par- 
zival) nach  Birch- Hirschfelds  auszuge  ergibt,  wie  im  obigen  auszuge 
angedeutet  ist,  so  wird  erkenbar,  dass  Gautier  diesen  gleichfals  als 
Vorarbeit  benuzt  hat;  und  in  der  tat  deuten  die  anfangsworte  des  Ber- 
ner ms.,  welche  Rochat  s.  1  mitteilt,  auf  die  dichtungen  hin,  die  ihm 
zu  abfassung  seines  gedichts  anregung  gegeben  haben. 

Do  roi  Ärtit  lairai  atant, 

et  si  ores  clor  en  avant, 

le  hon  conte  de  Percheval 

et  le  haut  livre  de  greal. 


446  SAN    ]SL\RTK 

Le  hon  conte  de  Percheval  ist  unzweifelhaft  Crestiens  gedieht,  das  er 
fortsetzen  will,  und  le  haut  lirre  de  Greal  der  Petit  Greal  Borons, 
den  dieser  in  seinem  ersten  und  dritten  teile  melirnials  als  Ja  grant 
estoirc  dou  Groel  bezeichnet,  von  welchem  vor  ihm  noch  kein  sterb- 
licher geschrieben  hat.  Dabei  holt  er  mehrere  aventiiren  nach,  die 
Crestien  übergangen  hat,  aber  bei  Boron  vorhanden  sind.  Auf  Borons 
Merlin  geht  Gautier  nicht  ein.  Er  scliliesst  mit  Parzivals  krönung 
nach  der  genesung  des  fischerkönigs,  welcher  drei  tage  nach  der  krö- 
nung stii'bt,  und  finde  ich  hiernach  erwiesen,  dass  wii-  in  dem  Ber- 
ner ms.  die  dichtung  Gautiers  in  ihrer  unverlezten  ursprünglichkeit 
besitzen,  wodurch  der  wert  jener  handschrift  für  die  französische  littera- 
tur  sich  steigern  dürfte,  aber  auch  in  beziehung  auf  Wolframs  gedieht 
nicht  unwichtig  ist.  —  Der  kompilator  des  Colinschen  ms.  konte  die- 
sen schluss  nicht  gebrauchen,  da  er  auch  noch  die  fortsetzung  Manes- 
siers  in  seinen  codex  aufnehmen  wolte,  zu  der  aber  der  fischerkönig 
am  leben  bleiben  musste,  um  auch  die  noch  hinzugedichteten  fata  Par- 
zivals mit  zu  erleben.  Parzival  wurde  daher  hier  nur  in  folge  der 
gelungenen  Zusammensetzung  des  Schwertes  gewissermassen  als  stathal- 
ter  eingesezt,  die  krönung  aber  verschoben  bis  Manessier,  als  zweiter 
fortsetzer  Crestiens  noch  seine  dichtung  vorgetragen  hat.  Die  krönung, 
wozu  auch  Artus  eingeladen  wird,  erfolgt  nun,  der  endliche  schluss 
wird  aber  in  Colins  bearbeitung  durch  die  anhängung  der  beiden 
lezten  bücher  von  Wolframs  Parzival  herbeigeführt,  mid  demgemäss 
der  französische  text  verlassen.  —  Die  dritte  fortsetzung  Crestiens  von 
Gerbers  bleibt  unerwähnt  und  unberücksichtigt,  existierte  vielleicht 
auch  noch  nicht.  Mit  unrecht  schreibt  Colin,  dass  Wolfram  dem  Cre- 
stien nachgedichtet  habe,  indem  er  ganz  ignoriert,  dass  unser  dichter 
den  provenzalen  Kyot  als  seine  quelle  angibt,  dessen  namen  er  doch 
im  deutschen  Parzival  Wolframs  muss  gelesen  haben. 

Augenscheinlich  liatte  Robert  de  Boron  es  auf  ein  umfassendes 
Schriftwerk  abgesehen,  wozu  ihm  Gottfried  von  Monmouths  Historia 
Regum  Brittanniae,  ein  werk,  das  in  kürzester  zeit  einen  weitruf  erlangt 
hatte,  und  von  einem  grossen  teil  der  geschieh tschreiber  als  wahre 
authentische  geschichte  aufgenommen  und  nachgeschrieben  wurde,  mag 
anregung  gegeben  haben.  Die  bekehrung  Englands  zum  Christentum 
zu  schildern,  war  ein  würdiger  Vorwurf,  und  ebenso  war  es  ein  glück- 
licher geistreicher  gedanke,  die  ausführung  dieses  Vorwurfs  an  die  bis 
ins  8.  und  9.  Jahrhundert  zurückreichende  legende  von  Joseph  von 
Arimathia  und  das  ihm  anvertraute  gefäss  mit  dem  blute  Christi  anzu- 
knüpfen,   wodurch   seiner  erzählung  ein  populärer,    zugleich  religiöser 


BILDUNGSGANG   DER   GRALDICHTÜNG  447 

Untergrund,  im  gegensatz  zu  den  zahllosen  weltlichen  rittergeschichten 
der  fahrenden  sänger,  gegeben  ward,  der  noch  dadurch  gefestigt  ward, 
dass  wirklich  bei  der  eroberung  von  Ciisarea  a.  1101  die  berühmte 
schale  entdeckt  ward,  welche  in  der  ganzen  Christenheit  das  grösste 
aufsehn  erregte  und  für  die  abendmahlschüssel  des  heilands  gehalten 
wurde,  wie  ebenso  bei  der  einnähme  von  Antiochien  im  jähre  1098 
die  lanze  des  Longinus  gefunden  ward,  wiewol  sie  schon  einmal  Karl 
dem  Grossen  geschenkt  und  von  diesem  an  Otto  I.  gelangt  war  — 
ereignisse,  die  nach  50  bis  60  jähren  im  volko  noch  nicht  vergessen 
sein  konten,  die  daher  in  seine  erzählung  hineinzuziehen  für  den  dich- 
ter nahe  lag.  Indem  am  Schlüsse  des  ersten  abschnitts  des  Petit  St. 
Graal  dem  hüter  des  heiligen  gefässes  und  seinen  genossen  die  Wei- 
sung gegeben  ward,  fern  nach  dem  westen  hinzuziehen  und  das  Chri- 
stentum zu  verbreiten,  und  ein  himlischer  brief  ihm  die  täler  von 
Avaron  (Avalen)  anweist,  wo  sie  die  gnade  gottes  und  den  söhn  Alains 
des  Grossen  erwarten  sollen,  spricht  Boron  deutlich  die  absieht  aus, 
die  geschichte  seines  heiligtums,  des  grals,  mit  den  einheimischen 
fabeln  des  Artuskreises  zu  verbinden;  denn  im  tal  Avalen  auf  einer 
insel,  auf  die  nach  altwälscher  tradition  sich  der  tödlich  verwundete 
Artus  zurückzog,  und  von  wo  seine  Aviderkunft  zur  herstellung  seines 
reiches  erwartet  wurde,  lag  auch  das  berühmte  kl  oster  Glastemburg, 
zu  dessen  abte  im  jähre  1126  der  dem  englischen  königshause  ver- 
Avante  Heinrich,  graf  von  Blois,  ernant  war,  in  dessen  auftrage 
Willielm  von  Malmesbury  um  1135  sein  werk  De  antiquitate  ecclesiae 
Glasteniensis  schrieb,  worin  nach  Zarnckes  scharfsinniger  erörterung 
(Paul  und  Braune,  Beitrage  III,  325  fgg.)  nach  einer  späteren  Interpo- 
lation der  apostel  Philippus  mit  seinen  genossen  die  dortige  erste 
kirche  gegründet  imd  das  Christentum  verbreitet  haben  soll,  worauf 
schon  lange  die  regierung  der  englischen  könige  den  anspruch  der 
Unabhängigkeit  der  englischen  kirche  vom  pabst  zu  Rom  gegründet, 
ein  anspruch,  der  auch  noch  im  Tridentiner  kouzil  auf  grund  dieser 
fragwürdigen  akten  behauptet  luid  durchgeführt  wurde.  Zustatten  kam, 
dass  auch  der  wälsche  klerus  im  einverständnis  mit  den  fürsten  imd 
häuptlingen  des  landes  im  eignen  interesse  die  Unterwerfung  unter  den 
pabst  beharlich  verweigerte  (s.  Lappenberg,  Engl,  geschichte  I,  136, 
141,  182,  248).  Den  französischen  und  englischen  gelehrten  muss 
überlassen  bleiben,  festzustellen,  zu  welcher  zeit  diese  interpolation  stat- 
gefunden  hat;  dass  sie  aber  zur  zeit,  da  Boron  schrieb,  schon  vorhan- 
den war,  zeigt  eben  seine  Verweisung  der  gralhüter  nach  diesem  angeb- 
lich ersten  apostolischen   kirchensitz,    imd  er   fand    darin,    ebenso  wie 


448  SAN   MAKTE 

Gottfried  von  Monmouth  ein  mittel,  das  lebhafte  interesse  für  sein 
werk  sowol  der  kirchenpolitik  des  englischen  liofes  und  was  dem 
anhängig,  als  der  brittischen  nation  mit  ihren  tafelrundrittern,  so  wie 
des  waft'enfreudigen  adels  zu  gewinnen.  —  Ob  unter  diesem  Alain 
dem  Grossen^  jener  Alanus,  herzog  von  Armorika,  der  nach  Gottfrieds 
von  Monmouth  Historia  XII,  12  — 18,  die  mit  Cadwallo  vertriebenen 
Wtälschen  aufnahm,  und  später  ihnen  zur  rückeroberung  ihres  landes 
behülflich  war,  zu  verstehen  ist,  muss  ich  dahingestelt  sein  lassen. 
Die  wälschon  fabelschreiber  liebten  es,  die  namen  hervorragender  per- 
sonen  ihren  tafelrundrittern  zu  geben,  wie  z.  b.  Ovein  (Tvain),  Geraint 
ab  Erbin  (Erek),  Caradoc  Briebras  (Caradoc  Treich-vras,  Gottfr.  v,  Mon- 
mouth, Hist.  Y,  14  und  anm.  293  und  meine  Arthursage  s.  30)  und 
Maglocunus  (Mael-gun)  des  Gottfr.  v.  Monmouth,  der  nach  de  la  Yil- 
lemarques  scliarfsinniger  entdeckung  in  den  Lanzelot  der  romane  ver- 
wandelt Avurde-,  romane  die  schon  vor  Gautier  von  Crestien  und  andern 
gedichtet  waren.  Sielit  man  an  diesem  lezteren  beispiel,  wie  mit  der 
Verwandlung  liistorischer  personen  in  romanhelden  umgesprimgen  wird, 
so  dürfte  auch  die  Vermutung  nicht  weit  abüegen,  wenn  man  den  in 
Borons  Merlin  eingeführten  beichtvater  der  mutter  Merlins,  Blaise 
den  permanenten  Chronisten  dieses  ganzen  Sagenkreises,  mit  dem  Hein- 
rich grafen  von  Blois,  abt  von  Glastemburg,  durch  ein  Wortspiel ^ 
in  eine  sinnige  und  schmeichlerische  Verbindung  zu  bringen  suchte, 
indem  so  die  chronik  des  Blaise,  ,,  durch  die  wir  das  alles  noch  Avis- 
sen'^,  als  Urkunde  des  hauses  Blois  kentlich  gemacht  werden  solte. 

Der  zweite  teil  von  Borons  Petit  Set.  Graal,  Merlin,  ist 
fast  ausschliesslich  auf  Gottfr.  v.  Monm.  Hist.  Reg.  Britt.  basiert,  und 
auch  dieser  teil  entbehrt  einer  gewissen  geistlichen  färbung  nicht  in  der 
erzählung  von  Merlins  geburt  und  seines  trotz  teuflischer  geburt  ein- 
flussreich guten  Verhaltens  zu  Pendragon  und  Uter  als  deren  berater 
und  prophet.  und  von  Arthurs  schwertj^robe  und  feierlichen  krönung 
auf  geheiss  Christi  —  weniger  freilich  in  der  erzählung  von  Arthurs 
unehelicher  geburt  Aus  diesem  abschnitt  Borons  scheinen  die  Mer- 
linromane, die  von  Lanzelot,  Tristan,  Iwein,  Erek  und  die  unzähligen, 
zusammenhanglosen,  zum  teil  weit  über  Borons  zeit  hinausreichenden 
abenteuerfahrten  ihren  abfluss  genommen,    oder  in  ihnen    ihren   sam- 

1)  Über  ihn  s.  meine  „Arthursage'^,  s.  30.  31,  Eochat  I.e.  s.  173  und  Lappen- 
berg, Gesch.  Englands  I,  250  (Hamburg,  Perthes.   1834). 

2)  S.  San  Marte,  Beiträge  zur  celtisch- germanischen  heldensage  (QuedUn- 
burg,  Basse.  1847)  s.  93. 

3)  Blois,  lat.  Blesae,  Castellum  Blesense.     Martinian.  Hist.  geogr.  lexicon. 


BILDUN'GSGANG   DER    GRALDICHTÜNO  449 

melpunkt  gofanden  zu  haben.  —  Das  G:ebiet  dieser  erzälilungen  liegt 
weit  ab  von  der  bekehiung  Englands  zum  Christentum  und  der  erfor- 
schung  des  grals  und  seines  heils.  Das  streben  dei-  hehlen  ist  ein  rein 
weltliches,  persönliches  nach  ehre,  watt'ennihin,  niinue^iiick,  wie  das 
rittertum  sich  das  leben  mit  den  schönsten  färben  ausmalte,  gleichwul 
ohne  feste  Charakterausbildung  und  klar  durchgeführte  motive. 

In  Borons  drittem  teile,  Parzival,  tritt  Jedoch  ein  neues 
wichtiges  dement  in  die  dichtung,  indem  der  gral  mit  seiner  beglei- 
tung,  durch  Merlins  Stiftung  der  tafeirunde  an  Artus  hofe  abgesondert 
wird  von  dieser,  und  er,  als  abendmahlsschüssel  und  heilige  wunder- 
tätige reliquie  ein  selbständiges  leben  und  wirken  erhält,  während  der 
sitz  an  der  von  Merlin  gestifteten  dritten  tafel  nur  eine  Vorstufe  bildet 
für  den  als  besten  der  weit  bewährten  ritter,  welcher  bestirnt  ist  den 
gral  endlich  zu  finden.  Und  den  bildungsgang  dieses  erwählten  zu 
schildern,  macht  sich  der  dichter  zur  neuen  aufgäbe.  —  Von  den  zwei 
ersten  teilen  des  Petit  Set.  Graal  haben  wir  gesicherte  manuscripte, 
beim  dritten  teile,  Parzival,  liegt  der  verdacht  neuerer  Interpolationen 
vor,  und  da  scheint  mir  durch  das  Berner  ms.,  Avie  es  Colins  franzö- 
sischer codex  mitteilt,  und  im  obigen  auszuge  markirt  ist,  einige  kon- 
trolle  geübt  werden  zu  können,  indem  die  eingemischten  kapitel,  welche 
sich  zwar  im  Berner  ms.,  nicht  aber  bei  Boron  finden,  als  von  Gau- 
tier neu  eingeschoben  anzusehen  sind;  denn  jedenfals  ist  das  Berner 
ms.  jünger  als  Borons  ursprüngliches  gedieht.  Solcher  art  siiul  die 
kapitel  sp.  322.  338.  351.  364.  371.  409.  439.  456.  485.  486.  492. 
506.  582.  586.  591.  598.  —  Und  ist  es  richtig,  dass  wir  das  Berner 
ms.  als  Gautiers  originalgedicht  anerkennen  müssen,  so  werden  die  im 
codex  Colin  enthaltenen  nachtrage  und  einschiebsei,  welche  sich  nicht 
im  Berner  ms.  und  auch  nicht  bei  Boron  finden,  als  vom  kompilator 
des  codex  Colin  herrührend  bezeichnet  werden  können  und  sehe  ich 
recht,  so  gesteht  auch  der  kompilator  dies  selbst  in  den  zeilen  zu: 

Sp.  314,  22:    dar  zuo  vant  er   (Parzival)  ouch  xivor, 
daz  sollent  ir  ivüssen  fürivor, 
manuj  oventür  sicer, 
die  nilt  sint  geschrieheii  her, 

d.  h.  die  nicht  in  Gautiers  gedieht,  seiner  vorläge,  geschrieben  sind^. 
Demi  dass  diese  bemerkung  nicht  von  Gautier  und  noch  weniger  von 
unsern  Übersetzern  herrühren  kann,  sondern  nur  vom  kompilator  sei- 
nes codex,  zeigt  der  bei  Kochat  abgedruckte  eingang  des  Berner  ms.  — 

1)  Dies  sind  die  kapitel,  .sp.  513.  531.  .5G1.  572.  579. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXII.  29 


450  SAN   MARTE 

Der  schluss  dos  dritten  teils,  Arthurs  kämpf  mit  Mordrcd,  und  sein 
verschwinden  auf  Avalon  gründet  sich  wider  auf  Gottfried  von  Mon- 
mouth  und  ward  die  quelle  zum  roman  Mort- Arthur. 

Kobert  de  Borons  schriftstellorperiode  wird  selir  bestimt  begrenzt: 
von  1150  oder  11 60  nacli  Waces  überdiclitung  von  Gottfr.  v.  Monm. 
Historia  Reg.  Britt.,  dem  Roman  de  Brut  bis  zum  tode  Crestiens  de 
Troies  1190,  der  über  seinem  Conte  de  Set.  Graal  hinstarb,  dem  aber 
doch  Borons  gedieht  schon  einige  jähre  vorher  zu  seiner  benutzung 
niuss  vorgelegen  haben.  Auf  grund  seiner  höchst  eingehenden  ver- 
gleichung  der  hierher  gehörigen  Schriftwerke,  wie  eins  auf  das  andere 
sich  stüzt  und  weiter  bildet,  datiert  Birch- Hirsch  fehl,  1.  c.  s.  239  —  241 

Robert  de  Boron  zwischen  1170  und  1189, 

Crestien  de  Troies  um  1189, 

Gautier  de  Doudain  zwischen  1190  und  1200, 

die  Queste  du  Set.  Graal  1190  bis  1200,  jedoch  nach  Gautier, 

den  Grand  Set.  Greal  vor  1204, 

Manessiers  fortsetzung  des  Crestien  zwischen  1214  und  1220, 

Gerbers  von  Monti'euil   einschub  zwischen  Gautier   und  Manessier, 
vor  1225, 

Parcival  li  Gallois  in  prosa,  um  1225,  vielleicht  auch  etwas  später. 
Wir  müssen  erstaunen,  mit  welchem  eifer  die  romanschreiber  über 
den  von  R.  de  Boron  angeregten  stoff  in  den  nächsten  Jahrzehnten 
nach  Crestiens  herfielen,  und  wie  emsig  jeder  des  anderen  Averk  nach- 
las, um  das  material  der  dichtung  zu  ergänzen  und  zu  vermehren. 
Aus  Gautiers  angäbe  seiner  quellen  müssen  wir  schliessen,  dass  ilun 
nur  Borons  gedieht  und  Cretiens  Conte  du  Graal  bekant  war;  auch 
fehlen  in  der  bis  jezt  bekanten  litteratur  ältere  Zeugnisse.  Da  aber 
Crestien  das  buch  zu  seinem  gedichte  geständlich  vom  grafen  von  Flan- 
dern, Philipp  von  Elsass,  und  vielleicht  ein  schon  mit  Zusätzen 
versehenes  exemplar  erhielt,  so  muss  ich  jezt  mit  Wahrscheinlichkeit 
annehmen,  dass  dieses  buch  eben  Borons  gedieht  gewesen,  und  nicht 
das  gedieht  Guiots  von  Provins,  wie  ich  früher  vermutete.  Boron 
selbst  hat  in  seinem  dritten  teile  schon  eine  ziemliche  anzahl  von  aven- 
türen  aus  dem  wälschbretonischen  Sagenkreise  aufgenommen,  auch 
gegen  den  schluss  (Birch -Hirschfeld  s.  178)  nochmals  den  Merlin  auf- 
treten und  ihn  gewissermassen  den  epilog  zum  ganzen  sprechen  lassen, 
so  dass  es  nicht  befremden  darf,  wenn  hieraus  sich  immer  neue  zusätze 
anschlössen,  die  indess  über  die  entstehung  und  bedeutung  des  grals 
nicht  im  geringsten  neue  aufschlüsse  geben,  indem  alle  oben  genanten 
fortsetzer  den  gral  als  abendmahlschüssel  und  heilige  wundertätige  reli- 


BILDUNGSGANG   DER    GRALDICHTUN'Ö  451 

quie,  dem  p^odankonstrom  B(n'ons  folgend,  festhalten,  ja  das  gefäss  fast 
niit  dem  persönlich  herunnvandelnden  hcihmd  s<'lbst  iih'ntificieren, 
dadurch  aber  auch  dem  ringen  nach  dem  gral  ein  religi()ses  motiv 
unterschieben,  das  indess  eigentlich  nur  in  der  figur  Parzivals  zum 
bestirnten  ausdruck  komt,  bei  den  übrigen  holden  jedoch  ganz  verges- 
sen oder  sehr  in  den  hintiM-grund  gedrängt  ist.  Icii  ghiube  behaupten 
zu  dürfen,  dass  alles,  was  die  altwiilsehe  und  altenglische  litteratur 
seit  den  jähren  1170  —  80  speziell  über  den  gral  ül)erliefert  hat, 
ei"st  aus  Frankreich  nach  den  inseln  übertragen  ist,  und  es  wird  ein 
vergebliches  bemühen  der  englischen  gelehrten  sein,  den  urspi-ung 
der  sogenanten  gralsage  auf  wälschen  oder  englischen  boden  zu  vei- 
ptlanzen,  wogegen  Crestiens  unvollendetes  gedieht  durch  die  besondre 
hervorhebung  der  figur  Parzivals,  als  von  gott  designierten  gralfindei-s, 
vermuten  lässt,  dass  er  ebenso,  wie  Gantier,  mit  der  erreichung  des 
gesteckten  Zieles  seinen  i-oman  habe  schliessen  wollen.  Dieses  neuere 
material  führt  daher  nicht  zur  quelle  der  graldichtung  zurück,  sondern 
ist  dichterische  fortbildung,  bez.  entstelhnig  der  französischen  dichtung, 
wenn  auch  die  alten  wälschbrotonischen  sageii,  der  inons  fIo/oros?ts, 
das  castcUuw  piicllarum,  die  sich  schon  in  Gottfrieds  historie  finden, 
die  jagd  des  weissen  hirsches,  das  selbstspielende  Schachbrett,  die  peit- 
schenden Zwerge,  die  schwarzen  männer  und  riesen,  die  feen,  ver- 
wünschten wesen,  verzauberten  Schlösser  usw.  mit  in  die  erzählungen 
hineingezogen  werden. 

Yergleichen  wir  diese  französischen  graldichtungen  mit  unserer  — 
ich  darf  wol  sagen  deutschen  version  der  gral-  und  Parzivaldich- 
tung  Wolframs,  so  treten  wir  in  einen  ganz  andern  kreis  religiöser 
anschauung,  können  aber  den  einfluss  französischer  vermitlung  nicht 
verkennen.  —  Schon  die  Vorgeschichte  bei  Wolfram,  die  Colin  sehr 
treffend  als  ,,das  buch  Gamuret"  bezeichnet,  weist  uns  mit  entschieden- 
heit  darauf  hin.  Die  begebenheiten  bei  Patelamunt  und  Kanvoleis  mit 
den  dort  auftretenden  personen  haben  anspielungen  auf  andere  erzäh- 
lungen, die  jedenfals  in  der  französischen  litteratur  vorhanden  waren, 
und  wovon  sich  spuren  auch  selbst  in  der  deutschen  litteratur  finden; 
Bötticher  in  seiner  abhandlung  (Zeitschr.  f.  d.  phil.  XllI,  420  fg.)  hat 
meines  erachtens  evident  dargotan,  dass  Wolfram  diesen  abschnitt  nicht 
erfunden  haben  kann,  sondern  einem  roman  gefolgt  ist,  der  Gamurets 
leben  bis  zu  seinem  tode  umfasst.  Dieser  teil  enthält  auch  die 
schmeichlerische  auszeichnung  des  hauses  Anjou,  wozu  ein  deutscher 
dichter  jener  zeit  nicht  die  geringste  veranlassung  hatte;  auch  findet 
sich  keine  spur  von  bezieh uugen  Wolframs  zu  dem  mit  dem  englischen 

29* 


452  SAN  MARTE 

künigshause  vertrauten  deutsclieii  Weifenhause,  dem  zu  liebe  Wolfram, 
wie  Zarncke  andeutet,  diese  anspielung  könne  gemacht  haben.  Dieser 
teil  enthält  niclit  die  gering-ste  hindeutuni;-  auf  den  gral;  er  genügte  der 
üblichen  anforderung  an  die  dicliter,  dass  sie  auch  von  den  vorfahren 
des  erkornen  helden,  und  wo  möglich  auch  von  seinen  nachkommen 
nachricht  e:aben.  Da  Crestien  in  seinem  Conte  du  Graal  schon  von 
Boron  darin  abwich,  dass  er  den  Parzival  schon  als  ritterfiihigen  knap- 
pen einführt,  ohne  vater  und  mutter  mit  namen  zu  nennen,  und  somit 
seine  abstannnung  vom  waischen  Alain  verwarf,  war  es  einem  sinnigen 
nachdichter  —  nennen  wii*  ihn  Kvot  —  nicht  schwer,  den  helden  Ga- 
miu-et  als  würdi2:en  vater  Parzivals  einzuführen.  Einen  wesentlich 
abweichenden  Standpunkt  von  Crestien  aber  nahm  er  bei  der  Überarbei- 
tung von  dessen  gedieht  ein,  dem  er  im  tatsächlichen  zAvar  ziemlich 
treu  folgte,  und  daher  die  öftere  Übereinstimmung  AVulframs  mit  Cre- 
stien, aber  dem  gral  den  Charakter  als  abendmahlschüssel  und  reliVjuie 
nahm,  somit  die  feier  der  messe  ablehnte  und  ihn  zur  stimme  gottes 
machte,  die  unmittelbar  zu  seinen  erwählten,  seiner  gemeinde  redet, 
welcher  er  die  form  einer  nach  der  Unabhängigkeit  vom  pabst  streben- 
den geistlichen  brüderschaft  gab,  und  zwar  des  von  ihm  in  seiner  bible 
einzig  belobten  tempelordens,  dessen  mitglieder  in  Verteidigung  des 
christlichen  glaubensschatzes  für  ihre  Seligkeit  kämpfen.  —  Die  allego- 
rischen namen  und  örtlichkeiten  des  gral-  und  zaubergebietes  sind 
französische;  wie  soll  ein  deutscher  sie  erfunden  und  in  einem  deut- 
schen gedichte  französisch  eingefügt  haben?  —  Die  scheinbar  so  zu- 
sammenhanglos dastehende  korrektur  Ti'evrezents  hin  sich ts  der  neutralen 
engel  zeigt  auf  einen  rein  theologischen  gelehrtenstreitpunkt 
jener  zeit  hin  (s.  meine  Parzivalstudien  II,  55),  auf  den  Guiot  durch 
die  erwähnimg  in  Borons  legende  von  Joseph  gekommen  sein  mag, 
w^o  am  schluss  erzählt  wird,  dass  Joseph  den  Yespasian  niclit  blos 
über  die  Schöpfung,  den  sündonfaU,  geburt,  leben  und  sterben  des  hei- 
lands,  sondern  auch  über  das  Schicksal  der  neutralen  engel  belehrung 
geben  sull  (Birch-Hirchfeld  s.  153),  wodurch  Vespasian  zum  christen- 
t'.im  bekehrt  ward:  ähnüch  wie  Trevrezent  den  Parcival  belehrt,  was 
Crestien  ziemlich  kurz  gibt,  Guiot  aber  ausführlicher  scheint  behandelt 
zu  haben.  —  Älinlicher  art  ist  die  andre  koiTcktur  in  Trevrezents  lehre, 
dass  gott  und  nicht  der  priester  die  Sünden  zu  vergeben  vermag  (s. 
Parzivalstudien  II,  123,  124),  wodurch  der  mensch  in  unmittelbare 
beziehung  zu  gott  gesezt  und  dem  Avahrhaft  gläubigen  nach  dem  spä- 
teren ausdruck  der  reformatoren  das  algemeine  priestertum  erteilt,  die 
priesterliche  absolution   verworfen,    und,    so    hoch    auch    der   geistliche 


BILDUNGSGANG    DER    GRALDICIITUNG  453 

stand  geehrt  wurde,  ilun  der  göttliche  nimbus  genommen  wird,  zumal 
in  jener  zeit  er  in  seiner  Verworfenheit  an  haupt  und  gliedern  ein 
zerbild  dessen  darstelte,  was  er  eigentlich  sein  solte,  wie  Guiot  von 
Provins  in  seiner  bible  (mitgeteilt  und  übersezt  in  meinen  Parzivalstu- 
dien  bd.  I)  es  ausfülirlich  nachgewiesen  hat.  —  Die  graldichter  wissen 
nichts  von  einer  si'huld  des  fischerkönigs,  wodurch  er  sein  grausames 
leiden  als  strafe  verdient  habe,  er  wird  vielmelir  nur  als  ein  objekt 
behandelt,  an  dem  der  gral  seine  wunderkraft  zu  bewähren  hat,  wäh- 
rend bei  AVülfram  die  blutende  lanze,  mit  welcher  jene  dichter  nichts 
anzufangen  wissen,  als  das  strafwerkzeug  gottes  für  seine  Versündigung 
gegen  gottes  gebot  dem  Amfortas  vorgelialten  wird,  wie  in  der  liäus- 
lichen  erziehung  dem  kinde  die  rufe  gezeigt  wird,  um  es  an  seine 
Unarten  und  deren  konsequenz  zu  mahnen.  Darum  wird  auch  die 
blutende  lanze,  wie  ich  gegen  Birch-Hirschfeld  s.  185  bemerke,  dem 
gralo  vorangetragen,  weil  bei  der  gralfeier,  die  Rosenkranz  schon  1830 
uir  eine  art  agape  erkante,  vor  dem  genusse  des  gralsegens  reue  und 
bussc  vorhergehen  muss,  die  durch  das  algemeine  Aveliklagen  bei 
erscheinung  der  lanze  sich  kund  geben.  Daher  ist  auch  Parzivals 
frage:  „luax.  tvirret  dir?"  nicht  blos  eine  frage  teilnehmenden  mit- 
gefühls,  sondern  eine  gewissensfrage  nach  der  seeleiüäuterung  des  ge- 
straften dulders,  ob  der  kranke  in  wahrer  reue  seine  schuld  erkent 
und  bekent,  damit  er  der  gnade  gottes  wider  teilhaftig  werde,  und  auch 
in  diesem  sinne  beantwortet  Amfortas  s.  819,  16  —  820,  4  die  frage. — 
Ebensowenig  legen  sie  nachdruck  auf  die  unwandelbare  eheliche  treue 
Parzivals,  der  bei  ihnen  mehrmals  an  zärtlichen  anwandlungen  leidet, 
und  sich  sogar  die  minne  der  dame  durch  den  hirschkopf  erkauft, 
weshalb  er  auch,  je  länger  je  kräftiger  zum  tleissigen  kirchenbesuch 
und  sonstigen  äusserlichen  Übungen  angehalten  werden  muss,  der  fri- 
volen ansieht  des  weltlichen  rittertums  entsprechend,  die  bei  dem  minne- 
vergehn  GaAvans  in  den  versen  sp.  37,  29.  30  ihren  charakteristischen 
ausdruck  findet.  Auch  die  liebestreue  Sigunens  lassen  sie  bei  seite, 
obwohl  ihre  gestalt  verdunkelt  vorübergeht  (sp.  350),  und  die  erschei- 
nung des  Feirefiss  entgeht  ihnen,  da  ihnen  das  buch  Gamuret  nnbekant 
geblieben.  —  Ferner  frage  ich:  wie  kam  AVolfram  zur  italischen  sage 
von  Virgil  und  Klinschor,  den  er  dem  wälschen  Merlin  substituiert, 
und  wie  zu  den  örtlichkeiten  in  Steiermark,  von  denen  Trevrezent 
erzählt?  w^orüber  der  vielgereiste  Kyot  sehr  wol  konte  künde  eingezogen 
haben.  —  Endlich  lassen  jene  graldichter  zur  lezten  prüfung  der  Wür- 
digkeit Parzivals  die  höllischen  erschein ungen,  ja  den  teufel  selbst  in 
grauenvoller  gestalt  gegen  ihn  ins  feld  ziehen,    nach  den  voi^tellungen 


454  SA>'    MAKTE 

des  stumpfen  laiulläutigen  von  dem  klcrus  geförderten  aberglaubens 
„nach  der  pfaffhcit  Jcrc/'  Wie  künstlerisch  anschaulich,  ja,  ich  möchte 
sagen  verklart  erscheinen  diese  ungeheuer  bei  Wolfram  in  den  figuren, 
die  ich  als  dem  reich  des  bösen  angehörig  bezeichnet  habe!  Auf  der- 
selben stufe,  wie  jene  französischen  dichter  steht  auch  Albrecht  in  sei- 
nem Titurel  ^,  der  über  den  gral  noch  die  ecclesie  als  die  höhere  macht 
sezt.  Wenn  Birch- Hirschfeld  am  schluss  seines  wertvollen  werkes  zu 
dem  resultat  gelangt,  dass  Wolfram  mit  seiner  Vorstellung  vom  grale 
ganz  vereinsamt  dasteht,  so  möchte  ich  den  ausdruck  vielmehr  in 
originell  verwandeln,  denn  seine  religiöse  ansieht  steht  im  klaren 
gegensatze  gegen  die  jener  dichter,  so  wie  das  biblische  ovangelium 
der  päbstlichen  kirchensatzung  gegenüber  steht. 

Und  in  denselben  Jahrzehnten,  während  jene  dichter  den  gral  in 
ihi'er  auffassung  verherlichten,  und  Guiot  und  Wolfram  an  ihren  dich- 
tungen  arbeiteten,  während  die  akademischen  kämpfe  über  die  wich- 
ticfsten  christlichen  ii'laubenssätze,  über  die  lehre  von  der  sündenveri^e- 
bung  imd  der  erlösung,  vom  ablass,  der  transsubstantiation  usw.  auf 
den  kathedern  der  hochschulen  und  auf  den  schlossern  der  grossen, 
wie  auf  den  gassen  auf  das  heftigste  diskutiert  wurden  und  ihren  höhe- 
punkt  erreicht  hatten-,  in  denselben  Jahrzehnten  wurden  schon  die 
Schwerter  geschlifi'en  und  die  Scheiterhaufen  geschichtet,  um  die  hun- 
derttausende hinzuschlachten,  die  von  der  entsteltcn  kirchcnlehre  und 
der  entweihten  priesterschaft  sich  mit  absehen  abwanten.  Und  diese 
tief  alle  schichten  der  Christenheit  in  Frankreicli  und  weiter  durch- 
wogende religiöse  aufregung  solte  nicht  auf  einen  gelehrten,  tief  sin- 
nigen bibelkundigen,  der  christlichen  Wahrheit  zugewanten  geist  und 
dessen  dichtung  einen  reflex  geworfen  haben,  wie  der  franzose  Guiot, 
der  sich  mitten  im  lande  dieser  bewegung  befand,  ihn  angedeutet,  und 
Wolfram  ihn  volkommen  verstanden,  als  sein  eigentum  aufgenommen 
und  in  meisterhafter  form  uns  widergegeben  hat?  In  ihm  glüht  ein 
flinke,  der  nach  drei  Jahrhunderten  zur  hochauflodernden  wetterleuch- 
tenden flamme  aufschlug,  und  unsere  dichtung  hoch  über  alle  jene  nur 
zur  täglichen  Unterhaltung  gedichteten  werke  stelt,  und  ein  zeugnis 
ablegt,  das  wir  zum  vollen  Verständnis  und  zur  Wertschätzung  dersel- 
ben nicht  verläugnen  dürfen. 

1)  S.  San-Marte:  Rückblicke  auf  dichtiingen  und  sagen  des  d.  niittelalters, 
(Quedlinb.  Basse,  1872)  nr.  VII,  vergleich  Wolhams  mit  Albrecht  in  theologischer 
beziehung,  s.  175. 

2)  Reuter,  Geschichte  der  aufliärung  im  mittelaltcr.  Bd.  I,  buch  III  zwölf- 
tes jahrhundei-t.     Berhn,  Herz,  1875. 

MAGDEBURG.  SAN   HARTE. 


455 

BERICHT    ÜBER    DIE    VERIIANDLUNGEX    DER    DEUTSCH -ROMANISCHEN 
SECTIUN    DER    XXXX.    VERSAMLUNG    DEUTSCHER    rillLOLOGEN    UND 

SCHULMÄNNER  IN  GÖRLITZ. 

Erste  Sitzung. 

1.  Nachdem  sich  am  2.  Oktober  die  scctiou  im  saalo  des  rathausos  constitiüert 
liattc,  wurde  die  erste  sitzuug  am  3.  Oktober  8V._,  uhr  eröfnct.  In  das  album  haben 
sich  eingezeichnet:  Gaspary,  Brcshui;  0.  Erdmaiin.  BrcsLau;  Siebs,  Breslau;  Wolff, 
Kiel;  Marold,  Königsberg;  Blau,  Leipzig;  Weingürtner,  Breslau;  Wilke,  Lauban; 
Boctticher,  Berlin;  Kinzel,  Berlin;  Brugmann,  Leipzig;  Uhlo,  Görlitz;  Koschwitz, 
Greifswald;  G.  Stier,  Zerbst;  Kölbing,  Breslau;  Ziemer,  Colberg;  Rost,  Schwcidnitz; 
Wiedcmann,  Görlitz;  Abicht,  Liegnitz;  Fritsche,  Stettin;  Sternberg,  Görlitz.  Nach- 
dem der  erste  versitzende,  professor  Gaspary,  die  anwesenden  begTÜsst  hatte,  über- 
ti'ug  er  die  leitung  der  Verhandlungen  in  voraussieht,  dass  sich  dieselben  haupt- 
sächlich auf  dem  gebiete  der  deutschen  philologie  bewegen  würden,  dem  zweiten 
versitzenden,  professor  Erdmann.  Zu  Schriftführern  wurden  Siebs  und  "Wein- 
giirtner  gewählt. 

2.  Erdmaun  widmet  den  während  der  lezten  zwei  jähre  verstorbenen  fachge- 
nossen werte  der  erinnerung;  in  eingehenderweise  gedenkt  er  vor  allem  der  Verdienste 
von  Karl  Goedeke,  Paul  Schütze,  Karl  Bartsch  —  dessen  teilnähme  an  den 
intcressen  der  philologenversamlung  ganz  besonders  gewüi'digt  wird  — ,  Nikolaus 
Delius,  Karl  Lucae,  Karl  Elze. 

3.  Sodann  hält  Marold -Königsberg  den  angekündigten  vortragt  „über  den  aus- 
druck  des  naturgefühls  im  minnesang  und  in  der  Vagantendichtung."  Die 
Vaganten  stehen  auf  dem  boden  der  lateinischen  schulpoesie  des  mittolalters ;  von  ihrer 
gelehrten  ausdrucksweise  —  sie  personificieren  die  natur,  reden  vom  schoosse  und 
der  Schwangerschaft  der  erde  —  finde  sich  bei  den  älteren  minnesängern  keine 
spiu*;  ei-st  um  die  mitte  des  XHI.  jahi-himderts  seien  infolge  engerer  berührung 
zwischen  den  deutschen  Sängern  und  den  wandernden  klerikern  jene  gelehiien  ele- 
mente  in  den  deutschen  minnesang  eingedrungen.  Sie  treten  uns  erst  bei  Hohen vels, 
Nifen  und  späteren  entgegen,  deren  heimat  —  ausser  Vrouwenlob  und  Wizhlv  — 
Schwaben  oder  die  Schweiz  ist,  und  bei  denen  sich  in  der  regel  beziehungen  zum 
geistlichen  stände  nachweisen  lassen.  Ein  weiterer  teil  des  Vortrags  behandelt  die 
Schilderung  des  winters,  der  in  dei-  Vagantendichtung  fast  durchweg  personificieii 
werde,  vor  allem  wo  der  dichter  den  kämpf  des  winters  mit  dem  sommer  im 
äuge  hat.  Diese  Vorstellung  mag  ursprünglich  volkstümlich  sein,  jedoch  schon  die 
lateinische  gelehi-te  dichtung  hatte  sich  ihrer  bemächtigt  (vgl.  z.  b.  den  conflictus 
veris  et  hiemis  des  Alkuin).  Bei  den  älteren  deutschen  minnesängern  finde  sich 
hiervon  keine  spui",  und  wenn  je  eine  stelle  beiVeldeke,  Hartman  und  AValther  einen 
beleg  bieten,  so  sei  zu  berücksichtigen,  dass  bei  diesen  dichtem  kentnis  des  latei- 
nischen und  gelehrte  bildung  vorausgesezt  werden  müsse.  Bei  den  minnesängern 
liege  vielmehr  das  charakteristische  der  winterschilderung  in  der  gemütvollen  teil- 
nähme an  den  Veränderungen,  welche  die  natiu*  erleidet  (der  entlaubte  wald,  das 
veränderte  bild  der  haide  usw.).  Dabei  bilden  sich  gewisse  typen  aus;  doch  fehlen  — 
abgesehen  von  einigen  stellen  bei  Yeldeke  —  alle  physikalischen  anzeichen  des 
winters  (kalte  nachte,  die  niedrig  stehende  sonne  usw.).  Diese  sind  für  die  vagan- 
tenheder  charakteristisch,  während  sich  die  miuuesänger  auf  die  innere  empfin- 
1)  [Dieser  Vortrag  wird  demnächst  ia  erweiterter  form  in  der  zeitschr.  veröffentlicht  werden.    Red.] 


456  SIEBS 

düng  beschränken  und  die  winterkhige  entweder  in  einklang  mit  dem  liebesschmerz 
oder  in  gegensatz  zum  licbcsglüeko  stellen.  —  Eine  besondere  erörterung  verdiene 
Nithaii.  Bei  ihm  seien  die  eiütheta  des  winters  noch  algemeiner  art,  und  nur  in 
den  unechten  liederu  seien  solche  zu  finden,  denen  eine  persouification  zu  gründe 
liegt.  Dass  auf  Xithaii  die  Vagantendichtung  von  eiutluss  gewesen  sei ,  zeige  sich  in 
häufiger  erwähuung  physikalischer  ersclicinungen,  z.  b.  der  winde,  des  wetters,  des 
cises  (aus  der  ganzen  zahl  der  minnesänger  erwälmcn  dieses  allein  der  kanzler, 
Konrad  von  "Würzburg  und  ein  unechtes  lied  Nitharts,  während  sonst  nur  schnee 
und  reif  genant  werden);  auffällig  sei  bei  ihm  aucli  die  mehrmalige  klage,  dass  die 
linde  nun  keinen  schatten  gebe:  sonst  wird  der  schatten  des  baumes,  der  in  den 
Vagantenliedern  eine  grosse  rolle  spielt  und  vermutlich  aus  der  Spielmannsdichtung 
herübergenommen  ist,  im  miuuesang  nur  an  vier  stellen  erwähnt  (Walther  94,  24; 
Uh-ich  von  Wintei-steten  MSII  1,  139;  Vrouwenlob  MSII  III,  149;  Konrad  von  AVürz- 
burg  III.  334).  Nach  der  zeit  Nithaiis  finde  ein  immer  grösserer  ausgleicli  statt, 
indem  die  charakteristische  art  und  weise  der  vaganten  sich  im  minnesang  einbürgere 
imd  umgekehrt.  Was  sclüiesslich  die  deutscheu  strophen  der  carmina  Burana  angehe, 
so  seien  lüer  die  winterschildcruugen  durchaus  in  der  terminologie  der  späteren  min- 
nesänger abgefasst.  —  In  der  sich  ansclüicssendeu  dcbatte  erwähnt  Köl hing  die  von 
E.  Th.  Walter  (Germ.  34)  über  den  Ursprung  des  mmnesangs  neuerdings  geäusserten 
ansichten  mid  weist  sodann  auf  die  naturschilderungcn  im  französischen  epos  und  auf 
das  mittelcnglische  epos  hin.  Hier  werde  namentlich  zu  beginn  der  abschnitte  die 
Winterstimmung  m  Verhältnis  zur  liebe  gestelt,  z.  b.  im  Merlin. —  Gaspary  bemerkt, 
gelehrter  einfluss  sei  in  dem  doch  algemeinen  vorkommen  derartiger  auffassung  der 
Jahreszeiten  nicht  zu  erblicken,  und  belegt  diese  ansieht  durch  hinweis  auf  proven- 
zalische  und  älteste  italienische  dichtmigen.  —  Stier  macht  auf  ein  im  jähre  1888 
erschienenes  Wernigeroder  festprogramm  aufmerksam  ^  —  Koschwitz  ist  der  ansieht, 
die  carmina  Burana,  in  denen  sich  so  viele  romanische  demente  finden,  seien  zu 
•Dteniational  in  iliren  motiven,  als  dass  sich  für  deutsche  dichtung  sichere  Schlüsse 
daraus  ziehen  Hessen;  die  personificierendc  auffassung  der  Jahreszeiten  nehme  zeitlich 
mehr  und  mehi*  zu.  —  Siebs  vermisst  in  dem  vortrage  Marolds  durchgehcnds  die 
imtersuchung,  inwieweit  wir  volkstümliche  motive  zu  erkennen  haben,  und  hält 
dafür,  dass  man  bei  solchen  arbeiten  nicht  füglich  die  carmina  Burana  heranziehen, 
die  volkstümlichen  grundlagen  des  minnesangs  aber,  wie  sie  Berger  (Ztschr.  f.  d.  phil. 
XIX.  440  fgg.)  unter  Verwertung  der  volksliedersamlungen  festsgetelt  habe,  unberück- 
sichtigt lassen  dürfe.  —  Marold  erwidert,  das  falle  nicht  in  den  kreis  seiner  Unter- 
suchungen: er  habe  von  nationalen  dementen  abgesehen  und  überhaupt  nur  züge 
hervorheben  wollen,  die  den  gemeinsamen  charakter  der  gelehrten  dichtung  und  des 
minnesangs  erweisen.  —  Wolff  bemerkt,  lenz  und  liebe  hätten  von  jeher  den  gegen- 
ständ aller  lyrik  gebildet:  die  Verbindung  beider  motive  sei  im  wesen  des  dichteri- 
schen processes  überhaupt  begründet.  Die  anakreontik  des  18.  Jahrhunderts  und  die 
griechische  litteratur  werden  herangezogen.  Nm'  übereinstimmende  proben  ganz 
ausserge wohnlicher  natui'belebung  seien  für  abhängigkeit  beweisend.  —  Erdmann 
hält  eine  solche  annähme  für  viel  zu  weit  gehend.  Möglichkeit  der  Originalität  sei  ja 
selbstverständlich,  indes  hätten  wir  doch  der  anhaltsi)unktc  für  entlehnung  gar  viele; 
ein  sehr  wichtiger  scheine  ihm  z.  b.  in  den  besprochenen  Personifikationen  der  erde 
zu  liegen. 

1)  H.  Drees,   Die  poetische  natarbotrachtung  in  den  liedem  der  deutschen  minnesänger.    Wer- 
nigerode 1888. 


rHILOLOGKNVER.SAMLUNG    ZU    UÖRLITZ  457 

4.  Kinzel  bittet,  iu  wcitoron  kreisen  für  das  i»;ulagogisehe  unternehineu  der 
herausgäbe  älterer  deutscher  litteraturdonkniälor  nebst  Übersetzun- 
gen, die  ilim  und  Boettieher  obliege,  wirken  zu  wollen.  In  dieser  sanilung  sollen 
41  gedichte  AValtiiers  von  der  Vogelweidc  erscheinen,  denen  etwa  20  lieder  aus  „Des 
niinnesaugs  frühling "  vorangeschickt  werden,  um  die  eutwicklungsgeschichto  der 
lyrik  zu  veranschaulichen.  Der  vortragende  gibt  übersetzungsjtrobeu  von  G  liodern 
"\\'althers. 

Schluss  der  sitzung  10^4  u^i^"- 

Zweite   sitzung. 

1.  Am  4.  Oktober  wird  die  sitzimg  um  8'/.,  uhr  nüt  dem  vortrage  Wolffs  „über 
den  stil  des  Nibelungenliedes'^  eröfuet.  Zunächst  wird  angeführt,  dass  volks-  und 
kunstdichtung  nicht  gegensätze,  sondern  stufen  seien:  wenn  man  das  llildebrandslied  und 
ebenso  die  Nibelungen  als  volksepen  bezeichne,  so  lasse  man  viele  grade  unberücksich- 
tigt. Eine  entwickluugsgeschichtliche  erklärung  müsse  auf  dem  Nibelungenliede  fussen. 
Volksdichtung  sei  die  poetische  gcstaltung  der  im  volke  fortlebenden  sage,  so  lange 
sie  von  individualität  ungetrübt  sei.  Stilistische  eigentümlichkeiten  der  Volksdichtung 
seien  z.  b.  die  typisch  gewordene  Zusammenstellung  paarweise  zusammengeordneter 
Worte  {ivqj  imde  man),  ferner  parallelismus  des  satzbaus,  gewisse  metaphern  u.a.m. 
Andere  erscheinungen  hingegen,  die  häufig  als  merkmalc  der  Volksdichtung  angesehen 
werden,  seien  nur  elemeute  der  volkstümlichen  poesie,  nicht  der  volks poesie, 
und  sie  seien  vielfach  durch  die  Spielmannsdichtung  hineingekommen,  z.  b.  formel- 
hafte Wendungen,  sodann  die  Superlative  ausdrucksweise  {t)iir  cnkumlc  nimmer  lie- 
ber geschehen)^  die  schalkhafte  darstellung  usw.  Im  algemeinen  tragen  nicht  nur 
einzelne  lieder,  sondern  das  ganze  gedieht  einen  höfischen  charakter,  und  der  sei 
nicht  etwa  einem  höfischen  Überarbeiter  zu  danken,  sondern  der  geist  des  ganzen 
Werkes  sei  höfisch.  Beweise  dafür  liegen  in  der  Schilderung  höfischen  prunkes,  fer- 
ner in  der  darstellung  des  ccremouiellen  benehmens  {Rücdegcr  vor  Hayene),  in  der 
auffassung  der  ethischen  begriffe  {cre,  minne)\  wir  finden  die  erst  nach  dem  zweiten 
kreuzzuge  in  Deutschland  eingedrungenen  demente  des  ritterwesens  {aventiure,  tjoste 
usw.);  die  alten  chai'aktere  sind  gemäss  der  neuen  auffassung  umgestaltet  {Hagenc 
der  vil  xierliche  degen;  Prünhilt  dcr^  minnccliche  wlp)  —  kurz,  die  wenigen  spu- 
ren der  volkspoesie  seien  von  höfischer  kunst  überwuchert.  —  Sodann  wird  erörtert, 
ob  die  lieder  zum  singen  gedichtet  seien,  oder  ob  wir  es  mit  einem  zum  lesen 
bestünten  Schriftwerke  zu  tim  hätten.  Auf  grund  stilistischer  eigentümUchkeiten  wird 
die  lezte  ansieht  verfochten.  Zwar  werde  im  Nil)elungenliede  die  scenerie  der  hand- 
lung  kurz  vorgefühlt  (dö  sprimgen  von  dem  sedelc  u.  ähnl.);  der  schall  ausführlich 
besehrieben  (wart  der  schal  so  gröx-,  dax  Wormex  diu  vil  icite  dar  nach  vil  li'de 
erdöx)^  der  sprechende  innerhalb  derselben  rede  widerholt  eingeführt  und  nicht  selten 
die  konstruktion  htio  xoivov  venvant;  aber  es  sei  stets  nur  von  sagen,  nicht  von 
singen  die  rede,  und  subjektive  luieile,  seelenschildemngen,  motivierungen  und 
Parenthesen  seien  zahlreich;  ebenso  komme  häufig  betonung  von  äusserlichkeiten, 
namentlich  der  kleidung,  vor.  Diese  leztenvähnten  punkte  seien  für  ein  zu  lesendes 
werk  bezeichnend,  denn  das  lied  kenne  kerne  bcgrüudung  und  erläuterung,  sondern  nur 
tatsachen.  Wii-  könten  also  höchstens  von  kleineren  epischen  gedichten  reden,  die 
zusammengeschweisst  seien;  aber  auch  das  sei  nicht  anzunehmen,  da  wir  einen  inne- 
ren Zusammenhang,  eine  lückenlos  fortlaufende  handlung  hätten;  ferner  das  durch- 
gehende motiv,  dass  alle  lust  in  leid  ende.    Widersprüche,  die  dui-ch  das  ganze  werk 


458  SIEBS 

laufen,  seiou  uk-ht  aiulei-s  zu  beurteilen  als  bei  Schiller  (Don  Carlos)  oder  Shake- 
speai'e  —  die  seien  durch  verschiedene  quellen  erklärlich.  Auch  habe  man  mit 
interi>olationcn  und  principielleu  abänderungen  der  Schreiber  zu  rechnen.  Alles  in 
allem:  wir  haben  das  original  eines  nationalen  hofepos  vor  uns,  von  dem  uns 
manche  briicken  zum  fremden  romantischen  hofepos  führen  (so  namentlich  bei 
A^'olfram).  Als  heimat  des  gedichtes  bezeichnet  der  vortragende  Österreich;  die  ent- 
stehuug  sezt  er  aus  stilistischen  gründen  und  annähme  historischer  analogien  (Ver- 
mählung des  Friedrich  Barbarossa  mit  Beatrix  von  Bm-gund)  vor  1170  an. 

In  der  debatte  wendet  sich  zunächst  Boetticher  gegen  den  redncr.  Der 
gegensatz  eines  romantischen  und  nationalen  liofepos  sei  unklar  und  nicht  zu  billigen: 
hofepos  sei  die  in  stoff  und  form  von  den  Franzosen  entlehnte  modedichtuiig,  wäh- 
rend die  volkssage,  von  den  spielleuten  höfisch  aufgepuzt,  vorgetragen  werde.  Fer- 
ner hätten  wir  im  Nibelungenliede  durchaus  keinen  einheitlichen  stil,  sondern  der 
volksmässige  stil  der  spielmannspoesie  und  der  höfische  stil  seien  in  grossen  partien 
unverschmolzen  nebeneinander  zu  finden;  auch  seien  die  festschilderungen  usw.  durch- 
aus nicht  zum  ganzen  verschmolzen.  Bemerkenswert  sei  ferner,  dass  kein  höfischer 
dichter  ausser  AVolfram  —  und  dieser  aus  anderen  gründen!  —  Nibelungendicliter 
erwäline,  während  doch  sonst  berufung  des  einen  auf  den  anderen  voiiiege  (Veldeke  — 
iinpfctc  da\  erste  ris  u.v.a.).  —  Dem  entgegnet  "W^olff,  er  glaube  natürlich  nicht,  dass 
eine  stilistische  betrachtung  allein  die  Nibelimgenfrage  lösen  könne.  Dass  übrigens  der 
höfische  Charakter  nicht  einheitlich  durchgeführt  erscheine  —  also  die  Verschmelzung 
des  spielmauusmässigen ,  des  volksmässigen  und  des  höfischen  stilelementes  —  erkläre 
sich  eben  dui'ch  das  ringen  nach  einem  neuen  stil,  durch  eine  Übergangsperiode. 
Boetticher  bemerkt,  der  kernpunkt  der  ganzen  Untersuchung  müsse  sein,  ob  wir 
Überhaupt  lieder  anzunehmen  haben,  gleichgültig  in  welcher  abgrenzung  und  Verarbei- 
tung; und  diese  frage  werde  dui'ch  stilbetrachtungon  nicht  gelöst,  —  Wolff  bestrei- 
tet das.  —  Sodann  wendet  sich  Kinzel  im  anschlusse  an  Boettichers  auffassung 
gegen  die  zu  verwerfende  methode,  die  des  vortragenden  Untersuchung  eingesclilagen 
habe.  Derselbe  habe  sowol  bei  der  betrachtung  des  volkstümlichen  bestandes  der 
Nibelungen  als  auch  bei  der  beurteiluug  der  einheit  seinen  ausgang  von  vorgcfassten 
meinungen  und  definitionen  genommen  und  das  lied  an  diesem  massstabe  gemessen. 
Exemplificationen  von  modernen  dichtungen  (z.  b.  der  vergleich  mit  den  Widersprüchen 
im  Don  Carlos)  seien  unzulässig.  Sodann  -wird  auf  grund  eingehenderer  besprechung 
des  vieiien  liedes  des  vortragenden  annähme  bekämpft.  —  Wolff  bemerkt,  ihn  habe 
die  eng  bemessene  zeit  genötigt,  in  der  form  stellenweise  dogmatisch  zu  verfahren. 
Auch  sei  seine  anordnung  des  Stoffes  dadurch  beeinflusst,  dass  die  resultate  aus  einer 
fortlaufenden  Untersuchung  über  die  entwicklungsgeschichte  des  epischen  stils  heraus- 
geri.ssen  seien.  —  Zum  vergleiche  könne  man  die  homerischen  epen  heranziehen,  die 
keine  volkspoesie  mehr  seien;  ebenso  die  slawischen  historischen  Volkslieder,  die  auf 
der  stufe  unserer  spielmannspoesie  stünden.  —  Eost  wirft  dem  vortragenden  ebenfals 
vor.  er  sei  von  vorgcfassten  meinungen  ausgegangen,  und  wendet  sich  dann  im  ein- 
zelnen gegen  die  auffassung  gewisser  von  AVolff"  als  höfisch  bezeichneten  ausdrücke 
{rieh,  herlieh).  An  höfisclien  einflüssen  sei  das  lied  reich,  aber  man  brauche  darum 
keine  Überarbeitung  anzunehmen.  —  AVolff  entgegnet,  zierlich  und  andere  epitheta 
der  beiden  seien  beweiskräftig  für  die  veräusserlichte  bcurteilung  des  hcldentums.  — 
Uhle  äussert  über  die  bedeutungscntwicklung  genanter  epitheta  eine  ansieht,  welcher 
Siebs  mit  einigen  etymologischen  bemerkungen  widej-spricht.  —  Zum  Schlüsse  erklärt 
Erdmann,    schlagworte   wie  „volkstümliche  poesie"    und   „nationales  hofepos"   seien, 


miLOLOGENVERSAilLUNG    ZU    UÖULITZ  459 

SO  schön  sie  klingen  mögen,  mit  vorsieht  anzuwenden.  Die  verschiedenen  [»aiiicn  — 
vor  allem  z.  b.  das  14.  gegen  das  2.  und  3.  licd  betrachtet  —  zeigton  koutraste,  die 
unmöglicli  die  cinordnnng  zu  einem  einheitlichen  ganzen  gestatteten. 

2.  Er d manu  verliest  einen  antrag  Boottichors,  der  auf  einen  antrag  H.  Stiers 
in  der  piidagogischen  section  der  Dessaucr  i»liilologenvcrsamlung  im  jähre  1884 
zurückgreift.  Die  rcsolutiou  wird  einstimmig  in  fulgender  fassung  angenommen: 
„Die  deutsch-romanische  section  des  40.  ithilologontagos  schliosst 
auch  ihrerseits  sich  den  bereits  1884  von  der  pädagogischen  section 
aufgcstelten  und  jüngst  in  der  versamlung  rlieinicslier  Schulmänner 
neubegründeton  forderungeu  hinsichtlich  der  widerherstellung  der  mit- 
telhochdeutschen lektüre  in  den  obersten  klassen  der  gymnasien  und 
realgymnasien  an,  indem  sie  in  den  immer  häufiger  und  dringender 
lautwerdenden  äusserungcn  dieser  art  ein  uiivcrkcnbares  zeichen  eines 
uuabweislichen  bedürfuisses  erblickt." 

3.  Erdmann  berichtet  über  eine  im  besitze  des  dr.  Wilhelm -Breslau  Ijcfindlicho 
samlung  von  briefen  aus  Kamlers  nachlass,  die  der  vater  des  jetzigen  inhabers  in 
Anklam  durch  einen  zufall  dem  verdorben  entrissen  hat.  Es  sind  alles  briefe  von 
grösserem  litterarischen  Interesse;  Klopstock,  maier  IIem[»el,  Joh.  Chr.  Schmidt, 
Gleim,  Sucro,  Sal.  Gessuer,  Moses  Mendelssohn,  Ebert  sind  vertreten.  Der  besitzer 
bereitet  die  herausgäbe  vor. 

4.  Fritsche  berichtet  im  anschlusse  an  diese  mitteiluug  von  dem  fuudc  eines 
bisher  nur  teilweise  bekanteu  Goethcbriefcs  an  Karl  August  sowie  über  bruchstücke 
eines  liriefwcchsels  zwischen  Friedrich  Wilhelm  IV.  und  de  la  Motte,  die  sich  in 
Stettin  im  besitze  des  assessor  Schwencker  befinden. 

5.  Wolff  erwähnt  demnächst  von  ihm  zu  veröffentlichende  liandschriften  der 
Eutiner  gymnasialbibliothek ,  unter  denen  namentUch  briefe  von  Ernestiue  Voss  an 
ihren  söhn  Abraham  bemerkenswert  seien. 

6.  Siebs  bespricht  ein  manuscript  der  Breslauer  stadtbibliotliek.  welches  — 
vermutlich  nach  einer  handschrift  —  im  jähre  18ÜG  auf  der  bildiothek  des  Hallischen 
Waisenhauses  abgeschriebene  gcdichte  von  Ludw.  AVilh.  Gleim  enthält.  Es  sind  „Bie- 
der gesungen  im  jähre  1792",  „Zeitgedichte  für  wenige  leser.  Im  jäimer  1801"  und 
„Schweizerische  kriegslieder.  1798."  Die  beiden  ei-sten  samlungen  sind  im  druck 
erschienen;  die  leztgenante  ist  dem  referenten  nur  aus  einer  unvolständigen  hand- 
schrift bekant,  cUe  sich  im  Gleimstifte  zu  Halberstadt  befindet. 

7.  Nachdem  Erdmann  einige  vorscliläge  betrefs  der  wähl  der  versitzenden  für 
die  nächste  in  München  al)zuhaltende  versamlung  gemacht  hat,  gil)t  Kinzel  pro- 
ben seiner  übersetzmigen,  indem  er  weitere  elf  lieder  Walthers  vorträgt. 

Schluss  der  sitzung  11  uhr. 

Dritte  sitzung. 

Am  Sonnabend  den  5.  Oktober  wird  die  sitzung  erst  um  9'/4  uhr  eröfnet,  damit 
den  mitgliedern  gelegenheit  gegelien  sei,  dem  vortrage  des  dr.  Lehmann -Berlin 
„über  den  deutschen  Unterricht"   in  der  pädagogischen  section  anzuwohnen. 

1.  Eröfnet  wird  die  sitzung  unter  vorsitz  des  prof.  Gaspary'mit  dem  vortrage* 
des  prof.  Koschwitz- Greifswald  „Über  die  notwendigkeit,  bei  syntaktischen 

1)  Den  bericht  über  diesen  vertrag  gebe  ich  xuiter  benutzung  des  authentischen  protokoLs  des 
heiTn  dr.  AVeingärtner.  Die  ausfülirlichcn  mitteihuigon  rechtfertigen  sich,  glaube  ich,  durch  das  alge- 
mein -  sprachwissenschaftliche  interesse  des  Vortrages. 


460  SIEBS 

Untersuchungen  die  lauthistorischen  voräuderungeu  nicht  unbeachtet  zu 
lassen.**  Für  das  Studium  des  französischen  sei  das  Verhältnis  der  geschriebenen 
zur  gesprochenen  spräche  von  höchster  Wichtigkeit.  Neuerdings  haben  schulreformer 
(wie  Paul  Passy)  behauptet,  num  müsse  die  gesprochene  spräche  unteiTichten.  Not- 
wendige Vorbedingung  dafür  ist  natürlich  die  grammatik  einer  gesprochenen  spräche. 
Das  Verhältnis  der  Schrift  zur  ausspräche  lässt  sich  noch  am  ehesten  klarstellen; 
aber  in  der  erkentnis  der  <|uantitätsgesetze,  des  wort-  und  satzaccentes,  der  ton- 
höhe,  des  Verhältnisses  der  gesprochenen  zur  geschriebenen  formenlehre  sind  wir 
noch  weit  zurück.  Bezüglich  des  lezten  punktes  verweist  der  vortragende  auf  seine 
^Neufranzösische  formenlehre  nach  ihrem  lautstande.  Opi)cln  1889."  Die  gesprochene 
tiexionslehre  zu  unterrichten  —  wie  reformer  es  vorgeschlagen  haben  —  sei  wol  keine 
erleichterung  des  lernens:  da  trete  in  den  meisten  fällen  für  die  regel  der  schriftgram- 
matik  nur  eine  andere  formulierung  ein;  aus  der  schulgrammatik  konte  man  doch  bei 
kentnis  der  ausspräche  die  regel  der  lautgrammatik  abstrahieren,  aber  nicht  umge- 
kchit.  —  Betrefs  der  abweichuugen  zwischen  geschriebener  und  gesprochener  spräche 
in  der  syntax  fehle  es  an  allen  vorarbeiten.  Die  flexion  ist  vielfach  erloschen,  plu- 
rale  sind  meist  nicht  mehr  erhalten,  und  neuausgebildete  syntaktische  mittel  vertreten 
die  alten  tlexionen;  auch  sind  in  der  gesprochenen  spräche  die  alten  konkordanz- 
gesetze  fast  geschwimden,  das  imperf.  couj.  und  das  perf.  histor.  existieren  fast  nur 
noch  in  der  gebildetensprache ;  superkomponierte  formen  {fai  eu  entendii)  vertreten 
die  einfachen  u.  a.  w\.  Differenz  der  gesprochenen  und  geschriebenen  spräche  in  der 
syntax  hat  es  selbstverständlich  wie  heute  so  auch  früher  gegeben:  darum  muss  die 
historische  erforschung  der  syntax  auch  die  lautsprache  ins  äuge  fassen.  Daraus 
erklärt  sich  oft  die  aufstellung  spitzfindiger  gesetze,  denen  die  geschichtliche  basis 
fehlt.  —  Lautliche  Veränderungen  können  syntaktische  Umwälzungen  bewirken.  So 
wurden  beim  Übergang  des  lateinischen  ins  romanische  formen  wie  fut.  1  und  II, 
conj.  imperf.  und  perf.,  die  ihrer  lautlichen  gestalt  nach  zusammenfallen  oder  unkent- 
lich  werden  musten,  almählich  durch  Umschreibungen  und  neubildungen  verdrängt. 
Ferner:  im  frz.  des  12.  Jahrhunderts  verstumte  bei  syntaktischer  Zusammengehörig- 
keit das  flexivische  s  vor  konsonantischem  anlaut  (z.  b.  wo  ein  adjcctiv  vor  einem 
konsonantiisch  anlautenden  Substantiv  stand),  vor  vokalischem  anlaut  aber  und  in  der 
satzi>ause,  d.  h.  am  Schlüsse  eines  satzes  oder  Satzgliedes  blieb  es  hörbar.  Dadurcli 
geriet  schon  früh  der  gebrauch  des  flexivischen  s  im  nom.  sing,  und  den  obliquen 
casus  ins  schwanken,  vermengung  des  nomiuativ  mit  den  casus  obliqui  trat  ein,  und 
schliesslich  ward  die  casusunterschciduDg  ganz  aufgegeben.  Infolgedessen  ward  dann 
die  Wortfolge  im  satze  eine  strengere,  und  im  mittelfrz.  entwickelte  sich  die  dies- 
bezügliche feste,  heute  noch  geltende  regel.  Die  erhaltung  des  s  gerade  im  plur. 
beruht  wol  mit  darauf,  dass  der  acc.  [»lur.  liäufigoi-  in  der  satzpause  stand  als  der 
nom.  sing.;  das  s  blieb  dann  bis  ins  17.  Jahrhundert  an  dieser  stelle  lautend.  — 
Redner  geht  dann  auf  das  verstummen  des  tonlosen  e  näher  ein  und  führt  u.  a.  aus, 
dass  t/jnloses  e  nach  einem  hauptton  vokal  viel  später  am  schluss  des  satzes,  wo  es 
unter  dem  satzton  stand,  vei-stumt  ist,  als  in  andern  fällen:  also  später  in  „la  mere 
qiie  j'ai  Tue^'-  als  in  „j'ai  vu(e)  la  niere.^^  Sehr  oft  haben  solche  erscheinungen  zu 
den  spitzfindigen  Schreibgesetzen  der  grammatiker  anlass  gegeben:  daher  die  kom[)li- 
cierten  regeln  iiber  pluralisation  appellativisch  gebrauchter  eigennamen,  z.  b.  Cicerons; 
hier  lautete  das  s  gar  nicht. —  Die  regel,  dass  man  nu-tete  und  nu-pieds,  aber  <cYc 
luie  und  picds  nus  zu  schreiben  habe,  ist  modern:  afrz.  heisst  es  7iue  teste  und 
teste  nue,   nur  verstumte  das  e  im  ersten   falle,   wo  es  ja  vortonig  war,   eher.     Bei 


PHILOLOGEN VERSAMLÜNÖ    ZU    GÖRLITZ  461 

afrz.  nu^  picx  ist  s  (x)  schon  früh  vei-stumt,  in  pier.  nux  liingcgen  wurde  es  bis 
zum  17.  jahrhundeii  gosproclion.  Der  adverbicUo  cliarakter  des  voi-anstehendcn  mi 
ist  eine  fal)el,  und  so  steht  es  aucli  mit  den  rcgehi  über  demi,  sujtpnse,  exrepte 
usw.  —  Nfrz.  helas  ist  unveränderlicli;  im  afrz.  aber  brauchte  man  eh  las!  oder 
eh  lasse!  {lasses  plur.),  je  naclidem  sich  mäiinliclie  oder  weibliclie  weson  dieses  aus- 
druckes  bedienten.  Da  er  stets  in  der  satzpauso  stand,  so  verschwand  die  llexions- 
unterscheidung;  aber  auch  im  masc.  bheb  das  s  fest.  So  ist  auch  die  moderne  i'cgel 
über  »fil  und  mille  (milles)  nur  durch  verstummen  des  e  und  s  möglich  geworden. — 
Sodann  wt^st  der  vortragende  die  regel  über  die  konkordanz  des  ])art.  perf.  mit  dem 
Subjekte  bei  reflexiven  verben  als  eine  neue  Spitzfindigkeit  nach.  Dass  ferner  das 
part.  perf.  bei  aioir  gerade  bei  vorangehendem  accusativ  das  e  bzw.  .s-  aufi-ccht 
erliiolt,  bei  nachstehendem  aber  verlor,  komme  daiier,  dass  im  lezten  falle  das 
part.  meist  an  d(Mi  satzschluss  trat,  wo  sich  ja  auslautendes  c  und  s  am  längsten 
erhielt.  —  So  werden  alte  durch  frühere  lautverhältnissc  bereciitigte  erscheiimiigen  in 
der  Schrift  festgehalten,  auch  nachdem  sich  die  lautverhältnissc  gcändta-t  haben;  oder 
theoretiker  finden  in  dem  aufgeben  des  alten  lautes  grund  zur  annähme  von  differen- 
zierungen,  welche  die  spräche  nie  gekaut  hat.  Solche  erscheinungen  finden  sicli  in 
allen  sprachen,  am  häufigsten  aber  natürlich  da,  wo  wie  im  französischen  eine  starke 
abschleifung  flexivischer  laute  statgefunden  hat.  —  Er d mann  bemerkt  liierzu,  dass 
diesen  hochinteressanten  nachweisen  sich  aus  der  entwicklung  des  deutschen  in 
historischer  zeit  verhältnismässig  wenig  ähnliche  falle  würden  zur  seitc  stellen  las- 
sen. Doch  sei  z.  b.  die  moderne  nnsichei'heit  im  gebrauche  des  conjunctivs  wol 
zum  teil  aus  dem  zusammenfallen  vieler  formen  desselben  mit  den  noch  im  mhd. 
von  ihnen  unterschiedeneu  formen  des  indicativs  zu  erklären.  —  Gaspary  will 
die  regel  über  das  particip  nicht  auf  lautlichen  einfluss  zurückgefüiirt  wissen :  das 
praedicative  Verhältnis  sei  wol  noch  tiefer  empfunden  worden.  Aus  dem  spani- 
schen sei  nichts  zu  ersehen;  im  italienischen  habe  eine  abschleifung  nicht  stat- 
gefunden. Die  regel  sei  ungefähr  die  des  altfranzösischen:  unverändert  sei  das 
paii.  bei  voranstellung,  veränderlich  bei  nachstellung.  —  Koschwitz  gibt  zu,  dass 
die  erscheinung  vielleicht  nicht  bloss  auf  lautlichem  einfiusse  beruhe;  wie  in  den 
meisten  fällen  hätten  aucli  liier  gewiss  zwei  factoren  zusammengewirkt.  —  Brug- 
mann  weist  darauf  hin,  dass  erscheinungen  wie  die  vom  vortragenden  beliandeltHu 
sich  auch  in  den  älteren  indogermanischen  sprachen  finden,  namentlich  auch  schon 
in  der  muttersprache  des  französischen,  im  latein.  Die  jüngere  sprachentwick- 
lung,  in  der  sich  der  Vorgang  schrittweise  an  der  band  der  Sprachdenkmäler  ver- 
folgen lasse,  werfe  hier  wie  so  oft  licht  auf  die  ältere,  wo  sich  der  process  ganz 
oder  zum  teil  in  vorliistorischer  zeit  volzogen  hat  und  es  dem  forscher  wilkom- 
men  sein  muss,  wenn  sich  seine  deutung  durch  analoga  aus  modernen,  leichter 
überschaubaren  Sprachphasen  stützen  lässt.  Als  beispiele  dafür,  dass  auch  bereits 
im  lateinisclien  rehi  lauthcher  wandel  syntaktische  neuenmgen  im  gefolge  hatte,  fülni 
Bnigmann  den  locat.  sing,  auf  -7  und  die  2.  pers.  plur.  auf  -mim  an.  Dass  der 
locativ  mehr  und  mehr  zu  guusten  der  ausdrucksweise  mit  in  c.  abl.  wich,  hing 
damit  zusammen,  dass  die  locativform  mit  der  genitivform  zusammenfiel  (belli  „im 
kiiege''  und  „des  krieges").  Bei  den  mit  dem  lautliclu^i  zusammenfall  {I  auch  im 
nom.  plur.  masc.)  zusammenhängenden  oi-thographischen  bestimmungen  der  alten 
grammatiker  (des  Lucilius  EI  für  i  pingue,  I  für  i  tenue)  liefen  in  ähnlicher  weise 
Spitzfindigkeiten  und  wilkürlichkeiten  unter  Avie  in  den  analogen  fällen  bei  den  älteren 
französischen  grammatikern.     Das  imperativische  sequiminT  ist  mit  J.  Wackeruagel 


462  MARTIN 

als  eine  imperativiseh  verwoiulotc  infinitivfovin  anzusohon,  die  den  griech.  infinitiven 
\do  Xiyfutvut  entspricht;  das  indieativische  sequi wiul  dagegen  war  nach  alter  deu- 
timg  ein  nom.  plnr.  part.  med.  (entsprechend  griecli.  ino/jevoi  nnd  fTiötuftHa)  nnd  war 
iirspmuglicli  nicht  auf  den  gebrauch  als  2.  pers.  bescliränkt;  mau  sagte  sequi  mim 
suvius,  estis,  sunt.  Nuu  hatte  der  zusainnienfall  von  oi-  und  ai-  in  -7  zur  folge 
eiuei-seits  dass  das  imperat  sequi  tu  im  sicli  auf  pluralisclie  Verwendung  bescliriinkte, 
anderei-seits  dass  d.os  indicat.  sequimiul  mit  weglassung  der  copula  nur  mehr  als 
2.  pers.  gebraucht  wurde;  in  jenem  falle  hatte  das  indicat.  sequimim  das  imperati- 
\ische  beeinflusst,  in  diesem  umgekelirt 

2.  Da  die  nächste  philologenversamlung  in  Münclien  statfniden  soll,  so  wer- 
den zu  sectious  Vorsitzenden  die  professoren  Konrad  Hof  mann  und  Brenner  gewählt. 

3.  Nachdem  der  versitzende,  prof.  Gaspary,  den  anwes(Miden  für  ihr  erschei- 
nen gedankt,  scliliesst  er  die  Sitzung  um  10^4  ^^hr. 

BRESLAU,    OKTOBER    1889.  THEODOR   SIEBS. 


MISCELLEN  UND  LITTEEATUR 

Grundriss  der  germanischen  jihilologie,  unter  mitwirkung  von  K.  v. 
Amira  .  .  .  (u.  a.)  herausgegeben  von  Herinanii  Paul.  I.  lieferung.  Mit 
einer  tifel.     Strassburg,  Trübner.  1889.     25G  s.     4  m. 

Eine  Zusammenfassung  des  bisher  von  der  deutschen  philologie  geleisteten 
unter  gesichtspunkten .  welclie  auf  ihre  weiteren  aufgaben  hinweisen  solten,  war 
unzweifelhaft  erwünscht  und  dankenswert,  wenn  schon  füi-  die  geschieh te  unserer 
Wissenschaft  bereits  vorzügliche  gesamtdarstellungen  vorlagen  und  insofern  Pauls 
unternehmen  nicht  in  gleichem  masse  neues  bieten  konte  wie  Gröbers  grundriss  der 
romanischen  pliilologie,  an  welclien  sich  der  seinige  äusseiiich  anschliesst. 

Die  erste  lieferung  wird  fast  ganz  durch  die  geschichte  und  die  methodenlehrc 
der  germanischen  philologie  ausgefült,  welclie  Paul  selbst  bearbeitet  hat.  Über  den 
begiiff  und  zweck  dieser  Wissenschaft  geht  er  ziemlicli  rasch  hinweg.  Er  schliesst 
sich  zunächst  an  Böckhs  definition  an,  welche  als  gegenständ  der  pliilologie  die 
gesamte  menschliche  kultur  l»ezeichnet,  eine  definition,  nach  welcher  philologie  und 
geschichte  —  wenn  diese  ebenso  im  weitesten  sinne  gefasst  wird  —  zusammenfallen. 
Und  so  spricht  auch  Paul  in  den  ersten  algemeinen  bemerkungon  seiner  methoden- 
lehrc nicht  vom  philologon,  sondern  vom  historiker.  Freilich  beschränkt  er  dann 
doch  die  aufgäbe  des  philologeu,  indem  er  ihm  die  beschäftigung  mit  den  s}»rach- 
denkmälem  zuweist  und  daher  Sprachwissenschaft  und  litteraturwisscnschaft  als  die 
notwendigen  zweige  seiner  tätigkeit  ansieht.  Vielleicht  lässt  sich  diese  beschränkung 
noch  weiter  auf  einen  einzigen  keinpunkt  zurückführen.  Ich  schliesse  mich  dabei  an 
bemerkungen  an.  welche  Müllenhoff  mündlich  geäusseii  hat  und  die  ich  aus  der 
erinnerung  freilich  nur  in  sehr  unvolkommener  weise  widergeben  kann.  Müllenhoff 
stalte  den  philologeu  dem  historiker  so  gegenüber,  dass  er  diesem  den  stiat,  jenem 
die  poesie  als  den  mittelpunkt  seines  interesses  zuwies.  Genauer  würden  wir  etwa 
mit  Gröber  (Grundriss  der  romanischen  philologie  s.  14G  u.  ö.)  anstatt  der  poesie  die 
künstlerisch  gestaltete  rede  setzen,  nur  dass  für  die  ältere  zeit  beides  ja  zusammen 
fält.    In  der  tat  sind  eben  die  wissenschafthchen  fächer,  die  sich  auf  die  poesie  bezie- 


ÜBER    PAUL,    GRUNT)RISS    DER    GERM.    PHTL.    I  463 

hon,  mctnk,  littcrahirp:oF;chichto ,  pootik,  sowie  dio  orkliirung  einzelnor  dicht-  und 
Schriftwerke  so  recht  eif>outlich  aufgalxm  der  philologie,  während  die  graniniatik  auch 
von  den  sprachforsclieni  im  engsten  sinne,  die  altertümcr  von  historikern  und  Juristen 
in  ansi)ruch  genommen  werden.  Aber  das  tatsächlich  bi'steheude  Verhältnis  zunächst 
den  liistorikern  gogenül)er  lässt  sich  aucli  hogrillicli  reclitfertigen.  Die  wisscnscliaft 
der  gescliiclite  hat  es  mit  dem  gcscliohcnen  zu  tun;  sie  will  den  gang  einer  cntwioke- 
lung  begreifen  und  darstellen,  und  sie  bekümmert  sich  daher  um  die  träger  dieser 
entwickelung  streng  genommen  nur  insofern,  als  an  ihnen  diese  entwickclung  sich 
volzieht  und  erscheint.  Die  ijliilologie  dagegen  fasst  das  gewesene  ins  augo  und 
bemüht  sich  um  die  kentnis  der  (nnzehvescn,  welche  sie  nacli  allen  selten,  soweit 
die  Überlieferung  es  nur  gestattet,  sich  zu  vergegenwärtigen  strebt.  Daher  greift  die 
geschichte  weit  aus,  während  die  philologie  sich  gern  beschi'änkt.  Geschichte  und 
Philologie  verhalten  sich  in  der  art  ilirer  arbeit  und  ihrer  crzeugnisse  wie  maierei 
und  plastik:  jene  gibt  von  einem  festen  Standpunkte  aus  eine  ansieht,  welche  iil»er 
grosse  flächen,  auf  weite  fernen  hin  sich  erstrecken  kann,  aber  immer  nui-  eine  seite 
des  gegenständes  vor  äugen  stelt;  diese  zeigt  uns  volfiguren,  nach  allen  selten  hin 
ausgearbeitet,  aber  freilich  so  dass  diese  gegenstände  nur  für  sich  oder  höchstens  mit 
wenigen  vei-w\anten  erscheinungen  zusam  menge  fasst  werden,  Müllenhoff  sagte,  wenn 
ich  nicht  irre:  gescliiclite  stelt  dar  was  die  menschen  verbindet,  und  keine  Verbin- 
dung ist  so  stark  und  so  woitgroifend  als  die  durch  den  staat  gegebene;  philologie 
beschäftigt  sich  mit  dem,  was  den  einzelnen  auszeichnet,  und  so  eigen  ist  ihm  nichts 
als  die  poesie,  die  kunst  der  rede.  Äussert  sich  in  der  kunst  das  ganze  geistige 
vermögen  —  wie  es  ursprünglich  durch  das  verbum  können  bezeichnet  wird,  —  so 
ist  unter  allen  künston  die  kunst  der  rede  dazu  am  meisten  befähigt,  da  sie  am 
w^enigsten  an  äussere  bedingungcu  gebunden  ist.  Es  kann  nun  die  frage  aufgewoifen 
werden,  ob  und  wie  die  übrigen  gegenstände  der  philologischen  forschung  mit  jenem 
mittelpunkt  in  Verbindung  zu  bringen  sind.  Zunächst  die  grammatik.  Es  leuclitet 
unmittelbar  ein,  dass  für  das  Verständnis  der  poetischen  denkmäler  auch  die  volstän- 
digste  und  genaueste  kentnis  der  spräche  durchaus  nötig  ist,  dass  auch  die  etymolo- 
gie  schon  der  Wortbedeutung  wegen  ein  unentbehrlicher  bestandteil  der  philologischen 
grammatik  ist.  Die  volständige  kentnis  der  spräche  erstrebt  nun  auch  die  s]jrach- 
wisscnschaft  im  engeren,  besonderen  sinne.  Aber  widerum  ist  ein  unterscliied  zwi- 
schen philologie  mid  Sprachwissenschaft  vorhanden,  der  mit  jenem,  welcher  philologie 
und  historik  trent,  sich  wol  vergleichen  lässt.  Die  Sprachwissenschaft  nent  sich 
genauer  noch  die  vergleichende,  weil  sie  mehrere  sprachen  heranzieht,  entweder  um 
über  die  geschiclitliche ,  schriftliche  Überlieferung  zurück  die  zusammenhänge  der 
sprachen  zu  erforschen  oder  um  das  wesen  der  spräche  überhaupt  zu  erkennen.  Der 
Philologe  dagegen  w^ill  für  jedes  einzelne  denkmal  auch  sprachlich  die  einzelart  fest- 
stellen; er  will  wissen,  wie  jeder  ausdruck,  jede  Wendung  zu  verstehen  ist,  welche 
absichten  der  Verfasser  damit  verfolgt,  ob  er  ernst  oder  ironisch  syjricht,  ob  er  ruhig 
oder  leidenschaftlich,  gemein  oder  erhaben  sich  ausdrückt:  alles  fragen,  welche  den 
Sprachforscher  wenig  kümmern  werden.  Insofern  ist  auch  von  der  grammatischen 
Seite  her  die  poesie  hauptgogenstaud  der  philologie,  da  sie  die  spräche  in  der 
gröston  freiheit  und  kraft  erkennen  lässt.  Ähnlich  steht  es  nun  auch  mit  den 
übrigen  feldeni,  welche  die  philologie  gemeinsam  mit  anderen  Wissenschaften  bear- 
beitet. Jacob  Grimm  nimt  teil  an  dem  aufbau  der  deutschen  rech tsgesch ich te,  aber 
was  ihn  besonders  beschäftigt,  ist  die  poesie  im  recht,  ist  das  gebiet  der  formen  und 
formein.    Alle  äusserungen  des  geistigen  lebens  berücksichtigt  die  philologie,  aber  mit 


464  MARTIN 

dem  hauptaugeumcvk  auf  das  poetische  als  das  eigentümliche  der  individuell,  der 
Perioden,  der  nationen.  Oliue  sinn  für  das  poetische  mag  einer  ein  guter  Sprachfor- 
scher, ein  guter  historiker  oder  Jurist  sein,  aber  ein  guter  i)hilologe  ist  er  nicht. 
Blicken  wir  auf  unsere  meister,  die  brüder  Grimm,  Lachmaun,  Thland,  Schmeller 
und  wer  sonst  ihnen  beizugesellen  ist,  so  wird  uns  dieser  sinn  für  die  poesie,  der 
sich  vielfach  (selbst  wenn  wir  von  üliland  absehn)  aucli  durch  selbständige  dichtver- 
suche kundgegeben  hat.  als  das  charakteristische  für  ihre  wissenschaftliclic  riclitung 
erscheinen.  Und  darin  liegt  schliesslich  auch  die  eigentliche  bereclitigung  unserer 
M-isseuschaft  innerhalb  des  geistigen  lebens  unserer  nation:  deren  ästhetische  erziehuug 
ist  wesentlich  die  aufgäbe  der  jihilologie;  den  sinn  für  poesie  soll  sie  ausbilden  und 
rege  erlialten,  und  dies  ihr  verdienst  ist  für  uns  um  so  grösser,  als  wir  gegenwärtig 
unstreitig  in  einer  zeit  leben,  in  welcher  die  poetische  produktion  in  stetigem  sinken 
l>egriffen  ist  und  die  nation  durch  politisch -sociale  fragen  mehr  und  mehr  in  anspruch 
geuomnieu  wird. 

Treten  wir  von  diesem  Standpunkt  aus  an  Pauls  grundriss  heran,  so  wird  es 
uns  zunächst  als  ein  maugel  erscheinen,  dass  in  der  abteilung,  welche  der  litteratur- 
geschichte  gewidmet  sst,  die  deutsche  litteratur  nur  bis  zum  ende  des  mittelalters 
berücksichtigt  werden  soll.  AVie  ungerechtferiigt  dieser  ausschluss  der  neueren  zeit 
ist,  zeigt  sich  schon  darin,  dass  Paul  selbst  in  der  motliodeulehrc  vielfach  auf  die 
geschichte  der  neueren  litteratur  und  ihre  methode  bezug  nimt. 

Pauls  methodeulehre  selbst  bringt  vieles  was  wol  zu  beherzigen  ist;  die  dar- 
stellung  ist  bei  aller  kuapheit  reiclilialtig ,  trotz  einer  gewissen  trockenheit  eindring- 
lich. Die  möglichkeiten ,  welche  der  forscher  bei  der  entscheidung  zweifelliafter  fälle 
sich  vor  äugen  halten  soll,  die  fragen,  welche  in  bezug  auf  jedes  einzelne  Sprach- 
denkmal zu  stellen  sind,  werden  ausführlich  aufgezählt  und  erörtert.  Für  die  Sprach- 
geschichte verweist  Paul  wesenthch  auf  die  behandlung  des  gegenständes  in  seinen 
„Principien.-  Für  die  poetik  komt  er  zu  forderungen ,  welche  vor  ilim  schon  von 
Scherer  ausgesprochen  worden  sind,  wie  überhaupt  dessen  anregungen  in  Pauls  buch 
vielfach  nachgewirkt  haben. 

Der  methodeulehre  ist  die  geschichte  der  germanischen  philologie  vorausgestelt. 
Pauls  behandlung  dieses  Stoffes  nimt  eine  mittelstellmig  ein  zwischen  dem  bekanten 
buche  von  R.  v.  Räumer  und  Scherers  Grimmbiogra]>hie:  sie  ist  weniger  ausfühilich 
als  jenes,  beschränkt  sich  aber  nicht  so  wie  diese  auf  die  hauptj)unkte.  Die  ein- 
gefügte bibliographie  erstrebt  eine  gewisse  volständigkeit  der  wichtigen  Schriften: 
nachzutragen  wüste  ref.,  der  allerdings  eine  genaue  nachprüfung  nicht  hat  anstellen 
können,  nur  etwa  auf  s.  110  Walter  de  Gray  ßirch,  Cartularium  Saxonicum  (Lon- 
don 188.^  fgg.)  und  auf  s.  138  die  3.  aufläge  von  Jonckbloets  Geschiedenis  van  neder- 
landsche  letterkunde  (1881  —  86,  G  bde,  der  G.  von  Penon  bearbeitet).  Auf  s.  51 
wäre  eine  schrift  über  die  Nibelungen  von  G[ieseke]  (Hamburg  1795)  zu  erwähnen 
gewesen,  welche  über  die  handschriftliche  grundlage  der  Myllerschen  ausgäbe  zuerst 
das  richtige  bemerkt  hat.  ein  verdienst,  welches  auf  s.  63  irrig  J.Grimm  zugeschrie- 
ben wii-d:  s.  Müllenhoffs  anmerkung  zu  den  kleinen  Schriften  J.  Grimms  4,  s.  3. 

Von  den  verschiedenen  abschnitten  des  diese  aufzählung  vorbindenden  textes 
sind  die  fünf  ersten  bis  zur  eigentlich  wissenschaftlichen  begründung  der  deutschen 
philologie  mit  guter  kentuis  und  überzeugend  behandelt;  insbesondere  die  teilnähme, 
welche  das  vorige  Jahrhundert  diesen  Studien  schenkte,  ist  so  eingehend  geschildert, 
dass  auch  die  litterargeschichtliche  erforschung  dieses  Zeitraums  sich  dadurch  geför- 
dert sieht. 


ÜBER  PAUL,  GRUNDRISS  UKR  GERM.  PHIL.  I  465 

Dagegen  tiitt  leider  in  den  zwei  lezten  abschnitten  die  persönliche  ansieht  des 
Verfassers  in  einer  weise  hervor,  welche  der  referent  nicht  ohne  widerspmch  durch- 
gehn  lassen  kann.  Immer  wider  ist  es  die  beui-t»'ilung  der  wissenschaftlichen  Ver- 
dienste Lachmanns  und  seiner  schule,  über  welche  sich  der  Zwiespalt  erhebt.  Aber 
wenn  Paul  s.  150  das  parteiwesen  als  den  schlimsten  imter  den  schaden  des  gegen- 
wiiiligen  betriebes  unserer  Wissenschaft  bezeichnet  und  dies  abzustellen  mahnt,  so 
wird  man  eine  reihe  von  bemerkungen  in  seinem  buche  kaum  als  dazu  dienlicli  ansehn 
kümien.  ^^'o  Lachmann  und  seine  anhiinger  genant  werden,  fehlt  selten  die  War- 
nungstafel vor  ihrer  wilkür  und  autoritätssucht.  Selbst  in  der  methodenlehre  wählt 
Paul,  um  vor  gewissen  arten  von  fehlem  zu  warnen,  seine  beispiele  so  gut  wie  aus- 
schliesslich aus  den  schritten  Lachmanus  und  der  Lachmannscheu  schule.  Boeckh 
in  seiner  Encyclopaedie  der  klassischen  philolugie  citiei-te  in  solchen  fallen  sich  selbst. 

Hauptgegenstand  der  vorwürfe  gegen  Lachmann  ist  wider  die  Nibelungenfrage. 
Hier  begeht  nun  Paul  einen  allerdings  auch  schon  vor  ihm  gemachten  fehler,  indem 
er  s.  75  und  181  behauptet,  dass  Lachmann  den  text  von  A  nur  deshalb  für  den 
ursprünglichen  erklärt  habe,  weil  dieser  zu  seiner  theorie  von  der  entstehung  des 
gedichts  am  besten  passte.  Wo  hat  Lachmanu  das  gesagt?  Und  wenn  man  ihm 
diesen  grund  unterschieben  will,  so  solte  man  doch  zunächst  nicht  übei-sehen,  dass 
auch  solche  germanisten,  welche  Lachmann  persönlicli  nahe  gestanden  und  mit  ihm 
wol  auch  über  die  Nibelungenfrage  verhandelt  haben,  zwar  seine  liedertheohe  abge- 
lehnt, aber  daran  festgehalten  haben,  dass  A  den  ursprünglichsten  text  darbiete:  so 
die  brüder  Grimm,  so  Wackernagel,  so  AVilhelm  Müller.  Und  dass  der  gememe  text 
wirklich  interpoliert  und  überarbeitet  ist,  das  lässt  sich  auch  mit  argimienten  dartun, 
welche  inchts  mit  der  liedertheorie  zu  tun  haben.  Wenn  z.  b.  in  der  strophe,  welche 
B  hinter  der  str.  432  mehr  hat  alsA,  Siegfried  den  ger,  den  er  auf  Brunhild  schleu- 
dern will,  umkehrt  um  sie  nicht  zu  verwunden,  dann  aber  in  str.  433  beim  anprall 
auf  die  rüstimg  vom  funkensprühen  die  rede  ist,  welches  nur  durch  die  gerspitze, 
nicht  aber  durch  die  stange  hervorgerufen  werden  konte,  so  ist  432,  5  —  8  als  Inter- 
polation deutlicli  erkenbar,  einerlei  ob  man  die  Nibelungen  als  werk  eines  oder  meh- 
rerer dichter  ansieht.  Doch  weiter  auf  diese  viel  behandelten  fragen  einzugelm  ist 
hier  nicht  der  ort.  Nur  noch  die  bemerkung  möge  gestattet  sein,  dass  mit  demsel- 
ben rechte,  wie  man  Lachmanu  in  diesem  punkt  verdächtigt,  auch  umgekehrt  behaup- 
tet werden  könte,  seine  gegner  hätten  C  oder  B  deshalb  bevorzugt,  weil  diese  hand- 
schriften  ihren  theorien  besser  dienten  oder  gar  weil  sie  dadurch  der  Verpflichtung 
entgiengen,  auch  Lach  man  ns  liedertheorie  anzuerkennen.  In  der  tat  ist  es  eine  starke 
stütze  für  diese,  dass  die  in  B  und  weiterhin  in  C  zu  dem  bestand  von  A  hinzu- 
gekommenen Strophen  wesentlich  denselben  Charakter  zeigen  wie  die  von  Lachmann 
als  interpoHert  aus  dem  text  von  A  ausgeschiedenen. 

Aber  noch  schlimmer  ist,  wie  s.  133  und  235  über  die  liedertheorie  selbst 
berichtet  wird:  immer  wider  hören  wir  die  Verwunderung  dai-über,  wie  sich  Lach- 
mamis  20  lieder  zu  einem  ganzen  hätten  zusammenfmden  kömien.  MüUenhoffs  schrift 
Zui-  geschichte  der  Nibelimge  not  (imd  deren  fortführung  insbesondere  dui'ch  Hen- 
ning) hat  Paul  also  volkommen  unbenicksichtigt  gelassen,  während  doch  Müllenhoff 
gezeigt  hat,  dass  aus  dem  ei-sten  teil  des  gedichts  nui-  das  I.,  IV.  und  VUI.  lied 
Lachmaiuis  für  sich  bestehn,  die  übrigen  aber  als  fortsetzimgen  und  einleitungen  zu 
denken  sind.  Man  lese  das  YIII.  lied  und  fi'age  sich,  ob  nicht  Siegfiüeds  tod,  der 
wie  ^vir  wissen,  im  13.  jahrhimdert  als  lied  für  sich  gesungen  wurde,  hier  so  zusam- 
menhängend und  abgeschlossen  vorgetragen  ist,   dass   nichts  als  die  algemeine  keut- 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.       BD.  XXH.  OU 


466  MARTIN 

nis  der  sage,  also  etwas  für  die  zeit  um  12(X)  volstäudig  sichergosteltos,  voraus- 
gesezt  wird.  Endlich  ist  nicht  zu  übei"sehen,  dass  die  von  Lachmann  angenommene 
entwickelung  des  Nibelungengedichts  aus  einzelnen,  mit  einander  verbundenen  und 
interpoliei-ten  liederu,  iu  einem  andern,  litterarisch  überlieferten  fall  ihr  volständig 
entsprechendes  gegenstück  hat:  in  der  diehtung  des  jüngeren  Titurel,  dem  die  Titurel- 
heder  AVolfnuns  zu  giiinde  hegen. 

Überhaupt  hat  Paul  gerade  Müllenhoffs  Schriften  niclit  richtig  beurteilt.  Er 
sagt  s.  97  von  der  Deutschen  altertumskunde  Müllenhoffs,  dass  sie  auch  vollendet 
doch  nicht  eine  volständige  alttn-tumskunde  geben  würde,  weil  sie  ausser  den  stam- 
mesverhältnissen  und  gewissen  punkten  der  Urgeschichte  doch  nur  die  phantasietUtig- 
keit  der  alten  Germanen,  iln-e  götter-  und  heldensage  behandeln  solte.  Gibt  diese 
bemerkung,  die  selbst  weim  sie  zuträfe,  nur  einen  tadel  des  gewählten  titeis  enthält, 
auch  nur  entfernt  eine  Vorstellung  von  dem  reichen  Inhalte  des  Müllenhoffschen  wer- 
tes, von  der  erschöpfenden  behandlung,  von  der  geistvollen  lösung  der  allei'schwie- 
ngsten  gnindfragen  unserer  Wissenschaft?  Ein  glück  dass  dies  werk,  dass  überhaupt 
Müllenhoffs  wissenschaftliche  tätigkeit  den  klassischen  philologen  bekant  und  von 
ihnen  in  ihrem  werte  anerkant  ist:  die  studierenden  der  germanischen  philologie,  für 
welche  Pauls  gi'undiiss  zunächst  bestirnt  ist,  werden  wenig  davon  erfahren.  Übrigens 
wird  das,  was  Paul  an  Müllenhoffs  altertumskunde  vermisst,  doch  noch  durch  die 
geplanten  fortsetzimgen  geboten  werden,  in  welche  u.  a.  Müllenhoffs  vorlesungsheft 
über  die  Gemiania  aufgenommen  werden  soll:  da  werden  ja  auch  die  natürlichen 
lebensbedüigungen  usw.  zur  spräche  kommen. 

Von  den  Denkmälern  Müllenhoffs  und  Scherers  heisst  es  s.  196  (und  nochmals 
ganz  ähnlich  s.  107)  dass  darin  „die  kleineren  althochdeutschen  texte  eine  nach  allen 
Seiten  hin  möglichst  erschöpfende  behandlung  erfuliren,  wobei  aber  die  poetischen 
zum  teil  sehr  ^vilkül•lich  zurecht  gemacht  wurden."  Also  kein  wort  davon,  dass 
MüUeidioff  hier  wichtige  gattungen  und  selbst  emzelne  stücke  der  volkspoesie  als 
ui-alt  und  algemein  gemianisch  nachgewiesen  hatte,  den  liebesgi'uss ,  das  Sprichwort, 
wie  er  schon  fiüher  für  das  rätsei  das  gleiche  getan;  und  nur  beiläufig  und  dunkel 
wird  s.  118  erwähnt,  dass  Müllenhoffs  einleitung  zu  den  Denkmälern  die  lautforin  der 
deutschen  eigennamen  in  den  ältesten  Urkunden  zu  anhaltspunkten  verwertet  hatte, 
welche  die  vorher  zeitlich  und  örtlich  hin  und  her  versezten  ahd.  denkmäler  jener 
zeit  fest  und  sicher  zu  bestimmen  gestatteten. 

Auch  die  persönlichen  Verhältnisse  verschiedener  anhänger  der  Lachmannschen 
richtung  sind  wenigstens  schief  dargestelt.  Von  Wackemagel  heisst  es  s.  96,  er  habe 
sich  in  seiner  Jugend  auf  das  kümmerlichste  durchschlagen  müssen.  Jeder  leser  wii'd 
diese  andeutung  zunächst  auf  mittellosigkeit  der  familie  beziehn,  die  doch  bei  andern 
germanisten,  z.  b.  bei  Franz  Pfeiffer  iu  viel  höherem  gi'ade  vorhanden  und  wirksam 
gewesen  ist.  Vielmehr  entsprangen  die  Schwierigkeiten,  mit  denen  "Wackernagel  nicht 
nur  als  Student,  sondern  noch  weit  mehr  nach  beendigung  seiner  Studien  zu  kämpfen 
hattf?,  aiLS  der  traurigen  demagogenriecherei  in  den  zwanziger,  di'eissiger  jahien. 
Weil  er  als  gymnasiast  in  einem  verti'aulichen  briefe  geschrieben  hatte,  Deutschland 
werde  wol  in  die  alten  herzogtümer  geteilt  werden  müssen,  ward  er  nicht  nur  sofort 
und  hart  gestraft,  sondern  auch  später  weder  in  schule  noch  an  Universität  noch  in 
der  bibliotheksverwaltung  bei  ii'gend  einer  anstelluug  zugelassen,  trotz  der  besten 
empfehlungen  seiner  lehrer.  Der  ruf  nach  Basel  war  für  ihn  die  rettung  und  daraus 
begieift  sich  die  treue,    mit  welcher  er  auch  später  dort  blieb  trotz  der  lockendsten 


ÜBER  PAUL,  GRUNDRISS  DER  GERM.  PHIL.  I  467 

anevbietungon  der  gröston  imivorsitüten;    damus   aber  auch  gewisse  urteile  seiner  lit- 
teraturgescliichte. 

Am  allersclilinisten  aber  ist  Wilhelm  Scherer  weggekommen,  dessen  Charak- 
terisierung s.  99  mit  den  zahlreichen  und  ersichtlich  von  herzen  gekommenen  klagen 
an  Scherers  frühem  grabe  in  schneidendem  Widerspruch  steht.  Zwar  was  Paul  damit 
meint,  wenn  er  von  Scherer  sagt,  er  habe  seine  ideale  in  dem  modernen  grossstäd- 
tischen leben  gefunden,  das  bekent  referent  nicht  zu  wissen.  Aber  wenn  es  weiter 
heisst,  Schcrer  habe  einen  guten  teil  seines  einflusses  und  seines  ruhmes  feuille- 
tonistischer  schriftstellerei  zu  verdanken,  so  darf  wol  gefragt  werden,  ob  gelehrte 
wie  Miklosich,  Mommsen,  Zeller  etwa  dieser  begabung  Scherers  wegen  ihm  so  gün- 
stig gestimt  waren;  das  urteil  solcher  männer  wird  denn  doch  wol  auch  für  seineu 
rühm  und  seinen  einlluss  massgebend  gewesen  sein.  Übrigens  ist  es  bedeutsam  für 
unser  gelehrtenwesen ,  dass  eine  leichte,  anmutige,  eindrucksfähige  form  in  wissen- 
schaftlichen dingen,  anstatt  zum  lobe,  vielmehr  zum  Vorwurf  gereichen  soll.  Der 
weiteren  bemerkung  Pauls,  Scherer  habe  absichtlich  die  psychologische  analyse  vor- 
schmäht und  darin  liege  ein  grundmaugel  seiner  bchandlungsweise,  steht  schon  Scho- 
rers  eigenes  wort  entgegen  (Preuss.  jb.  XXXI,  482):  „Das  wesen  der  geschichte 
wird  ijnmer  lebendige  vergegenwärtigung  bleiben.  Es  gilt  die  psychologischen  pro- 
zes.se  aufzuspüren,  welche  den  taten  vergangener  epochen  zu  gi'imde  lagen  und  diese 
nachzuleben."  Und  wenn  nach  Paul  Scherer  nicht  ein  einziges  ausgereiftes  und 
abgeschlossenes  wissenschaftliches  werk  geschaffen  haben  soll,  so  widerspricht  dem 
der  hohe  wert,  den  Paul  selbst  s.  118  Scherers  buch  „  Zur  geschichte  der  deutschen 
spräche"  beimisst;  bezeichnet  er  doch  das  jähr  1868,  in  welchem  dies  buch  zum 
ersten  mal  erschien  (die  2.  aufläge  von  1878  ist  trotz  ihrer  teilweisen  neubearbeituug 
nirgends  erwähnt)  als  den  beginn  einer  neuen  periode  in  der  wissenschaftlichen 
behandlung  der  deutschen  grammatik,  der  zweiten  nach  J.  Grimms  grundlegender 
arbeit.  Und  ebenso  übergeht  hier  Paul  —  ausser  den  vielen  kleineren  arbeiten  Sche- 
rers, von  denen  einzelne  schon  allein  ihrem  Verfasser  einen  namen  gemacht  hätten, 
seinem  J.  Grimm,  seiner, Litteraturgeschichte  des  Elsasses  usw.  —  das  lezte  grosse 
iebenswerk  Scherers,  seine  Geschichte  der  deutschen  litteratur.  AVas  er  s.  138  von 
dieser  litteraturgeschichte  sagt,  die  referent  nicht  ansteht  unseren  besten  historischen 
büchern,  denen  eines  Ranke  etwa,  an  die  seite  zu  stellen,  ist  völlig  unzureichend. 
Er  nent  sie  nicht  einmal  da,  wo  er  von  den  neueren  populären  darstellungcn  des 
gegenständes  spricht,  s.  131:  unter  diesen  ragi  nach  ihm  Vilmars  litteraturgeschichte 
gleich  sehr  durch  geist  und  sachkentnis  hervor,  ein  urteil,  welches  nachzuprüfen 
referent  aus  persönlichen  gründen  andern  überlässt.  Wie  ganz  anders  als  Paul  weiss 
ein  Fi'auzose  Scherers  buch  und  seine  wissenschaftliche  bedeutung  überhaupt  zu  wür- 
digen, Basch  in  den  Annales  de  l'Est  I  und  11  (Nancy  1887 — 89,  auch  für  sich 
ei*scliienen). 

Nur  eine  stelle  aus  Pauls  kritik  der  litteraturgeschichte  Scherers  möge  noch 
hervorgehoben  werden.  Er  tadelt  an  dieser,  dass  darin  die  hypothesen  Lachmanns 
und  seiner  schule  als  ausgemachte  tatsachen  behandelt  würden,  ohne  dass  in  der 
regel  auch  nur  angedeutet  sei,  dass  andere  auffassungen  bestünden.  Wie  wären 
solche  andeutungen  in  einer  darstelluug  möglich  gewesen,  welche  auch  für  andere 
leser  als  die  fachgenossen  bestimt  w^ar?  Die  angehängten  anmerkungen  weisen  da, 
wo  Scherer  wirklich  begründete  zweifei  anerkante,  auf  diese  in  reichlichen  Htteratur- 
angaben  hin. 

30* 


468  MARTIN.    ÜBF.R    PAUL,    GRUNDRISS    DER    GERM.    PHIL.    I 

Aber  wiclitiger  ist  das  zugoständnis,  welches  der  heraiisgeber  des  grundvissos 
mit  der  eben  angezogenen  bemerkung  insofern  macht,  als  wir  nun  lioffen  dürfen  in 
den  weiter  folgenden  teilen  seines  Werkes  nicht  bloss  seine  und  seiner  mitarbeiter 
ausichten  zu  erfalu-en,  sondern  auch  die  von  ihnen  abweichenden.  Das  wird  nament- 
lich auf  dem  gebiet  der  metrik  sein*  erwünscht  sein.  Es  wird  dann  hoffentlich  z.  b. 
für  die  altgermanische  metrik  nicht  verschwiegen  werden,  dass  die  bcobachtungen  von 
Sievei"S  über  die  Stellung  der  zwei  liebungen  des  lialbvei-ses  zu  den  zwei  notwendigen 
nebensilbeu  nicht  unvereinbar  sind  mit  der  annähme,  dass  die  germanische,  im  alt- 
hochdeutschen erhaltene  urform  des  halbvei-ses  vier  hebungen  enthielt,  vor  und  zwi- 
schen welchen  minderbetoute  silben,  Senkungen,  stehn  aber  auch  fehlen  konten:  sind 
doch  eben  dieselben  beobachtungen  aucli  auf  Otfricd  anwendbar  gewesen,  dem  nie- 
mand die  vier  hebungen  abspricht;  und  dass  Otfried  zwei  von  diesen  vier  hebungen 
über  die  beiden  andern  hinaus  noch  besonders  auszeichnet,  hat  l^ereits  Laclimann 
ausgesprochen  (Kleine  Schriften  1 ,  4.57). 

Von  Sievei-s  rührt  nun  auch  der  anfang  des  die  ergebnisse  der  germanischen 
Philologie  dai-stellenden  teiles  her:  die  runen.  Sievers  schliesst  sich  fast  durchaus  an 
AVimmer  an.  Nur  sucht  er  den  ursprünglichen  sinn  des  wertes  rüna  in  „gemurmel, 
geheimnisvolle  besprechung'^,  wälirend  doch  der  Zusammenhang  mit  dem  nordischen 
raun  ,en)robung''  und  mit  dem  giiechischen  toewdo}  längst  geltend  gemacht  worden 
sind,  um  die  bedeutimg  „frage,  insbesondere  orakelfi-age"  als  die  älteste  zu  erweisen, 
welche  mit  dem  von  Tacitus  bezeugten  loosgebrauch  der  Gennanen  übereiustimt.  Die 
gennanischen  buchstaben  smd  vermutlich  zuerst  zum  loosen  angewendet  worden, 
ähnlich  wie  die  lateiiüschen  bei  den  sortes  Praenestimie ,  und  wol  im  anschluss  an 
eine  schon  fi-üher  bestehende  rhabdomantie.  Weiterhin  versucht  Sievers  die  ver- 
wantschaft  von  buch  und  buche  zu  lösen,  wegen  der  verschiedenen  stambildung; 
aber  so  wenig  wie  diese  für  die  vei-schiedenen  formen  von  man  eine  trennung  in 
mehrere  etyma  begründet,  wird  sie  hier  gewicht  haben,  wo  überdies  die  buche 
als  frugifera  arbos  vortreflich  zu  den  andeutungen  des  Tacitus  über  den  runen- 
gebrauch  stimt.  Auch  die  in  §  10  ausgesprochene  meinung,  dass  die  menge  und 
relativ  koiTekte  Überlieferung  der  alten  (eddischen?)  lieder 'aufzeichnungen  in  runen 
voraussetze,  hat  wenig  für  sich.  Eindringende  kritik  lässt  diese  korrektheit  sehr 
gering  erecheinen,  insbesondere  die  heroischen  lieder  sind  geradezu  zusammengewür- 
felt; und  dass  das  gedächtnis  der  sänger  in  der  alten  zeit  eine  ausserordentliche 
menge  von  Strophen  fassen  konte,  wird  beispielsweise  dui'ch  das,  was  von  dem  skal- 
den  Stufr  in  der  Heimskringla  Har.  hardr.  c.  2.5  erzählt  wird ,  überzeugend  belegt. 

Den  schlass  der  lieferang  bildet  eine  palaeographische  anleitung  von  W.  Aj'ndt 
zur  beurteilung  der  in  lateinischer  schiift  verfassten  denkmäler  nach  ihi-er  materiel- 
len Seite. 

STRASSBÜRG.  K.    MARTIN. 


Orendel,  ein  deutsches  spielmannsgedicht,  mit  einleitung  und  anmer- 
kungen  herausgegeben  von  Arnold  E.  Berger.  Bonn,  Ed.  Weber.  1888. 
CXYI  u.  192  s.    8.     9  m. 

Eine  neue  ausgäbe  des  Orendel  wird  jedem  wilkommen  sein,  der  in  der  läge 
gewesen  ist.  sich  bei  der  benutzung  des  von  der  Hagenschen  textes  die  besseren  les- 
aiten  müh.selig  aus  dem  Varianten  Verzeichnis  zusammensuclien  zu  müssen.  Denn  es 
war  k'kant  und  durch  Harkensee  (Untei-suchungen  über  das  spielmannsgedicht  Oren- 


VOGT,  ÜBER  OKKNDKL  ED.  BERGER  469 

del,  Kiel  1879)  im  eiiizelnon  iiachgewiscn,  dass  <lio  hei  von  dor  Ragen  zu  gründe 
gelegte  handschrift  (IT)  die  relativ  sclilcelitere,  der  nur  ausnahmsweise  und  wilkür- 
lich  für  die  texthorstellung  mit  herangezogene  druck  (D)  die  bessere  Überlieferung 
darbietet.  Harkenseo  hatte  ferner  gezeigt,  dass  die  gemeinsame  gruudlage  (U)  der 
Versionen  H  und  D  vielfach  verderbt  war  und  dass  die  Augsbuiger  prosa  (P)  die 
autlösung  einer  von  U  unabhängigen  handsehrift  des  gedichtes  ist,  welche  nicht  sel- 
ten eine  ursprünglichere  textgestalt  durchblicken  liisst.  In  allen  wesentlichen  punk- 
ten stimt  Borger  auf  gruud  selbständiger  und  sorgfältiger  nachprüfung  mit  dieser 
auffassung  überein.  und  da  bei  solchem  stände  der  überliefei'ung  eine  lekonstruktion 
der  ursprünglichen  fassung  des  gedichtes  nicht  möglich  ist,  so  orkante  er  es  folge- 
richtig als  seine  aufgäbe,  unter  Zugrundelegung  von  D,  aber  zugleich  unt.T  steter 
berücksichtigung  von  H,  die  beiden  gemeinsame  vorläge  U  kritisch  herzustellen, 
daneben  aber  zu  versuchen,  wo  P  eine  handhabe  Ijot,  „über  U  liinaus  dem  originale 
näher  zu  kommen."  Lezteres  ist  mit  löblicher  enthaltsamkeit  und  vorsieht  gesche- 
hen, und  alles  was  im  texte  nicht  auf  D  oder  H  zurückgeht,  ist  durch  kursivdj'uck 
kentlich  gemacht;  athetesen  sind  durcli  einklammerung  angedeutet.  Eine  eingehende 
Übersicht  über  den  dialekt  des  druckes  und  eine  algemeino  Charakteristik  der  sprach- 
formen der  durch  von  der  Hagens  ausgäbe  zugänglichen  handschrift  wird  in  der  ein- 
Icitung  gegeben.  Ebendort  sind  aus  D  wie  aus  H  die  kapitelül)erschriften  mitgeteilt, 
welche  zur  erläuterung  der  in  beiden  enthaltenen  l)ilder  dienten  und  deren  verglci- 
chung  zeigt,  dass  auch  U  schon  mit  solchen  geschmückt  gewesen  sein  muss.  ^lit 
diesen  seinerzeit  schon  in  meiner  Morolfausgabe  angewendeten  grundsätzen  dui'ciiaus 
einverstanden,  hätte  ich  nur  noch  gewünscht,  dass  die  Augsburger  prosa  volständig 
abgedruckt  wäre.  Die  eingehende  besprechung  ihres  Verhältnisses  zu  HD  in  der  ein- 
leitung  und  die  einschaltung  mir  in  ihi-  orlialtener  vermutlich  echter  stellen  in  den 
text  ist  ja  recht  dankenswei-t,  aber  da  eben  U  schon  vielfach  verderbt,  oft  auch  aus 
D  und  H  nicht  melu-  sicher  herzustellen  ist,  so  hätte  dem  leser  die  möglichkcit 
gegeben  werden  sollen,  überall  die  prosa  zu  vergleichen. 

Bei  gedichten  wie  das  vorliegende,  wo  eine  kritische  rekonstruktion  des  Origi- 
naltextes unmöglich  ist,  kaim  statt  dessen  eine  sorgfältige  Zergliederung  der  in  der 
Überlieferung  häufig  verwirten  komposition  über  die  entwickluugsgeschichte  wenigstens 
des  inhaltes  der  dichtung  einigen  aufschluss  geben.  Berger  iiat  diese  inethode  mit 
erfolg  angewendet.  Ein  ferneres  sehr  wichtiges  hilfsmittel  für  derartige  forschungen, 
die  vergleichung  anderer  bearbeitungen  desselben  Stoffes,  war  dagegen  hier  so  gut 
wie  versagt;  nur  in  den  einfachsten  grundelenieuten  verwante  traditionen  lassen  sich 
herbeiziehen,  die  nicht  sowol  die  einzelnen  entwicklungsstufen  der  Orcndelsage  und 
-dichtung,  als  den  urkeim,  aus  dem  sie  sich  entfaltet,  erschliessen  lassen.  So  bewegt 
sich  solche  Untersuchung  vielfach  auf  schlüpfrigem  boden,  und  auch  wo  sie  wie  hier 
mit  geschickter  hand  geführt  ist,  bleiben  leicht  ihre  ergebnisse  bestreitbar. 

Von  entschiedenem,  ja  im  gründe  von  entscheidendem  eintlusse  auf  Bergers 
auffassung  war  Müllenhoffs  gehaltvolle  ausführung  in  der  Deutschen  altertumskundc 
1,  33  fgg.  Nach  ihr  bildet  bekantlich  den  kern  des  inhaltes  unserer  dichtung  die 
aus  einem  Jahreszeitenmythus  erwachsene  sage  vom  Orendel,  der  nach  weiter  seefahrt 
schifbruch  leidet,  mit  dem  nackten  leben  davon  gekommen  in  des  riesischen  fischers 
Ise  dienst  tritt,  nach  längerer  zeit  mit  Ises  beistand  zu  seiner  gattin  heimkehrt  und 
nachdem  er  diese  von  lästigen  freiem  und  sonstigen  bedrängern  erlöst  hat,  erkant 
und  als  gemahl  und  könig  wieder  aufgenommen  wird.  Während  nun  der  spielmann 
im  ersten  teile  seines  gedichtes  die  heimkehrsage  in  die  übliche  brautfahrtgeschichte 


•470  VOGT 

umgestaltet  und  mit  dem  iiuschcinhareu  kostüm  des  in  Knechtschaft  geratenen  hol- 
den den  heiligen  rock  von  Trier  in  abenteuerliche  verhindang  brachte,  hätte  er  im 
lezten  teile,  welcher  nach  bekanter  spielmannsmanier  das  hauptmotiv  variierend  wider- 
holt, die  alte  tradition  von  der  befreiung  der  gattin  aus  der  gowalt  der  um  ihre 
minne  werbenden  deutlicher  und  schärfer  hervortreten  lassen. 

Auch  nach  Bergers  auffassung  sind  dies  die  grundelcmente  dci'  dichtung.  Nur 
meint  er.  dass  dem  spielmanne  die  alte  sage,  aus  der  dieser  nach  Mülloiihoff  für  den 
zweiten  teil  nur  einzelne  bestandteile  herausgenommen  oder  nachgebildet  hätte,  schon 
in  zwei  vei"scliiedeuen  poetisclien  Versionen  vorgelegen  habe.  Die  eine  sei  in  der 
erzählung  von  Orendels  schifbruch  bis  zu  seiuei-  anerkennung  als  Brides  königlicher 
gemahl  und  meister  Ises  belohnung  benuzt  (1.  teil),  die  andere  in  dem  berichte  von 
Brides  gefangenschaft  und  l)ofreiuug  auf  Miuolts  bürg  (2.  teil).  Gewiss  ist  für  den 
ei*sten  teil  durch  den  angegebeneu  abschnitt  —  wenn  wir  noch  Grendels  ausfahrt  uud 
heimkehr  hinzufügen  —  ein  älterer  kern,  ein  quellenmässiger  grundbestand  des  Inhal- 
tes unserer  dichtimg  in  der  hau[)tsachc  richtig  bestirnt.  Die  geschichtc  des  hcihgen 
rockes  ist  recht  äusserlich  damit  in  Verbindung  gebracht;  die  erzälilung  von  des 
fischei's  erhebung  zum  ritter  und  herzog  mit  den  darauf  folgenden  kämpfen  ist  augen- 
scheinlich eine  wilkürliche  erweiterung  des  Stoffes.  Auch  fiü'  den  zweiten  teil  ist  so 
viel  klar,  dass  die  doppeluug  der  erzälilung  von  Brides  Vergewaltigung  und  erlösung 
nicht  lU'sprünglich  ist;  das  zeigt  schon  die  konfusion,  die  durch  die  zwiefache  behand- 
lung  desselben  motives  in  die  überliefenmg  gekommen  ist.  Freilich  ist  damit  noch 
nicht  gesagt,  dass  dem  dichter  der  alte  bestand  seines  Stoffes  in  itoetischer  fassung 
zugegangen  sein  müste.  Zu  beweisen  wäre  das  nur,  wenn  sich  doch  wenigstens 
irgend  etwas  von  der  alten  r^uelle  noch  im  woitlaute  herstellen  Hesse;  aber  daran  ist 
gar  nicht  zu  denken.  Bergei"S  in  den  günstigsten  färben  gehaltene  darstelluog  des 
inhaltes  seiner  beiden  ui'gedichte  liest  sich  ja  recht  schön,  aber  sie  entspricht  mehr 
seiner  begeisteiTing  für  den  gegenständ  als  dem,  was  uns  die  überliefenmg  an  die 
band  gibt.  Dass  die  bezüglichen  abschnitte  unseres  gedichtes  teilweise  wirklich  poe- 
tisch weit  bedeutender  sind  als  das  was  dem  kern  des  Stoffes  nicht  angehört,  muss 
nicht  notwendig  aus  der  form,  kann  auch  aus  dem  inhalte  der  alten  quelle  begrün- 
det werden.  Dass  auch  in  der  vorliegenden  übeiiieferung  sich  hie  und  da  verschie- 
dene schichten  noch  deutlich  von  einander  abheben,  ist  aus  späteren  Zusätzen  und 
verändeiTingen,  welche  das  gedieht  selbst  erfahren  hat,  erklärbar.  Für  unwahrschein- 
lich halte  ich  es  durchaus  nicht,  dass  unserem  spielmann  eine  alte  dichtung  des 
beti'effenden  inhaltes  bekant  war,  nur  steht  uns  nicht  genügendes  material  zu  geböte, 
um  ihre  existenz  wissenschaftlich  zu  begründen. 

Von  Müllenhoffs  erklärung  der  sage  als  Jahreszeitenmythus  weicht  Berger  mit  Beer 
(Paul-Bramie  13. 1  fgg.)  darin  ab,  dass  er  die  bezichungen  derselben  auf  das  meer  nicht 
füi*  ursprünglich  hält;  vielmehr  meint  er,  dass  diese  erst  aus  einer  beeinflussung  des 
OrendelmythiLS  durch  den  roman  von  Apollonius  von  Tyrus  stammen,  der,  in  einigen 
teilen  der  Odyssee  nachgeahmt,  zugleich  die  mehrfach  bemerkten  berührungen  zwi- 
schen dieser  und  dem  Grendel  vermittelt  habe.  Dabei  sei  freilich  eine  ältere,  der 
Odyssee  noch  näher  stehende  fassvmg  des  romancs  vorauszusetzen  als  die  uns  erhal- 
tene. Die  verwantschaft  der  Orendelsage  mit  dem  voarog  des  Odysseus  wäre  danach 
nicht  alt.  Ein  gi'osser  kreis  von  heimkehrsagen  und  -märchen,  welchen  Beer  a.a.O. 
herbeizieht,  kann  gleichfals  nach  Berger  nicht  für  die  erschliessung  ihrer  ursprüng- 
lichen gestalt  verweiset  werden,  denn  er  entstamt  nicht  dem  hier  in  betracht  zu 
ziehenden    mjihus,    sondern    er    ist    später    aus    dem    Orient   eingedrungen    (Berger 


ÜBER  ORKNDEL  EU.  BEKGEK  471 

s.  LXXXI).  Nach  Müllenhoff  nötigt  „die  nordische  ühcrlieferung  (vom  Orvandil)  und 
die  natur  des  mythus^  zu  der  annähme,  dass  die  Orendelsage  ursprünglich  von  der 
heimkehr  des  heldcn  zu  seiner  gattin  gehandelt  habe.  Dagegen  hat  Beer  a.  a.  o.  dar- 
geleg-t,  dass  und  aus  welchen  gründen  es  unzulässig  ist,  „die  Orvandilüherlieferung 
aus  der  Orendelüberlieferung  oder  diese  aus  jener  zu  ergänzen'^,  und  aus  dem  von 
ihm  und  Berger  herbeigezogenen  sagen-  und  mythenmaterial  ergibt  sich,  dass  nach 
der  natur  des  mythus  das  von  dem  beiden  befreite  oder  erkiimi)fte  weibliche  weseu 
ebensowol  eine  Jungfrau  wie  seine  gattin  sein  kann  und  dass  diese  befreiung  nicht 
bei  des  beiden  rückkehr  in  seine  licimat  zu  erfolgen  braucht.  AVenu  trotzdem  die 
beiden  jüngeren  forscher  au  Müllenhoffs  ansieht  festhalten,  nach  der  ei-st  in  unserem 
gedichte,  und  zwar  erst  in  der  vorliegenden  fassung  desselben,  die  heimkehr  zur 
gattin  in  die  gewinnung  der  Jungfrau  umgewandelt  seiii  soll,  so  sind  sie  zur  begrüu- 
dung  dessen  schliesslich  doch  lediglich  auf  das  gedieht  selbst  angewiesen.  Und  in 
der  tat  gibt  denn  auch  nach  Beer  (a.  a.  o.  s.  110)  für  diese  auffassung  der  umstand 
den  ausschlag,  dass  „1.  in  der  katastrophc  vor  den  toren  von  Jerusalem  Orcndel 
selbst  sich  als  den  einheimischen  könig  zu  erkennen  gebe  und  erkant  werde;  und 
dass  2.  die  accessorische  fortsetzung  der  legendenfassung  augenscheinlich  ein  unab- 
hängiges gedieht  auf  die  liickkehr  Orendcls  zu  seiner  gattin  gekaut  und  benuzt 
habe.'* 

Was  zunächst  den  zweiten  punkt  angeht,  so  ist  ja  da  in  unserem  gedichte 
von  einer  rückkehr  Oreudels  zu  seiner  gattin  so  wenig  die  rede  wie  im  ersten  teile. 
Orendel  ist  wider  mit  Bride  in  der  fremde;  da  wird  sie  ihm  von  einem  beiden  ent- 
fühii;  er  gelaugt  in  Verkleidung  auf  dessen  bürg,  befreit  Bride  nüt  eigener  lebcns- 
gefabr  und  tötet  den  entfübrer.  Das  ist  die  entführung  und  widergewinuung  des 
schon  einmal  erkämpften  weibes,  wie  wir  sie  als  den  typischen  zweiten  teil  des 
spielmannsgedichtes  aus  dem  Eother  und  Morolf  zur  genüge  kennen;  augenscheinlich 
ein  bequemes  mittel  der  stoferweiterimg ,  wie  sie  beliebt  wurde,  als  die  spielleute 
von  der  knappen  form  des  epischen  liedes  zur  ausführlicheren  epischen  erzählung 
übergiengen.  Die  Übereinstimmung  mit  dem  zweiten  teile  des  Rother  geht  bis  ins 
einzelne;  im  Morolf,  wo  ja  auch  der  erste  teil  schon  eine  widergewinuung  ei'zählt, 
bieten  beide  teile  parallelen.  Dem  Orendel  wird  wie  dem  Rother  ausführlich  das 
Schicksal  der  geraubten  gemahlin  berichtet.  Der  entführer  ist  ein  heide,  wie  im 
Rother  und  beidemale  im  Morolf;  er  heisst  Minolt.  wie  Morolf  Sd  der  vater  des 
ersten  entführers;  sein  helfershelfer  heisst  Princian,  wie  im  Morolf  der  zweite  ent- 
führer; er  ist  wie  im  Rother  herscher  der  wüsten  Babilonie ,  wo  ihm  72  könige  dienen. 
Im  Orendel  wie  im  Rother  und  im  ersten  teile  des  Morolf  macht  sich  der  gatte  mit 
einem  treuen  kampfgenossen  und  dem  heere  auf  die  Seefahrt.  Nach  der  landung 
wird  das  heer  in  einem  sicheren  versteck  untergebracht  und  mit  einer  typischen  for- 
mel  fordert  Mor.  384,  3,  5,  Or.  3346/7  der  gefährte  den  beiden  auf  hervorzugeben. 
Der  könig  und  der  begleiter  (der  könig  und  zwei  begleiter  im  Rother,  einmal  der 
könig,  das  andre  mal  der  gefährte  im  Morolf j  gehen  nun  in  pilgertracbt  auf  die  feind- 
liche bui-g.  Orendel  und  Ise  werden  dort  wie  Morolf  zunächst  von  einem  torwärter 
freundUch  bewirtet  und  über  das  ergeben  der  entführten  unteriichtet.  Der  heidnische 
könig  hat  indessen  einen  unheilverkündenden  tramii  gehabt:  ein  falke  kam  geflogen 
und  führte  ihm  die  frau  übers  meer  —  Rother;  ein  rabe  und  ein  adler  kamen  übers 
meer  geflogen  und  brachen  die  bürg  nieder  —  Orendel.  Vor  den  obren  des  vor- 
gebUchen  pilgers  fragt  dann  im  Orendel  wie  im  Morolf  die  frau  den  beiden:  „was 
würdest  du  tun ,  wenn  könig  Orendel  (Salman)  liier  wäre  ? "    SchUesslicb  im  entschei- 


472  VOGT 

denden  niomeute  gibt  in  allen  di'ei  gedichten  der  gatte  die  Verstellung  auf,  er  gerät 
in  lebensgefahr.  aber  das  verltorgeno  beer  M'ird  herbeigerufen,  er  wird  errettet,  der 
beide  mit  den  seineu  get()tet.  —  Also  das  ist  keine  frage,  dass  dieser  zweite  teil  des 
Orendel  sich  iu  dem  hergebrachten  geleiso  der  spiclmannspoesie  bewegt.  Will  man 
das  nun  dadurch  erklären,  dass  hier  doch  der  spielmanu  ein  urs[trünglich  selbstän- 
diges gedieht  von  Orendcls  hcimkehr  benuzt  und  dasselbe  nach  dem  herkömlichen 
typus  zugeschnitten  hätte,  so  müste  man  zur  bcgründung  dessen  nachweisen  können, 
dass  dieser  zweite  teil  mit  dem  ersten  eigentlich  nicht  vereinbar  ist  —  das  ist  aber 
nicht  der  fall,  vielmehr  schliesst  er  sich  ihm  aufs  beste  an;  oder  dass  er  doch  sei- 
nem wesen  nach  ein  in  sich  abgerundetes  ganze  bildet  —  auch  das  tritt  durchaus 
nicht  zu;  es  müste  auch  sicherlich,  je  mehr  wir  von  den  mit  den  übrigen  si)iel- 
mannsgedichten  gemeinsamen  zügen  beseitigen,  um  so  deutlicher  die  alte  heimkehr- 
erzählung  durchblicken,  aber  selbst  das  ist  nicht  zu  bemerken.  Der  Rother  zeigt 
mehr  beziehuugen  derart  als  der  Orendel.  Dass  Rother  gerade  noch  in  dem  momeilt 
sich  einfindet,  wo  seine  frau  schon  mit  einem  andern  hochzeit  macht,  dass  er  sich 
ihr  durch  den  heimlich  zugesteckten  ring  zu  erkennen  gibt,  sind  zwei  charakteristi- 
sche motive  der  heimkehrsage.  Trotzdem  wird  es  wol  niemand  einfallen,  den  Rother 
auf  ein  altes  gedieht  von  des  beiden  rückkehr  zu  seiner  gattin  und  jenen  schlussteil 
auf  eine  besondere,  ursprünglich  selbständige  fassung  dieses  alten  gedieh  tos  zurück- 
zuführen. Da  sich  aber  im  zweiten  teile  des  Orendel  nicht  einmal  solche  berührun- 
gen  mit  der  fragliehen  sage  finden,  so  haben  wir  auch  hier  noch  weniger  veranlas- 
sung zu  jener  annähme. 

Allerdings  glaubt  Berger,  dass  aus  unserer  erzähluug  noch  spuren  des  alten 
Verhältnisses  durchblicken,  nach  welchem  Orendel  eigentlich  der  horr  der  bürg  sei, 
auf  welcher  der  beide  die  Bride  gefangen  hält.  Orendel  und  Ise  hören  den  greisen 
pförtner,  herzog  Achille,  ein  gebet  verrichten,  aus  welchem  hervorgehe,  dass  er  dem 
Orendel  treu  geblieben  sei;  er  habe  ein  interesse  für  ihn  und  Bride,  welches  sich 
nur  erkläi'e,  wenn  Orendel  eigentlich  sein  herr  sei,  und  in  der  tat  bezeichne  denn 
auch  Ise  v.  3490/1  den  Achille  und  sich  selbst  als  zwei  ritter  des  Graurockes.  Ich 
kann  dem  nicht  zustimmen.  Der  freundliche  und  hilfreiche  pförtner  oder  kämmerer 
auf  der  fremden  bürg  ist  eine  typische  person.  Ich  erinnere  an  Morolf  626  fgg.,  an 
den  Gramabet  Wolfd.  D.  VI,  an  Hildes  kämmerer,  der  sich  Horants  und  Morungs 
annimt,  nachdem  er  sich  ganz  wie  der  Achille  als  tieve  des  einen  der  beiden  anköm- 
linge  entpupt  hat.  Aus  Achilles  gebet  geht  nichts  weiter  hei'vor,  als  dass  er  ein 
Christ  ist,  und  dass  man  ihn  aus  seinem  herzogtum  veiirieben  hat;  später  erfahren 
wir,  dass  er  jezt  schon  75  jähre  dem  heidnischen  könige  dient;  er  ist  also  da  weder 
in  seiner  heimat  noch  kann  er  Grendels  dienstmann  gewesen  sein.  Als  einen  Christen 
beschwören  ihn  denn  auch  die  beiden  vorgeblich  aus  der  heidenschaft  entronnenen 
pilger.  ihnen  zur  weiteiTeise  zu  helfen,  und  als  christ  uimt  er  augenscheinlich  anteil 
an  ihrem  wie  an  Brides,  der  christlichen  königin,  Schicksal,  deren  befroiung  durch 
Orendel  ja  voiaussichtlich  auch  ihm  selbst  die  fi'ciheit  bringen  wird.  Was  nun  den 
vers  .3490  betrift,  so  ist  es  doch  auffällig,  dass  Achille  nicht  selbst  sagt,  er  sei  ein 
dienstmann  des  Orendel,  sondern  dass  Ise  ihm  das  mitteilt  {ich  bin  diner  stvester 
sun  ...so  ist  dax  der  gräice  roc  inin  here,  des  sind  tvir  7.iven  degen  bede)\  dass 
femer  Achille  den  Orendel  auch  nach  dieser  mitteilung  nicht  als  herren  begrüsst, 
und  dass  durch  die  erkennung  gar  nichts  an  seinem  plane  geändert  wird,  er  viel- 
mehr nach  wie  vor  zunächst  versuchen  will,  den  beiden  von  dem  beiden  das  geleit 
zur  weiten'eise  zu  erwirken.      Nun  steht  aber   v.  3400  das  entscheidende  wörtchen 


ÜBER  ORENDKL  ED.  BKRGER  473 

da%  nur  im  drucke.  Sowol  nach  der  handschrift  als  nach  der  prosa  hxwifti  dor  vers 
so  ist  der  (jrunc  roc  min  herc;  ich  zweiflo  also  niclit.  dass  or  auch  ursprünglirli  so 
lautete.  Im  folgenden  vcrsc  hat  die  handschrift  ihr  das  sprich  ich  wol  mit  cre 
natürlich  nur  des  reimos  wegen  statt  des  in  D  richtig  üborliefortcn  eiugesozt,  und 
nach  der  ursprünglichen  lesart  sagte  also  Ise  zu  Achillc:  ^  i«h  hin  dein  schvvester- 
sohn,  der  Graurock  ist  mein  hcrr,  wir  beide  (die  wir  hier  vor  dir  stehen)  sind  zwei 
seiner  rit.ter."  80  erklärt  sich  der  verlauf  des  gesprächs  wie  der  weiteren  handlung 
aufs  beste;  Orendel  gibt  sich  eben  nicht  zu  erkennen.  Aber  weder  dem  druck  noch 
der  prosa  genügte  das.  So  schaltete  D  sein  da>i  ein  (wie  es  sogar  auch  noch  den 
namen  von  Achilles  Schwester  hinzufügte),  während  P  den  vers  3490  in  ursprüng- 
licher form  beibehielt,  ilin  aber  zusammen  mit  dem  vorhergehenden  dein  Achille  in 
den  nuind  legte  und  diesen  sich  dann  weiter  nach  dem  verbleib  des  graurockes 
erkundigen  lässt,  der  ihm  nun  von  Ise  in  der  person  seines  begleiters  vorgestelt  wird. 
Dass  also  Orendel  eigentlich  der  herr  der  bürg  sei,  folgt  aus  dieser  st<jlle  nitdit  im 
mindesten,  würde  sogar  aus  ihr  nicht  einmal  folgen,  wenn  Ise  wirklich  den  A(;]iill'^ 
als  den  dienstmann  Grendels  bezeichnete,  da  dieser  ja  könig  von  Jerusalem  ist.  .la 
sellist  wenn  es  feststände,  was  Müllenhoff  annahm  und  an  und  für  sich  ganz  wol 
möglich  ist,  dass  nach  der  ursprünglichen  dai'stellung  in  diesem  schlusstoile  Orendel 
bei  seiner  nickkehr  nach  Jerusalem  die  Biide  in  der  gewalt  der  treulosen  hüter  des 
grabes  findet,  so  würde  ja  auch  das  eine  sehr  passende  form  der  typischen  fort- 
setzung  gewesen  sein,  und  daraus  eine  stütze  für  die  annähme  zu  zimmern,  auch 
der  erste  teil  des  gedichtes  habe  eigentlich  von  des  beiden  rückkehr  gehandelt,  ist 
unmöglich.  Es  bleibt  also  für  die  bcgründung  jener  aufstollung  nach  alledem  nur 
der  inhalt  des  ersten  teiles  selbst  übrig. 

Nun  gibt  sich  aber  an  der  von  Beer  a.  a.  0.  verwerteten  stelle  der  gi'aurock 
keineswegs  „als  einheimischen  könig*^,  sondern  als  könig  Orendel  von  Trier  zu  erken- 
nen. Darauf  hin  begrüsst  ihn  Bride  als  vou  gott  gesendet  und  freut  sich  ihm  treulich 
beistand  geleistet  zu  haben;  die  tempelherren  aber,  die  ihn  eben  noch  angreifen  wol- 
ten,  emilfangen  ihn  mit  ehren  und  setzen  ihn  auf  den  thron.  Das  alles  findet  aus- 
reichende begründung  durch  das  vorausgegangene.  Der  graurock  hat  vor  den  äugen 
der  jungfräulichen  königin  Bride  wunder  an  tapferkcit  verrichtet;  einen  gegner  nach 
dem  andern  hat  er  überwunden,  darunter  auch  zwei  die  sich  auf  die  königin  hofnung 
mac'hten;  kein  zweifei,  dass  er  jezt  den  meisten  anspruch  auf  ihre  band  hat.  Aber 
man  hält  ihn  in  seiner  bäurischen  kleiduug  für  einen  knecht  und  als  solchen  der 
königin  und  des  thrones  für  unwürdig.  Als  Bride  ihn  nach  seinen  ersten  helden- 
taten  gefragt  hat,  ob  er  der  ihr  von  gott  zum  eheherrn  verheissene  könig  Orendel 
von  Trier  sei,  hat  er  selbst  es  geläugnet;  als  sie  ihn  trotzdem  in  die  arme  schliesst, 
wirft  ihr  ein  riese  vor,  dass  sie  seinen  knecht  küsse.  Als  sie  ihn  nach  seinen  wei- 
teren siegen  zum  gemahl  uimt  und  sodann  ihre  mannen,  die  tempelherren,  ihm  treue 
schwören  lässt,  murren  diese  unter  einander:  „was  kann  das  für  ein  könig  sein,  der 
nichts  als  einen  grauen  rock  hat,  als  wenn  er  aus  dem  kloster  gelaufen  wäre;  wir 
wollen  ihm  keine  heerfolge  leisten.''  So  beabsichtigen  sie  denn, "als  Orendel  mit  Bri- 
des  beistand  die  mächtigsten  gegner  widerum  überwunden  hat,  ihrerseits  ihn  anzu- 
greifen. Da  gibt  sich  der  graurock  als  könig  Orendel  vou  Trier  zu  erkennen,  und 
uaturgemäss  geben  sie  jezt  dem  könige  gegenüber  den  widerstand  auf,  der  dem 
knechte  gegolten  hatte.  Man  braucht  gar  nicht  einmal  anzunehmen,  dass  sie  davon 
wissen,  dass  Bride  den  Orendel  als  den  ihr  bestirnten  bräutigam  erwartet,  aber  sehr 
wol  ist  es  möglich,    dass   der   dichter   dies  voraussezte,    und  dann  ist  vollends  kein 


474  VOGT 

gnind  ersichtlich,  weshalb  Oreudel  uis[tniuglich  der  einheimische  könig  gewesen 
sein  solte. 

Nicht  diese  schlusssceno  ist  also  auffällig,  sondern  nur  jene  erste  frage  der 
Bride  an  den  unkentlichen  Orendol,  hei  welcher  sich  zeigt,  dass  sie  von  ilmi  weiss 
imd  ihn  als  zukünftigen  gemahl  erwartet,  ohne  ihn  je  gesehen  zu  haben.  Dass  ihr 
diese  künde  durch  die  yotcs  stimme  gekommen  sei,  hält  man  gewiss  mit  recht  für 
kein  altes  sagenmotiv.  und  so  wird  denn  mit  Müllenhoff  angenommen,  dass  Bride 
ui-sprÜDglich  eben  den  Grendel  schon  kent  —  dass  er  eigentlich  ihr  in  vei'änderter 
gestalt  heimkehrender  gatte  ist.  Aber  diese  folgerung  ist  doch  nichts  weniger  als 
zwingend.  Analogieen  für  jene  anrede  der  Bride  an  den  Orendel  finden  sich,  wo 
auch  nicht  im  entferntesten  an  eine  solche  erklärung  zu  denken  ist.  Im  Wolfdietrich 
fragt  MarpaUe  den  beiden ,  den  sie  nie  gesehen  hat ,  ob  er  Wolfdietrich  aus  Griechen- 
land sei;  dem  hat  sie  ihre  jungfraunschaft  aufbewahrt  und  nur  er  soll  ihr  herr  wer- 
den (Wolfd.  D;  er  soll  ihren  vater  im  messerwerfen  besiegen  Wolfd.  B).  Wolfdic- 
trich  verläugnet  sich,  trotzdem  teilt  sie  mit  ihm  das  lager,  und  nach  B  schleudert 
sie  das  schwert  fort,  durch  welches  Wolfdietrich  sie  von  sich  trente  —  alles  züge, 
die  sich  auch  im  Grendel  finden.  Nach  Helgakvi|)a  HJQrvarJ)SSonar  redet  Svava  den 
namenlosen  beiden  gleich  mit  Helgi  an  und  sie  weiss  was  ihm  bestimt  ist;  nach  der 
dai-stellung  der  A^'Qlsungasaga  fragt  die  aus  dem  todesschlummer  erweckte  Brynhild 
ihren  befi-eier  sofort,  ob  er  Sigurd  Sigmunds  söhn  sei,  und  Müllenhoft"  selbst  weist 
auf  ,,die  analogie  der  Nibelungensage,  woBrünhild  als  jungfräiüiche  königin  in  ihrem 
lande  herscht  imd  Siegfi'ied  bei  der  ersten  begegnung  erkent."  Was  Müllenhoff 
gegen  die  anwendbarkeit  dieser  lezten  analogie  einwarft,  fält  mit  Beers  Untersuchun- 
gen. Ich  denke,  so  gut  wie  diese  weisen  Jungfrauen  konte  auch  die  Bride  in  dem 
beiden  von  voraherein  «den  rechten"  ahnen,  umsomehr,  als  er  sich  schon  vor  ihren 
äugen  durch  seine  waftentaten  als  den  treflichsten  ausgewiesen  hat. 

Auch  Bi'ide  ist  kein  gewöhnliches  weib.  Sie  ist  eine  streitbare  Jungfrau  von  wun- 
derbarer stärke;  kein  mann  darf  sie  benihren.  Das  sind  die  einzig  wesentlichen  eigen- 
schaften,  welche  sie  im  gedichte  auszeichnen;  sie  bleiben  nach  der  MüUenhoffschen 
hj-pothese  völlig  unerklärt;  den  charakter  späterer  erfindung  tragen  sie  dui'chaus  nicht. 
Die  dui'ch  das  ganze  gedieht  hin  festgehaltene  Jungfräulichkeit  der  heldin  etwa  auf 
den  einfluss  der  Brigittenlegende  zurückzuführen,  ist  unstathaft,  da  sich  sonst  nir- 
gend die  leiseste  spur  eines  solchen  nachweisen  lässt  und  der  dichter,  w^enn  er  diese 
beziehung  gesucht  hätte,  der  Bride  das  prädikat  sante  sicher  nicht  vorenthalten 
haben  würde.  Dieser  zug  gehörte  so  gut  wie  Biides  Streitbarkeit  der  alten  sage  an, 
die  auch  dadurch  \Nider,  ebenso  wie  weiterhin  durch  das  keusche  beilager  mit  dem 
trennenden  schwert,  durch  die  knechtschaft  des  beiden,  die  Veränderung  seiner 
gestalt  an  züge  der  Siegfried  -  Brünhildensage  erinnert. 

So  wenig  wir  demnach  zu  der  Voraussetzung  berechtigt  sind,  dass  Bride 
ursprünglich  das  verlassene  und  widergefundene  eheweib  gewesen  sei,  ebensowenig 
bildet  sich  für  die  annähme  ein  anhält,  dass  ihr  aufenthaltsort  ursprünglich  Grendels 
heimat  und  somit  ihre  erwerbung  mit  des  beiden  heimkehr  verbunden  gewesen  sei. 
Im  Osten  war  Grendel  verknechtet;  im  osten  findet  er  auch  die  Jungfrau.  In  eines 
riesen  gewalt  befand  sich  der  held;  von  riesen  hat  er  auch  die  Bride  zu  erkämpfen. 
Bride  selbst  ist  riesischer  natui",  sie  besizt  nicht  nur  jene  gewaltige  körperkiaft,  sie 
führt  vor  allem  auch  die  typische  riesenwaffe,  die  stange.  Alles  weist  also  darauf 
hin.  dass  der  held  von  anfaug  an  die  Jungfrau  im  riesenlande  erwirbt.  Auch  wenn 
wir  diese  sage  auf  einen  naturaiythus  zumckzuführen  suchen,  wozu  ja  hier  der  namc 


ÜBER  ORKNDKL  KD.  BERÜEK  475 

des  beiden  ein  besseres  recbt  gibt,  als  es  den  meisten  deutungsversucben  deiaii:  zu 
gründe  liegt,  so  haben  wir  doeli  dunhaus  keine  veranlassung  an  der  ursi>rünglich- 
keit  jenes  zuges  zu  zweifeln.  In  der  von  Berger  hcriieigezogenen  orzähluug  von 
Mengl(?[)  und  Svijjdagr.  welche  den  jahrzcitniythus  besonders  deutlich  hervortreten  lässt, 
wird  der  aufenthalt  der  Menglg})  als  pursa-pjöpar  sj<^t  bezeichnet  (Fj()lsvinnsmHl  1); 
Mcugl(?[)  weilt  also  zweifellos  nicht  in  Svipdags  liciniat;  sie  ist  auch  nicht  seine  gattin; 
sie  ist  wie  Bride  Jungfrau,  weilt  wie  sie  im  riesenlandc  uml  harrt  wie  sie  dort  dos 
ihr  bestimten  geliebten.  Mit  dorn  Meuglof)mythus  stobt  der  von  der  Ger|)r  in  enger 
beziehung.  Und  auch  Ger{)r  wohnt  in  Jotunhcim,  Ja  sie  ist  eines  riesen  tochter.  Zu 
ihrer  enverbung  bedarf  Skirnir  eines  besonderen  rosses  und  eines  besonderen,  den 
riesen  verderblichen  Schwertes  —  ganz  wie  Oreiidel  zur  gcwiimung  der  Bride.  Die 
waftc,  welche  —  wenn  auch  nur  mittelbar  —  den  weg  zur  Mongl^j)  bahnt,  wird 
auch  in  Fjolsvinusmal  cnvähnt;  sie  ist  in  der  unterweit  gewirkt  und  behndet  sich 
in  einer  mit  neun  schlössen!  verwahrten  eisernen  lade.  Das  schwort,  welches  Uren- 
del  zur  bekämpfung  des  riesen  ei'hält,  liegt  maunsticf  unter  der  erde;  dasjenige! 
welches  zuerst  für  das  erforderliche  ausgegeben  wird,  befindet  sich  in  einer  mit  drei 
schlossern  gesicherten  lade.  Auch  in  der  Siegfriedsage  gieng  der  gewinnung  der  wie 
Menglo|)  und  Ger{)r  von  der  waberlohe  imigebenen  Jungfrau  die  erwerbung  des 
Schwertes  und  des  rosses  voran.  Es  liegt  mir  fern,  deshalb  einen  direkten  Zusam- 
menhang der  Orendelsage  mit  einer  dieser  traditionen  anzunehmen,  oder  solchen 
detailzügeu  wie  den  das  schwert  betreffenden  grosses  gewicht  beizulegen;  aber  so 
viel  scheint  mir  sicher,  dass,  was  sich  etwa  aus  dem  inhalte  unseres  gedichtes  auf 
traditionen  mythischer  art  zurückführen  lässt,  viel  eher  auf  Vorstellungen  aus  dem 
angezogenen  kreise,  als  auf  die  von  Mülleuhoff  reconstruierte  und  in  der  haui)tsache 
auch  von  Beer  und  Berger  voi'ausgeseztc  form  des  mythus  weist. 

Ich  glaube  nach  alledem  als  den  grundbestand  der  Orendelsage  die  folgenden 
drei  aus  dem  Jahreszeitenmythus  erwachsenen  motive  ansehen  zu  müssen:  1.  Orendel 
fährt  ins  riesenland  und  gerät  dort  in  knechtschaft;  2.  Orendel  gewint  nach  erlangung 
von  ross  und  schwert  im  riesenlande  die  Jungfrau;  3.  Oi'endel  kehrt  aus  dem  riesen- 
lande  heim.  In  dieser  reihenfolge  überlieferte  die  natürlich  nicht  mehr  mythische, 
sondern  rein  sagenhafte  tradition  jene  drei  motive  auch  unsenii  gedichte.  Dass  in 
leztcrem  das  heimkehrmotiv  verschoben  und  zugleich  damit  eine  völlige  imiwälzung 
der  alten  Überlieferung  volzogen  sei,  ist  also  bei  dieser  fassung  nicht  mehr  anzuneh- 
men. —  Die  benutzung  der  quelle  kann  auch  sehr  wol  schon  an  einer  früheren  stelle 
unserer  dichtung  einsetzen,  als  Berger  annimt.  Zu  den  partieen  wenigstens,  welche 
poetisch  entschieden  über  das  hinausgehen,  was  Berger  s.  C  fgg.  als  den  „anteil 
des  spielmanns"  zu  bestimmen  sucht,  gehört  teilweise  auch  die  erzählung  von  Oren- 
dels  entschliessung  und  Vorbereitung  zur  fahrt;  vor  allem  die  lebhaft  anschauliche 
darstellung  des  aufgebotes  an  die  vasallen  v.  287  fgg.,  die  nur  in  der  Überlieferung 
sehr  entstolt  ist*.      Ich   sehe  also   keinen  grund  gegen   die   annähme,    dass  mit  den 

1)  Orendel  läfst  die  herbeigekommenen  (je  nach  ihrem  verschiedenen  stände)  in  einzelnen  grup- 
pen,  ringen,  antreten.  Sein  erster  aufiruf  gilt  den  königen :  8  derselben  treten  mit  einem  gefolge  von  Je 
HXKD  rittern  hervor.  Der  zweite  ruf  ergeht  an  die  übrigen  vasallen  (vers  300/1  müssen  ursprünglich  an 
stelle  von  296  gestanden  haben);  und  zum  zweiten  male  stelt  sich  eine  schaar,  1000  volständig  gewapnete 
ritter.  Nun  muss  der  dritte  ruf  erfolgt  sein,  denn  nur  auf  einen  solchen  kann  sich  v.  304,5  dö  künde 
er  mit  allen  seinen  sinnen  die  heren  von  dem  ring  nit  bringen  beziehen.  Um  dieser  vergeblichen  laufforde- 
rung  an  den  dritten  ring  nachdruck  zu  geben ,  lässt  Orendel  einen  häufen  goldener  sporen  auf  den  hof 
schütten,  und  mm  springen  alsbald  die  jungen  herbei  und  nehmen  dieselben  auf.  Die  goldenen  sporen 
sind  bekautlich  zeichen  der  ritterwürde ;    um  diesen  preis  lassen  sich  also  die  jungen    {degen  wird  etwa 


476  VOGT 

versen  155  fg.  e\  spn'chrf  in  dem  huochc  [also]  ein  sfaf  li<jt  /if  (kr  Mitseien  [döj  in 
der  tat  der  aus  der  alten  tradition  schöpfende,  natürlich  aber  hier  so  wenig  wie  sonst 
getreue  bericht  eingeleitet  wird.  Bezüglich  des  weiteren  inhaltos  des  ersten  teiles 
pflichte  ich  Berger  bei,  soweit  es  sich  um  die  ungefähre  begrenzung  des  bestandes 
der  alten  überheferung  handelt;  dass  ich  sonst  auch  hier  vielfach  von  seiner  auffas- 
sung  abweiche,  folgt  schon  aus  den  oben  gegebenen  ausführuugen  und  wird  sich  unten 
weiter  zeigen.  Auf  Orendels  Vereinigung  mit  Bride  nach  gemeinsamer  glücklicher 
Überwindimg  der  feinde  folgte  aber  nach  meiner  ansieht  in  der  alten  erzählung  nicht 
allein  Ises  ei'scheinen  und  abfindung,  sondern  auch  die  mit  seinem  beistand  bewerk- 
stelligte heimkehr  Orendels.  Den  kern  des  zweiten  teiles  auf  ein  selbständiges  gedieht 
zurückzuführen,  fanden  wir  keine  veranlassung,  vielmehr  erkanten  wir  ihn  als  die 
typische  fortsetzung  des  spielmannsgedichtes.  War  schon  die  quelle  ein  solches, 
etwa  von  der  gattung  des  Kother,  so  mag  sie  auch  schon  jenen  zweiten  teil  mit 
umfasst  haben.  Hat  der  dichter  selbst  ihn  hinzugefügt,  so  ist  sein  werk  durch  spä- 
tere zutaten  stark  überwuchert.  Jedenfals  liegen  hier  elemeutc  der  dichtuug  neben 
und  übereinander,  welche  nicht  gleichen  Ursprunges  sind. 

Für  die  datierung  der  quelle  unseres  Orendel  fehlt  natürlich  jeder  anlialt.  Die 
abfassungszeit  der  originalform  des  lezteren  aber  fält  nach  Borgers  meinung  imi  1160, 
die  entstehung  von  U  in  den  ausgang  des  13.  Jahrhunderts.  H  stamt  aus  dem  jähre 
1477,  D  aus  dem  jahi"e  1512;  was  gibt  die  veranlassung,  U,  die  nächste  gemein- 
same grundlage  der  beiden,  so  weit  zurück  zu  datieren?  Nach  Berger  der  umstand, 
dass  U  auf  reinigung  der  reime  und  auf  regelrechten  vei'sbau  ausgehe.  Für  den 
ci*sten  punkt  bringt  er  15,  für  den  zweiten  2  belege.  Das  will  schon  gegenüber  der 
ga waltigen  anzahl  unregelmässiger  verse  und  reime,  die  in  U  stehen  geblieben  sind, 
wenig  genug  sagen;  es  verliert  aber  vollends  alle  bedeutung,  wenn  wir  sehen,  dass 
H  in  viel  ausgedehnterem  masse  reine  reime  und  regelrechte  verse  einführt  als  U. 
Was  dort  im  15.  jahrhimdeit  geschah,  kann  doch  unmöglich  hier  die  abfassung  im 
13.  Jahrhundert  beweisen;  nichts  hindert  sie  in  weit  spätere  zeit  zu  rücken. 

Die  anfangsgrenze  für  die  datierung  von  U  wird  nach  Berger  durch  zwei 
seiner  meinung  nach  erst  ans  U  stammende  reime  bestimt,  mötie  (st.  niäne)  :  schöne 
und  galhi  (st.  galhie)  :  sin.  Da  Berger  hier  nur  das  eine  beispiel  für  apokope  des  e 
im  reime  beibringt,  so  scheint  er  die  zahlreichen  weiteren  fäUe  derselben  dem  origi- 
nale zuzuschreiben.  Er  berührt  diesen  i)unkt  denn  auch  gelegentlich  bei  der  auffüh- 
rung  derjenigen  reime,  aus  welchen  er  den  dialekt  des  Originals  zu  bestimmen  sucht. 
Aber  eine  Zusammenstellung  der  betreffenden  fälle  vermisst  man  ebenso  sehr  wie  eine 
erörtei-ung  ihrer  bedeutung.  Ich  habe  mir  23  reinie  notiert,  welche  apokope  des  e 
nach  langer  stamsilbe  unbedingt  erfordern,  daninter  beispiele  wie  dax  :  fast  (Präteri- 
tum), bereit :  leit  (prät.j,  hat  (\>r'ät) :  missetdt,  geleit  (prät.)  ;  gemeit,  fuurt  (prät.) 
:  sluoc,  diu  tnilt  (subst.)  ;  schilt,  er  (subst.) ;  se,  Lac  :  trac  (drache).  Das  ist  doch 
sicher  nicht  die  reim  weise  der  zeit  um  1160,  in  welche  Berger  das  original  sezt. 
Er  muste  entvveder  diese  datierung  fallen  lassen,  oder  er  muste  dergleichen  reime 
der  bearbeitung  (ü)  zuweisen;  keinenfals  durften  sie  ignoriert  werden.  Ähnlich  steht 
es  mit  den  zweisilbigen  reimen,  welche  auf  dehnung  offener  stamsilben  weisen.  Auch 
sie  scheint  Berger  insgesamt  dem  originale  zuzuschreiben ;  folgei*ungen  für  die  abfas- 
sungszeit desselben  werden  aus  ihrem   häufigen  vorkommen   nicht  gezogen;    sie  wer- 

statt  riüer  v.  .317  in  der  gruiidlajje  gestanden  haben)  zur  teiinahme  bewegen.  Der  dritte  ring  muss  dem- 
nach die  knappen  umfasst  haben. 


ÜBEH  ORKN'DEL  ED.  BRROKR  477 

den  ohne  weitere  bemerkungen  unter  den  dialfktlichen  reimen  der  einzelnen  vokale 
aufgefülii-t.  Sie  sollen  also  doch  wol  auf  die  rechnung  der  initteldeutsclien  niundai"t 
des  gedichtes  gesezt  werden,  während  diese  erscheinung  in  gleicher  ausdoliiuing  in 
keinem  gedichte  der  fragliclion  zeit  auftritt,  auch  in  keinem  mitteldeutschen.  Freilich 
sind  Bergers  angaben  au(.-h  recht  unvolstandig.  Der  reim  linr  :  tncrc  komt  nicht 
allein  an  den  von  ihm  angefühlten  4  stellen  vor,  sondern  auch  noch  v.  243  und  453. 
Gauz  übergangen  sind  hcrc  (dominus)  .•  mere  3027,  3288,  heren  :  mcrc  2880,  ere 
(cren):merc  298.  570.  2874,  hvre  :  (jcren  3001;  gcrni  :  werden  2820.  2834.  3124. 
3132,  genesen  :  heren  1618,  sehen  :  teere  20r)3.  2303,  leben  :  sterben  1580,  tage: 
sande  506.  Im  anschluss  an  diese  erscheinung  wären  auch  reime  wie  stunden  : 
frione;  komen  :  Schalunge;  ime  :  pfcn?iinge  zu  besprechen  gewesen.  In  manchen 
lallen  können  die  betreffenden  reime  anders,  teilweise  untnr  aimalime  noch  jüngerer 
sprachformeu  erkläii  werden  (z.  b.  herr  :  gern,  gern :  wer(d)n,  scn.'wcr)^  lue  und  da 
mag  auch  eine  andere  textherstellung  angezeigt  sein;  jedenfals  bleibt  die  tatsacht! 
bestehen,  dass  apokope  und  dehnung  offener  stamsill>e  in  den  reimen  der  dichtung 
eine  häufige  erscheinung  ist. 

AVas  an  entschieden  altertümlichen  reimen  dem  gegenüber  steht  ist  wenig 
genug.  Die  reimformel  forderost  :  tröst  3679  ist  im  12.  jalirhuudert  geprägt,  und 
wenn  sie  auch  bekautlich  in  den  Nibelungen  noch  gebraucht  und  Karlmeiuet  404,  7 
aus  Rol.  8,  8  beibehalten  ist,  so  wird  sie  doch  von  den  rheinfriiukischen  fahrenden 
schwerlich  noch  lange  nach  dem  12.  Jahrhundert  selbständig  angewendet  sein.  Lez- 
teres  gilt  auch  für  die  v.  3616  von  Berger  im  reime  hergestelte  form  geinarterot, 
während  dem  umstände,  dass  in  U  ausserhalb  des  reinies  die  form  gebot (e)  stand, 
keine  bedeutung  beizumessen  ist,  wenn,  wie  Berger  s.  XXXIV  bemerkt,  U  in  Ober- 
deutschlaud  geschrieben  war;  ebensowenig  der  Schreibung  brün/'ge,  brinige.  Der 
auch  von  mir  Mor.  CVIII  aufgeführte  reim  danniln  :  Jordan  1680  ist  nicht  sicher,  da 
ebensogut  wie  v.  3135  auch  dan  gemeint  sein  kann.  Ob  v.  346  menigln  :  Rln  oder 
die  sonst  übliche  form  menige :  Eine  gemeint  ist,  will  ich  nicht  entscheiden.  Reime 
welche  auf  ein  flexions-c  beschränkt  sind,  lassen  sich  nach  Berger  sonst  nur  in  drei 
fällen  nachweisen. 

Das  sind  doch  überaus  spärliche  beispiele  voltonig  gebrauchter  endungen  für 
ein  gedieht,  dessen  reime  zum  grossen  teil  nicht  neu  gebildet  siud,  sondern  aus  alt 
überlieferten  formein  stammen.  Dass  sie  nicht  geeignet  sind,  seine  abfassuug  in  der 
zeit  um  1160  wahrscheinlich  zu  macheu,  ist  wol  klar.  Es  müsten  andere,  wichtige 
umstände  dafür  in  die  wage  fallen.  Nun  ist  die  reimkunst  des  Orendel  sehr  unvol- 
kommen;  die  assonanzen  sind  sehr  zahlreich  und  sehr  roh,  roher  als  im  Morolf;  von 
diesem  gesichtspunkte  aus  wird  man  geneigt  sein,  die  abfassung  des  Orendel  eher 
vor  als  hinter  die  des  Morolf  zu  verlegen.  Lezterer  aber,  meinte  ich,  könne  nicht 
wol  vor  dem  lezten  decennium  des  12.  jahrhundeits  verfasst  sein.  Berger  ist  ande- 
rer ansieht.  Er  glaubt,  dass  der  kürzere  Oswald  in  die  siebziger  jähre  des  12.  jahr- 
hmiderts  falle,  der  Morolf  vor  diese  zeit  und  der  Orendel  vor  den  Morolf,  also  um 
1160.  Da  Berger  diese  datierung  des  Oswald  als  „ziemlich  sicher"  bezeichnet,  da 
sie,  wie  ich  aus  Siegm.  Schnitzes  disscrtation  über  die  Oswaldlcgende  (Halle  1888) 
ersehe,  auch  von  andera  dafür  gehalten  wird,  und  da  hierbei  umstände  in  betracht 
kommen,  welche  für  die  beui-teilung  der  litterarhistorischen  Stellung  der  spielmanns- 
poesie  überhaupt  von  bedeutung  sind,  so  halte  ich  es  für  nötig  auf  die  frage  aus- 
führlicher einzugehen. 


478  VOGT 

Zur  begriinduDg  der  zeitbostinimung  des  Oswald  beruft  Berger  sich  auf  Paul- 
Braune  XI,  382.  Doi-t  weist  er  darauf  hin.  dass  der  Oswald  in  die  gruppe  Orendel 
Morolf  herzog  Ernst  gehöre,  und  zwar,  wegen  seiner  verhältnismässig  grösten  reim- 
geuauigkeit,  als  lezter  dieser  reihe.  Der  Orendel  aber  sei  viel  früher  als  1187  ver- 
fasst  —  das  solle  in  der  ausgäbe  ausgefühi-t  werden;  der  Morolf  falle  vor  1190  —  das 
solle  an  anderem  orte  wahrscheinlich  gemacht  werden.  Da  wird  doch  der  leser 
im  kreise  henimgeführt.  Es  bleibt  also  der  herzog  Ernst.  Ich  muss  mich  wundern, 
dass  Berger  bei  seiner  Vertrautheit  mit  der  spiolmannspoesie  noch  dem  alten  herkom- 
men folgen  kann,  welches  dieses  gedieht  mit  dem  Orendel  usw.  in  eine  reihe  sezt. 
AV'enu  ich  dasselbe  bei  der  Schilderung  der  spielmanusmanier  Morolf  CXVIII  fgg. 
ausschloss,  so  hatte  ich  meine  guten  gi-ünde  dafür.  In  der  tat  hat  ja  der  herzog 
Erast  nichts  von  den  dort  geschilderten,  so  leicht  erkenbaren  und  so  charakteristi- 
schen zügen,  nichts  von  jener  an  den  überlieferten  formel Vorrat  gebundenen  darstel- 
lung,  nichts  von  den  possen  oder  der  plumpen  bigotterie,  von  der  ganzen  leichtfer- 
tigen behandlung  des  Stoffes,  von  dem  pei-söulichen  hervoidrängen  des  spielmanns, 
nichts  von  der  typischen  brautfahrt  oder  entführuug.  Dass  der  held  in  den  Orient 
komt  und  dort  allerlei  abenteuer  erlebt,  macht  doch  dies  gedieht  so  wenig  wie  den 
Alexander  oder  den  grafen  Rudolf  zu  einem  spielmannsgedichte.  Und  von  vornherein 
sehen  wir  es  in  den  gebildetsten  kreisen  verbreitet.  Der  angehörige  eines  der  vor- 
nehmsten baii'ischen  geschlechter  erbittet  es  sich  vor  118G  von  einem  abte  zur 
abschnft.  In  der  zeit,  wo  an  den  höfeu  noch  eine  edlere  geseUigkeit  gepflegt  wurde, 
las  man  dort,  so  erzählt  uns  Wernher  der  gärtner,  den  herzog  Ernst  vor.  Eine 
bearbeitung  in  lateinischen  hexametern  wird  1206  dem  erzbischof  von  Magdeburg 
gewidmet,  eine  spätere  deutsche  erneueruug  nimt  sich  Wolframs  mauier  zum  muster. 
Ein  solches  gedieht  kann  doch  unmöglich  einen  massstal)  für  jene  ganz  auf  den  der- 
ben geschmack  und  den  beschränkten  anschauuugskreis  eines  niederen  publikums 
zugeschnittene  und  aus  ihm  erwachsene  spielmannspoesie  abgeben.  Man  muss  von 
dieser  von  vornherein  einen  viel  geringeren  kuustgrad,  eine  viel  grössere  befangen- 
heit  in  alten  typen  und  formen  erwarten.  Aber  welches  sind  denn  nun  die  kriterien, 
die  aus  dem  herzog  Ei-nst  für  die  Zeitbestimmung  des  Oswald  entnommen  werden? 
Osw^ald  Übertrift  an  reimgenauigkeit  bei  weitem  den  Morolf;  näher  steht  ihm  schon 
der  herzog  Ernst,  „in  dem  indessen  die  assonanzen  immer  noch  zahl- 
reicher sind."  Die  meist  tadellose  reinheit  des  reimes  im  Oswald  weist  immerhin 
(trotz  Ungeschick  in  darstellung  und  —  übrigens  wesentlich  korrektem  —  versbau) 
schon  auf  die  zeit  einer  vorgeschrittenen  kunstentwickelung.  Nun  ist 
der  Enist  in  den  siebziger  jähren  (nach  Bartsch  zwischen  1173  und  1180)  gedichtet, 
also  ist  der  Oswald  —  auch  in  den  siebziger  jähren  verfasst.  Für  „ziemlich  sicher" 
kann  ich  diese  Zeitbestimmung  nicht  halten. 

Rödiger  hatte  Anz.  f.  d.  a.  II,  2.o2  fgg.  mimdartliche  reimformen  des  Oswald  aus 
dem  alemannischen  des  15.  jahrhundeiis  belegt;  er  hatte  an  die  assonanzen  der  von 
Schönbach  ins  14.  Jahrhundert  gesezten  Cäcilie  erinnert,  auf  die  zahlreichen  beispiele 
für  apokope  und  stamsilbendehnung  in  den  reimen  des  Oswald  hingewiesen,  und  nach 
alledem  Bartschs  annähme,  dass  für  dies  gedieht  eine  vorläge  aus  dem  .12.  jahrh.  vor- 
auszusetzen sei,  abgelehnt.  Die  gründe,  welche  nun  Berger  Paul  -  Braune  XT,  370  fgg. 
zur  stütze  von  Bartschs  ansieht  beibiingt,  sind  nicht  stichhaltig.  Er  behauptet  1)  es 
finde  sich  im  Oswald  eine  anzahl  im  1.5.,  ja  wol  schon  seit  der  mitte  des  14.  Jahr- 
hunderts nicht  mehr  gebrauchter  ausdrücke.  Obwol  dieser  puukt  nur  die  frage  nach 
einer  älteren  vorlade  des  gedichtes  überhaupt,    nicht  die   abfassung  derselben  im  12. 


ÜBER  OREXDEL  ED.  BERGER  479 

jahrhundei-t  betrift,  so  darf  doch  nicht  voi-sch wiegen  worden,  dass  Borgers  bohaup- 
tiiDg  bei  keinem  der  von  ihm  aufgeführten  worte  zutrift.  Es  sind  die  folgenden:  bcy 
namen  v.  25.  1420  als  tlickwort  im  reim  =  fürwahr  oder  besondere:  das  Deutsche 
wb.  belegt  es  in  der  ersten  bedeutung  aus  dem  endo  des  lö.,  in  der  zweiten  nocli 
aus  dem  endo  des  16.  Jahrhunderts.  —  (jefutj  im  I).  wb.  aus  dem  15.  Jahrhun- 
dert bezeug-t.  —  missewende  belegt  Lexer  noch  aus  dem  15.  Jahrhundert.  —  ahu- 
hant  im  D.  wb.  aus  dem  IG.  jahrh.  nachgewiesen.  —  ätie.  siuidcr  wdn  komt  noch 
im  anfang  des  IG.  Jahrhunderts  vor:  Wackernagel  Kircheul.  TT  n.  1314  str.  3,  9.  — 
megcteyn  nocli  bei  Michel  Beheim,  AViener  57,  7.  193,  G.  —  wimdersch iere  ist 
keineswegs  ein  altes  wort:  Lexer  belegt  es  nur  aus  einer  plusstrophe  der  Morolf- 
handschrift  E  vom  jähre  1479  (hinter  str.  125),  ferner  aus  der  Koloczaer  hs.  250,  175 
und  aus  Mono  altd.  schausp.  1,  1920  (14.  jh.).  —  einem  angewimifu  im  I).  wb. 
reichlich  bis  ins  17.  jahrhundei-t  belegt;  sogar  Wieland  gebraucht  das  wort  noch. 
—  hohischeit  327  ist  doch  nichts  anderes  als  das  erst  seit  dem  17.  jahriiundert 
erloschene  hilhscheit.  —  sick  underivi)iden  =  sich  in  besitz  setzen  380  wird  so  noch 
im  IG.  Jahrhundert  gebraucht,  z.  b.  Zimmerische  chronik  11''^,  422,  37.  —  gehas 
im  I).  wb.  ununterbrochen  bis  ins  18.  Jahrhundert  belegt.  —  friedet  ebenda  noch 
aus  dem  15.,  gemcit  noch  zahlreich  ans  dem  IG.,  lusten  =  begehren  aus  dem  IG., 
mit  Umlaut  noch  aus  dem  18.,  klar  =  schön  bis  ins  17.  Jahrhundert  belegt.  — 
sider  komt  im  15.  jahrh.  z.  b.  in  Beheims  Wienern ,  im  IG.  z.  b.  in  der  Zimmerischeu 
chronik  vor,  aber  noch  im  18.  jahrh.  wurde  es  nach  Frisch  „in  gemeinen  reden  oft 
gehört.'^  —  unde  =  woge  bei  Fi'isch  aus  dem  15.,  bei  Biefenbach  noch  aus  dem 
16.  jahrh.  belegt.  —  beite?i  =  zögern  im  D.  wb.  bis  ins  17.  jahrh.  nachgewiesen.  — 
Also  dieser  punkt  ist  wol  abgetan. 

2.  Die  hdschr.  0  des  kürzeren  Oswald  überhefert  einen  zug  der  sage  in  ver- 
mutlich ursprünglicherer  fassung  als  das  längere  gedieht.  —  Das  könte  doch  nur 
beweisen,  dass  der  Verfasser  des  kürzeren  gedichtes  seine  kentnis  der  legende  aus 
einer  von  dem  längeren  unabhängigen  tradition  schöpfte;  auf  die  form,  in  welcher 
ihm  diese  zufloss,  können  wir  daraus  gar  keinen  schluss  ziehen. 

3.  Aus  der  im  übrigen  nüchternen  und  unbeholfenen  darstelluug  heben  sich 
einige  stellen  durch  zarte  cmpfinduug  und  poetischen  ausdruck  deutlich  ab  (es  wer- 
den G  kurze  versreihen  citicrt);  diese  können  unmöglich  vom  Verfasser  von  WO  (d.  i. 
die  uns  überlieferte  dichtuug)  herrühren,  sie  weisen  auf  einen  begabteren  dichter.  — 
Daraus  würde  notwendig  der  schluss  zu  ziehen  sein,  dass  in  WO  von  der  alten  dich- 
tung  nichts  melu"  zu  erkennen  ist  als  einige  ganz  unbedeutende  trümmer;  alles 
andere  wäre  so  durchgreifend  geändert,  dass  sich  gerade  dadurch  jene  spärlichen 
reste  des  alten  noch  „deutlich  abheben."  Und  dabei  soll  noch  aus  den  reimen  die- 
ses nach  Berger  um  1400  verfassten  WO  —  und  zwar  nicht  etwa  aus  vereinzelten 
altertümlichen  erschciuungen ,  sondern  aus  dem  gesamtcharakter  seiner  reimkunst  — 
die  abfassungszeit  jener  vorausgesezten  alten  grundlage,  ja  im  weiteren  verfolge  die 
Chronologie  der  gesamten  Spielmannsdichtung  bestimt  werden?  Berger  entzieht  hier 
seiner  oben  angeführten  datierung  selbst  allen  boden.  —  Übrigens  lässt  sich  auch  aus 
den  betreffenden  stellen  kein  schluss  auf  eine  ältere  vorläge  ziehen.  Durch  die  ent- 
lehnungen  aus  dem  Orendel  und  Morolf  wissen  wir  schon,  dass  der  dichter  seine 
erzähluug  mit  allerlei  reminiscenzen  ausschmückt.  So  ist  die  von  Borger  besondei-s 
herausgehobene  stelle  v.  411  fgg.  augenscheinlich  einer  jener  liebesgrüsse ,  wie  sie 
im  15.  Jahrhundert  vielfach  überliefert  sind,  vgl.  z.  b.  Hätzlerin  s.  77%  Fichards 
Frankf,  archiv  III,   257;    so    haben    ihm    bei    den    verseu   137G  fgg.    augenscheinlich 


480  VOGT 

erinnerungen  an  irgend  ein  iUtoros  gobot  vorgosclnvobt.  die  teilweise  gar  niclit  in  den 
Zusammenhang  passen. 

4.  Die  alliteration  hat  in  volksmässiger  redeweise  viel  zu  lange  fortgelebt, 
um  das  was  wirkÜch  von  Bergers  unter  dieser  rubrik  gegebener  Zusammenstellung 
Dicht  auf  zufiüligem  gleicliklang  des  anlautes  berulit,  zur  altersbestinunung  verwerten 
zu  können. 

ö.  Die  wenigen  harten  assonanzen,  welche  ins  12.  Jahrhundert  weisen  sollen, 
(s.  372),  finden  z.  b.  in  den  reimen  der  von  Rödiger  herbeigezogeneu  Cäcilie  aus- 
reichende parallelen,  vgl.  reime  wie  helihct :  ycM'ihet ,  opJter  :  einander,  nemen  :  slux- 
xen  u.  a.  Unter  den  von  Berger  aufgefülirten  reimen  ist  übrigens  der  aus  Osw.  0 
entnommene  adler  :  beiraren  gewiss  als  adel-  ar  :  heuarn  aufzufassen  (adel-ar  noch 
im  1(3.  Jh.).  Vei's  53  scheint  mir  hoehgebon)  (:  erknru)  0  deni  n-oUjeton  W  des 
Zusammenhanges  wegen  vorzuziehen;  jedenfals  bietet  W  mit  seinem  nolgetdn :  'irkörn 
keineswegs  einen  alten,  sondern  einen  sehr  jungen  reim,  ebenso  jung  wie  die  nach 
Baiischs  angaben  in  WO  gemeinsam  überlieferten  nnhegobit :  gelöbit  588,  böten  (nun- 
tii)  ;  toten  (fecenmt)  849,  got  :  höt  391.  448.  1328,  noch  :  ril  nöeh  1076,  och  :  hen 
noch  1234.  Das  sind  besonders  dem  elsässischen  dialekte  des  14/15.  Jahrhunderts 
gemüsse  reime,  wie  sie  z.  b.  der  Strassburger* Morolfdruck  einführt  (Morolf  fortsetzung 
71',  10  mosx  :gr6sx;  73",  2  hor:enhor;  73'',  16  schön :  geton)^  erscheinungen,  die 
zusammen  mit  dem  häufigen  gebrauche  der  apokope  und  stamsilbendehnung  der  reim- 
kimst  des  gedichtes  deutlich  genug  den  Charakter  des  14/15.  Jahrhunderts   aufprägen. 

AVenn  endlich  Berger  s.  374  „das  fehlen  höfischen  einflusses  und  die  stärkere 
geistliche  tendenz"  betont,  so  ist  beides  bei  einer  dichtung  legendarischen  Inhaltes 
aus  dem  14  15.  Jahrhundert  ganz  in  der  Ordnung.  Andererseits  aber  waren  auch  die 
traditionen  der  spielmannspoesie  in  diesem  Zeiträume  lebendig  genug,  lun  sich  in  dem 
gedichte  daneben  bemerklich  zu  machen.  Der  „spruch  vom  könig  Etzel"  z.  b.  (Kel- 
ler, Erzählungen  aus  altd.  hdschr.  1)  ist  nichts  weiter  als  ein  ganz  an  den  alten  for- 
mein klebendes  spielmannsgedicht,  und  die  benihrung  der  legende  mit  dieser  gattung 
kann  der  Chiistophorus  B  veranschaulichen ,  den  Schönbach ,  nach  Ztschr.  f.  d.  a.  26,  83 
unten,  gewiss  mit  recht  nicht  mehr  wie  früher  für  ein  werk  des  12.  jahrhun- 
deiis  hält. 

Ich  denke,  wir  haben  nacli  dem  allen  nicht  den  mindesten  grund,  den  kür- 
zeren Oswald  bis  ins  12.  Jahrhundert  zurückzudatieren.  Woher  auch  immer  dem 
dichter  sein  stoff  zugeflossen  sein  mag,  sein  machwork  gehöii  dem  14/15.  jahrhundeit 
an.  und  es  kann  daher  für  die  datienmg  der  spielmannspoesie  des  12.  Jahrhunderts 
gai-  nicht  in  betracht  kommen.  Damit  fält  denn  auch  die  grenze,  welche  Berger  für 
die  Zeitbestimmung  des  Orendel  und  Morolf  ziehen  wolte. 

Aber  Berger  bringt  a.  a.  o.  s.  380  fg.  noch  einen  anderen  giimd  gegen  die- 
jenigen vor,  welche  den  Orendel  und  Morolf '  bis  gegen  das  ende  des  12.  Jahrhunderts 
hinabrücken  wollen.  „Kann  man"  —  so  fragt  er  —  „an  so  später  datienmg  der 
genanten  spielmannsgedichte  noch  enistUch  festhalten,  wenn  man  ihnen  die  erzeug- 
nisse  der  volkspoesie  gegenüber  stelt,  die  uns  nach  ablauf  des  Jahrhunderts  entgegen- 
treten?" Gewiss  nicht,  wenn  man  alle  denkmäler  der  deutschen  dichtung  in  eine 
einzige  gerade  linie  rückt,  mögen  sie  nun  in  Trier  oder  in  Österreich  entstanden, 
mögen  sie  bei  hofe  oder  an  den  strassenecken  vorgetragen  sein.  Aber  ich  denke 
doch,    die  litteraturgeschichte  hat  nicht   nur  mit  chronologischen,    sondern  auch  mit 

1)  Die  s.  380  daneben  erwähnten  Rother  und  Ernst  sind  doch  nicht  „meist  bisher"  so  datiert. 


ÜBER  ORENT)EL  ED.  BERGER  481 

landschaftlichen  und  socialen  unterschieden  zu  rechnen.     Jene  volksmässige  epik  vor- 
nehmeren Stils,    auf  welche  Berger  hezug  nirat*,    sehen  wir  in  Osterreich   und   zwar 
in  ritterlichen  kreisen  sich  ausbilden.      Um   IIGO    sind    uns    dort  ritterliche   trutlkt 
bezeugt,  um  dieselbe  zeit  ei)ische  dichtung  von  Rüdiger  und  Dietrich  von  Bern.    Dass 
diese  leztere  im  stile  des  Grendel  und  Morolf  gehalten  war,  wird  wol  niemand  anneh- 
men;   es  würde    uns    dann    nui*    eine    karrikatur  der  Nibehuigensage  geblieben  sein. 
Die  beschaifenheit  jenes  altösteiTeichisclien  ritterlichen   minnegesanges  lernen  wir  bald 
nach  jenem  ältesten  Zeugnis  in  Kürnbergs   liedorn    kennen.     Dii'selbe    strophenform, 
dieselbe  durchdringimg  volksmässiger  und  ritterlicher  elemente  wie  in  ihnen  tritt  uns 
später  im   Nibelungenlied  entgegen;    beides  muss  auch   für  dessen   liedailige   grund- 
bestandteile  vorausgesezt  werden.     Minnelied   und  ei)isches  lied  haben  sich  damals  in 
Österreich  neben  einander  auf  nationaler  grundlage  in  den  höheren  geselschaftskroisen 
entwickelt.     Wie  aber  in  Baiern  schon  im  12.  Jahrhundert  das  vorlesen  umfänglicher 
epischer  erzählungen  gegenständ   der  höfischen  Unterhaltung  geworden  war    (l^ohuid, 
herzog  Ernst),    so  waute   sich   im    ersten    decennium    des   13.  Jahrhunderts    aueli    in 
ÖsteiTeich  gleichzeitig  ]nit  dem   ersten  eindringen  Hartmannscher  und  Wolfrainscher 
epik   der  liöfische  geschmack  vom  epischen  liede  der  epischen   erzählung  zu.     Dem 
dii'ekten   eintlusse   der  französischen  litteratur  jedoch  schon   durch  die  geograpliische 
läge  entnickt,    geht  man  nicht  wie  in  Westdeutschland  zur  bearbeitung  französischer 
quellen    über,    sondern    die  nationale   diclitimg  bequemt  sich  dem  neuen  geschmack 
an:   die  epischen  Ueder  oder  liedercyklen  werden  unter  einmischmig  modern  höfischer 
elemente  zu  umfänglichen  leseepen  verarbeitet,    so   entsteht  bis  um   1210  das  Nibe- 
lungenlied und  später  unter  dessen  einfluss  die  Gudrun;    oder  man  baut  aus  einzel- 
nen sagenhaften  motiven  frei  combinierte  erzählungen  gleichen  stiles  auf,  so  entsteht, 
gleiclifals   in  unmittelbarer  anlehnmig  an   die  Nibelungendiclitung  die  Klage   imd  der 
Biterolf.      Zunächst    auf  die  bairisch  -  österreichischen  lande   beschi-änkt,    breitet  sich 
diese  dichtungsgattung ,  inzwischen  mit  dementen  niederer  volkspoesie  versezt,  in  der 
zweiten  hälfte   des   13.  Jahrhunderts  auch    auf  alemannische    gebiete  aus.     Da.ss  sie 
jemals  auch  in  den  Mosel-  und   Rheinlanden  gepflegt  sei,  dafür  sjuicht  kein  einziges 
denkmal.     Insbesondere  aber  wüi-de  die  annähme,    dass  in  diesen  ganz  von  der  fran- 
zösierenden dichtung  beherschten  grenzgebieten  gleichzeitig  mit  Nibelungen  und  Biterolf 
ebensolche  volksmässig- ritterlichen   epen  in  ausgel)ildeter  kuustform  gedichtet  seien, 
allen   tatsachen   widersprechen.     Wie    sollen   wir   denn   also    zu   der   Voraussetzung 
berechtigt  sein,  dass  ebendort  in  der  zunächst  vorangehenden  zeit  die  gesamte  volks- 
poesie  sich  in   einer   zu  diesem  gipfel   aufsteigenden  linic  bewegt  habe?     Mögen  wir 
die  abfassung  des   Orendel  und  Morolf  noch  so   weit  hinaufrücken,    soviel  ist  doch 
zweifellos,    dass  sie,    die   anerkantermassen   erheblich  später  als  der  Rother  gedichtet 
sind,    keineswegs  auf  einer  kunststufe  stehen,    welche  über  den  Rother  hinaus  auch 
niu-  von  ferne  auf  die  Nibelungen-   oder  Biterolfgattung   zuführt,    dass  sie  vielmehr 
die  ernstere  und  gediegenere  manier  des  Rotherdichtei-s ,    der   noch   um  den  beifaU 
vornehmer  geschlechter  warb ,  ins  niedere  fortgebildet  haben ,  augenscheinlich  in  einer 
zeit  und  in  einer  gegend,    wo   die   höheren   geselschaftskreise   den  geschmack  an  der- 
gleichen verloren  hatten.     Diese  gedichte  sind  eben  höchst  charakteristische  und  wert- 
volle Vertreter  einer  niederen  volkspoesie,    die    zu    allen  zeiten,    wo    die    gebildeten 
stände  ihre  besondere  kunst  pflegten,    neben  dieser  existiert  hat;    die  noch  an  den 
alten  traditionen  haftet,    wo  die  kunstmässige  dichtung  längst  andere  wege  einschlug; 

Ij  Der  selbst  nichts  weniger  als  sicher  datierte,    nur  in  später  Überlieferung  erhaltene  Laurin 

31 


kann  für  die  datierung  anderer  dichtungen  nicht  in  betracht  kommen 


ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLO&IE.       BD.    XXII. 


482  VOGT 

und  die  umsoweuiger  fühluug  mit  der  kunstpoesie  hat,  jcniehr  diese  unter  fremdem 
einflusse  steht.  Dass  viele  formein,  dass  stil  und  kompositionsweise  dieser  durch  den 
Orendel  und  Morolf  verti-eteneu  volkspoesie  sich  auch  diu-ch  die  mittelhochdeutsche 
blüteperiode  hin  in  lebendiger  Überlieferung  fortgi^pflanzt  haben  müssen,  zeigt  ihr 
widerauftauehen  in  dichtimgen  wie  Ortnit,  AVolfdiotrich  BD  und  spateren  deut- 
lich genug.  Vielfach  berühi-t  sich  schon  jene  niedere  Spielmannsdichtung  mit 
den  moderneren  volksmässigen  gattungeu.  Das  wunderbare  spielt  in  ihr  eine  ähn- 
liche rolle  wie  im  Volksmärchen;  die  formel  und  verwante  stilmittel  finden  sich  in 
einer  ausdehnung  wie  niu*  irgend  im  volksliede;  die  mischung  von  ernster  und  paro- 
distiseh  -  possenhafter  behaudlung  des  Stoffes  erinneii;  lebhaft  an  die  reste  der  volks- 
schausjtiele,  die  wir  noch  in  der  puppenkomödie  besitzen*;  der  rein  typische  Charak- 
ter ist  ihnen  mit  allen  diesen  gattuugen  gemeinsam.  Ich  brauche  nur  daran  zu 
erinnern,  wie  lange  diese  noch  heute  lebendigen  arten  der  volksdiclitung  an  den  alten 
Stoffen  und  stüformen  festhalten,  wie  wenig  und  wie  spät  sie  durch  neue  epochen 
der  kunstdichtung  beeinflusst  werden,  um  ein  entsprechendes  Verhältnis  zwischen  der 
niederen  spielmannspoesie  und  der  gleichzeitigen  höfischen  dichtung  einleuchtend  zu 
machen. 

Je  mehi-  nun  schon  dieser  konservative,  ganz  vom  überlieferten  abhängige 
chai'akter  der  dichtung  der  ungebildeten  die  datierung  ihrer  einzelnen  denkmäler 
erschwert,  urasomehr  beachtung  verdient  es,  wenn  sich  in  ihnen  nun  doch  diese  oder 
jene  spur  einer  foiigeschiittenen  kunstübung  zeigt.  Es  kann  so  gelingen,  wenigstens 
eine  anfangsgrenze  für  ihre  entstehung  zu  gewinnen.  Eine  solche  spur  glaubte  ich 
im  Morolf  zu  bemerken,  wenn  der  dichter,  der  sich  nur  stumpfen  reim  gestattet, 
dabei  nicht  mehr  nach  alter  weise  auch  das  tonlose  e  im  versausgange  zulässt.  Diese 
sehr  merkwürdige  beschränkung  im  reimgebrauche  tritt  sonst  in  der  epischen  dich- 
tung erst  im  Nibelungenliede  auf,  während  sie  in  derselben  strophenfomi  bei  Kürn- 
berg  noch  nicht  hei'scht.  Ton  strophischer  dichtung  der  fahrenden  lassen  sich  nur 
Hergers  Sprüche  vergleichen.  Herger  fand  sein  brot  an  den  höfen,  er  genoss  die 
gunst  hochgestelter  adlicher;  man  darf  erwarten,  dass  er  mehr  Sorgfalt  auf  seine  dich- 
tung verwante  als  ein  spielmann  vom  schlage  des  Morolfdichters ;  aber  auch  er  hat 
sich  der  alten  freiheit  keineswegs  entäussert,  und  seine  Sprüche  reichen  bis  gegen 
1180.  "Unter  diesen  umständen  meinte  ich  den  Morolf  nicht  über  das  lezte  decen- 
nium  des  12.  Jahrhunderts  zuiückdatieren  zu  dürfen,  umsomehr  als  von  andrer  seite 
einer  solchen  Zeitbestimmung  nichts  widerspricht,  wenn  man  nur  nicht  vergisst,  wel- 
cher dichtungsgattung  der  MoroK  angehört.  Berger  meint,  „solchen  nachweisen  sei 
keine  untrügliche  beweiski'aft  beizumessen,  zumal  wenn  es  sich  um  geringe  zahlen- 
unt^rschiedc  handle."  In  den  788  Strophen  des  Morolf  finden  sich  nur  1  oder  2 
sichere  belege  für  die  hebung  des  e  im  versausgange,  in  den  28  Strophen  Hergers 
finden  sich  deren  14;  das  .sind  doch  wahrhaftig  keine  „geringen  zahlenunterschiede ! " 
Auch  wenn  man  für  den  Morolf  noch  alle  stellen  in  betracht  ziehen  wolte,  wo  sich 
irgend  etwa  vennuten  liesse,  dass  der  überlieferte  text  zu  ändern  sei,  um  derartige 
versausgange  herzustellen,  so  würde  doch  dort  immer  nur  auf  200,  bei  Herger  auf  4 
der  in  betrachi  zu  ziehenden  reimpaare  ein  solcher  fall  kommen.  An  der  tatsache 
lä.sst  sich  nun  einmal  nicht  rütteln,  dass  im  Morolf  der  stumpfe  ausgang  abweichend 
vom  älteren  brauche,    in  derselben  weise  wie  im  Nibelungenliede  gesetz  ist.     Das  ist 

1)  Der  zuerst  von  Scherer  angedeutete  vergleich  zwischen  Spielmannsdichtung  und  Puppenspiel 
liesse  sich  bis  in  sehr  bemerkenswerte  einzelheiten  durchführen.  Ein  beispiel  gab  P.  Schütze,  Gegen- 
wart bd.  XXrX  s.  344. 


ÜBER  ORENDEL  ED.  BERGER  483 

aber  eine  sehr  mchtige  neueruu^-,  welche  den  spielmann  nötigte  mit  einem  teil  der 
sonst  so  zäh  festgehaltenen  traditionen  zu  brechen.  Reiclüich  die  hälfte  der  reime, 
welche  der  Oreudel  verwendet,  wurde  beispielsweise  für  den  Morolfdichter  durch  die 
befolgung  dieses  gesetzes  unbrauchbar.  Auf  eine  grosse  anzahl  von  bequemeu  epischen 
formein  inuste  er  verzichten,  formelu  z.  b.  wie  ///  aller  der  (jcbtere  :  als  .  . .  wcere; 
niht  lenger  heilen  :  bereiten;  .  .  .  gienc  gerillte  da  er  .  . .  triste ;  .  .  .  giene  dräte  in 
eine  kemenäte;  hiex  springen  :  bringen;  mit  sinnen  :  bringen  :  geu  innen;  vil  schiere 
er  sich  besande  in  allem  sincni  lande;  si  xugen  vf  ir  segele  ir  kiele  gicngen 
ebene;  mit  bröte  und  auch  mit  whie  mit  maneger  handc  spise;  formelu  ferner  mit 
fehlen  :  knehten ,  biderbe  :  icidere,  gesexxen  :  vermexxen,  suxen  :  vergdxen,  frouiven: 
schoKuen,  ivtle :  mile  usw.  Wenn  ein  spielmann,  dessen  darstellung  ganz  unter  der 
herschaft  der  epischen  formel  steht,  sich  aller  dieser  Überlieferungen  entäussert,  oder 
dieselben,  wie  das  in  einzelnen  fällen  vorkomt,  nach  dem  veränderten  metrischen 
Schema  umgestaltet,  so  ist  es  doch  wol  klar,  dass  es  sich  da  nicht  um  ein  bedeu- 
tungsloses und  dem  zufall  unterworfenes  mehr  oder  weniger  dieser  oder  jener  reim- 
form, sondern  um  die  bewuste  diu'chführung  eines  ganz  bestimten  metrischen  prin- 
zips  handelt.  Sicherhch  würde  sich  aber  dieser  kunstlose  und  reimarmo  dichter 
einem  solchen  nicht  unterworfen  haben,  wenn  es  sich  nicht,  im  zusammenhange  mit 
der  fortgeschrittenen  sprachentwickelung,  zu  seiner  zeit  schon  algemeine  geltung 
errungen  hatte.  Es  dürfte  demnach  wol  sein  bewenden  dabei  haben,  dass  wir  den 
Morolf  nicht  über  das  ende  des  12.  Jahrhunderts  zurückdatieren. 

Weder  der  Morolf  noch  der  Oswald  kann  demnach  zur  begi'ündung  für  Ber- 
gers Zeitbestimmung  des  Orendel  dienen.  Andrerseits  ist  auch  der  jedenfals  beti-ächt- 
liche  Zwischenraum,  welcher  den  Orendel  vom  Rother  trent,  so  wenig  wie  die  abfas- 
sung  des  Rother  selbst  auf  das  jahrzehent  anzugeben.  So  ist  denn  auch  hier  kein 
irgend  sicherer  anhält.  Im  Orendel  selbst  wolte  bekantlich  E.  H.  Meyer  bestirnte 
beziehuugen  auf  die  geschichte  des  königreichs  Jerusalem  wahrnehmen,  welche  darauf 
hinführen  würden,  dass  das  gedieht  „etwa  bald  nach  den  vorfallen  vor  Akers  im 
jähre  IIQO'^  gedichtet  wäre.  Seinem  versuche,  den  Inhalt  unserer  dichtung  mit  ein- 
zelheiten  aus  der  geschichte  Guidos  von  Lusig-nan  und  der  Sibylle  zu  verknüpfen 
kann  ich,  wie  ich  schon  bei  anderer  gelegenheit  äusserte,  so  wenig  wie  Harkensee 
und  jezt  Berger  zustimmen.  Überhaupt  sind,  wie  ich  Berger  weiterhin  zugebe,  die 
angaben  des  gedichtes  über  das  heilige  land  meist  so  konfus  und  wilkürlich,  dass 
man  hier  von  vornherein  keine  bestimten  und  zuverlässigen  historischen  beziehungen 
erwarten  darf.  Aber  gewisse  algemeine  Vorstellungen  von  den  zuständen  in  Palästina, 
das  durcheinander  von  Christen  und  beiden  in  Jerusalem,  die  feindseligkeit  der  tem- 
pelherren ,  die  kämpfe  um  das  heilige  grab ,  sein  verlust  und  seine  wädergewinnung  — 
das  alles  scheint  mir  auf  einen  anschauungski-eis  hinzudeuten,  wie  er  sich  nicht  wol 
in  den  nächsten  jähren  nach  dem  zweiten  kreuzzuge,  sehr  gut  dagegen  in  der  von 
Meyer  vermuteten  zeit,  an  und  für  sich  auch  in  einer  späteren  periode,  nach  1229, 
im  abendlande  ausbilden  konte.  Das  wenigstens  trift  nicht  zu,  was  Berger  s.  LIX 
bemerkt,  dass  es  unerlaubt  sei,  in  der  Übergabe  Jerusalems  an  die  beiden  „umb 
einen  schätz"  (v.  2895)  die  erobern ng  der  Stadt  durch  Saladiu  im  jähre  1187  wider- 
finden zu  wollen.  Die  Stadt  wurde  ja  tatsächlich  nicht  durch  stürm  genommen,  son- 
dern, als  sie  nicht  mehr  zu  halten  .\var,  nach  längeren  Verhandlungen  durch  vertrag 
dem  Sultan  übergeben.  Das  volk  aber  warf  wirklich  dem  patriarchen  und  der  ritter- 
schaft  vor,  dass  sie  schändliche  Schacherer  seien,  welche  den  beiden  die  heilige  stadt 
verkauft  hätten,   wie   einst  Judas  den  heiland,    vgl.  Wilken,  Kreuzz.  lU,  s.  311  und 

31* 


484  VOGT 

anm.  123.  Dass  andrerseits  einem  deutschen  spielniaun  zur  zeit  des  dritten  kreuz- 
zuges  der  gedanke  an  die  widergcwinnuug  des  heiligen  grabcs  nahe  genug  gelegen 
haben  würde,  um  eine  solche  auf  die  erzählung  vom  Verluste  desselben  folgen  zu 
lassen,  ist  doch  sicherUch  nicht  zu  bestreiten.  Wenn  sowol  Harkensee  als  Borger 
Grendels  seereise  mit  der  fahrt  einer  im  jähre  1147  von  Köln  ausgelaufenen  kreuz- 
fahrerflotte vergleichen,  so  könte  es  scheinen,  als  ob  sie  annehmen,  dass  eine  frische 
erinneiimg  gerade  an  dieses  oreignis  in  der  Schilderung  des  rheinischen  spielmannes 
zu  erkennen  und  damit  eine  stütze  für  ihre  datierung  gewonnen  sei.  Ich  muss  daher 
noch  einmal  die  schon  Mor.  CVIII  gemachte  bemerkung  widerholen,  dass  im  jähre 
IISS  rheinische  kreuzfalirer  ganz  denselben  weg  wählten;  vgl.  Annales  Colon,  max. 
MGSS  XVII,  s.  795  ann.  1188:  interim  naves  fabricabantur  per  diversas  regiones  et 
civitates  in  expeditionem ,  e  quibus  IT  de  Colonia  moverunt  in  quibus  erant  ad  MD 
homines.  Tarn  hü  quam  ceteri  omnes  ad  III  annos  victualia  copiose  habebant  etc.  — 
Gotfried  von  Cöln  a.  a.  o.  796:  in  quadragesima  naves  undique  adventantes  et  sibi 
invicem  copulatae  velis  oppansis  iter  aequoreum  ingressae  smit  . .  .  Erant  LX  naves 
ex  eis  vii'orum  vero  pugnatorum  X  milia  et  amplius.  -^  Andere  schlugen  in  dersel- 
ben zeit  den  bei  Grendels  zweiter  Jerusalemfahrt  beschriebeneu  weg  ein:  sie  zogen 
rheinaufwäi'ts  zu  lande  bis  Unteritalion  (Ann.  Col.  max.  a.  a.  o.)  und  so  kehrten  auch 
im  november  1190  viele  kreuzfahrer  über  Apulien  zurück  (a.  a.  o.  s.  798). 

Deutlicher  als  historische  weisen  kulturhistonsche  momente  auf  eine  spätere 
zeit  als  die  von  Berger  angenommene.  So  fern  dem  dichter  natürlich  die  kunstmittel 
höfischer  poesie  liegen,  so  ist  ihm  doch  höfisches  wesen  keineswegs  fremd;  es  tritt 
stellenweise  sogar  in  formen  auf,  welche  überhaupt  für  das  12.  Jahrhundert  sonst  noch 
nicht  nachweisbar  sind.  Die  moderne  ritterliche  kampfart  gilt  dem  spielmann  schon 
als  selbstverständlich.  Jeder  Zweikampf  begint  mit  dem  speerstechen  oder  er  beschränkt 
sich  auch  ganz  darauf;  dem  sieger  fält  das  ross  des  übei'wundenen  zu.  Das  stechen 
findet  vor  den  äugen  der  damen  statt  (854  fg.) ;  nachdem  Grendel  alle  gegner  auf  den 
sand  gestreckt  hat,.lässt  er  vor  der  königin  sein  ross  hoch  aufspringen  (1106  fg.); 
sie  entbietet  ihm  ihre  huld  und  will  ilm  in  ihren  dienest  nehmen  (1152/57.  1161/2). 
Das  tumier  bildet  auch  emen  bestandteil  der  schwertleite.  Diese  wrii'd  mit  meister 
Ise  bei  seiner  erhebung  ziun  herzog  vorgenommen  und  im  einzelnen  geschildert. 
Nachdem  üim  ein  herzogliches  gewand  angelegt  ist,  wird  er  in  die  h.  gi-abeskirche 
geführt  und  dort  erfolgt  die  umgürtung  mit  dem  Schwerte.  Jeder  der  anwesenden 
helden  gibt  ihm  einen  schlag  an  den  lials  und  Ise  spricht  dabei:  „ich  werde  es  euch 
vergelten  wenn  ich  kann."  Das  ist  nicht,  wie  Berger  meint,  eine  eigentümliche, 
sonst  nicht  nachweisbare,  „bei  Verleihung  der  herzogswürde  übliche  cerimonie";  es 
ist  zweifellos  der  ritterschlag.  die  colee  gemeint,  also  jener  schlag,  welchen  der  zum 
ritter  zu  erhebende  knappe  an  den  hals  erhielt  unter  hinweis  auf  die  mishandlung 
des  heilandes,  die  er  an  den  ungläubigen  rächen  soU  (so  nach  einer  nachricht  aus 
der  mitte  des  14.  jahi-hunderts  über  Wilhelms  von  Holland  schwertleite),  oder,  nach 
späterer  darstellung,  als  den  lezten  schlag,  den  er  sich  gefallen  lassen  solle.  Dass 
der  spielmann  nicht  etwa  den  Grendel  allein,  sondern  gleich  die  ganze  Versandung 
dem  Ise  die  alapa  zufügen  lässt,  ist  bei  der  bekanten  verliebe  dieser  poeten  für  kleine 
prügeLscenen  charakteristisch  genug.  Der  gebrauch  des  ritterschlages  aber  ist  für 
Deutschland  bisher  erst  seit  dem  14.  jahi-hundert  mit  Sicherheit  belegt,  vgl.  Roth 
V.  Schi-eckenstein ,  Rittei-würde  und  ritterstand  s.  240  fgg.  245  fgg.  Seit  dieser  zeit 
komt  es  auch  häufig  vor,  dass  deutsche,  adhche  sowol  wie  bürger,  sich  wie  meister 
Ise  zu  Jerusalem  in  der  grabeskirche  zu  rittem  vom  h.  gi'abe  schlagen  lassen.  Wich- 


ÜBER  ORENDEL  ED.  BERGER  485 

tig  wäre  es  zu  wissen,  ob  sich  die  sitte  doch  schon  aus  früherer  zeit  nachweisen 
lässt.  Bis  dahin  scheint  mir  diese  wie  manche  andere  in  unserm  gedichte  zu  tage 
■  tretende  Vorstellung  späten  Ursprunges  dringend  verdächtig.  Dass  dann  nacli  der 
weiteren  erzählung  die  wapnung  des  neuen  ritters  erfolgt,  «Mitspricht  dem  Itei  der 
schwei-tleite  herkijmlichen  brauche.  Als  er  sich  aufs  [)for(l  schwingt,  wird  ilim  von 
Orendel  zugerufen,  er  solle  die  chi-isten  schonen,  nicht  aber  die  beiden  (bei  dem 
nunmehr  nach  höfischer  sitte  sich  anschliessenden  turnier).  Di»-  darauf  folgenden 
woiie  so  wil  ich  iiich,  degen  küene,  selber  iuwcr  spcr  f Herrn  müssen  auch  noch 
dem  Orendel,  nicht,  wie  Berger  will,  dem  Isc  in  den  mund  gelegt  worden.  Es 
gehört  mit  zu  den  cerimouien  der  schwei-tleite,  dass  die  älteren  ritter  den  iiovizen 
solche  dienstleistungen  ei-weisen,  vgl.  Nib.  33,  2  die  wisen  hcten  reht  dax-  si  den 
tumben  diendeti  als  in  ivas  e  getan.  Es  folgt  dann  das  turnier,  zu  welchem  her- 
zöge, grafen,  ritter  und  bauern  zusammenströmen. 

So  sehr  hat  die  ritterliche  tjost  schon  den  alten  reckenmässigen  kämpf  ver- 
drängt, dass  selbst  die  riesen  gegen  alles  herkommen  nicht  zu  fuss  mit  der  stango, 
sondern  zu  pferde  mit  dem  speer  kämpfen,  und  einem  wird  in  anbetraeht  seiner 
grosse  gar  ein  elephant  statt  des  streitrosses  gegeben.  Die  rüstung  dieses  riesen  wird 
mit  gröster  ausführlichkeit  beschrieben.  Das  dem  elephanten  bis  auf  die  füsse  rei- 
chende gedecke  von  silbcr  ivix  (d.  i.  die  covertiure),  der  schmucküberladene  mit 
einem  wappen  versehene  schild  und  vor  allem  die  hehnzier.  Zu  dieser  gehöii  unter 
vielem  andern  ein  bewegliches  rad,  welches  an  das  des  Wigalois  erinnert  und  eine 
goldene  linde.  Leztere  ist  eines  jener  blasebalgkunstwerke,  welche  in  der  deutschen 
dichtung  zuerst  im  Strassburger  Alexander  durch  einen  goldenen  hirsch  vertreten 
sind.  Die  linde  erscheint  sonst  noch  im  Eosengaiien ,  Grimm  193  fgg.,  und  im  Wolf- 
dietrich B  807  fgg.  555  fgg.  Sie  steht  dort  in  einem  garten  bezw.  saale  und  ist  wie 
jener  hirsch  im  Alexander  mit  goldenen  röhren  durchzogen,  welche  in  hohle  vögel 
auslaufen;  wenn  durch  einen  blasebalg  die  luft  durch  die  röhren  getrieben  wird,  so 
singen  die  vögel.  Eben  dies  komplicierte  kunstwerk  trägt  nun  im  Orendel  der  riese 
auf  seinem  heim,  ja  er  lässt  es  sogar  musicieren,  indem  er  den  blasebalg  bewegt! 
Augenscheinlich  doch  eine  ganz  abgeschmackte  Übertragung,  wie  sie  sich  erst  einstelt, 
wo  dergleichen  motive  in  der  kunsttradition  schon  abgenuzt  sind,  nicht  wo  sie  eben 
erst  eingang  gefunden  haben.  So  wird  auch  auf  den  wilden  mann,  der  sich  ausser 
einer  kröne,  der  linde,  dem  rade,  einem  löwcn,  drachen,  baren  und  eher  auch  noch 
auf  dem  helme  befindet,  ganz  gedankenlos  die  in  bezug  auf  bildlich  dargestelte  vögel 
gebräuchliche  formel  (Berger  zu  981)  übertragen :  —  recht  als  er  lebte  und  gegen 
den  lüften  strebte.  Diese  ganze  Schilderung  kann  überdies  nur  in  einer  zeit  ent- 
standen sein,  wo  das  helmzimier  sich  schon  zu  reichen  und  abenteuerlichen  formen 
entwickelt  hatte,  und  das  war  im  12.  Jahrhundert  sicher  noch  nicht  der  fall.  Meines 
erachtens  gehört  sie  mit  zu  den  jüngsten  bestandteilen  der  dichtung,  und  ich  gestehe 
nicht  zu  begreifen,  wie  Berger  dies  tolle  zeug  gar  der  alten,  von  ihm  so  begeistert 
gepriesenen    quelle    des    angeblich    um    1160  verfabsten    gedichtes    zuschreiben    kann 

(s.  xcvni). 

Auch  so  manche  Wörter  Hessen  sich  aufführen ,  welche  in  der  von  Berger  ange- 
sezten  zeit  noch  nicht  belegt  sind,  teilweise  erst  sehr-  viel  später  auftreten,  turnei 
V.  2324  tritt  in  der  deutschen  dichtung  zuei"st  bei  Heinrich  von  Veldeke  in  einer 
noch  dazu  unsicheren  stelle  der  Eneit  937  und  im  oberdeutschen  Servatius  3332  auf 
(die  von  Berger  eingesezte  form  turyiier  ist  noch  weit  jünger),  banier  v.  1692  komt 
statt  des  früher  ausschliesslich  herschenden  vanc  zuerst  bei  Zatzikhoven,  bei  Herbort 


486  VOGT 

und  im  Athis  vor.  fier,  was  gewiss  v.  1878  einzusetzen  ist,  da  H  das  wort  nicht 
eingeKihi-t  haben  würde,  wü-d  zuerst  bei  Heimich  von  Morungen  und  Wolfram 
gebraucht.  Alle  drei  worte  kommen  übiigens  auch  im  Morolf  vor  (zu  fier  s.  Mor. 
361  anm.).  —  kerne  figürlich  vom  beiden  zuerst  Athis  C114  u.  anm.  —  Das  später 
(auch  Osw.  AVO)  im  reim  so  beliebte  /'//?  v.  1245  ist  zuerst  bei  den  minuesingem 
seit  Gotfried  von  Xeifen  gebräuclüich ;  im  höfischen  epos  tritt  es  zuerst  bei  Konrad 
von  Würzhui'g  auf,  im  volksepos  ei-st  im  Ecke,  Rosengarten,  Wolfdiotrich  und  der 
Yirgiual.  Dem  gegenüber  dürfte  man  sich  für  den  Orendel  auf  die  ganz  vereinzelte 
bibelglosse  des  10.  Jahrhunderts  bei  Graff  finlicho  tenere  sicherlich  nicht  berufen. 
Auch  eben  420.  1603  bildet  einen  in  später  zeit  beliebten  flickreim,  hüsere  ist  zuerst 
beim  Winsbeken,  Reinmar  von  Zweter  und  jüngeren  spruchdichtern ,  in  der  epik 
zuerst  im  W'olfdietrich  D  nachgewiesen  (Z.  f.  d.  a.  6,  387).  rilxgehüre  v.  930  ist 
erst  seit  der  zweiten  hälfte  des  13.  Jahrhunderts  belegt,  über  art,  morgcngähcn  s. 
Berger  z.  3256.  198.  Das  erst  aus  dem  15.  Jahrhundert  bezeugte  uagelnüwe  hätte 
Berger  nicht  v.  753  aus  D  in  den  text  setzen  sollen,  ebensowenig  wie  das  nicht  ältere 
buolschaft  2429  und  lieben  =  m innen  1888,  worüber  weiter  unten. 

Also  auch  hier  fehlt  es  ebensowenig  wie  im  iuhalte  und  in  den  reimen  der 
dic-htung  an  merkmalen,  welche  über  das  12.  Jahrhundert  hinaus  weisen,  und  es 
erhebt  sich  immer  wider  die  für  die  Zeitbestimmung  des  Originals  vor  allem  wichtige 
frage,  in  wie  weit  uns  denn  dieses  in  der  vorliegenden  Überlieferung  überhaupt  noch 
erhalten  ist.  Berger  meint,  das  original  sei  in  der  Morolfstrophe  verfasst  gewesen, 
und  diese  sei  erst  in  U,  also  erst  in  der  nächsten  vorläge  von  D  und  H  beseitigt 
worden.  Er  dehnt  dabei  den  begriff  der  Morolfstrophe  dahin  aus,  dass  er  unter  dieser 
,jede  fünfzeilige  Strophe  mit  einer  waise  innerhalb  des  zweiten  reimpaares"  versteht, 
ohne  rücksicht  auf  stumpfen  oder  klingenden  versausgang.  Er  hätte  sogar  die  gren- 
zen noch  weiter  ziehen  müssen;  denn  da  bei  einem  drittel  der  fünfzeihgen  Strophen, 
die  er  aus  dem  Orendel  nachweist,  der  zwischen  dem  lezten  reimpaar  stehende  vers 
mitreimt,  so  kann  man  nicht  behaupten,  dass  dieser  eine  waise  sein  müsse.  Will  man 
auf  diese  veränderliche  metrische  form  jene  benennung  übertragen,  so  habe  ich  nichts 
dagegen,  wenn  man  nur  nicht  behauptet,  dass  diese  „Morolfstrophe"  die  strophe  des 
Morolf  sei.  Derartiger  freierer  füufzeiHgcr  Strophen  weist  nun  Berger  aus  den  fast 
4000  versen  des  Orendel  im  ganzen  17  nach.  Es  kommen  einige  fälle  hinzu,  in 
denen  eine  langzeile  mit  dreihebigem  schlussteil  statt  der  4.  und  5.  zeile  steht.  In 
andern  fällen  findet  sich  die  waise  auch  an  anderer  stelle,  auch  ausserhalb  der  strophe 
oder  des  reimpaares;  weitaus  am  häufigsten  aber  ist  sie  spurlos  verschwunden.  Sehr 
oft  ist  es  auch  unmöglich,  zwei  reimpaare  zu  einer  strophischen  gruppe  zusammen- 
zufassen: die  konstruktion  erstreckt  sich  über  einen  solchen  komplex  hinaus;  oder, 
wenn  man  zwei  reimpaare  als  eine  strophe  auffasst,  so  bleibt  em  drittes  isoliert  usw. 
Hält  man  nun  trotz  alledem  an  der  grundlage  in  fünfzeiligen  Strophen  fest,  so  ergibt 
sich  als  notwendige  folge  die  annähme ,  dass  die  form  des  alten  gedichtes  schon  in  U 
eine  ganz  durchgreifende  wandelung  erfahren  hat,  bei  welcher  unbedingt  auch  die 
reime  die  weitestgehenden  Veränderungen  erleiden  musten.  Mithin  würden  auch  die 
reime  des  uns  aUein  erreichbaren  U  unmöglich  ein  ii'gend  zuverlässiges  bild  von  der 
reimkimst  des  Originals  geben  können,  und  eine  auf  sie  gegi'ündete  Zeitbestimmung 
des  lezteren  würde  alle  Sicherheit  verHeren,  sobald  es  sich  dabei  nicht  etwa  um  einzelne 
bestimte  altertümlichkeiten,  sondern  um  die  reimkunst  als  ganzes  handelt.  Nun 
glaube  ich  zwar,  dass  die  in  der  überlieferten  dichtung  vorliegenden  merkmale  zur 
Voraussetzung  der   grundform    in   fünfzeiligen   Strophen  keineswegs  genügend  berech- 


ÜBER  ORFNDEL  ED.  BKRGER  487 

tigon.  Die  zahl  der  belege  ist  viel  zu  gering;  das  häufige  vorkommen  von  ^waisen", 
welche  sich  in  die  strophische  form  nicht  eingliedern  lassen,  spricht  vielmehr  gegen 
als  für  jene  annähme;  auf  die  analogie  des  dem  Orendel  sonst  so  nahe  stehenden 
Morolf  darf  man  sich  nicht  berufen,  doim  d'w  borührungcn  zwischen  Nibelungen  und 
Klage,  zwischen  Dietrichs  flucht  und  Kabensclilacht  sind  noch  nähere  und  doch  sind 
die  einen  in  Strophen,  die  anderen  in  roimpaiiren  verfasst.  Die  vom  höfischen 
gebrauch  erheblich  abweichende  gliedcrung  der  reimpaaro  erklärt  sich  hier  und 
anderswo  ausreichend  in  der  Lit.  cbl.  1876  s.  1371  angedeuteten  weise.  Aber  das 
unterliegt  auch  für  mich  keinem  zweifei,  dass  die  Überlieferung  des  Grendel  selir 
erhebliche  Wandlungen  erfahren  hat,  viel  erheblichere  als  die  dos  Morolf.  Eine 
solche  unentwirbare  confusion,  wie  sie  beispielsweise  am  Schlüsse  des  gedichtes 
herscht,  wo  Duiian  die  Bride  in  einem  atem  verrät  und  errettet  (3785  fgg.),  wo  in 
der  rede  des  pilgers  die  parallelmotive  Brides  gefangenschaft  bei  Minolt  und  Brides 
gefangenschaft  zu  Jerusalem  mit  einander  vermischt  werden  (3286  fgg.)-  fenier  zahl- 
reiche sonstige  Verwirrungen,  Verstümmelungen,  versversetzungen ,  wie  Berger  sie 
mehrfach  nachgewiesen  hat  —  das  alles  im  zusammenhange  weiss  ich  mir  nicht 
anders  zu  erklären,  als  durch  die  annähme,  dass  die  dichtung  zwischen  und  neben 
den  schriftlichen  aufzcichnungen  auch  mündlich  sich  fortpflanzte.  Ein  solches  neben- 
einander von  schriftlicher  und  gedächtnismässiger  Überlieferung  der  spielmannscpik 
wird  uns  im  eiugange  des  Wolfdietrich  C  ausdrücklich  bezeugt  durch  die  köstlicii 
anschauliche  erzählung,  wie  die  schöne  äbtissin  zwei  meister  das  Wolfdietrichbuch 
auswendig  lernen  lässt,  die  dann  dui'ch  alle  laude  hin  das  gedieht  singen  und  sagen. 
Und  entsprechende  Verhältnisse  dauern  ja  unter  den  geistigen  nachkommen  der  spiel- 
leute,  unter  den  puppenspielern  bis  auf  unsere  zeit  fort. 

So  erklärt  es  sich  denn  auch,  dass  altes  und  junges  in  einer  solchen  dichtung 
zu  einer  nie  ganz  wider  aufzulösenden  mischung  verfliesst,  dass  neben  formein  und 
reimen,  welche  nachweislich  aus  dem  12.  Jahrhundert  stammen,  sprachformen  und 
inhaltliche  beziehungen  sich  finden,  welche  auf  eine  spätere  zeit  weisen.  Eine 
bestimte  datierung  des  Originals  wird  danach  nicht  möglich  sein.  Aber  die  gattung, 
der  dasselbe  angehört,  wird  sich  gegen  ende  des  12.  Jahrhunderts  ausgebildet  haben, 
als  in  Westdeutschland  der  ältere  typus  epischer  erzählung  bei  der  französierenden 
richtung  der  höheren  stände  nur  von  volkssängern  niederster  aii;  noch  gepflegt  und 
nach  dem  geschmack  ihres  publikums  fortgebildet  wurde.  Gewisse  grundanschauungen 
unseres  gedichtes  passen,  wie  wir  sahen,  in  diese  zeit  hinein;  was  sich  an  altertüm- 
lichkeiten findet,  lässt  sich  mit  ihr  bei  einer  dichtung  dieser  art  gut  vereinigen.  Das 
werk  höher  hinauf  zu  rücken  liegt  durchaus  kein  grund  vor. 

Mit  so  unüberwindlichen  Schwierigkeiten  also  die  Grendelkritik  auch  zu  kämpfen 
hat,  an  einzelnen  stellen  scheint  doch  noch  die  naht  zwischen  älteren  und  jüngeren 
bestandteilen  crkenbar  zu  sein.  Dass  die  verse  650/65  ein  einschiebsei  seien,  hatte 
ich  Lbl  1880  s.  443  bemerkt,  und  auch  Berger  bezeichnet  sie  als  solches.  Wie  ich 
aber  dort  andeutete,  hängen  mit  dieser  stelle  andere  zusammen,  welche  derselben 
Überlieferungsschicht  zugewiesen  werden  müssen.  Es  wird  in  jenen  versen  erzählt, 
dass  Ise  und  sein  weih  dem  Orendel  eine  dreierhose,  grobe  rindslederne  schuhe  und 
einen  schiffermantel  schenken,  während  Grendel  unmittelbar  hinterher  doch  noch 
nackend  ist.  Eben  jene  schuhe  aber  bilden  v.  992  — 1010  den  gegenständ  eines  bur- 
lesken Intermezzos,  welches  die  Schilderung  der  rossbesteigung  in  tolster  weise  unter- 
bricht; die  verse  sind  von  der  ersten  interpolation  nicht  zu  trennen.  Auf  das  geschenk 
der  alten  hose  bezieht  sich   dann   weiter  mit  v.  2229/30  und   2247/8  die  erzählung. 


488  VOGT 

wie  Orendel  der  fischeiin  zimi  dank  füi-  jene  gäbe  einen  zobelmantel  sendet.  Auch 
hier  muss  natiii'lich  die  eine  stelle  zusatz  sein,  sobald  man  die  andere  als  solchen 
auffasst.  Sie  biingt  denn  auch  einen  ganz  wunderlichen  Widerspruch  in  die  erzäh- 
lung.  Ise,  der  von  der  Bride  lösegeld  für  seinen  knecht  Orendel  erhalten  hat,  geht 
—  so  wird  hier  berichtet  —  zu  diesem  imd  teilt  ihm  mit,  dass  er  frei  sei.  Orendel 
ist  hocherfreut  daiüber  und  gibt  ihm  den  erwähnten  mantel;  Ise  fährt  von  dannen 
und  ^^ird  daheim  von  seiner  frau  empfangen.  Und  unmittelbar  hinterher  geht  Oren- 
del zur  Bride,  um  ihr  mitzuteilen,  dass  er  mit  Ise  als  dessen  knecht  übers  meer 
gehen  müsse!  Der  interpolator  ist  hier  nicht  minder  gleichgiltig  gegen  den  Zusam- 
menhang wie  an  der  zuei-st  besprochenen  stelle.  Die  grenzen  seines  Zusatzes  sind 
noch  in  den  gleichlautenden  versen  2207/8.  2231/2  zu  erkennen:  auf  2208  folgien 
ursprünglich  2233/4  mit  der  in  D  noch  richtig  erlialtenen  lesart  künigin  statt  kimig. 
Die  verse  2235/48  rühren  dann  natürlich,  wie  angedeutet,  von  derselben  band  her. 
Nach  der  ursprünglichen  darstellung  wüste  also  Orendel  nichts  von  Ises  abfin- 
dung,  und  so  konte  der  Verfasser  die  aus  der  queUe  übernommene  erzählung  von 
derselben  (vgl.  Berger  s.  LXXIII)  v.  2249  fgg.  mit  seinem  auf  eigener  erfindung  beru- 
henden berichte  von  Orendels  absieht  mit  Ise  fortzugehen,  Ises  rückberufung ,  seiner 
belehnung  usw.  fortsetzen,  ungeschickt  freilich,  aber  doch  nicht  mit  einem  unsinnigen 
und  unerkläi-baren  Widerspruche,  wie  er  ohne  die  annähme  der  interpolation  ihm  zur 
last  gelegt  werden  müste.  —  Auch  hier  ist  wider  von  des  fischers  frau  die  rede; 
und  merkwüi'digerweise  kommen  nun  überhaupt  an  allen  stellen,  wo  diese  persön- 
lichkeit eine  roUe  spielt,  Widersprüche  in  die  erzählimg.  Die  Schilderung  von  Ises 
herhcher  bürg  589  fgg.  lässt  sich,  wie  Berger  zweifellos  richtig  bemerkt,  mit  dem 
sonstigen  auftreten  Ises  nicht  vereinigen.  Sie  leitet  aber  das  erste  erscheinen  der 
fischerin  ein.  Der  ganze  abschnitt  ist  auch  hier  wider  durch  zwei  wenigstens  im 
reime  gleichlautende  verse  begrenzt:  628  würde  sich  gut  an  587  anschliessen ,  und 
damit  würde  sowol  jener  Widerspruch  als  auch  die  roUe  der  fischerin  fortfallen.  — 
Nach  der  schon  besprochenen  unsinnigen  interpolation  650/65  tritt  Ises  weib  zunächst 
wider  bei  Orendels  abschied  von  den  fischerleuten  auf,  756/85.  Auch  hier  ist  ihre 
einfühnmg  gleich  %vider  mit  einem  bereits  von  Berger  bemerkten  Widerspruche  ver- 
bunden: unmittelbar  nachdem  Orendel  den  grauen  rock  dem  Ise  für  die  verlangie 
summe  abgekauft  hat,  sagt  dieser:  „du  solst  den  rock  verdienen  um  mich  und 
deine  meisterin.-  Das  weib  beschenkt  darauf  den  Orendel  mit  3  gülden  und  eben- 
dies  geld  opfert  denn  auch  nach  einer  nur  in  P  überlieferten,  aber  von  Berger  der 
vorläge  zugewiesenen  stelle  (hinter  v.  825)  Orendel  am  h.  grabe.  Unmittelbar  vor- 
her aber  (v.  816)  hat  Orendel  ausdrücklich  gesagt,  dass  er  gar  nichts  anderes  zu 
opfern  hat  als  seinen  leib  und  seine  seele!  Auch  hier  ist  also  wider  die  hand  jenes 
zudichters  zu  erkennen,  in  jener  nur  in  P  erhaltenen  stelle  sowol  wie  in  den  versen 
756/85.  Als  Orendel  den  lange  begehrten  rock  endlieh  erhalten  hat  (750/5),  macht 
er  sich  nach  der  ursprünglichen  dai'stellung  von  dannen  (786),  und  niemand  konte 
ihm  folgen  789:  ursprünglich  wol  wegen  einer  wunderbaren  eigenschaft  des  grau- 
lockes,  während  es  jezt  so  aussieht  als  wäre  vom  mangel  des  gefolges  die  rede.  — 
Somit  hätte  sich  denn  die  ganze  rolle  der  in  den  übrigen  teüen  der  erzählung  nicht 
erwähnten  fischerin  als  spätere  erfindung  erwiesen. 

Zur  annähme  einer  interpolation  könte  man  sich  leicht  bei  der  erzählung  von 
der  abreise  Orendels  von  Trier  v.  335  fgg.  veranlasst  fühlen.  Die  schiffe  werden 
bereit  gemacht,  mit  speise  und  trank  reichlich  beladen;  sie  fahren  die  Mosel  und 
den  Rhein  abwärts  bis  an  das  Weteiische  meer  —   da  werden  die  schiffe  mit  speise 


ÜBER  ORENDEL  ED.  BERGER  489 

und  trank  beladen,  die  herren  gehen  auf  die  schiffe  usw.  Mit  dem  wilden  wäge, 
zu  welchem  sich  Oreudel  v.  334  begibt,  wird  der  dichter  sicher  nicht  die  Mosel, 
sondern  ebensogut  wie  v.  250  das  meer  gemeint  haben,  und  zwar  das  "Weterische 
meer,  an  welchem  denn  auch  nach  der  v.  244  —  50  gegebenen  darstellung  die  72  schiffe 
für  die  fahrt  bereitet  wurden.  Und  so  läge  es  denn  nahe  v.  334  gleich  mit  v.  349 
zu  verbinden:  dö  kerte  er  gegen  dem  ivilden  nage  an  dax  Wcterischc  jner  usw. 
Aber  es  ist  sehr  wol  möglich,  dass  der  dazwischen  liegende  bericht  über  die  art 
und  weise,  wie  das  beer  zum  moere  kam  als  nähere  ausführung  des  v.  334  vom 
dichter  selbst  herrührt.  Mit  den  hier  erwähnten  schiffen  worden  kleinere  flussfalir- 
zeuge  gemeint  sein,  von  denen  sich  die  reisenden  v.  351  auf  die  Seeschiffe  begeben. 
Die  arken  v.  341  mögen  eine  art  prahm  bedeuten  oder  in  harken  zu  ändern  sein: 
die  am  ufer  angeketteten  flussschiffe  w^erden  gelöst. 

Gewiss  mit  recht  hat  Berger  v.  1315y'26  als  einschiebsei  bezeichnet.  Es  schei- 
nen hier  verworrene  remiuisccnzeu  an  eine  ausführlichere  darstellung  des  kampfes 
in  den  kui'zen  bericht  der  handschrift  auf  das  ungeschickteste  eingeschoben  zu  sein. 
Anfang  und  ende  des  Zusatzes  ist  auch  hier  wieder  durch  einen  gleichlautenden  vers 
begrenzt.  Auch  Bergers  Vermutung,  dass  der  eingang  bis  v.  18  späteren  Ursprunges 
sei,  pflichte  ich  bei  und  meine,  dass  v.  13 — 18  als  erklärender  zusatz  hinter  v.  35 
beabsichtigt  waren.  Aber  ich  will  nicht  weiter  den  teilweise  noch  erkenbaren,  teil- 
weise verwischten  spuren  verschiedener  schichten  in  dieser  mit  der  zeit  stark  Vfi'- 
änderten  und  verderbten  dichtung  nachgehen  und  nur  noch  einige  einzelbemerkungen 
zu  Bergers  textherstellung  hinzufügen. 

Berger  bemerkt  s.  XI  ganz  richtig,  dass  D  das  wort  minne  durch  liehe  ersezt, 
was  meist  eine  grössere  änderung  des  textes  nach  sich  zog,  und  er  folgt  daher  mit 
recht  V.  196.  924.  1807  der  handschiift,  welche  das  wort  beibehält.  Aber  es  ist  nicht 
minder  klar,  dass  an  anderen  stellen  sowol  D  als  auch  H,  jedes  auf  seine  weise, 
das  jener  zeit  schon  austössige  wort  (vgl.  Haupt  z.  Engelhard  977;  Milchsack  Paul- 
Braune  5,  288)  beseitigte,  und  es  war  daher  auch  dort  minne  herzustellen.  Also  wenn 
V.  924  im  anschluss  an  H  gelesen  wird  icax  ich  da  mit  gewinne  dax  gih  ich  iuch 
gern  %uo  7ninne  so  muste  v.  894  dasselbe  reimpaar  (nur  mit  im  und  al  st.  iuch 
und  gern)  hergestelt  werden  aus  tvas  ich  da  mit  gewinne  {geivunne  D)  das  geh  ich 
im  alles  von  mynen  {xu  lone  D)  HD.  —  Vers  1888,  wo  es  sich  lun  die  gi'ausame 
drohung  eines  riesen  gegen  Orendel  und  Biide  handelt,  lässt  Berger  den  bösewicht 
doch  gewiss  nicht  passend  mit  D  sagen  froiav  Briden  wil  ich  von  herxen  lieben! 
H  überliefert  /".  B.  w.  i.  haben  xu  eigen.  Die  mit  recht  aus  P  aufgenommene 
immittelbar  vohergehende  zeile  lautet  tcill  ich  al  verhrennen;  natürlich  folgte  darauf 
f.  B.  ivil  ich  minnen,  und  der  von  D  beziehungsweise  H  je  nach  dem  bedarf  ihres 
reimwortes  hinzugefügte  vers  da  mag  mich  niemant  von  trihen  D,  das  ivill  ich  dem, 
grau-en  roc  xeigen  H  wai*  zu  sti-eichen.  —  Ferner  liest  Berger  mit  D  v.  2429  nun 
solt  ir  mich  buolschaft  (!)  mit  iuch  läxeii  gewinnen,  v.  3227  nu  soUent  ir  mich 
iur  liebe  laxen  geiv innen,  v.  3806  nu  sollent  ir  mich  iur  hulde  laxen  gewinnen. 
H  schi-eibt  an  den  di"ei  stellen  ich  musx  fruntsclmfft  mit  uch  heginnen,  ir  sidlent  imd 
nu  süllent  ir  frilntschafft  mit  mir  heginnen.  Überall  folgt  e  dax  ir  komet  von 
hinnen.  Es  ist  doch  klar,  dass  hier  überall  ein  und  dieselbe  fonnel  nu  solt  ir 
mich  minnen  zu  gTunde  lag.  —  Und  ebenso  ist  v.  3454/5  zu  lesen  der  künig  wil 
si  xwingen  dax  si  in  solle  minnen  st.  dax  si  in  solle  lieh  gewinnen  (so  Berger 
nach  D)    bezw.    xu   wunderliclien    dingen  (Hj. 


490  VOGT 

V.  228  lies  opfern  dem  heiligen  grab  unser s  heren  wie  in  derselben  for- 
mel  267.  —  T.  232  ist  natürlich  das  in  D  ganz  lichtig  überliefeiie  die  sckoe?ien 
st.  die  sehfvne  in  den  text  zu  setzen.  —  Die  Umstellung  der  verse  407  — 12  halte 
ich  nicht  für  notwendig,  wenn  sie  sich  auch  au  P  anlehnt  (vgl.  Berger  s.  XIV  fg.); 
die  aufeinanderfolge  der  verse  401/4  ist  doch  unerfräglich.  —  V.  458  doch  gewiss 
besser  nach  H  also  sirinde.  —  507  ursprünglich  drl  tage  lange?  —  666  warum 
nicht  dannoeh?  —  973  u.  ö.  würde  ich  unbedenklich  niit  Ettmüller  ein  heim 
iras  irol  gebonget  (gepoutret  D,  geloubet  H)  in  den  text  gesezt  haben.  Der 
bildung  eines  solchen  verbums  aus  baue  helmspange  (Gudr.  519.  3.  1423,  3)  steht 
natürlich  nichts  im  wege.  Da  aber  das  wert  sonst  nicht  gebräuchlich  und  auch 
hone  nach  1300  nicht  mehr  vorzukommen  scheint,  so  erklärt  sich  die  konsequente 
änderung  in  der  Überlieferung  zur  genüge.  —  V.  1205  ist  ohne  giimd  umgestelt. 
D  H  lautete  (1202)  der  rise  kam  dö  mit  flixe.  sin  gedeeke  ivas  von  Silber  ivtxe 
und  gieng  dem  helfant  üf  den  fuox,  so  man  doch  den  risen  brisen  muox. 
Davon  hätte  sicherlich  der  erste  so  gut  wie  der  von  Berger  ausgeschiedene  lezte  vers 
als  interj)olation  bezeichnet  zu  werden  verdient,  und  im  original  reimte  dann  tctxe : 
fiiexe.  —  1284  st.  mir  lies  min,  wie  ja  D  ganz  richtig  überliefert.  —  1299  wol  da 
boicent  si  ein  geriute,  da  erner  ...  —  1405:  die  Zeitangabe  einen  sumertag  D  ist 
richtig,  wie  aus  dem  gestern  1474  hervorgeht.  —  1446  lies  nekeiner  slahte  man.  — 
1509:  näher  liegt  nü  se  mcere  wigant.  —  1587:  in  Übereinstimmung  mit  1963  und 
2712  muste  auch  hier,  avo  ja  noch  dazu  H  wesentlich  so  überliefert,  in  dem  gräwen 
roc  teil  ich  ex  üfgeben  gelesen  werden.  —  1632:  waiTim  denn  das  richtig  überlieferte 
md.  sas  {:  tca^s)  hier  durch  sahs  ersetzen?  —  1637  war  es  nicht  nötig  hin  D  in 
yiim  (nach  P)  zu  ändern,  in  dine  kunt  kann  mit  se  verbunden  werden.  —  1661  war 
rierxehen  hundert  aus  H  aufzunehmen,  vgl.  v.  1543.  1564.  —  V.  1788  muste  ent- 
weder baften  oder  jungfrouwe  geschrieben  werden.  Nach  v.  d.  Hagen  hätte  auch  D 
batten  und  froutcen.  —  1874  führt  die  überlief ei-ung  auf  die  schwache  form,  die 
doch  hier,  im  vokativ,  ganz  angemessen  ist.  —  1878  1.  dar  st.  das  (di-uckfehler).  — 
1940/1 :  hier  %vird  wol  noch  in  U  die  alte  formel  gestanden  haben  si  sicuoren  itn 
triuw  und  eide  die  liexen  si  alle  meine,  während  dieselbe  2530  schon  in  U  geändert 
war;  vgl.  Rother  B.  823  des  swören  sie  ime  eide  die  liexen  sie  immeine  (so  viel- 
leicht ursprünglich  auch  Orendel  2510.  2520_),  und  mit  beseitigung  des  alten  reimes 
Dfl.  7184  drj  sunor  auch  im  der  balde  drixec  eide  an  der  ztt,  die  He  er  alle  meine 
Sit.  —  2496  7iun  müex  uns  {euch  D)  niemer  leider  {layd  D)  gesehen  denne  oneister 
Isen  geschach  do  er  si  bede  körnen  sach.  Wanmi  Berger  hier  eine  Verderbnis  annimt 
und  die  ganz  richtig  überlieferte  hübsche  wendung  durch  eine  an  P  angelehnte 
nüchterne  Übertragung  ins  positive  ersezt,  verstehe  ich  nicht.  —  2590:  die  Überlie- 
ferung führt  doch  eher  auf  nit  wise  getan.  —  3148/9  soll  wol  heissen:  sie  glaubten, 
dass  Bride  Orendels  weib  sei,  während  sie  ja  tatsächlich  nicht  sin  wip  wart.  — 
3173  mannen:  die  schwache  form  erst  seit  dem  14.  Jahrhundert  belegt.  —  3647 
und  3653  muste  nach  einl.  XXXVII  turteltüb  st.  turteltoub  geschrieben  werden.  — 
Gegen  die  Schreibung  Jerusalem  vgl.  Morolf  1,  1  anm.  AVie  dort  das  erste  e  so  ist 
in  Babilofiie,  welches  formelhaft  auf  konige  menige  reimt,  gewiss  das  o  als  kürze 
anzusetzen.  —  Von  dem  bestreben  waisen  herzustellen  hat  Berger  seinen  text  hin 
nnd  wider  zu  sehr  beeinflussen  lassen,  z.  b.  wenn  er  2383  von  einem  in  D  überlie- 
ferten, in  H  fehlenden  reimpaare  nur  den  einen  vers  aufnimt,  denn  auf  ein  reimpaar 
weist  hier  auch  P  {wenden :  brengen)  vgl.  s.  XLIX,  Aber  das  sind  ausnahmen.  Im 
ganzen  ist  der  text  mit  anerkennenswerter  besonnenheit  und  vorsieht  hergestelt. 


ÜBER  ORENT)EL  ED.  BERGER  491 

Reichhaltige,  von  umfassender  belesenheit  zeugende  form elsamlun gen  hat  Bor- 
ger in  den  anmerkungen  neben  mancher  dankonswei-teii  notiz  gegeben.  Zu  v.  73  sei 
bemerkt,  dass  die  fonnel  in  . .  .  den  fjchceren  sam  er  .  .  .  wfprc  schon  im  Ännoliede 
V.  591  begegnet;  vgl.  ferner  En.  1003  und  Behaghols  anm.,  2731.  Über  die  Über- 
tragung auf  lebloses  s.  zu  Mor.  688,  4,  wo  die  wcndung  nach  dem  strophenschoma 
umgemodelt  wird.  —  Zu  136  vgl.  auch  Nib.  C  Zarncke  49,  4  wd  ich  die  müge  nemen 
diu  mir  imt  t/utne  rlche  xe  fromcen  iniiye  xemen  und  ebenda  50,  3  weihe  ir  herre 
möhte  xeinem  icihe  nemen  diu  in  xe  frouwen  tUhte  unt  auch  dem  lande  mähte 
xe??ien.  Zu  den  beispielen  aus  der  höfischen  epik  komt  Erec6198  dax  ich  si  xe  wihe 
neme.  mich  dunkel  da^  si  nol  gexenie  xe  frouwen  über  min  lant.  —  Zu  288  muss 
doch  wol  D  st.  HD  gelesen  werden.  —  Zu  1207  vgl.  Morolf7,  2.  7,  5  Ed.  282,  5. — 
Zu  1402  vgl.  Mor.  755,  3.  5.  —  Zu  1548  und  1842:  sld  ir  din  frouw  Bride?  vgl. 
bist  du  dar  inne  edeler  künig  Princiun?  Mor.  765,  4.  741,  4  und  anmerkung, 
sowie  Reinke  6m  sint  gi  dar  binnen?  Reinke  488.  Überall  wird  mit  dieser  for- 
mel  die  forderung  der  freiwilligen  gestellung  oder  der  auslieferung  eines  übeltätei*s 
eingeleitet.  Schröder  zu  Reinke  a.  a.  o.  hat  daher  unter  vei-weisung  auf  Grimm  weist. 
II,  749  mit  recht  vermutet,  dass  hier  eine  rechtliche  vorladungsfonnel  zu  gründe 
liegt.  —  Zu  1695  vgl.  auch  die  dri  widerkere  durch  dax  her  Nib.  205,  1.  —  Zu 
1893  vgl.  2700,  Mor.  57,  2.—  Zu  2351  vgl.  noch  Kehr.  D  447,  9.  484,  25,  sowie  des 
andern  morgens  fruo  geddhte  Karl  dar  zuo  Stricker  Karl  152,  3;  rein  formelliaft 
besonders  mit  bereiten,  vgl.  des  morgens  vele  free  dö  gereiden  si  sich  dar  toe 
En.  1685,  dar?iäch  des  dirten  morgens  fro  so  bereydend  üch  schnellichen  dar  xö 
Karlm.  29,  12,  an  dem  mitichen  ?)iorgen  fruo  deu  künigin  berait  sich  dar  xuo 
Enenkel,  GA  U,  s.  545,  daz  si  sich  bereiden  dar  xü:  he  icolde  des  morgenes  vril 
Eilh.  3443,  dax  man  sich  da  bereite  zuo :  der  vürste  wolde  morgen  vruo  Mai  81,  20. 
—  Zu  2455  vgl.  auch  Genesis  Fdgr.  11,  41,  32.  70,  21.  —  Zu  2478  vgl.  auch  diu 
tüile  dühte  in  lanc  (:  sjwanc)  Gudr.  112,  2  und  Martins  anm. 

Dem  urteile,  welches  der  Verfasser  in  seiner  alzu  weit  ausblickenden  vorrede 
über  die  bedeutung  seiner  forschungen  und  die  Sicherheit  ihrer  resultate  abgibt,  kann 
ich  nicht  ganz  beipflichten.  Aber  zweifellos  hat  er  durch  seine  ausgäbe  die  grund- 
lage  gelegt,  von  welcher  in  zukunft  die  Orendelforschung  auszugehen  hat,  und  diese 
selbst  ist  durch  seine  Untersuchungen  nicht  unwesentlich  gefördert. 

KIEL.  F.    VOGT. 


Untersuchungen  über  den  satzbau  Luthers  von  dr.  Hermaim  Wunderlich. 
I.  teil:  die  pronomina.  München,  J.  Lindauersche  buchhandlung.  1887.  70 
und  n  selten.    1,50  m. 

Der  Verfasser,  welcher  schon  durch  seine  dissertation:  Beiträge  zur  Syn- 
tax des  Notkerischen  Boethius  (Berlin  188.3)  sich  als  gi-ündhchen  und  eifrigen 
forscher  auf  verschiedenen  gebieten  der  historischen  syntax  bewährt  hatte,  betritt 
mit  der  vorliegenden  arbeit  die  der  aufhellung  noch  sehr  bedürftige  Übergangszeit 
vom  mittelhochdeutschen  ins  neuhochdeutsche.  Er  sezt  bei  dem  höhepunkte  der 
bewegung,  bei  Luther  ein,  um  von  diesem  aus  zunächst  einen  überblick  nach  rückwärts 
und  nach  voi-wärts  zu  gewinnen.  Er  hat  eine  reihe  von  deutschen  briefen  und 
originalwerken  Luthers,  von  der  auslegung  der  busspsalmen  (1517)  und  den 
berühmten  Streitschriften  des  Jahres  1520  an  bis  zu  hervorragenden  Schriften  des 
Jahres  1543  eingehend  und  systematisch  auf  bestirnte  syntaktische  fragen  hin  unter- 


492  EEDMANN,    ÜBER    WUNDERLICH,    LUTHERS    SATZBAT7   I 

sucht,  nicht  selten  aus  reicher  beleseuheit  vergleichende  Seitenblicke  auf  andere 
gleichzeitige  Schriftsteller,  namentlich  Ulrich  von  Hütten  und  Sebastian  Brant 
werfend.  Ton  diesen  arbeiten  veröffentlichte  er  in  dem  oben  angegebenen  hefte  die 
imtersuchimgen  über  den  gebrauch  der  pronomina. 

Dieses  gebiet  ist  eines  der  reizvolsten  der  syntax,  weil  es  in  den  bau  des 
einfachen  satzes  wie  des  Satzgefüges  einblicke  ermöglicht,  weil  syntaktisches  und  lexi- 
kahsches  sich  berühren  und  durchkreuzen,  weil  endlich  auch  durch  die  pronominalen 
adverbia,  welche  zu  conjunctionen  geworden  sind,  sich  weite  ausbhcke  in  viele  ande- 
ren teile  der  syntax  eröfuen.  Aber  eben  aus  diesen  gründen  ist  es  hier  selbst  bei 
lang^N'ierigen  und  mühsamen  Untersuchungen  nicht  immer  möglich,  klare  und  durch- 
schlagende resultate  zu  gewinnen,  zumal  da  in  der  nur  almählich  fortschreitenden 
entwicklung  ältere  und  neuere  redeweisen  sich  durchkreuzen,  da  bei  jeder  fi-age, 
oft  bei  jedem  beispiel,  verschiedene  möglichkeiten  zu  erwägen  sind,  da  endlich  gerade 
beim  pronomen  auch  leicht  individuelle  neigungen  und  ab  weichungen  des  schiiftstel- 
lers  sich  geltend  machen  (vgl.  z.  b.  "Wunderlich  s.  22.  43).  Und  gerade  beim  Satz- 
gefüge, dessen  entwicklung  Wunderlich  besonders  am  herzen  liegt,  wird  man  doch 
bei  Luther  eine  gewisse  unbeholfenheit  imd  ein  schwanken  zwischen  verschiedenen  Vor- 
bildern (auch  dem  der  lateinischen  Schriftsprache!)  oft  nicht  in  abrede  stellen  können. 

Obwol  WunderUch  stets  vorsichtig  zu  werke  geht  und  jedes  beispiel  nach 
allen  selten  abwägt,  ehe  er  es  verwertet,  so  ist  es  ihm  dennoch  gelungen,  bei  vielen 
der  von  ihm  untersuchten  redeweisen  schöne  ergebnisse  zu  gewinnen.  Ich  nenne 
namentlich  die  nachweise  über  die  bei  Luther  vorkommende  oder  in  gewissen  fällen 
nicht  vorkommende  auslassung  des  persönlichen  pronomens  beim  verbum, 
die  sehr  ausführlich  und  mit  scharfsinniger  Unterscheidung  der  verschiedenen  mitwir- 
kenden faktoren  erörtert  ist  s.  11  —  21,  und  an  mehreren  stellen  zur  ergänzung  oder 
berichtigung  des  von  mu'  in  den  „Grundzügen  der  deutschen  syntax '^  darüber  gesagten 
dienen  kann.  Ferner  hebe  ich  heiTor  die  lehrreichen  erörterungen  über  das  pleona- 
stische  er,  es  (nominativ,  aecusativ,  genetiv);  der,  das  s.  27.  29.  31,  sowie  die  belege 
für  die  verschiedenen  formen  der  relativverbindung  s.  35  fgg.,  unter  denen  die 
s.  45  gegebenen  beispiele  von  anfügimg  des  nebensatzes  ohne  eigenes  pronomen  oder 
adverb,  so\ne  s.  48  fg.  die  besprechung  der  relativsätze  in  erster  oder  zweiter  person 
besonders  dankenswert  ist.  Euer  wie  an  einigen  anderen  stellen  ist  auch  die  frage 
nach  latinismen  in  Luthers  spräche  mit  recht  benicksichtigt.  Dui'ch weg  sind  Wun- 
derlichs nachweise  und  erörterungen  belehrend  und  anregend;  auf  eine  zahlenstatistik, 
die  bei  dem  verschiedenen  Charakter  jedes  einzelnen  falles  leicht  mehr  verwirrend 
als  fördernd  wirkt  und  doch  nie  ganz  erschöpfend  sein  kann,  hat  er  nach  meiner 
meinung  ganz  mit  recht  verzichtet.  Aus  drei  gut  ausgewählten  beispielen  kann  man 
oft  mehr  lernen,  als  aus  dreitausend  zusammengehäuften. 

Ich  für  meine  person  bedaure  es  lebhaft,  dass  Wunderlich  seine  übrigen  sam- 
lungen  über  Luthers  syntax  bisher  noch  nicht  veröffentlicht  hat.  Für  den  gebrauch 
der  tempora  und  modi  z.  b. ,  der  ja  für  das  ahd.  und  mlid.  schon  mehrfach  dargestelt 
ist,  müste  die  vergleichung  Luthers  mit  der  älteren  und  der  jüngeren  spräche  lehr- 
reiche und  %-ielleicht  kui-z  darstelbare  resultate  ergeben.  In  dem  in  der  Lausitz 
gekrönten  und  im  Litteraiischen  centi-alblatt  gerühmten  buche  über  die  Schriftsprache 
Luthei-s  von  Franke  (Görlitz  1888)  findet  man  über  den  modusgebrauch  (auch  über 
die  Unterscheidung  von  conj.  präs.  und  conj.  praet.)  kein  wort,  über  den  der  ein- 
fachen tempora  und  der  tempusumschreibungen   einige  unreife  und   dürftige   bemer- 


KETTNER.    ÜBER    MORSCH,    GOETHE   U.    DIE   GRIECH.    BÜHNENDICHTER  493 

kungen,  die  lange  nicht  an  die  durchaus  nicht  veriichtliclien  nachweise  von  Kehre  in 
oder  Yernaleken  heranreichen. 

Gerade  diese  Frauksche  schrift  zeigt  recht  augenfällig,  wie  erwünscht  und  ver- 
dienstlich die  fortführuug  und  Veröffentlichung  von  Wuudcrlichs  syntaktischen  Stu- 
dien ül)er  Luther  sein  würde! 

Inzwischen  hat  AVunderlich  in  semer  Heidelberger  habilitationsschrift:  ^Stein- 
höwel  und  das  Dekameron.  Eine  syntaktische  untei-suchung'*  (1889.  46  Seiten) 
versucht,  „syntaktische  Untersuchungen  in  den  dienst  der  algenieinen  litteratur- 
geschichte  zu  stellen.'*  Da  ihm  die  autoi"Schaft  Stoinhöwels  für  die  deutsche  über- 
setzimg  des  Dekameron  (vgl.  Goedeke,  Grundriss-  XI,  368)  zweifelhaft  ist,  so  ver- 
gleicht er  den  Sprachgebrauch  derselben  mit  dem  in  anderen,  unzweifidliaft  Steinhö- 
welschen  werken  (zu  denen  er  auch  die  von  Goedeke»  1,  346  dem  Niclas  von  AVylc 
zugeschiiebene  Übersetzung  von  Petrarcas  Griseldis  zieht),  um  auf  diesem  wege  eine 
entscheidimg  über  die  autoi-schaft  Steinhöwels  zu  gewiimen.  Da  Wimderlich  diese 
venvickelten  imtersuchungen  noch  nicht  abgeschlossen  hat,  sondern  die  foitsetzung 
in  Herrigs  archiv  veröffentlichen  will,  so  begnüge  ich  mich  hier  mit  dieser  kurzen 
erwähnung  der  arbeit. 

KIEL.  OSKAR   ERDMANN. 

Hans  3Iorseh,   Goethe  und  die  griechischen  bühnendichter.     Programm  der 
kgl.  realschule  zu  Berhn  1888  (progi-.  nr.  90).     55  s.     4*^. 

Nachdem  das  Verhältnis  Goethes  zu  Homer  vor  wenigen  jähren  durch  Otto  Lücke 
und  die  leider  mit  der  italienischen  reise  abbrechende  arbeit  Hermann  Schreyers 
eingehend  dargestelt  ist,  hat  der  Verfasser,  der  schon  1885  Goethes  Stellung  su  Horaz 
(in  den  N.  jbb.  f.  phil.  132,  268  fg.)  in  sachkundiger  weise  geschildeii  hatte,  es  nun 
unternommen,  den  mannigfachen  beziehungen  nachzugehen,  welche  den  dichter  mit 
den  giiechischen  dramatikern  verknüpfen. 

Er  begint  mit  Goethes  auftreten  gegen  AVielands  Alceste,  wobei  er  sehr  sorg- 
fältig überraschende  spuren  einer  dii-ekten,  nicht  bloss  dui'ch  Briunoy  vermittelten 
kentnis  des  Eui'ipides  nachweist;  weniger  glückhch  sucht  er  Goethes  auffassmig  des 
di-amas^  gegen  Seufferf  zu  verfreten,  er  komt  dabei  über  die  von  Goethe  gebrauchten 
argumente  nirgends  hinaus.  —  In  dem  Prometheus  erkent  er  neben  antiken  elemen- 
ten  mit  recht  Weitherstimmung,  er  hätte  noch  bestimter  auf  starke  reminiscenzen 
aus  Ossian  hinweisen  köimen.  Dann  wird  der  einfluss  der  beschäftigung  mit  Aristo- 
phanes  auf  die  Alceste  -  farce ,  den  Satyros  und  die  Yögel  entwickelt.  Mit  einer 
kurzen,  aber  alles  wesentliche  berührenden  Schilderung  der  am  Weimarer  hofe  her- 
schenden,  dui'ch  Wieland,  Herder,  Villoison  genälu-ten  hebhaberei  für  antike  httera- 
tui-  geht  er  zu  den  dramen  des  klassischen  stils  von  Iphigenie  bis  zur  Natürlichen 
tochter  über,  bei  allen,  namentlich  auch  den  fragmenten,  wird  in  erster  linie  die 
ein  Wirkung  antiker  Vorbilder  auf  die  dar  Stellung  bis  in  einzelheiten  sehr  genau 
verfolgt,  stilistische  mittel,  auf  denen  der  eigentümliche  ton  jener  dramen  beruht, 
hen-orgehoben  imd  auf  ihren  urspiimg  zunickgeführf ;  unbefangen  werden  auch  manche 
dishaiTQonien  zwischen  den  antiken  und  modernen  elementcn  in  Inhalt  und  foim  zu- 
gegeben. So  hat  der  Verfasser  es  auch  verstanden,  zur  erklärung  der  Iphigenie 
mancherlei  neues  beizubiingen ,  indem  er  die  abgedroschene  vergleichung  derselben 
mit  dem  gleichnamigen  stück  des  Euripides  bei  Seite  liess  und  einmal  ilir  Verhältnis 
zum  antiken  drama  überhaupt  ins  äuge  fasst.  —  Kürzer  behandelt  der  Verfasser  die 
1)  Inzwischen  hat  darüber  auch  gesprochen  v.  Wilamowitz ,  Einleitung  in  die  attische  tragoedie 
(Eurip.  Herakles  Ij ,  Berlin  1889 ,  s.  234. 


494  BREMER 

weiteren  beziehimgen  Goethes  zu  dem  leztcreu,  die  neuen  durch  Schiller  und  vor 
allem  dui'ch  Gottfried  Hennann  gegebenen  anregmigen,  die  symbolisierenden  dramen, 
die  reconstiniction  des  Phaethon  usw. ,  dagegen  werden  am  .Schlüsse  noch  einmal  sehr 
genau  die  anlehnimgen  der  Helena  au  bestimte  sceneu  und  Situationen  antiker  dra- 
men nachgewiesen.  Auf  Goetlies  Stellung  zur  yuO^aQOc^^  wolte  der  Verfasser  wol  nicht 
eingehen,  weil  sie  mehr  sein  Verhältnis  zu  Aristoteles  berührt. 

Es  steckt  in  der  schrift  des  Verfassers  eine  fülle  von  arbeit;  er  hat  nicht  bloss 
die  werke  Goethes  im  weitesten  umfang  (die  briefwechsel  und  tagebücher  eingeschlos- 
sen) für  seinen  zweck  durchgearbeitet,  sondern  beherscht  auch  die  litteratur  über 
dieselben  in  einer  bei  solchen  abhandlungen  leider  nicht  gewöhnlichen  weise;  ebenso 
zeigt  er  eine  umfassende  belesenheit  im  griechischen  drama. 

SCHULPFORTE.  GUSTAV   KETTNER. 

Indogermanische  praesensbildung  im  germanischen.  Ein  kapitel  verglei- 
chender grammatik  von  Gustav  Burg-hauser.   Leipzig,  Freytag.  1887.   56  ss.  8.  Im. 

Der  1886  ei-schienenen  schiift  des  Verfassers  über  den  indogermanischen  per- 
fektstamm im  gemianischen  ist  eine  solche  über  die  praesensbildung  gefolgt  ^  Auch 
in  dieser  schrift  ist  es  nicht  die  absieht  des  Verfassers  neues  material,  neue  fragen 
den  fachgelehrten  vorzulegen.  "Wenn  Burghauser  sich  auch  „hie  mid  da  in  selbstän- 
digen aufstellungen  versucht''  hat,  so  will  er  doch  iin  ganzen  nur  den  gegenwäitigen 
stand  der  Wissenschaft  in  einer  zusammenfassenden  darstellung  des  gewählten  gegen- 
ständes zui'  anschauiuig  bringen. 

Das  büchlem  eignet  sich  treflich  zum  leitfaden  für  Vorlesungen.  Ich  möchte 
es  Noreens  allerdings  selbständigerem  Utkast  tiU  föreläsningar  i  urgermansk  judlära 
zur  Seite  stellen.  Wenn  ims  noch  eine  reihe  derartiger,  je  ein  hauptkapitel  der  ver- 
gleichenden germ.  grammatik  behandelnder  einzelschrifteu  geschenkt  wird,  so  wird 
ein  künftiger  gelelnier  dieselben  leichtei"  zu  einem  einheithchen ,  nietfesten  werke 
zusammenschweissen  können,  als  dies  dem  dichter  der  Nibelungen  nach  Lachmami 
mit  den  einzelnen  liedera  gelungen  ist.  In  eiinangelmig  einer  ausführlichen  genn. 
gi'ammatik,  die  auf  der  gi-undlage  der  idg.  lU'sprache  die  germanische  Sprachgeschichte 
aufbaut,  ist  ein  deraitiger  ausschnitt  aus  einer  solclien,  wie  er  uns  in  der  schrift  von 
Burghauser  vorhegt,  mit  dank  zu  begiüssen.  Die  darsteUung  ist  streng  sachlich 
gehalten  imd  bietet  eine  gute  Übersicht  über  die  idg.  praesensbildung  im  germa- 
nischen. 

Wui'zelstämme,  reduplizierte  stamme  und  nasalstämme  bilden  das  erste  kapi- 
tel: themavokallose  praesentien.  Die  themavokalischen  werden  eingeteilt  in  solche 
ohne  wurzelerweiteinrng  (e- stufige  imperfektpraesentien  und  tiefstufige  aoristpraesen- 
tien),  in  nasal-,  jod-,  inchoativ-,  ^-praesentien  und  in  kausativa.  Wie  man  aus 
dieser  Inhaltsangabe  sieht,  ist  der  ausgangspunkt  die  idg.  Ursprache.  Die  gennanische 
einteüung  in  starke  und  schwache  Zeitwörter  komt  nicht  zu  ihrem  rechte.  Yom  idg. 
Standpunkte  aus  aber  scheint  mir  bei  den  themavokalischen  Zeitwörtern  doch  die 
Zweiteilung  im  Vordergründe  zu  stehen,  welche  auch  für  das  germanische  recht  wol 
praktisch  zu  verwerten  ist,  in  primäi-e  und  in  sekundäi-e  oder  abgeleitete  Zeitwörter. 
Nach  dieser  einteilung  würden  zur  lezteren  klasse  bei  Burghauser  freilich  nur  die 
kausativa  auf  idg.  -ejö  gehören.  Allein  es  gab  im  idg.  nicht  nui-  denominativa  von 
e-  o-stämmen  auf  -ejö,  sondern  auch  solche  von  a-stämmen  auf -a;o,  von  ey^- stam- 
men auf  -gyo  usw.;    es  gab  femer  noch  andi'e,    bishe]-  freilich   noch  nicht  genügend 

1)  Neuerdings  erschienen  ist:  Burghauser,  Germ,  nominalflexion ,   Wien  1888. 


ÜBER    BURGHAUSER,    PRAESENSBILDÜNO  495 

aufgeklärte  klassen  sekundärer  Zeitwörter  von  der  idg.  urzeit  her,  z.  b.  eine  sekun- 
däi-e  klasse  nach  dem  paradigma  von  lat.  habere ,  got,  haban.  Burghauser  bespricht 
nui'  die  kausativa  auf  -ejö;  die  allerdings  schwierige  darstellung  der  ülirigen  sekun- 
dären Zeitwörter  fehlt  bis  auf  die  s.  54  fg.  gemachten  andeutuugen  ganz  und  gar. 
Und  doch  ist  eine  behandlung  dieser  für  die  erkentnis  der  germ.  praescnsbildung 
notwendig.  AMe  wäre  sonst  der  übertritt  von  Zeitwörtern  wie  beben,  xittern  in  die 
schwache  konjugation  zu  erklären,  wenn  ihre  lautg(3setzlich  ererbte,  urspninglich 
starke  flexion  nicht  in  manchen  formen  lautlich  zusammengefallen  wäre  mit  formen 
sekundärer  (germ.  schwacher)  idg.  Zeitwörter  auf  e  und  a':f  Es  wäre  nützlich  gewe- 
sen, wenn  Burghauser  in  jedem  einzelnen  falle,  wie  er  es  z.  b.  s,  11  fg.  und  15  tut, 
den  weg  gezeigt  hätte,  auf  welcliem  ein  idg.  primäres  zeitwort  im  germ.  schwach 
geworden.  Tatsächlich  sind  von  den  idg.  praesensklassen  die  imperfcktpraesontien 
und  die  mit  nasalinfix  die  einzigen,  welche  im  genn.  rein  als  stark  flektiert  erhalten 
sind;  alle  andern  klassen,  auch  die  themavokallosen  folgen  im  germ.  teils  der  star- 
ken, teils  der  schwachen  konjugation;  ja  die  auf  idg.  -ucdhI  sind  sogar  durchweg 
schwach  geworden.  Wünschten  wir  eine  weitgehendere  mcksichtnahme  auf  die  ein- 
teilung  in  starke  und  schwache  Zeitwörter  und  besonders  eine  eingehendere  darstel- 
lung der  idg.  sekundären  Zeitwörter,  so  wüsten  wir  im  übrigen  an  dem  büchlein 
keine  wesentliche  ausstellung  zu  machen.  Wertvoll  ist  es  vor  allem  durch  die 
neueren  htteraturangaben  und  dui'ch  die  reiche  beispielsamlung,  welche  bei  jeder 
praesensklasse  der  kurz  einführenden  darlegung  der  idg.  konjugation  folgt;  die  bei- 
spiele  sind  allen  germ.  sprachen  entnommen.  Von  einzelheiten  möchte  ich  hier  auf 
zwei  punkte  besonders  aufmerksam  machen: 

1.  An  der  auffassung  der  Imperfekt-  imd  aoristpraesentiert  als  gespalten  aus 
einem  einheitlichen,  stamabstufenden  urtj^Dus  (s.  19)  bin  ich  vielleicht  seilest  schuld 
niit  meinem  Paul  und  Braimes  Beitr.  XI,  49  als  idg.  aufgestelten  paradigma  *bl'ro, 
*Urresi.  Um  so  mehr  fühle  ich  mich  verpflichtet  zu  bekennen,  dass  in  dieser 
algemeinheit  meine  aufstellung  jedenfals  eine  irtümliche  gewesen  ist.  Jenes  stam- 
abstufende  paradigma  hat  für  die  imperfektpraesentien  nicht  bestanden  und  ist  einzu- 
schränken auf  die  indische  vierte  und  secliste  klasse,  die  aoristpraesentien.  Neben 
einem  bero,  beresi  bestand  allerdings  das  aus  got.  tekan  und  an.  taka  zu  ei-schlies- 
sende  stamabstufende  idg.  paradigma  *dego,  *dagesi  (Beitr.  XI,  283).  Ob  daneben 
noch  eine  dritte,  tiefstufige  praesensbildung  ohne  stamabstufung  im  idg.  bestanden 
hat,  das  will  ich  hier  unentschieden  lassen.  Die  beispiele  für  die  stamabstufende 
klasse  sind  jedenfals  sehr  zahlreich,  auch  wenn  man  von  der  hierfür  besonders  lehr- 
reichen vergleichung  des  slawischen  und  litauischen  (Leskien,  Archiv  für  slav.  phil.  V, 
497  fgg.)  absieht.  Ich  erinnere  nur  an  lat.  vertö:  vortö,  gr.  Tninio  :  toutio),  aind. 
svedate  :  svidyämi  usw.  Aus  dem  germ.  gehören  hierher:  1)  abulg.  jiera  :  germ. 
faran,  ags.  sicelan  :  ags.  forsiccplan ,  germ.  ktreynan  :  germ.  koman,  an.  hiverfa  : 
an.  horfa,  aind.  kdlpate  :  an.  holfa,  germ.  melkan  :  an.  molka,  germ.  skeldan  : 
ahd.  skaltan,  ht.  zengiu  :  germ.  gangan  :  afrs.  gi(nga\  ags.  swefati  :  an.  sofa,  an. 
drega  :  germ.  dragan,  aschwed.  grceva  (abulg.  grebci)  :  germ.  grabmi,  germ.  tredan  : 
germ.  trodan,  geim.  bregdan  :  ^\a.ng.  Ikbrüd,  (ich  stricke),  germ.  knedan  :  a.n.  knoäa, 
germ.  beogan  :  ags.  bügan,  germ.  kleoban  :  ags.  clüfan,  germ.  kreopan  :  jjlattd.  kru- 
pen,  germ.  breoivan  :  mndl.  bromcen  :  mndl.  brütcen^,  ahd.  niuwan :  ahd.  nü(iv)an, 
germ.  skeoban :  genn.  skiiban,  ahd.  slio^an  :  afrs.  slüta;  got.  tekan  :  an.  taka,    ahd. 

Vgl.  hierzu  genn.  halön :  ahd.  holon,  germ.  nianon :  awfrs.  monia. 


490  BREMER,  l'ber  bueghatjser,  praesensbildtjng 

taen  :  got.  daddjan;  aschwed.  sleka  (<^*slaikan)  :  ahd.  slihhan,  an.  sfreifask  :  an. 
stn'task;  lat.  rüdö  :  germ.  iradan:  gr.  (f  löyio  :  gorm.  bak(k)an.  2)  niit  y- Verstär- 
kung (aind.  IS',  klasse):  germ.  frirkjan  :  germ.  nurkjan.  3)  mit  oder  oline  ^-vei-stär- 
kung:  ahd.  helan  :  germ.  Iinljan,  abulg.  ?neljq  :  germ.  /nalati,  germ.  sicimman  : 
an.  symja,  got.  gairdan  :  germ.  gurdjan,  mhd.  encvrgen  :  ahd.  würgen,  gr.  zfi;- 
x^cu  .-  ags.  hydan,  germ.  ncotan  ;  germ.  nutjan;  ahd.  «;•«;*  ;  germ.  arjan,  germ.  6r«- 
rffl«  .•  amringisch  bräxi,  föhringisch  ^röd*/  braten  (<  germ.  *brapjan  nach  der  ai- 
oder  ö-konjugation);  vgl.  mit  «A- -  Verstärkung  germ.  prcskan  :  an.  prijskja.  4)  mit 
w-vei"stärkung:  aschwed.  spitei-na  :  germ.  sponian,  germ.  rinnan  :  *rimnan  (Sie- 
vers, Beitr.  VIII,  S3  anm.),  ags.  surf  na  n  :  an.  so/)/f/.  Auf  grund  dieses  wechseis 
wei-den  auch  einige  anomale  ablautsverhältnisse  zu  erklären  sein:  ahd.  swVdan  hatte 
urspiünghch  eine  tiefstufige  stamform  *sikl-  neben  sich,  mid  diese  schuf  nach  der 
analogie  von  bugan  :  bcogan  ein  neues  zeitwoii  seodaii. 

2.  Sehr-  wichtig  ist  die  s.  46  gegebene  erklärimg  des  j  in  Zeitwörtern  wie  säen, 
wehen  usw.,  welche  mich  um  so  mehr  erfreut  hat,  als  ich  selbst  im  gegensatz  zu 
meinen  früheren  ausfühmugen  (Paul  u.  Braunes  Beitr.  XI,  54  fgg.)  auf  denselben  gedan- 
ken  gekommen  war.  Nur  darf  man  wol  kaum  diese  erklärung  soweit  veralgemeinem, 
wie  Bm'ghauser  es  tut.  Die  zeitwöiier,  welche  ich  a.a.O.  und  s.  275  fgg.  besprochen 
habe,  zerfallen  in  zwei  von  alters  her  vöUig  getrente  klassen,  deren  Scheidung  vom 
gemi.  aus  nicht  mehr  mit  Sicherheit  möglich  ist.  Als  paradigma  der  einen  klasse 
hat  ahd.  säen  zu  gelten  <;  idg.  *sisenii  (^rjui,),  als  paradigma  der  andern  ahd.  täeti 
<:idg.  dejö;  erstere  hatte  als  idg.  wurzelauslaut  langen  vokal,  leztere  «;  verbaladjek- 
tiv  dort  *sate-,  hier  ^d'Jte-.  Indem  nun  erstere  klasse  im  germ.  sich  der  thema- 
vokalischeu  konjugation  anschloss,  wai*  der  austoss  zur  Vermischung  beider  klassen 
gegeben,  wenn  nach  meiner  annähme,  a.  a.  o.  s.  71,  in  formen  wie  ahd.  säit  sich 
zwischen  ä  und  i  ein  j  lautgesetzlich  entwickelte.  Nach  dem  vorbilde  von  scijif  = 
täjit  schuf  man  sau  im  ahd.  zu  säjii  =  täjii  um.  Yielleicht  —  die  frage  wäre  wol 
der  untei*suchung  wert  —  gab  es  unter  den  hierhergehörigen  Zeitwörtern  noch  eine 
dritte  art  mit  wui'zelauslautendem  u^  etwa  idg.  "" streu-,  und  ^-ieUeicht  ist  hier  der 
ausgangspimkt  für  das  ags.  imd  auch  im  an.  vorauszusetzende  iv  von  ags.  säwan  zu 
suchen.  Noch  natürlicher  würde  der  zusammenfall  der  verschiedenen  klassen  sich 
im  germ.  ergeben,  wenn  unter  den  auf  /  auslautenden  stammen  sich  themavokallose 
befunden  hätten,  weü  daim  die  1.  und  2.  sg.  mit  der  ersten  klasse  schon  in  idg.  zeit 
zusammengefallen  sein  würde,  von  der  reduitlikation  abgesehen;  demi  aus  einem 
*  dkimi,  *d^isi  würde,  wie  idg.  *res  <C  *reis,  "^rem  <i  *reim  (lat.  res,  retri)  zeigen, 
schon  in  idg.  zeit  ""demi,    *desi  geworden   sem^      So  viel  über  die   Zeitwörter  mit 

1)  Der  idg.  schwand  von  i,  u  nach  langem  vokal  vor  bestirnten  konsonanten  kann,  wie  ich 
glaube,  grade  für  die  themavokallose  konjugation,  noch  manche  aufklärung  geben.  So  würde  sich  z.  b, 
iGTÜuc  gegenüber  GTKVoöc.  GTVO)  usw.  erklären  aus  einer  wurzel  *stäu-,  welche  einmal  wie  folgt 
flektiert  worden  wäre,  mit  auslassung  der  rednplikation :  *staumi,  *stäusi,  *stäuti,  dual  und  plu- 
ral  *sfü-'.  Zu  einer  zeit,  in  welcher  * dieum  und  ^ (pum  zu  * diem  und  *gö««  (>^^^,  ;?wv) 
wurden,  sagte  man  auch  * stämi  für  *stäunii,  vmd  nach  dieser  1.  sg.  —  vielleicht  auch  nach  der 
analog  behandelten  3.  sg.  ?  —  konte  man  (besonders  wenn  das  vorbild  der  auf  i  ausgehenden  themavokal- 
losen Stämme  wirkte,  bei  denen  die  1.  und  2.  sg.  der  3.  gegenüberstand)  den  ganzen  sing,  uniformieren 
zii  *stämi,  *stäsi,  *stäti.  Nach  diesem  sing,  wäre  dann  noch  in  idg.  zeit  im  dual  und  plural  a 
für  ü  eingesezt  worden,  weil  man  sonst  zu  ä  die  tiefstufe  a  hatte.  Ausserhalb  des  systemzwanges 
standen  und  erhielten  daher  ihren  ursprünglichen  vokal  aind.  .s^Äwra,  sthävira,  gr.  GTUVoög,  GTVo), 
Grv).og,  ahd.  stouicen,  ahd.  stuxzen,  studen,  ags.  studu,  ahd.  stüda.  In  derselben  weise 
wäre  aufzufassen  das  Verhältnis  von  idg.  *ple-  zu  *pleu-  (Beitr.  XI.  278,  9),  *  Qre-  zu  *  ßreu- 
(278,  12),  *stre-   zu  *  streu-  (280,  18). 


EBDMANN,    ÜBER   EXOPSTOCKS   ODEN   EDD.    MI7NCKER  -  PA"^VEL  497 

"vmrzelhaftem  e.  Diejenigen  mit  idg,  Ci  oder  U  sind  im  genii.  in  derselben  weise  flek- 
tiert worden.  Unter  diesen  befinden  sich  primäre,  wie  an.  roa,  ags.  röwan,  und 
sekundäre,  mit  j  abgeleitete  kausativa  zu  primären  e- stammen,  wie  alul.  inuocn  (zu 
abulg.  sü-meti).  Erstere  werden  im  idg.  themavokallos  flektiert  worden  sein,  wie 
ö'iö'couc;  denn  bei  annalmie  des  gegenteils  würde  z.  b.  die  2.  und  3.  sg.  *röcsi,  *7-öeti 
nach  den  idg.  kontraktionsgesetzen  doch  zu  *rösi,  *röti  geworden  sein  (scheinbar 
unthematische  formen)  und  daher  das  ganze  zeitwort  in  die  unthematische  konjuga- 
tion  hembergezogen  haben.  Für  diese  Zeitwörter  wäre,  nachdem  sie  im  gerni.  the- 
mavokalisch geworden,  lautgeschichtliche  entstehung  des  ags.  ?r  aus  dem  voraufgehen- 
den ö  möglich.  Das  deutsche  j  hätte  seinen  Ursprung  in  den  kausativen  auf  idg.  -eju. 
Auch  können  hier  primäre  idg.  äi-  und  ö2- stamme  vorgelegen  haben. 

STRALSUND,    26.  MÄRZ    1889.  OTTO   BREMER. 


Friedrich  Gottlieb  Klopstocks  öden.  Mit  Unterstützung  dos  Klopstock- 
vereins  zu  Quedlinburg  herausgegeben  von  Franz  31uneker  und  Juro 
Pawel.     Zwei  bände.     Stuttgart,  G.  J.  Göschensche  Verlagshandlung.  1889. 

Vor  etwas  über  zehn  jähren  begann  ein  (auch  in  dieser  Zeitschrift  XI,  371. 
XU,  286.  380  freudig  begrüsster)  neuer  aufschwung  der  Klopstockstudien.  Angeregt 
Jiauptsächlich  diu'ch  Michael  Bernays  sammelten  gleichzeitig  Richard  Hamel  und 
Franz  Muncker  mit  emsigem  fleisse  und  unermüdlichem  eifer  für  die  sache  das  viel- 
fach vei'streute,  teils  noch  niemals  ausgenuzte,  teils  in  Vergessenheit  geratene  mate- 
rial  zur  volständigen  textgeschichte  Söwie  zur  sprachlichen,  metrischen,  litterarhisto- 
rischen  und  ästhetischen  wüi'digimg  der  Klopstockschen  werke;  imd  wenn  auch  nicht 
alle  damals  ausgesprochenen  oder  gehegten  wünsche  vols tändig  erfült  worden  sind, 
namentlich  was  die  übersichthche  Zusammenstellung  aller  späteren  textverändenin- 
gen  im  „Messias'^  und  die  erneuerung  der  prosaschriften  Klopstocks  betiift,  so  ist 
doch  im  verlaufe  dieser  jalu-e  eine  reüie  von  arbeiten  und  ausgaben  entstanden, 
welche  die  wirkliche  kentnis  und  unbefangene  Würdigung  Klopstocks  in  einer  vorher 
nicht  geahnten  weise  ennöglichen.  Eichard  Hamel  liess  den  drei  heften  seiner 
„Klopstockstudien'^  (Eostock  1879.  1880)  die  ausgäbe  der  werke  Klopstocks  in  der 
Deutschen  nationallitteratur  (band  46  —  48,  erschienen  Stuttgart  1883  fgg.)  folgen, 
welche  zwar  nur  eine  auswahl  aus  den  poetischen  werken,  diese  aber  mit  sehr  beleh- 
renden einleitungen  und  mit  knappen,  aber  gehaltvollen  erläuterungen  —  die  drei 
ersten  gesänge  des  ., Messias"  auch  mit  volständiger  angäbe  aller  lesarten  und  die 
„Oden'^  mit  volständiger  Übersicht  der  entstehungs-  and  Veröffentlichungsdaten  —  in 
vorzüglicher  ausstattung  und  mit  guten  illustrationen  dem  gebildeten  puljHkum  dar- 
bot. Franz  Muncker,  welcher  in  seiner  erstlingsschrift  ^Lessings  persönliches  und 
litterarisches  Verhältnis  zu  Klopstock'^  erörtert  hatte  (Frankfurt  a/Main  1880),  gab  im 
11.  hefte  der  „Deutschen  litteraturdenkmale  des  18.  Jahrhunderts"  (Heilbronn  1883) 
einen  genauen  abdruck  der  ersten  drei  gesänge  des  Messias  nach  der  ausgäbe  von 
1748,  mit  einer  einleitung,  die  namentlich  sehr  zahlreiche  und  gut  gnippierte  litte- 
rarische belege  für  die  Wertschätzung  des  „Messias"  und  die  von  ihm  ausgehenden 
geschmacksrichtungan  darbietet.  Im  jähre  1888  vollendete  Muncker  sein  grosses  werk 
„Friedlich  Gottlieb  Eopstock.  Geschichte  seines  lebens  und  seiner  Schriften"  (Stutt- 
gart, G.  J.  Göschensche  buchhandlung) ,  in  welchem  es  ihm  gelungen  ist,  nicht  nur 
den  äusseren  lebensgang  des  dichters  nach  neuer  und  vorsichtig  -  kritischer  durch - 
arbeitung  aller  zugänglichen  quellen  in  sehr  klarer  und  fesselnder  weise   darzustellen, 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.      BD.    XXII.  32 


498  ERDMANN,    ÜBER   KLOPSTOCKS   ODEN   EDD.    AltTNCKER  -  PAWEL 

sondern  auch  alle  werke  Klopstocks  —  mit  eingehender  bezuguahnie  auf  Yorläufer 
und  Zeitgenossen  —  unbefangen  und  mit  alseitiger  erwägung  der  geschichtlichen 
bedingungen  ihres  entstehens  und  wirkeus  zu  wüi'digen.  Schon  fniher  hatte  Erich 
Schmidt  im  39.  hefte  der  ,, Quellen  und  forschungen''  (Strassburg  1880)  die  kontnis 
des  queUenmaterials  zu  Klopstocks  jugendlyrik  erheblich  erweitert;  J.  Pawel  Klop- 
stocks  odeu  aus  der  Leipziger  periode  kritisch  erschöpfend  untei-sucht  ("W'ien  1880), 
sowie  andere  Specialuntersuchungen  und  -ausgaben  veröffentlicht  (vgl.  diese  Zeitschrift 
Xni,  57.  XVII,  341);  0.  Lyon  Goethes  Verhältnis  zu  Klopstock  dargestelt  (Leip- 
zig 1882). 

Diesen  ai'beiten  schliesst  sich  nun  jezt  die  historisch  -  kritische  ausgäbe  sämt- 
licher öden  Klopstocks  an,  zu  welcher  zwei  der  genanten  Klopstockforscher  sich 
freundschafthch  vereinigten,  indem  Pawel  namentlich  die  aufsuchimg  noch  unbekantcr 
handschrifteu  und  einzeldrucke  und  die  konstatierung  abweichender  lesaiien  aus  ihnen 
betrieb,  Muncker  aber  das  ganze  material  sichtete  imd  redigierte,  die  reihenfolge  der 
öden  bestimte  und  die  angaben  über  ihre  entstehimgszeit  und  geschichte  abfasste. 

Die  ausgäbe  enthält  also  den  volstäudigen  abdruck  aller  (235)  öden  Klopstocks 
mit  ausscheidimg  einiger  ihm  flilschlich  beigelegten  (vorwoii;  s.  TU),  jedoch  nicht  die 
gesänge  und  hymnen  aus  dem  XX.  gesange  des  Messias  und  den  dramen;  mit  recht 
hat  es  Muncker  unterlassen,  diese  lyiüschen  stücke  aus  ihrem  zusammenhange  loszu- 
reissen,  obwol  er  z.  b.  bei  der  ode  „Die  gestime^  I,  154  auf  die  ähnhchkeit  (auch 
ganz  gleiche  strophenform!)  derselben  mit  einem  dieser  stücke  aufmerksam  macht. 
Angeordnet  sind  die  einzelnen  öden  streng  nach  der  entstehungszeit;  diese,  ebenso 
wie  alle  von  Klopstock  selbst  veranlassten  drucke  sind  bei  jeder  ode  unten  angegeben, 
wobei  die  ab  weichungen  von  Klopstocks  eigener  ckronologischer  anordnung,  wo  diese 
irtümlich  war,  motiviert  werden  (vgl.  auch  voiTede  I,  s,  \'UI).  Bei  den  öden  „An 
Ebert'^,  -TVingolf^,  „Bardale''  sind  die  ältesten  und  die  jüngsten  fassimgen  wegen 
ihi'er  starken  vei^schiedenheit  volständig  neben  einander  abgedruckt;  bei  allen  übrigen 
bietet  Muncker  den  text  der  ausgäbe  lezter  band,  während  die  abweichungen  der 
von  Klopstock  gebilhgten  ausgaben  (ausser  der  wertlosen  von  1787),  der  Dannstädter 
ausgäbe  von  1771,  der  aufgefundenen  Originalhandschriften  Klopstocks,  der  Gleim- 
schen  abschriften  und  der  von  C.  F.  Gramer  citierten  älteren  lesarten  unter  dem  texte 
aufgeführt  sind.  Durch  diese  emsige  samlung  und  sorgfältige  Sichtung  des  sehr 
umfangi-eichen  materiales  für  die  textkritik  haben  die  herausgeber  sich  ein  grosses 
verdienst  erworben.  Im  eigentlichen  sinne  kritisieren  könte  ihi'e  arbeit  nur  jemand, 
welcher  dieses  material  in  gleichem  masse  beherscht  wie  sie  selbst,  was  ich  von  mir 
nicht  rühmen  kann.  "Wo  ich  aber  in  der  läge  war  eine  nachprüfimg  anstellen  zu  kön- 
nen ,  da  habe  ich  den  jQ.eiss  und  die  Sorgfalt  der  herausgeber  völlig  bewährt  gefunden. 

Die  anmerkungen,  welche  Klopstock  selbst  in  verschiedenen  ausgaben  zu 
seinen  öden  gemacht  hat,  sind  volständig  abgedrackt;  auf  weitere  eiläuterungen 
abgesehen  von  den  schon  erwähnten  chronologischen  angaben  und  erörteiimgen,  haben 
die  herausgeber  gänzlich  verzichtet.  Soweit  diese  enthaltsamkeit  auf  der  scheu  davor 
Ijeruhen  mag,  die  eigene  subjektive  meinung  mit  dem  objektiv  mitgeteilten  textmate- 
rial  zu  vermengen,  begreife  ich  sie  sehr  wol;  eine  dem  bedürfnis  der  meisten  leser 
genügende  erläuterung  der  Klopstockschen  ode  wäre  leicht  ein  besonderes  werk  von 
mindestens  gleichem  umfange  geworden.  Aber  gewiss  wären  alle  leser  den  heraus- 
gebem  noch  dankbarer  gewesen,  wenn  sie  aus  dem  reichen  schätze  ihrer  belesenheit 
in  der  Klopstocklitteratur  wenigstens  hier  und  da  mitteilungen  über  die  entstehungs- 
geschichte,   die  textgestaltung,  die  Würdigung  der  einzelnen  öden  in  knapper  fassung 


WITKOWSKI,    ÜBER    SCHULTZ,    ^^KACUGESKLSCHAFTEN  49!) 

gegeben  hätten.  Ich  meine  z.  h.  solche  angaben,  wie  sie  C.  F.  Gramer  (2,  345)  bei 
der  öde  „Heinrieh  der  Vogler*^  über  die  von  Klopstock  selbst  später  in  abrede  gestalte 
ursprüngliche  bezieh ung  auf  Fi'iedrich  den  Grossen  maclit;  oder  notizen  wie  die  von 
Seumo  („Mein  sommer  1805'',  in  der  Ilonipolschea  ausgäbe  bd.  IV,  158)  über  die 
textgestaltung  eines  verses  in  der  ode  „Die  gestirne."  Derartige  Überlieferungen  sind 
doch  wort  erhalten  zu  werden;  imd  wo  köute  dieses  besser  und  wirksamer  geschehen, 
als  in  der  historisch -kritischen  ausgäbe? 

Doch  fem  sei  es  von  mir,  über  solchen  wünschen  das  grosso  vordienst  ver- 
gessen zu  wollen,  welches  sich  die  herausgeber,  sowie  alle  Hjrderer  ilirer  mühevollen 
arbeit,  durch  diese  ausgäbe  erworben  haben.  Die  bedeutung  der  Klopstockschen 
öden  für  unsere  poesie  hat  Muucker  im  oingange  der  vorrede  gut  und  würdig  clia- 
raktcrisiert;  möchte  „ihre  nie  verwelkende  frische  und  ihre  nie  ermattende  kraft  ■*  in 
dieser  schönen  und  reichhaltigen  ausgäbe  auf  recht  viele  leser  wirken! 

KIEL.  OSKAR   ERDMA-VN. 


Die  bestrebungen  der  sprachgeselschaften  des  XVII.  Jahrhunderts  für 
reinigung  der  deutschen  spräche.  Von  dr.  II.  Schultz.  Göttingen,  Vaii- 
denhoeck  &  Kuprechts  vorlag.   1888.     3  m. 

Die  Sorgfalt  für  die  reinheit  der  muttersprache  ist  seit  emigen  jähren  zu  einer 
öffentlichen  angelegenheit  geworden,  für  die  durcli  eine  überaus  kräftige  agitation 
die  teilnähme  der  weitesten  kreise  erregt  und  wach  gehalten  wii'd.  Es  soll  liier 
nicht  erörtert  werden,  ob  dieser  v/eg  der  richtige  ist,  um  die  wünschenswerte  Säu- 
berung unsrer  spräche  von  einer  auzahl  entbehrlicher  eindringlinge  zu  en-eichen,  es 
sei  nur  dai'auf  hingewiesen,  dass  es  uns  nicht  an  histonschen  beispielcn  fehlt,  wio 
wenig  dilettantischer  eifer  auf  diesem  gebiet  zu  nützen  vermag;  denn  das  siel)zehnto 
Jahrhundert  bietet  in  seinen  bestrebungen  für  die  Sprachreinigung  ein  seitenstück  zu 
der  jetzigen  bewegung.  Offenbar  hat  dieser  umstand  die  anregung  zu  einer  anzahl 
von  arbeiten  über  die  geschichte  der  sprachgeselschaften  gegeben,  die  in  den  lezten 
Jahren  in  rascher  folge  erschienen  sind. 

Die  jüngste  derselben  ist  die  oben  bezeichnete  sckrift  von  Schultz,  die  man- 
ches neue  bringt,  im  ganzen  aber  doch  in  bezug  auf  die  kentnis  der  vorarbeiten  und 
die  ausnützung  des  materials  mängel  aufweist.  Was  soll  man  z.  b.  dazu  sagen, 
dass  der  Verfasser  nicht  einmal  den  titel  von  Buchners  poetik  kennt  (wie  er  s.  38 
selbst  gesteht),  die,  abgesehen  von  sämtlichen  handbüchern,  die  litteratui-geschich- 
ten  fast  ausnahmslos  anführen?  Wie  dürftig  sind  die  als  einleitung  vorausgeschick- 
ten bemerkungen  über  das  eindringen  der  fremdwörter  in  die  deutsche  spräche! 
Selbst  die  am  nächsten  liegenden  ergänzungen  würden  bei  weitem  den  umfang  des 
von  Schultz  angeführten  überschreiten.  Von  wichtigeren  vorarbeiten  bheben  ihm  die 
folgenden  imbekant:  Kluge,  Von  Luther  bis  Lessing;  K.  Dissel,  Die  sprachreinigen- 
den bestrebungen  im  17.  Jahrhundert  (Progr.  Hamb.  1885);  Walter,  Über  den  ein- 
fluss  des  dreissigj ährigen  krieges  auf  die  deutsche  spräche  usw.  (Progr.  Prag.  1871). 
Hätte  Schultz  seine  Vorgänger  gekant,  so  würde  er  wol  kaum  so  leichtfertig  den 
satz  (im  vorwort)  ausgesprochen  haben:  „Das  bisherige  urteü  über  die  sprachbewe- 
gung  des  XVH.  Jahrhunderts,  welches  dieselbe  als  verfehlt,  ja  lächerKch  bezeich- 
nete, wai"  durchaus  falsch,  da  es  sich  nicht  auf  eine  genügende  menge  von  material 
stüzte."     Nicht  die   bewegung  an  sich  war  verfehlt,    sondern  nur  die  mittel,   durch 

32* 


500  WITKOWSKI 

welche  man  ihre  ziele  zu  erreichen  suchte,  waren  ungenügende  und  falsche,  und 
nur  in  dem  urteil  über  diese  nüttel  weicht  Schultzs  meiuung  von  der  seiner  Vor- 
gänger ab. 

Der  Verfasser  steht  von  vom  herein  nicht  auf  dem  Standpunkte  des  leiden- 
schaftslos abwägenden  geschichtschreibers ,  sondern  auf  dem  des  lobredners,  und 
dadurch  komt  er  zu  einem  urteil  über  die  Fruchtbringende  geselschaft  (s.  73  fg.), 
das  von  dem  bisherigen  allerdings  wesentUch  verschieden  ist;  aber  nicht  deshalb, 
weil  Schiütz  auf  neue  und  bedeutendere  lebenszeugnisso  der  geselschaft  hinweisen 
köute,  als  die  fi-üheren,  sondern  nur  weil  er  den  längst  bekanten  übersetzungs-  und 
regelwerken  entgegen  der  geltenden,  wol  begründeten  ansieht  einen  massgebenden 
und  heilsamen  eintluss  auf  ihre  zeit  zuschreibt,  während  wir  doch  durchaus  nichts 
davon  ^^-issen.  dass  sie  ausserhalb  der  geselschaft  und  der  kleinen  gleichstrebenden 
genosseuschaften  irgend  welche  beachtung  gefunden  hätten.  Haben  doch  sogar  die 
ei&igsten  mitgHeder  im  schriftlichen  verkehr,  wo  er  nicht  geselschaftsangelegenheiten 
betraf,  ohne  alle  scheu  ihre  rede  aufs  reichlichste  mit  fremden  werten  durchsezt,  wie 
z.  b.  aus  Krauses  „Urkunden  zur  geschichte  der  Anhaltischen  lande  und  ihrer  für- 
sten"  (Leipzig  1861  —  66)  klar  hervorgeht.  Von  einem  gegenseitigen  anhalten  der 
raitglieder  unter  einander  zum  gebrauch  imvermengter  spräche,  wie  es  Schultz  (s.  65) 
für  wahrscheinlich  hält,  dürften  nur  wenige  beispiele  aufzufinden  sein,  zumal  da  die 
meisten  der  genossen  das  sinbild  des  palmbaums  mehr  für  eine  zierde,  als  für  ein 
mal  ernsthafter  Verpflichtung  ansahen. 

Bartholds  „Geschichte  der  fruchtbringenden  geselschaft"  hat,  trotz  mannig- 
facher irtümer  im  einzelnen,  die  historische  bedeutung  des  bundes  richtig  bestimt 
und  den  grösten  teil  des  Stoffes  verarbeitet.  AVesentliche  ergäuzungen  brachten 
Krauses  Schriften,  von  denen  Schultz  hauptsäclilich  die  lezte,  „Ludwig,  fürst  zu 
Anhalt  -  Köthen"  (Köthen  1877  —  79),  zum  grössten  teil  einen  schlechten  auszug  aus 
den  friiheren,  benuzt  hat.  Er  widerholt  die  darin  enthaltenen  angaben  über  die 
schriftstellerischen  werke  der  geselschaftsmitglieder ,  übergeht  aber  einige  der  wichtig- 
sten, wie  Tobias  Hüebners  „Erste  woche"  (Leipzig  1631).  Die  bemerkungen  über 
Opitzens  Verhältnis  zu  den  „  Fi-uchtbringenden "  und  seinen  einfluss  auf  die  spräche 
sind  dürftig;  recht  merkwürdig  ist  die  ansieht  (s.  31),  dass  Opitz  die  „unglückselige 
alte  mythologie"  eingefühi-t  und  uns  so  eine  ganze  gattung  von  fremd  Wörtern  zuge- 
bmcht  habe.  Bei  der  aufzählung  der  geschichtschreiber  der  Fr.  G.  (s.  71)  hätte  auch 
das  für  seine  zeit  ganz  vortrefliche  buch  von  Otto  Schulz,  „Die  sprachgeselschaften 
des  17.  Jahrhunderts'-  (Berlin  1824)  erwähnt  werden  sollen. 

Von  den  kleineren  genosseuschaften  behandelt  Schultz  zuerst  die  Aufrichtige 
geselschaft  von  der  Tannen  und  vermehrt  die  bisher  bekanten  tatsachen  zur  geschichte 
derselben  beh-ächtlich.  Die  mitglieder  werden  im  einzelnen  ausführlich  dargestelt, 
(eines,  Joh.  Heinrich  Boeder,  ist  allerdings  übergangen),  die  Zugehörigkeit  von  Weckher- 
lin  und  Moscherosch  wird  durch  neue  gmnde  bestätigt.  Ein  weiteres  mitglied  wird 
in  Hans  Heinrich  Schill  der  Tannengeselschaft  zugewiesen,  der  zugleich  als  Verfasser 
der  Schrift  „Der  teutschen  sprach  ehren -krantz"  (Strassburg  1644),  bestimt  wird. 
Aus  diesem  umfangreichen,  von  wanner  Vaterlandsliebe  durchwehten  buche,  das  eine 
Zusammenstellung  des  bis  dahin  gegen  die  sprachmengerei  gesagten  enthält,  gibt 
Schultz  dankenswerte  reichliche  auszüge. 

Bei  der  darstellung  der  „  Deutschgesinten  genossenschaft "  hat  sich  Schultz 
leider  die  gelegenheit.    ein  bild  Zesens   und  seiner  bestrebungen   zu  geben    (wol  die 


ÜBER   SCHULTZ,    Si'RAClIGESELSCHAFTEN  501 

dankbarste  aufgäbe  der  deutschen  litteraturgesdiiclite  des  17.  Jahrhunderts),  entgehen 
lassen.  Unter  den  mitgliedern  fehlt  das  begabteste,  Jacob  Schwiger,  in  Schultzs 
aufzählung.  Die  (s.  103)  angefühiien,  die  sprachniongerei  verspottenden  verse  stam- 
men nicht  von  Butschky,  sondern  aus  Opitzens  „Poeterey'^,  was  zu  erwähnen  gewe- 
sen wäre. 

Unter  die  „gegner  der  genanten  spraehgoselschaften",  die  Schultz  im  folgen- 
den abschnitt  bespricht,  ist  vielleicht  auch  E.  K.  Homburg  zu  rechnen.  Wenigstens 
scheinen  die  verse  aus  dem  „Lob  des  krieges"  (Scliimpff-  vnd  Ernsthaft'te  Klio. 
Jehna  1642.  S.  K4"),  in  denen  er  die  neu  eingeführten  mihtärischen  ausdrücke 
anführt,  nicht  h-onisch  gemeint  zu  sein. 

Die  „Pegnitz-hii'ten-geselschaff^  wird,  entsprechend  ihrer  geringen  teilnähme 
an  der  Sprachreinigung,  nur  kurz  erwähnt,  ebenso  Eists  läppischer  „Eibischer 
schwancnorden",  und  die  übrigen  genossenschaften,  von  denen  wir  nicht  wissen,  ob 
sie  überhaupt  ins  leben  getreten  sind:  der  „Belorbeeiie  tauben -orden",  die  „Teutsch- 
liebende  geselschaft",  der  „Leopolden -orden."  Woi-tvoll  sind  die  Zusammenstellun- 
gen von  Schultz  über  diese  Vereinigungen  deshalb,  weil  sie  zeigen,  wie  das  gi*ündon 
von  sprachgeselschaften  schliesslich  zum  sport  wurde,  den  die  imbedeutendsten  leute 
ZU  treiben  wagten. 

Li  sieben  anhängen  gibt  Schultz  exkurse  zu  seiner  arbeit.  Davon  hätte  der 
über  „die  gestickte  wappen - tapete  im  geselschaftssaale "  (der  Fr.  G.)  und  der  über 
Ratichius  wol  fortbleiben  können,  auch  der  über  Leibniz  gehört  nicht  in  diesen  rah- 
men. Mit  recht  ist  im  anhang  I  die  abhängigkeit  Neumai'ks  von  Hille  betont,  die 
ich  schon  früher  (Diederich  von  dem  Werder.  Leipzig  1887  s.  22)  hervorgehoben 
habe.  Anhang  III  und  V  handeln  über  die  undeutschen  vornamen  und  die  Verdeut- 
schung von  kunstwörtern  (d.h.  termini  technici),  anhang  Vü  endlich  stelt  die  „namen- 
losen'^ (d.h.  keinem  bestirnten  Verfasser  zuw^isbaren)  Schriften  gegen  die  sprachmen- 
gerei  zusammen:  die  „Deutsche  satyre  wider  alle  verderber  der  deutschen  spräche'^, 
die  „Teutschen  Michels"  und  den  „ Sprachverderber. "  Am  schluss  ist  ein  „Blat- 
weiser"  hinzugefügt,  eine  bezeichnung,  die  allerdings  in  die  puristischen  bestre- 
bungen,  denen  das  buch  gewidmet  ist,  zuiückversezt,  an  deren  stelle  aber  doch 
besser  das  gebräuchlichere  und  vor  aUem  sinentsprechendere  „  inhaltsverzeichnis " 
zu  gebrauchen  wäre.  Das  ganze  buch  zeigt,  wie  es  bei  der  vorwaltenden  ten- 
denz  selbstverständlich  ist,  das  streben  nach  absoluter  Sprachreinheit;  dass  diese 
aber  nicht  immer  gleichbedeutend  mit  Sprachschönheit  ist,  sieht  man  aus  bildungen, 
wie  „förmlich"  u.  ähnl.  Auch  sonst  finden  sich  eigentümhchkeiten  des  ausdrucks, 
z.  b.  „beschlagen"  für  „betreffen"  („das  leztere  kann  höchstens  das  äussere  auftre- 
ten des  „Palmordens"  beschlagen"  in  der  vorrede,  und  „modewörtem,  welche  die 
ausrüstung  des  ritters  beschlagen"  s.  2).  Wozu  sollen  solche  sprachschöpferische 
versuche  dienen?  Sonst  ist  die  darstellung  im  algemeinen,  bis  auf  einzelne  Über- 
gänge (s.  55,  65,  72)  gewant  und  gut  lesbai-. 

LEIPZIG.  G.    WITKOWSKI. 


Berichtigung  zu  zeitschr.  XXII,  243.  244. 

Kinzels  anzeige  meiner  ausgäbe  des  könig  Tirol  in  Pauls  textbibliothek  möchte 
ich,  indem  ich  das  iirteil  in  den  principieUen  fragen  (einrieb tung  des  kritischen  appa- 
rats ,  auswahl  der  Varianten ,  metrik)  den  fachgenossen  überlasse ,  nur  folgende  berich- 


502  BERICHTIGUNGEN    UND    NACHRICHTEN 

tigiingen  beifügen.  Die  vermisste  Variante  zu  13,  6  steht  in  meiner  vorrede  s.  IV. 
20,  6  steht  nicht,  wie  Kiuzel  angibt,  her,  sondern  herre  in  Müllcnhoffs  abdruck  der 
handschrift.  Ebenso  hat  die  handschrift  41,  2.  3  nicht  luge^  sondern  lüge,  gegen 
für  gen  35,  3  ist  wegen  der  analogen  fälle  18,  2.  26,  6.  7.  30,  6  eingesezt.  13,  3 
alhic  (nicht  cursiv  gedruckt)  und  20,  2  die  sind  zwei  leider  stehen  gebliebene  druck- 
fehler. 

HALLE,    20.  AUGUST   1889.  ALBERT    LEITZMANN, 


Zu  zeitschr.  XXII,  255. 

Diu'ch  die  fremidliche  verniitlung  des  herausgebers  dieser  Zeitschrift  macht 
mich  herr  prof.  Kettner  darauf  aufmerksam,  dass  die  von  mir  Ztschr.  XXII,  255 
angegebenen  quellen  für  Schillei-s  Mädchen  aus  der  fremde  schon  von  Boxberger 
X.  jahi'b.  f.  phil.  und  pädag.  1868,  11,  10,  485 — 486  augemerkt  und  nach  dessen 
vorgange  auch  in  den  neuen  auflagen  der  kommentaro  Viehoffs  und  Düntzers  auf- 
geführt sind.  Ich  hatte  leider  den  nachweis  Boxbergers  übersehen  und  konte  durch 
Zufall  bei  der  niederschiift  der  misceUen  Düntzer  nur  in  der  1.  aufläge  benutzen. 

G.    ELLINGER. 

XACHKICHTEN. 

Das  grabdenkmal  füi*  Julius  Zacher,  ein  einfacher  syenit-obehsk  mit  einem 
tretlich  gelimgenen,  aus  dem  atelier  von  Paul  Reiling  in  Halle  hervorgegangenen, 
reliefbild  des  verstorbenen  in  bronce,  ist  am  27.  okt.  d.  j.  feierlich  enthült  worden. 
Den  freunden  und  Schülern  Zachers,  die  in  freudiger  opferwiUigkeit  unserem  aufrufe 
entsprochen  und  eine  würdige  ausfühiiing  unseres  planes  ermöglicht  haben,  sage  ich 
hierdui'ch  im  namen  des  ausschusses  den  wäi'msten  dank. 

KIEL,   NOV.    1889.  H.    GERING. 

Fünf  isländische  gelehrte  (Hannes  I*orsteinsson,  Jon  l^orkelsson,  01a- 

^ 

für  Davidsson,  Pälmi  Pälsson  und  Vald.  Asmundarson)  beabsichtigen  eine 
Zeitschrift  für  isländische  Volkskunde  herauszugeben,  die  den  titel  „Huld"  führen 
soll.  Das  erste  heft  wird,  fals  ein  genügender  absatz  gesichert  ist,  im  frühjahr  1890 
erscheinen.  Die  einzelnen  hefte,  von  denen  jährlich  mindestens  eins  ausgegeben  wer- 
den .soll,  sind  auf  12  bogen  gi\  8  veranschlagt;  drei  davon  werden  einen  band  bilden. 
Der  preis  für  ein  heft  beträgt  2  kr. ;  anmeldungen  zum  abonnement ,  die  zur  abnähme 
eines  bandes  verpflichten,  erbittet  der  buchhändler  Sigurdur  Kristjänsson  in 
Reykjavik. 

Geh.  rat  professor  dr.  K.  Weinhold  in  Berlin  wurde  von  der  philos.-hist. 
klasse  der  kgl.  akademie  der  Wissenschaften  in  Berlin  zum  ordentlichen,  prof.  dr. 
K.  Maurer  in  München  zum  correspondierenden  mitghede  erwählt.  Die  kgl.  bayr. 
akademie  der  Wissenschaften  emante  prof.  dr.  E.  Sievers  in  Halle  zum  correspon- 
dierenden mitgliede. 

Der  ao.  professor  dr.  Oskar  Er d mann  in  Breslau  folgte  einem  mfe  an  die 
Universität  Kiel  als  nachfolger  Fr.  Vogts;  der  ao.  professor  dr.  Max  Koch  in  Mar- 
burg wurde  in  gleicher  eigenschaft  an  die  Universität  Breslau  berufen. 


NEUE   EUSClIEliNUNGEN  503 

Die  privatdocentcn  dr.  F.  Jostes  iu  Münster  luid  dr.  W.  Stroitberg  in  Leii»- 
zig  sind  als  ordentliche  professoren  an  die  neubegrüudeto  Universität  Freiburg  in  der 
Schweiz  berufen  worden. 

Au  der  Universität  Leipzig  habilitierte  sich  dr.  Georg  "Witkowski  für  neuere 
litteratur;  an  der  deutschen  Universität  in  Prag  dr.  Adolf  Hauffen  für  deutsche 
Philologie. 

Es  starben:  am  13.  december  1889  zu  Elberfeld  der  professor  am  dortigen 
gymnasium,  dr.  AVilhelm  Crecelius  (geb.  zu  Hungen  in  Hessen  am  18.  mai  1828), 
seit  1871  mitarbeiter  unserer  Zeitschrift;  aui  27.  december  1889  zu  Kopenliagen  der 
pastor  Carl  Joakim  Brandt  (geb.  am  15.  aug.  1817  zu  Nyborg),  bekaut  als  lier- 
ausgeber  älterer  dämscher  ütteratiu'denkmäler-,  am  3.  Januar  1890  zu  Göttingen  der 
ordentl.  professor  der  germanischen  i^hilologie,  dr.  Wilhelm  Müller  (geb.  zu  IIolz- 
minden  den  27.  mai  1812),  hochverdient  als  lexikograph  und  mytholog. 


NEUE   ERSCHEINUNGEN. 


Steiiimeyer,  E. ,  Über  einige  epitheta  der  mhd.  poesie.  Prorectoratsrede 
4.  novbr.  1889.     Erlangen,  imiversitätsbuchdruckerei.     20  s.    4. 

Au  nachweise  über  die  an  einem  erkenbaren  Zeitpunkte  beginnende  ausbrcitung 
des  attiibutiven  gebrauches  von  klär,  ivert,  kluoc,  gehmre  werden  weitgreifeudo 
bemerkungen  über  die  mhd.  dichtersprache  geknüpft. 

Müller,  W.,  Briefe  der  brüder  Jacob  und  Wilhelm  Grimm  an  G.  F.  Be- 
necke 1808  —  1829.  Mit  anmerkungen  herausgegeben.  Göttmgen,  Vandenhoek 
und  Euprecht,  1889.     188  s.    8. 

Diese  briefsamluug  gewint  durch  die  mitteilungen  beider  brüder  über  den  gang 
ihrer  Studien,  sowie  durch  die  vielen  zwanglos  imd  frisch  ausgesprochenen  urteile 
über  menschen  und  bücher  (z.  b.  v.  d.  Hagen  s.  17;  Lachmanns  Z.  G.  N.  N.  s.  88; 
Herlings  sjTitaktisch  -  stilistische  Studien  s.  137;  Rabener,  Geliert,  Gleim,  Uz  s.  159 
u.  V.  a.)  nach  vielen  Seiten  hin  hohes  Interesse.  Einleitung,  noten  und  register 
des  herausgebers  erleichtern  die  benutzung. 

Schmitt,  P.,  Über  den  Ursprung  des  substantivsatzes  mit  rclativpar- 
tikeln  im  griechischen.     Würzburg,  A.  Staber,  1889.     80  s.     8. 

Biese,  A.,  Das  metaphorische  in  der  dichterischen  phantasie.  Beitrag 
zur  vergleichenden  poetik.     Berhn,  A.  Haack,  1889.     33  s.    8. 

Die  heiligen  En-glands.  Angelsächsisch  und  lateinisch  herausgegeben 
von  F.  Liebennaiiii.     Hannover,  Hahnsche  buchhandlung,  1889.     XX,  23  s.    8. 

Odiiiga,  Th.,  Das  deutsche  kirchenlied  der  Schweiz.  Frauenfeld,  J.  Hubers 
Verlag,  1889.     J\\  137  s.     8.     2  m. 

Marcus  evangelion  Mart.  Luthers  nach  der  septemberbibel  mit  den  les- 
arten  aller  Originalausgaben  und  proben  aus  den  hochdeutschen 
nachdrucken  des  16.  Jahrhunderts  herausgegeben  von  Alexander  Reif- 
fei-scheid.     Heilbronn,  Gebr.  Henninger,  1889.     XII,  124  s.     8.     4,20  m. 


504 


I.    SACHREGISTER 


All  die  iiiitarl)eitor  iiiid  leser  der  zeitseliritt. 

Da  meine  gegen-wäi-tige  stelluug  mir  die  ptliclit  auferlegt  hat.  meine  kräfte 
vorwiegend  der  nordischen  philologie  zu  widmen,  erechien  es  mir  als  unabweisliche 
notwendigkeit ,  von  emem  teile  der  redaktionsgeschäfte  befreit  zu  werden.  Zu  meiner 
freude  hat  sich  mein  kollege,  professor  dr.  Oskar  Er d mann  hierselbst,  bereit  erklärt, 
vom  nächsten  hefte  ab  in  die  redaktion  der  Zeitschrift  einzutreten.  Die  arbeitsteilung 
wii-d  im  algenieinen  in  der  weise  statfinden,  dass  die  aufsätze  zur*  ostgermanischen 
und  angelsächsischen  philologie,  zur  mythologie  imd  altei-timiskunde  meiner  durch- 
sieht unterliegen  werden,  wälirend  das  übrige,  namentlich  also  alles  in  das  gebiet 
des  alt-,  mittel-  und  neuhochdeutschen  einschlagende,  meinem  freunde  Erdmann 
zufalt.  In  der  Überzeugung,  dass  diese  einrichtimg,  durch  welche  natürUch  an  dem 
überlieferten  plan  imd  Charakter  der  Zeitschrift  nichts  geändert  wird,  derselben  nur 
zuur  vorteil  gereichen  werde,  bitte  ich  die  mitarlieiter  und  freunde  unsres  organs, 
ihm  auch  in  zukmift  teilnähme  und  tatkräftige  unterstützimg  zuzuwenden.  Briefe  und 
manuscripte  bitte  ich  in  zukimft  entweder  an  mich  oder  an  herrn  prof.  Erdmann 
(Kiel,  Lornsenstr.  16)  zu  richten, 

KIEL,  JANUAR  1890.  HUGO  GERING. 


I.     SACHREGISTER. 


Akritas  siehe  Digenis. 

Albeiiinus,  Aegidius,  seine  bearbeitung 
von  Alemaus  Guzman  benuzt  von  Grim- 
melshausen  im  Simplicissimus  93  —  99. 
Ygl.  diesen.  Aleman  und  Frewdenhold. 

Aleman,  Mateo,  bearbeitung  seines  Guz- 
man von  Alfarache  durch  Aegid.  Alber- 
tinus  benuzt  in  Grimmeishausens  Sim- 
plicissimus 93 —  99.  vgl.  diesen,  Alber- 
tinus  und  Frewdenhold. 

althochdeutsch.  konstruktion  von  kan 
9  — 12.  \on  ??iugen  37  —  46.  absoluter 
gebrauch  38.  mit  objekt  38  fg.  mit 
dem  infinitiv  39  —  46.  vgl.  grammatik 
und  Notker. 

altsächsLsch.  konstruktion  von  ccm  8  fg. 
von  magati  36  fg.     vgl.  gi-ammatik. 

A  m  a  1  i  a  s ,  herzogin  von  Cle ve ,  liederbuch 
397—426.  handschiift  398  fg.  inhalts- 
verzeichnis  899  —  405.  weihnachtslied 
406  —  409.  gebet  an  Maria  409  fgg. 
Uebeswerbung  411.  preis  der  liebsten 
411  fgg.  Hebesglück  413.  tagehed  414. 
auf  widersehen  414  fg.  abschied  415  fg. 
trennungsschmerz  416  fgg.  rosenkranz 
zum  abschiede  418  fgg.  an  die  ent- 
fernte geliebte  420  fg.  der  ungeschickte 
liebhaber  421  fg.     die  ungetreue  422  fgg. 

Armenisches  märchen  siehe  Schiller. 


Ami,  bruder,  bearbeiter  des  Eddacodex 
AM  242  fol.  und  Verfasser  der  4.  ab- 
handlung  131  —  134.     vgl.  Snorra-Edda. 

Balbi,  Gasparo,  quelle  für  Ziglers  Asia- 
tische banise  75  fg.     vgl.  diesen. 

Blois,  Heinrich  graf  von,  in  der  franzö- 
sischen graldichtung  Borons  447  fg. 
siehe  Wolfi'am. 

Boron,  Eobeii  de,  le  petit  Gral  siehe 
Crestien  und  ^^olfram. 

Brunius,  schauspielertruppe  des  Joh.  Heinr., 
ihi"e  bearbeitimg  von  Ziglers  Asiatischer 
banise  206  —  213.     vgl.  Zigler. 

buch  und  buche,  verwantschaft  468. 

bulgarische  märclien  und  sagen  als  ana- 
logien  zum  Tellschuss  siehe  Digenis  und 
SchiUer. 

Colin,  Philipp,  und  Claus  "Wisse,  Über- 
setzer der  französischen  graldichtung 
289  fgg.  293  —  311.  427  —  444.  siehe 
Wolfram. 

Crestiens  conte  du  Graal,  seine  vorläge 
nicht  Guiot  von  Provins,  sondern  Ro- 
bert de  Boron  450  fg.     siehe  AVolfram. 

Digenis  Akritas  (Porphyrius,  Farfuiius, 
Panthirios  oder  Panthir)  held  eines  bul- 
garischen epischen  gedichtes  103.  eines 
bulgarischen  märchens  104  fg. 

drama.  Ziglers  Asiatische  banise  in  der 
dramatischen  bearbeitung  der  schauspie- 


I.    SACHREGISTER 


505 


lertrui)[)0  des  Joh.  lleiiir.  Bruuius  20G — 
213.  vgl.  Zigler.  —  J.  E.  Schlogols 
di'ameu  siehe  diesen. 

Edda,  Suorra-,  bruder  Arni  bearbeiter 
des  cod.  AM  242  fol.  und  Verfasser  der 
4.  abhandluug  131  — 134.  älteste  fas- 
suug  der  abhandlung  135.  ihre  vorläge 
benuzt  im  cod.  AM  242  fol.  135  fg. 
Inhalt  der  ältesten  fassung  136  fg.  sie 
ist  die  einleitung  zuni  Hattatal  137.  art 
der  entstehung  und  Zusammensetzung 
der  jüngeren  fassung  137  — 144,  der 
Verfasser  der  abhandluug  u.  ihre  l)edou- 
tung  145  — 158.  Verfasser  der  ursprüng- 
lichen abhandlung  Suorri  145 — 50.  erklä? 
rung  der  Übereinstimmung  zwischen  II  u. 
111%  der  arbeit  Olaf  {)6rdarsons  146  — 
149.  entstehung  der  doppelten  erklä- 
rung  der  figur  fl  151  — 158.  der  jün- 
gere vergleich  der  spräche  mit  dem 
isländischen  baispiel  152  — 156.  der 
ältere  vergleich  (des  Snorii)  mit  der 
Symphonie  156  fg.  text  159  —  164. 
Übersetzimg  164  fg.  erklärung  der  bei- 
den figiu'en  165  fgg.  —  über  die  ent- 
stehung der  ui-spriinglichen  Snorra-Edda 
und  der  späteren  bearbeitung  366  fgg. 
Verzeichnis  der  abweichungen  des  cod. 
Worm.  von  cod.  reg.  368  —  71.  nach- 
weis,  dass  AM  756  eine  flüchtige  ab- 
schrift  von  "W  372  fg.  ursprünglicher 
umfang  und  einteilung  von  ^V  373  fg. 
das  Skäldatal  374  fg.  Zeitbestimmung 
Starkads ,  köiiig  Eagnars ,  Bragis  375  fg. 
todesjahr  Gunnlaugs  376.  Gizur  svarti 
und  gullbrä  nicht  identisch  376  fg.  des 
lezteren  beiname  377.  Unterscheidung 
von  zwei  Hallbjorn  hali  377.  —  Lieder - 
Edda,  ursprüngliche  aufzeichnung  der- 
selben in  runen?  468. 

Ernst,   herzog,    keine   Spielmannsdichtung 

478.     vgl.  Orendel. 
Farfuiius  siehe  Digenis. 

Francisci,  Erasmus,  quelle  für  Ziglers  Asia- 
tische banise  77  —  80.     vgl.  diesen. 

Frewdenhold,  Martin,  seine  fortsetzung 
des  Alemanschen  Guzman  de  Alfarache 
93  —  99.  vgl.  Aleman,  Alberiinus  und 
Grünmeishausen. 

Friesen,  die:  erklärung  ihres  stark  aus- 
geprägten rechts  bewusstseins  258  fgg. 
Things  gerichts-,  nicht  volksversam- 
lungsgott  260.  erkläiimg  der  namens- 
form 261.  alaisiagen  =  die  erhabenen 
gesetzseherinnen  261  —  264.  deutung 
von  Bede  undFimmilene  264  fgg.  bod- 
und  fimmelthing  266  fg.  deutung  von 
Bede  als   pugnatiix   267  fg.      des  bod- 


things  als  streitgericht  269. 


von  Fim- 


mileno  als  ultrix,  des  fimmelthiugs  ids 
Strafgericht  269  fg.  hauptlieihgtum  des 
Tius  Things  in  Almenum  270  fg.  der 
lucus  Baduhonnao  in  Bafflo  271.  Orts- 
namen von  Fimilino  gebildet  271  fg. 
liud-  und  Tiuthing  272  fg.  Tiu  Badu- 
nät  und  Frithunüt  272  fg.  Es-thing 
273  fg.  Tiu  Saxing  274.  sonstige  frie- 
sische gerichtsstätten  274.  Tiu  Ächte 
275  fg. 

Gautior,  ( iauchior  siehe  AValtor  von  Dunsin. 

gotisch,  bt'deutung  von  kiinnan  4  fg.  kon- 
struktion  5  —  8.  mcujan^  bedeutung  und 
konstruktion  33  —  36. 

graldichtung  und  gralsage  siehe  "Wolfram. 

grammatik.  kUnncn  im  gotischen  4  —  8. 
im  altsächsischeu  8  fg.  im  althoch- 
deutschen 9  — 12.  im  mittelhochdeut- 
schen 12  —  33.  entwicklung  der  bedeu- 
tung von  liönnen  13  — 16.  —  iiiögcn  im 
gotischen  33  —  36.  im  altsächsischon 
36  fg.  im  althochdeutschen  37  —  46. 
im  mittelhochdeutschen  46  —  57.  ein- 
zelheiten  und  nachtrage  57  —  60.  vgl. 
gotisch,  altsächsisch,  althochdeutsch, 
mittelhochdeutsch.  —  lu'germanische  er- 
haltung  des  e  trotz  scheinbar  folgenden  i 
249.  erhaltung  des  e  bei  folgendem  c, 
das  erst  später  zu  i  wird  249  fg.  Suf- 
fixe -il,  -ir  bewirken  umlaut  250.  kon- 
sonantische hindernisse  des  wandeis  von 
e  zu  i  250.  zeit  und  ausgangs[tuukt 
des  lautwandels  e  >>  ^  250  fgg.  —  an- 
gebUche  Spaltung  des  indogermanischen 
imperfekt-  und  aoristpraesens  aus  einem 
stamabstufenden  ui'tyijus  495.  erklä- 
rung des  j  in  zeitwöiiern  mit  wurzel- 
haftem e,  ä,  ö  496  fg.  —  über  die  not- 
wendigkeit  der  berücksichtigung  laut- 
licher Veränderungen  bei  sjmtaktischen 
Untersuchungen  459  —  62. 

Grimmeishausen  benuzt  im  Simplicissimus 
des  Albertinus  bearbeitung  von  Alemans 
Guzman  und  die  foiisetzung  des  Mar- 
tin Frewdenhold  93  —  99. 

Herder,  zv/ei  stücke  der  Volkslieder  von 
einfluss  auf  Schülers:  Des  mädchens 
klage  255. 

Lachmanns  behandlung  der  Nibelungen- 
frage  465  fg. 

Lefranc  de  Pompignan  siehe  Schlegel. 

lügendichtung  des  Schnepperers  aus  einer 
handschiift  des  germanischen  museums 
317  —  320. 

Luther,  entstehungszeit  des  Lutherliedes 
252  fg.  oberdeutsches  glossar  zur  bibel- 
übersetzung  in  dem  Basler  nachdmcke 
des  Thomas  ^Vjlf  325  —  336. 

märchen.  analogien  zum  Tellschuss  in 
siebenbüi'gischen  m.  100  — 114. 


506 


I.     SACHREGISTER 


Metastasios  Didoue  siehe  Schlegel, 
mhiuegesang.     aiisdruck  des  iiaturgefühls 

iiii    m.    imd    in    der    vaganteudichtuDg 

455  fg. 
mittelhochdeutsch,    kau,  eiitwictlimg 

der  bedeutung  13  — 16.     absoluter  ge- 

braucli  16.     mit  substantivischem  objekt 

16  —  21.      mit    dem    infiuitiv    21  —  33. 

mugen  46  —  57.     absoluter  gebrauch  47. 

mit  objekt  47  fg.     mit  dem  iufinitiv  48 

—  57.     vgl.  grammatik. 
Morolf.   datierung  des  gedichtes  477.  481 

fgg.  Morolfstrophe  486  fgg.  vgl.  Oreudel. 
Miillenhoff  und  Scherer,    althochdeutsche 

denkmäler  466. 
Nibelimirenlied.      über    den    stil    des    N. 

457  fg.  —    Lachmanns  behaudluug  der 

Nibeluugenfrage  465  fg. 
Notker.    schluss  seiner  rhetorik  aus  einer 

Bmsseler  handschrift  277  —  286. 

Oreudel.  die  dem  gedieht  zu  gninde  lie- 
gende sage  470.  analogien  zwischen 
dem  2.  teile  des  gedichtes  und  dem 
des  Eother  470  fg.  der  gruudbestand 
der  Orendelsage  470  —  476.  datie- 
rung der  urspriingüchen  forai  des  ge- 
dichtes 476  —  487.  angebliche  ent- 
stehung  des  Orendel  vor  Morolf  und 
dem  jüngeren  Oswald  477.  datierung 
des  lezteren  478  fgg.  Herzog  Ernst  kein 
spielmanusgedicht  478.  datierung  des 
Morolf  481  fgg.  angebliche  historische 
anhalte  zui*  datierung  des  Orendel  483  fg. 
kulturhistorische  484  fg.  sprachliche 
485  fg.  die  Morolfstrophe  =  ursprüng- 
liche form  des  originales  486  fg.  unter- 
scheidmig  von  älteren  und  jüngeren  be- 
standteilen  487  fg. 

Oswald,  der  jüngere,  datierung  478  fgg. 
vgl.  Orendel. 

Panthirios,  Panthir  siehe  Digenis. 

passional.  Dresdener  bruchstücke  des  pass. 
K  321  —  324.  Clevisches  bruchstück 
aus  dem  2.  teile  324  fg. 

Philologie,  zweck  und  begriff  der  (ger- 
manischen) ph.  462  fg. 

physiologus.  Augustin  über  die  fulica  237. 
handschriften  des  ph.  238.  erklärung 
der  Verbreitung  der  tiergeschichtlichen 
Züge  in  weitere  kreise  240  fg.  einwir- 
kung  auf  die  fabeldichtung  des  mittel- 
alters  241. 

Porphirius  siehe  Digenis. 
quodhbet  des  XV.  Jahrhunderts   aus  einer 
Münchener  handschrift  312  —  317. 

roman.  Ziglers  Asiatische  banise  60 — 92. 
168  —  213.  vgl.  diesen.  —  quellen  zu 
Grimmeishausens  SimplicissimiLS  93 — 99. 
vgl.  diesen. 


Rother,  könig,  analogien  zwischen  diesem 
und  Orendel  470  fg. 


runen,    bedeutuug  des   woiies  468. 


Lieder -Edda. 


VO"! 


Analogien 


Scherers  und  MüUenhoffs  althochdeutsche 
denkmäler  466.  Seherers  bedeutung  für 
die  germanisclie  philologie  467  fg 

Schillers    Wilhelm    Teil 

zum  Tellschuss  in  einem  siebenbür 
gischen  märchen  99  — 102.  in  dem  bul- 
garischen von  Digenis  103  fgg.  vgl.  die- 
sen; schuss  des  Serbeuhelden  Milosch 
102.  analogie  in  dem  szekler  märchen 
von  Tschalo  Pischta  106  fgg.  in  einem 
armenischen  märchen  109  fgg.  in  einem 
zigeunermärchen  111  — 114.  —  Des 
mädchens  klage ,  beeinflusst  von  zwei  • 
stücken  der  Herderschen  Volkslieder  255. 

Schlegel,  Joh.  Elias,  seine  Dido  ab- 
hängig von  Lefrancs  de  Pompignan 
Didon  231.  Verhältnis  zu  Metastasios 
Didoue  232.  —  aufführung  des  ins  fran- 
zösische übertragenen  Arminius  in  Pai'is 
nach  Grimms  bericht  232  fg.  —  Canut 
von  Lessing  erwähnt  234. 

Schnepperer,  der,  eine  lügendichtung  von 
ihm  aus  einer  handschrift  des  germani- 
schen museums  317  —  320. 

Serbisches  märchen  siehe  Schiller. 

Siebenbürgisches  märchen  siehe  Schiller. 

Snorris  tätigkeit  an  den  grammatischen 
abhandlungen  der  Snorra-Edda  siehe 
diese. 

Szekler  märchen  siehe  Schiller. 

Tellschuss,  analogien  dazu  aus  sla vi- 
schen mjirchen  siehe  Sclüller. 

I^ordarsous,  Olaf,  tätigkeit  an  der  IQ. 
grammatischen  abhandlung  der  Snorra- 
Edda  siehe  diese. 

Vagantendichtung,  ausdruck  des  natui- 
gefühls  im  minnegesang  und  der  v. 
455  fg. 

Wackernagels  Jugend  466  fg. 

Walter  von  Dunsin  (Gautier  de  Dcnct, 
Gauchier  de  Doudain) ,  sein  gedieht  von 
Parcivals  gralsuche  (=  Berner  manu- 
script)  445  fg.     vgl.  Wolfram. 

Werben,  um  städte.  in  einem  Schwei- 
zer gedieht  aus  dem  jähre  1676  336  fg. 
zwei  weitere  Personifikationen  der  Schweiz 
in  Gengenbachs :  Der  alt  Eydgenoss  337. 
und  in  der  dramatischen  bearbeitung 
des  Joh.  Casp.  AVissenbach  337  fg.  in 
H.  Sachsens  klaggespräch  der  stadt 
Nürnberg  dieses  als  fräulein  338  fg. 
andre  beispiele  dazu  aus  dem  16.  Jahr- 
hundert 339  fgg.  Nürnbergs  vier  fräu- 
lein in  H.  Sachsens  lobspruch  341.  in 
liedern   auf  die  belagerung  Magdcbui-gs 


n.     VERZEICHNIS   DER   BESPROCHEXEN    STELLEN 


507 


Chi-istiis  der  verlobte  der  stadt  342  fgg. 
cähnlicho  anscliauungen  in  liedern  des 
IG.  18.  19.  Jahrhunderts  344  -  347.  fik- 
tiou  eines  liebosverhältnisses  zwischen 
Leipzig  und  Gustav  Adolf  347  fg.    Nürn- 


bergs und  A^^^llcnstoins  349. 


Vergewal- 


tigung Magdebui'gs  durch  Tilly  349  fgg. 
ähnliche,  auf  Strassburg  bezügliche  lio- 
der  351  fgg.  gespräch  zwischen  Eng- 
land und  Ru^-ter  353.  lied  auf  die  be- 
Lagerung  Eheinfelds  1678  353.  auf  die 
Schlacht  bei  Mali)laquet  354.  auf  ereig- 
nisse  des  siebenjährigen  krieges  354  fg. 
dramatische  Verwertung  der  umkehrung 
des  gedankens  355  fgg.  sowie  in  lie- 
dern des  16.  und  17.  jalirliundeiis  357 
—  360.  .„um  Städte  werben'^  in  Schen- 
kendorfschen  und  Rückertschen  liedern 
360  fg.  in  liedern  aus  dem  deutsch - 
französischen  kriege  361  fgg.  in  Uli- 
lands  Konradin  und  Scheffels  Trompe- 
ter 363  fg.     beispiel  aus  neuster  zeit  364. 

Wisse,  Claus,  und  Philipp  Colin,  Über- 
setzer und  bearbeiter  der  französischen 
graldichtung  289  fgg.     vgl.  "Wolfram. 

Wolfram  von  Eschenbach,  es  gibt 
keine  gralsage,  sondern  nur  eine  gral- 
dichtung 287.  erstes  werk  über  den 
gral:  Robert  de  Borons  le  pctit  gral 
287  fg.  deutsche  bearbeitung  der  fran- 
zösischen fortsetzungen  von  Crestiens 
C/Onte  du  Graal  durch  Claus  Wisse  und 
Philipp  Colin  289  fgg.  exemplar  der- 
selben in  der  Casanatischen  iDibliothek 
zu  Rom  291  fg.  Inhaltsangabe  293  — 
311.  427 — 444.     die  französischen  vor- 


lagen 444  —  451.  Parzivals  gralsuche 
nacli  dem  gedieht  Walters  von  Dunsin 
(:=  Berner  manuscrii»t)  445  fg.  vgl.  die- 
sen. Borons  dichtung  446  —  450.  am 
Schlüsse  dos  ersten  teiles  beziehung  auf 
lokale  Verhältnisse  (Tleinricli  graf  von 
Blois)  447  fg.  unter  Borons  nachahmern 
auch  Crestien  4.')0  fg.  vergleich  der 
französischen  graldichtung  mit  der  deut- 
schen 451  — 454. 

Ziglers  Asiatische  baniso:  bibliogra- 
phisches und  biographisches  60  anm.  1. 
ibitsetzungen ,  bearbeitungen,  nachali- 
mungen  62  anm.  2.  beliebthcit  dos 
buches  62  fg.  litterarhistorisclio  ur- 
teile 64  fg.  inhaltsangabo  65  —  68. 
komposition  68  —  74.  88  fgg.  ver- 
liältnis  zu  Balbi  75  fg.  vgl.  diesen, 
zu  Erasmus  Francisci  77 — 80.  vgl.  die- 
sen, zu  sonstigen  quellen  81.  geogra- 
phische und  naturhistorischc  excurse 
des  Werkes  82  fg.  Übertragungen  deut- 
scher verkehrsfoi'men  84  fg.  kriegs- 
schilderungen  85.  sonstige  europäische 
reminiscenzen  86  fg.  lokalfärl)ung  87  fg. 
ausblicke  auf  das,  was  kommen  soll 
90  fgg.  kunstmittel  168  fg.  figuren  des 
romanes  169  — 183.  mittel  der  darstel- 
lung  183  — 189.  spräche  und  gefühls- 
welt  des  dichters  189  —  200.  sprich- 
wörtliche redewendungen  200  fgg.  an- 
spielungen  auf  europäische  zeitverliält- 
nisse  202  —  205.  vergleich  der  drama- 
tischen bearbeitung  der  Bruniusscheu 
truppe  206  —  213.     vgl.  diesen. 

Zigeunermärchen  siehe  Schiller. 


IL     VERZEICHNIS  DER  BESPROCHENEN  STELLEN. 


Eine  lausavisa  desHromundr 

lialti  s.  383  fg. 
Beowulf 

901—915  s.  385  — 393. 
1404  —  1407  s.  393  — 397. 
Altdeutsche    predigten    (ed. 
Schönbach)  H  B. 
5,  4  s.  115  fg. 
8,  10  s.  116. 
12,  30  s.  119. 
19,  8  s.  116. 
19,  24  fgg.  s.  116. 
28,  10  s.  116. 
30,  18  s.  116. 
37,  8    s.  116. 
42,  11  s.  116. 
45,  37  s.  116  fg. 
50,  2  —  4  s.  118. 


51, 

10 

s.  117. 

51, 

37 

s.  117. 

52, 

14 

s.  117. 

54, 

24 

s.  117. 

55, 

16 

s.  117fg 

63, 

37 

s.  118. 

65, 

24 

s.  118. 

73, 

1 

s.  118. 

80, 

2 

s.  118. 

81, 

12 

s.  118fg 

83, 

13 

s.  119. 

103, 

8 

s.  119. 

104, 

20 

s.  119. 

119, 

23 

s.  119. 

119, 

33 

s  119  fg 

121, 

4 

s.  120. 

126, 

13 

s.  120. 

131, 

16 

s.  120. 

135,  22  s.  120 
137,  20  s.  118 
145,  7 
145,  9 
147,  17  s.  120. 

151,  16  s.  120. 

152,  30 
156,  3 
162,  39  s.  120, 
167,  15  s.  120. 

König  Tirol 
9,  5  s 


s.  120. 
s.  120. 


s.  118. 
s.  120. 


29,  6  s 


244. 
244. 


36,  7  s.  244. 
38,  5  s.  244. 
41,  2.  3  s.  244. 
Orendel 

228  s.  490. 


508 


m.     -WORTREGISTER 


Orendel 

232 

s.  490. 

401/4.  407/12 

s.  490. 

458 

s.  490. 

507 

s.  490. 

666 

s.  490. 

894 

s.  490. 

973 

s.  490. 

1205 

s.  490. 

12S4 

s.  490. 

1299 

s.  490. 

1405  s.  490. 

2429  s.  489. 

1446  s.  490. 

2496  s.  490. 

1509  S.490. 

2590  s.  490. 

1587  s.  490. 

3148/9  s.490. 

1632  s.  490. 

3173  s.  490. 

1637  s.  490. 

3227  s.  489. 

1661  s.490. 

3454/5  s.  489. 

1788  s.  490. 

3490  s.  472  fg 

1874  s.490. 

3647  s.490. 

1878  s.490. 

3806  s.  489. 

1888  s.  489. 

m.     WORTREGISTER 


Altfriesiseh. 

Acht,  Achte  s.  274  fg. 
Acta  via  s.  276. 
alaesiagen  s.  261. 
Almenum  s.  271. 
Axing  s.  274.  276. 
Baduene,  Badwene  s.  268, 
Badunät  s.  272  fg. 
BafÜo  s.  271. 
Bangstede  s.  274  fg. 
Bede  s.  264  — 270. 
Berstede  s.  274  fg. 
bodthing  (bed-  badu-)  s.  264 

—  270. 
Es-thing  s.  273  fg. 
Fimel  s.  272. 
Fimmilene  s.  264  — 270. 
fimnielthing  s.  264  — 270. 


Frithuuut  s.  273. 
Imdthing  s.  272  fg. 

Öchtlebiu'en  s.  274  fg. 
Saxing  s.  274. 
Things  s.  265  fg. 
Tiuthiug     s.  272  fg. 

Altnordisch. 

hQfudstafir  s.  144  anm.  1. 

Mittelhochdeutsch. 

bongen  (bouc)  s.  490. 
stiing  (stuuge)  s.  117. 

yeiihochdeiitsch. 

abwevhen    (bei    Goethe) 
s.  254  fg. 


beithun  s.  329. 

byenen  (bie)  s.  330  und 

anm.  1. 
fale  s.  330  fg. 
feige  s.  330. 
feil  s.  331  fg. 
früolinge  s.  331. 
gemaug  s.  332. 
Schulter  s.  334. 
Schicht  s.  333. 
schifflend  s.  329. 
stufe  s.  334. 
tappe  s.  335. 
verdachter  s.  335. 
walgung  s.  330  fg. 
wansinu  s. 


335. 


Halle  a.  S. ,  Buchdrockerei  des  Waisenhauses. 


/ 


PF 
3003 

Z35 
Bd.  22 


Zeitschrift  für  deutsche 
Philologie 


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