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ZEITSCHRIFT
FÜR
DEUTSCHE PHILOLOGIE
BEGRÜNDET von JULIUS ZACHER
HERAUSGEGEBEN
VON
HUGO GERING
ZWEIUNDZWANZIGSTER BAND
HALLE A. S.
VERLAG DER BUCHHANDLIJNO DES WAISENHAUSES.
18 90.
•S).
Inhalt.
Seite
Die bedeutuugen und der syntaktische gebrauch der vorba hönnen und mögen
im altdeutschen. Ein beitrag zur deutschen lexikograi>hio von W. Kalil . . 1
Über Ziglers Asiatische Banise. Von G. Müller- Frauen stein . . . . 00. 1G8
Eine quelle des Siinplicissimus. Von R. v. Payer 9!^
Zum Tellenschuss. Von H. v. Wlislocki 99
Untersuchungen zur Snorra Edda. I. Der sogenante zweite grammatische trak-
tat. Von E. Mogk 129
Die alaisiagen Bede und Fimmilone. Von H. Jaekel 257
Zu Notkers Rhetorik. Von P. Piper 277
Über den bildungsgang der gral- und Parzivaldichtung in Frankreich und Deutsch-
land. Von San Marte 287. 427
Ein quodlibet. Von K. Euling 312
Eine lügendichtung. Von demselben 317
Zum Passional.
1. Dresdner bruchstücke aus Pass. K. Von A. Neumann 321
2. Clevisches bi-uchstück. Von F. Schroeder 324
Ein unbekantes oberdeutsches glossar zu Luthers bibelübersetzung. Von P. P i e t s c h 325
Um Städte werben und verwantes in der deutschen dichtung des 16. und 17. jhs,
nebst parallelen aus dem 18. und 19. I. Von L. Fränkel 330
Zwei vereversetzungen im Beowulf. Von E. Joseph 385
Liederhandschriften des 16. und 17. jhs. Das liederbuch der herzogin Amalia
von Cleve. Von J. Bolte 397
Vermischtes.
Gudbraudur Vigfusson. Nekrolog von K. Maurer 213
Zu der frage nach der entstehungszeit des Lutherliedes. Von G. Ellin ger . 252
Abweihen. Von H. Morsch 253
Des mädchens klage. Von G. Ellin ger 255
Eine lausavisa des Hromundj- halti. Von H. Gering 383
Zu ztschr. XXn, 93. Von demselben 384
Bericht über die Verhandlungen der deutsch - romanischen section der XXXX.
versamlung deutscher philologen und Schulmänner in GörUtz. Von Th. Siebs 455
Berichtigung zu ztschr. XXII, 243. 244. Von A. Leitzmann 501
Zu ztschr. XXII, 255. Von G. Ellin ger 502
Nachrichten . . • 128. 250. 384. 502.
Neue erscheinungen 503
An die mitarbeiter und leser der Zeitschrift. Von H. Gering 504
rv INHALT
Seite
Litteratur.
Altdeutsche predigten, herausg. von A. Schönbacli 11 ; angez. von F. Bech . . 115
Karoliugische diohtungeu. untoi-sucht von L. Traube; angez. von H. Althof . 121
Diedrich von dem Werder von 0. AVitkowski; angez. von F. B obertag . . 125
Die Edda, deutsch von "\V. Jordan; angez. von IT. rrcring 128
Toetik von AV. Scherer ; Die einbildungskraft des dichters von W. Dilthey ; Hand-
buch der poetik von II. Baunigaii:; Poetik, rhetorik und Stilistik von AV.AVacker-
nagel; Poesie und prosa, ilire aiien und formen von .1. Methner; angez. von
G. Ellinger 129
Joh. El. Schlegel von E. AVolff; angez. von AV. Creizenach 230
Gesdiichte des Physiologus von F. Lauclieii; angez. von E. Voigt .... 23G
König Tirol, Winsbeke und Winsbekin, herausg. von A. Leitzmann; angez. von
K. Kinzel 242
La littemture fran^-aise au moyen age par G. Paris; angez. von H. Suchier . 244
Die sage von Tristan und Isolde von "W. Golther; angez. von P. Kerckhoff . 245
Die natur. ihre auffassung und poetische Verwendung in der altgerm. und mlid.
epik von 0. Lüning; angez. von K. Weinhold 246
"Wahrheit und dichtung in Ulrich von Lichtensteins frauendienst von R.Becker;
angez. von demselben 247
Das erste Stadium des i-umlauts im germanischen von E. v. Borries; angez.
von 0. Bremer 248
Edda Snorra Sturlusonai'. Tom. III. Sumptibus legati Arnamagn.; angez. von
E. Mogk 304
Die oster- imd passionsspiele bis zum IC. jahrh. von L. Wirth; angez. von
H. Holstein 378
Fr. Nicolais Kleyner feiner aluiauach 1777 und 1778, herausg. von G. Ellinger;
angez. von J. Bolte 381
Grundriss der germanischen philologie, herausgegeben von II. Paul; angez. von
E. Martin 4G2
Orendel, herausg. von A. E. Berger; angez. von F. Vogt 4G8
Untersuchungen über den satzbau Luthers von H. Wunderlich; angez. von
0. Erdmann 491
Goethe und die griechischen bühnendichter von H. Morsch; angez. von G. Kett-
ner 493
Indogermanische präsensbildung im gemianischen von G. Burghauser; angez. von
0. Bremer 494
Fr. Gottl. Klopstocks öden, herausg. von F. Mimcker und J. Pawel; angez. von
0. Erdmann 497
Die bestrebungen der sprachgeselschaften des 17. jhs füi' reinigimg der deut-
schen Sprache von H. Schultz; angez. von G. Witkowski • . 499
Register von E. Matthias 504
DIE BEDEUTUNGEN UND DER SYNTAKTISCHE
GEBRAUCH DER VERBA „ KÖNNEN ^^ UND „ MÖGEN '^
IM ALTDEUTSCHEN.
EIN BEITR^IG ZUR DEUTSCHEN LEXICOGRAPHIE.
Die voi'liegeiu\e arbeit bezweckt eine eingehende, auf benutzung
eines ausreichenden stellenmaterials gestüzte nntersuchnng über die
bedeutungen und den syntaktischen gebrauch von können und mögen,
wie diese sich im ablauf der spracligeschichtlichen entwicklung von Ul-
filas bis zum ausgang der mlid. periode liin, etwa bis 1350, darstellen.
Mögen und können werden uns anfangs als Zeitwörter mit scharf
ausgeprägter, sinlich fassbarer bedeutung entgegentreten, als sogenante
begrifsverba, jedes mit gesonderter beschränkung auf ein bedeutungs-
gebiet: kihnien bei Ulfilas = hcioia}.icci ^ mögen = loyko, öivuLiai
u. dgl. Alnüihlich beginnen die grenzlinien zwischen können nnd
mögen zu yerschwimmen und in einander überzulaufen; mögen gibt
iKjch früher als können seine prägnante bedeutung auf; bald dienen
beide verba dem ausdruck blosser „möglichkeit." Mit dieser A^erblas-
sung der bedeutung geht die Verwitterung der verbalen kraft von kön-
nen und mögen band in band. Algemach sinken können und mögen
zur geltung von hülfsverben herab, die nach Jollys Avorten (Gesch. des
infinitivs im idg. s. 175) nur noch als fulcrum des damit verbundenen
infinitivs erscheinen; „das hülfsverbum dient dem intinitiv so zu sagen
als exponent, indem es tempus und genus bezeichnet, der infinitiv
dagegen, der nur als Verbalsubstantiv in unbcstimter casueller bedeu-
tung gefühlt wird, den reinen verbalbegriff ausdrückt."
Diesen process almählicher entwicklung des begrifsverbums zum
hülfsverbum zu beobachten, soll unsere aufgäbe sein.
Im gegensatz zu den vorarbeiten, die wir weiter unten verzeicli-
nen werden, denen Avii- reiche belehrung und manchen brauchbaren
gesichtspunkt verdanken, haben wir unser liauptaugenmerk daraufgerich-
tet, die semasiologischen und syntaktischen tatsachen nicht nur einfach
zu verzeichnen, sondern auch den gründen nachzugehen, welchen jene
ZEITSCHEIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 1
KAHL
tatsaclien ihre entsteliuiiir \n\(\ ihre innere berechtigung verdanken: wir
werden dieselben zum teil auf dem wege spraehpsyeliologischer betrach-
tuuir auffinden können.
Zudem Avaren wir bestrebt, nach möglichkeit Beneckes forderuug
zu erfüllen: „Die aufzählung aller fälle ist es, aus der sich gesetze
sowohl als ausnahmen ergeben" (vorrede zum Iweinwb.); nicht in dem
sinne zwar, dass wir das ganze überreiche Stellenmaterial auch mitteil-
ten: sondern so, dass wir unsere resultate allerdings aus einer durch-
foi-schuug und prüfung niöglichst aller falle hervorgehen liessen, in den
belegstelleu uns aber mit einer auswahl des wichtigsten und bezeich-
nendsten begnügten.
So haben wir die got, altsächs. und ahd. denkmäler vol ständig
für die zwecke unserer arbeit, verwertet; von den mhd. dcnkmälern
sind folgende von uns durchgearbeitet und für unsere Untersuchungen
berücksichtigt worden. Aus dem XL Jahrhundert:
Müllenhoff-Scherer Denkmäler usw.^ 1867, z. t; mit Seh er er
betrachte ich das jähr 1050 als grenze zwischen ahd. und mhd.
(vgl. Scherer Q.-F. XII, 1 — 10, Lttgsch. s. 780, Wackernagel
Littgsch. 12, s. 38).
Willirams Paraphrase des hohen liedes ed. Seemüller, Q.-F.
xxvm.
Genesis und Exodus, citiert nach selten und zeilen der ausgäbe
von Diemer 1862.
Annolied ed. Bezzenberger 1848.
Aus dem XII. Jahrhundert:
Willirams Hohes lied erklärt von Rilindis und Herr ad ed.
J. Haupt 1864 (Hpts. HL).
König Roth er ed. v. Bahder 1885.
Heinrich v. Melk (H. v. M. Pr. = priesterleben; Er. = erinnerung)
ed. Heinzel 1867.
Des Minnesangs Frühling (MF.) edd. Lachmann -Haupt ^ 1882.
Heinr. v. Yeldeckes Eneide (En.) ed. 0. Behaghel 1882. (Seine
lieder s. MF.).
Aus dem XIII. Jahrhundert:
Hartmann v. Aues epen: wegen der citate (A. H. = armer Heinrich ;
Greg. = Gregorius; Er = Erec; Iw. = Iwein) verweise ich auf die
noch zu nennende arbeit von v. Monsterberg Ztschr. f. d. ph. XVIII.
Wolfram v. Eschenbach ed. K. Laclnnann'^ 1872 (1. = lieder;
Parz. = Parzival; Tit. = Titurel; AVilh. = Willehalm).
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 3
Gotfried v. Strassburg Tristan und Isolde (G. Trist), ed. Mass-
manu 1843. Lobgesang (= Globg.) cd. Haupt Z. f. d. a. IV, 513;
zu G. Trist, die fortsetzung von TJlrieli v. Türheini (ülr. Trist.) in
Massnianns ausg.
Der Nibeliinge Not (Nib) und Klage (Kl) ed. Lachmann ^ 1878
(mit besonderer beriicksichtigung der hs. Varianten).
Gudrun (Ciudr.) ed. Martin 1872.
Walther v. d. Yogelweide (AYalth.) ed. Lachmann '^ 1853, mit liin-
zuziehung der ausgäbe von Wilma uns 1882.
Fridanks Bescheidenheit (Frid) ed. Bezzenberger 1872.
Sachsenspiegel (Sachssp.) ed. Homeyer 1861.
Berthold v.Kegensburg (Berth.j: als probe die bei Wackernagcl
Altd. Isb. s. 878 abgedruckte predigt über Mtth. 5, 1.
Konrad v. Würzburg Alexius (AI.) ed. Haupt Z. f. d. a. III, 534.
— — Klage der kunst (Kl.) ed. Joseph QF. LIV.
Engelhard (Eng.) ed. Haupt 1844.
— — Goldene schmiede (Gold, schm.) ed. W. Grimm 1840.
Der AVeinschwelg (WeinscliAv.) ed. Yernaleken. Germ. III, 210.
Aus dem XIY. Jahrhundert:
Boners Edelstein (Bon.) ed. Pfeiffer 1844.
Nico laus V. Jeroschin (Jer.) ed. Pfeiffer 1854.
Ulfilas eitlere ich nach der ausgäbe von Bernhardt 1875; He-
iland nach C bei Sievers 1878; die übrigen alts. denkmäler nach
Heyne Kl. altnd. denkmäler 1867; die Sanct-Galler Benedictiner-
regel (B-K.) nach Hattemer I, 28 fg.; Isidors Hispal. de nativ.
dom. (Is.) ed. Holtzmann 1836. Murbacher hymnen (Murb. h.) ed.
Sievers 1874.
Tatian ed. Sievers 1872; Otfrid ed. Kelle 1856; Notker ed. Pi-
per 1882/3 [Boeth. = Boethius; Mcp. = Mart. Capella; cat. =
categorien; de interpr. = de interpretatione ; ps. = psalmen (unter
zuhiüfename von K. Heinz el und W. Seh er er Notkers psalmen
nach der Wiener hs. 1876)].
Die ahd. glossen (Ahd. gl.) ed. Steinmeyer -Sievers 1879/82.
Es erübrigt noch die benuzte litteratur zu verzeichnen:
Benecke Wörterbuch zu Hartmanns Iwein 1833.
Grimm Gesch. d. d. spr.^ 625. 627; Gramm.IY, 92; 138; 171.
Mittelhochdeutsches Wörterbuch I, 805b; II, 9b.
Deutsches Wörterbuch Y (Hildebrand), YI (Heyne).
K. Lucae Bedeutuns: nnd gebrauch der verba auxiliaria im mhd. 1868.
1*
KAHL
Horak Über die verba praeterito-praesentia im mhd. 1876 (eine
höchst uDgeiüig-ende arbeit).
V. Moiisterberg-Müiickenau Der infinitiv nach wellen und den
verba praeterito-praesentia in den epen Hartnianns v. Aue: Z. f.
d. ph. XVIII, 1 ^^.\ als erg'änzung zu desselben Verfassers: „Der
infinitiv in den epen Hartmanns v. Aue" (in Weinholds German.
abh. V): eine arbeit, die volles lob verdient und von mir ausgie-
bis: benuzt worden ist.
A. Köhler Der synt gebrauch des inf. im got. : Germ. XII.
Steig Über den gebrauch des inf. im altnd. Z. f. d. ph. XYI.
Pratje Syntax des Heliand: Jahrb. d. Vereins f. niederd. sprachfor-
sch mig XI, 1885.
M. Denecke Der gebrauch des inf. bei den ahd. Übersetzern des
Till, uud IX. jahrh. 1886.
0. Erdmann Untersuchungen über die syntax der spräche Otfrids
187-4/6.
M. Erbe Über die conditioualsätze bei Wolfram: Paul-Braune Y,
1 — 50.
L. Bock Über einige fälle des conjunctivs im mhd. QF. XXYIL
Rötteken Der zusammengesezte satz bei Berthold v. Regensburg.
QF. LIIL
Jelly Geschichte des inf. im idg. 1873.
0. Erdmann Grundzüge der deutschen sjTitax I, 1886.
§ 1. Kihineu im gotiselieii.
Zwei wege stehen uns offen, wenn wir uns der bedeutung des
got. hunnan vergewissern wollen. Der eine benüzt den glücklichen
umstand, dass die gotischen Sprachdenkmäler der Übersetzung eines
griechischen Originals angehören; der andere sucht hunnan im kreise
der urverwanten sprachen auf und stelt mit deren hülfe die bedeutung
des got. kann fest.
Durch den vergleich des griechischen bibeltextes mit der gotischen
Übertragung können wir sonder mühe ermitteln, in welchem vorstel-
lung.skreise das got. kunnan heimisch gewesen ist: wir finden, dass
Ulfilas kunnan durchweg griech. yu'toa/.eiv, yvtoQiLeiv, eld/'rca, l7Ciaia-
o^ui entsprechen lässt (belege vgl. unten); dies führt uns unmittelbar
in die Sphäre intellectueller tätigkeit, und wir sind berechtigt für kann
die bedeutung „ich erkenne, ich verstehe, weiss u. dgl." in ansprucli
zu nehmen. Yon einem hinüber.spielen nach mayan kann für das
got. noch dui'chaus keine rede sein, mayan dient dem ausdrucke des
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD.
physischen Vermögens und der objectiven niöglichkeit, während für
kimnan das bedeutiingsgebiet des geistigen befiihigtseins vorbehalten
bleibt.
Nur ein einziges mal wird i/töct durch mag widergegeben: T. Ti-
moth. 3, 5: jahai Jvas scinanima garda fcufragaggan ni tu (ig, }vaiva
üikldesjo)i gifl>>> gaharol) = ei de tlq tov lölov oI/aov TVQOOrfji'ccL od/,
olöer. Doch gerade hier, so glaube ich, ist )ii(ig vonUlfilas mit beson-
derem bedacht gewählt worden: nach altgermanischer anschauung rei-
chen kentnis und wissen nicht aus, einem hauswesen vorzustellen: der
pater familias muss die kraft, muss die macht haben, selbst mit dem
Schwerte in der hand, sein haus zu schützen und zu verteidigen. Die-
ser einzige fall, avo mag oiöa entspricht, darf also nicht als negative
Instanz gegen das, Avas wir oben ermittelten, geltend gemacht werden.
Das ziel, dem uns diese betrachtung entgegengeführt hat, können
wir auch noch auf einem andern wege erreichen. Die Sprachverglei-
chung lehrt uns das got. kunnan als glied einer familie urverwanter
Wörter kennen, denen die beziehung auf wissen, verstehen u. dgl.
gemeinsam ist (vgl. die belege bei Curtius Grundzüge der griech.
etym.^ 178, dortselbst auch die verweise auf Benfey, Pott usw.). Zu
got. kann gehört u. a.: skrt. (piä, gänäni = kennen, griech. y/rw,
lat. g)to-sco, no-tus; ahd. knäan = cognosco usw. Die Sprachver-
gleichung bestätigt also durchaus das resultat, das wir oben durch den
direkten schluss von der gotischen Übersetzung auf das griechische ori-
ginal fanden.
AVir dürfen somit an die spitze der weiteren Untersuchung den
satz stellen, dass in dem ältesten der uns bekanten dialekte der ger-
manischen spräche, im got., dem verbum können die bedeutung des
erkennens, des wissens, des geistigen Vermögens zusteht.
Wenn wir die reihe der syntaktischen fügungen überblicken, in
denen got. kann auftritt, so muss uns das fehlen jeglichen Infinitivs
nach kann, der uns vom mhd. her so geläufig ist, auffallen. Schon
Grimm (Gr. lY, 92) ist auf diese eigentümliche tatsache aufmerksam
gewesen; er hat sie mit der bemerkung verzeichnet, dass einem inf.
nach kamt nichts im wege stehe, da das ahd., alts., ags. und nord.
diese construction kennen; Grimm hätte noch hinzufügen können, dass
der inf. nach den synonymen icait, lais, man belegt ist (Köhler
Germ. XII, -129).
Wir sind nun in der läge den grund anzugeben, der aller Wahr-
scheinlichkeit nach das ausbleiben der infinitivconstruction nach kann
verschuldet hat. Es ist eine eigen tümlichkeit der neutestam entlichen
6 KAHL
graecitiit, mu'li dvn verbeii des crkennons und wissens den inf. oder
acc. c. inf. zu vermeiden, dagegen die ankniipfimg eines iiebensatzes
mit lin und I'K zu bevorzugen. Nur einmal wird im Neuen testament
von ynojiT/.eti' ein intinitiv abliängig gemacht: Hebr. 10, 34: leider fehlt
liier das got.; nach yriooiSeii' und (/cioiai^iai steht nie ein inf. (vgl.
AVahl Clav. nov. test. phil. p. 87a, 195b; Grimm Lex. graeco-lat. in
libros nnvi tost.- s. 81b, U)9a.) — eiöi-rca e. aee. c. inf. findet sich
zweimal: 1. Tetr. 5, 9, avo das got. fehlt; Luc. 4, 41, wo das got. über-
sezt: insscdtai i<flbaN Xri.'<f/( i)ta ffi;<an = ydeioav luv Xq. avibv elvai.
Der inf. nach oi(ic( tritt uns in 7 stellen entgegen, nur 3 gestat-
ten den vergleich mit dem got: riiil. 4, 12 wird oida durch lais c.
inf. übei*sezt; LTlies. 4, 4 ist eidh'ca y.Täodat = cl iciti (ja-
staldan : I. Timotli. 3, 5 oida = mof/ wurde bereits oben besprochen.
Sonst Avird im N. t. stets nach den verbis cognoscendi der inhalt der
erkentnis und des Avissens in einem nachsatz gegeben, der durch ihg
oder on mit dem liauptsatze verknüpft ist. Nach dem vorliegenden
tiitbestande haben Avir also kein recht dazu, das fehlen des intinitivs
nach kinutati auf rechnung einer principiellen abneigungder got. spräche
gegen diese syntaktische ausdrucksform zu setzen: nicht das got., son-
dern das griech. original trägt die schuld daran, dass innerhalb der
got. Sprachreste der intinitiv nach kann nicht nachweisbar ist.
Wir können uns nunmehr der aufzählung der verschiedenen syn-
taktischen constructionen zuwenden, in denen kann auftritt.
L kann absolut gebraucht.
L Kor. 13, 9 sinnan kunnuni jah siiman praufetjcun. Matth. 27,
65 suasice kunnup (=- vj^g ol'Jcrrt) ; IL Timoth. 1, 18, von Schulze
(Got. Avb. 1847 s. 185) hierher gestelt, gehört unter 11I^
IL kann mit einem objektsaccusativ.
Matth. 7, 23 patci ni Ivanliun knnjja (lyvor) izicis; Marc. 4, 11
kunnan riina l)ludan(jar(Jjoi^ (ynorai to fiuGi/joiov)] Marc. 4, 13 pos
fjajfikons kanneip {läg ycaofxßolag yrojaeod-e)] Job. 13, 38 unte pii inik
afaikis kunnan Jyrim sinjjani {nug ou dicaQvrjarj (,ie TQtg^ vgl. hierzu
Loebe zu I. Cor. 9, 25); Skeir. Ya s. 637: insok kunnaiids pirx ana-
irairjjane airxein. Ephes. 3, 19; Marc. 1, 24 usw.
Doppelter accusativ findet sich: Joh. 17, 3 ei kiinneina (yLvojozov-
OLv) puk ainana sunjana yujj; Marc. 6, 20 kunnands ina tvair garaih-
tana jah iveihana.
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 7
III. kamt mit einem abliängigen iiebeusatze.
a) Indirekter fra<^esatz.
Phil. 1, 22 jah h:ii]utr iniljuu , in kdun (ov yvio()iU'))\ Lue. 10, 22
Ja/f II i Jrashini La im, /ins ist siüiits; Mai'e. 1, 24 hruin [ndi, has Jin
is = olöa ae i/g ti. Marc. 11, 68 iii iruil nl kann, Iva Jnt qijiis {od/,
oiöa ord' Lcioiai^iai il ob Xtyeig).
b) Mit cl oder palci eingeleiteter naehsatz.
Klinghardt hat Zs. f. d. ph. VIII, 173. 176 die regel anfgestelt,
dass ,,der gebraueh von ci Avesentlich an optativische, der von Jiafci
an indicativische nebensätze geknüpft ist, weil pafri gegen ei eine
stärkere bindung enthält.'' IL Cor. 13, 5 Jjau niu kunitup Ixtris, palcl
I. Xr. in ixivis ist; Joh. 15, 18 lunneip (yivcooy.eie)^ ei 7nik fniman
ixivis fijaida; Marc. 13, 28 kiuinup, patei 7ielva ist asans: IL Tim. 3, 1
kiinneis, ei ... alyagijand; Joh. 17, 23 kunnei so inanascjjs, patel pu
mik insancUdcs usf.
Passive formen von kunnan finden sich im got. nicht; wie gewöhn-
lich nimt Ultilas seine Zuflucht zur Umschreibung: so Phil. 4, 5; Eph.
3, 5; auch im griechischen original ist das passiv von yivvjoy.vj sehr
selten.
Die behauptung, welche wir an den anfang dieses abschnits stei-
fen, und welche, wie wir hoä'en, durch die beigebrachten stellen bestä-
tigt worden ist: dass nämlich dem got. ka7in die logisch kräftige bedeu-
tung: ich erkenne, ich weiss u. dgl. zukomt, erhält noch eine stütze
durch den umstand, dass die got. spräche die fähigkeit besass, von
kunnan composita zu bilden. Denn auch darin zeigt es sich, dass
das got. kann noch nicht zum hülfszeitwort abgeschwächt ist, sondern
dass es seine volle kraft als begrifsverbum in ursprünglicher stärke
bewahrt hat.
Ein schwaches verbum kunnan ist bei Ulfilas nicht mehr beleg-
bar; denn L Cor. 1, 21 haben Gabelentz-Loebe ohne grund das hand-
schriftliche ufkunnaida^ (= tyvvj) durch kunnaida ersezt. Die compo-
sita von kunnan erscheinen bald in der starken, bald in der schwa-
chen form.
anakunnan = draytvcüozeiv, z. b. IL Cor. 1, 13; frakimnan =
dO^ersir, '/.caaffQorelr, vgl. Grimm Gr. lY, 689; af kunnan = ycaotxeiv
Col. 4, 1; (jakunnan stark = vTtoidööEöd^ca I. Cor. 15, 28; schwach
= yirojozeiv] ufkunnan (praet. iifkunjm) =^ hciyivdja/.eLv.
Auf diese composita, Avelche uns die bedeutung des einfachen
kunnan in gewissen nüancen zeigen, näher einzugehen, liegt für uns
8 KAHL
keine veranlassuiig- vor; wegen des stellenniatcrials sei auf Schulze,
Got. Avb. s. 186 fü:. verwiesen.
Aus den betracbtungen, die Avir bisher gepflogen haben , dürfte sich
ergeben haben, dass das got. hcum jene durchsichtige, bcgriflich genau
fassbare bedeutung noch durcliaus bewalirt hat, auf av eiche uns der
vergleicli des gotischen mit dem griechischen original sowie das ver-
liältnis zu den verwanten Wörtern der übi'igen idg. sprachen hinwies:
erst lange nach der zeit, in welcher die got. Sprachdenkmäler entstan-
den, hat können einbusse an seiner verbalen kraft erlitten, bis es, je
weiter wir uns vom got. entfernen, melir und mehr zu einem liiilfs-
zeitwort herabgesunken ist, das gleichsam zu seiner Unterstützung eines
nachgesezten Infinitivs bedarf, dem es eine eigentümliche modale fär-
bung verleiht, ohne selbst eine merkliche bedeutung zu besitzen; vor
dem Xn. Jahrhundert jedoch liat dieser verwitterungsprozess nicht be-
gonnen.
§ 2. Köinieii im altsäclisiselieii.
Der gebrauch des Infinitivs im altnd. hat durch Steig (Zs. f. d.
pli. XVI) eine sorgföltige behandluug erfahren, welche sich auch auf
die Syntax von can im Heliand erstreckt; die übrigen altnd. denkmäler
bieten kein beispiel von can. Steig bemerkt ]. 1. s. 330: „Xur ungern
fülire ich unter den auxiliarien das verbum can auf, da es, wenigstens
im Heliand, als solches nicht betrachtet werden darf. Es erscheint
nämlich überwiegend als transitives verb (= novi) mit objektsaccu-
sativ oder mit dem Infinitiv. In allen fällen ist die bedeutung von
can eine viel kräftigere, als man sie bei einem blossen auxiliar erwar-
tet und noch weit entfernt von der flachheit des nhd. können."
Für die bedeutung von can ist besonders charakteristisch die
stellOj^Hel. 724 nu ik is aldar Irui, tiuct is imintro gilaht, wo kau in
direkter parallele zu uact steht; auf dieselbe bedeutung führen uns
durchweg die anwendungen von ca)t im Heliand.
L Der absolute gebrauch von can ist aus dem Heliand nicht
zu belegen.
IL can mit dem objektsaccusativ (vgl. Pratje Der accusativ
im Heliand s. 39) findet sich an folgenden stellen: 208 thie so filo Con-
sta uutsaro uuordo; 1032 Me consta is muodselon; 2514 ilc can the-
saro Uudio hufji; ferner 3101 M. 3544. 4151.
III. Für can mit einem Infinitiv bietet der Heliand 4 bei-
spiele: 225 consta filo mahUan; 1669 ni cunnun eni(j filat iminnan;
2650 spei fjodes seggian cunsti; 2530 ni can te (jithenkeanne the-
gan an is muode.
KÖNiNEN UND MÖGEN IM ALTD. 9
Bei 225 und 2650 le^t uns der Inhalt des von can abhiingig-
gemachten Infinitivs (inalikaii und ^c(/ijian) die Übersetzung „ich weiss",
„ich verstehe" unmittelbar nahe, die auch für 1669 passt: „sie verste-
hen nicht zu gewinnen."
2530 endlich bietet uns das erste beispiel einer construktion, die
uns im weiteren verlaufe dieser Untersuchungen noch öfters begegnen
wird: ein Substantiv, hier ein substantivierter infinitiv, wird durch eine
praeposition [fc) mit can verknüpft. Die erklärer wollen in unserem
falle meist eine ellipse annehmen (vgl. Grimm, Gr. IV, 11). Ich folge
jedoch Steig, der 1. 1. s. 490 dieses can sehr glücklich mit (jimiald
hcbbian te vergleicht; er sagt: „Schon oben liabe ich ausgeführt, welche
Schwierigkeiten das verbum can demjenigen bereitet, welcher es unter
die auxiliarien einrechnen will; auch unser beispiel zeigt eine leben-
dige, kräftige, nicht auxiliare bedeutung und steht einem ausdrucke
wie gmiiald hehbian te ziemlich nahe" (vgl. Hei. 2162. 2327. 4518).
Das alts. besizt noch eine composition von cunnan : hiciuinan;
es steht jedesmal mit dem objectsaccusativ und entfernt sich in der
bedeutung vom einfachen cunnan nicht. Es tritt uns entgegen: 1901.
4961. 5320. 5816; 3101 hat C: hicanst nienniscan sidon, M canst.
Somit rät uns alles dazu, für das alts. so gut wie für das got
die anfange jener bedeutungsabschwächung abzulehnen, welche im laufe
der zeit können zum verbum auxiliare, zum kraftlosen hülfszeitwort
hat herabsinken lassen.
§ 3. Können im altlioeiideutsehen.
Bevor wir zur darstell ung der bedeutung und der syntax von kan
im ahd. übergehen, müssen wir des umstandes gedenken, dass kan in
den früh -ahd. denkmälern in geradezu auffallender weise zurücktritt.
Otfrid liat nur 5 beispiele für kan; bei Tatian und Isidor, in den fragm.
theot, der B.-R., den Murb. hymnen wird man vergebens nach einer
form von können suchen {chunnemes: Isid. XVIIIb, 10 und chunnct:
fragm. theot. XVII, 12 gehören zu dem schwachen verbum kunnea:
vgl. Ahd. gl. I, 128, 13; Xotker, Mcp. 795^'; Graff IV, 411; Mhd.
wb. I, 810''; Bezzenb erger zu Frid. 109, 2). Es ist uns möglich,
mehrere stellen in Tatians evangelienharmonie mit den entsprechenden
werten der got. bibel zu vergleichen und hierbei ergibt sich, dass da,
wo das got. formen von kiinnan hat, Tatian mdxrMu^ fnrstantan und
ähnliches sezt: z. b. Mtth. 7, 23 patei ni hanhiui kunpa ixuis =
Tat. 42, 3 bitliiu inianta ih nio in altere iuidh iiuesta; Mtth. 26, 72
kaiin = Tat. 188, 3 uueiz; Mtth. 27, 65 kimimp = Tat. 215, 4 iiwizut;
1 0 KAHL
Job. 6, 15 ktniHONds = Tat 80,8 ii(h'a)ita; Joh. 15, 18 liontcij) = Tat.
169,2 UHiwit; Job. 17, 23 Jah kunuci = Tat. 179, 2 iiifi forstautc usw.
Ijeider lässt sieli das gleicbe vortabroii auf Isidor und diu ande-
ren oben i^enanton deukniiiler uiclit anwenden. Tu Tatin ns Avortscbatz
sebeint aber /.«// irefeblt zu baben. ßei Notker iinden wir kan biiuiiii-
gebrauelit. Auf ibu müssen Avir uns bei dem versnobe, aus der abd.
übei-setzuniTslitteratur die bedeutuui;- von kau zu crmittebi, besebränken;
bierbei dürfen wir aber nicbt vergessen, dass Notker es liebt, in freier
weise clie abd. spracbe dem lat. original gegenüber zu gestalten und
dass er desbalb niebt immer jene treue Übersetzung bietet, welcbe es
uns obne weiteres ermögliobt, den sinn eines abd. wortes durch den
vercfleicb mit dem lat. oriiiinal festzustellen.
Auob die glossen gewähren uns nur geringe ausbeute; Wörter wie
scio, coQuosco u. dgl. sind in den meisten fällen so verständlich, .dass
sie einer glossierung nicht bedürfen. Es stehen uns nur 3 glossen zu
geböte, mit deren hülfe wir die bedeutung des abd. kau ermitteln kön-
nen; die freie paraphrase nua\ clnnmot i?? = quod est opus vestrum
(Monseer gl. bei Pez I, 320) muss vorläufig ausser acht bleiben.
Die glossare der keronisch-brabanischen sippe — wie Steinmeyer
sie nent — haben (Abd. gl. I, 217'^) norat = kan, khan; eine glosse
bei Pez I, 371 lautet: kan buoh = assecidus est Uiteras; eine glosse
zu Greg, bomil. in evang. I, 6 (Migne LXXYI s. 1098 A) = Abd. gl.
II, 276 ^' sezt zu dem lat. admonere non sufficio : niuimiach l
(vel) nichan; so die bandscbriften b und c; -nichan l Kiiernmch ef;
es handelt sicli um eine geistige tätigkeit (admonere) ; deshalb konte
zu uinnach sehr avoI die Variante cltan hinzugefügt werden {nbarnia-
(jan nur noch Otfr. IV, 31, 33). Auf die bedeutung kan = scio las-
sen uns auch folgende glossen schliessen: I, 793 ^'^ scientes = kuii-
stiyo; I, 748 ^^^ jwtens in scripturis = chunstiyer; 11, 185'^^ rüdes =
unchunstüj; 193 "^^ ebenso; 286'^ scientia = chunst.
Vax den angeführten glossen tritt ein vers des MSD 61 mitgeteil-
ten Carmen ad Deum (verfasst 870): prece iwsco protä nosco = p)e-
tono pittja soso ih chan. Die gleiche bedeutung „wissen", „verstehen"
begegnet uns auch noch durchweg bei Notker. Einige der wichtigsten
stellen seien hier herausgehoben: Mcp. 791 1'*: ehernst = scis; dgl.
791 -^ fjhan = ncnit; 717 ^o mispuotiy sin nedionde == impiger
sciat esse usw. Mcp. 798 ^^ entsprechen sich dannan sie ehunnin
bechennen sih selben und qui vahiere noscere semet. Mit demselben
sinn für das richtige, mit dem Notker Boetb. 345 ^^ vis ratiocinandi
durch eine wendmig mit ckunnen widergab, mit eben dem feineu
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 11
spraeligefülil liat er an uiisorcT stelle dem lat. valncrc keine form von
)iKuj(ui g-eg-eniibergestelt, sondern, da noscerc = bechctuiot folgt, durch-
aus richtig cltiinniK dafür gesezt.
J^'ür das ahd. l)l('il)t also avIo für das g(»t. und alts. bestehen, dass
huHiicui der spliäre des inteliektueUen geschehens angehört, dass es
„"wissen'^ „verstehen" u. dgl. bedeutet. Eine durchniusterung der syn-
taktischen fügungen, in denen uns /iunna/i begegnet, wird dieses resul-
tat noch weiter bestätigen.
T. Der absolute gebrauch von hau
ist im ahd. nicht mehr zu belegen;' da, wo hu/ schehdjar selbständig
steht, ist ein intinitiv aus den umgebenden Satzgliedern zu ergänzen:
so M8D 61, 8 pctöno ptttjit soso ih chaii (seil. pUten)^ M8D 4, 2, 5
iliu biijnolcn Uiiodan so he uuola co)ida (seil, biijalan; die formet sös
er uHola ro/fda findet sich auch Otfr. I, 27, rjl; vgl. MSD s. 276).
Mitunter weist ein iz auf den zu entlehnenden intinitiv hin: OtCr. 1, 2,
42: iu thin tha.^. iJi i.i kunni (seil. thiono}i).
IL l:an mit objectsaccusativ
liegt vor bei Otfr. III, 16. 7: iiido er thio buah koiistl (=- Joh. 7, 15
yQaut^icua oiöev, s;ot Jüaliva sa bokos Imnn)^ vgl. die glossc Pez. I, 371:
hart biioh = asseciitiis est Utteras. Der accusativ nach kau findet sich
weiter in der glosse Pez I^ 320: uua.'c clnuinot ir = qiiod est opus
vestnun? Notker Catcg. 434': er man sie (artes) chondl : 434'"'*^
tia (fujiiras geo}netricales) ntomcui nechan; Mcp. 717 1^: anlma ne-
chondi nieht; 791 1: uiianda ouh tu philolofiia musicam rhaiist;
Boeth. 111 1^: edle die astronomiarn chunnen. Die bedeutung „wis-
sen", „verstehen" tritt in den angeführten beispielen besonders deut-
lich hervor.
III kaii mit Infinitiv.
Nichts führt in den — relativ — zahlreichen stellen, die wir-
hierfür beibringen können, über die ursprüngliche bedeutung von kiin-
nen hinaus. Es zeigt sich dies darin, dass die Infinitive, welche zu
kcui gesezt av erden, demselben vorstellungskreise entstammen, dem kön-
nen selbst angehört: sie beziehen sich durchweg auf eine handlung,
w^elche entweder selbst eine denktätigkeit bezeichnet oder eine solche
zur notwendigen Voraussetzung hat; so ist der Infinitiv durch ein ideel-
les band, durch verwantschaft des Inhalts, aufs engste mit hau verknüpft.
Können v\'ird ahd. stets von personen ausgesagt, auch darin zeigt es
sich, dass die ursprüngliche bedeutung „wissen", „verstehen" noch
nicht aufgegeben ist. Die personificationen , Avelche sich namentlich bei
12 KAHL
Xotker lindeii (z. b. Mep. 791^) können hiergegen nicht geltend ge-
macht werden. Niemals findet sich ahd. kan mit dem unpersönlichen
Subjekte ex, i\ verbunden.
Es tblw die aufziildun^- einiirer infinitivconstructionen. Sehr hiiufiir
begegnet uns die Verbindung cJian bccheuiien, uuizxeii, fernemen:
z. b. Xotker Mcp. 798 ^^ cJuoiiihi bcchenucn sih selben; 809 -; C98-i
gcsinnen chumie: Categ. 715-^ cluui ufu'vxcn; Ps. 118, 127 necliun-
dcn .... ireheune)i: (cod. St. Gall. liat nechoncleii — irchiesen);
Ps. 91, 0 Nechufüfen beehouien; vgl. weiter Boeth. 335 ^i; 347 -i;
Otfr. I, 1, 120; MSD 83, 69 iticlnoimi . . bidenclmn usf. Nicht aus-
schliesslich auf intellektuelle tätigkeit bezogen sind folgende infinitive:
bimklan Otfr. IV, 5, 10; da), reih uurclien MSD 86 B 1, 24; cjiriio-
gen MSD 91, 231; Notker Boeth. 15 ^"^ geantuurfen; 47 -^ gesagen;
65^- 20; 13922. .g gotc .. feinden; Ps. 34, 11; 49, 19; Mcp. 791 1«;
Categ. 434--' usw. In allen diesen beispielen darf aber die Übersetzung:
„ich weiss", ., ich verstehe " , „zu tuu'^ mit vollem fug aufrecht erhalten
werden: nichts nötigt uns, die verblassung von kiunian schon für das
ahd. anzunehmen.
Überblicken wir noch einmal die in diesem abschnitt geführte
Untersuchung, so ergibt sich, dass ahd. kan in bedeutung und syntak-
tischer anwendung vom got. und alts. kiimiun sich höchstens dadurch
untei*scheidet, dass die infinitivconstructionen nach kein in grösserem
umfange auftreten als im alts. oder gar im got, für welches diese syn-
taktische ausdrucksform nicht nachweisbar war. Da wir aber zeigen
konten. dass das ausbleiben des Infinitivs nach got. keinn auf einem
Zufall beruht, dass es dem griechischen original weit eher zur last zu
legen ist als der gotischen Übersetzung, so dürfen Avir in dem umstände,
dass das ahd. den adverbialen Infinitiv bei kein in relativ grosser aus-
dehnung kent, noch keine abschwächung von können zum verbum
auxiliare erblicken, zumal jene infinitive so gewählt sind, dass sie mit
dem Inhalte von können sich wo nicht ganz decken [bechennen, uiiix-
xen usw.) so doch aufs engste berühren (gesagen, geeintiairten u. dgl.).
Auch im ahd. ist also von einer abnähme der altererbten intellektuellen
kraft des begrifsverbums können nichts zu spüren: die ersten vorboten
jener Verwitterung tauchen in den frühesten denkmälern des mhd. auf.
§ 4. Können im niittellioclidcutsclien.
Bevor wir zur darstellung der syntaktischen Verhältnisse von kön-
nen im sprachgebrauche des mhd. übergehen, empfiehlt es sich, folgende
betrachtung algemeinerer art vorauszuschicken.
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 13
Nach der jezt vorhersehenden ansieht haben wir in dem infinitiv
den erstarten casus eines Verbalsubstantivs zu erblicken und zwar einen
dativ, der das ziel oder die richtung- einer bewegung ausdrückt (etwa
= ad. c. ger.; die näheren belege s. bei v. Monsterberg, der infinitiv
in den epen Hartmanns von Aue s. 59).
Der infinitiv, der zu können hinzugefügt wird, hat die aufgäbe,
dem Avissen oder verstehen, welches durch können nur algemein bezeich-
net ist, die richtung auf ein bestimtes ziel anzuweisen, chanst da
7/N'r (jcsagen (Notker Boeth. 47'-^) heisst nicht: kennst du das sagen,
yiyvcoGy.£Lg zö Ityeiv, sondern bist du wissend, intellektuell befähigt in
bezug auf das sagen, etwa = sciens ad dicendum. Mit dieser anschau-
ung verflicht sich das bewusstsein, dass der, welcher so spricht, eben
durch sein wissen und seine kentnisse die mittel besizt, deren er zur
erreichung jenes Zieles bedarf, das in dem Infinitive gcsagcn ausgedrückt
ist. Diese mittel sind bei dem ursprünglichen verbum können intel-
lektueller natur.
Es hat, so lange die alte bedeutung von können noch bestellt,
nur dann einen sinn mit können einen infinitiv zu verbinden, wenn
erstens der, von dem das können ausgesagt wird, eine person oder eine
als person gefühlte sache ist: denn es Aväre gegen den geist der spräche,
die sich noch des ungeschmälerten besitzes des begrifs verbums können
erfreut, wenn man einer sache ein" Avissen, ein verstehen zuschreiben
Avolte. Der infinitiv kann zu jenem kan, welches „ich weiss", „ich
verstehe" bedeutet, zweitens nur dann hinzutreten, wenn das ziel, auf
welches das können sich richtet, auch wirklich auf intellektuellem wege
erreichbar ist: denn nur in diesem falle befähigt das wissen zur errei-
chung des Zieles. Für das alts. und ahd. treffen diese beiden Voraus-
setzungen noch stets ein; einerseits wird hau nur persönlich gebraucht,
anderseits gehen die Infinitive, welche zu licin hinzutreten, aus dem
bereiche solcher handlungen, Avelche durch Veranstaltungen geistiger art
verwirklicht werden, nicht heraus.
Im mhd. werden diese bedingungen jedoch nicht immer und über-
all erfült. Wir finden können mit sachlichem Subjekte oder auch ganz
unpersönlich gebraucht; der infinitiv, der dem können den weg weisen
soll, erstreckt sich oft auf handlungen, über welche das wissen und ver-
stehen kein anrocht mehr hat, deren Zustandekommen oft geradezu von
körperlichen mittein abhängt. Die berufung auf die ursprüngliche
bedeutung von können genügt in diesem falle nicht mehr. Das intel-
lektuelle moment, das dem alten kan so charakteristisch zueignet, wird
bei diesen gebrauchsweisen kaum mehr gefühlt. Es bleibt nur noch
14 KAHL
der ausdruek der befiihiguiig zu einer tätigkeit, ohne dass die geistige
Voraussetzung jenes fjlliigseins noeli hervortritt; mit andoion werten:
die spezielle bedeutung „durch wissen befähigt sein" wird durcli die
algeraeinere ^überhaupt befähigt sein" verdrängt. Yoni Standpunkte
der nhd. spräche aus nehmen wir keinen anstoss daran, können im
sinne des algemeinen mögliclunacliens zu gebrauchen. AVir sagen: „ich
kann lesen, „lateinisch sprechen" usw.; al)er aucli: „icli kann noch ge-
sund werden", d. li. es besteht für mich die mögliclikeit zu gesunden,
oder gar: „ich kann dies oder jenes gewicht haben", wo an eine ver-
mitlung geistiger art zwischen dem Subjekte und dem objekte gar nicht
mehr gfedacht werden darf.
Man versrass also im laufe der zeiten, dass können auf dem besitze
geistiger kräfte ruht, die das könnende Subjekt zur erreiclumg irgend
welchen Zweckes in bewegung sezt; man behielt nur die algemeine
Vorstellung davon, dass der könnende überhaupt die fähigkeit hat, auf
die faktoren, welche eine handlung in ihrer entstehung bedingen, so
einzuwirken, dass die überleituns: aus der blossen möfflichkeit in die
Wirklichkeit gewährleistet erscheint. So kam es, dass man können in
beziehung zu verben sezte, welche der Sphäre geistigen geschehens, der
können ursprünglich ausschliesslich augehörte, fremd gegenüberstehen.
Der begriff der mögliclikeit, nicht mehr das band intellektueller fähig-
keit, verknüpft jezt lan mit seinem Infinitive. Es war nur eine etappe
auf diesem wege, wenn man sich schliesslich nicht mehr scheute, durch
den zu hau gesezten Infinitiv auch solche handlungen andeuten zu las-
sen, welche von der ausübung körperlicher tätigkeiten abhängen oder
durch die eonstellation äusserer umstände bedingt sind, über welche
uns die macht entzogen ist.
Aus dieser betrachtung ergeben sich die kriterien, aus denen wir
erkennen, ob wir es mit einem reinen, ursprünglichen, oder mit einem
abgeblassten können zu tun haben. Wir sagten eben, dass die Ver-
witterung der verbalen kraft von können solche Infinitive in die nähe
von können führte, welche mit intellektueller tätigkeit nur an sehr
wenigen punkten sich berühren. Wir schliessen nun rückwärts: wenn
der infinitiv nach hau eine handlung bezeichnet, die zu ihrer Verwirk-
lichung geistiger beihülfe nicht bedarf, wenn das band der inlialtsver-
wantschaft zwischen han und seinem infinitive gelöst ist, so ist uns
dies ein anzeichen dafür, dass hau nicht heisst: ich verstehe mich auf
etwas, ich bin geistig befäliigt in der und der richtung tätig zu sein,
sondern ganz algemein: für midi bestellt die mögliclikeit, dass diese
oder jene faktoren so zusammenwirken, dass ihnen die geplante band-
KONNEX UND MÖGEN IM ALTD. 15
lung entspringen kann. Anf der anderen seite können wir folgende
betrachtung anstellen: dem alten können konit natiirgenüiss nnr ein
persönliches Subjekt zu; es widerstrebt dem Sprachgefühle von einem
dinge ein können im siune des Wissens auszusagen. So finden wir
auch im got., ahd. und alts. können nur persönlich gebraucht. Seit
dem XII. Jahrhundert begint sich liier ein wandel zu volziehen. Die
spräche trägt kein bedenken mehr, auch nicht-menschliche Subjekte zu
trägem eines könnens zu erheben. Wir werden weiter unten einige
Zwischenstufen aufzeigen, welche von dem persönlichen gebrauche zu
dem sächlichen hinüberführen. Zulezt hat man die alte kraft von kön-
nen so sehr vergessen, dass man sogar ein e%, das inhaltloseste und
schwächste aller grammatischen Subjekte, für stark genug hielt, einem
können als stütze zu dienen.
Das sind die kriterien, die uns bei der aufführung der belege für
jenes abgeschwächte können zu leiten haben werden: einmal der ver-
änderte Charakter der infiuitive, die zu kan in abhängigkeit treten;
sodann die Verknüpfung von han mit sächlichen und unpersönlichen
Subjekten.
Bei den bisherigen Untersuchungen sind wir von der feststellung
der bedeutung ausgegangen, um auf diesem wege eine sichere grund-
lage für das Verständnis der syntaktischen construktionen zu gewinnen.
Für das mhd. wird diese Voruntersuchung kaum nötig sein, da ]:an im
ahd. noch die rein intellektuelle bedeutung „wissen", „verstehen" durch-
weg bcAvahrt hat. AVir dürfen getrost annehmen, dass diese bedeutung
zunächst auch in das mhd. übergegangen ist. Der volständigkeit hal-
ber soll hier nur auf einige glossen verwiesen werden, die zur bestä-
tigung dieser annähme dienen können. Die ausbeute, welche uns die
mhd. glossare gewähren, ist freilich sehr gering. Man wird die mei-
sten der erhaltenen mhd. glossare und vocabulare (Mone, Quellen I,
273. 300; Mone, Anz. f. k. d. d. vorz. III, 47. lY, 81. 93. 231. 489.
Y, 84. 229. YI, 210. 337. 435. YII, 194. 297. YIII, 93. 247. 489.
H. Hoffmann, Sumerlaten. Mhd. glossen 1834, W. Wackernagel,
Yocab. optimus. 1847, zusammen mit mehreren nur handschriftlich
erhaltenen vocabiüarien und ersten drucken benuzt von Diefenbach,
Gloss. lat.-germ. med. et inf. lat: Suppl. zu Ducange) vergebens nach
einer form von können durchsuchen. Der vocabular des Niger Abbas
(ed. M. Flohr, Strassb. stud. III, 1) bietet n. 4372/73 s. 74: sciencia
JiUnst; scientificus hünstiger; aus Mainzer Yoc. bringt Diefenbach s. 518
sciens kunsticli, scientificus hinsticiser'^: wir dürfen daraus rück-
schliessend kunnen = scire festsetzen; auf die gleiche bedeutung führt
16 KAHL
uns die bezeichnende stelle: Gudr. 286, 1 nir lionfof^ niht heschei-
den noch irissoix nihi xc sagen.
Im mhd. hat also die alte bedoiitung hunnen = scire noch be-
standen: dass dieselbe aber niannigfoche abselnvächiingen erlitten hat,
wird die folgende Untersuchung zeigen.
"Wir wenden uns nunmehr der erörterun"* des syntaktischen ce-
brauchs von können im mhd. zu.
I. Absoluter gebrauch des mhd. luui.
Im ^Ihd. wb. I, 805 b ist mit recht bemerkt, dass ein absolutes
han aus dem mhd. nicht belegbar ist, dass an allen den stellen, an
denen han scheinbar selbständig steht, ein Substantiv oder ein Infinitiv
zu ergänzen ist. Dortselbst ist eine anzahl solcher scheinbar absoluter
han besprochen, die durch die annähme einer ellipse sich olme mühe
erklären lassen: Iw. 7684: Wig. 34; Gotfr. Trist. 90 2-?; pf. Konr.
117-^ usw. Es wäre ein leichtes, das hier gebotene Stellenmaterial
noch beliebig zu vermehren, da fast jeder mhd. Schriftsteller von der
auslassung des inf oder subst. nach künuen gebrauch gemacht hat.
Doch verzichte ich darauf, noch näher auf diese leicht verständliche art
der ellipse einzugehen und weitere belege, die mir reichlich zu geböte
stellen, herbeizuschaffen. Xur auf eine gattung dieser ellipse möchte
ich hier noch kurz aufmerksam maclien. Bei mögen tritt die auslas-
sung des infinitivs öfters dann ein, wenn der unterdrückte Infinitiv eine
bewegung bezeichnet: es genügt hier die blosse angäbe der richtung,
welche die bewegung nehmen soll, durch ein ortsadverb oder dgl., z. b.
Nib. 576, 2 icess ich, war ich mehte; Gudr. 734, 4 duK si nindert
inugot xao den strdxen. Bei hunnen dagegen findet sich diese ellipse
weit seltener; sie liegt vor z. b. in Gudr. 1124, 2 .so si aller beste
dan )nit ir schrffen handen; G. Trist. 465 '•'• ine han weder dar
noch dan.
II. hart mit substantivischem objecte.
a) im accusativ.
Der aufzählung der beispielc, welche diesmal in grösserer volstän-
digkeit als sonst frfolof.n soll, will ich die Ix^merkung vorausschicken,
1) AVas mit der iid. glosse noscere hfhynnen (Mone Quellen ], 307) auzu-
fangeo i.st, weiss ich nicht; Schiller-Lübben AJnd. wb. I, 209 belegen nur helen-
nen; zudem wäre honnen, nicht htjnnen nd.
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. l7
dass der gebrauch des objektsaccusativs nach ]^ (innen gegen das ende
der mhd. zeit in deutlich Avahrnehmbarer abnähme begriffen ist: es
liängt dies damit zusammen, dass kunnen überhaupt im mhd. eine ste-
tig zunehmende abschwächung erfiilu-t. Bei den hütischen dichtem des
XIIl. Jahrhunderts findet sich jener gebrauch noch in ziemhcher aus-
dehnung: bei Gotfried habe ich z. b. 40 hierher gehörige fälle gezählt;
im volksepos tritt die construction zurück. Gudrun hat sie 10 mal,
Nib. gar nur 1 mal (254, 1); Konrad v. W. bietet in mehreren seiner
werke keinen beleg, so im Alex, und in der Gold, schm., im Engelh.
nur 3; Xicol. v. Jeroschin und Boner verwenden han in der erwähn-
ten weise auch nur je Imal. Über die spärlichen restc des accusativs
nach können im nhd. handelt Hildebrand im D. wb. Y, 1725. An
folgenden stellen ist mir objektsacc. nach mhd. han begegnet:
MSD 30, 75 sie Icunnen alle liste; 31, 6 ivant st diu hiioch chiin-
clen; 37, 2, 5 sich suer dir icht ehreschin kan; 96, 19 chcui er des
heiligen gloubeii niht
Will. 58, 16 sacramenta scripturaruni; 118, 5 discretionem odoris
et foetoris.
Gen. 102 10 list.
Roth. 1029 rede.
Hpts. Hl. 5, 7 vil ist des wir kunnin.
Heinr. v. M. Pr. 66 gemäinez biwort; 453 ez (sc. gotes u'ort)\
544 vil der buoche.
M. F. 22^0 der (witxe ivnde sinn) niht enkan; 33'^^ der besten mäxe
ntet; 10123 ^j^^^^. 13225 ^^-a;^ . 13334 gö vil; Ibi^^^aldax; 180 32.
192-'- dax; 194^5 rat; 207 ^ des ich niene kan,
Eneit. 1518 rät; 1803 ivech; 2281 iconders vele; 4559 wech; 6394
et; 6568 dat; 8790 et; 9408 list; 9746 rede; 10229. 10232 et;
11241 liste; 11392 geiconne.
Hartmann Iw. 5318 riterschaft; 6201 dax; 7301 silexes; Er. 5188
xoubers kraft; 7368 dinges aide; 8748 list; Greg. 954 rede; 1407
buoche; 1409 mere.
Wolfram. Parz. 55, 19 franxogs; 85, 18 ivälltisch spräche; 96, 30
stich; 104, 26 dax; 115, 27 buochstap; 147, 28 vil; 193, 9 des
— niht; 439,21 icidersax; 490,30 ivax wiinders ; 641, 28 xiiht;
796, 16 künste. Wilh. 90, 3 tröst; 94, 26 7iiht bexxers rätes;
110, 4 spil; 192, 12 spräche; 233, 6 liste; 237, 6 franxeys;
278, 18 dienest; 295, 27 ivenic; 408, 14 krte. 1. 7, 13 ninuex
singen.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 2
18 KAHL
Gotfr. Trist. 27 ^ xoubcrlist: 55 ^ hovcsjyfl: 57^1 schdchxahdspü;
58^ //^7; 6811 guoics: G9-- iralhthir: 79^^^ dcix; 90 i^ ihtcs iht;
90-1 ti^i.jjicr hamlc: 93 i' scitspil: 93 2^ es; 94^ seifspil; 941«
rremcdcr \umjc)i iht: 94^*^ //.s-^c; 95 ^ «//e^ ; 95 12 .s^^//; 99^^
kfüisf: 108 1^ i7/0(/e; 120 ^'^ amhet; 121 ^o ^oe/^e; 122 3« ^::^,;
1231^ r/«v,- 175 3' list: 190 3" iriDidcr; 191 '^ höfscheit und vuogc;
194--' //>^ ?//^^e kirnst: 194^'^ vrcmdcr spräche vü; 197 1^ c?e.9 —
/v7; 1992 scitspil: 201 n ^/r?;,- 201 1' t'?/or/c,- 201 ^^^ spmche; 202*
r^/o^r; 2151^ spräche: 219--^ tantsprdchc: 249 i" .s;^//; 272-^ ?m;?^
iru?iders; 273 ^^ lantsprdclic; 326^' inuidcr; 404 ''^ Z/s^. — lobg.
31, 1 /^es/e — ^flx.
Ulr. Trist. 511 1^ /r/r/f/^/c,- 553i* Z/s^.
"\Yigal. 235 scitspil; 334 spräche; 561 c.v; 1060 sträxe.
Nib. 254, 1 crxenie.
Gudr. 4, 2 a/Zes des gemioc; 51, 2 ^a.v; 342, 2 >uJ(^/; 358, 3 e;^;
359, 3 sicanke; 374, 4 icise; 383, 4 stimme; 714, 1 ^fc;
1056, 2 CA.
AValth. 18^1 guotes; 43 1^ 7näxe; 46-^ ^^fse; 48 ^^ «^^a.^/ 51 1'^ /.ou-
her; 56^ //s/; 58 ^'^^ wunder; 73^6 m/?/ mere; 73 ^^ flüeche;
103 3^ guotes; 115^6 uunder rede; 116 n fuoge; 116^9 ^/i^
Frid. 8, 2 gelouhen; 44, 6 untriuive; 57, 13 sivax; 65, 19 Z/s^;
66, 22 ^0/65 ^ror/e; 70, 20 f/c.s- glouben niht; 75, 5° /^s/; 78, 16
kiinst; 79, 11 Z/5^; 80, 7 ;-e<^/e,- 115, 7 kunst.
Konr. Engelli. 89 dix alles; 756 schdchxabel imde seitenspil; 4073
177 ivunders.
"Weinschw. 67 dax.
Berthold v. K. 38, 34 (Pf. I) schal (vgl. Rötteken 1. 1. s. 118).
Leyser pred. 12, 29 dinch; 67, 24 scrift; 76, 40 huoch.
Boner 20, 4 kluogheit.
Xic. Y. Jer. 1, 304 dätschis.
Rülmann 139, 13 sträxe.
Das :Mlid. Avb. I, 805b und Lexer, Mhd. hwb. I, 1778 bieten
noch einige weitere beispiele aus Lanz; MS; Kenner; Wgast usw., die
nochmals auszuschreiben es sich nicht der mühe verlohnt, da in ihnen
dieselben substantiva widerkehren, die wir schon beobachtet haben
(z. b. sträxe, icege, puoche, rät u. dgl.).
Zum schluss sei noch darauf hingewiesen, dass der accusativ bei
kau uns können noch als volkräftiges begrifsverbum zeigt.
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 19
b) Sabstantivisclio Objekte durch eine praepusitioii mit hin
verknüpft.
Bisher luiben sich, so viel ich sehen kann, nur zwei forscher auf
dem gebiete der mlid. syntax über den gebraucli der praepositionen
nach mhd. hDincn ausgesprochen: J. Grimm und Lucae. J. Grimm
erkliirt Gr. lY, 138 die anwendung der pracp. an, xe^ mit (andere sind
niclit nachweisbar) bei lunuoi in folgender weise: „Man darf einen
infinitiv supplieren, der ungefalir das, was unser nhd. „umgehen", aus-
sagt; da es aber mhd. hiess: mit triuicen varn (Parz. 167, 29; 322, 21;
mit Worten varn Iw. 7685; mit ir varn Iw. 3960; mit saclden varn
Wig. 8634), so kann ganz gut die übliche ellipse von „Miren" bei-
behalten w^erden." Diese erklarung scheint algemeine billigung gefun-
den zu liaben (vgl. Martin zu Gudr. 285, 4); sie ist auch vom mhd.
wb. adoptiert worden. Widerspruch gegen sie erhob Lucae (Über
bedeutung und gebrauch der mhd. verba auxiliaria s. 15), der die
annähme einer verbalellipse ablehnt, weil die bedeutung von kiinnen
„bescheid wissen, bekant sein mit" die Verwendung der praep. nach
Ji'inincn volkommen genügend erkläre; ich hart mit riter schaft sei zu
übersetzen: ich weiss bescheid mit ritterlichem tun. — Einen eigent-
lichen beweis hat Lucae für seine ansieht nicht erbracht; icli möchte
ihn im folgenden antreten. Zunächst verweise ich nochmals auf das
oben besprochene beispiel Heliand 2531 can te gitlioikeanne, Avelches
wir mit Steig durch die Umschreibung: „ich habe intellektuelle kraft,
gewalt zu" erklärten. Sodann sei folgender umstand hervorgehoben:
viele der substantiva, welche mit an, xe oder mit an kan angeschlos-
sen werden, lassen sich auch in der form des objektsaccusativs bei kan
nachweisen; das nötigt uns, einen Zusammenhang zwischen beiden con-
struktionen, dem objektsaccusativ und der praepositionellen anknüpfung,
anzunehmen. Ferner finden wir mehrere dieser substantiva mit jeder
der nach kunnen üblichen praepositionen verbunden. Wolfen wir also
mit Grimm eine verbalellipse annehmen, so müste das zu ergänzende
verbum so gewählt sein, dass es zu an, ze, mit passt: für varn trift
das nicht zu; welches analogen liesse sich beibringen zu varn an riter-
schaft? Auch sonst wdrd sich kaum ein verbum finden, welches dem
erwähnten anspruche voll genügt.
Es wird von der annähme einer verbalellipse bei kan mit praep.
abzusehen sein; wir haben vielmehr in dem gebraucli der praepositio-
nen nach kunnen ein anzeichen für eine besonders kräftige bedeutung
von kunnen zu erblicken: mhd. kan c. praep. berührt sich aufs engste
mit alts. can te githenkeanne. Zu vergleichen ist weiterhin der gebrauch
2*
^ KAHL
der praep. nach in'\.\cfi (Mhd. wb. III, 786"), z. b. AValth. 41 3*' irlsic
ich niht und) uuijcmaclt: Wolfr. Parz. 532, 16 m)ih solhen Jcfinibcr ich
nihf iccix: vgl. 720, 5; 805, 11; gv. Rud. C^ 23 ivixxcn lunmc arbeit;
auch mii findet sich so, jedoch nur an 2 stellen: Cr. Trist. 21 ^^
jedoch eniresier nihf hie mite: Flore 6211 Claris leiste niht da mite
(vgl. Sommer z. st); ebenso ro)i: Parz. 3, 29 diu ave/itiure tat iiich
tcixxen beide von liebe iifid con leide; Albr. 39, 90 die niuait von
arbeit leisten.
Ich teile nunmehr die beispiele von Imn mit praep. mit, und zwar
in solcher anordnuug, dass sie zugleich unsere obigen ausführungen
untei-stützen,
rede a) im objektsacc: Roth. 1029; Frid. 80, 7; Eneit 9746;
Greg. 954. b) verknüpft durch mit: Flore 6634. c) verknüpft
durch xe: Ej-one 11854.
Vit er Schaft a) acc. Iw. 5318; Ulr. v. Licht. 13 2. b) wz7 Wolfr. Parz.
66, 10. 152, 12 (ritters fuore) : Wig. 8456. c) xe Hartm. Greg.
1365; Ottok. 152^ fastn. 424, 20. d) an Eneit 9069.
xuht a) acc. Wolfr. Parz. 641, 28; Gudr. 342, 2; G. Trist. 1918
(höfscheit) . b) mity^oMv. Parz. 493, 18. c) x e Wgast 1274 (höfscheit).
strit a) acc. fehlt, b) mit: Wolfr. Parz. 210,, 22. 348, 24. 704, 6
(tjost): 738, 23 (fjost) : Wilh. 78, 5. mit gejegede G. Trist. 361 2.
c) xe Loh. 1163 xe tjoste; Bit. 647; Ottok. 93*" xe urliiige.
guot a) acc. G. Trist. 68^; Walth. 18^1. 103^^; Wgast 4796. b) onit
fehlt, c) xe Wgast 3555. 4508.
triuive a) acc. Frid. 44, 6 (untriuive) ; b) mit M. F. 128 ^8. c) ze
Wgast 1588 xe staete.
mit juncfroiuen U. Trist. 504 1-*; xu vrouicenliebe Heinr. Trist.
3720.
list c. acc. Walth. 56^ u. ö.; mit vaUchen listen g. Gerh. 815.
Die übrigen beispiele, bei denen ähnliche vergleiche wie bei den
bisher angefühi-ten nicht möglich sind, sind, nach den praepositionen
geordnet:
mit: Wolfr. Parz. 2, 13 mit sclianxen; 62, 24 mit armüete; 114, 13
mit sänge; 317, 25 mit schalleii; Tit. 90, 3 7nit truopheit; G. Trist.
72- dandte; 78-^ hie mite; 385 ^^ mit ihte; Benecke Bei tr. 184 =
Ulr. V. Winterstetten ed. Minor Y, 178: mit den Hüten; Lamp.
Alex. 4223 da mite; Konr. Troj 6271 mit geschüixe.
xe: Gudr. 285, 4 xe arbeit (vgl. Martins anm.) 997,1 darxuo; Heinr.
Trist. 2206 xuo schimpfe; Warn. 1568 xe freuden.
an: Eneit 9069 an riderskap.
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 21
Die an Wendungen des mhd. hinnen, die wir bisher besprochen
haben, zeigen uns können noch durchweg als begri tsverb um transitiven
Charakters, zu welchem substantiva in ein abliängigkeitsverhältnis tre-
ten. Die abschwächung xow huiincn zum hülfsverbum tritt in einer
anderen gebrauclissphäre ein: (hi, wo der infinitiv dem können ein
bestimtes ziel in einer handlung anweist, zu der der könnende befä-
higt erscheint. Die verminderte rücksichtnahme auf den ursprünglich
rein geistigen cliarakter dieser befähigung hat, wie wir oben darlegten,
dazu gefühlt, dass können seinen eigentümliclicn Inhalt iimner mehr
verlor und den bescheidenen rest seiner verbalen kraft luii- nocli als
verbum auxiliare zur geltung brachte.
IIL kau mit dem infinitiv.
Wir haben bereits oben die kriterien besprochen, die uns bei der
Unterscheidung des reinen können vom abgeblassten zu leiten haben:
wir müssen auf der einen seite das Verhältnis berücksichtigen, welches
zwischen können und dem begriflichen Inhalte des adverbial zu ihm
gesezten infinitives besteht, und müssen auf der anderen seite darauf
achten, ob hunnen von einem persönlichen oder unpersönlichen, säch-
lichen Subjekte ausgesagt wird.
Überblicken wir nun die überreiche fülle der beispiele für hm
c. inf. , so lässt sich durch mehrere Zwischenstufen hindurch ein almäli-
licher Übergang von der bedeutung „wissen, verstehen", zum ausdruck
der objectiven möglichkeit verfolgen. Am reinsten tritt uns können
da entgegen, wo der infinitiv bei ]iCüi derselben begrifssphäre entnom-
men ist, der kunnen ursprünglich selbst angehört. Eine gelinde
abschwächung der bedeutung begegnet uns da, wo der infinitiv nicht
mehr ausschliesslich dem gebiete geistiger tätigkeit entstamt, wo die
handlung, welche durch den infinitiv bezeichnet wird, zu ihrem Zu-
standekommen der intellektuellen beihülfe des könnenden zwar nicht ent-
raten kann, daneben aber doch noch auch anderer faktoren bedarf, welclie
von dem geistigen vermögen des könnenden Subjektes nur indirekt
abhängen. Je weiter nun diese faktoren sich aus dem bereiche dessen
o
entfernen, dem das können einer handlung zugesprochen wird, um so
mehr nähern wir uns jenem abgeschwächten können, welches dem aus-
drucke objektiver möglichkeit dient.
Zur erläuterung des gesagten wollen wir hier das Schema mittei-
len, nach dem wir weiter unten die beispiele für hinnen c. inf. anzu-
ordnen gedenken; hieraus wird sich sogleich ergeben, was unter jenen
22 KAHL
faktoren zu Yei*stehen ist, welche im laufe der zeit mehr und mehr aus
dem begrifsverbum können das intellektuelle monient verdrängt haben.
L Können bewahrt wenigstens zum grösseren teile noch die ursprüng-
liche bedeutung: „wissen", „vei*stelien". Der Infinitiv, der von
können abhängig gemacht wird, bezeichnet:
1) eine denktätigkeit selbst (erkennen, vcrstCui, ivix:Kcn).
2) eine handlung, Avelche eine denktätigkeit zur uutAvendigen
Voraussetzung hat. Diese handlung besteht:
a) in der veräusserlichung und versinlichung innerer, gei-
stiger Vorgänge (ycsaijcn, riltcn, sprechen).
b) sie beruht auf dem einfluss der intellektuellen kräftc auf
die übrigen triebkräfte des Seelenlebens: zum zwecke
einer einwirkung auf gefühl und gemüt, oder zur dauern-
den gewöhnung an eine bestirnte art des moralischen
Verhaltens (frö (jemachen, trösten, gehären, staete sin).
c) sie entsteht durch das zusammenwirken der geistigen
und körperlichen fäliigkeiten des menschen, so zwar,
dass das physische vermögen von der intellektuellen ein-
sieht geleitet wii*d (vehten, gestrlten usw.).
d) sie sezt eine beziehung des Verstandes auf die Objekte
der äusseren natur voraus, welche durch das wissen in
den bereich menschlicher tätigkeit hineingezogen werden
(gesmkle shnt usw.).
IL Können verblasst zu der algemeinen bedeutung des „möglich-
machens"; es wird hülfsverbum ; dies zeigt sich darin, dass
a) der Infinitiv jezt dem können ein ziel sezt, welches durch
gei.stige Veranstaltungen nicht erreicht werden kann.
b) dass hunnen
a) von säclüichen,
ß) von unpersönlichen (ez) Subjekten ausgesagt wdrd.
in. Können verliert jede eigene bedeutung und tritt zu dem Infinitiv
hinzu, ohne denselben merklich zu beeinfiussen.
Wir können niuimehr zur mitteilung der zu I. gehörenden bei-
spiele schreiten; auf vol ständigkeit in der aufzählung der belege glaub-
ten wir hier verzichten zu dürfen, um den umfang der arbeit nicht
zu sehr anzuschwellen; aus jedem der von uns durchgearbeiteten schrift-
steiler sind einige belege ausgewählt; es wird ein leichtes sein, auch
aus andern Schriftstellern diese beispielsamlung beliebig zu vermehren.
Wegen der beispiele aus Hartmann verweise ich auf v. Monsterbergs
vortrefliche arbeit: Zs. f. d. ph. XVIII, 144.
KÖNNEN UNT) MÖGEN IM ALTD. 23
Rother 259 versin nen.
Heinr. v. M. Er. 94S gcdoichot ; Pr. 1 P)S crchennoi; 141 bedcnchcn.
M. R 441^ (jcdoikoi; 89'^^ rersuuten; 120^^ ro/ hcdotken.
Eneit 1805 bedenken; 2571 erkennen; 13150 erdeiiken.
Hartmaiin a. H. Sil verstdn; Iw. 841 erdenken; 2859 erkennen.
G. Trist. 1-^ erkennen; 192^ ici\xen; 349^^ gemeinen.
Ulr. Trist. 499-^' m>'/r/;^.
Wo 1fr. Parz. 369, 3 rersinnen; Willi. 178, 2 versten; 25(3, 3 eraJffen.
Nib. 152,3 irixxenknnde CD (/;^o///^ AB); ()02,3 m-^/ry^D {///r/c ABC);
1316,2 wixxen; 1678,3 cersfdn; 1904,3 understdn mit sinnen Q¥.
Klag. 77 gemerchen; 318 icizzen; 1682 versinnen.
Gudr. 1142, 4 gemerken; 1677, 1 eraMen.
AValtli. 42^ verstdn; 59-^ erdenken; 96 ^^ versten.
Frid. 62, 13 merken; 102, 8 erkennen; 141, 21 verstdn.
Konr. Eng. 269 erkoinen. Alex. 1142 hedejiken.
Berth. p. 881, 1 (W.) ertrahten.
Boner 43, 44 erkemie}i.
Nie. Jer. 43, 101 vcAciclitin; 52, 156 volahten.
I2a.
Will. 18, 6 ivistuom iiure hringon; 48, 27 gesagen; 51, 11 hesehir-
men niit spiritucdibus annis; 118, 3 discernere.
Gen. 1, 3 reden.
Ann. 84 predigin.
Roth. 394 gesagen; 1023 gecinticorten; 4360 geraden.
Hpt. Hl. 91, 4 gesagen.
Heinr. v. M. Er. 476 vergexxen; 613 singen; Pr. 184 geantwiirten.
M. F. 11 1'^ sehen; 25 ^^ gezeigen; 42 ^^ vertrtben mit geda)iken; 44^^
Uren; 115 ^^ versteigen; 125'-^ fliegen mit gedanke)i usw.
Eneit 36 genoemen; 442 gevrdgoi; 915 geseggen.
Hart mann a. H. 871 zeigen; Iw. 2096 gesagen; 2264 gesprechen.
Wolfr. Parz. 127, 22 /cre^^; 337, 25 /-^V/ie sprechen; 454, 10 beschei-
den; 457, 28 wdrheit sagen; 645, 20 y<?Ä;i; 792, 5 ?/??7 //ö/cm rer-
siiochen; Tit. 49, 4 volschriben; Will. 58, 22 ?'ft^ ^eZ/c/L
G. Trist. 59'-*^ w/^ sinnen hin bringen; 114 ''^ bescheiden; 174 3' ??2zY
//ö/e;i schermen; 183^^ gescheiden. lobg. 67, 5 ??22Y re^e volenden.
Ulr. Trist. 569-^2 ^-^^y^,^^. 5574 /^^.g,^.
^^ib. 10, 4 genennen; 293, 3 gelouben (Blh); 959, 3 verdagen; 1118, 2
verjehen; 1152,1 gesagen (C); 1386,2 betiuten; 1878,2 idzzen län.
24 KAHL
Kl. 424 hcschcidcN : 1719 rdfcN.
Giidr. 812, 3 fcitw iralfof : 418, 4 vrdifoi; 542, 4 mit listen heilen;
607, 1 brierc ijeksen; 1570, 1 beseheiden.
Walth. 8 1^ rat f/egcbe?i ; 110-' .\e danke sin[/en; 120-'' verheJen.
Fr id. 5, 21 ijeheten ; 81, 2 uisheit ijepfleyen ; 115, 17 gedcuilx vdlien.
Konr. Eng. 27 rdt vindoi; lOSij bed inten; Gold.schm. 3 (jetihte snicLxcn.
Sachsp. 1, 23, 1 bereden.
Bertli. s. 879, 17 cjesagen.
Bon er 12, 47 nort geben.
Nie. Jer. 8, 8 voltihtin; 30,8 geloubin; 34,283 niiseliin )nit wunder-
lich i)i listen.
I2b.
Will. 141, 19 eoinpciti; 137, 13 parcere.
Hpts Hi. 117, 7 gexerten.
M. F. 12^ bcivarn: 64 '^^ trnric sin: 83 i* behagen; 100-^' s/r/t'/c sf?i;
111- vertriben seneliche suriere ; IIb '^^ klagen; 117^ gebaren; 148^''
/<vY verkeren; 170 ^^ s/c/? schöne tragen; 175 1' unsaelde erwenden;
182^'^ staHe sin; 183^ vrö gemachen; 193' tugentlich leben; 197^
hühgemüete geben.
Eneit 11302 67c7^ /^ezr^r^^.
Hartmaun a. H. 304 gebaren; Iw. 2423 geliebelt; 3560 ?^rt€/^ r?^(?r-
lichen siten gebaren; 6809 s/r/e/e werden.
Wolfr. Parz. 59, 18 e;-<??i ?/?^^e trüäen; 93, 3 manheit tragen; 140, 2
7'iuiven; 154, 16 minnen; 170, 30 7;??"^ schäme ringen; 547, 30 t^er-
sereii; 606, 4 xornes icalden; 649, 14 manltch dienst iuon; Wilh.
90, 3 /rÖ5-^ geben; 92, 28 xürnen; 168, 4 troesten; 345, 28 triuwe
hdn: 415, 24 ;i//Ä/e ivalten.
G. Trist. 193 3''^ gelieben; 290 ^'^ /rösten; 462^2 //Z/^^/^(/e ?mt/ ifrÖ5/f
Ulr. Trist. 587--^ w?Y ^/z^o/e fe^<??i.
Nib. 11, 4 ere?i pflegen; 635, 4 herlichen leben; 714, 3 7Aihte pflegen;
960,4 verklagen; 967,1 troesten; 1137,3 tagende pflegen; 1174,2
friuntliche liebe begän; 1753, 3 ^rc?i pjhlegen; 2269, 4 verklagen.
Klage 57 fröiide pflegen; 71 re/i/er triuiven pMegen ; 385 s/c/^ gefreun;
812 :ie sorgen bringen; 1228 w2<o/ gehen; 1323 ???zY ivilnne leben.
Gudr. 218, 4 ??a67i ere?^ gedienen; 284, 4 getroesten; 975, 9 dienen.
Walth. 6" ;72/?^-e geben; 24^^ />'ö gebären; 44^ 26'(?5ey^ /y'ö; 91 ^^
gedienen; 124-'^ sorgen.
Frid. 114, 9 schone geleben; 118, 19 sanfte geleben.
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 25
Konr. Eng. 375 crfrönicoi; 595 (jctritiirc sin; 4965 sich la^tcrs schä-
men.
Weinscliw. 85 fröudc (jcbcn.
Boner 25, 21 (/cmaxcn.
I 2 c.
Will. 5], 4 achtiuf.
M. F. 83^' rlicn unde jagen.
Encit 521G hehne houiren; 5930. 7852 vechtrn.
Hartmann Iw. 6993 striten xe rosse und .\c vuo\e; 7000 den man
reUen.
G. Trist. 69 -"^ pAc/-/ gehaben; 83^- yecolyen; 165- xe haniphe sincm
Jthe mite gän; 331^^ roüen; 433 ^^ Jonfcn.
Ulr. Trist. 527" nten.
Wolfr. Parz. 263, 15 iceren; 538,9 ringen wd mit dem sivanhe tu-in-
gen; 597, 18 tjosle mexxen: "Willi. 411, 16 mit dem sirerte irern.
Nib. 129, 3 gevolgen; 194, 2 geleiten; 1825, 3 riten; 2220, 4 ///
dem starn?e bexxers 77iht getuon; 2280, 4 gein rinden stän.
Klage 695 rideJn; 928 Schildes rant xe scherine tragen.
Gudr. 92, 3 rersniden; 363,4 schirmen; 514, 4 helme Uieben; 517, 3
r eilten; 1058, 2 gewaschen.
"Walth. 351'^ rillten.
Fr id. 154, 9 beschirmen.
I2d.
(Die beispiele berühren sich hier t»t't mit I 2 c.)
Roth. 794 gesmide sh'in.
Heinr. v. M. Er. 722 fiwer — erleschen.
G. Trist. 118 •^'^ golt von sirachen sachcn machen.
U. Trist. 573'* slüxxele machen.
Wolfr. Wilh. 370, 18 S2:)er machen.
Frid. 25, 20 glas machen; 126, 6 von baste scharlachcn machen.
Die Infinitive, welche wir bislier aufgezählt und je nach dem
crrade ihrer enireren oder weiteren beziehung zu dem intellektuellen
vermögen systematisch gruppiert haben, hatten die gemeinsame eigen-
schaft, dass die handlang, auf welche durch sie hingewiesen wurde,
geistiger beihülfe zu ihrer Vollendung bedurfte: der könnende lieh
gleichsam seine geistigen kräfte, sein wissen und verstehen, einer ande-
ren fähigkeit seines geistes oder körpers. In den angefüln-ten beispie-
len komt man mit der Übersetzung: „ich weiss, ich verstehe zu tun"
noch durchwes: aus. Auf der anderen seite konten wir aber beobach-
ten, dass das Verhältnis zwischen können und seinem Infinitive immer
26 K.UIL
mehr sich lockerte. Namen tlicli da, wo das können zu den bewegun-
gen des menschlichen körpers oder gar zu Objekten der äusseren natur
in bezieluing tritt, schwindet das bewusstsein für die geistigkeit der
mittel, welche das ursprüngliche können an die band gibt, mehr und
mehr. (Jehen wir auf diesem wege weiter, so bleibt zulezt nur noch
der begriff des möglichmachens, der fäliigkeit, eine Wirkung herbeizu-
führen, ohne dass man sich bewusst bleibt, dass das können anfänglich
stets eine geistige belahigung, ein möglichmachen auf geistigem wege,
involviert.
AVir werden unbedenklich für können die beziehung auf die gei-
stigkeit der mittel dann fallen lassen, wenn der von Icui abhängige
intinitiv ein passiver ist. Denn sobald der Infinitiv ein erleiden aus-
drückt, wird dadurch angedeutet, dass nicht melir der könnende es ist,
dessen wissen die Verwirklichung einer handlung verdankt wird, son-
dern dass entweder andere menschen oder auch andere dinge, auch
gewisse umstände, ohne unser zutun jene tat herbeiführen, welche für
uns ein leiden, ein „überunsergehcnlasson" ist. Von diesem gesichts-
punkte aus ist das häufig vorkommende kein genesen u. dgi. zu erklären.
Nicht so unbedingt wird man in manchen anderen fällen für
hinnen nur die blosse bedeutung des „möglichmachens" als zulässig
erachten. Es hält mitunter recht schwer, bei kan c. inf. das Vorhan-
densein jeglichen intellektuellen moments zu leugnen. Der zusatz von
können bezeichnet gleichsam ein hineinleben, ein hineinversenken in
die äusseren Vorgänge und verrät so eine weit gemütvollere anteilnahme
an der geschilderten handlung, als sie das blasse mögen jemals auszu-
drücken im Stande ist. Wir hoffen aber, dass wir die unten mitgeteilten
beispiele so gewählt haben, dass sie uns in der tat kumien in jener
abgeschwächten bedeutung zeigen, die sich miigen nähert. Da, wo sich
in den handschriftlichen Varianten kunnen und viugen austauschen,
wird dies stets besonders hervorgehoben werden.
IIa
Gen. 15, 3 xesamene siz hedumgen so si beste chunden.
Ann. 238 iz (ebir) haviti iserne ddivin daz necondi nieman gevdn.
Eoth. 13-44 daz sie mit sicerte nieman nekunde gewinnen.
M. F. 18 ^ er kan mir niemer werden leit; 78 ^^ gnade ist entsläfen
deich ir leider nilit erivecken enkan; 79 ^ daz min leider niemer
kan werden rät; 120 ^^ da kan von jären nieman eralten (vgl.
Carm. Bur. 102a nieman kan nu werden alt); 164 ■'^•^ ichn künde
niemer sin genesen.
KONNEX UND MÖGEN IM ALTD. 27
Eneit 211 ivcuid st sich vor den oudcn Jicrilticn niet eulcondoi; 11023
nclicifies sldpes er oipJach er enmohte }tocJi enkonde.
Hartmann a. H. 430 ich knude .\e Salernc keinen meister vindvn;
1\\. bS\h-i ichn, l{ftndr des nie ilhrrkninr//.
G. Trist. 35'-* sone Lidtdv er nienier sin genesen; 02-^^ ir (dhr dvlni-
iier knnde noedi enmohte dehei)ie stnnde uf sinen vile^en (jestun;
73-''. 138-^ usw.; 195^' iccdcr rat noch helfe kan ijviccsen, nrind
er kan nien/er r/enesen.
Uli". Trist. 510--' ein vruni nmn an trianr nietner werden kan.
Wo 1fr. Parz. 149, 1 im künde nie inen vient sin, 155, 21 er kande
in ah ije\iehcn niltt; 155, 24 mit sinen blanken hcutden /irr kamt
crs iiiht nf gestrieketi; Willi. 273, 30 er kan wol friunt und cient
sin.
Nib. 129, 3 des enkunde im gevolgen nieman: so mihel icas sin kraft;
416, 6 der tinwel iix der Inlle, ni kund er davor genesen; 498, 2
der kan si uvl gewer/jcn mit ellenltafter kraft; 746, 3 dax eigen-
holde niltt r icher knttde ivcsen; 928, 1 ern nioltte (C B chujide) niJtt
gcsten; 982, 2 dax ivir niht mohten (xiC; chunden Dllif, B fehlt)
dne so gröxes schaden sin; 1010, 2 sine künde {mohte CDIh) niht
gegdn: 1079, 4 döne huule im Kriemltilt nimmer vinder geivesen;
1291, 3 daX: vrou Ilelche ttiht schoener künde (mohte ÜHig) gesin;
1458,3. 1862,3 ir kunnet niht genesen; 1981,4 dö eitkunde Gisel-
here ttimmer xorner gestn; 2047, 4. 2098, 2. 2156, 1 sine künde
t/iht gewegen; 2223, 4 wie künde er (moltt er Ih) grimmeger sin
gewesen.
Klage 239 dax den Giselheres tot nieman künde [moltt H) erwendcn;
259 der eitkunde eitler niht genesen; 608 tiurr hclde kuttttett iresen
ninder i1f der erde; 637 dö etikiindex langer niht gestdtt; 1050 i/i
kutide der hell niht der für von tinkreften hrittgen.
Gudr. 719, 3 da si genesen kuttden; 875, 4 wie kiutdens iceseti küe-
ner; 1163, 4 ntl kan ir ende nieman erivettden; 1265, 1 67* vnoren
so si künden bekliste dem; 1330, 4 dax fix der ketncndte . . nic-
tttan hoereti künde (863, 3 ntohte).
Waltli. 27'^ des enkan ich niht gesliexen in den arkeit; 612'' ^^./^
kuttde sich dcheittiit danne min erivern.
Fricl. 135, 13 mit tcolven niettian kan genesen; 154, 8 xe Botne vert
matte ttisettt matt, die der habest niht schernie/t katt.
Konr. Engelb. 1124 ich arme cttkait niht leider des dittges über wer-
den; 1570 Sit ich dantte dich tiiht überiviitden kan.
28 KAHL
Weinsclnv. 105 ich han jagen undc rdhoi; 403 ich kern wol icafen
ftfich.
Bon. 32, 6 xc vliüäc icani bereit ir hein, si hoNelcn cd (jcvliehen wol.
II b «.
(Mlul. können mit sächlicheiu snbjckte.)
Zunächst müssen Avir diejenigen fülle aussclieiden, in denen wir
es mit einer förmlichen Personifikation zu tun haben; so wenn z. b.
der frau Minne eiu können zugeschrieben wird: Walth. 109 i' Minne,
tnnnlcr hau <Jin (/Hefe liebe inachen; M. F. 1^- (vgl. Carm. ßur. 126, 6)
Touijoi niiiuie Lan ijeben höhen muoi. — Dieselbe und ähnliche Per-
sonifikationen liegen in folgenden beispielen vor:
U. Trist. 587^ din minne hau wol leren vröude.
"Wo 1fr. Parz. 757, 24 liöch minne hau icol zieren; Tit. 71, 1 oive,
hiind diu minne ander helfe erzeigen.
Waith. 109-^ nfinne — dd hanst verheren.
Fr id. 99, 6 tninne lan sich sedjc an eide icern.
Konr. Eng. 89 sit Triuice nü cliz cdlex kein; 899 daz si (Mirme)
geiraltes Idinne jitl^fj^^t^; 904 da han diu Minne enzünden herze.
Weinschw. 126 du win kanst die durstigen laben.
Die liebevolle Versenkung in die naturschönheiten , welche auch
den toten Objekten unserer Umgebung menschliches fühlen und empfin-
den leiht, schuf ausdrucks weisen wie:
31. F. 83^*^ diu beide noch der vögele seine Imn an ir tröst mir
niht vröude bringen.
M. F. 108 1'^' der ivinter kan niht anders sin ivan sivaere nnd eine
rndze leine.
Auf dem übergange vom persönlichen zum unpersönlichen ge-
brauch von kiinnen begegnen uns weiterhin mehrere fälle, bei denen
den geistigen und auch körperlichen eigenschaften einer persönlichkeit
das können einer handlung zugewiesen wird, ob wol strenggenommen
das persönliche STibjekt selbst es ist, welches mit hülfe jener geistigen
oder körperlichen ki-äfto die handlung ausführt. Wenn es z. b. bei
Konr. Gold. schm. 806 heisst: der siechen sele ivunelen verheilen kan
diu süezer li.st, so dürfen wir dafür setzen: „du verstehst mit hülfe
deiner klugheit (listj zu heilen" ; vgl. Gudr. 542, 3 die mit deheinen
listen heilen ieman ku?ule.
Analog sind folgende fälle zu beurteilen:
M. F. 54 ^''- min herze künde ir niemer konien z^e nci. 214 ^''' der
vil gerne tuot daz beste daz sin lierze kan.
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 29
Gr. Trist. 2971*^ ir (jeJlmeten sinne dioi künden niender hin geice-
gen. 411 -^ slt dax^ sin herxe /lienier kein ge}nach gcJnibn lan.
Wolfr. 1. 10, 19 ir nunncdicliev laclicn kan )nir irol gemaclicn
höhen jnuot. Parz. 114, 1 siufxen nndc lachen künde ir inunt
vil wol genmclien; vgl. 672, 19. 404, S diu ougen kunnen spelin.
638, 19 ir hlic wol knnde tagn. Willi. 378, 28.
Nib. 812, 2 jcuie kan (AC; }nach EIC) m nütt gehelfen diu gröxe
Sterke sin.
Walth. 69 1^ so enkaits ein herxe alleine niht enthallen.
Er id. 51, 4 den kan deheines mannes list — schuldic machen.
Konr. Gold. schm. 204 di)i miuit kan diu sele spisen.
Bon. 17, 37 boese xunge scheiden kan.
Ähnlich ist kern bei folgenden substantivierten Infinitiven zu er-
klaren :
M. F. 157-1 g^f mich min sprechen nu niht kan gehelfen.
Gotfr. Lobg. 77, 1 (u. ö.) von dir sagen — kan in die herzen minnc
tragen.
Seit dem XII. Jahrhundert finden wir auch tieren ein können zu-
geschrieben :
Eneit 8674 ros kan hat flien danne jagen.
Wolfr. Parz. 36, 12 ors, dax heidiu künde hurtUchen dringen iinde
springen.
Nib. 890, 3 dax tier enkund im niht entrinnen; 891, 1 kraxen
noch gebixen kund ex> niht den man; 1211, 3 ex enkunden [inoh-
ten 111) hundert miule dannen niht getragen.
Gudr. 97, 3 vögele künden vliegende niht entrinnen; 541, 3 kun-
denx so olbende niht getragen.
Konr. Gold. schm. 528 strüx. kan sine eier schöne hriieten.
In den folgenden beispielen haben wir volkräftige belege dafür
zu erblicken, dass können die beziehung auf wissen und verstehen
abgestreift hat und sich nmgen nähert, mit dem es sich in die aufgäbe
teilt, auszudrücken, dass für irgend eine tatsache die objective mög-
lichkeit ihres eintretens besteht
M. P. 188^ not — nien künde groexer sin.
Wolfr. Parz. 1, 18 dix bispel — kan vor in ivenken; 2, 1 triuive —
kan versicinden; 311, 21 staete, diu den xivivel dan kari schaben;
434, 17 sin wäge kan seigen; 490, 30 wax. wunders dix gelilppe
kani; 572,28 dix bette Jean so umbe varn; Tit. 80, 4 ob dirre schilt
lauule niesen; Wilh. 390, 30 dane künde niht geharren sin vane.
30 KAin.
G. Trist. 167^^ soue hmide ir aller viere schhi choüichlcr nicmer
geshi: 195'" urdcr ruf Noch helfe hcui gcwesoi; 203-^ nötelfn diu
niemcr rronder hfutdeN sin.
Ulr. Trist. 531- disiff weit lau xe gäheii ende gehen.
Nib. 17, 3 nie liehe mit leide ^e jungest löne)i kau; 231, 1 groe-
.xisfen not, die immer künde sin geschehe?! : 237, 4 viaerc kuu-
dcn ni))nner lieher gesin; 530, 4 hexxer phertgcreite huide niuf-
mer qesin: 1115, 2 kioulen disiu maere niht verholen sin; 1412,4
sone mag [chaii Clh) in uihf gewerrcu der Kr. muot; 1849, 1
strit niht anders künde si7i erhahn; 1763, 3 von Ardhischen
sidoi, die heste )uohtcn (AB chwidcn C) sin.
Klage 779 dax enkunde niht erwenden diu helfe aller diuer nuin;
942 ua)i diu Büdegeres haut künde wunschliehen gehen.
Giidr. 1500, 2 xwene kiele künden niht getragen.
Walth. 46-^ wax wünne kau (BC; mac A E) sich dd genöxen zuo.
Konr. Engelh. 250 sin muot künde nach ivirde ringen; 2071 dax
(dinc) mir doch nimmer werden kan; Gold, scliiii. 572 dln gilete
kan iif wallen; 1519 ex. (hröt) kan sich doch heheften mit kreften.
Ein schritt weiter auf dem wege der bedeutungsverwitterung ist
es, wenn kern mit dem imbestimten Subjekte ex verbunden wird: ebenso
unbestimt und inhaltsleer als ex pflegt in solchen fällen auch der
abhängige Infinitiv zu sein; wir sehen mit verliebe geschehen, iverden,
ivesen, sin zu dem unpersönlichen kan gesezt.
Bei der aufzählung der beispiele beschränke ich mich auf die
angäbe des infinitivs; die ersten belege für ex kan, ex künde u. dgl.
finden sich in M. F.
M. F. 72' geschehen; 105 2. 1641-1 206 2^ verwän; 120"' gehelfen.
Hartm. I\v. 2063 gevilegen; 2638 geschaden; 6345 geschehen; a. H.
1176 geu'irren.
Wolfr. Parz. 658, 8 gexemn; AVilh. 406, 4 genuogen.
G. Trist. 126 22. 15736 iverden; 184 22 geivesen; 214 ^ geschehen;
lobg. 71, 3 iverden.
U. Trist. 499 •^•♦. 576 21. 577 i\ 578"^^ geschehen; 525-^* iverden ver-
suigen.
Nib. 13,4 sin geschehen; 11.^4 missegän; 133^4: iverden; 284,1 ivie
kwule dax ergän (ABC; mcjhte Ihj; 348, 6 äne dine helfe kundex
KÖXNEX Vyi) MÖGEN IM ALTD. 31
(mokt ex 111) nilä geshi; 279, 3 oh laindc (ABC; molde Ih) daX'
geschehen; 348, 10 sivax dar cui kau (niac D) ijesin; 444, 1 des
7)ia1c niht ergd)i (Alh; etu)iavh B; mac iiocli D; encha)i noch C);
669, 1 oh dax mohte (AB chändc) geschehe)/; 694, 4 dax künde
(moht Ih) nnielich geschehji; 696, 2 ohe dax mehtc sin (chundeC]
mac Ih).
Ähnliches schwanken der handschriften zwischen han und nnic
noch: 759, 1 /t-^^;^^/e AB (//^o/z/c Clh; sohlJ)); Hbd^4: künde A {ntoh/e BC;
mohtlh)', 943,2/t7^/2f/cABCD ()noJUl\\)\ l^ll,4.enkunde KBO {ennnjht
Ih); 1085, 1 mohte AB {chwide C); 2039, 4 A-a?2 C {mac AB); 2063, 2
chiüideBCJ) (mölite Ih); 2310, 1 künde ABC (??2o/^^ Ih). Ih liat, wie
man sieht, besondere Vorliebe für die formen von mugen. — gescliehcn
bei imperson. hcui findet sich noch Mb. 884, 3. 1751, 2. 2034, 1;
gesin oder sin: 905, 2. 1077, 4. 1895, 4. 2026, 4. 2039,4. 2215,4;
?6-e5^;?; 889, 3. 2063, 2. 2180, 2; ^/•/7<:m.- 759, 4. 1163, 3; geiceni:
1630, 1.
Klage 10 des?i kundex niht helihen; 66 geschehen; 120 Jes enkunde
(Ih enmoht) niht gesin.
Gudr. 214, 1. 770, 3. 940, 1 geschehen; 963, 2 57/^; 1255, 3 ge-
lingen.
Walth. 98^^ geschehen.
Wie nahe sich dies impers. kunnen mit mugen berührt, zeigen
besonders die Varianten der handschriften, die wir aus diesem gründe,
wo es immer angieng, möglichst volständig mitgeteilt haben.
III.
Es erübrigt uns noch, das mhd. kan auf eine stufe zu begleiten,
auf der es seine eigene bedeutung gänzlich aufgegeben zu haben scheint
und als eigentliches hülfsverbum im vereine mit dem Infinitive nur
eine Umschreibung des einfachen verbum finitum bildet, jedes selbstän-
digen Vorstellungsinhaltes baar.
Soviel ich sehen kann, war Benecke der erste, der auf das bedeu-
tungslose kan hinwies, welches zu einem Infinitive hinzutritt, ohne den-
selben irgendwie zu beeinflussen; Benecke bemerkt zu Iwein 7457:
„was kan betrift, so haben wir vielleicht noch zu lernen, dass dieses
wörtchen wie das altenglische gan, ohne selbst eine merkliche bedeu-
tung zu haben, eine schmeidigende paraphrase bildet: vgl. Parz. 29, 19.
514, 8. 536, 22. 548, 13. MS I, 16a." Haupt widersprach dieser
auffassung (zu Erec 23, s. 329), ohne jedoch gegengründe geltend zu
32 KAÖL
macheu: es mair ihn die einsieht ^-eUntet. haben, dass oftmals in sol-
chen fällen, in denen uns ka?i als durchaus überflüssig erscheint, der
mhd. schriftsteiler eine beziehung — mitunter leise Ironie! — aus-
gedrückt wissen weite, die wir nicht mehr nachzufühlen im stände sind.
Es liegt eine Schwierigkeit eigener art darin, aus einem infinitiv nach kern
jede intellektuelle oder gar potentielle beziehung auszustossen und Lrm
noch unter die geltung als mattes, inhaltarmes hülfsverbum hinabzu-
drücken. Wir müssen uns aber daran erinnern, dass von einem got.
kann paua mannan zu einem mhd. ex. kan niht geschehen eine stetig
wirkende Zersetzung der ursprünglichen bedeutung hinabführt: die vol-
stiindige abstreifung der individuellen bedeutung, die sich auf der lez-
ten entwicklungsstufe volzieht, darf uns darnach nicht mehr befremdlich
erscheinen.
Die Vertretung des conjunctivs durch kan c. inf., die bei mag sich
so häufig findet, ist bei ka)i ziemlich selten: sie sezt voraus, dass der
ausgleich zwischen kunnen und miigen sich bereits volzogen hat.
Einen wunschmodus ersezt kan c. inf. in folgenden fällen: M. F.
120^ künde ex gehelfen I G. Trist. 157=^^ künde ex iemer tcerden so!
(vgl. auch Holtheuer, Zs. f. d. ph. erg. 1874 s. 153 fg.).
Ich teile nunmehr beispiele für denjenigen gebrauch von ku7inen
mit, bei denen kan c. inf. an begriflicher stärke das einfache verbum
finitum nicht übersteigt.
M. S. I, Iß"" du kanst ein teil xe lange sin.
Wolfr. Parz. 29, 16 ich kan xe lange sitxen; 117, 18 si künde ivol
getriiäen ir sun; 167, 23 sus kund er sich ht frowen scheynn;
332, 4 künde got mit kreften lehn; 380, 26 der ouch diu sper
niht künde sparn; 390, 4 die knappen künden danken, sie bäten
in beliben vil; 466, 20 diu gotheit kan lüter sin; 535, 10 der
(riter) schilt noch sper niht künde sparn; 536, 22; 548, 13 diu
sunne kan so nider sten; 572, 28 diz bette kern so umbe varn;
589, 27 deliein sül stuont dar unde diu sich geliehen künde der
gi'oxen sül; 609, 9 kund si tohter unde sivester sin; 650, 15.
769, 22 da er den lip niht künde sparn. Willi. 59, 14 sivaz er
siveixes uf dem orse vant, den kund er drabe ivol strichen.
Hartm. Iw. 7458 der ich niht sere engelien kan.
U. Trist. 527 2''' ^/^^^ lichten schin, der also l fiter kan gesin.
Nib. 1082, 3 vergexxen künde niht AB {mit klage nie ver-
gax. C). 1318,2 dax in niht en.schadete A B I h (schaden künde C;
moJit gcscliadcn D).
KON-N'EN UND MÖGEN IM ALTl). 3^
Gudr. 461, 1 die er knnde hrimjeu tnit im dau (vgl. Martin z. st.
und zu 429, 1); 962, 2 Liidcicic hunde iinsanße scJioeuer frotcen
pflegen (vgl. Martin zu 1528, 3).
Frid. 49, 25 der loser schadet nuDiegciii mau, dem er itiht icol <jc-
frnfjteu laut.
Konr. Eng. 602; Gold, sclim. 1823 der schulde kau xe ringe icegen.
Silv. 3748 devi nieiischeu ist geboren an, dax er dem tode icah-
se)i hau.
Wir schliessen damit unsere darstellung der syntax des altdeut-
schen können; einige einzellieiten werden noch am Schlüsse dieser arbeit
besprochen werden.
Ein rückblick auf das von uns durchmessene gebiet gibt uns zu
folgenden bemerkungen anlass.
Können ist ursprünglich in der Sphäre geistiger tätigkeit aus-
schliesslich heimisch; darauf weist uns das Verhältnis zu den urverwan-
ten sprachen und der gebrauch von können im got, alts. und alid.
Erst im laufe des XL und XIL Jahrhunderts zweigt sich von dem alten,
reinen können, das während der ganzen mhd. zeit sich lebendig erhal-
ten hat, ein schwächeres können ab, welches sich mit luugeii nahe
berührt und vielfach austauscht. AYir können noch die faktoren beob-
achten, die in jenem processe der Verwitterung des alten können gewirkt
haben: sie haben im laufe der zeit aus dem kräftigen begrifsverbum,
d^s sich aus dem urgermanischen ungeschwächt bis ins ahd. fortgeerbt
hat, ein mattes, haltloses hülisverb gemacht, das nur noch in der Um-
gebung eines infinitivs auftritt, weil ihm die kraft, als selbständiges
verbum zu fungieren, völlig abhanden gekommen ist.
Uns ist fast nur noch jenes können geläufig, welches die objek-
tive möglichkeit ausdrückt; wir haben beinahe ganz vergessen, dass
können ursprünglich auf intellektuelle tätigkeit beschränkt war: nur in
spärlichen resten schimmert noch jene alte bedeutung durch, die einst
die allein herschende war.
§ 5. Mögen im gotischen.
Die durchforschung der bedeutungen und des syntaktischen ge-
brauches des altdeutschen mögen bietet nicht immer das Interesse, das
uns die geschichte des altdeutschen können abnötigte.
Wir müssen annehmen, dass auch mögen im urgermanischen ein
begrifsverbum gewesen ist: das gotische weist uns in deutlichen spuren
darauf hin. Aber schon im got. sind die bedingungen für die bedeu-
tungsabschwächung gegeben, welche imigan frühzeitig zum hülfszeitwort
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 3
34 KAIIL
hat herabsinken lassen. Bereits im ahd. tritt die elementare kraft von
magan = Jir/ieir, vnlerc nicht alzubäulig zu tage; in der überwiegen-
den melirzahl der falle veransehaulieht maijnn einen begrift', der einen
sehr weiten und darum individuell sehr wenig bestirnten Inhalt bat:
die objektive möglichkeit. Wiihrend die intellektuelle bedcutung des
alten ku)ino)i nur eine begrenzte anzahl von verben zu kinnian
in adverbiale bezieh ungen treten liess, legte magan solche schranken
nicht auf, und so finden wir schon im alul, teilweise schon im got.
und alts., inlinitive des disparatesten Inhalts zu magan hinzugesezt; die
möglichkeit kann eben auf die vei*schiedenste weise bedingt sein: durch
das Subjekt mit seinen körperlichen oder geistigen eigenschaften , durch
äussere umstände und Verhältnisse usw.
Wie bei können, so gehen wir auch bei mögen in der darstel-
lung der syntax von der ermittelung der bedeutung aus. Zwei wege
führen uns zu dem resultate, dass das urgerman. mag dem ausdrucke
körperlicher kraft und tüchtigkeit diente.
Die Sprachvergleichung stelt folgende sippe urverwanter Wörter
auf: skt. mahas glänz, macht; mahan grosse; griech. ufjyog, j^iff/ßQ,
fitj/ciiij, ueyag\ lat. mag -uns, maior, mag-is; got. mag, malus, mi-
hils; kirchensl. mogq possum usw.; altiran. do-for-magar = augetur
(vgl Curtius, Grundzüge 5 s. 329. 333; dortselbst die übrige litteratur).
Auf der andern seite können wir beobachten, dass das got. mag
dem griech. loyvvj und di-rauca entspricht (die belege vgl. unten). Hal-
ten Avir hier einen augenblick inne! Die entsprechung hj/vco = mag
stimt zu den eben dargelegten etymologischen Verhältnissen. Etwas
anders ist es mit dvrauai: zwar lässt auch övrauai die übersetzans::
^ich habe macht" zu, aber daneben besteht schon für die klassische
graecität eine andere, blassere und algemeinere bedeutung: die der
fähigkeit überhaupt, der möglichkeit; stellen wie Soph. Ant. 686 olV
av divaiui]v Liijr iTtLOzulur^v Ityeiv; Phil. 1393 el ot / iv loyoiq 7cu-
oiLv dvrr^GoueoO^a usw. scliliessen, weil Infinitive geistiger natur hin-
zugesezt sind, die beziehung auf kraft und macht aus: es handelt sich
hier um ein ganz algemeines „können", ohne rücksicht auf die mit-
tel, welche dem könnenden zur Verfügung gestelt werden müssen.
Während also die griechischen entsprechungen des got. kan durch-
weg einer und derselben begrifssphäre entstammen (yivioo/M, olda, ItcL-
orauai usw.), gleichsam nur verschieden gewendete veräusserlichun-
gen desselben vorstellungsinhaltes sind, so birgt das got. mag in sich
schon zwei verschiedene begriffe, den der kraft und den der mög-
lichkeit.
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 35
Zwar ist es ein leichtes, diese beiden begriffe auf einen zurück-
zuführen: das physische können Hesse sich als eine besondere art der
möglichkeit auffassen, derjenigen, welcho durdi das körperliche vermögen
des Subjektes bedingt ist. So erschiene die fähigkeit im algemeinsten
sinne als diejenige Vorstellung, welche vn/f/an ursprünglicli zu gründe
liegt. Die etymologischen Verhältnisse widersprechen aber dieser annähme
auts entschiedenste: die urverwanton Wörter zeigen sämtlich eine deut-
lich w'ahrnehmbare beziehung auf w^achstum und stärke, während sie
einem so abstrakten begriffe, wie der der objektiven m(»glichkeit ist,
ursprünglich fremd gegenüberstehen.
Wir müssen daher annehmen, dass man sich nicht immer des
Charakters der mittel bewusst geblieben ist, welche durch macjan an
die band gegeben werden, dass man vergessen hat, dass der „mögende"
eigentlich nur auf physischem wege zu seinem ziele komt. Den ana-
logen process haben wir oben für Inutnan beobachtet; nur ist hier
noch einmal zu betonen, dass können seine genuine bedeutung lange
zeit hindurch bewahrt hat, während für mögen die ersten anfange der
bedeutungsdifferenzierung und -verblassung schon bis ins gotische hinab-
reichen.
Das got. mag = iGy/co, valco lässt sich in dreifacher construk-
tion nachweisen:
I. Absolut, doch ist dieser gebrauch ziemlich selten; meist ist
da, wo mag allein steht, eine ellipse zu statuieren: Eom. 8, 7 ivitoda
gu]}s nl vfhaiiscij), ip ni mag (ovö^ yccQ öiwazai)-^ Marc. 9, 18 jah qap
sipo)/jani pcinaim ei iisdribei)ia ina jah ni mahiedun {/ml od/, ur/i-
üccv); Marc. 9, 22; Marc. 10, 39 ip eis qepun du iinma: magu {ßvva-
j-ieda)] Luc. 19, 3 jah ni 7nahia (sc. gasailvait) faiira managein.
IL mag ist befähigt, einen objektsaccusativ zu sich zu neh-
men, doch bezeichnet dieser nie ein concretes objekt, sondern enthält
algemeine bestimmungen wie all, Iva u. dgl.: IL Cor. 13, 8 ni aiih
magum ha ivipra sunja ah faur siinja; Phil. 4, 13 all mag (jcuvva lir/vco).
III. Meist wird das objekt, auf welches die hr/^g oder övrauig
gerichtet ist, in einem Infinitive angegeben: Mtth. 8, 28 sleidjai filu,
sivasive ni mahta marma nsleipan pairk pa)ia uig jaiiiaua {wate jlitj
iGyvew TtaQeld-ELv); Luc. 6, 48 jah ni mahta gaicagjan Ha (ovv. l'oxuoe
Gcclevoca aunji'); Luc. 8,43. 14, 29. 20, 26. Luc. 16, 3 graban ni mag,
hidjan skama mik. Eph. 3, 18 ei — mageip) gafahan = h'a l^iGyv-
arjve VMTaXaßtGdai.
Der begriff der kraft und stärke, der in den bisher mitgeteilten
beispielen festgehalten wurde, tritt in den folgenden belegen nicht her-
3*
36 KAHL
vor: es handelt sich hier in dem oben besprochenen sinne um den aiis-
druck einer objektiven möglichkeit, eines övraoO^cxi, posse: Marc. 2, 4
jah )n' ma(iandans itcha qh)fa)i [iit] dnciueroi frQo^eyyiaai): Luc. 8, 19
Jah f/i malitcdioi aN(JqiJ)an: Marc. G, 19. Skeir. 39, 10 ni n/ag (ja-
saikan: Marc. 9, 23 inageis (jalauhjcui : Luc. 6, 42 }}i(i(jt qijnin {dvra-
oca h'yeir). In den beiden folgenden beispielen bewegt sich der
abhängige inlinitiv durchaus auf dem gebiete geistiger tätigkeit ; ^um so
weniger sind wir berechtigt, hier ufag ^ layvco zu fassen und an kör-
perliche kraft auf Seiten des mögenden zu denken. Joh. 14, 5 Jvalica
niagmn Jtcnia icig hu)nia)i (övvdued^a dSlrai); Eph. 3, 4 dujijtc ei sigg-
wafidans )nagiip fra])jaii frodcin inchiai in runai Xristaus = 7C(jd^
o dnaa&£ dyayn'cjay,orreg vofjoai t))v ovrioiv /.. t. X. — Weitere belege
zu I, II und III bietet Schulz es Got. Avb. s. 216; Köhler, Synt. ge-
brauch des inlinitiv im got: Germ. XII, 425.
§ 0. 3Iögeii iiu altsäelisiseheii.
I. Der absolute gebrauch von magcui ist im alts. nicht mehr
belegbar, es sei denn, dass man Hei. 2846 huat mag that thoh the-
saro motigi nicht wie Steig (Zs. f. d. pli. XYI, 327) getan, durch die
einfache ellipse von uaesan erklären Avill. Ellipsen leichterer art Lie-
gen vor: Hei. 659 sia frumida tliie malita (sc. frummien)^ 2727 hah-
dun ina for laidrsagon so sia uuela mahtun (sc. liebbian).
n. Für mag c. objektsaccusativ bietet das alts. kein beispiel.
111. mag c. infin.
a) mag c. inf. = valeo begegnet uns an folgenden stellen: Hei.
891 hie mag aUero manno gihiiena mtngithaldo sundeono sicoron;
1008 that hie alätan mah liudco gihuuilikon saca endi sumlea; 2107
ic gilohiu that thu giuuald hahis that thu ina hinana mäht helan
giuuirkean; 5321 hie ni mahta is Utes gifresoJi.
b) Zahlreicher sind die beispiele für magan = öuraG^ai, j^osse;
ich muss mich hier auf eine auswahl beschränken. 725 nu ic giiiuin-
nan mag; 773 nu mahtu an fridu ledean that kiml; 1360 al so ic
lu nu giuuisean mag; 4041 seggian mag; 5087 mugun is antkennian
uuiht usw.
Das alts. kent auch bereits unpersönliches mag: Hei. 141 huiio
mag that giuuerdan so'^ 158 hui it so giuucrthan mugi; 271. An
zwei stellen ist man geneigt mag zu übersetzen durch „ich habe
ui-sache, veranlassung": 1709 tha/tn mahthu aftcr thiu suäses man-
nes giseon sithor gibuotean; 1711 so mag that an is hugi mera an
ihesaro middilgard manno gihuuilicon uuesaii.
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 37
Einmal eiullicli — in der altnd. psalnienübersetzung Ps. 54, 13 —
seilen wir ein plusquaniperf. coni. durch ))iohtl c. inf. widergegeben :
abdcondiasc/n nie foraltmi ah co = ic burije ml, so Diolitl (jibergan
fan imo. Wir werden weiter unten gelegenheit liabf^n, ausführlicher
auf die nahen beziehungen zwischen niiajcn und dem conjunctiv zu
achten.
Das alts. zeigt uns somit bereits eine grössere mannigfaltigkeit
syntaktischer anwendungen von tnay als sie nns das got. bot; wir wer-
den das ahd. auf diesem wege immer weiter fortschreiten sehen: jemehr
aber die gebrauchssphäre von mögen an ausdehnung gewint, um so
ärmer wird der logische iuhalt von intigcit.
§ 7. 3Iögeii im althoclideutsdieii.
Die ahd. glossen bezeugen, dass auch im ahd. neben jenem mugen,
welches lat. ralcre glossiert, ein anderes einhergeht, lat. possum oder
qiieo entsprechend; die Übersetzungen bieten zahlreiche belege für diese
tatsache; sie verraten ausserdem noch einige andere bedeutungsnüancen
von }fitf(jcff , = licet, convenit usw.; sie lehren uns ferner, dass der
conjunktiv und das hülfsA^erbum mugeii in begriüicher verwantschaft
stehen; sie nötigen uns endlich eine ganz erhebliche abschwächung der
ursprünglichen bedeutung da anzunehmen, wo wir inaij c. inf. einem ein-
fachen verbum Unit, des lateinischen gegenüberstehen sehen. Von den
ahd. glossen kommen hier folgende in betracht: 1, 26^*^ iiivaUdia —
unmahtil-; 152 ^^ valerei — mahda; 235 ^^ qucatii — meld; 236 ^^
queverunt — mahton, malitun; 2'^Q>^^ potuerunt — maldon; 365^
potest confici — mac uuerdan liataii; 586^^ valelnt — nuujet; 754^^
possunt — niegin; II, 21-^ nc ptossit — thar^ ni nuaji; 21^'^ quis
queat — uuer nu ninyk; l-kQ-'^ neqidverit — neniegi; ^2S)^^' possiniiis
— meyiii; 666 ^^ potes — niaJitöst; Emmer. glosse (Pez I, 402) passi-
hileni = martra dolen rnagan.
Aus der ahd. übersetzungslitteratur bringe ich nur einige beispiele,
da ich unten dem deutschen texte jedesmal, wo es angeht, das latei-
nische original hinzufügen werde. Eragm. theot. IV, 17 potestis —
magut; XI, 3 licet — mac; III, 1 perderent — farleomn mahtin;
Isid. VI, a. 6 sit — mac uuesan; Tat. 108, 2 valeo — mag; 231, 1
nianducetur — exxan niegi; Notk. Boeth. 40^ lihint — mngin; 41 ^^
fas fuisset — maJiti; 89 -^ habere licet — haben mugen; 122 ^^
videas — ma.ht sehen; 153^^ valet — mag; 173 ^^ licet — mag;
200 "-'■' habent volcndi iiolcndique natiiram — mugen iiuelleii unde
neuuellen; Mcp. 696 ^ conveniret accipere — nemen inahti; MSD 54, 12
38 KAHL
quomodo sc dicit — uueo mag sin; 10, 14 undc hahes — itudr mcdü
thu nemmi: vgl. auch Denecke Gebrauch des inf. bei den ahd. Über-
setzern des Till, und IX. Jahrhunderts s. 9.
Der nunmehr folgenden darstellung der syntax des ahd. mögen
legen wir folgendes schema zu gründe. Wir behandeln I. den absolu-
ten gebrauch; II. die transitiven anwendungen, die sich in der casuel-
len oder präpositioneilen anknüpfung eines objekts an niafi kundgeben;
IIL die iniinitivconstruktion bei mag. Unter IIL stellen wir zunächst
a) die fälle zusammen, in denen })iag valcre entspricht; dann b) die-
jenigen, in denen es die blosse fahigkeit und möglichkeit zum aus-
druck bringt, = possc; c) im anschluss hieran finden die beispiele
erwähnung und erklärung, die uns mag als Übersetzung eines lat. licet,
fas est u. dgl. zeigen; d) in einem folgenden abschnitte weisen wir
nach, dass mugoi im ahd. nicht auf persönliche Subjekte beschränkt
ist; von persönlich gedachten subjecten gelangen wir bis hinunter zu
ex, als dem träger eines magan; der mangel an coucreter bestimtheit,
der sich in einem ex. mac ausspricht, leitet über zu den fällen e), in
denen mac c. inf nur eine Umschreibung des einfachen verbum fini-
timi ist; gesondert hiervon ist endlich der gebrauch desjenigen tnac
c. inf zu behandeln, das zum ersatze eines conjunktivs f) und des
futurums g) dient.
I. Der absolute gebrauch des ahd. "mag
ist sehr selten: mir sind nur folgende beispiele bekant: MSD 60, 15
in des uniUioi er sih gatrüeta magan {cuius voluntate credidit se
2)0sse); Ben.-K. 39,2 ferist megi = praevcdet. — gimitgen steht absolut:
Xotk. Ps. 140, 7 imanda dei gemähten. In den meisten fällen handelt
es sich bei alleinstehendem mag um eine ellipse, so Xotker Boeth.
46^4: so sie gedrungenost maliton; Ps. 118, 13 edle nemahta ih (sc.
Urnen): Ps. 8, 3. 37, 7.
Der infinitiv fehlt besonders dann, wenn es sich um ein verbum
der bewegung handelt: hier genügt die angäbe der richtung: MSD
13, 20 ne megih in nohhein lant; Otfr. Y, 10, 6 nnanta furdir
ihn ni mäht; Notk. Ps. 119, 2 ferrer a denne du 7negist
IL mag mit einem objekte (iinaz, daz, all u. dgl.)
1) c. acc. MSD 60, 2 tä mac dix; 17 daz mac; 20; 22 da.z neo-
man mac in Paulo, daz mac xa nudre in trühtin = quocl nemo
j)otest in Pauh, hoc potent in domino: vgl got. IL Cor. 13, 18;
Phil. 4, 13. 3ISD 82, 11. 19 negimahta nieht; 91,106 so siez verröst
gimugin; 109 übe ih ez gimac. Murb. H. 20,6 iiuaz diu maJc höhira;
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 39
Tat. 92, 4 oba ihn laiax mugis; Otfr. lY, 31. 33 cdJa-, itharmag.
Notker kent nur das compositum (jimuijoi c. acc: Boeth. 53 ^^ rhe-
torica ganag micheliti duig; 80^2 mvr; 107' dax; 174^. 185^.
1982. 2W al; 233^; Mcp. 781 1'^ fih grwng: Ps. 118, 93. Nur
einmal: Ps. 14, 4 haben die AViener und AVessobrunner hs. nieht ne-
viühta; der cod. St. Gall. nicht negemahia.
2) c. gen. Xotk. Boeth. 23Q ^'-^ sih fernntgoi s/ncs la)igcs; 248 1''
fermahta er sih rufgoiucs.
3) c. dat. Tat. 80, 3 gimugen in (siifficiH)tt eis); Notk. Ps. 7, 3.
60, 4 er gemag mir (liat gewalt über mich); 88, 23 nicht ncmag imo
der fient (vgl. Lachmann zu Nib. 785, 1).
4) c. praep. Tat. 24, 3 .\i niouuihtci nimag ix elihor; 90, 3
)ii gimugun iiuidar int (non prcievalebiDit adversus eani).
III. mag c. infin.
a) miigen = v alere.
Ich beschränke mich auf eine auswahl von stellen:
MSD 3, 57 (Musp.) dar nimac mäc hclfan vora deme muspille.
3, 83 imo ntaii hipdgan ni mak; 9, 2 giuualt duz er mac ginc-
rian; 86 C 1, 11 der so Iduucdtic uuas duz er stnan pichordre
firsenehi)i mähte.
Tat. 38, 3 mag xtiogionhhön (= got. Mtth. 6, 17 viag anaaukan) ;
108, 2 ih ni mag grahan (fodcre non valco) ; 189, 3 qnedentan
mngan xiuucrfan got es tempal; 205, 3 sih sclbon ni mac er heil
tiion: 236, 4 ni mohtun xiohan = non vcdetmnt trahere.
Otfr. I, 23, 47 got mag thcse kisila irqidgken; A^, 7, 35 ni meg ih
tliax irkohoron vgl. Y, 23, 1.
Notk. Boeth. 141 ^ ncmugcn siu aber gcleistcn = valent efficere;
153 ^'^ 7nag chuningo geivcdt — mahtigc gctdon = valoit efficere
potentem; 162^' nemugtn dara follcleiten (perducere valeant) ;
Mcp. 753 -" linde den adamas nioman ferbrechen ncmag; Ps. 35,
13 an demo fuoxe nemahton si gesten; 40, 4 so er föne unchrefte
ur firsten ncmag; 146, 9 er niieix die starchen dia daz keime
magcn. Ebenso MSD 9, 5. 55, 3. 4. 65 II, 5. 67, 30. Isid. lY,
b. 8. Tat. 30, 4. 44, 19. 46, 2. 88, 10. Otfr. II, 22, 23.
Notk. Boeth. 7H l^K
b) miigen = posse.
Es wäre ein zweckloses unternehmen, alle die stellen anführen
zu wollen, in denen mag c. inf. posse entspricht; d. h. die objective
möglichkeit bezeichnet. AYir dürfen, ohne uns der gefahr der über-
40 KAHL
treibuiig auszusetzen, behaupten, dass schon im ahd. der Infinitiv eines
jeden verbums, welches auch sein eigentümlicher begrifsinhalt sein
möge, zu diesem moii adverbial hinzutreten kann. Icli begnüge micli,
aus MSD eini2:e der hierlier irehöri2:en Infinitive aufzuzählen und zu
rubricieren. Der infinitiv bezieht sich
1) auf eine geistige tätigkeit: ^[SD 3, 94 arliiHian; 13, 5 in
gcdancliun f/ifmaHchnff; 54, 8 farstüKtot : 61, 28 qiiidcni; 72, 40 Iw-
uemnjan; 82, 7, 3 uuiwoi; 82, 12, 2 iji^clmn; 83, 7 })U)nt(ui; 86 C, 7
irchcnni)!.
2) auf körperliche Verrichtungen u. dgl.: 82, 3, 2 f/croh/rN;
83, 18 (fc/f; 83, 53 gcrilitcti; 85, 17 iscadoi; 86 B 3, 34 hei mir clionicn.
3) passive infinitive liegen A^or in: 4, 3, 7 ;ia scediii uuerdcut;
56, 101 heil nucsa)i; ^'o^ 13 vundaii iiucrthcm; 79, 220 kcJmIten
uucrdcn; 82, 3. 9 (jeseidn UKcrdiu; 86 B 1, 5 Irfidlit nucrdcn; 86 A
4, 10 firbrcfitfct uucrdcn.
Es wird ein leichtes sein, diese belege aus der ahd. litteratur
beliebig zu vermehren. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass einige
mal lat. adj. auf -hilis durch mugot c. inf. umschrieben werden. Em-
mer. gl. (Pez. I, 402) passibilcm = martra dolen marjcn; MSD 80, 13
huic exorahilis = icr ma(j horsko gehetön; !N'otk, Boeth. 397 ^^ su-
sceptibilis est = inphahen mag; 397 ^. — Ps. 118, 54 cantahilis ==
dax ich sie singen mahia. — Die AYindsberger psalmen (s. 564 Gr.)
bilden an dieser stelle sanclich; vgl. auch Notk. Boeth. 174 -^ perspi-
cua est = mag sehen.
c) mag = licet u. dgl.
Schon oben wiesen wir bei gelegenheit zweier stellen des Hei.
darauf hin, dass im ahd. mag neben jenen bedeutungen, welche wir
oben besprochen haben, noch einige andere Liegen, die sich durch eine
stärkere bezugnahme auf das Subjekt auszeichnen, als sie sonst dem
algemeinen begriffe der möglichkeit zueignet, mag kann im ahd. auch
heissen :
1) es steht mir frei; ich kann, Avenn ich will;
2) ich habe Ursache, veranlassung.
"Wie haben Avir uns diese bedeutungsnüancen zu erklären? Die mög-
Uchkeit einer handlung kann in umständen wurzeln, die den persön-
lichen eigenschaften des Subjekts oder den Verhältnissen der äusseren
Wirklichkeit entstammen; für den ausdruck dieser arten der möglich-
keit ist mugen bestimt.
"Wenn nun angegeben werden soll, dass zwar die äusseren und
inneren faktoren vorhanden sind, Avelche durch ihr zusammemvirken
KÖNNEN LND MÖtiEN IM ALTD. 41
die befall igung des Subjekts und damit die niögliehkeit der liandluug
constituieren, dass aber gleicliwui das subjekt die unumschränkte frei-
heit seiner entschliessung sich bewahrt, dass es in keiner weise einem
niJtigenden eintlusse jener umstände unterliegt, so entwickelt sich
daraus der betriff: ,, ich bin zwar bctaJiig-t zu einrr tätigkeit, aber es
steht in meiner band, ob ich die tätigkeit aus der mit^licldvcit in die
Avirkliclikeit will übergehen lassen." Wir haben es hier also mit einer
besonderen art der möglichkeit zu tun: derjenigen, welclic dem subjectc
keinen zwang auflegt, ihm die freiheit der selbstentscheidung belässt
Auf der anderen seite kann nun der fall eintreten, dass die fak-
toren der mr)gliehkeit mehr tun als die nirtglichkeit bedingen. AV^'un
wir Otfr. I, 18, 11 lesen: tha\ mufjun inn'r io ria\an, so ist damit
nicht ausgedrückt, dass uns die fähigkeit zu klagen innewohnt; Otfried
Avill Yielmehr sagen, dass der verliist des paradieses, unseres heimat-
landes, von dem an jener stelle die rede ist, uns gewissermassen auf-
fordert zu klagen, der anlass unserer trauer ist Auch liier tritt also
nur eine seite des algemeinen begriffes der mr)glichkeit, jedoch schär-
fer und bestirnter, hervor. Nicht g'cnug, dass die möglichkeit überhaupt
vorhanden ist: die umstände, denen sie ihre existenz verdankt, sind
zugleich so eigentümlicher natur, dass sie an uns das ansuchen stellen,
die möglichkeit zur Wirklichkeit zu gestalten.
1) Beispiele für mag = licet, es steht mir frei.
MSD2, 55 (loh i/iaht da nu aodliclio — Iniisti (jeiminnan; Fragm. tlieot.
XI, 3 odo ni mac daz ich uuillu tiiocn = mit non licet mihi qiiod
i'olo facere?
Otfr. I, 23, 18 so thu thir thar lesan mahl; ebenso II, 3, 11; 3, 29;
III, 14, 51; IV, 5, 60; 6, 2; 15, 59; 33, 21. — II, 9, 90 ms mäht
fhih cd hithoihDt; L. 44 sclbo inaht ix. Icsan thar; II, 24, 2; V,
13, 3; H. 38.
Notk. Boeth. 40 "^ uuax si getüen mmjin (libiiit) ; 41 ^^ i\ nemahti
nioman anderro gitnon (fas fidsset) ; 89-^ den manige liaben nemu-
gen (licet); 173 ^^ samolih mag ih sagen (^ similiter licet rafio-
ciuari) ; 195 ^'^ mag ih paldo festenön (licet conclndere) ; 200 -"• lin
nafürlicho mugen iiueUen unde ne imellai ((jaae hahent aliqnam
volciidi liolendique naturam) ; Mop. 696" uuelicJia er ncman mahti
(quam conveniret accipere).
2) mag = ich habe Ursache.
MSD 3, 6 sorge) i mac diu scla; 3, 23 so mac huckan xa diu, sorgen
drdto; 91, 239 dax ich innigliclio hiiceinon — miige.
42 KAHL
Otfr. I, 18. 4 ich nicc] i\ hho)i harto (vgl. lüerzu Erdmann Unter-
suchungen usw. I. 18 gegen Grimm Gr. lY, 80); I, 18, 11 ihaz
mugiDi Huir io ria\an: 11,4, 77 /// niaci i\ uuoJa nikJa)) ; IV, 12, 58
ih m€(i i\ haJdo sprcchau: Y, 9, 20 ihax nnigtDi uidr iamcr nueinon.
Notk. Boeth. 102^ iar mcuj mau mm Urnen udc()ritat€m; 184 ^ tiu
ff er uiiort nuujoi uuir — dinfcn; Categ. 868 ^- sie mag man hede
hci\in honio undc aninial.
d) 7nag mit unpersönlichem Subjekte.
Es Avar interessant zu beobachten, wie langsam der unpersönliche
frebrauch von können im altdeutschen sich bahn brach. Yor dem XII.
Jahrhundert war die Übertragung von hnnucn auf ein sächliches Sub-
jekt oder gar auf c\ nicht nachweisbar; wir konten noch mehrere Zwi-
schenglieder aufzeigen, av eiche die vermitlung zwischen dem persön-
lichen und unpersönlichen können gebildet haben. Anders ist dies bei
mag! Die objektive möglichkeit kann für eine sache ebenso gut ein-
treten wie für eine person: von einer befähigung darf man hierbei
freilich kaum sprechen; es handelt sich darum auszudrücken, dass
gewisse umstände der Verwirklichung einer handlung günstig sind
oder nicht, und somit für dieselbe ein mngen oder nemngen herbeifüh-
ren. Die ersten beispiele für mugen mit sächlichem subjekt und ez
lassen sich im ahd. bei Tatian nachweisen.
1) nuigen mit sächlichem Subjekt.
Tat. 25, 1 ni mag bürg uiierdan giborgan; 184, 8 inti ni mac daz
giscrib xilosit iinerdan; 164, 3 Uküi iliisiu uiieralt intfdhan nimac;
167, 3 da^ inii)doub )ii mac beran iinahsmon fona imo sclbemo;
240, 2.
MSD 79A 119 irmcxxen undc bcgrifen neniag in nehein sin; 81, 26
taz ist libhafte (animal) daz sich riierin mag.
Notk. Boeth. 10 ^•'^. 30^*^ imprudentia nemog mih bringen ze demo scnl-
digen; 49 ^^ stcrnen nemngen skinen; 65 ^- sprächö unde ding
ncmugen dne sfrif nicht u'crdcnt; 81^ so mugen anchorae gestäten
daz skef; Sl ^\ 92 1^ 102 '■. 147 ^l 154 '^i usw.
2) ez 7nac c. in f.
Tat 17, 3 fon Xazareth mag sih uuaz guotes iiuesan; 119, 5 vaio
mrignn thisn (haec) nnesan; 181, 1 ob iz unesan Tnohti.
Otfr. I, 25, 5 mdo mag sin? vgl. I, 27, 58. II, 3, 7. II, 7, 46.
lY, 11, 26. Y, 7, 21 mag mih gelüsten uueinonnes; Y, 18, 13 iz
mag ans tiuesan dräti; Y, 19. 36 queman mag uns thaz in muat.
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 43
Notk. Boeth. 61'-'' (la\ imo scunolih hrshchoi niahti ; 95-^ im ncmaij
aber des nieJit sin; DD- (ln\ imo lichcsta Diugc sin: 103 -- iniaz
niai) — (hnnic liehen; 121-^ )na(j keskchen; 136 1-* nuio meiy sin;
vgl. 211^. 114^. 149 1^ 160 2«. 180 1».
e) nniij c. in f. = v erb um finituni.
Der impersonelle gebrauch von mnijeii lässt uns darauf schliessen,
dass schon im ahd. die logisclie kraft des verbums mmjen bedeutend
abgenommen hat: frühzeitig ist das ahd. nunj zum hülfsverbum lierab-
gesunken.
Schon aus dem anfang des IX. jalirhunderts können Avir fälle
nachweisen, in denen nunj c. inf. nur die geltung des einfachen ver-
bnm hnitum hat, wie uns die lat. übersetz ungs vorlagen zeigen kön-
nen. Xun kann zwar nicht geleugnet werden, dass in manchen der
beispiele, die wir unten anführen werden, mcnj wol nicht ohne absieht
vom deutschen Übersetzer hinzugefügt worden ist und deshalb bei der
erklärung nicht ohne weiteres auf die seite geschoben werden darf.
Allein man wird doch zugeben müssen, dass dies mcnj , wenn man ihm
noch eine individuelle bedeutung zugestehen will, jedenfals recht schwach
und inhaltsarm ist und von dem alten mcujeni = layveiv durch eine
tiefe kluft getrent ist.
MSD 10,14 laietr niaht thn (jiiot )nan neman qneepriDnmn = tinrlc
ergo hahes aqnam vivemi? ; 10, 27 des Dmldlin siehure sin, = hoc
vere dixisfl; 10, 28 deix thil mäht foraseigo sin = qina propheta
es tu; 54, 12 nueo meig er christäni sin — quornodo se ehristia-
mnn dicit; 80, 5 so meui einen stupf ketuo)i mag.
Tat. 45, 4 ihiu hihcihen mohtun einerö giuuelih xuei mex odo thriu
(ccipientes singulae metretas hineis vel ternas) ; 240, 2 nudniu the-
san mittilgart bifdhan rnrigan ^- arhitror mundu?n capere eos.
Otfr. lY, 14, 15 thiu mugun urhundon sin.
Notk. Boeth. 124 '^' ^luaz mag stcircheren sin eul persueidendinn dcinne
daz lob ist; 135 -"^ tax nenieihti nicht snieihe sin = neque cnim vile
qiiiddeim est; Ps. 24, 19 ih iro destc uuirscren trost haben mag.
f) mag c. inf. ersezt den conjunctiv.
Dem conjunctiv, mag er nun im besonderen als optativ, jussiv
(adhortativ), potential oder wie auch sonst immer aufti'cten, ist es eigen,
einen „mangel an objektiver tatsächlichkeit" zum ausdruck zu bringen.
Ebenso schlicsst aber jede möglichkeit einen mangel an Wirklichkeit in
sich ; es haben daher „die kategorien der möglichkeit und fähigkeit eine
44 KAHL
verwantsehaft zu der diuch den eonjunctiv bezeiehneten der verringer-
ten realität oder negativität" (Bock QF. XXYII, 15). Von diesem
gesichtspnnkte ans haben wir es zu beurteilen, wenn im alid. nicht
selten ntac c. inf. da steht, wo wir eine conjunctivform des verb. fin.
erwarten oder gar, wo das lat. original sie bietet. Mitunter wechseln
innerhalb desselben Satzgefüges der eonjunctiv und ein indicativ von
iliugcu mit Infinitiv, z. b. Otfr. V, 23, 37 thoh inio ahuucrtax st ni-
tffog ouh üiii ihcn ONf/o)i \i (faiinuncrtix scoukoh: vgl. IV, 19, 25/6.
Als beispiele für den ersatz des conj. durch mac c. inf fülirt
Erdmann (Untersuchungen usw. s. 36) an:
^ISD 10, 1^8 hrrro in ihir aunjic sein, da\ ihü mäht fomsago sin;
Otfr. n, 14, 55 ffiifi niuat — dtiai viih iris, tliax flut forasago
sis (vgl. MSD s. 294). Wir haben die stelle MSD 10, 28 schon oben
unter den fällen aufgezählt, in denen }nac c. inf = verb fin. steht.
Otfr. Y. 23. 1 steht im nachsatze viag einem conj. praet. des con-
ditionalen Vordersatzes gegenüber: imoU ih hiar nu redi)W)i, ni
mag i\ thoh irhohoron.
Die verti'etung des conj. in optativem sinne durch Diag kann
ich aus dem ahd. nicht belegen; doch möchte ich hierher stellen:
Notk. Mcp. 760 - tia mahtist til gcnio seilen glixenta ((piam et
eonspicere nitentem velles).
Der jussiv liegt vor in: Otfr. I, 26, 6 Inar ntag er lernen =
hiar lerne er (Erdmann s. 36); lY, 26, 24 ia mag ix got erljarmcn.
AYeit häufiger wird der potentialis durch mac ersezt. Das
wesen des potentialis hat Erdraann (1. c. s. 16) zutreffend folgender-
massen beschrieben: „In einer beschränkten anzahl selbständiger con-
junctivsätze ist die subjectiv- begehrende erregung des sprechenden ab-
geschwächt, da kein Interesse desselben am satziuhalte hervorgehoben
wird. Was dieser eonjunctiv mit dem wünschenden und auffordernden
gemeinsam hat, ist die Vorstellung des redenden, dass das eintreten
nicht jezt wirklich statfindet, sondern algemein, d. h. nicht zu einer
bestirnt ins äuge gefassten zeit, sondern überhaupt zu irgend einer zeit
statfinden könne, d. h. möglich sei." Man ersieht daraus, dass das
hülfsverb, dem die function zukomt, die möglichkeit auszudrücken,
nämlich mugen, in ganz besonderem masse geeignet erscheint, den
conc. potentialis zu vertreten. Bisweilen wird bei diesen Vertretungen
mugen selbst in den eonjunctiv gesezt. Hierüber hat sich Holt heu er
(Zs. f. d. ph. erg. 166) so ausgesprochen; „Ohne das hülfsverb würde
der coniunctiv stehen, mit dem hülfsverb steht der satz im indicativ:
es umschreibt also den modus. Die spräche geht aber noch einen
KÖNNEN UND MÖGEN IM AiTD. 45
schritt weiter. Sie sezt auch das hiiltsverb in den modus, den es
eigentlich umschreiben soll, und es enthält der satz so die modale
beziehung in der tat doppelt ausgedrückt." — Beispiele für inac c. int".
= conj. potent, sind:
MSD13, 12 uuie nidlitih dir iulruuiaii (et quo a farle tuet fu(jiam);
54, 13 odo um mac der furi audra dcrd calaupd putyco a//t (cd
quoinodo j)ro alio fidci spousor vxistat).
Otfr. I, 4, 55 uulo uu(j ih auiwan tJuinnc; Y, 25, 3Ü uurs inaj
ih fergo)( uwra.
Notk. Boeth. 9G ^'' iolö sin<)C)i vudfli.st (ccuitarcs)-^ i'll ^"' h) inalit
ena sehen = itaque Ulatn videas; 108^ uues nuuj ih mi diycu
(quid i)nprcccr) ; 224 ^^ uuer maij uuinneshcfte scaffunga (jetuan
= quis legem det cuuaiäibus; 102 ^^ nua:. uiag ilt rachöit (quid
disseraiu) ; 113^ aide laiax mag — Itaben (aut quid habeat).
Im gefüge des zusammengesezten satzes begegnen uns folgende
Vertretungen des conj. durch mugen:
1) Relativer nebensatz.
Eragm. theot. III, 1 liuueo sie inan forleosan mahtin (quomodo
perderent).
Tat. 231, 1 iha\ man exxan uiegi (quod uianduceiur ; Par. fragm.
Zs. f. d. a. XYII, 74 manducetis).
Notk. Boeth. 10 -'^ after dien man stigen maliti (quibus esset ascen-
sus) ; 46 1^ thar muot sulit insliefen mag (per quod irrcpjserit
morbus). 105^^ tie dien uuirsisten mugen haften = quae sc
patiantiir j^f^ssimis haerere.
2) Indirecter fragesatz.
Isid. TL a 6 uuala nu, auh uues mac dhesiu stimna iiuesan =
age nu7ic, cuius est haec vox.
3) Absichtssatz.
Otfr. I, 2, 55 thax ih iamer — mit themo dröste megi sl7i; IV, 19,
25 thax si mohiin — biredinön; lY, 19, 64 tliax si nun mohtin
gianabrechon; Y, 12, 17 tha^ uuir megin — irkennen; Y, 17, 38
thax, baz sie mohtin scouon; vgl. II, 22, 3.
4) Concessivsatz.
Otfr. I, 18, 5 thoh mir megi lidolih sprehhan (Kelle übersezt die
ganze etwas schwer verständliche stelle: „und wenn auch jedes
glied des leibs der spräche gäbe mir besäss, so könte doch mit
Worten nie mit diesem lob ein ende sein); I, 27, 57 thax mih ni
thunkit, megi sin: vgl. 11, 12, 37; II, 14, 91; Erdmann s. 37.
46 KAHL
5) In bedinguiig:ssatzen habe ich niNf/cn -= conj. im ahd. nicht
gefunden; für das mhd. vgl. weiter unten und Holtheucr 1.1. s. 165 fg.
g) ?nac c. in f. = futurum.
Das jfiiturum, das eine handlung aus der gegenwart in die Zu-
kunft, aus der Avirkliclikeit in die möglichkeit, liinausschiebt, schliesst
ebenso wie der conj. einen mangel an realitUt in sich und tritt dadurch
zu mugen in nahe beziehungen. In folgenden füllen entspricht miigen
c. inf. einem einfachen futurum:
Tat. 3, 6 nuo macj ihax sin = quomodo ftct istiid.
Otfr. III, 6, 17 iiiiar wngioi uiiir nu higinuaji mit loufii brot
f/cifiiinnati = Joh. 6, 5 Ttod-ev d'/oqaaoLiev , iindc cmcmus; III, 25, 7
nuax wiigu)i iiuir — thcsses ducni = Joh. 11, 47 quid facie-
mus: Tgl. Tat. 135. 1 miax duomcs; lY, 9, 5 uuara jniigcn uuir
nnsili iiuentcn.
Xotk. Boeth. 91^*^ tir ncmag tiu fortuna dax nicht hegeben (nnm-
quam faciet)] 104 1" mäht teü ieht üxerdreuiien = niun quic-
qiiam impcrabis.
Zur Umschreibung des den germanischen sprachen fehlenden futu-
rums durch andere hilfsverben, wie seal, uuillu , muax, vgl. Grimm
Gr. IV, 179; Erdmann 1. c. s. 5 fg.; meist hat das praesens die fank-
tionen des futurums übernommen (vgl. u. a. Tat. 135, 1 uuax. duomes
= quid faciemns).
Wir haben damit die syntax des ahd. mvgen, zum wenigsten in
ihren haupterscheinungen erschöpft, und können nunmehr zu miigen
im mhd. übergehen.
§ 8. Mögen im inittellioeli(leutsclieii.
Für den, dem zum zwecke der ermitlung der bedeutung des mhd.
hinmen der einfache hin weis auf das ahd. niclit genügt, schreiben "wir
hier aus den oben (s. 15) angeführten vocabularien folgende glossen aus:
passe = mögen ^ moegen, mugen (Diefenbach s. 449); valere = mu-
gen (ebd. s. 605); valex = miigen, miigenheit , gesuntheit ; vgl. aucli
Diefenbach Nov. gloss. 1867 s. 376 s. v. vcdcre. Yoc. d. Nig. Ab-
bas ed. M. Flohr s. 68 n. 3911: possibilis = mogelicher; possihili-
tas = mogelicheit; 3919/20 potens = mehtiger; jjotentia = mäht,
geualt.
Auch im mhd. treten uns also für miigen die beiden grundbedeu-
tungen posse und valere entgegen.
KÖNNEN UND MÖGRN IM ALTD. 47
Für den unterschied zwischen hiDuien und mugcn verweisen wir
noch besonders auf Weinschw. 1(3-4 idi kan icol triHloi loide mac,
ich han hin/ st iindc kraft.
Nicht selten erscheinen kt innen und iniKjoi verbunden: die niüg-
lichkeit wird alsdann gleichsam von zwxi selten beleuchtet: intellektuell -
subjektiv (kuniicn) und physisch -objektiv (tniff/of). Heinrich v. Yol-
decke liebt diese Verbindung ganz besonders: vgl. ^\. F. 64^'''; Eneit
572. 1600. 2298. 3394. 4986. 5335. 8673. 10374. 10559. 11414; vgl.
ausserdem: Will. 141, 14; Wolfr. Willi. 263, 2; G. Trist. 62 •'^=^.
Klage 123. 259 CD; Leyser pred. 29, 33. 65, 41. 83, 39. 90, 12.
Bei der nun folgenden darstell ung der syntax des mhd. mugcn
behalten wir das schcma bei, nach dem wir oben das ahd. vniym
behandelt haben und sprechen daher vom:
I. Absol. gebrauch des mhd. mugen.
Der absol. gebrauch von mugen ist im mhd. nur an wenigen
stellen nachzuweisen: MSD 46, 76 u-and ivir an dich nine mugen;
Gen. 55, 9 sl sprachen da^. er wol mohte (nach Diemer = dass es
ihm wohl gehe); 130, 18 ivolde uaren ze sincn geslachte eridnden wie
ex. mohte; M. F. 197 ^^ oive leider ich enmac; Walth. 35^ er mac, er
hat, er tuot; weitere belege s. Mhd. w^b. II, 4b (myst. 131, 2 ist dort
falsch citiert!) und Mhd. hwb. I, 2219.
Meist liegt da, wo mugen allein steht, eine ellipse vor: so z. b.
MSD 33 F. 20; Hpts Hl. 17, 17; Heinr. v. M. Pr. 301; Roth. 121.
1775. 4865; M. F. 16 24. 48^0. 172^7; Eneit 4986. 5335. 10559.
11414. 13045; Wolfr. Parz. 193, 28; Wilh. 17, 7. 96, 11. G. Trist.
1115. 25116. xjlr. Trist. 569^7; Nib. 1766, 4. 2081, 1; Klage 121
da lie siz (siz gen BCDIh) als ez mohte. Gudr. 846, 1. 1347, 3.
1563, 1; Walth. 58 1«. 91 1«; Frid. 3, 25; Nie. Jer. 1, 172.
Der Infinitiv eines verbums der bewegung ist zu ergänzen: G.
Trist 24 22. 54417. ^ib. 576, 2; Gudr. 734, 4. 1463, 2; (vgl. oben
s. 16).
n. mag mit einem objekte.
Die meisten hierher gehörigen beispiele beziehen sich auf eine
ausdrucksweise, die unserem: „was kann ich dazu, dafür*' u. dgl. ent-
spricht (vgl. Lachmann zu Nib. 785, 1; Kl. sehr. I, 191; Zarncke
Mhd. wb. II, 4b u. fg.).
M. F. 72^3 desn mac ich niet; 171 2s waz mac si des.
Wolfr. Parz. 271, 3 ivaz mohte si, sivaz ir geschach.
48 K-MIL
G. Trist. 250 1^ der. f\^f ir art: wer niac des iht? 446-^ wer mag
im dirre hliatheU iht? Ulr. Trist. 543 ^^ ica\ duuj ich; 557 ^^
icax inoJite ich.
AValtli. 62--. 89 ^"^ der, icJi es niene nute (vgl. Wilmanns aiim.).
Küiir. Gold, sclim. 1094 irer mae im defuie, oh er c/eleit tvirt
Bon. 37, 45 wer //icu/ i})i des?
Anderer art ist der accusativ in: M. F. 180 ^^ dem ist nie also,
da\ ich hü\ niene niac; Hartni. a. H. 125G icider den nioncrn iiieht
cnmac: Er. 2679; Greg. 3499. Hugo v. Langenstein Mart. 266*=, 61
och ist fri(/er muot f/ec/eben, der, er (j not nnd nhil niac. Gudr. 1190, 1
wir tnon swa\ wir geniüijoi (diese stelle für (jeniihjcn [vgl. got. Gal.
5, 6 uailtt (janunj = hr/ko] fehlt Mhd. "wb. II, 8'' und Lexer I, 848.
Bei Hartm. Greg. 2906 und Er. 8319 scheinen mir formen von ma-
chen, nicht mngen vorzuliegen).
AVie man sieht, ist die hinzufügiing eines objekts zu miajen im
mhd. ziemlich selten; sie ist auf bestimte formelhafte ausdrücke
beschränkt.
III. niugoi mit abhängigem infinitive.
a) miigen = v alere.
Den gebrauch von niiigen = valere, d. h, kräftig, körperlich fähig
sein zu etwas, den das nhd. kaum mehr kent, können Avir aus zahl-
reichen beispielen des mhd. noch belegen; wir verwenden in diesem
sinne das compositum „vermögen", das seit dem ende des mittelalters
die funktionen von miigen = valere übernommen hat.
Bei der aufzählung einiger beispiele begnüge ich mich mit der
angäbe der infinitive, die von diesem mugen abhängig gemacht werden.
Will. 58, 18 adversarias potestates nider triben; 142, 9 besldrinen;
Annol. 681 widirsten; Hpts Hl. 116, 31 sich gerehken; Heinr. v. M.
Er. 111 erheben; Roth. 2571 icidirstdn; M. R 72 ^'J ir kreftea . .
gestemen; 30 ^i. 47-'^. 127 3^\ 137 1^ 170 ^l
Eneit 708 gewinnen met gewalt; 1258 op stän; 1852 enteren; 2388
gestdn noh gegän; 2672 gevehten; 4022. 6454. 8846. 9164. 9805.
Hartm. Er. 817 mit kreften gelegen; 3118 gestriten; Iw. 6678 ervehien.
AYolfr. Parz. 66, 16 getuon rlterschaft; 124, 4 ab gexicicken.
G. Trist. 48^^ mit teer gecristen; G2^'-' äf sinen vüexen gestän.
U. Trist. 558^ gespringen.
Xib. 58, 1 mit geicalte erwerben; 1010, 2 gegän CDIh; 1977, 3 er wand
in mugen twingen A; (das ist das einzige beispiel für den Infinitiv
des mhd. mag: vgl. Lachmann zu 1977,3; die anderen handschriften
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 49
haben: er wände in sohle iirin(/en C; er mölite in iwimfen B; er
rnolit ertninijen Ih). 433, 3 niil Irefte des schales niJtt ijestdn.
Gwdr. 94^ 4: solif er Ire ff e gewalten; r)l4,2 sfrrlr nrdfen; 852,4. 1463,1.
Frid. 2, 25. 19, 23. 53, 1. <)?, 5. 175, 13. 09, 14 ericern; 132, 20
iibencafen.
Konr. Alex. 9(30 (jrhrecJicn üx der hende sin; 974 mit kraff — drnX'
gewinnen.
Nie. Jer. 6, 149 gesidn — ///' de)i räexen.
Vax Berthold v. R. vgl. Kötteken 1. 1. s. 117.
b) niugen = posse.
Ich leiste von vornherein verzieht darauf, für dieses im nihd.
ungemein verbreitete miwjen beispiele beizubringen; wie wir sehen für
das alid. bemerkten, hat jenes mmjen fast jeden Infinitiv, er mag indi-
viduell Avie auch immer geartet sein, in den bereich seiner abhängig-
keit gezogen: die objektive mögliehkeit ist unbeschränkt auf alle gebiete
geistigen und körperlichen geschehens ausgedehnt; joder mhd. schrift-
steiler bietet hierfür eine fülle von belegen.
Monsterberg hat in seiner verdienstvollen arbeit die mühe nicht
gescheut, die beispiele für dieses mmjen bei Hartmann nach der beson-
deren art der umstände, welche jeweilig die mögliehkeit bedingen, sorg-
fältig zu ordnen und zu klassificieren ; es gebricht mir an räum und
zeit, dies lehrreiche verfahren auch auf meine beispielsamlung anzu-
wenden.
Wir gehen sogleich zu einem weiteren gebrauche von miujen über.
c) mag = es steht mir frei, ich habe Ursache u. dgl.
AVir haben oben auf die bedeutungsnüancen hingewiesen, welche
sich aus dem ahd. mugen entwickelt haben; wir suchten zu zeigen, dass
die scheinbar geänderten begriffe, welche diesen neuen arten von mugeji
zu gründe Liegen, nur verschiedene selten des einen hauptbegriftes der
mögliehkeit sind. Das gleiche gilt für das mhd.; zu den beiden bedeu-
tungen, die wir im ahd. beobachten konten: 1) ieli habe Ursache, 2) es
steht mir fi-ei, tritt hier noch eine dritte hinzu, die auch dem ahd.
nicht ganz fi'emd war: „ich habe recht, es ist mir erlaubt." Auch
auf diese bedeutungsvariante kann die erklärung anwendung finden, die
wir- oben für die analogen erscheinungen im ahd. gegeben haben. Da,
wo mag heisst: „ich habe ein recht darauf, so oder so zu handeln",
sind die umstände, in denen die mögliclikeit der handlung wurzelt, so
beschaffen, dass sie mir nicht nur freistellen, ob ich die mögliehkeit
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXH. 4
50 KAHL
in ^vil•klichkeit umsetzen will oder nicht, sondern dass sie mir auch
die b erecht ig-ung meines tuns ausdrücklich verbürgen.
Bei der fülle der beispiele, die mir für c) zu geböte steht, muss
ich mich mit einer auswahl begnügen.
1) mac = ich habe Ursache.
Dies niugen ist leicht daran kentlich, dass mit verliebe adverbiale
bestimnuingen wie gerne, icol, vil, von schulden, Iflite usw. zu inac
c. inf. hinzutreten.
MSD 32, 1, IT da\ mag ))ian iciinteran.
Gen. 2, 6 dax mugit ir gerne hören; 13, 25.
Annol. 575 den man müge wir nu ci hispili havin.
Hpts Hl. 20, 13 e\ mugin Seh nvl alle sprelin. 24, 31.
Heinr. v. M, Er. 16 er mac icol sprechen; 318. 410. 6G9. 776 du
malit ex ger)i tuon; Pr. 527 des mag er sich immer schämen.
Roth. 125 die du wol miigis senden; 1775 daz siez immer miujen
Idagen. 1438. 2372. 4128. 4364.
M. F. 14 -^ so mac er vil icol tr inten; 21 ^ er mac wol froelichen
leben; 127^^ so mac ich von schulden sprechen tvol; 16'. 60'.
6120. 66 26, 70 9, 913. 9321, 9734 10932, 1139, 11313, 19(3 22,
2099.
Eneit 1588 ir moget hen wale met eren friiinÜike ane sien; 1546.
2258. 2476. 2041 et mach mich bakle ruoicen; 3694 des mahtu
wale frö sin; 5036. 5944. 6199. 6771. 7469. 9984. 11774 wir
7nogen ons hosUke skameii.
Wolfr. 1. 5, 16 ein wip wol mac erlouhen mir; 7, 42 daz ich wol
mac mit wärheit jehen; Parz. 318, 18 die man gerne m'öhte schou-
we7i; 827, 3 daz mac wol zürnen Kyot; Wilh. 58, 28 ez möhte
etliches mag beklagen; Parz. 136, 14. 561, 11; Wilh. 463, 16;
Tit. 118, 4.
Hartm. Iw. 26 daz man gerne lioeren mac; 3993 ich m,ac ivol
clagen; Er. 6032. 7508 des mac ich icol erlachen; weitere belege
bei V. Monsterberg 1. L
G. Trist 235 ^^ wir mugen ez dne sorge län; 349 ^- ich mac icol
weinen; 106 1. 119 i^. 173^1. 367 2. 466^1. 486^.
U. Trist. 502 ^s wir megen von herzen alle icesen fro; 526 ^5.
5641.
Nib. 48, 3 er mohte icol verdienen; 249, 1 ir muget in gerne dan-
ken; 935, 1 ir muget iuch lihte rüemen; 1156, 3 ir miiget mich
KÖNNEN NUD MÖGEN IM ALTD. 51
gerne grüexen; 1184, 4 du imütt dich vreuiroi balde; 1663, 1 si
mac vil lange iceinen; 2181, 3 ich mag icol haldr llagcN u. öfters.
Klage 1021 erschrahtc, als er von schulden niahte; 1213 dax man
inuner mcre da vo)i maere sagen mac.
Gudr. 73,1 des mac man verjchoi; 154, 4 dicli niügen lohen balde;
127, 2. 192, 2. 269, 4. 299, 2. 361,4 des mohtc er sinen schcrm-
hnabcn gcdcuihen; 382, 2. 516, 3. 671, 2. 715, 3 dax man ims
danken niohfe von schidden ivol nach eren; 1473, 2 si moJite
balde hlagcn usw.
AValtli. 16 1^ der treise kkigen mac; 38 ^^ icir mühten balde klagen
von schulden; 100-"^ der mac wol sorgen; 121 ^^ möhtens ivol ge-
dagen usf.
Frid. 8, 24 von donre mac man wunder sagen; 49, 4. 56, 13.
Konr. Gold. schm. 539 und mac dich ivol hediuten; 909.
"Weinschw. 40 ich mac in ivol erliden.
Berth. 881, 10 (Wackern. leseb.) die inöhtet ir gerne an sehen.
Bon. 2, 37 her an mac gedenken wol.
Kic. Jer. 15, 19 des man mochte lachin.
3) mac = es steht frei, licet.
ynugen in dieser bedeutung berührt sich nicht selten mit dem
futurum.
Heinr. v. M. Er. 117 der mac tuon swax er icil.
Eoth. 364 nü mugider hören mere; 5095 nü mugit ir hören w^
er sprach.
M. F. 175 1*^ mugent ir michel ivunder an mir sehen.
Eneit 3385 alse du gesien onaht; 9390 da moget ir hören tvonder;
12966 da mochte man skouiven.
Wo 1fr. Parz. 58, 14 hie miigt ir gröz ivunder lösen; 123, 1 du
mäht hie vier ritter seh^i.
G. Trist. 146 1^ ivax mac ich nü mere sagen; 175^^. 199 -^^ 344 3^.
260 ^^ ich mac wol disen geivalt an mtnem vmcle üebeii.
U. Trist. 511 * swer vrouwen walte schouicen, der mohte da vil
schoene sehen.
Nib. 1, 4 mnget ir nu wunder hoeren sagen: oft widerkehrende
epische formel: 1062, 1. 1644, 2. 1661, 2. 1873, 1 usw. Gudr.
1010, 1.
Klage 527 du mäht noch manegen rinden.
Gudr. 652, 4 so muget ir mich wol vrägen; 721, 2 ma7i mohte
dax wol hoeren.
4*
52 KAHL
Waltli. 18-'*^ (hf nnfc/cnf ir aUc sci/otiirof fcol ein iniudcr hi.
Konr. Gold. s(.'lini. 415 da\ man crhennoi nmc da hi.
Nie. Jer. 6, 130 al^ nnin da mac schouwin; 52, 14.
3) t)iac = ich habe reeht, es ist mir erlaubt.
Wolfr. Parz. 48, 3 sl niohfex icol mit cren tuon.
Nib. 63, 3 gcwanl da\ aho stohe recken mit cren miigen tragen;
102, 9 dav )nu(jt ir tcol Diit rrn iunn : 673, 4 .9/ ))}ar mit eren
min neu des S. Up; usw.
Frid. 52, 17 der mac mit eren werden alt.
Berth. 902, 1 (Wackern. leseb.) sicer da spricliet, ex müge dehein
etnan In siner hiUfroicen geligen dne houbetsimde usw. (vgl. Röt-
teken s. 117).
d) mac mit nicht-persönlichem Subjekte.
Über den nicht -persönlichen gebrauch von mugen ist oben zum
ahd. bereits das nötige bemerkt worden. Ich führe aus meiner bei-
spielsamlung nur belege aus früh-mhd. denkmälern an, um zu zeigen,
dass man schon frühzeitig im mhd. kein bedenken getragen hat, sub-
stantiva der mannigfachsten art, concreta und abstracta, endlich auch
ex zu Subjekten von mugen zu machen.
Will. 27, 3 die dorna; 43, 12 tüha; 55, 9 saeciilaris actio; 107, 11.
Annol. 605 predigi.
Hpts Hl. 27, 5 unsir samet tvesin; 116, 31 diu sele.
Heinr. v. M. Er. 87 ?-dt; 830 olbende; 973 ouge; Pr. 15 künde;
155 tivel.
Roth. 654 ros; 1859 mantele; 4908 voxe.
M. F. 72^ herxe; 42 25 staete; 43 2^ huote; 53 1 icän; 81 ^ staete;
8331 icinter; 87 ^ tot; 113 ^ tier; ll'd^-' glas; 138 1^ saelde; 1661»
wunder; 188-^^ hluomen schin.
Eneit 1963. 2110. 4296 rät; 7018 torn; 11222 brief; 12097 ros.
Über das impersonelle ex. mac c. iaf. ist wenig zu bemerken:
es ist seit Williram in einer grossen anzahl von stellen zu belegen.
Wie im ahd. zeichnen sich auch im mhd. die Infinitive, die adverbial
zu ex mac hinzutreten, durch eine gewisse algemeinhcit und darum
auch unbestimtheit ihres Inhaltes aus; solche Infinitive sind tverdenj
sin, gescheiten, gän, irgän usw. Von einer aufzählung von beispie-
len für diese ungemein häufig vorkommende ausdrucksweise glaube
ich fügUch abstehen zu dürfen; sie bietet nur das eine Interesse, dass
sie uns mugen auf einer sehr niedrigen stufe seiner verbalen functions-
fähigkeit zeigt.
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 53
e) mac c. inf. = vcrbiim finitum.
Wie im ahcL, so lassen sich auch im mhd. eine reihe von fällen
beobachten, in denen miiyen^ eigener bedeutiing fast ganz baar, pleo-
nastisch und das einfaciio verbuni umschreibend, zum infinitiv hin-
zugefügt wird: dieser gebrauch lässt miificn vollends als hülfsverbum
ei*scheinen. Oft dient inuijeii hier dem ausdrucke der gemilderten
behauptung; die zuversichtlichkeit, welche in den indicativformen sich
ausspricht, wird dadurch gemildert, dass man die handhmg aus der
direkten Wirklichkeit in die mögiichkeit hinausschiebt: dies geschieht
dadurch, dass man das einfache verbum durch mac c. inf. umschreibt.
Es ist klar, dass j/ntr/en in dieser an Wendung jenem nnigen sehr nahe
komt, welches im verein mit dem abhängigen infinitiv den potentialis
ersezt; es hält oft schwer zu entscheiden, ob ein solches mac c. inf. nur
die geltung des einfachen verb. fin. hat ober ob es den potential vertritt.
Heinr. v. M. Er. 216 der in der icerlt niht einen esel mohte Imheii;
480 uon dem gemäinen lebene mag ex einen hesunderen namen
U'ol hahoi.
Koth. 2217 der din gcnox mohte sin; 2482 her mach ivole imse
vatir sin; 2588. 2628 do mohter vunfxic diisint haven.
M. F. 8-^ des ich niht mohte hdn noch nie7ner mac gewinnen; 53 ^^
icax mac dax sin, dax diu iverlt heixxet minne.
Wolfr. Parz. 53, 30 de)i xins von sinen landen, sicax der gelten
moht ein jdr; 86, 15 von dem sol er Icdic sin, mac min her Br.
ledic sin von diner haut (nach Erbe P.-Br.V, 36 =fut.); 123, 11
ir mugt ivol sin voti ritters art; 123, 21. 326, 17 usw.; Wilh.
98, 8 si mohtenx iingerne tuon.
Gr. Trist. 18^ schoeniic vroinve, der ieglichiii mohte sin vo7i schoene
ein richiu Minegin.
TJ. Trist. 573^*^ du mäht icol hohe vröude haben.
Xib. 109, 3 ich icil an in ertwingen, sivax ir mnget hdn; 118, 2
er mohte Hag enen sivestersun vil icol sin; 393,2. 995,1. 1427,3.
83, 2 sin im die herren künde AB (mag er sie hekeyinen CD);
961, 2 so vernemet selbe A. (so muget ir selbe hoere7iB] ir müget
irol selbe hoeren C); 2212, 3 dax moht man kiesen (erchox manxC).
Gudr. 401, 2 7nac er haben kröne oder hat er eigen land (vgl.
Martins anm.); 429, 1 die sie mohten hdn.
Frid. 127, 2 sivd nuxxe scheint diu kindelin, da mac des lones
lihie sin; 143,1; 95, 4 für durst mac niht bexxers si?i dan nasser.
Konr. Eng. 294 sirenn ich des goldes niht mac hdn; 543 die teile
dax ich mac geleben.
54 KAHL
Saclisp. I, 17, 1 alle de sik gelihe nd to der sibhe gestuppen mögen.
Bon. 3, 44 die rede moht ex vil küme hdn.
Nie. Jer. lö, 1-4 der besiin die er molite hdn; 20, 123.
f) niae c. inf. ersezt den conjunctiv.
Auf die beziehuugen, welche zwischen t)iuge}i und dem conjunc-
tiv obwalten, habe ich schon oben bei gelegenheit des ahd. hingewiesen.
Im einlachen satz vertritt mac c. inf. meist den potentialis oder
den Optativ.
1) mac c. inf. = potentialis.
Tgl. hierzu: Holtheuer Zs. f. d. ph. erg. s. 153.
Roth. 743 die mach icoJe iresen herre; 840 von icannen mac dix
Volk sin?
M. F. 85 3^ mac si hoeren, icax ich meine; 104 1. 119^-.
Hartm. Er. 3816 icax mac ich sprechen me; 7970 icax mac ich iu
mere sagen. (Weitere beispiele bei v. Monsterberg 1. 1. s. 49).
Wolfr. Parz. 475, 20 wax, rätes möhi ich dir nu tuon? Tit. 54, 1.
G-. Trist. 68'-^ dix tniigen icol guote Hute sin.
Nib. 82, 2 rieh unde kilene moht er vil tvol sin; 1690, 4 er mac
liol sin ein recke guot.
Gudr. 988, 4 er mac sich ir tcol geliehen; 1207, 4. 1271, 3.
Walth. 72'-^ der mac icol heizen friundes gebe.
Frid. 137, 17 dax mac icol sin ein heilic xit.
Berth. I, 44, 20 iver mac reht haben? (vgl. Kötteken s. 117).
2) mac c. inf. = optativus.
Holtheuer 1. 1. s. 148; dortselbst beispiele aus Hartm. Iw.; Röt-
teken s. 27.
M. F. 127^7 jnac si sich doch miner rede versinnen; 5^^. 19 ^ 160^^
Wolfr. 1. 7, 37 mala du troesten min gemilete; Tit. 2, 1 möht ich
getragen icäperi.
Gr. Trist. 2652 ^nöht ich der rede geiuis sin!
U. Trist. 512-^ möhtestü mir ze tröste komen.
Gudr. 227, 1 mühte dax gesin; 1432, 4 möht ich mit den vinden
ge^triten.
Walth. 39^ mühte ich versläfen des winters zit.
Barth. I, 137, 12 7iu mac dir got vil tcol vergelten.
3) mag c. inf. = adhortativ.
"Walth. 51^2 muget ir schouwen; 52 ^^ u. ö.
KÖNNEN UND MÖGEN IM ALTD. 55
4) inac c. iiif. in cunditionalsätzen
dient dazu, entweder „den Inhalt d(s fragesatzes noch mehr in das
gebiet des Ungewissen, bedingten liineinzuziehen" (vgl. Iloltheiier
s. IGT) oder die unwahrsclieinlichkeit und irrealität des bedingungs-
satzes noch scharfer auszudrücken, als das durch den einfachen con-
junctiv möglich ist. Beispiele hierfür sind:
M. F. 63'' möht ich eriverhen mit fröiden ir hulde.
Wolfr. Parz. 46, 10 mÖht ex mit sinen hulden sin; 420, 13 ich viöht
mit cren empfdhcn min laut; vgl. Erbe Über die conditionalsätze
bei Wolfram v. E.: R-Br. Y, 1 fg.
Gr. Trist. 200^-^ und mohte sie daz tvizxen; 333 ^^ 35822.
Nib. 112, 2 ez enmüge von deinen eilen din laut den fride hdn,
ich teils edles wcdten; 467, 2.
Klage 65 ob si möhte sin ein man.
Walth. 95 3^ möht ez mit liebes hidden sin; 125-^ mÖht ich die lie-
be7i reise gevaroi über se.
Fr id. 17, 9 ob alle seien möhten sin in einer hant, sön Idinde ir
schin nieman grifen noch gesehen; 73, 20 möht ich ivol minen
icillen hdn, ich wolte dem keiser 'z riche län.
5) mugen im indirekten fragesatze.
M. F. 123 3^ nü rätent liebe froiven, tvaz ich singen milge.
U. Trist. 558 1^ wer er wesen möhte.
Nib. 393, 2 wer die unkunden reken milgen sin.
Es wird sich empfehlen, die Vertretung des conj. durch mugen
noch einmal mit systematischer volständigkeit und mit benutzung des
gesamten stellemnaterials zu behandeln; bis jezt liegen in den arbeiten
von Holtheuer und Erbe nur bescheidene ansätze hierzu vor.
g) mac c. in f. = futurum.
Über den grund, der mac c. inf. und das futurum zusammen-
führte, wurde bereits oben gesprochen. Es folgen einige beispiele.
G. Trist. 21425 ^^. fjiuget noch wol geleben den tac.
Nib. 113, 2 siceder unser einer am andern mac gesigen; 234, 3
daz ez Lindgere mag immer wesen leit; 639, 3. 1407, 3 ir mu-
get harte 2Col gewiesen; 1865, 1.
Gudr. 268, 1 iver mac uns daz gelouben.
Walth. 49, 29 ivaz mach ich nu sagen me: so lesen Wacker-
nag el und Bartsch; Lachmann liest an der angegebenen stehe
mit einigen handschriften sol; hiermit vergleicht Wilmanns
56 KAHL
Ulr. V. Liecht. 201- ira^ sol ich in sagen me. Die vertausch img
von sol mit dem fiituraleu mac lasst sich auch sonst in den harid-
schriften beobachten: vgl. u. a. Hartm. Iw. 135 do moliicr oh
Ad [da soldcstn auch a; do ))iohtc ouch ir BD).
Frid. 120, 1 uil er in allen anijesiyen, er mac ivol ein halp inider-
ligen.
Berth. 877, 21 (Wackern. leseb.) diu e icart oder iemer mer cht wer-
den mac; 890, 38 da\ du nie würde noch niemer uerden 7naht.
Wir beenden hiermit unsere darstellung der syntax des mhd.
mugen: ^vir konten uns in derselben durchweg kürzer fassen als in
den übrigen teilen unserer arbeit, da wir die principiellen fragen für
die behandlung des mhd. niugen schon bei gelegenheit des ahd. erör-
tert hatten; es galt nur unter die dort aufgestelten kategorien, welche
wir mit geringen änderungen beibehalten durften, die beispiele aus
dem mhd. einzuordnen. Auf volständigkeit in der herbeischaffung der
belege musten wir, um dem vorwürfe alzu grosser ausführlichkeit zu
entgehen, verzichten; jedoch werden die beispiele, die wir beigebracht
haben, in genügender weise zum Verständnisse der von uns besproche-
nen syntaktischen erscheinungen beigetragen haben.
Wir schliessen diesen abschnitt unserer Untersuchungen mit einem
kurzen rückblicke auf die geschichte des altdeutschen mögen.
Schon an dem got. magan traten uns zwei begriffe entgegen:
der der körperlichen kraft und der der möglichkeit; während der
ganzen altdeutschen zeit gehen diese beiden bedeutimgen von mögen
neben einander her, so zwar, dass mugen = j^^sse die überhand gewint,
mugen = valere in den hintergrund tritt. Die nhd. spräche kent
mögen in der bedeutaing „körperlich kräftig sein" kaum mehr; können
und das kompositum „vermögen" teilen sich in die functionen des
alten mugen = valere. Mugen = posse begint bereits im ahd. auf
der einen seite seinen logischen, begriflichen Inhalt mehr und mehr
aufzugeben und in der breiten gebrauchssphäre eines verbum auxüiare
sich zu verlieren, auf der anderen seite einige bedeutungsnüancen aus-
zubilden, welche uns den grundbegriff der möglichkeit in verschiedenem
lichte zeigen. Daneben endlich erlangt mugen die fähigkeit modale
beziehungen auszudrücken, den conj. und das fut. zu umschreiben.
Der verwitterungsprocess, der sich im ahd. an der bedeutung von
mugen vollzogen und der mugen zur geltung eines hülfsverbimis her-
abgedrückt hat, dauert auch im mlid. stetig fort. Zwar bewahrt sich
mugen noch nach einigen richtungen hin seine verbale kraft, die sich
vor allem auch in einer begriflich genau fassbaren bedeutung kundgibt.
KÖ.VNEN UND MÖGEN IM ALTD. 57
Im algemeinen aber ist niuijen seines sinlichen vorstellungsinhaltes
beraubt und kann nur dann im Satzgefüge wirksam auftreten, wenn es
von einem Infinitive unterstüzt wird.
Das nlid. (vgl. DAVb. VI, 2449) kann uns zeigen, welcher man-
nigfaltigkeit von anwendungen und bedeutungen mögen gerecht zu wer-
den im stände ist. Die vielgestaltigkeit des nhd. mögen ist aber zum
überwiegenden teile durch den umstand erkauft, dass dem Zutritte des
intinitivs zu mögen keine grenzen gesezt sind: Infinitive der verschie-
densten art werden von mögen abhängig gemaclit imd prägen dem
inhaltlosen mögen bald diese bald jene bedeutung auf; nur an Avenigen
und schon stark verwischten spuren wird offenbar, dass auch das hülfs-
verbum mögen einst eine selbständige, sinlich kräftige bedeutung gehabt
hat, wie sie uns das got. macjan = loy/eiv noch zeigt.
§ 9. Einzellieiten aus der syntax von können und mögen im
altdeutschen. Nachträge.
In diesem sclüussparagraphen sollen noch einige punkte bespro-
chen w^ erden, die bisher entweder übersehen w^orden sind oder deshalb
mit absieht übergangen wurden, weil sie können und mögen betrafen
und darum in der von uns gewählten anordnung nur schlecht platz
finden konten.
1) Können und mögen in nachsätzen nach positiven
comparativen und Superlativen.
Bock hat (Q. F. 27, 15) über die tatsache berichtet, dass können
und mögen im mlid. besonders gern in nachsätzen nach positiven com-
parativen und Superlativen da gesezt werden, wo uns das einfache
verbum in indicativ- oder konjunctivformen zu genügen scheint: z. b.
Nib. 128, 2 mere danne ich iu kau gesagen; Hpts EQ. 30, 25 höheste
viinne die man gehabin macli. Bock hat richtig gesehen, dass hier
eine Steigerung des gedankens vorliegt: die Verneinung der Wirklichkeit,
welche in jenen nachsätzen zum ausdrucke komt, wird durch den Zu-
satz von können oder mögen gleichsam für alle zeiten ausgesprochen.
„Was niemals gewesen ist und was niemals sein Avird, wird in der Vor-
stellung leicht zu einem, was nicht sein kann und nicht wird sein
können, was nirgends ist, zu einem, was nicht sein kann, d. h. zu
einem unmöglichen.'' — Beispiele findet man in genügender zahl bei
Bock s. 16; aus den mhd. epen sind uns formein wie Roth. 1836
aller beste die man iergin mochte haven durchaus geläufig.
58 KAllL
2) Der inf. praet. nach können und mögen.
Die deutsche spräche hat nicht die fähigkeit besessen, einen Infi-
nitiv der Vergangenheit zu bilden; sie muste daher, wenn sie nicht
etwa dem praesentischen infinitive die vortretung des praeteritalon über-
lassen wolte — wie dies im alid. noch durchweg geschieht, vgl. Grimm
Gr. IV, 170 — zur Umschreibung ihre Zuflucht nehmen. Diese nun
wird so volzogen, dass der infinitiv „haben" zu dem part. praes. des
verbums hinzugefügt wird, dessen inf. praet. gebildet werden soll; z. b.
Nib. 792, 3 du niöhtcst gedaget hdn.
Solche inf. praet. finden sich a) nach kiinnen: M. F. IGO i^.
175 3^; G. Trist. 35 '^ AVolfr. Parz. 404, 30; Nib. 2098, 2; 2223, 4
künde ABC {ffwht Ih); Gudr. 1439, 2; 1453, 2.
b) nach wugeu: Hpts Hl. 22, 24; Heinr. v. M. Er. 687; Koth.
1583; 1632; M. F. 452'-^; 140^; 177^«; Eneit 4667; 5560; 7626;
11226: Wolfr. Parz. 286, 30; 464, 6; 484, 22; 565, 28; Gotfr. Trist.
89 3^'; 388 5; 428 ^ lobg. 62, 12; Nib. 401, 4B; 792, 2; 1496, 1;
Klage 557; 628; Gudr. 127, 3; AYalth. 17i»; 106'; Konr. Eng.
1480; vgl. auch Grimm Gr. lY, 171.
3) Die prothese der partikel ge- vor den Infinitiven nach
können und mögen.
Die forscher, die sich in neuerer zeit mit dem vielumstrittenen
ge- beschäftigt haben (vgl. die litteratur bei Reifferscheid Zs. f. d. ph.
erg. 319 fg., v. Monsterberg Zs. f. d. ph. XVIII, 301), sind darin einig,
dass der verschlag von ge- mit besonderer Vorliebe bei den Infinitiven
eintritt, die von kunneu und niiigen abhängig sind. In betreff der
erklärung dieses ge- gehen die ansichten der forscher weit auseinander;
die bisherigen auffassungen hat Reifferscheid 1. c. eingehend bespro-
chen und der reihe nach mit stichhaltigen gründen, wie mir scheint,
als irrig abgewiesen. Seinen eigenen erklärungsversuch hat Reiffer-
scheid noch nicht veröffentlicht; er gedenkt ihn, wie er die gute hatte
mir brieflich mitzuteilen , in seiner demnächst erscheinenden Tristan-
ausgabe vorzulegen. Die neueste Untersuchung über ge- war mir bis
jezt noch nicht zugänglich: Dörfeid Über die function des praefixes
ge- in der composition mit verben. I. ge- bei Ulfilas und Tatian.
V. Monsterberg erklärt ^e- in folgenderweise (1.1. s. 314): Überall
scheint mir das syntaktische ge- dem zwecke eines durch das Interesse
oder die persönliche beteiligung des Subjektes an der handlung hervor-
gerufenen nachdrucks zu stehen, die kraft des verbums meist mit pla-
stischer sinlichkeit zusammenfassend." Nach einer sorgfältigen Statistik
KÖNNEN UND MÖGEN DI ALTD. 59
aller einschlägigen stellen aus Hartmann, aus der sich ergibt, dass ge-
rn der überwiegenden niehrzahl der fälle nach kau und mac sich findet,
sagt V. Monsterberg: „Wie man also auch die numerischen tatsachen
zu einander in bcziehung setzen mag, immer treten mac und hm als
diejenigen hervor, welche für das (je- am intinitiv am günstigsten sind.
Der grund kann nur in der bedeutung* beider verba liegen und deren
verwantschaft mit dem sonst hervortretenden Charakter von //c-."
Ich kann nicht entscheiden, ob diese annähme, Avelche v. Monster-
berg für seinen schriftsteiler. Hartmann, walirscheinlich zu machen ge-
sucht hat, auch sonst geltung beanspruchen darf Herumstand, dass die
handsehriften mhd. schrifteller oft an denselben stellen den Infinitiv mit
und ohne ge- bieten: z. b. Nib. 129, 3 kiinde gevoUjen AB (chunde
voIge7i CD)] 259, 2 seJie?i möhte A. {gesehen W^] 759, 1 gesin AB (sin C)
usw.; fälle Avie Bertli. leseb. 893, 34 er kein an der Mute sünde gar
höhe linde gröx. luide sivaere machen und kein sin selbes sünde gar
schoene luid liht gemachen, denen ich aus meiner beispielsamlung
noch manche andere zur seite stellen könte, deuten meines erachtens
darauf hin, dass man in das ge- bisher zu viel „hineingeheimnist" hat,
dass man nach den gründen innerer berechtigung da geforscht hat, wo
vielfach nur äussere Verhältnisse (z. b. verszwang) gewirkt haben. Hoch
wage ich es noch nicht, diesem urteile über ge- eine bestimte, alge-
meine formulierung zu geben.
4) Die composita von kiinnen und mugen im altdeutschen.
Über die composition von kimnan im got. und alts. haben wir
bereits oben gesprochen.
kunnan hat im ahd. 2 composita:
incunnan = acciisare \
farhunnan = desperare] ^«''^ge bei Graff IV, 410. 411.
Yen dem schwachen verbum kiinnen werden gebildet: gakunnen
desperare; arkunnen experiri.
Has mhd. kent zu den schAvachen verben erkunnen und ver-
kunnen nur im particip die starken nebenformen erkunnen und ver-
kunnen: vgl. Mhd. wb. I, 807a; Lachmann zu Nib. 2241, 4. Im
nhd. ist „verkönnen'^ = „sehr können" nur im schwäbischen nach-
weisbar: Schmid Schwab, wb. s. 323.
Has got. kent von mcigan nur das comp, gamagan: Gal. 5, 6;
im alts. ist kein comp, von miigan zu belegen.
60 MÜLLER -FRAUENSTEEN
Das ahd. hat ijcDnaijan, iDiDicKfcoi , iibatDiagan, fcuDiagcui (nur
mit sih) und furimayan (Graff II, 609); daneben besteht eine schAvache
bildung })iagen = ralcre, mit dem comp. f/af??a(jen.
AIhd. (jcmiUioi findet sich n. a. Gudr. 1190, 1; iiharmac und
vermac sind im mhd. ziemlich selten; erst im nhd. hat der gebrauch
von „vermögen'' grössere ausdehnung angenommen. Die schwachen
verba )}iciiincn und (/offfcginof belegt das Mhd. wb. II, 8 a/b nur aus
der Genesis.
Mit dieser nachlese schliessen wir unsere Untersuchungen über
die bedeutungen und den syntaktischen gebrauch von können und
mögen im altdeutschen.
Es war imser bestreben, auf grund eines ausgiebigen stellenmate-
rials die semasiologischen und syntaktischen eigentümlichkeiten von
h()iffe?i und mugen einer wissenschaftlichen durchforschung zu unter-
ziehen. Wir glaubten, bei der einfachen constatierung und aufzählung
der tatsachen nicht stehen bleiben zu dürfen. Darum gingen wir einer-
seits den momenten nach, die uns auf eine geschichtliche entwicklung
innerhalb des uns vorliegenden syntaktischen tatbestandes schliessen
lassen und suchten wir anderseits die algemeingültigen logischen und
psychologischen gesetze auf, denen wir einen einfluss auf die gestal-
tung s\Titaktischer ausdrucksformen zuschrieben.
Unter diesen gesichtspunkten , historisch berichtend und logisch -
psychologisch begründend, versuchten wir die geschichte der bedeutungen
und der syntax von köimen und mögen im altdeutschen zu schreiben;
vielleicht ist es uns wenigstens in den hauptpunkten geglückt, das ziel
zu erreichen, das wir uns sezten.
DIEDENHOFEX I/LOTHR. WILHELM KAHL.
ÜBEE ZIGLEES ASIATISCHE BAOTSE.
Um falschen erwartungen vorzubeugen und von vorn herein zwi-
schen mir und meinen lesem envünschte klarheit zu verbreiten, erkläre
ich zunächst, da.ss meine absieht auf den folgenden selten keineswegs
darauf gerichtet ist, die bibliographischen notizen über Ziglers einst
vielgerühmten und später so vielgeschmähten roman um einige neuig-
keiten zu vermehren. Weder bibliographische, noch auch biographische
anliegen 1 möchte ich vorbringen, sondern allein ästhetische.
1) Die ersteren , auch über Ziglers andere werke , befriedigen bis jezt zumeist
L. Cholevius, die bedeutendsten deutsehen romane des 17. Jahrhunderts (Leipzig 186Gj
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE 61
Mir hat es als einsamem leser der Asiatisclicn baiiise vor mehr
als drei lustren nicht reclit gelingen ^vollen, meine damaligen studen-
tischen freunde von dem eigenartigen gcnusse, den sie mir schon da
bot, zu überzeugen, und ich legte scliliesslicli selbst das buch mit einer
gewissen zweideutigen befriedigung aus der hantl. Jezt liat mir eine
nochmalige gründlichere und, wie ich hoü'e, mit etwas geklärtereni
geschmack vorgenommene lektüre und eine längere beschäftigung mit der
betreuenden litteraturperiode den wünsch geweckt, lücht nur vielleicht
einen oder den andern der eben erwähnten Zweifler von 1809, sondern
auch andere mistrauische gemüter davon zu überzeugen, dass selbst diese
blume unseres litterarischen irgartens, die in einer besonders wüsten
ecke steht, ihren duft hat und trotz ihres grellen farbentones das anse-
hen verlohnt. Ich halte es aber für nötig, nicht etwa zum zwecke
einer entschuldigung, sondern um der Wahrheit willen, darauf hinzu-
weisen, dass diese zweite lektüre und die von mir daran geknüpften
und hier widergegebenen bemerkungen nicht etwa durch Cholevius und
Bobertag angeregt oder nur beeinflusst sind. Beider bücher über den
roman kante ich zwar längst, hatte aber in betreff der Banise mir aus
ihnen nie eine zeile notiert, ja selbst gerade diese partie vor jähren bei
beiden kaum mehr als überflogen. Die nach dem abschluss meiner
arbeit, und mit absieht erst da, vorgenommene vergleich ung meiner
und ihrer urteile hat mir den grösten genuss gewährt, mich aber nicht
s. 153, und F. Bobertag, Geschichte des romans und der ihui verwanten dichtungs-
gattungen in Deutscliland, 1. abteilung, 2. band, 1. hälfte (Breslau 1879) s. 150
und 233, und am volständigsten des leztgenanten einleituug YI— YIII zu seiner 18S3
erschienenen ausgäbe der Banise, in Kürschners Deutscher national -litteratur bd. 21.
Andere aufzählungen finden sich z. b. l>ei Gödeke, Grundriss zur geschichte der deut-
schen dichtung, und Jördens, Lexikon deutscher dichter. Biographisch ist für alle
die genanten und für die später zu nennenden Schriften, die sich mit Zigler und
seiner Banise beschäftigen, eine hauptquelle, die aber nicht reichhch fliesst, unver-
kenbar. Die haupti)unkte sind folgende: Heimich Anshehn von Zigler und Klip-
hausen ist geboren den 6. Januar 1663 (Cholevius und Bobertag fälschhch 1653)
zu Radmeritz südlich von Görlitz in der Oberlausitz, besuchte drei Jahre lang das
gymnasium zu Görlitz, dann 1680 — 84 die Universität Frankfurt an der Oder, wo
er sich neben seinem fachstudimn, der Jurisprudenz, besonders mit der dichtkunst
beschäfügte. Nach dem tode des vaters 1684 hat er sich zumeist in der nähe von
Leipzig aufgehalten. Er widmete sich der Verwaltung des ihm zugefallenen rittcr-
gutes Probsthaiu und lebte als reicher unabhängiger edelmann ganz seinen neigungen,
die, weit ernster als die der kavahere seiner zeit, sich auf Wissenschaft und littera-
tm- richteten. Ausser Probsthain, das er später verkaufte, hat er noch die guter
Podelwitz, Altkötig und Liebert wölk witz besessen, daneben war er stiftsrat von Wür-
zen. Er starb früh, schon am 8. September 1697.
62 MÜLLER - fralt:n'steix
zu einer änderunii' des von mir niodergcschriebeiieu bewogen. In die-
ser methode der arbeit liegt der grund — und deshalb erwähne ich
den umstand — , dass ich die auseinandersetzungen in die anmerkun-
gen verweise und dass ich, ausgenommen natürlich, was A. Schlossar
und den von ilmi veröifentlichten scenenentwurf der hauptaktion der
Siegenden Unschuld in der Persohn der Asiatischen Baiiise^ betrift,
auf die ursprünglichkeit des im text gegebenen gewicht lege.
Die europäische berlüimtheit imseres buches, „Asiatische Banise
oder blutiges doch muthiges Pegu", seine beliebtheit in unserem vater-
lande, dessen lesendes publikum sich mehr als siebzig jähre lang an
ihm weidete und von 1688 bis 1766 nicht weniger als zelm neudrucke
veranlasste-, müssen schon an und für sich des litterar- und im alge-
meinen des kulturhistorikers aufmerksamkeit erwecken. AVirft doch
ein solches werk licht auf den geistigen zustand nicht nur des Ver-
fassers, sondern auch der leseweit der zeit, und muss doch bei einem
so seltenen romanerfolge die frage nicht etw^a so gestelt -werden: Was
wagte der Verfasser seinem publikum zu bieten, sondern was verlangte
es selbst, worin liegen im einzelnen die gründe, dass gerade diese
dichtergabe so ausserordentlichen jubel erregte? Das ende des 17. und
der anfang des 18. Jahrhunderts haben ein so unzweifelhaft klares urteil
abgegeben, dass ich Zeugnisse dafür im besonderen nicht anzuführen
brauche; Gottsched konte noch 1733 in seinen „Beyträgen zur Criti-
schen Historie der Deutschen Sprache" usw. 6. stück s. 274 sagen:
Seit dem erscheinen der Banise habe sich kein einziger mensch daran
gemacht und die fehler nachgewiesen (vgl. auch: Nöth. Yorrath usw.
284, 286, 291, 293).
1) österreichische kultur- und litterat Urbilder niit besonderer berücksichtigung
der Steiermark (Wien 1879) s. 65 fg.
2) Es gibt femer eine foi-tsetziing von dem Schlesier J. G. Hamann, welche
mindestens schon 1721 existierte, eine opornbearbeitung von Joachim Beccau 1710,
ein trauerspiel von Grimm (Choleviiis 153 und Bobeiiag, Gesch. d. r. 233 und
noch in der einleitung zur ausgäbe d. B. YI nennen Friedrich Wilhelm Grimm
und die zahl 1733, Schlossar dagegen s. 69 und Seuffert in seinem „Maler Mül-
ler" s. 233 den erst 1807 verstorbenen gothaischen minister Fr, Melchior v. Grimm
und die Jahreszahl 1743; daneben khngt es auffällig, wenn E. Schmidt Schnorrs
Archiv f. 1, IX, 1880 sagt: Grimms Banise kenne jeder, sie sei eine Jugendsünde),
mehrere nachahmungen : Deutsche Banise 1752, Engelliindische Banise, prinzessin von
Sussex 1754, Ägj-ptische Banise 1759, und eine Umarbeitung in eine altpersische
noveUe: Der hohe ausspruch oder Chares und Fatime von dem maier Müller,
welche zuerst 1825 in den „ Rheinblüthen " erschien und die ausführung eines von
demselben in semer Jugend begonnenen Operntextes in Alexandrinern darstelt.
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE 63
Die asiatische Baüise repräsentiert den eharaktcristisclien r<tman-
stil jener tage neben Daniel von Lohen st eins Arminius und Thus-
nelda am besten; diesem lezteren werke allein wurde es nachgesezt,
aber es gefiel wol algemeiner — wie es uns noch heute mehr gefält, als
dieser riesenroman — wurde tatsächlich öfter gelesen, infolge seiner ver-
hältnismässigen kürze und wegen des zurücktretens der aufdringlichen
belehrenden partien , die sicherlich schon vor 190 jähren die lektüre
des Lohensteinischen buches erschwerten, wenn der Verfasser auch die
beste absieht dabei verfolgte, nämlich „diejenigen auch wider ihren
Vorsatz gelehrt, klug und tugendhaft zu machen, welche in dem ge-
dichte nichts als verliebte eitelkeiten suchen Avürden.''
Ein rückschlag erfolgte, wie überhaupt gegen die zweite schle-
sische schule, so auch gegen Ziglers hauptroman durch Gottsched und
daneben durch die Schweizer. Sie stellen den schwulst, die unnatur
der lyrik, epik und dramatik der HofPmannswaldauischen anhänger
zuerst an den pranger, und dabei ist es, um es kurz zu sagen, im
ganzen auch bis heute gebheben. Aber es hat doch lang gewährt, ehe
sich das lesende Deutschland von der Banise abwendete. BekantHch
lässt noch Goethe in dem 6. kapitel des 1. buches von „Wilhelm
Meisters lehrjahren" bei der so reizend geschriebenen erzählung Wil-
helms von seinen ersten theatralischen versuchen auch Chaumigrem,
eine hauptfigur in unserem roman, mit nennen: „Da muste nun könig
Saul in seinem schwarzen samtkleide den Chaumigrem, Cato und Da-
rius spielen." Als zum text verwendete bücher nent er „die Deutsche
Schaubühne und verschiedene italienisch - deutsche opern." Man Avird
also nicht wol schliessen dürfen, dass der junge Goethe, der ja
bekantlich in diesen partien des Wilhelm Meister seine eigenen jugend-
erinnerungen erzählt, den operntext von J. Beccau oder den roman
selbst, sondern dass er irgend eine dramatische bearbeitung, sei es
die von Grimm oder eine mehr volkstümliche zu seinem Puppenspiele
benuzt hat. Das fiele also in die zeit um 1755 und stimmte durch-
aus mit den in den oben citierten nachahmungen von 1752 — 1759
liegenden beweisen für das Interesse, welches in weitesten kreisen,
speziell am anfang der zweiten hälfte des vorigen Jahrhunderts unse-
rer Banise entgegengebracht wurde. Wissen wir doch auch, dass
1753 noch zwei und 17(3-1 — 66 noch eine neue aufläge des buches
nötig waren, und ferner, dass ausser der von A. Schlossar besproche-
nen aufführung der hauptaktion, welche 1722 durch die Bruniussche
theatergeselschaft in Graz in Steiermark vor sich gieng, noch zwischen
64 MÜLLER - FRAUEXSTEIN
1740 und 1750 die bekai)te Schuchsche schauspielertruppe „die Banize"
aufführte ^
Doch für die litteraturgeschichte war seit Gottsched das urteil
gesprochen-. AVol haben einzehie richtuugen und einzelne Vorkämpfer
im vorigen und in diesem Jahrhundert auf die starke belebung der
Phantasie und zugleich des Patriotismus, auf die einführung neuer Stoffe
und kräftigerer plastischer ausdrücke in unsere litteratur, also auf eine
gewisse förderuug derselben in algemein ästhetischer, inhaltlicher und
formeller liinsicht hingewiesen, welche von der sogenanten zweiten
schlesischen schule ausgieng. Die tendenzen der Schweizer wie der
romantiker zeigen deutliche berührungspunkte , aber wie wenig fält dies
im grossen und ganzen ins gewicht! An eine regelrechte „rettung"
hat bis jezt niemand gedaclit und wird wol auch nicht so leicht jemand
denken, scliiefer anschauungen sind aber ziemlich viele zu bekämpfen.
Für meinen zweck reicht es aus, bevor ich meine eindrücke und
die darauf gegründeten urteile widergebe, nur einige wenige kritiken in
den gangbarsten litteraturgeschichten über die Banise einander gegen-
überzustellen; gar manche, fürchte ich, sind geschrieben, ohne genaue
kentnis des buches, nur nach einem kurzen überfliegen oder selbst auf
die autorität anderer litterarhistoriker hin"^. Da spricht z. b. Otto Ro-
quette (I, 390) von der gelehrten spräche, in der Zigler Lohenstein
nachahme. Kurz (U, 434) nent das werk den unkünstlerischesten und
geschmacklosesten roman der zeit." Scherr behauptet wenigstens (II,
187), es repräsentiere volständig den wunderlichen romanstil jener zeit,
Vilmar (369) findet, Arminius und Thusnelda habe einen weit besseren
Stil als die Banise. Sehr hart urteilt von den früheren Wachler (II, 78).
Im Sinnenkitzel, sagt er, Avisse Zigler seiner meister kostbarkeit und Schlüpf-
rigkeit zu erreichen, durch unnatürliche Übertreibungen und erfinderische
grausamkeit sie zu übertreffen. Obendrein habe er noch die undeut-
sche Verkehrtheit des vornehmen geselschaftstones mit lüderlicher sprach-
raengerei bekundet*. Die Banise sei das erzeugnis zügellos wilder, im
erklügeln schwülstiger gefülile oder Vorstellungen und ausdrücke dafür
bis ziu" erschöpfung angestrengter einbildungskraft; im erstreben des
1) Theatr. Journal f. Deutschland 1777, I, 64.
2) Eine frühere, aber weniger ^^•ichtige kritik über die ganze romangattuug
findet sich in Bodmers , Discoursen der Mahler " teil lU, s. 100.
3) Menzels litteraturgeschichte stelt Cholevius in seiner von'ede an den pranger.
4) Das Lst -svol die ungerechteste aller beschuldigungen. Der vergleich Ziglers
mit seinen quellen, besondei-s mit Francisci, beweist augenfälhg, wie er deren fremd-
worte dui'ch deutsche ersezt.
ZIGLERS asiatische BANlSE 65
neuen, ungeheuren, was staunen und grausen erregen soll, verspotte
sie die gesetze der natiir und sitsamkeit und sinke oft matt zur gemein-
heit herunter. Ganz andei's klingen Scherers, des neuesten gewichtigen
kritikers, werte (379); er stelt die Banise über Arniinius in betreff der
effektvollen fortschreitenden handlung, erklilrt den stoif für geschickt
verändert und abgerundet und i'ühnit, hier tinde sich keine gelehrsani-
keit, keine verborgene Weisheit, dafür aber die richtigen romanfigureu.
Man sieht schon aus dieser blumeniese, die beliebig vergrössert
werden könte, dass es nötig ist, unbeeinfhisst von früheren äusserun-
gen, sich eine eigene meinung zu bilden. Die neueste handliche aus-
gäbe der Banise (siehe oben) ladet dazu ein, nach dieser eitlere ich
als nach dem besten bisherigen drucke, obgleich der herausgeber die-
sen nicht nach einer der ersten autlagen (1688 und 1690), sondern
nach einer von den ZAvei aus dem jähre 1707 stammenden hat herstel-
len müssen.
Ich gebe zunächst eine gedrängte inhaltsangabe des werkes^. Ba-
lacin ist der zweite söhn des königs Dacosem von Ava in Hinterindien,
Banise die tochter Xemindos, des kaisers von Pegu, des neffen jenes
Dacosem. Die beiden hauptpersonen stehen also im Verhältnis von
onkel und nichte, doch wird gerade diese verwantschaftliche Stellung gar
nicht berührt, vielmehr nur die tatsaclie, dass Dacosem seinen neffen als
kaiser nicht anerkent, ihm den lehnseid weigert und somit die beiden
höfe in erbitterter feindschaft einander gegenüberstehen, zumal Dacosem
das land von Banisens vater gerade für seinen zweiten söhn Balacin
erobern will. Ein Überläufer von Pegu, der sich in Ava aufhält, ist
Chaumigrem aus Brama, der an dem hofe Dacosems sehr bald einen
ganz ausserordentlichen einfluss erhält, besonders dadurch, dass Xemin-
dos einfall in xlva, bei dem Balacins älterer bruder getötet wird, durch
Chaumigrem s bruder Xenimbrun zum stilstand gebracht wird. Auch
dieser fält nämlich von Xemindo ab und bedroht Pegu, so dass der
bis dahin siegreiche kaiser sich gegen ihn wenden muss. Lezterer
besiegt und tötet jenen zwar, doch hat dies nur die folge, dass nun
der viel gefährlichere Chaumigrem an des bruders stelle herr von Brama
wird und sein ehrgeiz eine weit gewaltigere kriegsflamme, die ganz
Hinterindien erfasst, entzündet. Er erobert zuerst Martaban, dessen
könig ein Schwiegersohn Xemindos ist, vertilgt unter den grösten grau-
1) Andere inhaltsangaben bei Cholevius s. 154 — 162, Bobertag s. 160 — 176
und am küi'zesteii, aber recht geschickt bei Schlossar s. 84 — 87. Ich gebe oben
zunächst niu- die haupthandlung und füge auf den folgenden Seiten minder wichtige
und doch wissenswerte partien an.
ZEIISCHELFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. ö
^G MÜLLER - FRÄUENSTEIN
samkeiteu das ganze dortige fürstenhaus und bedroht endlich Pegu
selbst Gegen ihn erfleht jezt Xemindo seines onkels Dacosem von Ava
hilfe nnd zwar durch dessen söhn Balacin, welcher vor Chaumigrems
eintluss früher hat aus Ava weichen müssen, in tiefstem incognito nach
Pegu gegangen ist und durch alle möglichen heldentaten Xemindos und
vor allem seiner tochter Banise, einer gefeierten Schönheit, liebe gewon-
nen hat. Balacin wird also mit günstigen anerbietungen von Pegu zu
seinem vater geschickt, riclitet aber nichts aus, sondern muss zwei
monate lang bei seinem vater unter strenger bewachung aushalten,
wälirend welcher zeit Chaumigrem Pegu einnimt, den kaiser Xemindo
in unwürdlirer weise tötet und auch Banise zu ermorden befiehlt.
Darauf eilt Balacin, der jezt freigelassen wird, nach Pegu, gelangt nach
den mannigftiltigsten abenteuern in Talemons, des kaiserlichen Schatz-
meisters, eines früher gewonnenen freundes, schloss und hört hier, als
er verwundet an das krankenlager gefesselt ist, sowol dass Banise durch
das mitleid des oberhauptmanns von Chaumigrems leibwache Abaxar
gerettet ist und versteckt gehalten wird, als dass sein vater plötzlich
gestorben und ihm damit Ava und zugleich durch den tod des dor-
tigen königs Aracan zugefallen ist. Er hat also nun die macht, mit
Chaumigrem offen in die schranken zu treten, unternirat aber, durch
die Verschlimmerung von Banisens läge dazu gedrängt, einen versuch
sie ans Pegu zu entführen. Der tyrann hat nämlich, nachdem er sich
auch des landes Prom bemächtigt und die dortige königin getötet, von
Abaxars eigenmächtigem handeln kentnis erhalten, Banise vor sich
führen lassen und, von ihrer Schönheit hingerissen, ihr eine bedenkzeit
von sechs tagen gegeben, nach deren ablauf sie entweder sich mit ihm
verbinden oder den tod erleiden soll. Durch Talemons söhn Ponnedro,
den „oberhofmeister des kaiserlichen frauenzimmers", wird Balacin,
der sich als portugiesischer händler verkleidet, eine Zusammenkunft
mit Banise ermöglicht, bei der er sie beredet, Chaumigrem einen Schlaf-
trunk einzugeben. Dieser tut seine Schuldigkeit, die liebenden entflie-
hen glücklich aus der Stadt, verirren sich aber, und Banise wird mit
des prinzen diener Scandor eingeholt und zurückgebracht. Zu ihrem
glücke folgt der noch immer verliebte Chaumigrem dem rate des ober-
sten priesters, desRolim, Avelcher bei der gefesselten prinzessin anblick
ebenfals von leidenschaft zu ihr erfasst worden ist und sie für sich
gewinnen will, und bewilligt ihr eine sechsmonatliche trauerzeit in des
Eolim gewahrsam; Scandor, den er frei lässt, gibt dem fast verzweifel-
ten Balacin davon künde. Dieser rüstet in Aracan zum kriege und
tritt Ava seiner Schwester Higvanama ab, während Chaumigrem Siam
ZIGLERS ASIATISCHK BAXISE 67
und dessen liaiiptstcult Odia erobert. Bei diesem zuge Avii'd Abaxar,
der in Chaumigrems vertrauen geblieben ist, von den Sianiesen gefan-
gen, lernt dabei die sianiesisclie prinzessin Fvlane kennen und lieben,
bestellt für sie einen Zweikampf und wird nach der einnähme der Stadt
ihr imd ihres verwundeten, heldenmütigen bruders Nherandi retter und
gefangen Wärter. Auf dem rückmarsehe von Odia trift Chaumigrems
beer in einer furchtbaren schlacht am passe Abdiara mit Balacin zusam-
men und Avird bis auf klägliche trümmer, die sich nacli Pegu retten,
vernichtet. Um diese stadt zieht sich nun der krieg zusanunen; ausser
Balacin belagert auch prinz Zarang von Tangu dieselbe, ein unglück-
licher liebhaber Banisens, der gelegenheit gehabt hat, leztere in des
Rolim gewahrsam widerzusehen, aber ebenso Avie der zudringliche Rolim
selbst von ihr abgewiesen worden ist. Auch der siamesische prinz
Nherandi, der seine freiheit wider gewonnen und sein heimatsland von
den zurückgelassenen truppen Chaumigrems befreit hat, komt Balacin
zu hilfe, endlich noch des lezteren Schwester und Nherandis verlobte,
Higvanama von Ava. Diese jedoch fält unterwegs in die bände eines
Chaumigrem zuziehenden heeres, wird aber glücklicherweise kurz darauf
von ihrem bräutigam wider befreit. Trotz alledem scheint der gefan-
genen Banise Schicksal besiegelt. Chaumigrem hat mehr und mehr
seine leidenschaft für sie überwunden, und als Banise den Rolim, wel-
cher ihr gewalt antun Avill, niedersticht, befiehlt er, sie nach 21 tagen
dem kriegsgotte Carcovita zu opfern. Die nachricht davon bringt der
wider einmal gefangene und ausgewechselte Scandor seinem herrn, und,
während die stadt aufs heftigste belagert wird, schmiedet dieser nun
mit dem immer noch als Chaumigrems leibwächter in dessen unmit-
telbarer nähe weilenden Abaxar und einem von dem tyrannen belei-
digten general Martong den entscheidenden plan. Yorher ist auch sein
nebenbuhler Zarang durch die von ihm früher verschmähte priuzes-
sin von Savaady, die in der Verkleidung der Banise zu ihm komt
und plötzlich sein herz gewint, zum abzuge vermocht und das feld
zwischen den hauptpersonen völlig frei geworden. Balacin und sein
getreuer Scandor machen sich unkentlich, gelangen in die stadt Pegu
und erfahren von Abaxar die einzelheiten des rettungsplanes. Lezterer
bewii'kt bei dem neuen Rolim die aufnähme Balacins unter die opfer-
priester, und diesem gerade als dem jüngsten Avird der auftrag, Banise
zu töten. Die unglückliche prinzessin ist ohne jede ahnung von diesen
massnahmen, sie komponiert eine trauerarie, die bei der ceremonie
gesungen Avird, und hält in dem tempel des kriegsgottes vor dem ver-
sammelten hofe Chaumigrems und der iniesterschaft eine grosse ti^auer-
5*
^ MÜLLER - FRAUENSTEIK
und abscliiedsrede. AVährend sie aber mit geschlossenen äugen vor
dem cütare kniet, nuiclit sich der vor ilu- stehende opferpriester phUz-
lich als Balacin keutlioh, ersticht den auf ihn losstürmenden Chaumi-
grem, und ein von Abaxar und Martong geleiteter aufstand wirft des-
sen anhänger im tempel nieder; Nherandi erstürmt inzwischen die stadt.
Aliremeiue fi-eude herscht ob der ciücklichen wendunq-, sie wird noch
dadurch erhöht, dass Abaxar sich als prinz Palekin von Proni ausweist
imd Talemon die von ihm verborgenen scliätze von Banisens vater dem
neuen hersclier ausliefert. Die hochzeiten, nämlich die von Balacin,
Nherandi und Palakin mit den zu ihnen gehörigen prinzessinnen , bie-
ten zu Schaustellungen jeder art anlass, von denen ein poetischer wet-
streit zwischen Yenus und Mars und das Schauspiel: Die handlung der
listigen räche oder der tapfere Heraclius die glänzendsten sind , und
unter den zärtlichsten freundschaftsbeteuerungen nehmen Balacin, der
kaiser von Pegu und Aracan, Nherandi, der könig von Slam, und
Palekin, der könig von Prom und dem ihm geschenkten Ava, mit ihren
ehehälften abschied von einander.
Dies der inhalt. Die Verteilung des Stoffes in die drei, nicht
weiter in kapitel oder sonstige unterteile zerlegten bücher geschieht in
folgender weise: Das erste buch ist fast ganz mit erzählungen am kran-
kenlager des verkleideten prinzen Balacin auf Talemons schloss erfült.
Ziemlich alles, was vor desselben zweitem erscheinen vor Pegu, also
vor seinem aufenthalte bei Talemon, und vor dem unglücklichen flucht-
versuch, geschehen ist, wird hier von seinem dien er Scandor (s. 38 —
86 und 95 — 171) vor den obren des alten Talemon, seines zu besuch
anwesenden sohnes Ponnedro und Abaxars, der lezteren begleitet, berich-
tet. Der prinz muss seine und seiner Schwester Higvanama lebens-
und leidens- und seine und Banisens liebesgeschichte geduldig mit
anhören, auch Talemon, selbst Ponnedro haben, wenigstens von dem
zweiten teile, längst genaue kentnis, nur Abaxar scheint lauter neuig-
keiten zu erfahren. Der bericht ist ausserdem insofern recht unglaub-
würdig, als der diener nicht nur seines herrn werte und handlungen
mit gröster epischer breite angibt, sondern auch seine und anderer
gedanken, ganz wie es der dichter direkt tun würde, erzählt. Am
auffälligsten aber sind die darein geflochtenen bricfe und gedieh te, die
einerseits zum teil dem Scandor kaum bekant, anderseits seinem
gedächtnis in dem getreuen Wortlaut unmöglich so eingeprägt sein
können. Ein einziger vers nämlich s. 45 stamt aus seinem eigenen
gehirn, dann folgt s. 48 eine liebesarie der prinzessin Higvanama, ein
vers Chaumigi"ems (s. 52), ein brief des lezteren an jene (55), ein brief
ZIGLERS ASIATISCHE BAXISE 69
und gedieht Nherandis an dieselbe (63— 65), ein gefälschtes schreiben,
und gedieht desselben an die gleiche person (72. 73), drei schreiben
Chaumigrems an Balacin und dessen vater (81 — S3). In der zweiten
hälfte von Scandors erzähhmg findet sich der wichtige orakelvers (100),
welclier Balacin zuerst nach Pegu weist und ihm sein ganzes Schicksal
voraussagt, welchen man also nicht wol anfechten kann, aber auch ein
unsagbar geschmackloses lied der prinzessin von Savaady (116. 117),
die lange erzählung des fluch tlings aus Martaban, der dem versannnel-
ten hofo in Pegu Chaumigrems greueltaten daselbst, und zwar auch in
erster person berichtet (138 — 1-46), ein längeres liebesgedicht Balacins
in Alexandrinern (162. 163) und eine ebensolche antwort Banisens
(164). Die vom dichter direkt gegebene handlung im ersten buche
besteht nur in Balacins ankunft vor Pegu, seiner Verwundung durch
Bramaner, seiner glücklichen aufnähme in Talemons schloss, dem allein
er sein incognito enthült, und seinem achttägigen, durch den lieilungs-
process veranlassten aufenthalte daselbst. Er wird liier durch die trotz
seines incognitos in ihn verliebte tochter des Talemon, Lorangy, und
deren Stiefmutter Hassana in fatale läge gebracht, aber durch die
ankunft seines dieners Scandor erfreut, welcher ihm zwei briete, die
auch Avürtlich abgedruckt sind, überreicht und darin die künde von
seines vaters in Ava tod und von seiner wähl zum künig von Aracan
bringt. Sonst ist im ersten buclie noch der umstand wichtig, dass
Abaxar mit Balacin. bekant wird und abneigung gegen seinen herrn,
Chaumigrem, verrät; er deutet jedoch noch mit keinem werte an, dass
er die für tot gehaltene Banise gerettet hat.
Ist nun die composition des ganzen ersten buches überhaupt schon
sehr schwerfällig, der kunstgriff, dass die Vorgeschichte breit erzählt
wird, besonders deshalb ungeschickt, weil es vor zumeist längst in die-
selbe eingeweihten geschieht, so muss man sich noch mehr über die
naivetät wundern, mit der der dichter in person Scandors ab ovo anfängt,
während doch der unglückliche prinz nach einem erlösenden worte über
Banisens Schicksal schmachtet. Einige stellen könten darauf hinweisen,
dass Zigler die Unwahrheit, die in den langen erzählungen gerade vor
diesen personen liegt, selbst fühlt. Der prinz verrät öfters seine teil-
nähme in höherem grade, als Abaxar verstehen kann; so heisst es, als
sein erster abschied von seiner verlobten berichtet Avird, s. 169: „Hier
wendete sich der Printz um, und hätte sich in sothaner schmertzlicher
erinnerung fast verrathen, indem er seinen äugen nicht mehr zu gebie-
ten vermochte, dannenhero Scandor seine erzehlung möglichst verkürtzte
und sie durch folgende worte endigte." llan vergegenwärtige sich nur
70 MÜLLER - FRAUENSTEIN
die Situation: die einzige persöDlicbkeit auf gottes weiter erde, die den
prinzen beruhigen könte, sizt an seinem lager, nämlich Abaxar, aber
dieser wird von keiner seite gefragt, ob er den befehl Chaumigrems,
von dem alle wissen, Banise zu töten, ausgefiilut habe.
Dies geschieht ei'st am anfange des zweiten buches. Darin wird
zunächst die dürftige, selbständige nebenhandlung des ersten zu ende
geführt, Loraugy bekomt einen mann, aber nicht den prinzen, der in
der ffrösten verlecrenheit zu einem nächtlichen besuche von Seiten sei-
uer Verehrerin seine Zustimmung gegeben hat, sondern den untergescho-
beneu Scandor, der weder von Lorangy noch von deren mutter im
dunkel der nacht erkant und sogar schleunigst mit ersterer feierlich
verheiratet wird, ehe das tageslicht den irtum aufholt. Dies ist eine
der ergötzlichsten partieen des buches, sie eiiult einen künstlerischen
zweck, nämlich mitten in die tragische Spannung ein ablenkendes
moment einzufügen, ähnlich, um kleines mit grossem zu vergleichen,
wie die seenen zwischen Francisca, Just und Werner in Minna von
Barnhelm den abschluss der haupthandlung zwar verzögern und doch
woltuend wirken. Eingeschoben ist gerade der traurige schluss der
Vorgeschichte, die Talemon (s. ISl — 205) übernimt, da er natürlich am
besten von dem „Tod und Untergang des unglückseligen Käysers Xe-
mindo samt dessen Printzen und gantzem Reich" bericht erstatten kann.
Er erzählt in durchaus motivierter weise die einzelheiten, die Balacin
und Scandor unbekant sein müssen, im ganzen einfach und natürlich;
nur ein einziges mal flicht er einen brief der königin von Prom an
Chaiimigrem (199, 200) ein.
Damit ist die exposition zu ende geführt; wir stehen aber auch
so ziemüch in der mitte des ganzen romans. Gerade als Abaxar Bala-
cins incognito durchschaut, als er andeutet, dass er Banise gerettet
habe, und als er jenem seinen beistand schw^ört, wii'd er verhaftet, um
Chaumigrem über die Schonung der prinzessin rede zu stehen, und
nun wird der natürliche gang der erzählung nicht mehr unterbrochen.
Ton der composition dieser zwx'iten hälfte ist nicht viel mehr zu sagen.
Schon das zweite buch, das die läge der heldin sonst nur schlimmer
werden lässt, gibt den anfang der peripetie in der sechsmonatlichen
frist, welche Banise gestelt wird, und in Balacins rüstungen zu ihrer
befreiung; als untergeordnetes moment kommen die grossen Verluste
hinzu, welche Chaumigrem vor Odia erleidet.
Das dritte buch steigert die gefahr aufs höchste und gibt ein
schier unglaublich gutes ende.
ZIGLERS ASIATISCHE BAMSE 71
Yon anfang an balanciert also das Schicksal Banisens auf der
schärfe des Schwertes; sie ist, wie alle glauben, auf Chaumigrems befehl
getötet, nur der urplrttzliche eindruck ihrer scliönheit auf den zum
morder bestirnten Abaxar hat sie gerettet. Nachdem dies am selben
tage sowol ihrem verlobten als Chaumigrem b(*kant geworden, gerät
sie wenigstens insofern in immer grössere gefahr, als nicht nur ihr
leben, sondern auch ihre tugend fortwährend bedroht wird. Die angriffe
darauf abzuwehren gelingt ihr allein, ihr leben wird gerettet, als sie
es um ihrer keuscheit und treue willen in die sclwnze geschlagen hat,
von ihrem verlobten, w^obei mau sich nur wuiulern muss, dass ihr
widerstand ihr nicht vorher den tod oder schände zugezogen hat.
Ein wort muss an dieser stelle noch den Übergängen und Sprün-
gen der erzähl ung in der zweiten hälfte des romans gewidmet werden.
Sie sind meist nicht gewaltsamer als in vielen neueren büchern der-
selben poetisclien gattung; die phrasen jedoch, die dabei verwendet wer-
den, sind komisch genug, um angedeutet zu werden. Einfach klingt
noch eine der ersten: „Wir wenden unsere äugen von — zu" (218).
Dann aber (280) „verlassen wir auf kurtze zeit das waffen-bemühete
Aracan und schicken die feder nach Pegu." Natürlicher wider klingt
der satz (294): „Hier Avollen wir die bedrängten Siammer in blut und
dampff verlassen und nach Pegu eilen, um die einsame princeßin in
ihrem tempel zu besuchen." Nach den von ihr abgeschlagenen „heff-
tigen zwey liebes -stürmen wollen wir sie wider ruhen lasseh und mit
unserer feder einen rück-ilug nach dem lager vor Odia nehmen" (SOG).
Yon da „lauff'en wir wider zurücke nach Siam" selbst (311) und „las-
sen dann unsere feder abermahls zum überläufi'er werden, welcher sich
aus der Stadt in das feindeslager begiebt" (324). Ferner heisst es:
„"Wir wollen diese zwey Löwen (Balacin und Zarang) den Tyger (Chau-
migrem) bestreiten lassen und uns nach dem Printzen Nherandi um-
sehen, wo dieser in solcher unruhe geblieben sey (350)?" „Wir wollen
Higvanama auff dem Avege verlassen und sie bald in ketten und ban-
den finden: nachdem wir zuvor die Peguanischen mauern übersprungen
und den verliebten zustand des Chaimiigrems und Rolims betrachtet
haben'' (352) und über dieselben Mauern „thun wir wider einen flug
zurück" (364). Noch lebhafter sind die Übergänge: „Doch, grossmüthige
Higvanama, lasse nur die gediüt das geistespflaster werden, und wisse,
dass du in kurtzem das verhängniß loben und rühmen wirst" (366)
oder „Und will ich hier der feder ein stillschweigen aufferlegen, weil
sie, alle Vergnügungen, freimdschaffts- küsse und hertzüche werte vor-
zustellen, nur ihre imvermögenheit verrathen würde" (373). Oder
7 2 MTLLEK - FRAUENSTEIN
endlich: „Wir lassen hier den vergnügten Zarang den Savaadischen
gürtel lösen, und verfügen uns wider in das Aracanische lager vor
Pegu, woselbst wir statt lieblicher küsse donnernde carthauen spielen,
und statt der myrthen die mauern von Pegu mit blutigen cypressen
umgeben schauen'' (382).. Neben derartigen Übergangsphrasen treten
die fälle, wo einfach von etwas neuem „kurtzer bericht abgestattet"
oder mit einem „inzwischen" und dergleichen abgeleitet wird, völlig
zurück.
Wir können den abschnitt, der die composition des werkes behan-
delt, nicht schliessen, ohne auf noch einige andere augenfällige unwahr-
scheinlichkeiten der handlung ausser den schon erwähnten hingewiesen
zu haben. Die geschraubte Situation, die auf der ununterbrochen fort-
dauernden lebensgefaln- der heldin beruht, ist uns am empfindlichsten,
sie ist aber gerade ein hauptmittel des autors, die Spannung zu erhöhen
und könte noch heute gerade wie damals das glück des Schriftstellers
machen. Er ist unerschöpflicli im aufspüren neuer gründe, um Ver-
zögerungen für den eintritt der katasti'ophe herbeizuführen, ganz wie
Sue oder Dumas. Oft werden tage oder wochen oder monate im vor-
aus bestimt, wo irgend etwas eintreten soll, in der Zwischenzeit sucht
er es dann so zu arrangieren, dass alles, was er zur abwendung des
Unheils eintreten lassen will, nicht zu unwahrscheinlich erscheint.
Trotzdem glaube ich nicht, dass gerade die als glanzpunkt gedachte
lösung im tempel des kriegsgottes mit der rede Banisens und dem tode
Chaumigi-ems von den Zeitgenossen so gar anders gefunden worden ist
als von heutigen lesern. Die rede mag ihrem geschmack entsprochen
haben!, ^vährend sie uns unbeschreiblich geschmacklos dünkt in ihrer
schulmässigen rhetorik, mit ihrer kühlen Überlegung und Phrasendre-
scherei. Aber dass die ihr folgende befreiung nicht so geschickt und
spannend wie andere partien, zu tumultuös erfolgt, wird wol auch
einem oder dem andern der ersten Verehrer des buches aufgefallen
sein -.
Ein einziges mal kann es scheinen, als ob Zigier etwaigen ein-
wendungen gegen die fabel entgegentreten wolte. S. 318 sagt er: „Zu
1) Chole\-ius s. 169 zergliedert sie ganz coiTekt, findet sie ebenfals „pedan-
tisch und unnatürlich, ti-otzdem sie sicher unzählige heisse thränen heivorgelockt
h abe. -
3j Bobertag s. 220 sagt ganz richtig, „es mangele die fähigkeit, die bedeutsam-
sten Situationen klar zu erkennen und von weniger wichtigem zu unterscheiden, auch
die kunst, dann eine -wirkungsvollere und mehr als sonst spannende dai-stellung anzu-
wenden."
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE 73
verwundern ist es, wie sich ein väterliches hertze durch fremdes fleisch
sein eigenes geblüte könne hissen verhasst machen: Allein liier muste
die Verwunderung den finger auft" den miind legen, weil öffters, ob
zwar ein ehrlicher, doch unordentHcher begierdens rauch die flamme
natürlicher liebe ersticket." Ich muss aber betonen, dass es z. b. den
charakterzügen, die der dicliter den personen verleiht und die später
besprochen werden sollen, nicht recht entspricht, wenn der mordgie-
rige, von Banise in jeder weise zurückgestossene oder überlistete Chau-
migrem dieser so oft bedenkzeit gibt, auch, nachdem seine leidenschaft
schon erkaltet ist, die räche verschiebt (s. besonders s. 352, 354, 363),
ferner Avenn der jugendlich leidenschaftliche und ritterliche Bahicin die
zweite herausforderiiiig durch den priiizen Zarang, als sie zusammen
Pegu belagern, nicht annimt, oder wenn der leztere so schnell der ilni
überlistenden prinzessin von Savaady die tauschung verzeiht und sie
sogar heiratet, oder wenn Scandor, eigentlich nur um seinem lierrn
das geschehene melden zu können, von Chaumigrem nach dem flucht-
versuche ohne strafe entlassen, oder endlich wenn Abaxar von diesem
nach dem flagrantesten ungehorsam in seiner hohen würde gelassen
Avird. Das sind schwächen, die sicher auch nach dem ersten erscheinen
des Werkes empfunden worden sind.
Anders stellt es mit einigen andern punkten. Der unglückliche
vater Banisens, der kaiser Xemindo, lässt sich auf dem richtplatze
(s. 195) mit einem Portugiesen in ein gespräch ein, und unter andern
werten diese fallen: „Ich muss gestehen, wenn es gott gefiele, möchte
ich itzo noch eine stunde leben, um zu bekennen die vortrefligkeit des
glaubens, welchem ihr andern zugetan seyd." Diese löbliche gesinnung
erscheint uns selbst bei dem etwas schwachmütigen kaiser von Pegu
so völlig unvermittelt, dass wir an ihrer echtheit zweifeln müssen; auf
die leser vor 200 jähren, die mehr als wir von den erfolgen der
jesuitischen mission gerade in Ostasien hörten, mag sie wol besonders
erbaulich gewirkt haben. Auch der uns wunderlich vorkommende
schluss der hochzeitsfeierlichkeiten , das Zwiegespräch zwischen ]\[ars
und Yenus und das von Portugiesen aufgeführte tlieaterstück , wird in
jener zeit einen entgegengesezten eindruck gemacht haben. Uns will
der von Zigler „aus dem italiänischen übersezte" und getrent von der
Banise schon einmal, em jähr vor deren erscheinen gedruckte „tapffere
Heraclius'', auch wenn Portugiesen ihn vor dem jungen kaiserpaare in
Pegu aufführen, gar nicht nach Hinterindien gehören. Die gelehrten
anspielungen darin auf alte mythologie und geschichte fallen uns als
vor diesen Zuschauern in so hohem masse unmotiviert auf, dass wir
74 MÜLLER -FßAUENSTEIN
bei dieser gelegeuheit erst recht deutlich empfinden, wie rein der eigent-
liche roman sonst von allem solchen krimskrams ist.
Man würde jedoch, meine ich, sehr unrecht tun, wenn man die-
ses angehängte theaterstück, obgleich es dem Inhalte nach eine gewisse
älmliclikeit mit dem roman nicht verleugnet, als organisch mit dem
ganzen verbunden beurteilen wolte. Das titelblatt sagt es ganz offen:
„Diesem füget sich bey eine theatralische handlung." Der dichter hatte
die absieht, das stück, auf das er jedenfals nicht wenig stolz war und
das nicht besser und niclit schlechter ist als die durchschnitswaare der
zweiten schlesischen schule, noch bekanter zu machen, indem er es
dem gefolge der asiatischen Banise einverleibte; der kunstgriff war ein-
fach genug und hat jedesfals seine Wirkung getan. Eine entschul-
digung kann aber auch vom künstlerischen Standpunkte insofern gefun-
den werden, als, wie schon angedeutet, ein parallelismus zwischen dem
roman und dem stücke existiert. Phocas entspricht in manchem Chau-
migrem, Heraclius hat die züge Balacins, Theodosia die Banisens,
Mauritius gleicht dem unglücklichen Xemindo, das zweite liebespaar
Honoria und Siron könte mit Higvanama und Nherandi zusammen-
gestelt werden. Der kern der fabel ist allerdings insofern ein anderer,
als der tyrann sich ausser in die zwei genanten prinzessinnen vor
allem in den als weib verkleideten Heraclius verliebt; der leztere aber
hat doch ebenso Avie Balacin die ihm entrissene braut zu befreien und
einen gestürzten k aiser zu rächen. Die mittel sind die gleichen: Ver-
kleidung und plötzlicher Überfall des im augenblick wehrlosen gewalt-
liabere, Unterstützung des kühnen angreifers durch von aussen eindrin-
gende freunde, welche die leibwache unschädlich machen i. Es haben
also äussere gründe in erster, nicht unbedeutende innere in zweiter linie
den dichter zu dieser nochmaligen benutzung eines früheren werkes
verführt; der hauptfehler dabei liegt in der Verwendung vor einem
publikum (in Pegu), das wohl für die sache, nicht aber für die namen
Interesse haben konte. Es ist dies jedoch ein fehler, den Zigler in
weit geringerem umfange begeht als alle romanschriftsteller, die mit
ihm zugleich arbeiteten.
Vi'ii kommen nun zu der hauptfrage in betreff der dichterkraft
Ziglers: "Wie viel von dem roman ist seiner eigenen phantasie ent-
spnmgen, wie viel hat er benuzt oder abgeschrieben? Der einzige
kritiker, welcher bisher Ziglers angaben über seine quellen (in der vor-
1) Ich nehme also an, dass Zigler in betreff der composition seines romans in
etwas von diesem seinem dramatischen werke, das er als aus dem italiänischen
ühersezt ein jähr frülier veröffentlichte, abhängig war.
ZIGLERS ASIATISCHE B ANISE 75
rede) geprüft hat, ist Bobertag s. 176 — 179. Mich befriedigten dessen
resultate nicht volständig, ich gebe deshalb hier die meinigen. Sic
beruhen auf der genauen lektüre und vei-g!eichung der beiden von
Zigler genanten Averke: Gasparo Balbi, viaggio delT ludia orientali,
Venedig 1590, und Erasmus Francisci, Ost- und Westindischer, wie
auch Sinesischer Lust- und Stats- Garten, Nürnberg, 1GG8, zwei wie
in der grosse, so in plan und ziel völlig verschiedene bücher, von
denen jedoch das zweite das erste benuzt. Balbi war venetianischer
Juwelier und reiste seines geschäftes wegen 1579 — 88 im Orient umlier,
in Syrien, Mesopotamien, Vorder- und Hinterindien. Da sein buch
in der hauptsache vom kaufmännischen Standpunkte geschrieben ist und
alles, w^as für den handel seiner Vaterstadt von vorteil und Interesse
sein kann, in erster linie zusammenträgt, so bringt es nur wenige eth-
nographische oder geographische specialitäten. Über geschichtliche stofte '
ist es ausführlicher in den kapiteln 35 und 37; hier teilt es mit, was
gerade damals in Hinterindien politisch wichtiges geschah. AVas Balbi
selbst davon sah oder von Portugiesen daselbst hörte, bringt er als
neue zeitung aus Pegu nach Venedig.
Von seinem werke gab es eine lateinische und eine deutsche Über-
setzung, die erste 1606, die zweite 1605 in Frankfurt erschienen; es
ist mir aber wahrscheinlicher, dass Zigler das original selbst benuzt
hat, da er meist den italienischen text wörtlich überträgt. Dies geschieht
an folgenden stellen:
Balbi blatt 100 = Zigler seite 347, die beschreibung von Pegu;
B. 101 und 102^^ = 7.. 347, die krokodile und die bürg ebenda; B. 110''
= Z. 281, über den könig des weissen elefanten; B. 111 und 112 =
Z. 281 und 282 über die bew^afnung und ausrüstung des heeres, die
fehlende artillerie usw.; B. 118* = Z. 132 und 133 über das schöne
schiff des königs von Pegu; B. 118*' und HO"" = Z. 133, der aufzug
ebendesselben; B. 122 = Z. 135, das schifsfest Sapan Donou. Aus
dem 17. kapitel sind ferner w^ol noch die festlichkeiten bei dem tode
eines königs von Pegu und die stelle über die gebrauche der priester
benuzt, endlich ist ganz wörtlich das 36. kapitel, die elefantenjagd, =
Zigler 282 fg.
Das alles sind züge, die unser dichter nur zur ausschmückung
der fabel entlehnt; diese selbst aber hat er bis auf einen nebenpunkt
nicht nach Balbi entworfen. Derselbe erlebte nämlich den krieg zwi-
schen Ava und Pegu, welcher bei Zigler ganz im anfange von Scan-
dor erzählt wird. Hier heissen die fürsten Dacosem und Xemindo,
Balbi nent keine namen, berichtet überhaupt den hergang ganz trocken
76 MÜLLER - rEALT:XSTFJN
und hängt die geschiclite eines zweiten, aber verunglückten feldzuges
gegen Silon (nach Francisci 1509 = Sion = Siam = Odia) an, wel-
chen Zigler nicht benuzt. Mit wie freier phantasie der leztere gerade
diese für uns wichtigste stelle verwendet, ergibt folgende Zusammen-
stellung. Bei Balbi wie bei Zigler huldigt der könig von Ava dem
von Pegu, seinem neffen, nicht, gibt ihm keine geschenke und hindert
den handelsverkehr zwischen beiden ländern; den umstand benuzt Zig-
ler nicht, dass der von Pegu deshalb abgeschickte gesante von jenem
ermordet Avird. Vor dem feldzuge richtet der könig von Pegu aus
furcht vor verrat 4000 personen hin, die vornehmsten seiner unter-
thanen mit ihren familien bis herab auf die Säuglinge; Zigler lässt
dagegen Xemindo von ehrgeizigen unterthanen, Xeminbrun und Cliau-
migrem, wirklich verraten werden. Auch die erkrank img des königs
an den blättern benuzt er nicht. In der entscheidungsschlacht kämpfen
ferner bei Balbi beide könige selbst mit einander; der Peguaner tötet
den von Ava, bei Zigler nur dessen ältesten söhn, so dass nun dem
jüngeren, Balacin, die thronfolge zufält. Yon einzellieiten sind bei
dieser scene mehrere bezeichnende mit herübergenommen, z. b. das
Schwert des Peguaners, welches ihm von dem portugiesischen vicekönig
Luigi di Taida verehrt worden ist, ferner die Verletzung und wut sei-
nes elefanten. Man sieht, das sind alles einzelne, wenige züge von
bestimtem Charakter, gewisse härten werden gemildert; der ausgang
aber ist ein völlig verschiedener. Während bei Balbi die feindliche
armee sich ergibt, Ava geschleift und seine einwohnerschaft in die wild-
nis hinausgejagt wü-d, lässt Zigler hier Xeminbruns abfall eintreten und
Pegu, ohne Ava selbst anzugreifen, sich gegen diesen wenden. Xur
den umstand, dass der grosse schätz von Ava nicht aufgefunden wird,
beutet er später in Pegu, gegen Chaumigrem, aus, und wörtlich nimt
er die rührende stelle herüber, wo der elefant des gefallenen königs
(oder kronprinzen) von Ava bei dem siegeseinzuge in Pegu weint und
14 tage lang keine nahrung zu sich nimt. Aus dem nun folgenden
feldzuge gegen Siam oder Odia könte unseren dichter höchstens die
notiz angeregt liaben, dass der vater des königs von Pegu früher mit
800000 mann die stadt eroberte; er lässt, wenn auch nicht durch
Xemindo, so doch durch Chaumigrem dasselbe ziel erreichen.
Also nur für eine nebenhandlung, den krieg Xemindos gegen
Dacosem, hat Zigler hie und da züge aus Balbi benuzt, etwas mehr
zur künstlerischen ausschmückung der Verhältnisse von stadt und hof
in Pegu. Der kern der fabel, die Schicksale Banisens, Balacins, Chau-
migrems, ist bei Balbi mit keiner silbe gestreift.
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE 77
Solte Francisci dafiir die quelle gewesen sein? Jedesfuls, das
merken wir bald, ist dessen dickleibi;j^es buch aus ungemein vielen
älteren kompiliert und eine bequeme fundgrube für kuriose nachrich-
ten aus Ost- und Westindien nicht nur, sondern aus allen ländern
und Zeiten. Es erzählt nidit nur zwei, sondern eine ganze menge
kriege in Hiuterindien, es führt auch mehrere personen deutlich vor,
aber von der hauptfabel Ziglers ist auch hier nur wenig zu entdecken.
Von Seite 1530 an, im dritten teile, wird es für uns wichtig, lu dem
Vorgespräch zwischen Eloris Angelott und Sinnebald erinnert dagegen
nur der gedankenaustausch über liebe und frauen in etwas an entspre-
chende partien bei Zigler, ist aber nicht wörtlich benuzt. Aus dem
ersten buche ferner ist das kraut dutroa, mit dem Banise Chaumigrem
einschläfert, sonst aber, gerade wie aus dem zweiten, nur weniges zur
naturgeschichtlichen Schilderung des landes entlehnt. Balbi endlich,
nicht Francisci 1518 — 29, liegt den entsprechenden Ziglerschen Seiten
über Pegu zu gründe, wie schon angegeben. Auch die geographische
beschreibung Slams oder Odias (Fr. 1509, Z. 290) ist nicht wörtlich,
der anlass zum kriege zwischen Slam und Pegu sachlich wol gleich,
in der form anders erzählt, die zustände in Siam erscheinen in einem
anderen lichte, der ganze feldzug ist bei Francisci 1510 sehr kurz,
nach Cäsar Fridericus, behandelt. Wir ersehen daraus als faktische
ergänzuug zu Balbi, dass im jähre 1567 ein könig von Pegu 29 monate
laug Odia mit 1400000 mann, zu denen noch 500000 mann zuzug
gekommen seien, belagert und endlich durch verrat genommen haben
soll; der überwundene könig, so heisst es kurz, habe gift genommen.
Bei Zigler ist aus diesen wenigen sätzen der grossartige kainpf lun
Odia geworden, den Chaumigrem schliesslich trotz Nherandis verzwei-
felter Verteidigung siegreich beendet, während der könig Higvero mit
seiner gattin sich vergiftet (s. 284 — 294, 306 — 330). Balbi dagegen
verweilt, Avie oben gesagt, länger bei dem zu seiner zeit, also etwa
15 jähre später, erfolgten verunglückten angriff des sohnes jenes königs
von Peo:u auf Odia.
Fast wörtlich gleich lautet zuerst die algemeine Schilderung des
festes des kriegsgottes (Z. 364, Fr. 1523), Avelche nach Yincent le Blanc
entworfen ist, ebenso die ki'önung in Pegu (Z. 404 fg. = Fr. 1525 fg.),
nur dass Zigler viel kürzt und anderseits die schöne rede des Rolim
Korangerim durchaus selbständig dazusezt. Wie cUe nach Balbi gefer-
tigte erzählung des peguanisch-avanischen krieges bei Zigler durch den
erzähler Scandor eine völlig andere färbung erhielt, so flicht hier unser
dichter geschickt seine eigenen politischen ansichten ein, überträgt
78 MÜLLER - FRAUEXSTELV
ausserdem gewisse handliingeu auf ganz andere personen. In den
Vordergrund für den gang der kriegsereignisse in unserem romane
tritt Francisei erst s. 1530 fg., von wo an er den Portugiesen Fernand
Mendez Pinto und Boterus benuzt, um die kriege eines königs von
Brama mit den andern hinterindischen fürsten zu Pintos lebzeiten zu
erzählen. Der könig ist nicht genant, sein oberfeldherr nur heisst
Xemiubruu; bei Zigler bilden lezterer und Chaumigrem ein würdiges
brüderpaar, von dem der erstgenante bald verschwindet, und alles, Avas
nach Francisci der köuig selbst ausführte, komt hier auf Chaumigrems
rechuung selbst. Bei Fr. zieht der könig zuerst gegen Martaban, des-
sen könig Cambainha von beiden Schriftstellern den gleichen namen.
erhält, bei Fr. aber kapituliert, bei Z. ritterlich kämpft. Eine genauere
vergleiehung der betreffenden Seiten, Fr. 1530 — 1535, Z. 138 — 146,
ergibt die völlige Selbständigkeit unseres dichters. Francisci erzählt aus-
führlich von Unterhandlungen, Zigler lässt durch einen entronnenen Mar-
tabaner lebendig und anschaulich die belagerung und erstürmung berichten.
Die folgende massenhinrichtung dagegen ist zwar nicht ganz , aber in vie-
len ausdi'ücken wörtlich und der sache nach bei beiden gleich (Fr. 1533
— 1538, Z. 1-11 — 1-16). Bei Francisci rückt der Brama nun sofort vor
Prom, und dessen belagerung und erstüi'mung hat Zigler, wenn auch
in anderem zusammenhange, beinahe gleichlautend mit jenem, beson-
ders bezieht sich dies auf den brief der königin (Z. 199 — 205, Fr. 1538
— 1541). Allerdings fehlen bei dem älteren autor alle beziehungen auf
Abaxar, welche persönlichkeit durchaus Ziglers ei-finduug ist; gescliickte
abkürzungen, ersetzung von fremdworten durch deutsche und nicht
recht nach Asien passender diu'ch geschicktere fallen ferner dabei auf.
Ganz selbständig ist in unserem buche die ausmalung eines grossen
ausfalles, welche mir, noch ehe ich mit Francisci vergleichen konte,
wegen ihres plastischen ausdrucks besonders gelungen erschien. Der
leztere lässt an dieser stelle den könig von Brama verwundet und Xe-
nimbrun getötet, Zigler ähnlich Chaumigrem von einer lanze verlezt
und dessen obersten feldherm niedergehauen w^erden.
Alle bei Francisci 1541 — 62 folgenden ereignisse hat Zigler nicht
benuzt, der name des milchbruders des bramanischen fürsten, nämlich
Chaumigrem, komt aber hier, s. 1561, zum ersten male vor. Sodaim
ist für den wirklich historischen liintergrund daraus die anmerkung
s. 1557 von Wichtigkeit, in der es heisst: Pinto sei bei der belagerung
von Prom ohngefähr im jähre 1540 zugegen gewesen, schon vorher
aber habe derselbe könig von Brama Pegu bezwungen. Dann wendet
sich Francisci s. 1562 zu dem zweiten, aber unglücklichen angriff auf
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE 79
Slam, Avelcheii die eine seiner quellen, Boterus, ins jähr 1570 sezt,
während er in die zeit von Balbis autenthalt fiilt. Ähnlich ist hier
nur bei Zigier s. 2$4 fg. die figur der künigin, die sich durch ver-
brecherische taten hervortut, dagegen fehlen bei Fr. Xlierandi, Fylane,
natürlich aucli Abaxar und die schreckensscenen und zwistigkeiten in
Odia, gerade wie bei der ersten belagerung. Die einzelheiten führt
unser roman ganz selbständig aus, die lebendigsten kampfscenen haben
bei Er. kein analogen. Die maunigfaltigkeit derselben ist aber in der
Banise geradezu bewundernswert: eine schhicht vor der einschliessung,
grossartige arbeiten, den fluss abzudämmen, ausfälle bei tag und bei
nacht, stürme in sehr verschiedener art uud weise. Den abzug vor
Slam veranlasst nun bei Francisci s. 1564 der abfall des Xemindo in
Pegu von dem könige von Brama, welch lezterem diese Stadt Untertan
ist. Dieser Xemindo wird, wie bei Zigier, dargestelt: gutherzig, mild
und höÜich, er wird bei beiden in einer schlacht geschlagen, Pegu
ergibt sich (Fr. 1565). Trozdem fält auch Martaban ab und ausserdem
der Xemin von Satan (1566); ja lezterer überrascht den Brama und
bringt ihn um. Der milchbruder des getöteten jedoch, Chaumigrem,
rettet sich mit dem grossen schätze (1567) nach seiner geburtsstadt
Tangu, wälu-end Xemin von Satan als könig in Pegu gekrönt wii-d.
Gleich seinem Vorgänger verfährt er aber tyrannisch gegen die Unter-
tanen, wird von dem widerauftauchenden Xemindo, der sich aus jener
imglücklichen schlacht gerettet hat, belagert und fält bei einem gefecht
vor seiner residenz. Xemindo ist nun Sy, jähre lang ein friedlicher
und gerechter herscher in dem viel umstrittenen Pegu, dann wird er
in einer bei Francisci ausführlich beschriebenen, bei Zigier nur erwähn-
ten schlacht von Chaumigrem überwunden. Der leztere will nach Fran-
cisci (1576) die stadt schonen, erscheint hierbei in gutem lichte, da
er sogar deswegen einem aufruhr entgegentritt, und zieht in Pegu ein
(1577). Erst von hier an benuzt Zigier die vorläge wider mehr (187
— 198), und dies ist überhaupt die wichtigste entlehnung, die sich bei
ihm findet. Sie betrift Chaumigrems einmarsch und sein Strafgericht
über den gefangenen Xemindo. Durch den erzähler Talemon wird aber
in der Banise die prinzessin selbst mehr in den Vordergrund geschoben
und Chaumigrems Charakter verschlechtert. Klagen über die Vergäng-
lichkeit des glucks treten dazu, eine hässliche scene, in der Xemindo
von einem Portugiesen verhöhnt wird, fält weg. Dagegen sind die
partien, in denen er von Chaumigrem verspottet, dann zum richtplatz
geschlept, von seiner tochter mit wasser erquickt, von dem henker
geschlagen und endlich getötet wii'd, ganz gleich. Zigier entlehnte
80 MÜLLER -FRAUENSTEIN
dieser selioii bei Fraiicisei hoclidrauiatisclien sceno z. b. auch die werte,
in denen Xemindo den wünsch ausspricht, christ zu werden, und sezt
da nur die strafe hinzu, av eiche der henker von einem unbekanten
ertahrt. "Wörtlicli benuzt sind von unserem dicliter mehrere sätze auf
s. 187 und 188, die Seiten 189 und 190 und endlich 193—198. Auf
s. 191 ist nur die scene zwischen dem könig-e und seiner tochter wört-
lich gleichlautend bis auf den schluss. Dieser aber ist für unsere fabel
gerade durchaus die hauptsache, Francisci s. 1578 nent keinen namen
für die tochter; sie ist die verlobte des prinzen von Nautir, eines prin-
zen von Ava, und wird (s. 1579) „auf dem Rucken ihres Yatters, den
sie umhälsete, erwürgt." Da ist also nur der umstand, dass ein söhn
des königs von Ava als bräutigam der tochter des Xeinindo genant
wird, von Zigler beibehalten. Alles andere, was er von diesen beiden
pei*souen zu erzählen weiss, und das ist doch der Inhalt seines buches,
ist produkt seiner frei waltenden dichterkraft. Vergleichen wir weiter,
so ergibt sich folgendes: Die beiden anderen liebespaare existieren in
den quellen gar nicht, Scandor und Talemon ebensowenig. Der vater
Banisens wird aus einem von vielen Usurpatoren zu einem grossen
kaiser umgewandelt, dem der grösste teil Hinteriudiens von rechts-
wegen gehört. Chaumigrem dagegen wird aus dem bruder des grossen
königs von Brama, der diesem nachfolgt, zu einem emporkömling, auf
den fast alle kriege und die Verwirrung in Ava, Martaban, Prom, Siani
und Pegu zurückzuführen sind. Er wächst dadurch, dass ihm seines
bruders taten mit übertragen werden , zu einem Napoleon Hinterindiens
empor, zu einer grossartigen, wenn auch für unseren geschmack zu
grell gezeichneten persönlichkeit. Eine kunstvolle Steigerung seiner
erfolge ist bewirkt, indem feldzüge aus dem jähre 1540 bis 1585, von
Pin tos bis Balbis anwesenheit in Asien, ihm beigelegt sind, und mit
dem gi-össten siege, der eroberung Slams, der höhepunkt erreicht wird.
Wenn wir Francisci und Balbi verbinden, so sehen wir: Es tritt erst
unter einem seiner nachfolger, welcher zwar Ava bestraft, aber vor
dem abgefallenen Slam abziehen muss, in Wirklichkeit eine art rück-
schlag ein, bei Zigler erreicht ihn selbst eine furchtbare nemesis. So
ist in wirklich kühner weise aus den verschiedensten bausteinen ein
gewaltiges, einheitliches gebäude aufgeführt, vor dem man nicht daran
erinnert wird, aus welchen Steinbrüchen das material herbeigeholt ist.
Und was die hauptsache, eine einzige wichtigere scene hat Zigler
nicht selbst entworfen, diese hat er aber mit recht wörtlich benuzt, sonst
betreffen alle entlehnungen nur nobenhandlungen oder sind zur rheto-
rischen ausschmückung und der lokalfärbung wegen herübergenommen.
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE 81
Dieses resiiltat meiner verg-loiclmni^ der beiden hauptquellen mit
dem romane selbst enthebt mich, so hoffe ich, derselben arbeit in
betreff der noch ausserdem von Zigler selbst genanten bücher: „Saa-
rens und Schultzens Eeisebeschreibungon, Rogeri Heydenthum, Rossens
Religionen." Auf sie fiilire ich die meisten l)ilder religiösen inlialts,
die processionen und einzüge, die tempel- und stiidtebeschreil)ungen
zurück; für die fabel selbst kann ich nach den bei Balbi und Francisci
gefundenen ergebnissen nichts dergleichen annehmen. In betreff der
Personennamen kann ich nur zwei untergeordnete tatsachen noch anfüh-
ren: An Balacin erinnert der bei Balbi O-i" angeführte ort Bah\tin in
der nähe von Pegu, und Nherandi glaube ich als historische person
annehmen zu müssen, da das Handbuch der geograpliie und Statistik
von Stein -Hörschelmann H, 3 s. 452 als „befreier Slams von Pegu und
mehrer des reichs" einen P'hra Nera' von 1564 — 1593 nent. Das
stinit der sache nach ganz zu der von Balbi und Francisci erwähnten,
imglücklichen, zweiten belagerung Odias durch die Bramaner und Pe-
guaner.
Man erlaube mir nur noch einige wenige bemerkungen über den
eindi'uck, welchen die von Zigler benuzten, nach den eben gepflogenen
Untersuchungen allein ins gewicht fallenden entlehnungen zur lokal-
färbung usw. auf den leser machen. Wer unbefangen vergleicht, wird
gestehen, Zigler versezt tatsächlich mehr als irgend einer seiner zeit-
genössischen zuiiftgenossen in die zeit und an den ort, w^ohin er die
fabel nun einmal verlegt hat. Schlossar geht mir zwar zu weit, wenn
er sagt (s. 69): Zigler schildere an der band ethnographischer und
naturhistorischer w^erke das leben und treiben, die üppige Vegetation,
die orientalische pracht an den königshöfen dieser länder, er zeige die
kriegführung, die sitten und gebrauche der Asiaten. Ich werde im
folgenden zeigen, in wie weit das berechtigt ist, in Avie weit nicht,
doch in gewisser hinsieht bleibt allerdings, das ist auch meine ansieht,
von anfang bis zu ende das Hinterindien vor unseren äugen, welches
in der zweiten hälfte des 16. Jahrhunderts durch gewaltige erschütte-
rungen bewegt wurdet Die Portugiesen sind geschickt verwertet, sie
1) Auch Cholevius s. 152 sagt, die Bauise verdiene allein einigermassen den
namen eines ethnographischen romans. Zwar seien die fürsten und Prinzessinnen wie
die europäischen, Hinterindien sei nicht geographisch oder malerisch beschrieben
(vgl. 166), doch es seien darin revolutionen und kriege benuzt, welche wirkhch am
ende des 16. Jahrhunderts dort sich ereignet hätten. Bobertag s. 227 — 229 nent die
Banise specieU nicht, nimt sie also auch nicht aus, was er einigermassen hätte tun
müssen, wenn er von allen diesen historisch - galanten (wie Cholevius) oder lieroisch-
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 0
82 MÜLLET^ - FRAÜENSTEIN
handeln in den yerschiedeusten städten mit europäischen waaren^ lavie-
ren zwischen den parteien hin und her, lehren die bessere benutzung
der geschütze und geben durch ihren anschluss an das gute princip,
durch die Unterstützung Balacins, zwar nicht den ansschlag in der
fabel, spielen aber wenigstens eine auch uns Europäer befriedigende
angemessene rolle.
Ich finde in den geographischen und naturhistorischen excursen,
in den beschreibungen von tempeln und religiösen ceremonien, von
einzügen und Schaustellungen, so wie sie die Banise bringt, nichts
unser gefiihl in höherem masse störendes, als wenn Ebers in seinen
ägyptischen romanen die antiquarischen kentnisse benuzt, die ihm gerade
über das Pharaonenland zu geböte stehen. Zigler beutet dabei seine
quelle sorfältig aus, er zieht aber die gelegenheit nicht sozusagen bei
den haaren herbei. Er ist wol breit und verweilt mit verliebe bei
dem grässlichen und seltsamen, aber dafür kann ihn ebenso der ge-
schmack seines publikums entschuldigen, wie es der heutige tut, wenn
in den berühmten novellen Heyses und anderer ungewöhnliche, krank-
hafte, ja selbst den unbeteiligten Zuschauer nervös erregende und pei-
nigende seelenzustände im Vordergründe stehen. Ich kann darum
unmöglich in so pharisäischer weise den epischen dichter tadeln, wie
es wol sonst geschehen ist, wenn er seine haupterzählung in langsame-
res tempo fallen lässt, sobald Balacin zu dem tempel von Pandior
komt (s. 96 fg.), oder sobald er das schiffest Sapan Donon mit begeht
(131 fg.), oder an der tafel des kaisers von Pegu teiinimt (137). Man
glaube sodann nicht, dass Balacin hierbei nur einen müssigen Zuschauer
spiele; es ist vielmehr bewegung und handlung genug in diesen episo-
den, und die charakterzeichnung gewint dabei neben der lokalfärbung.
Nicht viel anders steht es um Chaumigrems einzug in das besiegte
Pegu (187 fg.), die hinrichtung Xemindos (193 fg.), Higvanamas krö-
nuug in Ava (275), die ihres bruders in Pegu (404 fg.) u. a. Uns
muss es natürlich ermüden, wenn die paradestücke sich mehren; der
„curiöse" sinn der leser vor 200 jähren aber schöpfte, wie ja algemein
anerkant ist, mit vergnügen die belehrung, wie sie ihm weiter in dem
bilde von der beerdigung der prinzessin Salagramma (312 fg.) und ihres
galanten (wie er selbst sie nent) romanen sagt: Die darstellung von zuständen ver-
gangener zelten bei bestirnten völkem, deren treue und anschaulichkoit ein haupt-
erfordemis des historischen roinans sei, fehle ganz und gar, sie seien eminent unhi-
storisch, zerbilder. — Auf die Verwendung der Portugiesen weist auch Cholevius
s. 161 hin. — Zigler selbst sagt in seiner vorrede (s. 8): „Der innlialt gleichet sich
mehr ein^r Histoiischcn Beschreibung, als Helden -Gedichte."
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE 83
Vaters, des königs Higvero von Siam (313 fg.), von der bestattiing des
alten und der wähl des neuen Rolim (355 fg.) geboten Avurde. Wenn
bei allen genanten geniälden in erster linie die entfaltete pracht die
phantasie der leser erregen soll, so ist es mehr auf die thränendrüsen
abgesehen bei der Schilderung der feuorprobe in Siam (318) und der
menschenopfer in Pegu (363 fg.), Schilderungen, bei denen von Ziglers
Seite nicht viel erfunden ist; mich haben sie neben den genanten quel-
len öfter an Olearius moskowitische reise erinnert. Diese partieen,
besonders die lezte, gerade wie die geographischen und naturliisto-
rischen, sind es allein, welche er wörtlich aus den quellen entlehnt
hat. Die beschrcibung von Odia (= Ajuthia von 1350 — 1700 haupt-
stadt von Siam) s. 290 und die von Pegu (3-17) könte von einem Ho-
niann aus Xürnberg geschrieben und seinem atlas in derselben weise
einverleibt sein, wie dies bei Isfahan und Täbris oder Kars und Erze-
rum geschieht; so sachlich und einfach sind sie. Denselben eindruck
macht die elefantenjagd (282 — 284) und der krokodilfang (373); die
wahren quellen habe ich ja oben genant.
Man sieht, unendlich viel bei werk hält Zigler für nötig, um geist
und gemüt der leser zu befriedigen; das zuviel stumpft unseren, der
heutigen generation genuss ab. Die angewanten mittel an und für
sich sind aber nicht falsch. Wie anders muss uns dagegen in Lohen-
steins Arminius die verhülte erzählung der ganzen habsburgischen
geschichte, die bezugnahme auf Ludwig XIV., auf Gustav Adolf usw.
ersclieinen! Zigler fält es doch nicht ein, wie seinem gefeierten vor-
bilde, aus allen zelten und den verschiedensten örtlichkeiten, besonders
in den gesprächen, die beispiele, vor allem anekdotenhafte, zu entleh-
nen. Er bleibt im ganzen doch im 16. Jahrhundert, und da ihm die
frühere hinterindische geschichte natürlich unbekant ist, so kann er
auch nicht altertum und mittelalter immer in die neue zeit mengen,
wie es Lohenstein umgekehrt tut. Dazu komt, dass, wenn Zigler in
die Banise auch vieles hineinbringt, was nicht unbedingt zur haupt-
handlung gehört, dieses sich doch weit natürlicher mit derselben ver-
bindet als im Arminius^.
1) Bobertag s. 218 fg. sagt: Ziglem könne eine weit leichtere bürde von gelehr-
samkeit wol ebenso vor Überladung mit gelehrtem kram bewahrt haben wie richtiger
takt, obwol, ganz objektiv genommen, der Banise dieser mangel als ein nicht ganz
unbedeutender vorteil anzurechnen sei. Das „obwol" scheint mir nicht gerecht. Zig-
ler whd überall als ein ausserordentlicher Vielleser genant, auch Bobertag einleitungVl
sagt, er habe durch viele stubenarbeit seiner gesundheit geschadet, da ist doch die
„weit leichtere bürde an gelehrsamkeit " mindestens unerwartet. Wenn es dann
s. 219 anmerkung weiter heisst: „Zu beachten dürfte sein, dass Zigler in seinen spä-
6*
S4 Mt'LLER-FRAÜEXSTEIN
In den entsprechenden Zeitverhältnissen bleiben wir bei Zigler
im ganzen immer; in betreif der örtlichkeit nimt er nun freilich gar
manches aus seinem vaterlande mit an die ufer der Irawaddi und des
Menam. Das bezieht sich vor allem auf die formen, unter denen die
menschen mit einander verkehrend Das ganze gebiet des geselligen
und auch des politischen Verkehrs kann Ziegler nur nach den deut-
scheu oder den europäischen regeln seiner zeit darstellen; er will die-
selben, wie es scheint, geradezu seinen lesern in reinster form vor
äugen führen. In dieser bezielumg schiesst Schlossars oben angege-
benes urteil über das ziel hinaus.
Dass die liebenden in dem tone Lohen steins mit einander reden,
ist etwas, woran man sich bei der menge solcher gespräche noch am
ersten zu gewöhnen im stände ist; dass die Schönheiten sich alle durch
ungemein weisse haut auszeichnen, so dass man die einzelnen äderchen
blau durchschimmern sieht, ist schon verdächtiger; der feierliche curial-
stil aber, der hie und da zu tage tritt, macht einen fast noch komi-
scheren eindruck. Kein tite] wird uns geschenkt bei den adressen der
briefe und bei den anreden; an anderen stellen möchte man sich in
deutsche ständeversamlungen oder synoden versezt wähnen. Ich eitlere
nur die am'ede Korangerims an Balacin, als diesem in Aracan gehul-
digt worden ist (278): „Grossmächtigster König von Aracan, Tipara,
Chacomas, Jangoma und Bengalen, Herr von Pegu! Wir in tieffster
unteithänigkeit treuergebenste stände und unterthanen dieses Reiches,
statten gegen Ew. Königl. Majest. demüthigst- gehorsamen danck ab,
nicht sowol vor die bereits gnädigst -erwiesene Reichs -Yäterliche ver-
sorge in erhalt- und Verbesserung unserer grund-gesetze und daher-
sprossenden heiligen gerechtigkeit: sondern auch vor itztermeldte höchst-
rühmliche Sorgfalt" usw.
Sind aUe diese äusserlichkeiten aufs strengste nach occidentalem
teren -werken die kuriosität seiner Zeitgenossen reichlich entschädigt hat", so kann
ich das nicht als einen makel auffassen. Gerade dass er den grossen, ersten roman
frei hält von dem ballast. ist und l^leibt ein beweis für seinen künstlerischen ver-
stand; andere, ausser vielleich Phih'pp von Zesen, haben ihn nicht. Wem fält es
ein , aus der späteren verballhornisierung von Tassos hauptwerk , obgleich er sie selbst
vornahm, einen algemeineren ungünstigen schluss zu zieheu? Und die Verschlech-
terung eines treflichen Werkes ist doch noch viel schlimmer.
1) Darauf beziehen sich die algemeinen tadelsäusserungen unserer kritiker am
meisten. Die richtige erklärung gibt Cholevius s. 169: „Man war gewohnt aus den
romanen die feineren umgangssitten , geselschafthche rede weise und sogar den aus-
drack der empfindungen zu entnehmen,'*
ZIGLEKS ASIATISCHE 13AMSK 85
miistor ausgeführt, so mischt Zigler Europäisches und Asiatisches mehr,
sobald er kriegsereignisse berichtete
Über die militärisclien gemälde, die er gibt, wäre ein besonderer
excurs nicht uninteressant; sie nelimen einen sehr grossen teil des
romanes ein, und ich halte einige davon für die am besten gelungenen
abschnitte, gerade wie die gespräche über liebe und ehe, die sich an
verschiedenen stellen finden. Hier beschränke ich mich auf nur wenige
bemerkungen. Lebendig und übersichtlich, das muss jeder zugeben,
sind die Schlachtschilderungen sämtlich. Kürzer, und darin selio ich
keinen nachteil, sprechen Scandor und Talemon über die kriege; wo
der dichter selbst redet, geht er in alle möglichen details ein.
Die zahlen mögen wol zumeist aus Balbis buche genommen sein,
sie klingen am meisten orientalisch. Ich verweise der kürze wegen
auf die selten 139 fg., 182 fg., 193, 199 fg., 281, 289, 291, 308, 336,
345 fg., und eitlere nur die truppenzahl von Chaumigrems armeen:
vor Martaban führt er 400000, vor Pegu 900000, vor Prom 700000
und vor Slams hauptstadt, Odia, 1200000 mann (Balbi hat da IY2
millionen).
Diese beispiele, denke ich, beweisen genug. Der dreissigj ährige
krieg mit seinen vergleichsweise kleinen beeren schwebt da nicht als
muster vor: hatte doch Gustav Adolf bei Lützen nur 14000 und Wallenstein
vor Pappenheims eintreffen 12000 mann. Xerxes, Dschingiskhan und
Tamerlan bringen in ihren ungeheuren reichen nicht mehr boAvafnete
zusammen als diese hinterindischen fürsten, in Europa haben das 16.
und 17. Jahrhundert nur in den türkisch -tatarischen kriegen annähernde
zahlen. Noch mehr glaube ich in den einzelheiten der kämpfe anklänge
an die Türken-, weniger an die französischen eroberungskriege unter
Ludwig XIY. finden zu müssen, die elefanten spielen mehr eine halb
komische rolle. Beides sieht man vor allem in der grossen schlacht
am passe Abdiara (337 — 343), die neben den kämpfen um Prom (202
— 205) und um Odia (287 — 330) den glanzpunkt in militärischer hin-
sieht bildet. Balacin hat sich durch Verräter in seiner Umgebung abhal-
ten lassen, Pegu in seines feindes abwesenheit anzugreifen und muss
diesen trotz dessen doppelter Übermacht aus einer günstigen Stellung
herausschlagen. Vorher führt Scandor ein kühnes reiterstückchen aus,
1) Scklossar s. 69 behauptet auch hier etwas zu viel, wenn er sagt: Zigler
zeige die kriegsführung der Asiaten. Cholevius s. 162 erinnert mir zu einseitig an
die „leser, welchen die schrecken des dreissigjährigen kiieges in erinnerung gewesen
seien." Ich wüi'de lieber sagen: der Türken- und daneben der raubkriege.
86 MÜLLER -FRAUENSTEEN
indem er 250 mit pulver und 50 mit gold beladene wagen aufhebt,
vielleicht eine erinneiung an eine tat aus Ziglers zeit. Der haupt-
schlag trift das feindliche heer infolge des auffliegens einer ungeheuren
mine, die an die riesigen türkischen arbeiten ähnlicher art vor Wien
1683 erinnert. 600 sclnitt lang, 150 breit, 3 eilen tief wird sie ange-
legt und mit den 250 Wagenladungen pulver gefült. Entfernungsmar-
ken, eventuell brustwehren sind ausserdem für die von Portugiesen
bediente artillerie angebracht. Die feinde rücken in form eines riesigen
halbkreises heran, dessen mitte von auserlesenen, um Chaumigrem
gescliaarten Bramanen gebildet ist, während die vorgeschobenen flügel,
aus der reiterei und den elefanten (diesen auf der rechten seite) beste-
hend, das aracanische heer zu umzingeln streben. Balacin muss des-
halb schleunigst seine flügel ausdehnen, die mitte bildet einen nach
vom zugespizten kegel. Während aber in einer ähnlichen Stellung die
Römer bei Cannä Hannibal erlagen, vernichtet hier die artillerie und
die grosse mine den ganzen feindlichen hnken flügel. Schon die kano-
nenkugeln tun den elefanten grossen schaden, denn, „wenn so eine
hauptpiUe ein solches tier schnellete, so Hess es sich nicht mehr regie-
ren, sondern kehrte mit gröster ungestüm zurücke, und begab sich ins
freye feld, da es niederfiel und starb." Als aber „mit einem entsetz-
lichen knallen und donnerschlag" das pulver explodiert, da „sähe man
mit erschrecklicher Verwunderung die ungeheuren elefanten in der lufft
fliegen, welche nebst denen steinen und anderer rüstung nicht wider
an ihren ort, sondern auff ihr eigen volck zurücke fielen, und deren
sehr viel erschlugen." Dieses ereignis „schlug dem Chaumigrem den
bereits in bänden habenden sieg aus der faust." Die art, wie Chau-
migrem seine leute immer und immer wider gegen die mauern von
Prom oder Odia wirft, mahnt an Solimans oder Kara Mustafas verfah-
ren in den festungskämpfen an der Donau. Unser dichter benuzte
dabei mit nicht unglücklichem griffe umstände, welche zu dem gesamt-
bilde passen, mit entschieden glücklicherem, als wenn Lohenstein erin-
nerungen aus dem 17. Jahrhundert in die zeit von Christi geburt trägt.
In den einzelheiten sind verhältnismässig nur noch wenige ganz
unpassende europäische reminiscenzen zu tadeln. Dabei denke
ich z. b. an das wunderliche grundgesetz in Aracan (s. 277), dass der
könig stets seine Schwester ehelichen muss: „Ursache, weil Adams söhn
auch seine Schwester zum weibe genommen habe." Das ist wol von
demselben Standpunkte zu beurteilen wie die oben berührte Sehnsucht
desXemindo, in der todesstunde zum christentume überzutreten. Noch
mehr verrät sich der Europäer, wenn er Scandor erzählen lässt (s. 108),
ZIÜLKKS ASIATISCHE BAXISE 87
sie hätten sieh „nach morgenländiselier art aiiff kostbare teppichte" zur
tafel niedergesezt, oder wenn ebenderselbe von wunderbaren bcäumen
erzählt, die „ein gelehrter Europäer" beschreibe (52). Zu den wonigen
gelehrten anspielungen gehört z. b., wenn Hassana einmal die toclitor
warnt: „der flüchtige Mercur ist öfPters denen männern ins hertze
geprägt" (87), wenn die sirenen, Yenus, Diana genant werden (67,
295) und Avenn Banise, als die Verfolger sie bald eingeholt haben,
wünscht „in einen lorbeerbaum, gleich der Daphne", verwandelt zu wer-
den (263).
Sonst muss der unbefangene beurteiler zugeben, dass z. h. in
betreff der pflanzen- und tiorwelt, der kleidung nnd der materiellen
Seite des lebens, aber auch in betreff der religion der dichter sein mög-
lichstes tut, um eine lokalfärbung über das ganze zu verbreiten.
Selbst mexikanische bäume versezt Zigler in die königlichen lustgärten
von Ava, und zwar mit genügender motivierung, sie üben dort auf
Chaumigrem, der sie und ihre eigentümlichkeiten nicht kent, eine belu-
stigende Wirkung aus. Bei der ceremonie der nächtlichen Vermählung
Scandors und Lorangvs wird holz von einem bäume rawasitton, wie
stets beim abschlusse von eben, verwendet (213), auch das kraut
dutroa, aus dem Banise den Schlaftrunk bereitet, wird (in einer gelehr-
ten anmerkung) genau beschrieben (259). Die eigentümlichkeiten cha-
rakteristischer tiere, der krokodile und elefanten, sind nicht ohne
geschick benuzt (138, 183, 282 fg., 374). Sowol Balacin als Banise
beobachten wir, wenn sie sich ankleiden; das kostbare kaiserschiff
Xemindos, erinnernd an die prachtwerke der Ptolemäerzeit, wird von
Scandor ausführlich behandelt (132).
Auf die rituellen und ceremoniellen kunstausdrücke mit den dazu
gehörigen erklärungen kann ich hier nur hinweisen, sie sind sehr zahl-
reich, werden im grossen und ganzen aber mit mässigung ausgebeutet.
Yon den tempelbeschreibungen sind die des tempels Apalitä (97) und
Carcovitä (387) hervorzuheben. Wenn auch Scandor hie und da ein-
mal vom teufel spricht (z. b. 97), kann doch von einem stärkeren her-
einragen europäischer religiöser Vorstellungen nicht die rede sein. Die
grosse „trauer- und absclüedsrede der sterbenden Banise" ist die wich-
tigste ausnähme; in ihr ist vom schoss der gnaden, vom ewigen leben
neben der „Xiba" die rede, und manche sätze klingen, als hätten sie
ganz in die christlichen grabreden vor 200 jähren gepasst, wie etwa
der folgende: „Du himmlische Gottheit aber lass dir meinen geist zu
zu geheiligter band befohlen seyn, und lasse ihn statt jetziger gallo die
süsse himmelskost schmecken." Diese rede ist aber, anders darf man
88 MÜLLER - FRAÜENSTEI.V
sie nicilt auffiissen, ein paradestück, gerade so wie die dialoge über
ehe und liebe, nur dass die lezteren, weil algemein menschliche Ver-
hältnisse behandelnd und viel besser motiviert als jene, geist und gemüt
weit mehr ansprechen.
' An solchen stellen tritt Zigler wie die anderen epischen und
dramatischen dichter seiner zeit ganz aus dem von ihm entworfenen
künstlerischen rahmen heraus und wendet sich nur als Zeitgenosse durch
den mund der von ihm erfundenen personen an seine leser. Was diese
lezteren als feinen geschmack und beweis grosser belesenheit anzu-
sehen pflegen, das allein ist ihm dann die richtschnur. Tun das aber
nicht auch viele unserer dichter? Lassen sie nicht auch der eine
seine lieblingshelden sämtlich rein pessimistisch, der andere rein dar-
winistisch, der dritte fast nur mystisch sprechen? Geben sie vor allem
nicht oft genug allen ihren figuren eine ganz gleich tiefe bildung, so
dass die funkensprühenden citate und geistreichen Sentenzen in ihrem
munde sich förmlich jagen? ^ Hört man nicht z. b. in dem sonst so
interessanten romane W. Jordans „Die Sebalds" auch recht oft mehr
den dichter als seine geschöpfe reden? Tritt da die absieht, zu beleh-
ren, der wünsch, die eigenen ideen vom schönen und wahren anderen
einzuimpfen, nicht eben so deutlich hervor? Wir lernen nur bei Jor-
dan wii'klich. wir, die leser des zum ende sich neigenden 19. Jahrhun-
derts, während uns Ziglers einstmals ganz ebensolchen einfluss übende
gedanken in dieser weise nicht mehr berüln^en können. Dass diese art
von romanen noch heute das beste publikum findet, kann niemand
leugnen: man muss es wol noch unterscheiden von demjenigen, das
sich an den zahllosen famiüenzeitschriften eine gute tut. Aber es ist
doch ein gewaltiger fortschritt gemacht insofern, als auch für die rei-
neren ästhetischen ansprüche gesorgt wird.
Der kreis der feinsclunecker ist stets ein kleiner: Kotzebue und
Iffland behei-schten die bühne, als Goethes und Schillers meisterwerke
das licht der weit schon erblickt hatten. Auf unser thema ange-
wendet, heisst das: Auch der Banise popularität beruhte ihrer zeit
auf dem entgegenkommen gegen die wünsche des publikums, doch
zeigt sie noch immer ein grösseres geschick in betreff der composition
1) Cholevius s. 168 spricht von einem „wahren feuerwerke im affekte" bei
Zigler und von dem streben geistreich zu sein (167). Auch Erich Schmidt a. a. o.
nent ihn, allerdings nur in bezug auf die figuren und Verwickelungen, einen „vir-
tuosen, freihch einen couhssenreisser." Gottsched drückt sich, wunderlich genug,
so aus: Zigler sei selbst ganz asiatisch geworden, nämUch im hochtrabenden und
gekünstelten ausdruck.
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE 89
uud der lokalfärb ung, eine selbständigere pliantasic wie die anderen
romane ihrer zeit^ Noch heute können wir uns an ihr über gewisse
finessen in dieser beziehung freuen, die nicht zufällig, nicht aus den
quellen entnommen, sondern vom diclitcr eifundcii und wol überlegt
sind-. So ersclieint mir z. 1). das meiste, was mit Bahicins incoguito
zusammenhängt, reiflich erwogen. Wie der alte Talemon zuerst ilui
durchschaut und gerade dieser umstand beide zu freunden macht, den
falschen Pantoja von Tenasserim und den reichsschatzmeister von Pegu,
wie dann der andere in fremder maske auftretende prinz, Pseudo-
Abaxar, mit ihm in Verbindung gebracht wird, Avie der erste in seiner
leidenschaftlichkeit mehrmals in gefahr komt sich zu verraten, und wie
er endlich (s. 206) auch Abaxar gegenüber seinen angenommenen
namen aufgibt: das ist alles gut begründet und mit wahrscheinlichen
umständen umkleidet. Balacin wird uns auf der ersten seite sofort in
seiner wahren natar vorgestelt, sein gegenbild ist in dieser beziehung
Abaxar, dessen wirklicher Charakter erst ganz zum schluss enthült Avird.
Und es ist gar nicht uninteressant, die kunstgriffe zu verfolgen, mit
denen der dichter auf diesem zweiten wege operiert, auf welchem er
nicht nur mit Balacin und den anderen personen, sondern auch mit
dem bis in die lezten selten hinein im unklaren gelassenen leser ver-
stecken spielt. Die anspielungen, die auf Abaxars anderen stand deu-
1) Cholovius YOi-trefliches buch benuzt in seiner lesenswerten einleituiig über
die Amadisbüeher, die uachbildung des griechischen romanes und über den neueren
historischen roman die Banise weniger als alle die anderen von ihm besprochenen
werke (von Zesen, Bucholtz, A. Ulrich v. Braunschweig und Lohenstein), um aus
ihr algemeine bemerkungen abzuleiten. Damit wil ich keinen Vorwurf aussprechen,
ich finde vielmehr eine indirekte bestätigung darin, dass ihm wirklieh in den übrigen
mehr algemeine charakteristische kenzeichen auffielen: jedesfals ist absolut keine
absieht darin zu vermuten. Die Banise ist im Stoffe selbst, wie ja auch Cholevius
andeutet, und in gewissen selten der ausführung, der „mache", ein originelleres
werk, hat tatsächhch nicht so viel gemeinsam mit den anderen als diese unter ein-
ander. In der einzelbesprechung verwendet Cholevius auf die afrikanische Sofonisbe
24 (ohne die proben aus dem roman), auf IbraJiim und Isabella 15, die adriatische
Rosemund 5, Assenat 17, Simson 17, Hercules und Valisca 15, Herculiscus und
Herculadisla 8, Aramena 39, Octavia 66, Arminius und Thusnelda 81 selten, auf
die Banise nur 16. Dadurch wird die leztere unter die noch am meisten zumcktre-
tenden romane in Cholevius werk eingereiht. Ich finde in dieser eigentümlichkeit
des lezteren eine hinreichende eutschuldigung, um mich noch einmal ausführlich mit
der Banise zu beschäftigen, zmnal auch Cholevius monographien über die einzelnen
romane verlaugt.
2) Ich lese aus Scherers werten (s. 379) eine ähnliche Stimmung heraus und
freue mich der Übereinstimmimg mit dessen von mir an anderem orie gebührend
gewürdigtem werke.
90 MÜLLER - FRAUENSTEIN
ten (z. b. s. 27, 28, 36, 37, 206), kommen natürlich und uiigesuclit
heraus. Entschieden dramatisch belebt und spannend ist die scene
(206), Avo Talemon seine erzählung vom Untergänge Proms beendet hat
und Abaxar von ihm angeredet wird. Wir nnd alle anwesenden wis-
sen nicht, in welch nahem Verhältnisse der leztere zu diesem Staate
und dessen ermordeten Oberhäuptern steht. Ein unheimliches Streiflicht
tiilt nur auf die Situation durch seine unerwarteten worte: „ich erkenne
die sonder- und wunderbaren gerichte der strengen gottheit satsam im
Untergang des königreichs Prom. Ich beseuffze der königin tod, und
beweine des printzen fall: die götter werden es künfftig zu schicken
wissen, dass dieses uhr-alte stamm -reich wider durch einen recht-
mässigen thron -besitzer dermahleinst beherrschet werde." Dass er selbst
dieser rächer ist, das enthült er nicht, komt auch nicht dazu, von
seiner für die fabel wichtigsten handlung, der rettung Banisens, genaue-
res zu berichten. Balacin aber verrät sich, als in diesem augenblicke
Chaumigrems Schergen gemeldet werden, und so Aveiss Abaxar seiner
. familie schrecklichen tod und dazu die nähe des rächers, seines natür-
lichen bundesgenossen, ehe er in ketten vor Chaumigrem gebracht wird.
So stehen für die wissenden in wirklich packender gegenüb erstell ung
zwei an Charakter und lebensgang so ähnliche und doch wider so ver-
schiedene personen vor uns, die von nun an ein und dasselbe ziel
band in band erstreben werden. Aber auch schon die art, wie Abaxar
eingeführt und durch Scandors und Talemons erzählungen mehr und
mehr auf Balacin s seite gezogen wird, ist geschickt. In der deutlich
ausgesprochenen, wenn auch am Schlüsse des romans erst klar moti-
vierten absieht des verkleideten prinzen von Prom nämlich, zu dem
prinzen von Ava überzugehen, wenn er „eine oder die andere ange-
nehme nachricht" von dem leben desselben vernehme, liegt die künst-
lerische begründung der langen berichte an Balacins krankenlager; ein
wichtiges werkzeug wird durch sie für die gute sache endgiltig gewon-
nen. Dies entschuldigt den schon oben verurteilten unkünstlerischen
bau des ersten buches doch in etwas.
Ehe wir nun definitiv von der äusseren architektur des romans
zu seiner inneren ausschmückung übergehen, ist es wol am platze, den
andeutungen und ausblicken des autors auf das, was später
kommen soll, einige worte zu widmen. Sie zeigen die mache am
deutlichsten, die kunst, den leser zu spannen, manchmal selbst auf die
folter zu spannen. So wissen wir im gründe noch gar nichts, nur
dass ein verkleideter prinz Balacin auf seines alten freundes Talemon
schloss eine Zuflucht gefunden hat, und schon wird uns (s. 20) ein
ZIGLERS ASIATISCHE B ANISE Ol
traiim des ersteren aufgetischt, ^\onn er seine Banise von elefanten
iimi^eben sieht, mit ilir ans deren mitte in die hift gehoben, da oben
dnrch eine flamme von ihr getrent und schliesslicli durch einen von
krokodilen Avimmehiden breiten fhiss vcillig abgeschnitten wird. Aus
Scandors erziildung gehört sodann hieher das traumbild, welches dem
prinzen vor dem tempel Apalitii zum ersten male die schöne Banise
vor äugen führt (99) und der vielsagende orakelspruch (100):
Zeug hin, betrübter Printz, dir winket Pegu zu.
Errette deinen feind aus seines feindes hiinden:
Es wird ein fremdes bild so aug als liebe blenden:
Doch endlich findet man die eingebildte ruh.
Schau! dein Yergnügen liegt in schrecken, furcht und ketten:
Drev cronen müssen erst die vierdte crone retten.
Das opffer crönet dich als einen Talipu.
Die höhepunkte der ganzen fabel sind in diesen sieben Alexandrinern
angedeutet, im zweiten Xemindos rettung aus meuchlerhaud , im drit-
ten die erste Verlobung mit der prinzessin von Savaady, im vierten die
zweite, nämlich mit Banise, im fünften deren gefahr, im sechsten die
belagerung von Pegu und im siebenten die opferscene. Zweimal ist
späterhin die erinnerung an diese rätselhaften werte von ausschlag-
gebender bedeutung; das erste mal aber denkt Scandor (240) mehr an
die von dem priester des Orakels mitgegebenen schachteln voll verstel-
lender salbe und rät zu dem unglücklichen entführungsversuch, das
zweite mal (384), als alle zeilen bis auf die lezte sich bewahi-heitet
haben, ermutigt diese erwägung den prinzen zu dem gewagten schritte,
sich unter die opferpriester in Pegu aufnehmen zu lassen. So schwebt
über dem ganzen verlauf der dinge ein höherer wille, vor dem die
irrenden menschen sämtlich sich beugen müssen, der die von Balacins
vater gewünschte herschaft des sohnes über Pegu auf ganz anderem
wege herbeiführt, als Dacosem geplant hat, und der dem guten prin-
cipe zum siege verhilft i. Weniger hervortretend, doch deutlich genug
sind drei andere omina (161 und 150). Als nämlich Banise und Bala-
cin von Xemindo verlobt werden und erstere des vaters band küsst,
1) Schon Cholevius und Bobertag betonen, dass die ganze gattung der heroiscli-
galanten romane darin die Amadis-romane übertreffe, dass sie doch wenigstens ver-
suchen, ein sithches Interesse im romane zur geltung zu bringen. In der Banise,
das geht wol aus meiner darstellung hervor, siegen Unterordnung unter die geböte
der götter und strenge sithchkeit. Das ist allerdings nicht in derselben weise eine
teudeuz, wie sie der maier Müller in seiner novelle verfolgt: kämpf für die men-
schenrechte, gegen das conveutionclle (Seuffert s. 238), sondern es ist mehr.
92 MÜLLER -FKAUENSTEIN, ZIGLERS ASUTISCIIE Bx^NISE
„schiessen ihr unvereehens drey blutstropffcn ans der nasen anf des
Kävsers rock". Gewiss ein nnheiniliches Vorzeichen, das nicht nur
damals „sothane augenehme zusammenkunlYt zu des Printzen hohem
niissvergnügen desto eher geendigt", sondern auch manchen leser mit
den schhmsten almungen erfült liaben mag, zumal wenn man sich des
„entsetzlichen comet-sterns" erinnert, der an heiterem himmel plötz-
lich über Pegu erscheint, und des umstandes, dass des kaisers pferd
auf ebener erde beim schritreiten vor Pegus toren stürzt.
In den kontouren des ganzen litterarischen gebäudes und in sei-
ner äusserlichen ausschmückung ist, wie aus vorstehendem wol erhalt,
sorgtliltige Überlegung, ja raffinement nicht zu verkennen. Die ange-
wendeten mittel werden zwar übertrieben, sind zumeist aber nicht
falsch 1. Besondere hervorhebuug verdient die mühe, die der lokalfär-
bung gewidmet ist; auch die Verzahnung der verschiedenen ineinander
greifenden handluugen kann als nicht ungeschickt bezeichnet werden.
Xur über die anläge des ersten buches, über einige gewaltsame Über-
gänge in den späteren teilen, über die anfügung des „tapferen Hera-
klius" und über die töne, welche im geselligen verkehr angeschlagen
sind, können wir uns nicht hinwegsetzen.
1) Bobei-tag, Gesch. d. romans I, 2, 1 gibt s. 203 — 263 eine besprcchung
der litteratui'gruppe , zu der die Banise gehört, mit einer ganzen reihe treffender
bemerkungen , zu denen ich mich hier nicht genötigt sehe weitere zusätze zu machen.
Ton s. 215 an bespricht er die künstlerische behandlung, plan oder disposition dieser
werke, nämlich die aufeinanderfolge der einzelnen teile der erzählung, die art der
nicht eigentlich erzählenden elemente und das grössenverhältnis der einzelnen teile.
Die Banise, sagt er 216 fg., vcifähii nach der auch von Haupt ausdrücklich auf-
gestelten regel, wonach der roman denselben gesetzen wie das heldengedicht zu
gehorchen hat. So hätten Ziglers und Zesens romane nicht nur einen massigen
umfang, sondern auch fester^ innere gliederung und grössere einheitliche geschlos-
senheit als die anderen; sie verführen nach den längst aus Homer und Virgil gezo-
g'enen regeln : der anfang müsse mitten in die bewegung hinein , einzelne teile würden,
weil nachzuholen, den auftretenden personen in den mund gelegt, die hauptpersonen
träten nicht zu spät auf und nicht zu zeitig ab. Die anderen grösseren romane ver-
führen mehr nach den werken der historiker. Unepischer noch sei die Verwendung
der nebensachen ; die beschi^eibung, die mittoilung gelehrter kcntnisse kennen kein
mass, keine beschränkende mcksicht. In betreff des grössenverhältnisses der teile
sei anzuerkennen, dass die bedeutendsten werke anfang, mitte und ende gleichmässig
ausführten-, sie enthielten weniger phantastisches und wunderbares wie die früheren
erzählenden unterhaltungsschriften , aber bewiesen Verschwendung mit ereignissen.
S. 230 wider sagt er freilich nmd heraus: Kein künstlerischer bau, das menschliche
leben und die Charaktere seien nicht wahr.
(Foiisetzung folgt.)
93
EINE QUELLE DES SIMPLICISSIMUS.
Dass der „AbcnteuerlicliL' Siniplicissimus" von Joh. Jacob Chri-
stoffel von Grimmeishausen im al^emeinen in der diircli Diego Hui'tado
de Mendoza begründeten, durch Mateo Aleman, Yicente Espinel u. a.
weiter ausgebildeten litterarischen traditiijii des „picarischen romanes"
steht, ist eine bekante tatsache. Auf ein bestirntes werk dieser ge-
schmaksrichtung jedoch als muster hinzuweisen, ist noch nicht versuclit
worden.
Durch prof. Jakob Minor angeregt unternahm ich es, das Verhält-
nis des „ Simplicissimus " zu einem seinerzeit algemein gelesenen und
bewunderten romane von Mateo Aleman, dem „Guzman von Alfaraclie" \
wie wir ihn der kürze halber bezeichnen wollen, zu untersuchen.
Dabei ergab sich folgendes:
Im Jahre 1616 erschien zu München von dem durch seine Über-
setzungen der Schriften Guevaras, des hofpredigers Karl Y., bekanten
Jesuiten Aegidius Albertinus^ eine bearbeitung des „Guzman von Alfa-
rache'', die der gepflogenheit jener zeit gemäss den langatmigen titel
führt: „Der Landstörtzer Gusman von Alfarache oder Picaro genannt,
dessen wunderbarliches, abenthewrlichs und possirlichs Leben, was ge-
stallt er schier alle Ort der AVeit durchloffen, allerhand Stand, Dienst
und Aembter versucht, viel Guts und Böses begangen und außgestan-
den, jetzt Eeich, bald Arm, und widerumb Reich und gar Elendig
worden, doch letztlichen sich bekehrt hat, hierin beschrieben wird
Durch Aegidium Albertinum, Fürstl. Durchl. in Bayrn Secretarium, theils
aus dem Spanischen verteutscht, theils gemehrt und gebessert. Erst-
lich Gedruckt zu München, durch Nicolaum Henricum. Anno MDCXVI."
8 jähre später gab ein sonst unbekanter autor, der sich auf dem titel
den poetischen namen Martinus Erewdenhold beilegt, zu Frankfurt am
Mayn eine fortsetzung zu diesem werke heraus, die sich als eine
ziemlich unbeholfene nachahmung darstelt und als „dritter teil" gel-
ten will 3.
1) Ticla y heclios dcl Picaro Guzmau de Alfaracbe. Atalaya de la vida liii-
mana por Mateo Aleman.
2) Nicht „Albertini", wie ihn Titman in der einl. zu seiner ausg. des Simpl. nent.
3) „Der Landstöi-tzer Gusman von Alfarache , oder Picaro, genant Dritter Theil,
Darinnen seine Reyß nach Jerusalem in die Türekey, vnd Morgenländer, auch wie
Er von den Tüi'cken gefangen, wideramb erledigt, die Indianischen Landtschafften
besuchet, \Tid in Teutschlandt selbst alle Stätte durchwandert, auch allerhand vndcr-
schiedliche Dienste, vnd llandwerck versuchet, vnd bald zu grossem Reichthumb auff-
94 VON PAYER
Die bearbeitung des Albertinus sowol, wie die fortsctzung zeich-
nen sich — nicht gerade zu ihrem vorteil — durch eine grosse zahl
von excui*sen oder, "wie der Verfasser mit dem Spanier sagt, „discur-
sen'' aus, die zusammengenommen nahezu die hälfte des ganzen Wer-
kes ausmachen und zur eigentlichen handluug nur in einer sehr locke-
ren, nicht selten aber auch in gar keiner beziehung stehen. Und diese
gerade sind es, die den ausgangspunkt unserer betrachtung bilden müs-
sen. II, 356 komt der hold des romanes, Guzmann, in den dienst eines
Junkers und „discuriert" auf dem wege mit diesem drei lange kapitel
hindui'ch über adel und edelleute (s. 357): „Was den Adel und Edelleut
belanget, Gepietender Juncker, welche jederzeit und billich bey allen
Yölckern in grossen Ehren gehalten worden, befinden wir, daß der-
selbige auch von vielen wird mißbrauchet, Indem auch viel gemeine,
und geringes Standspersohnen gefunden werden, welche, wann sie so
viel zusammen geraspelt und geschachert, daß sie drey Hel-
ler im Beutel und ein Seyden Kleid, beneben einem fcderbusch
auff dem Hut tragen können, mitgewählt Rittermässige Herren wol-
len seyn, kauften Adels Brieff^ und stutzen so Adelich in [358] den
Städten umbher, daß man genug von ihnen hat zu sagen, und mit fin-
gern nachdeutet, welchs jhnen doch nicht zu Ehren, sondern zu mehrer
Schmach und Schande gereichet, dann da weiß man nichts mehr zu
erzehlen, als daß jhr Großvatter, auch wohl jhr Yatter, Tag-
l»Shner und Lastträger, ihre Yätter Beerstecher, jhre Brüder
Bfittel, jhre Schwestern Huren, jhre Mutter Hurenwürthin
gewesen, In summa, jhr gantzes Geschlecht dermassen besu-
delt und befleckt, und sie selbst so Schwartz, als wann sie
jetzo auß der raucherischen Werckstatt des lahmen Yulcani dem Bronti
und Stetopi als jhren rechten Bnidern eutlauffen weren."
gestiegen, bald widenimb in höchste Armuth gerahten, außfühiiichen beschrieben
wird. Bcneben anmüthiger vnd eygentlicher Beschreibung der Morgenländer, deß H.
Lands vnd der Indianischen Insulen, auch vieler artigen herrlichen Discursen, vnd
Erinnerungen. Auß dem Spanischen Original erstmals an jetzo veiieutscht durch Mar-
tinum Frewdenhold. Getruckt zu Franckfurt am Mavn, Im Jahr MDCXXVI.'^ 8.
In der folge soll die bezeichnung I für die bearbeitung der Albertinus , II für die fort-
sctzung des Frewdenhold gelten.
1) Vgl. Moscherosch, "NVeltwesen: -. . . . hat kaum so viel im Säckel ge-
habt, daß er den Adelbrieff bezahlen und einen Stall mit Gunst zu melden kauffen
können: sich doch ungeachtet aller ehrbarkeit nicht mehr Metzger, nicht mehr Wag-
ner etc. ... sondern Herren von Metzegem, Henen von Wagenera etc. ... will titu-
lirct etc. . . . haben, damit er undor die Altgebonie vom Adel, under die alte Ritter-
schaft nicht nur gerechnet sondern auch denselbigeu gar möchte vorgezogen werden."
ZUM snirucissiMrs 95
Diese stelle greift Griiniiielsliausen lieraus und stelt sie wirkungs-
voll an den anfang seines Werkes, dorthin, wo der erziihler von seiner
eigenen abstammung berichtet:
„Es eröffnet sich zu diosoi- unserer Zeit (von welcher num glau-
bet, daß es die letzte sey) unter geringen Leuten eine Sucht, in deren
die Patienten, wan sie daran kranck ligen, und soviel zusammen
geraspelt und erschacliert haben, daß sie neben ein paar Hel-
lern im Beutel, ein närrisches Kleid aulf die neue Mode, mit
tausenderley seidenen Bändern, antragen können, oder sonst etwan
durch Glücksfall mannhafft und bekant worden, gleich Ritter massige
Herren, und Adeliche Personen von ulu-altem Geschlecht, soyn w^ ol-
len; da sich doch ofFt befindet, daß ihre Vor-Eltern Taglöhner,
Karchelzieher und Lastträger: ihre Vettern Eseltreiber: ihre Brü-
der Büttel und Schergen: ihre Schwestern Huren: ihre Mütter
Kupplerinnen, oder gar Hexen: und in Summa, ihr gantzes Ge-
schlecht von allen 32. Anichen her, also besudelt und befleckt
gewesen, als deß Zuckerbasteis Zuntft zu Prag^ immer seyn mögen;
ja sie, diese neue Nobilisten, seynd offt selbst so schwartz, als
wan sie in Guinea geboren und erzogen wären Avorden."
Im weiteren verlaufe fülirt Simplicissimus einen ironisch gehal-
tenen, mit einer gewissen behagiichkeit in alle details sich ergehenden
Vergleich zwischen dem bauernhofe seines „Knän'* und einem fürst-
lichen palaste durch und fährt I, 7 fort: „Anstat der Pagen, La-
qiieyen und Stallknechte hatte er Schaf, Böcke und Sau, jedes
fein ordentlich in seine natürliche Liberey gekleidet, welche mir auch
offt aufi' der "Waid aufgewartet, biß ich sie heimgetrieben; die Rüst-
oder Harnisch -Kammer war mit Pflügen^ Karsten, Aexten, Hauen,
Schaufeln, Mist- und Heugabeln genugsam versehen, mit welchen
Waffen er sich täglich übete; dan hacken und reuthen war seine
disciplina militaris, wie bey den alten Römern zu Friedens -Zeiten,
Ochsen anspannen, war sein Hauptmannschafftliches Commando,
Mistaußführen, sein Fortification-wesen, und Ackern sein Feldzug,
Stall-außmisten aber, seine Adeliche Kurtzweile, und Turnierspiel;
Hiermit bestritte er die gantze Weltkugel, soweit er reichen konnte,
und jagte ihr damit alle Emden eine reiche Beute ab "2.
1) Diefigurdes „Zuckerbastel", des Oberhauptes der Prager gauDerzunft, ist nach
Reiuh. Köhler (Gosches archiv I, 295 fg.) der Ulenhartschen bearbeitung einer novello
des Cervantes „Rinconete und Cortadillo" entnommen und nichts als eine Übertragung
des Seiior Monipodio, des obersten der Sevillaer gaunerzunft. in deutsches kostüm.
2) Vgl. auch Moscherosch, AVeltwesen „. . . und doch muß der beste Adel
leiden, und hören, daß sein aller erster Urahuherr ein Ertzbauer, ein rechter Schaff-
96
VON PAYER
Daf]:egen halte man, was Giizman II, 359 weiter in seinem „dis-
curse^ vorbringt: ,, . . . und müssen leyden, das man jlnien an allen
Enden anch wol ins Angesicht darf! sagen, daß eine Bawren Hütte
sey jhr Pallast gewesen, darinn sie geboren und erzogen, die Stätte,
da sie gewohnet, oder von denen sie sich schreiben, also beschaffen,
daß wann man über die Mawren springet, die Zeune krachen, jhre
Gfitter otftermals ein gemein Fehlt, darauft' sie sich kümmerlich erhal-
ten, jhre behengte Kammern und Gemach, ein stinckcndes und berauch-
tes Loch, da man weder Sonn noch Mond recht gesehen: jhre Die-
ner und Lackeyen, Schafe, Bocke oder Säwe, deren sie gehüttet,
der Pflug jhre Ritterliche Wehren, darin sie sich geübet, daß
Kühe melcken, ist jhre kurtzweil, Gräben außwerffen, jhre disciplina
militaris, Esel treiben oder Mist auff Beren tragen, oder am Karch
ziehen, jhre Hauptmansch äfft gewesen, und was deß dings mehr
ist, dessen sie sich zum höchsten müssen schämen, wann es jhnen zu
hindertreibung jhres Übermuths vorgewoi-ffen wird."
Dieser discurs vom adel scheint Grimmeishausen so sehr gefallen
zu haben, dass er ihn auch noch an einer anderen stelle, im 17. kap.
des I. buches zweimal ausnüzt:
Simpl. I. 57.
Joannes de Platea will außtrücklich,
daß man in Bestallung der Aemter dem
Adel den Vorzug lassen, und die Edel-
leute den Plebejis schlecht soll vorziehen ;
ja solches ist in allen Rechten bräuch-
lich, und wird in heiliger Schlifft beste-
tiget, dan Beata ten-a, cujus Eex nobilis
est, saget Syrach cap. 10 welches ein
herrlich Zeugnüß ist des Vorzugs, so dem
Adel gebühret.
Simplicissimus I. 57.
Seneca saget: Habet hoc proprium ge-
nerosus animus. quod concitatur ad ho-
nesta, & neminem excelsi Ingonii Vii-um
humilia delectant k sordida. "Welches
auch Faustus Poeta in diesem Dysticho
exprimiret hat:
Si te rusticitas ^^lem genuisset agrestis,
Nobilitas animi non foret ista tui.
Guzman IT, 368 fg.
Und wil Johannes de Platea außdrück-
lich , daß mann in bestellung der Empter,-
dem Adel allezeit den Vorzug lassen und
sie den plebeis schlecht sol vorziehen, wie
solches auch in allen Rechten bräuchlich:
auch in heiliger Schlifft bestettiget wiii
. . . . (s. 359). Also lieset man auch in dem
Büchlein Syrach cap. 10 Beata terra, cu-
ius Rex nobilis est: wol demLandt, des-
sen König Edel ist: welches auch ein
Zeugnuß ist des Vorzugs, so dem Adel
in dem weltlichen Regiment gebühret.
Guzman II, 370.
Daher dann dieser Spruch Senecae wol zu
bedencken, da er sagt : Habet hoc proprium
generosus animus, quod concitatur ad ho-
nesta, & neminem excelsi Ingenii virum
humilia delectant & sordida. Das ist: ,
welches auch Faustus Poeta in nachfolgen
dem disticho gar wol exprimirt hat
Si te rusticitas vilem genuisset agrestis
Nobilitas animi non foret ista tui.
und Kühhirt, und der sich dazu so wohl gehalten hat, daß er auB Statt und Land
ist venviesen worden, nemlich Adam."
ZUM SDJPLICISSIMUS 97
I, 116 macht Simplicius dieselbe Avahrnehnuing wie Giizman I, 52:
Simpl. Guzman.
Seithcro hab ich der Saclie vielmals Damals sähe und erkentc ich, daß
nachgedaclit, und V)in der Mej-nuug wor- die A^nrcinigkeiten , welche in dergleichen
den, daß solche Excrementa, die einem accidentiis und Zuständen gefeilt und aus-
aus Angst imd Schrecken entgehen, viel geworfen werden, viel übler schmeckten,
Ubiern Geruch von sich geben als wan weder andere ordinariae, die Philosophi
einer eine starke Purgation eingenommen. und Sophisten aber, werden die eygeut-
liche Yrsachen dessen wol wissen zu
inquiriren und zu erforschen.
II, 410 will sich Guzman einer geselschaft von gauklern und
tänzern anschliessen. Diese gelegenheit, die nur zu diesem zwecke
herbeigeführt zu sein scheint, benuzt der Verfasser sogleich, seine
gelehrsamkeit auszukramen. Er gibt uns eine mit zahllosen stellen aus
antiken autoren und kirchenvätern belegte geschichte des tanzes und
ergeht sich schliesslich in eine endlose polemik gegen die unsitlichkei-
ten, wie sie bei den tanzunterhaltungon vorkamen, ein thema, das
deutsche prediger vom 15. bis tief ins 18. Jahrhundert hinein unzählige
male behandelt haben. Auch an einer anderen stelle eifert er: „Ja da
verleurt man manchs [3-14] par, welche sich in einem heimlichen
Winckel verkriechen, allda sie gewißlich kein Pater noster betten, es
komme sie dann eine sonderliche Andacht an."
Simplicissimus ist auch kein freund des tanzes, wie er III, 342
versichert: „Anstat des Tantzens, dem ich nie bin hold worden, wiese
ich die Gerade meines Leibes, wan ich mit meinem Kürschner fechte",
aber an stelle der langen abstrakten predigt erzält er uns, als w^äre er
dabei gewesen, mit derbem realismus die ergötzliche geschichte „Wie
sich ein Gänser und eine Gänsin gepaaret" [buch II kap. 1] und knüpft
nur am Schlüsse gewissermassen in parenthese 119 die bemerkung daran:
„Günstiger Leser, ich erzehle diese Geschichte nicht darum, damit er
viel darüber lachen solle, sondern damit meine Histori gantz sey, und
der Leser zu Gemüt führe, was vor ehrbahre flüchte von dem Tantzen
zugewarten seyn [120]. Diß halte ich einmal vor gewiß, daß bey den
Täntzen mancher Kauff gemacht wird, dessen sich hernach
eine ganze Freundschafft zu schämen hat." Dieser lezte satz,
der in der tat auch mit dem unmittelbar vorhergehenden in keiner sti-
listischen Verbindung steht, ist wider wörtlich aus „Guzman" II, 413
entlehnt. Es heisst dort: „. . und wann gleich imd gleich zusammen
kommen, wird mancher unehrlicher Kauff gemacht, dessen
sich hernach eine gantze Freundtschaft schämen muß."
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOEOÜIE. BD. XXII. ♦
98 TON PAYER
In cap. XTV dos ei*sten, von Albertinus herrührenden teiles wird
Guzman, fremd in den Strassen Genuas umlierirrend, von einem ehr-
würdig aussehenden manne, der seinen vater gekaut zu haben behaup-
tet, gastlich aufgenommen. Während er des nachts in einem weichen
und reinlichen bette, wie er es seiner tage nicht gehabt, behaglich die
müden glieder streckt, stürzen vier als teufel vermumte männer ins
zimmer, reissen ilui aus den federn, legen ihn, der vergebens alle hei-
ligen anruft, auf einen „kotzen" und prellen ihn derartig, dass er die
besinnung zugleich mit der „vis retinendi'' verliert ^ Zu sich gekom-
men sucht er die Verunreinigung, die er angerichtet, tunlichst zu ver-
bergen und schleicht im morgengrauen aus dem hause, in dem man
ihm so übel mitgespielt.
Simplicius wird IT, 134 in derselben weise mishandelt. Aber
während im „Guzman'' die geschichte ohne Zusammenhang mit dem
vorhergehenden und ohne bezug auf das folgende, bloss um ihrer selbst
willen dasteht, hat sie hier in der absieht des Schriftstellers eine ganz
bestimte aufgäbe zu erfüllen: Simplicius soll dadurch seines Verstandes
beraubt und in seinem bewusstsein in ein kalb verwandelt werden, ein
streich, von dem sich der Veranstalter manchen spass verspricht. Sim-
plicius, schon vorher von dem pfarrer gewarnt, macht gute miene zum
bösen spiel, und im selben äugen blicke, wie er als „kalb" in die runde
tritt, die sich um den tisch des obersten versammelt hat, ist auch die
absieht des Verfassers klar: der narr betrachtet nun die geselschaft mit
den äugen eines tieres, als solchem können ihm daher albernheiten und
unnatürlich keiten auffallen, in denen menschen gar nichts besonderes
erblicken können, weil sie dieselben eben dadurch, dass sie menschen
sind, gewissermassen mit der muttermilch eingesogen haben. So dient
lüer der streich nur dazu, der satire einen besonderen nachdruck zu
verleihen.
Fernere anlehnungen, die, an sich von geringerer bedeutung, nur
im gefolge der früher erwähnten ins gewicht fallen, sind folgende:
Simpl. IV, 455 erzählt Olivier, wie er des nachts die Strassen
durchstreifte um vorübergehenden die mäntel zu entreissen, und
wie er, dabei ertapt, nur mit not dem galgen entrint. Wegen
desselben Verbrechens wird Guzman I, 372 zimi galgen verurteilt
1) Dieser spass scheint sich in Spanien einer besonderen beliebtheit zu erfreuen:
Don Quixote. I. teil cap. 17 -vs-ird in der schenke mit Sancho Pansa derselbe unfug
getrieben. Die vier teufelslai-ven , die den ahnungslosen überfallen und erschrecken,
erscheinen auch im -Marcos Obregon" von Vicente Espinel, übersezt von Ludwig
Tieck (Breslau 1827) I. bd. s. 155.
ZUM SIMPLICISSIMüS 99
und in anbetracht seiner Jugend zur galeere begnadigt. Diese art
des raubes ist nur bei den weiten wallondi'U gewändern der Süd-
länder denkbar: sclion aus dem alten Athen haben wir kundo, dass
es leute gab, die im dunkel der nacht zwischen den langen mauern
dasselbe gewerbe übten. Die Griechen nanten es Xioicoövidv, und es
muss eines der verachtetsten verbrechen gewesen sein, denn es wurde
mit seelenverkaufcrei und tenipelraub auf eine stufe gestelt und mit
dem tode bestraft ^
Der priiceptor, der sich mit den ihm anvertrauten Zöglingen des
nachts in den Strassen herumtreibt bis der eine bei einer balgerei
erstochen und die übrige geselschaft von der polizei eingezogen Avird,
ist gleichfals aus Guzman I cap. XXIX entlehnt.
Nachdem Guzman seine dreijährige galeerenstrafe überstanden hat,
begibt er sich — so begint die fortsetzung des Frewdenhold — auf
eine pilgerfahrt nach dem heiligen lande. Er wird dabei nach Alexan-
drien verschlagen und fährt den Nil hinauf nach Cairo. Dort fält ihm
auf, dass man hühnereier in Öfen künstlich ausbrütet. Auf einem aus-
flug nach der totenstadt gerät er in die gefangen schaft der Türken:
lauter züge, die sich im VI. buche des „ Simplicissimus" wider finden.
Alle die erwähnten stellen zusammengenommen lassen meines
erachtens kaum einen zweifei aufkommen, dass jene bearbeitung des
„Guzman" von Aegidius Albertinus mit der fortsetzung des Martinus
Frewdenhold Grimmeishausen bei der abfassung des „Simplicissmius"
vorgelegen hat.
WIEX, IM OKTOBER 1888. RUDOLF VON PAYER.
ZUM TELLENSCHUSS.
E. L. Kochholz hat in seinem treflichcn w^rke: „Teil und Gess-
1er in sage und geschichte" nachgewiesen, dass lange vorher, ehe eine
Schweiz war, die sage, welche das schiessen eines apfels vom haupte
einer geliebten person als charakteristikon grösster schützenkunst hin-
stelt, schon unter Völkern verbreitet gewesen ist, die sich heute räum-
lich ungemein ferne stehen. Die Übereinstimmung mythischer sagen
1) Xenophon, Com.I, 2, 46. Über das stehlen des mantels bemerkt Tieck zu
Marcos Obregon, I. bd., cap. 3: -Das stehlen des mantels war damals etwas sehr
gewöhnliches in Madrid. Eine gewisse aii; der diebo legte sich vorzüglich auf diese
räuberei, zu welcher Schnelligkeit und geschicklichkeit erforderlich war."
7*
100 VON WLISLOCKl
bei den yerscliiedensten Völkern mag oft überraschen, aber sie erklärt
sich gar einfach. ,,Je weiter man in der zeit znrückgeht, um so mehr
nimt die Verschiedenheit der Völker und stamme ab, um so grösser
muss auch die Übereinstimmung aller in dem punkte der sagen gewe-
sen sein." Als kleinen beitrag hiefür will ich aus Siebenbürgen einige
unedierte sagen und märchen mitteilen, die die weitverbreitete mythe
vom apfelschuss bis auf den heutigen tag bewahrt haben.
Ein unediertes märchen der transsüvanischen Rumänen lautet in
genauer Übersetzung also:
Seliarfauff. Scliiiellauf, Trefweit.
Es lebte einmal eine arme alte frau, die hatte drei grosse söhne,
von denen ein jeder eine trefliche eigenschaft besass. Den ältesten
nante man Scharfaug, weil er ein so scharfes äuge hatte, dass er
(bei meilen weit alles deutlich sehen konte; den mitleren nante man
Schnellauf, weil er so schnell laufen konte, dass, ehe man sagte:
„bleib gesund'', er schon drei meilen zurückgelegt hatte und wider
andere drei meilen, ehe man ein „lebewol" sprach^; und den jüngsten,
den nante man Trefweit, weil sein schuss auf drei meilen weit sicher
traf. — Als ihre mutter starb, machten sich die drei brüder auf den
weg, um m der grossen weit ihr glück zu versuchen. Einmal sassen
sie am rande eines waldes, als Scharfaug in weiter ferne einen hinken-
den wolf erblickte. Er rief: „Seht, dort am rande jenes waldes komt
ein wolf hinkend einher!" Doch kaum hatte er diese werte gesprochen,
so kam schon schneilauf mit dem wolfe zurück. Die brüder verban-
den den wehen fuss des wolfes, der ihnen von nun an wie ein hund
überalhin nachfolgte. So kamen sie denn einmal in eine stadt, wo
ein mächtiger könig wohnte, der eine wunderschöne tochter besass,
die aber nur den heiraten wolte, der sie im wetlauf besiege. Sie war
eine ausserordentlich schnelle läuferin und hatte schon viele bewerber
im wetlauf besiegt und hinrichten lassen. Als nun die drei brüder
hievon künde erhielten, unternahm es sofort Schnellauf mit der königs-
tochter um die wette zu laufen. Doch ehe sie den lauf begannen,
sprach die königstochter also zu Schnellauf; „Drei meilen weit werden
wir laufen und wenn du vor mir das ziel erreichst, so will ich deine
frau werden! Doch ehe wir den lauf noch beginnen, schenke ich dir
schon den trauring!" Und sie gab ihm einen ring mit einem pracht-
vollen stein, den Schnellauf zu seinem unglück sofort an den finger
1) Zu dieser wendiing vgl. meinen aufsatz: „Zu neugriechischon Volksliedern"
(in der Zeitschrift f. vergl. litteraturgesch. u. renaissance-httcratur N. F. bd. I s. 353).
ZUM TELLEXSCIIUSS 101
zog; denn der stein im ring liatte die kraft jeden, der ihn am fiiiger
trug, nach kurzer zeit einzuschläfern. Und so gescliah es auch Schnel-
lauf. Kaum hatte der wetlauf begonnen und Schnellauf bereits zwei
meilen zurückgelegt, da fiel er, in tiefen schlaf gesunken, wie tot zu
boden. Dies bemerkte aber noch rechtzeitig Scharfaug und sagte zu
seinem bruder Trefweit: „0 wehe! unser bruder ist bezaubert worden
und liegt nun zwei meilen weit von hier in tiefem schlaf, auf den
boden gestreckt. Der ring, den ihm die königstochter geschenkt hat,
muss ein zauberring sein!" — „Das werden wir gleich sehen!" ver-
sezte Trefweit, „zeig mir nur die richtung, in welcher unser bruder
liegt." Und als ihm Scharfaug die richtung anwies, schoss er seine
flinte ab und von der kugel geti'offen fiel der zauberring zersplittert
vom fiuger Schnellaufs. Dieser erwachte sofort und legte wie der blitz
die lezte meile zurück. Lange nachher kam die schnelfüssige königs-
tochter am ziele an. Sie forschte sogleich nach dem ringe und Schnel-
lauf erzählte ihr nun, dass wahrscheinlich sein bruder Scharfaug ihn
schlafend bemerkt habe, worauf dann sein jüngster bruder ihm den
ring vom finger geschossen habe. Da rief erzürnt die königstochter:
„Gut, ich will dein weib werden, aber weil ihr mich betrogen habt,
so muss dein bruder Trefweit mir noch einmal seine kunst zeigen;
gelingt ihm die aufgäbe nicht, so lass ich ihn und deinen bruder
Scharfaug hinrichten!" Und sie befestigte einen ring oben auf dem
haupte Scharfaugs, stelle ihn dann vor Schnellauf, auf dessen haupt sie
eine kartoffel legte und hiess nun Trefweit von hundert schritt weite
durch den ring die kartoffel vom haupte seines bruders zu schiessen.
Da begann der wolf zu heulen und Avolte auf die königstochter los-
springen, aber Trefweit besänftigte ihn und sprach: „Warte, bis dass
mir der schuss mislungen ist!" Und er nahm die flinte zur band und
schoss. Durch den ring hindurch drang die kugel in die kartoffel und
riss sie mit sich fort. Xun muste die königstochter Schnellauf heiraten
und die drei bruder lebten glücklich bis an ihr seliges ende. Sie
machten das reich des königs gross und mächtig, denn jedermann
fürchtete sich vor ihnen und als sie starben, weinten alle leute im
lande und glaubten lange zeit nicht an den tod der bruder, sondern
dachten bei sich, dass sie sich vielleicht gekränkt aus dem lande ent-
fernt hätten und einmal noch zurückkehren würden. So gerne hatten
die leute diese drei bruder
Dies das märchen der Eumänen, das sich im grossen und gan-
zen mit der italienischen NoveUa eleu Fortunato, Avelche 1869 zu Li-
vorno von Giov. Papanti nach einem drucke aus dem fünfzehnten jähr-
102 VON WLISLOCKl
hundert herausgoceben Avorden ist, deckt Audi im niärclien bei Grimm,
K.-M. nr. 71; Ey, Harzmärohenbuch s. 116, und im märcheu ,, Belle -
Belle Oll Je Clfevalier Foriunc" von der gräfin d'Aulnoy, „komt ein
wetlauf mit einer königstochter vor, wobei der läufer einschläft, aber
durch einen schuss oder wurf noch zeitig genug erweckt wird, um vor
der prinzessiu das ziel zu erreichen" (s. Roch holz a. a. o. s. 44 und
vd. R. Köhlers schätzbare mitteiluniren 1872 in Brockhaus Kritischen
anzeigen). Was den von obigen märchen abweichenden zug vom ein-
schläfernden zauberring betrift, so ist das rumänische märchen am
nächsten verwant mit Basiles Pentamerone III, 8. avo „der läufer Fur-
golo (blitz) durch einen ring mit einem zauberstein festgemacht wird,
bis der armbrustschütze Cecadiritto (Trifgut) ihm den magischen stein
vom fingerring schiesst." Zum schuss durch einen ring nach der kar-
toffel (also einem ,.erdapfel", s. Rochholz a. a. o. s. 41) ist zu verglei-
chen der schuss des mythischen Serbenhelden Milosch, der um die
lateinerbraut in der veste Ledjan werbend, dieselbe dadurch gewint,
dass sein pfeilschuss durch einen ring tiift und den apfel dahinter
von der lanzenspitze herabschiesst (Gerhard, Serbische volksl. I, s. 148).
In den meisten der hierhergehörigen sagen hält der schütze noch
einen pfeil bereit, den er im falle eines mislingens demjenigen zuzu-
senden gedenkt, der ihn zu dem verhängnisvollen schusse zwang. Ob-
wol im rumänischen märchen das bereithalten eines zweiten pfeiles
(kugel) nicht erwähnt wird, so ist doch nicht undeutlich darauf ange-
spielt, indem Trefweit zum wolfe spricht: „AVarte. bis dass mir der
schuss raislungen ist!" ATas nun den wolf anbelangt, der in diesem
märchen — wenigstens in der vorliegenden gestalt — sozusagen gar
keine rolle spielt — so erlaube ich mir an die holsteinische sage von
Henning AVulf zu erinnern (Rochholz, a. a. o. s. 38; MüllenhofF, Schles-
wig-Holstein, sagen nr. 66 und Jahrbücher von Schleswig-Holstein 1860
in, 3 s. 444). Dass nach den werten des märchens die drei brüder
im glauben der leute noch fortleben, ist ebenfals ein alter zug, den
wir in der sage von den drei Teilen am Rütli, den drei zauberschlä-
fern im Axenberge u. m. a. widerfinden (s. Rochholz a. a. o. s. 125 fgg.)
AVichtiger noch, sowol für die vergleichende sagenkunde als auch
für die fortbildung und Verbreitung der Tellengeschichte, ist eine sagen-
hafte erzählung der Bulgaren, die als gärtner und feldbauern im Süd-
westen Siebenbürgens wohnen. „Wenn Eutych Kopp, Gesch. -blätter 2,
362 die auffallende ähnlichkeit erkant hat, welche zwischen Saxos Toko-
geschichte und der Tellengeschichte der Schweizerchronisten in anläge
und darstellung der erzälten begebenheit besteht; und wenn wir da
ZUM TELLENSfllUSS 103
auf beiden seilen dieselbe sasre mit denselben haupt- und Wendepunk-
ten haben", so gilt dies auch — niutatis inutandis — mehr oder weni-
ger von der bulgarischen erzähhuig, wenn wir dioselbe mit dc^r däni-
schen Toko2:eschichte und der Schweizer Telleno-eschichte vercfleichen.
„Den waghalsigen apfelschuss nach des kindes haupte; den aufgestelten
stecken; die Zuversicht und geschicklichkeit des vaters; das bereithal-
ten mehrerer geschosse von seite des schützen und dessen freies wort
an den dränger; das fallen des drängers durch des schützen band",
alle diese haupt- und Wendepunkte der erwähnten beiden geschichten
lassen sich auch in der bulgarischen erzähl ung genau nachweisen. Wenn
ihr auch der historisch -gefärbte schluss (empörung der Dänen, herzog
Parricida) abgeht, so dreht sie sich doch auch um eine geschichtlich
nachweisbare person. Digenis, der bulgarische trefschütze ist meiner
ansieht nach derselbe, der auch in den neugriechischen Volksliedern
vorkomt. Schon seit langer zeit besass man neugiiechische Volkslieder,
in denen von einem wunderbaren beiden, namens Digenis, die rede
ist (vgl. z. b. Passow, Popularia carmina Graeciae recentioris nr. 430.
491. 516; Sakellarios, Cyprische volksl. nr. 4. 17; Legrand, Eecueil de
Chansons populaires grecques III, nr. 87 — 90), ohne dass man mit
diesem Digenis viel anzufangen wüste, bis endlich zu anfang des vori-
gen decenniums in Trapezunt ein daselbst vor eimiahme der Stadt durch
die Türken (1462), vielleicht schon im 10. Jahrhundert verfasstes hel-
dengedicht von mehr als dreitausend politischen versen entdeckt wurde,
das von einem gewissen Basilios Digenis Akritas handelt, dem söhne
eines Emirs von Edessa, namens Ali, und einer tochter des griechi
sehen stratarchen Andronikos Dukas. Er hiess Digenis (diyevy-g, von
zweifacher abstammung) Avegen seiner arabisch -griechischen eitern und
Akritas als grenzwächter gegen die muselmänner am Euphrat (als
eine art grenzwächter tritt er auch in der bulgarischen erzählung
auf); er hiess auch Porphyrios, bei den Persern Farfurius; sein
eigentlicher name scheint aber Panthirios oder Panthir, und er
derselbe feldherr gewesen zu sein, Avelcher nach dem Zeugnisse Nestors
im jähre 941 die flotte des russischen füi'sten Igor vernichtete. Er
war mit dem griechischen kaiser Romanos Lekapenos verwant und
Oberbefehlshaber der asiatischen provinzen. Das erwähnte gedieht nun
ist seitdem von Konstantin Sathas und Legrand herausgegeben worden
(Les Exploits de Digenis Akritas, epopee byzantine du X. siecle publice
pour la premiere fois d'apres le manuscrit unique de Trebizonde. Pa-
ris 1875). Der Sagenkreis des Digenis ist übrigens auch nach Russ-
land vorgedrungen, woselbst in einer handschrift des 14. — 15. jahrh.
104 VON WLISLOCKI
ein heldengedicht über Dcugeiiius Akritas vorlianden ist (s. A. Wesse-
lofsky in der Ku^isischeu revue, Petersburg 1875. IV. jalirg. s. 379fgg.):
„Bruchstücke des byzantinischen epos in russischer fassung^' und Alfred
Eambaud, La Eussie epique, Paris 18 76, s. 421 fgg. „L'Epop6e neo-
grecque Digenis Akritas"; vgl. auch Felix Lieb recht, Zur Volks-
kunde s. 202).
Die genaue deutsclie Übersetzung dieser bulgarischen sage — so
-wie ich dieselbe 1887 im Originaltext aufgezeichnet habe — lautet also:
Der sclniss des edlen Digenis.
Einst lebte am klaren wasser der Donau ein gewaltiger held, der
mit seiner frau, einer guten Stia^ einen söhn zeugte, dem er den
nameu Digenis gab und zu dessen paten er sich den grossen könig
von Buda erbat. — Als Digenis sein zwanzigstes jähr erreicht hatte
schickte ihn sein vater hinauf in die bürg von Buda, damit er seinem
paten zeige, was er gelernt habe. Und über Digenis künste hatte der
könig und seine leute guten grund zu staunen; denn Digenis konte
schwimmen wie ein fisch, er konte besser laufen als das beste reit-
pferd des königs, springen konte er wie das reh der gebirge und steine
von einem berge auf den andern schleudern, die sechs pferde von der
stelle zu rühren nicht im stände waren. Aber erst schiessen! das ver-
stand er wie kein mensch auf erden. Auf eine halbe meile weit schoss
er den allerkleinsten apfel, auf einen stock gesteckt, auf den ersten
schuss herab. Über diese seine künste wunderte sich gar sehr der
könig von Buda und sprach zum edlen Digenis also: „Du bist noch
jung an jähren, aber du kanst doch mehr, als zehntausend hundert-
jährige greise! du bist noch zu jung, um heiraten zu können; darum
sende ich dich hinaus in meine bürg im gebirge; dort solst du als
kapitän (capitano) den Türken schrecken einjagen; nach fünf jähren aber
will ich dir meine einzige tochter zur frau geben!'' Gar traurig zog
der edle Digenis hinauf in das gebirge, in die bürg, um dort die Tür-
ken abzuwehren; gar traurig war er, denn er hatte eine Jungfrau lieb,
die er demnächst auch heiraten wolte; nun aber solte er nach fünf
Jahren des königs von Buda tochter zur frau nehmen! Was tat nun
der edle Digenis? Mitten auf dem wege kehrte er um und ritt zu
•
1) Stia, auch Juda genant, sind waldnyrnphen in jugendlicher frauengestalt.
Es gibt böse und gute Stia; die bösen leben an Aussen und seen; sie haben ein
langes haar, das sie den sich zu ihnen verin-cnden menschen über das haupt wer-
fen, um dann die darin verstiickteu im wasser zu ersäufen; die guten hingegen
erzeugen mit irdischen männem kinder, aus denen gewöhnlich grosse beiden werden.
ZUM TELLENSCIIUSS 105
seiner geliebten, die er heiratete. Nun zo^ er mit seiner jungen frau
in die ferne bürg im gebirge. Durch seine künste wurde er gar bald
der schrecken der Türken. Als fünf jähre um waren schickte der künig
von Buda dem edlen Digenis einen grossen l)riof mit einem grossen
Siegel, damit er nach Buda komme und seine einzige tochter heirate-
Der edle Digenis bestieg also sein ross, sezte sein vierjähriges sölmlein
vor sich hinauf und ritt zum könig von Buda. Als er dort ankam,
sprach er also: „Herr könig, euere tochter kann icli nicht heiraten,
denn ich habe mir schon vor fünf jähren ein weib genommen! Hier
ist mein vierjähriges söhnlein!" Da ergrimte der könig von Buda und
sprach: „Du hast wie ein weib gehandelt und verdienst vun den i)fer-
den zertreten zu werden M Doch ich wdll dein leben schonen, weil ich
ja dein pate bin, aber du musst einen goldenen apfel vom haupte dei-
nes kindes auf den ersten schuss herabschiessen ! Verfehlst du das ziel,
so musst du sterben!" Und sie führten den edlen Digenis samt sei-
nem söhne hinaus in das freie feld und legten dem knäblein einen gol-
denen apfel aufs haupt. Dreihundei't schritte vom söhne entfernt stand
der edle Digenis und lud beide laufe seiner langröhrigen flinte. Er
sezte an und schoss. Der goldene apfel flog weithin auf die erde. Das
söhnlein stand unversehrt da. Grimmig sprach hierauf der könig von
Buda: „Du bist ein treflicher schütze, Digenis! Sage mir aber avozu
hast du beide laufe deiner flinte geladen? Du durftest ja — hätte der
erste schuss gefehlt — zum zweiten mal nicht schiessen?" Da hob
Digenis seinen knaben auf den arm und sprach: „Hätte die kugel des
einen laufes nicht den goldenen apfel, sondern mein kind geti'offen,
dann hätte die kugel des zweiten laufes dein hundeherz gewiss nicht
verfehlt!" Und wie der Sturmwind flog er über die haide hinauf in
das gebirge, wo er in einer höhle rast hielt. Müde schlief er ein und
als ihn sein weinendes söhnchen aufweckte, da sah er, dass draussen
vor der höhle der könig mit hundert seiner leute stand. Der edle
Digenis besann sich nicht lange, sondern schoss seine beiden laufe ab.
Der könig von Buda und sein ältester söhn fielen tot zu boden. Da
begann ein kämpf, wie ihn nicht sobald ein mann gesehen hat. Als
die sonne den himmelsrand küsste, da lag der könig von Buda, dessen
söhn und die hundert männer tot auf dem boden; der edle Digenis
aber zog mit seinem söhnchen heim zu seiner frau und dann ver-
liessen die drei für immer das land und wurden nimmer gesehen
Dies die bulgarische sage, deren held wol geschichtlich ist; der
apfelschuss aber ist mythiseh und dem vertrag des ereignisses bloss
1) Vgl. Liebrecht, Zur Volkskunde (s. 296: Eine alte todesstrafe).
106 VON WLISLOCKI
angowacliscn aus älterer Überlieferung-, die bislang unbekant ist (vgl.
Grimm, ^ryth. 354). Lezteres (freilich ohne geschichtlichen hiutergrund)
gilt auch von der sagenhaften erzähliing der Szekler, die ich im jähre
1879 im Haromsz6ker komitate (Südosten Siebenbürgens) im ungarischen
oriizin altexte auf2:ezeichnet habe und zwar in drei Varianten, von denen
ich hier die volständigste und bedeutungsvolste in genauer verdeut-
schuniT mitzuteilen mir erlaube.
'Ö
Tsehalo Piselita. ^
Es war einmal dort, wo er nicht war, dort, wo man die läase
und flöhe mit goldenen hufeisen versieht, dort war also einmal ein
mann, dem hinterliess seine fi'au, als sie starb, ein zehnjähriges söhn-
chen. Der mann war so arm wie eine kirchenmaus und konte sich
kaum das tägliche brot verschaffen. Da dachte bei sich der arme mann :
du 2:ehst mit deinem söhnchen in die weite weit! vielleicht kaust du
anderswo dein brot dir leichter verdienen! — ITnd der arme mann
buk sich aus seinem lezten mehle einen aschenkuchen, steckte densel-
ben in seinen mantelsack und zog nun mit seinem söhnchen, das man
Tschalo Pischta nante, in die weite weit hinaus. Sie erreichten gar
bald einen grossen wald und legten sich ermüdet unter einem grossen
eichbaum nieder. Der vater schlief gar bald ein, während Tschalo
Pischta dem gesange der vögel und dem gesumme der käfer zuhörte.
Da lief ein manschen heran und sprach also zu Pischta: „Lieber knabe,
ich habe zuhause acht kinder zu ernähren und habe beute noch kein
krümchen esbares gefunden. Du hast in deinem mantelsack einen gan-
zen aschenkuchen; gib mir ein wenig davon, damit ich es zu meinen
kindern trage und ich will es dir belohnen!" Tschalo Pischta brach
ein Stückchen vom aschenkuchen ab und warf es dem mäuschen zu,
das nun also zu ihm sprach: „Keiss mir ein barthärchen aus und be-
wahre es gut; wenn du in not bist, so speie es an und ich werde dir
zu hilfe eilen, dann stich mir in das linke pfötchen und sauge einen
tropfen blut daraus, du wirst dadurch so stark werden, dass du zent-
nerschwere steine von einem berge auf den andern wirst werfen kön-
nen!'' Als Tschalo Pischta das härchen herausgezogen und einen tropfen
blut ausgesogen hatte, lief das mäuschen davon. Als sein vater
erwachte, erzählte ihm Tschalo Pischta nichts, sondern behielt das
geheimnis für sich. Xun zogen sie wider weiter in die weit, von einem
1) Pischta = deminutiv von Istvän (Stefan). Im Ungarischen wird der tauf-
name dem famüiennamen nachgesezt.
ZUM TELLENSCUUSS 107
ort zum andern, bald arbeitend, bald bettelnd, — so wie es eben
gieng. Nun kamen sie einmal auf einen liuhen berg und der vater
legte sicli nieder und schlief. Tschalo Pischta konte aber nicht schla-
fen, sondern stieg den hohen berg hinan und wolte sich in der umge-
gend ein wenig umsehen. Da kam er an eine höhle, deren eingang
mit einer goldenen türe verschlossen war. Der junge versuchte die
tüi-e zu öfnen, da es ihm aber niclit gelang, so nahm er einen zent-
nerschweren stein und warf ihn solcher wucht an die türe, dass die-
selbe klirrend aufsprang. Himmel und erde erzitterten und aus der
höhle sprang eine nachtschwarze hexe hervor und rief: „Nun sollst du
dein leben lassen, junger bursche, wenn du nicht so weit deine steine
schleuderst, als ich schiessen kann!^' Und sie nahm eine flinte hervor
und schoss vom nächsten berge einen raben herab; Tschalo Pischta
aber nahm einen zentnerschweren stein und warf ihn auf den nächsten
berg, und erschlug damit einen wolf, der grade über den berg laufen
wolte. Da nahm er einen zweiten stein und ehe sich die hexe versah,
erschlug er sie. Die flinte steckte er in seinen mantelsack und kehrte
zu seinem vater zurück, dem er von seinem abenteuer gar nichts
erzählte.
Vater und söhn zogen nun weiter in die weit und kamen end-
lich in eine wüste, die kein ende nehmen wolte. Tagelang wanderten
sie herum, ohne das ende der wüste erreichen zu können und waren
nun nahe daran, vor hunger zu sterben. Da untersuchte der vater
einmal den mantelsack seines sohnes und fand darin die zauberflinte.
„Woher hast du diese flinte?" fragte er seinen Pischta. Dieser ver-
sezte darauf: „Von einer hexe! Aber was nüzt sie uns jezt, wenn wir
nichts zu schiessen haben! Möchte die flinte uns doch zu einem bra-
ten verhelfen!" Kaum hatte er diese Avorte ausgesprochen, da flog die
flinte durch die luft weit weg und kehrte in kurzer zeit mit einem
erschossenen rehe zurück. Nun hatten sie zu essen und lebten ohne
sorge und kummer, denn sobald sie fleisch brauchten, schickten sie die
flinte auf die jagd, die dann stets mit einem erschossenen wilde zurück-
kehrte. — Nach dreissig tagen erreichten sie endlich das ende der
weitste, wo ein siebenköpfiger drache den ausgang bewachte und ihnen
den weg versperte. Da schleuderte Tschalo Pischta sieben mächtige
felsblöcke auf den drachen und erschlug ihn. Sie zogen nun ungehin-
dert weiter und erreichten gar bald eine grosse Stadt, wo ein sehr
grausamer könig wohnte. Die leute empfiengen die beiden wanderer
mit grossen ehrenbezeugungen , gaben ihnen die besten speisen und
getränke und führten sie in ein schönes haus, wo sie von nun an woh-
lOS VON WLISLOCKI
nen solten. Sie fi'agton erstaunt die leute, was alle diese ehrenbezeu-
guDgen zu bedeuten haben? Da erzählten ihnen die leute, dass ihr
grausamer könig den drachen am ausgang der wüste gehalten und
jeden tag ihm einen menschen zu fressen gegeben liabe. I^un seien
sie durcli Tschalo Pisclita von diesem rtncfeheuer befreit worden und
wolten von nun an für alle bedürfnisse des vaters und des sohnes sor-
gen. — Doch niclit lang dauerte ihr vergnügtes leben, denn als der
könig erfuhr, dass Tschalo Pichta seinen siebenköpfigen drachen erschla-
gen habe, da Hess er vater und söhn zu sich führen und sprach also
zum knaben: „Du bist an jähren nocli ein kind. an stärke und kraft
aber ein riese! Xun, wenn du mit felsblöcken spielen kanst, so wirst
auch ein guter scliütze sein! '\^^eil du meinen drachen erschlagen hast,
so will ich dich und deinen vater an einen ort setzen, wo ilir Aveder
sonne noch mond zu sehen bekomt, wenn du vom haupte deines
vaters nicht einen goldenen apfel auf tausend schritte weit, herab-
schiesst." Und er legte dem vater einen goldenen apfel aufs haupt und
hiess nun den jungen zu schiessen. Auf tausend schritte entfernung
schoss Tschalo Pischta und der apfel fiel vom haupte des vaters. Da
sprach der könig also zum knaben: ..Du hast den apfel getroffen und
ich will euere strafe auch Imdern! Ihr solt die sonne und den mond
sehen können, aber ich will euch in einem netze für euer ganzes leben
gefangen halten I- Er rief seine diener herbei und Hess die beiden in
ein starkes stricknetz werfen, das am tore des königshauses befestigt
wurde. Tiele tage und nachte sassen schon die beiden im netze gefan-
gen, ohne von den leuten befreit zu werden, die sich vor dem zorn
und der grausamkeit ihres königs fürchteten. Da erinnerte sich eines
tages Tschalo Pischta des barthärchens, das er einst dem manschen
herausgerissen hatte. Schnell nahm er es hervor und spie es an. Da
liefen im nu viele tausend mause heran und frassen das ganze netz
auf, worauf sie ins haus des königs drangen und denselben samt liaut
und haaren verzehrten , worauf sie wider verschwanden i. Die leute
machten nun den Tschalo Pischta zu ihrem könig, der in glück und
Zufriedenheit bis an sein seliges ende lebte
Dies ungarische märchen gehört in den kreis derjenigen erzählun-
gen, in welchen von trefschüssen berichtet wird, die nicht allein durch
des schützen kunst, sondern mehr durch das magische vermögen seiner
Zauberflinte gelingen (s. Rochholz a. a. o. s. 44 fgg.). Der zug von der
1) Durch diesen zug gehört obiges märchen auch znr niärchenreihe vom
-Mäuseturm.'^ S. meinen aufsatz: ^Die mäuseturmsage in Siebenbürgen" (Germania
N. reihe XX s. 432 fgg.j wo ich dies märchen nicht angezogen habe.
ZUM TELLENSCHUSS 109
selbstjagenden flinte findet sich auch in der Kalewala (15, 371 nach Schief-
ners übei*setzung) , ^vo des finnischen AVainiimr»inens bogen von selbst
zu walde aufs weidwerk geht; nach dem altfranzösischen i'oman des
Huon von Bordeaux „bedient sich der jagende elbenkönig Oberon eines
pfeiles, an dem augenbhcklicli, wann es der eigner will, jegliches wild
steckt." (Vgl. auch die sage von <)rvaroddr; Weinhold, Altnord, leben
205; Rochholz a. a. o. s. 45.) Ein älnil icher zug findet sich auch in
einem unedierten rumänischen nülrchen meiner samlung vor, in wel-
chem drei Waisenkinder eine flinte besitzen, die ihnen das wild aus
dem walde holt. Am nächsten verwant ist das vorstehende ungarische
märchen mit den betreffenden finnisch -lappischen erzählungen (s. Roch-
holz a. a. 0. s. 88 fgg.), in denen das hauptmotiv ebenfals in die Wir-
kung des Zaubers verlegt wird; ebenso ein gemeinschaftlicher zug der
finnisch -lappischen erzählungen und des ungarischen märchens ist die
„Verwechslung vom objekt ins Subjekt", indem auch hier der söhn
den apfel vom haupte des vaters schiesst. Zu den steinwürfen
wäre noch zu vergleichen die TöUussage der Inselschweden (Rochholz
a. a. 0. s. 83 fgg.)-
Schliesslich will ich mir mit bezug auf das mitgeteilte ungarische
märchen eine bemerkung erlauben. Rochholz sagt (s. 92) in seinen
schäzbaren bemerkungen mit bezug auf die betreffenden finnisch -lap-
pischen erzählungen: „Einwirkungen durch die schwedisch -dänische
sage haben dabei unleugbar statgehabt." Ich erlaube mir dagegen zu
bemerken, dass grade die züge, welche den finnisch -lappischen erzäh-
lungen und dem ungarischen märchen gemeinsam sind, sich in den
schwedischen und dänischen relationen nicht vorfinden (schuss des Soh-
nes, Zauberflinte).
Der nächste und lezte schritt führt uns zu den blinden trefschützen.
Es lassen sich in diesem sagen- und erzählungskreise überhaupt drei
abteilungen aufstellen und zwar 1. trefschützen mit gewöhnlicher waffe,
2. trefschützen mit zauberwaffen, und 3. blinde trefschützen. Eine Ver-
einigung der beiden lezten abteilungen (zauberwafFe im besitze eines
blinden schützen) findet sich im märchen der Bukovinaer Annenier
vor, das ich aus der handschriftlichen samlung meines freundes, des
Mechitaristenpriesters dr. AVerthanesz Jakudjian hier in deutscher Über-
setzung mitteilen will.
Der blinde königssoliii.
Yor vielen tausend jähren lebte im osten ein mächtiger, reicher
könig, der sein ganzes leben hindurch von glück und erfolg in allen
110 VON WLISLOCKI
seinen taten begleitet "war. Da kam einmal ein weiser mann zu ihm
und bettelte um speise und trank. Da sprach der könig zu ihm: „Du
bist ein weiser mann, dessen ruf sicli in sieben reichen verbreitet liat,
und dennoch kaust du von dir nicht sagen, dass du glücklich bist!
Ich dagegen habe nicht den tausendsten teil deines Verstandes und bin
doch der glücklichste mann der erde!" Lächelnd versezte hierauf der
weise: ,,Erinnere dich, o könig, deiner worte, wenn du einmal im
Unglück bist!'' Und ohne eine gäbe anzunehmen, entfernte sich der
weise mann. — Die zeit vergieng und es drehte sich das rad des
Schicksals und der reiche, mächtige könig ward elend und unglücklicli.
Ein anderer könig brach in sein land ein, besiegte ihn und iiess ihn
in den kerker werfen; seinen einzigen söhn aber Hess er blenden und
jagte ihn aus dem lande. Da rief der unglückliche vater und könig:
„0 weiser mann, wie schmerzvoll erinnere ich mich meiner worte, die
ich einst zu dir gesprochen!" Da erschien wie aus der erde hervor-
gewachsen der weise mann und sprach zum könig: „Hast du mut
gehabt, dich einst für den glücklichsten mann der erde zu halten, so
habe auch mut jezt dein unglück zu ertragen." Hierauf verschwand
der weise. — Der blinde königssohn wanderte in begleitung eines hun-
des, der ihn führte, von dorf zu dorf, von Stadt zu stadt und bettelte
um müde gaben. Da kam er einmal in eine wüste, wo ihm der weise
mann erschien und also zu ihm sprach: „Du erti'ägst dein unglück
still und geduldig und hast dein gottvertrauen nicht verloren. Wahr-
lich, deines bauens und Vertrauens grund ist gott allein und darum
vrill ich dir helfen. Hier gebe ich dir einen lebendigen goldpfeil, der
dahin fliegt, wohin du ihn eben hinwünschst imd da alles tötet, so du
es haben willst. Morgen wird der könig ein festschiessen veranstalten,
an dem auch du teil nehmen solst; alles andere wird sich schon zum
besten wenden. Ich bin der heilige Joseph, der dich und deinen vater
beschützen und schirmen will vor unglück und leid! Darum gebe ich
dir hier auch eine salbe, mit der du deine äugen übermorgen einreiben
solst, damit du wider sehend werdest! Morgen solst du noch blind
am festschiessen teil nehmen!" Mit diesen worten gab der heilige Joseph
dem blinden königssohn den goldpfeil und die salbe und verschwand.
Gottveiii-auen und frohe Zuversicht im herzen machte sich der
königssohn auf den weg in die stadt seines feindes. Unerkant nahm
er zum gelächter der leute teil an dem festschiessen. Doch als sein
goldpfeil als erster durch einen goldenen ring, der als ziel auf einer
Stange aufgestelt war, flog — da lachten die leute nimmer. Dreiund-
dreissigmal schoss der blinde königssohn und dreiunddreissigmal flog
ZUM TELLENSCHUSS 111
sein pfeil durch den fi^oldenen rini^ und kehrte stets ungesehen zu ilnn
zurück. Da rief der heidnische künig seinen leuteu zu: „Bringt mir
den gefangenen könig hervor! Der blinde soll ihm vom haupte einige
äpfel herabschiessen ! Wenigstens liat er dabei eine grosse angst aus-
zustehen!" Und sie brachten aus dem kerker den gefangenen könig
hervor, stehen auf sein haupt einen apfel und hiessen den blinden
schiessen. Der königssohn schoss und der apfel fiel zur erde. Drei-
unddreissig äpfel schoss er nach einander vom liaupte seines vaters.
Da flog aber der lebendige goldpfeil auf den heidnischen könig und
dessen leute und tötete sie alle. Da befreiten die leute den könig, der
nun mit seinem wider sehend gewordenen söhne in steter gottergebung
lebte und bis an sein ende weise regierte
Dies die armenische erzählung, die gleich den meisten armenischen
Volksüberlieferungen einen legendenhaften anfing hat. Trotzdem lässt
es sich nicht verkennen, dass auch sie die hauptzüge der Teilsage
(schuss nach dem haupte eines geliebten wesens, stange, apfel) aufzu-
weisen hat. Durch den schuss des söhn es (also auch hier Verwechs-
lung vom Objekt ins Subjekt) und die gefangenschaft lehnt sie sich auch
an die mitgeteilte ungarische erzählung; den zug vom lebendigen gold-
pfeil finden wir auch in den tatarischen lieldensagen, wo Katai-Chan
einen goldpfeil besizt, der lebend ist, über sieben länder fliegt und da
alles tötet und schliesslich zum schützen zurückkehrte Abgesehen vom
eingang, der sich an die sage von Crösus anlehnt, lässt sieh bei die-
ser erzählung — trotz ihres christlich-legendenhaften anfluges — der
orientalische Ursprung nicht ableugnen. Diese armenische gestaltung
der sage vom apfelschusse scheint auch Th. Benfeys ansieht (in den
Göttinger anzeigen 1861, s. 677) zu bestätigen, derzufolge schwerlich
daran zu denken sei, dass die ursprüngliche sage der Orient vom occi-
dent empfangen habe, sondern wahrscheinlicher das umgekehrte anzu-
nehmen sei. Hiefür spricht auch mit schlagenden gründen das mär-
chen der transsilvanischen zeltzigeuner, das ich im jähre 1883 während
einer mehrmonatlichen Wanderung mit einer zigeunertruppe aufgezeich-
net habe.
Der Originaltext dieses unedierten märchens lautet also:
Trin godylarere ih:yM'AJ
Teki'dr dvnds trin p(^rälä, ke kdmena dndre Urne tlie jidl te
leskre hd^t the drdkel. Dures yon dndre Urne jidnend te nikai yon
1) Castren, Die Altai -Völker (1857) s. 215.
2) "Was die Orthographie anbelangt, so entsj^richt c dem deutchen tsch, p =
112 VON TTLISLOCKI
(ü'dkefHi hcict. Ahor jidncud yekvär pal bare pdni te aldnd yek vdsh
leske yek ruh heshdvelds ie yo/i penend, the odoy pdpdlc dven pdl yek
hersli. Te yon jidneiid upro pro leskro droDi.
0 legterneder trin pcrdJcnyre huter dvelds dudro hdro thdgdr,
käske frin leyshukdreder raklyiyd, dvnds, kc cdk triu pgrdhu kdme-
nd, ke may bdre the kerdiids'^. Atunci gindekis legterneder: 0 bersh
cdces mayd luuilyds te me sikdrdyom the gdrdvel; m're pgrdla
tdldn so sikdrend. Tdldii dmende drnd trin rdkhjiyd thdgdreskro!
Kdde ghidinelds o legterneder te jidnelds kiyd pdhi leskre p^rdlen
the drdkel. Te yon dvend biso te penend, so dndre Urne the sikdr-
dye?ids-. 0 Icgpgureder sikdrdyehds the ndsel te sdr hdrvdl ndse-
Ms: 0 duyto yek genddlos kerelcts, kdy sdkofeles yon dikhend te o
trito sikdrelds the gdrdvel te legdureder gdrdvelds sdr yek ciriklo the
urdl jdnelds. Akor triu prrdld penend hoy yon trin rdkhjiyen tlidgd-
reskro kdmend te jidnend kiyd thdgdreske te kiyd leske penend: „Bdro
rdyeyd! Amen kdmen tire rdklyiyen! Pen mende, so dinen the
keren?" Te o thdgdr peneläs: „Ldces! Ko vrre legpQureder rdklyd
romni lel, ddd sikeder the ndsel sdr yoy!" Akor penelds o legpgure-
der: ,,Me kdmdv the ndsel!" Te yov ndselds Ugpr^ureder rdklydhd
thdgdreskro dndre trin stdcie te dvelds hdmdrdb andre dopds. Akor
penelds o thdgdr: „Ldces I ni're legpgureder rdklyi hin tute; uvd cdk
dtunci hin Id tute, kdnd fre pQrdM m're dvre rdklyiyen Tierdye^,
dnddkode m're rdklyi yd kdmen cdk trin pgrdlen! Nosd, m're cluyte
rdklyi kdde gdrddyol, hoy iiiko Id dikhel! Ko kdmel Id tlie drdkel?"
Akor penelds o duyto trin pjr-rdlengre: ,,Me drdkdv Id!" Te dvrijid-
Ids te leskre genddlos dvrilelds. Akor dikhelds rdklyd thdgdreskro d7i-
dro per yekd bdre guruvndkri. Yov penelds thdgdi'eske te ddd pene-
lds: „Ldces! m're duyte rdklyi hin tute; uvd cdk dtunci hin Id tute,
kdnd fro legterneder pr;rdl m're legterneder rdklyd Tierdyds, dndakode
m'i'c rdklyi yd kdmen cdk trin pp'dlen! Kosd, upro pro shero m're
legterneder rdklydkri hin yek somndkuno bdl; tumdro legterneder pgrdl
the telegdrel les; te tdldlel dver bdl, akor turnen meren!" Akor o leg-
terneder leskre piishkd Idvelds te dndre triji stdcie sommdkuno bdl
shereskro legterneder rdklydkri telegdrelds. Atunci sdkonethdneste voyd
te voyipen dvnds te e trin godyidvere pjf;rdld dtunci jidend dndre bdre
hdr:t leskre shukdre romniyensd
ch, j = dsch, ii = JiJ, sh = seh, y =^ j (s. meine „Sprache der transsilvanischen
ageTiner" s. 3).
1) 3. pl. impf. conj. 2) 3. pl. plusq. conj.
3) 3. pl. perf. ind.
ZUM TELLENSCHUSS 113
In genauer venleutschung- luiitet dies inärchen der Siebenbürger
zeltzigeuner also:
Bio drei khmon brüdor. ^
Es waren einmal drei briider, die beschlossen in die weit zu
gehen und ihr glück zu suchen. Lang«^ zeit zogen sie in der weit
herum und fanden nirgends ilu- glück. Da kamen sie einmal an einen
grossen see und da pflanzte jeder von ihnen füi- sich einen bäum und
sie versprachen einander, dass sie sich nach einem jähre hi<'r wider
treffen wolten. Und nun zog jeder seines weges.
Der jüngste der drei brüder kam nach langer zeit zu einem
könige, der drei wunderschöne töchter hatte, die aber nur drei brüder
heiraten wolten, die etwas aussergewöhnliches leisten künten. Da dachte
bei sich der jüngste: das jähr ist bald um und ich habe schiessen
gelernt, meine brüder werden ja auch etwas gelernt haben! Vielleicht
können wir uns die drei königstöchter erwerben! So dachte der jüngste
und gieng an den see, um seine brüder zu treffen. Und sie kamen
denn auch und erzählten einander, was sie in der weit gelernt hätten.
Der älteste hatte laufen gelernt und konte laufen wie der wind; der
zweite hatte einen Spiegel machen gelernt, in dem man alles sehen
konte und der dritte, der hatte schiessen gelernt und konte so weit
schiessen, als ein vogel zu fliegen im stände war. Da beschlossen die
drei brüder um die drei königstöchter zu werben und giengen hin zum
könig und sprachen also zu ihm: „Grosser herr! wir wollen deine töch-
ter heiraten! Sag uns was wir tun sollen?" Und der könig sprach:
„Gut! Wer von euch meine älteste tochter zur frau haben will, der
muss schneller als sie laufen können!" Da versczte der älteste: „Ich
will laufen!" Und er lief mit der ältesten königstöchter drei moilen
weit und kam um die hälfte der zeit früher an. Da sprach der könig:
„Gut! du hast meine älteste tochter gewonnen, aber nur dann bekomst
du sie zur frau, wenn auch deine brüder meine beiden andern töchter
gewinnen, denn meine töchter wollen nur drei brüder zu männern
haben! Nun also, meine zweite tochter kann sich so verbergen, dass
sie niemand sieht! Wer will sie suchen?" Da sagte der zweite der
drei brüder: „Ich suche sie!" Und er gieng hinaus und nahm seinen
Spiegel hervor. Da sah er die königstöchter im bauche einer grossen
kuh. Er sagte es dem könige und dieser sprach: „Gut! du hast meine
1) Vgl. auch das märchen der zigeuner: .,Die vier bösen brüder" in meinem
aufsatz: „Märchen des Siddhi-Kür in Siebenbürgen" (in der Zeitschr. d. deutsch,
morgeuländischen geselschaft" bd. XLT s. 448 fgg.). Hier fehlt jedoch der treff-
schuss.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. RD. XXII. ö
114 VON* WLI«5L0CKI, 7.rM TF.LLF.XSCHÜSS
zweite tochter gewonnen, aber nur dann bekomst du sie zur frau, wenn
auch dein jüngster bnider meine jüngste tochter geweint, denn meine
tüchter wollen nur drei brüder zu niännern haben! Nun also, meine
tochter hat auf dem liaupte ein goldenes haar; euer jüngster bruder
soll es herabschiessen : trift er aber ein anderes haar, so müsst ihr alle
drei sterben." Da nalnn doi- jüngste seine flinte hervor und schoss auf
drei meilen weit das goldene haar vom haupte der jüngsten königs-
tochter. Nun war überall freude und jubel und die drei klugen brüder
lebten von nun an mit ihren schönen trauen in grossem glück —
Dies das märchen der transsilvanischen zeltzigeunei-, das in bezug
auf die künste der brüder einige ähnlichkeit mit der fünften erzähhuig
des sanscrit-romans Yetala-pantscha-Yintschati hat, wo ebenfals drei
Brahmanen durch ihre künste die tochter des ministers Haridasa erwer-
ben. Der bedeutendste zug dieses märchens aber ist: das verkrie-
chen in den bauch einer kuh und das goldene haar auf dem
haupte. Dieser zug enthalt zweifelsohne eine reminiscenz an den alt-
indischen sonnenraythus und ich erlaube mir hiebei nur folgendes
anzuführen: „Die begleiter der beiden indischen äthergottheiten Indra
und Rudra sind die Ribhus. deren name im indischen selbst als son-
nensti'ahlen übersezt ist und die zugleich trefliche bogenschützen sind.
Aus ihrer schaar ragen drei brüder durch ihre taten besonders hervor:
Ribhus. Yibhva und Yayas (Rochholz a. a. o. s. 140). Sie entsprechen
aber, wie Adalb. Kuhn in seiner zeitschr. (lY, 95 fg. 110 fg.) nachge-
Aviesen hat, genau jenen drei von der germanischen mythe gefeierten
brüdem: Yolundr, dem kunstschmied; Slagfifr, dem beflügelten pfeil,
und Egill, der scharfdurchdringenden pfeilspitze. Dem kunstschmied
Yolundr entspricht im zigeunerischen märchen der bruder mit dem Spie-
gel, dem Slagfijjr der schnellaufende bruder und dem Egill der jüngste,
der das goldene haar herabschiesst. lind somit liefert auch dies mär-
chen den beweis, dass der goldhort einer ursprünglichen mythe oft in
tausend blätter und blätchen verarbeitet und weit und breit hin ver-
sti'eut wird, und wir können daher unsere ansieht entschieden dahin
neigen, da.ss die sage vom Tellenschuss zum mindesten in ihren anfäng-
lichen keimen als gemeingut des arischen Stammes zu betrachten ist.
iMTHLBACH (siEBENTiLRGEN). nEIXTJTCH Y. WIJSLOCKJ.
11 rj
LITTEKATÜTJ.
Altdeutsche predigton. irorausgegobeii von Aiiloii Scliönhacli. Zweiter
l»aiid: texte. Graz. Verlagsbuchhandlung StA'ria. ISSK. XI und 328 s. (I ni.
Der zweite band der in dieser zeitschr. XIX, 480 fgg. besj)roc]ienen predigten
bringt zum ersten male volständig die aus < >br'ralta<li stammende predigtsamlung,
welche bereits K. Roth in den „Predigten des 12. und 13. Jahrhunderts'* zur ver-
gleichung seiner Regensburger bruchstücke stellenweise herangezogen, und über die
in neuester zeit A. Linsenmayer in seiner ,, Geschichte der predigt in Deutschland''
gehandelt hat. Die leser werden es dem herausgeber sicher dank wissen, dass er
mit diesem bände von seinem urspi-ünglichen plane abgewirhen ist, da.ss er, ehe er
an die Untersuchung über die entstehung und den Zusammenhang der iiltem ])redigt-
samlungen geht, sogar erst noch einen dritten band erscheinen lassen wird, in wel-
chem er die ehenfals noch vor Beii-hold fallenden predigten des priesters Konrad
mitzuteilen gedenkt.
Schünbach hat sich aber auch in anderer hoziehung von seinem ursprünglichen
plane abgewant. Ei" hat es nämlich für seine obei"ste ])tlicht erachtet, in den beige-
gebenen erklärungen genauer und ausführlicher als es bisher geschehen die unmittel-
baren f[uellen der vei'schiedencn predigten zu ei-mitteln und festzustellen. Dadurcli
scheint allerdings für einen grossen teil des textes die einem glossar sonst zufallende
aufgäbe der erklänmg dieses und jenes Wortes überäüssig geworden zu sein, voi"aus-
gesezt dass der leser des deutschen textes die mühe nicht scheut, die lateinische
fpielle überall zugleich mit zu studieren. Indessen lässt sich nicht in abrede stellen,
dass die lektüre durch das fortw.älirende suchen in den lateinischen quellenangaben
mindestens sehr aufgehalten wird. Auch finden sich nicht wenig stellen, in denen
der suchende durch das. was ihm die lateinischen auszüge bieten, nicht befriedigt
wird; und grade da ist es raeist für den leser von interesse zu wissen, welches die
auffassung des herausgebers gewesen sei. Aus diesen gründen wird man das erklä-
rende Wörterverzeichnis in dem vorliegenden bände ungern vermissen.
Was die behandlung des textes betiift, der trotz der von alter band schon
gebrachten koiTcktui'en noch eine menge Schreibfehler und ändemngen enthält und
seinen sprachformen nach wol kaum noch dem 13. Jahrhundert angehört, so ist hier
in gleicher weise wie in dem ersten bände bei den Leipziger predigten ^die Überlie-
ferung der handschrift möglichst getreu widergegeben und von ihr nur abgewichen,
so fern offenbare fehler vorlagen." Dabei sind die Überbleibsel zweier anderer noch
dem 12. Jahrhundert angehörender handschriften benuzt imd, um dem leser ihrever-
gleichung zu ermöglichen, in den Varianten wider abgedruckt worden: njünlich die
alten von K.Roth herausgegebenen Regensburger bnichstücke, über welche K. Lach-
mann seiner zeit ein so absprechendes m-teil fällen zu müssen glaubte (vgl. seine
anmerkung zum Iwein 4194) und das von Hoffmann in seine fundgiiil>en I, 68 — 70
eingereihte fragmcnt. Beide waren für die hier veröffentlichte samlung schon darum
von hohem werte, weil aus ihnen unwiderleglich hervorgeht, dass dieselbe noch im
12. Jahrhundert entstanden ist.
AVie bei der besprechung des ersten bandes, so werde ich nun auch hier auf
einige stellen des textes näher eingehen, in denen ich von der auffassung des her-
ausgebers abweichen zu müssen glaube.
5, 4 heisst es im text nach der hs. : dii( liilig xnoi'ersicht diu den menschpn
Jn'ntx himel füert mide minnaeret irdischen dinch — — hier gibt minmteret =
8*
116 BECK
minuert keinen sinn; \vahr8cheinlich i.st nn))iacrvt oder hn loutHirret (= ihm gleich-
gültig, verächtlich ei-scheinen lässt, verleidet) zu Icseu, vgl, v. d. Hagens Gerinauia 8,
295, 148 du hetcstin (iis) da\ rahchc leben f/elridrf und gesnaeret, so nacr ex
in geunmaerct.
8, 10 ist Überliefelt diu bcx-cifJienf i.uaicr laeuf; sicher hat der Schreiber
nach :\irni'er ein Avort übersehen; Schönbach ergänzt hande; eher scheint mir lei[e]
ausgefallen zu sein, wegen der älinlichkeit der darauf folgenden silbe.
19, 8 der s7)ien JiiUgen sun Jiin äv erd hat gesant; xe ist zusatz des heraus-
gebei-s; statt hin xc erd, was ich in mhd. Schriften des 12. — 13. Jahrhunderts sonst
niolit gefunden habe, war wol besser lier in erd (h^ in erd) zu setzen; so heisst es
54, 40 dax er ron hiniel her in erd chom: Fundgr. I. 90, 9 an disem tage sant er
shien ei)ihorn sun her in erde; St. Trudberter H. lied 80, 11 got 9ras vone hiniile
ehotnente her in erde; Deutsche gedd. ed. Diemer 349, 25 der des tages clioni her
nerde: Anegenge 8. 72 von den drin gesant wart hern erde ein vart; K. v. Hei-
mesfuit in M. Himmelfahii: 848 do du durch un^ in erde haeme. Ausser diesen
beispielen finde ich nur xuo der erde im Iwein 3942; xer erden bei AValther 8, 33;
in H. V. Yeldekes Eneide 7722 ist xu erden körnen nach den Varianten = ans land
kommen. Nur bei Williram ed. Seem. 19, 3: hcra xeerdon.
19. 24 fgg. heisst es: Unser herre sant Stephan der ist von reht geeret
da xe himel ■ — — , uan der ander mcins trehtins ritter, die uider des tiufels
schar rächten und taegelich rechtoit, an der heiligen schar tvax er vaner, tvan
der nach tinsers herxen marter der erst martraer wa%; hier wird vor inins trech-
tins ritter das woit schar vom Schreiber ausgelassen sein; in der vorläge hiess es
wahrscheinlich: uand er an der schar mtns trehtins ritter; auch gegen ende ist
wol wand er für uan der zu schreiben.
28. 10 wie aber dax> chomen möcht dax^ si des chindes missen mochten dax>
si ?nit rlixe xugen — ; der herausgeber fügt noch niht e vor missen hinzu, was
durch den Zusammenhang durchaus nicht notwendig gefordert wird; die deutschen
Worte sind ohne diesen zusatz volkommen entsprechend der lateinischen quelle (s. 203)
forte moret aliquem, quomodo Jesus tanta diligentia a 2>(^'>'c^ntibns mdritus Ulis
nescientihus in Jerusalon j)ossit remanere.
30, 18 dax si chunden an dein stirn gesehen ist überliefert, Schönbach schreibt
dafür gestirn sehen; die Überlieferung lässt sich möglicher weise halten, wenn man
ins äuge fasst Sumerl. 2, 39 astrum, stirne; Graffs Sprachsch. VI , 723 sibunstirni;
Suchenwirt IT. 327 sibenstirn (:schrirn); vgl. auch Haupt zu Erec 19G9.
42, 11 nu selten wir ivie getan bexx,erimge wir Christen da von nemen ii'tul
sehen, dax wir christenlichen namen an christenliclieu werch iht haben; in der
handschrift steht aber wir ettelichen namen; darnach könte man wol mit näherem
anschluss an die Überlieferung eitel ichen namen dafür vermuten =z leeren, blossen
namen; vgl. s. 77, 4 und 20, wo itteler neben eiteler überliefert ist.
37, 8 Paulus der was ein aechter der Christenheit e denne er von der juden-
scheft becJiert tmirde; so lautet der text nach der Überlieferung; man begreift nicht,
waram der Schreiber sich hier geirt haben soll, und warum der herausgeber heiden-
scheft für judenscheft setzen zu müssen geglaubt hat; etwas anderes ist es doch
wenn es 41, 25 heisst: diser hayden bexeichent alle die die von der haidenscheft
bechert sint.
45, 37 do diu sat u'oehsen begting, do chos man dax, unchraut usw.; so lau-
tet der text nach der handschrift; dt-i- herausgebci- hat bcgum/ in bcgttnd/' geändert.
ÜBER SCHÖNBACH, ALTD. rUKDIGTEN. II 117
es also für ciiicu Schreibfehler angeselien. Eiu sol(;hcr braucht aber hier nicht vor-
zuliegen; man kann das wort mit gutem rechte auch für eine dialektische form des
Schreibers oder seiner vorläge ansehen; gerade b&junfj findet sich noch an einigen
andern stellen, nicht blos bei nul. Schriftstellern, sondern auch bei oberdeutschen,
und zwar in ziemlich früher zeit, so zweimal in drn Augsburger bruchstücken von
Wernhers Marienlcbea in der Germania 7, 323, 320 diu rorhtr Imjumjc si ane gen
und 322 do sie beffitmjc trartcn; dazu die beispiele aus Otacker bei Weinhold Bair.
gramm. §171; vgl. dessen Alem. gramm. § 180.
51, 10 sicer der ist der nach richtnum wirret y des liert\ Itat inaniije stund
erdenchet tag und naht wie er iht gewinne mit reht; auffiillig ist hier zuvörderst
manige stund neben tag und naht, noch auffälliger aber das participium erdcnehet
statt crddht^ ja für das 12. und 13. Jahrhundert gradezu undenkbar. Vergleicht man
aber die in den lateinischen aumerkungen vom herausgeber angezogene stelle aus
Haymo (s. 219): diuitiae Spinae sunt, quia sieut spinne suis punctionibus cor-
pus laniant et cruentant und ferner quanto magis acquisitae fuerint, tanto nuigis
in acquisitionem animuni possessoris accemlunt: dann ist das rechte unschwer
gefunden. Es muss offenbar heissen: des herxe hat manige stnng[e], erdenchet tag
und naht usw. Fast ebenso drückt sich der prediger auf s. 140, 8 und 11 aus: die
dorn und die hagendorn die bexaicJtent die stunge und diu angele; dein vleisch,
dein Icip, der gebirt dir stunge und angel der süntcn. Über die Verwechslung von
stungen mit stunden seitens des Schreibers vgl. Haupts aninerkung zu Neidhart (32, 22;
ebenso das Gneistli in Lassbergs LS. III, 48, 855 ob er mit stunt des willen kunt,
diu sei wirt ilf den tot verwunt, wo nach meinem dafürhalten stu?ic oder stung
gelesen werden muss. Das wort findet sich auch noch mehrere male im J. Titurel,
so 3777, 4 daX' kund vil hohe vreude von int swenden und starke jänier stunge
leider xuo dem herzen nähen senden; 5091, 2 da müexen jdmers stunge (: sprunge)
triben dar; 5202, 3 in ungeheilter uunden smerxen stunge (: ordenwige); 5360, 4
bix daz in jdmer stungen (=Jdniers stunge in Pfeiffers Üb. 117, 41) begreif; 4274,1
hie wellent niht beliben die jdmer gebenden stungen (: den jungen). Die zulezt
angeführte stelle ist zugleich die einzige, welche ein schwaches femininum stunge
gewährt, wie es bei Lexer 11, 1269 angesezt ist; das beispiel aus J. Tit. 1727 ist
dort aus versehen zum belege des schwachen pluralis herangezogen, es enthält viel-
mehr den substantivierten Infinitiv : so tvil ich dem reinen siiexen jungen
tiiht harte wixen, dax der rnimie stungen im kunimer gap. Die sonst auftretenden
plurale stunge könten wol auf einen singular stunc, m. zurückgehen.
52, 14 dax^ er uns in disem leib bis staetig xe sineni dienst; gemeint ist
bistaetige oder best aet ige.
54, 24 er ruoft iemer und mer, lies ie mer und mer.
51, 37 ich han eu die götlichen tougen geoffent, ich han eii den sin ufge-
tan, dax, ir die hiligen schrift terstet, dax, der menig und aiuler nieman verlax-
xen ist; hiervon kann man der lezten zeile schwerlich einen passenden sinn abgewin-
nen; was gesagt werden solte, errät man aber aus dem zusammenhange; vermutlich
hiess es in der vorläge: dax, der menig noch ander ienmn verldxen ist. Verluxen
hier = anheimgeben, gestatten wie im Roland 260, 20; 269, 18; Hartm. v. Aue 1.
büchl. 47.
55, 16 fg. der gelaub der mit rechten icerchen gexirt ist, diu erliichtent den
mensche?!, diu behaltent in xe dem eivigen leib; die Verwirrung, welche hier der
Schreiber geschaffen hat, rührt, wie man aus dem darunter abgedruckten Hoffmann-
118 BECK
scheu biU'.'listück ersieht, daher, da.ss er das in seiner voilage stehende <lin (jrloHbc
in der yelaub änderte, gleichwol aher in seiner gedankenlosigkeit die darauf bezüg-
lichen relativa diu — diu im folgenden stehen Hess, sie vielmehr auf wcrchc bezog
und demgemäss crlüchtcnt — hchaltcnt schrieb statt crlüldet — behaltet. Auf glei-
cher gedankenlosigkeit beruhen die Verwirrungen, welche an andern stellen dem leser
das vei"stiindnis des textes erschweren. So s. 50, 2 — 4: ir ist ril die den hiligen
f/clauben enpfaugcn Itabeiit, die sint geladet; die si arcr bchaltcnt mit den iver-
c/icn, der ist leider ril uenieh: auch hier hatte der Schreiber in seiner vorläge
die — geJoube, wie das aus Unachtsamkeit von ihm stehen gelassene si (vor aver)
statt //* beweist. Dei^selbe fall ist 152, 30 dax, ist diu heidcnschaft die den heili-
gen gelaubeu euphangen habent und si mit guten uerehen erfullent; auch hier hat
dieselbe haud si stehen gelassen ohne zu bedenken, dass sie kurz vorher den gelau-
beu für die geloube geschrieben hatte. Endlich 137, 20 lautet nach der handsehrift:
dennoch was ir gclaube nicht so durneiechtig also si seit wart, an welcher stelle
der herausgeber das ihm auffiillige 5/ in er geändert hat, in der Voraussetzung,
dass dem Schreiber das veraltete diu geloube nicht mehr geläufig war. Diese beob-
achtung verhilft schliesslich noch zur A-erbesserung emer andern stelle. Ich meine
s. 63, 37 fg. da (in der erzählung von der heilung der besessenen Matth. 15, 21 fg.)
\aigt uns unser traechtin. da\ ivir unser freunt und ander guter laeut geniexxen,
dax wir selb des niht wirdich sein, das er uns erhör, dannc dax wir der rehten
geniexxen. Offenbar stand in dem vom Schreiber benuzten exemplar noch geloube
oder gelouben nach der rehten; ohne ein solches wort hätte der text keinen rechten
sinn. Auch leitet darauf das gleich folgende: nu schule icir die genad unser s herren
an rifffen, dax. er uns rechten gelauben — — ruch ze geben. Im 13. jahrhundeii;
war, wie die beispiele in den mhd. Wörterbüchern zeigen, diu geloube bereits veral-
tet und nicht mehi* in gebrauch; vgl. noch Diemer Deutsch, gedd. 12, 20 und die
anm. dazu; Trudberter H. lied 18, 11; 27. 26; Diut. I. 282»»; HI, 494; am längsten
hat es sich wol erhalten in der foiinel xe gclaube, vgl. Jänicke zu Biterolf 1614.
65, 24 swenn sich der von den genaden und von der barmung des alni.
gotes enchert und dax^ bedencht, dax er alles gutes entsetxet ist; zu enchert ist
unten in den vaiianten vermerkt: .^enchert aus enchent gebessert.'^ Solte der cor-
rektor sich nicht vei-schen, vielmehr crchent gemeint haben? Denn darauf führt die
ijuelle, welche hier der prediger übersezte, Pseudo-Beda, den der herausgeber s. 229
citiert: qui cum se instinctu et misericordia Bei cognoscit omni bono destitutwn.
Überdies ist encheren eine rein mitteldeutsche form, die mau dem Schreiber der
handsehrift nicht zumuten darf; für das im !Mhd. wörterb. I, 798^', 14 dem Wigalois
beigelegte enkarte (4386 ed. Beneke) hat schon Pfeiffer in seiner amnerkung zu 115, 2
die richtige lesart engarte gesezt.
73, 1 dar xuo erweiter im ein gevelliges wixe, da unser veint, dax, vlaisch,
und die fünf sinne dar an gechrutxet uurden; hier konte das sinstörende da
entsprechend dem Regensbui'ger biTichstück in dax geändert werden, wie es der
Zusammenhang verlangt.
80, 2 iedoch wolt er dax wir die gehugede der selben liercn niarteraer tae-
gelich emtxigen; das offenbar von dem gedankenlosen Schreiber herrührende mar-
teraer muste hier sowie in z. 4 in nuirter oder in martgr (so in dem Kcgensburger
bruchstückj gebessert werden; vgl. 151, 20.
81, 12 do aber erfüll wart diu xit dax, von got gearnet wax xe der urlo-
sung des menschen. Für gearnet hat Schönbach getermet in den text gesezt. Aber
ÜBER SCHÖNBACH, ALTD. PKLDKiTKN. II 119
es ist doch nuch IVaglidi. nb iiirlit (jcanirt al> dialektischü form l'üi' t/aßruet, yconit
= fjcordcnt zu iichmeu ist, wie sie iu ganz gleichem sinne auf s. 173, 21 wider
eJscheint: der sdigoi sei die da ycornt sinf xe dem civifjen leben, wo der heraus-
gebcr wie mir scheint ohne not yeordent hat drucken hissen. Allerdings licisst es
81, 18 die xiio dem eiciyen leibe (jeordcnt niid: dorli vgl. die beispich) von ijeornt
bei Lexer II, IGO. Überdies wird es zu aufang statt diu xit heissen müssen da^i xit.
83, 13 merch irir den nif und bccher irir uns, au ain icir saelich ; ccnin-
ruclten wirx, so sein wir unsaelich. Übcrliefei-t ist aber rerunruc/iclen statt rer-
unruclien: und das brauchte nach meinem dafürhalten nicht aus dem texte entfernt
zu worden. Auch auf s. 126, 37 hat die handschrift: so sc/tuln wir unser sunt
nicht cerunrucheln, wo der herausgeber ebenfals verunruchen gesezt hat. Man vgl.
Crraff Interlin. 5, s. 463, z. 5 von unten: dax cit wir verruochelen (ncyliyitnus) riu-
wines (poenitemli); aus den Glossae Herrodianae ('?) citieiie Graft" Sprachsch.il, 381
virruochelon wir die; ferner Margaretha Ebner ed. Strauch 83, 2 ich kom aines
tages in ijro.KX,es lait niines täglichen unruochels = unruochelennes ; vgl. Zarnckes
Literar. centralbl. 1882, sp. 184.
103,8 so er {= unser 7miot) wider chcren beginnet eontüertlichcn dingen, enhab
tcir nicht denn da.\ wir für in legen der geistlichen füre; mir scheint hier denn
= danne an einen falschen platz gerückt, es geholt vielmehr vor niht; andererseits
fragt sichs, ob der herausgeber das richtige getroffen habe, wenn er fuore hier ein-
sezt für das in der handschrift überlieferte; da steht brunnc, und über b ist i^ gesezt.
Frunne aber könte die dem Schreiber nmndrechtere , dialektische form für fruonde.
ahd. fruonda, mhd. pfrüende sein. Zur Übersetzung des in der lat. (quelle s. 258
vorkommenden coelestis alimoiiia wäre das wort wol ebenso geeignet als fuore. Aus
md. gegenden stammen die bei Diefenb. s. v. prebenda 450^ verzeichneten formen
pron, prune, prin; Lexer II, 264 bringt aus einem weistum der Wetterau pfrun;
in dem Urkimdenb. von Arnstadt ed. Bui'khardt s. 415 trift man phrunc und pffrune
dafür (a. 1493); sonst ist der Übergang von nd in nn auch, auf oberdeutschem Sprach-
gebiete zu finden bei AVeinhold Bair. gr. s. 177 und Alem. gr. s. 147, wo aus Seb.
Brants Narrensch. 30 , 1. 22 citiert wird der reim pfrün : tibi.
104 , 20 also da^^ brot an der Wirtschaft übertriff et alle amler spise, also
übertriffet diu hilig niinne alle ander tugent; die werte alle ander sjJtse sind vom
herausgeber ergänzt, um sinn in den satz zu bringen. Man kann ihrer aber entbeh-
ren, wenn man ander wirtschaff schreibt für an der w.; hier wie öfter bedeutet
Wirtschaft das was bei der be^öi'tung dai'geboten wird, das gericht, vgl. 121, 20 ir
deheiner miner Wirtschaft enbixet = gustabit coenatn mcam; Erec 8361; 8646;
Parz. 1947; v. d. Hagens Germania 8, 301, 289.
119, 23 dax si deheinen wix, möhten dar cho//te)i; die handschrift hat hier
aber getvix, für tvix; ich kann das nicht für einen Schreibfehler halten in anbetracht
der stellen, die M. Haupt zum Erec 2169 über gewis gesammelt hat; füge hinzu
Wolfr. AViUeh. 123, 28 K.; Ges. Abenteuer HI, 369, 480; AViener Stadtrechtsb. ed.
Schuster art. 93 munich — geiceis; art. 113 mortes geweis; Schmeller- Frommann
n, 1024.
12, 30 die hiligen patriarchen die miner lacut pflagen; für mitier laeut
erwartet man nach dem zusammenhange mines herren (oder ?nines trehtins) laut
wie z. 39 und s. 13, 3.
119, 33 da er sach welich genad er verworcJit het, uelhiu ivitx^ (d. i. ivlxe,
supplicia) er gearweit het; gearweit im sinne von erarbeitet, erworben, verschuldet
120 BEt'H. ÜBEK SCHÖNBACll. ALTD. rKEUlGTEN. 11
ist mir im mhd. nicht vorgolcommon: Mahrschcinlich liatte die vorläge (jcarnct oder
(jcarnot.
121, 4 da Jiah nir an trie itfisrr hrrrr sinen juugcrii ein gcliclniilsse sagt
usw.; liier wird der Schreiber gelesen uach hah nir au aiisgehissen haben, \vie es
schon in der vorhergehenden zeile steht; vgl, 124, U.
126, 13 die naelnrefiten die er pifef sicJf fraeuoi ist ohne not wie mir scheint
in pitet da\ si sieh fraeneit verändei't. Bifen mit dem infmitiv nach Grimm Gr. IV,
09 und 118; Diemei-s Wörterb. zu Genesis und Exodus s. 03.
131. 16 do die ungelauhigen juden sie/t selben des gofes rieh verteilten; der
herausgeber hat hier riehes drucken lassen für rieh; an einer andern stelle, s. 139,
39. hat er die Überlieferung unangetastet gelassen: die sint des gotes ricke vil
ge/ris: vgl. dagegen über den aV>fall des genetivischen -s die beispiele bei Weinhold
JUhd. gramm.-, §448 und 454; Eocthes anmerkungen zu Reinmar v. Zw. 118, 8;
187, 6; 225, 4;\^31. 2.
135, 22 i\ nas groxe menig mit iinserm hcrren = „magna turba''; der
herausgeber hat noch ein vor groxe gesezt. Ich glaube, dass dieses überflüssig w'ar
nach dem sonstigen Sprachgebrauch zu urteilen, vgl. Diemer, Genes, u. Exod. 160, 4;
Nib. 1804, 1; öfter findet sich so gröx volc, grox iverlt und ähnliche ausdrücke, in
denen ein gespart ist. Dagegen meine ich war ein kaum zu entbehren s. 122, 15:
er het ein trip genomen^ wo die handschrift ein ausgelassen hat.
145. 7 unser herre in dax. teniplutn gie tuul die unreincheit dar xiltet; ich
vei'stehe hier xiiotuon nicht; es muss hier wol ilxtet heissen.
145, 9 die tauben niul tiseh mit dem schätz die die valschar imie heten, die
stiexer unth; gemeint ist Matth. 21, 12 fg. et metisas nm?udariortmt et cathedras
vendentiwn colun/bas evertit, worauf in den anmerkungen hätte verwiesen werden
sollen. Der vorhergehende satz unseres textes schliesst nun aber mit den Worten:
und slug da mit aus sinem haus alle die die da chauften nnd verchauften; man
hat also auch, die worte die tauben zu dem vorhergehenden satze zu ziehen, den
punkt davor zu tilgen; es kann nicht heissen die tauben stiex, er wnbe.
147, 17 ern fünd sines datz im nicht, lies des sines wie z. 19, 26 u. 34.
151, 16 dax si gelaubich icurden und gotes dieten wurden; für gotes dieten
steht in der handschrift zu lesen got dieten; das kann auch aus got dienende oder
diente verderbt sein.
156, 3 ist überliefert: so er xe dem jungisten tag urteil chumct; im text ist
tag getilgt; es heisst aber z. b. in den Fundgruben I, 80, 15 so si an dem junge-
sten tage chomen uns xerteilen und 111, 10 so er an dem jungisten tage chumet
uns xerteilen: eben darnach liesse sich auch hier verbessern oder vielleicht bloss
urteilen (infinitiv) für urteil schreiben.
162, 39 dax er seins Hutes in sin genad geiciset het; der genetiv hier nötigt
geiciset hat mit risitavit zu übersetzen; dann muss es aber heissen in siner gefidde.
167, 15 nieman ist der von shier chraft und von sinen geiverften antlox,
siner sünde ericerben müg; die handschrift bietet jedoch von sinen gevaerchten, „ac
ist radiert"; der Überlieferung entsprechender ist daher wohl geicurchten; über die-
ses dem 12. Jahrhundert durchaus nicht ungeläufige wort = ojms , factum, meritum
vgl. Graff I, 975; Lexer III, 998 — 99.
172, 15 und minnten den almaehtigen got und Hexen die unmaeriseken
girischeit; das wort unnmerisch ist so viel ich weiss dem 12. bis 14. Jahrhundert
unbekant; ich vermute, dass hier ein Verderbnis vorliegt, und lese deshalb: die
ALTHOF, ÜBKR TRAUBE, KAROL. ÜILHTUxNGEN 121
uiwiaercn (oder mireinen) i<chatx<firisihcit oder Vjesser schätz f/in'c/ict't = j)/iilar(/i/-
ri'ae malitni wie es in der lateinischen f|uello s. 309 hcisst; vgl. schaxijir und schax-
(jiric bei Lexer IL (370; Sehönbach Predd. 1, 121, 20; Grait'IV, 229 scaxgirida und
scaxyiridi.
ZEITZ. NÜVEM15KR 1888. FKDOR BECH.
Karolingischo dichtungen untersucht von Linhviir Traube. Berlin. AV'eid-
jnann. 1888. gr. 8. VIII und 162 s. 5 m.
Die vorliegende arbeit bildet das 1. hcft der „Schriften zur germanischen plii-
lülogie", herausgegeben von Max Roediger, welche in zwanglosen heften erscheinen
sollen und Untersuchungen aus dem gesamtgebiete der germanischen philologie, ein-
schliesslich also der englischen und nordischen, auch solche über neuere litteratur,
ferner texte und zusammenfassende darstellungcn enthalten werden.
Es könte auf den ersten blick erscheinen, als ob kritische Untersuchungen über
lateinische dichtuugi^n ausserhalb des kreises der vom herausgeber gejdanten Veröf-
fentlichungen lägen, allein die poetische litteratur der Karolingerzeit ist znm grösten
teile erwachsen auf dem boden des fränkischen reiches, gepflegt und genährt von
dem grossen Germanenfürsten, der als .,Europas erhabener leuchtturm'- von den Sän-
gern seiner zeit gepriesen wird, nud sie zählt unter ihren Vertretern zahlreiche dichter
germanischer abstammung; daher verdienen die karolingischen dichtungen trotz ihres
fremden gewandes in der geschichte der deutscheu litteratur berücksichtigt zu wer-
den. Diese poetischen erzeugnisse, welche fi-üher nur in mangelhaften einzelausgaben
abgedruckt waren, sind durch E. Dümmlcrs mustergiltige ausgäbe, fortgesezt von
L. Traube, der Avissenschaft erst recht zugänglich geworden. Doch bieten diese
«albentes campi'' der weiteren foi'schung noch ein grosses gebiet, und wir begrüsscn
daher die arbeit Traubcs mit besonderer freude, zumal der Verfasser sich durch eine
gründliche litteraturkentnis , grosse Sorgfalt der forschung und scharfsinnige beweis-
fühining auszeichnet.
Es sei uns im folgenden gestattet, ohne hier auf einzelheiten einzugehen, die
wichtigsten ergebnisse der Untersuchungen in kürze darzulegen.
Nachdem der Verfasser in einem verwerte das Verhältnis der philologie zur
geschichtswissenschaft beiilhrt hat, beschäftigt er sich im ersten teile seines Werkes
mit dem Angelsachsen Aedelwulf, einem weniger mit darstellendem talent als mit
poetischem gefühle begabten dichter, von dem wir ein gedieht über die äbte eines
gewissen angelsächsischen klosters besitzen, zulezt herausgegeben von E. Dümmler
im ersten bände der Poetae CaroHni (P. C.) s. 582 fgg.
Über den namen und die genauere läge des besungenen, unter könig Osred
(705 — 716) von dem fürsten Eanmund gestifteten klosters ist uns nichts bekant,
doch beweist Ti'aube an der band des gedichtes. dass es in der nähe des bemhmteu
Lindisfarne auf einer insel gelegen haben müsse. Nachdem Aedelwulf in seiner dich-
tung, die er einem bischof Ecgberht widmete, die geschichte des klosters bis zum
tode des 6. abtes Wulfsig besungen hat. geht er zur erzählung seiner eigenen crleb-
nisse über, ohne des zur zeit der abfassung seines gedichtes regierenden abtes in
irgend einer weise lobend zu gedenken, aus dem einfachen gninde, weil Aedelwulf,
der unter Wulfsig in das kloster einti-at und nur in einer einzigen handschrift des 13.
Jahrhunderts als Lindisfarnensis inonachus bezeichnet wird, — selbst dieser abt war,
aber nicht der 7., sondern der 8. in der reihe der äbte. Sein Vorgänger muss eben
jener bischof Ecgberht gewesen sein, für den eine dichterische verherlichung seines
122
ALTHOF
Stiftes, an «las ihn vorwantschaftliolie und livundscliaftliclio bände knupltcn, eine sehr
^vilkommeDe gäbe sein mustc. Die nahe bezieliuug, in der Ecgberht zu dem kloster
Aedelwiüfs stand, wird auch durch die richtig gedeutete übersclirift imd den eingang
von kap. I bezeugt. Dass dieser Ecgberht mit dem Hschof Ecgbcrlit von Lindisiarne
identisch ist. der von 803 — 821 regierte, ist wol unzweifelhaft, und wahrscheinlich
ist unser gedieht bald nach dem 11. juni 803, dem tage der weihe Ecgberhts, von
dem neuen abte Aedelwulf als ein abschiedsgruss an den scheidenden freund und
voi-gänger gedichtet. Dies würde auch zur genüge erklären, warimi der dichter uns
weder den uameu des klosters nent noch dessen äussere Verhältnisse schildert, die
ja dem emidanger der schrift bekant waren.
Die annähme, dass Aedelwulf ausser dieser dichtuug früher in einem gedichte
seineu lehrer, den presbyter und Icctor llyglac und andere fromme Angelsachsen
besungen habe, wie man bisher annahm (vgl. P. C. I, 582), weist Traube als ein
misvei-ständnis nach, denn, wie er s. 13 — 18 zeigt, bezieht sich die angäbe des
dichtei-s kap. XVI , v. 3 fgg. :
„de quo iani dudum perstrinxi pauca relatu,
Anglorum de gente pios dum carmine quosdam
jam cecini ....
nur auf eine vorhergehende stelle des nämlichen gedichtes kap. XV, 27 fgg.
Wie alle seine Zeitgenossen benuzte auch Aedelwulf tlcissig die werke anderer
dichter. So führt Traube besonders stellen an, welche aus Aldhelm henibcrgenom-
men sind (s. 19 — 21); ebenso ist ßedas gedieht auf Cudberht und Cyprians carmen
de heptateucho benuzt. Alcuins umfangreichste dichtung „de sanctis Euboricensis
ecclesiae- aber, welche dem gedichte Aedel wulfs zeitlich und inhaltlich am nächsten
stand, ist lezterem mehr vorbild bei der komposition gewesen als im einzelnen von
ihm nachgeahmt worden.
Die drei handschriften des gedichtes, die Londoner (L), die Oxforder (0) und
die jüngste Cambridger (C), haben einzelne versehen und zahlreiche falsche lesarten
mit einander gemein, für welche Traube s. 27 — 30 Verbesserungen in verschlag bringt.
Alle drei gehen schliesslich auf eine in angelsächsischer schrift geschriebene, lücken-
hafte, nicht sehr getreue abschiift x zurück, und zwar muss diese L unmittelbar
vorgelegen haben und getreu copieii; sein, wähi'end Sonderlesarten in 0 und C deren
abstammung von einer abschritt von x dartun. Auf grund der handschriftenverglei-
chung gibt Traube dann s. 32 — 36 zahlreiche, meist annehmbare berichtigungen des
textes und schliesslich einige verbesserte Interpunktionen.
Im anhange zu Aedelwulf s. 38 — 45 findet man die nachrichten über den ge-
nanten bischof Ecgberht von Lindisfarne und die zeit der ersten Zerstörung des klo-
sters zusammengestelt, sowie den nachweis, dass der oben erwähnte lector (vorsänger)
llyglac nicht ein schriftsteiler war, zu dem man ihn hat stempeln wollen. In einem
dritten kapitel zeigt Traube, dass Aldhelm kap. VlII und IX niciit etwa, wie Ebert
in seiner litteraturgeschichte behauptet, ein ganzes bilden und sich auf die einweihung
einer von der angelsächsischen königstochter Bugge erbauten kirche und die in der-
selben befindlichen altäre beziehen, sondern aus vier verschiedenen gedichtcn beste-
hen, IX 1. MII, IX 2 — 13 und IX 14, die noch dazu nicht einmal für dieselbe
kii'che bestimt gewesen sind.
Der zweite teil der Untersuchungen behandelt die Interpolation und recension
in Alchuines (so schrieb er sich selbst) imd Angilberts gedichten. Da die beiden
handschiilten der , versus de sanctis Euboricensis ecclesiae'' augenscheinlich verloren
ÜBER TRAUBE, KAROL. DICHirNGEX 123
sind, haben wir uii> iiKiglichst an die cditio prinn'ps vom jalivo IGDl zu halten und
domgemäss in einigen fällen (s. 47) statt der änderungen Dümmlers die lesarten
Th. Galcs widerheiz ustellen. In vorsehicdenen anderen gedichten Alkuins haben die
metrischen und grammatischen Verstösse des Verfassers häufig anlass zu absichtlichen
änderungen gegeben, die wol kaum auf eine spätere redaktion des dichters zurück-
zuführen sein dürften. Besonders stark interpoliert ist die Alen«;oner handschrift der
vita AVillibrordi.
Eine eigentümliche lalschung aber hat sich der cod. regln. 2078 s. IX/X zu
schulden kommen lassen: er hat Angilbert, dem karolingischen Homer, einen beträcht-
lichen teil seines geistigen gutes gestohlen, welchen Traubes Untersuchung seinem
rechtmässigen eigentümer wider zurückgegeben hat. Die genante samlung karolin-
gischer dichtuugen enthält u. a. 32 nummern, welche P.C.l, 413 Igg. als ßernowini
episcopi carmina abgedruckt sind. Von diesen bilden die nummern VI — XXVI
samt dem von Dümmler unter Angilbert V, i abgedruckten , von Traubi.' als Bernowin
VI a bezeichneten gedichto eine besondere gruppe , bestehend aus titeln , orationen und
einem epitaph, welche teils als akro-, meso- und telosticha den namen des dichters
Angilbert bewahrt haben, teils durch fortlassung der eigennamen oder ersatz dersel-
ben durch ein „ilt." zu blossen formein geworden sind oder endlich an stelle des
ui'sprünglichen verfassernamens den eines Bernowinus haben. Diesen Bernowin, der
von Angilbert nirgends erwähnt wird, hielt Dümmler für einen uns nicht näher
bekanten freund des dichters, der freilich ein seltener freund gewesen wäre, da er
nicht müde wui'de. in kunstvoll geformten poetischen Spielereien den beistand des
himmels für seinen lieben Angilbert zu ei-fleheu statt für sein eigenes heil zu beten.
Jene gedichto, deren wertvolstes das nach dem muster Alkuins (CXXIIl) gedichtete
epitaph ist, sind aber, wie Traube unzweifelhaft klar stelt, dichtungen Angilbe rts,
dessen eigener name sowol wie der des Schutzpatrons seines klosters Centula, des
heiligen Eicharius, auch überall für den des Bernowinus, bezw. für „itt.- eingefügt
werden kann, während es Bernowin nicht immer geling-t, „seineu ruhmestitel ins
metrum zu zw^ängen.'*
Auch von den i) versen der ur. XXVIII, in der handschrift als „versus Ber-
nowini episcopi ad crucem" bezeichnet, weist Traube 7 dem Angilbert zu, während
er die zwei übrig bleibenden dem „dichter" Bernowin lässt. Dieser ist höchstwahr-
scheinlich der erzbischof Bcrnoin oder Barnoin vonVienne (y 16. Januar 899), erbauer
eines armenspitals daselbst, für den man die inschriftcu von St. Riquier und Angil-
berts orationen, so wenig sie auch passten, umzuarbeiten vorsuchte.
Die dichtungen Alkuins sind, wie gesagt, ebenfals ^-ielfach wilkürlich umge-
staltet worden. Einen grossen teil derselben, 272 nummern, veröffentlichte Querce-
tanus im jähre 1617 nach einer leider nicht mehr vorhandenen reichhaltigen, doch
mcht fehlerfreien handschrift aus St. Bertin. Ausserdem haben wir zum teil noch
fehlerhaftere sonderüberlicferimgen. Leztere gehen auf die einzelexemplare des dich-
ters zurück, während die koiTektere samlung bereits in den gedichten des Hrabanus
Maui-us vielfach benuzt ist. Traube entwirft uns ein bild von den Verhältnissen der
Überlieferung an dem beispiele des gcdichtes „de clade Lindisfarnensis monasterii'^,
gibt s. 62 — 67 eine genaue Charakteristik des nur durch Icsefehler eines ungebildeten
Schreibers eutstelten codex H (arleianus) ms. 3685 s. XV, welcher die einzelüberlie-
ferung der dichtuug darstelt, um sodann s. 69 — 108 die Überlieferung von H dem
texte der samlung des Quercetanus und den Zeugnissen Hrabans in tabellarischer
Übersicht einander gegenüberzustellen. Das ergebnis der Untersuchung ist, dass H
124
ALTHOF
sowol wie die baudschrift, welche dem samler und rcceusor der Alkuinscheu «^edichte
vorlag, auf ein imd dieselbe absehrift der ei-bteii fassung der genanten dithtuug
zui-ückgehcn ; dass diese aus der ei-sten hälfte des 9. jahrliunderts stammende recen-
sion, deren abschritt die verlorene handschrift aus St. Bertin bot, von Hraban beim
eitieren benuzt sein muss, zugleich aber von ihm nach einer anderen absehrift der
diehtung der text der recensiou corrigiert wurde, während andere abweicliungen in
den citaten auf Hraban selbst zurückzuführen sind.
Unter den frühesten rhythmischen gedichten der Karoliugerzeit haben die „lau-
des Mediolanensis civitatis" (P. C. I, 24) und die .,laudes Yeronensis civitatis'' (P. C.
I. 118) nach form und inhalt viele älmhchkeit mit einander. Beide gehören zu den
trochäischen fünfzehnsilbern mit silbenvoi-schlag und haben in darstell ungs weise und
einzelnen Wendungen manches gemeinsam; beide enthalten eine topographische be-
sehreibung der genanten Städte, berichten von den hervoiTagendsteu bauten dersel-
ben, sowie den reliquien der heiligen und enthalten einige geschichtliche nachrichten.
Da der ei-ste der beiden rhythmen bald nach 738 verfasst ist, der zweite jedoch erst
o. 810, wie Traube s. 114—115 zeigt, können die berühiien ähnlichkeiten nicht
durch die gemeinsamkeit des Verfassers erklärt werden, während Dümmlcrs u. a.
vennutung, dass der Veroneser rhythmus eine nachahmuug des Mailänder sei, mög-
licherweise das richtige trift. Doch gibt uns Traube s. 115 fgg. noch eine andere
erklänmg. Er hält den Veroneser rhythmus für eine begleitende erläuterung des
alten Stadtplanes, der sich, unmittelbar mit dem gedichte verbunden, in der jezt
verlorenen handschrift des klostei-s Lobbes befand (vgl. P. C. I, 118), und ebenso
das zweite topogi-aphische gedieht für die beschreibung eines Mailänder Stadtplanes.
Das gemeinsame Vorbild beider j.läne und beider rhythmen sucht er in einem Karo-
lingischen Stadtplane Roms und einer mit demselben verbunden geweseneu rhyth-
mischen erklärung. S. 119 — 129 folgt dann ein sorgfältig verbesserter abdmck beider
gedichte mit anmerkuugen.
Im anhange zu diesen topogi'aphischen rhythmen handelt Traube von den bei
Jaffe, Bibl. III, s. 38 fgg. abgedruckten angelsächsischen rhythmen, deren erster von
einem unbekanton Verfasser au Aldhelm gerichtet ist, auf dessen namen das woii;
^casses" in v. 1 anspielt (Aldhelm = „ cassis priscus "). Nr. II bei Jaffe ist das in
dem briefe Aedel walds an Aldhelm fep. 5, s. 37) als anläge erwähnte und für Wyn-
fried bestirnte gedieht „de transmarini itineris peregrinatione", dessen verlust Jaffe in
seiner anmerkung s. 37 beklagt. Da uns von beziehungen des heil. Bonifatius zu Ald-
helm sonst nichts bekant ist, dürfte gedachter Wynfried mit ersterem schwerlich iden-
tisch sein; vielleicht ist aber auch Wj-nfried verlesen aus AVihtfried , dem namen eines
Schülers von Aldhelm. Über nr. HL lässt sich nichts bestimtes sagen; IV ist ein
gedieht Aedelwalds an Aldhelm, V die antwoit darauf. Dieser Aedelwald ist nach
TraulK? sicher ein laie. %äelleicht der von 716 — 757 regierende könig, jedenfals aber
verschieden von dem geistlichen Verfasser der nr. I. S. 133 — 135 stelt Traube einige
vom horausgeber geänderte Schreibungen in den 5 rhythmen \s-ider her und fügt
daran eine Verbesserung von sti*. 24 und 25 der „versus de Aquilegia numquam
restauranda '' (P. G. II, s. 150 fgg.).
Der vierte und lezte teil der untei-suchungen ist den rhythmischen fünfsilbern
mit trochäischem Schlüsse gewidmet, den „versus perextensi" des grammatikers Ver-
gilius, deren erklänmg so grosse Schwierigkeit bot. Sehr frühe rhythmen dieser art
liegen in dem kürzlich durch E. Bondurand in Paris volständig veröffentlichten, im
jähre 843 vollendeten fürstenspiegel der Dhuoda vor. Die drei s. 141 — 149 abge-
ÜBKR TRAUBE, KAROL, DICHTUNGEN 125
druckten gedichte sind verschieden gebaut und bestehen aus Strophen zu 4 bezw. 7
und 6 Zeilen _ w w _ ^ oder ^ _ v^ _ w; silbenzusohlag ist, dem Charakter volks-
niässiger dichtung entsprechend, zugelassen, au<li der schluss bisweilen unrein gebil-
det (siebensilber) , der 5. vers der Strophen in nr. III ist stets viei-silbig. Es finden
sich in allen drei gedichten spuren von reim, der hiatus ist gestattet, von elisiou
ist in ihnen nirgends, von synizesis dagegen wie in vielen rhythmon oft gebraur-li
gemacht.
Im anschluss au diese füni'silber untersucht der Verfasser das zuerst von
Dümmler (P. C. 11, s. 118) veröffentlichte ,, Carmen ad Agobardum archiepiscopum
missum'-, ein nicht unbedeutendes gedieht über das Jüngste gericht, dessen Strophen
der sapphischen nachgebildet scheinen. Doch hält Traube diese na(-hahmung für keine
unmittelbare, vielmehr weist die zweite hälfte der drei ersten verszeilen, die stets
w — w w _ v-y gebaut ist und die widerholung der ersten fünfsilbigen hälfte mit silben-
vorschlag darstelt, auf einen Zusammenhang mit den rhythmischen fünfsilbern.
Die anfangsbuchstaben der strophen 1 — 11 des gedichtes bilden die wortc
AGOBARDO FAX, die der ersten 14 strophen nach Traubes Verbesserung A. P. SIT.
Nach Dümmlers ansieht war dieser Agobard, erzbischof von Lyon von 816 — 840,
der empfänger des gedichtes, während uns Angilbeiis beispiel zeigt, dass die akro-
sticha den namen des dichters zu überliefern pflegen. Str. 12 und 1.3 stelt Traube
die lesaii der einzigen Pariser liandschiift wider her und gewint so ohne zwang licli-
tige verse mit einer lückc am ende von str. 12, 2. In dieser lückc muss der name
des empfäugers gestanden haben, den mau wie in den besprochenen gedichten Angil-
berts föiiliess, um dem gedichte seine persönlichen beziehungen zu nehmen und das-
selbe als formel benutzen zu können. Derjenige aber, dem Agobard seine dichtung
übersante, den er in seinem leiden um rat fragte, war höchst wahrscheinlich erz-
bischof Leidi'ad von Lyon, des dichters Vorgänger im amte, so dass der s. 152 fgg.
abgedruckte rhythmus vor dem 28. docember 816 verfasst sein muss.
Dies der hauptinhalt der ergebnisreichen und anregenden Untersuchungen
Traubes, die aufs neue beweisen, wie sehr der Verfasser geeignet ist. das werk des
meisters, die herausgäbe der karolingischen dichtungen, zu ende zu führen.
Im anhange findet mau eine Zusammenstellung der besprochenen dichterstel-
len, sowie ein bei der fülle des gebotenen Stoffes wilkommenes Sachverzeichnis.
Die darstelluugsweise Traubes ist etwas manierieit und entbehrt bisweilen der
wünschensweiien durch sichtigkeit, ein umstand, zu dem auch die aufnähme zalil-
reicher. nicht immer durch besondere schrift oder anführungszeichen hervorgehobener
citate in den text, sowie die spärliche anwendung der interpunktionszeichen beigetra-
gen hat.
Die ausstattung des heftes ist eine sehr gute. Die mode, die grossen bu(;h-
staben beim beginn der einzelnen Sätze mit kleinen zu vertauschen und so den punkt,
das wichtigste, aber unscheinbarste schiiftzeichen seines merksteines zu berauben,
können vrii nicht zur nachahmung empfohlen,
HANN. MÜNDEN, IM OKTOBER 1888. HERMANN ALTHOF.
Diedrich von dem Werder. Ein beitrag zur deutschen litteraturge-
schichte des siebzehnten Jahrhunderts. Von dr. G. Witkowski. Leipzig,
Veit und comp. 1887. 144 s. 8. 4 m.
Der deutsche dichter, welcher, dreizehn jähre älter als Opitz, ähnliche bahnen
wie dieser verfolgte, der es nicht oline ertolg unternahm, Tasso und Ariost zu über-
126 BOBERTAO
setzen, der eine hervorragende, ja. man kann sagen, die erste rolle in der Frueht-
briugeuden geselschalt während der ersten jahrzehute ilires bestehen« spielte, hätte
schon eher die beachtung verdient, welche ihm jezt erst durch den Verfasser der
vorliegenden schrift zuteil geworden ist.
Nach der einleitnng und einer daukenswei-ten ahhandlung über Tobias Hüeb-
ner, welcher "SVerdei-s Vorgänger in molirfacher beziehung genant werden muss, folgt
die biographie , darauf die bibliographie, ferner „Werder und die Fnichtbringende
geselschaft". „AVerder und Opitz**, „Werders Übersetzungen'*, „Werders eigene werke",
der schluss fasst ui-teile über den dichter zusammen und gibt dessen wüi'digung nach
des verfassei-s eigener ansieht.
Nach dem eben gesagten muss die wähl des themas gelobt werden, obgleich
die Schwierigkeit der aufgäbe es mit sich gebracht zu halben scheint, dass sie nicht
in allen teilen der ai'beit gleiehmässig gelöst worden ist. Im ganzen wii-d ein unpar-
teiischer beurteiler dem buche seine anerkennung auszusprechen haben, weil es unsere
kentuis der litteratur des XVII. Jahrhunderts in vielen einzelheiten durch meist vol-
kommen erwiesene ergebnisse bereichei-t und aufkläi-t sowie zum ersten male ein
ge.samtbild einer immerhin bedeutenden und interessanten schriftstellerischen persön-
lichkeit liefert. Das verdienst der biographischen und bibliogra])hischen angaben Wit-
kowskis springt bei einer vergleichung mit dem, was bereits vorliegt,, zu deutlich in
die äugen, als dass darüber noch etwas zu sagen wäre. Vielleicht wird hie und da
gelegentlich noch etwas, das nachzutragen ist, zu tage kommen, die hauptsachen
sind sicher erschöpft.
Was Witkowskis gesamtauffassung des litterarischen lebens jener zeit anlangt,
so ist zuzugeben, dass hiebei die subjektiA'ität des betrachters eine grosse imd keines-
wegs ganz unberechtigte rolle spielt. Hiernach werde ich nicht misverstauden wer-
den, wenn ich gestehe, in der vorliegenden arbeit öfter die schärfe der beleuchtung
zu vennissen. welche denn doch zum Verständnis des litterarischen fortschrittes einer
nation ebenso nötig ist wie die ol^jektive und billige beurteilung der erscheinungen
aus ihrer zeit heraus. Xamentlich in der Würdigung der Fruchtliringenden geselschaft
geht mir Witkowski. wie mich dünkt, durch Baithold und Krause beeinflusst, nicht
schai'f genug vor — nota bene für einen litterarliistoiiker, der durchaus den Zusam-
menhang der epochen im äuge behalten und den fortschritt des geschmackes in den
kleineren und grösseren gi'uppen poetischer erzougnisse, die er betrachtet, stets prii-
fen soll. Das auf seite 46 gesagte kann uns schwerlich überzeugen, dass die gesel-
schaft tatsächlich etwas anderes war als ein litteraturverein. Es war eben die kiu'z-
sichtigkeit und konfusion der hochgeborenen mitglieder schuld, wenn sie meinten.
dass sie die sache anders angreifen könten, denn ihre bestrebungen konten sie ein-
zig und allein in der litteratur. d. h. in schriftstellerischen oder poetischen erzeug-
nissen. die gedruckt wui'den, geltend machen, und sie haben es auch wirklich nur
auf diese weise getan. Seite 51 liefert Witkowski selber ein beispiel, wie wenig man
sich in der geschäftlichen korrespondenz der Sprachreinheit befliss. In der höfischen
konversation wird es dochwol nicht besser gewesen sein, fals man überhaupt deutsch
sprach; die gelehrten korrespondierten lateinisch, von befördemng deutscher sitte,
vom Studium d'^'utscher geschichte ist keine rede, geschweige denn von einer deutsch-
nationalen politik. Wenn man bei der aufnähme in dio geselschaft nicht auf littera-
rische Verdienste sah, so war das eben lächerlich, am allerwenigsten war es ein
^princip'*. das als milderungsgrund für die Opitz aus gemeinem neide jahrelang ver-
weigerte anerkennung geltend gemacht werden könte.
l'T^F.R WITKOWRKT. DT^DFR. V. T). WFRDFR 127
Man wird ja zugeben, dass die orgobnislosiejkpit dieses treibens uielit dem mora-
lischen Charakter der eiuzehien zur last tiilt, sondern den traurigen Verhältnissen, aber
andererseits gab es doch männer wie Moselierosch und Grimmeishausen, welche die
Sachen so klar und richtig ansahen und ihre meinung so deutlich ausdrückten, dass
im vergleicli mit ilmen die deutsche gesinnung und die nationalen bcstrebungen der
männer vom palmenorden uns sehr wenig imponieren köniK^i.
Doch genug von diesen dingen, ül)er die eben, um in der spräche des XVIT.
Jahrhunderts zu reden, „unterschiedene opiniones fallen'' können, und kommen wir
zu objektiven bemerkungen. Da kann nun zunächst die niclit unterdi-iickt werden,
dass der sonst wol unterriditrte Verfasser für den sozusagen i)hilologisch(»n teil seiner
aufgäbe kaum genügend vorbereitet erscheint. Sonst würden etliche misverständnisse
nicht vorgekommen sein, welche in seiner arbeit auf i'echt störende weise auffa^en.
„ Balten " (vgl. s. 75) bedeutet nie und also aucli nicht in Werders Tasso XI, .30, 0
„beissen", sondern „warten, verharren." Was hatten denn die leute auch auf der
mauer zu beissen? Werder sellist oder seinem freunde muss das schon halb veraltete
wort bedenklich geworden sein, denn er ändert die stelle in B. „Sie entweich" ist
nichts weniger als eine entstellung von „entweicht" aus reimnot, sondei-n ehrliches,
damals noch ziemlich gebräuchliches präterituin für „entwich", was übrigens aucli
der Zusammenhang fordert (s. 77, im Tasso VI, 59, 1). Xoch manches möcliten wir
anders -wünschen; es fehlen gesichtspunkte , die ein philologe sehr vermisst, wie z. b.
die frage nacli etwaigen dialoktisclien eigentümlichkeiten in wortwalil und formen.
Schon die Schreibung seines vornamens beweist, dass AVerder an dialcktforraen festhielt,
und eine darauf gelichtete Untersuchung würde niclit ohne ergcbnisse geblieben sein.
^Uugewöhnliclie worto" (s. 75) ist keine rechte kategoiie, es müssen doch wenig-
stens damals und jezt ungewöhnliche geschieden werden. „Schmuntzeln" würde zu
keiner von beiden klassen gehören. Dass der dichter „kart" für „kehrte", „drung"
für „drang", «scheusst" für „schiesst" u. dgl. mehr (s. 77) sagt, „um seiner spräche
grössere fülle zu verleihen", ist eine annähme, welche im lichte der histoiischen gram-
matik geradezu komisch erscheint. Hat denn der Verfasser diese formen sonst nie
in älteren büchern gelesen?
Wir hoffen, dass das angeführte genügen wird, um Witkowski zu überzeugen,
dass man auch zur beurteilung der spräche des XYII. Jahrhunderts die germanische
Philologie herbeiziehen muss, um nicht auf bedenkliche abwege zu geraten. Unmit-
telbar nach den ausfühvuugen, die uns nicht gefallen wollen, gibt er noch s. 78 eine
anerkennenswerte probe seines scharfsins, und ich freue mich, die richtigkeit seiner
Vermutung bestätigen zu können. Die ausgäbe des Tasso Lyon 1581 in IG", welche
Witkowski als vorläge Werders vermutet, aber nicht erreichen konte, liegt mir vor,
und hier steht XYI, 20, 4
Ai miuistri d'Amor ministro eletto.
Das buch gehört der hiesigen stadtbibliothek , welche überhaupt an dergleichen Sel-
tenheiten sehr reich ist, und hat die sig-natur X 1919. Ich habe die übrigen bei die-
ser gelegenheit von Witkowski (s. 78 fgg.) angemerkten stellen verglichen, das ergeb-
nis ist folgendes: die ausgäbe enthält gegen AVitkowskis Vermutung die Strophen XI,
8 und 9. XV, 15, 1 steht Rafia — IX. 90, 3 Corcutte — I, 54, 5 Ruggier di Bal-
nauilla — XYII, 74, 1 Enrico e Berengario — Y, 48, 1 Cilicia — YTTI, 09. 4 steht
nichts von Tile, das citat muss unrichtig sein — XYII, 5, 6 Siene — XYII. 09. 7
Aquilea — 70, 5 Altino — III, 61, 3 vermiglia la sopravesta — XII, 09, 2 viele —
lY. 75. 1 guance — IX. 92,8 gran Madre — XII. 4. 1 me' — XI. 28, 5 (30, 5) lautet:
128 NACHRICHTEN
Cosi dioean; ma für le voei iiitese.
Xin. 4S, 7 muss falsch citioi-t sein, vielleicht ist v. 5 derselben strophe gemeint:
Pur vi passai: che ne Tincendio m arse.
Durch das el>en beigebrachte wird AVitkowskis vtu-inutung nach meiner ansieht nichts
weniger als entkräftet. Die auslassung von XI, 8 und 9 erkläii sich leicht. AVit-
kowski meint, Werder würde diese Strophen schon wegen ihres religiösen inhalts
übei-sezt haben, er hat sie aber grade deswegen weggelassen, denn er war Protestant.
Aus demselben gründe halte ich es, beiläufig gesagt, für unmöglich, dass AVerder
den tag Leo des Grossen als den ,,tag der allergrössesten '^ bezeichnet habe (s. 62,
aum. 3).
Dass Opitz „noch weit weniger" als Lohenstein imstande gewesen sei,
dichterisch gi'osses zu leisten, bestreite wenigstens ich, wenn sonst niemand, wie
AVitkowski meint. Lohenstein ist so wenig wie Opitz poetisch begabt, eher noch
weniger, ausserdem aber hat er viel weniger geschmack und takt, den man Opitz
durchaus nicht absprechen kann (s. 59).
Die Schlussredaktion des buches scheint etwas flüchtig bewerkstelligt zu sein.
S. 27 ist der satz -Landgraf Moritz hatte usw.'^ unklar. Es soll wol statt „Evange-
lischen- heissen „Lutherischen", wenigstens ist dies das geschichtlich richtige. S. 52
heisst es „AVerder — entschied in vielen fragen mit scharfsinniger begründung'', das
folgende beispiel l)eweist das gegenteil. Es hätte das s. 54 angeführte an diese stelle
gehört.
BRESLAU, JULI 1888. FELIX BOBERTAG,
Die Edda. Deutsch von AVilhelm Jordan. Frankfurt a. M. AA'. Jordans Selbst-
verlag. 1889. 8. IV, 534 s. 5 m.
Da die ^gelehrten" anmerkungen, die der Übersetzer seinem buche beigegeben
hat, bei dem uneingeweihten die meinung ei-wecken könnten, als ergreife hier ein
genauer kenner des altnordischen das wort, so sei kurz bemerkt, dass wir es mit
der arbeit eines dilettanten zu tun haben, für den die wissenschaftliche forschung
der lezten dreissig jähre jnicht vorhanden ist. A'on der technik der alten allitera-
tionspoesie hat Jordan keine ahnung; geradezu belustigend wirken die verse, die er
(s. 407) aus der einleitenden prosa zu Gu{)r. I zurcchtgeschnitten hat. A\"as treue
und gewissenhaftigkeit anbetrift, steht diese Eddaübersetzung hinter der Simrockschen
ganz erlieblich zurück, die Jordan übrigens nur in einer älteren aufläge gekaut hat,
daher es ihm begegnet, dass er fehler seines Vorgängers bekämpft, die dieser selber
schon berichtigt hatte. Eine höheren anforderungen genügende Verdeutschung der
Edda bleibt also immer noch ein frommer wünsch, bis ein meister sich findet, dei-
mit genauester sprach- und sachkentnis dichterischen geist und ein ausgebildetes
formtalent verbindet. H. G.
NACHRICHTEN.
Am 31. Januar 1889 starb zu Oxford nach längerer krankheit der bekante
lexikograph und herausgeber altnordischer litteraturwerke, dr. Gudbrand Vigfüs-
son, 08 jähre alt.
Halle a. S., BucMrnckerei des Waisenhauses.
UNTERSUCIIUXGEN ZUE SNOl^PiA-EDDA.
I.
Der sogciiante zweite gramiiiatisehe traktat der Siiorra-Etlda.
"Während wir bei keinem anderen germanischen stamme eine
grammatische behandlnng der heimischen spräche im mitteh^lter nach-
weisen können — denn die „grammatica patrii sermonis", die auf ver-
anlassung Karls des Grossen in angritf genommen wurde (Einhardi vita
Karoli c.29), ist höchst wahrscheinlich gar nicht zustande gekommen — ,
finden wir in dem fernen Island, dessen bewolmer auf geistigem gebiete
in mancher beziehung den Zeitgenossen vorausgeeilt sind, mehrere
abhandlungcn über die heimische spräche. Dieselben waren bis in die
jüngste zeit meist verkant oder wenig benuzt ^; erst unser grannna-
tisches geschlecht hat sie hervorgezogen und ist bemüht gewesen, sie
in das rechte licht zu setzen.
Die erste gründliche arbeit über die grammatische tätigkeit der
alten Isländer waren Björn Magnussen Olsens trefliche Untersuchungen
über die runen in der altisländischen litteratur-. Die wichtigsten ergeb-
nisse nahm dann der Verfasser in die einleitung zu seiner ausgäbe der
3. und 4. abhandlung auf*^, imd die herausgeber der beiden ersten,
Y. Dahlerup und Finnur Jönsson, bauten auf semen resultaten im gan-
zen weiter^. Während aber Y. Dahlerup die älteste grammatische arbeit
nochmals scharf ins äuge fasst und ihre bedeutung namentlich für die
isländische schrift etwas anders und zweifelsohne richtiger darlegt,
geht Finnur Jönsson gerade über die hauptfragen zu schnell lünweg
und prüft weder die abhandlung auf ihren bau hin, noch untersucht
er den Zusammenhang ihrer Überlieferung; er hält sich zu sehr an
1) Am meisten hat sie zweifelsohne A. Holtzmann zu würdigen gewust, der
in seiner altdeutschen gramniatik die erste abhandlung volständig und die zweite
wenigstens teilweise übersezt (I. s. 55 — 6Gj.
2) Eunerne i den oldislandske Literatur ved B. M. 0. Kbh. 1883.
3) Den tredje og fjaerde grammatiske afhandling i SnoiTes Edda. Kbh. 1884.
4} Den forste og anden grammatiske afhandling i SuoiTes Edda. Kbh. 18SG.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOI.OGIE. BD. XXII. «^
130 ^OGK
Björn Olsen, der den kleinen entwurf nur gelegentlich berührte, ihn
aber nicht in den bereich seiner eigentlichen forschungen liineinzog.
Daher komt es, dass trotz der neuen ausgäbe auch heute noch die
rechte Avürdigung dieses sogenanten „zweiten traktates'' fehlt. ^ Man
stelt denselben durclnveg im liinblick auf seine jüngere und verderbte
Überlieferung neben den wahrhaft bedeutenden orthographischen neuc-
rungsversuch aus der ei-sten hiilfte des 12. jalu'hunderts und neben die
mehr laut- und sprachgeschichtliche abhandlung des (3laf pordarson:
im vergleich mit diesen muss allerdiugs seine wagschale bedeutend
steigen. Aber ich meine, es ist ein grosser unterschied, ob man eine
orthographische oder sprachliche abhandlung vor sich hat, die auf die
Zeitgenossen bestimmend einwirken soll, oder bemerkungen über die
bestehenden buchstaben oder laute, die nur zu einem bestimten
zwecke, im hinblick auf ein bestimtes werk geschrieben sind. Jene
kann mau mit gutem rechte „grammatische traktate" nennen, diese
nimmermehr. Es lässt sich auch auf keinen fall an diese derselbe
massstab legen wie an jene. Man hat dies aber bisher durchweg
getan und dadurch die bemerkungen zu dem islandischen alphabcte
aus dem anfange des 13. Jahrhunderts volstiindig verkant. Sie verdie-
nen in ihrer ursprünglichen fassung überhaupt nicht den namen eines
grammatischen ti-aktates, sondern sie sind mit dem namen zu bezeich-
nen, der ihnen von haus aus nach dem willen ihres Verfassers gehört,
nämlich als die sprachliche einleituug zum Hattatal. Dass sie in die
geselschaft der grammatischen abhandlungen gelangt sind, verdanken
wir demselben unfähigen bearbeiter des Snorrischen werkes, der auch
die übrigen teile der Edda auseinander riss luid nach eignem gutdün-
ken wider zusammenleimte. Um daher die bemerkungen zu verstehen,
müssen wir sie vor allem aus dem zusammenhange herausreissen , in
welchem man sie zu betrachten pflegt. Es ist aus diesem gründe
geboten, nochmals auf die Überlieferung einzugehen und die folgen, die
daraus erwachsen, ins äuge zu fassen, wenngleich Finnur Jonsson in
der überlieferuDgsfrage schon im ganzen das richtige getroffen hat.^
1) Der lösuDg einer der wichtigsten fragen über die «ibhandlung, nämlich über
ihre bedeutiing, ist 0. Brenner in einem kleinen aiifsatzc meines erachtens sehr nahe
gekomm.en (Zs. f. d. ph. XXI, 272 fgg.).
2) Es ist merkwürdig, mit welcher bcharhchkcit selbst F. J. noch an der
alten auffassung des handschiiftenverhältnisses hängt. Nachdem er schritt für schritt
zu erweisen gesucht hat, dass die kürzere fassung die ursprüngliche ist (einl. s. XVI
fgg.), lässt er nicht, wie man doch envarten durfte, den ursprünglichen text zuerst
drucken , sondern fügt ihn nur als „Tillfeg" bei (s. .56 fgg.). Auf die folgen der neuen
auffassung der handschiiften geht F. J. gar nicht ein und stelt so beliauptiuigcn auf,
UNTERSUCHUNGEN ZUR SN. EDDA I 131
Alles, Avas die Isländer über ilire sclirift und spraelio gesclirieben
liaben, ist in der alten Eddaliandsehrift cod. A^I. 242 foL, dem codex
AVormiauus, der aus der mitte des 14. jalirliunderts stamt, aufbewahrt.^
Der Schreiber oder viehnelir bearbeitcr dieser handschrift benutzte bei
seiner arbeit mehrere werke, deren bedeutendstes die wol von (')hü' |)nrd-
arson lierrührende fassung der Edda war, und vereinigte diese zu
einem ganzen, das er dui'ch eigene arbeiten erweiterte, mit vorrede ver-
sah und in seinen einzelnen teilen nicht selten verwässerte. Nacli
Sveinbjörn Egilssons Vermutung- soll Berg Sokkasou, der freund des
bischof Laurentius und abt des Benediktinerklostcrs zu A[unkal)vera
diesen codex zusammengestelt haben, eine annähme, die anklang gefun-
den hat. ^ Ich sehe nicht recht ein, dass dieselbe irgend welclie feste
stützen habe. Die saga des bischofs Laurentius gibt uns ein ziemlich
genaues bild von dem Charakter und der tätigkeit des Berg; wir erfah-
ren, dass derselbe mit eiserner festigkeit auf die beobachtung der klo-
sterregeln sah (Bisk. s. I, 840. 850), wir hören, dass er ein vorzüg-
licher Sänger und tüchtiger redner und prediger gewesen sei, wir lesen
auch, dass er die geschicliten der heiligen männer vortreflich ins islän-
dische übcrsezt habe (Bisk. s. I, 832. 891) ^, aber nirgends erfahren wir
etwas darüber, dass er sich auch eingeliender mit heimischer litteratur
beschäftigt liabe oder dass er ein dichter gewesen sei, wiihrend doch
die wol für den überarbeiteten text, nicht aber für den ursprünglichen geltung
haben.
1) Das kleine stück, das Björn Olsen als anhang in seiner ausgal)e der 3. und
4. abhandlung (s. 156 fgg.) nach cod. AM. 921. 4° hat abdrucken lassen, ist eine ein-
fache interlinearversion der lateinischen conjugation. Zur zeit ungedruckto reime über
die isländischen buchstaben enthält der cod. AM. 415. 4" (vgl. G. Stonn, Islandskc Ann-
alcr indtil 1578 s. YH).
2) Sn.E. AM. II s. 190 aum. 1.
3) Vgl. K. Müllenlioff DAK. V, 208. 230. Ich selbst habe lange zeit die
ansieht geteilt, bin aber nach gründliclieni durchlesen der Laurentiussaga, unserer
hauptquellc über Berg Sokkason, ganz davon abgekommen, da sich aus der saga ein
bild von der tätigkeit aller männer aus Laurentius zeit entwerfen lüsst, die der Ver-
fasser in seiner erzählung charakterisiert.
4) In gleichem sinne d. h, im hinbhck auf die missionstätigkeit ihres beiden
übei-sezte Berg auch die Olafssaga Tiyggvasonar des mönchs Odd von Lingcyrir. Ob
die ausfülirhche fassung im cod. Holm. 1 fol. (Arwidsson, Föiieckning öfver kgl.
bibliothekets i Stockholm isl. hss. s. 3), die uns Bergs Übersetzung der Olafssaga
bezeugt (Olafssaga Tryggvasonar, er Bergr aboti snaraäi)^ die ursprüngliche arbeit
des abtes ist, oder ob diese vorliegende nicht vielmehr auf eine kürzere fassung Bergs
zui-ückgeht, wage ich nicht zu entscheiden, zumal wir noch keinen abdruck des cod.
Ilohn. fol. 1 besitzen.
132 MOGK
die Kaurentiussaga vuu mehreren anderen männern, vor allem vom Laii-
rentius selbst ganz ausdrücklich hervorhebt, dass sie vorzügliche „ver-
silicatores'' gewesen seien (Bisk. s. I, 794. 800 u. ö.). Beides muss
aber bei dem Verfasser der vierten abhandlung, der mit dem Schreiber
der ganzen handschrift zusammenfiilt, vorausgesezt ^Y erden. Da sicli
nun diese Voraussetzungen auf Berg nicht anwenden lassen, halte ich
Egilssons annähme mindestens für wenig wahrscheinlich. Dagegen finden
sie sich bei einem andern manne derselben zeit, und diesen möchte
ich mit ziemlicher bestimtheit als den urheber des cod. AM. 2-42 anneh-
men: es ist bruder Ärni, der natürliche söhn des bischofs Lauren-
tius. Zunächst ist die handschrift in bezug auf die schrift eine der
vorzüglichsten aller liandschriften , die war besitzen, vielleicht die beste
aus dem 14. Jahrhunderte (vgl. das facs. iir. II in Sn. E. III). Fer-
ner weist die geschichte des codex und seiner abschritt AM. 756. 4^
darauf hin, dass derselbe im nördlichen Island geschrieben ist, wie
auch G. Vigfüsson ihn nach dem kloster I)ingeyrir verlegte Weiter:
alles, was wir beim Schreiber des codex voraussetzen müssen, was Avir
aber nicht bei Berg fanden, haben wir bei Arni.
Bruder Arni, wie ihn die annalen und die Laurentiussaga stets
nennen, war der uneheliche söhn des Laurentius mit der purid Ärna-
duttir (Bisk. s. I, 807). Für ihn sorgte der vater nach kräften. Auf
Laurentius' betreiben hin wurde er nach dem Lögmannsannäll, dem ich
hierin folge (Storm, Isl. annal. s. 266) 1317 vom abte Gudmund als
Benediktinermönch des klosters pingeyrir aufgenommen (Bs. I, 832).
Als Laurentius 1324 zum bischof von Hölar geweiht war, ruft er auch
den Ärni nach dem bischofsitze, wo er neben Olaf Hjaltason, dem lehrer
in der grammatik, und Yalljjof, dem leiter des geistlichen gesanges, an
der vom neuen bischof begründeten schule als lehrer tätig war (Bs. I,
846). Von hier aus begleitete er seinen vater widerholt auf visitationsreisen
(Bs. I, 851). Damals sante ihn auch Laurentius nach Skälaholt zum
bischof Jon, der ihn zum priester weihte (Bs. I, 850). Anfangs gehörte
er zu den treflichsten klerikern (Bs. I, 832. 850), später gab er sich
jedoch zuweilen der genusssucht hin, die ihn einst nach einem zu
fröhlich verbrachten julfeste auf das krankenlager warf. Dadurch berei-
tete er seinem vater Laurentius ärgemis, der ihn nun unter ernsten
1) Corp. poet. bor. I s. XLV, doch irt Yigfiisson, wenn er sagt, dass sich im
cod. T\'. verse des braders Arai citieii fänden. Nui- das der handschrift beigefügte
gleichaltrige fragment Wb. enthält eine visa Ai'nis (Sn. E. II, 500) und scheint noch
mehr enthalten zu haben (vgl. Laufassedda in Sn. E. 11, G32j. Dies scheint von
einem schüler des Ami zu sein, sicher nicht von ihm selbst.
UNTERSUCHUNGEN ZUR SN. EDDA I 133
ermahn nn,i;*on nacli (lein Iclostor J)in2;oyrir ziirüclvsanto, damit er hier
sparsam sei, imterriclitc und schreibe (Bs. I, 873. 91 o). — Von Ärnis
begabung sclieint sein vater nicht viel j^ehalten zu haben, da er seine
band von jeder bef<>rderung des sohnes fern hält, und da er ihm stets,
mag er ihn als lehrer oder zu einer Sendung verwenden, tüchtige män-
nor zur seite stelt. Dieser Ärni, berichtet nun die Laiirentiussaga, sei
ein vorzüglicher Schreiber und dichter gewesen ^ Dies stimt aber vor-
züglich zum Schreiber des Worm. Als lehrer bedurfte ferner Arni
einer grammatica und ars poetica, da er hierin seine schüler zu unter-
richten hatte. So mag unsere handschrift zu bestimteni pädagogischen
zwecke entstanden sein: sie war ein Averk für heimische spräche und
poesie. Denn die muttersprache {nmturtunf/a) hielt Laurentius für die
alleinige vermitlerin zwischen geistlichkeit und volk (Bs. I, 8G1 fg.);
daher wird er auch den Unterricht in dieser gefördert haben. Uns
wird jezt auch die belesenheit des Schreibers in den lateinischen gram-
matikern verständlich: er verdankte hierin seine kentnisse seinem col-
legen Olaf Hjaltason, *den Laurentius eingesezt hatte „nt kenria gram-
maticcun" d. i. lateinische grammatik (Bs. I, 846). Zu diesen äusseren
gründen, die für Arnis Verfasserschaft sprechen, treten aber auch innere.
Der Schreiber muss natürlich das Hattatal gekaut haben. Aber er scheint
dasselbe auch gründlich studiert und sich zum vorbild genommen zu
haben: in der vierten abhandlung sind nicht nur Strophen aus Hattatal
citiert, sondern auch widerholt die künstlichsten formen nachgeahmt.
Nun sind aber unter bruder Ärnis namen eine visa und zweimal je
zwei halbverse erhalten: beide zeigen offenbar kentnis von Snorris
musterha?ttir im Hattatal. Sn.E. H, 500 finden wir in allen vier unge-
raden halbversen den ersten studill (auf hochtonjger silbe) unmittelbar
vor dem zweiten, den das lezte wort und die erste silbe des dritten
fusses des halbverses enthält, gerade so, wie es Snorri beim refhvarfa-
brodir (Hattat. v. 23; Möbius H, s. 12) offenbar angestrebt hat; die bei-
den andern halbverspaare (Sn.E. H, 632) dagegen sind nach dem ganz
seltenen grossen stuf (Hattat. v. 51) gedichtet, der in der alten poesie
sonst einzig dasteht. — So laufen alle fäden, die uns der cod. A]\L 242
betrefs seines Verfassers gewährt, in Ärni zusammen; der samler- und
schreiberfleiss seines vaters Laurentius und dessen oheim pörarin kaggi
(Bs. I, 790) können diese annähme nur stützen, da sie den weg zu
zeigen scheinen, wie Arni in den besitz seiner vorlagen kam. AYelches
1) Bs. I, 832: varä kann hinn framasti JderJcr ok skrifari haräla scsmi-
ligr ok versificator; ebd. I, 850: Var hruäir Ami hinn bexti klcrkr ok versificator
ok kenndi mqrgutn klerkum.
134 MOGK
diese gewesen sind, das dürfen Avir nach den neuesten forschungen als
feststehend ansehen.
Die eigentUohe Edchi konit für uns hier nicht in betracht; uns
berühren nur die granimatisclien arbeiten, die in ihrer gesamtheit im
zweiten bände der arnaniagmvanischen Snorra Edda (s. 1 — 249) und
kritischer von dem Samfund usav. 1884 — 86 herausgegeben sind. Von
diesen abliandhmgen ist das älteste stück ein auszug aus dem runen-
alphabete des J)örodd Gamlason und Ari (c. 1100), den (3laf purdarson
im ei*sten teile seiner abhandlung aufgenommen hat. Auf diese folgt
der zeit nach der traktat eines unbekanten Verfassers, der um 1140
entstanden ist (I): sein Verfasser verändert das lateinische aiphabet sei-
ner heimat, indem er unnütze buchstaben ausmerzt und neue einführt;
er befreit die isländische schrift vom joche der imgenügenden latei-
nischen und Schaft so eine mehr nationale schrift. Sein Averk ist in
jeder Aveise hervorragend luid beherscht die ganze folgende zeit, die
zeit, aus der die ältesten isländischen handschriften stammen. — Hierauf
folgen die aus ihrem zusammenhange losgerissenen einleitenden bemer-
kungen über die spräche zum Hättatal in einer kaum Avider zu erken-
nenden gestalt (II). Zeitlich schUessen sich dann die arbeiten Olaf pörct-
arsons über die buchstaben und die rhetorischen figuren an (III). Die
lezteren erAv eitert nun der Schreiber der handschrift durch eigene for-
schimg, indem er zugleich die meisten figuren durch eigene dichtung
belegt (IT); allen diesen arbeiten fügt er schliesslich ein gemeinsames
Vorwort hinzu.
"Während man sich mit dem, Avas die forschung unserer tage
betrefs der L, III. und lY. abhandlung gefunden hat, bescheiden
kann, Avissen Avir über die sogen. II. abhandlung nicht viel mehr,
als was AA'ir schon früher Avusten; etAvas tiefer in das Avesen und den
zAveck derselben einzudringen beabsichtigen die vorliegenden unter-
suchun£(en \
1. Die überarbeitete gestalt und die ursprünglichere fassung.
Die sogenante zweite grammatische abhandlung der Snorra -Edda,
Avie sie noch die jüngste ausgäbe bezeichnet, oder die einleitung zum
Hättatal, Avie ich der Untersuchung vorgreifend dieselbe nennen möchte,
ist uns in zAvei gestalten überliefert: einer ursprünglicheren und einer
überarbeiteten, die jene benuzt hat. Wie man im norden die spätere
1) Dass Finnur Joussons bemerkungcn (ein!, s. XXVIII fgg.) auch andere
nicht befriedigen konten, beweist Brenners schon erwähnter aufsatz.
UXTERSUCIIUNGKN ZUK SX. KUDA I 135
fassung als die ursprüngliche ansah, zeigen die verschiedenen ausgaben
der Snorra-Edda, G. YigMssons verächtlic;he anssprüclie über die ältere,
reinere gestalte zur genüge, und dass man auch in Deutschland dieser
ansieht folgte, beweisen Holtznianns bemerk ungen in seiner althd. grani-
matik (I, 65 fg.) oder Mübius' werte zum llattutal (1, 18). Das war die
lierscliende ansieht, als ich Beitr. VI, 536- das gegenteil behauptete
und andeutete, dass die jüngere gestalt überarbeitet sei und dnss sich
die quellen des Überarbeiters nachweisen lassen. Zu ähnlichem resul-
tate kam bald darauf Müllenhoff (DAK. s. 107 anni.) und später F. Jons-
son (ausg. der IL abli. s. XVI fgg.).
Die älteste und relativ reinste gestalt unserer abhandlung ist
erhalten im
cod. Upsal. coli. IMciganl. uo. 11.
Es ist derselbe codex, welcher die ganze Edda und was mit diesem
hausbuche Snorris in engstem zusammenhange steht, in seiner rehitiv
ursprünglichsten gestalt enthält. Hier findet sich die abhandlung auf
den ss. 88 — 91, fült also gerade 2 bll. Vor ihr befinden sich die Skäld-
skaparmal, nach ihr ein entwurf des Hattatals, welcher die anfange und
die namen der 36 (ausschliesslich der 35.) ersten visur des gedichtes
enthält. Dieser fült gerade s. 92 und 93 der handschrift, und an ihn
schliesst sich unmittelbar das commentierte Hattatal. Einen buchsta-
bengetreuen abdruck dieser fassung der abhandlung haben wir im zwei-
ten bände der arnamagnäanischen Edda (AM. II, 364—69) und in der
ausgäbe von Finnur Jönsson (F. J. s. 56 — 61). Zwei figuren sind der
abhandlung beigegeben; diese sollen die werte der abhandlung veran-
schaulichen. — Ob wir in dieser fassung die ursprünglichste gestalt
haben, wird sich weiter unten zeigen. Auf alle fälle ist ihre vorläge,
von der unsere handschrift eine flüchtige abschrift ist, in der zweiten
lassung unmittelbar oder mittelbar benuzt, nämlich im cod. Wormianus,
dem cod. AM. fol. 242.
Hier befindet sich die abhandlung bl. 40'' fgg., wo sie auf der 6. zeile
begint. Sie steht zwischen dem 1. und 3. grammatischen traktate. Dass
1) Nachdem G. Yigfusson schon Sturl. I, LXXXI die alte fassung an ahrichj-
ment of the second Skalda Trcatisc genant hat, äussert er sich im Cpb. I, XLYll:
a feie bits of the Anonytnous Granwiarian's irork, wüJi iniperfect broken text,
but irifh the Tab l es referrcd to in „W'% biit not copicd there, bcing probably
missim) in Itis orüjinal. Von Yigfusson freihch war nicht zu hoffen, dass er in den
fragen über die Überlieferung der Edda jemals den klarsten nachweisen beistimmen
würde; ihm war der Wormianus das a und cj, dem alles zum opfer fallen mustc.
2) Daselbst ist z. 5 AM. II, 44 (st. 74) zu lesen.
13G MOGK
sie nach dem willen des aufzeichnei*s nicht unmittelbar an den
1. anschliessen soll, beweist der umstand, dass sicli vor ihr ein freier
räum von sechs zeilen befindet Dagegen hat sie der Schreiber als
irrammatische arbeit aufij^etasst und auch iinsserlich den inneren zusam-
menhanir zwischen der 1. abhandhuiir und ihr aniredeutet: während er
bei zwei abschnitten der handschrift, die iiüialtlicli von einander ver-
schieden sind, den zweiten mit einer grossen, 3 zeilen umfassenden
initiale beginnen liisst, ist hier beim beginn der abhandlang nur räum
für eine kleine, ZAveizeilige gelassen. An unsere abhandlung schliesst
sich dann unmittelbar der traktat des Olaf Jiordarson an.
Diese fassung der abhandlnng ist nun auf der einen seite angefült
teils mit ganz unangebrachter theologischer gelehrsamkeit, teils mit stel-
len aus dem ersten grammatischen traktate, teils mit stellen, welche
scheinbar ganz in der luft hängen, — alles dies hat die fassung im cod.
Ups. nicht. Auf der andern seite aber entbehrt der cod. Worm. der
figuren der Upsalaer handschrift, auf welche er sich selbst zu wider-
liolten malen beruft.
Das alte ist zerrissen und neu zusammengeflickt, und zwar, wde
schon eine einfache lektüre beider fassungen lehrt, von einem geist-
lichen, der kein besonders grosses talent besessen haben kann, wde es
sich ja beim bruder Ärni zeigte. AYolton und müsten wir von dieser
fassung ausgehen, wir würden nie unsere abhandlung verstehen kön-
nen; sie ist verwirt und verwirrend. Ganz anders steht es bei der älte-
ren fassung. Hier ist alles vom anfang bis zum ende rein sachlich,
logisch durchdacht und scharf gegliedert, wenn wir von dem abschnitte
absehen, der später besonders ins äuge zu fassen ist.
In der auch den andern teilen der Edda eignen katechetischen
weise begint der Verfasser mit den drei arten des tones, nämlich:
1) des tones lebloser gegenstände und zwar a. solcher, die von
selbst tönen (luft, wasser),
und b. solcher, die durch die menschen zum tönen gebracht
werden (stein, waffen); es folgen:
2) die laute der tiere (a. der vögel, b. der landtiere, c. der ^vas-
sertiere),
3) die laute des menschen.
Die entwicklung ist volständig klar und durchsichtig. Der dritte punkt
— und dies führt zugleich von der einleitung zum eigentlichen thema —
gibt veranlassung, die organe, mit denen die menschliche spräche her-
vorgebracht wird, anzuführen und das bild zu gebrauchen, wie mund
und zunge einem Spielplatz gleichen, auf dem die einzelnen buch-
UNTERSUCHUNGEN ZUR SN. EDDA I 137
stabon^ mit einander spielen. An diese benierknng reilit der verftisser
unmittelbar einen zweiten verG:leic]i: die spräche ^deicht der auf der sim-
pliunie hervorgebrachten musik; wie diese durch das zusammenwirken
von taste imd saite hervorgebracht wird, so erzeugt das verbinden
von consonant und vocal die menschliclic spräche. Beide vergleiche
Averden dann durch figuren veranschaulicht, welchen eine eingehendere
erklärung folgt. Wie nun das häkchen der taste und die saite zusam-
mengreifen (Itoidd) müssen, um den ton hervorzubringen, so müssen
sich auch consonant und vokal verbinden, \\w\ den einfachsten klang
der spräche und poesie zu erzeugen, und diese Verbindung ist die
hending. Mit dieser sind Avir unwilkürlich zu dem grundpffMler der
skaldenmetrik geführt und Avir verstehen, weshalb unsere abliandlung
sich unmittelbar vor dem Hattatal, diesem sammelgedichte altislän-
discher versarten, befindet: sie ist die naturgemässe cinleitung zu dem-
selben.
Anders liegt die sache in der zweiten fassung der abband lung.
Hier ist dieselbe aus ihrem zusammenhange losgerissen und bildet ein
in sich abgeschlossenes ganze, das sich nur durch die cähnlichkeit des
inhalts mit dem vorhergehenden und folgenden ganz oberflächlicli
berührt. Indem dies aber vom Hattatal losgetrent Avurde, bedurfte es
einer volstcändigen Umarbeitung. Dies sah selbst ein so wenig begabter
bearbeiter wie Ärni ein. Allein wohin wir auch blicken mögen, überall
sezt diese neue arbeit die alte voraus, jene selbst ist ein ziemlich kläg-
liches werk, nur zu oft ohne einsieht und Überlegung niedergeschrie-
ben. Man vergleiche gleich den eigentlichen eingang, den anfang von
cap. 2 (AM. n, 46. FJ. 50 ^^ fgg.): ]su liafa pesser lutcr^ hlioct, sii-
mcr rqdd ok snmer mal, sem sagt var. Die lezten werte (scm sarjt
rar) sind volständig unverständlich, da vorher kein wort von dem
gesagt ist, Avas hier angedeutet Avird. Nun hiess es aber in der
ursprünglichen fassung (AM. H, 364, 4 fgg. FJ. 56 ^^ fgg.):
En J'Hpja Miofts grein er sii, sem menninir hava; pat heiter
hlioä oh rodd ok mal.
1) Ich gebrauche dies wort im anschluss an das staßr des textes.
2) Die norwegischen eigentümlichkcitcn, die wir mehrfach im cod. W finden,
erklären sich cbenfals aus der annähme, dass Ami der Schreiber sei. Arni stamte
aus dem Avestlichen Norwegen, avo Laurentius seine mutter I*urid kennen gelernt
hatte. In der altertümlichen kirche A'on Borgund, die noch heute den wanderer zum
besudle ladet (Du Chaillu, Im lande der mitternachtssonne I, 417), ist er getauft;
in den anmutigen gefilden dieser gegend hat er seine erste Jugend verlebt (Bs. I,
807. 820).
13S MOGK
A'orlier sind hier die geräiische der demente, die stimmen der tlere
erwähnt. Sacligemäss geht der Verfasser nun zur spräche der men-
schen über. Diese ganze entwicklung hatte der Überarbeiter vor äugen,
als er jene werte schrieb, und da er niclit weiter darüber nach-
ilaclite, dass bei ihm erst folgen solte, was er in seiner vorläge gelesen
hatte, so fügte er jenes an und für sich ganz sinlose sem sagt var
iiinzu.
Ferner lieisst es (AM. II, 4Si<^fgg.; FJ. 51 i'^): I fyrsta hrhig
cru ftorcr stafcr Es ist also von den spiclplatzringen die rede,
von denen vorher gesagt ist: ok V hrimjar erit um l)a stafi slegncr ccta
sctfcr f ?}faals luetti. Die ganze stelle ist uns widerum volständig dun-
kel; wenn wir die figur im cod. U nicht hätten, wüsten wir gar nichts
mit ihr anzufangen. Sie sezt diese voraus und weist demnach schla-
gend auf den vorrang von U hin. Ja am Schlüsse dieses absclmittes
können wir noch deutlich sehen, dass der Überarbeiter jenen ring vor
sich gehabt hat, sonst könte er nicht sagen (xlM. 52, 6. FJ. 52^8):
Titlar cm her sva ritattar scm i qärum ritxluettl, da doch weder vor-
her noch nachher der iitJar erwähnung getan wird. Auch das ganze
fünfte kapitel (AM. II, 56 fgg. FJ. 53 -- fgg.) sezt die zweite figur des
cod. U (AM. s. 368. JF. 57) voraus und wird erst durch sie über-
haupt verständlich.
Zum glück hat der Überarbeiter so ungeschickt gearbeitet, dass
es uns nicht schwer fallen kann, selbst ohne hülfe der kürzeren fas-
sung den echten alten kern herauszuschälen.
Ich finde in der arbeit eine dreifache quelle des Schreibers und
zwar:
1) den kern, welcher, von einigen misverständnissen abgesehen,
ziemlich mit der kürzeren fassung übereinstimt.
2) interpolationen, die aus dem 1. traktate abgeschrieben sind.
3) bemerkungen des Überarbeiters namentlich am eingangc und
Schlüsse, welche durchweg mönchsweisheit enthalten und zu den
sprachlichen bemerkungen passen wie die faust aufs äuge.
Am klarsten zeigt punkt 2, dass in der ausführlichen fassung
unserer abhandlung eine überarbeitende band tätig gewesen ist. Dass
der 1. traktat viel früher als die junge gestalt des sogenanten zweiten
entstanden ist, steht unumstösslich fest. Beide stimmen in verschie-
denen stücken wörtlich überein; diese Übereinstimmung ist so gross,
dass sie sich nur als abschrift des einen aus dem andern erklären lässt.
3Ian vergleiche:
UNTERSUCHUNGEN ZUR SN. EDDA I 139
(AM. n, 52, 5. FJ. 52-"'): dazu aus dem 1. trakt. (AM. II,
lief er titiiU elhi ein La)' ciJll iil 38 2. VD. 13''):
stafs, hcJhJr er Inuin tll shijriit(jar TitiiU hvfcr enn ckki eäU iil shifs^
ritx. etui licuin er J)o Iil slnjuditHjdr
ritx (natüiiich ist dies die einzig
richtige lesai-t).
Yeranlassiiiig-, jene bemerkung einzufügen, gab das lilUir ero sra
rilajjir her scm i oprum rilrJuetti (AM. II, 3G7, ,,. FJ. 59 -'i). Mit
diesen werten schloss regelrecht die erkliirung der figur; ein weiteres
eingehen auf die titlcir war nicht bezweckt, ja wäre überhaupt unan-
gebracht gewesen. Allein der schreibselige Überarbeiter ist nocli nicht
mit jener bemerkung zufrieden^ dass die tilkir eigentlich gar keine
buchstaben sind, er muss uns auch nocli die etymologie des wertes
iiUill geben, natürlich auch nur aus dem 1. traktate.
(AM. II, 38 11. YD. 13 i«.) (AM. II, 52, 4. FJ. 52 ^o);
Tilcin heitir sol, eii J)aä(i)i af er Sol heiter Titan, heiter padfni af
niitihat pat uafn, er titidus er a titiilns i latimi, er ver hol tum
latinu; titull hveäum ver pat er titiil, pat er sein lilil sol, pviat
seni litil sol se, pviat sra sem sol sva sein sol lysir heim allein , sva
hjsir pars aar rar niyrld , pa hjsir lysir titull ont reit ritin.
sva titull bok, ef fyr er ritinn.
K'ach diesem isidorischen erklärungsversuche, welcher sich in der
ersten abhandlung mitten in der erklärung der einzelnen buchstaben
befindet, fährt der Verfasser von I mit der darstellung der einzelnen
buchstaben fort. Das veranlasste auch den Überarbeiter der zweiten
abhandlung nochmals zu den buchstaben zurückzukehren. Er übersah
dabei ganz, dass er etwas zu pergament brachte, was er schon (AM.
II, 48. FJ. 51) im grossen und ganzen gesagt hatte. Bei dieser gele-
genheit fügt er noch eine bemerkung über x und x- (AM. II, 54 ■'.
FJ. 53 ^) hinzu und zwar Aviderum aus der 1. abhandlung (AM. II, 34 o
FJ. 12 rj), ohne auch nur daran zu denken, dass sich diese nicht recht
in einklang mit seinen früheren werten bringen lässt.
Es folgt ein neuer abschnitt, der abermals wörtlicli aus der
1. abhandlung genommen ist.
(AM. n, 30 !•'. YD. 10 12.) (AM. II, 54 k^. FJ. 53 •'.)
Enn fyr pjvi nu, cd sinnir sam- Enn fyrer pvi nii^ at sumer sam-
hlioctendr hafa sin likneski ok nafn hliodendr hafa sitt likneski ok nafn
ok iartein, en sumir hafa hofnä- okiartein, enn sumer hafa hofud-
stafs likneski ok nafn ok iartein, stafs likneski ok skipat stqfum,
140 MOGK
cn sfonf'r hnfa liofuäsfnfx Iili)cshi nnf s?n}frr i )mf)U oh aulit at-
olc i^ki'pat sfoffn)i samra i nafni hrffdi bccdi iiafus ok iartcijtar,
oh auhlt athrrcdi hrciH nafns oh cnn sumcr Itnllda lihjfr.^hl sf}iu oh
tarfcifiar, cfi sm/fir IntUda lihficshi er Jto nn}nihaf aihrccdl unfns
sinn, oh er J)o nihuihaf athvccdi pcira oh iartcin s?( , er Jtcir shida
?iaffis peira, oh iarfrifi sn , er J)cir bcra i malinu pcirl lih er i nafn-
shuh liafa i nidlinii, shal peiri iiui rerctr; pa shal nu stjua leita
lih er i nafnifiN rerda, Jm shal bccdi lihjieshi J)cira oh sva iiqfji
}U( sf/na leita bccdi Iih)ieshi peira fyrer ofan ritud, at yfrr pri})i
oh sva tiofn fffr ofan ritin, at Diecji nu allt sanian Uta er aaär
ijfir ])at meyi nu allt satna// Uta, rar su}ulr lausliya um rcctt.
er adr rar sundr JausJega um rcctt.
Hierauf folgt in beiden abliandlungen das grosse und kleine
alphabet, in II. ^vie der herausgober in AM. ganz richtig hervorhebt
„non sine confusione."
Der vergleich der oben angeführten stellen bedarf avoI keines
kommentars, um die herübemahme des Überarbeiters aus der ersten
abhandlung als tatsache hinzustellen. Schauen wir jezt auf die beiden
andern teile des überarbeiteten textes, auf den eigentlichen kern und
die theologischen bemerkungen des Verfassers. Auf den ersten blick
tritt uns hier ein auffallender gegensatz vor die äugen. Auf den kla-
ren, logisch strengen gedankengang der ursprünglichen fassung in U
machte ich schon aufmerksam; diese gedanken hat der Überarbeiter im
ganzen beibehalten. Wo sich U mit W deckt, ist alles rein sachlich,
die spräche ist edel, aber ohne jeden rhetorischen schmuck. Von einem
hinweis auf gott finden wir keine spur. Ganz anders der eingang und
der schluss der Überarbeitung. Bemerkungen ohne allen Inhalt, Unklar-
heit, tautologien und rhetorische Wendungen, in denen der dichter sich
nicht verleugnet (man vgl. die bindungen shrfjddr oh prfjddr, neyti oh
vjoti, limir oh lidir)^ eine breite, oft widerliche spräche, die öftere Ver-
bindung coordinierter sätze durch eda statt oh, dabei stete seufzer zu
gott und zum Schlüsse das grosse halleluja auf den dreieinigen gott^
das ist das machwerk unsers Überarbeiters, durch welches er sich uns
zur genüge als einen wol gläubigen aber ziemlich beschränkten kleriker
vorstelt Seine eigenen worte mögen zeigen, wes geistes kind er war:
(AM. II, 44. FJ. 50.)
Xu fijrer Jni, at madrinn se shynsamlcgum. anda shryddr oh
pryddr, pd shilr liann oh greiner allra luii giqrr oh glqggra, en onnur
hyhvendi. pa neyti oh nioti pess laus med giidi. hiarta mannz. hen-
ner all^ oh vid hiartat liggr bccdi barhi oh velendi oh andblasnar
UNTERSUCIIUNGEN ZUR SX. EDDA I 141
oiäar renna J>ar upp oh rcctax hceiti Jicer cc3.ar, er hcra vind eita
hlastr, hIo(t ccla Uo(t, ok a cuuian vcg liorfa pccr sva, at jKcr madax,
viä tinnju ra-tr }ticd Jn-i hrcrr er Jnwf; rcfi/t ok rodd iipp l])rcr licerlu
oräi. Juirf ok )ne(t ordi hverin priar pessar g reiner: niinni ok rlt ok
skilniny; inlnnl at niaiia orda atkvcedl, vit at luajsa hcat liann vill
mcekij skilnuKj til pess, livat l byr ordiounn.
Und weiter lieisst es am Schlüsse:
(AM. II, 58. FJ. 5-iio).
Osamia, seger Jioii (tiiii(ja)i) , pat pydix a raura tiuiyn sra: yrced
Jm oss. P^fifi J)at er a ehreskit mcelt, ok stakk ha)ia )iattarau til pess
fyrer pvi at hon rar fyrst ok yekk pa ifin allein heim, Jjanyatiil er
ynd skipti pei))i. — Xn seyir par til, at henni pwtti heuin vera styri-
madrinn, er hann. skapadi hana ok af kristx nafni er kristnin koll-
ud. Ver^ er kr istner eruvi, kolUini hami hofud vädrt, enn ver hans
linier ok lidir, ok hans sonr er sa, er hann sendi hinyat i heim, ok
sa er vädrr fader, en ver licins born. Var ok faderinn vcenliyr til at
stiorna sinum bornum sva sem bext yeyndi; var pi ordit or messunni
til tekit, at liann vissi hverr lofsonyr honum potti mestr framm fl/ittr
pessa heims vid sik sialfan, er par ok vaeir hialp oll i folgin, er um
hans pisl er rcett ok seiar, er liann poldi a krossinum helya er or rann
bcedi blöd ok vat)i, ok i pi erum ver skirdir, er reit truum a almattk-
an giid. Ok pat hans holld ok blöd, er i messunni er framm fhät,
er vart farnest, pa er ver forum af pessum heimi. Nu skal fjat vaan
vaar at vcetta fjess at sva fremi farix oss vel, er sva verdr sem hann
hefer fyrer sied, at bcedi se at hann er i fqr med oss ok ver med
honum, pa er ver forum heim til fodurleifdar vaarar; ok pa er hann
hefer skipt sinn lidi sier til hcegri handar epter clomsdag, pa skulum
ver hefja npjp eiUehda fyrer pvi at pat er eigi iardneska sqngr; syngia
P>etta pa aller saman tili fylki guds engla ok manna, pa er almattigr
gud ferr medr sina ferd heim i himinrikis dyrd ok skulum pa una
i sifellu sva at alldri skal epter verda med gudi almatkum par sem
heinn er cß ok ce med fedr ok syni ok helgum anda, sa er Ufer ok
riker einn gud of ciliar allder verallda. amen.
Die aDgefügteii stellen glaube ich genügen, um mein urteil über
den Überarbeiter zu rechtfertigen. Hervorgehoben sei nur noch, dass
die bemerkungen über das Ösanna und das Alleliija aus Isidor (Orig.
YI, k. 19) geschöpft sind, alles andere ist z^yeifelsohne machwerk des
Überarbeiters selbst. Yon all dieser theologischen Aveisheit hat die kür-
zere fassung in U kein wort. AYenn wir nun auf der einen seite die
als tatsache erwiesene herübernahme aus der ersten abhandlung im
142 iiOQVi
au^-Q behalten, dazu die volstiiiulii;o verscliiedonlicit aucli der anderen
stücke, auf der anderen seite aber hervorheben müssen, dass von allen
diesen die fassung im cod. Ups. nichts hat, so glaube ich, liegt es auf
der band, avo der ursprüngliche text unserer abhandlung zu suchen
ist. Auf diesen werden wir aber auch geführt, wenn wir endlich noch
ilen kern in der ausführlichen fassung mit der kürzeren vergleichen.
Bereits die oben betonte tatsache, dass die fassung in W die in
U voraussezt, niuss uns für leztere handschrift einnehmen; weitere oft
ganz widei*sinnige auffassungen und anderungen nötigen uns für immer
mit der ausführlichen fassung zu brechen.^
AM. II, 48 '. PJ. 51 1- heisst es in W:
Mui1ri/nf rr IrikroJIr onfamuf, rn tiDtcjau stijrüt.
U hat nur:
Miijn'iun ok iH))fja)i rr h'ihvolJr orjxtiuia.
Lezteres ist das allein richtige. Der Überarbeiter von W ist ganz aus
dem bilde gefallen, indem er auf den Spielplatz auf einmal das schifs-
steuer bringt, denn nur dieses bedeutet sfpri. Doch selbst angenom-
men, sfi/ri sei an unserer stelle das holz, mit dem man den spielball
zu schlagen pflegte, das luatttre oder die knaüyiklra, wie es einmal
in der Grettissaga (s. 27 2^) heisst, so zeigt doch der ganze Zusammen-
hang, dass dies hier unangebracht wäre: Auf der zunge spielen die
feststehenden „buchstaben" gerade so wie auf den lippen, und der
gaumen ist nicht weniger tätig als diese beiden teile unserer sprach-
werkzeuge.
Xach der ersten figur (AM. s. 367. FJ. 57), welche sich ja nur
in U befindet, auf die sich aber der text beider fassungen beruft, heisst
CS in ^\ (AM. 48^^. FJ. 51 1-^):
I fijrsta liruig eru fiorer stafer, er heita hofnästafir, pa ma tu
cinslis (uinars nyta, cnn vera iipphaf oh ftjrer octriwi stofuni J). v
(so heisst es natürlich für das handschriftliche y). h. q.
In U dagegen haben wir (AM. 366 1. FJ. 58 i):
/ fyrsta bring ero IUI stafir; pa ma til enslds annars mjta en
vcra fyrer ojn'um stop im —
Aus versehen liatte nun der ursprüngliche aufzeichner oder der
Schreiber der vorla^-e von U die an dieser stelle notwendigen buch-
en
1) Ich kann mich hier etwas kürzer fassen, indem ich auf die gründliche
ncbeneinanderstellung von F. Jonsson s. XVI fgg. verweise. Es sind hier hauptsäch-
lich die .stellen herausgogiiffen , die F. J. nicht berühil oder die ich anders aufzufas-
sen gezwungen bin.
UNTERSUCHUNGEN ZUR SN. EDDA I 143
stabon />. r. h. q wog'gelassen und sie unter dem runenzeiclien p' an
den rand geschrieben. In dem uns erhaltenen cod. U sind sie aber
falsch eingetrag-en und eine zeile zu tief gekommen (ein recht charak-
teristisches beispiel für den flüchtigen und gedankenlosen Schreiber von
U!). Dabei hat der Schreiber \\)\\ U nicht unterlassen, in seiner fahr-
lässigen weise auch das ^ mit in den text aufzunohmon. Auf sfoftnn.
muss also folgen: /;. v. //. 7. Dies gibt allein sinn und recht guten
sinn. Die note zu AM. II, 30(5: „/), It , q ad primum, p' ad secun-
dum, // ad tertium circulum pertinet'^ ist ohne sinn. Dass die rune hier
nicht am platze und einfach durch jenes schreiberversehen in den text
gekommen ist, liegt auf der band. Wie aber dieses zeichen gebraucht
wurde, um versäumtes nachzuliolen, zeigt z. b. die Konungsbuk der
Grägäs (GriUjds III, Styll-cr, soni fnidcs /AM. 351 fg. usw. s. 483). Und
dass man y — so hat die handschrift — nicht als bilabiale tönende
Spirans auffasste, ist nicht recht verständlich, da ja diese Schreibweise
für V in den isländischen handschriften ziemlich oft vorkomt (vgl. z. b.
Gislason, Um frumparta s. 61 fgg.)- ^ Prüfen wir nun aber die stelle
auf ihren inhalt hin. Nach AV sollen sich h, v, p, q nur im anlaut
und vor andv'ren buchstaben finden. Das ist unrichtig, denn in allen
handschriften können Avir r und q — /> bleibe zunächst noch bei seite —
auch im inlaute finden. (Gislason a.a.O. s. 61fgg. 82fgg). Es kann allein
nach U heissen: p, h, v, q finden sich nur vor anderen buchstaben,
d. h. sie konnnen nie im auslaut vor.^ Dass aber der Überarbeiter von
W gerade auf das vera iippltaf einzig und allein den ton gelegt hat,
beweist das folgende, denn er bringt durch diese auffassung einen zwei-
ten unsinn in seine arbeit, der sich auch in den folgenden teilen sei-
ner Überarbeitung widerfindet. Da nämlich unser kleriker von der
annähme ausgieng, dass jene laute nur im anlaute vorkommen, bezeichnet
er sie als liqfiKhiafir {er heita Itofnästafir AM. II, 48 ^^. FJ. 51 1^).
Und als er nach einer stelle aus dem 1. traktate (AM. II, 52 1. FJ. 53^)
von sich selbst abschreibt, widerholt er diese auffassung, die er höchst
wahrscheinlich aus der 1. abhandlung erschloss, ohne dabei zu mer-
ken, dass hqfiiästafr in dieser eine ganz andere bedeutung hat. Hier
hat nämlich das wort durchweg die bedeutung „majuskel." Der Über-
arbeiter wirft also den buchstaben, der nicht im auslaut stehen darf,
mit dem zusammen, der nur im anlaut vorkomt, er vermischt weiter
1) Ygi. dazu Fiiinur Jonsson (s. 91 fg.), der sich ähnlich aiisspriclit.
2) Brenner betont ebenfals (a. a. 0. s. 275) , dass unsere stelle auf mcMs ande-
res hindeute, als auf die unfäliigkeit dieser vier buchstaben „im woii- (und silbcn-)
auslaute" zu stehen.
144 MOGK
konsonant im aiilaut und inajuskel — gonug Zeugnis, dass er selbst
für die einfochsten dinge wenig vei-stiindnis hatte. ^
AM. II, 50 ^'\ FJ. 52^ lieisst es: a i o //. pcsscr giora cinar
sawan taot'il ^''<^' ^'^'^ shanii mal giqra J)cir siaJfir. — Die vier vokale
a, i, 0, 1/ fehlen in U, mit vollem rechte, denn:
1) alle vokale — Jwsscr geht auf die laute im dritten ringe der
figur — können ein wort ausmachen, nicht nur jene vier;
2) AV komt mit sich selbst in Widerspruch, da es später wie U auch
ij, (c, cy (ci) unter den beispielen anführt.
Das widersinnige af luicigingum (AM. II, 52 ^. FJ. 52 ^") in W
ist schon von Rask nach U verbessert.
Dass AM. II, 52^1 FJ. 52 ^^ überall die einfache majuskol für die
verdoplung steht, ist auch niclit richtig, wie Avidcrum die figur und
jede handschrift aus dem 13. Jahrhundert zur genüge zeigen. U hat die
verdoplungen richtig.
So zeigt sich fast an allen stellen, wo die frage an uns heran-
tritt: welche fassung enthält das richtige? dass U nicht nur die ricli-
tige, sondern überhaupt die einzig mögliche lesart bietet. So lange
man aber dies nicht erkant hat, wird man weder dem Verfasser auf die
spur kommen, noch die bedeutung der abhandlung begreifen. Wir
müssen dieselbe volständig aus der gemeinschaft der grammatischen
abhandlungen, in die sie nur der niönch von J)ingeyrir gebracht hat, los-
trennen imd sie mit IJ als teil des werkes betrachten, dem sie allein
angehört, der eigentlichen Edda.
1) Finnur Jonsson nimt die lesart vön ^" in den tcxt auf (s. G3-^), jcdosfals
ini hinljlick auf die imcUrstafir (65^), d. i. die konsonanten, die uicht im anlaute
stehen düifen. H'^fuästafir komt in der nordischen spräche in zwiefacher bedeutuug
vor: im ersten grammatischen traktate als majuskel und in Suorris llattatal als
hauptstab des halbverspaares, der in der skaldendichtung den zweiten halbvers
begint und den Stabreim der beiden vershälften beherscht; nach ihm richten sich die
studlar Olöbius, Hattat. 11, 1 ^® fgg.). Im einen wie andern falle haben wir sprach-
lich richtige Zusammensetzungen, denn hqfud- als ei-ster teil der composita bezeich-
net sowol die räumliche grosse als auch die hervorragende Stellung, die der zweite
teil der Zusammensetzung in seiner gattung einuimt. Anders stände es mit der erklä-
rung des hf^fudstafr in der vorliegenden abhandlung, selbst wenn wir das wort
übersetzen könten „buchstabe, der nur im anlaute vorkomt.'' Dann könte einer der
vier buchstaben doch nur hqfudstafr der buchstaben des wertes sein, an dessen
spitze er steht. Fast jedes andere wort hätte einen andern hqfudstafr und wie viel
buchstaben berechtigt sind, an der spitze eines wertes zu stehen, so viel wären auch
berechtigt, hrifuästafir genant zu werden.
UNTERSUCHUNGEN ZUR SN. EDDA I 145
Der Verfasser der abhandlunji' und ihre bedeutung.
Das sicherste zeugnis, dass das ganze curpus eddicuni von Snorri
8turluson oder wenigstens unter dessen loitung veifasst ist, ist unzwei-
felhaft die älteste Überlieferung selbst; es sind die schon oft citierten
Worte, welche an der spitze der Upsalaer handschrift stehen und vom
Schreiber jdes codex oder wol eher von dem seiner vorläge heiTühren:
Bök pessi lieitir Juhla. Ha/ui hcfir .s(unans(tta Snorri Sfurlusoit
epiir Jteiin luftti, sem her rr skipaf: er fyrsf frn dsum ol: Ytni,
Jxniupst Sh(/(Islapaf )/fäI oh lieiti manfru Iduta, slitdst Ihiftdfal,
er Snorri J/rfir ort inn Iläkott lonniu) ok Sküla Itertaija.
Dies unzweideutige zeugnis konte man nur über die achsel ansehen,
so lange man annahm, dass die interpolierte gestalt der Edda die
ursprüngliche sei. In Deutschland dürfte wol jezt die Irrigkeit dieser
annähme bei allen feststehen, die sich eingehender mit Eddakritik
beschäftigt haben. Für Skäldskaparnu'd hat es Müllenhoft' (DAK. Y,
s. 177 fgg.) zur genüge gezeigt, nachdem ich bei Gylfaginning (Pß.
Beitr. VI, 499 fgg.) und Hättatal zu gleichem resuitate gelangt war
(Zs. f. d. phil. XIII, 238 fgg.). Was sich für diese drei hauptteile der
Edda ergab, zeigte aber auch die eben durchgeführte Untersuchung für
den abschnitt, den man als granmiatischen traktat aufzufassen pflegt.
Nun weiss aber der cod. IT nur von jenen drei hauptteilen der Edda,
dass sie Snorri zum Verfasser haben; von den sprachlichen erörterun-
gen erwähnt er nichts. Dass diese aber nicht besonders hervorgehoben
sind, hat bei näherer betrachtung seinen guten grund.
Abgesehen davon, dass der Schreiber der Überschrift, wer er auch
gewesen sein mag, jene wenigen seiten leicht als nebensächlich über-
gehen konte, scheint er dieselben gar nicht als abgeschlossenes ganze
aufgefasst zu haben, sondern als teil desHättatals, der zu diesem ebenso
gehöre, wie der formäli zur Gylfaginning, oder die erzähl ung von dem
göttergelage bei^Egir zu den Skäldskaparmäl. In diesem falle brauchte
er aber jener sprachlichen erörterungen ebensowenig erwälmung zu
tun, wie dieser einleitenden bemerkungen oder erzählungen. Dass aber
der kern dieser kapitel denselben mann zum Verfasser hat wie die
übrige Edda, legen verschiedene erwägungen mindestens sehr nahe.
Alle teile der Edda, welche mit ziemlicher bestimtheit Snorri zu-
gesclmeben werden, beginnen in katechetischer form; dass dieselbe
nicht bis zum Schlüsse durchgeführt ist, beweist wie so vieles andere,
dass Snon-i sein hauptwerk in unfertigem zustande hinterliess. Dem
entsprechend beginnen auch unsere kapitel mit dpr frage: hrat er
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. -LO
146 MOGK
hljöäsgrein? die antwoit uiul die weitereu tragen und antworten ent-
sprechen ganz dem oingang dos Hattntalsi.
Ferner zeigen die wenigen Seiten, soweit wir sie mit ziemlicher
bestimthoit dem Snorri zuscln-eiben können, dieselbe klarheit im aus-
driick und dieselbe behersehung der muttersprach o. Ellipsen, die uns in
den übrigen teilen der Edda so oft entgegentreten, wie svd ok, seni her
u. dirl.. finden wir auch hier. Ein weiterer umstand komt hinzu. Man
hat es auftiillig gefunden, dass unsere bemerkungen so weit ausholen und
mit dem einfachen naturlaute beginnen. Aber gerade das ist, was ganz
entschieden für Snorris Verfasserschaft spricht. Alle seine werke begin-
nen ab ovo: die Heimskringla, wie schon der nanie sagt, mit dem
erdkreise und führt dann mit den aus Asien eingewanderten äsen hin-
über zur geschichte des skandinavischen nordens; die Gylfaginning mit
der Schöpfung von himmel und erde; auch hier führen die wanderungs-
sagen hinüber zu der götterlehre der alten nordländor; die Skaldskapar-
mal beginnen mit einem gelage, das der meerriese ^Egir gemeinsam
mit den göttern hält, und hierbei ist es der späte dichtergott Bragi
selbst, der jenen in die geheimnisse dichterischer Umschreibungen und
ausdrücke einführt. Auf ähnliche weise beginnen die vorliegenden
bemerkungen mit dem einfachsten tone der elemente, gehen dann zum
laute der tiere über und von diesem auf den laut der menschen, der
der einfachste bestandteil seiner spräche und dadurch auch seiner dicht-
kmist ist.
Nicht ohne bedeutung ist auch die benutzung der abhandlung
und die art dei*selben durch Olaf pördarson, dem lieblingsneö'en des
grossen forschers, der in Snorris sinne die wissenschaftlichen plane des
oheims fortsezte. Dieser hat ausser anderem auch unsere abhandlung
benuzt. Es heisst doch den Sachverhalt geradezu auf den köpf stellen,
wenn man ohne triftigen grund die zweite abhandlung gleichsam ein
echo der dritten nent.
1) Müllenhoff (a. a. o, s. 167 anm.) sagt: ^diirch die frage hva erä hlioäsgrein?
mit der antwoit prenn hrer scheint allerdings der aufang in u der katechetisclien
fonn der Edda angepasst zu sein." Diese auffassung ist mir nicht recht verständlich.
Nach Prenn gehört natürlich ein punkt und nach hver ein fragezeiclien , sodass wir
hi'^^'r denselben eingang wie im Hattatal liaben: Hvat er setniny Juitta? trenn. Hver?
tala ok grein. Wenn die katechetische fonn nicht foiigeführt wird, so kann dies
doch nicht die unursprünglichkeit erweisen, denn auch in 8km. und dem commentar
zum Hattat. ist sie nicht bis zum ende durchgeführt. Ja die katechetische form
weiter zu führen, wäre nicht einmal angebiacht gewesen, da die ausfühi-ung über
die drei arten des lautes eben die antwort auf die zweite frage ist.
UNTERSUrHUNGF.X ZUR SN. EDDA I 147
Es steht zunächst fest, dass TT uiid TTT" (d. i. der ^grammatische
teil von TII) auffallende iibereinstimmuivi;(Mi halben, die nur aus gegen-
seitiger oder gemeinsamer entlehnung sich erklaren lassen. Ich komme
kurz auf diese zu spreclien, da sie auch fiir Snorris bemerkungen (II)
nicht ohne interesse sind.
Wie II mit der frage begint: Was gibt es für arten des lautes?
so gellt auch Olaf vom laute, hljöä, aus [AlU rr Jf/J6(f, pat er tun
kn'Lrcndis cfjnf wd sk/'IJa Björn Olsen s. 3)^-), und die überscliiift in
der ursprünglichen fassung, in der handschrift AM. 748. 4^, lautet:
at (jrcina hljöif. Als laut fasst Olaf demnach alles, was man mit den
obren wahrnehmen kann. Ganz dasselbe versteht ja auch der veifasser
von TT imter Jiljöft. Dann geht Olaf auf den verschiedenen Ursprung
des tones ein und zwar zunächst auf den ton lebloser gegenstände.
Er unterscheidet dabei bewegliche und unbewegliche dinge, die töne
erzeugen; zu ersteren rechnet er wind und wasser, zu lezteren steine,
metalle und saiten, die durch berührung mit anderen gegenständen
einen ton hervorbringen (s. 34). Dazu vergleiche man die werte in IT:
pat er ein (frcin Jiljöäs, er pytr vectr rcta vciUi nta srcr rcta l'jqnj ctta
jqrä ecta grjöt hrynr. Dann wird auch hier weiter erzählt von (Umu
tone, er malniarnir gera und endlich: pat gera hqrpfirnar. AVir
sehen also dort wie hier ganz dieselbe gliederung.
Die zweite art des tones bringen die lebenden wesen hervor. In
beiden abhandlungen folgt dies auf jenes.
IL (AM. II, 36410. FJ. 62 n). ITT. (AM. IT, 64. B. 0. 35^1).
Onnur hijöcts grein er sü, sem Af lifandi lihitu)H Jjeint, er sLgjt
fuglarnir gera ecta dyrin ok se hafa, verär an)iai hljoä, Juit er
kijqvincli; pat heitir rodd. rqdd heitir.
Während darauf aber II in der darlegung der stimmen der tiere
fortfährt, knüpft der Verfasser von Iir' nach einigen bemerkungen über
die Sprachorgane, die ebenfals II entnommen sind, die erklärung der
„vox" nach Priscianus an (35 ^^ fgg.). Hierdurch ist auf einmal Olaf
zu der spräche und durch diese zur schrift geführt; er gibt erklärun-
gen beider nach seiner lateinischen quelle; wie er so plötzlicli zu die-
sen gekonnnen ist, geht aus dem inneren zusammenhange nicht her-
vor; sie erklären sich nur aus dem Avechsel der quellen. Mit Priscianus
ist er auch zu dem stafr gekommen, dem buchstaben, als dem klein-
sten gliede der spräche und dem grundpfeiler aller dichtungi. Ganz
1) Dass Olaf wie Snorri den gesproclieuen laut und das gpschiiebeue zeichen
zusammenwirft, darf U7is nicht wiuider nehmen.
10*
148 MOGK
anders in II. Auf den laut der tiere, der hljoit und rockl zugleich ist,
folgt die spräche der menschen, die in sich l/ijöd oh' rojkl ok mal ver-
einigt: die uuzertrenlichen begleiter dieser sind gedächtnis und ver-
stand.
Wir sehen also, dass nicht nur II und III gleichen ausgangspunkt
haben, sondern dass sie auch ein bedeutendes stück neben einander
mai-schieren, und zwar so lauge dem (')laf seine lateinischen quellen
keinen stoff gewähren. Schon hierin liegt, dass II auf keinen fall III
benuzt haben kann: dort geht die klare entwicklung ununterbrochen
fort bis zum ende: der einmal entworfene gedanke wird durchgeführt.
Hier dagegen wird er abgerissen und ein neuer angeknüpft. Aber
die beiden arbeiten II und 111 haben wol auch nicht eine gemeinsame
quelle gehabt. Ware dies der fall, so müste sich diese mit II im liin-
blick auf dessen logische entwicklung decken. Ich kann aber beim
besten willen niciits linden, was diese annähme stützen könte. Kein
wort spricht dafür, dass in II ein alter lateinischer grammatiker benuzt
sei. Björn Olsen hat dies wol behauptet (Om Runerne s. 70), aber mit
keinem worte zu beweisen gesucht. Auch für eine gemeinsame islän-
dische quelle lässt sich nichts vorbringen. Dass hljöäsgreiv im ein-
gange von UI\ also in den teilen, die im ganzen mit II übereinstim-
men, in derselben bedeutung vorkomt wie in 11, während es in den
späteren abschnitten das Priscianische towr widergibt, dass Olaf hljöit-
stafr ebenfals im eingange einmal als heimischen ausdruck für vokal
gebraucht, während wir sonst bei ihm als Übersetzung des lateinischen
„vocalis" raddarsiafr und der „consonans" samhijöäandl finden, bew^eist
doch wahrlich nicht, dass die Übereinstimmung aus gemeinsamer vor-
läge stammen muss^. Warum soll sie der Verfasser von III nicht auch
aus II haben nehmen können? In II sind die einmal gewählten gram-
matischen ausdrücke bis zum ende gleich, sodass auch von dieser seite
die abhandlung ihren einheitlichen Charakter bewahrt. — Dagegen
spricht alles dafür, dass II von Olaf in IIP benuzt worden ist: im
anfange folgt die einleitung von IIP II treulichst, sobald aber mit der
erklärung der spräche die lateinische quelle da ist, springt der Verfas-
ser von II ab und folgt dieser fast ausschliesslich, abgesehen von den
1) Umhiyr, das Björn Olsen ebenfals für seine ansieht anführt, beweist eben-
sowenig. In ITT findet sich stets Uiiiinffr oder das grieeh. diphthongos der vorläge.
Nur einmal (s. 47^^) heisst es: Girlir Lalla Jtnnn staf dlplithomion, pat er tfi-
hljoär ä norrcpna tunf/ii. Diese stalle ist aber eine einfaclie Übersetzung von Pii-
scians (I c. .öO): Diphthougi autem dicuntnr. quod binos phthongos, hoc est voces,
comprehendunt.
UNTKIJSUCHUNGEN ZUK SN. KDDA I 149
abschnitten über die runen, avu lt andere (quellen aussehreibt. Die
zweite abhandlung ist in ihrer ursprünglichen gestalt ein einheitliches
werk vuni anfang bis zum ende, Olafs ein zusammengetragenes; jenes
entspricht seinem charakter nach ganz der Edda in ihrer ursprünglichen
gestalt, dieses ganz dem überarbeiteten texte, jenes hat nationalen,
dieses humanistischen anstrich. Ich trage daher kein bedenken in II
die quelle des ersten teiles der Olafschen abhandlung zu finden und
hierauf einige weitere Schlüsse zu bauen.
Fragen wir uns, wie hat Olaf seine aufgäbe im ersten teile seiner
sprachlichen abhandlung gefasst und was muss infolge dessen seine
ansieht über II gewesen sein? Hierüber kann nach seinen eigenen
Worten, wie sie im 5. kapitel (BO. s. 51) vorliegen, kein zweifei her-
schen : durch die Verbindung gleicher consonanten mit gleichen oder ver-
schiedenen vokalen in je zwei Wörtern entsteht die lianduuf^ d. i. der
reim (binnenreim); ihm ist also die ganze abhandlung über die buch-
staben der Wegweiser zum Verständnis der dichtkunst, über die er im
zweiten teile seiner abhandlung (IH'') Untersuchungen anstelt. Das
metrische berührt er dabei nur ganz obertlächlich , Aveil es schon im
Hättatal und dem commentar dazu genügend erörtert war^; ihm kam
es mehr auf die dichterische spräche, die poetischen hguren u. dgl. an,
die einzige seite der dichtkunst, die Snorri in seiner Edda nicht behan-
delt hatte, und so solle seine abhandlung diese gewissermassen ver-
volständigen. Da nun Olaf sprachliche und grammatische darlegungen als
vorstirfe der metrischen für nötig erachtete, da er weiter sich fast überall
bei seinen arbeiten Snorri zum vorbild nahm, da ferner von ihm II
oft'enbar benuzt ist, so liegt der schluss nahe, dass er auch hierin sei-
neui vorbilde folgte. Er fasste die dem Hättatal vorangehenden kapitel
als einleitung zu diesem, und nach alle dem, was wir über das Ver-
hältnis von Snorri und Olaf wissen, sind wir zur annähme berechtigt,
dass er diese auffassung Snorris eigner person verdankte.
Zu all diesen inneren gründen, die dafür sprechen, dass Snorri
der Verfasser jener einleitenden kapitel ist, tritt ein äusserer, der uns
zugleich aufklärt, wie dieselben entstanden sein mögen.
Die kapitel haben in der alten Upsalaer handschrift die Über-
schrift: her segir af setnlugo hatta hjcldlsins (Sn. E. II, 364). Finnur
Jönsson verwirft dieselbe. Overshifteu kattu Ikke vcere rigtiy (s. 87) —
1) Vgl. Sn. E. II, 148. B. 0. s. 96: petta hoUiiin vir adalhendinfjar i skdld-
skap olc taka af Pessi figüru upphaf peir hcettir, er med hendimjwn eru samcm
settir, ok breytix pat d marga ver/a, sein fintia\ man i pii hdttatali , er Snorri
Jiefir ort.
150 MOGK
und dann folgt, eine erkläriing-, die meines erachtens ganz lialtlos ist.
Ton seinem Standpunkte aus kann sie allerdings niclit richtig sein,
aber schon der umstand, dass doch sonst in U die Überschriften richtig
sind, hätten die frage nahe legen sollen, ob der folgende Inhalt mit der
Überschrift sich doch nicht zusammenbringen liisst. Gewiss findet sich
in den kapiteln kein wort über die lupüir, aber unmittelbar nach
ihnen, ohne irgend eine Überschrift oder ein zeichen, dass hier ein
neuer abschnitt anhebt, folgen die anfange der ersten 36 visur des
Hattatals mit den namen der einzelnen hccttir (abgedruckt Sn. E. II,
369 fgg.)? ein umstand, der nicht übersehen werden darf.
Wir wissen, dass das gedieht Hattatal zunächst als ein „von sei-
nem commentare unabhängiges und durchaus selbständiges werk" (Mö-
bius, Hättat. I, 19) um das jähr 1222 entstanden ist. Der commentar
ist zweifelsohne später und nur zum geringen teile von Snorri selbst
verfasst Wenn wir nun hier die stophenanfänge noch ohne commentar
und nur mit aufzeichnung der namen der einzelnen hcettir haben, so
muss diese niederschrift vor die entstehungszeit des commentars fallen,
ja ich glaube, dass sie der erste entwiirf zu diesem ist. AVir wissen,
dass Snorri abschnitte der Edda nicht selbst aufgezeichnet, sondern
unter seiner leitung hat niederschreiben lassen^. Das scheint auch hier
der fall gewesen zu sein. Snorri hatte einem seiner schüler den plan
über die erklärung des Hattatals entworfen und den eingang, einige
bemerkungen über laute und die spräche als den grundpfeiler aller dich-
tung, selbst ausgeführt. Dies solte der schüler weiter spinnen und dann
zimi commentar des gedichtes übergehen. Lezteren wusste aber der
bearbeiter nicht recht anzufassen und so begnügte er sich anfangs mit
aufzeichnung der Strophenanfänge und der namen der hcettir, bis ihm
der meister den weg weiter wies. Und wie die ganze Upsalaer hand-
schrift eigentlich mehr ein Sammelwerk bald mehr bald weniger aus-
geführter entwürfe ist als ein zusammenhängendes ganze, so fand auch
dieser erste entwurf aufnähme, der jedenfals eine ganz andere gestalt
erhalten hätte, wenn Snorri die lezte band an das grosse werk seines
lebens gelegt hätte.
Haben wir so in grossen umrissen die entsteh ungsgeschichte der
einleitenden kapitel des commentars zum Hattatal zu entwerfen ver-
sucht, so tritt als weitere frage an uns heran: Lässt sich in unserer
fassung eine doppelte arbeitsweise erweisen? Ich glaube, diese frage
bejahen zu müssen.
1) Vgl. u. a. auch die Überschrift in AM. 748 (Sn. E. II, 428): — pvi sein fyrir
fundid var i kvceäum lu^futskallda ok üiiorri hccfir sißaa sauianfccra latit.
UNTERSUCHUNGEN ZUR SN. EDDA I 151
Die erklarung der viereckigen figiir (nr. IT) zerfält offenbar in zwei
teile, deren zweiter von den werten Her stcutda (AM. II, 369 •' fgg.,
FJ. 65, 27 fgg.) bis zum ende geht. Finnur Jonsson hat den ganzen
abschnitt eingckhunmort und ihn als späteren zusatz und als eine wider-
gabe des ersten teiles bezeichnet (s. 9()). Dagegen hebt auch Brenner
(a. a. 0. s. 280) mit vollem rechte hervor, dass man das vielmehr vom
ersten teile anzunehmen berechtigt sei, da der zweite ein ungleich kla-
reres bild als der erste gebe. Wenn w'ir beide teile ganz vorurteilsfrei
lesen, so werden wir sofort erkennen, dass beide dasselbe sagen, dass
beide eine erklarung der figur geben; in beiden teilen werden die con-
sonanten mit tasten, die vokale mit densaiten der simphonie verglichen,
in beiden ist von einem reissen und stossen der saite durch die tasten
die rede. Xur ist der zweite sofort volständig klar, während der erste
an verschiedenen stellen rechtes kopfzerbrechen macht. — Das erste wort
des zweiten teiles ist her. Dies weist auf einen ganz bestimteu punkt
hin, und dieser kann nur die buchstabentabelle sein. Dieser muss
sich ferner unmittelbar vorher befinden, und selbst die offenbar gesuch-
ten flickworte am Schlüsse des ersten teiles (sem nü er ritat aar l
stafa seUdnginni) ändern an diesem logischen zwange nichts. Dem-
nach gehört der zweite teil von haus aus unmittelbar nach der figur:
mit seiner hülfe wird uns erst der erste verständlich. Dieselben män-
gel, die der erste teil der erklarung der viereckigen figur hat, zeigt
aber auch die erklarung der ersten figur. Diese beiden abschnitte sind
es, die allein in der ganzen abhandlung Schwierigkeiten bereiten, und
die prüfung wird zeigen, dass ihr Verfasser weder ein klares bild von
seinem spiele gab noch von der simphonie hatte. Nun schliesst der
teil, der von den lauten und der spräche im algemeinen handelt, mit
den Worten: Mnärhin oh huigan er leilivqUr oräanna. Aj)ei)n velli era
reistir stafir peir, er mal allt gera, ok hendir tndlit ymsa svd til at
jafna sem hqrpiistrengir ecta erii lestir Igldar i simphonie. Hier ist
wol der mund mit dem spielplatze der werte verglichen, aber ein ver-
gleich des Spieles der buchstaben untereinander, sodass daraus die
Avorte oder silben entstehen, ist nicht angedeutet, sondern ausschliess-
lich der vergleich der spräche mit der musik der simphonie. Knüpfen
wir nun an diesen schluss unmittelbar die quadratische figur und daran
die zweite erklarung derselben, so haben wir einen zwar kurzen aber
klaren abriss über den laut, die stimme und die spräche, deren kleinster
teil der „buchstabe" und die hending, d. i. die Vereinigung von min-
destens einem vokale und einem consonanten ist. Geschrieben aber ist
dei-selbe im hinblick auf die hending, wie ihn auch Olaf pordarson
152 MOGK
aufgcfasst l\at. uiul ist somit berechtigt, als die einleitiing zum cnni-
mcntar dos Ilättatals bezeichnet zu werden, der in seinem eingange
diese darlegung voraussezt^ Und diesen entwurf dem Snorri abzu-
spreclien, liegt nicht der geringste grund vor.
In dieser gestalt mag Snorri seinem schüler den eingang zum
commentar des Hattaüils übergeben haben, vielleicht mit der bestim-
mung denselben zu erweitern, wo er es nötig erachte. Schon die bemer-
kung über die fahigkeiten der vögel mag auf dieses rechnung zu schrei-
ben sein. XoY allem aber fühlte er sich durch den leikroUr ontauna
veranlasst, zu dem schon von Snorri niedergeschriebenen vergleiche
einen zweiten zu entwerfen und mit ziemlicher Unklarheit auf kreis-
rundem spielplatze — eine form, zu der wol der mund veranlassung
gab — die ,, buchstaben " untereinander ball spielen zu lassen. Etwas
absei t;s vom wege ist es um des Vergleichs willen geboten, einen blick
auf die altnordischen balspiele zu werfen, die heute längst vergessen
sind, aber im mittelalter eine bedeutende rolle gespielt haben ähnlich
wie die ritterturniere auf deutschem und romanischem boden.
Fast in allen bezirken Islands, vielleicht auch in Norwegen, be-
fand sicli ein leikvqllr, ein Spielplatz, auf dem die balspiele statzufinden
pflegten-. Diese Messen nach dem balle, der aller Wahrscheinlichkeit
nach aus holz war, knattleikar. In der regcl fanden dieselben zur zeit
des herbstes oder winters statt -^ Der leikvqllr Avar meist das eis des
meerbusens der gegend oder eines binnensees^. Die tage des Spieles
waren algemeine festtage; aus der ganzen gegend strömten die leute
herbei ^ von den bügeln am strande schaute das weibliche geschlecht
zu und verfolgte mit regem Interesse das spiel *^.
Begannen nach den nötigen Vorbereitungen die spiele, so teilten
sich zunächst die spielenden in zwei parteien; gewöhnlich war dabei
1) fliittat. (Möb.j II, 1'^: Stafasetnhuj <jcrir tndl allt, en hljödsrjrcin er pat,
at hafa satnstf^fiir usw. scheint unmittelbar an die schlusswortc des cinganges anzu-
schliessen. Vgl. auch Möbius' bemcrkuugen zu II, 41. Ohne hier näher darauf
einzugehen, sei nur augedeutet, dass ich auch den ersten entwurf des commentars
für Snoixis arbeit halte.
2) Fas. II. s. 407'".
3j Fs. 60'=^: d cinu Imustljiiuji; ebd. 86 -^ Eyrb. s. 77»". Eg. s. (Rkv. 1850)
77'': d f^ndverdani cetri.
4) Gull|). s. 45'*^: d pomkjafjardar isi; Grett. s. 27'": d Midfjardarvatni;
Gisl. s. 2ö'^: « tjoni peirl, er Seftj'irn heitir; Vigl. s. 67»^: d Esjutjorn.
5) Fs. 00'^. Laxd. s. (1826) 196'^ Eg. s. 77 " u. oft.
6) Fs. 86'-^: sdtu homir titi oh Itorfdn d leihinn. VaUjcrdr sat upj> > hrrhk-
vna frd. Vigl. s. 67-'*: peir fjciifju [janyat d breldciuia, aeiit konurnar adlu
UNTEKSUCUU.NULN ZUR 8.\. EDDA I 153
die heimat der bctreileiideii ausschlug ;^ebond, indem die bewuhner der
einzelnen ^e-ienden zusammen standen ^ Aisdami wurde einer gewählt,
der die spiele zu leiten und wo! auch den einzelnen parteien und
Spielern ihren platz anzuweisen hatte; es war der ftfrinnaär, der
obmann-. Die spieler der einzelnen parteien standen abtoilungsweise
oder allein hinter einander''. Beim spiele selbst kam es hauptsächlich
auf stärke (afl) und gewantheit an*, wie auch diese eigenschaften der
fijrirniaitr in vollem massc besitzen musste. Spielzeug wiiren der ball
(k)iattr oder bqllr Eg. s. 78^) und das balscheit^ das beide parteien
gemeinsam besassen".
Weniger klar lässt sich der hergang des spieles selbst aus den
quellen erkennen. Fest steht zunächst, dass unmittelbar beim spiele
von jeder partei nur einer tätig war, und diese beiden hatten den
ihnen vom ftjr'ninadr bestirnten platz ^ Die beiden partner standen in
gewisser entfernung voneinander; der eine schlug mit dem baischeite
den ball'^, der andere hatte die aufgäbe, ihn aufzufangen. In jener
tätigkeit zeigte sich die stärke, in dieser die gewantheit. AVar der ball
vom gegner aufgefangen, so schlug er ihn zurück, nachdem der erste
Spieler ihm wol das balscheit gegeben hatte. Bei dem schlage kam es
aber auch darauf an, den ball gerade an den ort zu werfen, avo der
gegner stand {er ftjr'ir vcrdr Sturl. 1, 352^'^). War dagegen der ball
über den Zielpunkt hinweggeflogen, so bemühten sich beide parteien
in ihrer gesamthcit den ball zu erlangen; es entstand ein rennen und
streiten um seinen besitz, denn derjenige, der den ball erlangt hatte,
1) Grett. s. 27^MW Yigl. s. (iT^Mgg. Hardars. (Isl. s. llj TU". Fms. 111, 18G.
(Ick trage kein bedenkcu, auch die mythi«chcn sagas mit heranzuziehen, da die hier
eingetlochtenen spiele doch uur in der Wirklichkeit ihre wurzel haben.)
2) GullJ). s. 45^^: ])pir fyrir sunnan pors/cafjf^rä genta pari at fijrinniiiini
fyrir (^rleihs sakir ol: allrar aUjjqrii; oi vestanvie/in cilda pat ckki . . . Laxd.
s. 196^^ Hallr beittsk fyrir.
3j Fms. III, 18G'-^ pdr (purstelnn uk FulUterkr) snqruda at Frosta; pciat
kapparnir stöäii frenistir rid livorntceyyja bckkinn.
4) Fs. 60*\ Laxd. s. 196-^ Fas. III, 529'^^ u. oft.
5) Der gewöhnliche name i^t knafftrc (Gisl. s. 32,.. Eg. s. 77-'^ Fas. 11, 407 ^
Fas.ni, 264^ ii. oft). Grett. s. 27--' findet sich dafür knatfyädra.
6) Eg. s. 78^: Grintr liafdi kent bqllinn ok rak iindaii, en adrir sveinarnir
söttu cptir. Sturl. I, 352^'. Fas. III, 262 fgg., wo sich das paarweise spielen, das
vom besitz des balles und balscheitcs abhängig ist, recht klar zeigt.
7) Eg. s. 77*^^: Egil gegen Grirar; Grett. s. 27^': Grettir gegen Audun; GisL
s. 26": Gisli gegen I^orgrim u. oft.
8) Der ausdruck dafür ist sld knottinn z. b. Vigl. s. 68 *^ u. ö. ; ald knqttinn
üt fyrir ehm. = den baU über jemand hinausschlagen.
154 MOGK
kani jezt ans spieP. Hierbei koiitc aucli derjenige, der den ball nicht
aufgefangen liatte, seinen fehler wider gut machen; erwarb er den ball
nicht, so galt er für besiegt. Xur so erklärt sich der zorn, den der
an den tag legt, über den der ball hinweg geflogen ist'-. Hieraus
erklären sich auch die raufereien, die beim baispiel vorkamen und die
nicht selten mit Verwundungen, ja mit dem tode endeten 3, AVaren die
gegner sich gewachsen, so spielten sie wol so lange, bis der fyrir-
ma(tr ein anderes paar bestirnte. — So überliefern uns die altnordischen
quellen das balspieH. Wenn mit diesem die spräche verglichen wird,
so sind es zwei punkte, die als vergleichungspunkte augesehen werden
müssen :
1) die gruppierung in zwei parteien, von welchen jedoch stets nur
je einer spielte;
2) die kraftprobe beim schlagen und die gewantheit beim treffen
des Zieles und beim auffangen des balles.
Beides glaubte der aufzeichner des Vergleiches in der spräche
widerzulinden. So entwarf er den kreisrunden hil-voUr, auf den er die
buchstaben gruppenweise eintrug, indem er sie in fünf parteien schied
nämlich:
1) die consonanten, die nur vor vokalen stehen dürfen;
2) die consonanten, die sowol vor als nach vokalen stehen;
3) die vokale;
4) die doppelconsonanten;
1) G(?ngu Hrolfss. (Tas. IH) s. 264'': fcer Hrolfr nät knettinioit : kann gripr
knatttreit af Krali ... Ebd.: Hrafnhljop cptir knettimnr) ; Eg. s. 78^: Grimr hafdi
pd hejif hqllinn ok rak undan, en adrir sveinarnir söffu eptir. Gisl. s. 26 ^":
hrfir Poryrimr ekki rid: feldi Gisli hann ok har üt knqttinn. pd rill Gisli iaka
kuqttinn , €71 Porgrunr heldr honum ok l(xtr kann ckki ßvi nd.
2) Vigl. s. 68^'": pat var eitin thna, cd Vvjlundr slö knqttinn ilt fijrir Jqkli.
Jqkidl reiddix ßd ok tok knqttinn, er kann nddi, ok seüi framan i andlit d Vig-
lundi srd at ofan hljop hrünin. — f*orsteinss. (Fas. II) 407^: ßat har til, at porir
setfi niär knqttin?i srd hart, at hann stqkk yfir Olaf ok kom fjarri nidr; Olafr
reiddix ßd ok ßötti porir gera leik til sin; sotti hann ßd knqttinn, en er hann
kom aptr .... slo ßd med knatttrenu til pdris .... Ebenso Grett. s. 27. Eg. s. 77.
3) Das beste beispiel gibt die GQngu - Hrolfss. (Fas. HI) 262: lirnndu ßeir
mQnniun ok feldu hardliga, en slogu suma; at kreldi rdrii ßrir handbrotnir, en
margir lamdir eäa meiddir.
4) Von allen spielen auf germaniscliem gebiete scheint das kugehverfen in den
marschländern . das ebenfals auf dem eise der graben und morä.ste statfindct, mit
dem nordischen balspiele die grösste äbnlichkoit zu haben. (Vgl. Fischer, Beschrei-
bung der vorzüghchsten Volksfeste II, s. 47 fgg. AVien 1709.)
UNTERSUCHUNGEN ZUR SN. EDDA 1 155
5) die consonanten, die nur nacli vokalen stehen dürfen, denen
sich die abkürziin^i,aMi anschlössen, Aveil auch die sich nie im
anfang eines wertes finden.
Jeder ,,buchstabe" solte einen zum spiele bereclitigten darstellen:
die spielpaare geben die kleinste lautverbindung in der spräche. Wie
Avir nun beim baispiele nie mehr als zwei parteien nachweisen können,
so fallen im gründe genommen auch diese fünf parteien in zwei zu-
sammen, nämlich in vokale und konsonanten. Von lezteren sind aber
nicht alle zum spiel volberechtigt; vier sind nur zum wurf (Ii, q, v, p),
vier andere nur zum fange da (ä, x, c, x). Lezteren mögen sich
wol auch die consonantenverdoplungen angeschlossen haben. Dass es
solche halbberechtigte aucli beim spiele gegeben habe, lässt sich aus
keiner einzigen stelle unserer quellen schliessen. Der Vorgang beim
spiele der spräche selbst ist klar: spielt a mit h^ so entsteht in der
spräche, wenn a wirft und b fängt die lautverbindung ah, wirft dage-
gegen h und fängt «, so haben wir ha. — Aus solchen lautverbindun-
gen besteht die ganze spräche.
Im grossen und ganzen ist also der vergleich nicht als verfehlt
anzusehen, im einzelnen dagegen ist manches nicht zutreffend. Lezte-
res ist nun zum nicht geringen teil dadurch veranlasst, dass in der
figur sowol wie in der beschreibung derselben der buchstabe mit dem
laute zusammengeworfen ist, d. h. dass der Verfasser des Vergleiches fast
nur über scliriftzeichen handelte und diese vor äugen hatte, während
er dem zwecke der arbeit entsprechend, sich über laute äussern solte.
Und hierin unterscheidet sich dieser vergleich vor allem von dem zwei-
ten, wo die spräche mit der musik der simphonie verglichen Avird, und
den ich für den älteren, allein von Snorri herrührenden halte. Hier
ist alles nur laut, und auf den laut komt es nur bei der hotding an.
Brenner hat auch den vergleich der spräche mit dem spiele als
rein lautlichen (sprachlichen) erklären wollen und alles, was sich auf
die Schrift bezieht, als randbemerkung u. dgl. bezeichnet (a. a. o. s. 275
fgg.). Das ist ihm offenbar nicht gelungen, denn fast aus jeder zeile
spricht es, dass der Verfasser des Vergleiches wirklich auch schreiber-
regeln hat geben wollen. Man vergleiche: bei den vokalen: oh slml
svd rita; bei den limingar: ok slml svä rita; bei denselben: her eru
tvclr hljöässtafir saumnllmälr; bei den lausaklofar: skal svä rita, stafir
svd ritaäiv, ebd.: e)i fijvir ritshdttar sakir er pessa siafi öhcrgt
sa7nan at hinda; bei den langen vokalen: en ef skyrt skal rita, J)d
skal draga gfir pann stafinn u. oft. Im hinblick hierauf liegt auch
kein grund vor, die werte: Lofat er pat i ritshcetti at rita aflimingiim
156 MOüK
oder die bemcrkiing über die titlar am Schlüsse des Vergleichs wie in
der ligur als späteres machwerk zu erklären. Wir haben in unserem
vergleiche Avirkhch eine unklare Vermischung von lautlichen bemer-
kungen und graphischen voi-schriften. Eine solche ist aber von einem
manne wie Snorri nicht anzunehmen. Ergab sich nun aus inneren wie
äusseren gründen der ursprüngliche vergleich der spräche mit der sim-
phonie gegenüber dem vergleiche mit dem spiele als der frühere und
reine, so sind wir zu dem Schlüsse berechtigt, dass er in dem jüngeren
vergleiche benuzt ist: jener diente dem interpolator zum vorbilde, nur
war er von diesem nicht richtig verstanden, und so entstand dies
unklare gemisch von bemerkungen über die spräche und von graphi-
schen Vorschriften.
Was sich uns aber hier für den ersten vergleich ergibt, zeigt
sich auch beim späteren, in der handschrift zuerst aufgezeichneten teile
des zweiten Vergleiches. Snorri vergleicht die spräche mit den tönen
der simphonie. Zum besseren Verständnis gehört ein klares bild über
dies instrument. Leider besitzen wir gerade aus der zeit, in welcher
der vergleich entstanden ist, keine einzige darstellung desselben. (Rühl-
mann. Die geschichte der bogeninstrumente s. 70.) Die simphonie
oder das organistrum, die noch in der radleier des Savoyardenknaben
fortlebt, war im mittelalter ein weitverbreitetes und beliebtes instru-
ment. Über einen kastenartigen unterbau , der von haus aus wol länglich
viereckig!, später geschweift Avar, ist die saite gespant, die durch ein
rad, das eine kurbel bewegt, in Schwingungen versezt wird. Auf dem
oberen teile des kastens sind ferner tasten (claves) angebracht-, und
auf diesen grif hölzern finden sich schon in alter zeit buchstaben zur
bezeichnung der einzelnen töne-^ Diese tasten Avurden an die saite
angedrückt. Indem nun zu gleicher zeit das rad in bewegung gesezt
wurde, entstanden die verschiedenen töne. In der regel spielten zwei
pei'sonen das instrument: die eine drehte das rad, die andere drückte
die tasten (Schultz, Höf. leb. I, 431 und 452). Nun kennen wir aber eine
simphonie, wenn auch aus etwas späterer zeit, die tasten besass, die
1) Vgl. die miLsikalische abhandlung bei Odo von Clugny nach dem cod. Par.
7211 (bei Geibert, Sciipt. eccl. de miLS. I, 252j: Liynutn quadratum in inudum
capsae et intus concavum in inodwn citharae, super quod posita ciwrda sonat.
2) Es entsteht ein volständig unerklärliches bild, wenn man, wie algemein,
hjidar mit Schlüssel widergibt, hjidar ist das lat. claces, und dies können bei der
simphonie nur tasten sein.
3) Ygl. Odo von Clugnys bemerkungen in der kleinen abhandlung: Quomodo
orfjanistriun construatur nach dem cod. Vind. bei Gerbeil L 302. S. auch die abbil-
dung in Rühlmanns atlas taf. 5 fig. 1.
UNTERSUCHUNGEN' ZUK SN. KDDA I 157
sich nach innen scliiebon, fnlolieh aucli nacli ansson ziiriick bewegen
lassen. In „dem inncin zugespizten teile" der taste befand sich ein
häkchen, welches an die saite andrückte, oder, wenn man die taste
znrückzog, sie riss. Bei dieser simphonie spielen bereits ober- und
Untertasten mit halben tr»nen eine j-olle. (Rüldmaiin a. a. o. s. 83.) Der
Spieler sass vor dem instrumente; um die gewünschten tihie zu haben,
musste er entweder die taste nacli innen schieben oder sie zurück-
ziehen.
Ein solches instrument muss Snorri im gedäclitnis gehal)t liaben,
als er mit seinen tönen die spräche verglich. Wenn sich anf Island
auch dasselbe nicht nachweisen lässt, so kann es Snorri docli sehr
wol am norwegischen königshofe kennen gelernt haben, denn hici-
kante man es offenbar (vgl. FMS. YII, 97 i^. Strengl. 1.^ u. oft). —
Der vergleich ist ebenso klar wie einfach. Die eine klangsaite, die das
organistrum von haus aus besizt, hatte sich Snorri in seiner Idealfigur
vervielfacht gedacht, und nach allen solten sich die tasten hin- und
zurückbewegen lassen. Sizt der spieler nun vor den tasten, so ent-
steht, wenn er die i-taste au die r^-saite andrückt, der klang ha, zieht
er dagegen die />- taste zurück, so entsteht der klang ab, weil durch
jene tätigkeit die consonantentaste nach dem vokale hin, durch diese
von ihm weg bew^egt wird. Somit ist das bild im hinblick auf die
ersten zwölf consonanten ziemlich einfach. Ob wir nun auch instru-
mente gehabt haben, wo das tastenhäkchen die saite nur durch scliie-
ben oder durch zurückziehen traf, vermag ich nicht zu sagen; gefunden
habe ich darüber nirgends etwas, wenn nicht vielleicht die ober- und
untertöne die band zu dem vergleiche geboten haben.
Dieser vergleich ist demjenigen, der sich über Snorris manuscript
gemacht hat, ofTenbar nicht ganz klar, jedenfals weil er nie ein solches
instrument gesehen hatte. Denn sonst konte er nicht die ziemlicli unkla-
ren eingangsworte bringen (Stafasetning sjä, seni her er ritut, er svä
seif iil wdls, sem hjldar tll hljöits i miisihi) und behaupten, dass sich
zu beiden seifen der vokalsaite tasten befanden. Nur soweit sich die-
ser aufzeichner streng an den zweiten teil hält, ist er klar; sonst weiss
er nicht viel vernünftiges zu sagen. Der erste teil des zw^eiten Ver-
gleichs stelt sich also in jeder weise zu dem ersten vergleiche und
kann nur aus einer feder geflossen sein.
Nach diesen erörterungen ergibt sich:
1) Der plan des feiles der SE., den man bisher algemein als eine
grammatische abhandlung aufgefasst hat, lührt von Snorii her.
Dieser hatte ihn als einleitung für seinen commenfar zum Hat-
158 MOGK
total bestirnt. Er solte benicrkungen über den ton und den laut,
namentlich den der menschen, enthalten. Leztere führten zur
menschlichen spräche, deren kleinster bestandteii „der gespro-
chene st<afr" ist. Durch die Vereinigung zweier stafir, und zwar
eines vokales und eines consonanten, entsteht aber das kleinste
ganze in der spräche, und dies ist die stafasetning, von der es
im Hattatal heisst: SfafasctNhir/ f/rrir mal allt. (Ht. 1 1^.) Die
stafasetning ist aber auch die grundlage aller dichtung^.
2) Von SnoiTi rührte her:
a) Die algemeinen bemerkungen (meine ausg. s. 159^ — 160") mit
ausnähme einer randbemerkung (lüO^-^^^).
ß) Figur 11.
;') Der zweite teil der erkliirung dieser figar (s. 164"^^^-).
3) Zu dieser einleitung fügte ein späterer bearbeiter, vielleicht ein
Schüler Snorris:
a) Figur I.
ß) Die erkliirung dieser figur (s. 160^ — 162 1'^).
y) Den ersten teil der erkliirung der zweiten figur (s. 162 1* —
16-43).
Bei seinen erklürungen der figuren legte er die erkliirung Snor-
ris von II zu gründe, brachte aber ausserdem allerlei schreiberregeln
an, die gar nicht hiueingehören, die weder die spräche oder schrift
umändern w^ollen noch können, da sie Aveiter nichts sind als eine trü-
bung der klaren gedanken Snorris. Ich vermag deshalb auch das
nicht in ihnen zu finden, was Brenner aus ihnen herausliest (a. a. o.
s. 275); ebensowenig wie zu grammatischen zwecken, ebensowenig sind
sie auch zu metrischen zwecken geschaffen. Es sind unfähige bemer-
kungen desselben mannes, der auch einen grossen teil des commentars
vom Hattatal auf seinem gewissen hat und der von Mübius (Hätt. II,
s. 35 fgg.) so richtig gezeichnet ist.
1) Die einzige ansieht, die bisher über den Verfasser gemacht worden ist, stelt
CS Über allen zweifel, dass derselbe ein geistlicher sei (Bjöi'u Olsen a, a. o. s. XXXII
und im anschluss au ihn Finnur Jousson a. a. o. s. XXX). Auch nicht ein wort
spiicht in der ursprünglichen gestalt für den geistlichen. Hier Jiat ^videl• einmal der
Schreiber des AVonnianus sein wesen getrieben, und das einfache durchlesen des tex-
tes wird die ansieht zur genüge widerlegen.
UNTKRSUCHU.Vr.KN ZUR SN. EDDA I 159
Der tcxt.
Hvat er hljodsgrein? [»renn.
Hver? pat er ein grein hljoits, er |»ytr veitr eda vatn etla
s^r eda bjorg- etla jont ecta grjut lirvnr; petta liljud lieitir gnyr ok
piymr ok dunur ok dynr. Sva [nit hljud, er malniarnir gera eda
nianna Jjyssinn; pat heitir ok gnyr ok glymr ok lilj(')nir. Sva pat 5
ok, er vidir brotna eda vapnin m(ßtaz, petta heita bi-ak eda brestir
eda enn, sem adr er ritat. Allt erii Jtetta vitlaust liljnd. Vax hOv
um framm er [)at liljod, er stafina eina skortir til malsins; {)at gera
liorpurnar ok enn helldr liin nieiri songfrerin, en [»at lieitir songr.
Onnnr liljodsgrein er sü, sein fuglarnir gera eda dyrin ok S(J- lü
kyqvindin. pat heitir rodd. En [j^r raddir heita a marga lund:
fuglarnir syngja ok gjalla ok klaka, ok enn med ymsum liiittum, ok
nothum. [KHiumstum eru greind ymsa vcya (Ujm nqfnhi, oh
kunnit meint sJq/n, hvat li/qi-huJiN pyHjaz henda med mqrgiim
SINK}}/ hUu}}i.] S(Jkyqvindin blasa eda gella. Allar pessar raddir 15
eru miok skvnlausar at viti flesti'a manna.
En I)ridja hljodsgrein er sü, sem menninir liafa: pat heitir
hljöd ok ri^dd ok mal. 'M(\\\t geriz af bltjstrinum ok tungubragdinu
vid tenn ok goma ok skipan varranna. En hverju ordinu fylgir
minnit ok vitit; minnit Jjarf til pess at muna atkvedi ordanna, en 20
vitit ok skilningina til pess, at liann muui at m^la pau ordin, er
hann vill. Ef madr fer snilld malsins, pa Jjaif par til vitit ok ord-
froedi ok fyrir^tlan, ok Jjat mjok, at hregt so tungubragdit. YÄ tennr-
nar eru skorpottar, ok missir tungan par, pat lytir malit. Svä ok
ef tungan er ofmikil, pä er malit blest; nü er hon oflitil, pii er sä 25
holgömr. |)at kann ok spilla mälinu, ef varrarnar eru eigi heilar.
Die ortliographie schliesst sich im ganzen an das auf der buchstabontafel ent-
worfene alphabet an. Nm* oe habe ich noch zu den schon vorhandenen buchstaben
genommen, da ich den Übergang er >• cp aus dem anfang des 13. Jahrhunderts nicht
nachweisen kann. SuoitI reimt stets o? ; o? (Hattat. 13''. 31^. 64-. 81) und (p : cp
(17 '^. 28^. öO*'); nur 68'* reimt marS, fjnlsncerda. Seite demnach schon schwanken
begonnen haben'? — 2. Pat. Es liegt kein gmnd vor, von der handschrift abzu-
weichen und Su zu sclu'eiben, da die attraktion des pronomens an das prädikat.
nomen durchaus nicht nötig ist. Vgl. Comment. z. Huttat.: pat er kenninfj 3-",
ßat er scrnnhouiimi 4^- --, pat er studnijKj 4-^, petta er dröttkrfectr hättr 3^, Pat
eru tolf stafir 1-^ u. oft. — G. brot)ia eäa gnesta W. — 13 fgg. hat wol
urspi-ünglich am raude gestanden. Das zeichen, welches andeutet, wohin es gehöre,
las der abschreiber für ?rr:oAv, das sich in der \\Zin{\^Q\init\ov kimmiskwi befindet. —
24. tungan par die einzig mögliche lesaii; tamigaränr W und nach ilim F.I. lässt
sich weder sprachlich noch inhaltlich erklären.
160
MOGK
Mudrinn nk tuno:an er leikvollr ontanna. Ä I)eim velli eru
reistir statir l>oir, er mal allt gera, ok hendir iiialit ymsa sva til at
jatna sein liorpustreDgir eda eru Itjstir lyklar i siDiplioiüe.
Figur I.
/ fiirslfi hrh}(f eru fjorir siafir; Jxt md til enski^ mmars
nyla, m rera fyr Oitnint stof,nn: p. v. h. f/. I <ßrinn hrivg eru 5
siaftr XII, Jteir sem he Ha jndJsfafir; hverr peira 7nd vera hf(t/
fyn'r ol: eptir i mnlinii, en engl peira cjerir mdl af HJdlfnm ser:
G. XII so W; U XI, was zufällig auch mit der figur stimt. da liier im zwei-
ten kreise /.• fehlt. Ich s^he keinen gnind ein, diesen huehstaben mit F. J. auszu-
merzen, da er nicht allein im folgenden in beiden handschiiften überliefeii ist, son-
dern da auch die zweite figur ihn in dem dem zweiten ringe entsprechenden oberen
teile der tafel hat.
ÜNTERSUCHU>'GEN ZUR SN. EDDA I 161
/;. (1. f. (j. /.'. /. }n. }(. [). r. s. f. Ell )i(ifn prira cru her f<cit rptir
hijüiti J)eira. V ]))'t(tja hn/n/ mi lulf s/aflr, er hJjüiJstafir lieiia.
pe.ssi grci)i er pcira stafii: fyrst lielta slaftr o/r shdl srd riUt: a. e.
i. 0. V. y. 0/f/fffr r/re/N er sü, er lieita Innimjcir, ol' slal srd rita:
CT', ao. Cd): pessir eni prir: her eru. treir h/Jods/d/ir saitKudundir, 5
Jyri at pessi stafri)ui hef'ir hrer// hh(t af hJjndl hlnita, er Ihudi er
af (jerr. lui pridjn (/rein er paf, er Jieita 1aiisfü,lof(ir, ok shf/l srd
rifa: ey. ei. pessir eru tveir sfafir svd ritadir, dl rilii hdda .s/r///
uhrcytta oh yerr einn af, l)ri at Jtaiui tehr hijöd liiiina beyyja, en.
fyr ritshdtfar sahir er J)essa stafi ohoeyt scunan at tnnda. Nu er 10
enn iölfti stafr, er shptif/yr lieitir; pat er i. pat er rettr hljud-
stafr, ef ntdhfafr er fyrir honuin ok eptir honum, i sanistofauni;
en ef hljödstafr er nest eptir itonmn, pd shipti:\ hann i mdlstaf
oh yera\ pd 'af honutn niqry fall orä, svd sa/i er jd cda Jqrit eita
j6r: ol: enn svd, ef mdlstafr stendr fyrir honinn, en hljöästafr nest 15
eptir, svd sem her er: hjqrn ecta hjör eCla IjJQry. Onniir shipting
hans er Jmt, at hann se lansahlofi, svd sem J^eir, er dar ern ritaäir.
pe.'^sir stafir einir saman yera mojy fattorct, en shcunt mdl gerct
peir sjdlftr. Ef a gerir heilt orä, Jjd i)ie,\- svd, sem pü nefnir: yfir,
eni pat sem: fyrir innan, enoedav pau skipta um orännum, svd 20
sem er: satt ecta vsatt Menn kalla einn vict y, en m pat er vein-
tin, en ey heitir fmi lancl, sein sjör ecta vatn fcllr umhverfis, pat
er hallat ok ey eäa m, er atdri prytr. Jlljödstafir hafa ok tvenna
grein, at J)eir se styttir ecta clregnir; en ef skyrt skal rita, pd skal
draga yfir pann stafinn, er seint skal leiäa, sem her: „d pvi dri, 25
sem- Ari var foedclr'' ok „pat er i mtnu oninni." Optliga skipta onta.
leictingar qtln n?dti, hvdi^t enn sami liljöctstafr er leiddr seint eda
skjött. Lofcit er fmt i ritshetti^ at rita af limijigum helldr a-tykkju,
f). Jinr: U liest tvcir; der sckreiber hat wol die folgende y schon im äuge
gehabt. AV hat ebeufals: po.sscr prir stafer. — 8. in der hs. ist nach trcir {]])
ein locli; dann folgt: svd rita at rita; im liinhlick hierauf bin ich W gefolgt stafer
eru ritacter. Vielleicht ist besser mit F. J. zu schreiben: ok skal svd rita, at rita;
ich habe die lesart im hinblick auf das parallele ffcrr nicht aufgenommen, zumal
auch das unbestimte man sehr selten und meist nur bei diclitern durcli den plural
widergegeben wird (vgl. Lund, Oldn. Ordföjul. § 10 4"^ anm. 4. § 203, IG anm.) —
15. ok enn srd tjjnrg gehört zweifelsohne nach jor; hierher passt es allein,
nach ritaäir (z. 17), wo es in der hs. steht, gibt es keinen sinn: es war eine rand-
bcmerkuug und wui'do vom abschreiber an falscher stelle eingefügt. — enn in der
hs. zerfressen. — 18. pessir stafir stelt alle vokale in gegensatz zu den consonan-
tcn. — 2.8. ok f. ü; so nach W. F.J.: ok kallat. — 20. Nach ok fügt W noch
ein er ertuä Jfann. — 28. U: en af Ifjckio . . dem Schreiber hat das folgende en
fallt vorgeschwebt. Dieselbe ündening hat auch F. J.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. ED. XXH. 11
162 MOGK
eu fuUi a, oJ: er pa svd g, Q- I fjonta hrinfi cm 161 f sfafir svd
rifadir: tl, .,\>. ff 6. RilC).!'! W K -5-X • ^''•''''' '^"/^' ^^'''' '^'^''
aiuiat. cfi n/cfui rilja J/afa Jni fyrir ritslidttar salir, oh er settr
hverr peira ein ff ff/rf'r frd iffdhfaf , Jwi at sitffi orä eäa nqfn 5
ctida\ i svd fast athredi , at etxji fffdJstafr fer einn bofit, svd
sein er: Jiqtl eda fjaJI eda kross eda hross, frafffiif, hrafffiff. Nüparf
afifiathvdrt at rita tfjsvar eiffii mdhtaf, eda lata ser Jlha panifig at
rita. 1 flfffta hrififi er ff riiadirpeir pr'tr staffr, er l'aJIadir erii widir-
staffr: d. \. x; pcssfifff stqfnnf md vld eugan staf loma, nema pat 10
sc eptir hljödstaf i Jfvcrri sdmstofft. Efiif fjördi stafr er c, ok liafa
sfiffff'r fffcffff Jmffff ritshdtt , at setja Ifaiffi fifrir /.-,• efi hitt eina er
rett haffs liljod at rera scffi adrir ffifdirstafir i enda sanfstqfu.
Titlar enc svd ritadir her, scm i qdrum ritshetti.
Stafasetffffffi sjd, sein her er ritut, er svd seit til wdls, sem 15
hjldar til hijuds i iffusihd, oh rexffir ffßgja hljodstqfffm svd, sem peir
Jfjhlar iffdUiqfffiff. Mdlstaffr eru ritadir med hverri regfi J)(:di ffjrir
oh eptir, oh gera P)eir mal af heifdiffgnm peim , seju peir hafa vid
hJjödstafffia fyrir oh eptir. Kqlliim ver pat lyhla, sem peir eru
i fasiir, oh erfi her svd settir i spaciönne, sem lyhlar i simphonte, 20
oh shal peifif hippa eda hrinda, oh dfrjxi svd regustirMgina, oh
tchr pd pat hijöd, scm pm rillt haft hafa. pes.^ar hcndingar eru
~). nqffi: Br. saws/*?/"« wol das riclitige, — 0. / nach. W ergiinzt, fehlt in U. —
10. stqfiim verbessert nach F. J. U: staf. — 12. nach at ein loch in der hs. sctja
habe ich geschrieben nach einer Stockholmer papierhandschrift, deren Schreiber die
hs. noch in besserem zustande vor sich hatte; liafa F. J. — fyrir h schreibe ich;
die hs. kg d. i. hofumg , wie auch die herausgobor haben. Allein das gibt keinen
sinn; der flüchtige abschreiber konte sehr leicht hierauf kommen. Oder hat viel-
leicht ursprünglich h ecta g (k. p. g) dagestanden? — Die folgende figur ist wie die
ringfigur in der handschrift ziemlich flüchtig; beide musstcn in Übereinstimmung
mit dem text gebracht werden. — 15 fgg. gehört nach fig. 2. — IG. / fehlt
in ü; es muss unbedingt hier stehen; vgl auch F. J. s. 95. — rega ist dasselbe
wie riga FMS XI, 441 n. 6. Das wort ist sonst nirgends im nordischen belegt; es
ist ahd. riga. nd. rige, rege = linie, reihe (Schade, Altd. wb.-713) und bezeichnet
liier wol die instrumentsaiten (rcgustrengir), denen der Verfasser nach den von
mir stark gezeichneten linien den namen gab. — Peir lyklar mdlstqfum. U und
F. J. nur jypJr hjklum; mir ist die stelle so dunkel. Der Schreiber sprang nach / von
lyklar auf die endung von mdlstqfum über. — 18. Peitn so verändert mit F. J.
hs.: Jjpiri. — 18. hafa: in der hs. nur -a noch zu lesen. — 20. hs. ok eru peir
her sra settir her sem i spaeione sem .... — 22. Nach hafa will Brenner (a. a. o.
UNTERSUCHUNGEN ZUR SN. EDDA I
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siafasein imjin n /.
Her standa um pvert blad XI lilJQdstafir, en um eudilangt 5
hlad XX millstafir; eru I)cir sva settir, sem lyklar i simpliönle, en
liljodstafir sem strengir. Malstafir eru XII l)eir sem btjdi hafa liljud,
hvart sem kipt er eda hrundit lykliuum, en VIII peir, er sldarr
eru ritadir, hafa halft hljud vid hina: sumir taka liljod, er J)u kippir
at per, sumir, er {n'i hrindir fra per. 10
pessir hliodstafir standa um pvert: a. e. /. o. i). ii. c. q. ai\
ei. cy. pessir eru XII malstafir: h. d. /" //. /•. /. m. n. ii. r. s. t.
pessir eru malstixfir ok hafa halft hljud vid hina: d. J). 7.. v. c. h. x. q.
s. 270) den satz ok gen'r . . i stafasetningiimi. (1G4^); ich sehe den grund nicht
i-ccht ein, weshalb er von der Überlieferung al)weichen will.
1. eigi mciri, U nur: mciri, F. J. minni. Der Schreiber hat nur aus ver-
sehen das abgekürzte cigi weggelassen. Die stelle will sagen: obgleich in der zwei-
ten figiir vielmehr buchstaben stehen als in der ersten, so sind doch die hendingar
nicht zahlreicher. — .5. Rtr bis zum Schlüsse spätere interpolation. F. J.
Übersetzung.
Wie viel verschiedene arten des tones gibt es? Drei. Welche?
Das ist die eine art des tones, wenn der wind pfeift oder das wasser
oder das meer rauscht, oder die berge oder das erdreich oder gestein
drühnt; solche töne heissen getöse, geräusch, gedonner, lärm. Hierher
gehören auch die töne, die die metalle von sich geben oder die entste-
hen im kämpfe der mann er: diese heissen ebenfals getöse und klang und
lärm. So auch, wenn bäume brechen, oder waffen aneinander sclila-
gen; das heisst gekrach oder gerassei, oder auch wie es früher bezeich-
net ist. Alle diese töne entstehen, olme dass dabei irgend welcher
verstand im spiele ist. Hierher gehört nun weiter auch der ton, wel-
chem der buchstabe allein zur rede mangelt; diesen erzeugen die har-
fen und noch mehr die grösseren musikinstrumente: dieses heisst musik.
Eine andere art des tones ist der der vögel und der tiere auf
dem lande und im wasser. Dieser heisst stimme. Diese stimmen wer-
den aber auf verschiednerlei weise bezeichnet: die vögel singen, kräch-
zen und krei.schen und geben noch andere töne von sich, die anders
bezeichnet werden. [Xach ilirem vennögen sind die namen der tiere
so mannichfach entstanden, denn die menschen wissen bescheid, was
die lebenden wesen mit ihren vielen gewohnheiten anzudeuten schei-
U.NTEKSUCIIUNGKN ZUR S.V. EDDA I 165
nen.] Die ticro im inetTc blasen uder seliiiaube]i. Alle diese stimmen
entspringen geringer Vernunft im vergleiche zum verstände der meisten
menschen.
Die dritte art des tones ist der der menschen: liier vereinen sich
laut, stimme und spräche. Die spräche entsteht tlurch das herausbla-
sen der luft, durch die bewegung der zunge an zahne und gaumen
und durch das öthen und schliessen der lippen. Aber jedes Avort steht
mit dem gedächtnisse und verstände in engstem zusammenhange; das
gedächtnis ist nötig, damit die ausspräche der Avörter immer gegen-
Avärtig ist, verstand und Urteilskraft, damit man jederzeit weiss die
werte hervorzubringen, welche man haben will. Ist einer beredt, so
bedarf er ausser dem verstände auch gewantheit im ausdrucke, schlag-
fertigkeit und vor allem leichtigkeit der zunge. Wenn die zahne abge-
brochen sind, und die zunge infolgedessen ihr ziel verfehlt, so klingt
die spräche hässlich. So auch, Avenn die zunge zu gross ist; dann lis-
pelt der sprechende; ist sie dagegen zu klein, so murmelt er. Auch
Avenn die lippen in nicht ganz normalem zustande sind, kann der
spräche abbruch geschehen.'
Der mund und die zunge sind der Spielplatz der Avorte. Auf
diesem plane sind die buchstaben aufgerichtet, die die ganze spräche
ausmachen, und es greift die spräche bald diesen bald jenen buchstaben
heraus (um sie zusammenAvirken zu lassen), gerade so als Avären es
Saiten oder die befestigten tasten in der simphonie.
(Figur I.
Im ersten ringe haben AAdr vier buchstaben; diese darf man nur vor
andern buchstaben gebrauchen: />. r. h. q. Im zAveiten ringe befinden
sich zAvölf buchstaben; diese heissen consonanten. Jeder von ihnen
kann soavoI am anftmg als am ende eines wortes stehen, aber keiner
macht ein Avort für sich aus: b. d. f. (j. L: L lu. ii. p. r. s. t. Ihre
namen sind hier gesezt nach ihrem lautlichen zeichen. Im dritten ringe
sind ZAvölf buchstaben, die vokale heissen. Unter diesen ist folgender
unterschied: Die ersten heissen vokale (? stafir) schlechthin und sie
sind so zu schreiben: a. e. i. o. v. ?/. Die zweite art heisst verschmol-
zene buchstaben und diese soll man so schreiben: ce. co. aj. Dies
sind drei; hier sind je zwei vokale verschmolzen, sodass diese buch-
staben einen teil von den lauten haben, aus denen sie gebildet sind.
Die dritte art sind die diphthonge und diese soll man so schreiben:
ey. ei. Diese beiden buchstaben sind so geschrieben, dass man ihre
beiden teile unverändert niederschreibt und daraus einen macht, der
16(5 MOGK
den laut beider anniiiit; die gestalt der buchstabeii ist die iirsaclie, dass
man sie sehwierig: zusannnenknüpfeu kann. Als der zwölfte komt end-
lich noch das / hinzu, das eine zwittererscheinung genant werden kann^.
Er ist ein reiner vokal, wenn ein consonant vor und nach ihm in einer
silbe sich befindet; aber wenn ein vokal unmittelbar nach ihm folgt,
so nimt er consonantische natur an; aucli wird durch ihn manches wort
ei'st zum vollen werte; hierher gehören y« oder jqrä oder jör. Dasselbe
ist auch der fall (dass / consonant ist), wenn ein consonant vorher, ein
vokal aber unmittelbar darauf folgt, wie in hjqm oder hjör oder hjojn.
Ein weiteres auftreten ist es, wenn er als teil eines diphthongen
ei*scheint, wie diese früher beschrieben worden sind. — Diese buch-
staben allein machen manches Avort voll und sind selbst kurze Wörter.
AYenn ä ein wurt volstiindig macht, so hat es denselben wert wie yfir,
i denselben wie fifrir hnmn^ ö- oder il- verändern die Avorte ins gcgen-
teil, wie seift und üsätt. y nont man einen bäum (eibe), ce einen
klagelaut, cij (insel) heisst das land, das nieer oder wasser rings umgibt;
was nie endigt heisst eij oder ce (immer).
Die vokale sind noch Aveiter untereinander verschieden, sie kön-
nen nämlich entweder kurz oder lang sein. Wenn man nun genau
schreiben muss, so muss man über den buchstaben, der langsam dahin-
gleiten soll, einen strich machen, Avie z. b. d Jwi äri sein Ari rar
faddr (in dem jähre, in dem Ari geboren Avar) und pat er i miiiu
miiud (das ist in meiner erinnerung). Oft verändert es den ganzen
sinn der Avorte, Avenn derselbe vokal kurz oder lang gebraucht Avird.
Beim schreiben ist es erlaubt, verschmolzene buchstaben anzu-
Avenden, mehr aber gebraucht man nur den a- bogen, als dass man
das ganze a schreibt, und so haben Avir e. q.
Im vierten ringe sind die zAvölf buchstaben folgendermassen ge-
schrieben: bO. dd. ff. G. K. IL 21. H. jip. II. S. T. Diese buchstaben
bedeuten nichts anderes, als dass man sich ihrer beim schreiben bedie-
nen Avill. Es steht jeder für zAvei consonantcn, Aveil manche Avörter
oder namon (silben?) am ende so markiert ausgesprochen Averden, dass
ein consonant nicht hinreicht, Avie bei holl oder fjall oder kross, hross,
frciiiiiii, liramm. Infolgedessen ist es nötig entweder einen consonant
ZAveimal zu schreiben oder sich zu bequemen, ihn so zu schreiben.
In den fünften ring sind die buchstaben eingetragen, Avelche
undirstafir lieissen (d. h. buchstaben, die nicht im anlaiit stehen dür-
1) So glaube ich die wortc des ui'textes er skiptliKjr helflr am treusten wider-
zugeben. Egilsson übersezt (Sn. E. ü. 51): Duodccima läcra est variabiU^. — Brca-
ner übersezt: „Avechsler."
UNTERSUCHUNGEN ZUR SN. EDDA I 167
fen): ä. z. x. Diese buclistabeii können juir mit einem andern in Ver-
bindung gebraeht werden, wenn in einer silbe ihnen ein vulval unmit-
telbar vorangellt. Der vierte buchstabe ist c, den manche leute als
graphisches zeichen für k gebrauchen; aber das allein ist sein wahrer
wert, dass er wie die andern maUratalir (nur) am ende der silbe ste-
hen darf.
Die abkürzungen sind hier geschrieben wie man sie auch sonst
zu schreiben pflegt.)
Figur IL
(Die buchstabentabelle, die hier aufgezeichnet ist, ist so mit der
spräche in Verbindung gebracht, wie die tasten mit dem musikalischen
tone; und wie die linien (d. i. saiten) den vokalen, so gleichen die tasten
den consonanten. Consonanten stehen soavoI vor als hinter jeder (vokal-)
linie, und sie erzeugen die spräche durch ihr zusammentreffen mit die-
sen, je nachdem sie vor oder nach dem vokale stehen. Wir nennen
das tasten, worin sie stehen (d. i. die kleinen viereckigen kästchen der
tafel), und sie sind hier auf dem fehle gerade so gesezt, wie die tasten
in der siraphonie, und man muss sie reissen oder stossen, und dadurch
die liniensaiten schwingen lassen, imd man bekomt so den ton, welchen
man gehabt Jiaben will. — Dieser Vereinigungen (d. i. von vokal und
consonant) sind hier nicht mehr als die, von denen oben geschrieben ist,
und die kleinsten von denen, die sich zu einer silbe verbinden lassen,
denn hier ist in der Vereinigung nur ein vokal und ein consonant.
Es gibt so viel Vereinigungen, wie viel oben auf der buchstabentabelle
verzeichnet sind.)
Hier stehen auf dem blatte oben von links nach rechts elf vokale,
aber von oben nach unten zwanzig consonanten. Leztere sind so gesezt,
wie die tasten in der simphonie, aber die vokale wie die saiten. Zwölf
consonanten geben ton, mag man die tasten (häkchen) reissen oder
stossen, während die andern acht, die zulczt geschrieben sind, nur
einen halben ton im vergleich zu jenen haben: die einen nämlich tönen,
wenn du sie zu dir ziehst, die andern, wenn du sie von dir stösst. —
Folgende vokale stehen oben von links nach rechts: a. e. i. o. u. y. c.
q. av. ei. ey. Dies sind die zwölf consonanten: /;. d. f. <). k. l. in. n.
p. r. s. f. Halben ton im vergleiche zu diesen liaben folgende conso-
nanten: d. p. X. V. c. h. X. q.
LEIPZIG. E. MOGK.
1 öS MÜLLEK - yKAUENSTEIN
ÜEEK ZIGLEES ASIATISCHE BANISE.
(Fortsetzung imd scliluss.)
"Wenden Avir uns nun dem inneren ausbau zu. Einige alge-
meine bemerkungen mögen da vorausgehen. In betreff der kunstmittcl,
■welche dem erzähler als solchem zu geböte stehen, ist Zigler durch-
aus nicht zaghaft. Xicht ernstlich zu bezweileln ist, dass er von der
lateinisch -griechischen schulgelehrsamkeit seiner zeit ganz bedeutenden
gebrauch gemacht hat; dagegen ist mir zweifelhaft, ob er die poetiken
und rhetoriken der französischen Jesuiten seines Jahrhunderts studiert
hat^. An und für sich ist dies zwar, da er ja so viel gelesen hat,
nicht unwahrscheinlich; meine bemühungen, mehr positives, als Bober-
tag in dieser beziehung gefunden hat, beizubringen, sind aber erfolg-
los gewesen. Yon zwei gerade in dieser zeit erschienenen rhetoriken
kann ich allerdings ganz deutlich beweisen, dass sie ohne einfluss auf
Zigler gewesen sind. Bernard Lamys rhetorik widerspricht mit ihren
regeln über die anwendung der tropen und tiguren und über den stil
seiner methode schnurstracks; es weht ein vöUig anderer geist in bei-
den büchern. Auch die Sentiments sur les lettres et sur l'histoire avec
des scrupules sur le stile (Paris 1683), ein geistreich und gewant
geschriebenes werkchen, entspricht in seinen anweisungen unserem
geschmacke weit mehr als dem der zweiten schlesischen schule. Schärfe
und kürze des ausdrucks, Vermeidung von Sprichwörtern, charakte-
ristische w^ahl der worte je nach der sprechenden person, mass in lob
und tadel wird da gefordert. Den alten schwerfälligen romanen stelt
es die novellen gegenüber und begründet die abneigung gegen erstere
mit ihrer länge, ihrer mischung von vielen verschiedenartigen geschich-
ten, ihrer masse handelnder personen, der altertümlichkeit ihrer Stoffe,
der Schwerfälligkeit ihres baues, ihrer un Wahrscheinlichkeit und ihrem
über mass. 3Ian sieht, das sind alles aussetzungcn , die auch die Banise
treffen.
Xoch ein anderer umstand hat mich von dem glauben abgeführt,
dass Zigler sich auf framiösische regeln direkt stütze. Nahe lag der
verdacht, den freilich vor mir niemand ausgesprochen hat, dass die
zahlreichen, zur rhetorischen ausschmückung eingeflochtenen briefe nach
französischen mustern entworfen seien. Ich habe mich deshalb die mühe
nicht verdriessen lassen, alle damaligen französischen briefsteiler, die
mir erreichbar waren, genau zu vergleichen: Pielat, Le secretaire in-
1) Vgl. E. Schmidt in Schnorrs Archiv II, 1880,
ZIGLEKS ASIATISCHE BANISE 1(59
connu (Lyon 1672 und 1683), desselben Secretciirc nouveaii (Amster-
dam 1679), ferner Kiche-Source, La bousole du parfait secretaire (Paris
1680), auch (Quinet), Nonveau recueil de lettres et billets galandes
(Paris 1680). Aus ihnen allen hat Zigler keinen buchstaben entnom-
men. Es wäre hiichstens nicht unmöglich, dass er einige winke der
Bousole befolgt hätte. Wir suchen deshalb direkt aus der Banise selbst
die rhetorischen grundsätze Ziglers herauszulesen.
Sie sind gar nicht so unbedeutend. Er geht sofort in medias res,
sezt an einem passenden punkte ein, baut, wenn auch in groben for-
men, doch nach einem einheitlichen plane, gibt episoden und digres-
sionen, lässt parallele handlungen und in gewissem sinne auch parallele
Charaktere vor uns erscheinen, stelt rührendes und komisches in manch-
mal nicht ungeschickter, zumeist freilich uns wenig anmutender weise
neben einander, versucht direkt und indirekt zu charakterisieren, wenn
uns die dafür aufgewanten mittel auch nicht selten recht Avunderlich
vorkommen mögen, und hält die Charaktere im grossen und ganzen
entschieden fest. Er erhöht die Spannung durch algemeine andeutun-
gen, die im voraus beruhigen oder erschrecken, und zwar thut er dies
sparsam, nicht im Übermasse, wie es seine zunftgenossen sonst wol zu
tun pflegen, er verwickelt und entwirt, wenn auch hie und da etwas
gewaltsam, doch im algemeinen nicht durch geradezu unglaubliche
ei-findungen, strebt einen bestimten lokalton wenigstens an, wenn er
auch oft genug aus dem lande, in dem die handiung spielt, wider her-
ausfält, und versteht den f ortschritt der ereignisse zu steigern, wenn
auch gerade die höhepunkte uns die mängel seiner dichtung, die gren-
zen seiner kraft am deutlichsten zeigen. Yor allem aber hat er doch
tiguren geschahen, denen das interesse gewahrt bleibt, dankbare gestal-
ten für den roman seiner und überhaupt jeder zeit, und zwar nicht in
so grosser anzahl und nicht so bunt durch einander laufend, dass sie
auf einander drücken oder sonst einander schädigen i.
1) Scherers lu-teil kann ich darin wol allein mit zu hilfe rufen. In betreff der
Charaktere kann E. Schmidt „ beim besten willen keine individualisierung in Banise,
Balacin, Chaumigrem, Eolim finden'^, die figuren und Verwicklungen seien vielmelir
im wesentlichen typisch. Cholevius s. 164 meint, alle figuren glichen einander, die
guten hier, die schlechten dort, nur in den Schicksalen seien einige hervoitretend.
Bobeiiag, der überhau^it nicht gar viel von Charakteristik wissen will, sagt s. 223,
Zigler leiste etwas mehr darin als Bucholtz und Lohenstein, tadelt aber auch, dass
die tugendhelden wie die bösewichter „abstrakt folgerichtig'^, „genau nach der instrak-
tion" seien. Ich finde das doch nicht so absolut: Chaumigrem macht versuche, bes-
ser zu erscheinen (219, 230, 330, 361), Balacin lernt erst regieren und scheint mit
dem amte zu wachsen, Scandor hebt sich doch auch etwas. Eine entwicklung der
170 MÜLLER - yRAÜEXSTEIN
Die engelsoböne und engelreine Banise und ilir tapferer und
getreuer Balaein sind das liebespaar par excellence, neben welches zwei
andere von ähnlicher treue, wenn auch in abgeschwächten lichttönen
treten: Balacins Schwester Higvanama und Nherandi von Siam, des
lezteren Schwester Fylane und Palakin von Proni. Ihrer aller glück-
liche Vereinigung nach Überwindung der gr(3ssten hindernisse ist das
ziel, dem der dichter zustrebt. Zwei andere liebespaare von geringerer
bedeutung bilden eine art zweiter gruppe, die das gemeinsame hat,
dass die weiblichen glieder derselben die männlichen erobern, so wenig
die lezteren zuei*st dieses Schicksal für begehrenswert halten, imd dass
dadurch die beiden hauptpersonen, denen hier Lorangy, dort Zarang
nachstellen, luft erhalten. Ein tiefgreifender unterschied liegt aber darin,
dass Scandor, Balacins Paladin, im gründe doch die seinem herrn
naclilaufende Lorangy übertrumpft und so zu einer seinem Charakter
diu'chaus entsprechenden höchst komischen lösung anlass gibt. Der
prinz Zarang von Tangu dagegen, welcher um Banisens willen die
grössten anstrengungen macht und deshalb sich einmal zu feigen und
hinterhstigen streichen hergibt, dann Avider in frauenkleidung in den
tempel der prinzessin dringt, endlich neben Balaein, aber nicht als
freund, sondern nebenbuhler, Pegu belagert, um Banise zu befreien,
dieser Zarang dagegen, sage ich, wird von der ihm ewig getreuen
Prinzessin von Savaady ganz regekecht überrumpelt und nimt einen
völligen neigungs- und damit Charakterwechsel vor, um sich ihrer
gelungenen list doch endlich zu freuen.
Auf der siegenden, nach unerhörten gefahren endlich triumphie-
renden Seite stehen sodann noch in zweiter linie der alte Talemon und
Hassana, Lorangys eitern, deren bruder Ponnedro, der „oberhoffmeister
über das frauenzimmer des käysers Chaumigrem", ferner die feldherren
Padukko, Mangostan, der Überläufer Martong und endlich der weise
Korangerim, Avelcher als neuer Kolim d. i. als Oberhaupt der hierarchie
schliesslich die krönung des liebespaares ausführt.
Gegenüber diesen personen steht nun in allererster linie der
Wüterich Chaumigrem, der zuerst Higvanama, sodann Banise verfolgt,
dann der alte Rolim von Pegu, welcher neben seinem herrn Banisens
chai'aktore hat Zigler freüicK kaimi erstrebt. Richtig ist zweifellos Bobeiiags satz
224: „Der hauptfehler sei, dass diese heroisch - galanten Schriftsteller Charaktere schil-
derten, die sie im leben nicht trafen", wenigstens in dem sinne, als sie übertreiben.
Ebenso imtersclireibe ich sein uiieil: Grimmeishausen stehe in betreff der menschen-
darstellung weit höher. Trotzdem kann ich das wegwerfende wort von dem „poe-
tischen unwert- dieser lezten auf die Banise wenigstens nicht mit beziehen,
ZIGLEKS ASIATISCHE BANISE 171
besitz erstrebt; von iluien erleidet der erste durcli Balacin, der zweite
diireh die lieldin selbst den tod. Neben iluien wären als einzii^e, nuch
etwas charakterisierte nebenpersonen des ersteren briider Xeminbrun
und der feldlierr Soudras zu nennen.
Eine ganz eigentümlich grosse zahl schlechter väter und mütter
bewegt sich sodann mehr im liiutergrunde der tabel, für die Verwicke-
lungen sind sie jedoch gerade von höchster bedeutung. So in Ava
Balacins luul Higvanamas vater Dacosem, der die schlänge Chaumigrem
grosszieht inul seinetwegen die eigenen kinder von sich stösst, ebenso
in Odia der vater Nherandis und Fylanes, Higvero, welcher seiner
zweiten trau, jener beiden Stiefmutter, seine liebe zu den kindern erster
ehe opfert, ferner in Prom Palekins vater und Stiefmutter, die genau
ebenso handeln, so dass der söhn unter dem nanien Abaxar sein glück
in der fremde sucht, endlich Scandors vater, der den söhn einer sieb-
zehnjährigen Stiefmutter wegen davon jagt. Die einzigen guten eitern
sind im gründe nur diejenigen Banisens, deren vater Xemindo in dem
besten lichte erscheint, und Lorangys, deren ptlegemutter Hassana doch
immer, wenn auch auf einem ungewöhnlichen w^ege, das glück dersel-
ben erstrebt, während Talemon als vater gleichgiltiger erscheint. Von
den älteren franen in unserem roman ist im ganzen also nicht viel
gutes zu berichten, die Stiefmütter erscheinen besonders von ihrer
abschreckendsten seite, wie sie nur immer die Volksmärchen darstellen
können. Ein paar werte müssen aber im besonderen noch der oben
erwähnten Hassana und einer anderen duenna, Banisens hofdame Es-
Avara gewidmet werden. Sie repräsentieren die intriguensucht der frauen
mitleren alters, sind zu liebesaffairen trotz ihrer Verheiratung auch
selbst noch geneigt, beide aber werden vom dichter mit überlegenem
humor behandelt. Eswara, des oberelephantenwärters von Pegu abstos-
sende gattin, stelt dem edlen Scandor selbst nach, Hassana aber erhält
ihn sehr wider ihren willen zum Schwiegersöhne, da er sich für seinen
herrn opfert und unter dessen namen sich zu einer ehe nötigen lässt,
die ihm bei lichte besehen gar nicht so uneben dünkt.
Die beiden hauptpersonen nun sind für unseren geschmack
zu rosenrot gekleidet. Was ich an mangeln, die der dichter beabsich-
tigt haben kann, entdeckt habe, beläuft sich bei Balacin darauf, dass
dieser einmal sich durch bestochene ratgeber abhalten lässt, in seines
feindes ab Wesenheit gleich nach Pegu zu ziehen und Banise zu befreien,
sodann dass er nach der ersten befreiung der Banise mit ihr sich ver-
irt, obgleich er für die flucht alles vorher genau bestimt hat und w^ahr-
haftig zeit genug und vor allem grund genug zum erkunden des weges
172 MÜLLER - FKAUEXSTELV
gehabt liätte, und dass er dabei schliesslich vorausreitet und seine
braut in feindeshaud fallen lässt, ohne einen versuch zu ihrer rettung
zu machen. Es sieht aber nicht aus, als ob das in des dichters äugen
flecken auf des prinzen charakterbilde sein selten, obgleich doch beide
male die gefahren und seeleu quälen seiner verlobten dadurch verlängert
und gesteigert werden. Zigler gibt ihm zwar eine art jugendlicher
Unbesonnenheit, lässt ihn schnell verzweifeln, Selbstmordversuche machen,
aber er meint zweifelsohne das ideal eines jungen fürsten in Balacin
gezeichnet zu haben. Uns könte wol noch mancher andere punkt an
ihm aiüiallen, im handeln und im sprechen, doch sie erklären sich
leicht aus dem anderen geschmack, der anderen zeitrichtung , sind auch
unbedeutend. Banise ist vom dichter entschieden noch vorteilhafter
entworfen, engelrein an geist und körper, von heroischer Willensstärke;
aber an dem bilde der trau fallen uns doch gewisse züge noch mehr
auf, die selbst vor 200 jähren nicht algemein unangefochten vor der
schönen leserinnen äugen durchpassiert sein mögen. So wenn Banise
in schimpfreden, wie sie heute nur das gröbste hökerweib brauchen
würde, allerdings in fürchterlichen Situationen, ausbricht, so wenn sie den
Kolim, den hohenpriester, um ihre ehre zu retten, mit dem deiche ersticht.
Die frauen, das ist meine empfindung, hat Zigler überhaupt mit
mehr energie im reden und handeln, um es mild auszudrücken, aus-
gestattet, als uns angenehm sein kann. Ich will da nicht seine eigen-
schaft als Junggeselle mit zur erklärung benutzen, wenn schon die ver-
liebe, mit der in den gesp rächen über liebe und ehe abschreckende
beobachtungen angebracht sind, dazu verfülu'cn könte. Ich will auch
nicht bei den älteren frauen, die in die handlung eingreifen luid die
ich schon erwähnt habe, länger verweilen; von deren untreue, eventuell
ihren zotenhaften reden, soll später gesprochen werden; Eswara und
Hassana sind dafür typisch. Jedesfals kent der dichter aber seine zeit.
Die fleckenlose fügend Banisens und ihrer späteren Schwägerin Higva-
nama hält er jedoch als die edelste eigenschaft derselben fest, durch
ihr und der dritten prinzessin, Fylane, verhalten werden im gründe
die pessimistischen anscliauungen , welche Scandor speciell zur schau
trägt, lügen gestraft. Doch sanfte, liebliche figuron sind diese damen
ganz und gar nicht, sie gleichen viel mehr amazonen, sind eine art
mannweiber nach dem mustor der Dido und Semiramis. Schwache
nennen suchen wir vergebens, im hass und in der liebe beweisen die
frauen sich als starke naturen.
Sind wir nun berechtigt, diese eigentümlichkeit nur aus der rück-
sicht auf den geschmack der deutschen leseweit vor 200 jähren zu
ZIGLERS ASIATISCHE BAMSE 173
erklären, oder küimen wir aucli darin eine liühere hiinstlerische Über-
legung suchen? Uns erscheinen diese trauen sicher weit mehr als
Asiatinnen denn Europäerinnen; aber die briete der pfälzischen tugend-
wächterin am hofe Ludwigs XIV., der herzogin Elisabeth Charlotte
von Orleans, welche durchaus in die zeit der Banise fallen, geben
uns allein schon den massstab, wie die damaligen deutsehen Prinzes-
sinnen sich auszudrücken wüsten. Zwischen jenen tagen und der
gegenwart liegt das jahrlumdert der Sentimentalität, über die wogen
der Pamela- und Werther -Schwärmerei müssen wir hinüberblicken zu
dem öden strande deutscher Verrohung, den der dreissigjährige krieg
hinterlassen hatte. Das berücksichtige man für das folgende.
Als Banise zum ersten male vor Chaunngrem geführt wird (231),
tritt sie noch ziemlich zahm auf, sie sucht sich durch „hefftigste zorn-
blicke" ihm verhasst zu machen und durch „viele scheltworte" ihn zur
volziehung des todesurteils zu bewegen. „Blutbegieriger tyrann", „Ver-
räter meines Vaterlandes", „henker meiner freunde, mörder meiner lan-
des-leute, bluthuud" sind die titel, welche sie ihm zuruft. Stärker
schon sind die ausdrücke, die sie nach dem verunglückten fluchtver-
such vor ihrem peiniger gebraucht (266). Am höchsten steigt aber
wie natürlich ihr zorn, als der Rolim ihr gewalt antun will; die Wen-
dungen, in denen sie ihrem gepressten herzen da luft macht, sind die
krassesten, welche ihrem schönen munde entströmen, sie würden heute
nur in den dichtungen Zolas und seiner schule denkbar sein (353).
„Schäme dich ins hertz, du alter stinckender geilheits-bock! Sollen
die götter durch deine unzüchtige scheinheiligkeit dermassen beleidiget
w^erden? 0 so schlage doch der blitz deinen grauen schedel entzwey!"
Und als sie von den reichsräten an des Rolim leiche gefunden wird,
bewegt sie sich in ganz ähnlichen ausdrücken (354).
Dieselben lippen aber, die sich durch solche zügellose reden ent-
weihen, können auch wider, wenn ein listiger anschlag durchgesezt
werden soll, kokette und verführerische werte genug finden. So bei
den Vorbereitungen zu dem verunglückenden fluchtversuch. Banise ist
eben erst vom Selbstmord abgehalten worden; in dem augenblick, wo
sie den dolch in ihre entblöste brüst stossen will, tritt Ponnedro ins
zimmer und entreisst ihr die waffe (233). Er sagt ihr: „Wo erd und
hölle nicht vermag, kann bloss die list eines frauenzimmers auch selbst
die unmögligkeit überwinden." Sie solle sich gegen Chaumigrem der-
massen anstellen, dass er mehr Ursache zur liebe als zur grausamkeit
haben möge." Und als nun der tyrann zu ihr tritt, während Balacin
1 74 Mt^LFP - FRArEN'STErN'
hinter einer tapete versteckt ist, riclitet sie an jenen die verfänglichen
Avorte: „AVo in dieser weit (245) noch etwas zu finden Aväre, womit
ein gefesseltes frauenz immer einen solchen ]\Ionarclien, Avelchem die
Vergnügung selbst zu fusse fallt, vergnügen könne, so wüste ich doch
nicht, worinnen solche erfüUung heruhen solte?" Tm weiteren verlauf
des gespräches weiss sie so do})peldeutig zu sprechen, dass es ihren
bräutigam hinter der tapete bald heiss bald kalt überläuft; sie geht so
weit zu gestehen: ,, Ein verborgener trieb entzündet mich, und ein
innerlicher zug heisset mich lieben, das kan ich nicht läugnen." Sie
weiss ihn. natürlich nur um zeit zu gewinnen, zu einer standesgemäs-
sen Verheiratung zu bereden, dann solte „dem kayser die ersten rosen
ihrer liebe zu samein mit freuden erlaubet sevn." Und als der ver-
liebte tyrann eilfertig darauf eingeht, verlängert sie die Unterredung
„mit verstelten liebesgeberden", nent ihn „mein schätz, mein augen-
trost" und beichtet ihm, dass ilir „entflammtes hertze ganz entzückt
den Weyrauch beliebter gegen -liebe auf den altar seiner seelen streue
und sich diese glut in ihr nicht länger verbergen lasse." „Sie schla-
get zu mund und äugen heraus, weil mein geist von lust und liebe
gleichsam überschwemmet wird." „Eben diese flammen quälen mein
hertze, und ich bin nicht weniger begierig unsere liebe vollkommen
zu machen." Drei tage frist bis zur Vermählung sind das resultat die-
ses gespräches, und als der abend gekommen, an dem „das Tali" vor
sich gehen soll, lässt sie sogar Chaumigrem wissen, dass ihm noch
vor der engeren Verbindung ihr zimmer offen stehe. Damit ist die
gelegenheit zur flucht ermöglicht; kaum ist der verliebte bei ihr ein-
getreten, so weiss sie ihren wundertrank anzubringen und entflieht.
Alle diese scenen sind aber, das muss zu Ziglers ehre gesagt werden,
nicht weiter sinlich ausgemalt, Chaumigrem bringt es in summa bis
zu einem einzigen handkusse, und auch seine worte halten sich hier
in gebührenden schranken.
Banisens benehmen gegen den Holim und gegen Chaumigrem
können wir nach den gegebenen beispielen kaum anders als extrava-
gant nennen; darauf beziehen sich meine worte, wenn ich sie amazo-
nenhaft finde. Die schreckliche läge, in die sie durch jene gebracht
ist, entschuldigte sie vielleicht vor 200 jähren, heute urteilen wir stren-
ger. Gegen ihren etwas weichherzigen vater und gegen ihren bräu-
tigam, überhaupt gegen alle anderen personcn, mit denen sie zusam-
mentrift, selbst gegen den zudringlichen prinzen von Tangu, ist und
bleibt sie die edle und feingebildete dame der vornehmen weit, auch
ZIOLERS ASlATISnH^ BANISR 175
nacli unseren begriffen. Ihre briefe und gediclite' zeiclmen sich vor-
teilhaft durcli kürze und niclit gar zu übertriebenen schwulst aus. Ich
nenne als probe das antwortslied auf Balacins erstes liebesgedicht nach
der Verlobung; mir Avill es von allen das annehmbarste scheinen (164).
Auch in den scenen vorher, als l^alacin seine liebe erklärt, spielt sie
^ne natürliche und wirklich liebenswürdige rolle, ihre klarheit sticht
nach unserem geschmacke woltuend ab gegen die schwülstigen, unsiig-
lich breiten sätze, die Zigler dem prinzen in den mund legt und mit
denen er sicher einen glanzpunkt seines werkes geschaffen zu haben
glaubt.
Ist demnach bei dem ersten und Avichtigsten liebespaare unseres
buches der männliche Vertreter neben seiner partnerin etwas scliwächer
gehalten, so ist bei dem zweiten das Verhältnis umgekehrt. Der prinz
Nherandi hat dieselben höfischen fugenden wie Balacin, seine persön-
liche tapferkeit tritt in den schlachten aber mehr hervor als bei jenem.
Jähzornig ist er auch, so wenn er dem bramanischen gesanten den
köpf abschlägt (287), aber im ganzen erscheint er schon gereifter als
sein Schwager. Dessen Schwester dagegen, seine braut, hat insofern
eine gewisse familienähnlichkeit mit dem bruder, als sie zu unbeson-
nenen streichen neigt. So schon gegen Chauniigrem und vor allem
bei ihrem anmarsch vor Pegu. Eine tagereise davon überlegt sie „mit
tausend freuden, wie sie durcli eine Verstellung das Aracanische lager
erschrecken und sich hernach mit beliebter anmut zu erkennen geben
wolte." Sie macht also halt, um am andern tag den bruder zu über-
raschen, und — lässt sich von Soudras überfallen und gefangen neh-
men. Gegen ihren bruder und ihren bräutigam verrät sie jedoch ganz
dieselben treflichen gesinnungen wie Banise; sie gleicht ihr aber auch
im verhalten gegen Chaumigrem, der ihr von dem bösen vater Daco-
sem aufgezwungen werden soll. Sie durchschaut seine lügen, weiss
sich vor ihm zu verstellen und listig seinen anschlagen zu begegnen,
standhaft weist sie alle Versuchungen zurück. Auch ilire reden lassen
schliesslich an deutlichkeit dem zudringlichen heuchler gegenüber nichts
zu wünschen übrig, nur dass sie weniger robuste ausdi-ücke als Banise
Avählt. „Hochmütige einfalt", sagt sie (s. 78), „ich als eine freygebohrne
Königliche Princeßin soll mich zwingen lassen, einen sclaven der laster
zu lieben? Unverschämter graff, schämet euch in euer hertze" usw.
Am meisten lässt sie sich einmal gegen Scandor gehen (53), als dieser,
ohne den Zusammenhang zu ahnen, sich zum Überbringer eines briefes
1) Selbst Wachler räumt ein, dass unter den eingeschalteten gedichten meh-
rere lyrischen geist und tiefes gefühl ven-aten.
176 MÜLLER - FRAÜENSTEIN'
von ChaumigTom hergegebeu hat. Sie speit das sclireibeu an, wirft
es zur erde, tiitt es mit füssen und redet den unglücklichen boten mit
den freundlichen Avorten an: „Und du, vertluchter hund, darffst dich
untei-tangen , mir von einer ewigverbanten person solche Sachen einzu-
händigen, welche würdig wären, mit dem hencker beantwortet zu wer-
den. Hiervon solte gewiß an dir der anfang gemacht werden, wenn
ich nicht des Printzen (Balacin) vei-schonte. Inmittelst lasse dich nicht
gelüsten, vor meinem angesicht mc^hr zu erscheinen, sonsten soll dein
kopff auff dem rumpffe wackeln.'^ Auch sie hat eimnal Selbstmord-
gedanken, doch bewegt sich ihr Schicksal glücklicherweise in weniger
extremen bahnen als das ihrer Schwägerin, Avenn ihr auch bei ihrer
gefangennähme gelegenheit geboten wird (s. 368), „sich aller w^eiblichen
natur zuwider als eine ungemeine heldin zu beweisen" und tapfer in
(lie feinde einzuhalten. Das gedieht, das ihr in den muiid gelegt wird,
ist gezierter als das Banisens (s. 48), doch nicht so schlimm wie man-
ches andere, die scene des widersehens mit Xherandi (370) recht leben-
dig und anmutend ausgeführt. Diese leztere partie und der bericht
von der briefsendung ihres geliebten, Avelche ihr bruder mit einem
kostbaren goldenen Schmuckkästchen (s. 62 — 66) überbringt, sind die-
jenigen stellen, in welchen Higvanamas Schönheit und amnut am mei-
sten zur geltung kommen. Sie gibt da Banisen kaum etwas nach.
Das dritte liebespaar endlich, Abaxar oder Palekin von Prom
und Fylane, Mierandis Schwester, unterscheidet sich schärfer von den
beiden ei*sten als diese unter einander. Abaxar ist von den priuzen
im gi'unde der festeste Charakter. Durch harte schicksalsschläge gestählt,
voll Zuversicht auf seine, voll mistrauen gegen fremde kraft, vermag
er zu schweigen wie das grab, von langer band her anschlage zu
schmieden und mit unverdrossener geduld sie durchzuführen. Wie eine
art schwarzen rachegeistes steht er neben Chaumigrem, an Teja erin-
nernd neben dem Achilleus- Totila ähnlichen Balacin. Ein mal auf dem
rechten arme, das wie ein schwert gestaltet ist, hat gleich bei seiner
geburt „gantz Asien" auf ihn aufmerksam gemacht. Eine böse Stief-
mutter aber, die ihrem eigenen söhne die herschaft zuwenden will,
hat ihn dem herzen des vaters entfremdet und durch Vergiftungsver-
suche zur flucht getrieben. Fünf jähre weilt er dann in Martaban
incognito als graf; Chaumigrem, gegen den er zuerst tapfer gekämpft
hat, wird auf ihn aufmerksam und hebt ihn, den gefangenen, nach
und nach immer höher, so dass er ausschlaggebend in Banisens Schick-
sal eingi-eifen kann. Er, Talemon und daneben Scandor sind die über-
legten ratgeber, die Balacin bei der unmöglich scheinenden befreiung
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE 177
der Prinzessin zur liand g-elien, er gibt die entscheidenden naeliriehten,
zügelt das leidenschaftliche ungestüm und weiss alles zum besten zu
wenden. Mit Fylane hat ihn boi dor belagerung von Odia eine merk-
würdige vei'kettung von umstünden zusammengeführt. Bei einem stürme
ist er der erste auf der mauer, ptlanzt selbst eine Peguanische fahnc
auf, wird aber al)geschnii;i"'i und gefangen genommen. Nun stirbt die
jüngste Prinzessin von Slam, ilire Stiefschwester Fylane wird von der
bösen Stiefmutter beschuldigt, sie vergiftet zu haben, ein verschmähter
liebhaber schürt das feuer, und Fylane muss die flammenprobe erlei-
den. Von schmerz und seelencpral überwältigt, gesteht sie, was man
von ihr verlangt, und wird zur Verbrennung verurteilt. Der Stiefmut-
ter ruft sie die entrüsteten werte zu: „Ha, blut-gierige bestie! du l)ist
zwar eine henckerin meines leibes, aber doch noch viel zu wenig,
meinen willen zu zwingen oder mein gemüthe zu beherrschen. Die
erschreckliche schlänge des höllischen rauch-hauses wird deine dräuung
an dir erfüllen und dich statt meines vaters mit schwartzen gei-
stern vermählen." Dem vater gegenüber bleibt sie eine gute toch-
ter, sie sagt zu ihm: „Ob ich zwar von aller weit verlassen bin, und
mir derjenige, welcher mir das leben gegeben, statt dessen den tod
gewähret: so will ich doch auch sterbende die väterliche band küssen,
und die kindliche liebe nicht im geringsten beleidigen. Ihm, werthe-
ster Herr Yater, wünsche ich, dass die götter diese that vergessen,
und die räche von dessen haupt abwenden wollen. Ich sterbe als ein
unschuldig gehorsames kind." Von dem abwesenden bruder endlich
nimt sie mit den w^orten abschied: „Dir, allerliebster bruder Nherandi,
der du noch meinen tod erst mit innigstem Jammer erfahren solst,
sage ich die letzte gute nacht, und schicke dir durch die lufft den
letzten abschieds-kuß" {320 fgg.).
Wie anders — und wdr fügen hinzu, wde viel schöner — stelt
Zigler hier eine ähnliche scene des abschieds von der weit dar als spä-
terhin bei Banisens Opferung! Ich muss auch hier wider auf die man-
nigfaltigkeit der mittel hinweisen, die ihm bei der Zeichnung älmliclier
Situationen wie ähnlicher Charaktere zu geböte stehen; ein dichter nie-
derer gattung findet sicher nicht so leicht die kraft zu solch gefähr-
lichen experimenten.
Doch kehren wir zu dem ti-auerspiele in Odia zurück. Dem
vater presst der rührende anblick schliesslich tränen aus, sein schmerz
macht sich luft in den w^orten: „Ach! weiten die Götter, es unterstände
sich jemand deine Unschuld zu behaupten, so w^olte ich leicht zum
beyfall zu bewegen seyn." Und Abaxar, der in ketten und banden in
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 1-^
178 MÜLLER -FRAUENSTEIN
der nälie steht, hört diesen seiifzer, er ist von der schihiheit FyUuies
betrotieii, von ilu-em sclürksal erschüttert, und erbietet sich, nur mit
Schild und stab bewatuet, gegen jeden, er sei bewafnet, wie er wolle,
für sie zu kämpfen. Trotz aller hinterlist der königin, die ihm einen
möglichst dünnen schild hat reichen lassen, besiegt er den gegen ihn
anstürmenden günstling derselben und errettet die Schwester Nherandis
vom tode. Der leztere aber erscheint gerade nocli zur rechten zeit auf
dem platze, um weiteres unheil abzuwehren, Abaxar und Fylane unter
seinen schütz zu nehmen und vater und Stiefmutter mit der gebühren-
den sti'afrede zu brandmarken. Dass die zeit des gemeinsamen gewahr-
sams von Abaxar wol angewendet wird, um Fylanens herz zu gewin-
nen, verstellt sich von selbst, der dicliter ist aber auch so klug, was
Lohenstein kaum getan haben würde, sich darüber kurz zu fassen und
seine kürze vor dem geneigten leser durch die schalkhafte bemerkung
zu begründen: '„Er werde wol selbst wissen, was er vor worte in der-
gleichen begebenheit gebrauchen wolte." Die weitere ent Wickelung der
dinge ist in der inhaltsübersicht erzählt.
Ich glaube kaum fehl zu gehen, wenn ich am Schlüsse der neben-
einanderstellung der drei fürstlichen liebespaare es offen ausspreche,
dass die geschwister Nherandi und Fylane, dazu Abaxar noch heute
recht dankbare romanfiguren darstellen würden , dass aber Balacin, seine
Schwester Higvanama und seine braut Banise weit mehr fremdartige,
uns nicht voll befriedigende züge tragen. Fylane ist weiblicher, Nhe-
randi und Abaxar sind männlicher nach den modernen begriffen als
die anderen drei personen. Da sie nicht in allererster Knie stehen,
hat der dichter an ihnen nicht so viel zu potenzieren für nötig gehal-
ten als bei den gliedera des Avanischen und Peguanischen hofes, die
lezteren leiden unter der wucht sowol der ihnen beigelegten heroisch -
galanten eigenschaften als der ihnen zudiktierten erlebnisse. Für die
figuren ersten ranges haben wir heute einen andern massstab. Die
klarheit der seelischen Vorgänge ist bei Zigler zwar nicht verwischt,
diese selbst sind aber unangenehm übertrieben. In anderer weise die
hauptpersonen interessanter zu machen war der dichter unfähig. Er
kann wol die ähnlichen gestalten ziemlich lebhaft von einander unter-
scheiden, in parallelen handlungen eine unterscheidende gruppierung
und ausdrucksweise anwenden, aber anders als durch Übertreibung das
zu heben, was zu allermeist hervortreten muss, dazu reicht seine kraft
nicht aus. Er kann in eine persönlichkeit, die er geschaffen, nicht tie-
fer eindringen, sondern vennag nur die färben dicker aufzutragen; uns
ist die grössere psychologische feinheit in der Zeichnung der massstab
ZIGLERS ASIATISCIIK DAXISR 179
für das grössere oder geringere Interesse, das die personon uns abge-
winnen. Dazu kam noch ein anderer, wiclitiger grund. In die scliick-
sale Nherandis, Fylanens, auch Abaxars sind wir im gründe docii
genauer, wenn auch auf viel geringerem räume, eingeweiht als in die
der drei partner. An den seelencjualcn und körperlichen leiden der
lezteren gehen wir mit fast geringerer teihiahme vorüber; wir fragen
uns eher: AVarum komt der dichter dazu, inuner mehr und mehr Jam-
mer aufzuhäufen auf die vortretlichsten aller menschen? Der begriff
der tragischen schuld fehlt gänzlich. Man sieht aber auch den grund
der Vorliebe des alten Dacosem für den grundhässlichen feigling Chau-
migrem, unter der Balacin und Higvanama, schliesslich auch Banise
leiden, viel weniger ein, als warum der alte könig von 8iam oder der
von Prom, die sonst auch wie zwei — mit respekt zu sagen — alte
esel erscheinen, ihre kinder so schlecht behandeln. Da spielt wenig-
stens eine sicher recht hübsche zweite frau die rolle, welche hier einer
wahren misgeburt zufiilt.
Doch wir gehen über zu den nebenpersonen. Da ist nun zunächst
die figur Scandors mit unleugbarem geschick entworfen und ausge-
führte Er behält stets seine frische leichtlebige manier bei, ist dabei
mit scharfem blicke begabt, gibt mehrmals den einzig guten rat und
führt entscheidende Wendungen herbei; er opfert sich als treuer diener
nicht nur ein-, sondern mehrmal, in den schlimsten momenten steht
ihm seine menschenkentnis und ein gewisser, halb höfischer, halb bäu-
rischer humor bei. So windet er sich aalglatt durch alle verwicklun-
1) Scherer neut ihn einen „humoristischen diener" neben dem tapferen heb-
haber, der edlen, duldenden prinzessin und dorn schrecklichen tyrannen, Scherr
„eine art von hanswurst zur vorsichtigen ab wehr alzugrosscr schmerzen." Cholevius
s. 164 sagt: „es verdiene der versuch, in Scandor eine besondere Individualität aufzu-
stellen, bcachtung. Sein stand erlaubte ihm ein munteres, witziges wesen. Der
ideal gestimte herr bewege sich meist in tragischen Situationen, neben ihm stehe der
anspruchslose, lebenslustige, leichtblütige, treue diener. Bisweilen seien seine schorz-
rcden etwas ungelenk, sein witz gehe nicht über die gewöhnlichsten spässe hin-
aus (?!)." Als beispiele führt er an das gespräch, woiin Balacin Scandor zuredet eine
frau zu nehmen, dann die scene, in welcher lezterer als verkleideter portugiesischer
händler die hofdamen in Pegu an der nase herumführt, und drittens die autwoiien,
welche er nach seiner ersten gefangennähme Chaumigrem gibt. Von diesen scheint
mir das erste gar nicht zu passen, die beidon anderen eher. Bobertag s. 254 macht
gegen Gottscheds tadel, Scandor sei zu sehr hanswurst, geltend, dass, wo alles sehr
grell gemalt wird, auch die derbheit des humors nicht alzusehr absticht. Sonst hält
er dessen ausstelluno-en geaen die Charaktere fest: diese wichen von der wahren
beschaffenheit der zeit, in welcher sie sich befinden, ab. Er lobt es auch, dass Gott-
sched seinen tadel nicht ausdehne auf die consequenz der Charaktere an sich selber.
12*
IgO MVLLER-FRArENSTEIN
o-en hiiuluroh, an den sklavon in der alten koniödie, an die kaninier-
kätzcben des älteren französischen lustspieles erinnernd, erntet dabei
die band und das vernu)gen eines vornehmen jungen mädchens, das
von einer halb ^vabn^vitzig•en liebesraserei zu seinem berrn erfiült ist,
und steht am scbluss als festeste säule des neugegründeten hinterindi-
scben reiches neben dem throne der unvergleichlichen Banise und ihres
Balacin, in alles, was diese beiden bauptpersoncn betriff, wie niemand
sonst eingeweiht und ihres Vertrauens in jeder hinsieht wert. Er stamt
übrigens aus einem alten adeligen geschlechte von Ava. Licht und
schatten, idealitilt und realität sind bei diesem charakterbilde in glei-
cher weise zur geltung gekommen. Ein liebenswürdiger Schwerenöter,
über dem der himmel öfter einzustürzen droht, dem aber schliesslich
alles gut ausfallen muss, steht da vor uns, wie Avir ihn uns gern in
die zeit denken, wo höfische gewantheit und selbstlose Unterwürfigkeit
unter eines fürsten gebot und Interessen das höchste äussere glück ver-
anlassten. Der alte Talemon ist zu dem jugendlich -kecken Scandor
ein in etwas matteren, aber ebenfals anziehenden färben ausgeführtes
gegenbild; er ist von derselben treue im grauen haar wie Scandor im
braunen, aber seine frische ist nicht nur infolge der schicksalsschläge
und des altei*s, sondern auch der erfahrungen, die er in der ehe ge-
macht, unmöglich geworden. Er, der im verlaufe des romans zum
Schwiegervater Scandoi-s wird, hat durch seine frau, für die der autor
nur sehr grelle und unangenehme färben auf der palette im vorrat hält,
von einer und zwar der schönsten seite des lebens, von den freuden
der familie, ofi'enbar nur sehr schwache Vorstellungen bekommen. Scan-
dor bringt ganz eben solche schon vor seiner ehe mit, er spricht
witzige und weltkluge ideen über die frauen und die liebe aus, und
nach der art, wie er mit seiner zukünftigen Schwiegermutter und frau
im ei-sten und zweiten buche umspringt, wird man hoffen können, er
werde das alte Sprichwort: „Die ersten jähre der ehe sind die lezten
der erziehung" wie an sich selbst so vor allem an seiner Lorangy
wahrmachen, an der Schwiegermutter Hassana scheint allerdings hopfen
und malz verloren.
Scandors abenteuer sind zahllos, seine reden geradezu gespickt
mit den fruchten von Ziglers lesewut, aber ich kann nicht sagen, dass
die contouren der persönlichkeit dadurch verwischt wären. Alles hat
vielmehr ein bestimtes gepräge, was mit Scandor zusammenhängt; seine
unvens^üstliche spotlust, die aber nur selten verletzend Avirkt, geht
band in band mit einem gesunden menschenverstand. Wie für seine
lose zunge diese beiden grundzüge massgebend sind, so ist für seine
ZIGLKIJS ASIATISCHE BANISf: ISl
Imiidhiiigsweise der v urteil seines herrii allein bestimmend. Er spielt
den Don Juan nur in dessen Interesse, um seinetwillen verheiratet er
sich mit Lorangy, um seinetwillen hat er vorher der alten Eswara den
hof gemacht und ist dabei, da er von deren gatten in ihrem zimmer
überrascht wird, in eine ziemlich fatale Situation geraten. Diese bei-
den nuvellenartigen episoden sind ganz in der art des Decameron oder
der Canterbury Tales gehalten, nur dass sie weit reinlicher verlauten
und weit mehr die lach- als die sinnenlust erregen. Seinen humor
verliert Scandor weder, als er unter der „Oberdecke'' noch als er unter
dem „teppich" versteckt liegt, weder als die intriguantin Hassana noch
als des oberelephantenwärters hündchen ihn anbelt. Das eine mal muss
die überkluge mutter erkennen, dass sie den diener statt des herrn
zum Schwiegersohne gepresst hat, das andere mal bleibt der unnötig
eifersüchtige gatte in dem teppich zu einem ballen eingeschnürt auf
dem Schlachtfelde liegen. Amüsant ist Scandor doch auch als verklei-
deter portugiesischer hiindler in Pegu bei des tyrannen Chaumigrem
„frauenzmimer" (253 fgg.). Er preist „point d'Espagne an (wie Bober-
tag meint, wol eine art spitze), das von Pariß aus Sachsen kömmt und
dermassen wohl genäht, daß man flöhe darin no fangen könte", ferner
„treffliche saphire, w^omit man sich ein gehiißiges gemüthe verbinden
kan", endlich ein „köstliches schmincköhl'', dessen beschreib ung er in
einem buche von seiner grossmutter- Schwester- sohnestochter gelesen
habe. Zweimal tritt er als gefangener vor Chaumigrems äugen. Das
erste mal mit einem wahren galgenhumor; da berichtet er dem Wüte-
rich, sein herr sei heute „auff der post vorbey gegangen" und habe ihn
mit dem felleisen (der wider eingefangenen Banise) zurückgelassen.
Auch das zweite mal sieht Chaumigren ihn sehr unkluger weise wegen
seiner lustigen einfalle nur als einen narren an. Von seiner militä-
rischen lauf bahn ist schon kurz berichtet; ganz zu dem charakterbilde
passt nun die leichte art, mit der er über seine tapferen taten hinweg-
geht. Er rettet z. b. in der ersten schlacht Balacin das leben (39 fg.),
wird dabei verwundet, aber dann in die algemeine flucht mit ver-
wackelt und berichtet das mit den worten: „Jeder fragte seine füsse
um rat und eilte, dass er nicht wusste, ob feind oder freund hinter
ihm war." Er erwartet deshalb „mit einem schimpfflichen lufftarreste
beleget", d. h. gehenkt zu werden und beschliesst „auch im tode eine
dermassen hohe mine blicken zu lassen, daß ilm jedweder fremder vor
einen Unter -Feld -Herrn angesehen und respectiren miiste." Und von
seiner Stimmung vor diesem seinem ersten treffen legten die naiven
werte ein geständnis ab: „Hier verließ mich die Courage auff einmahl,
182 MÜLLER - FKAUENSTEIN
daß ich auf der stelle umkehrte uud niich zur bagage begeben wolte."
Zur rede gesezt, stösst er diu in der eile ersonnene entschuldigung her-
vor: „er -svolle nur den muster- Schreiber sein testament aufsetzen las-
sen, weil er doch wol einsehe, es müsse gestorben sein." Und als der
befehl, sich auf tausend schritte zurückzuziehen, komt, freut er sich
herzlich, „in meynung, es würde so bis in Ava hinein Avähren, da ich
denn gewiß nicht der letzte zum thure wolte gewesen seyn." Ganz
charakteristisch ist da wider der zusatz: „und freute ich mich schon,
wie mich meine liebe mutter aus dem gefiihrlichen kriege so sehnlich
emptaugen würde." Diese liebe nnitter ist die junge dame von sieb-
zehn jähren, die den alten vater beherscht und den Stiefsohn verfolgt
hat. Ganz bezeichnend ist dann seine weitere erziihlung: Bei dem
„entsetzlichen Wort: Setzt euch, schließt die glieder, macht daß gewehr
fertig! fragte ich meinen Printzen gantz ängstlich: Gutädiger Herr, sol-
len wir auch feuergeben?" wälirend seine abteilung doch nichts als spiesse
und Säbel hatte. So treibt er es am anfange seiner militärischen lauf-
bahn, so bleibt er bis ans ende, der spassmacher par excellence, der
dem tode unzählige male lachend ins äuge schaut.
Gerade die nach Gottscheds ausdruck „übel angebrachte" person
des Scandor fesselt, zumal sie nie aus der rolle fält, uns dergestalt,
dass selbst die langatmigen erzählungen des ersten buches, die ihm in
den mund gelegt werden, durch die art des Vortrages eiuigermassen
erträglich werden.
Über die anderen nebenpersonen ist es kaum nötig, uns des wei-
teren zu verbreiten, zumal schon von allen die hauptzüge angegeben
sind. Dagegen verlangen Chaumigrem und der Rolim, welche das
böse princip darstellen, noch eine kurze betrachtung. Bei ihnen trift
da.sselbe zu wie bei Banise und Balacin; wie diese zu rosenrot, so
schauen jene zu kohlschwarz aus. Der fluch der lächerlichkeit haftet
trotz aller grausamkeit an dem „Ertztyrannen"; persönliche feigheit,
ungeschickte manieren, grobe redewendungen kommen zu einem uner-
sätlichen blutdurst und unbezähmbaren ehrgeize hinzu, um den mann
möglichst verächtlich zu machen. Überall holt er sich deshalb auch
körbe. In Martaban hat er von nicht weniger als drei vornehmen fräu-
lein, die er später henken lässt, abschlägigen bescheid erhalten (145), in
Ava will die prinzessin Higvanama, in Pegu Banise nichts von ihm
wissen. Die gedichte und briefe, die er verfasst, sind die allerkomi-
schesten (z. b. 55, 72, 13}^: es ist kaum anzunehmen, dass Zigler dabei
1) In dem ersten, an Higvamana gerichteten briefe spricht er vom „ henker-
holen'^ und gestattet sich den geschmackvollen satz: ^Es reissct mich hefftig im
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE 183
ohne absieht verfahren liätte, und ieh sehe deshalb im besonderen die
gedichte mit etwas giinstiiceren äugen an als die meisten sonstigen kriti-
ker; sie sind dem dichter ein kunstmittel zur Charakterisierung und zwar
ein mittel von durcluxus ungewrihnlicher art. Am meisten tritt dies her-
vor, ausser bei dem von Chaumigrem verfertigten und unter Nherandis
maske abgeschickten sterbelied, bei Scandors „naclit-liedgen'' (209) mit
dem anfang: „Hier kömt Scandor, der (Jötter aih'ns])iel''; dasselbe ent-
spricht durchaus der inanier seiner ungebundenen reden. In der ersten
sclilacht spielt der spätere kaiser geradezu den Horribilicribrifax. Er
hat den Oberbefehl geführt, Dacosems, des ältesten prinzen von Ava
tod verschuldet und als erster flüchtigen fusses die schützenden mauern
aufgesucht. Während aber Scandor sich zu den versen aufschwingt:
Ihr Götter! soll ich unverhofft
Mein leben schliessen in der lufft;
So soll mich dieser tod nicht kräncken,
Lasst Chaumigrem nur bey mir hencken,
gibt der leztere eine darstellung seiner heldentaten (s. 77), wie sie Gry-
phius seinen beiden Bramarbas auch hätte in den mund legen können.
Auch die folgenden schlachten finden den miles gloriosus stets ebenso
auf dem gesichertsten posten, nur vor Prom wird er bei einem nächt-
lichen Überfall verwundet. Von dem Rolim endlich ist kaum mehr zu
sagen, als dass er überall der lüsterne, herschsüchtige bleibt bis
zum tode.
Solchergestalt sind die Charaktere, welche der dichter entworfen
hat. Mit welchen mittein nun führt er sie uns vor äugen?
Wenn ich von meinen eindrücken auf die anderer schliessen darf,
so gelangen wir zu dem scheinbar seltsamen resultat, dass alle die per-
sonen, von denen er ausser lieh und innerlich ein beschreibendes
bild entwirft, vor unserem geistigen äuge es absolut nicht zu einem
ganz klaren konterfei bringen können. So Banise selbst, Balacin, Hig-
vanama, am ersten noch Chaumigrem oder etwa Lorangy. Dagegen
nehmen figuren wie Scandor, Talemon, die er nur indirekt, in ihren
reden und handlungen charakterisiert, ganz bestirnte gesichtszüge auch
vor meiner phantasie an. Ich meine, man erkent daraus, wie in sol-
chen romanhelden gleich den leztgenanten nicht nur das algemeine,
sondern auch das besondere von dem dichter wirklich gut getroffen
worden ist, mag ich mir nun Scandor oder Talemon in der kleidung
linckeu schenckel, wobev sich auch ciu durchfall licfindet: allfin ihre huld kaun
mich heilen, und allen schmei-tzen veiireiben " ; er unterzeichnet: „dero hebenswür-
diger Ch."^
184 MÜLLER -FRAUEXSTKIN
und mit dem bart- und luiarschuitt des 17. jahrluindcrts oder unserer
zeit voi-stellen. Auch iu dieser beziehuug scheint mir Zigier etwas
höher als seine zeitgenössischen rivalen zu stehen. AVährend er äussere
zustände, ich meine in der natur und gesclschaft, gern beschreibt, ist
er damit spai*samer bei personen; das tut er vielleicht doch mit absieht-
Denn es sind, wie die nachfolgende aufzählung ergibt, doch nicht
wenige, die nicht direkt geschildert Averden, deren äusseres und inne-
res bild wir viehnehr selbst construieren aus ihren eigenen reden und
handlungen oder aus den urteilen anderer über sie. Wie sicli Zigier
eine besonders schöne und eine besonders hässliche frau, wie er sich
den „Feuerbrand Hinterindiens" äusserlich vorstelt, kann er allerdings
sich nicht versagen auszumalen; auch für eine mittel massige Schönheit,
wie es doch neben Banise und Higvanama die prinzessin von Savaady
oder Lorangy sein sollen, gibt er eine beschreibung, sonst ist nur Ba-
lacins portrait noch schärfer gezeichnet; damit sind wir in betreö' der
direkten Schilderungen seiner romanfiguren am ende.
Vergleichen wir jezt die einzelheiten. Des haupthelden bild wird
sehr bald entworfen (22), Lorangys blinde Verliebtheit soll dadurch ver-
ständlich werden. Dazu erhalten Avir bei gelegenheit des schifsfestes
Sapan Donon in Pegu eine darstellung seiner paradekleiduug (131).
Für seine heroisch -galanten inneren eigenschaften geben zeugnis seine
tapferen taten und seine liebesreden vor Banisen. Die lezteren sind am
meisten charakteristisch für den dichter des 17. Jahrhunderts; als probe
benutze ich die kostbare liebeserklärung, durch welche die prinzessin
gewonnen und Balacins incognito aufgegeben wdrd (159): „So breche
demnach die kette meiner schwachen zunge, und bekenne aus inner-
stem gründe seines hertzens, dass Balacin, Printz von Ava, bereits mit
dem einen fusse das grab berühre, wo ihn nicht die überirdische leut-
seligkeit der himmlischen Banisen vom tode errettet. Denn wie die
Sonne auch abwesende würcket, und man den unsichtbaren Göttern die
meisten opfier gewähret; also schwere ich, daß mich dero Schönheit
auch in der ferne venvundet, und die strahlen ihrer tugend entzündet
haben. Die begierden haben durch dero hohes lob auch von weiten
als ein zunder glut gefangen, welche aber nunmohro durcli den blitz
gegenwärtiger krafft vollkommene flammen zeigen. Hemmet sie nun
nicht, unvergleichliche Banise, diese brunst, und lasset die brennende
Sonne sich nicht in ein güldenes licht süsser gegenhuld verwandeln,
so muß Balacin zu asche wxrden. Ich erkühne mich nunmehro unge-
scheut zu sagen: Ich bin verliebt. Banise ist die Sonne, ich ihre wende:
sie ist mein nord-stem, ich ihr magnet. Schönste Vollkommenheit!
ZIGLKRS ASIATISCHE liAMSE 185
mein gliiendes liertz zündet ilir dun weyraucli leinester liebe an, und
ich schwere auch mein getreues leben aufzuoptlern. Weil nun der
Götter tempcl dem uffen stehet, welcher sie zu verehren suchet: so
eröffne sie demnach ihr himmlisches heiliirthum der seelen, und ver-
schmähe nicht das flammende opffer ihres ewig gewiedmeten Balacins."
Neben dieses nonplusultra vun geschmacklusigkeit in unserem sinne
und von feiner redeweise nach der anschauung unserer voreitern vur
200 Jahren muss man die kernigen worte halten, mit denen derselbe
mann seine feldherren vor der schlacht von Abdiara anfeuert; sie klin-
gen an Livianische reden an (s. 340).
Banise tritt in den verschiedensten seelenzuständen auf, einmal
schamhaft errötend bei der Verlobung ihres paladins, ein andres mal
leichenblass zu dem gefesselten vater hinschreitend, um ihm vor dem
tode ein glas wasser zur labe zu bringen, dann wider mit geschwun-
genem deiche an des Rolim leiche oder mit wankenden knien vor dem
opferaltare. Ihre äussere erscheinung Avird von Scandor ausführlich
beschrieben (s. 126). Schwarze äugen, hochblondes lockenhaar, ein etwas
aufgeworfener niund sind nach Ziglers phantasie die wichtigsten attri-
bute dieses Ideals weiblicher Schönheit. Können wir es dem edlen
Balacin verdenken, wenn sein ganzes wesen sich umwandelt, sobald
diese Schönheit sich ihm zugeneigt hat? Scandor malt gar nicht übel,
wenn auch vielleicht etwas spöttisch, seinen zustand aus (s. 161 i'j^.).
Bei der abschiedsscene (s. 166) sehen wir Banise „ auff einem stule in
solcher erbärmlichen gestalt vor uns sitzen, daß die unbarmherzigkeit
selbst zu einigem mitleiden hätte müssen beweget werden. Die schö-
nen haare Avaren zu fehle geschlagen, ein dunkel-gelber atlaß verhüllte
den schönen leib, und gab zugleich die innerste traurigkeit ihres her-
tzens zu erkennen. Die häufhgen thränen schienen einen theil der
vorigen anmuth weggeschwemmet zu haben, und das englische haupt
war von der üncken band als einer marmor-seule unterstützet." Die
rührenden trennungsklagen schliessen die „beweglichen worte" Bani-
sens: „So fahret wohl, mein Printz, mein Engel, mein Leben, fahret
wohl! und bedenket, dass ihr etwas hinter euch gelassen, welches sich
durch langes abseyn selbst verzehren würde. Fahre wohl, liebster
Schatz, den mich che liebe du zu nennen zwinget! Fahre wohl, weil
es doch muß geschieden seyn. Die Götter führen und begleiten dich!
Es müsse lauter Sicherheit auf allen wegen wachsen, wo du nur dei-
nen matten fuß hinsetzen Avirst! Wo du dein Haupt hinlegest, da
umschatte dich der Götter Schutz! Ja es müssen alle deine tritte zu
rosen werden! Fahre wohl!" Eine sinhcher gehaltene beschreibung
186 MÜLLER -FRAUENSTEIX
von Banisens körpcrrcizcn, die aus des Rolim munde komt, hebe ich
für eine spätere gelegenheit auf und erinnere hier nur noch an die
stelle, die uns Banise vor dem opferaltare zeigt (s. 388).
Yon dem prinzen Xherandi erinnere ich mich nicht, ^vie schon
oben angedeutet, eine direkte Schilderung durch den dichter gelesen zu
haben. Der eindruck, den er auf die holdselige Higvanama gemacht
hat, und seine tapferen taten sprechen lebendig für ihn. Dagegen erhal-
ten wir von seiner braut durcli Scandor ein bild, das ein anderes
Schönheitsideal als das der Banise darstelt (s. 49). „Sie war einer
anständigen länge, sehr wohl gewachsen, ihr haupt war mit kohl-
schwartzen natürlichen locken bedecket usw." Später finden wir sie im
garten, wo sie von ihrem bruder mit Nherandis brief aufgesucht wird
(s. 62). Sie bewilkumnet ihn „mit einem dermassen anmutigen küsse",
dass Scandor noch bei dem berichte „durch blosses gedencken der mund
voll Wasser läufft." Bei Fylane und Abaxar verhelfen uns nur der
eindruck, den sie auf einander und auf andere machen, und ihr ver-
halten in den schicksalsschlägen , die sie treffen, zu einem deutlichen
bilde, dii'ekte beschreibungeu von ihnen gibt Zigler nicht. Das gleiche
gilt von Scandor und Talemon; der leztere lässt einmal eine bemerkung
fallen, die sein vorleben beleuchtet. Er sagt nämlich (s. 88): „Die Göt-
ter haben die sünden meiner Jugend durch meine itzige ehe gerochen."
Yon seiner frau Hassana hören wir ebenfals nur auf indirektem wege,
alles ist aber auch darnach angetan, des ehegatten urteil zu bestätigen.
Sie liebt den tnmk, ist neugierig und herschsüchtig, plump, ja roh im
reden und handeln. „Einfältiger mensch, der gewiß sehr jung aus der
liebes -schule entlauffen ist", so redet sie dem verkleideten prinzen ins
gewissen, als dieser ihre deutlichen anspielungen nicht verstehen will
(s. 29); „fremde lumpen-hunde" ist ein anderer ehrentitel für die unge-
betenen gaste (s. 86); sie denkt sogar daran (s. 87), „nach hofe zu lauf-
fen und ihren alten zu verrathen, daß er verdächtige fremdlinge aus Ava
beherberget", und fügt die herzlosen werte hinzu: „Hierdurch räche
ich meine schmach, und kan mit gelegenheit auch meines alten loß
werden." Das stimt nun ganz zu dem, Avas wir aus ihrem und ihrer
Pflegetochter munde von ihrer Vergangenheit hören. Erstere erinnert
sie: „Sie weiß ja selbst, wie starck das süsse gift der liebe sey, und
hat deren würckung so wohl gegen den bewußten Hof- Juncker als
auch den Portugisischen cammer-diener sattsam empfunden." Diese
anspielung bringt die mutter zu dem geständnis, dass sie sich „durch
das süße andencken voriger liebe gantz verjüngt befinde", aber sie fügt
den stossseufzer hinzu: „Ich bin zum höchsten leidwesen mehr als
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE 187
sechsmahl dergestalt augelauiVcii, daß man mit mir wie mit einem ver-
salzenen brey umgegangen, welchen jeder, ^^•enn er ein paar löticl
davon genossen, stehen lassen" (s. 8(S). Die pflegetochter Lorangy steht
entschieden trotz der komischen rolle, welche sie spielt, etwas höher.
Als die mutter ihr ,,eine notlnvendige regul" (nämlich spröde zu tun)
für „uns frauenzimmer, welches profeßion von der liebe zu machen
suchet", geben will, antwortet sie: „Ich begehre keine profeßion von
der liebe zu machen, w^elches sonst gar eine verdächtige art zu reden
ist", aber sie fügt hinzu: „Dieser junge fremdling, er sey, wer er sey,
hat mich dermassen verwundet, daß ich fürchte, wo nieht das pflaster
ehlicher liebe darauf!' geleget wird, es dörft'te auf eine verbotene cur
naus lauffen." Und auch sie bricht, als der prinz sich immer einfäl-
tiger stelt, in die werte aus: „Alberes geschöpffe, wie hat sich doch
Schönheit mit einfalt so unrecht vermählen können? Ich liebe euch,
und begehre, wiederum von euch geliebet zu werden" (s. 22). Ihr
äusseres malt der dichter folgendermassen : „Sie war sonst von gemei-
ner Schönheit, mehr lang und starck, als wohl gewachsen, blasser färbe,
verliebter äugen, etwa 24. jähr alt, und endlich einer Standes -gleichen
liebe noch wohl würdig: Ausser, daß man einigen mangel, des sonst
dem frauenzimmer anständigen Verstandes, an ihr verspührte: indem
sie die flammen ihrer begierde durchaus nicht verbergen, noch sich in
all-zu helftiger liebes-bezeugung mäßigen kunte"; sie selbst zählt ihre
reize ähnlich auf (s. 91 u. 92). Man merkt die doppelte absieht Ziglers,
einmal Balacin als unwiderstehlich und vor allem als treu darzustellen,
sodann gegen die tugendheldinnen Banise, Higvanama, Fylane einen
kontrast zu schaffen.
Ebenso übertrieben, wie dies leztere hier geschieht, fält aus dem-
selben gründe die beschreibung Eswaras durch Scandor aus (s. 122.
128). Die holde dame ist später ungeschickt genug, Banisens Verhält-
nis zu Balacin, das sie zuerst unterstüzt hat, dadurch entgegen zu
arbeiten, dass sie den prinzen von Tangu verkleidet in den tempel,
w^orin die prinzessin verborgen gehalten wird, herein lässt; sie wird
durch den Rolim entlarvt, und, indem sie durch fremden tritt die hei-
ligkeit des tempels entv/eihet, jämmerlich gesäbelt" (s. 306). Dieser
prinz Zarang von Tangu nun und die energische prinzessin von Savaady
werden im ganzen ebenfals mehr indirekt charakterisiert; von lezterer
erhalten wir jedoch aus Balacins, von ersterem aus Banisens munde
ein leidliches äusseres bild.
Als dem prinzen von Ava zuerst die prinzessin von Savaady ver-
lobt worden ist, klagt er: „Ist dieses die vorgestellte Schönheit, die ihr.
1 88 MÜLLER - FKAüENSTEIN
betrügüclio Götter, nur im trauni zu zeigen, nicht aber im leben dar-
zustellen vermöget? Ist dieses die schöne tochter des Königs Xemindo,
von dero überirdischen Schönheit das gerüchte fast gantz Asien begierig
cremacht hat, sie zu sehen? 0 so darff sich meine Schwester vor
beglückt achten, daß sie dieser gar gerne den lorbeer aus der band
reisset." Scandor wirft dazwischen: er müsse doch gestehen, dass die
Prinzessin ,, seiner Einfalt nach noch recht liebenswürdig sey." Der
prinz aber antwortet, „Sie ist nur ein schatten gegen jenem träume.
Denn wie jener alabasterne stirne durch die lichten locken um ein
grosses erhaben ward: also mißfallen mir an dieser nicht wenig die
röthlich sclieinenden haare, Avelche niclit selten einen bösen sinn ver-
rathen. Und wie jenes angesichte durch eine runde gestalt seine anmu-
thige Vollkommenheit darstellete: also überschreitet dieses durch einige
länge die gräntzen der Schönheit. Ihre äugen sind zwar mehr schwartz
als blau, jedoch sind sie nur wie ausgelöschte kohlen, bei denen sich
kein schwefel der liebe entzünden kan. Ihre lippen sind zwar coral-
len, doch ohne magnet, und ihre wangen ein mit rosen allzuhäufig
überstreutes feld. In summa, es mißfällt mir etwas an ihr, welches
ich selber nicht verstehe, noch sagen kan." Trotz der geschmacklosen
spräche, in der Balacin sich ausdrückt, müssen wir doch die deutlich-
keit anerkennen, mit der der unterschied ZAvischen den beiden weib-
lichen Schönheiten angegeben ist. Der prinz von Tangu dagegen, dem
die Savaadysche königstochter unverbrüchlich treu bleibt, wird von
Zigler im gründe mit viel weniger günstigen färben ausgemalt; er ist
auch ein wesentlich zum bösen geneigter Charakter, launisch, ohne
selbstbeherschung, nur seinen neigungen nachlebend, ohne die wiidheit
und bösartigkeit Chaumigrems, aber in sinneslust, tölpischer geborde
und derben reden ihm nachstrebend. So kann man es der tugend-
reichen Banise nicht vordenken, wenn sie dem vater erklärt: „Ich bitte
mich eher zu einem opffer als zu einer braut des Zorangs zu bestel-
len, ich will eher seinen sebel als seine lippen küssen, weil mich der
tod mehr als sein purpur ergötzen soll. Erwegen E. M. doch, ob die-
ser zu lieben sey, welcher sich gleich denen bestien fast stündlich in
ärgsten Lastern besudelt, und seine brunst täglich durch frischen Wech-
sel zu kühlen trachtet. Seine hochrauth verwandelt sich öfters in
grobheit und kan hierdurch auch der gemeinsten Seelen einen eckel
erwecken." Doch hat der dichter ein einsehen und lässt das ziemlich
unähnliche paar zum Schlüsse „lange jähre in größter Zufriedenheit und
Vergnügung beysammen leben und unterschiedene tapffere zeugen ihrer
liebe erzielen.''
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE ISO
AVic Banisc vom diditcr dazu ausorselien ist, von diesem lieb-
haber im gespriiehe ein bild zu entwerfen, so anch von dem zudi-ini^-
lichsten aller ihrer verelirer, dem Kolim. Sie antwortet ihm einmal
auf seine verliebten reden: „PJs sey nun, alter Vater, eure liebe ernst
oder seiiertz, verboten oder erlaubet, so werdet ihr euch doch wohl zu
bescheiden wissen, daß derjenige, weleher sein beschueytes liau})t noch
mit Venus- mvrthen zu bekriintzen suchet, mir feucr in den schnee
und im winter rosen suchet. Und wie sich ein bleyerner liebespfeil
der alten gar nicht nach dem güldenen ziel grünender Jugend i'ichten
lässt; also Aveiß ich nicht ob ich zu viel rede wenn ich sage: es ver-
diene meine Jugend ein grösseres mitleiden, als daß man sie mit einem
nach dem grabe schmeckenden küsse qviilen wolte" (s. 299). Es bleibt
uns nur noch übrig, die kunstgriffe des dichters zu verzeichnen,
durch die er Chaumigrems persönlichkeit lebendig vor unser äuge zu
bringen sucht. Scandor lässt seiner laune in der Schilderung (s. 50)
freien lauf, er schliesst mit den worten: „In summa, es war ein recht
crocodil der liebe und eine mißgeburt der affection."
Von seinen eigenschaften als oberfeldherr erhalten wir den besten
begriff beim lezten stürm auf Odia: da hält er eine kräftige kurze
rede, wie sie etwa Attila auf den katalaunischen gefilden gehalten haben
könte, und sezt bei dem stürm alles daran, den sieg zu erringen (8.32(3).
In seinen lezten äugen blicken, als Balacin ihn mit dem für Banise
bestirnten strick zu boden gerissen und mit dem scharfen opfersteine
einen tötlichen stoss in die linke brüst versezt hat, bietet er einen
grässlichen anblick; brüllend wälzt er sich in seinem blute, und muss
„mit ach und weh seinen schAvartzen geist der flammenden Hölle zu-
schicken" (s. 396).
Auch diesen abschnitt können wir mit dem facit schliessen, dass
es die Übertreibung in erster linie ist, welche uns diese bilder so fremd-
artig erscheinen lässt, dass die art aber, wie der dichter alles arran-
giert, Avie er den von ihm ersonnenen figuren leben einzuhauchen,
fleisch und blut beizulegen sich bemühet, ganz und gar nicht ungeschickt
ist, vielmehr bedeutendes kunstverständnis verrät. Unser lezter teil
wird die geschmacksänderung, welche seit 200 jähren in Deutschland
vorgegangen ist, noch deutlicher nachweisen, er befasst sich mit der
spräche und der gefühlswelt im algemeinen, soweit sie sich in
unserem roman luft macht. Der schwulst der sogenanten zweiten
schlesischen schule erhält hier also in höherem masse als bisher seine
beleuchtung, wenn schon die ungeheuerlichen zahlen, die unnatur in
den gefühlen der verwanten, die Übertreibungen in den äusserungen
190 MÜLLER - FRAURNSTRIN
des hasses wie der liebe, die häiifun^: schlechter und ,c,uter taten durch
die träo:er des schlechten und guten princips dem nicht fern stehen,
was uns noch zu behandeln bleibte
Wie die Vertreterinnen des schwachen geschlechts sich in unserem
romane durch starke nerven auszeichnen, so sezt dies der dichter auch
bei seinen schönen leserinnen voraus. Es kann sich eine Situation
schon recht grässlich anlassen, er muss noch neue momente dazu tra-
gen, welche die neigung für das wunderbare, das phantastische, das
unerwartete noch mehr befriedigen — wir würden heute sagen, welche
diese neigung geradezu ad absurdum führen. Gleich der anfang bie-
tet dafür ein klassisches beispiel. Balacin komt infolge eines briefes
von Talemon ganz allein in die umgegend von Pegu, ohne hilfe für
Banise mitzubringen, die er ausserdem für verloren halten muss.
Da wird er von drei Bramanern überfallen und in die linke Schulter
verwundet, doch tötet er zwei der angreifer, den dritten verjagt er.
Er fält in Ohnmacht, kommt wider zu sich und kriecht auf allen vie-
ren das ufer des flusses hinunter, wo er unter baumwurzeln eine aus-
gewaschene höhle entdeckt. Die leichen der zwei getöteten werden
über um liinAveg auf den sand geworfen, die nähe der feinde und
eigene ermattung nötigen ihn versteckt zu bleiben. Er schläft bis zum
späten abend, der mond beleuchtet „mit vollem glänze das silber des
rauschenden flusses." Der schmerz der wunde und der nagende hun-
ger (er hat seit zwei tagen nichts gegessen) wecken den prinzen, er
sieht im nächtlichen Zwielicht die zwei leichen, ausserdem aber noch
eine ganze anzahl anderer angeschwemter körper, welche Chaumigrem
zwei Wochen vorher in den fluss hat werfen lassen. Wenn er um sich
gi-eift, erfasst er bald eine eiskalte band, bald einen köpf voll haare
und andere bereits vermoderte menschliche glieder; darum kriecht er
1) Bobertag betont mit recht s. 210 fg., dass im stile grosse fortschiitte bis
dahin seit Luther gemacht worden seien, grössere als je in Deutschland. Von Opitz
bis Lohensteiu .sei die graramatik immer regelrechter und konsequenter, die spracli-
niengerei immer geringer geworden, dem stil habe man durch den satzbau und figu-
ren eine ruhige würde verheben. Am weitesten sei man (212) darin gekommen,
dem gedanken einen klaren und präcisen ausdruck zu geben. Unklarheiten seien sehr
wenige vorhanden, neuere novellisten könten sich daran ein muster nehmen. Der
schwulst sei freihch zuzugeben, aber es gäbe heute doch aucli recht viel. Er defi-
niert ihn (213) als ,, jedes den guten geschmack verletzende zuviel des sprachlichen
ausdmcks im Verhältnis zu dem, was ausgedrückt werden soU.'^ Die bewunderung
für curiöse gelehrsamkeit und der mangel einer reinen Umgangssprache seien vor
allem daran schuld. Ich setze hinzu, unsere heutige salonsprache hat noch liäss-
hchere mängel.
ZIGLERS ASIATISCHE HAXISE 191
lieber aus der hohle heraus, wird nun aber von einem herabspringeu-
den tiger erschreckt, der die leichen gewittert hat. Diesem schlägt er
die rechte tatze ab, und nun erst sind die nächsten gefahren glücklich
überwunden. Talemons stimme, die er jedoch nicht erkent, klingt
plötzlich an sein ohr, und in dessen schloss findet er pflege und schütz.
Aber er nent zuerst aus vorsieht seinen nanien nicht, weiss auch nicht,
wo er sich befindet, und wird in ein finsteres gemach geführt, das
„gantz schwartz zu sein schiene." Er (Uiiet das fenster und sieht einen
steilen felsen hinunter, „dessen thal voller bäume und sträucher stund,
darinnen einige wölft'e entsetzlich beuleten, welche unangenehme music
etliche eulen mit ihrem sterbegeschrey vermehreten, daß unserem Pi-in-
tzen die haare zu berge stunden, und nicht anders vermeynte, er wäre
aus einer mördergrube ins grab gerathen." Wahrhaftig ein nacht-
gemälde ä la Höllen -Breughel, so dass wir erleichtert aufatmen, als
man sich nach zAvei stunden wider um ihn kümmert, ein alter mann
mit einer laterne in das zinimer tritt und Balacin und Talemon sich
in die arme sinken (s. 10 — 18).
Ein anderes meisterstück Ziglerscher nervenerprobung ist der
bericht von Martabans Zerstörung (s. 141 — 146). Nach einem furcht-
baren „wüten, würgen und niederhauen" wird die Stadt dem erdboden
gleich gemacht und über die wenigen gefangenen gericht gehalten ^
3000 mann mit spiessen und musketen führen „140 kern-schöne wei-
bes-bilder", jedesmal vier und vier zusammengebunden, mitten drin
die königin zwischen ihren vier kindern, herbei. „Ihre gesiebter waren
alle dermassen schöne, daß sie unter den abscheulichen haufPen ihrer
führer und henckers- knechte wie die sonnen -strahlen unter den schwar-
tzen wolcken hervorleuchteten. Man erblickte an ihnen das zarteste
wesen, und spielten die vor angst erblasseten rosen ihrer wangen noch
mit solcher anmuth, daß auch die steine hierdurch hätten sollen erwei-
chet werden, angesehen alle zwischen funffzehen und fünft" und zwantzig
Jahren ihrer Jugend mit einer schmertzlichen todes-art verwechseln
musten. Dieser vor äugen stehende schmähliche tod und erbärmliche
unbilligkeit pressete einen seufftzer und zetter -geschrey nach dem andern
heraus, worbey diese schwache doch holdseelige creaturen fast jedesmal
in eine ohnmacht fielen. Ob nun zwar viel andere weiber, welche
ihnen das geleite gaben, ihnen allerhand stärckungen und confect rei-
cheten, so kunten und weiten sie docli nichts kosten, sintemahl die
bitterkeit des todes alle Süßigkeit in wermuth verwandelte." Dann
1) Abaxar, der sicli doch auch darunter befindet, wii'd dabei nicht erwähnt.
192 * MÜLLER- FR AUENSTEIN
folgen sechzig trauerlitaneien singende priester und vierhundert kleine
kinder, „-welche in einer langen reyhe daher Heften: Diese waren iinter-
werts des leibes gantz bloß, hatten stricke um ihre hälßgen und weisse
brennende wachskertzen in ihren händen/' Dann komt die Bramanische
wache, ein trupp von hundert elephanten und noch so viel anderes
Volk, dass Zigler zweitausend reiter, zehntausend mann fussvolk und
zweihundert elephanten zählt. An zwanzig galgen Averden je sieben
von den trauen und zwar an den füssen aufgehängt, „weswegen sie
denn unter schmertzlichem seuiftzen erst in einer stunde in ihrem blute
erstickt waren." Ein rührender abschied von der königin ist vorher-
gegangen, ein noch traurigerer der lezteren von ihren kindern folgt,
dann bricht ihr das herz, sie sinkt tot nieder, wird aber schleunigst
noch an dem einundzwanzigsten galgen mit ihren vier kindern und
vier hofdamen aufgeknüpft. Dem gefangenen könige aber wird in der
folgenden nacht ein schwerer stein an den hals gehängt und er wird
mit sechzig vornehmen herren ins tiefe meer geworfen.
Ähnlich raffiniert ist die beschreibung von Xemindos hinrichtung
(s. 189— 198), von Proms und Odias Zerstörung (s. 202 — 205, 325 —
330) u. a. Mit einer wahren henkerslust ist z. b. die ungerechte bestra-
fung aller der Vergiftung der prinzessin von Odia angeklagten aus-
gefülni; (s. 315. 316).
Wie das grässliche, so ist auch das komische in mehreren bil-
dern bis zur Verletzung aller heute geltenden künstlerischen grenzen
übertrieben, am wunderlichsten ist die mischung von komischem und
gefühlvollem, die an einigen stellen hervortritt. Dies gilt z. b. für die
scene, wo der kaiser Xemindo seine tochter in einem zimmer allein
lässt und ihr befiehlt; den tapeten desselben, die sie zu zeugen ihrer
liebe angerufen hat, gütige antwort zu erteilen. Hinter den tapeten
aber steht Balacin, was Banise nicht weiss (s. 156 fg.). Chaumigrem
führt in seiner Verliebtheit die wunderlichsten streiche aus (s. 48 fg.).
Er hört Higvanama im garten eine schmachtende liebesarie singen,
springt plötzlich hervor und schreit aus vollem halse: Chaumigrem stelt
sich ein, „lachte auch hierauff mit vollem Halse dermassen, als ob er
die artigste saclie vorgebracht hätte." Er blizt natürlich gründlich ab,
ist aber so fest von dem eindruc^k überzeugt, den er gemacht hat, dass
er die verschiedensten bäume nach einander umarmt, im glauben, den
gegenständ seiner liebe in den armen zu halten; der eine dieser bäume
sticht, der andere stösst ihn auf die empfindlichste weise. Später nähert
er sich ihr mit solcher ehrerbietung, dass es scheint, „als ob er mit
der nase an die erde gewachsen wäre, weil jedweder schritt mit einer
ZIGLERS ASIATISCHE HANISK 193
tiefen neigang be^i^-loitot wurde." Die übrigen keniiselien i)artien, Seau-
dor bei Eswara (s. 181) und bei lA)rangy (s. 210 fg.), die enthüilung des
Hassana und Lorangy gespielten betrags (s. 215), das widersolion Nhe-
randis und Higvanainas (s. 370 fg.) und endlicli das Zarangs und der
prinsessin von Savaady sind weniger übertrieben und cntspreclieu mehr
unseren begriffen von dem, was spassliaft wirkt.
Ich füge hier nun noch mehrere beispiele dafür an, wie die vei-
schiedenen gefülüe nach des dichters darstellung sich äussern und in
welchen sich geschmacklosigkeit und kraft oft in wunderlichster weise
verbinden. Die oft citiertcn ersten drei/.ehn zeilen des erstr'n l)uches,
in denen Balacin blitz, donner und hagel auf Chaumigrems residenz
herab wünscht, kann ich als bekant voraussetzen. Während sich in
ihnen nur der sehnüche wünsch nach räche ausspricht, ist die äusse-
rung seines Schmerzes über Banisens wahrscheinlichen tod in der regel
mit einem Selbstmordversuch verbunden, der von den umstehenden ver-
hindert wird. Das entzücken über den träum, in welchem er sie zuerst
gesehen, macht sich in den werten luft (s. 99. 100): „Ach hinimel, was
vor eine überirdische Schönheit hat sich denen gemüths- äugen im
schlafPe vorgestellet : Ihr blosses anschauen hat mich entgeistert, und
das andencken setzet meine seele in empfindlichste flammen. Ich
schwere, dieses bild soll mir nimmermehr aus meinem hertzen geris-
sen werden. Ich will alle ecken der weit durchreisen, und die Schön-
heit suchen. Bin ich hierinnen unglücklich, so will ich sie doch im
himmel antreffen." Als sie dann durch ihn von dem verfolgenden
panther gerettet Avorden ist und zum ersten male „ihre rosenlippen"
geöfnet hat, werfen ihn „ihre zucker- werte zu der erden, dass er mit
den verliebtesten geberden den säum ihres rockes küste" (s. 120). Bei
der künde von Chaumigrems greueltaten in Martaban rät er „statt
übriger thränen das schwartze blut der feinde zu vergiessen und nicht
eher zu ruhen, biß des mörders köpf in einem mörsel zerstoßen und
die verhassten anstiffter dieser mordthat denen entseelten ein blutiges
rach-opffer seyn mögen." Und als der schmerzerfülte kaiser Xemindo
ihm antwortet: „Hierdurch muß auch ein ambos, geschweige ein
menschliches hertze, gekrümmet und weich gemacht werden, wo der
Unglücks -hammer so gar harte hinschlägt", entgegnet er: „Die glut der
räche kan alles wieder gerade machen, und diese wunden können nicht
anders denn mit dem blute des tyrannen geheilet Averden. Ich schwere
es bey der evrigen Gottheit, daß, wo mir nicht durch einen fall das
leben verkürtzet wird, ich dermahleinst noch mit eigner band die grau-
samste räche von diesem ft-auen-mörder nehmen will" (s. 147). Seine
ZEITSCHRin F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. lo
194 Müller - VRAUENSTEIN*
freude über einen brief von Banisens band zeigt er, indem er die auf-
scbrift inbrünstig küsst und sagt: „ Acb angenelnnste Zeilen, deren
schrifft nicht irrdische äugen, sondern sonnen zu lesen würdig sind.
Woblau, es sey gewagt, icb erbreche den brieft', um bey diesem zucker
der galle nicht zu entwöhnen." Und als er nun gelesen, dass sie bin-
nen vier tagen sterben soll, ruft er aus: „Wehe mir, die zeit ist zu
kurtz, und ich bin verlohren. Ach! so ist denn kein beständiger Son-
nenschein mehr zu huti'en, untl muß ein jeder stern zum cometen wer-
den? Zwar derjenige solte sich wohl vor keinem ungewitter mehr
fürchten, welchen der ungütige himmel schon öffters durch harte blitze
verhehret und betrübet hat. Allein wo er zugleich mit den keulen
seines zorns spielet, da muß auch der festeste grund erzittern" (s. 237).
Sehen wir auf der anderen seite, wie Banisens gefühle (ausser
den oben besprochenen extremen fällen) sich äussern. Als sie in einem
Selbstgespräche zum ersten male ihre neigung verraten hat, und Bala-
cin, der alles gehört, zu ihr tiitt, tut sie einen lauten schrei imd läuft
nach dem fenster. „Als nun schrecken und schäm die schöne purpur-
farbe ihrer wangen um ein grosses vermehrte, und ein anmuthiges
zeugniß ihrer züchtigen schamhafftigkeit gegeben, oder vielmehr ange-
deutet hatten, daß der Printz noch dermaleins ihre Vollkommenheit und
keusches herlze als die edelsten schätze der triumphirenden natur für
lieb- und leibeigen besitzen würde, also war mein Printz (so erzählt
Scandor) eine gute weile mit seinen äugen an den ihrigen gehefFtet
verblieben, deren magnet als zwey hellfunkelnde nord-stei'ue ihn gantz
an sich gezogen hatten" (s. 157). Die freude über Balacins ersten ret-
tungsplan entlockt ihr die worte: „Nun schmeltzet mein hertze, und
die seele krieget flügel, ja ich vergöttere mich gantz, daß ich meinen
Printzen, meinen Schutz -Engel, so nahe wissen soll" (s. 236). „Ich
folge, wo man mich hinführet. Ich will mit ihm die verbrannten meh-
ren besuchen, ja auch die kalten nord-länder, wo sich die weissen
baren auffhalten, nicht ausschlagen, denn solte mich gleich der himmel
zu ihrer kost versehen haben, so Avürde ich doch viel sanffter in sei-
nem schoß sterben, als hier in verhaßtem purpur leben" (s. 257). Ihren
zom gegen den prinzen Zarang, als dieser sie im tempel mit den schnö-
desten antragen verfolgt, drückt sie einmal in dem energischen satzc
aus: „Wenn ich Göttin wäre, so wolte ich blitz und bley auff eure
Verwegenheit regnen lassen, und das unzüchtige hertze in tausend stücke
zerreissen" (s. 306). Die freude über ihre rettung endlich lässt sie vor
dem opferaltar zu des prinzen füssen niedersinken und mit „schwacher
und beweglichster stimme" ihren dank sagen (s. 379 fg.).
2IGLKRS ASIATISCHE BANtSE 195
Auch in Higvaiiamas aiitlitz sehen wir übrigens einmal wegen
eines briefes von Nheraiuli eine „solche bestiirtzimg und freude" sich
verbreiten, „daß die färbe der waiigen sieh naeli der stirn zugen, und
also dem gantzen gesiebte eine angenelnne ritthe verursachte" (s. 63).
Ihr schöner mund drückt unzählige küsse auf (bis „glückselige blat."
Der erste abschied ihres bruders zieht ihr eine oimmacht zu, und sie
bricht dann in die klage aus: „UnglückliclK.* Iligvanama, so solst (hi
nun die andere helffte meines hei'tzens vollend verlieren, nachdem du
das eine theil (Nherandi) fast zwey jähre entbehren müssen. Soll ich
den, welcher nicht mein bruder, sondern mehr als mein vater gewesen,
von mir scheiden lassen? Worzu nützet mir demi mein leben? Grau-
samer vater, sind deiui alle Avolcken leer, und heget ihre finsterniß
keinen blitz mehr in sich, solche greuelthat zu rächen?" (s. 85). Sie
beschliesst durch einen dolchstich ihrer bedrängten seele luft zu machen,
„daß sie ungescheut um ihren liebsten Nherandi und w^erthesten Bala-
cin sclnveben möge", was der leztere natürlich hindert. In der gefan-
genschaft des Soudras sehen wir „die armselige Königin gebunden,
welche vor wenig tagen ein grosses reich beheri-schte, und noch vor
etlichen stunden hunderttausend köpfte zu ihrem winck stehen hatte.
Ja die sich nicht sattsam an der süssen hoff'nung vergnügen kunte,
wenn sie ihren liebsten bruder mit einem schwesterlichen liertz -getreuen
küsse umfassen würde, die muß sich jetzt als sclavin in die arme ihres
feindes werfFen, und die prächtige last, w^ill sagen, silberne fessel, küs-
sen" (s. 366).
Nach ihrer befrei ung durch den verlobten endlich heisst es: „Die
Zeit erlaubte ihnen sattsam, eine verliebte ei'innerung des vergangenen
leid- und fi-eudenwechsels gegen einander anzustellen, und sich nach
verzogenem ungewitter an der liebes-sonne, wie keusch-entflammte
pflegen, wiederum zu w^ärmen und zu ergötzen" (s. 372).
Als gegenbild hierzu führen wir Lorangy an. Sie begibt sich
z. b. einmal mit ihrer mutter so „eylends" aus dem zimmer Balacins
und „schmeißt" die tür mit solchem ungestüm hinter sich zu, dass
Zigier w^inscht, „es hätten damahls aller bösen weiber köpfFe darz wi-
schen gestecket" (s. 30). Ihre haupteigenschaft bleibt aber die Verliebt-
heit, die bezeichnendste stelle dafür findet sich s. 91 — 94. Da bricht
manchmal eine glut der spräche hervor, die an das hohe lied Salomo-
nis oder an Yenus und Adonis, den Shakespeare zugeschriebenen sonet-
tenkranz, erinnern könte.
Des prinzen Zarang liebesseufzer klingen bei weitem unschöner,
seine mildesten ausdrücke vor Baniseu sind folgende: „Unempfindlichste
13*
1 Oß MÜLLER - FR AÜEXSTEIN*
Princeßin! so können denn auch die zoiten und da> nnglück, welche
sonsten ertzt und niannor bezwingen, ihr liertze nicht entsteinern? Ist
deim meine liebe so gar verhaßt, daß sie nur jederzeit mit verstopff-
teni ohr imd stählernem gemüthe soll angenommen werden?" (s. 804).
Zu seiner siiilichen natur aber passt es schliesslich, dass er der prin-
zessin von Savaady sich zuneigt, als er sie „in beweglicher gestalt vor
sich knien sähe, die Alabaster-haut der eröffneten brüst betrachtete und
einer sonderbahren annuith in dem gewiß liebenswürdigen wangenfelde
gewahr wurde" (s. 381). Das stimt zu des Rolim reden, der, ehe er
Banise gesehen, Chaumigrem Avarnt: „Durch das anschauen beherrschen
die schwachen weibsbilder die stärcksten männer, ihr flehen und bitten
sind geböte, ihre thräuen wilde wasser, welche den dämm des besten
voi*satzes durchdringen, und ihre seuffzer sind stürm Avinde, denen auch
der unbeweglichste Colossus nicht widerstehen kan" (s. 228). Aber
bald verspricht der alte süuder dem kaiser, Banise „die liebes-pillen
erwünscht einzubringen. Angesehen sie nur noch ein kind ist, das
noch in schalen stecket, und ein bäum, auf welchem der kützel noch
nie s:eblühet hat. Ich will ihr aber schon durch süsse lehren die knos-
pen aufthun" (s. 267). Er begint dies mit den worten: ,,Ich komme
hier als eine biene, av eiche klee suchet, und vor ihren Käyser sorget,
dessen mund so sehr nach ihr lechset. Der blitz ihrer äugen hat ihn
entzündet, und ich sehe selbst, wie anmuthig der Scharlach iliren
mund und der purpur ihre wangen decket. Hier brennet lebendiger
schnee, imd dort quillt zinober. Und diese Schönheit ist Avürdig,
einen Käyser zu vergnügen" (s. 268). Er meldet das resultat seinem
henii mit dem trost: „Holtz, das bald feuer fängt, hält nicht lange
kolilen. Der hundsstern, welcher fast die halbe Avelt durch liitze ver-
zehret, hat nicht lange frist zu brennen." Aber der trostlose seufzet:
„Die seiffe der Verachtung ist zu Avenig, ihr bildniß aus meinem her-
zen zu tilgen" (s. 271). Und der ungetreue böte seufzt bald selbst:
„Princessm, ich liebe sie, und avo die rose ihres Avohlstandes blühen
soll, so wisse sie, daß solche aufi' den grund meiner liebe müsse
gepflantzet werden. Ich lodere, ich brenne, ich sterbe: avo niclit die
unvergleichliche Schönheit denjenigen in ihre arme nimmt, Avelche ihn
magnetischer Aveise an sich zeucht" (s. 296).
Die unmenge rhetorischer figuren und Avendungen, Avelche schon
die vorgeführten beispiele aufweisen, Avird avo möglich noch gesteigert
in Chaumigrems munde. So Avenn er dem könig Dacosem klagt: „Hig-
vanama ach! Higvanama ist die feindin meiner ruhe, in iliren äugen
ruhet mein tod und leben. Großmächtigster König und Herr, ich
ZIGLKU.S ASIATISCHE BANISK 397
geniesse umvürdii^st dero üborflüliige gnade; allein ohne der Princeßili
gunst ist mir dieser Zucker nur galle, und dero versagte luild wird
mich bald aus I. ^1. äugen rücken" (s. ()1). Zu Banisc sagt er einmal:
„Wie so betrübt, meine Schöne, wenn werden uns die benetzten Avan-
gen trockene rosen und dio ti'aurigcn äugen frühliclie sonnen gewäh-
ren?" Und weiter: „Mit einem werte, Chaumigrem brennet und erkie-
set Banisens liebe zur kühlung seiner flammen." ,Jn meiner seele
herrschet brunst und ilainme, welcher allen haß nunmehro verzehret
hat." Als aber Banise ausAveichend ihre eigenen reize herabgesezt hat
in dem satze: „Einem solchen Herrn müssen gestirnte kertzen und
nicht schlechte irr- lichter zu bette leuchten", schwingt er sich zu dem
vergleiche auf: „Ich erkenne mehr als zu wohl, Avie der fruchtreiche
herbst ihre brüst und der anmuthige frühling ihre lippen beseelet. Weil
sich auch der sommer in völliger pracht auf der rosen -Avangen zeiget:
AA'ie kan doch der verdrießliche Avinter im hertzen Avohnen" (s. 244 — 46).
Nach dem verunglückten fluch tversuch strömt seine leidenschaft noch
immer in den sätzen hervor: „Ach, grausame Banise! Avelche ein Ari-
maspischer Avolft' mit gift't und blute muß gesäuget haben. Ihr kaltes
hertze muß auch das eyß aus Zembla (NoAvaja-Semlja) übertreffen, Aveil
mein heisses bitten weder vormahls, noch mein flammendes begehren
jetzund zu schmeltzen vermochte" (s. 267). Besser stehen dem Avüte-
rich alle die färben zu gesiebte, mit denen sein blutdurst und seine
Avütenden zornesäusserungen ausgemalt Averden. So, Avenn er sagt:
„Wir meyneu, daß, avu unsere Avolfarthslilien am besten blühen sollen,
man nothAvendig che fehler mit des feiudes blute düngen, und avo Avir
unser Reich befestigen Avollen, man die stufFen zum throne durch feind-
liche leichen bauen müsse" (s. 219). Ponnedro Avider drückt seine
ansieht über die A^erbindung von Chaumigrems liebesraserei mit seiner
sonstigen natur in dem geschmackvollen satze aus: „Die durchdrin-
gende Schönheit der Princeßiii hat auch dieses tygerhertz bezwungen,
dannenhero ei* von dem gifft eingesogener liebe fast zu börsten ver-
meynet" (s. 238). Im zorn schreit Chaumigrem: „AVo ist die bestie,
wo ist der ertz-verräther?" und lässt „seinen grimm durch folgende
Avorte und grausamen befehl ausdünsten: Daß nicht alsobald tausend
hencker erscheinen und dir verfluchten hund den A'erdammten lohn
durch pech und schAvefel ertheilen. Darffst du vermaledeyter erdAvurm
dich dessen unterstehen, dem strengen befehl unserer geheiligten Maje-
stät boßhafftig zu Avidersti-eben ? " (226. 227). Oder als Banise entAvichen
ist: „Blitz, brand, schwefel, bley und hundert hencker sollen diese
1 98 MtJLLER - FKAUENSTEIN
Schmach riichcn, und ihr alle solt es mit euren hülsen bezahlen, daß
ihr dieses hellen -kind entreissen lassen'' (s. 261).
Doch führen Avir schliesslich noch etwas weniger Scharfrichter-
massige Wendungen an! Scandor und Talcmon sollen uns unter die
leidlich civilisierten menschen zurückführen. Der alte reichsschatzmei-
ster des kaisers von Pegu bricht bei dem bericht von dessen gang zum
liinrichtungsqlatz in die klage aus: „0 Avunderliches verhängniß! o ver-
änderliches glück! 0 spiegelglattes eiß der herrschaft! da sich die
crone in einen cypressen-krantz und das scepter in einen blutigen
mörder-stahl verwandelt. Hier sehen wir, wie vergebens wir arme
menschen bemühet sind, wenn wir uns unterstehen, den Schluß zu mei-
den, welchen das verhängniß in das hinimels-buch mit solchen zieffern,
welche niu' die Götter verstehen, eingeschrieben hat'' (s. 195). Scandor
auf der anderen seite wird nie so sentimental. Selbst als er mit Bani-
sen von den verfolgenden Bramanern eingeholt wird, lässt er einfach
sein pferd laufen, sezt sich neben die prinzessin, deren ross gestürzt
ist, auf die bauniAvurzeln und sagt ihr: ,Jch kan mir nicht weiter helf-
fen. Hier wollen wir sitzen bleiben, und uns vor zwey hasen aus-
geben: weü es nun im gehege ist, so werden sie uns wohl ungebrühet
lassen" (s. 263). Seine Verwunderung, als er in Talemons schlösse
plützlich seinen verwundeten herrn findet, macht sich in dem drasti-
schen ausrufe luft: „0 ihr Götter, errettet mich von diesem zaubcr-
orte. Talemon, ihr alter hexen -meister, ihr verblendet meine äugen."
Er will „zur thür hinaus reissen", wird aber von dem schlossherrn
zurückgehalten und komt schliesslich „mit zitterndem fusse" an das
bett des prinzen (s. 30). Den höchsten grad seiner ergebenheit gegen
diesen spricht er in den worten aus: „Wo einige treue gegen einen so
grossen Herrn durch eine geringe heyrath kan bewiesen werden, so
wolte ich mich wol unterfangen, das älteste, heßlichste, boßhafftigste
und ärmste weib in gantz Asien aufFzusuchen , und mich dadurch den
Göttern so weit angenehm zu machen, daß sie nach diesem leben mei-
ner gewiß verschonen würden, weil ich die hölle sattsam auff erden
gehabt hätte" (s. 179). Das ist doch bald so hoch geschworen, wie es
Banise mit dem gelübde ihren Balacin zu den mohren wie zu den
eskiraos zu begleiten tut.
Ich habe auf den lezten selten eine ganze auswahl von Empfin-
dungs- und wunschäusserungen nach Ziglers manier zusammengestelt,
imd zwar mit möglichster Vermeidung der für die einzelnen Individuen
charakteristischen stellen. Sie geben den typus ab, wie sich freude
und entzücken, kummer und schmerz, zorn und rachedurst, ergeben-
ZIGLEBS ASIATISCHE BANISE 199
heit und liebe nach unseres Schriftstellers meinung luft machen sollen.
Wir verlangen heute mehr einfachheit und klarheit des ausdrucks, eine
grössere mässigii ng des gei'iihls, weim wir einen einigermassen wol-
tuenden eindruck geniessen wollen. Nicht luir iiusserungcn der men-
schen werden aber in solchen rhetorisch aufgepuzten sätzen widergege-
ben, es ist vielmehr so ziemlich alles in diesem tone gehalten. Die
berüchtigte „lieblichkeit'' des ausdrucks verbietet es, natürlich und ein-
fach zu sprechen; blumige Umschreibungen begegnen uns auf schritt
und tritt. Bei einem Sonnenaufgang z. b. benuzt der dichter die Wen-
dung: „Das angenehme weit- äuge machte artige Vorstellungen in dem
springenden wasser eines in den Garten stehenden kunst-brunnens"
(s. 19), oder „Nunmehro brach das beti'übte licht an'' (s. 165), oder
„das grosse weltauge hatte kaum das blutige feld bestrahlet" (s. 372);
bei einem untergange heisst es: „Die Sonne begunte bereits einen theil
ihrer strahlen in die see zu verbergen, als die Glut der Lorangy erst
rechte flammen fieng" (s. 207). Yon den unzähligen tropen, die für
kriegsereignisse verwendet werden, eitlere ich nur die eine stelle: „Sie
verleibten ihren rühm mit rothen buchstaben denen mauern ein. Das
geschütze muste tag und nacht blitzen, die unbeweglichen mauern zu
bewegen, daß sie doch einen freyen eintrij;t erlauben weiten" (s. 382).
In der friedensproklamation am Schlüsse komt der satz vor: „Heute
sollen sich alle sebel in pflugschaaren , die spiese in eggen imd die
lantzen in weinpfähle verkehren" (s. 399). Das klingt gar nicht übel,
ich hoffe überhaupt, dass schon in dem bis jezt gegebenen manch schö-
nes bild, manch gut gewählter ausdruck neben den übertriebenen und
verfehlten aufgefallen sein wird. Am empfindlichsten berühren uns
immer die rohen freuden- oder zornesausbrüche. So wenn z. b. von
dem „angenehmen und herrlichen anblick" geredet wird, den Xemin-
bruns auf eine lanze gestecktes liaupt bietet (s. 183), oder Avenn Xemindo
auf dem schaffet einige freudentränen vergiesst, weil der ihn misshan-
delnde lienker von einem der umstehenden mit einem wiirfspiess „durch
und durch gerannt wird" (s. 196).
So unangenehm ferner das kapitel, so kann ich doch der vol-
ständigkeit wegen nicht ganz an den zotenhaften stellen vorbei-
gehen, wenn sie ims auch entschieden seltener als bei anderen Schrift-
stellern der zeit begegnen und von dem damaligen publikmn wol kaum
als zoten empfunden w^orden sind. Ich rechne hierher schon einige
in anderem Zusammenhang gegebenen reden über und von Hassana
(s. 87. 88) und alle anderen stellen, in denen frivole werte über ehe-
bruch laut w^erden. Mit wenigen ausnahmen finden sie sich in Scandors
200 MÜLLKK - FKAUENSTEIX
munde, z. b. s. 45. ITo. Als Eswara den losen Paladin in ihrer woh-
nunjj vei'steckt hat, stürmt ihr „iiuter Mann" mit ähnlichen werten zur
türe herein (s. 130). Am unzüchtigsten redet Zaraui;- und zwar direkt
Bauisen ins gesicht, als sie ihm erklärt, sie sei bereits so gut als ver-
mählt (s. 305). Der Rolim braucht wenige minuten vorher etwas weni-
ger schlimme bilder bei seinen Zudringlichkeiten (s. 299), dagegen muss
uns seine aufzählung von Banisens reizen, durch die er ihr seine völ-
lige Unfähigkeit, ihnen zu widerstehen, erklären will, geradezu anwidern
(s. 295). Den schluss dieser wenig anmutenden auf'ziUiIung bilde die
lose redensart, welche Scandor nach seiner rettung durch Talemon
braucht: „Ich begunte schon wie die hechte auf dem rücken zu schwim-
men: welches dann meinen glauben bestärckte, daß ich kein frauen-
zimmer sey, als welches von der schamhafftigen natur bey dergleichen
nassen fällen dazu versehen, daß sie jederzeit dem wasser den förder-
theil des leibes gönnen, imd auf dem gesiebte schwimmen müssen"
(s. 31).
Es ist dies aber tatsächlich, so weit ich es habe kontrollieren
können, alles, was in betreff' dieses punktcs in der Banise vorkomt;
die „erstlinge der blumen", „die blumen der Schönheit" werden aller-
dings noch hie und da als wünschenswert citiert, aber eben nur citiert.
Am Schlüsse begleiten wir die drei jungen ehepaare in ihre ruhezelte:
„Worinnen die mit so vielen dornen bißher verwahrten rosen mit grös-
ter Vergnügung gebrochen, und alles ungemach mit einem süssen ach-
geschrey der leidenden Princeßinnen erwünscht geendiget wurde" (s. 407.
408). Dieser ausdruck und des Rolims beschreibung von Banise
schmecken w^ol am meisten nach lüsternheit; uns sind derartige stellen
unerträglich, sie können ein buch ungeniessbar machen. Bedenken wir
aber, wie zahm alles dies, mit anderen soavoI epischen als lyrischen
Schilderungen anderer schriftsteiler jener zeit verglichen, erscheint, erin-
nern wir uns, dass die Wielandsche rause weit sinlichere ergüsse her-
vorgebracht, dass selbst das publikum unseres Jahrhunderts Clauren
verschlungen hat und heutzutage Zolas bücher in den vornehmsten
boudoirs liegen, dann wird unser tadel verstummen.
Doch verlassen wir dieses gebiet und wenden wir uns den inte-
ressantesten und algemeinsten redewendungen zu, den sprichwört-
lichen Sätzen, deren ich eine ganz ausserordentliche zahl in der Banise
annehmen zu müssen glaube. Es ist mir unmöglich, sie hier aufzu-
zählen, einige sind schon früher mit untergelaufen, ihre benutzung vor
allen dingen durch Scandor liefert mir aber einen w^eiteren beweis für
die nicht unglückliche Charakterzeichnung, die ihm durch den dichter
ZIULERS ASUTISCHE BANISü 201
ZU teil gewordeil ist. Leute seines schlaues werden stets und iibendl
eine verliebe für die kurzen, scheinbar jede weitere einwendung aus-
schliessenden Sentenzen verraten. Von den anderen personen, welche
dergleichen ausdrücke l)raiichen, nenne ich nur die folgenden: J)anisens
ganze lebensanschauung kiinte man in ihren werten sehen: „Sturm,
Unglück und liertzeleid ist die beste lust thjr tugend, angst ist ihre
mutter, und elend ihre ammo" (s. 2(39). Higvanama steht ihr zur seite
mit dem satze: „Wo einmahl reine liebe durcli den tod betrübet wird,
da ist die keuschlieit der beste Schatz in der AVeit, und alle liebe ist
alsdann nur ein Irrwisch, dessen glantz von unreinen seelen entsprin-
get'' (s. 45). Und in demselben gespräche braucht sie noch die weis-
heitsregeln: „AVohl dem, welcher seine klughcit in dem sarge suchet,
und das Gold seines Verstandes auft' den probierstein der Sterblichkeit
streichet.'' „Wo hertz und lufft trübe ist, da Avird sonne und brunst
dunckel." Chaumigrem dagegen redet ihr zu: „Lasse sie die todten
ihre todten begral)en." üer alte Talemon flicht einmal die bemerk ung
ein: „Gcdult ist die lincke band der tapfferkeit"; und später: „Alle
Verachtung bringt Sicherheit, Sicherheit getahr und diese den tod"
(s. 203). Sein söhn Ponnedro hilft sich im gespräch mit Chaumigrem
und später Banise ebenfals öfter mit dergleichen Wendungen: „Wenn
sich grosse herren rauften, müssen die unterthanen ihre haare darzu
hergeben, und wenn gecrönte häupter nüsse aufbeissen, so muß es mit
den Zähnen der unterthanen geschehen" (s. 222); ferner: „AVo die gefahr
zu pferde sitzet, da muß guter ratli freylich nicht auf steltzen gehen"
(s. 235). „Das glücke ist rund", und „wir würden nur pfeiler in die
see bauen, und bey der natter gunst suchen" (s. 238, 239). ,,Alle
frever, narren und trunckene sind reich" meint Balacin mit deutlicher
anspielung einmal zu Scandor (s. 32). Der satz: „Eine Krone ohne
Banise ist mir eine gesaltzene speise ohne tranck" (s. 35) belegt seine
unverbrüchliche treue gegen die braut wie der' andere: „Wo das garn
der liebe nicht aus reiner unschuldsseide gesponnen wird, da fressen
sich unfehlbar die motten des Unglücks ein" (s. 91). Die bei weitem
meisten in imserem buche angebrachten Sprichwörter beschäftigen sich
mit der liebe. Scandor und zuerst auch der Kolim sind in dieser
beziehung unerschöpflich in Unglücks Weissagungen. AVie ein priamel
klingt des lezteren mahnung: „Die liebe ist eine fantasie und ein unge-
wisser zweck. Sie ist blind und dennoch sieht sie schärffer als ein
luchs. Sie bauet ihren thron in dem hertzen, und ist doch ein unbe-
greiffliches wesen. Ein vogel siebet den leim und die mücke das licht,
dennoch lässt sich jener kirren und diese verbrennet sich selber, das
202 MÜLLER - FKAUENSTEIN
schnelle rehe scheuet das garn, und der schifter keimet die fahrt der
ancker-losen see: doch kan jenes das sehen nicht klug, noch diesen
die gefahr verzagt machen" (s. 265). Scandors erstes Sprichwort hat
algemeinen inhaU: „Wer geld liat, kan leicht schätze suchen, und wer
viel hunde liat, kann leicht hasen fangen'' (s. 36). Dann aber heisst
es: „Wo die liebe raset, da strauchelt der verstand, ja der klügste
mann wird zum narren" (s. 75), und der anfang des zweiten buches
mit seinem acht selten langen gespräch zwischen dem prinzen und sei-
nem diener liefert hierliergeliürige beispiele in hülle und füllet
Aus anderen gesprächen über das wiesen der liebe, z. b. zwischen
Balacin und seiner Schwester (s. i}Q fg.) oder zwischen Banise und dem
Rolim (s. 295 fg.), füge ich noch an: „das frauenzimmer und die liebe
ist ein zartes wesen", ,,die liebe ist eine Schwachheit des gemüthes",
„bei den rosen sind dornen", „die einfältige Wahrheit ist die beste."
„Schön und fromm sevn stehet selten bev einander."
An heutige Wendungen klingen endlich auch die beiden redens-
arten (s. 11-4) an: „Unter der rose", w^ofür wir gew^öhnlich den latei-
nischen ausdruck brauchen, und „er hat sich unsterblich verliebt", an
stelle unseres „sterblich verliebt."
Ich schliesse diesen abschnitt mit den unzweideutigen Seiten-
blicken und anspielungen auf Europa und dessen Verhältnisse vor
zweihundert jähren; aus allen spricht ein etwas verbittertes gemüt oder
wenigstens die melancholische Stimmung des pessimistischen einsiedlers.
Schon die werte Higvanamas sind w^ol mehr auf Europa als Asien zu
beziehen: (s. 67) „Freylich ist es zu beklagen, ja mit blutigen thränen
zu beweinen, daß unser Asiatisches frauenzimmer fast mehr cometen
als Sterne blicken lasset; da eine bereits durch das band der liebe
gebundene Yenus den Wechsel dermassen liebet, dass öftters die
sämtliclien planeten nicht genugsam sind, sie durch ihren einftuß
zu stillen. Und brennet ja noch wo ein reines licht, welches sich
keine lasterwolcke will schwärtzen lassen, so heissen dessen stralen
einfältig" usw. Auch über die geschwisterliebe der zeit hören wir
klagen, und zwar aus Scandors munde: „Als welche itziger zeit der-
ma.ssen erfroren, daß fremde personen ihre liebe viel liitziger als
brüder und Schwestern erzeigen, ja wo heutiges tages drey geschwister
sind, so bemühet sich das dritte, wie es die anderen zwey in eman-
1) Bobertag erinnert mit vollem rechte daran, dass hier eine sehr ausführliche
Variation vorliege eines seit dem mittelalter in der faceticn- und populär - moralischen
litteratur in Deutschland besonders seit der Verdeutschung der schrift Petrarcas vom
glücklichen und unglücklichen leben beliebten gedankens.
ZIÜLEKS ASIATISCHE BANISE 203
der hetzen möge'' (s. 84). Ein liübsches pendant zu dem oben gege-
benen ausdruck Banisens, dass die liebe sie zwinge Balaein „Du'' zu
heissen, linden wir m IScandors werten: „Eine Jungfer, oder fräuleiii,
wie sie heutiges tages wollen g(4auff't sein'' (s. 37()). Eine „grund-
regul der heutigen weit", die er zwei selten später gibt, klingt ganz,
als ob sie auf unsere heutigen Junggesellen gemünzt wäre: „Ein pfund
gold muß im heyrathen einen centner tngend überwiegen." Zahlreich
sind auch die sätze, in denen ein licht auf die politischen anschau-
ungen Ziglers fält. Er lässt Scandor sagen, dass er sich vor der
„gemeinen Hof-pest nngemessener einbildung" gehütet habe (s. 46) und
Talemon einmal klagen, über „den w\inckenden pöbel, wie wenig sich
auf dero beständige treue zu verlassen sey" (s. 188); der Rolim sagt
auf der anderen seite Chaumigrem ins gesiebt: „Alle herrschafften,
darinnen man allzu viel schäifte brauchet, bestehen nicht lange. Wo
recht ist, da muß auch gnade seyn: diese beyden zieren einen monar-
chen, wie sonne und mond den blauen himmel, und hierdurch kann
er nur den (TÖttern am nechsten kommen. Ein Regente ist auch an
die gesetze gebunden, daß er nicht allenthalben frey zu verfahren hat.
Ratio Status aber ist hingegen die verdammte rathgeberin, daß man
weder vater noch mutter, weder kinder noch geschwister, weder treu
noch glauben, wieder göttliches noch weltliches gesetze verschont, son-
dern durch list, falschheit, und tyranney alle rechte unterdrucket, die
imterthanen ins elend stürtzet, sich aber selbst erschreckliches ende auf
den halß zeucht" (s. 224 fg.). Kurz vorher hat er dem kaiser klug
geraten, „weder eine durchgehende dienstbarkeit, viel weniger eine
völlicre frevheit einzuführen." Das alles ist aber so w^enig nach dessem
herzen, dass dieser losbricht: „Vermaledeyet sey das gesetze, welches
die macht eines freyen Königs einzuschrencken sich bemühet. Ratio
Status ist die eintzige richtsclmur grosser Herren, und hat die gerech-
tigkeit zur stieff- Schwester." In erfreulichem gegensatze dazu stehen
die grundsätze, mit denen Balacin die regierung antritt. Seine herolde
proklamieren sie in den noch von blut rauchenden Strassen Pegus, fast
als ständen sie nach dem dreissigj ährigen kriege in Deutschland (s. 399).
Dazu hält der ehrwürdige neue Rolim Korangerim, der sich schon frü-
her durch kluge ratschlage hervorgetan hat, bei der kaiserkrönung eine
ganz vortrefliche rede an den dem namen nach „gewählten" fürsten
(s. 404 — 6), wert, dass sie ganz hier abgedruckt würde. Er warnt ihn
vor begünstigungen, vor zorn (denn „der Zorn ist eine motte, Avelche
den purpur verderbet"), vor neid, vor unbesonnenen reden (denn „der
Fürsten werte sollen, weil sie von jedem erwogen werden, zuförderst
204 MÜLLER - FILVUENSTELV
Avuhl auf der ^vage- schale der bedaclitsamkeit abi^ewogeii seyn)." Der
beschränkte raiini verbietet leider eine austührlichere analvse dieses
oratorischen meisterstücks.
Diese hier ausgesprochenen staatsniiinnischen Aveisheitsregeln, die
sicli zweifelsohne über die praxis der politik des liindcrschachers erhe-
ben, wie sie das Europa T^udwig XIV. trieb und wie sie unser buch
im verschenken und vertauschen der einzelnen lünterindischen gebiete
auch zeigt, erhalten nun dadurch einen besonderen beigeschniack, dass
Zigler sein werk dem kronprinzen Johann Georg von Sachsen gewid-
met hat, dem söhne Johann Georg ill., des bekanten „sächsischen
Mars'', demselben, der später als der vierte seines namens zur regie-
rung kam, leider aber durch einen plötzlichen tod alle auf ihn gesezten
hofnungen zu nichte machte und August dem starken, dem gegner
Karls XII. von Schweden, den thron hinterliess. Diesem Johann Georg
ist das dedicationsgedicht gewidmet, welches dem Averke vorangeht.
Darauf weiter einzugehen hiesse die geduld des lesers ermüden. Cha-
rakteristisches findet sich absolut nicht darin. Nur möchte ich darauf
hinweisen, dass in ihm wie in der vorrede an den ,,nach Standes- Ge-
bühr Geehrten Leser'' Zigler sich nicht Avie in der Banise selbst vor
fremdwörtern und gelehrten anspielungen hütet, sondern vielmehr seine
feine bildung darin auch von dieser seite möglichst zeigt ^. Er citiert,
wenn ich recht gezählt habe, in den 132 zeilen des gedichts jedoch
noch nicht 20 namen, ist auch darin also nicht so uumässig wie andere
Zeitgenossen: die übertriebene devotion und sklavenhafte unterAvürfg-
keit ist uns unangenehmer. Von dem anfange der vorrede: „Endlich
erkühnet sich meine Asiatische Banise, als eine unzeitige frucht seich-
ter lippen, unter der presse hervorzuAvagen, und sich auf den Schau-
platz der seh rifft- eckein Avelt vorzustellen" urteilt schon Gottsched genau
so wie Avir. Von algemeinerem Interesse ist dagegen die polemik Zig-
lers gegen die „vielen nicht günstigen, Avelche nicht ermangeln Averden,
diese blätter durch alle Praedicamenta durchzuziehen", „gegen die
Catonianische meynung, ob Avären die Komainen schlechter dings unnütze
schrift'ten"-. ,.Denen ungegründeten hassorn der HeldenschrifFten, und
andern übel -gesinnten" rät er dienstfreundlich „dieses Geringfügige
Averkgen, Avelches sich nur als eine unAvürdigo aufwärterin der heutig-
vortreft'lichen Romainen aufgeführet, bey seite zu legen, und ein nütz-
1) Auch CholeviiLS s. 169 meint: ^in der voriedo drücke er sich Avie die kava-
liere der zeit aus, brauche französisch und lateinisch.''
2) Bohertag s. 240 fg. gibt eine ergötzliche probe solchen energischen tadeis
gegen die gattung der heldenromane aus jener zeit in extenso.
ZlGLERf5 ARIATISrHE RANTSR 205
licher buoli nach soinor Caprioo zu orfTroIffon, aus wolrboni er beweisen
könne: Dicatur in eo, quod nun dictum sit prius." „Denen übel deu-
tenden Momis und Zoilis" sezt er scbliesslieh „wolbedäcbtig'' den wabl-
spi-ucli des bosenbandordens entgegen: Honni seit, qui mal y pense.
Die ait also, wie er mit diesen gegnern umspringt, beweist deut-
liob, dass er sieb seines publikums durcbaus sieber fiiblt; er lebt der
angenebmen bofnung, dass sieb „viele bonette Gemütber finden wei*-
den, die dieses sein woblmeynendes unterfangen mebr loben als scbel-
ten" ; er »steigt nirgends A'on einer souveränen vei-acbtung der gegnei-
berunter. Docb liisst er seine „Indianiscbe Princeßin ganz gerne beken-
nen, daß sie keinen locum in denen Actis Eruditorum meritire, ange-
sehen sie sieb nur in einem scblecbten deutseben kleide, nicbt aber im
barniscb, Avodurcb sie einige begierde zu fecbten andeuten möcbte,
vorstellet." Er versichert ferner, er babe sieb „mfiglicbst beflissen,
alle unartige und ärgerliebe redens- arten äusserst zu meyden, aucb
niemanden mit fleiß zu toucbiren, es sey denn, daß sich jemand getrof-
fen fände, da er versichere, es sey von ungefebr geschehen." Über
seine spräche endlich urteilt er — in dem ersten teile sicher mit recht,
in dem zweiten zu unserer grossen Verwunderung — , er hoffe „des
Styli und eingestreueten Barbarismi wegen pardonniret" zu werden,
wenn er sage, er habe den eigentlichen endzweck der romane, die
deutsche spräche zu heben, nicht so genau beobachtet; der Inhalt
gleiche mehr einer historischen beschreibung als einem heldengedicbte.
Das, meine ich, können wir im gründe, wenn wir andere werke der
zeit zur vergleichung herbeiziehen, zugeben. Dagegen klingt es heute
geradezu komisch, Avenn er vorgibt, er habe nicht „durch vergebene
bemühung die armutli seiner zunge verrathen, sondern sich durch-
gehends einer leichten und gewöhnlichen redensart bedienen wollen."
Arminius und Thusnelda von Lohenstein werde in betreff der volkom-
menheit der spräche den leser mebr befriedigen.
Als eine art probe von manchen im vorstehenden, besonders im
ersten teile gefälten urteilen kann uns ein vergleich dienen, den wir
zwischen unserem roman und dem von Schlossar mitgeteilten scenen-
entwurf einer dem roman nachgebildeten dramatischen bearbeitung zum
Schlüsse ziehen wollen. Dieser anliang scheint mir berechtigt, da von
mehreren kritikern betont wird\ Zigler babe vom drama gelernt, da
ferner die verschiedenen Umarbeitungen zur oper und zum Schauspiel
1) Wörtlich so E. Schmidt a. a. o. Cholevius und Bobertag berühren sich in
ihren urteilen darüber insofern, als sie die affektvollen stellen für besonders gelungen
und die Umarbeitung des Stoffes für lobens^veit und effektvoll erklären.
20G MULLER - FRAUENSTETN*
diesen schluss sehr nahe legen nnd schon wenige Jahrzehnte nacli dem
ei*scheinen der roman dramatisiert worden ist. Das älteste zengnis
dafür hat nun Scldossar mitgeteilt (a. a. o.); er liat ein blatt in die
hand bekonnnen, wie es die ptalzisohe hofkomiUliaiitengeselschaft des
Joseph Heinrich Briinius in IJraz 1722 an die angesehenen besu-
cher ihrer Toretellungen verteilte nnd auf dem der inhalt des Stückes
scenisch skizziert ist. Genauer gesagt, umfasst das ganze vier blätter,
voran geht ein dedikationsgediidit. Die „unterre(lend(Mi Persohnen"
sind: Banise, kaiserliche prinzessin von Pegu, Balacin, prinz von Ava,
Ximindo, kaiser von Pegu, Ximin, dessen prinz, Savadi, eine vertrie-
bene Prinzessin, Zorang, prinz von Tangu, Talemon, reiehsschatzmeister
von Pegu, Chaumigrem, tyrann, hernach kaiser von Pegu, Abaxar,
^lortang, dessen generale, Rolim, obei-priester, Hans Wnrst, Balacins
lustiger diener, ein Courier von Marteban, ein hauptmann des prinzen
Zorang.
Das stück zei-fiilt in fünf actus, der erste und zweite zu je 8,
der dritte nnd vierte zu je 11, der fünfte zu 4 scenen. Schlossar
begnügt sich nun s. 95 an seine interessante mitteilung nur wenige
algemeine folgerungen anzuknüpfen. Die art der anordiumg und der
einreihung in den dramatischen rahmen sei sehr geschickt aus dem
roman herausgenommen. Nur die hauptpersonen würden hervorgeho-
ben, jedoch selbst einige nebenepisoden berücksichtigt, z. b. das Ver-
hältnis von Zorang und der prinzessin von Savaady. Talemons Ver-
hältnis zu Balacin sei zu wenig ausgeführt. Die scenenordnuug findet
er sehr sachgemilss, zum schluss sehr spannend, den abschluss rasch
und gewant herbeigeführt. Alzu grilssliche scenen gäbe es bis zum
Schlüsse nicht, die vielen blutigen ereignisse, von denen der roman
überfült sei, würden in der darstellung nicht berührt.
Der wert des Schlossarschen aufsatzes beruht in dem wörtlichen
abdruck des scenenentwuifes, den ich hier als zu umfangreich nicht
nochmals hersetzen kann. Von der spräche des eigentlichen Stückes
erhalten wir dabei freilich nur einen geringen begriff, man wird aber
wol nicht fehl gehen, wenn man annimt, dass Balacin und Banise
wenigstens die schöne spräche wie im romane gesprochen haben mögen
und dass auch Scandor, der hier zum Hanswurst degradiert ist, sich
vielfach angelehnt haben mag an seine reden in dem Ziglerschen werk;
wie er sich schon darin manche scherzrede erlauben darf, ohne Balacin
zu beleidigen, so wird er auch hier seine possen so ungeniert wie mög-
lich getrieben haben. Der titel lautet: „Einer Hochlöblichen | In Ost.
Regierung | und Hoff-Cammer | Wird j Zur Alloiuntoitliänigsten Pflicht
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE 207
und Schuld Bczcigung- | eine Sehens -würdige und vortrefliche Haupt-
Action I Betitult: | Die Siegende | Unschuld | Tu der Persohn der
Asiatischen | Banise | von Johann lleiin-ich Brunius, Churfürstlich- |
Pfaltzischen Hof-Coinnioedianten-l'rincipalen | Mit bey sich habender
Hoch- Ten tscher Conipagnie | Unterthiinigste-Geliorsaiubst ufferirt. und
dedicirt. | Grätz, gedruckt bez den AVidmannstiitterischen Ei'ben. 1722."
Auf diese „vortreffliche Haubt-Action folget ein Ballett und Kxti-a-
Liistio-e Nach- Co niö die."
Ein vergleich mit dem roman ergibt Jiun lulgendes: Als devise,
gewisseraiassen als richtschnur auch für die liörer, wonach sie ihre
erwartungen zu bestimmen haben, stehen am anfange der orakelspi-uch
und der träum Balacins, die in nuce die ganze folgende handlung ent-
halten. Dann folgen seine ersten heldentaten in Pegu, durch die er
aller äugen auf sich lenkt. Der zweite akt bringt die belohnung dafür,
die Verlobung mit Banise, aber auch das herannahen der Verwicklung
in Chaumigrems sieg über Martaban. Der dritte führt diese selbst her-
bei in dem Untergang des kaisertums von Pegu und in der gnaden-
frist, welche Chaumigrem der wider seinen willen geretteten, ihn sodann
aber zur heftigsten liebe entflammenden Banise stelt. Die grosse der
gefahr wird auch dadurch bewiesen, dass beide liebende, Balacin in
der 8., Banise in der 11. scene Selbstmordversuche machen. Der vierte
steigert die Verwicklung durch den unglücklichen fluchtversuch beider,
Chaumigrems bestimt ausgesprochene absieht, die prinzessin hinrichten
zu lassen, wenn sie ihn nicht erhöre, und ihre Überlieferung in die
band des Kolim. Der fünfte akt begint mit des lezteren ermordung
durch Banise, führt die Spannung in der tempelscene zur höchsten
höhe, indem der als Rolim verkleidete Balacin Banise töten soll, und
enthält in der lezten scene die schnelle peripetie in Chaumigrems tod
durch Balacins band und in dem „hellen freudengeschrei , welches den
Heldenmüthigen Printzen Balacin mit seiner unvergleichlichen Banise
vor wahre Beherrscher deß Kayserthums Pegu erkläret, wobey die Liebe
diese zwey gequälte Hertzen mit Ehelicher Liebe zu deß gantzen Rei-
ches Vergnügung entzückt verknüpfet." Balacins rivalität mit dem
prinzen Zorang (im roman Zarang) wird mit als Spannung erwecken-
des momeut benuzt, sie wird in der 5. scene des ersten aktes begrün-
det, führt zu des lezteren vergeblicher Werbung in der 8. und zu des-
sen duell mit Balacin in der 5. scene des zweiten aktes. Sie erfährt
aber, wenigstens in dem vorliegenden scenenentwurf, keinen versöhnen-
den abschluss durch die endliche Verbindung Zorangs mit der prinzessin
Savadi (so hier statt Savaady). Vielmehr sind diese zwei leztgenanten
208 MtXLF.R - FRAUKNSTEIN
personell ZAYar genau so wie in der ersten hälfte des romans neben
einander gestelt, der prinz liebt Banise, die prinzessin verzehrt sich in
Sehnsucht nach ihm, der gegensatz wird aber im stücke nocli verschärft,
da hier der priuz Zorang durch J^aUicin in einem duell regeh'ccht über-
wunden wird (2. akt 5. und G. scene), während (bis im roman nur
einem von ihm geschickten stelvertreter passiert, und dann docli avoI,
wie in der 5. scene angedeutet, zu Chaumigrem übergeht, ohne wider
erwiüint zu werden. Von der gemeinsamen belagerung Pegus durch
Bahicin und den prinzen Zorang, von dessen täuscluing durch die ihn
liebende prinzessin und schliesslicher Versöhnung und Vermählung mit
ilir ist keine rede. So wie hier beider nebenfiguren Schicksal nicht
zu einem wenn auch nur notdürftig motivierten abschlusse komt, so
wenig ist der prinzessin von Savaady Verhältnis zu Balacin zu verste-
hen. Von ihrer durch den kaiser von Pegu zu allererst proklamierten
Verlobung ist keine andeutung gegeben, doch besizt Balacin ein bildnis
von ihr wie im roman und gerät deshalb mit dem verschmäheten lieb-
haber derselben, Banisens bruder Ximin, in einen Zweikampf, den die
prinzessin von Savaady wie bei Zigier durch ihr dazwischentreten und
die wegnähme des „Contrefait" endigt (I, 7). Später wird sie nur noch
einmal erwähnt, da Banise ihr in der 3. scene des 4. aktes „ihre sorge
wiegen der treue ihres prinzen" entdeckt.
Die verwin'ung also, welche der liebesgott durch die ungleich
verteilten neigungen im roman anrichtet und die mich an Shakespeares
sommernachtsti'aum erinnert i, scheint, wenigstens nach der erhaltenen
inhaltsangabe des dramas, in diesem nicht so gut benuzt; zwei pcr-
sonen fallen sozusagen ohne rettung ins wasser.
Dagegen kann ich nicht finden, dass, wie Sclilossar sagt, Talc-
mons Stellung zu Balacin im drama „weniger ausgeführt sei." Es sind
vielmehr alle hauptmomente ganz deutlich benuzt: Talemon will von
dem Hanswurst (= Scandor) Balacins herkunft eifahren, erhält auskunft
von lezterem selbst uud schwört ihm dann ewige treue (I, 6). Er
ladet ihn dann zur kaiserlichen tafel und nimt an dieser wol selbst
auch teil (11, 3 — 5). Er wird von Chaumigrem gefangen genommen
(III. 1), verrät diesem „etliche schätze" (wie im roman), wird dadurch
frei, kann aber Balacin über Banisens Schicksal nicht beruhigen (III,
5. 6), gerade so wie bei Zigier. Dann liält er den prinzen vom Selbst-
mord zurück (III, 8) und ebenso die inzwischen in sein gewahrsam
gebrachte Banise (III, 11). Hier ist in ganz geschickter w^eise Tale-
1) Bobeitag vergleicht sie rait der liebesverwiiiung iu ^üiaua" von Harsdöiffer.
^KjLkrs asiatische banise 209
mons söhn Ponnedru durch den vator ersezt, und dieser wächst dadurcli
nur an bedeutung. Su ist es auch im vierten akte, wo Talemon (nicht
Ponnedro) Banisens briefe dem auch im drama offenbar in Talemons
schlösse sich versteckt aufhaltenden Balacin überbringt, lezteren ermu-
tigt, indem er die werte des Orakelspruches als zumeist in erfüll ung
gegangen erklärt, ßanisen den fluchtplan mitteilt und Balacin die Zu-
sammenkunft vor der tlucht ermöglicht. Wemi er dann in der 7. scene
erscheint, „begierig, ob der anschlag gelungen'', von dem erwachenden
Chaumigrem erfährt, dass Banise ihn überlistet hat, und nun bemerkt
ist, „ertheilet Befelil, selbe geschwinde zur Strafte aufzusuchen", so ist
es einmal bei der grammatikalischen Unsicherheit des scenenentwurfs
noch nicht ausgemacht, ob wirklich Talemon, nicht Chaumigrem damit
gemeint ist, jedenfals aber darf kein böswilliger und verräterischer
anschlag Talemons darin gesehen werden. Das beweisen die gleich
folgenden ersten scenen des fünften aktes, wo Talemon an des ermor-
deten Rolim stelle gesezt wird (offenbar nur, um nicht noch eine neue
nebenfigur einführen zu müssen) und mit Abaxar den ganzen rettungs-
plan entwirft. Talemon beredet Chaumigrem dem „verstelten" Balacin
bei der Opferung Banisens die würde des Rolim zu übertragen, er ist
also auch im drama durchaus der hebel in der peripetie.
Mein eindruck ist also: Talemon spielt auf der bühne eine noch
bessere figur als im roman, seine schwäche gegen frau und tochter fält
weg, da diese selbst nicht benuzt werden und er wird auch durch die
Verschmelzung mit seinem söhne Ponnedro bedeutender; alle handlun-
gen mcht nur, die im romane ihm beigelegt werden, sondern noch
einige dazu werden im drama auf sein konto geschrieben. Eher könte
Abaxar etwas zurückgesezt werden. Fallen doch seine ganze liebes-
geschichte, seine taten in Odia und seine eigenschaft als verkleideter
prinz weg! Er ist und bleibt nur der lebensretter Banisens, wird von
Chaumigrem deshalb vorgefordert, spielt aber mit Talemon bei der
opferscene wider neben Balacin die entscheidende rolle. Scandor ist
w^eit in den hintergrund gerückt, was die hauptfäden der Verwickelung
betritt; gewonnen hat nicht seine Stellung als treuer, aufopferungs-
fähiger Vasall, sondern nur seine Wirkung auf die lachmuskeln der
hörer. Er heisst „Hannß -Wurst" oder Hans Wui'st, ist Balacins die-
ner und narr und greift in den gang der handlung eigentlich nur ein,
indem er Balacins sieg über den prinzen Zorang meldet (11, 6), seinem
herrn die zwei briefe überbringt, in welchen der tod von dessen vater
und die wähl zum herscher in Aracan gemeldet wird (lY, 2), Banise
auf ihrer unglücklichen flucht, die er geraten, begleitet und mit ihr
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 14:
210 miLLER - FRAÜENSTKIN
gefjuigen genommen wird (IV, 9. 10) und endlich, als offizier verklei-
det, den lezten briet' trägt, welcher den rettungsplan mitteilt. Das ist
doch recht wenig, wenn wir daneben halten, was der Ziglersche Scan-
dor leistet; die mitgeteilten handlungen stimmen aber bisher mit dem
roman übei*eiu. Sonst parodiert er die grossen ereignisse, die sich
abspielen, ahmt wie ein clown speciell seines herrn heldentaten in
komischer weise nach und bekämpft mit seinen narrenspossen die ernste
Stimmung, welche die Zuschauer beschleichen könte. Er erzählt z. b.
am anfange des Stückes nach seinem herrn auch seinen träum, „sal-
vieret sich" bei dem kämpf der zweiten scenc auf einen bäum, wäh-
rend Scandor im roman an dieser stelle seinen herrn aus dem gedränge
herausliaut, und hat in der vierten „seine Lustbarkeit" mit dem toten
löwen (im roman panther), vor dem Banise durch Balacin gerettet
worden ist. Im ersten auftritt des zweiten aufzuges ist offenbar das
von uns oben besprochene gespräch über die liebe benuzt, da es heisst:
„Balacin und Hannß -Wurst haben eine curieuse Unterredung über die
Liebe, worüber beyde entschlaffen", im dritten akt eilt er seinen herrn
zu retten, nachdem Talemon das eben schon getan, und in der aller-
lezten scene macht sein „arthiger Hochzeit -Wunsch der Action ein
lustiges Ende."
Von kleineren Avirksamen oder doch auffallenden zügen des romans,
die im drama Verwendung finden, ist zuerst zu erwähnen, dass Bani-
sens vater Ximindo vor seiner strangulierung sich plötzlich zum chri-
stentume bekent. Sodann wird auch der rührende umstand verwendet,
dass Banise den gefesselten vater mit einem trunk wasser zu laben
komt. Eine spannende scene muss wol ferner die 6. des vierten aktes
gewesen sein, wo Banise „unter sclnneichelnden Liebkosungen dem
verliebten Tyrannen den vergifften Schlaf- Trunck überreichet und nach
dem er entschlaffen, ihre Kleyder mit den seinigen wechselt", und in
ähnlicher weise die 1. des fünften aktes, „wo der in die Banise ent-
brannte Rolim bey selber mit Gewalt die Kühlung seiner Flammen
suchet, die er aber von der höchst -beleydigten Printzessin mit einem
tödlichen Stich erhaltet." Yor allem aber natürlich die lezte scene,
wo .,die Schlachtung der Banise" volzogen werden soll und diese „mit
erbärmlichen Worten der Welt Adieu saget", und wo Chaumigrem
selbst band an sie legen will, von Balacin jedoch „mit einem Strick
erwürget" wird.
Das dramaturgische geschick des bearbeiters können wir ausser
in diesen zügen am meisten erkennen in den weglassungen und sce-
nischen Veränderungen. Das stück fühj't, wenn Avir nach dem Inhalt
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE 211
auf den ort der handlungen scliliessen wollen, iiacli art der englischen
stücke nach einander an eine ganze anzahl verschiedener örtlichkeiten;
es ist weit entfernt von einer einheit des orts, ebenso wie der zeit.
Dagegen ist die einheit der handhing, wie schon die orakel- nnd trauni-
scene des anfanges beweist , im ganzen wirklich mit geschick bewahrt.
Wir stehen zuerst vor dem tempel bei Pandior an der grenze
von Ava nnd Pegu, werden in der 2. scene in einen wähl bei Pegii
versezt, die 3. — 5. sind zu denken in oniem garten des hofes, die
6.-8. können wol auch darin gespielt werden. Der zweite akt begint
vielleicht an derselben örtlichkeit, avo der schluss des vorhergehenden
vor sich gieng, die 4. — 8. scene ist jedoch in die kaiserlichen gemacher
verlegt. Im dritten, vierten nnd fünften akte sind jedesmal wenigstens
drei verschiedene Schauplätze anzunehmen. Die zeit der handlung ist
allermindestens nach vielen monaten zu berechnen. Ist doch von einer
Vorgeschichte kaum eine rede, sondern das stück begint einige zeit,
ehe die beiden hauptpersonen sich das erste mal gesehen haben, und
verfolgt durchaus gemessen seinen gang, indem diese sich kennen und
lieben lernen, verlobt, dann getrent und endlich nach langer not wider
vereint werden. Ein dunkler punkt in betreff der haupthandlung bleibt
z. b., wo Balacin bei Chaumigrems sieg über Pegu steckt; kein wort
in der scenenübersicht gibt dafür eine erkUirung, doch bot der roman
natürlich dafür flngerzeige genug. Völlig unbenuzt sind die Verhält-
nisse des hofes von Ava, Higvanama und Nherandi von Odia, ebenso
auch Balacins kriegerische heldentaten. Die einzige schlachtscene über-
haupt, welche das stück bieten konte, ist am beginn des dritten aktes,
wo Chaumigrem die Peguaner überwindet; die 3. des fünften aktes
spielt wenigstens deutlich in dem lager Balacins vor Pegu, hat aber
den Hanswurst allein als akteur. Den seelischen kämpfen wird, gewiss
nicht zum nachteil des Stückes, ein weit grösseres feld eingeräumt.
Der bau des Stückes ist zweifellos wirksam, wenn auch die expo-
sition ziemlich dürftig gewesen sein mag. Der erste akt gibt das Ver-
ständnis der personen, und zwar nicht in langen monologen oder
gewaltsam orientierenden gesprächen, wozu der roman recht wol hätte
verführen künnen, sondern in flott sich ablösenden handlungen. Frei-
lich komt es darauf an, wie viel von den nebenhandlungen des romans
nicht doch noch angedeutet worden ist, ohne dass der scenenentwurf
darauf rücksicht nimt, der leztere gibt aber keinen anlass dergleichen
zu vermuten. Der zweite akt wirft auf das junge glück der liebenden
den ersten schatten, lässt aber in der jedenfals möglichst grausigen
botenerzählung, die „mit jedermanns Bestürtzung berichtet, wie Chau-
14*
212 MÜLLER - FRAUEXSTEIN
migreins Tyranney den Königlichen Stamm von Martabana außgerottet'',
die grosse der gefahr schon ahnen. Die ersten zwei akte, wir können
auch sagen, die exposition ist also klar und anregend, die Verwicklung
und lösung aber in noch besserer Steigerung, als sie der romau durch-
führt mit seinen dazwischen geschobenen kriegs wechselfällen und neben-
abenteuern. Niemand wird im drama den Avegfall der liebespaare
Higvanama-Xherandi und Fylane-Abaxar, auch Lorangy-Scandor be-
dauern, niemand die schlachten von Prom, Odia, am passe Abdiara und
schliesslich von Pegu, die prunkscenen und Schaustellungen der sieges-
einzüge, der prinzlichen und königlichen beerdigungen, der bestattung
des alten und der wähl des neuen Rolim vermissen. Zu dergleichen
fehlten Avohl auch die scenischen mittel. Die einzigen mit grösserem
pomp ausgeschmückten und an spektakel reicheren auftritte in dem
stücke können ausser den siegen Balacins über die meuchelmörder und
den löwen in der 2. und 4. scene des ersten aktes nur sein im zweiten
akte die königliche tafel (4. scene), im dritten Chaumigrems sieg und
des kaisers Xemindo hinrichtung (1. und 10. scene) und im fünften
natürlich die krönung des gebäudes, die grosse sclilussscene. Auf der
bühne selbst sterben ausser jenen meuchlern und dem löwen nur
Xemindo, der Eolim und Chauniigrem, ein zwei- und ein „säbel-
kampf' (I. 7 und 11, 5) und zwei Selbstmordversuche kommen sonst
noch vor; das ist in anbetracht der Verhältnisse, im vergleich mit den
dramen der schlesischen schule, so schhmm es schon aussehen mag,
für eine hauptaktioii doch nicht zu arg. Man vergleiche nur die
zahl der nervenerschütternden auftritte im romane damit und berück-
sichtige den umstand, dass schon der albekante name Chaumigrem
den Zuschauer auf grässliche scenen, grausamkeit und mord vorbereiten
muste.
Weniger berauschende kunstmittel, die dem durch Lohenstein und
genossen verwöhnten fi-eieren publikum der zeit kaum so sehr impo-
niert haben werden, möchten etwa sein: der träum Balacins in der 1.,
der der Banise in der 3. scene (sie träumt „ihres vaters unglück") und
die zweimalige Verkleidung Balacins, einmal beim Stelldichein vor der
flucht als portugiesischer kaufmann (lY, 5) und dann als Rohm (Y, 4).
Auch fehlt es nicht an zarteren partien, so wenn der prinz Zorang
„bey Banise um Liebe anhält'', Balacin und Hanswurst sich einen gan-
zen auftritt über die liebe unterhalten, Banise dem schlafenden Balacin
das bild seiner Schwester von der brüst nimt, ebendieselbe von ihrer
Verlobung mit Balacin „verblümbter Weise verständiget, und artig,
doch (!) vergnügt'* mit ihm verbunden wird, oder wenn sie sich wegen
ZIGLERS ASIATISCHE BANISE 213
der treue des beiden bei der prinzessiii von Savaady rats erbolt und
endlicb zu ibrem „bücbstcn Vergnügen" von ibm besucbt wird.
leb meine, die sonst in der Utteratur völlig unbekante figur des
Verfassers dieser bauptaktion, vielleicbt J. H. Brunius selbst, spielt
gar keine so ungünstige rolle und die bocbdeutscbe bofscbauspieler-
geselscbaft wird mit dem stücke in Graz im jabre 1722 volle bäuser
erzielt baben. Der scbluss aber, der nun wol aucb zu zieben erlaubt
ist, kann nicbt andere lauten, als dass die „Asiatiscbe Banise" durcb
diese dramatiscbe bearbeitung indirekt in unserer wertscbätzung nur
geboben wird. Mit ausnabme einiger streicbe des Hanswurstes und
der verscbmelzung Ponnedros und seines vaters in eine person bat der
dramatiker nicbts zu verändern oder binzuzufügen gebraucbt.
Und so nebme icb abscbied von dem beliebtesten romane jener
zeit, mit dem w^unscbe, dass Ziglers bofnung sieb aucb an diesem ibm
gewidmeten aufsatze erfüllen möge, dass sieb nämlicb „bonette gemüter
finden werden, die dieses mein woblmeynendes unterfangen mehr loben
als scbelten, und aus dem Avillen erkennen werden: was icb mir
wünscbte, in der Tbat würcklicb zu leisten."
HANNOVER. G. MÜLLER- FRAUENSTEIN.
OUDBRAXDUß YIGFUSSOX.
Am 31. Januar I. j. starb in Oxford nach langem krankenlager dr. Giid-
brandiir Vigfüss on, einer der tätigsten arbeiter auf dem gebiete der altnordischen
Philologie. Als der älteste seiner deutschen freunde wage ich es, in dieser Zeitschrift
ihm einen nachruf zu widmen, da ein wissenschaftlich berufenerer, Theodor Möbius,
leider durch krankheit verhindeii ist dieses seinerseits zu tun.
Guclbrandur war am 13. märz 1827 geboren; es ist demnach ein irtum, wenn
ein englisches biographisches Wörterbuch (Men of the time; 1887) das jalir 1830,
oder wenn ein dänisches blatt umgekehrt das jähr 1821 als sein geburtsjahr angibt.
Als sein geburtsort wird von glaubhafter seite her der Hof Frakkanes auf der Skards-
strönd genant; eine zeit lang wohnte sein vater aber auch im Galtardale auf der
Fell.sströnd, dann im Fagridale und anderwärts in der landschaft Saurba)r, und gerade
darum ist die angäbe des geburtsortes nicht völlig sicher, wenn auch feststeht, dass
derselbe der Dalasysla in Westisland angehörte. Das geschlecht Gudbrands war ein
sehr angesehenes. Er stamte im geraden manusstamme von f'orkell Hallgrimsson
ab, einem bruder des priesters l^orlaki-, des vaters des vielgefeierten bischofs Gud-
brandur von Holar (yl627) und führte andererseits auch dui'ch seine ururgrossmutter
Helga seinen stambaum auf denselben bischof zuiiick, indem deren vater, Magnus
Björnsson, des bischofs ui'enkel war. Ich erwähne dieses umstandes teüs darum,
weil durch B. Gudbrand Porlaksson der name in das geschlccht gekommen war,
welchen der verstorbene nach dem bruder seines gi'ossvaters , dem apotheker Gud-
214 MAURER
brandur Vigfiisson zu Nes bei Reykjavik (f 1822) trug, teils aber, und hauittsäcli-
lich, weil der verstorbene nach isländischem brauche auf seine abstammung grossen
wert legte. Auch auf seine abkuuft aus dorn Westlande tat sich dieser viel zu gute,
und fülirte mit verliebe den alten spruch au , nach welchem die Nordländer edelleute
(hofmeun), die Ostläuder baueru (biimenn), die Südländer krämer (mangarar), die
Westländer gelehrte (visindamenn) sein sollen.
Nicht bei seinen^ vater, Vigfüs (rislason, welcher neben seiner land Wirtschaft
auch noch die kunst eines silbcrschmiedes ausübte, in welcher sich später ein ande-
rer söhn desselben, der archaeologe iSigurdur in Kcykjavik, auszeichnete, sondern bei
einer Schwester seines grossvaters, Katrin Vigfüssdottir, genoss Gudbrandur seine
erste erziehung. Zu Kleifar im Gilsfjördur aufgewachsen, erhielt derselbe seinen
oi^sten untemcht durch sera Halldürr Jonsson, den S])ätcren pfarrer in Tröllatünga
(t 1888). und später durch sera I^rkell Eyjülfsson, den jetzigen pfarrer zu Stada-
stadur, dessen vater ein bruder der mutter Gudbrands, Halldora Gisladottir, war.
Damals war sera I'orkell hauslehrer bei dem landcsphysikus Jon Thorsteiusson in
Reykjavik, und zwei jähre lang unterrichtete er Gudbrand, der ihm sowol als sera
Halldorr zeitlebens dankbar und anliänglich blieb; dem söhne des ersteren, dr. Jon
I'orkelsson in Kopenhagen, dem Verfasser der troflichon schrift „Gm digtningen pä
Island i det l.o. og 16. arhundrede" (1888), verdanke ich einen guten teil der für
diesen nacliruf benüzten angaben. — Am 15. juli 1844 wurde Gudbrandur in die
gelehrte schule zu Bessastadii- aufgenommen, mit welcher er im jähre 1846 nach
Reykjavik umzog, und welche er im juli 1849 mit der ersten note absolvierte. Rec-
tor Sveinbjöru Egilsson und dr. Hallgrimur Sche\iug waren hier seine lehrer gewesen,
und auch ihnen bewahrte er stets ein dankbares andenken. Noch in demselben jähre
bezog er die Universität in Kopenhagen, wo er sich, nachdem er die gewöhnlichen
pnifungen (das examen artium, philologicum et philosophicum) mit bestem erfolge
bestanden hatte, sofort ausschliesslich auf das Studium der altnordischen spräche und
litteratur verlegte, und wo er im august des jahres 1856 zum zweiten Stipendiaten
der arnamagnseischen Stiftung ernaut wurde, von welcher funktion er erst am
1. Januar 1866 enthoben wurde, nachdem er bereits seit dem december 1864 nach
England gegangen war, während den Stipendiaten stiftungsmässig die veii^flichtung
zum ständigen aufeuthalt in Kopenhagen obliegt.
In die erste zeit seines stipendiatentums fält der beginn meiner bekautschaft
mit Gudbrand. !Mit Studien über isländische rechtsgeschichte beschäftigt, hatte ich
mich entschlossen die insel selbst zu besuchen, um mich mit deren topographic und
wirtschaftlichen zu.ständen näher bekant zu machen; ein längerer besuch in Kopen-
hagen solte mir aber als Vorbereitung für die reise dienen, und mir zumal eine vor-
läufige orientiorung über die Verhältnisse Islands und die nötige fertigkeit in der islän-
dischen Sprache verschaffen. So kam ich im herbste des jahres 1857 nach Kopenhagen.
Durch Jon Sigurdsson, mit welchem ich schon früher in brieflichem verkehre
gestanden hatte, wurde mir Gudbrandur als lehrer empfohlen, und teils in folge die-
ses umstandes, teils aber auch dadurch, dass ich vermöge meiner wissenschaftlichen
zwecke mich überhaupt vorwiegend auf den verkehr mit Isländern angewiesen sah,
traten wir uns bald näher. Als ich sodann im frühjahre 1858 über Kopenhagen nach
Island reiste, traf ich nicht nur dort vor meiner einschiffung wider mit ihm zusam-
men, sondern wir konten auch, da er gleichfals seine heimat zu besuchen gedachte,
ein steldichein in dieser verabreden. Wirklich trafen wir uns am 14. august zu Holt
in der landschaft Saurb^f^r, und durchstreiften nun 14 tage lang teils zu pford, teils
GUDBRANDUR VIGFUSSON 215
mit boten die östlicheu gestade und iiiscln des wuiiderschüuoii Breidifjördiir, Am
28. august trenten wir mis in Hjardarholt im Laxardalc; aber schon am 1. Oktober
trafen wir mis wider in Reykjavik, von wo aus wir reichlich zwei wochcn später
über Bessastadir und Gardar nacli dem Hafuafjördur ritten, um von hier aus am
17. d. m. unsere rückreise über die Fiuröer und Schottland nach Koitcnhagen anzu-
treten. Das längere enge zusanmionleben auf der reise und der vielfache gedanken-
austausch, zu welchem dasselbe gelegenheit bot, befestigte selbstvi;i*ständlich unsere
beziehungen zu einander sehr erhebhch; ein reger briellicher verkehr wurde in den
nächstfolgenden jähren unter uns aufrecht erhalten, durch gemeinsame wissenschaft-
liche bestrebuugen vielfach befördert, und zweimal erhielt ich während dieser zeit
längere besuche Gudbrands hier in München (1859 imd 1863).
Während der zeit seines Kopenhagener aufenthaltes entfaltete Gudbrandur eine
sohl' lebhafte litterarische tätigkeit. Dieselbe begann, soviel mir bekant ist, mit zwei
ziemlich gleichzeitig erschienenen arbeiten, nämlich dem bericlite über eine reise
nach Norwegen, welche er im jähre 1854 auf veranlassung professor C. R. Ungers
unternommen hatte (Ny felagsrit, bd. XV, s. 1 — 83; 1855), und einer eingehenden
abhandlimg über die Chronologie der isländischen sagenzeit (im zweiten hefte des
Safn til sögu Islands og islenzkra bokmenta, bd. I, s. 185 — 502; 1855); lezteres eine
arbeit von grundlegender bedeutung, in welcher deren Verfasser volauf gelegenheit
fand, sowol seine volkommene herschaft über die gesamte isländische sagenlitteratur,
als auch seinen ungewöhnlichen Scharfsinn in der deutung und combinierung ihrer
angaben zu zeigen. Bald folgte eine reihe anderer aufsätze in den Ny felagsrit, als
deren mitredakteur Gudbrandur auch in den jähren 1858 — 64 wirkte ; so eine abhand-
lung über die isländische laut- und flexionslehre (bd. XVII, s. 117 — 66; 1857), eine
reihe von sehr beachtenswerten bemerkungen über einzelne Islendingasögur und deren
neuere ausgaben (bd. XVm, s. 154—68, 1858; XIX, s. 128—36, 1850; XXI, s. 118—27
und 128 — 36, 1861); sowie über Ungers ausgäbe der Stjorn (bd. XXIII, s. 132 — 51,
1863) , ferner eine beschreibung der ersten reise Gudbrands nach Deutschland (bd. XX,
s. 23 — 143 , 1860) , und ein aufsatz über die wirtschaftlichen zustände Islands in der
Vorzeit, welcher durch eine schrift des norwegischen botanikers Schübeier veranlasst
war (bd. XXIII, s. 109 — 26; 1863). An diese kleineren arbeiten reihte sich sodann
zunächst eine anzahl sehi' verdienstlicher ausgaben von quellen werken an. Daliin
zählt der erste band der Biskupasögui- (1856 — 58), sowie das erste heft ihres zwei-
ten bandes (1862), welche Gudbrandur, zum teil gemeinsam mit Jon Sigurdsson,
besorgte; die ausgäbe der Bärdar saga Sna^fellsäss , Viglimdar saga, IVirdar saga hredu,
der Draumavitranir und des Yölsa J)ättr, welche die Nordiske Oldskrifter, heft XXM^I
brachten, und die Fornsögur, Yatnsda4a, HalLfredar saga, Floamanna saga, welche
Gudbrandur mit Th. Möbius zusammen herausgab (beide 1860), sowie die Eyrbyggja
saga (1864); endhch wurde jezt von ihm, im vereine mit professor Unger, die gewal-
tige ausgäbe der Flatej'jarbok begonnen, welche freilich erst in etwas späterer zeit
zum abschluss gelangte (1860 — 68). Gleichzeitig beteiligte sich Gudbrandm- aber
auch hülfreich an fremden arbeiten. Als es galt, Sveinbjörn Egilssons Lexicon poe-
ticum antiquae linguae septentrionalis herauszugeben, besorgte er mit dem rector
Jon I^orkelsson in Reykjavik die revision des manuscriptes. An der herausgäbe von
JonAi-nasons Islenzkar fjjodsögui- og sefintyri (1862 — 64) war er neben mir beteiligt,
und üeferie füi* dieses werk neben manchen anderen wertvollen beitragen zumal auch
die überaus lehrreiche vorrede. Bei der herausgäbe seiner Übersetzung der Njäla
(1861) erfreute sich G. W. Dasent seiner Unterstützung; mir aber lieferte er zui'
216 MAURER
bcarl>eitung des nrtikels Grägäs in der Algemeinen encyklopaedie der Wissenschaften
lind künste (1S64) die wertvolsten mitteilungen. Eine Zeitlang (1861 — 62) redigierte
er überdies die Zeitschrift Skirnir, und korrespondierte zugleich für isländische blät-
ter. zumal den I^jödolfiu*. Eine wenduug aber ergab sich in bezug auf seine littera-
rische tätigkeit durch seine Übersiedelung nach England, deren oben bereits gelegent-
lich gedacht wurde.
Es war ein eigentümlicher anlass, welcher Gudbraud nach England führte.
Ein sehr vennöglicher junger Engländer, Richard Cleasby, welcher geschmack an
philologischen Studien gefunden und hier in München unter Andreas Schindlers lei-
tung sich tüchtig in die germanische Sprachforschung eingearbeitet hatte, war später
nach Kopenhagen gegangen und hatte dort die ausarbeitung eines altnordischen w^ör-
terbuches in die band genommen. Schon im winter 1839 — 40 war der plan hierzu
entworfen und im folgenden frühling mit der ausführung begonnen worden. Da für
die dichtersprache SveinbjÖru Egilsson bereits ein Wörterbuch nahezu fertig gestelt
hatte, für dessen herausgäbe es nur an raitteln zu fehlen schien, beschloss Cleasby
hiezu einen beitrag zu leisten, seine eigene arbeit dagegen auf die prosasprache zu
beschränken. Mehrere junge Isländer, darunter zumal Konrad Gislason und Biyn-
jolfr Petui-sson, wurden zu dieser herangezogen; aber am 6. Oktober 1847 starb
Cleasby in Kopenhagen, ohne dass sein Wörterbuch, von welchem bereits einige
bogen probeweise gesezt worden w^aren, vollendet worden wäre. Mit anerkennens-
werter pietät und opferwilhgkeit suchten seine angehöligen das werk in Kopenhagen
nach dem ursprünghehen plane vollenden zu lassen; als die arbeit aber immer nicht
vorangehen wolte und noch im jähre 1854 statt eines fertigen manuscriptes nur
neue geldforderungen einhefen, verloren sie endlich die geduld: das material wurde
von ihnen, so wie es lag, nach England abgefordert und nunmehr einem englischen
fachmann, G. AV. Dasent, zur weiteren behandlung übergeben. In der meinung, es
mit einem nahezu druckfertigen manuscript zu tun zu haben, sezte sich dieser behufs
der veröffenthchung sofort mit den delegierten der Clarendon Press in Oxford in Ver-
bindung. Widenim wui'de eine probe gesezt, aber bald wurde man sich über den
vöUig ungenügenden zustand der vorarbeiten klar, und es blieb die sache ein volles
Jahrzehnt liegen, bis Dasent endlich im jähre 1864 neuerdings mit den delegierten
in Unterhandlungen trat, in folge deren diese sich zu einer verwilligung verstanden,
um die hülfe eines isländischen philologen zur fertigstellung des Wörterbuches zu
gewinnen. Gudbrandur wurde sofort als helfer gewälilt, und siedelte noch im laufe
desselben Jahres nach England über. Da Dasent durch anderweitige aufgaben völlig
in amspruch genommen war, fiel ihm die arbeit so zu sagen allein zu, und als das
Wörterbuch in den jähren 1860 — 74 erschien (An Icelandic-English Dictionary, based
on the Ms. CoUections of the late Richard Cleasby, enlarged and completed by Gud-
brand Yigfusson M. A.), konte Dasent am Schlüsse eines ihm vorgesezten lebensabris-
ses Cleasbys mit fug und recht aussprechen: „The Dictionary as it now Stands is far
more the work of Vigfusson than of Cleasby." Es ist diese arbeit, welche Gud-
brands namen vielleicht am bekantesten gemacht hat. Das früher nahezu einzige
hülfsmittel, das von Rask herausgegebene isländische Wörterbuch Björn Halldorssons
(1814), war durch sie mit einem male antiquiert, und auch über die ziemlich gleich-
zeitig erschienenen Wörterbücher und glossarien von Eirikur Jonsson (1863), Th. Mö-
bius (1866) und J. Fritzner 0862 — 67) war weit hinausgegangen, wenn sich auch
nicht verkennen lässt, dass gegen den schluss des Werkes hin einige ermüdung des
Verfassers sich bemerkbar macht; er.st die im erscheinen begriffene zweite ausgäbe
GUDBRANDUR VIGFUSSON 217
des Fritznerschon Wörterbuches wird der arbeit Gut11)rands mit erfolg den rang strei-
tig machen können.
In England blieb Gudbiandur foi-tan wolinhaft. Von London, wo er anfangs
seinen aufenthalt genommen hatte, siedelte er im jähre 1866 nach Oxford über. Tin
jähre 1871 ernante ihn die dortige Universität lionoris causa zum master of arts, und
übertrug ihm später auch eiue professur, welche er bis an sein ende bekleidete.
Gelegentlich des Jubiläums der Universität Upsala wurde er honoris causa zum doc-
tor der philosophie promoviert (1877), aus vvelchem anlasse aucli in der festschrift
der Universität eine kurze lebensbeschreibung desselben eingerückt wurde (Ujisahi
universitets fyrahundraars Jubelfest, s. 868 — 69; Stockholm, 1879). Seit dem jähre
1873 gehörte er unserer akademie der Wissenschaften als correspondierendes mitglied
an, und im jähre 1885 wurde ihm der Danebrogsordon von der dänischen regierung
verliehen, üucrmüdlicli arbeitete er inzwischen in seinem berufe weiter. Noch wäh-
rend seiner beschäftiguug mit dem wörterbuche entstanden einige kleinere abhand-
lungen: „On the word runhenda or rimheuda'', dann „Some rcmarks upon the use
of the reflexive pronoun in Icelandic", welche die Transactions of the philol. society,
1865. n, s. 200 — 207, und 1866. I, s. 80— 123 brachten. Nach der erledigung jener
umfangreichen arbeit erschien sodann eine sehr verdienstliche ausgäbe der Sturlünga
(1878), welcher noch eine reihe weiterer quellenschriften , sowie eine ausführliche
und vielfach belehrende litterargeschiclitliche einleitung beigegeben sind. Mit Fr. York
Powell zusammen gab forner Gudbrandur einen „Icelandic prose reader" heraus
(1879), welcher nicht nur wegen der zugäbe einer kurzen gTammatik und eines glos-
sars beachtenswert ist, sondern auch darum, weil einzelne der mitgeteilten quellen-
stücke auf grund wertvoller handschiiften selbstständig bearbeitet erscheinen. Eben-
fals im verein mit Fr. York Powell veröffentlichte Gudbrandur sodann das Corpus
poeticum boreale (1883), welches in zwei bänden nicht nur die alten dichtungen des
nordens in text und Übersetzung, dann mit erläuternden bemerkungen versehen bringt,
sondern auch in einer litterargeschichtlichen einleitung und einer reihe von excursen
nicht wenige materien einer selbständigen l:)ehandlung unterzieht. Mit demselben
freunde gab er auch gelegentlich der centenarfeier für J. Grimm eine festschrift her-
aus unter dem titel: „Grimm ceuteuary. Sigfred- Arminius and other Papers " (1886).
Als ein bestandteil der officiellen samluug der „Kerum Britannicarum medü aevi
scriptores ^ erschienen endlich seine „ Icelandic sagas and other historical documents
relating to the Settlements and descents of the Northmen on the British Isles" (1887),
deren zwei bände neben einer reihe von auszügen aus verschiedenen quellenschriften
volständige ausgaben der Orkneyinga saga und der Magnüss saga Eyjajarls, der Häk-
onar saga gamla und, soweit sie reicht, der Magnüss saga lagaboetis, sowie die bis-
her noch unedierte Dunstanus saga bringen. Neben diesen eigenen arbeiten förderte
Gudbrandur nach wie vor fremde imternehmungen. Dasent z. b. unterstüzte er bei
seiner Übersetzung der GIsla saga Sürssonar (1866), und Sir Edmund Head bei seiner
Übertragung der Yigaglüma (1866); zur zweiten ausgäbe der Analecta Norroena von
Th. Möbius lieferte er, nachdem er schon für die erste (1859) die I^orsteins saga Sidu-
hallssonar und den Draumr J'orsteins Siduhallssonar , sowie stücke der Hallfredar saga
vandrsedaskalds beigesteuert hatte, zwei stücke aus der Hauksbok und ein kleines
stück „UmBeda prest" (1877); mir selber endlich teilte er nicht nur mehrfache sehr
erhebliche notizen zur Verwertung in meiner abhandlung „Über die ausdrücke alt-
nordische, altnorwegische und isländische spräche" mit (1867), sondern ihm ver-
danke ich auch die abschrift der Skida-rima, nach welcher ich dieses eigentümhche
218 MAURER
gedieht im jalire 1869 herausgab. Auch au verschiedeueü zeitschrifteu arbeitete Gud-
braudur noch mit, wie er deuu z. b. uoch mehrere jahi'e lang regelmässiger corre-
spondent des ^J^jodolfr" blieb, und auch gelegeutlich iu die „ Times '^ schrieb, —
correspondenzen, die ihn gelegeutlich in recht widerwärtige Streitigkeiten verwickelten,
wie z. b. die controvei-se über die neue isländische bibelübersetzung, dann über die
hülfsbedürftigkeit Islands während des notjahres 1882 — 83. Ton wissenschaftlicher
bedeutung sind zumal seine beitrage für die „Academy'^ und für die „English histo-
rieal reNiew*^; in der ersteren erschien auch die lezte arbeit, welche er, soviel mir
bekant, veröffentlichte, nämlich ein nekrolog für Jon Arnasou. Ein grösseres Averk,
an welchem er, widerum mit Fr. York Powell zusammen, arbeitete, und welches
die älteren isländischen sagen samt der Islendingabok , Landnama, Kristni saga, den
älteren Biskupa sögur und den auf Amerika bezüglichen quellen umfassen soll, ist
im dmcke bereits weit vorgeschiitten und dessen baldige Vollendung gesichert.
T\'ährend der ei"sten zeit seines aufeuthaltes in England seztc Gudbrandur den
brieflichen verkehr mit mii* noch sehr eifrig fort, und zumal gab die arbeit an sei-
nem wöiterbuche zu einem regen gedankenaustausche anlass, da er zumal über
juristische terminologie gern mit mir rücksprache zu nehmen pflegte. Im jähre 1874
war er auch noch einmal läagore zeit bei mir zu besuch; almählich aber wurde die
correspondenz eine lässigere, teils wol weil der gang unserer Studien immer weiter
auseinander führte, und weil für mich mit Gudbrands entfernung von Kopenhagen
die möglichkeit wegfiel, seine hülfe bezüglich der dort aufbewahrten handschiiften in
anspnich zu nehmen, teils aber auch weil das zunehmende alter uns beide träger im
schreiben machte. Doch wechselten wir uoch aljährlich einige briefe, am 18. Januar
1. j. aber Hess er mir dui'ch heim Fr. York Powell mitteilen, dass er schwer krank
liege, imd ein brief, welchen ich daraufhin abgehen liess, gehörte zu dem leztcn,
was er lesen konte. Ein langwieriges, aber zum glück wenig schmerzhaftes krebs-
leiden, welches, vom magen ausgehend, auch die leber ergiiff, machte seinem leben
ein ende. Englische freunde, vorab der trefUche Fr. York Powell, haben ihn treu-
lich gepflegt bis an sein ende, imd ihn auch in würdigster weise zum grabe geleitet,
in welchem er nun von einem leben voller mühe und arbeit in fremdem lande ausruht.
SoU zum Schlüsse noch etwas über Gudbrands wissenschaftliche bedeutung
gesagt werden, so hält es schwer. Hellt und schatten richtig zu verteilen. Gud-
brandur war ein ganz ungewöhnlich begabter mann, von raschester fassungsgabe und
unermüdlichem fleisse. Seine fertigkeit im lesen und in der beuiteilung von hand-
schriften war eine ganz ausserordentliche-, die veiioschenste schiift vermochte er noch
zu entziffern, und wochenlang konte er von morgens bis abends abschreiben ohne
dass seine äugen ermüdeten. Rasch wusste er sich auch in den fiüationsverhältnis-
sen der handschriften zurechtzufinden, und von hier aus für seine queUenausgaben
stets den richtigen text zu wählen und die nötigen Varianten auszulesen. Seine aus-
gebreitete bekantschaft mit der gesamten, gedruckten und ungedruckten litteratui"
seiner heimat Hess ihn überdies im vereine mit seinem bewunderungswürdigen gedächt-
nisse stets alle beziehungen gegenwärtig haben, die ihm für die erledigung irgend
einer aufgäbe von nutzen sein konten, und eine seltene kombinationsgabe gestattete
ihm aus dem reichen materiale die überraschendsten Schlüsse zu ziehen. Aber aller-
dings standen diesen glänzenden eigenschaften auch wider schwache Seiten gegenüber,
welche die ungetrübte entfaltung jener ereteren mehrfach behinderten. Die flüchtige
band, mit welcher Gudbrandur seine handschriften copierte, war manchmal eine zu
flüchtige, sodass nicht immer die lesart der handschrift in seinen ausgaben ganz ver-
GUDBRANDUR VIGFÜSSON 219
lässig wiclcrgegeljen ist. Sein voiircfliches gedächtnis verleitete ihn zuweilen zu
alzugrossem vertrauen auf dasselbe; er citiei-te vielfach aus dem köpfe, uud konte
dann hin und widor auch wol ein ungenaues, oder selbst ein geradezu falsches
citat mit unterlaufen. Seine rasche combinationsgabe verführte ihn manchmal auch
wol zu recht seltsamen ergcbnisseu, die zufolge seiner ungewöhnlich schnellen art
zu arbeiten keiner hinreichend bedächtigen nachprüfung unterzogen zu werden pfleg-
ten. Ein an sich sehr anerkennenswertes streben nach Originalität liess ihn über-
dies fremde arbeiten oft nicht beachten, oder selbst ganz ungerechtfei'tigtfn' weise
misachten, zumal wenn sie irgendwie störend in seine eigenen hoblingsansirhten ein-
griffen. Alle diese Schattenseiten seiner art zu arbeiten machen sich aber in Gud-
brands späteren Schriften weit melir fühl1)ar als in seinen früheren. Seine Übersie-
delung nach England riss ihn los von dem natürlichen boden seiner tätigkeit. Fortan
fehlte ihm der tagtägliche zutritt zu den handschriften der Arnamagna?ana und der
grossen königlichen bibliothek, uud damit die möglichkeit der benützung dieser hand-
schriften beim lesen von korrekturen, durch welche alle flüchtigkeiten von abschrif-
ten verbessert werden konten; es fehlte ferner der leichte Zugang zu den reichen
bücherschätzen, welcher vordem die richtigstellung von citaten jeden augenblick
emiöglicht hatte. Nicht minder bedenklich wirkte aber auch die trennung von einem
kreise gleichstrebender landsleute, und zumal das wegfallen des zügelnden einflusses
des treflichen Jon Sigurdsson, dessen eminente Verständigkeit verbunden mit dem
unbegrenzten ansehen, dessen er sich bei allen seinen landsleuten erfreute, gar man-
cherlei extravaganzen zurückzudrängen wüste, zu denen gerade die begabtesten sei-
ner jüngeren Schutzbefohlenen sich hinreissen zu lassen geneigt sein mochten. Es
konte nicht ausbleiben, dass Gudbrands absprechendes auftreten und die zuweilen
recht wilkürliche behaudlung der quellen in seinen späteren Schriften manche scharfe
Zurückweisung zu erfahren hatte, mochte solche nun in feinerer form wie von Ed.
Sievers (Paul uud Braime X, s. 209 u. fg.) uud Magnus- Stepheuson (Timarit hins
islenzka bokmentafelags, Y, s. 145 — 80), oder in derberer, wie von Theod. Wisen
(Arkiv f. nord. fil. III, s.202, anm. 2) und Jul. Hoffory (Göttinger gelehrte anzeigen, 1888,
s. 153 u. fg. ; jezt auch in dessen Eddastudieu I, s. 87 — 142) erfolgen; aber gegenüber
solchen auswüchsen seiner unendlich originellen, wenn auch alzu wenig methodisch
geschulten natur wird man nie vergessen dürfen, wie unsäglich viel wir dem unermüd-
lichen fleisse und dem seltenen Scharfsinn des mannes verdanken, der überdies in
seinem persönlichen auftreten von der liebenswürdigsten anspruchslosigkeit und einer
nahezu kindlichen naivität war. Ich persönlich und mancher andere mit mir werden
nie des dankes vergessen, den ich ihm für gar manche wissenschaftliche fördenmg
und für nicht wenige vergnügte stunden des zusammensems schulde; möchte dieser
rasch hingeworfene nachruf ein sprechender ausdruck der Wertschätzung sein, welche
ich dem teueren geschiedenen zolle!
MröCHEN, 13. MÄRZ 1889. K. MAURER.
MISCELLEN UND LITTEKATUE.
Poetik. Von Wilhelm Seherer. Berlin, AYeidmannsche Buchhandlung. 1888.
Xn und 303 s. 8.
Die einbildungskraft des dichters. Bausteine für eine poetik. Von
Wilhelm Dilthey. (Philosophische aufsätze, Eduard Zeller zum fünfzigjährigen
doctor-jubüäum gewidmet, Leipzig 1887, s. 302 — 482.)
220 ELLINGER
Handbuch der poetik. Eine kritisch-historisch» darstellung der theo-
rie der dichtkunst von Ilermaini "Bauniufart. Stuttgart, Cottasche buch-
handhuig. 1887. XII und 734 s. 8.
Poetik, rhetorik uud Stilistik. Akademische Vorlesungen von AVilhelm
"Wackernagel. Herausgegeben von Ludwig Sieber. 2. aiifl. Halle a. S.,
Verlag der buchhandlung ncs Waisenhauses. 1888. XII und 597 s. 8.
Poesie und prosa, ihre arten und formen, von J. Methiier. Halle a. S.,
Verlag der buchhandlung des Waisenhauses. 1889. XII imd 330 s. 8.
Man darf es als eine ungemein erfreuliche tatsaehe betrachten, dass jczt von
so vei'schiedenen selten versuche gemacht werden, umfassende lehrsysteme der
poetik aufzustellen. Niemand hat dringendere veranlassung, die förderung dieser
Studien zu wünschen, als der littorarhistoriker. Denn bei jeder littorarhistorischen
arbeit, sofern sie sich nicht auf diejenigen gebiete bezog, auf denen die philologio —
den begriff philologio im engeren sinne des wertes genommen — feste normen geschaf-
fen hatte, empfand man, ^\'ie wenig aus der bisherigen spekulativen ästhetik sowol
für den dichter als für den forscher zu gewinnen ist. Immer mehr und mehr muste
sich emem jeden, der sehen wolte, die Überzeugung aufdrängen, dass es verfehlt ist,
auf metaphysischer grundlago ein systeni der poetik aufbauen zu wollen, dass es
vielmehr versucht werden muss, ein System der poetik aufzustellen, in welchem die
gesamte litterarische produktion untersucht und klassificiert würde und in welchem
man auf giTUid dieser umfassenden durch forschung und klassifikation innerhalb gewis-
ser gi'enzen zu bestirnten normen und gesetzen gelangen könte.
Eine solche aufgäbe zu lösen, war sicher niemand geeigneter als Scherer. Und
mit tiefer trauer muss es uns erfüllen, dass es ihm nicht vergönt war, diese auf-
gäbe volständig durchzufühi'en. Scherer fühlte schon lange das unmittelbare bedüi'f-
nis nach einer vergleichenden, empinschen poetik, und nach dem abschluss seiner
litteraturgeschichte fing er an einen entwurf aufzustellen, den er einer Vorlesung
zu gründe legte. Wäre es ihm möglich gewesen, die Vorlesung mehrere male zu
halten, so hätte er beim mehrmaligen durcharbeiten des gleichen Stoffes gewiss noch
einschneidende Veränderungen vorgenommen; das gleiche wäre sicher von der aus-
arbeitung der für die Veröffentlichung bestimten form der fall gewesen. Was uns
jezt vorliegt, ist ein erster entwurf und ist als solcher zu beurteilen. Mit tiefer
wehmut habe ich diese blätter durchgelesen, denn bei jeder seite stieg die herliche
persönlichkeit des unvergesslichen , teuren mannes vor meinem äuge empor und jede
zeile rief mir aufs neue mit schmerzlicher gewalt ins gedächtnis, was wir besessen
haben und was uns nun unwiderbringlich verloren ist. Ich muste mich erst nach
mehrmaligem lesen gewaltsam von diesem persönlichen eindrucke, den das buch auf
mich machte, befreien und glaube jezt wol im stände zu sein, unparteiisch über die
mängel und Vorzüge des entwurfes rechenschaft ablegen zu können.
AVelche Schwierigkeiten sich der lösung der aufgaben, die hier zu erledigen
sind, entgegenstellen, ergibt sich gleich bei dem versuche Scherers, den umfang des
gebietes, welches zu durchforschen ist, festzustellen. Scherer stelt folgende beiden
Sätze auf: 1. nicht alle poesie ist kunstmässige anwendung der spräche. 2. nicht
alle kunstmässige anwendung der spräche ist poesie. Dem zweiten dieser sätze ist
zweifellos auch dann zuzustimmen, wenn man, wie Scherer, alle prosaischen reime-
reien des .sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts zur poesie rechnet; denn manche
anwendungen der kunstmässigen rede, wie z. b. die predigt, die rede u. ä. wird man
gewiss nicht für die poesie in anspruch nehmen, obschon es selbstverständlich nicht
ÜBER SCHRIFTEN' ZUR BEüTSCHEX POETIK 221
ausgeschlossen ist, dass beispielsweise die predigt pootisclieu Charakter aimiint, ja gera-
dezu sich der poetischen form l)edient, wie in der Bamberger jiredigt. Eine andre frage
ist dagegen, ob der zweite satz, so wie ihn Scherer formuhert, als richtig anzuerkeu-
ist. Scherer sucht ihn damit zu beweisen, dass er das ausdeuken eines baliets, also
einer zusammenliängendeu dramatischen handlang, bei wrlcher nicht gesprochen wird,
füi- einen akt poetischer ei-findiing erklärt. „ Das kunstwerk entsteht erst, wenn
agiert wird, und das geschieht ohne s])rache. AW'nn vollends einer eine selbstcrfim-
dene pautomime aufführt, nach seinen eigenen gedanken, nach seiner eigenen erfin-
dung, — so braucht er die spräche überhaupt nicht; und dennoch kann dies ein
dichterisches kuustwerk sein. Es gibt also aktiou, tanz, gcbilrdenspiel ohne spräche,
wobei gleichwol ein poetisches kunstwerk entsteht."' Ich glaube nicht, dass diese
folgerungeu, so wie sie hier gezogen werden, überall richtig sind. Das ausdenken
eines baliets kann man doch kaum einen akt poetischer ertindung nennen. Es ist
nur ein akt kuustmiissigcr eründung, nichts anderes, als wenn der maier ein grösse-
res bild entwirft und die einzelnen gestalten im geist gruppieit. Zu einem poeti-
schen kuustwerk wird ein solches ballet erst, wenn das wort zu hilfe genommen
wird, um den einzelnen personeu ihre stellimgen oder ihre funktionen anzuweisen;
so wii'd man gewiss nicht anstehen, Heines tanzpoem vom doktor Faust als eine art
von poetischem kunstwerk anzuerkeuneu. Aber diesen fall schUesst Scherer aus-
drücklich aus. — Auch Schcrers beziehung auf die oper ist nicht völlig zutreffend,
sondern es wird durch dieselbe weiter nichts bewiesen, als dieses, dass wir es hier
nicht mit einem rein poetischen, sondern mit einem gemischten, poetisch - musika-
lischen kunstwerk zu tun haben; und dass die oper erst dann vollendetes kunstwerk
wird, wenn die musik zum werte hinzutritt, trägt zum beweise jenes satzes nichts
bei. — Der satz kann daher, so wie er hier formuliert wird, nicht anerkant werden
und nur wemi man die Verhältnisse, die hier augedeutet sind, rein historisch erfasst,
kann man zu einer richtigen präcisierung desselben gelangen, die etwa folgender-
masseu lauten w^ürde: In den ältesten zeiten erscheint die poesie niemals allein als
kunstmässige anw'endung der spräche, sondern sie ist immer verbunden mit tanz und
musik, ja es kann zuweilen vorkommen, dass, wie beim taubstummen die Zeichen-
sprache die wirkliche spräche ersezt, die pantomime geradezu als mittel des poetisch -
dramatischen ausdrucks dienen muss, weil die spräche selbst dazu noch nicht im
Stande ist. Erst almählich lösen sich die einzelnen künste, poesie, musik und tanz
aus ihrer Verbindung los.
Einen ähnlichen satz stelt Scherer später auch auf (s. 16), indem er die ein-
zelnen ablösungsakte genauer präcisiert. Er führt die ältesten foraien der poesie auf,
wie wir sie heute noch bei den naturvölkern finden: chorlied: Sprichwort, mährchen.
Das chorlied erscheint in den ältesten zeiten und auch heute noch bei den naturvöl-
kern, zum teil auch noch bei uns, wie wir es bei den bauern und den kindern
beobachten können, mit dem tanz verbunden. Zunächst hat dann die ablösung vom
tanz statgefunden ; indem dann das chorhed zum einzelHed wird, erfolgt langsam
auch die ablösung von der musik. Rechnet Scherer nun alle gebundene rede zum
forschungsgebiete der poetik, so erhebt sich die frage, was von der ungebundenen
rede hinzuzui'echnen ist. Von den für- die älteste zeit anzunehmenden formen der
poesie erscheint seit sehr fniher zeit das mäkrchen in ungebundener rede, für die
anderen gattungen aber überwiegt die poetische form, so dass dieselbe in der älteren
litteratur aller vÖlker auch für den wissenschaftlichen vertrag, die Inschrift, wol auch
für die politische rede verwendet wird. Almählich aber — vortreüiche beispiele
222 ELLIXC.F.R
bietet für diesen vorgaug die deutsche litteratur des fuufzolmteu und sechzehnten
Jahrhunderts — wird für einzelne gattungen die gebundene rede von der ungebun-
denen abgelöst.
Für alle formen ungebundener kunstniässiger rede, soweit sie nicht von vorn-
herein ihre beziehung auf die poesie ausschliessen, wäre auch die gebundene form
müglieh, z. b. für roraan, novelle, mährchen, fabel; ja sie ist häufig auch dafür ver-
wendet worden. So stehen diese formen in der unmittelbarsten verwantschaft zu den
formen der gebundenen rede, z. b. der roman zum epos, die novelle zur poetischen
erzählung. Demnach kann mau der abgrenzung des gebiets der poetik, wie Scherer
sie s. 32 gibt, wol zustimmen: die poetik ist vorzugsweise die lehre von der gebun-
denen rede; ausserdem aber von einigen an Wendungen der ungebundenen, welche mit
den anweodungen der gebundenen in naher verwantschaft stehen.
Mit vollem recht stelt Scherer an den anfang seiner untersucliungeu die frage
nach der entstehimg der poesie. Um den dichterischen prozess volständig beschrei-
ben, um die allen dichtem gemeinsamen züge sammeln zu können und dergestalt zu
einem richtigen gesamtbilde vorzudringen, dürfen wir nicht bei den dichterischen
erzeugnissen hochentwickelter kulturepochen stehen bleiben \ wie etwa bei der litte-
ratur der Griechen seit den homerischen gesängen, sondern wii- müssen versuchen,
uns auf grund der poetischen gebilde der naturvölker, die zu einem solchen zwecke
freilich erst einer umfassenden klassifikation unterworfen werden müste, die ei-sten
Stadien der entwicklung der poesie überhaupt zu vergegenwärtigen. Erst wenn wir
so zu den „urzellen, den primären, einfachen lebensformen der poesie" aufgestiegen
sind, ist es möglich, eine volkommen ausreichende beschreibung der dichterischen
Organisation zu geben. Die herlichen hinweise, die Herder in dieser beziehung gege-
ben hat, sind ein Jahrhundert lang fast unbeachtet geblieben oder wenigstens doch
nicht in ihrer ganzen fmchtbarkeit erkant worden. Also die frage nach der entste-
hung der poesie ist eine kardinalfrage der poetik und mit recht verlangt Scherer,
dass sie zunächst gestelt und beantwortet werde. Ob diese frage in dem vorliegen-
den entwurf nun auch schon gelöst ist? Ich glaube nicht. Es ist notwendig, hier
die bemerkungen folgen zu lassen, in denen Scherer die resultate seiner Untersuchun-
gen über die entstehung der poesie zusammenfasst. „Die poesie", sagt er, «entspringt
aus dem ausdrucke des Vergnügens dui-ch springen, jubeln, lachen. Der ui'spi-üng-
liche gegenständ ist vermutlich erotischer natur, doch sind ^delerlei gegenstände
möglich. Der poetische erfinder schlägt ein fest vor, wobei eine angenehme, ver-
gnügliche Vorstellung geweckt wird durch symbolische haudlungen. mit denen sie
durch Worte ausdrücklich assocüert wird, und wo eine weitere Verbindung mit den
alten ausdi-ücken des Vergnügens, mit springen und singen statfindet. Springen und
singen sind von alters her mit vergnügen assocüert und dadurch geeignet, Vorstel-
lungen des Vergnügens hervorzurufen." Durch die analyse der momente, die wir
bei einem von Scherer herbeigezogenen, mit tanz verbundenen australischen chorlied
li Sehr richti? äussert Dilthey über diesen punkt, a. a. o. s. a39: ,,das wesen und die funktion
der kunät können nicht mit der idealistischen ästhetik an dem höchsten ideal derselben, das wir heute
za fassen im stände sind, erkant -werden. Die meisten theorieen der geistigen weit aus der zeit der
deutschen Spekulation zeigen diesen fehler, Wa-s sich unter den günstigsten bedingungen entwickelt hat,
darf nicht als antrieb in die ganze reihe von erscheinungen verlegt -werden , in denen dieser lebenskreis
sich entfaltete. Die kunst ist überall, -wo etwas, sei es in tönen ofler einem festeren material, hin-
gestelt wird, das -weder der erkentnis des wirklichen dienen noch selbst in Wirklichkeit übergeführt wer-
den soll, sondern für sich das Interesse des anschauenden befiiedigt."
ÜBER SCHEIFTKN ZUR DEUTSCHEX .POETIK 223
beobachten können, versucht Scherer zu beweisen, dass es sich „immer um ein
vergnügen handelt, um die weckuug angenehmer tätigkeiten und Vorstellungen auf
eine angenehme weise. Für die angenehme weise tritt schon als charakteristisch
hervor: das vergnügen der vergleiehung zwischen einem dargestelten gegenständ und
dessen darstellung. Die darstellung ist auswählend, andeutend, symbolisch; keine
volst.ändige naehbildung.""
Ich habe an diesen darlegungon zweierlei auszusetzen. Einmal sind die alge-
nieinen rellexionen, auf denen Scherer zu diesen resultaten gelangt, nicht völlig ein-
leuchtend und zwingend und zum andern gründet sich dies ergebnis auf ein zu
geringes historisches material. Dem einen australischen liedchen, an dem Scherer
seine theorie dartut, Hessen sich viele erzeugnisse der natui'poesie entgegenstellen,
zu denen die tlieorie eben nicht passt. Gewiss ist das vergnügen für die entstehung
der poesie ein wichtiges moment, aber es ist keineswegs das einzige: der schauer
vor der gottheit, die furcht, die trauer sind ganz in dem gleichen masse herbeizu-
ziehen. Fals ich auf grund meiner geringen kentnis der uaturpoesie eine Vermutung
über die entstehung der poesie geben solte, so müste sie folgendermassen lauten:
die poesie entsteht überall da, wo ein erlebnis aus dem kreise gewisser seelenstim-
niungen — sie sind soeben angegeben: schauer vor der gottheit (kultushandlung),
furcht (vor bösen göttern; Waitz führt ähnliche lieder auf), trauer (um den toten bei-
den) \ weiter wiire auch hass und zorn hinzuzurechnen (kämpf gegen die feinde) —
eine dafür besonders empfängliche seele in lebhafte erregung versezt. Die erregung
ist die quelle aller poesie, wie wir das heute noch an kindern und eingebildeten
leuten sehen kömicn, die in furcht und aufregung dinge hören und sehen, die
nicht vorhanden sind oder die in dieser Stimmung das, was sie wirklich gesehen
haben, bis ins ungeheure vergrössern. Es ist dieselbe kraft, die im dichter wirk-
sam ist, wenn ein erlebnis, an dem ein anderer mensch gar nichts aussergewöhn-
liches finden würde, so in seine seele fält, dass er fühlt: hier sind die grundlinien
zu einem kunstwerk gegeben. Der dichterische prozess wird also in den frühsten
Zeiten kaum anders gewesen sein, als in unserer zeit. Nur sind zweifellos die kreise
viel enger gewesen, aus denen ein erlebnis die dichterische Stimmung zu wecken im
stände war. Und ich halte es für möglich, diese kreise bis zu einer gewissen genauig-
keit auf grund der natiu'poesie zu bestimmen; denn dass sie mit den oben gegebenen
andeutungen nicht erschöpft sind, liegt auf der hand.
Daiin, dass Scherer den Ursprung der poesie allein im vergnügen sieht, liegt
der grund für die tatsache, dass ihm die ableitung des Vergnügens an tragischen
1) Auf diesen punkt weist Scherer allerdings hin , aber er betont niu* einen teil der fragen , die
dabei in betracht kommen. S. 97: „Eine gewiss alte gattung der poesie sind die klagelieder um einen
gefallenen häuptling, beiden, geliebten, anii-ehörigen. Solche lieder fallen zum teil unter abschnitt 1,
[wo davon die rede ist, dass aussprechen, mitteilen der trauer von der empfindung des sclimerzes abzieht
und dass in dem aussprechen des traurigen und schmerzlichen erfahningsmässig ein trost liegt, vgl. auch
unten s. 224, wo auch auf das tröstende hingewiesen wird , das in der teilnähme anderer an dem eigenen
schmerze liegt]. Aber ausserdem ist der fest- und trauei-pomp, ja der trauerschmaus ein vergnügungs-
moment. Ferner fand schon Aristoteles in den klagegesängen als ein eleinent des Vergnügens : die erin-
nerung an den toten und die vergegenwärtigung dessen , was er getin und wie ers getan ; also alles prei-
sen des toten erweckt eine angenehme vorsteUung. Analogos können wir noch heut erfahren. MüUenhoff
schrieb mir: ,,der tod ist der treueste freund des menschen, weil er erst das volkommene bild der per-
sönlichkeit gibt.'" Endlich sind die trauergesänge vielfach verbunden mit dem kultus der abgeschiedenen
Seelen, mit manen - kultus ; dieses beniht darauf, dass die seele fortlebt, und das lied soll den toten
geneigt machen , seine kraft oder seinen willen zu schaden einzuschränken ; es dient also zur besänftigung
des gespenstes."
224 . tlLLIKGIiR
o-eo^enständen so grosse scliNvierigkeiteu bereitet. Wenu die poesie zunächst bloss ein
ausdruok des Vergnügens ist. dann ist es allerdings unbegreitlich , wie der mensch
dazu gekommen sein soll, am unaDgeuehmcn oder an der daistellung desselben freude
zu linden. Sehen wir aber von der Voraussetzung Scherers ab, so bietet das interesse
des menschen (auf niedriger kulturstufe) au unangenehmen gegenständen kein alzu-
schwieritres problem. Dilthey hat mit recht auf das bedürfnis der menschlichen
natur nach mächtigen, wenn auch mit starker imlust verbundenen erregungen, wel-
ches nicht auf die erzeugung eines maximums von lust zurückgeführt werden kann,
hiuo-ewiesen. Die frage, wodurch dasselbe entsteht und wie diese eigenschaft des
Organismus zu erklären ist, hat meines erachtcns der physiolog und psycho physiker
zu lösen, die rein empirischen gründe, die Scherer anführt, reichen entschieden nicht
aus, obgleich einzelne dei-selben für die weitere ausbildung des Vergnügens an tra-
gischen gegenständen sicherlich in betracht gezogen werden müssen, so z. b. die
erleicht^i'rung. die der mensch diu'ch das aussprechen des Schmerzes, der ihn drückt,
empfindet.
Ich habe damit die punkte bezeichnet, bei denen ich glaube, dass sich die
grundanschauungen, von denen Scherer ausgegangen ist, nicht halten lassen. Trotz-
dem sind aber auch in diesen abschnitten des buches auf schritt und tiitt die fein-
sten beobachtungen zu finden, an welche diejenigen, die die Wissenschaft der poe-
tik weiter ausbauen wollen, beständig anzuknüpfen haben werden (man vergleiche
namentlich die ausführungen in dem abschnitte über die entstehung der poesie über
die vorbereitungsstufen füi- tanz und chorlied sowie über die associationsvorgänge und
das sj-mbohsche in der älteren dichtung). — Muste ich aber m den angeführten
abschnitten gegen die grundanschauungen und die hauptresultate Scherers polemisie-
ren, so kann ich um so freudiger anerkennen, dass in allen übrigen partieen des
buches Scherer bei den fragen, die er behandelt, zu einer befriedigenden lösung
gelangt oder einer solchen mindestens doch sehr- nahe gekommen ist. Alle diese
abschnitte bieten die reichste belehi'ung und eine fülle der anregung, namentlich für
den litterarhistoriker. Es ist damit selbstverständlich nicht ausgeschlossen, dass auch
die in den späteren partieen niedergelegten anschauungen nicht noch mancher bench-
tigung und ergänzung bedürfen; das ist bei einem ersten entwurf, wie war ihn vor
uns haben, unvermeidlich. Aber der belebenden kraft dieser gedanken wii'd sich so
leicht kein einsichtiger entziehen können. Über den wert der poesie stelt Scherer
vortrefliche beobachtungen zusammen. Er behandelt zunächst den tauschwert der
poesie, wobei er diejenigen mächte, welche für die jeweilige fixierung dieses wertes
in frage kommen, sowie die bedingungen, unter denen diese faktoren segensreich
oder unheilvoll wirken, volkommen richtig und scharf bezeichnet; er führt den
unterschied zwischen kunst- und Volksdichtung im wesentUchen auf den unterschied
zwischen geschriebener und imgeschriebener poesie zurück und er betrachtet dann
durchaus als unparteiischer beobachter und mit gerechter abwägung den idealen
wert der poesie und die fi-age nach der sitlichen Wirkung derselben. Hieran schliesst
sich eine in ihrer knapheit glänzende darstellung und Vertiefung von Lachmanns
theorieen. doch wird nicht bloss die beteiligung mehrerer dichter au einem werk
in betracht gezogen, sondern auch auf stil unterschiede hingewiesen, die sich bei
werken geltend machen, welche von einem dichter heri-ühren und zwar in dem
fall, dass die arbeit, mehrfach unterbrochen, sich auf verschiedene epochen seines
lebens verteilt. Bei dem ersten punkte ist sehr richtig auf das Volkslied des sech-
zehnten Jahrhunderts hingewiesen; eine eindringendere Untersuchung der Volkslieder
ÜBER SCHRIFTEN' ZUR DEUTSCHEN POETIK 225
nach ihror zusammonzotzuna". nach der frage dos hinointragons von stcllon dos einen
Volksliedes in ein anderes, das etwa im stoff oder in der Situation analoge Vorgänge
bietet, würde noch wichtig« • beitrüge zu diesem kapitel liefern. "NVcitor wird eine
uutei-suehung über die schaffenden seelenkräfto l)egonnen ; dio iihantasie fühii Scherer
im wcsentlicben auf reproduktion zurück; die aufgäbe, welche bei dor künstleiischen
arbeit dem verstände, der dio phantasie zu beherschen hat. ohne dass er sieh an
ibre stelle drängen darf, wird gekenzeichnot — schön sagt Schercr s. 160: „Ein samen
fält : und es entspriosst sofort ein ganzes blumcnbeot, aus dem der dichter die wähl
hat, zu pflücken was ibm belit^bt. Das blumcnbeet liefei-t die phantasie; bei der
auswahl des pflückens muss der verstand helfen'^ — und die verschiedenen methoden,
deren sich die phantasie bei der Umwandlung der in der erinuerung aufbowahi-ton
tatsachen bedient, kurz charakterisiei-t. Die verwantschaft der künstlerischen anlagen
mit den dispositionon zu abnormen geistigen zuständen behandelt ein besonderer
abschnitt. In den ausführungen über die einteilungen der dichter werden die bis-
herigen klassifikationsversuche kritisiert, insbesondere Schillers einteilung in naive
und sentimentalische dichter, welche im wesentlichen zurückgewiesen wird. «Es
sind, sagt Scherer s. 183 fgg., sehr mannigfaltige einteilungen der dichter möglich —
die abstufungen sind einerseits so mannigfaltig wie die Charaktere der Individuen
überhaui)t, andererseits gibt die ganze poetik in allen ihren teilen motive imd gesichts-
punkte an die band für Verschiedenheiten , weil da ganz verschiedene methoden mög-
lich sind. Die Charakteristik eines dichters zu entwerfen, ist daher ausserordentlich
schwer. Aus all solchen eigentümlichkeiten , sofern sie in den werken der dich-
ter sich ausiu'ägen, sezt sich der persönliche stil zusammen. — Eins aber gehört
hierher, in den Zusammenhang dieses kapitels, ein unterschied in der Produk-
tionsweise der dichter, ob ohne nicksicht auf publikum oder mit rücksicht auf
publikiun."
Damit hat Scherer einem gedanken ausdruck gegeben, der meines wissens in
der bisherigen poetik und ästhetik noch niemals aufgetaucht und der doch von ganz
ausserordentlicher fnichtbarkeit ist. Dass er uns so selbstverständlich erscheint,
beweist nur, dass er durchaus zutreffend ist, aber nicht etwa, dass seine aufstellung
unnötig wäre. In welcher weise der hörer- oder leserkreis, mit einem worto das
publikum, auf den dichter wirkt, ihn beeiuflusst, ihn zu Zugeständnissen nötigt, ist
eine frage, die erwogen worden muss und die bei der betrachtung fast jedes littera-
turwerkes von höchster Wichtigkeit ist. Die vortreflichsten belege bietet dafür wider
die geschichtc unsrer eignen dichtung, bei deren betrachtung der historiker auf
schritt und tritt auf die wechselnde Zusammensetzung des publikums rücksicht zu
nehmen hat; man sehe sich nur das zwölfte und dreizehnte, das fünfzehnte und sech-
zehnte, das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert nach dieser richtung hin an. Wir
erfassen die litterarischen gegensätze der Zeitalter viel besser, wenn wii' etwa das
ritterliche publikum um die wende des zwölften und dreizehnten jahrhundci-ts, das
den liedern Reinmars und Walthers lauschte und für das Heiniich von Veldeke und
Wolfram dichteten, vergleichen mit dem bürgerlichen publikum des sechzehnten Jahr-
hunderts, das sich an den wüsten zoten Michael Lindeners und Jakob Freys ergözte,
aber doch noch innerliche kraft genug besass, die Schriften Luthers und seiner mit-
streiter voll und ganz auf sich wirken zu lassen. — Ähnlich wie die gesetze, die
sich für die funktioneu der schaffenden Seelenkräfte aufstellen lassen, sucht Schercr
nun auch die gesetze für die geniessenden seelenkräfte zu ermitteln, d. h. die bedin-
gungen, unter denen ein dichterisches werk auf den leser oder hörer einen bestimten
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 1^
226 ELLIXÖER
beabsichtigton oindruok auszuüben im stände ist. Zum teil schliosst er sich dabei
den aufstelhnigen von Fechnor an.
Aus den beiden lezten abschnitten, welche die stofTc, die innere und die
äussere form behandeln, kann liier nur das wichtigste herausgegriffen werden. Sche-
rer ver.sucht die motive^ zu klassifizieren, welche dem dichter zu geböte stehen; was
er bietet, sind selbstverständlich nur die grundziige einer algenieincn motivenlehre,
welche noch im einzelnen ausgebaut werden müste. Wie in der bctrachtung über
den wert der poesie, verhält sich Scherer auch in der darstellung der Wirkungen,
welche die stofTe hervorbringen, grundsätzlich als unparteiischer bcobachtcr. Er
begnügt sich damit zu beschreiben, will al)cr keine gesetzo aufstellen. Dennoch
gelangt er zu einer bestimten weii-unterscheidung der klassen der Wirkungen, welche
im wesenthchen darauf liinausläuft, dass derjenigen poesie, welche edle gefülilo
anregt, ein höherer wert zuzuschreiben ist, als eine poesie, welche sich damit
begnügt, auf die niederen triebe zu wirken. ,,Ich sage nicht, liemerkt Scherer s. 220,
die poesie soll liobe gefühle anregen, sondern ich sage dem dicliter: wilst du die
auerkennung der edlen, so zeige dich edel. Genügt es dir z. 1). die niedere tierische
siulielikeit der menschen anzuregen, so tue es. Aber sei darauf gofasst, dass die
menschen dich betrachten als ein Werkzeug niedriger lüste und dich nicht hoher
achten als eine käufliche schöne. Dies gesetz bei'uht auf unserem anteil: wir dehnen
die Wirkung des Stoffes auf den autor aus. "Wir denken uns in die Situation selbst
hinein; führt uns der dichter durch kloakcn, so stinkts eben und wir fühlen uns
beschmuzt, wenn wir auch für die tcchnik bewundcrung haben. Er sagt: „Ich will
nur wahr sein.*^ Nun denn, das ist ein ehernes gesetz: wenn etwas angeregt wird,
was wir selbst verachten, dann dehnt sich dies gefüLl aus auf den, von dem jene
anregung ausgeht. Da hilft all sein reden nicht, wenn er uns hässliches vorfühif.
Der dichter hat danach die wähl. Der weise dichter wird mindestens die gegen-
stände in kontrast bringen und so unsern blick auf die totalität lenken." — Der
abschnitt: Innere form untei"scheidet bei der behandlung der stoffe zwischen objek-
tiver behandlung (die Unterabteilungen sind aus Scherers litteratui'geschiciite bekant:
naturalismus, idcalismus, typischer realismus) und subjektiver darstellung (die gat-
tuugen derselben sind: liumoristisch; satirisch; elegisch; idyllisch). — In dem
abschnitt: Äussere form liegt der haui)tuac]idruck auf den betrachtungen über die
grundformcn der darstellung, wälirend die bemerkungcn über komposition, spräche
und metrik etwas obenliin behandelt werden mustcn. Von den Unterabteilungen des
abschnittes über die grundformen der darstellung sei namentlicli das stück: die arten
der rede hervorgehoben; die dort gegebenen einteilungen werden sich namentlich,
1) Sehr richti? sai^ Scherer s. 212: ,,Das liaaptmotiv wird zuweilen idee j^enant. Mit diesem
wort ist ein farchtharer nnfug getrieben worden. Ich möchte vorschlagen , den ausdruck fallen zu lassen ;
wir sagen dafür stoff, thema, Vorwurf, haujitmotiv. "Wir Lehalten den ausdruck höchstens bei für eine
l>estimte cruppe von werken: für die Uusserlirhe einheit eines godichts, die durch ein Fabula dncet ent-
steht, wie Goethe von der idee des Faust spriclit. Da indessen deutsche dichter dos 19. Jahrhunderts
unter dem einflass einer ästhetik standen , welche überall von ideen sprach und darunter gern algemeine
Sätze verstand, die sich in den dargcstelten fallen verwirklichen, so muss man für die beurteilnng sol-
cher werke auch mit der ästhetik ihrer autoren, d. h. mit den ästhetischen ansichten dieser schriftsteiler
und ihrcT ästhetischen terminologio rechnen. "Wenn ich freilirh einen volständisren roman um soirh einer
,,idee" willen lesen soll, dann sage ich mir: üint de bniit pour une omeletle ! Die Schilderung des
lebens wird da zu einer fabel degradiert. "Wo man an die grossen weltdichter herantritt: Homer, Shake-
speare , Goethe , da handelt es sich um mehr als eine solche idee. Stoffe , motive bietet das Verhältnis
des Achiileus zu Agamemnon, aber nicht einen einzelnen moralsatz."
ÜBER SCHRIFTEN ZUR DRUTSCHF.N POETIK 227
wie Schcrcr bereits mehrfaoli liervoi'f^iehobon liat, fiir eine l)Cssorc klassifikation der
lyrik vortro flieh verwerten lassen.
Soll ich nun den gesaniteindruck formulieren, den das buch bei kühler abwä-
gung auf mich hervorbringt, so meine ich: es ist unbestreitbar, dass Bcherer das
unvergleichliche verdienst gebührt, zum ersten male die grundsätze einer verglei-
chenden empirischen poetik fest formuliert zu haben. Keine legislative, sondern
eine desci'iptive poetik! Beschreibung der vorhandenen und inöglicbcn formen der
Produktion. Keine subjektiven ui-tcile über wertunterschied(% — uiteilc, die bloss
die persönlichen anschauungen des ästhetikers widerspiegeln — sondern nur bestim-
iiumgen, wie sie sich mit der beschroibung des vorhandenen als unmittelbare resul-
tate ergeben. Eine poesie, die auf die edelsten menschen aller zeiten gewirkt hat,
wird gewiss einen höheren wert für sich in anspruch nehmen dürfen als irgend eine
andere: das ist ein wertuiieil, wie es unmittelbar aus der betrachtung der vorhan-
denen arten und formen der Produktion und ihrer Wirkungen hervorgeht; vor weiter-
gehenden bestimmuugen hat sich die poetik zu hüten.
Das auf dieser grundlage aufgebaute gebäude ist gewiss nicht flecken- und
fehlei'los. Das liegt nicht allein an der ungleichen Verteilung des stofTes, welche
durch die Zufälligkeit der entstehung bedingt ist, sondern es ist vor allem darin
begründet, dass die schwierigen probleme, die hier aufgestelt worden sind, sich
nicht auf den ersten w'urf lösen lassen. f]s ist Scherer meines erachtens nicht gelun-
gen, die quelle der schöpferischen kraft zu bestimmen, weil er eine der mächte,
welche diese quelle zum fliessen bringen, verwechselte mit der quelle selbst. Auf
dieser unrichtigen Voraussetzung ist noch eine reihe von Schlüssen aufgebaut, die
mit der Voraussetzung hmfällig werden. Ferner ist es nicht zu bestreiten, dass aus
einem zu geringen oder zu beschränkten materiale oft zu weit gehende Schlüsse
gezogen und veralgemeinei-ungen von einzelfällen vorgenommen werden, die nicht zu
billigen sind. Alle diese mängel aber verschwinden vor den grossen Vorzügen des
entwuifs, vor der anregenden und belebenden kraft, die von ihm ausgeht. Für
die geschichte dieser Wissenschaft wird Scherers poetik ein markstein sein; für
Scherers freunde ist das buch ein neues abbild der herlichen persönlichkeit, die es
geschaffen.
Eine vortreflichc ergänzung hat Scherers poetik in der abhandlung Diltheys
gefunden, die als ein überaus wertvoller beitrag zu einer vergleichenden i)Ootik zu
bezeichnen ist. Mit Scherer ist Dilthey davon überzeugt, dass die bisherige speku-
lative üsthetik die fühlung sowol mit der dichterischen produktiou als mit der litte-
i'aturgcschichte verloren hat, mit Scherer teilt er den Widerwillen gegen eine ledig-
lich legislative poetik. Von der dichterischen individualitiit geht Dilthey aus und
durch die beschroibung der Organisation des dichters sucht er algemeine normen für
das dichterische schaffen zu gewinnen. Er will nicht, wie die idealistische üsthetik,
dem dichter wilkürliche schranken setzen und nicht den törichten versuch machen,
die poetische Schöpferkraft einzudämmen, sondern er sucht durch eine betrachtung
der vorhandenen erscheinungsformen der poesie und durch eine beschroibung der natur
des dichters zu gesetzen zu gelangen, die im stände sind, dem dichter eine leitung,
dem htterarhistoriker feste ausgangspunkte für die l)eurteilung zu gewähren. «Das
leben, sagt er s. 415, verlangt gebieterisch eine leitung durch den gedankeu; kann
eine solche auf metaphysiscbem wege nicht hergestelt werden, so sucht es einen
andern festen punkt. Dürfen wir diesen nicht mit der veralteten poetischen technik
in den meisterbildern einer klassischen epoche suchen, dann bleibt nur übrig, in der
15*
228 ELLINQER
tiefe der monsehlichon nntur solbor uiul in dem zusaininenhanc, des geschichtlichen
Kobens solche geschiehtliclien nachforschungen {inznstelleu."
Von diesem Standpunkt aus liat Dilthey zunächst die elementare fanktion des
dielitei-s darzustellen und deren grundlage zu ermitteln gesucht. Er findet, dass
diese funktion bedingt ist durch die gri»ssere cnergie gewisser seelischer Vorgänge:
dor dichter unterscheidet sich von anderen menschcMi zunächst durch die intcjisität
und genauigkeit der wahrnehmungsbilder, die mannich faltigkeit derselben und
das interesse, das sie begleitet. Er unterscheidet sich alsdann durch die klarlieit
der Zeichnung, die stärke der emi)findung und die energie der projektion, welche
seinen erinnerungsbildern und den gebilden aus ihnen eigen sind. Mehr noch
unterscheidet er sich durch die kraft, mit welcher seelische zustände, selbst-
erfundeue, an anderen aufgefasste, folgerecht ganze begebonheiten und cliaraktere,
wie sie in der Verknüpfung solcher zustände bestehen, von ilim nachgebildet w^erden,
der dichter untei-scheidet sich auch durch die energische beseelung der bilder
und die so entstehende befriedigung in einer von gefühlen gesättigten anschauung.
Aus alle dem ergibt sich, dass die grossen dichter von einem unwiderstelilichen
dränge vorangetrieben werden, erlcbnis irgend einer mächtigen art, das ihrer natur
gemäss ist, zu erfahren, zu widerholen und in sich zu sammeln. Der dichter unter-
scheidet sich endlich dadurch, dass sich in ilim die bilder und deren Verbindungen
frei über die grenzen des wirklichen hinaus entfalten. Er schaft Situationen,
gestalten und scliicksale. welche diese Wirklichkeit ülierschreiten. (S. 341 — 349.)
Um zu bestirnten normen für das dichterische schaffen zu gelangen, versucht
nun Dilthey eine psychologische erkläi-ung des dichterischen Schaffens zu geben. Soll
ich über diesen umfangreichen teil der arbeit meine meinung sagen — so weit ich
als laie bei der beui-teilung rein psychologischer fragen dazu im stände bin — so
muss ich auch hier anerkennen, dass die Untersuchung im ganzen mir ungemein
fördernd für eine erkentnis des wesens der poesie erscheint ^ Dilthey sucht zu zei-
gen, aufweiche weise die bilder in der seele des dichters entstehen und festgehalten
werden, wie das kunstwerk sich aus Wahrnehmungen zusammensezt und diese ein-
drücke durch ausschaltung von bestandteilen, durch steigemug und minderung sowie
durch ergänzung verändert und umgebildet werden. So sehr ich im prinzip mit dem
Verfasser einverstanden bin, so kann ich in mehreren einzelnen fragen dieser Unter-
suchung jedoch nicht mit ihm übereinstimmen — der mir für diese besprechung zu
geböte stehende räum verbietet es mir leider, mich im einzelnen mit dem Verfasser
auseinanderzusetzen. Auch vermag ich bei mehreren punkten den faden nicht auf-
zufinden, der von hier aus zu dem Iczten teile der abhandlung hinüberführt.
Dieser teil, in welchem der Verfasser eine theorie der poetischen technik, wie
sie auf der entwickelten psychologischen grundlegung aufgebaut werden kann, zu
skizzieren versucht, verdient ganz besonderes lob und sei allen litterarliistorikern zu
eindiinglichem Studium empfohlen. Es ist an dieser stelle uimiöglich auf alle die
einzelnen feinen bemerkungen und fruchtbaren godanken einzugehen. Wie Scherer
da.s publikum und dessen bedeutung für die entwickluug der poesie als eine wichtige
lehre df^r poetik bezeichnet und dnr lehre vom ])ublikum demzufolge eine ausführliclie
dai-stellung gewidmet hat, so analysifrt Dilthey den eindnick, den das dichteiische
kunstwerk auf die seele des lesers odei' hörers hervorruft und bezeichnet mit recht
1) Namentlich sei dabei auf die schöne untersuchuni? über die gefühlskreise und die aus ihnen
sich ergeh»enden ästhetischen elementargesetze verwiesen ; vgl. besonders s. 366 fg. und s. 371 ig.
ÜBEK SCHRIFTEN ZUR DEUTSCHEN POETIK 229
diesen Vorgang als einen mit deni dichtorisclien sclui(T<'n vurwaiiten [irozess. Ricli-
tiger als Scherer sieht er meines erachteus in der frage nach der entstehung der
poesie *. Dagegen stimt er mit Scherer übereiii in der abweisung des unl'ugs, den
man mit dem wort: idee getrieben und in dei- bezeichnuiig der bctraclitungsweiso,
die an die stelle der soeben genanten zu treten hat. „Jedes lebendige werk grösse-
ren umfaiigs hat seinen stofl' in einem eiiobten, tatsachlichen und drückt in leztcr
instanz nur erlebtes, gofühlsniässig umgestaltet und vcralgemcinert, aus. Daher tlarf
in der dichtung keine idee gesucht werden. "* S. ±37. „An dem stoll' drr wii'klichkeit
wird durch den (.lichterischen Vorgang ein lebensverhältuis in seiner bedeutsamkeit
aufgefasst; was so entsteht, ist eine triebkraft, durch welche transformation in das
[»oetisch bewegende erwirkt wird. Das lebensverhältuis, so orfasst, gefühlt, vuralge-
meinert und dadurch Wirkungskraft dieser art geworden, wird motiv genant. In einer
grösseren dichtung wirkt eine anzahl von motivcn zusammen. Unter ihnen muss ein
herschendes die triebkraft haben, die einheit der ganzen diclitung hei'zustollen. Die
zahl möglicher motive ist begrenzt, und es ist eine aufgäbe der vergleichenden lit-
teraturgeschichte , die entwicklung der einzelnen motive darzustellen.'^
Ich muste bei den beiden arbeiten länger verweilen, weil sie von ganz neuen
gesichtspunkteu aus eine betrachtungsweise in der poetik austrel)en, deren ungemeine
fruchtbarkeit sich schon jezt erkennen lässt, von tag zu tag aber immer mehr her-
vortreten wird, zumal wenn noch mehr arbeiter ihie kräfte dem ausl)au der Wissen-
schaft widmen werden. Die ausgangspunkte der lieiden forscher sind nicht miteinan-
der identisch, ebensowenig ist es ihre methode; dennoch kann man beide betrach-
tungsweisen leicht mit einander vereinigen, wie sich schon daraus ergibt, dass Sche-
rer und Dilthey vielfach zu den gleichen resultaten gekommen sind.
Begründeten diese heiden Schriften eine ganz neue auffassung der i)oetik, so
wandeln die drei anderen bücher, die uns hier beschäftigen, im wesentlichen in den
balmen der traditionellen ästhetik. Die Vorzüge wie die mängel des lehrbuches von
Wackernagel, das jezt in zweiter aufläge vorliegi, sind algemein bekant. Die lezte-
ren ergeben sich aus der wilkürlichen konstruktion und der damit zusammenhängen-
den, sehr häufig sich geltend machenden, einseitigkcit der ästhetischen betrachtung.
Die Vorzüge dagegen beruhen auf der glänzenden beherschung des litterarhistorischen
materials sowie darauf, dass das werk namentlich in den abschnitten über rhetorik
und Stilistik unstreitig ungleich geistreicher und anregender ist als ii'gend ein anderes
Den vielen freunden, die das l)uch sich bereits gewonnen, wird daher auch die vor-
liegende, sorgfältig revidierte ausgäbe eine wilkommene gal)0 sein.
Weit schwieriger ist es, dem anderen werke gerecht zu werden, der umfang-
reichen poetik von Baum gart. Mit anzuerkennendem grossen tieisse hat der Verfas-
ser den versuch gemacht, eüi umfangreiches lehrsystem der poetik aufzustellen, und
1) S. 434: Das erlobnis ist grundlage der poesie, und so zeigt die nioilrigsto civilisation überall
die dichtung mit primären mächtigen formen dos erlcbnii^sos verbimdon; solche sind kidtushandlung,
festesfreude , t<anz , übergehend in pantomime , gedächtnis der stammesahneu ; hier sind schon lied , ©pos
und draina in der wurzel getrent. — Da mächtige crregujigen der scele , sofern sie nicht zu willenshaiul-
huigen führen , sicli in laut luid geberde , in der Verbindung von sang und dichtung äussern , so linden
wir bei den naturvülkern die dichtung an kultushandlungen luid festfreude, an tanz und spiel gebunden.
Der Zusammenhang der poesie mit dem mythos und religiösen kultus, mit dem glänz der feste und des
Spiels, mit schöner, heiterer geselligkeit ist daher psychologisch begründet, in den ersten anfangen der
civilisation sichtbar und er ireht dann durch die ganze litteraturgeschichte.
230 ELLIN-GER, TBER SCHRIFTEN ZUR DEUTSCHEN POETIK
in ausführlichen abschnitten hat er die einzelnen dichtungsgattungen beliandelt. Ist
es im wesentlichen die metaphysische grundlage, auf welcher Baumgaii sein buch
aufbaut, so kann man ihm doch andrei'seits das zcugnis nicht versagen, dass er sich
eine gründliche kcntnis der litteratur angeeignet hat, obgleich er bei der Verwertung
des litterarhistorischen materials im ui-teil zuweilen mit grosser wilkürlichkoit vor-
geht (man vgl. z. b. s. 55 fg. die ganz ungerechte beurteilung von Bürgers Lenoro).
Auch finden sich im einzelnen rocht interessante Untersuchungen, die manches anre-
gende bieten. Aber trotz aller dieser anzuerkennenden Vorzüge des Iniches muss ich
betonen, dass meiner mcinung nach die grundlegung des Verfassers sich nicht lialten
liisst. Den vei'such , tlie aristotelische kathai'sis , deren auslegung durch Jakob Bernays
überaus ausführlich, aber doch nicht überzeugend, bekämpft wird, auch auf andere
gattungen der poesie zu übertragen, kann ich nicht für glücklich halten, wie es
denn überhaupt etwas sehr mislichcs ist, heutzutage noch den aufbau einer poetik auf
wesentlich aristotelischer grundlage zu versuchen. Dazu komt des Verfassers neigung
zum schematisieren, die ihn auch da nicht verlilsst. wo nur eine rein liistorische
betrachtung am platze wäre ; so werden z. b. für den unterschied zwischen romanze und
balladc ästhetische gründe ins feld gefülirt. Alles in allem: Baumgarts poetik wird
niemand das zcugnis versagen, dass sie ein mit liebe zur sache gearbeitetes fleissiges
buch ist, aber im Verhältnis zu dem umfang des buches sind die neuen aufschlüsse,
die man erhält, nicht eben zahlreich.
Da.s buch von Methner zeichnet sich durch seine klare und anschauliche dar-
stellung aus. Es beiiiht seiner gesamtauffassuug nach auf den anschauungen der tra-
ditionellen ästhetik, wie denn der vei'such, einen unterschied zwischen ballade und
romanze durch aufzeigung ihres inhaltlich verschiedenen wesens darzutun, auch hier
widerkehii. (S. 74.) Aber der Verfasser hat der gcsclüchtc unsrer diclitung eingehende
Studien zugcwant und wenn auch einzelne ausicliten, die er vorträgt, irrig oder ver-
altet sind (man vgl. z. b. s. 202, wo volksschauspiel und haupt- und Staatsaktionen
für zwei verschiedene dinge gehalten werden), andre von einseitigen gesichtspunkteu
ausgehen (man vgl. z. b. s. 112, wo Rabencr den Satirikern des Hj. Jahrhunderts
gegenüber sehr ungerecht beurteilt wird), so entwirft er doch meist richtige und
ansprechende bildcr von der entwicklung unsrer poesie. Die tlicoric der gattungen
der rede, die der Verfasser auf dieser grundlage aufbaut, legt zuweilen allerdings
recht wilkürlichc massstäbe an die dinge, aber vor dem verlieren in alzu entlegene
gebiete der Spekulation schüzt ihn die klare, übersichtliche einteilung, deren wert
überhaupt nicht zu gering anzuschlagen ist. Man mag an den einteilungen s. 117 fg.
(vgl. auch s. 88 fg.) im einzelnen manches auszusetzen haben, im ganzen werden
solche aufstellungen immer fördernd und klärend wirken. Auch sonst findet sicli
manches anregende und da der verfa,sser auch die metrik mitbehandelt, so wird das
empfehlen swerthe buch namentlich Schulmännern von besonderem nutzen sein.
BERLIN, IM DEZEMBER 1888. GEORG ELLINGER.
Johann Elias Schlegel von Eug'en ^VollT. Berlin, vorlag von Robert 0])pen-
heim. 1889. 8. 4 m.
Ehe wir uns zur besprechung des iuhalts wenden, mü.ssen wir in bezug auf
form und anläge der schrift einige bedenken äus.sern.
Es scheint, als ob der Verfasser sich auch an weitere kreise wenden wolte.
Die darstcllung bewegt sich, wie bei einem vorirag, durch die 188 Seiten ohne
CREIZENACH, ÜBER WOLFF, JOH. EL. SCHLEGEL 231
ruliepuiikt uutl ohne deutliche glioderun^-, der text ist durch zalilcu uuterbrocheu,
die auf die aninoi-kungou am schluss des buchos hinweisen. Wer die Schrift studie-
ren und nachprüfen will, dem ist dadurch seine aufgäbe sehr erschwert. Auf der
andern seite ist das thema doch auch nicht von der art, dass eine so ausführliche
darstellung auf das Interesse eines grösseren publikums rechnen könte.
In einer mehr poiniliiren darstellung hätte z. b. auf die anschauliche scliilderung
von Schulpforto, Leipzig und Kopenhagen mehr Sorgfalt vorwendet werden müssen.
Und vor allen dingen wäre die vergleichung mit Schlegels Vorgängern zur richtigen
Würdigung seiner Verdienste unbedingt nötig gewesen. "Wer mit dem gegenständ
bereits vertraut ist, wird andrerseits finden, dass bei besprechung der Wirksamkeit
J. E. Schlegels auf dem theoretischen gebiet bekantc dinge zu ausführlich widerholt
werden.
Indess hat der Verfasser doch auch manches neue und beachtenswerte vorge-
braclit, namentlich da, wo er die poetischen werke J. E. Schlegels bespricht. Bei
Orest und Pyladcs weist er mit recht darauf hin, dass einzelne änderungen, die
Schlegel in modern -humanem sinne mit dem überlieferton stoffe vornahm , eine gewisse
verwantschaft mit Goetlies Umgestaltung der Iphigeniensage zeigen. Dass jedoch
Schlegels ti-agödie direkt die aufmerksamkeit Goethes auf diesen stoif hingelenkt haben
soll — „ähnlich wie Schlegels Hermann den ausgangspunkt bildet, von welchem
Goethe zum Goetz geführt wiQ'de" , ist gewiss nicht anzunehmen.
Für die beurteilung der Dido hat Wolff nicht den richtigen gosichtspunkt
gefunden. Er leitet das drama direkt von dem Yorgilschen epos her, während Schle-
gel offenliar auch die tragödie Didon von Lcfranc de Pompignan (1784) benuzt hat.
Freilich liat, so viel ich weiss, Aveder Schlegel selbst noch irgend einer der späteren
biographen auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht. Aus der französischen
tragödie hat Schlegel einen zug entlehnt, den WollT als eine glückliche neuerung
riihmt, dass nämlich der dichter den Aeneas auf der flucht noch den angriff des lliarbas
zurückschlagen Hess und so die kriegerische ehre des holden zugleich mit seiner
eigenen dichterischen ehre gerettet habe. Auch ist es auf die französische tragödie
zurückzuführen, wenn könig Hiarbas als gesantcr vor Dido erscheint, und sich
dann erst im lauf des gesprächs zu erkennen gibt. Ebenso bietet, wie ich meine,
der vergleich init Lefranc de Pompignan die beste erklärung für eine stelle, die
"SVolff als eine entlehnung aus Shakespeare auffassen möchte. Dido glaubt den schat-
ten ihres gemahls Sichaeus zu erblicken (aktIV sc. 5); sie ruft ihi-er Schwester zu:
— — Ach Schwester! ich erschrecke
0 anblick! siehst du nichts dort in des zimmers ecke!
Anna.
AVas siehst du? fasse dich. Trau nicht auf dein gesiebt,
Denn deine furcht allein ])ctriegt der äugen licht.
Dido.
Nein, nein! Ich sehe selbst den mir bekanten scTiatten!
Ich sehe die gestalt des sonst geliebten gatten!
Ich sehe seinen mund, und sein so schönes haar!
Ich sehe seine stirn, und dieses augenpaar! usw.
Diese stelle vergleicht "Wolff mit Hamlet aktlll sc. 4, wo im schlafgcmach der
köuigin der geist des alten Hamlet bloss dem söhne, nicht aber der gomahlin sicht-
bar erscheint. Aber bei Schlegel handelt es sich gar nicht, wie bei Shakespeare um
232 CREIZENACH
eine wirkliche geistererscheiuuug; das trugliild, das der kraukhal't gesteigerten pliau-
tasie Didos vorsclnvebt, ist nichts als ein rlieturisches etlektniittol im sinne der tra-
gödie des klassischen stils und es wiire nicht schwer, anderwärts ähnliche stellen
nachzuweisen. Die Schlegelschen werte enthalten eine schwache nachahniung des
anfangs des fünften aktes bei Lefranc de Ponipignan. Die scene spielt hier zur
nachtzeit; Dido stürzt auf die bühne; sie glaubt sich vom geiste des Sichaeus ver-
folgt und ruft uju hülfe: ihre Schwester erscheint und beruhigt die königin, die noch
immer im lieberwahn das gesi)enst zu sehen glaubt.
iSclilegel hat, wie sein bruder Johann Heinrich berichtet, die Dido noch in
Scliulpfoi"te im jähre 1739 geschrieben. AVir müsten demnach annehmen, dass die
novität des französischen theaters ziemlich rasch bis in die sächsische klosterschule
vorgedrungeu sei. Die Dido erschien indess erst 1744 im fünften teil der Deutschen
schaubüline. Damals wurde das trauerspiel „ gröstenteils in seiner urs[»rünglicheu
gestalt dem dnicke übergeben, der lezto aufzug ausgenommen." Von diesem lezten
aufzug teilt Johann Heinrich in der ausgäbe der werke seines ))ruders bd. 1 s. 71 fgg.
den ursprünglichen plan mit und rühmt die teilnähme des Aeneas am kämpf gegen
Hiarbas als eine besonders glückliche neuerung. Nun könte man auf den gedanken
kommen, dass Schlegel ei"st nach seinen Schuljahren die französische tragödie kennen
lernte und daraus manches bei der mnarbeitung seines entwurfs verwertete. Indess
stimmen auch wichtige scenen in den frühern akten, so namentlich die scene zwi-
schen Dido und JarVias und die geisterscenc mit Lefranc de Tompignan überein und
wenn diese scenen gleichfals erst in der Umarbeitung liinzugekommen wären, dann
hätte Johann Heiiuich gewiss nicht die oben angeführten werte gebraucht.
Noch ein umstand darf nicht unerwähnt bleiben. Die französischen littcrar-
historiker haben bereits bemei'kt, dass die erscheinung des Jarbas unter der maske
eines gesanten von Lefranc de Pompignan der Didone abbanden ata dss Metastasio
(1724j entlehnt wm'de. Indess findet sich bei Metastasio ausserdem auch der kämpf
zwischen Aeneas und Jarbas. Die scene, in welcher Dido ihren ersten gemalil zu
erblicken glaubt, konte der französische tragiker noch nicht in der italienischen oper
finden. YöUige Sicherheit über das Verhältnis der drei Didodramcn zu einander würde
freilich nui' dui^ch eine bis ins einzelne gehende Untersuchung zu erreichen sein.
Schlegels Trojanerinnen sind merkwürdig als charakteristisches beispiel für eine
im vorigen jahihmidert sich volziehende bewegung des deutschen geistes. AVir sehen
den dichter hier über die französische renaissaucepoesie hinweg auf die niuster des
griechischen altertums zuiückgreifen. Es wäre noch zu untersuchen, ob er dazu
nicht vielleicht durch Bi*umoys einflussreiches werk über das griechische theater
(Theatre des Grecs, 1730) veranlasst war.
Für die beui'teilung des Arminius ist in den oft citieiien woiien Goethes der
massgebende gesichtspunkt enthalten. In seinem bericht über die bühnenschicksale
des Arminius komt AVolif auch auf die französische bearbeitung zu spi'cchen. „I3au-
■sin ül>crsezte das stück 1709 frei ins französische unter dem titel „Arminius", 1773
französierte er es noch mehr, und so wurde die tragödie als „Les Cherusques" in
Paris nicht nur gedruckt, sondern auch aufgeführt." Als seine quelle für diese nach-
richten citiert er Schmid, Chronologie des deutschen theaters. Er hätte sich nach
einem bessern gewährsmanne umsehen sollen. Freilich weiss auch Süi)flc über die
Schicksale des Arminius auf dem französischen theater nicht viel zu sagen, obwol
er in seiner geschichte des deutschen kultui-einflussos auf Fi-ankreich 1x1. I s. 170
Bauvins Verhältnis zu Schlegel und die verschiedenen ausgaben seiner Übersetzung
TBER WOLFF, JOH. EL. SCHLEGEL 233
bespricht. Hinsichtlich der bühnoiularstelhing beschränkt er sich auf die worte ^nach
angäbe von Jördens soll Anninius im jahro 1773 in Paris zur auffülirung gekommen
sein.'' Und doch besitzen wir über diese Pariser aulführung einen höchst jnerkAÜr-
digen, eingehenden boricht von dem alten Oottschedianer (iriinm, der wol eine wider-
gabe an dieser stelle verdient. Grimm schreibt aus Paris unter dem 1. okt. 1772 (Cor-
respondance littcraire od. Tourneux bd. X s. 07 fg.): ^ Le theiitrc anglais n'est pas le
seul üii nos poetes cherchent aujourdhui lours sujets; ils viennent de faire lo meme
honneur au theatre allemand, et Ton a donnt-, lo 20 du mois dcrnier sur le theatre
de la Comedie Francaise, la premierc rejircsentation des Cherusques, tragedie nou-
velle, imitee du tliciitre allemand. Cest le sujot d'Arminius, traitö cn Allemagne
par feu M. Schlegel; c'est la drfuite deVarus: c'est par consc<j[uent un sujet national
en Allenuigne. La i>ieco de M. Schlegel est imi>rimee depuis environ trentc ans.
Je crois l'avoir lue dans ma jeuuesse, mais je ne mc la rappello plus en aucuno
maniero; je n'eu pourrai donc parier quo d'aprös l'esquisse franraise. Un vieux
bonhomme de soixante ans, appcle Bauvin, pauvre comme un rat d'egliso ou
comme un poete, ce <|ui est synonyme, s'est avise un peu tard de prendre
le metier de faiseur de tragedies. II a choisi celle de M. Schlegel, et l'a
ajustee tant bieu (|ue mal au Theatre - Franrais. II en a fait la lecture aux
Coniediens, <iui l'ont rerue; mais tardant longtcmps ii la jouer, le pauvre auteur,
presse par la faim. l'a fait imprimer. Elle parut en 17ÖÜ, et ne fit aucune Sen-
sation. Alors les Comcdiens resolurent, je crois, de ne la point jouer du tout,
et Ton prctend qu'ils ne se sont departis de cette resolution que itarce que l'au-
teur a eu le bonheur d'interesser M'ne la dauphine en sa faveui". Cette charmante
et auguste laincesse a exige que la picce fut jouee, et Ton a obei. Mais les acteurs
etaieut si persuadcs qu'elle n'irait pas jusqu'ä la ün (juils uo s'ctaient pas donne la
peine de Taitprendre. Je n'ai jamais vu piece aussi mal jouee. M'i« Dumesnil, qui
est presque toujours mauvaise, quand eile n'est pas sublime, et qui commence ä etre
rai'ement sublime, fut detestable cc jour-lä. Elle jouait le role d'Adeüude, princesse
cherusque, mere de Thusnelde et de Sigismond. Thusnelde etait representee par
]\Xme Vestris. Brizard etait charge du role de Segismar, prince cherusque, pere
d'Arminius, joue par Mole. Les autres röles etaient rem}ihs par des acteurs si mau-
vais, (ßie jamais la patience du public ne fut mise a plus forte ejjreuve. La piece
pensa en etre la victime; mais enfin, apres avoir couru les plus grands risques, eile
eut le bonlieur de resister a tous les dangers et de reussir. L'auteur fut ai>pele ä
grands cris. 11 ne put ou ne voulut pas paraitre le premier jour: le pauvre homme
n'avait pas i)eut-etro d'habit pour se montrer; mais a la seconde reprcsentation , il
fut appele de nouveau, et vint faire sa revcrence au public. On conte que les etats
d'Artois (l'auteur est de ce pays-lä) lui ont promis de lui faire une pension, sup-
posc que sa piece ait trois roprcsentations. Si cela est, la pension est deja gagnee.
Mais quel bizarre et ridicule caprice de la part d'un corps aussi respectable que les
etats d'uue province d'attacher im bienfait, apparemment jugc nccessairc et bien
place, au succes d'une piece de theatre! Qu'a de commun le besoin d'un vieillard
de soixante ans avec une bonne ou mauvaise tragedie V Quoiqu'il en seit de la verite
ou de la faussete de ce conte, 11 etait si bien ctabli dans le public qu'il faut conve-
nir qu'il influa sensiblement sur le succes de la tragedie. Mais apres l'avoir ai)plau-
die au theatre, on en a dit beaucou}) de mal dans le monde. Ou l'a trouvee froide
et ennuyeuse; mais on n'a pas assez considcre combien le mauvais jeu des acteurs
hü a fait tort. On commence a en parier aujoui-d'hm avec im peu plus d'estime ou
234 CREIZEXACH
moins de denigroment; co qui ine fait pivsumcr ([WO les comedieus, qui iie s'atten-
daient pas a ec succes. la joueiit avec im peii plus de sein.
Comme la pieeo de M. Bauviu est imprimee depuis trois ans, je nie suis dis-
ponse d'eu faire iei uuo analyso en forme. Les ehangemcuts qu il y a faits i)om' la
renicttre au tlieatre nc sont pas bien considerables, et se trouverout en tout cas
bientöt dans mio nouvello editiou qu'il ne manquera pas d'eu faire apres l'espece de
sueces, quelle vieut d'avoir au theatre/
AVir erfaliren also auch aus diesem boriclit, dass Marie Antoinette es war, die
die auffülining der deutsclieu tragödie in Paris durehsezte.
Mit der tragÖdie Canut hat Schlegel nach seiner Übersiedelung nacli Dänemark
einen glücklichen giiff in die gescliichte seines adoptivvaterlandes getan. Mit recht
hat AVollT diesem drama eine besonders ausfülirliche beliandlung zu teil werden las-
sen. Er weist auf eine bearbeitung hin, die 1780, vierunddrcissig jähre nach dem
erscheinen des Schlegelschen dramas gedruckt wurde, also zu einer zeit, da schon
der Alexandriner auf der bühue duix'li die prosa verdrängt war. AVolfE will dartun,
wie in dieser prosaauflüsung eine fülle von dramatischem leiten entfesselt wurde,
das in der engbegrcnzteu form des Alexandriners vcrljorgeu geblieben war. Es
wäre sehr wünschenswert gewesen, wenn er diese interessante beobaclitung durch
reichlichere beispiele belegt hätte. Unter den urteilen der Zeitgenossen registiiert
AVolff auch eine stelle aus Lessings dramaturgischer correspondenz mit Nicolai.
Indess hat Lessing sein eindringendes Studium des Schlegelschen meiste nverkes auch
anderwärts bewiesen. In dem entwurf: .,Der Schauspieler. Ein werk worinnen die
gi-undsätze der ganzen körperUchen beredsamkeit entwickelt werden." Hempel bd. XI-
s. 856 fgg. hat er einige stellen in den rollen des Canut und des Ulfo im hinblick auf
die l)egleitenden gesten ausführlich betrachtet. Und ausserdem hegte er ursprüng-
lich die absieht, in der dramaturgie den Canut eingehend zu behandeln. Im Schema
zur fortsetzung (Hempel bd. XX s. 649) notiert er ,91. Canut, Schlegels Hang, dome-
stica facta zu wählen. Hurd p. 211 N. 286. Mittwochs den 23. September." Wol
keine andere notiz des wenig beachteten Schemas — abgesehen vielleicht von nr. 63,
wo Lessing eine Untersuchung über den chor in der tragödie in aussieht stelt —
lässt uns das jähe abbrechen der dramaturgie mehr ])edauern. Gewiss würde Les-
sing hier gedanken entwickelt haben, die ein neues licht auf Minna von Barnhelm
fallen Hessen und die sich wol auch mit den gedankenreihen berührt hätten, durch
welche Goethe von Hermann dem Cherusker auf Götz von Berlichingen hinübergelei-
tet wurde.
Canut war, ebenso wie Hermann bereits 1748 auf dem repertoire der Schö-
nemannschen truppe in Fiankfurt am Main.
Einen fruchtbaren gesichtspunkt hat sich AVolff entgehen lassen. Er hätte zei-
gen sollen, wie Schlegels tragische diktion, die bekantlirh von frau rat Goethe als
mu.ster des steifen, veralteten stils angefülirt wird, sich ausnimt, wenn man sie mit
den mach werken Gottscheds und seiner anliänger, der Pitschel, Grimm, Quistorp
usw. vergleicht. Durch eine solche gegenüberstellung wird die bedeutung Schlegels
als des hervoiTagendsten deutschen tragikers der classicistischen richtung wol am
besten dargetan.
Bei besprechung der lustspiele betritt der Verfasser ein gebiet, dem er bereits
früher ein eindringendes Studium gewidmet hat. Manches von dem, was er hier zur
Verteidigung Schlegels gegen alzu strenge kritiker sowie zum lobe des Schlegelschen
conversationstons vorbringt, ist gewiss berechtigt. Den von Lessing so schroff
ÜBER WOLFF, JOH. EL. SCHLEGEL 235
getadelten „geschäftigen müssiggängor " rühmt Wfdff als das erste deutsche sitten-
lustspiel, doch könte man diese meiniing erst dann zur diskussion stellen, wenn auch
die sonstigen ansätze zum sittonlustspiol in joner zeit gonauer ins augo gofasst
würden. Zu anm. 128 ist zu bemerken, dass älmliche stehende rodensarten derljoip-
zigerimien auch in M»>nantes satirischem roman (Deutsche nationallitteratur bd. 37
s. 480) angeführt werden. Eben.so wie den geschäftigen müssiggänger, iiimt AVolff
auch das totengespräch Demokrit gegen Lessing in schütz. Lessing hat bckant-
licli (Dramaturgie st. XYII) nicht undeutlieh durchl)licken lassen, dass er es für
pedantiM'ci hält, wenn Schlingel von Kegnards Verstössen gegen die historische Wahr-
scheinlichkeit so viel aufhebens macht. Im wesentlichen wird doch vvol Lessing
rocht behalten. Allerdings ist es dankenswert, dass WoKT auf den Zusammenhang
hinweist, der zwischen dem totengespräch und dem Schlegelschen lustspielfragment
„die drei ijhilosophen" besteht. liier hat der dichter sich bemüht, Plato, Diogenes
und Aristii)[) mit treuerer festhaltung des historischen kolorits in eine lustsi)ielintri-
gue zu verweben. Eine massgel)endc bedeutung in der geschichtc des historischen
lustspiels darf Schlegel deshalb aber doch nicht beanspruchen; unter seinen Vorgän-
gern auf diesem gebiet muste vor allen dingen auch noch Boursault berücksich-
tigt werden. AVenn s. IGO Lessings Jugendfreund Mylius (t 1754) mit dem heraus-
geber des komischeu theatcrs der Deutschen (1783) verwechselt wird, so ist das frei-
lich ein starkes stück.
Zu der ansprechenden Charakteristik der anakreontischen lieder und erzählun-
gen Schlegels wäre zu liemerken, dass kaffoe als ein getränk, das zur poesie begei-
stern kann, schon von Neukirch in den Anfangsgründen der reinen teutschen poesio
erwähnt wird (vgl. Hildebrand im deutschen Wörterbuch IV, 21). Nachdem die
tabakspoesie in Hoffmann von Fallorsleben einen geschichtschreiber gefunden hat,
wird vielleicht auch einmal der kaflce in der deutschen dichtung im Zusammenhang
betrachtet werden.
Das hauptgewicht legt AYolfT mit recht auf Schlegels Wirksamkeit als theore-
tiker und kritiker. Sein respektvoll diplomatisches Verhältnis zu Gottsched ist durch-
aus treffend charakterisiert. Dass Schlegel kein gewöhnlicher Gottschedianer sei,
erkanten die gegner sehr bald: Pyra im Erweis dass die Gottschedianische secte den
geschmack verderbe s. 104, behandelt ihn sehr höflich, auch die Neuberin suchte
ihn zu sich herüberzuziehen. Danzels ansieht von Gottsched als dem Schöpfer der
idee einer deutschen nationallitteratur hat Wolff zu sehr auf treu untl glauben
angenommen. Für Schlegels anfange war auch noch der aufsatz von Peter über die
pflege der poesie an den fürstenschulen (Mitteilungen des Vereins f. d. gesch. d. stadt
Meissen bd. I heft 3) zu berücksichtigen.
Den ergebnissen Antoniewiczs über die französischen quellen Schlegels stimt
Wolff im wesentlichen bei. Gewis mit recht, denn was inzwischen ßraitmeier in
seiner Geschichte der poetischen theorie usw. (t. I. Frauenfeld 1888) gegen diese
französische einwirkung vorbringt, ist wenig überzeugend. Dass Schlegel sich schon
frühzeitig in der französischen litteratur umsah, beweist seine ])ekantschaft mit Lefranc
de Pompignan. Schlegels ansichten über das material der nachahmung in der poesie
sind mit Vatrys theorie so nahe verwant, dass man wol den gedanken einer entleh-
nung von Seiten Schlegels festhalten darf. Anders steht es freilich mit Schlegels
behauptung, derjenige, welcher nachahmt, müsse „sich nach den Vorstellungen derer
richten, die das bild vergnügen soll.„ „Wir haben in unseren zeiten einen neuen
Achill, einen neuen Hippolyt, kurz ganz neue beiden gemacht, welche vieles von
236 VOIGT
dem weseu der grossen luiseror zeit hahea und nur in alte nameu gekleidet sind."
In diesem falle ist es entschieden zu ^Yeit hergeholt, wenn Antoniewicz einen Zusam-
menhang mit Fraguiei's Eetlexions sur les dicux d'Homere annimt. Braitmeier hat
gewiss das richtige getroflfen, wenn er auf die verwantschaft mit der Brcitingerschen
theorie hinweist. Auch sonst sind in Braitmeiers darstcUung einige wichtige punkte
besser hervorgehoben, so namentlich die Übereinstimmung Schlegels mit Lessing in
der beurtcilung des Philoctet (vgl. Braitmeier s. 252). Zu dem „schreiben von erricli-
tung eines theaters in Kopenhagen" wäre noch zu bemerken, dass bereits Gottsched
in der deutschen schaul>ühne t. 11 s. 22 auf die notwendigkeit einer tantieme für die
dramatischen Schriftsteller hingewiesen hatte.
Der Verfasser war in der läge, ungedrucktes brietliches material für seine
arbeit zu benützen. Ausserdem hat er zum ersten male eine handschriftliche sam-
lung von gedichten des vaters Schlegel herangezogen und dadurch mancherlei hübsche
züge für die Schilderung des elterlichen hauses und der ersten jugendeindrücke
gewonnen.
XKAKAÜ, m FEBR. 18S9. WILHELM GREIZENAGH.
Friedrich Lauchert, Geschichte des physiologus. Mit zw^ei textbeilagen.
Strassburg, Karl J. Trübner. 1889. 8. XllI und 313 Seiten. 7 m.
Nachdem uns J. V. Carus in seiner Geschichte der Zoologie 1872 aus der feder des
dr. Hügel eine geschichte des physiologus in aussieht gestelt hatte, empfangen wir nun
durch Friedrich Lauchert das erwartete buch, welches bei der Wichtigkeit des phy-
siologus füi- die geschichte der Zoologie, der fabel und des tierschwanks, des Sprich-
worts und des epimythions, der tierbildlichen typen in litteratui- und kunst, wie des
Stifts- und klosterschulwesens von vorn herein auf algemeines interesse anspruch
erheben darf. AVir werden zu prüfen haben, Avie weit die gespanten erwartungen,
mit denen wir das werk in die band nehmen, in ihm erfült werden.
1. Der erste teil (s. 1 — 100) bietet 1. eine Vorgeschichte, 2. Inhaltsübersicht
und qufllennachweis der ursprünglichen 49 stücke sowie einiger späterer anhängsei,
3. entstehung, 4. Überlieferung des griechischen textes, 5. patiistische Zeugnisse der
älteren zeit, 6. besprechung der alten Übersetzungen, nämlich des acthiopischen , des
araienischen, der syrischen, des arabischen textes, 7. und 8. der lateinischen Ver-
sionen, 9. und 10. des physiologus in mittelgriechischen tierbüchern und in der natur-
geschichto des mittelalte rs , 11. eine vergleichende Übersicht der verschiedenen anord-
Duugen.
IL Der zweite teil (s. 110 — 228) erörtert 1. die Übersetzungen und bearbei-
tungen des physiologus in der germanischen und ronianischen litteratur, 2. und 3.
die Verbreitung der physiologus -typen in dichtung und kunst des niittelaltcrs, sowie
4. die lezten nach Wirkungen des physiologus bis in die neue und neueste zeit.
IIL Im anhang wird der text des griechischen wie des Jüngern deutschen
physiologus (s. 220 — 299) nebst nachtragen und register geboten.
Man sieht, das buch bringt vielerlei. Je mehr man sich aber hineinliest,
desto deutlicher erkent man, dass man es hier nicht mit einer eigentlichen forschung
zu tun hat, die, unbefriedigt von dem vorgefundenen stände der erkontnis, selbstän-
dig und kühn nach allen richtungen hin den gegenständ zu ergründen und aus
umfa.ssender samlung unbenuzten quellenmatcrials und eindringender durchdenkung
desselben neue aufschlüsse zu gewinnen strebt, sondern mit einer kritischen Zusam-
menstellung der an den verschiedensten, oft schwer zugänglichen orten zerstreuten
ÜBER LAL'CHERT, PHYSIOLOGUS 237
bisherigen crgobnisso <lor physiologus-forschung, dio, woil im ganzen mit saehkcnt-
nis und bosonnonom urteil duivligofiiln-t, für den lernerstellenden ebenso lohireich
und wilkommen ist wie sie die erwartungen des keiniers in der hauptsacho unbefrie-
digt lassen wird. Der wert der einzelnen abschnitte ist somit, je nach dem grade
wie vorarbeiten vorliegen und dem Verfasser bekant bez. zugänglich waren, ein sehr
vei-schiedener: recht interessant ist I, 2 — f) und IT, 2. wenig gehaltvoll ist IT, 8,
die ül)rigen stücke halten eine gewisse mitte inne.
Gehen wir nnn die (»inzelnen kapitel durch, um auf lücken und mängel auf-
merksam zu machen.
S. 77 fgg. vermisst man die wichtige stelle Augustins über die fulica (in Psalm.
CHI, 17): IntelUijhnus petrain esse idoneotn fidicac dmmivi, nusquam fort ins rf
ftrwfiis habitat qnatu in potra. In quali petra? Tn muri eonstituta. Etsi tnn-
ditur flnrfibns, framfit tarnen finetus, non framjitnr: Itoc habet magnnm potra in
mari eonstitnfa .... Er(/o fnlicae domiis et fortis est et Jinmilis. Nnn habet
domum fnlica in excclsis; niliil iUa domo firmius et iiihil huniilius. In eedris qni-
deni nidiftcant passeres, ^;ro/>^r;- praesenteni neccssitateni : sed jietram iUam habent
duceni , qnae flnefibits tnnditur et non frangitnr. — Zu s. 68 — 79 konte die fleis-
sige monographie von Feiner „Vom Phoenix in den schiifton der väter" (München,
Progr. des Ludwigs - gymn. 1840/50) beuuzt werden. — S. 8G. Das programm von
K. Ahrens (Ploeu 1885) konte der Verfasser nicht zu gesiebt bekommen, obwol ein
schreiben an die gymnasial -direktion vermutlich hingereicht hätte, ein exemplar des-
selben zu seinem eigentum zu machen. Es ist eine sehr lesenswerte studio, die
nicht bloss überzeugend nachweist, dass das syrische tierbuch des Brit. museums aus
der herrn Tiauchert unbekaut gebliebenen haudschrift Ind. office Ms. Syr. n. 9 abstamt,
sondern auch überhaupt eine eingehendere Untersuchung über die quellen des ]>hy-
siologus enthidt.
S. 88 — 94 werden nach dem einleuchtenden beweise , dass die erste lateinische
Übersetzung des physiologus bereits vor 431 verfasst sein muss, die beiden bekanten
hauptübertragungon augegeben, nämlich die durch die hs. 10074 von Brüssel und
233 von Bern repräsentierte klasse AB und die durch die Berner hs. 318 vertretene
klasse C, somit die geschichte des lateinischen prosatextes mit dem 10. Jahrhundert
abgeschlossen. Da es nun die lateinischen fassungen waren, welche diese tierbilder
dem abeudlande übermittelten, da der hauptcinfluss des physiologus auf die abend-
ländische litteratur und kunst in die zeit vom 10. — 14. Jahrhundert fält, da endlich
gerade derartige littcrarische produkte den mannigfachsten erwciterungen (auch Vin-
cenz von Beauvais Spec. natur. XX, 172 de testudine benuzt einen erweiterten phy-
siologus) und Verkürzungen, sowie sonstigen änderungen in reihcnfolge, verlauf der
handlung und ausdoutung ausgesezt sind, so wäre es die pllicht des Verfassers gewe-
sen, etwa in der weise, wie es Oesterley für die Gesta Romanorum getan, die
geschichte des textes durch das ganze mittelalter zu verfolgen, also womöglich die
sämtlichen erhaltenen handschriften aufzuspüren, sie auf ihre spezifischen eigentüm-
lichkeiten hin zu untersuchen oder durch die allezeit bewährte liebenswürdigkeit der
bibliothekare untersuchen zu lassen und so die handschriftliche Überlieferung des
lateinischen physiologus während des mittelalters auf bestirnte grundtypen zurückzu-
führen. Niu- so hätten wir über die Schicksale der ph.- texte von Jahrhundert zu
Jahrhundert volles licht erhalten, nur so hätte sich auch jedesmal die lateinische
quelle der volkssprachlichen bearbeitungen nachweisen lassen, für deren ab weich un-
gen von AB und C der Verfasser wol eine in diesen punkten bereits modificierte
238 VOIGT
lateinische vorläge vormutet (s. 12G anm. 1. 131 aiiin. 1, 133 aum. 1 , 138 z. 9 — 12,
140 z. 17 fg.), aber oben leider nicht anzugeben vermag. Er weist wol auf die von
M. F. Mann (Anglia VIT, 445 fg.) genanten handschriften hin, hat aber noch nicht
einmal die ihm so bequem erreichbaren Münchener verglichen, geschweige denn dass
er die gerade in dieser hinsieht so zuverlässigen handschriftenkatalogc darauChin
durchgesehen hätte. Ich habe mir von physiologus - handschriften seiner zeit notiert:
Angei-s 294 — Avranches 28 — Brüssel 8340 — Douai 073 — Ei)inal 48 und 58 —
Gent IG — Kopenhagen 1G34 (Kl. lat. denkm. s. G) — Middlehill 4725 (Jaliii und See-
bode Neue jahrb. suppl. YKI, 1842 s. 448) — Oxford cod. Bodl. misc. lat. 247 (wozu
der katalog auf den druck bei Hugo de S. Victore Venedig 1588 II, 189 hinweist) —
Paris Bibl. Nat. 3G3Sa, 4931c, 85G4 (?), 10448, 11207 — Pommersfclden 2913 und
2917. und aus der ältesten zeit Bern 611 (fol. 1 IG '' — 138'') s. VIII/IX, Oxford cod.
Bodl. misc. lat. 129 s. IX und AVolA^nbüttel cod. Gud. 148 s. X, welch lezterer, wie
aus einer mir von "\V. Scherer gütigst überlassenen alischiilt zweifellos hervorgeht,
zur klasse C gehöi-t, ebenso wie das Toletaner fragmcnt bei Isidor od. Arevali IV,
521. Auf diesem wegc hätten wir auch, was wir in dem vorliegenden buche recht
vermissen, einen stambaum der gesamten physiologus-receusionen erhalten.
S. 95. Bei der liohcn Wichtigkeit Gregors des Grossen für die litteratur des
mittelalters ül>erhaupt wie für die Verbreitung der physiologischen allegorik insbeson-
dei*e war es wünschenswert, die bei ihm vorüudlichen physiologus - spuren sorgfältig
und erschöpfend zusammenzustellen. Hier mag nur zu dem dritten zuge der schlänge
(Ph. 11'*) auf Hom. in Euang. II, 32, 2 hingewiesen werden: Xihü maligni spiritus
in hoc mundo proprium possident. Nudi ergo cum nudis luctari dchemiis. Nam
si n^stitus quisqua7n cum nudo luctatur, citius ad terram deicitur, quia habet
inule teneatur. Quid enim sunt terroia omnia nisi quaedam corporis indumenta?
Qui ergo contra diaholum ad, certamen p)roperat, uestimenta ahiciat, ne succum-
lat. — S. 97 anm. 3. Zu dem verse Ph. Theob. 14G Dicitur a Physio-, cum docet
inde, -Ingo bemerkt der Verfasser: „Solche abgeschmackte Worttrennungen kommen
bekantlich in der lateinischen poe.sie des mittelalters niclit selten vor; ich erinnere
au den schönen vers beiRabelaisPautag.il, 41: Deficiente 2)ecu- deficit omne -nia.'^
Verfasser besizt eine viel zu düi-ftige kentnis der mlat. dichtung, als dass ihm ein
recht zu einem solchen urteil zustünde. Von vei-einzelten Spielereien abgesehen, wie
sie allen epigonenlitteraturen eigen sind, finden sich derartige Worttrennungen in
ihr nur in ganz seltenen fällen zwingender prosodischer uotlage. Je mehr sicli lierr
Lauohert mit diesem zweige der litteratiu* beschäftigt, desto mehr wird er sein
„bekantlich'^ und sein „nicht selten" einzuschränken lernen. — S. 98. Der zug, dass
die hii*sche haim durchschwimmen eines flusses eine linie bilden und zwar so, dass
immer der hintermann seinen koi>f auf den nicken des Vordermanns legt, geht nicht
auf Gregor zurück, sondem findet sich schon bei I'linius VIII, 50 und dann wider-
holt >»ei Augustin, vgl. inP.salm. XU, 4, CXXIX, 4, De diuersis quae.st. LXXI, 1 . —
S. 98. Der abschnitt von der spinne in Theobalds physiologus beruht auf den (aus.
stellen wie JobVIII, 14, IsaiasLIX, 5 fg. von ihm und seinen vorgängcra entwickel-
ten) ausfühi-ungen Gregors Mor. VIII, 44: Boie htjpocritarum flducia aranearum
telis similis dicitur, quia omne, quod ad ohtinendam gloriam exsiulant, iientus
uitae mortalis dissipat . . . Aranearum tela studiose fexitur, sed sid)ito flatu dissi-
patur. — S. 99. Das hier citierte tierbuch der Leipziger Universitätsbibliothek ist
identisch mit der bereits aus dem XII. Jahrhundert stammenden versification von
Isidor, die den titel führt: Xature animalium extracte de Ysidoro (ine. Xaturis
ÜBER LAÜCHERT, PHYSIOLOGUS 239
uariis anhiialia sunt rcdi^nita, Tiiqur iuos mores Itiis rcdimlrc studc) und auch
im cod. Bcni. 4G2 s. XII/XIII f. 1 — 38'' sowie in der stiftsbiMiothok St. Florian zu
Linz im cod. IGß f. 272* — 307'' erhalten ist. Weshalb der Verfasser betrefs des
anderen Thierfelderschon hiu^\•ei^;es auf den Breslauer physiologiis nicht eine anfrage
an die doitigc Universitätsbibliothek oder an Rudolf r('i[)er, die sicher auf das lie-
benswüi'dig.ste beantwortet worden wäre, zu richten für gut l)ofandcn hat, ist uns bei
dem autor einer „Geschichte des physiologus" ebenso wenig erklürlidi wii^ so luanohe
andere Unterlassungssünde des buches.
S. 124. Die lehre von den sieben eigenschaften der taube braucht nicht aus
Alex. Neckam De nat. rer. s. lOG entnommen zu sein, findet sich vielmehr in der
patristik sehr häufig (Beda bei Migno XCIV, 02, Ilrab. Maur. zu Matth. Ill, 16,
Haymo ITom. de temp. IG, Guariicus Abbas Sermo YI de purificatione und sonst)
und war um die mitte des XIII. jahrhundei*ts gewiss längst ein gemeingut der
gebildeten geworden. — S. 134. Bei der symbolischen ausdeutung des hahiis fält
es auf, dass der Verfasser nicht das im mittelalter so sehr beliebte gedieht Miilti
sunt presbifcri, qui irjnorant qncirc (gedruckt z. b. Serap. I, 107 fgg.) zur verglei-
chung heranzieht. Auch Marbods Lapidarius kent er s. 13G nicht. — S. 139 unten.
Der hier hervorgehobene neue zug in der fabel von der erweckung des jungen löwen
geht gewiss auf Euang. Job. XI, 43 zurück. — S. 140. Die auslegung der viper-
eigenschaft auf den neid ist ganz im sinne des im mittelalter vielbezeugten Sprich-
worts, dass neid zuerst den eignen hcrrn fresse, durchgeführt, vgl. meine nachweise
zu Fecunda Ratis I, 795. — S. 142. Yon den beiden neuen zügen des raben beruht
der zweite auf dem sprichwoii Cornix cornici ocidos non effodit (vgl. auch Georges
s. u. cornix)\ der erste ist von Isidor (auch Sent. III, 43, 5) aus Gregor übernom-
men: Mor. XXX, 9, 33 Est adhuc aliud, quod de coruo moraliter possü intclliyf.
Editis namque indtis, tit fcrtur, escam ^j^erze praebeix dissimidat, 2))-insquan/
plumescendn nigrescant , eosque inedia affici patitur, quoadusqiic in Ulis j)er j)^^-
narnni nigredinem sua similitudo uideatur. Qui huc illueque uagantur in nido
et ciborum expetunt nperto ore suhsidiiim. At cum nigrescerc coeperint, tanto eis
praehcnda alimcnta ardentius requirit, quanto illos alere diutius distulit. —
S. 143 anm. G. Der hier aus Isidor bezeugte aberglaube wird sclion von Tlinius VIII,
22, 34 und Servius zu Yerg. Eolog. IX, 54 sowie iu w^ortgenauor Übereinstimmung
von Ambrosius Hexaem. YI, 4 überliefert: Liqnis si prior homineni uiderit, iiocem
eripit, et despieit eum tanquam uictor uocis ahlatae. Ideni si se praeuisiini sen-
scrit, deponet ferociam , non jwtest currere. — S. 148 z. 2 fg. Dieses gleichnis
erinnert an einen lieblingsgodanken des Petrus Chrysologus: Sol tangit stercora, non
tainen stercoribus inquinatur (Sermo 35 und 94),
S. 158. Bei der hier angezogenen stelle des ags. Crist darf man schwerlich
an den Phoenix denken, sondern an den vogel überhaupt (nach Sap. Y, 10) und wenn
an einen bestirnten, dann an den adler (nach Prouerb. XXX, 18, woher auch die
fünfte eigeuschaft der schlänge bei Hugo von Langenstein , die s. 174 angegeben wird,
zu stammen scheint). Die sprichwörtlichkeit deivartiger stellen erhellt aus Fecunda
Eatis I, 320, 524. — Auch die stelle aus der predigt Aelfrics ist schwerlich direkt
aus dem phys. entnommen: dieser gegensatz der geselligfrohen tauben und der ein-
samen, beschaulichen turteltaube wird überaus häufig, zumal zu Lucas 11, 24, von
den kirchenvätern hervorgehoben, vgl. meine nachweise zu Fecunda Ratis I, 951,
wie über den s. IGO, z. 7 — 9 angeführten zug zu I, 230. — Ebenso zweifelhaft ist
es mir, ob die auf Greg. Mor. XX, 22, 48 zuiückgehende Symbolik der rechten und
240 voi&T
linken altarsoito (>:. IGO obon) mit der Charadrius - faliol ziiRammonhÜngt. — S. 1G7.
Durch eine anniorkung der spaniselion Übersetzung von Tickuors litteraturgescliichte
wird der Verfasser auf die Madrider liandsehrift des Libro de los Enxemplos, in der
stücke vom Antholops, ITydrus und Einhorn vorkämen, aufmerksam gemacht; im
iiachtrag s. 300 fgg. wird aus dem in jener handschrift entlialteneu katzenbuche „das
bisher noch gar nicht als solches erkante bruchstück einer sjianischon physiologus-
bearbeitung'^. liesteheud aus Antholops, ITydi'us und Yulpes (die einhornfabel des
katzenbuchs ist nämlich nicht physiologisch, sondern aus dem Barlaam des Joannes
Damascemis entnommen, vgl. Zs. f. d. a. XXIII, 298) mitgeteilt. Jeder sachkundige
leser schüttelt den köpf, denn es handelt sich um nichts weniger als um etwas neues,
nur um die spanische Übersetzung des Odo de Ciiingtonia, die bereits 1865 von
H. Knust in Lemckes Jahrbuch für roman. und engl. litt. VI, 1 — 42, 119 — 141
publiciert ist, deren lateinisches original, von teilabdrücken abgesehen, 18G8 von
H. Oesterley bei Lemcke IX, 121 — 154 sowie 1884 von Her^^eux, Les Fabulistes
latins II, 587 — 71.3 herausgegeben ist, dessen quellen, auch den physiologischen
anteil, ich in der Zs. f. d. a. XXIII, 283 — 307 aufzuzeigen versucht habe; vgl.
ferner meine nachweise in den Kl. lat. denkm. s. 36 — 51, Zs. f. d. a. XXII, 387 fg.,
Oesterley bei I^emcke XII, 129 — 154 und Gesta Rom. s. 239 und 252, Hervieux I,
644 — 689. "Wenn man verwundert nach dem gründe fragt, wie es kam, dass ein
in den jüngst vei'flossenen Jahrzehnten so vielfach behandelter thiersymboliker dem
Verfasser unbekant bleiben konte, so ist die antwoii: alles was nicht ausdrücklich
die finna . Physiologiis " trägt, lässt er bei seite; dass der physiologus nur ein glied
in der ausgedehnten reihe der mittelalterlichen tierdichtungen ist und dass eine
geschichte dieses gliedes nur in dem masse gelingen kann, als man die übrigen
glieder keut und vergleichend im äuge behält, das hat er sich, wie wir unten noch
deutlicher sehen werden, nicht genügend klar gemacht. — S. 174. Des igels bosheit ist
nicht sowol aus dem physiologus, als vielmehr aus der sprichwörtlicli gewordenen (vgl.
zu Fee. Ratisl. 1502 und Gloss. Jun. 400) stelle Gregors Mor. XXXIII, 29 zu erklären.
Zu n, 3, der Symbolik des physiologus in der christlichen kunst, wird jeder
leser sich leicht ergänzungen machen können, z. b A. de Rochambeau. Prieurc de
Courtoze et ses peintures murales du XU'' siccle, Paris 1874, Hammann, Bi'iques
Suisses ornees de bas-reliefs du XIIP siecle, Genf 1869, Aus'm AVeei-th, Kunst-
denkmäler des christlichen mittolalters aus den Rheinlanden, meine nachweise zu
Ecbasis s. 57 nro 4. Die dürftigkeit seiner mitteilungen in diesem abschnitt entschul-
digt der Verfasser s. YI damit, dass kunstgeschichtc nicht seine sache sei. Das sieht
man allerdings, iind niemand wird von ihm eine geschichte der tierbildnerei im mit-
telalter verlangen. AVas man aber von ihm verlangen muss, ist die fordorung, dass,
wenn er einmal eine geschichte des physiologus schreiben will, sich ebenso wie er
in theologischen fragen die überaus wertvollen informationen des herrn professor Frie-
drich eingeholt hat, sich auch auf dem archäologischen gebiete einen sachkundigen
ratgeber sacht und nach dessen Weisungen die kunstgeschichtliche litteratur für sei-
nen besonderen zweck gründlich ausbeutet. In dem augenblick wo wir uns eine wis-
senschaftliche aufgäbe wählen, sind wir frei; haben wir sie aber gewählt, so sind
wir ihr sklave geworden.
So ■siel zu den kapitclu, die das buch enthält. Aber wir vermissen doch auch
andererseits manches kapitel. So z. b. eine klarlegung der wege, auf denen die tier-
geschichtlichen züge des physiologus aus den engeren kreisen der geistlichen und
gelehrten in die weiteren schichten der gebildeten und in das volk überhaupt ein-
ÜBER LAUCHERT, PHYSIOLOGUS 241
gednmgen sind. Hier war auf si^iolleuto und dichter, steinmotzo und liolzschnitzer,
auf die predigt und nann'utlicli auf den schuluiiteiTicht hinzuweisen. Specht, geschichte
des unterrichtswesens in Deutschland s. 148 fg., sezt auseinander, dass in der geo-
metrie - Station des (piadriviums vorzugsweise geographie vorgetragen sei, und manche
anzeiclieu wiesen darauf liin, dass sich damit ein naturgeschichtlicher uuteiTiclit auf
gmnd von Isidor, Ilraban und dem physiologus verbunden habe. Man darf hinzu-
fügen, dass zumal seit der abfassung von ThcoVtalds physiologus und je melir dieses
büchlein sich verbreitete, der physiologische Unterricht in die trivialstufc hinal)stieg
und dass man dasselbe schon in den untersten klassen neben Cato, Aviaji u. a. um
so lieber las, als man daran bequem die einführung in die motiik anschliesseu
kontc. Sowol Eberhard von Bethunc (Laborintus HI, 87 fg.) wie Hugo von Trimberg
(Registrum 088, 74G — 749) bezeugen den physiologus als Schulbuch, und lezterer
nent ausdrücklich Theobalds dichtung unter jenen elementarbüchern , qui in studio
currunt piterorutu (690); in dem Wossobrunncr katalog vom jähre 1227 (Sorap. II,
258) wird der physiologus unter den lihrl scolasticl aufgeführt, und in dem von abt
Frowin (1131 — 78) abgefassten Verzeichnis der Engelberger büchersamlung ersclieint
als selbständige grujjpe eine mit dem pliysiologus beginnende schriftenreilie (Liher
de natura hcstiarum — Auianus (bis) — Auianus nouus — Fahulc jmetarum —
Nouus Cato — Expositio fahularuni — Cato), die, wie E.G.Vogel (Serap. X, 121)
richtig mutmasst, eine besondere, von den übrigen handschriften des stiftes abge-
zweigte Schulbibliothek bildeten. Wer überhaupt einige bekantschaft mit den hand-
schriftenkatalogen besizt, der weiss, wie ungemein oft sich miscellanoenbände finden,
in denen Cato, Theodul und der physiologus vereinigt sind, dermassen, dass man,
wenn das Verzeichnis der einzelnen schiiften des sammelbandes mit Cato begint, mit
einiger Sicherheit annehmen darf, nun werde auch der physiologus folgen. Diese
pädagogische seite des physiologus verdiente es wol in einem besonderen abschnitte
beleuchtet zu werden.
Ebenso muste auch die einwirkung des physiologus auf die fabelbücher des
mittelalters, namentlich auf die Phaedrus-Romulusfamilie, zu der auch Johannes de
Schepeya gehört, sow'ie auf Cyrillus von riuidone und ganz besonders auf die sich
um Reinhart und Isengrim gruppierenden tierschwänke dargetan werden, die der vei--
fasser s. 201, 205 mit einer gelegentliehen notiz abfertigt. Denn gerade hier zeigt
sich die schöpferische Verwertung der vom physiologus empfangenen anregungen
durch die mittelalterliche poesie. "Wie merkwüi'dige fortbildungen der physiologus -
geschichten bietet Cyrillus! Wie meisterhaft gestaltet Nivard von Gent das motiv
vom Scheintod des fuchses in seinem ersten schwanke! Wie deutlich spiegelt die
Ecbasis in ihrer darstellung von igel und fulica und vollends von parder (panther)
und einhorn den einfluss des physiologus auf die fabulatiou des frülien mittelalters
wider! Aber freilich, von allen diesen dichtungen hat der Verfasser keine kentnis,
trotzdem er (s. VI) germanist ist und trotzdem gerade die germanistische litteratur
der lezten Jahrzehnte aus diesem kreise so manche publikatiou, so manche Unter-
suchung zu tage gefördert hat, aus der er sowol übcrliaupt wie für diesen beson-
deren zweck etwas hätte lernen können. Wenn die fortgesezte bildung neuer special-
fächer dem Verfasser einer geschichte des physiologus das recht gibt, die ganze
fabel- und tierschwank - bewegung der lezten zwanzig jähre zu ignorieren, dann frei-
lich hört aller Zusammenhang der Wissenschaft auf.
Wir brechen hier unsere besprechung des buches ab und verzichten auf eine
nachprüfung der textbeilageu. In summa: Wir wollen genügsamen seelen den genuss
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 16
242 KINZEL
des Werkes uieht verkümmern. Es reicht im algemeinen zur Orientierung für den
■\veitei"en kreis der litteraturfreunde hin, denn es gil)t noch gar viele, die vom phy-
siologus kaum mehr als eine leere gedächtnisnotiz im köpfe hahen; für diese ist das
werk vnlstiindig ausreichend, und wir wären die lezten, die darüber murren würden,
wenn durch dasselbe ein wichtiges glied des mittelalterlichen geisteslebens algemeiner
bekant und gewürdigt würde. In diesem sinne wünschen wir ihm alles glück. Aber
neben dieser ausseugemeinde gibt es noch eine kleine, anspruchsvollere innengemeinde,
und in deren geiste glauben wir das urteil fällen zu müssen: das buch hat einige
interessante und lehrreiche kapitel; im algemeinen indessen fehlt es dem Verfasser
zu einer befriedigenden lüsung seiner aufgalie an dem ernste eindringender forschung
wie an umfassender gelehrsamkeit. Eine wirkliche geschichte ilcs physiologus soll
noch geschrieben werden.
Die ausstattung ist gut; druekfchler begegnen nur ganz vereinzelt: lies s. 25,
z. 27 rhetorisch, s. 83, z. 28 inarinus; die citate hätten sich durch kursivdruck vom
texte abheben sollen.
BERLIN. DEN" 10. ]SIAKZ 18S9. ERNST VOIGT.
König Tirol, W'iusbeke und AVinsbekin herausgegeben von Albert Leitz-
maiin. [A. u. d. t. Altd. textbibliothek horausg. von H. Paul nr. 9.] Halle,
Xiemever 1888. 60 s. 8. 0,80 m.
Der hauptwert des büchleins besteht in der neuen textrevision des Winsbeken
und der "NVinsbekin. welchen gediehteu Leitzmann eingehende Untersuchungen in
Paul -Braune Beitr. 13, 248 — 277 gewidmet hat. Er gibt doii zuerst eine collation
und untei-suehung der Kolmarer handschrift (k), welche Haupt nicht benuzt hat,
behandelt die frage nach dem dichter, dem Verhältnis der handschriftcn, über das
sich Haupt nur ganz kurz ausgesprochen hatte, der echtheit der Strophen in beiden
gedichten und endlich die beziehung zum AVigalois, welche er in abrede stelt. Die
resultate sind in der einleitung zur ausgäbe mitgeteilt. Das verfahren, welches der
Verfasser hier wie doit in der äusseren einrichtung eingeschlagen, können wir nicht
billigen. Der text erscheint ohne kritische anmerkungen; es mag das in der einrich-
tung der samlung liegen, ist aber immer aufs neue zu bedauern. Denn das Varian-
ten-Verzeichnis in der einleitung s. 13 — 16 bietet dafür keinen ersatz. Ich wüste es
nicht anders zu benutzen, als dass ich es mir in den text übertrüge, halte aber
schon seine anläge für falsch. Ebenso nämlich Avie Leitzmann in seiner abhaudlung
die Varianten der Kolmarer handschrift zu Haupts texte gab, statt zui- handschrift J
HBerliner Nibelungenhandschiift, gedruckt in v. d. Hagens Germania. Abdruck von
Leitzmann als genau befunden), so teilte er auch in der einleitung die ab weichungen
von Haupts texte mit und Haupts lesarten hinter dem gleichheitszeichen. Er belehii
uns nicht einmal über die Zuverlässigkeit dieser lesarien oder darüber, ob Haupts
angaben ausreichend sind, kuiz er fördert uns nach dieser richtung in keiner weise.
Wii- müssen fortan Haupts ausgäbe neben seiner benutzen und uns die Varianten der
handschrift k bei Haupt eintragen. Wem ist damit gedient? Gelehrten und studie-
renden wenig, bleiben die „weiteren kreise'^, denen nach dem vorwort der verfas.ser
„durch diese neuausgabe eins der vorzüglicheren gedichte des mittelalters zugängHch
zu machen'^ hoft.
ÜBER TIROL UND WINSBEKE ED. LEITZMAXN 243
Die resultate der eiiileitung sind kurz folgende. AVubrond Haupt B (Weiu-
gartner liederhandsclirit't) zu gründe legti', weil die andern ^iin ganzen die Über-
lieferung, der jene folgt, wilkürlicli verändern (Haupt s. VII), gründet Leitzmanu
seinen text auf .1 , wcleho liandsclirift mit B und C (Pariser hs.) derselben älteren
grupiK' angebörtMid den verliältnisniässig reinsten und besten text bietet. Die stro]iben-
zäliluug ist glücklicher weise dieselbe geblieben wie bei Jlaupt, da er hierbei echtheit
und unechtheit der Strophen nicht berücksichtigt. Im AVinsU.'ken werden drei Ver-
fasser angenommen: str. 1 — öü (wie Haupt), 57 — 04, 05 — 80. Der erste teil wird
dem ritter von AVinsbaeh zugeschrieben, der urkundliche uachweis seines geschlechts
um einige angaben vermehrt, dagegen der von Haupt vermutete Hermannus de Wiu-
desbach (cauonieus und später archidiaconus 1228 — 1203) als Verfasser abgewiesen.
Die gründe hierfür sind zwar bestechend, aber doch nicht zureichend. Denn für dio
„gewöhnliche datierung des gedichts, nach der es, gewiss mit recht, ungefähr in die
erste hälfte des zweiten decenuiums des 13. Jahrhunderts gesczt wird", biüngt der
Verfasser nichts bei.
Noch unangenehmer macht sich das verfahren Leitzmanns in der auf wünsch
Pauls dem büchlein beigefügten ausgäbe der didaktischen teile des König Tirol fülil-
bar. Er gibt an , dass er bei herstellung des textes aus der einzigen (Pariser heder-)
haudschrift möglichst konservativ verfahren sei und es vorgezogen habe, an manchen
stellen kleinere austösse stehen zu lassen statt wenig plausible konjekturen aufzuneh-
men. "Wenn er doch diese stellen wenigstens bezeichnet oder die lesarten in der
einleitung volständig gegeben hätte! Aber es ist kein grundsatz zu erkennen, nach
welchem er verfahren. Wir sind der ansieht, dass in einem so kleinen werke, das
man auf vier blätter drucken kann, entweder alle oder keine Varianten zu geben
sind. Und wozu das gedieht in hochdeutsche formen umschreiben, wenn die mittel-
deutsche herkunft durch die Überlieferung genügend bezeugt istV Sieht denn cni-
phacht : hackt etwa besser aus als enpfecht : Hecht? Ich meine, darüber solten wir
doch nachgrade hinaus sein. Also einige beispiele für die Unsicherheit des Verfah-
rens: alse tvirdecUcJie für als wirdeklick 5, 6 ist verzeichnet; houhet für hmiht 5, 7,
leien für leigen 0, 4 fehlt. Ebenso fehlt ün Verzeichnis u. a. 13, 4 rojmsch ro(jt.
13, 5 swas. 13, 6 die. 13, 7 dis. 13, 3 ist das in der haudschrift fehlende alhie
nicht als solches bezeichnet, usw. usw. Kurz, wer wissen will, wie das gedieht
überliefert ist, der muss doch wider Müllenhoffs sprachproben aufschlagen. Warum
steht denn im text 20, 2 xicü und sibenxie sprach die uerlt hat, in der haud-
schrift diu; 35, 3 die hahent sich (jegcn dir gestcrld für gen; 30, 0 oh duz niht
underrihtcst für dus?
Über die strophe verweist uns der Verfasser alzu kurz auf Scherer D. stud.
I, 00 anm., wo niclit viel besondres zu holen ist. Ist wirklich die waise in dem
rätselgedicht einige male weililich, wälirend die meisten stum[if ausgehen, auch die
waise 5, 0, wo Leitzmanu uirdccliche für das handschriftlicJie wirdeclich und 20, 0
wo er herre für her schrieb? Von 24 Strophen haben 20 männliche waise, jede mit
4 hebungen, bleiben nur
1, 0 dar^ man si in den landen
18 von sicerten über die schilte
21 daxs ungelouhen drahten
24 mit kröne gein in neiget.
Im lehrgedicht ist die sache ganz anders. Auch alle übrigen verse haben
stumpfen reim, und doch hat der Verfasser in str. 18, 5. 7 suungen : drungen für
16*
244 SUCHIKR
Jdungen : sinon/cu der liandsclinft in den reim gosezt. Über all diese fragen ist
kein woii verloren. Sie sind dem leser zu beantworten überlassen.
Zum König Tirol bemerken wir ausserdem noch folgendes:
29, 6 fehlt xe. furnieren dar. ist rittetUch:
so hcprt xuo xe st rite dringen.
ich vei-stehe: waffenübung ist einem ritter nötig, aber er muss sie auch im ernstfall
bewähren.
36, 7 lies: da\ dich beider schade gexeme, für: da\ sich beider schade ge-
\eme. Leitzmann fügt nach sieh ein ir. Der sinn ist: tragen deine leute einander
hass und sind sie nicht zu versöhnen, so stelle dem bei, der im recht ist, sonst,
wenn du die sache nicht einrichtest, wider in Ordnung bringst, glauben sie, dass dir
l>eider schade recht sei.
38, 5 hat die handschrift:
sicanne dir der gernde hinüber klaget,
icirt im diu helfe danne versaget,
5 ein trahtii von sinem herxen gdf,
du klebt an der stirne din,
suenne got an sime gerillte stdt.
Leitzmann liest trahen und stelt ohne not vers 6 um: der klebet ati diner stirne.
Gemeint ist vermutlich ein traht, seufzer, der vom herzen geht; denn tränen gehen
von den äugen. In vers 6 ist nach diu vermutlich schult ausgefallen; vgl. 40, 6
sin schulde an difier stirne klebet.
41 . 2. 3 handschiift luge, lies lüge. Leitzmann liegen.
9, 5 jappestift, das aus 43, 4 entlehnt ist:
diu strafe ist vipernätern gift
2tnd smdet als dax jappestift.
setzen das Mhd. wb. und Lexer als „fussangel" (?) an. Den grund hierfür sehe ich
nicht. Stift heisst dorn, wozu 9, 5 er tritet in jappestift gut passt. jappe weiss
ich allerdings nicht zu erklären. Steckt ein pflanzenname darin?
FEIEDENAU, DECBR. 1888. KARL KINZEL.
Gaston Paris, La litterature fran9aise au moyen age. Paris, librairie Hachette
et c-, 1888. YIL 292 s. kl. 8. 2,50 fr.
Von allen, die sich mit dem mittelalter beschäftigen, ist das fehlen einer über-
sichtlichen darstelluDg der altfranzösischen litteratur seit lauge schmerzlich empfun-
den worden, und so wird das vorliegende werk alseitig mit freuden begrüsst werden,
des.sen Verfasser durch abhandlungen von tief einschneidender bedeutung seine com-
petenz auf diesem gebiete widerholt dargelegt hat und mit recht für einen der ersten
kenncr desselben gilt.
Zwar ist dieses werk nicht eigentlich eine litteraturgeschichte, die auf chrono-
logischer gruridlage das almähliche heranwachsen und grosswerden der litteratur in
den vei*schiedenen landschaften zeigt. Eine solche wii'd erst möglich sein, wenn
die wichtigsten texte in kiitischen ausgaben vorliegen, wovon wir zur zeit noch weit
entfernt sind, und wenn der boden weiterhin durch Spezialuntersuchungen für den
weg des litterarhistorikers urbai- gemacht worden ist. Einstweilen Hess sich nur eine
tJBKR Cr. I'AinS, LITT. l'RANr. AU MOYKN AGE 245
Skizze geben, die alles wichtige kurz verzeichnet und ihm seinen phitz anweist, aber
nur solche werke eingehender bcliandcU, din für die weitere entwicklung der abend-
ländischen littoraturcn bcstinnnond gewesen sind.
Nur wer die niittclalterlic^hen littcraturen so buliersclit wie Gaston Paris, war
im stände auf so kleinem räum in gedrängtester darstellung so reiche belehruug zu
geben. Ist das buch auch mehr für das grosse i)ublikum der lernenden als für den
kleinen kreis der fachgelchrten bestirnt, so werden doch auch die lezteren au keinem
abschnitt vorübergehen, ohne über neue tatsachen aufklärung zu erhalten oder neue
ausitlicke zu gewinnen, wobei auch die, welche der litteratur im engern sinne ferner
stehen, wie der historiker , der Jurist, der thcologe, nicht leer ausgehen. Insbeson-
dere wird der germanist, der so viele spuren des deutschen ' altcrtums in das fran-
zösische hinein verfolgen muss, das buch als ein wichtiges handbuch bei seinen Stu-
dien stets gegenwärtig haben müssen.
Von grossem nutzen sind die am schluss gegebeneu litteraturnach weise, die
nach einem eigentümlichen prinzipe ausgewählt sind. In der regel wird nur das werk
citiert, in welchem über die betreffende frage zulezt gehandelt wurde, und welches
entweder die einschlägige litteratur verzeichnet, oder doch weitere nachweise gibt,
welche zur Orientierung ülier diese füliren.
Abweichende ansichten über einzelne punkte auseinander zu setzen ist hier
nicht der ort. Nur eine frage von algemeiner bedeutung möchte ich hier aufwerfen,
nicht um dem Verfasser einen Vorwurf zu machen, sondern um sie für die zukunft
seiner erwägung zu emi)fehlen. Die fi'anzösischen gelehrten haben sich daran gewöhnt
das provenzalische als ein von dem französischen ganz unabhängiges, selbständiges
gebiet zu betrachten. Gehört nicht das provenzalische ebenso zu dem nordfranzö-
sischen wie das niederdeutsche zum hochdeutschen, wie das galloitalische zum ita-
liänischeuV AVir alle wissen Gaspary dafür dank, dass er in seinem klassischen
werke die galloitalische litteratur des 13. Jahrhunderts mitbeiiandelt hat, und so solte
auch die provenzalische litteratur nur als ein dialektisch abweichender zweig der alt-
französischen aufgefasst w^erden.
Doch es wäre undankbar, von dem Verfasser etwas anderes zu verlangen als
er hat geben wollen, und so sei das schöne werk, dessen reicher gehalt zu dem
geringen mnfang in keinem Verhältnis steht, allen forschern auf dem gebiete des
mittelalters aufs wärmste empfohlen.
HALLE. HERMANN SUCHIEK.
AVolftraiig' Ooltlier, Die sage von Tristan und Isolde. Studie über ihre
entstehung und entwicklung im mittelalter. München; Kaiser. 1887.
YIII, 124 s. 8. 3,20 m.
Man unterscheidet seit langem zwei hauptversionen der Tristansage, die des
Berol und die des Thomas. Die frage nach der Thomasversion ist durch, die arbei-
ten Kölbings, A'etters imd Röttigers in allen hauptpunkten als erledigt zu betrachten.
Die Berolversion bat der Verfasser in diesem büchlein einer eingehenden Würdigung
unterzogen und zu diesem behufe das bisher ungeordnet daliegende material zu sich-
ten unternommen. Daliei muste natürlich die frage nach der entstehung der sage
erörterung finden. Verfasser handelt in drei abschnitten über den stoff und den
inhalt der Tristansage, über die spielmannsversion und über die höfische version,
246 KEKCKIIOFF, ÜBER GOLTIIEK, TRISTAN U. ISOLDE
das ThomnsgodicLt. An vcrscbicdcuen orten waren scliou über den stoff der sage
viele treffende bemerkungen gemacht und viele ci)isoden als dem mittelalterlichen
novellen- und märeheusehatz entnommen nachgewiesen worden. All das stelt nun
der Verfasser im ersten teil geordnet zusammen. Aus sciueu ausfühiHingen ergilit
sirh, dass sich weder aus den keltischen uamcn der sage, noch aus den wenigen
halbgeschichtlichen angaben, noch aus der kj-mrischeu oder brctonischen sagenübcr-
lieferung eine keltische Tristansage als urform crschliesscu lässt. Vielmehr lassen
sich fast alle episoden — und die Tristansago sezt sich aus lauter lose verbundenen
cpisoden zusammen — als solche nachweisen, die dem mittelalterlichen, seinem
ui"S|)niDge nach in den Orient zurückreichenden novellen- und märclicnschatz ent-
nommen sind.
Der zweite teil der arbeit, der kern derselben, beschäftigt sich mit der Berol-
vei^sion. Verfasser weist nach, dass die sogenanten Berolfragmente Überreste von
Spielmannsdichtungen, nicht aber teile eines grösseren gedichtcs seien, dass man also
nicht von einer vemon des dichters Bcrol, sondern nur von einer spielmannsversiou
i"edeu dürfe.
Der lezte abschnitt führt im anschluss au Kölbing aus, dass in den franzö-
sischen fragmenten des Thomasgedichtes, in der englischen und nordischen fassuug
und l:>ei Gottfried von Strassbiu'g verschiedene redaktionen einer und derselben höfi-
schen Version vorliegen. Anhangsweise folgt noch ein überblick über die nordischeu
bearbeituugen der Tristausage in Norwegen, Island, Dänemark und auf den Facröern.
Man wird dem Verfasser für seine interessanten Zusammenstellungen nui' dank-
bar sein können. Störend wirkt in dem vortrage die vielfache widerholung desselben
gedankens, eine gewisse breite des ausdrucks (Ursprung und entsteh uug der sage
s. IV. älteste urform s. 12), die häufige anwenduug völlig entbehrlicher frejndwörter
(wie taugieren, transferieren), die ungleichmässige handhabung der Orthographie (cym-
risch s. 7, kymrisch s. VI; cyclen s. 33, cyklisch s. 36 u. a.) und endlich die sitte,
genaue büchercitate in den Zusammenhang einzufügen, statt sie in die anmerkung zu
vei'A^eisen.
BERLIN. OKTOBER 1888. P. KERCKIIOFF.
Otto Liiiiiu;?, Die natur, ihre auffassung und poetische Verwendung in
der altgermanischen und mittelhochdeutschen epik l)is zum ab-
schluss der blütezeit. Zürich, Friedrich Schulthess. 1889. III u. 313 s. 8.
4 m.
AVer die reste der altgermanischeu poesie aufmerksam lie^t, mit sinn für das
leben und mit gefühl für die Schönheit, wird sich durch den frischen hauch ange-
mutet fühlen, der gleich dem geruch neu gebrochenen bodens aus den werten und
versen zuströmt. Ganz besonders zeichnen sich die angelsächsischen dichtungen
dadurch aus. Dankbar gedenke ich noch immer des ersten lesens von J. Grimms
einleitung zu Andreas und Elene, und der freude, die ich an den dichtungen des
Exeterbuches hatte, als ich sie zuerst studierte. Spricht sich auch daiin eine reiche
begabung der einzelnen dichter aus, so zeigt doch schon die formelhaftigkeit der
büder und wendimgen, und der schmückenden beiwörter, dieser niederschlage poeti-
schen Schaffens, dass eine poetische reiche ausstattung des ganzen volkes dadurch
bezeugt wird. Die beschäftigung mit der poetischen spräche unsers altertums, die
ja, wie die heldensage, in den epischen dichtungen des dreizehnten Jahrhunderts nach-
K. WEINIIOLD, ÜBKR LÜNING , DIE NATUR USW. 247
l<lingt, gewährt den grüstou loliii sclioii tladuicli, dass man die einsieht in die weise
gewint, wie die walirnehinungi'n und eifaiirungcn diireh die reihen der jahihundcrte
von der germanischen Volksseele verarbeitet worden sind.
Im vorliegenden hueho hat sich herr 0. Lüning die aulgahe gestelt, auf diMn
angedeuteten woge „die auffassuug und Verwendung'^ der natur in der epik bis 12'MJ
etwa darzulegen. Der „index'' (!) zerlegt den stofT in drei sehr ungleiche teile:
I. Übersichtsbild der gesamten natur in germanischer poesie. A. Die unorganische
natur: 1. liclit. U. die demente. D. Die organische natur: 1. itlhmzenreich. 13. tier-
reich. C. Verbindung der organischen und unorganischen natur: die; landschalt, das
lokal (!). — 11. Ästhetische betrachtung. A. Das verhalten des menschen zur natur,
ihre einwirkung auf sein gemüt. B. Die einwirkung des mens(.-hen auf die; natur. —
ni. Besondere eigenschaften der germanischen naturanschauung.
Diese einteilung ist gemacht, nachdem das buch fertig war. Sie ist sc-Jiweifiil-
lig gleich dem ganzen titel des buchcs und in manchen [tunkten unverständlich (so
bei 11. B. und bei 111. im ganzen). Aber juaii muss niciit nach ihr das buch selbst
beui'teileu. Abgesehen von den erforderlichen sprachkentnissen hat der Verfasser
poetischen sinn und gefüge empfindbarkeit genug, um den alten diehtungen nachzu-
fühlen und sicli in iliren lebenskreis zu versetzen. Er versteht die Stimmungen, er
begreift die daraus entspi'iugeuden gedanken, und legt an der grossen samlung dich-
terischer stellen der Skandiiuivier, Angelsachsen, Nieder- und Hochdeutschen dar,
was die Germanen in der natur salien und was aus der natur in sie hineinwirkte.
Bei manchen A^erschiedenheiten im einzelnen erhelt doch der einheitliche grundzug
der germanischeu völker auch in dieser hinsieht. Sie schauten aus dem innein her-
aus auf das äussere und beseelten sell>st das unljelebte ding, so wie die natur im
grossen, nach dem bilde und wesen des einzelnen menschen.
Indem der herr Verfasser den angelsächsischen und nordischen stellen üJ)er-
setzuugcn beigegeben hat, wird auch ein weiterer leserkreis aus dem buche genuss
und belehruug schöpfen können.
BRESLAU. K. WEIKHOLD.
Keiiiliold Becker, T\''ahrheit und dichtung in Ulrich von Lichtensteins
Frauendienst. Halle, Max Niemeyer. 1888. 116 s. 8. 2 m.
Herr R. Becker, der Verfasser des buches „Der altheimische minnesang",
legt unter obigem titel eine arbeit über Ulrichs von Lichtenstein frauendienst vor.
Er geht von dem satze aus, die kultur unsers mittelalters sei keine internationale
oder genauer keine romanisierende gewesen. Man könne wol von einer romanisieren-
den übermalung des ritterliehen lebens durch die dichter sprechen, in Wahrheit aber
sei es eigentümlich deutsch gewesen. Die turniere waren durchaus nicht nachbildun-
gen der französischen. Das minuelied war kein absenker des provenzalischen. Der
frauendienst sei durchaus nicht nach den höfischen epen und den lebensbeschreibun-
gen der troubadours zu denken, sondern war eine mit sinlichkeit gepaarte tiefgefühlte
bewunderung des geistigen adels der gebildeten frau (s. 7 zu lesen). Auf verheiratete
frauen, wie behauptet werde, sei der dienst dia'chaus nicht beschriinkt gewesen, am
wenigsten wui'den frauen den mädchen vorgezogen. — Nach dieser einleitung geht
der herr Verfasser an die prüfung des gedichts Ulrichs, weil dasselbe der einzige
authentische bericht vom deutschen minneleben jener zeit ist, und meint dui-ch die
zusaiimienhangende kritik desselben jene ansichten stützen zu können. In sechs
248 "^ErCHOLD, ÜBEK BECKER, rLRICII V. LICHTEN'STEIN
abschnitten untersucht lierr Becker nun den Inhalt des gedichts auf Wahrheit und
dichtung und schhesst mit einem kapitel „Rückblick und folgeruugen.'^ Er nent die
erzählung Ulrichs im grossen und ganzen ein milrchen, „das nur wegen der ermü-
denden breite imd oft sjtürbareu nachlässigkeit der darstellung " noch von keinem
vor ihm nachgeprüft und deshalb so lange für glaubwürdig gehalten worden sei",
ein aussprach, für den sich einige herren bedanken mögen. Er selbst lässt sich
recht breit und ermüdend und mit wunderlichen bemerkungen, welche die von kei-
nem menschen geläugnete Verschiedenheit der menschen im mittelalter betreffen
(s. 104 fgg.) dariiber aus, dass herr von Lichten stein , ein grand seigneur, die gegen-
wart hochgemut geniessen und sich und andre belustigen und zerstreuen wolto , indem
er von dem ritterlichen leben, wie er es kante (also doch kein märchcn?) ein roman-
tisch und humoristisch gesteigei-tes bild entwarf. Ich kann nicht sagen, dass herr
Becker mich durch die foiiii seines voi-trags hochgemut gostimt und durch den iuhalt
irgend belehrt hätte. Das wahre in seinen ansichten bezweifelt kein verständiger
mensch, und ich fürchte, dass auch seine verheisscne schrift über den frauendicnst,
mit dem er sich von den deutschen Studien verabschieden will, etwas bringen werde,
das neu und richtig zugleich sei. Über Ulrichs von lichtenstein fraueudieust hat
heiT Schöubach längst gesagt, was nach den hauptpunkten sich sagen lässt, und
wol weislich darauf verzichtet, in einer dichterischen lebensschilderung des 13. Jahr-
hunderts wahi'hcit und dichtung im emzelnen scheiden zu wollen.
BRESLAU. K. WEINHOLD.
Borries, Emil von, Das erste Stadium des /-unilauts im germanischen.
Strassburger dissertation. Strassburg, Heitz 18S7. 82 s. 8. 1,50 m.
Nach einer langatmigen einleitung (s. 3 — 14) über „die neuen theorieen über
den idg. vocahsmus, speziell soweit sie gennaiiisches e betreffen", behandelt der Ver-
fasser I. „AVeitcrentwickelung von germanischem e zu i nach Leffler; prüfung der
von ihm gewonnenen ergebrüsse*^ (s. 15 — 72), 11. „Erklärung des Vorgangs" (s. 73 —
77), IJI. „Zeitbestimmung" (s. 78 — 81). Der Schwerpunkt der arbeit liegt in dem
ersten abschnitt. Es wäie in der tat ganz nützlich einmal in zusammenfassender
weise den tatbestand darzulegen, der für die entscheidung der frage in betracht
komt, unter welchen bedingungen im ui'germ. ein e, unter welchen ein i gesprochen
wui'de, und vor allem wäre es nützlich die Chronologie des lautwandels c !> i für
die einzelnen hierbei in frage stehenden punkte zu bestimmen. Natürlich müste auch
die geschichte des idg. i mit behandelt und eine erklärung des noch unerklärten
wechseis von e und t, besonders im ahd., versucht werden. Auch die bcantwortung
der frage, imter welchen bedingungen im urgerm. ein ?«, unter welchen ein o gespro-
chen wurde, wäre bei einer derartigen untersuch img nicht zu umgehen. Man müste
auf zwei vei-schiedenen wegen vorgehen: einmal wären die einzehien genn. sprachen
auf das material hin zu untersuchen, welches sie bieten, zum andern die ältesten
eigennamen. Die arbeit von v. Bornes erfült in keiner weise die anfordorungen,
welche man berechtigterweise an dieselbe stellen muss. v. Boriies hat sich darauf
beschränkt zu untersuchen, „ob und wie weit der vokalismus des althochdeutschen
die theorie, die Ix'ffler hauptsächlich für das gebiet des altnoidischen erwiesen hat, stüzt
oder nicht", und wie er statt aller geim. sprachen nur das ahd. heibeigezogen hat,
so hat er statt aller für den lautwandel e r> i in betracht kommenden fälle nui' den
fall untei-sucht, dass in der folgenden sübe ein als vokal oder als konsonant fungie-
BRJ-^MER, ÜBEU VON BORRIES^ /-UMLAUT 249
rendes i stand. Die aLliaiidlung von v. Borrios ist also ilironi Inhalt nach nur ein
kleiner teil dessen, was ilir titcl verspiiclit.
Aber auch dieser kleine teil ist ungenügend. v. liorries teilt seinen stoff
ein nach solchen fiüh'ii, in (Irncii e vor / oder j der folgenden silhe zu i gewan-
delt ist, und nach solehen, in denen c goblielieii ist. Ohne auf einzelhciten wei-
ter einzugehen, verzeichne ich das ergehnis, an dem wol niemand bis her gezwei-
felt hat, dass * eingetreten ist „vor den endungen -is, -ist und -i( der 2. 3. sg.
präs. ind. ablautender verba 1. und 2. klasse", in den „ nominalliihlungcn der sub-
stantiva der /-dekhnation", in den iiauptwörtcrn ^mit den suffixen -ja, -il, -ing,
-ida^^ in den eigenschaftswörtern mit den suffixen -ja, -iy , -in, -/sc, -il, in den
Zeitwörtern auf -Jan und, fügen wir den von v. Borries mir als walirscheinlich hin-
gestelten fall hinzu, in den steigerungsfonnen der cigenschaftswörter auf -ir und -is/.
Der ileiss, welcher auf die ausführliche samlung von beispielen (s. 17 — 5Üj verwant
worden ist, ist anerkennensweit. -• Das i von ahd. ist und tnit (s. 50) erklüit sich
wie das von ih und iitih aus der unbetontheit im satze; das in betonter silbc laut-
gesetzliche e zeigt an. ags. 7?icc^.
Sehr schwach ist die Untersuchung der fälle, in welchen c vor l oder y der
folgenden silbe geblieben sein soll. Es gibt nur einen derartigen fall, für welclien
urgerm. erhaltung des e trotz eines scheinbar folgenden i zuzugeben ist, nämlich
wenn die nächste silbe im idg. auf wortschliessendes -e auslautete, liier nehme ich mit
Sievers, Paul u. Braunes Beitr. Y, 120 fgg. und 155 und Ags. gramm. -, § 131 an, dass
-c in urgerm. zeit abgefallen ist, ohne seinen einfluss auf die voraufgehende silbc zu
äussern, d. h. bevor der lautwandel e >> i eingetreten war. Beispiele: an. ags. /ncc
<; idg. *me-f/e, as. ahd. nah (andernfals wäre *nuhi zu erwarten) <: idg. nu-qe,
ags. peak (andernfals wäre *pich zu erwarten, vgl. ymb <; idg. mbhi {('(fj.ifi)) <; idg.
*tm-qe oder '^töic-qe, der vokativ sing, der maskulinen a- stamme, die 3. sg. perf.,
die 2. sing, imperativ! der starken Zeitwörter (urgerm. *bcr, *fcox usw.). Ich hoffe
ü))er dies gesetz an anderer stelle ausfülirlicher zu handeln. Diese fälle sind von
V. Borries nicht in betracht gezogen worden. AVol aber behandelt derselbe einen ähnlichen
fall, nämheli die erhaltung des e, wenn in der folgenden silbe ein c steht, für das
erst später i erscheint; z. b. in den oblirjuen kasus der schwachen deklination iFii
ahd. Man kann v. Borries von seinem Standpunkt aus keinen Vorwurf daraus machen,
wenn er auf die erklänmg dieses merkwürdigen c sich nicht eiidässt, sich vielmehr
einfach damit begnügt zu sagen, dieser fall komme gar nicht in betracht, da hier kein
altes * vorliege; /, nicht c, bewirke den germ. /-umlaut von idg. c zu i. Aber
Braime sagt mit recht in seinen und Pauls Beitr. IV, 55Ü, unursprünglichkeit des
-in gebe noch keine ausreichende erklärung für den mangel des umlauts. Dazu
komt, dass wir ja umgelautete formen wie ahd. henin haben. Durch ein Wirkung von
2:)ero , iJevKn wird man das e von peren, per in nicht erklären wollen. Es bleibt also
1) ludess ist es glaulilich , dass das c von irerin. *ck dem von *mclc ciiieu urspriuij,' verdankt,
dass iiigcrm. *ck, * ik nach *inck, * mik neu trebiMet ist. Es ist dies der einzige ausweg, uui auf den
ältesten runeninscliriften die fonn ck, ik neben den maskulinen akkusativen und den neutris auf -a zu
erklären. Mit dem ausdruck proklise (Burg, Die älteren nordischen runeninschriften , s. 20) ist tatsäch-
lich nichts irewonncn. Auch wäre nach Jihd. aba u. dyl. westirerm. *cka zu erwarten gewesen, mit erhal-
tenem a nach kmzer sübe, analog der behandlung von -i und -u; denn für dies wort bestand, von *m€k
<C idg. * Die -(je abgesehen — auslautendes idg. e schwand urgerm. unter allen umständen — , gewiss
keine Verführung nach anderem vorbüdo sein a aufzugeben. [Das postulierte *eka hat noch nach der
treruuuig der german. sprachen bestanden, wie ahd. iMm, nori. jak und das enklitische 'ka der runen-
insclu-iften beweisen. S. Norecn, Ai-k. f. uonl. fil. I, 175 fgg. Ked.]
250 BREMER
dabei: es lagen im ahd. neben einander zwei gleiehlierechtigte endungen, oberd. -in
und fränk. -en, von denen nur die erstero uinlautwirkende kraft hatte. Ich bin
geneigt auzuuehmen, dass hier vielleicht der alte idg. acceut noch eine spur seiner
Wirksamkeit hinterlassen hat, dass nämlicli idg. e nur in idg. unbetonter silbe zu
germ. / geworden ist, dagegen in idg. betonter silbe germ. als c erhalten Idieb,
gleiehviel ob die silbe nach germanischer betouungsweisc betont oder unbetont
war. Danach würde ein idg. genitiv anf -cnos^ einen ahd. gen. auf -/yj ergeben, ein
idg. genitiv auf -äws einen ahd. auf -cn. Von diesen l»eiden ursprünglich neben
einander liegenden formen, hätte dann je eiue im (»[»erdeutsclien und im fränkischen
die hei-schaft erworben. — Ujiter derselben üV)ersciirift „Das i der enduug ist jung"
behandelt v. Borries mit unrecht beisi)iele wie nuehsil neben miehsal, Icfjir neVicu
Ipiior. Hier ist das / natürlich eben so alt wie das a, weil der alte idg. ablaut
-cl-ol-l-, -cr-or-r- vorUegt. Die suflixe -il, -ir wirkten an und für sich umlaut, wie
unser iccdcl <C ahd. uucdU (neben uuadal) zeigt. Dass zufällig unter den wenigen
ahd. belegen für altes c in der stamsilbe sich keiner findet, der stamhaftes i auf-
wiese, verschlägt nichts; hier liegt analogiebildung nach den formen auf -al, -ar vor,
also legir für lautgesetzliches "'h'nir nach dem vorbild von lajar.
Der wichtigste abschnitt des buches, weil dieser allein etwas neues bringt, ist
das kapitel über „konsonantische hindernisse des wandeis von e zu *" (s. 66 — 12).
Hier sucht v. Bornes nachzuweisen, dass bestirnte gi-uppen von konsonantcn, und
zwar ,r- Verbindungen'^ und hh — nicht mit Leffler auch / -\- kons. — , den z- um-
laut von c zu / gehindert hätten-. Er operiert widerum ausschliesslich mit ahd.
material. Da ich. den ausführungen von v. Borries nicht beizutreten vermag, bin ich.
es der arbeit schuldig, auf die einzelnen beispiele einzugehen: Urherzi, uuidarperki
und die meisten beispiele Lefflers beweisen nach v. Borries selbst nichts. Skermeo
(Gl. I, 57, 34) kann neben dem skirmeo der andern handschriften nichts beweisen.
Miltherxi und armherxicli haben wie urherxi ihr e von herxa bekommen; das laut-
gesetzliche / zeigt iirliirxi. Erdin, untcrerdisc können mit ihrem c gegenüber irdin,
irdisk nur durch anlehnung an erda erklärt werden. Ferrisk hat sich an fer ange-
lehnt, äuuerßg an äuuerf, mittiferhjan an mittiferhen mütiferhon, blechin an
lieh. Damit sind in der tat alle beispiele erschöpft, auf welche v. Borries sein laut-
gesetz gründet, dass „die r- und wahrscheinhch die A- Verbindungen" den waudel
von e zu i im ahd. gehindert hätten. Und dai'auf hin führt v. Borries dies angebliche
lautgesetz im verein mit der got. brecliung ohiio weiteres auf ein urgerm. gesetz von
umlauthindemder kraft des r und h zurück!
Völlig ungenügend ist zum schluss die Zeitbestimmung des lautwaudcls e >> ^
behandelt, v. Bornes kent kein anderes beweismittel als einerseits die namen Segesfes,
Segimtmdus , Segimerus, andrerseits die tatsache, dass der lautwandel vor das voka-
lische auslautsgesetz zu stellen ist; als terminus ad quem gewint v. Borries so Sche-
rers gotische Periode (150 — 450) und er verlegt den lautwandel e > im das 2. oder
3, Jahrhundert. Wir haben tatsächlich ein grösseres material. Das erste i in dem
1; -ciujs neben -cnos könte als spätidjj. O urgenn.) angleichung aus uiidg. -onos , -cnos {(Jai-
fiorog, Tioiuh'o;,) angesehen werden.
2) Übrigens wäre , die berechtigung des e zugegeben , es noch die frage , ob dieses e nicht erst
sekundär wideruin aus i entstanden wäre. Die sache läge dann ebenso wie beim got. ai vor h und r,
von welchem man auch nicht mit v. Borries, s. 70 ohne weiteres sagen darf, es sei in ilim das alte idg. e
erhalten; die algemeine wahrschcinliclikeit spricht vielmehr dafür, dass ai erst auf gotischem boden lür
germ. i (< idg. e) eingetreten i<\.
VBKR VON BOKRIKS, /-UMLAUT 251
stamme si<jix> beweist, dass c zu / früher in imlictoiiter silbc gewandelt als iu beton-
ter umgelautet worden ist. l)azu stimmen namen wie i<('<)iinitndi(s. Die ältesten eigen-
namen erhellen aber noch deutlicher die gesehiehto des c >■ /: 1) Duieh die bank wird
* geschrieben vor gutturalem nasal (von Caesars Tul'uKji ahgesehn) Äcniinjia Plin.IV, 9G
LujacroHcs oder Intjracunca l'lin. IV, l.i(). 00, Tae. (leim. '_', IinjuionicrKS Tae. Arm.
I, GO, 7>V//^//V/;// Tae. Genn. 40, J/rr/w/y«/ Tae. CJerm. i:}, 2:«,h().i'yyoi. Ptol. 11, 11, 11,
2.1 b'yytu Vtol n, 11. 18. 10, Alanorn-yoiVtulU, 11, 2J. 21, Lacrhiijct; Jiiil Ch\k '22,
^hcxQcyyoi Dio Cass. LXXI, 12, LXXVllJ, 27, Hojiyyin L)io Cass. LXXl, 12. Der
name Tcncteri ist keltisch. Die älteste stufe des lautwandels c > * ist also die von
en(j ^ //('//. Da/.u stimt der gemeiiigerm. übeitritt von Zeitwörtern w'm pci/trn/ , firri-
han aus der e- in die /-reihe, der den Schwund des )uj vor h und den diesem vnraus-
gegangcneu lautwandel tv/y >> huj zur Voraussetzung hat; inj vor U ist sclion im 1. Jahr-
hundert u. Chr. geschwunden, wie xictunicrus (vgl. ags. Ohihcrc) zeigt'. — 2j Dio
zweite stufe war der lautwcchsel e > i in unbetonter silbe, der im 1. jahrh. n. Chr. ein-
trat. Beispiele für r: 7>;7/e^cr/ sehr oft, Baste niac oii, GuhcrniVYm. i\\\i)ij, Owjcrni
Tae. Hist. IV, 2Ü. Ann. A\ IG. 18, Ansicraria Plin. IV, 97, Canncnrf alles IMin. IV, 101
neiien Caninefatcs Voll. Fat. 11, 105, Canninefates Tae. Ann. IV, 7."}. XI, 18.
Hist. IV, 15. IG. 10, Gandcstrius Tae. Ann. 11, 88, Segestes Voll. Fat. 11, 118,
Tae. Ann. 1, 55. 57. 50. 71, ^.'eytanß- Strabon Vll, 201. 202, Vcncdl oder Vcncdae
Flin. IV, 07, Vencti Tae. Germ. 4G. Ovtvt^iu Ftol. IH, 5, 10. 20. 21. Die beispiele
für i sind zahlreicher: iSegin/ents Tae. Ann. I, 71, Sigiinerus Voll. l*at. II, 118,
2:tyi\injoo^' Strabon Vll, 202, 2:iiyi\u6i)os Dio Cass. LVI, 10, Segimuiidus Tae. Ann.
I, 57, Ztyit.iovvio; Strabon VII, 202; Vandill Plin.IV, 00, VandUii Tae. Germ. 2,
Vibilius Tae. Ann. 11, G3, Visfila Plin. IV, 81. 07. 100; Manimi Tae. Germ. 41:5;
Henninones Pomp. Mola III, 32, Plin.IV, 00, Tae. Germ. 2, Xiu^Hvoi Ptol. II, 11,
35, Charini Fun. IV, 00, Eelimum Plin. IV, 101, Canninefates Tae. Ann. IV, 73.
XI, 18, 2:,\Uvoi Strabon VU, 200, :^h$ivoi Ptol. U, 11, 14, 2iovdivoi Ptol. IL
II, 25, Varinl Tae. Germ. 40; Aliso Voll. Fat. II, 120, 'Eh'oooi' Dio Cass. UV, 33,
Amisis Pomp. Mela III, 30, Plin. IV, 100, Amisia Tae. Ann. I, GO. G3 II, 8. 23,
l4i.iioiog, \ii.uG(a Ptol. II, 11, 5. 11. VllI, G, 3, Hdisil Tae. Germ. 43, Idisiaviso
Tae. Ann. II, 16; Xaristi Tae. Germ. 42, Ovaoioroi Ptol. II, 11, 23, NaotöTai Dio
Cass. LXXl, 21, Varistae Jul. Cap. 22; Gambrivil Tae. Germ. 2, rauaßn{ovi.oc
Strabon VII, 291. — 3) Erst naehdem e in unbetonter silbe zu / geworden war,
konte dieses i ein e der voraufgehenden silbe zu i umlauten. Die einzigen sichern
beispiele für i sind Hillcviones Phu. IV, 06 und Sifjhnerus Voll. Fat. II, 118 und
wahrscheinlich Zi\hi'Oi Strabon VII, 290"; Vibilius Tae. Ann. II, 63 und zaiyytu
Ptol. II, 11, 18. 10 mit idg. e oder ^? Vgl. auch in unbetonter silbe Canninefates,
Vandilii, Vibilius, Helinium, Amisia, Helisii, (Jambrivii. Sonst steht immer e
vor i{€) der folgenden silbe: Helinium Plin. IV, 101, Helisii Tae. Germ. 43, Her-
rn inones Pomp. Mela III, 32, Plin.IV, 00, Tae. Germ. 2, Segestes Vell. Fat. II, 118,
Tae. Ann. 1,55. 57. 50. 71, Jt6;'60T;/s^ Strabon VII, 201. 202, >%m^m^',• Tae. Ann. I, 71,
1) AVäre il;unals noch nasalvokal gesprochen worilon , so würden die Römer, die in ihrem me,sa
den nasalvokal durch en widergaben , *Änctumcrus geschrieben haben.
2) Ich vermute, dass -S'//?n'ot vmA ^Hiroyreg. bei Strabon dasselbe volk bezeichnen, indem beide
namensformen sich vereinigen unter einem stamabstufcndcn gcrm. *-S'e>«i7t-, * Scnm- , daraus später
*Simin-, Sinm- > *Sibn-; vgl. DuUjubini Tae. Germ. 34 neben JovXyovf.irioi Ptol. II, 11, 17. 2ißi-
voL ist wie Dulgiibini eine (germ. oder römische?) kontaminationsbildung aus lautgesetzlichen -min- und
-bn-. Die dritte ablautsstufe -an zeigt /; ^ijuaia i?.)j Ptol. U, 11, 7.
252 BREMER, ÜBER VON BORRIES, Z"- TMLAUT
—*/'''." '/(?os Shabon VII, 292, Ztiynifoog Dio Cass. LVI, 19, Scg wnoirlifs Trg.
Anu. I, 57, :Lfyiuovi'Tog Straboii VII, 201, ^'enfOayy.og Strabou VII, 292, Vetiedi
oder Vcucdac Firn AV, 07, T'iw^/ Tac. Germ. 40, Orfr6'(ffa Ptol. III, 5, 19. 20. 21.—
4:) Gcgeu ausgaug des 1. jahrluindcrts n. Chr. ist endlich der lautwocliscl von e zu. i
vor ;/ -j- kons, auziisetzeu. Zur zeit der feldzügo des Driisus und (»crnianicus haben
die Körner jedeufals kennen gelernt die nanien: Fciuii Tac. Germ. 46 (bestätigt dunli
Jordanis Fc/mac)^ Scninoncs mon. Anc. 2G, Vell. Pat. II, 106, Tac. Germ. 39, Ann.
II, 45, -iYwiwrfi- Strabon VII. 200, -TH/j^orcs-rtol. II, 11, 15. 18, Dio Cass. LXVI, 5.
LXXI. 20. M(fllorcndi(s Tac. Ann. II , 25. Baduhc/uia Tac. Ann. IV, 73 Avird kel-
tisch sein (vgl. Ardmnua , Xchnlc/nu'a usw.). Das neue / finde ich in drei nameu
späteren Ursprungs: Bn'ntio Tac. Ilist. IV, 15, 'Jiroi't'Qyoi Ptol. IT. 11, 9 und in
«/>;'rio/ Ptol. III, 5. 20. I)er Jiame Cimbri ist keltisch. — NatürUcli ist der in frage
stehende lautwandel nicht zu gleicher zeit auf dem ganzen gei'in. Sprachgebiet durch-
gedrungen, sondern hat, von einem punkte ausgehend, erst almählich fuss gefasst.
"Wir dürfen vermuten, dass dieser ausgangspunkt dio deutsche uordseeküste gewesen
ist, weil im anglo - friesischen der lautwaudel c > i am weitesten gegangen ist, hier
auch vor einfachem nasal erscheinend.
Eine physiologische erklärung des Vorganges (v. Borries, s. 73 — 77) wird man
mit Sicherheit ei^st dann wagen können, wenn man festgestelt hat, ob das Verhältnis
des germ. o zum u ein dem von c zu i homogenes ist oder nicht. Im bejahungs-
falle war das treibende moment eine Vorwärtsbewegung der hinterzungc, im vernei-
nuugsfiiUe eine Verbreiterung derselben, offenbar der indiffercnzlage entsprechend,
weil auch die unbetonten silben davon betroffen wurden. Da der zeit nach die ein-
zelnen,, zu untei"scheidenden stufen nicht weit von einander liegen, wird man kaum
vei'schiedene physiologische triel)kräfte annehmen dürfen für den lautwandel in unbe-
tonter silbe, vor nasal und vor i der folgenden silbe.
STRALSUND, 23. MÄRZ 1889. OTTO BREMER.
ZU DER FRAGE XACH DER ENTSTEHÜNGSZEIT DES
LUTHERLIEDES.
In der Zeitschiift für kirchliche Wissenschaft und kirchliches leben, bd. I
s. 39 fgg. hat Knaacke die von Schneider frülier aufgestelte ansieht, dass M. Luther
sein lied: Ein feste bürg ist unser gott im jähr 1527 beim herannahen der pest gedich-
tet habe, zu erweisen gesucht. Der nachweis durch das von ihm aufgefundene
gesangbuch scheint mir keineswegs geglückt. Knaacke hat denselben noch dadurch
zu stützen gesucht, dass er die stellen in Luthers gleichzeitigen briefen anführte,
auf die schon Schneider aufmerksam gemacht hat und aus denen eine merkwürdige
Übereinstimmung mit dem gedankeninhalt und dem Wortlaut des liedes hervoi'gehen
soll. „Nachdem Luther'*, sagt Schneider \ „in diesem briefe (an Amsdorff 1. nov.
1527) dem freunde seine läge geschildert, geschiieben hat, wie er fürchten muss für
sein weib, das in dieser bösen zeit ihrer entbindung entgegensehe, für sein kind, das
seit 3 tagen krank darniederliege, scbliesst er mit den werten: so gibt es draussen
kämpf und drinnen schrecken, aber Chiistus suchet uns heim. Unser einiger trost,
1) Martin Luthers geLstlichc lieder, s. XXXVIU.
KLLIN'GKR, ENTSTEHUNG SZF.IT DES LUTHERLIEDES 253
den wir der wut des teufols entgt'genstcllcii, ist der, dass wir das wort gottes
haben, weklies die seelen errettet, wenn er auch «Ifii leil) verschlingt. Betet für
uns, dass wii- ilio liand gottes wacker (Miragen, und die macht und list des teu-
feis überwinden, sei es durch tod oder leben. Amen, Zu \Vittenb(!rg, am tage
aller heiligen, am zehnten jabi'estagc des sieges über den ablasskram, dessen aiige-
denken wir zu dieser stunde wol getröstet durch einen trunk feiern." Vgl. dazu
noch Küstlin, 2. aull. bd. II s. 000.
Ich will dazu nur bemerken, dass alb^ diese scheinbaren Übereinstimmungen
für die abfassungszeit des liedes gar nichts beweisen. Denn seit Luther /.n der
Überzeugung gekommen war, dass er den kämpf gegen das iiapsttum aufnehmen
müsse, bewegten ihn die gedankcm, die deni liede zu gründe liegen und er gab den-
selben in brieten und Schriften ausdruck, mehr oder weniger dem Wortlaut des liedes
sich nähernd. Und grade der stärkste anklang an den Wortlaut des liedes findet sich
in einer sehr frülicn selirift; da die Übereinstimmung, soviel ich weiss, noch nicht
bemerkt wordi^i ist, so sei hier kurz darauf hingewiesen. Es handelt sich um die
derbe abführung, die Luther dem bischof von Stolpe wegen seines mehr „tolpischeu
als stoli»ischen " zetteis angedeihen liess. (Doctor Martinus Luthers antwort auff die
tzedel so unter des Officials tzu Stolpeu sigel ist aussgaugen. Lezte seite): Nimpstu
mir den leip und die eher, du wirst mir Christum bleiben lassen. Li
diesen werten tritt die Übereinstimmung mit der lezten str(ii)he des Lutherliedes so
auffällig hervor wie in keiner anderen stelle. Dennoch aber wäre es sehr töric-ht,
wenn man daraus folgern wolte, das lied sei iui jähre 1519 gedichtet worden.
BERLIN. Gr. ELLINGER.
AB WEIHEN.
Es ist die frage, ob man in Goethes „Götter, holden und Wieland" lesen soll:
„hast mit deinem verzehrenden schwert abgeweidet ihre haare? " oder: „ abge-
wei(/et ihre haare?"
Die ausgaben und ausleger schwanken in der bedenklichsten weise. AVährend
von Bernays djGII, 398 und von Strehlkc in den 8. band der Hempolschen ausgäbe
„abgeweidet'' aufgenommen ist, auch K. J. Schröer (Deutsche nationallitt. 87. Goethe
VI, 393) so schreibt und „abgeweihet'' für unverständlich erklärt, hat Gödeke „abge-
weihet" in den text gesezt, was auch v. Löper in einer anmerkung zu „Dichtung
und ^^'ahrheit", z. 4. teil buch 16 verteidigt. Grimm hat dem in der ganzen littera-
tur vereinzelt dastehenden werte keinen platz in seinem Wörterbuch gegönt, während
Sanders in dem seinigen sich für „abgeweihet" entschieden hat. Nicht anders steht
es mit den ältesten dracken und ausgaben der farce, die noch zu Goethes lebzeiten
gemacht sind.
Die ältesten drucke und nachdrucke , darunter auch ein solcher auf der königl.
bibliothek zu Berlin von 1774, haben „abgewei^/et", die ausgäbe lezter band jedoch
zeigt, sowol die in sedez 33, 283 als auch die in oktav, „abgeweidet."
AVas tun? Zimächst muss man bedenken, dass weder jene ältesten drucke
noch die lezte zu des dichters lebzeiten gemachte ausgäbe in kritischer hinsieht hier
irgend welches gewicht haben können. Es ist ja bekant, wie ohne Goethes eigent-
lichen willen die farce von Lenz in Strassburg, jedenfals ohne jede korrektur von
Seiten des dichters, zum drucke plötzlich gegeben wmrde. Aber ebenso liess ja Goe-
the fast widerstrebend die aufnähme des Stückes in seine werke durch Eckermann
254 MORSCH, ABWEIHEN
geschehcü, das ^ abgeweihet '^ ist also hier entschiedeu uic-ht auf des dichters eigen-
sten ^villon zurückzuführen. Beweisen diese beiden losailen also gar iiiclits, so
beweist ein anderer umst<\nd desto mehr. Wir liaben die lezten spuren einer liand-
sehiift der farce bekantlich bei AVagner, Briefe an und von Merck (Darmstadt 1838)
aufweiche die herausgeber natürlich schon aufmerksam geworden sind; die bedeutung
dieses hier verborgenen indirekten Zeugnisses scheinen sie jedoch noch nicht genug
gewürdigt zu haben. S. 42 daselbst lesen wii-: 2) Götter, holden und Wieland, sehr
rein von Goethe selbst geschrieben. Nun folgt eine anzahl von Varianten dieser
dem herausgeber der biiefe vorliegenden, offenbar aus Mercks nachlass stammenden
liandschrift Goethes, welche gewonnen sind durch eine vergleichung der handschrift
mit der ausgäbe lezter band 16". bd. 33. Wülirend min eine anzabl von abweichungen
beider angemerkt sind, liat der herausgeber, der, wie die beigefügten seitenzalileu
der ausgäbe lezter band beweisen, sorgfältig und richtig verglichen, l)ei der fraglichen
stelle nichts angemerkt, obgleich die ausgäbe lezter band „abgeweihef^ bietet. Folg-
lich las er in der handschrift Goethes ebenfals „abge weihet."
Ist durch diesen allerdings indirekten schluss „abwei/^en" handschriftlich ziem-
lich sicher gestelt, so sprechen sprachliche und sachliche gründe nocli mehr dafür.
Die Goetlüsche spräche der damaligen zeit ist sehr kühn, durch homerische Wendun-
gen und pindarischen schwung beeinflusst. Jene ganze stelle in „G. II. u. W.", in
welcher der inhalt mancher scenen aus des Euripides Alkestis widergegeben wird,
ist im tone der Goetliischen öden, „Schwager Kronos" u. a. gehalten. Kurz vor
unserer stelle findet sich „ein gleichen", ein wort, das zwar nicht so kühn, aber
ebenfals ohne beispiel in der litteratur ist.^ Aber auch in den Briefen an frau v. Stein
I-, 176 vom juli 1779 lesen wir ja: „geweiht und abgeschnittne haare" (vgl. Werke
Walirh. u. Dicht. IV, 16 s. 535 (Goedeke), wo Sanders Ergänzungswörterbuch d. d.
spräche 1885 s. 621 „abgeweht" für einen druckfehler statt „abgeweiht" mit recht
ansieht), und in der Iphigenie C. und D. s. 35, v. 606 bei Bächtold: „wenn die prie-
sterin schon unsre locken weihend abzuschneiden die band erhebt. " — Gleich
„abweihen" steht ebenso vereinzelt „wegweihen", Werther I, 6. juli. — Wenn sich
nun gerade „abweihen" nicht mehr belegen lässt, so geht doch aus den angeführten
stellen liervor, dass dem dichter jener Vorgang, um den es sich hier handelt, bekant
war. Ehe die opfertiere geschlachtet wurden, wurde ihnen ein büschel haare von der
stira abgeschnitten und diese haare ins feuer gewoi'fen, womit sie dem tode ver-
fallen waren. Vgl. Schömann gr. staatsalt. II, s. 240. In der vorbildlichen stelle bei
Euripides Alk. v. 74: ciroi' töö" tyyog y.nuTÖg äyvCötj rni'ya wii'd der todesgott mit
einem ojtferer verglichen, der mit seinem Schwerte erst demjenigen einige haare vom
haupte schneidet, der ihm verfallen ist; die eigentliche opferungsceremonie wird in
der Iphigenie mit den citieiien woi-ten bezeichnet, wähi-end in dem briefe an frau
V. Stein das wort gleich deni folgenden „absclineidon" mit der Wirkung des wertlos -
und nichtigmachens gebraucht ist; im gewöhnlichen sinne von geweihten, d. li. lioi-
ligen haaren i)asst es gar nicht in den zusammenliang. Diesen Vorgang konte der
dichter aus der Ilias oder Odyssee oder sonst woher gelernt haben.
Die lesaii „abgeweihet " scheint demnach nun handschriftlich , sprachlich und
sachlich genügend befestigt und erklärt zu sein; „abweihen" bekomt hoffentlich ein-
mal seinen dauernden platz in dem Sprachschätze der deutschen Wörterbücher.
BERLIN. H. MORSCH.
1> Vgl. darüber Sanders Erg. -wtb. 1885 s. 230.
KLLINGER, DES MÄDCHENS KLAGE 255
DES MÄDCHENS KLAGE.
Soviel ich weiss, bat juau iioeh nicht beobachtet, dass Scliillers licd Des iiiäJ-
cheus klage ersiclitlich unter dem eiullusse eines Stückes aus Herders Volksliedern
steht und aller wahrscheinliclikcit nacli von deniselbeu angeregt woiden ist. Volks-
lieder, bd. U s. 18 (»Suphan- Redlich, bd. XXV s. 343): Das niiidchen am uler.
Englisch.
Jin säuselnden winde, am murmelnden baeh
Sass Lila auf bhimen und weinet' und si»raeh :
„AVas blüht ilir, ihr blumen? was säuselst du westV
Was nuirmelst du ström, der mich murmelnd verlässt?
Mein lieber, er blühte am herzcu mir hier,
War frisch wie die w^elle, war lieblicher mir
Als zephyr; o zephyr, wo flohest du hin?
0 blume der liebe , du mustest verblühn ! "
Vom buseu, vom herzen riss ab sie den strauss,
Und seufzet und weinet die seele sich aus.
Was weinst in die welle? Was seufzest in wind?
0 niädchen, w-ind, welle und leben zerriut.
Der ström komt nicht wider, der westwind verweht,
Die blume verwelket, die Jugend vergeht.
Gib mädchen, die blume dem ströme, dem west;
Es ist ja nicht liebe, wenn liebe verlässt.
Noch ein anderes lied aus Herders Volksliedern (Suphan-Iiedlic-li, bd. XXV,
s. 1G9) darf herbeigezogen werden:
Die see war wild im heulen
Der Sturm, er stöhnt mit müh,
Da sass das mädchen weinend,
Am harten fels sass sie,
AVeit über meeres brüllen
AVarf Seufzer sie und blick;
Nicht konts ihr seufzer stillen,
Der matt ihr kam zurück.
Hier beweint das mädchen ihren geliebten, der zur see gegangen und den
sie tag um tag vergeblich erwartet; da spülen die wellen seinen leichnam heran und
entseelt sinkt das mädchen über ihn hin.
Bei beiden gedichten, namentlich aber bei dem ersten, erkennen wir genau,
wie Schiller sich an dieselben anlehnte. Nicht allein in der ganzen anläge des gedich-
tes zeigt sich eine auffallende ähnlichkeit, auch im einzelnen können wir die abhäugig-
keit Schillers von den englischen liedern beobachten.
BERLIN. G. ELLINGER.
256 NACHRICHTEN
NACHRICHTEN.
Dr. Otto Bremer in Halle beabsichtigt eiue „samluug von gramma-
tiken deutscher m und arten" herauszugeben, deren verlag die firma Breitkopf
und Hiirtel in Ix^pzig übernommen liat. Das unternehmen wird eiue von dem lier-
ausgeber verfasste, für die bedürfuisse der dialektforschung berechnete, kurze „deut-
sche phonetik" eröfnen; als erster band der samluug ist eine darstellung der muud-
aii von Mühlheim an der Ruhr von dr. ^1 au r mann angekündigt.
Ein wichtiges hilfsmittel für das Studium der fa?röischen spräche und
litteratur ist kürzlich in der haudschrift vollendet und soll demnächst der grossen
königl. bibliothek in Kopenhagen übergeben werden, nämlich die von Svend Grundt-
vig begonnene (vgl. Aarböger 1882, s. 357 fgg.) und von dem archivsecretär Jörgen
Bloch fortgeführte samluug f;cröischer lieder nebst dazu gehörigem (auf grund der
samlungen von Svabo und Mohr ausgearbeiteten) wöi-terbuch. Die erstere umfasst
16 quai-tbände, das leztere 3 folianten. Die arbeit ist auf kosten der gräflich Hjelm-
stjerne-Rosenkronschen Stiftung ausgeführt worden; sie wird wegen des grossen umfau-
ges und des beschränkten iuteressentenkreises durch den drack leider nicht veröf-
fentlicht werden.
•
Die enthüllung des Walther-denkmals in Bozen wird am 15. septbr. d. j.
statfinden. Der obmann des comites, herr gutsbesitzer Andr. Kirch ebner, ladet
alle Verehrer des dichters zur teilnähme an der feierlichkeit ein.
Die DLZ (1889, ur. 15) meldet, dass von dr. Kourad Zwierzina in einer
dem 15. jahrhimdert angehörigen haudschrift des Konstanzer Stadtarchivs Wetz eis
Margaretha und der volständige Gregorius Hartmanns in einer bisher unbekanteu
recension aufgefunden sind. Das erstgenante gedieht, in welchem der Verfasser sich
nent, ist mit dem fragmentarisch überliefei-ten werke, das Bartsch (Germanist. Stu-
dien I, 1 fg.j als ^ Wetzeis heilige Margarethe" veröffentlichte, nicht identisch. Eine
ausgäbe beider dichtungen steht bevor.
Der ordentliche professor, geh. rat dr. Karl Weinhold in Breslau wui'de an die
univei-sität Berlin berufen, der ausserordentliche professor dr. Edw. Schröder in
Berlin zum ordentlichen piofessor an der Universität Marburg ernant.
An der Universität Ix-ipzig habilitierte sich dr. Eugen Mogk für nordische
Philologie, an der Universität Heidelberg dr, Herm. Wunderlich für deutsche
Sprache und litteratui-. An dieselbe hochschule ist di'. Max freiherr von Wald-
berg (bisher ausserord. prof. in Czernowitz) als docent übergesiedelt.
Halle a. S. , Buchiirnckerei des Waisenhauses.
DIE ALAISIAGEN BEDE UND FIMMILENE.
Seit E. Hübuer iu der Westdeutschen Zeitschrift für geschichte
und kirnst 3, 120 fgg. über zwei zu Housesteads (Borcovicium) am
Hadrianswall im november 1883 gefundene sandsteinaltäre berichtet
hatte, welche unter kaiser Severus Alexander in römischen diensten
stehende Germanen aus der landschaft Twente „Marti Thingso et
duabus alaesiagis Bede et Fimmilene" gesezt haben, durfte man
auf eine äusserung der germanisten über diese bisher unbekanten
deutschen gerichtsgottheiten gespant sein. Das erste wort sprach
W. Scherer. Schon am 24. mai 1884 las er vor der Berliner aka-
demie über „Mars Tlnngsus" und, als ihn inzwischen R Heinzel auf
das friesische Bod- und Fimelthing aufmerksam gemacht hatte, am
29. mai desselben Jahres über die alaisiagennamen Bede und Fimmi-
lene i. Seine erklärung des wertes „alaisiagis" bezeichnete er freilich
nur als notbehelf. Jezt hat auch Karl Weinhold in dieser Zeit-
schrift 21, 1 fgg. über „Tius Things'^ gehandelt und dabei auch die
alaisiagen besprochen. Thingsus und Bede deutet er wie Scherer,
Fimmilene und die alaisiagen abweichend. Aber auch er gibt seine
erklärung des wertes „alaisiagis" ausdrücklich nur für einen fraglichen
versuch aus.
Mr scheinen durch die bis jezt vorliegenden erklärungsversuche
nicht nur die alaisiagen, sondern auch die namen Bede und Fim-
milene noch niclit sicher gedeutet und daher auch das wesen dieser
gottheiten noch nicht genügend erkant zu seüi; und da ich durch eine
Untersuchung, die einen anderen ausgang als die bisherigen nahm, zu
ergebnissen gelangte, die mir sicher zu sein schienen, so wage ich,
nach zwei so gewichtigen stimmen auch mich über jene gerichtsg<jtt-
heiten vernehmen zu lassen. Ich glaubte mich nämlich, weil spräche,
recht imd religion der Deutschen zu kaiser Alexanders zeit bei allen
1) Der erste voiirag erschien in den Sitzungsberichten der Berl. akad., jahrg.
1884, s. 571 fgg. Über den zweiten Vortrag vgl. Scherers brief an Hübuer in der
Westdeutsch, ztschr. f. gesch. ii. kunst 3, 292.
.ZEITSCFRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXU. 17
258 JAEKEL
gemeinsamkeiten ihr wirklielies leben doeli mir im recht, der spräche
imd religioii der ciiizehieu stamme hatten, bei einem versuche, die
namen „alaesiagis", „Bede^*, „Fimmilene" zu deuten, zunächst an die
spräche und den vorstellungskreis nur eines Stammes wenden zu dür-
fen. Es konte dann aber, da jene altäre laut ihrer inschriften xon
anfrehöriüen des friesisclien cuneus errichtet worden sind und da die
beiden alaesiagennamen unverkenbar auf die friesische unterschei-
dimg zwischen B<h1- und Fimelthing hinweisen, nui' der friesische
stamm in frage kommen. Dali er unternehme ich es hier, die namen
Jener gottlieiten aus der denkweise und spräche der Friesen zu
erklären.
Ein starkes bewustsein von der heiligkeit des rechtes hat von
jeher in dem charakter des friesisch -chaukischeu Stammes den grimdzug
gebildet. Von seinem lebhaften interesse für recht und gericht zeugt
es, dass die gesamte friesische litteratur des mittelalters lediglich aus
rechtsaufz eich nun gen besteht, und dass die sage bei diesen stam-
men nur da erscheint, wo es den Ursprung rechtlicher einrichtungen
zu erklären gilt, oder wo sie gestalten, die iu das rechtsleben des
Volkes eins:eo:riffen haben, umranken kann. Nach aussen bekundet sich
derselbe sinn in einer fi'üh beobachteten abneigung gegen angrifskriege
und in einer rücksichtslosen entschlossenheit und zähen ausdauer, so-
bald es sich um abwehr von rechtsverletzungen handelt.
Schon Tacitus hat von diesem friedfertigen, gesetzlichen sinne der
friesisch -chaukischen Völker künde gehabt. Er schildert Germ. 85 die
Chauken als einen „populus inter Germanos nobilissimus quique magni-
tudinem suam malit iustitia tueri. sine cupiditate, sine impotentia,
quieti secretique nulla provocant bella, nullis raptibus aut lati'oci-
niis populantur. id praecipuum virtutis ac virium argumentum est,
quod ut superiores agant non per iniurias assequuntur. prompta
tamen omnibus arma ac, si res poscat, exercitus." Die geschichte
hat gezeigt, dass diese Charakteristik richtig ist. Die erhebung der
Friesen gegen die Römerherschaft im jähre 28 nach Chr., welche zuerst
(Tacit. ann. 4, 74) den friesischen namen unter den Germanen berühmt
gemacht hat, war lediglich ein kämpf für das verlezte positive recht.
Sie hatten sich 12 vor Chr. — mit einer für einen deutschen stamm
auffallenden bereitwilligkeit — zum anschluss an Drusus und zu einer
geringfügigen abgäbe an die Römer verstanden. Als aber der römische
präfekt die abgäbe wilkürlich erhöhte, erhob sich das volk für das
gekränkte recht und warf die fremdhei'schaft siegreich ab. Demselben
eintreten für das gekränkte recht entsprang im mittelalter der 500jährige
BEDE UND FIMMILENE 259
kämpf um die friesische freiheit^ Derselbe geist weht im niederläii-
dischen freiheitskampfe wie in den ostfriesischen Ständekämpfen, und
er lebt noch heute im anwohner der nordsee, der mit Zähigkeit am
hergebracliten rechte hängt.
Woher der friesisch -chaukisclie stamm diesen sinn hat, ist klai-:
die natur seiner Wohnsitze hat ihn geweckt und dauei-nd fiisch
erhalten. Auf dem tiefliegenden, flachen und schmalen küstenstreif,
dessen dünenwall lange vor dem beginn unserer Zeitrechnung zerbröckelt
war, konte der Ingävone nur auf warften, wie noch heute der bewoh-
ner der deichlosen nord friesischen hallig, und später unter dem schütze
der deiche seine hütte bauen. AYarften- und deichbau sezt aber com-
munale Vereinigungen voraus und ruft eine fülle rechtlicher Verhält-
nisse ins leben, ohne deren sorgsame conservierung solche Wasserbauten
nicht dauern können. Nur wer sich vergegenwärtigt, dass dem Friesen
und Chauken die miiglichkeit der existenz überhaupt von jeher an
seinen deichen und waiften hieng, wird den ingävonischen geist fried-
fertiger rechtliehkeit ganz begreifen. Um den grund seiner wogenum-
spülten armseligen hütte (Plinius N. H. XVI, 1) vor beschädigung zu
hüten und fest zu erhalten, muste er mit den nachbarvölkern und
innerhalb der gemeinde auf dem friedlichen wege des rechtes und
der billigkeit auszukommen suchen. So hat dem Ingävonen die natur
selbst, von der er sich ganz besonders abhängig fühlte, die tiefe ehr-
furcht vor recht und gesetz anerzogen.
Im zusammenhange mit diesen erwägungen ist es mir von jeher
bedeutsam erechienen, dass die Chauken als ihren hauptgott, dessen
angesehenstes heiligtum sich auf Helgoland befand, den dem gericht
Vorsitzenden, streit schlichtenden Forsite verehrten, den die
spätere nordische mythologie zum söhne des licht- und gerichtsgottes
Balder machte-. Es lag die annähme nahe, dass auch der hauptgott
der Friesen ein gerichtsgott gewesen sein müsse. Da ich nun aus
Ortsnamen imd gebrauchen , sowie daraus , dass gerade die ältesten kirchen
der Friesen dem Schwertträger Michael geweiht sind, schliessen muste,
1) Diese meine ansieht von den freihcitskämpfen der Friesen weicht von dem
resultate der forsclmngen Karls von Eichthofen ab , wie er es in den ersten drei bän-
den seiner Untersuchungen über friesische rechtsgcschicbte (Berlin, 1880 — 82), bei
deren drack ich ihm zur seite stehen dui-fte, dargelegt hat. Die ausführliche begrün-
dung meiner meinung wird meine demnächst erscheinende Geschichte der friesischen
freiheit bringen.
2) "Weinhold a. a. o. s. 14 fg., Scherer a. a. o. s. 576, v. Eichthofen Unters. U,
399 f gg. 434 fgg. , Grimm Myth. 190 fgg.
17*
260 JAEKEL
dass der liaupti^ott dieses Stammes Tius gewesen, so blieb nur die
Vermutung übrig, dass diese alte arisch -germanische himmelsgottheit
auf friesischem boden die züge des gericlitsgottes angenommen habe.
Diese vermutumr wurde mir durch die inschriften der beiden
votivaltiire von Borcovicium zui- gewissheit. Die eine lautot: Deo
Marti Thingso et duabus alaesiagis Bede et Fimmilene et
n(umini) Aug(usti) Germ(ani) cives Tuihanti v(otum) s(olve-
runt) l(ibentes) m(erito); die andere: Deo Marti et duabus alai-
siagis et n(umini) Aug(usti) Ger(mani) cives Tuihanti cunei
Frisiorum Yer... Ser... Alexandriani votum solverunt liben-
t[es] m(erito). Schliesslich begegnet der name „Tingsus" noch auf
einem dritten steine, der in Cumberland gefunden wurde und die
Inschrift trügt: Deo Belatucadro a muro sivi Tus Tingso ex
cuneum [Fr]is[iorum Ger]manorum^
Die landschaft Twente, aus der diejenigen angehörigen des cu-
neus Frisiorum, welche die beiden altäre errichtet haben, stamten,
muss ebenso wie die Drente, nach ausweis der ältesten Ortsnamen und
nach andeutungen der friesischen sage, einst von Friesen besezt gewesen
sein, die dann von osten her vielfach von den Sachsen eingeschränkt
und endlich von süden her durch chamavische Franken verdrängt und
überflutet wurden. Die Lex Francorum Chamavorum zeigt, wie eng sich
dort das leben der drei stamme berührte. Zu kaiser Alexanders zeit
war der fi'iesische stamm offenbar noch im alleinbesitz jener striche,
und so erklärt es sich, dass die von den Römern ausgehobenen „cives
Tuihanti^ in den cuneus Frisiorum eingestelt wurden. Die damalige
spräche der Twenter war also friesisch.
Die deutsche fomi des namens Thingsus, welche friesisch
..Things" lauten würde, wird von Scherer und Weinliold von dem
adjectivstamm ihingsa- hergeleitet, der mittelst des secundärsufiixes
-a-, welches adjectiva und appellativa bildet, die in irgend einer bezie-
hung zum gnmdworte stehen (Zimmer, QF. 13, 214 fg.), aus dem neu-
tralstamme thinfjsa- abgeleitet ist. Dieser neutralstamm liegt im lango-
bardischen thinx (Edictus Rothari 171 fgg.) vor, welches rechtsgeschäft,
gerichtliche handlung bedeutet. Ist diese ableitung richtig, so kann
Things nicht mit Scherer (s. 574) als volksversamlungsgott, son-
dern nur als gott der rechtshandlimgen , also nur mit Weinhold (s. 4)
als gerichtsgott gedeutet werden.
1) Ich gebe die Hübnersche lesung aus der Westd. ztschr. 3, 120. Die 3.
inschrift ist Ephemeris epigr. III, nr. 85 aus Bi-uco Laj^idarium scptentrionale nr. 807
mitgeteilt. Eine genaue beschreibung der altäre gibt auch Weinhold a. a. o. s. 2 fgg.
BEDE UND FIMMILENE 261
Diese giammatisehe erkliiniii^' do^ namens „Things'' wäre olnie
weiteres anziineliineu, wenn Jene altäie von einem ostg-ermanischen
stamme erriehtet Avordcn wären. Da sie al)»'r von iuiesen gesezt wnr-
den, so ist dorli zu bedenken, dass dt'r imese, dessen gerielitssprache
wir sein- genau kennen, nielits von einem neutralstannne thinij:sa- weiss,
und dass er das, was der Langobaide dureli Uiinj: bezeiehnete, flumjdth
(v. Eielith. , Fries, wb. 1073) naiitc AVolte man nun aber den namen
des iriesisehen Things von dem adjeetivstamm tlihifja- herleiten, der
sich mittelst des secimdärsuttixcs -a- aus doni genieingerm. neutral-
stamm fhitiga- „volksversamlung'' gebildet habe, so würdo man ein-
wenden können, dass im Friesischen wie in allen westgerm. spiachen
das consonantische auslautgesetz das auslautsende -.s sehr früh entfernt
habe. Es fragt sich aber noch, ob diese entfernung des auslautenden
-!s im Friesischen bereits im anfange des 3. jalu'lumderts durchgeführt
war. Zur zeit des Tacitus war dies, wie der von ihm (Ann. 13, 54)
überlieferte friesische königsname „Malorix'' zeigt, noch nicht der
fall; nnd wenn in der angeführten 3. Inschrift „Tus Tingso" als
dativ von „Tus Tingsus" betrachtet werden solP, so ist ja durch den
nominativ Tus (für „Tius'') das auslautende -6- für die zeit unserer
inschriften nachgewiesen. So lange also nicht für das 3. Jahrhundert
der Wegfall des auslautenden -.s nachgewiesen ist, könte man immer-
hin „Things'' vom stamme tliuiga- leiten. Aus dem friesischen nomi-
nativ „Things" hätte sich dann der römische Steinmetz sein „Thingsus"
zurechtgemacht nnd weiter deklinierend den dativ „Thingso'' gebildet.
Das richtige ist, dass tliuig ursprünglich thiiigis thiiigs lautete, von
dem „Things" durch das a-suffix gebildet wurde. Der friesische name
„Things'' bedeutet also volksversamlungsgott.
Mit recht haben Scherer und AYeinhold das wort „Thingso" auf
unseren inschriften als adjectivisches attribut zu Mars, nicht als Sub-
stantiv gefasst; und da Mars die interpretatio romana des Tius ist, so
müssen die Friesen den gott jener altäre als Tius Things bezeichnet
haben, wobei aber mnner vorausgesezt ist, dass das auslautende -5 im
3. Jahrhundert noch vorhanden war.
Über das wesen dieses gottes haben Scherer und Weinhold ein-
gehend gehandelt. Wir werden nach der besprechung der alaisiagen
noch einiges über die beinamen beibringen, die Tius bei Friesen und
Chauken führte.
Das inschriftliche „alaisiagis" oder „alaesiagis" zerlegte Sche-
rer (s. 579) in „al-aisia-gis" und meinte, es könte zur not erklärt Aver-
1) Vgl. dazu Sclierer a. a. o. s. 575.
262 JAEKEL
den als die „algeehrten'\ wenn man aus dem einen ahd. ereöm in den
Gl. Ker. 109, 36 auf ein germ. aiy'd- „die ehre^' schliessen dürfe.
Diese deutung befriedigt nieht. In sprachlicher hinsieht ist es doch
bedenklicli, aus dem nur einmal vorkommenden ereöm erst das wort
zu erschliessen, von dem „ alaisiagis " abgeleitet sein soll. Nach der
sachlichen seite aber ist mit der bedeutung „den algeehrten'' nichts
gewonnen, denn dieser farblosen bezeichnung fehlt jede beziehung zu
reclit und gericht; und doch ist es ganz unwaln-scheinlich, dass, wäh-
rend die beziehung des hauptgottes zum gericht in einem besonderen
beinamen klar zum ausdruck gebracht ist, die bezeichnung der beiden
ihn als gerichtsgott begleitenden, tiefer stehenden weson mit keiner
silbe auf eine gerichtliche function hindeuten solte.
So ereezte Weinhold die Scherei*sche deutung dui'ch eine ungleich
ansprechendere. Er nahm die zweite silbe für ai (ae) „gesetz" und
gewann damit die beziehung zum recht. Dann schlug er vor, „siagis"
in „sagiis" zu ändern, und übersezte das so erhaltene „alaisagiis" oder
„alaesagiis" durch ,,den grossen gesetzsprecherinnen." Bekantlich wird
der friesische gesetzsprecher (dscga) nach der friesischen sage (v. Richt-
hofen, Unters. II, 459 fgg.) durch unmittelbare belehrung eines gottes (es),
in dem AVeiiihold richtig den Tius Things erkante, in die kentnis des
rechts eingeweiht, sodass er als diener und priester des Tius aufgefasst
werden kann, zumal der Zusammenhang zwischen dem gesetzsprecher-
amt und dem priestertum in mehreren älteren deutschen benennungen
für richterliche beamte klar angedeutet ist. So erklärt denn Weinhold
(s. 12) die „alaisiagae" oder, wie er ändert, „alaisagiae" für solche
gesetzsprecherinnen , '^cdsagjcms, „die des grossen gerichtsgottes Tius
Tiggs gehilfinnen sind, gleich wie der '^aismjja neben dem richtor stand,
um den urteilenden männern der gerichtsgemeinde das göttliche recht
zu lehren"; kurz, die beiden alaisiagen sind ihm die göttlichen
Vorbilder der asegen.
Gegen diese ungemein ansprechende auffassiuig der alaisiagen als
Vorbilder der asegen lässt sich sachlich nichts einwenden. Was die
sprachliche seite betrift, so Avird zugegeben werden müssen, dass in
der zweiten silbe das wort ai (ae) „gesetz" vorliegt, aber „siagis" in
„sagiis" zu ändern scheint mir nicht möglich, da beide inschriften,
die, wie die form „akesiagis" neben „alamagis" zeigt, in ihrer ortho-
igsraphie nicht von einander abhängen, „siagis" haben. Ich lege daher
füi' meine deutung das inschriftliche „alaisiagis" zu gründe, das ich
versuchen wil^ aus dem vorstell ungskreise und der spräche der Friesen
zu erklären.
BEDE UND FIMMILENE 263
Auch der Friese brachte seinen gesetzspreclier, den asega, in die
engste beziehung zum priester. Die 3. unter den siebzehn algemeinen
küren vedangt vom asega, der alles recht zu wissen hat (tenetur
scire umnia iura), dass er gerecht und unparteiisch urteile, „quia
asega significat sacerdotem, et ipsi sunt oculi ecclesiae et debent
iuvare et viam ostendere, qui se ipsos nun possunt iuvare" (v. Riclit-
hofen, Unters. I, 34, Fries, rechtsqu. 4 fgg.)- In diesen werten ist die
Vorstellung, die sich der Friese von seinem asega machte, klar ausge-
sprochen: asega und priester, ursprünglich identisch, sind die äugen
der Christenheit; alle übrigen sind blind und können daher den rech-
ten weg nicht finden. Darum müssen sie von den sehenden, dem
asega und dem priester, unterstüzt und zurechtgewiesen wTrden. Den
schärfsten ausdruck hat dieser friesischen auffassung der sehr alte
Küstringer text der küre gegeben. Wenn der asega, heisst es hier,
sich bestechen lässt und dessen überführt wird, „sa ne hach hi nenne
doni mar to delande, thruch tliet tlii asega thi biteknath thene
prestere; h wände hia send siande, and liia skilun wesa agon there
heliga kerstenede; hia skilun helpa alle thani ther hiam selvon nauwet
helpa ne mugun" (v. Kichthofen , Fries, rechtsqu. 7, 19). Der Friese legt,
wie man sieht, alles gewicht auf das sehen des rechtes; und das konte
nicht andei"s sein, da der friesische asega nur gefragt und besonders
aufgefordert das recht w4es, nicht, wie der isländische iQgsogumadr,
regelmässig vortrage über das gesetz, die iQgsaga, hielt. Der gesetzes-
vortrag, die *aisaga, trat dem Friesen in der vorstellimg vom asega
volständig hinter das schauen, d. i. wissen des rechtes, die *ama^,
zurück. Wenn also in den beiden alaesiagen die göttlichen Vorbilder
der asegen zu erblicken sind, so müssen unter ihnen nach friesischer
auffassimg göttimien gedacht werden, denen die "^cd-sla in volkoni-
menem grade und dauernd eignet, also lüclit „gesetzsprecherinnen",
sondern „gesetzseherinnen." Daher kann das wort meines erachtens
nur aus cd, dem zur Verstärkung des wortbegriffs vorgesezten adjec-
tivum, und "^aisiag- zusamiuengesezt und lezteres von '^aisia „gesetz-
sehen", „ gesetzeskiQide " durch das adjectivsuffix -ga (ICuge, Stam-
bildungslehre §§ 202 u. 207) gebildet sein, sodass also '^cdsiag- „mit
dem recht-sehen, der gesetzeskunde behaftet'' und alcdsiagis
„den erhabenen rechts eh er in neu'' bedeutet. Die alaisiagen sind
also die gehilfinnen des friesischen hauptgottes Tius Thmgs, welche das
1) Vgl. Y. Eichthofeu, Altfrics. wörtcrb. s. 1010 unter sia und die dem Sub-
stantiv *5i« analoge bildung hera (gehör, hören) s. SlO.
264 JAEKEL
gesetz schauen und daher stets und volkommen wissen, die erha-
benen ffesetzseherinnen, und damit das echte vorbild der friesischen
b
asegen.
Was bedeuten nun die namen der beiden gesetzseherinnen?
Die Bede fasste Scherer als „die personiticierte bitte, d. h. auch
gebot, befehl''; ,,zum bodthing habe bei den Friesen eine ladung (beda
„bitte'', später bod „gebot'') statgefunden " (Mars Thingsus s. 579,
"Westd. ztschr. 3, 292). AVeinhold sezt Bede = Beda und identificiert
diese Beda mit ahd. ßiota (fränk. Bio da, Förstemann, Altd. namenb.
I, 265). So erhält er die bedeutung „die gebietende, zum ding for-
dernde." Dieser deutung, die auf der annähme, dass Beda = Beda
sei, ruht, steht ein schweres sachliches bedenken entgegen. Yom laden
zum Thing spricht nämlich keine friesische rechtsquclle, wenn sie die
teile des friesischen ihlmja (placitare) aufzählt. Deren gibt es lediglich
zwei: die Verhandlung (duorum allegationes, twira tale) und das
urteil des äsega (asega-iudicium, asega-dom, Kichtli., Unterss. I, 39,
Fries, rechtsqu. 26 fg.). Solte also eine göttin des gerichts von etwas
den namen haben, was gar nicht zum gerichte gehörte und, fals es
vorkam, für den begriff des gerichtes unwesentlich war? Zum laden
hätte es überdies keiner besonderen gesetzeskunde bedurft, sodass es
mir nicht denkbar scheint, dass die erhabene rechtseherin davon ihren
namen erhalten haben solte.
Was Scherer und Weinhold zu ihren erklärungen veranlasst hat,
war die unzweifelhaft richtige bemerkung Heinzeis, dass die namen
Bede und Fimmilene auf die friesische Unterscheidung zwischen bod-
und fimelthing hinweisen. Nun bezeichnet aber „bodthing", welches
„ gebotenes Thing " bedeuten soll , öfters gerade das „ ungebotene " ge-
richt (Grimm, RA. 827). Man Avird also zugeben müssen, dass das wort
„bodthing" entweder überhaupt nicht oder wenigsens nicht ursprüng-
lich „gebotenes Thing" bedeutet haben kann. Yon diesem werte
kann man nicht bei der deutung des alaisiagennamens Bede ausgehen;
aber sachlich stehen „Bede" und „bodthing" im engsten zusammen-
hange, und aus der sache werden sich weiter unten beide werte
erklären.
Mehr Schwierigkeiten als Bede machte den beiden gelehrten der
name Fimmilene. Scherer (s. 579) erklärte mm für eine unorganische
Verdoppelung, sezte dann got. "^Fimilö an und wolte das wort an das altn.
fiinr „gewant", „geschickt" anknüpfen. „Dem befehl", sagt er, „stünde
dergestalt die geschickte ausführung gegenüber, und die beiden algeehr-
ten oder ehre besitzenden und daher ehre verleihenden wären zwar
BEDE UND FIMMILENE 265
üicht walküi-en, aber göttinnen oder genien der discipliu. welche den
Tius Things sehr passend begleiten würden: ehre wird durch den
zweckmässigen befehl und dessen geschickte ausführung erworben**
(s. 580). In dem vortiage vom 29. mai wies er dann noch besonders
auf das fimelthing als das bewegliche gericht der Friesen hin (Westd.
ztschr. 3. 293). Dafür, dass mm eine unorganische Verdoppelung ist,
spräche allerdings, dass das wort fimelthing im friesischen schulzen-
recht mit einfachem m geschrieben ist: doch ist der text desselben so
mangelhaft überliefert, dass darauf nicht viel zu geben ist. AVichtiger
scheint mir. dass die mit jenem alaisiagennamen zusammengesezten
Ortsnamen, über die unten zu handeln ist, auch nur ein m haben,
und deshalb halte ich ebenfals juin für eine unorganische Verdoppelung.
Aber die deutuug Scherers halte ich trotzdem für luu-ichtig. Denn der
blassen bedeutung „die geschickte" fehlt ja die beziehung zum gericht,
und wie gewunden ist der weg. auf dem Scherer dieselbe mit dem
algemeinen begriff ..die algeehrten" iu verbinduni:' bringt!
Weinhold, der diese erklärung mit recht verwirft, leitet aus Fim-
milene einen nominativ Fimmila ab. Er fasst das inschriftliche ,.Fim-
milene " ebenso wie ..Bede*' als lat. dativ. Es ist aber schwer glaub-
lich, dass eine römische Inschrift aus dem anfange des 3. Jahrhunderts,
die sonst die korrekten endungen hat, gerade bei diesen zwei Wörtern
statt der endung ae ein e gesezt haben solte. Es scheint vielmehr
bei diesen beiden namen die lateinische tlexinn unterblieben zu sein,
sodass dieselben im nominativ ..Bede" und ..Fimmilene" gelautet haben
werden. Dem würde nun freilich die von AVeinhold nach Wackernagel
augeführte regel wider.sprechen. dass ..im ersten halbjahrtauseud des
mittelaltei*s" bei der deklination deutscher namen, welche schwache
feminina (nom. -d) sind, die casus obliqui nicht selten durch verbin-
dimg eines ableitenden an mit den endungen der lateinischen deklina-
tion hergestelt werden \ sodass also der nominativ von „ Fimmilene "^ ,
welches für ..Fimmilane** stehe, ..Fimmila" sei. Xun hat aber ATacker-
nagel jene regel aus beispielen des 5. bis 8. Jahrhunderts abgezogen,
sie kann cüso streng genommen erst seit dem 5. Jahrhundert zu gelten
begonnen haben. Dass sie zu kaiser Alexandei*s zeit nicht galt, lehrt
überdies die neben ..Fimmilene" stehende form ..Bede.** Warum hieb
1) ^\'aekernagel , Sprache imd spraelidenkmäler der Bui-giinden s. 43; bestäti-
gimg fand er bei d'Ai'bois de Jubaiavüle Etüde öur la dechnaisou des noms propres
dans la langue fi'anque a l'epoque merovingieime s. 44 fgg. und Fr. Blulinie Gens Lan-
gobai-doiimi heft 2. s. 29.
266 JAEKEL
denn der Steinmetz nicht auch „Bedene" ? Aus keinem anderen gründe,
als Aveil seine friesischen auftraggeber die eine alaisiage eben Bede,
die andere Fimmilene nanten.
AVeiDhold hält nun (s. 13 fg.) „Fimmila" für eine doppelt hypo-
koristische namenform, die von Frithumod „die friedebegehrende''
oder von Frithumund „die friedeschützerin" ebenso gebildet sei, wie
die friesischen namen Temmel, Gammel, wie die kosenamen Kemmulo,
Cuffolo, Oppila, Hibbelo und andere. „Der name Frithumund sei für
eine rechtsgöttin , welche durch ihre belehrung Streitsachen zum end-
lichen austrag bringt, wol geeignet.'' Bedenklich ist hierbei, dass
weder Frithumod noch Frithumund den Friesen geläufige frauennaraen
waren, dass das femin. „Fimme", von dem ,,Fimmila'' abgeleitet sein
soll, sich nicht belegen lässt und dass die drei durchgangsformen
Feddma, Ferdma, Fred Dia auch nur erschlossen sind, dass sich also
nirgends ein fester anhält bietet. Von den angeführten analoga sind
die Salzburger namen des 9. Jahrhunderts Kemmulo und Cuffolo
nach Stark (Kosenamen der Germanen 14:3) vielleicht keltisch, Hibbele
begegnet erst im 14., Temmel und Gummel erst im 17. Jahrhundert.
Auch das masc. „Fimme", „Femme'' ist erst seit dem 17. Jahrhundert
nachweisbar. Solte sich also ein name „Frithumund" auf friesischem
boden zum kosenamen umgebildet haben, so hätte er im 17. Jahr-
hundert erst bis zu „Femma" gelangt sein können, aus dem sich
dann erst „Fimma" und „Fimmila" hätte bilden müssen. Der alai-
siagenname „Fimmila" ist aber schon im anfang des 3. Jahrhunderts
fertig. Dazu scheint mir die bedeutung „ friedeschützerin " noch zu
algemein zu sein, da sie keinen hin weis auf eine specielle gericht-
liche tätigkeit enthält, wodurch doch erst das Verhältnis der Bede zur
Fimmilene klar Avürde. „Friedeschützend" konte jede gerichtsgottheit
genant werden, Things und Bede ebenso gut wie Fimmilene. Schliess-
lich ist es doch sehr unwahrscheinlich, dass die Friesen eine göttin,
zumal eine gerichtsgöttin , mit einem doppelt hypokoristischen namen
angeredet haben selten.
Es bleibt somit von den bisherigen versuchen, die beiden alai-
siagennamen zu deuten, als ganz sicher nur Heinz eis bemerkung
bestehen, dass sie auf das friesische bod- und fimelthing hinweisen.
Das gegenseitige Verhältnis dieser beiden thingarten muss also zu-
nächst ins äuge gefasst werden. Vom bod- und fimelthing spricht
unter den zahlreichen friesischen rechtsaufzeichnungen nur eine, das
sogenante westerlauwersche schulzenrecht, welches in Mittelfriesland,
dem ältesten sitze des Stammes, im 11. Jahrhundert abgefasst worden
' BEDE UND FIMMILENR 267
ist^. Hier heisst es in § 25, dass die Sachen, welche im bodthing
niclit zu ende gebraclit werden konten, im fimelthing zu ende zu
bringen seien, und in § 29, dass diejenigen, welche bod- und fi-
melthing gehalten haben, nachher in demselben jähre nicht noch des
königs bann zahlen düifen (v. Richthofen, Fries, rechtsqu. 391). Es han-
delt sich hier um das vom königlichen grafen alle vier jähre unter
königsbann gehaltene bod- und fimelthing. Das aber düit'cn wir
wol auch t'iii- die vorfränkische heidnische zeit, in der einheimische
könige über den Friesenstamm herschten, aus dem schulzenrecht ent-
nehmen, dass das fimelthing nach dem bodthing statfand, und dass
die im bodthing nicht zu ende geführten Sachen im fimelthing zum
austrag gebracht wurden. I^'ach § 25 liegt nur die gewöhnliche nacht-
frist zwischen beiden thingarten, sodass sich wol in Wirklichkeit manch-
mal bod- und fimelthing zu einer einzigen gerichts verhandlang gestal-
teten, von welcher die ersten etmele — etmel (v. Richthofen, Altfries, wb.
722, 918) hiess den Friesen der für das gerichthalten bestimte natür-
liche tag, die frist von sonnenauf- bis Sonnenuntergang — das bod-
thing, das lezte oder die lezten etmele das fimelthing bildeten.
Yon den zwei stücken, die der Friese bei jedem gerichtlichen verfah-
ren untei'schied , der verhandhing der beiden streitenden parteien (duo-
rum allegationes, twira tale) und dem die bussen festsetzenden urteile
des asega (asega-iudicium, äsega-dom) fiel also dem bodthing das
erste, der „rechtsstreit", dem fimelthing die fortsetzung desselben
und das urteil oder nur das urteil zu. Yerhandelt konte sonach in
beiden thingarten werden, aber das ursprüngliche und daher für die
vorchristliche zeit die regel wird wol gewesen sein, dass im fimel-
thing das urteil gefält, im bodthing der streit geführt warde.
Daher muss man von vorn herein erwarten, dass in dem namen der
alaisiage „Bede" als der patronin des bodthings, eine hindeutung auf
den gerichtsstreit, in dem namen der alaesiage Fimmilene, als der
patronin des fimelthings, eine hindeutimg auf das die bussen aus-
sprechende urteil sich findet.
„Bede" bedeutet nun aber nicht kämpf, es fragt sich daher, ob
der name vielleicht früher anders gelautet hat. Dies ist in der tat der
fall. Eine stelle in dem berichte des Tacitus (Ann. 4, 73) von der
friesischen erhebung des Jahres 28 schliesst über die ältere form des
namens der alaesiage Bede jeden zweifei aus. Er erzählt hier, dass
1) Es kent noch nicht die im 11. Jahrhundert in Friesland sich verbreitende
markrechniing ! Vgl. meine abhandhiug über das fries. pfund und die fries. mark in
der Berliner ztschr. für numism. XII, 144 fgg.
268 JAEKEL ^
der römische feldherr, als er nach einer verlustvollen schhicht das frie-
sische land zu räumen beiiauu, von ühi'rliiutern erfuhr, dass die Frie-
sen 900 Komer „apud lucum quem Baduhennae vocant/' vernichtet
hätten. Der uame dieser friesischen ,i;üttin gehört, Avie sein zweiter
bestandteil -henna zeiirt, der form nach zu den namen der auf
römisch -ü-ermanischen inschriften aus dem Eheinhmde so liäufii^: gonan-
ten matronen, wie Albia-henae (Brambach C. I. Rhen. 551 — 554),
Alhia-henae (a. a. o. 1722 add.), Nersi-henae (621)), Vesunia-he-
nae (542, 580 — 584), Gesa-heua (330, Ü17), Ettera-henae (577,
617) oder Etra-ienae (616), Cesa-ienae (613, 616), Aumena-
ienae (343), und zu namen wie Nelial-ennia (24, 27 — 30, 32 —
44), und zu dem auf unserem votivaltar genanten Fimmil-ene.
Diese inschriftlich erhaltenen namenfurmen beweisen, 1) dass das h
und die Verdoppelung des it im namen Baduhenna unorganisch, nur
vom römischen munde eingeschoben ist, und 2) dass, wie schon Mül-
lenhoff (Ztschr. f. d. a. 9. 241) gezeigt liat, der name nicht com-
poniert ist, das -henna also gar nichts bedeutet. Er muss zu des
Tacitus zeit „Badu-ene'' oder fliesisch geschrieben „BadAvene" gelau-
tet haben. Da nach einem friesischen lautwandlungsgesetze a zu e
wurde, und da das wie das englische iv gesprochene tu hinter d
leicht ausfallen konte, wandelte sich „Badwene" zu „Bedene", das sich
dann zu Bede verküi'zte, wie „Fimilene" zu „Fimile." Da nun -ene
nur das germ. femin. suffix int (aus -injo-) sein kann (Kluge, Stam-
bildungslehre § 41), so hiess die alaisiage vor Tacitus zeit „Baduine"
oder ..Badwine" und die andere alaisiage „Fimiline.^' „Badwine''
ist nun das femin. zu altfr. */ja(hca = ags. badva (pugilj = ahd. ^la/o;
und dieses ist von badii gebildet, welches auch im friesischen eigen-
namen Badu-nat vorliegt (Crecelius, Collectae ad äugend, nominum
propr. Saxonicorum et Frisiorum scientiam I, 19, 21, 22, 24, 25); und
das altfr. badu = got. *badu = ahd. j^a^?.^ (neben ^x^/«) -= ags. bcado
= altn. boß bedeutet streit (pugna)i. Die alaisiage Badwine oder
Bede ist also die kämpferin (pugnatrix). Als dienerin des ge-
richtsgottes ist sie daher die über dem gerichtsstreite w^altende imd
darum die patronin desjenigen things, dessen gegenständ der gerichts-
streit ist. Und da der äsega vermöge seiner kentnis des gericht-
lichen Streitverfahrens und der belehrung, die er darüber gibt, der
geistige lenker des Streites im bodthing ist, so ist sein göttliches Vor-
bild, die alaisiage Bede, die göttliche Personifikation der rechtskunde,
1) Vgl. J. Grimm, D. G. U% 423, 460, 537.
BKDE UND ILMMILRNE 269
die das beweisvovfalircii im sti-citdin^i;-, also den streit übeiiiaupt, leitet.
Diese wortbedeutiiu^- stimt somit fj^enau zu der tätigkeit, die wir von
vorn lierein d(^]' Bede als dtM" idcnlcn Ifitcrin <]o'> bodtlnn^^'S beilegen
mnsten.
Jezt düifte sieb das rätsei, welcbes der name ,, bodtbin^;" auf-
gibt, hisen. J. Grimm (R. A. 827) eikliiite die aulTallende ersebeinung,
dass an einigen orten gerade das ungebotne geriebt bodtbing genant
wird, dureb die annabme, dass entweder biei' hof (b\s ein fiii- allemal
angesagte geriebt bedeute, oder dass aueb (Um algemeinen volksgerieb-
ten bin und wider eine Verkündigung vorausgieng, ebne welebe sie
ausgesezt und unbesucbt geblieben wären, Avie namentlieb in Fri(^sland.
Diese erldärung können wir im anscbluss an das oben ausgefübrte
durcb eine einfacbere ersetzen. Wie dem alaisiagennamen Fimiline
das fimeltbing antwortet, so muss dem alaisiagennamen Badwine
oder Bede ein badutbing oder bedtbing entsprocben baben. Das
wort heiJthhi(j muss nun der Friese, als das wort hadu (kämpf) seiner
spraebe verloren gegangen und die alaisiagen mit «leni beidentum ver-
scliAvunden waren, niebt mebr im stände gewesen sein richtig zu deu-
ten; er konto es nur als „gebotenes tbing" fassen, was bcdthing
ja auch bedeuten konte. In Mittelfriesland wurde übrigens in späterer
zeit aus dem Avorte hedtlwig oder hedding nach einem rein laut-
mechanischen gesetze hodding oder hodthing. Aber dieses im AVe-
sterlauwerschen scbulzenrechte neben dem fimeltbing genante bodtbing
hat mit dem „gebotenen" gerichte ursprünglich nichts zu tun, sondern
es war eigentlich ein hedtliing, d. i. ein hadu-thing „streitgericht."
Wahrscheinlich sind auch gar manche bodthinge anderer deutscher
gegenden alte baduthinge.
Den namenformen Bede, Bedene, BadAvine entsprechen die
formen Fimile, Fimilene, Fimiline. Es muss nun Fimiline das
mit dem suffix ini gebildete femin. zu dem mascul. *fimil sein. In
diesem "^fimil aber muss, wie wir sahen, eine hindeutung auf das die
bussen festsetzende urteil liegen. Daher kann das Avort fhnil
oder, Avie es später heisst, fmiel nur von der Avurzel, die in altfr.
*fime, später ferne (v. Richthofen, Altfr. Avörterb. 732) = got. "^finm = mhd.
veme (Verurteilung, busse, 7toLvt), poena) vorliegt i, diu'cb das suffix
-ila gebildet sein, welches intensive nom.-agent. bildet und nament-
lich in den bezeichnungen gerichtlicher beamten erscheint (Kluge,
1) An einen Zusammenhang zwischen fimolthing und feme dachte schon
J.Grimm, E. A. 838. Wegen feme A'gl. Grimm, J). AV. III, 151ß und Schmeller,
B. W. I, 718.
270 JAEKEL
Stambiltlungslelire § 18), wie in ags. pe/n/el = an. ])ef/(/eU, ags. fen-
gel, strengeL ags. hydcJ , ahd. l)Htil , alid. ircihil, (l?refi(/il usw. Das
masc. ^fimil bedeutet also „der strafende'' (ultor) und Fimiline
„die strafende", „die rächeriu" (ultrix). Sie ist das göttliche
Vorbild des asega in demjenigen gericlite, in Avelchom er die bussen
tindet, also als „fimil" fnngiert, die göttliche personitikatictn der
gesetzeskunde, vermöge deren der asega ein gerechtes bussurteil zu
weisen vermag.
"Wie mit dem walton der Bad w ine das gericht der Friesen anhob,
so erreichte es mit dem walten der Fimiline sein ende. Denn mit
dem „rechtsstreit" begann, mit der „bussauflegung'' schloss das gericht-
liche verfahren der Friesen. Beide teile desselben stehen nach dem
glauben des volkes unter dem walten besonderer gottheiten, der erha-
benen gesetzseherinnen.
Der ausreführten stelle des Tacitus verdanken wir die künde, dass
der alaisiage Badwine im Friesenlande ein hain (lucus, altfr. 16)
geheiligt war. Dies allein würde uns schon bereclitigen, von der ande-
ren alaisiage dasselbe anzunehmen; und erinnert man sich an Tac.
Germ. 9 ,,lucos ac nemora consecrant deorumque nominibus appellant
secretum illud quod sola reverentia vident", so wird man es für wahr-
scheinlich halten, dass auch die fiiesischen Tius-heiligtümer ursprüng-
lich in hainen bestanden haben, Avas durch mehrere friesische Ortsnamen
bestätigt wird.
"Wo das hauptheiligtum des friesischen Thius Things lag,
ist zwar nicht überliefert; doch kann meines erachtens kein zweifei
darüber obwalten, dass es sich am Flistrome in Alm um oder Alme-
num befunden hat, einem dorfe, das 1580 in den stadtwall der an der
Zuidersee gelegenen Stadt Harlingen eingeschlossen wurde. Seine dem
Schwertträger Michael geweihte kirche war eine der ältesten, vielleicht
die älteste im friesischen stamlande (v. Richthofen, Unterss. II, 236 fg.).
Sie stand in naher beziehung zu der ebenfals dem Schwertträger
Michael geweihten, schon im 8. Jahrhundert vorhandenen Friesen-
kirche zu Rom, wie aus der friesischen Magnussage hervorgeht.
Nach dieser wurden die Friesen zu Rom von Karl dem Grossen und
Leo III. mit Vorrechten und freiheiten begabt und die ihnen darüber
ausgestelte Urkunde, welche das gesamte friesische recht enthielt,
von dem fahnenträger der Friesen Magnus nach Almenum
gebracht und in der dortigen Michaeliskirche niedergelegt i. Die rechte
1) Au.sführlicheres über die sage gibt v. Riclithofen Unters. II, 235 fgg. , der
aber ihren sinn nicht erkaut hat.
BEDE UND FIMMILENE 271
und gesetze des Stammes Avurdeu also unter <lie o])liut des Schwert-
trägers Michael zu Almen um gestelt, woraus mit Sicherheit zu
schliessen ist, dass in hoidnisclior zeit d(M* das reclit und die gesetze
des friesischen Stammes hütende Schwertträger Tius Tliings seinen
hauptsitz zu Almen um hatte.
Dass diese deutung der Magnussage i-ichtig ist, beweist auch der
name Almen um. „Almenum^', seit dem 13. Jahrhundert zu „Almum"
zusammengezogen (v. Richthofenil, 235 anm. 2), ist aus „Almeginum" und
dieses aus ,, Al-magin-liem'' entstanden. Der Ortsname bedeutet also
,,Heim des AI mächtigen." Dadurch ist erwiesen, dass Tius der
Al-magin Es, d. i. der hauptgott, der Friesen gewesen ist. Dadurch
ist ferner erwiesen, dass niemand anders als der in Almen um thronende
„Al-magin" selbst der friesische fahnenträger „Magnus" ist, der
nach der friesischen sage die gesetze der Friesen nach Almenum bringt.
Dann aber ist klar, dass, wie der Magnus der sage fahnenträger und
gesetzeshüter in einer person ist, so auch der friesische liau])tgott Tius
als heerführer und gesetzeshort zu fassen ist, mit anderen Wor-
ten, dass den Friesen ihr hauptgott gott des krieg es und gott des
rechtes zugleich war. Yermöge dieser doppelnatur ist er Schützer
und leiter sowol des heeres als der volksversamlung.
AVo der von Tacitus erwähnte lucus Baduhennae lag, ist eben-
falls nicht überliefert, doch muss er östlich vom Flistrom gesucht
werden. Denn der aufstand von 28 n. Chr. brach in der nähe des
römischen kastels Flevuni aus (Ann. IV, 72), welches am Flistrom
lag, und der römische feldherr erfuhr, als er von hier nach einer
unglücklichen schlacht den abzug begann, dass 900 Kijmer bei jenem
hain erschlagen worden seien. Die art, wie Tacitus seiiie angäbe über
den ort des gemetzeis macht, deutet darauf hin, dass dieser Badwine-
hain ganz besonders bekant war. Da er ferner schon zu Tacitus zeit
eine ortsbezeiclmung abgab, liegt der gedanke nahe, dass er in einem
orte zu suchen ist, dessen heutiger name aus „Badwine" und „10"
gebildet sein könte. Daher möchte ich glauben, dass er an der uralten,
heiligen gerichtsstätte Bafflo, dem mittelpunkt des friesischen landes
zwischen Laubach und Ems gelegen war. Sie hiess noch im 11. und
12. Jahrhundert Bathlon undBaflon (Crecelius 12, 15, 16, 19, 31), zwei
formen, die sich nur aus "Badwlon" oder „BadulOn" erklären lassen.
Es gibt im westerlauwerschen Friesland keinen Ortsnamen, der
von dem alaisiagennamen Fimiline gebildet wäre, wol aber vermag
ich zwei derartige Ortsnamen aus dem ostlauwerschen Friesland aufzu-
weisen.
272 J AEKEL
Im Moormerlande, also auf altchaukischom bodcn, etwas östlich
von Leer, verzeiclinen ältere karten ein r»rteheu Fimel, das bereits in
dem ältesten, im 10. und 11. jahrliundert zusammengeschriebenen güter-
vei-zeichnis der abtei Werden begegnet, die in Ostfriesland „in Fimi-
lon'' ein kleines ackei-stück besass (Crecelius 23). Der name lässt sich
nur aus „Fimile" und „hV deuten.
Ein anderes Fimel liegt bei Termunten im Fivclgauer Oldampt
hart am Dctllart. Es Avird in einem zeugenverhör von 1565 genant,
wo ausgesagt ist, „dat anno 1525 de nye summerdyck van Fimel na
der Swaghe (Schwage, jezt vom Dollart überflutet, v. Richthofen II, 875)
gemaeckt is" (Dri essen, Mon. Groning. s. 446).
Es ist eine bisher unl)ekante tatsache, dass die heidnischen Frie-
sen nicht nur nach den beiden alaisiagen Badwine und Fimilino, son-
dern auch nach ihrem hauptgotte selbst eine thingart benant haben,
und zwar die höchste gerichtsversamlung, das gericht, welches die
volksversamlung bildete, also das liud-thing. Die namen einiger
friesischer gerichtsstätten bew^eisen dies und lehren uns noch einige
beinamen des Tius kennen.
Im osttriesischen Overledingerlando nent das älteste Wordener
register widerholt einen ort „Badunathashem", der in dem nächst-
ältesten register „Badanasthorp" heisst (Crecelius 19, 21, 22, 24, 25). :N'ur
in diesem Ortsnamen ist der sonst nirgends begegnende name Badunat
„ kampfgenoss ^' erhalten, neben dem namen „Baduhenna" der einzige
beweis, dass die friesische spräche einst das wort badu für streit, kämpf
kante. Der ortsname ist in keinem der heutigen zu erkennen; doch
ist die läge des ortes gesichert, da er in dem register zwischen Drie-
ver und Geidun. d. i. Ihrhove, ein anderes mal mit Frithunathasthorp
bei Ilirhove genant wird. Er lag also, wie das ebenfals verschwundene
Frithunathasthoi-]), bei Ihrhove, und zwar an der stelle des heutigen
Tjüchen. In diesem Badunathashem hiess noch im 10. und 11. Jahr-
hundert eine lokalität Tiuding und hiernach ein stück der feldmark
Tiuding tiochi (Crecelius 25). Da „Tiuding" -kein fi-iesisches patrony-
mikon sein kann — denn „Tiud" ist weder ein friesischer name noch
der teil eines solchen — , kann das wort nur als Tiu-ding „Tiu-ge-
richt'^ erklärt werden. Dieser friesische flurname besagt also dasselbe
wie der dänische ortsname Tyrsting und der jütische gauname Tys-
thing oder Tyrsting. Schon Finn Magnussen hat (Lex. mythol. 759)
dieses Tyrsting richtig als „Tyris forunr' erklärt.
Wurde aber in Badunathashem ein Tiu-thing gehalten, befand
sich al.so daselbst auch ein heiligtum des Tius, so war Badunathas-hem
BEDE UND FIMMILENE 273
das heim des Tius selbst, d. i. Badunat „der kampfi>enoss " ist Tius
selbst. In ,,Badunat'' wird man tlemnaeli den namen zu sehen haben,
den Tius als kriegsgott der Cliauken und Friesen führte. Kr erin-
nert an den Saxnot „ schwertgenoss '^ der Sachsen, den Saxneat der
Angelsachsen. Da „Badunat'' name eines heidnischen gottes war, wird
es erklärlich, dass der so oft genante, sehr ansehnliche oi-t Baduuathas-
Ihmu nicht mehr zu finden ist. Die christlichen priester werden ihn
umgetauft haben. „Badunäf bezeichnete die kriegerische seite des
Tius, wie „Things" die gerichtliche. Offenbar erschöpfen die gericht-
lichen funktionen nicht die friedliche tätigkeit Tius; es kann also
„Things" nicht als der volle gegensatz von Badunat angesehen weiden.
Dem „Badunat" entspricht genau genommen nur ein „Frithunat."
Nun lag neben Badunathashem ein ort Frithunathasthorp; es wohn-
ten hier also wirklich Badunat und Frithunat neben einander. Drängt
sich da nicht die Vermutung auf, dass Tius hier zwei heiligtümer
neben einander hatte und er in dem einen als kriegsgott „Badnnat",
in dem andern als friedensgott „Frithunat" verehrt wurde? Frithu-
nathasthorp lässt sich heute ebensowenig finden wie Badunathashem;
es mag in christlicher zeit ebenfals umgetauft worden sein, weil Fri-
thunat der name eines heidnischen gottes war.
Das Tiu-thing in Badunathashem steht nicht vereinzelt. Nach
dem nächstältesten Werdener register besass das kloster einkünfte in
einem friesischen orte Tiudingi „am Tiu-gericht" (Crecelius 12 und 16).
Diese ansiedelung am Tiugericht liegt im Hunsegau, und zwar im heu-
tigen orte Leens in der Marne; sie besteht aus zwei wierden, die noch
in diesem Jahrhundert „Tiunster wierden" und „Tiiinster-warve"
genant wurden, jezt aber als „ Leensterwierde " zusammengefasst wer-
dend Sie gehören zu Leens, dem alten „forum Lidense", der alten
haupt- und gerichtsstätte der Marne (v. Richthofen II , 844), wo das Uud-
thing dieser landschaft gehalten wurde. Jenes register nent wol Tiu-
dingi, nicht aber Lidenge, weil eben Tiudingi und Lidenge einen und
denselben ort bezeichnen. Hier liegt also die Identität von liud-
thing und Tiu-thing zu tage.
Da Tius den Friesen hauptgott, der almagin es oder es zar'
t^oyrjv war, bezeichneten sie das Tiu-thing auch als Es-thing. Die-
sen namen trug z. b. die gerichtsstätte des Middogsterlandes , welche
noch im 14. Jahrhundert „Esdingum" und „Esding", heute Ee singe
1) Ygl. vau der Aa, Aardrijkskvmdig Woordenboek der Nederlande unter
„ Leensterwierde."
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 18
274 JAEKEL
(v. Riehthofen II, 796) heisst, sodass als ursprüngliche friesische iiamenform
Es-thingi „am Esthing" anzusetzen ist. Ein Estliing wurde aucli beim
dorfe Eisinghusen im Emsigerlande gehalten. Der ort heisst noch
im 15. Jahrhundert ,,Esing-husum'' (v. Riehthofen II, 1164). Dass dies
aus ,,Esthing-husum" „bei den luiusern des Esthing'' entstanden ist
folgt auch daraus, dass der ort im ältesten Werdener i-egister noch
den namen Tius-hem (Crecelius 12) fiilirt, doi't also ein Tiusheiligtum
stand, an dem ein Tiu- oder Esthing gehalten wurde. In christlicher
zeit wurde der name „Tiushem" diu'ch den weniger heidnisch klingen-
den ^Estlung-husum'* verdrängt.
Bei der alten heiligen gerichtsstätte BafFlo liegt ein Örtchen Saxum,
ein zweites Saxum liegt bei dem Es-thing des Middogsterlandes und
ein drittes Saxum betand sich neben der jezt vom Dollart überfluteten
reiderländischen gerichtsstätte Bedding-hem (v. Riehthofen II, 1191).
Im westerlauwei-schen und ostemsischen Friesland gibt es keinen der-
artigen Ortsnamen. Jener name „Saxum" heisst in der ältesten form
Saxinghem (Crecelius 12, 14, 18; Dronke, Tradd. Fuld. s. 48). Dadurch
ist es ausgeselilossen, bei dem Ortsnamen an den volksnamen der Sach-
sen zu denken. Mir scheint nun auch dieser Saxing, der sein heim
an friesischen gerichtsstätten hat, Tius zu sein, und ich halte den
friesischen Saxing somit für einen und denselben gott wie den säch-
sischen Saxnöt, den angelsächsischen Saxneat. Tius als steiiischwert-
oder Steinbeil träger war ja dem heidnischen Friesen eine geläufige Vorstel-
lung, wie die schöne sage vom ursprimge des friesischen rechtes be-
weist. Ihre älteste fassung, die westerlauwersche , lässt den Tius als
Es mit goldenem beil (fries. axe = got. aquizi) auf der scbulter
auftreten (v. Riehthofen II, 462). Er hiess daher den Mittelfriesen Axing
und seine wolmstätte Axenc-hove, Axing-hove oder Axingi, heute
Aaxens im Westergau südlich von Bolsward (v. Riehthofen II, 430).
Auffallender weise finden sich im östlichsten Friesland keine
gerichtsstätten, deren namen mit ,,Fimile", „Bede" oder „Tius" zusam-
mengesezt wären. Hier trugen die gerichtsstätten ganz andere bezeich-
nungen. LeluTcich sind hierfür die namen dreier neben einander lie-
genden gerichtsstätten des Brokmerlandes: Barsted e, Bangstede und
Öchtelbuhr, oder, wie sie im 15. Jahrhundert heissen (v. Riehthofen II,
1170, 1207, 1208), Berstcde, Bangkstede und Öchtleburen. Ber-
stede ist aus here „klage, Vorgericht", Bankstede aus bank, henk „bank"
und siede „statte" componiert. Dass diese „bankstätte" und „klage-
stätte" gerichtsstätten waren, folgt aus § 178 des Brokmer briefes:
thisse benethe (moidklage) sJiel ma dua ujyer bere and uper benke
BEDE UND fim:milene 275
(v. Eiclithofen, Fries, rechtsqu. 176, 27). Baiigstede hat hicmacli seinen
namen otfenbar von der gericlitsbank. Das wort here, bare „klage",
von dem Berstede seinen namen führt, hängt nicht, wie von Rioht-
hofen (Altfries, würterb. 618) ghmbte, mit ahd. bar, 2mr()n zusammen,
sondern gehört zum altn. bcrja, ags. berjan ,,sehh^geii, kämpfen" (Fick,
Yergleicli. wb. der indogerm. sprachen I-"^, 695), und dadui'ch ist erwie-
sen, dass das fiiesisclie bere, bare ursprünglich den rechtsstreit, „Bere"
oder „Berstede" die Streitgerichts- oder bedthings- statte bezeichnete,
wäln-end wir dann in Bangstede die entsprechende fimelthingstätte zu
sehen haben.
Der ort Öclitle-buren lag, wie sein namc besagt, an einem
Ocht-liain. Da ein ostfriesisches Öcht des 15. Jahrhunderts auf ein
älteres Acht zurückweist, und da die gerichtsversamluug des ganzen
Brokmerlandes, also das Brokmer liud-thing onene acht heisst, ist
dieser Ächt-hain neben der bed- und fimelth in "-statte der Brokmer
zu beachten. Dass wir es hier nicht uimiittelbar mit acht „gerichts-
versamlung", sondern mit einem eigennamen Acht, Öcht zu tun
haben, lehrt der name des dorfes Öchtersum^ (bei Esens im Harlinger-
lande). Der ort heisst noch 1426 Öchtsem (v. Kichthofen II, 1214),
d. i. üchtes-hem „Heim des Acht" (Öcht). Derselbe Acht begegnet
in Mittelfriesland: in der nähe von Almenum liegt Ächlum, in älterer
namensform Achtel um (v. Richthofen II, 590), aus welchem das bekante
weistum von 1559 stamt (v. Richthofen , Fries, rechtsqu. 506). Ein zwei-
tes Ächtelum, heute Echtelen oder Echten (v. Richthofen II, 725), liegt
im mittelfriesischen Lemsterland.
Wer ist nun dieser Acht oder Ächte, dem die Friesen bei den
gerichtsstätten haine heiligten? Der name ist von aht „Verfolgung"
gebildet und gehört mit dem ags. Öht-here und dem bekanten Ac-
tum er us (Tac. ann. 11, 16) = ahd. Ahtumer „durch die Verfolgung
des feindes berühmt" zusammen (vgl. Kluge, Etym. wörterb. unter
acht und Paul und Braune, Beiträge 11 s. 2). Achte bedeutet also
„der Verfolger." Ich glaube nun, dass Ächte ein beiuame des Tius
war, der ihn als Verfolger im kriege und im gericht bezeichnen
solte, und dass sich diese Identität von Ächte und Tius genau bewei-
sen lässt. Wenn nämlich Ächte ein beiname des Tius war, wie
Saxing, Axing, Badunät, Frithunät, Things, Forsite, so hätten die
Chauken ihre vornehmste insel Forsetisland, wie Helgoland im 7.
1) „ Ochtersnin " entstand aus „ Ocktesum " diircli die ostfriesiscke epenthese
des r, durch, welche in derselben gegend „Ditsum" zu „Dirtsum", „Oldesum" zu
„Oldersum", „Grimesum" zu „Grimersum", „Loppesum" zu „Loppe^-sum" wurde.
18*
276 JAEKEL, BEDE UND EHLMILENE
und 8. jalirliundert noch heisst, auch nach dem Ächte, also „ Ächt-
land'^, „Ächtinsel" nennen können. Da insel alttr. avia heisst, hätte
eine „Ächtinsel" friesisch als „Ächtavia" bezeichnet Averden müssen;
und so hat die insel Avirklich zu Plinius zeit noch geheissen. Denn
er nennt (IV, 27) als „insulae nobilissimae " ah der chaukischen küste
von west nach ost „Burcana" (Borkum), „Austeravia" (Astereinde,
V. Richthofen II, 1230) und „Actavia." ,,Actavia" ist aber, wie schon
MüUenhoff (Ztschr. f. d. a. 9, 224) gezeigt hat, die römische Schrei-
bung für germanisches „Achtavia." Somit ist das Actavia des Plinius
das spätere Forsetisland, das heutige Helgoland.
Dadurch ist nun erwiesen, dass in „ Forsite " ein jüngerer bei-
name des Tius vorliegt als in „Ächte." Dazu stimt, dass sich „Ächte"
als epitheton ebenso gut für den kriegsgott wie für den gerichtsgott
eignet, während „Foi'site" und ,, Things" nur für den gerichtsgott passt.
Man wird sich also wol die beinamen, welche Tius bei Friesen und
Chauken fühi*te, in folgender reihenfolge entstanden zu denken haben:
Als gott des krieges und des öffentlichen lebens, wie es sich in den
Volks- und gerichtsversamlungen abspielte, erhielt Tius den beinamen
Ächte (persecutor). Sein sinbild war das steinschwert (sax) oder das
bell (axe), und darum heisst er von alters her der Schwertträger
(Saxing) oder beilträg-er (Axing). Indem er sich dann zum kriegs-
imd friedensgott differenzierte, entstanden die beinamen Badunät
„kampfgenoss" und Frithunät „friedensgenoss." Aus den functionen
des Frithunät hob dami erst das friesische Things, das chaukische For-
site die wichtigste, schütz und leitung der gerichtsversamlung, beson-
ders hervor. Dass aber Ächtavia in „Forsetisland" umgetauft wurde,
beweist ebenso wie das „Things" jener votivaltäre von Borcovicium,
dass den Ingävonen ihr hauptgott Tius schon in sehr früher zeit in
erster linie gerichtsgott war.
Für die rechtsaltertümer ist durch unsere Untersuchung festgestelt,
dass es zur heidnischen zeit bei Friesen und Chauken drei thing-
arten gegeben hat, von denen jede unter dem walten einer besonderen
gottheit („velut deo imperante" Tac. Germ. 7) und, wie ich an anderer
stelle zeigen werde, an ihrer besonderen statte abgehalten wurde, und
zwar:
1) das liud-thing oder die mene acht unter dem schütz und
der leitung des Tius selbst, daher auch Tiu-thing oder Es-thing
genant; es war identisch mit dem liudwarf (conventus populi), der
volksversamlung. An der liudthingstätte befand sich das dem Tius
geweihte hauptheiligtum des liud.
PIPER, ZU NOTKERS RHETORIK 277
2) das badiitliing (bodthing) „streitgcricht", gehalten auf der
bei'stede „ streitstätte '' am heiligtiini der alaisiage Bad w ine oder
Bede „der kämpferin (pugnatrix)", die über dieser thingart waltet.
3) das f im elthing, beschüzt und geleitet von der alaisiage
Fimiline „der riicherin (iiltrix)", deren heiligtum sich auf der gerichts-
stätte befindet.
Der dreizahl der gerichtsgottheiten entspricht die dreizahl der
gerichte und die dreizahl der gerichtsstiitten.
BRESLAU, DEN 20. FEBR. 1889. HUGO JAEKEL.
ZU NOTKEES EHETOEIK.
Auf die iiachricht Trauhes von dem vorhandeiisein einer fort-
setxung der rhctorik (Ztschr. f. d. altert. XXXII, s. 388) tvante ich
mich an die königliclie bihliothek %u Brüssel und erhielt ausser der
unten folgenden, diplomatisch genauen abschrift des in hetracht kom-
menden Stückes (nur die compoulien sind aufgelöst, die mangelliafte
interpunktion aber beibehalten) folgende naelirichten über die hand-
schrift, tuelche die angaben Traubes a. a. o. ergänzen. Ich veriveise
dazu auf die beschreibung der handschrift im ersten bände meiner
Xotkerausgabe s. XII fgg.
Der binio, blatt 74 — 76, dessen leztes blatt tc eggeschnitten ist,
entJiült auf blatt 75 ein bruchstück eines briefes des grainmatikers
Paidinus von Aquileja und einen (volstätuligen?) brief ebendesselben.
Blatt 76 ist Uniiert und zum schreiben hergerichtet , aber völlig unbe-
schrieben. Auf blatt 77 und den folgenden stehen dann brief e des
Sidonius Apollinavis. Xur auf blatt 74 befindet sieh der schluss von
Xotkers rhetorik, und zicar knüpft derselbe an das von s. 65^ b
auf s. LXXXIX meiner ausgäbe abgedruckte an. Der lezte satz lau-
tet daselbst (unter aufnähme von Traubes beiichtigungen) wie folgt:
Patronomicum est quod a propriis nominibus patrum tantum-
modo deriuatur (sed unterstrichen) Secundum grecam formam id est
grecani termiuationem ut eacides quod significat Qaci filius vel nepos
Apparet ex hac diffinitione omnia patronomica ad aliquid — —
Hier sext das unten folgerule stück ein. Die schrift des blattes 74
ist sehr klein. Besonders ist der untere teil der koliimne 74"^, a durch
betasten sehr verdorben. Die schrift ist auch sonst oft schwer les-
bar, daher ko?ite trotz aller mühe an einigen stellen der zusamynen-
hang nicht mit Sicherheit festgestelt tverden.
278 PIPER
[Ci ri'", o] dici. Namqiic sicut fiJius patris est filiiis. et nepos est aui
nepos. ita eatides (sie) quod utrumque siG:iiificat necessario ad utrumqno
refeitur Oportet autem opposituni ei iiomeii quod coniinimiter patrem
et aiium signiticat genus esse sicut et omne patronomicuin [cod.:
pat'nomicum) communem intellectum habens Ulli et nepotis genus est.
POSSESS
Possessiua. diuersas babent terminationesque uumerand^ sunt Sunt
enini plus quam XX^ in acus ut cipriacus [cod. cidd. I) ager . i . ciprioruni
ager In icus ut ecclesiasticus seruus . i . ^cclesi^ seruus In icus ut
libycus [cod. ly.bvcus) ager . i . ager eorum qui in libia sunt Has ter-
minationes a g:recis suscepimus in us puram desinunt possessiua tarn
greca quam latina In eus breui .e. ut eesarcus miles. miles cesaris In
eus producta .e. [cod. e) ut achilleus armiger, armiger, achillis in ins .i.
[cod. ide) correpta ut marcius ensis ensis martis In ins . i . producta ut
chius ager. uel chium uinum . i . ager uel lünum eorum qui in chio sunt
insiila In ous o producta ut eous nuncius. iiuntius eois [cod. eo^, v(jl.
uinimi eorum auf voriger xeile) et fit simile diriuatiuum primitiuo
In eus ut biläus comes comes hile^ In oeus ut eubeus babitus babitus
eorum qui incolunt euboeam insulam In iuus ut furtiuus equus furis
equus In rius ut pretorius exercitus exercitus pretoris Proprio latino-
riim sunt In anus ut bumanus ritus ritus bominum In enus ut alie-
nus mos aliorum mos In inus [cod. ins) .i. longa in femininus [cod. I
femino) cultus cultus feminarum In ins i. breui ut piistinus qui est
priorum uel priscorum uel qui est prioris temporis Li unus ut tribu-
nus qui magister tribus est In Inus ut popuhius non de arbore sed.
qui populi est In rnus ut paternus qui patris In is ut bostilis qui
hostium [cod. hostilium) est In er ut equester qui equitum est Ergo
possessiue significationis [cod. significatiois) nomin a ad aliquid dici
prius [cod. pritis) dictum est. [cod. ?) quae autem sola forma possessiua
dicuntur in diuersis simt significatioiübus Sunt enim quedam gentilia
ut romanus ciuis [cod. eui9) de quibus dictum est supi'a alia sunt [hier
ist getilgt: propria ut iulianus quintilianus de bis quoque dictum) pa-
tronomicorum loco posita. ut emilianus scipio uel ocdauianus cesar ut
dictum est supra alia sunt propria ut iulianus quintilianus de bis quo-
que dictum est Alia sunt agnomina ut affricanus. persicus getulicus
creticus et hec propria sunt Alia sunt materiam significantia ut ferreus
a ferro factus. similiter aureus [das ei'ste u ühej-geschr.) argenteus factus
mamioreus. ligneus. querneus. oleaginus. faginus Ei'go quia feiTCus et
mamioreus. inde fit non quis. uel qualis sit demonstrant ideo substan-
tie qualitati et quantitati buius modi sunt dissimilia Uidentur autem
zu NOTKEKS RHETORIK 279
aliqiiicl esse et relatiuej dici ad ablatiuus primitiiiorum sicut et posses-
siua ad f^enitiuos primitiiiorum. Inuicem enim se construunt [oder
constitiumt?) atque toUiint Si est de ferro, est feiTeus et si est ferreus.
est de ferro Et forte melius est ad septimum casum ea referri ut sicut
sensu seusatum est ita ferro iiel mai-mure tit ferreum (r/rt,s' zweite e 7mt;
hüh-lfcn übcrijcscln'.) uel marmoreum Et differunt quia ferro iiel de ferro
materiam ferreus autem uel ferrea ferreum materialem rem si^mificat
Si qiiis autem hiiius modi relatioiiem quasi ab aristotile non iiiuentam
recusat suseipere meminerit ipsum diftiniendo dicere relatiua esse, quo
modo übet predicantur ad aliud Uel si neu aquieuerit meliorem ratio-
nem reddat ut sequamur eum A disciplinis uero dicta ut socraticus
platonius. c. socratis sectator uel platouis. uel a professionibus ut mecha-
nicus. medicus gTammaticus .i. liarum arciiim studiusi qualitatciu
plane et scientiam si^niticant Similiter ab officiis dicta ut mercenarius
tabellarius .i. qui tabulas patrum imagiiiibus depictas. nobilibus rom^
antetulit Item cerarius. hostiarius. argentarius erarius uel a di^nitati-
bus ut questorius. prefectorius. i. di^j^nus questura. prefectura. pretura.
qualitatis sunt. Alia dicta ab bis in (in fehlt) quibus sunt ut planta-
rium quod est in planta. mensorium quod est in mensa. motorium
quod est in motu, palmarium quod est in palma diuersorum gen-
ervm species sunt Nam plantarium calciamentum est uelud simpli-
citer dicam aliquod genus indumenti dialectico autem dicere aliqua
species indumenti mensorium species est uelamenti (von mensorium
ab i/u't '.' am rande nacJijjei ragen, j)b von anderer hand?) Menso-
rium species est instrumenti ut est illud quo teiTentiu* aues in uineis
Palmarium quod est in palma hoc est in laude Ut uictoria (cod.
metoria) Corporale namque palmarium quod in palma est ut bacu-
lus et sceptrum species gestaminum est Incorporale autem palmarium
(cod. palmarum) quod in laude est qualitatem significat quia palmarium
(cod. palmarum) quasi laudabile esse intelligitur et eiusdem cathegori^
est Nam ut liuius scribit in X° libro ab urbe condita (Liv. X, 47)
quando tiiumpliatum est a sabinis Lustrum rom^ conditum est a
lucio cornelio aruina consule et eodem anno ob res bene gestas uic-
tores coronati spectabant ludos sibi editos. et tum (cod. tu) primum
ti'anslato egregio more palm^ dat^ sunt in manibus eorum Inde ortum
est ut a gestamine palm^ ipsa manus gerens siue uictoria (darnach
tu .e. durch punkte getilgt) palma dicatur et quod triumphale est. uel
quod in laude est palmarium (cod. palmarum) dicatur Alia significant
de quibus sunt ut framentaria lex de frumento. agraria de agris num-
maria de nummis Lex ergo secundum ciceronem species iustiti^ est
280 PIPER
eins itcriim species sunt plautina Cornelia et ccter^ de auctoribus
eorum nocitat(j (cod. iuoitat(^) quarnni partes sunt frumentaria agraria
uummaria et qualitates sunt Alia dicta ex bis qu^ continent ut uinaria
cella que liabet uiuum. armariuni in quo sunt arma posita Sic mola-
rium. [cod. mälariü) auiarium uiridarium (cod. uiridiarum) rosarium
Ergo cella uel officina substanti^ sunt et species edilicii Cella item
liabet species armariuni et uinarium (cod. uinariä) Officina uero species
babet molendinum. pistrinum (cod. pristinum) refectorium et talia Sep-
tum namque ea pars terr^ dicta est que sepe circumdata est unde et
dicitur. ut sunt borti (b mit hühchen vor orti vorgeschriebe) i) et uinee
propterea partes sunt terr^ borti quibus nomen est molarium auiarium
uiridiarium rosarium ubi berbq. et flores et aues nutriuntur et substan-
tiam signiticant Alia sunt a temporibus ut diurnus nocturnus. besternus.
bibernus Alia sunt a locis ut externus internus Igitur de temporalibus
et localibus diligeuter uidendum [G 74''', h] est cui predicamento (ver-
nischf) asscribenda sint Et sciendum quod sicut (sicut? ilhergeschr.) unius
cathegorie sunt magnus et magnitudo sapiens et sapientia .i. quanta
et quantitas. qualia et qualitates ita unius catbegori^ a presciano nomi-
nantur esse ipse locus et ipsuni tempus atque ea qu^ ab bis dicuntur
localia et temporalia ut a loco internus externus a tempore (cod. tempe)
bodiernus besternus matutinus uespertinus Hoc apparet in prioribus
ubi ille de loco exemplum dare non potuit et localia posuit ut longin-
quus propinquus sicut et bini et terni numerum simpliciter non signi-
ficant sed numeralia sunt. i. substantie numerat^ ut bini bomines
gemini (cod. gemni) fratres terni lapides Discretio tamen est in bis qu^
localia ille confuse vocat. Nam aduerbia sursvm deorsum supra iiifra.
intra extra (extra am rande mit • : nachgetragen; von anderer Jmnd?)
ubi significant sed et locum ipsvm uidentur significare unde supernus
et infernus internus et externus qu^ inde tracta (das erste t undeut-
lich) sunt forsitan duarum sunt catbegoriarum quantitatis et ubi. Yrba-
niis autem et oppidanus et rusticanus et palatinus et capitolinus et
querlinus (cod. q^lin9; = esquilinus?) que similiter a locis dicta ipse
docuit non quantitatis sunt sed ubi significant (cod. significam9) Nam in
opido (sie) ubi tantvm significat Oppidanus autem. id est qui in oppido
babitat ubi et personam (cod. persona) scilicet in loco et locatum in loco
significat Et si boc ratione constabit (cod. gtabit) quia nibil fernere fir-
mandum est nomina ad sex catbegorias extenduntur Et si besternus.
bodiernus et similia temporum. nomina aliquis forte plus poterit ad
quando trabere quam ad quantitatem. Yir*=™ sunt catbegori^ in qui-
bus nomina inueniuntur Sed de bis dubitare non est utile ut aristoti-
zu NOTKERS RHETORIK 281
les ait Alia a dignitatibus sine officiis ut tribunus antesig-naniis Antea
quoque de hac significationc dictum est. a prisriano sed nou in liac
terminatione Roinulus exercitviu suuin in tres partes diuisit et quos
eis prefecit a tribus partibus tribunos uocitauit Postea quoque tribimi
in ciuitate usqiie ad noucnariuin numerum crcuerunt et crcati sunt
non solum militum sed et plebis tribuni et grece chiliarchi (das zweite
h ühenjcschr.) dicuntur co quod mille presunt (cod. psit) Ergo dignitatis
que sunt (cod. fra()exeichcn) ad aliquid plcraque sunt dicta ut rex rcgni
sui rex est. et regnum regis est regnum üux quoque comitum dux est
et coniitcs ducis sunt comites et qu^stor qucstu qu^stor est quqstus
uero questoris qu^stus est (cod. "-^ et prepositus subpositis prepositus
est. et subpositi prepositis subpositi sunt, et prefectus suffectis prefectus
est. suffecti autem prefecto suffecti sunt quamuis in usu habenius suf-
fectos successores dicere Si autem uolumus prefecto oppositum dare
prefecturam suam. ut prefectura prefecti sit prefectura et prefectus pre-
fecture su^ prefectus sit oportet intelligere quia suffecti prefecto ipsi
sunt eins prefectura Eodeni modo consul dictator pretor presidens (cod.
psens) presul tribunus. ad consulatum dictaturam preturam presidatum
presulatvm tribunatum rclatiuQ atque reciprocQ dicuntur Antesignanus
est qui uexillum portat ante exercitum et qui sequmitur (cod. sequn-
tur) eum signisequi sunt et inuicem conuertuntur Alia a generibus ut
masculinus fcmininus Si quid simile (cod. sime) masciüe et femin^ mas-
culinum et femininum dicimus possessiue dicimus siue de" extcrioribus
ut masculinus et femininus amictus siue de interioribus ut masculinus
et femininus color uel masculinum genus (genus übergesehr., von ande-
rer hand?) et femininum Si cui uidetur de solis exterioribus possessio-
nem dici sciat ad similitudinem exteriorum interiora predicari et sicut
femininum dicitur opus opus femin^ ita quoque femininum genus genus
femin^ uel feminarum dicitur et ut supra dictum est. ad aliquid dicitur
Si quis autem interrogat qualem animum habet ille et respondetur
femininum femin^ similem intelligimus et qualitatis est. Sic semper
ex significatione predicamentum intellegitur Alia sunt ex mutis anima-
libus ut passerinus anserinus coruinus ceruinus An ista possessive non
dicuntur quia nesciunt possidere muta animalia? Non utique minus
de Ulis quam de rationabilibus possessiua fit predicatio quid est enim
coruina uox uox. corui Si uero dicitur ceruina pellis manente (lies
manet in?) ceruo (dazu mit veriveisungszeiehen am unteren rande der
Seite, von anderer hand? steht: congruQ uidetur intellegi (cod. intelgi)
pellis cerui quod non manet in (cod. non manenit mante, das lezte wort
durch strich darunter getilgt) ceruo) de exuuiis hoc dicitur secundum
282 PIPER
prioris teiiipoi-is consaetudincm hoc dicitar Alia sunt a persona (? die
ahsclirift liest femina) ut libertinus cg-enus posscssiiic dicitiu* libertinus. i.
lilhis libcrti egeuiis qualitatem signilicat ut qualis est? egeuus est. Alia a
materia ex qua constant iit liumauus terrenus de luinio et de terra factus
H^c ad substantitmi et quantitatem et ad alias cathegorias nullam habent
similitudinem nisi ad qualitatem et ad aliquid Si enim interrogauero
(cod. interragauero) qualis est forte non est incongruuni dicere humanus
est quod aliquando intellegitur misericors est Si materiam requiro nun-
quam dico qualis est scd potius unde factus est aduerbialiter interrogo
et respoudetur de luuno de terra (piia nou est inuentum nomen inter-
rogatiuum materi^ cui reddatur marmoreus lapidevs propterea nee qua-
litatis sunt ista quantum conici datur Sunt ergo rclatiue et ad aliquid
dicta ut ostendinius supra Comparatiua supcrlatiua diniinutiua planis-
sime ad aliquid prcdicantur et sunt species eins Nam potentibus poten-
tior est • et potentium potentissimus est ita ad positiuum uterque
respondet gradus comparatiuus et snperlatiuus quia quamuis potentibus
minus tamen potentibus potentior dicitiu'. eodem modo regulus ad regem
paruus rex ad magnuni regem comparatiue dicitur Denominatiua uero
et uerbiüia et omnia similiter nomina omnesquc dictiones quantum ad
generalissima genera decem tantum significationes habere (dictum
est?) Quantum autem ad genera eorum subalterna et species et indiuidua
et partes generum et partes specierum et indiuiduorum innumerabiles
et incomparabiles esse quis dubitet? Intellegitur enim quando dicitur
Caput esse geneiis [O 74 ^, a] quia animal genus et totum
qiüddam est et quando dicitur caput hominis intellegitur pars totius
indiuidui quod non solum intellegitur sicut genus et species sed occu-
lis cernitur Ergo denominatiuorum et uerbalium narias significationes
prescianus in diuersis terminationibus ostendere conatus est primo per
uocales deinde per consonantes In ia quedam desinunt ut duritia iusti-
tia sapientia que quia qualitates sunt quäl es faciunt durum iustvm
sapientem Sed durus naturalem potentiam iustus. et sapiens habitum
designant In a consonante antecedente. ut a cantu cantilena Dicimus
tamen cantum ipsum inuentum Carmen quod scientia tenetur et a
docente discitur cantacio et cantilena ipsius est cantus depromptio et
cantatio cantorem facit. cantilena tali deficit nomine Sic et lux et lumen
dum idem significent a luce fit lucidus a lumine non est inuentum
quäle nomen Nam et uirtus manifeste est qualitas et ex ea quäle
nomen est dissimili uoce studiosus Contra autem inuenti sunt quales
sine qualitatis nomine ut palesti^icator qui dicitur non exercicio (cod.
exercicicio) sed corporis habitu. Xec in cathegoriis ipse docct aristo-
zu NOTKERS EIIETORIK 283
tiles In e ut cubo cubile sedeo sedile Cubilc cdificii (cod. edificics, es
unterpiinldlcrf, i übcrgcschr) species est aliqiiando autem pars domiis
est Sedile autem domesticQ {cod. doniestlicc^) supellectüis species et ideo
siibstantiam signüicaut Cubile editicium et sedile domesticam suppel-
lectilem quam substantialia habent In i ut fi'u<;i niliili id est abstiuens
et uilis quQ adiectiua sunt Si autem a fnix numinatiuo {cod. uomina
natiuo) datiuus est fru«;i quis dubitat substantiam esse, fruges et spe-
ciem gcrminis? Et uicbili a nominatiuo {cod. noiao) nicbilum qui com-
positus est a non et liilum negatiuum esse illius simplicis nominis.
hilum. quod olim in usu erat aliquantulum signiticans substantic^ Om-
nia autem negatiua quantitatis sunt et partes oratiouis ut nemo niillus
nusquam num([uam necjuaquam et similia In u ut tono {cod. ono)
tonitru Quid est tonitru? nisi terribilis sonitus discurrentis uenti in
nubibus et conantis erumpere Ergo (r übery.) tonitru nomen est de sono
uocis factum sicut et eins primitiuum {cod. primitiü) uerbum tono Et
sie uox est aer ictus tuuitrii similiter est aer ictus. aer namque sub-
stantia est vox quoque et tonitru quid sunt aliud? partes enim sunt
ipsius elementi. In al ut a ceruice ceruical a tribuno tribunal Cer-
uical torus capitale culcita fulcimenta sunt, fulcimentum autem sicut
uestimentum et indumentum et operimentum substantiam significant
quamuis et ad aliquid dicuntur {am rande von derselben Imnd: pro-
batio) Cuius est enim opperimentum uestimentum indumcntujn nisi
opert^ uestit^ indutQ rei? Item quo indutus opertus uestitus nisi indu-
mento operimento uestimento dicitur? tribunal uero et solium et cathe-
drani et subsellium et tripodas communi nomine sedem dicimus Sedes
autem et mens^ et lecti et candelabra {cod. candelebra) et eiusmodi
quibus utimur in domo utensilia communiter dicuntur De Ins quoque
suppellectilem dicimus quia nemo dubitat substantias esse In il ut uigilo
uigil. pugilus pugil Yigil est cui inest naturalis {cod. nat'alis) seu exer-
citata uigilantia.' aliter vnde ad duas quaütatis species pertinere uide-
tur habitum et naturalem potentiam similiter et pugil.' unde et hec natu-
ralis potenti^ qualitas dicitur Pugil ucro aliquando exercitio aliquando
quoque naturali {cod. nat'rali) potentia dicitur et ideo ad duas species
qualitatis suscipitur In ul ut exulo exul presulo presul Exul extra solum
est et ubi significat Presul dignitatis nomen est. significat enim magi-
ster uel episcopus que quia ad aliquid sunt dicta presul (ad fehlt) ali-
quid dicitur ut superius commemoratimi est In am ut nequis nequani
Hoc adiectiuum est In um ut oliua oliuetum rosa rosetum. tendo ten-
torium sto stabulum. presideo presidium Orti simt rosetum et oliuetum.
i. partes (te übergescli)'.) terre in quibus multitudo rosarum et oliuarum
284 PIPER
inueninntur. Tcntoriiini nero tcgimontum est sicut et tii£::nrinm! Vesti-
menta {darüber sfcJ/f d als xcichcn für eine randbenierlnug, diese steht
unien fnif demselben reichen: (Domus quoque et cetera habitaciila
nonne sunt tegiimenta? von anderer hand?) quoque et (in durch strich
darunter (jetiJgt) operimenta et indumenta quid sunt nisi tegumenta?
Tegumenta uero defensacula sunt Defensacula uero siue sint opificialia
ut murus et propugnaculum siue naturalia ut montes et silu^ corpora-
lia sint Non minus tarnen et ad aliquid sunt dicta tegumenta. et
defensacula sicut operimenta et indumenta. Stabulum editicium est
dictum est prius presidium munitus locus, uel exercitus derelictus in
prouincia ut presidendo et armis eam muniendo tutam eam ab hosti-
bus faciat ut romana prcsidia per totum pene orbom disposita quon-
dam fuerant ad comprimendos statim primos motus prouinciarum. ne
crescendo maiora damna rci p. [d. i. publicae) inferrent Si tamen est
presidium est et subsidium (ad auferenda durch strich darunter
getilgt) et ad aliquid sunt Differunt autem quia presidium est ad ca-
uenda mala subsidium ad auferenda uel leuanda mala Item presidium
contra futura mala auxilium et subsidium contra presentia mala ita ut
auxilium sit ab alienis uel extraneis subsidium uero quod postea
superuenit In ar ut lacus lacunar. calx calcar cedo cesar Si lacunar
locus (lacus?) et receptaculum aquarum dicitur de terra utique hoc
dicitur. ipsa enim locus est et receptaculum aquarum Ergo lacunar est
pars terre pars totius indiuidui elementi Quando autem lucernam aut
laquear significat similiter corpus est Calcar uero instrumentum est
equestre ut et lupar et strigiles Illigatur namque calcaneo ad stimu-
landos equos Instrumenta autem siue domestica siue rustica siue naua-
lia siue equestria siue bellica corporalia sunt Cesar aliquando proprium
aliquando appellatiuum semper substantiam significat In er ut eques
equester macies macer Equester est possessiuum macer adiectiuum In
or ut senatus Senator amo amator Senator nomen est dignitatis et
quäle significat Qu^ uero dignitatem simul et officium significant (cant
undeutlich) ut dictator magis ad aliquid sunt Amator plane affectionem
que est prima species qualitatis et passionem que est tertia species
significat In ur ut sano uel saturo satur murmuro murmur Satur qua-
lis est murmur qualitas est secundum quam quales dicimur. id est
murmuratores (tores über uiit erpunktiertem tiones iibergeschr.) In us
(lies as) ut primus primas optimus optimas. ciuis ciuitas probus probitas
arpinum ai-pinas primas et optimas [G 74'", b] nomina dignitatimi sunt
idem honorabilis et electus de quibus quales dicimur, ciuitas substan-
tia est ut oppida et urbes. et municipia. et omnes structur^ probitas
zu NOTKERS RHETORIK 285
qiialitatis est arpinas patriuin {cod. patriii) est. es correptä pes pedes
eqiius eqiies teges. pedites et eqiiites et sagittaiü et uelites (cod. ueli-
tres) noinina sunt militum noii propria sed specialia et ab acta quales
dicuntiir Es producta pauper paiipeiies acer acies sepio sepes struo
striies sterno strages pauperios qiialitas est ([iialein facit pauperem Acies
aciit(j rei acies dicitur non minus tarnen et qualeni facit acutum Sepes
septQ rei sepes est relatiu^ enim picdicatur Eodem m()(l(3 strucs et
strages. structe et strate rei dicuntui- et eiusdem sunt prcdicamenti In
is qdes edilis rex regalis. amo amabilis penetro penetrabilis athene
atheniensis sicilia siciliensis Edilis nomcn officii et dignitatis est Rome
nauKjue edium curam (pii gerebat edilis dictus est Edilitate uero edilis
est edilitas autem edilis est Et quia edilitas qualem quoque facit edi-
lem duplex fit edilis. predicatio qualitatiua atque reciproca Regalis pos-
sessiuum est amabilis naturalem potentiam ostendit quia amabilis ille
est qui alios potenter traliit ad amorem sui penetrabilis naturalem im-
potentiam ostendit quia facile penetratur. Atheniensis patrium est sicilien-
sis gentile De his dictum est Os ut (cod. et) lepidus [cod. lepus) lepos
custodio custos lepos est eloquentia et qualitas facit enim lepidum Gustos
qualis est et ad aliquid facit enim custodia custodem utraque tamen
custos et custodia custodit^ rei reciproce dicuntur Ys diuersis conso-
nantibus ante positis saxvm saxosus spuma spumosus uito uitabundus
Et a participiis uersus saltus quando quarte sunt declinationis Et ab
aduerbiis supra uel super superus ab infra inferus extra externus liodie
hodiernus Saxosus et spumosus id est plenus saxis et plenus spuma
qualia sunt sicut et formosus vitabundus quod intellegitur similis
uitanti comparatiue dicitur et ut similis simili similis est ita et uita-
bundus uitabundo est Supervs et inferus externus hodiernus localia et
tempuralia ante sunt dicta In x für furax capio capax audeo audax
uerto uertex furax capax audax qualia sunt Uertex uero partem cor-
poris significat In duas consonantes picenum picens quod gentile est
tiburtum tiburs. quod patrium est prius dictum est His addidi que in
questionem uenerunt Montes quid sunt nisi eminentes terre? Et ual-
les nisi humiles terr^? et campi nisi plane terr^? et specus et putei et
fosse et similia. nisi cauate terr^? Et ill^ terr^ partes terr^ sunt Fora-
men autem quia ad plura uadit forate (vor forate ist i durch jpunkt
darunter getilgt) rei est. Longitudo latitudo et altitudo et magnitudo
et amplitudo et sublimitas et profundum et similia quantitates sunt,
faciunt enim longum latum altum magnum amplum sublimem profun-
dum Et he quantitates infinite sunt et comparatiue dicuntur Et sicut
longus ad breuem dicitur. ita et longitudo ad breuitatem comparatiue
286 rrPER, zu notkers eiietorik
dieitiir et in cetoris eodem modo {cod. mo) Spaeium quoque et inter-
stioium et interuallum. et intoivapedo et rima et hiatus et similia ad
aliqiüd sunt et pene uniun sunt Quid est spaeium uel nnde dictum
est? A patendo (t über luäcrpiuiliicrtcm n) enim dictum est et omnis
res panda uel patula spacio patet/ nihil est spaeium nisi quod est in
medio pande et patule rei Ynde etiam quod in medio temporum est per
similitudinem spaeium dicitur Ergo spaeium protractio loci uel temporis
id est medietas locorum uel tempoi'um iufinita Sic et interuallum quod
est inter uallos Quomodo enim antiquitus castra (cod. Castro) ficbant
fossa circum ducta est cuius egesta humus interius missa aggerem
(vorher aggrege unierstriclien) fecit super quem agerem (sie) ualli id
est sudes fingebantur per circuitum ut essent quasi murus intrinsecus
positus et non timerent hostium incursionem et que intra illos uallos
distantia uidebatur interuallum dictimi est Talis est rima et hiatus
Rima uero quasi a ramo dicta est unde et uerbum dicitur. dirimo
quasi duos ramos facio Quando enim que coniuncta erant. aut conti-
nua dirimunt se rima est et hiatus Ergo rima et hiatus medietas diri-
mentium se. Intersticium spaeium interstans intercapedo (das zweite e
über iDiterpunldiertem i) locus capiens medietatem duorum corporum
Nam in bis omnibus nihil nisi medietatem inuenio aut locorum aut
temporum et ideo ad aliquid sunt Spaeium ut dictum est pande rei
uel patule rei spaeium est et ipsa res panda uel patula id est qua
patet spacio patet Rima diremtorum est et dirempta rima. dirempta
sunt Hiatus hiantium est et hiantia hiatu hiant Intersticium circum-
stantium et circumstantia intersticium circumstant Intercapedo inter-
ceptorum est et intereepta intercapedine intercepta sunt Quid autem
est distantia? separatio alterius ab altero et ad aliquid est Sicut enim
separatio est separate rei sie et distantia distantis rei et distans res
distantia distat Item quid est uia? forte uia est quantitas. quia uidetur
esse linea que ducit de loco ad locum Nam et latitudo que uidetur
in uia circa illam lineam est et ipsa non habet latitudinem sed longi-
tudinem sine latitudine Inuisibilis etiam est uia enim que uidetur non
est ipsa linea sed contricio et supeiüciei demolicio ex uestigiorum im-
pressione facta Item quid est facies? Species et forma in corpore et
ideo qualitas Quid est uultus? instabilitas et commutatio que cernitur
in (cod. ut) facie Ergo facies ad formam uultus ad effectionem pertinet
que species sunt qualitatis.; Hec cum scripta uides scriptorem qui pote
rides. Sic quod non potui rusticus ut nolui. Ac tu comple re. sed
me decet utique flere.
ALTOXA. p. PH'ER.
287
ÜBER DEN BlLDUNGSGANa DEK (JEAL- UND PAEZI-
YAL- DICHTUNG IN FE ANKEEICH UND DEUTSCHLAND.
So lange die schätze der iVanzösischen bibliothekeii in betreff der
hier einschhigenden litteratiir in Deutschland noch unbekant oder nur
dem nanien nach und nach nnzulänirliclien notizen bekant waren, mocli-
ten die versuche zulässig und berechtigt erscheinen, auf grund der
mysteriösen angaben Wolframs von Eschenbach über die quellen seines
gedichts: über Flegetanis, der in den sternen vom gral las, über das
arabische manuscript von Toledo und die chronik von Anjou, welcher
sein vordichter, Guiot von Provenze gefolgt sei, nacli dem urquell der
tiefsinnigen sage vom gral in Spanien zu suchen und nach Gürres bei-
spiel in Hindostan und Indien, oder in der Kaaba zu Mekka die erste
Wurzel dieser sage zu entdecken. Seitdem aber der Inhalt der hierher-
gehörigen litteraturwerke nns deutlicher teils in mehr oder minder
ausfüln'lichen auszügen, teils in volständigem abdruck vorliegt, ist
die aufgäbe: sich nicht mehr in kühne probleme, phantastische hypo-
thesen und gewagte, wenn auch geistreiche kombinationen zu verlie-
ren, sondern lediglich die betreffenden Schriftwerke nach ihrem inhalt
als zeugen zu vernehmen und so den gang und fortschritt der sage
stufenweise zu verfolgen. Auf diesem wege sind daher Zarncke (Paul
u. Braune, Beiträge usw. III, Halle 1876, s. 304) und Bircli- Hirsch-
feld (Die sage vom gral, Leipzig, Vogel, 1877) zu dem resultat gelangt,
dass eigentlich von einer sage, d. h. einer im volksmund und Volks-
glauben fortlebenden und je nach den zeiten etwa gewandelten tradi-
tion niclit die rede sein könne, sondern nur von einer dichtung,
welche aber zugleich das algemeinste Interesse erregte, imd die ver-
schiedensten dichter anspornte, deren inhalt weiter zu führen und ihn
im geschmacke der zeit auszubauen. Und als diesen ersten dichter
müssen wir Robert de Boron erkennen, der selbst versichert, dass
noch kein sterblicher vor ihm über den gral geschrieben habe, was
auch durch die bisher aufgedeckte litteratur des abendlandes bestätigt
wird. Und da auch in der Überdichtung der Historia regum Britan-
niae des Gotfried von Monmouth durch Wace, der unmöglich nach
seiner art der behandlung dieses werks den gral hätte übergehen kön-
nen, wenn er spuren davon darin oder anderswoher entdeckt hätte,
nichts vom gral zu finden ist, so ist als feststehend anzunehmen, dass
etwa bis zum jähre 1150 oder 1160, da er schrieb, Borons werk: „le
petit Graal'' der dichterische stamm und anfangspunkt der gralgeschich-
288 SAN MARTE
ten ist, aus dorn vorzugsweise Crestiens ,, Coute du Graal", und in
überrasolieuder maunigfaltigkeit und in kurzen fristen dessen fortsetzun-
gen und die weiteren gralromane emporschössen.
"Wesentliche beitrüge zur deutlicheren überschau der tätigkeit der
französischen dichter liefert das unten bezeichnete verdienstvolle werk
Schorbachs^. Die umfangreiche fortsetzung, welche im 14. Jahrhun-
dert die elsässischen dichter Claus Wisse und Philipp Colin dem mei-
sterwerk Wolframs von Eschenbach einfügten , wird hier zum ersten male
veröffentlicht. „Gehört auch das ergänzungswerk (bemerkt der heraus-
geber) in die verfalzeit der ritterlichen poesie, so beansprucht es doch
als ein nicht unwesentliches glied in der kette der dichtungen von
Artus tafeirunde und dem grale und als wertvolle quelle für die
geschichte des elsässischen dialekts im mittelalter ein besonderes inter-
esse.^ — Über diesen lezteren punkt hat sich der herausgeber s. XLII
einen besonderen ausführlichen aufsatz, der sich auch auf die dichte-
rische tiitigkeit und befiihiguug von Wisse und Colin erstrecken wird,
zur mitteilung in den ., Strassburger Studien" vorbehalten, der daher
abzuwarten ist, und die philologische betrachtung des werkes in dieser
anzeige ausschliesst. Dagegen trägt die wörtliche Übersetzung der fran-
zösischen dichtung so manches "licht in jenes noch immer nicht vol-
ständig aufgeklärte litteraturgebiet, dass es sich lohnt, dieser „heite-
rung", wie Colin sagen würde, sofort gründlicher nachzugehen, und
vielleicht zu weiteren speziellen forschungen neue wege zu bahnen,
oder wenigstens anregung dazu zu geben. Als ein besonderer glücks-
fall ist es anzusehen, dass wir in dem prächtigen Donaueschinger co-
dex, den der herausgeber ausführlich beschreibt, und dem schon Yictor
V. Scheffel, als er der Donaueschinger bibliothek vorstand, eine beach-
tungswerte Schilderung (Hdschr. altdeutscher dichtungen der fürstlichen
Fürstenbergschen hof bibliothek zu Donaueschingen. Stuttgart, 1859. 8.
S. 15 — 18) widmete, die von Barak in seinem Verzeichnis der hand-
schriften dieser bibliothek (Tübingen, 1865, 8. S. 88 — 93) weiter ver-
wertet ward, die Originalhandschrift der dichterischen Übersetzer
der französischen fortsetzungen von Crestiens Conte du Graal besitzen,
wie sie aus dem scriptorio derselben hervorgieng. Die darin hinzuge-
fügten persönlichen bemerkungen geben ein deutliches bild von der ent-
1) Parcifal von Claus Wisse und Philipp Colin (1331 — 1336). Ergän-
zung der dichtung "Wolframs v. Eschenbach. Zum ersten male herausgegeben von
Karl Schorbach, Strassburg, Trübner; London, Triibner & Cp. 1888. (Zugleich
fünfter band der Elsässischen litteraturdenkmäler usw. von E. Maitiu und E. Schmidt.)
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTUxNG 289
stehung derartiger werke, das als spezielles beispiel auch für andere
ähnliche fälle wird gelten dürfen.
Ulrich von Eappoltstein, aus dem mächtigen und zahlreichen
oberelsassischen adelsgeschlecht der Kappoltsteiner, beauftragte einen in
seinem gewerbe zurückgekommenen goldschmied Pliilipp Colin, und
einen gleichfals einer goldschmiedsfamilie angehörigen Claus Wisse,
mit der poetischen Übersetzung der fortsetzungen des romans Conte du
Graal des Crestien de Troies aus dem französischen ins deutsche, und
stelte ihnen dazu zwei Schreiber, namens Henselin und von Onheim
zur disposition, welche ihre arbeit auch beide in ihrer erkenbar ver-
schiedenen handschrift zu stände brachten. Da damals im Elsass die
deutsche spräche noch die herschende war, und sie französisch nicht
verstanden, wurde ihnen als dolmetscher ein Jude, Samson Pine zur
hülfe gegeben,
Sp. 854, 28: fZer het sine zit ouch ivol beivant,
cm dirre oventure.
er tet unz die stüre:
wax> wir xito rimen haut bereit,
do het er imz daz tücJisch geseit
von de?i oventuren edlen gar.
ich wünsche j daz, er wol gevar
ah ein Jude noch sinre e.
er enhegerte anders nilt nie.
Er scheint also hausoffiziant des herrn Ulrich (etwa sein finanzier)
gewesen zu sein, und deshalb ohne besonderen lohn geholfen zu haben.
Dies bestärkt die auch vom herausgeber geteilte Vermutung, dass die
dichtung auch an dessen wohnsitz, auf dem Gross -Kappoltsteiner schloss
gefertigt w^orden, jezt S. Ulrichsburg, „dessen mächtige ruinen noch
heute auf das freundliche Städtchen Kappoltsweiler herabblicken, und
ein Wahrzeichen sind für das an naturschönheiten so reiche elsässische
land." — Fünf jähre, von 1331 bis 1336, ist daran gearbeitet, wie
aus beischriften der Schreiber ersichtlich, und Colin berechnet die kosten
in seinem Schlussbriefe an den herrn Ulrich auf 200 pfund, die er
jedoch nicht zu hoch achtet, da ein ritterlicher minner eine solche
summe wol in kurzer stunde an eime orse verstichet.
Sp. 854, 44: nu hin ich sicher iinde wer
unser kost si angeleit haz.
an alle frowen ziehe ich daz
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 19
290 SAN MARTE
und an reifte minnere,
die ro)i disen hiJdere
icerdent rehter /ninnc ermant;
und wenn auch das iu der dichtiin"- gepriesene minnelebeii unserer
zeit nicht melir entspricht und zur nachahmung verlockt, so wirkt jener
kostenaufwand doch, dass wir itach mehr denn fünf jalu'hunderten
uusern chuik und preis für das geschaffene werk dem edlen musenhol-
den Rappoltsteiner naclu'ufen können, dessen gemahlin, die tochter des
grafen Götze v. Fürstenberg, im hinblick auf Wolframs gedieht den
namen Herzelaude (französiert Loveline) führte, und deren 1359 ge-
bornes töchterchen ebenfals Herzelaude getauft ward. „Eine merkwür-
dige urkundlich nicht verfolgbare fügung ist es, dass diese kostbare
Parcifalhandschrift wider in den besitz des erlauchten hauses Fürsten-
berg, dem Herzelaude angeliörte, kam und uns erhalten blieb, und den
beweis liefert, wie in beiden häusern Fürstenberg und Rappoltstein die
liebe zur deutschen litteratur, und besonders zu "Wolframs tiefsinnigem
epos heimisch war."
Die sonstigen notizen über die bei dem werke beteiligten perso-
nen und familien sind mühsam und mit grösstem fleiss gesammelt,
und dürften vorläufig als erschöpft gelten. Nach den von beiden dich-
tem abgelegten proben eigener selbständiger dichtung erscheint Colin
der gewantere in seinem Schlussbriefe, dem Wisse in dem sogenanten
anevang oder prologus nachsteht. Im algemeinen fliessen die deutschen
verse einfach und ungezwungen dahin (mitunter allerdings in koUision
mit dem versmass und gestört durch zu häufige flickreime: tvüssent
das — ieso — die riht — %e]iandenan)\ sie scheinen sehr treu
dem französischen text zu folgen. Eine begleitung derselben durch
eigne bemerkungen und innere teilnähme der Übersetzer an den erzähl-
ten begebenheiten, was Wolframs erzählungsweise so reizend macht
und sie mit frischem leben durchdringt, ist nicht zu spüren und tritt
ihre persönlichkeit nirgend hervor; daher ist auch nicht anzunehmen,
dass sie selbst noch dichterische zusätze gemacht haben. Wo der ton
sich höher hebt, ist das gewiss auch im französischen text der fall.
In der Schreibung der orts- und personennamen sind die Schreiber
nachlässig und ungenau. Bis jezt ist nur ermittelt, dass von den
bekanten französischen Parzival- und gralgedichten keins dem Colin
als vorläge gedient hat, dass daher dessen original noch zu entdecken
bleibt. An stelle von Crestiens gedieht, an welches dessen fortsetzer
sich anschlössen, nahmen die Übersetzer, offenbar auf befehl des grafen
Ulrich, Wolframs dichtung, rausten sie jedoch durch mannigfache
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTUNG 291
abstriche, Zusätze und änderungen gewissermassen neu redigieren, um
die ab weichungen und Widersprüche nach möglichkeit zu beseitigen,
die sich aus den fortsetzungen ergaben, was ilinen jedoch niclit vol-
ständig gelang. Dass diese redaktion gleich wol mit grosser aufmerk-
samkeit auch bis ins kleine des textes gieng, zeigt die Verbesserung
des fehlreimes Wolframs V. 4G, 1, 2. lla\aUg — wip durch einschie-
bung zweier zeilen:
(ja)ä har, nihi herre Raxalig,
trettent an der seiden st ig.
ir sUllent küssen min ivip
die mir liep ist als der lip.
Sämtliche zusätze und änderungen an AYolframs texte hat der heraus-
geber sorgfältig s. XLVI bis LVI verzeichnet. Aus der vergleich ung
mit Lachmanns kritischer ausgäbe des Parzival ist ersichtlich, dass
ihnen eine gute handschrift zu geböte stand, die sie sehr sauber kopier-
ten. Der französische codex scheint auch die im 13. Jahrhundert dem
werke Crestiens vorgesezte, auch im Pariser druck von 1530 widerholte
und nur im Monsser manuscript handschriftlich erhaltene „Elucidation
usw.'' enthalten zu haben, deren erste 474 zeilen (Potvin, II, s. 1 — 17)
dem Wisse das material zu seinem 504 verse langen Frodromus oder
Anefang gaben mit der Überschrift:
„So hebet hie an der prologus von Parcifal, der us ivelschem %uo
tilseheni ist gemäht, unde vohet hie sine ld7itheit an",
der hinter imserm P. 112, 11, 12 eingeschoben ward, nachdem nach
P. 112, 10 die rote Überschrift gemacht wurde:
„Hie ist künig Gamicretes huoeh us, der Parcifales vatter ivas"
Da Colin bemerkt, dass Wisse schon ein jähr vor ihm an der hand-
schrift gearbeitet, und dieser am schluss des vierten buches unsers
Parzival (L. 223, 30) in 18 versen eine bitte um lohn seiner arbeit an
diesem buche einschiebt, so scheint AYisse zu dieser zeit ausgeschie-
den zu sein und Collin das werk allein fortgeführt zu haben. Da Col-
lin am schluss seines briefes an Ulrich auch die bitte um lohn aus-
spricht, so ist nicht anzunehmen, dass auch die erstere von ihm sei.
Ein zweites exemplar der Übersetzung von Wisse und Colin bil-
det die von H. v. d. Hagen (Briefe in die heimat, II, 304) in der
Casauatischen bibliothek zu Kom i. j. 1816 entdeckte handschrift, aus
welcher A. v. Keller in seiner Komvart (Mannheim, 1844) anfang und
ende und die kapitelüberschriften mitteilte, und die auch Schorbach
19*
292 SAN MARTE
teilweise verglichen, und als eine absclirift der Donau eschinger hand-
schrift erkant hat, worin aber durch die abschrciber der oberelsasser
dialekt sehr verwischt ist. You besonderem wert war es jedoch, dass
aus ihr die durch das fehlen zweier bliitter in lezterer handschrift ent-
standene lücke ergänzt werden konte. Am schluss des vierzehnten
buches unsers Parzival folgt in der Originalhandschrift eine von Hen-
selins genossen rot geschriebene prosanotiz, welche den Übergang des
Wolframschen textes zur fortsetzung durch unsere übei'setzer vermit-
teln soll (s. XIII), deren lezter teil lautet: „Xu geswigen ivir kibiig
Ärtuses hie und sagcnt von hern Gawane, ivie der %uom ersten mole
xiwtne grole htm, und ist oiich dax von welsche xuo tüxsche Ijraht,
des sin nie ist danne der tüxsche ParxefaJ, der nu lange gctihtct ist,
und alles da\ liie nach gcschrihcn stat , das ist ouch Parxcfal toid ist
vo?i welsche xuo tüxsche hraht und voUetihtet und xuo ende braht.
Dis geschach do me)i xalte von gocx gehürte drixehiindert jor und
drisxig jor in deme sehsten jore^'; wodurch das alter der hand-
schrift unzweifelhaft festgestelt wird. Nach von Kellers bemerkung ist
diese beischrift als Überschrift und titel des casanatischen co-
dex rot geschrieben, wörtlich widerholt, und da der text begint: „hie
im xorn von dannen schiet Gawan^', so ist zu entnehmen, dass in
diesem codex Wisses Prodromus nicht mitenthalten war. — Das vom
herausgeber angefügte namenregister ist ein höchst wilkommener und
dankbar anzuerkennender leitfaden durch die irgänge dieser aventüren-
wildnis. Der text ist in zwei spalten von einigen vierzig versen auf
jeder oktavseite gedruckt, daher nach spaltenzahl zu eitleren ist.
So viel über das deutsche manuscript. Bevor ich aber auf dem
oben bezeichneten Avege weiter gehe zur betrachtung des zum gründe
liegenden französischen codex, befinde ich mich in derselben notlage,
wie Scholl bei seiner ausgäbe von Heinrichs von dem Türlin Krone
(Stuttgart, Htt. verein, 1852, s. XV), wie Rochat bei seiner littera-
rischen abhandlung über das Berner ms. des Parzival (Zürich, Kies-
ling, 1855, s. XI) und wie Birch-Hirschfeld in seiner gralsage:
zuvor eine Übersicht des Inhalts des französischen gedichts geben zu
müssen, da ohne dessen nähere kentnis seine litterarhistorische bedeu-
tung nicht gewürdigt, und die daraus zu ziehenden folgerungen nicht
verständlich werden können. Zugleich wird es gewiss auch vielen wil-
kommen sein, wenn ihnen dadurch die volständige eigene lesung der
36984 verse der umdichtung wenigstens teilweise erspart w^erden kann,
zumal daran der poetische genuss nicht durchgängig befriedigung finden
möchte.
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTUNG 293
Gedrängte iiilialtsaimabe.
L. 730, 23: Gaurhi unt die (/escilen shi
ndnicn iirloiq).
Spalte 1. Gawan scheidet im zorne von Juflanze, um den blu-
tenden Speer zu suchen, doch wüst er nilt, an wclcJfcr stctte (1, 16).
Er gelangt zu einer schönen bürg auf hohem felsen, wo er ehrenvoll
und gastlich von dem kranken auf prächtigem bette gelagerten wirte
empfangen wird. Er sezt sich zu ihm, die tafeln werden aufgeschlagen
für eine zahlreiche ritterschaft, und eine bahre wird vorgetragen, auf
der unter reichen decken ein leichnam liegt, und obenauf ein zerbroche-
nes Schwert, das dem wirte von siner megin einer durch liebe und
frünüich art gesant war (6, 42). Dann Avurde eine goldne patenc, der
blutende speer und von einer heftig weinenden Jungfrau der gral im
saale herumgetragen, und nach deren abgang Gawan das schwort mit
dem ersuchen vorgelegt, die stücke zusammen zu setzen. Es gelingt
ihm jedoch nicht, und auf seine eifrige nachfrage, was dies alles
bedeute, erklärt ihm der Avirt, er sei noch nicht reif, die geheimnisse
dieser dinge zu erfahren.
her Gaivan nam der rede war
und horchete so vil an sine wort,
daz er uf der tovelen ort
entslief, daz sage ich snnder lug (7, 44 fg.).
So durchschlief er die ganze nacht, und fand sich am morgen unter
einer eiche liegend, ross und wafPen neben sich, aber die bürg ent-
sclnvunden. Mit leide grimmig icas sin xorn (8, 20). Er wafnet sich
und reitet weiter.
Sp. 8. Hie stritet her Gaican mit Bgnasdanres.
Gawan begegnet einer dame mit einem ritter, der, als Gawan
sich nent, ihn des mordes seines vaters bezüchtigt. Nacli hartem unent-
schiedenem kämpfe verabreden sie dessen fortsetzung am hofe des
königs von Kavalun. Dort angekommen, fordert ihn der mächtige
kämpe Gynganbertil auf, den ihm früher zugesagten streit sofort mit
ihm auszufechten.
Sp. 13. Hie sprechent zivene Gaivan kampfex an xiio Kavalun.
Der könig von Kavalun beruft einen rat der barone, welcher ent-
scheidet, dass Gawan mit beiden kämpfern zugleich fechten soll. Ein
Junker benachrichtigt Artus von dem ungerechten spruch, dieser eilt
herbei und stiftet Versöhnung, indem er dem einen seine nichte Tanate
und dem andern deren muhme Ciarate zur ehe gibt. Der könig von
294 SAN MAKTE
Kavalun und andre füi-sten geben ihm ilir land zu lehn; nur ein ritter
Brun von Mieland Aveigert sieh und scheidet vom hofe.
Sp. 21. Hie iril himig Artus Brun von Mcilan hclkjen.
Artus zieht deshalb mit vielen namentlich genanten fürsten und
rittern und grosser heeresmacht gegen die feste bürg und stadt Mie-
lant, die hart belagert, doch tapfer verteidigt wird. Bei einem glück-
lichen ausfall zur verproviantierung Avird Gawan so schwer verwundet,
dass er erst nach 14 wochen wider sein liebes ross Gringalet besteigen
kann. Er trent sich vom beere, um andern abenteuern nachzugehn.
Sp. 33. Hie kumet her Gawan xuo Brandalins sivester und
u'ürf mit Brandalin vchtrnde.
In schöner Waldgegend, unter lieblichem vogelgesang hinreitend
findet Gawan am dritten tage unter einer eiche ein prächtiges zeit auf-
geschlagen, in welchem auf einem ruhebett ein schönes mädchen schläft.
Auf seinen gruss, und da er sich als Gawan zu erkennen gibt, bietet
sie ihm ihre minne an, und unter freude und lachen ertvarp er gexö-
gcnliche der minnen spit (37, 26).
Sp. 37, 29: ir megede nam verlor sü sam;
juncfrowe und liep heisset nu ir nam.
Nachdem er versprochen, sie einzuholen, reitet er weiter. Bald
kam ihr vater zu ihr in das zeit, dem sie das ereignis bekent, und der
nun wütend Gawan nacheilt, aber im kämpfe von Gawan tötlich ver-
wundet wird. Ebenso komt der bruder der entehrten, Bran von Lis,
nachgerant, findet den vater tot und ficht mit Gawan, bis beide sich
ohnmächtig fühlen und die fortsetzung des kampfes vertagen. Ganz
erschöpft kehrt Gawan zu Artus nach Miclant zurück, und heilt zwei
monate an seinen wunden. Brandalins Schwester Aclervis (sa seror ait
der vis, ihr wirklicher name ist nach sp. 255, 12 Gylorette) aber
genas eines söhnchens. Die stadt Mielant ergab sich endlich: Artus
nahm sie in besitz und verteilte das land an seine vasallen. Auch
Brun erhielt sein teil.
Sp. 45. Hie vohet Karados biioch an.
Als Artus im ersten jähre vor Miclant lag, gab er seine niftel
Iseve von Karoes dem könig Karode von Nantes zur ehe. Ein zauber-
kundiger ritter Elyafres schiebt jedoch dem Karode eine falsche Iseve
unter und schläft selber bei der echten, die von ihm ein kind empfieng,
das Karadot genant und als Karades söhn an Artus hofe erzogen ward.
Bei seiner festlichen schwertleite kam ein ritter und fordert, man solle
ihm den köpf abschlagen: er werde übers jähr wider kommen und
den gleichen schlag an dem schlagenden erwidern.
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTUNG 295
Sp. 51. Ilic ö(jrt Elijnfrcs stne xouveric.
Als alle aiidein zögern liaut Canidot dem Elyafres den köpf ab,
den dieser sich doch sogleich wider aiüsezt und mit dem versprechen
abgeht, übers jähr an Caradot das gleiche zu tun.
Sp. 54. Hie bcvindct Karados, da\ Klt/afrcs sin vattcr iras, imd
wo)id er doch kunig Karade siui sifi.
Nach einem jähre, zu pfingsten kam Elyafres wider zum entsetzen
des hofes zu Artus, schlug aber nicht dem Karados den köpf ab, son-
dern vertraute ihm allein das geheimnis seiner geburt, worüber Kara-
dos empört die ehre seiner mutter rächen will. Jener entflieht eilig,
und Karados eilt zu seinen eitern nach Nantes und erzählt, was ge-
schehen. Der könig Karodo spert erzürnt seine gemahlin in einen
festen türm, wo sie jedoch der Zauberer heimlich oft zu besuchen
weiss, und sie herlich und in freuden leben. Karadot geht nun nach
Karlowe zum pfingstfest an Artus hof auf ritterschaft. Dazu erscheint
auch Kadors von Kornw^ale mit seiner schönen Schwester Gyngcniers.
Unterwegs begegnet ihnen jedoch Alardins vom see, der um die schw^e-
ster schon lange vergeblich w-arb, und sie jezt fordert. Im kämpf des-
halb unterliegt Kadors, doch während Alardins die Schwester mit gewalt
fortführen will, komt Karados ihr zu hülfe, Alardin muss sich erge-
ben, und sie führen den verwundeten Kadors mit sich fort.
Sp. 67. Hie Ixuwt Karados %uo Alardins ge.\clt, das zauberisch
geschmückt auf einer schönen Aviese prangt, und worin Junker und
niägde fröhlich tanzen und musizieren. Sie werden von Alardins
schw^ester, die von dem pavelune ward genant, aufs beste empfangen.
Die drei ritter, Kadors, Alardin und Karados schwören sich freund-
schaft und wollen zu einem feste an Artus hof nach Karliun sich auf-
machen.
Sp. 73. Hie kumment Karados und Alardin and Kadors \uo
einem turnet %u Idlnig Artus hof, mit im sivestern beiden.
Sie rüsten sich prächtig zum tumier, in welchem die könige Eis
von Gales und Kadvalan von Irland um die schöne Gyngenor kämpfen
wollen, die aber beide verschmäht. Alardin erbietet sich zu ihrem
kämpen, und sie gibt ihm einen ärmel ihres kleides, den er als klei-
nod an seine lanze befestigt. Sie ist Artus niftel, Schwester Gawans,
tochter des Gramoflan und der Ytonia. Ein harter langer kämpf
begint, in dem auch Kador die aufmerksamkeit der schönen Yden,
Gaw'ans niftel, erregt. Alardin schickt ihn mit einem ersiegten rosse
zu Gyngenor, die Ydens neigung zu Kador unterstüzt. Sie gab an
Kador eine lanze, und dieser sante ihr auch ein erbeutetes ross. Der
296 SAN MARTE
kämpf wird immer algem einer: Twein, Sagremors, Parzival, Keye,
Ywon beteiligen sich. Endlich sind Eis und Kadvalan über^vunden,
Parzival gibt seine besiegten an die Jungfrau von Pavelune. Endlich
tritt ruhe ein und Karados macht sich dem Gawan, zu dessen freude,
als den söhn Yseweus bekant Artus gibt seine niftel Gyngenor dem
Alardin, die schöne Yden dem Kador, und die von Pavelune einem
hochgebornen ritter zur ehe, des uawc sol vcrborcjoi sin. Alle ziehen
heim, ich muo\ nu ander uiere sac/en.
Sp. 109. Hie het der tnrnei ein ende, und teil von Karados
muoter sagen.
Die gefangene Ysewe sezte die buhlschaft mit Elyavres fort, der
sie mit Zauberkünsten, musik und tanz unterhielt. Dem dichter tut es
leid, dergleichen über ein weib berichten zu müssen. Endlich gelingt
es Karados, den Zauberer in dem türme, der BüfFoy (dax heiztet hoch-
farf) noch im lande genant wird, einzufangen, den könig Karode wü-
tend will schinden lassen, und zum schimpfe mit einer jagdhündin,
einer lenne (scortaw) und einer futschen (ungezäbmtes fohlen?) zusam-
menspert. Auf Karados bitten, und nachdem jener geschworen, nie
widerzukehren, wird er jedoch entlassen; als er aber der königin gesagt,
wie er gemishandelt worden, fordert sie, räche an Karados zu nehmen;
Elyavres weigert sich jedoch, da der ja sein söhn sei. Sie beschliessen,
ihm zwar nicht den tod zu geben, aber ein anderes leid zu bereiten.
Sp. 115. Hie machet Elyavres und Karados muoter, duz Kara-
dos mit eime sJangen ward behümbert.
Elyavres sezt eine schlänge in ein kästchen, das Karados öfnen
soll, wenn er zu seiner mutter komt. Bei seiner öfnung aber windet
die schlänge sich so fest um seinen arm, dass keine menschliche kunst
sie zu entfernen vermag. Nach langer vergeblicher kur sucht er heim-
lich entfliehend bei einem einsiedler in dessen kapeile Zuflucht. Artus,
so wie Kador von Koniaval mit Gyngenier eilen nach Nantes auf die
nachricht seines verschwindens, während Karados, geistig ganz nieder-
gebeugt, ein einsiedlergewand angelegt hat, um unerkant zu bleiben.
Kador lässt ganz Europa nach ihm durchsuchen, doch lange vergebens.
Karados besuchte öfters noch eine andere kapelle zum gottesdienst bei
deren mönchen, und hier entdeckt den verlornen endlich Kador zu
seiner grossen freude.
Sp. 142. Hie het Kador Karadosseii funden.
Sp. 150. Hie erlöset Gtjn genier ir liep Karados von dem slan-
gen, der sich U7nbe sineii arm geivunden het.
BILDUNGSGANG DER GRALDiniTUNO 297
Unter beschwörimg und sogen der klosterleute wird die sclilange
getötet, beisst aber vorher der über sie gebeugten Gyngenier eine brust-
warze ab. Die schlänge hat einen teil des armes verzehrt, deswegen
hiess Karadot hinfort Briebras (Idcinarm). Arm und brüst werden
bald geheilt, und alle lande freuen sich der widerkehr Karadots und
seiner geliebten. Der ungetreuen königin wird verziehen und Artus
bereitet die Vermählung Karadots mit Gyngenier. Bald stirbt der könig
Kador und Artus verleiht dem Karadot dessen reich. Er ward
ein hin ig her,
biderbe, milte, kurteis;
(jotte 'xe dienende er sieh fleis.
Sp. 160. Hie hmiet hilniij Karados xu Alan! in in sine bunj.
Auf einem jagdzugo, der durch ungCAvitter gestört wird, komt
das junge ehepaar zu einer herlich gelegenen bürg und wird von Alar-
din höchst gastlich empfangen. Am andern morgen schenkt dieser ein
von seinem schild gebrochenes goldnes plätchen dem Karadot, das an
die stelle der von der schlänge abgebissnen brustAvarze gelegt, diese
ersezt. Freudig ziehen sie heim; die goldne w^irze verwächst mit dem
Heische, doch verbietet Karadot der Gyngenier, sie irgend wem sehen
zu lassen, sondern stets mit einem tuch zu verhüllen. — Da entbietet
Artus die beglückten zu einem feste nach Karliun.
Sp. 165. Bix ist die aventiire vomme hörne, so man nasser
drin schütte, der wart xuo guten ivine.
Bei dem feste schenkt ein stolzer ritter dem könig Artus ein
prächtiges trinkhorn mit gold und elfenbein, doch mit dem bemerken:
iver dar ux trinket siinder ivon,
het im sin liep untrüive geton
oder sin elich wip,
der win begüsset sinen lip.
Die königin warnt lebhaft Artus ihren gemahl, den versuch zu machen;
doch er wagt es und vergiesst richtig das getränk. Gawan, Ywein,
Keie, allen rittern des hofes geschieht das gleiche. Algemeines geläch-
ter! Nur Karadot gelingt es, und deshalb fasst die königin grossen hass
gegen Gyngenier: das hom wird bonet genant. Nach drei tagen endet
das fest. Karadot bleibt am hofe; seine gemahlin sendet er nach hause.
Sp. 169. Hie hat Karados buoch ein ende, und wil sagen von
kilnig Artus, wie er hern Gyflet erlöse)i teil, der gevangen lange nf
kastei Orgelus lag.
Auf einem pfingstfest zu Karnant bemerkt Artus mit zorn und
Unmut, dass Gyflet, ein tapferer tafelrunder, fehle, der beim feldzuge,
298 SAN MARTE
den die ritter auf eig:no liand ohne seine fülining getan, gefangen und
von ihnen im stich gehissen sei. ^ht fünfzehn auserwälilten bricht er
auf, denselben zu befreien. Auf einer Aviese rastend, wird Keie auf
nahrung ausgeschickt, der zu einer bürg gewiesen wird, wo er in der
küche einen zwerg, einen pfau bratend, findet, den er verlangt, jener
docli verweigert und deshalb geschlagen wird. Da tritt ein statlicher
ritter hinzu.
Sp. 182. Hie uart Kein geslagoi ntit cime gchrotoicn j^foivcn.
Erzürnt schlägt der ritter mit dem bratspiess samt pfau auf Kein
los, und andre knechte jagen ihn zur bürg hinaus. Auf diesen bericht
au Artus begibt sich Gawan in die bürg, und der herr derselben nimt
alle gastlich in herberge. Es ist Ydiers der schöne. Artus lehnt des-
sen angebotene begleitung ab. Weiter gelangen sie zu einem hause und
kirchhofe, wo an 100 klausner sassen und speisten; dabei ist ein wun-
derschöner garten, dessen geheimnis der dichter hier noch verschweigen
will. Nach zwei tagen reiten sie weiter und kommen zu einer stadt
und bürg, die herlich geschmückt war. Im saale des Schlosses finden
sie voll gedeckte tafeln, aber niemand empfängt sie. Gleichwol neh-
men sie platz daran.
Sp. 191. Hie kam lauiig Artus %uo Lis von imgeschiht , kern
BrandeUjis bürg.
Plötzlich springt Gawan auf, wapnet sich und sezt sich wider,
indem er durch eine tür in einer kammer den schild des Bran de Lis
bemerkt und erkent, wo er sich befindet. Er erzählt das abenteuer
sp. 33, und als endlich Bran de Lis selbst erscheint, bereiten sie sich,
den damals verabredeten kämpf auszufechten.
Sp. 211. Hie veht mit einander her Gatvan imde her Bran von Lis.
Beide kämpfen mit äusserster wut. Da wirft sich Brans Schwe-
ster mit ihrem und Gawans fünfjährigen söhnchen zwischen die auf
den tod erschöpften, und Artus bringt die Verzeihung und Versöhnung
zu stände.
Sp. 222. Hie Immet Idlnig Artus für kastei Orgalus.
Bran zieht mit Artus gen Orgalus und lagert sich vor der bürg.
Es wird in einzelkämpfen gestritten. Der burgherr (er heisst der reiche
soldenier) wird endlich von Gawan besiegt und gibt den gefangenen
G}ilet (sp. 169) frei.
Sp. 250. Hie vert künig Artus wider hein von kastei Orgaluz,
und het sinen uillen volleiulet gar.
Heimgekehrt finden sie in der bürg Lis grossen jammer, da der
kleine söhn Gawans, als er vor der stadt spielte, war gestohlen wor-
BILDUNGSGANG DER GRALDICIITUNG 299
den. Bei dem Idostcr Oiniias selilap^en sie ein lager auf, und gehen
in verschiedenen hänfen nach dem knaben auf die suclie. Gawans lieb
Gyrolette, die miitter des kinih's, und sein gefolge Avill vier woclien
dort ilirer riickkeln- haiTen. Da reitet ohne gruss ein ritter vorbei, den
sie will kennen lernen. Gawan gelingt es, den sich weigernden in
gute zu ihr zu führen, nachdem ihn Keye hatte dazu zwingen wollen,
doch abgestochen wurde.
Sp. 259. Ilie tvürt ein ritter erschossen i)i Gaicans (jclcitc.
Bevor sie zum lager gelangen, tötet ein gabelot den ritter, der
sterbend Gawanen bittet, seine rüstung anzulegen, und auf seinem
rosse fortzureiten: das wisse den weg dahin, wohin er die künde des
geschehenen bringen soll. Demnach reitet Gawan so gerüstet in der
nacht bei grausigem unwetter durch den wald, und als er in einer
kapelle ruhe und schütz sucht, fahrt durch ein fenster hinter dem altare
eine schreckliche schwarze band, löscht die brennenden kerzen aus und
eine grauenvoll klagende stimme lässt sich hören.
es iua.\. dex^ groles heimlicJikeit.
im geschiht ive unde leit
dem, der do von sagen ivil,
un% es sin sol iif daz xil.
Gawan eilt erschreckt weiter und überlässt die zügel dem rosse.
Sp. 264. Hie Jmmet her Gmvan %uo dem grol xno dem ande-
ren mole.
Das ross ti'ägt Gawanen in einen herlichen baumgarten und zu
gebäuden, deren bewohner ihn als ihren gebieter, den erschossnen rit-
ter, begrüssen, da er dessen ross und rüstung führt. Als bei seiner
umkleidung sie ihren irtum erkennen, ziehen sich alle zurück. Stutzig
darüber geht Gawan in den grossen saal. Da steht eine bahre mit der
prächtig geschmückten leiche eines ritters, von brennenden kerzen
umgeben. Auf der leiche lag ein zerbrochenes schwort. Ein pfafte
komt mit einem silbernen kreuze, und eine grosse schaar domherren,
die sich um die bahre aufstellen und vigilie singen. Nach ihrem
abgange blieb noch viel volks zurück im saale. Darauf ward eine tafel
gedeckt und ein statlicher mann mit scepter und kröne ti'at ein, und
nahm mit Gawan an derselben platz. Das gleiche tat die ritterschaft.
Der gral ßiQf^ snelleclich har und dar
für die tische alle gar
und versah alle reichlich mit speise und trank. Als die tafel aufgeho-
ben war und sich alle entfernt hatten, bemerkt Gawan am ende der
300 SAN ALVRTE
tafel einen in silbernem gefass aufgestelten speer, von dessen spitze
blut in das gefass floss, aus dem es einen weiteren abfluss in ein gold-
nes gefass hatte. Da kam der herr wider mit dem zerbrochnen Schwerte
und forderte ihn auf, es zusammen zu setzen, was ilmi jedoch niclit
gelang. Es gehörte dem vorher erschossnen ritter. Da sagt der herr:
er sei der rechte nicht, der dazu berufen, und solle wider kommen,
wenn er beweisen könne, dass er der tapferste ritter der weit sei. Auf
Gawans frage nach dem allen, was er gesehen und was geschehen,
erklärt ihm der herr: mit dem Speere habe Longinus Christi seite
durchstochen, doch als er die geschichte des Schwertes begint, schläft
Gawan fest ein. Wie beim ersten besuch findet er sich am morgen
auf dem anger unter einer eiche, die bürg verschwunden, ross und Waf-
fen neben sich, und mit dem vorsatz, ferner durch rittertaten sich des
grals würdig zu machen, reitet er weiter. Der dichter sagt: er müsse
die materie kurz fassen, und daher dürfe er nicht erzählen, wer den
söhn Gawans stahl, ihn erzog und zum ritter machte; es geschah
von der meyede icunncsam
die in xiio gesinde nam.
Sp. 276. Ilic seit er von hcrn Gawans sun und ivie in sin vat-
ter vani y her Gaican.
Diese Jungfrau reitet eines tages fem zu einem an einer fürt
belegenen schön eingerichteten zeit, auf dem Avege dahin sticht der
junge, starke, doch in der wafFenführung noch unerfahrne kämpe nach
einander zwei ritter nieder. Da er noch keinen toten gesehen, und
die toten ihm nicht rede stehn, sagt er: so schlaft denn! und lässt sie
liegen. Als Gawan darauf die fürt durchreitet, ficht er auch diesen
an, der indess seine kraft wie sein Ungeschick erkent und nach dem
namen fragt. Freudig erkennen sie sich, und Gawan stelt sich der
Jungfrau zur Verfügung. Der französische Verfasser scheint diese weiter
erzählte episode von anders woher hier eingefügt zu haben, denn die
Übersetzer sagen sp. 284, 15:
nu hau ich ilch geton bekant
icie her Gaican sinen snn vant
und ouch die juncfroive sin,
und weiter wird sp. 287, 3 widerholt:
hie het dax mer ein ende gar
von kern Gaivans sun bitz har
nachdem noch erzählt worden, wie Gawan jene beide nach Brittannien
führi, wo Artus zwei monate zu Karlaun still gelegen, und sie mit
freuden empfangen werden. Im freudengewimmel stiehlt ein fremder
BILDUNGSGANG DER GRALDICIITÜNG 301
ritter Gawans ross und wuffeu. Dem Ywon wird Gawans söhn in fer-
nere zueilt gegeben.
Sp. 287. Ilie vahct die oventilr an vommc Siran, der den toten
ritter fjrohte äffen dem nier in eime schiffe xno Gtoinorgan.
In schwüler gewitternacht nach regen, blitz und donner geht Ar-
tus in eine laube am meere; da zieht an silberner kette ein schwan
ein hell erleuchtetes schift' heran, Avorin ein schöner prächtig geschmück-
ter ritter liegt, dessen bi-ust jedoch von einer lanze durchbohrt ist. P]r
lässt den leichnam in die laube bringen und tindet in der tasclie des
ritters einen brief, worin er las: „dieser tote war auch ein künig, der
vor seinem ende könig Artus bat, dass er seinen leichnam in seinem
palaste ausstelle, bis ein ritter ihm den speerschaft aus der brüst ziehe,
der aber mit demselben eisen seinen mörder erstechen müsse. Geschieht
dies nicht innerhalb Jahresfrist, so möge man ihn begraben. Bis dahin
werde er nicht verwesen. Geschiehts, so w^erde man am hofe erfah-
ren, wer er war, und wie er ungerecht getötet worden." Unter gros-
sem geschrei und flügelschlag schwamm der schwan mit dem schiflein
davon. Wegen der unbestimtheit des briefes kann sich kein ritter ent-
schliessen, den stahl aus der brüst zu ziehen, und so blieb der tote
im saal aufgestelt stehen,
Sp. 294. Hie seit er, ivie Galieries geschendet wart in dem
garten.
Gaheries war ausgeritten, seinen bruder Gawan zu suchen, und
gelangt zu einer prächtigen bürg. Da sich niemand blicken lässt, rei-
tet er in den saal und weiter in eine kammer mit drei herlichen bet-
ten. Hier bindet er sein pferd an, legt die waö'en ab und geht weiter
in eine zweite kammer mit zwei betten und in eine dritte mit einem
bette, alle in pracht hergerichtet. Zulezt blickt er in einen park, in
welchem zwei zelte stehen. Da keine tür dahin führt, springt er durch
ein grosses fenster hinein und findet in dem einen zeit eine Jungfrau,
die einen wunden ritter pflegt, der in dem bette in den armen eines
Junkers ruht. Zornig befiehlt der wunde ritter, den dreisten eindring-
ling wegzuschaffen. Ein bewafneter zwergritter greift ihn an; Gaheries
legt die ihm nachgetragenen waffen an, doch wird er arg niedergeschla-
gen und muss unter harten beschimpfungen und bittersten spotreden
die bürg verlassen. An Artus hof gekommen klagt er sein leid, zieht
den sperschaft aus der brüst des toten ritters, befestigt das eisen an
seiner starken lanze, und wolbewafnet kehrt er zu der bürg zurück,
um die ihm angetane schmach zu rächen; ihn empfängt ein bewafneter
302 SAN MARTE
zwerg, iu der grosse, als ob ein äffe auf einem Jagdhund ritte, den er
aber tötet.
Sp. 308. Hie n'chet Gahen'cs sifi lasier.
Im zorn über den getöteten zwerg wafuet sich der wunde ritter,
wird aber im kämpfe niedergestoclien. Da komt die Jungfrau erfreut,
di^s der durch den scliwau zu Artus gebrachte tote ritter durch das-
selbe eisen geräclit sei, das ihrem geliebten den tod gab. Beide hissen
die toten liegen und reiten hinweg, bis sie am abend in einer schön
im meere auf einer insel gelegenen bürg gastliche aufnähme finden.
Gaheries wird schlafend in das schiff des schwans gebracht und die
Jungfrau tahrt damit nach Glamorgan, wo Gaheries mit grosser freude
begrüsst wird. Die Jungfrau erbittet nun von Artus die leiche des jezt
gerächten königs Brangemor, um ihn seiner mutter Brangebart wider
zuzuführen. Sein vater Gingamors jagte ein schwein, das aber eine
fee war, die nach ihrer Verwandlung er zur ehe nahm, und die ihm
den söhn Brangemor gebar. Artus lasst sie mit seinem sogen ziehn.
Sp. 314. Hie nimet die oventilr ein ende vomnie sivmi, der
den toten ritter hrohte uffe dem mer in eime schiffe xuo Glo)nor(jan,
und icil nu sagen von Parxifcde und Icumet %uo der bürge xuo dem
hörne, und ist die erste oventilr, die er hegie in dem welschen buoche,
dax xe tusche broht ist. [Bern er ms. ed. Rochat, Perceval li Galois.
Zürich, Kiessling. 1855. § 1 u. 2.]
7iu seit uns dis niere kürxlich^
dax des selben tages fuegete sich,
uf eine mitteicuche ex geriet,
dax Parxifal sich da schiet
von hiinig Artuse xuo Joflanx,
do er gestreit mit Gaivan und Oramolanx.
ouch sag ich iich, dax er xehant
reit durch manig fr'ömede laut.
dar xuo vant er ouch xivor,
dax sollent ir tvüssen fünvor,
manig oventilr siver,
die nüt sint geschriben her.
Viele tage ritt er durch fremdes land, bis er zu einer festen bürg
gelangte, an deren tore ein elfenbeinernes hörn hing. Da sich nie-
mand sehen lässt, so bläst er das hörn dreimal so gewaltig, dass die
bürg erdröhnt. Endlich komt der burgherr, könig von Nurasch und
Irland, reich gewapnet mit gefolge und volk heraus, rent Parzival
scharf an, wird aber geworfen und ergibt sich, als er Parzivals namen
BILDUNGSGANG DER GRALDICIITUNG 303
hört, der für den besten ritter der weit ^ilt. Und dieser schickt ihn
zu Artus. — Parzival hört von einer Avunderbaien säule auf „dem lei-
digen berge (mo7{s chhrosiis)^ an welcher nur der beste ritter sein
pferd anbinden kann, und wendet sich dahin. Als Artus vernimt, dass
Parzival nicht eher zuriickkehren werde, als bis er die blutende lanze
gefunden habe, bricht er mit dem hof(3 auf, ihn zu suchen.
Sp. 322. Ilie kionct Pardfal xuo der jiDKifrowoi, die da\ scJfof-
xovelgesteui hcttCj dax von im selber spüle. [Bern. ms. § 3.]
Parzival gelangt zu der stelle, wo er einst den reichen fischer
am see fischend fand, und gedenkt, wie er von dort zur gralburg
gekommen. Weiter sieht er eine herliche bürg jenseit eines breiten
Wassers, und eine schöne magd ist bereit, in einem kleinen schiffe ihn
überzusetzen. Doch arbeitendes volk jenseit warnt ihn, da sie ihn
ertränken wolle, und bringt ihn selbst sicher an das andre ufer. Er
geht in die bürg, bindet sein pferd im hofe an, legt schild und lanze
ab, und betritt einen prächtigen saal, worin ein reich geschmücktes
bette aufgeschlagen steht Da öfnet sich die tür einer schönen gewölb-
ten kemenate; darin auf einem tisch ein wundervolles Schachbrett:
[Bern. ms. § 4. R. Boron, nach Birch-Hirschfelds auszuge:
„die sage vom gral", Leipzig, Yogel 1877 s. 173.]
er tut einen zug, es wird unsichtbar dagegengespielt, Parzival verliert
stets die partien, und zornig darüber will er das Schachbrett in den
teich unter dem fenster werfen: da warnt ihn aussen ein schönes mäd-
chen, zu dem, als sie in den saal konit, Parzival in niinne entbrent;
doch wehrt sie ihn ab mit dem versprechen, ihm minnelohn zu gewäh-
ren, Avenn er den weissen hirsch jage und ihr dessen köpf bringe;
ihren kleinen bracken wolle sie ihm dazu mitgeben. — Nachdem er
den hirsch erlegt und ihm den köpf abgeschnitten, komt eine Jungfrau
geritten, die den kleinen bracken einfängt und ihn nicht eher heraus-
geben will, als bis er mit dem ritter im grabgewölbe werde gefochten
haben.
Sp. 330. [Bern. ms. § 5. — R. Boron s. 173.] Hie vihtet Par-
zifal mit dem rittere, der imme geivelhe heslossen ivas.
Das gewölbe war eine massive klause, und seit fünf jähren hat
der ritter seiner geliebten gelobt, dasselbe nicht eher zu verlassen, als
bis der kämpe gekommen, der ihn besiege. Seine geliebte ernährt und
besucht ihn darin. Auf Parzivals aufforderung komt er auf einem rosse
schwarz gerüstet heraus, doch während des kampfes beider komt ein
fremder ritter vorbei, der bracken und hii'schkopf stiehlt und damit
davon reitet. Der schwarze ritter fühlt sich besiegt und flüchtet in
304 SAN MARTE
das gewölbe, wohin ihm Parzival nicht folgen kann, und dieser eilt
nun dem riiuber nach, indem er sich von der Jungfrau trent, die ihm
den namen sowol des schwarzen ritters als des brackendiebes zu nen-
nen verweigert.
Sp. 338. llic hiimet Pnr\ifnl i)i eine hurg , do er einen löiven
sluog, und ralft mit dem herren. [Bern. ms. § 6.]
Parzival komt zu dem schloss Brunemuns, ohne jedoch seine
bewohner zu erblicken. Er gelit durch den saal in den garten, wo
am brunnen unter schönen bäumen ein zeit steht, worin eine Jungfrau
am bette des rittei*s Abrioris von Brunemuns sizt. Vor dem zeit fält
ihn ein löwe an, den er tötet. Zornig springt der ritter auf, wapnet
sich, muss sich nach scharfem kämpf ergeben und sich mit der Jung-
frau zu Artus begeben, der ihn erfreut zum tafelrundritter ernent.
Sp. 350. Hie rindet Parxifal einen toten ritter, der icar^ ersla-
gen. [Bern. ms. § 7. K Boron s. 172.]
Der ritter heisst Odinas [im Berner ms. Odinians]. Parzival trö-
stet seine klagende geliebte und reitet weiter.
Sp. 351. Hie himet Parxifal zuo eime risen, und würt mit im
vehtcndc. [Bern. ms. § 8.]
In einem schönen festen schlösse betritt Parzival den saal, doch
keine seele lässt sich sehn. Eine wolbesezte tafel steht da, und wäh-
rend er sich daran stärkt, tritt eine bleiche, abgehärmte Jungfrau in
ärmlicher kleidung herein, die der riese schon zwei und ein halbes
jähr gefangen hält, da sie seinem willen sich nicht ergeben will. Sie
fleht ihn zu fliehen, denn, komme der riese, so sei er des todes. In
der tat erscheint er, schlägt mit der keule Parzivals ross tot, wird aber
von Parzival getötet. Nach guter nacht rüstet sich dieser neu, nimt
ein schönes schwarzes streitross, das der riese vor zwei monaten einem
ritter abgenommen und im keller geborgen hatte, und reitet seines
weges, indem er die Jungfrau als herrin der bürg zurücklässt.
Sp. 359. Hie tvirt Parcifal vehtende mit eime ritter , der huote
eines icassers, dax nieman drinne trahte. [Bern. ms. § 9. — Vgl.
auch R. Boron, B.-Hirschf. s. 174 mit einigen abweichungen.]
Parzival komt an eine fürt und sieht jenseit des wassers ein
schönes zeit aufgeschlagen, bei welchem ein silberner schild, eine weisse
lanze und ein weisses pferd steht. Als er sein ross in der fürt getränkt,
rüstet sich beim zeit der „weisse ritter" zum kämpf, wird aber besiegt
und muss sich Artus gefangen geben. Während gastlicher Übernach-
tung erzählt ihm der weisse ritter, er sei der hüter der minnefurt
(gue amoureux). Zehn mädchen von zwanzig jähren wohnten hier
bildungsga>:g der giuldichtung 3Ö5
unter den bäumen; da kam mancher held und wohnte wol 6 monat
bei den mädchen, und wenn andre ritter kamen, die in der fürt ihre
rosse getränkt liatten, Avurden sie erschlagen, die siegenden aber wur-
den brüderlich aufgenommen. Als die mägde scheiden solten, schrie-
ben sie mit goldnen buchstaben in den marmoi-stein beim zeit: wenn
ein ritter sieben jähre die fürt hüte, so werde er den höchsten preis
bejagen. — Dies habe er unternonmien , doch folge er nun seinem
befehle. Auch er wird von Artus freudig in die tafeirunde aufge-
nommen.
Sp. 364. Hie irürt Parxifal vehtende mit kern Gawans snii,
den er hette von kern Bra7idelins sivester, der hies der schöne uner-
kante. [Bern. ms. § 10.]
Zwei Wochen reitet Parzival durch dichten, von wild aller art
reich belebten wald, vergebens herberge suchend. Endlich trift er eine
einsam auf einem marmorblock sitzende jungfi*au im walde, die so
schön wie eine göttin ihn fast gereizt hätte, sie um ihre minne zu bit-
ten. Da komt ein ritter, der ihm verbietet, bei der Jungfrau zu ver-
w^eilen.
[Bern. ms. § 11.] Nach scharfem anrennen nent Parzival seinen
namen; da gibt der ritter sich als „den schönen unbekanten", Gawans
söhn, zu erkennen, und höchst erfreut reiten alle drei zu einem wol-
angesessenen fischer, der sie aufnimt und festlich bewirtet. Er hiess
Elvadus, sein vater Elvdus: der war herr des Landes. Seine frau ward
vor zwei jähren begraben. Am andern morgen reiten sie weiter, das
paar zu Artus nach Lunders und Kantorb ille, Parzival auf eignem
wege.
Sp. 371. Hie hunt Parxifal zuo dem andern tnole zuo sinern
ivihe Knndeiviramurs 7X Belrepere. [Bern. ms. § 12. Das ms. hat
die fi-anzösischen namen Augingeren, Clamadieu und Blancheflors.]
Parzival komt in eine schöngebaute, stark bevölkerte und befestigte
Stadt mit zwanzig klöstern und vielen kirchen und türmen; er reitet
in das schloss und wird von einer Jungfrau mit prächtigem gefolge
empfangen. Sie findet, dass der gast die gröste ähnlichkeit mit dem
besieger des Kingrun und Klamide habe. Er gibt sich zu erkennen.
Grosse freude überall. Das volk drängt auf die Vermählung beider.
Sie besucht Parzival heimlich in der nacht (nachahmung vom besuch
bei Chrestiens), sie wechseln tausend küsse, doch das beilager wird
nicht volzogen. Vergebens ist alles bitten, dass Parzival länger als zwei
tage verweile. Tüchtig und schön ausgerüstet, auf rotem Schilde einen
silbernen löwen führend, reitet er unter dem versprechen baldiger
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXH. ^0
306 SAN MARTE
widerkehr und mit dem schwur, nirgend in einer herberge länger als
eine nacht zu weilen, wider ins weite, bis er den hirschkopf uud
bracken widergefunden und die geheimnisso des grals erforscht habe.
Sp. 386. Hie irürf vektende Parxifal mit ei7)ie rittere, der hies
der schöne Böse. [Bern. ms. § 13. R. Boron s. 174. Er hiess li
Beaus Mavais.]
In dichtem walde begegnet ihm auf schönem zeiter in seidnen
kleidern nach kornwälscher tracht ein wunderhässliches weib (ähnlich
der Kimdrie beschrieben), welchem ein statlicher ritter folgt. Parzival
muss über den anblick lachen, worauf der ritter ihn anrent, aber
besiegt, sich ergeben und an Artus hof gehen muss. Er wii'd der
schöne Böse genant, söhn des grafen von Galphage (fix al conte de
Glavoie)\ sie heisst Rosete.
Sp. 386, 33: Sil was glich einre tüvelin.
Zu Kavelun werden beide mit ehren empfangen, nachdem Kaye
für seinen spott hinter den sattel geworfen ward. Später wurde die
frau immer mehr schön und Aveidlich, dass sie algemeine bewunderung
erregte ;
Sp. 394, 7: inenweis oh sü von feinen kam.
Sp. 394. Hie kumet Pm^zifal %uo siner muoter tüonu7tge und
hevindet, daz er eine sivester het. [Bern. ms. § 14. — R. Boron
s. 173.]
Parzival muss im walde ohne herberge übernachten; dann sieht
er den bäum, unter welchem ihm einst ein ritter beschied, dass Artus
ihn zum ritter machen könne. Er erkent seine heimat, das mütterliche
haus imd wird auch von einem alten knechte wider erkant. Eine
jung&'au, seine Schwester, teilt ilun mit, wie seine mutter im schmerz
über seine ausfahrt gestorben. Rührend ist die widererkennung der
geschwister geschildert. Parzival will den hier in der nähe wohnenden
einsiedler sehn, um ihm zu beichten.
Sp. 399. Hie uiirt Parzefal vehtende mit eime ritter, der im
sine stveste?' wolte nemen. [Bern. ms. §15. — R. Boron s. 173. 174.]
Parzival, treflich gerüstet, reitet mit der Schwester ab. Bald
begegnet ihnen ein ritter, der seine Schwester rauben will, doch wird
er im kämpf niedergestochen und Parzival führt dessen ross mit sich.
Sp. 400, 29: iewederre hette eins lötven m.uot
und worent kec sam zwei toilde swin.
Der eremit, der Parzival nicht wider erkent, führt die geschwister
in die kapeile zum grabe ihrer mutter. Parzival erzählt tief bewegt
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTUNG 307
seine abonteuer. Der eiiisicdler tadelt, dass er den ritter getötet, des-
sen ross er mit sicli führt. Sie werden in der klause gnt geherbergt
lind verpflegt. Ein engel bringt ihnen die speisen. Parzival bittet
dringend nm aufklürung über den gral und bhitenden speer. Nach
langer erbaulicher predigt reiten die geschwister nach liause. Am
andern morgen bricht Parzival unter wehklagen der Schwester wider
auf, den gral zu suchen.
Sp. 409. Hie IkhI Par\ifal xuo der megede biirq. [Bern. ms.
§ 16.]
Drei tage durch wüsten wald, ohne herberge zu finden, irrend,
komt er endlich zu einer herlichen bürg, deren tor, als er eingeritten,
sich schliesst. Kein mensch lässt sich sehen. Yor dem saale steht auf
vier vergoldeten säulen eine tafel mit angekettetem hammer. Dreimal
schlägt er darauf, dass die bürg erdröhnt. Da zeigt sich ein mädchen,
das ihm jedoch auf seine bitte um herberge nicht rede steht. Widerum
schlägt er an die tafel, dass man es zwei meilen weit hören kann, und
angstvoll komt nun ein andres mädchen, das ihn der herrin zu mel-
den verspricht: denn würde er zum dritten male auf die tafel schlagen,
so müste die bürg in trümmer stürzen. Im glänzenden saale, von
hundert schönen Jungfrauen umgeben, empfängt ihn die herrin; da
schwand ihm sein zorn und sein hunger, mid er fühlte sich wie im
paradiese. Burg und schloss werden nur von Jungfrauen edler geschlech-
ter bewohnt, und sind von ihnen ohne die hülfe von maurern und
Steinmetzen erbaut. Fahrende ritter werden zur herberge aufgenom-
men; wer das haus menschenleer findet, sich ängstigt, dass sich das
tor hinter ihm geschlossen und nicht auf die tafel schlägt, der findet
morgens das tor offen und kann fortreiten. Wer aber mutig dreimal
auf die tafel gesclilagen, der wird köstlich bewirtet und erhält eine
prächtige schlafstätte. So gieng Parzival, nachdem er seine aben teuer
den damen erzählt hat, zur ruhe. Doch am andern morgen bei schon
hochstehender sonne erwachend, findet er sich unter einer eiche, wap-
nung und ross neben sich, die bürg verschwunden, nirgend menschen-
spur; verwundert spricht er:
Sp. 422, 24 Ich tvene uf mine jungeste vart
Dax. sü gefenet sint alle gar.
Sp. 422. Hie kunt Parxifal, da er sin Jdrxhouhet wider vindet
und daz breckelin, dax er lange gesiwchet hette, und würt mit eime
ritter drumbe velitende, der kies Gai'salas. [Bern. ms. § 17. —
R. Boron s. 176.J
20*
308 SAN MAETE
Xach langem waldritt kernt Parzival zu einem schönen grossen
plan, auf dem ein mächtiger bäum steht, unter dessen schatten wol
tausend ritter platz hätten, und daneben ein grosses prächtiges zeit,
nebst zwei kleinen. In einem derselben steht ein herlich geschmück-
tes bette und eine Jungfrau begrüsst ihn mit der Verkündigung seines
nahen Verderbens. Am bäume hängt der köpf des erlegten zwölfenders,
doch fehlt das bräcklein. Da wird unter hörnerschall ein todmüder
hii'sch von dem hündchen heraugetiieben, und ein folgender ritter tötet
den hirsch. Parzival fordert von ihm hii-schkopf und bracken, und da
er beides weigert, kämpfen sie; jener wird besiegt und verpflichtet,
sich mit seiner dame an Artus hofe zu gestellen. Der ritter heisst
Gai-salas, söhn des herzogs von Genelogen land, sein lieb Trischans die
ehre. Parzival will von ihm das nähere über die bürg und die Jung-
frau, die ihm den bracken gegeben, erfahren; jener weiss das nicht;
dann fragt er nach dem schwarzen ritter im grabgewölbe. Der ritter
erzählt ihm dessen geschieh te (so gleichfals in Bern. ms. § 17 mit
dem Zusatz: „hier endet seine geschichte, die ich euch wort für wort
ti'eu erzählt habe.'') Parzival übernachtet gut bewirtet und reitet ver-
gnügt mit hii-schkopf und bracken beladen morgens ab. Garsalas und
seine geliebte werden von Ailus zu Karleun mit ehren empfangen.
Sp. 439. Hie kunt Parcifal %uo der juncfroiven, die im im
imd Jech, der in fuorte über die glesiiie hriigge, und solte in wisen
xiu) dem grole, und der selben naht sacli er in in dem ivalde von
ungeschihte und dax ers nüt enivilste. [Bern. ms. § 18.]
Parzival betet inbrünstig zu gott, dass er das schloss mit dem
Schachbrett und die dame, die ihm das bräckelin übergeben, wider
finde. Xach einiger zeit komt ihm em schön mit reitzeug geschmück-
tes, blendend weisses maultier entgegen gelaufen, dem eine schöne
festlich geputzte dame folgt. Diese besteigt es, und obwol sie es
abwehren wiU, reiten beide bis in die nacht hinein mitsammen weiter.
Da eilt sie voraus und Parzival ruft sie vergebens zurück. Plötzlich
erhelt sich die nacht durch kerzen mit hellem schein, bald aber folgt
ein ungewitter mit strömendem regen. Der held muss im walde über-
nachten, doch andern tages um mittag findet er die dame, die ihn ver-
lassen, unter einem bäume rastend und sie erklärt ihm, dass sie ihrem
geUebten Bruns (im Bern. ms. heisst er Bruns sans piiie) gelobt, bis
zu seiner widerkehr in keiner geselschaft eines mannes zu sein. Die
nächtliche erhellung des waldes habe der gral hervorgebracht, während
der hier nahe Avohnende fischerkönig sich der nacht im ft-eien erfreute.
Er will mehr vom gral und dem blutenden speer wissen, doch erwidert
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTUNG 309
sie, dass darüber nur ein bewährter priester sprechen könne. Weiter
reitend kommen beide in ein tal, wo eine Jungfrau sie im zeit unter
bäumen gastfreundlich bewirtet; er erzählt ihr seine fahrt um den
hirschkopf und bracken, und auf sein begehr, zum gralkönig zu gehm-
gen, gibt sie ilim ihr weisses maultier nebst einem ring, durch den
er es werde richtig lenken kCtnnen, und das ihn auf der gläsernen
brücke sicher über ein grosses wasser führen werde; d(^ch soll er ihr
maultier und ring widerbringen. So reitet er auf dem maultier mit
seinem ross, hirschkopf und bracken ab, übernachtet im walde und
gelangt glücklich über die gläserne brücke.
Sp. 456. Hie kunt Parxifal xuo eirne rittere, der Ines Drios, der
in u'isete über die hohe brücke, do nieman' möhte über Jcomen, und
gieiig nuwcmt halber i)is weisser, miete seite im ouch von dem (ji'ossen
turneig, der sich sammente vor der bürge Orgelus. [Bern. ms. § 19.]
Er begegnet dem edlen ritter Brios von dem gebogenen walde,
auch „von den inseln'' genant, im schönen jagdkleide mit einem hörn
von elfenbein und habicht. Auf wechselseitigen frommen morgengruss
ersucht ihn Brios, zunächst bei ihm sich zu erfrischen, führt ihn ins
schloss zu frau und tochter, welche leztere einen grossen eindruck auf
Parzival macht, doch von minne noch nichts wissen will. Nach erzäh-
lung seines hirsclikopf-abenteuers nimt er den Vorschlag an, an dem
furnier teilzunehmen, das Artus jenseits des flusses beim schlösse Orge-
lus ausgeschrieben hat. Doch muss er dabei eine zauberbiiicke passie-
ren, die nur bis in die hälfte des wassers reicht, und über die ihm
eine lange geschichte erzählt ^vird. Andern tags machen beide ritter
sich auf, Parzival unter zurücklassung des hirschkopfs und brackens,
und in vortreflicher rüstung. Brios bleibt zurück, als Parzival die brücke
betritt, doch sobald er an deren ende in der mitte des breiten brau-
senden Stromes angelangt ist, löst sie sich behend vom lande los und
schwingt sich über die andre hälfte des wassers zum jenseitigen ufer,
das Parzival sicher betritt. Damit ist erwiesen, dass Parzival der beste
ritter der weit ist. — Artus mit allen tafelrundern ist bereits bei der
bürg Orgelus versammelt und ordnet die parteien. Als gegenpart steht
könig Auguses mit den Irländern, und diesen schloss sich Parzival an,
da er gegen die tafekunder unerkant kämpfen wolte. Der vorschnell
eifrige Keie wiixl zuerst abgestochen und muss den höhn des hofes
erfahren. K^ach vielen siegreichen kämpfen kehrt Parzival über die
brücke in gleicher weise, wie er gekommen, zu Brios zurück, der ihn
erwartet und beide übernachten in der behausung des neffen Brios,
eines einsiedlers. Am andern tage widerholt sich der gleiche waffen-
310 SAN MAETE
tanz, und Artus misvergnügt scbickt Gawan aus, zu erkunden, wer
der stets sieghafte ritter sei. Umsonst. Abends zieht sich der held
wider zurück, übernachtet bei Brios und zieht mit hirschkopf, bracken
und weissem maultier seines weges weiter.
Sp. 485. Hie lannmet Farxifal zuo eime sarke, do ein ritter
inne lag, und der ritter hetroug in darin mit sinre bosheit. [Bern,
ms. § 20.]
Bald fand er im walde unter einem bäume ein kreuz, darunter
einen marmorsarg. Eine stimme rief unter dem stein um hülfe. Als
Parzival den stein aufhob, sprang ein statlicher ritter heraus, der den
beiden in den sarg und über diesen den stein warf.
Sp. 486. Hie iviirt Parxefal erlöset uz dem sarke. [Bern. ms.
§ 20.]
Der tückische ritter versucht, auf dem ross und auf dem maul-
tier davon zu reiten, doch beide sind nicht von der stelle zu bringen.
Er vermutet Zauberei, lässt Parzival aus dem sarge und springt selbst
wider hinein imd ruft nur noch: am ende des Jahres werde Parzival
erfahren, wer er sei. Dieser reitet ab und findet bald im walde eine
schön gezierte jungtrau, die den ring und das maultier als das ihrige
ihm abfordert, und fragt, ob er beim gral gewesen und seine wunder
gesehn habe? was er verneint, dagegen seine abenteuer erzählt. Er gibt
ihr ring und maultier, womit sie wegreitet, er übernachtet im walde
und betet recht inbrünstig zu gott, dass er ihn doch endlich zum
fischerkönig oder zur mägdeburg führe. Da antwortet ihm hoch aus
dem bäume eine stimme: das bräcklein werde ihn führen! Bellend
läuft es voran, er eilt freudig ilim nach.
Sp. 492. Hie kunt Farxifal wider 7mo der jungfroiven, do er
das riche schofxovel- gesteine U7id hret vant und die im lech im
bracken. [Bern. ms. § 21.]
Das bräckelein führt den beiden in eine ansehnliche bürg; im saale
steht ein prächtiges bett, auf dem das Schachbrett liegt. Eine schönge-
schmückte Jungfrau, der das hündchen freudig entgegenspringt, begrüsst
ihn fi'eundlich: er übeiTeicht ihr den hirschkopf, erzählt seine abenteuer,
bittet nun aber um erfüllung ihres gelübdes, das sie ihm bei der aus-
fahrt gegeben: gewährung der minne. Mit vielen küssen fält sie ihm
um den hals und erklärt ihm ihre hingebung. Sie setzen sich auf das
bette neben das Schachbrett, über welches sie auf seine bitte ihm aus-
kimft gibt: einst war hier eine wunderschöne zauberkundige magd;
diese fand die fee Morgane auf einer wiese mit einem ritter schach
spielend; als sie näher trat, bot ihr Morgane ihr schachbret an zum
BILDUNGSGANG DER GRALDICIITUNG 311
geschenk; es war zu Lunders uf der Tarmise gemacht. Als gegen-
gescheok gab sie Morgane dieses Schachbrett, das von selbst spielte,
wenn ein ehrbarer mann oder solches weib oder jungtrau das gegen-
spiel übernahm. Als sie an köuig Brandigans hüte war, kam auch
Morgane dahin, nahm sie auf zwölf jähre mit sich, und schenkte ihr
das schaclibrett zurück, wonächst sie vor acht jähren sich diese schöne
bürg erbaut habe. — Kitter und damen versammeln sich zu festlicher
abendtafel, dann wird Parzival schön im saal gebettet und nachts kam
die burgherrin zu ihm und löste ihr gelöbnis. Andern tags reitet Par-
zival wider auf die gralsuche mit dem versprechen, wider zu kommen.
Sie begleitet ihn bis an ein wasser, wo ein schiff an einer eiche unter
schloss lag. Sie schliesst es auf, und das schiflein bringt ross und
reiter hinüber und kehrt dann von selbst zurück. Er verfolgt die ihm
gewiesene Strasse zum fischerkönig.
Sp. 506. Hie vindet Fm^7dfal einen ritter, der an den faexzen
Meng an einem boume, den er erloste, der Bayumades hies. [Bern,
ms. § 22.]
'Keie hatte ihu so grausam behandelt und mit drei rittern angefal-
len, als sie vom leidigen berge kamen, wo sie vergeblich versucht hat-
ten, ihre rosse an die marmorsäule zu binden, was nur dem besten
ritter der weit gelingen kann. Bagumades, nun befreit, reitet zu Artus,
um Keie ziu- rechenschaft zu fordern, Parzival zur säule auf dem mo7is
doloiireux, um zu versuchen, ob er der beste ritter sei.
Sp. 513. Hie klimmet Bagimiades xuo künig Artus und würt
vehtende mit Keygin.
Artus und die königin schlichten den kämpf, in dem Keye zu
unterliegen droht, in gute, und da Bagumades den gruss von Parzival
gebracht, machen alle tafelrunder sich auf, ihn zu suchen, Gawan,
Twon, Lanselot usw. Der dichter will jedoch nur von Gawan erzcäh-
len. — Hier bricht das Berner ms. ab und schliesst sich erst sp. 582
wider an. — Gawan übernachtet bei einem einsiedler im walde, dann
komt er bald zu einer bürg, vor der an einem bäume bei einem brun-
nen ein silberner schild hing, dessen wappen ein schwarzer klimmen-
der löwe ist.
(ScMuss folgt.)
312
EEST QUODLIBET.
Die hamhchrift c(J)h 270 der lajl. liof- luid staaUhiljUoihek in
München ans dem 15. jli. (cafaloi/ns V 1, s. 31), in welcher auch die
17 (jedichfe Heinrich Kaufrintjers aufbewahrt si)id, enthält bl. 73'' bis
76" nachfolgendes qnodlibef („ditz liaist ain geplerr'', v. 161), das sich
durch eine fülle eingestreuter Sprichwörter u?id sprichwörtlicher redens-
arten auszeichnet. Die anmerkungoi geben die lesarten aus cgni 379;
in dieser hs. steht das gedieht bl. 36'' bis 5Ö^
bl. 73* Ain ander guot spriich.
Wer on guot wil witzig sein
Vnd on schiff fert über rein
Der möcht ertrincken wol
Durch des reiches stet on zol
5 Niemant thar gefarrn
Was die Chargen mügend ersparen
Das wirt den muten zuo tau
bl. TS*" Auß past macht man sail
Oder guote raffen reff
10 Gipt ainer seinem chneht ain treff
Vmb schneid er sol nit zürnen
Für die feind sol man turnen
Die zun die da geachtert sind
Mit ruoten sol man slahen chind
15 Die vmb wöllent zäunen
In müllen fint man wannen
In dem wein hauß die maüß
Ze chirchen vnd zuo straß
Sicht man schöne frawen
20 In weiden muoß man hawen
Holtz das man da prennen wil
Wer wolfail hin gipt vnd lange zil
Der verkauft wol was er haut
Er mag sein aber verderben drat
25 Von spils uegen der gemn ist ciain
Überschrt'ft fehlt iii cgm 370. 1 an .so stets. 5 niema. gefaren. 6 karge.
7 ze 50 stets. 9 gütu haffenref. 10 sin. 12 viend. ]4 rautten. slaschen.
15 vmb red weUen. 17 maß. 18 kirche vgl. xu 6. 19 Sich sich. 22 hin
ge tzil. 23 hat.
EULINÜ, QUODLIBET 313
Zwen glich hert stain
Malend scltton slechtes inol
Wer haut ain guot bocktel
Der ist zwair stiffel gewiß
30 Wer rieh ist man spricht er ist gewis
Nieniant waiß ob das ist
Auff die acker fürt man mist
Der si gern getunget haut
Der pader ainen siechen laut
35 Zum linggen arm zuo dem miltz
Wer haut zwen schuoch mit filtz
Die sint den winter warm
Die frawen spinent garn
bl. 74'' Aine pessers dann die ander
40 Tücli fürt man auß ilandern
Wer das chaüfPet der muoß phenning han
Wer übel vnd guot chan uerstan
Tuet er vnrecht man sol jn strauß'en
Wer schreit on not waüffen
45 Der pringt die leüt zuo samen
Wenne man sieht schöne samen
So chumpt gern ain guot jar
Ich waiß wol wer nit hat har
Der ist sicher chal
50 Wer chorn hab der mal
Die weil die päch sind groß
Weren meiniu pfant loß
So wölt ich frölich sein
Ich waiß wol das der wein
55 Macht vngeraten leüt
Zuo fasnacht sieht man prüt
Mer dann durch das jar lanck
Von üeb schaiden ist ain swerer ganck
Also gat das jar da hin
60 Wer vast zert on gewin
Dem wii't die täsche 1er
Ich waiß wol es ist swerr
26 gleych. 30 spiich. 34 bader. 35 langen, auff dem m. 40 füret,
gen flander. 41 koft. 43 solt. 48 hat hat. 53 wolt. frolich. 55 Kit.
59 get.
314 EULING
Das niemaut erheben mag noch chan
Wer des winters one ban
65 Vber weld muoß reitten
Der sol des tags erbaitten
Leüg ich so wil ich swigen
bl. 74*' AVer beginnet seigen
Dem ist ettwas prosten
70 Wer badet one ehesten
Der schempt sich uil
Wer vor dem pern uischen wil
Der mag sein arbait verliessen
Wer pöß gelt nit chan chiessen
75 Der verdrnißet seiner zeit
Wer ^y ainer trawen leit
Vnd jr nicht gelieben mag
Der wölt gern es war tag
Liegens sol sich niemant gewenen
80 Siechtag tuet wee den zen
Auch ich die leut hör sagen
Wer vnrechts vil muß haben
Ich wen es tue jm wee
Czuo sumer pluomen vnd kle
85 Sicht man auff den haiden
Wem sein lieb wirt laiden
Des liebung ist gar enzwai
Laichnuß ist manger lay
Dar \Tnb ist mir geschechen laid
90 Wer zuo dem augsten w^euig schneit
Der tarff dest minder traschen
Frawen mussent waschen
Das lauß wir aber sleiffen
Chül morgen pringent reiffen
95 Sehne choment nach ehalten winden
Der baupst mag enpinden
63 noch chan fehlt. 66 erhiten. 67 Lieg. 68 sigcn. 70 fehlt ganx.
75 verdrwßet. 76 bey. 77 geminnen; in cgm270 steht geliehen von jüngerer hand
in rasur, vgl. über dieses in cgm 270 geübte verfahren Heinrich Kaufringer hg.
von Euling. s. IL 79 Liegents. wennen. 81 Als ich. her. 82 muß ver-
tragen. 83 tu. 86 Der sem. 88 menger. 89 mir fehlt. 90 ögsten.
93 slyffen. 95 komjjt.
QUODLIBET 315
Den siindcrn wil er liabeii r\v
bl. 75" Wann der mon ist new
So mag sich das weiter iierstossen
100 Chuglen vnd possen
Macht vngeraiiten leüt
Wer hacket oder reut
Dem wirt sein prot saür
Ain wolff vnd ain pawr
105 Werdent ain ander selten hold
Das da gleist ist nit alles gold
Wenn es ist auch mess
Ain schmid in seiner ess
Sol haben guten chol
110 New pesm cheren wol
Paß dann si Averdent alt
Altu wip sind ehalt
Dar zu pringet si jr alter
Ich wen wenn ain malter
115 Mer dann ain pfünt gelten sol
Es sev armen leüten nit wol
Pöß offen werdent riechen
Gern lapt man die siechen
Wie gern sung ain man
120 Ir wissend wol wer Kitzel chan
Der haut gesungen schier
Ich waiß wol dry vnd vier
Ist siben hewr als fert
Wer Pfenning hat der ist wert
125 Disser weit lauff nieman
Ains mals gesagen chan
bl. 75*' Vnd wie ieder sei gemuot
Der pfaff aischt nicht das guot
Die weil das öppffer mag wern
130 Ich waiß wol er wölt gern
Das es lange wert
Er mag fallen hiur als fert
Wer hoch wil steigen
98 man. nuw. 100 Kichlen. 101 Mach. 105 an ainander. 106 als.
107 och. 109 guten fehlt. 110 pesen. 112 weip. 116 nit fehlt. 119 AVy
gernen so mag ain man. 122 oder vier. 123 vart. 130 weit. 131 wart.
316 EULING
Hern sol man naigen
135 So si piettend jrn gnioß
Thören essent gern muoß
Ymb alle sach ist mir nit chiind
Doch waiß ich wol den alten hund
Ist pöß leren die pand
140 On pfening vnd on pfand
Niemant zuo dem wein sol gan
Der sich chiimers wöl erlaiin
Am süntag söl wir feirren
Pfaffen vnd geyrren
145 Sind der leüt schaden fro
Gern print das stro
So es nahent leit pv dem fewr
Jr wissent wol das hewr
Die mäntel gand für die rock
150 Gaiß vnd auch pöck
Tragent lützel guotter wollen
Wem der sack nit wil foUen
Der sol jn halb vei-pinden
Garn sol man winden
155 Oder es wird sicher verworren
So die schwin begimien kerren
bl. 76* Dar zuo tribt si des hungers not
Wer hewr stirbt der ist tod
Ynd ist sin piß jar vbrig worden
160 Es ist ain herter orden
Ditz haist ain geplerr
Ynd chompt der uogel jn das flerr
Er wirt uilleicht geuangen
Wer zuo jungst chompt gegangen
165 Der haut versaümpt den ersten trunk
Alt leüt sint nicht Jungk
Doch haut ain gans ainen langen kragen
Ich möcht zu vil sagen
Da uon sprich ich ain wort
170 Churtz red war ist ain hört
134 geneigen. 142 erlan. 143 vyren — gjTen. 147 bey dem
fürr. 149 gend. 155 sicher fehlt. 156 swein. 162 lerr. 1G7 ain.
LÜGENDICHTUNG 317
Wer paUl lauft' dem ist gaüeh
Her aiift' da ti-iiiik ain prediger uaeh.
171 löff. 172 Hör.
EINE LÜGENDTCIITUNG.
Dem Verzeichnis mhd. läge/ist ücle bei MüUrr-Fraurciith, die deut-
schen Uiyendichtiuigen s. 12. 13 füge ich Idnxu „Spruch das alles in
der Pelt gut gehet" vom Sch7iepperer aus der Its. des germaiiischen
museums %u Nimiberg )ir. 5339^, vgl. Afixeiger f. kimde d. d. vorz.
1859, 9 — 12. Bei Goedeke I, 329 fehlt das stück, trotxdem es vo7i
Wendeler in seinen Studien über Hans Rosenplüt erwähnt war. Die
angeführte Überschrift rührt von jüngerer liand, her.
bl. 410^ Ich sollt von hübscher abenteür
Sagen darzu dorft ich wol steür
Ob ich zusamen ein gedieht
Kiint bringen aus gar hofelicher geschieht
5 Ein schweiczer spiß ein helnparten
Die tanczten jn einem hopö'engarten
Eins Storchs pein vnd eins hasenfuß
Die pfiö'en auf zum tancz gar suß
Die würffei fürten den reven eins:
10 Dapei was heinczlein meyers pflüg
Der sas in einer alten taschen
Ynd schmidet ser an einer flaschen
"Was grosser kunst er daraus dreit
Die flasch was drei messig weit
15 Er schopfft gancz vnd gar darein
Das mer die tunaw vnd den rein
In aller weit wassers zuran
Ein muck verschlant ein starcken man
Ein feüi- in wasser nie erlasch
20 Der pfarrer seinen meßner trasch
Der paursman sictzt wol vnd eben
bl. 41 1'* Der darft kein güllt noch zehent geben
Ich sach den dittrich von Bern den recken
Rennen scharpf auf einen heüschrecken
25 Ich wil euch neue mer hie sagen
318 eulinCt
Die schweiczer liatt er all erschlao:en
Der edel füi-st von Österreich
Siezt in dem schweiczer land gleich
Ynd hat gewunnen mit dem schwert
30 Als er vor lang hat begert
Ich sas: euch das fursten ynd lierren
Der Juden schecz nit mer begern
Sie haben gemacht gut frid vnd gleit
A^nd haben vertriben weit vnd preit
35 Die rauber gancz aus jrem land
Das vnrecht thut den fürsten and
Es sein alle sti'aß gar fridlich worden
Ynd yderman hellt recht sein orden
Eeprecher vnd meinayd schweren
40 Das vindt man auch nu nymermer
Die wellt ist worden schlecht
Richter vnd schopffen die sprechen recht
bl. 411'' Tnd vrteilt yderman nach seinem synn
So ist gerechtikeit erschinn
45 In allen landen weit vnd preit
Hat man die vnrecht aufgegeit
Die prister halten sich wirdigkleich
Sie schlagen gancz aus alle reich
Es wil einer nit mer haben dann ein pfründt
50 Sie haben sich alle mit got versunt
Hoffart vnkeüsch geitikeit ser
Das sieht man nvmant treiben mer
Man most sich aller svmonei
Alle Wasser vnd weld sein worden frei
55 Wann tosten vnd heiTen thun als wol
Ynd nemen nit steür noch zol
Der pfenning ist worden vnwert
Das nymant mer vnrechts begert
Die weit die fleißt sich aller tugent
60 Ynd guter ding jn aller Jugent
Die Jungen die haben die alten lip
Darumb ich in gros lob hie gib
26fgg. über die satire in der lilgendichtuncj vgl. Müller - Fraureuth s.22fgg.
39. 40 schwerer Die? 49 vgl. Gerynania 33 (1888) s. 164.
LÜGENDICHTUNG 319
Die kiiidt vollen vater vnd miitor schon
1)1. 412" Nymandt dem andern arges gon
65 Nymant tregt mer neid vnd lias
Geen dem andern icli sag euch das
Die Juden wollen sich gancz bekern
Ynd iiynunt keiner kein wacher mer
Sie sein all getauft zu der cristenheit
70 Jr sund ist in worden leit
Des habens alle ein guten willen
Ein muck ving mit einem grillen
Starcker wolff drei on wer
Ein schwarczer storch pädt sich ser
75 In einem sperckennest gros
Ein plinter zu dem zil schos
Ein zwifalter aus clugen wiczen
Sang mit einem stigliczen
Vmb hundert elen egerigs tuchß
80 Ein henn die laß mit einem fucliß
Hie vor das sag ich euch für war
Ich was gar nahent hundert Jar
Ein gewaltiger pabst in schottenlant
Ich gabs mit willen auf zuhaift
bl.412'' 85 Do hett ich alles das ich wollt
An dem weg do lag das silber vnd das golt
Gleich sam die grossen quaderstein
Das was mir alles gar gemein
Do stund ein prunn der was guldin
90 Daraus flos der aller peßt wein
Ein reiche kuch stund auch dapei
Ynd die was yderman frei
Da gieng ich auch ein als ich solt
Ynd asß vnd tranck do was ich wolt
95 Ich schlug es aus vnd wolts nit han
Da sprach zu mir frau vnd man
Ich wer nicht weis das ichs ausschlug
Solch herren leben gar gefug
Ich sag ein grossen mülstein
100 Da fligen in lüften gemein
85 fgg. vgl. Müller - Fraureuth s. 14 fgg.
320 EtJLING, LÜCtEXDICHTTJNG
Ich sag einen paunien der ti*iig
Die allerpesten seniel gut vnd elug
Der do in einem weyer hing
Der lauter da mit milich ging
105 Darein viln die semel herab
bl. 413* Ein loffel man vderman 2:ab
Zu essen genug semel vnd milch
Ein weber macht guten zwilich
Aus einer alten decken schon
110 Ich sas: den turn zu babilon
In eines kramei*s korb verspert
Ein äff mach hübsch gefert
Auf einer lauten hofenleich
Vor Römischen keisern reich
115 Da kund er aUe seitenspill
Ein toter Jud der gerbet vil
Schweiner feil zu einem pelcz
Ich sag aus einer mucken schmelcz
Das peßt schmalcz wol drey zentner
120 Des molers pensei ti^ug gar schwer
An einem schneckenkorb gros
Ein frosch zu einem storchnest schos
Es vellt neür \^nb zwu ackerleng
Er hetts sust troffen sein weit sein eng
125 Mit eiuem alten videlbogen
Ob ymant Sprech ich hett gelogen
bl. 413^ Ich hab nit brif noch sigel dapei
Wie es das ewangelio sei
Damit ich die kunst bewer
130 Das ist nit Avar vnd ist kein mer
Sagt vns der schnepperer.
126 fgg. rgl Fsp. US8.
raLDESHEIM. K. Etn.ING.
321
ZUM PASSIONAL.
1. Dresdner briuhstücke aus dein passiiMial K.
Ausser den beiden von 0. Meltzer (Germ. 18, 355 f^^) und E. Wör-
ner (Ztschr. f. d. ph. 8, 68 f^.) veröffentlichten bruchstücken des Pas-
sionals besizt die kgl. bibliothek zu Dresden noch zwei andere, die wie
das Wörn ersehe bruchstück dem dritten von Köpke (Quedlinburg und
Leipzig 1852) herausgegebenen buclie des Passionais (Passional K.) ange-
hören. Über diese beiden noch nicht veröffentlicliten bruchstücke, auf
welche mich mein freund kustos dr. H. A. Lier aufmerksam machte,
soll im folgenden berichtet werden.
1) Zwei pergamentstreifen, Avelche zusammen ein wagerecht durch-
schnittenes doppclblatt darstellen, das ehemals den inneren teil eines
quaternio gebildet hat und dessen selten 207 mill. hoch und 178 mill.
breit sind. Dr. H. A. Lier fand diese pergamentstreifen im inneren
rücken eines aus der Ölser privatbibliothek des verstorbenen herzogs
von Braunschweig stammenden und von da in den besitz der Dresdner
kgl. bibliothek übergegangenen buches (Helius Eobanus Hessus, He-
roidum Christian arum epistolae. Lipizk per Melchiorem Lotter. 1514. 4^^).
Die 232 verszeilen, welche das bruchstück enthält und welche bei
Köpke den versen 139, 29 — 141, 68 entsprechen, sind so verteilt, dass
sich auf jeder der 4 selten 2 spalten zu je 29 versen befinden. Das
erste blatt ist am seitenrande verschnitten, sodass von bl. V sp. 2 die
versausgänge und von bl. l'' sp. 1 die versanfänge fehlen. Es fehlen
sonach die ausgänge der verse Köpke 139, 58 — 86 und die anfange
der verse Köpke 139, 87 — 140, 19. Die schriftzüge sind zAvar nicht
gerade schön und regelmässig, zeichnen sich aber durch deutlichkeit
aus. Andere als die bekanten abkürzungen sind nicht verwendet. Die
abschnitte sind durch grosse bunte initialen bezeichnet; so begint 139,47
mit einem blauen N, 140, 33 mit einem roten P und 140, 89 mit
einem blauen D. An einzelnen stellen hat die schrift durch kleine
löcher, noch mehr durch falzung des pergaments und aufgestrichenen
leim gelitten.
Li dem folgenden Variantenverzeichnis, bei welchem ich auf die
rein orthographischen unterschiede keine rücksicht genommen habe,
bezeichnen die werte vor dem strich die lesarten des Köpkeschen tex-
tes, die hinter dem strich die unseres bruchstücks.
139, 29. an im ungemutec ge7iue \ er was vninvtic gnvh 31. im \
ein 33. korhe \ hiehte 34. ein hrot \ daz hrot 36. geweft ein ftein
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 21
322 NETJMANN
fo fcharf \ garcfen ein ficin scJfarf 37. gcfcn \ gcfchcn 38 gcfchcn\
gefchclni 41. hie \ da öl. fidn \ fvllcti 55. fit \ fint Ol. alda \ da
62. im I do 69. xu \ vor 72. dir foJdc alle \ da folte er alle 78. die
an I die fie an 79. hufen \ iv 80. ufen \ hvfe 96. hetcN gerne \
. . . r}ie heten
140, 2. kleine?t \ arnteii 9. in die feinde \ die fehal 10. %7i
talc I xe fal 11. felhe fehale \ . . .e läge 12. felhen male \ . . .e wage
18. giiilieh \ — liehen 26. oueh verfmneftu daz \ ovh oh dv v'formeft
dax 27. icirdeft \ wurde ff 51. firax er molite haben \ fwaz er het
a?i de firnde 52. fi}if ich han entfahen \ fit ich han eni}hvnde
64. hegin \ geirin 71. feliifhraehe \ fehifhrvehik 74. uf dem \ vffem
83. armen \ arme 84. erharmen \ erharme 86. hefte \ heftex . truc \
an trvl- 87. hereit \ gereit 88. in harmeherxikeit \ in die barmh^zi-
keit 95. da \ hi7i da
141. 5. man \ menfche 10. dax in fime gehete \ daz kleit in fine
gebete 18. leides \ leidic 10. fit veriach \ fint iach 23. tube \ krvce
28. XU im alfns \ alfiis zv im. 29. Petre \ peter 30. du haft gewei-
net j rn haft geiceint 31. um \ vmbe 37. was mir | mir was 38.
kalde ir leit \ kelte ir not 40. gut \ girier 43. pruveter | pri^fte er
48. fine \ fin 49. an fulche \ vf folche 51. vor den handen \ vö den
hende 53. rieher der mac \ richer mac 55. treit \ i'>Hreit. 32. diz \
daz 67. gefterhen \ erfterhen.
2) Ein pergamentdoppelblatt, jezt mit einem papiereinbande ver-
sehen. Es trägt die bezeichnnng Msc. Dresd. M 177 und die acquis.-
nr. 1789* 1243. Dem handschriftenkatalog zufolge ist es ein geschenk
von fräulein Louise von Olivier in Dresden. Die blätter sind 238 mill.
hoch und 179 mill. breit. Die Seiten bieten den text in je 2 spalten
mit je 42 verszeilen. Eine ausnähme macht die zweite spalte von
bl. 1'', welche nur 41 verszeilen hat, da ihre lezte zeile unbeschrieben
ist Das ganze fragment enthält somit 235 verszeilen, und diese ent-
sprechen bei Köpke den versen 581, 58 — 583, 36 und 586, 81 — 588, 52.
Es fehlen dazwischen 336 verszeilen, d. h. ein doppelblatt mit 8 spal-
ten zu je 42 Zeilen. Das hier fehlende doppelblatt war demnach das
oberste einer läge, deren zweites unser bruchstück darstelt. Die schrift
hat mit der des bruchstücks 1 nicht wenig ähnlichkeit, doch ist die-
selbe ein wenig kleiner, gedrängter und zum teil eher noch etwas
ungleichmässiger als dort. Bunte tinte ist reichlich verwendet. Kote
initialen finden sich bei v. 1 des bei Köpke (s. 582) mit 69 Hie .spri-
chet daz buch von allen seien überschriebonen kapitels (G) und bei
587, 45 (Z), blaue initialen bei 582, 69, 47 (D) und 588, 9 (U). Die ini-
ZUM PASSIONAL 323
tialen stehen also (wie dies auch bei bruchst. 1 der fall ist) an densel-
ben stellen, wo die dem Kr)pkeschen text zu p-unde liegende hand-
schrift solche hat. Ausserdem sind vor einzelne verse, aber ohne regel-
mässige Zwischenräume, abwechselnd rote und bhiue zierzeichen ( )
gemalt und am ende kürzerer verse hin und wider horizontale rote
haarstriche. Die haiidschrift, welcher unser bruchstück entstamt, hatte
ferner unter dem oberen rande der selten die kapitelüberschriften in
roter färbe. Davon sind in unserem bruchstück folgende worte erhal-
ten: auf bl. 1* — licyligcri — — tac — ; bl. V — von — — aller — ;
bl. 2" — Selen — - tac—\ bl. 2*^ —von— —aller—. Auf bl. l''
unten stehen von einer band des 17. Jahrhunderts quer, zum teil über
den text worte geschrieben, von denen mir nur folgendes leserlich
war: Anno 48 Walpurgis 1648 Walpnrgis 48.
Lesarten :
581, 59. obe tifchen die ivol axen \ ob den tifchen vnd axen
61. da I do 62. genuc \ vil gejivc 65. xun \ ze 67. enheten \ heten
60. mochte \ niohten 82. vrunde \ VTevde 84. von in geivant \ an in
erivant 85. wand fi getruive vrunt liaheyi \ wan fie gnvc vr. h.
88. hie \ da 93. wollent \ wellen
582, 4. feie \ feien 9. zu geyiaden \ xegenade 10. ire \ ir 16.
man do \ man vns 19. und doch niht uf \ vndc idoch vf 24. alt-
vetere \ alten vceter 25. zwelfbotoi , merterere \ xivelf polen martercere
582 , 69, 6. ful luir \ fvlt ir 12. Odilio \ odilo 13. ivit \ wite
15. feltzene \ feltfenex 16. lit \ ligt fchone \ fchoner 22. Odilio \
odilo 26. fchrient \ fchriren 32. ift ir \ ir ift 35. behalden \ hal-
den 50. kalt \ kelde 52. ieglich \ iglich 55. fchone \ fchonez 58.
herzen \ ende
583 , 1. nicht hie \ hie niht 3. anic \ cenic 4. undertanic \ vn-
dertcenic 17. iyn \ in 19. geborget \ verborget 25. fchiere \ fchire
27. vor I V071 30. tvirt fchiere \ fchire wirt 31 lange \ alle 36. im,
ivol, fwem I iiyi fiveni
586, 89. biirnende \ Irrennende 92. bifux \ bift dv 93. binz \
bi?i ez 94. gelobete kumen \ gelobte zekvmen 97. 98. \ 98. 97.
587, 12. bunte tverc \ bvnticerc 14. teil ouch alzu fere \ teil al
zefere 15. an valfcke \ anvalfch. 20. als des der \ als der 31. geivi-
chen I geici feilen 33. fnellekeite \ fnellicheit 36. an allen \ allen
45. Zum dritten machet \ Zein drittem male machet 49. unferme \
vnfern 58. rufet \ rufen 64. behielt \ bef ehielt 67. traf unz vur
den tot I trat vntx vffen tot 75. gruben in die \ gruben in in die
21*
324 F. SCHROEDER, ZUM PASSIONAL
80. dock I do 86. fprechet \ fprichet 87. fcUmeffe \ felenmeffe 97.
mines j mins
588, 5. 6. \ 6. 5 9. fo \ fus 10. vü \ icol vü 15. in \ fie
18. in brachte \ hrahte in 20. \u ftaten \ wol xeftaten 30. felben \
felbc 32. icglich \ iglich 33. wand \ vrid 36. wand, \ vnd 48. feie \
feien.
Noch will ich bemerken, dass keines der beiden briiclistücke,
welche den schriftzügen nach in das ende des 13. oder den anfang des
14. jahrhnnderts zu setzen sind, so viel ich aus den beschreib ungen
der herausgeber habe ersehen können, einer der bis jezt durcli bruch-
stücke bekaut gewordenen handschriften angehört.
DRESDEN. ALFRED NEUMANN.
3. Cleviselies bruclistück.
Zu der aufzählung der handschriften des Alten passionales
bei K. Gödeke: Deutsche dichtung im mittelalter s. 209 ^ ist hinzuzu-
fügen, dass sich ein, waln^scheinlich dem 15. Jahrhundert angehöriges,
bruchstück aus dem zweiten teile des Passionales in dem archiv der
pfarkirche zu Cleve befindet. R. Schölten: „Die stadt Cleve" s. 449
erwähnt dasselbe kurz als „Fragment eines liedes von sente Jacob. ^' Es
ist ein halber pergamentbogen in 4^ gefalten, mit doppelcolumnen jede
zu 35 Zeilen, im ganzen 280 verse, welche einen teil der legende des
apostels Jacobus des älteren behandeln (= K. A. Hahn, Altes passional
s. 220 V. 73 — 223 v. 66). Am köpfe der einzelnen selten steht mit
roten buchstaben „Von Sente Jacob aplo", ebenfals rot oder blau gemalt
sind die einfachen initialen. — Im jähre 1574 hat der bogen, der länge
nach gefalten, als Umschlag zu einer rechnung über verausgabte ahno-
sen gedient, da sich am rande der vermerk findet: „ratio expensae
eleemosinae de anno LXXIIII" und darunter von zweiter band „usque
1575. H." Ausserdem bezeichnen löcher die stelle, wo die rechnung
eingeheftet war. — Im text stimt das bruchstück mit dem texte Hahns,
die geringen abweichungen betreffen nur die Schreibung, in welcher ja
Hahn nach seinen eigenen worten (vgl. seine vorrede) nicht immer con-
sequent gewesen ist. Wände und vnde ist regelmässig wät und vn;
s. 220 V. 73 Liest man truch; s. 221 v. 1 und 10 kumcgine; 14 alle
betalle; 45 ejigil; 46 hengil; 48 geivaldes; 56 und 222, 14 vnmazen;
Ij Dass für grosse partien des ])assionales die legenda aurea des Jacobus de
Voragine die quelle i.st, erwähnt Gödeke nicht. Und doch ist die Übereinstimmung
stellenweise, z. b. in der legende von St. Jacob, eine fast wörtliche.
PIETSCH, OBERD. GLOSSAR ZU LUTHERS BIBEL 325
222, 19 starc; 33 glel; 41 heis; 45 ungeuiichcr; 50 viatik'hvehUche;
60 berch; 85 (jetet vf in nach („vf" ist durchgestrichen); 223, 34
ploech; 35 yelach; 49 erkor n; 51 5^/7^ //i em r/es do wart („do" steht
über der zeile); 61 sicJf do an in versach: 62 truchen; 63 vuciien;
64 starke tränke.
Es wäre interessant zu erfahren, oh unser fragment ursprünglich
vielleicht zu einer noch existierenden handschrift gehört habe.
CLEVE, 14. JUNI 1888. F. SCHROEDER.
EIN UNBEKxVNTES OBEEDEUTSCHES GLOSSAE ZU
LUTHEES BIBELÜBEESETZUNG.
Während das kleine glossar, welches zuerst Adam Petri seinen
beiden im märz 1523 erschienenen nachdrucken von Luthers Neuem
testament (der eine in 2^, der andere in 8^) beigab, längst die aufmerk-
samkeit auf sich gezogen hat, indem es bereits 1859 von R. v. Räumer
in Frommanns Deutschen mundarten (VI, 39 fg.) algemein zugänglich
gemacht und in neuerer zeit mehrfach ausführlich besprochen worden
ist (H. Rückert, Gesch. d. nhd. Schriftsprache II, 92 — 108; Kluge,
von Luther bis Lessing, 83 — 91; Socin, Schriftsprache und dialekte im
deutschen, 236 — 45), ist ein anderes ähnliches, aber viel weniger
umfiingliches glossar bisher fast völlig unbeachtet geblieben. Allerdings
erw^ähnt Panzer, Entwurf einer gesch. der bibelübersetzung M. Luthers
(1783), s. 177, dass der nachdruck, welchen Thoman AVolf in Basel
1523 von dem 1. teile des Alten testaments veranstaltete „die erklärung
einiger (für die Schweizer) schweren Wörter" enthalte und Mezger,
Gesch. d. deutschen bibelübersetzungen in der schweizerisch -reformir-
ten kirche (1876), s. 48 sagt bei besprechung desselben nachdruckes,
dem texte folge die erklärung von Wörtern, die dem Schweizerleser
unvei-ständhch waren. Socin ist diese leztere bemerkung nicht entgan-
gen, er findet sich aber mit ihr durch die frage ab (s. 245, anm.),
ob damit vielleicht die randglossen zur erläuterung wichtiger stellen
gemeint seien, über welche er s. 246, anm. aus einem Petrischen
drucke mitteilungen macht. Es düifte daher nicht unwilkommen sein,
wenn ich aus dem einzigen exemplar des betreffenden druckes, das
mir bei meinen bibliographischen vorarbeiten für die herausgäbe von
Luthers bibelübersetzung zu gesicht gekommen ist (in Stuttgart), das
glossar hier wörtlich zum abdruck bringe. Dasselbe ist mit einigen
326 PEETSCH
aus Peti'is glossar (bez. aus der widerholung desselben in dem Strass-
burger naohdi-uck von 152J:) stammenden Zusätzen ferner enthalten in
dem am antang und ende unvolständigen exemplar eines nachdruekes
des ei-sten teiles des Alten testaments, das sich in AVolfenbüttcl befindet
(höchst wahi-scheinlich die von Panzer a. a. o. s. 180 beschriebene aus-
gäbe. Colmar, Amandus Farkal 1524). Die zusätze bez. abweichungen
der lezteren ausgäbe sind unten durch kursivschrift kentlich gemacht.
Die Wörter, welche sich auch bei Petri finden — in Wolfs glossar sind
es nur 5 — habe ich mit " bezeichnet und etwaige kleine abweichungen
von Petri angemerkt. Auch auf die von Kluge, Yon Luther bis Les-
sing, s. 78 fg. gegebene konkordanz der bibelübersetzungen des 16. Jahr-
hunderts habe ich verwiesen, wo sie sich mit unserem glossar berührt
imd einige weitere beraerkungen hinzugefügt, wo mir solche wünschens-
wert schienen oder mir möglich waren. Unsere kentnis der in Ale-
mannien nicht verständlichen worte Luthers erhält durch Wolfs glossar
einige nicht unwesentliche bereicherungen , ebenso natürlich auch die
liste der diu'ch Luther gemeindeutsch gewordenen Wörter, die zulezt
Francke, Grundzüge der Schriftsprache Luthers (1888), s. 112 aufge-
stelt hat.
Das glossar steht sowol in der Wolfschen ausgäbe wie auch in
der wahi*scheinlich Farkalschen unmittelbar hinter dem bibeltexte.
Dem Läser.
Nach dem mal nit im teutschen als im Latin alle dinge mit eyn-
nerley wortten genennet werden/ haben wyr etliche nach vylerley
sprach hie angezeyget/ auff das nitt yemandt im läsen vast behindert
werde der solche wortt in seiner sprach nit erkündet hette/ geheb
dich wol.
A.
Alle / oder all / lär / öd / verzeret / schwach.
Arm forderst vierteyl.
AufFraffen von der erden auffsamlen.
* Ä7ifu7't der schiff anlendung.
B.
5 Bevthüns wartens zur zeit irer krankhevt.
Bersten zerspringen.
Brü.sten brüst vnd stercke gewynnen.
Byenen immen / byen fbyenen].
Blachen sunder hügel / eben velt.
10 * Bange engstig / angst.
OBERD. GLOSSAR ZU LUTHERS BIBEL
327
Caninchen
Denckblaseu
Eckein
Ciinykel.
C.
D.
blasen zur gedechtnuß.
E.
wider willen haben / verschmehen. [verschme-
hen fehlt.]
Eckel
walgung / wider will.
1 5 * Eyff'er
1
ernst. \
F. '
Feyg
verzagt / erschrocken.
Früelinge
der ersten zeyt. i
Frey bock
denn man frev ließ lauften. \
*Fäl
niangel / bresten.
20 Fittichen
örtter an kleydern / flügel.
* Getreyde
VJ.
Korn 1 fritcht.
* Gefeß
geschirr. ,
Gered
allerley geschirre vnd haußradt. 1
Geschosset
ehern gewunnen.
25 Gemang
gemist / zweyerley. i
Grütz
grieß muß.
Gedeyen golt
geleüttert / klar / fyn [fein] golt.
Genieyn
nützbar / lesen vnd zubereyten. i
* Grentze
ende / dar ein lant keret. [statt dessen : gegne /
vinbkreiß].
H.
30 "" Hügel
gipffei 1 hühel.
Havn
V
ein vynster walt.
Halliar
Jubel iar.
Hockericht
der ein hoger hat.
Hundgelt
das man gebenn sollt / die erste gebürt. \
eins hunß ziüosen.
K.
35 Kebsweyb
keyn eeweib. '
Kolcke
cystern.
Knotten
bellen.
Kelter
trott / weinpreß. '
T\iesichtig
steynig / ruch von steynen.
40 Kryget
' ergreyfft / vahet.
328
PIETSCH
* Lippen
* Lencken
Mevlich
*Zige
Zehenden
Züchter
lefftzen.
vmbkeren.
gemach.
M.
P.
Paiickeu
trummen.
45 Pf eben
Pobel [Piibcl]
erdäpffel.
klein geaeht volck.
Quyd
Q.
on / abkomen.
R.
Keget
braucht euch / webt / vnd werbt, [werbe) d]
Rand
end / ortter vmbher.
50 Scluilter
S.
achsel.
Stuffen
Schilß'
Staffel / steyg.
Wasser rhür.
Schicht
Schneützen
55 * Schwelger
seyte.
abbrech /bützer.
Schlemmer / füller.
Toben
Turstiglich
=*= Topffen
Tappen
T.
grymmig / zornig sein,
mit frevem müt / vnuerzagt.
hauen jhaffen.]
füeß wie hende.
V.
60 Vßgerottet
Yerleumbder
ühgcsündert.
Verdachter.
Yngeheure
vngeschickt.
W.
W'ancketen
waren wanckelmütig.
\V ase
base.
65 Wansynnig
engstig / nit wissen wo auß.
z.
geyß.
ein mäßlin als ob mir [icir] sprechen j vyr-
tzel [viertxel].
der auß gelübd ein strengs leben füret.
OBERD. GLOSSAR ZU LUTHERS BIBEL 329
Darauf folgt:
Anzeygung avo clise nach folgende Ebrcischc vn auch ettliche
andere wörtter verteutscht vud aiißgelegt werden / nach Ordnung des
Alphab eths.
d. h. ein register über die in den glossen hesproelicnen tvorte, meist
mir das xu erldärende frort und die Seitenzahl dabei ; lextere fehlt
jedoch xuweiten, %. b. bei Bethlehem und es ist dafilr die erldärnrnj
selbst gegeben: eynn hauß des brots / alls ob man spreche brot-
hausen.
Anmerkungen.
1. Gemeint ist die bekante, wie es scheint, vor Luther in der litteratur nicht
nachweisbare prädikative Verwendung von alle in der bedcutung y^%tc ende gebracht.^
Hier ist offenbar besonders an 4. Mose 14, 33 gedacht: bis das eivre leibe alle iver-
den in der icüsten, denn an einer andern stelle des pentateuchs, wo die späteren
ausgaben von Luthers Übersetzung auch diesen ausdruck aufweisen (L Mose 15, 16),
haben die älteren drucke: die missetat der Ammoniter ist noch nicht gar hie.
2. Es ist natürhch nur die besondere bedeutung gemeint, in welcher Luther
das wert arm 5. Mose 18, 3 gebraucht: den arm vnd beide backen vnd den ivanst
[der ochsen und schafe],
3. 4. Mose 19, 9. Soweit raffen vor Luther überhaupt im oberd. vorkomt,
scheint die bedeutung rupfen imd die umgelautete form reffen vorzuherschen. A^er-
breiteter ist oberd. das von derselben wurzel stammende, mit raffen gleichbedeutende
raspon -en /"aus *rafsj)dn).
4. 1. Mose 49, 13; 5. Mose 1,7== landungsstelle, hafen. Auch im Neuen
testament mehrfach. Vor Luther nicht nachgewiesen. Die belege, die Gr. wtb. 1, 335
fg. für das spätere vorkommen des wertes gegeben werden, zeigen dasselbe nur bei
Schriftstellern md. und nd. herkimft, mit einziger ausnähme einer stelle in Seb.
Fi'ancks weltbuch. L^nmittelbar von Luther hat wol Erasmus Alberus das wort; er
führt es (Nov. dictionaiii genus zii*") neben schifflend als deutsche entsprechung von
portus, navale, statio auf. Lezterer beleg fehlt in Gr. wtb.
5. 3. Mose 15, 25. 26: %ur zeit yhrs beythuns, wofür später: x. %. jrer
absonderung. Die im glossar gegebene erklärung bezieht sich auf den Zusammen-
hang der stelle, an der vom blutfluss der frauen die rede ist. Das verbum beitun
belegt Gr. wtb. noch zweimal aus Luthers Schriften, es bedeutet: bei seite tun,
abschaffen, e7itfei'nen. Vgl. beilegen, das in der bedeutung y,bei seite legen, besei-
tigen"' ebenfals zuerst bei Luther begegnet. Lexer belegt bUiwti bilegen nur =: hin-
zutun, -legen. Vgl. noch 3. Mose 15, 19: die sol sieben tag bei seit gethan icerden
(seyn) , und auch 15, 20 haben die älteren ausgaben: so lange sie beyseit gethan
ist, wofür zulezt: so lange sie yhre zeit hat.
6. VgL Kluge, s. 78: Luthers bersten : brechen Eck u. Zürich, bibel. Man
sieht, dass bresten, die oberd. form des Lutherschen iers^en, in der bedeutung /?*an^/
auch oberd. nicht mebr üblich war. Es würde wol sonst hier, wie nachher 64 , auch
nm' die md. lautform dui'ch die oberd. ersezt worden sein. Stalder belegt bresten
nur in der bedeutung .„gebrechen'^ und „in kummer leben.""
7. 4. Mose 23, 24 haben die älteren drucke: Sihe das volck icird aufstehen
icie ein junger leive vnd wird sich brüsten wie ein lewe . . ., wofüi" später . . . uird
330 PIETSCH
sich erheben ic. c. h gesezt ist. Die belege, welche Lexer und Gr. wtb. für brüsten
geben, scheinen zu zeigen, das dass das wort auch in der Schweiz nicht unbekant
war. Stalder belegt es in der bedeutung „sich niit aller leibeskraft stemmen."
S. Es war bei dem pliu-. bijenen (5. Mose 1, 44) wol nui' die form, welche
anstössig erschien, dem Verfasser des glossars war neben imme nur bie, plui". bien
oder alleufals bin(e), pl. binefn) geläufig. Die von Luther gebrauchte und in die
Schriftsprache übergegangene form biene ist im hinblick auf die, so\iel ich sehe bei
Luther diu'chstehende Schreibung mit ie wol nicht wie Weigand und Kluge anneh-
men, = mhd. bine zu setzen, sondern verhält sich zu bie wie nom. "^birue : bire^.
Der hergang war wol der, dass bie pl. bien, bire pl. bir(e)n in die analogie von
krdn€ \A.h'6n t krönen; stirne pl. st im f. stirnen; dirne pl. dicrn f. diernen usw.
eintraten und so die sing, biene birne erhielten, zu denen die plur. bien bim oder
(mit der bevorzugimg, welche seit dem 15/16. jahrhundei-t den durch lautliche Wand-
lung nicht getrübten flexionsformen in der schiift zu teil wird) bienen birnen
lauteten.
9. Tgl. Kluge, s. 78: Lutliei-s Blachfeld: Flachfeld, flaches, ebenes fehl in
den anderen Übersetzungen. Blachen in bezug auf 5. Mose 4, 49; 11, 30, wo die
älteren ausgaben ynn {auf) dein blachen fehl haben (später: dem blachfeld). Aus-
schliesslich md. (nd.) ist übrigens die form blach nicht. ^
10. Vgl. Petri: ba?ig : engstig, xivang , gedreng ; Strassb. nachdi-. (1524):
angst xicang gedreng. Kluge, s. 78: Luthers bang : t rang angst betrübt bekiiinmert
in den anderen übei"setzimgen.
11. Luthers md. (ud.) form mit a ist die oberd. allein geltende mit {ü) u
gegenübergestelt. Vgl. Hildebrand in Gr. wtb. 5, 161. 1705.
12 bezieht sich auf S.Mose 23. 24, wo die ersten dracke haben: solt yhr die
heyligen feyr des denckblasens haben. Später hat Luther dafür- : des blasens xum
gedechfnis gesezt, also ganz entsprechend der in unserm glossar gegebenen erklärung
sich ausgedrückt.
13. 14. Vgl. Kluge, s. 78: Luthers Ecket: greuel, grane7i, absehen, niilust,
nmvillen, verdruss in den anderen Übersetzungen. Diese füUe von ersatzwörtern,
die durch unser glossar noch um einige vermehrt wird, zeigt die völHge fremdheit
des Lutherschen wertes im oberdeutschen jener zeit. Walgung ist das wort, das
Lexer als walgnnge (ualgerunge u-ulgerunge) = nausea aus Diefb. gl. u. nov. gl. belegt.
1) Im grossen und ganzen scheint Luther in seiner Orthographie das geschichtliche Verhältnis
von ie. und i trotz mancher Verschiebungen im einzelnen bewahrt zu haben , wenngleich ihm te sicher nur
den laut des i darstelte. "Wenigstens ist wol nii-gends bei Luther ie fest in einem worte, welchem
geschichtlich i gebührt. So^•iel darf man doch wol aus den Zusammenstellungen schliessen, welche
G. Michaelis in seinen Beiträgen z. gesch. d. deutschen rechtschreibung (1880) , s. 112 — 118 gegeben hat,
während aus den dürftigen angaben , welche Karl Francke in seinen Grundzügen der Schriftsprache Luthers
(1888) , § 16 , 1 und § 31 macht , ein auch nur ungefähres bild sich nicht gewinnen lässt. Dass Luthers
öiene (der nom. sg. ist belegt Sir. 11, .3, sonst nur plur. biemn) nicht —- binc, bestätigt wol auch die
Zusammensetzung bknschwarm (z. b. Rieht. 14, 8), wo bien doch gewiss als gen. plur. von hü zu fassen
ist, der sich in dieser Verbindung erhalten hat, während das selbständige subst. sich zu feiene ; bkmn
entwickelte. Lexer gibt I, 278 an, die form biene finde sich in den predigtmärlein Germ. 3, 414, 16.
Eine singularform ist dort aber nicht belect , vielmehr nur pluralformen und zwar: binen 3; bienen 7.
12. 16. 17. 27 , daneben binenkorbe 3 , bienekorb 8. 11. 16. Hier scheint eine mischung der pluralformen
bien und binen zu bienen statgefunden zu haben, es würden also diese elsässischen formen von dem
Lutherschen biene : bienen zu trennen sein. Auch Urne : Urnen scheint md. Ursprungs , Lexer belegt die
form i: stirne) aus dem Wilhelm v. Österreich des Johann v. "Würzburg , also eines dichters md. herkunft.
Aus Luthers Schriften belegt Dietz nur den plur. Ujrn und das kompos. hirnbaum.
[2j Über blach und flach vgl. jezt S. Bugge , Paul -Braune 12, 411 fg. Red.]
OBERD. GLOSSAK ZU LUTUERS BIBEL 331
15 ebenso in Petris glossar.
16. Das wort feig war oberd. wenigstens in der bedeutung y^furchfsavi"- nnbe-
kant, in welcher Lutlier es gebrauchte. Höchstens kaute man es so in Baiern (vgl.
Lexer uuter veigc und übcrveigen; Schmeller l-, 695/6). Im alem. hat sich, soweit
das wort überhaupt erhalten bUeb (es fehlt bei Frisius u. Maaler), aus der ursprüng-
lichen bedeutung ^don tode verfallen'' vielmelir die entgegengeseztc bedeutung J:eck,
tmverscliä??it^ entwickelt. Diese ist bei Dasypodius verzeichnet, und auch die übrigen
belege für dieselbe, welche Grimms wtb. bietet, sind wesentlich alcm., besonders
elsässisch. Das Schweiz, idiotikon I, 685 gibt sie auch; das flgheit mit der nhd.
bedeutung, das ebenda angemerkt wird, ist doch klürlich aus der Schriftsprache ent-
nommen und in der lautform falsch alemannisiert. Dass aus der bedeutung ^deni
tode verfallen"- sich einerseits die bedeutung ^furchtsam"- ^ andrerseits ^keck, unver-
schämt'^ entwickeln koute, wird klar, wenn man die verschiedene Wirkung erwägt,
welche das bewustsein der bestimmung zum tode auf den einzelnen menschen her-
vorbringen kann: es kann ihn entweder niederdrücken oder ihn jede rücksicht abwer-
fen lassen.
17 bezieht sich auf 1. Mose 30, 41. 42: ivenn aber der laufft der früelinge
herde tcar legte er diese stehe in die rinnen für die äugen der her de, das sie vbcr
den sieben empßengen. Aber in der spetlinger laufft leget er sie nicht hinein.
Also wurden die spetlinge des Labans, aber die früelinge des Jacobs. Es sind die
früh im jähre gebornen lämmer im gegensatz zu den später gebornen gememt, die
in unserem glossar gegebene erklärung also ziemlich ungenügend. Das woit ist wol
von Luther gebildet, er hat es sonst noch einmal als synonym von „erstling", (s.
Dietz u. d. w.) ; in der bedeutung „ frühzeit des Jahres " findet es sich nur in der
HauspostiUe, für deren spräche Luther ja nur sehr bedingungsweise verantwortlich
ist (Köstlin 11 -, 301). Sonst sagt Luther lenx.
18. 3. Mose 16, 8. 10. 26 in den älteren ausgaben, später: der ledige bock,
d. i. der bock, den am versöhnungstage die Juden frei in die wüste laufen Hessen.
19. Petri gibt feil: nachlesigkeit, versümnifs; fale: missetaf, sünde; fal:
mangels gebresten. Hier liegt wol ein versehen vor. Luther scheint im gebrauch der
form feil durchaus fest gewesen zu sein, wie komt Petri dazu fäle (das nicht wie
Sociu s. 239 meint, form des plur. zu sein braucht, s. Lexer u. d. wt.) als Luthersclie
form daneben aufzuführen? Es ist mir nicht unwahrscheinlich, dass fale mit als
erklärung füi' feil stehen solte, dass es aber in folge seines anlautenden f unter die
zu erklärenden Wörter geriet. Demnach würden die folgenden missetat, sünde ebcn-
fals als Synonyma von feil zu nehmen sein. Diese passen jedoch nicht wol als
solche zu feil, sehr gut aber zu dem folgenden fal, wenn die erkläning im hinblick
auf Rom. 11, 11. 12 gegeben wurde, wo fal = naoimroiua (Vulg. : delictmn) steht.
Für die annähme, dass fale als interpretamentum nicht als lemma aufzufassen ist,
spricht auch der umstand, dass vaele vael, wie die belege bei Lexer u. Gr. wtb.
3, 1419 zeigen, in Oberdeutschland wol bekant war, auch Maaler kent es. Dem-
nach wäre so herzustellen:
feil: nachlesigkeit versümniss fale mangel gebresten
fal: missetat sünde.
Der verfertiger unseres glossars wolte nun offenbar das im pentateuch mehrfach begeg-
nende feil erklären, er fand in dem ihm sicher vorliegenden Petrischen Verzeichnis
bei feil eine für die beti-e Senden stellen (einen feil haben; an dem (k)ein feil ist)
gar nicht passende bedeutung, dagegen eine solche bei fal, diese nahm er auf und
332 PIKTSCH
sezte vielleicht aus blossem versehen statt feil das ihm geläufige fal als lemma
dazu.
20. Die erste der beiden erklärungen geht auf 4. Mose 15, 38; 5. Mose 22, 12;
die zweite, die gewöhnliche bedeutung enthaltend, geht auf stellen wie I.Mose?, 14.
Für das oberd. war die lautform durch das md. i der stamsilbe fi-emdai-tig.
21. 22 ebenso in Petris gloss. Zu 22 vgl. noch Kluge, s. 79, der die ersetzung
von gefäss dui'ch geschirr aus allen verglichenen Übersetzungen nachweist.
23. In der bedeutung. die hier im hinblick auf 2. Mose 27, 3; 35, 13 usw.
gegeben ^vi^d, ist das überhaupt md. beliebte wort nur aus md. denkm. zu belegen.
Die md. lautform Hess es in Basel noch fremdartiger erscheinen.
24 meint 2. Mose 9, 31: denn die gersten hatte geschosset. Das verbum
schoxxcn = schösse treiben, keimen usw. scheint md. (und bair. SchmeUerU^, 479).
25. Gemeint ist zweifeUos 3. Mose 19, 19, wo die älteren drucke mit gemang
körn bieten für das spätere „w?Y mancherley samen.'^ Gemangkorn ist eine Zusam-
mensetzung, die Hildebrand in Gr. wtb. IV. 1, 2, 3164 als thüringisch (besonders
aus Erfurt) nachweist. So kann das vorkommen dieses ausdruckes bei Luther, wel-
ches Hildebrand entgangen, nicht befremden. Der verfertiger unseres glossars nahm
gemang füi* ein adj., während es das a. a. o. von Hildebrand ebenfals mit reichlichen
belegen nachgewiesene md. subst. gemang = gemenge , mischung ist. Vgl. die gloich-
fals thüiing. Zusammensetzungen gemang futter , gemangfische.
26. 3. Mose 23, 14, wo die älteren ausgaben: kein brot noch kuchen noch
grütx haben statt des späteren: kein neiv brot noch sangen noch körn.
27. 4. Mose 8, 4, wo die erste ausgäbe gedeyen gold hat, von der zweiten
an: tichte g. Ebenso ist auch 4. Mose 10, 1 das anfängliche vo7i gedeyem silber
in der zweiten ausgäbe durch von fichtem s. ersezt. Das adj. gedeihe, welches hier
vorliegt (Gr. wtb. 4. 1. 1. 1984. 2021) war öi-tlich und Social (bergmannswort und
wol daher Luther geläufig) so beschränkt, dass die unverständlichkeit desselben in
Basel nur natürlich ist. Auch die anwendung des seit dem ahd. in adjektivischem
gebrauch befindlichen prtc. gedigen auf die erze dürfte damals oberd. nicht vorhan-
den gewesen sein.
28. Die an sich nicht wol verständliche erklärung ist offenbar mit beziehung
auf 5. Mose 20, 6 gegeben: Welcher einen weinberg gepflantzet hat vnd hat jn
noch nicht gemein gemacht, der gehe hin vnd bleibe da lieiine, das er nicht im
kriege sterbe vnd ein ander mache jn gemeine.
29. Die erklänmg. die das Wolfsche glossar von gre^itxe gibt, ist selbstän-
dig, dagegen hat der Colmarer (?) dnick die in Petris glossar und den widerholungen
desselben befindlichen erklärungsworte. Kluge, s. 79 weist als ersatzworte für^rew^e
aus den andern Übersetzungen .^gegend'^ und .^landmark^ nach.
30. Dieselbe erklärung gibt Petri und seine nachfolger. Kluge, s. 79: bühel
und hübet.
31. hagen war wol nicht bloss in der md. fonn hain in Oberdeutschland
unbekant, sondern hier überhaupt aus der lebendigen spräche geschwunden. Es galt
dafür hag.
32. Die bekante jedenfals von Luther herrührende bezeichnung des israeliti-
schen Jubeljahrs, das durch den hall der posaunen verkündet wurde. Hauptstelle
3. Mose 25. 10. 11.
33. 3. Mose 21 , 20.
34. 5. Mose 23, 18.
OBERD. GLOSSAR ZU LUTHERS BIBEL 333
35. Kebse ist dem alom. wol nicht eigentlich fremd, wenigstens lässt es sich
amhd. aus alem. dkm. (z. b. aus Notker) belegen. Die verdoutlichende zusamnieu-
setzung kebsweib ist schon vor Lutlior vorhanden, scheint aber nach den bolcgiMi
bei Lexor mehr md. Diese war es also vielleicbt, die anstoss gab; möglich auch,
dass hebse sich überhaupt aus dem gebraucli oder wenigstens aus dem gebrauch der
gebildeteren verloren hatte.
36. 3. Mose 11, 26. Ein echt nd. (md.) woi-t s. Gr. wtb. 5, 1613.
37. 2. Mose 9, 31. Auch hier gab wol einerseits die lautform (oberd. ist
hiodc, vgl. knödcl) anstoss, andrerseits und besonders aber die Verwendung des Wor-
tes zur bezcichnung der Samenkapseln des ilachses.
38. Vgl. Kluge, s. 79: Luthers Ä-cZ/er .• trott, torckel in den andern Übersetzun-
gen ausser bei Eck, der kelter beibehält. Vgl. auch Kluge, wtb. u. d. w.
39. Ygl. 5. Mose 21, 4: in einen kies i cht en grund. Dem zusammcnstoller
des glossars ist hier sonderbarer weise die alem. form dos adj. in die feder gekom-
men, vgl. Gr. wtb. 5, 698, c). Nahm er es nur auf wegen des ie f. *V
40. Oberd. war nur kriegen schw. bekant und nur die bedeutungcn ^sich
anstrengen, streiten'^, nicht aber „erlangen, ergreifen.'^ Das eigentliche alem. kent
leztere bedeutung auch heute noch nicht. Gr. wtb. 5, 2235. Seiler, Basler mda. sagi,
dass kriege == erhalten in Baselstadt neben beko gebraucht werde, in Baselland dage-
gen fast gar nicht. Es ist also deutlich ein nur durch die schriftspraclie teilweise
eingebüi'gertes wert.
41. Ebenso in Petris glossar; vgl. noch Kluge, s. 80: Luthers lippe : lefxe in
den andern Übersetzungen.
42. Petris glossar gibt als zweites ersatzwort vmbicenden.
43. 1. Mose 33, 14: ich ivil meilich hinnach treiben. Luther scheint das
wort ausser an dieser stelle, wo es in allen ausgaben sich findet, nur noch 2. Mose
23, 30 gebraucht zu haben, wo es in den späteren ausgaben durch y^ einzeln mich
einander"- ersezt ist. Heyne fühii Gr. wtb. 6, 1456 noch zwei belege aus Luther
an, wo aber ')nehlich steht. Das wort w^ar also Luther wol nicht eigentlich geläufig,
ahnehlig scheint bei Luther gar nicht vorzukommen. Luther gebraucht andere
ausdrücke füi" diesen begriff, z. b. mit der weile "Weish. 12, 8. Sicher aber war
meylich melich md. sprachgut.
44. Die belege für j-Jlr/te pcmke aus älterer zeit weisen allerdings wol mehr
auf Mitteldeutschland und Baiern als auf das Verbreitungsgebiet dieses in seinem
Ursprung dunklen wertes hin.
45. 4. Mose 11, 5. j^febefnj ist weniger md. als vielmehr wesentHch bair.,
jedenfals von beschränktem Verbreitungsgebiet.
46. Das lehnwort war in seiner alten form gewiss auch in Alemannien üblich,
wie die mhd. belege zeigen, anstoss gab also wol die form mit 6, vielleicht auch die
herabgedrückte bedeutung. Auch Petris glossar hat Pubelvolck: heylos vnniitx, rolck
und Kluge, s. 80 weist nach, dass Eck dafür Pöfel oder gemeines volck, die anderen
den lezteren ausdruck gebrauchen.
47. 1. Mose 24, 8. 41 : des eydes quit.
48. regen scheint zwar md. häufiger als oberd., doch ist es dem lezteren
keineswegs fremd. Also handelt es sich hier wol widerum nur um die besondere
Verwendung dieses verbums in Luthers Übersetzung. I.Mose 8, 17; 9, 7 steht: reget
euch auff erden, dies erschien dem Alemannen zu blass, zu wenig ausdrückend.
834 PIETSCH
Das ^brauehf euch^ ist natürlicli = mhd. hrouchct iiich d. i. biegt eiicli, niclit =
mhd. hrüchet iuch.
49. ra?id findet sich in den älteren drucken der 5 büclier Mose, so viel ich
sehe, an folgenden stellen: am rande des wassers 2. Mose 2, 5; an eines jglichen
teppichs rand 2. Mose 26, 11; an jgUehcu teppich am rand 2. Mose 36, 17; vnd
hefftcu sie au die xiro ander ecken des sclii/flins an seinen rand 2. Mose 39, 19.
An allen diesen stellen, ausser an der ersten hat Luther später ort für 7'and gesezt.
In der erklärung unseres glossars ist örfcr natürlich in der bedeutung „endpuukte"
zu nehmen , nicht als loci. — Dass rand in seiner uhd. bedeutung damals in Basel
nnverständhch war, ist begreiflich, dieselbe ist jedenfals md. Ursprungs.
50. Unbekantschaft mit dem worte schidter ist kaum anzunehmen. "Wüste
man genau, welche besondere stelle des pentateuchs der Verfasser des glossai-s im
äuge hatte, so Hesse sich vielleicht bestimmen, woran derselbe anstoss nahm. Das
wort ist sehr oft gebraucht zur bezeichnung des vorderbugs der opfci-tiere (2. Mose
9, 22; 3. Mose 7, 32 u. ö. ; auch in der Zusammensetzung hebeschidder 2. Mose 9, 27;
3. Mose 10, 14 u. ö.), ausserdem, so viel ich sehe, von der menschlichen schulter
nur 2. Mose 28, 12: auf seinen beiden schuldern tragen; 5. Mose 33, 12: vnd wird
xwischen seinen schuldern uohnen. AVie weit Luther selbst schulder und achsel
unterscheidet oder synonym gebraucht, vermag ich nicht festzustellen. Dietz (u. ach-
sel) behauptet, dass Luther beide im algemeinen als gleichbedeutend verwende. Das
scheint z. b. 2. Mose 28, 7. 12. 23 zu bestätigen, wo in den späteren ausgaben achtel
und Schulter gleichbedeutend gebraucht scheinen. Dass aber Luther doch einen
unterschied kante, wenn er ihm auch, wie uns heutigen, nicht immer zweifellos klar
vorschwebte, zeigt die auch von Dietz beigebrachte stelle Hieb 31, 22: so falle
meine schulder voti der achseln.
51. 2. Mose 20, 26: auff stuffen. Vgl. E^uge, s. 87, der füi- Luthers stufe:
Staffel (stapfei) in den anderen Übersetzungen nachweist. Das fem. stufe dürfte wol
md. sein. Ein fem. stuofa wii'd für das ahd. angesezt (Weigand, Schade, Kluge);
auf gi'und von slegon stuofa : gradus scalarum in Notkers Boethius (Piper I, 10, 31),
wo aber stuofa ebensowol aLs n. plui". von stuof m. genommen werden kann (plur.
erfordert der Zusammenhang). Ferner führt Graff 6, 658 an steora uel osterstuopha
als bezeichnung einer ostfränkischen abgäbe. Auch hier ist plur. von stuof wol denk-
bar, andemfals hat man hier einen md. beleg für das fem. Für mhd. stuoje gibt
Lexer 3 belege, davon ist einer md. (Frauenlob). die beiden andern in der Kolmarer
liederhandschrift sind nicht beweisend: die mich ane ruofen \ in riuwe stuof en \ die
teil ich Bartsch 6, 327; iix der siinden stuof (: geschuof) 7, 15.
52 mehrfach in den 5 büchern Mose. Vgl. auch schilfmer. Das wort scheint
allerdings oberd. nicht grade häufig zu sein, wenn auch nicht ganz zu fehlen.
53. Schicht komt, so viel ich sehe, nur 3. Mose 24, 6 vor: vnd solt sie
legen je sechs auff eine schicht auff den feinen tisch für dem Herrn, vgl. ausser-
dem 1. Mose 6. 16: T)as vnterteyl soltu xweischichtig vnd dreyschichtig machen in
den älteren drucken, wofür später: Viid sol drey boden haben, einen unten, den
andern in der mitte, den dritten in der hohe. — Vgl. Kluge, s. 80: in schichten:
in rotten Eck (geht auf Mc. 6, 40; Lc. 9, 14). — Das merkwürdige wort, das Luther
wol aus der bergmannssprache geläufig war, ist vor ihm, wie die belege bei Lexer
lehren, wesentlich nur im md. verbreitet.
.54. 4. Mose 4, 9: den leuehter des liechts viul seine lampen mit seinen
schneutxen rnd nepffen. Abbrech(e) = lichtschere ist auch sonst in glossarcn
OBERD. GLOSSAR ZU LUTHERS BIREL 335
nachweisbar (s. Lexer) und noch heute in der Schweiz gehraucht; bütxer = putzer.
putzen scheint wesentlich obcrd.
55. Vgl. bei Petii: seh weigere i : überfluss in essen rnd tn'ncken. Diese
sonst auch oberd. vorkommenden bihlungen waren also in Basel unbekaut.
56. Da toben in Alemannien gewiss nicht unbekant war, kann sich diese
bemerkung nur auf eine besondere Verwendung des wertes beziehen. Es wird wol
2. Mose 15, 14 gemeint sein. Da das die rolker horeten, tobeten sie, angst kam
die Philister an lautet dieser vers in den ältesten ausgalion, später hat Luther für
tobeten: erbebeten gesezt. Die erklärung grijuiniig ^ xornig sein ist wol nach der
vulgata gemacht, wo der vers lautet: Ascendernnt populi et irati sunt; dolores
obtinuerunt habitatores Philisthiim.
57. 1. Mose 34, 25. luvst nebst seinen ableitungen scheint hauptsächlicli
bair. und md. verbreitet gewesen zu sein, wogegen gcturst usw. auch alem. vorkom-
men, geturstecltche z. b. bei Nie. v. Basel und Closener.
58. Petri hat tapferen : erden geschir; Kluge, s. 81 erwähnt die Vertretung
des Lutherschen topf, töpfer durch hafen, hafner in den anderen Übersetzungen.
59. 3. Mose 11, 27: alles tcas auf tappen gehet {quae incedunt quadrupedia
Yiüg.). Das seltene woii; von Lexer nur als täpe belegt.
60. Peti'i hat ausgerottet : von der rott abgesündert, außgerüt, die Strassbur-
ger und Nürnberger ausgaben lassen das leztere wert fehlen, der Kolmarer glossen-
verfeitiger Hess auch von der rott weg und so kam die etwas wunderliche widergabe
des ^ausgerottet"" dui'ch abgesündert zu stände. Die Petrische etymologie zeigt, dass
das md. rotten als nebenform von rüten nicht empfunden wurde.
61. verleumden -er ist in der tat md. Das subst. verdachter scheint sonst
nicht belegt.
62. 3. Mose 21, 18: er scy blind, lahm, mit einer scheußlichen nasen, jnit
vngelieicrem gelid (später: ni. e. seltxanien nasen, m. nngewonlichem g.)\ 3. Mose
22, 23: ein ochsen oder schaf, das vngehetvre gelid oder kei^i schwantx, hat (spä-
ter: d. ungeu'onlich g. oder icandelbar gelid hat). Fremd ei"schien dem Verfasser
des glossars vielleicht nicht sowol das woii selbst als die Verwendung in der blassen
bedeutung deformis.
63. 2. Mose 20, 18 heisst es in den älteren drucken: mid alles volck sähe
den donner und blix . . . viul furcht sich vnd ivancketen, wofür später: vnd alles
volck . . . Da sie aber solches sahen flohen sie. Der Verfasser des glossars hielt
das ihm gewiss bekante wort wanken wol nur nicht für passend an dieser stelle,
(der einzigen, an der es sich findet), \-ielleicht im hinblick auf das pavore concussi
der Yulgata.
64. 3. Mose 18, 14. Luther hat die md. form ivase in allen ausgaben fest-
gehalten.
65. Während das subst. ivansin 5. Mose 28, 28 in allen ausgaben steht, ist
uansinnig 5. Mose 28, 34 später von Luther durch vnsinnig ersezt worden. Vor
Luther ist wansinn -ig nicht nachweisbar', Weigand gibt als ältesten ort des Vor-
kommens sogar das Nov. dict. genus des Erasm. Alberus an.
66. Vgl. bei Petii %iegenfell: geyßfell, kitxeiifel; Kluge, s. 82 Luthers Zie-
genbock: geißbock bei Eck und in der Züricherbibel.
67. Es scheint in den 5 büchern Mose allerdings nur diese form xehenden
(a. sg. ; n. a. pl.) vorzukommen, daher hier angesezt. Die erklärung soU nicht den
336 FRÜXKEL
begriff vou \ehcnte geben, sondern denselben durch eine ähnliclie bildung der hei-
mischen spräche ntohe bringen. Pass dies nötig erschien, ist allerdings auffällig.
68. Mit xuchtcr hat Luther in den älteren ausgaben den naxir widergegeben
4. Mose 6, 13. 18. 10. 20. 21. später hat er dafür rerlobtcr eingesezt. An diesen
stellen haben die älteren ausgaben auch xucht statt des späteren gelübd.
Zu hrothauscu vgl. die von Dietz I, 349* angeführte Übersetzung Luthers:
hrothairs; hier ist dies sehr hübsch in einen deutschen Ortsnamen umgewandelt.
Bemerkenswert ist, dass in den erklärungen dieses glossars (ebenso wie auch
in dem des Petrischen) der vokalismus der gemeinsprache herscht, ausgenommen
fyu 27.
GREIFSWALD. P. PIETSCH.
UM STÄDTE AVEKBEN ITN'D YEE^^A^TES IN DEE
DEUTSCHEN DICHTl^^TG DES IG. UND 17. JAHEiroN-
DEETS, NEBST PAE^VLLELEN AUS DEM 18. UND 19.
I. .
Reinhold Köliler, der um die samlimg und vergleichung von ver-
wanten zügen in sage und dichtung hochverdiente gelehrte, hat wol zuerst
eine grössere anzahl von stellen, welche die eigentümliche betrachtung
einer Stadt als braut des sie begehrenden zum ausdruck bringen, zu-
sammengetragen und nach gewissen unterscheidenden gesichtspunkten
rubrizierte Er hat auch diese eigentümliche gattung halbdramatischer
gelegenheitspoesie in ihrer verschiedenartigen bedcutung soweit geken-
zeichnet, dass für einige nachti^äge auf seine ausführungen verwiesen
sein mag.
Zunächst berichtige und ergänze ich seine mitteilung über ein
gedieht, das ihm nicht selbst zugänglich Avar. Es führt folgenden genau
kopierten titel-: „Bulschafft der sich representierenden Eidtgenössischen
Dam, welche ein. Hochloblichen Eidtgenoschaft ihre Herzensgedanken
in treuen eröffnet, mit Vormelden, dass sie Ihr verlobte tragende Jung-
. frauschaft gegen allen ihren aussländischen Buhlen rein behalten, sich
1) Archivar htteraturgeschichte I (1870), s. 228 — 251. Vor ihm gaben hinweise
Soltau, ICK) deutsche histor. volksUeder (1836) s. .509 und Hildebrand in seiner daran
angeschlossenen 2. samlung von 100 liedem (1856) s. 93 und 372; einen weiteren
beleg veröffentlichte J. M. Wagner, Ai'chiv f. d. geschichte deutscher spräche und
dichtung I (1873) s. 160. im anschlusse an Köhler.
2) Derselbe beruht ebenso wie die sonstigen angaben auf dem (1886) im antiqua-
rischen katalog nr. LX von H. Georg in Basel unter nr. 336 verzeichneten exemplai-,
von welchem ich seinerzeit einsieht nehmen liess; über den gegenwärtigen verbleib
desselben ist mir nichts bekant. Köhler a. a. o. s. 240 stüzt sich auf "VVeller, Anua-
len I, 189 nr. 1020.
UM STA DTK WKRBKK 337
iu Ehesümd nit einlassen, sondern l)y ilirem bis daliin tragenden Kranz
ihr Leib, Ehr, Gut und Blut aufsetzen, darbey leben und sterben
wolle. Kan nebet diesen aussgesetzteu Melodeyen, nach gesungen wer-
den in folgenden. Es ist das Heil uns kommen her. . . . Auch in der
Melodey d. Buhlschaft zu Brysach, zu 4 Stimmen aussgesetzt. Wie
gut es gemeint mit dem Vatterland. ... Alles nach dieser Landen Redens-
art. In Verlegung Caspar Wurmanns, von Wisendangen, Ln Jar 1676."
In duodezformat enthält das gedieht 7 blätter mit der zueignungsschrift,
1 leeres blatt und 56 selten text. Li lezteren sind noten in vierstim-
migem satz eingedruckt. Ich gebe hier den anfang der anrede:
Ich bin die Dam der Eidtgnoschaft,
Ich muss mich präsentiren,
Ich trag noch rein mein Jungfrauschaft,
Das thut mein Kranz schön zieren.
Eidtgnoss halt steiff zu meinen Kranz,
Der blühet schön und ist noch ganz,
Kein blum lass ich drauss zehren.
Zu bemerken ist noch, dass die in dem titel angezogene „Brey sacher
buhlschaft" das landläufigste dieser imi die mitte des 17. Jahrhunderts
zahlreichen lieder gewesen zu sein scheint, wie aus der längeren reihe
von fassungen, die Köhler s. 237 fgg. bespricht, und obigem hinweis
entnommen werden darf.
Zwei Personifikationen der Schweiz, welche auf einem älmlichen
allegorischen gedanken beruhen, bieten die dichtungen zweier nach
lebenszeit, anschauungsweise und künstlerischem vermögen grundver-
schiedenen schriftsteiler. Während nun aber Pamphilus Gengenbach
in seinem nach Goedeke^ schon um 1514 geschriebenen dramolet „Der
alt Eydgnoss" das sinbildlich durch einen alten Schweizer vorgestelte
land von selten verschiedener auswärtiger mächte umwerben lässt, hat
Johann Caspar Weissenbach in seinem 1673 zu Zug gedruckten volks-
schauspiel in versen „ Eydgenossisches Contrafeth Auff- vnnd Abneni-
mender Jungfrawen Helvetiae, von gesammter BurgerschafFt löbl. Stadt
Zug durch öffentliche Exhibition den 14. vnd 15. Sept. Anno 1672
vorgestellt. — Der Ander Tlieil, Das ist Abnemmende Helvetia"- wirk-
1) Pamphilus Gengenbach, herausgegeben von Karl Goedeke (Tlannover 1856)
s. 543 fgg. Abdruck des gedichts ebenda s. 12 fgg. Vielleicht hat sich gerade auf
Schweizer boden die eigentliche idee der eigenartigen anschauung in dem von Roch-
holtz , Alemannisches kinderhed und kinderspiel aus der Schweiz (Leipz. 1857) s. 410 fg.
besprochenen fangspiel ^Das thürmleiu" erhalten, wie ich lezteres ausdeuten möchte.
2) „Zu Zug gedrackt Bey Jacob Amnion Im Jahr 1673.*^
ZEITSCHEIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXH. -^
338 FRÄNKEL
lieh sein vate/land als von feinden bedrängte Jungfrau auf die bühne
gebraeht. Der gang der liandhmg hält zwar diese synibolisierung auf-
recht, bietet aber für unser thenia nichts bemerkenswertes, so dass ich
auf die analyso des litterarliistorikers, der wul zuerst näher auf dieses
stück eingieng, AV. Menzels^ verweisen kann.
Ein deutliclieres beispiel aus dem reformationszeitalter liefert erst
ein glücklicher fund, welchen Rudolf Genoe vor einigen jähren machte.
Dieser berichtete über denselben, einen meistergesang von Hans Sachs,
im Correspondenten von und für Berlin (decbr. 1885) wie folgt:
„Das gedieht, welches ganz zweifellos von Hans Sachsens eigener
band geschrieben ist, steht auf sechs ungewöhnlich hohen, aber schma-
len folioseiten und enthält dreihundert verse. Die Überschrift lautet:
„Ivlagspruch der Stat Nürnberg ob der Unpillichen Schweren
pelegerung Markgraff Albrechts Anno 1552."
Datiert ist die handschrift vom 16. juni 1552, also wenige tage vor
dem friedensschluss, welcher jener grausamen belagerung endlich ein
ende machte. Das gedieht ist ein gespräch, welches zwischen Nürn-
berg (als „fi'äulein" bezeichnet) und dem dichter gehalten wird, und
das „fräulein" schliesst es mit der hofniing, dass gott endlich die stadt
erlösen möge —
„Dass ich wider zunehm und wachs,
Das wünscht von Nürenberg Hans Sachs."
Ich füge noch hinzu, dass in des dichters eigenhändig geschrie-
benem generalregister, welches sich in Zwickau befindet, ein gedieht
unter dem titel „Klagspruch der stadt Nürnberg" verzeichnet steht,
und zwar mit hinweis auf das siebente spruchbuch. Dieses siebente
von den 18 handschriftlichen spruchbüchern des dichters ist aber, wie
noch andere, bis jezt nicht ans licht gekommen, und auch dieses
gedieht sowie alle auf den markgrafen bezüglichen wurden nicht in den
druck gegeben. Die nun aufgefundene aparte handschrift des gedichts
ist von Hans Sachs einem freunde am 3. fobruar 1553 verehrt worden,
wie einige zeilen auf der lezten seite, leider ohne Unterschrift, uns
benachrichtigen. "
In den weiteren sätzen dieser vom 18. dezember 1885 datierten
mitteilung spricht Genoe nur noch von dem Schicksale des manuscripts
soweit dasselbe nachweisbar-, berührt aber die Zugehörigkeit des gedicli-
1) Geschichte der deutschen dichtung (Stuttg. 18.59) 11, s. 416.
2) 1836 gelaugte es mit vielen anderen aus dem besitze des preussischen
generalpostmeisters von Nagler in die BerUner kgl. bibliothek.
tJM STÄDTE WERBEM
339
tes zu einer ganzen klasse von iiilialtsverwanten mit keinem worte, so
dass ihm dieselbe unbekant zu sein sclieint. Und doch hat gerade
dieses eine hervorragende bedeutung als deutliches zeugnis dafür, dass
schon um die mitte des 16. jahrluindorts dieser von Schack^ in spa-
nischen romanzen vor 1550 nachgewiesene und auf orientalische Vor-
bilder- zurückgeführte Stoff auch in Deutschland gäng und gäbe war.
Denn nach verschiedenen ausdrücken, welclie in dieser zeit bei der
Schilderung entsprechender Situationen gebraucht werden, ist der rück-
schluss gestattet. Man betrachte dazu folgende beliebig gewählte bei-
spiele:
In einem 1542 anonym gedruckten "^ „Lustig Gespräch der Teufel
und etlicher Kriegsleute von der Flucht des grossen Scharrhansen Her-
zogen Heinrichs von Braunschweig'' lieisst es vers 72 fgg.:
Die zwo erlich stet Braimschweig und Goslar
Selten für im stehen grosse gefar.
Die wolt er der massen ti-eiben und zwingen,
Dass sie im müsten seins gefallens ein liedlin singen.
Es würde im niemant dürfen weren,
Er wolt sich auch an ir mit verwanten nicht keren.
Ganz genau entspricht diesen worten eine stelle in einem inhaltlich eng
damit zusammengehörigen „Bekentniss und Clag Herzog Heinrichs von
Braunschweig des Jüngern"^ v. 155 fgg.:
^n den beiden steten im reich
Goslar und Braunschweig zugleich,
Die selben auf das hertst bedrengt.
Aber das mich am sersten krenkt:
Ich hab sie nicht können zwingen wie ich gewolt.
Wie säur ich mich dagegen gestalt.
1) Poesie und. kirnst der Araber in Spanien und Sicilien (18G5) II, s. 117.
2) Eines derselben, bei j\lirchondi Historia Seldschuckidanun ed. Vullei-s IG,
wo es von einem fiü'sten, der seine residenz verlässt, heisst: „er heftete der gattin
des reiches eine dreifache ehescheidung an den säum ihres Schleiers ", besizt bei
Homer (Od. 13, 388; II. 16, 100) eine merkwürdige parallele in dem ^TQoujg h()ä
y.QriStuvu („Stirnband") Icetv."- Vgl. L. Döderlein, Homerisches glossarium nr. 739,
Anieis und Düntzer zu v. 388, auch hymn. Cerer. 151 y.nriSeuva Tiölrjog (ebenso
Hesiod uanlg 'Ho. 105). Fr. Kummer, Tarquin (Lpz. 1888) lY, 2 (s. 101): „Ich
brach der zinnen jungfräulichen kränz."
3) Schade, Satiren imd pasquille aus der reformationszcit I, s. 54 u. 217.
4) Schade a. a. o. s. 68 und 220.
5) Schade a. a. o. s. 77 und 222.
22*
340 FRÄNKEL
Eine dritte ^^telle aus dei-selben Situation, in „Bruder Veits Landsknechts
im Laii'er vor AVolfenbüttel treuliche AVarnuno'' ^ v. 25 fe.:
Dadurch er der armen stete Goslar und Braunschweig
Vermeint mechtig luid ir herr zu sein zu gleich
beriihi*t sich eng mit v. 45 in „Ein new Lied vom Türeken usw., Nürn-
berg durch Christoff Gutknecht" (1529?)^, wo dem Wien belagernden
„Türk" zugerufen wird: „deV stat soltu nicht gweltig sein." Man über-
sehe nicht den doppelsinn des „mechtig (gweltig) sein", was hier wol
ähnliches bedeutet als unser „vergewaltigen" und des „herr sein" =
„vermählt, gatte sein."'- Schliesslich erwähne ich noch einige stellen
aus dem berühmten landsknechtliede von der „Pavier schlacht."^ Es
11
heisst da v. 4 „von dem könig aus Frankreich " :
Mailant das wolt er zwingen
und V. 9 fg.: Er zug für ein stat, die heisst Mailant,
die selbig tet er zwingen,
wozu man die oben angeführte kongruente wendung bezüglich Goslars
vergleiclie. Ganz deutlich ist die anthropomorphische auffassung in
V. 70 desselben liedes, wo erzälilt ist, dass das belagerungsheer ver-
stärkt worden:
Pauia tet sich des freuen.
Dem lezteren ausdrucke begegnen wir in einem anderen zeitge-
nössischen liede wieder, dem 1552 von Frankfurt aus verbreiteten flie-
genden blatte „Von der belagerung der stadt Frankfurt", welches Arnim
und Brentano — wahrscheinlich aus „Der AVeit -berühmten usw. Han-
dels-Stadt Frankfurt am Main Chronica. Durch A. A. v. Lersner. 1706"
s. 388 — in „Des knaben wunderhorn II, 336'' aufgenommen haben.
Ich setze die dritte Strophe daraus ganz hierher, da die bezügliche
anscliauung durch dieselbe durchgeht:
Stadt Frankfurt an dem Maine!
Dein lob ist weit und breit.
Treu, ehr und glauben reine.
Mannliche redlichkeit
Hast du mit deinem blute
1) Abgedruckt bei Kömer, Historische Volkslieder aus dem IG. und 17. Jahr-
hundert (Stuttg. 1840) s. 150.
2) Über mhd. geualt für „die rechte eines chegemalils oder begünstigten lieb-
habers"- vgl. Uhl, Unechtes bei Neifen (Paderb. 1888) s. 31.
3) Abgedruckt bei Soltau. Einhundert historische Volkslieder^ (Leipz. 1845)
s. 287 fg.
UM STÄDTE WElüiEN 341
Erhalten ritterlich.
Vertrau dem lierrii du ^nite,
Er liilft unschuldgem blute,
Dess suUst du treuen dich.
Man erkent, dass hier das Verhältnis der belagerten testung zu ihren
bedrängerii ganz ähnlich ^vie in den bisher beigebrachten belegen ge-
dacht ist. Verwante betrachtungsweise kehrt in niaiuiigtacher niodelung
im reformationszeitalter wider. Man vergleiche z. b. das von II. Fischer,
Gernian. 23, 57 fg. mitgeteilte „historische lied des XVI. jaiirhuuderts'^
wo u. a. folgende verse vorkommen:
Venedig, sych dich eben für
Dein hochmüt würt gestilt, glaub mir
Dein geyt, vn üppig evtel eer
Mag uit vertragen bliben mer.
Weiterhin heisst es von der trotzigen stadt, die gewissermassen unter
dem bilde einer spröden kokette erscheint:
Bapst, keyser darzu achtest klein,
In eygnem gwalt vertröst allein.
Venedig, sych dich eben für.
Dail dir die straff ligt vor der thür,
Durch keyser Maximilian.
Man möchte gewiss auch anderwärts in der iitteratur des 16. jalu-
himderts noch beispiele auftreiben können. Aber mir komt es nur
darauf an, aus der volksmässigen anwendung dieser metonymie ihre
gebräuchlichkeit in der in frage stehenden periode zu erweisen, zum
wenigsten, dass sie gleichsam in der luft lag, wenn auch nicht viele
belege von der handgreiflichkeit des Sachsischen vorliegen.
Jedoch stehen neben diesen Zeugnissen für die gemeinverständ-
liche anschauung des „um städte werben'' eine reihe von verschieden-
artigen Wendungen, welche denselben grundgedanken in weniger aus-
geprägter form widerzugeben versuchen. Auch hier gebührt einer stelle
des Hans Sachs zeitlich die führung. Ich meine die allegorische deu-
tung der ,,4 fräulein'', welche Nürnbergs kraft und stärke sinbildlich
verkörpern sollen, in dem als eiii kabinetsstück sinniger und poesie-
umflossener didaktik bekanten lobspruch der stadt Nürnberg i. Vom
hauche edelster Vaterlandsliebe verklärt, ersteht hier ein farbenbuntes
gemäide der phantasie, welches in dem alten gedanken fusst, dass der
glänz einer in ihrer macht- und glanzfülle allen anfechtungen siegreich
1) Gedichte, buchl, t. 4, bl. 404. Vgl. v.2ü5fgg., 285 fgg., 280, 300 fgg. usw.
342 FRiXKEL
geAvachseneu stadt der frischen und reinen blute unberührter jungfräu-
liclikeit vergleichbar sei. Weisheit, gerechtigkeit, Avahrlieit und stärke
sind die „4 fräulein ", deren gleichsam unverlezte keuschheit Xürn-
bergs schütz und schirm bedeutet.
Man fülilt sich unwilkürlich an die vuUere ausgestaltung dieses
gedankens erinnert, wie wir ihn in andern nummern dieses stofkreises
finden, so in dem „Halt dich Magdeburg" betitelten „Flugblatt aus der
reformationszeit'', welches Arnim und Brentano in „Des knaben wun-
derhorn" (1. ausg. 11, 102) zum abdruck brachten. Ich führe als cha-
rakteristisch nur sti'ophe 5 — 7 an:
So will ich nicht verzagen,
Ich armes mägdelein,
Christum will ich es klagen,
Der wird mein schutzherr sein.
Magdeburg bin ich genennet.
Ganz frei und wohl bekannt.
Ich trau auf Christ vom himmel.
Mir liilft seine gew^altige band.
Die mittel will ich brauchen.
Die mich mein bräutgam lehrt,
Vor diesem beschomeu häufen
Bin ich noch unversehrt. ^
Die sprechende stadt weist also die umwerbungen ihrer feinde schroff
zurück, indem sie sich gewissermassen auf ein Verlöbnis mit Christas
beruft. Hierdurch ist aber nicht bloss die reichhaltige anzahl der von
Köhler zusammengestelten lieder dieser art, welche sich auf Magde-
burg beziehen, um eins vermehrt-, sondern zugleich erwiesen, dass die
belagerung der stadt durch Tilly vom jähre 1629 keineswegs die
erste ist, welche zu einem solchen gedichte angeregt hat. Es verdient
hierbei noch angemerkt zu werden, dass das in „Des knaben wunder-
hom" unmittelbar folgende gedieht „Die Magdeburger fehde"^, welches
1) Allerdings ist in dieser hochdeutschen fassung manches etwas entstelt;
man vergleiche die niederdeutsche bei Uhland I, 554 und v. Liliencron IV, 515.
2) -Tilly nach der Schlacht bei Breitenfeld ", ein auf urkundliches material
gestüzter aufsatz (Schnorrs v. CarolsfeldV) im Arch. f. lit.-gesch. VI, 53 — 85 bietet
viele fälle für Magdeburg, aber ohne das typische des werbens zu streifen.
S) QueUe ist -CjTiacus Spangenbergs Chronik von Aschersleben. Eisleben 1572,
Petri." Las gedieht steht Des knaben wunderhora IP, 106.
UM STÄDTE WERBEN 343
noch ins dritte viertel des 16. Jahrhunderts gehört, zwar diese anschauung
nicht gerade heraus ausspricht, aber doch in mannigfachen anklängen
die anlehnung an das vurliergenante gedieht aufweist^; in stroplie 11
und 12 bricht die personitizierung der stadt, allerdings unter einem
etwas andersartigen bilde, ganz deutlich (.lurch. Auch bleibe nicht
unerwähnt, dass die von Köhler a. a. o. s. 231 mehrfach belegte auf-
fassung der Werbung als einer aufforderung zum tanz sich in der gan-
zen gattung öfters widerholt; ich erinnere an die gesrhickte einflcrlitung
dieses motivs in einem neueren aber nicht minder volksniässigen bei-
spiel, „Die befreiuug Wiens"- Strophe 17:
Es tönt so früh und tönt so hell,
Als ging's zu tanz und wein.
Köhler a. a. o. s. 231 (und anm.) wies schon auf diesen zug hin.
Wie verbreitet jene Übertragung aus dem sozialen leben auf die
Städtebelagerung schon im 16. Jahrhundert gewesen sein muss, erhelt
aus der anzahl verscliiedener fassungen des „Halt dich Magdeburg",
die heute noch nachweisbar sind. Die geläufigste ist freilich wol erst um
die mitte des 17. Jahrhunderts, anscheinend infolge der belagerung von
1629 — 31, endgiltig fixiert worden. So liegt sie uns im Yenus-gärt-
lein (Hamburg 1659) s. 55 — 57 vor, und bei Ühland, Alte hoch- und
niederdeutsche Volkslieder 1, 1, 553 ist aus einem mundartlichen lie-
derbuche eine wortgetreue plattdeutsche Übersetzung derselben mitgeteilt.
Aber wir kennen auch eine in einzelheiten stark abweichende nieder-
schrift als fliegendes blatt, welche, enthalten in ,, Zwey schöne lieder,
das erste der christlichen stadt Magdeburgk zu ehren gestellt, durch
P. L. Im thon Es wolt ein jeger jagen 1551", reichlich hundert jähre
früher abgeschlossen war. Ähnlich wie oben bei Haus Sachs, ist hier
von „drei jungfräulein " die rede, welche auf df^ni Magdeburger Stadt-
tore für drei fremde fürsten „rautenkränzelein-' winden. Auf derselben
linie bewegen sich die verschiedenen svnonvmen ausdrücke in der
,,Magdeburger fehde." Neben andern gedenke ich nur der Avorte in der
11. Strophe:
Magdeburg, du bist ein wilder arn,
Dein flügel sind unverhauen
als einer geharnischten abwclir an die belagernden fürsten, welche auf
einem sehr nahestehenden vergleiche ruht
1) Z. 1). das bezeichnende „es kommen (viel) fremde gaste" in den ersten
Strophen.
2) Aus dem sog. Festkalender z. 1). bei Echtermeyer, Auswahl deutscher
gedickte, 29. auü., s. 87 fg.
344 rßiNKEL
In aiizieliender weise ist zugleich in „Halt dich Magdeburg '^ das
alte gleichuis, dass Christus der kirclie verlebter, der gläubigen und
frommen geliebter sei, für die beziehung der gottheit zu der glaubens-
mutif!-en Stadt verwertet. Die hvmnenlitteratur und kirchliche lieder-
dichtung der nachreformatorischen jalirhunderte weist eine ganze reihe
von stellen auf, welche Christus als bräutigam der stadt Jerusalem^
bezeichnen und zwar, was für uns das massgebende ist, als friedlichen
eroberer im sinne der religiösen legende oder als schlachtgewaltigen
kriegsfüi"sten im altgermanischen stile des Heliand. Bloss einige pro-
ben mögen die vielseitige ausbeutung dieses halbmystischen phantasie-
bildes, welches die ältere christliche dogmatik in ihrem dränge nach
sinlicher greifbarkeit des göttlichen geschaffen hatte, mehr andeuten als
sicher beweisen.
Zunächst ein beispiel noch aus dem 16. Jahrhundert. Rambachs
Anthologie christlicher gesänge II, 218, auch Schuppii Schriften s. 277
verzeichnen das im modernen protestantischen kirchengesang wider in
aufnähme gekommene lied „Von den klugen Jungfrauen" aus „Frewden
Spiegel dess ewigen lebens. Durch Philippum Nicolai. Frankfurt 1599."
In betracht komt Strophe 1 :
Wachet auf, ruft uns die stimme-
Der Wächter sehr hoch auf der ziime,
AVach auf, du stadt Jerusalem,
3Iitternacht heisst diese stunde,
Sie rufen uns mit hellem munde:
„Wolan, der bräutigam komt.
Steht auf, die lampen nehmt!
Halleluja!
Macht euch bereit
Zu der hochzeit,
Ihr müsset ihm entgegen gehn!"
Xur um für die spätere zeit die fortdauer dieser belebenden dar-
stellungsweise zu belegen, ziehe ich die betreffenden zeilen aus einem
seltsamen hymnus aus, der als „Anmutiger blumenkrieg aus dem gar-
1) Wackeraagel. Poetik, rhetorik und Stilistik s. 398 bespricht als ty[)isches
^beispiel allegori.scher Personifikation" Hesekiel 16, „wo Jerusalem als weib erscheint
und die ganze geschichte der stadt und des volkes in der lobensgeschichte dieses
einen weibes anschaulich concentriert wird."
2) Klopstock hefert eine nach seiner gewohnten erneuerungsart (siehe Muncker,
F. G. Klopstock, Stuttg. 1888, s. 307 und 311 fg.) vorgenommene umar))eitung „Die
geisthche auferstehung" : Samtl. werke 1823, 111 s. 80.
UM STÄDTE WKIiliKN 345
ten der gemeinde gottes, aus licht gegeben im jähre 1712'' in Des
knaben winulerhurn 411, 20G fgg. neu gedruckt ist.
In in: 3, die den Untertitel ,,Triunipli des ei-wählten Volkes" führt,
lautet sti". 1 :
Auf tiiuuiph, es komt die stunde.
Da sich Zion, die geliebte, die betrübte hocherfreut,
Babel aber geht zu gründe,
Dass sie kläglich über jamnier ül)er angst und kuniiner 'schreit.
Str. 2:
Diese dirne hat beflecket
Ihr geschenktes, schön geschmücktes jungfräuliches ehrenkleid
Und mit schmach und höhn bedecket,
Die dem lamme auf die hochzeit ist zum weibc zubereit.
Str. 3:
Stolze dirne, nicht verweile.
Die da auf den vielen, vielen, vielen grossen wassern sizt
Und mit angeln und am seile
Ganze Völker zu sich ziehet und in schnöder brunst erhizt.^
Str. 5:
Auf dem lande, in den städten
Hat die dirne mit dem becher alle beiden toll gemacht,
Sie stolzieren in den ketten,
Haben sie als schicksalsgöttin, sich als götzen hoch gemacht.
Str. 11:
0 Avie gross ist deine wonne.
Schönstes Zion, es ist kommen dein erwünschtes hochzeitsfest,
Da sich Jesus, deine sonne
Der dich krönet, deinen bräutigam, deinen könig nennen lässt.
Endlich str. 12, einen volkommenen abschluss bietend:
Nach der hochzeit wird die nymphe^
Aus dem hause ihrer mutter in des vaters haus geführt.
Die mit ewigem triumphe
In der ki-one ihrer hochzeit, ewig, ewig triumphiert.
Das merkwürdige stück lässt trotz der vielfachen dunkelheiten im
einzelausdruck, die durch die verzwickte Interpunktion, in der es hier
gemäss dem original belassen ist, noch gesteigert werden, dieselbe
1) Nach der Offenbarung Johann. 17, 1: die grosse hure Babylon.
2) Mit hinbüok auf vv^(fi] ,,die neuvermählte" (Homer II. 3, 130 u. ö.)? Ähu-
hch „braut" für Junge frau" (vgl. Hildebrandslied v. 21).
346 FRÄNKKL
gegeiiüberstellung wie in den vorüetulirten „weltlichen'' füllen durch-
scheinen, ja man möchte last sa^en, es sezt die bekan tschaft mit die-
sen und ihre üblichkeit voraus. Das geht auch aus einigen parallelen
in nr. 20 desselben cvklus, dessen nr. 3 wir soeben in bruchstücken
kennen lernten, hervor. Dieselbe, „Hochzeit" betitelt^, nähert sich mit
einigen anklängen namentlich dem liede „von den klugen Jungfrauen."
Ich hebe heraus aus str. 1 :
Es hat sich aufgemachet
Der bräutigam mit praclit.
und stelle daneben aus str. 2:
Die Wächter Zions schreien,
Der bräutigam ist nah.
Str. 3 bringt sodann die völlig dazu stimmenden verse:
Die tür ist aufgeschlossen -
Die hochzeit ist bereit,
Auf. auf ihr reichsgenossen,
Der bräutgam ist nicht weit.
Auch die 6. strophe gehört hierher:
Begegnet ihm auf erden,
Ihr, die ihr Zion liebt,
Mit freudigen geberden
Und seid nicht mehr betrübt!
Es sind die freudenstmiden
Gekommen und der braut
Wird, weil sie überwunden.
Die kröne nun vertraut.
Wie scharf das gegenüber des siegreichen eroberen und dei*
bezwungenen bräutlichen Stadt zu fassen ist, zeigen die beiden ersten
Zeilen der nächsten strophe ganz deutlich:
Hier sind die siegespalmen,
Hier ist das weisse kleid
und nachdem dieser gegensatz noch mit reichen färben ausgemalt ist,
bringt die 8. strophe den Avürdig ausklingenden schluss:
Hier ist die Stadt der freuden,
Jerusalem der ort,
1) Des knaben wmiderhorn 'III, 229 u. ö.
2) Ganz realistisch zu denken, wie Christus nach den evangelien in Jerusalem
einzieht.
UM STÄDIÜ WEUBEN 347
Wo die erlösten weiden.
'1
Hier ist die sichre pfort,
Hier sind die goldnen gassen,
Hier ist das hochzeitniald,
Hier soll sich niedeilasscn
Die braut im roseutal.
Endlich waltet auch in dem die eigentiimliche dichtung al)schliessen-
den „triumph der erwählten seele^ derselbe gedanke vor, indem „der
Siegesfürst aus der schlacht komt", des „höllischen tyrannen raubschloss
ganz zerstört", so dass — wenn man die mystisch verklausulierten
Worte so auslegen darf — „seine teur erlöste braut'' nun unbehelligt ist.
Um einige verwante züge aus neueren kirchenliedern gleich hier
anzufügen, sei Gellerts abgeblasstes
Dein könig, Zion, komt zu dir
(str. 5 des liedes „Dies ist der tag, den gott gemacht''), Friedrich Dach-
ses, des Altenburger hofpredigers
Dein könig komt zu dir.
Du Stadt des felsengrundes,
Noch bist du seine Stadt.
Mach ihm die tore weit!
(Str. 1 und 2 des liedes „Thu auf die heil'gen pforten'') und etwa noch
Fr. Rückerts friedvolles adventslied:
Dein könig komt in stiller grosse
Sanftmütig, ohne kriegsgetöse,
Empfang ihn froh, Jerusalem
genant, um die Versicherung, dass die ausgedehnte pflege dieser an-
schauung durch die kirchliche liederdichtung schon allein aus den Lutlie-
rischen gesangbüchern viele beispiele herausgreifen Hess, durchaus
glaubhaft zu machen.
Kehren wir zu der chronologischen reihenfolge der besprochenen
beispiele zurück, so finden wir als erstes im 17. Jahrhundert unter den
bislang nicht berücksichtigten das lied auf die schlacht bei Leipzig,
welches auf flugblättern in melirfach stark variierter fassung überliefert
ist. Eine längere, noch von 1631 datiert, steht in Des knaben wam-
derhorn ^11, 93, bei Talvj, Yersuch einer geschichtlichen Charakteristik
der Volkslieder germanischer nationen (1840) s. 442 und sonst öfters
abgedruckt, eine andere unter gleicher Überschrift findet sich knapp
348 FßÄNKEL
zusammengeselinitteu in Des kuaben wunderliorn an jenes angeschlos-
sen oder in erweiterter gestalt als „Der päpstischen armee unter dess
alten corporals general graffen von Tylli comniando zugk vnd flucht
1631" auf einem flugblatt, welches z. b. in der Meusebachschen sam-
lung^ enthalten 'war, auch verschiedentlich veröffentlicht worden ist^
Wenn man annimt (wogegen kaum ein erheblicher einwand mög-
lich ist), dass der eingang, wenn nicht ein grösserer abschnitt dieses
gedichts in der erstgeuanten bearbeitung der stadt Leipzig in den mund
gelegt ist, so darf z. b. die 1. Strophe ohne weiteres als beleg für die
Aktion eines liebesverhältnisses zwischen Leipzig imd Gustav Adolf gel-
ten. Sie lautet nämlich:
Ich hab den Schweden mit äugen gesehn
Er tut mir wol gefallen;
Geliebt mir in dem herzen mein
Vor andern königen allen.
Gegen den schluss bekommen die kaiserlichen feldherrn den beliebten
moralischen rippenstoss. Während sonst meist Tillys Charakter und
geschick die Zielscheibe der protestantischen pamphletisten bildet, ist
es hier neben diesem auf den wilden reitergeneral Holk abgesehen.
Charakteristisch ist namentlich die apostrophe der flüchtigen „Kraba-
ten** und ,,welschen brüder" str. 11:
„Ade, Leipzig, behalt dein mahlzeit.
Zu dir komm ich nicht wider",
und zwar ist dieser gefühlsausbruch aus der vorangehenden strophe zu
erklären, avo Holks krankheit durch vergiftetes confekt, das er von der
Stadt Leipzig erhalten, erzeugt sei. Diese merkwürdige motivierung
ist aber in den gedichten jener zeit eine sehr gebräuchliche, wenn
schimpflicher abzug eines belagerers geschildert werden soll.''^ Beispiels-
weise sei hingewiesen auf R. Köhler, Archiv für litteraturgeschichte I,
245 (auch 241 und 243), besonders auf Freih. v. Ditfurth, 52 unge-
druckte balladen des 16., 17., 18. Jahrhunderts (Stuttg. 1874) s. 174
(aus dem jähre 1704) sowie Froih. v. Ditfurth, 110 volks- und gesel-
schaftslieder des 16., 17., 18. Jahrhunderts (Stuttg. 1875) s. 37 (schlacht
bei Patras 1687) und s. 97 (belagerung der vestung Rottenberg 1744.
1) Z. V». in der von L. Erk besorgten neiiausgabe von Des knabon wimdcr-
horn: L. A.s von Arnim sämtl. werke N. A. 1857, XU, 93 fgg.
2) Die erklärung bieten die verse „Ihr red war usw." bei Opel und Cohn,
Der dreissigjäbiigc krieg (1862) s. 258.
UM STÄDTE AVERHEN 349
Gleiclifals in jono zeit t'iilt die entsteh iin,<^- des g-elegenlieitsgedich-
tes „Wallenstein vor Nürnberg" ^, in dem am ende
„Die bur^er schrien und sun^^-en überhiiit:
„Gelt, AVallenstein, du hast di(^ braut?
Geh, putz dein gesehen drauss!""
Nach dem inhaite zu folgern, muss wenigstens ein und demsel-
ben jähre der spotdialog ,,Tilly und der lange Fritz" 2 angehören, wo
dem Tilly als grund seiner erbärmlichen läge entgegengeschleudert wird:
„Weil hast die magd geschändet,
Ins elend auch gesendet",
also Magdeburgs grausame Zerstörung.
Über das interessanteste gedieht des 17. jahi-hunderts, welches
unser thema behandelt, ist man bis jezt noch nicht ins klare gekom-
men. Es ist widerum auf die belagerung Magdeburgs bezüglich und
zwar die von Tilly 1631 mit erfolg durchgeführte. Unter den vielen
nummern, die sich diesen dankbaren stofP zum Vorwurf gewählt haben,
stelt es Köhler s. 249 an lezte stelle. Aus seiner angäbe (s. 250), dass
dasselbe gedieht in deutscher Übertragung — das original ist lateinisch
abgefasst — nach einem druck von 1632 bei Opel und Cohn, Der
dreissigj ährige krieg (Halle 1862) s. 220 fgg. mitgeteilt ist, ergibt
sich seine identität mit einem neuerdings von Witkowski^ eingehend
besprochenen gedichte Werders. Ich teile dessen ausführungen nebst
den bei ihm herausgehobenen proben mit, indem ich noch seine notiz
in der bibüographie der Werd ersehen Schriften vorausschicke, dass das-
selbe stück ^ „mit moderner Orthographie" an der angegebenen stelle
Opel-Cohns zu finden sei:
„Weit weniger als die nachbildung der bussspalmen ist Werder
ein „Trawerlied vber die klägliche Zerstörung der löblichen vnd vhr-
alten stadt Magdeburg" gelungen, welches denselben angehängt ist.
Das lied schildert die Überwältigung einer Jungfrau (das wappen Mag-
deburgs) durch einen alten Wüstling. Unter anderni finden sich darin
folgende, fast komische verse:
1) Ditfiiiih, 52 balladou usw. s. 172.
2) Ebd. s. 168; dieses wie das vorige nach handschriftlicher übeiiieferung
(s. xn).
3) Diederich von dem Werder. Ein beitrag zur deutschen htteratui-geschichte
des 17. Jahrhunderts (Leipzig 1887) s. 124 fg.
4) Exemplare desselben, 1632 in Leipzig bei Ehas Rchefeld gedruckt, finden
sich nach Witkowski in Dresden und Göttingen.
350 FRÄNKEL
Der liiinmel selbst erschrickt. Gottloser buleii knecht,
Es weren ja füi* dicli die drey liöll huren ^ recht,
Ihr bräutigam zu seyn. Mit solchem braud vnd morden
Ist auch des Plutons weib selbst nicht geraubet worden.
Du ALTER KAHLKOPE, du verdientest, dass das schiff
Charontis mit dir stracks in seinen abgrund lieff.
Die allegorie von der Jungfrau und dem alten liobhaber ist noch
weiter gefülut: dann redet der dichter die gefallenen an:
Ihr bürger aber all", ihr miinner, vnd ihr frawen,
Ihr kinder, knäbelein, ihr Jüngling und jungfi-awen,
Du kecke kriegesschaar: Ynd du o edler Heldt,
Der du ilu- wärest gleich als hertzog fürgestcllt,
Glantz aller Tapferkeit-, vnd sonne des Verstandes
Ruht ruhet in der asch' hier ewres Vaterlandes
Ja ruhet süss vnd sanfft, kein todt ist ewer todt^:
Ein leben ist er euch, ein leben auch in gott,
Ein leben voller ehr, ein leben voller leben:
Ihr vberwunden habt: ihr werdet euch erheben.
Hoch vber das gestirn, es wii'd nach unsrer zeit
Auch werden ewer lob vnsterblich aussgebreit.
Zum schluss ermahnt der dichter die überlebenden, auszuharren
und den mut nicht sinken- zu lassen. Das ganze „trauerlied" ist des
besungenen gegenständes nicht würdig; denn von dem furchtbaren
schmerz, der die ganze protestantische weit nach dem falle Magdeburgs
bewegte, ist sehr wenig darin zu spüren. Dasselbe bild von der ge-
schändeten Jungfrau benuzte Opitz zu einem epigraram, welches zuerst
bei Xeumeister* abgedruckt ist und ebenso wie Werders gedieht beweist,
1) Ich glaube, dass hierbei der stüle gegensatz vorschwebt, welchen das oben
besprochene flugblatt „Halt dich, Magdebui'g" so ausprägt (str. 16):
Zu Magdeburg auf dem thore,
Da sitzen drei jungfräulein,
Die machen alle morgen
Drei rautenkränzelein.
Bestirnt sind dieselben nach den folgenden yersen für „herzog Hansen", gi'af Albrecht
von Mansfeld und einen noch unbekanten retter. Die „höllhuren'* sind Babylon,
Jerusalem, Ephraim.
2) Gemeint ist, was W. nicht angemerkt hat, der von Gustav Adolf entsante
kommandant der Stadt, obei-st Dietrich Falkenberg.
3) Diese und die folgende wendung erinnern an ähnliche antike im stile der
bekanten Tyiiäos nachgebildeten verse des Horaz.
4) Specimen di.ssertationis Ihstorico - Criticae de Poetis Gemianicis hujus sae-
cuh praecipuis (2. aufl.j 1708 s. 76 fg. Vgl. Strehlke, M. Opitz s. 105 und 182.
UM STÄDTE U'ERBEN 351
wie wenig die puesie damals den gefühlen über wirklich ei*scliütternde
ereigTiisse ausdruck zu geben vermochte."
Soweit Witkowski, dessen dai-stelluiig ich in extenso gegeben
habe, weil es mir notwendig schien, bei dei* berichtigung des tatbestan-
des den sachkundigsten sprechen zu lassen. Man gelangt aber erst zur
sichern feststellung, wenn man seine notizen mit denen Köhlers ver-
schmilzt. Dieses ergebnis, dass jenes lateinische gediciit bei Kühler
s. 249 fg. und das Werdei'sche zusammenzufassen sind, blieb bei Wit-
kowski jedenfals nur deshalb aus, weil ihm leider die bemerkungen
seines Vorgängers entgangen zu sein scheinen. Dies geht auch überdies
aus seiner nichtberücksichtigung von Köhlei*s auslassung über das
Opitzische gedieht (s. 247) hervor.
Da es sich, imi die genetische entwicklung zu veranschaulichen,
entschieden empfiehlt, einfach die chronologische reihenfolge inne zu
halten, so schliesse ich jezt einen hinweis auf die wol nicht unbeti'ächt-
liche litteratur an, welche den fall Strassburgs betrift und meist noch
ins jähr 1681 oder die unmittelbar folgenden fält. Ich halte mich
dabei an die knappen worte Scherers \ die allerdings nicht in hinblick
auf eine litterarhistorische Verwendung niedergeschrieben, die sache
algemein beti-achten. „Die populäre litteratur hatte sich des gegenstän-
des, wie selten in jenen zeiten geschah, mit eifer bemächtigt. Das
Volkslied erhebt sich in allen möglichen klageweisen, schon vor der
katastrophe in Warnungen, nachher in bitterem unmut. Aber auch an
Satiren gegen Strassburg felüt es nicht, aus denen man ersielit, tlass
die meinung sehr rasch verbreitet wurde, es sei verrat im spiel gewe-
sen, und die Strassburger müsten nun ihre untreue am reiche büssen.
Ein „lezter reichs- abschied von der mutter, dem römischen reich, an
die enterbte tochter, nun französischen Stadt Strassburg" geisselt die
treulosigkeit der grenzstadt, welche ihi- unglück selbst verschuldet hätte.
Sehr beachtenswert ist, dass selbst Leibnitz in den zalüreichen latei-
nischen und deutschen gedichten, zu denen ihn das ereignis gestimt
hatte, einer gleichen auffassung vorzugsweise räum gibt:
„Pfuy Strassburg, schäme dich —
. . musst mit vielen scherzen
Verspotten lassen dich zu deiner pein und last."
Alle genanten Stimmungselemente fliessen in der herben abfer-
tigung an die alte reichsstadt zusammen, welche noch ins jähr 1681
1) Lorenz und Scherer, Geschichte des Elsasses II, 130 fg. S. 258 heisst es
zum jähre 1870: „AUe Stadien einer regelrechten belagerung solte die unglückliche
„Stadt, die siebenhimdei-tjährige jungfräuliche festung erdiüden."
352 FRÄNKEL
fält und von Ditfurth^ aus ,,Cod. germ. s. 136 — 137" der Staatsbiblio-
thek zu München herausgegeben ist. Strophe 8 darin gibt den kern
des gedankens:
Ein jungtrau wärest du.
Hast g'habt den edlen namen;
Pfui, pfui! jezt musst dich schämen!
Scham dich, truck d' äugen zu,
Und ruf: o weh, o weh!
Hab d' jungfrauschaft verloren.
Bin Absalon geboren —
Die unti'eu nun versteh!
Für diese scharfe Strafpredigt an die — wie (oben s. 344 fg.) Babylon —
zur dirne erniedrigte stadt empfangen wir in der übernächsten strophe
folgende erklärung, welche das gleichnis in das richtige licht rückt:
Dir war das prädikat,
Dass vor viel hundert jähren,
In schweren kriegsgefahren,
Kein feind dich zwimgen hat.
In den übrigen teilen des 20 Strophen langen gedichtes treten fast alle
die Wendungen auf, die wir in den bisher mitgeteilten Schilderungen
derselben Situation beobachten. Str. 6 flicht den anscheinend stereotyp
gebrauchten ausruf: „Pfui, Strassbui'g, schäme dich" ein und die
Schlusszeilen der 3. und 4. sti'ophe:
Das Teutschland lacht von herzen
Zu deinen grossen schmerzen.
Hast selbst g'macht dir pein
beziehentlich:
Das reich dich gar nicht kennet,
Lacht nur zu deinem spott
erinnern so auifäUig an Leibnitzs obige verse, dass ein abhängigkeits-
verhältnis auf einer seite wol in frage gezogen werden könte, sei es
nun nur dunkele oder unbewuste reminiscenz beim kunstdichter oder
zustutzung für den geschmack des gemeinen mannes durch den volks-
mund. Zugegeben sei, dass die gebrauchten ausdrücke bei der gang
und gäbe gewordenen vergleichsart beiden nicht zu fern lagen 2.
1) 110 Volks- und geselschaftslieder usw. (Stuttg. 187.5) s. 29 — .35.
2) Yon bemerkenswerten anklängen seien noch erwähnt : aus str. 1 : „ Aber du
find'st kein mann. Der jezt, da du musst leiden. Mit dir sich schwarz will kleiden"
vgl. mit den oben s. 346 besprochenen versen ^Hier ist das weisse kleid" (dort hat
die Werbung einen glücklichen ausgang genommen); die worte der zweiten strophe
mi STÄDTF WERBEN' 353
Ich hatte Strassburg- liier in dvn Vordergrund gestelt, obwol einige
andere geschichtliche lieder diesor zeit auf fi-oignisse sich beziehen,
welche mehrere jähre älter sind. Aber s<Mn fall ist der bekanteste,
deshalb volkstümlichste und daher auch vielbesungenste stoft" aus den
gleichzeitigen gedichten unserer gattung.
Bloss im vorbeigehen erwähne ich das bei Ditfurth a. a. o. s. 18
mitgeteilte „Gespräch zwischen England und Ruyter (1667)." Dasselbe
ist als ganzes mit den oben s. 337 behandelten Personifikationen der
Schweiz und den weiterhin zu erwähnenden Deutschlands in parallele
zu setzen; im einzelnen gehören etwa v. 29 fg.
„Holland hat mich stark turbieret,
Ist mein meister worden sehr"
und gleichfals ein ausruf Englands — v. 16 —
Dürft mich legen bald ins grab
hierher.
An den lezteren eigentümlichen gedanken erinnert der eingang
des von Ditfurth s. 24 „Belagerung Rheinfelds" (1678) über-schri ebenen
liedes:
Liebste gräfin an dem Rhin,
Allarm, all arm! es steht dahin,
Dass ihr vielleicht sevd bald ein 1 eicht, ^
Noch darzu schandlich begraben.
In str. 2 wird dem general Stahremberg das lob zuerteilt, dass
er bei zeiten „diese gräfin treulich z' schützen" bereit gewesen:
„Die nicht redlich, durch die büxen
Liess wie d' finken bürsen^ fort —
Schöne lehr, jezt liegt er dort!"
Wenn in str. 10 die bedrängte festung aber ausruft:
Meine burger, treue kinder,
Meiner feinde überwinder,
Halt's ferner treu, steht mir fest bei!
Nicht wie Freiburg tut mich lassen,
Drum ganz Teutschland tut sie hassen
„Der dir den gValt genommen" erläutern nebst den voraufgehenden „Hast lang
genug getrazt" die oben s. 341 abgedruckten verse auf Venedig in ebenso wilkom-
mener weise wie die folgenden „(Der dir) die federn wol gestuzt usw." die auf Mag-
debui'g: „Dein flügel sind un verhauen."
1) S. Giinmi, Deutsches Wörterbuch YI, 612.
2) Die bei Giimm, Deutsches Wörterbuch 11, 549 fg. und 555 fg. gegebenen
begrifsentwicklungen passend ?
ZEITSCITRIFT F. DEUTSCHE PHILOI.OGIE. BD. XXII. 23
354 FRÄNKEL
SO weist sie damit auf die V(>rü:äni2:o hin, welche die oben s. 837
erwälnite Freiburi;er bulscliaft behandelt.
Inhaltlich i:::ehört in diesen Zusammenhang die „Schlacht bei Mal-
plaquet" (Ditturth a. a. o. s. 61), wennschon ins 18. Jahrhundert (1709)
fallend, wo die 5. strophe anhebt:
„Eugenius gelit izt nach Mons,
So ihn erwählest zum gespons.'^
Aus dem 18. Jahrhundert hatte Köhler das lied auf die belage-
ruug von Lille (1708) aus „Des knaben wunderhorn'' II, 100, die
berühmte umdichtung desselben auf die von Belgrad und eine „Unter-
redung zwischen dem könige und der stadt Breslau und den Oestrei-
chern, so bev der lezten Übergabe den 19. dec. 1758 geschehen" in
den bereicli seiner betrachtung gezogen. Was ich als ergänzung dazu
bieten kami, ist folgendes. Zunächst eine anscheinend veralgemeinerte
Personifizierung, der ich zu meinem bedauern nicht weiter nachspüren
konte, weil mir meine quelle, eine recht ungenaue notiz H. Pröhles,
bloss geringen anhält bot und mir auch erkundigungen nicht die
gewünschte kentnis zutrugen. Es heisst bei Pröhle^: „Die bürgerliche
politische Volksdichtung aus der zeit des siebenjährigen krieges tritt
nicht selten in der form der poetischen prosa auf. Mit ausge-
zeichnetem humor finden wir die kämpfe zwischen Friedrich und Maria
Theresia als dorfgeschichte aus dem dorfe Grossenhagen dargestelt.
Deutschland wird als krankes frauenzimmer abgemalt (!), dem eine
reihe von uneinigen ärzten an verschiedenen stellen zur ader lässt."
Ganz bestimte nachrichten gab Köhler schon über das Breslauer
werbegedicht. Zur ergänzung bringe ich über dasselbe noch die äusse-
rungen K. Janickes^, der auch ein andres stück, gleiclifals dem sieben-
jährigen kiiege angehörig, bespricht, welches einer an die von Köhler
berührten gedichte des 17. Jahrhunderts anklingenden Stimmung aus-
druck verleiht. „Das beruht auf altei' Überlieferung, die eroberung
einer Stadt mit dem werben um eine Jungfrau darzustellen. So klagt
die Stadt Breslau dem könig:
0 preussischer kriegheld, was thust du denn gedenken,
Dass du mich in die Lieb wilst ganz und gar versenken,
Für eine Jungfrau rein galt ich so lange zeit,
Es hat mich niemals noch ein heldenmut erbeut.
1) Friedrich der Grosse und die deutsche litteratur (Berlin 1872) s. 49 fg.
2) Das deutsche kriegslied. Eine littcrarhistorische studio (Berlin 1871) s. 37.
UM STÄDTE WERBEN 355
Nicht immer brin^j;! freien glück: schlimm ists, wenn ein mäch-
tiger nebenbuhler den schon sicher geghiubten besitz der geUebten uns i
wider entwindet. Darum seufzt der marschall von Contades: j
Ha lia ha! Ich ai'mcr mann,
Ach, was soll icli fangen an?
Hab eine Jungfrau mii* genommen,
Bin mit ihr ins ungliick k(»mmen —
Ha lia lia! Ich armer mann, I
Ach, was soll ich fangen an? ^
!
Minden, diese stolze magd, •
Nacli der ich so lang getracht',
Die hat dieser Ferdinande I
Abgejagt mir ganz mechante — |
Ha ha ha! Ich ainier mann, \
Ach, was soll ich fangen an?" '
Aus dem ende des Jahrhunderts gibt es ein verwantes, mir aber
nicht ganz zugänglich gewesenes „Lied auf die belagerung von Lan-
dau (sept. 1793), das mehrfacli reminiscenzen aus älteren liedern ver- !
räf'i. Die mir bekanten zwei Strophen enthalten freilich nichts dem- i
^ I
entsprechendes.
Der zeitlichen reihenfolge gemäss habe ich jezt auf die dramatische I
Verwertung der umkehrung unseres gedankens aufmerksam zu machen,
welche Schiller in Maria Stuart 2. aufzug 1. auftritt untei-nommen hat.
„Die fi-anzösische brautwerbung" bei der königin Elisabet wird daselbst
in einem sinbildlichen kriegsspiel geschildert, bei welchem 12 ritter '
derselben „die keusche festung der Schönheit" gegen den ansturm des
Verlangens, repräsentiert durch die cavaliere des herzogs von Anjou,
siegreich verteidigen. Düntzers kommentar^ entnehme ich, dass ver- ;
schiedene englische historiker hier Schiller eine volkommen ausgebil- |
dete vorläge bieten konten, von Zeitgenossen jener aufführung z. b. \
William Cambden im 1. teile seiner „Annales rerum Anglicarum et ■
Hibernicarum regnante Elizabetha" (1615) sowie der von diesem direkt
inspirierte de Thou (Tlmanus), „historianim sui temporis CXXY." Auch
Floegel berichtet in seiner stofi-eichen „Geschichte des grotesk-komi-
schen " ^ nach augenzeugen ähnliche einzelheiten über die festlichkeiten
1) Janicke a. a. o. s. 43.
2) Schillers Maria Stuart. Erläutert. (2. aufl. 1878) s. 136 fg. Düntzers hin-
weis s. 137 note 2, dass hier die umkehrung des Verhältnisses vorhege, war nur bei
den oben gegebenen ausführungen unbekaut.
3) In der neuen bearbeitung von Ebehng (4. aufl. Leipz. 1887) s. 272 und 266.
23*
35b FRÄNKEL
am damalii;-on britischen lioto, die „oiiuMi soltsaiiioii mytholog'ischon
anstrich" truiion. Während Avir nun zwar in Deutschland für dieselbe
zeit die darstelliing einer bela^eruni;' unter dvv ailegorie einer braut-
werbunü' naclizuweisen imstande sind, scheint es als ob wir auf ent*-
lischen\^ und dem dieses geistig so vielfach befruchtenden französischen
gebiete poetischer fornn^lhihhing jene anschauung wenigstens bis zur
mitte des lö. jahrhnnderts zurückverfolgen können. Indem ich die
zahlreichen ähnlichen aufführungen bei gelegenheit von hochzeiten und
anderen durch ausgedehnt(^ beiziehung der repräsentativen künste ver-
edelten festen- übergehe, führc^ icli nui" den mir bekanten ältesten fiill
unserer symbolisierung an. Er findet sich bei Engucrrand de Mon-
strelet. Chroniques"^ III, 101, wo die erzählung folgendes mitteilt. Als
Ludwig XL von Frankreich 14G3 in Tournay einzog, kam über dem tor
auf einer maschiiu^ die schönste Jungfrau der stadt herunter und wäh-
rend sie sich vor dem könige verneigte, lüftete sie ihr gewand am
busen, sodass ein daselbst liegendes künstliches herz sichtbar wurde.
Dasselbe spaltete sich und Hess eine grosse lilie aus gold emporsteigen,
welche das mädchen mit den werten überreichte: ,, Sire, so wie ich
eine jungfi-au bin, so auch diese stadt; denn noch nie ist sie erobert
worden, und nie hat sie sich gegen die könige von Frankreich empört:
es trägt nämlich jeder ein wohner unserer stadt eine lilie im herzen."
Dass hier derselbe grundgedanke vorschwebt, liegt auf der band; dass
er sich schon in den alten darstellungen des mitgeteilten Vorganges
findet, beweist die behandlung in der weitläufigen „Histoire de Lovys XL
roy de France: et des choses memorables advenves de son regne,
depuis Tan 1460 jusques ä 1483. Escritte par vn greffier de l'hostel
de ville de Paris. 1620." Meines erachtens liegt dieselbe anschauung
auch der repräsentation nackter Jungfrauen beim einzuge Ludwigs XL
1) Ycrwanten grundzug zeigt z. b. Das sohloss der beharlielikcit, eine mora-
lität aus dem ausgehenden 15. jahrliundert (vgl. Collier, History of engl. dram. poe-
tr\- II, 278).
2) Einige besonders fra])])antc beispiele seien genant. „Bei der vorniähluiig
der Isabella von Baiem mit könig Karl VI. sali man ein Zwischenspiel, das die
erobenmg von Troja darstelte" (Floegel - Ebeling a. a. o. s. 268), bei der Heinrichs IV.
mit Margarctha von Valois liatte man vor den Tuilerien 2 Schlösser (paradies und
hölle) gebaut, welche eine partei von littern unter dem könige von Navarra und eine
unter dem herzog von Anjou gegen einander schützen musten. Nachdem der erste
den lezteren besiegt, erfolgte das signal zur Pariser bluthochzeit (Kecreations histo-
riques I, 261 — 274). Vgl. auch Chri.stine de Pizan Vie de Charles V., HI eh. 41
(s. Koch, Leben und werke der Chr. d. P. , Goslar 1885, s. 61 fg.).
.3) Avec notes biogi*aphiques par Buchon. Paris 1836.
UM STÄDTK WEKUEN 357
in Paris 1461 zu gründe, von welcher F. Liebreclit Germania 33, 2-19
spricht.
Aber auch auf deutscheni budon ist diese unikehrung fürs 16. Jahr-
hundert gesicliei-t, wennschon leider die beiden lieder, welche ich (hifür
anfühlen will, nicht bestirnt datierbar sind. Doch scheinen sie mir
beide im 16. Jahrhundert entstanden, im 17. moditiziei-t und umgedicli-
tet zu sein. In der V(»rli(,';i^enden gestalt ist jedenfals die „bela-
gerung'^ älter, welche v. Ditfurth, 52 ungedruckte balhiden des Ki., 17.
und 18. Jahrhunderts (Stuttg. 1874) s. 14 fgg. mit der quellennotiz
(s. IX) „Altes geschr. liederbuch aus der gegend von Würzburg''
gedruckt hat. Der sehr geschickt gebaute — wie alle stücike dieses
stofkreises strophisch gegliederte — dialog lässt sich erst wie ein ein-
facher liebeszank an, als plötzlich, doch innerlich keineswegs unver-
mittelt (genau beim mittelsten veree!) das mädchen ihre scharfe replik
mit den werten:
Dass ein erbarmen möcht!
G'schwind kommen, eingenommen
Die veste ohn' reste:
Das wäre mir fein doli!
kurz abschneidet. Der so in seiner hofnung auf fiir'dliche Übergabe
getäuschte liebhaber geht jedoch ohne bangen darauf ein und erwidei't:
So muss es denn belagert seyn,
Wie klärlich ihr es also wMjlt:
Konstabier, stucken gross und klein
Ruckt her nun mit gewalt —
Ruckt her nun, ruckt her nun,
Ruckt her nun mit gewalt!
Lasst summen die Bommen^,
Stuck knallen und schallen,
Bresch muss geschossen seyn!
Den ausgang der belagerung erzählen die beiden übrigen Strophen mit
den reden des paares recht nett:
„ „Ach weh ! ich steh in grosser not.
Es stürmet auf mich alzusehr,
All meine schanzen seyn zum spott,
Der feind bedrangt mich schwer —
Bedrangt mich, bedrangt mich.
Der feind bedrangt mich schwer.
Ij Bonimc. f. tympanum, nd. biinge: Grimm, D. wb. LT, 236.
358 FRÄNKEL
Werd müssen schwer büssen,
Oder schlagen schamaden,
Die vestimg geben her/' "
„Was seh ich drüben auf dem türm?
Ein weisses fähndlein weht aldort.
Yictori schreit! Braucht's mehr kein stürm,
Man öfnet schon die ptbrt —
Man öfnet, man öfnet.
Man öfnet schon die pfort.
0 schönste, angenehmste,
Hie lieget besieget
Eur knecht von einem wort!
Die zweite nummer, welche in betracht komt, ist ein „galantes
dreissig;i ähriges kriegslied" in Dos knaben wunderhorn ^II, 344, leider
auch in der von L. Erk besorgten neuausgabe desselben ^ ohne (Quel-
lenangabe gelassen und nicht eimnal ungefähr datiert.
Die ersten beiden Strophen lauten wie folgt:
Amor, erheb dich edler held!
Begebe dich mit mir ins feld,
Frisch auf!
Mein liebchen ist gerüst!
Als ob sie mit mir streiten müsst,
Sie hat nichts guts im sinn.
Jezt zieh ich wider die ins feld
Die mir die liebst ist in der Welt,
Frisch auf!
Gott weiss, ich bin bereit
^lit ihr zu leben ohne streit,
Wenn sie nur selber wolt.
Deutlichsten ausdruck gewint das bild aber erst in der 4. Strophe
in den worten:
Ihr leib von gott war schön bereit
Die festung ist, darum ich streit.
Frisch auf!
Ihr zarte brüstelein
1) L. Achims von Arnim sämtliche werke. Neue ausg. 1857, 12, 359.
UM STÄDTE WERBEN 359
Zwei mächtige basteien sein^,
Worauf sie sicli verlässt.
Die folgenden strophen führen die bewafnung der geliebten im
einzelnen aus, doch in einem stile, welclier die niederschrift des gedichts
geraume zeit vor dem aufkommen der widerlichen manier der jüngeren
Schlesier zur gewissheit maclit. Dabei ist diese kleinmalerei nicht
übertrieben realistisch, hält sich namentlich — in jener periode beson-
ders anerkennenswert — von offenen oder verhülten obscönitäten fern
und entbehrt docli nicht eines gewissen schalkhaften humors.
Str. 5: Ihr fähnlein ist der Übermut,
Damit sie mich verachten tut.
Frisch auf!
Ihr zarter roter mund
Ist spiess und schwert, so mich verwundt.
Ja öfters bis in tod.
Str. 6: Trabanten, fussknecht, reiterei
Sind ungnad, falschheit, tyrannei.
Frisch auf!
Ihr klare äugelein.
Die sind zwei feuerkügelein,
Damit sie mich verblendt.
Str. 7: So gott mir gönnet glück und preis,
Dass ich das fähnlein niederreiss,
Frisch auf!
Ich hoff' damit zu sieg'n
Herzlieb, du musst doch unterlieg'n
Und geben mir den preis.
Str. 9: Denn nimmer hast du die gewalt,
Dass sich dein list gen mir erhalt,
Frisch auf!
Geliebt dir frömmigkeit,
Kunst, tugond, ehr, so wird der streit
Diu'ch mich gewomien sein.
Zum lezten male tritt das bild in der vorlezten , 11. strophe, hervor,
wo der liebhaber warnend ruft:
1) Dieser vergleich, vielleicht durch eine falsche deutung von „brustvvehr''
entstanden, findet sich auch sonst; vgl. Köhler a. a. o. s. 236 str. 8 bastionen. Vgl.
Tiaoiui als schifswand.
360 FRÄNKEL
Ein wenig denke nach, mein schätz,
Eh du kernst auf den musterplatz,
0 weh!
Kehren wir nach dieser längeren abscliweifung, zu welcher uns
die herangezogene Schillersche scene veranlassung bot, zu der zeitlichen
Ordnung der Zeugnisse zurück.
Von den vier grossen liedmeistern unter der dichterschaar der
frei hei tskriege liel Th. Körner viel zu früh unter feindlichen kugeln,
um schon die belagerung zu erobernder städte ins äuge fassen zu kön-
nen, wahrend E. M. Arndt sich bald seiner knorrigen leidenschaft, bald
seinem angeborenen hausbackenen und volksmassig trivialen tone mit
der neigung zu einer gewissen algemeinheit und sprichwortähnlichen
redeweise überliess. Daher finden sich nur bei Schenkendorf und bei
Rückert belege für das ,,um städte werben/' Yon den erzeugnissen
des ei*steren komt für die algemeinere fassung des gedankens besonders
das weihelied „Seiner herrin" (1814) in betracht, wo er sein herz „in
liebesglut und andacht" für sein „heiliges", sein „deutsches reich"
entbrennen lässt^ Bei gegebener gelegenheit arbeitet seine phantasie
auf dem boden der oben für das Strassburg des 17. Jahrhunderts vor-
geführten anschauung, z. b. wenn er in seinem von echt patriotischer
begeisterung getragenen gedichte „Die deutschen städte" strophe 32
das verlorene Strassburg mit folgenden werten apostrophiert:
Dann wollen wir erlösen
Die Schwester fromm und fein
Aus der gewalt der bösen,
Die starke bürg am Rhein.
Meist aber nimt das grosse gesamtvaterland — wie ja auch im
16. Jahrhundert öfters — die stelle ein, welche sonst der einzelnen
Stadt angewiesen ist-. Xachdem der dichter gefragt hat, wie lange
„Der stuhl Karls des Grossen" noch leer stehen solle, ruft er aus:
Ach, die Sehnsucht wird so laut!
Welt ihr keinen kaiser küren?
1) Vgl. F. J. Scherer, Die kaiseridee des deutschen volkes in liedern seiner
dichter seit dem jähre 1806: Jahresbericht des Laurentianum Arnsberg 1870 s. XVII.
2) Eine verwante stimmuDg atmen die verse:
Wer dich nur schauet, muss entbrennen
In liebesglut imd andacht gleich;
So lass mich deinen namen nennen,
Mein heiliges, mein deutsches reich!
Eine Übertragung aufs religiöse gebiet bietet sein wcihnachtslied „Brich an du" str. 2.
UM blÄDTK WJ-JiBEN 8G1
Kumt kein ritter heimzufilhren
Deutscliland die verlassene braut? ^
•
Schenkendorfs genösse und mitstreiter, Friedrich Rüekert, hat diese
vei'se richtig als besonders charakteristich für die tendenz seiner lyrik
in die knappen Zeilen seines nachrufs verwoben, wo es heisst:
Das ist der Schenkendorf, der Max,
Der sang von reich und kaiser,
Dei- Hess die Sehnsucht rufen laut,
Dass Deutscldand ihn, die verlassene braut, ^
Nent ihren kaiserherold.
Auf Rückerts eigenes gediclit ,, Brauttanz der stadt Paris'' hat schon
Köhler s. 250 als auf das einzige ihm bekante dieser art aus dem
19. Jahrhundert hingewiesen. Zur ergänzung seiner angaben setze irh
die bezeichnendste stelle nebst dem bei Köhler übei-gangenen fund-
ort her:
"Wir mit hunderttausend lanzen
Wollen dir den brauttanz tanzen.
Kückert, Gedichte, auswahl von 1841 s. 153.
Unsere weiteren nachtrage betreffen poetische ausser ungen einer
zeit, welche erst nach Köhlers veröftentlichung liegt, nämlich des
deutsch -französischen krieges-. Für unsere samlung quilt in der rei-
chen liederpoesie dieses grossen Jahres ein so unerschöpflicher born,
dass ich mich auf eine auswahl des bemerkensw^ertesten beschrän-
ken muss.
Ein stilvolles poem W. Jensens eröfne den reigen um deswillen,
weil es dieselbe allegorie zu gründe legt, die wir oben bei Kückert
kennen lernten. In diesem, welches in der von Franz Lipperheide
herausgegebenen und verlegten samlung „Lieder zu schütz und trutz''
lieferung 11 s. 65 abgedruckt ist, stehen die scharfen werte:
Wenn nun der eisenring sich schliesst rund um die zweimillionenstadt,
Lutetia, du lautes kind Lätitias, wen klagst du an?
Die lüge, die am busen du genährt, der du halleluja
An tausend von altären sangst — sie klage an Lutetia!
1) Gedichte, Stuttg. und Tüb. 1815, s. 184.
2) Vgl. Obermann, Die kricgsdichtuug der jähre 1870 und 1871. Progr. Zeitz
1884, s. 5 fg., Ivfg. , 21 fg.; zu den ähnhchen regungen vor 1870 s. Koch, Die sage
vom kaiser Friedrich, Progr. Grimma 1880, s. 18 — 31.
362 FEÄNKEL
Und klage an den bohlen prunk, den deiner eitelkeit du dankst,
Und klage an der ^vollust tiiink, den du zur tiefsten liefe trankst,
Die feilheit, die dein mark entnervt, die sieh /.um götzenbild ersah
Die trinität: gold, maeht und rang — sie klage an, Lutetia!
Widerum haftete das nationale interesse an Strassburg\ widerum
mischte sich ein schmerzliches gefühl in den anruf, aber diesmal lei-
tete die klage doch ein anderer ton. A. a. o. 10, s. 15 heisst es:
Yergiss der tage, da um bürg und wall
Des Siegers schaaren, dich bedrängend, lagen;
Yergiss — und war's auch schwer — der wunden all',
Die, ach, der sieger schmerzlich dir geschlagen,
Da er, den Wälschen das geraubte gut
Entreissend. um dich warb mit seinem blut.
Im wesentlichen fesselt aber die widerherstellung des reiches der
alten kaiserherlichkeit die Scänger und so bewegt sich die bewusste
pei^onihkatiou meist in demselben kreise wde bei Schenkendoif. Wil-
helm Jensens gedankenreichtnm fand in der alten prophezeiung
„Es wird ein kaiser
Auf's neu' um Germania fi-ei'n,
Wenn zum leztenmale die Türken
Ihre rosse tränken im Rhein!"
das dankbare motiv zu folgender in seiner weise derb pointierten aus-
f ührung - :
Gen Osten mit schw^irrender geissei
Treibt die Völker ein Tamerlan,
Und siehe, an seine fersen.
Da heften die Turkos sich an.
So winket erfüll ung dem werte —
Schon blitzen die Schwerter zum streich,
Zimi werben schon reitet der kaiser!
Steig auf, du heiliges reich!
und ebenso wird in die neubelebte volkssage vom alten kaiser Barba-
rossa im Kyffhäuser zurückgegriffen, wenn ein dichter ^ denselben seine
dienerschaft anrufen lässt:
1) Ein sachkundiger, .Janicke (Das deutsche kriegshed usw.) s. 96, sagt: ,,Ihr,
der alten reichsstadt mit ihrem ehnvürdigen münster und grossen historischen erin-
nerungen, wante sich die dichtung mit ausgesuchter Vorliebe zu."
2) Lieder aus dem jähre 1870 (Berlin, Lipperheide 1871) s. 12. Über den zu
gründe liegenden Volksglauben s. Koch a. a. 0. s. 17 anm. 39.
3) Die angezogene steUe ist mir nur aus Janicke s. 104 bekant.
UM STÄDTE WKliliüN 363
Auf, Zwerge, legt mii- den purpur um,
Und helft meinen bart mir stutzen,
Zu Deutschlands hochzeitsfeier niuss
Der greise kaiser sich putzen. —
Damit ist denn endgiltig die frage beantwortet worden, welche Ema-
nuel Geibel^ ausgerufen hatte:
Deutschland, die schön geschmückte braut.
Schon schläft sie leis' und leiser.
Wann weckst du sie mit trompetenlaut,
Wann führst du sie heim, mein kaiser?
Wie tief aber dieser sinnige vergleich in das bewustsein des
deutschen dichtergemütes eingedrungen war, mögen zwei proben bewei-
sen, welche ich Uhland und SchefPel, diesen beiden berufensten Ver-
tretern der neueren volkstümlichen kunstdichtung, entnehme. In dem
von A. von Keller, Uhland als dramatiker (1877) herausgegebenen frag-
ment Konradin ruft (s. 325) der titelheld, welcher ausgezogen ist, um
sein väterliches erbe widerzuerobern, und eben an der seeküste vor
Neapel gelandet:
Apulscher boden, freudig sei gegrüsst!
0 erde, die du dem gelandeten
Noch unterm fiisse wankst, ich fasse dich
Inbrünstig wie der bräutigam die braut.
Auch Scheffel fand keinen passenderen ausdruck für das innige Ver-
hältnis, welches ihn zeit seines lebens mit der alten musenstadt am
Neckar verband als den sinbildlichen vergleich mit der heiligsten Ver-
bindung zweier menschen, wenn er in dem bekanten studentenliede
Alt Heidelberg du feine ^ str. 3 und 4 natur und herz in diesem hoch-
gefühle zusammenstimmen lasst:
Und komt aus lindem süden
Der frühling übers land.
So webt er dir aus bluten
Ein schimmernd brautgewand.
1) Heroldsrafe - (1871) s. 44 und hieraus Gesammelte werke (1883) 11, 12 (als
„Lied des Alten im Bart"), mit verschiedenen abweichungen bei Enshn, Die lieder-
poesie des deutsch -französischen kriegs (Berl. 1871) s. 146. Über Geibels verhältois
zu diesem gedanken s. Strodtmann, Dichtei-profile I, 85 fgg. Vgl. Koch a.a.O. s. 28
anm. 73.
2) Der trompeter von Säkkingen (4. und folgende auflagen) s. 39.
304 FEÄNKEL, TM STÄDTE WERBEN
Auch mir stehst du gescluiebeu
Ins herz gleich einer braut.
Es klingt Avie junges lieben
Dein nanie mir so traut.
Dass aber das alte gleichnis bis mitten in unsere tage hinein
fortlebt, beweisen die — freilich weder inhaltlich noch formell achtung-
gebietenden — vei-se, mit denen das ,, Neue Münchener tagblatt'' vom
30. September 1888 sein „Wilkommen kaiser Wilhelm 11/' darbrachte.
Ich hebe hier nur die 'verse hervor, mit denen „Monachia" aufgerufen
wurde, sich zum einzuge des friedlichen eroberers würdig vorzu-
bereiten :
Wie die braut sollst du dich schmücken,
Den ei*sehnten 7a\ empfangen,
Und dein schöner leib soll herlich
Wie im diamantkleid prangen.
Mit dieser versöhnlichen Verwendung des vielgebrauchten gedan-
kens schliesse icli meine unter den bänden unerwartet angeschwollene
nachlese zu K. Kühlers reichhaltigen mitteilungen. Wenn ich es unter-
liess, eine volkommen sachgemässe anordnung zu versuchen, so hat
dies seine Ursache einmal in der nicht überall möglichen durchführ-
barkeit einer solchen: andrerseits brachte mich von einer kurz umris-
senen entwickelungsgeschichte des Stoffes die liofnung ab, dass durch
die hier gegebene anregung andere über ausgiebigere hilfsmittel ver-
fügende zum sammeln von belegen dieser für die litteratiu'- und kul-
turgeschichte wie für die poetik interessanten ausdrucksweise, welche
fast auf allen stufen volkstümlichen und künstlerischen dichtungsstils
nachweisbar ist, veranlasst werden mögen. Der der deutschen lyrik
eigentümliche zug sinlicher verniensclilichung lebloser gegenstände prägt
sich hier besonders deutlich aus.
LEirZKi, LUDWIG FRÄJsKEL.
LITTEEATUE.
Edda Snorra Sturlusonar. Turnus tertius. Sumptibus legati arnamag-
nfeani. Havniae 1880 — 87 CXIX, 870 ss. 8. Acccdunt tabulae lithograpliicae
quinque. 10 kr. = 11,28 m.
Die grosse arnamagnäische ausgäbe der Snorra-Edda liegt jezt vollendet
vor. Vom dritten bände, der die arbeit abschliessen solte, erschien die ei'ste hälfle
im jähre 1880 kurz nach Jon Sigurdssons tode, der in den lezten jähren seines lebens
MOGK, ÜBER SN. EDDA HI 365
dem werke sich nicht in dem masse widmen kouto, dass er es noch hätte zu einem
ihn befriedigenden ahschluss bringen kitnnen. Finnur Jonsson hat das werk im geiste
seiner Vorgänger und mit Sigurdssons vorarljciten in lobenswert conservativer weise
vollendet. Wol haben sich seit dem ei'scheiuen des ersten liandcs die ansichten
über die Edda, namentlich über die handschriften und deren wert, volstilndig ver-
schoben, allein die älteren bände waren auf den alt(>n anschauungen aufgebaut, beim
texte war der cod. reg. zu gründe gelegt und in diesem sinne mustc auch der
schluss abgefasst sein; es galt einen alten bau zu vollenden, nicht aber diesen zu
modernisieren. Deshalb mustc F. J(jnsson von seinem Standpunkte aus von den
neueren Untersuchungen abstand nehmen.
Als in der mitte der vierziger jähre die arnamaguäische commission den
beschluss fasste, die Snorra-Edda herauszugeben, übertrug sie die arbeit Jon Sigurds-
son und Sveinbjörn Egilsson; jenem fiel die aufgäbe zu, das handschriftliche material
zu sammeln und zu ordnen, diesem, eine lateinische Übersetzung anzufertigen und
einen kommentar zu den skaldenstrophen herzustellen. Es waren noch nicht einmal
alle membrauen fragmento bekant, als Sigurdsson an seine aufgäbe gieng, denn in
derselben versamlung. in der über den fertigen ersten band des werkes berichtet
wird, wird zmn ersten male das neugefuudene fragment 1 C/i fol. erwähnt, das doch
für die Eddakritik so wichtig ist (Ant. Tidsk. 1846/48 s. 131. 105). Eine Unter-
suchung über das haudschriftenverhältnis, wie wir sie heutzutage verlangen, war der
ausgäbe nicht vorangegangen: man legte den ältesten und relativ volständigsten codex
dei-selben zu gründe. Auf dieser basis solte das ganze werk in zwei starken oktav-
bänden erscheinen: der erste solte die eigentliche Edda nach dem cod. reg. mit latei-
nischer Übersetzung und kritischem apparate, der zweite die grammatischen abhand-
lungen, abdruck der Ups. handschrift, das fragment AM. 748. 4**, den commentar der
visur und was sonst noch im engsten Zusammenhang mit der Edda steht, enthalten.
Schon 1848 konte der erste band ei^scheinen. Einige jähre später, im fcbruar 1851, war
auch der zweite ziemKch vollendet, der im folgenden jähre erschien. Untei"dcssen
hatte sich herausgestelt, dass das angehäufte material noch einen dritten erheische
(Ant. Tidskr. 1849/51 s. 101): er solte den Egüssonschen kommentar, register und
einleitung bringen und in 2 — 3 jähren vollendet sein (a. a. o. s. 217). Die aufnähme
des Skaldatal verlangte jedoch eingehende Untersuchungen über die einzelnen dich-
ter, andere interesseu der arnamagnäanischen commission traten in den Vordergrund.
J. Sigui'dssou, auf dessen schultern jezt die arbeit allein lag, war auf anderen gebie-
ten in ansprach genommen, und so verschob sich denn die Vollendung von jähr
ZU jähr, und als Sigurdsson im dezember 1879 starb, war das Skaldatal erst zum
kleinsten teil (bis Hallfred) in der ausfiihrung vollendet und gedruckt. Dieser teil
wui-de als halbband mit fünf vorzüglichen facsimilia 1880 von der araamagn. com-
mission herausgegeben. In den folgenden jähren hat die Eddaforschung gewal-
tige fortschiitte gemacht: der vernachlässigle Upsalaer codex ist als hausbuch der
Snori-ischen familie anerkant und dadiu'ch das ganze handschriftenverhältnis umge-
kehrt worden, Hiittatal ist in neuerer besserer gestalt erschienen, Gudmundr I^or-
laksson hat in sorgfältig gewissenhafter, Gudbrandr Vigfusson in leichtfertig genialer
weise der skaldendichtung eine geschichte geschaffen. Soweit es angieng hat nun
Finnur Jonsson mit benutzimg der neueren arbeiten diesen faden zu ende gesi)on-
nen: er hat das Skaldatal vollendet, eine genaue beschreibung und Zusammenstellung
der handschiiften als präfatio gegeben und durch den index generalis die benutzung
der Snorra Edda ungleich gegen früher erleichtert. Es ist schwer, einen alten, ja
360 MOGK
vei'alteten bau nach der vorschlaft anerkauter meister zu vollenden; stets wird ein-
sichtslose kritik. die nicht auf dem gegebenen weiter zu denken vermag, an dem
schlusssteiu zu mäkeln haben.
Der Inhalt des jüngst vollendeten 3. bandes ist mannigfaltig: in der einleiten-
den aufziüilung der handschriften der Sn. Edda enthält er einen beitrag zur tätigkeit
isländischer gelehi-samkeit namentlich im 17. jalirliuudert, durch die bclebung des
toten Ski'Jdatal einen wichtigen und bedeutenden beitrag zur norwegisch -isländischen
littoratiu'geschichte , in dem Index generalis ein nicht zu unterschätzendos hilfsmittel
bei mythologischen und kulturhistorischen arbeiten, in der auflösung der skalden-
strophen hilfsmittel zum Verständnis einer reihe schwieriger skaldenstellen. Schon
oft war ich genötigt, das buch zur band zu nehmen und um rat zu fi'agen, und ich
gestehe unumwunden zu. dass ich es fast nui* mit dem gefühle des dankes gegen
die Verfasser aus den bänden gelegt habe. Dass ich in vielen punkten anderer
ansieht bin, kann diesen dank nicht schmälern: das ganze werk ist der boden, auf
dem allein alle neueren ai'beiten über die Sn. Edda entstehen konten.
Um die bedeutung und den wert der Snorra Edda zu verstehen, ist es nötig,
sich in die zeit zu versetzen, in welcher das werk entstanden ist. Es darf wol kei-
nem zweifei mehr unterliegen, dass dasselbe zu Snorris zeit und zum grössteu teil
von diesem selbst aufgezeichnet, dass also seine entstehungszeit die erste hälfte des
13. jalirhunderts ist. Der ganze norden war christKch; die alte skaldendichtung war
im 12. jahrhimdert in verfall geraten und in den gedächten der bedeutendsten dich-
ter wie des Bjarni Kolbeinsson weht schon ein anderer zug. Schon hatte man begon-
nen in den nafna{)ului' dem gedäciitnisse unter die arme zu greifen, um das Ver-
ständnis für die alten weisen aufzufrischen, denn dieses fieng immer mehr an zu
sinken und die lebendigen kenningar der alten skalden waren zum nicht geringen
teil unverständliche phrase geworden, wie sich überhaupt ein almähhches schwinden
der alten kenningar aus dem kreise heidnischer mythen und nordischer germanischer
heldensage wahrnehmen lässt. In solcher zeit trat Snorri auf, herangebildet auf dem
gehöfte zu Oddi in der historischen schule des alten Sigmund, von haus aus eine
konservative natur, ein kritisch genialer geist, der den verfall der alten dichtung
und seine Ursachen wol erkante. Schon in früher Jugend befasste er sich mit dich-
terischen versuchen, mehr nachahmend, als frei schaffend, doch über alles nach-
denkend, alles erwägend. Da mag ihm dann manches aus alter göttervorstellung
und sage dunkel gewesen sein, und so kam er dazu alles zu sammeln, was er zum
vei"ständnis der alten dichtung auftreiben konte, um dadurch den Zeitgenossen wider
Verständnis für die oft gebrauchten leeren worte und weisen zu verschaffen; er
fühlte, dass nur auf diese weise eine neubelebung der dichtkunst möglich sei, und
so entstand der entwurf seines handbuches für skalden, seine Edda, d. h. poetik,
wie schon P. E. Müller (Über die ächtheit der Asenlehre s. 70) u. a. und in jüngster
zeit vor allen K. Gislason (Aarb. 1884 s'. 143 fgg.) das wort richtig gedeutet haben.
Snorri mag dasselbe zunächst für seine Umgebung bestirnt haben, der er ja jedei'zeit
geistiger ratgeber und beistand war. Und dass seine saat nicht auf unfruchtbaren
boden fiel, zeigt vor allem sein viel schaffender neffe Sturla f*6rdarson, dessen dich-
terische %'ieLseitigkeit sich ebensowenig ohne Snorris theoretische werke begreifen
lässt wie Goethes frühzeit ohne kentnis der stürm- imd drangperiode. Sturlas
gedichte sind der praktische erfolg von Snorris Edda. Diese tatsache erkanten die
Zeitgenossen ungleich klarer als heute unsere gelehrten die bedeutung der Edda
verstehen. Deslialb arbeitete man sie zu einem systematischen handbuchc um, das
ÜBER SN. EDDA IH 367
nach dem suhjektiveu ermessen der einzclnon bearbeiter von der vorläge wegliess
oder neues, ergänzendes hinzufügte. So liabon wir eigentlich fast so viel Edden,
wie wir haudschriften haben. Nur legte man nicht Suorris entwurf zu gründe,
sondern das von einem seiner schüler ausgearljeitete werk. Dieses blieb lange zeit
auf Island der kanon der dichter, wie die kenningai- Eddu regia, Eddu listar
u.dgl. (Cpb. I, XXVI fg.) zeigen. Zwischen dem Snorrischen original und dem über-
arbeiteten texte ist aber ein bedeutender unterschied. Auch nicht {innäliernd besass
der Verfasser des lezteren den kritischen scharfen geist Snorris. Das werk erhielt
zwar äusserlich rundung, aber innerlich wurde es verwässert, auseinandergerissen,
an vielen stellen mis verstanden. Durch aufdeckung dieser tatsache allein ist es mög-
lich, die geschichte der Edda und ihre Überlieferung zu verstehen. Zum glück
genügen die erhaltenen handschrifteu , dass w^r die ganze entwicklung klar verfolgen
können. Snorris entwurf ist uns ja wenn auch in einer flüchtigen, oft sinlosen
abschrift erhalten; es ist dies die Ups. handschrift der Delag. samlung nr. 11, die
mit ausnähme des erweiterten skaldatals sich blatt für blatt auf Siiorri zurückführen
lässt. Die Überarbeitungen, wie sie namentlich im cod. AVonn. (All. 242 fg.) und
cod. reg. (2367. 4°) erhalten sind, haben nur secundären wert, die nicht selten Snor-
ris klarer denkungsweise mythologischen und sachlichen unsinn unterschieben, den
Avir freilich selbst in gelehrten arbeiten noch heutzutage nicht selten als lauteres
gold altgermanischen götterglaubens aufgetischt finden. Diese tatsachen in der
geschichte der Eddaüberlieferung sind nmi, wie schon in Rasks ausgäbe, auch in
der arnamagn. geradezu auf den köpf gestelt: man gab die jüngere Überarbeitung
als ursprüngliche Edda heraus und druckte nur, mehr des materials als des wertes
wegen, das eigentliche werk als ein verdorbenes und verschnittenes litteral ab. An
diesem von Egilsson und Sigurdsson vorgeschriebenen wenn auch falschen wege
Hess sich nichts ändern. Dagegen w\nr zu erwarten, dass F. Jonsson vielleicht anr
schluss seiner einleitung betrefs der handschrifteu entweder über das neuerwiesene
redaktions Verhältnis der Edden kurz berichtete oder dies widerlegte und die alte auf-
fassung als die richtige erhärtete. Von keiner seite hat sich bis heute gegen die
von MüUenhoff und mir verteidigte ansieht Widerspruch erhoben; ja sie darf wol
jezt von allen als tatsache angesehen werden, die in eddischen dingen urteil und
kentnisse besitzen. Statt dessen lässt sich F. Jonsson auf das Verhältnis der hand-
schrifteu und redaktionen unter einander überhaupt mcht ein; er berichtet über die
geschichte der einzelnen handschrifteu, gibt nach bekanten mustern ein Verzeichnis,
wie die einzelnen laute in jedem codex, namentlich im reg., widergegeben wer-
den imd fügt dazu ein algemeines urteil über die handschrift, aus dem wir gerade
soviel erfahren, wie wir schon nach erscheinen des zweiten bandes wüsten. So
heisst es über den cod. reg., über dessen geschichte wir manchen neuen und schö-
nen aufschluss erhalten (s. XLV): „Quamquam codex variis ex causis reprehendi
potest, tarnen pretiosissimus et summa reverentia dignus"; es folgt darauf, wie er
allein den GrottasQugr, die Jomsvikingadrapa des Bjami Kolbeinsson, das Malshutta-
kvaedi und noch vieles andere enthalte. Die Jomsvikingadrapa und das Malshätta-
kvsedi sind anhängsei, die mit der Edda überhaupt nichts zu tun haben; vom Grot-
tasQngr hat die dem reg. verwante aber entschieden bessere handschrift AM. 748. 4" ^
nur die erste vlsa; das ganze gedieht ist also nur- vom schi'eiber des reg. aufge-
1) In der ausgäbe als A3I. I. aß. fol. bezeichnet, das nach der neixordnung der arnamagn. mss.
auf ilon richtigen platz gekommen ist (Kalund. Kattdog over den arnam. handski-s. I. h. s. ü).
368 MOüK
nommen worden; die zusätze, die aber soust der reg. hat. wie der ganze abschnitt
aus der Xibelungensage u. dgl. . erweisen sich bei nur obei-fUichlicher prüfung bald
als späterer Zuwachs. So spricht vom eddischen stand[»unkte aus die fülle seines
iuhalts nicht für, sondern gegen die gute der handschrift. — Reiner und ursprüng-
licher, wenn auch jünger, steht in dieser beziehung der cod. AVorm. da. Über diese
handschrift fält F. Jousson überhaupt kein urteil, obgleich dieselbe von einer reihe
nordischer gelehrten als die beste bezeichnet wird (vgl. u. a. Vigfüsson Sturl. I, LXXXI.
Opb. T. XLIV). Es wäre demnach nicht nur dieses, sondern auch ein Verzeichnis
der stellen erwünscht gewesen, die in der handschrift vom cod. reg. abweichen,
sich aber nicht in der ed. AM. finden. Es mag ein solches hier folgen; wenn
ich dabei auch rein graphische abweichungen mit verzeichne, so sollen diese zur
Charakterisierung der Schreibweise des cod. dienen. Ich lege dabei die ed. AM. zu
gnmde.
AM. 43: frrärkgha: — IO9 randlegha. — 14, hoß. — 16^ Imgh. — 16-
dagh. — 20" ?)>atm(hm Icghrm. — 24^ draläix. — 26, fehlt „godr ok." — 28*
sem ur h. — 30* / not'eg ol: sn'ßiod i danmorl' ok saxlsind. — 34^ i mot ; —
34* f. srd; — 36'- huat ; — 42'' fylldi\; — 46' j5a vox rndiv rinsfri hendi; —
46" sfcifiayta; — 48, steht rpp im cod.; — öO""' gafu stad; — SO^. krm\lott; —
.52. mennermT\ — 54' er kollod er; — 54* « ioräv; — pi, hada, Pada fast stets
im cod.; dsgl. hat mikill in den synkopierten formen ck, im dat. sg. und pl. myekhi,
myekhnn: — 78»- er himmhiorg heita; — 82'° vordin\i; — 82" f. ek; — 82'«
rindliö (d. i. VindHoui oder Mndlion); — 84^ heriarm; — 86^ alfodr; — 86,
af Pe'wf aibrrd (so hat die handschiift wie auch das von ihr abgeschriebene fragm.
AM. 756 zeigt); — 88- hat im cod. fil sinar gestanden, wie auch AM. 756 hat; —
92* of giorfa sali; — 98" i tnvnn haiis; — 106^ preskolldr; — 110- pa segir; —
112' hat "W ui'spninglich skvlo rer mega: mega ist zwar durchstrichen, aber
erst von späterer band. Daher steht es in AM. 756; — 112 ^~* Pa leggi (Binn
ydar; — 112^ i fintmimn; — 116^ oUfqdr (nicht allfödr, was in W gar rücht vor-
komt); — 116'- und 130'* dyra; — 118'" taldar (hätte der Schreiber taldar schrei-
ben wollen, so hätte er talldar geschrieben; auch 120 '^ hat die handschrift taldar
wie ü und r); — 122* Pa segir freyr; — 124, inamißqldin\i.; 130 5 mannfioläi ; —
124^, at tri ma;— 124, at aptni; — 128« alfodr;— LSO" pa segir har;— 130'^
fn'orrm frgrm; — 136 9 sjnidat sem rant var; — 136, gallt /^ann pa; — 138^
loff, wie überhaupt fa.st stets für pt : ft steht; so gafti, eftra 142 ^ u. dgl.; — 140'^
saJ{\Y\ — 140'" ramfmr; — 142- e/" ^er kimnvt; — 142,, so7i hon da; — 142 9
draläix; — 142. taldi: — 146" raknar sa ma^r stoä vpp skiott; — 146'" *
braut; — 146,, lagda a hak ser, gekk fyr rm daginn ok steeg helld storv; —
148* larsar; — 148'° drnar; — 148'" tidt; — 148^ vm vangaim; — 148, fvgl-
ar; — 1.50, framan rtl mids dags; — I5O2 milliom. spalanna; — 152^ Pvi ruest
komv; — 152'" moti L; ebenso 154^; — 1542 Prreyta vni drykkjr; — 156' ok
sva; — 156* pikki; — 156'* cei; — 156, erendit; — 156. stikill; — 156^ en
hinr fyrra sinnt; — 158^ f. vm hanti; — 158^ fangii^ — 160 ,„ ok baä; — I6O5
Pegar er dagadi; — 162' brott; — 162- hrerfireg; — 162" vsmmd; — 162^^ pv
hefdw: — 162, f. ok; — 162, pialra (wie meist); — 164,o uoi-dit; — 166, hä-
semd; — \i^^ porr brott; — 168 '^ ^il .s^o/ar; — 172 ^ Pa segir haar; — 172^
drrpymdi ; — 174^ at ril risan; — 180'- erendi sin; — 180'*./?oti segir .sva; —
182* i lagsliki: — 182'° Enn kastadi; — 182'* skildi ; — 182, nidr millvm
steimi; — 184, f. /«; — 1842 landskiapta ; — 186" swAir; — 186'" Imldvm^ —
ÜBER SN. KDDA ITl 860
188^^ ok er liinu nräri hiopfr a iontr en hinn efri vid Jiimin; — 190*^ fenrisrlf
(so auch AM. 750); — 192„ ed alldna tre; — 194=' bogiut in W mit Hnjntr wie
bei kapiteLanfängeu eine neue zeile, gerade so wie iu 750 und auch in r. Des-
gleiclien lässt der cod. für die initiale freien räum. Auch die folgenden visuranfiinge
sind in W und 750 durcli majuskcl hervorgehoben, was sonst in der liandsdirift
nicht der fall ist; — 198,. ßa si-arav pridi; — 208" Ißruw (nui- liier und 258., p
im inlaut in der hs.); — 208,; ok ammt sinn; — 210' ho()rna; — 210^ grioi; —
212* a p'mg; — 212' pinslom; — 212^ hnrddr; — 212'=', 212^ msir; — 212,, /in
h()Y(jina, — 2I83 Btrn/i .segir; — 220^ bqlverkr; — 22O3 at P(Ar sk\lv frcista; —
222* f. '/; — 222» kann ich auch in W nur lia lesen; — 222,, f. pd; — 224'^ ord-
fiolda; — 224'" hofrtskaaldin; — 220 •' of ragnarqkk; — 226'' hofdi en drcfna; —
22O4 Akilles; — 220 j at Po arkrpori'; — 228' v'\^ ragnarqkk; — 22S ^^ gvdauna; —
von 228^ ektore Pa . . . bis 228 ^ ... hann drap konimginn ist von einem anderen
Schreiber geschrieben, der durchweg die langen vokale durch accent bezeichnet; —
228'" dla; — 228g vdrgr; — 2283 pijrmdi; — 228 ^ brott; — 232'" haiKja-
gväs; — 234^0 vm k.; — 234 ^ f. enn; — 2883 mms, was 750 als mins gelesen
hat; — 240'^ frceyiu d. i. freyju; — 240 ^ gvd; — 244' pcafdan ist nach der
Schreibweise des cod. pefdan (vgl, AM. 757), nicht pafdan; — 240 3 V77i kva-d; —
2489 Eisar vagr (nicht vaagr/); — 248 5 f. sem hann kvad; — 250 ^^ os; —
25O3 ged fiardar; — 252- f. svd und kvad; — 252'" f. nti; — 252" f. segir; —
254" rmgaid; — 254 '^^ hvasslegvm ; — 258^' niox; — 258'=" nur .• ok enn; —
258., skeyptiY starkepi; — 262" gvdrvn; — 262^ her gete pess er skadi; — 202, j of
gieddun hefr; — 262g //ann er k.; — 262., grUinbvsta; — 264g eda vord gada; —
266 1^ ok bana ok dolg; — 200^- gvdanna; — 200^^ tofta; — 2^H^ iqrmvngand%; —
208** geirradar; — 268 ^^ gvdanna; — 208 g faarbavta mqg vdari ; — 270 2 frfßiv; —
272' pa segii' hrugnii-; — 272g hlceypdi; — 272^ von af por er rvngmv leti; —
272.2 ^* griotvna go'rda; — 274» V7n qxl; — 270^ sva at fretr h&ns lagv a halsi
Äans; — 270^0 W hat: enn cc\g\ syni sinvm; — 270 ^ brott; — 278^ ok giordi
stiörnv af; — 284» vert pat; — 284^-^ flavg (BÜt sinn; — 284^* s«A-ir; — 284'"
vm glvgg; — 284^« leit moti; — 284^ hefdi farid; — 284^ fmtmv; — 280" f.
er; — 280^* pa ox hon sva at vppi bravt a oxl honY7?i. pa qxad Äann petta; —
288' ok sat porv par; — 288 ^ pa Icetr; — 288 ^ endilangri hqll; — 2883 geirr-
^.^r; — 298'" iuq; — 298, fvamgengv; — 300 ^ brasoär; — 302 =* vmlir; —
304^ hversv; — 304 ^ f. hinn; — 300 ^ galla ist im cod. ganz unsicher. Nach g
befindet sich im pergamente ein loch; die endung aber ist mehr ia als la; — 308'
fiallgyldar; — 308 »^ fetmeila; — 310' drqpi; — 310^, loddi; — 3106 frödgum ist
ganz unsicher; die abkürzung nach f kann ro sein, doch scheint nach dieser ein g
gestanden zu haben; für d ist kein räum da. Zwischen g (?) und v ist über den
buchstaben ein loch; — 310, of ro7ii; — 312' fcera; — 312g varv (wie 750); —
312i — 314g fehlt m-sprünglich in W und 750; es befindet sich in beiden codd. ein
freier räum, den in W der Schreiber der 2. papiereinlage (Sven Jonas?) nach cod. r.
beschrieben hat. Diese Strophen auch im Variantenapparate mit AY zu bezeichnen
ist unstathaft; — 3143 Hversv (wie 750); — 318^ sva sem bragi ^vad; — 320^
misgort; — 320 ^g ok golf; — 320ii sior dyranna; — 320^, 322,^ hallfrodr; —
3241 hversv; — 324 ^ sva sem Refr ^vad; — 320 ** kiapta; — 3206 snegrvnd; —
3283 fjr lo?igv; — 330 » kann ich auch in W nui' hrind lesen; das d hat zwar
oben einen Schnörkel, aber dieser ist schwerlich die abkürzung von ir; leztere geht
stets von der rechten seite nach links; jener c?- schwänz, den die handschrift oft hat,
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXH. ^^
370 MOGK
gellt nacli ivchts; — 330 ^ 332'-"*, 334- u. oft. hrovsv; — 330« kami ich nur lesen
rm Jnws rin, so hat auch ganz deutlich 756; — 334" haä^ (d. i. er), wie auch
750: hacl er: — 340^ fi/tir dyi'um; — 340^ linnl: — 340'^ lavfcBygiar (so auch
756): — 342' ßnr ü\ e?m sfifiäriun: — 342^, 344" alldregi\ — 344^ fyr'w hrim-
Pftssrm ok dfpmär at (so auch 756); — 344ß Tak ßv; — 346" vll skiols; —
346'-' seni fi/rr rar sagt: — 346''' f. nicht margr, sondern of: — 348^ Vi hat N>/tt,
nicht Xt/it: *} ist aber in der handschiift y, )iirhf y:^ — 3929 lupyrda ek; — 396 "f.
sforir wie in ü; — 396- Tokr ßa ok elldinn; — 3906 f. ßeim; — 398^ at hringn-
rm: — 398'' ok ßa rcik; — 398" skilärx; — 400^ sa er hqlgi er nefndr; —
400 »^ //anu rar fadir: — 400*"^ /yr srold; — 402'=' ßmgskaalvm; — 404'° iofvr
(so auch 756); — 410' nd aihkyns: — 410^ vm )/tiadar rist; — 412^ framtn; —
412" f. er: — 414 ^ sceng: — 416^ eifi radinn; — 418" hyrtrnnrm (so auch
75(5): _ 4208 J. A^'"«^'^'' skilldi; — 420^ drifr ok rotv;— 424*^ hnggvx;— 424' W
hreggnirdir, das zweite r ist über der zeile, aber es befindet sich unten ein strich,
welcher andeutet, dass das r nur eingeschiieben , nicht aber kürzuug füi' ar sein
soll. Als leztere hat es freilich schon der Schreiber von AM. 756 aufgefasst; —
424g ok adr rar ritad; — 4242 ^^ ^'' ff<^i^' (so auch 756); — 426^ vm rnga; —
430" Spiot er orm kalladr; — 432^ viä stretigia; — 432^' el eda vapn hiadnmga
elldr eda reuder: — 432^, ok dottir Iitms brott tekinn; — 4323 P^^' ^'^^ fY^ h£dinn
?;/ed sitt lid; — 434- Hogni sraradi strt (so auch 756); d. i. stiitt; — 434'^ f.
ßeir; — 434g Sra ok: — 436'"^ boiti ßrvdr; — 436g hat W urspmnglich at\ dies
ist aber unterpunktieit und of darüber geschrieben; — 438^ nach i-eidm' hat W
noch }ii.\ — 438 .^ Her er ok bcedi; — 440^ Hversv skal skip kenna; — 440"
ofridr: — 442'" slod stör: — 442^^ veär lidi (die note in AM. ist unklar); — 446"
Hrein reg skal kenna krist; — 4465 rammr; — 448^ crvci; — 450^ girkia; —
\öO-mannanna; — 452^ rar ritat; — 452^ landsceki; — 452^ vord landx folks; —
454^ folkstiora: — 456'- havlldar; — 456^*' kafa ?>^ed ser ^il fylgdar; — 456,, i
danmork; — 456- Ä-onuug/; — 458^ opt; — 460'' se; — 4625 ok e?in q\aä Äann
rvi ßorfiuu iarl: — — 606^ ßat er; — 606 ^ orda fiolda; — 608' fylla ok fegra
7muU: — 608^ ßat err: — 608^ dragax framm : — 608^ i qdrv ordi ok hinv
fiorda sevL\ her er; — 608" hra'ss; — 608 jq her erv allar; — 610^ mvnat; —
610^ ok hinv fiorda ; — 610" ordit; — 610'* detthent ok dvnhent ok med nqkk-
vrrm; — 6IO11 fyrsta ok; — 6IO9 ör anarvi; — 610, f. leyß er ßat, — 610^ ok
ü
lidhendingav. Siavnda at hafva; — 612"' viij. at myta; — 612' Tivnda ef visv ; —
612^ f. std; — 612'^ eda sia eda sd; — 612'- at er e. (d. i. eda) enn at ma
hafva; — 612^ vingiorä; — 612, i eyrendi; — 614^ hendinga; — 614^ ymsvm; —
6I42 XTTwae//;— 614« /"«x;— 6U''' tvamaal;— 616« 6r;— 6165 vindrcefrs; —
618^ f. en; — 618'^ ok hid ßridia; — 6I85 liefr; — 618 ^ remiityr; —
620^ i hinr sidaxta; — 620^ f. Jmttrenn, ebenso vor den folgenden visur; —
622" I Jmm hatti, — 622' ßav ord er olikvxt; — 622^" ok erv her af ßvi
stini ord; — 6222 verr s/xkiv olikt er at scekia ok veria; — 624- f. ok svä; —
624- iord er land: — 624'' ef saa ferr; — 624" saa flytr du bravt; — 624"
^at err lios ord; — 624*° sdd dreifir srndr er skilr en sdd fylkir er safnai"^ —
624*- f. ßat; — 624*^ f. ok enn (vgl. ü); — 624*^ f. i; — 624*^ f. ßat; —
624g rcesii hm helldr; — 624^ hid Till visvord; — 624. f. mcelt; — 6243 f.
ßd; — 6242 iiiks glod er gull; sctJäT gvllx er rrmär; — 624^ haf; — 626^
1) Die Varianten der eingefügten papierblätter sind nicht angegeben.
ÜBER SN. EDDA HI 371
pat er wadr (wie U); — 626^ vaakat; — 62G** (f. ok) pai^ err tvenn i hveriv
visvordi; — 626, (f. ok) slitnar dvi viUii ; — 620^ take; — 626, / setta oräi er
sva (wie U); — 628^ at kalla at blöd; — 628^ f. eda; — 626« f. Ok; — 626' f.
at; — 628"^ frawdr; — 628^ da'la; — 628, f. sm; — 630' f. er svä; — 630'-'
fraiwni ; — 630" i hrcrir ordi; — 632., ok hhir fiorda; — 632, ok er ein sant-
staß i milli ok Irkax; — 634"* / hinv fyrsta; — 634" ok orda Imgd: — 634"
sdd er Iielldr f\v; — 634 , ftrdvDi ; — 636" Fvss; — 636, „ sidin hleika; — 636 «
e)?i; — 636g S(emd; — 636.5 (f. vpp) atiat visvord; — 638"' f. mi; — 638'" lAd
lagit; — 638 ** vcgrakkr; — 638" styria; — 638 ^ i inillrm ßeira; — 640" gefr; —
640., i qdrv ok fiorda r.; — 642^ vtn skvla; — 642, vnninn; — 644'' ok standa; —
644* baadar; — 646* rasta (wie U); — 646 '^ i qdrv ok Uli. r. o. ok arkit; —
646" soti franfcirxt; — 646" ex en bar; — 646- skialfhenda med adalhendingvm.
hid pridia v. o. i I/rarrm hehningi; — 648^ framdix;- — 648*" Äer erv prennar
adalhcmUngav ; — 648'" fenii; — 648" samstafa (vgl. U); — 6483 Jiqy er; —
65O4 her skiptir hcetti; — 650., hlwdfgllingvm (wie U); — 652'" drottkredins ; —
654g sqkkrm. (wie U); — 654 ^ grottv; — 654 ^ kann fröda; — 656- i fvUaallhen-
dt?ig; — 656^ pat er ceigi rett; — 656, „ uel er ort; — 656 9 kvoidi se ort epitiv {t ok)
er Pa; — 656- klcengr; — 6563 fqr; — 658* pl d. i. pott; — 658" til hending
ar; — 658g reUbroti (wie U); — 660 ,0 f. sem; — 6ö0e_5 aiidi auds i gvlli; —
662*^ hev er i hinv .inj. visv ordi; — 664" Äer erv qll visv ord styfd. pessiv
hcett'w greindir i pria stadi; — 664*^ annarY; — 664'^ ok er pat haatafqll; —
664g geisa; — 666g forn skaaldin hafva; — 6665 svtnt at haattafqllvni; — 666 ^
Svä bis hatti f. im cod.; — 668'- zwischen hvitan und prym ist ein freier räum
von c. 20 cm; — 668^ i sceßs (wie U); — 668" allda vinr (wie U); — 668" iarls
rnegin (wie U); — 668^ haatleysa; — 668" u. oft. droit kvcedf ; — 670''' gaf ntai'-
gan dag vaxgi; — 670'" haattleysa; — 670" ok ridhendvr; — 672* skiallda; —
672^ Nv erv peir hcettir; — 672^ kimlabqnd; — 674'* glyggi; — 674, ^ fqr; —
674. reg vm; — 674, hreggi leggi: — 676^ vndgagls; — 676* yngva; — 676"
driftvm; — 676, „ Enn or qdrv ok hinv fiorda mdä taka; — 6762 stqkkvi; —
678 ^ her erv vitj samstqfwv i v. 0. enu Jiemlingar ok stafa skipti sem i hrynhendv
(alles andere fehlt); — 678,3 rqdnvm; — 678, lid; — 680* eyddi svei'dv7n (so ver-
mag ich nur im cod. zu lesen; erst eine jüngere hand scheint etwas verbessert zu
haben); — 680=^ f. hverjii; — 680* f. hinv; — 680^ f. pat; — 680., orfa ok; —
680, alfvamax vissag ; — 682" oss er pat fvanii; — 682* Nv erv her; — 682*^ f.
til; — 682 9 f. er; — 684^ ok iiij ; — 684* f. svä; — 684^ sem i dvottkvcedvm
hcetti; — 684^ erv tttj. samstqfvv rettar; — 684* f. e^?^; — 684'* fiohnn (was nur
fjqlmenn sein kann); — 684- anat ok hid iiij. v. 0. ; — 6845 hofvtstafinn; —
6842 vm mceti; — 686^ Äer er skothending i fyrsta; — 686* f. hmtti; — 686^ tqg-
lagi (vgl. tqgmcelt); — 686'"- f. env; — 688" her er i fyrsta; — 688" f. svä; —
688" ok hid fiorda; — 688' endax; — 690" ok tvcer; — 690 ^ ba>d hardr; —
690 5 f. hcetti; — 692* i hinv fyrsta ok Pridia v. o. Po at v. se; — 692^ f. env; —
692*" ok styfd en fyrri; — 694^ lyptax kna oflidi; — 694*^ vi satnstqfm' ok cPÄgi
rangt poat; — 694, blaregg : — 696" i vv^y ordi hveviv ok ii adalhending ; —
696" hnefstar; — 696* ütstrandiv (d. i. üüt.. wie bei da-) — 696'" hranngardi; —
696 g rvnhendiv erv kalladiv; — 698 g enn qn?ivr hinn sidarva helmmg ; —
Wii* sehen aus diesem Verzeichnis, dass namentlich Hättatal bei angäbe der
lesarten von W in der AM. ausgäbe schlecht weggekommen ist. Viele dieser les-
arten hat natürlich schon Möbius in seiner ausgäbe dieses teiles der Edda zur gel-
24*
372 MÖGE
tung gebracht. Im auschliiss an dieses verzeichuis sei eine andere unrichtige angäbe
wie der heraiisgeber der ed. AM. su auch Finuur Junssous berichtigt. Ich hatte
schon mehrfach gelegenheit, auf das engste Verhältnis zwischen W imd den frag-
menten AM. 756. 4** hinzuweisen. Das räumt auch F. Jonsson ein; gleichwol reisst
es ihn zu der bemerkuug hin (s. LXXX) : ^ sed persaepe lectiones secundum id aut
corrigi aut corroborari possimt.'" Das ist nicht richtig, denn AM. 756 ist weiter
nichts als eine ganz flüchtige absclirift von AV. AVer diese zwei handschiiften neben
einander verglichen hat. kann keinen augenblick daran zweifeln. Ich überzeugte
s. z. prof. Gislason dui'ch einige schlagende beispiele imd glaubte, dass infolge sei-
ner bemerkung (Xjäla II, s. 287<2ö5)) die sache als abgetan anzusehen sei; da dies
nicht der fall ist, sehe ich mich genötigt liier den beweis anzutreten.
Zunächst stimmen in der ganzen einteilung die fragmente mit dem cod. W über-
ein: wo diese hs. einen neuen abschnitt bcgint, begint ihn auch 756; nicht in einem
punkte weicht lezteres ab. Dazu einiges andere. AM. I, CA^^ scheint der Schreiber
von W erst aus versehen skegm geschrieben zu haben, hat aber dann selbst das g
in p verbessert; 756 las g imd gab es infolgedessen als skeggi'a wider. — 68® trent
756 YG drasils: in W endigt nach YG die zeile, daher der irtum. — 72^ steht in
TS' ziemlich hoch hinter bifracst ein fi-agezeichen ; dies sah 756 als abkürzung an
und gab es deshalb mit bifranstum. wider. — Sog schreibt W hcratyr, was der
Schreiber von 756 als berat yr las. — 88^' geben beide handschriften die vierzig auf
ganz gleiche weise wider x^. — 90^ macht 756 nach VT denselben Schreibfehler
bergrisa f. hergrisar. — 98 findet sich ganz aussergewöhnlich vor cap. 26 ein
freier räum von c. 15 mm; dei"selbe findet sich auch in 756. — 102- schreiben beide
handschriften mog nir em etn (doppelt). — 110 9 ist in TV in digrleiks das ei"ste i
einem a sehr ähnlich, daher die Verlesung daleiks. — 112^ hat T\' von haus aus
sk\\o rer mega, erst der schi-eiber der randnote hat inega rot durchstrichen, daher
findet es sich 756. — 192g haben beide handschriften eä alldtm tre. — 198^ die
verschreibung ufiar (f. i mar) in 756 kann nur auf W zui'ückgehen , da hier das i
ganz mit in in /wor verbunden ist^; der strich über ^, der mehr horizontal als schi-äg
geht, wurde vom Schreiber von 756 für abkürz ungsstrich über den ersten beiden
grundstrichen angesehen. — 202g findet sich in T\' zweimal vingnis, erst spätere
band hat das eiuemal durchstrichen. Daher ist das woit in 756 doppelt. Dasselbe
gut 204^ von den woiten .s?'er Äann pa at /^ann ste)iduT uti a sleftum. velli, deren
widerholung in W auch ei*st später durchstrichen ist. Auch 320 ^ Raä — siäan
zeigt denselben faU. — 238 ^ .schreiben beide handschriften füi* bqlva: bolfa. — Der
schluss der Haustlong (312, — 314g) fehlt in AV; er ist ei-st vom Schreiber der zwei-
ten papiereinlage später nachgetragen. Urspiüngüch hat die handschrift fünf zeilen
freien räum. Auch 756 geht nicht weiter als W und lässt ebenfals einen freien
räum von c. 4 zeilen, der im hinbhck auf die .Schreibweise der handschrift dem von
W entspricht. — 324 findet sich in "W nach barccyiar skalld ein freier räum von
50 — 60 mm; in 756 findet sich eine zeüe unbeschrieben. Diese beispiele mögen zei-
gen, dass der Schreiber von 756 den cod. "W auf ganz liederliche weise, ohne ihn
zu verstehen, abgeschrieben hat; für die Eddakritik ist das tragment volständig
\} Es bedürfte einmal der Untersuchung^, wie weit die präpos. durch anschluss an das folgende
subst. oder pronom. ihren Charakter als selbständiges wort verloren hat. Sicher zeigen die alten hand-
schriften im nordischen unzählige beispiele, wo praep. und nomen zusammengeschrieben sind. Dabei
scheinen ursprünglich lange praepos. infolge des wort- oder satzaccentes auch ihre länge verloren zu
haben.
tJBER SN. EDDA UI 373
wertlos. Dagegen stimme ich mit Finniu' Jonsson bctrefs des abfassungsoiies übor-
ein: alles weist darauf hin, dass der cod. 756 im norden entstanden ist, vielleicht
auf Veranlassung des gesetzsprechers Jon Sigmundarson, iu dessen händen sich im
ausgang des 15. Jahrhunderts der cod. W befand.
Über den umfang, den einst der cod. W gehabt hat, herscht noch Unklarheit,
ßekantlich fehlt demselben ursprünglich die ganze episode aus der Nibelungeusago
und die erzählimg von könig Frodi, ferner der ganze schluss der Skaldskaparmäl
von denUkend heiti an (I, 464), der anfang des Hattatal und der schluss desselben.
Diese abschnitte sind durch papicrbliitter, deren Inhalt teils dem cod. reg, teils dem
cod. Svarf. entnommen ist, ergänzt. Dass die episoden aus der heldensage ui-sprüng-
lich nicht im cod. gestanden haben, darf wol als sicher gelten. Aber auch der zweite
teil der Skaldskaparmäl hat zweifelsohne nicht in der handschrift gestanden: Bl. 35
schliesst mit den beispielen der kenoingar; es beginnen mit bl. 36 die grammatischen
abhaudlungen, die 19 bl. füllen. Alsdann folgt die papiereinlage des Svein Jonsson;
nach dieser der erhaltene teil des Hattatal. Dieser fült 6 pergamentblätter ; der feh-
lende schluss ist ungefähr gleichen anfangs wie der fehlende anfang. Demnach scheint
Hattatal ursprünglich auf einer läge von 8 bl. gestanden zu haben, von der das erste
und lezte blatt verloren gegangen ist.
Blicken wir nun aber auf cod. U, wo der zweite gramm. traktat unmittelbar
vor Hattatal steht, so wird es wahrscheinlich, dass die traktate auch in W ursprüng-
lich vor Hattatal gestanden haben, und dass nur durch Svein Jonsson durch den
einschub der papierblätter diese trennung erfolgt ist. Eine andere frage ist, ob die
lU-end heiti vielleicht von haus aus vor den traktaten gestanden haben; diese aber
wird sich nicht entscheiden lassen. Solche und ähnliche dinge, welche fili- die text-
kritik nicht unwichtig sind, lassen sich aus den bemerkungen über ^V (namentlich
den s. XLVn fgg.) nicht recht erkennen. Es sei daher hier noch kui'z über die ein-
eil ung von W gesprochen und einiges, was ich bei F. Jonsson vermisse.
Der schön und deutlich geschriebene codex enthält 32 zeilen auf der seite.
Grosse initialen führen die hauptabschnitte ein. Bei kleinen abschnitten findet sich
für die initiale ein kleinerer rechteckiger freier räum. Die eingestreuten Strophen
heben sich nicht von der prosa hervor. Schliesst ein teil eines wertes die zeile, so
deutet ein querstrich (— ) an, dass das wort noch nicht zu ende ist. — Der codex
besteht aus lagen zu je 8 bl. Die erste seite ist unbeschi'ieben ; unten stehen die
werte : Olai Wormii
Dono Arngrimi jonae
Islandi.
Der obere teil der bl. 19 — 22, 27—30, 34 — 36 ist sehr zerfressen. Es folgen:
Praefatio — bl. 4t'jg.
Gylfaginning 4%o-20%,.
Bragaroedur 20 \ — 22 \ .
Eptirmal 22\— 22%«.
Skaldskm. 22'%,— 35''3,.
Von bl. 27 '^ sind nur 4 zeilen beschrieben; sie enthalten den schluss der f*orsdrapa
des Eilifr Gudrünarson. Der übrige teil der seite ist unbeschrieben. Zwischen bl. 30
und 31 finden sich 6 papierblätter, die die episode aus der heldensage nach dem
cod. Sparf. enthalten. Tom lezten blatte sind niu' 37, zeilen beschrieben. Ein f,
das sich auf der ersten zei?e derselben und pergamentbl. 31 ""oo ßJidet, deutet an,
374 MOGK
dass die blätter hierher gehören. Die ganze episode fehlt also von haas aus der
handschiift.
Die gramm. abhandlungen I und U 36", — 41^.. Diese schliessen sich
unmittelbar an das vorhergehende an. Erst die dritte abhandlung leitet eine grosse,
schön verzierte initiale ein. Daduich gibt der schieiber zu erkennen, dass hier ein
neuer hauptabschnitt begint. der ursprünglich nicht zum werke gehört. Ausserdem
ist vor dem zweiten traktate ein unbeschriebener räum von 6 Zeilen.
Grammat. abhandlungen in und IV 41^8 — 54*3.,. Bl. 54'* ist ursprünglich
unbeschrieben; eine junge band hat Marienlieder und andere gedichte frommen Inhaltes
darauf aufgezeichnet. Es folgen 9 papierblätter mit der Überschrift: de synonymis
simplicibus.
Sie enthalten die ükend heiti, die fornn^fn und den anfang vom Hättatal und
sind eine abschrift aus dem cod. reg. Alsdann folgt im cod. eine läge von 6 bl.,
die höchst wahrscheinlich aber einst 8 bl. enthielt. Das ei*ste und lezte, anfang und
schluss. sind verloren gegangen. Diese läge hat wol einzig und aUein Hättatal ent-
halten. Zwei papierblätter schliessen sich hier an, von denen das erste den schluss
des Hättatal nach cod. Svarf. enthält, während das zweite unbeschrieben ist. Das
folgende pergamentblatt enthält die Rigsmäl; das gedieht begint mit gi'osser schöner
initiale, der schluss fehlt bekautlich. Fünf weitere leere papierblätter deuten den
umfang des fehlenden an; sie sind vom schi-eiber der episode aus der Xülungensage
eingefügt, wie der Wasserdruck zeigt. Zum Schlüsse folgen noch zwei pergament-
blätter (abgedruckt Sn. E. H. 495 fgg.): die wol das 3. und 6. blatt einer läge aus-
gemacht haben. Die lezte seite, urspriinglich unbeschrieben, enthält von junger
band lobgedichte auf die jungfi-au Maiia.
Doch ich verlasse die einleitenden bemerkungen über die handschriften , um
noch kurz bei dem hauptinhalte des 3. bandes zu verweilen, bei dem commentar
zum Skäldatal. Es ist noch kein Jahrzehnt vergangen, wo man sich die berichte
über leben und gedichte der einzelnen skalden in den quellen mühselig zusammen-
suchen muste. Selbst Keysers litteratiu-geschichte gab wenig, X. il. Petersens so
gut wie gar nichts. Heute besitzen wir nicht weniger als drei werke, aus denen
wir zur genüge belehrung über die skalden und ihi-e werke schöpfen können.
Gudbr. Tigfusson gibt im Cpb. vor den gedichten eines jeden skalden einen lebens-
abriss des dichters, geisü-eich. mit vielen kühnen, wenn auch oft unhaltbaren
einfallen, die um so schwerer controlierbar sind, als nirgend die quellen angegeben
sind, aus denen er die positiven tatsachen geschöpft hat. Infolgedessen ist das
werk zu wissenschaftlichen zwecken unbrauchbar. — Für das Samfund t. udg. af
g. n. lit, gab femer Gudmundr J'orläksson sein buch: ,Udsigt over de noi^k-
islandske skjalde fra 9. til 14. arhundrede" heraus: es gibt in kurzen ansprechen-
den biographien. denen nirgends die queUen fehlen, einen überblick über die
gesarate skaldendichttmg und ist für \iele skalden unser einziger gewissenhafter
Wegweiser. Während aber diese schrift eine grössere zahl von skalden behandelt,
vertieft sich der commentar zum Skäldatal ungleich mehr in das leben und wii--
ken der einzelnen dichter. Das alte Skäldatal, das in handschiiften der beiden
hauptwerke SnoiTis. der Heimskringla und Edda, erhalten war. hatte die dichter
vorgeschrieben, deren lebenslauf aufzimehmen war: das grosse gebiet war zeitHoh
und örtlich beschränkt, örtlich, indem nur dichter aufnähme fanden, die au nor-
dischen königshöfen geweüt hatten, zeitlich, indem es in der erweiterten gestalt der
Upsalaer handschrift mit der zweiten hälfte des 13. Jahrhunderts abschliesst Ich
ÜBER SN. EDDA Ul 375
ti-age kein bedenken, das alto Skaldatal olmo seine späteren Zusätze Suorri in seinem
ganzen umfange zuzuschreiben. Möglich, dass es ihm eine kritische Vorarbeit zu
seinem grossen geschichts werke war. Lassen sich doch fast alle skalden, die hier
aufgezählt sind, in Snorris hauptworkon, der Edda and lEeimskringla, widerfinden, ja
selbst in kleineren zügen zeigt das Skaldatal mit diesen Übereinstimmung: Snorri
kante die sagengestalt Starkads (lieimskr. 20. 22), er keut Ragnar lodbruk als dich-
ter (Sn. E. I, 06G), er weiss, wie köuig Eystein seinen liund Säur über die ein woh-
ner von frandheim sezte (Heimskr. 90. 391); was das Skaldatal von Pjödolf (nr. 40)
sagt, deckt sich fast wörtlich mit dem cingange der Ileimskringla (s. 1), ebenso das,
was es von Eyvinds Haleygjatal bericlitet (nr. 158. llskr. 1 '"). Wie aber Snorris
Skaldatal spätere zusätze erhielt, so scheint dieser selbst ein 1)ereits aufgezeichnetes
Skaldatal benuzt zu haben, das sich wol in Stiemunds besitz befunden haben mag. Ich
schliesse dies aus der reihe der skalden, von denen wir weiter nichts erfahren, als dass
sie diesen oder jenen fürsten besungen haben. Hätte Snorri aus der lebendigen tra-
dition geschöpft, so würde er gewiss auch von ihnen Strophen erfahren haben, die
ihm dann quelle seiner historischen werke geworden wären. Auf alle fälle besteht
zwischen dem Skaldatal und Snorris werken ein innerer Zusammenhang, und zur
kritik dieser jenes zu benutzen imd umgekehrt wäre eine dankbare und gewiss loh-
nende aufgäbe.
Ich weiss nicht, wem die fruchtbare idee gehört, den toten namen des alten
Skaldatals lebensvolle biogrophicn der einzelnen dichter zuzufügen, ob Sigurdsson oder
Egilsson. Jedenfalls verdient sie volle anerkennung und die vollendete tatsache ist
der schönste grundstein zu einem corpus scaldicum. Die Zusammenstellungen über
die dichter sind rein philologischer natur. Ihre Verfasser geben das tatsächliche aus
den quellen und bauen mit diesem einen soliden lebensabriss der einzelnen dichter auf
Widersprechende nachrichten werden kritisch beleuclitet und das für und Avider ein-
fach aber klar dargelegt. Dabei war freilich die arbeit des bearbeiters des lezten
teiles eine umfassendere und weitgehendere als bei der bearbeitung des ersten halb-
bandes. Als dieser bearbeitet wurde, fand man noch nichts ähnliches vor, man hatte
also keine falschen ansichten zu bekämpfen, sondern einfach aufzubauen. Der bcar-
bciter des zweiten halbbandes hatte dagegen bereits Gudm. I^orlukssons Udsigt und
das Cpb. in bänden, mit deren Verfassern er sich öfters auseinandersetzen muste.
Und zweifelsohne hat er dies mit ebensoviel geschick als Scharfsinn getan und
dadurch manchen eingenisteten fehler beseitigt. Dagegen hätte für die geschichte der
skaldendichtung, für eine Schilderung ihres almählichen aufsteigens und ihres verfals
noch mehr getan w^erden können. Die philologische gründlichkeit hätte mit dem fei-
nen beobachtungssinn eines Y. Rydberg gepaart werden müssen, und wir sind über-
zeugt, dass dadurch die skaldendichtung erst auf die stufe gehoben worden wäre,
auf die sie gehöii. Von den drei höhenpunkten eines Egil, Sighvat, Sturla I^ord-
arson lässt sich das weite feld schön und klar überblicken. So sehr es auch
anzieht, an einzelnen gestalten die arbeits weise der Verfasser zu zeigen, so muss ich
mich doch mit besprechung nur einiger stellen begnügen.
Über die sagengestalten Starkads und könig Ragnars herschen heutzutage
andere und zweifelsohne richtigere ansichten. Nachdem bereits S. Grundtvig Starkad
als eine poetische erscheinung, als das heldenideal der nordischen wikingerzeit auf-
gedeckt hatte (Udsigt s. 67 fgg.), ist von Müllenhoff bis ins kleinste ein bild dieser
alten heldendichtung entworfen worden (DAlv. Y, 301 fgg.). Auch Ragnars dichtung
und vor allem die lü'akumäl wird man nach G. Storms überzeugendem nachweis als
376 MÖGE
ein spätes erzeugnis aus dem ende des 13. jahi-huudeii:s ansehen (Eagnar lodbrök
usw. s. 117). Anders steht es mit Bragi Boddason, den die einen für eiue histo-
rische gestalt ansehen, andere dagegen in das bereich der sage bringen. Für lezte-
res lässt sich aber nicht die geringste stütze biingen, denn was E. Jessen (Über die
Eddalieder s. 21) dafür vorbringt, ist volständig haltlos und zur genüge von G. Storm
(Hist. Tidrkr. III, s. 72 fgg.) widerlegt worden. Bragis name^ sowol als auch die
genealogie, die wir aus der Laudu. und Egilssaga entnehmen können, haben durchaus
nichts unglaubwürdiges, und während die sagengestalten eines Eagnar. Starkad u. a.
über den ganzen norden verbreitet sind, beschränken sich unsere quellen über Bragi
auf die wenigen norwegisch - isländischen werke.
Etwas anderes ist es, wie Buggo annimt (Ztschr. f. d. ph. YII, 389), dass die
person wol historisch, die unter seinem namen überlieferten gedichte dagegen spate-
ren Ursprungs sind. Die frage haii bis heute noch der lösung. Jedenfals spricht das
geschichthche über Bragi, das uns die quellen an die hand geben, nicht dagegen.
Es darf jezt als ausgemacht gelten, dass die sagengestalt des Eagnar lodbrok in dem
könige Eeginfridus der Lorscher annalen. der 814 nach kui'zer herschaft fiel, ihren
historischen hintergrund hat. Ton Bragi stamte in dritter Knie der herse ArinbJQrn,
der nach der Egilssaga (c. 41) etwas älter als Egil war, also ungefähr 900 geboren
sein muss. Eechnet man das durchschnitsalter der mutter und grossmutter 35 jähre,
so kommen wir auf das jähr 830. ni dem Astrid, Bragis tochter, geboren sein
müste. Das weihgeschenk , das ihm Eagnar spendet, zeigt Bragi als rüstigen, taten-
durstigen mann. Es spricht also nichts dagegen, wenn wir sein leben zwischen die
jähre 780 — 850 legen. Yigfussons Verschiebung (835 — 900 Cpb. 11, 2) ist ganz unbe-
gründet.
Das todesjahr von Gunnlaugr ormstunga (s. 323) habe ich in meiner ausgäbe um
ein jähr verschoben (auf 1009. s. XX). Hierzu sei noch bemerkt, dass der algemein
herschenden ansieht, d sumar bedeute nur «in diesem sommer*^, Laxd. s. 104, 17
widerspricht, was auch die herausgeber ganz richtig mit in proxima aestate wider-
geben. — Unter nr. 23 werden Gizur svarti und Gizui* gullbrä als eine person auf-
gefasst. Schon der alte Einarson trente sie und Möbius und f'orläksson sind ihm
gefolgt. Auch Finnur Jönsson sucht die wenig erwiesene Identifizierung wider auf-
zuheben (s. 541). Zeitlich liesse sich ja gegen dieselbe nichts einwenden: Hjalti
Skeggja.son komt 1017 mit Gizur svaiti am hofe des Schwedenkönigs Olaf zusammen
(Hskr. s. 273j. Gizur gullbra aber fält in der schlacht bei Stiklastadii- (1030. Hskr.
491). Dagegen werden die beiden personen übei'aU in den quellen auseinandergehal-
ten: jenen finden wir nur im gefolge des Schwedenkönigs, diesen bei Olaf dem hei-
ligen. Und wenn es selbst Ottar dem schwarzen nur durch vennitlung seines oheims
Sighvat gelang, gnade bei Olaf zu erlangen, so ist es wenig Avahrscheinlich , dass
Gizur svarti, der doch am Schwedeuhofe in gleichem Verhältnisse zu Olaf dem hei-
ligen gestanden hatte, wie Ottar, eine solche rolle gespielt haben würde, wie Gizur
gulbrä in der tat gespielt hat (Hskr. s. 475/ Dazu widerspricht meines erachtens
1) Einen anderen skalden Bragi HalJsson lernen wir als dichter unter könig Sverrir und seinem
söhn Hakon kennen (Skt. nr. 132. 138); ein weiterer Bragi Hallsson erlag der grossen epidemie in Nor-
wegen 1.392 iTtb. annal. s. a.). Der name scbeint überhaupt norwegisch, nicht isländisch gewesen zu
sein und deshalb mrjchte ich den jüngeren skalden Bragi (s. 652) auch für einen Xorweger halten. Als
vater des alten Bragi nent das Skt. Boddi. Dies für Bondi zu erklären (s. 307 aiun. 7) Ist aber unstat-
haft, da die assimulation nd > dd im norwegischen nicht vorkomt.
ÜBJEK SN. EDDA lU 377
auch der name. Giziu- des schwarzen beiname kaua doch wol nui' auf die schwarze
färbe seiner haare gehen. Er mag denselben in der Umgebung von Hjalti, vielleicht
von diesem selbst, erhalten haben zum unterschiede von Hjaltis Schwiegervater Gizur
dem weissen. Für den beinamen des jüngeren Gizm* stelt man die eigentliche form
des Giülbrurskald auf und nimt an, dass er ihn nach einem gedichte erhalten hätte,
das er auf ein mädchen mit goldblonden augenbrauen gedichtet habe (s. 334). Allein
dem widerspricht die Überlieferung. Die Hskr. schreibt nur yullbrd (475^^. 491'-*').
Ebenso das Skaldatal, wo ohne grund unter 62 Guldbnirskald hergestelt ist: A hat
gidlbrä, B ist an der entscheidenden stelle zerfressen. Die grosse Olafssaga (1853)
schreibt ebcnfals nur guUbrd (206 13. 217 3). In der Flb. findet sich immer gull-
brärfostri (Flb. E, 226. 340. 353. 355), nur einmal fjuUbrärskäld (II, 315). In
der On. s. der TMS. findet sich fjiiUbrä (Thomsk. V, s. 56. AM. 325, s. 80. cod.
Holm. 2, s. 80); FMS. V, 203 haben wir guUbnirfostri, s. 80 haben es fast ebenfals
alle haudschriften, nur- AM. 325 hat gidlbrdrsMld. Entscheidend ist die stelle
FMS. V, 56, wo sicher zu lesen ist: gidlbrd, föstri Hofgarda-Iicfs, wie die Tho-
massk. hat. Hier liegt der Schlüssel: Gizur war der pflegevater Hofgarda - Refs.
Die Überlieferung erhärtet gidlbrd als einzig echten beinamen. Hierzu trat nocli
föstri Hofgaräa-Refs; aus misverständnis aber zog man föstri zu gidlbrd, Hess
Hofgaräa - Refs bei Seite und so entstand gidlbrdr föstri, das erst in den jüngsten
quellen in gidlbrd rsMld umgeändeii; wurde. Demnach hiess Gizur selbst „ goldbraue ^,
ein name, den er nur von der helblonden färbe seiner augenbrauen gehabt haben
kann: diese aber schliessen schwarzes haupthaar aus. — Dagegen muss man Jon
Sigiu'dsson recht geben, wenn er den HallbJQrn hali (s. 373), den das Skt. auf
Knut Eiriksson (j 1195) und Sveriii- (tl202) lobgedichte verfassen lässt, von
HallbJQiTi hali, der auf J'orleif jarlaskald (t994) dichtete, ti-ent. I'orlaksson will
beide identifizieren (s. 145). Wol erfahren wir, dass der leztere lobgedichte auf für-
sten gedichtet habe (Ftb. I, 215), allein dies muss in der zeit kurz nach l'orleifs
tode gewesen sein. Nachdem die Flb. von lezterem berichtet hat, fährt sie fort:
Sa madr bio pa a pingvelli er porkell het usw. Dies pd kann nur auf die zeit
gehen, wo f'orleif starb. Und nach der episode von HallbJQrn fähii unmittelbar
anschliessend dieselbe quelle fort: En frei bra-drimi porleifs er pat at segia . .
(Ftb. I, 214/15). Der erzählung wüi'de das ganze Verständnis geraubt werden, wei-
ten wir sie zeitlich um eineinhalb Jahrhundert verschieben. — So Hessen sich auch
zum ersten teile des vorliegenden bandes noch eine reilio bemerkungen machen, die
der einzelforschung noch bedürfen. Dasselbe gilt auch von der arbeit Finnur Jons-
sons. Ein Vorzug lezterer ist, dass er namentlich auf die composition der grösseren
gedichte eingeht und von manchem eine kurze, klare inhaltsangabe gibt. Eine ganze
reihe nicht genügend oder gar nicht erwiesener behauptungen , namentlich Vigfüssons
und f'orläkssons , weist er mit gutem recht zurück. Gegen lezteren schemt er
in einigen pimkten freilich zu weit zu gehen. Man wird sich zweifelsohne auf
F. Jonssons seite stellen, wenn er z. b. jene für unsere heldensage so wichtige visa
Geisli stendr til grundar
(FMS.V, 234. Ftb. HI, 244) dem I'orfinn munr zuschreibt, während f*orm6d Kol-
bn'marskald kein am-echt auf sie hat. Dagegen kann ich nicht billigen, wenn
F. Jousson (s. 545) mit Jon Sigurdsson (s. 209) die beiden halbstrophen der Sn. E.
Oyt kemr {bo\) jaräar leiptra (Sn. E. I, 232)
und pcer eigu ver veigar (Sn. E. I, 240)
37S HOLSTEIN
als zwei eine vIsa bildende halbstrophcn ausieht. Gewiss wird niemand leugnen , dass
in einem gedichte alhent gestattet ist. Dass aber in einer visa die erste hälfte ganz
regelmässiges dröffkrcpft, die zweite aber durchweg alhent haben kann, ist zum min-
desten wenis wahrscheinhch.
Neben dem litterarliistorischen weiie des vorliegenden teiles möchte ich aber
auch noch den philologischen hervorheben. Nicht wenige skaldensteilen haben
F. Jönsson zu textkritischeu bemerkungen veranlasst und so erscheinen ziemlich
viele in neuem lichte. Es lockt, auch von dieser seite auf das werk noch einzu-
gehen, doch ich werde bald anderen orts dazu gelegenheit finden.
Ich scheide von dem vorliegenden bände der Edda mit der Überzeugung, dass
er, wie schon der erste teil auch in seiner ganzen gestalt die gruudlage zu einer
neuen aera der skaldendichtung wird: was wir im Cpb. für alle dichter erwartet
hatten, das besitzen wir im vorliegenden werke von einem grossen teile derselben.
Veiüefung in die einzelneu teile des ganzen, das sei der dank, den wir in erster
linie dem verstorbenen Jon Sigurdsson, aber zum nicht geringen teile auch Finnur
Jönsson schuldig sind.
LEIPZIG, DI SEPT. 1888. E. MOGK.
Liidwia: TVirth. Die oster- und passionsspiele bis zum XVI. Jahrhundert.
Beiträge zur geschichte des deutschen dramas. Halle a. S., Max Nie-
mever. 1889. Till u. 351 s. 8. 10 m.
Die Wahrnehmung, dass seit einer reihe von jähren sich für die ältere geschichte
des deutschen dramas eine erhebliche teilnähme gezeigt hat, muss jeden litteratur-
freund mit freude eifüUeu. AVar doch seit Hoffmann von Fallersleben und Mono
lange zeit die kentnis dieses wichtigen litteraturzweiges auf einige bedeutendere geist-
liche spiele des mittelalters beschränkt und fast jeder versuch einer geschichtlichen
entwicklung des geistlichen dramas ruhte auf den forschungen jener beiden führer.
Inzwischen waren wider einige spiele durch den druck teils volständig, teils bruch-
stückweise bekant geworden, aber zu einer streng philologischen behandlung der
dramen kam es noch nicht. Erst nachdem Schönbach und Milchsack eine kritisch
gesichtete, auf der vergleichung der einzelnen stücke unter einander beruhende
Untersuchung über die Marienklagen einerseits und über die lateinischen osterfeiern
andereeits mit überzeugender Sicherheit angestelt hatten, nachdem ferner Müchsack
in seiner ausgäbe des Egerer und Heidelberger passionsspieles das verwantschaftliche
Verhältnis derselben zu älteren spielen mit lobenswerter Sorgfalt erschlossen hatte,
konte der aufbau einer geschichte des mittelalterlichen dramas geplant werden. Die
herausgäbe der Erlauer spiele durch Kuminer, sowie Wackemells Untersuchung über
die ältesten Tiroler passionsspiele haben sodann ein neues lehrreiches material an das
licht gezogen und neuerdings hat Lange die Untersuchung über die lateinischen
osterfeiern in einer geradezu überraschenden weise gefördert. Denn während Milch-
sack nur 28 osterfeiern kante, fand Lange nicht weniger als 224, wovon auf Deutsch-
land 159 kommen.
Auf ein so wolgeordnetes und vorbereitetes material gestüzt hat es L. "Wirth
unternommen, die entstehung und entwicklung der oster- und passionsspiele bis zum
auftreten des gelehrtendraraas darzulegen. Es ist dies in einer weise geschehen,
welche unsere gerechte be wunderung herausfordert, da der Verfasser zeigt, dass er
ÜBEll WIKTH, Oiil'Jil4- L'iNL» l'ASSIONSSriELE 379
den kaum übersehbaren stoff nicht nur völlig beherscht, sondern auch streng wissen-
schaftlich zu gliedern und zu verarbeiten versteht. Unter diesen umständen und bei
seiner vortreflichen kentnis der andern mittelalterlichen dichtungen ist es ihm gelun-
gen, ein grundlegendes werk zu schaffen, das uns den reichtum der dramatischen
poesie des mittelaltors erschliesst und die Stellung erkennen lässt, welche das geist-
liche spiel in der deutschen litteratur einzunehmen berufen war.
Nachdem der Verfasser in der eiuleitimg die osterfeiem kurz besprochen hat,
führt er die einzelnen auftiitte auf, welche die beiden gruppen, in die die ostersiüele
nach anläge und iuhalt zerfallen, darbieten. Für die erste grupi)e werden 7, für die
zweite ebenfals 7 auftritte festgestelt, deren entstehung und schritweiso Weiterent-
wicklung sorgfältig nachgewiesen werden. Es folgt dann eine eingehende betrachtung
der anläge der passionsspiele und ähnlicher spiele, wobei eine auf Tischendorfs
Synopsis evangelica (5. aufl. Leipzig 1884) ruhende chronologische reihenfolge der
scenen — es sind deren 49 — aufgestelt wird, welche eine genaue Übersicht über
ihre Verwertung in den verschiedenen spielen gewährt. Es lässt sich erkennen, dass
die umfangreichsten spiele, nämlich das Heidelberger spiel, die Frankfurter dirigier-
roUe und das Alsfelder spiel, fast den ganzen biblischen stoff bearbeiten. Nimt mau
dazu die präfigui-ationen des Heidelberger passionsspieles , welche der Verfasser zu
erwähnen keinen anlass hatte, so wird man zugeben müssen, dass dieses spiel inhalt-
lich den ersten platz in der litteratur des geistlichen dramas verdient.
An die betrachtung der anläge der passionsspiele schliesst der Verfasser bemer-
kungen über die entstehung derselben. Sodann folgt eine sehr lehrreiche Untersuchung
über die grundlage und die quellen der osterspiele. Der Verfasser verfährt hinsichtlich
der ersten gruppe so, dass er die am häufigsten vorkommenden versikel zusammen-
stelt, um erkennen zu lassen, dass die Übereinstimmung der geistlichen spiele auf der
benutzung derselben schriftlichen vorlagen und quellen, nicht auf mündlicher tradi-
tion beruht und dass die dichterische tätigkeit der Verfasser eine sehr verschieden-
artige gewesen ist, indem sie ihre quellen entweder wörthch benutzen oder umarbei-
ten und überarbeiten. Als ergebnis wird festgestelt, dass die zahlreichen hymnen
und klagegesänge aus den Marien- und Magdalenenklagen herübergenommen sind,
dass dagegen für den übrigen text zahlreiche ostergesänge , ferner Walter von Rhei-
naus Marienleben, für einzelne stellen auch Martina, passional und erlösung gedient
haben. Als grundlage für die erste gruppe kann der Trierer ludus gelten, daneben
haben aber auch viele fassungen des Innsbrucker und Wiener osterspieles weite Ver-
breitung gefunden (s. 69). Auch auf die zweite gruppe der nach inhalt, spräche und
Charakter von der ersten bedeutend abweichenden osterspiele dehnt der Verfasser
seine Untersuchungen aus und gelangt zu dem ergebnis, dass das Innsbrucker und
das Wiener osterspiel als typus und grundlage derselben zu betrachten sind. Die
queUe füi' den 3. und 6. auftritt sind geistliche dichtungen wie Urstende» Martina,
passional u. a., für den lezteren auch die erlösung. Die übrigen scenen sind teils
geistlichen, teils weltlichen dichtungen entnommen. Interessant sind besonders die
anchweise von der Übereinstimmung mit manchen fastnachtspielen, zumal mit dem
Neithartspiele , so dass man eine wechselseitige beeintlussung der fastnachtspiele und
der geistlichen spiele anzunehmen berechtigt ist.
Der Verfasser zeigt in diesem abschnitte eine grosse Vertrautheit mit den
schätzen der poetischen Htteratui- des mittelaiters , wie man auch das sorgfältige Stu-
dium der 18 spiele mhmen muss, das er in dem folgenden abschnitt zu erkennen
gibt. Hier bespricht er das Verhältnis der von ihm berücksichtigten 18 spiele zu
380 HOLSTEIN
einander und gibt ihre besonderen quollen an, wobei eine sorgfältige Charakteristik
jedes einzelnen Spieles gegeben wird. Für die ältesten spiele wird mit recht ein ver-
loren gegangenes spiel als gemeinsame quelle angenommen. Dem Verfasser erscheint
das Redentiner ostei^spiel , wegen der frischen, volkstümlichen, humoristisch - sati-
rischen darstellung, der niederdeutschen lokalfärbung , der gelungenen chai'akteristik
der hauptpersonen, der ebenso eigentümlichen wie glücklichen erweiterung mancher
scenen- als das beste aller osterspiele. Von der einwirkung der Magdalenenscenen
des Benediktbeurer passionsspieles auf die anläge anderer spiele sind auch wir über-
zeugt, aber wir hätten gewünscht, dass der Verfasser statt des Hoffmannschen textes
den der Carmina burana in der Oesterleyschen ausgäbe zu gi'unde gelegt hätte.
Ebenso wichtig für die entwicklung der geistlichen spiele erscheint uns das Wiener
passionsspiel. Was die Frankfurter dirigierrolle betritt, so darf ihre entstehung ohne
bedenken um das jähr 1350 angesezt werden, da der kanonikus Baldemar von Peter-
weil, der 1382 als verstorben erwähnt wird und von dessen charakteristischer hand-
schrift zahlreiche manuscripte im archiv zu Frankfurt vorhanden sind, an ihr ver-
besseningen vorgenommen und an den rand bemerkungen geschrieben hat, und zwar
nach dem duktus dieser bemerkungen zu schliessen, in seiner früheren lebenszeit.
Mancherlei für die geschichte des mittelalterlichen dramas wichtigen ergebnisse wird
die in aussieht stehende Veröffentlichung des Frankfurter passionsspieles von 1492,
das sich handschriftlich im Stadtarchiv zu Frankfurt befindet, zu tage fördern. Es
ist. wie mir herr dr. Froning schreibt, eine kopie von der hand des gerichtschreibers
Johannes Cremer. „Aus der Übereinstimmung der versanfänge lässt sich in vielen
fällen schliessen, dass das jüngere spiel auf dem älteren beruht; nur ist das jüngere
unendlich viel dramatischer und hat "^iele wenig dramatische episoden des älteren
gestlichen; auch fehlen die im älteren spiele so häufigen, aber doch sehr undrama-
tischen chöre in dem jüngeren fast ganz."
Dem fünften abschnitte fügt der Verfasser eine graphische darstellung des
abhängigkeits Verhältnisses der sämtlichen spiele bei. aus welcher hervorgeht, dass
die osterspiele sich vom Rhein (Trierer ludus) durch Mitteldeutschland verbreitea.
Ton hier geht ein zweig nach Österreich (Innsbruck, Wien, Sterzing), ein anderer
durch Böhmen ebenfals dahin, sogar bis nach Ungarn (Erlau), ein anderer nach
dem norden (Wolfenbüttel, Redentin). Die passionsspiele gehen von Süddeutsch-
land ( Benediktbeuren ) und der Schweiz (St. Gallen) aus, verbreiten sich dann nach
Österreich (Wien, Sterzing, Erlau) und Mitteldeutschland (Donaueschingen, Frank-
furter dirigieiTolle , Friedberg, Alsfeld), wo sie mit den osterspielen zusammen-
treffen.
Der sechste abschnitt beschäftigt sich mit dem stil der geistlichen spiele. Es
wird zunächst wahrscheinlich gemacht, dass die weltlichen demente, welche die
geistlichen spiele enthalten, durch die spieUeute, die clerici vagantes und ähnliche
leute in dieselbe gelangt sind. Leztere waren teilweise Schauspieler von beruf, sie
wurden zuerst von den geistlichen als mitspieler zugelassen ; als jedoch die weltlichen
Elemente hinzuti'aten , wurden die spiele aus der kirche verbaut, die geistlichen
musten auf die mitwirkung verzichten und das aus der kii'che vertriebene drama
geriet nun ausschliesslich in die bände der spielleute. Im einzelnen weist nun der
Verfasser an den sprachlichen, stilistischen und sonstigen eigentümlichkeiten der ver-
schiedenen spiele den einfiuss der Spielmannsdichtung nach, so zunächst in allen
scenen. in denen Pilatus und seine ritter auftreten, in den krämerscenen, in den
teufelsspielen und in den Maiia- Magdalenenscenen. Der nach weis wird in einer
ÜBER WIRTH, OSTER- UND PASSIONSSPIELE 381
Überaus sorgfältigen Untersuchung über die (|uelleii, aus denen die dichter der oster-
spiele und der fastnaehtsiäele geschöpft haben, und über die art der benutzung der
vorlagen durch die Verfasser der verschiedenen spiele geführt. Diese Untersuchung
erstreckt sich auch auf die passionsspielo, welche grossenteils auf grundlageu der
epischen dichtung beruhen. Mit einer bewundernswerten Sicherheit, einer folge
überaus gründlicher komparativer Studien, kann der Verfasser die tatsache feststellen,
dass sich das Bencdiktbourer und das Wiener passionsspiel als })rodukte der spiel-
mannspoesie erweisen und dass die Verfasser der grossen i)assionsspiele ihre vorläge
in sehr vielen fällen wörtlich abgeschrieben haben. Derartiger hochwichtiger ergeb-
nisse hatten die bisherigen forschungen über die entwicklungsgeschichte der drama-
tischen poesio des mittelalters sich noch nicht zu erfreuen, und wir können dem
Verfasser nicht daukbai- genug sein, dass er sich der grossen mühe unterzogen hat,
ein werk zu schaffen, dessen Zustandekommen nur durch die anwendung des ern-
stesten und gewissenhaftesten ileissos möglich war.
Als „anhangt (s. 235 — 343) bringt der Verfasser die belege zu den geistlichen
spielen, durch welche das Verhältnis der einzelnen spiele zu einander klar gelegt
wird. Der Verfasser begiut hier mit der markierten Scheidung zwischen oster- und
passionsspielen (A. osterspiele), ohne dieselbe bei den mit dem Benediktbeurer spiel
(s. 278) beginnenden passionsspielen durch den vermerk: B. passionsspiele kentlich
zu machen. Auch dieser abschnitt, der das scenarium jedes der 18 spiele nebst den
nachweisen der Übereinstimmungen mit dem scenarium anderer spiele enthält, lässt
uns auf jeder seite den hohen wert des Wirthschen buches erkennen.
In dem am Schlüsse befindlichen litteraturnachweis vermissen wir Fronings
wertvolle kleine schrift Zur geschichte und beurteilung der geistlichen spiele (Frank-
fuii a. M. 1884), Milchsacks recension der Kummerschen ausgäbe der Erlaucr spiele
(Litteraturblatt f. germ. u. rom. i)hilologie 4, 171 — 174), Scherers besprechung der
Milchsackschen Oster- und passionsspiele (Deutsche litteraturzeitung 1881, 50), fer-
ner die erwähnung des Lambacher passionsspieles (Frogr. Kremsmünster 1883). Die
berichtigungen , die der Verfasser auf s. 350 und 351 verzeichnet, lassen sich noch
um das doppelte vermehren; es sind meist druckfehler, die sich jeder leser .selbst
verbessern kann. Doch möchte ich folgende wichtigere hier anführen. Es ist zu
lesen: s. 123 z. 8 v. u. von vorn, s. 139 z. 10 Mone U, s. 146 z. 17 brauchbarer,
s. 147 ostensiones und Intendant, s. 161 Herodias, s. 191 und 193 Einbecker sünden-
faU (unter wegfall des kommas), s. 204 und 205 Wackernagel st. Grimm, s. 212 z. 11
jenes gedichtes konte ich nicht habhaft werden, s. 235 Hoffmann st. Mone, s. 238
Pasche, s. 305 mane nobiscum, s. 345 Pfeiffer, s. 346 unter Krolewiz: Lisch st. Sich,
s. 350: zu s. 53 z. 3 oben st. unten.
WILHELMSHAVEN. HUGO HOLSTEIN.
Friedrieh Nicolais kleyner feyner almanach 1777 und 17 78. Erster und
zweiter Jahrgang. Herausgegeben von Oeorg Elling-er. Berlin, gebm-
der Paetel. 1888. XXXYI, 64 und XH, 86 s. 8. 6 m. — Auch u. d. t: Ber-
liner neud rucke. Herausgegeben von prof. dr. Ludwig Geiger, prof. di\
B. A. Wagner und dr. Georg Ellinger, 1. und 2. band.
Das neue unternehmen, das hier glücklich und passend durch Ellingers
emeuerung der Nicolaischen volksliedersamlung eröfnet wird, soU vergriffene ältere
382 BOLTE
■werte aus dem litteratiu-leben der mark Brandenburg, wie N. Peuckers gedieh te,
Schmidt von "Werueuchen u. a. algemein zugänglich machen.
Pie beiden zierlichen bändchen des ,,kleynen fernen almanachs vol schönorr
echterr liblicherr volckslieder'^, welche von den zahlreichen seither aufgetretenen
samleru auf diesem gebiete fleissig ausgenuzt wurden, sind bereits so selten, dass
man nur mit grosser mühe eines exemplars habhaft werden kann, und so wird der
vorliegende abdruck fielen freunden der volkspoesie eine wilkoinmcne gäbe sein,
zumal da der herausgeber den text sorgfältig revidiert und mit einer gut orientieren-
den einleituntj vei'sehen hat.
Seitdem Herder in den Fragmenten über die neuere deutsche litteratur uud in
den Blättern von deutscher art imd kunst die junge dichtergeneration auf die wider-
belebung des deutschen Volksliedes hingewiesen und den wünsch ausgesprochen hatte,
es möge ein deutscher Percy aufstehen, welcher die verstreuten reste desselben im
Elsass, in der Schweiz, in Franken, Tirol und Schwaben samle, waren manche die-
ser mahnung gefolgt. Besonders aber widerholte Bürger im Peutschen museum 177G
mit diiuglichkeit Herders klagen über die gelehrte verbildung seiner zeit und ver-
langte, dass die dichter sich in ihren bailaden das Volkslied zum muster nehmen
und ihre Wirkung nicht auf wenige gebildete, sondern auf das ganze volk berechnen
solten. Piese forderungen und der etwas überschwängliche ton in Bürgers aufsatze
gaben dem Berliner kunstrichter Nicolai den plan ein, in der maske eines deutschen
Percy aufzutreten imd die widerbelebung der volkspoesie mit denselben parodistischen
mittein lächerlich zu machen, die er kurz zuvor (1775) in den Freuden des jungen
"Werthers gegen Goethe verwant hatte. Auf Herder brauchte er keine rücksicht
mehr zu nehmen, da seine Verbindung mit ihm gelöst war. Längst wol hatte er
mit dem nüchternen beobachtungstalente und dem sammelfleisse , welcher seine
Beschreibung einer reise durch Peutschland oder seine Beschreibung von Berlin und
Potsdam kenzeichnet, auf fliegende blätter und alte liederbüchlein geachtet, aber
darin nur curiosa erblickt, denen kein moralischer nutzen und keine förderung der
dichtkunst innewohne. „Wenn man solche volksheder im original ansieht '^, schrieb
er an Gebier, „so erkent man deutlich die torheit derjenigen, welche der weit weiss-
machen woUen, als ob aus den schrecklichsten hechelträgerUedem der wahre zauber
der dichtkunst oder gar der geist der nationen ausfindig gemacht werden könne."
Von seinen bekanten, wie Lessing und Justus Moser, erbat er sich beitrage und
äusserte sich dem ersteren gegenüber auch offenherzig genug über die von ihm
befolgte methode: mit heimlichem vergnügen habe er einige schöne stücke zuerst
ans licht gebracht, aber wLssentlich einige recht plumpe darunter gesezt, damit man
anschauend sehe, dass wahrhaftig nicht alle Volkslieder des abschreibens wert sind.
Ein zweites mittel der parodie ist die absichthch verzeiie und überladene Schreib-
weise, mit welcher er die lästigen konsonantenhäufungen des 16. Jahrhunderts über-
bietet. Auch gieng er mit seinen vorlagen oft recht eigenmächtig um. PeutUcher
noch zieht er in der vonede, welche er einem handwerksgenossen des verachteten
meistersängers Hans Sachs, dem schuster Paniel Seuberlich tzu Ritzmück an der
Elbe, in den mund legt, gegen die Originalgenies zu felde; aber seine parodie des
Bürgerschen aufsatzes geht plötzlich in einen ungeschickten direkten angriff vom
moralisierenden Standpunkte aus über. Per erfolg des Unternehmens war kaum der
von Nicolai erhofte. Seine freunde begnügten sich mit einigen ausweichenden kom-
pUmenteu oder sprachen ihre misbilligung über die satire, in welcher ti-efliches und
geringes in gleicher weise verurteilt wurde, aus: so Merck, Boie, Lessing. Bürger
ÜBER NICOLAI, ALMANACH ED. ELLINGER 383
beschränkte sich darauf, in einigen Strophen des gedichts Europa ] 777 mehrere üusse-
rungen der vorrede zurückzuweisen (vgl. Strodtniann, Briefe von und an Bürger 1,
381 fg.). Zwei anonym gebliebene autorcn veranstalteten, wie Ellinger zuerst nach-
weist, einen ironisch gemeinten nachdruck des Almanachs und eine nachahmung:
„Ausbund schöner weltlicher lieder für bauers- und handwerkslcute ", Reutlingen,
0. j. Herder endlich uante den Almanach Nicolais eine Schüssel voll schlämm, auf-
getragen, damit die uation ja nicht zu etwas besserem lust bekomme, und unter-
nahm es 1778, in seinen „Volksliedern" das gold aus dem schätze der deutschen
volkspoesie zu heben und dem ])ublikum aufzuzeigen.
Schon Lessing vermisste ein Verzeichnis der von Nicolai benuzten drucke und
handschrifteu ; Ellinger hat in einem anhange (2, 61 — 80) einen solchen quellcnnach-
weis für die meisten der 64 lieder geliefert. Danach sind 20 nummern aus den drei
teilen der Bergkreycn (Goedeke, Grundriss- 2, 28. 40 fg.) entlehnt, andre entnalim
der samler fliegenden bliitteru des 18. Jahrhunderts und den ihm von Moser und
Steinbart zugesanten aufzeichnungen aus dem volksmunde; zwei stücke des zweiten
bandes sind dichtungen Simon Dachs, welche in Heinrich Alberts Alien stehen. Zu
dem 2, 82 mitgeteilten „Vierlander baurliedlein " : „0 moder, o moder, min kucken
is dod" sind die nachweise bei H. Frischbier, Preussische volksreime und volksspiele
(1867) s. 18 fg. zu vergleichen. In dem 1669 angelegten liederbuche des Leipziger
Studenten Christian Clodius (Berliner mscr. genu. oct. 231 s. 4) steht eine andere
fassung nebst melodie:
Hey mutter, der finck ist todt.
Hätt ihr den fincken zu trincken gegeben.
So were der fincke geblieben am leben.
Der Sorgfalt des herausgebers entspricht die hübsche ausstattung, welche die
Verlagshandlung dem werkchen hat angedeihen lassen. Der hohe preis wii'd freilich
der Verbreitung im wege stehen. Dass die Seitenzahlen des originaldrucks nicht
angegeben sind und das von Chodowiecki gestochene titelbildchen nicht widerholt ist,
wird man leicht verschmerzen; bedauerlich aber ist das fehlen der teilweise von
Reichardt komponierten melodien, um so mehr, als weder auf Erks (Die deutschen
Volkslieder 2, heft 3 s. 14) bemcrkungen über dieselben noch auf spätere abdrücke in
Kretzschmers und Zuccalmaghos samlung, in Erks Deutschem liederschatz u. a. liin-
gewieseu wird.
BERLIN. ' JOHANNES BOLTE.
Eiue lausa^isa des Hrömundr halti,
die in der Landnäma (Isl. sögur I-, 162) und in der Flateyjarbok (I, 413) verderbt
überhefeii ist, lässt sich folgendermassen herstellen:
Ne ^vi dogri da^^^i 'Roßki 'k litt, {)6t leiki
ÜYaug flatvallar hauga. UYvgndr He{)ins Ut]QX
— buumsk vi{) Ihndx jaZmi! — (ä|)r vas xitd^^v pwm.
kpY ne gser vas ra^inn. aldr) vi{) rauj)a skj^ldu.
1 Varat mer i dag daudi codd. edd. 2 di-augr codd. edd. {eine hs. der Landnäma
drougar). 3 älmar jalmi eine hs. der Ldn. 4 vas] of codd. edd. 6 litvordr einige
hss. der Ldn. uitiar Flb. 7 oss var adi- (ädr var oss Flb.) of markadr codd. edd.;
vtum var ädr of vitadi* Jon po?'kelsson.
384 NACHHICHTEN
Zur ei-sten zeile, die iu deu bss. hendingalaus ist, vgl. ^Skirnisrnf^l 13^: einu
do:gri rqnonk aJdr of skapaßr. Z. 7 hat iu deu hss. ebeufals keiueu silbeureiui.
Die von Jou I'oikelsson vorgeschlageue coujectur enthält zwei metrische fehler, die
durch die von mir vorgenomuieue uiustelluug entfernt sind. Ob die conjectur das
richtige trift, ist natüi'lich ganz uusichei-: die Verderbnis liesse sicli alleufals auf dem
wege der mündhcheu traditiou, schwerlich auf dem der schriftlichen erklären. H. G.
Zu zeitschi'. XXII, 93.
Zu dem aufsatze: Eine quelle des Simplicissimus (oben s. 93 fgg.) macht mich
heiT dr. F. Bober tag darauf aufmerksam, dass er bereits in seiner Geschichte des
romans (Ha, 27. 64 fgg. 93) über die benutzung des Gusman vou Alferache durch
Grimmeishausen gehandelt hat. H. G. .
NACHRICHTEN.
Der verein für Hambui'gische geschichte bestirnt einen preis von 1000 mai'k
für den besten bis zum 1. mai 1892 im manuscript eingereichten beiti-ag ziu- kentnis
des anteils Hamburgs an der entwickelung der deutschen litteratur
während der ersten halte des 18. jahrbunderts. Nähere auskunft erteilt der
ei-ste Vorsteher des Vereins, di'. Th. Seh rader, Hambui'g, Eilbeck, Hmter der Land-
wehr 6/7.
Die XL. versamlung deutscher philologen und Schulmänner wird
vom 2. bis zimi 5. Oktober 1889 in Görlitz abgehalten werden. Die vorbereitenden
geschäfte für die germanisch - romanische section haben professor dr. 0. Erdmann
und professor di'. Gaspary in Breslau übernommen.
Professor dr. Fr. Vogt in Kiel wui'de als uachfolger E. AYeinholds an die
Universität Breslau berufen.
An der univereität Leipzig habilitieile sich di'. ^". Streitberg füi- germanische
Philologie.
Am 28. april d. j. verstarb zu Gotha hofrat prof. dr. Karl ßegel (geb. 21. mai
1817). Die Zeitschrift betrauert in dem dahmgeschiedenen , der das di-uckfertige
manuscript einer ausgäbe des Wühelm von Östen-eich von Johann von Wüi'zburg
hinterlässt, einen ihi-er ältesten mitarbeiter.
Am 5. juli starb zu Berlin der litterai'historiker Wendelin freiherr von
Maltzahn (geb. 10. mai 1815 j.
S. 128, z. 1 V. u. lies statt 68: nahezu 62.
Halle a. S. , Buchdrnckerei des Waisenhauses.
ZWEI VEESVERSETZinSTGEN IM BEOWULF.
901 — 915. Zu anfang dieses abschnittes wird ebenso unvermutet
von Sigmund zu Heremod übergegangen, wie mit seinem Schlüsse
ganz unerwartet wider auf Beowulf, von dem vor Sigmund die rede
war, zurückgesprungen wird. Ferner bleibt das syntaktische vorhältnis
zwischen 901 und den vorhergehenden versen durchaus unkhu'. iJiese,
die sich auf Sigmund beziehen, lauten nämlich:
898 Se luces ivreccena ivide mcerost
ofer iverpeöde ivt-^endra hleö
ellend(Tdum: he J)ces dron ddh.
Dann folgt unser abschnitt:
901 Siädan Ilerernödes hild sivedrode,
carfoct ond dien usw.
Man hat diese Schwierigkeiten zu heben gesucht, indem man
heremod appellativ nahm. Dies ist zuerst von Rieger in seinem lese-
buche (s. 64 und s. 281) geschehen und im anschluss an ihn von Holtz-
mann (Germania YIII, 491 fg.) weiter begründet worden. Unabhängig
von beiden hat diesen gedanken neuerdings Heinzel in Steinmeyers
Anzeiger X, 228 (vgl. jezt auch ebenda XV, 160 fg.) eifasst^ Und
er erscheint im ersten nioment wirklich verlockend. Denn nun würde
sich auch unser abschnitt auf Sigmund beziehen und sidäan schlösse
sich aufs schönste an das vorhergehende, da es den bericht über ein
späteres unglückliches abenteuer Sigmunds einleiten würde, nachdem
vorher von einem früheren glücklichen dieses beiden erzählt war. Ja
es scheint, als ob auch der alte Schreiber, der das von Cosijn (Beitr.
YIII, 568) richtig widerhergestelte äron- ddh in rer onddh wandelte,
auf die seite dieser auftassung träte. Wenigstens erhelte von hier aus
der zweck dieser änderung, die gewiss nicht unabsichtlich geschah,
wie der so entstandene gegensatz aT — siddan zu beweisen scheint.
Gleichwol kommen wir auf diesem wege nicht weit. Denn schon mit
den folgenden weiter unten (s. 387) citierten versen geraten wir in die
brüche. Sie lassen sich auf keinen andern als auf Heremod beziehen.
1) Auch Körner, Kölbiugs Engl. Studien I, 494 ei-wiigt emen ähnlichen ge-
danken.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXH. 2o
386 JOSEPH
Heinzel ft-eilich weiss sie für seine aniiaivme zu retten, indem er sie
als algemeine betraehtung ansieht. Aber ^Yi(lers])rieht dem nicht allein
üäel SriihJiii^a 913? Dass hcycmufl sonst nii'gends als adjektiv vor-
komt, sondern immer nur als name auftritt, davon darf man füglich
absehen. Aber sehr entschieden muss darauf hingewiesen werden,
dass das Avort auch im Beownlf als name erscheint und zwar an einer
stelle, die unverkenbare anklänge an unsere hat. Hiermit bleibt denn
auch an dieser der name zweifellos gesichert, und jeder erklärungsver-
such, der die appellative bedeutung des wortes zu gründe legt, ist ein
für allemal zurückzuweisen.
Es erhebt sich also nunmehr die frage, wie die nnebenheiten,
die in syntaktischer beziehung wie im gedankengang durch das auf-
treten Heremods entstehen, zu erklären sind. Bevor wir aber hierüber
zu einer entscheiduno- kommen können, müssen wir unsern abschnitt,
gesondert von seiner Umgebung, in seinem Zusammenhang in sich,
beti'achten. Dieser versuch ist schon oft unternommen worden, ein-
gehender von: Holtzmann, Germania YIII, 491 fg.; Müllenhoff, Zeit-
schrift für deutsch, altert. XIY, 202, Beovulf, s. 50 fg. (119 fg.); Köh-
ler, Zeitschr. f. d. phil. II, 315 fgg.; Hornburg, Die composition des
Beowulf, s. 22 fg.; Dederich, Historische und geographische Studien
zum ags. Beowulf liede, s. 207 fgg.; Körner, Kölbings Englische Studien
I, 492 fgg.: Möller, Das altenglische volksepos in der ursprünglichen
sti'ophischen form, 100 fgg.; Heinzel, Anzeiger f. d. alt. u. litt. X, 228.
XY, IGO fg.; Bugge, Beiträge XII, 39 fgg. Ich vermag keinem der
bisherigen foi*scher in jedem punkte beizutreten. Die verse 902'' ig^.:
he mid Eotenum ivearä
0)1 feonda ^eiceald forä forläcen,
snüde forsended
fasse ich übereinstimmend mit Bugge, indem ich ebenfals von mid
Eotenum zunächst absehe: „Heremod wurde durch verrat in die gewalt
der teufel gegeben, schnell zur hölle entsendet." Ähnlich hatte schon
Heinzel, Anzeiger X, 228 diese werte erklärt. Dann folgt (mit Bug-
ges interpunktion) :
904 Jiine sorhivylmas
lemede to lan^e, he his leödum wearä,
eallum oipelin^uin to aldorceare.
Bugge behauptet, dass der erete dieser beiden sätze sich auf das tun
und ti-eiben Heremods in diesem leben bezogen und einen synonymen
gedanken zum zweiten satz enthalteii haben müsse. Zu diesem zweck
VERRVERSRTZTTNGEN IM BEOWULF 387
schlagt er vor hine sorh/njlnfffs in sorhfrfjbna hriiic zu andern und
übereezt dann: „durcli den griff der verzeln-enden sorge lähmte Heremod
(das vnlk) zu lange (als dass es länger geduldet werden konte)." Die
ausdrucksweise für diesen gedankcn wird niemand glücklich finden;
auch vom syntaktischen Standpunkte ei-schiene sie auffällig. Ich sehe
nicht ein, warum man den. satz, den Bugge mit so kühner conjektur
bedenkt, nicht auf das leben im jenseits beziehen soll. Nachdem eizählt
ist, dass Heremod in die höUe verdamt ist, wird nun von den quälen
gesprochen, die er dort erleidet. Dasselbe geschieht ja auch in der
andern Heremodstelle und hinc sorhinjlmas Jemede (oder mit Müllen-
lioff 1cmedo)i) tu lan^e m diesem sinne würde hier dem entspreclK'U,
was dort mit dredmlcds -^chad . . leodbeaio low^siim (1720) ausgedrückt
ist. sorhirylm zur bezeichnung von höllenpein findet sich auch Güd-
lac 1046.-
In diesem Zusammenhang erhalten denn die nun folgenden verse
907 — 918, die schon sehr verschiedenen vernuitungen räum gegeben
haben, ein neues licht:
Sivylee oft bemearn cerran mceliiMj
sundfcrlipes siä snotor ceorl moni^,
sepe htm heahva tu Lote ■^clyfde,
910 l>ret pect dcödnes hcani ^epeön scolde,
fcpderapelum onfon, folc •^ehccddan,
hord ond hleöburh, hcelepa 7'7ce,
edel Scyldinga.
Bugge, der am ausführlichsten über diese stelle handelt, übersezt: „so
betrauerte oft in früheren zeiten des kühnen gang {sld) manch weiser
mann, der bei ihm abhilfe des Übels hofte, (der es hofte,) dass des
königs söhn gedeihen solte, empfangen des vaters adel und das volk
verteidigen, den hört und die schirmburg, der beiden reich, den erb-
sitz der Schildinge.'' Bugge will aus diesen versen einen gegensatz
zum vorhergehenden teile herauslesen, insofern als mit cerran mceluni
von fi-üheren zeiten aus dem leben Heremods gesprochen werde, wäh-
rend vorher von späteren die rede gewesen sei. Die verse sollen
besagen, dass Heremod nicht blos in späterer zeit, sondern bereits in
seiner Jugend seinem volk anlass zur klage wurde. Und zwar dadurch,
dass er eine kriegsfahrt in die fi-emde unternahm, anstatt zu hause
seine herscherpflicht zu üben und seinem bedrängten volk erhofte ret-
timg zu gewähren. Hiergegen nun ist einzuwenden, dass cüeser gegen-
satz doch äusserst matt und nicht geeignet ist, das an dieser stelle so
unerwartete zurückgreifen auf ein Jugendabenteuer Heremods zu recht-
25*
'388 JOSEPH
fertisren. Ferner aber würde auf das aben teuer mit eanz Unverstand-
lieber kürze bezug genommen sein. Eine solcbe aber wäre liier um
so weniger angebracht, als man aus der andern Heremodstelle entneh-
men zu müssen glaubt, dass Heremod in seinen jungen jähren eher
die hofnungen seines volkes geweckt als getäuscht habe; vgl. besonders
17 IG fgg., wo gesagt wird, dass er schliesslich traurig enden muste:
(teähpc liine niilffi^ ^od mcei^enes ivTjnnum,
eafepiüH stcptc, ofcr callc men
fönt ^efremede.
Ich halte für Bugges gruiidfehler seine aiüfassung von skt Und dieses
Avort scheint mir auch von allen übrieen forschern misverstanden oder
ungenügend erklärt zu sein; Simrock, Grein, Kühler geben es mit „loos,
geschick" wider, was niu' als notbehelf erscheinen kann, sut heisst hier
„gang." Ä-ber es ist an dieser stelle nicht mehr plötzlich von einem
neuen gang aus Heremods leben die rede, sondern es wird offenbar
sein im ganzen vorhergehenden teil behandelter gang ins jenseits, sein
heimgang, sein tod mit jenem worte bezeichnet. Aber wie konte der
tod eines so verhassten herschers „manchem weisen mann" gegen-
ständ des Jammers sein? Das beantworten 909 fgg. Mit recht behaup-
tet Körner, Engl. stud. I, 493, dass die verse 910 igg. sich auf jeman-
den beziehen müsten, der die herschaft noch nicht angetreten habe;
also nicht auf Heremod selber gehen könten, von dem 1719 fg. mit
den werten nallas beä^as ^eaf Deniini cefter dorne die ausübung des
königtums klar berichtet wird. Demnach bleibt nichts übrig, als unter
iteödnes hearn 910 den zur nachfolge bestirnten söhn Heremods, den
er in der heimat zurücklässt, zu verstehen, und aus unsern vei"sen
dürfen wir also entnehmen, dass in folge von Heremods plötzlichem
tode feinde in sein land fielen, seinen unmündigen söhn des thrones
beraubten und so der alten dvnastie ein ende machten. Hierzu nun
stimt ti'efUch, dass Heremod in den angelsächsischen königslisten als
leztes glied genant wird; vgl. Müllenhoff, Beovulf, s. 5 und 50 fg.
Die feinde aber, die nach Heremods tod in sein land einfielen, werden
dieselben gewesen sein, die er eben bekriegt hatte und bei denen er
um seine kampfest üchtigkeit gekommen war, d. h. besiegt wurde und
fiel. Hierfür nun passt kein anderes volk besser als ein benachbartes.
Und daher ist mir nicht mehr zweifelhaft, dass unter den eotenas 902
nicht mit Bugge „riesen", sondern vielmehr das volk der Juten zu
verstehen ist. Nach alledem übersetzen wir die vei-se 907 — 913 nun
folgendennassen: ..Ebenso beklagte oft in vergangenen zelten den hin-
gang des kraftmutigen manch weiser mann, der sicli durch ihn geschüzt
VERSVERSETZUNGEX IM BEOWÜLF 389
geglaubt hatte vor den Übeln (die nach seinem todo eintraten), erwar-
tet hatte, dass dieses königs söhn gedeihen solte, empfangen die väter-
liche würde, herschen über das volk, den hört und die schirmburg,
der beiden reich, den erbsitz der Schildinge.''
Es blieb bisher der satz unberücksichtigt, an den sich die eben
übersezten verse anschliessen :
905 he his leödwn ueant
ealliDu cej)elin^ii7u tu aldorceare.
Wir sind erst jezt in der läge, diesen worten ihre richtige beziehung
zu geben. Ich mache vor he 905 eine starke interpunktion und ü])er-
setze dann: „Er ward seinem volke, allen edelingen zum herzenskum-
mer, nämlich durch sein leben: Ebenso beklagte andrerseits seinen
tod manch weiser mann" usw. Die verse 913'' — 915 endlich bedür-
fen in bezug auf ihren Zusammenhang keiner weiteren besprechung.
Ist somit der abschnitt in sich zur befriedigung erörtert, so dür-
fen wir nunmehr sein Verhältnis zu den umgebenden versen betrach-
ten. Hier nun ist durch den glücklichen gedanken ten Brinks^, dass
901 direkt mit 861 zu verbinden sei, ein neuer ausgangspunkt gege-
ben. Mir ist nicht im mindesten zweifelhaft, dass ten Brink mit die-
ser Verbindung den ursprünglichen Zusammenhang richtig widerher-
gestelt hat. Denn nun finden sich, wie es der schluss unsres abschnitts
verlangt, BeoAvulf und Heremod unmittelbar nebenein andergestelt. Und
beide zugleich im vortrefUchsten gegensatz: Beowulf, der herbeieilt,
um den Dänen in ihrer bedrängnis beizustehen; Heremod, der wegzieht
und sie so in bedrängnis zurücklässt. Endlich schliessen sich auch
syntaktisch unsre verse in ihrer neuen Stellung aufs beste an: „Beowulf
war der beste kriegsmann auf erden, seit Heremod seinen kampfesruhm
eingebüsst hatte.'' Jezt aber erhebt sich die frage, auf welche weise
ist imser abschnitt von seinem alten platz getrent? Wie haben Avir es
zu erklären, dass zwischen die verse 861 und 901 der passus 862 —
900 getreten ist? Ten Brink benuzt hier seine Varianten theorie. Er
nimt an, dass in diesem zweiten Müllenhoff'schen liedc, in dem wir
uns befinden, von einem ordner zwei Versionen contaminiert seien,
eine volständige C, die den grundstock abgegeben habe, und eine
unvolständige D, die daneben benuzt sei. Dieser leztern version ent-
stamme der passus 862 — 900. 901 sei von 861 getrent, indem der
Ordner das D- stück dazwischen geschoben habe. Ten Brink weist in
seinen Vorbemerkungen (s. 4 fg.) auf diese steUe besonders hin, weil
1) Beowulf, Quellen und forschungen 62 (Strassbuig 1888), s. 60.
390 JOSEPH
hier die Verhältnisse so augenfällig lägen, dass sich die richtigkeit sei-
nes Verfahrens für jedermann ergeben müsse. Ich will an diesem
platze nicht algemeine Stellung zu ten Brinks variantentheoric nehmen.
Aber ich glaube, dass er keine günstige stelle ausgewählt hat, um
zweifelnde zu bekehren. Denn was müssen wir nun annehmen? Der
Ordner reisst ein Satzgefüge mittenauseinander, trent ohne weiteres
einen nebensatz von seinem hauptsatz, um einen zusammenhängenden
complex von 39 versen dazwischenzuschieben: unbekümmert, in wel-
ches syntaktische Verhältnis nun der losgelöste nebensatz gerät; unbe-
kümmert, Avie es nun um die beziehung der pronomina im abgetrenten
teil steht; unbekümmert endlich um alle gedankensprünge, die entste-
hen! Ist da^ wirklich so selbstverständlich? Ist es vor allem selbst-
verständlich von einem mann, der doch gelegentlich durch kleine
änderungen seine arbeit zu verdecken bemüht ist, der im ganzen wol-
bedacht und recht geschickt verfährt, nicht selten so rafüniert, dass es
in der reihe gelehrter, scharfsinniger, gewissenhafter forscher erst ten
Brinks bedurfte, um die fremde band herauszuerkennen? Demgegen-
über möchte ich nun ein mittel vorschlagen, dem man Avenigstens die
einfachheit nicht absprechen wird. Ich nehme nur eine kleine Umstel-
lung vor, indem ich die verse 900 — 915 heraushebe und nach 861
einsetze, also folgenden text aufstelle:
i)cer ivces Beöwalfes
mceräo mcmed: moni-^ oft ^ecivceä,
pcette säet ne norä he scem ticcönum
ofer eornienyand öper nceni-^
u ltder sice-^les (je^ou^ selra ncere,
861 rondhcehhendra rlces icyrära,
901 sktäau Ileremödet; hild siceärode,
earfoä ond eilen. He ?nid Eotenuvi ireard
on feöudu ^eiceald ford forldcen,
snüde foi^sended: hine sorhivylinas
905 lemedon to km^e. He Ms leöduni weard
ealltun cej)eli?i^um tö aldorceare:
sivylce oft hemearn cerran mceliim
sicidferhpes sid snoior ceorl moni-^,
sejje hiin bealwa to hole -^eli/fde,
910 pcet l>cct äeödnes bearn -^ejjeöit scolde,
fcedercepeluhb onfon, foh ^eheaklart,
hord ond hleöhurh, hcelepa rlce,
edel Sc/jldin^a. He Jjcer eallwu iveard,
VEKSVEKSETZUNGEN IM BEOWULF 391
Did'-^ Ili-^eldccs tnanna cfjnne,
915 frcönduin ^effo^m: lilnc fifvcn onicöd.
862 Sc lue hänt wlucdriJäoi uilit nc lu^ou,
^Icedne Hrdä^dr, ac pcet ivcea ^od ctjitin'^.
Hicthuu hvaporöfc hledpan Utoii,
865 on ^cflft farart fealive mearas
äcer M/N fohlire^as fce^cre J)H]ttoii,
cyatutii ende; liivilutn eyitin'^es pe^f/,
^tima -^ilphkeden, jldda ^efn?j7idi^,
seäe ecdfela ecdd-^ese^ena
870 2Cor7i ^einimde, icord öper fand
söäe •^ehnndcn: sec^ ef't ow^an
siä Beöwidfes sni/ttrnm styrimi
ond on sped tvrecan spei "gerade,
icordnni wrlxlmi, tvelkinjlc ^ecicceä,
875 pcet he fram Si^eninnde sec^an liyrde
ellendcediun, uncüpes fela,
Wcelsin^es ^eivin, ivlde sutas,
pärape -^limena hearn ^earive 7ieiviston,
fcchäe ond fyrcna, hiiton Fitela 7nid hine,
880 ponne he swulces hivcet sec^an icolde
eäin his nefan, swa hie ä ivceron
cet nlda -^ehwäm Jiyd-^esteallan.
Hcefdon ealfela eotena cymies
sweordwn ^esce^ed. Si-^emunde ^esjxron^
885 cefter dedä-dce^e dorn unlytel,
sypdan iv'i-x^es heard icyrm dcicealde,
horded hyrde: he under hdrne ntdn^
cepelinyes hearn dna ^enedde
frecne dcede: ne was him Fitela nnd;
890 hwcepre him ^escelde, dcet pcet siviird pnrhwod
tvtretlicne wyrm, Jjcet hit on n'ealle cetstöd,
dryhtlic iren: draca moräre ^wealt.
Hcefde ä^lceca eine ^e^onyen,
pcet he heähhordes hriicaii moste
895 selfes dorne; scebdt ^ehlod,
beer on hearm scipes beorhte frcetiva
Wcelses eafera: wyrm häte mealt.
Se wces ivreccena wide mcerost
ofer werpeode, ivi'^endra kleö
392 JOSEPH
900 cJlendädiim: he pces arou ädh.
916 Hu'ilum flftendc fealwe strcete
mearum tnatoii.
In der obie-en ordiuuii;' ti'eten also an drei stellen neue verhin-
düngen ein: zwischen 861 und 901, zwischen 915 und 862 und zwi-
schen 900 und 916. Dass 901 an 861 den besten und einzigen
anschluss findet, ist schon besprochen. 862 fg. aber gewinnen in ihrer
jetzigen stelhing eine ganz eigene bedeutung. Denn nachdem Beowulf
eben auf kosten eines vergangenen Dänenkönigs gelobt ist, erscheint
das komplinient für den gegenwärtigen hersclier als nicht übel berech-
net. 916 endlich folgt auf 900 ebenso gut wie auf 915. Sehen wir
uns nun den grossen Zusammenhang an! Auch liier fügt sich alles
nach schönstem wunscli. Auf Beowulfs trefliclikeit fält von zwei ver-
schiedenen punkten aus licht: einmal, indem er sich im gegensatz zu
einem besonders berüchtigten beiden — Heremod — befindet; und
darauf, indem er in gleiche Stellung mit einem besonders berühmten
beiden — Sigmund — tritt!
Die richtigkeit unsrer Ordnung erhält nun aber noch aus einer
stelle, an deren erklärung man sich bisher vergeblich versucht hat,
wilkommene bestätigung. Es handelt sich um die verse, mit denen
zmn zweiten lobe Beowulfs übergeleitet wird, 870 fgg.
tcord Oper fand
söde •gebunden: sec^ eft oif^an
skt Beöwidfes siiyttriirn styi^ian.
Was sollen wir in der überlieferten Ordnung mit dem wort öper 870
anfangen, das hier ebenso unverständlich erscheint, wie das dann fol-
gende eft? Heyne bemerkt im glossar unter fiiidan: „er fand andre werte,
d. h. er ging zu einer andern erzählung über." In seinem texte war
vorher gesagt, dass Beowulf gepriesen wurde und hier wird wider gesagt,
dass Beowulf gepriesen wurde. Wie kann man d^ von einer „andern"
erzählung reden? Man hat sich denn auch fast algemein durch ände-
rung des textes hier zu helfen gesucht. So Rieger, Ztschr. f. d. phil.
m, 390. Er übersezt uord öper fand söde "^ebuiulen „ein wort fand
das andre, richtig gebunden'', und ändert, cUesen satz in parenthese
stellend, das folgende sec^ in sec^an. Bugge, Ztschr. f. d. phil. IV, 203
schliesst sich ihm an. Grein ändert word öper in irordhleöper und
ihm folgt u. a. Holder in seiner ausgäbe. Bei ten Brink fält der
anstoss weg, indem er 870^^ — 874* als eine Interpolation innerhalb
der Version D ansieht. In unserm Zusammenhang nun bedürfen wir
keiner änderung noch irgend einer deutelei. Die verse sind auf den
VERSVERSETZUNGEN IM BEO^V^JLF 393
ersten blick verständlich: die ,, andre" rede, mit der hier der Sän-
ger das lob Beowults Avideraufiiinit, ist die Zusammenstellung mit
Sigmund, welche er der eben vorangegangenen mit Heremod fol-
gen lässt.
Bei so alseitiger zusammenstimmuiig muss die frage, wie die
Umstellung der besprochenen beiden versgruppen zu erklären ist, als
eine nebensächliche erscheinen. Dass Verderbnisse dieser art in alten
band schritten vorkommen, ist eine widerholentlich belegte tatsache. Ich
gestatte mir auf einen fall hinzuweisen, den ich selbst in Konrads von
Würzburgs Klage der kunst^ aufdecken konte. Hier Hess sich auch
mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit die entstchung der Verderbnis zeigen,
^lan darf wol auch in unserm fall annehmen, dass ein schreiber die
stelle an ihrem richtigen platz vergass, an einem späteren nachholte
und dadurch verursachte, dass ein neuer schreiber sie falsch einsezte.
Ich glaube, dass erst mit der obigen herstellung unsers textes
die richtige grundlage für die höhere kritik, d. h. für die bctrachtung
der Innern geschichte dieses teils gegeben ist. Dass aber eine solche
betrachtung hier wie im Beowulf überhaupt am platz ist, dass wir in
diesem gedieht kein einheitliches werk vor uns haben, das meine ich
nach den arbeiten Müllenhoö's, Möllers und ten Brinks unbedenklich
annehmen zu dürfen. Heinzel, der in seiner recension von ten Brinks
buch- einen entgegengesezten Standpunkt vertritt, hat mich in keiner
weise überzeugt. Gewiss wird jeder philologe der von ihm s. 181
erhobenen forderung zustimmen, dass man jedes dichterische werk nach
seinem eigenen massstab beurteilen müsse. Aber ich behaupte, dass
er sich leider selber gegen diesen grundsatz versündigt hat, indem
er zur erklärung des Beowulf ein material heranzieht, das durchaus
ungleichartig in sich ist.
1404 — 1407. Diese verse stehen ebenfals in MüllenhofTs zwei-
tem liede. Grendels niutter hat in der nacht einen genossen des königs
Hrodgar, Äschere, hin weggeschleppt. Beowulf tröstet den klagenden
könig mit dem versprechen, die feindin in ihrem verborgenen schlupf-
Avinkel aufzusuchen. Und so macht man sich sofort auf den weg:
pd ivces Hroä^dre hors ^cbceted,
1400 wic^ wundenfeax: uisa fengel
^eatolic ^en^de, -^umfepa stop
\) Quellen und forscliiingen 54, s. 4 und s. 86.
2) Anzeiger für deutsch, alt. u. deutsche litt. XV, 1.53 fgg.
394 JOSEPH
liiidluebboidm. Ldstas wceron
ceftvr fralih'frapff/fi widc T^csyiie.
3a/t(j ofcr -^r (Hl das, ^e^mini för
1-105 ofcr nnjrcan mör, nia^opc^na beer
pone selestau säwollcdsne,
J)drape mid Hröä^drc hdiii cahtode.
Ofercöde pd cepdirf^a bccuii
stedp stdjtliUdo, sti^e ficarwe,
1410 en;^e oNpadas, uncuä ^eläd,
ncoicle ncessas, nicorhilsa fda.
Die gespert gedruckten verse fallen völlig aus dorn Zusammen-
hang, da sie einen im gange der begebenheiten bereits erledigten mo-
ment noch einmal in seinem geschehen hinstellen. Bugge (Beiträge
12, 94) sezt daher, indem er einen gedanken von Sievers (Beiträge 9,
1-10) aiünimt, hinter 1403 ein komma, fasst ja/^j 1404 als Substantiv
und ergänzt vor dem zweiten halbvers 1404 hiccer heö. Ihm stimt
ten Brink (s. 77) zu. 1402 — 1408 würden also nun besagen: „Die
spuren waren längs den waldstegen weithin zu sehen, der gang über
die getilde', wo sie hinweg gefahren war über das moor und den besten
der ritter seelenlos getragen hatte, derer die mit Hrodgar die heimat
berieten," Abgesehen von dem schleppenden und nachhinkenden rela-
tivgefüge, das wir so erhalten, so ordnen sich die verse für den auf-
merksamen leser auch jezt noch keineswegs ein. Denn betrachten wir
die unmittelbar folgenden verse 1408 — 1411, so erscheint für die land-
schaft, die hier geschildert wird, doch gerade die Unübersichtlichkeit
charakteristisch. Wir sollen sehen, wie mühsam sich Beowiüf den
weg durch verborgene pfade, in fortwährendem auf und ab suchen
muss, ehe er an sein ziel gelangt. Wie passt nun dazu die eingangs-
bemerkung, dass die spuren des Ungeheuers weithin bis zimi endpunkt
— denn dieser liegt doch beim moor — zu überblicken waren? Von
ähnlichen erwägungen ist vermutlich auch ten Brink ausgegangen,
wenn er s. 77 von unsei"n versen sagt: „die stelle gehört auf keinen
fall zum kern von C.^' In der tat, wir wüi'den nicht das geringste
vermissen, wenn wir sie ganz wegliessen. Vielmehr würde dcuin in
durchaus folgerichtiger weise zuerst vom wald, darauf vom wilden
gebirge und mit 1412 fgg. von dem getilde gesprochen, das zum meer,
dem behausungsort des Ungeheuers, führt.
Lassen wir aber nun einmal unsern blick auf denjenigen teil des
gedichts hinübergleiten, an dem die eben von uns ausgeschiedenen
VERSVEESETZUNGEN IM BEOWULF 395
verse zeitlich am jilatze waren, auf die verse, die uns Grendels mutter
in der ausführiuig ihrer untat zeigen ^i
1280 ^ä cicer sdra nearä
ecUffct/rff, corhitn, sijxfan huic f'ealh
1282 3reif(Ues mödor. Xces sc ^rfjre Iccssa:
1291 llrüitc /tcö frjH'lfN^a diinc kcrfde
fcesle bcfatf^en,, pd hcö tu f'ennc ^(m^.
Se ivccs Hrop-^dre hcelepa leöfost
on ^eb'fctes lidd he sehn ticeömint,
rice rcuidici^a, ponedc heö on rceste dbredf,
blcedfa'stne beorn: nccs Beöiculf äccr.
Nachdem mit den werten pd heö tö fennc ^a/i^ 1295 bereits der
abzug des Ungeheuers beschrieben ist, erscheint es nicht passend, dass
der dichter hinterher ganz nebenbei in einem relativsatz noch ein neues
moment des raubes bringt, nämlich mit den Avorten poneäe heö on
ra'ste dbredf 1298. Ten Brink ändert daher tö fenne in on flette.
Hierdurch wird die chronologische folge der begebenheiten in sehr
hübscher weise gew^ahrt. Indessen es ergibt sich eine andre Schwie-
rigkeit, die ten Brink sofort zu einer weiteren hypothese nötigt: „Zwi-
schen 1298 und 1299 dürften dann eine oder mehrere Zeilen ausgefal-
len sein, wenn nicht der alte dichter über der Charakteristik Äscheres
und dem Übergang zu Beowulf Grendels mutter vergessen, d. h. ihren
abgang zu erwähnen unterlassen hat/' (S. 75 fg.)
Ich meine, die verse 1296 — 1298 tragen zu deutlich den Cha-
rakter eines nachträglichen eiuschubs, als dass hier besserungsversuchc
zum ziel führen könten. Scheidet man sie nun aber wirklich aus, so
ergibt sich ein merkwürdiger fall, der einzig innerhalb des Beowulf
dasteht. Denn w^enn sich sonst nach herauslösung fremder elemente
die zusammenrückenden teile ohne weiteres oder doch nach leiser
änderung aneinander schliessen, so bleibt hier syntaktisch sowol Avie
inhaltlich eine klaöende lücke. Aber, ich glaube, es gibt eine sehr
einfache erklärung dafür: die klaffende lücke fand eben ein Schreiber
vor, und er suchte sie durch die verse, die wir jezt an ihrer stelle
sehen, in seiner weise auszufüllen.
Hatte dieser mann es aber wirklich nötig, seine eigenen kräfte
zu versuchen? Vergessen Avir seine verse! Erinnern wir uns jener
früheren, die uns an ihrer stelle so widerspruchsvoll und entbehrlich
1) 1280—1204 nach teu Briuks. wie ich glaube, glücklicher herstellimg des
textes (s. 75).
396 JOSEPH
erschienen! Nehmen wir sie von ihrem alten platz und setzen sie
mit zwei
wir also:
mit zwei kleinen änderungen hier in unsre ofne stelle ein, schreiben
Hraäe Jfeö ccpclin/^a cbme hcefde
1295 fresfc hcf'nu'^en: pd heö tö fenne eft
1404 jaMj [z^f'^^Z] oß^' Z^'iifidas, ^e^/iwn f'dr
ofer myrcan Dior, nia^opegiia beer
poiie selesfa/i sdicolledsiie
1407 pdraj)c ))ihl Hröd^dre hdvi cahtodc,
1299 blcedfu'sUie beorn: nces Beöivulf äcer,
so haben wir auch hier eine tadellos fortschreitende und geschlossene
erzählung, in der in knapper und der Situation angemessener weise der
abgang von G^rendels mutter geschildert wird.
Ich zweifle demnach nicht, dass die verse 1404 — 1407 ihre
ursprüngliche Stellung zwischen 1295 und 1299 hatten.
Hier nun sehen wir eine kleine gruppe von vier versen um mehr
als hundeif vei-se von ihrer ursprünglichen bestimmung getrent. Da
erscheint die frage wolberechtigt, wie eine solche Verderbnis entstanden
sei. Ich gedenke bei andrer gelegenheit nachzuweisen , dass zwischen dem
jetzigen und früheren platze unsrer verse eine bedeutende interpola-
torische tätigkeit statgefunden hat, und dass nur folgende teile als
ursprünglich anzuerkennen sind:
1311 — 1813. 1816 — 1334. 1341 — 1344. 1383 — 1385. 1390 —
1394. 1399—1403.
Im ganzen 39 verse i. Und mehr waren auch nicht vorhanden zur
zeit, als die Umstellung der verse geschah. So konte denn diese
durchaus innerhalb einer imd derselben seite vor sich gehen und ver-
liert damit ihren auffälligen Charakter. Wir dürfen vielmehr nun ähn-
liches wde vorher annehmen. Ja diesmal sind wir in der läge, uns
bestimtere vorstellmigen zu bilden.
Zunächst können wir schliessen, dass der Schreiber, der die aus-
lassungssünde begieng, seine verse nicht absezte, sondern fortlaufend
schrieb. So wenigstens erklärte sich, dass die lücke nicht nach schluss,
sondern nach dem ersten werte eines verses eingetreten ist. Dieses
erste wort aber, nämlich ^an^, ist nach unsrer einordnung doppelt
vorhanden, indem es auch am eingang der umgestelten verse steht, so
dass wir es hier streichen musten. Liegt es da nicht nahe, in diesem
l) Ich bemerke, dass ich statt huaiper 133] mit Bugge (Beiträge 12, 03)
hicider lese.
VERSVERSETZUNGEN IM BEOWULF 397
zweiten ;^an^ nur ein merkwort zu sehen? Einen hinweis, mit dem
der Schreiber andeuten wolte, hintei' welches wort im texte die fol-
gende stelle einzuschalten sei? So würde uns also in dem zweiten
^mi^ noch ein sehr bestimtes anzeichen dafür vorliegen, dass die verse
in einer fi-üheren handschrift an einer von ihrem eigentlichen platz
entfernten stelle nachgetragen waren. Aber noch mehr! Es würde
sich zugleich aufklaren, warum die iiachgetragenen verse später falsch
eingesezt wurden. "Wie leicht nämlich konte ein neuer Schreiber über-
sehen, dass ^a?!-^ nur merkwort sei, und es so zum texte selber rech-
nen! Und nun freilich lag für die einsetzung der verse jeder platz
näher, als gerade der richtige! Nehmen wir an, dass die verse am
schluss der seite nachgetragen waren, so beliess der schreibor sie viel-
leicht da, bezog sie an der stelle, wo er sie zufällig fand, in den text
ein. Aber wahrscheinlicher ist mir, dass er mit guter Überlegung
verfuhr, als er die verse an ihren jetzigen platz rückte. Denn nach-
dem der richtige ausgeschlossen war, wo konten sie wol passender unter-
gebracht werden? Hier fügten sie sich am leichtesten ein und erfül-
len zugleich in befriedigender weise eine erwartung, die, wenn man
den grossen Zusammenhang nicht beachtete, durch 1890 fg. ^ angeregt
werden konte. Wie geschickt aber der Schreiber diesen platz gewählt
liat, erhelt wol am besten daraus, dass kein forscher bis auf ten Briiik
unsere verse an ihrer stelle beanstandet hat.
Um unsre neuordnung zu ermöglichen, bedurfte es mit dem
werte cft 1295 noch einer kleinen nachbesserung. Ich hoffe, dass
dieser umstand der vorgetragenen Vermutung nichts an gewähr neh-
men wird.
STRASSBURG, JUNI 1889. EUGEN JOSEPH.
LTEDEKHANDSCHEIFTEN DES IG. UND 17. JAHR-
HÜNDEETS.
DAS LIEDERBUCH DER HERZOGIN AMALIA VON CLEYE.
Uhland verzeichnet unter den quellen seiner volksliedersamluncj
(1844 s. 974) ein im 16. jahrlnindert entstamlenes liederbiich der her-
1) Diese verse lauten nämlich:
Ar^s rices iceard! läan ra^e feran
fremdes mu^an ^anö scedivi^an!
398 ROLTT?
zogin Ammch'a \n Cleve, ans dem er sieben mimmern (55. 05. 79h.
80. 81. 194. H12) cut)wn)me)i hat. SeifJfer hat, soweit ich sehe, nie-
mand sich nnf ilasseJbe Ijclihnniert; nar Bö/nne ividerltolt in seinem
Attdcatsclien liederlnich (IST? s. 774) die lairxe noti\ Uhlands. Eine
eingehendere nachricht irird daher an dieser stelle, hoff'c ich, nicht
anirilhommen sei)?.
Die orif/inalhandschriff girng nm 1824 ans dem hesitxe der
antiquare Goldsclfmidt a)id Winfpfen in Fra}ilfiirt a. M. hi den des
dortigen ar\tcs dr. Georg Kloss über ainl u-urde später von ihm
nach Fngknnl rerhanft. Wahrscheinlich befindet sie .sich dort noch
i)n priratbesitx ; im Britischen miisenm ist es mir wenigstens nicht
gehingen sie xn entdeclen. Unsere kentnis bernht somit allein auf
einer abschrift , welche Kloss 1825 von einem .schneidergesellen Jacob
Lepper anfertigen Hess und welche auch Uhland benuzte. Sie gehört
jezt der .stadtbibliothek zn Frankfurt a. M.^. Der kopist hat seine
rorlage offenbar ohne verstä}ulnis , aber sauber fmd sorgfältig nach-
gemalt. Leicht crkldrliche lesefehler sind f für f. dan für dair, heuen
für lieuen, I für A n. a. „Einige gedicltte", bemerkt Kloss am
15. sepjt. 1841, „waren so sorgfältig mit dinte ausgelöscht, dass sie
niclit mehr zu entziffern ivaren." hn ganzen enthalt die abschrift
33 lieder geistlichen iiml weltlichen inhalts; die nummerierung rührt
vielleicht erst von Kloss her, da nr. 20 und 21 zusammen ein Med
bilden und ziveimal fälschlich Z2vei oder drei verschiedejie lieder unter
derselben nummer (22 und 28) ziisammengefasst worden sind.
Auf die ursprüngliche besitzerin und samlerin weist die hinter
nr. 27 stehende Unterschrift: „Ammellga geboren hertz.zicheyn %o cleve
jullych und berg." Die folgenden lieder 28 — 31 icurden sicherlich
er.st später von einem andern Schreiber aufgezeichnet , ivelcher durch
.seine wunderliche häufung der konsonanten, wie ss, fF^ tz i7n anlaut,
td statt (\, und andere orthographische eigentümlichkeiten auffäll;
vielleicht ist sein name in def)i unter nr. 30 stehenden lettern „M. H.
E." verborgen. Die pi'inzessin Amalie- war als die jüngste tochter
des herzogs Johann IIL von Jülich- Cleve- Berg am 14. nov. 1517
geboren und lebte 7iuch dem 1539 erfolgten tode ihres vaters am Jwfe
ihres hruders, des herxogs Wilhelm (1516 — 1592), zu Cleve, Dilssel-
Ij ..Liederbuch der Ammellya gebornen herxogin zu Cleve, Jülich und Berg,
Abschrift des Originals gemacht im Jahr 1825."' 24 bl. fol.
2) Herr professor dr. TT. Creccliiis in Eiber feld hat die gute gehabt, mir
einige nachiceise über diese filrstin xu geben.
LTEDET^BUCII DER nET?Z0OrN A^fALIA VON CLEVR 899
(lorf, Brnshcrg , Burg //vd cnidrnn'/rfs. Sie hlieh unvermüliU find
hielt bis ^n. ihrem ende (1. märx 1580) au dou profestan fischen
hekentnis fest, irie sie ancJ/ die iochtrr ihres hrnders, der sieh den
römisehgesinfc)} in dir armr (jororfoi halte, beicog , der reforn/ierten
lehre treu zu bleiben. Einiiicrnuissen aaffiillig ist es daher, dass
unter den fünf c/eistliehen licdcrn vnsrer Inindsdirift (nr. 1. ,}. G. 19
— 21) sich anch ein gebet an Maria befindet. Die 27 ntn'igen )(n)n-
inern sind sämtlich liebeslieder; ihr thona ist n/eist das scheiden and
meiden, seltener die härte der spriklot angebeteten; viermal (nr. S. 0.
11. 12) begegnet die seit dem erwaelten der ritterlichen mi^inepoesie
beliebte form des tageliedes. Der text xeigt xahtreiclie rerderbnisse,
von welchen nur ein teil dem modernen absch reiber xur last jalloi
kann. Nicht bloss ist metrnm und reim öfter stark vernachlässigt,
es i.st auch die spräche ein venrildertes gernisch von niederrheinischon
und hochdeutschem diaUkt. Wenn nun Uhland, in den von ihn aus-
geuiihlten nummern einen glatten, lesbaren text herxustelkn suchte.^
.w hielt es der heransgeber der nach folge }iden stücke für seine aufgäbe,
'xunächst die ilherlieferung selber vorzulegen und. nur i)i den notwen-
digsten fällen von ihr abzuweichen. Mehrfach bleibt der simi freilich
noch dunkel und, muss durch weitere textbesser ungen widerhergestelt
werden. Zwischen den liedern sind , wie hau fug in liederljüchern Jener
zeit, kur^e reimspriiclie eingetragen, so bl. hc
Heit jch mich vor vcrsuiion,
des ich mich na versau,
jch en heid ne begonen,
des jch begimen lian.
Ich qiiaem gegan[g]en in eyn lant,
jcli vaint gescriven aen dei want:
Wait dich neit annegeit,
dat la stan, da et steit.
Yeil gejaget und wenich gevangen,
veil gehoyrt und wennich verstanden,
veil geseyn und wennicli meircket,
dat seiut ael verlaren wercken.
Bl. 18a Stede und stylle
dat ist myn wylle.
Es mag nun ein inhaltsverzeichnis der liedersamlung folgen U7id
diesem sich eine auswahl von 14 noch uidtekanten nummern anschliessen.
3 sfr. \
f(
lifhsfoi.
3.
12 Str.
\N
clienJicd
3,
400 BOLTE
1. Bl 2a Want alle dyngcn an gade staent,
des sülleu wvr vnß besynucu.
13 str. ^u 12 'xeiJoi. — Untoi nr. I: WeilmachtsUed.
2. BJ. 3h Idt loufet alltzomaüe
die leufergyn yn dat gras.
S r. — UJfIa?f(I, Voihslicdcr nr. 65. Äbschml von der
Bl. 4h Mit diesen nnwen jare
so wirt vns offenbaire.
4 r. Xeffjahrsh'cd. — Vr/I. Wache rncui el , Das deutsclie kir-
, 917 ur. 1090. Bäumler, Das hathoUsclte deutsclie kirchen-
Ued 1, 356 und ViertcIJahrsschn'ft für })nisihu'isscnschaft 4, 245.
Iloffwatui rofi Fallerslehe7i, Niederländische geistliche lieder 1854
91 r. 1 — 2. Ilölscher, Kd. geistliche lieder und spräche aus dem Mün-
sferlaude 1854 s. 27.
4. Bl. 5a Ortliches ort, myn einiges wordt,
eyne crone bouen allen wyfen.
4 str. \u 8 .^. — Unten nr. V: LiehesgUich Eine gleich fals vier-
strophige fassung „Artliclier hört, du min einigs ein, ein krön ob allen
wiben'* mit dreistimmiger mclodie liegt hsl. in Basel (F VI 26 nr. 8).
5. Bl. 5 h In liefden ist myr my[n] hertz verbrant
nae eynem vreuwelyngh stoiütz.
10 str. XU 8 X: — Unten nr. XIII: Die tmgetreue.
6. Bl. 6 h Myt gantzem ellendigem hertzen
klage ich, klage ich myn sunden groys.
8 str. zu 9 z. — Unten nr. II: Gehet an Maria. Zu gründe liegt
eine in fliegenden hlättern verbreitete weltliche tageweise:
Mit gantzem elenden hertzen
Klag ich mein schweres layd.
Ich ste in sorgen vnd schmertzen:
Ach wechter, gib mir beschaydt!
Hilff mir die sach besynnen,
Das ichs fach weyslich an,
Das ich mit lieb sey drinnen,
Das mein niemants Averdt innen;
Trewlich wil ich dir Ionen. (8 str.)
Die Berliner bihliotheh hesixt vier druckß des 16. Jahrhunderts in oktav
(Yd 8917. 8986. 8991. 8992) und einen in folio (Yd 7801, 49).
Auch eine ebenda befindliche liederJiandschrift aus der ersten hälfte
LIEDERBUCH DER HERZOGIN AMALIA VON CLEVE 401
des 16. Jahrhunderts (Mscr. germ. (piart TIS, hl. 10b) entMlt das lied,
ebenso Cod. palat. germ. 343 (je>J 171) bl. 49a.
7. Bl. 7a Ade, myt leyde
ich van dyr scheide.
3 str. zu 9 %. Liebeslied. — Vgl. Ocglins Ucderbnch 1512 nr. 18.
Ott, Lieder 1534 nr. 3. SckmcUxl, QiiodUbets 1544 nr. 7. Frank-
furter Uederbnch 1582 (nendruck von Bergmaiui. Stuttgart 1845)
nr. 177. Cod. palat. germ. 343 (jext 171) bl. 58b. Berliner lieder-
handschrift von 1568 (Mscr. germ. fol. 752) nr. 102. Mscr. germ.
oct. 237., bl. 4a. Tschiidis liederbiich (St. G aliener cod. 463). Hoff-
mann, GeselschaftsUeder- nr. 154 (nur eine str.). Eine melodie in
Amerbachs liederbuch (Basel F IX 22) bl. 42a.
8. Bl. 7b Der morgens sterne der hait sicli uf gedrongen;
wie lüde, wie lüde dat vns die fogel sungen.
9 str. zu 4 z. Tagelied. — Uhland nr. 79b. Vgl. Niederdeutsche
Volkslieder (Hamburg 1883) 7ir. 57. Böhme, Altdeutsches liederbuch
nr. 108. R. Eitner, Das deutsche lied des 15. und 16. jhs 2, 173
(1880). Bartsch, Gesammelte vortrüge und aufsätze 1883 s. 294 fg.
Geistliche umdichtung bei Wackernagel, Das deutsche kirchenlied 3,
689 nr. 797.
9. Bl. 8a Es daget wonencklichen,
waile schynet der heller dach.
3 str. zu 9 z. Unten nr. VI: Tagelied. — Die anfangszeile Icehrt
häufig in gleichartigen liedern und deren geistlichen umdichtungeji
wider, z. b. bei Wackernagel, Das deutsche kirchenlied 2, 535 nr. 709:
„Es taget mimiecliche die sunn der gnaden vol."
10. Bl. 8a Ayn biieler moyß [s]ich lyden vyll,
des byn ich ynnen worden.
7 str. zu 8 z. — Unten nr. XIV: Loos des buhlers. Auch in der
Berliner liederhandschrift von 1568 (Mscr. germ. fol. 752) nr. 123
(str. 1 — 4. 6. 7. 5).
11. Bl. 9 a Uis gantzen we klaget sich eyn hylt
yn stre[n]ger hode verborgen.
10 str. zu 9 z. Wächterlied. — Böhme nr. 111 7iach G. Forster 1549, 3
?ir. 13. Koch eine Darmstädter hs. (Monatshefte für niusikgeschichte
20, 71) ist benuzt bei Arnim und Brentano, Des knaben lüunderhorn
1, 284. 554. In Berlin (Yd 8925. 8929. 8930) drei einzeUrucke :
Nürnberg bei K. Hergotin und F. Gutknecht und Magdeburg bei
P. Kempff. Berliner mscr. germ. qu. 718 nr. 8. Eitner, Das deut-
ZEITSCHEIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 26
402 BOLTE
sehe Ued 1, 39 nr. 143. Eine geistliehe parodie hei Waekernagel 2,
929 nr. 1156. Bäumker 1, 254 nr. 10. 2, 362 nr. 413.
12. Bl 10 a Der wechter der bließ an den dach
np hoger zynnen, dair er lach.
7 str. XU 6 X. Wächterlied. — Franlfurter liederhHch 1582 nr. 155.
P. V. d. Acht, Blum vnd Aiißbundt 1602 nr. 109. Görres, Altteut-
sche Volks- und meistcrlieder s. 115. Niederrheinisclies liederbuch von
15 74 (Berliner niscr. germ. qu. 716) nr. 39. — Vgl. Uhland nr. 80.
Böhme nr. 102 a. h. Yxems liederbuch (Berliner rnscr. germ. fol. 753.
1575 im Oldenburg ischen oder Osnabrückischen angelegt; vgl. Balte,
Altpreussische monatsschrift 25, 333) nr. 54. Nd. Volkslieder 1883
nr. 115.
13. Bl.lOb AVuelde got, dat idt geschede
zu diesem nnwen jair.
3 str. XU 8 X. Unten nr. III: Liebeswerbung.
14. Bl. IIa Wat wyrt es doch des wonders noch.
7 str. XU 8 X. Liebesklage. — Frankfurter liederbuch 1582 nr. 21.
P. V. d. Aelst 1602 nr. 176. Mit L. Senfls melodie in Otts liedern
1534 nr. 45 — 46 und bei G. Forster, Liedlein 1 (1539) nr. 24 und
5 (1556) nr. 51. J. Beiner, Lieder 1581 nr. 26. Fl. blatt Nürn-
berg F. Gutknecht (Berlin Yd 9637) und o. o. (Ye 209). Cod. pakit.
germ. 343 (jext 171) bl. 135a. Tsehudis liederbuch (St. Gallen 463)
78. Melodie in der Baseler liederhs. von 1560 (F X 17—20) nr. 26.
Xd. auf einem fl. bl. der Berliner bibliothek (Ye 437). — Geistliche
umdichtungen bei Wackernagel 2, 1077 nr. 1309. 3, 780 nr. 920.
4, 77 nr. 131. Eine parodie in Botenbuchers Bergkreyen 1551 nr.l9:
„"Was wird es doch des trinckens noch."
15. Bl. IIb Die eirste freud, die ich ye gewan,
ys mir zo truren kamen.
5 str. xu 7 X. Liebeslied. — Uhland nr. 194 gibt auffcdlenderweise
nur die beiden texten Strophen: „Och meetgen, wat hait dyr der rocken
gedayn"; vgl. Eitner 1, 57 nr. 269. Das volständige Ued hocMeutsch
nach einem fl. bl. (Yd 9293) bei Böhine nr. 209. P. v. cl Aelst 1602
nr. 170. Cod. pjalat. germ. 109 (jext 66) bl. 105b. Xld. in einer
Weimarer hs. von 1537: Weimarisches Jahrbuch 1, 103 nr. 8. — Eine
geistliche parodie bei Wackernagel 2, 1049 nr. 1285.
16. Bl. 12b Aen dich kan ich niet freiiwen mich.
3 str. XU 8 X. Liebeslied. — Frankfurter liederbuch 1582 nr. 34.
Fl. bl. Xilrnberg, V. Xeuber (Berlin Yd 9911). Züricher liede7^hind-
schrift G 438 bl. 411b.
LIEDERBUCH DER HERZOGIN AMALI A VON CLEVE 403
TT. Bl. 13a Ocli schevden brennt mvr swer
vnd niaclit mich gantz traurigklich.
3 str. XU 8 x. — Unten nr. VIT: Auf tridcrschen. Äurh nd. in einem
fl. bl. Yiir hübsche Icde, WiilffcnbütU'l by Conrad Hörn (Yd 8719) :
Nu scheiden brins-et my swer."
T)
18. BL 13b Myn gemuedt vnd pluedt
ist gantz entzynt.
o str. XU 9 X. — Franlfurter liedcrbiich 1582 nr. 63. Gedrucltes
folioblait des IG. jahrh. (Berlin Yd 7801, 44) und oltavdrnck: Nürn-
berg, 0. Wächter (Yd 9483). IIar)iisch, Liedlein 1588 nr. 15. Wei-
marer handschrift von 1537 (Weimarisches Jahrbuch 1, 105). Yxems
liederhandschrift von 1575 (Berliner mscr. germ. fol. 753) nr. 25,
vgl. 146. Xd. auf einem jl. bl. der Berliner bibliothelc (Ye 437). —
Eine geistliche umdichtuug von II. Knaust bei Waclernagel 4, 776
nr. 1150.
19. Bl. 14a Chi'iste, du bvst dach vnd dat Ivcht.
7 str. zu 4 z. Abendlied, nach dem tat. hgmnus des Ambrosius:
„Christe, qui hix es et dies." — Waclernagel 2, nr. 563. 1096.
Bäumker 2, 246 nr. 246. Hoffmann, Xld. geistliche lieder nr. 113.
Bolle, Ztschr. f. d. phil. 21, 138 nr. 65.
20 — 21. Bl. 14b Idt hiich eyn armer sünder vnd slieff.
Beide nummern sind fälschlich von einander getrent; sie bilden xu-
sammen eine besondre Überlieferung der grossen tageweise Peters von
Arberg: „0 starker gott, al imser not", ivelche Bartsch in der Ger-
mania 25, 210 — 229 besprochen hat. Vgl. noch Bäumker 1, 451
nr. 200, Die fünf Strophen von nr. 20 hat Uliland als nr. 312 .sei-
ner Volkslieder abgedruckt nnd danach Wackernagel 2, 333 nr. 501
tviderhoU. Nr. 21 enthält nicht nur die verse 17 — 50. 63 — 68. 55 fg.
61 fg. von Bartschs rekonstruktion (Germ. 25, 221) , sondern noch
weitere 17 verse, ivelche in den andern fassungen fehlen.
22. Bl. 16a In freuden byn ich gantz geletz,
die woyle ich vmmer scheyden moyß.
3 str. XU 8 X. — Unten nr. VIII: Abschied.
22a. Bl. 16 b Ich hadt mich ynderwonden,
\Yolde dienen eyme vreuwelyn fyn.
5 str. XU 8 X: — Untoi nr. NU: Der ungeschickte liebhaber. Auch
auf verschiedenen fliegerulen blättern des 16. jahrh. in oktav (Berlin
Yd 7821, 34. 9552) und folio (Yd 7801, 32) erhalten. Die erste
Strophe stimt überein mit dem Antiverpener liederbuche 1544 (neudrtick
26*
404 BOLTR
V071 Hoff mann von FaUerskhen 1855) nr. 103. Eine melodie „Ich
hett mich vnterwunden" steht in der Kopenliaijener liederJia?i(Ischrift des
Petrus Fabricins (Xd. Jahrbuch 13, 55) nr. 1S2. — Verschieden davon
ist das lied „Ich het mir fürgenommen zu dienen stetiglich" bei Böhme
nr. 215.
23. Bl 17a Xu hayn ich alle myn tage gehoyrt.
3 sir. \u 8 x. — Böhwe nr. 265 )fach einem gedruclden folioblatte
(Berlin Yd 7801, 60): „So hab icli all mein tag gehört." Gassen-
hawerlin 1535 nr. 27. Frankfurter liederbuch 1582 nr. 45. EbeJi-
reuiters handschrift von 1530 (Bertiner m.scr. germ. fol. 488) nr. 145.
Berliner liederhandschnft von 1568 (mscr. germ. fol. 752) nr. 15. Mscr.
germ. qu. 718 bl. 18b. Ein Baseler liederbuch von 1560 (F. X. 17 —
20) nr. 66 bietet auch eine vierstimmige melodie.
24. Bl. 17 b Ach got, wat sali ich svngen,
kurtzwyle ist myr woyrden duyre.
11 str. XU 8 X. — Unten nr. IX: Trenniingsschmerx. Fast alle Stro-
phen hehren auch in andern Volksliedern derselben xeit ivider. Str. 1,
2. 4 und 6 sind enthalten in der Berliner liederhandschrift von 1568
(Mscr. germ. fol. 752) nr. 56. Str. 1 begegnet bei Görres, Altteutsche
Volks- und meisterlieder s. 71. Zu str. 3 vgl. Uhland nr. 81, 4 und
88, 6. Zu str. 6, 5 und 11 Uhland nr. 86, 4. Zu str. 9 Uhland
nr. 76, 11-12 und 80, 4. Einen in Zivickau (XXX, F, 20) be-
findlichen einxeldrnck (12 str.) habe ich Glicht vergleichen können.
25. Bl. 18b Ich bvn durch frauwen wvllen
gereden so menche dach.
5 sir. XU 9 X. — Tagelied. Uhland nr. 81. Böhme 7ir. 121. Görres
s. 126. Bergkreyen 1536 nr. 45. Frankfurter liederbucJi 1582 nr. 184.
In Berlin vier fliegende blätter aus Nürnberger (Yd 9565. 9566. 9568)
und Strassburger pressen (Yd 7850, 16). Yxems liederhandschrift
van 1575 (Berliner msr:r. germ. fol. 753) nr. 129. Niederdeutsche
Volkslieder 1883 nr. 36. Antweiyener liederbuch 1544 nr. 102.
26. Bl. 19a Wach vff, myn ort, vernym myn wort.
7 str. XU 7 z. — Böhme nr. 105. Bergkreyen 1536 nr. 38. Frank-
furter liederbuch 1582 nr. 23 und 202. P. v. d. Aelst 1602 nr. 150.
Fliegende blätter: Nürnberg, V. Newber (Berlin Yd 9004. 9011) und
0. 0. i)i folio (Yd 7801, 67) und im Mscr. germ. quart 718, bl. 19a.
Yxems liederhandschrift (mscr. germ. fol. 753) nr. 97. Ähnlich For-
ster, Liedlein 3 (1552) nr. 6. Niederdeutsche Volkslieder 1883 nr. 62.
— Geistliche parodien bei Wackernagel 2 , 1011 nr. 1249 und 4, 740
nr. 1093.
LIEDERBUCH DER HERZOGIN AMALIA VON CLEVE 405
27. BL 20a Betrübt ist mir hertz, movdt vnd svn
wol heuer zu diessem neuem jaren.
3 str. XU 6 %. — Unten nr. XI: An die enffernte geliebte.
28. BL 2 IIb Wca sali ycli liyn, wa ssal jch her,
wa sali vch mvch hvn kheren.
*^ ^' %/
10 str. 7M 8 X. — Franlxfnrter liederlmcli 1582 nr. 82. Einxeldrueh
Nürnbenj bei V. Xeiiber (4 str. Berlin Ye 36). Yxems lirdrrhand-
schrift von 1575 (Mser. germ. fol. 753) nr. 68. Berliner liedrrlicuid-
schrift von 1568 (Mscr. germ. fol. 752) nr. 94. Cod. palat. germ. 343
(jext 171) bl. 14b. — Ein andres lied mit gleichem anfange bei Hoff-
mann, Geselscliaftslieder ^ nr. 384.
28a. Bl. 20b Eyn bloymellyn dat heyst meytden,
dat krencket mych so hart.
3 str. XU 7 X. — Eine bessere ilberlieferung bei Görres s. 88 nach
Cod. palat. germ. 343, bl. 102a.
28b. BL 21a Ffyl vngeluyckß yst vfp ertden,
da ffür mych got behoedt.
3 str. XU 8 X. — Beständige liebe. Bei Görres s. 95 nach Cod. palat.
germ. 343^ bl. 79 b. Georg xon Helmstorffs liederbuch von 1568 (Ber-
liner ms. germ. qu. 402) teil 3, bl. 40b. Auch in einem einxeklrucke
„Nürnberg durch Vcdentin Fuhrmann'^ (Berlin Yd 7850, 27) mit
xicei weiteren Strophen.
29. Bl. 21b Ich hoff, mir solsz gelingen,
ich weiß mir ein edels blodt.
6 str. XU 7 X. — Unten nr. IV: Preis der liebsten. Vgl. xu str. 3
— 4 Böhme nr. 131, 3. Zu str. 5, 1 — 2 Böhme nr. 260a, 4.
30. BL 22a Ich hadt mvr vsserwellet
tzo dem mev evn bluemelleyn.
3 str. XU 8 X. — Uhland nr. 55. — Eine geistliche unulichtung bei
Wackernagel 2, 921 nr. 1147.
31. BL 22 b Ffryssch ffrovllich wvllen wvr ssvnffen
yntgen dyssen koyllen mey.
7 str. XU 8 X. — Unten 7ir. X: Rosenkranz xum abschiede. Über
die bedeutungsvollen blumen des krafixes (str. 3 — 4) vgl. Uhktnd, VolJcs-
lieder nr. 54 — 55 und Schriften xur geschichte der dicht ung und sage
3, 437. 582. Xiederdeutsche Volkslieder nr. 130. Für die Strophen
3 — 5 vermag ich eine bessere Überlieferung aus einer niederrheinischen
liederhandschrift (Berliner mscr. germ. quart. 612 bl. 30a) anxuführen.
406 BOLTE
I. IVeiliiiaclitslied.
Nr. 1.
[Bl. 2 a] 1. "Wallt alle dvngeii an gade staent,
des stillen wyr vnß besynnen.
als die proplieten gesprochen haynt,
eyne jonffrauwe sali gewynnen
yn rechter kuyssheyt eyn kyndelyn,
deme hemell vnd erde beuolhen salii syn,
deine süllen wir alletzyt vnderdienich syn,
ffot sali vnß niYstroest wenden.
Yns ist geboern eyn kyndelyn
van eyner maget, die is so fynn,
Maria hvschet die lieue moder svnn:
yere lofP en halt geyn ende.
2. Dat got die minsheit an sich nam,
dat diede hy vnß zu troeste.
eyn engel viß deme hemel qvam,
hy grueßet die maget siere schoyne,
hy spraich: Got gruetze dich der gnaden voll,
der here van dyr geboiren wyll syn,
Avant aller genaden bys dw voll.
Got sali vns mvstroest wenden.
3. Maria schreckde sich dair van:
Wie wulde dat got gewyllen,
dat ich eyn kynt all sonder man
all gegen nature solde gewynnen?
Der engel spraich: Dat kyndt dw draigts
van deme hylgen geyst, und dw blyffs maigt,
dat vs dat beste, dat men mach vvnden.
Got sali vnß mystroyst wenden.
4. Keyser Augustus was hy genant,
hy geboide geweldincklichen
dat evn veder minsche durcli alle syn laut
den offer soiüde brengen zu deme riebe.
Der aide Joseph gewann yn die schair,
hv brachte Mariam mvt eme dair
1. 1 gede hs. — 1,6 benöthen san — 1, 9 — 12 steht in der hs. erst nach
str. 3, ist aber als refrain nach jeder strophe xu uiderJtolen. — 1; 12 seyn —
2, 3 gebam — 2, 7 des voll — 4,4 rieht
LIEDERBUCH DER HERZOGIN AMALIA VON CLEVE 407
ZU Bethlehem, dair st yeres kyndtz [gebar?].
Got sali vnß mysti'oest wenden.
[2 b] 5. Wylt ir nu wissen, wer er sy,
der yn der krybben lyget gebenden?
Jesus Cristus der namen dry,
syn troest halt uns ontbunden.
Die engelen songen und waren fro:
Gloria in excelsis deo.
Die heyrden rieffen ynt offenbair:
Unsers leydtz synt wyr entbonden.
6. Des achten dages q warnen [se] dair
all nae der juedischer seeden;
dat kynt wart yn den tempell braicht,
dair wart sich Jesus besneden.
die engelen songen mit suessem sanck:
Jesus Cristus wirt dat kynt genant,
dair van so wirdt der duffel geschaut,
als sy dat kyndt suert [?] nennen.
7. Des woirden die hyllige diy konynck gewair,
sy hoyrten van dem lieuen kyndtgen sagen,
golt, mirre und [wirouch] brachten sy dair,
eynem offer deme kyndtgen zo dragen.
die hern warn sierre balde bereydt,
ein Sterne viß Orienten sy dair geleyt,
sy kneden vur der maget gemeydt,
Jesus boede den konyngen syne hende.
8. Wer nw wyll treden yn den kränz
und speien niyt deme lieuen kynde,
der moyß yn synem hertzen dragen
gedoult und suesse mynne
und oeuerdenken alle syne mysdait,
die hy syn leuen begangen hait,
und bydden dat kvndt und auch die Heue maget,
dat sy eme syne sunden vertzye.
9. Wer nw dat kyndgen wylt baden
und baden yn der wonen,
5, 1 mi — 5, 4 han — 5, 6 geloria — 5, 8 heydtz — 7, 8 deme kyndt-
gen — 8, 1 kraeme — 8, 6 sy
I
408 BOLTE
der en mach so druefich nvet e:esYn,
syn hertz en movsz eme groeneii.
Moicht ich des kyudes syn dicner syn,
vnd weschschen evne syne doichclchyn
vnd drugen sy yn deme sonne schyn,
so hette myn truren eyn ende.
[3 a] 10. Köniuck Herodes wart kont gedayn,
so wie eyn köny[n]ck woere geboeren,
hv dede die kynder alle erslayn,
wat onder dryn jarn was geborn.
eyn engel yan boncn braicht die mere
zu Marien und Joseph dem besnedere:
Far up dar hyn yn Egypten lant
all uyß der falscher bueser hant!
11. Dat kyndt wart yn den tempell braicht
all nae der juedischer sieden,
dat kynt nam Simeon up synen arm,
der ynrmails bhnt war ^ewoyrden.
syn alder was waill yonff hundert jair,
syne ougen woirden eme weder klair,
do hy dat kynt sagh offenbair:
Wat hayn ich yn mynen henden?
12. Got yater, gott sonn, got hylyger geyst,
dat sint drye hylyge namen,
houen sich up zu der rechter handt
der hellen portzen zu samen.
sy gaeuen der hellen portzen eynen stoysz,
dat sy an allen enden entfloyssz
ynd last den zu der rechter handt,
yerloeste so mennich duyrbar pandt.
13. Nun alle dyngen sint yolnbraich[t],
als yns die wysen sagen,
wie die propheten gesprochen haynt
yn den propheten dagen;
dat hait ynsz Maria all verfoult,
halt yns eyn kynt braicht aene schoult,
9, 7 sonne klaire scIijti — 10, 3 sy deck die
I
LIEDERBUCH DER HERZOGIN AMALIA VON CLEVE 409
cleme sullen wvr alle wesen lioult.
Got sali vnz mistrocst wenden.
Yns ist geborn
nae yedern vei*ss.
II. Grebet an Ilaria.
Nr. 6.
[6 b] 1. Myt gantzom ellendigem liertzen
klage ich, klage ich myn sunden groys,
ich stain yn sorgen und vriesen [/. smertzen?]
all viir den gryselichen doyt.
hvlff mir, Maria du revne,
und stae mir by yn myner noyt,
dat ich myne sunde mach beweynen
die groysse myt den kleyne[n],
ye myr an kompt der gryselycher doyt.
2. Maria du kayserin [reyne],
du byst alleyne mvn zuuerlais;
bydde vur mich dyn kyndelin kleyne,
dat hy myne sele wylle ontfangen,
du bvst evne maoret schone
all yn des hemm eis trone,
bydde vur mich dynen sone,
dat ich by inn kome
all zu des hemels trone,
dair syngen die engelen schone.
3. Maria, du byst eyne kuysche reyne,
du byst all yn dem hertze myn,
mach ich geyn troyst an dyr gewynnen,
so bricht dat eynige hertze myn.
du byst so goder-turn [/. maueren?]
men yant nye dyns gelichs
du bys eyne moder des heren,
wyls yns yn duegeden Heren,
so sint "\vyr hernaemaels verblydet.
V ^
4. Maria, ich bydden ymb genaiden,
als eyn armer sunder groyss;
wyls mynre seien stain zu staden,
1, 6 stoe — 2, 1 keyserjnna
410 BOLTE
als mvr ankumpt der bytter doyt
Kom mir doch dau zu Imlve
yn myner meister noyt,
wvls mich doch bewarii
all vür die helssche scharen
vnd fueren sv all ^ti des hemels trone.
5. „Ach mynsche, ich Imeren [dyn?] klagen,
Ich will, ich wyll gelouen dir,
evn dinck avvII ich dvr sairen,
und dat behalt und do nae mvr:
ganck heymelich zu Caluarien
all vmb den berch hoge,
wvls dvne Sünden dar bekennen:
%.■ %^ /
got sali dyner seien ontfarmen
und fueren sy jn des hemels trone."
6. Maria, ich stain in sorgen;
mvne Sünden sint so menichfalt,
der doit wylt nyet borgen,
hy en spart noch jonck noch alt;
mvne sele die ist beladen
mit Sünden also groiß;
stae du m^T zu staden,
mich dünckt, ich sv verraiden
all myt der ewyger pynen so groiss.
7. „Ach mynsche, wyls nyet mystroestich syn,
die bar[m]hertzicheit ist so groyß;
wvlt dvne sele van sünden ffenvesen,
so steis du fry vyß aller noit.
got ist so goder lieren
myt grosser barmhertzigkeit,
hy wyll dyne [7 a] sele visiteren
mit mencher schöner maueren
all jn der ewicheit." J
8. 0 here, wyls mir vergeuen
all mvn vndanckberheit,
dat ich havn bedrieuen!
och alle myne sunden synt mir leyt,
jch bydt all vmb genaide
6, 3 dort — 7, 3 sole — 8, 3 och dat
LIEDERBUCH DER HERZOGIN AMALIA VON' CLEVE 4:11
als eyn armer sunder groyß,
laß mich doch nyet [syn] verlorn;
du hais mich vißerkorn,
verloist myt dynem byttercn doyt.
IIL Liebes werliuiii;.
Nr. 13.
[10b] 1. Wuelde got, dat idt geschede
zu diesem niiwen jair,
das mich myn schönes lieff anesiege
myt yeren äugen klare:
ere angesicht erfreuwet mich,
dar zu ere freuntlich laichen;
es gesche, wes geschieh en sali,
sy kan walle fruntlich machen.
2. i^w halt dich vast und stede,
das Avyll ich van dyr haben;
off e}Tier queme, dich dar vmb bede,
kere dich nyet an syn sagen.
Ich wyll mich leytz ergetzen,
aber hv sali waile weder komen:
es geschie, wes geschiene sali,
das havn ich wail vernomen.
3. Ade, ade zu guder nacht,
wyr tzwev wvr moissen scheyden;
wanne fuyr und strue by eynandern lieget,
balde das vs verbrennet.
„Fair hvn, fair hvn, die straeß ist weydt,
fair [hyn] yn frembden landen,
suelcher boilschafft darff ich neyt,
die mich brenget zo schänden."
IT. Preis der lielbsteii.
Nr. 29.
1. Ich hoff, mir solsz gelingen,
ich weisz mir ein edels blodt,
sy geleibt mir vor allen dingen,
1, 4 äugen yere — 2, 1 galt clich stede imd vast — 2, 3 jarvimb — 2, 8
enomen — 3, 7 boitscKafft
412 BOLTE
ein henbsz braunsz medlein goedt
Ich dein ir altzeidt geren,
ich hoff, sy soll mir werden: J
SV erfrewt mir mein hertz in leib.
2. Ich bin ir holdt gewesen
vorwar ein langer tzeidt,
von aller weldt erlesen
hadt sy mir mein hertz erfrewt,
es lebt kein mensch vff erden,
die mir so leib mach werden:
die warheidt mosz ich sagen. |
3. Sv hadt ein braun krausz hare,
darzu zwey Idare eugelein,
sy heissen [?] hin vnd herre
woU diu'ch das jonge hertze mein;
darzu zwey heubsche wangen,
nach ir drach ich verlangen
in meines hertzen grund.
4. Sy hadt ein leib gleich einem hermelin,
darzu szwev ermelein szmall
mocht ich sey in drugtten umfanggen,
die hertz allerliebste mein!
sey ist mildt vnd dugentlichg,
dazu heubsz vnd seufferlichg,
ir langer ßerdt ir wolL
5. Sey lägh [wol] vff der szynnen
vnd sagh szu dem finster herausz;
sy swengck sich gegen mir hervmmer,
sey vmfeinge mich mit irren ermelein weysz:
Wan widtu witterum kommen,
du heubsche vnd vill frome?
Hertzleib, in kortzer frist.
6. Hertzleib, du dorst mich baldt fragen, ■
wan ich wittrum kommen soU [/. bei dir sol sein]. *
Ich mach mich baldt herummer
woU zu dem jongen hertzen dein,
vff das der kleffer nit erfare;
1, 5 grene — 1, 7 erswere — 2,4 erswert — 3, 2 engelein klare — 3,6 noch
LIEDERBUCH DER HERZOGIN AMALIA VON CLEVE 413
es koest mir leib vnd leben,
darzu mein getraues hertz.
y. Liebesglück.
Nr. 4.
[5a] 1. Artlicher hört, myn eyniges wordt,
eyne crone bouen allen wyfen,
du hais erloist dat hertze myn,
ich wyll dyr stedich blyiien.
In jamers dall hayn ich geyn sali,
dat SV mir doet Ionen;
sy ist die rechte, ich byn yere knechte,
bis dat sy myr doet lonenn.
2. Ein edell kruydt hait sy gebuwt,
dat steyt yn yerem garden,
eyn edell gedieht hait sy an mir erdicht,
sy schantz vf allen karten.
Die schantz was groyss, dae myt sy mich vmsloys
myt synnen und ouch mit wytzen;
sy drückt mich myt lust an yeres hertzen brost:
Halt frunt, du machs mich suure.
3. Eyn vreuwelyn fyn ist by myr gesyn
gar hoymlich uff ein oirde;
dat wer myr leit, dat is emantz wyst,
off dat idt queme zu woerde.
Des briecht [?] nur pyn deme jongen hertzen myn,
das machs du, frauwe, geleufen.
Sy dreget tzwy brostgen, die synt wyss,
dair zu twey bruner ougen.
4. Ach paradijs, myn hoichster ort,
waer yyndt men dynes geliehen!
ich lofen dich als eyne klaii'e sonne,
eyn keyseryn so riebe.
Die werde guede, dat sy mir got behuede
Yur allen falschen zongen!
Dyt lietgen ist gemacht zu duysent goider nacht,
jn yerem dienst gesongen.
1, 1 Örtliches ort — 1, 2 wysen — 2, 1 sy an mir erdicht — 2, 5 vnsloys —
2, 6 synre — 3, 5 pyne — 4, 2 eynes
Cl1
414 BOLTE
\J. TasrelicMl.
Nr. 9.
[8a] 1. Es diiget wonencklichen,
waile schynet der heller dach,
van vere so movs ich wichen,
das ist nivnes hertzen evne klais^e.
Sali ich nu van dvr schevden
all van der liefsten zart,
so geschaich myr nye so leyde,
Sprech ich by mynem eyde,
vurwair sv liefft mvr hart.
2. Ich hayn es myr gantz vermessen,
ich will de geyne lieiier nyet hayn;
noch hait mich die lieffde besessen,
dn goider ['?] geselle schone,
ich hayn mich dyr ergeuen
jn rechter stedichheit,
nae dvnem wvllen zu leuen,
nochtant so moys [ich] steruen;
ist dat nyt jamer groyss?
3. „Geselle, du darffs nyet sorgen,
du hais dat hertze myn,
waile schynet der lichter helle morgen,
zu evner vvnsteru in,
der vns tzwey [hat] verdryuen
van vnsenu vreuwden spyll:
0 we mich armes wyuen,
dat hertz yn mynem lyuen
dat Ivdet kommers vvll."
VIT. Auf wulerseheii.
Nr. 17.
[13 a] 1. Och scheyden brengt myr swer
und macht mich traurigklich,
dat ich nw sali van der,
die ofit erfreu wet mich:
myt lieff und ouch myt schertzen
Vn. 3//V B hexeichne ich die ahiceichumjen eines %u ,,Wulffenhüttel hy
Conrad Hörn" gedruckten fl. blattes (Berlin YdSTlOj. 1, 2 Ä: mich ganz traurigklich
LIEDERBUCH DER HERZOGIN AMALIA VON CLEVE 415 I
1
halt sy myn gemuet bewarrt; '
yrst werd ich kranck vau hertzen, |
so ich gedonck der hynnetart.
2. Vnfall durch synen nyt *
hait senlich clag erdacht,
vnd ouch durcli clefflich tzvt '
dat schoyden wirf vollenbraiclit, j
dar durch ich liaeff groyß sniertzeu !
und ist laek durch [/. raet duir] by mir, ]
dat jch die zart moyß myden: \
hylff Glück, dat clag ich dyr. !
3. Kom myr myt troyst zu steur,
bedeiick des scheydens end, 1
vyll körtzweyll wyrt mir deur, 1
so ich [mich] van hynnen wend.
Myt wissen moys [ich] scheyden,
doch blyfft dz hertze by dyr:
Glück, schaff die tzyt myt freuden,
hvlff vns zosamen schier! '
D 5
1,6 5: myii junge heit — 1, 8 -B: der varth — 2, 2 yl: semlich clag
B: solche klage — 2, 3 5: Vnd schicket de klegehke tidt — 2, ü J5: vnd ys
lanckwilich my — 2, 7 5: de schönsten — 2, 8 5: o gelücke — 3, 1 i?: Gelücke
kum — 3,5 5: mit wesenden moth ick — 3, 6 B: dat junge herte by er.
Till. Abseliied.
Nr. 22.
[16 a] 1. In freuden byn ich gantz geletz,
die weyl ich vmmer scheyden moyß,
ich en weyß doch nyet, dat mich ergetz,
dan dat ich byn yn lyden groyß;
dat ich zo freuden hayn erweit,
dat moiß ich myden und fayr dair hyn:
zo eilend werde ich gantz seit,
so lange bys ich dich weder sieben.
2. 0 Werder viiint, nw halt [dich] yn hoide,
dat ich [/. idt?] dem kleffer nyet en werde [schyn]!
ich frücht, hy wende myrs nyet zo goide,
dat haue haue [?] weder moit noch syn.
Got weiß, dat ich geynen wandell beger,
1, 2 woyle — 2, 3 hy werde
416 BOLTE ''
i
mach ich dem kleffer verholen syn, v "jl
in rechter deucht uae dyner beghert; i
so bys du doch geweldicli myn.
3. Wyls doch myt truwen herden [?] wort, •;
lais felden sien, nyet schrecke dich,
du bvst mvn aller hoichster ort:
wan dw mvt truwen mevnes mich,
so iß dvr als mvr vn aller swere
durch wont mvn hertz mvt schevdens pvn.
Gedenck, wie gerne ich by dyr were:
so en mach idt leyder nyet gesyn.
2, 8 mviier — 3, 8 on mach ich
IX. Treiinuiigssehmerz.
Nr. 24.
[17 b] 1. Ach got, wat sali ich syngen,
kurtzwvle ist mvr wovrden duvre,
vür zyden gynck ich spryngen,
dat bues ich allet hude [/. huyr];
myt groyssem suchten swere
vertzer ich menchen dach,
vnfall ist myn gefere,
wie waile ichs nyemantz dag.
2. Lieff hauen und zu mvden
ist mvr evn swere boeß,
dat schaff der kleffer nyden,
dat ich dich mvden moeß,
dat ich dich havn verlorn
so gantz vnd ouer all,
so byn ich, lieff, dyn eygen
vnd nym du yß myner gewar.
3. Hy nam sy by den henden
bv verer sehne wvsser haut,
hy foyert sy also veme
wallen durch den groenen walt,
dair laigen die tzwey by eynandern,
kui-tzwyle wart yn neyt lanck:
1, 7 iny — 1.8 clage — 2, 2 ey swe — 2, 3 kleffer zongen — 2, 5 im
Berliner Mgf 752: verla.ssen — 2. 8 ebenda: gleub mir zu dießem malh
LIEDERBUCH DER HERZOGIN AM ALI A VON CLEVE 417
Hertzlieff, ich movß mich schevden,
SO gayr aene mynen danck.
4. So haistii mych gefangen,
dat jonge hertze myn,
nae dyr dragen ich groyß verhmgeu,
du tzartes jonfFreuwelingli,
dvn niondlvn roit zo mvden
is myr eyne swaere boeß,
des trure ich wynter und somer,
dat ich dych myden moess.
5. Der meye der is vergangen,
die lufft die weht vns kalt,
m}T ligt in myne sinne
eyn jonffreuweling, ys waill gestalt.
Here got, muecht ich yr stediger
und truwe dien er syn,
vnd off ich yere gefeie,
ere evgen wulde ich svn.
6. Ich sali und moyß mich scheyden,
ys kan nyet anders syn,
dat brenget myr groyß lyden,
ist myr eyne swere pyn.
Och scheyden, vmer scheyden,
[18a] und wer hait dich erdacht?
du hais myn jonges hertzen
[in] groyß truren gebraicht.
7. Vur zyden scheyn myr die sonne,
es wvll aber nimmer svn,
so bvn ich nw verdrone:en
van der aller lieffsten myn,
der regen doet vns netzen
kalt weyet vns der wynt,
du hais mich offt erfreuwet,
du wsserweldes kvnt
8. Nu gesegen dich got, myn freuwelen,
du hertzes jonfferlyngh,
4, 1 im Berliner Mg f 752 : Du hast mir vmbfaiigen — 4, 5 ich {statt roit) —
6, 4 pyne — 6,7 my — 6, 8 *w Berliner Mgf 752: auß freudenn in traurenn
bracht — 7, 3 verdrogen
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXH. 27
418 ßOLTE
du machs mich armer renwen
bys vp dat ende myn.
Wie Tvaile du daist mich verachten,
dvD [/. du] \yeyblichs byldt so werdt,
ich wünsch dvr evn fruntlich kichen
und wat dyn hertz beghert.
9. Wat zouch sv vis den henden?
van e^oulde evn rvno:elchvn. :
Xym du es, du hupscher bresser,
draich du es durch den wyllen myn.
Wat sali mvr, lieff, dvn svluer,
dar zo dvn rovdes 2:oult?
Moeß ich es doch nyet dragen
vur hübschen freuwelvn stoltz!
10. Xoch wyll ich nyet vertzagen
vnd wvll nvet auelaen.
Der hencker mueß jnn plaegen,
der mich beloegen hayt
myt syner falscher zongen,
und dat ich weinich acht.
Dat sy dyr, fynes lieff, gesongen
ade zo goder nacht.
11. Och scheyden, hertzlich scheyden,
vnd wer hait dich erdaicht?
du hais myn jonges hertze
in groysses tmren gebraicht.
Dat ich [mynj lieff sali myden,
dat krenket das hertze m}Ti:
du movss mvr vys mvnem hertzen
und nimmermehr dair inn.
9, 5 syn — 10, ö falcher — 11, 2 erdicht.
X. Rosenkranz zum abseliiecle.
Nr. 31.
[22 b] 1. Ffryssch ffroyllych wyllen wyr ssyngen
vntfi^en dvssen kovllen mev;
wan ych de bloemger ssyen sspryngen,
SSO hat myn troyren eyn endt.
Den vnmoyt, den ych draggeu,
den draggen ych gar heymlych
LIEDERBUCH DER HERZOGIN AMALIA VON CLEVE 419
i
van mvneni stevtdve^en boyllen,
dar na vf^rlanget mych.
2. [Du| hast mvr myn licrtz durclitzochgen
SSO gar wens vff den gront,
dat vch dvcli, hertzlevff, movsz mytden:
boeyt mvr dvn rovtden mondt!
Dyn boyigen wyr ych gern; ^
mach esz alsso neyt ssyn? i
dvn clairer schvn eifFroewedt
dat [jonge] hertze myn.
3. Wolt du mych, hertzleyff, ergetzen, I
SSO mach myr eyn[en] krantz; i
dar an ssal du myr ssetzen ^
vii roessger algar gantz,
de ych dyr, hertzleyfP, wyl nenen
SSO gantz myt ynderscheyt,
2, 1 hat — 2, 4 coytder — 2, 7 schynen — Str. 3 — 5 begegnen in bes-
serer gestalt in einem 1574 am Nieder rliein angelegteii Uedcrbuche (Berli'fier mscr.
germ. quart 612 nr. 15), und 'Xicar hier xu dem Hede „Ich weiss mir einen gart-
tenn" gehörig:
2. Hertzlieb, wiltu mich nicht verlaessenn,
mach mir ein krentzlein damonn; '
darzu [so] soltu faessenn
sieben roeslein, seindt wollgethoenn, j
die ich dir, hertzheb, wil neunenn !
so gar mit vnterscheydt:
wolt ir sey recht erkennenn,
mein hertz ist euch bereidt.
3. Er, lieb, traw vnde stedicheit,
das seindt der roeselein vier,
je lennger ie lieber vnnd vergiß meiner nicht,
die staendt euch [/. auch?] woll darbey,
ein kraut heist wolgemuedth,
wolgemuedt das erfrewet das heiize meinn;
das seindt die roeselein siebenn:
hertzheb, gedenck an das krentzleinn!
4. Ein kraut das heist vntraw, ,
das setzet mir nicht darbey '
vm aller trawenn willen, '
die ir versprechet mir. ,
got geff dem kleffer leiden,
darzu gToes vnngefall,
der mich vnnd dich vnns beidenn ,
nicht scheiden soll. '
27* !
420 BOLTE
dat du mvch, hertzlevff, erkenest: I
mvii hertz vst dvr berevt. <
4. Trow, levfft [vnd] steytdygeyt
dat ssynt der roessger dry;
we lange[r vnd] we leyffer,
dat steyt gans wayl dar by, ]
dat du es vff dysser ertden ;
o^evn Ivffer haffsz dan mvch,
dat ssynt de roessger all vii: i
mocht ych dat krenssgen drageu. |
5. Eyn kroeytgen, dat heysscht vnwyllen,
dat ssetz mvr nevt dar an,
dat deyt myr myn hertz sseyr qwellen, j
vt en kau vsz nevt srelan. 1
mych duynckt, du haffsz onsz geredt ;
wavl ouf dem hertzen mvn
der vst ein kleffer
yn der wylt verdryssen mych.
6. Ssolt myr eyn kroytgen bekleyfPen,
mach esz nevt blevffen stavn; !
ssol mych eyn kleffer verdryffen, •
de yar reyt ga yn [?] l
Gott geff dem kleffer dat lytden, |
vnd vm movsz wertden we,
all beyt ssyn ougen blyntden, I
SSO [en] sseyt er esz nimer nie. jl
7. Dar an ssolt yr gedencken, |
vr hübsstz vonffffrawelevn fevn: )
dem de leyffen doet kerencken, i
ssyn droyren hat geyn endt. ^
Myn leyff hat myr vntrow gedayn, *
dar vmb tro}T ych dach vnd nacht; :
eyn ändert [le}if] moysz ych keyssen, . ^
dartzo hat er mych bracht.
XI. All die entfernte geliebte.
Nr. 27.
[20a] 1. Betrübt ist mir hertz, moydt vnd syn
wol heuer zu diessem neuem jaren:
1 . 2 wol he heuer
LIEDEHBUCH DER HERZOGIN" AMALIA VOX CLEVE 421
noch drecht mich stet mein hoffonge hem [?]
vnd daiffs nvet offenbavrcn,
das ich so hart betrübet werd
in liuiinmelvcher leib verbürgen.
2. Das ich dich, veins [lieff|, raydenn mus,
brengt myr heimmeliche smertzenn,
ist mvnem hertzeu evn sweire bus
vnd krenckt mvch fast von hertzen;
so leb ych doch der hoöiinge noch,
mein trouren wevrt sich wenden.
t.
3. Ich wayrt der tzit, do er wieder geit
mein gemoit mit allen freiten
vnd mir macht gesunt myn hertz verwimt,
heylff vnß zo samen beyde.
tzo dyr, myn gedacht, ade tzo goder nacht,
van dvr movss vch mvch vtzund scheiden.
2, 1 minlenn — 3, 1 tzu — 3, 3 verweynt — 3, 5 geacht — 3, 6 ytzons
XII. Der ungeschickte liel)liaber.
Nr. 22 a.
[16 b] 1. Ich hadt mich vnderwonden,
wolde dienen evme vreuwelvn fyn:
sy snyt myr dieffe 'wenden
dem jongen hertzen myn.
Wulde glück, müecht jch yere dienen,
jr stedyger diener syn,
vnd were es ere gefeilig,
yere eysren woulde ich syn.
2. Ich was eirst zo vr komen,
verswonden was myr myne rede,
ich wart zo evnem stomen,
als ichs yernomen hett:
ich durfft nyet vmb sy werfen,
idt was alleyne my[n] schoult.
vyll lieuer wulde ich steruen,
je ich verluyr yr hulde.
3. Wie sali ich mich dair inne schicken,
wie sali ichs gryfen an?
ich hay[n] ja gar geyn glück [e],
ich bvn evn trurich man.
422 BOLTE
Fviies lieff, laiß dich erbarmen
iny[n] kommer vnd groys noyt:
mueß jch dich farn hiissen,
lieiier ^yere mvr der dovt.
4. Dae sraÖ' vm nw die revne
gar vyle fruutlich küß;
dat vi'eulyn fienge an zo weynen
vnd sm tickt vn an vr brüst:
Fynes lieff, laiß dich erbarmen
my[n] komer und groys noyt!
ich wyll dich nyet begeuen,
schaf[t] lieff dyn mun[d]lyn royt.
5. Dyt liedt das ist gesungen
vys trur[ic]lichen mut;
vnfall hait mich verdrongen,
ich hoff, es werde noch goyt.
Ich wyII der zvt erwarten
bys vff die seine stondt,
moyß ich dich farn laissen,
so spar dich got gesondt!
Str. 4 lalltet im Berliner mscr. germ. quart 708:
So gab sy ym aia segen
Mit ainem fraintlichen kuß.
Sy sprach: Got sol sein pflegen,
Vnd schmückt in an ir brast.
Die weil ich hab das leben,
Eed ich zu disser stund,
Wil ich dich nit auffgeben.
Schafft, heb, dein roter mund.
4. 1 m\Tie — 4, 2 gar ky fmtlich — 5, 2 munde
XIll. Die ungetreue.
Nr. 5.
[5 b] 1. In liefden ist myr myn hertz verbrant
nae eynem vreuwelyngh stoultz,
sy leuet myr zu aUer zyt
recht wie dat fuvre dem houltze.
Ich hain yere gedient vff golden woene,
recht als ich byllich konde.
1, 1 my
LIEDERBUCH DER HERZOGIN AMALIA VON CLEVE 423
Wat hvlfft vere, dat sy mich verkuyst
och sonder alle schoult!
2. „Geselle, des seluen geliehen
klagen ich offenbair
dem armen als dem riehen,
du wils darum nyt layn:
myt der eleu du myr vismyst,
mess ich dir widder vm.
in der alder truwen du dyck vergyss,
du mvrcks waile, wie ich des meyne."
3. Zart frauwe, wyls du nyet zürnen dich,
dat ich dyr sagen moes:
mych leues bürde [?]
dair vff mvn truwe ...
du hays dyn hertze gedeylet
eyme hie, deme andern dae:
ffair hyn myt kleynen heyle,
schaff äff haue du zu lone.
4. „[Fai-e] ich nyet, so moysz ich gain,
dat myrcke, du knaue stoultz;
und sytze ich nyet, so moysz ich stayn:
schaff äff zu dieser stondt
dat gyffs du myr zu lone
ind drages uff mir dinen hass,
du sages myr wairlich schone:
got geue dyr, ich weys Availe was."
5. Sage fraue, du kans vyll spytyger werdt
vnd dragen oeuermoyt,
dat federen splyssen hais gelert
und speien vnder dem hoide,
du kans wail ryncken giessen
und sagen seiden waere:
der dyr . . weirlich zu ließe,
du drieues ys noch eyn hawe [/. jaere?].
6. „Geselle, an dynen äugen
suyt men, wat an dir ist:
1, 7 yerknyst — 2, 8 wade — 4, 3 stayne — 4, 4 off — 5, 3 gehert -
6, 2 suyt wie
424 BOLTE
du hais er vill bedrogen
m'si: dvner valscher Ivst,
du hais myr vvll gesougen
wys gebodeu und s
des havn ich dich befonden
^-f evne falen perde."
7. Zart vrauwe, ir kunt den mantell schicken
gegen regen und gegen wynt.
Van svden machts du mvr snure,
dair girne ich henfFen vyndt.
Du hais es dich vermessen,
du kans waile spalden wynt,
du machs mir des gar behende
myt sneden [/. seenden] äugen blynt.
[6a] 8. „Geselle, aen allen hoffen
[du] dienst uff losen waen:
fair hvn, die dure stevt offen,
ich wyll dich neyt langer haen.
Du hais der kamern also vyll
in dynem jongen hertzen,
dat ich dyr neyt geleufen kan
aene schympe und euch aene schertzen."
9. Eyn ander hayt mich verdrongen,
des byn ich weirlich fro;
m\T ist gar wail erlongen,
sy hait eynen andern doren.
N. spraich, sy künde schaffen,
wie sy sich hauen wyll,
der naiTcn vnd der äffen
hait sy gemachet vyll.
10. ,,Nu siet, ir schone jonjffrauwen,
sydt ir yn stediger hode;
hv kan sich vruntlich machen
und drvuen wanckelen movt.
Hy hait ir fyll gefangen,
an svnem narren sevle,
ich byn eme kome entgangen
got geue myr gelück und heyle.'^
6, 7 besonder! — 7, 4 vynde — 10, 3 vrmitlich
LIEDERBUCH DER HERZOGIN AMALIA VON CLEVE 425
Xiy. Loos des T)uhlors.
Nr. 10.
[8 a] 1. Ayn biieler moyß sich lyden vyll,
des byn icli ynnen worden:
des dages dryfft hy äffen spyll
und fuvrt cartliusers orden,
• 7
die gantze nacht liy oeuer braicht
myt krysschen und [myt] syngen,
in liagell und snehe deyt hy im wehe,
hy hoff't, im sülle erlyngen.
2. Wan hy des morgens vrue vp steyt,
duet hy sich snell anlegen,
hy wardt, Avann sy zo kyrchen geyt,
dat hy yere kome ontgegen.
Wan sy yn anblyckt, syn hertz erschreckt,
eyn woirt kan hy neyt gehen,
so gruytz sy yn und geyt vorhyn,
nae vere duet hy vmbsiene.
[8 b] 3. So' geyt hy vp und wyder äff",
dat duet sy balde vernemen,
svn hertz ist im der vreuden voll,
wanne hy heymlich sali komen:
vp eyne stont, die sy im gont,
gar schöyn deyt hy sich mutzen,
hv leufft stevtz vmb, sueckt renck und krum
myt gaö'en vnd myt gucken.
4. Wanne hy dan zu der Hefster kumpt,
syn truren ist im vergangen.
Sy spricht: Ir syt hupsch und gelat;
myt em kan sy woll prangen,
vnd lagt yn an, als sy waill kan
Mit B bezeichne ich einige aus dein Berliner niscr. germ. fol. 752 entlehn- i
ten Varianten. — 1. 1 ich — 1, 2 yn den — 1, 4 cathusers — 1,5 — 1 B\ \
wachtt I mitt pfeiffen, dantzen vnnd singen, | im tlmtt nitt wee reiff, regen oder
schuehe — 1,7 sucht deyt — 2, 7 sy gmytz — 2, 8 5: ehr darff nitt wieder
vmbsehen — 3, 1 B: Ehr geitt ihr nach vnnd nymbtt jrer whar — 3, 3 im vyll der
vreuden — 5: ist foll der freuden gar — 3, 4 5: ehr hei sei sali — 3, 5 5: sei
seytt im ein stundtt — 3,6 5: sich zerenn — 3,7 fg. B: Ehr gedencktt ahn jr,
die zeittwirt jm schwer, [ für die thur komptt ehr hoffierenn — 4, 4 B: kallenn —
4, 5 J5: sei sichtt in an
426 BOLTE, LIl-IDERBUCH DER HERZOGIN AMALIA VON CLEVE
eyn gecken narren oeiien.
Hy spricht zu yr: Hertze beger,
evn schätz boiien allen wvuen!
5. Ich byn uch, jonffi-auwe, van hertzen hoult,
nyet me kan ich gesagen;
wanne mir vre lieffden nvet werden ensoldt,
van leyde muest ich vertzagen.
dan uympt sy vur eyn euentuir,
dair niyt dat hy geit drafen,
macht im eyn krantz: die lieft'de sy [?] gantz,
vnd wardet evnes andern knauen.
4/
6. Och bueler, du vyll armes dier,
wane wult du wysheit plegen?
Sy spricht, sy hait geyne gonst zu dyr,
dar vmb lais vnderwegen.
Geleuve mvr, du bvst zu aller frvst
evn mertyrer hie uff erden,
du niaches dyr pyn durch lieffden schyn,
dair dyr geyne lieffde mach werden.
7. Lais äff, lays äff, du armer gouch,
sulchs boelschaft darffs du nvet suechen:
dat fuyr dat lesch, byst dich der rauch,
du schaffs nvet vn der kuchen.
Sueche anders wae, gayne lieffden ist dae,
die dir mach wederfaren,
dyn lieffde und gonst ist gar vmb sunst,
dyne arbeit machs du wail sparen.
4, 6 5: jn gecken vnd narren weise — 5, 3 solde — 5, 5 euen mir —
5, 6 daet myt — ö.b fg. B: so nympt sei vorhin einen andern bolen, | mitt dem
geitt sei heim brassen — 5. 7 und macht im eyne — 5: ist gantz — 5, 8 J5: sei
"wartt aiiff ander — 6, 2 wyscheit — 6, 3 5: furwar sie enhatt kein hebde —
6.dB: glaub mir deiß, du bist jn aller weiß — 6,6 mertyter he-, B: meiller —
6, 7 schyng — B: dir schwer vmb liebde scheir — 7, 2 boetscbaft — 7, 5 5: freie
anders — 7. S B: drumb magstu es.
BERLIN. JOHANNES BOLTE.
427
ÜBEE DEN BILDUNGSGANG DER GRAL- UND PARZI-
YAL- DICHTUNG IN FRANKREICH I ND DEUTSCHLAND.
(Schluss.)
Sp. 531. Hie kummet her Gaivan xuo dem Ideinen ritter, der
deii ivünderlichen schilt hette.
Am bruimcii dabei sass eine schöne, prächtig gekleidete Jungfrau,
die mit elfenbeinernem kämm ihr goldig glänzendes haar strich, und
ihn freundlich begrüsst, als er seinen namen nent. Alsbald komt auf
falbem ross ein kleiner wunderschöner ritter, prächtig gekleidet uufl
ungewafnet, in der grosse eines fünfjährigen knaben hergeritten, und
ladet Gawan zu seinem schloss ein. Die dame ist seine Schwester,
und beide sind sonst verwantenlos. Den schild kann nur der treuste,
fromste, tapferste held, der zugleich die treuste geliebte hat, erstreiten.
An fünfhundert hat der kleine ritter bereits besiegt, die den versuch
wagten. Während sie im schlösse gastlich tafeln, bringt ein knappe auf
schAvarzem ross einen gruss von Ydiern, söhn des königs Nuwes, der
ein grosses turnier angesezt hat, zu dem auch Artus und die tafelrun-
der kommen werden, und wohin auch der schild des kleinen ritters
gebracht werden möge, um darum zu kämpfen; dazu möge er sich
beim roten kreuz einfinden. Nach der tafel begeben sie sich in eine
laube mit schöner aussieht und worin ein prächtiges bette steht. Der
kleine ritter reitet gerüstet hinab, um den schild zu hüten. Darauf
erklärt seine Schwester Tanreie dem Gawan ihre liebe, und dieser hoch
entzückt geivan die hluome von irrne reinen magettiiome. Der kleine
ritter kehrt abends ohne abenteuer zurück und Tanreie ist sehr erzürnt,
dass der kleine ritter neben GaAvans bette schlafen will. Beide reiten
früh morgens mit dem Schilde ab, und lassen die dame schlafen.
Nach Übernachtung bei einem ritter nehmen sie rast, wo Artus
mit 3000 rittern lagert, und senden den schild an Idiers, dass er ihn
an Artus als kampfpreis überreiche. Kaye ninit ihn zur Verteidigung
auf, wird aber vom kleinen ritter klafterweit hinter das ross abgesto-
chen. Darauf gleichfals Gawans bruder Mordret von Idiers. Zulezt
will keiner mehr den schild zur Verteidigung aufnehmen. Idiers zieht
sich mit Gawan und dem kleinen ritter in deren zelte zurück, denn
Gawan wolte unerkant bleiben; sie nahmen den silberschiid mit sich
und Hessen sichs wol sein bei tafel mit speise und trank. Artus tafelt
in seinem lager und zürnt, dass niemand den kleinen zwerg erkant
imd besiegt habe. Gawan ritt mit dem kleinen ritter heim, beide
428 SAN MAT?TE
schlafen wider beisammen zum leidwesen der Tanreie. Am andern
morgen verabschiedet sich Gawan, während die jungfi'au sich in lange,
bittere klagen über seine treuL^sigkeit ergiesst. Er übernachtet dem-
nächst bei einem ehrbaren ritter.
Sp. 501. Hie rindet Gaican den vcrdohten^ ritter, dem er sins
liebes wider half.
Beim weiterritt trift Gawan auf einen ritter, der träumerisch und
tiefsinnig dalün trabt. Ein anderer ritter hat ilun seine geliebte abge-
fochten. Bald finden sie dieselbe in einem zelte, aber zugleich auch
den feindlichen ritter, der, von Gawan besiegt, die Jungfrau an den
verdohten zurückgibt, und Gawan zur nacht einladet. Er heisst Brun
und muss sich bei Artus zu Kavalun gestellen. An einem kreuzweg
lenkt das beglückte liebespaar ab nach der schwarzen kapelle, und
Gawan sezt seinen weg allein fort.
Sp. 572. Hie rindet Gaican sinen siin Gingelcns, doi er hette
ron hcrn Brandelins sicester.
Nachdem sich beide freudig erkant, macht der söhn Gawan bekant,
dass Artus ihn um beistand gegen den könig Catras ersuche, der sein
land mit feuer und schwert verwüste. Gawan teilt dem söhn seine
sp. 259 und 264 oben erzählten abenteuer mit.
Sp. 579. Hie rert künig Artus mit sime her uf künig Katras
ron Besesse.
Artus zieht mit grosser heeresmacht zu felde. Nach viertehalb
monate langer belagerung ergibt sich Katras, und nimt sein land von
Artus zu lehn. Gawan blieb bei Artus.
Sp. 582, 11: uns enseit dis mere ron imme niit me
nu, wie ez joch harnoch e?'ge.
Sp. 582. Xu teil er ron Farxefale sagen, luie er ein bilde in
eins kindes ivise rant und mit im rette uf einem boume und ivisete
in %uo dem leidigen berge. [Bern. ms. § 23, zum teil lückenhaft]
Sp. 582, 17: ich wil üeh ron Parxifalen sagen,
hörent irs gerne rnd lontx üeh wol behagen.
Walther ron Dunsin dise rede ret,
der dise ystorie rollebroht het.
er sprichet, daz Parze fal ivolgemuot
1) rerrfoÄ^ vgl. sp. 608, 23. 738,45. 739,29. 741,26.
803 ,11: tcart sere verdoht gar :
er vergax sin selbes sunder sin da?ik.
610, 8: Parxefal icart so sere verdoht,
dax er enicüste nüt tuan icas.
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTÜNG 429
vierzehn tage lang, seitdem er Bagumedes von dem banme befreit
hatte, au dem er mit den beinen aiifgeliängt war [s. sp. 506], umlier-
ritt, als er im walde ein sehön gekleidetes, etwa 5 Jahre altes kind,
einen apfel in der band, hoch im bäume ersah. P]r fragt nach dem
gral, doch will das kiud darauf nicht eingehn, und sagt nur, er werde
morgen zur säule auf dem leidigen berge kommen und dort weiteres
hören. Darauf stieg es im bäume immer hrdicr und höher, bis es
verschwand. Parzival übernachtet im hause eines einsiedlers und
erreicht am andern tage den leidigen berg, von dem eine Jungfrau
herabkomt, die ihn wai'nt. Ihr ritter sei hier wahnsinnig geworden
und irre hier im walde iierum; sie suche ihn, doch lehnt er ab, ihr
darin zu helfen.
Sp. 586. Hie vert Pcuwcfal zuo der sul uf den leidigen herg
und gesdiach im gros oventiire. [Bern. ms. § 23.]
Auf dem leidigen berge fand er eine, wol einen bogenschuss
hohe, reich vergoldete kupferne säule, um welche fünfzehn kreuze
standen, die je fünf rot, weiss und blau gefärbt, und jedes wol fünf-
zehn klafter hoch waren. Mit goldner Inschrift stand auf einer mar-
mortafel lateinisch unter einem ringe geschrieben: dass nur der beste
ritter hier sein ross anbinden könne. Parzival konte sie zwar nicht
lesen, doch hatte der ritter, der ihn in das grab stiess [sp. 485 und
486], den Inhalt gesagt. Er steigt ab, lehnt schild und lanze an die
säule und bindet sein ross fest an den ring. Da komt auf einem
weissen maultier die wunderschöne Jungfrau vom leidigen berge, die
ihr schloss hinter dem berge hat, begrüsst ihn freundlich, streichelt
sein ross und ladet ihn in ilu- zeit ein, das sie seit vierzehn tagen
hier aufgeschlagen hat, um abzuwarten, wie das abenteuer ablaufen
wird, das die tafelrunder Gawan, Gyflet, Dos söhn, Yw^on, Lanselet
und Sagremor bestehen wollen und die sie bewirten werde. Viele
mägde und knechte befinden sich bereits bei dem zelte.
Sp. 591. Hie hörent von kilnig Artus gcbilrte sagen. [Bern,
ms. § 23.]
Sie erzählt dem beiden von Artus geburt, über den von einer
weisen frau und Merlin, dem weissager des königs Uterpandragon,
grosses prophezeihet worden. Da Uter wissen wolte, wie er den besten
ritter erkennen könne, zauberte Merlin jene säule mit den 15 kreuzen
und dem ringe zum anbinden der i'osse zur pilifung. Merlin gieng
vom hofe zu ihrer (der erzählerin) mutter, und da ward Merlin ihr
vater. Auf ihre frage, wer ihn hergewiesen, erzählt Parzival ihr das
abenteuer sp. 486 mit dem ritter aus dem grabe. Die Jungfrau erklärt
430 SAN MARTE
den lezteren tur einen schändlichen räuber, den er hätte töten sollen.
Sie führt Parzival auf den weg zur gralsburg, doch die schwersten
gewitter begleiten ilin am tage, während die Schönheit der folgenden
nacht ihn entzückt.
Sp. 598. Hie vindet Parxefal einen hoitm, der vol hiirnender
herxen ivax. [Bern. ms. § 24.]
Da sah er einen bäum mit tausenden brennender kerzen, doch
je näher er kam, desto mehr verschwand die erleuchtung, und er kam
an eine nur mit einem licht erleuchtete schöne kapeile, in der auf dem
altare ein erschlagener ritter unter prächtigen decken lag. Da ergieng
ein blitz mit fürchterlichem donnerschlag, und eine bis zum eilenbogen
schwarze band löschte das licht aus und Parzival verliess unter from-
men gebeten die kapeile. Darauf begegnen ihm Jäger des fischerkönigs
und eine Jungfrau zu pferde, die ihm bestätigen, dass er auf dem
rechten wege zum gral sei, doch verweigert die dame, ihm auskunft
über das kiud auf dem bäume und das abenteuer in der kapeile zu
geben.
Sp. 602. Hie kummet Parxefal xiio dem anderen mole %uo dem
grole. [Bern. ms. § 24 mit dem schluss: drei tage nach der krönung
Parzivals zum gralkönig starb der fischerkönig und wurde zu grabe
getragen. — K Boron s. 176 — 178.]
Endlich komt der held zur gralburg und wird in dem prächtig
geschmückten saale vom könig, der auf einem nihebett sass, gastlich
empfangen und genötigt, neben ihm platz zu nehmen. Parzival fragt
eifi'ig nach der bedeutung seiner erlebten abenteuer, dem kinde auf
dem bäume, dem bäume mit den kerzen, der kapelle mit dem toten
ritter. Doch der könig vertröstet ihn bis nach der tafel. Bei dersel-
ben ward der gral, die blutende lanze von schönen Jungfrauen, das
zerbrochne schwert von einem Junker, der es auf den tisch vor dem
könig niederlegt, herumgetragen. Parzival weiss nicht, was er zuerst
fragen soll, so sehr ward er verdoht [sp. 610, 8]. Der könig erklärt
ihm: das kind habe sich mit ihm nicht befassen können, da er an
einer grossen sünde noch zu tragen habe. Gott habe den mensjchen
aufi'echt erschaffen, damit er hoch und frei um sich sehe, und die
seele nach dem himmel richte, was er bisher nie getan. Das kind sei
in den himmel gestiegen, und sei ihm die Weisung damit gegeben,
gleichfals dahin zu streben. Über den bäum mit den kerzen und die
kapelle mit dem toten ritter wolle er nach tische weiter reden. Par-
zival bittet, ihm das rätsei des gebrochenen Schwertes zu lösen, und
Amfortas entgegnet: wer die stücke zusammenfügen könne, sei der
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTUNO 431
beste ritter der weit, doch müsse er zugleich voll gottesfurcht sein und
die kirche ehren. Er mügi^ versuchen, die stücke zusammen zu fügen.
Hernach werde er ihm vom gral und dem blutenden speer erzählen.
Parzival sezt das schwert zusammen, dass es wurde
Sp. 609, 31: so schöne nnde so gantx,
frisch, reine und gcsJaht,
alse dez tagex , da ez wart gemäht
610, 13: der känig sach in a?/ midr wart fro.
mit armoi umbevieng er in do,
alse ein tugcnthaft man tiiot.
er sprach: lieber herre guot,
über dis htis sint gewaltig hie
und über alles, daz ich gewa7i ie,
one alle tviderrede dekei?ie
und teil ilch lieber haben eine,
denne keinen man der nu lebendig ist.
Darauf wickelt der knappe das schwert in einen zindel und trägt es
fort; der könig aber sprach
Sp. 610, 32: essent, schönre herre, ivolgemuot,
daz üch got durch alles sin guot
grosse ere geben ivelle
unde behuote ilch vor der helle.
(Hier begint Manessiers fortsetzung, s. B.-Hirschf. 1. c. s. 99.)
Als sie weiter tafeln, wird der gral, der blutende speer und die
patena nochmals herumgetragen, und als sie sich wider entfernt hatten,
begann der könig seine erläuterung: Mit dem speer habe Longinus die
Seite Christi durchbohrt, der gral sei „der kelch", in dem das heilige
blut aufgefangen. Joseph brachte ihn her, als ihm Vespasianus aus dem
kerker half, da er nach Judäa gefahren, um die untat der Juden zu
rächen, und wo Joseph das evangelium predigte. Mit seiner gemeinde
zog er in die stadt Saresse, und gieng mit ihr in den sonnentempel.
Der könig des landes wurde hart von den Ägyptern bedrängt, und war
alt und schwach geworden. Joseph heftet ihm ein rotes kreuz auf den
scliild. mit dem er und sein volk gegen die feinde ziehn und siegreich
zurückkehren. Da Hess sich Avaluk, der könig, mit seinem volke tau-
fen, und uante sich Modrens, desgleichen sein seh wager Salafes, der
fortan Natigon hiess. Joseph zog mit dem gral und seiner gemeinde,
überall das Christentum verbreitend Aveiter und her in dieses land, und
432 SAN MARTE
der gral blieb hier, als er starb. Er, Amfortas^, glaube, er sei Josephs
nachkomme: die jangfi-au, die den gral trug, sei seine tochter, die
andre mit der patene die des königs Gouns, seines brudei*s. Mit dem
Schwerte sei der tütlichste schlag geschehen; denn als sein bruder auf
der bürg Kinkagüt von Epinogres belagert ward, nahm sich der neffe
des Epinogres die waffen eines toten ritters von Gouns, schlich sich
damit an ihn, und spaltete ihm mit dem schwort das haupt. Bei die-
sem leidigen schlage zerbrach das schwort. Jener warf den andern
teil weg und enttluh. Der leichnam und die schwertstücke wurden auf
die bürg gebracht, und meine nichte sagte: wer das schwort wider
hei*stelle, der solle damit räche an dem mörder nehmen. — Parzival
hört andächtiir und teilnehmend zu inid bittet um das schwert zum
rachezug gegen den neffen des Aspanogres, den herrn vom roten türme,
den „unsinnigen'' Partinias, dessen kraft er nicht fürchte. Parzival
lässt nicht nach mit fragen über den bäum mit den lichtem. Es ist
der goukelbaum , da sich die feen versammeln, welche die leute betrü-
gen, die nicht den glauben haben. Da sie verschwanden, als ihr nah-
tet, soll das bedeuten, dass ihr den zaubern dieses landes ein ende
bereiten werdet. Den bäum wird niemand wdder finden. Die kapeile
aber stiftete Blanschemore von Kornuwale, die mutter des Asspynogres,
welche nonne in der kapeile wurde. Als sie starb, schlug er ihr das
haupt ab und begrub sie unter dem altar der kapelle. Seitdem ward
fast täglich ein ritter von der schwarzen band unter donnerschlägen
getötet; wol schon an 5000 fanden so ihr ende. Wer aber mit der
schwarzen band kämpfen wolle, der nehme die weisse fahne, die in
der kapelle steht, und vom teufel behütet Avird, und setze sie in das
Weihwasserbecken, besprenge damit die ganze kapelle, altar und leiche,
und gott im himmel werde ferneres unheil verhüten. Der kämpfer
müsse aber sehr tapfer sein. — Endlich gehn sie im prächtigsten zim-
mer schlafen; das bette Parzivals wird weitläuftig beschrieben. Doch
Parzival steht schon in der frühe auf, und rüstet sich bestens zur aus-
fahrt. Vergebens bittet ihn Amfort^s, wenigstens noch einen tag zu
bleiben.
Sp. 625. Hie vindet Farxefal Sagremoi^s und tverdent sü xicene
tnit xelienen vehtende.
Sieben meilen von der herberge trift Parzival auf Sagremors, der
einen elenden klepper reitet, da ihm, als er nachts im w^alde schlief,
sein ross diebisch mit diesem klepper vertauscht ward. Grosse freude,
1) Im französischen text wird der name Bron stehn.
BILDUNGSGANG DER GRALDICIITÜNG 433
dass sie sich gefunden! Da kommen zehn ritter feindlich hervor-
gesprengt; der erste reitet den schönen Morel des Sagremors, und hat
eine Jungfrau vor sich auf dem rosse, die nach liilfc und befreiung
schreit. Im ungotümsten kämpfe erschlügt Parzival fünf ritter; Sagre-
mors verfolgt die übrigen auf seinem rosse. Auch die lezten zwei
werden niedergemacht, doch Parzival ist schwer am knie verwundet.
Dennoch führt er auf seinem rosse die dame auf ihre bürg, vor der
eine bewafnete schaar ihnen entgegen komt, ilire herrin zu suchen.
Freudig empfongen, glänzend untergebracht und von einem arzt ver-
bunden, muss der lield einen monat dort in ihrer pflege verbleiben.
Sp. 639. Hie jaget Sagremors cime ritter noch, der im sin ros
kette geuomen , unde icürt mit im vehtende in sinre eigineyi bürge.
Der verfolgte floh in sein festes haus. Sagremors ihm nach! Der
bauer am tor Hess das falgatter nieder, und er muss mit den vorhan-
denen bewohnern kämpfen, bis er sie sämtlich getötet hat. Nun bewir-
tet der um gnade bittende torwart ihn mit reichlichem nachtmahl und
wolgerüstet reitet er wider auf seinem mutigen Morel in den wald zu
der gestrigen walstatt, avo die leichen der zehn ritter lagen. Bald fand
er auch eine bürg, die sich im kriege zu befinden scliien.
Sp. 648. Hie kummet Sagremors zuo der inegde bürg und wilrt
mit eime ritter vehtende, der kies Talides.
Den willig eingelassnen belehrt eine alte dame, dies sei die
mägdeburg; darin seien siebenhundert Jungfrauen, alle von edlem ge-
schlecht, und dazu ein schüler und ein kaplan. Ein mächtiger ritter,
Talides, fordre eine zur geliebten, die sich aber weigere, ihm zu fol-
gen, w^eshalb er jezt die bürg bekriege- Artus sei um beistand gebe-
ten. Ein Junker, bruder der geliebten, der die Schwester lieber tot
sähe, ehe Talides sie erhalte, hat erkundet, dass Talides mit dem beere
morgen anrücken werde. Sagremors sendet diesem eine Jungfrau mit
der forderung zum kämpf entgegen; siege er nicht, so müsse er den
mägden urfehde schwören. Talides wird im kämpfe besiegt und muss
sich der alten dame als gefangener stellen, die doch gerührt ihm die
geliebte übergibt. Algemeine freude und andern tages brautlauf und
heimzug, während Sagremors auf seinem schwarzen ross Morel andern
abenteuern nachreitet.
Sp. 662. Hie vindet Sagremors xivene rittere, die eine jung-
froice icoltent gesche?idet han mit den er vehtende icart.
Er erschlägt beide Übeltäter, und die Jungfrau führt ihn in ihr
väterliches schloss, und unter beistand ihres bruders und vaters ver-
weilt er sechs wochen dort zur heilung seiner wunden.
ZEITSCHEITT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 28
434 SAN MARTE
Sp. 672, 1. dex gesicigoi icir mi, wie ex iimhe in lit,
bitx dax ex 7iu irihi xit.
eins anders sollen wir an fon
von kilnig Artus ölwin, kern Gawon,
also ich ex in der ijstorioi vant;
anders tuon ich ex ilcli nüt behcmt.
Sp. 672. Hie kuDunet die jnncfroice xuo kern Gawan, die des
rifters swesfer wax , der In dem gexelt erschossen wart in hern Gaivans
geleite. (S. Sp. 259 oben.)
Als Ga\Yan eines tages sich im saale mit Artus und der königin
befand, komt schön geschmückt auf einem maultier eine Jungfrau gerit-
ten, und teilt unter ^vehklaa'en mit, dass sie die Schwester des hier
meuchlings getöteten ritters sei, und klagt Gawan an, dass er nicht
zum gralkönig gekommen, der ihm alle geheimnisse würde entdeckt
haben, und dass er ihrem bruder das geleit gebrochen habe. Er solle
die Waffen des toten nehmen und ihr folgen, denn sie sei in grosser
gefahr. Seine sünden hätten ihn einschlafen lassen, als der könig ihm
vom gral und blutender lanze erzählte. — Beide reiten sofort ab,
übemachten in einer befreundeten bürg, die zweite nacht ohne Spei-
sung im freien walde, den dritten tag herbergen sie unter gastlichem
empfang in einem zeit bei zwei rittern und zwei Jungfrauen, und dann
wider auf der bürg eines würdigen ritters.
Sp. 680. Hie klimmet her Gawan xuo einem füre, da icolte man
eine jungfrowe inne verderbet han mit unrehte.
Weiter reitend sehn sie am rande eines waldes, wie zwei knechte
eine bis aufs hemde entkleidete Jungfrau in ein feuer werfen wollen.
Aber an 20 ritter und eine menge volks, an 2000, waren auch da; ein
ritter erklärt, sie habe ihren bruder ermordet, um seine herschaft allein
zu besitzen, das volk aber erklärt das für lüge, und fordert ihre frei-
lassung, denn der wilde Dodinas habe ihn erschlagen, den sie jezt
gefangen halte. Gawan kämpft mit dem vorgetretenen ritter, stürzt ihn
vom ross ins feuer, aus dem er tot hervorgezogen wird, und mit jubel
des Volks wird die gerettete frei, die Gawan zum dank leib und land
bietet. Statt das anzunehmen lässt dieser den Dodinas, der ihren bru-
der wirklich getötet hat, vorfüliren, und erkent in ihm seinen freund,
landsmann und tafelrundritter, bittet ihn frei, und zieht weiter mit
seiner dame.
Sp. 685. Hie kummet her Gawan an einen icalt unde vindet
drie rittere, die gebruoder ivorent, unde wilrt mit den vehtende.
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTUNO 435
Sie sind neffen des ins feuer gestürzten rittors nnd wollen ihn
rächen. Gawan tötet zwei (hivon, den dritten scliiekt er besiegt zu der
geretteten Jungfrau, die ilui dankbai' aut'ninit.
Sp. 689. IIlc liunt her Uairan mit rinre jiiurfroicen in ir
bürg, die in fnorie vo)i ]d\ni(f Artns Jiof, undc trihi mit rimr li'oritje
veJitende, der hris Margnns.
Als Gawan mit seiner begleiteten dame in deren stadt und bürg
anlangt, werden sie mit klagen empfangen. König Marguns hat sie
hart belagert, weil die frau seinen söhn Kargrilo als gemahl verschmäht,
indem sie ein ander lieb hatte. Ihr lieb ward aber gefangen, und
Marguns liess ihn vor ihren äugen hängen; aber von den ihrigen wird
auch Kargrilo gefangen, den sie von einem türm herunterstürzen liess,
dass er starb. Nun rief sie ihren bruder zu hilfe, der aber in Gawans
geleite durch ein javelot an Ai'tus hof erschossen ward (s. sp. 259),
und zwar von Keye, was Gawan jedoch bestreitet. Am morgen reitet
Gawan wolgerüstet dem Marguns entgegen. Dieser unterliegt im kämpf,
muss steten frieden geloben und sich dem könig Artus als gefangner
gestellen. Die Jungfrau bedauert, dass er ihn nicht getötet, und bittet,
dass er an Keye räche nehmen möge; sie gab ihm dazu ein rotes
fiihnchen mit dem bild eines Aveissen löwen, an die lanze zu heften,
das er mit Keves blut färben solle. So reitet Gawan nach Karleun ab,
während Marguns gleichfals mit 100 rittern und vielen zeltgeräten sich
zu Artus auf den weg macht.
Sp. 700. Hie tvürt errettende Idinig Marguns sine sivester, und
ivürt dnimhe vehtende mit eime der hies Gogaris.
Als unterwegs Marguns seine zelte aufgeschlagen, komt auf einem
maultier ein hovereht getwerc geritten und berichtet, dass mit 150 rit-
tern Gogaris Marguns Schwester Malolehat gewaltsam entführt habe;
Marguns verfolgt ihn sofort. Fünfzig seiner ritter werden erschlagen,
fünfzig gefangen, und fünfzig entfliehen, und die befreite spert den
Gogaris in einen käfig, in dem er sieben jähre schmachten muste.
Marguns mit dem zunamen: der könig mit den 100 ritteni, wird dem-
nächst von Ai'tus mit ehren empfi^ngen und in die tafeirunde aufge-
nommen.
Nu gesivige ich von im hie.
Sp. 703. Hie klimmet her Gawan zuo einer hiirg , und tcürt mit
eime ritter vehtende von der bürge, der duff'e hovemeister ivas.
Nu hörefit von herren Gawan.
Einer bürg nahend, erkent ihn die am fenster sitzende herrin
derselben, und befiehlt ilirem hofemeister, ihn gefangen zu nehmen,
28*
436 SAN HARTE
da er zu Artus gesinde gehöre, um an ihm Solimag, der ihres vaters
bruder Avar und an Artus hofe heimtückisch erschossen Avard, zu rächen.
Xach kurzem kämpfe wird der hofemeister niedergeworfen und bittet
ebenso, wie seine auf einem maultier herbeieilende nichte, um gnade.
Gawan erkent diese dame als diejenige Jungfrau, für die er gegen Mar-
guus gefochten hat. Die herrin der bürg mahnt zwar daran, dass ja
Solimag unter Gawans geleit erschossen sei, versöhnt sich jedoch und
nimt GaAA'an gastlich auf. Die hinzugekommene ist Solimags Schwester
und heisst „die rote Jungfrau"; Solimag hiess „der herr der bürg zu
den felsen." GaAvan verspricht die anklage gegen Keye als mörder bei
Artus ia austrag zu bringen. Gawan legt die waffen des erschossnen
ritters an und reitet mit der roten Jungfrau zu Artus.
Sp. 710: Hie humet her Gawan 7alo künig Artus hofe mit einre
junyfroicen unde ivürt mit Keygin vehtende von iren ivegen.
Gawan, der unbekant bleibt, besiegt Keye, doch wird ihm auf
Artus bitten das leben geschenkt. Gawan bringt die rote Jungfrau zu
der bürg zurück, wo er die wafFen entlehnt, und weilt noch 8 tage
dort, während Keye noch zwei monate an seinen wunden zu hei-
len hat.
Sp. 717. Hie findet her Gaivan sinen hruoder Agrafens, unde
werdent vehtende mit fünf rittern, do hies einre Patris.
Nach einiger zeit begegnet ihm sein bruder, der ihm zu seiner
beruhigung mitteilt, dass Keye wider genesen, der hof jedoch nicht
wisse, wer ihn besiegt habe. Da kommen fünf ritter, todfeinde des
Agrefens, feindlich angestürmt, doch zwei, Patris von dem berge und
Galien von Kurnewal werden abgestochen und zu Artus geschickt, die
übrigen entfliehen. Artus empfängt sie mit ehren Avegen ihres besie-
gers. Bald nachher gehn auch die beiden bruder an den hof zu Artus.
Sp. 722, 9. nu wil ich Gawans hie gedagen
und tvil üch voji Parzefale sagen
der uf der hurg siech lag dort (sp. 625).
Nach mehreren Avochen genesen, bricht Parzival auf, von der
herrin der bürg vortreflich ausgerüstet. Das gebrochne schwert nimt
er mit sich.
Sp. 723. Hie kummet Parze fal zuo einre capellen unde wurt do
init demme täfele vehtende und überwindet in.
Parzival sucht einen schmied, der ihm das zerbrochne scliAvert
herstelle. Ein schAveres ungewitter überfält ihn, und er flüchtet in
eine kapeUe im walde, dieselbe, in der er vor etAva Jahresfrist geAvesen
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTUNG 437
(sp. 598). Auf dem altar liegt der tote ritter bei brennender kerze.
Wie damals verlöschte eine schwarze band die kerze; er warf seinen
wHirfspiess gegen sie, den sie aber auffieng und zerbrach. Da erschien
im fenster bis zum halben gürtel ein feuriges wesen, das ihm einen
zwei klafter kugen brand entgegenstreckte, der ihm augenbrauen,
bart und gesiebt verbrante. Mit furchtbarem blitz und donnerschlag
wird die kapelle in brand gesteckt, der teufel erscheint in person und
kämpft mit ihm, seine kreuzigungeii, segensprüche und gebete sind
jedoch wirksamer, als sein schwort. Der böse weicht zurück, und Par-
zival nimt aus der kapsei das weisse fähnlein, taucht es in Weihwasser
und besprengt überall damit die kapelle. Die leiche auf dem altar ist
ganz schwarz gebraut. Das feuer erlischt. Er legt das fähnchen wider
an seinen ort. Nach vielen gebeten schläft er bis zum frühen morgen,
der lachend hereinbricht. Die kerze brent wider, und er läutet eine
glocke, damit ein priester komme, die leiche des ritters zu begraben.
Mehrere mönche erscheinen, legen den ritter in einen marmornen sarg,
bestatten ihn unter den hohen bäumen des friedhofes, und hängen
seine waffen an einen bäum, wie auch mit den dreihundert rittern
geschehen, die von der schwarzen band erschlagen wurden. Doch
unter den angeschriebenen namen derselben befand sich kein tafelrun-
der. Die königin ßlanschamor hatte diese kapelle, deren zauber Par-
zival gebrochen, gestiftet. Bei spärlichem mahle herbergen ihn die
mönche einen tag und eine nacht, und als er auf weitere abenteuer,
um preis und ehre zu gewinnen, abreiten will, ermahnt ihn einer der
„guten männer": wie er damit seine seele verderbe, dass er die men-
schen töte. Parzival erschrickt, geht in sich, bereut seine sünden, tut
busse und verspricht besserung.
Sp. 738. Hie sticket der tu fei Parxefalen von sime rosse, und
machet sich der tilfel %uo eime rosse, und icurt da% ritende und
ivolte in ertrencket han.
Der teufel, in rittergestalt, sticht ihn ab, und reitet mit seinem
rosse fort. Dann komt ein lediges gesatteltes schwarzes ross, das er
einfängt, sich aber mit ihm in tiefes wasser stürzt, aus dem er sich
jedoch mit mühe errettet.
Sp. 742. Hie kummet der tilfel in eime schiffelin, und het sieh
gemachet in Parxefals icibes geschöpfede.
Während der held sich betend bekreuzt und seiner sünden gedenkt,
komt eine feurige dreiköpfige gestalt mit leopardenantlitz, feuer schnau-
bend unter donner, blitz und hagel auf ihn zu. Zugleich komt auf
dem wasser ein schifchen mit einer Jungfrau, worauf jene gestalt ver-
438 SAN MARIE
schwand, und diese ihn lierzlich als sein weib Kondwiramur anspricht;
sie habe ihn lange gesucht. Bei der tafel im zelte, die ihre leute
bereiten, wird von keinem priester ein segen gesprochen. Sie erzählt,
wie ein grimmiger ritter, Talides von Cafalun, ihr land verheere; sie
bereitet das bette, und als Parzival scherzend bei ihr lag, blickt er
nach seinem an der wand hängenden schwert, das mit dem griff oben
ein kreuz bildet. Da bekreuzt er sich und betet, und siehe, plötzlich
schaffen die knechte bett. alles gerät und das zeit in das schiff, das
unter donner und blitz schnell davon schAvamm. Nun erkante er des
teufeis list, dankte gott, dass er ihr entrann und betete inbrünstiglich.
Sp. 747. Hie Ixunund ein hotte von (joitc in eins biderben man-
nes glicJfnisse in ei nie sckiffelin und fueret Parxefalen von dannan.
Der biedre mann im schiff gibt sich dem beiden zu erkennen:
Sp. 748, 13: der oberste vatter von himelrich,
der do bekert die sünderj
het mich ?ioch iieh gesant her
daz ir von sorgen werdent erlost.
Folgt mir, ich werde euch zum ziele führen. Zuvor lässt sich Parzi-
val den ei'fahrnen teufelsspuk erklären. Dann setzen sie über, und aus
der bürg führt ihm ein Junker ein schönes weisses streitross und einen
zeiter entgegen. Der jetzige herr dieser bürg heisst Sakur de Laloe,
sein Vorbesitzer Bores. Der gute mann versichert, nachdem er das
streitross bestiegen: es werde ihn gewiss zu seinem ziele führen.
Sp. 752. Hie fihtet Parxefal mit eineme rittere, der hiesch
imnie xol.
Parcival verweigert den zoll, sticht ihn vom ross und schickt ihn
zu Artus mit der Weisung —
Sp. 754. Hie kummet Parxefal xuo JJodineas liep und wurt blos
fehlende mit eineme rittere, der sü emveg fuorte siner angesihte, der
hies Gafgens.
dass er zu pfingsten an den hof kommen werde. Auf einem wiesen-
plan findet er in einem zelte die geliebte des Avilden Dodineas, die ihn
entwapnet und freundlich bewirtet. Plötzlich sprengt auf weissem ross
ein ritter daher, reisst die dame auf sein pferd und jagt mit der weh-
klagenden davon. Parzival, ohne eisenwehr (blos), nur mit schild,
schwert und lanze bewafnet, ihm nach, rent ihn nieder, schickt den
besiegten zu Artus, und führt die gerettete auf seinem ross zum zelte
zurück. Avo inzwischen der wilde Dodineas heimgekehrt, der ihn bis-
her gesucht hat und nun ihn freudig aufnimt.
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTUNG 439
Sp. 763. Hie se?idet Parxefals lieb Kumleiviramors 7iach imme,
daz er ir ze helfe lamime.
Arides von Kaffaliin verwüstet ihr laiul; nachdem beim sclimid
Tribiiet das zerbrochne schwert p^anz ^-emaeht und (his hut'hdime pterd
hergestelt ist, eilt er mit der butiii nach hause.
Sp. 766. llie kinnmct Par\cfal xuome cliriten mole xiio sime liebe
Kioideu'iratNors xuo Bclrepere.
Freudig empfangen, besiegt Parzival am andern morgen den Ari-
des, und schickt ihn zu Artus, muss aber tages darauf weiter zum
leidwesen der gattin, um zu ptingsteu bei Artus am hufe zu sein.
Inzwischen melden sich beim könige der ritter Menader, der Parzival
den zoll abforderte, dann Gafyens, der die Jungfrau rauben wolte, und
endlich Arides als von Parzival geschickte gefangene, und werden mit
freuden in die tafeirunde aufgenommen.
Sp. 779. Hie viiulet Farxefal den xageliaftcn ritte r und wart
sin geselle fünf jar.
Parzival begegnet einem ritter, dessen wafPen im sattel neben ihm
samt der lanze hängen, der tiefsinnig (verdoht) schien, und ungewapnet
ritt, weil er nie fechten wolte. Parzival schilt ihn wegen seiner feig-
heit und nötigt ihn, sich kampffertig zu rüsten.
Sp. 781. Hie Immmet Farxefal und der xagehafte ritter xuo
zehcn rittern, und ivoltent zwo juncfroiven han verhrant und werdent
mit in vehtende.
In einem walde finden sie fünf ritter und zwei knechte, die zwei
mädchen im hemde in ein feuer werfen wollen. Parzival eilt ilmen
zu hilfe, der zaghafte tötet in notwehr zwei ritter, Parzival die übri-
gen; die knechte entfliehen, doch verwundet der eine von ihnen Par-
zival mit einem vergifteten pfeile. Die sieger werden von den geret-
teten zu ihrer nahen bürg geführt, wo Parzival von seiner wunde
geheilt werden soll. An drei monate Aveilt er dort in der pflege der
Jungfrauen und des zaghaften, der hier auch „der schöne ritter" ge-
nant wird.
Sp. 789, 14: nu hörent von Sagramors filrhas.
do er dort tif der bürg icas,
da men im hat so gros ere
alse ivere er gesin ein künig here (s. sp. 662).
Als er geheilt, findet er an Artus hofe fast alle tafelrunder ver-
sammelt, die vergebens Parzival gesucht hatten, imd Artus ist höchst
misvergnügt, dass dieser nicht erscheint. An zwanzig der vorzüglich-
sten gehn von neuem auf die suche, jeder auf besondrer Strasse.
440 SAN MAETE
Sp. 794. Hie vindei Boors sinen hnioder Lionel, den sehs bit-
tere fuorteni nacket und gebunden und ivoUent in verderben.
Booi'S hatte seinen brudcr seit zwei jähren nicht gesehn. Da traf
er ihn im walde, wie er grausam gemishandelt und blutig geschlagen
von sechs rittern dahingeführt wird. Während er im begriff ist, diese
scharf anzurennen, hört er das Jammergeschrei einer Jungfrau, die ein
ritter, den noch zehn andere umgaben, entehren wolte. Boors befiehlt
seinen bruder gottes barmherzigkeit und errettet die verfolgte, indem
er den Übeltäter und alle zehn ritter niederstreitet und tötet. Dann
eilt er seinem bruder nach. In der nacht den wald durchreitend, trift
er auf eine am wege sitzende Jungfrau, die einen ritter ohne köpf im
schoos hielt. Sie weinte, denn sechs ritter, die einen halbnackten
mann unter rohen mishandlungen mit sich fortschlepten , erschlugen
ihren liebsten, der den armen befreien wolte, und schnitten ihm den
köpf ab. Boors eilt vierzehn tage und nachte ihnen nach.
Sp. 799. Hie vindet her Gawan Lyonel, den sehs ritter sluo-
gent und übel handeltent , und u'urt her Gaivcin mit in vehtende.
von Boorse ich hie lasxen sol,
und sagen von hern Gawane cluog.
Gawan auf seiner suche nach Parzival, begegnet den sechs rit-
tern und tötet drei davon, die andern entfliehen. Den geretteten Lyo-
nel bringt er in ein haus, wo ihn ärztliche pflege in vierzehn tagen
heilt. Dann reiten sie neu gerüstet zusammen weiter, trennen sich
doch bald, und Boors klagt zu gott, dass sein bruder ihm nicht zu
hilfe gekommen. Xach vierzehn tagen weist ein mann im grauen
kleide ihn zu einem bäum, wo ein toter ritter, namens Lyonel, liege.
Boors findet ihn, und trostlos fleht er zu gott um beistand, macht das
zeichen des segens über die leiche, und siehe, da fuhr der böse teufel
mit freischlichem gebrumel, dass die äste an den bäumen zerbrachen,
aus der leiche. Mit gebet und dank zu gott reitet er weiter.
Sp. 804. Hie hegegent Boors sime bruodere Lyonel und wiirt
mit imme vehtende.
Wütend, dass er ihn nicht gerettet, rent Lyonel den bruder nie-
der. Der hinzukommende Kolagrenans will sühne stiften, wird aber
von dem rasenden Lyonel erschlagen. Boors erholt sich, bittet verge-
bens um frieden, und fleht inbrünstig zu gott um Vergebung. Da kam
eine wölke, so dass beide sich nicht sehn konten, und eine stimme
vom himmel rief: dass Boors seinen bruder nicht anrühren dürfe; die
wölke verschwand, und Lyonel lag wie tot am boden. Als er erwacht,
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTUNG 441
versöhnen sich die brüder, ein raönch hilft den Kolagrenans begraben
und meint: der teufel sei in Lionel gefahren, daher sein wütiger hass
gegen den bruder. Beide trennen sich bald an einem kreuzwege.
Sp. 812. Hie kiinunet l\ir\('f((l nndc der schöne riiter sin geselle
%uo eime turncy wider kiiniy Artus nta^scnie.
Der gehrnoderc wellen ivir swigen hie,
und sagen wie es Parxefalc ergie.
Nachdem Parzival genesen (sp. 781), gelangt er mit dem „schö-
nen bösen", dem zaghaften ritter zu einer bürg, wo Artus und kr)nig
Bademagun (sp. 506 und 513 hiess er Bagumades) ein grosses turnier
abhalten. Sie halten es für geraten, sich in einem benachbarten klo-
ster einzuquartieren und ungekant sich in die rennen einzumischen.
Ohne das ende abzuwarten, trennen sie sich am nächsten tage und
nennen sich ihre namen. Parzival meint, jener müsse „der schöne
kühne" heissen (der dichter vergisst, dass beide schon sp. 506 l)ekant-
schaft gemacht haben). Dieser reitet zu Artus, Parzival betet und
beichtet sehr andächtig in einer kapeile, und der einsiedler verpflichtet
ihn, nicht mehr, wie ehemals, an heiligen tagen wafFen zu tragen.
Sp. 822. Hie vindet Parxefal Estoren Lanszeletens bruoder,
und tverdent mitteinandcr vehtende.
Auf einem plane zwischen Schotten und Irland findet Parzival
Estorn, der zwei jähre lang irfahrten gemacht. Trotzdem er in zer-
hauenen Waffen erscheint, fordert er Parzival zum kämpf, der beide
so ermattet, dass sie erschöpft die nacht friedlich im walde zubringen.
Beide fühlen sich todmatt und wünschen, dass ein priester zu ihrem
sterben komme. Da erhelt sich der wald mit heiterem licht, ein engel
trägt den gral herbei, umschwebt sie viermal, verschwindet in dem
himmel und beide fühlen sich völlig gesund und stark. Sie trennen
sich versöhnt, Estor sucht den bruder Lanzelot, Parzival den Par-
tinias.
Sp. 828. Hie kummet Parxefal xno Partinias bürg luid icurt mit
imme vehtende.
Parzival gelangt zu einer sehr festen bürg, mit vier kleinen und
einem grossen, dem roten türm, wo Partinias wohnt, ,,der detne heil-
gen kiinige Anfortas'^ so grossen schaden getan. An. einer grossen
prachtvollen tanne vor dem roten türme hängt ein mit zwei Jungfrauen
bemalter schild, und ein knecht belehrt ihn: wer den herab werfe,
der sei des todes und werde hier, wie er sehe, aufgehängt. Parzival
zerbricht den schild, und der knecht ruft den Partinias, der nicht
442 SAN MARIE
an gott glaubt. Sie kämpfen, und Parzival schlägt dem Partinias
den köpf ab.
Sp. 834. Hie kNnnncf Parxcfal xiio liUnig Anfortasse xko dem
driiioi inoJc mit Partifuds hoiibct, und iviirt der künig ro)nme yrole
gesiDit.
Parzival komt endlich mit dem zerbrochnen Schilde und abge-
schnitnen haupte des Partinias zur gralsburg, und als dieses dem Am-
fortas gemeldet wird,
Sp. 835, 17: der liiuig mit ril frouden gros
sprang iif sine fnesse do xe stunt
und ivas (d\emote gesunt.
frölich und gar wol gemuot
gieng er abe die stege guot,
und begrüsste den beiden mit grosser freude und dank, dass er ihn
von seinem langen leide befreit habe. Der köpf des Partinias wird auf
einen pfähl gesteckt und auf dem höchsten türme ausgestelt. Die tafeln
werden aufgeschlagen und dreimal wird der gral, der blutende speer
und die patene feierlich herumgetragen, der gral spendet speise und
trank. Xach der tafel nimt Amfortas den Parzival in eine fenster-
nische imd fiagt nach seinem namen und herkunft, und sie erkennen
sich als verwante, denn Parzivals mutter war die Schwester des Amfor-
tas, und könig Goun, den Partinias getötet, sein bruder, der später
das „wüste land", Parzivals heimat, verwaltete. Er versichert ihn:
Sp. 839, 3: attes mi?i lant, des ich geiceltig bin,
sol iich eigenliche undertenig sin,
und muessent xuo kimige gecrönet sin
zuo pfingesten, die %e nehest gont in.
dax rnuos sicherlichen geschehen.
Parzival will aber die kröne nicht annehmen, so lange Amfortas
lebt; er müsse zunächst zu Artus, werde aber sogleich widerkehren.
Amfortas gibt ihm neue herliche wafnung, und so reitet der held ab.
Sp. 840. Hie kummet Parzefal zuo einem burnen und rindet
sehs rittere, mit den icurt er vehtende.
Auf einem wiesenplano findet Parzival an zwei tannen, zwei lor-
beer- und zwei olivenbäumen je einen schild und speer, jeder von ver-
schiedener färbe, grün, weiss, gelb, violet, zinnoberrot, das sechste
uar gemusieret mit allen diesen färben, aufgestelt und um einen brun-
nen herum sassen sechs ritter fröhlich spielend, und von vier schönen
Jungfrauen bedient. Es ist der könig Saladres von den inseln mit sei-
nen fünf söhnen: Dinisodres, Menassides, Nactor, Aristes und Gorgone.
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTUNG 448
Parzival sticht alle sechs einen nach dem andern nieder und schickt
sie zu Artus, der sie freudi.^: aufnimt.
Sp. 84(3. ///(' hunn/tcf Par\efal \ko siwe hrnodcr tnid vindet
den von geschiltt Feriis Anschefin und ictirt mit inime vehtende.
Hier schliesst sich Wolframs gedieht B. XV, 734, 1 an und wird
L. 769, 28 das abenteuer von Boors und Lvonel (s. oben sp. 794 und
804) kurz Avidererziihlt. — Es folgt AVolframs text L. 770, 1 l)is
L. 772, 30, Avo Parzival in einem längeren einschub kurz alle seine
abenteuer, die oben sp. 582, 598, (302, 723, 738, 742, 747, 779, 781,
822, 828 und 840 erzählt sind, dem könig Artus mitteilt und bemerkt
der Übersetzer dazu (Schorbach s. LIII):
Daz Seite er de7n ki'uiige gar.
der kies es alles schriben dar
an ein baoch von ivorte xe icort.
die aventüre icolt er han für ein ort
und ivax ieder ritter aventüre seite
hies er ouch schriben algereite,
der guote Idlnig eren vol,
und hies es gehalten wol.
Im buch XYI ist hinter L. 793, 28 rot die beischrift eingefügt
(a. a. 0. LIV):
Hie klimmet Parxefal und sin bruoder Fervis Anscheivin und kilnig
Artus und die tafelrunder alle zuo Muntsalfasche zuo dem grole.
Hinter L. 820, 16 folgt ein grosser zusatz von 54 versen, der
die krönung Parzivals erzählt, wobei ihm 14 grosse könige dienen,
und die gralfeier mit dem festlichen gelage sich täglich einen monat
lang widerholte. Dem könig Artus werden auch die geheimnisse des
grals mitgeteilt, worauf er mit seinem hofe heimzieht.
Hinter L. 823, 10 werden noch einige familienangelegenheiten
während Parzivals regieruug angeführt, die Verheiratung zw^eier muh-
men und der tochter des Amfortas, und die überlassimg seines heimat-
landes an könig Malun. Dann folgt die bemerkung zum schluss (sp. 845):
Hie hei der alte Parxifal und der nuive ein ende und ivax rede
hie noch geschriben stat, dax het Pfdippes Kot in gemäht,
und folgt der widmungsbrief an den grafen Ulrich von Rappoldstein.
Die casanatische handschrift fasst sich hier kürzer und weist
die geschichten von Loherin und priester Johannes als hier ungehörig
ab. Xach v. Kellers auszug in seiner Romvart, s. 675 lautet sie abwei-
chend von dem s. LVI verzeichneten zusatz:
444 SAN MARTE
Pa?'xifal bleip aldo für war
gcicaJticJich alle sine jar
mit gemache vnd lebte herlich
vml hiiicet manige vesten sterldich
sine nachgehur vorchtoi in gar sere
vnd erboten ime gros ere
sine ziva mumcn beriet er
herlich nacl) aller siner ger
dar )mch horte er sagen mere
da\ Änglofals sin bruder tot icere
dex irurt er betrübet gar
wall er in lieb hette fürwar
er sante nach dem kilnige von Malun %o haut
vnd beiicdch ime cd sin la.nt
dex landes viiderivant er sich
künig Malun gar frümldich
ouch sage ich iich von Lohelagrin
der tet grosxe iviinder schin
do er sich ritterschaft versan
in dex groles dienste er pris geivan
er beginc ivunders so vil
Daz ich nit alles sagen wil
ivie er zu der herxoginnen gei^i Brabaiit quam
vnd die zu einer amyen nam
vnd dar 7iach ivider zu de?n grol für also
do von tvil ich nit sagen no
wan dax wer zu vil
do von ich no steigen ivil.
Hie solle Erig no sprechen usw. folgt AYolframs text L. 826, 28
bis zum schluss 827, 30.
Das französische manuscript, wahrscheinlich doch auch auf kosten
eines reichen geistlichen oder weltlichen hern hergestelt, oder aus einem
kloster hervorgegangen, stelt sich als eine kompilation verschiedner
Schriftstücke dar. die der kompilator notdürftig in Zusammenhang ge-
bracht, und dabei avoI manches an den originalstücken geändert, aus-
gelassen oder hinzugefügt hat. Crestien hatte die aventüren Parzivals
und Gawans bis zu den festlichkeiten auf Joflanze geführt. Hier füg-
ten sich zimächst die fahrten Gawans, dessen erster besuch beim gral
und andere abenteuer ein, die nur mit Artus, nicht mit dem gral in
beziehung stehn, und von unbekanter band eingesclioben sind. (Sp. 1
BILDUNGSGANG DER ORALDICHTUNG 445
bis 45.) Dann begint das buch von Carados (sp. 45 — 165), dem noch
die keuschheitsprobe mit dem übergiessenden becher an Artus hofe
angefügt ist, wie ja einer oder der andre dieser höfischen schwanke
fast in allen romanen dieses kreises zur bclustigung der leser aufgeführt
wird, lind auch in unserm Jüngern Titurel (str. 2343) in der wunder-
brücke über die Sibra nicht fehlt. Mit sp. 169 endet diese erzählung
in sich geschlossen und ohne Zusammenhang mit Parzival und gral,
und stelt sich als eine ganz selbständige erzähl ung dar. Die folgen-
den abschnitte bilden den feldzug Arthurs gegen das schloss Orgalus;
sp. 259 reiht der kompilator Gawans zweiten vergeblichen besuch beim
gral ein, führt ihn auch in den kämpf mit der schwarzen band, den
Parzival später siegreich bestellt, deren geheimnis der dichter aber hier
noch nicht verraten darf. Die abenteuer Gawans und seines sohnes
werden als eine besondre geschichte bezeichnet (sp. 287, 3), und dieser
folgt die erzählung von dem schwan mit dem schiff und toten ritter,
welche sp. 314 endet und lediglich wälschen Ursprung verrät. Die
Überschrift hier lässt nicht wol einen zweifei, dass der kompilator nun
ein neues besonderes Schriftstück einfügt, dessen Inhalt bis sp. 602,
mit ausschluss der aventuren sp. 513 — 579, Gawans fahrten betreffend,
Parzivals gralsuche erzählt, als dessen Verfasser gegen den schluss hin
sp. 582, 19 Walther von Dunsin genant wird, der aber kein andrer
ist, als der anderswo Gautier de Denet, Gauchier de Doudain oder
Dourdain genante erster fortsetzer Crestiens, und gleichfals wie der
kompilator mit Gawans, dieser mit Parzivals scheiden von Joflanze
begint. Eine vergleichung unsers textes mit Rochats auszug des Ber-
ner ms. zeigt, dass dem kompilator Gautiers gedieht im original vor-
gelegen hat, denn kapitel für kapitel mit wenigen ausnahmen stimmen
die Überschriften im Inhalt mit den paragraphen Rochats, und vermute
ich, dass auch diese Überschriften im Berner ms. enthalten sind, wo-
rüber Rochat sich äussern mag. Da aber zugleich sich eine grosse
Übereinstimmung mit dem dritten teil des Boronschen Petit Graal (Par-
zival) nach Birch- Hirschfelds auszuge ergibt, wie im obigen auszuge
angedeutet ist, so wird erkenbar, dass Gautier diesen gleichfals als
Vorarbeit benuzt hat; und in der tat deuten die anfangsworte des Ber-
ner ms., welche Rochat s. 1 mitteilt, auf die dichtungen hin, die ihm
zu abfassung seines gedichts anregung gegeben haben.
Do roi Ärtit lairai atant,
et si ores clor en avant,
le hon conte de Percheval
et le haut livre de greal.
446 SAN ]SL\RTK
Le hon conte de Percheval ist unzweifelhaft Crestiens gedieht, das er
fortsetzen will, und le haut lirre de Greal der Petit Greal Borons,
den dieser in seinem ersten und dritten teile melirnials als Ja grant
estoirc dou Groel bezeichnet, von welchem vor ihm noch kein sterb-
licher geschrieben hat. Dabei holt er mehrere aventiiren nach, die
Crestien übergangen hat, aber bei Boron vorhanden sind. Auf Borons
Merlin geht Gautier nicht ein. Er scliliesst mit Parzivals krönung
nach der genesung des fischerkönigs, welcher drei tage nach der krö-
nung stii'bt, und finde ich hiernach erwiesen, dass wii- in dem Ber-
ner ms. die dichtung Gautiers in ihrer unverlezten ursprünglichkeit
besitzen, wodurch der wert jener handschrift für die französische littera-
tur sich steigern dürfte, aber auch in beziehung auf Wolframs gedieht
nicht unwichtig ist. — Der kompilator des Colinschen ms. konte die-
sen schluss nicht gebrauchen, da er auch noch die fortsetzung Manes-
siers in seinen codex aufnehmen wolte, zu der aber der fischerkönig
am leben bleiben musste, um auch die noch hinzugedichteten fata Par-
zivals mit zu erleben. Parzival wurde daher hier nur in folge der
gelungenen Zusammensetzung des Schwertes gewissermassen als stathal-
ter eingesezt, die krönung aber verschoben bis Manessier, als zweiter
fortsetzer Crestiens noch seine dichtung vorgetragen hat. Die krönung,
wozu auch Artus eingeladen wird, erfolgt nun, der endliche schluss
wird aber in Colins bearbeitung durch die anhängung der beiden
lezten bücher von Wolframs Parzival herbeigeführt, mid demgemäss
der französische text verlassen. — Die dritte fortsetzung Crestiens von
Gerbers bleibt unerwähnt und unberücksichtigt, existierte vielleicht
auch noch nicht. Mit unrecht schreibt Colin, dass Wolfram dem Cre-
stien nachgedichtet habe, indem er ganz ignoriert, dass unser dichter
den provenzalen Kyot als seine quelle angibt, dessen namen er doch
im deutschen Parzival Wolframs muss gelesen haben.
Augenscheinlich liatte Robert de Boron es auf ein umfassendes
Schriftwerk abgesehen, wozu ihm Gottfried von Monmouths Historia
Regum Brittanniae, ein werk, das in kürzester zeit einen weitruf erlangt
hatte, und von einem grossen teil der geschieh tschreiber als wahre
authentische geschichte aufgenommen und nachgeschrieben wurde, mag
anregung gegeben haben. Die bekehrung Englands zum Christentum
zu schildern, war ein würdiger Vorwurf, und ebenso war es ein glück-
licher geistreicher gedanke, die ausführung dieses Vorwurfs an die bis
ins 8. und 9. Jahrhundert zurückreichende legende von Joseph von
Arimathia und das ihm anvertraute gefäss mit dem blute Christi anzu-
knüpfen, wodurch seiner erzählung ein populärer, zugleich religiöser
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTÜNG 447
Untergrund, im gegensatz zu den zahllosen weltlichen rittergeschichten
der fahrenden sänger, gegeben ward, der noch dadurch gefestigt ward,
dass wirklich bei der eroberung von Ciisarea a. 1101 die berühmte
schale entdeckt ward, welche in der ganzen Christenheit das grösste
aufsehn erregte und für die abendmahlschüssel des heilands gehalten
wurde, wie ebenso bei der einnähme von Antiochien im jähre 1098
die lanze des Longinus gefunden ward, wiewol sie schon einmal Karl
dem Grossen geschenkt und von diesem an Otto I. gelangt war —
ereignisse, die nach 50 bis 60 jähren im volko noch nicht vergessen
sein konten, die daher in seine erzählung hineinzuziehen für den dich-
ter nahe lag. Indem am Schlüsse des ersten abschnitts des Petit St.
Graal dem hüter des heiligen gefässes und seinen genossen die Wei-
sung gegeben ward, fern nach dem westen hinzuziehen und das Chri-
stentum zu verbreiten, und ein himlischer brief ihm die täler von
Avaron (Avalen) anweist, wo sie die gnade gottes und den söhn Alains
des Grossen erwarten sollen, spricht Boron deutlich die absieht aus,
die geschichte seines heiligtums, des grals, mit den einheimischen
fabeln des Artuskreises zu verbinden; denn im tal Avalen auf einer
insel, auf die nach altwälscher tradition sich der tödlich verwundete
Artus zurückzog, und von wo seine Aviderkunft zur herstellung seines
reiches erwartet wurde, lag auch das berühmte kl oster Glastemburg,
zu dessen abte im jähre 1126 der dem englischen königshause ver-
Avante Heinrich, graf von Blois, ernant war, in dessen auftrage
Willielm von Malmesbury um 1135 sein werk De antiquitate ecclesiae
Glasteniensis schrieb, worin nach Zarnckes scharfsinniger erörterung
(Paul und Braune, Beitrage III, 325 fgg.) nach einer späteren Interpo-
lation der apostel Philippus mit seinen genossen die dortige erste
kirche gegründet imd das Christentum verbreitet haben soll, worauf
schon lange die regierung der englischen könige den anspruch der
Unabhängigkeit der englischen kirche vom pabst zu Rom gegründet,
ein anspruch, der auch noch im Tridentiner kouzil auf grund dieser
fragwürdigen akten behauptet luid durchgeführt wurde. Zustatten kam,
dass auch der wälsche klerus im einverständnis mit den fürsten imd
häuptlingen des landes im eignen interesse die Unterwerfung unter den
pabst beharlich verweigerte (s. Lappenberg, Engl, geschichte I, 136,
141, 182, 248). Den französischen und englischen gelehrten muss
überlassen bleiben, festzustellen, zu welcher zeit diese interpolation stat-
gefunden hat; dass sie aber zur zeit, da Boron schrieb, schon vorhan-
den war, zeigt eben seine Verweisung der gralhüter nach diesem angeb-
lich ersten apostolischen kirchensitz, imd er fand darin, ebenso wie
448 SAN MAKTE
Gottfried von Monmouth ein mittel, das lebhafte interesse für sein
werk sowol der kirchenpolitik des englischen liofes und was dem
anhängig, als der brittischen nation mit ihren tafelrundrittern, so wie
des waft'enfreudigen adels zu gewinnen. — Ob unter diesem Alain
dem Grossen^ jener Alanus, herzog von Armorika, der nach Gottfrieds
von Monmouth Historia XII, 12 — 18, die mit Cadwallo vertriebenen
Wtälschen aufnahm, und später ihnen zur rückeroberung ihres landes
behülflich war, zu verstehen ist, muss ich dahingestelt sein lassen.
Die wälschon fabelschreiber liebten es, die namen hervorragender per-
sonen ihren tafelrundrittern zu geben, wie z. b. Ovein (Tvain), Geraint
ab Erbin (Erek), Caradoc Briebras (Caradoc Treich-vras, Gottfr. v, Mon-
mouth, Hist. Y, 14 und anm. 293 und meine Arthursage s. 30) und
Maglocunus (Mael-gun) des Gottfr. v. Monmouth, der nach de la Yil-
lemarques scliarfsinniger entdeckung in den Lanzelot der romane ver-
wandelt Avurde-, romane die schon vor Gautier von Crestien und andern
gedichtet waren. Sielit man an diesem lezteren beispiel, wie mit der
Verwandlung liistorischer personen in romanhelden umgesprimgen wird,
so dürfte auch die Vermutung nicht weit abüegen, wenn man den in
Borons Merlin eingeführten beichtvater der mutter Merlins, Blaise
den permanenten Chronisten dieses ganzen Sagenkreises, mit dem Hein-
rich grafen von Blois, abt von Glastemburg, durch ein Wortspiel ^
in eine sinnige und schmeichlerische Verbindung zu bringen suchte,
indem so die chronik des Blaise, ,, durch die wir das alles noch Avis-
sen'^, als Urkunde des hauses Blois kentlich gemacht werden solte.
Der zweite teil von Borons Petit Set. Graal, Merlin, ist
fast ausschliesslich auf Gottfr. v. Monm. Hist. Reg. Britt. basiert, und
auch dieser teil entbehrt einer gewissen geistlichen färbung nicht in der
erzählung von Merlins geburt und seines trotz teuflischer geburt ein-
flussreich guten Verhaltens zu Pendragon und Uter als deren berater
und prophet. und von Arthurs schwertj^robe und feierlichen krönung
auf geheiss Christi — weniger freilich in der erzählung von Arthurs
unehelicher geburt Aus diesem abschnitt Borons scheinen die Mer-
linromane, die von Lanzelot, Tristan, Iwein, Erek und die unzähligen,
zusammenhanglosen, zum teil weit über Borons zeit hinausreichenden
abenteuerfahrten ihren abfluss genommen, oder in ihnen ihren sam-
1) Über ihn s. meine „Arthursage'^, s. 30. 31, Eochat I.e. s. 173 und Lappen-
berg, Gesch. Englands I, 250 (Hamburg, Perthes. 1834).
2) S. San Marte, Beiträge zur celtisch- germanischen heldensage (QuedUn-
burg, Basse. 1847) s. 93.
3) Blois, lat. Blesae, Castellum Blesense. Martinian. Hist. geogr. lexicon.
BILDUN'GSGANG DER GRALDICHTÜNO 449
melpunkt gofanden zu haben. — Das G:ebiet dieser erzälilungen liegt
weit ab von der bekehiung Englands zum Christentum und der erfor-
schung des grals und seines heils. Das streben dei- hehlen ist ein rein
weltliches, persönliches nach ehre, watt'ennihin, niinue^iiick, wie das
rittertum sich das leben mit den schönsten färben ausmalte, gleichwul
ohne feste Charakterausbildung und klar durchgeführte motive.
In Borons drittem teile, Parzival, tritt Jedoch ein neues
wichtiges dement in die dichtung, indem der gral mit seiner beglei-
tung, durch Merlins Stiftung der tafeirunde an Artus hofe abgesondert
wird von dieser, und er, als abendmahlsschüssel und heilige wunder-
tätige reliquie ein selbständiges leben und wirken erhält, während der
sitz an der von Merlin gestifteten dritten tafel nur eine Vorstufe bildet
für den als besten der weit bewährten ritter, welcher bestirnt ist den
gral endlich zu finden. Und den bildungsgang dieses erwählten zu
schildern, macht sich der dichter zur neuen aufgäbe. — Von den zwei
ersten teilen des Petit Set. Graal haben wir gesicherte manuscripte,
beim dritten teile, Parzival, liegt der verdacht neuerer Interpolationen
vor, und da scheint mir durch das Berner ms., Avie es Colins franzö-
sischer codex mitteilt, und im obigen auszuge markirt ist, einige kon-
trolle geübt werden zu können, indem die eingemischten kapitel, welche
sich zwar im Berner ms., nicht aber bei Boron finden, als von Gau-
tier neu eingeschoben anzusehen sind; denn jedenfals ist das Berner
ms. jünger als Borons ursprüngliches gedieht. Solcher art siiul die
kapitel sp. 322. 338. 351. 364. 371. 409. 439. 456. 485. 486. 492.
506. 582. 586. 591. 598. — Und ist es richtig, dass wir das Berner
ms. als Gautiers originalgedicht anerkennen müssen, so werden die im
codex Colin enthaltenen nachtrage und einschiebsei, welche sich nicht
im Berner ms. und auch nicht bei Boron finden, als vom kompilator
des codex Colin herrührend bezeichnet werden können und sehe ich
recht, so gesteht auch der kompilator dies selbst in den zeilen zu:
Sp. 314, 22: dar zuo vant er (Parzival) ouch xivor,
daz sollent ir ivüssen fürivor,
manuj oventür sicer,
die nilt sint geschrieheii her,
d. h. die nicht in Gautiers gedieht, seiner vorläge, geschrieben sind^.
Demi dass diese bemerkung nicht von Gautier und noch weniger von
unsern Übersetzern herrühren kann, sondern nur vom kompilator sei-
nes codex, zeigt der bei Kochat abgedruckte eingang des Berner ms. —
1) Dies sind die kapitel, .sp. 513. 531. .5G1. 572. 579.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 29
450 SAN MARTE
Der schluss dos dritten teils, Arthurs kämpf mit Mordrcd, und sein
verschwinden auf Avalon gründet sich wider auf Gottfried von Mon-
mouth und ward die quelle zum roman Mort- Arthur.
Kobert de Borons schriftstellorperiode wird selir bestimt begrenzt:
von 1150 oder 11 60 nacli Waces überdiclitung von Gottfr. v. Monm.
Historia Reg. Britt., dem Roman de Brut bis zum tode Crestiens de
Troies 1190, der über seinem Conte de Set. Graal hinstarb, dem aber
doch Borons gedieht schon einige jähre vorher zu seiner benutzung
niuss vorgelegen haben. Auf grund seiner höchst eingehenden ver-
gleichung der hierher gehörigen Schriftwerke, wie eins auf das andere
sich stüzt und weiter bildet, datiert Birch- Hirsch fehl, 1. c. s. 239 — 241
Robert de Boron zwischen 1170 und 1189,
Crestien de Troies um 1189,
Gautier de Doudain zwischen 1190 und 1200,
die Queste du Set. Graal 1190 bis 1200, jedoch nach Gautier,
den Grand Set. Greal vor 1204,
Manessiers fortsetzung des Crestien zwischen 1214 und 1220,
Gerbers von Monti'euil einschub zwischen Gautier und Manessier,
vor 1225,
Parcival li Gallois in prosa, um 1225, vielleicht auch etwas später.
Wir müssen erstaunen, mit welchem eifer die romanschreiber über
den von R. de Boron angeregten stoff in den nächsten Jahrzehnten
nach Crestiens herfielen, und wie emsig jeder des anderen Averk nach-
las, um das material der dichtung zu ergänzen und zu vermehren.
Aus Gautiers angäbe seiner quellen müssen wir schliessen, dass ilun
nur Borons gedieht und Cretiens Conte du Graal bekant war; auch
fehlen in der bis jezt bekanten litteratur ältere Zeugnisse. Da aber
Crestien das buch zu seinem gedichte geständlich vom grafen von Flan-
dern, Philipp von Elsass, und vielleicht ein schon mit Zusätzen
versehenes exemplar erhielt, so muss ich jezt mit Wahrscheinlichkeit
annehmen, dass dieses buch eben Borons gedieht gewesen, und nicht
das gedieht Guiots von Provins, wie ich früher vermutete. Boron
selbst hat in seinem dritten teile schon eine ziemliche anzahl von aven-
türen aus dem wälschbretonischen Sagenkreise aufgenommen, auch
gegen den schluss (Birch -Hirschfeld s. 178) nochmals den Merlin auf-
treten und ihn gewissermassen den epilog zum ganzen sprechen lassen,
so dass es nicht befremden darf, wenn hieraus sich immer neue zusätze
anschlössen, die indess über die entstehung und bedeutung des grals
nicht im geringsten neue aufschlüsse geben, indem alle oben genanten
fortsetzer den gral als abendmahlschüssel und heilige wundertätige reli-
BILDUNGSGANG DER GRALDICHTUN'Ö 451
quie, dem p^odankonstrom B(n'ons folgend, festhalten, ja das gefäss fast
niit dem persönlich herunnvandelnden hcihmd s<'lbst iih'ntificieren,
dadurch aber auch dem ringen nach dem gral ein religi()ses motiv
unterschieben, das indess eigentlich nur in der figur Parzivals zum
bestirnten ausdruck komt, bei den übrigen holden jedoch ganz verges-
sen oder sehr in den hintiM-grund gedrängt ist. Icii ghiube behaupten
zu dürfen, dass alles, was die altwiilsehe und altenglische litteratur
seit den jähren 1170 — 80 speziell über den gral ül)erliefert hat,
ei"st aus Frankreich nach den inseln übertragen ist, und es wird ein
vergebliches bemühen der englischen gelehrten sein, den urspi-ung
der sogenanten gralsage auf wälschen oder englischen boden zu vei-
ptlanzen, wogegen Crestiens unvollendetes gedieht durch die besondre
hervorhebung der figur Parzivals, als von gott designierten gralfindei-s,
vermuten lässt, dass er ebenso, wie Gantier, mit der erreichung des
gesteckten Zieles seinen i-oman habe schliessen wollen. Dieses neuere
material führt daher nicht zur quelle der graldichtung zurück, sondern
ist dichterische fortbildung, bez. entstelhnig der französischen dichtung,
wenn auch die alten wälschbrotonischen sageii, der inons fIo/oros?ts,
das castcUuw piicllarum, die sich schon in Gottfrieds historie finden,
die jagd des weissen hirsches, das selbstspielende Schachbrett, die peit-
schenden Zwerge, die schwarzen männer und riesen, die feen, ver-
wünschten wesen, verzauberten Schlösser usw. mit in die erzählungen
hineingezogen werden.
Yergleichen wir diese französischen graldichtungen mit unserer —
ich darf wol sagen deutschen version der gral- und Parzivaldich-
tung Wolframs, so treten wir in einen ganz andern kreis religiöser
anschauung, können aber den einfluss französischer vermitlung nicht
verkennen. — Schon die Vorgeschichte bei Wolfram, die Colin sehr
treffend als ,,das buch Gamuret" bezeichnet, weist uns mit entschieden-
heit darauf hin. Die begebenheiten bei Patelamunt und Kanvoleis mit
den dort auftretenden personen haben anspielungen auf andere erzäh-
lungen, die jedenfals in der französischen litteratur vorhanden waren,
und wovon sich spuren auch selbst in der deutschen litteratur finden;
Bötticher in seiner abhandlung (Zeitschr. f. d. phil. XllI, 420 fg.) hat
meines erachtens evident dargotan, dass Wolfram diesen abschnitt nicht
erfunden haben kann, sondern einem roman gefolgt ist, der Gamurets
leben bis zu seinem tode umfasst. Dieser teil enthält auch die
schmeichlerische auszeichnung des hauses Anjou, wozu ein deutscher
dichter jener zeit nicht die geringste veranlassung hatte; auch findet
sich keine spur von bezieh uugen Wolframs zu dem mit dem englischen
29*
452 SAN MARTE
künigshause vertrauten deutsclieii Weifenhause, dem zu liebe Wolfram,
wie Zarncke andeutet, diese anspielung könne gemacht haben. Dieser
teil enthält niclit die gering-ste hindeutuni;- auf den gral; er genügte der
üblichen anforderung an die dicliter, dass sie auch von den vorfahren
des erkornen helden, und wo möglich auch von seinen nachkommen
nachricht e:aben. Da Crestien in seinem Conte du Graal schon von
Boron darin abwich, dass er den Parzival schon als ritterfiihigen knap-
pen einführt, ohne vater und mutter mit namen zu nennen, und somit
seine abstannnung vom waischen Alain verwarf, war es einem sinnigen
nachdichter — nennen wii* ihn Kvot — nicht schwer, den helden Ga-
miu-et als würdi2:en vater Parzivals einzuführen. Einen wesentlich
abweichenden Standpunkt von Crestien aber nahm er bei der Überarbei-
tung von dessen gedieht ein, dem er im tatsächlichen zAvar ziemlich
treu folgte, und daher die öftere Übereinstimmung AVulframs mit Cre-
stien, aber dem gral den Charakter als abendmahlschüssel und reliVjuie
nahm, somit die feier der messe ablehnte und ihn zur stimme gottes
machte, die unmittelbar zu seinen erwählten, seiner gemeinde redet,
welcher er die form einer nach der Unabhängigkeit vom pabst streben-
den geistlichen brüderschaft gab, und zwar des von ihm in seiner bible
einzig belobten tempelordens, dessen mitglieder in Verteidigung des
christlichen glaubensschatzes für ihre Seligkeit kämpfen. — Die allego-
rischen namen und örtlichkeiten des gral- und zaubergebietes sind
französische; wie soll ein deutscher sie erfunden und in einem deut-
schen gedichte französisch eingefügt haben? — Die scheinbar so zu-
sammenhanglos dastehende korrektur Ti'evrezents hin sich ts der neutralen
engel zeigt auf einen rein theologischen gelehrtenstreitpunkt
jener zeit hin (s. meine Parzivalstudien II, 55), auf den Guiot durch
die erwähnimg in Borons legende von Joseph gekommen sein mag,
w^o am schluss erzählt wird, dass Joseph den Yespasian niclit blos
über die Schöpfung, den sündonfaU, geburt, leben und sterben des hei-
lands, sondern auch über das Schicksal der neutralen engel belehrung
geben sull (Birch-Hirchfeld s. 153), wodurch Vespasian zum christen-
t'.im bekehrt ward: ähnüch wie Trevrezent den Parcival belehrt, was
Crestien ziemlich kurz gibt, Guiot aber ausführlicher scheint behandelt
zu haben. — Älinlicher art ist die andre koiTcktur in Trevrezents lehre,
dass gott und nicht der priester die Sünden zu vergeben vermag (s.
Parzivalstudien II, 123, 124), wodurch der mensch in unmittelbare
beziehung zu gott gesezt und dem Avahrhaft gläubigen nach dem spä-
teren ausdruck der reformatoren das algemeine priestertum erteilt, die
priesterliche absolution verworfen, und, so hoch auch der geistliche
BILDUNGSGANG DER GRALDICIITUNG 453
stand geehrt wurde, ilun der göttliche nimbus genommen wird, zumal
in jener zeit er in seiner Verworfenheit an haupt und gliedern ein
zerbild dessen darstelte, was er eigentlich sein solte, wie Guiot von
Provins in seiner bible (mitgeteilt und übersezt in meinen Parzivalstu-
dien bd. I) es ausfülirlich nachgewiesen hat. — Die graldichter wissen
nichts von einer si'huld des fischerkönigs, wodurch er sein grausames
leiden als strafe verdient habe, er wird vielmelir nur als ein objekt
behandelt, an dem der gral seine wunderkraft zu bewähren hat, wäh-
rend bei AVülfram die blutende lanze, mit welcher jene dichter nichts
anzufangen wissen, als das strafwerkzeug gottes für seine Versündigung
gegen gottes gebot dem Amfortas vorgelialten wird, wie in der liäus-
lichen erziehung dem kinde die rufe gezeigt wird, um es an seine
Unarten und deren konsequenz zu mahnen. Darum wird auch die
blutende lanze, wie ich gegen Birch-Hirschfeld s. 185 bemerke, dem
gralo vorangetragen, weil bei der gralfeier, die Rosenkranz schon 1830
uir eine art agape erkante, vor dem genusse des gralsegens reue und
bussc vorhergehen muss, die durch das algemeine Aveliklagen bei
erscheinung der lanze sich kund geben. Daher ist auch Parzivals
frage: „luax. tvirret dir?" nicht blos eine frage teilnehmenden mit-
gefühls, sondern eine gewissensfrage nach der seeleiüäuterung des ge-
straften dulders, ob der kranke in wahrer reue seine schuld erkent
und bekent, damit er der gnade gottes wider teilhaftig werde, und auch
in diesem sinne beantwortet Amfortas s. 819, 16 — 820, 4 die frage. —
Ebensowenig legen sie nachdruck auf die unwandelbare eheliche treue
Parzivals, der bei ihnen mehrmals an zärtlichen anwandlungen leidet,
und sich sogar die minne der dame durch den hirschkopf erkauft,
weshalb er auch, je länger je kräftiger zum tleissigen kirchenbesuch
und sonstigen äusserlichen Übungen angehalten werden muss, der fri-
volen ansieht des weltlichen rittertums entsprechend, die bei dem minne-
vergehn GaAvans in den versen sp. 37, 29. 30 ihren charakteristischen
ausdruck findet. Auch die liebestreue Sigunens lassen sie bei seite,
obwohl ihre gestalt verdunkelt vorübergeht (sp. 350), und die erschei-
nung des Feirefiss entgeht ihnen, da ihnen das buch Gamuret nnbekant
geblieben. — Ferner frage ich: wie kam AVolfram zur italischen sage
von Virgil und Klinschor, den er dem wälschen Merlin substituiert,
und wie zu den örtlichkeiten in Steiermark, von denen Trevrezent
erzählt? w^orüber der vielgereiste Kyot sehr wol konte künde eingezogen
haben. — Endlich lassen jene graldichter zur lezten prüfung der Wür-
digkeit Parzivals die höllischen erschein ungen, ja den teufel selbst in
grauenvoller gestalt gegen ihn ins feld ziehen, nach den voi^tellungen
454 SA>' MAKTE
des stumpfen laiulläutigen von dem klcrus geförderten aberglaubens
„nach der pfaffhcit Jcrc/' Wie künstlerisch anschaulich, ja, ich möchte
sagen verklart erscheinen diese ungeheuer bei Wolfram in den figuren,
die ich als dem reich des bösen angehörig bezeichnet habe! Auf der-
selben stufe, wie jene französischen dichter steht auch Albrecht in sei-
nem Titurel ^, der über den gral noch die ecclesie als die höhere macht
sezt. Wenn Birch- Hirschfeld am schluss seines wertvollen werkes zu
dem resultat gelangt, dass Wolfram mit seiner Vorstellung vom grale
ganz vereinsamt dasteht, so möchte ich den ausdruck vielmehr in
originell verwandeln, denn seine religiöse ansieht steht im klaren
gegensatze gegen die jener dichter, so wie das biblische ovangelium
der päbstlichen kirchensatzung gegenüber steht.
Und in denselben Jahrzehnten, während jene dichter den gral in
ihi'er auffassung verherlichten, und Guiot und Wolfram an ihren dich-
tungen arbeiteten, während die akademischen kämpfe über die wich-
ticfsten christlichen ii'laubenssätze, über die lehre von der sündenveri^e-
bung imd der erlösung, vom ablass, der transsubstantiation usw. auf
den kathedern der hochschulen und auf den schlossern der grossen,
wie auf den gassen auf das heftigste diskutiert wurden und ihren höhe-
punkt erreicht hatten-, in denselben Jahrzehnten wurden schon die
Schwerter geschlifi'en und die Scheiterhaufen geschichtet, um die hun-
derttausende hinzuschlachten, die von der entsteltcn kirchcnlehre und
der entweihten priesterschaft sich mit absehen abwanten. Und diese
tief alle schichten der Christenheit in Frankreicli und weiter durch-
wogende religiöse aufregung solte nicht auf einen gelehrten, tief sin-
nigen bibelkundigen, der christlichen Wahrheit zugewanten geist und
dessen dichtung einen reflex geworfen haben, wie der franzose Guiot,
der sich mitten im lande dieser bewegung befand, ihn angedeutet, und
Wolfram ihn volkommen verstanden, als sein eigentum aufgenommen
und in meisterhafter form uns widergegeben hat? In ihm glüht ein
flinke, der nach drei Jahrhunderten zur hochauflodernden wetterleuch-
tenden flamme aufschlug, und unsere dichtung hoch über alle jene nur
zur täglichen Unterhaltung gedichteten werke stelt, und ein zeugnis
ablegt, das wir zum vollen Verständnis und zur Wertschätzung dersel-
ben nicht verläugnen dürfen.
1) S. San-Marte: Rückblicke auf dichtiingen und sagen des d. niittelalters,
(Quedlinb. Basse, 1872) nr. VII, vergleich Wolhams mit Albrecht in theologischer
beziehung, s. 175.
2) Reuter, Geschichte der aufliärung im mittelaltcr. Bd. I, buch III zwölf-
tes jahrhundei-t. Berhn, Herz, 1875.
MAGDEBURG. SAN HARTE.
455
BERICHT ÜBER DIE VERIIANDLUNGEX DER DEUTSCH -ROMANISCHEN
SECTIUN DER XXXX. VERSAMLUNG DEUTSCHER rillLOLOGEN UND
SCHULMÄNNER IN GÖRLITZ.
Erste Sitzung.
1. Nachdem sich am 2. Oktober die scctiou im saalo des rathausos constitiüert
liattc, wurde die erste sitzuug am 3. Oktober 8V._, uhr eröfnct. In das album haben
sich eingezeichnet: Gaspary, Brcshui; 0. Erdmaiin. BrcsLau; Siebs, Breslau; Wolff,
Kiel; Marold, Königsberg; Blau, Leipzig; Weingürtner, Breslau; Wilke, Lauban;
Boctticher, Berlin; Kinzel, Berlin; Brugmann, Leipzig; Uhlo, Görlitz; Koschwitz,
Greifswald; G. Stier, Zerbst; Kölbing, Breslau; Ziemer, Colberg; Rost, Schwcidnitz;
Wiedcmann, Görlitz; Abicht, Liegnitz; Fritsche, Stettin; Sternberg, Görlitz. Nach-
dem der erste versitzende, professor Gaspary, die anwesenden begTÜsst hatte, über-
ti'ug er die leitung der Verhandlungen in voraussieht, dass sich dieselben haupt-
sächlich auf dem gebiete der deutschen philologie bewegen würden, dem zweiten
versitzenden, professor Erdmann. Zu Schriftführern wurden Siebs und "Wein-
giirtner gewählt.
2. Erdmaun widmet den während der lezten zwei jähre verstorbenen fachge-
nossen werte der erinnerung; in eingehenderweise gedenkt er vor allem der Verdienste
von Karl Goedeke, Paul Schütze, Karl Bartsch — dessen teilnähme an den
intcressen der philologenversamlung ganz besonders gewüi'digt wird — , Nikolaus
Delius, Karl Lucae, Karl Elze.
3. Sodann hält Marold -Königsberg den angekündigten vortragt „über den aus-
druck des naturgefühls im minnesang und in der Vagantendichtung." Die
Vaganten stehen auf dem boden der lateinischen schulpoesie des mittolalters ; von ihrer
gelehrten ausdrucksweise — sie personificieren die natur, reden vom schoosse und
der Schwangerschaft der erde — finde sich bei den älteren minnesängern keine
spiu*; ei-st um die mitte des XHI. jahi-himderts seien infolge engerer berührung
zwischen den deutschen Sängern und den wandernden klerikern jene gelehiien ele-
mente in den deutschen minnesang eingedrungen. Sie treten uns erst bei Hohen vels,
Nifen und späteren entgegen, deren heimat — ausser Vrouwenlob und Wizhlv —
Schwaben oder die Schweiz ist, und bei denen sich in der regel beziehungen zum
geistlichen stände nachweisen lassen. Ein weiterer teil des Vortrags behandelt die
Schilderung des winters, der in dei- Vagantendichtung fast durchweg personificieii
werde, vor allem wo der dichter den kämpf des winters mit dem sommer im
äuge hat. Diese Vorstellung mag ursprünglich volkstümlich sein, jedoch schon die
lateinische gelehi-te dichtung hatte sich ihrer bemächtigt (vgl. z. b. den conflictus
veris et hiemis des Alkuin). Bei den älteren deutschen minnesängern finde sich
hiervon keine spui", und wenn je eine stelle beiVeldeke, Hartman und AValther einen
beleg bieten, so sei zu berücksichtigen, dass bei diesen dichtem kentnis des latei-
nischen und gelehrte bildung vorausgesezt werden müsse. Bei den minnesängern
liege vielmehr das charakteristische der winterschilderung in der gemütvollen teil-
nähme an den Veränderungen, welche die natiu* erleidet (der entlaubte wald, das
veränderte bild der haide usw.). Dabei bilden sich gewisse typen aus; doch fehlen —
abgesehen von einigen stellen bei Yeldeke — alle physikalischen anzeichen des
winters (kalte nachte, die niedrig stehende sonne usw.). Diese sind für die vagan-
tenheder charakteristisch, während sich die miuuesänger auf die innere empfin-
1) [Dieser Vortrag wird demnächst ia erweiterter form in der zeitschr. veröffentlicht werden. Red.]
456 SIEBS
düng beschränken und die winterkhige entweder in einklang mit dem liebesschmerz
oder in gegensatz zum licbcsglüeko stellen. — Eine besondere erörterung verdiene
Nithaii. Bei ihm seien die eiütheta des winters noch algemeiner art, und nur in
den unechten liederu seien solche zu finden, denen eine persouification zu gründe
liegt. Dass auf Xithaii die Vagantendichtung von eiutluss gewesen sei , zeige sich in
häufiger erwähuung physikalischer ersclicinungen, z. b. der winde, des wetters, des
cises (aus der ganzen zahl der minnesänger erwälmcn dieses allein der kanzler,
Konrad von "Würzburg und ein unechtes lied Nitharts, während sonst nur schnee
und reif genant werden); auffällig sei bei ihm aucli die mehrmalige klage, dass die
linde nun keinen schatten gebe: sonst wird der schatten des baumes, der in den
Vagantenliedern eine grosse rolle spielt und vermutlich aus der Spielmannsdichtung
herübergenommen ist, im miuuesang nur an vier stellen erwähnt (Walther 94, 24;
Uh-ich von Wintei-steten MSII 1, 139; Vrouwenlob MSII III, 149; Konrad von AVürz-
burg III. 334). Nach der zeit Nithaiis finde ein immer grösserer ausgleicli statt,
indem die charakteristische art und weise der vaganten sich im minnesang einbürgere
imd umgekehrt. Was sclüiesslich die deutscheu strophen der carmina Burana angehe,
so seien lüer die winterschildcruugen durchaus in der terminologie der späteren min-
nesänger abgefasst. — In der sich ansclüicssendeu dcbatte erwähnt Köl hing die von
E. Th. Walter (Germ. 34) über den Ursprung des mmnesangs neuerdings geäusserten
ansichten mid weist sodann auf die naturschilderungcn im französischen epos und auf
das mittelcnglische epos hin. Hier werde namentlich zu beginn der abschnitte die
Winterstimmung m Verhältnis zur liebe gestelt, z. b. im Merlin. — Gaspary bemerkt,
gelehrter einfluss sei in dem doch algemeinen vorkommen derartiger auffassung der
Jahreszeiten nicht zu erblicken, und belegt diese ansieht durch hinweis auf proven-
zalische und älteste italienische dichtmigen. — Stier macht auf ein im jähre 1888
erschienenes Wernigeroder festprogramm aufmerksam ^ — Koschwitz ist der ansieht,
die carmina Burana, in denen sich so viele romanische demente finden, seien zu
•Dteniational in iliren motiven, als dass sich für deutsche dichtung sichere Schlüsse
daraus ziehen Hessen; die personificierendc auffassung der Jahreszeiten nehme zeitlich
mehr und mehi* zu. — Siebs vermisst in dem vortrage Marolds durchgehcnds die
imtersuchung, inwieweit wir volkstümliche motive zu erkennen haben, und hält
dafür, dass man bei solchen arbeiten nicht füglich die carmina Burana heranziehen,
die volkstümlichen grundlagen des minnesangs aber, wie sie Berger (Ztschr. f. d. phil.
XIX. 440 fgg.) unter Verwertung der volksliedersamlungen festsgetelt habe, unberück-
sichtigt lassen dürfe. — Marold erwidert, das falle nicht in den kreis seiner Unter-
suchungen: er habe von nationalen dementen abgesehen und überhaupt nur züge
hervorheben wollen, die den gemeinsamen charakter der gelehrten dichtung und des
minnesangs erweisen. — Wolff bemerkt, lenz und liebe hätten von jeher den gegen-
ständ aller lyrik gebildet: die Verbindung beider motive sei im wesen des dichteri-
schen processes überhaupt begründet. Die anakreontik des 18. Jahrhunderts und die
griechische litteratur werden herangezogen. Nm' übereinstimmende proben ganz
ausserge wohnlicher natui'belebung seien für abhängigkeit beweisend. — Erdmann
hält eine solche annähme für viel zu weit gehend. Möglichkeit der Originalität sei ja
selbstverständlich, indes hätten wir doch der anhaltsi)unktc für entlehnung gar viele;
ein sehr wichtiger scheine ihm z. b. in den besprochenen Personifikationen der erde
zu liegen.
1) H. Drees, Die poetische natarbotrachtung in den liedem der deutschen minnesänger. Wer-
nigerode 1888.
rHILOLOGKNVER.SAMLUNG ZU UÖRLITZ 457
4. Kinzel bittet, iu wcitoron kreisen für das i»;ulagogisehe unternehineu der
herausgäbe älterer deutscher litteraturdonkniälor nebst Übersetzun-
gen, die ilim und Boettieher obliege, wirken zu wollen. In dieser sanilung sollen
41 gedichte AValtiiers von der Vogelweidc erscheinen, denen etwa 20 lieder aus „Des
niinnesaugs frühling " vorangeschickt werden, um die eutwicklungsgeschichto der
lyrik zu veranschaulichen. Der vortragende gibt übersetzungsjtrobeu von G liodern
"\\'althers.
Schluss der sitzung 10^4 u^i^"-
Zweite sitzung.
1. Am 4. Oktober wird die sitzimg um 8'/., uhr nüt dem vortrage Wolffs „über
den stil des Nibelungenliedes'^ eröfuet. Zunächst wird angeführt, dass volks- und
kunstdichtung nicht gegensätze, sondern stufen seien: wenn man das llildebrandslied und
ebenso die Nibelungen als volksepen bezeichne, so lasse man viele grade unberücksich-
tigt. Eine entwickluugsgeschichtliche erklärung müsse auf dem Nibelungenliede fussen.
Volksdichtung sei die poetische gcstaltung der im volke fortlebenden sage, so lange
sie von individualität ungetrübt sei. Stilistische eigentümlichkeiten der Volksdichtung
seien z. b. die typisch gewordene Zusammenstellung paarweise zusammengeordneter
Worte {ivqj imde man), ferner parallelismus des satzbaus, gewisse metaphern u.a.m.
Andere erscheinungen hingegen, die häufig als merkmalc der Volksdichtung angesehen
werden, seien nur elemeute der volkstümlichen poesie, nicht der volks poesie,
und sie seien vielfach durch die Spielmannsdichtung hineingekommen, z. b. formel-
hafte Wendungen, sodann die Superlative ausdrucksweise {t)iir cnkumlc nimmer lie-
ber geschehen)^ die schalkhafte darstellung usw. Im algemeinen tragen nicht nur
einzelne lieder, sondern das ganze gedieht einen höfischen charakter, und der sei
nicht etwa einem höfischen Überarbeiter zu danken, sondern der geist des ganzen
Werkes sei höfisch. Beweise dafür liegen in der Schilderung höfischen prunkes, fer-
ner in der darstellung des ccremouiellen benehmens {Rücdegcr vor Hayene), in der
auffassung der ethischen begriffe {cre, minne)\ wir finden die erst nach dem zweiten
kreuzzuge in Deutschland eingedrungenen demente des ritterwesens {aventiure, tjoste
usw.); die alten chai'aktere sind gemäss der neuen auffassung umgestaltet {Hagenc
der vil xierliche degen; Prünhilt dcr^ minnccliche wlp) — kurz, die wenigen spu-
ren der volkspoesie seien von höfischer kunst überwuchert. — Sodann wird erörtert,
ob die lieder zum singen gedichtet seien, oder ob wir es mit einem zum lesen
bestünten Schriftwerke zu tim hätten. Auf grund stilistischer eigentümUchkeiten wird
die lezte ansieht verfochten. Zwar werde im Nil)elungenliede die scenerie der hand-
lung kurz vorgefühlt (dö sprimgen von dem sedelc u. ähnl.); der schall ausführlich
besehrieben (wart der schal so gröx-, dax Wormex diu vil icite dar nach vil li'de
erdöx)^ der sprechende innerhalb derselben rede widerholt eingeführt und nicht selten
die konstruktion htio xoivov venvant; aber es sei stets nur von sagen, nicht von
singen die rede, und subjektive luieile, seelenschildemngen, motivierungen und
Parenthesen seien zahlreich; ebenso komme häufig betonung von äusserlichkeiten,
namentlich der kleidung, vor. Diese leztenvähnten punkte seien für ein zu lesendes
werk bezeichnend, denn das lied kenne kerne bcgrüudung und erläuterung, sondern nur
tatsachen. Wii- könten also höchstens von kleineren epischen gedichten reden, die
zusammengeschweisst seien; aber auch das sei nicht anzunehmen, da wir einen inne-
ren Zusammenhang, eine lückenlos fortlaufende handlung hätten; ferner das durch-
gehende motiv, dass alle lust in leid ende. Widersprüche, die dui-ch das ganze werk
458 SIEBS
laufen, seiou uk-ht aiulei-s zu beurteilen als bei Schiller (Don Carlos) oder Shake-
speai'e — die seien durch verschiedene quellen erklärlich. Auch habe man mit
interi>olationcn und principielleu abänderungen der Schreiber zu rechnen. Alles in
allem: wir haben das original eines nationalen hofepos vor uns, von dem uns
manche briicken zum fremden romantischen hofepos führen (so namentlich bei
A^'olfram). Als heimat des gedichtes bezeichnet der vortragende Österreich; die ent-
stehuug sezt er aus stilistischen gründen und annähme historischer analogien (Ver-
mählung des Friedrich Barbarossa mit Beatrix von Bm-gund) vor 1170 an.
In der debatte wendet sich zunächst Boetticher gegen den redncr. Der
gegensatz eines romantischen und nationalen liofepos sei unklar und nicht zu billigen:
hofepos sei die in stoff und form von den Franzosen entlehnte modedichtuiig, wäh-
rend die volkssage, von den spielleuten höfisch aufgepuzt, vorgetragen werde. Fer-
ner hätten wir im Nibelungenliede durchaus keinen einheitlichen stil, sondern der
volksmässige stil der spielmannspoesie und der höfische stil seien in grossen partien
unverschmolzen nebeneinander zu finden; auch seien die festschilderungen usw. durch-
aus nicht zum ganzen verschmolzen. Bemerkenswert sei ferner, dass kein höfischer
dichter ausser AVolfram — und dieser aus anderen gründen! — Nibelungendicliter
erwäline, während doch sonst berufung des einen auf den anderen voiiiege (Veldeke —
iinpfctc da\ erste ris u.v.a.). — Dem entgegnet "W^olff, er glaube natürlich nicht, dass
eine stilistische betrachtung allein die Nibelimgenfrage lösen könne. Dass übrigens der
höfische Charakter nicht einheitlich durchgeführt erscheine — also die Verschmelzung
des spielmauusmässigen , des volksmässigen und des höfischen stilelementes — erkläre
sich eben dui'ch das ringen nach einem neuen stil, durch eine Übergangsperiode.
Boetticher bemerkt, der kernpunkt der ganzen Untersuchung müsse sein, ob wir
Überhaupt lieder anzunehmen haben, gleichgültig in welcher abgrenzung und Verarbei-
tung; und diese frage werde dui'ch stilbetrachtungon nicht gelöst, — Wolff bestrei-
tet das. — Sodann wendet sich Kinzel im anschlusse an Boettichers auffassung
gegen die zu verwerfende methode, die des vortragenden Untersuchung eingesclilagen
habe. Derselbe habe sowol bei der betrachtung des volkstümlichen bestandes der
Nibelungen als auch bei der beurteiluug der einheit seinen ausgang von vorgcfassten
meinungen und definitionen genommen und das lied an diesem massstabe gemessen.
Exemplificationen von modernen dichtungen (z. b. der vergleich mit den Widersprüchen
im Don Carlos) seien unzulässig. Sodann -wird auf grund eingehenderer besprechung
des vieiien liedes des vortragenden annähme bekämpft. — Wolff bemerkt, ihn habe
die eng bemessene zeit genötigt, in der form stellenweise dogmatisch zu verfahren.
Auch sei seine anordnung des Stoffes dadurch beeinflusst, dass die resultate aus einer
fortlaufenden Untersuchung über die entwicklungsgeschichte des epischen stils heraus-
geri.ssen seien. — Zum vergleiche könne man die homerischen epen heranziehen, die
keine volkspoesie mehr seien; ebenso die slawischen historischen Volkslieder, die auf
der stufe unserer spielmannspoesie stünden. — Eost wirft dem vortragenden ebenfals
vor. er sei von vorgcfassten meinungen ausgegangen, und wendet sich dann im ein-
zelnen gegen die auffassung gewisser von AVolff" als höfisch bezeichneten ausdrücke
{rieh, herlieh). An höfisclien einflüssen sei das lied reich, aber man brauche darum
keine Überarbeitung anzunehmen. — AVolff entgegnet, zierlich und andere epitheta
der beiden seien beweiskräftig für die veräusserlichte bcurteilung des hcldentums. —
Uhle äussert über die bedeutungscntwicklung genanter epitheta eine ansieht, welcher
Siebs mit einigen etymologischen bemerkungen widej-spricht. — Zum Schlüsse erklärt
Erdmann, schlagworte wie „volkstümliche poesie" und „nationales hofepos" seien,
miLOLOGENVERSAilLUNG ZU UÖULITZ 459
SO schön sie klingen mögen, mit vorsieht anzuwenden. Die verschiedenen [»aiiicn —
vor allem z. b. das 14. gegen das 2. und 3. licd betrachtet — zeigton koutraste, die
unmöglicli die cinordnnng zu einem einheitlichen ganzen gestatteten.
2. Er d manu verliest einen antrag Boottichors, der auf einen antrag H. Stiers
in der piidagogischen section der Dessaucr i»liilologenvcrsamlung im jähre 1884
zurückgreift. Die rcsolutiou wird einstimmig in fulgender fassung angenommen:
„Die deutsch-romanische section des 40. ithilologontagos schliosst
auch ihrerseits sich den bereits 1884 von der pädagogischen section
aufgcstelten und jüngst in der versamlung rlieinicslier Schulmänner
neubegründeton forderungeu hinsichtlich der widerherstellung der mit-
telhochdeutschen lektüre in den obersten klassen der gymnasien und
realgymnasien an, indem sie in den immer häufiger und dringender
lautwerdenden äusserungcn dieser art ein uiivcrkcnbares zeichen eines
uuabweislichen bedürfuisses erblickt."
3. Erdmann berichtet über eine im besitze des dr. Wilhelm -Breslau Ijcfindlicho
samlung von briefen aus Kamlers nachlass, die der vater des jetzigen inhabers in
Anklam durch einen zufall dem verdorben entrissen hat. Es sind alles briefe von
grösserem litterarischen Interesse; Klopstock, maier IIem[»el, Joh. Chr. Schmidt,
Gleim, Sucro, Sal. Gessuer, Moses Mendelssohn, Ebert sind vertreten. Der besitzer
bereitet die herausgäbe vor.
4. Fritsche berichtet im anschlusse an diese mitteiluug von dem fuudc eines
bisher nur teilweise bekanteu Goethcbriefcs an Karl August sowie über bruchstücke
eines liriefwcchsels zwischen Friedrich Wilhelm IV. und de la Motte, die sich in
Stettin im besitze des assessor Schwencker befinden.
5. Wolff erwähnt demnächst von ihm zu veröffentlichende liandschriften der
Eutiner gymnasialbibliothek , unter denen namentUch briefe von Ernestiue Voss an
ihren söhn Abraham bemerkenswert seien.
6. Siebs bespricht ein manuscript der Breslauer stadtbibliotliek. welches —
vermutlich nach einer handschrift — im jähre 18ÜG auf der bildiothek des Hallischen
Waisenhauses abgeschriebene gcdichte von Ludw. AVilh. Gleim enthält. Es sind „Bie-
der gesungen im jähre 1792", „Zeitgedichte für wenige leser. Im jäimer 1801" und
„Schweizerische kriegslieder. 1798." Die beiden ei-sten samlungen sind im druck
erschienen; die leztgenante ist dem referenten nur aus einer unvolständigen hand-
schrift bekant, cUe sich im Gleimstifte zu Halberstadt befindet.
7. Nachdem Erdmann einige vorscliläge betrefs der wähl der versitzenden für
die nächste in München al)zuhaltende versamlung gemacht hat, gil)t Kinzel pro-
ben seiner übersetzmigen, indem er weitere elf lieder Walthers vorträgt.
Schluss der sitzung 11 uhr.
Dritte sitzung.
Am Sonnabend den 5. Oktober wird die sitzung erst um 9'/4 uhr eröfnet, damit
den mitgliedern gelegenheit gegelien sei, dem vortrage des dr. Lehmann -Berlin
„über den deutschen Unterricht" in der pädagogischen section anzuwohnen.
1. Eröfnet wird die sitzung unter vorsitz des prof. Gaspary'mit dem vortrage*
des prof. Koschwitz- Greifswald „Über die notwendigkeit, bei syntaktischen
1) Den bericht über diesen vertrag gebe ich xuiter benutzung des authentischen protokoLs des
heiTn dr. AVeingärtner. Die ausfülirlichcn mitteihuigon rechtfertigen sich, glaube ich, durch das alge-
mein - sprachwissenschaftliche interesse des Vortrages.
460 SIEBS
Untersuchungen die lauthistorischen voräuderungeu nicht unbeachtet zu
lassen.** Für das Studium des französischen sei das Verhältnis der geschriebenen
zur gesprochenen spräche von höchster Wichtigkeit. Neuerdings haben schulreformer
(wie Paul Passy) behauptet, num müsse die gesprochene spräche unteiTichten. Not-
wendige Vorbedingung dafür ist natürlich die grammatik einer gesprochenen spräche.
Das Verhältnis der Schrift zur ausspräche lässt sich noch am ehesten klarstellen;
aber in der erkentnis der <|uantitätsgesetze, des wort- und satzaccentes, der ton-
höhe, des Verhältnisses der gesprochenen zur geschriebenen formenlehre sind wir
noch weit zurück. Bezüglich des lezten punktes verweist der vortragende auf seine
^Neufranzösische formenlehre nach ihrem lautstande. Opi)cln 1889." Die gesprochene
tiexionslehre zu unterrichten — wie reformer es vorgeschlagen haben — sei wol keine
erleichterung des lernens: da trete in den meisten fällen für die regel der schriftgram-
matik nur eine andere formulierung ein; aus der schulgrammatik konte man doch bei
kentnis der ausspräche die regel der lautgrammatik abstrahieren, aber nicht umge-
kchit. — Betrefs der abweichuugen zwischen geschriebener und gesprochener spräche
in der syntax fehle es an allen vorarbeiten. Die flexion ist vielfach erloschen, plu-
rale sind meist nicht mehr erhalten, und neuausgebildete syntaktische mittel vertreten
die alten tlexionen; auch sind in der gesprochenen spräche die alten konkordanz-
gesetze fast geschwimden, das imperf. couj. und das perf. histor. existieren fast nur
noch in der gebildetensprache ; superkomponierte formen {fai eu entendii) vertreten
die einfachen u. a. w\. Differenz der gesprochenen und geschriebenen spräche in der
syntax hat es selbstverständlich wie heute so auch früher gegeben: darum muss die
historische erforschung der syntax auch die lautsprache ins äuge fassen. Daraus
erklärt sich oft die aufstellung spitzfindiger gesetze, denen die geschichtliche basis
fehlt. — Lautliche Veränderungen können syntaktische Umwälzungen bewirken. So
wurden beim Übergang des lateinischen ins romanische formen wie fut. 1 und II,
conj. imperf. und perf., die ihrer lautlichen gestalt nach zusammenfallen oder unkent-
lich werden musten, almählich durch Umschreibungen und neubildungen verdrängt.
Ferner: im frz. des 12. Jahrhunderts verstumte bei syntaktischer Zusammengehörig-
keit das flexivische s vor konsonantischem anlaut (z. b. wo ein adjcctiv vor einem
konsonantiisch anlautenden Substantiv stand), vor vokalischem anlaut aber und in der
satzi>ause, d. h. am Schlüsse eines satzes oder Satzgliedes blieb es hörbar. Dadurcli
geriet schon früh der gebrauch des flexivischen s im nom. sing, und den obliquen
casus ins schwanken, vermengung des nomiuativ mit den casus obliqui trat ein, und
schliesslich ward die casusunterschciduDg ganz aufgegeben. Infolgedessen ward dann
die Wortfolge im satze eine strengere, und im mittelfrz. entwickelte sich die dies-
bezügliche feste, heute noch geltende regel. Die erhaltung des s gerade im plur.
beruht wol mit darauf, dass der acc. [»lur. liäufigoi- in der satzpause stand als der
nom. sing.; das s blieb dann bis ins 17. Jahrhundert an dieser stelle lautend. —
Redner geht dann auf das verstummen des tonlosen e näher ein und führt u. a. aus,
dass t/jnloses e nach einem hauptton vokal viel später am schluss des satzes, wo es
unter dem satzton stand, vei-stumt ist, als in andern fällen: also später in „la mere
qiie j'ai Tue^'- als in „j'ai vu(e) la niere.^^ Sehr oft haben solche erscheinungen zu
den spitzfindigen Schreibgesetzen der grammatiker anlass gegeben: daher die kom[)li-
cierten regeln iiber pluralisation appellativisch gebrauchter eigennamen, z. b. Cicerons;
hier lautete das s gar nicht. — Die regel, dass man nu-tete und nu-pieds, aber <cYc
luie und picds nus zu schreiben habe, ist modern: afrz. heisst es 7iue teste und
teste nue, nur verstumte das e im ersten falle, wo es ja vortonig war, eher. Bei
PHILOLOGEN VERSAMLÜNÖ ZU GÖRLITZ 461
afrz. nu^ picx ist s (x) schon früh vei-stumt, in pier. nux liingcgen wurde es bis
zum 17. jahrhundeii gosproclion. Der adverbicUo cliarakter des voi-anstehendcn mi
ist eine fal)el, und so steht es aucli mit den rcgehi über demi, sujtpnse, exrepte
usw. — Nfrz. helas ist unveränderlicli; im afrz. aber brauchte man eh las! oder
eh lasse! {lasses plur.), je naclidem sich mäiinliclie oder weibliclie weson dieses aus-
druckes bedienten. Da er stets in der satzpauso stand, so verschwand die llexions-
unterscheidung; aber auch im masc. bheb das s fest. So ist auch die moderne i'cgel
über »fil und mille (milles) nur durch verstummen des e und s möglich geworden. —
Sodann wt^st der vortragende die regel über die konkordanz des ])art. perf. mit dem
Subjekte bei reflexiven verben als eine neue Spitzfindigkeit nach. Dass ferner das
part. perf. bei aioir gerade bei vorangehendem accusativ das e bzw. .s- aufi-ccht
erliiolt, bei nachstehendem aber verlor, komme daiier, dass im lezten falle das
part. meist an d(Mi satzschluss trat, wo sich ja auslautendes c und s am längsten
erhielt. — So werden alte durch frühere lautverhältnissc bereciitigte erscheiimiigen in
der Schrift festgehalten, auch nachdem sich die lautverhältnissc gcändta-t haben; oder
theoretiker finden in dem aufgeben des alten lautes grund zur annähme von differen-
zierungen, welche die spräche nie gekaut hat. Solche erscheinungen finden sicli in
allen sprachen, am häufigsten aber natürlich da, wo wie im französischen eine starke
abschleifung flexivischer laute statgefunden hat. — Er d mann bemerkt liierzu, dass
diesen hochinteressanten nachweisen sich aus der entwicklung des deutschen in
historischer zeit verhältnismässig wenig ähnliche falle würden zur seitc stellen las-
sen. Doch sei z. b. die moderne nnsichei'heit im gebrauche des conjunctivs wol
zum teil aus dem zusammenfallen vieler formen desselben mit den noch im mhd.
von ihnen unterschiedeneu formen des indicativs zu erklären. — Gaspary will
die regel über das particip nicht auf lautlichen einfluss zurückgefüiirt wissen : das
praedicative Verhältnis sei wol noch tiefer empfunden worden. Aus dem spani-
schen sei nichts zu ersehen; im italienischen habe eine abschleifung nicht stat-
gefunden. Die regel sei ungefähr die des altfranzösischen: unverändert sei das
paii. bei voranstellung, veränderlich bei nachstellung. — Koschwitz gibt zu, dass
die erscheinung vielleicht nicht bloss auf lautlichem einfiusse beruhe; wie in den
meisten fällen hätten aucli liier gewiss zwei factoren zusammengewirkt. — Brug-
mann weist darauf hin, dass erscheinungen wie die vom vortragenden beliandeltHu
sich auch in den älteren indogermanischen sprachen finden, namentlich auch schon
in der muttersprache des französischen, im latein. Die jüngere sprachentwick-
lung, in der sich der Vorgang schrittweise an der band der Sprachdenkmäler ver-
folgen lasse, werfe hier wie so oft licht auf die ältere, wo sich der process ganz
oder zum teil in vorliistorischer zeit volzogen hat und es dem forscher wilkom-
men sein muss, wenn sich seine deutung durch analoga aus modernen, leichter
überschaubaren Sprachphasen stützen lässt. Als beispiele dafür, dass auch bereits
im lateinisclien rehi lauthcher wandel syntaktische neuenmgen im gefolge hatte, fülni
Bnigmann den locat. sing, auf -7 und die 2. pers. plur. auf -mim an. Dass der
locativ mehr und mehr zu guusten der ausdrucksweise mit in c. abl. wich, hing
damit zusammen, dass die locativform mit der genitivform zusammenfiel (belli „im
kiiege'' und „des krieges"). Bei den mit dem lautliclu^i zusammenfall {I auch im
nom. plur. masc.) zusammenhängenden oi-thographischen bestimmungen der alten
grammatiker (des Lucilius EI für i pingue, I für i tenue) liefen in ähnlicher weise
Spitzfindigkeiten und wilkürlichkeiten unter Avie in den analogen fällen bei den älteren
französischen grammatikern. Das imperativische sequiminT ist mit J. Wackeruagel
462 MARTIN
als eine imperativiseh verwoiulotc infinitivfovin anzusohon, die den griech. infinitiven
\do Xiyfutvut entspricht; das indieativische sequi wiul dagegen war nach alter deu-
timg ein nom. plnr. part. med. (entsprechend griecli. ino/jevoi nnd fTiötuftHa) nnd war
iirspmuglicli nicht auf den gebrauch als 2. pers. bescliränkt; mau sagte sequi mim
suvius, estis, sunt. Nuu hatte der zusainnienfall von oi- und ai- in -7 zur folge
eiuei-seits dass das imperat sequi tu im sicli auf pluralisclie Verwendung bescliriinkte,
anderei-seits dass d.os indicat. sequimiul mit weglassung der copula nur mehr als
2. pers. gebraucht wurde; in jenem falle hatte das indicat. sequimim das imperati-
\ische beeinflusst, in diesem umgekelirt
2. Da die nächste philologenversamlung in Münclien statfniden soll, so wer-
den zu sectious Vorsitzenden die professoren Konrad Hof mann und Brenner gewählt.
3. Nachdem der versitzende, prof. Gaspary, den anwes(Miden für ihr erschei-
nen gedankt, scliliesst er die Sitzung um 10^4 ^^hr.
BRESLAU, OKTOBER 1889. THEODOR SIEBS.
MISCELLEN UND LITTEEATUR
Grundriss der germanischen jihilologie, unter mitwirkung von K. v.
Amira . . . (u. a.) herausgegeben von Herinanii Paul. I. lieferung. Mit
einer tifel. Strassburg, Trübner. 1889. 25G s. 4 m.
Eine Zusammenfassung des bisher von der deutschen philologie geleisteten
unter gesichtspunkten . welclie auf ihre weiteren aufgaben hinweisen solten, war
unzweifelhaft erwünscht und dankenswert, wenn schon füi- die geschieh te unserer
Wissenschaft bereits vorzügliche gesamtdarstellungen vorlagen und insofern Pauls
unternehmen nicht in gleichem masse neues bieten konte wie Gröbers grundriss der
romanischen pliilologie, an welclien sich der seinige äusseiiich anschliesst.
Die erste lieferung wird fast ganz durch die geschichte und die methodenlehrc
der germanischen philologie ausgefült, welclie Paul selbst bearbeitet hat. Über den
begiiff und zweck dieser Wissenschaft geht er ziemlicli rasch hinweg. Er schliesst
sich zunächst an Böckhs definition an, welche als gegenständ der pliilologie die
gesamte menschliche kultur l»ezeichnet, eine definition, nach welcher philologie und
geschichte — wenn diese ebenso im weitesten sinne gefasst wird — zusammenfallen.
Und so spricht auch Paul in den ersten algemeinen bemerkungon seiner methoden-
lehrc nicht vom philologon, sondern vom historiker. Freilich beschränkt er dann
doch die aufgäbe des philologeu, indem er ihm die beschäftigung mit den s}»rach-
denkmälem zuweist und daher Sprachwissenschaft und litteraturwisscnschaft als die
notwendigen zweige seiner tätigkeit ansieht. Vielleicht lässt sich diese beschränkung
noch weiter auf einen einzigen keinpunkt zurückführen. Ich schliesse mich dabei an
bemerkungen an. welche Müllenhoff mündlich geäusseii hat und die ich aus der
erinnerung freilich nur in sehr unvolkommener weise widergeben kann. Müllenhoff
stalte den philologeu dem historiker so gegenüber, dass er diesem den stiat, jenem
die poesie als den mittelpunkt seines interesses zuwies. Genauer würden wir etwa
mit Gröber (Grundriss der romanischen philologie s. 14G u. ö.) anstatt der poesie die
künstlerisch gestaltete rede setzen, nur dass für die ältere zeit beides ja zusammen
fält. In der tat sind eben die wissenschafthchen fächer, die sich auf die poesie bezie-
ÜBER PAUL, GRUNT)RISS DER GERM. PHTL. I 463
hon, mctnk, littcrahirp:oF;chichto , pootik, sowie dio orkliirung einzelnor dicht- und
Schriftwerke so recht eif>outlich aufgalxm der philologie, während die graniniatik auch
von den sprachforsclieni im engsten sinne, die altertümcr von historikern und Juristen
in ansi)ruch genommen werden. Aber das tatsächlich bi'steheude Verhältnis zunächst
den liistorikern gogenül)er lässt sich aucli hogrillicli reclitfertigen. Die wisscnscliaft
der gescliiclite hat es mit dem gcscliohcnen zu tun; sie will den gang einer cntwioke-
lung begreifen und darstellen, und sie bekümmert sich daher um die träger dieser
entwickelung streng genommen nur insofern, als an ihnen diese entwickclung sich
volzieht und erscheint. Die ijliilologie dagegen fasst das gewesene ins augo und
bemüht sich um die kentnis der (nnzehvescn, welche sie nacli allen selten, soweit
die Überlieferung es nur gestattet, sich zu vergegenwärtigen strebt. Daher greift die
geschichte weit aus, während die philologie sich gern beschi'änkt. Geschichte und
Philologie verhalten sich in der art ilirer arbeit und ihrer crzeugnisse wie maierei
und plastik: jene gibt von einem festen Standpunkte aus eine ansieht, welche iil»er
grosse flächen, auf weite fernen hin sich erstrecken kann, aber immer nui- eine seite
des gegenständes vor äugen stelt; diese zeigt uns volfiguren, nach allen selten hin
ausgearbeitet, aber freilich so dass diese gegenstände nur für sich oder höchstens mit
wenigen vei-w\anten erscheinungen zusam menge fasst werden, Müllenhoff sagte, wenn
ich nicht irre: gescliiclite stelt dar was die menschen verbindet, und keine Verbin-
dung ist so stark und so woitgroifend als die durch den staat gegebene; philologie
beschäftigt sich mit dem, was den einzelnen auszeichnet, und so eigen ist ihm nichts
als die poesie, die kunst der rede. Äussert sich in der kunst das ganze geistige
vermögen — wie es ursprünglich durch das verbum können bezeichnet wird, — so
ist unter allen künston die kunst der rede dazu am meisten befähigt, da sie am
w^enigsten an äussere bedingungcu gebunden ist. Es kann nun die frage aufgewoifen
werden, ob und wie die übrigen gegenstände der philologischen forschung mit jenem
mittelpunkt in Verbindung zu bringen sind. Zunächst die grammatik. Es leuclitet
unmittelbar ein, dass für das Verständnis der poetischen denkmäler auch die volstän-
digste und genaueste kentnis der spräche durchaus nötig ist, dass auch die etymolo-
gie schon der Wortbedeutung wegen ein unentbehrlicher bestandteil der philologischen
grammatik ist. Die volständige kentnis der spräche erstrebt nun auch die s]jrach-
wisscnschaft im engeren, besonderen sinne. Aber widerum ist ein unterscliied zwi-
schen philologie mid Sprachwissenschaft vorhanden, der mit jenem, welcher philologie
und historik trent, sich wol vergleichen lässt. Die Sprachwissenschaft nent sich
genauer noch die vergleichende, weil sie mehrere sprachen heranzieht, entweder um
über die geschiclitliche , schriftliche Überlieferung zurück die zusammenhänge der
sprachen zu erforschen oder um das wesen der spräche überhaupt zu erkennen. Der
Philologe dagegen w^ill für jedes einzelne denkmal auch sprachlich die einzelart fest-
stellen; er will wissen, wie jeder ausdruck, jede Wendung zu verstehen ist, welche
absichten der Verfasser damit verfolgt, ob er ernst oder ironisch syjricht, ob er ruhig
oder leidenschaftlich, gemein oder erhaben sich ausdrückt: alles fragen, welche den
Sprachforscher wenig kümmern werden. Insofern ist auch von der grammatischen
Seite her die poesie hauptgogenstaud der philologie, da sie die spräche in der
gröston freiheit und kraft erkennen lässt. Ähnlich steht es nun auch mit den
übrigen feldeni, welche die philologie gemeinsam mit anderen Wissenschaften bear-
beitet. Jacob Grimm nimt teil an dem aufbau der deutschen rech tsgesch ich te, aber
was ihn besonders beschäftigt, ist die poesie im recht, ist das gebiet der formen und
formein. Alle äusserungen des geistigen lebens berücksichtigt die philologie, aber mit
464 MARTIN
dem hauptaugeumcvk auf das poetische als das eigentümliche der individuell, der
Perioden, der nationen. Oliue sinn für das poetische mag einer ein guter Sprachfor-
scher, ein guter historiker oder Jurist sein, aber ein guter i)hilologe ist er nicht.
Blicken wir auf unsere meister, die brüder Grimm, Lachmaun, Thland, Schmeller
und wer sonst ihnen beizugesellen ist, so wird uns dieser sinn für die poesie, der
sich vielfach (selbst wenn wir von üliland absehn) aucli durch selbständige dichtver-
suche kundgegeben hat. als das charakteristische für ihre wissenschaftliclic riclitung
erscheinen. Und darin liegt schliesslich auch die eigentliche bereclitigung unserer
M-isseuschaft innerhalb des geistigen lebens unserer nation: deren ästhetische erziehuug
ist wesentlich die aufgäbe der jihilologie; den sinn für poesie soll sie ausbilden und
rege erlialten, und dies ihr verdienst ist für uns um so grösser, als wir gegenwärtig
unstreitig in einer zeit leben, in welcher die poetische produktion in stetigem sinken
l>egriffen ist und die nation durch politisch -sociale fragen mehr und mehr in anspruch
geuomnieu wird.
Treten wir von diesem Standpunkt aus an Pauls grundriss heran, so wird es
uns zunächst als ein maugel erscheinen, dass in der abteilung, welche der litteratur-
geschichte gewidmet sst, die deutsche litteratur nur bis zum ende des mittelalters
berücksichtigt werden soll. AVie ungerechtferiigt dieser ausschluss der neueren zeit
ist, zeigt sich schon darin, dass Paul selbst in der motliodeulehrc vielfach auf die
geschichte der neueren litteratur und ihre methode bezug nimt.
Pauls methodeulehre selbst bringt vieles was wol zu beherzigen ist; die dar-
stellung ist bei aller kuapheit reiclilialtig , trotz einer gewissen trockenheit eindring-
lich. Die möglichkeiten , welche der forscher bei der entscheidung zweifelliafter fälle
sich vor äugen halten soll, die fragen, welche in bezug auf jedes einzelne Sprach-
denkmal zu stellen sind, werden ausführlich aufgezählt und erörtert. Für die Sprach-
geschichte verweist Paul wesenthch auf die behandlung des gegenständes in seinen
„Principien.- Für die poetik komt er zu forderungen , welche vor ilim schon von
Scherer ausgesprochen worden sind, wie überhaupt dessen anregungen in Pauls buch
vielfach nachgewirkt haben.
Der methodeulehre ist die geschichte der germanischen philologie vorausgestelt.
Pauls behandlung dieses Stoffes nimt eine mittelstellmig ein zwischen dem bekanten
buche von R. v. Räumer und Scherers Grimmbiogra]>hie: sie ist weniger ausfühilich
als jenes, beschränkt sich aber nicht so wie diese auf die hauptj)unkte. Die ein-
gefügte bibliographie erstrebt eine gewisse volständigkeit der wichtigen Schriften:
nachzutragen wüste ref., der allerdings eine genaue nachprüfung nicht hat anstellen
können, nur etwa auf s. 110 Walter de Gray ßirch, Cartularium Saxonicum (Lon-
don 188.^ fgg.) und auf s. 138 die 3. aufläge von Jonckbloets Geschiedenis van neder-
landsche letterkunde (1881 — 86, G bde, der G. von Penon bearbeitet). Auf s. 51
wäre eine schrift über die Nibelungen von G[ieseke] (Hamburg 1795) zu erwähnen
gewesen, welche über die handschriftliche grundlage der Myllerschen ausgäbe zuerst
das richtige bemerkt hat. ein verdienst, welches auf s. 63 irrig J.Grimm zugeschrie-
ben wii-d: s. Müllenhoffs anmerkung zu den kleinen Schriften J. Grimms 4, s. 3.
Von den verschiedenen abschnitten des diese aufzählung vorbindenden textes
sind die fünf ersten bis zur eigentlich wissenschaftlichen begründung der deutschen
philologie mit guter kentuis und überzeugend behandelt; insbesondere die teilnähme,
welche das vorige Jahrhundert diesen Studien schenkte, ist so eingehend geschildert,
dass auch die litterargeschichtliche erforschung dieses Zeitraums sich dadurch geför-
dert sieht.
ÜBER PAUL, GRUNDRISS UKR GERM. PHIL. I 465
Dagegen tiitt leider in den zwei lezten abschnitten die persönliche ansieht des
Verfassers in einer weise hervor, welche der referent nicht ohne widerspmch durch-
gehn lassen kann. Immer wider ist es die beui-t»'ilung der wissenschaftlichen Ver-
dienste Lachmanns und seiner schule, über welche sich der Zwiespalt erhebt. Aber
wenn Paul s. 150 das parteiwesen als den schlimsten imter den schaden des gegen-
wiiiligen betriebes unserer Wissenschaft bezeichnet und dies abzustellen mahnt, so
wird man eine reihe von bemerkungen in seinem buche kaum als dazu dienlicli ansehn
kümien. ^^'o Lachmann und seine anhiinger genant werden, fehlt selten die War-
nungstafel vor ihrer wilkür und autoritätssucht. Selbst in der methodenlehre wählt
Paul, um vor gewissen arten von fehlem zu warnen, seine beispiele so gut wie aus-
schliesslich aus den schritten Lachmanus und der Lachmannscheu schule. Boeckh
in seiner Encyclopaedie der klassischen philolugie citiei-te in solchen fallen sich selbst.
Hauptgegenstand der vorwürfe gegen Lachmann ist wider die Nibelungenfrage.
Hier begeht nun Paul einen allerdings auch schon vor ihm gemachten fehler, indem
er s. 75 und 181 behauptet, dass Lachmann den text von A nur deshalb für den
ursprünglichen erklärt habe, weil dieser zu seiner theorie von der entstehung des
gedichts am besten passte. Wo hat Lachmanu das gesagt? Und wenn man ihm
diesen grund unterschieben will, so solte man doch zunächst nicht übei-sehen, dass
auch solche germanisten, welche Lachmann persönlicli nahe gestanden und mit ihm
wol auch über die Nibelungenfrage verhandelt haben, zwar seine liedertheohe abge-
lehnt, aber daran festgehalten haben, dass A den ursprünglichsten text darbiete: so
die brüder Grimm, so Wackernagel, so AVilhelm Müller. Und dass der gememe text
wirklich interpoliert und überarbeitet ist, das lässt sich auch mit argimienten dartun,
welche inchts mit der liedertheorie zu tun haben. Wenn z. b. in der strophe, welche
B hinter der str. 432 mehr hat alsA, Siegfried den ger, den er auf Brunhild schleu-
dern will, umkehrt um sie nicht zu verwunden, dann aber in str. 433 beim anprall
auf die rüstimg vom funkensprühen die rede ist, welches nur durch die gerspitze,
nicht aber durch die stange hervorgerufen werden konte, so ist 432, 5 — 8 als Inter-
polation deutlicli erkenbar, einerlei ob man die Nibelungen als werk eines oder meh-
rerer dichter ansieht. Doch weiter auf diese viel behandelten fragen einzugelm ist
hier nicht der ort. Nur noch die bemerkung möge gestattet sein, dass mit demsel-
ben rechte, wie man Lachmanu in diesem punkt verdächtigt, auch umgekehrt behaup-
tet werden könte, seine gegner hätten C oder B deshalb bevorzugt, weil diese hand-
schriften ihren theorien besser dienten oder gar weil sie dadurch der Verpflichtung
entgiengen, auch Lach man ns liedertheorie anzuerkennen. In der tat ist es eine starke
stütze für diese, dass die in B und weiterhin in C zu dem bestand von A hinzu-
gekommenen Strophen wesentlich denselben Charakter zeigen wie die von Lachmann
als interpoHert aus dem text von A ausgeschiedenen.
Aber noch schlimmer ist, wie s. 133 und 235 über die liedertheorie selbst
berichtet wird: immer wider hören wir die Verwunderung dai-über, wie sich Lach-
mamis 20 lieder zu einem ganzen hätten zusammenfmden kömien. MüUenhoffs schrift
Zui- geschichte der Nibelimge not (imd deren fortführung insbesondere dui'ch Hen-
ning) hat Paul also volkommen unbenicksichtigt gelassen, während doch Müllenhoff
gezeigt hat, dass aus dem ei-sten teil des gedichts nui- das I., IV. und VUI. lied
Lachmaiuis für sich bestehn, die übrigen aber als fortsetzimgen und einleitungen zu
denken sind. Man lese das YIII. lied und fi'age sich, ob nicht Siegfiüeds tod, der
wie ^vir wissen, im 13. jahrhimdert als lied für sich gesungen wurde, hier so zusam-
menhängend und abgeschlossen vorgetragen ist, dass nichts als die algemeine keut-
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXH. OU
466 MARTIN
nis der sage, also etwas für die zeit um 12(X) volstäudig sichergosteltos, voraus-
gesezt wird. Endlich ist nicht zu übei"sehen, dass die von Lachmann angenommene
entwickelung des Nibelungengedichts aus einzelnen, mit einander verbundenen und
interpoliei-ten liederu, iu einem andern, litterarisch überlieferten fall ihr volständig
entsprechendes gegenstück hat: in der diehtung des jüngeren Titurel, dem die Titurel-
heder AVolfnuns zu giiinde hegen.
Überhaupt hat Paul gerade Müllenhoffs Schriften niclit richtig beurteilt. Er
sagt s. 97 von der Deutschen altertumskunde Müllenhoffs, dass sie auch vollendet
doch nicht eine volständige alttn-tumskunde geben würde, weil sie ausser den stam-
mesverhältnissen und gewissen punkten der Urgeschichte doch nur die phantasietUtig-
keit der alten Germanen, iln-e götter- und heldensage behandeln solte. Gibt diese
bemerkung, die selbst weim sie zuträfe, nur einen tadel des gewählten titeis enthält,
auch nur entfernt eine Vorstellung von dem reichen Inhalte des Müllenhoffschen wer-
tes, von der erschöpfenden behandlung, von der geistvollen lösung der allei'schwie-
ngsten gnindfragen unserer Wissenschaft? Ein glück dass dies werk, dass überhaupt
Müllenhoffs wissenschaftliche tätigkeit den klassischen philologen bekant und von
ihnen in ihrem werte anerkant ist: die studierenden der germanischen philologie, für
welche Pauls gi'undiiss zunächst bestirnt ist, werden wenig davon erfahren. Übrigens
wird das, was Paul an Müllenhoffs altertumskunde vermisst, doch noch durch die
geplanten fortsetzimgen geboten werden, in welche u. a. Müllenhoffs vorlesungsheft
über die Gemiania aufgenommen werden soll: da werden ja auch die natürlichen
lebensbedüigungen usw. zur spräche kommen.
Von den Denkmälern Müllenhoffs und Scherers heisst es s. 196 (und nochmals
ganz ähnlich s. 107) dass darin „die kleineren althochdeutschen texte eine nach allen
Seiten hin möglichst erschöpfende behandlung erfuliren, wobei aber die poetischen
zum teil sehr ^vilkül•lich zurecht gemacht wurden." Also kein wort davon, dass
MüUeidioff hier wichtige gattungen und selbst emzelne stücke der volkspoesie als
ui-alt und algemein gemianisch nachgewiesen hatte, den liebesgi'uss , das Sprichwort,
wie er schon fiüher für das rätsei das gleiche getan; und nur beiläufig und dunkel
wird s. 118 erwähnt, dass Müllenhoffs einleitung zu den Denkmälern die lautforin der
deutschen eigennamen in den ältesten Urkunden zu anhaltspunkten verwertet hatte,
welche die vorher zeitlich und örtlich hin und her versezten ahd. denkmäler jener
zeit fest und sicher zu bestimmen gestatteten.
Auch die persönlichen Verhältnisse verschiedener anhänger der Lachmannschen
richtung sind wenigstens schief dargestelt. Von Wackemagel heisst es s. 96, er habe
sich in seiner Jugend auf das kümmerlichste durchschlagen müssen. Jeder leser wii'd
diese andeutung zunächst auf mittellosigkeit der familie beziehn, die doch bei andern
germanisten, z. b. bei Franz Pfeiffer iu viel höherem gi'ade vorhanden und wirksam
gewesen ist. Vielmehr entsprangen die Schwierigkeiten, mit denen "Wackernagel nicht
nur als Student, sondern noch weit mehr nach beendigung seiner Studien zu kämpfen
hattf?, aiLS der traurigen demagogenriecherei in den zwanziger, di'eissiger jahien.
Weil er als gymnasiast in einem verti'aulichen briefe geschrieben hatte, Deutschland
werde wol in die alten herzogtümer geteilt werden müssen, ward er nicht nur sofort
und hart gestraft, sondern auch später weder in schule noch an Universität noch in
der bibliotheksverwaltung bei ii'gend einer anstelluug zugelassen, trotz der besten
empfehlungen seiner lehrer. Der ruf nach Basel war für ihn die rettung und daraus
begieift sich die treue, mit welcher er auch später dort blieb trotz der lockendsten
ÜBER PAUL, GRUNDRISS DER GERM. PHIL. I 467
anevbietungon der gröston imivorsitüten; damus aber auch gewisse urteile seiner lit-
teraturgescliichte.
Am allersclilinisten aber ist Wilhelm Scherer weggekommen, dessen Charak-
terisierung s. 99 mit den zahlreichen und ersichtlich von herzen gekommenen klagen
an Scherers frühem grabe in schneidendem Widerspruch steht. Zwar was Paul damit
meint, wenn er von Scherer sagt, er habe seine ideale in dem modernen grossstäd-
tischen leben gefunden, das bekent referent nicht zu wissen. Aber wenn es weiter
heisst, Schcrer habe einen guten teil seines einflusses und seines ruhmes feuille-
tonistischer schriftstellerei zu verdanken, so darf wol gefragt werden, ob gelehrte
wie Miklosich, Mommsen, Zeller etwa dieser begabung Scherers wegen ihm so gün-
stig gestimt waren; das urteil solcher männer wird denn doch wol auch für seineu
rühm und seinen einlluss massgebend gewesen sein. Übrigens ist es bedeutsam für
unser gelehrtenwesen , dass eine leichte, anmutige, eindrucksfähige form in wissen-
schaftlichen dingen, anstatt zum lobe, vielmehr zum Vorwurf gereichen soll. Der
weiteren bemerkung Pauls, Scherer habe absichtlich die psychologische analyse vor-
schmäht und darin liege ein grundmaugel seiner bchandlungsweise, steht schon Scho-
rers eigenes wort entgegen (Preuss. jb. XXXI, 482): „Das wesen der geschichte
wird ijnmer lebendige vergegenwärtigung bleiben. Es gilt die psychologischen pro-
zes.se aufzuspüren, welche den taten vergangener epochen zu gi'imde lagen und diese
nachzuleben." Und wenn nach Paul Scherer nicht ein einziges ausgereiftes und
abgeschlossenes wissenschaftliches werk geschaffen haben soll, so widerspricht dem
der hohe wert, den Paul selbst s. 118 Scherers buch „ Zur geschichte der deutschen
spräche" beimisst; bezeichnet er doch das jähr 1868, in welchem dies buch zum
ersten mal erschien (die 2. aufläge von 1878 ist trotz ihrer teilweisen neubearbeituug
nirgends erwähnt) als den beginn einer neuen periode in der wissenschaftlichen
behandlung der deutschen grammatik, der zweiten nach J. Grimms grundlegender
arbeit. Und ebenso übergeht hier Paul — ausser den vielen kleineren arbeiten Sche-
rers, von denen einzelne schon allein ihrem Verfasser einen namen gemacht hätten,
seinem J. Grimm, seiner, Litteraturgeschichte des Elsasses usw. — das lezte grosse
iebenswerk Scherers, seine Geschichte der deutschen litteratur. AVas er s. 138 von
dieser litteraturgeschichte sagt, die referent nicht ansteht unseren besten historischen
büchern, denen eines Ranke etwa, an die seite zu stellen, ist völlig unzureichend.
Er nent sie nicht einmal da, wo er von den neueren populären darstellungcn des
gegenständes spricht, s. 131: unter diesen ragi nach ihm Vilmars litteraturgeschichte
gleich sehr durch geist und sachkentnis hervor, ein urteil, welches nachzuprüfen
referent aus persönlichen gründen andern überlässt. Wie ganz anders als Paul weiss
ein Fi'auzose Scherers buch und seine wissenschaftliche bedeutung überhaupt zu wür-
digen, Basch in den Annales de l'Est I und 11 (Nancy 1887 — 89, auch für sich
ei*scliienen).
Nur eine stelle aus Pauls kritik der litteraturgeschichte Scherers möge noch
hervorgehoben werden. Er tadelt an dieser, dass darin die hypothesen Lachmanns
und seiner schule als ausgemachte tatsachen behandelt würden, ohne dass in der
regel auch nur angedeutet sei, dass andere auffassungen bestünden. Wie wären
solche andeutungen in einer darstelluug möglich gewesen, welche auch für andere
leser als die fachgenossen bestimt w^ar? Die angehängten anmerkungen weisen da,
wo Scherer wirklich begründete zweifei anerkante, auf diese in reichlichen Htteratur-
angaben hin.
30*
468 MARTIN. ÜBF.R PAUL, GRUNDRISS DER GERM. PHIL. I
Aber wiclitiger ist das zugoständnis, welches der heraiisgeber des grundvissos
mit der eben angezogenen bemerkung insofern macht, als wir nun lioffen dürfen in
den weiter folgenden teilen seines Werkes nicht bloss seine und seiner mitarbeiter
ausichten zu erfalu-en, sondern auch die von ihnen abweichenden. Das wird nament-
lich auf dem gebiet der metrik sein* erwünscht sein. Es wird dann hoffentlich z. b.
für die altgermanische metrik nicht verschwiegen werden, dass die bcobachtungen von
Sievei"S über die Stellung der zwei liebungen des lialbvei-ses zu den zwei notwendigen
nebensilbeu nicht unvereinbar sind mit der annähme, dass die germanische, im alt-
hochdeutschen erhaltene urform des halbvei-ses vier hebungen enthielt, vor und zwi-
schen welchen minderbetoute silben, Senkungen, stehn aber auch fehlen konten: sind
doch eben dieselben beobachtungen aucli auf Otfricd anwendbar gewesen, dem nie-
mand die vier hebungen abspricht; und dass Otfried zwei von diesen vier hebungen
über die beiden andern hinaus noch besonders auszeichnet, hat l^ereits Laclimann
ausgesprochen (Kleine Schriften 1 , 4.57).
Von Sievei-s rührt nun auch der anfang des die ergebnisse der germanischen
Philologie dai-stellenden teiles her: die runen. Sievers schliesst sich fast durchaus an
AVimmer an. Nur sucht er den ursprünglichen sinn des wertes rüna in „gemurmel,
geheimnisvolle besprechung'^, wälirend doch der Zusammenhang mit dem nordischen
raun ,en)robung'' und mit dem giiechischen toewdo} längst geltend gemacht worden
sind, um die bedeutimg „frage, insbesondere orakelfi-age" als die älteste zu erweisen,
welche mit dem von Tacitus bezeugten loosgebrauch der Gennanen übereiustimt. Die
gennanischen buchstaben smd vermutlich zuerst zum loosen angewendet worden,
ähnlich wie die lateiiüschen bei den sortes Praenestimie , und wol im anschluss an
eine schon fi-üher bestehende rhabdomantie. Weiterhin versucht Sievers die ver-
wantschaft von buch und buche zu lösen, wegen der verschiedenen stambildung;
aber so wenig wie diese für die vei-schiedenen formen von man eine trennung in
mehrere etyma begründet, wird sie hier gewicht haben, wo überdies die buche
als frugifera arbos vortreflich zu den andeutungen des Tacitus über den runen-
gebrauch stimt. Auch die in § 10 ausgesprochene meinung, dass die menge und
relativ koiTekte Überlieferung der alten (eddischen?) lieder 'aufzeichnungen in runen
voraussetze, hat wenig für sich. Eindringende kritik lässt diese korrektheit sehr
gering erecheinen, insbesondere die heroischen lieder sind geradezu zusammengewür-
felt; und dass das gedächtnis der sänger in der alten zeit eine ausserordentliche
menge von Strophen fassen konte, wird beispielsweise dui'ch das, was von dem skal-
den Stufr in der Heimskringla Har. hardr. c. 2.5 erzählt wird , überzeugend belegt.
Den schlass der lieferang bildet eine palaeographische anleitung von W. Aj'ndt
zur beurteilung der in lateinischer schiift verfassten denkmäler nach ihi-er materiel-
len Seite.
STRASSBÜRG. K. MARTIN.
Orendel, ein deutsches spielmannsgedicht, mit einleitung und anmer-
kungen herausgegeben von Arnold E. Berger. Bonn, Ed. Weber. 1888.
CXYI u. 192 s. 8. 9 m.
Eine neue ausgäbe des Orendel wird jedem wilkommen sein, der in der läge
gewesen ist. sich bei der benutzung des von der Hagenschen textes die besseren les-
aiten müh.selig aus dem Varianten Verzeichnis zusammensuclien zu müssen. Denn es
war k'kant und durch Harkensee (Untei-suchungen über das spielmannsgedicht Oren-
VOGT, ÜBER OKKNDKL ED. BERGER 469
del, Kiel 1879) im eiiizelnon iiachgewiscn, dass <lio hei von dor Ragen zu gründe
gelegte handschrift (IT) die relativ sclilcelitere, der nur ausnahmsweise und wilkür-
lich für die texthorstellung mit herangezogene druck (D) die bessere Überlieferung
darbietet. Harkenseo hatte ferner gezeigt, dass die gemeinsame gruudlage (U) der
Versionen H und D vielfach verderbt war und dass die Augsbuiger prosa (P) die
autlösung einer von U unabhängigen handsehrift des gedichtes ist, welche nicht sel-
ten eine ursprünglichere textgestalt durchblicken liisst. In allen wesentlichen punk-
ten stimt Borger auf gruud selbständiger und sorgfältiger nachprüfung mit dieser
auffassung überein. und da bei solchem stände der überliefei'ung eine lekonstruktion
der ursprünglichen fassung des gedichtes nicht möglich ist, so orkante er es folge-
richtig als seine aufgäbe, unter Zugrundelegung von D, aber zugleich unt.T steter
berücksichtigung von H, die beiden gemeinsame vorläge U kritisch herzustellen,
daneben aber zu versuchen, wo P eine handhabe Ijot, „über U liinaus dem originale
näher zu kommen." Lezteres ist mit löblicher enthaltsamkeit und vorsieht gesche-
hen, und alles was im texte nicht auf D oder H zurückgeht, ist durch kursivdj'uck
kentlich gemacht; athetesen sind durcli einklammerung angedeutet. Eine eingehende
Übersicht über den dialekt des druckes und eine algemeino Charakteristik der sprach-
formen der durch von der Hagens ausgäbe zugänglichen handschrift wird in der ein-
Icitung gegeben. Ebendort sind aus D wie aus H die kapitelül)erschriften mitgeteilt,
welche zur erläuterung der in beiden enthaltenen l)ilder dienten und deren verglci-
chung zeigt, dass auch U schon mit solchen geschmückt gewesen sein muss. ^lit
diesen seinerzeit schon in meiner Morolfausgabe angewendeten grundsätzen dui'ciiaus
einverstanden, hätte ich nur noch gewünscht, dass die Augsburger prosa volständig
abgedruckt wäre. Die eingehende besprechung ihres Verhältnisses zu HD in der ein-
leitung und die einschaltung mir in ihi- orlialtener vermutlich echter stellen in den
text ist ja recht dankenswei-t, aber da eben U schon vielfach verderbt, oft auch aus
D und H nicht melu- sicher herzustellen ist, so hätte dem leser die möglichkcit
gegeben werden sollen, überall die prosa zu vergleichen.
Bei gedichten wie das vorliegende, wo eine kritische rekonstruktion des Origi-
naltextes unmöglich ist, kaim statt dessen eine sorgfältige Zergliederung der in der
Überlieferung häufig verwirten komposition über die entwickluugsgeschichte wenigstens
des inhaltes der dichtung einigen aufschluss geben. Berger iiat diese inethode mit
erfolg angewendet. Ein ferneres sehr wichtiges hilfsmittel für derartige forschungen,
die vergleichung anderer bearbeitungen desselben Stoffes, war dagegen hier so gut
wie versagt; nur in den einfachsten grundelenieuten verwante traditionen lassen sich
herbeiziehen, die nicht sowol die einzelnen entwicklungsstufen der Orcndelsage und
-dichtung, als den urkeim, aus dem sie sich entfaltet, erschliessen lassen. So bewegt
sich solche Untersuchung vielfach auf schlüpfrigem boden, und auch wo sie wie hier
mit geschickter hand geführt ist, bleiben leicht ihre ergebnisse bestreitbar.
Von entschiedenem, ja im gründe von entscheidendem eintlusse auf Bergers
auffassung war Müllenhoffs gehaltvolle ausführung in der Deutschen altertumskundc
1, 33 fgg. Nach ihr bildet bekantlich den kern des inhaltes unserer dichtung die
aus einem Jahreszeitenmythus erwachsene sage vom Orendel, der nach weiter seefahrt
schifbruch leidet, mit dem nackten leben davon gekommen in des riesischen fischers
Ise dienst tritt, nach längerer zeit mit Ises beistand zu seiner gattin heimkehrt und
nachdem er diese von lästigen freiem und sonstigen bedrängern erlöst hat, erkant
und als gemahl und könig wieder aufgenommen wird. Während nun der spielmann
im ersten teile seines gedichtes die heimkehrsage in die übliche brautfahrtgeschichte
•470 VOGT
umgestaltet und mit dem iiuschcinhareu kostüm des in Knechtschaft geratenen hol-
den den heiligen rock von Trier in abenteuerliche verhindang brachte, hätte er im
lezten teile, welcher nach bekanter spielmannsmanier das hauptmotiv variierend wider-
holt, die alte tradition von der befreiung der gattin aus der gowalt der um ihre
minne werbenden deutlicher und schärfer hervortreten lassen.
Auch nach Bergers auffassung sind dies die grundelcmente dci' dichtung. Nur
meint er. dass dem spielmanne die alte sage, aus der dieser nach Mülloiihoff für den
zweiten teil nur einzelne bestandteile herausgenommen oder nachgebildet hätte, schon
in zwei vei"scliiedeuen poetisclien Versionen vorgelegen habe. Die eine sei in der
erzählung von Orendels schifbruch bis zu seiuei- anerkennung als Brides königlicher
gemahl und meister Ises belohnung benuzt (1. teil), die andere in dem berichte von
Brides gefangenschaft und l)ofreiuug auf Miuolts bürg (2. teil). Gewiss ist für den
ei*sten teil durch den angegebeneu abschnitt — wenn wir noch Grendels ausfahrt uud
heimkehr hinzufügen — ein älterer kern, ein quellenmässiger grundbestand des Inhal-
tes unserer dichtimg in der hau[)tsachc richtig bestirnt. Die geschichtc des hcihgen
rockes ist recht äusserlich damit in Verbindung gebracht; die erzälilung von des
fischei's erhebung zum ritter und herzog mit den darauf folgenden kämpfen ist augen-
scheinlich eine wilkürliche erweiterung des Stoffes. Auch fiü' den zweiten teil ist so
viel klar, dass die doppeluug der erzälilung von Brides Vergewaltigung und erlösung
nicht lU'sprünglich ist; das zeigt schon die konfusion, die durch die zwiefache behand-
lung desselben motives in die überliefenmg gekommen ist. Freilich ist damit noch
nicht gesagt, dass dem dichter der alte bestand seines Stoffes in itoetischer fassung
zugegangen sein müste. Zu beweisen wäre das nur, wenn sich doch wenigstens
irgend etwas von der alten r^uelle noch im woitlaute herstellen Hesse; aber daran ist
gar nicht zu denken. Bergei"S in den günstigsten färben gehaltene darstelluog des
inhaltes seiner beiden ui'gedichte liest sich ja recht schön, aber sie entspricht mehr
seiner begeisteiTing für den gegenständ als dem, was uns die überliefenmg an die
band gibt. Dass die bezüglichen abschnitte unseres gedichtes teilweise wirklich poe-
tisch weit bedeutender sind als das was dem kern des Stoffes nicht angehört, muss
nicht notwendig aus der form, kann auch aus dem inhalte der alten quelle begrün-
det werden. Dass auch in der vorliegenden übeiiieferung sich hie und da verschie-
dene schichten noch deutlich von einander abheben, ist aus späteren Zusätzen und
verändeiTingen, welche das gedieht selbst erfahren hat, erklärbar. Für unwahrschein-
lich halte ich es durchaus nicht, dass unserem spielmann eine alte dichtung des
beti'effenden inhaltes bekant war, nur steht uns nicht genügendes material zu geböte,
um ihre existenz wissenschaftlich zu begründen.
Von Müllenhoffs erklärung der sage als Jahreszeitenmythus weicht Berger mit Beer
(Paul-Bramie 13. 1 fgg.) darin ab, dass er die bezichungen derselben auf das meer nicht
füi* ursprünglich hält; vielmehr meint er, dass diese erst aus einer beeinflussung des
OrendelmythiLS durch den roman von Apollonius von Tyrus stammen, der, in einigen
teilen der Odyssee nachgeahmt, zugleich die mehrfach bemerkten berührungen zwi-
schen dieser und dem Grendel vermittelt habe. Dabei sei freilich eine ältere, der
Odyssee noch näher stehende fassvmg des romancs vorauszusetzen als die uns erhal-
tene. Die verwantschaft der Orendelsage mit dem voarog des Odysseus wäre danach
nicht alt. Ein gi'osser kreis von heimkehrsagen und -märchen, welchen Beer a.a.O.
herbeizieht, kann gleichfals nach Berger nicht für die erschliessung ihrer ursprüng-
lichen gestalt verweiset werden, denn er entstamt nicht dem hier in betracht zu
ziehenden mjihus, sondern er ist später aus dem Orient eingedrungen (Berger
ÜBER ORKNDEL EU. BEKGEK 471
s. LXXXI). Nach Müllenhoff nötigt „die nordische ühcrlieferung (vom Orvandil) und
die natur des mythus^ zu der annähme, dass die Orendelsage ursprünglich von der
heimkehr des heldcn zu seiner gattin gehandelt habe. Dagegen hat Beer a. a. o. dar-
geleg-t, dass und aus welchen gründen es unzulässig ist, „die Orvandilüherlieferung
aus der Orendelüberlieferung oder diese aus jener zu ergänzen'^, und aus dem von
ihm und Berger herbeigezogenen sagen- und mythenmaterial ergibt sich, dass nach
der natur des mythus das von dem beiden befreite oder erkiimi)fte weibliche weseu
ebensowol eine Jungfrau wie seine gattin sein kann und dass diese befreiung nicht
bei des beiden rückkehr in seine licimat zu erfolgen braucht. AVenu trotzdem die
beiden jüngeren forscher au Müllenhoffs ansieht festhalten, nach der ei-st in unserem
gedichte, und zwar erst in der vorliegenden fassung desselben, die heimkehr zur
gattin in die gewinnung der Jungfrau umgewandelt seiii soll, so sind sie zur begrüu-
dung dessen schliesslich doch lediglich auf das gedieht selbst angewiesen. Und in
der tat gibt denn auch nach Beer (a. a. o. s. 110) für diese auffassung der umstand
den ausschlag, dass „1. in der katastrophc vor den toren von Jerusalem Orcndel
selbst sich als den einheimischen könig zu erkennen gebe und erkant werde; und
dass 2. die accessorische fortsetzung der legendenfassung augenscheinlich ein unab-
hängiges gedieht auf die liickkehr Orendcls zu seiner gattin gekaut und benuzt
habe.'*
Was zunächst den zweiten punkt angeht, so ist ja da in unserem gedichte
von einer rückkehr Oreudels zu seiner gattin so wenig die rede wie im ersten teile.
Orendel ist wider mit Bride in der fremde; da wird sie ihm von einem beiden ent-
fühii; er gelaugt in Verkleidung auf dessen bürg, befreit Bride nüt eigener lebcns-
gefabr und tötet den entfübrer. Das ist die entführung und widergewinuung des
schon einmal erkämpften weibes, wie wir sie als den typischen zweiten teil des
spielmannsgedichtes aus dem Eother und Morolf zur genüge kennen; augenscheinlich
ein bequemes mittel der stoferweiterimg , wie sie beliebt wurde, als die spielleute
von der knappen form des epischen liedes zur ausführlicheren epischen erzählung
übergiengen. Die Übereinstimmung mit dem zweiten teile des Rother geht bis ins
einzelne; im Morolf, wo ja auch der erste teil schon eine widergewinuung ei'zählt,
bieten beide teile parallelen. Dem Orendel wird wie dem Rother ausführlich das
Schicksal der geraubten gemahlin berichtet. Der entführer ist ein heide, wie im
Rother und beidemale im Morolf; er heisst Minolt. wie Morolf Sd der vater des
ersten entführers; sein helfershelfer heisst Princian, wie im Morolf der zweite ent-
führer; er ist wie im Rother herscher der wüsten Babilonie , wo ihm 72 könige dienen.
Im Orendel wie im Rother und im ersten teile des Morolf macht sich der gatte mit
einem treuen kampfgenossen und dem heere auf die Seefahrt. Nach der landung
wird das heer in einem sicheren versteck untergebracht und mit einer typischen for-
mel fordert Mor. 384, 3, 5, Or. 3346/7 der gefährte den beiden auf hervorzugeben.
Der könig und der begleiter (der könig und zwei begleiter im Rother, einmal der
könig, das andre mal der gefährte im Morolf j gehen nun in pilgertracbt auf die feind-
liche bui-g. Orendel und Ise werden dort wie Morolf zunächst von einem torwärter
freundUch bewirtet und über das ergeben der entführten unteriichtet. Der heidnische
könig hat indessen einen unheilverkündenden tramii gehabt: ein falke kam geflogen
und führte ihm die frau übers meer — Rother; ein rabe und ein adler kamen übers
meer geflogen und brachen die bürg nieder — Orendel. Vor den obren des vor-
gebUchen pilgers fragt dann im Orendel wie im Morolf die frau den beiden: „was
würdest du tun , wenn könig Orendel (Salman) liier wäre ? " SchUesslicb im entschei-
472 VOGT
denden niomeute gibt in allen di'ei gedichten der gatte die Verstellung auf, er gerät
in lebensgefahr. aber das verltorgeno beer M'ird herbeigerufen, er wird errettet, der
beide mit den seineu get()tet. — Also das ist keine frage, dass dieser zweite teil des
Orendel sich iu dem hergebrachten geleiso der spiclmannspoesie bewegt. Will man
das nun dadurch erklären, dass hier doch der spielmanu ein urs[trünglich selbstän-
diges gedieht von Orendcls hcimkehr benuzt und dasselbe nach dem herkömlichen
typus zugeschnitten hätte, so müste man zur bcgründung dessen nachweisen können,
dass dieser zweite teil mit dem ersten eigentlich nicht vereinbar ist — das ist aber
nicht der fall, vielmehr schliesst er sich ihm aufs beste an; oder dass er doch sei-
nem wesen nach ein in sich abgerundetes ganze bildet — auch das tritt durchaus
nicht zu; es müste auch sicherlich, je mehr wir von den mit den übrigen si)iel-
mannsgedichten gemeinsamen zügen beseitigen, um so deutlicher die alte heimkehr-
erzählung durchblicken, aber selbst das ist nicht zu bemerken. Der Rother zeigt
mehr beziehuugen derart als der Orendel. Dass Rother gerade noch in dem momeilt
sich einfindet, wo seine frau schon mit einem andern hochzeit macht, dass er sich
ihr durch den heimlich zugesteckten ring zu erkennen gibt, sind zwei charakteristi-
sche motive der heimkehrsage. Trotzdem wird es wol niemand einfallen, den Rother
auf ein altes gedieht von des beiden rückkehr zu seiner gattin und jenen schlussteil
auf eine besondere, ursprünglich selbständige fassung dieses alten gedieh tos zurück-
zuführen. Da sich aber im zweiten teile des Orendel nicht einmal solche berührun-
gen mit der fragliehen sage finden, so haben wir auch hier noch weniger veranlas-
sung zu jener annähme.
Allerdings glaubt Berger, dass aus unserer erzähluug noch spuren des alten
Verhältnisses durchblicken, nach welchem Orendel eigentlich der horr der bürg sei,
auf welcher der beide die Bride gefangen hält. Orendel und Ise hören den greisen
pförtner, herzog Achille, ein gebet verrichten, aus welchem hervorgehe, dass er dem
Orendel treu geblieben sei; er habe ein interesse für ihn und Bride, welches sich
nur erkläi'e, wenn Orendel eigentlich sein herr sei, und in der tat bezeichne denn
auch Ise v. 3490/1 den Achille und sich selbst als zwei ritter des Graurockes. Ich
kann dem nicht zustimmen. Der freundliche und hilfreiche pförtner oder kämmerer
auf der fremden bürg ist eine typische person. Ich erinnere an Morolf 626 fgg., an
den Gramabet Wolfd. D. VI, an Hildes kämmerer, der sich Horants und Morungs
annimt, nachdem er sich ganz wie der Achille als tieve des einen der beiden anköm-
linge entpupt hat. Aus Achilles gebet geht nichts weiter hei'vor, als dass er ein
Christ ist, und dass man ihn aus seinem herzogtum veiirieben hat; später erfahren
wir, dass er jezt schon 75 jähre dem heidnischen könige dient; er ist also da weder
in seiner heimat noch kann er Grendels dienstmann gewesen sein. Als einen Christen
beschwören ihn denn auch die beiden vorgeblich aus der heidenschaft entronnenen
pilger. ihnen zur weiteiTeise zu helfen, und als christ uimt er augenscheinlich anteil
an ihrem wie an Brides, der christlichen königin, Schicksal, deren befroiung durch
Orendel ja voiaussichtlich auch ihm selbst die fi'ciheit bringen wird. Was nun den
vers .3490 betrift, so ist es doch auffällig, dass Achille nicht selbst sagt, er sei ein
dienstmann des Orendel, sondern dass Ise ihm das mitteilt {ich bin diner stvester
sun ...so ist dax der gräice roc inin here, des sind tvir 7.iven degen bede)\ dass
femer Achille den Orendel auch nach dieser mitteilung nicht als herren begrüsst,
und dass durch die erkennung gar nichts an seinem plane geändert wird, er viel-
mehr nach wie vor zunächst versuchen will, den beiden von dem beiden das geleit
zur weiten'eise zu erwirken. Nun steht aber v. 3400 das entscheidende wörtchen
ÜBER ORENDKL ED. BKRGER 473
da% nur im drucke. Sowol nach der handschrift als nach der prosa hxwifti dor vers
so ist der (jrunc roc min herc; ich zweiflo also niclit. dass or auch ursprünglirli so
lautete. Im folgenden vcrsc hat die handschrift ihr das sprich ich wol mit cre
natürlich nur des reimos wegen statt des in D richtig üborliefortcn eiugesozt, und
nach der ursprünglichen lesart sagte also Ise zu Achillc: ^ i«h hin dein schvvester-
sohn, der Graurock ist mein hcrr, wir beide (die wir hier vor dir stehen) sind zwei
seiner rit.ter." 80 erklärt sich der verlauf des gesprächs wie der weiteren handlung
aufs beste; Orendel gibt sich eben nicht zu erkennen. Aber weder dem druck noch
der prosa genügte das. So schaltete D sein da>i ein (wie es sogar auch noch den
namen von Achilles Schwester hinzufügte), während P den vers 3490 in ursprüng-
licher form beibehielt, ilin aber zusammen mit dem vorhergehenden dein Achille in
den nuind legte und diesen sich dann weiter nach dem verbleib des graurockes
erkundigen lässt, der ihm nun von Ise in der person seines begleiters vorgestelt wird.
Dass also Orendel eigentlich der herr der bürg sei, folgt aus dieser st<jlle nitdit im
mindesten, würde sogar aus ihr nicht einmal folgen, wenn Ise wirklich den A(;]iill'^
als den dienstmann Grendels bezeichnete, da dieser ja könig von Jerusalem ist. .la
sellist wenn es feststände, was Müllenhoff annahm und an und für sich ganz wol
möglich ist, dass nach der ursprünglichen dai'stellung in diesem schlusstoile Orendel
bei seiner nickkehr nach Jerusalem die Biide in der gewalt der treulosen hüter des
grabes findet, so würde ja auch das eine sehr passende form der typischen fort-
setzung gewesen sein, und daraus eine stütze für die annähme zu zimmern, auch
der erste teil des gedichtes habe eigentlich von des beiden rückkehr gehandelt, ist
unmöglich. Es bleibt also für die bcgründung jener aufstollung nach alledem nur
der inhalt des ersten teiles selbst übrig.
Nun gibt sich aber an der von Beer a. a. 0. verwerteten stelle der gi'aurock
keineswegs „als einheimischen könig*^, sondern als könig Orendel von Trier zu erken-
nen. Darauf hin begrüsst ihn Bride als vou gott gesendet und freut sich ihm treulich
beistand geleistet zu haben; die tempelherren aber, die ihn eben noch angreifen wol-
ten, emilfangen ihn mit ehren und setzen ihn auf den thron. Das alles findet aus-
reichende begründung durch das vorausgegangene. Der graurock hat vor den äugen
der jungfräulichen königin Bride wunder an tapferkcit verrichtet; einen gegner nach
dem andern hat er überwunden, darunter auch zwei die sich auf die königin hofnung
mac'hten; kein zweifei, dass er jezt den meisten anspruch auf ihre band hat. Aber
man hält ihn in seiner bäurischen kleiduug für einen knecht und als solchen der
königin und des thrones für unwürdig. Als Bride ihn nach seinen ersten helden-
taten gefragt hat, ob er der ihr von gott zum eheherrn verheissene könig Orendel
von Trier sei, hat er selbst es geläugnet; als sie ihn trotzdem in die arme schliesst,
wirft ihr ein riese vor, dass sie seinen knecht küsse. Als sie ihn nach seinen wei-
teren siegen zum gemahl uimt und sodann ihre mannen, die tempelherren, ihm treue
schwören lässt, murren diese unter einander: „was kann das für ein könig sein, der
nichts als einen grauen rock hat, als wenn er aus dem kloster gelaufen wäre; wir
wollen ihm keine heerfolge leisten.'' So beabsichtigen sie denn, "als Orendel mit Bri-
des beistand die mächtigsten gegner widerum überwunden hat, ihrerseits ihn anzu-
greifen. Da gibt sich der graurock als könig Orendel vou Trier zu erkennen, und
uaturgemäss geben sie jezt dem könige gegenüber den widerstand auf, der dem
knechte gegolten hatte. Man braucht gar nicht einmal anzunehmen, dass sie davon
wissen, dass Bride den Orendel als den ihr bestirnten bräutigam erwartet, aber sehr
wol ist es möglich, dass der dichter dies voraussezte, und dann ist vollends kein
474 VOGT
gnind ersichtlich, weshalb Oreudel uis[tniuglich der einheimische könig gewesen
sein solte.
Nicht diese schlusssceno ist also auffällig, sondern nur jene erste frage der
Bride an den unkentlichen Orendol, hei welcher sich zeigt, dass sie von ilmi weiss
imd ihn als zukünftigen gemahl erwartet, ohne ihn je gesehen zu haben. Dass ihr
diese künde durch die yotcs stimme gekommen sei, hält man gewiss mit recht für
kein altes sagenmotiv. und so wird denn mit Müllenhoff angenommen, dass Bride
ui-sprÜDglich eben den Grendel schon kent — dass er eigentlich ihr in vei'änderter
gestalt heimkehrender gatte ist. Aber diese folgerung ist doch nichts weniger als
zwingend. Analogieen für jene anrede der Bride an den Orendel finden sich, wo
auch nicht im entferntesten an eine solche erklärung zu denken ist. Im Wolfdietrich
fragt MarpaUe den beiden , den sie nie gesehen hat , ob er Wolfdietrich aus Griechen-
land sei; dem hat sie ihre jungfraunschaft aufbewahrt und nur er soll ihr herr wer-
den (Wolfd. D; er soll ihren vater im messerwerfen besiegen Wolfd. B). Wolfdic-
trich verläugnet sich, trotzdem teilt sie mit ihm das lager, und nach B schleudert
sie das schwert fort, durch welches Wolfdietrich sie von sich trente — alles züge,
die sich auch im Grendel finden. Nach Helgakvi|)a HJQrvarJ)SSonar redet Svava den
namenlosen beiden gleich mit Helgi an und sie weiss was ihm bestimt ist; nach der
dai-stellung der A^'Qlsungasaga fragt die aus dem todesschlummer erweckte Brynhild
ihren befi-eier sofort, ob er Sigurd Sigmunds söhn sei, und Müllenhoft" selbst weist
auf ,,die analogie der Nibelungensage, woBrünhild als jungfräiüiche königin in ihrem
lande herscht imd Siegfi'ied bei der ersten begegnung erkent." Was Müllenhoff
gegen die anwendbarkeit dieser lezten analogie einwarft, fält mit Beers Untersuchun-
gen. Ich denke, so gut wie diese weisen Jungfrauen konte auch die Bride in dem
beiden von voraherein «den rechten" ahnen, umsomehr, als er sich schon vor ihren
äugen durch seine waftentaten als den treflichsten ausgewiesen hat.
Auch Bi'ide ist kein gewöhnliches weib. Sie ist eine streitbare Jungfrau von wun-
derbarer stärke; kein mann darf sie benihren. Das sind die einzig wesentlichen eigen-
schaften, welche sie im gedichte auszeichnen; sie bleiben nach der MüUenhoffschen
hj-pothese völlig unerklärt; den charakter späterer erfindung tragen sie dui'chaus nicht.
Die dui'ch das ganze gedieht hin festgehaltene Jungfräulichkeit der heldin etwa auf
den einfluss der Brigittenlegende zurückzuführen, ist unstathaft, da sich sonst nir-
gend die leiseste spur eines solchen nachweisen lässt und der dichter, w^enn er diese
beziehung gesucht hätte, der Bride das prädikat sante sicher nicht vorenthalten
haben würde. Dieser zug gehörte so gut wie Biides Streitbarkeit der alten sage an,
die auch dadurch \Nider, ebenso wie weiterhin durch das keusche beilager mit dem
trennenden schwert, durch die knechtschaft des beiden, die Veränderung seiner
gestalt an züge der Siegfried - Brünhildensage erinnert.
So wenig wir demnach zu der Voraussetzung berechtigt sind, dass Bride
ursprünglich das verlassene und widergefundene eheweib gewesen sei, ebensowenig
bildet sich für die annähme ein anhält, dass ihr aufenthaltsort ursprünglich Grendels
heimat und somit ihre erwerbung mit des beiden heimkehr verbunden gewesen sei.
Im Osten war Grendel verknechtet; im osten findet er auch die Jungfrau. In eines
riesen gewalt befand sich der held; von riesen hat er auch die Bride zu erkämpfen.
Bride selbst ist riesischer natui", sie besizt nicht nur jene gewaltige körperkiaft, sie
führt vor allem auch die typische riesenwaffe, die stange. Alles weist also darauf
hin. dass der held von anfaug an die Jungfrau im riesenlande erwirbt. Auch wenn
wir diese sage auf einen naturaiythus zumckzuführen suchen, wozu ja hier der namc
ÜBER ORKNDKL KD. BERÜEK 475
des beiden ein besseres recbt gibt, als es den meisten deutungsversucben deiaii: zu
gründe liegt, so haben wir doeli dunhaus keine veranlassung an der ursi>rünglich-
keit jenes zuges zu zweifeln. In der von Berger hcriieigezogenen orzähluug von
Mengl(?[) und Svijjdagr. welche den jahrzcitniythus besonders deutlich hervortreten lässt,
wird der aufenthalt der Menglg}) als pursa-pjöpar sj<^t bezeichnet (Fj()lsvinnsmHl 1);
Mcugl(?[) weilt also zweifellos nicht in Svipdags liciniat; sie ist auch nicht seine gattin;
sie ist wie Bride Jungfrau, weilt wie sie im riesenlandc uml harrt wie sie dort dos
ihr bestimten geliebten. Mit dorn Meuglof)mythus stobt der von der Ger|)r in enger
beziehung. Und auch Ger{)r wohnt in Jotunhcim, Ja sie ist eines riesen tochter. Zu
ihrer enverbung bedarf Skirnir eines besonderen rosses und eines besonderen, den
riesen verderblichen Schwertes — ganz wie Oreiidel zur gcwiimung der Bride. Die
waftc, welche — wenn auch nur mittelbar — den weg zur Mongl^j) bahnt, wird
auch in Fjolsvinusmal cnvähnt; sie ist in der unterweit gewirkt und behndet sich
in einer mit neun schlössen! verwahrten eisernen lade. Das schwort, welches Uren-
del zur bekämpfung des riesen ei'hält, liegt maunsticf unter der erde; dasjenige!
welches zuerst für das erforderliche ausgegeben wird, befindet sich in einer mit drei
schlossern gesicherten lade. Auch in der Siegfriedsage gieng der gewinnung der wie
Menglo|) und Ger{)r von der waberlohe imigebenen Jungfrau die erwerbung des
Schwertes und des rosses voran. Es liegt mir fern, deshalb einen direkten Zusam-
menhang der Orendelsage mit einer dieser traditionen anzunehmen, oder solchen
detailzügeu wie den das schwert betreffenden grosses gewicht beizulegen; aber so
viel scheint mir sicher, dass, was sich etwa aus dem inhalte unseres gedichtes auf
traditionen mythischer art zurückführen lässt, viel eher auf Vorstellungen aus dem
angezogenen kreise, als auf die von Mülleuhoff reconstruierte und in der haui)tsache
auch von Beer und Berger voi'ausgeseztc form des mythus weist.
Ich glaube nach alledem als den grundbestand der Orendelsage die folgenden
drei aus dem Jahreszeitenmythus erwachsenen motive ansehen zu müssen: 1. Orendel
fährt ins riesenland und gerät dort in knechtschaft; 2. Orendel gewint nach erlangung
von ross und schwert im riesenlande die Jungfrau; 3. Oi'endel kehrt aus dem riesen-
lande heim. In dieser reihenfolge überlieferte die natürlich nicht mehr mythische,
sondern rein sagenhafte tradition jene drei motive auch unsenii gedichte. Dass in
leztcrem das heimkehrmotiv verschoben und zugleich damit eine völlige imiwälzung
der alten Überlieferung volzogen sei, ist also bei dieser fassung nicht mehr anzuneh-
men. — Die benutzung der quelle kann auch sehr wol schon an einer früheren stelle
unserer dichtung einsetzen, als Berger annimt. Zu den partieen wenigstens, welche
poetisch entschieden über das hinausgehen, was Berger s. C fgg. als den „anteil
des spielmanns" zu bestimmen sucht, gehört teilweise auch die erzählung von Oren-
dels entschliessung und Vorbereitung zur fahrt; vor allem die lebhaft anschauliche
darstellung des aufgebotes an die vasallen v. 287 fgg., die nur in der Überlieferung
sehr entstolt ist*. Ich sehe also keinen grund gegen die annähme, dass mit den
1) Orendel läfst die herbeigekommenen (je nach ihrem verschiedenen stände) in einzelnen grup-
pen, ringen, antreten. Sein erster aufiruf gilt den königen : 8 derselben treten mit einem gefolge von Je
HXKD rittern hervor. Der zweite ruf ergeht an die übrigen vasallen (vers 300/1 müssen ursprünglich an
stelle von 296 gestanden haben); und zum zweiten male stelt sich eine schaar, 1000 volständig gewapnete
ritter. Nun muss der dritte ruf erfolgt sein, denn nur auf einen solchen kann sich v. 304,5 dö künde
er mit allen seinen sinnen die heren von dem ring nit bringen beziehen. Um dieser vergeblichen laufforde-
rung an den dritten ring nachdruck zu geben , lässt Orendel einen häufen goldener sporen auf den hof
schütten, und mm springen alsbald die jungen herbei und nehmen dieselben auf. Die goldenen sporen
sind bekautlich zeichen der ritterwürde ; um diesen preis lassen sich also die jungen {degen wird etwa
476 VOGT
versen 155 fg. e\ spn'chrf in dem huochc [also] ein sfaf li<jt /if (kr Mitseien [döj in
der tat der aus der alten tradition schöpfende, natürlich aber hier so wenig wie sonst
getreue bericht eingeleitet wird. Bezüglich des weiteren inhaltos des ersten teiles
pflichte ich Berger bei, soweit es sich um die ungefähre begrenzung des bestandes
der alten überheferung handelt; dass ich sonst auch hier vielfach von seiner auffas-
sung abweiche, folgt schon aus den oben gegebenen ausführuugen und wird sich unten
weiter zeigen. Auf Orendels Vereinigung mit Bride nach gemeinsamer glücklicher
Überwindimg der feinde folgte aber nach meiner ansieht in der alten erzählung nicht
allein Ises ei'scheinen und abfindung, sondern auch die mit seinem beistand bewerk-
stelligte heimkehr Orendels. Den kern des zweiten teiles auf ein selbständiges gedieht
zurückzuführen, fanden wir keine veranlassung, vielmehr erkanten wir ihn als die
typische fortsetzung des spielmannsgedichtes. War schon die quelle ein solches,
etwa von der gattung des Kother, so mag sie auch schon jenen zweiten teil mit
umfasst haben. Hat der dichter selbst ihn hinzugefügt, so ist sein werk durch spä-
tere zutaten stark überwuchert. Jedenfals liegen hier elemeutc der dichtuug neben
und übereinander, welche nicht gleichen Ursprunges sind.
Für die datierung der quelle unseres Orendel fehlt natürlich jeder anlialt. Die
abfassungszeit der originalform des lezteren aber fält nach Borgers meinung imi 1160,
die entstehung von U in den ausgang des 13. Jahrhunderts. H stamt aus dem jähre
1477, D aus dem jahi"e 1512; was gibt die veranlassung, U, die nächste gemein-
same grundlage der beiden, so weit zurück zu datieren? Nach Berger der umstand,
dass U auf reinigung der reime und auf regelrechten vei'sbau ausgehe. Für den
ci*sten punkt bringt er 15, für den zweiten 2 belege. Das will schon gegenüber der
ga waltigen anzahl unregelmässiger verse und reime, die in U stehen geblieben sind,
wenig genug sagen; es verliert aber vollends alle bedeutung, wenn wir sehen, dass
H in viel ausgedehnterem masse reine reime und regelrechte verse einführt als U.
Was dort im 15. jahrhimdeit geschah, kann doch unmöglich hier die abfassung im
13. Jahrhundert beweisen; nichts hindert sie in weit spätere zeit zu rücken.
Die anfangsgrenze für die datierung von U wird nach Berger durch zwei
seiner meinung nach erst ans U stammende reime bestimt, mötie (st. niäne) : schöne
und galhi (st. galhie) : sin. Da Berger hier nur das eine beispiel für apokope des e
im reime beibringt, so scheint er die zahlreichen weiteren fäUe derselben dem origi-
nale zuzuschreiben. Er berührt diesen i)unkt denn auch gelegentlich bei der auffüh-
rung derjenigen reime, aus welchen er den dialekt des Originals zu bestimmen sucht.
Aber eine Zusammenstellung der betreffenden fälle vermisst man ebenso sehr wie eine
erörtei-ung ihrer bedeutung. Ich habe mir 23 reinie notiert, welche apokope des e
nach langer stamsilbe unbedingt erfordern, daninter beispiele wie dax : fast (Präteri-
tum), bereit : leit (prät.j, hat (\>r'ät) : missetdt, geleit (prät.) ; gemeit, fuurt (prät.)
: sluoc, diu tnilt (subst.) ; schilt, er (subst.) ; se, Lac : trac (drache). Das ist doch
sicher nicht die reim weise der zeit um 1160, in welche Berger das original sezt.
Er muste entvveder diese datierung fallen lassen, oder er muste dergleichen reime
der bearbeitung (ü) zuweisen; keinenfals durften sie ignoriert werden. Ähnlich steht
es mit den zweisilbigen reimen, welche auf dehnung offener stamsilben weisen. Auch
sie scheint Berger insgesamt dem originale zuzuschreiben ; folgei*ungen für die abfas-
sungszeit desselben werden aus ihrem häufigen vorkommen nicht gezogen; sie wer-
statt riüer v. .317 in der gruiidlajje gestanden haben) zur teiinahme bewegen. Der dritte ring muss dem-
nach die knappen umfasst haben.
ÜBEH ORKN'DEL ED. BRROKR 477
den ohne weitere bemerkungen unter den dialfktlichen reimen der einzelnen vokale
aufgefülii-t. Sie sollen also doch wol auf die rechnung der initteldeutsclien niundai"t
des gedichtes gesezt werden, während diese erscheinung in gleicher ausdoliiuing in
keinem gedichte der fragliclion zeit auftritt, auch in keinem mitteldeutschen. Freilich
sind Bergers angaben au(.-h recht unvolstandig. Der reim linr : tncrc komt nicht
allein an den von ihm angefühlten 4 stellen vor, sondern auch noch v. 243 und 453.
Gauz übergangen sind hcrc (dominus) .• mere 3027, 3288, heren : mcrc 2880, ere
(cren):merc 298. 570. 2874, hvre : (jcren 3001; gcrni : werden 2820. 2834. 3124.
3132, genesen : heren 1618, sehen : teere 20r)3. 2303, leben : sterben 1580, tage:
sande 506. Im anschluss an diese erscheinung wären auch reime wie stunden :
frione; komen : Schalunge; ime : pfcn?iinge zu besprechen gewesen. In manchen
lallen können die betreffenden reime anders, teilweise untnr aimalime noch jüngerer
sprachformeu erkläii werden (z. b. herr : gern, gern : wer(d)n, scn.'wcr)^ lue und da
mag auch eine andere textherstellung angezeigt sein; jedenfals bleibt die tatsacht!
bestehen, dass apokope und dehnung offener stamsill>e in den reimen der dichtung
eine häufige erscheinung ist.
AVas an entschieden altertümlichen reimen dem gegenüber steht ist wenig
genug. Die reimformel forderost : tröst 3679 ist im 12. jalirhuudert geprägt, und
wenn sie auch bekautlich in den Nibelungen noch gebraucht und Karlmeiuet 404, 7
aus Rol. 8, 8 beibehalten ist, so wird sie doch von den rheinfriiukischen fahrenden
schwerlich noch lange nach dem 12. Jahrhundert selbständig angewendet sein. Lez-
teres gilt auch für die v. 3616 von Berger im reime hergestelte form geinarterot,
während dem umstände, dass in U ausserhalb des reinies die form gebot (e) stand,
keine bedeutung beizumessen ist, wenn, wie Berger s. XXXIV bemerkt, U in Ober-
deutschlaud geschrieben war; ebensowenig der Schreibung brün/'ge, brinige. Der
auch von mir Mor. CVIII aufgeführte reim danniln : Jordan 1680 ist nicht sicher, da
ebensogut wie v. 3135 auch dan gemeint sein kann. Ob v. 346 menigln : Rln oder
die sonst übliche form menige : Eine gemeint ist, will ich nicht entscheiden. Reime
welche auf ein flexions-c beschränkt sind, lassen sich nach Berger sonst nur in drei
fällen nachweisen.
Das sind doch überaus spärliche beispiele voltonig gebrauchter endungen für
ein gedieht, dessen reime zum grossen teil nicht neu gebildet siud, sondern aus alt
überlieferten formein stammen. Dass sie nicht geeignet sind, seine abfassuug in der
zeit um 1160 wahrscheinlich zu macheu, ist wol klar. Es müsten andere, wichtige
umstände dafür in die wage fallen. Nun ist die reimkunst des Orendel sehr unvol-
kommen; die assonanzen sind sehr zahlreich und sehr roh, roher als im Morolf; von
diesem gesichtspunkte aus wird man geneigt sein, die abfassung des Orendel eher
vor als hinter die des Morolf zu verlegen. Lezterer aber, meinte ich, könne nicht
wol vor dem lezten decennium des 12. jahrhundeits verfasst sein. Berger ist ande-
rer ansieht. Er glaubt, dass der kürzere Oswald in die siebziger jähre des 12. jahr-
hmiderts falle, der Morolf vor diese zeit und der Orendel vor den Morolf, also um
1160. Da Berger diese datierung des Oswald als „ziemlich sicher" bezeichnet, da
sie, wie ich aus Siegm. Schnitzes disscrtation über die Oswaldlcgende (Halle 1888)
ersehe, auch von andera dafür gehalten wird, und da hierbei umstände in betracht
kommen, welche für die beui-teilung der litterarhistorischen Stellung der spielmanns-
poesie überhaupt von bedeutung sind, so halte ich es für nötig auf die frage aus-
führlicher einzugehen.
478 VOGT
Zur begriinduDg der zeitbostinimung des Oswald beruft Berger sich auf Paul-
Braune XI, 382. Doi-t weist er darauf hin. dass der Oswald in die gruppe Orendel
Morolf herzog Ernst gehöre, und zwar, wegen seiner verhältnismässig grösten reim-
geuauigkeit, als lezter dieser reihe. Der Orendel aber sei viel früher als 1187 ver-
fasst — das solle in der ausgäbe ausgefühi-t werden; der Morolf falle vor 1190 — das
solle an anderem orte wahrscheinlich gemacht werden. Da wird doch der leser
im kreise henimgeführt. Es bleibt also der herzog Ernst. Ich muss mich wundern,
dass Berger bei seiner Vertrautheit mit der spiolmannspoesie noch dem alten herkom-
men folgen kann, welches dieses gedieht mit dem Orendel usw. in eine reihe sezt.
AV'enu ich dasselbe bei der Schilderung der spielmanusmanier Morolf CXVIII fgg.
ausschloss, so hatte ich meine guten gi-ünde dafür. In der tat hat ja der herzog
Erast nichts von den dort geschilderten, so leicht erkenbaren und so charakteristi-
schen zügen, nichts von jener an den überlieferten formel Vorrat gebundenen darstel-
lung, nichts von den possen oder der plumpen bigotterie, von der ganzen leichtfer-
tigen behandlung des Stoffes, von dem pei-söulichen hervoidrängen des spielmanns,
nichts von der typischen brautfahrt oder entführuug. Dass der held in den Orient
komt und dort allerlei abenteuer erlebt, macht doch dies gedieht so wenig wie den
Alexander oder den grafen Rudolf zu einem spielmannsgedichte. Und von vornherein
sehen wir es in den gebildetsten kreisen verbreitet. Der angehörige eines der vor-
nehmsten baii'ischen geschlechter erbittet es sich vor 118G von einem abte zur
abschnft. In der zeit, wo an den höfeu noch eine edlere geseUigkeit gepflegt wurde,
las man dort, so erzählt uns Wernher der gärtner, den herzog Ernst vor. Eine
bearbeitung in lateinischen hexametern wird 1206 dem erzbischof von Magdeburg
gewidmet, eine spätere deutsche erneueruug nimt sich Wolframs mauier zum muster.
Ein solches gedieht kann doch unmöglich einen massstal) für jene ganz auf den der-
ben geschmack und den beschränkten anschauuugskreis eines niederen publikums
zugeschnittene und aus ihm erwachsene spielmannspoesie abgeben. Man muss von
dieser von vornherein einen viel geringeren kuustgrad, eine viel grössere befangen-
heit in alten typen und formen erwarten. Aber welches sind denn nun die kriterien,
die aus dem herzog Ei-nst für die Zeitbestimmung des Oswald entnommen werden?
Osw^ald Übertrift an reimgenauigkeit bei weitem den Morolf; näher steht ihm schon
der herzog Ernst, „in dem indessen die assonanzen immer noch zahl-
reicher sind." Die meist tadellose reinheit des reimes im Oswald weist immerhin
(trotz Ungeschick in darstellung und — übrigens wesentlich korrektem — versbau)
schon auf die zeit einer vorgeschrittenen kunstentwickelung. Nun ist
der Enist in den siebziger jähren (nach Bartsch zwischen 1173 und 1180) gedichtet,
also ist der Oswald — auch in den siebziger jähren verfasst. Für „ziemlich sicher"
kann ich diese Zeitbestimmung nicht halten.
Rödiger hatte Anz. f. d. a. II, 2.o2 fgg. mimdartliche reimformen des Oswald aus
dem alemannischen des 15. jahrhundeiis belegt; er hatte an die assonanzen der von
Schönbach ins 14. Jahrhundert gesezten Cäcilie erinnert, auf die zahlreichen beispiele
für apokope und stamsilbendehnung in den reimen des Oswald hingewiesen, und nach
alledem Bartschs annähme, dass für dies gedieht eine vorläge aus dem .12. jahrh. vor-
auszusetzen sei, abgelehnt. Die gründe, welche nun Berger Paul - Braune XT, 370 fgg.
zur stütze von Bartschs ansieht beibiingt, sind nicht stichhaltig. Er behauptet 1) es
finde sich im Oswald eine anzahl im 1.5., ja wol schon seit der mitte des 14. Jahr-
hunderts nicht mehr gebrauchter ausdrücke. Obwol dieser puukt nur die frage nach
einer älteren vorlade des gedichtes überhaupt, nicht die abfassung derselben im 12.
ÜBER OREXDEL ED. BERGER 479
jahrhundei-t betrift, so darf doch nicht voi-sch wiegen worden, dass Borgers bohaup-
tiiDg bei keinem der von ihm aufgeführten worte zutrift. Es sind die folgenden: bcy
namen v. 25. 1420 als tlickwort im reim = fürwahr oder besondere: das Deutsche
wb. belegt es in der ersten bedeutung aus dem endo des lö., in der zweiten nocli
aus dem endo des 16. Jahrhunderts. — (jefutj im I). wb. aus dem 15. Jahrhun-
dert bezeug-t. — missewende belegt Lexer noch aus dem 15. Jahrhundert. — ahu-
hant im D. wb. aus dem IG. jahrh. nachgewiesen. — ätie. siuidcr wdn komt noch
im anfang des IG. Jahrhunderts vor: Wackernagel Kircheul. TT n. 1314 str. 3, 9. —
megcteyn nocli bei Michel Beheim, AViener 57, 7. 193, G. — wimdersch iere ist
keineswegs ein altes wort: Lexer belegt es nur aus einer plusstrophe der Morolf-
handschrift E vom jähre 1479 (hinter str. 125), ferner aus der Koloczaer hs. 250, 175
und aus Mono altd. schausp. 1, 1920 (14. jh.). — einem angewimifu im I). wb.
reichlich bis ins 17. jahrhundei-t belegt; sogar Wieland gebraucht das wort noch.
— hohischeit 327 ist doch nichts anderes als das erst seit dem 17. jahriiundert
erloschene hilhscheit. — sick underivi)iden = sich in besitz setzen 380 wird so noch
im IG. Jahrhundert gebraucht, z. b. Zimmerische chronik 11''^, 422, 37. — gehas
im I). wb. ununterbrochen bis ins 18. Jahrhundert belegt. — friedet ebenda noch
aus dem 15., gemcit noch zahlreich ans dem IG., lusten = begehren aus dem IG.,
mit Umlaut noch aus dem 18., klar = schön bis ins 17. Jahrhundert belegt. —
sider komt im 15. jahrh. z. b. in Beheims Wienern , im IG. z. b. in der Zimmerischeu
chronik vor, aber noch im 18. jahrh. wurde es nach Frisch „in gemeinen reden oft
gehört.'^ — unde = woge bei Fi'isch aus dem 15., bei Biefenbach noch aus dem
16. jahrh. belegt. — beite?i = zögern im D. wb. bis ins 17. jahrh. nachgewiesen. —
Also dieser punkt ist wol abgetan.
2. Die hdschr. 0 des kürzeren Oswald überhefert einen zug der sage in ver-
mutlich ursprünglicherer fassung als das längere gedieht. — Das könte doch nur
beweisen, dass der Verfasser des kürzeren gedichtes seine kentnis der legende aus
einer von dem längeren unabhängigen tradition schöpfte; auf die form, in welcher
ihm diese zufloss, können wir daraus gar keinen schluss ziehen.
3. Aus der im übrigen nüchternen und unbeholfenen darstelluug heben sich
einige stellen durch zarte cmpfinduug und poetischen ausdruck deutlich ab (es wer-
den G kurze versreihen citicrt); diese können unmöglich vom Verfasser von WO (d. i.
die uns überlieferte dichtuug) herrühren, sie weisen auf einen begabteren dichter. —
Daraus würde notwendig der schluss zu ziehen sein, dass in WO von der alten dich-
tung nichts melu" zu erkennen ist als einige ganz unbedeutende trümmer; alles
andere wäre so durchgreifend geändert, dass sich gerade dadurch jene spärlichen
reste des alten noch „deutlich abheben." Und dabei soll noch aus den reimen die-
ses nach Berger um 1400 verfassten WO — und zwar nicht etwa aus vereinzelten
altertümlichen erschciuungen , sondern aus dem gesamtcharakter seiner reimkunst —
die abfassungszeit jener vorausgesezten alten grundlage, ja im weiteren verfolge die
Chronologie der gesamten Spielmannsdichtung bestimt werden? Berger entzieht hier
seiner oben angeführten datierung selbst allen boden. — Übrigens lässt sich auch aus
den betreffenden stellen kein schluss auf eine ältere vorläge ziehen. Durch die ent-
lehnungen aus dem Orendel und Morolf wissen wir schon, dass der dichter seine
erzähluug mit allerlei reminiscenzen ausschmückt. So ist die von Borger besondei-s
herausgehobene stelle v. 411 fgg. augenscheinlich einer jener liebesgrüsse , wie sie
im 15. Jahrhundert vielfach überliefert sind, vgl. z. b. Hätzlerin s. 77% Fichards
Frankf, archiv III, 257; so haben ihm bei den verseu 137G fgg. augenscheinlich
480 VOGT
erinnerungen an irgend ein iUtoros gobot vorgosclnvobt. die teilweise gar niclit in den
Zusammenhang passen.
4. Die alliteration hat in volksmässiger redeweise viel zu lange fortgelebt,
um das was wirkÜch von Bergers unter dieser rubrik gegebener Zusammenstellung
Dicht auf zufiüligem gleicliklang des anlautes berulit, zur altersbestinunung verwerten
zu können.
ö. Die wenigen harten assonanzen, welche ins 12. Jahrhundert weisen sollen,
(s. 372), finden z. b. in den reimen der von Rödiger herbeigezogeneu Cäcilie aus-
reichende parallelen, vgl. reime wie helihct : ycM'ihet , opJter : einander, nemen : slux-
xen u. a. Unter den von Berger aufgefülirten reimen ist übrigens der aus Osw. 0
entnommene adler : beiraren gewiss als adel- ar : heuarn aufzufassen (adel-ar noch
im 1(3. Jh.). Vei's 53 scheint mir hoehgebon) (: erknru) 0 deni n-oUjeton W des
Zusammenhanges wegen vorzuziehen; jedenfals bietet W mit seinem nolgetdn : 'irkörn
keineswegs einen alten, sondern einen sehr jungen reim, ebenso jung wie die nach
Baiischs angaben in WO gemeinsam überlieferten nnhegobit : gelöbit 588, böten (nun-
tii) ; toten (fecenmt) 849, got : höt 391. 448. 1328, noch : ril nöeh 1076, och : hen
noch 1234. Das sind besonders dem elsässischen dialekte des 14/15. Jahrhunderts
gemüsse reime, wie sie z. b. der Strassburger* Morolfdruck einführt (Morolf fortsetzung
71', 10 mosx :gr6sx; 73", 2 hor:enhor; 73'', 16 schön : geton)^ erscheinungen, die
zusammen mit dem häufigen gebrauche der apokope und stamsilbendehnung der reim-
kimst des gedichtes deutlich genug den Charakter des 14/15. Jahrhunderts aufprägen.
AVenn endlich Berger s. 374 „das fehlen höfischen einflusses und die stärkere
geistliche tendenz" betont, so ist beides bei einer dichtung legendarischen Inhaltes
aus dem 14 15. Jahrhundert ganz in der Ordnung. Andererseits aber waren auch die
traditionen der spielmannspoesie in diesem Zeiträume lebendig genug, lun sich in dem
gedichte daneben bemerklich zu machen. Der „spruch vom könig Etzel" z. b. (Kel-
ler, Erzählungen aus altd. hdschr. 1) ist nichts weiter als ein ganz an den alten for-
mein klebendes spielmannsgedicht, und die benihrung der legende mit dieser gattung
kann der Chiistophorus B veranschaulichen , den Schönbach , nach Ztschr. f. d. a. 26, 83
unten, gewiss mit recht nicht mehr wie früher für ein werk des 12. jahrhun-
deiis hält.
Ich denke, wir haben nacli dem allen nicht den mindesten grund, den kür-
zeren Oswald bis ins 12. Jahrhundert zurückzudatieren. Woher auch immer dem
dichter sein stoff zugeflossen sein mag, sein machwork gehöii dem 14/15. jahrhundeit
an. und es kann daher für die datienmg der spielmannspoesie des 12. Jahrhunderts
gai- nicht in betracht kommen. Damit fält denn auch die grenze, welche Berger für
die Zeitbestimmung des Orendel und Morolf ziehen wolte.
Aber Berger bringt a. a. o. s. 380 fg. noch einen anderen giimd gegen die-
jenigen vor, welche den Orendel und Morolf ' bis gegen das ende des 12. Jahrhunderts
hinabrücken wollen. „Kann man" — so fragt er — „an so später datienmg der
genanten spielmannsgedichte noch enistUch festhalten, wenn man ihnen die erzeug-
nisse der volkspoesie gegenüber stelt, die uns nach ablauf des Jahrhunderts entgegen-
treten?" Gewiss nicht, wenn man alle denkmäler der deutschen dichtung in eine
einzige gerade linie rückt, mögen sie nun in Trier oder in Österreich entstanden,
mögen sie bei hofe oder an den strassenecken vorgetragen sein. Aber ich denke
doch, die litteraturgeschichte hat nicht nur mit chronologischen, sondern auch mit
1) Die s. 380 daneben erwähnten Rother und Ernst sind doch nicht „meist bisher" so datiert.
ÜBER ORENT)EL ED. BERGER 481
landschaftlichen und socialen unterschieden zu rechnen. Jene volksmässige epik vor-
nehmeren Stils, auf welche Berger hezug nirat*, sehen wir in Osterreich und zwar
in ritterlichen kreisen sich ausbilden. Um IIGO sind uns dort ritterliche trutlkt
bezeugt, um dieselbe zeit ei)ische dichtung von Rüdiger und Dietrich von Bern. Dass
diese leztere im stile des Grendel und Morolf gehalten war, wird wol niemand anneh-
men; es würde uns dann nui* eine karrikatur der Nibehuigensage geblieben sein.
Die beschaifenheit jenes altösteiTeichisclien ritterlichen minnegesanges lernen wir bald
nach jenem ältesten Zeugnis in Kürnbergs liedorn kennen. Dii'selbe strophenform,
dieselbe durchdringimg volksmässiger und ritterlicher elemente wie in ihnen tritt uns
später im Nibelungenlied entgegen; beides muss auch für dessen liedailige grund-
bestandteile vorausgesezt werden. Minnelied und ei)isches lied haben sich damals in
Österreich neben einander auf nationaler grundlage in den höheren geselschaftskroisen
entwickelt. Wie aber in Baiern schon im 12. Jahrhundert das vorlesen umfänglicher
epischer erzählungen gegenständ der höfischen Unterhaltung geworden war (l^ohuid,
herzog Ernst), so waute sich im ersten decennium des 13. Jahrhunderts aueli in
ÖsteiTeich gleichzeitig ]nit dem ersten eindringen Hartmannscher und Wolfrainscher
epik der liöfische geschmack vom epischen liede der epischen erzählung zu. Dem
dii'ekten eintlusse der französischen litteratur jedoch schon durch die geograpliische
läge entnickt, geht man nicht wie in Westdeutschland zur bearbeitung französischer
quellen über, sondern die nationale diclitimg bequemt sich dem neuen geschmack
an: die epischen Ueder oder liedercyklen werden unter einmischmig modern höfischer
elemente zu umfänglichen leseepen verarbeitet, so entsteht bis um 1210 das Nibe-
lungenlied und später unter dessen einfluss die Gudrun; oder man baut aus einzel-
nen sagenhaften motiven frei combinierte erzählungen gleichen stiles auf, so entsteht,
gleiclifals in unmittelbarer anlehnmig an die Nibelungendiclitung die Klage imd der
Biterolf. Zunächst auf die bairisch - österreichischen lande beschi-änkt, breitet sich
diese dichtungsgattung , inzwischen mit dementen niederer volkspoesie versezt, in der
zweiten hälfte des 13. Jahrhunderts auch auf alemannische gebiete aus. Da.ss sie
jemals auch in den Mosel- und Rheinlanden gepflegt sei, dafür sjuicht kein einziges
denkmal. Insbesondere aber wüi-de die annähme, dass in diesen ganz von der fran-
zösierenden dichtung beherschten grenzgebieten gleichzeitig mit Nibelungen und Biterolf
ebensolche volksmässig- ritterlichen epen in ausgel)ildeter kuustform gedichtet seien,
allen tatsachen widersprechen. Wie sollen wir denn also zu der Voraussetzung
berechtigt sein, dass ebendort in der zunächst vorangehenden zeit die gesamte volks-
poesie sich in einer zu diesem gipfel aufsteigenden linic bewegt habe? Mögen wir
die abfassung des Orendel und Morolf noch so weit hinaufrücken, soviel ist doch
zweifellos, dass sie, die anerkantermassen erheblich später als der Rother gedichtet
sind, keineswegs auf einer kunststufe stehen, welche über den Rother hinaus auch
niu- von ferne auf die Nibelungen- oder Biterolfgattung zuführt, dass sie vielmehr
die ernstere und gediegenere manier des Rotherdichtei-s , der noch um den beifaU
vornehmer geschlechter warb , ins niedere fortgebildet haben , augenscheinlich in einer
zeit und in einer gegend, wo die höheren geselschaftskreise den geschmack an der-
gleichen verloren hatten. Diese gedichte sind eben höchst charakteristische und wert-
volle Vertreter einer niederen volkspoesie, die zu allen zeiten, wo die gebildeten
stände ihre besondere kunst pflegten, neben dieser existiert hat; die noch an den
alten traditionen haftet, wo die kunstmässige dichtung längst andere wege einschlug;
Ij Der selbst nichts weniger als sicher datierte, nur in später Überlieferung erhaltene Laurin
31
kann für die datierung anderer dichtungen nicht in betracht kommen
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLO&IE. BD. XXII.
482 VOGT
und die umsoweuiger fühluug mit der kunstpoesie hat, jcniehr diese unter fremdem
einflusse steht. Dass viele formein, dass stil und kompositionsweise dieser durch den
Orendel und Morolf verti-eteneu volkspoesie sich auch diu-ch die mittelhochdeutsche
blüteperiode hin in lebendiger Überlieferung fortgi^pflanzt haben müssen, zeigt ihr
widerauftauehen in dichtimgen wie Ortnit, AVolfdiotrich BD und spateren deut-
lich genug. Vielfach berühi-t sich schon jene niedere Spielmannsdichtung mit
den moderneren volksmässigen gattungeu. Das wunderbare spielt in ihr eine ähn-
liche rolle wie im Volksmärchen; die formel und verwante stilmittel finden sich in
einer ausdehnung wie niu* irgend im volksliede; die mischung von ernster und paro-
distiseh - possenhafter behaudlung des Stoffes erinneii; lebhaft an die reste der volks-
schausjtiele, die wir noch in der puppenkomödie besitzen*; der rein typische Charak-
ter ist ihnen mit allen diesen gattuugen gemeinsam. Ich brauche nur daran zu
erinnern, wie lange diese noch heute lebendigen arten der volksdiclitung an den alten
Stoffen und stüformen festhalten, wie wenig und wie spät sie durch neue epochen
der kunstdichtung beeinflusst werden, um ein entsprechendes Verhältnis zwischen der
niederen spielmannspoesie und der gleichzeitigen höfischen dichtung einleuchtend zu
machen.
Je mehi- nun schon dieser konservative, ganz vom überlieferten abhängige
chai'akter der dichtung der ungebildeten die datierung ihrer einzelnen denkmäler
erschwert, urasomehr beachtung verdient es, wenn sich in ihnen nun doch diese oder
jene spur einer foiigeschiittenen kunstübung zeigt. Es kann so gelingen, wenigstens
eine anfangsgrenze für ihre entstehung zu gewinnen. Eine solche spur glaubte ich
im Morolf zu bemerken, wenn der dichter, der sich nur stumpfen reim gestattet,
dabei nicht mehr nach alter weise auch das tonlose e im versausgange zulässt. Diese
sehr merkwürdige beschränkung im reimgebrauche tritt sonst in der epischen dich-
tung erst im Nibelungenliede auf, während sie in derselben strophenfomi bei Kürn-
berg noch nicht hei'scht. Ton strophischer dichtung der fahrenden lassen sich nur
Hergers Sprüche vergleichen. Herger fand sein brot an den höfen, er genoss die
gunst hochgestelter adlicher; man darf erwarten, dass er mehr Sorgfalt auf seine dich-
tung verwante als ein spielmann vom schlage des Morolfdichters ; aber auch er hat
sich der alten freiheit keineswegs entäussert, und seine Sprüche reichen bis gegen
1180. "Unter diesen umständen meinte ich den Morolf nicht über das lezte decen-
nium des 12. Jahrhunderts zuiückdatieren zu dürfen, umsomehr als von andrer seite
einer solchen Zeitbestimmung nichts widerspricht, wenn man nur nicht vergisst, wel-
cher dichtungsgattung der MoroK angehört. Berger meint, „solchen nachweisen sei
keine untrügliche beweiski'aft beizumessen, zumal wenn es sich um geringe zahlen-
unt^rschiedc handle." In den 788 Strophen des Morolf finden sich nur 1 oder 2
sichere belege für die hebung des e im versausgange, in den 28 Strophen Hergers
finden sich deren 14; das .sind doch wahrhaftig keine „geringen zahlenunterschiede ! "
Auch wenn man für den Morolf noch alle stellen in betracht ziehen wolte, wo sich
irgend etwa vennuten liesse, dass der überlieferte text zu ändern sei, um derartige
versausgange herzustellen, so würde doch dort immer nur auf 200, bei Herger auf 4
der in betrachi zu ziehenden reimpaare ein solcher fall kommen. An der tatsache
lä.sst sich nun einmal nicht rütteln, dass im Morolf der stumpfe ausgang abweichend
vom älteren brauche, in derselben weise wie im Nibelungenliede gesetz ist. Das ist
1) Der zuerst von Scherer angedeutete vergleich zwischen Spielmannsdichtung und Puppenspiel
liesse sich bis in sehr bemerkenswerte einzelheiten durchführen. Ein beispiel gab P. Schütze, Gegen-
wart bd. XXrX s. 344.
ÜBER ORENDEL ED. BERGER 483
aber eine sehr mchtige neueruu^-, welche den spielmann nötigte mit einem teil der
sonst so zäh festgehaltenen traditionen zu brechen. Reiclüich die hälfte der reime,
welche der Oreudel verwendet, wurde beispielsweise für den Morolfdichter durch die
befolgung dieses gesetzes unbrauchbar. Auf eine grosse anzahl von bequemeu epischen
formein inuste er verzichten, formelu z. b. wie /// aller der (jcbtere : als . . . wcere;
niht lenger heilen : bereiten; . . . gienc gerillte da er . . . triste ; . . . giene dräte in
eine kemenäte; hiex springen : bringen; mit sinnen : bringen : geu innen; vil schiere
er sich besande in allem sincni lande; si xugen vf ir segele ir kiele gicngen
ebene; mit bröte und auch mit whie mit maneger handc spise; formelu ferner mit
fehlen : knehten , biderbe : icidere, gesexxen : vermexxen, suxen : vergdxen, frouiven:
schoKuen, ivtle : mile usw. Wenn ein spielmann, dessen darstellung ganz unter der
herschaft der epischen formel steht, sich aller dieser Überlieferungen entäussert, oder
dieselben, wie das in einzelnen fällen vorkomt, nach dem veränderten metrischen
Schema umgestaltet, so ist es doch wol klar, dass es sich da nicht um ein bedeu-
tungsloses und dem zufall unterworfenes mehr oder weniger dieser oder jener reim-
form, sondern um die bewuste diu'chführung eines ganz bestimten metrischen prin-
zips handelt. Sicherhch würde sich aber dieser kunstlose und reimarmo dichter
einem solchen nicht unterworfen haben, wenn es sich nicht, im zusammenhange mit
der fortgeschrittenen sprachentwickelung, zu seiner zeit schon algemeine geltung
errungen hatte. Es dürfte demnach wol sein bewenden dabei haben, dass wir den
Morolf nicht über das ende des 12. Jahrhunderts zurückdatieren.
Weder der Morolf noch der Oswald kann demnach zur begi'ündung für Ber-
gers Zeitbestimmung des Orendel dienen. Andrerseits ist auch der jedenfals beti-ächt-
liche Zwischenraum, welcher den Orendel vom Rother trent, so wenig wie die abfas-
sung des Rother selbst auf das jahrzehent anzugeben. So ist denn auch hier kein
irgend sicherer anhält. Im Orendel selbst wolte bekantlich E. H. Meyer bestirnte
beziehuugen auf die geschichte des königreichs Jerusalem wahrnehmen, welche darauf
hinführen würden, dass das gedieht „etwa bald nach den vorfallen vor Akers im
jähre IIQO'^ gedichtet wäre. Seinem versuche, den Inhalt unserer dichtung mit ein-
zelheiten aus der geschichte Guidos von Lusig-nan und der Sibylle zu verknüpfen
kann ich, wie ich schon bei anderer gelegenheit äusserte, so wenig wie Harkensee
und jezt Berger zustimmen. Überhaupt sind, wie ich Berger weiterhin zugebe, die
angaben des gedichtes über das heilige land meist so konfus und wilkürlich, dass
man hier von vornherein keine bestimten und zuverlässigen historischen beziehungen
erwarten darf. Aber gewisse algemeine Vorstellungen von den zuständen in Palästina,
das durcheinander von Christen und beiden in Jerusalem, die feindseligkeit der tem-
pelherren , die kämpfe um das heilige grab , sein verlust und seine wädergewinnung —
das alles scheint mir auf einen anschauungski-eis hinzudeuten, wie er sich nicht wol
in den nächsten jähren nach dem zweiten kreuzzuge, sehr gut dagegen in der von
Meyer vermuteten zeit, an und für sich auch in einer späteren periode, nach 1229,
im abendlande ausbilden konte. Das wenigstens trift nicht zu, was Berger s. LIX
bemerkt, dass es unerlaubt sei, in der Übergabe Jerusalems an die beiden „umb
einen schätz" (v. 2895) die erobern ng der Stadt durch Saladiu im jähre 1187 wider-
finden zu wollen. Die Stadt wurde ja tatsächlich nicht durch stürm genommen, son-
dern, als sie nicht mehr zu halten .\var, nach längeren Verhandlungen durch vertrag
dem Sultan übergeben. Das volk aber warf wirklich dem patriarchen und der ritter-
schaft vor, dass sie schändliche Schacherer seien, welche den beiden die heilige stadt
verkauft hätten, wie einst Judas den heiland, vgl. Wilken, Kreuzz. lU, s. 311 und
31*
484 VOGT
anm. 123. Dass andrerseits einem deutschen spielniaun zur zeit des dritten kreuz-
zuges der gedanke an die widergcwinnuug des heiligen grabcs nahe genug gelegen
haben würde, um eine solche auf die erzählung vom Verluste desselben folgen zu
lassen, ist doch sicherUch nicht zu bestreiten. Wenn sowol Harkensee als Borger
Grendels seereise mit der fahrt einer im jähre 1147 von Köln ausgelaufenen kreuz-
fahrerflotte vergleichen, so könte es scheinen, als ob sie annehmen, dass eine frische
erinneiimg gerade an dieses oreignis in der Schilderung des rheinischen spielmannes
zu erkennen und damit eine stütze für ihre datierung gewonnen sei. Ich muss daher
noch einmal die schon Mor. CVIII gemachte bemerkung widerholen, dass im jähre
IISS rheinische kreuzfalirer ganz denselben weg wählten; vgl. Annales Colon, max.
MGSS XVII, s. 795 ann. 1188: interim naves fabricabantur per diversas regiones et
civitates in expeditionem , e quibus IT de Colonia moverunt in quibus erant ad MD
homines. Tarn hü quam ceteri omnes ad III annos victualia copiose habebant etc. —
Gotfried von Cöln a. a. o. 796: in quadragesima naves undique adventantes et sibi
invicem copulatae velis oppansis iter aequoreum ingressae smit . . . Erant LX naves
ex eis vii'orum vero pugnatorum X milia et amplius. -^ Andere schlugen in dersel-
ben zeit den bei Grendels zweiter Jerusalemfahrt beschriebeneu weg ein: sie zogen
rheinaufwäi'ts zu lande bis Unteritalion (Ann. Col. max. a. a. o.) und so kehrten auch
im november 1190 viele kreuzfahrer über Apulien zurück (a. a. o. s. 798).
Deutlicher als historische weisen kulturhistonsche momente auf eine spätere
zeit als die von Berger angenommene. So fern dem dichter natürlich die kunstmittel
höfischer poesie liegen, so ist ihm doch höfisches wesen keineswegs fremd; es tritt
stellenweise sogar in formen auf, welche überhaupt für das 12. Jahrhundert sonst noch
nicht nachweisbar sind. Die moderne ritterliche kampfart gilt dem spielmann schon
als selbstverständlich. Jeder Zweikampf begint mit dem speerstechen oder er beschränkt
sich auch ganz darauf; dem sieger fält das ross des übei'wundenen zu. Das stechen
findet vor den äugen der damen statt (854 fg.) ; nachdem Grendel alle gegner auf den
sand gestreckt hat,.lässt er vor der königin sein ross hoch aufspringen (1106 fg.);
sie entbietet ihm ihre huld und will ilm in ihren dienest nehmen (1152/57. 1161/2).
Das tumier bildet auch emen bestandteil der schwertleite. Diese wrii'd mit meister
Ise bei seiner erhebung ziun herzog vorgenommen und im einzelnen geschildert.
Nachdem üim ein herzogliches gewand angelegt ist, wird er in die h. gi-abeskirche
geführt und dort erfolgt die umgürtung mit dem Schwerte. Jeder der anwesenden
helden gibt ihm einen schlag an den lials und Ise spricht dabei: „ich werde es euch
vergelten wenn ich kann." Das ist nicht, wie Berger meint, eine eigentümliche,
sonst nicht nachweisbare, „bei Verleihung der herzogswürde übliche cerimonie"; es
ist zweifellos der ritterschlag. die colee gemeint, also jener schlag, welchen der zum
ritter zu erhebende knappe an den hals erhielt unter hinweis auf die mishandlung
des heilandes, die er an den ungläubigen rächen soU (so nach einer nachricht aus
der mitte des 14. jahi-hunderts über Wilhelms von Holland schwertleite), oder, nach
späterer darstellung, als den lezten schlag, den er sich gefallen lassen solle. Dass
der spielmann nicht etwa den Grendel allein, sondern gleich die ganze Versandung
dem Ise die alapa zufügen lässt, ist bei der bekanten verliebe dieser poeten für kleine
prügeLscenen charakteristisch genug. Der gebrauch des ritterschlages aber ist für
Deutschland bisher erst seit dem 14. jahi-hundert mit Sicherheit belegt, vgl. Roth
V. Schi-eckenstein , Rittei-würde und ritterstand s. 240 fgg. 245 fgg. Seit dieser zeit
komt es auch häufig vor, dass deutsche, adhche sowol wie bürger, sich wie meister
Ise zu Jerusalem in der grabeskirche zu rittem vom h. gi'abe schlagen lassen. Wich-
ÜBER ORENDEL ED. BERGER 485
tig wäre es zu wissen, ob sich die sitte doch schon aus früherer zeit nachweisen
lässt. Bis dahin scheint mir diese wie manche andere in unserm gedichte zu tage
■ tretende Vorstellung späten Ursprunges dringend verdächtig. Dass dann nacli der
weiteren erzählung die wapnung des neuen ritters erfolgt, «Mitspricht dem Itei der
schwei-tleite herkijmlichen brauche. Als er sich aufs [)for(l schwingt, wird ilim von
Orendel zugerufen, er solle die chi-isten schonen, nicht aber die beiden (bei dem
nunmehr nach höfischer sitte sich anschliessenden turnier). Di»- darauf folgenden
woiie so wil ich iiich, degen küene, selber iuwcr spcr f Herrn müssen auch noch
dem Orendel, nicht, wie Berger will, dem Isc in den mund gelegt worden. Es
gehört mit zu den cerimouien der schwei-tleite, dass die älteren ritter den iiovizen
solche dienstleistungen ei-weisen, vgl. Nib. 33, 2 die wisen hcten reht dax- si den
tumben diendeti als in ivas e getan. Es folgt dann das turnier, zu welchem her-
zöge, grafen, ritter und bauern zusammenströmen.
So sehr hat die ritterliche tjost schon den alten reckenmässigen kämpf ver-
drängt, dass selbst die riesen gegen alles herkommen nicht zu fuss mit der stango,
sondern zu pferde mit dem speer kämpfen, und einem wird in anbetraeht seiner
grosse gar ein elephant statt des streitrosses gegeben. Die rüstung dieses riesen wird
mit gröster ausführlichkeit beschrieben. Das dem elephanten bis auf die füsse rei-
chende gedecke von silbcr ivix (d. i. die covertiure), der schmucküberladene mit
einem wappen versehene schild und vor allem die hehnzier. Zu dieser gehöii unter
vielem andern ein bewegliches rad, welches an das des Wigalois erinnert und eine
goldene linde. Leztere ist eines jener blasebalgkunstwerke, welche in der deutschen
dichtung zuerst im Strassburger Alexander durch einen goldenen hirsch vertreten
sind. Die linde erscheint sonst noch im Eosengaiien , Grimm 193 fgg., und im Wolf-
dietrich B 807 fgg. 555 fgg. Sie steht dort in einem garten bezw. saale und ist wie
jener hirsch im Alexander mit goldenen röhren durchzogen, welche in hohle vögel
auslaufen; wenn durch einen blasebalg die luft durch die röhren getrieben wird, so
singen die vögel. Eben dies komplicierte kunstwerk trägt nun im Orendel der riese
auf seinem heim, ja er lässt es sogar musicieren, indem er den blasebalg bewegt!
Augenscheinlich doch eine ganz abgeschmackte Übertragung, wie sie sich erst einstelt,
wo dergleichen motive in der kunsttradition schon abgenuzt sind, nicht wo sie eben
erst eingang gefunden haben. So wird auch auf den wilden mann, der sich ausser
einer kröne, der linde, dem rade, einem löwcn, drachen, baren und eher auch noch
auf dem helme befindet, ganz gedankenlos die in bezug auf bildlich dargestelte vögel
gebräuchliche formel (Berger zu 981) übertragen : — recht als er lebte und gegen
den lüften strebte. Diese ganze Schilderung kann überdies nur in einer zeit ent-
standen sein, wo das helmzimier sich schon zu reichen und abenteuerlichen formen
entwickelt hatte, und das war im 12. Jahrhundert sicher noch nicht der fall. Meines
erachtens gehört sie mit zu den jüngsten bestandteilen der dichtung, und ich gestehe
nicht zu begreifen, wie Berger dies tolle zeug gar der alten, von ihm so begeistert
gepriesenen quelle des angeblich um 1160 verfabsten gedichtes zuschreiben kann
(s. xcvni).
Auch so manche Wörter Hessen sich aufführen , welche in der von Berger ange-
sezten zeit noch nicht belegt sind, teilweise erst sehr- viel später auftreten, turnei
V. 2324 tritt in der deutschen dichtung zuei"st bei Heinrich von Veldeke in einer
noch dazu unsicheren stelle der Eneit 937 und im oberdeutschen Servatius 3332 auf
(die von Berger eingesezte form turyiier ist noch weit jünger), banier v. 1692 komt
statt des früher ausschliesslich herschenden vanc zuerst bei Zatzikhoven, bei Herbort
486 VOGT
und im Athis vor. fier, was gewiss v. 1878 einzusetzen ist, da H das wort nicht
eingeKihi-t haben würde, wü-d zuerst bei Heimich von Morungen und Wolfram
gebraucht. Alle drei worte kommen übiigens auch im Morolf vor (zu fier s. Mor.
361 anm.). — kerne figürlich vom beiden zuerst Athis C114 u. anm. — Das später
(auch Osw. AVO) im reim so beliebte /'//? v. 1245 ist zuerst bei den minuesingem
seit Gotfried von Xeifen gebräuclüich ; im höfischen epos tritt es zuerst bei Konrad
von Würzhui'g auf, im volksepos ei-st im Ecke, Rosengarten, Wolfdiotrich und der
Yirgiual. Dem gegenüber dürfte man sich für den Orendel auf die ganz vereinzelte
bibelglosse des 10. Jahrhunderts bei Graff finlicho tenere sicherlich nicht berufen.
Auch eben 420. 1603 bildet einen in später zeit beliebten flickreim, hüsere ist zuerst
beim Winsbeken, Reinmar von Zweter und jüngeren spruchdichtern , in der epik
zuerst im W'olfdietrich D nachgewiesen (Z. f. d. a. 6, 387). rilxgehüre v. 930 ist
erst seit der zweiten hälfte des 13. Jahrhunderts belegt, über art, morgcngähcn s.
Berger z. 3256. 198. Das erst aus dem 15. Jahrhundert bezeugte uagelnüwe hätte
Berger nicht v. 753 aus D in den text setzen sollen, ebensowenig wie das nicht ältere
buolschaft 2429 und lieben = m innen 1888, worüber weiter unten.
Also auch hier fehlt es ebensowenig wie im iuhalte und in den reimen der
dic-htung an merkmalen, welche über das 12. Jahrhundert hinaus weisen, und es
erhebt sich immer wider die für die Zeitbestimmung des Originals vor allem wichtige
frage, in wie weit uns denn dieses in der vorliegenden Überlieferung überhaupt noch
erhalten ist. Berger meint, das original sei in der Morolfstrophe verfasst gewesen,
und diese sei erst in U, also erst in der nächsten vorläge von D und H beseitigt
worden. Er dehnt dabei den begriff der Morolfstrophe dahin aus, dass er unter dieser
,jede fünfzeilige Strophe mit einer waise innerhalb des zweiten reimpaares" versteht,
ohne rücksicht auf stumpfen oder klingenden versausgang. Er hätte sogar die gren-
zen noch weiter ziehen müssen; denn da bei einem drittel der fünfzeihgen Strophen,
die er aus dem Orendel nachweist, der zwischen dem lezten reimpaar stehende vers
mitreimt, so kann man nicht behaupten, dass dieser eine waise sein müsse. Will man
auf diese veränderliche metrische form jene benennung übertragen, so habe ich nichts
dagegen, wenn man nur nicht behauptet, dass diese „Morolfstrophe" die strophe des
Morolf sei. Derartiger freierer füufzeiHgcr Strophen weist nun Berger aus den fast
4000 versen des Orendel im ganzen 17 nach. Es kommen einige fälle hinzu, in
denen eine langzeile mit dreihebigem schlussteil statt der 4. und 5. zeile steht. In
andern fällen findet sich die waise auch an anderer stelle, auch ausserhalb der strophe
oder des reimpaares; weitaus am häufigsten aber ist sie spurlos verschwunden. Sehr
oft ist es auch unmöglich, zwei reimpaare zu einer strophischen gruppe zusammen-
zufassen: die konstruktion erstreckt sich über einen solchen komplex hinaus; oder,
wenn man zwei reimpaare als eine strophe auffasst, so bleibt em drittes isoliert usw.
Hält man nun trotz alledem an der grundlage in fünfzeiligen Strophen fest, so ergibt
sich als notwendige folge die annähme , dass die form des alten gedichtes schon in U
eine ganz durchgreifende wandelung erfahren hat, bei welcher unbedingt auch die
reime die weitestgehenden Veränderungen erleiden musten. Mithin würden auch die
reime des uns aUein erreichbaren U unmöglich ein ii'gend zuverlässiges bild von der
reimkimst des Originals geben können, und eine auf sie gegi'ündete Zeitbestimmung
des lezteren würde alle Sicherheit verHeren, sobald es sich dabei nicht etwa um einzelne
bestimte altertümlichkeiten, sondern um die reimkunst als ganzes handelt. Nun
glaube ich zwar, dass die in der überlieferten dichtung vorliegenden merkmale zur
Voraussetzung der grundform in fünfzeiligen Strophen keineswegs genügend berech-
ÜBER ORFNDEL ED. BKRGER 487
tigon. Die zahl der belege ist viel zu gering; das häufige vorkommen von ^waisen",
welche sich in die strophische form nicht eingliedern lassen, spricht vielmehr gegen
als für jene annähme; auf die analogie des dem Orendel sonst so nahe stehenden
Morolf darf man sich nicht berufen, doim d'w borührungcn zwischen Nibelungen und
Klage, zwischen Dietrichs flucht und Kabensclilacht sind noch nähere und doch sind
die einen in Strophen, die anderen in roimpaiiren verfasst. Die vom höfischen
gebrauch erheblich abweichende gliedcrung der reimpaaro erklärt sich hier und
anderswo ausreichend in der Lit. cbl. 1876 s. 1371 angedeuteten weise. Aber das
unterliegt auch für mich keinem zweifei, dass die Überlieferung des Grendel selir
erhebliche Wandlungen erfahren hat, viel erheblichere als die dos Morolf. Eine
solche unentwirbare confusion, wie sie beispielsweise am Schlüsse des gedichtes
herscht, wo Duiian die Bride in einem atem verrät und errettet (3785 fgg.), wo in
der rede des pilgers die parallelmotive Brides gefangenschaft bei Minolt und Brides
gefangenschaft zu Jerusalem mit einander vermischt werden (3286 fgg.)- fenier zahl-
reiche sonstige Verwirrungen, Verstümmelungen, versversetzungen , wie Berger sie
mehrfach nachgewiesen hat — das alles im zusammenhange weiss ich mir nicht
anders zu erklären, als durch die annähme, dass die dichtung zwischen und neben
den schriftlichen aufzcichnungen auch mündlich sich fortpflanzte. Ein solches neben-
einander von schriftlicher und gedächtnismässiger Überlieferung der spielmannscpik
wird uns im eiugange des Wolfdietrich C ausdrücklich bezeugt durch die köstlicii
anschauliche erzählung, wie die schöne äbtissin zwei meister das Wolfdietrichbuch
auswendig lernen lässt, die dann dui'ch alle laude hin das gedieht singen und sagen.
Und entsprechende Verhältnisse dauern ja unter den geistigen nachkommen der spiel-
leute, unter den puppenspielern bis auf unsere zeit fort.
So erklärt es sich denn auch, dass altes und junges in einer solchen dichtung
zu einer nie ganz wider aufzulösenden mischung verfliesst, dass neben formein und
reimen, welche nachweislich aus dem 12. Jahrhundert stammen, sprachformen und
inhaltliche beziehungen sich finden, welche auf eine spätere zeit weisen. Eine
bestimte datierung des Originals wird danach nicht möglich sein. Aber die gattung,
der dasselbe angehört, wird sich gegen ende des 12. Jahrhunderts ausgebildet haben,
als in Westdeutschland der ältere typus epischer erzählung bei der französierenden
richtung der höheren stände nur von volkssängern niederster aii; noch gepflegt und
nach dem geschmack ihres publikums fortgebildet wurde. Gewisse grundanschauungen
unseres gedichtes passen, wie wir sahen, in diese zeit hinein; was sich an altertüm-
lichkeiten findet, lässt sich mit ihr bei einer dichtung dieser art gut vereinigen. Das
werk höher hinauf zu rücken liegt durchaus kein grund vor.
Mit so unüberwindlichen Schwierigkeiten also die Grendelkritik auch zu kämpfen
hat, an einzelnen stellen scheint doch noch die naht zwischen älteren und jüngeren
bestandteilen crkenbar zu sein. Dass die verse 650/65 ein einschiebsei seien, hatte
ich Lbl 1880 s. 443 bemerkt, und auch Berger bezeichnet sie als solches. Wie ich
aber dort andeutete, hängen mit dieser stelle andere zusammen, welche derselben
Überlieferungsschicht zugewiesen werden müssen. Es wird in jenen versen erzählt,
dass Ise und sein weih dem Orendel eine dreierhose, grobe rindslederne schuhe und
einen schiffermantel schenken, während Grendel unmittelbar hinterher doch noch
nackend ist. Eben jene schuhe aber bilden v. 992 — 1010 den gegenständ eines bur-
lesken Intermezzos, welches die Schilderung der rossbesteigung in tolster weise unter-
bricht; die verse sind von der ersten interpolation nicht zu trennen. Auf das geschenk
der alten hose bezieht sich dann weiter mit v. 2229/30 und 2247/8 die erzählung.
488 VOGT
wie Orendel der fischeiin zimi dank füi- jene gäbe einen zobelmantel sendet. Auch
hier muss natiii'lich die eine stelle zusatz sein, sobald man die andere als solchen
auffasst. Sie biingt denn auch einen ganz wunderlichen Widerspruch in die erzäh-
lung. Ise, der von der Bride lösegeld für seinen knecht Orendel erhalten hat, geht
— so wird hier berichtet — zu diesem imd teilt ihm mit, dass er frei sei. Orendel
ist hocherfreut daiüber und gibt ihm den erwähnten mantel; Ise fährt von dannen
und ^^ird daheim von seiner frau empfangen. Und unmittelbar hinterher geht Oren-
del zur Bride, um ihr mitzuteilen, dass er mit Ise als dessen knecht übers meer
gehen müsse! Der interpolator ist hier nicht minder gleichgiltig gegen den Zusam-
menhang wie an der zuei-st besprochenen stelle. Die grenzen seines Zusatzes sind
noch in den gleichlautenden versen 2207/8. 2231/2 zu erkennen: auf 2208 folgien
ursprünglich 2233/4 mit der in D noch richtig erlialtenen lesart künigin statt kimig.
Die verse 2235/48 rühren dann natürlich, wie angedeutet, von derselben band her.
Nach der ursprünglichen darstellung wüste also Orendel nichts von Ises abfin-
dung, und so konte der Verfasser die aus der queUe übernommene erzählung von
derselben (vgl. Berger s. LXXIII) v. 2249 fgg. mit seinem auf eigener erfindung beru-
henden berichte von Orendels absieht mit Ise fortzugehen, Ises rückberufung , seiner
belehnung usw. fortsetzen, ungeschickt freilich, aber doch nicht mit einem unsinnigen
und unerkläi-baren Widerspruche, wie er ohne die annähme der interpolation ihm zur
last gelegt werden müste. — Auch hier ist wider von des fischers frau die rede;
und merkwüi'digerweise kommen nun überhaupt an allen stellen, wo diese persön-
lichkeit eine roUe spielt, Widersprüche in die erzählimg. Die Schilderung von Ises
herhcher bürg 589 fgg. lässt sich, wie Berger zweifellos richtig bemerkt, mit dem
sonstigen auftreten Ises nicht vereinigen. Sie leitet aber das erste erscheinen der
fischerin ein. Der ganze abschnitt ist auch hier wider durch zwei wenigstens im
reime gleichlautende verse begrenzt: 628 würde sich gut an 587 anschliessen , und
damit würde sowol jener Widerspruch als auch die roUe der fischerin fortfallen. —
Nach der schon besprochenen unsinnigen interpolation 650/65 tritt Ises weib zunächst
wider bei Orendels abschied von den fischerleuten auf, 756/85. Auch hier ist ihre
einfühnmg gleich %vider mit einem bereits von Berger bemerkten Widerspruche ver-
bunden: unmittelbar nachdem Orendel den grauen rock dem Ise für die verlangie
summe abgekauft hat, sagt dieser: „du solst den rock verdienen um mich und
deine meisterin.- Das weib beschenkt darauf den Orendel mit 3 gülden und eben-
dies geld opfert denn auch nach einer nur in P überlieferten, aber von Berger der
vorläge zugewiesenen stelle (hinter v. 825) Orendel am h. grabe. Unmittelbar vor-
her aber (v. 816) hat Orendel ausdrücklich gesagt, dass er gar nichts anderes zu
opfern hat als seinen leib und seine seele! Auch hier ist also wider die hand jenes
zudichters zu erkennen, in jener nur in P erhaltenen stelle sowol wie in den versen
756/85. Als Orendel den lange begehrten rock endlieh erhalten hat (750/5), macht
er sich nach der ursprünglichen dai'stellung von dannen (786), und niemand konte
ihm folgen 789: ursprünglich wol wegen einer wunderbaren eigenschaft des grau-
lockes, während es jezt so aussieht als wäre vom mangel des gefolges die rede. —
Somit hätte sich denn die ganze rolle der in den übrigen teüen der erzählung nicht
erwähnten fischerin als spätere erfindung erwiesen.
Zur annähme einer interpolation könte man sich leicht bei der erzählung von
der abreise Orendels von Trier v. 335 fgg. veranlasst fühlen. Die schiffe werden
bereit gemacht, mit speise und trank reichlich beladen; sie fahren die Mosel und
den Rhein abwärts bis an das Weteiische meer — da werden die schiffe mit speise
ÜBER ORENDEL ED. BERGER 489
und trank beladen, die herren gehen auf die schiffe usw. Mit dem wilden wäge,
zu welchem sich Oreudel v. 334 begibt, wird der dichter sicher nicht die Mosel,
sondern ebensogut wie v. 250 das meer gemeint haben, und zwar das "Weterische
meer, an welchem denn auch nach der v. 244 — 50 gegebenen darstellung die 72 schiffe
für die fahrt bereitet wurden. Und so läge es denn nahe v. 334 gleich mit v. 349
zu verbinden: dö kerte er gegen dem ivilden nage an dax Wcterischc jner usw.
Aber es ist sehr wol möglich, dass der dazwischen liegende bericht über die art
und weise, wie das beer zum moere kam als nähere ausführung des v. 334 vom
dichter selbst herrührt. Mit den hier erwähnten schiffen worden kleinere flussfalir-
zeuge gemeint sein, von denen sich die reisenden v. 351 auf die Seeschiffe begeben.
Die arken v. 341 mögen eine art prahm bedeuten oder in harken zu ändern sein:
die am ufer angeketteten flussschiffe w^erden gelöst.
Gewiss mit recht hat Berger v. 1315y'26 als einschiebsei bezeichnet. Es schei-
nen hier verworrene remiuisccnzeu an eine ausführlichere darstellung des kampfes
in den kui'zen bericht der handschrift auf das ungeschickteste eingeschoben zu sein.
Anfang und ende des Zusatzes ist auch hier wieder durch einen gleichlautenden vers
begrenzt. Auch Bergers Vermutung, dass der eingang bis v. 18 späteren Ursprunges
sei, pflichte ich bei und meine, dass v. 13 — 18 als erklärender zusatz hinter v. 35
beabsichtigt waren. Aber ich will nicht weiter den teilweise noch erkenbaren, teil-
weise verwischten spuren verschiedener schichten in dieser mit der zeit stark Vfi'-
änderten und verderbten dichtung nachgehen und nur noch einige einzelbemerkungen
zu Bergers textherstellung hinzufügen.
Berger bemerkt s. XI ganz richtig, dass D das wort minne durch liehe ersezt,
was meist eine grössere änderung des textes nach sich zog, und er folgt daher mit
recht V. 196. 924. 1807 der handschiift, welche das wort beibehält. Aber es ist nicht
minder klar, dass an anderen stellen sowol D als auch H, jedes auf seine weise,
das jener zeit schon austössige wort (vgl. Haupt z. Engelhard 977; Milchsack Paul-
Braune 5, 288) beseitigte, und es war daher auch dort minne herzustellen. Also wenn
V. 924 im anschluss an H gelesen wird icax ich da mit gewinne dax gih ich iuch
gern %uo 7ninne so muste v. 894 dasselbe reimpaar (nur mit im und al st. iuch
und gern) hergestelt werden aus tvas ich da mit gewinne {geivunne D) das geh ich
im alles von mynen {xu lone D) HD. — Vers 1888, wo es sich lun die gi'ausame
drohung eines riesen gegen Orendel und Biide handelt, lässt Berger den bösewicht
doch gewiss nicht passend mit D sagen froiav Briden wil ich von herxen lieben!
H überliefert /". B. w. i. haben xu eigen. Die mit recht aus P aufgenommene
immittelbar vohergehende zeile lautet tcill ich al verhrennen; natürlich folgte darauf
f. B. ivil ich minnen, und der von D beziehungsweise H je nach dem bedarf ihres
reimwortes hinzugefügte vers da mag mich niemant von trihen D, das ivill ich dem,
grau-en roc xeigen H wai* zu sti-eichen. — Ferner liest Berger mit D v. 2429 nun
solt ir mich buolschaft (!) mit iuch läxeii gewinnen, v. 3227 nu soUent ir mich
iur liebe laxen geiv innen, v. 3806 nu sollent ir mich iur hulde laxen gewinnen.
H schi-eibt an den di"ei stellen ich musx fruntsclmfft mit uch heginnen, ir sidlent imd
nu süllent ir frilntschafft mit mir heginnen. Überall folgt e dax ir komet von
hinnen. Es ist doch klar, dass hier überall ein und dieselbe fonnel nu solt ir
mich minnen zu gTunde lag. — Und ebenso ist v. 3454/5 zu lesen der künig wil
si xwingen dax si in solle minnen st. dax si in solle lieh gewinnen (so Berger
nach D) bezw. xu wunderliclien dingen (Hj.
490 VOGT
V. 228 lies opfern dem heiligen grab unser s heren wie in derselben for-
mel 267. — T. 232 ist natürlich das in D ganz lichtig überliefeiie die sckoe?ien
st. die sehfvne in den text zu setzen. — Die Umstellung der verse 407 — 12 halte
ich nicht für notwendig, wenn sie sich auch au P anlehnt (vgl. Berger s. XIV fg.);
die aufeinanderfolge der verse 401/4 ist doch unerfräglich. — V. 458 doch gewiss
besser nach H also sirinde. — 507 ursprünglich drl tage lange? — 666 warum
nicht dannoeh? — 973 u. ö. würde ich unbedenklich niit Ettmüller ein heim
iras irol gebonget (gepoutret D, geloubet H) in den text gesezt haben. Der
bildung eines solchen verbums aus baue helmspange (Gudr. 519. 3. 1423, 3) steht
natürlich nichts im wege. Da aber das wert sonst nicht gebräuchlich und auch
hone nach 1300 nicht mehr vorzukommen scheint, so erklärt sich die konsequente
änderung in der Überlieferung zur genüge. — V. 1205 ist ohne giimd umgestelt.
D H lautete (1202) der rise kam dö mit flixe. sin gedeeke ivas von Silber ivtxe
und gieng dem helfant üf den fuox, so man doch den risen brisen muox.
Davon hätte sicherlich der erste so gut wie der von Berger ausgeschiedene lezte vers
als interj)olation bezeichnet zu werden verdient, und im original reimte dann tctxe :
fiiexe. — 1284 st. mir lies min, wie ja D ganz richtig überliefert. — 1299 wol da
boicent si ein geriute, da erner ... — 1405: die Zeitangabe einen sumertag D ist
richtig, wie aus dem gestern 1474 hervorgeht. — 1446 lies nekeiner slahte man. —
1509: näher liegt nü se mcere wigant. — 1587: in Übereinstimmung mit 1963 und
2712 muste auch hier, avo ja noch dazu H wesentlich so überliefert, in dem gräwen
roc teil ich ex üfgeben gelesen werden. — 1632: waiTim denn das richtig überlieferte
md. sas {: tca^s) hier durch sahs ersetzen? — 1637 war es nicht nötig hin D in
yiim (nach P) zu ändern, in dine kunt kann mit se verbunden werden. — 1661 war
rierxehen hundert aus H aufzunehmen, vgl. v. 1543. 1564. — V. 1788 muste ent-
weder baften oder jungfrouwe geschrieben werden. Nach v. d. Hagen hätte auch D
batten und froutcen. — 1874 führt die überlief ei-ung auf die schwache form, die
doch hier, im vokativ, ganz angemessen ist. — 1878 1. dar st. das (di-uckfehler). —
1940/1 : hier %vird wol noch in U die alte formel gestanden haben si sicuoren itn
triuw und eide die liexen si alle meine, während dieselbe 2530 schon in U geändert
war; vgl. Rother B. 823 des swören sie ime eide die liexen sie immeine (so viel-
leicht ursprünglich auch Orendel 2510. 2520_), und mit beseitigung des alten reimes
Dfl. 7184 drj sunor auch im der balde drixec eide an der ztt, die He er alle meine
Sit. — 2496 7iun müex uns {euch D) niemer leider {layd D) gesehen denne oneister
Isen geschach do er si bede körnen sach. Wanmi Berger hier eine Verderbnis annimt
und die ganz richtig überlieferte hübsche wendung durch eine an P angelehnte
nüchterne Übertragung ins positive ersezt, verstehe ich nicht. — 2590: die Überlie-
ferung führt doch eher auf nit wise getan. — 3148/9 soll wol heissen: sie glaubten,
dass Bride Orendels weib sei, während sie ja tatsächlich nicht sin wip wart. —
3173 mannen: die schwache form erst seit dem 14. Jahrhundert belegt. — 3647
und 3653 muste nach einl. XXXVII turteltüb st. turteltoub geschrieben werden. —
Gegen die Schreibung Jerusalem vgl. Morolf 1, 1 anm. AVie dort das erste e so ist
in Babilofiie, welches formelhaft auf konige menige reimt, gewiss das o als kürze
anzusetzen. — Von dem bestreben waisen herzustellen hat Berger seinen text hin
nnd wider zu sehr beeinflussen lassen, z. b. wenn er 2383 von einem in D überlie-
ferten, in H fehlenden reimpaare nur den einen vers aufnimt, denn auf ein reimpaar
weist hier auch P {wenden : brengen) vgl. s. XLIX, Aber das sind ausnahmen. Im
ganzen ist der text mit anerkennenswerter besonnenheit und vorsieht hergestelt.
ÜBER ORENT)EL ED. BERGER 491
Reichhaltige, von umfassender belesenheit zeugende form elsamlun gen hat Bor-
ger in den anmerkungen neben mancher dankonswei-teii notiz gegeben. Zu v. 73 sei
bemerkt, dass die fonnel in . . . den fjchceren sam er . . . wfprc schon im Ännoliede
V. 591 begegnet; vgl. ferner En. 1003 und Behaghols anm., 2731. Über die Über-
tragung auf lebloses s. zu Mor. 688, 4, wo die wcndung nach dem strophenschoma
umgemodelt wird. — Zu 136 vgl. auch Nib. C Zarncke 49, 4 wd ich die müge nemen
diu mir imt t/utne rlche xe fromcen iniiye xemen und ebenda 50, 3 weihe ir herre
möhte xeinem icihe nemen diu in xe frouwen tUhte unt auch dem lande mähte
xe??ien. Zu den beispielen aus der höfischen epik komt Erec6198 dax ich si xe wihe
neme. mich dunkel da^ si nol gexenie xe frouwen über min lant. — Zu 288 muss
doch wol D st. HD gelesen werden. — Zu 1207 vgl. Morolf7, 2. 7, 5 Ed. 282, 5. —
Zu 1402 vgl. Mor. 755, 3. 5. — Zu 1548 und 1842: sld ir din frouw Bride? vgl.
bist du dar inne edeler künig Princiun? Mor. 765, 4. 741, 4 und anmerkung,
sowie Reinke 6m sint gi dar binnen? Reinke 488. Überall wird mit dieser for-
mel die forderung der freiwilligen gestellung oder der auslieferung eines übeltätei*s
eingeleitet. Schröder zu Reinke a. a. o. hat daher unter vei-weisung auf Grimm weist.
II, 749 mit recht vermutet, dass hier eine rechtliche vorladungsfonnel zu gründe
liegt. — Zu 1695 vgl. auch die dri widerkere durch dax her Nib. 205, 1. — Zu
1893 vgl. 2700, Mor. 57, 2.— Zu 2351 vgl. noch Kehr. D 447, 9. 484, 25, sowie des
andern morgens fruo geddhte Karl dar zuo Stricker Karl 152, 3; rein formelliaft
besonders mit bereiten, vgl. des morgens vele free dö gereiden si sich dar toe
En. 1685, dar?iäch des dirten morgens fro so bereydend üch schnellichen dar xö
Karlm. 29, 12, an dem mitichen ?)iorgen fruo deu künigin berait sich dar xuo
Enenkel, GA U, s. 545, daz si sich bereiden dar xü: he icolde des morgenes vril
Eilh. 3443, dax man sich da bereite zuo : der vürste wolde morgen vruo Mai 81, 20.
— Zu 2455 vgl. auch Genesis Fdgr. 11, 41, 32. 70, 21. — Zu 2478 vgl. auch diu
tüile dühte in lanc (: sjwanc) Gudr. 112, 2 und Martins anm.
Dem urteile, welches der Verfasser in seiner alzu weit ausblickenden vorrede
über die bedeutung seiner forschungen und die Sicherheit ihrer resultate abgibt, kann
ich nicht ganz beipflichten. Aber zweifellos hat er durch seine ausgäbe die grund-
lage gelegt, von welcher in zukunft die Orendelforschung auszugehen hat, und diese
selbst ist durch seine Untersuchungen nicht unwesentlich gefördert.
KIEL. F. VOGT.
Untersuchungen über den satzbau Luthers von dr. Hermaim Wunderlich.
I. teil: die pronomina. München, J. Lindauersche buchhandlung. 1887. 70
und n selten. 1,50 m.
Der Verfasser, welcher schon durch seine dissertation: Beiträge zur Syn-
tax des Notkerischen Boethius (Berlin 188.3) sich als gi-ündhchen und eifrigen
forscher auf verschiedenen gebieten der historischen syntax bewährt hatte, betritt
mit der vorliegenden arbeit die der aufhellung noch sehr bedürftige Übergangszeit
vom mittelhochdeutschen ins neuhochdeutsche. Er sezt bei dem höhepunkte der
bewegung, bei Luther ein, um von diesem aus zunächst einen überblick nach rückwärts
und nach voi-wärts zu gewinnen. Er hat eine reihe von deutschen briefen und
originalwerken Luthers, von der auslegung der busspsalmen (1517) und den
berühmten Streitschriften des Jahres 1520 an bis zu hervorragenden Schriften des
Jahres 1543 eingehend und systematisch auf bestirnte syntaktische fragen hin unter-
492 EEDMANN, ÜBER WUNDERLICH, LUTHERS SATZBAT7 I
sucht, nicht selten aus reicher beleseuheit vergleichende Seitenblicke auf andere
gleichzeitige Schriftsteller, namentlich Ulrich von Hütten und Sebastian Brant
werfend. Ton diesen arbeiten veröffentlichte er in dem oben angegebenen hefte die
imtersuchimgen über den gebrauch der pronomina.
Dieses gebiet ist eines der reizvolsten der syntax, weil es in den bau des
einfachen satzes wie des Satzgefüges einblicke ermöglicht, weil syntaktisches und lexi-
kahsches sich berühren und durchkreuzen, weil endlich auch durch die pronominalen
adverbia, welche zu conjunctionen geworden sind, sich weite ausbhcke in viele ande-
ren teile der syntax eröfuen. Aber eben aus diesen gründen ist es hier selbst bei
lang^N'ierigen und mühsamen Untersuchungen nicht immer möglich, klare und durch-
schlagende resultate zu gewinnen, zumal da in der nur almählich fortschreitenden
entwicklung ältere und neuere redeweisen sich durchkreuzen, da bei jeder fi-age,
oft bei jedem beispiel, verschiedene möglichkeiten zu erwägen sind, da endlich gerade
beim pronomen auch leicht individuelle neigungen und ab weichungen des schiiftstel-
lers sich geltend machen (vgl. z. b. "Wunderlich s. 22. 43). Und gerade beim Satz-
gefüge, dessen entwicklung Wunderlich besonders am herzen liegt, wird man doch
bei Luther eine gewisse unbeholfenheit imd ein schwanken zwischen verschiedenen Vor-
bildern (auch dem der lateinischen Schriftsprache!) oft nicht in abrede stellen können.
Obwol WunderUch stets vorsichtig zu werke geht und jedes beispiel nach
allen selten abwägt, ehe er es verwertet, so ist es ihm dennoch gelungen, bei vielen
der von ihm untersuchten redeweisen schöne ergebnisse zu gewinnen. Ich nenne
namentlich die nachweise über die bei Luther vorkommende oder in gewissen fällen
nicht vorkommende auslassung des persönlichen pronomens beim verbum,
die sehr ausführlich und mit scharfsinniger Unterscheidung der verschiedenen mitwir-
kenden faktoren erörtert ist s. 11 — 21, und an mehreren stellen zur ergänzung oder
berichtigung des von mu' in den „Grundzügen der deutschen syntax '^ darüber gesagten
dienen kann. Ferner hebe ich heiTor die lehrreichen erörterungen über das pleona-
stische er, es (nominativ, aecusativ, genetiv); der, das s. 27. 29. 31, sowie die belege
für die verschiedenen formen der relativverbindung s. 35 fgg., unter denen die
s. 45 gegebenen beispiele von anfügimg des nebensatzes ohne eigenes pronomen oder
adverb, so\ne s. 48 fg. die besprechung der relativsätze in erster oder zweiter person
besonders dankenswert ist. Euer wie an einigen anderen stellen ist auch die frage
nach latinismen in Luthers spräche mit recht benicksichtigt. Dui'ch weg sind Wun-
derlichs nachweise und erörterungen belehrend und anregend; auf eine zahlenstatistik,
die bei dem verschiedenen Charakter jedes einzelnen falles leicht mehr verwirrend
als fördernd wirkt und doch nie ganz erschöpfend sein kann, hat er nach meiner
meinung ganz mit recht verzichtet. Aus drei gut ausgewählten beispielen kann man
oft mehr lernen, als aus dreitausend zusammengehäuften.
Ich für meine person bedaure es lebhaft, dass Wunderlich seine übrigen sam-
lungen über Luthers syntax bisher noch nicht veröffentlicht hat. Für den gebrauch
der tempora und modi z. b. , der ja für das ahd. und mlid. schon mehrfach dargestelt
ist, müste die vergleichung Luthers mit der älteren und der jüngeren spräche lehr-
reiche und %-ielleicht kui-z darstelbare resultate ergeben. In dem in der Lausitz
gekrönten und im Litteraiischen centi-alblatt gerühmten buche über die Schriftsprache
Luthei-s von Franke (Görlitz 1888) findet man über den modusgebrauch (auch über
die Unterscheidung von conj. präs. und conj. praet.) kein wort, über den der ein-
fachen tempora und der tempusumschreibungen einige unreife und dürftige bemer-
KETTNER. ÜBER MORSCH, GOETHE U. DIE GRIECH. BÜHNENDICHTER 493
kungen, die lange nicht an die durchaus nicht veriichtliclien nachweise von Kehre in
oder Yernaleken heranreichen.
Gerade diese Frauksche schrift zeigt recht augenfällig, wie erwünscht und ver-
dienstlich die fortführuug und Veröffentlichung von Wuudcrlichs syntaktischen Stu-
dien ül)er Luther sein würde!
Inzwischen hat AVunderlich in semer Heidelberger habilitationsschrift: ^Stein-
höwel und das Dekameron. Eine syntaktische untei-suchung'* (1889. 46 Seiten)
versucht, „syntaktische Untersuchungen in den dienst der algenieinen litteratur-
geschichte zu stellen.'* Da ihm die autoi"Schaft Stoinhöwels für die deutsche über-
setzimg des Dekameron (vgl. Goedeke, Grundriss- XI, 368) zweifelhaft ist, so ver-
gleicht er den Sprachgebrauch derselben mit dem in anderen, unzweifidliaft Steinhö-
welschen werken (zu denen er auch die von Goedeke» 1, 346 dem Niclas von AVylc
zugeschiiebene Übersetzung von Petrarcas Griseldis zieht), um auf diesem wege eine
entscheidimg über die autoi-schaft Steinhöwels zu gewiimen. Da Wimderlich diese
venvickelten imtersuchungen noch nicht abgeschlossen hat, sondern die foitsetzung
in Herrigs archiv veröffentlichen will, so begnüge ich mich hier mit dieser kurzen
erwähnung der arbeit.
KIEL. OSKAR ERDMANN.
Hans 3Iorseh, Goethe und die griechischen bühnendichter. Programm der
kgl. realschule zu Berhn 1888 (progi-. nr. 90). 55 s. 4*^.
Nachdem das Verhältnis Goethes zu Homer vor wenigen jähren durch Otto Lücke
und die leider mit der italienischen reise abbrechende arbeit Hermann Schreyers
eingehend dargestelt ist, hat der Verfasser, der schon 1885 Goethes Stellung su Horaz
(in den N. jbb. f. phil. 132, 268 fg.) in sachkundiger weise geschildeii hatte, es nun
unternommen, den mannigfachen beziehungen nachzugehen, welche den dichter mit
den giiechischen dramatikern verknüpfen.
Er begint mit Goethes auftreten gegen AVielands Alceste, wobei er sehr sorg-
fältig überraschende spuren einer dii-ekten, nicht bloss dui'ch Briunoy vermittelten
kentnis des Eui'ipides nachweist; weniger glückhch sucht er Goethes auffassmig des
di-amas^ gegen Seufferf zu verfreten, er komt dabei über die von Goethe gebrauchten
argumente nirgends hinaus. — In dem Prometheus erkent er neben antiken elemen-
ten mit recht Weitherstimmung, er hätte noch bestimter auf starke reminiscenzen
aus Ossian hinweisen köimen. Dann wird der einfluss der beschäftigung mit Aristo-
phanes auf die Alceste - farce , den Satyros und die Yögel entwickelt. Mit einer
kurzen, aber alles wesentliche berührenden Schilderung der am Weimarer hofe her-
schenden, dui'ch Wieland, Herder, Villoison genälu-ten hebhaberei für antike httera-
tui- geht er zu den dramen des klassischen stils von Iphigenie bis zur Natürlichen
tochter über, bei allen, namentlich auch den fragmenten, wird in erster linie die
ein Wirkung antiker Vorbilder auf die dar Stellung bis in einzelheiten sehr genau
verfolgt, stilistische mittel, auf denen der eigentümliche ton jener dramen beruht,
hen-orgehoben imd auf ihren urspiimg zunickgeführf ; unbefangen werden auch manche
dishaiTQonien zwischen den antiken und modernen elementcn in Inhalt und foim zu-
gegeben. So hat der Verfasser es auch verstanden, zur erklärung der Iphigenie
mancherlei neues beizubiingen , indem er die abgedroschene vergleichung derselben
mit dem gleichnamigen stück des Euripides bei Seite liess und einmal ilir Verhältnis
zum antiken drama überhaupt ins äuge fasst. — Kürzer behandelt der Verfasser die
1) Inzwischen hat darüber auch gesprochen v. Wilamowitz , Einleitung in die attische tragoedie
(Eurip. Herakles Ij , Berlin 1889 , s. 234.
494 BREMER
weiteren beziehimgen Goethes zu dem leztcreu, die neuen durch Schiller und vor
allem dui'ch Gottfried Hennann gegebenen anregmigen, die symbolisierenden dramen,
die reconstiniction des Phaethon usw. , dagegen werden am .Schlüsse noch einmal sehr
genau die anlehnimgen der Helena au bestimte sceneu und Situationen antiker dra-
men nachgewiesen. Auf Goetlies Stellung zur yuO^aQOc^^ wolte der Verfasser wol nicht
eingehen, weil sie mehr sein Verhältnis zu Aristoteles berührt.
Es steckt in der schrift des Verfassers eine fülle von arbeit; er hat nicht bloss
die werke Goethes im weitesten umfang (die briefwechsel und tagebücher eingeschlos-
sen) für seinen zweck durchgearbeitet, sondern beherscht auch die litteratur über
dieselben in einer bei solchen abhandlungen leider nicht gewöhnlichen weise; ebenso
zeigt er eine umfassende belesenheit im griechischen drama.
SCHULPFORTE. GUSTAV KETTNER.
Indogermanische praesensbildung im germanischen. Ein kapitel verglei-
chender grammatik von Gustav Burg-hauser. Leipzig, Freytag. 1887. 56 ss. 8. Im.
Der 1886 ei-schienenen schiift des Verfassers über den indogermanischen per-
fektstamm im gemianischen ist eine solche über die praesensbildung gefolgt ^ Auch
in dieser schrift ist es nicht die absieht des Verfassers neues material, neue fragen
den fachgelehrten vorzulegen. "Wenn Burghauser sich auch „hie mid da in selbstän-
digen aufstellungen versucht'' hat, so will er doch iin ganzen nur den gegenwäitigen
stand der Wissenschaft in einer zusammenfassenden darstellung des gewählten gegen-
ständes zui' anschauiuig bringen.
Das büchlem eignet sich treflich zum leitfaden für Vorlesungen. Ich möchte
es Noreens allerdings selbständigerem Utkast tiU föreläsningar i urgermansk judlära
zur Seite stellen. Wenn ims noch eine reihe derartiger, je ein hauptkapitel der ver-
gleichenden germ. grammatik behandelnder einzelschrifteu geschenkt wird, so wird
ein künftiger gelelnier dieselben leichtei" zu einem einheithchen , nietfesten werke
zusammenschweissen können, als dies dem dichter der Nibelungen nach Lachmami
mit den einzelnen liedera gelungen ist. In eiinangelmig einer ausführlichen genn.
gi'ammatik, die auf der gi-undlage der idg. lU'sprache die germanische Sprachgeschichte
aufbaut, ist ein deraitiger ausschnitt aus einer solclien, wie er uns in der schrift von
Burghauser vorhegt, mit dank zu begiüssen. Die darsteUung ist streng sachlich
gehalten imd bietet eine gute Übersicht über die idg. praesensbildung im germa-
nischen.
Wui'zelstämme, reduplizierte stamme und nasalstämme bilden das erste kapi-
tel: themavokallose praesentien. Die themavokalischen werden eingeteilt in solche
ohne wurzelerweiteinrng (e- stufige imperfektpraesentien und tiefstufige aoristpraesen-
tien), in nasal-, jod-, inchoativ-, ^-praesentien und in kausativa. Wie man aus
dieser Inhaltsangabe sieht, ist der ausgangspunkt die idg. Ursprache. Die gennanische
einteüung in starke und schwache Zeitwörter komt nicht zu ihrem rechte. Yom idg.
Standpunkte aus aber scheint mir bei den themavokalischen Zeitwörtern doch die
Zweiteilung im Vordergründe zu stehen, welche auch für das germanische recht wol
praktisch zu verwerten ist, in primäi-e und in sekundäi-e oder abgeleitete Zeitwörter.
Nach dieser einteilung würden zur lezteren klasse bei Burghauser freilich nur die
kausativa auf idg. -ejö gehören. Allein es gab im idg. nicht nui- denominativa von
e- o-stämmen auf -ejö, sondern auch solche von a-stämmen auf -a;o, von ey^- stam-
men auf -gyo usw.; es gab femer noch andi'e, bishe]- freilich noch nicht genügend
1) Neuerdings erschienen ist: Burghauser, Germ, nominalflexion , Wien 1888.
ÜBER BURGHAUSER, PRAESENSBILDÜNO 495
aufgeklärte klassen sekundärer Zeitwörter von der idg. urzeit her, z. b. eine sekun-
däi-e klasse nach dem paradigma von lat. habere , got, haban. Burghauser bespricht
nui' die kausativa auf -ejö; die allerdings schwierige darstellung der ülirigen sekun-
dären Zeitwörter fehlt bis auf die s. 54 fg. gemachten andeutuugen ganz und gar.
Und doch ist eine behandlung dieser für die erkentnis der germ. praescnsbildung
notwendig. AMe wäre sonst der übertritt von Zeitwörtern wie beben, xittern in die
schwache konjugation zu erklären, wenn ihre lautg(3setzlich ererbte, urspninglich
starke flexion nicht in manchen formen lautlich zusammengefallen wäre mit formen
sekundärer (germ. schwacher) idg. Zeitwörter auf e und a':f Es wäre nützlich gewe-
sen, wenn Burghauser in jedem einzelnen falle, wie er es z. b. s, 11 fg. und 15 tut,
den weg gezeigt hätte, auf welcliem ein idg. primäres zeitwort im germ. schwach
geworden. Tatsächlich sind von den idg. praesensklassen die imperfcktpraesontien
und die mit nasalinfix die einzigen, welche im genn. rein als stark flektiert erhalten
sind; alle andern klassen, auch die themavokallosen folgen im germ. teils der star-
ken, teils der schwachen konjugation; ja die auf idg. -ucdhI sind sogar durchweg
schwach geworden. Wünschten wir eine weitgehendere mcksichtnahme auf die ein-
teilung in starke und schwache Zeitwörter und besonders eine eingehendere darstel-
lung der idg. sekundären Zeitwörter, so wüsten wir im übrigen an dem büchlein
keine wesentliche ausstellung zu machen. Wertvoll ist es vor allem durch die
neueren htteraturangaben und dui'ch die reiche beispielsamlung, welche bei jeder
praesensklasse der kurz einführenden darlegung der idg. konjugation folgt; die bei-
spiele sind allen germ. sprachen entnommen. Von einzelheiten möchte ich hier auf
zwei punkte besonders aufmerksam machen:
1. An der auffassung der Imperfekt- imd aoristpraesentiert als gespalten aus
einem einheitlichen, stamabstufenden urtj^Dus (s. 19) bin ich vielleicht seilest schuld
niit meinem Paul und Braimes Beitr. XI, 49 als idg. aufgestelten paradigma *bl'ro,
*Urresi. Um so mehr fühle ich mich verpflichtet zu bekennen, dass in dieser
algemeinheit meine aufstellung jedenfals eine irtümliche gewesen ist. Jenes stam-
abstufende paradigma hat für die imperfektpraesentien nicht bestanden und ist einzu-
schränken auf die indische vierte und secliste klasse, die aoristpraesentien. Neben
einem bero, beresi bestand allerdings das aus got. tekan und an. taka zu ei-schlies-
sende stamabstufende idg. paradigma *dego, *dagesi (Beitr. XI, 283). Ob daneben
noch eine dritte, tiefstufige praesensbildung ohne stamabstufung im idg. bestanden
hat, das will ich hier unentschieden lassen. Die beispiele für die stamabstufende
klasse sind jedenfals sehr zahlreich, auch wenn man von der hierfür besonders lehr-
reichen vergleichung des slawischen und litauischen (Leskien, Archiv für slav. phil. V,
497 fgg.) absieht. Ich erinnere nur an lat. vertö: vortö, gr. Tninio : toutio), aind.
svedate : svidyämi usw. Aus dem germ. gehören hierher: 1) abulg. jiera : germ.
faran, ags. sicelan : ags. forsiccplan , germ. ktreynan : germ. koman, an. hiverfa :
an. horfa, aind. kdlpate : an. holfa, germ. melkan : an. molka, germ. skeldan :
ahd. skaltan, ht. zengiu : germ. gangan : afrs. gi(nga\ ags. swefati : an. sofa, an.
drega : germ. dragan, aschwed. grceva (abulg. grebci) : germ. grabmi, germ. tredan :
germ. trodan, geim. bregdan : ^\a.ng. Ikbrüd, (ich stricke), germ. knedan : a.n. knoäa,
germ. beogan : ags. bügan, germ. kleoban : ags. clüfan, germ. kreopan : jjlattd. kru-
pen, germ. breoivan : mndl. bromcen : mndl. brütcen^, ahd. niuwan : ahd. nü(iv)an,
germ. skeoban : genn. skiiban, ahd. slio^an : afrs. slüta; got. tekan : an. taka, ahd.
Vgl. hierzu genn. halön : ahd. holon, germ. nianon : awfrs. monia.
490 BREMER, l'ber bueghatjser, praesensbildtjng
taen : got. daddjan; aschwed. sleka (<^*slaikan) : ahd. slihhan, an. sfreifask : an.
stn'task; lat. rüdö : germ. iradan: gr. (f löyio : gorm. bak(k)an. 2) niit y- Verstär-
kung (aind. IS', klasse): germ. frirkjan : germ. nurkjan. 3) mit oder oline ^-vei-stär-
kung: ahd. helan : germ. Iinljan, abulg. ?neljq : germ. /nalati, germ. sicimman :
an. symja, got. gairdan : germ. gurdjan, mhd. encvrgen : ahd. würgen, gr. zfi;-
x^cu .- ags. hydan, germ. ncotan ; germ. nutjan; ahd. «;•«;* ; germ. arjan, germ. 6r«-
rffl« .• amringisch bräxi, föhringisch ^röd*/ braten (< germ. *brapjan nach der ai-
oder ö-konjugation); vgl. mit «A- - Verstärkung germ. prcskan : an. prijskja. 4) mit
w-vei"stärkung: aschwed. spitei-na : germ. sponian, germ. rinnan : *rimnan (Sie-
vers, Beitr. VIII, S3 anm.), ags. surf na n : an. so/)/f/. Auf grund dieses wechseis
wei-den auch einige anomale ablautsverhältnisse zu erklären sein: ahd. swVdan hatte
urspiünghch eine tiefstufige stamform *sikl- neben sich, mid diese schuf nach der
analogie von bugan : bcogan ein neues zeitwoii seodaii.
2. Sehr- wichtig ist die s. 46 gegebene erklärimg des j in Zeitwörtern wie säen,
wehen usw., welche mich um so mehr erfreut hat, als ich selbst im gegensatz zu
meinen früheren ausfühmugen (Paul u. Braunes Beitr. XI, 54 fgg.) auf denselben gedan-
ken gekommen war. Nur darf man wol kaum diese erklärung soweit veralgemeinem,
wie Bm'ghauser es tut. Die zeitwöiier, welche ich a.a.O. und s. 275 fgg. besprochen
habe, zerfallen in zwei von alters her vöUig getrente klassen, deren Scheidung vom
gemi. aus nicht mehr mit Sicherheit möglich ist. Als paradigma der einen klasse
hat ahd. säen zu gelten <; idg. *sisenii (^rjui,), als paradigma der andern ahd. täeti
<:idg. dejö; erstere hatte als idg. wurzelauslaut langen vokal, leztere «; verbaladjek-
tiv dort *sate-, hier ^d'Jte-. Indem nun erstere klasse im germ. sich der thema-
vokalischeu konjugation anschloss, wai* der austoss zur Vermischung beider klassen
gegeben, wenn nach meiner annähme, a. a. o. s. 71, in formen wie ahd. säit sich
zwischen ä und i ein j lautgesetzlich entwickelte. Nach dem vorbilde von scijif =
täjit schuf man sau im ahd. zu säjii = täjii um. Yielleicht — die frage wäre wol
der untei*suchung wert — gab es unter den hierhergehörigen Zeitwörtern noch eine
dritte art mit wui'zelauslautendem u^ etwa idg. "" streu-, und ^-ieUeicht ist hier der
ausgangspimkt für das ags. imd auch im an. vorauszusetzende iv von ags. säwan zu
suchen. Noch natürlicher würde der zusammenfall der verschiedenen klassen sich
im germ. ergeben, wenn unter den auf / auslautenden stammen sich themavokallose
befunden hätten, weü daim die 1. und 2. sg. mit der ersten klasse schon in idg. zeit
zusammengefallen sein würde, von der reduitlikation abgesehen; demi aus einem
* dkimi, *d^isi würde, wie idg. *res <C *reis, "^rem <i *reim (lat. res, retri) zeigen,
schon in idg. zeit ""demi, *desi geworden sem^ So viel über die Zeitwörter mit
1) Der idg. schwand von i, u nach langem vokal vor bestirnten konsonanten kann, wie ich
glaube, grade für die themavokallose konjugation, noch manche aufklärung geben. So würde sich z. b,
iGTÜuc gegenüber GTKVoöc. GTVO) usw. erklären aus einer wurzel *stäu-, welche einmal wie folgt
flektiert worden wäre, mit auslassung der rednplikation : *staumi, *stäusi, *stäuti, dual und plu-
ral *sfü-'. Zu einer zeit, in welcher * dieum und ^ (pum zu * diem und *gö«« (>^^^, ;?wv)
wurden, sagte man auch * stämi für *stäunii, vmd nach dieser 1. sg. — vielleicht auch nach der
analog behandelten 3. sg. ? — konte man (besonders wenn das vorbild der auf i ausgehenden themavokal-
losen Stämme wirkte, bei denen die 1. und 2. sg. der 3. gegenüberstand) den ganzen sing, uniformieren
zii *stämi, *stäsi, *stäti. Nach diesem sing, wäre dann noch in idg. zeit im dual und plural a
für ü eingesezt worden, weil man sonst zu ä die tiefstufe a hatte. Ausserhalb des systemzwanges
standen und erhielten daher ihren ursprünglichen vokal aind. .s^Äwra, sthävira, gr. GTUVoög, GTVo),
Grv).og, ahd. stouicen, ahd. stuxzen, studen, ags. studu, ahd. stüda. In derselben weise
wäre aufzufassen das Verhältnis von idg. *ple- zu *pleu- (Beitr. XI. 278, 9), * Qre- zu * ßreu-
(278, 12), *stre- zu * streu- (280, 18).
EBDMANN, ÜBER EXOPSTOCKS ODEN EDD. MI7NCKER - PA"^VEL 497
"vmrzelhaftem e. Diejenigen mit idg, Ci oder U sind im genii. in derselben weise flek-
tiert worden. Unter diesen befinden sich primäre, wie an. roa, ags. röwan, und
sekundäre, mit j abgeleitete kausativa zu primären e- stammen, wie alul. inuocn (zu
abulg. sü-meti). Erstere werden im idg. themavokallos flektiert worden sein, wie
ö'iö'couc; denn bei annalmie des gegenteils würde z. b. die 2. und 3. sg. *röcsi, *7-öeti
nach den idg. kontraktionsgesetzen doch zu *rösi, *röti geworden sein (scheinbar
unthematische formen) und daher das ganze zeitwort in die unthematische konjuga-
tion hembergezogen haben. Für diese Zeitwörter wäre, nachdem sie im gerni. the-
mavokalisch geworden, lautgeschichtliche entstehung des ags. ?r aus dem voraufgehen-
den ö möglich. Das deutsche j hätte seinen Ursprung in den kausativen auf idg. -eju.
Auch können hier primäre idg. äi- und ö2- stamme vorgelegen haben.
STRALSUND, 26. MÄRZ 1889. OTTO BREMER.
Friedrich Gottlieb Klopstocks öden. Mit Unterstützung dos Klopstock-
vereins zu Quedlinburg herausgegeben von Franz 31uneker und Juro
Pawel. Zwei bände. Stuttgart, G. J. Göschensche Verlagshandlung. 1889.
Vor etwas über zehn jähren begann ein (auch in dieser Zeitschrift XI, 371.
XU, 286. 380 freudig begrüsster) neuer aufschwung der Klopstockstudien. Angeregt
Jiauptsächlich diu'ch Michael Bernays sammelten gleichzeitig Richard Hamel und
Franz Muncker mit emsigem fleisse und unermüdlichem eifer für die sache das viel-
fach vei'streute, teils noch niemals ausgenuzte, teils in Vergessenheit geratene mate-
rial zur volständigen textgeschichte Söwie zur sprachlichen, metrischen, litterarhisto-
rischen und ästhetischen wüi'digimg der Klopstockschen werke; imd wenn auch nicht
alle damals ausgesprochenen oder gehegten wünsche vols tändig erfült worden sind,
namentlich was die übersichthche Zusammenstellung aller späteren textverändenin-
gen im „Messias'^ und die erneuerung der prosaschriften Klopstocks betiift, so ist
doch im verlaufe dieser jalu-e eine reüie von arbeiten und ausgaben entstanden,
welche die wirkliche kentnis und unbefangene Würdigung Klopstocks in einer vorher
nicht geahnten weise ennöglichen. Eichard Hamel liess den drei heften seiner
„Klopstockstudien'^ (Eostock 1879. 1880) die ausgäbe der werke Klopstocks in der
Deutschen nationallitteratur (band 46 — 48, erschienen Stuttgart 1883 fgg.) folgen,
welche zwar nur eine auswahl aus den poetischen werken, diese aber mit sehr beleh-
renden einleitungen und mit knappen, aber gehaltvollen erläuterungen — die drei
ersten gesänge des ., Messias" auch mit volständiger angäbe aller lesarten und die
„Oden'^ mit volständiger Übersicht der entstehungs- and Veröffentlichungsdaten — in
vorzüglicher ausstattung und mit guten illustrationen dem gebildeten puljHkum dar-
bot. Franz Muncker, welcher in seiner erstlingsschrift ^Lessings persönliches und
litterarisches Verhältnis zu Klopstock'^ erörtert hatte (Frankfurt a/Main 1880), gab im
11. hefte der „Deutschen litteraturdenkmale des 18. Jahrhunderts" (Heilbronn 1883)
einen genauen abdruck der ersten drei gesänge des Messias nach der ausgäbe von
1748, mit einer einleitung, die namentlich sehr zahlreiche und gut gnippierte litte-
rarische belege für die Wertschätzung des „Messias" und die von ihm ausgehenden
geschmacksrichtungan darbietet. Im jähre 1888 vollendete Muncker sein grosses werk
„Friedlich Gottlieb Eopstock. Geschichte seines lebens und seiner Schriften" (Stutt-
gart, G. J. Göschensche buchhandlung) , in welchem es ihm gelungen ist, nicht nur
den äusseren lebensgang des dichters nach neuer und vorsichtig - kritischer durch -
arbeitung aller zugänglichen quellen in sehr klarer und fesselnder weise darzustellen,
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXII. 32
498 ERDMANN, ÜBER KLOPSTOCKS ODEN EDD. AltTNCKER - PAWEL
sondern auch alle werke Klopstocks — mit eingehender bezuguahnie auf Yorläufer
und Zeitgenossen — unbefangen und mit alseitiger erwägung der geschichtlichen
bedingungen ihres entstehens und wirkeus zu wüi'digen. Schon fniher hatte Erich
Schmidt im 39. hefte der ,, Quellen und forschungen'' (Strassburg 1880) die kontnis
des queUenmaterials zu Klopstocks jugendlyrik erheblich erweitert; J. Pawel Klop-
stocks odeu aus der Leipziger periode kritisch erschöpfend untei-sucht ("W'ien 1880),
sowie andere Specialuntersuchungen und -ausgaben veröffentlicht (vgl. diese Zeitschrift
Xni, 57. XVII, 341); 0. Lyon Goethes Verhältnis zu Klopstock dargestelt (Leip-
zig 1882).
Diesen ai'beiten schliesst sich nun jezt die historisch - kritische ausgäbe sämt-
licher öden Klopstocks an, zu welcher zwei der genanten Klopstockforscher sich
freundschafthch vereinigten, indem Pawel namentlich die aufsuchimg noch unbekantcr
handschrifteu und einzeldrucke und die konstatierung abweichender lesaiien aus ihnen
betrieb, Muncker aber das ganze material sichtete imd redigierte, die reihenfolge der
öden bestimte und die angaben über ihre entstehimgszeit und geschichte abfasste.
Die ausgäbe enthält also den volstäudigen abdruck aller (235) öden Klopstocks
mit ausscheidimg einiger ihm flilschlich beigelegten (vorwoii; s. TU), jedoch nicht die
gesänge und hymnen aus dem XX. gesange des Messias und den dramen; mit recht
hat es Muncker unterlassen, diese lyiüschen stücke aus ihrem zusammenhange loszu-
reissen, obwol er z. b. bei der ode „Die gestime^ I, 154 auf die ähnhchkeit (auch
ganz gleiche strophenform!) derselben mit einem dieser stücke aufmerksam macht.
Angeordnet sind die einzelnen öden streng nach der entstehungszeit; diese, ebenso
wie alle von Klopstock selbst veranlassten drucke sind bei jeder ode unten angegeben,
wobei die ab weichungen von Klopstocks eigener ckronologischer anordnung, wo diese
irtümlich war, motiviert werden (vgl. auch voiTede I, s, \'UI). Bei den öden „An
Ebert'^, -TVingolf^, „Bardale'' sind die ältesten und die jüngsten fassimgen wegen
ihi'er starken vei^schiedenheit volständig neben einander abgedruckt; bei allen übrigen
bietet Muncker den text der ausgäbe lezter band, während die abweichungen der
von Klopstock gebilhgten ausgaben (ausser der wertlosen von 1787), der Dannstädter
ausgäbe von 1771, der aufgefundenen Originalhandschriften Klopstocks, der Gleim-
schen abschriften und der von C. F. Gramer citierten älteren lesarten unter dem texte
aufgeführt sind. Durch diese emsige samlung und sorgfältige Sichtung des sehr
umfangi-eichen materiales für die textkritik haben die herausgeber sich ein grosses
verdienst erworben. Im eigentlichen sinne kritisieren könte ihi'e arbeit nur jemand,
welcher dieses material in gleichem masse beherscht wie sie selbst, was ich von mir
nicht rühmen kann. "Wo ich aber in der läge war eine nachprüfimg anstellen zu kön-
nen , da habe ich den jQ.eiss und die Sorgfalt der herausgeber völlig bewährt gefunden.
Die anmerkungen, welche Klopstock selbst in verschiedenen ausgaben zu
seinen öden gemacht hat, sind volständig abgedrackt; auf weitere eiläuterungen
abgesehen von den schon erwähnten chronologischen angaben und erörteiimgen, haben
die herausgeber gänzlich verzichtet. Soweit diese enthaltsamkeit auf der scheu davor
Ijeruhen mag, die eigene subjektive meinung mit dem objektiv mitgeteilten textmate-
rial zu vermengen, begreife ich sie sehr wol; eine dem bedürfnis der meisten leser
genügende erläuterung der Klopstockschen ode wäre leicht ein besonderes werk von
mindestens gleichem umfange geworden. Aber gewiss wären alle leser den heraus-
gebem noch dankbarer gewesen, wenn sie aus dem reichen schätze ihrer belesenheit
in der Klopstocklitteratur wenigstens hier und da mitteilungen über die entstehungs-
geschichte, die textgestaltung, die Würdigung der einzelnen öden in knapper fassung
WITKOWSKI, ÜBER SCHULTZ, ^^KACUGESKLSCHAFTEN 49!)
gegeben hätten. Ich meine z. h. solche angaben, wie sie C. F. Gramer (2, 345) bei
der öde „Heinrieh der Vogler*^ über die von Klopstock selbst später in abrede gestalte
ursprüngliche bezieh ung auf Fi'iedrich den Grossen maclit; oder notizen wie die von
Seumo („Mein sommer 1805'', in der Ilonipolschea ausgäbe bd. IV, 158) über die
textgestaltung eines verses in der ode „Die gestirne." Derartige Überlieferungen sind
doch wort erhalten zu werden; imd wo köute dieses besser und wirksamer geschehen,
als in der historisch -kritischen ausgäbe?
Doch fem sei es von mir, über solchen wünschen das grosso vordienst ver-
gessen zu wollen, welches sich die herausgeber, sowie alle Hjrderer ilirer mühevollen
arbeit, durch diese ausgäbe erworben haben. Die bedeutung der Klopstockschen
öden für unsere poesie hat Muucker im oingange der vorrede gut und würdig clia-
raktcrisiert; möchte „ihre nie verwelkende frische und ihre nie ermattende kraft ■* in
dieser schönen und reichhaltigen ausgäbe auf recht viele leser wirken!
KIEL. OSKAR ERDMA-VN.
Die bestrebungen der sprachgeselschaften des XVII. Jahrhunderts für
reinigung der deutschen spräche. Von dr. II. Schultz. Göttingen, Vaii-
denhoeck & Kuprechts vorlag. 1888. 3 m.
Die Sorgfalt für die reinheit der muttersprache ist seit emigen jähren zu einer
öffentlichen angelegenheit geworden, für die durcli eine überaus kräftige agitation
die teilnähme der weitesten kreise erregt und wach gehalten wii'd. Es soll liier
nicht erörtert werden, ob dieser v/eg der richtige ist, um die wünschenswerte Säu-
berung unsrer spräche von einer auzahl entbehrlicher eindringlinge zu en-eichen, es
sei nur dai'auf hingewiesen, dass es uns nicht an histonschen beispielcn fehlt, wio
wenig dilettantischer eifer auf diesem gebiet zu nützen vermag; denn das siel)zehnto
Jahrhundert bietet in seinen bestrebungen für die Sprachreinigung ein seitenstück zu
der jetzigen bewegung. Offenbar hat dieser umstand die anregung zu einer anzahl
von arbeiten über die geschichte der sprachgeselschaften gegeben, die in den lezten
Jahren in rascher folge erschienen sind.
Die jüngste derselben ist die oben bezeichnete sckrift von Schultz, die man-
ches neue bringt, im ganzen aber doch in bezug auf die kentnis der vorarbeiten und
die ausnützung des materials mängel aufweist. Was soll man z. b. dazu sagen,
dass der Verfasser nicht einmal den titel von Buchners poetik kennt (wie er s. 38
selbst gesteht), die, abgesehen von sämtlichen handbüchern, die litteratui-geschich-
ten fast ausnahmslos anführen? Wie dürftig sind die als einleitung vorausgeschick-
ten bemerkungen über das eindringen der fremdwörter in die deutsche spräche!
Selbst die am nächsten liegenden ergänzungen würden bei weitem den umfang des
von Schultz angeführten überschreiten. Von wichtigeren vorarbeiten bheben ihm die
folgenden imbekant: Kluge, Von Luther bis Lessing; K. Dissel, Die sprachreinigen-
den bestrebungen im 17. Jahrhundert (Progr. Hamb. 1885); Walter, Über den ein-
fluss des dreissigj ährigen krieges auf die deutsche spräche usw. (Progr. Prag. 1871).
Hätte Schultz seine Vorgänger gekant, so würde er wol kaum so leichtfertig den
satz (im vorwort) ausgesprochen haben: „Das bisherige urteü über die sprachbewe-
gung des XVH. Jahrhunderts, welches dieselbe als verfehlt, ja lächerKch bezeich-
nete, wai" durchaus falsch, da es sich nicht auf eine genügende menge von material
stüzte." Nicht die bewegung an sich war verfehlt, sondern nur die mittel, durch
32*
500 WITKOWSKI
welche man ihre ziele zu erreichen suchte, waren ungenügende und falsche, und
nur in dem urteil über diese nüttel weicht Schultzs meiuung von der seiner Vor-
gänger ab.
Der Verfasser steht von vom herein nicht auf dem Standpunkte des leiden-
schaftslos abwägenden geschichtschreibers , sondern auf dem des lobredners, und
dadurch komt er zu einem urteil über die Fruchtbringende geselschaft (s. 73 fg.),
das von dem bisherigen allerdings wesentUch verschieden ist; aber nicht deshalb,
weil Schiütz auf neue und bedeutendere lebenszeugnisso der geselschaft hinweisen
köute, als die fi-üheren, sondern nur weil er den längst bekanten übersetzungs- und
regelwerken entgegen der geltenden, wol begründeten ansieht einen massgebenden
und heilsamen eintluss auf ihre zeit zuschreibt, während wir doch durchaus nichts
davon ^^-issen. dass sie ausserhalb der geselschaft und der kleinen gleichstrebenden
genosseuschaften irgend welche beachtung gefunden hätten. Haben doch sogar die
ei&igsten mitgHeder im schriftlichen verkehr, wo er nicht geselschaftsangelegenheiten
betraf, ohne alle scheu ihre rede aufs reichlichste mit fremden werten durchsezt, wie
z. b. aus Krauses „Urkunden zur geschichte der Anhaltischen lande und ihrer für-
sten" (Leipzig 1861 — 66) klar hervorgeht. Von einem gegenseitigen anhalten der
raitglieder unter einander zum gebrauch imvermengter spräche, wie es Schultz (s. 65)
für wahrscheinlich hält, dürften nur wenige beispiele aufzufinden sein, zumal da die
meisten der genossen das sinbild des palmbaums mehr für eine zierde, als für ein
mal ernsthafter Verpflichtung ansahen.
Bartholds „Geschichte der fruchtbringenden geselschaft" hat, trotz mannig-
facher irtümer im einzelnen, die historische bedeutung des bundes richtig bestimt
und den grösten teil des Stoffes verarbeitet. AVesentliche ergäuzungen brachten
Krauses Schriften, von denen Schultz hauptsäclilich die lezte, „Ludwig, fürst zu
Anhalt - Köthen" (Köthen 1877 — 79), zum grössten teil einen schlechten auszug aus
den friiheren, benuzt hat. Er widerholt die darin enthaltenen angaben über die
schriftstellerischen werke der geselschaftsmitglieder , übergeht aber einige der wichtig-
sten, wie Tobias Hüebners „Erste woche" (Leipzig 1631). Die bemerkungen über
Opitzens Verhältnis zu den „ Fi-uchtbringenden " und seinen einfluss auf die spräche
sind dürftig; recht merkwürdig ist die ansieht (s. 31), dass Opitz die „unglückselige
alte mythologie" eingefühi-t und uns so eine ganze gattung von fremd Wörtern zuge-
bmcht habe. Bei der aufzählung der geschichtschreiber der Fr. G. (s. 71) hätte auch
das für seine zeit ganz vortrefliche buch von Otto Schulz, „Die sprachgeselschaften
des 17. Jahrhunderts'- (Berlin 1824) erwähnt werden sollen.
Von den kleineren genosseuschaften behandelt Schultz zuerst die Aufrichtige
geselschaft von der Tannen und vermehrt die bisher bekanten tatsachen zur geschichte
derselben beh-ächtlich. Die mitglieder werden im einzelnen ausführlich dargestelt,
(eines, Joh. Heinrich Boeder, ist allerdings übergangen), die Zugehörigkeit von Weckher-
lin und Moscherosch wird durch neue gmnde bestätigt. Ein weiteres mitglied wird
in Hans Heinrich Schill der Tannengeselschaft zugewiesen, der zugleich als Verfasser
der Schrift „Der teutschen sprach ehren -krantz" (Strassburg 1644), bestimt wird.
Aus diesem umfangreichen, von wanner Vaterlandsliebe durchwehten buche, das eine
Zusammenstellung des bis dahin gegen die sprachmengerei gesagten enthält, gibt
Schultz dankenswerte reichliche auszüge.
Bei der darstellung der „ Deutschgesinten genossenschaft " hat sich Schultz
leider die gelegenheit. ein bild Zesens und seiner bestrebungen zu geben (wol die
ÜBER SCHULTZ, Si'RAClIGESELSCHAFTEN 501
dankbarste aufgäbe der deutschen litteraturgesdiiclite des 17. Jahrhunderts), entgehen
lassen. Unter den mitgliedern fehlt das begabteste, Jacob Schwiger, in Schultzs
aufzählung. Die (s. 103) angefühiien, die sprachniongerei verspottenden verse stam-
men nicht von Butschky, sondern aus Opitzens „Poeterey'^, was zu erwähnen gewe-
sen wäre.
Unter die „gegner der genanten spraehgoselschaften", die Schultz im folgen-
den abschnitt bespricht, ist vielleicht auch E. K. Homburg zu rechnen. Wenigstens
scheinen die verse aus dem „Lob des krieges" (Scliimpff- vnd Ernsthaft'te Klio.
Jehna 1642. S. K4"), in denen er die neu eingeführten mihtärischen ausdrücke
anführt, nicht h-onisch gemeint zu sein.
Die „Pegnitz-hii'ten-geselschaff^ wird, entsprechend ihrer geringen teilnähme
an der Sprachreinigung, nur kurz erwähnt, ebenso Eists läppischer „Eibischer
schwancnorden", und die übrigen genossenschaften, von denen wir nicht wissen, ob
sie überhaupt ins leben getreten sind: der „Belorbeeiie tauben -orden", die „Teutsch-
liebende geselschaft", der „Leopolden -orden." Woi-tvoll sind die Zusammenstellun-
gen von Schultz über diese Vereinigungen deshalb, weil sie zeigen, wie das gi*ündon
von sprachgeselschaften schliesslich zum sport wurde, den die imbedeutendsten leute
ZU treiben wagten.
Li sieben anhängen gibt Schultz exkurse zu seiner arbeit. Davon hätte der
über „die gestickte wappen - tapete im geselschaftssaale " (der Fr. G.) und der über
Ratichius wol fortbleiben können, auch der über Leibniz gehört nicht in diesen rah-
men. Mit recht ist im anhang I die abhängigkeit Neumai'ks von Hille betont, die
ich schon früher (Diederich von dem Werder. Leipzig 1887 s. 22) hervorgehoben
habe. Anhang III und V handeln über die undeutschen vornamen und die Verdeut-
schung von kunstwörtern (d.h. termini technici), anhang Vü endlich stelt die „namen-
losen'^ (d.h. keinem bestirnten Verfasser zuw^isbaren) Schriften gegen die sprachmen-
gerei zusammen: die „Deutsche satyre wider alle verderber der deutschen spräche'^,
die „Teutschen Michels" und den „ Sprachverderber. " Am schluss ist ein „Blat-
weiser" hinzugefügt, eine bezeichnung, die allerdings in die puristischen bestre-
bungen, denen das buch gewidmet ist, zuiückversezt, an deren stelle aber doch
besser das gebräuchlichere und vor aUem sinentsprechendere „ inhaltsverzeichnis "
zu gebrauchen wäre. Das ganze buch zeigt, wie es bei der vorwaltenden ten-
denz selbstverständlich ist, das streben nach absoluter Sprachreinheit; dass diese
aber nicht immer gleichbedeutend mit Sprachschönheit ist, sieht man aus bildungen,
wie „förmlich" u. ähnl. Auch sonst finden sich eigentümhchkeiten des ausdrucks,
z. b. „beschlagen" für „betreffen" („das leztere kann höchstens das äussere auftre-
ten des „Palmordens" beschlagen" in der vorrede, und „modewörtem, welche die
ausrüstung des ritters beschlagen" s. 2). Wozu sollen solche sprachschöpferische
versuche dienen? Sonst ist die darstellung im algemeinen, bis auf einzelne Über-
gänge (s. 55, 65, 72) gewant und gut lesbai-.
LEIPZIG. G. WITKOWSKI.
Berichtigung zu zeitschr. XXII, 243. 244.
Kinzels anzeige meiner ausgäbe des könig Tirol in Pauls textbibliothek möchte
ich, indem ich das iirteil in den principieUen fragen (einrieb tung des kritischen appa-
rats , auswahl der Varianten , metrik) den fachgenossen überlasse , nur folgende berich-
502 BERICHTIGUNGEN UND NACHRICHTEN
tigiingen beifügen. Die vermisste Variante zu 13, 6 steht in meiner vorrede s. IV.
20, 6 steht nicht, wie Kiuzel angibt, her, sondern herre in Müllcnhoffs abdruck der
handschrift. Ebenso hat die handschrift 41, 2. 3 nicht luge^ sondern lüge, gegen
für gen 35, 3 ist wegen der analogen fälle 18, 2. 26, 6. 7. 30, 6 eingesezt. 13, 3
alhic (nicht cursiv gedruckt) und 20, 2 die sind zwei leider stehen gebliebene druck-
fehler.
HALLE, 20. AUGUST 1889. ALBERT LEITZMANN,
Zu zeitschr. XXII, 255.
Diu'ch die fremidliche verniitlung des herausgebers dieser Zeitschrift macht
mich herr prof. Kettner darauf aufmerksam, dass die von mir Ztschr. XXII, 255
angegebenen quellen für Schillei-s Mädchen aus der fremde schon von Boxberger
X. jahi'b. f. phil. und pädag. 1868, 11, 10, 485 — 486 augemerkt und nach dessen
vorgange auch in den neuen auflagen der kommentaro Viehoffs und Düntzers auf-
geführt sind. Ich hatte leider den nachweis Boxbergers übersehen und konte durch
Zufall bei der niederschiift der misceUen Düntzer nur in der 1. aufläge benutzen.
G. ELLINGER.
XACHKICHTEN.
Das grabdenkmal füi* Julius Zacher, ein einfacher syenit-obehsk mit einem
tretlich gelimgenen, aus dem atelier von Paul Reiling in Halle hervorgegangenen,
reliefbild des verstorbenen in bronce, ist am 27. okt. d. j. feierlich enthült worden.
Den freunden und Schülern Zachers, die in freudiger opferwiUigkeit unserem aufrufe
entsprochen und eine würdige ausfühiiing unseres planes ermöglicht haben, sage ich
hierdui'ch im namen des ausschusses den wäi'msten dank.
KIEL, NOV. 1889. H. GERING.
Fünf isländische gelehrte (Hannes I*orsteinsson, Jon l^orkelsson, 01a-
^
für Davidsson, Pälmi Pälsson und Vald. Asmundarson) beabsichtigen eine
Zeitschrift für isländische Volkskunde herauszugeben, die den titel „Huld" führen
soll. Das erste heft wird, fals ein genügender absatz gesichert ist, im frühjahr 1890
erscheinen. Die einzelnen hefte, von denen jährlich mindestens eins ausgegeben wer-
den .soll, sind auf 12 bogen gi\ 8 veranschlagt; drei davon werden einen band bilden.
Der preis für ein heft beträgt 2 kr. ; anmeldungen zum abonnement , die zur abnähme
eines bandes verpflichten, erbittet der buchhändler Sigurdur Kristjänsson in
Reykjavik.
Geh. rat professor dr. K. Weinhold in Berlin wurde von der philos.-hist.
klasse der kgl. akademie der Wissenschaften in Berlin zum ordentlichen, prof. dr.
K. Maurer in München zum correspondierenden mitghede erwählt. Die kgl. bayr.
akademie der Wissenschaften emante prof. dr. E. Sievers in Halle zum correspon-
dierenden mitgliede.
Der ao. professor dr. Oskar Er d mann in Breslau folgte einem mfe an die
Universität Kiel als nachfolger Fr. Vogts; der ao. professor dr. Max Koch in Mar-
burg wurde in gleicher eigenschaft an die Universität Breslau berufen.
NEUE EUSClIEliNUNGEN 503
Die privatdocentcn dr. F. Jostes iu Münster luid dr. W. Stroitberg in Leii»-
zig sind als ordentliche professoren an die neubegrüudeto Universität Freiburg in der
Schweiz berufen worden.
Au der Universität Leipzig habilitierte sich dr. Georg "Witkowski für neuere
litteratur; an der deutschen Universität in Prag dr. Adolf Hauffen für deutsche
Philologie.
Es starben: am 13. december 1889 zu Elberfeld der professor am dortigen
gymnasium, dr. AVilhelm Crecelius (geb. zu Hungen in Hessen am 18. mai 1828),
seit 1871 mitarbeiter unserer Zeitschrift; aui 27. december 1889 zu Kopenliagen der
pastor Carl Joakim Brandt (geb. am 15. aug. 1817 zu Nyborg), bekaut als lier-
ausgeber älterer dämscher ütteratiu'denkmäler-, am 3. Januar 1890 zu Göttingen der
ordentl. professor der germanischen i^hilologie, dr. Wilhelm Müller (geb. zu IIolz-
minden den 27. mai 1812), hochverdient als lexikograph und mytholog.
NEUE ERSCHEINUNGEN.
Steiiimeyer, E. , Über einige epitheta der mhd. poesie. Prorectoratsrede
4. novbr. 1889. Erlangen, imiversitätsbuchdruckerei. 20 s. 4.
Au nachweise über die an einem erkenbaren Zeitpunkte beginnende ausbrcitung
des attiibutiven gebrauches von klär, ivert, kluoc, gehmre werden weitgreifeudo
bemerkungen über die mhd. dichtersprache geknüpft.
Müller, W., Briefe der brüder Jacob und Wilhelm Grimm an G. F. Be-
necke 1808 — 1829. Mit anmerkungen herausgegeben. Göttmgen, Vandenhoek
und Euprecht, 1889. 188 s. 8.
Diese briefsamluug gewint durch die mitteilungen beider brüder über den gang
ihrer Studien, sowie durch die vielen zwanglos imd frisch ausgesprochenen urteile
über menschen und bücher (z. b. v. d. Hagen s. 17; Lachmanns Z. G. N. N. s. 88;
Herlings sjTitaktisch - stilistische Studien s. 137; Rabener, Geliert, Gleim, Uz s. 159
u. V. a.) nach vielen Seiten hin hohes Interesse. Einleitung, noten und register
des herausgebers erleichtern die benutzung.
Schmitt, P., Über den Ursprung des substantivsatzes mit rclativpar-
tikeln im griechischen. Würzburg, A. Staber, 1889. 80 s. 8.
Biese, A., Das metaphorische in der dichterischen phantasie. Beitrag
zur vergleichenden poetik. Berhn, A. Haack, 1889. 33 s. 8.
Die heiligen En-glands. Angelsächsisch und lateinisch herausgegeben
von F. Liebennaiiii. Hannover, Hahnsche buchhandlung, 1889. XX, 23 s. 8.
Odiiiga, Th., Das deutsche kirchenlied der Schweiz. Frauenfeld, J. Hubers
Verlag, 1889. J\\ 137 s. 8. 2 m.
Marcus evangelion Mart. Luthers nach der septemberbibel mit den les-
arten aller Originalausgaben und proben aus den hochdeutschen
nachdrucken des 16. Jahrhunderts herausgegeben von Alexander Reif-
fei-scheid. Heilbronn, Gebr. Henninger, 1889. XII, 124 s. 8. 4,20 m.
504
I. SACHREGISTER
All die iiiitarl)eitor iiiid leser der zeitseliritt.
Da meine gegen-wäi-tige stelluug mir die ptliclit auferlegt hat. meine kräfte
vorwiegend der nordischen philologie zu widmen, erechien es mir als unabweisliche
notwendigkeit , von emem teile der redaktionsgeschäfte befreit zu werden. Zu meiner
freude hat sich mein kollege, professor dr. Oskar Er d mann hierselbst, bereit erklärt,
vom nächsten hefte ab in die redaktion der Zeitschrift einzutreten. Die arbeitsteilung
wii-d im algenieinen in der weise statfinden, dass die aufsätze zur* ostgermanischen
und angelsächsischen philologie, zur mythologie imd altei-timiskunde meiner durch-
sieht unterliegen werden, wälirend das übrige, namentlich also alles in das gebiet
des alt-, mittel- und neuhochdeutschen einschlagende, meinem freunde Erdmann
zufalt. In der Überzeugung, dass diese einrichtimg, durch welche natürUch an dem
überlieferten plan imd Charakter der Zeitschrift nichts geändert wird, derselben nur
zuur vorteil gereichen werde, bitte ich die mitarlieiter und freunde unsres organs,
ihm auch in zukmift teilnähme und tatkräftige unterstützimg zuzuwenden. Briefe und
manuscripte bitte ich in zukimft entweder an mich oder an herrn prof. Erdmann
(Kiel, Lornsenstr. 16) zu richten,
KIEL, JANUAR 1890. HUGO GERING.
I. SACHREGISTER.
Akritas siehe Digenis.
Albeiiinus, Aegidius, seine bearbeitung
von Alemaus Guzman benuzt von Grim-
melshausen im Simplicissimus 93 — 99.
Ygl. diesen. Aleman und Frewdenhold.
Aleman, Mateo, bearbeitung seines Guz-
man von Alfarache durch Aegid. Alber-
tinus benuzt in Grimmeishausens Sim-
plicissimus 93 — 99. vgl. diesen, Alber-
tinus und Frewdenhold.
althochdeutsch. konstruktion von kan
9 — 12. \on ??iugen 37 — 46. absoluter
gebrauch 38. mit objekt 38 fg. mit
dem infinitiv 39 — 46. vgl. grammatik
und Notker.
altsächsLsch. konstruktion von ccm 8 fg.
von magati 36 fg. vgl. gi-ammatik.
A m a 1 i a s , herzogin von Cle ve , liederbuch
397—426. handschiift 398 fg. inhalts-
verzeichnis 899 — 405. weihnachtslied
406 — 409. gebet an Maria 409 fgg.
Uebeswerbung 411. preis der liebsten
411 fgg. Hebesglück 413. tagehed 414.
auf widersehen 414 fg. abschied 415 fg.
trennungsschmerz 416 fgg. rosenkranz
zum abschiede 418 fgg. an die ent-
fernte geliebte 420 fg. der ungeschickte
liebhaber 421 fg. die ungetreue 422 fgg.
Armenisches märchen siehe Schiller.
Ami, bruder, bearbeiter des Eddacodex
AM 242 fol. und Verfasser der 4. ab-
handlung 131 — 134. vgl. Snorra-Edda.
Balbi, Gasparo, quelle für Ziglers Asia-
tische banise 75 fg. vgl. diesen.
Blois, Heinrich graf von, in der franzö-
sischen graldichtung Borons 447 fg.
siehe Wolfi'am.
Boron, Eobeii de, le petit Gral siehe
Crestien und ^^olfram.
Brunius, schauspielertruppe des Joh. Heinr.,
ihi"e bearbeitimg von Ziglers Asiatischer
banise 206 — 213. vgl. Zigler.
buch und buche, verwantschaft 468.
bulgarische märclien und sagen als ana-
logien zum Tellschuss siehe Digenis und
SchiUer.
Colin, Philipp, und Claus "Wisse, Über-
setzer der französischen graldichtung
289 fgg. 293 — 311. 427 — 444. siehe
Wolfram.
Crestiens conte du Graal, seine vorläge
nicht Guiot von Provins, sondern Ro-
bert de Boron 450 fg. siehe AVolfram.
Digenis Akritas (Porphyrius, Farfuiius,
Panthirios oder Panthir) held eines bul-
garischen epischen gedichtes 103. eines
bulgarischen märchens 104 fg.
drama. Ziglers Asiatische banise in der
dramatischen bearbeitung der schauspie-
I. SACHREGISTER
505
lertrui)[)0 des Joh. lleiiir. Bruuius 20G —
213. vgl. Zigler. — J. E. Schlogols
di'ameu siehe diesen.
Edda, Suorra-, bruder Arni bearbeiter
des cod. AM 242 fol. und Verfasser der
4. abhandluug 131 — 134. älteste fas-
suug der abhandlung 135. ihre vorläge
benuzt im cod. AM 242 fol. 135 fg.
Inhalt der ältesten fassung 136 fg. sie
ist die einleitung zuni Hattatal 137. art
der entstehung und Zusammensetzung
der jüngeren fassung 137 — 144, der
Verfasser der abhandluug u. ihre l)edou-
tung 145 — 158. Verfasser der ursprüng-
lichen abhandlung Suorri 145 — 50. erklä?
rung der Übereinstimmung zwischen II u.
111% der arbeit Olaf {)6rdarsons 146 —
149. entstehung der doppelten erklä-
rung der figur fl 151 — 158. der jün-
gere vergleich der spräche mit dem
isländischen baispiel 152 — 156. der
ältere vergleich (des Snorii) mit der
Symphonie 156 fg. text 159 — 164.
Übersetzimg 164 fg. erklärung der bei-
den figiu'en 165 fgg. — über die ent-
stehung der ui-spriinglichen Snorra-Edda
und der späteren bearbeitung 366 fgg.
Verzeichnis der abweichungen des cod.
Worm. von cod. reg. 368 — 71. nach-
weis, dass AM 756 eine flüchtige ab-
schrift von "W 372 fg. ursprünglicher
umfang und einteilung von ^V 373 fg.
das Skäldatal 374 fg. Zeitbestimmung
Starkads , köiiig Eagnars , Bragis 375 fg.
todesjahr Gunnlaugs 376. Gizur svarti
und gullbrä nicht identisch 376 fg. des
lezteren beiname 377. Unterscheidung
von zwei Hallbjorn hali 377. — Lieder -
Edda, ursprüngliche aufzeichnung der-
selben in runen? 468.
Ernst, herzog, keine Spielmannsdichtung
478. vgl. Orendel.
Farfuiius siehe Digenis.
Francisci, Erasmus, quelle für Ziglers Asia-
tische banise 77 — 80. vgl. diesen.
Frewdenhold, Martin, seine fortsetzung
des Alemanschen Guzman de Alfarache
93 — 99. vgl. Aleman, Alberiinus und
Grünmeishausen.
Friesen, die: erklärung ihres stark aus-
geprägten rechts bewusstseins 258 fgg.
Things gerichts-, nicht volksversam-
lungsgott 260. erkläiimg der namens-
form 261. alaisiagen = die erhabenen
gesetzseherinnen 261 — 264. deutung
von Bede undFimmilene 264 fgg. bod-
und fimmelthing 266 fg. deutung von
Bede als pugnatiix 267 fg. des bod-
things als streitgericht 269.
von Fim-
mileno als ultrix, des fimmelthiugs ids
Strafgericht 269 fg. hauptlieihgtum des
Tius Things in Almenum 270 fg. der
lucus Baduhonnao in Bafflo 271. Orts-
namen von Fimilino gebildet 271 fg.
liud- und Tiuthing 272 fg. Tiu Badu-
nät und Frithunüt 272 fg. Es-thing
273 fg. Tiu Saxing 274. sonstige frie-
sische gerichtsstätten 274. Tiu Ächte
275 fg.
Gautior, ( iauchior siehe AValtor von Dunsin.
gotisch, bt'deutung von kiinnan 4 fg. kon-
struktion 5 — 8. mcujan^ bedeutung und
konstruktion 33 — 36.
graldichtung und gralsage siehe "Wolfram.
grammatik. kUnncn im gotischen 4 — 8.
im altsächsischeu 8 fg. im althoch-
deutschen 9 — 12. im mittelhochdeut-
schen 12 — 33. entwicklung der bedeu-
tung von liönnen 13 — 16. — iiiögcn im
gotischen 33 — 36. im altsächsischon
36 fg. im althochdeutschen 37 — 46.
im mittelhochdeutschen 46 — 57. ein-
zelheiten und nachtrage 57 — 60. vgl.
gotisch, altsächsisch, althochdeutsch,
mittelhochdeutsch. — lu'germanische er-
haltung des e trotz scheinbar folgenden i
249. erhaltung des e bei folgendem c,
das erst später zu i wird 249 fg. Suf-
fixe -il, -ir bewirken umlaut 250. kon-
sonantische hindernisse des wandeis von
e zu i 250. zeit und ausgangs[tuukt
des lautwandels e >> ^ 250 fgg. — an-
gebUche Spaltung des indogermanischen
imperfekt- und aoristpraesens aus einem
stamabstufenden ui'tyijus 495. erklä-
rung des j in zeitwöiiern mit wurzel-
haftem e, ä, ö 496 fg. — über die not-
wendigkeit der berücksichtigung laut-
licher Veränderungen bei sjmtaktischen
Untersuchungen 459 — 62.
Grimmeishausen benuzt im Simplicissimus
des Albertinus bearbeitung von Alemans
Guzman und die foiisetzung des Mar-
tin Frewdenhold 93 — 99.
Herder, zv/ei stücke der Volkslieder von
einfluss auf Schülers: Des mädchens
klage 255.
Lachmanns behandlung der Nibelungen-
frage 465 fg.
Lefranc de Pompignan siehe Schlegel.
lügendichtung des Schnepperers aus einer
handschiift des germanischen museums
317 — 320.
Luther, entstehungszeit des Lutherliedes
252 fg. oberdeutsches glossar zur bibel-
übersetzung in dem Basler nachdmcke
des Thomas ^Vjlf 325 — 336.
märchen. analogien zum Tellschuss in
siebenbüi'gischen m. 100 — 114.
506
I. SACHREGISTER
Metastasios Didoue siehe Schlegel,
mhiuegesang. aiisdruck des iiaturgefühls
iiii m. imd in der vaganteudichtuDg
455 fg.
mittelhochdeutsch, kau, eiitwictlimg
der bedeutung 13 — 16. absoluter ge-
braucli 16. mit substantivischem objekt
16 — 21. mit dem infiuitiv 21 — 33.
mugen 46 — 57. absoluter gebrauch 47.
mit objekt 47 fg. mit dem iufinitiv 48
— 57. vgl. grammatik.
Morolf. datierung des gedichtes 477. 481
fgg. Morolfstrophe 486 fgg. vgl. Oreudel.
Miillenhoff und Scherer, althochdeutsche
denkmäler 466.
Nibelimirenlied. über den stil des N.
457 fg. — Lachmanns behaudluug der
Nibeluugenfrage 465 fg.
Notker. schluss seiner rhetorik aus einer
Bmsseler handschrift 277 — 286.
Oreudel. die dem gedieht zu gninde lie-
gende sage 470. analogien zwischen
dem 2. teile des gedichtes und dem
des Eother 470 fg. der gruudbestand
der Orendelsage 470 — 476. datie-
rung der urspriingüchen forai des ge-
dichtes 476 — 487. angebliche ent-
stehung des Orendel vor Morolf und
dem jüngeren Oswald 477. datierung
des lezteren 478 fgg. Herzog Ernst kein
spielmanusgedicht 478. datierung des
Morolf 481 fgg. angebliche historische
anhalte zui* datierung des Orendel 483 fg.
kulturhistorische 484 fg. sprachliche
485 fg. die Morolfstrophe = ursprüng-
liche form des originales 486 fg. unter-
scheidmig von älteren und jüngeren be-
standteilen 487 fg.
Oswald, der jüngere, datierung 478 fgg.
vgl. Orendel.
Panthirios, Panthir siehe Digenis.
passional. Dresdener bruchstücke des pass.
K 321 — 324. Clevisches bruchstück
aus dem 2. teile 324 fg.
Philologie, zweck und begriff der (ger-
manischen) ph. 462 fg.
physiologus. Augustin über die fulica 237.
handschriften des ph. 238. erklärung
der Verbreitung der tiergeschichtlichen
Züge in weitere kreise 240 fg. einwir-
kung auf die fabeldichtung des mittel-
alters 241.
Porphirius siehe Digenis.
quodhbet des XV. Jahrhunderts aus einer
Münchener handschrift 312 — 317.
roman. Ziglers Asiatische banise 60 — 92.
168 — 213. vgl. diesen. — quellen zu
Grimmeishausens SimplicissimiLS 93 — 99.
vgl. diesen.
Rother, könig, analogien zwischen diesem
und Orendel 470 fg.
runen, bedeutuug des woiies 468.
Lieder -Edda.
VO"!
Analogien
Scherers und MüUenhoffs althochdeutsche
denkmäler 466. Seherers bedeutung für
die germanisclie philologie 467 fg
Schillers Wilhelm Teil
zum Tellschuss in einem siebenbür
gischen märchen 99 — 102. in dem bul-
garischen von Digenis 103 fgg. vgl. die-
sen; schuss des Serbeuhelden Milosch
102. analogie in dem szekler märchen
von Tschalo Pischta 106 fgg. in einem
armenischen märchen 109 fgg. in einem
zigeunermärchen 111 — 114. — Des
mädchens klage , beeinflusst von zwei •
stücken der Herderschen Volkslieder 255.
Schlegel, Joh. Elias, seine Dido ab-
hängig von Lefrancs de Pompignan
Didon 231. Verhältnis zu Metastasios
Didoue 232. — aufführung des ins fran-
zösische übertragenen Arminius in Pai'is
nach Grimms bericht 232 fg. — Canut
von Lessing erwähnt 234.
Schnepperer, der, eine lügendichtung von
ihm aus einer handschrift des germani-
schen museums 317 — 320.
Serbisches märchen siehe Schiller.
Siebenbürgisches märchen siehe Schiller.
Snorris tätigkeit an den grammatischen
abhandlungen der Snorra-Edda siehe
diese.
Szekler märchen siehe Schiller.
Tellschuss, analogien dazu aus sla vi-
schen mjirchen siehe Sclüller.
I^ordarsous, Olaf, tätigkeit an der IQ.
grammatischen abhandlung der Snorra-
Edda siehe diese.
Vagantendichtung, ausdruck des natui-
gefühls im minnegesang und der v.
455 fg.
Wackernagels Jugend 466 fg.
Walter von Dunsin (Gautier de Dcnct,
Gauchier de Doudain) , sein gedieht von
Parcivals gralsuche (= Berner manu-
script) 445 fg. vgl. Wolfram.
Werben, um städte. in einem Schwei-
zer gedieht aus dem jähre 1676 336 fg.
zwei weitere Personifikationen der Schweiz
in Gengenbachs : Der alt Eydgenoss 337.
und in der dramatischen bearbeitung
des Joh. Casp. AVissenbach 337 fg. in
H. Sachsens klaggespräch der stadt
Nürnberg dieses als fräulein 338 fg.
andre beispiele dazu aus dem 16. Jahr-
hundert 339 fgg. Nürnbergs vier fräu-
lein in H. Sachsens lobspruch 341. in
liedern auf die belagerung Magdcbui-gs
n. VERZEICHNIS DER BESPROCHEXEN STELLEN
507
Chi-istiis der verlobte der stadt 342 fgg.
cähnlicho anscliauungen in liedern des
IG. 18. 19. Jahrhunderts 344 - 347. fik-
tiou eines liebosverhältnisses zwischen
Leipzig und Gustav Adolf 347 fg. Nürn-
bergs und A^^^llcnstoins 349.
Vergewal-
tigung Magdebui'gs durch Tilly 349 fgg.
ähnliche, auf Strassburg bezügliche lio-
der 351 fgg. gespräch zwischen Eng-
land und Ru^-ter 353. lied auf die be-
Lagerung Eheinfelds 1678 353. auf die
Schlacht bei Mali)laquet 354. auf ereig-
nisse des siebenjährigen krieges 354 fg.
dramatische Verwertung der umkehrung
des gedankens 355 fgg. sowie in lie-
dern des 16. und 17. jalirliundeiis 357
— 360. .„um Städte werben'^ in Schen-
kendorfschen und Rückertschen liedern
360 fg. in liedern aus dem deutsch -
französischen kriege 361 fgg. in Uli-
lands Konradin und Scheffels Trompe-
ter 363 fg. beispiel aus neuster zeit 364.
Wisse, Claus, und Philipp Colin, Über-
setzer und bearbeiter der französischen
graldichtung 289 fgg. vgl. "Wolfram.
Wolfram von Eschenbach, es gibt
keine gralsage, sondern nur eine gral-
dichtung 287. erstes werk über den
gral: Robert de Borons le pctit gral
287 fg. deutsche bearbeitung der fran-
zösischen fortsetzungen von Crestiens
C/Onte du Graal durch Claus Wisse und
Philipp Colin 289 fgg. exemplar der-
selben in der Casanatischen iDibliothek
zu Rom 291 fg. Inhaltsangabe 293 —
311. 427 — 444. die französischen vor-
lagen 444 — 451. Parzivals gralsuche
nacli dem gedieht Walters von Dunsin
(:= Berner manuscrii»t) 445 fg. vgl. die-
sen. Borons dichtung 446 — 450. am
Schlüsse dos ersten teiles beziehung auf
lokale Verhältnisse (Tleinricli graf von
Blois) 447 fg. unter Borons nachahmern
auch Crestien 4.')0 fg. vergleich der
französischen graldichtung mit der deut-
schen 451 — 454.
Ziglers Asiatische baniso: bibliogra-
phisches und biographisches 60 anm. 1.
ibitsetzungen , bearbeitungen, nachali-
mungen 62 anm. 2. beliebthcit dos
buches 62 fg. litterarhistorisclio ur-
teile 64 fg. inhaltsangabo 65 — 68.
komposition 68 — 74. 88 fgg. ver-
liältnis zu Balbi 75 fg. vgl. diesen,
zu Erasmus Francisci 77 — 80. vgl. die-
sen, zu sonstigen quellen 81. geogra-
phische und naturhistorischc excurse
des Werkes 82 fg. Übertragungen deut-
scher verkehrsfoi'men 84 fg. kriegs-
schilderungen 85. sonstige europäische
reminiscenzen 86 fg. lokalfärl)ung 87 fg.
ausblicke auf das, was kommen soll
90 fgg. kunstmittel 168 fg. figuren des
romanes 169 — 183. mittel der darstel-
lung 183 — 189. spräche und gefühls-
welt des dichters 189 — 200. sprich-
wörtliche redewendungen 200 fgg. an-
spielungen auf europäische zeitverliält-
nisse 202 — 205. vergleich der drama-
tischen bearbeitung der Bruniusscheu
truppe 206 — 213. vgl. diesen.
Zigeunermärchen siehe Schiller.
IL VERZEICHNIS DER BESPROCHENEN STELLEN.
Eine lausavisa desHromundr
lialti s. 383 fg.
Beowulf
901—915 s. 385 — 393.
1404 — 1407 s. 393 — 397.
Altdeutsche predigten (ed.
Schönbach) H B.
5, 4 s. 115 fg.
8, 10 s. 116.
12, 30 s. 119.
19, 8 s. 116.
19, 24 fgg. s. 116.
28, 10 s. 116.
30, 18 s. 116.
37, 8 s. 116.
42, 11 s. 116.
45, 37 s. 116 fg.
50, 2 — 4 s. 118.
51,
10
s. 117.
51,
37
s. 117.
52,
14
s. 117.
54,
24
s. 117.
55,
16
s. 117fg
63,
37
s. 118.
65,
24
s. 118.
73,
1
s. 118.
80,
2
s. 118.
81,
12
s. 118fg
83,
13
s. 119.
103,
8
s. 119.
104,
20
s. 119.
119,
23
s. 119.
119,
33
s 119 fg
121,
4
s. 120.
126,
13
s. 120.
131,
16
s. 120.
135, 22 s. 120
137, 20 s. 118
145, 7
145, 9
147, 17 s. 120.
151, 16 s. 120.
152, 30
156, 3
162, 39 s. 120,
167, 15 s. 120.
König Tirol
9, 5 s
s. 120.
s. 120.
s. 118.
s. 120.
29, 6 s
244.
244.
36, 7 s. 244.
38, 5 s. 244.
41, 2. 3 s. 244.
Orendel
228 s. 490.
508
m. -WORTREGISTER
Orendel
232
s. 490.
401/4. 407/12
s. 490.
458
s. 490.
507
s. 490.
666
s. 490.
894
s. 490.
973
s. 490.
1205
s. 490.
12S4
s. 490.
1299
s. 490.
1405 s. 490.
2429 s. 489.
1446 s. 490.
2496 s. 490.
1509 S.490.
2590 s. 490.
1587 s. 490.
3148/9 s.490.
1632 s. 490.
3173 s. 490.
1637 s. 490.
3227 s. 489.
1661 s.490.
3454/5 s. 489.
1788 s. 490.
3490 s. 472 fg
1874 s.490.
3647 s.490.
1878 s.490.
3806 s. 489.
1888 s. 489.
m. WORTREGISTER
Altfriesiseh.
Acht, Achte s. 274 fg.
Acta via s. 276.
alaesiagen s. 261.
Almenum s. 271.
Axing s. 274. 276.
Baduene, Badwene s. 268,
Badunät s. 272 fg.
BafÜo s. 271.
Bangstede s. 274 fg.
Bede s. 264 — 270.
Berstede s. 274 fg.
bodthing (bed- badu-) s. 264
— 270.
Es-thing s. 273 fg.
Fimel s. 272.
Fimmilene s. 264 — 270.
fimnielthing s. 264 — 270.
Frithuuut s. 273.
Imdthing s. 272 fg.
Öchtlebiu'en s. 274 fg.
Saxing s. 274.
Things s. 265 fg.
Tiuthiug s. 272 fg.
Altnordisch.
hQfudstafir s. 144 anm. 1.
Mittelhochdeutsch.
bongen (bouc) s. 490.
stiing (stuuge) s. 117.
yeiihochdeiitsch.
abwevhen (bei Goethe)
s. 254 fg.
beithun s. 329.
byenen (bie) s. 330 und
anm. 1.
fale s. 330 fg.
feige s. 330.
feil s. 331 fg.
früolinge s. 331.
gemaug s. 332.
Schulter s. 334.
Schicht s. 333.
schifflend s. 329.
stufe s. 334.
tappe s. 335.
verdachter s. 335.
walgung s. 330 fg.
wansinu s.
335.
Halle a. S. , Buchdrockerei des Waisenhauses.
/
PF
3003
Z35
Bd. 22
Zeitschrift für deutsche
Philologie
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